Iris Winkler Aufgabenpräferenzen für den Literaturunterricht
VS RESEARCH
Iris Winkler
Aufgabenpräferenzen für den ...
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Iris Winkler Aufgabenpräferenzen für den Literaturunterricht
VS RESEARCH
Iris Winkler
Aufgabenpräferenzen für den Literaturunterricht Eine Erhebung unter Deutschlehrkräften
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Habilitationsschrift an der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena, 2009
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Verena Metzger / Anette Villnow VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17528-7
Inhalt
1 Fragestellung ……………………………………………………………….7 2 Lernaufgaben als Untersuchungsgegenstand…………………………... 15 2.1 Begriffsklärung: Lernaufgaben ...…………………………………………. 16 2.2 Typen von Lernaufgaben: Zum Anforderungsprofil von Erarbeitungs-, Übungs- und Evaluationsaufgaben ...……………………………………... 19 2.3 Perspektiven der Erforschung von Lernaufgaben ...……………..………... 26 2.3.1 Methodenorientierte Perspektive: Lernaufgaben im Schatten von „Methoden“ und „Verfahren“ des Unterrichts ..………………... 29 2.3.2 Kontextorientierte Perspektive: Lernaufgaben als Rahmen problemorientierter Lernarrangements ...……………………………. 34 2.3.3 Merkmalszentrierte Perspektive: Komplexität und Offenheit als Determinanten von Aufgabenschwierigkeit ...…….………………… 41 3 Aufgaben und Textverstehen …………………………………………… 55 3.1 Überblick: Einflussfaktoren beim Textverstehen ………………………… 55 3.2 Textbeschaffenheit und Leseraktivitäten im Wechselspiel: Einen literarischen Text lesen …………………………………………….. 61 3.3 Lesermerkmale ……………………………………………………………. 69 3.4 Leseanforderungen: Ebenen des Textverstehens …………………………. 73 3.4.1 Ebenen des Textverstehens im Überblick ..…………………………. 74 3.4.2 Situationsmodell – Mentales Modell – Textweltmodell ..…………... 79 3.4.3 Kohärenzetablierung und Sinnzuschreibung .……………………….. 83 3.4.4 Globale Sinnzuschreibung ……………….…………………………..90 3.4.5 Epistemologisch qualifiziertes Situationsmodell und Textkritik …. 100 3.5 Textverstehensaufgaben ………………………………………………… 107 3.5.1 Ein Systematisierungsvorschlag …….……………….…………..... 107 3.5.2 Zur Unterscheidung von Rekonstruktions-, Generierungs- und Bewertungsaufgaben ……….…………………………….……….. 112 3.5.3 Analyse der Beispielaufgaben aus dem Fragebogen ……………… 130 4 Lehrkräfte als zentrale Einflussgröße des Aufgabeneinsatzes …….... 157 4.1 Überblick: Aufgabenstellen und professionelle Kompetenz von Lehrkräften ……………………………………………………………… 158
Inhalt
4.1.1 Professionelle Handlungskompetenz als personenbezogenes Merkmal von Lehrkräften …………………………….…………... 4.1.2 Handlungsfelder des Lehrerberufs als Kompetenzbereiche: „Standards für die Lehrerbildung“ ………………………………... 4.2 Aufgabenstellen und Professionswissen ………………………………... 4.3 Aufgabenstellen und fachbezogene Überzeugungen …………...………. 4.3.1 „Aufgabenpräferenzen“ ………….……………………….……….. 4.3.2 Überzeugungen von Deutschlehrkräften: Forschungsstand ……….
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159 163 166 170 170 177
5 Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften am Gymnasium …… 195 5.1 Entwicklung von Fragestellung und Untersuchungsinstrument ………... 195 5.2 Beschreibung der Stichprobe …………………………………...………. 204 5.3 Allgemeine Einstellungen zum Lehren und Lernen im Literaturunterricht …………………………………………………… 208 5.3.1 Lernprozessbezogene Grundeinstellungen: Zwei Gruppen von Lehrkräften? ………………………………….. 208 5.3.2 Gelenktes Lehrer-Schüler-Gespräch und Gruppenarbeit: Zwei Sozialformen im Urteil der Probanden……..……………….. 226 5.3.3 Lernprozessbezogene Grundeinstellung und bevorzugte Sozialform ………………………………………………………… 236 5.4 Vier Typen von Aufgabenpräferenzen ...………………………………... 243 5.4.1 Zum Verfahren der latenten Klassenanalyse .……………………... 243 5.4.2 Beschreibung und Interpretation der Itemprofile: Klassenspezifische latente Variablen……………………………… 250 5.5 Zusammenhänge zwischen Aufgabenpräferenzen und allgemeinen Einstellungen zum Lehren und Lernen …………………...…………….. 264 5.5.1 Die Angebotsorientierten ………..………….…………………….. 269 5.5.2 Die Gegenstandsorientierten ……..…………….…………………. 270 5.5.3 Die Lernerorientierten ………………………….…………………. 273 5.5.4 Die Trendorientierten ……………………………...…………….... 275 5.5.5 Zwischenbilanz ….……………………………….………………... 279 5.6 Zum Erkenntnispotenzial quantitativer Untersuchungsmethoden aus deutschdidaktischer Perspektive ............................................................... 280 6 Bilanz …………………………………………………………………… 285 Anhang ……………………………………………………………………... 291 Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen ………………..……………. 299 Literatur …………………………………………………………………… 303
1 Fragestellung
Deutsche Schülerinnen und Schüler zeigen besondere Schwächen beim verstehenden Lesen literarischer Texte. Das haben Anschlussuntersuchungen zu PISA 2000 erbracht (Artelt/Schlagmüller 2004). Dieser Befund überrascht; denn gerade literarische Texte gelten traditionell als prominenter Gegenstand beim Umgang mit Texten im Deutschunterricht. Allerdings hat zuletzt die DESI-Studie bestätigt, dass hinsichtlich der im Literaturunterricht bevorzugten Textsorten eine Differenzierung nach Schulformen nötig ist: Literarische Texte haben vor allem an Gymnasien und integrierten Gesamtschulen einen hohen Stellenwert (Klieme et al. 2006). Auf jeden Fall lenkt der erwähnte Befund das fachdidaktische Forschungsinteresse unmittelbar darauf, wie literarische Texte im Deutschunterricht üblicherweise verhandelt werden. Darüber gibt es bisher kaum empirisch gesicherte Erkenntnisse. Bei der Initiierung und Strukturierung von Lernprozessen im Unterricht spielen Aufgabenstellungen eine zentrale Rolle. Es kann angenommen werden, dass die Qualität der eingesetzten Lernaufgaben den Kompetenzerwerb der Lernenden nicht unerheblich beeinflusst. So zeigen die Ergebnisse von TIMSS und COACTIV, dass ein hoher Lernzuwachs aus der Bearbeitung kognitiv anspruchsvoller Aufgaben im Unterricht resultiert (Baumert 2002; Brunner et al. 2006a). Auch in der Deutschdidaktik werden Aufgabenstellungen für Lern- wie Leistungssituationen seit PISA 2000 und mit Beginn der Debatte um Kompetenzen und Bildungsstandards als relevanter Gegenstand fachdidaktischer Forschung und Entwicklung wahrgenommen: Befunde wie „PISA-Aufgaben sind anders“ (Köster 2002) standen am Anfang der Diskussion um die „Aufgabenkultur“ im Deutschunterricht (Köster et al. 2004). Diese Diskussion hat auf dem Symposion Deutschdidaktik inzwischen ihren festen Platz in eigenen Sektionen I. Winkler, Aufgabenpräferenzen für den Literaturunterricht, DOI 10.1007/978-3-531-92698-8_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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1 Fragestellung
zum Schwerpunkt ‚Aufgaben‘1 und spiegelt sich in einer wachsenden Anzahl von fachdidaktischen Publikationen wider (vgl. dazu Kap. 2 dieser Arbeit). Nicht zuletzt greifen aktuelle Ausgaben von Zeitschriften für Deutschlehrer das Aufgaben-Thema auf, um die Aufmerksamkeit der Lehrerinnen und Lehrer für die Bedeutung von Aufgaben im Deutschunterricht zu schärfen (z. B. Deutschunterricht 2008, H. 5; Praxis Deutsch 2009, H. 214). Was Aufgaben für Leistungssituationen betrifft, wird die deutschdidaktische Forschung u. a. durch die Aufgabenentwicklung am IQB2, an der auch Deutschdidaktiker/innen beteiligt sind, vorangetrieben. Worüber bislang keinerlei Forschungsbefunde vorliegen, sind die Fragen, was für Aufgaben in Lernsituationen des Literaturunterrichts tatsächlich verwendet werden, warum und wie das geschieht. Interessiert man sich aus diesem Blickwinkel für den Aufgabeneinsatz im Unterricht, rücken die Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer in besonderer Weise in den Fokus der deutschdidaktischen Forschung. Die Lehrkräfte sind es nämlich, die die Entscheidung darüber treffen, was für Lernaufgaben gestellt werden. Die Lehrerinnen und Lehrer übernehmen bzw. modifizieren Aufgaben aus Lehrwerken und Unterrichtsmaterialien, oder sie verwerfen diese und konstruieren selbst Lernaufgaben. Die Lehrpersonen sind also die zentrale Schnittstelle beim Aufgabeneinsatz im Unterricht. Die Aufgabenauswahl bzw. -konstruktion sowie der Einsatz der Aufgaben im Unterricht erfordert professionelle Kompetenz seitens der Lehrpersonen. Dass den Lehrkräften und ihrem Beitrag zu unterrichtlichen Lernprozessen und Lernergebnissen zunehmende Aufmerksamkeit zuteil wird, kann man im Kontext der aktuellen Bildungsreformen generell feststellen. Helmke (2009) etwa widmet im Unterschied zur früheren Fassung seines Handbuchs zur Unterrichtsqualität dem Thema Lehrerprofessionalität (…) angesichts der zunehmend deutlicher gewordenen Bedeutung der Lehrperson und ihrer professionellen Kompetenzen nunmehr ein eigenes Kapitel (Helmke 2009, 15; Hervorhebung ebd.). 1 2
Eine entsprechende Sektion gab es in Weingarten 2006 und Köln 2008; auch für das Symposion Deutschdidaktik in Bremen 2010 ist eine Aufgaben-Sektion in Planung. Die Abkürzung IQB steht für das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (Berlin), zu dessen Hauptaufgaben die Weiterentwicklung, Operationalisierung, Normierung und Überprüfung von Bildungsstandards gehört.
1 Fragestellung
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Das BMBF hat 2008 im Kontext des Rahmenprogramms zur Förderung der empirischen Bildungsforschung die „Entwicklung von Professionalität des pädagogischen Personals“ zu einem Forschungsschwerpunkt erklärt. Dies wird wie folgt begründet: Im Bildungssystem sind Wissen, Kompetenz und Handeln des pädagogischen Personals zentrale Voraussetzungen für die Lerngelegenheiten der Lernenden. (…) Wissenschaftlich fundiert können Qualifizierungsprozesse der pädagogischen Fachkräfte und eine Optimierung der Bildungsprozesse, für die sie ausgebildet werden, nur dann erfolgen, wenn ein Zusammenhang zwischen Professionswissen und Kompetenzen der Pädagog/-innen, der Qualität ihrer Tätigkeit und dem Ergebnis dieser Tätigkeit hergestellt werden kann. (http://www.empirische-bildungsforschung-bmbf.de/zeigen.html?seite=6355; letzter Aufruf 09.08.2010)
Die Ausschreibung des Förderschwerpunkts „Entwicklung von Professionalität des pädagogischen Personals in Bildungseinrichtungen“ richtet sich u. a. an Projekte, die auf „Identifizierung relevanter professioneller Kompetenzen (…) des pädagogischen Personals in spezifischen Domänen und Bildungsbereichen“3 zielen. Dabei werden, einem aktuellen Modell von professioneller Kompetenz folgend, Überzeugungen neben Wissen, Motivation und selbstregulativen Fähigkeiten ausdrücklich mit zur professionellen Kompetenz gezählt. Dies ist im Kontext der hier vorgelegten Arbeit von Bedeutung. Welche professionsbezogenen Überzeugungen Lehrerinnen und Lehrer haben, ist eine wichtige Fragestellung. Beispielsweise muss die Entwicklung von Aus- und Weiterbildungsprogrammen an entsprechende Erkenntnisse anknüpfen. So weisen Gräsel/Parchmann (2004) aus Sicht der Implementationsforschung darauf hin, dass bei Reformen im Bildungsbereich „Einstellungen der Lehrkräfte gegenüber der Innovation und Überzeugungen für die Umsetzung der Veränderung entscheidend sind“ (Gräsel/Parchmann 2004, 203): Bei einer zu hohen Abweichung vom Status quo kommt es bei den Beteiligten zu Ablehnung und Widerständen (…). Bei „kleinen Innovationen“ kann dagegen die Gefahr bestehen, dass zwischen der angestrebten Veränderung und der bestehenden Praxis kein wesentlicher Unterschied gesehen wird – und damit kein Bedarf, das eigene Handeln zu verändern. (Gräsel/Parchmann 2004, 201) 3
http://www.bmbf.de/foerderungen/12431.php (letzter Aufruf 09.08.2010).
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1 Fragestellung
Die Deutschdidaktik hat sich bislang wenig für die Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer interessiert. So kommt Unglaub (2006) allein nach einer Untersuchung deutschdidaktischer Handbücher dazu, vom „abhanden gekommene[n] Deutschlehrer in der Deutschdidaktik“ zu sprechen.4 Schwerer allerdings wiegt, dass die professionelle Kompetenz von Deutschlehrkräften bisher tatsächlich allenfalls punktuell erforscht ist (zuletzt Bräuer 2010). Für die deutschdidaktische Forschung gilt im Wesentlichen noch immer, was Ingrid Kunze bereits 2004 festgestellt hat: Deutschlehrer und -lehrerinnen sowie deren berufliches Wissen und deren berufliche Kompetenzen sind innerhalb der Fachdidaktik kein wichtiger Gegenstand systematischer empirischer Forschungen (…). Zugespitzt gesagt: Sie sind derzeit eine Marginalie. (Kunze 2004, 191)5
Die vorliegende Arbeit zielt gewissermaßen in den Überschneidungsbereich der beiden skizzierten Forschungszusammenhänge Aufgaben im Deutschunterricht und professionelle Kompetenz von Deutschlehrkräften. Sie bezieht dabei zwei Fragen aufeinander, nämlich 1. die Frage nach der Funktion von Lernaufgaben für das Verstehen literarischer Texte (Aufgaben als Steuerungsinstrument beim Lehren und Lernen) und 2. die Frage, welche Rolle Deutschlehrkräfte beim Einsatz dieses Steuerungsinstrumentes ‚Lernaufgaben im Literaturunterricht‘ spielen. Die Arbeit untersucht vor dem skizzierten Hintergrund, welche Lernaufgaben Deutschlehrkräfte am Gymnasium für den Umgang mit literarischen Texten im Unterricht bevorzugen. Wenn nämlich einerseits Aufgaben eine zentrale Rolle beim Lehren und Lernen spielen und andererseits Lehrkräfte eine zentrale Einflussgröße beim Aufgabeneinsatz sind, dann ist es wichtig zu wissen, was für aufgabenbezogene Überzeugungen Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer haben. 4
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Im soeben erschienenen literaturdidaktischen Teil des Handbuchs DTP (Band 11/2) allerdings findet sich ein Beitrag mit dem Titel „Lehrerkonzepte und Lehrerkompetenzen für den Lese- und Literaturunterricht“ (Kämper-van den Boogaart 2010) – ein Indiz für die zunehmende Aufmerksamkeit für die Rolle von Lehrkräften auch innerhalb der Deutschdidaktik. Dass dieses Forschungsdesiderat erkannt ist und zunehmend in konkrete Forschungsprojekte mündet, darauf weisen die zahlreichen Beiträge hin, die für die Sektion „Professionelle Kompetenz von Deutschlehrer/-innen“ auf dem Symposion Deutschdidaktik 2010 in Bremen gemeldet sind.
1 Fragestellung
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Als ‚Aufgabenpräferenzen‘ werden in dieser Untersuchung überindividuelle Einstellungen bzw. Überzeugungen von Deutschlehrkräften bezeichnet, die sich auf Textverstehensaufgaben und deren generelle Eignung für Lernsituationen im Literaturunterricht beziehen. Die erhobenen Einstellungen sind zunächst als handlungsfern einzuordnen; denn es handelt sich um Aufgabenpräferenzen, die losgelöst von einer konkreten Planungs- und Unterrichtssituation erfasst werden. Die Arbeit kann und will also nicht beanspruchen, Erkenntnisse darüber zu liefern, wie Lehrkräfte im Unterricht tatsächlich mit Aufgaben umgehen. Sie liefert aber wichtige Grundlagen für ein entsprechendes unterrichtsbezogenes Anschlussprojekt. Auch haben die festgestellten Aufgabenpräferenzen vermutlich zumindest bei der Planung von Literaturunterricht Orientierungs- und damit handlungsleitende Funktion. Dass sie nicht immer handlungsleitend im Unterrichtsgeschehen selbst sind, bleibt davon unberührt. Es besteht die begründete Annahme, dass Aufgabenpräferenzen für den Literaturunterricht mit allgemeinen lernprozessbezogenen Grundeinstellungen der einzelnen Lehrkraft zusammenhängen (vgl. z. B. Staub/Stern 2002; Mayr/Neuweg 2006). Das hier vorgestellte Projekt fragt deshalb nicht isoliert nach Aufgabenpräferenzen, sondern nimmt die Zusammenhänge zwischen lernprozessbezogenen Grundeinstellungen der Lehrpersonen und den präferierten Aufgabenmerkmalen in den Blick. Ein Aufgabenmerkmal, dem dabei besonderes Augenmerk gilt, ist der Entscheidungsspielraum (vgl. hierzu ausführlich Kap. 2.3.3). Denn der Entscheidungsspielraum, den eine Lernaufgabe eröffnet, hat zum einen als schwierigkeitsbestimmendes Aufgabenmerkmal zentrale Bedeutung für die Anregung und Steuerung von Lernprozessen. Zum anderen weist er als stark normativ besetztes Aufgabenmerkmal auf eine angenommene fachspezifische Aufgabenkultur hin. Einblick in die Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften und Einflussfaktoren ihrer Auswahlentscheidungen zu erhalten, ist in mehrerlei Hinsicht von Interesse. Erkenntnisse über vorherrschende Entscheidungsmuster von Lehrkräften bei der Aufgabenauswahl bieten eine wichtige Basis für die Entwicklung und erfolgreiche Implementierung notwendiger Lehreraus- und -weiterbildungsprogramme im Bereich der Aufgabeneinschätzung. Dass solche Programme erforderlich sind, darauf weisen u. a. die Defizite von Lehrplanexperten bei der zutreffenden Einschätzung der Schwierigkeit von Textverstehensaufgaben hin
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1 Fragestellung
(vgl. Artelt/Schlagmüller 2004). Die Notwendigkeit, in diesem Zusammenhang Erkenntnisse über aufgabenbezogene Einschätzungen von Lehrpersonen zu gewinnen, wird dadurch hervorgehoben, dass Lehrkräfte die Qualität von Lernaufgaben anders beurteilen als fachdidaktische Experten (vgl. Blömeke et al. 2006, 333). Eine zu große Diskrepanz zwischen vermittelten Inhalten in der Lehrerbildung und den diesbezüglichen Einstellungen der Lehrpersonen aber behindert den Erfolg von Qualifizierungsmaßnahmen (vgl. Gräsel/Parchmann 2004, s. o.). Außerdem sind die anvisierten Untersuchungsergebnisse auch von Bedeutung für die Entwicklung und Einführung von Unterrichtsmaterialien. So kann z. B. in Lehrerhandreichungen die didaktische Funktion einzelner Aufgaben für Lehrpersonen besser transparent gemacht werden, wenn man die Zusammenhänge der Akzeptanz einzelner Aufgabenmerkmale kennt. Schließlich liefert die vorliegende Studie eine wichtige Grundlage für die Erforschung des tatsächlichen Aufgabeneinsatzes im Literaturunterricht in einer notwendigen Anschlussuntersuchung, die u. a. fragen muss: Inwieweit sind die ermittelten Aufgabenpräferenzen im Unterricht handlungsleitend und beeinflussen darüber indirekt die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler? Die gesuchten Aufgabenpräferenzen der Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer werden mit Hilfe eines selbst entwickelten Fragebogens erhoben. Es handelt sich also um eine quantitativ ausgerichtete Untersuchung. Bei der Datenauswertung wird ein hypothesengeleitetes Vorgehen mit explorativen Auswertungsverfahren verknüpft. Fragebogenentwicklung und -auswertung werden in Kapitel 5 ausführlich erläutert und begründet. Die Entscheidung für ein quantitatives Vorgehen bei der Datenerhebung beruht auf der Zielstellung, für eine relativ breite Gruppe von Deutschlehrkräften Aussagen über deren aufgabenbezogene Präferenz-Muster treffen zu können. Mit dieser Methodenentscheidung haben die Untersuchungsergebnisse in der Breite zwar mehr Aussagekraft als etwa eine qualitative Fallstudie; die Begründung der Befunde jedoch kann nicht aus Probandensicht nachvollzogen werden, sondern beruht auf einer forscherseitigen Interpretation der Daten. Man hätte auf die Fragestellung dieser Arbeit sicher auch mit Hilfe einer Interview-Studie Antworten finden können. Dann wären im Vergleich zur Fragebogenerhebung Stärken und Schwächen der Untersuchungsmethode quasi mit ‚umgekehrten’ Vorzeichen
1 Fragestellung
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aufgetreten (differenzierte Begründungen von Aufgabenpräferenzen aus Probandensicht, kaum tragfähige Ergebnisse zu überindividuellen Präferenz-Mustern). Eine methodenbezogene Entweder-Oder-Entscheidung wie die hier skizzierte ist im Rahmen einer Einzeluntersuchung, die nicht in ein größeres Projekt eingebettet ist, aus forschungspragmatischen Gründen erforderlich. Den relativ breiten quantitativen Forschungsergebnissen empirisch basierte qualitative Tiefe zu verleihen, muss das Ziel von Anschlussuntersuchungen sein. Aus den vorangehenden Überlegungen ergeben sich für die folgende Darstellung vier Hauptkapitel (Kap. 2 bis 5): Kapitel 2 nimmt die allgemeine didaktische wie die deutschdidaktische Aufgabenforschung in den Blick, um darauf gestützt den Aufgabenbegriff und die Forschungsperspektive der vorliegenden Arbeit darzulegen. Bezogen auf das Textverstehen generell und das Verstehen literarischer Texte im Besonderen gelten Aufgabenstellungen als ein Einflussfaktor unter anderen. Es geht deshalb in Kapitel 3 darum, die Rolle von Aufgabenstellungen im Wechselspiel der Bestimmungsfaktoren von Textverstehen herauszuarbeiten. In diesem Punkt leistet die vorliegende Arbeit einen Beitrag zur Systematisierung der deutschdidaktischen Diskussion zu Textverstehensaufgaben. Anforderungen beim Textverstehen und ihre Regulierung durch Lernaufgaben sind nur bezogen auf einen konkreten Text und darauf zielende Aufgaben zu charakterisieren. Deshalb beziehen sich die Ausführungen im dritten Kapitel auf den Beispieltext und die Beispielaufgaben, mit denen der Fragebogen im Rahmen der empirischen Untersuchung (Kap. 5) operiert, nämlich auf Wolfgang Borcherts Kurzgeschichte „Das Brot“ und exemplarische Lehrbuch-Aufgaben zu diesem Text. Beides, Text und Aufgaben, werden ausführlich analysiert. Durch die Analyse der Beispielaufgaben werden zum einen die entwickelten Analysekriterien für Erarbeitungsaufgaben zu literarischen Texten auf ihren Erkenntniswert hin erprobt und zum anderen wichtige Grundlagen für die Diskussion der Ergebnisse der empirischen Untersuchung geschaffen. In Kapitel 4 wird herausgearbeitet, in welchem theoretischen Kontext die in der empirischen Untersuchung erhobenen ‚Aufgabenpräferenzen‘ anzusiedeln sind. Außerdem fasst dieses Kapitel den Forschungsstand zur professionellen Kompetenz von Deutschlehrkräften zusammen, soweit er für die Untersuchung der Aufgabenpräferenzen relevant ist.
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1 Fragestellung
Kapitel 5 schließlich referiert und diskutiert die Ergebnisse der empirischen Untersuchung zu Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften für den Literaturunterricht. Dabei ist auch die Leistung quantitativer empirischer Methoden für deutschdidaktische Fragestellungen zu reflektieren. Eine Forschungstradition, in die die vorliegende Arbeit einzuordnen wäre, gibt es nicht. Zwar wird spätestens seit PISA betont, dass deutschdidaktische Forschung eine empirische Wende zu vollziehen habe (vgl. Groeben 2005; Groeben/Hurrelmann 2006). Es existiert aber bislang kein Denk- oder Forschungsrahmen, der als Orientierung für entsprechende Arbeiten dienen könnte. Insofern ist diese Untersuchung auch als Beitrag im Kontext der induktiven Herausbildung einer deutschdidaktisch-empirischen Forschungslinie zu lesen, zu deren Anliegen es zählt, Methoden empirisch-sozialwissenschaftlicher Forschung bezogen auf spezifisch deutschdidaktische Fragen zum Erkenntnisgewinn zu nutzen. Hierbei kann es nicht darum gehen, sich den gesetzten Paradigmen für empirische Untersuchungen in anderen Disziplinen wie etwa in der Psychologie unterzuordnen. Vielmehr kommt es darauf an, innerhalb der Deutschdidaktik zu klären, wie eine domänenadäquate Kombination von Forschungsansätzen, also des Einsatzes empirischer Methoden und der Modellierung gegenstandsbezogener Theorien, aussehen kann.
2 Lernaufgaben als Untersuchungsgegenstand
Dieses Kapitel dient in erster Linie dazu zu klären, was in dieser Arbeit unter „Lernaufgaben“ verstanden wird (Kap. 2.1), was für ein Typ von Lernaufgaben in dieser Arbeit im Mittelpunkt der Untersuchung steht (Kap. 2.2) und welche Forschungsperspektive auf Lernaufgaben in der vorliegenden Untersuchung eingenommen wird (Kap. 2.3) und welche Aufgabenmerkmale aus dieser Perspektive relevant erscheinen (Kap. 2.3.3). Im Gesamtzusammenhang der Untersuchung wird dadurch verdeutlicht, welcher Typ von Aufgaben und welche Aufgabenmerkmale ausgewählt wurden, um die Aufgabenpräferenzen der befragten Deutschlehrkräfte zu erheben (Kap. 5). D. h. es geht darum, die Einstellungsobjekte allgemein zu bestimmen, auf die sich die gesuchten aufgabenbezogenen Einstellungen („Aufgabenpräferenzen“) der Lehrpersonen beziehen. Um den Aufgabenbegriff, den fokussierten Aufgabentyp und die Untersuchungsperspektive dieser Arbeit zu bestimmen, sind Abgrenzungen von anderen möglichen Begriffsauffassungen, Aufgabentypen und Forschungsperspektiven und damit eine Systematisierung des Forschungsfeldes Aufgaben notwendig. Aus dieser Notwendigkeit resultiert ein zweites Anliegen des folgenden Kapitels, nämlich einen deutschdidaktischen Beitrag zur „Kartographierung“ der bisher nicht gerade übersichtlichen Aufgabendiskussion zu leisten. Deshalb ist die folgende Darstellung in Teilen etwas ausführlicher, als sie es für eine bloße Bestimmung der in der empirischen Untersuchung genutzten Einstellungsobjekte sein müsste.
I. Winkler, Aufgabenpräferenzen für den Literaturunterricht, DOI 10.1007/978-3-531-92698-8_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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2 Lernaufgaben als Untersuchungsgegenstand
2.1 Begriffsklärung: Lernaufgaben Diese Arbeit geht von einem Aufgabenbegriff aus, der Aufgaben unterschiedlicher Komplexität und Offenheit1 umfasst und hinsichtlich dieser Merkmale keine normativen Ansprüche an Aufgaben formuliert2. Der Aufgaben-Begriff dieser Arbeit integriert also sowohl Probleme als auch Aufgaben nach dem Begriffsverständnis der psychologischen Problemlöseforschung. Diesem Begriffsverständnis zufolge sind für die Bewältigung von Aufgaben Lösungsschritte bekannt, während bei Problemen „die entsprechenden Maßnahmen vom Problemlöser gefunden, erprobt, in die richtige Reihenfolge gebracht und schließlich auch durchgeführt werden müssen“ (Strohschneider 2006, 556). Den Aufgabenbegriff in einer didaktischen Arbeit entsprechend weit zu fassen, erscheint u. a. deshalb sinnvoll, weil es nicht allein von der Aufgabenstellung, sondern in erheblichem Maß vom Vorwissen der Lernenden abhängt, ob eine Anforderung für sie Problem- oder Aufgabencharakter im skizzierten Sinn hat (vgl. Dörner 31987, 10 f.). Auf übergeordneter Ebene werden im Folgenden Lern- und Leistungsaufgaben unterschieden (vgl. Köster 2003b; zuletzt auch Köster 2008a; Abraham/Müller 2009). Unter Leistungsaufgaben werden dabei standardisierte oder nicht-standardisierte Aufgaben verstanden, die dazu dienen, in Prüfungssituationen den erreichten Lernstand von Lernenden zu erheben. Standardisierte Aufgaben können dabei mit der Zielsetzung des sog. Systemmonitoring den Lernstand einer Altersgruppe erfassen (z. B. PISA, IGLU, TIMSS). Dienen standardisierte Aufgaben der Feststellung individueller Fähigkeiten und Fertigkeiten, werden i. d. R. eher Lernvoraussetzungen wie kognitive Grundfähigkeiten oder Lernstörungen (z. B. LRS) gemessen als erreichte Schulleistungen. Nicht-standardisierte Prüfungsaufgaben können extern gestellt sein, z. B. zentrale Abituraufgaben, oder als Klassenarbeiten von Lehrkräften aus dem eigenen Unterricht heraus entwickelt werden (vgl. Abraham/Müller 2009). Sie zielen auf die Erhebung des individuellen Lernstands, wobei Maßstab das Erreichen eines Kriteriums, aber je nach Prüfungskontext auch der individuelle Lernfortschritt oder der Vergleich mit den anderen Mitgliedern der Lerngruppe sein kann.
1 2
Die Begriffe Komplexität und Offenheit werden in Kapitel 2.3.3 geklärt. Vgl. zu einer solch normativen Perspektive auf Aufgaben Kap. 2.3.2.
2.1 Begriffsklärung: Lernaufgaben
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Lernaufgaben im Begriffsverständnis der vorliegenden Arbeit stimulieren und beeinflussen Lernprozesse.3 Die einzige Einschränkung besteht darin, dass in dieser Untersuchung allein Aufgaben berücksichtigt werden, die fachspezifische, also auf fachliche Gegenstände (Texte, Themen, Strukturen, Normen, Prozeduren, Strategien etc.) bezogene Lernprozesse anstoßen. Aufgaben, wie sie insbesondere der Literaturunterricht auch kennt, die in erster Linie den Leser und seine Lebenswelt anstelle des Textes und seines Kontextes fokussieren, ohne das auf diese Weise aktivierte Wissen explizit wieder auf den Lerngegenstand zurück zu beziehen, werden ausgeklammert.4 Wie Baumert/Kunter (2006) betonen, bieten auch Lernaufgaben diagnostische Möglichkeiten. Diese zu sehen und zu nutzen verlangt von Lehrkräften die Bereitschaft und Fähigkeit, das Verständnis von Schülerinnen und Schülern gezielt im Lernprozess selbst und nicht erst in Klassenarbeiten oder Tests zu überprüfen. Es ist eine große Herausforderung an das fachdidaktische Können, Aufgaben auszuwählen und Arbeitsaufträge zu formulieren, die ein besonderes diagnostisches Potential in sich selbst tragen (…) (Baumert/Kunter 2006, 489).
Damit ist nicht der Verquickung von Lern- und Leistungssituation das Wort geredet: Werden Lernaufgaben für diagnostische Zwecke genutzt, geht es darum, Lernprozesse zu beobachten, nicht darum, Lernergebnisse zu bewerten (vgl. z. B. Praxis Deutsch, 2005, H. 194, „Lesen beobachten und fördern“). Eine grundsätzliche Unterscheidung bezogen auf Lernaufgaben, auf die Legutke (2006) hinweist, ist bereits jetzt einzuführen: Es ist zu trennen zwischen Lernaufgaben als Plan (task as plan) und Lernaufgaben im tatsächlichen Unterrichtsverlauf (task in process). Lernaufgaben als Plan sind Aufgaben, so wie sie 3
4
Dass Lernaufgaben dabei mehr sind als „Katalysatoren“ von Lernprozessen, weil sie diese nicht nur anstoßen, sondern begleiten und prägen, darauf hat Neuweg (2008, 84, Fußnote 2) hingewiesen. Hier zwei Beispiele für Aufgabenstellungen mit dem Fokus Schüler-Leser-Lebenswelt, wie sie sich in Lehrwerken finden: (1) Zu Ingeborg Bachmanns Gedicht Reklame (aus: Lesebuch 9, 2000, 69): „Dieses Gedicht behandelt vorrangig die Wirkung und Absicht von Werbung. Selbst vor dem Tod macht sie heute nicht halt. Sucht Beispiele dafür aus der Zeitung und eurer Umgebung.“ (2) Zu Goethes Willkommen und Abschied und Robert Gernhardt, Doppelte Begegnung am Strand von Sperlonga (aus: Unser Lesebuch 9, 2004, 57): „Wenn ihr selbst ein Gedicht über eine Begegnung zwischen einem Jungen und einem Mädchen schreiben würdet, wo und wann und in welcher Atmosphäre würdet ihr diese Begegnung stattfinden lassen?“
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2 Lernaufgaben als Untersuchungsgegenstand
im Lehrwerk oder in der Unterrichtsvorbereitung der Lehrperson konzipiert sind. In der konkreten unterrichtlichen Umsetzung können Lernaufgaben von der geplanten Aufgabenstellung abweichen. Dass Plan und Umsetzung u. U. nicht korrespondieren, kann daran liegen, dass die Lehrkraft in der konkreten Unterrichtssituation die Aufgabe bewusst oder unbewusst modifiziert. Ein anderer möglicher Grund für die Differenz von Aufgaben-Plan und AufgabenUmsetzung liegt darin, dass die Lernenden die Aufgabe anders als intendiert auffassen und umsetzen: Dabei handelt es sich nicht nur um individuelle Vorgänge, sondern vielmehr um (häufig) in Gruppen generierte Vorstellungen über die Aufgabenbearbeitung (Legutke 2006, 141).
Die Aufgaben, die Gegenstand meiner Untersuchung sind, haben den Stellenwert von tasks as plan – es handelt sich also nicht um Aufgaben im tatsächlichen Unterrichtseinsatz. Als wesentliches Unterscheidungsmerkmal von Lernaufgaben dient in der folgenden Typologie ihr didaktisches Ziel, verstanden als erwünschtes Lernergebnis, und die damit in Beziehung stehenden spezifischen Anforderungen, die bei der Lösung einer Aufgabe zu bewältigen sind.5 Dass das didaktische Ziel einer Aufgabe als Aufgabenmerkmal zentral gesetzt wird, ergibt sich aus der Begriffsbestimmung von Lernaufgaben. Wenn man davon ausgeht, dass Lernaufgaben nicht der mehr oder minder zufälligen bloßen Beschäftigung von Lernenden dienen, sondern der Anregung und Begleitung von Lernprozessen im institutionellen Rahmen, steht dahinter die Vorstellung von der Zielorientierung unterrichtlichen Handelns und damit auch des Aufgabeneinsatzes. Maßgebliches Kriterium bei der Einschätzung von Lernaufgaben ist vor diesem Hintergrund die Frage, was Schülerinnen und Schüler durch die Bearbeitung einer Aufgabe lernen bzw. erkennen können. Alle Entscheidungen hinsichtlich der Gestaltung variabler Aufgabenmerkmale müssen letztlich von der didaktischen Zielsetzung ausgehen, die mit der betreffenden Aufgabe verfolgt wird. Deshalb erscheint es
5
Didaktisches Ziel und Anforderungsprofil einer Aufgabe müssen korrespondieren, wenn eine Aufgabe zweckmäßig sein soll.
2.2 Typen von Lernaufgaben
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untersuchungsmethodisch zweckmäßig, bei einer Typologie von Lernaufgaben von diesem Merkmal auszugehen. Die Frage, was sich durch die Bearbeitung einer Lernaufgabe lernen bzw. erkennen lässt, kann auf verschiedenen Konkretisierungsebenen beantwortet werden. Auf einer ersten, übergeordneten Ebene liegt die Unterscheidung nach dem allgemeinen didaktischen Ziel von Lernaufgaben. Es ergeben sich auf dieser Ebene drei Typen von Lernaufgaben, nämlich Erarbeitungs-, Übungs- und Evaluationsaufgaben. Diese Aufgabentypen lassen sich in allen Lern- bzw. Kompetenzbereichen des Deutschunterrichts bestimmen. Die vorliegende Untersuchung nimmt Erarbeitungsaufgaben in den Blick, die literarische Texte zum Gegenstand und deren – näher zu differenzierendes – Verständnis (vgl. dazu Kap. 3.4) zum didaktischen Ziel haben. Wie eingangs bereits angedeutet, geschieht die Bestimmung von Erarbeitungsaufgaben auch über deren Abgrenzung von Übungs- und Evaluationsaufgaben. Deshalb und als systematisierender Beitrag zur deutschdidaktischen Aufgabendiskussion wird im Folgenden das Anforderungsprofil von Erarbeitungs-, Übungs- und Evaluationsaufgaben genauer erläutert. Vorweg zu schicken ist, dass die Unterscheidung der genannten Typen von Lernaufgaben letztlich heuristischen Zwecken dient. Im konkreten Einzelfall sind Überschneidungen möglich, wie die folgenden Ausführungen ebenfalls zeigen.
2.2 Typen von Lernaufgaben: Zum Anforderungsprofil von Erarbeitungs-, Übungs- und Evaluationsaufgaben Die hier sog. Erarbeitungsaufgaben sind auf gegenstandsbezogene Erkenntnis, also auf Weiterverarbeitung bzw. Anreicherung fachspezifischer Gegenstände gerichtet. Die beim Lösen von Erarbeitungsaufgaben erbrachten mentalen Teilleistungen können in Schriftäußerungen materiell greifbar werden, dies muss aber nicht der Fall sein. Der Ausgangszustand bei Erarbeitungsaufgaben kann vom Bearbeiter als ‚Lücke‘ wahrgenommen werden, etwa wenn sich der Zusammenhang zwischen gegebenen Informationen nicht unmittelbar ohne die Nutzung externen Wissens erschließt oder wenn Informationen, die für die Lösung der Aufgabe relevant sind, neu erarbeitet werden müssen. Diese Aufgaben-
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2 Lernaufgaben als Untersuchungsgegenstand
stellungen sind schwerpunktmäßig durch die Anwendung von Elaborationsstrategien zu meistern, deren zentrales Prinzip darin besteht, „neue Informationen in bestehende Wissensstrukturen (z. B. Vorwissen, Vorstellungsbilder) zu integrieren“ (Friedrich/Mandl 2006, 2) und diese dadurch anzureichern. Eine andere Variante von Erarbeitungsaufgaben ist im Ausgangszustand eher durch ein Zuviel an vorhandenen Informationen gekennzeichnet und macht die Bewältigung der Informationsfülle mit Hilfe von Organisationsstrategien erforderlich (vgl. zu ‚Lücke‘ bzw. Komplexität als Ausgangszustände bei der Aufgabenbearbeitung ausführlicher unten Kap. 2.3.3). Diese zielen darauf ab, einzelne Informationen zu ermitteln (selektives Lesen) oder „neues Wissen zu organisieren und zu strukturieren, indem die zwischen den Wissenselementen bestehenden inhärenten Verknüpfungen herausgearbeitet werden“ (Friedrich/Mandl 2006, 4). Dabei kommt auch bei diesen reduktiven Teilprozessen Vorwissen zum Einsatz, fungiert aber weniger anreichernd als vielmehr als Strukturierungshilfe. Beim Einsatz von Organisationsstrategien geht es also um das Herstellen von lernstoffinternen Bezügen, während Elaborationsstrategien auf den „Aufbau von Verbindungen zu lernstoff-externen Gedächtnisinhalten“ zielen (Schroeder 2006, 212). Für den Kompetenzbereich Lesen ist in diesem Zusammenhang auf die Unterscheidung textimmanenter und wissensbasierter Verstehensleistungen hinzuweisen, wie PISA sie vorgenommen hat (Artelt et al. 2004). Es zeigt sich aber auch, dass gerade beim verstehenden Lesen literarischer Texte elaborative und reduktive Teilprozesse schwer zu trennen sind (vgl. unten Kap. 3.4). Bei denjenigen Lernaufgaben, die für die Erhebung der Aufgabenpräferenzen von Lehrkräften als Einstellungsobjekte ausgewählt wurden, handelt es sich ausschließlich um Erarbeitungsaufgaben zum Textverstehen – Aufgaben also, bei denen ein literarischer Text Untersuchungsgegenstand und Erkenntnisobjekt ist. Ausführliche Beispielanalysen zu Erarbeitungsaufgaben zum Textverstehen finden sich unten in Kap. 3.5.3. Übungsaufgaben zielen in erster Linie auf die Automatisierung von Abläufen (Skripts) und die Prozeduralisierung von Wissen (Schemata). Um diese Ziele zu erreichen, ist der Einsatz von Wiederholungsstrategien unabdingbar. Der Kategorie der Übungsaufgaben sind z. B. Aufgaben zuzuordnen, denen es vor allem um die Ausbildung von Lernstrategien geht oder um die zunehmend geläufigere und immer weniger bewusste Anwendung von Regeln. Diese Aufgaben
2.2 Typen von Lernaufgaben
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sind nicht didaktisch minderwertig, weil sie ggf. kognitiv weniger anspruchsvoll sind (vgl. eine entsprechende Einschätzung z. B. unten in Kap. 2.3.2). Ohne Automatisierungsprozesse, die den Arbeitsspeicher entlasten und für die Bewältigung anderer Teilanforderungen frei machen, ist keine Expertise in einer Domäne zu erreichen.6 Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch, dass Wiederholungsstrategien nicht verkürzt als kognitiv eher anspruchsarme Oberflächenstrategien aufzufassen sind, die allein dem Memorieren zu lernender Inhalte unabhängig vom Verstehen dienen. Wie Steiner (2006) ausführt, können sich Wiederholungsstrategien auf das Einprägen (Enkodieren), Abrufen und Anwenden von zu lernenden Inhalten beziehen. Die Grenzen zu Elaborationsstrategien können dabei fließend sein, wenn etwa beim Einprägen gezielt und systematisch „Bedeutungen aus dem Vorwissen abgerufen und mit der neuen Information (…) in eine semantische Beziehung gesetzt werden“ (elaborative Wiederholungsstrategien; Steiner 2006, 103). Ein Beispiel für solche semantischen Enkodierungen wäre etwa das Finden von sog. Eselsbrücken. Der erwünschte Effekt des Wiederholens besteht darin, dass sich die Bestandteile des Wissens zu „umfassenderen, als Ganzheiten abrufbaren Informationspaketen (chunks)“ verbinden, die als solche zunehmend leichter abrufbar sind und auf diese Weise prozeduralisiert werden (Steiner 2006; Zitat ebd., 105). Übungsaufgaben verbindet man im Deutschunterricht vor allem mit den Bereichen Grammatik und Rechtschreiben. Aber auch im Kompetenzbereich Lesen spielen Übungsaufgaben eine Rolle, und zwar nicht nur, wenn es um den Erwerb von fluency (vgl. Rosebrock/Nix 2006 u. 2008) geht. Exemplarisch sei folgende Aufgabe angeführt, die vor allem auf die Verankerung (das Einprägen und Abrufen) literarischen Wissens ausgerichtet ist: Du hast bisher zwei Kurzgeschichten kennengelernt: Am Roten Forst von Werner Klose und Nachts schlafen die Ratten doch von Wolfgang Borchert. Belege die vier weiteren Merkmale [der Gattung Kurzgeschichte] aus dem nebenstehenden Informationskasten an einem der beiden Texte. (Tandem 4, 2006, 157; Hervorhebung ebd.)
Diese Aufgabe bezweckt in erster Linie, bei den Lernenden die Kenntnis gegebener Kurzgeschichtenmerkmalen zu festigen und sie in die Lage zu versetzen, 6
Auch gilt: „Wiederholungen und Übungen des zu Lernenden sind notwendige Mittel gegen das Vergessen“ (Weinert 1996, 11). Vgl. zum Üben auch Helmke (2009, 200-204).
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2 Lernaufgaben als Untersuchungsgegenstand
entsprechende Merkmale in Beispieltexten wahrzunehmen. Die Aufgabe zielt nicht darauf ab, die Texte besser zu verstehen oder zu deuten (vgl. zum didaktischen Potenzial dieser Aufgabe kritisch Winkler 2007b). Auch Aufgaben, die vor allem dazu dienen, den Einsatz bestimmter elaborativer oder reduktiver Strategien zu automatisieren und selbstverständlich werden zu lassen, fungieren im Wesentlichen als Übungsaufgaben im Sinne eines wiederholten Anwendens. So findet sich immer wieder die Aufgabe, vom Titel eines Textes ausgehend vor der Lektüre das Vorwissen zum Thema zu aktivieren bzw. entsprechende Leseerwartungen zu formulieren (z. B. zu Borcherts „Das Brot“ in Deutsch plus 9, 2004a, 246; zu einem Sachtext in Texte lesen – Texte verstehen, 2004, 42). Diese Aufgaben fördern, wenn sie wie in den genannten Beispielen sinnvoll angelegt sind und in einer zweiten Teilaufgabe zur Verknüpfung von Vorwissen und Erwartungen mit den Informationen des Textes anregen, auf alle Fälle die Ausbildung elaborativer Lesestrategien. Ob der didaktische Schwerpunkt der Aufgabe im Einzelfall eher auf dem Üben von Strategien (Übungsaufgabe) oder auf dem Verstehen des Textes (Erarbeitungsaufgabe) liegt, hängt vom konkreten Lehr-/Lernkontext ab. Die Materialien allein geben für die didaktische Einordnung der Aufgaben allenfalls Anhaltspunkte. So dürfte bei den genannten Beispielen die Aufgabenstellung in Texte lesen – Texte verstehen (2004), einem Arbeitsheft zur Ausbildung von Lesestrategien, sicher eher als Übungsaufgabe einzuordnen sein als die entsprechende Aufgabe zu Borcherts „Das Brot“ in Deutsch plus 9. In letzteren Fall steht die Aufgabe im Kontext eines Kapitels zum Interpretieren von Kurzgeschichten – der Einsatz der Lesestrategie ist hier demnach mehr Lernmedium als Lerngegenstand. Evaluationsaufgaben schließlich halten Lernende dazu an, den eigenen Lernprozess und/oder eigene oder fremde Lernergebnisse kriteriengeleitet auf Angemessenheit hin zu reflektieren, also z. B. zu fragen, inwieweit eine eingesetzte Lesestrategie zur Erreichung des Leseziels beigetragen hat oder inwieweit beim Schreiben ein Entwurf den Anforderungen an das Endprodukt entspricht. Evaluationsaufgaben haben schwerpunktmäßig die Ausbildung selbstregulierten Lernens zum Ziel. Wie Artelt et al. (2001) unter Bezugnahme auf Simons (1992) ausführen, äußert sich selbstreguliertes Lernen darin, dass Lernende in der Lage sind, „sich selbstständig Lernziele zu setzen, dem Inhalt und Ziel angemessene Techniken und Strategien auszuwählen und sie auch einzusetzen. Ferner halten
2.2 Typen von Lernaufgaben
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sie ihre Motivation aufrecht, bewerten die Zielerreichung während und nach Abschluss des Lernprozesses und korrigieren – wenn notwendig – die Lernstrategie“ (Artelt et al. 2001, 271). Selbstreguliertes Lernen erfordert also den Einsatz metakognitiver Strategien wie der Planung, Überwachung und Steuerung von Lernprozessen und der Evaluation der Zielerreichung (vgl. ebd., 272). Auch Erarbeitungs- und Übungsaufgaben können zur Ausbildung selbstregulierten Lernens beitragen, Erarbeitungsaufgaben können es je nach gebotenem Entscheidungsspielraum gar in hohem Maß voraussetzen. Das Charakteristikum von Evaluationsaufgaben besteht darin, dass sie entsprechende metakognitive Prozesse ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken. Die Ausgangssituation bei Evaluationsaufgaben sind jeweils auf einer Metaebene Fragen wie die folgenden: Inwieweit hat ein Problemlöseprozess (i. d. R. angestoßen vom Bearbeiter selbst oder von einer extern gestellten Erarbeitungsaufgabe) zur Erreichung eines Ziels beigetragen? (Selbstevaluation) Inwieweit kann ein Ziel (eine fachspezifische Problemlösung) als erreicht gelten? (Selbst- oder Fremdevaluation) Wie ist der Stand der eigenen Kompetenzentwicklung einzuschätzen? (Selbstevaluation) Dass Evaluationsaufgaben metakognitive Prozesse anstoßen, impliziert zugleich, dass sie sich auf Lern- und Problemlöseprozesse unterhalb der Metaebene beziehen, dass sie also in der Regel an Erarbeitungs- oder Übungsaufgaben gekoppelt sind. Evaluationsaufgaben als eigenen Typ von Lernaufgaben zu betrachten, legen seitens der Deutschdidaktik Abraham et al. (2007) nahe, wenn sie postulieren, dass kompetenzorientierter Unterricht Aufgaben brauche, „über deren Bearbeitung Schüler Fähigkeiten entwickeln und Erfolge im Lernprozess überprüfen können“ (Abraham et al. 2007, 8; Hervorhebung I. W.).7 Auch Abraham/Müller (2009) betonen die Relevanz, „Schülerinnen und Schüler stärker für das eigene Lernen verantwortlich zu machen“ und eine entsprechende „Rückmelde- und Evaluationskultur“ zu etablieren (ebd., 9). In der Forderung, in Lernsituationen Evaluationsaufgaben zu stellen, spiegelt sich wider, dass die gegenwärtige Di7
Astleitner (2008, 74) betrachtet es als Ziel von Übungsaufgaben, „ein selbstständiges Lernen und Überprüfen des Lernerfolgs [zu] ermöglichen“ und sieht entsprechend keine eigene Aufgabenkategorie Evaluationsaufgaben vor.
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2 Lernaufgaben als Untersuchungsgegenstand
daktik stark von konstruktivistischen Lehr-Lern-Theorien beeinflusst ist, die das selbstgesteuerte Lernen zentral setzen (vgl. auch Kleppin 2006). Dazu zählt auch, die Lernenden „eine selbstständige Optimierung ihrer Problemlösestrategien finden zu lassen“ (Schroeder 2006, 217; Hervorhebung ebd.).8 Unter welchen Bedingungen Evaluationsaufgaben tatsächlich zum Kompetenzerwerb beitragen können, bleibt zu erforschen. Einzelne Untersuchungen aus der Schreibdidaktik zeigen für die Evaluation von Lernergebnissen und -prozessen durch Schülerinnen und Schüler neben positiven Effekten durchaus auch Grenzen auf (vgl. Fix 2004). Ein Aufgabenbeispiel aus dem Bereich Lesen/Umgang mit Texten, das die Überprüfung der Zielerreichung einfordert, ist das folgende. Es bezieht sich auf Georg Brittings Erzählung „Brudermord im Altwasser“, die endet, ohne eine Lösung des dargestellten Konflikts zu bieten. Das Beispiel schließt sich an eine Aufgabe an, die die Lernenden dazu auffordert, sich mögliche Fortsetzungen der Erzählung zu überlegen und „unterschiedliche Schlüsse“ zu notieren9: Stellt eure Schlüsse in der Klasse vor und überprüft, ob sie mit dem Text verträglich sind. (Deutsch vernetzt 8, Themen und Sprache, 2002, 116)
Das vorangehende Notieren der Schlüsse ist in diesem Fall eine Aufgabe zur elaborierenden Erarbeitung; die Ergebnis-Varianten der Elaboration sind unter Berücksichtigung der Textbasis auf ihre Angemessenheit hin zu evaluieren, und zwar von den Lernenden selbst (Anrede in der 2. Person Plural). Das Beispiel 8
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Entsprechende Zielstellungen finden ihren Niederschlag auch in den Bildungsstandards, in denen der selbstständige und bewusste Einsatz von Lernstrategien das Bild vom Wunsch-Lerner prägt; dazu kritisch Spinner 2005. „Überlegt, wie die Kurzgeschichte weitergehen könnte und notiert unterschiedliche Schlüsse.“ (Deutsch vernetzt 8, Themen und Sprache, 2002, 116). Diese Teilaufgabe wurde bei der mehrfachen Erprobung in Seminaren mit Studierenden stets auf zwei verschiedene Arten gelöst: Die Studierenden bieten einerseits Stichwortlisten mit verschiedenen möglichen Schlüssen an, andererseits schreiben sie konkrete Fortsetzungen des Originaltextes im Duktus Brittings. Insofern ist diese Teilaufgabe ein Beispiel dafür, welche unterrichtspraktischen Folgen ein hoher Entscheidungsspielraum bezogen auf das Produkt einer Aufgabenbearbeitung hat – die Lösungsvielfalt stellt die Lehrperson vor hohe Anforderungen hinsichtlich ihrer Moderatorenkompetenz. In diesem Fall ist der hohe Entscheidungsspielraum bezogen auf das Produkt zum einen bedingt dadurch, dass die Aufgabe eine größere Zahl von (geistigen) Lösungen – also Ideen für die Fortsetzung der Erzählung – zulässt, es also keine eindeutig richtige Lösung gibt. Zum anderen besteht der Entscheidungsspielraum auch in der Vagheit der Aufforderung „notiert“; denn notieren kann man Stichpunkte, aber eben auch Entwürfe zusammenhängender Textteile.
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2.2 Typen von Lernaufgaben
verdeutlicht auch, dass über die Evaluation der Schülerlösungen wiederum eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Ausgangstext als Erkenntnisobjekt erfolgen kann – einmal mehr zeigt sich also der fließende Übergang von Evaluations- zu Erarbeitungsaufgaben.10 Die voranstehenden Ausführungen zur Unterscheidung von Erarbeitungs-, Übungs- und Evaluationsaufgaben sind in Tabelle 2.1 zusammengefasst. Tab. 2.1:
Typen von Lernaufgaben
Aufgabentyp
Erarbeitungsaufgaben
Übungsaufgaben
Evaluationsaufgaben
Didaktisches Ziel
Durchdringen, Anreichern und Bewerten von fachspezifischen Gegenständen (Erkenntnisobjekten)
Prozeduralisierung von Vorwissen, Automatisierung von Abläufen
Reflexion von Lernprozess/ Lernergebnis/ Stand der eigenen Kompetenzentwicklung
Diagnostisches Potenzial
Beobachtung individueller Lernprozesse
Festzuhalten ist gleichfalls noch einmal, dass die Unterscheidung von Erarbeitungs-, Übungs- und Evaluationsaufgaben hier allein heuristische Funktion hat. In Anwendungssituationen interagieren die bei der Aufgabenbearbeitung geforderten Teilprozesse. So erfordern Erarbeitungsaufgaben implizit auch die Überwachung und Steuerung des Lernprozesses, also den Einsatz metakognitiver Strategien. Ebenso fördert das Lösen von Erarbeitungsaufgaben die Ausbildung und Automatisierung von Schemata und Skripts, während umgekehrt das Lösen 10 Eine exemplarische (Selbst-)Evaluationsaufgabe aus dem Bereich Schreiben findet sich in Deutsch plus 9 (2004a, 228): „Dokumentiere alle deine Arbeitsschritte (Materialsammlung, Stichwortzettel, Ideen, die du nutzen konntest, aber auch die, die du verworfen hast, Gliederungsversuche, Textvarianten, Überarbeitungen deines Textes) in einer Sammelmappe. So kannst du bei einer ähnlichen Aufgabenstellung die Arbeitsschritte einfacher nachvollziehen und deinen Lernfortschritt beurteilen.“ In diesem Beispiel ist die Dokumentation der Produktionsstadien des entstehenden Textes das Mittel, um die Lernenden zur Reflexion des Schreibprozesses und der eigenen Kompetenzentwicklung anzuhalten (zu Defiziten dieser Aufgabe aus didaktischer Sicht vgl. Winkler 2006, 161, Fußnote 16).
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2 Lernaufgaben als Untersuchungsgegenstand
von Übungsaufgaben nie ohne inhaltliches Ergebnis bleibt und somit i. d. R. zumindest zur partiellen Durchdringung fachspezifischer Gegenstände führt. Die hier vorgenommene Trennung der verschiedenen Typen von Lernaufgaben dient allein dazu zu unterstreichen, welche Art von Lernprozessen jeweils Kern der didaktischen Zielsetzung ist. Überschneidungen sind im konkreten Einzelfall durchaus möglich. Es gilt nun, verschiedene Forschungsperspektiven auf Lernaufgaben im Überblick vorzustellen. Diese Ausführungen dienen in erster Linie dazu, begründet darzulegen, aus welchem Blickwinkel Lernaufgaben – genauer: Erarbeitungsaufgaben, die sich auf literarische Texte beziehen – in dieser Arbeit untersucht werden.
2.3 Perspektiven der Erforschung von Lernaufgaben Ein generelles Problem bei der Charakterisierung von Lernaufgaben liegt darin, dass diese mit einer ganzen Reihe anderer Unterrichtsvariablen vielfältig verknüpft sind: Die einzelne Aufgabe ist in der Regel in größere inhaltliche und didaktische Lernzusammenhänge (Aufgabensets, Unterrichtsreihen, Projekte) und überaus variable situative Arrangements (z. B. räumlich-zeitlicher Rahmen der Aufgabenbearbeitung, Sozialform der Aufgabenbearbeitung) eingebettet. Die Aufgabenbearbeitung kann von den Lernenden verschiedene materielle Tätigkeiten einfordern (Sprechen, Schreiben, Zeichnen, szenisch Darstellen usw.), ohne dass dadurch etwas über die erforderlichen geistigen Operationen einerseits und die Qualitätsanforderungen an Produkte andererseits ausgesagt ist. Hinzu kommt, dass die didaktische Einschätzung von Lernaufgaben weder isoliert von den Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler noch von den jeweiligen Lerngegenständen geschehen kann (vgl. dazu ausführlicher Kap. 3.1). Als zentrale Einflussgröße für den Aufgabeneinsatz im Unterricht ist außerdem die Lehrperson zu nennen, die die Lernaufgaben konstruiert oder auswählt und in den Unterricht einbringt und dabei u. a. von persönlichen Präferenzen, aber auch von der fachspezifischen Aufgabenkultur beeinflusst ist (zur Rolle der Lehrperson beim Aufgabeneinsatz vgl. unten, Kap. 4 und 5).
2.3 Perspektiven der Erforschung von Lernaufgaben
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Trotz dieser Schwierigkeiten bei der Bestimmung des Untersuchungsfeldes kann man feststellen, dass die Relevanz von Lernaufgaben in letzter Zeit verstärkt in den Blick der allgemeinen Bildungsdiskussion gerückt ist (als eines der ersten Symptome dafür Ball et al. 2003; zuletzt z. B. Thonhauser 2008). Disziplinen, die sich schon länger mit der Bedeutung von Aufgaben bei der Initiierung und Steuerung von unterrichtlichen Lernprozessen auseinandersetzen, sind die Pädagogische Psychologie (im Überblick Reinmann/Mandl 2006; Astleitner 2006), die Allgemeine Didaktik (Tulodziecki et al. 2004) sowie einzelne Fachdidaktiken, so die Fremdsprachendidaktik (z. B. Ellis 2003; Skehan 2003; Bausch et al. 2006) und die Mathematikdidaktik (z. B. Bromme et al. 1990; Büchter/Leuders 2005; Blömeke et al. 200611). Ein bemerkenswerter Hinweis auf die zentrale Bedeutung von Aufgaben als Planungskategorie nicht nur im Deutschunterricht kommt aus der Schule (Lechner 2007). Innerhalb der Deutschdidaktik ist es Eikenbusch (2001), der einen ersten Vorschlag zur Unterscheidung lernrelevanter Aufgabenmerkmale vorgelegt und auf die zentrale Bedeutung von Aufgaben im Unterricht hingewiesen hat.12 Dieser Impuls wurde in der Literaturdidaktik zunächst v. a. von Köster aufgegriffen, die sich in der Folge wiederholt mit schwierigkeitsbestimmenden und verstehensfördernden Merkmalen von Textverstehensaufgaben auseinandergesetzt, sich dabei aber vor allem auf Aufgaben für Leistungssituationen bezogen hat (z. B. Köster et al. 2004; Köster 2005; zu Aufgaben in Lernsituationen: Köster 2007a).13 Inzwischen sind Aufgaben ein zentrales Thema der deutschdidaktischen Diskussion (vgl. z. B. Zabka 2006, Lindauer/Schneider 2007; Köster/Lindauer 2008; 11 Der Beitrag von Blömeke et al. (2006) führt die Perspektiven der Allgemeinen Didaktik, der Empirischen Bildungsforschung und der Mathematikdidaktik zusammen. 12 Lange vor der aktuellen Aufgabendiskussion weisen Bütow et al. (1977) auf die große Bedeutung von Aufgabenstellungen im Literaturunterricht hin. Sie fordern eine „zentrale Problemstellung als Ausgangs- und Bezugspunkt des unterrichtlichen Erschließens“ des jeweiligen Textes. Diese zentrale Problem- bzw. Aufgabenstellung sei zu konkretisieren in „weiteren Aufgabenstellungen, deren Logik sich aus der angeführten [zentralen] Aufgabe ergibt. Damit wird zugleich der Gang der Erkenntnistätigkeit skizziert (…)“ (Bütow et al. 1977, 157; Hervorhebung ebd.). Für die von ihnen angeführten exemplarischen Aufgaben heben die Autoren hervor: „(…) sie enthalten den Bezug auf den Schüler wie auch auf den Text“ (ebd., 158); d. h. Bütow et al. haben bereits ein auch heute hervorgehobenes Wechselverhältnis von Aufgaben, Lerner und Text im Blick (dazu ausführlicher unten, Kap. 3.1). 13 In der Schreibdidaktik hat z. B. Baurmann (2002) die Bedeutung von Aufgabenstellungen hervorgehoben und ein Raster zur Aufgabenanalyse vorgelegt: „Schreibaufgaben sind der Dreh- und Angelpunkt schulischen Schreibens“ (Baurmann 2002, 53).
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2 Lernaufgaben als Untersuchungsgegenstand
Didaktik Deutsch, Sonderheft Nr. 2/2008; Deutschunterricht H. 5, 2008; Praxis Deutsch, H. 214, 2009). Allerdings liegen noch kaum größere deutschdidaktische Arbeiten vor, die sich mit Aufgaben als Untersuchungsgegenstand befassen. Eine Ausnahme bilden hier Schäfers (2006), die sich aber ihrerseits vor allem auf die Aufgabenformulierungen beschränkt, und Schweitzer (2007). Auch scheint die deutschdidaktische Aufgabendiskussion schwerpunktmäßig nach wie vor eher Leistungsaufgaben bzw. Aufgaben zur Überprüfung und Entwicklung von Kompetenzmodellen zu berücksichtigen (Köster/Lindauer 2008, 155, BremerichVos/Grotjahn 2007, 161-166). Didaktische Lernaufgaben-analysen, die über ein einzelnes Unterrichtsmodell hinausweisen und die literaturdidaktische Aufgabendiskussion voranbringen, finden sich kaum (Zabka 2006; z. T. BremerichVos 2008). Leubner/Saupe (2008) konstatieren, dass „geschlossene Konzeptionen zu Aufgaben für den Literaturunterricht fehlen“ (ebd., 2), können mit ihrer Arbeit diese Lücke aber nicht schließen.14 Das wachsende Bewusstsein für die didaktische Relevanz von Aufgabenstellungen konkurriert in der Deutschdidaktik mit einer Perspektive auf Lernaufgaben, die das Aufgabenstellen weniger als didaktische Herausforderung denn als Methodenentscheidung betrachtet. Aus dieser Perspektive spielen Aufgabenstellungen traditionell eher eine marginale Rolle (Aufgaben als „verkannte Planungskategorie“, Lechner 2007). Diese hier sog. methodenorientierte Perspektive, die eher Arbeits- und Sozialformen als Aufgabenstellungen zentral setzt, erweist sich z. T. auch dann noch als prägend bzw. hinderlich für die deutschdidaktische Auseinandersetzung mit Aufgaben, wenn Aufgaben bereits gesondert als lernrelevante Kategorie in den Blick genommen werden. Die methodenorientierte Perspektive wird im Folgenden als erste mögliche Perspektive auf Lernaufgaben anhand von Beispielen vorgestellt und diskutiert. Daneben können, was die Untersuchung von Lernaufgaben betrifft, zwei weitere grundsätzliche Perspektiven unterschieden werden: die kontextorientierte Perspektive und die merkmalszentrierte Perspektive. Im Unterschied zur methodenorientierten Perspektive haben aus deren beider Blickwinkel Lernaufgaben 14 Eine in sich kohärente und umfassende theoretische Fundierung und Systematisierung von Textverstehensaufgaben zu leisten – „die Entwicklung eines Aufgabenmodells, das für die Analyse, Bewertung und Konstruktion von Aufgaben“ für Lern- wie Leistungssituationen universell „geeignet ist“ (Leubner/Saupe 2008, 3) – erscheint schon vom Anspruch her sehr hoch gegriffen.
2.3 Perspektiven der Erforschung von Lernaufgaben
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von vornherein eine zentrale Bedeutung für Lernprozesse. Aus der kontextorientierten Perspektive heraus werden Lernaufgaben im größeren Kontext der Lernsituation betrachtet. Lernaufgaben fungieren aus dieser Sicht als Anker und Rahmung der gesamten Lernsituation. Kennzeichnend für Arbeiten mit dieser Perspektive ist, dass sie von einer vorwiegend konstruktivistischen bzw. problemorientierten Vorstellung von Lernen und Lehren ausgehen (vgl. zu diesen Positionen Reinmann/Mandl 2006) und daraus normativ Anforderungen an gute Lernaufgaben im Unterricht ableiten. Aus der merkmalszentrierten Perspektive auf Lernaufgaben steht im Zentrum die Frage, welche Anforderungen bezüglich der Aufgabenbearbeitung aus den Aufgabenmerkmalen resultieren bzw., empirisch ausgerichtet, wie die Aufgabenmerkmale die Aufgabenbearbeitung beeinflussen. Dahinter steht die Annahme, dass die Merkmale von Lernaufgaben einen maßgeblichen Einfluss auf die Kompetenzentwicklung in der betreffenden Domäne haben (vgl. Baumert 2002; Brunner et al. 2006a). Als Aufgabenmerkmale, die die Aufgabenschwierigkeit wesentlich bestimmen, sind dabei – auch im Kontext dieser Arbeit – Komplexität und Offenheit/Entscheidungsspielraum von besonderem Interesse.
2.3.1 Methodenorientierte Perspektive: Lernaufgaben im Schatten von „Methoden“ und „Verfahren“ des Unterrichts Die Diskussion um Aufgabenstellungen ist in der Deutschdidaktik erst seit wenigen Jahren ein zentrales Thema. Dass die deutschdidaktische Aufmerksamkeit für Aufgabenstellungen relativ neu ist, spiegelt sich noch in jüngeren Publikationen wider, die Aufgaben als didaktisch relevante Kategorie allenfalls am Rande erwähnen. Das Stellen von Aufgaben wird hier dem Bereich der „Verfahren“ bzw. „Methoden“ zugeordnet, wobei diese Begriffe sehr weit gefasst und unscharf verwendet werden. Auf der anderen Seite finden sich bereits Arbeiten, die die zentrale Bedeutung von Aufgabenstellungen für Lernprozesse hervorheben und damit zur aktuellen Aufgabendiskussion beitragen, die aber durch das Festhalten an einem gewohnheitsmäßig diffusen Begriff von „Methoden“ bzw. „Verfahren“ des Literaturunterrichts nur mäßig erkenntnisfördernd bleiben.
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2 Lernaufgaben als Untersuchungsgegenstand
Exemplarisch für literaturdidaktische Überblicksarbeiten, die Aufgabenstellungen der Kategorie „Verfahren“ bzw. „Methoden“ unterordnen, steht die Literaturdidaktik Deutsch von Abraham/Kepser (22006, 32009). In einem umfangreichen Kapitel werden hier „Muster, Phasen und Verfahren des Literaturunterrichts“ vorgestellt. Dabei gehen die Autoren noch 2006 nur an einer Stelle, im Teilkapitel zu „Kontrastive[n] Verfahren“, auch genauer auf Aufgabenstellungen ein. Mit Blick auf schriftliche Prüfungsaufgaben zum Vergleichen literarischer Texte werden hier vier verschiedene Aufgabenvarianten auf ihr Anforderungsprofil hin analysiert (Abraham/Kepser 2006, 217). In der überarbeiteten und erweiterten Neuauflage (2009) hat man ein knappes Teilkapitel zu „Aufgabenkulturen im Literaturunterricht“ ergänzt, aber auch dieses ist in das Hauptkapitel „Muster, Phasen und Verfahren des Literaturunterrichts“ eingegliedert (Abraham/Kepser 2009, 260-263). Die kurze Aufgabenanalyse im Teilkapitel „Kontrastive Verfahren“ bei Abraham/Kepser (2006, 217; 2009, 246f.) macht auf jeden Fall eines deutlich: Aufgabenstellungen sind nicht mit „Verfahren“, also mehr oder weniger allgemeinen Herangehensweisen an Texte, gleichzusetzen. So markiert die Kategorie „Kontrastive Verfahren“ lediglich das übergeordnete Ziel, dass vergleichende Bezüge zwischen einem Text und mindestens einer anderen Bezugsgröße (meistens einem anderen Text) herzustellen sind. Wie die knappe Aufgabenanalyse bei Abraham/Kepser zeigt, strukturiert erst die konkrete Aufgabenstellung den Prozess des Vergleichens und eröffnet oder restringiert dadurch auch dessen heuristisches Potenzial; erst die konkrete Aufgabenstellung gibt konkrete Vergleichsaspekte und damit inhaltliche Schwerpunkte vor oder fordert deren Setzung implizit vom Aufgabenbearbeiter ein; erst die konkrete Aufgabenstellung dimensioniert dadurch die Schwierigkeit der von den Lernenden zu bewältigenden Anforderungen. Aufgabenstellungen sind damit nicht rein methodische bzw. Verfahrens-Entscheidungen, sondern erfordern seitens der Lehrperson durchaus didaktische Expertise. Aufgabenanalysen wie in dieser Arbeit (vgl. unten, Kap. 3.5.3) konkretisieren also literaturdidaktische „Verfahren“ bezogen auf deren Anforderungsprofile. Im 2006 erschienenen „Lexikon Deutschdidaktik“ (Kliewer/Pohl 2006) existiert kein Eintrag s. v. „Aufgaben“. Unter dem Stichwort „Methoden“, verstanden als Unterrichts- bzw. Lehrmethoden einerseits und Lernmethoden ande-
2.3 Perspektiven der Erforschung von Lernaufgaben
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rerseits, werden Lernaufgaben jedoch erwähnt. Hier gelten Aufgabenstellungen zum einen – neben Schülertätigkeiten und Lehrervortrag – als exemplarische „Elemente von [Unterrichts-]Methoden“; zum anderen wird den Lernaufgaben die Rolle von Auslösern des Lernmethoden-Einsatzes seitens der Schülerinnen und Schüler zugeschrieben: „Methoden sind Konzepte für einen planvoll gestalteten Handlungsvollzug beim Lösen von Lernaufgaben (…)“ (Jonas/Zech 2006, 509).15 Implizit wird in diesem Lexikonartikel also deutlich, was Bromme et al. (1990, 3) als „Schnittstellen“-Funktion von Aufgaben charakterisieren, nämlich dass Lernaufgaben zugleich die Tätigkeiten von Lehrenden (beim Konzipieren bzw. Stellen von Aufgaben) und von Lernenden (beim Bearbeiten von Aufgaben) berühren (vgl. unten Kap. 4.1). Allerdings fällt doch auf, dass aus der Perspektive, wie sie der Eintrag im LDD repräsentiert, den Lernaufgaben eben nicht diese zentrale Rolle zugewiesen wird. Vielmehr werden Lernaufgaben hier einerseits nur als Teil umfassenderer Unterrichtsmethoden verstanden, ohne dass ihr erheblicher didaktischer (und eben nicht nur methodischer) Stellenwert16 berücksichtigt wird. Auf der anderen Seite liegt das Augenmerk auf den erforderlichen Lösungsaktivitäten („Methoden“) bezogen auf Aufgaben. Dass aber die Lernaufgabe den grundlegenden Rahmen des (Lern-)„Methoden“-Einsatzes bildet, von dem Schwierigkeit, inhaltliche Zielrichtung und Angemessenheit (Tauglichkeit für das Erreichen einer passenden Lösung) der Lösungsaktivitäten abhängen, hat man nicht im Blick. Es erscheint schlüssig, dass Lernaufgaben als lernrelevante Kategorie aus der hier sog. methodenorientierten Perspektive vernachlässigt wurden; denn das Stellen von Lernaufgaben ist i. d. R. ein Akt der Lehrerlenkung im Lernprozess, sei es durch Vorgabe einer Ziel- bzw. Problemstellung, von Arbeitsschritten oder Kriterien für die mögliche Lösung. Wenn es als Ideal17 des Lernens jedoch „um
15 Vgl. im gleichen Sinn auch Menzel (2000, 10 f.): „Lernmethoden sind Verfahren, Strategien oder strukturierte Handlungsmuster, (…) mit deren Hilfe man ein bestimmtes Ziel erreichen kann, zur Lösung eines Problems gelangen und/oder eine Aufgabe bewältigen kann, wobei das Ziel, das Problem oder die Aufgabe gestellt oder selbst gesetzt sein kann.“ 16 Diesen didaktischen Stellenwert von Lernaufgaben bringt etwa Lechner (2007, 123 f.) mit der Formulierung „Die Aufgabe konstituiert Unterricht“ auf den Punkt. 17 Dass hiermit sowohl der Lernweg als auch das Ziel des Lernens berührt sind, ist ein Problem, das unten in Kap. 2.3.3 aufgegriffen wird.
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2 Lernaufgaben als Untersuchungsgegenstand
Methodenkompetenz auf Seiten der Schülerinnen und Schüler [geht], um Selbstständigkeit, um das Lernen des Lernens“ (Menzel 2000, 6)18 und wenn das Interesse einer Literaturdidaktik in erster Linie darin bestehen soll, „was Menschen damit [mit Literatur] machen und warum“ (Abraham/Kepser 2006, 10; 2009, 13) – dann werden die Lernenden und ihre Selbstbestimmung zentral gesetzt. Auf Steuerungsmaßnahmen wie Aufgabenstellungen liegt aus dieser Perspektive schlicht kein Fokus. Lindauer/Schneider (2007) sehen Aufgaben schon vom Titel ihres Beitrages her durchaus als zentrale Unterrichtskategorie. In ihrem Aufsatz bleibt dennoch das Verhältnis von Aufgaben zu den sog. „Verfahren“ des Umgangs mit Texten im Unterricht ungeklärt. Man kann sagen, dass hier die methodenorientierte Perspektive eine neue Aufgabenbewusstheit noch überlagert. Lindauer/Schneider unterscheiden in Anlehnung an Rosebrock/Nix (2006) „sechs unterschiedliche Verfahren (…), auf deren Grundlage (Primär-)Texte im Unterricht bearbeitet bzw. Aufgaben dazu formuliert werden können“ (Lindauer/Schneider 2007, 114). Allerdings vernachlässigen sie bei der Übernahme dieser Aufstellung, dass Rosebrock/Nix (2006, hier 97-99) nicht nur „Verfahren“ i. S. potenziell möglicher Umgangsweisen mit Texten im Unterricht auflisten, sondern die genannten literaturdidaktischen Verfahren danach kategorisieren, auf welchen Hierarchieebenen des Leseprozesses jeweils kognitive Textverstehensleistungen gefördert werden. Der Ansatz von Rosebrock/Nix zeigt also eine sehr bedenkenswerte Möglichkeit für die Kategorisierung von Textverstehensaufgaben nach Zielrichtung und Anforderungsprofil im Textverstehensprozess (vgl. auch unten, Kap. 3.5.1). Dieser didaktische Blick auf Aufgaben wird von Lindauer/Schneider aber nicht aufgegriffen, sondern offensichtlich übersehen; denn sie ergänzen die Aufstellung von Rosebrock/Nix „noch durch ein weiteres Verfahren“, nämlich „Textverständnisfragen“, verstanden als „textspezifische Fragen von unterschiedlicher Art und Formaten“ (Lindauer/Schneider 2007, 115). Im Folgenden unterscheiden sie Lernaufgaben nach Arbeits- bzw. Sozialformen im Literaturunterricht (z. B. Textverständnis in Lesebucheinträgen festhalten, Lesetagebuch führen, Verfahren des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunter-
18 Wie der Methodenbegriff selbst ist auch der Begriff der Methodenkompetenz unscharf (vgl. dazu Köster 2004b).
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richts anwenden, Gespräche über Gelesenes in der Klasse oder in Gruppen führen), aber auch nach kognitiven Anforderungen des Textverstehens, ohne die verschiedenen Kategorien klar abzugrenzen. Probleme, Aufgaben als neu entdeckte lernrelevante Kategorie systematisch im Gefüge der bislang gebräuchlichen Kategorien zur Charakterisierung von Unterrichtsprozessen zu verorten, zeigen sich auch bei Leubner/Saupe (2008). Auch hier liegen die genannten Probleme u. a. am Festhalten an einem diffusen Methodenbegriff. Leubner/Saupe sehen „Methoden“ ähnlich wie Menzel (2000) und Jonas/Zech (2006) als „Weg“ zum erwünschten Ergebnis der Aufgabenbearbeitung (Leubner/Saupe 2008, 99). Nur setzen sie im Kontext der aktuellen Aufgabendiskussion nunmehr den Schwerpunkt der Betrachtung auf die Aufgabenstellung, die sowohl die geforderte Teilleistung des Textverstehens bestimmt als auch „Entscheidungen über den Weg [‚transportiert’], auf dem eine Teilleistung erbracht werden soll“ (ebd., 6). Das erscheint zunächst zum einen als die oben geforderte Berücksichtigung der zentralen Rolle von Aufgabenstellungen im Lernprozess und zum anderen als klare Bestimmung des Verhältnisses von Aufgabe und „Methode“: Die „Methode der Textarbeit“ (ebd., 99) ergibt sich als „Weg“ aus der Zielstellung der Aufgabe. Wiederum jedoch entstehen durch das Festhalten an der Kategorie „Methoden“ Brüche im Zusammenhang der Darstellung: Einerseits werden Unterschiede zwischen „Methoden der Textarbeit“, „Sozialformen“ und „Arbeitstechniken“ betont, gleichzeitig aber Überschneidungen der genannten Kategorien hervorgehoben (ebd.). Wenn „Methoden der Textarbeit“ als Weg zur Aufgabenlösung und damit zum Textverstehen gelten sollen, erscheint es unklar, wie „von den Schülern auch eine Teilleistung des Textverstehens ohne Nutzung einer Methode verlangt“ (ebd.) werden kann. Vollends verschwimmen die Kategorien, wenn „Methoden der Textarbeit“ und „Teilleistung[en] des Textverstehens“ teilweise gleichgesetzt werden: Die Textanalyse z. B. gilt den Autoren als „die zentrale Methode zur Erschließung von Textstrukturen“ (ebd., 100), aber zugleich als Teilleistung, also als Ergebnis des Textverstehens (ebd., 41, 137). Wenn sich die zur Aufgabenanalyse vorgeschla-
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genen Aspekte derart überlagern19, bleibt fraglich, zu welcher Erkenntnis eine entsprechende Aufgabenanalyse führen soll. Die Arbeiten von Lindauer/Schneider (2007) und Leubner/Saupe (2008) zeigen exemplarisch, was für Probleme bei der systematischen Beschäftigung mit Textverstehensaufgaben aus der Tatsache resultieren, dass Aufgabenstellungen wie eingangs skizziert mit vielfältigen Variablen in Wechselbeziehung stehen. Sie verdeutlichen ferner, dass Probleme bei der stringenten theoretischen Fundierung von Aufgaben als einem Bestimmungsfaktor des Textverstehens aus einem fließenden Nebeneinander ‚alter‘ und ‚neuer‘ Kategorien („Methoden“/ „Verfahren“ vs. Ebenen des Textverstehens, schwierigkeitsbestimmenden Merkmalen von Textverstehensaufgaben etc.) resultieren. Die vorliegende Arbeit wählt deshalb eine Perspektive auf Lernaufgaben, die sich im Wesentlichen auf die Untersuchung aufgabeninterner Merkmale von Textverstehensaufgaben (Einzelaufgaben) beschränkt und ein darauf abgestimmtes Kriteriensystem zur Aufgabenanalyse vorstellt (vgl. dazu Kap. 2.3.3, Kap. 3).
2.3.2 Kontextorientierte Perspektive: Lernaufgaben als Rahmen problemorientierter20 Lernarrangements Im Fokus von Arbeiten mit kontextorientierter Perspektive ist das Lernarrangement als Ganzes. Hintergrund ist eine Auffassung vom Lehren und Lernen, nach der sich Lernen als aktiver und selbstgesteuerter Konstruktionsprozess vollzieht, der in konkrete situative Kontexte eingebettet ist und maßgeblich von Emotionen und Motivationen beeinflusst wird (vgl. Reinmann/Mandl 2006). Darüber hinaus 19 Ähnliche Abgrenzungsprobleme zeigen sich auch zwischen den von Leubner/Saupe vorgeschlagenen Analysekriterien Schwierigkeitsgrad, Format und Offenheit, so wie die Autoren sie bestimmen. An dieser Stelle sei nur erwähnt, dass auch Ehlers (2003, 64-83) einen Kriterienkatalog für die Analyse von Lernaufgaben vorlegt. Es handelt sich um ein weiteres Beispiel des additiven Nebeneinanders sich überschneidender Merkmalsgruppen. 20 Ich verwende den Begriff in Anlehnung an Reinmann/Mandl (2006, 639): „Wenn im Folgenden von Problemorientierung oder problemorientiertem Lernen die Rede ist, so ist damit kein singuläres Modell gemeint, sondern eine Gruppe von Lehr-Lern-Modellen, deren gemeinsames Merkmal darin liegt, dass authentische oder realitätsnahe (und damit komplexe) Situationen, Ereignisse oder Fälle so in den Unterricht integriert werden, dass sie nicht nur motivierende oder zur Übung anleitende Funktion haben, sondern einen zentralen Anker des Lernens und Lehrens bilden.“
2.3 Perspektiven der Erforschung von Lernaufgaben
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wird die Bedeutung sozialer Prozesse beim Lernen betont (vgl. Reinmann/Mandl 2006, 638). Die Bedeutung von Wissen als Basis des Lernens als Konstruktionsprozess kann dabei inzwischen als anerkannt gelten (ebd.). Aus dieser Vorstellung vom Lernen ergeben sich Anforderungen an die Gestaltung von Lernsituationen, die entsprechende Lernprozesse anregen und ermöglichen: Es geht darum, dass authentische oder realitätsnahe (und damit komplexe) Situationen, Ereignisse oder Fälle so in den Unterricht integriert werden, dass sie nicht nur motivierende oder zur Übung anleitende Funktion haben, sondern einen zentralen Anker des Lernens und Lehrens bilden. (Reinmann/Mandl 2006, 639)
Der Begriff der Aufgabe bezeichnet in diesem Kontext die Anforderungs- oder Problemsituation, von der die Lernprozesse im Unterricht angestoßen werden sollen.21 Daraus resultiert ein konzeptuell hoher Anspruch an Offenheit und Komplexität22 von Aufgaben. Tulodziecki et al. (2004, 80) sprechen diesbezüglich von „lernprozessanregenden Aufgaben“ und verstehen darunter Fragestellungen und Anforderungen, mit denen Kinder und Jugendliche zum Beginn einer Unterrichtseinheit konfrontiert werden und die zu einer Auseinandersetzung mit einem bestimmten Unterrichtsinhalt anregen sollen.
Diese Aufgaben erfordern den Autoren zufolge einen gewissen Komplexitätsgrad und seien nicht mit Aufgaben zu verwechseln, „die in der Schule zu Übungszwecken gestellt werden, z. B.: (…) Setze ß oder ss oder s ein (…)“ (ebd.). Dass solche Übungsaufgaben im Unterrichtsverlauf durchaus didaktisch zweckmäßig sein können, wird eingeräumt, dabei aber zugleich die Bedeutung des durch die lernprozessanregende Aufgabe etablierten Kontextes für die Ausbildung übertragbaren Wissens unterstrichen23. Ein vergleichbarer Umgang mit dem Aufgabenbegriff zeigt sich in der Fremdsprachendidaktik bezogen auf das Konzept des task-based learning (TBL). So führt etwa Legutke (2006, 140) aus: 21 Eine ähnlicher Aufgabenbegriff findet sich bereits bei Bütow et al. (1977). 22 Zur Klärung der Begriffe Komplexität und Offenheit vgl. unten Kap. 2.3.3. 23 „Durch die Einführung einer komplexen Aufgabe sollen und können die Lernenden ja gerade dazu angeregt werden, Grundlagen zu erwerben, über die sie noch nicht verfügen.“ (Tulodziecki et al. 2004, 99)
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2 Lernaufgaben als Untersuchungsgegenstand
Aufgaben stellen in der Verschränkung mit Themen, Texten und Situationen die Herausforderungen bereit, ohne die Lernen nicht möglich ist. Sie bieten und definieren die Spielräume für Sprachgebrauch und sie fordern und fördern das Engagement des Einzelnen wie der Gruppe(n).
Dabei ist innerhalb der Fremdsprachendidaktik durchaus umstritten, was unter einer „Aufgabe“ zu verstehen ist (vgl. z. B. die Beiträge von Funk und Hufeisen in Bausch et al. 2006). Wie bei Tulodziecki et al. (2004) fällt aber auf, dass Übungsaufgaben von anspruchsvollen („komplexen“) Lernaufgaben abgegrenzt werden (z. B. Funk 2006, 54). Hufeisen (2006) bedauert, dass sich für den englischen Begriff „task“ im Deutschen die Übersetzung „Aufgabe“ durchgesetzt hat; denn diese Übersetzung bringe nicht deutlich zum Ausdruck, dass mit „tasks“ im Konzept des TBL die „echten“ Lernanreize bzw. Lernimpulse gemeint seien, „die Engagement fordern, aber auch individuelle Spielräume lassen“ (ebd., 91/92). Neben der Unterscheidung von Aufgaben als komplexer Problemstellung einerseits und Übungen andererseits erscheint eine weitere Differenzierung wichtig, die sich in der Fremdsprachendidaktik findet, nämlich die Unterscheidung von task und instruction. Eine Aufgabe (task) im Sinne einer komplexen Problemstellung kann „instructions“ enthalten: The instructions (…) are an essential part of the task workplan. They specify what the purpose of the task is, i. e. its outcome, and what the participants need to do to reach an outcome. (Ellis 2003, 5/6)
Das heißt, dass „instructions“ innerhalb einer komplexen Aufgabe Hinweise bieten, die die Prozess- und Ergebnisoffenheit der Aufgabenbearbeitung einschränken und auf diese Weise eine Orientierungsfunktion für den Aufgabenbearbeiter erfüllen (vgl. unten Kap. 3.5.1). Es zeigt sich also, dass der Begriff „Aufgabe“ aus der skizzierten Perspektive heraus keineswegs für alle Arten von Stimuli für Lernprozesse verwendet wird. Vielmehr werden die entsprechenden Lernanreize je nach Anforderungsniveau und Motivationswert unterschieden (Aufgaben als komplexe und herausfordernde Problemsituation vs. wenig komplexe Übungen ohne situative Bedeutsamkeit). Außerdem lässt sich eine Unterscheidung nach der Funktion im Lern-
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prozess feststellen (Aufgaben i. S. v. tasks als Anregung und Rahmung von Lernprozessen vs. instructions zur Orientierung im Lernprozess). Im erläuterten Sinn von „Aufgaben“ zu sprechen ist demnach mit einem hohen Anspruch an die Gestaltung von Lernarrangements verbunden. Dass dieser Anspruch auch mit normativen Setzungen verbunden ist, wird deutlich, wenn diesbezüglich von einem „besseren Typ von Aufgabe“ (Hufeisen 2006, 92; Hervorhebung ebd.) oder von „Merkmale[n] hoher Aufgabenqualität“ (Blömeke et al. 2006, 337) die Rede ist. Aus der Perspektive der vorliegenden Arbeit, die zunächst einen rein deskriptiven Blick auf Lernaufgaben für den Literaturunterricht richtet, ist eine derartige Begriffsabgrenzung nicht zweckmäßig. Vielmehr ist aus dieser Sicht das bereits erläuterte breite Verständnis des Aufgabenbegriffes nötig, um nicht eine ganze Reihe für den Unterricht angebotener und im Unterricht eingesetzter Lernaufgaben (im weiten Sinn, vgl. Kap. 2.1) von vornherein auszuschließen. Was für Anforderungen im Einzelnen sind es nun, die vor dem Hintergrund einer problemorientierten Ausrichtung von Lernen und Lehren an Aufgaben im skizzierten Sinn gerichtet werden? Tulodziecki et al. (2004, 83 und 98) formulieren sechs Anforderungen an lernprozessanregende Aufgaben: Verständlichkeit aufgrund der Anknüpfung an die Lebens- und Vorstellungswelt der Lernenden; Komplexität: Widerspiegeln einer hinreichend komplexen Anwendungssituation, um anwendungsfähiges und übertragbares Wissen zu fördern; Bedeutsamkeit: Ansprechen von Bedürfnissen und inhaltlichen Interessen der Lernenden; Neuigkeitswert: Erfordernis noch nicht vorhandener Kenntnisse, Fähigkeiten oder Fertigkeiten; Chance auf Bewältigung, d. h. angemessener Schwierigkeitsgrad; Exemplarität und Relevanz der zu erschließenden Inhalte. Die hier als exemplarisch24 für die kontextorientierte Perspektive auf Lernaufgaben angeführte Aufstellung macht deutlich, dass ausgehend von den Lernvoraussetzungen der Schüler/innen ein ganzes Bündel lernrelevanter Aufgabenmerkma-
24 Vgl. auch Ellis (2003, 9 f.); Funk (2006, 54); Hufeisen (2006, 92 f.); Blömeke et al. (2006, 335-337).
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le – nämlich motivationale, emotionale und kognitive Aspekte ebenso wie die situative Einbettung der Aufgabenstellung – berücksichtigt werden. Auch die soziale Komponente von Lernprozessen wird nicht vernachlässigt. So betonen etwa Blömeke et al. (2006, 337) und Hufeisen (2006, 92), dass gute Aufgaben soziale Prozesse beim Lernen in Gang setzen. Eine besondere Rolle wird dabei der Arbeit in Lerngruppen zugewiesen: Lernen kann zwar als individuelle eigenaktive Konstruktion begriffen werden. Diese geschieht aber in hohem Maße in einem sozialen Prozess, in dem Wissen als gemeinsam geteilte Bedeutung entwickelt wird und in dem aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen der Lernenden Akkomodations- oder Assimilationsprozesse angeregt werden. Aufgaben, die explizit Gruppenarbeit oder anderweitigen Austausch (z. B. Diskussion und Reflexion im Klassenverband) erfordern, unterstützen in diesem Sinne die Aktivierung von Vorwissen, die Explizierung von Ideen, das Entstehen sozio-kognitiver Konflikte und das Bereitstellen kognitiver Modelle (…). (Blömeke et al. 2006, 337; Hervorhebung ebd.)
Problematisch ist, wenn eine schülerzentrierte Aufgabenbearbeitung, bevorzugt in Partner- oder Gruppenarbeit, gleichgesetzt wird mit entdeckendem, ergebnisoffenem Lernen. Dieser von Reusser sog. „choreografische Fehlschluss“ ist populär im Kontext einer verkürzten Auffassung von „Konstruktivismus“ beim Lehren und Lernen (Reusser 2006, 158). Man übersieht dabei u. a., dass auch Aufgabenstellungen, die Schülerinnen und Schüler selbstständig und ggf. kooperativ bearbeiten, stark vorstrukturiert oder auf eine eindeutige Lösung hin ausgerichtet sein können. Bei einem entsprechend geringen Grad an Aufgabenoffenheit erübrigen sich Diskussion und interaktive Reflexion von Lösungen und Lösungswegen. Sogar im Unterrichtsmodell der direkten Instruktion sind durchaus Phasen selbstständiger Arbeit möglich, nur dass dann eben „die Überwachung enger“ ist als in offenen Unterrichtsformen (Terhart 2005, 83). Interessant sind in diesem Zusammenhang Untersuchungen, die nahelegen, hinsichtlich des Verhältnisses von Aufgabenqualität und Sozialform der Bearbeitung die Denkrichtung zu ändern: Nicht die Bearbeitung in der Kleingruppe steigert quasi automatisch die Qualität einer Aufgabe bzw. eines Lernprozesses, sondern die Aufgabenmerkmale i. e. S. beeinflussen die Qualität von Lernprozessen und -ergebnissen bei Formen kooperativen Arbeitens. Reinmann/Mandl
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(2006) stellen in diesem Zusammenhang unter Bezug auf Forschungsergebnisse von Cohen (1994) fest: Optimal ist eine Lernaufgabe, die aufgrund ihrer besonderen Anforderungsstruktur tatsächlich nur über eine kooperative Arbeitsteilung bewältigt werden kann und bei der jedes Gruppenmitglied in der Lage ist, einen spezifischen Beitrag zur Lösung dieser Aufgabe zu leisten (…). (Reinmann/Mandl 2006, 649)
Es ist also eine Passung zwischen Sozialform und Aufgabenstruktur erforderlich, die bereits bei der Aufgabenkonstruktion zu beachten ist. Als ungeklärt gilt bisher, was für ein Grad an Offenheit einer Aufgabe sich günstig auf kooperatives Lernen auswirkt. Während eine zu starke Strukturierung der Aufgabenbearbeitung „kreative und produktive Prozesse in der Gruppe behindern“ kann, führt zu wenig Strukturierung u. U. dazu, „dass die Gruppe ineffektiv arbeitet und nicht zu den erwünschten Ergebnissen kommt“ (Reinmann/Mandl 2006, 649). Etliche Untersuchungen weisen jedoch darauf hin, dass die Kleingruppenarbeit umso stärker vorstrukturiert sein sollte, je geringer die Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler sind. Umgekehrt profitieren Lernende mit guten Lernvoraussetzungen mehr, wenn die kooperative Arbeit wenig vorstrukturiert ist (Reinmann/Mandl 2006, 650). Dass auch beim Wechselseitigen Lehren und Lernen als Sonderform kooperativen Arbeitens Lernvorgaben und deren Abstimmung auf die Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler eine wichtige Rolle spielen können, darauf weist Huber (2007) hin. Als wichtig für den Argumentationsgang dieser Arbeit ist zu bilanzieren, dass es aus theoretischer Sicht keinen zwingenden Zusammenhang gibt zwischen der Sozialform der Aufgabenbearbeitung und dem Raum für eigenständiges Entdecken (Offenheit/Entscheidungsspielraum, s. u. Kap. 2.3.3), den eine Aufgabe bietet. Allerdings ist bei der Aufgabenkonstruktion für die Kleingruppenarbeit ebenso wie bei der Aufgabenkonstruktion generell zu beachten, dass der Entscheidungsspielraum auf die Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler abgestimmt ist. Es hat sich gezeigt, dass die kontextorientierte Perspektive auf Lernaufgaben die beim Lernen interagierenden Faktoren – neben sozialen auch motivationale, emotionale und kognitive Aspekte sowie die situative Einbettung der Lernaufgabe – möglichst umfassend berücksichtigt. Dieser umfassende Blick er-
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scheint sinnvoll, gerade wenn man davon ausgeht, dass durch die Auseinandersetzung mit Lernaufgaben im Unterricht Kompetenzen entsprechend der Weinertschen Definition25 ausgebildet werden sollen. Auch bewahrt der Blick auf Aufgaben im Kontext des Systems von Lehren und Lernen davor, durch die Fokussierung nur einzelner Aspektes blind für die Wechselbeziehungen und Zusammenhänge zu werden, in denen Aufgaben stehen. Andererseits aber ist es zur Erforschung der Rolle von Aufgaben bei der Förderung von Lernprozessen erforderlich, gerade einzelne Aufgabenmerkmale herauszugreifen und näher zu untersuchen; denn durch einen zu breiten Blickwinkel, der alle Faktoren (Aufgabenmerkmale im weitesten Sinn) als gleich relevant erscheinen lässt, kann die Untersuchung nicht die nötige Tiefe und Präzision erreichen, die zur Erklärung des Verhältnisses von Aufgabenmerkmalen, Auswahlentscheidungen der Lehrpersonen und Lernprozessen erforderlich sind. Die vorliegende Arbeit nimmt aufgrund ihrer Zielstellung, Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften für den Literaturunterricht zu erforschen, also eine vorrangig auf einzelne Merkmale zentrierte („merkmalszentrierte“) Perspektive auf Lernaufgaben ein. (Die Kehrseite dieser Perspektive ist wiederum eine forscherseitige Verengung des Blickwinkels, wie die empirische Untersuchung in Kap. 5 zeigt; vgl. hierzu v. a. Kap. 5.1 und 5.6.) Diejenigen Merkmale, die in der Literatur zu Lernaufgaben und auch im Kontext der vorliegenden Untersuchung eine wichtige Rolle spielen, sind Komplexität und Offenheit als Bestimmungsfaktoren der Aufgabenschwierigkeit. Mit diesen Aufgabenmerkmalen beschäftigt sich das folgende Kapitel. Es steht so als Beispiel für die merkmalszentrierte Perspektive auf Lernaufgaben und erläutert zugleich zentrale Merkmale von Textverstehensaufgaben, an denen sich die Auswahl der Beispielaufgaben für die empirische Studie (Kap. 5) orientiert hat.
25 Weinert bestimmt Kompetenzen als „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten[,] um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (Weinert 2001, 27 f.).
2.3 Perspektiven der Erforschung von Lernaufgaben
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2.3.3 Merkmalszentrierte Perspektive: Komplexität und Offenheit als Determinanten von Aufgabenschwierigkeit Die Aufgabenschwierigkeit spielt eine zentrale Rolle in den Überlegungen, wie geeignete Lernaufgaben aussehen sollten. Die Schwierigkeit einer Aufgabe hängt nie allein von der Aufgabenstellung ab, sondern ist immer im Zusammenhang mit den Lernvoraussetzungen (Vorwissen, Erfahrungen) der Aufgabenbearbeiter einzuschätzen. Auch der Lerngegenstand, auf den sich die Aufgabenstellung bezieht, beeinflusst deren Schwierigkeitsgrad (vgl. z. B. Astleitner 2008; bezogen auf Aufgaben zum Textverstehen hierzu ausführlicher Kap. 3.1). Die Aufgabenschwierigkeit ist deshalb ein so wesentliches Merkmal von Lernaufgaben, weil von ihr die Chance auf Bewältigung einerseits und der Grad der kognitiven Anregung andererseits abhängt. Der Grad der kognitiven Anregung ist bedeutsam, da er den Lernzuwachs beeinflusst. Wie die Ergebnisse von TIMSS zeigen, resultiert ein hoher Lernzuwachs aus der Bearbeitung kognitiv anspruchsvoller Aufgaben im Unterricht (vgl. Baumert 2002, 138-140; vgl. auch entsprechende Ergebnisse von COACTIV, Brunner et al. 2006a). Zugleich ist ein angemessener Schwierigkeitsgrad, der den Lernenden die Chance auf Bewältigung der Aufgabe bietet, ohne sie zu unterfordern, die Voraussetzung dafür, dass die Motivation der Schülerinnen und Schüler zur Auseinandersetzung mit Lernaufgaben erhalten bleibt. Greift man Überlegungen Legutkes (2006, 141) auf, kann man die Schwierigkeit einer Aufgabe als Ergebnis der Wechselbeziehung von demand und support beschreiben. Die Anforderungen (demand) können dabei aus der Aufgabenstellung selbst oder aus der Schwierigkeit des Lerngegenstandes resultieren. Hilfestellungen (support) kann wieder die Aufgabe i. e. S. bieten, indem sie z. B. den Prozess der Aufgabenlösung vorstrukturiert26; support bei der Aufgabenlösung kann aber auch von den ‚peers‘ oder der Lehrperson27 kommen und damit
26 Vgl. „instructions“ innerhalb von Aufgabenstellungen gemäß dem TBL-Ansatz, vgl. oben Kap. 2.3.2. 27 Astleitner (2006, 14) unterscheidet drei Grundformen des Lehrerhandelns beim aufgabenbezogenen Unterrichten: Modell-Sein (Lehrer löst Aufgaben), Coach-Sein (Lehrer berät bei Aufgabenlösung) und Scaffolding (Lehrer gibt bestimmte Aufgaben vor). Das Maß an support, das die Lehrperson bei der Aufgabenbearbeitung bietet, ist beim Modell-Sein am höchsten, beim Scaffolding am geringsten.
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außerhalb der Aufgabenstellung angesiedelt sein. Im Kontext der vorliegenden Arbeit ist von Interesse, wie das Wechselspiel von demand und support durch interne Aufgabenmerkmale variiert werden kann (vgl. dazu Kap. 3.5.1). Diesbezüglich wesentliche Aufgabenmerkmale sind Offenheit und Komplexität. Bezogen auf Textverstehensaufgaben haben Anschlussuntersuchungen zu PISA 2000 drei schwierigkeitsbestimmende Merkmale erbracht (Artelt et al. 2004): den Entscheidungsspielraum, der der Offenheit einer Aufgabe entspricht; den Integrationsgrad, der mit der Komplexität einer Aufgabe korrespondiert; den Präzisionsgrad, der angibt, wie detailliert sich der Blick des Aufgabenbearbeiters auf den Wortlaut der Aufgabenstellung und den Untersuchungsgegenstand (Text) richten muss, um die Aufgabe lösen zu können. Die Korrespondenzen zwischen Entscheidungsspielraum und Offenheit einerseits sowie Integrationsgrad und Komplexität andererseits werden im Folgenden ausführlich erläutert, ebenso die Zusammenhänge zwischen Offenheit und Komplexität. Der Präzisionsgrad, den Textverstehensaufgaben fordern, wird zwar in den Aufgabenanalysen dieser Arbeit (Kap. 3.5) mit berücksichtigt, spielt für den Argumentationszusammenhang aber keine zentrale Rolle. Wie bereits erwähnt, werden im Kontext einer stark konstruktivistisch ausgerichteten Auffassung von Lernen und Lehren Offenheit und Komplexität nicht selten normativ als Merkmale guter Aufgabenstellungen angeführt. Auch in der deutschdidaktischen Diskussion über die Qualität von Aufgaben gelten Offenheit und Komplexität als „Hochwertwörter“, wie Köster feststellt: Komplexität soll ein hohes Anspruchsniveau sichern, Offenheit soll den individuellen Zugriff, Entdecken (Exploration) und selbstständigen Methodeneinsatz ermöglichen. (Köster 2004a, 167)
So formuliert z. B. Eikenbusch Hinweise, wie Aufgaben im Sinne einer Qualitätsverbesserung des Unterrichts zu „öffnen“ seien (Eikenbusch 2001, 211). Er hebt jedoch einschränkend hervor, dass Offenheit nicht an sich ein Merkmal hoher Aufgabenqualität ist, sondern dass es auf die angemessene „Dosierung“ (Eikenbusch 2001, 211) der Offenheit ankommt, die den Lernentwicklungsstand der Schülerinnen und Schüler berücksichtigt. Auch Abraham et al. (2007) beto-
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nen in diesem Zusammenhang: „(…) Novizen brauchen mehr Vorgaben oder Vorschläge als erfahrene Leser/Schreiber“ (Abraham et al. 2007, 13).28 Gleichwohl bleibt es natürlich das Ziel eines kompetenzorientierten Unterrichts, dass die Lernenden mit domänenspezifischen Anforderungssituationen zunehmend besser und mit immer weniger support (und damit mit immer offeneren Aufgaben) zurechtkommen. Inwieweit aber Lernsituationen bzw. Lernaufgaben deshalb offen und komplex zu konzipieren sind, um dieses Ziel zu erreichen, ist damit noch nicht beantwortet.29 Wie bei Hochwertwörtern nicht selten der Fall, ist nicht immer klar, was mit den Termini Offenheit und Komplexität bezeichnet wird. Wie also lassen sich nun „Offenheit“ und „Komplexität“ als schwierigkeitsbestimmende Merkmale von Lernaufgaben näher bestimmen? Zur Klärung beider Begriffe finden sich zentrale Anhaltspunkte in der kognitionspsychologischen Problemlöseforschung. Ein Problem ist in der Psychologie bestimmt durch einen Anfangszustand und einen angestrebten Endzustand sowie durch eine Barriere, die die unmittelbare Überführung des Anfangszustandes in den Endzustand behindert (vgl. z. B. Dörner 1987, 10). „Eine Problemlösung besteht dann darin, eine Folge von Aktionen zu finden, um vom Anfangszustand in einen Zustand zu gelangen, in dem das Problemlöseziel erreicht ist.“ (Schmid 2006, 486). Aktionen, die zur Problemlösung unternommen werden, nennt man auch Operationen; sie sind die konkrete Umsetzung von Operatoren, also von „allgemeiner formulierte[n] Handlungsschemata“ (Zitat ebd.; vgl. auch Dörner 1987, 15f.). Strohschneider fasst unter Rückgriff auf zentrale Untersuchungen zum komplexen Problemlösen folgende Phasen eines Problemlöseprozesses zusammen, die heuristisch unterschieden werden, nicht aber als lineares Prozessmodell missverstanden werden dürfen:
28 Zur Rolle der Aufgabenoffenheit bei Schreibaufgaben vgl. Fix (2006, 27 f.): „Je offener die Aufgabenstellung ist, desto stärker ist der Autor gefordert, selbst das Schreibziel zu finden. Ist das Ziel zu vage oder zu global, kann es nicht als ‚roter Faden’ dienen, an dem die Formulierungsentscheidungen gemessen werden. Ist es zu stark festgelegt oder zu detailliert, kann dies zu Schreibblockaden oder zumindest zur Verhinderung von produktiven Einfällen führen.“ 29 Reinmann/Mandl (2006, 645) weisen darauf hin, dass Selbststeuerung zugleich Voraussetzung, Ziel und Methode des Lernens ist, und stellen diesbezüglich infrage, „ob sich dieses Ziel mit dem Prinzip der Selbststeuerung als einer didaktischen Methode erreichen lässt“ (Hervorhebung ebd.).
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− − − − − −
Problemwahrnehmung, Problemdefinition, Zielbildung; Informationssammlung und Informationsintegration; Schwerpunktbildung, Strategieauswahl, Planung; Maßnahmenanalyse, Entscheidung und Durchführung; Effektkontrolle; Reflexion und ggf. Revision der Vorgehensweise. (Strohschneider 2006, 597)
Die Komplexität eines Problems ergibt sich aus der Anzahl von Variablen oder Aspekten, die das Problem bestimmen, und hängt eng zusammen mit dem Grad der Vernetztheit der Aspekte, also dem Ausmaß, in dem Beziehungen zwischen den Variablen bestehen30 (Funke 2006, 379 u. 399f.; Jonassen 2000, 67f.). Empirische Untersuchungen weisen nach, dass mit zunehmender Komplexität von Problemen die Qualität von Problemlöseprozessen beeinträchtigt wird (Funke 2006, 400; Jonassen 2000, 68). Erklärt wird dieser Zusammenhang damit, dass bei der Lösung komplexer Probleme mehr und umfangreichere kognitive Operationen erforderlich sind, um alle Variablen und ihre Beziehungen untereinander zu berücksichtigen. Dadurch steigen die Anforderungen an das Arbeitsgedächtnis erheblich (Jonassen 2000, 68). Bei Textverstehensaufgaben kann der Integrationsgrad als Maß für Komplexität im eben bestimmten Sinn gelten. Für PISA 2000 wurde eine signifikante Korrelation zwischen dem von einer Textverstehensaufgabe geforderten Integrationsgrad und der Aufgabenschwierigkeit ermittelt (r = 0.74; Artelt et al. 2004, 156). Der Integrationsgrad einer Textverstehensaufgabe hängt davon ab, inwieweit und auf welcher Ebene vom Leser die Etablierung von Kohärenz gefordert wird. Je mehr Informationen aus dem Text zueinander in Beziehung gesetzt werden müssen und je weiter diese Informationen voneinander entfernt liegen, desto höher ist der geforderte Integrationsgrad. Bei geforderter globaler Kohärenzbildung ist der Integrationsgrad demnach höher als bei lokaler Kohärenzbildung. Aufgaben mit hohem Integrationsgrad fordern zudem das Bilden von Inferenzen, die beim spontanen Lesen durchaus nicht selbstverständlich sind (…). Die Menge und Qualität der Inferenzen ist hierbei vor allem im obe-
30 Die Komplexität eines Problems wird außerdem beeinflusst von seiner Dynamik, d. h. davon, inwieweit sich die Problemstellung im Laufe der Zeit ohne Zutun von außen verändert (vgl. Funke 2006, 379; Jonassen 2000, 68).
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ren Bereich der Skala die entscheidende Hürde für die Aufgabenbewältigung. (Artelt et al. 2004, 155)
Das Zitat weist darauf hin, dass zur Bewältigung des Integrationsgrades einer Aufgabe nicht nur Informationen des Textes untereinander in Beziehung zu setzen sind, sondern auch Bezüge zwischen Text und Vorwissen hergestellt werden müssen.31 Mit dem Vorwissen kommen zusätzliche Variablen ins Spiel, die für die Komplexität einer Textverstehensaufgabe sorgen. Die Offenheit einer Problemstellung lässt sich über ihre Strukturiertheit bestimmen. Es werden gut strukturierte (well-structured) und schlecht strukturierte (ill-structured) Problemstellungen unterschieden. Zwar betont Jonassen, dass diese Dichotomie der Vielfalt der beobachtbaren Problemstellungen letztlich nicht gerecht werde (Jonassen 2000, 64), doch ermöglichen die von ihm vorgetragenen Unterschiede zwischen diesen beiden übergeordneten Arten von Problemstellungen, genauer zu bestimmen, wovon die Offenheit einer Problemstellung abhängt (vgl. Übersicht in Tabelle 2.2 nach Jonassen 2000, 67). Tab. 2.2:
Merkmale gut und schlecht strukturierter Problemstellungen im Vergleich (nach Jonassen 2000, 67) Gut strukturierte Probleme
Schlecht strukturierte Probleme
Ausgangszustand
klar, vollständig bekannt
nur teilweise klar (unbekannte Variablen)
Operatoren
vorhersagbar, klar bestimmt; begrenzte Anzahl (z. B. Anwendung weniger bekannter Regeln, Konzepte, Prinzipien)
vielfältige Auswahl- und Kombinationsmöglichkeiten, (z. B.: Unklarheit relevanter Regeln, Konzepte, Prinzipien; ggf. Integration verschiedener Domänen)
Endzustand/Lösung
eindeutig, bekannt
nicht klar bestimmt, mehrere Lösungsmöglichkeiten oder keine eindeutige Lösung
31 Gleichwohl ist nicht ganz klar, wie der Inferenz-Begriff im Zitat verwendet wird (zur Unterscheidung von retrieval processes and generation processes bei der Verwendung des InferenzBegriffes vgl. Kintsch 1998, 189-193); vgl. zum Inferenz-Begriff auch unten, Kap. 3.2.
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2 Lernaufgaben als Untersuchungsgegenstand
Wenn man Aufgabenstellungen im Unterricht als Problemstellungen begreift (Anwendung dieser Überlegung auf Textverstehensaufgaben für den Literaturunterricht vgl. unten, Kap. 3.5), so ergibt sich daraus, dass eine Aufgabenstellung als umso offener einzuschätzen ist, in je mehr Feldern Merkmale einer schlecht strukturierten Problemstellung vorliegen. Eine maximal offene Aufgabenstellung geht dann also von einem nicht in jedem wesentlichen Punkt bestimmten Ausgangszustand aus und gibt keine Auskunft über Kriterien und Handlungsschemata, die für den Lösungsprozess relevant sind. Von der Problemlösung existieren ebenfalls keine klaren Vorstellungen. Dass die Unterscheidung gut und schlecht strukturierter Problemstellungen eine sehr brauchbare Hintergrundfolie bietet, wenn es darum geht, das Kriterium der Offenheit von Aufgaben zu fassen, zeigt auch ein Blick in die Literatur, die sich – in verschiedenen Kontexten – mit der Rolle von Aufgabenstellungen befasst. Sowohl implizit als auch explizit beziehen sich nämlich viele Arbeiten auf die Bestimmungsfaktoren eines Problemraums, wenn sie den Grad der Offenheit von Aufgaben umreißen. So unterscheidet Eikenbusch für den Deutschunterricht Ergebnis- und Prozessoffenheit bei der Aufgabenbearbeitung (Eikenbusch 2001, 211). Büchter/Leuders legen ein Klassifikationsschema für die Offenheit von Aufgaben im Mathematikunterricht vor, in dem sie Aufgaben nach der Bestimmtheit von Start (Situation, Information), Weg (Methode, Verfahren) und Ziel (Ergebnis, Lösung) der Bearbeitung differenzieren und so zu acht Aufgabentypen gelangen (Büchter/Leuders 2005, 92-95; ähnlich Bruder 2003, 15). Auch der Entscheidungsspielraum von Textverstehensaufgaben, der in Anschlussuntersuchungen zu PISA 2000 als schwierigkeitsbestimmendes Aufgabenmerkmal nachgewiesen wurde32, kann als Maß für Offenheit im oben skizzierten Sinn verstanden werden. Der Entscheidungsspielraum ist nämlich ebenfalls bestimmt durch den Grad an Unbestimmtheit von Produkt und Prozess der Aufgabenlösung (Artelt et al. 2004, 154; vgl. dazu Schweitzer 2007, 26-31). Köster führt aus, dass sich Offenheit und Komplexität einer Aufgabe im Literaturunterricht auf drei Bereiche beziehen können, nämlich auf das Produkt (Inhalt, Erkenntnisziel, Textsorte), das Untersuchungsfeld und die Vorgehens-
32 Zwischen dem theoretisch ermittelten Entscheidungsspielraum einer Aufgabe und der empirischen Lösungshäufigkeit besteht eine bivariate Korrelation von r = 0.58 (Artelt et al. 2004, 156).
2.3 Perspektiven der Erforschung von Lernaufgaben
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weise/Tätigkeiten (Köster 2004a, 167-171). Mit Prozess und Produkt der Aufgabenbearbeitung sind wiederum Bestimmungsfaktoren eines Problemraums bezeichnet. Wie ist der Faktor Untersuchungsfeld einzuordnen? Das Untersuchungsfeld ist Köster zufolge dadurch bestimmt, inwieweit der Gegenstand der Untersuchung durch die Aufgabenstellung eingegrenzt ist (Köster 2004a, 168). Diese Eingrenzung erfolgt bei Textverstehensaufgaben z. B. durch die Vorgabe von Untersuchungskriterien, vor deren Hintergrund dann nur ganz bestimmte Informationen des Textes als für die Aufgabenlösung relevant zu betrachten sind. Der Determiniertheitsgrad des Untersuchungsfeldes ist vor dem Hintergrund der Bestimmungsfaktoren eines Problemraums kein eigenes Einflusskriterium für die Offenheit einer Aufgabenstellung, sondern eine mögliche Ursache für die Offenheit des Problemlöseprozesses und gleichzeitig für die Offenheit der Problemlösung als Produkt. Was das Produkt (verstanden als Erkenntnisziel) betrifft, wird durch dessen Spezifizierung das Untersuchungsfeld eingegrenzt33 und umgekehrt durch die Eingrenzung des Untersuchungsfeldes eine Hilfestellung zur Spezifizierung des Erkenntnisziels geleistet34. Mit Blick auf den Problemlöseprozess lässt sich Folgendes feststellen: Wenn das Untersuchungsfeld nicht vorgegeben ist, resultiert daraus eine hohe Offenheit der Aufgabe im Hinblick auf die geforderten mentalen Operationen zur Problemlösung. Wenn nämlich das Untersuchungsfeld nicht klar begrenzt ist, muss der Aufgabenbearbeiter diese Begrenzung in Eigenregie vornehmen, indem er z. B. Untersuchungskriterien selbst 33 Vgl. als entsprechendes Aufgabenbeispiel aus dem Lehrerfragebogen der empirischen Untersuchung (s. Anhang): „‚In diesem Augenblick tat er ihr leid’, heißt es am Ende von der Frau. Suche jene Textstellen, die bereits vorher zeigen, dass sie ihrem Mann helfen möchte.“ Hier ist das Ergebnis des textbasierten Interpretationsprozesses bereits gegeben. Dadurch ist auch das Kriterium für die Eingrenzung des Untersuchungsfeldes gesetzt – nicht alle Textstellen sind relevant, sondern nur jene, in denen sich das Mitleid bzw. die Hilfsbereitschaft der Frau dem Mann gegenüber zeigt (ausführliche Analyse dieser Aufgabe unten, Kap. 3.5.3). Vgl. ein weiteres Aufgabenbeispiel für die Eingrenzung des Untersuchungsfeldes durch die Vorgabe von Untersuchungskriterien bei Köster (2007a, 17). Vgl. auch Hölsken (1987, 73), der als einen Typ von Textproblemen Aufgaben nennt, durch die „ein Zielzustand in spezifischer Weise vorgegeben [ist], so daß das Lösungsmaterial dadurch schon definiert ist“. 34 Vgl. Aufgabenbeispiel 8 aus dem Lehrerfragebogen (s. Anhang): „Verfolgt genau den Dialog der Ehepartner und erschließt ‚zwischen den Zeilen’ die Gedanken der beiden. Achtet dabei insbesondere auf die Erzählperspektive, auf die Funktion der Gegenstände (Teller, Fliesen, Lampe etc.), auf die Gegensätze drinnen – draußen, hell – dunkel, auf Wiederholungen.“ Das Ergebnis des Lösungsprozesses ist nur als allgemeine Kategorie (Gedanken der Figuren) vorgegeben. Durch die Spezifizierung des relevanten Untersuchungsfeldes – also der Textinformationen, auf die zu achten ist, werden jedoch Anhaltspunkte zur Konkretisierung dieses Ziels geboten.
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2 Lernaufgaben als Untersuchungsgegenstand
aufstellt. D. h. Organisationsstrategien (Strukturierung des Gegenstandes) und Elaborationsstrategien (Herstellen von Zusammenhängen zwischen Vorwissen und Textinformationen; Ziehen von Schlussfolgerungen daraus für die Konturierung des Erkenntnisziels) sind dann vom Lerner eigenständig bereitzustellen, auf ihre Zweckdienlichkeit hin zu überprüfen, auszuwählen und einzusetzen. Die angeführten Beispiele lassen bereits erkennen, dass sich die in der didaktischen Literatur verwendeten Kriterien für die Bestimmung der Offenheit von Aufgabenstellungen auf diejenigen Kriterien zurückführen lassen, mit deren Hilfe gut und schlecht strukturierte Probleme unterschieden werden. Einzelne Arbeiten, die die mit Aufgaben verbundenen Anforderungen beschreiben, beziehen sich sogar explizit auf die Problemlöseforschung. Girmes etwa versteht Aufgaben als „Lücke“, also als Desiderat und Aufforderung, die Kluft zwischen einem Ausgangs- und einem Zielzustand zu überwinden (Girmes 2003, 6f.). Für Aufgaben fordert Girmes allerdings, dass die „formulierte Lücke immer schon eine Idee vom Ziel der Lückenschließung [enthält], und zwar durch das immer schon mitschwingende Lückenschließungspotenzial“ (Girmes 2003, 8). Diese bei Aufgaben bis zu einem gewissen Grad vorhandene Bestimmtheit der Lösung sieht Girmes als zentralen Unterschied zu Problemen. Letztlich ist diese aus der psychologischen Problemlöseforschung entlehnte Begriffsunterscheidung (vgl. z. B. Strohschneider 2006, 556; Dörner 1987, 10f.) im Kontext der vorliegenden Untersuchung wenig relevant. Sie zielt in erster Linie darauf, für Aufgabenstellungen in institutionellen Lernsituationen mit Blick auf die Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler einen angemessenen Grad an Offenheit einzufordern. Auch Hölskens Konzept von Aufgabenstellungen im Literaturunterricht ist eng und ausdrücklich an wissenschaftliche Definitionen des Problembegriffs angelehnt. Aus seiner Sicht eignet sich der Problembegriff gerade auch für die Beschreibung von Textverstehensprozessen, weil „Problemlösungsvorgänge und Prozesse des Textverstehens aufgrund ihres konstruktiven Charakters als [mit Problemlöseprozessen in Technik und Naturwissenschaften] vergleichbare kognitive Tätigkeiten aufgefasst werden können“ (Hölsken 1987, 67). Hölsken unterscheidet grundsätzlich zwei Problemtypen beim Textverstehen: Komplexität und Lücke. Bei Komplexitätsproblemen besteht die Anforderung darin, mit Hilfe reduktiver Strategien „die Komplexität eines Textinhalts zu vereinfachen, bzw.
2.3 Perspektiven der Erforschung von Lernaufgaben
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Strukturen übersichtlicher zu machen“ (Hölsken 1987, 67). Der von Hölsken verwendete Komplexitätsbegriff ist also nicht identisch mit dem Komplexitätsbegriff, der das Ausmaß der Anforderungen an kognitive Operationen im Textverstehensprozess bezeichnet (s. o.). Der zweite von Hölsken diskutierte Problemtyp, das „Problem als Lücke“, erfordert vom Leser elaborative Operationen, um eine homogene mentale Repräsentation eines Textes aufzubauen (ebd., 72). Auch Hölsken kommt zu dem Ergebnis, dass das Ausmaß der kognitiven Anforderungen bei Aufgaben, die diesen Problemtyp repräsentieren, davon abhängt, wie eng und genau die Vorgaben innerhalb der Aufgabenstellung sind: Je spezifischer die Fragen innerhalb von Problemstellungstypen formuliert sind, desto geringer sind auch die Anforderungen an elaborative Textverarbeitungen. (Hölsken 1987, 75)
Die Spezifizierungen in den von Hölsken angeführten Beispielen beziehen sich abermals auf Anfangszustand, Zielzustand und Operatoren der Problemlösung (vgl. zu Typen von Textverstehens-Aufgaben weiterführend unten, Kap. 3.5). Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die aus der Problemlöseforschung entlehnten Kategorien zur Bestimmung eines Problems (Anfangszustand, Operatoren, Endzustand/Lösung) gut geeignet sind, um die Offenheit einer Aufgabenstellung zu bestimmen. In der vorliegenden Arbeit wird der Begriff Entscheidungsspielraum als Synonym für Offenheit im oben skizzierten Sinn verstanden, dem Terminus Offenheit aber vorgezogen, weil mit der Bezeichnung Entscheidungsspielraum zugleich die Anforderungen hervorgehoben werden, die aus einer entsprechenden Merkmalsausprägung für die Lernenden resultieren: nämlich die Notwendigkeit, bei der Lösung eines Problems in zentralen Fragen eigenständig Entscheidungen zu treffen. Vom Entscheidungsspielraum einer Aufgabe wird im Folgenden gesprochen, um den Grad ihrer Determiniertheit hinsichtlich der Ausgangssituation, der Problemlösung (Anzahl möglicher Lösungen; Eindeutigkeit der erwarteten Lösung) und der zur Lösung erforderlichen mentalen, materiellen und organisatorischen Teiloperationen
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2 Lernaufgaben als Untersuchungsgegenstand
zu bezeichnen. Der Entscheidungsspielraum beruht im Begriffsverständnis der Arbeit auf entsprechenden aufgabeninternen Merkmalen. Ein hoher Entscheidungsspielraum kann in der konkreten Lernsituation durch aufgabenexterne Variablen, also etwa durch support seitens der Lehrperson, eingeschränkt werden. Ein hoher Entscheidungsspielraum impliziert also noch nicht automatisch selbstgesteuertes Lernen.35 Umgekehrt aber setzt selbstgesteuertes Lernen, bei dem „der Lernende selbstbestimmt eine oder mehrere Selbststeuerungsmaßnahmen ergreift und den Lernprozess eigenständig überwacht“ (Schiefele & Pekrun 1996, zit. nach Reinmann/Mandl 2006, 647), Aufgaben mit tendenziell höherem Entscheidungsspielraum voraus. Komplexität und Entscheidungsspielraum als Aufgabenmerkmale getrennt zu betrachten, ist zunächst nicht mehr als eine heuristische Differenzierung; denn zwischen beiden Merkmalen gibt es Zusammenhänge. Wie Jonassen hierzu feststellt, sind schlecht strukturierte Probleme in der Regel eher komplex, während gut strukturierte Problemstellungen eher auf einer begrenzten Anzahl von Variablen beruhen, die sich in vorhersagbarer Weise verhalten. Jedoch gibt es durchaus auch schlecht strukturierte Problemstellungen, die geringe Komplexität aufweisen, und gut strukturierte Problemstellungen mit hoher Komplexität (Jonassen 2000, 68). Diese von Jonassen zusammenfassend skizzierten Zusammenhänge sind, was Textverstehensaufgaben angeht, durch die Anschlussuntersuchungen zu PISA 2000 empirisch bestätigt. Zwischen den im PISA-Kontext untersuchten schwierigkeitsbestimmenden Aufgabenmerkmalen Entscheidungsspielraum (als Indikator für den Strukturiertheitsgrad) und Integrationsgrad (als Komplexitätsmaß) einer Aufgabe besteht eine signifikante bivariate Korrelation (r = 0.60; vgl. Artelt et al. 2004, 156). Das heißt, dass bei PISA-Aufgaben, deren Entscheidungsspielraum als hoch eingeschätzt wurde, oft auch der Integrationsgrad als hoch beurteilt wurde, während bei Aufgaben mit niedrig eingeschätztem Entscheidungsspielraum oft auch der Integrationsgrad als niedrig eingestuft wurde.36 Zugleich befinden sich im PISA-Corpus aber auch Aufgaben, bei denen die Ausprägungen der beiden Merkmale stark voneinander abweichen, also etwa ein
35 Zum Begriff „selbstgesteuertes Lernen“ vgl. Reinmann/Mandl (2006, 647). 36 Zum Procedere bei der Aufgabeneinschätzung vgl. Artelt et al. (2004, 152, 154, 156).
2.3 Perspektiven der Erforschung von Lernaufgaben
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hoher Integrationsgrad mit niedrigem Entscheidungsspielraum verbunden ist (Artelt et al. 2004, 155) – ein Befund, der sich mit der allgemeinen Einschätzung Jonassens zu den Merkmalen von Problemstellungen deckt. Die Beobachtung, dass Offenheit/Entscheidungsspielraum und Komplexität/Integrationsgrad einer Aufgabe häufig zueinander proportional sind, sagt noch nichts über die didaktische Zweckmäßigkeit dieser Merkmalskombination aus. Im Gegenteil: Gerade bei komplexen Aufgaben kann es sich auf die Qualität der Problemlösung auswirken, wenn auch der Grad der Offenheit hoch ist, also etwa der Prozess der Problemlösung nicht näher strukturiert ist oder keine Anhaltspunkte im Hinblick auf die erwartete Lösung des Problems geboten werden. So haben Stark et al. (1995) in einer Vergleichsstudie37 nachgewiesen, dass bei komplexen Problemstellungen in multiplen Kontexten die Handlungskompetenz (im Sinne einer erfolgreichen Problemlösung) und die Qualität konzeptueller mentaler Modelle (Prognoseleistung bezogen auf die Handlungsfolgen) durch sog. angeleitetes Problemlösen signifikant gefördert werden können.38 Angeleitetes Problemlösen heißt hier, dass den Probanden ein Problemlöse-Schema (Schrittfolge der Problembearbeitung) vorgegeben wurde, an dem sie sich orientierten. Umgekehrt führten komplexe Problemstellungen in multiplen Kontexten „ohne zusätzliche Unterstützung in jedem Fall39 zu unterdurchschnittlichen Lernleistungen“ (Stark et al. 1995, 302). Die Steigerung der genannten Leistungen durch das vorgegebene Problemlöseschema wird u. a. wie folgt begründet: Die Lernenden können an den Komponenten des Modells entlang schreiten, was nicht nur das Arbeitsgedächtnis entlastet, sondern den Denkverlauf ordnet. (Stark et al. 1995, 305)
Was Textverstehensaufgaben betrifft, zeigt Köster mit der Analyse ausgewählter Schülerarbeiten, dass die Koppelung von Komplexität und Offenheit in der Auf-
37 2x2-Design: geleitetes vs. ungeleitetes Problemlösen; multiple vs. uniforme Lernkontexte; vier Vergleichsgruppen: geleitet multipel, geleitet uniform, ungeleitet multipel, ungeleitet uniform. 38 Der Erwerb von Sachwissen wird der Studie zufolge am effektivsten in uniformen Lernkontexten unterstützt (Stark et al. 1995, 301 f.), unabhängig von der gegebenen instruktionellen Unterstützung. 39 D. h. in allen drei untersuchten Bereichen: Handlungskompetenz, Erwerb von Sachwissen, Qualität konzeptueller mentaler Modelle.
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2 Lernaufgaben als Untersuchungsgegenstand
gabenstellung die Lernenden in der Leistungssituation überfordert und dazu führt, dass das Gros der Prüflinge bei der Kombination aus maximaler Offenheit und maximaler Komplexität die Notbremse zieht, indem es die Offenheit der Aufgabe in Beliebigkeit überführt und die Komplexität in eigener Regie reduziert (Köster 2005, 189).
Köster plädiert vor diesem Hintergrund, was Leistungsaufgaben angeht, für eine „intelligente Ausbalancierung von Offenheit und Komplexität“ (ebd., 190), also z. B. für die gezielte Einschränkung des Entscheidungsspielraums bei komplexen Aufgabenstellungen, um den Lernenden „durch Fokussierung eine größere Tiefenschärfe“ (ebd., 189) der Lösung zu ermöglichen. Schweitzer (2007, 53) weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass bei Textverstehensaufgaben der Entscheidungsspielraum die Anforderung an die Selbstregulierung des Leseprozesses bestimmt, während über den Integrationsgrad die Anforderungen an die „tatsächliche Lesekompetenz“ (ebd.), d. h. die Ebenen des Textverstehens, reguliert werden. Auch für die Konstruktion von Lernaufgaben stellt es vor dem Hintergrund der erforderlichen Abstimmung von demand und support, von kognitiver Anregung und Chance auf Bewältigung eine erhebliche Herausforderung dar, Komplexität und Entscheidungsspielraum mit Blick auf Lernvoraussetzungen der Schüler sowie die didaktische Zielsetzung angemessen zu dimensionieren. Das Aufgabenmerkmal, das bei der theoriegeleiteten Auswahl von Beispielaufgaben für die empirische Untersuchung im Rahmen dieser Arbeit eine zentrale Rolle gespielt hat, ist der Entscheidungsspielraum. Das Forschungsinteresse richtet sich u. a. darauf, welchen Entscheidungsspielraum Lehrkräfte bei Lernaufgaben im Literaturunterricht bevorzugen.40 Dem bevorzugten Entscheidungsspielraum für Lernaufgaben im Literaturunterricht gilt aus zwei Gründen besonderes Augenmerk. Erstens bestimmt der Entscheidungsspielraum den Schwierigkeitsgrad von Textverstehensaufgaben mit. Wie erläutert, ist gerade bei Aufgaben mit hoher Komplexität eine Einschränkung des Entscheidungsspielraums durch entsprechende Hinweise zur Strukturierung der Aufgabenbearbeitung, zu relevanten Untersuchungsaspekten oder zur Spezifizierung des erwarte40 Es geht also im Untersuchungskontext nicht um die Frage, welcher Entscheidungsspielraum für Lernaufgaben jeweils angemessen ist. Diese Frage wäre nur in realen Lernkontexten zu untersuchen.
2.3 Perspektiven der Erforschung von Lernaufgaben
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ten Ergebnisses eine zentrale Voraussetzung dafür, dass die Komplexität seitens der Lernenden erfolgreich bewältigt werden kann. Zugleich bleibt der erfolgreiche Umgang mit einem hohen Entscheidungsspielraum dennoch das Ziel eines kompetenzorientierten Literaturunterrichts. Von dieser Zielstellung beeinflusst, ist der Entscheidungsspielraum – zweitens – ein Aufgabenmerkmal, das in hohem Maß normativ besetzt ist, zumal Offenheit von Aufgaben in aktuellen didaktischen Diskussionen nicht selten als unterrichtliches Qualitätsmerkmal per se gilt (vgl. dazu Reinmann/Mandl 2006, 645; exemplarisch auch Leubner/Saupe 2008). Wenn im Rahmen der empirischen Untersuchung in dieser Arbeit also u. a. gefragt wird, was für einen Entscheidungsspielraum Lehrkräfte bei Lernaufgaben für den Literaturunterricht bevorzugen, geben die Ergebnisse Hinweise auf die „Aufgabenkultur(en)“ im Literaturunterricht und erlauben überdies vorsichtige Hypothesen darüber, inwieweit bevorzugte Lernaufgaben im Literaturunterricht die Ausbildung von Kompetenzen im Umgang mit Literatur fördern. Zugleich aber greift es zu kurz, nur den Entscheidungsspielraum von Textverstehensaufgaben und damit aufgabeninterne „instructions“ zu berücksichtigen, wenn es um den Beitrag von Lernaufgaben zur Ausbildung von Textverstehenskompetenzen geht. Denn der Entscheidungsspielraum ist immer gekoppelt an textbezogene Verstehensanforderungen, die unterschiedlich komplex sein können. Das Aufgabenmerkmal der Komplexität wiederum ist nie unabhängig vom Gegenstand (Text) zu beurteilen, auf den sich die Aufgabe bezieht. Wenn es also darum geht, den Beitrag von Lernaufgaben zum Textverstehen zu untersuchen, können Aufgaben und ihre Merkmale nicht länger weitgehend isoliert betrachtet werden, sondern sind in das Wechselspiel der wesentlichen Einflussfaktoren beim Textverstehen einzuordnen. Diesem Anspruch stellt sich der folgende dritte Teil der Arbeit. Abschließend ist unter Vorgriff auf die Darstellung der empirischen Forschungsergebnisse (Kap. 5) noch ein Hinweis zur merkmalszentrierten Perspektive auf Lernaufgaben wichtig: Der bisher skizzierte Blick auf relevante Merkmale von Lernaufgaben ist ausschließlich der Forscherblick. Lehrkräfte können ganz andere Merkmale von Lernaufgaben als relevant erachten, was ihre Zustimmung oder Ablehnung zu einzelnen Aufgaben betrifft. Dies verwundert nicht, gerade wenn man sich die vielzähligen Variablen vor Augen hält, die mit
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2 Lernaufgaben als Untersuchungsgegenstand
dem Einsatz von Lernaufgaben im Unterricht verbunden sind (s. o., Kap. 2.3). Bei der Auswertung der von den Lehrkräften geäußerten Aufgabenpräferenzen ist es zwar möglich und, wie in diesem Teilkapitel theoretisch begründet, auch zweckmäßig zu fragen, welchen Entscheidungsspielraum und welche Komplexität von Aufgaben die Lehrkräfte bevorzugen. Allerdings wird es für die Erklärung der gezeigten Präferenzmuster notwendig sein, die im Fragebogen eingesetzten Aufgaben noch auf weitere Merkmale hin zu untersuchen, die aus der Perspektive der Lehrerinnen und Lehrer eine Rolle für deren gezeigte Präferenzen gespielt haben könnten.
3 Aufgaben und Textverstehen
3.1 Überblick: Einflussfaktoren beim Textverstehen Bezogen auf das Textverstehen werden vier zentrale Einflussfaktoren unterschieden, deren Wechselbeziehungen sich mit Hilfe eines Tetraeder-Modells darstellen lassen: die Lesermerkmale, die vom Leser unternommenen Aktivitäten, die Beschaffenheit des Textes und die sich stellenden Leseanforderungen (Artelt 2004, 63-66). Die genannten Faktoren beeinflussen nicht nur das Textverstehen in einer konkreten Situation, sondern sie gelten auch als Determinanten der Entwicklung von Lesekompetenz generell (Artelt et al. 2005, 12-32). Dieses Kapitel geht der Frage nach, welche Rolle schulische Lernaufgaben innerhalb dieses Gefüges interagierender Bestimmungsfaktoren des Textverstehens spielen. Dabei zeigt sich, dass das von Artelt vorgelegte Tetraeder-Modell (Abb. 3.1) aus didaktischer Perspektive einer Ergänzung bedarf, die in der ursprünglichen Fassung des Modells (Jenkins 1979) bereits angelegt ist. Zunächst wird im Folgenden Abb. 3.1 erläutert, bevor für eine Erweiterung des Tetraeders plädiert wird, die die didaktische Funktion von Lernaufgaben beim Textverstehen besser verdeutlicht. Zu den schulisch beeinflussbaren Lesermerkmalen zählen das Vorwissen (lexikalisches Wissen, inhalts- und textsortenspezifisches Vorwissen, Lernstrategiewissen), Decodierfähigkeiten und auch die Lesemotivation. Der zweite leserseitige Einflussfaktor im Modell, die Aktivitäten des Lesers, berücksichtigt die vom Leser tatsächlich angestrengten Prozesse zum Textverstehen, also z. B. den gezeigten Einsatz von Lesestrategien. Bereits an dieser Stelle wird deutlich, dass die Einflussfaktoren interagieren und nicht isoliert betrachtet werden können: Ob ein Leser z. B. kraft- und zeitaufwändige Leseaktivitäten mit dem Ziel vertieften Verstehens einsetzt, hängt wesentlich von seiner Lesemotivation ab (vgl. Artelt 2004, 65).
I. Winkler, Aufgabenpräferenzen für den Literaturunterricht, DOI 10.1007/978-3-531-92698-8_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
56 Abb. 3.1:
3 Aufgaben und Textverstehen
Einflussfaktoren beim Textverstehen/Determinanten von Lesekompetenz (Artelt et al. 2005, 12) MERKMALE DES LESERS/DER LESERIN Vorwissen, Lexikalischer Zugriff, Wortschatz, Motivation, Einstellungen Kenntnis von Textmerkmalen Lernstrategiewissen
AKTIVITÄTEN DES LESERS/DER LESERIN Adaptiver Einsatz von Lesestrategien, Verstehensüberwachung Selbstregulation
LESEANFORDERUNG Verstehendes Lesen Reflexives Lesen Kritisches Lesen Involviertes Lesen
BESCHAFFENHEIT DES TEXTES Inhaltsorganisation und Strukturierung (Kohärenz, Bilder/Diagramme, Sequenzielles Arrangieren, Vorwissensaktivierung)
Die Textmerkmale beeinflussen das Textverstehen über verschiedene schwierigkeitsbestimmende Merkmale wie die Oberflächenstruktur der Textes, Lexik, Komplexität der Syntax, Propositionsdichte, inhaltliche Strukturiertheit, vorausgesetzte Vorwissensbestände des Lesers etc. Die Verstehensanforderungen schließlich resultieren aus dem Leseziel bezogen auf den jeweiligen Lesestoff. Textverstehensaufgaben sind im obigen Modell den Verstehensanforderungen zuzuordnen. Dabei wird nicht jeder Leseprozess von gesonderten Aufgabenstellungen beeinflusst, die Verstehensanforderungen explizit machen. Kompetente Leser stecken sich je nach Text und Situation selbst Verstehensziele, aus denen die spezifischen Anforderungen resultieren, die beim Lesen zu bewältigen sind. Innerhalb der schulischen Lernsituation allerdings ist – im Unterschied zum außerschulischen Lesen – i. d. R. nicht nur der zu lesende Text vorgegeben, sondern es werden auch die Verstehensanforderungen durch Aufgabenstellungen gesetzt.
3.1 Überblick: Einflussfaktoren beim Textverstehen
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Die wechselseitigen Beziehungen, die zwischen den hier im Überblick vorgestellten Einflussfaktoren bestehen, werden im Tetraeder-Modell durch die Kanten als Verbindungen zwischen den Eckpunkten illustriert. So orientieren sich Verstehensanforderungen idealtypisch an den Merkmalen des Textes, regen ganz bestimmte Leseraktivitäten an und berücksichtigen dabei leserseitige Voraussetzungen. Welche mentalen und materiellen Lese-Aktivitäten wiederum ein Leser in der konkreten Situation tatsächlich unternimmt, hängt nicht nur von dessen Vorwissen, Fähigkeiten und Motivation ab, sondern auch von den jeweiligen Verstehensanforderungen und den Anforderungen, die der betreffende Text aufgrund seiner Beschaffenheit stellt. Textimmanente Verstehensanforderungen (Textmerkmale) sind nicht losgelöst einzuschätzen von den Voraussetzungen eines Lesers (z. B. ist derselbe Text nicht für jeden Leser gleich schwierig) und von den Fokussierungen und Orientierungen, die mit den situativen Verstehensanforderungen einhergehen. Zudem beeinflusst der Text die beim Leser ablaufenden Aktivitäten (Strategieeinsatz, Inferenzbildungen etc.), die ihrerseits je nach den Voraussetzungen des Lesers sowohl auf Textmerkmale als auch auf Aufgabenanforderungen abgestimmt werden. Welche Rolle genau spielen nun Aufgabenstellungen im Zusammenhang mit den Verstehensanforderungen? Aus der Perspektive dieser Arbeit bedarf das von Artelt in Anlehnung an Jenkins (1979) entwickelte Tetraeder-Modell (Abb. 3.1) in diesem Punkt der Differenzierung. Als erkenntnisfördernd erweist sich in diesem Zusammenhang ein Vergleich des ursprünglichen Tetraeder-Modells bei Jenkins, das dieser als heuristisches Rahmenmodell zur Verortung von Schwerpunkten der Gedächtnisforschung vorgestellt hat (Jenkins 1979, 431 f.), mit der Arteltschen Fassung des Tetraeders. Jenkins sieht neben Subjekt (Entsprechung bei Artelt: Leser) und Materialien (Entsprechung bei Artelt: Text) als dritte und vierte Kategorie vor „orienting tasks“ und „criterial tasks“ (Jenkins 1979, 432). Wie aus Jenkins′ Erläuterungen hervorgeht, handelt es sich bei „criterial tasks“ um die Art der mentalen Anforderungen, die die Probanden (Subjekte) bewältigen sollen. Als Beispiele für „criterial tasks“ werden u. a. genannt: recall, recognition, problem solving
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3 Aufgaben und Textverstehen
(ebd.).1 Unter „orienting tasks“ hingegen werden die Instruktionen bzw. Fragestellungen verstanden, die die Subjekte dazu bringen sollen, zum erwünschten Ergebnis (criterial task) zu gelangen; „orienting tasks“ sind also vergleichbar mit „instructions“ im Aufgabenkonzept des task-based learning (TBL; vgl. oben Kap. 2.3.2).2 Bei Artelt fehlt im Modell eine Entsprechung zu den „orienting tasks“ bei Jenkins. Sie setzt an diese Stelle im Modell die Aktivitäten des Lesers, die dieser selbst zur Bewältigung der Verstehensanforderungen unternimmt. Die Verstehensanforderungen bei Artelt korrespondieren mit den „criterial tasks“ bei Jenkins. Durch diese Modifikation des Tetraeder-Modells tritt allerdings ein Aspekt in den Hintergrund, der gerade aus didaktischer Sicht zentral ist. Die Frage, wie Aufgabenstellungen beschaffen sein müssen, um Aktivitäten auszulösen, die tatsächlich zielführend i. S. der Verstehensanforderungen wirken – also die Frage nach geeigneten „orienting tasks“– wird im Tetraeder-Modell von Artelt ausgeblendet bzw. geht in der Kategorie „Verstehensanforderungen“ auf. Für Lehrerinnen und Lehrer aber sind „criterial tasks“ ebenso wie „orienting tasks“ von hoher Relevanz, und zwar sowohl in ihrer Wechselbeziehung untereinander als auch in ihren Wechselbeziehungen zu den übrigen Kategorien des Arteltschen Tetraeders. Die „criterial tasks“ als allgemeine Leseanforderungen, die Lernende zu erfüllen in der Lage sein sollen, sind in Lehrplänen und Bildungsstandards vorgegeben. Diese allgemeinen Vorgaben müssen von der Lehrkraft mit Blick auf einen bestimmten Text und seine Spezifika sowie auf die Voraussetzungen der Lernenden konkretisiert werden, z. B.: Sollen die Schülerinnen und Schüler die Handlung in einem epischen Text nachvollziehen, oder sollen sie darüber hinaus zu einer Deutung des Textes gelangen? Sollen Textmerkmale bewertet oder 1 2
Dabei verschwimmen geforderte mentale Prozesse z. T. mit den erwünschten bzw. erzielten Ergebnissen der Aufgabenbearbeitung (vgl. z. B. Jenkins 1979, 433). Forscher, die sich v. a. für den Einfluss von „orienting tasks“ auf das Lernen interessieren, setzen i. d. R. darauf, diese zu variieren und zu fragen, „what the effects are on some fixed criterial task“ (Jenkins 1979, 431). Vgl. auch Jenkins (1979, 442) zur Anforderung an die Forscher in einem Forschungsprojekt, in dem Subjekte, Material und Verstehensziel (recognition als criterial task) vorgegeben waren: „Our task, of course, was to find an orienting task that permitted the subjects to complete the recognition task successfully.“
3.1 Überblick: Einflussfaktoren beim Textverstehen
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lediglich identifiziert werden? Usw. Die zweite zentrale Aufgabe der Lehrkraft besteht darin, eine Aufgabenstellung (Instruktion i. S. v. „orienting task“) zu konstruieren oder auszuwählen, die es den Lernenden ermöglicht, die gesetzten Verstehensziele zu erreichen. Die Aufgabenstellung soll also so beschaffen sein, dass sie als Orientierung für verstehensnotwendige Aktivitäten des Lesers geeignet ist. Dabei sind wiederum die Leser- bzw. Lernervoraussetzungen zu berücksichtigen: Fortgeschrittene Leser brauchen weniger instruktionelle Vorgaben als weniger versierte Leser. Jenkins fasst die vielfältigen Zusammenhänge, die beim Konstruieren geeigneter Aufgabenstellungen („appropriate orienting task[s]“, Jenkins 1979, 441) zu berücksichtigen sind, wie folgt zusammen: For the processing to be “appropriate” implies that one is already considering the criterial task involved, that one has already thought about the unique properties of the materials, and that one knows what the subject brings to the situation. (Jenkins 1979, 442)
Die tatsächlichen Aktivitäten der Subjekte, die Kategorie also, die Artelt als Leseraktivitäten bezeichnet, hat Jenkins hier noch nicht im Blick. Artelt hingegen gibt, wie erläutert, die didaktisch relevante Unterscheidung zwischen „criterial tasks“ und „orienting tasks“ auf. Wenn es wie in dieser Arbeit darum geht, die Bedeutung von Aufgabenstellungen im Deutschunterricht für das Textverstehen genauer zu untersuchen, liegt es also nahe, Jenkins‘ Unterscheidung von „criterial tasks“ und „orienting tasks“, verstanden als aufgabeninternes Wechselspiel von demand und support (Legutke 2006; vgl. dazu oben Kap. 2.3.3), in das Arteltsche Tetraeder-Modell zu (re-)integrieren. Dadurch wird aus dem Tetraeder eine Pyramide mit viereckiger Grundfläche, deren fünf Eckpunkte die verstehensrelevanten Einflussfaktoren repräsentieren, von denen jeder mit jedem interagiert (vgl. Abb. 3.2). Diese fünf Eckpunkte stehen nun für die beiden bereits bekannten leserbezogenen Kategorien (Lesermerkmale und Leseraktivitäten), für eine textbezogene Kategorie und für zwei anforderungsbezogene Kategorien: die Leseanforderungen als das erwünschte Verstehensziel (demand) und die Merkmale der Instruktion, die dem Leser zum Erreichen dieses Ziels ein bestimmtes Maß an Orientierung (support) bietet.
60 Abb. 3.2:
3 Aufgaben und Textverstehen
Einflussfaktoren des Textverstehens im Deutschunterricht
Die schwierigkeitsbestimmenden Merkmale von Textverstehensaufgaben – Offenheit/Entscheidungsspielraum, Komplexität/Integrationsgrad und Präzisionsgrad (vgl. Kap. 2.3.3) – lassen sich relativ eindeutig jeweils einer der anforderungsbezogenen Kategorien zuordnen. Der Grad an Offenheit bzw. Lenkung einer Aufgabenstellung liegt in erster Linie in den Merkmalen der Instruktion begründet, also darin, inwieweit die Instruktion konkrete Vorgaben bezüglich Ausgangszustand, erwarteter Lösung und geeignetem Lösungsprozess bietet. Die Komplexität der geforderten Verstehensleistung hingegen variiert je nachdem, auf welcher Textverstehensebene die Leseanforderungen angesiedelt sind. Wenn etwa lokale Kohärenzbildung verlangt ist, ist der Integrationsgrad geringer als bei geforderter globaler Kohärenzbildung. Auch der bei der Aufgabenbearbeitung geforderte Präzisionsgrad ist ein Merkmal, das Anforderungen an die Verstehensleistung näher bestimmt. Die Schwierigkeit von Aufgaben resultiert aus der Interaktion von Verstehensanforderung (demand) und Instruktionsmerkmalen (support). Das Wechselspiel von demand und support speziell bei
3.2 Textbeschaffenheit und Leseraktivitäten im Wechselspiel
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Textverstehensaufgaben im Literaturunterricht wird unten in Kap. 3.5 ausführlich dargestellt. Die nun folgenden Teilkapitel gehen sukzessive auf die verschiedenen Einflussfaktoren beim Textverstehen ein, um so letztlich die Bedeutung von Aufgabenstellungen zum Textverstehen im Literaturunterricht herauszuarbeiten. Da Prozesse und mögliche Ergebnisse des Textverstehens immer von dem Text abhängen, der Gegenstand des Lesens ist, werden die weiteren Ausführungen auf einen konkreten Text bezogen. Auf diese Weise lassen sich zum einen die theoretischen Erläuterungen illustrieren, zum anderen entsteht eine differenzierte Analyse und Interpretation des Beispieltextes. Als Beispiel fungiert dabei Wolfgang Borcherts Kurzgeschichte „Das Brot“ (zur Begründung der Textauswahl vgl. Kap. 5.1), auf die sich auch die Beispielaufgaben im Fragebogen der empirischen Untersuchung in Kap. 5 dieser Arbeit beziehen. Auch die exemplarischen Analysen von Lernaufgaben (Kap. 3.5.3) bereiten bereits die Auswertung der empirischen Untersuchung von Aufgabenpräferenzen von Lehrkräften vor, indem die Beispielaufgaben aus dem eingesetzten Fragebogen vor dem Hintergrund der entwickelten Analysekategorien für Textverstehensaufgaben diskutiert werden.
3.2 Textbeschaffenheit und Leseraktivitäten im Wechselspiel: Einen literarischen Text lesen Vertiefende Untersuchungen zu PISA 2000 haben bestätigt, „dass der kompetente Umgang mit literarischen Texten als ein separater Teilaspekt der Lesekompetenz verstanden werden sollte“ (Artelt/Schlagmüller 2004, 179). Die besonderen Anforderungen, die es beim verstehenden literarischen Lesen zu bewältigen gilt, sind dabei auf die spezifischen Merkmale literarischer Texte zurückzuführen. Diesen Zusammenhang zwischen Textmerkmalen und Verstehensanforderungen betont auch Thomas Zabka, wenn er feststellt: Eine spezifische Kompetenz literarischen Verstehens ist die Fähigkeit, plausible Interpretationen herzustellen unter den Text-Bedingungen extremer Verknüpfungsdichte, systematischer Unbestimmtheit, Indirektheit und Mehrdeutigkeit. (Zabka 2006, 83)
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3 Aufgaben und Textverstehen
Die von Zabka aufgeführten vier Charakteristika literarischer Texte sind um zwei weitere zu ergänzen, nämlich das Fiktionalitätsprinzip und das Einfordern einer Sinnzuschreibung. Diese beiden Merkmale sind keine textseitigen Merkmale i. e. S., sondern resultieren aus der Zuordnung eines Textes zum Diskurssystem ‚Literatur‘, sind also eher auf pragmatischer Ebene anzusiedeln. Die Literarizität eines Textes ist demnach nicht zuletzt dadurch bedingt, dass er von Autor und Leser als literarischer Text betrachtet wird, für den innerhalb des Diskurssystems ‚Literatur‘ andere Produktions- und Rezeptionsregeln gelten als für Texte außerhalb dieses Diskurssystems (vgl. zusammenfassend Hurrelmann/Groeben 2006, 39). Wer Wolfgang Borcherts Text „Das Brot“ als literarischen Text liest, geht nicht davon aus, dass darin ein tatsächliches Erlebnis von zwei Personen geschildert wird, die wirklich gelebt haben. Ebenso wenig beanspruchen Autoren innerhalb des Diskurssystems ‚Literatur‘ die Authentizität der von ihnen erschaffenen innerfiktionalen Welten. Die Schriftstellerin Juli Zeh erläutert das Fiktionalitätsprinzip aus Autorensicht folgendermaßen: Anders als beim journalistischen oder historischen Schreiben geht es in der Literatur nicht um die Mitteilung des Besonderen, also dieses oder jenes kontingenten Einzelfalls. Sondern um etwas Allgemeines, das anhand eines konkreten Ereignisses ins Leben und ins Bewusstsein des Lesers gerufen werden soll. Die literarische Arbeit prüft das verwendete Material auf seine Tauglichkeit zur Metapher, zum Motiv, zum Symbol – und gehorcht damit den Gesetzen einer intratextuellen Notwendigkeit, die mit den Auswahl- und Darstellungsverfahren einer empirisch verankerten Berichterstattung nicht identisch sind. (Zeh 2006)
In der innerfiktionalen Wirklichkeit, die literarische Texte auf diese Weise entwerfen, gelten eigene Gesetzmäßigkeiten, die keineswegs denen der ‚realen Welt’ entsprechen müssen. So werden semantische Abweichungen des Textweltmodells (innerfiktionale Wirklichkeit) vom Weltmodell (außerfiktionale Wirklichkeit) vom Leser akzeptiert und z. T. sogar erwartet, z. B. bei der Lektüre von Fabeln, Märchen oder Fantasy-Literatur (zur Unterscheidung von Weltmodell und Textweltmodell vgl. Schwarz-Friesel 2006). In Borcherts Erzählung „Das Brot“ überschreitet die Darstellung von Figuren und Handlungsfolge nicht die Plausibilitätserwartungen, die man an Personen und Ereignisse in der außerfiktionalen Wirklichkeit stellen würde. Gleichwohl wird uns, folgt man den zi-
3.2 Textbeschaffenheit und Leseraktivitäten im Wechselspiel
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tierten Ausführungen Juli Zehs, in der entworfenen innerfiktionalen Wirklichkeit etwas Exemplarisches vorgeführt. Zu Borcherts „Brot“ stellt Heinrich Böll diesbezüglich fest: An ihr, an der Erzählung „Brot“ lässt sich auch der Unterschied zwischen Dichtung und der so missverstandenen Gattung Reportage erklären: der Anlaß der Reportage ist immer ein aktueller (…). Wo das Röntgenauge eines Dichters durch das Aktuelle dringt, sieht es den ganzen Menschen, großartig und erschreckend – wie er in Borcherts Erzählung „Brot“ zu sehen ist. (Böll 1955, 120)
Der literarische Text enthält also mehr als die Propositionen seiner Sätze. Dargestelltes und Art der Darstellung verweisen auf einen Sinn, den der Leser gemäß den im Diskurssystem ‚Literatur‘ geltenden Konventionen dem Text zuschreiben muss. Insofern ist die Sinnzuschreibung unter den unten näher zu erläuternden Bedingungen systematischer Mehrdeutigkeit eine spezifische Leseanforderung bezogen auf literarische Texte. Welche möglichen Sinnzuschreibungen „Das Brot“ eröffnet, wird entsprechend unten im Kapitel 3.4.4 näher ausgeführt. Die von Zabka genannten Merkmale literarischer Texte, also deren Verknüpfungsdichte, Unbestimmtheit, Indirektheit und Mehrdeutigkeit, sind innerhalb des skizzierten pragmatischen Rahmens zu sehen – also vor dem Hintergrund der für literarische Texte als akzeptiert geltenden Produktions- und Rezeptionsbedingungen. Vor diesem Hintergrund ist die Anordnung inhaltlicher Informationen im literarischen Text ebenso wenig als zufällig zu betrachten wie die Art und Weise ihrer Darstellung, sondern als Ausdruck der „besonderen künstlerischen Gestaltung“ (Corbineau-Hoffmann 2002, 165) und als Anleitung zur Sinnzuschreibung. Vor diesem Hintergrund geht der Leser beispielsweise von „extremer Verknüpfungsdichte“ (Zabka 2006, 83) eines literarischen Textes aus, also davon dass vielfältige Beziehungen zwischen inhaltlichen wie darstellerischen Textmerkmalen untereinander und zwischen Textmerkmalen und dem prinzipiell als gegeben angenommenen Textsinn bestehen. Dabei gehört es quasi zu den literarischen Spielregeln, dass die Zuweisung von Textsinn nicht eindeutig möglich ist – Zabka spricht diesbezüglich von „systematischer Mehrdeutigkeit“ (Zabka 2006, 83; Hervorhebung I. W.). Ebenso systematisch sparen literarische Texte Informationen aus, die für das Textverständnis nicht unbedingt
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3 Aufgaben und Textverstehen
notwendig sind, deren Fehlen aber „elaborative, imaginative, emotionale und sinnliche Aktualisierungen“ (Hurrelmann/Groeben 2006, 39) seitens des Lesers geradezu herausfordern. Zur Auflösung systematischer Unbestimmtheit zählt etwa, Vermutungen über Gedanken, Gefühle und Motive einer literarischen Figur in einen Text hineinzulesen (vgl. Zabka 2006, 82). Im Text „Das Brot“ zeigt sich die systematische Unbestimmtheit entsprechend im Aussparen der Gedanken des Mannes. Nur an einer Stelle erfährt der Leser, was der Mann denkt: Sie sieht doch schon alt aus, dachte er, im Hemd sieht sie doch ziemlich alt aus. Aber das liegt vielleicht an den Haaren. Bei den Frauen liegt das nachts immer an den Haaren. Die machen dann auf einmal so alt. (Z. 18-21)3
Dabei ist diese Stelle dadurch, dass es die einzige Stelle ist, an der man ausdrücklich etwas über die Gedanken des Mannes erfährt, im künstlerisch geknüpften Netz der Textinformationen als besonders bedeutsam markiert und durchaus als Interpretationsanweisung zu lesen: Mann und Frau denken in diesem Augenblick spiegelbildlich über das Gleiche, nämlich den Partner und sein Aussehen nach. Zugleich mildern sie das, was sie sehen, in Gedanken ab („Tagsüber sah er manchmal jünger aus.“ / „Aber das liegt vielleicht an den Haaren.“).4 Auch denkt der Mann eben gerade nicht an sich selbst, seinen Hunger, sein Ertapptsein. Folgt man der gestalterischen Hervorhebung dieser Stelle im Text, greift es also zu kurz, dem Mann die Rolle des schwachen Egoisten zuzuweisen, während allein die Frau als die altruistisch Handelnde gesehen wird. In Gedanken sind sie sich sehr nah, und ihre Gedanken sind beim jeweils anderen. 3
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Zitate und Zeilenangaben aus Borcherts Erzählung orientieren sich im Folgenden zur leichteren Orientierung für den Leser an der Textfassung, wie sie im Fragebogen der empirischen Untersuchung verwendet wurde; diese Fassung liegt im Anhang dieser Arbeit vor. Sie ist aus dem Lehrwerk Deutschstunden 9 (2000) entnommen und weicht von der Fassung in der Werkausgabe (Borchert 2007) nur insofern ab, als der Text den im Jahr 2000 geltenden Regeln der neuen Rechtschreibung angepasst wurde. Aus meiner Sicht spricht die Korrespondenz der beiderseitigen Gedanken umeinander ebenso wie die zitierte Abmilderung dessen, was das Licht offenbart, dagegen, diese Stelle als Indiz für kühle Distanz zwischen Mann und Frau zu lesen (vgl. Winter 2004, 25: „Nach dem ersten Wortwechsel (…) messen die beiden sich mit Blicken. Sie finden den jeweils anderen erschreckend alt.“). Gerade aber das Nebeneinander solch unterschiedlicher Lesarten ist eine Folge der Unbestimmtheit des Textes.
3.2 Textbeschaffenheit und Leseraktivitäten im Wechselspiel
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Was dem Mann im Übrigen durch den Kopf geht und was er empfindet, ist den Anreicherungen des Lesers überlassen. Einerseits bleibt der Text in diesem Punkt zwar unbestimmt und auch polyvalent, z. B.: Ist es dem Mann peinlich, von der Frau in der nächtlichen Küche beim Brotessen ertappt zu werden? Weiß der Mann, dass die Frau bemerkt hat, dass er sich Brot abgeschnitten hat? Merkt er also, dass auch die Frau lügt? Ist der Mann eventuell verbittert darüber, dass er vor Hunger aufwacht bzw. nicht einschlafen kann, während die Frau offensichtlich nicht diese Probleme hat? Andererseits jedoch gibt der Text indirekt sehr wohl Hinweise auf Gedanken und Gefühle des Mannes und entspricht damit den Erwartungen an systematische Indirektheit literarischer Texte. Ein indirekter Hinweis auf die Gedanken des Mannes ist die Stelle, an der wir eindeutig etwas über seine Gedanken erfahren und eine spiegelbildliche Korrespondenz zwischen den Gedanken von Mann und Frau feststellen. Warum sollte diese Korrespondenz nicht noch an anderen Stellen im Text anzunehmen sein? Auch am Ende des Textes findet sich ein Beispiel für den „Modus der Indirektheit“ (Zabka, a. a. O.), in dem der Text Hinweise zur Auflösung seiner Unbestimmtheit gibt. So heißt es, nachdem die Frau dem Mann eine Scheibe Brot mehr zum Abendessen zugeteilt hat: Sie sah, wie er sich tief über den Teller beugte. Er sah nicht auf. (Z. 59)
Der Text teilt also mit, dass der Mann die Frau in diesem Moment nicht nur nicht ansehen kann, sondern tief gebeugt ist. Dies lässt darauf schließen, dass der Mann sich schämt und zugleich erniedrigt fühlt – was aber nicht explizit gesagt, sondern indirekt ausgedrückt wird. Auch dass der Mann in dieser Situation dem Schein der Lampe ausgesetzt ist, während die Frau aus dem Lichtkegel heraustritt, deutet indirekt darauf hin, wie er diesen Augenblick empfindet: Seine Schwäche kommt ans Licht. Dies geschieht an dieser Stelle innerhalb des Textes schon zum zweiten Mal. Denn bereits als die Frau den Mann in der Nacht in der dunklen Küche antrifft und das Licht anknipst, wirkt das Licht bloßstellend. Es setzt beide Figuren ungeschützt der Betrachtung des Gegenübers aus und lässt sie dabei so alt erscheinen, wie sie sind („im Hemd“ und mit aufgelöstem Haar). Und es macht sichtbar, dass der Mann sich über seine tägliche Ration hinaus heimlich Brot abgeschnitten hat. Der Mann reagiert, so die indirekten Hinweise
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3 Aufgaben und Textverstehen
des Textes, auf diese Entdeckung mit Unsicherheit, indem er mehrmals seine Ausrede fast wörtlich wiederholt und in der Küche in einer Weise umherblickt, die der Frau sinnlos erscheint: „Ich dachte, hier wäre was“, sagte er und sah in der Küche umher. (…) „Ich dachte, hier wäre was“, sagte er noch einmal und sah wieder so sinnlos von einer Ecke in die andere (…). (Z. 15;26 f.)
Zu ergänzen bleibt noch Folgendes: Auch die Frau kann den Mann nicht ansehen. Sie sah ihn nicht an, weil sie nicht ertragen konnte, dass er log. (Z. 24)
Auch sie sagt dem Mann gegenüber nicht die Wahrheit. Auch was ihre Gedanken und Gefühle betrifft, bleibt der Text an entscheidenden Stellen unbestimmt, indirekt und mehrdeutig: „Du kannst ruhig vier essen“, sagte sie und ging von der Lampe weg. (Z. 56)
Warum teilt die Frau dem Mann eine Scheibe Brot mehr zu? Ihr Mitleid ihm gegenüber erwacht erst einen Augenblick später, als sie seine Demütigung durch ihr Handeln erkennt. Was also für Motive kommen sonst infrage? Was für eine Bedeutung hat es in diesem Kontext, dass die Frau im Moment ihrer letzten Lüge, die der Text mitteilt („‚Ich kann dieses Brot nicht so gut vertragen’“, Z. 56 f.) „von der Lampe weg“ geht, also dem Licht nicht standhält? Geht man von „extremer Verknüpfungsdichte“ (Zabka 2006, 83) des literarischen Textes aus, also von vielfältigen Bezügen zwischen seinen semantischen und sprachlichen Merkmalen, dann betrachtet man die gesamte Lichtregie in Borcherts Text nicht als zufällig, sondern als Hinweis für dessen Deutung. Wenn, wie in den voranstehenden Ausführungen angedeutet, inhaltliche bzw. gestalterische Textmerkmale und Vorwissen (hier: textsortenspezifisches Wissen, allgemeines Weltwissen) zueinander in Beziehung gesetzt und für die produktive Weiterverarbeitung genutzt werden in einer Weise, dass dadurch neues Wissen erzeugt wird, das so weder im Text gegeben und noch bisher im Langzeitgedächtnis des Lesers vorhanden ist, spricht man in der kognitionspsychologischen Leseforschung auch von generation processes (Kintsch 1998).
3.2 Textbeschaffenheit und Leseraktivitäten im Wechselspiel
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Die beispielbezogenen Erläuterungen der spezifischen Merkmale literarischer Texte verdeutlichen, dass systematische Mehrdeutigkeit, Indirektheit und Unbestimmtheit in wechselseitiger Beziehung stehen und die Mehrdeutigkeit dabei gewissermaßen ein Resultat von Unbestimmtheit und Indirektheit ist. In der Mehrdeutigkeit besteht ein konzeptioneller Unterschied literarischer Texte zu pragmatischen, die ihrerseits zur Vermeidung von Missverständnissen im Alltag so eindeutig wie möglich sein müssen. Grundsätzlich allerdings enthalten alle Texte, literarische und pragmatische, nicht explizit alle Informationen, die für ihr Verständnis notwendig sind. „Sprachproduzenten setzen nämlich kontextuelles, situatives und/oder allgemeines Weltwissen beim Rezipienten voraus und lassen dementsprechend bestimmte, als redundant eingestufte Informationen weg“ (Schwarz 2000, 80). Die Textlinguistik spricht diesbezüglich von referentieller Unterspezifikation, die von der Mehrdeutigkeit literarischer Texte zu unterscheiden ist; denn referentielle Unterspezifikation ist vom Leser i. d. R. eindeutig aufzulösen, indem er die nicht explizit genannten Informationen unter Rückgriff auf sein Vorwissen mehr oder weniger automatisch ergänzt.5 Referentielle Unterspezifikation findet sich auch in Borcherts Erzählung, etwa in der Anfangspassage: Plötzlich wachte sie auf. Es war halb drei. Sie überlegte, warum sie aufgewacht war. Ach so! In der Küche hatte jemand gegen einen Stuhl gestoßen. Sie horchte nach der Küche. Es war still. Es war zu still und als sie mit der Hand über das Bett neben sich fuhr, fand sie es leer.
Als Leser haben wir bis zu dieser Stelle im Text ein konkretes Bild über die räumlichen Verhältnisse, die der Text jedoch nur andeutungsweise, unter Auslassung von als überflüssig erachteten Informationen, skizziert. So gehen wir selbstverständlich davon aus, dass die als „sie“ bezeichnete Person sich zum Zeitpunkt ihres Erwachens in einem Doppelbett im Schlafzimmer einer Wohnung befindet. Es sind die Informationen, dass die Person (1) erwacht, (2) daraufhin nach der Küche horcht und (3) in ein Bett unmittelbar neben sich greifen 5
Es scheint mir, dass das Operationen sind, die Bremerich-Vos in Anlehnung an Anderson et al. als „Folgern“ bezeichnet, während mit „Zuschreiben“ die Auflösung von Mehrdeutigkeit bezeichnet wird (Bremerich-Vos 2008, 37).
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3 Aufgaben und Textverstehen
kann, die bei uns die Vorstellung durchschnittlicher deutscher Wohn- und Einrichtungsverhältnisse aktivieren, die wir automatisch den Informationen des Textes hinzufügen. Nur wenn die Verhältnisse der innertextlichen Wirklichkeit von diesen verbreiteten Wissensschemata abweichen würden, wenn die Person also etwa im Freien vor dem Küchenfenster erwachte oder auf dem Fußboden neben einem Bett läge, wären entsprechende genauere Informationen dazu nötig. Indem der Verfasser spezifizierende Angaben zu den räumlichen Verhältnissen ausspart, setzt er auf das im Langzeitgedächtnis vorhandene allgemeine Weltwissen der Leser, das diese im Zuge sog. „retrieval processes“ (Kintsch 1998) problemlos und übereinstimmend an der entsprechenden Textstelle aktivieren und den Textinformationen hinzufügen werden: Der Text ist an diesen Stellen referentiell unterspezifiziert. Referentielle Unterspezifikation ist also ein sprachökonomisches Phänomen, das nur auftritt, wenn dadurch keine Missverständnisse der entsprechenden Textstellen zu erwarten sind. Als textseitiges Merkmal ist referentielle Unterspezifikation jedoch nur mit Blick auf die potenziellen Leser eines Textes zu bestimmen. Gerade am Beispiel von Borcherts Geschichte „Das Brot“ nämlich fällt auf, dass Textstellen, die zum Zeitpunkt der Textentstehung lediglich referentiell unterspezifiziert sind, für Leser späterer Zeiten zu tendenziell unbestimmten Textstellen werden können, wenn das ursprünglich vom Autor vorausgesetzte Vorwissen über den Alltag in den ersten Jahren nach 1945 nicht mehr selbstverständlich vorhanden ist (vgl. dazu unten Kap. 3.3). Allerdings ist dieses historische Kontextwissen zumindest in institutionellen Lernsituationen verfügbar, so dass die entsprechenden Textstellen auf den zweiten Blick vom Leser eindeutig anzureichern sind. Dass man fast nichts über die Gedanken des Mannes erfährt, ist demgegenüber ein klares Beispiel für die Mehrdeutigkeit des Textes. Diese Leerstellen im Text sind, wie oben skizziert, von vornherein nicht eindeutig anzureichern und symptomatisch für die konzeptionell-systematische Unbestimmtheit und Mehrdeutigkeit literarischer Texte im Rahmen des für sie geltenden Diskurssystems. Leserseitige Anreicherungen der Textbasis werden auch als Inferenzen bezeichnet. Der Inferenz-Begriff wird allerdings häufig recht beliebig für alle möglichen Arten von wissensbasierten Anreicherungen der Textbasis verwendet (vgl.
3.3 Lesermerkmale
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dazu Schwarz 2000, 88; Kintsch/Rawson 2005, 219/220; einen Überblick über Kategorien von Inferenzen bietet Richter 2003, 80-906). In dieser Arbeit soll der Inferenz-Begriff in Anlehnung an Kintsch reserviert bleiben für kontrolliert ablaufende generation processes. Zu dieser Form schlussfolgernden Denkens führt Kintsch aus: Explicit reasoning comes into play, when comprehension proper breaks down. When the network does not integrate and the gaps in the text cannot be bridged any other way, then reasoning is called for as the ultimate repair procedure. (Kintsch 1998, 192)
Die „Text-Bedingungen extremer Verknüpfungsdichte, systematischer Unbestimmtheit, Indirektheit und Mehrdeutigkeit“ (Zabka 2006, 83), die charakteristisch für literarische Texte sind, fordern derartige Prozesse geradezu heraus, wie die exemplarischen Analysen in diesem Kapitel gezeigt haben.
3.3 Lesermerkmale In den vorangegangenen Ausführungen ist bereits deutlich geworden, dass Textverstehen ein aktiver Konstruktionsprozess ist, bei dem Text und Leser interagieren und zudem situative Verstehensanforderungen (das Verstehensziel) einbezogen werden. Dieser Konstruktionsprozess ist durch zwei parallele Verarbeitungsrichtungen gekennzeichnet: Absteigende (top-down) Teilprozesse, die vom Vorwissen des Lesers und seinen Zielsetzungen bzw. externen Verstehensanforderungen bestimmt sind, wirken mit aufsteigenden (bottom-up) Teilprozessen zusammen, die von Merkmalen des Textes bestimmt werden (vgl. Schiefele 1996, 99). Während das vorangegangene Kapitel die Textmerkmale und die daraus resultierenden nötigen Leseraktivitäten in den Mittelpunkt gerückt hat, sollen nun die Lesermerkmale und ihre Rolle im Textverstehensprozess fokussiert werden. Bremerich-Vos/Grotjahn merken bezogen auf DESI und andere Tests an, dass, was „Merkmale des Rezipienten angeht, (…) nur die Rolle des 6
Unterschieden werden u. a. lokale und globale Inferenzen, automatische und bewusst kontrollierte Inferenzen, elaborative und kohärenzetablierende Inferenzen, wobei Grenzziehungen zuweilen schwierig sind; vgl. hierzu Richter (2003), a. a. O.
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3 Aufgaben und Textverstehen
Vorwissens zur Sprache kommen“ kann (Bremerich-Vos/Grotjahn 2007, 161). Diese Einschränkung gilt für alle Untersuchungskontexte, die vom konkreten Einzelleser und dessen individuellen Leseaktivitäten abstrahieren, und entsprechend auch für die vorliegende Arbeit. Die Einschränkung, die hier getroffen wird, geht sogar noch einen Schritt weiter: Dieses Teilkapitel bezieht sich allein auf die Frage, welches spezielles Vorwissen Leser benötigen, um Wolfgang Borcherts „Das Brot“ zu verstehen. Dass dabei das historische Kontextwissen eine besondere Bedeutung hat, ist oben bereits angeklungen.7 Der Text „Das Brot“ erschien erstmals 19468, ist also unter dem unmittelbaren Eindruck der Hungersnot nach 1945 entstanden. Hunger war eines der Hauptprobleme der Menschen nach dem Krieg: Spätestens im Frühjahr 1946 war in Deutschland die „Frage des Brotes und des Mehles und der Kartoffeln eine Frage von erster politischer Wichtigkeit“ (Schumacher) geworden, die Erhaltung der materiellen Existenzgrundlage bildete für den größten Teil der Bevölkerung in allen vier Zonen den Fixpunkt allen Denkens und Handelns – politische Fragen blieben durch den „Schatten des Hungers“ weitgehend verdeckt. (Trittel 1999, 117)9
Nach der Kapitulation war die staatliche Lebensmittelversorgung komplett zusammengebrochen. Die Lebensmittelrationen in der britischen Besatzungszone lagen für die sog. „Normalverbraucher“ im Sommer 1946 offiziell bei 1.750 kcal (Gries 1991, 293), de facto jedoch darunter10: Ein amtliches Wort nennt den Menschen, der nur auf seine Einheitskarte lebt, einen Normalverbraucher, auch wenn sein Verbrauch jenseits der Grenzen aller Normen liegt und die ihm gewährten Rationen weder zum Leben noch zum Sterben reichen. (Kölnische Rundschau vom 15.07.1947, zit. nach Gries 1991, 297)
7
„Bei Wolfgang Borchert scheint (fast) alle Literatur unmittelbar mit ‚Ort und Zeit’ des Autors verbunden zu sein.“ (Gailberger et al. 2007, 104). 8 In: Hamburger Freie Presse, 1. Jg., Nr. 65, 13.11.1946. 9 Beispiele aus dem Alltag dafür, wie sehr das Denken der Menschen vom Hunger bestimmt war, finden sich etwa bei Gries (1991, 11). 10 In Borcherts Heimatstadt Hamburg war die Versorgungslage so katastrophal, dass sogar die offiziellen Rationen 1946 nur wenig über 1.000 kcal lagen (Wildt 1986, 37-45).
3.3 Lesermerkmale
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Der strenge Winter 1946/47 ist als Hungerwinter in die Geschichte eingegangen. Borchert schreibt also für Leser, die diese Erfahrung des Hungers teilen11 und für die eine Scheibe Brot höchsten Wert hat. Für heutige Schülerinnen und Schüler jedoch sind diese Erfahrungen von Hungersnot, Lebensmittelrationierungen und anderen Nachkriegsnöten zu historischem (Spezial)-Wissen geworden. Aufgrund der historischen Distanz sind Borcherts Texte für sie schwer zu verstehen. Dies dürfte auch gelten, wenn entsprechende historische Kenntnisse vorhanden sind, da es selbst dann noch eine hohe Hürde darstellt, sich in Denken und Fühlen der Personen hineinzuversetzen.12 Verstehensvoraussetzungen, wie sie Fingerhut im Rückblick auf seine erste Begegnung mit Borchert und dessen Text „Nachts schlafen die Ratten doch“ beschreibt, sind eben nicht mehr gegeben: Die erzählte Szenerie lässt bei allen Schülern Erinnerungen aufkommen. Bombenangriffe haben alle erlebt, Trümmer sind noch überall zu sehen, sogar verschüttet war einer gewesen, Kaninchen haben viele Familien. (…) Er [der Lehrer] setzte auf emotionale Beteiligung, auf ‚So-auch-ich-Reaktionen’. Mit Erfolg, wie die Tatsache beweist, dass ich mich noch sehr genau an diese Stunde erinnere. (Fingerhut 2007, 22 f.)
Wie hoch die Verstehenshürden sind, die aus der Distanz heutiger Schülerinnen und Schüler zum Dargestellten in Borcherts Texten resultieren, illustrieren gut die Protokolle literarischer Gespräche über „Nachts schlafen die Ratten doch“ in
11 Borchert greift seine persönlichen Erfahrungen mit dem Hunger und dessen Folgen in der eigenen Familie eher ironisch auf: „Neben mir auf dem Tisch wird gehämmert – seit einigen Stunden. Vor dem Tisch auf einem Stuhl sitzen neunzig Pfund und hämmern auf den fünfundvierzig Pfund herum, die auf dem Tisch stehen. Die fünfundvierzig Pfund auf dem Tisch – das ist meine dicke schwere Schreibmaschine. Die neunzig Pfund vor dem Tisch – das ist mein leichter, dünner Vater.“ (Zit. nach Rühmkorf 1961, 149; da Borchert selbst aufgrund seiner Krankheit bettlägerig und zu schwach zum Aufstehen ist, tippt sein Vater für ihn seine Texte auf der Schreibmaschine.) 12 Das heißt nicht, dass Leser grundsätzlich nur Texte verstehen könnten, die das darstellen, was die Leser bereits selbst erlebt haben. Speziell in Borcherts Kurzgeschichten aber ist das innere Geschehen der Figuren äußerst sparsam ausgeführt, was die Distanz zwischen (nicht-wissendem, unerfahrenem) Leser und literarischer Figur nicht unbedingt verringern hilft.
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3 Aufgaben und Textverstehen
Christ et al. (1995) (darin die Beiträge von Merkelbach, 129-145; Fischer, 178201; Reuschling, 233-240).13 Wie fehlendes historisches Wissen die Repräsentation von Borcherts „Das Brot“ beeinträchtigt, spiegelt exemplarisch folgende Inhaltsangabe wider, die vermutlich von einem Schüler stammt: Die Personen werden nicht genauer beschrieben, doch es geht klar hervor, dass sie verheiratet sind. Vermutlich sind sie verhältnismäßig arm, da sie auch mit dem Brot sparsam sein müssen. Überdies scheint die Frau sich Sorgen um ihren Mann zu machen, da sie ihm am Ende etwas von ihrem Brot abgibt und ihm außerdem eine Chance gibt vom „Betrug“ abzulenken. „Das Brot“ spielt vermutlich in der Nachkriegszeit, da die Familie arm ist und ihr Verhalten doch etwas altmodisch wirkt. Die ganze Geschichte spielt sich im Schlafzimmer und in der Küche des Ehepaars ab. (…) (http://hausaufgabenweb.de/deutsch/interpretation/brot_borchert/, 17.11.2008)14
Die zeitliche Einordnung des Textes in die „Nachkriegszeit“ ist zwar nicht falsch, aber doch so allgemein, dass daraus kein vertieftes Verstehen resultiert. Auch die Feststellung, dass die Figuren „arm“ seien, trifft nicht den Kern des dargestellten Konfliktes. Der Verfasser verfügt offenbar nicht über das spezifische Wissen, welch immense Bedeutung Brot in der Hungersnot hat – jedenfalls ist er nicht in der Lage, entsprechendes Wissen in Beziehung zum Text zu setzen.15 Dafür bringt er seine Erfahrung historischer Distanz zum Text zum Ausdruck, indem er das Verhalten der Figuren als „etwas altmodisch“ charakterisiert.
13 Rothbauer fragt bereits 1960 in Bezug auf „Das Brot“: „Können die Achtzehnjährigen von heute, die Borcherts Nachkriegswelt nicht bewußt erlebt haben, mit seiner Geschichte etwas anfangen?“ (Rothbauer 1960, 112). 14 Die Internet-Seite Hausaufgaben Web stellt sich Schülerinnen und Schülern als „Euer Portal im Internet für kostenlose Hausaufgaben“ vor und fordert Besucher der Seite dazu auf, eigene Hausaufgaben auf der Seite zur Verfügung zu stellen. 15 Auch Studierende in einem literaturdidaktischen Hauptseminar 2009 waren der Auffassung, es sei nachrangig, wann die Handlung von „Das Brot“ spiele – Ähnliches sei auch in einer HartzIV-Familie vorstellbar.
3.4 Leseanforderungen: Ebenen des Textverstehens
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Lehrkräfte müssen sich Verstehensvoraussetzungen wie die, die dieses Beispiel zeigt, bewusst machen, wenn sie Borcherts Text „Das Brot“ im Unterricht einsetzen wollen. Text- bzw. Verstehensschwierigkeiten, die sich aus derartigen Lesermerkmalen ergeben, sind beim Konzipieren von Aufgaben zu berücksichtigen.
3.4 Leseanforderungen: Ebenen des Textverstehens Artelt et al. (2005) unterscheiden je nach Leseziel in Kombination mit verschiedenen Lesestoffen (Texte unterschiedlicher Schwierigkeit, Textsorte etc.) vier verschiedene Leseanforderungen: verstehendes Lesen, kritisches Lesen, reflexives Lesen und involviertes Lesen (ebd., 20-23). Die Leseziele bilden bei dieser Unterscheidung von Leseanforderungen den „konzeptuellen Kern (…), der mit bestimmten Lesestoffen als präferierten Inhaltsgebieten dieser Leseintentionen verbunden wird“ (ebd., 21). Alle vier Leseziele aber lassen sich auf literarische Texte beziehen. Die Unterscheidung von Leseanforderungen im skizzierten Sinn ist zunächst einmal rein deskriptiv, bekommt aber mit Blick auf erwünschte Leseanforderungen/Verstehensziele im Unterricht auch ein präskriptives Moment (vgl. zur Unterscheidung und Verknüpfung deskriptiver und präskriptiver Perspektiven auf Funktionen des Lesens: Groeben 2004, 22-28). In dieser Arbeit ist deskriptiv-analytisch zu untersuchen, welche Leseziele – also erwünschte Ergebnisse des Leseprozesses – exemplarische Lernaufgaben für den Literaturunterricht als „criterial tasks“ bezogen auf die von den Lernenden zu lesenden Texte setzen. In der empirischen Untersuchung geht es auf diesen Analysen aufbauend darum zu klären, inwieweit die befragten Lehrkräfte bestimmte Aufgabenpräferenz-Muster zeigen, die sich mit den ermittelten Aufgabenmerkmalen erklären lassen. Im institutionellen Kontext scheinen mir vor allem die drei zuerst genannten Varianten von Lesezielen (verstehendes Lesen, kritisches Lesen, reflexives Lesen) eine wichtige Rolle zu spielen und können bei der Klassifizierung von Erarbeitungsaufgaben zum Textverstehen mit berücksichtigt werden. Involviertes Lesen gilt aus deutschdidaktischer Sicht zwar als wichtiger Modus literarischer
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3 Aufgaben und Textverstehen
Lektüre (vgl. z. B. Hurrelmann 1994; sie spricht von evasorischem Lesen), markiert aber kaum das von Lernaufgaben im Unterricht gesetzte Verstehensziel.16 Es bleibt deshalb in dieser Arbeit ausgeblendet, auch weil es sich zudem schlecht rein theoretisch auf der Basis von Beispielaufgaben beschreiben lässt. Im Übrigen setzt involviertes Lesen, das sich durch hohe emotionale Beteiligung des Lesers auszeichnet, verstehendes Lesen voraus, wie etwa Grzesik hervorhebt: Wenn man nichts versteht, dann kann man auf Buchstaben nur mit der Frustration eines Analphabeten reagieren, der um sein Manko weiß. Deshalb treten auch beim ersten Lesen Wertungen und Gefühle nur zu dem auf, was man schon verstanden hat. Wer das Verstehen schon in einem hohen Maße automatisiert hat, hat deshalb auch schon beim ersten Lesen in eben diesem Maße Raum für Werten und Fühlen. (Grzesik 2005, 305; Hervorhebung ebd.)
Zur näheren Bestimmung verschiedener Leseziele beim literarischen Lesen ist es zunächst grundlegend, die verschiedenen Ebenen des Textverstehens einzubeziehen, die in der kognitionspsychologischen Leseforschung (vgl. Christmann/ Groeben 1999; Richter/ Christmann 2002) unterschieden werden.
3.4.1 Ebenen des Textverstehens im Überblick Die Kognitionsforschung geht davon aus, dass ein Leser beim Textverstehen eine multiple mentale Repräsentation des Textes bildet. In diesem Zusammenhang werden fünf Repräsentationsebenen unterschieden (vgl. zum Folgenden zusammenfassend Schnotz/Dutke 2004): die Repräsentation der Textoberfläche, die Repräsentation der propositionalen Textbasis, das mentale Modell des Textgegenstandes, die Repräsentation der Kommunikationssituation und die Repräsentation des Textgenres. Die Merkmale der Situation, in der ein Text rezipiert wird, und die Merkmale des Textgenres gelten als Metaebenen der Textrepräsentation. Auf diesen Metaebenen werden weder Merkmale des Dargestellten noch Merkmale der
16 Baumert (2002, 105) spricht in diesem Zusammenhang vom „Primat des Kognitiven“ beim schulischen Lernen.
3.4 Leseanforderungen: Ebenen des Textverstehens
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konkreten Darstellung repräsentiert (Schnotz/Dutke 2004, 87).17 Repräsentationen auf diesen Metaebenen können auch Prozesse auf den drei anderen genannten Ebenen beeinflussen. So verstehe ich bestimmte Informationen eines literarischen Textes ganz anders, wenn ich mir seiner Literarizität bewusst bin. Dass das Wissen über die Textsorte das Verstehen eines Textes beeinflusst, haben empirische Untersuchungen gezeigt (z. B. Zwaan 1993, 1994). Umgekehrt ist ein Text u. U. nicht allein aufgrund seiner textimmanenten Merkmale einer Textsorte zuzuordnen. Fehlen dem Leser entsprechende Informationen über Kommunikationskontext und Genre, fehlen ihm je nach Text auch entscheidende Hinweise, welcher Lese- bzw. Verstehensmodus der passende ist – also z. B. ob ein Text als Zeitungsreportage oder Roman zu lesen ist (vgl. Nündel/Schlotthaus 1978, 43-48). Die Repräsentation der Textoberfläche bildet graphemische, lexikalische, syntaktische Eigenschaften des Textes ab. Bezogen auf „Das Brot“ entsteht im Kopf des Lesers also etwa eine Vorstellung vom nüchternen sprachlichen Duktus, von den kurzen Sätzen oder von Umfang und Layout des Textes. Die Repräsentation der propositionalen Textbasis enthält die semantischen Aussagen des Textes in Anlehnung an deren Reihenfolge im Text. Voraussetzung für die propositionale Repräsentation der Textbasis ist die Herstellung lokaler Kohärenz. Kohärenz ist „als das Ergebnis sowohl textinterner als auch textexterner Faktoren“ zu sehen (Schwarz 2000, 19). D. h. dass textseitig zwischen den Propositionen eines Textes vor dem Hintergrund des Vorwissens des Lesers plausible Relationen bestehen müssen, damit der Text als kohärent gilt (Schwarz-Friesel 2006). Der Leser seinerseits muss zur Kohärenzetablierung diese inhaltlichen Beziehungen im Zuge mentaler Prozesse herstellen (vgl. z. B. oben, Kap. 3.2, die Erläuterungen zur Auflösung referentieller Unterspezifikation). Vollzieht sich die Kohärenzetablierung auf lokaler Ebene, werden unmittelbar aufeinanderfolgende bzw. im Text dicht beieinander liegende Propositionen miteinander verknüpft. Bezogen auf den Anfang von Borcherts Erzählung bei17 Was sie Repräsentation des Textgenres betrifft, sprechen Richter/Christmann (2002) von der „Bildung von Superstrukturen“, die „im Sinne eines Rasters oder abstrakten Schemas (…) die globale Ordnung von Texten“ beschreiben (Richter/Christmann 2002, 33). Vgl. zu Superstrukturen grundlegend van Dijk (1980).
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spielsweise heißt das, dass die Informationen ‚plötzliches Erwachen‘, ‚Suche nach den Ursachen‘, ‚Interjektion, die Erkenntnis ausdrückt‘, ‚bekanntes Geräusch in der Küche‘ so miteinander verknüpft werden, dass zwischen ihnen kausale Beziehungen hergestellt werden: Die [bislang nicht näher bezeichnete] weibliche Person ist durch ein Geräusch in der Küche geweckt worden. Die Begriffe mentales Modell (zuerst bei Johnson-Laird 1983; Überblick über die Forschung zu mentalen Modellen bei Kelter 2003) und Situationsmodell (zuerst bei van Dijk/Kintsch 1983) werden in der aktuellen Forschung synonym verwendet, um die mentale Repräsentation dessen zu bezeichnen, wovon ein Text handelt (vgl. Kelter 2003, 513; exemplarisch für die synonyme Begriffsverwendung Schnotz/Dutke 2004, 73; Nold/Willenberg 2007, 28; Kritik an der aufgegebenen Unterscheidung der Konstrukte von Situationsmodell und mentalem Modell übt Richter 2003, 69). Der in der Textlinguistik gebräuchliche Terminus Textweltmodell kann ebenfalls als Synonym für mentales Modell und Situationsmodell gelten (vgl. Schwarz 2000, 41). Die Bildung eines mentalen oder Situationsmodells gilt als Ausweis und Voraussetzung vertieften Textverstehens und setzt globale Kohärenzbildung voraus. So modelliert etwa DESI die Konstruktion eines mentalen Modells als höchste Kompetenzstufe von Lesekompetenz (vgl. Willenberg 2007b).18 Die Etablierung lokaler und globaler Kohärenz ist die Zielrichtung der von Artelt et al. (2005, 21; s. o.) aufgeführten Leseanforderung des verstehenden Lesens. Dazu erläutert Köster (2007a, 16): Verstehendes Lesen ist in erster Linie auf die Sicherung des inhaltlichen Zusammenhangs gerichtet. Die gängigste und zugleich anspruchsvollste Leseaufgabe besteht darin, den Inhalt mit eigenen Worten wiederzugeben.19
Verstehendes Lesen ist nicht nur die Voraussetzung für involviertes Lesen, sondern auch für Operationen des kritischen Lesens und des reflexiven Lesens. Welche Verstehensanforderungen das kritische Lesen und das reflexive Lesen stellen, ist erst weiter unten auf der Basis ausführlicherer Überlegungen zu beantworten.
18 Dazu kritisch etwa Pieper (2007, 130 f.). 19 Zur Schwierigkeit der Anforderungen von Inhaltsangaben vgl. ausführlicher Zabka (2004).
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Large-Scale-Untersuchungen zur Lesekompetenz erheben neben Teilkompetenzen, die sich unmittelbar in Beziehung zu den genannten Ebenen des Textverstehens setzen lassen, noch einen weiteren Teilaspekt von Lesekompetenz, das Ermitteln von Informationen. Das Lesekompetenz-Modell von PISA 2000 geht von einer entsprechenden Subskala „Informationen ermitteln“ aus und unterscheidet fünf Schwierigkeitsniveaus innerhalb dieser Subskala. Bei IGLU („Gesuchte Wörter in einem Text erkennen“) und DESI („Identifikation einfacher Lexik“) repräsentiert das Ermitteln von Einzelinformationen jeweils das einfachste Kompetenzniveau von Lesekompetenz (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001; Bos et al. 2003; Willenberg 2007b). Es stellt sich im Kontext dieser Arbeit die Frage, wo das Ermitteln von Informationen als Leseanforderung theoretisch anzusiedeln ist: Handelt es sich um eine eigene ‚Ebene‘ des Textverstehens? PISA charakterisiert die Subskala „Informationen ermitteln“ folgendermaßen: Aufgaben der Subskala „Informationen ermitteln“ verlangen vom Leser, eine oder mehrere Informationen bzw. Teilinformationen im Text zu lokalisieren. Dies erfordert eine sorgfältige Analyse von Textabschnitten mit dem Ziel, Detailinformationen (wie etwa die Abfahrtszeit eines Zuges oder das Vorhandensein eines bestimmten Arguments) zu finden. Je nach Komplexität der Aufgabe ist dafür ein unmittelbares Verstehen größerer Textteile und ein Vergleich von im Text vorhandenen Angaben erforderlich. Darüber hinaus kommt es vor, dass die gesuchte Information nicht explizit im Text enthalten ist, sondern gefolgert werden muss. (Deutsches PISAKonsortium 2001, 83; Hervorhebung ebd.)
Im Zitat wird deutlich, dass bei PISA zur Subskala „Informationen ermitteln“ nicht nur das Lokalisieren isolierter Einzelinformationen zählt. Um gesuchte Informationen zu ermitteln, sind zwischen den Informationen des Textes Beziehungen unterschiedlicher Komplexität herzustellen. Der Begriff Komplexität ist dabei so zu verstehen, wie oben in Kap. 2.3.3 erläutert: Die Komplexität nimmt zu, je mehr Variablen (hier: Textinformationen) zu berücksichtigen und je mehr Beziehungen zwischen diesen Variablen herzustellen sind (vgl. dazu auch Kirsch 2001, 15 f.): Bei der Subskala „Informationen ermitteln“ nimmt die Schwierigkeit der Aufgaben (…) in Abhängigkeit von der Anzahl der Einzelinformationen, die herauszusuchen sind, und der Anzahl der Voraussetzungen, die diese Informationen erfüllen müssen,
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zu. Weiterhin steigt die Schwierigkeit in dem Maße, in dem die ermittelten Informationen organisiert werden müssen. (Deutsches PISA-Konsortium 2001, 90)20
Aufgaben zum Ermitteln von Informationen können also einen unterschiedlichen Integrationsgrad aufweisen und kohärenzetablierende Operationen voraussetzen. Dabei kann auch das Herstellen globaler Zusammenhänge im Text erforderlich sein, um eine Information als die gesuchte zu identifizieren21 – dem Leser geht es dann aber letztlich nicht um den Zusammenhang, sondern um die gesuchte Einzelinformation. D. h. der Leser interessiert sich von vornherein für einen ganz bestimmten Teilaspekt des Textes, er liest also strategisch i. S. von klar zielorientiert.22 Diese Determiniertheit der Zielsetzung, die im schulischen Kontext i. d. R. von Aufgaben vorgegeben ist, unterscheidet sich von einem eher allgemein interessierten und zufällig verweilenden Durchlesen eines Textes etwa mit Interesse am Handlungsverlauf. In der vorliegenden Arbeit werden Aufgaben, die das Ermitteln von Informationen fordern, von der Verstehensanforderung her den Ebenen der Kohärenzetablierung zugeordnet, wobei der geforderte Integrationsgrad der Verstehensleistung jeweils im Einzelfall zu analysieren ist (nähere Erläuterungen dazu vgl. unten, Kap. 3.5.3).23 20 Mit diesem Zitat aus dem PISA-Bericht als Hintergrundinformation erscheint es schlüssig, dass das IGLU-Niveau „Gesuchte Wörter in einem Text erkennen“ („Erkennen und Angeben explizit angegebener Informationen“) die unterste Kompetenzstufe im IGLU-Modell bezeichnet. Die entsprechenden IGLU-Beispielaufgaben (Bos et al. 2003, 90 u. 91) verlangen das Lokalisieren einzelner, explizit genannter und (zum Text „Der Hase kündigt das Erdbeben an“) sogar kursiv hervorgehobener Informationen im Text. Das Herstellen von globalen Zusammenhängen zu anderen Textinformationen ist nicht erforderlich. Die exemplarische DESI-Aufgabe, die das unterste DESI-Kompetenzniveau „Identifikation einfacher Lexik; Erkennen der sinntragenden Wörter in einem Satz oder Absatz“ illustrieren soll (Willenberg 2007b, 111), ist demgegenüber kein überzeugendes Beispiel für eine dem Niveau entsprechende Aufgabe (vgl. dazu kritisch Bremerich-Vos/Grotjahn 2007, 160). 21 Köster (2008b, 169) ordnet Aufgaben zum Standard „Gezielt einzelne Informationen suchen“ der Ebene lokaler Kohärenzbildung zu: „Solche Aufgaben lassen sich bewältigen, ohne dass der Text in seinem globalen Zusammenhang verstanden sein muss.“ Letztlich wird für jede Aufgabe zum Ermitteln von Informationen einzeln zu prüfen sein, auf welcher Ebene kohärenzetablierende Operationen zur Lösung nötig sind. 22 Zur Zielorientierung als Voraussetzung für den Einsatz von Strategien vgl. z. B. Deutsches PISA-Konsortium (2001, 272); Schiefele (1996, 123). 23 Zu ergänzen ist noch, dass das Ermitteln von Informationen im Einzelfall auch weniger auf Verstehensleistungen als auf dem „Abgleich von ‚Figuren’ (vgl. Suchfunktion bei Word usw.)“
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Die bisher genannten Produkte des Textverstehens haben eines gemeinsam: Sie sind textspezifisch, d. h. sie lassen sich auf einen einzelnen Text – dessen Merkmale bzw. das, worauf er sich bezieht – zurückführen. Vernachlässigt wird dabei, dass Texte und das von ihnen Dargestellte im Kopf des Lesers nicht immer isoliert und unverändert abgebildet werden. Ein mögliches Verstehensprodukt ist vielmehr auch die vorwissensbasierte Weiterverarbeitung des Gelesenen. Bezogen auf diese Verstehensleistungen, bei denen Lesende nicht nur ein Modell der im Text behandelten Inhalte konstruieren, sondern auch deren Geltungsanspruch überprüfen, spricht Richter 2003 von einem epistemologisch qualifizierten Situationsmodell. Dieses Konzept ist gerade auch für die Untersuchung von Verstehensanforderungen im Deutschunterricht hilfreich und wird deshalb im Folgenden mit berücksichtigt (vgl. Kap. 3.4.5).
3.4.2 Situationsmodell – Mentales Modell – Textweltmodell Einigkeit besteht darin, dass das mentale Modell nicht Merkmale des Textes selbst repräsentiert, sondern des Gegenstandes, auf den sich der Text bezieht. Das gebildete mentale Modell beschränkt sich dabei nicht auf Informationen des Textes, sondern integriert Textinformationen und Vorwissen des Lesers (vgl. Kap. 3.2 und 3.3). Auf diese Verknüpfung von Textbasis und Vorwissen des Lesers innerhalb mentaler Modelle verweist exemplarisch Schwarz (2000), wenn sie den Terminus „Textweltmodell“ wie folgt bestimmt: Beim Textverstehen erstellt also der Rezipient Rz auf der Basis des Textes T eine mentale Struktur S, indem er Informationen von T mit Informationen aus seinem Gedächtnis G so verbindet, daß ein Modell der in T dargestellten Welt W entsteht. S ist das Textweltmodell (TWM). (Schwarz 2000, 41)
Was die Modalität der gebildeten Repräsentation des Textgegenstandes betrifft, zeigen sich verschiedene Auffassungen. Zwar liest man nach wie vor, dass es
basieren kann: „Subsemantischer ‚Figurenabgleich’ findet vor allem dann statt, wenn die Formulierung im Text zu mehr oder weniger großen Teilen in identischer Form in der Aufgabe auftaucht.“ (Köster 2008b, 169).
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sich beim mentalen Modell um eine analoge Repräsentation des im Text Dargestellten handele (vgl. stellvertretend für diese Position Schnotz/Dutke 2004, 73). Doch gilt es insgesamt als akzeptiert, dass die als mentale Textrepräsentation aufgebaute Referentialisierungsstruktur nicht analog sein muss, sondern durchaus auch „propositional kodiert sein kann“ (Kelter 2003, 513; vgl. zur Frage der Modalität von mentalen Modellen auch Kintsch 1998, 191 f.; Schwarz 2000, 40; Nold/Willenberg 2007, 35). Der zumindest aus didaktischer Sicht entscheidende Punkt ist wohl weniger die Frage, ob der Textgegenstand analog oder propositional repräsentiert ist, sondern dass es ein mentales Modell dem Leser erlaubt, das, worüber der Text eine Aussage macht, „in einem (Zu)Griff“ (Gailberger 2007, 25) abzurufen. Das dürfte am von Grzesik sog. „Repräsentationsformat“ mentaler Modelle liegen: Die Form der Repräsentation ist nicht linear sequentiell wie die Abfolge von semantischen Einheiten (Wörtern, Phrasen, Sätzen etc.) in der sprachlichen Repräsentationsform, sondern netzförmig. (Grzesik 2005, 226; Hervorhebg. ebd.)
Was nun genau unter dem mentalen Modell oder Situationsmodell zu verstehen ist, ist – gerade auch bezogen auf literarische Texte – keineswegs eindeutig geklärt. Einig ist man sich darin, dass die Bildung eines mentalen Modells die Etablierung globaler Kohärenz erfordert, also die leserseitige Verknüpfung weiter auseinander liegender Textinformationen. Aus didaktischer Sicht ist wichtig hervorzuheben, dass die Etablierung globaler Kohärenz höhere Anforderungen an den Leser stellt als die lokale Kohärenzbildung (Schnotz/Dutke 2004, 64; vgl. oben, Kap. 2.3.3, zum Integrationsgrad als schwierigkeitsbestimmendem Merkmal von Textverstehensaufgaben; vgl. auch die Kompetenzniveaus von DESI, die genau diesen Aspekt hervorheben: Willenberg 2007b). Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel, wenn als Strukturmerkmale mentaler Modelle von narrativen Texten aufgeführt werden: Zeit und Ort der Handlung, die handelnden Figuren, deren Motive für ihr Handeln sowie die kausalen Beziehungen zwischen den Handlungselementen (vgl. Zwaan/Radvansky 1998; Kelter 2003, 513; Kintsch/Rawson 2005, 223). Schwarz fasst ihre Definition des Textweltmodells (TWM) allgemeiner, so dass es über narrative Texte hinaus anwendbar ist. Sie nennt als Bestandteile des TWM „konzeptuelle Repräsentationseinheiten, welche die Objekte (im weitesten Sinn) des im Text geschilderten Sachverhalts reprä-
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sentieren“, die Relationen zwischen diesen Repräsentationseinheiten sowie Informationen über zeitliche und räumliche Gegebenheiten (Schwarz 2000, 41). Ein mentales Modell des Beispieltextes „Das Brot“ ließe sich etwa wie folgt verbalisieren: [In den Hungerjahren im Nachkriegs-Deutschland nach 1945] kommt es zwischen einem älteren Ehepaar zum latenten Konflikt, weil der Mann sich heimlich über seine Ration hinaus Brot genommen und die Frau dies bemerkt hat. OHNE DASS ÜBER DEN KONFLIKTPUNKT GESPROCHEN WIRD, teilt die Frau dem Mann am nächsten Abend auf Kosten ihrer Ration eine Scheibe Brot mehr zu, was diesen tief beschämt. (Konstruiert, I. W.)
Es zeigt sich, dass die Textbasis einerseits reduziert wird, und zwar durch Weglassen (Tageszeit, Räumlichkeiten, Gesprächs- und Gedankendetails werden getilgt) und Zusammenfassen (z. B. ‚älteres Ehepaar’ statt genauem Alter und Ehedauer). Andererseits wird der Text aber auch durch verstehensrelevante Vorwissenselemente angereichert. So ist die in eckigen Klammern hinzugefügte Information über Ort und Zeit der Handlung grundlegend für die Etablierung von Kohärenz zwischen den Textinformationen. Drittens werden die Textinformationen weiterverarbeitet; denn dass der Mann sich am Ende schämt, steht so ja nicht im Text, sondern stellt eine Schlussfolgerung aus dem mitgeteilten Verhalten des Mannes dar. Auch dass es zwischen Mann und Frau einen latenten Konflikt gibt, ist eine Schlussfolgerung aus den Informationen des Textes, die sich auf das Weltwissen über zwischenmenschliche Konflikte (mögliche Auslöser, Symptome, Arten der Austragung) stützt.24 Interessant schließlich erscheint mir, dass ich mit dem in Kapitälchen gesetzten Nebensatz etwas für wichtig bei der Repräsentation des Textgegenstandes gehalten habe, das der Text ja gerade nicht enthält. Denn die fehlende Austragung des Konfliktes im Text ist es, die die Rekonstruktion der kausalen Zusammenhänge und Figurenmotive für den Leser zur besonderen Herausforderung werden lässt. Das oben skizzierte mentale Modell trifft in diesen Punkten keine Entscheidung, indem es die Unbestimmtheit 24 Vgl. auch die von van Dijk (1980, 43-49) unterschiedenen sog. Makroregeln. Makroregeln sind demnach Teil unseres Sprachvermögens, mit dessen Hilfe wir komplexe Informationen eines Textes organisieren (ebd., S. 44). Van Dijk führt folgende Makroregeln an: Auslassen, Selektieren, Generalisieren, Konstruieren/Integrieren.
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des Textes hier auflösen würde, es markiert aber quasi die Leerstellen, indem es abbildet, was der Text eben nicht enthält. Das Beispiel zeigt dadurch zugleich, dass es bei (epischen) literarischen Texten schwierig sein kann, die Strukturmerkmale der Handlung (hier: kausale Zusammenhänge der Handlungselemente, Figurenmotive) im mentalen Modell eindeutig zu repräsentieren. Diese Beobachtung wirft die Frage auf, ob es so etwas wie ein angemessenes mentales oder Situations-Modell eines (literarischen) Textes gibt. Diese Frage ist bezogen auf die private Lektüre sicher sekundär – ein Freizeit-Leser darf einen Text im Sinne Ecos benutzen, also seiner intentio lectoris unterwerfen, wie er möchte (vgl. Eco 1992). Im Kontext schulischen Lesens aber und in der didaktischen Diskussion über Verstehensziele, in der es zwar um empirisch fundierte, letztlich aber normative Setzungen geht, ist diese Frage nach der Balance von lesergeleiteten und textbasierten Verstehensprozessen virulent, zugleich aber keineswegs neu und immer wiederkehrend (vgl. z. B. Spinner 1987; Zabka 1999; Ivo 1999; Belgrad/Ricart Brede 2007). Aus der empirischen Sicht der kognitionspsychologischen Leseforschung, die die mentalen Prozesse des Lesers bei der Auseinandersetzung mit Texten zentral setzt, stellt Schiefele fest, dass sich im Zuge des Textverstehensprozesses „die Textinformationen in individuell stark variierender Weise mit bereits vorhandenen Wissensbereichen des Lesers“ verbinden (Schiefele 1996, 102). Demgegenüber hebt Schwarz-Friesel aus textlinguistischer Perspektive hervor: „Kohärenzetablierung ist (…) kein willkürlicher, kein hochgradig subjektiver Prozess, sondern verläuft weitgehend vorhersehbar nach bestimmten Prinzipien (…)“ (Schwarz-Friesel 2006, 65), die letztlich darauf zurückzuführen sind, inwieweit ein Text semantische Relationen abbildet, die vor dem Hintergrund des Weltwissens des Lesers plausibel sind. Didaktisch betrachtet erscheint es notwendig, gerade das Wechselspiel von Textmerkmalen und möglichen Repräsentationsvarianten des Textes beim Leser in den Blick zu nehmen. Wenn ich mir als Lehrerin darüber im Klaren bin, an welchen Stellen der Text unbestimmt und mehrdeutig ist, bin ich auf variierende Anreicherungen der Schüler in diesen Punkten vorbereitet. Bei den Lernenden sollte dabei ein Bewusstsein dafür gefördert werden, wo die Informationen des Textes enden und die leserseitigen Anreicherungen und Auflösungsversuche für Mehrdeutigkeit beginnen. Mit dem Blick des Deutschdidaktikers auf mentale Modelle führt Willenberg zu dieser Frage entsprechend aus:
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Die Kategorien des Mentalen Modells beziehen sich auf die wesentlichen Informationen, insofern gleichen sie den Kernpunkten einer Nachricht – ihr Spezifikum liegt in der individuellen Art der Speicherung und in ihrer Eigenschaft als Erinnerungspunkte, von denen aus der Leser weitere Details und davon ausgehend auch Deutungen ableiten kann. Wichtig ist zudem, dass die Leser erkennen, wo Leerstellen vorliegen, was also im Text nicht direkt dargestellt wird. (Willenberg 2007a, 16)
3.4.3 Kohärenzetablierung und Sinnzuschreibung Noch eine weitere Frage ist bisher offen geblieben: Welche Rolle spielt die deutende Sinnzuschreibung innerhalb der mentalen Repräsentation literarischer Texte? Empirisch ist diese Frage noch nicht geklärt (Kintsch 1994, 49; vgl. aber die Zielsetzung des aktuellen DFG-Projekts „Literarästhetische Urteilskompetenz“: Frederking et al. 2008). Auf theoretischer Ebene finden sich zwei Lösungsvarianten, mit diesem Problem umzugehen, nämlich die strikte Trennung zwischen globaler Kohärenzetablierung und Sinnzuschreibung einerseits und die Einbeziehung von Deutungsaspekten in die Beschreibung von Situationsmodellen andererseits. Letzteres Konzept verfolgt Kintsch, wenn er bezogen auf literarische Texte von „mehrschichtige[n] Situationsmodelle[n]“ spricht: In den meisten Texten, die bisher experimentell untersucht wurden (Geschichten, Sachtexte, Gebrauchsanweisungen), gibt es genau ein Situationsmodell, das der Verfasser dem Leser mitteilen will. Wie erfolgreich ein Textbuch oder eine Gebrauchsanweisung sind, hängt davon ab, wie präzise dem Verfasser die Vermittlung gelingt. Wenn sich der (kompetente) Leser ein falsches Bild von der beschriebenen Situation macht, hat der Verfasser versagt. Bei literarischen Texten ist das anders. Fast immer regt hier ein Autor seine Leser dazu an, mehrschichtige Situationsmodelle zu konstruieren: auf einer Ebene den Handlungsablauf, auf einer anderen einen Kommentar über soziale Zustände, auf einer weiteren eine moralische Parabel, usw. Es ist auch nicht nötig, dass ein Autor ein beabsichtigtes Situationsmodell (oder -modelle) eindeutig und präzise definiert: was jemand aus einem literarischen Text macht, ist in der Regel sehr stark von seinen persönlichen Erfahrungen mit abhängig. (Kintsch 1994, 49)
Wie viele und was für ‚Schichten‘ das gebildete Situationsmodell eine literarischen Textes aufweist, ist damit wieder sehr stark dem Leser und seinen individuellen Anreicherungen überlassen. Der Text und seine Merkmale sowie der von
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ihnen gesteckte Verstehensrahmen werden aus dieser kognitionspsychologischen Perspektive, die den Leser und seine Aktivitäten zentral setzt, vernachlässigt. Anders sieht dies aus dem Blickwinkel der Textlinguistik aus, aus dem heraus Schwarz-Friesel für das Konzept der Trennung von (textnaher) Kohärenzetablierung und (darüber hinausgehender) Sinnzuschreibung eintritt. Sie unterstreicht: Die globale Kohärenz (als der durch übergeordnete semantische oder konzeptuelle Informationen erzeugte plausible Zusammenhang) ist (…) nicht mit dem Textsinn gleichzusetzen. Das Erkennen globaler Kontinuität bedeutet nicht, dass die Leser den Sinn (als die Autorintention oder eine der Rezeptionsästhetik des Textes entsprechende Auslegung) erschlossen haben. Die Etablierung von globaler Kohärenz ist jedoch in vielen Textverstehensprozessen die Voraussetzung für weitergehende Sinnauslegungen. (Schwarz-Friesel 2006, 70)
Diese Position deckt sich letztlich mit dem von Willenberg im DESI-Kontext vertretenen Konzept mentaler Modelle, in dem das mentale Modell selbst, verstanden als Nachrichtenkern, der leserseitigen Etablierung globaler Kohärenz – also dem Textweltmodell bei Schwarz-Friesel – entspricht. Der Leser kann vom mentalen Modell „ausgehend auch Deutungen ableiten“, so Willenberg (2007a, 16; s. o.).25 Wie für Schwarz-Friesel ist für ihn also das mentale Modell die Basis weiterführender Deutungsprozesse. Hervorzuheben ist ein Aspekt, den weder Schwarz-Friesel (2006) noch DESI so berücksichtigen, nämlich dass bereits die Kohärenzetablierung in literarischen Texten u. U. ein „(Teil-)Resultat spezifisch literarischer Verstehensprozesse ist“ (Zabka 2004, 205). Zabka setzt sich im hier zitierten Beitrag mit den Anforderungen der schulischen Textsorte der Inhaltsangabe auseinander. Er legt plausibel dar, dass das Erfassen des Handlungsverlaufs, wie es in Inhaltsangaben gefordert ist, keineswegs ein einfacher erster Schritt auf dem Weg zu umfassendem literarischen Verstehen ist. Vielmehr muss zum Nachvollziehen der erzählten Inhalte – also zur Etablierung lokaler und globaler Kohärenz – von der Art der Darstellung, also z. B. von einer eingeschränkten Erzählperspektive oder 25 Vgl. auch Eco (1992, 40-42), der die Relevanz des wörtlichen Sinnes von Literatur hervorhebt und unterstreicht, dass die Interpretation „immer auf dem Erkennen der ersten Bedeutungsebene der Botschaft, nämlich der wörtlichen“, beruht (Zitat ebd., 42).
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nicht-chronologischer Zeitgestaltung, abstrahiert werden. Auf diese Weise kann beim literarischen Lesen „das Verstehen der erzählten Inhalte überhaupt nur durch das Verstehen ihrer literarischen Darbietungsweise hindurch erfolgen“ (Zabka 2004, 205).26 Auch die Sinnzuschreibung unter den Bedingungen der Mehrdeutigkeit und Unbestimmtheit ist von der Wahrnehmung der Art der Darstellung mit beeinflusst. Das verlangt vom Leser eine „neue Dimension der Informationsverarbeitung mit eigenen Funktionen und Schwierigkeiten“ (Grzesik 2005, 317); denn es muss die Einstellung, dem Text Informationen über die Welt abzugewinnen, ausgetauscht werden gegen die ästhetische Einstellung, den gesamten Text als Informationsträger zu behandeln, so dass auch seine Darstellungsmittel zur Gewinnung neuer Informationen beitragen. (Grzesik 2005, 318)27
Wie schon erwähnt, gibt es bislang empirisch keine Befunde, wie Kohärenzetablierung und Sinnzuschreibung und ihre Wechselbeziehung beim literarischen Lesen im Kopf des Lesers repräsentiert werden. Allerdings liegt die Vermutung nahe, dass beide Prozesse synchron ablaufen und Merkmale der Darstellung eines literarischen Textes dabei integriert werden, gerade wenn sich der Leser auf der oben genannten Metaebene der Repräsentation des Textgenres der Literarizität eines Textes bewusst ist (vgl. auch Befunde von Stark 2010, zur Paralleli-
26 Vgl. auch Abraham (2000), der davon spricht, dass das Verstehen literarischer Texte durch deren inhaltliche, sprachliche und strukturelle Alterität „systematisch behindert“ werde (Abraham 2000, 17; Hervorhebung ebd.). Ob sich semantisches literarästhetisches Urteilen, verstanden als Kohärenzetablierung, und idiolektales literarästhetisches Urteilen als „Analyse der formalen Spezifika eines Textes und ihrer ästhetischen Funktion“ empirisch dennoch als getrennte Teildimensionen literarisch-ästhetischer Verstehenskompetenz erheben lassen, bleibt abzuwarten (vgl. Frederking et al. 2008; Zitat ebd., S. 20). 27 Grzesik spricht diesbezüglich von ästhetischem Empfinden, ästhetischem Urteilen (a. a. O., 315 ff.) und auch ästhetischer Kompetenz (a. a. O., 328). Darauf gehe ich vor dem Hintergrund der Fragestellung dieser Arbeit nicht näher ein. Konzepte spezifisch literarischer oder, weiter gefasst, ästhetischer bzw. poetischer Kompetenz zu diskutieren und auch empirisch zu überprüfen, steht gleichwohl auf der Agenda der Deutschdidaktik (vgl. z. B. Abraham 2005; Spinner 2006; Kammler 2006; Kämper-van den Boogaart/Pieper 2008; vgl. auch das bereits erwähnte DFGProjekt „Literarästhetische Urteilskompetenz“).
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tät von Kohärenzetablierungs- und Wertungsprozessen beim Lesen).28 Exemplarisch lässt sich diese Vermutung bezogen auf folgende Stelle aus Borcherts „Das Brot“ illustrieren: Sie stand auf und tappte durch die dunkle Wohnung zur Küche. In der Küche trafen sie sich. Die Uhr war halb drei. Sie sah etwas Weißes am Küchenschrank stehen. Sie machte Licht. Sie standen sich im Hemd gegenüber. Nachts. Um halb drei. In der Küche. Auf dem Küchentisch stand der Brotteller. (Z. 5-9)
Wenn es nur darum ginge, eine mentale Repräsentation der Textbasis aufzubauen, also lokale Kohärenz zu etablieren, wäre der zitierte Abschnitt aus Lesersicht einerseits als ungenau und andererseits als redundant einzuschätzen. Eine mentale Repräsentation der Textbasis dieses Absatzes ließe sich folgendermaßen verbalisieren: Die Frau steht auf und geht im Dunkeln in die Küche, wo sie auf den Mann trifft und das Licht anschaltet. Die Ungenauigkeit bzw. Unbestimmtheit des Textes besteht darin, dass bis jetzt nicht explizit gesagt wurde, dass es sich bei den Figuren um eine Frau und ihren Mann handelt. Dies stellt eine leserseitige Anreicherung der Textinformationen (sie, er, Bett neben Bett, „Sein Atem fehlte.“) dar. Der Text verweist nur mit Hilfe von Personalpronomen ohne vorangegangene Bezugsgröße auf eine weibliche und eine männliche Figur. Auf der anderen Seite wird eine bekannte Information bereits zum dritten Mal scheinbar unnötig wiederholt, nämlich die Angabe der Uhrzeit. Auch der Ort der Begegnung, die Küche, wird zweimal genannt. Dass es Nacht ist, wird nochmals expliziert, obwohl dies zuvor bereits eindeutig aus dem Text zu schließen ist (dunkle Wohnung, halb drei). Diese scheinbar unnötigen und redundanten Informationen sind für den Leser dann bedeutungstragend, wenn er den Text als literarischen liest. Denn dann unterstellt er dem Text Verknüpfungsdichte und den einzelnen Informationen Verweischarakter. Auffälligkeiten in der Art der Darstellung werden zu Deutungshinweisen. Dass Mann und Frau sich nachts um halb drei im Hemd in der 28 Hier wird also unter Rückgriff auf interaktionistische Modelle des Textverstehensprozesses argumentiert. Vgl. zu den konkurrierenden Modelltypen in der Textverstehensforschung zusammenfassend Richter/Christmann (2002, 28).
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Küche gegenüberstehen, wird durch die Wiederholung von einer scheinbar banalen Begebenheit zu einem entscheidenden Moment, der zusätzlich durch das Anschalten des Lichtes ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wird. Vor diesem Hintergrund enthalten etwa die Sätze „Die Uhr war halb drei. Sie sah etwas Weißes am Küchenschrank stehen.“ keine sich wiederholenden bzw. unwichtigen Details mehr, sondern greifen zwei im dargestellten Moment zentrale Beobachtungen aus Sicht der Frau auf. Die sich wiederholende Angabe der Uhrzeit erscheint angesichts der Literarizität des Textes nicht mehr als zufällige Redundanz, sondern als besondere Hervorhebung. Auch in Borcherts Kurzgeschichte „Die Küchenuhr“ wird die Uhrzeit „halb drei“ betont, so dass man nach Bezügen zwischen Borcherts Texten fragen könnte.29 Die Wahrnehmung der Frau, aus deren Perspektive die Handlung an dieser Stelle erzählt wird, scheint an der nächtlichen Uhrzeit quasi hängen zu bleiben – immerhin einer Uhrzeit, zu der man in der Küche keine Geräusche erwarten würden. Ebenso ist es die Wahrnehmung der Frau, die im zweiten zitierten Satz dargestellt wird. Die Frau weiß auch im Dunkeln über die räumlichen Gegebenheiten in ihrer Küche Bescheid und erkennt trotz der Dunkelheit den Küchenschrank als Küchenschrank. Den Mann jedoch nimmt sie daneben als „etwas Weißes“ wahr. Die Formulierung „etwas Weißes“ lädt zu Elaborationen über die Psyche der Frau ein; denn sie müsste sich zu diesem Zeitpunkt bereits darüber im Klaren sein, dass das Weiße neben dem Küchenschrank der Mann ist. Trotzdem wird er hier aus der Perspektive der Frau heraus als Sache („etwas“ statt „jemand“) bezeichnet, die nur durch den farblichen Eindruck im Dunkeln näher bestimmt wird. Man kann dies an dieser Stelle als Ausdruck von Distanz der Frau dem Mann gegenüber lesen. Am folgenden Satz „Sie machte Licht.“ lässt sich besonders gut verdeutlichen, dass Kohärenzetablierung und Sinnzuschreibung parallel ablaufen. Geht es lediglich um den Aufbau einer propositionalen Textrepräsentation und die Bil-
29 Vgl. zur Bedeutung der Uhrzeit Dück (1962, 92 f.): „Das ist keine konventionelle Nachtstunde, nicht Mitternacht noch erste Stunde, auch nicht Dämmerung oder Morgengrauen, sondern tiefste Nacht, Dunkelheit ohne Ausweg scheinbar, ohne Lösung. Eine für Borchert offenbar bemerkenswerte Zeit, ein Augenblick voll Erinnerungswert [hier Fußnote mit Verweis auf „Die Küchenuhr“], Stunde der Besinnung, des Zu-sich-Kommens, Stunde der Ruhe und des Alleinseins.“
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dung lokaler Kohärenz, entnimmt der Leser diesem Satz nicht mehr als die Information, dass die Frau das Licht (eine Lampe) anschaltet. Diese Information wird in Beziehung gesetzt zu den bisherigen Textinformationen über die Dunkelheit am Handlungsschauplatz – und ggf. auch zu dem in den Text zuvor, referentielle Unterspezifikation auflösend, hineingelesenen Bedürfnis der Frau, das bisher unbestimmte „Weiße“, ihren Mann, genauer wahrnehmen zu können. Der literarisch vorgebildete Leser wird durch den Hinweis auf den Wechsel von Dunkelheit zu Licht darüber hinaus dafür sensibilisiert, dass nun eine für die Sinnzuschreibung relevante Stelle folgen könnte. Denn dass die Lichtregie in literarischen Texten (im weiteren Sinn: in poetischen Texten jeder Medialität) nicht zufällig ist, sondern Deutungssignale gibt, gehört zum literarischen Vorwissen. Auf lokaler Ebene gelesen, wird – wenn man beim Bild von der Licht‚Regie‘ – bleibt, durch das Anschalten des Lichtes die Szenerie gleichsam angestrahlt wie im Film oder auf der Bühne. Die folgenden Sätze („Sie standen sich im Hemd gegenüber. Nachts. Um halb drei. In der Küche.“) bieten, auf der Ebene lokaler Kohärenzbildung gelesen, keine neuen Informationen. Frau und Mann begegnen sich; auch Zeit und Ort des Geschehens sind bereits bekannt. Liest man den Text als literarischen, erscheinen die nüchternen, sich wiederholenden Informationen hier wie eine Regieanweisung. Die vier Sätze bzw. Satzfragmente rücken die nun beleuchtete Szenerie ins Auge des Betrachters: Wer handelt? Was geschieht? Wann und wo spielt die Handlung? Hier nimmt der Text nicht wie in den Sätzen vorher die Perspektive der Frau ein, sondern die eines unbeteiligten Erzählers, der das Geschehen von außen und quasi in der Totale wahrnimmt. Dass es heißt, Mann und Frau „standen sich (…) gegenüber“, stößt weitere Deutungsaktivitäten bezogen auf das Verhältnis von Mann und Frau an: Diese knappe Information markiert fast eine Konfrontation der Figuren in der beschriebenen Situation. Es gibt in diesem Moment nichts Verbindendes zwischen ihnen – die Rede ist nicht etwa davon, dass sie sich anschauen. Dass sie beide „im Hemd“ sind, also vom äußeren Erscheinungsbild her fast bloß und ungeschützt, erhöht noch die Ausgesetztheit jedes einzelnen im Licht des Augenblicks. Mit dem ersten Satz des folgenden Absatzes, „Auf dem Küchentisch stand der Brotteller“, geht der Blick des externen Betrachters von der Totale ins Detail. Zugleich beginnt hier die Perspektive wieder zu wechseln von der des unbeteilig-
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ten Erzählers hin zu der der Frau, wie die folgenden Sätze verdeutlichen. Hat der Leser den Titel des Textes noch im Gedächtnis und geht er als literarisch gebildeter Leser davon aus, dass Details in literarischen Texten kaum zufällig erwähnt werden, ist er gewahr, dass gleich der Konfliktpunkt der Erzählung deutlich werden müsste. Wie die vorangegangenen Überlegungen nahelegen, laufen beim literarischen Lesen der Aufbau einer mentalen Repräsentation der Textbasis und Deutungsprozesse parallel und interagierend und unter Einbeziehung der Repräsentation von Darstellungsmerkmalen ab. Die von Schwarz-Friesel vorgeschlagene Differenzierung von Kohärenzetablierung und Sinnzuschreibung dient vor diesem Hintergrund in erster Linie heuristischen Zwecken. Von Kohärenzetablierung und Sinnzuschreibung als zwei getrennten Phasen oder Stufen des Textverstehensprozesses auszugehen, trägt m. E. jedoch nicht30, wenn auch eine empirische Klärung dieser Frage aussteht. Als heuristische Unterscheidung kann die Differenz von Kohärenzetablierung und Sinnzuschreibung didaktisch allerdings durchaus nutzbar gemacht werden. Gerade die textlinguistische Perspektive von Schwarz-Friesel erscheint mir für die aktuelle Literaturdidaktik dabei bedeutsam. Denn diese Perspektive ist es, aus der heraus der Text als wesentlicher Einflussfaktor des Textverstehens und auch Textdeutens betont wird. Dies stellt ein Gegengewicht zu literaturdidaktischen Tendenzen dar, die dem Leser in einem Maß individuelle Deutungshoheit einräumen, dass der Text darüber völlig in den Hintergrund gerät.31 Nun kann es nicht darum gehen, anstelle des Lesers den Text zentral zu setzen und dadurch nur auf dem anderen Auge blind zu sein. Das Wechselverhältnis zwischen Leser und Text literaturdidaktisch auszubalancieren ist eine Herausforderung, die es immer wieder neu zu bewältigen gilt. 30 Vgl. Schwarz-Friesel (2006, 73): „Terminologisch und sachlich müssen daher die beiden Phänomene Kohärenz und Textsinn voneinander abgegrenzt und auch auf der prozeduralen Ebene der Textkompetenz als unterschiedliche Prozessphasen erklärt werden.“ (Hervorhebung ebd.) 31 Vgl. z. B. Abraham/Kepser (2006, 10): „Für die Literaturdidaktik ist eine solche Gegenstandsperspektive prinzipiell unbefriedigend. Ihr kann es nicht in erster Linie darum gehen, wie Literatur beschaffen ist. Sie muss sich vor allem dafür interessieren, was Menschen damit machen und warum.“ In der dritten Auflage ihrer Literaturdidaktik haben Abraham/Kepser das kategorische Diktum des ersten zitierten Satzes deutlich abgemildert; der erste Satz lautet jetzt: „Für die Literaturdidaktik ist eine solche Gegenstandsperspektive grundlegend, aber nicht ausreichend.“ (Abraham/Kepser 2009, 13)
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Im beschriebenen Überschneidungsbereich von Kohärenzetablierung und Sinnzuschreibung ist die Leseanforderung des reflexiven Lesens anzusiedeln, die auf die elaborative Anreicherung des im Text Gesagten durch generation processes (vgl. Kintsch 1998; s. auch oben, Kap. 3.2) zielt. Bei literarischen Texten bezieht sich reflexives Lesen „auf Form- wie Inhaltsaspekte des Literarischen“ und soll „auf diese Weise über die ‚Verfremdung’ von Weltwahrnehmung neue Weltsichten“ generieren (Artelt et al. 2005, 22). Zum reflexiven Lesen zählt die literarische Sinnzuschreibung, aber auch das In-Beziehung-Setzen von Textinhalten zu eigenen Erfahrungen, um etwaige Brüche oder Leerstellen im Text zu überbrücken, etwa wenn Motive für das Handeln literarischer Figuren hinterfragt werden (vgl. Kintsch 1998, 192; Zitat s. o., Kap. 3.2). Reflexives Lesen kann aber auch in die Reflexion des eigenen Denkens und Empfindens münden (Hurrelmann 2002, 278 f.; Zabka 2006, 84). Bezogen auf Borcherts Text hieße das etwa zu fragen, warum man mit der einen Figur mehr sympathisiert als mit der anderen oder wie man selbst mit zwischenmenschlichen Konflikten umgeht etc.
3.4.4 Globale Sinnzuschreibung Trotz der skizzierten grundsätzlichen Schwierigkeiten, gerade beim literarischen Verstehen zwischen Sinnzuschreibung und Kohärenzetablierung zu unterscheiden, steht bezogen auf das Beispiel „Das Brot“ noch aus, die Frage des globalen Textsinns zu diskutieren. Die globale Sinnzuschreibung wird dabei als ein mögliches Verstehensprodukt verstanden. Wie oben bereits erwähnt, geht ein Leser im Diskurssystem Literatur davon aus, dass ein Text einen sekundären, über die wörtliche Bedeutung hinausgehenden Sinn hat. Dazu in unmittelbarem Zusammenhang steht der Konsens, dass es die eindeutige und für immer gültige Interpretation (i. S. v. Sinnzuschreibung) eines Textes nicht gibt. Sinnzuschreibungen rekurrieren mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung auf verschiedene Variablen, die bei jedem literarischen ‚Sprechakt‘ im Spiel sind, nämlich die Intention des Sprechers, den Text als sprachliche Äußerung per se, den Kontext der Äußerung (z. B. die Entstehungsbedingungen des Textes) und die Erfahrungen des
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rezipierenden Lesers (vgl. Culler 2002, 42 u. 96).32 Diese vier Faktoren sind bei jedem Interpretationsprozess aufs Neue in Beziehung zu setzen und abzuwägen. Culler bringt diese Problematik wie folgt auf den Punkt: Die Bedeutung eines Werks ist nicht, was der Autor zu irgendeinem gegebenen Zeitpunkt im Sinn hatte, noch ist sie eine bloße Eigenschaft des Texts oder der Erfahrungswert eines Lesers. Der Bedeutung entkommt man nicht, und zwar weil sie nichts Einfaches ist bzw. nichts, was einfach zu bestimmen wäre. Sie ist nämlich zugleich Subjekterfahrung und Texteigenschaft. Sie ist sowohl das, was wir verstehen, also auch das, was wir im Text zu verstehen versuchen. Es ist immer möglich, über Bedeutung zu streiten, und in diesem Sinne ist sie unbestimmt, stets zu bestimmen, Bestimmungen unterworfen, die nie unwiderruflich sind. (Culler 2002, 98; Hervorhebg. ebd.)
Vermutlich ist es gerade diese systemimmanente Offenheit literarischer Verstehensprozesse, die dazu führt, dass das literarische Lesen als „ill-structured knowledge domain“ (Spiro et al. 1991) gilt. Mit Blick auf den Unterricht bergen diese Offenheit und die Tatsache, dass die einzelnen deutungsrelevanten Variablen bezogen auf jeden einzelnen Text völlig neu zu prüfen sind, einerseits die Gefahr der Übervereinfachung und Pauschalisierung von Deutungszuschreibungen. Das andere Extrem ist das Akzeptieren jeder beliebigen Sinnzuschreibung. Die Literaturdidaktik versucht immer wieder, Auswege aus diesem Spannungsverhältnis aufzuzeigen (z. B. Spinner 1987; Zabka 1999; Spinner 2006; Köster 2007b). Wie nun kann eine angemessene globale Deutung des Borchert-Textes „Das Brot“ aussehen? Zieht man Kontext-Informationen zu Rate, ist die Zuordnung von Borcherts Werk insgesamt zur sog. ‚Trümmerliteratur‘ zu berücksichtigen. Die Kurzgeschichte „Das Brot“ erschien zuerst 1946. 33 „Seine Geschichten (…) und vieles, was er sonst schrieb, handeln vom Elend der Hungernden und Kriegskrüppel, von Heimkehrern und Heimatlosen, von denen insgesamt, die der Krieg (…) verunstaltete und verdarb“, heißt es über Borcherts Werk in der Einführung zur Werkauswahl von 1956. Mit dem – für die meisten der heutigen
32 Zabka (1999) hat darauf hingewiesen, dass auch die Kontext-Variable für sich genommen schon mehrdimensional ist: „Literarischen Texten lassen sich meist mehrere objektiv bedeutsame Kontexte zuschreiben.“ (A. a. O., 16). 33 In: Hamburger Freie Presse, 1. Jg., Nr. 65, 13.11.1946.
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Leser – historischen Wissen über die menschlichen Sorgen und Probleme in der unmittelbaren Nachkriegszeit nach 1945 ist der Suche nach einer Deutung von „Das Brot“ bereits eine gewisse Richtung gegeben. Eine viel zitierte Deutung der Erzählung, die auch in einer der unten einbezogenen Lehrbuchaufgaben zum Text eine zentrale Rolle spielt, stammt von Heinrich Böll und findet sich im Nachwort der Werkauswahl von 1956. Diese Interpretation ist stark vom Einflussfaktor Kontext geprägt und findet sich im Grunde erst am Ende des Zitates. Der erste, längere Teil gibt wieder, was man als mentales Modell i. S. v. ‚Handlungskern‘ bezeichnen könnte: Die Helden dieser Geschichte sind recht alltäglich: ein altes Ehepaar, neununddreißig Jahre miteinander verheiratet. Und der „Streitwert“ in dieser Geschichte ist gering (und doch so gewaltig, wie ihn die Augenzeugen der Hungersnot noch in Erinnerung haben mögen): eine Scheibe Brot. Die Erzählung ist kurz und kühl. Und doch ist das ganze Elend und die ganze Größe des Menschen mit aufgenommen (…). Die Erzählung „Brot“ ist Dokument und Literatur, in ähnlicher Weise wie die Prosa, die Jonathan Swift über den Hunger des irischen Volkes schrieb. (Böll 1955, 120)
Böll bewertet in seiner Interpretation das Figurenverhalten nicht im Einzelnen, für ihn spiegelt die Erzählung allgemein-menschliche Extremerfahrungen vor dem historischen Hintergrund wider. Seine Rede von „Elend und Größe“ bezieht sich zunächst auf beide Figuren und die Handlung insgesamt. „Was meint Böll mit diesem letzten Satz?“ fragt die in dieser Arbeit verwendete Beispielaufgabe, die dieses Böll-Zitat aufnimmt (vgl. unten, Kap. 3.5.3). Mit Elend ist sicher erst einmal die Not bezeichnet, sich nicht satt essen zu können. Der Begriff Elend ruft aber noch mehr Assoziationen auf, die auch im historischen Kontext Bedeutung haben können: Als Elend erleben es Menschen, an die Grenzen der eigenen Kraft zu stoßen, und zwar nicht nur körperlich, sondern auch psychisch. Elend erzeugen auch Verlusterfahrungen, und zwar nicht nur der ‚handfeste’ Verlust materieller Dinge oder geliebter Menschen, sondern auch ideelle Verluste, etwa von Liebe, Geborgenheit oder Vertrauen – „Brot“ des Lebens im übertragenen Sinn. Die Rede vom Elend kann sich ebenso darauf beziehen, dass Menschen aus Not eigene Handlungsnormen übertreten, indem
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sie z. B. mit fremdem Eigentum umgehen, wie sie es eigentlich verurteilen (vgl. die Dilemma-Situationen nach Kohlberg).34 Diese wenigen Ausführungen verdeutlichen schon, dass es wohl zu kurz greift, das Elend des Mannes auf dessen Hunger zu reduzieren. Ebenso elend erscheint seine Lage etwa insofern, als er unter dem Gefühl des Hungers überhaupt auf die dargestellte Weise schwach wird und zudem meint, seinen Hunger heimlich stillen bzw. sein Problem verbergen zu müssen. Und auch die Frau erlebt in Borcherts Geschichte Elend. So kann man etwa folgende Stelle als Ausdruck persönlichen Elends der Frau deuten; denn hier wird nicht nur die Reinigung des Tischtuchs, sondern zugleich ein fast aggressiver Akt dargestellt: Sie stellte den Teller vom Tisch und schnippte die Krümel von der Decke. „Nein, es war wohl nichts“, echote er unsicher. (Z. 28-30)
Zuvor teilt der Text mit, dass die Frau sich daran stört, dass der Mann sie anlügt – dass sie aber gleichzeitig auf diesen Gesprächsmodus eingeht, indem sie selbst die Unwahrheit sagt. Sie bestätigt dem Mann, dass auch sie etwas gehört habe, dass man sich aber wohl geirrt habe. Daraufhin räumt sie den Teller auf, reinigt das Tischtuch und stellt so die gewohnte Ordnung wieder her. Hier setzen die Elaborationen dieser Textstelle an – es kommt hier also mehr als in Bölls Deutung die Variable Text ins Spiel bzw. „das, was wir im Text zu verstehen versuchen“ (Culler 2002, 98; Hervorhebg. ebd.). Durch die oben zitierte Aktivität lenkt die Frau die Aufmerksamkeit auch des Mannes auf Teller und Krümel und damit auf die offensichtlichen Zeichen seiner Regelüberschreitung. Das Aufräumen steht so im Widerspruch zur soeben gemachten Aussage der Frau, es sei wohl nichts gewesen; denn das Aufräumen geschieht nicht beiläufig und unauffällig. Dagegen spricht die Formulierung „schnippte die Krümel von der Decke“. Schnippen ist eine gezielte, auch geräuschvolle Tätigkeit. Wenn die Frau mehre-
34 Auch in der Darstellung dieser moralischen Not des Mannes wird ein menschliches Problem der unmittelbaren Nachkriegszeit exemplarisch vorgeführt (vgl. zur Exemplarität des Dargestellten in der Literatur oben, Kap. 3.2): „Die Hungerkrise scheint vor allem aber auch eine Nivellierung der kollektiven Wertmaßstäbe (…) bewirkt zu haben. Was immer man nämlich unternahm, das Überleben zu organisieren – es war mit dem Zwang zur Illegalität verbunden, bei gleitendem und kaum merklichem Übergang zur Kriminalität.“ (Trittel 1999, 121)
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re Krümel (Plural!) wegschnippt, nimmt dies mehr als nur einen Augenblick in Anspruch. D. h. es muss in der Situation eine Pause entstehen, in der die Aufmerksamkeit der beiden Figuren auf das Schnippen und damit auf die Krümel und die Ursache ihres Vorhandenseins gerichtet ist. Obwohl die Frau also den Mann mit Worten beruhigt („(…) es war wohl nichts“), hebt sie durch ihr Handeln hervor, was er getan hat. Entsprechend „unsicher“ reagiert er, indem er die Worte der Frau noch einmal wiederholt („echote“) – unfähig also zu einer eigenen Äußerung und wie sie unfähig dazu, den Konfliktpunkt zu thematisieren. Zum Elend der Frau zählt also die (mit dem Mann geteilte) Unfähigkeit, das Problem der dargestellten Situation auszusprechen. Auch zur Alternative, das Entdeckte tatsächlich unauffällig zu überspielen, fehlt ihr die Kraft, elaboriert man die wenigen Informationen des Textes. Das Bemühen, nicht auf den Teller zu sehen, und in der Konsequenz das Ausschalten des Lichtes („Ich muss das Licht jetzt ausmachen, sonst muss ich nach dem Teller sehen, dachte sie. Ich darf doch nicht nach dem Teller sehen.“) folgen erst, nachdem sie am Anfang der nächtlichen Begegnung sehr wohl ihren aufmerksamen Blick auf Teller, Messer und Krümel (nicht auf ihren Mann!) gerichtet hat (vgl. „Und sie sah von dem Teller weg.“) und in einem zweiten Schritt die Krümel weggeschnippt und den Teller aufgeräumt hat. Den Verzicht auf eine Scheibe Brot ihrer Ration schließlich schafft die Frau nicht, ohne aus dem Schein der Lampe zu treten. Dies kann man als Indiz für und Reaktion auf mangelnde Aufrichtigkeit und in gewisser Weise als Elend durch Überforderung in der Konfliktsituation deuten. Auch Bölls Diktum von der Größe des Menschen, die sich in Borcherts Geschichte zeige, lässt sich auf beide Figuren beziehen. Als Zeichen für die Größe der Frau wird in der Regel ihre Schonung des Mannes vor expliziter Bloßstellung und ihr Verzicht auf einen Teil ihrer Ration gewertet. Auch Bölls Text selbst legt diese Lesart nahe. Er rückt am Ende seines Nachwortes in einer schlagwortartigen Aufzählung noch einmal die Figuren aus „Das Brot“ in den Mittelpunkt, indem er sie in einer Reihe mit anderen Figuren aus Borcherts Werk nennt: „ein alter Mann, der sich heimlich in der Nacht eine Scheibe Brot abschneidet – seine Frau, die ihm ihre Scheibe Brot schenkt“ (Böll 1955, 121). Auch an dieser Stelle ist keine explizite Wertung ausgesprochen, allerdings erscheint hier die Frau schon als diejenige, die eher „die ganze Größe des Menschen“ zeigt, während der Mann eher als der erscheint, dessen Handeln „das
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ganze Elend“ des Menschen verdeutlicht. Dass sich diese Tendenz in der Bewertung der Figuren immer wieder erkennen lässt (vgl. z. B. Rothbauer 1960, 115; Dück 1962, 9035; Durzak 1980, 118/119; vgl. auch die Beispielaufgabe 1 aus dem Fragebogen, Kap. 3.5.3), liegt sicher auch daran, dass die Erzählung in großen Teilen aus der Perspektive der Frau geschrieben ist, so dass der Leser zumindest bei eher oberflächlicher Lektüre, diese Perspektive übernehmend, das dargestellte Geschehen aus der Sicht der Frau beurteilt. Durzak (1980) sieht in dieser Perspektive des Textes sogar einen deutlichen einen Hinweis, wie das Geschehen zu bewerten ist: In der Tat scheint der Autor sich jeder kommentierenden Einmischung zu enthalten. Aber indem er unverkennbar aus der Perspektive der Frau erzählt und ihre Handlungsweise am Ende zur Demonstration von menschlicher Liebe auch angesichts der miserablen materiellen Lebensbedingungen werden läßt, setzt Borchert dennoch unverkennbar einen moralischen Akzent, ohne ihn freilich in eine begriffliche Formel umzusetzen. (Durzak 1980, 119)
Allein Dück (1962) nimmt nicht einseitig für die Frau Partei, indem er hervorhebt, dass auch sie in der dargestellten Situation beschämt sei: Hatte sie nicht vielleicht auch teil an der Entgleisung des Mannes? Kannte sie voll und ganz die Not dessen, der mit ihr lebte? (Dück 1962, 91)
Dass auch der Mann in Borcherts Kurzgeschichte Größe beweist, wird daran deutlich, dass er die hälftige Aufteilung der Brotes, die die beiden üblicherweise handhaben, nicht infrage stellt. Diese Aufteilung scheint nicht der beiderseitigen Bedürfnislage zu entsprechen. Die intakte Liebe des Mannes zeigt sich auch darin, dass er die Zumessung der Rationen um seiner Frau willen dennoch belässt, wie sie ist.36
35 Rothbauer (1960) und Dück (1962) verwenden ihrerseits an den genannten Stellen wörtlich die Formulierung von der „Größe“ der Frau, Dück bezieht sich dabei auf Böll. 36 Ich danke Thomas Berger für die anregenden Diskussionen über die Interpretationsmöglichkeiten von „Das Brot“. Er war derjenige, der stets für eine differenzierte Sicht des Mannes in der Kurzgeschichte plädiert hat.
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Das Ausmessen der Böllschen Deutung von Elend und Größe des Menschen, die der Text vor Augen führe, illustriert, wie sich literarisches Verstehen als „wertende Verständigung über Werte“ (Willems 2002, 1012) vollzieht: (…) wer sich der Literatur zuwendet, der kennt und sucht sie als einen Ort im sozialen Leben, der einer solchen Verständigung über Werte Raum gibt und an dem die Mittel für sie bereitgehalten werden. (ebd.)
In dieser wertenden Verständigung über Werte spielen Erfahrungen, Einstellungen und Konzepte des Lesers eine besondere Rolle. Idealerweise werden sie in Beziehung zum Text und den darin zum Ausdruck kommenden Werten gesetzt und in ein differenziertes Deutungsurteil überführt.37 Dazu regt auch die Beispielaufgabe 5 im unten vorgestellten Fragebogen an: „Ist diese Geschichte eine Liebesgeschichte?“ Die Aufgabe gibt eine globale Deutung vor. Die Schülerinnen und Schüler sollen überprüfen, inwieweit diese Deutung ihrer Meinung nach – also vor dem Hintergrund ihrer und anderer Wertvorstellungen – dem Text gerecht wird. Man kann Borcherts Geschichte als Liebesgeschichte lesen, wenn man zunächst einmal Liebe von Verliebtheit unterscheidet, was für Lernende im 9. Jahrgang evtl. schwierig ist. Auch entspricht der Text nicht den traditionellen Erwartungen an die Plotstruktur einer Liebesgeschichte (zwei Liebende, deren Liebe etliche Hindernisse und Komplikationen im Weg stehen, die am Ende aber doch zueinander finden). Inwieweit führt uns Borcherts Geschichte also ein Exempel für Liebe vor? Die Liebe der Frau zu ihrem Mann lässt sich daraus erschließen, dass sie auf seinen Modus des oberflächlichen, ablenkenden Dialogs eingeht, statt ihn zur Rede zu stellen, und ihm zuliebe auf einen Teil ihrer Brotration verzichtet. Aber auch das, was wir über den Mann erfahren, kann als Zeichen für Liebe gewertet werden. An der einzigen Stelle, an der der Text etwas über die Gedanken des Mannes mitteilt und die deshalb für die Sinnzuschreibung besonders relevant ist, denkt dieser eben gerade nicht über seinen Hunger oder seine Regelverletzung nach, sondern über seine Frau. Auch haben in diesem 37 Dass es Lesern zuweilen auch nicht gelingt, die aus dem Text herausgelesenen Werte als Ausgangspunkt für eine „wertende Verständigung“ (Willems 2002) darüber zu nutzen, äußert sich im Abbruch der Lektüre oder gar in Ausbrüchen von Wut über eine literarische Figur, wie sie Tobias Stark bei einem seiner Untersuchungsteilnehmer beobachtet hat (Stark 2008).
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Moment beide Figuren spiegelbildlich die gleichen Gedanken, nämlich das alte Aussehen des Ehepartners und – das ist wichtig – die Relativierung dieses Befundes. Diese Parallele in der gegenseitigen Wahrnehmung kann durchaus als Zeichen der Vertrautheit, wechselseitigen Zugewandtheit und damit als Ausdruck von Liebe gewertet werden. Wie oben bereits angeklungen, kann zudem als Zeichen für die Liebe des Mannes gelesen werden, dass er die hälftige Aufteilung der Brotration nicht angetastet hat. Allerdings ist der Text auch in diesem Punkt unbestimmt. Wir erfahren nicht, welcher Tätigkeit Mann und Frau nachgehen und welcher Kalorienbedarf abgesehen von den unterschiedlichen physiologischen Bedürfnissen von Frauen und Männern daraus resultiert. Zwar heißt es „Als er am nächsten Abend nach Hause kam…“; d. h. der Mann scheint einer Arbeit nachzugehen. Kann man aber aus dieser Information und daraus, dass es die Frau ist, die das Abendbrot zubereitet hat, zugleich schließen, dass die Frau nicht arbeitet und auch deshalb weniger Kalorien als der Mann braucht? Was der Text in diesem Kontext allerdings mitteilt, ist, dass der Mann offensichtlich vor Hunger aufwacht, während die Frau erst vom Geräusch in der Küche geweckt wird. Auch schläft die Frau über dem Kauen des Mannes wieder ein, ohne dass Hunger sie davon abhielte. Diese Informationen zusammengenommen legen nahe, dass es der Mann ist, der bisher entgegen seinen Bedürfnissen zugunsten der Frau auf mehr verzichtet hat. Wie weit die Liebe von Mann und Frau trägt und wie viel sie erträgt, ist aber durchaus auch kritisch zu fragen; denn wie oben schon skizziert, schont die Frau den Mann ja keineswegs konsequent, sondern signalisiert ihm ohne Worte sehr wohl, dass sie seine Übertretung erkannt hat. Vor diesem Hintergrund ist auch die Neuaufteilung des Brotes ambivalent zu sehen, da der Mann wissen muss, dass die Aussage der Frau nur einen Vorwand darstellt, und sich entsprechend beschämt fühlt („Sie sah, wie er sich tief über den Teller beugte.“) – während sie den Schein der Lampe in diesem Moment meidet. „In diesem Moment tat er ihr leid“, teilt der Text mit. Das heißt aber offenbar auch, dass er ihr erst jetzt leid tut. Offen bleibt, ob die beiden unter der Lampe bei Tisch in der Lage sein werden, endlich aufrichtig miteinander zu reden. Wie die wertende Auseinandersetzung mit der Frage, ob „Das Brot“ ein Exempel für Liebe unter extremen Bedingungen vorführt, schon deutlich macht, bietet Borcherts Text trotz seiner eindeutigen Gebundenheit an einen histori-
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schen Kontext auch für heutige Leser Potenzial für persönlich relevante Sinnzuschreibungen. Dies gilt auch für die Deutung, dass es im Text um eine Kommunikationsstörung geht, um die Unfähigkeit, miteinander zu sprechen. Auffällig am Dialog zwischen Mann und Frau ist, dass beide über an sich Belangloses sprechen, während unterschwellig ein Konflikt schwelt, der beide betroffen macht. Beim Mann äußert sich die Betroffenheit z. B. im verunsichert suchenden Blick (Z. 15, 26 ff.) – er sieht, während er spricht, nicht seine Frau an. Was die Frau angeht, macht der Text die Kluft zwischen ihrem Denken und Sprechen explizit. Sie stört sich am Lügen des Mannes, geht aber, ihrerseits die Unwahrheit sagend, darauf ein. D. h. die beiden reden zwar miteinander, sind aber bis zum Ende des vom Text dargestellten Geschehens nicht in der Lage, das aktuelle Problem zu thematisieren. Indem der Text den oberflächlichen Dialog mehrmals fast wortgleich wiederholt, betont er die substantielle Sprachlosigkeit der Figuren, was als Deutungshinweis gelesen werden kann. In ihrem Oberflächengespräch über das besagte Geräusch, das sie in die Küche geführt haben soll, thematisieren die beiden Unwirtlichkeit (Wind und Kälte) und Verfall (lockere Dachrinne) der sie umgebenden Außenwelt. Das ist unter dem Aspekt der deutungsträchtigen Schauplatzgestaltung in literarischen Texten zumindest zu bemerken. Dunkelheit und Kälte der äußeren Umgebung halten auch Einzug in die Wohnung und, so kann man interpretieren, in die Beziehung des Ehepaares. Beide thematisieren die gefühlte Kälte. Wer den Text als literarischen liest, sieht darin nicht nur einen Hinweis auf die Außentemperatur. Es gelingt den beiden nicht, der gefühlten Kälte, und sei es durch körperliche Annäherung, beizukommen. Von diesem Gedanken aus lässt sich wiederum an die Frage anschließen, ob es sich bei der Erzählung um eine „Liebesgeschichte“ handelt. Folgendes lässt sich zusammenfassend feststellen: Die Frage, welche globalen Sinnzuschreibungen „Das Brot“ erlaubt, wurde in diesem Kapitel diskutiert, indem drei Deutungsansätzen nachgegangen wurde: „Elend und Größe“, „Liebesgeschichte“ und „substantielle Sprachlosigkeit“. Die Ausführungen haben gezeigt, dass bei jeder dieser Deutungen Kontextwissen, Textbasis sowie Erfahrungen und Einstellungen des Lesers zueinander in Beziehung gesetzt werden, wobei von Fall zu Fall die eine oder andere Variable mehr Gewicht erhält. Allen drei Deutungsvarianten aber ist gemein, dass sie die Rolle des Textes nicht auf
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die eines bloßen Impulsgebers reduzieren, ohne sich „für die spezifischen Eigenschaften des zu untersuchenden Gegenstandes“ zu interessieren (Culler 2002, 101). Vielmehr gehen die diskutierten Interpretationen davon aus, „dass der Text, so wie er gemacht ist, etwas Wertvolles mitzuteilen hat“ (Culler 2002, 100). Dies gilt zum einen, wenn im Rahmen einer erschließenden Hermeneutik (Culler 2002, 100) versucht wird, „den ursprünglichen Entstehungskontext zu rekonstruieren (die Umstände und Intentionen des Autors und die Bedeutungen, die ein Text für seine ersten Leser gehabt haben mag)“ (ebd.), wie man das wohl für Bölls Interpretation sagen kann. Ebenso aber bleibt der Text als Untersuchungsgegenstand im Blick, wenn wir einer eher „verdachtgeleiteten Hermeneutik“ folgen, die den „Text gerade dafür schätzt, dass er – ohne dass sein Autor davon weiß – uns dazu bringt, gegenwärtige Fragen zu überdenken (und dabei vielleicht einige Annahmen seines Autors umstürzt)“ (ebd.). Dies mag etwa der Fall sein, wenn man eine Prüfung für die Liebe zwischen zwei Ehepartnern in den Text liest oder das Problem der Sprachlosigkeit und damit Fragen, die für heutige Menschen aktueller sind als die existenzielle Nachkriegsnot. Interpretieren, das den Text ernst nimmt, ist nicht beliebig, aber widerruflich und verhandelbar. Dieser Umstand ist es, der das Interpretieren von Literatur in institutionellen Lernzusammenhängen wie dem Deutschunterricht, die vom Prinzip her auf Eindeutigkeit der Lerninhalte und Überprüfbarkeit des Lernerfolgs ausgerichtet sind, so schwierig macht. Vor diesen institutionellen Rahmenbedingungen kann die Literaturdidaktik nicht die Augen verschließen, wenn sie normativ gewünschte Ziele von Literaturunterricht diskutiert. Auf globaler Ebene berücksichtigt Interpretieren möglichst alle deutungsrelevanten Informationen des Textes und ihre Beziehung untereinander und greift nicht wahllos einzelne Stellen heraus. Dass der Leser über ein Textweltmodell oder mentales Modell der Handlung verfügt, ist in der Tat grundlegend für plausible globale Deutungen als Produkt, auch wenn einschränkend zu sagen ist, dass während des Lektüreprozesses Kohärenzetablierung und Sinnzuschreibung parallel verlaufen (s. o.). Einschränkend ist zudem v. a. mit Blick auf lyrische Texte zu bemerken, dass Sinnzuschreibungen auch möglich sind, wenn sich die Texte der Etablierung globaler Kohärenz widersetzen (vgl. Schwarz-Friesel 2006, 70 f.). Außerdem ist hervorzuheben, dass sich gerade moderne Lyrik der Sinnzuschreibung oft verweigert (vgl. Köster 2007b).
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3.4.5 Epistemologisch qualifiziertes Situationsmodell und Textkritik Die Ausführungen im vorangegangenen Teilkapitel zeigen, dass im Prozess der Sinnzuschreibung nicht nur eine Repräsentation des betreffenden Textes und seiner Merkmale samt notwendigen oder fakultativen leserseitigen Ergänzungen gebildet wird. Geht man davon aus, dass beim Interpretieren von Literatur eine „wertende Verständigung über Werte“ (Willems 2002; s. o.) stattfindet, heißt das, dass der Leser zwischen seinem Vorwissen und dem Text nicht nur Ergänzungsrelationen, sondern auch Vergleichsrelationen herstellt (vgl. Richter 2003). D. h. dass das Vorwissen (z. B. eigene Wertvorstellungen, ästhetische Ansprüche, fremde Urteile zum Text, intertextuelles Wissen) als tertium auf den Text bezogen wird.38 PISA 2000 fasst diese Verstehensprozesse, die typisch für die Verstehensanforderung des kritischen Lesens sind (vgl. Artelt et al. 2005, 21 f.), unter der Subskala „Reflektieren und Bewerten“ zusammen (vgl. dazu Schweitzer 2007, 76-82), ohne allerdings zu klären, welchen Stellenwert spezifisch literarische Deutungsprozesse in diesem Modell haben.39 Resultat dieser Prozesse jedenfalls ist nicht allein eine Repräsentation des Textes selbst, sondern die Integration vorwissensbasierter Wertungen in das mentale Verstehensprodukt. Richter (2003) führt für derartige Verstehensprodukte den Terminus „epistemologisch qualifiziertes Verstehensmodell“ ein. Er knüpft damit an Forschungsergebnisse zur mentalen Repräsentation multipler Texte an (Britt et al. 1999).40 Richter zufolge enthält ein epistemologisch qualifiziertes Situationsmodell erstens eine referentielle Repräsentation der im Text angesprochenen Sachverhalte, die mit den eigenen Überzeugungen konsistent ist. Zweitens können von den eigenen Überzeugungen 38 In der theoretischen Fundierung des Konstrukts „Literarästhetischer Urteilskompetenz“ im gleichnamigen DFG-Projekt (Frederking et al. 2008) sehe ich diese Unterscheidung zwischen Ergänzungs- und Vergleichsrelationen zwischen Text und Vorwissen nicht. Alle drei vorgestellten Teildimensionen werden im Kern als „Urteilen“ bezeichnet, ohne dass die Verwendung dieses Begriffs geklärt würde. Er ist aber offensichtlich nicht so gebraucht, dass mit „Urteilen“ durchgängig das Herstellen von vergleichenden Bezügen zwischen textexternen Bewertungskriterien und Textmerkmalen gemeint ist. 39 Auf die Spezifik mentaler Prozesse des Bewertens machen auch Aufgabentypologien wie die von Bremerich-Vos (2008) referierte Taxonomie von Anderson et al. aufmerksam. 40 Als multiple Texte werden mehrere Texte zum gleichen Thema/Sachverhalt bezeichnet.
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abweichende Textaussagen gemeinsam mit Quellenmarkierungen und ihren argumentativen Relationen zu eigenen Überzeugungen repräsentiert werden. Dabei sollten auch zusammenfassende Bewertungen der Überzeugungskraft des gelesenen Texts als Quelleninformationen repräsentiert werden. Ein gutes epistemologisch qualifiziertes Situationsmodell erlaubt es Rezipienten/innen damit, zu Textinhalten begründet Stellung zu beziehen. (Richter 2003, 127)
Entscheidend für den Unterschied zwischen einem textspezifischen Situationsmodell und einem epistemologisch qualifizierten Situationsmodell ist, dass das Vorwissen des Lesers beim epistemologisch qualifizierten Situationsmodell in Vergleichsrelation zum Text tritt, während es sich bei der Etablierung eines textspezifischen Situationsmodells um eine Ergänzungsrelation zwischen Text und Vorwissen handelt (vgl. Richter 2003, z. B. S. 13, 20, 79). Nun bezieht und beschränkt Richter seine Ausführungen auf das Verstehen von Sachtexten, bei deren leserseitiger epistemologischer Verarbeitung die gegebenen Informationen vor allem auf den Geltungsanspruch der Wahrheit und die Einschätzungen des Autors auf den Geltungsanspruch der Richtigkeit hin beurteilt werden. Wie aber in den Ausführungen des vorangegangenen Teilkapitels deutlich geworden ist, kann man auch bezogen auf einen literarischen Texte von der Bildung eines epistemologisch qualifizierten Situationsmodells ausgehen, wenn etwa das Handeln der literarischen Figuren bewertet wird oder Sinnzuschreibungen auf ihre Tragfähigkeit überprüft werden. Auch die Bewertung der Darstellung nach ästhetischen Qualitätskriterien beruht auf der Bildung eines epistemologisch qualifizierten Situationsmodells.41 Grzesik (2005) nennt das Verstehensprodukt, das Richter als epistemologisch qualifiziertes Situationsmodell bezeichnet, „Textkritik“. Diese zeichnet sich laut Grzesik dadurch aus, dass der Text an einem Maßstab gemessen wird, der außerhalb des Textes liegt und vom Leser an diesen herangetragen wird. Der 41 Vgl. Artelt et al. (2005, 22): „(…) auch auf literarische Texte ist das Konzept des kritischen Lesens anzuwenden“, das zum Aufbau eines epistemologisch qualifizierten Situationsmodells führt. Wie Artelt et al. weiter ausführen, wird das Konzept des kritischen Lesens „im Literaturunterricht bei der Textanalyse durchweg verfolgt, allerdings mit einem größeren Schwergewicht auf Formaspekten, wie es auch gerade die Tradition der literarischen Wertung (…) zeigt“ (ebd.). Ob man das so pauschal für deutschunterrichtliche Textanalysen annehmen kann, erscheint mir allerdings fraglich, bleiben diese doch nicht selten bei der Erhebung stilistischer Mittel stehen, ohne diese für Deutungshypothesen zu nutzen oder stilistisch zu bewerten.
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3 Aufgaben und Textverstehen
„Begriffsgehalt des Maßstabs“, so Grzesik, „[muss] mit Textinformationen verglichen werden“; der Leser ist dabei gefordert, „sich nicht mehr affirmativ dem Dargestellten zuzuwenden, sondern sich vom Text zu distanzieren und Stellung zu ihm zu beziehen“ (Grzesik 2005, 347; Hervorhebungen ebd.). Auch Grzesik hebt also hervor, dass für „Textkritik“ das Herstellen von Vergleichsrelationen zwischen dem Vorwissen des Lesers und dem Text charakteristisch ist.42 Anders als Richter beschränkt Grzesik die von ihm sog. „Textkritik“ nicht auf Sachtexte. Grzesik betont, dass sich kritische Operationen auf alle Textmerkmale – Formalia, Dargestelltes und Art der Darstellung – beziehen können. Er unterscheidet als Geltungsansprüche, auf die sich die Kritik richten kann, neben (sachlicher) Wahrheit und (an Werten und Normen gemessener) Richtigkeit auch „logische Stimmigkeit“ und „ästhetische Qualität“ (Grzesik 2005, 349-354). Je nach dem Bezugspunkt der Kritik ergeben sich für Grzesik daraus vier Varianten von Textkritik, nämlich Wahrheitskritik, Logische Kritik, Wert- und Normenkritik und Ästhetische Kritik. Damit sind literarische Texte als Objekte der Textkritik eingeschlossen. Charakteristisch für die Auseinandersetzung mit literarischen Texten als „wertende[r] Verständigung über Werte“ (Willems 2002, 1012) dürften dabei Wert- und Normenkritik sowie die ästhetische Kritik sein. Aus didaktischer Sicht ist folgende Anmerkung Grzesiks von Bedeutung, da sie auf Fragen der Lernprogression aufmerksam macht: Da jede Kritik notwendig Textverstehen zur Grundlage hat, ist sie vom Grad des Verstehens abhängig. Daher nehmen auch die Möglichkeiten, einen Text zu kritisieren, mit der Entwicklung der Verstehenskompetenz zu. (Grzesik 2005, 354)
42 Es ist nicht ganz klar, wie genau Grzesik zwischen Operationen des Wertens (a. a. O., 307, 314) und Operationen der Textkritik unterscheidet. Er selbst hebt die Unterscheidung automatisch (Werten) vs. kontrolliert/bewusst (Textkritik) hervor (a. a. O., 347). Allerdings führt er bereits unter „Werten“ Operationen auf, für die durchaus das Bewusstheitskriterium gelten dürfte (S. 314; hier v. a. die letzten beiden Punkte). Auch hat z. B. Richter darauf hingewiesen, dass die Grenzen zwischen automatischen und kontrollierten Elaborationen fließend sind (Richter 2003, 88). Im Kontext dieser Arbeit unterscheide ich nicht zwischen kontrollierten und automatischen Wertungsprozessen. Ausschlaggebend für die Zuordnung von Verstehensoperationen zur Kategorie „Bewerten“ ist allein die Qualität der Beziehung zwischen Vorwissen und Text als Vergleichsrelation.
3.4 Leseanforderungen: Ebenen des Textverstehens
103
D. h. dass für textadäquate Wertungsprozesse die Bildung einer entsprechenden Textrepräsentation Voraussetzung ist. Auch unter einem weiteren Aspekt sind Grzesiks Erläuterungen zu den Merkmalen textkritischer Operationen für die vorliegende Arbeit von Interesse. So führt er für die Wert- und Normkritik und die Ästhetische Kritik jeweils auch Teilprozesse als charakteristisch an, die die Reflexion des eigenen Denkens betreffen und damit über die bloße Bewertung von Textmerkmalen hinausgehen. Für die Wert- und Normkritik nennt Grzesik als kennzeichnende Operationen u. a. − −
Gründe für die eigenen Wertentscheidungen bewußt machen. Erörterung von Differenzen zwischen wertenden und normativen Momenten im Text und den Werten und Normen, die man selbst oder andere für gültig halten, z. B. Diskussion moralischer Prinzipien. (Grzesik 2005, 353)
Unter dem Stichwort „Ästhetische Kritik“ führt er u. a. an: −
Kritik der eigenen Kritik durch reflexive Kontrolle und Kommunikation. (Grzesik 2005, 354)
Damit impliziert Textkritik nach Grzesiks Verständnis eine Teildimension von Lesekompetenz, die über die von PISA beschriebenen drei Teilkompetenzen hinausgeht und die Zabka als Interpretieren, Reflektieren und Bewerten des aktivierten Wissens bezeichnet. Diese Teilkompetenz ist nicht zuletzt im Umgang mit literarischen Texte gefordert: Es handelt sich um die (…) Teilkompetenz, das beim Textverstehen aktivierte Wissen selbst zum Gegenstand einer Verstehensoperation zu machen, indem die verstehende Person die rekonstruierten, interpretierten und beurteilten Aussagen eines Textes dazu nutzt, ihr Wissen, ihre Meinungen und Urteile über die äußere Wirklichkeit, sich selbst und die soziale Interaktion zu durchdenken oder neu zu bestimmen. Das an einem Text Verstandene wird gezielt auf jene Wissensbestände angewendet, deren Aktivierung zuvor das Textverstehen ermöglichte. (Zabka 2006, 84)43
43 Vgl. auch Hurrelmann (2007, 24 f.): „Die Textreflexion kann die kritische Auseinandersetzung mit dem Gelesenen betreffen (so versteht PISA die Dimension ‚Reflektieren und Bewerten’), sie
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3 Aufgaben und Textverstehen
Für Verstehensanforderungen, bei denen es darum geht, Merkmale des Textes in Vergleichsrelation zu textexternen Bewertungsmaßstäbe zu setzen und/oder die eigenen, in der wertenden Auseinandersetzung mit dem Text geschärften Vorwissensbestände oder Wertmaßstäbe zu reflektieren, wird im Folgenden mit Grzesik der Terminus „Textkritik“ gebraucht. In Aufgabenstellungen im Literaturunterricht sind Bewertungen, die den Status von Textkritik haben, nicht selten vorgegeben; die Schülerinnen und Schüler werden dann aufgefordert, sich mit der gegebenen Textkritik auseinanderzusetzen. Verlangt ist letztlich ein Vergleich, wenn es etwa zu bewerten gilt, inwieweit sich in Borcherts Erzählung Das Brot „Elend und Größe“ des Menschen zeigen oder inwieweit es sich dabei um eine Liebesgeschichte handelt. Bei diesem Vergleich wird ein in einem zweiten Text gesetztes Kriterium auf den zu deutenden Text bezogen – im ersten Fall ein Kriterium aus der Böllschen Interpretation zu Borcherts Erzählung, im zweiten Fall ein Kriterium aus der Aufgabenstellung eines Lehrbuchs. Man kann also sagen, dass der Leser dabei die mentale Repräsentation zweier Texte bilden muss, nämlich die Repräsentation des literarischen Ausgangstextes und die Repräsentation eines zweiten Textes (exemplarisch: der vorgegebenen Interpretation oder der Aufgabenstellung). Diese Repräsentationen sind dann aufeinander zu beziehen. Die Repräsentation des zweiten Textes fungiert dabei als Vorwissen, das in Vergleichsrelation zum Ausgangstext gesetzt wird. Diese Anforderung korrespondiert mit der Bildung eines von Britt el al. (1999) so genannten Dokumentenmodells, das vom Konzept her mit dem epistemologischen Situationsmodell verwandt ist. Ein Dokumentenmodell enthält ein gemeinsames Situationsmodell mehrerer Texte, die sich auf einen gemeinsamen Sachverhalt beziehen. Im Dokumentenmodell wird dieses Situationsmodell durch ein sog. intertext model ergänzt und damit verknüpft. Beim intertext model handelt es sich um Quellenmarkierungen (d. h. Angaben darüber, aus welchem Text wichtige Informationen im Situationsmodell stammen) und ggf. auch um Informationen über den Entstehungskontext des jeweili-
kann aber auch selbstreflexive Züge annehmen, indem eigene Erfahrungen, Einstellungen, Überzeugungen vor dem Hintergrund des Verstandenen vergegenwärtigt und überprüft werden.“
3.4 Leseanforderungen: Ebenen des Textverstehens
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gen Textes und die Zielsetzungen des Autors (Britt et al. 1999, 220-222).44 Ein Dokumentenmodell bietet aufgrund seiner Quellenmarkierungen und Quelleninformationen die Voraussetzung dafür, dass argumentative Beziehungen zwischen den Informationen aus den betreffenden Texten hergestellt werden können und dass ein kohärentes Modell der dargestellten Sachverhalte auch dann gebildet werden kann, wenn die zu integrierenden Texte sich in einzelnen Aussagen widersprechen (vgl. Britt et al. 1999, 229).45 Welchen Erkenntnisgewinn bieten die vorangegangenen Überlegungen im Kontext dieser Arbeit? Es gibt Textverstehensprodukte, die nicht nur eine Repräsentation des betreffenden Textes selbst (Oberflächenrepräsentation, lokale oder globale Kohärenzbildung bzw. Sinnzuschreibung) darstellen, sondern diese Textrepräsentationen auf der Basis eines textexternen Reflexionskriteriums bewerten, also textexternes Wissen in Vergleichsrelation zum Text setzen. Dies gilt auch bezogen auf literarische Texte.46 Die Stelle des textexternen Reflexionskriteriums kann auf verschiedene Weise besetzt sein: Es kann sich um gespeichertes Vorwissen des Lesers handeln, z. B. Einstellungen/epistemologische Überzeugungen, intersubjektiv geteiltes inhaltsbezogenes oder textsortenspezifisches Wissen oder Kontextwissen. Dieses wird vom Leser aktiviert und in Vergleichsrelation zum Text gesetzt.
44 Vgl. Richter (2003, 127): „Das epistemologisch qualifizierte Situationsmodell ähnelt einem Dokumentenmodell, mit dem Unterschied, daß unterschiedliche Quellen nicht in jedem Fall durch verschiedene Texte, sondern auch durch den gelesenen Text und die eigenen Überzeugungen gebildet werden, die ein/e Rezipient/in über den im Text dargestellten Inhaltsbereich hat.“ 45 Entsprechende Forschungsergebnisse sind für die Literaturdidaktik auch insofern von Interesse, als das Vergleichen literarischer Texte und somit das integrierende Verstehen mehrerer (multipler) Texte im Literaturunterricht hohen Stellenwert hat (vgl. z. B. Praxis Deutsch, 2002, H. 173). Britt et al. (1999, 216-220) stellen neben dem Dokumentenmodell noch drei weitere Möglichkeiten der leserseitigen Repräsentation multipler Texte vor, die allerdings im Vergleich zum Dokumentenmodell entscheidende Nachteile für den Erfolg des Lernens aus Texten aufweisen: (1) die Bildung eines separaten Modells für jeden gelesenen Text, (2) ein gemeinsames Modell für die gelesenen Texte ohne Quellenzuordnung (mush model), (3) ein gemeinsames Modell mit der Quellenmarkierung jeder einzelnen Information (tag-all model). 46 Die entsprechenden Leseanforderungen, die Artelt et al. (2005) diesbezüglich nennen, sind das kritische und das reflexive Lesen. Beide Anforderungen beziehen sich auf literarische Texte, wenn es darum geht, Textmerkmale auf ihren Geltungsanspruch hin zu bewerten (kritisches Lesen) oder weitergehende Schlussfolgerungen aus dem Text sowie die eigenen Wertungen zu bewerten (reflexives Lesen).
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3 Aufgaben und Textverstehen
Des weiteren ist es möglich, dass das textexterne Wissen in Form eines oder mehrerer weiterer Texte in den Verstehensprozess des ursprünglichen Textes (also des Erkenntnisobjektes bzw. Lerngegenstandes) eingebracht wird. Denkbar und im Deutschunterricht geläufig ist der Vergleich literarischer Texte. Oben diskutiert wurde auch das Herstellen von Vergleichsrelationen zwischen einer gegebenen Interpretation (Böll) und literarischem Ausgangstext. Die Rolle des Textes, dessen Repräsentation als Vergleichskriterium dient, kann schließlich auch von Aufgabenstellungen eingenommen werden, die ein Reflexionskriterium bezogen auf den Ausgangstext setzen. Der jeweilige Zusatztext fungiert dabei als Erkenntnisinstrument bezogen auf den Text, der als Lerngegenstand und Erkenntnisobjekt rangiert. Die vom Leser zu bildende Repräsentation des Zusatztextes wird als tertium auf den Ausgangstext bezogen. Drittens schließlich können auch Teilrepräsentationen des Erkenntnisobjektes selbst als tertium in Beziehung zum Text treten. Dies kommt beispielsweise vor, wenn Aussagen/ Wertungen/Sinnzuschreibungen, die ein Text selbst anbietet, vom Leser als widersprüchlich im Kontext des Gesamttextes eingeschätzt werden – wenn z. B. das Erzählerurteil in Brittings „Brudermord im Altwasser“, dem zufolge die handelnden Knaben Mörder sind, als nicht angemessen für das dargestellte Geschehen betrachtet wird (vgl. Winkler 2007a). Auch die Oberflächengestaltung literarischer Texte (Lexik, Syntax etc.) kann als Teilrepräsentation des Erkenntnisobjektes zum Vergleichskriterium werden, das in Beziehung zur Inhaltsrepräsentation gesetzt wird in einer Weise, dass die Inhaltsrepräsentation vor dem Hintergrund der gebildeten Repräsentation der Darstellung neu bewertet und modifiziert wird. Für derartige Prozesse ist die Bewertung des Mannes in Borcherts „Das Brot“ exemplarisch, die von der einzigen und dadurch darstellerisch besonders markierten Stelle ausging, die überhaupt Gedanken des Mannes mitteilt – und zwar Gedanken, die um die Frau kreisen und deren Gedanken in diesem Moment spiegeln. In diesen Fällen, in denen eine Teilrepräsentation des Lerngegenstand-Textes selbst zum tertium wird, ist zumindest theoretisch davon auszugehen, dass die Teilrepräsentationen des Textes in ähnlicher Weise gebildet, aufeinander bezogen und bei Abweichungen voneinander entsprechend markiert werden wie die Repräsentationen multipler Texte zum selben Sachverhalt in einem Dokumentenmodell.
3.5 Textverstehensaufgaben
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3.5 Textverstehensaufgaben
3.5.1 Ein Systematisierungsvorschlag Im Folgenden geht es darum, Textverstehensaufgaben für den Literaturunterricht auf der Basis der vorangegangen Überlegungen nach ihrem Anforderungsprofil zu systematisieren. Dieser Systematisierungsvorschlag liefert zum einen theoretische Kriterien für die Auswertung der Ergebnisse der empirischen Erhebung. Darüber hinaus ist er als Beitrag zur aktuellen Diskussion um die Beschreibung des Anforderungsprofils von Aufgaben zu lesen (vgl. z. B. Zabka 2006, Bremerich-Vos/Grotjahn 2007, Bremerich-Vos 2008). Bisherige Differenzierungen von Textverstehensaufgaben nach ihrem Anforderungsprofil sind im Kontext von Large-Scale-Untersuchungen zur Lesekompetenz entstanden (PISA, IGLU, DESI) bzw. knüpfen an entsprechende Modelle an (z. B. Zabka 2006; Schweitzer 2007; Bremerich-Vos/Grotjahn 200747). Aufgaben werden in diesen Vorschlägen mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung und unter jeweils eigener Kombination ausgewählter Aspekte im Wesentlichen unterschieden nach dem geforderten Integrationsgrad48, dem Entscheidungsspielraum49, der geforderten Präzision der Aufgabenlösung50, Art der geforderten Verstehensleistung51.
47 Bremerich-Vos/Grotjahn (2007) setzen sich kritisch mit der im Rahmen von DESI getroffenen Unterscheidung von Textverstehensaufgaben nach ihrer Schwierigkeit auseinander und bringen dabei mit Kirsch 2001 ein weiteres Modell zur Aufgaben-Typologisierung in die Diskussion ein. Dieses wurde im Rahmen der Lesekompetenz-Studie IALS entwickelt. 48 Zunehmender Integrationsgrad ist etwa ein charakteristisches Merkmal der Kompetenz-Niveaus bei DESI (vgl. Willenberg 2007b). Aber auch bei den von Bremerich-Vos/Grotjahn (2007) referierten Aufgabenmerkmalen nach Kirsch (2001) spielt der Integrationsgrad deutlich eine Rolle, z. B. bei der Unterscheidung von Lokalisieren, „cycling“ und Integrationsaufgaben (BremerichVos/Grotjahn 2007, 163 f.). 49 Vgl. die Charakterisierung von Aufgaben des Typs „generating“ bei Bremerich-Vos/Grotjahn (2007, 164) (unter Bezug auf Kirsch 2001). 50 Vgl. Charakterisierung des DESI-Niveaus B („genaues, fokussierendes Lesen“; Willenberg 2007b, 111).
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3 Aufgaben und Textverstehen
Ein keineswegs neuer, aber nach wie vor bedenkenswerter Vorschlag für die Differenzierung von Textverstehensaufgaben nach ihren Anforderungen stammt von Hölsken (1987), der sich auf die Kategorien der Problemlöseforschung bezieht. Diese Kategorien haben sich bereits oben in Kap. 2.3.3 als nützlich erwiesen, um zu bestimmen, woraus sich der Entscheidungsspielraum einer Aufgabenstellung ergibt. Betrachtet man den gegenwärtigen Diskussionsstand, erscheint es als Manko, dass tendenziell immer neue Modelle neben bereits bekannte gestellt werden, anstatt die Anknüpfungspunkte zwischen den bestehenden Überlegungen herauszuarbeiten.52 Vor diesem Hintergrund ist der folgende Systematisierungsvorschlag zu sehen, der von der oben entwickelten Unterscheidung zweier grundlegender Aufgabendimensionen, nämlich Verstehensanforderungen (demand) und Instruktionsmerkmalen (support), ausgeht (vgl. oben, Kap. 3.1, Abb. 3.2). Diese übergeordneten Kategorien werden in Abbildung 3.3 aufgegriffen, die den im Folgenden erläuterten Systematisierungsvorschlag im Überblick darstellt. Die Verstehensanforderungen (demand) einer Aufgabe ergeben sich aus drei Faktoren (DEMAND I bis III, Abb.3.3).
51 Die Subskalen des Lesekompetenz-Modells von PISA 2000 unterscheiden sich hinsichtlich der Art der geforderten Verstehensleistungen (vgl. Deutsches PISA-Konsortium 2001, 82-84). Die Unterscheidung von Aufgaben nach Präzisionsgrad, Integrationsgrad und Entscheidungsspielraum wurde erst in Anschlussuntersuchungen vorgenommen und liegt quer zu den Subskalen „Informationen ermitteln“, „Textbezogenes Interpretieren“ und „Reflektieren und Bewerten“. Vgl. auch die Unterscheidung von Aufgaben nach der geforderten „Dimension der kognitiven Prozesse“ (Bremerich-Vos 2008). 52 Das folgende Desiderat, das Bremerich-Vos/Grotjahn auf das Nebeneinander von Lesekompetenz-Modellen beziehen, kann durchaus auf die Vorschläge zur Systematisierung von Textverstehensaufgaben ausgedehnt werden: „U. E. ist es an der Zeit, dass (…) die bislang publizierten Modelle (…) in vergleichender Absicht diskutiert werden. (…) Wenn sich möglichst detailliert zeigen ließe, worin der gemeinsame, theoretisch und empirisch plausible ‚Kern‘ dieser Modelle besteht, könnte dem Eindruck vorgebeugt werden, dass von Mal zu Mal neue Modelle (…) generiert werden (…).“ (Bremerich-Vos/Grotjahn 2007, 165 f.; Hervorhebungen ebd.).
Richtung der mentalen Operationen
DEMAND II
REPRÄSENTATION DER TEXTOBERFLÄCHE/ART DER DARSTELLUNG
Rekonstruktion des VP durch Anreicherung mit Textbelegen Rekonstruktion und reflektierende Bewertung des VP ERWÜNSCHTES ENDERGEBNIS
Generierung des VP auf der vorgegebenen Ebene
LÖSUNGSPROZESS SUPPORT Entscheidungsspielraum Grad der Orientierung bezogen auf die Stadien der Problemlösung
ANFANGSZUSTAND
Nachvollziehen Überprüfen VP gegeben, strittig
Aufbauen
BEWERTUNG
VP gesucht, Kategorie/ Ebene gegeben
Nachvollziehen Nachweisen
TEXTKRITIK
VP gegeben, unstrittig
SINNZUSCHREIBUNG
DEMAND III Präzisionsgrad
REKONSTRUKTION
GENERIERUNG
KOHÄRENZBILDUNG
DEMAND I Integrationsgrad Textrepräsentation (lokal oder global) als Ergebnis des Textverstehensprozesses („Verstehensprodukt“, VP)
Abb. 3.3: Textverstehensaufgaben als Interaktion von demand und support: Ein Systematisierungsvorschlag
110
3 Aufgaben und Textverstehen
DEMAND I: Art der geforderten Textrepräsentation (Repräsentation des Erkenntnisobjektes) und damit verbundener Integrationsgrad; d. h. die Aufgabe legt fest, ob vom Aufgabenbearbeiter eine Repräsentation der Textoberfläche/der Art der Darstellung gefordert ist oder Kohärenzetablierung oder Sinnzuschreibung oder Textkritik.53 Zugleich bestimmt die Aufgabe, ob Verstehensleistungen auf lokaler, globaler oder textübergreifender Ebene gefragt sind. DEMAND II: Geforderte mentale Operationen, deren Richtung sich daraus ergibt, ob die Aufgabenstellung bereits ein Ergebnis des Textverstehens setzt, also eine bestimmte Textrepräsentation verbalisiert. DEMAND III: Präzisionsgrad, der für die Aufgabenlösung gefordert ist, verstanden als der nötige Grad der Detailliertheit bei der Einbeziehung von Textmerkmalen als Basis für die Aufgabenlösung. Eine grundlegende Überlegung dieses Systematisierungsvorschlags besteht darin, dass das geforderte Ergebnis der Aufgabenbearbeitung unterschieden wird vom Ergebnis des Textverstehensprozesses, das für die Lösung der Aufgabe erforderlich ist (lösungsrelevante Textrepräsentation). Die Textverstehensaufgabe wird also als Einflussgröße betrachtet, die Ergebnisse des Textverstehens bereits vorgeben und die geforderten Aktivitäten zur Aufgabenlösung auf diese Vorgabe beziehen kann. Vor diesem Hintergrund unterscheide ich je nach Status der geforderten Textrepräsentation in der Aufgabenstellung und der daraus resultierenden Richtung der zu erbringenden mentalen Operationen drei Arten von Aufgaben (DEMAND II; vgl. Abb. 3.2):
53 Dass diese Repräsentationen wohl heuristisch zu unterscheiden sind, sich in konkreten Textverstehensprozessen gerade bezogen auf literarische Texte schwer abgrenzen lassen, wurde oben ausgeführt; vgl. z. B. Kap. 3.4.3. Dennoch setzen Aufgaben zum Textverstehen zumindest bei epischen Texten ihren Schwerpunkt i. d. R. entweder eher auf den Nachvollzug der Handlung (Kohärenzetablierung) oder auf Deutungsaktivitäten. Auch Aufgaben, die den Blick des Bearbeiters schwerpunktmäßig auf die Art der Darstellung lenken, finden sich in Lehrwerken. Beispielaufgaben lassen sich von ihrer didaktischen Zielsetzung her also durchaus eher der einen oder anderen Verstehensebene zuordnen, auch wenn im tatsächlichen Lektüreprozess, zumindest bei geübten Lesern literarischer Texte, die Teilprozesse parallel verlaufen. Hervorzuheben ist auch noch einmal, dass Sinnzuschreibung als Endprodukt des Verstehensprozesses auf Kohärenzetablierung aufbaut und diese voraussetzt, sofern der Text Kohärenzetablierung erlaubt. Ebenso setzt Textkritik das Verständnis derjenigen Textmerkmale voraus, die einer epistemologischen Bewertung (Textkritik) unterworfen werden.
3.5 Textverstehensaufgaben
111
Rekonstruktionsaufgaben geben ein Ergebnis des Textverstehensprozesses (kurz: Verstehensprodukt, VP) vor und fordern vom Aufgabenbearbeiter die Rekonstruktion bzw. den Nachvollzug des gegebenen Textverstehensproduktes. Generierungsaufgaben verlangen vom Aufgabenbearbeiter die Bildung des Verstehensproduktes und geben als allgemeine Kategorie die Art der geforderten Textrepräsentation (Ebene des Textverstehens, vgl. Kap. 3.4) vor. Bewertungsaufgaben geben ein Verstehensprodukt vor und fordern vom Aufgabenbearbeiter dessen Prüfung bzw. Bewertung anhand eines bestimmten Reflexionskriteriums. Der Übergang zwischen diesen Aufgabenarten kann fließend sein, alle drei Aufgabenarten können sich auf jede der in Abb. 3.3. genannten Ebenen des Textverstehens (Repräsentation der Textoberfläche/Art der Darstellung, Kohärenzetablierung, Sinnzuschreibung, Textkritik) beziehen (vgl. die folgenden Analysen, Kap. 3.5.2). Der Präzisionsgrad, der für die Lösung einer Aufgabe erforderlich ist, ist das dritte Aufgabenmerkmal, das der Dimension der Verstehensanforderungen zugeordnet wird (DEMAND III). Präzision wird von PISA definiert „als sorgfältiges Einbeziehen aller relevanten Informationen aus Item und Text“ (Deutsches PISA-Konsortium 2001, 155). Je höher also der geforderte Präzisionsgrad, desto detailgenauer ist der Text in die Aufgabenlösung als Prozess und in das erwünschtes Endergebnis der Aufgabenbearbeitung einzubeziehen. (Dass auch die Aufgabe als Sekundär-Text genau zu lesen ist, kann die Aufgabenschwierigkeit dabei zusätzlich erhöhen.) In Lernsituationen ist es nicht zuletzt die Lehrperson, die bestimmt, wie hoch bei der Aufgabenbearbeitung der Anspruch an die Genauigkeit der Auseinandersetzung mit dem Text ist. Doch kann der geforderte Präzisionsgrad auch bereits durch die Aufgabenstellung selbst mit gesetzt sein (vgl. die Aufgabenanalyse in Kap. 3.5.3). Der Präzisionsgrad wird in den vorgelegten Systematisierungsvorschlag integriert, um Zusammenhänge zwischen bereits publizierten und den hier angestellten Überlegungen zur Charakterisierung von Textverstehensaufgaben zu verdeutlichen. Die aufgabeninterne Unterstützung (SUPPORT), die eine Textverstehensaufgabe dem Aufgabenbearbeiter bietet, resultiert in erster Linie aus dem Grad der gegebenen Orientierung bezogen auf Ausgangszustand, Lösungsprozess und
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3 Aufgaben und Textverstehen
Endergebnis der Aufgabenbearbeitung – also aus dem Entscheidungsspielraum. Selbstverständlich ist umgekehrt der Grad der geforderten Selbststeuerung bei der Aufgabenbearbeitung, also die Bewältigung des gebotenen Entscheidungsspielraums, zugleich ein Anforderungsmerkmal (demand) der jeweiligen Aufgabe. Im hier vorgestellten Systematisierungsvorschlag allerdings wird die Bedeutung des Entscheidungsspielraums als Möglichkeit, die Aufgabenschwierigkeit abgestimmt auf die Verstehensanforderungen (DEMAND I, II und III) zu regulieren, ins Blickfeld gerückt.
3.5.2 Zur Unterscheidung von Rekonstruktions-, Generierungs- und Bewertungsaufgaben Die Unterscheidung der verschiedenen Verstehensebenen, auf die Aufgaben zielen können, wurde bereits ausführlich erläutert. Was für das bessere Verständnis des Systematisierungsvorschlags für Textverstehensaufgaben (Abb. 3.3) noch aussteht, ist eine Erläuterung der neu eingeführten Kategorien zum Teilaspekt DEMAND II: Generierung, Rekonstruktion, Bewertung. Diese bezeichnen die von der Aufgabenstellung geforderte Richtung der mentalen Prozesse je nachdem, ob die Aufgabenstellung bereits ein Ergebnis des Textverstehensprozesses (VP) setzt und welche Anforderungen an die Aufgabenlösung daraus resultieren. Die entsprechenden Aufgaben werden analog als Rekonstruktions-, Generierungs- und Bewertungsaufgaben bezeichnet. Beispiele für die von mir sog. Rekonstruktionsaufgaben sind die Aufgaben 1, 2 und 3 aus dem in der empirischen Untersuchung verwendeten Fragebogen. (F1) „In diesem Augenblick tat er ihr leid“, heißt es am Ende von der Frau. Suche jene Textstellen, die bereits vorher zeigen, dass sie ihrem Mann helfen möchte. (F2) Der Schriftsteller Heinrich Böll schrieb über die Erzählung „Das Brot“ von Borchert: Die „Helden“ dieser Geschichte sind recht alltäglich, ein altes Ehepaar, neununddreißig Jahre miteinander verheiratet. Und der Streitwert dieser Geschichte ist gering (und doch so gewaltig, wie ihn die Augenzeugen der Hungersnot noch in Erinnerung haben mögen): eine Scheibe Brot. Die Erzählung ist kurz und kühl. Und doch ist das ganze Elend und die ganze Größe des Menschen mit aufgenommen. Was meint Böll mit diesem letzten Satz?
3.5 Textverstehensaufgaben
113
(F3) Borchert erzählt die Geschichte hauptsächlich aus der Sicht der Frau. Woran ist dies zu erkennen?
Diese Aufgaben geben jeweils eine Textrepräsentation wieder und setzen damit ein mögliches Ergebnis des Textverstehens: Aufgabe (F1) weist der Frau ein Motiv für ihr Handeln zu, nämlich dass sie dem Mann von Anfang an helfen wolle, und etabliert so Kohärenz zwischen einzelnen Textinformationen über das Handeln der Frau; Aufgabe (F2) gibt Bölls Deutung, der Text zeige „Elend und Größe“ des Menschen, und damit eine Sinnzuschreibung vor; Aufgabe (F3) trifft eine Einschätzung zur Erzählperspektive, also zur Art der Darstellung im Text. Die vom Aufgabenbearbeiter geforderte Rekonstruktionsleistung impliziert a. das konkretisierende Nachvollziehen des Verstehensergebnisses, das die Aufgabenstellung vorgibt (Bilden einer mentalen Repräsentation des Aufgaben-Textes) und b. das Herstellen einer Passung zwischen diesem Verständnis des von der Aufgabe gesetzten Verstehensergebnisses und dem literarischen Text. Mit der Setzung eines Verstehensergebnisses enthalten Rekonstruktionsaufgaben also ein Suchkriterium, auf dessen Folie die Informationen des Textes zu prüfen sind. Als erster Teil der geforderten Rekonstruktionsleistung (a) muss dieses Suchkriterium leserseitig ggf. angereichert, auf jeden Fall aber mental repräsentiert werden. So hat der Bearbeiter von Aufgabe (F2) zunächst eine eigene Vorstellung davon zu aktivieren, was mit „Elend und Größe“ gemeint sein könnte. Bei Aufgabe (F1) geht es um die Aktivierung des Schemas ‚Hilfsbereitschaft zeigen‘, bei Aufgabe (F3) um den Abruf von Vorwissen über Erzählperspektiven. Zwischen diesem Verständnis des vorgegebenen Verstehensergebnisses einerseits und dem Text andererseits ist dann (b) eine Passung herzustellen, so dass das vorgegebene Verstehensergebnis vom Aufgabenbearbeiter unter Einbeziehung des Textes weiter rekonstruiert wird. D. h. alle Informationen des Textes, die das vorgegebene Ergebnis des Textverstehensprozesses stützend anreichern, kommen für die Lösung der Aufgabe infrage. Man kann den Lösungsprozess von Rekonstruktionsaufgaben als vorwiegend nachvollziehend und nachweisend charakterisieren, da er von einem gesetzten Ergebnis des Textverstehensprozesses ausgeht. Dieses gilt es mental zu repräsentieren (Nachvollzug) und anhand einzelner Textmerkmale als zutreffend
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3 Aufgaben und Textverstehen
zu belegen (Nachweis). Rekonstruktionsaufgaben zielen nicht darauf, die vorgegebenen Verstehensprodukte zu überprüfen – es handelt sich hierbei um eine Setzung der Aufgabenstellung, die es von der Aufgabe her nicht zu diskutieren gilt. Statt „Trifft Bölls Deutung zu?“ fragt Aufgabe (F2) entsprechend „Was meint Böll (…)?“, und Aufgabe (F1) fragt nicht, ob es stimmt, dass die Frau dem Mann bereits früher helfen will, sondern worin sich dieser Wunsch zeige.54 Rekonstruktionsaufgaben sind nicht automatisch einfach. Sie können, wenn sie sich auf den Text als Ganzes beziehen, und je nach Komplexität der nachzuvollziehenden Textrepräsentation einen hohen Integrationsgrad bei der Aufgabenbearbeitung nötig machen, wie Beispielaufgabe (F2) zeigt. Diese fordert zur Rekonstruktion der Deutung „Elend und Größe“, die zugleich als Suchkriterium fungiert, vom Leser nicht nur die wissensbasierte Anreicherung abstrakter Begriffe, sondern auch die Verknüpfung zahlreicher z. T. versteckter Textinformationen und das Herstellen von Beziehungen zwischen Textinformationen und Variablen des Vorwissens. Auch der Entscheidungsspielraum von Rekonstruktionsaufgaben kann in Einzelfällen hoch sein, auch wenn sie wegen der Vorgabe von Ergebnissen des Textverstehensprozesses das Untersuchungsfeld eingrenzen und dadurch i. d. R. bereits das Lösungsmaterial definieren (vgl. Hölsken 1987, 73). Aufgabe (F2) aus der empirischen Untersuchung ist ein solches Beispiel für eine Rekonstruktionsaufgabe, die gleichwohl hohen Entscheidungsspielraum aufweist (ausführliche Aufgabenanalyse unten, Kap. 3.5.3). Bei Generierungsaufgaben ist kein Ergebnis des Textverstehens vorgegeben, sondern muss vom Aufgabenbearbeiter selbst gebildet (‚generiert‘) werden. Dabei gibt die Aufgabe das gesuchte Ergebnis des Verstehensprozesses allerdings als allgemeine Kategorie vor. Je nachdem, wie allgemein und vage diese Kategorie für das Verstehensergebnis ist, sind die für die Aufgabenlösung relevanten Textstellen mehr oder weniger eindeutig bestimmt. Aus dem Fragebogen sind die Aufgaben 4, 6, 7 und 8 den Generierungsaufgaben zuzuordnen.
54 Schweitzer (2007), bezeichnet diesen Aufgabentyp als „Belegaufgaben“, die sie wie folgt bestimmt: „Der Untersuchungsgegenstand dieser Aufgaben ist der Text und der Untersuchungsaspekt ist eine vorgegebene Deutungshypothese, die es zu belegen gilt.“ (a. a. O., 174) Und: „Diese vorgegebene Deutungshypothese bewirkt, dass das geistige Ergebnis in der Passung von Textinformationen zur vorgegebenen Deutungshypothese besteht.“ (a. a. O., 175)
3.5 Textverstehensaufgaben
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(F4) Die Geschichte ist nicht zu Ende. Schreibe einen passenden Schluss. (F6) Licht und Dunkelheit. Versuche eine Deutung. (F7) Was sagen Mann und Frau? Was denken und empfinden sie jeweils? Vergleiche. (F8) Verfolgt genau den Dialog der Ehepartner und erschließt „zwischen den Zeilen“ die Gedanken der beiden. Achtet dabei insbesondere auf die Erzählperspektive, auf die Funktion der Gegenstände (Teller, Fliesen, Lampe etc.), auf die Gegensätze drinnen – draußen, hell – dunkel, auf Wiederholungen.
Die Beispiele zeigen zunächst, dass die vorgegebene Kategorie für die gesuchte Lösung des Verstehensprozesses mehr oder weniger konkret sein kann.55 Je präziser die Kategorie für die erwartete Lösung bestimmt ist, desto geringer ist der Entscheidungsspielraum der Aufgabe. Aufgabe (F6) ist ein Beispiel für die sehr allgemeine Vorgabe einer Lösungskategorie – verlangt ist eine „Deutung“, also die globale Sinnzuschreibung.56 Damit kommen prinzipiell alle Textinformationen als Lösungsmaterial infrage – allein der Impuls „Licht und Dunkelheit“ kann als einschränkender Hinweis verstanden werden, auf welche Textstellen insbesondere zu achten ist. Dennoch ist der Entscheidungsspielraum dieser Aufgabe hoch, ebenso der Integrationsgrad aufgrund der geforderten globalen Deutung. Die Aufgaben (F7) und (F8) geben im Vergleich ebenfalls allgemeine, aber dennoch konkretere Lösungskategorien vor als Aufgabe (F6). Sie verlangen vom Bearbeiter, eine kohärente Repräsentation der Gedanken der handelnden Figuren und Aufgabe (F7) zusätzlich eine Repräsentation der Gefühle. Damit ist zwar präziser bestimmt, was für Textstellen generell lösungsrelevant sind – Aufgabe (F8) schränkt den diesbezüglichen Entscheidungsspielraum durch ergänzende Angaben von Auswahlkriterien für wichtige Textstellen noch weiter ein. Im Unterschied zu den Rekonstruktionsaufgaben ist aber eben nicht vorgegeben, wodurch etwa Gedanken und Gefühle der Figuren gekennzeichnet sind. Die allgemeinen Kategorien „Gedanken“ und „Gefühle“ sind vom Aufgabenbearbeiter unter Rückgriff auf die Informationen des Textes erst ‚bottom-up‘, also ausgehend von Textdetails, und unter Einbeziehung von Vorwissen (‚top-down‘) zu 55 Die von Hölsken (1987) vorgestellten Aufgabentypen 3 und 4 werden hier unter der Kategorie „Generierungsaufgabe“ zusammengefasst, da sie sich letztlich nur graduell durch die Determiniertheit der für die Aufgabenlösung relevanten Textstellen unterscheiden. 56 Damit ist die Aufgabe ein Beispiel für Hölskens Aufgabentyp 4 (Hölsken 1987, 74).
116
3 Aufgaben und Textverstehen
konkretisieren, wobei das Ergebnis des Textverstehens von der Aufgabenstellung her offen ist. Eine entsprechende Textrepräsentation muss also erst generiert werden, indem die Textinformationen zueinander in Beziehung gesetzt und durch Vorwissen ergänzt werden. Rekonstruktionsaufgaben dagegen setzen ein Verstehensergebnis (z. B. F1/Rekonstruktion: Die Frau hat Mitleid und möchte ihrem Mann helfen vs. F7/Generierung: Was denken und empfinden sie (…)?). Auch bei Aufgabe F4 aus dem Fragebogen handelt es sich um eine Generierungsaufgabe; gefordert ist das Schreiben eines „passenden“ Schlusses. Im Rahmen dieser wiederum sehr allgemeinen Kategorie muss eine Lösung ausgehend vom Text generiert werden. Das Lösen dieser Aufgabe setzt beim Aufgabenbearbeiter mindestens den Aufbau eines mentalen Modells des Textes bis zur Zäsur voraus, damit die Handlung kohärent und stimmig zu Ende geführt werden kann. Dem Aufgabenbearbeiter steht es darüber hinaus frei, in seiner Version des Schlusses auf Passung zu der im vorhandenen Text zu erkennenden Art der Darstellung zu achten (Voraussetzung: mentale Repräsentation der Art der Darstellung). Auch ist denkbar, dass mit dem ergänzten Schluss bereits eine eigene globale Sinnzuschreibung verbunden und ausgedrückt wird. Zu den Generierungsaufgaben zähle ich auch diejenigen Aufgaben, die Schweitzer (2007) als „Erklärungsaufgaben“ bezeichnet und folgendermaßen charakterisiert: Ein Detail des Textes ist in der Aufgabe vorgegeben und wird somit neben dem Text zum Untersuchungsgegenstand. Die geistige Tätigkeit besteht im Erklären dieses vorgegebenen Textdetails, indem zwischen diesem und dem verbleibenden Text eine kohärente Passung herzustellen ist. (Schweitzer 2007, 178)57
Ein entsprechendes Beispiel wurde im Fragebogen nicht verwendet. Allerdings finden sich in Lehrbüchern durchaus Erklärungsaufgaben zu Borcherts „Brot“. Exemplarisch seien folgende Aufgaben angeführt:
57 Schweitzers Rückgriff auf Hölsken trägt in diesem Punkt nur bedingt, da Hölsken seinerseits bei der Charakterisierung seines Aufgabentyps 1 die Ebenen der textinternen Handlung und der Aufgabenstellung vermischt.
3.5 Textverstehensaufgaben
117
(1)
Welche Rolle spielt das Brot in der Geschichte? (Lesen Darstellen Begreifen A9, 1993, 21)
(2)
In dem Text tauchen mehrmals Wörter wie kalt, Kälte und frieren auf. Sie sind nicht nur wörtlich zu verstehen. Was deuten sie an? (Horizonte 4, 1985, 65)
(3)
Woran liegt es, dass die beiden nicht über das eigentliche Problem sprechen können? (Tandem 9, 1998, 162)
Allen diesen Aufgaben ist gemeinsam, dass sie die Aufmerksamkeit des Lesers/ Aufgabenbearbeiters auf ein konkretes Textmerkmal lenken: (1) „Brot“ – (2) „Wörter wie kalt, Kälte und frieren“ – (3) Differenz Gesprächsinhalt vs. mitgeteilte Gedanken. Insofern wird ein Textausschnitt als Untersuchungsgegenstand eindeutig determiniert. Zu generieren sind jeweils Erklärungen für die fokussierten Textmerkmale, sei es für Merkmale der Darstellung und/oder des Dargestellten, indem diese in Beziehung zum übrigen Text gesetzt werden und dadurch Kohärenz und ggf. auch eine Sinnzuschreibung etabliert wird. Im Unterschied zu Rekonstruktionsaufgaben geht es bei diesen Erklärungsaufgaben als Variante von Generierungsaufgaben um die mehr oder weniger stark gesteuerte, in jedem Fall aber erst noch zu leistende Elaboration der Textbasis durch Verknüpfung von Textinformationen sowie Inferenzziehungen.58 Das ist auch bei den zitierten Beispielaufgaben (2) und (3) der Fall. Diese geben zwar relativ allgemein eine Deutungs- bzw. Verstehensrichtung vor: (2) „nicht nur wörtlich zu verstehen“; (3) „die beiden [können] nicht über das eigentliche Problem sprechen“. Doch sind diese allgemeinen Aussagen anzureichern und zu konkretisieren, indem entsprechende Erklärungen für die benannten Textmerkmale generiert werden. Als Rekonstruktionsaufgaben wären die entsprechenden Erklärungen in der Aufgabenstellung bereits vorgegeben und müssten lediglich durch das Lokalisieren passender Textstellen nachgewiesen werden. Als Rekonstruktionsaufgaben würden die Beispielaufgaben dann etwa lauten: (2*) In dem Text tauchen mehrmals Wörter wie kalt, Kälte und frieren auf. Sie sind nicht nur wörtlich zu verstehen, sondern lassen auch Rückschlüsse auf die Beziehung zwischen Mann und Frau zu. Zeige diesen Zusammenhang an ausgewählten Textstellen.
58 Zum Inferenzbegriff vgl. oben Kap. 3.2.
118
3 Aufgaben und Textverstehen
(3*) Scham ist ein Grund dafür, dass die beiden nicht über das eigentliche Problem sprechen können. Suche dafür Belege im Text. (Beispiele konstruiert, I. W.)
Der Vergleich zwischen den Generierungsaufgaben und den konstruierten Rekonstruktionsaufgaben verdeutlicht, dass Rekonstruktionsaufgaben das Ergebnis des Verstehensprozesses auf eine von mehreren Möglichkeiten eingrenzen und so die Mehrdeutigkeit literarischer Texte reduzieren, indem sie tendenziell Eindeutigkeit postulieren. Inwieweit dies didaktisch sinnvoll und dem Text als Gegenstand angemessen ist, ist im Einzelfall zu diskutieren (vgl. dazu auch Kap. 3.5.3). Generierungsaufgaben können auf Verstehensprodukte zielen, die sich lokal auf einzelne Textstellen oder global auf den Text insgesamt beziehen. Die bisher angeführten Beispiele für Generierungsaufgaben sind der Kohärenzetablierung bzw. Sinnzuschreibung zuzuordnen. Doch auch auf eine mentale Repräsentation der Art der Darstellung können Generierungsaufgaben gerichtet sein, wie die folgenden Beispiele zeigen: (4)
Stelle fest, welche Position der Erzähler einnimmt. (…)59 (Wege zum Lesen, 1990, 178)
(5)
Untersuche den Satzbau des Erzählanfangs: a) Welche Satzstruktur überwiegt? b) Welche Stellung der Satzglieder ist typisch? (Lesen Darstellen Begreifen A9, 1993, 21)
Ein Beispiel für eine Generierungsaufgabe, die auf Textkritik zielt, findet sich im Lehrerband zu Deutsch plus 9: (6a) Jana: „Die Frau beweist ihre Liebe zu ihrem Mann, weil sie sein Verhalten nicht kritisiert.“ Martin: „In einer Beziehung sollten Konflikte besprochen werden, auch wenn es vielleicht weh tut. Sonst geht das Vertrauen verloren.“
59 Die zweite, hier ausgelassene Teilaufgabe dazu lautet: „Untersuche am Text, ob diese Erzählhaltung durchgängig beibehalten wird.“ (ebd.) D. h.dass in einem zweiten Gedankenschritt das Ergebnis der Bearbeitung der oben zitierten Generierungsaufgabe zum Prüfgegenstand und damit zum Ausgangspunkt einer Bewertungsaufgabe wird. Überhaupt fällt bei der Lehrbuchanalyse auf, dass die hier vorgestellten Aufgabentypen häufig kombiniert werden.
3.5 Textverstehensaufgaben
119
Wie bewertest du das Verhalten der Frau? (…) (Deutsch plus 9, 2004b, 193; Hervorhebg. ebd.)
Gefordert ist hier eine Wert- und Normkritik im Sinne Grzesiks. Dabei geben die eingangs angeführten Schüleraussagen Anhaltspunkte, welche Kriterien für die Bewertung des Handelns der Figur als Maßstab dienen könnten. Enthalten sind in den zitierten Äußerungen Wertvorstellungen darüber, wie Liebende/Paare mit Konflikten untereinander umgehen sollten, wobei ‚Schonung‘ (Jana) und ‚Offenheit‘ (Martin) als mögliche Modelle gegenübergestellt werden. Die vorangestellten Schüleraussagen bieten dem Aufgabenbearbeiter also Orientierung, wie eine mögliche Lösung der Aufgabe aussehen könnte. Allerdings, und das ist das Besondere an einer Generierungsaufgabe, ist das Ergebnis dennoch offen: Der Aufgabenbearbeiter ist aufgefordert, eine eigene Bewertung des Verhaltens der Frau zu ‚generieren‘, die auch ganz anders aussehen kann, als die angeführten Lösungsvarianten. (Denkbar wäre etwa, das Handeln der Frau kritisch zu bewerten, weil sie den Mann durch ihre Gesten erniedrigt, vgl. oben Kap. 3.4.4). Ebenfalls der Gruppe der Generierungsaufgaben sind die mir vorliegenden Vergleichsaufgaben zu Borcherts Text „Das Brot“ zuzuordnen.60 Das Verstehensprodukt, das ein Leser über einen Textvergleich aufbaut, ist in der obigen Matrix (Abb. 3.3) als „Textkritik“ bezeichnet. Denn wie die Konstruktion von Textkritik bzw. eines epistemologisch qualifizierten Situationsmodells setzt ein intertextueller Vergleich den Aufbau textspezifischer mentaler Repräsentationen voraus. Auch wird ein externes Kriterium in Vergleichsrelation zu einem Text gesetzt, wobei das externe Kriterium, das als Vergleichsmaßstab gilt, in diesem Fall die Ausprägung eines bestimmten Merkmals in einem anderen Text ist. Es geht bei Aufgaben zum intertextuellen Vergleich nicht primär und ausschließlich um die Bildung einer einzelnen textspezifischen Repräsentation, sondern darum, diese vorab zu etablierende Repräsentation mit einem textexternen Kriterium zu vergleichen und daran zu ‚messen‘. Auch wenn das Ergebnis des Vergleichs die Bildung eines Dokumentenmodells, also eines textübergreifenden Situationsmo60 Die vorgestellte Einteilung von Textverstehensaufgaben wurde im Wesentlichen unter Rückgriff auf das Korpus von Aufgaben zu Borcherts Text „Das Brot“ entwickelt, das in Vorbereitung der in dieser Arbeit vorgestellten empirischen Untersuchung (Fragebogenentwicklung) entstanden ist.
120
3 Aufgaben und Textverstehen
dells mit Quellenmarkierung sein sollte, besteht eine strukturelle Übereinstimmung des Verstehensproduktes mit einem epistemologisch qualifizierten Situationsmodell (vgl. Richter 2003, 77; Britt et al. 1999; oben Kap. 3.4.5). Deutschstunden 9 (2000) präsentiert im Anschluss an „Das Brot“ auch Borcherts Text „Eine Lesebuchgeschichte“ und fordert in der anschließenden ersten Teilaufgabe zum Vergleich der beiden Texte auf: Eine Lesebuchgeschichte Als der Krieg aus war, kam der Soldat nach Hause. Aber er hatte kein Brot. Da sah er einen, der hatte Brot. Den schlug er tot. Du darfst doch keinen totschlagen, sagte der Richter. Warum nicht, fragte der Soldat.
[(7)] Auch diese Geschichte könnte mit „Das Brot“ überschrieben sein. Vergleicht sie mit der vorhergehenden. (Deutschstunden 9, 2000, 91)
Die Aufgabe gibt eine allgemeine Kategorie des zu generierenden Verstehensproduktes vor: Es ist ein Vergleich der Texte (in der Sprache der Leseforscher: ein Dokumentenmodell) gefordert. Mit dem Verweis darauf, dass auch zum zweiten Text der Titel „Das Brot“ passen würde, bietet die Aufgabe den Bearbeitern SUPPORT, denn es ist ein Kriterium vorgegeben, auf das hin die Texte zu vergleichen sind. Damit wird implizit der Untersuchungsgegenstand und damit auch die gesuchte Lösung eingeschränkt – es geht beim Vergleich nicht um beide Texte in allen Details, sondern um die Rolle des Brotes: Das Brot ist jeweils so wichtig, dass darüber die Rechte und Bedürfnisse des anderen beim Handeln nicht berücksichtigt werden. Mit der Lenkung des Augenmerks auf das Kriterium ‚Rolle des Brotes‘ sollte ausgeschlossen sein, dass die Schülerinnen und Schüler Oberflächenmerkmale wie die Länge des Textes für wichtig erachten. Zu generieren sind Bezüge zwischen der Merkmalsausprägung ‚Rolle des Brotes‘ in den Vergleichstexten. Freilich ist bei der zitierten Aufgabenstellung nicht ausgeschlossen, dass die Bearbeiter über den Verweis auf eine Gemeinsamkeit der beiden Texte dazu verleitet werden, zu weit gehende Parallelen zwischen den Texten zu ziehen, etwa dass das Handeln des Mannes in „Das Brot“ mit dem des Soldaten gleich zu setzen sei.
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3.5 Textverstehensaufgaben
Auch Magazin 9 (2001) fordert die Schülerinnen und Schüler auf, „Das Brot“ mit einem anderen Text Borcherts, „Nachts schlafen die Ratten doch“, zu vergleichen. Ein entsprechende Kopiervorlage im Lehrerband ist überschrieben mit „Die Merkmale einer Kurzgeschichte entdecken und deren Funktion deuten“ (Magazin 9, 2001b). Bereits diese zielsetzende Überschrift bestimmt die Textverstehensebenen, die das Verstehensprodukt abdecken soll, und profiliert dieses klar als ‚gesucht‘ – wiederum eine Generierungsaufgabe also. Das Arbeitsblatt ist in drei Spalten eingeteilt. Die rechte und linke Spalte sind für Eintragungen der Schüler zu je einem der Vergleichstexte reserviert. Die mittlere Spalte gibt detailliert Vergleichsaspekte zu den drei Bereichen Figuren, Aufbau, sprachliche Gestaltung vor. Der Lösungsprozess ist damit stark vorstrukturiert, die Instruktion bietet also Unterstützung (SUPPORT), die mit Blick auf den hohen Anspruch, den die Überschrift des Arbeitsblattes setzt, für Lernende an der Hauptschule61 auch angemessen ist. Die folgende Tabelle vermittelt einen Eindruck von der Gestaltung des Arbeitsblattes und zitiert die Teilaufgaben zum Untersuchungsaspekt Aufbau. Abb. 3.4:
„Die Merkmale einer Kurzgeschichte entdecken und deren Funktion deuten“ (Arbeitsblatt aus Magazin 9, 2001b, 90)
Nachts schlafen die Ratten doch
Was erfährst du in beiden Texten darüber? (…) [8a] Notiere, wie der Anfang und das Ende beider Texte gestaltet sind. [8b] Vergleiche in einem nächsten Schritt den Aufbau der Geschichten. [8c] Denke darüber nach, warum Borchert sie so gestaltet hat. (…)
61 Magazin ist ein Lehrwerk für die Hauptschule.
Das Brot
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3 Aufgaben und Textverstehen
Zu jedem Untersuchungsaspekt sind zunächst auf den Einzeltext bezogen Textrepräsentationen zu generieren (vgl. Bsp. 8a). In einem nächsten Schritt sind die Befunde zu vergleichen (8b), wobei die Aufgabe ausschließlich nach Gemeinsamkeiten fragt, was von der übergeordneten Zielstellung her (Titel des Arbeitsblattes) auch auf der Hand liegt. Nachdem auf diese Weise ein Dokumentenmodell beider Texte aufgebaut wurde, gilt es die erhobenen und gemeinsam repräsentierten Textmerkmale zusätzlich zu erklären (8c, Erklärungsaufgabe).62 Auch der stichprobenartige Blick auf Vergleichsaufgaben, die sich zu anderen Texten in Lehrwerken finden, bestärkt mich in der Hypothese, dass diese (bei unterschiedlich ausgeprägtem Entscheidungsspielraum) vor allem der Kategorie Generierungsaufgaben zuzuordnen sind, da sie vor allem auf den Aufbau differenzierter Verstehensprodukte zielen. Diese Beobachtung korrespondiert im Übrigen auch mit der didaktischen Funktion des Vergleichs als „vorzügliches Erkenntnismittel, das den analytischen Blick schärft, überprüfbare Argumentation erleichtert und die Entwicklung von Deutungshypothesen anregt“ (Köster/ Spinner 2002, 6). Genauer zu klären bleiben die Charakteristika von Bewertungsaufgaben. Sie geben ein Verstehensprodukt vor, das allerdings strittig ist, das es also zu überprüfen gilt. Dieses zu überprüfende Verstehensprodukt kann auf allen Ebenen des Textverstehens angesiedelt sein: Es kann sich um eine Repräsentation der Art der Darstellung handeln, um das Ergebnis von (lokaler oder globaler) Kohärenzetablierung oder Sinnzuschreibung oder um Textkritik. Ein Beispiel für eine Bewertungsaufgabe, die eine Schlussfolgerung zur Art der Darstellung zum Reflexionsobjekt macht, lautet wie folgt: (9)
Man hat den Anfang der Geschichte mit dem Anfang eines Krimis verglichen. Was meint ihr dazu? (Lesezeichen A/B 9, 1992b, A3)
62 Ob das hier vorgestellte Arbeitsblatt dazu beiträgt, sachgerechtes und verstehensförderndes literarisches Gattungswissen aufzubauen, wäre bezogen auf die Einzelaufgaben kritisch zu diskutieren. Immerhin wird nach der „Funktion“ von Textmerkmalen gefragt, was bei einer vergleichenden Analyse von Lehrbuchaufgaben bereits als positiver Befund zu verzeichnen ist (vgl. Winkler 2007b). (Dass allerdings die Aufforderung, die Funktion zu „deuten“, zumindest unglücklich formuliert ist, sei nur angemerkt.)
3.5 Textverstehensaufgaben
123
Ein Ergebnis von globaler Kohärenzetablierung und Sinnzuschreibung wird in Beispielaufgabe 5 aus dem Fragebogen zum Gegenstand der Reflexion: (F5) Ist diese Geschichte eine Liebesgeschichte? Begründe deine Meinung.
Exemplarisch für eine Aufgabe, die die Reflexion von Textkritik fordert, ist die Fortsetzung der oben analysierten Aufgabe aus Deutsch plus 9 (Beispiel 6a), nämlich die in (6a) zunächst weggelassene Teilaufgabe: (6b) Welche der beiden Meinungen kommt deiner Ansicht von Beziehung näher? (Deutsch plus 9, 2004b, 193)
Die folgende Charakterisierung von Bewertungsaufgaben stützt sich zunächst nur auf die Beispiele (9) und (F5). Bei Beispiel (6b) handelt es sich um einen Sonderfall, der abschließend diskutiert wird. Wie bei Rekonstruktionsaufgaben auch geht es bei Bewertungsaufgaben zunächst darum, das von der Aufgabenstellung vorgegebene Textverständnis nachzuvollziehen. Dieses ist in einem weiteren Schritt dann allerdings nicht wie bei Rekonstruktionsaufgaben zu belegen, sondern auf seine Passung zum Text hin zu überprüfen. Für diese Überprüfung sind textexterne Kriterien erforderlich, die als Maßstab für den Grad der Passung zwischen gegebenem Textverständnis und Text dienen können. Diese textexternen Reflexionskriterien können in Bewertungsaufgaben explizit genannt sein, aber auch implizit sein bleiben. So enthält Aufgabe (F5) die vorgegebene Deutung der Geschichte als „Liebesgeschichte“. Dies impliziert, dass das Wissen über Merkmale von Liebesgeschichten aktiviert und zum Maßstab werden muss, um die vorgegebene Deutung am Text zu überprüfen. Bei Beispiel (9) muss sich der Bearbeiter analog Merkmale von Krimi-Anfängen ins Gedächtnis rufen, um das gegebene Textverständnis „Anfang von ‚Das Brot‘ entspricht Krimi-Anfang“ auf seine Passung zum Text hin zu überprüfen.
124 Abb. 3.5:
3 Aufgaben und Textverstehen
Anforderungsprofil von Bewertungsaufgaben63 Textverständnis laut Aufgabenstellung (1) Nachvollzug
(3) Passung?
Text
Reflexionskriterium (2) Aktivierung
Das externe Reflexionskriterium fungiert zugleich als Suchkriterium, das als ‚Maske‘ über den Text gelegt wird. Z. B. ist bei Aufgabe (F 5) zu fragen, welche Textmerkmale es nahelegen, „Das Brot“ als Liebesgeschichte zu betrachten. Bei Beispielaufgabe (9) sind diejenigen Merkmale des Textanfangs festzustellen, die potenziell krimi-typisch sind (Suchkriterium: ‚Merkmale von Krimi-Anfängen‘). Diese Teilanforderung von Bewertungsaufgaben ähnelt zwar dem Belegen im Rahmen von Rekonstruktionsaufgaben, entspricht ihm aber nicht. Denn bei den Bewertungsaufgaben kommt noch eine zusätzliche Anforderung dazu, nämlich die Überprüfung des Befundes: Trifft das von der Aufgabenstellung vorgegebene Textverständnis zu? Für diese Bewertung sind vom Aufgabenbearbeiter Textmerkmale, vorgegebenes Verstehensprodukt, Reflexionskriterium und ggf. zusätzlich gebildete, von der Vorgabe der Aufgabenstellung abweichende eigene Repräsentationen des Textes in eine Vergleichsrelation zu setzen. Auf Basis der hergestellten Relationen ist die Zustimmung oder Ablehnung gegenüber dem vorgegebenen Verstehensprodukt zu begründen. Aufgabe (F5) macht diese zuletzt genannte Teilanforderung explizit: (F5) Ist diese Geschichte eine Liebesgeschichte? Begründe deine Meinung. 63 Die grafische Darstellung ist angelehnt an die Darstellung des Schemas einer Argumentation bei Toulmin (1996). Das von mir hier sog. Reflexionskriterium korrespondiert in seiner Funktion mit der Schlussregel bei Toulmin. Denn es gibt wie die Schlussregel an, auf welcher Basis ein kausaler Zusammenhang zwischen Text („Daten“) und Textverständnis („Konklusion“) hergestellt bzw. eingeschätzt wird (vgl. Toulmin 1996, 89).
3.5 Textverstehensaufgaben
125
Gegenüber der hier vorgeschlagenen Abgrenzung von Generierungs- und Bewertungsaufgaben kann eingewendet werden, dass auch bei Bewertungsaufgaben eine Generierungsleistung insofern gefordert ist, als die geforderte Bewertung und deren Begründung vom Aufgabenbearbeiter zu ‚generieren’ sind. Das angesprochene Problem ist allerdings ein rein terminologisches: Die Unterscheidung der Aufgabentypen innerhalb des hier vorgelegten Vorschlags orientiert sich daran, ob eine Aufgabenstellung ein Ergebnis des Textverstehensprozesses (Repräsentation der Textoberfläche/Art der Darstellung, Kohärenzbildung, Sinnzuschreibung, Textkritik) setzt oder sucht. Nur wenn von der Aufgabe her eine Repräsentation des Textes gesucht ist, der Aufgabenbearbeiter ein entsprechendes Verstehensprodukt erst generieren muss, spreche ich von Generierungsaufgaben. Die Übergänge zwischen den hier unterschiedenen Aufgabentypen können durchaus fließend sein. So kann die Bearbeitung von Rekonstruktionsaufgaben oder Generierungsaufgaben in die wertende Überprüfung von Verstehensergebnissen münden, selbst wenn diese Überprüfung nicht explizit in der Aufgabe gefordert ist. Das ist bei Rekonstruktionsaufgaben etwa dann der Fall, wenn es dem Aufgabenbearbeiter Probleme bereitet, das von der Aufgabe vorgegebene Textverständnis nachzuweisen, z. B.: Finden sich zu Aufgabe (F1) im Text überhaupt Belege dafür, dass die Frau dem Mann von Anfang an helfen will? Wenn entsprechende Belege aus Sicht des Aufgabenbearbeiters fehlen, kann das dazu führen, dass die Vorgabe der Aufgabenstellung als unpassend bewertet wird, obwohl diese Bewertung von der Aufgabenstellung her nicht intendiert ist. 64 Auch bei Generierungsaufgaben kann das Ergebnis des Textverstehensprozesses 64 Vgl. in diesem Kontext Richter (2003, 84): „Wenn eine kohärenzstiftende Inferenz fehlschlägt, entsteht daher nicht notwendigerweise eine Kohärenzlücke (…). Vielmehr können durch das Fehlschlagen einer Inferenz auch weitergehende epistemologische Verarbeitungsprozesse angeregt werden, mit denen eine Konsistenz- und Wahrheitsprüfung sowie gegebenenfalls eine Zurückweisung expliziter Textaussagen oder Inferenzen verbunden sind.“ Wie an anderer Stelle bereits ausgeführt, beziehen sich Richters Überlegungen auf das Verstehen von Sachtexten und auch nicht auf die Rolle von Aufgaben für das Textverstehen. Die hier zitierte Überlegung bestärkt mich gleichwohl in der Annahme, dass gerade, wenn bei der Bearbeitung von Rekonstruktionsaufgaben Schwierigkeiten auftreten, weil der Aufgabenbearbeiter zwischen den Textmerkmalen und dem zu untermauernden Verstehensprodukt aus der Aufgabenstellung keine Zusammenhänge (leserseitige Kohärenz der mentalen Textrepräsentation) herstellen kann, Reflexionsprozesse ausgelöst werden können.
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3 Aufgaben und Textverstehen
zum Gegenstand der Bewertung werden, nämlich wenn der Aufgabenbearbeiter die Qualität der von ihm generierten Lösungen prüft. Aufgabe (F 4) etwa verlangt, einen „passenden“ Schluss zu schreiben. Damit ist implizit nahegelegt, nicht nur einen Schluss zu generieren, sondern auch auf dessen Passung zum Ausgangstext zu achten, was die Bewertung der eigenen Schlussfolgerungen erfordert. Auch bei den Aufgaben (6a) und (6b) ist der Übergang zwischen Generierungs- und Bewertungsaufgabe relativ fließend. Zugleich ist Beispiel (6b) als Bewertungsaufgabe wie bereits angedeutet ein Sonderfall. Sie sei zur besseren Nachvollziehbarkeit der folgenden Ausführungen nochmals im Zusammenhang zitiert: (6a) Jana: „Die Frau beweist ihre Liebe zu ihrem Mann, weil sie sein Verhalten nicht kritisiert.“ Martin: „In einer Beziehung sollten Konflikte besprochen werden, auch wenn es vielleicht weh tut. Sonst geht das Vertrauen verloren.“ Wie bewertest du das Verhalten der Frau? (6b) Welche der beiden Meinungen kommt deiner Ansicht von Beziehung näher? (Deutsch plus 9, 2004b, 193)
In Aufgabe (6a) fungieren die angeführten Schüleraussagen als orientierende Rahmung im Hinblick auf die vom Schüler zu generierende eigene Bewertung des Figurenverhaltens (Textkritik). In Aufgabe (6b) hingegen haben die Zitate den Status von aufgabenintern gesetzten Bewertungen der Figur, die es daraufhin zu diskutieren gilt, ob sie für den Aufgabenbearbeiter konsensfähig sind. Aus der Generierungsaufgabe (6a) wird durch diesen letzten Satz der Aufgabenstellung, hier als (6b) bezeichnet, eine Bewertungsaufgabe. Allerdings – und darin besteht der Sonderfall – wird hier nicht gefragt, welche der vorgegebenen Bewertungen dem Text näher kommt. Vielmehr steht zur Diskussion, welche der Bewertungen eher „der Ansicht von Beziehung“ des Aufgabenbearbeiters, also seiner eigenen Einschätzung der literarischen Figur auf der Basis seiner persönlichen Wert- und Normvorstellungen, entspricht. Damit zielt die Aufgabe auf diejenige Teilkompetenz, die Zabka als Interpretieren, Reflektieren und Bewerten des aktivierten Wissens bezeichnet (Zabka 2006, 84; vgl. oben, Kap. 3.4.5).
127
3.5 Textverstehensaufgaben
Die eigenen Wert- und Normvorstellungen sind nunmehr also die ‚Lupe‘, durch die nicht mehr – wie bei der Bearbeitung von Teilaufgabe (6a) – der Text, sondern dessen Bewertungen durch andere betrachtet werden. Umgekehrt reflektiert der Aufgabenbearbeiter seine persönliche Bewertung des Figurenverhaltens, indem er sie an den zitierten Schülermeinungen und an den jeweils zugrunde gelegten Bewertungskriterien misst. Abb. 3.6:
Bewertungsaufgaben als Anstoß zum Reflektieren und Bewerten des aktivierten Wissens
Vorgegebene Textkritik: Jana, Martin (1) Nachvollzug
(3a) Passung?
Eigene Ansicht von Beziehung und Bewertung der Frau
Reflexionskriterium: Eigene Wert- und Normvorstellungen (2) Aktivierung (3b) Reflexion
Es erscheint schlüssig, dass Beispielaufgabe (6b) nicht fragt, welche der vorgegebenen Bewertungen dem Text näher kommt. Denn bei der geforderten Bewertung von Figurenverhalten geht es um die Bewertung aus heutiger Sicht, also aus Sicht des Aufgabenbearbeiters. Hierfür gibt es keine eindeutige Lösung. Je nachdem, welche Normen/Werte zugrunde gelegt werden, fällt die Bewertung anders aus.65 Mit der textbezogenen Wert- und Normkritik steht damit nicht nur
65 Ähnlich wie Aufgabenbeispiel 6 ist auch die Aufgabe aus Deutsch plus 9 gelagert, die den Lernenden drei Varianten für den Schluss der Borchertschen Geschichte vorgibt, die jeweils eine
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3 Aufgaben und Textverstehen
deren Ergebnis – im Beispiel: die konkrete Beurteilung des Verhaltens der Frau in Borcherts Text – zur Diskussion. Vielmehr sind zugleich die angewandten Bewertungsmaßstäbe, die an die fraglichen Textmerkmale (das dargestellte Handeln der Frau) angelegt werden, zu prüfen. Bei diesen Bewertungsmaßstäben handelt es sich um individuelle und kollektive Geltungsansprüche und nicht um Wahrheit und logische Richtigkeit. Es ist deshalb schwierig, einen Konsens über den Kriteriumsgehalt von Werten und Normen und deren Wahl für die Kritik eines Textes zu erzielen. (Grzesik 2005, 352f)
Bei Bewertungsaufgaben, die sich auf Textkritik (Wert- und Normkritik oder Ästhetische Kritik) beziehen, diese also zum Gegenstand der wertenden Auseinandersetzung machen, sind demnach immer zugleich auch Reflexionsprozesse bezüglich des eigenen Denkens und der eigenen Wert- und Normvorstellungen gefordert. Gegenstand der Reflexion ist hier nicht der Text. Vielmehr zielen derartige Aufgaben mit den für sie typischen Anforderungen auf die Teilkompetenz Interpretieren, Reflektieren und Bewerten des aktivierten Wissens (Zabka 2006, s. o.). Beispielaufgabe (6a, b) für sich genommen illustriert abschließend noch einmal recht gut die in der oben entworfenen Matrix (Abb. 3.3) vorgenommene Unterscheidung zwischen der Ebene des auf den Text bezogenen Verstehensproduktes (DEMAND I) und der Ebene der Aufgabenstellung (DEMAND II), die dem Verstehensprodukt einen bestimmten Status („gesucht“, „gegeben/unstrittig“, „gegeben/strittig“) zuweist und davon abhängig vom Aufgabenbearbeiter unterschiedliche mentale Teilleistungen fordert.
unterschiedliche Reaktion der Frau am nächsten Abend anbieten: (1) Thematisieren und Vorwurf der Lüge; (2) Verstoßen des Mannes; (3) der Original-Schluss: nonverbales Handeln. Alle drei Varianten enthalten eine Wertung des Handelns des Mannes. Die Aufgabe dazu fragt: „Wie würdest du dich verhalten? Welcher Variante gibst du den Vorzug? Begründe.“ (Deutsch plus 9, 2004a, 247)
3.5 Textverstehensaufgaben
129
Bei Teilaufgabe (6b) haben wir es mit einer Bewertung von Textkritik zu tun, bei der ersten Teilaufgabe (6a) geht es um die Generierung von Textkritik. Auf der Ebene der Aufgabenstellung wäre auch die Rekonstruktion von Textkritik denkbar, z. B.: (10*) Heinrich Böll schreibt über Borcherts Kurzgeschichte, sie sei „eine meisterhafte Erzählung, kühl und knapp, kein Wort zu wenig, kein Wort zuviel“. Was meint Böll damit? (Rekonstruktion Ästhetischer Kritik) (11*) Die Frau handelt nicht nur rücksichtsvoll gegenüber dem Mann, sie stellt ihn indirekt auch bloß. Suche Textstellen, die dies zeigen. (Rekonstruktion von Wert- und Normkritik) (Konstruierte Beispiele, I. W.)
Innerhalb des PISA-Modells von Lesekompetenz wären alle diese Aufgaben am ehesten der Subskala „Reflektieren und Bewerten“ zuzuordnen, ohne dass berücksichtigt würde, dass je nachdem, ob die Textkritik innerhalb der Aufgabenstellung gesucht ist oder zur Diskussion steht, an den Aufgabenbearbeiter unterschiedliche Anforderungen gestellt werden. Für Aufgaben wie Beispiel (6b), das mit dem Reflektieren und Bewerten des aktivierten Wissens literaturspezifische Verstehensprozesse anregt, bietet das PISA-Modell zudem im Unterschied zur hier entwickelten Matrix keine adäquate Kategorie (vgl. Zabka 2006). Man kann einwenden, dass die in diesem Kapitel getroffene Unterscheidung von Aufgaben die Dinge kompliziert, ohne dass der didaktische Gewinn unmittelbar sichtbar wird. Dieser liegt zunächst einmal darin, dass Aufgabenanalysen an Tiefenschärfe gewinnen. Angehende und praktizierende Lehrerinnen und Lehrer sind über diese ‚Tiefenschärfe‘ eher für die Vielschichtigkeit von Aufgabenanforderungen zu sensibilisieren als durch schnelle Grobeinteilungen.66 Im Kontext der empirischen Untersuchung bleibt zu prüfen, ob die entwickelten Aufgabenkategorien in die Interpretation der Ergebnisse plausibel einzubeziehen sind.
66 Vgl. Bremerich-Vos (2008, 42) zum Nutzen der von ihm in die aktuelle Aufgabendiskussion eingebrachte Taxonomie von Anderson et al.: „Im Vergleich mit dem herkömmlichen Reden über Aufgaben (‚Die Schülerinnen und Schüler sollen etwas schreiben’) dürfte mit dem Gebrauch der Taxonomie (…) ein erheblicher Zuwachs an Präzision verbunden sein.“
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3 Aufgaben und Textverstehen
Als Grundlage für die Auswertung der empirischen Untersuchungsergebnisse stehen nun noch eingehende Analysen der im Fragebogen verwendeten Beispielaufgaben aus. Dabei sind die bislang theoretisch entfalteten Untersuchungskriterien für Textverstehensaufgaben in der Zusammenschau zu berücksichtigen.
3.5.3 Analyse der Beispielaufgaben aus dem Fragebogen Im Folgenden werden die Beispielaufgaben aus dem in der empirischen Untersuchung verwendeten Fragebogen daraufhin untersucht, wie Verstehensanforderungen (demand) und Instruktionsmerkmale (support) jeweils interagieren (vgl. zu dieser Unterscheidung Kap. 3.1). Der Entscheidungsspielraum als Grad an aufgabeninterner Unterstützung bezogen auf das Erreichen der gesetzten Anforderungen ist aus theoretischer Sicht (vgl. oben Kap. 2.3.3) ein besonders interessantes Aufgabenmerkmal, wenn es um die Erhebung der Aufgabenpräferenzen von Lehrkräften geht. Die Beispielaufgaben aus dem Fragebogen wurden außer von der Autorin unabhängig voneinander von drei weiteren Aufgabenexpertinnen auf ihren Entscheidungsspielraum hin eingeschätzt. Bei dieser Einschätzung wurde eine fünfstufige Skala genutzt (gering, eher gering, mittel, eher hoch, hoch) und eine sehr hohe Beurteilereinstimmung erzielt (vgl. unten Kap. 5.1, Tab. 5.1). Die auf diese Weise erhobenen Einschätzungen des Entscheidungsspielraums werden in die folgende Aufgabenanalyse mit einbezogen. Die Aufgabenanalyse orientiert sich noch an zwei weiteren Aspekten, die für die Interpretation der erhobenen Lehrerpräferenzen eine wichtige Grundlage bilden; denn aus Sicht der teilnehmenden Lehrkräfte müssen nicht dieselben Aufgabenmerkmale entscheidungsrelevant sein, die aus Forschersicht bedeutend erscheinen: Inwieweit spiegelt die Aufgabe Traditionen bzw. Konzepte des Literaturunterrichts wider? Dieser Aspekt ist von Bedeutung, da sich die Aufgabenpräferenzen von Lehrkräften möglicherweise an überindividuellen fachbezogenen Zielsystemen (vgl. Kap. 4.3) orientieren. Welchen inhaltlichen Schwerpunkt setzt die Aufgabenstellung bzw. die erwartete Lösung? Die Frage ist zentral, wenn man davon ausgeht, dass Lehrkräfte Aufgaben auch aus rein inhaltlich-gegenstandsbezogenen und nicht
3.5 Textverstehensaufgaben
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nur aus vor allem lernprozessbezogenen Erwägungen heraus bevorzugen bzw. ablehnen können. Bezogen auf den zuletzt genannten Aspekt ist anzumerken, dass aus Forschersicht alle Beispielaufgaben aus dem Fragebogen die Beziehung zwischen Mann und Frau in Borcherts Text in den Blick nehmen, wenn auch mit unterschiedlicher Akzentsetzung. Darauf, dass die Aufgaben auf einen gemeinsamen thematischen Schwerpunkt zielen, wurde bei der Aufgabenauswahl Wert gelegt, weil die Aufgabenpräferenzen der Lehrkräfte möglichst nicht gravierend von inhaltsbezogenen Erwägungen beeinflusst werden sollten.
Beispielaufgabe 1 (Item 2_167) „In diesem Augenblick tat er ihr leid“, heißt es am Ende von der Frau. Suche jene Textstellen, die bereits vorher zeigen, dass sie ihrem Mann helfen möchte.68
Die Aufgabe fokussiert die Haltung der Frau gegenüber dem Mann, konkreter: ein Motiv für das Handeln der Frau. Dieses wird in der Aufgabe vorgegeben: Die Frau möchte laut Aufgabenstellung „ihrem Mann helfen“, und zwar „bereits vorher“, also nicht erst in der Schluss-Szene des Textes. Das steht so nicht im Text, sondern ist eine Schlussfolgerung, mit der die Unbestimmtheit des Textes bezogen auf die Motive der Frau elaborierend aufgelöst wird. Dabei setzt die Aufgabe die Textinformation, dass die Frau am Ende Mitleid mit dem Mann empfindet, mit dem Beweggrund gleich, ihm helfen zu wollen. Dies ist so zumindest eine Verkürzung von Zusammenhängen. Auch geht die Aufgabe darüber hinweg, dass die Frau dem Text zufolge „[i]n diesem Moment“ – erst jetzt also und demzufolge wohl nicht schon vorher – Mitleid mit dem Mann empfindet. Die Aufgabe gibt also ausgehend von einer einzelnen Textstelle ein Ergebnis globaler Kohärenzetablierung vor, das wohl diskussionswürdig wäre, aber nicht zur Diskussion gestellt wird. D. h. es steht von der Aufgabe her nicht infrage, ob es Indizien gibt, dass die Frau dem Mann über die gesamte dargestellte Handlung hinweg helfen will. Dieses Handlungsmotiv wird von der Aufgabe gesetzt. Die 67 Lies: Fragebogen Teil 2, Item 1. 68 Aus: Wege zum Lesen (1990, 178).
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Aufgabenbearbeiter sollen diese Schlussfolgerung belegen, indem sie Textstellen lokalisieren, die das vorgegebene Verstehensergebnis stützen. Die Aufgabe ist demnach als Rekonstruktionsaufgabe einzustufen. Die Lernenden müssen für die Bearbeitung dieser Aufgabe über ein allgemeines lebensweltliches Konzept von ‚Mitleid‘ bzw. ‚Helfen wollen‘ verfügen: Mitleid: Was ist Mitleid? Warum hat man Mitleid mit anderen? Wie handelt man, wenn man Mitleid mit jemandem hat? Usw. Helfen wollen: Wie äußert sich das Bemühen, jemandem helfen zu wollen? Welche Formen von Hilfe gibt es? Warum wollen Menschen anderen helfen? Usw. Die skizzierten Fragen verdeutlichen noch einmal, dass Mitleid und der Wunsch, jemandem helfen zu wollen, nicht identisch sind, wie die Aufgabe dies postuliert.69 Mit der Vorgabe des Mitleids- bzw. Hilfe-Aspektes existiert in der Aufgabenstellung ein klares Suchkriterium für die Untersuchung des Textes: Bei der Bearbeitung der Aufgabe geht es darum, Textstellen zu lokalisieren, die diese vorgegebene Schlussfolgerung stützen. Dies impliziert zugleich, dass im Text auch entsprechende Stellen existieren müssen. Als Lösung kommen nur Textstellen infrage, die darauf hinweisen, dass die Frau dem Mann helfen möchte. Durch diese klare Ausgangssituation ist auch der mentale Lösungsprozess bereits vorstrukturiert. Gefordert ist ein Abgleich von Hilfe-Konzept und Textinformationen. Lediglich wie die lokalisierten Textstellen zu speichern sind (Merken, Unterstreichen, Herausschreiben), bleibt offen. Auch die erwartete Lösung der Aufgabe ist relativ klar. Es wird wohl wenig Dissens über die einschlägigen Textstellen geben, man könnte sich im Unterricht vermutlich auf ziemlich genau auf vier Textstellen über die in der Aufgabe genannte hinaus einigen. Als Lösungsmaterial für die Aufgabe kommen insbesondere folgende Textstellen infrage, deren Diskussion allerdings zeigt, dass die Lösung nur vordergründig einfach ist:
69 Dass barmherziges Tun kein Mitleid voraussetzt, darauf weist Käte Hamburger hin (Hamburger 1996, 119-125).
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Z. 22f.: „Du hättest Schuhe anziehen sollen. So barfuß auf den kalten Fliesen. Du erkältest dich noch.“
Wer hier spricht, bleibt letztlich unbestimmt. Dass die Frau fast dieselben Worte wiederholt (Z. 31 f.), stützt die Annahme, dass auch an dieser ersten Stelle die Rede der Frau wiedergegeben ist.70 Die zitierte Aussage kann man, wenn man sie außerhalb des Textzusammenhanges betrachtet, als Ausdruck von Fürsorglichkeit der Frau dem Mann gegenüber lesen. Fürsorge ist allerdings nicht gleichzusetzen mit dem Wunsch bzw. Bemühen der Frau, dem Mann zu helfen. Dessen geringstes Problem dürften in der dargestellten Situation seine kalten Füße sein, diesbezüglich benötigt er keine ‚Hilfe‘. Auch ist die Besorgtheit der Frau in diesem Moment vermutlich gar nicht echt; denn sie sagt etwas ganz anderes, als sie denkt, wie der Text unmittelbar im Anschluss explizit macht. Die Auswahl dieser Textstelle als Lösung der hier diskutierten Aufgabe lässt sich eher begründen, wenn man die Stelle als Parallele zum folgenden Zitat liest. Z. 31 f.: Sie kam ihm zu Hilfe: „Komm man. Das war wohl draußen. Komm man zu Bett. Du erkältest dich noch. Auf den kalten Fliesen.“
An dieser Stelle geht die Frau auf den Gesprächsmodus des Mannes ein, nämlich das Thematisieren des wahrgenommenen Geräusches anstelle des tatsächlichen Problems. Sie wiederholt ihre als Zeichen von Fürsorge verstehbare Sorge, dass sich der Mann erkälten könnte. In der Redeeinleitung kommt explizit das Wort „Hilfe“ vor, was die Stelle in besonderer Weise als (Teil-)Lösung für die Aufgabenstellung empfiehlt. Dadurch, dass die Frau hier nahezu wortgetreu die zuvor zitierte Aussage (Z. 22f.) wiederholt, kann man parallelisierend schlussfolgern, dass auch die erste Stelle, an der die Frau sich um die Gesundheit des Mannes sorgt, als Hilfsversuch zu lesen ist. Dabei läge der Hilfsversuch weniger im vorgeblichen Bemühen, den Mann vor einer Erkältung zu bewahren, als in der Tatsache, dass die Frau den Mann nicht direkt auf sein Handeln anspricht, sondern
70 Die Unbestimmtheit des Textes in der Frage, wer in Z. 22 f. spricht, führt leserseitig zu verschiedenen Schlussfolgerungen. Anders als die hier vorgelegte Arbeit gehen etwa Dück (1962, 90) und Winter (2004, 25) in ihren Interpretationen zu „Das Brot“ davon aus, dass es sich bei der zitierten Stelle um wörtliche Rede des Mannes handelt.
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ihm hilft, es zu überspielen. Wenn man so argumentiert, wären dann allerdings auch alle anderen Textstellen, an denen die Frau nicht das sagt, was sie wirklich denkt, als Belege für ihren Wunsch zu lesen, ihrem Mann zu helfen. Z. 35-37: Sie hob die Hand zum Lichtschalter. Ich muß das Licht jetzt ausmachen, sonst muß ich nach dem Teller sehen, dachte sie. Ich darf doch nicht nach dem Teller sehen.
Hier zeigt sich wiederum die Kooperation der Frau dabei, den Regelverstoß des Mannes zu verschleiern (hier gleichsam ‚zu verdunkeln‘). Auch diese Stelle kann man als Beleg dafür verstehen, dass die Frau den Mann schonen will. Wenn man analog zur zuvor erläuterten Stelle ‚Helfen wollen‘ mit ‚Schonen‘ gleichsetzen mag, ist auch diese Textstelle als Indiz dafür zu werten, dass die Frau dem Mann helfen möchte. Durch das Bemühen, eine Passung zwischen der in der Aufgabe vorgegebenen Schlussfolgerung (die Frau will dem Mann helfen) und einzelnen Textstellen herzustellen, wird allerdings die Beziehung zwischen den lokalisierten Textstellen und anderen Textinformationen außer acht gelassen. Bezogen auf die hier zitierte Textstelle wäre nämlich zu berücksichtigen, dass die Frau zuvor zweimal sehr deutlich auf den Teller sieht (Z. 9-14 und 28 f.; vgl. dazu auch oben, Kap. 3.4.4) – dadurch ist zumindest ihre Konsequenz in dem Bemühen, den Mann nicht bloßzustellen (i. S. v. „ihm [zu] helfen“) fraglich. Derartige Erwägungen sind von der Aufgabe her nicht gefordert und sogar ein Stück weit behindert. Z. 54 f.: Als er am nächsten Abend nach Hause kam, schob sie ihm vier Scheiben Brot hin. Sonst hatte er immer nur drei essen können.
An dieser Stelle geht die Frau auf den Hunger des Mannes ein, der in der Nacht zuvor offenbar geworden ist, indem sie eine Maßnahme trifft, diesen Hunger zu verringern. D. h. die dargestellte Handlung der Frau kann bezogen auf das körperliche Leiden des Mannes als konkrete Hilfe verstanden werden. Allerdings – und dies ist bereits eine Deutung – scheint die Not der Figuren, so wie der Text sie darstellt, mindestens ebenso stark im Zwischenmenschlichen zu liegen, indem sie keine Worte für ihre Bedürfnisse und Gefühle finden. Die Frage, die beim reinen Lokalisieren einzelner Textstellen wie der hier zitierten ausgeblen-
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det wird, ist auch, warum die Frau bei dieser ‚Hilfeleistung‘, wenn sie sie denn als solche unternimmt, aus dem Lampenschein zurücktritt. Die Lichtregie lässt also an der ‚Hilfe‘-These auch bezogen auf diese Textstelle Zweifel aufkommen. Aber wie nun schon mehrfach deutlich geworden ist, unterbindet die Aufgabenstellung durch ihren Charakter als Rekonstruktionsaufgabe geradezu derartige Überlegungen, die einzelne Textstellen in Beziehung zu anderen ähnlichen oder widersprechenden Textstellen setzen. Verlangt ist allein eine Beziehung zwischen vorgegebenem Verstehensprodukt und potenziell passenden Textstellen. Dadurch haben Rekonstruktionsaufgaben nicht nur einen tendenziell geringeren Entscheidungsspielraum, indem sie das Untersuchungsfeld im Text durch Vorgabe eines Suchkriteriums einschränken. Auch der geforderte Integrationsgrad wird gesenkt, indem die Anzahl der Beziehungen, die zwischen relevanten Variablen (Textstellen und Aufgabeninformationen) herzustellen sind, eingeschränkt wird: Die Verknüpfung der Textstellen untereinander kann auf ein geringes Maß reduziert werden; d. h. das vorgegebene Verstehensprodukt als Suchkriterium erzeugt eine Art ‚Tunnelblick‘ auf einzelne Textstellen. Dieser ‚Tunnelblick‘ wird dann zum Problem, wenn, wie in der hier diskutierten Aufgabe, eine wenig textadäquate Schlussfolgerung bzw. Deutung nachzuweisen ist. 71 Hier wird auch noch einmal deutlich, worin die Besonderheit von Aufgaben bestehen kann, die das Ermitteln von Informationen – hier: zum Nachweis einer Schlussfolgerung bzw. Deutung – fordern. Die Feststellung Kösters (2008b, 169), dass zum Ermitteln von Informationen i. d. R. die Etablierung lokaler Kohärenz genügt, wird von der Analyse dieser Beispielaufgabe einerseits bestätigt72; andererseits wird aber auch deutlich, dass gerade beim literarischen Lesen das fehlende Herstellen innertextueller Bezüge zu einem reduzierten Textverstehen führen kann, das dem Text nicht gerecht wird (vgl. oben Kap. 3.4.1). Dass dies 71 Ein Ergebnis dieses ‚Tunnelblicks‘ wäre bei dieser Aufgabe etwa, dass Lernende als Lösung die Textstelle Z. 31 f. anbieten, mit der Begründung, in ihr zeige sich die Fürsorge der Frau dem Mann und seinem Gesundheitszustand gegenüber. Ausgeblendet wäre dann (1) dass die Frau etwas anderes sagt als sie denkt, also gar nicht in erster Linie um den Gesundheitszustand besorgt ist und (2) dass sich diese vermeintliche Hilfe gar nicht auf das akute Problem des Mannes bezieht. 72 Köster bezieht sich allerdings hier auf den Primarstufen-Standard „Gezielt einzelne Informationen suchen“ und nicht auf die Variante des Nachweises globaler Schlussfolgerungen aus dem Text.
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3 Aufgaben und Textverstehen
bei der hier diskutierten Aufgabe der Fall ist, liegt allerdings nicht zuletzt auch an der problematischen ‚Hilfe‘-These, die es zu belegen gilt. Der Präzisionsgrad, den die Aufgabenbearbeitung verlangt, ist mittel bis hoch; denn mit der Vorgabe, „Textstellen“ zu suchen, ist ein recht detailgenauer Blick verlangt; ein bloßes Überfliegen des Textes reicht nicht aus. Trotzdem ist die Aufgabe aufgrund des geringen Entscheidungsspielraums – er wurde von den Aufgabenbewerterinnen übereinstimmend als „eher gering“ eingeschätzt – und des geringen Integrationsgrades als eher einfach einzustufen. Bezogen auf die inhaltliche Schwerpunktsetzung dieser Aufgabe lässt sich resümieren, dass die Gefühle der Frau dem Mann gegenüber und ihr – von der Aufgabe so interpretiertes – Handeln aus Nächstenliebe im Mittelpunkt stehen.
Beispielaufgabe 2 (Item 2_2) Der Schriftsteller Heinrich Böll schrieb über die Erzählung „Das Brot“ von Borchert: Die „Helden“ dieser Geschichte sind recht alltäglich, ein altes Ehepaar, neununddreißig Jahre miteinander verheiratet. Und der Streitwert dieser Geschichte ist gering (und doch so gewaltig, wie ihn die Augenzeugen der Hungersnot noch in Erinnerung haben mögen): eine Scheibe Brot. Die Erzählung ist kurz und kühl. Und doch ist das ganze Elend und die ganze Größe des Menschen mit aufgenommen. Was meint Böll mit diesem letzten Satz?73
Auch diese Aufgabe ist insofern eine Rekonstruktionsaufgabe, als sie mit dem letzten Satz des Böll-Zitats eine globale Sinnzuschreibung/Deutung vorgibt (vgl. dazu auch Kap. 3.4.4), die die Schülerinnen und Schüler erklärend nachvollziehen sollen. Die Sinnzuschreibung bezieht sich nicht nur auf den gesamten Text (keine Einschränkung des Untersuchungsfeldes), sondern ist auch mit den zentralen Begriffen „Elend“ und „Größe“ umfassend und zugleich wenig präzise, so dass der Entscheidungsspielraum der Aufgabe trotz der Deutungsvorgabe hoch bleibt. Dadurch, dass die zu rekonstruierende Vorgabe, in der Erzählung sei „das ganze Elend und die ganze Größe des Menschen mit aufgenommen“, von der Aufgabenstellung her in hohem Maße unbestimmt bleibt, tendiert die Aufgabe 73 Aus: Magazin 9 (2001a, 195).
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zur Generierungsaufgabe. Denn es reicht hier nicht, Belegstellen für eine zweifelsfrei nachvollziehbare Schlussfolgerung aus dem Text anzuführen. Vielmehr ist die Böllsche Sinnzuschreibung durch das Begriffspaar von „Elend“ und „Größe“ nur grob gerahmt, so dass im Zuge der von der Aufgabe geforderten Erklärung das entsprechende Textverständnis vom Aufgabenbearbeiter selbst erst konkretisierend generiert werden muss. Um die Aufgabe zu lösen, müssen die Schülerinnen und Schüler über eine mentale Repräsentation des gesamten Textes verfügen, der Integrationsgrad der Aufgabe ist also ebenfalls hoch. Die Frage, warum die Aufgabe trotz ihres prinzipiellen Charakters als Rekonstruktionsaufgabe dennoch einen hohen Entscheidungsspielraum aufweist, soll noch etwas ausführlicher geklärt werden. Die Ausgangssituation ist wie bereits erwähnt offen. Mit den Begriffen „Elend“ und „Größe“ gibt die Aufgabe sehr abstrakte Begriffe vor, die von den Lernenden zu aktualisieren und zu konkretisieren sind, damit sie die Aufgabe bearbeiten können. Allerdings bietet die Aufgabe keinen Anhaltspunkt dazu, was unter „Elend“ und „Größe“ zu verstehen ist. Die Ausgangssituation, die die Aufgabestellung entwirft, ist also nicht klar bestimmt, obwohl ein zusammenfassendes Textweltmodell (erster Teil des Zitates) und eine Deutung vorgegeben sind. Das liegt daran, dass die Aufgabenbearbeiter selbst entscheiden müssen, was mit „Elend“ und „Größe“ gemeint sein könnte. Für Jugendliche dürfte dies eine erhöhte Schwierigkeit bedeuten, weil sie nur über begrenzte Lebenserfahrung und u. a. deshalb nicht über breites Vorwissen in diesen Punkten verfügen. Auch das historische Vorwissen, das für die Aufgabenbearbeitung notwendig ist, wird von der Aufgabe vorausgesetzt, aber nicht explizit bereit gestellt. Es bleiben in der Aufgabenstellung also zentrale Variablen offen, deren Aktivierung für die Aufgabenlösung grundlegend ist. Durch die Unbestimmtheit der vorgegebenen Deutung ist zugleich offen, welche Textstellen für die Lösung relevant sind. Das Untersuchungsfeld ist also trotz der prinzipiellen Vorgabe eines Suchkriteriums (Textstellen, die Elend und Größe des Menschen zeigen) nach wie vor der ganze Text. Auch die Arbeitsschritte, die auf dem Weg zur Lösung – also einer Erklärung der Böllschen Deutung – nötig sind, sind von der Aufgabe nicht klar benannt. So müssen die Aufgabenbearbeiter während des Lösungsprozesses selbstständig mindestens folgende Schritte vollziehen:
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3 Aufgaben und Textverstehen
historisches Vorwissen über die Zeit der Handlung aktivieren; menschliches „Elend“ und menschliche „Größe“ als zentrale Begriffe und Suchkriterien bzw. textbezogenen Fokus identifizieren; Bedeutungsdimension von „Elend“ und „Größe“ klären; dabei eine weites (nicht nur auf körperliche Zustände beschränktes) Begriffsverständnis entwickeln und Vorwissen aktivieren, das nicht unbedingt aus dem eigenen Erfahrungsbereich stammt; die angemessen geklärten Konzepte von „Elend“ und „Größe“ global auf den Text beziehen (Interaktion von top-down- und bottom-up-Prozessen); dabei eine Passung zwischen gegebener Deutung und inhaltlichen Aspekten des Textes herstellen; den Befund verbalisieren. Als schwierigkeitserhöhender Faktor ist für die Aufgabenlösung insgesamt die große (historische und altersbedingte) Distanz der Lernenden zu der in Borcherts Text dargestellten Problematik zu sehen. Wie vielschichtig und wenig eindeutig die Lösung der hier diskutierten Aufgabe ist, verdeutlichen die Ausführungen oben Kapitel 3.4.4. Aus Sicht der Schülerinnen und Schüler, von denen die Bearbeitung dieser Aufgabe gefordert ist, heißt das, dass sie ausgehend von ihrer Konkretisierung der Begriffe „Elend“ und „Größe“ selbst eine Auswahl aus verschiedenen möglichen Erklärungsansätzen treffen und diese gewählte Erklärung plausibel darlegen müssen. Auch das erwünschte Ergebnis der Aufgabenbearbeitung ist also offen.74 Es deckt sich mit den vorangehenden Analysen, dass der Entscheidungsspielraum dieser Aufgabestellung im Expertenurteil als „eher hoch“ (vgl. unten, Tabelle 5.1) eingeschätzt wurde. Auch der Integrationsgrad ist entsprechend recht hoch. Vom Präzisionsgrad her genügt es für die Aufgabenlösung nicht, nur oberflächlich über den Text zu lesen; zumindest partiell ist der Bezug auf Textdetails nötig, so dass der geforderte Präzisionsgrad zumindest als mittel einzuschätzen ist.
74 Dass die Aufgabe aus einem Lehrwerk für die Hauptschule stammt, macht deutlich, dass die zutreffende Einschätzung von Aufgabenschwierigkeiten eine wichtiger Fortbildungsschwerpunkt für Lehrkräfte und Aufgabenkonstrukteure ist.
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Die vorangegangene Aufgabenanalyse zeigt, dass mit dem prinzipiellen Charakter einer Aufgabe als Rekonstruktionsaufgabe noch nicht zwingend deren Entscheidungsspielraum als gering festgelegt ist. Der Entscheidungsspielraum von Rekonstruktionsaufgaben hängt vielmehr davon ab, wie konkret die Ausgangssituation der Aufgabenbearbeitung bestimmt ist, wie genau also das von der Aufgabe vorgegebene Textverständnis präzisiert ist bzw. wie unmissverständlich es vom Aufgabenbearbeiter mit Bedeutung gefüllt werden kann. Der Grad der Determiniertheit der Ausgangssituation ist insgesamt dadurch bedingt, inwieweit die für die Aufgabenbearbeitung relevanten Variablen klar benannt sind. Zu diesen Variablen zählen neben dem nötigen textexternen Vorwissen auch die für die Rekonstruktion der Vorgabe relevanten Textinformationen. Vergleicht man die Items 2_1 und 2_2 aus dem Fragebogen vor dem Hintergrund ihrer Einordnung als Rekonstruktionsaufgaben, so stehen sich gegenüber: mit Item 1 eine Aufgabe, die eine konkrete, von der Begrifflichkeit her problemlos anzureichernde Schlussfolgerung aus dem Text vorgibt, für die bereits eine exemplarische Textstelle als Stütze angeführt ist; mit Item 2 eine Aufgabe, die im Gegensatz dazu eine Verstehensprodukt vorgibt, das in seinen Bedeutungsdimensionen zumindest für heutige Schülerinnen und Schüler vage und nicht klar determiniert ist, und die auch nicht deutlich macht, auf was für eine Art von Textinformationen sich die vorgegebene Schlussfolgerung bezieht. Durch diesen Grad der Unbestimmtheit der Vorgabe zeigt die Aufgabe gleichzeitig Merkmale einer Generierungsaufgabe innerhalb des Rahmens, der durch die Begriffe „Elend“ und „Größe“ gesetzt ist. Inhaltlich rückt die zweite Beispielaufgabe aus dem Fragebogen ähnlich wie die erste Charaktermerkmale der Figuren und damit ihr Menschsein in den Mittelpunkt. Dazu kommt bei dieser zweiten Aufgabe ein starker Schwerpunkt auf der literaturhistorischen Auseinandersetzung mit Borcherts Text, da mit Böll ein Zeitgenosse Borcherts mit seiner Deutung zu Wort kommt und mit dessen Zitat im Unterricht auch der literaturhistorische Kontext beider Texte – der Böllschen Deutung und der Borchertschen Kurzgeschichte – thematisiert werden müsste.
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3 Aufgaben und Textverstehen
Beispielaufgabe 3 (Item 2_3) Borchert erzählt die Geschichte hauptsächlich aus der Sicht der Frau. Woran ist dies zu erkennen?75
Auch diese Aufgabe gibt den Schülerinnen und Schülern ein Verstehensergebnis vor, nämlich eine Schlussfolgerung zur Art der Darstellung in Borcherts Geschichte, konkret: zur Erzählperspektive. Wie in den beiden zuvor untersuchten Aufgaben aus dem Fragebogen steht diese Vorgabe von der Aufgabenstellung her nicht zur Diskussion, sondern soll von den Lernenden nachvollzogen werden. Es handelt sich also erneut um eine Rekonstruktionsaufgabe. Die Ausgangssituation der Aufgabenbearbeitung ist klar determiniert; denn die gegebene Einschätzung der Erzählperspektive ist für Schülerinnen und Schüler im 9. Jahrgang klar nachvollziehbar. Deshalb bietet diese Vorgabe auch ein eindeutiges Suchkriterium für relevante Textinformationen: Alle Textstellen, an denen der Leser die „Sicht der Frau“ auf die Handlung erfährt, also ihre Wahrnehmungen, Gedanken und Gefühle, belegen die von der Aufgabe festgestellte Figurenperspektive: „Sie horchte (…). Sie sah (…). Sie fühlte (…) dachte sie. (…) sie merkte (…) sie hörte (…)“ usw. Dabei ist gleichzeitig der sich quasi nebenbei ergebende Befund zu berücksichtigen, dass der Text über den Mann bis auf eine Ausnahme keine entsprechenden Informationen liefert. Der Lösungsprozess der Aufgabe ist aufgrund der Klarheit des Suchkriteriums ebenfalls klar bestimmt. Es geht darum, entsprechende Textstellen zu lokalisieren (top down), mit dem Suchkriterium abzugleichen (bottom up) und aus der Anzahl der Belegstellen eine Schlussfolgerung zu ziehen, die letztlich der Vorgabe in der Aufgabenstellung entspricht. Die Aufgabenlösung in ihrer Zusammenfassung kann also nicht mehr als eine Paraphrase des ersten Satzes der Aufgabenstellung sein: Man erfährt im Wesentlichen nur etwas über die Innensicht der Frau. Der Erkenntnisgewinn, den die Bearbeitung der Aufgabe erbringt, liegt also im konkretisierenden Nachvollzug, wie es charakteristisch für Rekonstruktionsaufgaben ist.
75 Aus: Horizonte 4 (1985, 65). Im Lehrwerk folgt unter derselben Aufgabenziffer noch die anschließende Frage: „Warum überträgt Borchert der Frau die Hauptrolle?“
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Mit der vorangegangenen Analyse der Aufgabenstellung korrespondiert der Befund der Aufgabenbewerterinnen, die den Entscheidungsspielraum dieser Aufgabe übereinstimmend als „eher gering“ eingeschätzt haben. Zugleich ist ein allenfalls mittlerer Integrationsgrad gefordert, da zwar der Text in seiner ganzen Länge zu berücksichtigen ist, zwischen den lokalisierten Textstellen aber keine variablen Bezüge hergestellt werden müssen. Auch der nötige Präzisionsgrad bei der Aufgabenbearbeitung ist nicht hoch, weil der Text zwar mehr als nur oberflächlich gelesen werden muss, aber die für die Aufgabenlösung relevanten Textstellen nicht versteckt, sondern auffällig und dadurch problemlos zu ermitteln sind. Insgesamt handelt es sich um eine einfache Aufgabe. Aus fachdidaktischer Sicht ist die Aufgabe wenig anregend: Die Schülerinnen und Schüler haben den Text nach der Aufgabenbearbeitung nicht besser verstanden also vorher. Zunächst ist gegen die Aufgabenstellung einzuwenden, dass die Geschichte mit wechselnder, vor allem variabler interner Fokalisierung erzählt wird (vorwiegend aus Sicht der Frau, aber eben auch aus Sicht des Mannes). Auch werden dem Leser trotz der im Wesentlichen internen Fokalisierung Gedanken vorenthalten, die aus Figurensicht bedeutend sind (vgl. Genette 1998, 134-140). Durch die undifferenzierte Setzung, dass die Geschichte hauptsächlich aus Sicht der Frau erzählt werde, verstellt die Aufgabe geradezu den Blick auf diejenigen Textstellen, die für das vertiefte Textverstehen bedeutend sind. So wird die Stelle, an der der Text etwas über die Innensicht des Mannes mitteilt, vor dem Hintergrund der Aufgabe nur als quantitativ zu vernachlässigender Befund gesehen. Für die Interpretation des Textes und der Beziehung zwischen Mann und Frau ist aber gerade diese Textstelle besonders interessant (s. o., Kap. 3.2). Dass der Leser auch die Sicht der Frau auf das Geschehen nur ausschnitthaft erfährt, verdeckt die Aufgabenstellung ebenfalls. Es werden nur sehr wenige ihrer Gedanken expliziert; die Motive für ihre Kooperation mit dem Mann und ihren Verzicht auf eine Scheibe Brot etwa sind vom Leser aus dem Text zu schlussfolgern. Hier wie selbstverständlich nur von Hilfsbereitschaft auszugehen, verschließt den Blick vor der Mehrdeutigkeit des Textes (vgl. dazu oben, Kap. 3.4.4). Andererseits ist die Tatsache, dass die Frau so häufig als moralische Siegerin in Borcherts Text bewertet wird, vielleicht gerade ein Resultat aus der Tatsache, dass die Leser im Wesentlichen mit den Augen der Frau auf die Bezie-
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hung der beiden und das Handeln des Mannes blicken und das Gegengewicht dazu, die Gedanken und Gefühle des Mannes, fast völlig fehlen. So sind für Leser Reaktionen wie Sie sah ihn nicht an, weil sie nicht ertragen konnte, dass er log. Dass er log, nachdem sie neununddreißig Jahre verheiratet waren. (Z. 24 f.) rational und auch emotional gut nachvollziehbar, wenn sie, wie der Text es hier nahe legt, in die Rolle der Frau schlüpfen. Dass auch die Frau lügt, warum der Mann das Brot heimlich genommen hat und seinen Hunger oder die bisherige 50:50 Aufteilung des Brotes nicht offen angesprochen hat etc. – all das wird im Text nicht expliziert, weshalb man als Leser leicht der Versuchung erliegt, das Geschehen allein aus Sicht der Frau zu bewerten. Zusammenfassend lässt sich zu dieser dritten Aufgabe aus dem Fragebogen also feststellen, dass sie so, wie sie formuliert ist, vor allem formale Aspekte der Perspektivlenkung in den Mittelpunkt rückt, ohne zur Nutzung der Befunde für ein vertieftes Textverstehen anzuregen.76 Es läge also in der Hand der Lehrperson, von der Aufgabe ausgehend wie eben skizziert Schlussfolgerungen zu ziehen, die die Darstellung der Beziehung zwischen Mann und Frau betreffen (vgl. thematischer Rahmen, der im Fragebogen genannt ist).
Beispielaufgabe 4 (Item 2_4) Anmerkung: Bei Aufgabe 4 ist der Text nicht vollständig gegeben. Er bricht ab mit dem Teilsatz „Als er am nächsten Abend nach Hause kam, (...)” (Z. 54). Die Geschichte ist nicht zu Ende.77 Schreibe einen passenden Schluss.
Diese Aufgabe ist klar dem Konzept des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts zuzuordnen, das den Deutschunterricht seit den 1990er Jahren maßgeblich beeinflusst hat (vgl. dazu ausführlicher unten Kap. 4.3.2). Dieses 76 Es wäre zu diskutieren, ob man diese Aufgabe nicht auch als Übungsaufgabe betrachten könnte, bei der es darum geht, das Bewusstsein für Signale der Perspektivführung zu schärfen. 77 Die Stelle, an der die Zäsur im Text gesetzt wird, und der erste Teil der Aufgabenstellung sind entnommen aus: Deutsch plus 9 (2004a, 247). Hier werden allerdings drei Varianten des Schlusses vorgegeben, darunter die tatsächliche, unter denen die Lernenden eine auswählen sollen. Das Verfassen eigener Fortsetzungen, wie es das Aufgabenbeispiel aus dem Fragebogen verlangt, ist jedoch eine verbreitete Anforderung.
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Konzept betont den Beitrag des Lesers beim Textverstehen und ist entsprechend stark schülerorientiert. Handlungs- und produktionsorientierte Aufgaben gelten als motivationsfördernd und als Möglichkeit, die Auseinandersetzung mit literarischen Texten zu intensivieren. Kritiker wenden ein, dass aufgrund des starken Gewichts von Arbeitsformen didaktische Fragen wie die nach dem Ziel der Aufgabenbearbeitung zuweilen aus dem Blick geraten (vgl. z. B. Haas/Menzel/ Spinner 1994; Spinner 2002). Die Beispielaufgabe aus dem Fragebogen setzt eine Zäsur an der Stelle im Text, an der die zeitliche Einheit der Darstellung unterbrochen ist und zur „Nachgeschichte“ des nächtlichen Ereignisses am folgenden Abend übergeleitet wird. Die Frage zum Handlungsverlauf, die sich hier stellt, ist, inwieweit es zu einer Lösung des latenten nächtlichen Konfliktes kommen wird. Die Aufgabe fordert die Schülerinnen und Schüler auf, einen „passenden“ Schluss der Geschichte zu verfassen. Mit dem Kriterium ‚passend‘ ist, von der Aufgabe her wenig exponiert, die Anforderung verknüpft, Merkmale des bisherigen Textes – also z. B. die Darstellung der Figuren, ihres Umgangs mit dem Konflikt, sprachliche Merkmale – aufzugreifen und homogen weiter zu führen. Bis zu der Stelle, an der der Text abbricht (mehr als drei Viertel des Textes), sind zentrale Informationen zum erzählten Ereignis, den Figuren und ihrer Beziehung zueinander gegeben. Auf dieser Basis müssen die Schülerinnen und Schüler zunächst ein mentales Modell des gegebenen Textteils aufbauen. Aus dieser Repräsentation des Textes ist von den Lernenden eigenständig abzuleiten, was für ein Schluss ‚passend‘ sein könnte, damit die Aufgabe gelöst werden kann. Die für die Lösung der Aufgabe relevanten Variablen – die Merkmale des bisherigen Textes – sind im Ausgangszustand der Aufgabenbearbeitung also zwar gegeben, müssen aber von den Lernenden schlussfolgernd identifiziert werden. Der Lösungsprozess der Aufgabe verlangt vom Bearbeiter eine Reihe von Schritten, die selbstständig zu leisten sind, auch wenn sie sich teilweise unbewusst und vom Ablauf her parallel und nicht als gesonderter Handlungsschritt vollziehen dürften: ein vorläufiges globales Textweltmodell des gegebenen Textteils aufbauen; sich Varianten ausdenken (‚generieren‘), wie die Geschichte enden könnte; die Varianten daraufhin überprüfen, ob sie zum gegebenen Text (zum bisherigen Textweltmodell) passen;
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sich für eine Variante entscheiden; die Idee ausformulieren und aufschreiben; den Entwurf inhaltlich und sprachlich überarbeiten. Das erwünschte Ergebnis der Aufgabenbearbeitung ist nur durch eine allgemeine Kategorie – als „passende[r] Schluss“ nämlich – bestimmt. Auch im Rahmen der Vorgaben durch den bekannten Textteil jedoch gibt es potenziell mehrere Möglichkeiten, wie die Geschichte enden kann. Durch die Anforderung, die Idee aufzuschreiben, ist das erwünschte Ergebnis zusätzlich offen, da sich für den Bearbeiter die Frage stellt: Wie formuliere ich? Die Lösung der Aufgabe dokumentiert ein Ergebnis des Textverstehens, nämlich die Etablierung globaler Kohärenz und ggf. auch eigene Sinnzuschreibungen der Schüler-Leser. Dieses Verstehensprodukt ist von den Schülerinnen und Schülern aus den gegebenen Textinformationen zu konstruieren. Es handelt sich also nach der obigen Kategorisierung um eine Generierungsaufgabe. Diese hat, wie bereits ausgeführt, zugleich das Potenzial einer Reflexionsaufgabe (vgl. oben, Kap. 3.5.2). Insgesamt ist, wie die Analysen zeigen, der Entscheidungsspielraum der Aufgabe als recht hoch einzuschätzen (Mittelwert des Rater-Urteils zum Entscheidungsspielraum: 3,75; vgl. unten, Tabelle 5.1). Damit korrespondieren hohe Anforderungen an den Integrationsgrad, da eine differenzierte globale Kohärenzbildung Voraussetzung für die Aufgabenbearbeitung ist. Für eine passende Lösung ist es zudem erforderlich, den Text genau wahrzunehmen, um nicht etwa eine laute Konfrontation der Figuren als Schluss anzubieten, der nicht mit der bisherigen Zeichnung der Figuren korrespondieren würde. Der nötige Präzisionsgrad bei der Aufgabenbearbeitung ist also ebenfalls eher hoch. Aus den Analysen resultiert, dass die Aufgabe eher schwierig zu lösen ist, aber ein populäres literaturdidaktisches Konzept repräsentiert. Dass vor diesem Hintergrund u. U. vor allem das Verfahren – einen eigenen Schluss schreiben – als entscheidungsrelevant für Zustimmung oder Ablehnung der Aufgabe wahrgenommen wird, verdeckt möglicherweise den Blick darauf, dass die Aufgabe sehr schematisch angelegt ist. Denn vom Text aus betrachtet wäre es gar nicht nötig, eine künstliche Zäsur zu setzen. Das Ende von Borcherts Geschichte selbst ist offen, da die Frage unbeantwortet bleibt, ob Mann und Frau es schaffen werden, im Schein der Lampe den latenten Konflikt offen an- und sich auszusprechen. Diese Frage in eigenen Fortsetzungen der Schülerinnen und Schüler aufzu-
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greifen, würden den vom Text eröffneten Reflexions- und Deutungsrahmen nicht von vornherein verengen, sondern zu dessen Vermessung einladen.
Beispielaufgabe 5 (Item 2_5) Ist diese Geschichte deiner Meinung nach eine Liebesgeschichte? Begründe deine Meinung.78
Diese fünfte Aufgabe aus dem Fragebogen ist ein Beispiel für eine Bewertungsaufgabe (vgl. Kap. 3.5.2). Sie gibt eine globale Deutung des Textes als Liebesgeschichte vor und stellt sie zugleich zur Diskussion. Auf die in der Aufgabe formulierte Entscheidungsfrage gibt es nur zwei mögliche Antworten: ja oder nein. Der hohe Entscheidungsspielraum, den die Aufgabe hinsichtlich der Lösung dennoch bietet, resultiert vor allem aus der Offenheit der Begründung, die von der Aufgabe eingefordert ist. Schülerinnen und Schüler einer 9. Klasse dürften aufgrund ihres Textsortenwissens (unter Einbeziehung des Mediums Film) recht genaue Vorstellungen davon haben, was für Merkmale Liebesgeschichten haben. Insofern ist die Ausgangssituation bei der Aufgabenbearbeitung klar determiniert. Die Schwierigkeit liegt zu Beginn der Aufgabenbearbeitung also nicht in mangelnder Klarheit der Ausgangssituation. Vielmehr könnte es den Lernenden Probleme bereiten, dass „Das Brot“ mit dem Konzept, das sie von Liebesgeschichten haben, zunächst wohl nicht korrespondiert. Die Aufgabe fordert hier also „vom Leser den Umgang mit Konzepten, die der Erwartung widersprechen“ (Deutsches PISAKonsortium 2001, 89), was als Merkmal schwieriger Aufgaben gilt. Mit dem Einfordern einer Begründung der eigenen Meinung gibt die Aufgabenlösung eine allgemeine Kategorie vor, die den Schülerinnen und Schülern aus ihrem Alltag vertraut ist und die sie auch aus dem Deutschunterricht bereits kennen (argumen-
78 Aus: Lesen Darstellen Begreifen A 9 (1993, 20). Zum Vergleich: Ähnlich angelegt ist die folgende Aufgabe zu Conrad Ferdinand Meyer, „Zwei Segel“ innerhalb eines Kapitels mit dem Titel „Lauter Liebesgedichte“: „Erläutert, inwiefern der Text als Liebesgedicht verstanden werden kann.“ (Deutschbuch 9, 1999, 216)
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tierendes Sprechen und Schreiben als Lerngegenstände). Die Aufgabe knüpft an die Tradition der literarischen Erörterung an (vgl. z. B. ISB 1993, 121-142). Um die Aufgabe zu lösen, sind folgende Teilaktivitäten nötig, die in der Aufgabe nicht im Einzelnen genannt sind, so dass der Lösungsprozess recht offen und für die Lernenden nicht klar vorstrukturiert ist: 1. ein Konzept von „Liebesgeschichte“ (textsortenspezifisches Vorwissen) aktivieren; 2. ein Konzept von ‚Liebe‘ aktivieren und dabei über Vorstellungen, die der eigenen unmittelbaren Lebenserfahrung entsprechen, hinausgehen (Liebe in verschiedenen Lebensaltern; Liebe vs. Verliebtheit; Liebe am Anfang einer Beziehung und nach langer Zeit usw.); 3. Passung zwischen den aktivierten Konzepten und dem Text überprüfen (top-down-/ bottom-up-Abgleich); 4. eine Entscheidung in der res dubia treffen; 5. diese Entscheidung unter Rückgriff auf die aktivierten Konzepte und Integration der Textinformationen begründen; 6. dabei mögliche Gegenargumente berücksichtigen und entkräften. Die Schritte 1 bis 3 korrespondieren mit den Anforderungen einer Rekonstruktionsaufgabe (Nachvollziehen der Deutungsvorgabe), während die Schritte 4 bis 6 das zusätzliche Anforderungsprofil repräsentieren, durch das sich Reflexionsvon Rekonstruktionsaufgaben unterscheiden (überprüfende Bewertung des in der Aufgabe vorgegebenen Verstehensproduktes). Inwieweit Borcherts Geschichte als Liebesgeschichte zu lesen ist, wurde bereits oben in Kap. 3.4.4 diskutiert. Die Ausführungen zu dieser Frage verdeutlichen, dass die Antwort keineswegs eindeutig zu geben ist, was differenzierte Begründungen und vielfältige Bezüge zwischen Vorwissen und Text sowie Bezüge zwischen Textstellen untereinander erfordert. Das erwünschte Ergebnis der Aufgabenbearbeitung ist also nicht klar determiniert. Neben dem daraus resultierenden eher hohen Entscheidungsspielraum (Mittelwert der Rater-Einschätzung: 4,0) bedeutet das auch einen hohen Integrationsgrad und die Notwendigkeit eines detaillierten Blicks auf den Text (eher hoher Präzisionsgrad). Es handelt sich demnach um eine eher schwierige Aufgabe. Thematisch kann sie für Schülerinnen und Schüler reizvoll sein, da sie gewohnte Denkmuster in unerwartete Zusammenhänge stellt und außerdem mit Liebe ein Thema fokus-
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siert, dass für Jugendliche aktuell ist und zugleich eine zentrale Dimension menschlichen Lebens berührt.
Beispielaufgabe 6 (Item 2_6) Licht und Dunkelheit. Versuche eine Deutung.79
Inhaltlich zielt die Aufgabe darauf ab, dass die Lernenden die Bedeutung der Schauplatzgestaltung, konkret von Licht und Dunkelheit, in Borcherts Erzählung erfassen. Licht und Dunkelheit stehen im Zusammenhang mit der Beziehung der beiden Figuren zueinander. Im Licht wird sichtbar, dass der Mann über seine Ration hinaus Brot gegessen hat, im Lampenschein sinkt der Mann am Ende bloßgestellt zusammen. Die Dunkelheit hingegen (das Ausschalten des Lichtes) nutzt die Frau gezielt, um das Handeln des Mannes zu verbergen. Aber auch sie selbst meidet am Ende im Moment ihres Verzichts das Licht, bevor sie sich wieder zum Mann unter die Lampe setzt (ausführliche Analysen zur Rolle von Licht und Dunkelheit oben in Kap. 3.4). Entsprechende Deutungen sind vom Aufgabenbearbeiter selbst zu generieren, die Aufgabe gibt lediglich vage Impulse, aber keine Verstehensprodukte vor (Generierungsaufgabe). Diese Aufgabe ist diejenige, deren Entscheidungsspielraum von den Raterinnen am höchsten eingeschätzt wurde (Mittelwert 4,5). Ausgangssituation, Lösungsprozess und Ergebnis der Aufgabenbearbeitung sind offen. Dies liegt nicht zuletzt an der überaus unscharfen, kaum gelungenen Formulierung der Aufgabe. Was die Ausgangssituation betrifft, werden weder das Erkenntnisziel noch das Untersuchungsfeld in der Aufgabe explizit gemacht. Der erste Teil der Aufgabe nennt impulsartig „Licht und Dunkelheit“ als zwei dichotome Kategorien, die bezogen auf die Untersuchung des Textes relevant sind. Allerdings bleibt implizit, dass es sich um ein Kriterienpaar für die Untersuchung des Textes handelt; d. h. es gibt keine eindeutige Formulierung eines Erkenntnisziels. Ebenso vage bleibt der zweite Teil der Aufgabe, „Versuche eine Deutung“. Diese Hand79 Aus: Tandem 9 (1998, 162).
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3 Aufgaben und Textverstehen
lungsaufforderung gibt keine auf ein verbindliches Produkt zielende Anweisung, sondern regt eine eher experimentelle Auseinandersetzung mit dem Text an, die auch ohne klares Ergebnis bleiben kann („Versuche…“). Die Aufforderung impliziert, dass es der Text ist, der bezogen auf die zuvor genannten Aspekte gedeutet werden soll. Die Eingrenzung des Untersuchungsfeldes müssen die Lernenden also eigenständig vornehmen. Sie müssen die Bedeutung von Licht und Dunkelheit als Erkenntnisziel ableiten und dieses als Untersuchungskriterium nutzen. Vor dem Hintergrund dieses Untersuchungskriteriums muss sich die geforderte Sinnzuschreibung nicht auf alle Informationen des Textes gleichermaßen erstrecken, sondern sich auf ganz bestimmte Textstellen konzentrieren. Einerseits gibt die Aufgabe also mit dem Impuls „Licht und Dunkelheit“ einen Hinweis, welches Erkenntnisziel zu verfolgen ist. Andererseits aber begnügt sie sich mit diesem andeutenden Impuls und setzt auf Lernende, die eigenständig die Zielrichtung der Aufgabe erfassen. Aus der Vagheit der Ausgangssituation ergeben sich hohe Anforderungen an den Lösungsprozess. Denn auch die notwendigen Operationen zur Aufgabenbearbeitung müssen die Aufgabenbearbeiter von sich aus erkennen und durchführen. Im Einzelnen sind von den Schülerinnen und Schülern für die Bearbeitung mindestens folgende Teilschritte gefordert. Die Aufstellung verdeutlicht noch einmal, wie viele Entscheidungen die Lernenden für die Lösung der Aufgaben selbstständig treffen müssen, also den hohen Grad des Entscheidungsspielraums auch bezogen auf den Lösungsprozess. 1. Erkennen, dass „Licht und Dunkelheit“ das Untersuchungskriterium ist; 2. Ermitteln von Textstellen, in denen Licht und / oder Dunkelheit eine Rolle spielen; 3. Gemeinsamkeiten der Situationen ermitteln, in denen Licht eine Rolle spielt; 4. Gemeinsamkeiten der Situationen ermitteln, in denen Dunkelheit eine Rolle spielt; 5. die Ergebnisse zu 3 und 4 vergleichen; 6. Schlussfolgerung für die Deutung der Rolle von Licht und Dunkelheit im Text ziehen; 7. parallel zu 3 bis 6 Vorwissen zur symbolhaften Bedeutung von Licht und Dunkelheit in literarischen Texten aktivieren und in Beziehung zum Text
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setzen; [je nachdem, an welcher Stelle im Deutungsprozess dieses Vorwissen aktiviert und genutzt wird, ist auch eine frühe Deutungshypothese möglich, die dann am Text überprüft wird, also 7 vor 3 bis 5]. Auch bezogen auf das Ergebnis der Bearbeitung zeigt die Aufgabenstellung hohen Entscheidungsspielraum. Wie schon erwähnt, muss das Erkenntnisziel von den Lernenden selbst konstruiert werden. Doch auch wenn dies gelingt, gibt es nicht nur eine einzige zweifelsfrei richtige Lösung, sondern ein gewisses Spektrum möglicher Sinnzuschreibungen, die text- und vorwissensbasiert vom Aufgabenbearbeiter jeweils auf ihre Schlüssigkeit hin zu überprüfen sind (vgl. oben, Kap. 3.2 u. 3.4.3). Der geforderte Integrationsgrad ist ebenfalls hoch, da eine Deutung des Textes auf globaler Ebene unter gleichzeitiger Einbeziehung von Vorwissen verlangt wird. Darüber hinaus ist ein fokussierender Blick des Lesers auf den Text gefordert, wie schon die Aufstellung der erforderlichen Lösungsaktivitäten verdeutlicht hat (hoher Präzisionsgrad). Diese Aufgabe ist für Schülerinnen und Schüler schwierig zu bearbeiten. Andererseits bietet sie großen Raum für eigenständiges Entdecken, der für leistungsstarke Lerner durchaus eine angemessene Herausforderung sein kann. Bei den meisten Schülerinnen und Schülern führt eine derartige Offenheit von Aufgaben bei gleichzeitiger Komplexität der Verstehensanforderungen aber zu einer eigenmächtigen Reduktion der Anforderungen, wenn die Aufgaben eigenständig bearbeitet werden (vgl. Köster 2004a).
Beispielaufgabe 7 (Item 2_7) Was sagen Mann und Frau? Was denken und empfinden sie jeweils? Vergleiche.80
So wie diese Aufgabe angelegt ist, ist sie als Generierungsaufgabe einzuordnen, die im ersten Teil Tendenzen zur Rekonstruktionsaufgabe zeigt. Die Lernenden sind vom Gesamtanspruch der Aufgabe her gefordert, globale Kohärenz zu etablieren und dabei besonders auf die Beziehung zwischen innerem und äußerem 80 Aus: Lesen Darstellen Begreifen A 9 (1993, 21).
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3 Aufgaben und Textverstehen
Geschehen (Sprechen) zu achten. Die zwischen den Textinformationen herzustellenden Bezüge sind dabei durch in der Aufgabe genannten Kategorien (Mann - Frau; Sagen - Denken/Empfinden) und die Aufforderung „Vergleiche“ angeregt. Thematisch wird die Aufmerksamkeit zum einen auf Darstellungsmerkmale gelegt (Perspektivierung), zum anderen wiederum auf die Frage, wie Mann und Frau mit dem Konflikt umgehen. Zwei Aufgabeneinschätzerinnen haben den Entscheidungsspielraum dieser Aufgabe als „eher gering“, zwei als „mittel“ eingestuft. Daraus ergibt sich auf der Skala von 1 bis 5 ein Mittelwert von 2,5. Dies deutet auf einen Entscheidungsspielraum hin der noch zu gering tendiert, wenn auch nicht so klar wie bei den Aufgaben 1 und 3. Gering ist der Entscheidungsspielraum insofern, als für den ersten Teil der Aufgabe klare Suchkriterien vorgegeben sind, die eine völlig unstrittige Lokalisierung von Textstellen ermöglichen (Tendenz zur Rekonstruktionsaufgabe). Ausgangssituation, Lösungsweg und erwünschtes Ergebnis der Aufgabenbearbeitung sind in diesem Punkt eindeutig. Es geht darum, alle Textstellen zu finden, an denen sich wörtliche Rede der Figuren findet („sagen“) und an denen Gedanken und Gefühle („denken und empfinden“) mitgeteilt werden. Die entsprechenden Textstellen sind im Text deutlich markiert durch Oberflächenmerkmale (Anführungszeichen) und durch Einschübe wie „dabei fand sie“ (16), „dachte er“ (18), „dachte sie“ (36), „Sie merkte“ (47). Wenn solche expliziten Kennzeichnungen der gesuchten Textstellen fehlen, ist dennoch klar ersichtlich, dass Textaussagen die Innensicht der Frau wiedergeben (z. B. Z. 24 f.: Sie sah ihn nicht an, weil sie nicht ertragen konnte, dass er log. Dass er log, nachdem sie neununddreißig Jahre verheiratet waren. Z. 51: Sie atmete absichtlich tief und gleichmäßig, damit er nicht merken sollte, dass sie noch wach war.) Die Tendenz zu größerer Offenheit, auf die die Globalurteile der Expertinnen hindeuten, resultiert aus dem zweiten Teil der Aufgabe. Hier ist nicht explizit gesagt, welche Kategorien verglichen werden sollen und unter welchem Aspekt der Vergleich stattfinden soll. Prinzipiell ergibt sich aus den im ersten Aufgabenteil genannten Kategorien ein 2x2-Vergleich (Sprechen im Vergleich zu Denken/Fühlen; Mann im Vergleich zur Frau). D. h. es sind sowohl Denken/ Fühlen und Sprechen jeder einzelnen Figur also auch die beiden Figuren untereinander mit Blick auf die angegebenen Aspekte zu vergleichen. Als Ergebnis
3.5 Textverstehensaufgaben
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fällt zunächst auf, dass bei der Frau ein Widerspruch zwischen Denken und Sprechen besteht: Obwohl sie die Lüge des Mannes unerträglich findet, geht sie im Gespräch bestätigend auf diese ein. Ihre Gedanken, die der Text mitteilt, spricht die Frau grundsätzlich nicht aus, sondern sagt, wenn sie an diesen Stellen spricht, immer etwas anderes, als sie denkt: 16 f.: „Ich habe auch was gehört“, antwortete sie, und dabei fand sie, dass er nachts im Hemd doch schon recht alt aussah. 22-24: „Du hättest Schuhe anziehen sollen. So barfuß auf den kalten Fliesen. Du erkältest dich noch.“ Sie sah ihn nicht an, weil sie nicht ertragen konnte, dass er log. (…) 35-39: Ich muss das Licht jetzt ausmachen, sonst muss ich nach dem Teller sehen, dachte sie. Ich darf doch nicht nach dem Teller sehen. „Komm man“, sagte sie und machte das Licht aus, „das war wohl draußen. (…)“ 47 f.: Aber sie merkte, wie unecht seine Stimme klang, wenn er log. „Es ist kalt“, sagte sie und gähnte leise, „ich krieche unter die Decke. Gute Nacht.“
Allerdings wird man, wenn man die Mehrdeutigkeit literarischer Texte berücksichtigt, an der letzten hier zitierten Stelle kaum einen Widerspruch zwischen Denken und Sprechen sehen, obwohl sich Gedanken und Worte nicht 1:1 entsprechen. Denn wenn man die Rede von der Kälte nicht nur wörtlich als Hinweis auf die messbare Temperatur im Raum verstehen will, dann korrespondieren die bewusste Wahrnehmung der Lüge und das ausgedrückte Empfinden von (zwischenmenschlicher) Kälte. Der von der Aufgabe verlangte Vergleich verdeckt möglicherweise einen derart detaillierten Blick auf die einzelnen Textstellen, sondern legt einen recht globalen Befund – Widerspruch zwischen Denken und Sprechen – nahe. Auch blendet die Aufgabe einen für die Einschätzung der Figur wesentlichen Aspekt aus, indem sie das nonverbale Handeln nicht berücksichtigt. Gerade als Gegenstück zum Denken der Frau, dass sie nicht nach dem Teller sehen darf, ist doch die Textstelle von Interesse, an denen sie die Aufmerksamkeit durch ihre Aktivitäten explizit auf den Teller und Brot lenkt (vgl. dazu ausführlicher oben, Kap. 3.4.4): Sie stellte den Teller vom Tisch und schnippte die Krümel von der Decke. (28 f.)
Vergleicht man inneres Geschehen und Sprechen beim Mann, so zeigt sich, dass der Leser über dessen Denken und Empfinden nur an einer Stelle etwas erfährt. Ein Ergebnis des von der Aufgabe zugleich angeregten Vergleichs zwischen
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3 Aufgaben und Textverstehen
Mann und Frau kann also sein, dass, wie auch Aufgabe 3 das recht lapidar vorgibt, der Text hauptsächlich aus der Sicht der Frau geschrieben ist. Das ist allerdings ein Befund, der sich auf eine rein quantitative Erhebung von Textstellen stützt. Aus dem Blick gerät bei einem solchen Vorgehen zweierlei, nämlich 1. dass der Text an entscheidenden Stellen auch nichts über Gedanken und Motive der Frau verrät und 2. dass gerade die eine Stelle, an der der Text etwas über die Gedanken des Mannes mitteilt, besonders relevant für die Deutung des Textes insgesamt ist (vgl. dazu oben 3.2). Einerseits führt die hier diskutierte Aufgabe die Lernenden also sehr eng, indem sie letztlich verlangt, dass detailliert alle Stellen mit wörtlicher Rede und Gedanken ermittelt werden. In einer Diskussion mit Kolleginnen und Kollegen der PH Heidelberg81 fiel in diesem Kontext die Bezeichnung „Lineal-und-BleistiftAufgabe“, die sehr schön eine aus der unterrichtlichen Praxis vertraute Art und Weise charakterisiert, im Literaturunterricht mit Texten umzugehen. Die Schülerinnen und Schüler bekommen bei Aufgaben dieses Typs konkret und auch handwerklich etwas am Text zu tun, indem sie eine genau bezeichnete Kategorie von Textstellen markieren sollen. Auch Aufgabe 1 aus dem Fragebogen (Item 2_1) zählt zu diesem Aufgabentyp. Man kann diese Aufgaben erfüllen, ohne dass man unbedingt ein mentales Modell des ganzen Textes gebildet haben muss. Das gilt für die hier diskutierte Aufgabe 7 zumindest für den ersten Teil, in dem es um die Erhebung des Untersuchungsmaterials geht. Andererseits wird diese enge Führung im ersten Teil der Aufgabe kombiniert mit der sehr allgemeinen Aufforderung „Vergleiche“, die keine differenzierenden Hinweise enthält, worauf beim Vergleich besonders zu achten ist. Deshalb wirkt die Vorgabe der Vergleichsaspekte im ersten Teil der Aufgabe hier als Orientierung zur Einschränkung der Offenheit. Diese Vergleichspunkte führen aber auch zur Verengung der Perspektive beim Aufgabenbearbeiter; denn sie leiten, wie in den obigen Ausführungen verdeutlicht, die Lernenden vermutlich zu dem recht oberflächlichen Befund, dass (1) die Frau etwas anderes sagt als sie denkt und (2) man über die 81 Ich danke den Heidelberger Kolleginnen und Kollegen für die Gelegenheit, in einer wichtigen Phase meiner Arbeit Ergebnisse und Methode im deutschdidaktischen Forschungskolloquium der PH Heidelberg zu diskutieren.
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Gedanken des Mannes fast nichts erfährt. Beides ist zunächst nicht falsch, trägt aber auch nichts zum vertieften Textverstehen bei. Die Aufgabe bietet also Engführung, wo sie in diesem Maß nicht nötig wäre, und bleibt instruierende Hinweise schuldig, wo sie zum Erkenntnisgewinn dienlich wären. Diese Aufgabe zeigt eine Gemeinsamkeit mit den Aufgaben 1 und 3 aus dem Fragebogen, deren Entscheidungsspielraum ebenfalls als eher gering eingeschätzt wurde. Alle drei Aufgaben verleiten die Aufgabenbearbeiter zu einer Wahrnehmung des Textes, die Mehrdeutigkeit reduziert und den differenzierten Blick auf Textmerkmale verstellt. Didaktische Reduktion komplexer Zusammenhänge ist mit Blick auf die Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler durchaus nötig. Soll didaktische Reduktion fachlich angemessen sein – im vorliegenden Diskussionszusammenhang also: dem jeweiligen literarischen Text gerecht werden – setzt sie voraus, dass Aufgabenentwickler selbst den Text differenziert wahrgenommen haben. Aufgaben, die aufgrund klarer Vorgaben orientierend und dennoch nicht übervereinfachend wirken, sind auf dieser Grundlage sehr wohl möglich.82
Beispielaufgabe 8 (Item 2_8) Verfolgt genau den Dialog der Ehepartner und erschließt „zwischen den Zeilen“ die Gedanken der beiden. Achtet dabei insbesondere auf die Erzählperspektive, auf die Funktion der Gegenstände (Teller, Fliesen, Lampe etc.), auf die Gegensätze drinnen – draußen, hell – dunkel, auf Wiederholungen.83
Gewünschtes Ergebnis der Bearbeitung dieser Aufgabe sind Schlussfolgerungen zu den nicht explizit genannten Gedanken beider Figuren. Die Aufgabe lenkt die Aufmerksamkeit also anders als Beispielaufgabe 7 nicht auf das, was im Text gesagt wird, sondern auf das, was nicht genannt ist und damit unbestimmt bleibt. Diese Unbestimmtheit ist nicht zufällig, sondern ein systematisches Merkmal, 82 Beispiel (konstruiert, I. W.): „Nur an einer Stelle erfährt der Leser etwas über die Gedanken des Mannes (Z. 18-21). Wenn du davon ausgehst, dass der Text nicht zufällig gerade diese Gedanken des Mannes mitteilt: Was für Schlussfolgerungen lassen sich daraus für die Beziehung zwischen Mann und Frau ziehen?“ 83 Aus: Lesezeichen A/B 9 (1992b, A3).
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3 Aufgaben und Textverstehen
das „Das Brot“ als literarischer Text trägt. Die systematische Unbestimmtheit aufzulösen, indem etwa Gedanken und Gefühle der handelnden Figuren in den Text hineingelesen werden, ist ein spezifisches Merkmal literarischen Verstehens (vgl. oben, Kap. 3.2). Die Aufgabe geht davon aus, dass sowohl Gedanken des Mannes als auch Gedanken der Frau im Text implizit bleiben. Untersuchungsgegenstand ist der „Dialog der Ehepartner“, also abgesehen von der Anfangspassage der gesamte Text; d. h. dass die Ausgangssituation der Aufgabenbearbeitung hinsichtlich der relevanten Textstellen nicht sehr eindeutig ist. Als Hilfestellung, um die angesprochenen Leerstellen des Textes zu schließen, lenkt die Aufgabe deshalb die Aufmerksamkeit der Schülerinnen und Schüler zusätzlich auf wesentliche Darstellungsmerkmale des Textes. Auch dabei ist die Aufgabe aber nicht selektiv, sondern nennt mit der Lichtregie, Raumgestaltung, Erzählperspektive und Wiederholungen sehr umfassend relevante Untersuchungskriterien. Das erwartete Ergebnis der Aufgabenbearbeitung sind also komplexe Elaborationen, die zahlreiche Textstellen zueinander in Beziehung setzen. Zusätzlich müssen die Lernenden für die Bearbeitung der Aufgabe Vorwissen aktivieren, u. a. spezielles Vorwissen zum historischen Kontext der Handlung und eher allgemeines Wissen über Situationen des Ertappens und Ertapptwerdens sowie den Umgang langjähriger Ehepartner miteinander. Der Integrationsgrad, den die Aufgabe fordert, ist entsprechend als hoch einzuschätzen. Den Entscheidungsspielraum der Aufgabe haben die Raterinnen durchschnittlich als eher gering eingestuft (vgl. unten, Tab. 5.1; allerdings geht das Spektrum der Einschätzungen von 1 bis 3, streut also relativ breit84, was darauf hindeutet, dass die Aufgabe nicht so eindeutig einzuordnen ist). Einen hohen Grad an Lenkung erfahren die Schülerinnen und Schüler innerhalb dieser Aufgabe vor allem, was die Bewältigung des Lösungsprozesses betrifft, indem sie detailliert auf relevante Untersuchungskriterien aufmerksam gemacht werden. Eine eindeutig richtige Lösung der Aufgabe ist allerdings dennoch nicht möglich – ein gewisses Lösungsspektrum ist aufgrund der Unbestimmtheit des Textes zu akzeptieren. Mit welchen Gedanken z. B. gibt die Frau dem Mann eine Scheibe 84 Einmal „gering“=1, zweimal „eher gering“=2, einmal „mittel“=3.
3.5 Textverstehensaufgaben
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Brot ab? Mit schlechtem Gewissen, weil er ihr zuliebe bislang immer auf mehr verzichtet hat? In der Absicht, ihn zu erniedrigen, indem sie ihm zeigt, dass sie ihn durchschaut hat? Aus Mitleid und Nächstenliebe? Alle diese Elaborationen sind vom Text her zumindest nicht völlig ausgeschlossen. Die Aufgabe ist also mit einem hohen Anspruch an die Lernenden verknüpft, gerade indem sie ihnen enge, aber doch auch umfassende Vorgaben macht. Vom Charakter her handelt es sich um eine sehr ‚gymnasiale‘ Aufgabe in der Tradition eines Unterrichts, der Wert auf umfassende Interpretationen, textnahes Lesen und damit auch auf einen hohen Präzisionsgrad legt.85 Für die Schülerinnen und Schüler ist die Aufgabe vermutlich nicht attraktiv, nicht nur wegen der geforderten hohen Verstehensanstrengungen, sondern auch weil die Aufgabe keine Deutungshypothese und damit kein klar profiliertes Problem stellt, von dem aus man sich top down dem Text nähern könnte. Die angeregte Verarbeitungsrichtung geht stark bottom up von Textdetails aus, deren Bündelung zu übergeordneten Schlussfolgerungen die Gedanken der Figuren betreffend durchschnittliche Lernende eines 9. Jahrgangs wohl überfordert. Innerhalb der oben erläuterten Aufgabentypologie handelt es sich um eine Generierungsaufgabe – ein elaboriertes mentales Modell als Ergebnis des Textverstehens ist nicht vorgegeben, sondern durch die Hinweise der Aufgabenstellung nur gerahmt. Zu füllen ist dieser Rahmen von den Lernenden selbst.
Zwischenbilanz Die Aufgabenanalysen zeigen, dass für die Einschätzung des Anforderungsprofils von Lernaufgaben die in Kap. 3.5.1 aufgeführten Aufgabenmerkmale in ihrem Zusammenspiel zu berücksichtigen sind. Aus dem Profil der Aufgabenstellung als Rekonstruktions-, Generierungs- oder Bewertungsaufgabe
85 Erwähnt sei in diesem Kontext, dass der erste Druck des Buches „Lesezeichen A/B“, aus dem die Aufgabe entnommen ist, von 1984 datiert, also zeitlich noch vor der hohen Zeit der Schülerorientierung im Literaturunterricht liegt. Die ausgeprägte Textorientierung dieser Aufgabe kann also auch als Hinweis auf das Konzept eines stark literaturwissenschaftlich ausgerichteten Literaturunterricht gesehen werden (zu den Konzepten des Literaturunterrichts aus historischer Perspektive vgl. Spinner 1999).
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3 Aufgaben und Textverstehen
(DEMAND II) allein lassen sich keine Rückschlüsse auf die Aufgabenschwierigkeit ziehen. Das Merkmal des Entscheidungsspielraums – bestimmt durch den Grad der Determiniertheit von Ausgangszustand, Prozess, erwünschtem Endergebnis der Aufgabenbearbeitung – bietet als zusätzliches Analysekriterium wichtiges Erkenntnispotenzial bei der Aufgabeneinschätzung. Denn über den Entscheidungsspielraum als Möglichkeit zu SUPPORT können hohe Anforderungen in den drei Bereichen der Verstehensanforderungen (DEMAND) so reguliert werden, dass sie für Lernende erreichbar sind. Die Aufgabenanalysen haben auch gezeigt, dass für das Stellen von Aufgaben, die ein vertieftes Textverstehen fördern, eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Text seitens der Aufgabenkonstrukteure nötig ist. Zum Teil verstellen die in den Lehrwerken vorgefundenen Aufgaben eher den Blick auf den Text als dass sie diesen öffnen bzw. schärfen. Insbesondere sind Aufgaben problematisch, die suggerieren, Textstellen müssten nicht in Beziehung zu anderen Textstellen gesetzt werden. Dieses Problem betrifft vor allem Rekonstruktionsaufgaben, die zumindest bei geringem Entscheidungsspielraum auch die Mehrdeutigkeit literarischer Texte reduzieren. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass in den vorangegangenen Aufgabenanalysen nur Einzelaufgaben untersucht wurden. Innerhalb von Aufgabensets ist es durchaus möglich, dass ein zunächst geforderter ‚Tunnelblick‘ in anschließenden Lernschritten (Folgeaufgaben) wieder gezielt erweitert wird, dass eng führende Rekonstruktionsaufgaben hier also vor allem ‚Zulieferer-Funktion‘ erfüllen. Es bleibt zu klären, welche Aufgabenmerkmale aus Sicht der befragten Lehrkräfte für Zustimmung oder Ablehnung gegenüber den Beispielaufgaben ausschlaggebend waren. Diese Frage greift das 5. Kapitel wieder auf. Das folgende 4. Kapitel stellt zunächst dar, wo Aufgabenpräferenzen innerhalb eines Konzepts professioneller Kompetenz von Lehrkräften theoretisch anzusiedeln sind und fasst den Forschungsstand zu professionsbezogenen Einstellungen von Deutschlehrkräften zusammen.
4 Lehrkräfte als zentrale Einflussgröße des Aufgabeneinsatzes
Die Forschungsperspektive dieser Arbeit bezogen auf die befragten Lehrkräfte ist schwerpunktmäßig dem Expertenansatz in der Lehrerforschung zuzuordnen (zu den Paradigmen der Lehrerforschung vgl. Bromme/Rheinberg 2006, 299307; Brunner et al. 2006a, 55 f.). Aus dieser Perspektive wird gefragt, welche Kompetenzen Lehrkräfte brauchen, um berufliche Anforderungen zu bewältigen; denn es wird davon ausgegangen (…), dass es der ausdrücklichen Steuerung durch die Lehrkraft bedarf, um adaptive und zieladäquate Lernsituationen zu schaffen und – auch unter sich verändernden Anforderungen – aufrecht zu erhalten (Brunner et al. 2006a, 56).
Zum Schaffen „adaptive[r] und zieladäquate[r] Lernsituationen“ zählt nicht zuletzt das Stellen lernförderlicher Aufgaben – Aufgaben zu stellen erfordert also professionelle Kompetenz von Lehrerinnen und Lehrern. Um entsprechende Kompetenzen auszubilden, ist es erforderlich, an bestehende Voraussetzungen (z. B. Einstellungen, professionelles Wissen) seitens der Lehrkräfte anzuknüpfen. Damit diese Anknüpfung erst möglich wird, ist eine Erforschung der lehrerseitigen Voraussetzungen grundlegend. In diesem Kontext ist es Anliegen der vorliegenden Arbeit, Erkenntnisse über aufgabenbezogene Einstellungen bzw. Überzeugungen („Aufgabenpräferenzen“) von Deutschlehrkräften zu gewinnen. Im vorliegenden Teil der Arbeit wird zunächst im Überblick geklärt, was unter professioneller Kompetenz von Lehrkräften zu verstehen ist, indem verschiedene Modelle bzw. Konzepte dazu vorgestellt werden (Kap. 4.1). Auf dieser Grundlage werden mit den Bereichen Professionswissen und Überzeugungen lehrerseitige Einflussfaktoren, die beim Stellen von Lernaufgaben von besonderer Bedeutung sind, genauer in den Blick genommen und der deutschdidaktische I. Winkler, Aufgabenpräferenzen für den Literaturunterricht, DOI 10.1007/978-3-531-92698-8_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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4 Lehrkräfte als zentrale Einflussgröße des Aufgabeneinsatzes
Forschungsstand zu aufgabenbezogenem Wissen und aufgabenbezogenen Überzeugungen von Lehrerinnen und Lehrern im Literaturunterricht zusammengefasst. Das Kapitel dient zugleich dazu, die Aufgabenpräferenzen, die im Rahmen der empirischen Studie (Kap. 5) untersucht werden, theoretisch zu verorten.
4.1 Überblick: Aufgabenstellen und professionelle Kompetenz von Lehrkräften Lehrkräfte entscheiden darüber, was für Lernaufgaben im Unterricht eingesetzt werden. Sie übernehmen Aufgaben aus Lehrwerken und Unterrichtsmaterialien, sie modifizieren diese oder aber verwerfen sie und konstruieren selbst Lernaufgaben. Die Lehrpersonen sind also der zentrale Einflussfaktor beim Stellen von Lernaufgaben im Unterricht (zur Rolle der Lehrperson beim Aufgabenstellen im Literaturunterricht vgl. Winkler 2005). Mit diesen Einflussmöglichkeiten ist zugleich die hohe Anforderung an die Lehrkräfte verbunden, solche Aufgaben auszuwählen oder zu konstruieren, die im konkreten Unterrichtszusammenhang mit Blick auf die jeweiligen Schülerinnen und Schüler passend und lernförderlich sind. Bromme et al. (1990, 3) charakterisieren Lernaufgaben in diesem Zusammenhang als „‚Schnittstelle’ der Tätigkeiten von Lehrern und Schülern“ und heben damit hervor, dass Lernaufgaben nicht nur die Lernenden fordern, die durch die Bearbeitung der Aufgaben in einem aktiven Konstruktionsprozess fachspezifische Inhalte und Verfahrensweisen erwerben sollen. Für Lehrende ist mit Lernaufgaben die Herausforderung verknüpft, solche Aufgaben zu stellen, die erfolgreiche Lernprozesse anregen (zum Desiderat der „Passung“ von Lernaufgaben vgl. auch Eikenbusch 2001, 215 f.). Die Auswahl bzw. Konstruktion lernförderlicher Aufgaben sowie ihr Einsatz im Unterricht hängt also zusammen mit der professionellen Kompetenz von Lehrkräften. Wie aber ist die professionelle Kompetenz von Lehrerinnen und Lehrern theoretisch zu modellieren? Es werden im Folgenden zwei Modelle hierzu vorgestellt und diskutiert: Das erste geht von personenbezogenen Merkmalen aus, die bei professionellem Handeln interagieren (4.1.1), das zweite unterscheidet Kompetenzbereiche ausgehend von den Handlungsfeldern des Lehrerberufs (4.1.2).
4.1 Überblick: Aufgabenstellen und professionelle Kompetenz von Lehrkräften
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4.1.1 Professionelle Handlungskompetenz als personenbezogenes Merkmal von Lehrkräften Baumert/Kunter (2006) legen unter Rückgriff auf die englischsprachige Diskussion um Lehrerwissen und Lehrerkompetenzen den „Entwurf eines heuristischen Modells professioneller Handlungskompetenz“ vor (a. a. O., 479-481). In Anlehnung an diesen Vorschlag geht die vorliegende Arbeit von einem Modell aus, dem zufolge professionelle Handlungskompetenz entsteht aus dem Zusammenspiel von − spezifischem, erfahrungsgesättigten deklarativen und prozeduralen Wissen (Kompetenzen im engeren Sinne: Wissen und Können); − professionellen Werten, Überzeugungen, subjektiven Theorien, normativen Präferenzen und Zielen; − motivationalen Orientierungen sowie − metakognitiven Fähigkeiten und Fähigkeiten professioneller Selbstregulation. (Baumert/Kunter 2006, 481)
Dieses Strukturmodell professioneller Handlungskompetenz spiegelt sich auch wider im COACTIV-Modell der professionellen Kompetenz von (Mathematik-) Lehrkräften. Unter professioneller Kompetenz von Lehrkräften wird in der COACTIV-Studie verstanden das dynamische Zusammenwirken von Aspekten des Professionswissens, Überzeugungen, motivationalen Orientierungen und selbstregulativen Fähigkeiten. Diese verschiedenen Kompetenzbereiche interagieren miteinander und bilden so die Grundlage für professionelles Lehrerhandeln, welches sich durch ein reichhaltiges Repertoire an Handlungsmöglichkeiten, das funktionales Verhalten in verschiedenen Situationen ermöglicht, auszeichnet. (Brunner et al. 2006a, 58)
Bei Auswahl und Einsatz von Lernaufgaben wirken vor allem zwei der im COACTIV-Modell genannten Kompetenzbereiche zusammen, nämlich das Professionswissen einerseits und fachspezifische Überzeugungen von Lehrkräften andererseits. Baumert/Kunter (2006, 496) unterstreichen, dass Wissen und Können (knowledge) auf der einen Seite und Werthaltungen (value comittments) und Überzeugungen (beliefs) auf der anderen Seite trotz fließender Übergänge als Aspekte professioneller Kompetenz kategorial auseinanderzuhalten sind. Diese
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4 Lehrkräfte als zentrale Einflussgröße des Aufgabeneinsatzes
kategoriale Unterscheidung wird mit den unterschiedlichen Rechtfertigungsansprüchen von Wissen und Überzeugungen begründet. Überzeugungen haben im Unterschied zu Wissen weder den Kriterien der Widerspruchsfreiheit noch den Anforderungen der argumentativen Rechtfertigung und der diskursiven Validierung zu genügen. Es genügt der individuelle Richtigkeitsglaube. (Baumert/Kunter 2006, 497)
Das von Baumert/Kunter (2006) vorgeschlagene und im Rahmen von COACTIV adaptierte Strukturmodell der professionellen Kompetenz von Lehrkräften eignet sich sehr gut als heuristisches Instrument. Es wird in den Kapiteln 4.2 und 4.3 genutzt, um die Überlegungen zu ordnen, welche Faktoren beim Stellen von Lernaufgaben im Literaturunterricht zusammenwirken, und um zu klären, wo die im Rahmen der empirischen Untersuchung erhobenen Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften theoretisch zu verorten sind. Jedes Modell rückt bestimmte Aspekte und Zusammenhänge ins Zentrum der Aufmerksamkeit um den Preis, dass andere – prinzipiell ebenfalls relevante – Gesichtspunkte in den Hintergrund treten. So wird im vorgestellten Strukturmodell der professionellen Handlungskompetenz ein wenig der Blick verstellt auf die viel diskutierte Frage, in welchem Verhältnis bewusstes Professionswissen und professionelles Handeln (Können) stehen. Diese Frage ist nicht nur im Kontext des professionellen Lehrerhandelns allgemein von Bedeutung, sondern auch auf bezogen auf das Stellen von Lernaufgaben im Besonderen. Um also dem Blick auf die Bedingungen von ‚Lehrerkönnen‘ noch etwas mehr Tiefenschärfe zu verleihen, werden hier ergänzend zum Strukturmodell professioneller Handlungskompetenz im Überblick ausgewählte Begriffe und Konzepte vorgestellt, die auf das Verhältnis von Wissen und Können von Lehrkräften eingehen. In den letzten Jahren hat vor allem Neuweg diese Diskussion mit der Profilierung des Begriffes des impliziten Wissens bzw. – unter Rückriff auf Polanyi – tacit knowing voran gebracht (Neuweg 2005a, 2005b). Neuweg wendet sich gegen die streng kognitivistische Position, wonach gelingendes Handeln ursächlich auf eine Wissensbasis und bewusste Steuerung zurückzuführen ist. Neuweg führt dagegen aus, dass gelingendes Handeln von Experten immer in großem
4.1 Überblick: Aufgabenstellen und professionelle Kompetenz von Lehrkräften
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Maß auf situativ bedingter Erfahrung und Intuition beruht, die prozessbegleitend wirksam werden und nicht oder nur bedingt verbalisierbar sind. Der von Neuweg vertretene tacit knowledge view stellt keineswegs die Bedeutung von explizitem Wissen infrage. Jedoch wird dieses nicht mehr betrachtet als „ein mehr oder weniger geheimnisvolles und nur dem Kognitionspsychologen im Vollumfang zugängliches Wissen und Denken ‚hinter’ oder ‚über’ dem Können“ (Neuweg 2005a, 560). Es ist vielmehr wichtig als Reflexionswissen „vor und nach dem Können“ (ebd.), also bei der Planung und Evaluation von Handeln. Tenorth plädiert im Kontext dieser Diskussion um die Grundlagen gelingender Praxis im Lehrerberuf dafür, nicht mehr von Wissen, auch nicht vom „impliziten Wissen“, sondern von „professionellen Schemata“ zu sprechen und die Organisation der Praxis, d. h. die Bewältigung und das Gelingen des professionellen Alltags als das Lernen, Konstruieren und Prozedieren von Schemata zu sehen. Damit sind neben Wissens- und Erfahrungsbeständen oder normativen Orientierungen auch operative Routinen eingeschlossen, damit ist auch die – erwünschte – Assoziation einbegriffen, dass manches wirklich „schematisch“ geht, vor allem aber ist gesagt, dass es Koordinations- und Entscheidungsprobleme gibt, die nicht vom Wissen und Erkennen (gar vom Forschen und seiner Logik, wie beim Wissenschaftler) bestimmt sind, sondern vom Handeln und seinen Zwängen. Diese Probleme werden dann gelöst im Lichte von Erfahrung und mithilfe von Schemata, die sich bewährt haben (…). (Tenorth 2006, 589/590)
Tenorth unterstreicht also, dass Reflexivität unter dem alltäglichen Handlungsdruck eine eher geringe Rolle spielt, ohne dass er deren Relevanz generell in Frage stellt. Professionelle Schemata, auch das klingt im Zitat Tenorths an, stehen in Beziehung zu individuellen Routinen, aber auch zu überindividuellen Unterrichtsskripts, d. h. zu Handlungsmustern, die sich im betreffenden Unterrichtsfach herausgebildet, bewährt und überliefert haben.1 Das Skript-Konzept (vgl. 1
Der Schema-Begriff wurde von Rumelhart (1980) eingeführt, um mentale Repräsentationsformen von Wissen zu bezeichnen. Rumelhart selbst weist bereits darauf hin, dass Schemata u. a. feste Handlungsabläufe (scripts) repräsentieren: „The internal structure of a schema corresponds, in many ways, to the script of a play. Just as a play has characters that can be played by different actors at different times without changing the essential nature of the play, so a schema has variables that can be associated with (bound to) different aspects of the environment on different instantiations of the schema.” (Rumelhart 1980, 35; Hervorhebung ebd.)
162
4 Lehrkräfte als zentrale Einflussgröße des Aufgabeneinsatzes
Blömeke et al. 2003; Bromme/Rheinberg 2006, 306 f.) beruht auf der Beobachtung, dass das unterrichtliche Handeln von Lehrerinnen und Lehrern innerhalb eines bestimmten Faches eine bemerkenswerte Gleichförmigkeit zeigt. Man nimmt deshalb an, dass dem Handeln von Lehrerinnen und Lehrern möglicherweise mental gespeicherte Handlungsabläufe zugrunde liegen, die sich in wiederholten, strukturell ähnlich verlaufenden Unterrichtsschritten niederschlagen. Diese Skripts (...) werden in eigener jahrelanger Schulerfahrung erworben, nicht wesentlich gebrochen durch die universitäre Lehrerausbildung und wieder verstärkt beim Eintritt in die berufliche Praxis. (Blömeke et al. 2003, 106f.)
In Teilen der Deutschdidaktik wird auch mit dem Terminus des practical professional knowledge (ppk) operiert (vgl. z. B. Gölitzer 2009 in Anknüpfung an Herrlitz 1998), der – aus einem anderen Forschungskontext stammend – Überschneidungen mit professionellen Überzeugungen (beliefs), implizitem Wissen im Sinne Neuwegs sowie mit dem Skript-Konzept zeigt (vgl. Herrlitz 1998, 175 f.). Der Begriff des ppk bezeichnet teachers’ (…) savoir faire or “know how”: neither what they think not what they do, but what they think as they are doing what they do. Knowledge than [sic] is a shorthand term for the beliefs, values, expectations, mental models, and formulas for doing things which the teachers use in interpreting and generating classroom events. (Anderson-Levitt 1987, zitiert nach Herrlitz 1998, 175; Hervorhebungen ebd.)
Die referierten Ansätze, die allesamt betonen, dass Lehrerinnen und Lehrer in nicht unerheblichem Maß automatisch bzw. intuitiv handeln, sind auf jeden Fall zu berücksichtigen, wenn es darum geht, den Einsatz (also Stellen, Bearbeiten und Auswerten) von Aufgaben in konkreten Unterrichtssituationen zu erforschen. Schon die Unterscheidung von task as plan und task in process (vgl. oben, Kap. 2.1) weist etwa darauf hin, dass es im Bereich des Aufgabeneinsatzes Brüche zwischen reflexivem Planungswissen und operativem Handlungswissen (tacit knowing, professionellen Schemata, scripts, practical professional knowledge) geben kann. Zudem ist bereits das Planen von Unterricht als Handlung zu verstehen, Unterrichtsplanung ist eine Anforderungssituation, die Lehrkräfte täglich bewältigen müssen. Auch beim Planen von Unterricht können also tacit knowing,
4.1 Überblick: Aufgabenstellen und professionelle Kompetenz von Lehrkräften
163
Schemata etc. greifen: Unter dem alltäglichen Handlungsdruck reflektieren Lehrkräfte bei der Vorbereitung nicht stets darüber, was für Aufgaben sie warum für ihren Unterricht auswählen. Sie treffen ihre Auswahl mehr oder weniger intuitiv aus einem Spektrum von Möglichkeiten, die etwa das Lehrbuch oder andere Unterrichtsmaterialien anbieten. Lernaufgaben, die die Lehrperson selbst konstruiert, werden bei der Unterrichtsvorbereitung möglicherweise gar nicht ausformuliert, sondern allenfalls als inhaltlicher Stichpunkt im Stundenkonzept fixiert. D. h. auch bei solchen Planungsentscheidungen wird explizites (Reflexions-)Wissen nicht zwingend wirksam. Gerade wenn es wie in dieser Arbeit darum geht, Aufgabenpräferenzen zu erheben, sind also Forschungskonzepte mit zu berücksichtigen, die intuitives Handeln von Lehrkräften zu fassen versuchen.
4.1.2 Handlungsfelder des Lehrerberufs als Kompetenzbereiche: „Standards für die Lehrerbildung“ Eine anderes momentan aktuelles Modell von Lehrerkompetenz spiegelt sich in den Kompetenzen wider, wie sie die KMK in den „Standards für die Lehrerbildung“ formuliert hat (KMK 2004). Laut Helmke (2009) zählen „diese Standards des beruflichen Könnens zum Fundiertesten, was in deutscher Sprache zur Professionalität des Lehrerberufs publiziert worden ist“ (Helmke 2009, 158). Das in Kap. 4.1.1 vorgestellte Strukturmodell professioneller Handlungskompetenz (Baumert/Kunter 2006, Brunner et al. 2006a) rückt personenbezogene Merkmale in den Blick, die bei kompetentem Lehrerhandeln als Faktoren zusammenwirken. Der lehrerbezogene Kompetenzbegriff dagegen, der in den „Standards für die Lehrerbildung“ vertreten wird, hebt vor allem die Handlungsfelder bzw. Anforderungsbereiche hervor, denen sich Lehrkräfte im Beruf stellen müssen. Es werden also „Kompetenzen auf der Grundlage der Anforderungen beruflichen Handelns im Lehramt beschrieben“ (KMK 2004, 7). So führen die „Standards für die Lehrerbildung“ als „Kompetenzbereiche“ von Lehrenden vier Anforderungsbereiche des Lehrerhandelns an: Unterrichten, Erziehen, Beurteilen und Innovieren. Von diesen Bereichen sind v. a. zwei berührt, wenn es darum geht, lernförderliche Aufgaben zu stellen, nämlich das Unterrichten und das Beurteilen.
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4 Lehrkräfte als zentrale Einflussgröße des Aufgabeneinsatzes
Personenbezogene Dispositionen für kompetentes Handeln (Baumert/Kunter 2006, Brunner et al. 2006a) einerseits und die Felder, in denen kompetentes Handeln verlangt ist (KMK), andererseits sind grundlegend zu unterscheiden. Lehrerkompetenz als auszubildendes Persönlichkeitsmerkmal zeigt sich in der Unterrichtsgestaltung, zu der im weiten Sinn neben dem In-Gang-Setzen und Aufrechterhalten von Unterrichtsabläufen („Unterrichten“) eben auch Beurteilungs- und Erziehungsprozesse („Beurteilen“, „Erziehen“) zählen; sie ist aber nicht mit Unterrichtsgestaltung gleichzusetzen.2 Ich werde im Folgenden nur dann von (professionsbezogenen) Kompetenzbereichen sprechen, wenn es gilt, personenbezogene Dispositionen des Lehrerhandelns zu bezeichnen. Die Handlungsfelder oder Anforderungsbereiche des Lehrerberufs sind dennoch relevant, wenn es darum geht, das Stellen lernförderlicher Lernaufgaben als Anforderung an Lehrkräfte theoretisch zu verorten. Das Anforderungsfeld Unterrichten gilt in der Regel als ‚Kerngeschäft‘ von Lehrkräften (vgl. Tenorth 2006, 585). Die Kompetenz, dieses sog. Kerngeschäft professionell zu bewältigen, lässt sich laut „Standards für die Lehrerbildung“ (KMK 2004, 7) in folgender Anforderung konkretisieren: Lehrerinnen und Lehrer planen Unterricht fach- und sachgerecht und führen ihn sachlich und fachlich korrekt durch.3
In dieser Formulierung wird bereits eine wichtige Differenzierung von Teilanforderungen des Unterrichtens deutlich: Das Planen von Unterricht ist von dessen Durchführung zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist gerade auch bezogen auf die Auswahl und den Einsatz von Lernaufgaben von besonderer Relevanz und wurde im Kontext der vorliegenden Arbeit bereits mit den Begriffen task as plan und task in process auf den Punkt gebracht (vgl. oben Kap. 2.1). 2
3
Vgl. den viel zitierten Kompetenzbegriff von Weinert (2001, 27 f.), der Kompetenzen bezeichnet als „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten[,] um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können“ (Hervorhebg. I. W.). Vgl. auch Klieme et al. (2003, 22), die Kompetenzen verstehen als „Leistungsdispositionen in bestimmten Fächern oder ‚Domänen’“ (Hervorhebg. I. W.). Die zitierte Formulierung ist anders, als es die „Standards für die Lehrerbildung“ tun, entsprechend eher als Standard denn als Kompetenz einzuordnen. Zur Unterscheidung von Standards und Kompetenzen vgl. Klieme et al. (2003, 21); Ossner (2006, 5-7).
4.1 Überblick: Aufgabenstellen und professionelle Kompetenz von Lehrkräften
165
Das Stellen lernförderlicher Aufgaben berührt auch den Anforderungsbereich des Beurteilens. Lehrerinnen und Lehrer, die über Kompetenz zum Beurteilen verfügen, diagnostizieren Lernvoraussetzungen und Lernprozesse von Schülerinnen und Schülern; sie fördern Schülerinnen und Schüler gezielt und beraten Lernende und deren Eltern (KMK 2004, 11).
Dazu gehört auch, Lernaufgaben zu stellen, durch deren Bearbeitung Lernprozesse und der erreichte Lernstand der Schülerinnen und Schüler für Lehrende beobachtbar werden (vgl. zu entsprechenden Bemühungen für den Deutschunterricht z. B. Praxis Deutsch 2005, H. 194). Viel zu oft beschränkt sich das Beurteilen auf die Leistungssituation, und diagnostische Potentiale, die die Lernsituation bietet, bleiben ungenutzt (vgl. Baumert/Kunter 2006, 489; vgl. auch oben, Kap. 2.1). Wie oben bereits erwähnt, bietet insbesondere das Modell professioneller Handlungskompetenz (Baumert/Kunter 2006; Brunner et al. 2006a) eine nützliche strukturelle Hilfe bei der Klärung der Frage, welche Faktoren Auswahl und Einsatz von Lernaufgaben im Unterricht beeinflussen. Es ist zusammenfassend festzuhalten, dass professionelle Kompetenz von Lehrkräften im Rahmen dieses Modells auf das Zusammenwirken von vier Bereichen zurückgeführt wird: Professionswissen, Überzeugungen, Motivationen, Selbstregulation. Wichtig ist hervorzuheben, dass das Modell den Kompetenzbegriff fachspezifisch und nicht fächerübergreifend fasst; denn bei der Gestaltung erfolgreicher LehrLernprozesse spielen vor allem fachspezifische Kompetenzen eine Rolle (Brunner et al. 2006b, 522). Auch die Auswahl und der Einsatz von Lernaufgaben sind im Zusammenhang mit fachspezifischen, also auf das jeweilige Unterrichtsfach bezogenen Kompetenzbereichen zu sehen. Vor allem zwei der genannten Kompetenzbereiche sind dabei von Bedeutung, nämlich das Professionswissen einerseits und fachspezifische Überzeugungen von Lehrkräften andererseits. Die folgende Darstellung beschränkt sich im Kontext der vorliegenden Untersuchung auf diese beiden Bereiche als Einflussfaktoren des Aufgabeneinsatzes im Unterricht. Sie werden im Folgenden jeweils zunächst auf einer allgemeinen
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4 Lehrkräfte als zentrale Einflussgröße des Aufgabeneinsatzes
Ebene erläutert und dann, soweit vorhanden, mit deutschdidaktischen Forschungsergebnissen illustriert.
4.2 Aufgabenstellen und Professionswissen Zum Professionswissen von Lehrkräften werden zunächst drei zentrale Aspekte gezählt, nämlich Fachwissen, fachdidaktisches Wissen und (fächerübergreifendes) pädagogisches Wissen (Brunner et al. 2006a, 59; Brunner et al. 2006b, 523;). Mit dieser Unterscheidung wird zurückgegriffen auf Arbeiten von Shulman (1986, 1987) und deren Weiterentwicklung durch Bromme (1992, 1997; vgl. auch Bromme/Rheinberg 2006). Die drei angeführten Bereiche werden im COACTIV-Modell um zwei weitere Kategorien ergänzt: spezifisches Organisations- und Interaktionswissen sowie Beratungswissen, das zur Kommunikation mit Laien erforderlich ist. Diese beiden Bereiche spielen aber weder in der COACTIV-Studie noch in der vorliegenden Untersuchung eine Rolle. Bezogen auf den Umgang mit Lernaufgaben ist innerhalb des Professionswissens vor allem das fachdidaktische Wissen zentral. Bereits Shulman (1987) hebt die besondere Bedeutung des fachdidaktischen Wissens (pedagogical content knowledge) als Grundlage des Lehrerhandelns hervor. Im fachdidaktischen Wissen gehen Fachwissen (content knowledge) und das Wissen über fachspezifische Lernvoraussetzungen, Lern- und Instruktionsprozesse eine Verbindung ein („amalgam of content and pedagogy“, „blending of content and pedagogy“; Shulman 1987, 8). Im COACTIV-Modell zählen zum fachdidaktischen Wissen drei Kategorien, die als Eckpunkte eines fachdidaktischen Dreiecks dargestellt werden (Abb. 4.1). Die drei Kategorien resultieren aus der Vorüberlegung, dass im Unterricht Inhalte mit Schülern ‚verhandelt‘ werden. Als zentrale Komponenten fachdidaktischen Wissens werden deshalb unterschieden (Brunner et al. 2006a, 59 f.; Brunner et al. 2006b, 525):
167
4.2 Aufgabenstellen und Professionswissen
Abb. 4.1:
Eckpunkte des fachdidaktischen Wissens in Form eines fachdidaktischen Dreiecks (Brunner et al. 2006a, 60)
Inhalte/ Aufgaben
Schülerkognitionen
Fachdidaktisches Wissen
Verhandlung/ Instruktion
Wissen über Schülerkognitionen (Schüleraspekt, z. B. das Wissen über typische Schülerschwierigkeiten); Wissen über fachspezifische Instruktionsstrategien (Verhandlungsaspekt, z. B. Wissen über adäquate Erklärungen); Wissen über die lernprozessadäquate Präsentation von Inhalten (Inhaltsaspekt). Lernaufgaben werden innerhalb dieses Modells zur Inhaltskategorie gezählt. Dies erklärt sich daraus, dass Lernaufgaben wesentlich die Auseinandersetzung der Lernenden mit den Inhalten beeinflussen und gezielte inhaltsbezogene Lernprozesse erst auslösen (vgl. Lechner 2007). Inhaltsbezogenes fachdidaktisches Wissen der Lehrkräfte umfasst: Wissen über das didaktische und diagnostische Potenzial von Aufgaben, Wissen über die kognitiven Anforderungen und impliziten Wissensvoraussetzungen von Aufgaben, ihre didaktische Sequenzierung und die langfristige curriculare Anordnung von Stoffen (Baumert/Kunter 2006, 495).
Die Zuordnung der Aufgaben zur Inhaltsseite des fachdidaktischen Dreiecks wird auch dadurch nachvollziehbar, dass sich die im Zitat genannten „kognitiven Anforderungen und impliziten Wissensvoraussetzungen von Aufgaben“ nie allein aus der Aufgabe selbst ergeben, sondern immer auch abhängen von der
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4 Lehrkräfte als zentrale Einflussgröße des Aufgabeneinsatzes
Schwierigkeit des Unterrichtsgegenstandes, im Literaturunterricht also der Textschwierigkeit. Ob kognitive Anforderungen einer Aufgabe im Einzelfall hoch sind, hängt im Übrigen nicht zuletzt auch von den spezifischen Lernervoraussetzungen (Schüleraspekt) ab (vgl. das Tetraeder-Modell zu den Einflussfaktoren des Textverstehens, Artelt 2004 und Artelt et al. 2005, 12; s. o., Abb. 3.1; dazu ausführlich Kap. 3.1). Wie bereits erläutert (Kap. 4.1.1), wird fachdidaktisches Wissen in der Handlungssituation nicht zwingend bewusst angewendet – folgt man Neuwegs Argumentationslinie, ist es eher Wissen, das vor und nach der Handlung auf der Ebene der Reflexion wirksam wird (Neuweg 2005a). Die hier als fachdidaktisches Wissen bezeichneten Wissensbestände sind allerdings potentiell bewusstseinsfähig und auch verbalisierbar. Sie erfüllen die Funktionen von Theorien (vgl. Thiel 1996; vgl. auch Scheele/Groeben 1988); d. h. sie können als Erklärung für Ablauf und Ergebnisse von Lernprozessen herangezogen werden (z. B.: Warum hatten die Schüler/innen Schwierigkeiten mit einer bestimmten Aufgabe?) und erlauben Prognosen über Ablauf und Ergebnisse von Lernprozessen (z. B.: Welche Teilschritte müssen Lernende bei der Bearbeitung einer Aufgabe bewältigen? Wie viele verschiedene Lösungen sind für eine bestimmte Aufgaben zu erwarten?). Schließlich stellt fachdidaktisches Wissen Handlungsoptionen für das Erreichen bestimmter Ziele bereit, erfüllt also eine instrumentelle Funktion (z. B.: Welche Aufgaben kann man einsetzen, wenn man Leseprozesse der Lernenden beobachten will?).4 4
Shulman (1987, 15) stellt “A Model of Pedagogical Reasoning and Action” vor. In diesem Modell geht er von der Perspektive einer Lehrkraft aus, die vor der Herausforderung steht, das, was sie selbst bereits verstanden hat, für die Schüler/innen lernbar zu machen. Pädagogisches Denken und Handeln durchläuft Shulman zufolge einen Kreis aus verschiedenen Teilprozessen. Shulman unterscheidet folgende Teilprozesse: Comprehension (von Gegenständen, Zielen), Transformation (des Verstandenen in Lehr-Lernarrangements), Instruction (der eigentliche Unterrichtsprozess), Evaluation (‚online’, d. h. während des Unterrichts, mündet in Reflection), Reflection (nachträgliche Reflexion des Unterrichts), New Comprehensions (von Gegenständen, Zielen, Schülern, Selbst, Lehrprozessen). Diesem Modell zufolge ist das Stellen von Lernaufgaben vor allem innerhalb des Teilprozesses Transformation (mit fließendem Übergang zu Instruction) anzusiedeln. Vor dem Hintergrund des Modells wird deutlich, dass Aufgaben als Schrittmacher gegenstandsbezogener Lernprozesse der Schülerinnen anzusehen sind, dass das Stellen von Aufgaben aber zugleich Comprehension der Lehrenden voraussetzt. Fachdidaktisches Wissen wird, bezieht man die Überlegungen Neuwegs mit ein, vor allem in den Transformations-, Reflexions- und Verstehensprozessen wirksam, weniger im eigentlichen Unterrichtsprozess (Instruction).
4.2 Aufgabenstellen und Professionswissen
169
Was wissen wir über das aufgabenbezogene fachdidaktische Wissen von Deutschlehrkräften? Forschungsbefunde zu PISA 2000 legen nahe, dass es nicht gut darum bestellt ist. Denn es hat sich gezeigt, dass selbst Lehrplanexperten für das Fach Deutsch die Schwierigkeit von Textverstehensaufgaben unzutreffend und vor allem auch undifferenziert einschätzen. Lehrplanexperten der 16 Bundesländer sollten u. a. angeben, wie groß der zu erwartende Anteil der Neuntklässler ist, die die Lesekompetenz-Aufgaben aus PISA 2000 lösen können. Diese Einschätzungen der Aufgabenschwierigkeit wurden mit der tatsächlichen Lösungshäufigkeit der Aufgaben verglichen. Dabei weisen die Urteile der Lehrplanexperten auf eine generelle Überschätzung der Leistungsfähigkeit von Neuntklässlern hin und zeigen darüber hinaus, dass – und dies ist sicherlich der wichtigere Befund – leichte von schweren Aufgaben kaum unterschieden wurden. (Artelt et al. 2004, 152)5
Das skizzierte Defizit kann auch damit zusammenhängen, dass Aufgabenmerkmale und ihr Einfluss auf Aufgabenschwierigkeit und Lernprozesse vor PISA so gut wie nicht im Blickfeld der Deutschdidaktik und wohl auch der Deutschlehrerausbildung lagen. Mit der neuen Aufmerksamkeit, die Aufgaben in Didaktik, Bildungsadministration und Lehrerbildung entgegengebracht wird, könnten sich nach und nach entsprechende Lücken im fachdidaktischen Wissen von Lehrkräften schließen lassen. Dass das fachdidaktische Wissen der Lehrpersonen sich auf die Verstehensprozesse der Schülerinnen und Schüler im Deutschunterricht auswirkt, lässt sich aufgrund einer Studie von Gailberger (2007) vermuten. Gailberger vertritt die auf Unterrichtstranskripte gegründete These, dass die Fragen (d. h. die mündlich präsentierten und mehr oder weniger spontanen Aufgaben), die die Lehrperson im Unterrichtsgespräch über einen Text stellt, das Textverstehen der Lernenden qualitativ beeinflussen, also fördern oder behindern. Ob die lehrerseitige Steuerung des Unterrichtsgespräches hierachiehöhere und damit für das Textverstehen zentrale Verstehensprozesse der Schülerinnen und Schüler anregt, hängt, so 5
Dass Lehrkräfte Probleme mit der Einschätzung von Aufgabenschwierigkeiten haben, darauf deuten auch Befunde von Impara/Plake (1998) hin. Auch die in dieser Studie befragten 26 Lehrkräfte des Faches „science“ an „elementary schools“ in den USA konnten nicht zutreffend prognostizieren, wie gut ihre Schülerinnen und Schüler die vorgelegten Aufgaben zu lösen imstande waren.
170
4 Lehrkräfte als zentrale Einflussgröße des Aufgabeneinsatzes
Gailberger, davon ab, inwieweit die betreffende Lehrperson selbst eine textadäquates mentales Modell elaborieren konnte und inwieweit sie über Ebenen und Prozessmerkmale des Lesens Bescheid weiß. Die von Gailberger vorgestellten Unterrichtsbeispiele stützen also die Hypothese, dass auch im Deutschunterricht die fachspezifischen Kompetenzen der Lehrperson mit Merkmalen der Unterrichtsgestaltung korrelieren (für den Mathematikunterricht vgl. dazu Brunner et al. 2006a, 69 f.).
4.3 Aufgabenstellen und fachbezogene Überzeugungen
4.3.1 „Aufgabenpräferenzen“ Dieses Teilkapitel dient dazu, die sog. Aufgabenpräferenzen theoretisch zu verorten, die in dieser Arbeit im Rahmen der empirischen Untersuchung (Kap. 5) erhoben werden. Geht man wiederum vom Modell der professionellen Handlungskompetenz aus, basieren Auswahl und Konstruktion von Lernaufgaben nicht nur auf dem Professionswissen einer Lehrkraft, sondern resultieren ganz erheblich auch aus deren Überzeugungen. Im Modell professioneller Handlungskompetenz werden Überzeugungen (beliefs) und Werthaltungen (values) kategorial vom Bereich des Wissens und Könnens (knowledge) unterschieden. Der wesentliche Unterschied liegt in den unterschiedlichen Rechtfertigungsansprüchen von Wissen einerseits und Überzeugungen und Werthaltungen andererseits.6 Im Gegensatz zum Wissen genügt es, Überzeugungen subjektiv für wahr bzw. richtig zu halten. Pädagogisch relevante Überzeugungen können implizit oder explizit sein und beeinflussen die Wahrnehmung der Umwelt und das Handeln (Baumert/Kunter 2006, 496 f.). Der Begriff Überzeugung wird im Modell professioneller Kompetenz als Oberbegriff verwendet, unter den subsumiert werden: epistemologische Überzeugungen; 6
Da es im Kontext der vorliegenden Darstellung darum geht, lehrerseitige Einflussfaktoren für das Aufgabenstellen zu klären und Fragen der Berufsmoral und Wertbindungen dabei kaum eine Rolle spielen, klammere ich diesen Teilaspekt im Folgenden aus und konzentriere ich mich allein auf Überzeugungen.
4.3 Aufgabenstellen und fachbezogene Überzeugungen
171
subjektive Theorien über Lehren und Lernen; Zielsysteme für Curriculum und Unterricht (Baumert/Kunter 2006, 497). Epistemologische Überzeugungen sind „jene Vorstellungen und subjektiven Theorien (…), die Personen über das Wissen und den Wissenserwerb generell und in spezifischen Domänen entwickeln“ (Baumert/Kunter 2006, 498). Für den Literaturunterricht könnte man z. B. von epistemologischen Überzeugungen sprechen, um die Vorstellungen von Deutschlehrkräften davon zu bezeichnen, welche Wissensbestände Lernende brauchen, um literarische Texte zu verstehen, und wie diese Wissensbestände zu erwerben und für das Textverstehen nutzbar zu machen sind. Der Terminus subjektive Theorien entstammt eigentlich dem gleichnamigen Forschungsprogramm (Groeben et al. 1988) und ist mit festgelegten Anforderungen an Forschungsmethoden verknüpft. Inzwischen scheint sich die Verwendung des Begriffs allerdings ein Stück weit von seinem ursprünglichen engen Kontext gelöst zu haben. Subjektive Theorien erfüllen nach Scheele/Groeben (1988) dreierlei Funktion: Sie dienen der Erklärung von subjektiv beobachteten Phänomenen, der Prognose von Folgen beobachteter Zustände oder legen Mittel zum Erreichen erwünschter Zielzustände nahe (Technologie). Wenn Baumert/Kunter (2006) in ihrem review-Beitrag von subjektiven Theorien über das Lehren und Lernen sprechen, bezeichnen sie damit Vorstellungen von Lehrkräften, wie Lernprozesse ablaufen und wie sie gefördert werden können. Exemplarisch für subjektive Theorien über das Lehren und Lernen im Literaturunterricht könnten etwa Lehrervorstellungen davon sein, welchen Beitrag handlungs- und produktionsorientierte Verfahren zum Verstehen literarischer Texte leisten. Zielsysteme für Curriculum und Unterricht sind „präskriptive Richtungsweiser für Unterrichtsplanung und Unterrichtshandeln“ (Baumert/Kunter 2006, 497). Solche Zielsysteme berührt bezogen auf den Literaturunterricht etwa die Frage, ob bzw. warum Schülerinnen und Schüler literarische Texte lesen sollen. Dieses Beispiel zeigt schon, dass Zielsysteme häufig überindividuell und in der Tradition von Unterrichtsfächern in unterschiedlichen Schularten verankert sind. Aus der Tatsache, dass auch Überzeugungen offensichtlich intersubjektiv gültig und plausibel sein können ergibt sich die Frage nach der Unterscheidung von Überzeugungen und Wissen neu.
172
4 Lehrkräfte als zentrale Einflussgröße des Aufgabeneinsatzes
Insgesamt lässt sich feststellen, dass weder die Abgrenzung zwischen Überzeugungen und Wissen noch die Unterscheidung der verschiedenen Unterkategorien von Überzeugungen hundertprozentig trennscharf ist. Dass die Übergänge zwischen Zielsystemen, subjektiven Theorien von Lehren und Lernen sowie epistemologischen Überzeugungen fließend sein können, wird etwa an folgendem Beispiel deutlich: Die Auffassung einer Lehrerin davon, welches gattungsspezifische Wissen Schüler brauchen, um einen literarischen Text zu verstehen, wäre isoliert als epistemologische Überzeugung zu betrachten. Diese Auffassung ist aber nicht unabhängig von bestehenden Zielsystemen, hier also davon, welche Wissensbestände für das Verstehen literarischer Texte in Lehrplänen und Bildungsstandards vorgegeben sind (vgl. dazu Köster 2003c). Wie entsprechendes Wissen zu fördern ist, berührt auch den Bereich subjektiver Theorien vom Lehren und Lernen. Subjektive Theorien vom Lehren und Lernen wiederum hängen mit unterrichtlichen Zielsystemen zusammen: Wenn etwa der Schüler-Leser und sein Beitrag zum Textverstehen im Literaturunterricht normativ zentral gesetzt werden, resultieren daraus vermutlich Vorlieben für andere Lernwege, als wenn der Text und dessen Merkmale im Mittelpunkt des Literaturunterrichts stehen. In Brommes „Topologie des Lehrerwissens“ (Bromme 1992, 1997; Bromme/Rheinberg 2006) gehen die skizzierten Überzeugungssysteme im Wesentlichen in einer gemeinsamen Kategorie „Philosophie des Schulfachs“ auf. So spricht Bromme von der „Philosophie des Schulfachs“, um Vorstellungen zu bezeichnen, die Lehrkräfte von der Bedeutung ihres Schulfaches, von der Relevanz der fachspezifischen Wissensbestände und deren Beziehung zu anderen Domänen haben. Zur Philosophie des Schulfachs zählen auch „Überzeugungen, die die Entstehung, die Veränderbarkeit und Begründung des Wissens, das in der Schule unterrichtet wird, betreffen“ (Bromme/Rheinberg 2006, 315). Auch die Übergänge zwischen Überzeugungen und Professionswissen sind fließend. Beispielsweise sind fachbezogene epistemologische Überzeugungen (z. B. Vorstellungen über Wissen und Wissenserwerb im Fach Deutsch) beeinflusst vom Verständnis der Gegenstände (Fachwissen) und von fachdidaktischem
4.3 Aufgabenstellen und fachbezogene Überzeugungen
173
Wissen, z. B. über literaturdidaktische Konzepte.7 Auch beim Stellen von Lernaufgaben dürfte es einen Überschneidungsbereich zwischen Wissen und Überzeugungen geben: Wenn ich als Lehrerin eine Aufgabe aufgrund fachlicher Kriterien daraufhin einschätze, wie schwierig sie ist und welche Lernprozesse sie anstößt, bin ich nicht unabhängig von meinen individuellen Erfahrungen mit Aufgaben dieser Art, also davon, was ich persönlich denke, was die Aufgabe fordert und leistet. Das andere Abgrenzungsproblem ist wie oben bereits angedeutet an der kategorial gezogenen Trennlinie zwischen knowledge und beliefs anzusiedeln, berührt also die erläuterten Rechtfertigungsansprüche. Bei der „Philosophie des Schulfachs“ etwa handelt es sich, wie Bromme selbst hervorhebt, um eine Kategorie, die bezogen auf die Unterrichtsinhalte Bewertungen und normative Vorstellungen enthält. Diese können durchaus individuell unterschiedlich und subjektiv begründet sein und wären dann nach der oben mit Baumert/Kunter (2006) eingeforderten Differenzierung von knowledge und beliefs eher dem Bereich der Überzeugungen zuzuordnen. Allerdings weist bereits die Bezeichnung „Philosophie des Schulfaches“ auch darauf hin, dass entsprechende Überzeugungen wohl in den seltensten Fällen allein für einzelne Lehrkräfte des betreffenden Faches gültig sind. Vielmehr ist davon auszugehen, dass es sich in der Regel um Überzeugungen handelt, die viele Fachvertreter teilen und die Ausdruck bestimmter ‚Fachkulturen‘ sind.8 Wenn bezogen auf den Literaturunterricht von einer „Aufgabenkultur“ die Rede ist (z. B. Köster et al. 2004), sind damit genau solche überindividuellen aufgabenbezogenen Überzeugungssysteme angedeutet. Shulman (1987, 13) spricht in diesem Zusammenhang von „practical principles that have substantial support among members of the professional communitiy of teachers“. Solche überindividuellen Überzeugungen können also durchaus „den Kriterien der Widerspruchsfreiheit” und „den Anforderungen der argumentativen Rechtfertigung“ genügen (s. o., Baumert/Kunter 2006, 497). Allerdings beansprucht die argumentative Rechtfertigung Gültigkeit in einer spezifi7 8
Zu Überschneidungen und Bezügen zwischen Kategorien in seiner „Topologie des Lehrerwissens“ vgl. auch Bromme (1992, 99 f.). Es ist kaum davon auszugehen, dass es jeweils nur eine einzige übergreifende „Fachkultur“ gibt. So liegt etwa eine Unterscheidung der Überzeugungen von Lehrkräften nahe, je nach dem an welcher Schulform sie unterrichten. Vgl. die Ergebnisse von DESI (Klieme et al. 2006, 32-34; Ehlers 2007).
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4 Lehrkräfte als zentrale Einflussgröße des Aufgabeneinsatzes
schen Argumentationsgemeinschaft, also in erster Linie unter Lehrkräften eines bestimmten Faches in einer bestimmten Schule oder Schulart, und nicht unbedingt darüber hinaus z. B. gegenüber Bildungsforschern. Geteilte Überzeugungen von Lehrkräften basieren auf einer Empirie, die Shulman (1987, 8) „wisdom of practice“ nennt. Bezüge bestehen zwischen dieser „wisdom of practice“ und den in Kap. 4.1.1 dargestellten Konzepten von tacit knowing (Neuweg 2005a), professionellen Schemata (Tenorth 2006), Unterrichtsskripts (zusammenfassend Blömeke et al. 2003) und practical professional knowledge (Herrlitz 1998). Die Forschungsarbeiten, die Baumert/Kunter (2006) zu epistemologischen Überzeugungen, subjektiven Theorien und Zielen von Lehrkräften zusammenfassend vorstellen, gehen alle von überindividuellen, unter den Lehrkräften eines Faches verbreiteten Überzeugungsmustern aus, wobei in der Regel verschiedene Überzeugungsmuster bzw. -typen innerhalb der untersuchten Gruppe von Fachlehrern angenommen werden (vgl. Baumert/Kunter 2006, 498-501). Auch was die für diese Arbeit zentrale Frage angeht, welche Aufgabenstellungen Lehrkräfte im Literaturunterricht bevorzugen, kann man davon ausgehen, dass es bestimmte Präferenzmuster gibt, in die die skizzierten Überzeugungssysteme in Verbindung mit einer „wisdom of practice“ einfließen. Eine Frage, die bezogen auf Überzeugungen von Lehrkräften generell diskutiert wird, ist die nach der tatsächlichen Relevanz der Überzeugungen für das konkrete Unterrichtshandeln. Leuchter et al. (2006) unterscheiden diesbezüglich verhaltensferne Kognitionen und verhaltensnahe oder handlungsleitende Kognitionen. Sie ordnen Überzeugungen wie subjektive Theorien den verhaltensfernen Kognitionen zu, da diese in der konkreten Situation nicht zwingend Wirkung entfalten. Handlungsleitende Kognitionen dagegen „sind im Moment des Handelns wirksam, mit diesem gekoppelt und situativ gebunden sowie mit der individuellen Erfahrung verknüpft“ (Leuchter et al. 2006, 566).9 Verhaltensferne 9
Was die Erforschung handlungsleitender Kognitionen betrifft, die i. d. R. mit retrospektiven Befragungen der Lehrkräfte arbeitet, sind grundsätzliche Bedenken anzumelden, gerade auch wenn man Neuwegs Ausführungen zum im Prozess des Handelns wirksamen tacit knowledge berücksichtigt. Handlungsleitende Kognitionen können vor diesem Hintergrund gar nicht in jedem Fall verbalisiert werden; die Erklärungen, die Lehrkräfte retrospektiv zu ihrem Handeln geben, sind als probandenseitige Konstruktionen und Projektionen der beim Handeln wirksamen Kognitionen zu sehen. Man erfasst also, was Lehrkräfte über ihr Denken beim Handeln denken, nicht das, was sie tatsächlich beim Handeln denken (sofern während des Handelns überhaupt immer gedacht wird).
4.3 Aufgabenstellen und fachbezogene Überzeugungen
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Kognitionen können durchaus zu handlungsleitenden Kognitionen werden. Das Handeln in der konkreten Situation kann aber eben auch im Widerspruch zu situationsentlasteten verhaltensfernen Überzeugungen stehen (Überblick über diesbezügliche Forschungsergebnisse bei Leuchter et al. 2006, 566). Was etwa Ziele von Unterricht betrifft, zeigte sich für den Mathematikunterricht, dass beim Auftreten von Hindernissen im konkreten Unterrichtsverlauf Handlungsmuster (scripts) gewechselt werden, um das gesetzte Ziel doch noch zu erreichen (zusammenfassend dazu Baumert/Kunter 2006, 501). Andererseits referieren Bromme/Rheinberg (2006, 309 f.) Forschungsergebnisse, die darauf hindeuten, dass beim Auftreten konkreter Probleme wie Disziplinschwierigkeiten im Unterricht ursprüngliche Ziele in den Hintergrund treten zugunsten der Herstellung störungsfreier Unterrichtsbedingungen als „obligatorische[m] Zwischenziel“. Generell scheinen es belastende Rahmenbedingungen (Zeitdruck, Disziplinschwierigkeiten usw.) zu sein, die dazu führen, dass Lehrkräfte im Unterricht gegen ihre Überzeugungen handeln. Die Überzeugungen, die im Rahmen dieser Arbeit empirisch untersucht werden, sind zunächst als handlungsferne Kognitionen einzuordnen; denn es handelt sich um Aufgabenpräferenzen, die losgelöst von einer konkreten Planungs- und Unterrichtssituation erfasst werden. Die Arbeit kann und will also nicht beanspruchen, Erkenntnisse darüber zu liefern, wie Lehrkräfte im Unterricht mit Aufgaben umgehen – die Erforschung dieser Frage bleibt einer Anschlussuntersuchung vorbehalten. Vielmehr gilt es zunächst herauszufinden, welche überindividuellen aufgabenbezogenen Präferenzmuster sich bei Deutschlehrkräften zeigen. Für die erhobenen Präferenzmuster sind theoriegeleitet Erklärungen zu liefern. Die Arbeit fragt nach aufgabenbezogenen Einstellungen von Deutschlehrkräften, wobei unter Einstellung die „zusammenfassende Bewertung eines Gegenstandes“ verstanden wird (Bohner 2002, 267). Der Gegenstand, auf den sich die entsprechenden Bewertungen beziehen, sind in dieser Untersuchung die im Fragebogen vorgelegten exemplarischen Textverstehensaufgaben und ihre generelle Eignung für den Unterricht.10 Einstellungen sind nicht direkt beobachtbar, 10 Aufgabenpräferenzen bezeichnen also nicht Interessen für einzelne Fragestellungen, die die Lehrkraft als Expertin in einer Domäne persönlich, etwa aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, hegt – wenngleich Forschungsergebnisse von Nündel/Schlotthaus (1978) gezeigt haben,
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sondern fungieren als Bindeglied zwischen bestimmten Reizen (hier: der Beispielaufgabe als Einstellungsobjekt) und bestimmten Reaktionen darauf (hier: der geäußerten Zustimmung oder Ablehnung im Fragebogen). Sie müssen demnach aus den bezogen auf die Einstellungsobjekte gezeigten Reaktionen erschlossen werden. Der Begriff der Einstellung wird im Folgenden synonym mit dem der Überzeugung verwendet. Die bisher referierten Forschungsergebnisse nehmen die Rolle von Überzeugungen im Rahmen der professionellen Kompetenz von Lehrkräften in den Blick. Die Einstellungsforschung stellt darüber hinaus ein Strukturmodell von Einstellungen zur Verfügung, das heuristischen Wert für die Erklärung der erhobenen Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften hat. Diesem „Dreikomponentenmodell der Einstellung“ zufolge führen kognitive, affektive und verhaltensbezogene Prozesse zusammen zu einer bestimmten Einstellung, die dann wiederum zu kognitiven, affektiven und verhaltensbezogenen Reaktionen führen, also auch handlungsleitend werden kann (Bohner 2002, 268). Geht man bei der theoriegeleiteten Erklärung der in der empirischen Untersuchung festgestellten Präferenzmuster von diesem Modell aus und setzt es zugleich in Beziehung zum Modell der professionellen Kompetenz von Lehrkräften, lässt sich die theoretische Basis für den Untersuchungsgegenstand „Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften“ wie folgt zusammenfassen: Als Aufgabenpräferenzen werden in dieser Arbeit überindividuelle Einstellungen bzw. Überzeugungen von Deutschlehrkräften bezeichnet, die sich verhaltensfern auf Textverstehensaufgaben für Lernsituationen im Literaturunterricht beziehen. In diesen aufgabenbezogenen Einstellungen verschmelzen Kognitionen, Emotionen und Erfahrungen aus konkreten Anwendungssituationen. Es ist davon auszugehen, dass es gewisse Präferenzmuster gibt, die von Gruppen bzw. ‚Typen‘ von Deutschlehrkräften geteilt werden. Um diese gruppenspezifischen Profile von Aufgabenpräferenzen zu erklären, erscheint es sinnvoll, insbesondere Kognitionen (epistemologische Überzeugungen, subjektive Theorien vom Lehren und Lernen, Zielvorstellungen) und erfahrungsprägende Handlungsfolgen (Unterrichtsskripts) zu berücksichtigen, die für das Fach Deutsch charakteristisch
dass Lehrkräfte zwischen individuell-persönlichen und unterrichtsbezogenen Zielsystemen beim Umgang mit Literatur nicht differenzieren (Nündel/Schlotthaus 1978, 178-181).
4.3 Aufgabenstellen und fachbezogene Überzeugungen
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sind. In aufgabenbezogene einstellungsgenerierende Kognitionen können durchaus auch fachliche und fachdidaktische Wissensbestände einfließen. Hinter den geäußerten Aufgabenpräferenzen sind Begründungszusammenhänge anzunehmen, die für die betreffenden Lehrkräfte aus einer „wisdom of practice“ (Shulman 1987) heraus in sich schlüssig sind, auch wenn sie aus Forschersicht nicht den Kriterien der Widerspruchsfreiheit genügen. Es geht also nicht darum, die festgestellten Präferenzprofile zu bewerten, sondern sie zu beschreiben und theoriegeleitet nach deren Hintergründen zu fragen (zum Problem der Diskrepanz zwischen „wisdom of practice“ und Forscherwissen vgl. zusammenfassend Bromme/Rheinberg 2006, 316 f.). Die erhobenen Muster von Aufgabenpräferenzen haben vermutlich zumindest bei der Planung von Literaturunterricht Orientierungs- und damit handlungsleitende Funktion, auch wenn sie nicht immer handlungsleitend im Unterrichtsgeschehen werden (vgl. dazu die Unterscheidung von task as plan vs. task in process, oben Kap. 2.1).
4.3.2 Überzeugungen von Deutschlehrkräften: Forschungsstand Obwohl Lehrkräfte und ihre professionelle Kompetenz in den letzten Jahren kaum im Zentrum deutschdidaktischer Untersuchungen standen, gibt es vereinzelt empirische Hinweise auf Überzeugungssysteme von Deutschlehrerinnen und Deutschlehrern, die auch bezogen auf die hier aufgeworfene Frage nach den Aufgabenpräferenzen von Bedeutung sind. Diese im Kontext der vorliegenden Untersuchung relevanten Forschungsergebnisse werden im Folgenden zusammengefasst.
4.3.2.1 Unterrichtsskripts im Literaturunterricht Betrachtet man Aufgaben im Kontext der Sequenzierung von Lernprozessen im Unterricht, sind Untersuchungsergebnisse von Gölitzer (2009) von Interesse. Gölitzer hat die Einführung eines neuen literarischen Textes in sieben Hauptschulklassen (5./6. Jahrgang) beobachtet. Sie rekonstruiert u. a. die Sequenzstruktur des von ihr beobachteten Unterrichts und gelangt dabei zu folgenden
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Teilsequenzen bzw. Phasen (vgl. auch Gölitzer 2004), die auf ein entsprechendes Unterrichtsskript11 im Literaturunterricht zumindest der Hauptschule hindeuten: Vorbereitung der Primärrezeption, Primärrezeption, schulische Anschlusskommunikation, Texterarbeitung und Sekundärrezeption. Bezogen auf die Frage nach den Aufgabenpräferenzen von Lehrkräften macht die ermittelte Sequenzstruktur von Unterricht darauf aufmerksam, dass bevorzugte Aufgabenmerkmale je nach Stellung der Aufgabe im Lernprozess unterschieden werden müssen. Für die Aufgabenbeispiele, zu denen Lehrkräfte in der hier vorliegenden Untersuchung befragt wurden (vgl. unten Kap. 5), ist festzustellen, dass es sich um Erarbeitungsaufgaben in der von Gölitzer sog. Phase der Sekundärrezeption handelt.
4.3.2.2 Allgemeine Einstellungen zum Lehren und Lernen Was allgemeine Vorstellungen vom Lehren und Lernen betrifft, liegen belastbare Forschungsergebnisse vor allem für den Mathematikunterricht vor, die auch aus deutschdidaktischer Perspektive bedeutsam sind. So lassen sich bei Mathematiklehrkräften nach Staub/Stern (2002) zwei Ausprägungen lehr- und lernprozessbezogener Überzeugungen unterscheiden, die sich empirisch als Pole einer Skala zeigen: die „direct-transmission view“, nach der Lehrkräfte Lernen als Ergebnis von Informationsvermittlung und wiederholender Übung sehen, und die „cognitive constructivist view“, bei der die Lehrpersonen Lernen als aktiven Konstruktionsprozess betrachten.12 11 In solche Unterrichtsskripts fließen fachdidaktisches Wissen und fachdidaktische Überzeugungen ein. 12 Diese Überzeugungen können als Erklärung, Prognose und Technologie dienen, also alle von Scheele/Groeben (1988) genannten Funktionen subjektiver Theorien erfüllen. Geht man von der „direct-transmission view“ aus, lassen sich etwa folgende Beispiele für die Funktion dieser lernprozessbezogenen Überzeugung anführen: Erklärung: Es fehlt der Lernerfolg, weil zu wenig geübt wurde. Prognose: Es war im Unterricht wenig Zeit zum Üben, also ist mit geringem Lernerfolg zu rechnen. Technologie: Wenn der Lernerfolg eintreten soll, muss viel geübt werden.
4.3 Aufgabenstellen und fachbezogene Überzeugungen
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„Direct-transmission view“ und „cognitive constructivist view“ sind zurückzuführen auf allgemein beschriebene „Extrempositionen zum Lernen und Lehren“ (Reinmann/Mandl 2006, 616). Die Forschungsergebnisse von Staub/Stern (2002) ebenso wie die dahinter stehenden allgemeinen Auffassungen vom Lehren und Lernen sind im Kontext dieser Arbeit von Interesse, weil anzunehmen ist, dass auch Deutschlehrkräfte entsprechende lernprozessbezogene Grundeinstellungen vertreten. Reinmann/Mandl (2006) unterscheiden allgemein zwei „Extrempositionen zum Lehren und Lernen“, die von ihnen sog. „Technologische Position“ und die „Konstruktivistische Position“. Kennzeichen der „Technologischen Position“ ist ein Verständnis von „Unterrichten im Sinne von Anleiten, Darbieten, Erklären“, das vom „Primat der Instruktion“ geprägt ist (ebd., 618). Hintergrund ist eine kognitivistische Auffassung vom Lernen als Informationsverarbeitung: Die technologische Lehrstrategie hat das Ziel, den Gegenstand des Lehrens und Lernens als fertiges System zu vermitteln, weshalb auch von gegenstandszentrierten Lernumgebungen gesprochen werden kann. Das Lehr-Lern-Geschehen wird als ein Prozess betrachtet, bei dem der Lehrende objektive Inhalte so zu übermitteln versucht, dass der Lernende am Ende dieses „Wissenstransports“ den vermittelten Wissensausschnitt (Lerngegenstand) in ähnlicher Form besitzt wie der Lehrende. (Reinmann/Mandl 2006, 619; Hervorhebung ebd.)
Der Lehrende spielt in dieser Auffassung von Lehren und Lernen also die aktive Rolle, während die Lernenden eine eher passive, vor allem rezeptive Rolle haben. Als „Konstruktivistische Position“ werden zusammenfassend eine Reihe von Forschungsansätzen und Theorierichtungen bezeichnet, die sich als Gegenposition zur „Technologischen Position“ entwickelt haben: Vertreter der konstruktivistischen Auffassung plädieren dafür, beim Lernen die konstruktive Eigenaktivität sowie den Kontextbezug in den Vordergrund zu stellen und Lernumgebungen entsprechend offen und „situiert“ zu gestalten. (Reinmann/ Mandl 2006, 626)
Hintergrund ist die Annahme, dass Lernen ein aktiver und konstruktiver Prozess seitens des Lernenden ist. Es findet also „ein paradigmatischer Wechsel vom Primat der Instruktion zum Primat der Konstruktion statt“ (ebd., 628, Hervorhe-
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bung ebd.). Den Lernenden kommt beim Lernen demnach eine aktiver Part zu. Die Lehrenden haben vor allem die Aufgabe, „Problemsituationen und ‚Werkzeuge’ zur Problembearbeitung zur Verfügung zu stellen und den Lernenden bei Bedarf zu unterstützen“ (ebd.). Interessant ist, dass die beiden skizzierten Extrempositionen zum Lehren und Lernen jeweils mit bestimmten Sozialformen in Verbindung gebracht werden. So gilt Frontalunterricht als typisches Merkmal eher instruktionistisch ausgerichteter Lernumgebungen, während selbstgesteuertes entdeckendes Lernen in Einzel- oder Gruppenarbeit als Indikator für konstruktivistisch orientierte Lernumgebungen betrachtet wird (vgl. Reusser 2006; Reinmann/Mandl 2006; vgl. dazu auch Kap. 2.2.2). In der Bildungsdiskussion der letzten Jahre war die eher konstruktivistische Auffassung von Lehren und Lernen deutlich positiver bewertet als die instruktionistisch ausgerichtete Position (vgl. dazu Reusser 2006). Diese normative Sichtweise zeigt sich beispielsweise auch bei den Deutsch-Referendaren, die Wieser (2008) befragt hat, wenn von ihnen der Frontalunterricht mit dem Prädikat „veraltet“ belegt [wird] und die Gruppenarbeit mit dem Prädikat „erwünscht“ (Wieser 2008, 228).
Aus theoretischer Sicht ist eine Polarisierung zwischen „Instruktion“ und „Konstruktion“ als Paradigmen des Lehrens und Lernens nicht sinnvoll – beide LehrLern-Modelle haben je nach Unterrichtsziel ihre Berechtigung (vgl. z. B. Weinert 1996). So stellen Reinmann/Mandl (2006, 636 ff.) als integrativen Ansatz eine „praxisorientierte Position zum Lehren und Lernen“ vor, die Elemente beider Extrempositionen sinnvoll verbindet. Helmke führt zusammenfassend aus: Das scheinbare Gegensatzpaar „Instruktion – Konstruktion“ beschreibt ein Kontinuum, dessen beide Endpunkte in Reinkultur in der schulischen Realität (Lernen im Klassenzimmer) selten vorkommen dürften. Gelegentlich schwingt bei der Gegenüberstellung von „Instruktion“ und „Konstruktion“ auch eine Wertung mit, nach dem Motto: Instruktion möglichst vermeiden, Konstruktion maximieren. Eine solche Sichtweise, die Instruktion und Konstruktion gegeneinander ausspielt, ist jedoch naiv, denn schulisches Lernen erfordert fast immer beides: Anregung, Steuerung, Vorgabe von Aufgaben durch eine Lehrperson und individuelle Lernprozesse auf der Seite des Schülers. (Helmke 2009, 49; Hervorhebung ebd.)
4.3 Aufgabenstellen und fachbezogene Überzeugungen
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Im Kontext der vorliegenden Untersuchung stellt sich vor dem skizzierten Hintergrund eine doppelte Frage: Lassen sich die Extrempositionen zum Lehren und Lernen als lernprozessbezogene Grundeinstellungen bei Deutschlehrkräften nachweisen? Gibt es Zusammenhänge zwischen den lernprozessbezogenen Grundeinstellungen von Deutschlehrkräften und ihren Aufgabenpräferenzen? Diese Fragen werden in der empirischen Untersuchung (Kap. 5) aufgegriffen. Inwieweit allgemeine Einstellungen zum Lehren und Lernen in der konkreten Unterrichtssituation handlungsleitend werden, darüber liegen uneinheitliche Befunde vor. Staub/Stern (2002) konnten nachweisen, dass Lehrkräfte mit „cognitive constructivist view“ häufiger Aufgaben mit größerer Anforderung an das Verständnis der Schülerinnen und Schüler einsetzen. In der Studie von Leuchter et al. (2006) dagegen waren kaum Zusammenhänge zwischen (verhaltensfernen, situationsentbundenen) subjektiven Lerntheorien und den in der konkreten Situation (verhaltensnahen) handlungsleitenden Kognitionen nachweisbar. Dass im Interview geäußerte konstruktivistische Überzeugungen keinen Niederschlag im Unterricht finden, könnte den Autoren der Studie zufolge auf belastende Rahmenbedingungen und konkreten Handlungsdruck zurückzuführen sein. Für den Deutschunterricht gibt es bisher keine Untersuchungen, die auf breiterer empirischer Basis über lernprozessbezogene Grundeinstellungen von Lehrenden und deren Auswirkungen auf den Unterricht Erkenntnis zu gewinnen suchen. Hier steht die deutschdidaktische Forschung noch ganz am Anfang. Die Fallstudie von Winkler (2005) etwa zeigt, dass im Literaturunterricht bei unterschiedlichen Lehrpersonen der Grad der Lehrerlenkung unterschiedlich ausgeprägt ist und sich dies auch auf die Lernergebnisse der Schülerinnen und Schüler auszuwirken scheint.
4.3.2.3 ‚Individuelle didaktische Theorien’ von Deutschlehrkräften Was subjektive Theorien betrifft, die Deutschlehrer/innen zum Lehren und Lernen haben, ist die Arbeit von Kunze (2004) anzuführen. Kunze hat auf der Basis von problemzentrierten Interviews die von ihr sog. „individuellen didaktische
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Theorien“13 von Deutschlehrkräften in der Sekundarstufe I untersucht. Individuelle didaktische Theorien, so Kunze, „beziehen sich vorrangig auf die im schulischen Unterricht ablaufenden und zu gestaltenden Lehr-Lernprozesse“ und strukturieren die Wahrnehmungen des einzelnen in diesem Gebiet. Sie liefern, ähnlich wie die subjektiven Theorien nach Scheele/Groeben (1988), die Grundlage für Erklärungen wahrgenommener Phänomene, für Prognosen und für Handlungsentwürfe (Kunze 2004, 79). Auf der Basis des von ihr erhobenen Materials erarbeitet Kunze vier Typen individueller didaktischer Theorien von Deutschlehrkräften und kreuzt dabei 2 mal 2 Kategorien: Sie unterscheidet ein geöffnetes von einem geschlossenen (fach)methodischen Konzept (Parenthesen so bei Kunze) und zudem ein statisches vs. ein dynamisches Gegenstandsverständnis. Aus der Kreuzung der genannten Kategorien ergeben sich vier Typen individueller didaktischer Theorien (ebd., 452): Typus A: statisches Gegenstandsverständnis – geschlossenes (fach)methodisches Konzept; Typus B: statisches Gegenstandsverständnis – geöffnetes (fach)methodisches Konzept; Typus C: dynamisches Gegenstandsverständnis – geschlossenes (fach)methodisches Konzept; Typus D: dynamisches Gegenstandsverständnis – geöffnetes (fach)methodisches Konzept. Das, was Kunze als Gegenstandsverständnis bezeichnet, würde man aus psychologischer Perspektive wohl ‚epistemologische Überzeugungen’ nennen, verstanden als „jene Vorstellungen und subjektiven Theorien (…), die Personen über das Wissen und den Wissenserwerb generell und in spezifischen Domänen entwickeln“ (Baumert/Kunter 2006, 498). Die von Kunze interviewten Deutschlehrkräfte unterscheiden sich hinsichtlich ihres Gegenstandsverständnisses u. a. darin, ob sie von einem feststehenden und legitimierten Kanon im Literaturunterricht ausgehen (statisch) oder aber den Kanon reflektieren (dynamisch), ob sie
13 Mit diesem Terminus knüpft Kunze einerseits unter Einschränkungen ans Forschungsprogramm Subjektive Theorien an, grenzt sich aber zugleich auch davon ab (vgl. Kunze 2004, 78-80).
4.3 Aufgabenstellen und fachbezogene Überzeugungen
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die Zugangsweisen zu Literatur allein literaturhistorisch ausrichten (statisch) oder auch andere Zugangsweisen berücksichtigen (dynamisch). Es liegt nahe anzunehmen, dass ein statisches Gegenstandsverständnis positiv mit einer eher instruktionistischen Grundeinstellung („direct-transmission view“) vom Lehren und Lernen korreliert; denn wenn die zu lernenden Gegenstände bzw. die zu erzielenden Lernergebnisse von vornherein feststehen, erscheint die Anregung ergebnisoffener Konstruktionsprozesse der Lernenden kaum erforderlich bzw. sinnvoll. Analog wäre die Hypothese zu überprüfen, ob ein eher dynamisches Gegenstandsverständnis positiv mit einer eher konstruktivistischen Grundeinstellung zum Lehren und Lernen korreliert. Es ist aber zu beachten, dass die von Kunze konzipierten Typen nicht nach Methoden quantitativer empirischer Forschung, also etwa mittels Faktorenanalyse, gewonnen wurden, sondern allein ordnende und heuristische Funktion bezogen auf das Material erfüllen (vgl. Kunze 2004, 223 f.). Offenes und geschlossenes (fach)methodisches Konzept nach Kunze unterscheiden sich hinsichtlich fachspezifischer Aspekte im Stellenwert, den die Deutschlehrkräfte den Verfahren des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts beimessen (hoher Stellenwert im offenen Konzept vs. niedriger Stellenwert im geschlossenen Konzept).14 Interessant an diesem Befund ist, dass sich die Lehrkräfte offensichtlich wertend gegenüber ihrem fachdidaktischen Wissen verhalten, indem sie sich in der Fachdidaktik hoch bewertete Konzepte entweder aneignen oder diese bewusst ablehnen. Denn Kunzes Material zeigt neben den unterschiedlich ausgeprägten Präferenzen der Lehrkräfte für handlungs- und produktionsorientierte Verfahren zugleich, dass eben diese Verfahren in der Wahrnehmung der befragten Lehrkräfte zu den „Schwerpunkten der Unterrichtsentwicklung“ im Fach Deutsch in den 1990er Jahren zählen (Kunze 2004, 464). Fachdidaktisches Wissen und Einstellungen zur Unterrichtsgestaltung im Fach können demnach korrespondieren, können aber auch wissentlich voneinander abgegrenzt werden.
14 Die übrigen von Kunze hier angegebenen Unterscheidungskriterien beziehen sich auf das Ausmaß der Schülerbeteiligung und die präferierten Sozialformen und sind somit nicht in erster Linie fachspezifisch, sondern betreffen allgemeine Fragen der Unterrichtsgestaltung.
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4 Lehrkräfte als zentrale Einflussgröße des Aufgabeneinsatzes
4.3.2.4 Einstellungen gegenüber Lehrwerken Ein Indiz dafür, dass sich Deutschlehrkräfte im Unterricht bewusst von ihrem deutschdidaktischen Wissen distanzieren, weil es ihren subjektiven unterrichtsbezogenen Überzeugungen entgegensteht, liefert auch Hoppe (2005). Die Materialbasis in Hoppes Studie bilden 13 leitfadengestützte Experteninterviews mit Lehrerinnen und Lehrern zum Lehrbucheinsatz im Bereich Schreiben. Hoppe stellt drei Strukturgemeinsamkeiten im Umgang mit Lehrwerken fest, und zwar die ungenügende Rezeption der eingeführten Bücher und ihrer Konzepte, die Ergänzung der Lehrwerke durch direkt und ohne Vorbereitung einsetzbare Kopiervorlagen und den z. T. bewussten ‚Verrat‘ am Buch und dessen Konzept. Vor allem der letzte Aspekt ist im Kontext dieser Arbeit von Interesse, berührt er doch die Frage, in welcher Beziehung fachdidaktisches Wissen und fachdidaktische Überzeugungen stehen und inwieweit sie handlungsleitend werden. Hoppe zitiert als Beispiel für wissentlichen Verrat am Lehrwerk folgende Aussage einer Lehrperson: Ich glaube, das Buch, also die Meriten des Buches sind auch sein Nachteil. Es ist differenziert, ja? Es vermeidet Simplifizierungen, soweit es geht. Das ist son Anspruch, den das Lehrwerk mitbringt und der ja auch sehr, [lacht] hinter dem ich eigentlich auch stehe, und aber den ich in der Praxis dann doch verrate. (Hoppe 2005, 307)
Die Lehrkraft kennt und erkennt das didaktische Konzept des Lehrwerks, gibt an, sich grundsätzlich damit zu identifizieren, und handelt „in der Praxis“ dennoch entgegen diesem Konzept. Über die Gründe kann man nur spekulieren – möglicherweise divergieren lehrwerksbezogene Kognitionen einerseits und Erfahrungen im Unterricht andererseits, so dass vorrangig Erfahrungen handlungsleitend werden. Wenn man davon ausgehen muss, dass sich Planungsentscheidungen nicht in erster Linie an didaktischen Konzepten orientieren, erscheint es bezogen auf die Aufgabenpräferenzen von Lehrkräften umso wichtiger herauszufinden, welchen Mustern diese stattdessen folgen (vgl. unten Kap. 5).
4.3 Aufgabenstellen und fachbezogene Überzeugungen
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Die Frage, wie mit den Angeboten des eingeführten Lehrwerks gearbeitet wird, steht der Frage nach den Aufgabenpräferenzen von Lehrkräften relativ nahe. So geben Lehrwerke doch nicht zuletzt Anregungen für Aufgabenstellungen und sequenzierungen bezogen auf bestimmte Unterrichtsgegenstände. Killus (1998) hat sich näher mit der generellen Stellung des Lehrwerks im Deutschunterricht auseinandergesetzt. Sie stützt sich auf Daten einer Lehrerbefragung aus dem Jahr 1988: Lehrkräfte aus vier Bundesländern (n = 1.010), die in verschiedenen Schulformen in der Sekundarstufe I unterrichteten, äußerten in Fragebögen ihre Einstellungen gegenüber den eingeführten Lehrwerken (Killus 1998, 43-48). Zum Lesebuch-Einsatz wurde mit offenem Antwortformat erhoben, welche Vorzüge des jeweiligen Lesebuches die Lehrkräfte sehen. Knapp ein Fünftel der Nennungen bezieht sich hier auf die von Killus sog. Kategorie „Arbeitshilfen“, die damit die zweitgrößte Kategorie der Lehrerantworten ausmacht (Killus 1998, 96 f.).15 Dabei entfällt der „mit Abstand größte Teil der positiven Lehreräußerungen in der Kategorie Arbeitshilfen (…) auf die Aufgabenstellungen“ (Killus 1998, 100). Positiv merken die Lehrkräfte an, wenn ein Lesebuch überhaupt Aufgaben enthält. Den Nutzen der Aufgaben sehen die Lehrerinnen und Lehrer darin, dass sie Lernprozesse vorstrukturieren, was auf der einen Seite selbstständiges Arbeiten der Schülerinnen und Schüler ermöglicht und auf der anderen Seite den Lehrer zeitlich und fachlich entlastet; denn es nimmt ihm „viel von dem ab, was er sonst selbst leisten müßte, etwa Aufträge erteilen, Zusammenhänge andeuten oder Hausaufgaben formulieren“ (Killus 1998, 100 f.). Allerdings fällt auch auf, dass die Gymnasiallehrer/innen im Schulartenvergleich am wenigsten Wert auf Aufgabenstellungen im Lehrwerk legen. Wenn Aufgaben explizit kritisch kommentiert werden, dann aus unterschiedlichen Gründen. So zitiert Killus einen Hauptschullehrer, der die schwere Verständlichkeit von Aufgabenstellungen für Lernende beklagt. Aus Sicht der Gymnasiallehrer scheint es vor allem ein Defizit von Aufgaben zu sein, wenn diese die Auseinandersetzung mit dem Text engschrittig lenken (Killus 1998, 106-109). Zu den Einstellungen von Deutschlehrkräften zu Aufgaben in Lehrwerken bilanziert Killus, dass „die Frage, welche genauen Vorstellungen Lehrer
15 Die meisten Nennungen, etwas mehr als die Hälfte, beziehen sich auf „Ziele und Inhalte“ (ebd.).
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im Hinblick auf Aufgaben im Lesebuch haben, auf der Grundlage der gesammelten Daten nicht eindeutig beantwortet werden“ kann (ebd., 109). Auch die Hamburger Lesestudie gibt keinen näheren Aufschluss über Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften. Die im Kontext dieser Untersuchung befragten Lehrkräfte nennen als eine der am stärksten bevorzugten unterrichtlichen Aktivitäten im Deutschunterricht im 8. Schuljahr zwar das Beantworten schriftlicher Fragen zum Textverständnis (Lehmann et al. 1995, 95). Was für „Fragen“ die Lehrerinnen und Lehrer hierbei bevorzugen, wird in der Studie jedoch nicht erhoben.
4.3.2.5 Literaturdidaktische Konzepte und Zielsysteme Welche literaturdidaktischen Konzepte Deutschlehrkräfte präferieren und welche Zielsysteme (vgl. oben, Kap. 4.3.1) sie ihrem Unterricht zugrunde legen, wird in einigen Studien untersucht. So hat die DESI-Studie differenziert nach Bildungsgängen (Gymnasium, IGS, Realschule, Hauptschule) erhoben, wie Deutschlehrkräfte die Wichtigkeit verschiedener allgemeiner Unterrichtsziele bewerten. Zentrales Ergebnis dieser Untersuchung im Kontext der vorliegenden Arbeit ist, dass entsprechende Überzeugungssysteme nach Bildungsgängen zu unterscheiden sind. Bildungsgangspezifische Zielsysteme deuten darauf hin, dass es tatsächlich so etwas wie überindividuelle Fachkulturen des Deutschunterrichts gibt. Auf die Arbeit mit literarischen Texten im Deutschunterricht legen die Deutschlehrkräfte am Gymnasium mit Abstand den größten Wert, und zwar sowohl im Vergleich zu den anderen Bildungsgängen als auch innerhalb der gymnasialspezifischen Zielhierarchie (Klieme et al. 2006, 33). Entsprechende schulartenbezogene Differenzen hinsichtlich der Stellung literarischer Texte (im Verhältnis zu pragmatischen Texten) im Deutschunterricht hat bereits die Hamburger Lesestudie aus dem Schuljahr 1990/91 erbracht (Lehmann et al. 1995, 91).16 Dass sich ferner bezogen auf den unterrichtlichen Umgang mit literarischen Texten die Zielsysteme von Deutschlehrkräften je nach Schulart unterscheiden, haben Nündel und Schlotthaus schon 1978 gezeigt (zusammenfassend Nündel/ 16 Bei Lehmann et al. (1995, 93), findet sich auch ein Vergleich von Zielen des Literaturunterrichts in Ost- und Westdeutschland im Schuljahr 1990/91.
4.3 Aufgabenstellen und fachbezogene Überzeugungen
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Schlotthaus 1978, 173 f.). Bemerkenswert an der Studie von Nündel/Schlotthaus ist – neben der noch aus heutiger deutschdidaktischer Sicht versierten Anwendung quantitativ-empirischer Verfahren – die Beobachtung, dass die unterrichtsbezogenen Überzeugungen der Lehrpersonen mit ihrer Einstellung zum privaten Lesen korrespondieren. Die Lehrer differenzieren in ihren lesebezogenen Zielsetzungen demnach nicht zwischen ihren persönlichen Lesehaltungen und -vorlieben in der Freizeit einerseits und dem Umgang mit Literatur im Unterricht andererseits. Nündel/Schlotthaus kommentieren diesen Befund folgendermaßen: Bei einem beruf, dessen hauptbeschäftigung auf dem lesen basiert, wäre immerhin denkbar gewesen, daß die in ihm tätigen über ein differenziertes und elaboriertes repertoire an leseweisen verfügten, daß [sic] sie situationsentsprechend benutzten. (Nündel/Schlotthaus 1978, 178)
Nicht zu vergessen ist, dass die Untersuchungsergebnisse von Nündel/Schlotthaus Befunde abbilden, die 30 Jahre zurück liegen. Von Interesse wäre also, in welchem Verhältnis private Leseweisen von Deutschlehrkräften und ihre literaturdidaktischen Überzeugungen heute stehen. Die von Pieper/ Winkler (2010) vorgestellten Daten legen nahe, dass aktuell zumindest bei Studienanfängern im Lehramtsstudium Deutsch eine erhebliche Diskrepanz besteht zwischen den privaten Lektüren und den für den Deutschunterricht vorgeschlagenen Lesestoffen. Auch Killus (1998) nimmt in ihrer Untersuchung zur Stellung des Schulbuches die literaturdidaktischen Zielsysteme der Deutschlehrkräfte beim Lesebucheinsatz in den Blick. Sie ermittelt auf der Basis einer explorativen Faktorenanalyse zwei unabhängige Einstellungstypen (Killus 1998, 121-123): 1. Die thematisch-leserorientierte Einstellung ist dadurch geprägt, dass Texte in Beziehung zu Schülererfahrungen gesetzt werden, dass die Auseinandersetzung mit Lektüren thematisch orientiert ist und Wert auf die Vermittlung kommunikativer Fähigkeiten beim Umgang mit Literatur gelegt wird. 2. Die literaturkundlich-werkorientierte Einstellung betont vor allem die Kenntnis von Literatur, insbesondere ‚hoher‘ Literatur, und literarischer Strukturen. Bezogen auf die Frage, mit welchen Variablen die entsprechenden Einstellungstypen korrelieren, zeigen sich wiederum schulformbezogene Unterschiede und
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zudem Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern. Dies kann man erneut als Beleg dafür lesen, dass es überindividuelle Einstellungssysteme unter verschiedenen Gruppen von Deutschlehrkräften gibt. An Haupt- und Gesamtschulen wird die thematisch-leserorientierte Einstellung im Vergleich zur literaturkundlich-werkorientierten Einstellung am deutlichsten präferiert. An Gymnasien und Realschulen finden beide Einstellungen ähnlich starke Zustimmung (Killus 1998, 127). Killus (1998, 135) bilanziert zu ihrer Untersuchung der Einstellungstypen, daß sich die Deutschlehrer im Unterricht um Ausgewogenheit bemühen. Ein Schwerpunkt der Lesebucharbeit hat die Erfahrungen und Interessen der Schüler zum Bezugspunkt und ist thematisch ausgerichtet. Ein anderer hat die literarischen Gattungen zum Bezugspunkt und ist fachbezogen ausgerichtet. Wie die Auswertung der vorliegenden Daten gezeigt hat, handelt es sich hier um zwei Ansätze, die sich gegenseitig nicht ausschließen. Das heißt, Lehrer mit ausgeprägter fachwissenschaftlicher Orientierung können ebensogut auch ein differenziertes Interesse an spezifisch schülerorientierten Gesichtspunkten haben. Die gängige Dichotomisierung, die alle Lehrer in die eine oder in die andere Gruppe einzuordnen versucht, stimmt mit der Realität offensichtlich nicht überein. (Killus 1998, 135)
Allerdings muss angemerkt werden, dass zumindest die von Killus dokumentierten Berechnungen keine Schlussfolgerungen über Überschneidungen zwischen den beiden Einstellungstypen zulassen. Was ihre Ergebnisse zeigen, sind hohe Zustimmungsmittelwerte der Gesamtstichprobe auf beiden Skalen, die dann nach Bundesland und Schulform differenziert werden. Inwieweit die Probanden jedoch tatsächlich beiden Skalen zugleich zustimmen, darüber geben die Mittelwerte über alle Teilnehmer innerhalb der gebildeten Gruppen keine Auskunft.17 Trotz dieser Einschränkung ist es zumindest als wichtige Hypothese zu betrachten, dass Lehrkräfte zwischen verschiedenen Zielprofilen im Literaturunterricht nicht scharf trennen. Zu ähnlichen Schlussfolgerungen gelangt nämlich Gattermaier (2003). Er hat 359 Lehrkräfte verschiedener Schularten aus Sachsen und Bayern unter anderem zu ihren literaturdidaktischen Zielen und Grundposi17 Eventuelle Unterschiede im Antwortverhalten der Probanden (gleichzeitige Zustimmung zu beiden Skalen, gleichzeitige Ablehnung beider Skalen, Zustimmung zu einer Skala bei gleichzeitiger Ablehnung der anderen) werden durch die Bildung des Skalenmittelwertes über alle Teilnehmer eingeebnet, hätten zur Untermauerung der Gültigkeit von Killus′ Schlussfolgerung aber untersucht werden müssen. Vgl. entsprechende Auswertungsoperationen unten, Kap. 5.
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tionen befragt. Allerdings erscheint schon aus theoretischer Sicht nicht ganz klar, wie Ziele und bevorzugte literaturdidaktische Konzepte voneinander abgegrenzt werden.18 Gattermaier unterscheidet mit Spinner (1999) sechs übergeordnete „Zielbündel“: Förderung der Freude am Lesen, Texterschließungskompetenz, literarische Bildung, Imagination und Kreativität, Identitätsfindung und Fremdverstehen, Auseinandersetzung mit anthropologischen Grundfragen. Aus diesen Zielbündeln entwickelt Gattermaier insgesamt 16 Items zu den Zielpräferenzen der befragten Lehrpersonen. Aus den geäußerten Lehrzielpräferenzen in Gattermaiers Studie ergibt sich, dass die Deutschlehrer über keine markanten Zielpräferenzen verfügen; sie neigen ganz offenbar dazu, alles für ‚irgendwie wichtig’ zu halten (Gattermaier 2003, 231).
D. h. die befragten Lehrpersonen stimmen im Wesentlichen allen Zielvorgaben gleichermaßen hoch zu. Ebensolche Indifferenz der Lehrkräfte stellt Gattermaier hinsichtlich der bevorzugten literaturdidaktischen Konzepte fest. Er unterscheidet theoretisch, wiederum anknüpfend an Spinner (1999), folgende Konzepte: erziehenden Literaturunterricht, Literaturunterricht unter dem Einfluss der Werkinterpretation, sachstrukturell orientierte Literaturdidaktik, kritische Literaturdidaktik, Literaturunterricht unter dem Einfluss der Rezeptionsorientierung und produktionsorientierte Literaturdidaktik. Ausgehend von diesen Konzepten werden insgesamt acht Items formuliert. Die befragten Lehrkräfte stimmen im Wesentlichen (mit Ausnahme eines von 8 Items) all diesen Items, die laut Gattermaier literaturdidaktische Konzepte repräsentieren, unterschiedslos zu. Grundsätzlich ist zu bemerken, dass Gattermaiers Untersuchung nicht den heutigen Anforderungen an statistische Auswertungsverfahren auch innerhalb
18 So wird z. B. das Item „In literarischen Werken sollen Schülerinnen und Schüler moralische Orientierung finden“ theoretisch dem Konzept des Erziehenden Literaturunterrichts zugeordnet (a. a. O., 236). Die Items „Ethische Urteilskompetenz fördern“ und „Moralische Urteilskompetenz verankern“ hingegen stehen laut Gattermaier für Zielpräferenzen von Lehrkräften (a. a. O, 215). Zumindest theoretisch scheinen sich die von Gattermaier untersuchten Einstellungsbereiche zu überschneiden. Ob das empirisch der Fall ist, wird nicht überprüft (fehlende Faktorenanalyse).
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4 Lehrkräfte als zentrale Einflussgröße des Aufgabeneinsatzes
der Deutschdidaktik genügt.19 So wird etwa nicht mitgeteilt, dass aus den Items im Lehrerfragebogen empirisch Skalen gebildet wurden. Die Zuordnung der Items beispielsweise zu Konzepten der Literaturdidaktik erfolgt rein theoretisch ohne empirische Rückkoppelung an die Daten (z. B. mittels Faktorenanalyse). Dabei wäre zu allererst aus forschungsmethodischer Sicht zu fragen, warum so viele Items gleichermaßen Zustimmung erfahren, z. B.: Vielleicht stehen die Items empirisch für nur wenige latente Merkmale und nicht für die Vielzahl der theoretisch angenommenen? Möglicherweise spielen beim Antwortverhalten auch andere Einstellungen, die nicht erfragt wurden, eine Rolle? Gleichwohl liefert Gattermaiers Studie wichtige Denkanstöße, denen in weiteren Untersuchungen nachzugehen wäre. Dies gilt auch für seinen Befund, dass die befragten Lehrkräfte dem Einsatz handlungs- und produktionsorientierter Verfahren (gefragt wird nach der Häufigkeit des Einsatzes der aufgelisteten Verfahren im laufenden Schuljahr) deutlich distanziert gegenüberstehen. Gattermaiers Befragung zeigt recht überzeugend, dass in keiner Weise von einer gegebenen Verschränkung bzw. Verzahnung ‚traditioneller’ und ‚handlungs- und produktionsorientierter’ Verfahren im Literaturunterricht ausgegangen werden [kann]. Die Situation stellt sich vielmehr so dar, dass ein dominant mit ‚traditionellen’ Methoden bestrittener Literaturunterricht lediglich eher punktuell um so genannte ‚produktive’ Methoden erweitert wird. (Gattermaier 2003, 308 f.)
Sofern die von Gattermaier erhobenen Befunde zu den literaturdidaktischen Zielen und Grundpositionen der befragten Lehrkräfte zutreffen, hieße das auch, dass Unterrichtsgestaltung und geäußerte Zielvorstellungen von Deutschlehrkräften auseinanderklaffen; denn den literaturdidaktischen Zielen und Konzepten stimmen die von Gattermaier Befragten unterschiedslos hoch zu.20 Wieser (2008) stellt in ihrer Interviewstudie bei den befragten DeutschReferendarinnen hinsichtlich der vertretenen Zielsysteme zwei sog. „Dachkonzepte“ fest: das Konzept der „Leseförderung“, dem es vor allem um die Entwick19 Es ist allerdings zuzugestehen, dass Gattermaiers Erhebung in der Phase der beginnenden Zuwendung der Deutschdidaktik zur Empirie entstanden ist, als das Methodenbewusstsein (wie es z. B. in Groeben/ Hurrelmann 2006 zum Ausdruck kommt) noch nicht in der heutigen Weise vorhanden war. 20 Zu schulartspezifischen Unterschieden zwischen den im Literaturunterricht bevorzugten Verfahrensweisen im Umgang mit Texten vgl. Lehmann et al. (1995, 95).
4.3 Aufgabenstellen und fachbezogene Überzeugungen
191
lung von Lesefreude bei den Lernenden geht, und das Konzept „Literarische Bildung“, das auf die Auseinandersetzung der Schüler mit „(Höhenkamm-)Literatur“ zielt (Wieser 2008, 229). Diese beiden Konzepte korrespondieren ein Stück weit mit den beiden von Killus (1998) ermittelten Zielsystemen von Literaturunterricht. Wieser arbeitet heraus, dass die von ihr beschriebenen Konzepte zwar deutlich voneinander abgrenzbar sind, dass aber im Begriff des „Dachkonzepts“ auch die Beobachtung gefasst ist, dass die Konzepte sich keineswegs in allen Punkten ausschließen (Wieser 2008, 232). Auch in den von Wieser geführten Interviews zeigt sich im Übrigen die besondere Stellung der handlungs- und produktionsorientierten Verfahren in der Wahrnehmung der Lehrenden: Sehr beständig ist (…) die Überzeugung, dass handlungs- und produktionsorientierte Verfahren in der gegenwärtigen Literaturdidaktik gefordert werden. Aus diesem Grund polarisieren diese Verfahren auch sehr, wobei als Alternative analytische Verfahren benannt werden. (Wieser 2008, 228)
4.3.2.6 Zwischenbilanz Was die Einstellungen von Deutschlehrkräften angeht, die auch bezogen auf deren Aufgabenpräferenzen und damit im Kontext dieser Arbeit bedeutsam sind, ist Folgendes zu resümieren: Die lernprozessbezogenen Grundeinstellungen von Deutschlehrkräften sind bislang nicht auf breiter Basis untersucht. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang, ob sich auch bei Deutschlehrkräften allgemeine lernprozessbezogene Einstellungen zeigen, wie sie theoretisch beschrieben und für Mathematiklehrkäfte empirisch nachgewiesen wurden (direct-transmission view vs. cognitive constructivist view). Inwieweit die individuell-persönlichen Zielsetzungen der Lehrkräfte gegenüber dem Lesen deren Einstellungen zur Gestaltung von Literaturunterricht beeinflussen, ist unklar (vgl. Nündel/Schlotthaus 1978; Pieper/Winkler 2010). Gleichwohl lassen sich überindividuelle Zielsysteme von Literaturunterricht feststellen, die mit der Schulart zusammenhängen, in der die Lehrkräfte unterrichten (Lehmann et al. 1995, Killus 1998, Klieme et al. 2006).
192
4 Lehrkräfte als zentrale Einflussgröße des Aufgabeneinsatzes
Was die Präferenz für unterschiedliche literaturdidaktische Konzepte und entsprechende Zielsysteme betrifft, ergibt sich ein unbestimmtes Bild. Zwar teilt Gattermaier (2003) Befunde mit, auf deren Basis er schlussfolgert, dass die von ihm befragten Lehrkräfte zwischen verschiedenen Zielbündeln und literaturdidaktischen Grundpositionen nicht differenzieren, sondern darauf insgesamt selektiv zugreifen und offenbar einzelne, wenngleich oft auch disparate Teilelemente zu einem (wenn man so will) postmodernen literaturdidaktischen Gesamtglomerat (‚anything goes’) amalgamieren (Gattermaier 2003, 238).
Ähnlich stellt Killus (1998) fest, dass die von ihr ermittelten Einstellungstypen bezogen auf die Arbeit mit dem Lesebuch („thematisch-leserorientierte Einstellung“ und „literaturkundlich-werkorientierte Einstellung“) nicht zur Dichotomisierung der untersuchten Stichprobe taugen, sondern beliebig miteinander kombiniert werden (Killus 1998, 122 f. u. 135). Beide Untersuchungen zeigen jedoch methodische Defizite bei der Auswertung der erhobenen Daten (s. o.), so dass die dokumentierten Resultate allenfalls den Status von Hypothesen haben. In der qualitativen Interview-Studie von Wieser (2008) sind die Konzepte „Leseförderung“ und „Literarische Bildung“ klar zu unterscheiden, ohne sich in allen Punkten auszuschließen. Eine besondere Stellung aus der Perspektive der Deutschlehrkräfte scheinen die Verfahren des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts zu haben. Diese werden als Schwerpunkt der Unterrichtsentwicklung im Fach Deutsch in den 1990er Jahren wahrgenommen (Kunze 2004, 464). Zugleich verhalten sich die Lehrkräfte aber dezidiert wertend gegenüber den entsprechenden Verfahren, was deren Verwendung im Unterricht angeht. Die Zustimmung zum Einsatz handlungs- und produktionsorientierter Verfahren erscheint als zentrales Unterscheidungsmerkmal verschiedener Einstellungstypen von Deutschlehrkräften (Kunze 2004, Gattermaier 2003, Wieser 2008). Es muss noch einmal auf breiterer Basis und mit geeigneten Methoden untersucht werden, inwieweit die Lehrkräfte tatsächlich verschiedene Zielsysteme beim Umgang mit literarischen Texten beliebig amalgamieren und inwieweit sie verschiedene Umgangsweisen mit Texten (‚traditionell’ vs. ‚handlungs- und produktionsorientiert’) mehr oder weniger ausschließlich präferieren. Genauere Untersuchungen zu den Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften im Litera-
4.3 Aufgabenstellen und fachbezogene Überzeugungen
193
turunterricht fehlen bislang völlig. Dabei ist davon auszugehen, dass die Aufgabenpräferenzen von Lehrenden durchaus von deren literaturdidaktischen Zielvorstellungen beeinflusst sein können. Was den Umgang mit empirisch erhobenen Einstellungsmustern von Lehrkräften angeht, ist auf der Basis der theoretischen Überlegungen in diesem Teil der Arbeit ein differenzierender Blick anzumahnen. So erscheint Gattermaiers weiterführende Schlussfolgerung als nicht unproblematisch, wenn er schreibt: Dass gleichermaßen Zustimmung zu sehr heterogenen und zum Teil sogar sich ausschließenden Positionen gegeben wird, kann auch als zu gering ausgeprägtes Theoriebewusstsein oder sogar als explizites Theoriedefizit bei vielen Deutschlehrern ausgelegt werden. (Gattermaier 2003, 239)
Denn es hat sich gezeigt, dass explizites Wissen von Lehrpersonen und deren unterrichtsrelevante Einstellungen nicht gleichzusetzen sind. Einstellungen (individuelle Zielsysteme, subjektive Theorien zum Lehren und Lernen usw.) müssen nicht auf intersubjektiv tragfähigen argumentativen Stützen beruhen, sondern basieren zu nicht geringem Teil auf erfahrungsbasiertem impliziten Wissen. In diesem Kontext gibt es Belege, dass Lehrkräfte trotz explizitem Theoriebewusstsein individuell wissentlich in Distanz zu den bekannten didaktischen Theorien treten (Kunze 2004, Hoppe 2005). Aus Forschersicht erscheinen solche Diskrepanzen auffällig und auf den ersten Blick tatsächlich unbefriedigend oder gar spektakulär. Um aber nicht von vornherein eine forschungsimmanente Kluft zwischen ‚Theorie‘ und ‚Praxis‘ anzulegen, erscheint es mir sehr wichtig, die erhobenen Einstellungen von Lehrkräften zumindest zunächst nicht zu bewerten, sondern – soweit wertfreies Darstellen überhaupt möglich ist – nur zu beschreiben und theoriegeleitet zu erklären. Es ist aus wissenschaftlicher Perspektive anzuerkennen, dass die Überzeugungssysteme von Lehrkräften aus deren Sicht homogen und begründet sind. Eine kooperative Verbesserung der Unterrichtsqualität, die letztlich das Ziel didaktischer Forschung ist, kann nur gelingen, wenn sich Wissenschaftler und Lehrkräfte gegenseitig ernst nehmen.
5 Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften am Gymnasium
5.1 Entwicklung von Fragestellung und Untersuchungsinstrument Der hier vorgestellten Fragebogenerhebung sind zwei Pilotierungen vorausgegangen. An der ersten Pilotierung haben 124 Deutschlehrer/innen teilgenommen, an der zweiten 88 Deutschlehrer/innen. Im Verlauf der Pilotierung wurden unter Anwendung statistischer Verfahren Items ausgewählt und Auswertungsmethoden sowie die Fragestellung für die Haupterhebung angepasst. Das Untersuchungsinteresse zu Beginn des Projektes lag zunächst – relativ breit angelegt – darin, Muster von Aufgabenpräferenzen für den Literaturunterricht zu erforschen. Dabei bestand von Anfang an die Annahme, dass der Entscheidungsspielraum von Textverstehensaufgaben ein Merkmal unter anderen sein könnte, das die Präferenzen der Lehrkräfte besonders beeinflusst. Das aus didaktischer Sicht plausible breite Anfangsinteresse erwies sich als nicht vereinbar mit den Bedingungen, die für den Einsatz gängiger statistischer Auswertungsverfahren gelten (vgl. zu dieser Problematik auch Kap. 5.6). Deshalb wurde die Fragestellung zu einem frühen Zeitpunkt der Projektarbeit eingegrenzt und präzisiert und die Untersuchung rein hypothesengeleitet angelegt. Durch den Erkenntnisprozess während der Entwicklung des Fragebogens bedingt, geht die Auswertung der Haupterhebung jedoch letztlich in erheblichem Maß von einer explorativen Fragestellung aus. Die explorativ ermittelten Ergebnisse sollen in der Diskussion allerdings in Beziehung zu den ursprünglichen Hypothesen gesetzt werden. Da die Entwicklung von Fragestellung und Untersuchungsinstrument einen Erkenntnisprozess widerspiegelt, wie er zur Zeit relativ typisch sein dürfte für eine deutschdidaktische Annäherung an quantitative empirische Forschungsmethoden, wird zunächst der ‚Werdegang‘ des Forschungsprojektes etwas ausführlicher erläutert. Dies dient zum einen dazu, Fragebogenkonstruktion und die I. Winkler, Aufgabenpräferenzen für den Literaturunterricht, DOI 10.1007/978-3-531-92698-8_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
196
5 Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften am Gymnasium
Wahl der Auswertungsverfahren nachvollziehbar zu machen. Zum anderen aber lassen sich aus der ‚diachronen‘ Perspektive auf das Projekt Schlüsse ziehen, die das Verhältnis von Deutschdidaktik und quantitativer empirischer Forschung betreffen (vgl. dazu Kap. 5.6). Der Fragebogen der Haupterhebung (s. Anhang) besteht aus drei Teilen. Im allgemeinen Teil werden persönliche Angaben zu den Untersuchungsteilnehmern abgefragt (Fragen nach Geschlecht, Alter, Bundesland, Berufserfahrung). Es schließen sich zwei Teile an, die basierend auf den Ausgangshypothesen der Untersuchung entwickelt wurden. Zielrichtung und Entwicklung dieser beiden untersuchungsspezifischen Fragebogenteile werden im Folgenden erläutert. Die Items im ersten Teil des Fragebogens dienen dazu zu klären, inwieweit die in der Literatur beschriebenen „Extrempositionen zum Lernen und Lehren“ (Reinmann/Mandl 2006, 616) auch die lernprozessbezogenen Grundeinstellungen von Deutschlehrkräften am Gymnasium beeinflussen (vgl. hierzu ausführlicher Kap 4.3.2). Staub/Stern (2002) konnten diese „Extrempositionen“ für Mathematiklehrkräfte an der Grundschule als „direct-transmission view“ und „cognitive constructivist view“ nachweisen1. Die Ergebnisse der ersten und zweiten Pilotierung in der vorliegenden Untersuchung hatten die Hypothese erhärtet, dass auch für Deutschlehrer/innen entsprechende Grundeinstellungen anzunehmen sind. Hypothetisch konnten dabei auf Basis der Pilotierungsergebnisse zwei Gruppen von Lehrkräften unterschieden werden: (1) Lehrkräfte, für die Lernen sich als Nachvollziehen fest stehender Inhalte (Lösungen, Zusammenhänge) vollzieht; (2) Lehrkräfte, für die Lernen ein eigenständiger Konstruktionsprozess der Schüler/innen ohne determinierte Ergebnisse ist. Die lernprozessbezogenen Grundeinstellungen der Deutschlehrkräfte sind im Kontext der vorliegenden Untersuchung deshalb von Interesse, weil man annehmen kann, dass allgemeine Auffassungen vom Lehren und Lernen im Literaturunterricht sich auf die Aufgabenpräferenzen der Lehrkräfte auswirken. So ver-
1
Staub/Stern (2002) nutzten einen von Fennema et al. (1990) entwickelten Fragebogen, der sich ebenfalls an Lehrkräfte in der Primarstufe richtete, die Mathematikunterricht erteilen.
5.1 Entwicklung von Fragestellung und Untersuchungsinstrument
197
muten Staub/Stern für den Mathematikunterricht und können dies in ihrer Studie auch nachweisen: There is reason to assume that teachers’ preferences in selecting tasks and assisting students’ learning activities are essentially shaped by their belief systems about learning mathematics. (Staub/Stern 2002, 344)
Zwar ist im Rahmen der vorliegenden Erhebung keine Aussage über den tatsächlichen Aufgabeneinsatz (task in process) möglich, aber Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen professionsbezogenen Einstellungen liefern eine wichtige Grundlage für unterrichtsbezogene Anschlussuntersuchungen. Die Items im ersten Teil des Fragebogens, die auf Grundlage der Pilotierungsergebnisse ausgewählt wurden, sollen also der entsprechenden Gruppeneinteilung der Lehrkräfte nach lernprozessbezogenen Grundeinstellungen dienen. Dazu ist anzumerken, dass sich die Daten der Haupterhebung anders verhalten als die Daten aus der zweiten Pilotierung. Durchgeführt wurde jeweils eine Faktorenanalyse über die Items des ersten Fragebogenteils mit dem Ziel, latente Variablen zu identifizieren, die das Antwortverhalten der Probanden beeinflussen. Latente Variablen sind nicht-sichtbare Merkmale der befragten Personen, von denen man annimmt, dass es sie gibt – hier also deren lernprozessbezogene Grundeinstellungen. Die Ergebnisse einer Faktorenanalyse über die Items des ersten Fragebogenteils in der Haupterhebung unterscheiden sich von den Ergebnissen in der Pilotierung. Allerdings können auch die in der Haupterhebung ermittelten beiden Faktoren gut im Sinne der Annahme der beiden genannten lernprozessbezogenen Grundeinstellungen interpretiert werden (dazu Kap. 5.3.1.2). In der Pilotierung war jedoch bei der Faktorenanalyse über die Items des ersten Fragebogenteils noch ein dritter Faktor aufgetreten, der als Indikator für eine latente Variable „Schülerzentrierung“ interpretiert werden konnte. Auf dieser Basis wurde für die Haupterhebung folgende Hypothese2 A formuliert:
2
Bei statistischen Hypothesen ist die Hypothese H1 jeweils die Alternativhypothese, die angibt, was man als neu – als „Erweiterung oder Alternative zum bestehenden Wissen“ – herausfinden will. „Das Gegenteil der Alternativhypothese wird als Nullhypothese H0 bezeichnet. Nullhypothesen unterstellen, dass es keine Zusammenhänge, keine Unterschiede gibt.“ (Nachtigall/Wirtz 2006, 124; Hervorhebungen ebd.)
198
5 Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften am Gymnasium
H0 a: Gruppe 1 und Gruppe 2 gestalten ihren Unterricht gleichermaßen schülerzentriert. H1 a: Gruppe 2 gestaltet ihren Unterricht stärker schülerzentriert als Gruppe 1.
Hintergrundüberlegung für diese Hypothese war die Beobachtung, dass sowohl die instruktionistische als auch die konstruktivistische Grundposition zum Lehren und Lernen i. d. R. in Verbindung gebracht wird mit dem Einsatz bestimmter Sozialformen. Dabei wird der Einsatz offener, schülerzentrierter Verfahren wie der Gruppenarbeit der konstruktivistischen Grundposition zugeordnet, während ein hoher Grad an Lehrerlenkung und Frontalunterricht mit der instruktionistischen Grundposition verbunden werden (vgl. Dubs 1995, Mandl et al. 1998, Reinmann/Mandl 2006, Reusser 2006; vgl. auch Kap. 4.3.2). Lassen sich diese Zusammenhänge in den von den Untersuchungsteilnehmern geäußerten Einstellungen nachweisen? Aufgrund der veränderten Datenstruktur in der Haupterhebung kann Hypothese A nicht mehr in der geplanten Weise überprüft werden, da für die Auswertung nur noch zwei Einzelitems (Item 1_1 und Item 1_7) verbleiben. Die Fragestellung jedoch, die hinter dieser Hypothese steckt, wird bei der Datenauswertung berücksichtigt (vgl. dazu Kap. 5.3.2). Der zweite Teil des Fragebogens enthält Aufgaben zu Wolfgang Borcherts Kurzgeschichte „Das Brot“, die Lehrwerken entnommen wurden. Auch dieser Fragebogenteil wurde in mehreren Schritten entwickelt. Ausgangspunkt waren Lernaufgaben zu literarischen Texten, wie sie sich in Lehrwerken für den Literaturunterricht finden, und die Überlegung, ob es Aufgabenmerkmale gibt, die Lehrkräfte für den Literaturunterricht bevorzugen. Ich habe also zunächst Deutschbücher daraufhin analysiert, was für literarische Texte am häufigsten darin vorkommen, und die Aufgaben zu diesen Texten auf charakteristische Merkmale hin untersucht. Die erste Pilotierung wurde durchgeführt, um Erkenntnisse darüber zu gewinnen, was für Aufgabenmerkmale bei Auswahlentscheidungen von Lehrpersonen überhaupt eine Rolle spielen. Zu diesem Zweck wurden im ersten Pilotfragebogen typische Aufgabenbeispiele zu prominenten literarischen Texten aus Lehrbüchern für den 9. Jahrgang präsentiert und jeweils danach gefragt, ob die Probanden diese Aufgabe einsetzen würden. Je nach der getroffenen Entscheidung („eher ja“ oder „eher nein“) waren dann verschiedene vorgegebene Be-
5.1 Entwicklung von Fragestellung und Untersuchungsinstrument
199
gründungen anzukreuzen oder eine eigene Begründung zu ergänzen. Dabei zeigte sich, dass der Entscheidungsspielraum, den eine Aufgabe den Lernenden eröffnet, die am häufigsten genannte Begründung für Zustimmung oder Ablehnung gegenüber einem Aufgabenbeispiel war. Dieses Pilotierungsergebnis deckte sich mit theoretischen Vorüberlegungen zu lernrelevanten Merkmalen von Textverstehensaufgaben. Auch aus Forscherperspektive erscheint der Entscheidungsspielraum als ein zentrales Merkmal von Aufgaben zum Textverstehen (vgl. oben Kap. 2.2.2). U. a. gestützt auf die Ergebnisse der ersten Pilotierung wurden für den Fragebogen acht Aufgabenbeispiele ausgewählt, die sich – zumindest aus Forschersicht – im Wesentlichen in dem von ihnen eröffneten Entscheidungsspielraum unterscheiden. Die ausgewählten Aufgabenbeispiele waren so entweder schon in der ersten Fragebogenversion enthalten und Grundlage für die oben erwähnte Einschätzung der Aufgabenbeispiele durch die Probanden der ersten Pilotierung, oder aber sie zeigen größtmögliche Parallelen zu den Aufgabenbeispielen aus der ersten Pilotierung. Da in der zweiten Pilotierung der Entscheidungsspielraum der Aufgaben als entscheidungsrelevantes Aufgabenmerkmal fokussiert werden sollte, erschien es erforderlich, die übrigen Aufgabenmerkmale und die Rahmenbedingungen für die Einschätzung der Aufgaben möglichst konstant zu halten. Deshalb beziehen sich alle für den zweiten Fragebogenteil letztlich ausgesuchten Aufgabenbeispiele auf denselben Text (W. Borchert, „Das Brot“). Außerdem gibt der Fragebogen die Jahrgangsstufe und die Zielstellung für den Einsatz der Aufgaben vor. Die Untersuchungsteilnehmer werden aufgefordert, die Aufgabenbeispiele daraufhin einzuschätzen, ob sie sie in ihrem Unterricht so einsetzen würden. Gegeben ist eine fünfstufige Antwortskala von „1 = nein“ bis „5 = ja“ (vgl. Fragebogen im Anhang). Vier der im Fragebogen präsentierten Aufgabenbeispiele weisen einen eher hohen und vier einen eher geringen Entscheidungsspielraum auf. Um den Entscheidungsspielraum der für den Fragebogen ausgewählten Aufgabenbeispiele zu bestimmen, haben neben der Verfasserin drei weitere Aufgabenexpertinnen voneinander unabhängig den Entscheidungsspielraum der gewählten Aufgabenbeispiele auf einer fünfstufigen Skala (1 = gering, 2 = eher gering, 3 = mittel, 4 = eher hoch, 5 = hoch) eingeschätzt. Dabei hat sich eine sehr hohe Beurteilerüber-
200
5 Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften am Gymnasium
einstimmung ergeben (ICCjust, MW = 0.95).3 Dieser Vorabeinschätzung entsprechend repräsentieren die Items 2, 4, 5, 6 hohen Entscheidungsspielraum und die Items 1, 3, 7, 8 niedrigen Entscheidungsspielraum (vgl. Tabelle 5.1).
3
Die ICC ist die Intraklassenkorrelation, die als angemessene Methode zur Bestimmung der Interraterreliabilität gilt, wenn für dasselbe Merkmal mehrere intervallskalierte Ratingwerte vorliegen. Die ICC „ist ein Maß dafür, wie gut die Werte eines individuellen Raters mit dem Urteil eines beliebigen anderen Raters korreliert [sic]“ (Wirtz/Caspar 2002, 158). Die ICC kann Werte zwischen 0 und 1 annehmen. Ein Wert von 0 besagt, dass es keinen Zusammenhang zwischen dem Urteil der Rater gibt, ein Wert von 1 steht für maximalen Zusammenhang zwischen den Raterurteilen. Zur Entscheidung für die ICCjust, MW (vgl. Wirtz/Caspar 2002, 158-228): Bei der Einschätzung des Entscheidungsspielraums der Aufgabenbeispiele werden die Mittelwertsunterschiede der Urteile der einzelnen Rater signifikant auf einem Niveau von α = 0.25 (p = 0.123 < α = 0.25). D. h. dass tendenziell unterschiedliche Ratermittelwerte vorliegen, die Unterschiede aber nicht sehr deutlich ausfallen. Wirtz/Caspar (2002, 188) betonen jedoch, dass für die Testung der Homogenität der Mittelwerte ein (eher hohes) Signifikanzniveau von α = 0.25 gewählt werden soll, um den möglichen Einfluss der Raterurteile auf die Reliabiliät unbedingt im Blick zu haben. Um zu überprüfen, inwieweit der Faktor Rater die Reliabilitätsmaße tatsächlich beeinflusst, sind in einem nächsten Schritt die Werte der ICCjust und der ICCunjust zu vergleichen. Wenn die Mittelwertsunterschiede der Raterurteile nur zufallsbedingt sind, liegt der Wert der ICCjust im Vergleich nur unwesentlich höher (ebd., 189). Im vorliegenden Datensatz fallen sowohl die ICCunjust mit 0.79 als auch die ICCjust mit 0.82 ähnlich hoch aus, trotz der tendenziell unterschiedlichen Ratermittelwerte. Der Einfluss des Faktors Rater auf die Reliabilitätsmaße ist also unerheblich. Für die Interpretation der Daten folgt aus den gegebenen Hinweisen auf die Ratermittelwertsunterschiede gleichwohl, dass die einzelnen Werte eines Raters nicht absolut gewertet werden sollten. „Es ist davon auszugehen, dass ein anderer als der jeweils betrachtete Rater trotz der Reliabilität des Urteils deutlich andere absolute Werte bei der Beurteilung desselben Objekts vergibt.“ (Wirtz/Caspar 2002, 187) Wichtig ist im Kontext der hier vorliegenden Fragestellung allerdings, dass die Rangfolge übereinstimmt, die die Rater den Aufgabenbeispielen bezogen auf die Ausprägung des Entscheidungsspielraums zuweisen. Deshalb wird eine justierte ICC berechnet, die die relative Übereinstimmung der Raterurteile angibt. Zentral erscheint vor dem Hintergrund tendenziell unterschiedlicher Ratermittelwerte zugleich die Reliabiliät der Mittelwerte der einzelnen Aufgabeneinschätzungen, nicht die Reliabilität der Einzelurteile. Kann man also der Rangreihe der Aufgabenbeispiele vertrauen, wie sie sich aus der von den Ratern im Mittel eingeschätzten Ausprägung des Entscheidungsspielraums ergibt (Spalte „Mittelwert“ in Tabelle 5.1)? Auskunft hierüber gibt der Wert der ICCjust, MW, der mit 0.95 sehr gut ausfällt. Da die Raterstichprobe als „fixed“ gelten kann, ist die ICCjust, MW als Reliabilitätsmaß zu werten (ebd., 189 f.).
201
5.1 Entwicklung von Fragestellung und Untersuchungsinstrument
Tab. 5.1:
Ratereinschätzungen der Aufgabenbeispiele (Einschätzung des Entscheidungsspielraums auf einer fünfstufigen Skala: 1 = gering; 5 = hoch) N (Anzahl Ratereinschätzungen)
Minimum
Maximum
Mittelwert
Standardabweichung
Aufgabe 1
4
2,00
2,00
2,00
,00000
Aufgabe 2
4
3,00
5,00
4,00
,81650
Aufgabe 3
4
2,00
2,00
2,00
,00000
Aufgabe 4
4
3,00
4,00
3,75
,50000
Aufgabe 5
4
4,00
4,00
4,00
,00000
Aufgabe 6
4
4,00
5,00
4,50
,57735
Aufgabe 7
4
2,00
3,00
2,50
,57735
Aufgabe 8
4
1,00
3,00
2,00
,81650
In der zweiten Pilotierung galt es vor dem skizzierten Hintergrund zu testen, ob zwischen den beiden angenommenen Gruppen von Lehrkräften Unterschiede hinsichtlich der Höhe des bevorzugten Entscheidungsspielraums festzustellen sind. Dabei stand zu erwarten, dass Lehrkräfte der Gruppe 2 einen höheren Entscheidungsspielraum bevorzugen als Lehrkräfte der Gruppe 1. Denn die Höhe des Entscheidungsspielraums, den eine Aufgabe bietet, hängt u. a. ab von der Zahl der möglichen Lösungswege, dem Grad der Festlegung des Untersuchungsgegenstandes und der Zahl in Frage kommender Lösungen. Diese Aufgabenmerkmale aber bestimmen ganz wesentlich, inwieweit Verlauf und Ergebnis des Lernprozesses der Schülerinnen und Schüler determiniert ist, und tangieren auf diese Weise zumindest theoretisch die lernprozessbezogenen Grundeinstellungen der Lehrkräfte. Die erwarteten Unterschiede ließen sich mit den in der zweiten Pilotierung angewendeten Verfahren4 auch nachweisen, so dass zu Beginn der
4
Zur Ermittlung des präferierten Entscheidungsspielraums wurde ein Summenscore gebildet (Summe der Zustimmungswerte zu den Aufgaben mit hohem Entscheidungsspielraum minus Summe der Zustimmungswerte zu den Aufgaben mit niedrigem Entscheidungsspielraum). Für die Gruppenbildung mit Hilfe von Fragenbogenteil 1 wurde ebenfalls mit Summenscores auf Basis der ermittelten Faktoren gearbeitet, wobei die Entscheidung zur Grenzziehung zwischen den
202
5 Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften am Gymnasium
Haupterhebung, was das Verhältnis von lernprozessbezogener Grundeinstellung und Aufgabenpräferenzen betrifft, folgende Hypothese B stand: H0 b: Gruppe 1 bevorzugt bei Aufgaben denselben Entscheidungsspielraum wie Gruppe 2. H1 b: Gruppe 1 bevorzugt bei Aufgaben geringeren Entscheidungsspielraum als Gruppe 2.
Mit Blick auf den in der Pilotierung ermittelten Faktor ‚Schülerzentrierung‘ im ersten Fragebogenteil wurde zusätzlich ausgegangen von Hypothese C: H0 c: Die Höhe des präferierten Entscheidungsspielraums ist unabhängig vom Ausmaß der Schülerzentrierung. H1 c: Je höher Ausmaß der Schülerzentrierung, desto höher ist der präferierte Entscheidungsspielraum.5
Was den zweiten Fragebogenteil betrifft, schienen aus Forschersicht zunächst die nötigen Schritte zur Erhebung des von den Probanden bevorzugten Entscheidungsspielraums von Lernaufgaben im Literaturunterricht unternommen (Beschränkung auf einen Text, Vorgabe von Jahrgang und Zielstellung für den Aufgabeneinsatz, reliable Ratereinschätzungen der Aufgabenbeispiele bezogen auf das interessierende Merkmal Entscheidungsspielraum). Allerdings war mit Hypothese B auch eine Verengung der Fragestellung der Untersuchung auf einen einzelnen – wenn auch theoretisch relevanten – Teilaspekt erfolgt, weil mit der Entscheidung für eine quantitative Erhebung die Ergebnisse der Erhebung auch irgendwie ‚berechenbar‘ zu halten waren.6 Diese Perspektivverengung erschien
5
6
beiden Gruppen nicht willkürlich, sondern datenbasiert getroffen wurde. Hypothese B wurde überprüft durch das Testen von Unterschieden. Geplantes Auswertungsverfahren zur Überprüfung von Hypothese C war nach der Pilotierung das Testen von Zusammenhängen unter Berücksichtigung von Mediationseffekten; denn in der Pilotierung war hier ein Mediationseffekt nachweisbar: Für den Zusammenhang zwischen Schülerzentrierung und präferiertem Entscheidungsspielraum war die Gruppenzugehörigkeit verantwortlich. Bezeichnend für die zunächst nicht unproblematische Begegnung von deutschdidaktischer und quantitativ-empirischer Perspektive war ein Einwand einer zu Rate gezogenen Psychologin nach der ersten Pilotierung. Der ersten Pilotierung lag ein Fragebogen zugrunde, der – aus einem brei-
5.1 Entwicklung von Fragestellung und Untersuchungsinstrument
203
zwar einerseits mit den Ratereinschätzungen der Aufgabenbeispiele und den Pilotierungsergebnissen empirisch7 begründet und verlockend klar, andererseits aber blieben die Zweifel an der Vereinfachung komplexer Zusammenhänge wach. Tatsächlich zeigten erneute, auf den erwähnten Zweifeln beruhende explorative Berechnungen – nun bereits mit den Daten aus der Haupterhebung –, dass die gewählten Beispielaufgaben aus Probandensicht nicht nur ein zentrales Merkmal („Entscheidungsspielraum“) repräsentieren. Das heißt, dass für die Aufgabenpräferenzen der Lehrkräfte verschiedene Aufgabenmerkmale ausschlaggebend sind, nicht nur der bei der Entwicklung des Fragebogens so stark fokussierte Entscheidungsspielraum: Aus den Daten der Haupterhebung ergeben sich aus einer explorativen Faktorenanalyse zu den Items im zweiten Teil des Fragebogens drei Faktoren mit einer Gesamtaufklärung von 51,6 %8. Dies ist im Grunde auch nicht überraschend; denn auf die vielfältigen Variablen, die beim Einsatz von Lernaufgaben im Literaturunterricht eine Rolle spielen, wurde bereits oben in Kap. 2.3 hingewiesen. Allerdings wird dadurch die Auswahl eines anderen Auswertungsverfahrens erforderlich anstelle des ursprünglich geplanten Testens von Unterschieden zwischen den Gruppen bezüglich des bevorzugten Entscheidungsspielraums.9
7
8
9
ten Anfangsinteresse an den Aufgabenpräferenzen von Lehrkräften heraus – ein ebenso breites Spektrum von Aufgabenmerkmalen berücksichtigt hatte und zudem offene Antwortformate enthielt. Die betretene Frage der Psychologin lautete: „Wie wollen Sie denn das rechnen?“ Zuweilen kann man – bei sich und bei anderen – die Beobachtung machen, dass im Zuge der Hinwendung der Deutschdidaktik zur Empirie das Attribut „empirisch“ als Qualitätskriterium per se verstanden wird. Interessant ist dabei allerdings, dass alle vier Items aus Teil 2, die nach theoretischer Einschätzung niedrigen Entscheidungsspielraum haben, auf einem gemeinsamen Faktor laden. Komponente 2 wird repräsentiert von Items mit eher mittlerem Entscheidungsspielraum, Komponente 3 von den Items mit dem theoretisch höchsten Entscheidungsspielraum. Diese Art „learning by doing“ kann man durchaus kritisch sehen. Sie scheint mir aber bezeichnend für gegenwärtige Probleme deutschdidaktischer empirischer Forschung zumindest in Einzelprojekten zu sein.
204
5 Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften am Gymnasium
Die Fragestellung, unter der die Angaben der Untersuchungsteilnehmer/innen im zweiten Teil des Fragebogens ausgewertet werden, lautet nunmehr: Zeigen die befragten Deutschlehrkräfte bezogen auf die im Fragebogen vorgelegten Beispielaufgaben Antwortmuster, die auf Typen von interindividuellen Aufgabenpräferenzen schließen lassen? Diese Frage erschien von Beginn des Projektes an interessant (vgl. auch Kap. 4.3.1), nur war mir zunächst kein geeignetes Auswertungsverfahren bekannt.10 Ein solches Verfahren, das sich für die explorative Ermittlung von Typen eignet, die sich qualitativ unterscheiden, ist die latente Klassenanalyse (LCA). Sie ermöglicht es, eine Klassen- oder Typeneinteilung der Personen zu finden, die den Testdaten möglichst gerecht wird, d. h. die beobachtbaren Antwortmuster gut beschreibt (Rost 2004, 148).
Bei der Interpretation der festgestellten Präferenztypen kann dann wiederum, die Vorüberlegungen aufgreifend, ein besonderes Augenmerk u. a. darauf liegen, ob der Entscheidungsspielraum der Beispielaufgaben die Aufgabenpräferenzen beeinflusst. Auch sind nach wie vor die Zusammenhänge zu überprüfen zwischen den im ersten Fragebogenteil erhobenen lernprozessbezogenen Grundeinstellungen für den Literaturunterricht und den ermittelten Aufgabenpräferenzen, d. h. nunmehr: der Klassenzugehörigkeit laut LCA.
5.2 Beschreibung der Stichprobe Die Haupterhebung wurde im Schuljahr 2006/2007 unter insgesamt 428 Deutschlehrkräften an Gymnasien in Bayern, Berlin/Brandenburg, NordrheinWestfalen, Rheinland-Pfalz und Thüringen durchgeführt (Rücklauf der Fragebögen bis September 2007). Probanden mit fehlenden Werten in den inhaltsbezogenen Fragebogenteilen 1 und 2 wurden ausgeschlossen. Im Datensatz verbleiben damit 382 Personen. 10 Den entscheidenden Hinweis verdanke ich Nina Jude vom DIPF (Frankfurt a. M.).
5.2 Beschreibung der Stichprobe
205
Befragt wurden ausschließlich Lehrerinnen und Lehrer an Gymnasien; denn vor allem im Deutschunterricht am Gymnasium haben literarische Texte einen prominenten Platz (vgl. dazu zuletzt die DESI-Ergebnisse; vgl. zu schulformspezifischen Einstellungen von Lehrkräften auch oben, Kap. 4.3.2). In der ersten Pilotierung der vorliegenden Fragebogenuntersuchung wurden auch Lehrkräfte anderer Schultypen zu ihren Aufgabenpräferenzen beim Umgang mit literarischen Texte im Unterricht befragt. Von diesen gab es aber immer wieder das Feedback, dass literarische Texte wie die in der Untersuchung genutzten (in der ersten Pilotierung waren das neben „Das Brot“ noch „Nachts schlafen die Ratten doch“ von Borchert, „Fünfzehn“ von R. Kunze und „Willkommen und Abschied“ von Goethe) in ihrem Unterricht keine Rolle spielten. Für die Haupterhebung wurde die Stichprobe deshalb hinsichtlich der Schulform homogenisiert. Alle Aussagen, die auf Basis der erhobenen Ergebnisse zu treffen sind, beziehen sich also auf die befragten Deutschlehrkräfte an Gymnasien und können nicht auf Deutschlehrkräfte insgesamt übertragen werden. Auch für Deutschlehrkräfte an Gymnasien allgemein sind Aussagen aufgrund der begrenzten Repräsentativität der Stichprobe (s. u.) mit Vorsicht zu treffen und haben den Status begründeter Hypothesen. Die Probanden wurden in den meisten Fällen über den Kontakt zu ihren Schulen gewonnen. Dabei wurden die Schulen teilweise zufällig aus Listen von Schulen im betreffenden Bundesland, teilweise unter der Nutzung persönlicher Kontakte und Empfehlungen ausgewählt. Nach vorheriger Absprache mit der Schulleitung und, sofern nötig, mit Genehmigung des jeweils zuständigen Kultusministeriums wurden die Fragebögen an die ausgewählten Schulen verschickt und dort an die Deutschlehrer/innen verteilt. Der Rücklauf der Fragebögen aus den Schulen war unterschiedlich gut. Ein Teil der ausgefüllten Fragebögen stammt auch von Lehrkräften, die auf Fortbildungsveranstaltungen oder – aufgrund von Genehmigungsproblemen – privat außerhalb öffentlicher Bildungseinrichtungen für die Teilnahme an der Befragung gewonnen werden konnten. Man kann vor dem skizzierten Hintergrund sicher nicht von einer repräsentativen Stichprobe sprechen. Allerdings wurde versucht, Lehrerinnen und Lehrer aus Bundesländern mit unterschiedlicher Bildungstradition zu gewinnen (NRW und Rheinland-Pfalz vs. Bayern, neue vs. alte Bundesländer) und so auswahlbe-
206
5 Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften am Gymnasium
dingten Verzerrungen der Ergebnisse vorzubeugen. Die folgende Tabelle zeigt die Verteilung der Stichprobe nach Bundesländern. Tab. 5.2:
Beschreibung der Stichprobe nach Bundesländern11 Anzahl Probanden
Anteil an Gesamtstichprobe in Prozent
Thüringen
111
29,1
Rheinland-Pfalz
22
5,8
Berlin und Brandenburg
71
18,6
Bayern
84
22,0
Bundesland
NRW
94
24,6
Gesamt
382
100,0
In der Stichprobe überwiegt der Anteil der weiblichen Lehrkräfte (vgl. Tabelle 5.3).12 Tab. 5.3:
Beschreibung der Stichprobe nach Geschlecht Anzahl Probanden
Anteil an Gesamtstichprobe in Prozent
Anteil an gültigen Angaben in Prozent
männlich
89
23,3
25,2
weiblich
264
69,1
74,8
Gesamt
100,0
Geschlecht Gültige Angaben
353
92,4
Keine Angabe
29
7,6
Gesamt
382
100,0
Sowohl was das Alter als auch was die Dauer der Berufstätigkeit als Lehrer/in betrifft, zeigen die folgenden Übersichten, dass die Stichprobe jeweils ein breites 11 Die Angaben in dieser und den folgenden Tabellen sind gerundet, deshalb ergeben sich bei der Addition z. T. minimale Abweichungen um 0.1. 12 Es wäre ggf. zu überprüfen, inwieweit diese Verteilung den Geschlechtsverhältnissen unter Deutschlehrkräften insgesamt entspricht. Auch unter den im Rahmen von DESI befragten Deutschlehrkräften überwiegt der Anteil der Frauen deutlich – hier waren 65 % der Befragten Frauen, 35 % Männer (Ehlers 2007, 232).
207
5.2 Beschreibung der Stichprobe
Spektrum abdeckt. Auch diesbezüglich müssen für die Aussagekraft der Untersuchungsergebnisse also nicht von vornherein Einschränkungen gemacht werden. Tab. 5.4:
Beschreibung der Stichprobe nach Alter Alter
Gültige Angaben
Anzahl Probanden
Anteil an gültigen Angaben in Prozent
bis 30
27
7,1
7,1
31 bis 40
104
27,2
27,4
41 bis 50
126
33,0
33,2
51 bis 60
115
30,1
30,3
über 60
8
2,1
2,1
Gesamt
380
99,5
100,0
2
0,5
382
100,0
Keine Angabe Gesamt
Tab. 5.5:
Anteil an Gesamtstichprobe in Prozent
Beschreibung der Stichprobe nach Dauer der Berufstätigkeit als Lehrer/in
Dauer der Berufstätigkeit bis 5 Jahre
Anzahl Probanden
Anteil an Gesamtstichprobe in Prozent
72
18,8
6 bis 10 Jahre
57
14,9
11 bis 20 Jahre
74
19,4
21 bis 30 Jahre
127
33,2
über 30 Jahre
52
13,6
Gesamt
382
100,0
Die Zahl der Probanden, die nach Ausschluss der Personen mit fehlenden Werten in der Stichprobe verblieben sind, ist mit n = 382 recht hoch. Zudem hat die Beschreibung der Stichprobe gezeigt, dass die befragten Personen hinsichtlich Alter, Dauer der Berufstätigkeit, Herkunft (Bundesland, in dem unterrichtet wird) und – mit Einschränkung – auch Geschlecht einen breiten Querschnitt der
208
5 Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften am Gymnasium
Deutschlehrerkräfte an bundesdeutschen Gymnasien repräsentieren. Die folgenden Ergebnisse beruhen also auf einer soliden Datenbasis.
5.3 Allgemeine Einstellungen zum Lehren und Lernen im Literaturunterricht
5.3.1 Lernprozessbezogene Grundeinstellungen: Zwei Gruppen von Lehrkräften? Die Untersuchung geht in diesem Teil von der Annahme aus, dass sich auch unter Deutschlehrkräften zwei Extrempositionen zum Lehren und Lernen finden lassen, die man schlagwortartig als eher instruktionistische Grundeinstellung einerseits und als eher konstruktivistische Grundeinstellung andererseits bezeichnen kann. Auf Basis der Pilotierungsergebnisse wird – mit Blick auf die im Fragebogenteil 1 verbliebenen Items – in dieser Arbeit von lernprozessbezogenen Grundeinstellungen gesprochen. Es gilt zu überprüfen, ob sich unter den Probanden je nach lernprozessbezogener Grundeinstellung zwei Gruppen von Lehrkräften unterscheiden lassen (vgl. oben, Kap. 5.1), nämlich (1) Lehrkräfte, für die Lernen sich als Nachvollziehen fest stehender Inhalte (Lösungen, Zusammenhänge) vollzieht (eher instruktionistische Einstellung); (2) Lehrkräfte, für die Lernen ein eigenständiger Konstruktionsprozess der Schülerinnen und Schüler ohne determinierte Ergebnisse ist (eher konstruktivistische Einstellung).
5.3.1.1 Skalenbildung Aufgrund der Pilotierungsergebnisse konnte angenommen werden, dass sich die Items im ersten Teil des Fragebogens eignen, um Aufschluss über die lernprozessbezogenen Grundeinstellungen zu gewinnen, die die befragten Lehrkräfte für den Literaturunterricht haben. Diese Annahme war mit der Datenlage aus der
5.3 Allgemeine Einstellungen zum Lehren und Lernen im Literaturunterricht
209
Haupterhebung abzugleichen. In einem ersten Schritt wurde deshalb eine exploratorische Faktorenanalyse über die ersten sechs Items13 des ersten Fragebogenteils durchgeführt, um die Items auf latente Variablen zurückzuführen. Dabei konnten zwei Faktoren mit Eigenwerten über 114 extrahiert werden, die zusammen 54 % der Gesamtvarianz – d. h. nicht-mathematisch ausgedrückt und etwas vereinfachend: des Antwortverhaltens der Probanden – erklären (vgl. die folgende Tabelle 5.6). Tab. 5.6:
Eigenwertetabelle der Hauptkomponentenanalyse über die Items aus dem ersten Fragebogenteil
Komponente 1 2 3 4 5 6
Anfängliche Eigenwerte % der Kumulierte Gesamt Varianz % 1.817 30.279 30.279 1.433 23.884 54.162 .894 14.908 69.070 .726 12.095 81.165 .649 10.817 91.983 .481 8.017 100.000
Summen von quadrierten Faktorladungen für Extraktion % der Kumulierte Gesamt Varianz % 1.817 30.279 30.279 1.433 23.884 54.162
Auch ein weiteres Kriterium für die Entscheidung dafür, wie viele Faktoren relevant sind, der Scree-Plot, weist auf eine zweifaktorielle Lösung hin. Der Scree-Plot knickt am dritten Punkt, d. h. das Gefälle bricht hier ab, und das Kurvenprofil verläuft nach rechts weiter ähnlich wie „Geröll“ (engl. „scree“) – daher die Bezeichnung – am Fuß eines Hanges. Als relevante Faktoren werden i. d. R. alle Punkte vor dem Knick betrachtet (vgl. Abb. 5.1). Der Scree-Plot ist dabei aber nicht isoliert zu sehen, sondern in Beziehung zu setzen zu anderen Extraktionskriterien für Faktoren (vgl. z. B. Bühner 2004, 162).
13 Item 1_7 wurde wegen des abweichenden Antwortformats in diese Analyse nicht einbezogen. 14 Die Berücksichtigung des Eigenwertes der ermittelten Faktoren ist eines von mehreren Kriterien, um zu entscheiden, wie viele der rechnerisch ermittelten Faktoren bedeutsam sind. „Ein Eigenwert (…) drückt die ‚Wichtigkeit’ eines Faktors aus. Ist der Eigenwert eines Faktors größer als Eins, klärt er mehr Varianz auf als eine standardisierte Variable oder Item (…). Bei dieser Regel wird angenommen, dass ein Faktor zumindest so viel Varianz aufklären sollte wie eine einzige Variable.“ (Bühner 2004, 161)
210
5 Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften am Gymnasium
Abb. 5.1:
Screeplot über die Items des ersten Fragebogenteils 1,8
1,6
Eigenwert
1,4
1,2
1,0
0,8
0,6
0,4 1
2
3
4
5
6
Faktor
Im nächsten Schritt wurde eine exploratorische Faktorenanalyse mit der Vorgabe von zwei Faktoren und Varimax-Rotation durchgeführt, um die Faktorladungen inhaltlich interpretieren zu können. Tabelle 5.7 zeigt die Faktorladungsmatrix. Auf dem ersten Faktor laden die Items 1_2, 1_3, und 1_4 hoch, auf dem zweiten Faktor laden die Items 1_1, 1_5 und 1_6. Item 1_1 weist die niedrigste Ladung auf. Im Folgenden wurden jeweils Reliabilitätsanalysen für die Items der beiden Faktoren durchgeführt. Skala 234 (Items 1_2, 1_3 und 1_4) erreicht dabei eine Reliabilität von α = 0.54, Skala 156 (Items 1_1, 1_5 und 1_6) eine Reliabilität von α = 0.52. Item 1_1 weist für Skala 56 eine sehr niedrige Trennschärfe auf. Eine Skalenanalyse ohne Item 1_1 führt zu einer Verbesserung der Reliabilität auf α = 0.62. Nach Faktoren- und Reliabilitätsanalysen lassen sich aus den Items 1 bis 6 des ersten Fragebogenteils also zwei Skalen extrahieren: Skala 56 besteht aus den Items 1_5 und 1_6, Skala 234 aus den Items 1_2, 1_3 und 1_4. Item 1_1 trägt nicht zur Verbesserung der Messeigenschaften von Skala 123 oder Skala 56 bei und wird deshalb keiner Skala zugeordnet.
211
5.3 Allgemeine Einstellungen zum Lehren und Lernen im Literaturunterricht
Tab. 5.7:
Exploratorische Faktorenanalyse mit der Vorgabe von 2 Faktoren15 Komponente
Item Nr. 1_1
Relevanz des Lehrer-Schüler-Gesprächs
1 -.403
2 .338
1_2
als Lehrer auch von Schülern lernen
.620
-.280
1_3
Aufgabenbearbeitung ohne Hilfe
.719
.209
1_4
Raum für eigenständiges Entdecken
.757
.002
1_5
klare, überschaubare Lösungen
-.135
.840
1_6
eindeutige Orientierung beim Aufgabenlösen
.104
.801
Die geringe Zahl der eingesetzten Items resultiert aus dem Entwicklungsprozess des Fragebogens im Rahmen einer deutschdidaktischen Einzeluntersuchung: Es war im Arbeitsfortgang nötig, auf der Basis der Pilotierungsergebnisse Auswahlentscheidungen zu treffen und mit der Arbeit am Projekt fortzufahren, auch wenn weniger Items als erhofft sich als geeignet für die Haupterhebung erwiesen hatten. Mit der geringen Anzahl der Items hängen u. a. auch die – zumindest aus Psychologensicht – eher mäßigen Reliabilitätswerte der Skalen zusammen, da bei der Berechnung von Cronbach′s Alpha aufgrund des Rechenweges die Werte umso höher werden, je mehr Items man verwendet (Bühner 2004, 122 u. 128). Vor diesem Hintergrund erscheinen die oben vorgestellten Werte annehmbar. Auf Basis der erhobenen Daten lässt sich aus deutschdidaktischer Sicht durchaus Aufschluss gewinnen bezogen auf die Untersuchungsfragen, zumal wenn man die gebotene Distanz gegenüber den Ergebnissen wahrt.
5.3.1.2 Inhaltliche Interpretation der Skalen Sind die für die Haupterhebung ausgewählten Items geeignet, um die angenommenen beiden lernprozessbezogenen Grundeinstellungen von Deutschlehrkräften 15 Extraktionsmethode: Hauptkomponentenanalyse; Rotationsmethode: Varimax mit KaiserNormalisierung.
212
5 Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften am Gymnasium
im Literaturunterricht zu erheben? Tatsächlich lassen sich die ermittelten Skalen inhaltlich entsprechend interpretieren. Auf dem ersten Faktor laden die folgenden Items hoch: Item 1_2: „Beim Umgang mit Literatur lerne auch ich von meinen Schüler/innen.“ (.620) Item 1_3: „Aufgaben müssen so konzipiert sein, dass meine Schüler/innen sie ohne meine Hilfe bearbeiten können.“ (.719) Item 1_4: „Ich bevorzuge Aufgaben, die den Schüler/innen großen Raum für eigenständiges Entdecken bieten.“ (.757) Die Zuordnung der Items zu einer latenten Variable (Faktor) geschieht aufgrund der Ähnlichkeit der Itemantworten. Die Items eines Faktors korrelieren hoch miteinander und stehen für ein gemeinsames latentes Merkmal, das es aufgrund inhaltlicher Interpretation aus den Items zu schließen gilt. „Die so genannte Ladung auf einem Faktor gibt an, wie gut ein Item einen Faktor ‚repräsentiert’“ (vgl. Bühner 2004, 151-153; Zitat ebd., 153). Charakteristisch für die Items auf diesem Faktor (Skala 234) ist, dass sie eine stark schülerorientierte Sichtweise repräsentieren. Dieser Auffassung entsprechend, versteht sich die Lehrperson nicht als alleinige Sachwalterin von Wissen und Erkenntnis, sondern steht diesbezüglich in eher kooperativer Beziehung zu den Lernenden. Ergebnisse von Lernprozessen stehen für diese Lehrkräfte nicht von vornherein fest – sonst wäre ein Lernen der Lehrkraft von den Schülerinnen und Schülern gar nicht möglich (vgl. Item 1_2). Wenn Schülerinnen und Schüler im Literaturunterricht Aufgaben bearbeiten, soll sich die Aufgabenbearbeitung als eigenständiger Lösungsprozess ohne Einflussnahme der Lehrkraft (Item 1_3: „ohne meine Hilfe“) vollziehen. Es geht nicht darum, fest stehende Lösungen nachzuvollziehen, sondern mögliche Lösungen in einem „großen Raum“ von Möglichkeiten selbst zu entdecken (Item 1_4). Die Items dieses Faktors repräsentieren also ausschnitthaft eine eher konstruktivistische Auffassung vom Lehren und Lernen, die eigenaktive konstruktive Prozesse auf Seiten der Lernenden zentral setzt und der Lehrperson v. a. die Rolle zuweist, Gelegenheiten zum selbstgesteuerten Lernen der Schüler/innen zu schaffen (vgl. u. a. Reinmann/Mandl 2006; vgl. auch Kap. 4.3.2.2) Eine hohe Zustimmung auf diesem Faktor kann von Lehrerinnen und Lehrern erwartet werden, „für die Lernen ein eigenständiger Konstruktionsprozess der Schü-
5.3 Allgemeine Einstellungen zum Lehren und Lernen im Literaturunterricht
213
ler/innen ohne determinierte Ergebnisse ist“ (s. o., Kap. 5.1, Hypothesen zur Gruppeneinteilung der Lehrkräfte). Auf dem zweiten Faktor (Skala 56) laden folgende Items hoch: Item 1_5: „Ich bevorzuge Aufgaben, für die es klare und überschaubare Lösungen gibt.“ (.840) Item 1_6: „Ich bevorzuge Aufgaben, die den Schüler/innen eine eindeutige Orientierung auf dem Weg zur Lösung bieten.“ (.801) Im Unterschied zu den Items auf Skala 234 stehen diese Items für die Präferenz für (a) „klare und überschaubare Lösungen“ im Gegensatz zu den ergebnisoffenen Lösungsprozessen und (b) für „eindeutige Orientierung“ bei der Aufgabenlösung im Gegensatz zum freien Explorieren in einem „großen Raum“. Zustimmung zu dieser Skala kann erwartet werden von Lehrkräften, die eher eine instruktionistische Auffassung vom Lernen und Lehren im Literaturunterricht vertreten. Diese instruktionistische Auffassung geht wie in Kap. 4.3.2.2 bereits dargestellt davon aus, dass der Lehrende den Lernenden die Unterrichtsinhalte als „fertiges System“ vermittelt (vgl. Reinmann/Mandl 2006; Zitat ebd., 619). Für Lehrerinnen und Lehrer, die Skala 56 zustimmen, vollzieht sich Lernen „als Nachvollziehen fest stehender Inhalte (Lösungen, Zusammenhänge)“ (s. Kap. 5.1, Hypothesen zur Gruppeneinteilung). Es gilt also zu klären, inwieweit sich die theoretisch deutlichen Unterschiede, wie sie die ermittelten Skalen hinsichtlich lernprozessbezogener Grundeinstellungen repräsentieren, auch im Antwortverhalten der Probanden bestätigt finden.
5.3.1.3 Zustimmung zu den Skalen: Gruppeneinteilung Zur Gruppeneinteilung der befragten Lehrkräfte wurde in zwei Schritten vorgegangen: (1) Ermitteln des Abgrenzungskriteriums zwischen hoher und geringer Zustimmung zu den beiden Skalen; (2) Zuordnung der Befragten zu den beiden angenommenen Gruppen.
214
5 Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften am Gymnasium
Es wurde zunächst ermittelt, wie hoch die durchschnittliche Zustimmung aller Befragten auf jeder der beiden Skalen ist. Bei beiden Skalen ergeben sich relativ hohe Zustimmungsmittelwerte, wobei die Untersuchungsteilnehmer der Skala 234 noch stärker beipflichten als der Skala 56. Tab. 5.8:
Skala 234 Skala 56 Gültig
Zustimmungsmittelwerte auf den Skalen des ersten Fragebogenteils N
Minimum
Maximum
Mittelwert
382 382 382
1,00 1,00
4,00 4,00
2,9232 2,5995
Standardabweichung ,51790 ,63415
Der gerundete Skalenmittelwert wurde als Abgrenzungskriterium gewählt, um zwischen hoher und geringer Zustimmung zur jeweiligen Skala zu unterscheiden, d. h.: Alle Untersuchungsteilnehmer, deren persönlicher Zustimmungswert auf einer Skala über der durchschnittlichen Zustimmung der Gesamtstichprobe auf dieser Skala liegt, werden als Probanden mit hoher Zustimmung zur betreffenden Skala gezählt; unterdurchschnittliche Zustimmung auf einer Skala im Vergleich zur Gesamtstichprobe wird als geringe Zustimmung gewertet. Dieses Einteilungsverfahren berücksichtigt das tatsächliche Antwortverhalten innerhalb der Stichprobe, anstatt den Trennwert zwischen hoher und geringer Zustimmung mehr oder weniger willkürlich festzulegen. Geht man von der theoretischen Vorannahme aus, dass sich hinsichtlich lernprozessbezogener Grundeinstellungen zwei Gruppen von Lehrkräften unterscheiden lassen, müssten die Untersuchungsteilnehmer entweder auf der einen oder auf der anderen der beiden Skalen hohe Zustimmungswerte und auf der jeweils anderen geringe Zustimmungswerte zeigen. Zur Gruppe der Lehrkräfte, für die Lernen sich als Nachvollziehen fest stehender Inhalte (Lösungen, Zusammenhänge) vollzieht (‚Instruktionisten‘16), können also alle Probanden zugeordnet werden, die
16 Diese Bezeichnung der beiden Gruppen als ‚Instruktionisten‘ vs. ‚Konstruktivisten‘ erfolgt v. a. aus sprachökonomischen Erwägungen. Natürlich erfassen die hier verwendeten Items jeweils nur einen kleinen Ausschnitt eines solchen Einstellungsbündels. Um dies anzudeuten, werden die pauschalisierenden Gruppenbezeichnungen hier in Anführungszeichen gesetzt.
5.3 Allgemeine Einstellungen zum Lehren und Lernen im Literaturunterricht
215
auf der Skala 234 geringe Zustimmung zeigen (Zustimmungswerte unter dem Gesamtskalenmittelwert 2,9) und zugleich auf der Skala 56 hohe Zustimmung zeigen (Zustimmungswerte über dem Gesamtskalenmittelwert 2,6). Zur Gruppe der Lehrkräfte, für die Lernen ein eigenständiger Konstruktionsprozess der Schüler/innen ohne determinierte Ergebnisse ist (‚Konstruktivisten‘) werden alle befragten Personen gezählt, deren Zustimmung auf der Skala 234 überdurchschnittlich ist (Zustimmungswerte über dem Gesamtmittelwert 2,9) und die gleichzeitig der Skala 56 unterdurchschnittlich zustimmen (Zustimmungswerte unter dem Gesamtskalenmittelwert 2,6). Daraus ergibt sich folgende Gruppeneinteilung der befragten Personen: Tab. 5.9: ‚Konstruktivisten‘ und ‚Instruktionisten‘ in der Gesamtstichprobe Gruppe ‚Konstruktivisten’ ‚Instruktionisten‘ nicht zuordenbar Gesamt
Anzahl der Probanden 132 66 184 382
Prozent der Gesamtstichprobe 34,5 17,3 48,2 100
Gut ein Drittel der Befragten (34,5 %) lässt sich klar der Gruppe der ‚Konstruktivisten‘ zuordnen, während nur 17,3 % der Probanden eindeutig zu eher instruktionistischen Positionen tendieren.17 Am meisten überrascht mit Blick auf Tabelle 5.9 zumindest zunächst das Ergebnis, dass fast die Hälfte der Befragten weder der einen noch der anderen Gruppe klar zuordenbar sind. Mit Blick auf die Ausgangshypothese zur Gruppeneinteilung der befragten Lehrkräfte lässt sich also vorerst feststellen, dass es anscheinend nicht zwei klar unterscheidbare lernprozessbezogene Grundeinstellungen gibt, sondern – in Gestalt der großen Gruppe
17 Mit Hilfe eines Chi-Quadrat-Tests lässt sich untersuchen, ob die Ungleichverteilung der klar zuordenbaren Probanden auf die Gruppen der ‚Instruktionisten‘ und ‚Konstruktivisten‘ über die Stichprobe hinaus verallgemeinerbar ist. Der Test wird auf 1 %-Niveau signifikant. D. h. man kann davon ausgehen, dass auch in der Gesamtheit der Deutschlehrkräfte am Gymnasium, sofern die Stichprobe für diese repräsentativ ist, die ‚Konstruktivisten‘ stärker vertreten sind als die ‚Instruktionisten‘. Nähere Erläuterungen zum Chi-Quadrat-Test folgen unten in Kap. 5.3.1.4.
216
5 Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften am Gymnasium
der nicht Zuordenbaren – eine dritte, indifferente Grundposition, für die sowohl eher konstruktivistische als auch eher instruktionistische Aussagen zum Lehren und Lernen zustimmungsfähig sind. Bei dieser dritten Gruppe, die im Folgenden zunächst als ‚Indifferente‘ bezeichnet werden, handelt es sich dabei um diejenigen Untersuchungsteilnehmer, die entweder beiden Skalen zugleich überdurchschnittlich zustimmen oder aber beide Skalen zugleich ablehnen. Wie lässt sich dieser Befund erklären und interpretieren? Im Folgenden werden zwei Erklärungsmöglichkeiten diskutiert: (1) Die Konstrukte instruktionistischer vs. konstruktivistischer lernprozessbezogener Grundeinstellung existieren in dieser klaren Trennung nicht. (2) Der Fragebogen ist ungeeignet, um die angestrebte Gruppeneinteilung zu ermöglichen. Die erste Erklärungsmöglichkeit geht davon aus, dass es in der Realität keine Deutschlehrkräfte gibt, deren Einstellungen zum Lehren und Lernen nur von der einen oder nur von der anderen Position geprägt sind. Diese Annahme wird von dem Befund von Staub/Stern (2002) gestützt, nach dem die unterschiedenen beiden Grundpositionen zum Lehren und Lernen Pole einer gemeinsamen Skala bilden. Es sei auszugehen von „a global one-dimensional construct with a cognitive constructivist and a direct-transmission view at either end of continuum“ (ebd., 349). Auf einer solchen Skala gibt es verschiedene Ausprägungsgrade in die eine oder andere Richtung und entsprechend eben auch eine ‚neutrale‘ Mitte, deren Breite zu definieren wäre. Trifft der Befund von Staub/Stern (2002) zu, dann wäre die Gruppe der Indifferenten als Mittelfeld auf einer solchen Skala zu interpretieren, während die ‚Konstruktivisten‘ und die ‚Instruktionisten‘ sich durch Extrempositionen auf diesem Einstellungskontinuum auszeichnen. Dass es mehr ‚Konstruktivisten‘ als ‚Instruktionisten‘ gibt, wie die oben vorgestellten Daten zeigen, deckt sich dabei mit dem entsprechenden Ergebnis bei Staub/Stern (2002): The majority of the teachers tended toward a cognitive constructivist orientation. (Staub/Stern 2002, 348)
Gegen die Annahme, dass konstruktivistische und instruktionistische Einstellungen Pole einer gemeinsamen Skala sind, sprechen Befunde, die Neuweg und
5.3 Allgemeine Einstellungen zum Lehren und Lernen im Literaturunterricht
217
Mayr aus der Entwicklung des Fragebogens „FUGE“ (Fragebogen zum Erfassen der Unterrichtsmethodischen Grundeinstellung) mitteilen (zum Projekt FUGE vgl. Mayr/Neuweg 2006; nähere Informationen stammen aus der Korrespondenz mit Mayr und Neuweg aus dem Mai 2006 und Januar 2009). Neuweg und Mayr können mit den ihnen bislang vorliegenden Daten entgegen ihren Erwartungen gerade nicht bestätigen, dass es sich bei der von ihnen sog. „unterrichtsmethodischen Grundeinstellung“ um ein bipolares Konstrukt handelt. Sie erhalten bei der Auswertung ihrer Daten vielmehr zwei unabhängige Dimensionen, „Konstruktivistische Orientierung“ vs. „Instruktionistische Orientierung“. Diese vorläufigen Ergebnisse und die daraus entstehenden Fragen unterstreichen, dass die empirische Erforschung unterrichtsmethodischer bzw. lernprozessbezogener Grundeinstellungen nicht nur im Kontext der vorliegenden Untersuchung methodisch Schwierigkeiten aufwirft. Auf alle Fälle korrespondiert das hier vorgestellte Arbeiten mit getrennten Skalen, von denen eine die eher konstruktivistische und eine die eher instruktionistische Grundposition repräsentiert, mit den vorläufigen Ergebnissen von Mayr und Neuweg. Umso drängender bleibt die Frage bestehen, warum es so viele Probanden gibt, die beiden Skalen gleichermaßen zustimmen. Einen guten Erklärungsansatz hierfür bietet die von Reinmann/Mandl (2006) theoretisch beschriebene „praxisorientierte Position zum Lehren und Lernen“ als pragmatischer Mittelweg zwischen konstruktivistischer und instruktionistischer Grundposition. Hintergrund ist die Erkenntnis, dass sich in Lernsituationen eine zeitweise stärker lenkende Rolle des Lehrenden mit Anteilen des Anleitens, Darbietens und Erklärens auf der einen Seite und „Lernen als aktiver, selbstgesteuerter, konstruktiver, situativer und sozialer Prozess“ auf der anderen Seite nicht ausschließen. Die „praxisorientierte Position zum Lernen und Lehren“ geht entsprechend aus von einem „Wechsel zwischen vorrangig aktiver und zeitweise rezeptiver Rolle des Lernenden“ (Reinmann/Mandl 2006, 637; Zitate ebd.) – je nach den Erfordernissen von Lernziel, Komplexität des Lerngegenstandes und Lernvoraussetzungen der Schüler/innen. Geht man davon aus, dass es diese dritte, praxisorientierte lernprozessbezogene Grundeinstellung unter Lehrkräften tatsächlich gibt, dann könnte die große Gruppe derjenigen Probanden, die konstruktivistisch wie instruktionistisch ausgerichteten Items gleichermaßen zustimmen, diese praxisorientierte Position
218
5 Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften am Gymnasium
repräsentieren. Statt von den ‚Indifferenten‘ spreche ich deshalb im Folgenden von den ‚Praxisorientierten‘, um diese Gruppe zu bezeichnen. Dieser Bezeichnung haftet nicht von vornherein eine negative Wertung an – schließlich kann es gute Gründe geben, keine Extremposition zum Lehren und Lernen zu vertreten, sondern beide Auffassungen zu kombinieren. Mit Blick auf die ermittelten Gruppen von Lehrkräften lässt sich zusammenfassen, dass man zwar eine eher instruktionistische und eine eher konstruktivistische Auffassung vom Lehren und Lernen als Extrempositionen unterscheiden kann, dass man aber zugleich noch von einer dritten lernprozessbezogenen Grundeinstellung ausgehen muss, die eine Mittelposition des „sowohl – als auch“ einnimmt – dies wäre wiederum kompatibel mit den Befunden von Staub/Stern (2002). Ein geeignetes Untersuchungsinstrument zu entwickeln, um entsprechende Positionen tatsächlich nach den Qualitätskriterien psychologischer Forschung genauer nachzuweisen, kann die Deutschdidaktik nicht in Eigenregie leisten. An diesen Aspekt knüpft auch die zweite Erklärungsmöglichkeit für die ermittelten unklaren Befunde zur Gruppeneinteilung an. Diese zweite Erklärungsmöglichkeit reflektiert die Mängel des Fragebogens. Das Problem der geringen Itemzahl im ersten Fragebogenteil wurde oben bereits erwähnt. Möglicherweise können die Items der jeweiligen Skalen, obwohl sie korrelieren, die beiden Konstrukte nicht in ihrer Komplexität erfassen. Wenn aber nur ein kleiner Aspekt dessen erfasst wird, was ‚Konstruktivisten‘ und ‚Instruktionisten‘ ausmacht, kann möglicherweise deshalb ein großer Teil der Stichprobe nicht in die entsprechenden Gruppen eingeordnet werden. Dieser Vorbehalt wird in dieser Arbeit u. a. dadurch signalisiert, dass die Gruppenzuordnungen, wenn sie als pauschale Bezeichnungen verwendet werden, in Anführungszeichen stehen. Die Items, die zur Skalenbildung genutzt wurden, fokussieren vor allem allgemeine Erwartungen an Aufgaben und Ansichten dazu, wie Lösungsprozesse von Aufgaben idealerweise aussehen sollten. Insofern wird mit den verwendeten Items nur ein Ausschnitt lernprozessbezogener Grundeinstellungen erfasst. Gerade dieser Ausschnitt aber ist von besonderer Relevanz bezogen auf die Gesamtfragestellung dieser Arbeit, die lehrerseitige Aufgabenpräferenzen und deren Bedingungsfaktoren im Blick hat. Ist die Aus-
5.3 Allgemeine Einstellungen zum Lehren und Lernen im Literaturunterricht
219
sagekraft der erzielten Ergebnisse bezogen auf die Einteilung der Befragten hinsichtlich ihrer lernprozessbezogenen Grundeinstellungen insgesamt zwar beschränkt, ermöglichen die Ergebnisse also durchaus Aussagen mit Blick auf die Fragestellung der vorliegenden Untersuchung. Auch wenn man von Mängeln des Untersuchungsinstruments ausgeht, stellt sich die Frage, warum es eine große Zahl von Personen gibt, die beiden Skalen gleichermaßen zustimmen. Es kann angenommen werden, dass bezogen auf das Antwortverhalten in Teil 1 des Fragebogens noch andere Variablen eine Rolle spielen als die lernprozessbezogenen Grundeinstellungen – Variablen, die jedoch nicht erfragt wurden. Ein Problem kann hier evtl. im situationsunabhängigen Erfassen der Einstellungen liegen. Wenn die Befragten aus einer unterrichtspragmatischen Perspektive heraus an die vorgelegten Items herangehen, könnte für viele Items keine klare Zustimmung oder Ablehnung möglich sein, da diese je nach unterrichtlicher Anforderungssituation (Voraussetzungen der Lerngruppe, Unterrichtsziel, Komplexität des Unterrichtsgegenstandes) differiert. Diese „Kommt-darauf-an“-Perspektive könnte sich dann in einer relativ gleichmäßigen Einschätzung aller Items auf der gegebenen Antwortskala niederschlagen. Auch vor dem Hintergrund dieser Überlegungen erscheint es mir sinnvoll, bei den Probanden, die keiner der ‚Extremgruppen‘ klar zuordenbar sind, von den Praxisorientierten zu sprechen, weil diese Bezeichnung die Wechselbeziehung zwischen lehrerseitig präferierten Lehr- und Lernwegen und den in der Unterrichtswirklichkeit angetroffenen Voraussetzungen aufgreift. Berücksichtigt man die skizzierten Grenzen des Untersuchungsinstruments, ist es dennoch möglich, mit den erzielten Ergebnissen weiter zu arbeiten. Aus der beschriebenen Gruppeneinteilung ergeben sich zwei zentrale Anschlussfragen. Die erste Frage betrifft die größte Gruppe der Praxisorientierten, die bezogen auf die beiden verwendeten Skalen ein indifferentes Antwortverhalten zeigt. Lässt sich dieser Gruppe auf Basis der erhobenen Daten ein schärferes Profil geben? Die zweite Frage knüpft daran an, dass es immerhin einen Teil von Probanden – gut die Hälfte der befragten Personen – gibt, die der einen oder anderen „Extrem“-Gruppe klar zuordenbar sind und sich dadurch vom Antwortverhalten der übrigen Befragten klar unterscheiden. Wie lassen sich diese beiden Gruppen mit Hilfe der verbleibenden Daten aus dem ersten Fragebogenteil näher charakterisieren?
220
5 Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften am Gymnasium
Aufgrund des Verfahrens, nach dem die beiden ‚Extremgruppen‘ gebildet worden sind, bestehen für die Gruppe der Praxisorientierten zwei verschiedene Möglichkeiten des Zustimmungsverhaltens zu den Items, die der Gruppeneinteilung zugrunde gelegt wurden: Sie stimmen beiden Skalen zugleich überdurchschnittlich zu. Oder: Sie stimmen beiden Skalen zugleich unterdurchschnittlich zu, lehnen also beide im Vergleich zur Gesamtstichprobe deutlich ab. Auf Basis dieser Vorüberlegungen wird die Gruppe der Praxisorientierten entsprechend nochmals unterteilt. Es ergeben sich folgende Zahlen: Die Gruppe besteht fast genau zur Hälfte aus Befragten, die entweder beiden Skalen überdurchschnittlich zustimmen (n = 90) oder die beide Skalen ablehnen (n = 94). Tab. 5.10: Die Gruppe der Praxisorientierten nach Untergruppen Praxisorientierte / Untergruppe Doppelzustimmung Doppelablehnung Gesamt
Anzahl 90 94 184
Prozent der Gesamtstichprobe 23,6 24,6 48,2
Im Folgenden ist mit Blick auf die verbleibenden Daten jeweils zu prüfen, ob sich diese gruppeninternen Unterschiede im Antwortverhalten der Praxisorientierten auf ihr übriges Antwortverhalten auswirken. Im folgenden Teilkapitel werden die nach lernprozessbezogenen Grundeinstellungen unterschiedenen Gruppen zunächst daraufhin untersucht, ob es Zusammenhänge zwischen der Gruppenzugehörigkeit, Alter und Geschlecht gibt. Man kann einwenden, dass es für diese Überprüfung keine Hypothesen gibt. Tatsächlich folgen die entsprechenden Analysen einem explorativen Interesse. Sie sollen dazu beitragen, das Profil der ‚Instruktionisten‘, ‚Konstruktivisten‘ und Praxisorientierten zu schärfen, soweit es die erhobenen Daten zulassen.
5.3.1.4 Zusammenhänge zwischen lernprozessbezogener Grundeinstellung, Alter und Geschlecht Unterscheiden sich Männer und Frauen unter den befragten Lehrkräften in ihren lernprozessbezogenen Grundeinstellungen? In der Tendenz zeigt sich, dass die
5.3 Allgemeine Einstellungen zum Lehren und Lernen im Literaturunterricht
221
Frauen konstruktivistischen Positionen stärker zustimmen als die Männer, während diese zu einem größeren Anteil der Gruppe der ‚Instruktionisten‘ zuzuordnen sind. Es wurden folgende Untersuchungen durchgeführt: Ein t-Test zeigt signifikante Mittelwertsunterschiede in der Zustimmung von Männern und Frauen zu Skala 234 (Lernen als eigenständiger Konstruktionsprozess). Ein t-Test dient dazu zu überprüfen, ob Mittelwertsunterschiede in der Stichprobe nur zufällig auftreten oder aber verallgemeinerbar sind.18 Testet man mit diesem Verfahren die Unterschiede zwischen Frauen und Männern in der Zustimmung zu den Skalen, die für die Differenzierung nach lernprozessbezogenen Grundeinstellungen herangezogen wurden, so ergibt sich Folgendes: Frauen stimmen Skala 234 („Lernen als eigenständiger Konstruktionsprozess“) im Mittel stärker zu als die Männer. Dieser deskriptiv vorhandene Mittelwertsunterschied wird im t-Test signifikant (α = 0,05).19 Was die Zustimmung zu Skala 56 (Lernen als Nachvollziehen fest stehender Inhalte) betrifft, sind keine signifikanten Unterschiede zwischen Männern und Frauen feststellbar. Kreuztabellen und ein Chi-Quadrat-Test zeigen, dass Frauen in der Gruppe der ‚Konstruktivisten‘ stärker vertreten sind, die Männer in der Gruppe der ‚Instruktionisten‘. Einen Überblick über die Verteilung der Männer und Frauen auf die ermittelten Gruppen lernprozessbezogener Grundeinstellungen bietet Tabelle 5.11.
18 Wirtz/Nachtigall (2006, 24 f.) erläutern den im Kontext quantitativer empirischer Forschung geradezu magischen Begriff der Signifikanz folgendermaßen: „Ist ein Zusammenhang signifikant, so weiß man mit einer bestimmten Sicherheit, dass der Zusammenhang in einer untersuchten Stichprobe so groß ist, dass man diesen Zusammenhang in jeder anderen beliebigen Stichprobe ebenfalls erwarten kann. Oder anders ausgedrückt: Von der Gültigkeit eines Zusammenhanges in der Stichprobe kann auf die Gültigkeit in der Allgemeinheit geschlossen werden.“ Die Autoren äußern sich zugleich warnend zu einer übergroßen Fixierung auf die Signifikanz von Ergebnissen (Nachtigall/Wirtz 2006, 217). 19 Das Signifikanzniveau α gibt an, wie wahrscheinlich Fehlentscheidungen bei der Annahme eines ermittelten Unterschieds oder Zusammenhangs sind. Diese Irrtumswahrscheinlichkeit beträgt hier 5 %.
222
5 Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften am Gymnasium
Unauffällig bleibt hier die Gruppe der Praxisorientierten. In dieser Gruppe sind jeweils knapp die Hälfte der Männer wie Frauen vertreten. Das entspricht dem Anteil der Praxisorientierten an der Gesamtstichprobe (48,2 %).20 Tab. 5.11: Lernprozessbezogene Grundeinstellungen und Geschlecht Gruppe
‚Konstruktivisten‘
‚Instruktionisten‘
Männer (% der Männer) Frauen (% der Frauen) Keine Angabe Gesamt (% der Gesamtstichprobe
27 (30,3 %)
21 (23,6 %)
Praxisorientierte 41 (46,1 %)
Gesamt 89 (100 %)
96 (36,4 %)
38 (14,4 %)
130 (49,2 %)
264 (100 %)
9
7
13
29
132 (34,5 %)
66 (17,3 %)
184 (48,2 %)
382 (100 %)
Betrachtet man aber den Anteil von Männern und Frauen in den gebildeten Extremgruppen (in der Tabelle grau hinterlegt), so ergibt sich folgendes Bild: Die Frauen verteilen sich anteilsmäßig in etwa ebenso auf die Extremgruppen wie die Gesamtheit der Befragten. Das heißt aber auch, dass die Frauen in der Gruppe der ‚Konstruktivisten‘ signifikant häufiger vertreten sind als in der Gruppe der ‚Instruktionisten‘ (α = 0,01). Dies ergibt ein Chi-Quadrat-Test, mit dessen Hilfe getestet werden kann, „ob beobachtete Häufigkeiten in der Stichprobe mehr als nur zufällig von erwarteten Häufigkeiten abweichen“ (Nachtigall/Wirtz 2006, 164). Als erwartete Häufigkeit gilt im vorliegenden Fall die Gleichverteilung der verbleibenden, also nicht zu den Praxisorientierten zählenden Probanden auf die beiden Extremgruppen. Interessant wird das für die Frauen ermittelte Ergebnis, das mit dem Ergebnis für die Gesamtstichprobe korrespondiert, erst mit Blick auf die abweichende Verteilung der Männer auf die ‚Instruktionisten‘ und 20 Auch wenn man die Praxisorientierten nach Doppelzustimmern und Doppelablehnern unterscheidet, ergeben sich keine nennenswerten Unterschiede zwischen Männern und Frauen in dieser Gruppe.
5.3 Allgemeine Einstellungen zum Lehren und Lernen im Literaturunterricht
223
‚Konstruktivisten‘. Hier wird der Chi-Quadrat-Test nicht signifikant, d. h. die Männer gehören den beiden Gruppen entsprechend der im Rahmen des Tests erwarteten Gleichverteilung jeweils etwa zur Hälfte an.21 Im Vergleich zur Verteilung der befragten Personen insgesamt sowie zur Verteilung der Frauen auf die Extremgruppen ist dieses Ergebnis gerade deshalb bemerkenswert, weil es sich dadurch abhebt, dass es nicht signifikant wird. Man kann daraus schlussfolgern, dass die Männer ‚konstruktivistischen‘ Positionen nicht so deutlich zustimmen wie die Frauen, ‚instruktionistische‘ Auffassungen hingegen stärker als ihre Kolleginnen bejahen. Um die Gruppen lernprozessbezogener Grundeinstellungen näher zu beschreiben, wurde als nächstes überprüft, ob es einen Zusammenhang zwischen Alter bzw. Dauer der Berufstätigkeit und lernprozessbezogener Grundeinstellung gibt. Dabei zeigt sich, dass die jüngeren Befragten in der Tendenz stärker in der Gruppe der ‚Konstruktivisten‘ vertreten sind als die älteren. Je älter die Befragten sind, desto eher stimmen sie Skala 56 („Lernen als Nachvollziehen fest stehender Inhalte“) zu. Folgende Analysen wurden durchgeführt: Kreuztabellen und Chi-Quadrat-Test erbringen, dass die bis zu 40-Jährigen häufiger in der Gruppe der ‚Konstruktivisten‘ als in der Gruppe der ‚Instruktionisten‘ vertreten sind. Tabelle 5.12 zeigt, wie sich die Altersgruppen der Befragten auf die Gruppen lernprozessbezogener Grundeinstellungen verteilen22: Für die Gruppe der über 60-Jährigen ist die Anzahl der Befragten zu gering, als dass Aussagen über diese Altersgruppe möglich wären – deshalb werden diese Werte hier nicht berücksichtigt. Richtet man die Aufmerksamkeit zunächst wieder auf die Praxisorientierten, fällt auf, dass von den bis 30-Jährigen nur knapp ein Drittel in dieser Gruppe vertreten sind. Aus allen anderen Altersgruppen gehört rund die Hälfte
21 Die geringen Abweichungen vom erwarteten Wert reichen nicht aus, um von der Stichprobe auf eine verallgemeinerbare Ungleichverteilung zu schließen. Bei verbleibenden 48 männlichen Probanden werden im Chi-Quadrat-Test 24 Probanden pro Gruppe angenommen; die auftretende Abweichung beträgt also plus/ minus 3 (vgl. Tabelle 5.11). 22 Auf eine Darstellung der Befunde zum Zusammenhang zwischen Dauer und Berufstätigkeit und lernprozessbezogener Grundeinstellung wird hier verzichtet, da sie sich nicht wesentlich von den hier dokumentierten Ergebnissen nach Altersgruppen unterscheiden.
224
5 Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften am Gymnasium
der Befragten zu den Praxisorientierten, was dem Anteil dieser Gruppe an der Gesamtstichprobe entspricht (Interpretation der Befunde unten in Kap. 5.3.2).23 Markante Abweichungen im Vergleich zur Verteilung in der Gesamtstichprobe ergeben sich wiederum mit Blick auf die beiden Extremgruppen der ‚Konstruktivisten‘ und ‚Instruktionisten‘. In besonderem Maß gilt dies für die bis 30-Jährigen, deren deutliche Mehrzahl (63,0 % vs. 34,5 % gesamt) den ‚Konstruktivisten‘ zuzuordnen ist, während sie zu einem ebenso auffällig geringen Anteil (7,4 % vs. 17,3 % gesamt) zu den ‚Instruktionisten‘ zählen. Das entschiedene Votum der unter 30-Jährigen für eine eher konstruktivistische Grundeinstellung geht mit dem vergleichsweise geringen Auftreten einer indifferenten Haltung gegenüber den Extrempositionen einher, wie sie für die Praxisorientierten bezeichnend ist. Tab. 5.12: Lernprozessbezogene Grundeinstellungen und Alter Alter
‚Konstruktivisten‘
‚Instruktionisten‘ 2 (7,4 %)
Praxisorientierte 8 (29,6 %)
bis 30 (% von bis 30) 31 bis 40 (% von 31 bis 40) 41 bis 50 (% von 41 bis 50) 51 bis 60 (% von 51 bis 60) über 60 (% von über 60) Keine Angabe Gesamt (% der Gesamtstichprobe
17 (63,0 %)
27 (100 %)
38 (36,5 %)
11 (10,6 %)
55 (52,9 %)
104 (100 %)
40 (31,7 %)
27 (21,4 %)
59 (46,8 %)
126 (100 %)
35 (30,4 %)
24 (20,9 %)
56 (48,7 %)
115 (100 %)
2 (25,0 %)
1 (12,5 %)
5 (62,5 %)
8 (100 %)
1
1
2
66 (17,3 %)
184 (48,2 %)
382 (100 %)
132 (34,5 %)
Gesamt
23 Eine Differenzierung der Praxisorientierten nach Doppelzustimmern und Doppelablehnern erbringt wiederum keine nennenswerten Unterschiede.
5.3 Allgemeine Einstellungen zum Lehren und Lernen im Literaturunterricht
225
Auch bei den 31- bis 40-Jährigen ist der Anteil der ‚Konstruktivisten‘ an der Altersgruppe im Vergleich zur Gesamtstichprobe noch geringfügig erhöht (36,5 % vs. 34,5 % gesamt), während der Anteil der ‚Instruktionisten‘ in dieser Altersgruppe klar geringer ist als in der Gesamtheit der Befragten (10,6 % vs. 17,3 % gesamt). Sowohl für die bis 30-Jährigen als auch für die 31- bis 40-Jährigen wird bezogen auf die Verteilung der Probanden auf die beiden Extremgruppen ein ChiQuadrat-Test signifikant (α = 0.01). D. h. dass die für die Stichprobe ermittelte Ungleichverteilung der Probanden dieser beiden Altersgruppen auf ‚Instruktionisten‘ und ‚Konstruktivisten‘ auch für die Gesamtheit der gymnasialen Deutschlehrkräfte dieses Alters anzunehmen ist, sofern man die Stichprobe als Querschnitt dieser Population anerkennt. Bei den über 40-Jährigen zeigt sich, in absoluten Zahlen betrachtet, nach wie vor ein leicht erhöhter Anteil der ‚Konstruktivisten‘ sowohl innerhalb der Altersgruppe 41 bis 50 Jahre als auch in der Gruppe 51 bis 60 Jahre. Allerdings werden diese Unterschiede nicht mehr signifikant. Dass mit zunehmendem Alter instruktionistische Grundpositionen stärker zustimmungsfähig werden, legt auch der folgende Test nahe. Zwischen dem Alter sowie der Dauer der Berufstätigkeit der Befragten und ihrer Zustimmung zur Skala 56 (Lernen als Nachvollziehen fest stehender Inhalte) besteht jeweils eine positive Korrelation. Skala 56 wurde, wie oben erläutert, für die Unterscheidung der Probanden nach lernprozessbezogener Grundeinstellung herangezogen. Eine überdurchschnittliche Zustimmung zu dieser Skala bei gleichzeitiger Ablehnung der zweiten gebildeten Skala führt zur Zuordnung der Befragten zur Gruppe der ‚Instruktionisten‘. Es zeigt sich, dass die Untersuchungsteilnehmer mit zunehmendem (Dienst-)Alter der Skala 56 stärker zustimmen: D. h. zwischen dem Alter sowie der Dauer der Berufstätigkeit der Befragten und ihrer Zustimmung zur Skala 56 besteht jeweils eine positive Korrelation (Spearman-Rangkorrelation; vgl. Büh-
226
5 Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften am Gymnasium
ner 2004, 256-258 u. 263), die auf 1 %-Niveau signifikant wird24 (Zusammenhang zum Alter: r = 0.145; Zusammenhang zur Dauer: r = 0.177).25 Der nachgewiesene Zusammenhang ist nicht hoch, aber er spiegelt doch eine Tendenz wider, wie sie sich auch in den Kreuztabellen niedergeschlagen hat. Die Interpretation der gefundenen Unterschiede in der Zusammensetzung der Extremgruppen folgt unten in der Zusammenschau mit den Ergebnissen aus Kap. 5.3.2. Die gebildeten Gruppen von Deutschlehrkräften werden im Folgenden weiter charakterisiert, indem zunächst26 die bisher nicht berücksichtigten Items 1 und 7 aus dem ersten Fragebogenteil in die Auswertung mit einbezogen werden. Diese verbleibenden Items beziehen sich auf zwei Sozialformen des Unterrichts, die unter Lehrkräften durchaus einstellungsbezogenes Polarisierungspotenzial haben27: Das gelenkte Lehrer-Schüler-Gespräch als ‚Prototyp’ des Frontalunterrichts (Item 1_1) und die Gruppenarbeit (Item 1_7).
5.3.2 Gelenktes Lehrer-Schüler-Gespräch und Gruppenarbeit: Zwei Sozialformen im Urteil der Probanden Kooperatives schülerzentriertes Lernen gilt in der aktuellen Bildungsdiskussion als lernförderlich, u. a. weil es über den aufgabenbezogenen Austausch unter den Lernenden die Reflexivität beim Lernen erhöht (vgl. für den Deutschunterricht z. B. Baurmann 2007; vgl. auch oben, Kap. 2.3). In aktuellen Vorgaben werden entsprechende kooperative Lernformen wie die Gruppenarbeit z. T. sogar als verbindlich vorgegeben, so z. B. im neuen Lehrplan für das Gymnasium in
24 Eine Korrelation kann Werte zwischen -1 und +1 annehmen. Je näher die Korrelation bei diesen Eckwerten liegt, desto höher ist der (positive oder negative) Zusammenhang zwischen den Variablen. 25 Was die Zustimmung zu Skala 234 betrifft, besteht kein signifikanter Zusammenhang zum Alter und der Dauer der Berufstätigkeit. 26 Zusammenhänge zwischen erstem und zweitem Fragebogenteil werden in Kap. 5.5 hergestellt. 27 Vgl. z. B. Wieser (2008), die festgestellt hat, dass von Deutschreferendaren „der Frontalunterricht mit dem Prädikat ‚veraltet’ belegt [wird] und die Gruppenarbeit mit dem Prädikat ‚erwünscht’“ (Wieser 2008, 228).
5.3 Allgemeine Einstellungen zum Lehren und Lernen im Literaturunterricht
227
Bayern (2003)28. Das gelenkte Lehrer-Schüler-Gespräch im Literaturunterricht dagegen wird zumindest aus literaturdidaktischer Sicht als problematisch eingeschätzt, weil es der ergebnisoffenen Verständigung über mehrdeutige literarische Texte entgegensteht. Abraham/Kepser etwa sehen im „gelenkte[n] Unterrichtsgespräch“ ein traditionelles Verfahren, bei dem die Lehrkraft die Schüler/-innen mit mehr oder weniger geschickten Fragen bzw. Impulsen zu einem Verstehenshorizont führt, den sie selbst in der Unterrichtsvorbereitung festgelegt hat. Natürlich kann dadurch auch ein Blick auf Texte initiiert werden, der das naive Vorverständnis der jungen Leser/-innen verändert. Interpretation aber findet hier nicht wirklich statt. Im besten Fall handelt es sich um die Übernahme einer Fremdperspektive. (Abraham/Kepser 2006, 204)
Letztlich sind es Grad sowie Art und Weise der Lehrerlenkung, an denen sich einerseits literaturdidaktische Debatten entzünden (vgl. z. B. Winkler 2005, 194/195) und andererseits Vorschläge zur Neuausrichtung des Plenumsgesprächs über Literatur im Unterricht ansetzen (vgl. Härle/Steinbrenner 2004). Allerdings führt die „gut begründete Kritik am fragend-entwickelnden Unterrichtsgespräch“ auch zur verbreiteten Skepsis gegen die leitende Funktion von Lehrerinnen und Lehrern generell und zu der besagten Überbewertung der so genannten Selbsttätigkeit (…). Den Glanz des „Modernen“ erhält der Unterricht aus der Aktivität der Schüler und dem Überflüssigwerden des Lehrers. (Härle 2004, 108)
28 „Durch soziale Lernformen, z. B. die Gruppen- oder Projektarbeit, lernen die Jugendlichen die Bedingungen und Vorzüge von Teamarbeit kennen (…)“. (Lehrplan für das Gymnasium in Bayern, erste Ebene, Das Gymnasium in Bayern, Kap. 1.2.5, abrufbar unter http://www.isbgym8-lehrplan.de/contentserv/3.1.neu/g8.de/index.php?StoryID=26350; letzter Aufruf 26.08.10). In Nordrhein-Westfalen sind für das G8 kooperative schülerzentrierte Lernformen nicht explizit genannt; hier wird allerdings selbstgesteuertes Lernen als gleichberechtigt neben lehrerzentrierte Unterrichtsformen gestellt: „Der Unterricht soll eine breite Palette unterschiedlicher Unterrichtsformen aufweisen, die von lehrerbezogener Wissensvermittlung bis hin zur selbstständigen Erarbeitung neuer Inhalte reicht.“ (NRW, Kernlehrplan Deutsch G8, Aufgaben und Ziele des Deutschunterrichts; http://www.standardsicherung.schulministerium.nrw.de/lehrplaene/kernlehr plaene-sek-i/gymnasium-g8/deutsch-g8/; letzter Aufruf 24.08.2010)
228
5 Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften am Gymnasium
Derartige Missverständnisse bei der Rezeption des pädagogischen Konstruktivismus konstatiert aus fächerübergreifender Perspektive auch Reusser (2006, 157-159). Er nennt unter anderem: den aktionistischen Fehlschluss, wenn äußere Aktivitäten der Lernenden mit der Konstruktivität ihrer Lernprozesse gleichgesetzt werden; den choreografischen Fehlschluss, wenn von der gewählten Sozialform im Unterricht unmittelbar auf die konstruktivistische Qualität der Lernprozesse geschlossen wird bzw. umgekehrt „von der prinzipiellen kognitiven Offenheit des Wissensaufbaus auf die soziale Offenheit unterrichtlicher Choreografien“, etwa „wenn ein geführter (Frontal-)Unterricht (…) als prinzipiell problematisch, entdeckendes, nicht-gelenktes (individuelles und kooperatives) Lernen (…) in seinen Wirkungen als generell positiv eingeschätzt werden“ (Reusser 2006, 158; Hervorhebung ebd.)29; den instruktionsdidaktischen Fehlschluss, wenn instruierende Unterrichtsanteile der Lehrperson generell als schädlich für die Konstruktivität der Lernprozesse betrachtet werden. Vor diesem hier nur knapp skizzierten Hintergrund erscheint es interessant, wie sich die Befragten in der vorliegenden Untersuchung zu den Items 1_1 und 1_7 äußern. Es steht zu erwarten, dass es deutlich gegenläufige Präferenzen gegenüber Gruppenarbeit und gelenktem Lehrer-Schüler-Gespräch im Literaturunterricht gibt.30 Die Zustimmung zu Item 1_1, „Das gelenkte Lehrer-Schüler-Gespräch leistet einen wesentlichen Beitrag zum Textverstehen der Schüler/innen“, kann rechnerisch Werte zwischen 1 = trifft nicht zu und 4 = trifft in hohem Maß zu annehmen. Die durchschnittliche Zustimmung aller 382 befragten Personen (100 29 Vgl. auch oben, Kap. 2.3.2. 30 Aufgrund der ‚Entwicklungsgeschichte‘ der hier durchgeführten Untersuchung (vgl. oben, Kap. 5.1) ist eine entsprechende Hypothese nicht im Vorfeld der Datenerhebung aufgestellt worden (zur Kritik daran aus Sicht der psychologischen Methodenlehre vgl. Wirtz/Nachtigall 2006, 219). Formuliert man die Vorannahme, deren Überprüfung sich im Untersuchungsverlauf als wichtig erwiesen hat, gleichwohl als statistische Hypothese, lautet sie folgendermaßen: H0: Es gibt keinen Zusammenhang zwischen der Zustimmung zum gelenkten Lehrer-SchülerGespräch und der Zustimmung zur Gruppenarbeit im Literaturunterricht. H1: Es gibt einen negativen Zusammenhang zwischen der Zustimmung zum gelenkten LehrerSchüler-Gespräch und der Zustimmung zur Gruppenarbeit im Literaturunterricht.
229
5.3 Allgemeine Einstellungen zum Lehren und Lernen im Literaturunterricht
% gültige Antworten) zu diesem Item beträgt 3,1, liegt auf der zur Verfügung stehenden Skala also insgesamt hoch. Die folgende Übersicht zeigt die Verteilung der Antworten innerhalb der Stichprobe (die Antwort 1 = trifft nicht zu wurde von keinem Probanden gewählt). Tab. 5.13: Zustimmung zu Item 1_1 (Nutzen des gelenkten Lehrer-SchülerGesprächs für das Textverstehen) Gewählte Antwort 2 = trifft nur bedingt zu 3 = trifft im Wesentlichen zu 4 = trifft in hohem Maß zu Gesamt
Anzahl 67 194 121 382
Prozent 17,5 50,8 31,7 100
82,5 % der Befragten stimmen also dem Nutzen des gelenkten Lehrer-SchülerGesprächs im Literaturunterricht zu (Anteil der Personen, die die zustimmenden Antworten „3“ und „4“ gewählt haben). Überdurchschnittliche Zustimmung zu diesem Item zeigen alle 121 Personen, die die Antwort „trifft in hohem Maß zu“ gewählt haben (31,7 % der Befragten). Zwischen dem Alter der Befragten, der Dauer ihrer Berufstätigkeit und ihrem Geschlecht besteht kein Zusammenhang zur Zustimmung zu Item 1_1.31 Die insgesamt hohe Wertschätzung des gelenkten Lehrer-SchülerGesprächs ist vor dem Hintergrund der eingangs angedeuteten aktuellen Diskussionen um geeignete Sozialformen im Literaturunterricht bemerkenswert. Hätten sich die Befragten an einem antizipierten erwünschten Antwortverhalten orientiert, hätte die Zustimmung zu Item 1_1 geringer ausfallen müssen. Weil hier nur ein einzelnes Item betrachtet wird, muss die Interpretation des Ergebnisses allerdings überaus zurückhaltend bleiben. Der naheliegendste Interpretationsansatz ist, dass die Befragten sich tatsächlich klar zum Nutzen eines lehrerzentrierten 31 Zur Überprüfung des Zusammenhangs zwischen Alter bzw. Dauer der Berufstätigkeit und Zustimmung zum gelenkten Lehrer-Schüler-Gespräch wurde die Spearman-Rangkorrelation zwischen den Angaben zur Person (Ordinalskalen) und Item 1 berechnet (zu den Voraussetzungen dieses Tests vgl. Bühner 2004, 256 u. 263). Diese wird nicht signifikant. Um zu überprüfen, ob es zwischen Männern und Frauen Unterschiede in der Zustimmung zum gelenkten LehrerSchüler-Gespräch gibt, wurde ein t-Test für unabhängige Stichproben durchgeführt. Dieser wird ebenfalls nicht signifikant.
230
5 Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften am Gymnasium
Gesprächs über Literatur bekennen, mit dem sich die Lernenden zu einem bestimmten Verstehenshorizont führen lassen, so wie Abraham/Kepser (2006, 204; s. o.) dies skizzieren. Inwieweit entsprechende Gespräche über Literatur allerdings „mehr oder weniger geschickt(…)“ (ebd.) geführt und wo sie im Unterrichtszusammenhang situiert werden (Anbahnung, lenkende Strukturierung oder Auswertung des Verstehensprozesses), darüber verrät das Ergebnis der Befragung nichts. Nur im Zusammenhang mit den anderen Items des ersten Fragebogenteils kann man die erhobenen Ergebnisse etwas stärker belasten. Von Interesse ist zunächst vor allem, ob die Zustimmung zum gelenkten Lehrer-SchülerGespräch mit der Zustimmung zur Gruppenarbeit im Literaturunterricht korreliert. Die Antwort zu Item 1_7, „Wie oft koppeln Sie im Literaturunterricht Ihre Aufgabenstellungen an Gruppenarbeit?“, kann Werte zwischen 1 = nie und 5 = sehr oft annehmen. Die durchschnittliche Zustimmung der Gesamtstichprobe zum Einsatz von Gruppenarbeit im Literaturunterricht beträgt 3,4. Tab. 5.14: Zustimmung zu Item 1_7 (Einsatz von Gruppenarbeit) Gewählte Antwort 1 = nie 2 = selten 3 = manchmal 4 = oft 5 = sehr oft Gesamt
Anzahl 1 31 182 155 13 382
Prozent 0,3 8,1 47,6 40,6 3,4 100
Überdurchschnittliche Zustimmung zum Einsatz von Gruppenarbeit zeigen, gemessen an der Stichprobe, also alle Personen, die die Antworten 4 = oft und 5 = sehr oft gewählt haben. Das sind 168 (44 %) der befragten Lehrkräfte. Anders als bei der Zustimmung zum gelenkten Lehrer-Schüler-Gespräch machen sich bei der Zustimmung zum Einsatz von Gruppenarbeit im Literaturunterricht Unterschiede je nach Alter und Geschlecht der Befragten bemerkbar. Die durchschnittliche Zustimmung der Frauen zu Item 1_7 beträgt 3,49, die der Männer 3,13. Der t-Test weist diese Unterschiede als signifikant aus (α = 0,01); d. h. sie treten in der Stichprobe nicht nur zufällig auf, sondern man kann davon ausgehen, dass diese Unterschiede unter den Deutschlehrkräften am Gymnasium
5.3 Allgemeine Einstellungen zum Lehren und Lernen im Literaturunterricht
231
generell bestehen – wenn man voraussetzt, dass die Stichprobe einen hinreichenden Querschnitt durch diese Population abbildet. Die Spearman-Rangkorrelation zwischen dem Alter der Befragten und der Zustimmung zum Einsatz von Gruppenarbeit wird ebenfalls signifikant (α = 0,01) und weist einen negativen Zusammenhang aus (r = -0.173): Je älter also die Befragten, desto geringer ihre Zustimmung zum Einsatz von Gruppenarbeit.32 Warum Deutschlehrerinnen ihren eigenen Angaben zufolge Gruppenarbeit im Literaturunterricht häufiger einsetzen als ihre männlichen Kollegen, ist auf der Basis der vorliegenden Daten nicht weiter zu erhellen. Der Befund ist zunächst einmal nur als auffällig zur Kenntnis zu nehmen. Er kann mit dem Ergebnis in Beziehung gesetzt werden, dass die Frauen in Vergleich zu den Männern in der Gruppe der ‚Konstruktivisten‘ signifikant stärker vertreten sind als in der Gruppe der ‚Instruktionisten‘ und der entsprechenden Skala 234 insgesamt ebenfalls in größerem Maße zustimmen (s. o., Kap. 5.3.1.4). Es scheint also so, als ob Deutschlehrerinnen stärkere Präferenzen für schülerzentrierte und konstruktivistisch orientierte Lernarrangements haben als ihre männlichen Kollegen. Eher erklärbar erscheint, warum sich bei der Zustimmung zur Gruppenarbeit Unterschiede je nach dem Alter der Lehrkräfte zeigen, die Zustimmung zum Lehrer-Schüler-Gespräch aber unterschiedslos hoch ist. Dies mag zunächst daran liegen, dass Item 1_1 („Das gelenkte Lehrer-Schüler-Gespräch leistet einen wesentlichen Beitrag zum Textverstehen der Schüler/innen.“) letztlich unscharf formuliert ist. Die Item-Formulierung macht keine Unterschiede zwischen der Situierung des Lehrer-Schüler-Gesprächs im Textverstehensprozess (Anbahnung vor dem Lesen oder Interpretieren, Steuerung während des Textverstehensprozesses selbst, Diskussion nach Abschluss eines ggf. schülerzentriert stattfindenden Deutungsprozesses). Auch findet ein vom Lehrer (mehr oder weniger) ge32 Die Ergebnisse für den Zusammenhang zwischen Dauer der Berufstätigkeit und Zustimmung zu Item 7 sind fast identisch: r = -.180; α = 0,01. Um den Zusammenhang zwischen Alter/Dauer der Berufstätigkeit und Zustimmung zur Gruppenarbeit zu erhellen, wurden außerdem Kreuztabellen erstellt, die den Befund durch den möglichen Vergleich zwischen dem Antwortverhalten der Altersgruppen gut nachvollziehbar machen: Unterscheidet man zwischen überdurchschnittlicher und unterdurchschnittlicher Zustimmung zu Gruppenarbeit, so überwiegt bei den Befragten bis 40 Jahre klar die überdurchschnittliche Zustimmung zur Gruppenarbeit, während bei den Befragten ab 41 Jahren das Bild umkehrt und die unterdurchschnittliche Zustimmung deutlich häufiger vertreten ist (vgl. Anhang, Tab. 7.1).
232
5 Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften am Gymnasium
lenktes Plenums-Gespräch in so gut wie jedem Literaturunterricht statt (z. B. auch nach Gruppenarbeitsphasen) – man kann also dessen Zweckmäßigkeit bezogen auf das Textverstehen der Lernenden generell kaum infrage stellen.33 Die Zweckmäßigkeit des Lehrer-Schüler-Gesprächs aber je nach unterschiedlicher Zielsetzung des Unterrichts oder nach Schwierigkeit des Unterrichtsgegenstandes zu differenzieren, das erlaubt das Item nicht. Die Gruppenarbeit hat im Gegensatz zum Lehrer-Schüler-Gespräch keinen selbstverständlichen, gerade zu zwingenden Platz im Literaturunterricht. Eine entschiedene Ablehnung dieser Sozialform ist also viel eher möglich. Dass jüngere Deutschlehrkräfte im Vergleich zu ihren älteren Kollegen angeben, die Gruppenarbeit häufiger einzusetzen, kann damit zusammenhängen, dass in ihrer Ausbildung bereits schülerzentrierte Lernformen als lernförderlich und generell positiv bewertet wurden (vgl. zu herrschenden Vorstellungen von Unterrichtsqualität Reusser 2006) und sie diese Perspektive übernommen haben. So hat Wieser für die von ihr befragten Deutschreferendare festgestellt, dass von ihnen „der Frontalunterricht mit dem Prädikat ‚veraltet’ belegt [wird] und die Gruppenarbeit mit dem Prädikat ‚erwünscht’“ (Wieser 2008, 228). Der in der vorliegenden Untersuchung ermittelte Befund wäre dann ein Indiz dafür, dass im Deutschunterricht insgesamt ein allmählicher Übergang hin zu mehr Schülerorientierung zu beobachten ist – ohne dass mit diesem Befund schon eine Wertung hinsichtlich der Unterrichtsqualität verbunden sein kann. Weitere Indizien, die in dieselbe Richtung deuten, sind die oben in Kap. 5.3.1.4 vorgestellten Ergebnisse, dass die Zustimmung zu Skala 56 (Lernen als Nachvollziehen fest stehender Ergebnisse) umso geringer ist, je jünger die befragten Personen sind und dass die bis zu 40-Jährigen häufiger in der Gruppe der ‚Konstruktivisten‘ als in der Gruppe der ‚Instruktionisten‘ vertreten sind. Es ist also keineswegs abwegig, auf der Basis der vorgestellten Befunde die Hypothese zu generieren, dass sich mit dem fortschreitenden Generationenwechsel in der Deutschlehrerschaft für den Deutschunterricht ein Perspektivwechsel von stärkerer Lehrerzentrierung zu mehr Schülerorientierung vollzieht. 33 Dadurch erklärt sich vielleicht auch die insgesamt hohe Zustimmung zu Item 1_1 (s. o.).
5.3 Allgemeine Einstellungen zum Lehren und Lernen im Literaturunterricht
233
Um einen eventuellen Zusammenhang zwischen der Zustimmung zum gelenkten Lehrer-Schüler-Gespräch und der Zustimmung zum Einsatz von Gruppenarbeit zu überprüfen, wurde die bivariate Korrelation (Produkt-Moment-Korrelation) zwischen Item 1_1 und Item 1_7 berechnet.34 Die Korrelation zwischen der Zustimmung zu Item 1_1 und der Zustimmung zu Item 1_7 nimmt einen negativen Wert an (r = -.252) und wird auf einem Niveau von 0.01 signifikant. Im Untersuchungszusammenhang heißt das Folgendes: Je höher die Zustimmung zum Einsatz des gelenkten Lehrer-Schüler-Gesprächs im Literaturunterricht ist, desto geringer ist die Zustimmung zum Einsatz von Gruppenarbeit und umgekehrt. Es bestätigt sich also die Erwartung, dass die Ablehnung eines lehrerzentrierten Vorgehens tendenziell mit der Zustimmung zu schülerzentriertem kooperativem Arbeiten einhergeht und umgekehrt. Die negative Korrelation ist dabei nicht sehr hoch, aber sie besteht. Eine Kreuztabelle (Tab. 5.15) hilft, das gegenläufige Antwortverhalten der Untersuchungsteilnehmer zu verdeutlichen. Als Grenzwert zur Bestimmung über- bzw. unterdurchschnittlicher Zustimmung zu den Items wird wiederum der Mittelwert der Itemantworten über die Gesamtstichprobe gewählt (Mittelwert = 3,1). Was zeigen die ermittelten Zahlen (Tab. 5.15)? Von den insgesamt 168 Befragten, die dem Einsatz von Gruppenarbeit überdurchschnittlich zustimmen, stimmen 127 Personen (75,6 %) dem Nutzen des gelenkten Lehrer-SchülerGesprächs nur unterdurchschnittlich zu, lehnen es gemessen am Zustimmungsverhalten der Gesamtstichprobe also ab. Von denjenigen 121 Lehrkräften, die den Nutzen des gelenkten Lehrer-Schüler-Gesprächs überdurchschnittlich hoch einschätzen (sie haben hier die Antwort 4 = Item trifft in hohem Maße zu gewählt), stimmen 80 (66,1 %) dem Einsatz von Gruppenarbeit geringer zu als der Durchschnitt der Befragten. Bei denjenigen Befragten, die dem einen oder anderen Item überdurchschnittlich zustimmen, ist also eine deutliche gegenläufige
34 Die Voraussetzungen für das Bestimmen einer Produkt-Moment-Korrelation sind gegeben: Die Items sind beide intervallskaliert. „Es spielt dabei keine Rolle, ob beide Variablen unterschiedliche Mittelwerte und Maßeinheiten verwenden“ (Bühner 2004, 247). Die Antworten zu beiden Items sind zwar nicht im strengen Sinn, aber doch ungefähr normalverteilt (vgl. die Tabellen 5.13 und 5.14), wobei der Test gegenüber der Verletzung dieser Voraussetzung „äußerst robust“ ist (Nachtigall/Wirtz 2006, 147).
234
5 Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften am Gymnasium
Tendenz in der Befürwortung der beiden Sozialformen festzustellen. Die ermittelte negative Korrelation zwischen beiden Items spiegelt dies wider. Tab. 5.15: Zusammenhänge zwischen der Zustimmung zu Gruppenarbeit und gelenktem Lehrer-Schüler-Gespräch Anzahl unterdurchschnittliche Zustimmung zum LSG (Zustimmung 3,1)
Gesamt
134
80
214
127
41
168
261
121
382
Dies scheint ein Hinweis darauf zu sein, dass mit der Zustimmung zum lehrerzentrierten Gespräch einerseits und zu schülerzentrierter Gruppenarbeit andererseits tendenziell tatsächlich unterschiedliche Einstellungen zum Einsatz von Sozialformen im Literaturunterricht verbunden sind. Welche Zusammenhänge zwischen den ermittelten Gruppen von Lehrkräften (‚Konstruktivisten‘, ‚Instruktionisten‘, Praxisorientierte) und deren Zustimmung zu den Items 1_1 und 1_7 bestehen, wird in Kapitel 5.3.5 dargestellt. Tabelle 5.15 zeigt andererseits auch deutlich, dass sich eine überdurchschnittliche Zustimmung zu beiden Items nicht völlig ausschließt (die negative Korrelation zwischen beiden Items ist zwar signifikant, aber nicht sehr hoch). Dies ist aus unterrichtspraktischen Erwägungen durchaus plausibel, zumal es u. a. von der Schwierigkeit des Unterrichtsgegenstands, von der Zielstellung einer Unterrichtseinheit und den Lernvoraussetzungen der Schülerinnen und Schüler abhängt, welche Sozialform wann geeignet ist. Aus Sicht der Probanden kann eine doppelte Zustimmung zu beiden Sozialformen aus einer Perspektive des „im Prinzip ja / kommt auf die konkrete Unterrichtssituation an“ erklärt werden. Dass sowohl lehrerzentrierte als auch schülerzentrierte (kooperative) Unterrichtsformen ihre didaktische Berechtigung haben, indem sie unterschiedliche
5.3 Allgemeine Einstellungen zum Lehren und Lernen im Literaturunterricht
235
Zwecke erfüllen, ist in der Lernforschung inzwischen Konsens (vgl. z. B. Weinert 1996; Gruber/Renkl 200035; Helmke 2009; vgl. auch oben, Kap. 4.3.2.2). Nimm man diejenigen Untersuchungsteilnehmer in den Blick, die dem Nutzen des gelenkten Lehrer-Schüler-Gesprächs (Item 1_1) bzw. dem Einsatz von Gruppenarbeit (Item 1_7) weniger zustimmen als der Durchschnitt der Befragten, zeigt sich folgendes Bild: Von den 261 Befragten, die das gelenkte LehrerSchüler-Gespräch im Vergleich zur Gesamtstichprobe als eher wenig nützlich einstufen, stimmen 134 (51,3 %) auch dem Einsatz von Gruppenarbeit nur unterdurchschnittlich zu. Die gegenläufigen Tendenzen in der Einstellung gegenüber beiden Sozialformen sind hier also nicht feststellbar. Dies gilt auch für die Gruppe der 214 Personen, die dem Einsatz von Gruppenarbeit nur unterdurchschnittlich zustimmen. Diese stufen zu 62,6 % (134 Personen) auch den Nutzen des Lehrer-Schüler-Gesprächs unterdurchschnittlich ein. Es ist also nicht nur die überdurchschnittliche Zustimmung zu beiden Items möglich; die unterdurchschnittliche Zustimmung zu beiden Items tritt anteilig häufiger auf als die doppelte Bejahung. Auch dieser Befund ist damit zu erklären, dass die Entscheidung für die eine oder andere Sozialform von mehr – in erster Linie situativ bedingten – Faktoren abhängt als allein von einer angenommenen Grundeinstellung gegenüber bestimmten Sozialformen. Wer mit der Einstellung „kommt darauf an“ an die Fragebogen-Items herangeht, kann je nach individuell ausgeprägtem Grad an Skepsis gegenüber vorgegebenen Aussagen und Antwortmöglichkeiten eher doppelt zustimmen oder eher doppelt ablehnen. Zusammenfassend lässt sich Folgendes festhalten: Was den Zusammenhang zwischen der Zustimmung zum gelenkten Lehrer-Schüler-Gespräch und dem Einsatz von Gruppenarbeit im Literaturunterricht betrifft, kann man mit aller Zurückhaltung eine leicht gegenläufige Tendenz im Zustimmungsmuster der Befragten sehen. Wer die eine Sozialform höher einschätzt, bewertet die andere geringer. Auch hier zeigt sich aber, dass mit den wenigen in der Erhebung verbliebenen Items nicht alle Einflussfaktoren für das Antwortverhalten so differen35 „Für unterschiedliche angestrebte Wissensarten und Wissensmerkmale sind unterschiedliche Unterrichtsformen zu bevorzugen (…). Aufgabe künftiger Forschung ist es vor allem, Möglichkeiten einer sinnvollen ‚Orchestrierung’ von Lernformen aufzuzeigen.“ (Gruber/Renkl 2000, 169)
236
5 Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften am Gymnasium
ziert wie nötig erfasst werden können. Für den großen Anteil derjenigen Befragten, die beiden Sozialformen gleichermaßen zustimmen bzw. beide gleichermaßen gering einschätzen, steht zu vermuten, dass weniger relativ starre unterrichtschoreographische Grundeinstellungen als vielmehr situationsbezogener Pragmatismus die Entscheidungen für oder gegen bestimmte Sozialformen beeinflusst. Mit einem Blick auf die Zusammenhänge zwischen Gruppenzugehörigkeit und Zustimmung zu den Sozialformen sollen die allgemeinen Einstellungen der Untersuchungsteilnehmer gegenüber dem Lehren und Lernen im Literaturunterricht noch ein wenig schärfer profiliert werden.
5.3.3 Lernprozessbezogene Grundeinstellung und bevorzugte Sozialform Wie oben erläutert, ging die hier vorgelegte Untersuchung von einem Zusammenhang aus zwischen den lernprozessbezogenen Grundeinstellungen der Lehrkräfte und dem von ihnen bevorzugten Grad an Schülerzentrierung im Unterricht. Für die beiden angenommenen Gruppen von Lehrkräften, ‚Instruktionisten‘ (Gruppe 1) und ‚Konstruktivisten‘ (Gruppe 2) wurde ursprünglich folgende Hypothese A aufgestellt (vgl. Kap. 5.1): H0 a: Gruppe 1 und Gruppe 2 gestalten ihren Unterricht gleichermaßen schülerzentriert. H1 a: Gruppe 2 gestaltet ihren Unterricht stärker schülerzentriert als Gruppe 1.
Diese Hypothese ist aufgrund der veränderten Datenstruktur der Haupterhebung so nicht mehr zu testen. Allerdings lassen sich die Überlegungen, die hinter dieser Hypothese stecken, dennoch weiter verfolgen. Es ist nunmehr also zu klären, inwieweit es Zusammenhänge gibt zwischen der Gruppenzugehörigkeit der befragten Lehrerinnen und Lehrer und ihrer Zustimmung zum Nutzen des gelenktes Lehrer-Schüler-Gesprächs und zum Einsatz von Gruppenarbeit. Zu erwarten ist, dass die ‚Instruktionisten‘ den Nutzen des gelenkten Lehrer-SchülerGesprächs stärker bejahen als die ‚Konstruktivisten‘ und umgekehrt die ‚Konstruktivisten‘ dem Einsatz von Gruppenarbeit stärker zustimmen als die ‚Instruktionisten‘ (vgl. hierzu auch Kap. 2.3.2, 4.3.2.2, 5.3.2). Für die dritte festgestellte
5.3 Allgemeine Einstellungen zum Lehren und Lernen im Literaturunterricht
237
Gruppe, die Praxisorientierten, ist anzunehmen, dass sie – entsprechend ihrem indifferenten Votum hinsichtlich der lernprozessbezogenen Grundeinstellungen – auch hinsichtlich des Einsatzes der beiden Sozialformen keine klaren Präferenzen zeigen. Wie in Kap. 5.3.1.3 beschrieben, wurde die Gruppeneinteilung über die Unterscheidung nach über- bzw. unterdurchschnittlicher Zustimmung zu den Skalen 234 (Lernen als eigenständiger Konstruktionsprozess) und 56 (Lernen als Nachvollziehen fest stehender Inhalte) getroffen. Es lässt sich in einem ersten Schritt überprüfen, inwieweit die Zustimmung zu den in Item 1_1 und 1_7 zum Einstellungsobjekt gemachten Sozialformen mit der Zustimmung zu den beiden Skalen korreliert. Für das gelenkte Lehrer-Schüler-Gespräch (Item 1_1) ergibt sich dabei folgendes Bild: Zwischen der Zustimmung zu Skala 56 (Lernen als Nachvollziehen fest stehender Lösungen) und der Zustimmung zum Nutzen des gelenkten Lehrer-Schüler-Gesprächs besteht eine Produkt-Moment-Korrelation von r = 0.196, die auf dem Niveau von 0,01 signifikant ist. D. h. es existiert ein – wenn auch nicht sehr starker – positiver linearer Zusammenhang zwischen der Zustimmung zur Skala 56 und der Zustimmung zum gelenkten Lehrer-Schüler-Gespräch (je höher die Zustimmung zu Skala 56, desto höher die Zustimmung zum Nutzen des Lehrer-Schüler-Gesprächs und umgekehrt).36 Zwischen der Zustimmung zum Lehrer-Schüler-Gespräch und zu Skala 234 (Lernen als eigenständiger Konstruktionsprozess) hingegen besteht ein negativer linearer Zusammenhang (r = -0.203), der ebenfalls auf dem Niveau von 0,01 signifikant ist: je höher die Zustimmung zum Lehrer-Schüler-Gespräch, desto geringer die Zustimmung zu Skala 234. Hinsichtlich der Zustimmung zum Einsatz von Gruppenarbeit zeigt sich eine gegenläufige Richtung der Zusammenhänge: je größer die Zustimmung zur Gruppenarbeit, desto größer die Zustimmung zu Skala 234 (r = 0.350; α = 0,01) und desto geringer die Zustimmung zu Skala 56 (r = -0.117; α = 0,05). Diese Befunde sind nicht überraschend. Die ermittelten Zusammenhänge geben zu-
36 Dass die Zustimmung zu Item 1 mit der Zustimmung zu den Items 5 und 6 positiv korreliert, hat bereits die Faktorenanalyse oben in Kap. 5.3.1.1 gezeigt (vgl. Tab. 5.7).
238
5 Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften am Gymnasium
nächst auch nur rein statistisch eine schwache Tendenz an, die es – der Fragestellung der Untersuchung folgend – nun mit Blick auf die gebildeten Gruppen lernprozessbezogener Grundeinstellungen näher zu erhellen gilt. Die befragten Deutschlehrkräfte wurden hinsichtlich ihrer lernprozessbezogenen Grundeinstellungen in drei Gruppen eingeteilt: konstruktivistisch orientierte Lehrkräfte (n = 132), instruktionistisch orientierte Lehrkräfte (n = 66), und eine große Gruppe (n = 184) von Personen, die den verwendeten Skalen gleichermaßen über- oder unterdurchschnittlich zustimmen, die sog. Praxisorientierten. Wie unterscheiden sich diese Gruppen in ihrer Zustimmung zu den Items 1_1 (gelenktes Lehrer-Schüler-Gespräch) und 1_7 (Gruppenarbeit)? Bezogen auf Item 1_1, „Das gelenkte Lehrer-Schüler-Gespräch leistet einen wesentlichen Beitrag zum Textverstehen der Schüler/innen“, ergeben sich differenziert nach Gruppen folgende Befunde (vgl. Tab. 5.16): Im Vergleich zur Gesamtstichprobe und zu den anderen Gruppen zeigt hier die Gruppe der ‚Konstruktivisten‘ ein charakteristisches Profil, durch das sie sich von den anderen Untersuchungsteilnehmern klar unterscheidet. Die ‚Konstruktivisten‘ sind dadurch bestimmt, dass sie ausschließlich der Skala 234 (Lernen als eigenständiger Konstruktionsprozess der Lernenden ohne determinierte Ergebnisse) überdurchschnittlich zustimmen. Zugleich schätzen dieselben Befragten den Nutzen des gelenkten Lehrer-Schüler-Gesprächs im Literaturunterricht zu 81,8 % geringer ein als der Durchschnitt aller Befragten. Ein gemeinsames Merkmal der ‚Konstruktivisten‘ besteht also offensichtlich tatsächlich darin, dass sie einen hohen Grad an Lehrerlenkung im Literaturunterricht ablehnen und stattdessen eher auf eigenes Entdecken der Schüler setzen – sofern die beiden Einzelitems diese Einstellungen hinreichend erfassen. ‚Instruktionisten‘ und Praxisorientierte sind vom Zustimmungsverhalten zu Item 1_1 her ähnlich. In beiden Gruppen beträgt der Anteil derjenigen, die dem Nutzen des Lehrer-Schüler-Gesprächs nur unterdurchschnittlich zustimmen, etwas mehr als die Hälfte. Überdurchschnittliche Zustimmung zum LehrerSchüler-Gespräch zeigen jeweils rund 40 % der Gruppen. Damit liegt die Zustimmung zu dieser Sozialform leicht über der Zustimmung in der Gesamtstichprobe (31,7 %), während sie in der Gruppe der Konstruktivisten deutlich darunter liegt (18,2 %). Insgesamt betrachtet ist die Position von ‚Instruktionisten‘ und Praxisorientierten gegenüber dem Nutzen des gelenkten Lehrer-Schüler-
5.3 Allgemeine Einstellungen zum Lehren und Lernen im Literaturunterricht
239
Gesprächs aber wenig markant und bietet kaum Basis für weiter reichende Schlussfolgerungen. Umso eindeutiger jedoch erscheint im Gruppenvergleich die klare Stellungnahme der ‚Konstruktivisten‘ gegen das gelenkte Lehrer-SchülerGespräch. Tab. 5.16: Lernprozessbezogene Grundeinstellungen und Zustimmung zum gelenkten Lehrer-Schüler-Gespräch Gruppe
Zugeordnete Lehrkräfte insgesamt (100 %)
‚Konstruktivisten‘
132
‚Instruktionisten‘
66
Praxisorientierte37
184
Gesamtstichprobe
382
Davon unterdurchschnittliche Zustimmung zum LSG (Zustimmung 3,1) (Prozentanteil der Gruppe) 24 (18,2 %) 27 (40,9 %) 70 (38,0 %) 121 (31,7 %)
Ebenso, wie die ‚Konstruktivisten‘ gegenüber Item 1_1 ein markantes Profil zeigen, fällt das Antwortverhalten der ‚Instruktionisten‘ besonders ins Auge, was die Angaben zum Einsatz von Gruppenarbeit im Literaturunterricht betrifft. Die ‚Instruktionisten‘, charakterisiert als diejenigen Lehrkräfte, „für die Lernen sich als Nachvollziehen fest stehender Inhalte (Lösungen, Zusammenhänge) vollzieht“ (s. o., Kap. 5.1), lehnen den Einsatz von Gruppenarbeit sowohl im Vergleich zu den Praxisorientierten als auch zu den ‚Konstruktivisten‘ deutlich stärker ab (vgl. Tabelle 5.17): Nur 22,7 % der ‚Instruktionisten‘ äußern eine überdurchschnittliche Zustimmung zum Einsatz von Gruppenarbeit, während der entsprechende Anteil der Befürworter von Gruppenarbeit im Gesamtdurchschnitt
37 Die Gruppe der Praxisorientierten wurde in der Aufstellung nicht noch einmal unterteilt, weil sich die ‚Doppelzustimmer‘ und die ‚Doppelablehner‘ nicht in ihrer Einschätzung des gelenkten Lehrer-Schüler-Gesprächs unterscheiden.
240
5 Aufgabenpräferenzen von Deutschlehrkräften am Gymnasium
bei 44,0 % liegt. Damit unterscheiden sich die ‚Instruktionisten‘ klar sowohl von den Praxisorientierten als auch von den ‚Konstruktivisten‘. Tab. 5.17: Lernprozessbezogene Grundeinstellungen und Zustimmung zum Einsatz von Gruppenarbeit Davon überdurchschnittliche Zustimmung zur GA (Zustimmung >3,4) (Prozentanteil in Gruppe)
Zugeordnete Lehrkräfte Insgesamt (100 %)
Davon unterdurchschnittliche Zustimmung zur GA (Zustimmung 3,4)
Gesamt
bis 30
7
20
27
31 bis 40
49
55
104
41 bis 50
79
47
126
51 bis 60
72
43
115
über 60 Gesamt
6
2
8
213
167
380
Fehlende Werte
Tab. 7.2:
2
Zusammenhänge zwischen Klassenzugehörigkeit und Zustimmung zu Item 1_1 (gelenktes Lehrer-Schüler-Gespräch) (1) Zustimmung zum Nutzen des gelenkten Lehrer-Schüler-Gesprächs
Angebotsorientierte % der Angebotsorientierten Gegenstandsorientierte % der Gegenstandsorientierten Lernerorientierte % der Lernerorientierten Trendorientierte % der Trendorientierten Gesamt % der Gesamtstichprobe
1
Unterdurchschnittliche Zustimmung (Zustimmung < 3,1) 70 68,6 % 13 48,1 % 33 70,2 %
Überdurchschnittliche Zustimmung (Zustimmung > 3,1) 32 31,4 % 14 51,9 % 14 29,8 %
145 70,4 % 261 68,3 %
61 29,6 % 121 31,7 %
Gesamt
102 100 % 27 100 % 47 100 % 206 100 % 382 100 %
Aufgrund von Rundungen der Prozentangaben kann sich bei der Addition der Werte im Einzelfall eine Abweichung um 0,1 ergeben.
296 Tab. 7.3:
Anhang
Zusammenhänge zwischen Klassenzugehörigkeit und Zustimmung zu Item 1_1 (gelenktes Lehrer-Schüler-Gespräch) (2) Nutzen des gelenkten Lehrer-Schüler-Gesprächs trifft nur bedingt zu
Gesamt
trifft in hohem Maß zu 32 31,4 %
102 100 %
Angebotsorientierte % der Angebotsorientierten
8 7,8 %
trifft im Wesentlichen zu 62 60,8 %
Gegenstandsorientierte % der Gegenstandsorientierten
4 14,8 %
9 33,3 %
14 51,9 %
27 100 %
Lernerorientierte % der Lernerorientierten
8 17,0 %
25 53,2 %
14 29,8 %
47 100 %
Trendorientierte % der Trendorientierten
47 22,8 %
98 47,6 %
61 29,6 %
206 100 %
Gesamt % der Gesamtstichprobe
67 17,5 %
194 50,8 %
121 31,7 %
382 100 %
Tab. 7.4:
Zusammenhänge zwischen Klassenzugehörigkeit und Zustimmung zu Item 1_7 (Einsatz von Gruppenarbeit) (1) Zustimmung zum Einsatz von Gruppenarbeit
Gesamt
Unterdurchschnittliche Zustimmung (Zustimmung < 3,4) 60 58,8 %
Überdurchschnittliche Zustimmung (Zustimmung > 3,4) 42 41,2 %
102 100 %
Gegenstandsorientierte % der Gegenstandsorientierten
16 59,3 %
11 40,7 %
27 100 %
Lernerorientierte % der Lernerorientierten
30 63,8 %
17 36,2 %
47 100 %
Trendorientierte % der Trendorientierten
108 52,4 %
98 47,6 %
206 100 %
Gesamt % der Gesamtstichprobe
214 56,0 %
168 44,0 %
382 100 %
Angebotsorientierte % der Angebotsorientierte
297
Anhang
Tab. 7.5:
Zusammenhänge zwischen Klassenzugehörigkeit und Zustimmung zu Item 1_7 (Einsatz von Gruppenarbeit) (2) Einsatz von Gruppenarbeit nie
selten
Angebotsorientierte % der Angebotsorientierten
1 1,0 %
Gegenstandsorientierte % der Gegenstandsorientierten
6 5,9 %
manchmal 53 52,0 %
0 0,0 %
5 18,5 %
Lernerorientierte % der Lernerorientierten
0 0,0 %
Trendorientierte % der Trendorientierten Gesamt % der Gesamtstichprobe
Tab. 7.6:
oft
Gesamt
41 40,2 %
sehr oft 1 1,0 %
102 100 %
11 40,7 %
10 37,0 %
1 3,7 %
27 100 %
7 14,9 %
23 48,9 %
16 34,0 %
1 2,1 %
47 100 %
0 0,0 %
13 6,3 %
95 46,1 %
88 42,7 %
10 4,9 %
206 100 %
1 0,3 %
31 8,1 %
182 47,6 %
155 40,6 %
13 3,4 %
382 100 %
Zusammenhänge zwischen Klassenzugehörigkeit und Alter Alter bis 30
31-40
41-50
51-60
Angebotsorientierte % der Angebotsorientierten*
7 6,9 %
15 14,9 %
38 37,6 %
Gegenstandsorientierte % der Gegenstandsorientierten
0 0,0 %
8 29,6 %
Lernerorientierte % der Lernerorientierten
1 2,1 %
Trendorientierte % der Trendorientierten* Gesamt % von Gesamt*
Gesamt
38 37,6 %
über 60 3 3,0 %
101 100 %
10 37,0 %
9 33,3 %
0 0,0 %
27 100 %
13 27,7 %
21 44,7 %
12 25,5 %
0 0,0 %
47 100 %
19 9,3 %
68 33,2 %
57 27,8 %
56 27,3 %
5 2,4 %
205 100 %
27 7,1 %
104 27,4 %
126 33,2 %
115 30,3 %
8 2,1 %
380 100 %
____________________________________________ Prozentangaben beziehen sich auf die Probanden mit gültigen Angaben (fehlende Werte bei * insgesamt 2 Probanden).
298
Anhang
Tab. 7.7:
Zusammenhänge zwischen Klassenzugehörigkeit und Geschlecht Geschlecht Gesamt
männlich 23 24,7 %
weiblich 70 75,3 %
Gegenstandsorientierte % der Gegenstandsorientierten*
8 30,8 %
18 69,2 %
26 100 %
Lernerorientierte % der Lernerorientierten*
19 42,2 %
26 57,8 %
45 100 %
Trendorientierte % der Trendorientierten*
39 20,6 %
150 79,4 %
189 100 %
Gesamt % von Gesamt*
89 25,2 %
264 74,8 %
353 100 %
Angebotsorientierte % der Angebotsorientierten*
93 100 %
____________________________________________ Prozentangaben beziehen sich auf die Probanden mit gültigen Angaben (fehlende Werte bei * insgesamt 29 Probanden).
Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen
Tabellen Kapitel 2 Tab. 2.1 Tab. 2.2
Typen von Lernaufgaben ………………………………………... 25 Merkmale gut und schlecht strukturierter Problemstellungen im Vergleich (nach Jonassen 2000, 67) …………………………….. 45
Kapitel 5 Tab. 5.1 Tab. 5.2 Tab. 5.3 Tab. 5.4 Tab. 5.5
Ratereinschätzungen der Aufgabenbeispiele ….......................... Beschreibung der Stichprobe nach Bundesländern ……………. Beschreibung der Stichprobe nach Geschlecht ...……………… Beschreibung der Stichprobe nach Alter ...……………………. Beschreibung der Stichprobe nach Dauer der Berufstätigkeit als Lehrer/in ...…………………………………………………. Tab. 5.6 Eigenwertetabelle der Hauptkomponentenanalyse über die Items aus dem ersten Fragebogenteil ...……………………. Tab. 5.7 Exploratorische Faktorenanalyse mit der Vorgabe von 2 Faktoren ...…………………………………………………… Tab. 5.8 Zustimmungsmittelwerte auf den Skalen des ersten Fragebogenteils ...……………………………………………… Tab. 5.9 ‚Konstruktivisten‘ und ‚Instruktionisten‘ in der Gesamtstichprobe ……………………………………………… Tab. 5.10 Die Gruppe der Praxisorientierten nach Untergruppen ...……... Tab. 5.11 Lernprozessbezogene Grundeinstellungen und Geschlecht …… Tab. 5.12 Lernprozessbezogene Grundeinstellungen und Alter ……......... Tab. 5.13 Zustimmung zu Item 1_1 (Nutzen des gelenkten Lehrer-Schüler-Gesprächs für das Textverstehen) ..…………... Tab. 5.14 Zustimmung zu Item 1_7 (Einsatz von Gruppenarbeit) ………. Tab. 5.15: Zusammenhänge zwischen der Zustimmung zu Gruppenarbeit und gelenktem Lehrer-Schüler-Gespräch ……………………... Tab. 5.16 Lernprozessbezogene Grundeinstellungen und Zustimmung zum gelenkten Lehrer-Schüler-Gespräch ……………………...
I. Winkler, Aufgabenpräferenzen für den Literaturunterricht, DOI 10.1007/978-3-531-92698-8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
201 206 206 207 207 209 211 214 215 220 222 224 229 230 234 239
300 Tab. 5.17 Tab. 5.18 Tab. 5.19 Tab. 5.19 Tab. 5.20 Tab. 5.21 Anhang Tab. 7.1 Tab. 7.2 Tab. 7.3 Tab. 7.4 Tab. 7.5 Tab. 7.6 Tab. 7.7
Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen
Lernprozessbezogene Grundeinstellungen und Zustimmung zum Einsatz von Gruppenarbeit ……………………………….. LCA – Mittlere Zuordnungswahrscheinlichkeiten…………….. Überblick über die Ergebnisse der Aufgabenanalyse (1) ..……. Überblick über die Ergebnisse der Aufgabenanalyse (2)……... Zusammenhänge zwischen Klassenzugehörigkeit und lernprozessbezogenen Grundeinstellungen (1) ………………... Zusammenhänge zwischen Klassenzugehörigkeit und lernprozessbezogenen Grundeinstellungen (2)………………… Zusammenhänge zwischen Zustimmung zu Item 1_7 und Alter ………………………………………………………. Zusammenhänge zwischen Klassenzugehörigkeit und Zustimmung zu Item 1_1 (1) ………………………………….. Zusammenhänge zwischen Klassenzugehörigkeit und Zustimmung zu Item 1_1 (2) ………………………………….. Zusammenhänge zwischen Klassenzugehörigkeit und Zustimmung zu Item 1_7 (1) ……….......................................... Zusammenhänge zwischen Klassenzugehörigkeit und Zustimmung zu Item 1_7 (2) ……….......................................... Zusammenhänge zwischen Klassenzugehörigkeit und Alter …. Zusammenhänge zwischen Klassenzugehörigkeit und Geschlecht ……………………………………………………...
240 246 251 252 267 268
295 295 296 296 297 297 298
Abbildungen Kapitel 3 Abb. 3.1 Abb. 3.2 Abb. 3.3 Abb. 3.4 Abb. 3.5 Abb. 3.6
Einflussfaktoren beim Textverstehen/Determinanten von Lesekompetenz (Artelt et al. 2005, 12) …………………… 56 Einflussfaktoren des Textverstehens im Deutschunterricht …… 60 Textverstehensaufgaben als Interaktion von demand und support: Ein Systematisierungsvorschlag ……………………... 109 „Die Merkmale einer Kurzgeschichte entdecken und deren Funktion deuten“ (Arbeitsblatt aus Magazin 9, 2001b, 90) ….... 121 Anforderungsprofil von Bewertungsaufgaben ………………… 124 Bewertungsaufgaben als Anstoß zum Reflektieren und Bewerten des aktivierten Wissens ………………………………………... 127
Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen
Kapitel 4 Abb. 4.1 Kapitel 5 Abb. 5.1 Abb. 5.2 Abb. 5.3
301
Eckpunkte des fachdidaktischen Wissens in Form eines fachdidaktischen Dreiecks (Brunner et al. 2006a, 60) ………… 167 Screeplot über die Items des ersten Fragebogenteils ………….. 210 Ergebnisse der latenten Klassenanalyse: Vier Klassen von Lehrkräften …………………………………….………….. 245 Exemplarische Antwortverläufe Klasse 4 ...…………………… 248
Literatur
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Literatur
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