Im 21. Jahrhundert startet das europäische Raum schiff GLORIA MUNDI und erreicht nach mehr als zwanzig Jahren Altair V...
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Im 21. Jahrhundert startet das europäische Raum schiff GLORIA MUNDI und erreicht nach mehr als zwanzig Jahren Altair V. Obwohl der Planet nicht le bensfeindlich ist, kommt es zu einer Katastrophe, und Paul Marlowe, der Schiffspsychiater, ist scheinbar der einzige Überlebende. Von der Erde abgeschnitten, hat er keine andere Wahl, als sich den grausamen Sitten und Gebräuchen der Bayani anzupassen, einer hu manoiden Rasse, deren mittelalterliche Zivilisation sich seit Jahrhunderten nicht mehr verändert hat. Paul Marlowe wird Lehrer – ein gefährlicher Beruf in dieser Welt der Orthodoxie und der Tabus. Später un ternimmt er eine seltsame Reise auf dem Kanal des Lebens, marschiert mit einigen Begleitern tagelang durch den Urwald und macht schließlich eine atem beraubende Entdeckung, die das Rätsel der Abstam mung der Bayani löst. Nach seiner Rückkehr wird Paul als absoluter Herr scher dieses Volkes eingesetzt – aber er weiß nur zu gut, daß die Stunde seines Todes bereits feststeht.
Vom selben Autor erschienen in den Heyne-Büchern die utopischen Romane Die Welt der zwei Monde · Band 3037 Die Söhne des Alls · Band 3042
EDMUND COOPER
UNTER DEN
STRAHLEN
VON ALTAIR
Utopischer Roman
Deutsche Erstveröffentlichung
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
HEYNE-BUCH Nr. 3118
im Wilhelm Heyne Verlag, München
Titel der englischen Originalausgabe
A FAR SUNSET
Deutsche Übersetzung von Wulf H. Bergner
Copyright © 1967 by Edmund Cooper
Printed in Germany 1968
Umschlag: Atelier Heinrichs & Bachmann, München
Gesamtherstellung:
Verlagsdruckerei Freisinger Tagblatt,
Dr. Franz Paul Datterer oHG., Freising
1
Am fünfunddreißigsten Tag ihrer Gefangenschaft in den Verliesen von Baya Nor zerstörte die Sprengla dung planmäßig das Raumschiff. Wären die drei Männer in einer Gemeinschaftszelle untergebracht worden, hätten sie einander vielleicht helfen können; aber sie waren seit ihrer Gefangennahme voneinan der getrennt. Die einzigen Lebewesen, die sie zu Ge sicht bekamen, waren die Noia, die jedem von ihnen zugeteilt worden war, und die schweigsamen Wärter, die das Essen brachten. Die Explosion war wie ein Erdbeben, das die Grundfesten von Baya Nor erschütterte. Der GottKönig beriet sich mit der Ratsversammlung, und die Ratsversammlung rief das Orakel an, das die heiligen Knochen befragte und nach längerer Trance verkün dete, dies sei ein Zeichen von Oruri, der Baya Nor zu großen Dingen ausersehen habe, und die Ankunft der Fremden sei ein gutes Omen. Die Fremden erfuhren jedoch nichts von derartigen Überlegungen. Sie blieben mit ihren Noias einge sperrt, bis sie vernünftig genug waren – als Maßstab galt ihre Beherrschung der Landessprache –, um dem Gott-König unter die Augen treten zu können. Leider sollte der Gott-König Enka Ne 609. keine
Gelegenheit haben, die Bekanntschaft aller drei Ge fangenen zu machen, denn die Zerstörung des Raum schiffs wirkte sich als traumatischer Schock aus. Jeder der Fremden besaß eine elektronische Uhr; jeder von ihnen war in der Lage, genau zu verfolgen, wie Stun den zu Tagen und Wochen wurden. Und alle drei wußten auf die Minute genau, wann der Hauptcom puter schließlich zu der Einsicht kommen würde, die Mannschaft habe das Schiff entweder verlassen oder sei nicht imstande, dorthin zurückzukehren. In die sem Augenblick handelte der Hauptcomputer seiner Programmierung entsprechend und löste den Zerstö rungsmechanismus aus. Dazu brauchte er nur die Graphitmoderatoren aus dem Reaktor zu ziehen. Al les andere geschah dann von selbst. Die Fremden begannen einen privaten Countdown in ihren Zellen und hofften dabei noch immer, daß wenigstens eines der anderen neun Besatzungsmit glieder rechtzeitig ins Schiff zurückkehren würde. Das war nicht der Fall. Deshalb verwandelte sich das Raumschiff in eine pilzförmige Wolke, setzte die Wälder in fünfzig Kilometer Umkreis in Brand und erzeugte einen flachen Krater, dessen Wände aus ge schmolzenem Gestein bestanden. In den Verliesen von Baya Nor wurde der Zweite Ingenieur wahnsinnig. Er nahm die typische Körper haltung eines Ungeborenen ein. Aber da er nicht
durch eine Nabelschnur ernährt wurde, und da die Noia, die seine einzige Gefährtin war, noch nie von intravenöser Ernährung gehört hatte, verhungerte er allmählich. Der Chefnavigator reagierte gewalttätig. Er er würgte seine Noia und beging anschließend Selbst mord durch Erhängen. Eigenartigerweise blieb der Psychiater des Raum schiffs als einziger bei Verstand und am Leben. Da er ein geborener Pessimist war, hatte er die letzten fünf zehn Tage seiner Gefangenschaft damit verbracht, sich psychologisch auf diesen schrecklichen Augen blick vorzubereiten. Als dann die Wände der Zelle bebten, als seine Noia sich unter dem Bett verkroch und als er vor sei nem inneren Auge eine gleißende Feuersäule sah, wo eben noch das wunderbar schlanke Raumschiff ge standen hatte, flüsterte er hypnotisch vor sich hin: »Ich heiße Poul Mer Lo. Ich bin ein Fremder. Aber dieser Planet wird meine Heimat. Ich muß hier leben und sterben. Ich gehöre nun hierher ... Mein Name ist Poul Mer Lo. Ich bin ein Fremder. Aber dieser Planet wird meine Heimat. Ich muß hier leben und sterben. Ich gehöre nun hierher ...« Poul Mer Lo blieb erstaunlich ruhig und gelassen, obwohl er spürte, daß ihm Tränen über die Wangen liefen. Er sah zu seiner Noia hinüber, die unters Bett
gekrochen war. Obwohl er ihre Sprache noch nicht völlig beherrschte, verstand er doch, daß sie Be schwörungen gegen böse Geister murmelte. Er hatte plötzlich Mitleid mit ihr. »Mylai Tui«, sagte er beruhigend, »du brauchst dich nicht zu fürchten. Was du eben gehört und ge spürt hast, war nicht Oruris Zorn. Ich verstehe es, obwohl ich es dir nicht erklären kann. Es ist sehr traurig, aber für dich und dein Volk ungefährlich.« Mylai Tui kam unter dem Bett hervor. In fünfund dreißig Tagen und Nächten hatte sie viel über Poul Mer Lo gelernt. Sie hatte ihm ihren Körper geschenkt, und sie hatte ihre Gedanken mit ihm geteilt. Sie hatte über seine Verlegenheit und seine Dummheit gelacht. Aber vor allem staunte sie über seine Freundschaft, denn es wäre sonst niemand eingefallen, mit einer gewöhnlichen Noia Freundschaft zu schließen. Nur Poul Mer Lo, dem Fremden. »Du weinst«, flüsterte sie unsicher. »Poul Mer Los Worte haben mir neuen Mut gegeben. Aber seine Be trübnis ist auch mein Kummer. Deshalb muß ich ebenfalls weinen.« Der Psychiater betrachtete sie nachdenklich und fragte sich, ob es ihm je gelingen würde, sich in dieser Sprache auszudrücken, die aus kaum tausend Wör tern zu bestehen schien. Er berührte seine Wange und stellte erstaunt fest, daß sie tränenfeucht war.
»Ich weine«, antwortete er ruhig, »weil nun ein großer und schöner Vogel tot ist. Ich weine, weil ich weit vom Land meiner Väter entfernt bin, und ich kann nicht glauben, daß ich jemals dorthin zurück kehren werde ...« Er zögerte. »Aber ich freue mich, Mylai Tui, daß ich dich kennengelernt habe. Und ich freue mich, daß ich das Volk von Baya Nor entdeckt habe.« Die Noia sah zu ihm auf. »Oruri hat dir Größe ge schenkt«, sagte sie einfach. »Der Gott-König wird dich sehen und deine Weisheit erkennen.«
2
Als Poul Mer Lo am gleichen Abend endlich Schlaf fand, hatte er Alpträume. Er träumte, er sei in einer durchsichtigen Röhre eingeschlossen und sein gefro rener Körper sei mit Rauhreif überzogen, so daß eine dicke weiße Schicht Augen, Nase und Mund bedeck te. Und er träumte von einem Traum. In diesem Traum sah er wogende Kornfelder, die sich bis zum Horizont erstreckten, so weit das Auge reichte. Darüber wölbte sich ein blauer Sommerhim mel mit vereinzelten weißen Wolken, die ihn an gut mütige Schafe auf blauer Himmelsweide erinnerten. Er sah ein Haus – eher eine geräumige Hütte aus Baumstämmen und getrocknetem Lehm unter einem Schilfdach. Plötzlich befand er sich im Innern des Hauses. Dort stand ein Tisch, dessen Platte sich in Schulterhöhe befand. Er sah ganze Berge köstlicher Speisen – alles seine Lieblingsgerichte. Dort lagen auch Spielsachen. Am besten gefiel ihm das Raumschiff auf der Startrampe. Man brauchte es nur auf die Rampe zu setzen, den Hebel zurückzuzie hen und den Startknopf zu drücken. Und schon raste es wie ein silberner Pfeil in den blauen Himmel hinauf. Der gute Riese, sein Vater, sagte: »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Sohn.«
Die böse Hexe, seine Mutter, sagte: »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Liebling.« Und plötzlich lag er wieder in der durchsichtigen Röhre. Der Rauhreif versiegelte seine Lippen, so daß er weder lachen noch weinen konnte. Er spürte Angst und Kälte und Einsamkeit. Das Universum schien riesig und doch nicht größer als seine Röhre zu sein. Er hatte nie gewußt, daß Dun kelheit so tief, Schweigen so bedrückend und Ster nenlicht so kalt sein konnten. Das Universum löste sich auf und verschwand. Er sah eine Stadt, in dieser Stadt ein Restaurant und in diesem Restaurant eine junge Frau. Ihre Haar farbe erinnerte ihn an Kornfelder, die er in seiner Ju gend gekannt hatte. Ihre Augen waren so blau wie der Sommerhimmel seiner Kindheit. Die junge Frau hatte wunderschöne Lippen, und ihre melodische Stimme war mit nichts zu vergleichen, an das er sich von früher her erinnerte. Aber vor allem strahlte sie Wärme aus. Sie war der sonnendurchglühte Hoch sommer, dem ein lieblicher fruchtbarer Herbst folgen würde. Sie fragte: »Die Welt genügt dir also nicht?« Diese Frage war im Grunde genommen überflüssig, denn sie wußte bereits, was er antworten würde. Er lächelte. »Du genügst mir, aber die Welt ist zu klein.«
Sie spielte mit ihrem Glas. »Noch eine letzte Frage, die klassische Frage, und dann brauchen wir nie wie der davon zu sprechen ... Warum willst du zu den Sternen fliegen?« Er lächelte noch immer, aber sein Lächeln war jetzt mechanisch. Er wußte keine Antwort. »Auf deine Frage gibt es eine klassische Erwiderung«, sagte er ruhig. »Weil sie da sind.« »Der Mond ist da. Die Planeten sind da. Genügt das nicht?« »Vor mir sind schon andere auf dem Mond und den Planeten gewesen«, erklärte er ihr geduldig. »Deshalb ist das nicht genug.« »Ich glaube, daß ich dich glücklich machen könn te«, flüsterte sie. Er nahm ihre Hand. »Ich weiß, daß du es könn test.« »Wir könnten Kinder haben. Wünschst du dir kei ne Kinder?« »Doch – deine Kinder.« »Dieser Wunsch ist leicht zu erfüllen.« »Liebling ... Oh, Liebling ... Die große Schwierigkeit besteht darin, daß ich mehr will.« Sie sah ihn verständnislos an und runzelte die Stirn. »Was willst du eigentlich? Was bedeutet dir mehr als Liebe und Glück und Kinder?« Er erwiderte ihren fragenden Blick und senkte be
troffen den Kopf. Wie sollte er ihr die Wahrheit erklä ren? Wie sollte er die richtigen Worte finden? Und wie sollte er je selbst daran glauben können, daß die se Worte überhaupt die Wahrheit ausdrückten? »Ich möchte zu denen gehören, die den ersten gro ßen Schritt ins Unbekannte tun«, sagte er langsam und machte eine Pause, um nach anderen Begriffen zu suchen. »Ich möchte einen Fußabdruck an frem den Ufern hinterlassen.« Er lachte. »Ich möchte mir sogar einen unbedeutenden Platz in der Geschichte sichern. Du darfst mir ruhig vorwerfen, ich sei para noid – vielleicht hast du sogar recht.« Sie nickte langsam. »Du hast meine Frage beant wortet, und ich habe nichts dazu zu sagen«, erwider te sie. »Hörst du, was die Kapelle spielt? Meinen Lieblingswalzer – den Kaiserwalzer. Wollen wir tan zen?« Er stand auf. Sie schwebte in seinen Armen über die weite Tanz fläche ... Er hätte am liebsten geweint. Aber wie kann man mit gefrorenen Lippen und gefrorenen Augen und gefrorenem Herzen weinen? Wie kann man füh len oder empfinden, solange die Ewigkeit erdrückend auf einem lastet? Er wachte schreiend auf. Die Verliese von Baya Nor hatten sich nicht verän dert. Die schwarzhaarige Noia mit den großen dunk
len Augen, die an seiner Seite lag, hatte sich nicht verändert. Nur er hatte sich verändert, weil die Kon ditionierung – Gott sei Dank – unwirksam geworden war. Weil Menschen nicht Maschinen, sondern Men schen waren. Weil sein Schmerz so tief und verzwei felt war, daß er endlich wußte, wie ein erschrockenes Tier fühlte, obwohl er sich bisher immer für einen le benden Computer gehalten hatte. Er setzte sich im Bett auf, starrte die gegenüberlie gende Wand an und spürte deutlich, daß sich seine Nackenhaare sträubten. »Ich heiße Paul Marlowe«, murmelte er in einer fremden Sprache vor sich hin, die seine Noia nicht verstehen konnte. »Ich stamme von der Erde und bin in den letzten zwanzig Jahren nur vier Jahre älter ge worden. Ich habe gegen die Gesetze des Lebens ver stoßen.« Er preßte beide Hände an die Schläfen, als habe er das Gefühl, sein Kopf müsse im nächsten Augenblick zerspringen. »O Gott, bestrafe mich mit Schmerzen, die ich ertragen kann! Laß mich leiden, wie nie zuvor ein Mensch gelitten hat! Aber gib mir die Welt zurück, die ich verschleudert habe!« Dann brach er schluchzend zusammen. Die Noia nahm seinen Kopf in die Arme und strei chelte zärtlich sein Haar. »Ich weiß, daß du Visionen hast«, flüsterte sie. »Vi sionen sind schwer zu ertragen, aber sie sind Oruris
Geschenk, und wir müssen sie deshalb gehorsam er dulden. Ich würde dir diese Last gern abnehmen, Poul Mer Lo, wenn das Oruris Wille wäre.« Poul Mer Lo hob den Kopf und starrte sie aus trä nennassen Augen an. »Du brauchst dir meinetwegen keine Sorgen zu machen«, sagte er in stockendem Bayani. »Ich habe schlechte Träume gehabt, und mein Herz trauert um den Tod eines Kindes, das vor langer Zeit gestorben ist.« Mylai Tui war verwirrt. »Zuerst hat dich der Tod eines großen Vogels betrübt – und jetzt ist es der Tod eines Kindes. Gibt es nicht zuviel Tod in deinem Her zen?« Poul Mer Lo lächelte. »Du hast recht. Ich denke zu oft an den Tod. Offenbar muß ich lernen, wieder zu leben.«
3
Im Jahre 2012 A. D. (Ortszeit) verließen drei Raum schiffe den Planeten Sol III, den seine Bewohner als ›Erde‹ bezeichneten. Das erste Raumschiff, das sich in die nachtschwarze Unendlichkeit hinauswagte, war – selbstverständlich – das amerikanische Schiff Mayflo wer. Es war (und darüber waren sich selbst die russi schen und europäischen Inspekteure einig) die fort schrittlichste, die größte und wahrscheinlich auch die schönste Maschine, die je von Menschenhand gebaut worden war. Die Endmontage in der Zwei-StundenKreisbahn hatte zehn Jahre Zeit, dreißig Milliarden neue Dollar und neunhundertvierzehn Menschenle ben gekostet. Die Mayflower bot Platz für fünfund vierzig Menschenpaare, und ihr Ziel war das System Sirius. Das zweite Raumschiff, das von Sol III aus startete, war das russische Schiff Roter Oktober. Obwohl es nicht die gigantischen Ausmaße des amerikanischen Schiffs erreichte, war es (und darüber waren sich die amerikanischen und europäischen Inspekteure einig) etwas schneller. Und es war ebenfalls teuer und schön, und bei seinem Bau waren zahlreiche Men schenopfer zu beklagen gewesen. Trotz aller zuvor geäußerten Zweifel in Fachkreisen hatten die Russen
das Kunststück fertiggebracht, ihr Schiff in der Drei Stunden-Kreisbahn in knapp sechs Jahren zu montie ren. Es sollte siebenundzwanzig Männer und sieben undzwanzig Frauen (nicht in Paaren) enthalten, und sein Ziel war Prokyon. Das dritte Schiff war die Gloria Mundi. Es war mit verhältnismäßig primitiven Mitteln und geringerem Aufwand von den Vereinigten Staaten von Europa in der Neunzig-Minuten-Kreisbahn gebaut worden. Es trug den Namen Gloria Mundi, weil die Deutschen kei nen englischen Namen, die Franzosen keinen deut schen, die Engländer keinen französischen und die Niederländer keinen englischen akzeptieren wollten, während die Italiener sich nicht einmal untereinander auf einen Namen einigen konnten. Deshalb war ein Name aus einer toten Sprache die beste und einzige Lösung gewesen. Und weil das Schiff kleiner als die beiden anderen war, hatte der Chefkonstrukteur – ein Engländer mit dem typisch englischen Sinn für Humor – den Vorschlag gemacht, es Ruhm der Welt zu taufen. Es sollte sechs Paare an Bord nehmen: ein deutsches Paar, ein französisches Paar, ein englisches Paar, ein italienisches Paar, ein holländisches Paar und ein schwedisches Paar. Es war kleiner als das russische und langsamer als das amerikanische Schiff. Trotzdem war sein Ziel selbstverständlich weiter entfernt als die Ziele der Amerikaner oder Russen. Es sollte Altair an
fliegen – eine Reise von sechzehn Lichtjahren, die fast einundzwanzig Jahren Bordzeit entsprach. Im einundzwanzigsten Jahrhundert war der engli sche Sinn für Sitte und Anstand noch immer so stark ausgeprägt, daß er nicht einfach ignoriert werden konnte. Aus diesem Grund erschien Paul Marlowe am dritten April zweitausendzwölf mit einer roten Nelke im Knopfloch seines schwarzen Anzugs pünkt lich um zehn Uhr dreißig im Standesamt Caxton Hall. Um zehn Uhr fünfunddreißig traf Ann Victoria Wat kins dort ein. Um zehn Uhr fünfzig waren die beiden Mann und Frau, und der Standesbeamte schüttelte ihnen feierlich die Hand. Schätzungsweise dreihun dert Millionen Menschen verfolgten die Zeremonie zu Hause auf den Bildschirmen – dank der techni schen Fortschritte der Eurovision sogar in Farbe. Paul und Ann hatten keine besondere Vorliebe für einander; allerdings waren sie einander nicht ausge sprochen unsympathisch. Aber als englischer Beitrag zur Besatzung der Gloria Mundi hatten sie keine Ein wände gegen die geplante Trauung erhoben. Paul, ein ausgebildeter Raumfahrer, war Psychiater und Lehrer zugleich, sprach fließend deutsch und hatte gute Französischkenntnisse. Anns Mitgift bestand aus ihrer Ausbildung als Chirurgin, einigen Kenntnissen in Schwedisch und Italienisch und Grundbegriffen des Holländischen.
Unmittelbar nach der Trauung fuhren sie im Taxi zum Victoria-Bahnhof, mit dem Luftkissenzug nach Gatwick, flogen mit einer Stratorakete nach Woomera und stiegen in die Fähre zur Neunzig-MinutenKreisbahn um. Dort verbrachten sie ihre Flitterwo chen mit den Vorbereitungen zum Start der Gloria Mundi. Obwohl sich die amerikanischen, russischen und europäischen Raumschiffe in bezug auf Größe, Kon struktion und Unterbringungsmöglichkeiten deutlich voneinander unterschieden, hatten sie alle etwas ge meinsam. Sie enthielten alle Schlafkammern für die Besatzungsmitglieder. Keines der Schiffe konnte die Lichtgeschwindigkeit überschreiten – die Russen be haupteten allerdings, die Roter Oktober sei unter idea len Bedingungen zumindest theoretisch dazu im stande –, so daß ihre Besatzungen jahrelange Reisen vor sich hatten; in dieser Zeit war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen, daß einige Besatzungsmitglieder sterben, verrückt werden, meutern oder andere Dummheiten anstellen würden. Es sei denn, sie hätten Schlafkammern zur Verfügung. In den letzten Jahrzehnten des zwanzigsten Jahr hunderts war das Verfahren des Kälteschlafs gründ lich erforscht und entwickelt worden. Zunächst war es nur in sehr begrenztem Umfang bei der Lagerung
von menschlichen Körperteilen angewendet worden, die vielleicht erst nach Jahren übertragen werden sollten. Dann hatte jemand entdeckt, daß man Neuro tiker nur einige Tage oder Wochen – je nach Ausmaß und Schwere der Neurose – einzufrieren brauchte, um sie fast völlig zu heilen. Und schließlich war je mand auf die Idee gekommen, Geisteskranke, un heilbar Kranke und Sterbende in den Kälteschlaf zu versetzen. Die Betreffenden konnten notfalls einige Jahrzehnte in diesem Zustand bleiben, bis ein Heil verfahren gefunden war, das ihre Krankheit betraf. Zu Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts war der Kälteschlaf aus dem Leben der Menschen nicht mehr wegzudenken. Nicht nur die unheilbar Kranken und die unheilbar Wahnsinnigen wurden eingefroren, sondern auch Verbrecher, bei denen die Dauer des Kälteschlafs – zwischen einem und fünfzig Jahren – von der Schwere ihres Verbrechens abhing. Und reiche Bürger, deren Leben sich dem Ende nä herte, obwohl sie bereits alle konventionellen Verjün gungskuren gemacht hatten, ließen sich freiwillig in einen Kälteschlaf versetzen, weil sie hofften, irgend jemand werde eines Tages das Geheimnis der Un sterblichkeit entdecken. Selbst die Toten – falls sie wichtig genug waren und falls ihre Leichen sofort nach dem Ableben zur Verfügung standen – wurden eingefroren, da zu erwarten war, daß die Verfahren
zur Wiederbelebung in den kommenden Jahrzehnten große Fortschritte machen würden. Aber selbst wenn der Kälteschlaf für alle, die dem Tod, dem Irrenhaus, dem Scharfrichter oder den Na turgesetzen ein Schnippchen schlagen wollten, nur zweifelhaften Wert besaß, war er doch die einzige Möglichkeit, jahrelange Raumflüge bei geistiger und körperlicher Gesundheit zu überstehen. Allen Berechnungen nach konnte die Gloria Mundi Altair unmöglich in weniger als zwanzig Jahren sub jektiver Zeit erreichen. Deshalb war ein genauer Plan ausgearbeitet worden, der logischerweise vorsah, daß jeweils ein Teil der Besatzung eingefroren werden sollte. Während der ersten drei Monate würden sämt liche Besatzungsmitglieder wach bleiben, aber in der folgenden Zeit würde jedes Paar bis drei Monate vor Ende der Reise abwechselnd einen Monat lang Dienst tun und fünf Monate lang schlafen. Sollte ein unvor hergesehener Notfall eintreten, konnten die übrigen Paare (oder einzelne Besatzungsmitglieder, deren Spezialkenntnisse benötigt wurden) innerhalb von zehn Stunden aufgetaut werden. Im Verlauf der langen und langweiligen Reise nach Altair arbeitete Paul Marlowe fast vier Jahre lang in Gesellschaft seiner ›Frau‹. Trotzdem lernte er sie niemals kennen. Als Psychiater hätte er gedacht, die absolute Einsamkeit eines langen Raumflugs müßte
zwei Menschen fast zwangsläufig zusammenführen. Aber er lernte sie nie näher kennen. Sie hatte dunkle Haare, ein hübsches Gesicht und durchaus weibliche Formen. Während der Monate, in denen sie gemeinsam Dienst hatten, führten sie ein ganz normales Eheleben. Sie erzählten sich gegensei tig Witze, diskutierten über Bücher und spielten alte Filme. Aber Victoria war zu sehr in ihre Arbeit ver tieft – die Schiffsbibliothek enthielt eine Anzahl wis senschaftlicher Werke, die sie an Bord gebracht hatte, um sich weiterbilden zu können –, um sich ernsthaft für diesen Mann zu interessieren, den sie mehr oder minder unfreiwillig geheiratet hatte. Und er hatte nie Gelegenheit, sie wirklich kennenzulernen. Das war vielleicht auch der Grund dafür, daß er ihr keine Träne nachweinte und nicht das Gefühl eines persönlichen Verlustes hatte, als sie schließlich auf Altair V verschwand.
4
Das Licht der Morgensonne fiel durch vier der sech zehn winzigen glaslosen Fenster des Verlieses. Poul Mer Lo schlief noch. Die Noia weckte ihn nicht auf. Oruri hatte ihn offenbar angerührt. Er brauchte sei nen Schlaf. Sie betrachtete den Fremden nachdenklich und bewunderte wieder einmal Poul Mer Los Körperbau und Aussehen. Er war fast um die Hälfte größer als Mylai Tui, die bei ihren Landsleuten bereits als un gewöhnlich groß und deshalb ausgesprochen häßlich galt. Seine Haut wies eine interessante Blässe auf, während ihre dunkelbraun war und somit dem Ideal der Bayanis aus alten Familien nahekam. Aber am wunderbarsten waren seine blauen Augen – eine ver blüffende Farbe, da die Bayanis nur braune oder ok kerfarbene Augen kannten. Die Muskeln an seinen Armen und Beinen waren die eines starken Raubtie res. Das war eigentlich seltsam, denn Poul Mer Lo war ganz entschieden ein vernunftbegabter Mann, ob wohl er offensichtlich von Barbaren abstammte. Sah man von der Tatsache ab, daß seine Nase ziemlich spitz war, während die Ohren nur unvollständig am Kopf festgewachsen waren, blieb eigentlich nur ein
auffälliger Körperfehler übrig – der Fremde hatte zu viele Finger. Poul Mer Lo bewegte sich und gähnte. Dann schlug er die Augen auf. »Sei mir gegrüßt, Herr«, sagte Mylai Tui zeremoni ell. »Oruri gewährt uns die Segnungen eines weiteren Tages.« »Sei mir gegrüßt, Mylai Tui.« Er beherrschte allmäh lich nicht nur die Sprache, sondern auch die Gebräuche des Landes. »Der Segen ist unverdient.« Aber seine Stimme klang tonlos, und seine Augen schienen in wei te Fernen zu schauen. In weite, weite Fernen ... »Bald essen und trinken wir«, fuhr sie in der Hoff nung fort, ihn in die Wirklichkeit zurückzubringen. »Bald gehen wir im Garten spazieren.« »Ja.« Poul Mer Lo bewegte sich nicht. Er starrte die Decke an. »Erzählst du mir nochmals die Geschichte vom Sil bervogel?« bat Mylai Tui verzweifelt. »Ich höre sie am liebsten.« »Du kennst die Geschichte bereits.« Er lächelte spöttisch. »Wahrscheinlich sogar besser als ich.« »Trotzdem würde ich sie gern nochmals hören ... wenn ich ihrer noch wert bin.« Poul Mer Lo richtete sich seufzend auf, sah ihr aber nicht ins Gesicht. »Jenseits des Himmels liegt ein Land«, begann er.
»In diesem Land leben viele Menschen, die geschickt alle möglichen Metalle bearbeiten. Es ist ein Land, dessen Bewohner noch nie von Oruris Gesetzen ge hört haben. Es ist ein Land, in dem die Menschen sich über große Entfernungen hinweg unterhalten, wobei sie einander sehen. Es ist in der Tat ein Land der Wunder. Dort gibt es Menschen, die sehr klug, aber auch sehr geschickt und ehrgeizig sind. Sie haben den Nachthimmel betrachtet und sich dabei gesagt: ›Die Sterne sind so weit von uns entfernt – und trotzdem locken sie uns. Sollen wir nicht versuchen, sie zu er reichen, damit wir wissen, wie sie wirklich sind?‹« Mylai Tui zuckte zusammen und unterbrach ihn wie immer an dieser Stelle. »Solche Männer sind nicht nur tapfer, sondern auch wahnsinnig«, meinte sie ernsthaft. »Sie müssen den starken Wunsch nach Oruris Umarmung haben.« »Sie kennen Oruris Gesetze nicht«, erklärte Poul Mer Lo ihr geduldig. »Sie haben nur den Wunsch nach Wissen und Macht ... So geschah es also, daß sie von silbernen Vögeln träumten, in denen ihre jungen Männer und Frauen zu den Sternen fliegen sollten.« »Die Alten hätten diese Reise machen sollen, denn ihre Zeit war nahe.« »Trotzdem wurden die Jungen auserwählt. Denn es war bekannt, daß die Sterne weit entfernt waren, und der Flug der Silbervögel würde viele Monde dauern.«
»Aber dann wären die Jungen während der Reise alt geworden.« »Nein. Diese jungen Leute wurden nicht älter. Denn weise Männer hatten entdeckt, daß die Mög lichkeit bestand, sie sehr, sehr lange schlafen zu las sen.« »Aber wer zu lange schläft, kann leicht verhun gern«, wandte Mylai Tui ein. »Diese verhungerten nicht«, antwortete Poul Mer Lo, »denn ihr Schlaf war nicht mit einem gewöhnli chen Schlaf zu vergleichen ... Du hast mich gebeten, die Geschichte zu erzählen, Noia; laß sie mich also erzählen, sonst ist keiner von uns zufrieden.« Mylai Tui machte ein betrübtes Gesicht. Er sprach sie nur als Noia an, wenn er wütend war. »Poul Mer Lo tadelt mich«, sagte sie ernst. »Es ist gerechtfertigt.« »Schon gut, reden wir nicht mehr davon. Drei Sil bervögel verließen das Land jenseits des Himmels und flogen verschiedene Ziele an. Ich und elf andere wurden auserwählt, die Reise mit dem kleinsten Vo gel zu machen. Unser Ziel war der Stern, den dein Volk als Sonne von Baya Nor kennt. Die weisen Männer sagten uns, der Flug werde zwanzig oder mehr Winter dauern ... Wir waren lange unterwegs, schliefen viel und hielten dann wieder Wache, wäh rend die anderen ruhten. Als wir endlich in die Nähe
des Sterns kamen, sahen wir, daß sein Licht hell auf eine schöne Welt fiel – die Welt Baya Nor. Für uns, die wir viele Winter lang im Silbervogel durch die ewige Dunkelheit geflogen waren, schien das Land Baya Nor sehr schön zu sein. Wir lenkten unseren Vogel zu Boden, denn wir wollten mit eigenen Augen sehen, welche Lebewesen dieses Land bewohnten. Neun meiner Freunde brachen zu einem Marsch durch eure Wälder auf und kehrten nicht zurück. Nach vielen Tagen entschlossen wir uns, ihre Spur zu suchen. Aber wir fanden sie nicht. Wir fanden nur die Pfeile eurer Jäger und die Verliese von Baya Nor ... Und weil niemand zurückgekommen ist, um den Rückflug mit unserem Vogel anzutreten, hat er sich selbst durch Feuer zerstört.« Poul Mer Lo lächelte plötzlich. »Und deshalb, Mylai Tui, bin ich hier, und du bist hier; und wir müssen so gut wie möglich mit einander auskommen.« Die Noia holte tief Luft. »Es ist eine süße und trau rige Geschichte«, sagte sie einfach. »Und ich bin froh, daß du gekommen bist. Ich freue mich, daß du bei mir bist.« Draußen näherten sich schwere Schritte. Die Riegel der Tür wurden zurückgeschoben. Zwei Sklaven, die von vier Wärtern bewacht wurden, brachten Platten mit Speisen und gefüllte Wasserkrüge. Aber Poul Mer Lo war nicht hungrig.
5
Die Gloria Mundi war in tausend Kilometer Höhe in eine Kreisbahn um Altair V eingeschwenkt. In größe ren Entfernungen wurden weitere Satelliten festge stellt, die aber nur riesige Felsbrocken ohne Atmo sphäre waren – die neun Monde von Altair V, die vermutlich entstanden waren, als ein einziger Mond auseinandergebrochen war. Selbst diese Bruchstücke waren noch groß genug, um mit bloßem Auge deut lich erkennbar zu sein. Der Planet selbst war geradezu ein Wunder. Seine Entdeckung kam dem Hauptgewinn einer Lotterie gleich, denn die Besatzung der Gloria Mundi wußte recht gut, wie gering die Chancen dafür waren, daß eines der anderen Schiffe ebenfalls einen erdähnli chen Planeten fand. Der schwedische Physiker stellte in diesem Zusammenhang fest, es sei bestimmt leich ter, aus einem gut gemischten Kartenspiel vier Se quenzen nacheinander zu ziehen, als einen einzigen Planeten dieser Art zu entdecken. Altair V war nicht nur erdähnlich; der Planet war auch eigenartig symmetrisch und – für Menschen, die nur auf kahle Planeten vorbereitet waren, auf denen vielleicht primitivste Lebensformen existierten – aus gesprochen schön. Er war etwas kleiner als Mars und
bestand zu neun Zehnteln aus Wasser, aus dem nur hier und dort kleinere Inselgruppen auftauchten. Aber dem verhältnismäßig großen Nordpolarkonti nent entsprach ein fast identischer Südpolarkonti nent, und im Äquatorgebiet erstreckte sich ein lang gezogener hufeisenförmiger Kontinent, zwischen dessen beiden Teilen einige hundert Kilometer Was ser lagen. Die Polargebiete waren zum größten Teil mit ewi gem Schnee und Eis bedeckt; aber die große Land masse am Äquator erinnerte auf verblüffende Weise an Afrika, das aus tausend Kilometer Höhe einen ganz ähnlichen Anblick bot. Dort unten gab es Gebirge und Wüsten, große Seen, Buschland und tropische Regenwälder. Im Licht der Sonne glühten die Wüsten gelb und orange und rot; der Busch war bernsteinfarben, und die Re genwälder leuchteten grün und türkis. Die Rotationsdauer des Planeten betrug achtund zwanzig Stunden siebzehn Minuten (Erdzeit), wäh rend seine Umlaufzeit um Altair nach vorläufigen Beobachtungen vierhundertzwei Sideraltage dauerte. Das Leben auf diesem Planeten beruhte offensicht lich auf dem Kohlenstoffzyklus, und eine Analyse der Atmosphäre zeigte nur, daß die Stickstoffkonzentra tion etwas höher als auf Sol III war. Die Gloria Mundi blieb vierhundertzehn Umläufe
lang in der Tausend-Kilometer-Kreisbahn, was etwa zwanzig Erdtagen entsprach. In diesem Zeitraum wurden sämtliche Aspekte des Planeten fotografiert und gefilmt. Teile des Äquatorkontinents zeigten auf diesen Fotografien den klassischen Nachweis der Exi stenz intelligenter Lebewesen – weitverzweigte Kanä le, die zur Bewässerung oder gar als Schiffahrtswege dienten. Die Besatzung geriet angesichts dieser Tatsache fast in Ekstase. Die zwölf Männer und Frauen hatten die beengten Verhältnisse an Bord, den künstlichen Winterschlaf und die Einsamkeit des Raumes jahre lang ertragen; sie hatten sechzehn Lichtjahre über wunden und waren dabei vier Jahre gealtert. Und am Ende ihrer Reise erwartete sie eine glänzende Beloh nung, die alle Mühen aufwog – ein bewohnter Planet. Ob dort unten Lebewesen mit vier Augen und sechs Beinen existierten, spielte keine Rolle; wichtig war nur, daß sie intelligent und schöpferisch begabt wa ren. Mit Lebewesen dieser Art mußte ein fruchtbarer Gedankenaustausch möglich sein. Die Gloria Mundi landete zwanzig Kilometer vom nächsten Kanal entfernt. Das war eine beachtliche Leistung für ein Schiff dieser Größe, denn der deut sche Pilot hatte derartige Manöver bisher nur im Flugsimulator geübt. Das Raumschiff sank langsam zu Boden, wobei seine Triebwerke eine zehn Kilome
ter lange Schneise in den Urwald brannten, und setz te dann weich auf. Die vier Stützen wurden ausgefah ren, bohrten sich durch die verbrannte Erde und stie ßen in fünf Meter Tiefe auf tragfähigen Fels. In den folgenden drei Tagen verließ niemand das Schiff, denn zunächst mußte die Umgebung gründ lich überprüft werden. Am Morgen des vierten Tages wurde die Luftschleuse geöffnet, und zwei bewaffne te Freiwillige kletterten über eine Nylonleiter in den Wald hinab, dessen verbrannte Flächen bereits wie der grün zu werden begannen. Die Freiwilligen blie ben drei Stunden außerhalb des Schiffs und führten verschiedene Untersuchungen durch, bei denen sie sich jedoch nie weiter als zehn Meter von der Strick leiter entfernten. Einer der beiden erlegte eine große Schlange, die alle Merkmale irdischer Riesenschlan gen aufwies. Am neunten Tag nach der Landung brach ein Er kundungsteam auf, das aus dem schwedischen Paar, dem französischen Paar und dem holländischen Paar bestand. Die Angehörigen des Teams trugen über ih ren Kombinationen kniehohe Stiefel, gepanzerte We sten aus Hartplastik und leichte Helme mit Gesichts schutz. Wegen der hohen Außentemperaturen ver zichteten sie auf Vollpanzer, und die klimatisierten Raumanzüge kamen für diesen Zweck ebenfalls nicht in Frage, da sie nicht genug Bewegungsfreiheit boten.
Die Frauen waren mit automatischen Fegergeweh ren bewaffnet; die Männer trugen Nitropistolen und Atomgranatwerfer. Jeder von ihnen war mit einem Funksprechgerät ausgerüstet. Die Feuerkraft des Teams hätte ausgereicht, eine Panzerdivision des zwanzigsten Jahrhunderts zu vernichten. Das Erkundungsteam hatte den Auftrag, einen Kreis mit etwa fünf Kilometer Radius um den Lande platz zu beschreiben, jede Viertelstunde mit dem Raumschiff Verbindung aufzunehmen und innerhalb von drei Tagen dorthin zurückzukehren. Der erste Tag und die erste Nacht verliefen ohne besondere Ereignisse. Das Team stieß auf zahlreiche interessante Lebewesen, begegnete aber keinem ver nunftbegabten Bewohner des Landes. Am Nachmit tag des zweiten Tages riß die Funkverbindung ab, und am Abend des dritten Tages kehrte das Team nicht zurück. Die sechs Menschen an Bord der Gloria Mundi war teten mit zunehmender Verzweiflung. Am fünfzehn ten Tag nach der Landung brach eine Rettungsmann schaft auf, die aus den zurückgebliebenen drei Frau en bestand. Auch sie waren mit Nitropistolen, Gra natwerfern und Funkgeräten ausgerüstet. Es war allerdings kein Zufall, daß nicht die Män ner, sondern die Frauen sich auf den Weg machten, um nach den Verschollenen zu suchen. Zwei der
Männer – Pilot und Navigator der Gloria Mundi – wa ren ausgesprochene Spezialisten, ohne die keine Rückkehr zur Erde möglich war, falls der Rettungs versuch fehlschlagen sollte; und der dritte Mann, Paul Marlowe, lag mit akuter Dysenterie in seiner Ko je. Er verabschiedete sich ohne sonderliche Gemüts bewegung von Dr. Ann Victoria Marlowe. Er war zu krank, um sich viel daraus zu machen; sie sah in ihm nur einen ›Fall‹, dessen Symptome durchaus ge wöhnlich und fast alltäglich waren. Nachdem sie ge gangen war, sank er in die Koje zurück und versuchte seine Krankheit und möglichst auch Altair V mit Hil fe einiger Romane von Charles Dickens zu vergessen, die er auf Mikrofilm mitgenommen hatte. Die Rettungsmannschaft meldete sich zunächst pünktlich alle zehn Minuten. Aber schon sieben Stunden später riß auch diese Verbindung endgültig ab. Vier Tage darauf hatte Paul Marlowe seine Erkran kung einigermaßen überstanden; er konnte wieder aufstehen und an den gemeinsamen Beratungen teil nehmen, die in trübseliger Stimmung stattfanden. Sie überlegten, ob sie unbegrenzt lange an Bord der Gloria Mundi warten sollten; sie erwogen die Möglich keit, sofort in die Kreisbahn zurückzukehren; sie spiel ten sogar mit dem Gedanken, dieses System überhaupt
zu verlassen und zur Erde zurückzufliegen. Inzwi schen war jedem von ihnen klar, daß irgend etwas auf Altair V nicht mit rechten Dingen zuging. Schließlich wurden alle drei Vorschläge einheitlich abgelehnt, und die Männer entschieden sich für eine vierte Möglichkeit, die Paul Marlowe ausgearbeitet hatte. Als Psychiater war er in der Lage, ihre Situation kritischer und logischer als seine beiden Kameraden zu beurteilen. Das Raumschiff ließ sich nur mit drei Mann Besat zung fliegen. Deshalb war es zwecklos, einen oder zwei Männer auf Erkundung auszuschicken, solange die Gefahr bestand, daß er oder sie nicht wieder zu rückkehrten. Sollte dieser Fall eintreten, saß das Raumschiff ohnehin fest. Deshalb mußten sie entwe der alle gehen oder alle an Bord bleiben. Blieben sie jedoch und flogen irgendwann zur Erde zurück, ver loren sie ihre Selbstachtung – sie befanden sich dann in ähnlicher Lage wie Bergsteiger, die in höchster Not das Seil zu ihren Gefährten gekappt haben. Bildeten sie andererseits eine zweite Rettungsmannschaft, die ebenfalls keinen Erfolg hatte, zerstörten sie damit alle Hoffnungen, die das Volk der Vereinigten Staaten von Europa auf sie gesetzt hatte. Aber die Vereinigten Staaten von Europa waren sechzehn Lichtjahre weit entfernt, und unter den ge genwärtigen Umständen fühlten sie sich mehr ihren
verschollenen Kameraden als einem abstrakten Ge bilde verpflichtet. Sie hatten also im Grunde genom men gar keine andere Wahl – sie mußten aufbrechen. Das Waffenarsenal der Gloria Mundi war unterdes sen fast erschöpft, aber die drei Männer fanden noch genügend Waffen, um sich gegen jeden sichtbaren Feind verteidigen zu können. Am zwangzigsten Tag nach der Landung verließen sie ihre unbezwingbare Festung und brachen ins Ungewisse auf. Die Konstrukteure des Raumschiffs hatten sich bemüht, jeden nur möglichen Notfall vorauszusehen – auch Tod, Verschwinden, Desertion oder Niederla ge der gesamten Besatzung. Sollte eine Katastrophe dieser Art auf einem bewohnten Planeten eintreten, bestand theoretisch die Möglichkeit, daß die besagten Bewohner das Schiff eroberten, die Sternenkarten la sen, den Kurs nach dem Logbuch und den Compu terprogrammen rekonstruierten und dann mit der Gloria Mundi zur Erde zurückkehrten. Das konnte nur gut sein. Aber je nach Art, Potential und Absichten der Fremden, die diese Glanzleistung vollbrachten, konnte diese Rückführung auch die größte Katastrophe in der Geschichte der Menschheit auslösen. Deshalb waren die Ingenieure der Meinung – und sie wurden darin von ihren Regierungen unter stützt –, selbst dieses gänzlich unwahrscheinliche Ri siko müsse ausgeschaltet werden.
Folglich war der Hauptcomputer der Gloria Mundi so programmiert worden, daß er die Selbstzerstörung am fünfunddreißigsten Tag nach Verlassen des Schiffs auslöste – falls es jemals zu dieser Katastrophe kom men sollte. Nach Auffassung der verantwortlichen Männer mußte die Besatzung in der Lage sein, jede plötzlich ausbrechende Krise innerhalb von fünf Wo chen zu bewältigen. Genügte dieser Zeitraum nicht, mußten Schiff und Besatzung abgeschrieben werden. Am Abend des zwanzigsten Tages nach der Lan dung hatten die drei Männer etwa sieben Kilometer zurückgelegt; sie hatten sich mühsam einen Pfad durch den Urwald gebahnt, ohne eine Spur von ihren verschollenen Kameraden zu finden. Sie waren eben damit beschäftigt, eine elektrische Alarmanlage auf zubauen, in deren Schutz sie ihr Nachtlager beziehen wollten, als Paul Marlowe einen Stich im rechten Oberschenkel spürte. Er drehte sich um und wollte seinen Begleitern et was zurufen, aber bevor er ein Wort sagen konnte, sank er bewußtlos zu Boden. Als er später aufwachte, ahnte er nicht, daß er sich in den Verliesen von Baya Nor befand. Sehr viel später, genau dreiunddreißig Tage später, verwandelte sich die Gloria Mundi in eine pilzförmige Wolke, die kurzzeitig Feuer und Strahlungsenergie aussandte.
6
Poul Mer Lo sah tanzende Regenbogen in seiner Nä he und spürte die Nässe der zarten Wasserschleier auf seiner Haut, als er mit gefesselten Armen auf den Steinen kniete. Hinter ihm standen zwei Krieger der Bayani mit stoßbereit erhobenen Dreizacken, deren scharfe Spitzen seine Nackenwirbel berührten. Vor ihm lagen die traurigen Überreste seiner persönlichen Ausrüstung: eine elektronische Armbanduhr, ein Mi nifunkgerät, ein Overall, eine Garnitur Unterwäsche, ein Plastikhelm, eine Panzerweste, ein Paar Stiefel und ein automatisches Fegergewehr. Poul Mer Lo war nackt. Das kalte Wasser lief über seinen Körper, ohne ihn zu erfrischen. Die beiden Krieger standen bewegungslos hinter ihm. Er hörte nur das leise Plätschern der Fontänen. Der GottKönig hatte ihn zur Audienz befohlen, und er mußte geduldig warten, bis der Herrscher erschien. Er warf einen Blick auf das Fegergewehr und lä chelte. Mit dieser hervorragenden Waffe war er tau send mit Dreizacken ausgerüsteten Kriegern gewach sen – wenn sie ihm in offenem Kampf gegenübertra ten. Aber dazu war es nie gekommen. Statt dessen knie te er hier vor zwei kleinen braunen Männern und
wartete darauf, daß der Gott-König über sein Schick sal entscheiden würde. Er hätte am liebsten gelacht. Aber er beherrschte sich, weil er ahnte, daß die beiden Krieger kein Ver ständnis dafür haben würden. Für sie war er nur ein Gefangener aus einem fremden Land. Sie konnten unmöglich begreifen, daß er Abgesandter einer hoch stehenden Zivilisation auf einem anderen Planeten war. Poul Mer Lo erinnerte sich an das Sprichwort, daß unter Blinden der Einäugige König sein sollte, und hätte diesmal fast laut gelacht. Hier war er bei Blin den – aber sie hatten sich als überlegen erwiesen ... »Du lächelst«, sagte eine seltsam junge Stimme. »Es gibt nicht viele, die in meiner Gegenwart zu lächeln wagen. Und es gibt noch weniger, die meine Gegen wart nicht einmal zur Kenntnis nehmen.« Poul Mer Lo sah überrascht auf. Zunächst glaubte er einen riesigen Vogel vor sich zu haben, aber dann erkannte er, daß in diesem Federkostüm ein Mensch steckte, dessen Kopf unter dem bunten Feder schmuck eines Vogelkopfs mit gelben Augen und schwarzem Schnabel sichtbar war. Das Gesicht gehör te Enka Ne, dem Gott-König von Baya Nor. Es war das Gesicht eines Jungen – oder eines sehr jungen Mannes. »Herr«, begann Poul Mer Lo stockend, denn die
Sprache, die er einigermaßen zu beherrschen glaubte, fiel ihm plötzlich schwer, »ich bitte um Verzeihung. Meine Gedanken waren weit fort von hier.« »Vielleicht in einem Land jenseits des Himmels«, schlug Enka Ne vor, »wo Silbervögel zu den Sternen aufsteigen ... Ja, ich habe mit der Noia gesprochen. Du hast ihr eine seltsame Geschichte erzählt ... Ist sie wahr?« »Ja, Herr, sie ist wahr.« Enka Ne lächelte. »Bei uns gibt es eine Geschichte über das Tlamyn, ein merkwürdiges Tier, das angeb lich in Höhlen lebt und sich nie bei Tageslicht zeigt. Eines Tages drangen fünf weise Männer in die Höhle eines Tlamyns ein, ohne von der Gegenwart oder auch nur der Existenz dieses Tieres zu wissen. Einer der Weisen berührte zufällig den Kopf des Tlamyns, spürte einen behaarten Rüssel und lange Stoßzähne wie bei den Dongoir, die bei uns aus Sport gejagt werden; da er in der Dunkelheit nicht mehr erkennen konnte, schloß er daraus, er habe ein Dongoir vor sich. Der zweite berührte die Beine des Tieres; da sei ne Finger auf Schuppen und Krallen trafen, glaubte er einen riesigen Vogel entdeckt zu haben. Ein dritter fiel über den langen Schwanz des Tlamyns und bilde te sich ein, auf eine große Schlange getreten zu sein. Der vierte fand ein Paar weiche Ohren und schloß daraus, er habe einen Domasi entdeckt, dessen
Fleisch sehr geschätzt wird. Und der fünfte nahm den Geruch des Tlamyns wahr und glaubte, im Tempel der Fröhlichkeit zu stehen. Jeder der Weisen erzählte den anderen von seiner Entdeckung und bestand darauf, daß seine Meinung die Wahrheit sei. Bei die ser Diskussion machten sie so viel Lärm, daß das schlafende Tier endlich aufwachte und sie alle ver schlang ...« Poul Mer Lo starrte den Gott-König überrascht an. »Das war eine gute Geschichte, Herr. In meinem Land wird eine ähnliche erzählt, die ...« »Im Land jenseits des Himmels?« »Im Land jenseits des Himmels.« Enka Ne lachte. »Was ist Wahrheit?« fragte er. »Jenseits unserer Welt gibt es nur Oruri. Und selbst ich bin nicht mehr als ein vergänglicher Schatten in seinen ewigen Träumen.« Poul Mer Lo setzte alles auf eine Karte. »Aber wer könnte sagen, was alles zu Oruris Träumen gehört? Wäre es nicht vorstellbar, daß Oruri von einem ande ren Land träumt, in dem es Dinge wie Silbervögel gibt?« Enka Ne betrachtete ihn nachdenklich. Die bunten Federn seines Kostüms raschelten leise. Dann sagte der Gott-König: »Das Orakel behauptet, du seist ein großer Lehrer. Stimmt das?« »Herr, ich besitze Kenntnisse, die in meinem Land
geschätzt werden. Aber ich weiß nicht, ob ich ein großer Lehrer bin. Ich weiß nicht einmal, was ich leh ren könnte.« Diese Antwort schien Enka Ne zu gefallen. »Viel leicht sprichst du die Wahrheit ... Warum sind deine Freunde gestorben?« Poul Mer Lo erfuhr erst in diesem Augenblick, daß er der letzte Überlebende der Gloria Mundi war. Das Gespenst lebenslänglicher Einsamkeit stand so dro hend vor ihm, daß er unwillkürlich einen entsetzten Schrei ausstieß. »Du leidest?« fragte der Gott-König verständnislos. Poul Mer Lo beherrschte sich mühsam. »Herr, ich wußte nicht, daß meine Freunde tot sind.« Dann herrschte lange Schweigen. Enka Ne betrach tete den bleichen Riesen, der vor ihm kniete. Er trat einen Schritt zur Seite, als wolle er dieses Phänomen ausführlich begutachten. Endlid schien er einen Ent schluß gefaßt zu haben. »Was würdest du tun«, fragte Enka Ne, »wenn ich dich freiließe?« »Ich würde mir eine Bleibe suchen.« »Und dann?« »Ich müßte eine Köchin finden, denn ich weiß nicht einmal, was ich unbesorgt essen kann.« »Was würdest du tun, nachdem du ein Haus und eine Frau gefunden hättest?«
»Herr, dann würde ich darüber nachdenken, wie ich dem Volk von Baya Nor, das mir alle diese Dinge geschenkt hat, meine Dankbarkeit beweisen könnte.« Enka Ne streckte eine Hand aus. »Lebe«, sagte er einfach. Poul Mer Los Fesseln wurden gelöst. Die beiden schweigsamen Krieger halfen ihm auf die Beine. Er taumelte und wäre zu Boden gefallen, wenn sie ihn nicht gestützt hätten. Enka Ne betrachtete ihn ausdruckslos. Er wandte sich ab und schien fortgehen zu wollen. Aber nach drei Schritten drehte er sich nochmals um. »Dieser Mann hat zu viele Finger«, sagte er zu den Kriegern. »Das beleidigt Oruri. Schlagt von jeder Hand einen ab.«
7
Poul Mer Lo erhielt eine geräumige Hütte, die am Rand der heiligen Stadt auf niedrigen Pfählen stand, die Noia, die seine Gefangenschaft geteilt hatte, und vierundsechzig Kupferringe. Er konnte ihren Wert nicht beurteilen, aber Mylai Tui schätzte, daß er fast dreihundert Tage davon leben konnte, selbst wenn der Gott-König ihm keine weiteren Geschenke mach te. Poul Mer Lo war von dieser Großzügigkeit des Herrschers beeindruckt, der den Fremden bis ans En de seiner eigenen Tage versorgt hatte. Aber Enka Ne hatte andererseits auch nicht übertrieben, so daß En ka Ne 610. keinen Anlaß hatte, die Freigebigkeit sei nes Vorgängers zu bedauern. Der kleine Finger jeder Hand war fachmännisch abgeschlagen worden. Die Narben waren rasch ver heilt, und Poul Mer Lo hatte sich erstaunlich gut dar an gewöhnt, mit nur vier Fingern auszukommen. Die ersten Wochen nach seiner Begnadigung ver brachte er damit, durch die Straßen von Baya Nor zu wandern. Dabei stellte er zu seiner Überraschung fest, daß die gewöhnlichen Bürger ihn kaum beachte ten. Machte er den Versuch, ein Gespräch mit ihnen zu beginnen, wurden seine Fragen höflich beantwor
tet; aber niemand schien auf die Idee zu kommen, etwa Gegenfragen zu stellen. Poul Mer Lo dachte an die Aufregung, die das Erscheinen eines außerirdi schen Lebewesens in jeder Großstadt der Erde ausge löst hätte, und überlegte sich, welche Sicherheitsvor kehrungen die Polizei in diesem Fall zu treffen hätte, damit die Fremden nicht belästigt oder gar gelyncht wurden. Aber je mehr er hier erfuhr, desto mehr hatte er zu lernen. Baya Nor, die Stadt inmitten riesiger Wälder, hatte kaum zwanzigtausend Einwohner. Etwa ein Drittel dieser Bürger waren Bauern und Handwerker; ein gutes Drittel waren Jäger und Soldaten. Der Rest ver teilte sich auf knapp fünftausend Priester, die für Tempel und Kanäle zuständig waren, und etwa tau send Priester-Richter-Beamte, denen die Stadtverwal tung unterstand. Der Gott-König Enka Ne regierte mit Unterstützung des Stadtrats und eines Orakels vierhundert Tage lang als absoluter Herrscher – aber nach einjähriger Regierungszeit wurde er im Tempel der Weinenden Sonne geopfert, während der neue Gott-König gleichzeitig in sein Amt eingeführt wur de. Baya Nor war eine Stadt aus Stein und Wasser, und Poul Mer Lo staunte in den ersten Tagen vor allem über die unzähligen Zisternen, Teiche und Brunnen, bis er allmählich entdeckte, daß die Bayani Wasser als
Grundlage des Lebens verehrten. Die breiten Kanäle, die hier Hauptstraßen ersetzten, waren so gewaltig, daß ihr Bau jahrhundertelange Anstrengungen erfor dert haben mußte. In den vier größten Wasserbecken erhoben sich pyramidenförmige Tempel hinter turm hohen Fontänen; auch diese Tempel waren so riesig, daß zwanzigtausend Bürger mehr als hundert Jahre an ihnen gearbeitet haben mußten. Theoretisch und praktisch bestand Baya Nor aus zwei Stadtbezirken – innerhalb der Stadt war eine zweite errichtet worden. Die heilige Stadt lag auf ei ner großen Insel in der Mitte des Sees, der ›Oruris Spiegel‹ hieß. Dort erhoben sich unzählige Kunst werke, die deutlich bewiesen, daß Baya Nor vielleicht keine Stadt der Wissenschaft, aber bestimmt eine Stadt der Kunst war. Generationen von Bildhauern und Baumeistern hatten großartige Denkmäler von geradezu klassischer Schlichtheit hinterlassen; sie hat ten Wasser und Sandstein, Sonnenlicht und Schatten zu einer Komposition vereinigt, die in ihrer besonde ren Art ein Loblied zur größeren Ehre Oruris war. Poul Mer Lo wußte nur wenig von den religiösen Prinzipien der Bayani, aber er hatte bald erkannt, daß dieses Volk in der Überzeugung lebte, das Geheimnis seiner Existenz vollkommen ausgelotet zu haben, so daß niemand Anlaß hatte, an der bestehenden Ord nung der Dinge zu zweifeln. Von Zeit zu Zeit hatte
Poul Mer Lo sogar Angst vor diesem Idealzustand, denn er wußte recht gut, daß er die Rolle der Schlan ge in diesem seltsamen Garten Eden spielen mußte, wenn er auf die Dauer bei Verstand bleiben wollte. Er würde sein müssen, was er wirklich war – kein Ter raner mehr, aber auch kein Bürger von Baya Nor, sondern ein Mann, dessen Doppelrolle es mit sich brachte, daß er gleichzeitig aufbaute und zerstörte. Gelegentlich war er auf diese Rolle, die ihm das Schicksal zugewiesen hatte, fast stolz, aber zu ande ren Zeiten schämte er sich eher darüber. Und von Zeit zu Zeit erinnerte er sich auch an einen Mann, der den Namen Paul Marlowe getragen hatte. Er dachte an die Vorurteile und Überzeugungen und Ambitio nen dieses Fremden zurück. Er erinnerte sich an seine Arroganz und sein Selbstvertrauen – an seinen bren nenden Ehrgeiz, der ihn verleitet hatte, um jeden Preis zu den Sternen zu fliegen. Paul Marlowe hatte sich diesen sehnlichsten Wunsch erfüllt, aber er war dabei gestorben. Eigent lich war es fast schade um Paul Marlowe, der nie er kannt hatte, daß die Befriedigung seines privaten Ehrgeizes unter Umständen nicht nur mit Schmerzen oder dem Tod bezahlt werden mußte. Paul Marlowe, ein Bürger der Erde, hatte mehr er reicht als Erik der Rote, Marco Polo, Kolumbus oder selbst Darwin. Aber Poul Mer Lo, ein Untertan des
Gott-Königs Enka Ne, bezahlte den Preis für diese Er rungenschaft. Er bezahlte sie mit absoluter Einsamkeit.
8
Als der halbverhungerte junge Mann in dem zer schlissenen Samu die Stufen zur Veranda hinaufstieg, beobachtete Poul Mer Lo ihn aufmerksam und hatte dabei das Gefühl, ihn von irgendwoher zu kennen. Aber obwohl es in Baya Nor nicht viele Bettler gab, sahen sie einander verblüffend ähnlich – wie die sprichwörtlichen Chinesen in den Augen eines Vol kes auf der anderen Seite des Meeres, das auf einem Planeten jenseits des Himmels wogte ... »Oruri grüßt dich«, sagte der junge Mann, ohne seine Bettelschale auszustrecken. »Der Gruß ist ein Segen«, antwortete Poul Mer Lo automatisch. Nach zwei Monaten zu je fünfzig Tagen war er mit den hiesigen Sitten und Gebräuchen recht gut vertraut. Der junge Mann würde jetzt traditions gemäß den Edelmut seines Großvaters, die Mannes kraft seines Vaters und die selbstlose Hingabe seiner Mutter erwähnen, bevor er von dem Schicksal sprach, mit dem Oruri sie alle geschlagen hatte, um ihnen Ge legenheit zur Buße zu geben. Aber der junge Mann hielt sich nicht an die Tradi tion. »Gesegnet sind auch die, die viele Wunder ge sehen haben«, sagte er statt dessen. »Ich darf mit dir sprechen?«
Poul Mer Lo, der bisher ruhig neben Mylai Tui ge sessen und sich über den kühlen Abendwind gefreut hatte, erkannte plötzlich die Stimme wieder. Er sprang auf. »Herr, ich habe nicht ...« »Du darfst mich nicht erkennen!« Der junge Mann er teilte diesen Befehl mit scharfer Stimme und fuhr dann fast entschuldigend fort: »Ich bin Shah Shan, in letzter Zeit Wasserträger. Ich darf mit dir sprechen?« »Ja, Shah Shan, du darfst mit mir sprechen. Ich bin Poul Mer Lo, jetzt und immer ein Fremder.« Der junge Mann lächelte und streckte die rechte Hand mit der Bettelschale aus. »Oruri hat es gefallen, mich mit leichtem Hunger zu segnen – er muß unser Zusammentreffen vorausgeahnt haben.« Mylai Tui erhob sich wortlos, nahm die Schale und verschwand im Inneren des Hauses. Poul Mer Lo beobachtete sie nachdenklich; sie schien den Bettler kaum zu sehen. »Poul Mer Lo hat ein gutes Herz«, stellte Shah Shan fest. »Ich darf mich setzen?« »Du darfst dich setzen«, erwiderte Poul Mer Lo ernst. Sie saßen mit untergeschlagenen Beinen und warte ten schweigend auf Mylai Tuis Rückkehr. Als sie kur ze Zeit später aus dem Haus kam, hatte sie die Bettelschale mit Kappa gefüllt, dem wichtigsten Nah
rungsmittel der Armen, das die Reichen nur mit Fleisch und Gemüse als Beilage verzehrten. Shah Shan nickte dankend und aß die Schale mit den Fingern leer. Nachdem er das letzte Korn aufge leckt hatte, rülpste er höflich. »Ich habe einen Freund«, sagte er dann, »der in letzter Zeit von Träumen und seltsamen Gedanken geplagt wird. Ich glaube, du könntest ihm helfen.« »Dein Freund tut mir leid. Ich weiß nicht, wie ich ihm helfen soll, aber wenn er zu mir kommt, versu che ich es gern.« »Die Kappa ist noch grün«, erwiderte Shah Shan. Poul Mer Lo hatte diese Redewendung oft genug gehört, um zu wissen, daß die Zeit noch nicht reif war. »Mein Freund bekleidet eine Stellung von einiger Bedeutung«, fuhr der junge Mann fort. »Er hat stän dig viel zu tun. Trotzdem kommt er von diesen Ge danken nicht mehr los ... Sieh her, ich zeichne dir et was auf, das er mir gezeigt hat.« Shah Shan erhob sich, suchte unterhalb der Veran da nach einem Stock und zeichnete damit etwas in den Staub. Poul Mer Lo beobachtete ihn verblüfft. Shah Shan hatte den Umriß der Gloria Mundi ge zeichnet. »Mein Freund nennt dies einen Silbervogel«, er
klärte der junge Mann. »Aber es sieht nicht wie ein Vogel aus. Was hältst du davon?« »Es ist wirklich ein Silbervogel. Es ist eine ... eine ...« Poul Mer Lo zögerte, denn die Bayani schienen kein Wort für ›Maschine‹ zu haben. »Es ist von Men schen aus Metall gemacht worden«, sagte er dann, »wie ein Bildhauer Statuen aus Steinblöcken macht. Dieser Silbervogel hat mich hierhergetragen.« »Noch etwas«, fuhr Shah Shan fort. »Mein Freund hat gesehen, daß dieser Vogel rasch um eine große Kugel flog. Die Kugel war sehr merkwürdig, denn sie bestand aus Wasser, aber auch aus Land mit dichten Wäldern. Und in den Wäldern waren Kanäle zu se hen, die zu einer Stadt mit vielen Tempeln und vier großen Wasserbecken führten ... Mein Freund macht sich deswegen Sorgen.« Poul Mer Lo war noch verblüffter als zuvor. »Dein Freund kann unbesorgt sein«, sagte er schließlich. »Er hat die Wahrheit gesehen. Die große Kugel ist eure Welt. Die Tempel und Wasserbecken sind in Baya Nor zu finden ... Dein Freund hat einen wunderbaren Traum gehabt.« Shah Shan schüttelte den Kopf. »Mein Freund ist krank, fürchte ich. Die Welt ist flach, und jeder weiß, daß ein Mann, der sich weit genug von Baya Nor ent fernt – sollte er wahnsinnig genug sein, es wirklich zu tun –, über den Rand der Welt fällt. Hat er nach den
Gesetzen gelebt, nimmt Oruri ihn vielleicht in seine Arme, aber sonst ist sein Fall nie zu Ende.« Poul Mer Lo schwieg nachdenklich, bevor er zö gernd antwortete: »Shah Shan, ich habe ebenfalls ei nen Freund, der weise zu sein scheint, obwohl er noch sehr jung ist. Er hat mir eine Geschichte von fünf Männern erzählt, die ein schlafendes Tlamyn ge funden hatten. Jeder der Männer hielt das Tlamyn für etwas anderes, und sie stritten sich so laut darüber, daß das Tier aufwachte und sie alle fraß.« »Ich habe die Geschichte gehört«, sagte Shah Shan ernsthaft. »Sie ist erheiternd.« »Das Tlamyn verkörpert die Wahrheit. Menschen sind nicht imstande, die Wahrheit völlig zu erkennen. Selbst die Weisesten unter ihnen sehen nur einen Teil der ganzen Wahrheit. Aber ist es nicht möglich, daß einige mehr als andere sehen?« Shah Shan runzelte die Stirn. »Es ist möglich«, er widerte er dann, »daß ein Fremder einen anderen Teil der Wahrheit erkennt ... Ein Fremder, der weit gereist ist und deshalb viel gesehen hat.« Poul Mer Lo faßte dieses Zugeständnis als Ermuti gung auf. »Du sprichst weise. Hör zu, ich will dir die Gedanken des Fremden mitteilen. Die Zeit ist in Tag und Nacht aufgeteilt, nicht wahr? Und tagsüber steht ein großes Feuer am Himmel, das die Kappa reifen läßt, den Tieren neues Leben gibt und den Menschen
Licht schenkt, damit sie sehen können ... Wie heißt dieses große Feuer?« »Es heißt Sonne.« »Und wie heißt das Land, über dem die Sonne leuchtet?« »Es heißt Erde.« »Aber die Sonne leuchtet nachts nicht über der Er de. Nachts sind bei klarem Himmel viele winzige Lichtpunkte zu sehen, die jedoch keine Wärme geben. Wie nennt ihr diese kalten Lichter?« »Sterne.« »Shah Shan, ich habe eine Reise zu den Sternen ge macht, und ich schwöre dir, daß sie nur deshalb klein und kalt wirken, weil sie sehr weit entfernt sind. In Wirklichkeit sind sie so heiß und groß und hell wie die Sonne, die über Baya Nor leuchtet. Viele stehen über Welten wie dieser hier, und es gibt mehr Sterne, als die Einwohner von Baya Nor Haare auf dem Kopf haben ... Ich komme von einer Welt, die ebenfalls Erde genannt wird. Auch dort leuchtet tagsüber eine Sonne. Aber sie ist so weit von deiner Welt entfernt, daß man einen Sil bervogel für die Reise braucht. Aber der Silbervogel, in dem ich gekommen bin, ist nicht mehr, und ich glaube, daß ich nie zurückkehren werde.« Shah Shan beobachtete ihn aufmerksam. »Auf dei ner Erde gibt es Städte wie Baya Nor?« »Es gibt größere Städte als Baya Nor. Städte, in de
nen Männer wunderbare Dinge aus Metall und ande ren Stoffen herstellen.« »Wird Oruri in euren Städten verehrt?« »Für mein Volk hat Oruri zahlreiche andere Na men.« »Und ihr habt Gott-Könige?« »Ja, aber auch sie tragen andere Namen.« »Ich habe gehört«, fuhr Shah Shan lächelnd fort, »daß Enka Ne dir gestattet hat, alles zu behalten, was in deinem Besitz gefunden wurde. Diese Gegenstän de waren interessant, besaßen jedoch in den Augen des Gott-Königs keinen praktischen Wert. Könnte ei nes dieser Dinge als Beweis für die Wunder gelten, von denen du gesprochen hast?« Poul Mer Lo zögerte. Er dachte an das Minifunkge rät – aber auf Baya Nor waren nur atmosphärische Störungen zu hören. Und er dachte an seine elektro nische Armbanduhr, die zwar ein Wunderwerk mo derner Technik, aber trotzdem bestimmt nicht ein drucksvoll genug war. Folglich blieb nur das Fegergewehr – ein Trumpf, den er eigentlich für Notfälle zurückhalten wollte. Durfte er riskieren, diesen Trumpf vorzeitig auszu spielen? Er sah zu Shah Shan hinüber und erkannte, wie wichtig es war, diesen jungen Mann zu überzeu gen und für sich zu gewinnen. Damit war die Ent scheidung bereits gefallen.
»Bleib hier«, sagte Poul Mer Lo. »Ich zeige dir et was, das gleichzeitig wunderbar und schrecklich ist.« Er ging ins Haus, nahm das Gewehr aus der Wandnische, in der er es aufbewahrte, und trat wie der auf die Veranda hinaus. »Dies ist eine Waffe, die bei richtiger Anwendung Tausende von Menschen töten kann«, erklärte er sei nem Besucher. Shah Shan warf einen verständnislosen Blick auf das unscheinbare Ding aus Plastik und Metall. »Sieh her«, forderte Poul Mer Lo ihn auf. Er trat an die Brüstung, legte an und zielte auf einen etwa hun dert Meter entfernten dicken Baum. Dann zog er den Abzug durch. Die Waffe summte leise und vibrierte fast unmerklich. Im unteren Drittel des Baumstamms stieg eine Rauchwolke auf. Dann stürzte der Baum krachend zu Boden. »Sieh her«, sagte Poul Mer Lo und zielte jetzt auf einen etwa zweihundert Meter weit entfernten Kanal. Als er den Abzug betätigte, dampfte das Wasser, be gann zu kochen und bildete schließlich einen kleinen Geiser. »Sieh her«, sagte Poul Mer Lo nochmals. Er richtete den Energiestrahl gegen die Erde vor der Veranda und erzeugte einen kleinen Krater, in dem geschmol zenes Gestein noch lange brodelte, nachdem er die Waffe aus der Hand gelegt hatte.
Shah Shan berührte das Fegergewehr vorsichtig mit der ausgestreckten Hand. »In der Tat ein Wun der«, stellte er schließlich fest. »Wie viele hast du da mit vernichtet?« Poul Mer Lo lächelte. »Keinen. Dazu bestand kein Anlaß.« »Das muß berücksichtigt werden«, sagte Shah Shan. Dann lächelte er ebenfalls. »Aber selbst diese Waffe hat dich nicht vor den Pfeilen der Jäger be wahrt, nicht wahr?« »Nein, sie hat mich nicht vor den Pfeilen der Jäger bewahrt.« »Auch das muß berücksichtigt werden«, fuhr Shah Shan fort. Er stand auf. »Herr, du hast mir Kappa ge geben, meinen Geist gestärkt und mir gezeigt, daß mein Freund vielleicht doch nicht ganz wahnsinnig ist. Oruri soll unser Zeuge sein ... Ich muß jetzt gehen, denn die Zeit verrinnt schneller als Wasser. Und es gibt noch viel zu überlegen. Lebe in Frieden, Freund meines Freundes ... Die Finger haben dir nicht allzu viele Schmerzen bereitet?« »Sprechen wir nicht mehr davon«, wehrte Poul Mer Lo ab. »Der Preis war nicht zu hoch.« Shah Shan berührte seine Stirn, wandte sich wort los ab und ging die Verandatreppe hinunter. Poul Mer Lo sah ihm lange nach, als er den Weg zur heiligen Stadt einschlug.
Mylai Tui hob das Fegergewehr auf und trug es ins Haus zurück.
9
Poul Mer Lo wachte nachts auf und zitterte am gan zen Leib. Er sah sich verwirrt um, bis er endlich er kannte, wo er sich befand. In einer Ecke des kleinen Schlafraums brannte das Öllämpchen vor Oruris Al tar. Irgendwo summte eine Fliege. Neben ihm lag Mylai Tui; sie schlief fest und schien nicht gemerkt zu haben, daß er sich unruhig bewegte. Er starrte die drei kurzen Finger und den breiten Daumen ihrer kleinen Hand an. Er betrachtete ihr Gesicht – ebenmäßig und heiter. Ein fremdartiges Ge sicht, das aber vielleicht in Zentralafrika nicht einmal aufgefallen wäre. Der heitere Gesichtsausdruck machte ihn wütend. Er rüttelte sie wach. Mylai Tui setzte sich erschrocken auf. »Was gibt es, Herr? Die neun Schwestern fliegen doch nicht?« »Sag meinen Namen!« befahl er ihr. »Poul Mer Lo.« Er schüttelte sie wieder. »Nicht Poul – Paul.« »Poul.« »Nein. Paul.« »Po-el«, sagte Mylai Tui. Er schlug ihr ins Gesicht. »Po-el«, wiederholte er aufgebracht. »Nein, nicht Po-el! Du sollst Paul sa gen!«
»Poel.« Er schlug sie wieder. »Paul! Paul! Paul! Wann be greifst du das endlich?« Mylai Tui schluchzte auf. »Herr, ich gebe mir wirk lich große Mühe.« »Nein, das tust du eben nicht«, fuhr er sie grob an. »Warum soll ich mich bemühen, deine Sprache zu lernen, wenn du keinen vernünftigen Ton in meiner herausbringst? Ich heiße Paul.« »Pa-ul.« »Das klingt schon besser ... Paul.« »Paul.« »Gut. Ausgezeichnet. Jetzt den ganzen Namen. Paul Marlowe.« »Pöl Mer Lo.« Er schlug ihr nochmals ins Gesicht. »Hör gefälligst zu! Paul Marlowe.« »Pöl Mah Lo.« »Paul Marlowe.« »Paul Mah Lo.« »Paul Marlowe.« »Paul ... Marlowe.« Mylai Tui wußte unterdessen kaum mehr, was sie eigentlich sagte. »Endlich!« rief er aus. »Das war richtig. Das ist mein Name. Du nennst mich in Zukunft nur noch Paul. Verstanden?« »Ja, Herr.«
»Ja, Paul.« »Ja, Paul«, wiederholte Mylai Tui gehorsam. Sie wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. »Das ist wichtig, weißt du«, sagte er eindringlich. »Es ist sogar sehr wichtig. Ein Mann muß seinen Na men behalten, nicht wahr?« »Ja, Herr.« Er hob drohend die Hand. »Ja, Paul«, verbesserte Mylai Tui sich rasch. Dann erkundigte sie sich zögernd: »Mein Herr spürt böse Geister und Teufel in seinem Herzen?« Er begann laut zu lachen. Aber dann verstummte er plötzlich und brach in Tränen aus. »Ja, Mylai Tui, ich bin von bösen Geistern besessen. Und ich glaube, daß sie mich mein Leben lang verfolgen werden.« Sie nahm seinen Kopf in die Arme und streichelte sein Haar. »In deinem Herzen herrscht große Trau er«, flüsterte sie nach einiger Zeit. »O Paul, mein Herr, ich leide mit dir. Töte mich oder schicke mich fort, aber laß mich nicht erleben, wie der Mann leidet, dem ich nicht einmal Oruris erstes Geschenk bringen darf.« »Was ist Oruris erstes Geschenk?« »Ein Kind«, sagte Mylai Tui einfach. Er setzte sich ruckartig auf. »Woher weißt du, daß du mir kein Kind schenken wirst?«
»Herr ... Paul, du hast mich oft geliebt.« »Und?« »Du hast mich oft geliebt«, wiederholte Mylai Tui. »Wärst du ein gewöhnlicher Mann unseres Volkes, müßte ich jetzt die Frucht deiner Liebe in mir tragen. Aber es ist nicht dazu gekommen. Deshalb weiß ich, daß Oruri uns sein erstes Geschenk vorenthält ... Herr, ich habe gesündigt. Ich weiß nicht, auf welche Weise, aber ich habe gesündigt ... Vielleicht gefällt es dir, eine andere Noia in dein Haus zu nehmen.« Er war erschüttert und gerührt zugleich. »Du hast recht, Mylai Tui«, sagte er langsam. »Ich wünsche mir ein Kind, aber bisher war mir dieser Wunsch nicht deutlich bewußt ... Es gibt so viele Dinge, die ich nicht weiß ... Nein, du hast nicht gesündigt, Mylai Tui. Ich glaube, daß dein und mein Blut sich nicht vermischen können. Ich glaube, daß nur eine Frau meines Volkes mir Kinder schenken könnte. Und deshalb habe ich nicht die Absicht, dich fortzuschik ken.« Mylai Tui seufzte und lächelte dann. »Mein Herr ist gnädig. Wenn ich dem Mann, der mit dem Silber vogel gekommen ist, keine Kinder schenken kann, will ich auch keine von anderen.« Er nahm ihre Hände und sah ihr aufmerksam ins Gesicht. »Was bindet uns aneinander?« fragte er end lich.
Mylai Tui schüttelte verständnislos den Kopf. »Nichts bindet uns, Paul«, erwiderte sie. »Wir haben nur Oruris unerforschlichen Ratschluß zu erfüllen.«
10
Drei vergoldete Barkassen mit jeweils zehn Ruderern schwammen auf dem Kanal des Lebens, über dem sich das grüne Blätterdach des Urwalds wölbte. In der ersten Barkasse stand eine kleine verhängte Sänf te mit dem Orakel von Baya Nor, das von acht kräfti gen Priestern bewacht wurde. In der zweiten Barkas se saß der Gott-König Enka Ne mit seiner achtköpfi gen Leibwache, drei Ratgebern und Poul Mer Lo. In der dritten Barkasse, zu deren Schutz ebenfalls acht Krieger bereitstanden, hockten drei Mädchen, die ih rem Opfertod entgegenfuhren. Poul Mer Lo hatte einen Sitz unterhalb des Thron sessels angewiesen bekommen und lauschte jetzt ehr fürchtig den Worten seines Herrn. »Leben und Tod«, sagte Enka Ne mit einer Stimme, die auffällig an die Stimme des Bettlers Shah Shan er innerte, »sind nur zwei Aspekte der unendlichen Weisheit Oruris. Die Menschen leben nur kurze Zeit, aber Oruri lebt an Quelle und Mündung des Flusses zugleich. Oruri ist der Fluß. Oruri verkörpert auch die Menschen auf dem Fluß, die nur leben, um seine Gebote zu befolgen und seine Absichten zu verwirk lichen. Ist dieser Gedanke nicht schön?« Das schillernde Federkleid raschelte leise, als Enka
Ne sich bequemer zurechtsetzte. Poul Mer Lo – Paul Marlowe von der Erde – konnte kaum glauben, daß sich unter diesem farbenprächtigen Kostüm mit der eindrucksvollen Vogelmaske nur ein junger Mann verbarg. »Herr«, antwortete er vorsichtig, »woran Menschen wirklich glauben, ist immer schön. Das Gebet selbst ist schön, denn es verleiht dem Leben Bedeutung ... Nur der Schmerz ist häßlich, weil er entstellt.« Enka Ne warf ihm einen tadelnden Blick zu. »Auch der Schmerz ist ein Geschenk Oruris. Es ist Oruris Wille, daß Menschen freudig und bereitwillig Schmerzen ertragen, weil sie wissen, daß diese Probe sie dem letzten Glück näherbringt ... Sieh, dort fliegt ein Guyanis! Auch er dient Oruri in seinem kurzen Leben, bevor ihm die unendliche Gnade des Todes zuteil wird.« Poul Mer Lo hob den Kopf und betrachtete den Guyanis – ein bunter Schmetterling mit fast einem halben Meter Spannweite –, der vor der ersten Bar kasse über den Kanal des Lebens flatterte. In diesem Augenblick stieß ein großer Vogel mit lederähnlichen Schwingen von einem Farnbaum am Ufer herab und schnappte nach dem Guyanis. Einer der bunten Flü gel wurde abgetrennt und schwebte ins Wasser; der andere und der Körper des Schmetterlings blieben im Schnabel des Raubvogels zurück.
Enka Ne klatschte in die Hände. »Dort!« sagte er und zeigte auf den Vogel. Einer der Krieger hob sein Blasrohr an die Lippen. Der Pfeil verließ fast ge räuschlos das lange Rohr. Der mehr als zwanzig Me ter entfernte Raubvogel schien im Flug zu erstarren und fiel dann wie ein Stein ins Wasser. Enka Ne wies auf den Krieger, der den Vogel getö tet hatte. »Stirb jetzt«, sagte er leise, »und lebe ewig.« Der Mann lächelte. »Herr«, antwortete er, »ich bin unwürdig.« Er nahm einen zweiten Pfeil aus seinem Köcher, stieß ihn sich wortlos in die Kehle und fiel über die Bordwand in den Kanal des Lebens. Der Gott-König sah Poul Mer Lo in die Augen. »So erfüllt sich Oruris Ratschluß.« Poul Mer Lo starrte ins Wasser. Die Leiche des Kriegers trieb bereits weit hinter ihrer Barkasse. Jetzt schwamm ein Schmetterlingsflügel vorbei; dann sah er auch den großen Raubvogel, der seine Beute noch im Tod nicht losließ. Paul Marlowe, der Mann von der Erde, kämpfte wei terhin gegen den unbewußten Fatalismus, der ihn da zu gebracht hatte, in dieser seltsam fatalistischen Welt die Rolle eines Mannes namens Poul Mer Lo zu über nehmen. Aber dieser Kampf war nicht leicht, denn als Psychiater erkannte er, daß zwei unterschiedliche Per sönlichkeiten um die Vorherrschaft über seinen Körper rangen. Paul würde stets ein Fremder bleiben, dessen
andersartige Maßstäbe verhinderten, daß er das Leben bei den Barbaren erträglich fand. Poul war nur ein Mann, der verzweifelt nach einer neuen Heimat suchte und das Beste aus dieser Lage machen wollte, in die er unverschuldet geraten war. War es Paul oder war es Poul, der hier in Enka Nes Gefolge über den Kanal des Lebens fuhr? Er war nicht imstande, eine klare Unterscheidung zu treffen. Er wußte nur, daß die drei Mädchen in der dritten Barkasse in verschiedenen Tempeln zum größeren Ruhme Oruris geopfert werden sollten. Poul war fas ziniert. Paul war entsetzt. Aber keiner der beiden wußte, was er tun sollte. »Herr«, sagte Paul – oder Poul, »was war wertvol ler: das Leben des Guyanis' oder das Leben des Krie gers?« Enka Ne lächelte. »Wer kann diese Frage beantwor ten? Doch bestimmt nur Oruri. War es nicht auch Oruri in mir, der dem Krieger befohlen hat, sich mit dem Guyanis zu vereinen?« »Wer kann diese Frage beantworten?« sagte der Mann von der Erde. »Ich jedenfalls nicht.« Die Ratgeber des Gott-Königs hatten das Gespräch schweigend verfolgt. Aber ihren Gesichtern war an zusehen, daß sie nicht damit einverstanden waren, daß der Fremde die Beschlüsse des Gott-Königs an zweifelte. Einer von ihnen ergriff jetzt das Wort.
»Herr«, begann er vorsichtig, »könnte es nicht sein, daß Poul Mer Lo, dessen Leben in deiner Hand liegt, eine unbedachte Stimme besitzt? Dieses Leiden ist unschwer zu heilen.« Enka Ne erwiderte gelassen den Blick seines Rat gebers. »Ich habe nichts von einem Leiden bemerkt. Oruris Hand hat diesen Fremden zu uns geführt. Wer Oruris Ratschluß anzweifelt, möge jetzt Poul Mer Los Tod befehlen.« Die Ratgeber wichen erschrocken zurück, als sie den Unwillen des Gott-Königs gegen sich gerichtet sahen. Poul Mer Lo fand die drückende Schwüle un erträglich heiß; aber Paul Marlowe zitterte in diesem Augenblick innerlich wie vor Kälte. »Seht«, fuhr Enka Ne fort, »der erste Stein von Baya Sur.« Er deutete auf einen Obelisken, der sich vor ih nen im Kanal des Lebens erhob. »Wir nähern uns der geheiligten Opferstätte, die niemand mit Unmut und Zwietracht im Herzen betreten darf, wenn er nicht Oruris Zorn herausfordern will.« Baya Sur bestand im Gegensatz zu Baya Nor aus einem einzelnen Steintempel, der zum Wald hin von hohen Mauern umgeben war. An der Anlegestelle erwarteten etwa vierzig Männer – die gesamte Ein wohnerschaft von Baya Sur – die Barkasse des GottKönigs, die dem Boot des Orakels folgte. Die ver hängte Sänfte wurde an Land gesetzt und rasch da
vongetragen; dann legte Enka Nes Barkasse an, und der Gott-König schritt majestätisch über den schma len Steg. Hinter ihm kamen seine Leibwächter, dann die drei Ratgeber und schließlich Poul Mer Lo. Nie mand hielt sich damit auf, die Mädchen in der dritten Barkasse zu begrüßen. Poul Mer Lo beobachtete über die Schulter hinweg, daß sie ihm in zwanzig Meter Abstand folgten. Der weite Innenraum des Tempels wurde nur von blakenden Öllampen beleuchtet, die in Nischen an den Wänden standen. Die drei Mädchen saßen mit gekreuzten Beinen auf einem niedrigen Podest ge genüber Oruris Altar. Hinter ihnen standen drei Prie ster, die kurze Messer in der Hand trugen. An der gegenüberliegenden Wand saßen die Ratgeber des Gott-Königs, und hinter ihnen saß Poul Mer Lo in Gesellschaft der übrigen Würdenträger des Tempels. Plötzlich ertönte ein klagender Vogelschrei, dem ein zweiter aus der verhängten Sänfte neben dem Altar folgte. Enka Ne kam in den Altarraum stolziert und imitierte dabei so täuschend echt einen großen Vogel, daß Poul Mer Lo wieder einmal fast daran zweifelte, daß sich unter dem bunten Kostüm wirklich nur ein junger Mann verbarg. Der Gott-König näherte sich dem Opferstein und bedeckte ihn einen Augenblick lang mit seinen mächtigen Schwingen. Dann warf er sich herum und deutete auf eines der wartenden Mädchen.
»Komm!« Das Mädchen erhob sich gehorsam und trat vor. Es kehrte dem Opferstein den Rücken zu, streckte sich darauf aus und ließ die Arme an beiden Seiten schlaff hängen. Sein Gesichtsausdruck zeigte deutlich, daß es sich in einem Zustand religiöser Verzückung befin den mußte. Der Gott-König lag jetzt bewegungslos zu Füßen des Opfers. Einer der Priester legte den rechten Arm unter das Kinn des Mädchens und drückte seinen Kopf zurück. Ein anderer kniete seitlich neben ihm und preßte den Leib des Opfers gegen den großen Stein. Der dritte Priester kam mit erhobenem Messer heran und streckte die linke Hand aus. Enka Ne stieß nochmals einen Vogelschrei aus. Das Orakel in der Sänfte antwortete auf gleiche Weise. Das Messer stieß einmal herab, wurde hochgerissen und schnitt wieder. Alles geschah lautlos. Die Hand des Priesters griff in die geöffnete Brust des Mädchens und hob das noch immer schwach schlagende Herz heraus. Aus der klaffenden Wunde ergoß sich ein Blut schwall über Enka Ne. Dann ertönten wieder zwei Vogelrufe – durchdrin gend, klagend, triumphierend. Poul Mer Lo wurde ohnmächtig.
11
Die Pilgerfahrt näherte sich ihrem Ende. Sie hatte bis her acht Tage gedauert und würde am neunten abge schlossen sein, wenn das Orakel und der Gott-König nach Baya Nor zurückkehrten. Die drei Mädchen lagen bereits in Oruris Armen. Poul Mer Lo hatte unterdes sen gelernt, nicht mehr ohnmächtig zu werden, wenn der Priester das zuckende Herz eines Kindes hochhielt. Dieses Benehmen, so war ihm bedeutet worden, war bestenfalls sehr unhöflich und konnte schlimmsten falls als schlechtes Omen ausgelegt werden. Am Abend des achten Tages lag er schlaflos auf seinem Bett in einer der Gastzellen von Baya Lys. Er fragte sich, weshalb Enka Ne ihn eingeladen und ihm befohlen hatte, diese Reise mitzumachen. Zum Gefol ge des Orakels und des Gott-Königs auf Pilgerfahrten wurden üblicherweise nur Männer abkommandiert, die sich auf irgendeinem Gebiet besonders ausge zeichnet hatten. Er nahm plötzlich wahr, daß er nicht mehr allein in der Zelle war. Als er sich aufrichtete, erkannte er im Schein des Öllämpchens einen hageren jungen Mann, der in einen fadenscheinigen Samu gehüllt neben der Tür hockte. Vor ihm lag ein kleines Bündel auf dem Steinfußboden.
»Oruri grüßt dich«, sagte Shah Shan und erhob sich. »Der Gruß ist ein Segen«, antwortete Poul Mer Lo automatisch. »Es tut mir leid, wenn ich deine Meditationen un terbrochen haben sollte.« Poul Mer Lo lächelte. »Ich freue mich, daß jemand gekommen ist, der mich auf andere Gedanken bringt.« Shah Shan wies auf das Bündel zu seinen Füßen. »Mein Freund, den du bereits kennst, hat mich ange wiesen, dir einige Dinge zu bringen, die im Wald ge funden worden sind. Er war der Meinung, du wür dest ihre Bedeutung erkennen.« Shah Shan löste den Knoten und schlug das Bündel auf. Es enthielt einen Gesichtsschutz aus Plastik, zwei Atomhandgranaten und ein beschädigtes Funk sprechgerät. Poul Mer Lo verwandelte sich augenblicklich in Paul Marlowe, der diese kuriose Sammlung wortlos anstarrte und dabei den Tränen nahe war. »Wer hat das alles gefunden?« fragte er schließlich leise. »Die Priester von Baya Lys.« »War das alles? Haben sie sonst nichts gesehen?« »Nein, nur ...« Shah Shan zögerte. »Mein Freund hat von einem seltsamen schwarzen Loch gehört, das sich mitten im Wald befindet, wo früher nur Gras
und Bäume standen. Diese Gegenstände sind in der Tat merkwürdig. Haben sie irgendeine Bedeutung?« »Sie gehörten denen, die mit mir im Silbervogel ge flogen sind.« Paul Marlowe nahm eine der Atom handgranaten vom Boden auf. »Dies ist zum Beispiel eine schreckliche Vernichtungswaffe. Sobald ich diese beiden Hebel auf bestimmte Weise bewege, wird ganz Baya Lys von einem Feuersturm zerstört.« Shah Shan nickte gelassen. »Es ist nur zu hoffen«, stellte er fest, »daß Oruri deine Hand so lenkt, daß du dieses Ereignis nicht herbeiführst.« Paul lächelte. »Ich kann dir versichern, daß ich nicht die Absicht habe, Shah Shan, denn das würde auch meinen Tod bedeuten.« Der junge Mann schwieg nachdenklich. »Die Gren ze von Baya Nor liegt nur einen Tagesmarsch in nördlicher Richtung entfernt«, sagte er dann. »Jen seits dieser Grenze beginnt das Land der Barbaren. Vielleicht sind deine Freunde dort aufgenommen worden ... Oder vielleicht haben sie den Tod gefun den, oder sie haben sich im Wald verirrt und sind vor Entkräftung gestorben ... Wie viele befanden sich in deiner Begleitung?« »Wir waren ursprünglich zwölf Menschen.« »Und drei sind nach Baya Nor gekommen.« »Drei wurden überfallen und als Gefangene nach Baya Nor gebracht.«
Der junge Mann zuckte nachlässig mit den Schul tern. »Es spielt keine Rolle, wie wir dieses Ereignis beschreiben. Jedenfalls steht fest, daß neun deiner Freunde verschwunden sind.« »Diese Waldbewohner – wie nennt ihr sie?« »Sie bezeichnen sich selbst als Lokh. Wir nennen sie Lokhali. Sie sprechen eine andere Sprache.« »Ist es möglich, die Lokhali aufzusuchen und mit ihnen zu sprechen?« Shah Shan lächelte. »Möglich, aber nicht gerade zu empfehlen. Und es ist wahrscheinlich, daß die Unter haltung bald zu Ende wäre. Dieses Volk lebt nur, um Krieg zu führen.« »Aber wenn Enka Ne ihm Geschenke überbringen ließe und gleichzeitig Nachforschungen ...« Shah Shan warf stolz den Kopf zurück. »Enka Ne verhandelt nicht mit den Lokhali. So ist es schon im mer gewesen. Oruri wird sie eines Tages zerschmet tern und uns ausliefern ... Poul Mer Lo, mein Freund ist verwirrt. Das Orakel hat verkündet, du seist ein großer Lehrer, und Baya Nor werde deinetwegen größer und bedeutender werden.« »Ich weiß selbst nicht, daß ich ein großer Lehrer bin. Bisher habe ich kaum gelehrt.« »Dann mußt du bald damit beginnen, Herr«, sagte Shah Shan einfach, »denn das Orakel sagt stets die Wahrheit ...
Mein Freund ist reich und mächtig, aber arm an Zeit. Er würde gern die Früchte deiner Arbeit sehen, bevor er abgerufen wird.« »Shah Shan, dein Freund darf nicht zuviel erwar ten. Wer lehren will, muß zunächst lernen – das ist das Prinzip des Lehrens.« »Aber du wirst mir zustimmen müssen, Poul Mer Lo, wenn ich sage, daß es noch wichtiger ist, auch verstanden zu werden ... Es hat viele Tage gedauert, bis du Bayani sprechen konntest, nicht wahr?« »Ja.« »Wie heißt die Sprache, die du mit Männern deines Volkes sprechen würdest?« »Sie heißt Englisch.« »Ich habe den Wunsch, dieses Ong Lys zu lernen. Dann könnte ich Poul Mer Los Gedanken besser ver stehen.« »Was soll das, Shah Shan? Ich bin der einzige Mensch in Baya Nor, der englisch spricht.« »Vielleicht möchte ich es gerade deshalb lernen, Herr ... Ich bin arm und unbedeutend und habe dir nichts zu bieten. Aber mein Freund würde sich sehr darüber freuen.« Paul Marlowe lächelte. »Du sollst deinen Willen haben, Shah Shan. Dein Freund ist entweder sehr ge rissen oder sehr einfältig.« Shah Shan warf ihm einen überraschten Blick zu.
»Du weißt nicht, was er ist?« fragte er. »Könnte mein Freund nicht beides sein?«
12
Das Teufelsding war endlich fertig. Es stand vor dem kleinen Haus, in dem Poul Mer Lo wohnte. Die beiden Arbeiter, ein Holzschnitzer und ein Zimmermann, die das Ding unter Anleitung des Fremden gebaut hatten, betrachteten stolz das Werk ihrer Hände. Dabei grin sten und plapperten sie wie zwei fröhliche Affen. Poul Mer Lo hatte jedem von ihnen für diese Arbeit einen Kupferring versprochen. Mylai Tui behauptete zwar, er habe die Männer damit viel zu gut bezahlt; aber Poul Mer Lo war der Auffassung, daß Großzügigkeit – falls man es wirklich Großzügigkeit nennen konnte – in die sem Fall angebracht sei. Schließlich geschah es nicht oft, daß ein Mann Gelegenheit hatte, etwas zu entwer fen, das eine ganze Zivilisation umkrempeln würde. Mylai Tui hockte auf der Veranda und betrachtete das seltsame Ding ohne großes Interesse. Sie schien weder zu begreifen noch Wert darauf zu legen, daß sie mit eigenen Augen den Beginn einer technologi schen Revolution gesehen hatte. Sie war schon damit zufrieden, daß Poul Mer Lo offenbar seinen Spaß an diesem merkwürdigen Ding hatte. Trotzdem war sie ein wenig enttäuscht darüber, daß ein Mann, der ge wiß zu höheren Leistungen fähig war, seine Zeit mit dem Bau wertloser Spielsachen vergeudete.
»Was hältst du davon?« fragte Poul Mer Lo stolz. Mylai Tui lächelte. »Es beweist Einfallsreichtum, Herr. Wer weiß, vielleicht ist es auch schön. Ich möchte mir nicht anmaßen, darüber zu urteilen, denn ich weiß nicht, welchen Zweck dieses Ding erfüllt, das meinem Herrn zu bauen gefallen hat.« »Ich heiße Paul.« »Ja, Paul. Ich bitte um Verzeihung. Aber es macht mich glücklich, dich meinen Herrn nennen zu dür fen.« »Du erinnerst dich vielleicht daran, daß es mich glücklich macht, Paul genannt zu werden.« »Ja, Paul. Ich weiß es und werde mich daran erin nern.« »Ist dir klar, was hier vor dir steht?« »Nein, Paul.« »Für dieses Ding gibt es in eurer Sprache keinen Namen. Deshalb muß ich ihm einen aus meiner ge ben. Es heißt Karren.« »Kah-rin.« »Nein. Karren.« »Kahren.« »Das klingt schon besser. Noch mal – Karren.« »Kahren.« »Dieser Karren läuft auf Rädern. Weißt du, was Räder sind?« »Nein, Paul.«
»Sprich mir nach – Räder.« »Reeder.« »Gar nicht übel. Mylai Tui, das Volk von Baya Nor braucht Räder, um nicht für immer schwere Lasten schleppen zu müssen.« »Ja, Paul.« »Du hast selbst gesehen, daß die Armen Holz tra gen, Wasser schleppen und mühsam schwere Lasten Kappa und Fleisch auf dem Rücken tragen.« »Ja, Paul.« »Aber dieser Karren macht das alles überflüssig«, erklärte Poul Mer Lo ihr. »Mit Hilfe meines Karrens kann ein Mann die Last vieler Männer bewältigen, und aus diesem Grund haben viele Männer Gelegen heit, nützlichere Arbeiten zu verrichten. Ist das nicht eine wunderbare Vorstellung?« »Der Gedanke ist in der Tat wunderbar«, antworte te Mylai Tui gehorsam. »Herr«, sagte einer der Arbeiter, »was befiehlst du jetzt, da wir diesen Kahren gebaut haben?« »Es gefällt mir, Enka Ne zu besuchen«, erwiderte Poul Mer Lo. »Es ist mein Wunsch, dem Gott-König dieses Geschenk zu bringen, damit er in seiner un endlichen Weisheit und Güte zahlreiche Karren nach diesem Muster bauen lassen kann, wodurch eine schwere Last von den Schultern der Armen genom men wird.«
Der kleine Bayani lächelte plötzlich nicht mehr. »Herr, es war nicht schwer, diesen Kahren nach dei nen Anweisungen zu bauen – wir haben in der Tat Vergnügen daran gefunden –, aber es ist etwas ganz anderes, ihn Enka Ne zu überbringen.« »Du hast Angst?« »Es ist angebracht und richtig, Angst zu haben, Herr. Wir fürchten nur den Glanz des Gott-Königs, der uns blenden wird.« »Es ist aber auch angebracht«, antwortete Poul Mer Lo, »dem Gott-König Geschenke zu bringen. Ich bin ein Fremder in diesem Land, und der Karren ist mein Geschenk für Enka Ne. Kommt, wir müssen aufbre chen ... Seht her, ich fahre auf dem Karren, und ihr zieht ihn an diesen beiden Stangen. Vielleicht braucht der Gott-König Männer mit geschickten Händen, die gelernt haben, Räder und Achsen zusammenzufü gen.« Poul Mer Lo nahm auf dem niedrigen Karren Platz und wartete geduldig. Die beiden Arbeiter sprachen leise miteinander, verrichteten schließlich an Ort und Stelle ein kurzes Gebet und näherten sich zögernd dem Karren, den sie mit so großer Begeisterung ge baut hatten. Sie griffen nach den Stangen und zogen den Karren langsam über den Weg der Arbeit zur Dritten Straße der Götter. Poul Mer Lo winkte Mylai Tui fröhlich zu.
»Oruri sei mit dir«, rief sie, »am Ende wie zu An fang!« »Oruri sei immerdar mit dir!« antwortete Poul Mer Lo. Die Fahrt hatte an einem herrlichen Morgen be gonnen. Die Luft war klar und warm, aber nicht zu heiß. Poul Mer Lo saß auf seinem Karren, hörte die hölzernen Räder quietschen und war mit sich und der Welt zufrieden. Vom Wald her wehte eine erfrischende Brise. Sie brachte Gerüche mit sich, die für Poul Mer Lo noch immer fremdartig und betäubend waren. In diesem Augenblick hatte er fast das Gefühl, der glücklichste Mann des Universums zu sein. Kurze Zeit später überholten sie fünf Jäger, die mit ihrer Beute in die Stadt zurückkehrten. Die Männer starrten den Karren verblüfft an. Poul Mer Lo lächelte ihnen freundlich zu. »Oruri grüßt euch«, sagte er. »Der Gruß ist ein Segen«, erwiderten sie im Chor. »Herr«, fuhr einer der Jäger fort, »was ist das Ding, auf dem du sitzt und das zwei Männer so leicht be wegen können?« »Es ist ein Karren. Er fährt auf Rädern. Mit Enka Nes Zustimmung werdet ihr bald euer Fleisch auf Karren nach Baya Nor schaffen. Und das Volk wird lernen, Räder zu gebrauchen.«
»Herr, das ist in der Tat ein wundersames Ding«, sagte der Jäger verblüfft. »Ich bete nur, daß du einem guten Zeichen begegnest.« »Welchem Zeichen?« »Herr, es gibt nur Oruris Zeichen.« Der Karren bog nun vom Weg der Arbeit in die breitere Dritte Straße der Götter ein; seine Räder hol perten jetzt über Pflastersteine. Die Vorübergehenden betrachteten Poul Mer Lo mit einer Mischung aus Verblüffung und Ehrfurcht – jedenfalls deutete er ih re Blicke auf diese Weise. Es wäre allerdings zutreffender gewesen, wenn er diese Blicke als Ablehnung und Ehrfurcht gedeutet hätte. Aber die allgemeine Ablehnung fiel ihm erst auf, als es bereits zu spät war. Der Karren rollte inzwischen über den langen Damm, der die heilige Stadt mit den Außenbezirken von Baya Nor verband. Poul Mer Los seltsames Ge fährt erregte solches Aufsehen, daß ihm schon mehr als fünfzig neugierige Bayani folgten. Das allein war im Grunde genommen noch kein Unglück. Ein Unglück aber war es, daß Poul Mer Lo einem der blinden schwarzen Priester begegnete und daß ein Rad des Karrens über die nackten Zehen des Prie sters rollte. Der Mann schrie auf und riß sich seine Kapuze vom Kopf.
Seine Augen, die nicht an das grelle Tageslicht ge wöhnt waren, tränten sofort heftig, und er brauchte lange, bis er Poul Mer Lo erkannte. »Oruri wird zerstören!« brüllte er heiser. »Dieses Ding ist eine Kränkung der Auserwählten! Oruri wird vernichten!« Dann folgte ein unheimliches Schweigen. Poul Mer Lo starrte den Priester verständnislos an. Plötzlich warf jemand den ersten Stein, der harmlos von dem Karren abprallte. Aber er wirkte wie ein Si gnal. Weitere Steine kamen geflogen. Die Menge wurde zusehends erregter. Das Straßenpflaster wurde aufge rissen, und die Steine dienten als Munition. »Oruri spricht!« kreischte der Priester. Und dann folgte ein wahrer Steinhagel. »Aufhören!« rief Poul Mer Lo. »Aufhören! Der Kar ren ist ein Geschenk für Enka Ne!« Aber der Holzschnitzer, der die rechte Stange gehalten hatte, war bereits von einem Stein am Rük ken getroffen worden. Er brach mit einem Aufschrei zusammen. Der Zimmermann ließ seine Stange los und versuchte zu fliehen. Die Menge hielt ihn fest. »Aufhören!« rief Poul Mer Lo. »Im Namen des Gott-Königs, ich ...« Er konnte nicht zu Ende sprechen. Ein schwerer Kieselstein, den ein kleiner Junge aus zehn Meter Ent
fernung zielsicher geworfen hatte, traf ihn an der Stirn. Ihm wurde schwarz vor den Augen, und er hat te das Gefühl, kopfüber in einen brausenden Wasser fall zu stürzen.
13
Poul Mer Los Kopf schmerzte heftig. Er öffnete lang sam die Augen und stellte fest, daß er in einem düste ren fensterlosen Raum lag. Hier und dort flackerten Öllampen an den Wänden. Ihm war kalt. Er versuchte sich zu bewegen, war aber nicht dazu imstande. Er war an eine große Steinplatte gekettet. Ein Bayani, dessen Augen hinter den schmalen Schlitzen einer weißen Kapuze zu glühen schienen, beugte sich über ihn. »Sein Geist ist zurückgekehrt«, sagte er zu jemand, den Poul Mer Lo nicht sehen konnte. »Jetzt wird der Fremde sprechen.« »Wer ... wer bist du? Was ... warum bin ich hier? Was ist geschehen?« »Ich bin Indrui Sa, Ordensgeneral der Blinden. Du bist Poul Mer Lo, ein Fremder in unserem Land und vermutlich ein Werkzeug der Vernichtung.« »Wo sind die beiden Männer, die mich begleitet haben?« »Sie sind tot.« »Was ist mit ihnen geschehen?« »Oruri hat sie zerschmettert. Fremder, sie wurden Opfer des Chaos. Sprich nicht mehr von ihnen. Ihre
Namen sind ausgelöscht. Ihre Väter hatten keine Söh ne. Ihre Söhne hatten keine Väter. Sie bedeuten nichts mehr ... Aber du, Fremder, du bist nicht zu Oruri geru fen worden. Oruri hat dich berührt, dich aber nicht zu sich genommen. Das müssen wir ergründen.« »Ich wollte Enka Ne in der heiligen Stadt besuchen. Ich wollte ihm den Karren als Geschenk bringen, den ich hatte bauen lassen.« »Enka Ne hatte dich zu sich gerufen?« »Nein«, antwortete Poul Mer Lo. »Hilf ihm«, sagte der Bayani unter der weißen Ka puze. Eine zweite Gestalt löste sich aus dem Halbdunkel und trat an die Steinplatte. Poul Mer Lo spürte plötzlich etwas Kaltes an sei nem Magen. Dann schrie er laut auf. Er starrte entsetzt die Zange an, die über ihm schwebte und nun ein großes Stück Haut festhielt. »Du tust mir leid«, sagte Indrui Sa. »Der GottKönig empfängt nur Besucher, die er zu sich gerufen hat ... Hilf ihm!« Die Zange schloß sich fester und wurde gedreht. Poul Mer Lo schrie nochmals auf. »Auf diese Weise hört Oruri vielleicht deinen Kummer«, fuhr Indrui Sa fort. »Hoffen wir also, daß deine Unwissenheit und Anmaßung vor seinen Au gen Gnade finden ... Fremder, du bist nicht auf einem
Tier in die Stadt gekommen, sondern auf einem Ding von Menschenhand. Wie nennst du dieses Ding?« »Es ist ein Karren.« »Hilf ihm!« Die Zange schloß und bewegte sich wieder. Poul Mer Lo schrie laut. »Der Kahren ist nicht mehr. Oruri hat ihn zerstört. Was wolltest du mit diesem Kahren erreichen?« »Er war ein Geschenk«, schluchzte Poul Mer Lo. »Ein Geschenk für Enka Ne. Ich dachte ... ich dachte, der Gott-König werde den Nutzen des Karrens sehen und viele andere nach diesem Muster bauen lassen. Dadurch würden die schweren Lasten von den Schul tern der Armen genommen.« »Fremder«, sagte Indrui Sa, »auch diese Arbeit ist Oruris Geschenk für uns Menschen. Ich darf nicht zu lassen, daß seine Gabe verringert wird ... Hilf ihm.« Die Zange schloß sich nochmals und wurde hefti ger als zuvor bewegt. Poul Mer Lo stieß einen lauten Schrei aus und verlor das Bewußtsein. Als er wieder zu sich kam, sprach Indrui Sa noch immer. Er schien seit längerer Zeit zu sprechen. »Und deshalb«, sagte Indrui Sa, »ist ganz offenbar, daß du unbewußt ein Werkzeug der Vernichtung gewesen bist. Zwei Männer sind gestorben, der Kah ren ist zerstört, und der Fuß des Priesters ist für lange Zeit nicht mehr zu gebrauchen. Bereue deine Unwis
senheit, Poul Mer Lo. Bereue aber auch deine Anma ßung. Danke Oruri für das Geschenk eines raschen Todes, der angesichts der von dir verursachten Zer störungen ohnehin ...« Plötzlich ertönte ein klagender Vogelschrei. Indrui Sa schwieg sofort und fiel auf die Knie. Poul Mer Lo hörte ein Rascheln, drehte den Kopf zur Seite und erkannte das schillernde Federkleid, das selbst hier im Halbdunkel wie ein Regenbogen leuchtete. »Wer spricht vom Tod?« fragte eine vertraute Stim me. Betroffenes Schweigen. Der Gott-König stieß nochmals seinen Vogelschrei aus. »Wer spricht vom Tod?« Indrui Sa erhob sich langsam. »Herr, der Fremde bringt das Chaos.« »Aber wer spricht vom Tod?« »Herr, das Chaos ist ein Ergebnis des Unseins, des halb ist Unsein der Lohn des Chaos.« »Oruri hört dich, Indrui Sa, Würdigster aller Men schen und Hüter des Gesetzes. Oruri hört dich und wünscht deine Gesellschaft.« Indrui Sa richtete sich auf und blieb unbeweglich stehen. Enka Nes klagender Vogelruf ertönte nochmals. »Stoß zu!« befahl er.
Ein Krieger trat vor und stieß Indrui Sa seinen kur zen Dreizack in die Kehle. Der Ordensgeneral brach stöhnend zusammen. »Bindet das Werkzeug des Chaos los«, wies Enka Ne seine Leibwache an. Er wandte sich ab und verließ den Raum. Kurze Zeit später stolperte Poul Mer Lo über eine schmale Wendeltreppe nach oben und taumelte in den strahlenden Sonnenschein hinaus, der seinen Augen wehtat.
14
»Diese Freundschaft zwischen uns beiden ist wirklich seltsam«, meinte Shah Shan in ausgezeichnetem Eng lisch. »Wir stammen von verschiedenen Welten, Paul. Es ist merkwürdig, daß Oruri dich durch die dunklen Weiten des Raumes geschickt hat, damit du Licht in die Dunkelheit meines Geistes bringen kannst.« Er lachte. »Man kommt wirklich in Versuchung, dahin ter eine Absicht zu vermuten.« »Shah Shan, du bist außergewöhnlich begabt«, sag te Paul Marlowe. »In nur zweihundert Tagen hast du meine Sprache besser als viele Menschen auf meinem Heimatplaneten gelernt, die sie jahrelang studiert ha ben.« »Ich wollte vor allem deine Gedanken besser ver stehen können.« »Auf der Erde würdest du wahrscheinlich als Ge nie bezeichnet werden.« Shah Shan lachte. »Das kann ich nicht recht glau ben. Deinen Erzählungen nach gibt es dort Menschen, die wesentlich begabter sind.« »Nach unserer Rechnung«, erwiderte Paul, »bist du erst neunzehn – noch ein Junge. Aber trotzdem re gierst du ein Königreich und hast in vier Monaten mehr Informationen aufgenommen, als die meisten
unserer jungen Männer in ebensovielen Jahren auf nehmen könnten.« Shah Shan zuckte mit den Schultern. »Bitte, Paul, tu mir einen kleinen Gefallen. Ich kann mich nicht so rasch umstellen. Enka Ne herrscht über Baya Nor. Shah Shan ist nur sein Schatten, ein gewöhnlicher Wasserträger.« Paul lachte. »Rituelle Schizophrenie.« »Wie bitte?« »Entschuldigung. Ich wollte nur sagen, daß dein Körper abwechselnd von zwei hochbegabten Persön lichkeiten kontrolliert wird.« »Oruri spricht für Enka Ne«, erwiderte Shah Shan. Dann grinste er. »Aber Shah Shan ist so unbedeutend, daß er für sich selbst sprechen kann.« »Paul«, sagte Mylai Tui in scheußlichem Englisch, »soll ich dir noch etwas Kappaschnaps geben?« »Du mußt zuerst unseren Gast fragen, Liebste.« »Entschuldigung. Shah Shan, willst du trinken?« Shah Shan streckte ihr seinen Becher entgegen. »Ich will trinken«, antwortete er ernsthaft. Die drei saßen abends auf der Veranda vor Pauls Haus. Der Tag war heiß gewesen, aber jetzt wehte ein kühler Wind. Über ihnen leuchteten die Sterne, und die neun Monde von Altair V zogen wie glänzende Vögel nach Westen. Paul Marlowe sah zu ihnen auf, ohne sie wirklich
zu sehen. Er dachte an die vergangenen Monate zu rück, in denen Shah Shan regelmäßig zu ihm ge kommen war, um englisch zu lernen. Er wußte, daß es für Enka Ne nicht leicht war, sich in den Wasser träger Shah Shan zu verwandeln, und er hatte sich oft gefragt, weshalb der junge Mann sich solche Mühe gab, eine Sprache zu lernen, die er nur mit einem ein zigen Menschen sprechen konnte. Aber dann war ihm klargeworden, daß Shah Shan die Sprache nur als Mittel zum Zweck betrachtete – er wollte alles über die Welt jenseits des Himmels ler nen. Der junge Mann hatte instinktiv erkannt, daß seine eigene Sprache für diesen Zweck ungeeignet war, da ihr beschränkter Wortschatz nur ein verzerr tes Bild der Welt entwerfen konnte, die einmal Paul Marlowe gehört hatte. Deshalb hatte Shah Shan mit dem typischen Fana tismus eines Genies nicht nur eine neue Sprache ge lernt, sondern auch die Geisteshaltung und Lebens philosophie seines Lehrers erforscht. Er hatte Paul als eine Art Lexikon benützt, und in den vergangenen vier Monaten hatte er sich erfolgreich bemüht, nicht nur die Sprache, sondern auch Pauls Wissen zu assi milieren. »Dir ist natürlich klar«, sagte Shah Shan, »daß Enka Ne in dreiundzwanzig Tagen in Oruris Arme zu rückkehren wird?«
Paul seufzte. »Ja, ich weiß. Aber ... ist das wirklich notwendig?« »Es ist immer so gewesen. Der Gott-König herrscht ein Jahr lang. Dann gefällt es Oruri, ihm eine andere Gestalt zu geben.« »Aber ist das notwendig?« Shah Shan betrachtete ihn gelassen, und Paul Mar lowe glaubte in seinen Augen eine Weisheit zu sehen, die mehr wog als tausend logische Argumente. »Es ist notwendig«, erklärte Shah Shan ihm leise. »Eine Zivili sation läßt sich nicht in einem Jahr, einem Jahrzehnt oder einer Generation ändern. Das müßte dir eigent lich klar sein, Paul. Würde Enka Ne sich nicht freudig und willig opfern, wäre Baya Nor verloren. Am Ende käme es vermutlich zu einem Bürgerkrieg ... Nein. Die Erleuchtung muß langsam und sorgfältig vorbereitet in das Bewußtsein der Menschen gelangen. Du bist nicht nur das Werkzeug des Chaos, sondern auch das Werkzeug des Fortschritts. Du mußt säen und darauf vertrauen, daß andere die Ernte einbringen werden.« »Shah Shan, du bist der erste Mann, der Tränen in meine Augen bringt.« »Ich hoffe, daß ich auch der letzte bin. Ich weiß nichts von dem neuen Gott-König. Er ist bereits ge funden und wird auf seine Rolle als Herrscher vorbe reitet. Aber ich weiß nichts von ihm. Vielleicht ist er etwas ... Wie heißt das Wort, nach dem ich suche?«
»Orthodox?« schlug Paul vor. »Richtig, orthodox. Vielleicht besteht er darauf, daß die Traditionen eingehalten werden. Du mußt in Zu kunft vorsichtiger sein.« Shah Shan lachte. »Erinnerst du dich noch daran, was geschehen ist, als du uns den Gebrauch des Rades demonstrieren wolltest?« »Drei Männer mußten sterben«, antwortete Paul. »Aber jetzt gebraucht das Volk Schubkarren, Wagen und Rikschas.« Shah Shan schüttelte langsam den Kopf. »Nein, Paul, deine Rechnung ist falsch. Ich habe dir noch nichts davon erzählt, aber Enka Ne mußte einhun dertsiebzehn Priester hinrichten lassen, um dein Le ben zu schützen und den Gebrauch des Rades durch zusetzen. Ein hoher Preis, nicht wahr?« Paul Marlowe starrte ihn entsetzt an.
15
Der Morgen war kühl und nebelverhangen. Vom Wald her blies ein heftiger Wind, der Baya Nor mit seltsamen Gerüchen erfüllte – vor allem mit einem dumpfen Modergeruch, der an die Vergänglichkeit aller Lebewesen erinnerte. Paul Marlowes Gedanken beschäftigten sich in letzter Zeit immer wieder mit dem Tod. Die Aussicht auf den bevorstehenden Tod seines Freundes – und vielleicht auch die vielen Englischstunden – hatte wieder einen anderen Menschen aus ihm gemacht. Poul Mer Lo, der Pseudo-Bayani, war zu Paul Mar lowe geworden, einem Engländer des einundzwan zigsten Jahrhunderts. Ein Mann, der die Tatsache de primierend und abstoßend zugleich fand, daß sein einziger Freund auf diesem fremden Planeten in sechs Tagen freiwillig in den Tod gehen würde. Shah Shan würde sterben. Oder vielmehr – Enka Ne, der Gott-König von Baya Nor, würde in Oruris Arme zurückkehren. Und der intelligenteste Mensch, den Paul Marlowe je kennengelernt hatte, würde den sinnlosen Traditionen eines primitiven kleinen Stammes geopfert werden, dessen Gebräuche sich seit Jahrhunderten nicht mehr geändert hatten. Wie lautete ein Sprichwort der Bayani? Wer lebt,
kann nicht sterben. Paul Marlowe lachte. Dieser gott verdammte Oruri. Dann lachte er nochmals, als ihm auffiel, daß er einen Gott aufgefordert hatte, den an deren zu verdammen. Er wollte mit seinem Schmerz allein sein. Deshalb hatte er das kleine Haus und Mylai Tui verlassen und war den Kanal des Lebens entlang weitergegangen, bis er hierherkam, wo grüne Kappafelder am Rand des Urwalds lagen. Und jetzt saß er in einer flachen Mulde, von wo aus er die Frauen auf den Feldern beobachten konnte. Sie sangen bei der Arbeit ein Lied zu Ehren Oruris. Schon wieder, dachte Paul wütend. Der Teufel soll Oruri holen! Oruri war ein Mühlstein am Hals dieser Menschen, der sie noch in tausend Jahren daran hin dern würde, wirkliche Fortschritte zu machen. Der Teufel soll Oruri holen! Plötzlich hörte er irgendwo in seiner Nähe einen leisen Aufschrei. Dann folgte ein unterdrücktes Stöh nen. Er wollte schon aufspringen, blieb aber noch ei nige Sekunden lang lauschend sitzen, bis er genau wußte, aus welcher Richtung das Geräusch kam. Dann stieg er über den Rand der Senke hinauf, drang vorsichtig in das Gebüsch ein und blieb verblüfft ste hen. Wenige Meter vor ihm hockte eine Frau am Boden und hielt ein offensichtlich neugeborenes Kind in den
Armen, das sie hier ganz allein zur Welt gebracht ha ben mußte. Paul Marlowe starrte sie sprachlos an und bildete sich ein, diese Szene nur im Traum zu sehen. Die Frau hatte ihn noch nicht bemerkt. Sie war da mit beschäftigt, ihr Neugeborenes eingehend zu un tersuchen. Dann stieß sie plötzlich wieder einen Schrei aus, der schrill und entsetzt klang. Und Paul wußte, daß er nicht träumte. Er kam näher. Die Frau sah ihn. Der Schrei ver stummte. Sie drückte das Kind an sich, als fürchte sie, der Fremde wolle es ihr entreißen. Zum erstenmal er schien ein ängstlicher Ausdruck auf ihrem Gesicht. Paul blieb vor ihr stehen. »Oruri grüßt dich«, sagte er leise. »Der Gruß ist ein Segen«, murmelte sie. In ihrer Stimme erklang ein Schluchzen, das sie nicht völlig unterdrücken konnte. »Vergib mir, aber ich war dort unten in der Senke. Ich habe dich gehört und bin gekommen, um zu se hen, was hier geschieht.« »Herr, es gibt nichts zu vergeben.« Sie hatte Tränen in den Augen. »Herr, es gibt nichts zu verzeihen – nur ...« Sie konnte sich nicht länger beherrschen und schluchzte laut. Das Kind in ihren Armen, das bisher leise gewimmert hatte, schwieg jetzt überraschen derweise.
»Was gibt es, meine Tochter?« Paul verfiel unwill kürlich in den Dialekt der Landbevölkerung. »Oh, mein Vater, dies ist meine dritte sterbliche Sünde in Oruris Augen. Ich weine, denn Enka Nes Klinge muß nun in mein Herz und in das meines Kindes dringen. Es sei denn ...« Paul Marlowe starrte sie verblüfft an. »Es sei denn – was?« »Es sei denn, mein Vater besitzt die Güte, nicht zu sehen, was er hier vor Augen hat. Es sei denn, Oruris Gebote können nur erfüllt werden, wenn ich und mein armes Kind sterben.« »Weshalb trauerst du, meine Tochter? Das Kind lebt, und du lebst. Kannst du mehr verlangen?« Die Frau warf den Kopf zurück. »Ja, Herr«, antwor tete sie trotzig, »ich kann mehr verlangen. Ich kann viel mehr verlangen. Betrachte die dritte Sünde.« Sie hielt ihm das Kind entgegen. Paul Marlowe schüttelte verständnislos den Kopf. »Meine Tochter, du hast einen kräftigen Sohn ge boren. Was kannst du mehr verlangen?« »Sieh her!« forderte ihn die Frau fast befehlend auf. Sie hielt die linke Hand des Neugeborenen hoch. Paul Marlowe sah drei Finger und einen winzigen Daumen. Bei diesem Anblick spürte er wieder die al ten Wunden an beiden Händen, wo der kleine Finger auf Befehl des Gott-Königs abgehackt worden war.
»Ich sehe, meine Tochter«, brachte er mühsam her aus. »Sieh her!« wiederholte die Frau. Diesmal hielt sie die rechte Hand des Kindes hoch, an der vier Finger und ein Daumen zu sehen waren. Paul Marlowe stand wie erstarrt. Vier Finger und ein Daumen! »Mein Vater versteht jetzt auch, weshalb ich von hier fliehen muß und weder mich noch diese sterbli che Sünde in Baya Nor zeigen darf.« Er betrachtete sie verwirrt. Die Frau sank plötzlich vor ihm in die Knie und drückte ihren Kopf gegen seine Beine. »Herr, du bist ein Fremder, und Oruri hat dir deshalb vielleicht grö ßere Weisheit geschenkt. Versprich mir nur, daß du mich nicht verraten wirst. Versprich mir nur, daß ich in Frieden von dannen ziehen kann. Mehr verlange ich nicht.« »Meine Tochter, von mir hast du nichts zu befürch ten«, sagte er tröstend. »Ich verspreche dir, daß ich vergessen werde, was ich gesehen habe ... Aber, mei ne Tochter, wohin willst du gehen?« Sie deutete auf den Urwald hinter sich. »Dort, mein Vater, gibt es weder Sünde noch Strafe. Mein Kind und ich müssen dort leben oder sterben.« »Ich hoffe von ganzem Herzen, daß ihr lebt«, konn te Paul nur sagen.
Die Frau erhob sich lächelnd. »Bete für uns«, sagte sie einfach. »Nur das kann uns helfen.« Sie wandte sich ab. Paul Marlowe sah ihr schweigend nach, als sie mit ihrem Kind rasch auf den Wald zuging, dessen Zwei ge und Blätter in der leichten Brise wie ein smaragd grünes Meer wogten. Sie tauchte darin unter, ohne sich noch einmal nach ihm umzudrehen.
16
Es war nun siebzehn Tage her, daß Enka Ne 609. in Oruris Arme zurückgekehrt war. Paul Marlowe, der sich jetzt wieder mehr als Poul Mer Lo fühlte, hockte auf der Veranda seines kleinen Hauses und starrte nach Osten, wo die heilige Stadt und der Tempel der Weinenden Sonne im Abendlicht rötlich aufleuchte ten. Er hatte die Zeremonie nicht miterlebt. Bei derarti gen Anlässen waren nur die höchsten Würdenträger von Baya Nor als Zuschauer anwesend. Aber Shah Shan hatte ihm das Ritual bei seinem letzten Besuch ausführlich beschrieben. Es erinnerte stark an eine Krönung auf der Erde, wie sie in Geschichtsbüchern beschrieben wurde – mit entsetzlichen Variationen. Eine Krönung mit umgekehrtem Vorzeichen. Denn bevor Enka Ne sich dem Opferstein näherte, auf dem er sein Leben lassen würde, mußte er alle Zeichen seiner Königswürde ablegen, bis schließlich nur Shah Shan, ein gewöhnlicher Wasserträger, vor dem Altar stand – ein hochintelligenter junger Mann, der ausge zeichnet englisch sprach. Sobald der Hohepriester das zuckende Herz aus dem Körper des Opfers gerissen hatte, brachen die Anwesenden in einen Freudenschrei aus, dem ein
klagender Vogelruf aus der Dunkelheit hinter dem Altar folgte. Dann erschien Enka Ne 610. in seinem farbenprächtigen Federkleid und nahm die Huldi gung der versammelten Würdenträger entgegen. Der König ist tot, es lebe der König! Auf diese Weise wurde Oruris fortwährender Ruhm erneut bestätigt. Paul Marlowe starrte die große Kuppel des Tem pels der Weinenden Sonne an. Tränen liefen ihm über die Wangen, ohne daß er es gemerkt hätte. Mylai Tui brachte ihm einen Becher Kappaschnaps, den sie umständlich durch Verdunstung gekühlt hatte. »Danke, Liebste«, sagte Paul auf englisch. »Bitte, nichts zu danken«, erwiderte Mylai Tui ge horsam. Diesen Satz hatte sie sich am besten gemerkt. Sie ließ sich neben Paul nieder. Paul nahm einen großen Schluck. Das Zeug brann te wie Feuer in seinen Adern. Aber sein Kopf blieb klar und leer. Er erinnerte sich daran, was Shah Shan bei seinem letzten Besuch gesagt hatte. »Du darfst nicht traurig sein, Paul«, hatte er gesagt. »Du begreifst noch nicht, weshalb mein Tod notwen dig ist. Aber du darfst trotzdem nicht traurig sein. Vielleicht denkt Enka Ne an dich, wenn er gerufen wird. Vielleicht schickt er dir ein kleines Andenken, um sich für die Freundlichkeit und Geduld erkennt
lich zu zeigen, die du einem unbedeutenden Wasser träger gegenüber bewiesen hast.« Am Tag des Opfertodes war tatsächlich ein Krieger der königlichen Leibwache bei Paul erschienen und hatte ihm hundertzwanzig Kupferringe und eine lan ge grüne Feder aus Enka Nes Kostüm gebracht. Paul hatte ihn eben fragen wollen, ob er etwas auszurich ten habe, als ein lauter Freudenschrei vom Tempel der Weinenden Sonne her übers Wasser klang. In die sem Augenblick ging ein verklärtes Lächeln über die Züge des Kriegers. Der Mann hatte sich wortlos und mit geschlossenen Augen in seinen Dreizack gestürzt. Er war sofort tot gewesen. Paul nahm einen zweiten Schluck aus seinem Be cher und sah zu Mylai Tui hinüber. »Erinnerst du dich an einen intelligenten jungen Mann namens Shah Shan?« fragte er auf englisch. »An einen Jüngling mit feurigen Augen, dessen Geist mit neunhundertneunundneunzigtausend Fragezei chen gefüllt war?« »Ich verstehe nicht, Herr«, antwortete Mylai Tui auf bayani. Sie hatte sich inzwischen daran gewöhnt, daß er oft diese fremde Sprache gebrauchte, begriff aber meistens nicht, was er sagte. »Sag Paul, der Teufel soll dich holen!« »Entschuldige, Paula«, sagte sie auf englisch. »Du sprichst zu schnell.«
Er wechselte auf bayani über. »Erinnerst du dich an Shah Shan – an seinen ersten Besuch bei uns?« »Ja, Herr«, erwiderte sie in der gleichen Sprache. »Ich erinnere mich an seinen ersten Besuch. Er war damals sehr mager und sehr hungrig.« Paul trank wieder aus seinem Becher. »Er hatte hel le, forschende Augen. Er besaß wahre Größe ... Ich bin traurig, weil er nicht wiederkommen wird.« »Herr«, sagte Mylai Tui einfach, »ich freue mich, weil ich das Gesicht Gottes mit eigenen Augen gese hen habe.« »Der Gott ist jetzt tot«, stellte Paul fest. »Nein, Herr, nur der Mensch ist tot. Der Gott lebt weiter. So wird es immer sein.« »Glückseligkeit ohne Ende«, murmelte er spöttisch und hob seinen Becher wieder an die Lippen. Seit ei niger Zeit war sein Verhältnis zu Mylai Tui etwas ge spannt. Nachträglich fiel ihm ein, daß diese Spannung be gonnen hatte, als Shah Shan regelmäßig zum Eng lischunterricht zu ihm gekommen war. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Paul Marlowe sich redlich bemüht, Poul Mer Lo zu werden. Dabei hatte er sich vor allem auf Mylai Tuis Unterstützung verlassen und ver sucht, ihre Welt mit ihren Augen zu sehen. Aber dann war Shah Shan mit seiner raschen Auf fassungsgabe und seinem natürlichen Wissensdurst
gekommen und hatte Paul daran erinnert, daß er auf die Tatsache stolz sein konnte, ein Europäer des ein undzwanzigsten Jahrhunderts zu sein. Shah Shan hatte in kürzester Zeit wesentlich besser englisch ge lernt als Mylai Tui; seine rege Vorstellungskraft hatte es ihm ermöglicht, seinen Lehrer auf phantastische Reisen durch Zeit und Raum zu begleiten, während Mylai Tui hoffnungslos zurückblieb – sie verstand kaum ein Zehntel der komplizierten Ausdrücke, die beide Männer gebrauchten. Etwa zur gleichen Zeit stellte Paul auch fest, daß sie trotz ihrer Unterwürfigkeit und ihrer Ausbildung als Noia im Tempel der Fröhlichkeit zu Eifersucht und Egoismus neigte. Sie wollte den Fremden für sich behalten. Zunächst hatte er darüber gelacht, aber spä ter ärgerte er sich darüber. Einen anderen Aspekt ihres fremdartigen Charak ters hatte er wenige Tage von Enka Nes – oder Shah Shans – Tod erlebt. Daran war der Vorfall schuld, den er am Morgen dieses Tages beobachtet hatte, als er am Kanal des Lebens gesessen hatte, um die Arbeit auf den Kappafeldern zu beobachten. Obwohl er der Frau, die dort ihr Kind geboren hat te, ausdrücklich versprochen hatte, sofort zu verges sen, was er gesehen hatte, war er der Meinung, dieser Zweck sei bereits erfüllt, wenn er weder Ort noch Zeit erwähnte. Er wollte sie nicht verraten, hatte jedoch
nicht die Absicht, diese wichtige Entdeckung zu ver gessen. Mylai Tui hatte drei Finger an jeder Hand. Alle an deren Bayani, die er bisher getroffen hatte, besaßen drei Finger an beiden Händen. Und er selbst unter schied sich nicht mehr von ihnen, seitdem Enka Ne damals befohlen hatte, ihm zwei Finger abzuhacken. Folglich hatte er angenommen, drei Finger seien normal – biologisch normal. Aber stimmte das wirk lich? Das Neugeborene hatte drei Finger an der einen und vier Finger an der anderen Hand gehabt. Wie viele Frauen in Baya Nor hatten Kinder geboren, die ebenfalls an einer Hand vier Finger hatten? Und wie viele Frauen hatten Kinder auf die Welt gebracht, die an beiden Händen vier Finger hatten? Am gleichen Tag hatte er Mylai Tui nach seiner Rückkehr gebeten, ihm ihre Hände zu zeigen. Er un tersuchte sie sorgfältig und bedauerte dabei, daß er kein Vergrößerungsglas besaß. Nur schade, daß er nicht mehr von Anatomie verstand! Dann stellte er fest, daß der Knochenfortsatz an der Außenkante ihrer linken Hand eine Kleinigkeit größer als der an der rechten Hand war. Er starrte die Hand lange an und runzelte dabei nachdenklich die Stirn. War dort nicht auch eine winzige Narbe zu sehen? »Mylai Tui, hast du früher vier Finger an dieser Hand gehabt?« fragte er plötzlich.
Sie zog die Hand ruckartig zurück, als habe er sie tödlich beleidigt. Ihr entsetzter Blick zeigte deutlich, wie sehr seine Frage sie verletzt hatte. Er glaubte zunächst an ein Mißverständnis. »Ich habe nur gefragt, ob du früher vier Finger an dieser Hand gehabt hast«, wiederholte er. »Bestie!« kreischte Mylai Tui. »Schamloser! Un mensch! Wilder!« Dann hatte sie fluchtartig das Haus verlassen. Er war völlig überrascht. Stunden vergingen, und als es Abend wurde, glaubte er schon, sie habe ihn endgültig verlassen. Sie kam erst im Morgengrauen des nächsten Tages zurück und weckte ihn frühzeitig auf. Sie trug eine lange dünne Korschl in der Hand – die Peitsche der Besserung, mit der kleinere Vergehen bestraft wurden. »Oruri hat geruht, mich die Wahrheit erkennen zu lassen«, sagte sie tonlos. »Ich habe meinen Herrn be leidigt. Diese Beleidigung fordert Sühne. Gib mir ei nen Schlag für jeden Finger meiner Hände.« Er schüttelte verblüfft den Kopf. »Das kann ich nicht, Mylai Tui.« »Oruris Weisheit hat diese Strafe angeordnet«, er klärte sie ihm. »Sechs Schläge von der Hand meines Gebieters – oder ich muß das Haus verlassen, in dem ich eine schwere Schuld auf mich geladen habe.« Er sah, daß sie es ernst meinte. Und er wollte sie
nicht verlieren. Deshalb nahm er die Korschl und hol te zögernd damit aus. »Schlag fest zu, Herr«, bat Mylai Tui und drehte ihm den Rücken zu. »Oruri ist nicht mit leichten Stra fen zufrieden.« Er schlug zu, aber offenbar nicht kräftig genug. Mylai Tui behauptete jedenfalls, Oruri gewähre ihr zum Ausgleich für diese unverdiente Milde zwei zu sätzliche Schläge. Paul Marlowe hatte den Eindruck, alles sei nur ein Alptraum, als er im Morgengrauen mit der Korschl in der Hand vor seiner Gefährtin stand. Mylai Tui war offensichtlich erst zufrieden, wenn ihr Rücken blute te. In seiner Verzweiflung schlug er endlich so fest zu, daß die Haut an einigen Stellen aufplatzte. Als dunk les Blut zu Boden tropfte und sich dort in einer klei nen Lache sammelte, schien Mylai Tui zufriedenge stellt zu sein, denn sie nickte ihm beifällig zu. Sobald der letzte Schlag gefallen war, brach sie ohnmächtig zusammen. Seitdem hatte er es nicht mehr gewagt, von ihren Fingern zu sprechen. Während er jetzt auf der Veranda seines Hauses saß und Kappaschnaps trank, empfand er plötzlich eine tiefe und unpersönliche Trauer – nicht nur um seiner selbst willen oder um Shah Shan oder um My lai Tui, sondern um alle Lebewesen auf allen nur vor stellbaren Planeten, die irgendwo im Raum verteilt
schwebten. Er trauerte, weil er das Verhängnis des Le bens so deutlich vor Augen hatte. Weil jedes Lebewe sen – wie der Guyanis, der buntfarbene Schmetterling, den er im Schnabel eines Raubvogels gesehen hatte, als er Enka Ne auf seiner Reise über den Kanal des Lebens begleitet hatte – dazu verdammt war, eine kurze Reise von Dunkelheit zu Dunkelheit zu machen. Zwischen diesen beiden Ewigkeiten lag nur eine kurze Zeitspan ne, in der sie das Sonnenlicht genießen und Schmerzen erdulden konnten. Der Guyanis war gestorben, dann war der Vogel, der ihn getötet hatte, von einem Krieger erlegt worden, und dieser Krieger hatte auf Enka Nes Befehl Selbstmord begangen. Nun war Enka Ne tot, und ein anderer Enka Ne hatte seinen Platz einge nommen. Und wahrscheinlich waren unterdessen un zählige andere bunte Schmetterlinge Raubvögeln zum Opfer gefallen. Und vermutlich waren mindestens ebenso viele Krieger in Oruris Arme heimgekehrt. Addiere die beiden Zahlen, multipliziere sie mit einer Milliarde Milliarden, quadriere das Ergebnis und quadriere es nochmals. Das Resultat würde nicht einmal ausreichen, die ungezählten großen und Wei nen Tragödien in Zahlen auszudrücken, die sich in jeder Millisekunde auf allen Planeten des Univer sums abspielten. Ja, dachte Paul, das Leben ist wirklich traurig – nur etwas weniger traurig als das Sterben ...
Die Sonne war untergegangen, und die neun Mon de von Altair V huschten lautlos über den dunklen Himmel. Sie waren nicht groß genug, um neun deut lich voneinander unterscheidbare Schatten zu werfen, sondern bedeckten die Landschaft nur mit einem sil bernen Schimmer. Paul ließ plötzlich seinen Becher fallen und richtete sich auf. Ein junger Mann in zerrissenem Samu kam mit einer Bettelschale in der Hand auf die Veranda zu. Sein Gang kam Paul irgendwie bekannt vor, die hageren Züge erinnerten ihn an ... Paul Marlowe merkte, daß er am ganzen Leibe zitterte. »Oruri grüßt dich«, sagte der Junge. »Der Gruß ist ein Segen«, antwortete Paul mecha nisch. »Gesegnet sind auch jene, die viele Wunder gese hen haben.« Der Junge lächelte. »Ich bin Zu Shan, Shah Shans Bruder. Und ich bin Enka Nes Geschenk für dich.«
17
Es war lange nach Mitternacht. Mylai Tui schlief be reits fest. Paul lag noch immer wach. Zu Shan und die drei anderen Jungen schliefen unter dem Dach des halbfertigen Schulgebäudes, das sie Poul Mer Lo, dem Lehrer, bauen halfen. Seitdem Enka Ne 610. seine spirituale und tempo rale Rolle übernommen hatte, waren fast fünf Monate vergangen. In dieser Zeit hatte er Poul Mer Los Exi stenz hartnäckig ignoriert. Enka Nes Haltung beein flußte seine Ratgeber, die gesamte Verwaltung und die religiösen Orden, die alle ähnlich reagierten. Man hätte glauben können, die wenigen Männer, in deren Händen das Schicksal von Baya Nor lag, hätten plötz lich beschlossen, alles zu vergessen, was sie bisher von diesem unheimlichen Fremden gesehen hatten. Paul konnte sich dieses Verhalten nicht erklären. Er hatte sich zwar Mühe gegeben, nicht die Aufmerk samkeit des neuen Gott-Königs zu erregen, hatte aber weiterhin Neuerungen eingeführt. Die Schule gehörte dazu. Sie hatte eigentlich mit Zu Shan begonnen, der sein erster richtiger Schüler gewesen war. Und als Paul eines Tages durch die Straßen von Baya Nor ging, stieß er auf einen Bettler – ein kleiner Junge von fünf
oder sechs Jahren, der offenbar außergewöhnlich gei stig beschränkt war. Er wußte nicht einmal seinen Namen. Paul war beim ersten Anblick dieses mage ren Kleinen ehrlich gerührt, obwohl Bettler hierzu lande wahrhaftig keine Seltenheit waren, da die är meren Volksschichten ihre Kinder schon frühzeitig auf die Straße schickten, damit sie auf diese Weise zum Unterhalt der Familie beitragen konnten. Aber dieser kleine Junge – obwohl es genügend andere gab, die ihm ähnlich waren – schien eine stumme Beredsamkeit zu besitzen. Er sprach nicht viel mit den Lippen. Die eigentliche Verständigung schien zunächst nur mit den Augen zu erfolgen, de ren Ausdruck eine ganze Geschichte erzählte, die durchaus nicht außergewöhnlich wirkte. Der Junge stammte aus einer kinderreichen Familie, war weder alt noch kräftig genug, um nützliche Arbeiten zu ver richten, und seine Eltern hatten ihn in ihrer Verzweif lung als Bettler auf die Straße geschickt und Oruris Großmut empfohlen, da sie selbst nicht für ihn sorgen konnten. Dann schienen die ausdrucksvollen Augen zu bit ten: »Heb mich auf, nimm mich mit nach Hause. Heb mich auf, nimm mich mit nach Hause.« Paul hatte den Kleinen impulsiv in die Arme genommen und zu Mylai Tui gebracht, die ihn versorgen würde. Der Junge war ein Krüppel und würde nie richtig gehen
können, denn seine Eltern, die für seine Laufbahn als Bettler vorsorgen wollten, hatten ihm beide Beine mehrmals gebrochen, und die Knochen waren völlig schief zusammengewachsen. Paul rief den Kleinen Nemo. Der Junge war nie sehr gesprächig, konnte sich aber trotzdem ausrei chend verständlich machen. Paul stellte erst wesent lich später fest, daß er ein natürlicher Telepath war. Nach Zu Shan und Nemo kam Bai Lut, ein einar miger Junge, der seinen rechten Arm zur Strafe für fortgesetzte Diebereien verloren hatte. Und nach Bai Lut kam Tsong Tsong, der mehr tot als lebendig aus dem Kanal des Lebens gefischt worden war; er konn te oder wollte sich nicht an Einzelheiten seiner Ver gangenheit erinnern – obwohl er mit etwa elf Jahren keine allzu bedeutsame Vergangenheit hinter sich haben konnte. Diese vier waren die gesamte Schülerschaft von Paul Marlowes Extraterrestrische Akademie für junge Gentlemen. Paul Marlowe ging unruhig in seiner Schlafkam mer auf und ab, starrte die Öllampe an, die vor dem Hausaltar flackerte, und dachte an seine Schule und die dort gemachten Fortschritte – oder die teilweisen Mißerfolge. Er dachte an die vielen Stunden, die er damit verbracht hatte, seinen Schülern zu erklären, daß die Erde nicht flach, sondern rund sei. Er dachte
an die unendlich vielen getrockneten Kappablätter, auf die er mit Holzkohle einzelne Buchstaben und Wörter geschrieben hatte, um seinen Schülern zu zei gen, daß es möglich war, Wörter aus einzelnen Be standteilen zusammenzusetzen. Dazu hatte er einige Buchstaben des lateinischen Alphabets in ihrer Laut bedeutung verändert und sich an die rein phoneti sche Schreibweise gehalten. Aber seine Schüler – von Nemo abgesehen, der be reits seinen Namen und einige andere Wörter schrei ben konnte – schienen einfach nicht begreifen zu können, daß die seltsamen Zeichen, die ihr Lehrer auf Kappablätter malte, in bestimmter Reihenfolge be stimmte Bedeutungen haben konnten. Und selbst wenn sie den Zweck dieser Übung erfaßt hätten, wä ren sie vermutlich der Meinung gewesen, das alles sei ein Spiel, an dem man sich beteiligte, um Poul Mer Lo bei guter Laune zu halten. Auf anderen Gebieten, die praktischer und amü santer waren, hatte er jedoch einige Erfolge erzielt. Zu Shan baute mit Vorliebe kleine Segelflugzeuge, Bai Lut war Spezialist für Drachen, und Tsong Tsong hat te mit einiger Unterstützung durch Paul eine gut funktionierende Windmühle gebaut. Die Jungen schienen von der Idee fasziniert zu sein, den Wind für ihre Zwecke nutzbar machen zu können. Das war etwas, das sie verstanden. Und Paul
überlegte sich manchmal, ob es nicht schon genügte, den Einwohnern von Baya Nor das Rad und die Nutzbarmachung des Windes gezeigt zu haben. Was sollte er noch tun? Was konnte er noch tun? Er wußte es nicht. Er wußte nicht einmal, ob der neue Gott-König ihn wirklich ignorierte oder nur darauf wartete, daß der Fremde, den sein Vorgänger unerklärlicherweise gefördert hatte, endlich einen Fehler machte, der seine Hinrichtung rechtfertigte. Diese Ungewißheit beunruhigte Paul Marlowe al lerdings nicht so sehr wie das Gefühl seiner eigenen Unzulänglichkeit, der Vergeblichkeit seiner Bemü hungen und vor allem seiner völligen Isolierung. In letzter Zeit dachte er wieder öfters an die Erde zu rück. Er lebte wieder mehr in der Vergangenheit und dachte nur selten an die Zukunft. Er träumte von der Erde, er dachte an die Erde, er sehnte sich nach der Erde. Gelang es ihm nicht, sich einer Art geistiger Diszi plin zu unterwerfen und die Gedanken an die Erde aus dem Vordergrund seines Bewußtseins zu ver drängen, würde er früher oder später wahnsinnig werden. Und das wäre ein trauriger Witz – ein ver rückter Psychiater als einziger Überlebender der Ex pedition zu Altair V. Mylai Tui seufzte im Schlaf. Paul blieb stehen und überlegte sich, daß er lieber ebenfalls schlafen mußte,
anstatt sich mit Gedanken dieser Art zu quälen. Er betrachtete Mylai Tui im schwachen Licht der Öllam pe und stellte fest, daß sie in letzter Zeit etwas dicker geworden war. Dann legte er sich neben sie und schloß die Augen. Er konnte nicht schlafen. Visionen der Erde be herrschten seine Gedanken. Er konzentrierte sich auf die neue Schule und versuchte auszurechnen, wie lange es dauern würde, bis er sie mit Hilfe der vier Jungen, von denen zwei Krüppel waren, endlich fer tiggestellt hatte. Vielleicht hatte Enka Ne 610. inzwischen den Op fertod gefunden. Oder Poul Mer Lo war in einen Zu stand melancholischer Gleichgültigkeit versunken, aus dem es keine Rückkehr gab. Bei Tagesanbruch lag er noch immer mit offenen Augen auf seinem Bett und starrte die niedrige Decke der Schlafkammer an.
18
Zwei Arbeiter hatten eben eine Ladung Balken ge bracht, die für den Dachstuhl des kleinen Schulgebäu des bestimmt waren. Poul Mer Lo stellte befriedigt fest, daß die Balken auf einem vierrädrigen Wagen trans portiert worden waren, den zwei Männer zogen. Und er stellte mit noch größerer Befriedigung fest, daß die Arbeiter ganz selbstverständlich mit ihrem Wagen umgingen, als seien ihnen Fahrzeuge dieser Art nicht erst seit Monaten, sondern seit Jahren vertraut. Poul Mer Lo – dies war einer der Tage, an dem er mit der Rolle des Lehrers Poul Mer Lo zufrieden war – fragte sich, wie lange es noch dauern würde, bis einer der Eingeborenen auf die geniale Idee kam, die bisher star re Vorderachse drehbar zu lagern, was die Fahreigen schaften des Wagens erheblich verbessern mußte. Aber vielleicht war ein Lagerzapfen, dem zwangs läufig eine bewegliche Deichsel folgen würde, noch eine zu revolutionäre Neuerung – so revolutionär, wie es ein Ausgleichgetriebe für europäische Kut schenbauer des achtzehnten Jahrhunderts gewesen wäre. Vielleicht würde es noch einige Generationen dauern, bis die Bayani selbst Verbesserungen erfan den, die dieses Transportmittel, das ihnen der Frem de geschenkt hatte, zweckmäßiger und vielseitiger
machten. Poul Mer Lo hatte sich bereits überlegt, daß es wenig sinnvoll war, ihnen diese Arbeit abzuneh men, weil dann kein Anreiz zu eigenen Erfindungen gegeben war. Der Morgen war warm und sonnig. Nachdem die Arbeiter das Holz abgeladen hatten, ruhten sie sich eine Weile aus, wischten sich den Schweiß von der Stirn und betrachteten mit offensichtlicher Verwun derung das verrückte Haus, das zwei Jungen und zwei Krüppel bauten. Poul Mer Lo bezahlte den ver einbarten Kupferring und nahm die Ergebenheitsbe teuerungen der Männer entgegen. Dann sagte einer von ihnen etwas verlegen: »Herr, was ist dieses Gebäude, das die Verlorenen für dich errichten? Ist es vielleicht ein Tempel für die Götter deiner Heimat?« »Es ist kein Tempel«, erklärte Poul Mer Lo ihm, »sondern eine Schule.« Da es in der Sprache der Ein geborenen kein entsprechendes Wort gab, benützte er einfach den englischen Ausdruck dafür. »Eine Schuh-le?« »Richtig«, antwortete Poul Mer Lo ernsthaft. »Eine Schule.« »Und welchen Zweck soll diese Schuh-le erfüllen, Herr?« »Hier sollen Kinder in allen möglichen Künsten un terwiesen werden.«
Der Bayani kratzte sich am Kopf und schien ange strengt nachzudenken. »Herr, lernt nicht der Sohn des Jägers die Kunst des Jagens und der Sohn des Holzschnitzers die Kunst des Schnitzens?« »Ganz recht«, bestätigte Poul Mer Lo. »Dann ist diese Schuh-le überflüssig, Herr«, fuhr der Bayani triumphierend fort, »denn die Jungen ler nen aus dem Beispiel der Alten – das ist das Wesen des Lebens.« »Du hast recht«, antwortete Poul Mer Lo. »Aber ich bitte dich, folgendes zu überlegen: Diese Kinder sind ohne Väter, von denen sie lernen könnten. Und die Künste, in denen sie hier unterwiesen werden sollen, sind Künste, die ihre Väter nie beherrscht haben.« Der Bayani war offensichtlich verblüfft. »Jeder weiß, daß Oruri die Verlorenen liebt und ihnen eines Tages schenkt, was sie nach seinem Ratschluß zu empfangen haben ... Aber, Herr, ist es nicht möglich, daß diese neuen Künste gefährlich sind?« »Neue Künste können in der Tat gefährlich sein«, stimmte Poul Mer Lo zu, »aber das kann man auch von alten Künsten behaupten. Die Schule ist nur ein Mittel, durch das die Verlorenen mit Oruris Segen vielleicht etwas Weisheit gewinnen können.« Der Bayani schüttelte den Kopf, meinte jedoch höf lich: »Weisheit ist gut zu haben, Herr – aber Enka Ne ist doch die Quelle aller Weisheit?«
»Enka Ne ist ohne Zweifel die größte Quelle der Weisheit in Baya Nor«, erwiderte Poul Mer Lo vor sichtig, »aber es ist auch gut, daß gewöhnliche Men schen nach geringerer Weisheit streben, nicht wahr?« Der Arbeiter schien keineswegs überzeugt zu sein. »Herr, es steht uns Armen nicht an, diese Dinge zu beurteilen ... Oruri sei mit dir.« Er gab seinem Helfer ein Zeichen, und die beiden Männer gingen an ihren Wagen. »Oruri sei mit euch«, antwortete Poul Mer Lo. Er sah den Männern nach, als sie ihren Wagen über den Weg der Arbeit zur Dritten Straße der Götter zogen. Dann wandte er sich ab und ging zu den vier Jungen hinüber, um ihnen Anweisungen für den Bau des Dachstuhls zu geben und dabei selbst Hand anzule gen. Etwa zwei Stunden später begann die große Mit tagspause, und Poul Mer Lo ruhte sich im Schatten des Gebäudes aus, als Nemo auf ihn zukroch. Der arme Junge bewegte sich mühsam auf Händen und Füßen. Auf seinem intelligenten Gesicht stand ein verwirrter Ausdruck. »Herr, ich darf mit dir sprechen?« fragte er höflich. »Ja, Nemo, du darfst mit mir sprechen.« Der Junge ließ sich seufzend neben Poul Mer Lo nieder. »Herr, in der vergangenen Nacht war mein Kopf
mit seltsamen Wesen und seltsamen Stimmen gefüllt. Ich mache mir deswegen Sorgen, denn es heißt, daß alle, die den Stimmen der Nacht lauschen, wahnsin nig werden.« Poul Mer Lo betrachtete ihn neugierig. »Erzähl mir von den Wesen.« »Herr, ich weiß nicht einmal, ob sie Tiere oder Menschen waren«, sagte Nemo. »Sie waren von ei nem seltsamen Stoff umgeben, der das Sonnenlicht auffing und zu Feuer wurde, wie es zuweilen ge schieht, wenn man abends am Kanal des Lebens sitzt und die Wasserfläche beobachtet. Sie waren groß, diese Wesen, und sie gingen auf zwei Beinen. Die Haut ihrer Köpfe war glatt und hart wie Ringgeld. In ihren Köpfen trugen sie Waffen oder Werkzeuge. Ihr Anblick war in der Tat schrecklich. Und sie hatten ih ren Gott bei sich.« »Ihren Gott?« wiederholte Poul Mer Lo verständ nislos. »Ja, Herr, denn dieses Wesen kann nur ein Gott gewesen sein.« »Beschreibe ihn mir«, forderte Poul Mer Lo den Jungen auf. »Er war größer als viele, viele Männer übereinan der, Herr. Er kam vom Himmel herab und ging dabei auf einer Feuersäule, die alles Erdreich versengte und es in große Dampfwolken und Ströme von Wasser
verwandelte. Aber dann, als der Dampf verschwun den und das Wasser abgeflossen war, öffnete der Gott seinen Bauch und schickte seine Kinder aus – die, de ren Haut im Sonnenschein wie Feuer war.« Poul Mer Lo zitterte heftig. Auf seiner Stirn bilde ten sich große Schweißperlen. Er hatte dieses Bild ebenso deutlich vor Augen wie Nemo, der es ihm ge schildert hatte. »Weiter«, sagte er heiser. »Erzähl mir mehr von diesen Wesen.« »Herr, es gibt nicht mehr zu erzählen. Ich habe sie gesehen und war erschrocken.« »Was war mit den Stimmen?« Nemo runzelte nachdenklich die Stirn. »Die Stim men schienen nicht aus den Wesen zu kommen, Herr. Sie kamen aus dem Gott.« »Kannst du dich daran erinnern, was sie gesagt ha ben, Nemo? Das ist sehr wichtig.« Der Junge lächelte. »Die Stimmen haben mich zu mindest nicht erschreckt, Herr, denn sie haben vor al lem in Rätseln gesprochen.« Poul Mer Lo wischte sich den Schweiß von der Stirn und zwang sich zur Ruhe. Wenn er jetzt nicht ruhig blieb, erfuhr er vielleicht nie, was Nemo sonst noch gehört hatte. Und es war wichtig, daß er alles er fuhr, was der Junge wußte. Es war wichtiger als alles andere in seinem Leben.
»Erzähl mir von diesen Rätseln, Nemo, denn viel leicht verstehe ich sie.« Nemo starrte ihn neugierig an. »Herr, bist du krank oder müde? Ich möchte dich nicht mit meinen unbe deutenden Gedanken belästigen, wenn es dir nicht gutgeht.« Poul Mer Lo beherrschte sich mühsam. »Sei unbe sorgt, Nemo, mir geht es gut. Deine Geschichte inter essiert mich wirklich ... Was für Rätsel hast du ge hört?« Nemo lachte. »Alle Menschen sind Brüder«, sagte er. »Das ist ein gutes Rätsel, nicht wahr, Herr?« »Ja, Nemo, das ist wirklich ein sehr gutes Rätsel.« »Es gibt ein Land jenseits des Himmels, in dem vie le Menschen leben ... Auch das ist lustig.« »Richtig«, stimmte Poul Mer Lo zu. »War das alles, Nemo?« »Nein, Herr. Ich habe noch ein Rätsel gehört – das lustigste überhaupt. Eines Tages wird der Gott mit dem Feuerschweif alle Kinder aller Länder jenseits des Himmels zu einer großen Familie vereinen.« »Nemo«, sagte Poul Mer Lo leise, »du hast einen wunderbaren Traum geträumt. Ich verstehe nicht, weshalb du alles das gesehen und gehört hast. Aber ich glaube, daß viel davon wahr ist, und ich hoffe, daß du noch oft solche Träume hast. Falls es noch mals dazu kommt – falls Oruri dir wieder einen
Traum dieser Art schenkt –, hoffe ich sehr, daß du mir am nächsten Tag erzählst, woran du dich noch er innerst.« Nemo schien erleichtert zu sein. »Dieser Traum bedeutet also nicht, daß ich wahnsinnig werde?« Poul Mer Lo lachte – und bemühte sich vergeblich, den hysterischen Klang seiner Stimme zu unterdrük ken. »Nein, du wirst nicht wahnsinnig, Nemo. Deine Träume sind eine große Gabe Oruris.« An dieser Stelle trat Mylai Tui mit einem Becher Kappaschnaps aus dem Haus. Nemo entfernte sich bei ihrem Anblick sofort. Er und Mylai Tui konnten sich gegenseitig nicht ausstehen. Ihr Haß beruhte auf Eifersucht, denn beide wollten den Fremden mög lichst für sich allein haben. »Paul«, sagte Mylai Tui fröhlich auf englisch, »ich möchte, daß du diesen Becher austrinkst. Ich möchte, daß du trinkst, wie ich jetzt trinke, damit du meine Freude teilst.« Sie nippte an dem Becher und reichte ihn dann Paul, der ihn erstaunt entgegennahm. Mylai Tui war erstmals seit langen Wochen wieder fröhlich. »Von welcher Freude sprichst du?« fragte er unsi cher. »Oruri ist uns gnädig gewesen«, erklärte Mylai Tui ihm. »Das verstehe ich nicht.«
Mylai Tui lachte. »Herr, deine Weisheit ist größer als deine Beobachtungsgabe.« Sie drehte sich vor ihm im Kreis. »Ist dir noch nicht aufgefallen«, fuhr sie dann fort, »daß ich ganz offensichtlich ein Kind er warte?«
19
Im siebenten Monat der Regierung des Gott-Königs Enka Ne 610. geschah es, daß die Barbaren aus dem Urwald, die das Volk von Baya Nor Lokhali nannte, den Tempel Baya Lys überfielen. Obwohl die Reise nach Baya Lys auf dem Landweg fast drei Tage dauerte, war der Tempel zu Wasser auf dem Kanal des Lebens in einem Tag zu erreichen. Die Entweihung des Tempels und die Ermordung der etwa vierzig Priester, die dort gelebt hatten, war al lein schlimm genug, aber die Bayani hatten auch den Eindruck, dieser kriegerische Stamm komme der hei ligen Stadt allmählich gefährlich nahe, so daß energi sche Abwehrmaßnahmen erforderlich waren. Folglich erklärte der Gott-König einen heiligen Krieg. Das stehende Heer von Baya Nor schwoll durch Freiwillige rasch aufs Dreifache seines ge wohnten Umfangs an: und als das Orakel feststellte, Zeitpunkt und Umstände des Unternehmens begün stigten einen Sieg, brachen zweitausend Männer zu einer Strafexpedition gegen die Wilden auf. Poul Mer Lo hatte die Bitte ausgesprochen, den Zug begleiten zu dürfen. Er hatte allerdings nicht die Absicht, sich an den blutigen Vergeltungsmaßnah men zu beteiligen, sondern erinnerte sich dabei vor
allem an den letzten Abend der Pilgerfahrt, auf der er Enka Ne 609. hatte begleiten dürfen. Als er schlaflos in einer der Gästezellen von Baya Lys gelegen hatte, war Shah Shan zu ihm gekommen und hatte ein Bündel mitgebracht, das einen Ge sichtsschutz aus Plastik, zwei Atomhandgranaten und ein zertrümmertes Funkgerät enthielt. Diese Dinge, hatte Shah Shan ihm damals erklärt, seien in der Umgebung von Baya Lys gefunden worden – in einem Gebiet, das an der Grenze zum Territorium der Lokhali lag. Als Poul Mer Lo vorgeschlagen hatte, Enka Ne sol le mit den Lokhali verhandeln und Nachforschungen über das Schicksal der Besatzung der Gloria Mundi anstellen, hatte Shah Shan diese Idee sofort zurück gewiesen. Die Lokhali lebten nur für den Krieg, hatte er Paul versichert. Es war nicht nur unmöglich, fried liche Beziehungen zu ihnen aufzunehmen, sondern das zivilisierte Volk von Baya Nor hielt es auch für unter seiner Würde, mit diesen Barbaren zu verhan deln. Damit war die Diskussion beendet. Poul Mer Lo hatte seinen Vorschlag nicht wiederholt, weil er ge nau wußte, daß Enka Ne, alias Shah Shan, in derarti gen Angelegenheiten nicht zu überzeugen war. Aber nun hatten die Lokhali den Frieden – oder vielmehr den stillschweigenden Waffenstillstand –
absichtlich und vorsätzlich gebrochen, der zwischen ihnen und den Bayani geherrscht hatte. Das war eine ausgezeichnete Gelegenheit für Paul, vielleicht fest zustellen, ob die Lokhali Überlebende der Besatzung der Gloria Mundi bei sich aufgenommen hatten. Zwölf Menschen waren an Bord gewesen. Paul wußte, was seinen beiden Begleitern zugestoßen war. Aber er hatte nie erfahren, wohin die anderen neun Männer und Frauen verschwunden waren. Der Urwald konn te sie verschluckt haben. Oder die Bewohner des Ur walds. Sie hatten keine Spuren hinterlassen – aber Shah Shan hatte Paul gezeigt, was die Priester von Baya Lys gefunden hatten. Poul Mer Los Bitte wurde abschlägig beschieden. Enka Ne 610. machte sich die Mühe, ihn im Tempel der Weinenden Sonne zu empfangen und ihm per sönlich mitzuteilen, welche Gründe ihn zu dieser Entscheidung bewogen hatten. Dies war das erste- und letztemal, daß Poul Mer Lo in den Genuß einer Audienz bei Enka Ne 610. kam. Der neue Gott-König war im Gegensatz zu seinem jugendlichen Vorgänger ein alter Mann. Das prächti ge Federkleid schien bleischwer auf seinem gebeug ten Rücken zu lasten. Sein Vogelschrei klang zittrig und heiser. Er trat wenig selbstbewußt auf und litt of fenbar unter der Verantwortung, die ihm so plötzlich zugefallen war.
»Ich höre, daß du ein Lehrer bist, Poul Mer Lo«, hatte er gesagt. »Ja, Herr, das ist richtig.« »Die Aufgabe eines Lehrers besteht daraus, andere zu lehren, nicht wahr?« »Ja, Herr.« »Dann lehre also, Poul Mer Lo, und überlasse wich tigere Dinge denen, die dafür bestimmt sind, mit ih nen umzugehen. Der Jäger muß bei seinen Pfeilen bleiben, der Krieger bei seinem Dreizack und der Lehrer bei seiner – wie heißt das Wort, das du uns gegeben hast? – Schuh-le.« Dann stieß Enka Ne seinen klagenden Vogelschrei aus, der das Ende der Audienz bedeutete. Als Poul Mer Lo sich zurückzog, hörte er, wie der Gott-König sich vergebens bemühte, einen Hustenanfall zu un terdrücken. Die Strafexpedition gegen die Lokhali war kurz und erfolgreich. Nach elf Tagen kehrte das siegreiche Heer mit fast hundert Gefangenen nach Baya Nor zu rück. Enka Ne trat in der heiligen Stadt vor die Gefange nen und hielt eine lange Rede, von der sie jedoch kein Wort verstanden. Dann befahl er, daß jeder achte Mann ohne Waffen und Lebensmittel freigelassen werden sollte, damit er – falls er unwahrscheinliches Glück hatte – in sein Heimatland zurückkehren konn
te, um dort Enka Nes Weisheit und Stärke zu ver künden. Die übrigen Gefangenen sollten an der Vier ten Straße der Götter gekreuzigt werden – als ab schreckendes Beispiel für alle, die etwa ebenfalls mit dem Gedanken spielten, die Tempel der Bayani zu überfallen und dadurch Oruris Zorn herauszufor dern. Am Tag der Kreuzigung, der zum öffentlichen Fest- und Feiertag erklärt worden war, folgte Poul Mer Lo dem Beispiel der Einwohner von Baya Nor und machte einen Spaziergang entlang der Vierten Straße der Götter. Er gab sich Mühe, die bedauerns werten Opfer nur mit den Augen eines Wissenschaft lers zu sehen, während er von einem Kreuz zum nächsten ging. Aber dieser Versuch blieb erfolglos. Der Gestank und die Schmerzen und das Geschrei waren zuviel für ihn. Er merkte nicht einmal, daß die Lokhali fast alle größer als gewöhnliche Bayani waren und daß sie meistens an beiden Händen vier Finger und einen Daumen besaßen. Als er jedoch an einem vorbeiging, dessen Ende of fensichtlich dicht bevorstand, hörte er einige Worte – halb gemurmelt und halb geseufzt –, die ihn wie ein Keulenschlag trafen und in ihm Visionen einer Welt wachriefen, die er nie wieder zu Gesicht bekommen würde.
»Grüß Gott«, schluchzte der Lokhali. »Grüß Gott! Thank you ... Thank you ... Enchanté de faire votre con naissance ... Mann ... Frau ... Guten Morgen ... Good night. Hallo! Hallo! Hallo!« »Wo sind die Fremden?« fragte Paul auf bayani. Keine Antwort. »Where are the strangers?« wiederholte er auf eng lisch. Auch diesmal keine Reaktion. »Où sont les étrangers?« fragte er schließlich auf französisch. Der Lokhali zuckte plötzlich krampfhaft zusam men. Dann stieß er einen lauten Schrei aus und blieb schlaff am Kreuz hängen. Poul Mer Lo griff in seiner Enttäuschung nach den Beinen des Toten und zog mehrmals heftig daran. Aber das Wunder der Wiederauferstehung blieb in diesem Fall aus.
20
Paul Marlowe war mit seiner ›Extraterrestrischen Akademie‹ nicht mehr ganz so unzufrieden wie zu vor. In den letzten Monaten hatten Zu Shan und Ne mo beachtliche Fortschritte gemacht. Nachdem es Paul endlich gelungen war, sie davon zu überzeugen, daß es Vorrecht und Vergnügen jedes intelligenten Menschen war, soviel wie möglich über die Welt, in der er lebte, in Erfahrung zu bringen, weil dieses Wissen ihm die Möglichkeit gab, vieles zu erreichen, das auf andere Weise unerreichbar bleiben mußte, waren die beiden Jungen von einem geradezu uner sättlichen Wissensdurst erfüllt. Die beiden hatten plötzlich beschlossen, den gan zen unnötigen Ballast ihrer sterilen Zivilisation ab zuwerfen, der nur ihr Fortkommen behinderte. Aus gebildeten Wilden wurden mit einem Schlag primiti ve Wissenschaftler. Sie akzeptierten nicht mehr wi derspruchslos, was Poul Mer Lo ihnen erzählte. Sie diskutierten darüber, versuchten es zu widerlegen und stellten peinliche Fragen. Nach irdischen Maß stäben war Zu Shan etwa fünfzehn – drei oder vier Jahre jünger als sein verstorbener Bruder –, und Ne mo konnte nicht älter als sechs sein. Aber das Leben in den Straßen von Baya Nor hatte die beiden frühzei
tig zu gereiften Menschen gemacht, und als sie end lich die Bedeutung des Ausspruchs ›Wissen ist Macht‹ erfaßten, lernten sie überraschend schnell und ohne Anstrengung. Leider ließ sich das gleiche nicht auch von Bai Lut oder Tsong Tsong behaupten. Den beiden fehlte der innere Drang. Ihre Gehirne konnten einfach nicht mit Höchstgeschwindigkeit arbeiten. Dem Temperament nach waren sie Holzhacker und Wasserträger. Sie be saßen keine Phantasie – und ihnen fehlte die seltsame Begabung, kühn den Sprung ins Ungewisse zu wa gen. Sie gaben sich damit zufrieden, mit Spielsachen zu spielen, während Zu Shan und Nemo, die ihrer seits Spielsachen keineswegs verachteten, auch mit Ideen spielen wollten. Zu Shan spürte als erster, daß sein Lehrer ihm mehr zu bieten hatte, als er auf Bayani ausdrücken konnte, und begann deshalb Englisch zu lernen. Ne mo wollte nicht hinter ihm zurückstehen und machte sich ebenfalls daran, diese ›tote Sprache‹ zu lernen, die Poul Mer Lo sie bereitwillig lehrte. Englisch gab ihnen nicht nur die Möglichkeit, neue Dinge genauer und sicherer zu beschreiben, sondern vermittelte den beiden Jungen auch das Gefühl einer gewissen Bedeutung, weil sie jetzt die Sprache des Fremden beherrschten, die außer ihnen keiner in Baya Nor sprach. Deshalb war es nicht weiter ver
wunderlich, daß die drei fast unzertrennlich wurden, seitdem sie eine gemeinsame Sprache entdeckt hat ten, die ihr Geheimnis bleiben sollte. Zu Shan lernte nie so gut Englisch wie sein Bruder, konnte sich aber schon nach kurzer Zeit verständlich machen; Nemo war zwar jünger, hatte aber den Vor teil einer besonderen Begabung auf seiner Seite – er hatte im Lauf der Zeit festgestellt, daß er sich darauf konzentrieren konnte, die Gedanken anderer Men schen zu lesen. Eines Abends saßen die drei Freunde auf der Ve randa des Hauses, und Paul trank langsam seinen gewohnten Becher Kappaschnaps. Der Tag war an strengend, aber immerhin erfolgreich gewesen, denn sie konnten heute abend die Fertigstellung des Schul gebäudes feiern. Es enthielt Stühle und Tische, eine Töpferscheibe, einen kleinen Brennofen, verschiedene Wandkarten aus Kappablättern und einige Werkzeu ge, die Zu Shan und Nemo entworfen hatten. Das Gebäude enthielt aber auch vier Betten und war da mit das erste Internat von Baya Nor. »Du blickst in die Ferne, Paul«, sagte Zu Shan. »Woran denkst du?« Nemo lächelte. »Er denkt an viele Dinge«, verkün dete er wichtigtuerisch. »Er denkt an Sterne, an die Worte eines sterbenden Lokhali, an das Raumschiff, in dem er nach Altair V gekommen ist, und an eine
Frau mit weißer Haut. Ich bin auf seinen Gedanken geritten, aber er hat so viele verschiedene, daß ich immer wieder herunterfalle.« Nemos Lieblingsausdruck für die Ausnutzung sei ner telepathischen Fähigkeiten war ›auf Gedanken reiten‹. Seiner Meinung nach war dies eine zutreffen de Beschreibung, denn er hatte bald festgestellt, daß die meisten Menschen nicht logisch von einem Ge danken zum anderen fortschritten, sondern oft große Sprünge machten – deshalb konnte er ihre Gedanken nicht lange lesen, sondern ›fiel herunter‹, wenn ihn ein Sprung überraschte. Paul lachte, als Nemo seine Gedanken enthüllte. »Eines Tages bringt dich deine Gedankenleserei noch in Schwierigkeiten«, meinte er. »Dann reitest du plötzlich auf einem Gedanken, der dir verrät, daß ich dich eben in den Kanal des Lebens werfen will.« »In diesem Fall würde ich versuchen, der Katastro phe zu entgehen«, antwortete Nemo gelassen. »Hast du in letzter Zeit wieder von dem Gott ge träumt, aus dessen Bauch seltsame Kinder gekom men sind?« »Nein, ich habe immer nur den gleichen Traum. In letzter Zeit kommt er recht oft. Ich gewöhne mich allmählich daran.« Paul seufzte. »Ich wünschte nur, du könntest dir angewöhnen, deutlicher zu träumen. Und ich
wünschte, du wüßtest, woher der Traum kommt. Er könnte natürlich auf Einzelheiten beruhen, die du in meinen Träumen siehst.« Nemo schüttelte heftig den Kopf. »Herr«, sagte er, »ich würde es nicht wagen, deine Schlafreisen zu stö ren.« Zu Shan richtete sich plötzlich auf. »Mir ist etwas eingefallen, das Nemos Traum erklären könnte«, sag te er. »Hast du schon von der Legende des Kommens gehört, Paul?« »Nein. Erzähl mir davon.« »Es ist eine Geschichte, die Mütter ihren Kindern erzählen«, fuhr Zu Shan fort. »Sie muß schon sehr, sehr alt sein ... Du weißt natürlich, daß Oruri jede be liebige Gestalt annehmen kann?« »Ja.« »Die Legende beginnt damit, daß es auf Baya Nor – ich meine Altair V – keine Menschen gab. Aber Oruri betrachtete seine Welt und sah, daß sie gut war. Des halb kam er und stand auf einem weißen Berg und blickte über das Land. Und aus seinem großen Glück wurden unzählige Menschen geboren, und sie verlie ßen den Berg, um als Kinder in dem Land zu spielen, das Oruri geschaffen hatte. Oruri steht weiter auf dem Berg und wartet darauf, daß sein Volk diese Spiele satt hat. Dann kehrt es zu ihm zurück, und er trägt es wieder zu der Welt, von der es ursprünglich gekommen ist.«
»Eine gute Legende«, stellte Paul fest und nahm ei nen Schluck aus seinem Becher. »Die Handlung strebt einem Höhepunkt zu, nicht wahr?« »Was soll das heißen, Paul?« »Das heißt nur, daß ich Oruri unwillkürlich als Raumschiff sehe ... Ich denke in letzter Zeit zu oft an Raumschiffe ... Und trotzdem ... Nemo träumt von Wesen in seltsamer Metallkleidung. Und sein Gott sinkt auf einer Feuersäule herab, wie es ein Raum schiff ebenfalls tun würde. Und der Gott öffnet seinen Bauch, um ...« »Paul.« »Ja, Zu Shan?« »Unsere Jäger erzählen gelegentlich von einem weißen Berg, der viele Tagereisen von Baya Nor ent fernt im Norden des Landes liegen soll. Sie nennen ihn den Tempel der Weißen Dunkelheit. Ihrer Schil derung nach wird er von eigenartigen Stimmen be schützt, und ein Mensch, der sich ihm nähert, wird von diesen Stimmen entweder zur Flucht oder zum Wahnsinn getrieben. Wer sich in die Nähe des Berges wagt, wird allmählich steif und muß sterben.« Paul Marlowe nahm einen großen Schluck aus sei nem Becher. »Das überrascht mich nicht, Zu Shan. Das überrascht mich keineswegs ... Du hast noch nie Schnee gesehen, nicht wahr?« »Nein, aber du hast uns davon erzählt. Ich bezwei
fle allerdings, daß irgend jemand in Baya Nor schon einmal Schnee gesehen hat.« Paul war in bester Laune. Vielleicht wirkte der Kappaschnaps heute besonders gut. Oder vielleicht hatte er eben ... »Wißt ihr«, sagte er nach einer kurzen Pause, »ich glaube, daß ihr beide Geschichte machen werdet. Ich glaube fast, daß ihr mit eigenen Augen Schnee sehen werdet.« Er runzelte nachdenklich die Stirn. »Ich fra ge mich nur, wieviel Ringgeld ich vermutlich brau che, um ein halbes Dutzend wirklich gute Jäger an zuwerben.« »Paul«, antwortete Zu Shan ernst, »in ganz Baya Nor gibt es keine sechs Jäger, die bereit wären, für al les Ringgeld in den Schatzkammern des Gott-Königs durch das Land der Lokhali zum Tempel der Weißen Dunkelheit zu ziehen.« »Was ich habe, ist besser als Ringgeld«, versicherte Paul ihm. »Es wird allmählich Zeit, daß ich euch mein Fegergewehr zeige. Dein Bruder, der mir gestat tet hat, es in meinem Haus zu behalten, war der ein zige Bayani, der je gesehen hat, was sich damit aus richten läßt.«
21
Bai Lut, der einarmige Junge ohne große Intelligenz oder Initiative, veränderte unbeabsichtigterweise den Lauf der Geschichte – nicht nur auf Altair V, sondern auch auf vielen anderen Planeten, die er nicht einmal dem Namen nach kannte. Er veränderte den Lauf der Geschichte, indem er einen Drachen baute. Es war ein schöner Drachen aus federleichtem Yanaholz und mit einer Bespannung aus miteinander verwobenen Schilffasern. Bai Lut hatte viele Tage lang an diesem Drachen gearbeitet, der die Form eines riesigen GuyanisSchmetterlings hatte. Bai Lut erfüllte sich damit einen langgehegten Wunschtraum. Da er nur einen Arm besaß, mußte er angestrengt mit Zehen und Fingern arbeiten. Als der Drachen endlich fertig war, betrach tete er ihn fast ehrfürchtig. Er war wirklich schön. Bai Lut betete um einen leichten gleichmäßigen Wind, und sein Gebet wurde erhört. Bai Lut hatte et wa dreihundert Meter ›Schnur‹ aus mühsam verkno teten Musahaaren – die Schnur hatte ihn mehr Arbeit als der Drachen selbst gekostet –, an der er jetzt den Drachen übe dem Kanal des Lebens steigen ließ, bis er fast über der heiligen Stadt schwebte. Vielleicht hatte Bai Lut jedoch zu flehentlich um
Wind gebetet. Denn als der Drachen so hoch gestie gen war, wie die Schnur reichte, kam ein kräftiger Windstoß – und die Schnur riß. Bai Lut hatte den Drachen immerhin so gut kon struiert, daß er nicht sofort in den Kanal des Lebens herabsank. Statt dessen beschrieb er langsam elegante Kurven, verlor nur allmählich Höhe und schwebte fast zielbewußt auf die heilige Stadt zu. Kurze Zeit später war er nur noch ein dunkler Punkt am Him mel. Dann verlor Bai Lut ihn endgültig aus den Au gen. Als der Wind wenig später nachließ, fiel auch der Drachen zu Boden. Aber Bai Lut wußte nicht, wo er ihn suchen sollte. Er war traurig, denn er ahnte, daß er den herrlichen Drachen nie wiedersehen würde. Und diese Ahnung sollte sich bestätigen, denn der Drachen war im Innenhof des Tempels der Weinen den Sonne gelandet, und Bai Lut wußte zum Glück nicht, daß er ausgerechnet auf dem Opferstein lag. Am nächsten Tag unterrichtete Poul Mer Lo seine vier Schüler in der Schule und nahm mit ihnen die Grundzüge der Mechanik durch, die er am Beispiel des Hebels demonstrierte. Er hatte eben vorgeführt, daß ein Mann mit Hilfe dieses Instruments die Arbeit vieler Männer tun konnte und wollte eben die Be rechnung der dabei auftretenden Kräfte erläutern, als Nemo ihn unterbrach.
»Herr«, sagte der verkrüppelte Junge, »Enka Nes Krieger nähern sich auf dem Weg der Arbeit.« Poul Mer Lo starrte den Kleinen verwundert an. Er wunderte sich nicht nur über die Unterbrechung, sondern auch über die Tatsache, daß Nemo ihn so formell angesprochen hatte. »Enka Nes Krieger sind oft auf dem Weg der Ar beit zu sehen, Nemo. Was hat das mit unserem Un terrichtsthema zu tun?« »Herr«, fuhr Nemo sichtlich erregt fort, »ich habe die Gedanken ihres Hauptmanns verfolgt. Die Krie ger sind hierher unterwegs. Sie haben es sehr eilig. Sie müssen bald eintreffen, glaube ich.« Poul Mer Lo bemühte sich, ruhig zu erscheinen, obwohl er zutiefst erschrocken war. »In diesem Fall können wir nur warten und inzwischen weiter über den richtigen Gebrauch des Hebels sprechen.« »Paul«, warf Nemo ein, »ich sehe etwas sehr Merkwürdiges in den Gedanken des Hauptmanns. Er denkt an einen Guyanis-Schmetterling und an den Tempel der Weinenden Sonne ... Mehr ist vorläufig nicht zu erkennen ... Ich ... ich kann seine Gedanken nicht weiter verfolgen.« »Du brauchst keine Angst zu haben, Nemo«, versi cherte Paul ihm ruhig. »Wir sind alle unschuldig und haben deshalb nichts zu befürchten.« Aber das war ein Irrtum.
Ein Bayani-Krieger erschien in der Tür des Klas senzimmers. Er warf einen kurzen Blick auf die vier Jungen und wandte sich dann an Paul. »Oruri grüßt dich«, sagte der Krieger. »Der Gruß ist ein Segen«, antwortete Paul. »Herr, ich bin Stimme und Hand unseres GottKönigs Enka Ne. Wer von deinen Verlorenen hat den Guyanis geschaffen, der kein Guyanis war?« »Ich weiß nicht, was ...«, begann Paul. Aber Bai Lut war bereits aufgesprungen. »Ich habe den Guyanis gemacht«, verkündete er stolz. »Er ist wunderbar geflogen, aber leider verschwunden, als die Schnur riß. Kann es sein, daß Enka Ne ...« »Enka Ne sieht alles, was sehenswert ist«, unter brach ihn der Krieger. »Der Flug des Guyanis' stand unter einem schlechten Stern ... Stirb jetzt – und lebe ewig.« Er holte aus und schleuderte mit einer geübten Armbewegung seinen kurzen Dreizack. Die scharfen Spitzen der Waffe bohrten sich tief in Bai Luts Kehle. Er fiel rückwärts zu Boden, stieß einen gurgelnden Schrei aus und lag still. Paul blieb zunächst wie erstarrt an seinem Platz. Er erwiderte die erschrockenen Blicke der drei Kinder und sah dann zu dem Bayani hinüber. Inzwischen hatten weitere Krieger das kleine Schulgebäude be treten. »Herr«, fuhr der Hauptmann fort, »es ist Enka Nes
Wille, daß du und deine Verlorenen dieses Haus ver lassen.« »Aber das ist doch ...« »Herr«, wandte der Bayani streng ein, »Enka Ne hat gesprochen. Wer sich seinem Befehl widersetzt, hat das Ende seiner Tage erreicht.« Paul starrte hilflos Zu Shan und Nemo und Tsong Tsong an, senkte dann den Kopf und betrachtete den armen Bai Lut, der tot auf dem Fußboden lag, und sah schließlich zu den zehn oder zwölf Kriegern hin über, die geduldig hinter ihrem Hauptmann warte ten. »Kommt«, forderte er die Jungen dann mit müh sam beherrschter Stimme auf, »wenn Enka Ne be fiehlt, haben wir zu gehorchen.« Er führte sie an den Kriegern vorbei ins Freie hin aus. Dort blieben sie etwa zwanzig Meter von der Schule entfernt stehen und hörten und sahen, wie Enka Nes Männer Stühle, Tische und das gesamte Unterrichtsmaterial zertrümmerten. Dann hörten sie den Hauptmann befehlen: »Legt Feuer!« Sekunden später erschienen die Krieger in der Tür des Gebäudes, während hinter ihnen die ersten Rauchschwaden durch die Fenster abzogen. Das trockene Holz brannte gut und rasch und laut. Alle mußten vor der Hitze zurückweichen; aber die
Krieger blieben in der Nähe der Brandstätte, bis Bai Luts Scheiterhaufen nur noch aus glühender Asche bestand. Der Hauptmann wandte sich nochmals an Poul Mer Lo. »Enka Nes Wille ist geschehen«, stellte er fest. Hätte Bai Lut seinen Drachen nicht gebaut, wäre die Schnur nicht gerissen, hätte der Junge nicht den Tod in den Trümmern der Schule gefunden, wäre Paul Marlowe vermutlich nie zu dem Entschluß ge langt, die Reise zum Tempel der Weißen Dunkelheit zu wagen. Und es war diese Reise, die den Lauf der Geschich te änderte.
22
Seitdem Mylai Tui wußte, daß sie ein Kind erwartete, war sie glücklicher als je zuvor; und ihr Glück schien im gleichen Verhältnis wie ihr Leibesumfang zu wachsen. Ihr Glück beruhte jedoch nicht nur auf dem Gefühl, endlich die ihr bestimmte biologische Funktion zu er füllen. Sie war glücklich, weil sie den Sohn – es muß te ein Sohn sein, denn ein Mädchen hätte nicht so kräftig gestrampelt – des Mannes unter dem Herzen trug, der mit einem herrlichen Silbervogel aus einem Land jenseits des Himmels gekommen war. Mylai Tui war stolz auf Paul. Er überragte alle ande ren Männer von Baya Nor um Haupteslänge, und ob wohl seine Haut noch immer schrecklich blaß war, stand seine Männlichkeit außer Zweifel – das bewiesen schon seine gewaltigen Muskeln. Ein Mann dieses Schlages mußte einen prächtigen Sohn nach seinem Bild gezeugt haben. Und dann würde Mylai Tui von al len anderen Frauen bewundert und beneidet werden. Ihr Glück und ihre optimistischen Zukunftsvisio nen hielten jedoch nicht lange an. Sie waren an dem Abend beendet, an dem Paul ihr mitteilte, er sei fest entschlossen, eine Reise zum Tempel der Weißen Dunkelheit zu wagen.
»Paul«, bat sie, »das darfst du nicht tun. Bist du so traurig, daß nur der Tod dich in deiner Traurigkeit trösten kann?« »Es hat nichts mit meiner traurigen Stimmung zu tun«, erklärte er ihr geduldig. »Es gibt Geheimnisse, die ich enträtseln möchte. Und ich habe das Gefühl, daß dieser Berg wertvolle Hinweise birgt ... Ich bre che auf, sobald ich ein paar Jäger gefunden habe, die mich begleiten wollen.« »Du findest bestimmt keine«, versicherte Mylai Tui ihm. »Niemand in Baya Nor ist so närrisch, daß er sich in Oruris Arme stürzt, bevor er gerufen wird.« Paul lächelte spöttisch und antwortete: »Mut, Stolz und Geldgier – das sind die Eigenschaften, auf die ich vertrauen kann, wenn ich für diese Reise Begleiter su che. Das ganze Unternehmen appelliert an ihren Mut. Sie fühlen sich in ihrem Stolz herausgefordert, weil ich, der Fremde, mich nicht davor fürchte. Und die zwan zig Kupferringe, die ich jedem der Männer biete, müß ten eigentlich genügen, ihren Mut zu stärken ... Außer dem habe ich noch eine Waffe, die Enka Ne mir gelas sen hat. Wenn ich den Jägern zeige, was sich damit aus richten läßt, werden sie keine Zweifel mehr haben.« »Du müßtest das Gebiet der Lokhali durchqueren, Herr. Die Männer von Baya Nor fürchten die Lokhali nicht – aber sie wagen sich nur in ihr Gebiet, wenn sie als bewaffnetes Heer kommen.«
»Ja, wir müssen das Gebiet der Lokhali durchque ren. Aber mit der Waffe, die ich in meinem Besitz ha be, sind wir so stark wie ein ganzes Heer, Mylai Tui.« »Herr, die Waffe hat nicht verhindert, daß du ge fangen nach Baya Nor gebracht wurdest.« »Du hast selbstverständlich recht.« Paul lachte und wurde sofort wieder ernst. »Aber wer dürfte Oruris Ratschluß anzweifeln?« Mylai Tui schwieg nachdenklich. »Bisher ist noch niemand von dort zurückgekommen«, wandte sie schließlich ein. »Doch, es gibt Männer, die den Berg gesehen haben und gesund zurückgekehrt sind«, versicherte er ihr. Sie schüttelte traurig den Kopf. »Herr, vieles an dir ist mir unverständlich, und ich werde es vielleicht nie erfassen. Wenn es dir gefällt, Oruri aufzusuchen, be vor Oruri dich gerufen hat, will ich mir Mühe geben, diesen Entschluß zu verstehen ... Aber bleibe, Herr, bleibe lange genug, um einen Blick aufs Gesicht dei nes Erstgeborenen zu werfen.« Er nahm ihre Hände. »Mylai Tui, ich weiß, daß es nicht leicht für dich ist, diesen Entschluß zu verste hen. Aber ich finde keine Ruhe, solange meine Fragen nicht beantwortet sind, die mich Tag und Nacht quä len. Diese Reise läßt sich nicht länger aufschieben. Ich muß so bald wie möglich aufbrechen, und ich muß sehen, was es zu sehen gibt. Aber ich kehre wieder
zurück, das verspreche ich dir schon jetzt. Ich kehre zurück, um unser Kind und dich zu sehen ... Wir brauchen nicht länger darüber zu sprechen. Die Ent scheidung ist gefallen. Zu Shan ist auf der Suche nach Jägern, und ich bezweifle nicht, daß er welche finden wird.« Mylai Tui lächelte plötzlich. »Ist es nicht möglich, daß Enka Ne von diesem Wahnsinn erfährt und ihn verhindert?« Paul starrte sie durchdringend an. »Ich achte Enka Nes Macht. Der Gott-König soll sich hüten, meine zu mißachten. Sonst könnte es geschehen, daß große Trauer über Baya Nor kommt.« Drei Tage später brachte Zu Shan gegen Abend vier Jäger in Poul Mer Los Haus. Nach Austausch der üblichen Höflichkeitsbezeigungen hockten die Män ner in einem Halbkreis auf der Veranda, während Mylai Tui Becher mit Kappaschnaps brachte. »Paul«, sagte Zu Shan auf Englisch, damit die Bayani nicht verstanden, was er zu sagen hatte, »wir müssen diese Männer nehmen. Viele andere hätten sich ebenfalls gern die zwanzig Kupferringe verdient, aber diese hier sind die besten. Ich kenne zwei von ihnen, und die anderen beiden sind ihre Freunde. Sie gehören zu den besten Jägern von Baya Nor. Aber noch wichtiger ist vielleicht, daß sie großes Vertrauen zu Poul Mer Lo haben, dessen Ruhm als Lehrer bis zu
ihnen gedrungen ist. Und einer von ihnen, Shon Hu, hat den Berg bereits gesehen. Er ist auf der Jagd weit in das Gebiet der Lokhali vorgedrungen und kennt den Weg.« »Haben sie Angst?« Zu Shan lächelte. »Ja, Paul, sie haben Angst – wie ich.« »Gut. Wer Angst hat, lebt länger. Du hast gute Ar beit geleistet, Zu Shan.« Er wandte sich an die Bayani, die höflich ihren Schnaps tranken, als sei ihnen die englische Unterhal tung gar nicht aufgefallen. »Jäger«, sagte Poul Mer Lo auf bayani, »ich bereite eine lange Reise vor, auf der ihr mich begleiten sollt. Vielleicht ist sie gefährlich, denn ich habe gehört, daß der Tempel der Weißen Dunkelheit kein guter Auf enthaltsort für Männer ist, die eines Tages die große Zahl ihrer Enkelkinder um sich versammeln möch ten.« Die Jäger lachten nur selbstbewußt. »Aber ich glaube«, fuhr Poul Mer Lo fort, »daß wir zu denen gehören, die von dort zurückkehren, denn wer ein bestimmtes Ziel vor Augen hat, erreicht es leichter als andere, die sich auf ihr Glück verlassen. Außerdem besitzen wir eine mächtige Waffe, die ich für diesen Zweck aus dem Land jenseits des Himmels mitgebracht habe.«
»Herr«, sagte der Mann, der Shon Hu hieß, »die Reise ist nicht weiter schwierig, aber die Lokhali sind unberechenbar.« Poul Mer Lo erhob sich, verschwand im Inneren des Hauses und kam mit dem Fegergewehr zurück. »Eure Pfeile, Blasrohre, Dreizacke und Keulen sind gute Waffen«, sagte er. »Aber wie viele Lokhali könnt ihr damit abwehren, wenn ihr angegriffen werdet?« Shon Hu sah zu seinen Freunden hinüber. »Herr, wir sind nur Männer – vielleicht gute Männer, aber trotzdem nur Männer. Wäre Oruri uns gnädig, könn ten wir vermutlich damit rechnen, ein Dutzend Lok hali mit uns in seine Arme zu nehmen.« Poul Mer Lo entsicherte seine Waffe. Etwa zwei hundert Meter vom Haus entfernt ragte im Zwielicht eine Baumgruppe auf. »Seht her!« forderte er die Jäger auf. Er zielte, betä tigte den Abzug und bestrich die Baumwipfel mit dem gebündelten Energiestrahl. Sekunden später stieg dichter Rauch zwischen den Bäumen auf, dann begannen die oberen Zweige zu brennen. »Herr«, sagte Shon Hu nach einer längeren Pause, »du hast uns eine schreckliche Waffe gezeigt.« »Sie ist in der Tat schrecklich«, stimmte Poul Mer Lo zu. »Eure Aufgabe, Shon Hu, wird es sein, mich zu beschützen. Meine Aufgabe ist es dann, die Waffe anzuwenden. Sollten die Lokhali uns angreifen, wer
den viele von ihnen Oruri erklären müssen, weshalb sie Poul Mer Lo und seine Begleiter aufhalten wollten ...« Er sah langsam von einem zum anderen. »Trotz dem weiß ich, daß unsere Reise schwierig und ge fährlich sein wird. Sollte einer von euch das Gefühl haben, voreilig zugestimmt zu haben, kann er jetzt aufstehen und nach Hause gehen. Wir Zurückblei benden bitten dann Oruri, er möge ihm und seinen Kindern und Kindeskindern gnädig sein.« Keiner bewegte sich. Mylai Tui füllte mit betrübter Miene ihre Becher nach.
23
Nach endlosen Verhandlungen erwarb Shon Hu ein gutes Boot für nur neun Kupferringe. Poul Mer Lo, der sich vor Ungeduld kaum noch beherrschen konn te, seit er den Beschluß gefaßt hatte, die Reise unter allen Umständen zu wagen, hätte ohne weitere Dis kussionen die sechzehn Ringe bezahlt, die der Boots bauer forderte. Aber Shon Hu erklärte ihm, daß diese Großzügigkeit nur allgemeines Interesse erregt hätte. Der Bootsbauer wäre auf seinen Erfolg stolz gewesen; er hätte überall davon erzählt, daß Shon Hu seinen Preis ohne Feilschen akzeptiert habe. Das hätte ver mutlich zu Nachforschungen geführt, die ergeben hätten, von wem das Geld wirklich kam, und diese Tatsache hätte den Ratgebern des Gott-Königs zu Oh ren kommen können. Damit wäre das Schicksal der Expedition schon vor dem Aufbruch besiegelt gewe sen, denn seit der Zerstörung der Schule war offen bar, daß Enka Ne die Tätigkeit des Fremden mit mehr Aufmerksamkeit verfolgte, als Poul Mer Lo zunächst angenommen hatte. Poul Mer Lo mußte also geduldig zwei Tage lang warten, bis Shon Hu den Preis des Bootes mit Hilfe unglaublicher Mengen Kappaschnaps auf neun Kup ferringe heruntergehandelt hatte.
Diese Zeit war allerdings nicht vergeudet, denn es gab genügend Vorbereitungen zu treffen. Poul Mer Lo schickte die drei anderen Jäger nach Baya Nor und ließ sie dort große Mengen Lebensmittel kaufen, denn er hatte nicht die Absicht, unterwegs längere Pausen einzulegen und seine Männer auf die Jagd zu schik ken. Seine persönliche Ausrüstung bestand nur aus dem Sprechfunkgerät und dem Fegergewehr, wäh rend die Atomhandgranaten, die Shah Shan ihm da mals im Tempel von Baya Lys gegeben hatte, in ei nem sicheren Versteck zurückblieben, da er sich nicht vorstellen konnte, daß er sie wirklich brauchen wür de. Poul Mer Lo wußte selbst nicht recht, weshalb er das Funkgerät mitnahm. Es funktionierte noch immer ausgezeichnet, und die winzige Batterie würde auf Jahre hinaus genügend Strom liefern. Aber er war sich darüber im klaren, daß es auf Altair V keinen zweiten Sender geben konnte. In den ersten Monaten seiner Gefangenschaft auf diesem Planeten hatte er den Empfänger nachts oft auf höchste Lautstärke ge stellt und sämtliche Bänder abgesucht. Dabei hatte er nie mehr als atmosphärische Störungen empfangen. Das Fegergewehr machte ihm erhebliche Sorgen. Das eingebaute Anzeigegerät gab Aufschluß über den Ladezustand und wies jetzt auf knapp halbe La dung – das Gewehr war also nur noch für sechs oder
sieben Energiestöße zu gebrauchen. Irgendwie schien es leck geworden zu sein, und da Poul Mer Lo keinen Geigerzähler besaß, konnte er nicht feststellen, ob der Mikroreaktor weiterhin vorschriftsmäßig arbeitete. Vielleicht waren er und Poul Mer Lo bereits gefähr lich radioaktiv verseucht und deshalb eine ernste Ge fahr für alle in seiner Umgebung. Aber Oruris Wille geschehe ... Poul Mer Lo lächelte amüsiert, als ihm auffiel, daß er sich diese Redewendung bereits zu ei gen gemacht hatte, als sei er ein Bayani. Nach Shon Hus Auskunft konnten sie das Boot zweieinhalb Tage lang benützen – einen Tag auf dem Kanal des Lebens und eineinhalb Tage auf dem Gro ßen Fluß, der in den Kanal des Lebens mündete. Dann mußten sie zwei Tagereisen weit durch dichten Urwald vordringen, bis sie eine Hochebene erreich ten, die in weiteren zwei oder drei Tagen zu über winden war. Shon Hu war offenbar nicht imstande, nähere Angaben über diesen letzten Teil ihres Weges zu machen. Er wußte nur, daß der Tempel der Wei ßen Dunkelheit deutlich sichtbar war, sobald man den Urwald verlassen hatte. Wie man sich ihm näher te, hing von Oruris Eingebungen ab, die Poul Mer Lo ohne Zweifel rechtzeitig empfangen würde. Die Expedition sollte im ersten Morgengrauen auf brechen, damit die Ruderer in der Mittagshitze rasten konnten. Außerdem war zu erwarten, daß dieser frü
he Aufbruch unbeobachtet vor sich gehen würde, wenn man von Jägern absah, die um diese Zeit be reits unterwegs waren, denn die meisten Bayani standen erst nach Sonnenaufgang auf. Das Boot war fertig beladen und enthielt Lebens mittel, Trinkwasser in Schläuchen, die Blasrohre, Pfei le und Dreizacke der Jäger, das Fegergewehr und das Funkgerät, aber auch ein halbes Dutzend warmer Pelze, die zunächst als Betten und später als Schutz vor den Unbilden der Witterung dienen sollten, so bald die Gruppe den warmen Urwald verlassen hatte. Zu Poul Mer Los Begleitung gehörten neben den vier Jägern auch Zu Shan und Nemo. Tsong Tsong blieb bei Mylai Tui, und Poul Mer Lo hatte ihr genügend Geld gegeben, so daß sie eine Dienerin kaufen konn te, die den Haushalt führen würde, falls das Kind vor Poul Mer Los Rückkehr geboren wurde. Nemo stellte ein echtes Problem dar, denn der ar me Junge konnte ohne fremde Hilfe keine drei Schrit te weit gehen. Poul Mer Lo wollte ihn trotzdem nicht zurücklassen, denn Nemo hatte verzweifelt darum gebeten, ihn begleiten zu dürfen, und Poul Mer Lo hatte zudem das Gefühl, die telepathischen Fähigkei ten des Jungen könnten sich als nützlich erweisen. Schließlich verdankte Poul Mer Lo die Idee zu dieser Expedition in erster Linie Nemos Träumen. Vielleicht war an den Hängen des Weißen Berges doch eine
wichtige Entdeckung zu machen, und vielleicht konnte Nemo ihn auf die richtige Spur bringen. Des halb mußte der Junge mit, und Poul Mer Lo konstru ierte eine Art Rucksack für ihn, in dem er abwech selnd von den Jägern getragen werden sollte. In der letzten Nacht vor ihrem Aufbruch ins Un gewisse schliefen die Jäger, Zu Shan und Nemo be reits auf ihren Pelzen im Boot. Poul Mer Lo konnte nicht schlafen. Mylai Tui fand ebenfalls keinen Schlaf, denn sie war überzeugt davon, daß sie sich nicht wiedersehen würden. »Herr«, sagte sie auf bayani, »ich bin dick gewor den und kann nicht mehr behaupten, deinen Augen angenehm zu erscheinen. Aber ich bitte dich, daß du mein Bild in deinem Herzen bewahrst, wie ich zuvor gewesen bin.« Poul Mer Lo streichelte sie zärtlich. »Mylai Tui«, flüsterte er, »du bist in meinen Augen nicht häßlich geworden, weil du ein Kind erwartest. Ich behalte dein Bild in meinem Herzen. Aber du mußt mir glau ben, daß ich dich jetzt nicht weniger als früher liebe.« »Herr«, sagte Mylai Tui einfach, »das Feuer wird angezündet, flammt auf und erlischt. Wir werden uns nicht wiedersehen. Ich möchte dir für alles danken, denn du bist immer gut zu mir gewesen. Aber mein Herz ist traurig, weil ich weiß, daß ich dich heute zum letztenmal in diesem Haus sehe.«
Er drückte sie an sich. »Ich kehre hierher zurück, wenn ich den Tempel der Weißen Dunkelheit er forscht habe«, versprach er ihr. »Das schwöre ich dir, Mylai Tui.« »Oruris Wille geschehe«, antwortete Mylai Tui schicksalsergeben. »Mein Herz ist groß und kann viel erreichen.« »Ich komme wieder!« beteuerte Poul Mer Lo. Mylai Tui seufzte. »Aber wir werden uns nicht wiedersehen. Das weiß ich ganz sicher. Ich lese es im Wasser, und es steht im Wind geschrieben. Geh jetzt, Herr, denn es will Tag werden. Und erinnere dich daran, daß ich gegeben habe, was in meinen Kräften stand. Ich denke gern daran, daß ich das Kind des Mannes trage, der mit dem Silbervogel zu uns ge kommen ist. Aber du mußt jetzt gehen, denn ich spü re Tränen in den Augen, und ich möchte nicht, daß dieses Bild in deinem Herzen zurückbleibt ... Oruri sei mit dir – am Ende wie zu Anfang.« »Oruri begleite dich auf allen deinen Wegen«, er widerte Poul Mer Lo. Er berührte ihre Stirn mit den Lippen. Dann stand er auf und verließ rasch das Haus, das im Morgengrauen noch kleiner und behag licher als sonst wirkte.
24
Der Tag versprach heiß zu werden. Über dem stillen Wasser des Kanals des Lebens lag dünner Nebel in leichten Schwaden, die sich bei jedem Luftzug wie geisterhafte Schatten bewegten. In der feuchten Luft waren menschliche Stimmen über weite Entfernun gen hinweg zu hören. Poul Mer Lo erkannte die Stimmen der Jäger und der beiden Jungen, die mit den letzten Vorbereitungen zur Abfahrt beschäftigt waren. Gespannte Erwartung schien in der Luft zu liegen. Poul Mer Lo hatte das Gefühl, sie fast mit Händen greifen zu können, als er in das geräumige Boot stieg. Von diesem Augenblick an vergaß er alle Bedenken und Zweifel, konzentrierte sich nur auf die bevorste hende Aufgabe und verdrängte seine letzten Erinne rungen an Mylai Tui. »Herr, wir haben gegessen und sind bereit«, sagte Shon Hu. »Du brauchst nur zu befehlen, wann wir abfahren sollen.« Poul Mer Lo sah langsam von einem der sechs zum anderen und begegnete überall nur erwartungsvollen Blicken. »Bevor wir diese Reise ins Ungewisse antre ten, die lang oder kurz, mühelos oder schwierig sein kann«, sagte er nachdrücklich, »möchte ich euch alle
daran erinnern, daß wir als Brüder Freud und Leid miteinander teilen wollen, wie es Oruri in seiner un endlichen Weisheit gefällt ... Shon Hu, wir können aufbrechen.« Die Jäger griffen nach den Rudern, stießen das Boot in den Kanal und setzten ihre Ruder ein. Als das Boot im Morgennebel über das stille Wasser glitt, dessen Nebelschwaden im Licht der aufgehenden Sonne rosa leuchteten, fühlte Poul Mer Lo sich zum erstenmal seit der Landung auf Altair V wieder unbeschwert glücklich. Bisher hatte er stets nur die Rolle eines Zu schauers übernehmen dürfen – obwohl er den Bayani das Rad geschenkt und auch in anderer Beziehung versucht hatte, die Voraussage des Orakels zu erfül len, das behauptet hatte, er sei ein großer Lehrer. Aber erst jetzt hatte er das Gefühl, wirklich etwas Nützliches zu tun. Dabei spielte es nicht die geringste Rolle, ob Nemos Traum sich schließlich bewahrheiten würde. Es war auch völlig unwichtig, ob er im Tempel der Weißen Dunkelheit aufsehenerregende Entdeckungen mach te. Entscheidend war nur, daß er es endlich geschafft hatte, die selbstgewählte Isolierung der Einwohner von Baya Nor zu durchbrechen. Dieses Volk hatte sich zu lange damit zufriedengegeben, das Wissen der Alten für unübertrefflich zu halten, anstatt selbst neue Wege zu gehen. Die Bayani wären von selbst nie
auf die Idee gekommen, ihre kleine Zivilisation in den Wäldern von Altair V sei vielleicht doch nicht der menschlichen Weisheit letzter Schluß. Aber das hatte sich nun geändert; der Status quo ließ sich nicht rekonstruieren, selbst wenn diese Ex pedition erfolglos bleiben sollte. Poul Mer Lo war sich darüber im klaren, daß die Jäger sich ihm nicht nur deshalb angeschlossen hatten, um sich die Belohnung zu verdienen, die er ausgesetzt hatte. Sie begleiteten ihn aber auch nicht nur, weil sie unbegrenztes Ver trauen zu Poul Mer Lo besaßen. Sie waren mitge kommen, weil er ihre Neugier und ihren Wissens durst geweckt hatte – weil sie endlich mit eigenen Augen sehen wollten, wie es im nächsten Tal oder jenseits der nächsten Bergkette aussah. Die vier Männer wußten vermutlich nichts davon, aber sie waren seit Jahrhunderten die ersten Entdek kungsreisenden ihres Volkes ... Poul Mer Lo hatte in der Tat alle Ursache, auf diesen schönen Erfolg stolz zu sein, den er ausschließlich sich selbst zuzuschrei ben hatte, weil er die Voraussetzungen dafür geschaf fen hatte. An dieser Stelle dachte er automatisch an Enka Ne. Die Gott-Könige von Baya Nor hatten ihre absolute Macht jahrhundertelang absichtlich oder unabsicht lich dadurch gefestigt, daß sie alle Neugier unter drückten. Shah Shan war der erste gewesen, der diese
Tatsache klar erkannte. Und er hatte die Weisheit be sessen, Poul Mer Lo zu ermutigen, den seine eigenen Ratgeber und die Priester für ein Werkzeug des Bö sen hielten, weil er Fragen stellte, die bisher noch nicht gestellt worden waren, und Dinge tat, die vor ihm keiner gewagt hätte. Aber Shah Shans Nachfolger auf dem Thron des Gott-Königs hatte gänzlich andere Vorstellungen. Daran war vermutlich auch die Tatsache schuld, daß er ein alter Mann war. Vielleicht war er in seiner Ju gend ebenfalls neugierig und wissensdurstig gewe sen. Jetzt hatte er jedenfalls dem Druck der Traditio nen und den Einflüsterungen seiner Ratgeber nach gegeben, sich den Standpunkt der Priesterschaft zu eigen gemacht und den Fremden mit Mißtrauen und Ablehnung betrachtet, weil ihm Poul Mer Lo ent schieden zu unorthodox war. Während das Boot zwischen Kappafeldern dahin glitt und bald darauf das grüne Blätterdach des Ur walds erreichte, fragte Poul Mer Lo sich, ob Enka Ne von dieser Expedition wußte. Das war äußerst wahr scheinlich, denn Zu Shan hatte die Anwerbung der Jäger zwar sehr vorsichtig durchgeführt, aber immer hin mit einigen gesprochen, die das Angebot abge lehnt hatten. Diese Männer hatten vermutlich ihrer seits mit Freunden darüber gesprochen, und Poul Mer Lo hatte allen Grund zu der Annahme, daß die
Nachricht von der geplanten Expedition – selbstver ständlich mit einigen phantasievollen Ausschmük kungen – unterdessen bis an die Ohren des GottKönigs gedrungen sein mußte. Aber nun war es bereits zu spät, diese Reise zu verhindern, und wenn der Gott-König trotz seiner or thodoxen Haltung so gerissen war, wie Poul Mer Lo vermutete, würde er sie gar nicht verhindern wollen. Wahrscheinlich empfand er sogar eine gewisse Er leichterung darüber, daß der unbequeme Fremde es vorzog, sich weit von Baya Nor entfernt in Oruris Arme zu stürzen. Wenige Stunden später fuhren sie an dem Wald tempel Baya Sur vorüber, ohne aufgehalten zu wer den. Keiner der Priester hielt sich an der Anlegestelle auf, um sie vorbeifahren zu sehen, da niemand wuß te, daß sie auf dem Kanal des Lebens unterwegs wa ren. Das Boot glitt ungehindert tiefer in den Wald hinein und näherte sich der Stelle, an der der Kanal des Lebens den Großen Fluß aufnahm. Die Sonne hatte bereits ihren Zenit überschritten, bevor die Jäger bereit waren, die Ruder einzuziehen und sich eine kurze Rast zu gönnen. Sie steuerten das Kanalufer an, wo sie bald eine kleine Lichtung fan den, und warfen den Ankerstein über Bord. Poul Mer Lo freute sich über diese Gelegenheit, endlich wieder die Beine ausstrecken zu können. Er
hatte sich erboten, eines der Ruder zu übernehmen, wie es Zu Shan getan hatte, um einen der Jäger abzu lösen, aber die Männer hatten sein Angebot mit größ ter Höflichkeit zurückgewiesen. Er war Poul Mer Lo, ein Fremder, der nicht an den eigenartigen Rhythmus der Ruderer gewöhnt war. Und er war ihr Arbeitge ber und Kapitän des Bootes; deshalb durfte er nicht selbst Hand anlegen, solange es kein Notfall erforder te. Nachdem sie gegessen hatten, legten Poul Mer Lo, Zu Shan und zwei der Jäger sich zu einem kurzen Schlaf nieder. Nemo und die beiden anderen Männer hielten Wache. Im Schlaf verwandelte sich Poul Mer Lo wieder einmal in Paul Marlowe, der an Bord der Gloria Mun di lebte, arbeitete und dann in seine Schlafkammer zurückkehrte, um sich einfrieren zu lassen. Er hatte gemeinsam mit Ann Wache, und sie hatten eben mit letzter Kraft die Besatzung des Raumschiffs vor einer Katastrophe gerettet, nachdem ein winziger Meteor den Rumpf durchschlagen hatte. Er erinnerte sich an den Champagner, den sie anschließend getrunken hatten – Moët et Chandon 1981, ein ausgezeichneter Jahrgang. Und er erinnerte sich an eine Diskussion über das Wesen Gottes ... Der Traum brach jäh ab, als Nemo Poul Mer Lo wachrüttelte. Im ersten Augenblick wußte Paul nicht
mehr, wo er sich eigentlich befand, und starrte den Jungen verständnislos an. »Herr«, sagte Nemo, »wir werden von einem Boot verfolgt. Es ist kaum zehn Pfeilschußlängen von uns entfernt, glaube ich. Ich lese die Gedanken der Rude rer. Sie suchen uns. Eine hohe Belohnung erwartet sie, wenn sie uns einholen. Enka Ne hat Krieger ge schickt. Herr, ich bezweifle, daß wir ihnen entkom men können.« Paul Marlowe richtete sich auf und sah zu ihrem Boot hinüber. Er stellte mit einem Blick fest, daß kei ne Möglichkeit bestand, das Boot rechtzeitig zu tar nen oder zu verstecken. Aber er weigerte sich, eine Niederlage zu akzeptieren, ohne etwas dagegen un ternommen zu haben. Ihre einzige Hoffnung bestand aus der Flucht auf dem Wasser. »Kommt, wir brechen auf«, sagte er zu den Jägern, die ihn erwartungsvoll anstarrten. »Wer auf Schwie rigkeiten wartet, findet sie nur allzu leicht, sagt das Sprichwort.« Sekunden später lag der Ankerstein wieder im Boot, und die gesamte Besatzung – einschließlich Paul – ruderte nach Leibeskräften; die beiden Jungen zerrten gemeinsam an einem Ruder und ersetzten so den fehlenden sechsten Mann. Unglücklicherweise verlief der Kanal des Lebens an dieser Stelle über größere Entfernung fast gerade,
so daß die Verfolger bald in Sichtweite der Verfolgten kamen. Paul warf einen Blick über die Schulter und stellte fest, daß das andere Boot mit sechzehn Rude rern und mindestens dreißig Kriegern besetzt war. Es kam rasch näher. In weniger als einer Minute mußte es auf Pfeilschußweite herangekommen sein – und wenn dann Pfeile zu fliegen begannen, war alles ver gebens gewesen. »Nicht weiterrudern!« befahl Paul deshalb und nahm das Fegergewehr auf. »Herr«, sagte Shon Hu, »Oruri scheint diesem Un ternehmen nicht gewogen. Aber du brauchst nur zu befehlen, dann kämpfen wir, wenn es sein muß.« »Ihr braucht nicht zu kämpfen«, versicherte Paul ihm. »Du darfst dich nicht entmutigen lassen, Shon Hu – Oruri will uns nur auf die Probe stellen.« Als die Verfolger sahen, daß im ersten Boot nicht mehr gerudert wurde, zogen sie ebenfalls die Ruder ein. Die beiden Boote trieben jetzt langsam aufeinan der zu. Paul erkannte den Krieger im Bug des zweiten Boo tes. Es war der Hauptmann, den Enka Ne geschickt hatte, damit er Bai Lut hinrichtete und die Schule zer störte. »Oruri grüßt dich!« rief der Hauptmann. »Der Gruß ist ein Segen«, antwortete Paul gelassen. »Ich bin Stimme und Hand des Gott-Königs Enka
Ne, der euch befiehlt, nach Baya Nor zurückzukeh ren. Dort soll euch Gelegenheit gegeben werden, Ziel und Zweck dieser Reise zu erklären.« »Es bekümmert mich, daß der Gott-König meine Anwesenheit wünscht, denn diese Reise ist sehr wichtig und läßt sich nicht aufschieben.« Der Hauptmann lächelte spöttisch. »Herr, ich habe den Auftrag, den Befehl des Gott-Königs zu erzwin gen, und ich bin gern bereit, es auch zu tun, wenn du auf deiner Weigerung beharrst.« Paul hielt seine Waffe in Hüfthöhe und hatte einen Finger am Abzug. »Ich höre, was Enka Ne wünscht«, antwortete er, »und ich möchte, daß du zu ihm zurückkehrst, ihn meiner tiefsten Ergebenheit versicherst und ihm mit teilst, ich wäre gern gekommen, wenn sich diese Rei se aufschieben ließe. Kehrst du mit dieser Botschaft um und gehst in Frieden, bleibt Oruris Zorn abge wendet. Ich habe gesprochen.« Der Hauptmann lachte schallend, seine Krieger lachten ebenfalls. Selbst die Ruderer gestatteten sich ein Grinsen. »Tapfer gesprochen, Herr. Aber wo steht die Macht hinter diesem Mut? Du hast nur vier Männer, ich ha be dreißig. Da du nicht freiwillig kommen willst, müssen wir euch alle gefangennehmen.« »So sei es«, sagte Paul. Er betätigte den Abzug sei
ner Waffe, die leise zu summen begann, als der ge bündelte Energiestrahl die Mündung verließ. Vor dem Bug des zweiten Bootes, das inzwischen näher herangetrieben war, begann das Wasser zu zischen und zu kochen. Dann geriet es in heftige Bewegung, verwandelte sich in Dampfwolken und stieg plötzlich zu einer hohen Fontäne auf. Das Boot mit den Krie gern schwankte heftig und trieb dabei auf den Was serstrahl zu. Das Holz stand augenblicklich in Flam men, und das Boot kenterte, als seine Besatzung er schrocken zurückwich. Ruderer und Krieger klammerten sich an dem ge kenterten Boot fest oder schwammen zum Ufer. Paul hatte die Waffe gesenkt, sobald das Boot Feuer gefan gen hatte, aber das Wasser kochte an dieser Stelle noch einige Sekunden lang weiter. Mehrere Krieger erlitten Verbrennungen, als sie dort ins Wasser stürzten. »Nun hast du Oruris Zorn am eigenen Leib ge spürt«, rief Paul dem Hauptmann zu, der vor ihm im Wasser schwamm. »Kehre jetzt zu Enka Ne zurück, berichte von deinen Erlebnissen und melde ihm, was ich zuvor gesagt habe.« Er wandte sich an seine Ru derer: »Kommt, wir fahren weiter. Die Krieger des Gott-Königs sind offenbar nicht mehr in der Lage, uns daran zu hindern.« Die Jäger starrten ihn ehrfürchtig an, griffen nach ihren Rudern und nahmen wieder ihre Plätze ein.
Einige Zeit später wischte Shon Hu sich den Schweiß vom Gesicht und warf einen Blick auf das Fegergewehr. »Herr, mit dieser Macht in den Händen könnte ein Mensch wie ein Gott werden.« Paul lächelte. »Nein, Shon Hu. Mit dieser Macht in den Händen kann ein Mann nur ein mächtigerer Mann werden.«
25
Der Wald war alt, überwältigend dicht und in seinem grünen Überfluß geradezu bedrückend. Von allen Seiten erklangen laute und leise Tierstimmen, aber gelegentlich herrschte tiefes Schweigen, das Paul Marlowe, der selbst auf der Erde keine besondere Vorliebe für Wälder gehabt hatte, unheimlich und sogar bedrohlich erschien. Auf dieser Fahrt durch den Urwald sahen sie nicht viele große Tiere, aber die wenigen, die Paul zu Gesicht bekam, bestärkten ihn in dem Verdacht, daß die Evolution auf Altair V mindestens eine Million Jahre hinter der Parallelent wicklung auf der Erde zurückgeblieben war. Hier und dort stießen sie am Kanalufer auf ganze Kolonien großer Kriechtiere, die Paul an die auf der Erde längst ausgestorbenen Iguanodons erinnerten – durch Stacheln und Schuppen gegen alle Angriffe ge schützt, vier bis fünf Meter lang und – jedenfalls nach Auskunft der Jäger – völlig harmlos. Die Tiere waren Pflanzenfresser. Paul hatte nur einmal Gelegenheit, eines der größ ten Tiere bei Tageslicht zu beobachten. Die Jäger nannten dieses seltsame Wesen Ontholyn. Es trug ei nen dichten schwarzen Pelz, hatte lange Vorderbeine mit scharfen Krallen und furchterregende Reißzähne,
die Paul an die Fänge eines Säbeltigers erinnerten. Er sah, daß das Ontholyn sich auf den Hinterbeinen auf richtete, um von den obersten Ästen eines Baumes ir gendeine große Frucht herunterzuholen; dann ließ es sich wieder zurücksinken, stieß einen schrillen Trompetenton aus und machte sich daran, die Frucht genüßlich zu verzehren. Paul schrak förmlich zu sammen, als er diesen wilden Schrei hörte, aber die Jäger versicherten ihm lachend, das Tier habe nur seiner Zufriedenheit Ausdruck gegeben. Je weiter sich das Boot auf dem Kanal des Lebens von Baya Nor entfernte, desto mehr hatte Paul das Gefühl, eine Reise zurück in die Vergangenheit zu unternehmen. Die riesigen Farne, die bunten orchi deenartigen Blüten, die kräftigen Lianen, die sich jetzt von einem Ufer zum anderen spannten, und die gro ßen, traurigen und lebensgefährlichen Tränenbäume, von deren Zweigen ein klebriges, augenblicklich wir kendes Gift herabtropfte, das kleinere Tiere fing und tötete, die dann verwesten und den bloßliegenden Wurzeln der Tränenbäume neue Nährstoffe zuführ ten – alles das schien sich miteinander verschworen zu haben, ihm die Illusion zu vermitteln, er fahre durch einen grünen Tunnel geradewegs in die Vorge schichte zurück. Sie fuhren inzwischen tatsächlich durch einen grü nen Tunnel, denn der Kanal des Lebens war hier we
sentlich schmaler als in der Nähe von Baya Nor. Das Blätterdach des Urwalds schloß sich dicht über ihnen, und das Sonnenlicht fiel in unzähligen goldenen Streifen aufs Wasser und erzeugte verwirrende Refle xe, über die das Boot leicht und fast lautlos hinweg glitt. Als die Abenddämmerung herabsank, suchte Shon Hu am Ufer nach einem passenden Ankerplatz für die bevorstehende Nacht. »Herr«, sagte er, »wir sind gut vorangekommen. Der Große Fluß ist nicht mehr weit.« »Wäre es nicht besser, noch eine Weile flußauf wärts zu fahren, solange wir noch sehen?« Shon Hu zuckte mit den Schultern. »Wer könnte das sagen, Herr? Aber meine Freunde haben es sich angewöhnt, ihren Lagerplatz sorgfältig zu untersu chen, bevor sie dort schlafen – und das kann man nur bei Tageslicht.« »Du hast recht, Shon Hu. Schlagen wir also unser Nachtlager auf.« Sie fanden eine kleine Lichtung am Ufer, in deren Nähe einige Tränenbäume standen. Shon Hu erklärte Poul Mer Lo, daß die meisten Tiere diese Bäume wit terten – besonders nachts – und sich nur selten in ihre Nähe wagten. Deshalb hatte er diesen Lagerplatz ge wählt. Aber er schlug trotzdem vor, sie sollten nachts im Boot schlafen.
Die erste Nacht verging ohne Zwischenfälle. Nach dem Abendessen unterhielten sich die Männer mit Jägerlatein, bei dem jeder die Erzählungen des ande ren zu übertreffen versuchte. Paul hörte ihnen eine Weile zu, wurde aber rasch müde, weil die fremdar tigen Urwalddüfte ihn fast betäubten. Scheinbar nur wenige Augenblicke später war bereits der nächste Morgen angebrochen, und Zu Shan bot seinem Leh rer lächelnd eine Handvoll Kappa und ein Stück Räu cherfleisch an, das wie verbrannter Gummi schmeck te. »Du hast sehr fest geschlafen, Paul. Wir hätten nicht gedacht, daß du dich so rasch an den Wald ge wöhnst. Wie geht es deinen Knochen?« Zu Shan sprach englisch, denn er war stolz darauf, den Jägern wenigstens in dieser Beziehung überlegen zu sein. Paul ächzte und reckte sich. »Ich komme mir wie ein alter Mann vor«, klagte er. »Als ob der Leim der Tränenbäume in meine Gelenke gedrungen wäre.« »Darin sind die Dämpfe schuld, die nachts aus dem Wasser aufsteigen«, erklärte Zu Shan ihm. »Sie ma chen die Gelenke steif und verursachen Schmerzen in den Knochen, aber der Schmerz vergeht, sobald man sich wieder bewegt. Der arme Nemo hat am meisten darunter zu leiden, glaube ich, weil seine Knochen nicht auf natürliche Weise zusammengewachsen sind.«
Der Kleine weinte wie ein Baby. Paul nahm ihn in die Arme und massierte vorsichtig die verkrüppelten Beine. »Herr«, keuchte Nemo, »du beschämst mich. Ich bitte dich, setz mich nieder.« Paul strich ihm über die Haare und setzte ihn auf einen Pelz im Heck des Bootes. »Es soll geschehen, wie mein Sohn befiehlt«, sagte er ernsthaft, »denn ich betrachte dich in der Tat als meinen eigenen Sohn.« »Herr«, sagte Shon Hu, »wir haben eine lange Fahrt vor uns. Willst du den Befehl zum Aufbruch geben?« Paul hob den Kopf und sah zu dem dampfenden Blätterdach hinauf. Die Atmosphäre war schon jetzt bedrückend, so daß ein heißer und anstrengender Tag zu erwarten war. »Vorwärts«, sagte er. »Oruri beschütze uns auch heute.«
26
Die Katastrophe brach in der zweiten Nacht über sie herein. Der Große Fluß war breit und langsam, ziemlich seicht, aber gut befahrbar. Wäre die schwache Strö mung nicht gewesen, hätten die Ruderer weniger Ar beit als auf dem Kanal des Lebens gehabt. Paul hatte den Eindruck, diese seltsame Reise zu rück in die Vergangenheit werde nie ein Ende neh men – oder zumindest erst dann, wenn sie den Ur sprung der Schöpfung erreicht hatten. Diesmal schlugen sie ihr Lager an einer kleinen Landzunge auf, die mit dichtem Gras bewachsen war, das angesichts der sonst so üppig wuchernden Pflan zenwelt fast spärlich und karg wirkte. Das Leben im Urwald an beiden Flußufern war so primitiv und fruchtbar zugleich, daß Paul sich fast einbildete, er sehe die Pflanzen wachsen. Aber ob wohl die Farnbäume hier wesentlich höher als am Kanal des Lebens aufragten, war es in ihrem Schatten heller und weniger bedrückend. Hier und dort fielen breite Lichtstreifen durch das grüne Blätterdach, und im Schein der Abendsonne entstand so der Eindruck einer unendlich großen Kathedrale mit Buntglasfen stern.
Während Paul nachdenklich ins Wasser starrte, sah er, daß die winzigen Blumen am Ufer ihre Blütenkel che schlossen und fast im Boden zu versinken schie nen, als fürchteten sie die kommende Nacht und ihre unbekannten Schrecken. Die Männer schliefen auch diesmal in ihrem Boot. Nach dem Essen erzählten die Jäger wieder Geschich ten, die unwahrscheinliche Erlebnisse, gefährliche Si tuationen und Erfolge auf der Jagd schilderten. Paul war diesmal weniger müde und blieb wach, bis der erste Jäger seinen Posten bezog, von dem er zwei Stunden später abgelöst werden sollte. Dann legte er das Fegergewehr neben sich, schlief fast augenblick lich ein und träumte von seltsamen Tieren, die zu dieser Umgebung paßten. Als sich dann die Tragödie ereignete, brauchte er einige wertvolle Sekunden, um zu erfassen, daß er nicht mehr träumte. Die Schreie, das Brüllen und der Gestank schienen zu seinem Traum zu gehören; aber als das Boot heftig schwankte, wachte Paul endlich ganz auf und stellte fest, daß die Wirklichkeit seine Träume übertroffen hatte. Er tastete verzweifelt nach seinem Gewehr. Auf dem Gewehrlauf war ein winziger Scheinwerfer montiert, der sein Licht parallel zur Visierrichtung aussandte. Dieser Scheinwerfer war Pauls einzige Lichtquelle. Bevor er sie nicht in Betrieb genommen
hatte, konnte er nicht sehen, was in seiner Umgebung geschah. Der Gestank war entsetzlich; aber die gel lenden Schreie waren noch schlimmer. Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, bis er end lich das Gewehr unter seinen Fingern spürte. Er schaltete den Scheinwerfer ein und riß gleichzeitig die Waffe hoch. Der scharf gebündelte Lichtstrahl erhellte nur eine verhältnismäßig kleine Fläche; aber Paul sah trotz dem genug, um erschrocken zurückzufahren. Dreißig oder vierzig Meter von ihm entfernt ragte am Flußufer das größte und schrecklichste Tier auf, das er je gesehen hatte. Es war etwa so groß wie der prähistorische Tyrannosaurus Rex der Erde und be stimmt nicht weniger schrecklich. Paul richtete den Scheinwerferstrahl auf den Kopf des Ungeheuers ... und ließ vor Entsetzen fast das Gewehr fallen. Aus dem gewaltigen Rachen des Tie res ragten Kopf, Schultern und Arme eines der Jäger. Ein Blick genügte, dann ließ Paul den Lichtstrahl über den Rücken des Ungeheuers gleiten, bis er eine verwundbare Stelle an der mit Schuppen gepanzerten Unterseite entdeckt zu haben glaubte. Er betätigte den Abzug. Ein blauer Energiestrahl schoß aus der Mündung der Waffe. Nun erfüllte nicht nur der Gestank des Untiers, sondern auch der Gestank seines verbrennenden Flei
sches die Luft. Das phantastische Monstrum schien eher überrascht als verletzt zu sein. Es hob langsam und bedächtig eine seiner Klauen, griff nach dem be dauernswerten Opfer und schleuderte den Toten weit von sich ins Wasser des Großen Flusses. Dann betrachtete es mit fast komischer Ruhe die beiden parallelen Lichtstrahlen, die von irgendwoher aus der Dunkelheit kamen. Unterdessen brannte sein Körper bereits; brennende Fettklumpen fielen zu Bo den, und dunkle Rauchschwaden verhüllten den mit Stacheln besetzten Rücken. Das Ungeheuer war bereits tot, überlegte Paul sich fast hysterisch – aber es wußte einfach nicht, wann es sich zum Sterben niederlegen mußte. Es blieb ruhig stehen und beobachtete, wie sein Körper von den Flammen verzehrt wurde, als sei dieses Ereignis zwar interessant, aber im Grunde genommen nicht weiter wichtig. Dabei mußte sein Blut bereits zu sieden be ginnen! Die Szene vor seinen Augen erinnerte ihn an einen Alptraum in Zeitlupe. Paul war wie hypnotisiert, konn te den Blick nicht von dem Tier wenden und sah nicht einmal, was seine Begleiter inzwischen taten. Er hielt nur weiter den Abzug gedrückt und richtete den Ener giestrahl auf dieses Ungeheuer aus grauer Vorzeit. Endlich schien das schreckliche Wesen zu begrei fen, daß es tödlich verwundet war. Es stieß einen letz
ten gellenden Schrei aus, legte sich schwer auf die Seite und riß dabei einige Bäume mit. Dieser Aufprall erschütterte die Erde, das Boot und sogar den Fluß. Das Tier mußte tot gewesen sein, bevor es den Boden berührte. Paul nahm endlich den Finger vom Abzug und schaltete den Scheinwerfer aus. Trotzdem wurde es um ihn herum nicht dunkel, denn der Tierkadaver brannte flackernd weiter. Der Gestank wurde über wältigend. Shon Hu sprach als erster. »Herr«, keuchte er müh sam, »verzeih mir, aber ich muß mich übergeben.« Er lehnte sich über die Bordwand und erhielt sofort Gesellschaft von allen außer Nemo, der bewußtlos auf seinem Pelz lag. »Wer ist gestorben?« flüsterte Paul, als er endlich seine Stimme wiedergefunden hatte. »Mien Sho, Herr. Er hatte Wache. Vielleicht ist das Untier durch eine Bewegung auf ihn aufmerksam geworden.« »Und warum hat er die Bestie nicht gesehen? Oder sie gehört? Dieses Ungeheuer kann sich nicht lautlos angeschlichen haben.« »Herr, ich weiß es nicht, und Mien Sho ist jetzt tot. Zweifeln wir nicht länger an seiner Wachsamkeit, denn er hat viel gelitten, und sein Geist wäre traurig, wenn er hörte, daß wir an ihm gezweifelt haben.«
»Wir brechen auf, bevor uns der Gestank überwäl tigt«, sagte Paul hastig. »In Zukunft halten stets zwei Männer Wache, denn es ist offenbar, daß einer ein nicken kann. Kommt, wir fahren weiter.« »Herr, es ist dunkel, und wir kennen den Fluß nicht.« »Wir fahren trotzdem.« Paul deutete auf den Ka daver. »Hier gibt es zuviel Licht – und andere Dinge. Kommt. Ich übernehme Mien Shos Ruder.«
27
Es war völlig windstill. Aus dem Urwald drang nicht der leiseste Laut. Wären die charakteristischen Düfte der Nacht nicht gewesen, hätte man sich einbilden können, der Urwald sei plötzlich verschwunden. Nur der Fluß schien noch zu leben; er murmelte schläfrig vor sich hin, als bereite er sich ebenfalls darauf vor, in seltsamen Träumen zu versinken. Der Tag war hart und trübselig gewesen – hart, weil der Große Fluß schmaler und deshalb wegen der zunehmenden Strömung schwerer befahrbar gewor den war, und trübselig, weil sich die Gedanken der Männer unablässig mit Mien Shos grauenhaftem En de beschäftigten. Nemo hatte am meisten darunter zu leiden, denn er hatte Mien Shos kurzen, aber heftigen Todeskampf wie seinen eigenen erlebt, weil er telepathisch begabt war. Der Kleine hatte den ganzen Tag über bewegungslos an seinem Platz gelegen und jegliche Nahrungsauf nahme verweigert. Poul Mer Lo war es erst gegen Abend gelungen, ihm etwas Kappabrei einzuflößen. Heute erzählten die Jäger nach dem Essen keine lu stigen Geschichtchen mehr. Sie sprachen – wenn über haupt – nur kurz miteinander, als fürchteten sie sich davor, die bösen Geister des Waldes herbeizurufen.
Paul und Shon Hu hatten die erste Wache über nommen. Jetzt waren sie wieder mit der letzten an der Reihe. Zwischen den Bäumen wurde es bereits hell. Heute wollten sie das Boot zurücklassen und durch den Urwald weitermarschieren. Sie befanden sich bereits im Gebiet der Lokhali, das unbekannte Gefahren barg. Aber Paul sah ihnen gefaßt entgegen, denn nach den Erlebnissen der vergangenen Nacht mußten alle anderen Gefahren lächerlich gering er scheinen, die ihnen von den Lokhali drohen konnten. Bei diesem Gedanken an die Lokhali fiel Paul ein, daß sein Unterbewußtsein sich an irgend etwas erin nerte. Es hing mit den Barbaren zusammen. Es war sehr wichtig. Er hatte es gesehen, aber nicht bewußt registriert ... Bisher war er nur einmal Angehörigen dieses Ur waldstammes begegnet – anläßlich der Massenhin richtung an der Vierten Straße der Götter. Paul dach te an den Sterbenden zurück, der in seinem Todes kampf deutsche, englische und französische Satzfet zen gemurmelt hatte, die unter diesen Umständen so bizarr gewesen waren. Plötzlich fiel ihm ein, was er gesehen, aber nicht bewußt registriert hatte. Vier Finger und ein Dau men! Die Lokhali waren nicht nur größer als die Bayani, sie waren auch vollkommener. Vier Finger und ein Daumen! Paul erinnerte sich wieder an die
Frau mit ihrem Neugeborenen und an Mylai Tui, die über seine harmlose Frage so wütend gewesen war, daß sie das Haus verlassen hatte. Paul hätte am liebsten laut gelacht, als ihm auffiel, wie verrückt es eigentlich war, hier im Urwald nach den Hintergründen einer Legende zu forschen, so lange er nicht einmal wußte, warum es hier Men schen mit drei und andere mit vier Fingern an einer Hand gab. Er lachte laut. Shon Hu starrte ihn verwundert an. »Du bist fröh lich, Herr?« fragte er tadelnd. »Nein, nicht wirklich, Shon Hu. Tut mir leid, daß ich dich erschreckt habe. Ich habe nur an einige Dinge gedacht, die Poul Mer Lo, der Lehrer, nicht begreifen kann.« »Welche Dinge, Herr?« Paul erinnerte sich an Mylai Tuis Reaktion und war deshalb vorsichtig. »Shon Hu«, begann er, »wir ken nen uns noch nicht lange, aber diese Reise bringt uns einander näher. Du bist mein Freund und Bruder.« »Ich bin stolz darauf, Poul Mer Los Freund zu sein. Aber ich würde nicht wagen, mich als seinen Bruder zu bezeichnen, denn das steht mir nicht zu.« »Trotzdem bist du mein Freund und Bruder. Des halb möchte ich dich nicht beleidigen oder verletzen.« Shon Hu schüttelte verblüfft den Kopf. »Wie
kannst du mich beleidigen, Herr, nachdem du mich auf diese Weise geehrt hast?« »Durch Fragen, Shon Hu. Einfach durch Fragen.« »Herr, ich sehe, daß du mit mir sprechen willst. Wo keine Beleidigung beabsichtigt ist, kann es keine Be leidigung geben.« »Meine Frage betrifft die Zahl der Finger, die ein Mann haben sollte, Shon Hu.« Paul spürte, daß der Jäger unwillkürlich von ihm abrückte. »Herr«, sagte Shon Hu schließlich, »gibt es nicht auch in deinem Land Dinge, von denen niemand sprechen mag?« Paul überlegte kurz. »Ja, mein Freund, auch dort gibt es Dinge dieser Art.« »Bei uns ist es ebenso. Ich möchte dir etwas erzäh len, Herr, damit du verstehst, weshalb es für mich nicht leicht ist, über die Zahl der Finger eines Men schen zu sprechen. Aber vielleicht ist es besser, wenn du selbst Fragen stellst ... Ich hoffe, daß ich sie be antworten kann, Herr.« »Shon Hu, bist du mit drei oder vier Fingern gebo ren worden?« Der Jäger hob die rechte Hand. »Du kannst dich selbst davon überzeugen, Herr.« Die Hand hatte drei Finger und einen Daumen. Paul hielt ebenfalls die Hand hoch. »Du hast meine
Frage nicht beantwortet, Shon Hu. Sieh her ... Aber ich bin mit vier Fingern und einem Daumen auf die Welt gekommen – du auch?« »Herr, ich ... ich weiß es nicht«, stotterte der Jäger verzweifelt. »Bestimmt nicht? Weißt du sicher, daß du es nicht weißt?« Shon Hu senkte den Kopf. »Herr, mein Vater hat mir auf dem Sterbebett anvertraut, daß die linke Hand ... entstellt gewesen sein muß. Aber der Finger war so klein, Herr, und diese Schande ließ sich leicht beseitigen ... Kein Mensch außer dir weiß davon.« Paul lächelte. »Sei unbesorgt, mein Freund, dein Geheimnis bleibt unter uns ... Ich frage mich nur, wie viele andere Kinder derart unvollkommen geboren werden.« »Ich weiß es nicht, Herr. Nicht viele, nehme ich an. Die Priester kommen zu den Eltern der Kinder und nehmen die Kleinen mit, die dann nie wieder gesehen werden.« »Weshalb ist es so schrecklich, vier Finger zu ha ben?« »Herr, die Menschen mit vier Fingern sind von Oruri verlassen. Sie stehen nicht mehr unter seinem Schutz.« »Glaubst du das wirklich?« »Herr«, antwortete der Jäger ernsthaft, »ich muß daran glauben. Es ist die Wahrheit.«
»Aber weshalb ist es die Wahrheit?« fragte Paul weiter. »Herr, ich kann dir nur erzählen, was ich selbst ge hört habe ... Vor vielen, vielen Jahren, noch bevor in Baya Nor ein Gott-König herrschte, waren die Bayani nicht alle gleich. Unter ihnen gab es einige, die größer als die anderen waren, hellere Haut besaßen und an jeder Hand vier Finger und einen Daumen hatten. Sie waren jedoch weniger zahlreich als die echten Bayani, die kleiner und dunkler waren – und vor allem nur drei Finger hatten ... Damals gab es viel Blutvergießen, Herr. Die Gro ßen mit den vier Fingern an jeder Hand glaubten, den Kleinen überlegen zu sein, die nur drei hatten. Sie mißbrauchten die Frauen der Dreier. Die Dreier setz ten sich zur Wehr und mißbrauchten ihrerseits die Frauen der Vierer. Daraufhin gab es eine dritte Gruppe in diesem Streit – eine größere Anzahl Aus gestoßener, die an einer Hand drei, an der anderen jedoch vier Finger hatten. Sogar innerhalb dieser Gruppe kam es zu Kämpfen, denn die Männer mit vier Fingern an der rechten Hand bildeten sich ein, denen überlegen zu sein, die vier Finger an der Lin ken hatten. Und so fand das Blutvergießen kein Ende, denn jede Gruppe behauptete, sie allein habe das Recht, die Geschicke des Volkes zu bestimmen.« »Mein Freund«, warf Paul ein, »es gibt nichts Neu
es unter der Sonne. Auch die Geschichte meines Vol kes berichtet von ähnlich unsinnigen Auseinander setzungen.« »Der Krieg der Finger hat also auch das Land jen seits des Himmels erreicht?« erkundigte Shon Hu sich verblüfft. »Nein«, antwortete Paul, »die Menschen meines Volkes haben zum Glück ohne Ausnahme vier Fin ger, deshalb mußten sie sich nach anderen Anlässen umsehen, um einen Krieg zu beginnen. Sie bekämpf ten einander, weil einige behaupteten, ihr Gott sei größer als alle anderen Götter, oder ihre Lebensweise sei besser als die Lebensweise der anderen oder helle Haut sei besser als dunkle.« Shon Hu lachte. »Dein Volk scheint in der Tat ein fachen Herzens zu sein, obwohl es andererseits viele seltsame Künste beherrscht.« »Vielleicht nicht weniger einfach als die Bayani«, antwortete Paul ernst. »Willst du nicht weitererzäh len, Shon Hu?« Der Jäger schien seine ursprünglichen Befürchtun gen überwunden zu haben, denn er lehnte sich be haglich zurück und warf Poul Mer Lo einen lächeln den Blick zu, bevor er fortfuhr: »Herr, so geschah es also, daß unter den Bayani mehr Haß als Liebe herrschte. Die Menschen fürchteten einander. Die Felder wurden nicht mehr bestellt, weil es zu gefähr
lich war, das Dorf allein zu verlassen. Die Jäger brachten keine Beute mehr nach Hause, denn sie sa hen, daß sie als Menschenjäger leichter und ange nehmer lebten. Die Frauen fürchteten sich davor, Kinder zu gebären, denn sie hatten Angst, ihre Kin der könnten zu viele oder zu wenige Finger haben. Es gab nicht viele, die an Altersschwäche starben, aber sehr viele, die im Kampf den Tod fanden oder heim tückisch ermordet wurden. Und im Lauf der Zeit nahm die Zahl der Bayani ständig ab, denn es ereig neten sich mehr Todesfälle als Geburten. Nun war of fenbar, daß Oruri zornig auf sein Volk herabsah und daß die Bayani bald nicht mehr sein würden, wenn sein Zorn nicht besänftigt werden konnte.« Paul seufzte. »Und das alles wegen der Zahl der Finger an den Händen der Menschen.« »Alles wegen der Finger an den Händen der Men schen«, bestätigte Shon Hu. »Aber dann wurde den Bayani eine Antwort zuteil – aus dem Mund des er sten Orakels, das bis zur völligen Erschöpfung fastete und dann mit Oruris Stimme sprach. Und die Stimme sagte: ›In eurer Mitte wird ein Mann erscheinen, der jetzt noch keine Macht besitzt, dessen Macht aber in Zukunft unbegrenzt sein soll. Und weil kein gewöhn licher Mann diese Macht ausüben kann, soll der Mann wie ein König unter euch leben. Und weil nie mand ewig lebt, soll er wie ein Gott sein. Der König
muß jedes Jahr sterben, damit der Gott wiedergebo ren wird.‹ Oruris Priester hörten diese Worte und fanden sie gut. Deshalb traten sie gemeinsam vor das Orakel und sagten: ›Du hast uns den Weg zur Erlösung ge wiesen – aber wie sollen wir diesen Mann erkennen, der als König und Gott unter uns leben wird?‹ Das Orakel erwiderte daraufhin: ›Ihr werdet nicht sein Gesicht, aber seinen Schnabel sehen. Ihr werdet nicht seine Hände, aber sein Federkleid sehen. Und ihr werdet nur den Schrei eines Vogels hören, der nie ge flogen ist.‹« Paul Marlowe schüttelte verblüfft den Kopf. »Ist der erste Gott-König tatsächlich auf diese Weise ent deckt worden?« fragte er Shon Hu. »Herr, die Priester verstanden nicht, was das Ora kel sagen wollte, und das Orakel gab keine Antwort auf ihre Fragen. Aber viele Tage später kam die große Entdeckung. Ein Priester des Ordens der Blinden – die damals noch keine Kapuze trugen, da sie den Gott-König noch nicht gesehen hatten – ging über die Kappafelder und sah plötzlich einen großen Vogel mit buntem Federkleid. Dieser Vogel stieß den Lock ruf der Milanyl-Vögel aus, deren Fleisch recht schmackhaft ist, obwohl die Tiere Raubvögel sind ... Aber, Herr, dieser Milanyl-Vogel hatte die Beine ei nes Menschen. Es war ein armer Jäger namens Enka
Ne, der auf diese Weise Beute zu machen suchte, da er zu geschwächt war, um wie ein Mann im Wald zu jagen.« »Und dieser Mann war also der erste Gott-König.« »Ja, Herr, Enka Ne war in der Tat der Gott-König, denn Oruri hatte ihm Weisheit geschenkt. Als er sich am gleichen Tag seinem Volk zeigte, versammelte er viele Jäger um sich. Dann legte er zum erstenmal vor den Augen der Bayani sein Federkleid ab und hob die Hände. Und das Volk sah, daß er an der linken Hand drei, an der rechten Hand jedoch Vier Finger hatte. Dann sagte Enka Ne mit lauter Stimme: ›Es ist Zeit, daß dem Morden und Blutvergießen in den Reihen meines Volkes Einhalt geboten wird. Es ist aber auch richtig und angebracht, daß die Hände aller Men schen gleich sind. Aber niemand kann die Zahl seiner Finger vermehren. Deshalb muß sich jeder glücklich schätzen, daß er sie immerhin verringern kann.‹ Mit diesen Worten streckte er seine rechte Hand aus und befahl dem Jäger neben ihm, er solle den kleinen Finger abhauen. Und dann sagte er zu seinem Volk: ›Wer weiterhin in Frieden in unserer Mitte le ben will, folge meinem Beispiel. Glücklich sind jene, die bereits so geboren sind. Noch glücklicher sind die anderen, die Oruri dieses kleine Opfer bringen dür fen. Verflucht seien alle, die nicht geben, wenn eine Gabe gefordert wird. Sie müssen unser Land verlas
sen, denn es kann keinen Frieden zwischen ihnen und uns geben.‹ Nachdem Enka Ne dies gesagt hatte, streckten viele Menschen den Jägern ihre Hände entgegen. Aber es gab auch heftige Kämpfe. Schließlich wurden alle, die das Opfer verweigerten, getötet oder vertrieben.« Der Himmel zwischen den Bäumen färbte sich be reits rosig. Die letzte Nachtwache war zu Ende. Paul stand auf und reckte sich. Er war sehr mit sich zu frieden, denn er hatte das Gefühl, das fehlende Stück des Puzzlespiels entdeckt zu haben. »Das war eine wunderbare Geschichte, Shon Hu«, stellte er fest. »Aber auch eine schreckliche Geschichte, Herr«, antwortete der Jäger. »Ich habe einmal davon gespro chen und darf es nicht wieder tun. Du hast mit eige nen Augen gesehen, daß der Schatten der Finger noch immer über Baya Nor liegt; selbst in unseren Tagen wird deswegen Blut vergossen. Die Gott-Könige lie ben keinen, der allzuviel davon weiß. Und sie haben keine sonderliche Vorliebe für alle, die entgegen Oru ris Wunsch mit zu vielen Fingern auf die Welt kom men.« Shon Hu stand ebenfalls auf und reckte sich. »Das kann ich mir lebhaft vorstellen ...«, murmelte Paul. »Ich bin dir dankbar, Shon Hu, weil du mir die se Dinge erzählt hast. Sprechen wir nun von den Lokhali.«
»Eines ihrer Dörfer, vielleicht sogar das größte, liegt hier in der Nähe am Fluß«, erklärte der Jäger ihm. »Es ist kaum zwei Stunden von unserem Lager platz entfernt. Zum Glück können wir das Wasser verlassen und durch den Urwald weitermarschieren, bevor wir auf das Dorf stoßen.« »Haben die Lokhali Boote, Shon Hu?« »Ja, Herr, aber ihre Boote sind klein und kentern leicht. Die Lokhali begeben sich nur im Notfall aufs Wasser, denn sie fürchten sich davor.« »Dann wäre es also sicherer, ihr Dorf auf dem Fluß zu passieren, anstatt es zu Fuß im Wald zu umge hen?« »Das ist möglich, Herr. Aber niemand kommt den Lokhali zu nahe, wenn es sich vermeiden läßt.« »Trotzdem möchte ich das Dorf gern sehen ... Ich ahne jetzt auch, weshalb Bayani und Lokhali einan der seit Jahrhunderten hassen und fürchten. Das Wort Lokhali bezeichnet Verfluchte, Verdammte und Ausgestoßene, nicht wahr?« »Richtig, Herr.« »Und die Lokhali«, fuhr Paul rücksichtslos fort, »scheinen es nicht seltsam zu finden, daß manche Menschen vier Finger und einen Daumen haben ... Meiner Auffassung nach, Shon Hu, sind die Bayani und die Lokhali früher einmal Brüder gewesen.«
28
Das Dorf am Fluß war geradezu erbärmlich winzig, wenn man es mit Baya Nor verglich, denn es wies nur ein einziges größeres Gebäude auf, das eine Art Tempel zu sein schien. Die übrigen Häuser waren kaum mehr als langgestreckte Hütten aus Balken und Lehmziegeln unter breiten Schilfdächern. Paul hatte Gelegenheit, das Dorf ausgiebig zu be trachten, während ihr Boot am anderen Ufer des Großen Flusses lag, wo es vor den Speeren und Pfei len der Lokhali sicher war. Falls Größe allein ein Bewertungsmaßstab war, mußte das Dorf eher als kleine Stadt bezeichnet wer den; die Häuser waren zwar primitiv, aber zahlreich, und sie waren einigermaßen planvoll entlang der Umfassungsmauer des Tempels errichtet. Um diese Zeit waren viele Lokhali unterwegs, und am Fluß standen dreißig oder mehr Frauen, die wu schen, Haushaltsgeräte säuberten und Kinder bade ten. Die Leute am Fluß zogen sich hastig auf das er höhte Ufer zurück, sobald sie das fremde Boot sahen. Ihr Geschrei lockte andere aus dem Dorf heran, die teilweise bewaffnet waren. Diese Bewaffneten, die Krieger oder Jäger zu sein schienen, drohten wütend zu Paul hinüber und schwangen ihre Speere; keiner
von ihnen wagte es jedoch, die primitiven Einbäume am Ufer zu besteigen und die Fremden zu verfolgen. Paul sah bald ein, daß es sinnlos war, hier auf In formationen über den Verbleib der restlichen Besat zungsmitglieder der Gloria Mundi zu hoffen. Aus die ser Entfernung konnte er nicht einmal zwischen Eu ropäern und Lokhali unterscheiden – es sei denn, die Europäer trügen noch immer ihre eigene Kleidung. Da Paul aber selbst notwendigerweise die bei den Bayani übliche Kleidung trug, mußte er annehmen, daß auch andere Überlebende sich den Sitten ihrer Gastgeber angepaßt hätten, deren Kleidung nur aus einem Lendenschurz bestand. Er war zutiefst enttäuscht, weil er diese Gelegen heit, zuverlässige Auskünfte einzuholen, nicht nutzen konnte. Aber war das wirklich ganz ausgeschlossen? Paul runzelte nachdenklich die Stirn. Dann nahm er sein Gewehr auf, visierte einen Punkt im Wasser etwa zwanzig Meter vor den versammelten Lokhali an und betätigte den Abzug. Ein leises Summen ertönte, dann schien das Wasser an dieser Stelle zu kochen und stieg plötzlich zu einer eindrucksvollen Wassersäule auf. Die Lokhali waren vor Ehrfurcht und Verblüffung wie gelähmt. Einige traten etwas zurück, aber die meisten starrten dieses Wunder wie hypnotisiert an. Paul war sich darüber im klaren, daß seine Vorstel
lung zwei Fliegen mit einer Klappe schlug. Sie ver hinderte, daß die Lokhali angesichts dieser Macht demonstration auf die Idee kamen, dem Boot am Ufer zu folgen, und sie bewirkte, daß die Nachricht vom Erscheinen der Fremden, die den Eingeborenen die ses Schauspiel geboten hatten, jedem anderen überle benden Europäer zeigte, daß er nicht der einzige Überlebende war. Er legte das Gewehr fort, hielt beide Hände an den Mund und rief laut: »Ich komme wieder ... Je reviens ... I will come back!« Sie ruderten weiter, und das Dorf blieb hinter ih nen zurück. Paul ließ es nicht aus den Augen, bis der Fluß nach Norden abbog und ihm die Sicht nahm. Kurz vor Mittag steuerte Shon Hu einen geeigneten Landeplatz an. »Wir müssen jetzt durch den Wald weiter, Herr«, erklärte er Paul, »sonst machen wir ei nen großen Umweg.« »Dann wollen wir essen und rasten«, entschied Paul. »Anschließend teilen wir unsere Ausrüstung auf, damit jeder das gleiche Gewicht zu tragen hat.« Nachdem sie das Boot entladen hatten, versenkten sie es in Ufernähe. Die Lokhali hätten es vielleicht ohnehin nicht gefunden; aber unter Wasser war es noch sicherer. Die größte Schwierigkeit bestand nur darin, es nach der Rückkehr vom Tempel der Weißen Dunkelheit selbst wiederzufinden. Natürlich konnten
sie Baya Nor auch zu Fuß erreichen, aber dieser Marsch wäre anstrengender – und gefährlicher. Nachmittags brach die kleine Gruppe unter Shon Hus Führung auf. Paul ging hinter ihm, und Zu Shan, der Nemo auf dem Rücken trug, folgte Paul. Die bei den anderen Jäger bildeten die Nachhut. Obwohl die Gruppe sich nur langsam und offenbar recht laut – Shon Hus gequälter Gesichtsausdruck ließ jedenfalls diese Vermutung zu – durch das Ge biet der Lokhali bewegte, ließen die eingeborenen Jä ger sich nicht ein einzigesmal sehen. Überraschen derweise tauchten auch kaum Tiere aus dem Urwald auf. Vielleicht traf Shon Hus Erklärung wirklich zu – er behauptete nämlich, sie machten solchen Lärm, daß alle Tiere des Dschungels entsetzt die Flucht er griffen. Am dritten Tag erreichten sie die Ausläufer des Urwalds, den sie ohne größere Zwischenfälle durch quert hatten. Der Wald endete jedoch nicht plötzlich, sondern wurde nur allmählich lichter, und Paul fiel zur gleichen Zeit auf, daß der Boden unter seinen Fü ßen weniger feucht war. Die Luft wurde merklich fri scher und kühler, und das Land vor ihnen stieg leicht an. Der Wald ging in eine weite Savanne über, aus der nur vereinzelte Bäume emporragten; das Gras wuchs hier so hoch, daß es den kleinen Bayani bis an die
Schultern reichte. Paul erkannte weit vor sich langge streckte Höhenrücken und dahinter weiße Berggipfel, die in der Sonne glitzerten. Einer der Gipfel schien al le anderen zu überragen. Paul starrte ihn lange an und wußte instinktiv, daß er den Tempel der Weißen Dunkelheit vor sich hatte. Vor Sonnenuntergang schlugen sie wie gewohnt ihr Lager auf. Da jetzt der Urwald hinter ihnen lag, in dem Mien Sho den Tod gefunden hatte, schienen die Jäger wieder so fröhlich und unbekümmert wie zu vor. Nach dem Essen wickelten sie sich zum Schutz vor der Nachtkälte in ihre Pelze und sprachen über wahre und erfundene Jagdabenteuer. Paul hörte ihnen kurze Zeit ohne großes Interesse zu, sah dann zu den Sternen auf, die erstmals seit längerer Zeit wieder über ihnen leuchteten, und dachte nach. Während dieser Reise in die Vergan genheit hatte er offenbar die Persönlichkeit und die Ansichten des Bayanis Poul Mer Lo weit hinter sich zurückgelassen. Er konnte sich die Verwandlung nicht logisch erklären, sondern wußte nur, daß er seit einigen Tagen als Paul Marlowe, Bürger der Erde, dachte, fühlte und handelte. Überraschend daran war vor allem, daß dieses Be wußtsein nicht länger schmerzte. Er war hier ge strandet, hatte Schiffbruch erlitten und konnte nicht damit rechnen, jemals wieder nach Hause zurückkeh
ren zu dürfen. Und trotzdem war er deswegen nicht etwa traurig ... Diese Erkenntnis verblüffte ihn.
29
Paul hörte eine laute und drängende Stimme in sei nem Kopf. Er war noch so verschlafen, daß er die Worte als Bestandteil eines Traumes erfaßte, den er eben zu träumen schien. Aber die Stimme ließ sich nicht zum Schweigen bringen, ließ sich nicht durch eine bewußte Willensanstrengung unterdrücken. Sie war unüberhörbar und wurde ständig lauter und drängender. Bis Paul sich schließlich erschrocken aufrichtete und fast entsetzt nach dem Sprecher suchte, dem die se unheimliche Stimme gehörte. Dabei sah er, daß die anderen ebenfalls aufrecht saßen. Auch sie lauschten wie erstarrt, als habe die Stimme, die keine Stimme war, sie gelähmt. Paul hörte ein weiteres Geräusch, konzentrierte sich darauf und erkannte Nemos leises Wimmern. Dann wurden seine Gedanken wieder von der lauten Stimme übertönt, die gebieterisch und drängend zugleich klang: »Fremde, hört jetzt die Stimme von Aru Re! Wollt ihr friedlich alt werden, kehrt um! Wollt ihr die Felder bestellen, Wollt ihr in den Wäldern jagen, Wollt ihr abends rasten, kehrt um!
Wollt ihr Frauen und Kinder haben, Wollt ihr mit Vätern und Brüdern feiern, Wollt ihr die Freuden des Lebens ernten, Wollt ihr eure Tage in Frieden beschließen, Nachdem ihr die Stimme von Aru Re vernommen, Kehrt um! Kehrt um! Kehrt um!« Die Stimme ohne Klang verstummte. Keiner der Männer bewegte sich. Shon Hu sprach als erster. »Herr«, flüsterte er hei ser, »wir haben Oruris Stimme gehört und leben trotzdem noch. Diese Reise steht unter einem schlech ten Stern. Wir müssen umkehren.« Paul bemühte sich verzweifelt, seine Gedanken zu ordnen. »Die Stimme hat auf Bayani zu dir gespro chen, Shon Hu?« »Laut und deutlich, Herr.« »Mich hat sie auf Englisch angesprochen – das ist die Sprache meines Heimatlandes.« »Oruris Geheimnisse sind uns schwachen Men schen nicht zugänglich, Herr.« »Nicht Oruris Geheimnisse«, verbesserte Paul ihn, »sondern Aru Res.« »Paul«, warf Zu Shan ein, »zu mir hat die Stimme auf Englisch und auf Bayani gesprochen.« Paul schwieg nachdenklich und antwortete dann: »Das kommt daher, weil du in beiden Sprachen den
ken kannst ... Wie steht es mit dir, Nemo? Geht es dir wieder besser?« Nemo wimmerte nicht mehr. »Ich fürchte mich«, gab er leise zu. »Ich ... ich kann mich nicht mehr an die Sprache erinnern.« Paul lächelte beruhigend. »Du bist nicht allein, Nemo. Wir haben alle Angst.« »Wir kehren also nach Baya Nor zurück?« fragte der Kleine erwartungsvoll. Paul fragte sich, ob er das Recht hatte, seine Beglei ter zu bitten, ihn nicht gerade jetzt im Stich zu lassen. Aber er konnte und wollte nicht umkehren; er würde seinen Vorsatz unter allen Umständen ausführen – selbst wenn er allein weitermarschieren mußte. Schließlich wandte er sich an die Jäger. »Ich habe viel von euch verlangt, meine Freunde und Brüder«, sagte er. »Wir haben gemeinsam Gefahren abge wehrt. Mien Sho, der unser Bruder war, ist dabei ge storben, und was jetzt vor uns liegt, birgt vielleicht neue Gefahren. Ich habe nicht das Recht, noch mehr von Männern zu fordern, die bereits großen Mut be wiesen haben ... Wer jetzt umkehren möchte, nach dem er Aru Res Stimme gehört hat, soll in Frieden von dannen ziehen; meine Gedanken und Gebete beglei ten ihn auf allen seinen Wegen. Ich bin damit zufrie den, daß Shon Hu mir gegenüber sein Versprechen erfüllt hat – er hat mir den Weg gewiesen. Ich werde
den Tempel der Weißen Dunkelheit erreichen, wenn es Oruri so gefällt. Ich habe gesprochen.« »Herr«, antwortete Shon Hu, »aus deinen Worten spricht wahre Größe. Ein Mann könnte nicht in besse rer Gesellschaft sterben. Es bleibt zu hoffen, daß Oru ri ein Einsehen hat und dies berücksichtigt, wenn die Zeit gekommen ist. Ich gehe mit dir.« Nach einer kurzen Pause ergriff einer der beiden anderen Jäger das Wort: »Wir schämen uns in Ge genwart von Poul Mer Lo und Shon Hu. Früher wa ren wir tapfere Männer. Vergib uns, Herr ... Einige Menschen sind offenbar unbegrenzt mutig; andere sind schwächer und bald am Ende ihrer Kräfte.« »Meine Brüder«, erwiderte Paul, »es gibt viele Mög lichkeiten, seinen Mut zu beweisen. Ich schätze mich glücklich, bis hierher in eurer Begleitung gelangt zu sein ... Geht bei Tagesanbruch und nehmt Zu Shan und Nemo mit; ich freue mich, daß ich sie in sicheren Hän den weiß, bis sie Baya Nor wieder erreichen.« »Herr«, wandte Zu Shan ein, »Enka Nes Geschenk bleibt bei dem Beschenkten ... Der Kleine hat eben falls den Wunsch, bei dir zu bleiben, glaube ich.« Nemo schien sich allmählich von seinem Schock zu erholen. »Der Kleine wünscht viel«, sagte er, »aber er möchte vor allem in Poul Mer Los Schatten bleiben.« Shon Hu lachte grimmig. »Wir befinden uns also in hervorragender Gesellschaft.«
»Und in solcher Gesellschaft«, stellte Paul gelassen fest, »können Männer Berge versetzen ... Hört nun meine Gedanken. Die fremde Stimme hat uns auf verschiedene Weise angesprochen. Mir gegenüber hat sie meine Muttersprache benützt und sich selbst als Aru Re bezeichnet; Shon Hu hat seine Sprache gehört, und Zu Shan kann sich erinnern, Englisch und Bayani gehört zu haben. Aber ich glaube, daß wir alle die gleiche Botschaft empfangen haben ... Zu Shan, wie hast du sie verstanden?« »Wir sollen umkehren, sonst müssen wir sterben.« »Aha«, sagte Paul triumphierend, »das habe ich mir gedacht. Aber die Stimme hat nur gesagt, wir sollten umkehren, falls wir bestimmte Dinge wünsch ten. Das war ein Ratschlag, eine Empfehlung, Zu Shan – aber kein Befehl. Die Stimme hat uns geraten, an dieser Stelle umzukehren, wenn wir Sicherheit, langes Leben, Zufriedenheit und Glück wünschten. Aber sie hat uns nicht gesagt, was wir tun sollten, wenn wir Erkenntnisse und Wissen höher als diese anderen Dinge einschätzten, nicht wahr?« Nach einer längeren Pause sagte Shon Hu schließ lich: »Herr, deine Worte bergen viele Geheimnisse. Ich verstehe nicht, in welche Richtung deine Gedan ken streben, aber ich habe meine Entscheidung ge troffen und werde mich daran halten.« »Ich wollte euch nur erklären«, antwortete Paul
geduldig, »daß die Stimme uns meiner Meinung nach nur zur Umkehr bewegen sollte, falls wir nicht ent schlossen und neugierig genug sind, trotz aller Wi derstände unseren Weg fortzusetzen.« Shon Hu zuckte resigniert mit den Schultern. »Wer dürfte noch zweifeln, wenn Oruri gesprochen hat?« »Aber wenn Aru Re auf Englisch spricht«, wandte Paul ein, »ist es angebracht, die Bedeutung sorgfälti ger zu untersuchen.« »Herr«, sagte einer der beiden Jäger, die nach Baya Nor zurückkehren wollten, »wir marschieren durch den Wald und lassen das Boot in seinem Versteck, denn wir hoffen sehr, daß Poul Mer Lo, der schon viele Wunder bewirkt hat, es bald wieder benötigen wird.«
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Sie hörten keine Stimmen mehr aus der Dunkelheit. Und Oruri – oder Aru Re – erschreckte sie auch bei Tageslicht nicht mit Worten ohne Laut und Ton. Nach weniger als fünf Stunden fiel Paul auf, daß das hohe Gras niedriger wurde. Kurze Zeit später reichte es ihm nur noch bis an die Knie. Dann war es kaum knöchelhoch. Die Luft wurde kälter, als sie die Hoch ebene erreichten. Vor ihnen – weniger als einen Tagesmarsch ent fernt – ragte die Bergkette auf, deren höchster Gipfel als der Tempel der Weißen Dunkelheit bezeichnet wurde. Zwischen ihnen und ihrem Ziel lag jetzt nur noch ein welliges Hügelland, das keine größeren Schwierigkeiten zu bieten schien. Aber Paul fühlte sich trotzdem plötzlich depri miert. In der klaren Bergluft erkannte er deutlich die steilen Felsabstürze unterhalb des Gipfels, auf dem ewiger Schnee in der Sonne glitzerte. Und am Fuß des Berges erstreckte sich ein mächtiger Gletscher – ein breiter Eisstrom, der sich vermutlich jedes Jahr ei nige Meter weit zu Tal bewegte. Als sie ihr letztes Lager aufschlugen, hörten sie von Zeit zu Zeit ein dumpfes Grollen und Murren, als sei der Berg sich ihrer Gegenwart bewußt und wolle sie
vor der Annäherung warnen. Die drei Bayani – der Mann, der Jugendliche und das Kind – hatten noch nie Lawinen gehört, und Paul gab sich große Mühe, ihnen diese Naturerscheinung begreiflich zu machen. Schließlich gab er den Versuch jedoch auf, weil er merkte, daß die Bayani ihn wirklich nicht verstehen konnten. Für sie war das Geräusch nur ein weiterer Beweis für Oruris Unwillen. Er starrte den Tempel der Weißen Dunkelheit zweifelnd an und fragte sich, an welcher Stelle er sei ne Suche beginnen sollte. Er war kein geübter Berg steiger. Und ihm fehlte die notwendige Ausrüstung. Er konnte es nicht verantworten, seine Begleiter, die in der Tiefebene aufgewachsen waren, durch Schnee und Eis mitzuschleppen. So nahe am Ziel und trotz dem so hilflos! Paul war an dieser Stelle erstmals be reit, die Möglichkeit einer Niederlage zuzugeben. Dann kam der Sonnenuntergang – und mit ihm ein Zeichen. Paul Marlowe hatte schon seit Jahren nicht mehr gebetet. Aber in diesem Augenblick fühlte er sich instinktiv dazu gedrängt. Weit vor ihm an der eisigen Flanke des Berges, hoch über den niedrigen bewaldeten Hügeln, sah er bei Sonnenuntergang für kurze Zeit eine Feuersäule aufflammen. Vor vielen, vielen Jahren hatte er in einem Land jenseits des Himmels eine ähnliche Erscheinung beo
bachtet. Er erinnerte sich noch deutlich an das Bild, als der polierte Rumpf der Gloria Mundi das Licht der untergehenden Sonne aus weiter Entfernung reflek tiert hatte.
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Paul Marlowe war allein. Er hatte seine drei Begleiter am Fuß des Gletschers zurückgelassen. Shon Hu war fast schneeblind, Zu Shan hatte in der ungewohnten Höhenluft fast ununterbrochen Nasenbluten, und der kleine Nemo, der dick in Pelze eingehüllt war, klagte über heftige Gelenkschmerzen. Paul hatte sie deshalb zurückgelassen und war kurz nach Tagesanbruch allein weitergestiegen. Er hatte ihnen gesagt, sie sollten sich unbedingt auf den Rückweg machen, falls er mittags noch nicht zurück sei, denn er glaubte zu wissen, daß die Bayani eine weitere eisige Nacht in dieser Höhe nicht überleben würden. Der Gletscher sah von unten sehr viel schwieriger aus, als er in Wirklichkeit war. Pauls Füße und Knö chel schmerzten schon nach kurzer Zeit, denn er fand auf den riesigen schrägen Eisplatten nur mühsam Halt, und seine Zehen waren völlig gefühllos, als sei en Eissplitter durch die Felle gedrungen, die er sich als Schuhersatz um die Füße gewickelt hatte. Aber ansonsten war Paul davon überzeugt, weiterhin in verhältnismäßig guter Form zu sein. Und jetzt hatte er sein Ziel fast erreicht – er stand vor einer der großen Metallplatten, aus denen die
drei unglaublich schlanken Teleskopbeine des gigan tischen Raumschiffs emporwuchsen. Die Platten la gen fest auf den Felsen im Windschatten des Berges auf und waren mit einer etwa drei Meter hohen durchsichtigen Eisschicht bedeckt. Die Teleskopbeine mußten über zwanzig Meter lang sein, und der mas sive Rumpf des Raumschiffs ragte weitere zweihun dert Meter über ihnen auf – wie der Glockenturm ei ner großen Kathedrale, die hier im Eis versunken war. Paul hielt schützend eine Hand über die Augen, um den fast unerträglichen Glanz etwas zu mildern, und sah bewundernd zu dem Raumschiff auf. Dann ertönte die Stimme, die keine Stimme war, wieder in seinem Kopf. »Ich bin schön, nicht wahr?« Paul hatte zuviel gesehen, um noch überrascht zu sein. Deshalb antwortete er nur ruhig: »Ja, du bist schön.« »Ich bin Aru Re – ›Marsvogel‹ in deiner Sprache. Ich warte hier seit über fünfzigtausend Planetenjah ren. Vielleicht muß ich weitere zehntausend Jahre Geduld haben, bis meine Kinder das Alter erreichen, in dem sie mich verstehen, denn ich bin Wächter und Bewahrer der Erinnerungen ihrer Rasse.« In Pauls Kopf schien sich plötzlich alles zu drehen. Er war ein Mensch der Erde, hatte den gefährlichen
Flug zu einem unbekannten Planeten gewagt, war über Flüsse, durch Urwälder, über Savannen und Gletscher bis hierher vorgedrungen – und stand nun vor einem telepathischen Raumschiff. Vor einem Raumschiff, das englisch sprach, sich selbst als Mars vogel bezeichnete und noch dazu behauptete, über fünfzigtausend Jahre alt zu sein. Paul hätte am lieb sten laut gelacht und geweint und den letzten Rest seiner Vernunft freiwillig aufgegeben. Aber das war nicht mehr nötig, denn er war offenbar bereits wahnsinnig. Offenbar hatte der Gletscher ihn besiegt, und er lag jetzt – der jämmerliche Überrest des Men schen Paul Marlowe – in irgendeiner Gletscherspalte, hatte sich in eine Phantasiewelt zurückgezogen und wartete darauf, daß die eisige Kälte dieses Trauer spiel beenden würde. »Nein, du bist nicht wahnsinnig«, sagte die tonlose Stimme. »Du bist auch nicht verletzt und liegst nicht im Sterben. Du bist Paul Marlowe von der Erde, und du bist der erste Mann, der entschlossen genug war, die Wahrheit zu erkennen. Öffne mir deinen Verstand völlig, dann zeige ich dir, was dir bis jetzt noch verborgen geblieben ist. Ich bin Aru Re, der Marsvogel ... Auch die Wahrheit ist schön.« »Eine Maschine!« brüllte Paul, der diese unmögli che Wirklichkeit nicht begreifen konnte. »Du bist nur eine Maschine – eine turmhohe Stahlröhre, in der ein
Computer mit eingebauter Paranoia steckt!« Er ver suchte sich zu beherrschen, aber das Schluchzen brach aus ihm hervor. »Schwindler! Betrüger! Hoch stapler! Verdammte Blechbüchse!« »Ja, ich bin eine Maschine«, erwiderte Aru Res Stimme geduldig, »aber ich bin größer als die Summe meiner Teile. Ich bin eine lebende Maschine, und ich bin als Wächter und Träger der Saat unsterblich. Ich bin den Menschen überlegen, die mich gebaut haben, obwohl meine Konstrukteure genial begabt waren.« »Eine Maschine!« murmelte Paul verzweifelt. »Nur eine verdammte Maschine!« Aber die Stimme gab nicht nach. »Und wie steht es mit Paul Marlowe, dem Besatzungsmitglied der Glo ria Mundi, dem widerstrebend geduldeten Bürger von Baya Nor, Poul Mer Lo, dem trotz aller Rückschläge unbeirrbaren Lehrer? Ist er nicht auch eine Maschine – eine Maschine aus Knochen und Fleisch und Träu men?« »Laß mich in Ruhe!« schluchzte Paul. »Laß mich endlich zufrieden!« »Ich kann dich nicht in Ruhe lassen«, erwiderte Aru Re, »denn du hast es vorgezogen, mich in meiner Ruhe zu stören. Du wolltest mehr wissen. Ich habe dich ge warnt und dir geraten, am Fuß des Berges umzukeh ren, aber du bist weiter vorgedrungen. Deshalb sollst du jetzt alles erfahren. Öffne mir deinen Verstand.«
Paul nahm undeutlich wahr, daß in seinem Kopf eine Schlacht tobte. Er wollte sie unter keinen Um ständen verlieren, denn er ahnte instinktiv, daß ihn diese Niederlage zeit seines Lebens verändern und beeinflussen würde. »Öffne mir deinen Verstand«, wiederholte das Raumschiff. Paul setzte sich mit letzter Kraft gegen den frem den Einfluß zur Wehr, dem er zu erliegen drohte. »Schließ die Augen und vergiß«, murmelte Aru Re. »Du hast eine lange Reise hinter dir und bist glück lich angekommen. Jetzt darfst du die Augen schlie ßen und alles vergessen.« Dieser plötzliche Wechsel der Methode traf Paul unvorbereitet. Er schloß müde die Augen und vergaß eine Sekunde lang, daß er eigentlich Widerstand lei sten mußte. Das war die Gelegenheit, auf die das Raumschiff gewartet hatte. Paul wußte plötzlich nicht mehr, wo er sich befand, sondern hatte das Gefühl, kopfüber in einen nachtschwarzen Abgrund zu stürzen. Dann hörte die scheinbare Bewegung auf, aber er wußte, daß er sich nicht mehr unterhalb des Raum schiffs auf dem Gletscher befand. Statt dessen schien er in einem dunklen Nichts zu schweben – im wärm sten, behaglichsten und schönsten Nichts des Univer sums.
Und plötzlich wurde es um ihn herum hell. Er sah auf die herrlichste Stadt herab, die er je ge sehen hatte. Sie wuchs – blühte wäre vielleicht ein besserer Ausdruck gewesen – aus einer Wüste empor. Die Wüste war keine irdische Wüste, und die Stadt war keine irdische Stadt, und die Männer und Frau en, die darin wohnten, stammten nicht von der Erde, obwohl sie mit ihrer braunen Haut und den schlan ken Körpern durchaus menschlich wirkten. »Diese Stadt auf dem Mars«, sagte Aru Re, »wuchs, welkte und starb, bevor es Menschen auf Sol III oder Altair V gab. Diese Stadt auf dem vierten Planeten deiner Sonne hatte zwanzig Millionen Einwohner und bestand länger, als die menschliche Zivilisation der Erde bis heute besteht. An deinen Maßstäben gemessen, war sie ein stabiles Gebilde – fast unsterb lich. Und trotzdem mußte sie sterben. Sie starb gleichzeitig mit dem gesamten Planeten im Krieg der Großen Städte, der zweihundertvierzig Marsjahre dauerte und schließlich nicht nur eine Zivilisation, sondern alles Leben auf dem Planeten vernichtete.« Die Szene veränderte sich rasch. Die Stadt schien vor Pauls Augen zu wachsen, kleiner zu werden und wieder zu wachsen, als atme irgendein phantasti scher Organismus regelmäßig ein und aus; dies war der Pulsschlag des Lebens – und des Todes. Paul er lebte die geschichtliche Entwicklung im Zeitraffer
tempo und sah riesige Gebäude, die zehn oder fünf zehn Kilometer lang sein mußten, in Sekundenbruch teilen errichtet und wieder zerstört. Die Menschen waren nicht einmal als Schatten zu sehen, denn ihre Lebensdauer war zu kurz. Und in Abständen von wenigen Sekunden zuckten in der Wüste und in der Stadt grelle Lichtblitze auf, denen seltsam geformte Rauchwolken folgten, die Paul nach Bildern aus Ge schichtsbüchern wiedererkannte – die pilzförmigen Wolkenformationen zeigten an, wo Atomsprengkör per detoniert waren. »So geschah es also«, fuhr Aru Re mit ausdruckslo ser Stimme fort, »daß die Zivilisation auf dem Mars Selbstmord beging ... Stelle dir eine Kultur und Tech nologie vor, Paul Marlowe, die deiner ebenso überle gen war, wie deine der Entwicklungsstufe der Baya nis überlegen ist. Stelle dir das vor und wisse, daß selbst eine Kultur dieser Art so verwundbar sein kann, wie es die Menschen stets gewesen sind ... Aber es gab auch andere – Menschen und Maschinen –, die das Ende voraussahen. Sie wußten, daß diese Zivili sation, die im Grunde genommen labil war, eines Ta ges vergehen würde. Aber sie wußten auch, daß sie imstande waren, rechtzeitig dafür zu sorgen, daß dreihundert Millionen Jahre menschlicher Evolution nicht vergebens blieben.« Die Szene veränderte sich nochmals und wurde
nun dunkler. Paul wußte nicht, woher er diese Infor mation hatte, wußte aber trotzdem bestimmt, daß er jetzt das Innere einer riesigen Höhle sah, die kilome tertief unter der Marsoberfläche lag. Hier wuchsen andere Strukturen, die ihn an seltsame schöne Sta lagmite erinnerten, aus dem rötlichen Fels. Unzählige Menschen und Maschinen bewegten sich wie Amei sen um, in und auf den schlanken Rümpfen. Die Ar beit schien unter Zeitdruck zu stehen, denn die Män ner gönnten sich kaum eine Pause. »Und hier wurden Raumschiffe gebaut – Behälter für die Saat eines sterbenden Planeten, die das Saat gut zu anderen Welten transportieren sollten, auf de nen der Mensch noch keine Spuren seiner Zerstö rungswut hinterlassen hatte ... In dieser Höhle wurde ich gemeinsam mit sechs anderen Schiffen gebaut, die identisch mit mir waren. Es wäre verhältnismäßig einfach gewesen, Schiffe zu bauen, die bloße Raum schiffe gewesen wären. Aber wir erhielten den Auf trag, Wächter zu sein – lebende Wächter aus Materia lien, denen weder feindliche Elemente noch die Zeit selbst etwas anhaben konnten. Unsere Aufgabe war es nicht nur, die Saat zu transportieren, sondern sie auch zu ernähren und vorzubereiten; und sobald die Saat erneut Wurzeln geschlagen hatte, sobald wieder eine Zivilisation erblüht war, würde es unsere Auf gabe sein, der Rasse ihre Erinnerungen zurückzuge
ben und ihr zu zeigen, welche Pflichten sie vergange nen und zukünftigen Generationen gegenüber zu er füllen hatte. Viele opferten ihr Leben, damit wir für diese Aufgabe programmiert werden konnten. Viele blieben zurück, damit wir einige wenige transportie ren konnten – die wenigen Menschen, die wie Kinder werden sollten, nachdem sie alles Wissen und alle persönlichen Erinnerungen verloren hatten, um die natürliche Unschuld des Menschengeschlechts zu rückzugewinnen, die Voraussetzung für ein neues Leben war.« Die Szene vor Pauls Augen veränderte sich wieder im Zeitraffertempo. Das Raumschiff wuchs und er reichte fast die Höhlendecke; dann wurde der Fels von einer unsichtbaren Kraft gespalten und aufgerissen. Zwei der großen Raumschiffe brachen in sich zusam men und lagen zertrümmert auf dem felsigen Boden, über dem sich jetzt der freie Himmel wölbte. Ein endlo ser Strom schattengleicher Gestalten, in denen Paul nur mit Mühe Frauen, Kinder und Männer erkannte, näherte sich den unzerstörten Raumschiffen und wur de von ihnen aufgenommen. Dann hüllte ein bläuli cher Feuerstrahl nacheinander die fünf Schiffe ein, die langsam abhoben, ihr Startgerüst rasch hinter sich lie ßen und in den dunklen Himmel aufstiegen. »So geschah es, daß der Exodus Wirklichkeit wur de«, fuhr Aru Re fort. »So geschah es, daß die Saat zu
den Sternen getragen wurde. Das erste Schiff landete auf Sirius IV, wo jetzt eine große Zivilisation heran reift; das zweite erreichte Alpha Centauri I, wo die Saat vertrocknete, bevor sie aufgehen konnte; ein drittes flog Prokyon II an, wo die Saat noch immer eine Saat ist, weil sich dort Mensch und Tier vorläufig kaum voneinander unterscheiden; das vierte Schiff, dem du begegnet bist, kam hierher nach Altair V, wo die Saat Wurzeln geschlagen hat, aber noch nicht er blüht ist; und das letzte Schiff unternahm die kürze ste Reise zu Sol III, dem Planeten, den du Erde nennst. Dort wuchs und gedieh die Saat, obwohl das Raumschiff zerstört wurde, als der Boden, auf dem es gelandet war, plötzlich im Meer versank. Es ist nun schon mehr als neun Jahrtausende her, daß die Insel, auf der das Raumschiff stand, in dem großen Meer versunken ist, das du als Atlantik kennst.« Phantastische Enthüllungen, unglaubliche Informa tionen und nie geahnte Möglichkeiten raubten ihm fast den Verstand. Die Bilder vor seinem inneren Auge wa ren jetzt verschwunden, und er schwebte wie zuvor in einem dunklen Nichts, in dessen geistiger Leere er nur dadurch bei Verstand bleiben konnte, daß er wirklich daran glaubte, diese Erklärungen von einem telepathi schen Raumschiff empfangen zu haben. »Dein Körper wird kalt«, sagte Aru Re plötzlich, »und wir haben kaum noch Zeit für die vielen Fra
gen, die dich jetzt beschäftigen. Ich muß dich bald zu rückschicken, aber zuvor will ich dir einige Antwor ten geben, nach denen du so verzweifelt suchst. Du hast recht, wenn du vermutest, daß mein Ge hirn aus einer Reihe Computer besteht, in denen die Erinnerungen Verstorbener gespeichert sind. Aber meine Computer sind unendlich weiter entwickelt als die Maschinen, die du als Computer kennst – sie sind so sehr von ihnen unterschieden, wie die Gloria Mun di sich von einfachen Lenkwaffen unterscheidet, aus denen sie hervorgegangen ist. Du möchtest wissen, weshalb ich deine Sprache beherrsche und deine Er innerungen kenne. Ich lese die Gedanken intelligen ter Lebewesen und lerne dabei ihre Sprache – die Er innerungen fallen mir von selbst zu. Du fragst dich, ob ich noch Verbindung zu den anderen Raumschif fen habe, die wie ich darauf warten, daß ihre Saat aufgeht. Ja, wir halten Verbindung zueinander und wissen, was auf den anderen Planeten geschieht, denn unsere Empathie, die von Anfang an bestanden hat, überwindet Raum und Zeit.« Paul glaubte ein titanisches Gelächter zu hören. »Findest du es wirklich so merkwürdig, Kleiner«, fragte Aru Re mit leisem Spott in der Stimme, »daß selbst eine Maschine sich einsam fühlen kann? Au ßerdem müssen wir erfahren, welche Saat zuerst die gewünschte Frucht trägt, denn erst dann wissen wir
sicher, daß unser Auftrag erfüllt ist ... Ich beantworte dir noch eine Frage, und dann mußt du zurückkeh ren, wenn du weiterleben willst. Du weißt nicht, was die Abweichungen in der Zahl der Finger dieser Rasse, die du entdeckt hast, zu bedeuten hat. Wäh rend der langen Reise hierher sind verschiedene Erb anlagen der Saat durch einen Unfall beeinflußt wor den, so daß Mutationen entstanden. Aber diese Ver änderungen sind unbedeutend. Im Lauf der Ge schichte spielen sie keine Rolle.« Wieder das titani sche Gelächter. »Du kannst dich darauf verlassen, Kleiner, daß auch die Bayani innerhalb der kommen den zwanzig oder fünfundzwanzig Generationen an jeder Hand vier Finger wie ihre Vorfahren auf dem Mars haben werden. Es bleibt nur zu hoffen, daß sie bis dahin ihren Selbstzerstörungstrieb überwinden ... Lebe wohl, Paul Marlowe. Dein Verstand ist allzusehr beansprucht und dein Körper hat lebenswichtige Wärme verloren ... Öffne die Augen!« Die Dunkelheit wich, und Paul fühlte wieder – Schmerzen und Erschöpfung und strenge Kälte. Er öffnete die Augen und stellte fest, daß er wie zuvor unterhalb des Raumschiffs stand. Hatte er die sen Platz nie verlassen? Er wußte es nicht. Vielleicht würde er es nie erfahren. Er sah sich langsam um, blinzelte angestrengt und bemühte sich, die Wirk lichkeiten einer realen Welt von neuem zu erfassen.
Seine schmerzenden Glieder halfen ihm, sich wieder auf praktische Erwägungen zu konzentrieren. Der ganze Körper war kalt und steif, als habe er lange im Schnee gelegen – oder als sei er erst vor wenigen Minu ten aus einem Kälteschlaf erwacht. Er legte eine Hand schützend über die Augen und sah zum Bug des gigan tischen Raumschiffs auf, dessen Teleskopbeine vor ihm aus dem Gletschereis emporragten. Zumindest an dieser Wirklichkeit brauchte er nicht zu zweifeln. Er betrachtete das Raumschiff nachdenklich. Dann flüsterte er: »Ja, du bist wirklich schön.« Er hatte Shon Hu und den beiden Jungen gesagt, sie sollten nur bis Mittag auf seine Rückkehr warten. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel. Paul fühlte sich schwach und erschöpft; aber er durfte keine Zeit verlieren, wenn er die anderen noch erreichen wollte, bevor sie sich auf den Weg nach Baya Nor machten. Plötzlich ging ein Zittern durch seinen Körper, und Paul hatte das Gefühl, flüssige Energie werde in sei nen Adern gepumpt. Er fühlte sich stärker als je zu vor und wußte, daß er diese Kraft Aru Re verdankte. Paul hob impulsiv den Arm zu einer kurzen Geste, die Dank und Abschied zugleich ausdrückte. Dann wandte er sich ab und stieg über den Glet scher zu Tal.
Zu Shan entdeckte ihn schon aus großer Entfernung. Shon Hu, der noch immer schneeblind war, konnte ihn nicht sehen. Und Nemo brauchte nichts zu sehen. Sein Ge sichtsausdruck zeigte Erstaunen, Begeisterung und sogar eine Art Ekstase. »Herr«, sagte er, als Paul endlich vor ihm stand, »ich habe versucht, auf deinen Gedanken zu reiten. Aber dieser Ritt war seltsamer als alle anderen zuvor. Ich bin immer wieder heruntergefallen.« »Ich bin ebenso heruntergefallen«, versicherte Paul ihm, »vielleicht sogar öfter als du.« »Wie geht es dir, Paul?« erkundigte Zu Shan sich. »Besser als seit langem«, antwortete Paul ehrlich. »Herr«, sagte Shon Hu, »ich sehe dein Gesicht nicht, aber ich höre deine Stimme, die mir deutlich zeigt, welchen Ausdruck dein Gesicht trägt ... Ich freue mich mit dir, daß du gefunden hast, was du finden wolltest ... Der Kleine hat von seltsamen Din gen gesprochen, Herr, die ein einfacher Mann wie ich nicht verstehen kann ... Ist es wahr, daß du mit Oruri gesprochen hast?« »Ja, Shon Hu, ich habe mit Oruri gesprochen. Kommt jetzt, meine Freunde, wir wollen aus dem Land der Götter in die Stadt der Menschen zurück kehren.«
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Die Bootsbesatzung bestand diesmal nur aus zwei Erwachsenen, aber Zu Shan erwies sich als gelehriger Helfer; er konnte das Boot schon nach kurzer Zeit al lein durch die Stromschnellen des Großen Flusses steuern, während Paul und Shon Hu ruderten. Zum Glück kamen sie flußabwärts verhältnismäßig schnell voran, so daß die beiden Männer nur rudern mußten, um das Boot auf geradem Kurs zu halten. Nemo lag wie gewöhnlich im Heck auf den Pelzen, massierte von Zeit zu Zeit seine schmerzenden Gelenke und bemühte sich, seine Freunde zu unterhalten. Der Marsch vom Tempel der Weißen Dunkelheit zum Fluß zurück war leichter gewesen, als Paul er wartet hatte. Das hatte vermutlich psychologische Gründe, denn sie waren alle erleichtert, daß sie ihr Ziel ohne größere Zwischenfälle erreicht hatten und sich jetzt auf dem Weg nach Hause befanden. Dazu kam noch, daß sie die Gefahren des Urwalds bereits aus eigener Anschauung kannten und daß Shon Hu einen hervorragenden Ortssinn besaß, mit dessen Hil fe sie das Flußufer kaum dreihundert Meter oberhalb der Stelle erreichten, an der sie das Boot versenkt hat ten. Shon Hus Schneeblindheit hatte sich rasch gebes
sert, sobald sie die Savanne vor sich hatten, wo sie ihr Lager aufschlugen und einen Tag und eine Nacht lang rasteten, bevor sie zum Marsch durch den Ur wald aufbrachen. Aru Re sprach nicht wieder zu ih nen, obwohl Paul sich aus reiner Neugier bemühte, telepathisch Verbindung mit ihm aufzunehmen. Aber das Raumschiff schien alles Interesse an ihm verloren zu haben, und Paul gab den offenbar zwecklosen Versuch nach kurzer Zeit auf. Obwohl sie das Boot ohne große Schwierigkeiten wiedergefunden hatten, brauchten sie einen ganzen Nachmittag, um es zu heben, von Schlamm zu säu bern und schwimmfähig zu machen. Paul, Shon Hu und Zu Shan waren danach so erschöpft, daß sie be schlossen, erst am nächsten Morgen weiterzufahren, obwohl die Abenddämmerung erst in einer Stunde hereinbrechen würde. Bis dahin war das Boot innen ausgetrocknet, und wenn sie kräftig ruderten, konn ten sie das Dorf der Lokhali weit hinter sich lassen, bevor sie wieder ein Lager aufschlagen mußten. Im Morgengrauen des folgenden Tages trieb das Boot flußabwärts, und Paul sah gespannt nach vorn, wo jetzt das Dorf sichtbar wurde. Um diese Zeit wa ren nicht viele Eingeborene am Ufer zu sehen, aber vier oder fünf Männer hockten in Ufernähe unter ei nem großen Baum und schnitzten Speerspitzen aus dunklem Hartholz. An einer anderen Stelle knieten
Frauen am Wasser und spülten Wäsche im Fluß. Et was weiter von ihnen entfernt stand eine Frau, die nicht zu arbeiten, sondern nur zu beobachten schien. Paul übergab sein Ruder Zu Shan und nahm das Gewehr auf. Selbst aus dieser Entfernung von etwa hundert Metern hatte er den Eindruck, die allein am Ufer stehende Frau unterscheide sich irgendwie von den anderen. Sie war allerdings so nackt wie die üb rigen Frauen, und ihre Haut war ebenso dunkel – aber sie hatte weiße Haare. Alle anderen waren dun kelhaarig. Aber diese einsame Gestalt hatte weißes Haar. Paul erinnerte sich mühsam an die weiblichen Be satzungsmitglieder der Gloria Mundi. Keine der sechs Frauen war weißhaarig gewesen. Mit Ausnahme der jungen Schwedin, die – selbstverständlich – blond gewesen war, hatten alle ziemlich dunkles Haar ge habt. Und Ann – Anns Haare waren rabenschwarz gewesen. Aber trotzdem fühlte er sich beim Anblick dieser einsamen Gestalt, die jetzt nur noch sechzig Meter weit von ihm entfernt war, irgendwie an Ann erin nert ... Paul hatte sich bereits einen Plan zurechtgelegt, nach dem er vorgehen wollte, falls er in einer Sied lung der Lokhali auf Überlebende der Gloria Mundi stieß, die sich frei bewegen konnten. Der Plan war
sehr einfach, denn Paul wußte, daß er keine Risiken eingehen durften. Ein direkter Angriff kam zum Bei spiel unter keinen Umständen in Frage – dazu war die Ladung des Gewehrs schon zu sehr erschöpft. Trotzdem hatte er drei Umstände auf seiner Seite: Er konnte überraschend handeln, besaß eine mächti ge Waffe und wußte, daß die Lokhali sich nur ungern aufs Wasser wagten. Shon Hu und Zu Shan waren darauf vorbereitet, das Boot auf Pauls Befehl anzuhalten. Jetzt mußte er nur noch ... Die Lokhali hatten das Boot gesehen; aber obwohl die Frauen ans Ufer kletterten, während die Männer ihre Speere aufnahmen, schien niemand die Absicht zu haben, die Fremden anzugreifen und zu vertrei ben. Die Eingeborenen blieben nur unbeweglich ste hen und starrten zu Paul hinüber. Auch die weißhaa rige Frau beobachtete ihn, konzentrierte ihre Auf merksamkeit aber vor allem auf die Waffe in seiner Hand. Als das Boot nur noch vierzig Meter vom Ufer ent fernt war, wußte Paul, daß jetzt oder nie der richtige Zeitpunkt gekommen war. Vermutlich lebten außer ihm keine Europäer mehr. Und selbst wenn andere Besatzungsmitglieder der Gloria Mundi am Leben ge blieben waren, durfte er kaum hoffen, sich mit ihnen in Verbindung setzen oder sie gar retten zu können ...
Und trotzdem ... Und trotzdem ... Die weißhaarige Frau schien seinen Blick zu erwidern. Jetzt hob sie sogar die rechte Hand – sollte das ein Zeichen für ihn sein? »Gloria Mundi!« rief Paul. »Gloria Mundi!« Er schwenkte das Gewehr. »Schnell ins Wasser! ... Venez ici ... Into the water – quick!« Die Frau setzte sich plötzlich in Bewegung, erreich te das Wasser, ließ sich hineinfallen und watete in den Fluß hinaus. Paul hatte den Eindruck, sie bewege sich nur im Zeitlupentempo. Aber wunderbarerweise schien niemand sie aufhalten zu wollen. Dann schrie eine der anderen Frauen auf, und der Bann war ge brochen. Die Krieger hoben wurfbereit ihre Speere, einer von ihnen rannte sogar hinter der Frau her, der das Wasser erst bis zu den Knien reichte, so daß sie noch nicht schwimmen konnte. »Schneller, verdammt noch mal!« brüllte Paul. »Los, schneller!« Er zielte über ihren Kopf hinweg auf eine Stelle im Wasser, die etwa fünf Meter vom Ufer entfernt war. Dann betätigte er den Abzug. Das Gewehr summte leise, und das Wasser begann zu brodeln und zu dampfen. Der Lokhali, der die Frau verfolgt hatte, blieb wie erstarrt stehen. Zwei Krieger schlossen zu ihm auf. Die Frau schwamm jetzt endlich, und das kochende Wasser stieg hinter
ihr wie ein Geiser auf, der die Verfolger abhielt und ihnen zudem die Sicht nahm. Dann versagte das Fegergewehr. Der winzige Re aktor hatte den nuklearen Gleichgewichtszustand er reicht und gab keine Energie mehr ab. Der Geiser sank in sich zusammen. Jetzt hielt nur noch das heiße Wasser die Lokhali auf. Aber das Wasser und die darüberliegende Dampfwolke wur den von der Strömung rasch flußabwärts getragen. Der erste Krieger warf seinen Speer, der genau zwischen der Frau und Pauls Boot ins Wasser klatsch te. Die Verfolgte war kaum noch zwanzig Meter vom Boot entfernt, aber sie kam nur langsam voran und schien seltsam erschöpft zu sein. Hätte Paul in dieser Sekunde seinen klaren Kopf behalten, wäre die Tragödie vielleicht noch zu ver meiden gewesen. Aber ihm wurde erst später klar, daß der Speer nicht der Fliehenden, sondern dem Boot gegolten hatte. Paul ließ das nutzlose Gewehr fallen und sprang ins Wasser, weil er hoffte, die Lokhali dadurch ablen ken zu können. Das war ein Fehler, denn bevor er wieder aufgetaucht war, hatten die Eingeborenen am Ufer sich von ihrem Schock erholt. Ihr lautes Geschrei lockte weitere Krieger an, die vom Dorf her zum Fluß rannten. Ein zweiter Speer klatschte dicht neben Paul ins
Wasser, dann zischte wieder einer durch die Luft, der ihn allerdings um fünf oder sechs Meter verfehlte. Paul erreichte die Frau mit wenigen kräftigen Schwimmstößen. Er konnte sich jetzt nicht damit auf halten, ihre Identität festzustellen. »Leg dich auf den Rücken!« rief er ihr zu. »Ich zie he dich!« Sie drehte sich gehorsam um. Paul faßte sie unter den Achseln und schwamm mit ihr zum Boot zurück. Plötzlich spürte er einen Schlag, und die Frau zuckte zusammen und stieß einen leisen Schrei aus. Er achte te nicht weiter darauf, denn er war nur darauf be dacht, das Boot zu erreichen, wo sie verhältnismäßig sicher sein würden. Irgendwie schaffte er es tatsächlich, dieses Ziel zu erreichen. Als Shon Hu die Frau an Bord zog, sah Paul den kurzen Speer, der aus ihrem Magen ragte, und den dunklen Blutstrom, der über die braune Haut floß. Dann kletterte er selbst ins Boot, keuchte vor An strengung und starrte Anns verzerrte, aber deutlich erkennbare Züge an. »Zieh ihn heraus«, flüsterte sie. »Um Gottes willen, zieh ihn heraus.« Dann verlor sie das Bewußtsein.
33
Shon Hu zog schließlich den Speer mit einem Ruck heraus. Paul zitterte am ganzen Leib, schluchzte fas sungslos und war zu nichts zu gebrauchen. Zu Shan und Nemo schafften es irgendwie, das Boot gemein sam aus der Gefahrenzone zu rudern; jetzt trieb es bereits weit unterhalb des Dorfes, so daß sie von den Lokhali nichts mehr zu befürchten hatten. Paul beherrschte sich mit einer gewaltigen An strengung, bevor Ann wieder die Augen öffnete. »Du hast doch recht gehabt«, murmelte sie. »Es war eine Verabredung in Samaria, nicht wahr?« Im ersten Augenblick wußte er nicht, was sie damit sagen wollte. Dann fiel ihm alles ein. Die Gloria Mun di. Champagner auf dem Navigationsdeck, nachdem sie die Löcher zugeschweißt hatten, die der Meteor hinterlassen hatte. Philosophische Gespräche über Al tair. Dann hatte Ann von Finagles Zweitem Gesetz er zählt – »Wenn die Möglichkeit besteht, daß etwas schiefgeht, geht es unweigerlich schief.« Und Paul hatte die Geschichte des Dieners erwähnt, der seinen Herrn um ein schnelles Pferd bittet, um vor dem Tod nach Samaria fliehen zu können – ohne zu ahnen, daß der Tod eben dort auf ihn wartet.
»Ann, Liebling ...« Er starrte sie hilflos an. »Es ist bestimmt nicht so schlimm, wie es jetzt aussieht.« Sie richtete sich mit seiner Hilfe von den Pelzen auf, die Shon Hu für sie ausgebreitet hatte, und be trachtete ihre Verletzung mit geradezu professionel lem Interesse. »Es tut jetzt nicht mehr sehr weh«, sagte sie ruhig. »Das ist kein gutes Zeichen. Nur venöses, aber kein ar terielles Blut ... Das hätte ich nicht erwartet ... Aber für mich gibt es keine Rettung mehr ... Vielleicht dauert es noch lange ... Du mußt mir helfen, Paul. Wahrschein lich habe ich später heftigen Durst ... Normalerweise würde ich dem Patienten nur kleinste Mengen Flüssig keit verabreichen, aber in diesem Fall spielt es keine Rolle mehr ... Falls du es schaffst, die Wunde zu verstopfen, ohne mir allzusehr weh zu tun, wird der Blutverlust natürlich geringer.« Sie schloß erschöpft die Augen. Paul ließ sie lang sam auf die Pelze zurücksinken. »Alles ist recht«, keuchte Ann. »Ein Tuchfetzen, ein Stück Leder – alles.« Paul riß einen langen Streifen von seinem Hemd ab, legte ihn zusammen und versuchte ihn in die of fene Wunde zu stopfen. Ann schrie auf. Shon Hu gab Zu Shan ein Zeichen und legte sein Ruder aus der Hand. Er kam heran, kniete neben Ann und betrachtete
sie aufmerksam. Dann wandte er sich an Paul. »Herr, was braucht diese Frau?« »Ich muß diesen Lappen in die Wunde stopfen«, erklärte Paul ihm. »Aber ... aber das tut ihr zu weh.« »Herr, dagegen gibt es ein Mittel. Sei bereit, wenn ich dir zunicke.« Shon Hu legte beide Hände an Anns Schläfen und drückte sanft, aber trotzdem fest zu. Sie setzte sich schwach zur Wehr, weil sie nicht wußte, was er woll te, aber dann schloß sie plötzlich die Augen. Ihr Kör per lag völlig entspannt auf den Pelzen. Shon Hu nickte und nahm die Hände von Anns Schläfen. Paul stopfte den Lappen fest in die Wunde. Sekunden später öffnete Ann wieder die Augen. »Ich habe mir immer eingebildet, du seist zur Erde zurückgeflogen«, murmelte sie. »Das war mein einzi ger Trost ... Ich habe jeden Abend daran gedacht: Zum Glück ist wenigstens Paul in Sicherheit und auf dem Weg nach Hause ... Was ist aus der Gloria Mundi geworden?« »Sie hat sich wie vorgesehen selbst zerstört, nach dem wir drei das Schiff verlassen hatten, um nach euch und den anderen zu suchen.« Ann hustete mit schmerzverzerrtem Gesicht und umklammerte dabei Pauls Hand. Als der Anfall vor über war, sagte sie leise: »Dann hat unser Unterneh men also doch mit einer völligen Katastrophe geendet
... Zwölf Menschenleben vergeudet – einfach ohne Sinn und Zweck vergeudet.« »Nein, du irrst dich«, widersprach Paul. Dann sah er auf ihr Gesicht herab und merkte, wie dumm seine Feststellung gewesen war. Er streichelte zärtlich ihre weißen Haare. »Verzeih mir, Ann. Ich bin ein Narr. Aber ich habe etwas Wunderbares entdeckt, das ... das jedes Opfer rechtfertigt ... Wahrscheinlich hältst du mich jetzt für verrückt – aber es stimmt wirklich.« Ann versuchte zu lächeln. »Du mußt mir von dei ner wunderbaren Entdeckung erzählen ... Ich lasse mich gern damit trösten, daß nicht alles vergeblich gewesen ist.« »Du mußt dich jetzt ausruhen. Vielleicht kannst du schlafen ... Du darfst nicht zuviel sprechen.« »Ich schlafe bald für immer«, versicherte sie ihm grimmig. »Und du kannst unbesorgt sprechen ... Er zähl mir von deiner Entdeckung.« Paul gab eine kurze Zusammenfassung seiner Er lebnisse, seitdem er von den Bayani gefangenge nommen worden war und Freundschaft mit Enka Ne geschlossen hatte, der als Shah Shan bei ihm Eng lischunterricht genommen hatte. Er erzählte Ann von Oruri, dem höchsten Gott der Bayani, und schilderte seine Reise zum Tempel der Weißen Dunkelheit. Und schließlich berichtete er von seinem Zusammentref fen mit Aru Re.
Während er sprach, schloß Ann gelegentlich die Augen und schien fast nicht mehr bei Bewußtsein zu sein. Paul konnte nicht beurteilen, wieviel sie von seiner Erzählung verstand – oder ob sie überhaupt begriff, was er sagte. Aber er sprach trotzdem weiter, damit sie seine vertraute Stimme weiterhin hörte, falls sie nur erschöpft die Augen geschlossen hatte, ohne wirklich bewußtlos zu sein. Kurze Zeit später erschien ihm alles völlig unwirk lich. Er war nie bis zu Aru Re vorgedrungen. Er saß nicht einmal in diesem Boot, das auf einem Fluß durch den Urwald trieb, und sprach nicht mit einer Sterbenden. Er träumte nur. Wahrscheinlich befand er sich noch immer im Kälteschlaf an Bord der Gloria Mundi – und sein Verstand rebellierte gegen dieses unnatürliche Dasein, indem er eine Phantasiewelt schuf und ihm Ereignisse vorgaukelte, die unmöglich wahr sein konnten. Aber er würde bald wieder aufge taut werden. Und dann würde er endlich bewußt le ben. Ihm fiel plötzlich auf, daß er nicht mehr sprach. Ann hatte die Augen geöffnet und starrte ihn an. »Ja, du hast recht«, flüsterte sie mit schwacher Stimme. »Es hat sich doch gelohnt ... Ich ... ich weiß nicht bestimmt, ob ich alles richtig verstanden habe – in meinem Kopf geht alles durcheinander. Aber wenn Aru Re wirklich das ist, was ich glaube, hast du die
wunderbarste Entdeckung aller Zeiten gemacht ... Oh, Paul ... Es tut mir so leid ...« Ihre Stimme versag te. Paul hatte Tränen in den Augen. »Aber ich kann niemand davon erzählen«, brach es verzweifelt aus ihm hervor. »Niemand, nur ...« Er sprach nicht wei ter. »Nur einer Sterbenden?« Ann lächelte. »Du mußt leben, Paul. Einfach nur leben ... Das ist die schwerere Aufgabe, fürchte ich.« Er küßte sie auf die Stirn. Dort bildeten sich große Schweißperlen. Aber die Haut war kalt. »Wenn ich nur wüßte ... mein Gott, wenn ich nur wüßte, was den anderen zugestoßen ist!« Da Ann überlebt hatte – jedenfalls bis zu dem Tag, an dem er dummerweise den Helden gespielt und dieses Unglück verschuldet hatte –, konnten doch auch andere noch am Leben sein! Gelang es ihm, sie irgendwo aufzuspüren, hatte er wenigstens mensch liche Gesellschaft. Nein! Das war eine unsinnige Vor stellung. Er hatte bereits Zu Shan, Nemo und Shon Hu. Gute, sehr gute, menschliche Gesellschaft. Aber trotzdem irgendwie fremdartig. Durchaus mensch lich, aber fremdartig. Fremde an fernen Ufern ... »Du weißt, was euch drei Männern zugestoßen ist«, fuhr Ann mit schwacher Stimme fort. »Ich ... es tut mir wirklich leid, Paul, aber ich kann dir sagen,
was den anderen passiert ist ... Es war schon am er sten Abend, nachdem wir die Gloria Mundi verlassen hatten.« Sie lachte leise, aber aus dem Lachen wurde ein Hustenanfall, der ihr heftige Schmerzen bereitete; Ann konnte erst nach einiger Zeit weitersprechen. »Du erinnerst dich wahrscheinlich noch daran, daß wir nach den Franzosen, Schweden und Holländern suchen sollten ... Es hat lange gedauert, bis ich erfah ren habe, was aus ihnen geworden war, aber das er zähle ich dir gleich ... O Gott, Paul! Wir waren so selbstsicher – so überlegen! Wir waren Wissenschaft ler. Wir hatten Waffen. Wir waren intelligent. Aber die wichtigste Erfahrung fehlte uns allen – keiner von uns wußte, wie man im Urwald lebt. Wir waren so zuversichtlich – so leichte Beute ... Wir liefen einer Gruppe von Jägern geradewegs in die Arme und hat ten nicht einmal Gelegenheit, einen einzigen Schuß abzugeben. Die Lokh nahmen uns alles weg – unsere ganze schöne Ausrüstung wurde achtlos fortgewor fen, weil diese Wilden nichts damit anfangen konnten – und fesselten uns mit Lianen ... Die Italienerin hörte nicht auf zu schreien, deshalb wurde sie ermordet ... Die Jäger waren nicht brutal, sondern wollten sich nur selbst schützen. Sie mußten verhindern, daß wir unsere Freunde oder Raubtiere anlockten ... Lisa – er innerst du dich noch an Lisa? – blieb ganz ruhig. Hät te sie mir nicht ein gutes Beispiel gegeben, wäre ich
vermutlich aus dem gleichen Grund wie Franca ge storben. Aber sie sorgte dafür, daß ich den Mund hielt, als wir ins Dorf geschleppt wurden ... Dort be handelten die Eingeborenen uns als Gefangene. Sie waren nicht grausam, sondern nur neugierig ... Wir müssen sie wirklich verblüfft haben ... Dann lernten wir allmählich ihre Sprache. Wir versuchten ihnen zu erklären, wie wir nach Altair V gekommen waren. Aber das hatte keinen Zweck. Sie glaubten uns doch nicht ... Nach einiger Zeit durften wir uns frei bewe gen – mehr oder weniger. Schließlich wußten wir nicht einmal, wohin wir uns hätten wenden sollen ... Die arme Lisa hat sich vergiftet ... Sie hat einfach alle Früchte, Blüten und Wurzeln gegessen, die sie erwi schen konnte, bis sie etwas fand, das die gewünschte Wirkung hatte. Die Lokh konnten sich nicht vorstel len, was sie beabsichtigte. Sie lachten nur darüber, und Lisa war für sie eine Art Dorftrottel geworden ... Vielleicht kommt es dir lächerlich vor, aber ich hing trotz allem noch am Leben. Deshalb bemühte ich mich, eine nützliche Arbeit zu finden. Ich erinnerte mich an meine Ausbildung und spielte wieder Ärztin ... Im Lauf der Zeit wurde ich im Dorf ganz beliebt ... Und so war es, bis du plötzlich kamst. Die Tage gin gen einfach ineinander über. Ich lebte ohne Vergan genheit und Zukunft. Einmal dachte ich sogar, ich müßte wahnsinnig werden ... Aber ich wurde es doch
nicht ... Das ist eigentlich alles ... Und jetzt dieses En de ...« Sie sah lächelnd zu ihm auf. »Finagles Zweites Gesetz – erinnerst du dich noch?« Paul küßte ihre Hand. »Liebling. Mein armer Lieb ling.« »Oh, ich wollte dir von den anderen erzählen«, fuhr Ann fort. »Die Steinzeit hat sie besiegt. Ist das nicht komisch? Sie hätten eine moderne Armee aus dem Felde schlagen können, aber die Steinzeit ist Sie ger geblieben.« Er starrte sie verblüfft an. »Tut mir leid«, murmelte Ann. »Du brauchst nicht wissen, wovon ich spreche ... Im Wald gibt es ver schiedene Arten von Raubtieren, und die Lokh schüt zen ihr Dorf vor diesen Bestien, indem sie gut ver steckte Fallgruben anlegen. Die Tarnung ist wirklich ausgezeichnet. Ich bin selbst mehrmals fast hineinge stolpert ... Diese Fallgruben, in deren Boden zuge spitzte Pfähle eingerammt werden, liegen rings um die Siedlung verteilt in den Wäldern. Die Jäger gehen von Zeit zu Zeit hinaus und sehen sich an, was sie ge fangen haben ... Eines Tages nahmen sie mich mit und zeigten mir eine Fallgrube. Am Boden lagen Panzerwesten, Fegergewehre, Funkgeräte und ... sechs Skelette ... Die Steinzeit hatte das einundzwan zigste Jahrhundert besiegt ... Und die Lokh bildeten sich ein, mir einen Gefallen zu tun, als sie mir zeigten,
was meinen Gefährten zugestoßen war ... Damals dachte ich, ich müßte den Verstand verlieren.« »Ann«, flüsterte Paul und wischte ihr den Schweiß von der Stirn, »ich bin ein Narr – ein schrecklicher Narr. Ich hätte nicht zulassen dürfen, daß du dich so anstrengst. Bitte, bitte, sprich jetzt nicht mehr, son dern ruh dich aus, damit du bei Kräften bleibst.« »Es dauert nicht mehr lange«, murmelte sie. »Es dauert ... bestimmt nicht mehr lange ... Du darfst dir keine Vorwürfe machen, Liebster.« Sie lächelte und schloß die Augen. »Immerhin habe ich ... meinen Mann ... noch einmal gesehen ... Caxton Hall, zehn Uhr dreißig ... Eine rote Nelke ... Du hast gut ausge sehen – aber ein bißchen ängstlich.« Sie hustete wieder und hatte diesmal Blut auf den Lippen. Der Anfall schwächte sie sehr, aber sie schien keine Schmerzen mehr zu haben. »Nicht mehr lange«, flüsterte sie heiser. »Ich hätte gehofft ... Das Blut ... Nimm mich in die Arme, Paul. Halt mich fest ... Ich fühle mich so einsam ... Nachher der Fluß ... Alles wird fortgespült ... alles wird sauber ...« Paul hielt sie in den Armen und drückte sie an sich. Seine Tränen fielen schwer auf ihr Haar und versik kerten darin. »Liebling, Liebste«, schluchzte er fassungslos. »Du darfst nicht sterben. Das lasse ich nicht zu ... Ich lasse
dich nicht sterben ... Ich muß denken. Gott, ich muß denken ... Ein Verband – ja, das ist es. Ein richtiger Verband. Und wenn wir dann nach Baya Nor kom men, wirst du ...« Er schwieg betroffen. Ann hatte keinen Laut und keinen Seufzer von sich gegeben. Sie hing einfach nur schlaff in seinen Ar men. Er sprach mit einer Toten. Paul blieb lange unbeweglich sitzen. Er konnte nicht mehr klar denken und nahm kaum seine Um gebung wahr. Dann spürte er Shon Hus Hand auf seiner Schulter. »Herr«, sagte der Bayani leise, »sie folgt Oruris Ruf. Laß sie in Frieden ziehen.« Sie wickelten die Leiche in Pelze und beschwerten sie mit Steinen. Dann versank Ann Victoria Marlowe im dunklen Wasser des Großen Flusses jenseits des Himmels, wie sie es sich gewünscht hatte.
34
Paul Marlowe starrte in die Asche seines Hauses und fühlte eine große Leere in seinem Innern. In den letz ten Tagen war so viel geschehen, daß er selbst bei diesem Anblick weder Trauer noch Schmerz empfin den konnte. Vielleicht war er später imstande, diese Tragödie ganz zu erfassen. Aber er fragte sich schon jetzt, ob sie ihn dann zu Tränen rühren würde. Die Fahrt auf dem Kanal des Lebens war ohne wei tere Zwischenfälle verlaufen – zumindest vermutete Paul, daß sich nichts Neues ereignet hatte. Nach Anns Tod war er zu erschüttert gewesen, um sich mit den Dingen zu befassen, die im Augenblick getan werden mußten. Deshalb hatte Shon Hu den Befehl über nommen, und Paul war die ganze Zeit über schwei gend auf seinem Platz im Heck des Bootes geblieben. Aber als sie sich Baya Nor näherten, klang der Schock allmählich ab. Paul konnte wieder denken und sah endlich ein, daß seine Reise trotz aller Tra gödien erfolgreich gewesen war, daß er die wichtigste Entdeckung in der Geschichte der Menschheit ge macht hatte und daß er sich wieder auf dem Nach hauseweg befand. Diese letzte Erkenntnis war aller dings etwas erschütternd. Früher hatte er irgendwo auf der Erde ein Zuhause besessen – aber daran erin
nerte er sich kaum. Jetzt lag sein Zuhause auf Altair V – und in diesem Fall hatte er ganz bestimmte Vorstel lungen davon ... Das Boot war nur noch wenige Stunden von Baya Nor entfernt, als Paul Marlowe sich endlich soweit aufraffte, daß er an Enka Ne denken konnte. Seine Reise zum Tempel der Weißen Dunkelheit hatte den Gott-König nicht nur in seiner Autorität herausgefor dert, sondern ihn auch gedemütigt. Er hatte Enka Ne gedemütigt, als er das Boot der Verfolger kentern ließ, so daß die Krieger des Gott-Königs sich schwimmend aus dem Kanal retten mußten. Um sein Gesicht zu wahren, würde Enka Ne es vielleicht vorziehen, diesen Zwischenfall zu ignorie ren. Aber das war nach Pauls Meinung ziemlich un wahrscheinlich. Sehr viel wahrscheinlicher war es schon, daß der Gott-König sich bei nächster Gelegen heit an ihm zu rächen versuchte. Aus diesem Grund hatte Paul nicht zugelassen, daß Shon Hu und Zu Shan das Boot bis in die Stadt zu rückruderten. Er hatte sie angewiesen, etwa eine Stunde von Baya Nor entfernt am Kanal des Lebens auf ihn zu warten, während er zu Fuß weiterging und nach Möglichkeit die allgemeine Stimmung sondier te. Falls er nicht am gleichen Tag zurückkehrte, soll ten sie sich einige Tage lang im Wald verborgen hal ten, bis der erste Zorn des Gott-Königs verraucht war
– oder bis es Paul gelungen war, sich selbst als Allein schuldigen hinzustellen. Es hatte nachts geregnet, aber der Tag schien heiß zu werden, und die Erde dampfte. Und jetzt stand Paul Marlowe vor den traurigen Überresten seines verbrannten Hauses. Der Junge Tsong Tsong, den er als Gesellschafter für Mylai Tui zurückgelassen hatte, wartete schweigend hinter ihm. Tsong Tsong wirkte ebenso jämmerlich wie die brandgeschwärzten Trümmer. Er war nie sonderlich aufgeweckt oder intelligent gewesen und sah jetzt in seinem halbverhungerten Zustand noch mitleiderre gender als sonst aus. Poul Mer Lo, sein Herr und Meister, hatte ihm befohlen, stets in der Nähe des Hauses zu bleiben. Das Kind hatte diesen Befehl wörtlich genommen, und selbst als das Haus nieder gebrannt und Mylai Tui gestorben war, hatte Tsong Tsong an dieser Stelle Wache gehalten, bis Poul Mer Lo endlich zurückkehrte. Wäre er nie zurückgekommen, hätte Tsong Tsong seinen Posten vermutlich trotzdem nicht verlassen, sondern wäre hier verhungert, überlegte Paul sich. Er streichelte den Kopf des Jungen, betrachtete mit leidig das schmutzige Gesicht mit den eingefallenen Wangen und ließ sich berichten, was vorgegangen war. »Herr«, begann Tsong Tsong stockend, »es war
vielleicht am Morgen des Tages, nachdem du die große Reise begonnen hattest ... Oder am Morgen des Tages darauf ... Ich bin hungrig gewesen, Herr, und kann mich nicht mehr an diese Dinge erinnern ... Es waren viele Krieger. Der Gott-König hatte sie hier hergeschickt ... Es war ein schöner Morgen, denn ich hatte viel Fleisch gegessen, das Mylai Tui nicht essen konnte ... Sie war eine gute Köchin, Herr, obwohl sie beim Kochen oft weinen mußte. Vielleicht war der Rauch nicht gut für ihre Augen ... Aber das Fleisch war ausgezeichnet.« »Tsong Tsong«, warf Paul ein, »du wolltest mir von den Kriegern erzählen.« »Ja, Herr ... Die Krieger kamen hierher ... Sie trie ben Mylai Tui aus dem Haus. Sie war zornig, und es fielen laute Worte ... Ich ... ich versteckte mich, Herr, denn es ist bekannt, daß Enka Nes Krieger ungedul dig sind. Da sie nicht auf mich achteten, und da ich mich sehr fürchtete, suchte ich in der Nähe nach ei nem Versteck ... Mein Herr versteht doch, daß es viel leicht nicht gut für mich gewesen wäre, wenn ich ge blieben wäre?« »Ja, ich verstehe, Tsong Tsong. Erzähl mir, was ge schehen ist.« »Die Krieger sagten, sie müßten das Haus nieder brennen, und das konnte ich nicht verstehen, denn es ist doch bekannt, daß Poul Mer Lo allseits geehrt und
geachtet wird ... Es war sehr seltsam, Herr. Als Mylai Tui sah, daß die Krieger Feuer legten, schien Oruri sie angerührt zu haben. Sie zitterte am ganzen Leib und sprach mit lauter Stimme und weinte heftig ... Sie woll te ins Haus zurück, das bereits brannte, und rief Worte, die ich nicht verstand. Aber einer der Krieger hielt sie fest. Ich war sehr erschrocken, Herr ... Und die Flam men schlugen über dem Haus zusammen. Und Mylai Tui ergriff einen Dreizack und verwundete den Mann, der sie festhielt ... Und dann ... und dann starb sie.« Paul senkte den Kopf und legte Tsong Tsong eine Hand auf die Schulter. »Wie ist sie gestorben?« er kundigte er sich. Der Junge sah überrascht zu ihm auf. »Ein Krieger hat sie getötet.« »Es war ... es war schnell?« »Herr, Enka Nes Krieger brauchen nicht zweimal zuzustoßen ... Ich bin seitdem sehr hungrig gewesen. Unter der Asche war noch etwas Kappa, aber die Körner waren schwarz und schmeckten nach Feuer. Mein Bauch war unglücklich ... Vergib mir, Herr, aber hast du etwas zu essen mitgebracht?« Paul runzelte nachdenklich die Stirn. »Hör gut zu, Tsong Tsong«, sagte er dann. »Du mußt einen Auf trag für mich erledigen, dann bekommst du viel zu essen ... Kannst du noch gehen?« »Ja, Herr, aber ich tue es nicht gern.«
»Leider mußt du trotzdem gehen, wenn du essen willst, Tsong Tsong. Ich habe Shon Hu, den Jäger, und deine Freunde Zu Shan und Nemo eine Stunde von hier am Kanal des Lebens zurückgelassen. Du mußt zu ihnen gehen. Sag ihnen, was du mir erzählt hast. Richte ihnen aus, daß Poul Mer Lo wünscht, daß sie und du so viele Tage im Wald bleiben, wie du Finger an beiden Händen hast. Kannst du dir das merken, Tsong Tsong?« »Ja, Herr ... Haben sie viel zu essen?« »Genug für euch alle, Kleiner. Shon Hu ist ein gu ter Jäger. Ihr werdet nicht verhungern. Geh jetzt und richte ihnen meine Botschaft aus. Wenn sie den Wald verlassen, um nach Baya Nor zurückzukehren, sollen sie sich vorsichtig nach mir erkundigen.« Der Junge nickte eifrig. »Ich werde daran denken, Herr ... Du bist nicht zornig auf mich?« »Nein, Tsong Tsong, ich bin nicht zornig. Geh jetzt, damit du bald essen kannst.« Paul Marlowe sah dem Jungen nach, der zum Ka nal des Lebens hinabtrottete und in der angegebenen Richtung am Ufer entlangging. Dann wandte er sich ab und starrte wieder die Trümmer seines Hauses an. Er dachte an Mylai Tui, die so stolz auf den Sohn gewesen war, den sie nie gesehen hatte, und an Ann, die geduldig lange Jahre bei den Wilden ertragen hat te, bis sie ihre Verabredung in Samaria einhalten
konnte, und an Aru Re, den gigantischen Marsvogel, der seit Jahrtausenden in einer Wüste aus Eis und. Schnee Wache hielt und auf den Tag wartete, an dem die Saat aufgehen würde. Alle diese Vorstellungen beschäftigten unablässig seine Gedanken, bis er schließlich nicht mehr wußte, ob er einzelne Erlebnisse nicht doch nur geträumt hatte. Die geistige Anstrengung, zwischen Wirklich keit und Phantasie unterscheiden zu müssen, zehrte an seinen Kräften. Er war todmüde, obwohl die Son ne ihren Zenit noch nicht erreicht hatte. Paul ließ sich auf dem verhältnismäßig trockenen Platz nieder, an dem Tsong Tsong gewartet hatte. Er starrte die Asche seines Hauses an, als erwarte er, daß Mylai Tui wie ein Phönix daraus emporsteigen wür de. Kurze Zeit später schloß er müde die Augen und schlief im Sitzen ein. Dann fiel er zur Seite, ohne da durch aufzuwachen, und schlief traumlos weiter. Als er eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang er wachte, wußte er zunächst nicht einmal, wo er sich be fand. Dann setzte er sich jedoch ruckartig auf und schüttelte ungläubig den Kopf, als könne er dadurch das Bild vor seinen Augen zum Verschwinden bringen. Im rötlichen Schein der Abendsonne erkannte er um sich herum blitzende Dreizacke und schwarze ausdruckslose Gesichter – die Krieger der königlichen Leibwache.
Paul blieb unbeweglich sitzen und überlegte ange strengt. Die Krieger wollten ihn offenbar nicht töten, denn dazu hätten sie bereits Gelegenheit gehabt, während er schlief. Sie schienen eigenartigerweise auf irgend etwas zu warten. Er überlegte noch, wie er sie ansprechen sollte, als er in der Abenddämmerung eine Sänfte auf dem Weg der Arbeit herankommen sah. Zunächst hielt Paul sie für einen Karren, aber dann sah er, daß es eine ver hängte Sänfte war, die von acht Priestern getragen wurde. Sie kam rasch näher, verließ den Weg und bewegte sich in Pauls Richtung weiter. Paul stand auf und sah ihr verblüfft entgegen. Er dachte an das erstemal, daß er diese verhängte Sänfte erlebt hatte, in der das Orakel von Baya Nor reiste. Damals war er Enka Nes – oder Shah Shans – Beglei ter auf der Reise zu den drei Tempeln gewesen, in denen die drei Mädchen geopfert wurden. Die Priester hielten wie auf ein Zeichen an und setzten die Sänfte vor Paul zu Boden. Die Vorhänge wurden nicht zurückgezogen. Aber dahinter ertönte ein wilder Vogelschrei. Dann wurde ein hagerer Arm durch die Vorhänge gestreckt. Er deutete auf Paul. Und eine unglaublich alte, aber trotzdem feste Stimme rief: »Das ist der Auserwählte!« Paul wurde es schwarz vor den Augen. Er spürte
nur noch, daß die Krieger ihn auffingen, als er zu Bo den stürzte.
35
Er lag in einem düsteren Raum, der nur von wenigen Öllampen erhellt wurde, die auf Mauervorsprüngen verteilt standen. Als er aus seiner Bewußtlosigkeit erwachte, sah er einen Mann über sich gebeugt ste hen, dessen Gesicht unter einer weißen Kapuze ver borgen war. Hinter dem schmalen Sehschlitz funkel ten dunkle Augen. »Wer bist du?« Die Worte klangen in der Stille wie ein Pistolenschuß. »Ich bin Poul Mer Lo«, brachte Paul mühsam her aus, »jetzt und immer ein Fremder.« Der Mann in der weißen Kapuze starrte ihn durch dringend an. »Trink!« befahl er und hielt ihm eine Kalebasse entgegen. Paul hob das Gefäß an die Lippen und nahm ge horsam einen Schluck heraus. Die Flüssigkeit war wie Feuer – aber dieses Feuer brannte nicht, sondern ver zehrte nur. Er richtete sich auf und blieb schwankend stehen. Dann schien etwas in seinem Kopf zu explodieren, und Paul hatte das Gefühl, in einen Mahlstrom hin abgerissen zu werden. Als er wieder zu Bewußtsein kam, nahm er undeut lich wahr, daß er von zwei Kriegern gestützt wurde.
»Wer bist du?« rief der Mann in der weißen Kapu ze. Paul fühlte sich ihm plötzlich himmelhoch überle gen. Diese Situation war merkwürdig, aber doch ganz amüsant. Und der Mann in der weißen Kapuze war trotz seiner aggressiven Art entschieden lächerlich. »Ich bin Poul Mer Lo«, antwortete Paul stockend, »jetzt und immer ein Fremder.« »Trink!« befahl der Inquisitor und hielt ihm erneut die Kalebasse entgegen. Paul trank nochmals. Flüssiges Feuer schien in sei nen Adern zu kreisen. Seine Gedanken verwandelten sich in Flammenzungen. Er sah überall nur Feuer oh ne Rauch, aber dann erstarben die Flammen und ga ben den Blick auf einen Vogel mit farbenprächtigem Gefieder frei. Aber der Vogel bewegte sich nicht. Er hatte keinen Kopf. Der Mahlstrom erfaßte ihn nochmals. Dann hatte er plötzlich das Gefühl, frei im Raum zu schweben. Um ihn herum glitzerten Sterne. Sie flüsterten ihm etwas zu, das er nicht verstand, obwohl er wußte, daß er ih re Botschaft unbedingt verstehen mußte. Er folgte ih nen mit den Augen, als sie jetzt schneller und schnel ler zu kreisen begannen ... Dann stand er wieder in dem düsteren Raum vor
dem Mann mit der weißen Kapuze. Der Vogel ohne Kopf war verschwunden. Und trotzdem ... und trotz dem war er sich seiner Gegenwart noch bewußt. »Wer bist du?« Eine Stimme wie Donnergrollen. Er wußte nicht, was er sagen, tun, denken oder füh len sollte. Er wußte nicht einmal, was er glauben soll te, denn er hatte seine Identität verloren und schien nur noch als denkendes Wesen zu existieren. »Wer bist du?« Der Donner verhallte langsam. Und dann folgte ein anderer. Eine Stimme sagte laut: »In eurer Mitte wird ein Mann erscheinen, der jetzt noch keine Macht besitzt, dessen Macht aber in Zukunft unbegrenzt sein soll. Und weil kein gewöhnlicher Mann diese Macht aus üben kann, soll der Mann wie ein König unter euch leben. Und weil niemand ewig lebt, soll er wie ein Gott sein. Der König muß jedes Jahr sterben, damit der Gott wiedergeboren wird ... Hört nun den Schrei des Vogels, der nie geflogen ist ... Seht den lebenden Gott – Enka Ne!« Paul lauschte verwirrt und spürte jedes Wort wie einen Hammerschlag. Er hörte die Worte und erkann te endlich die Stimme – es war seine eigene. Er be wegte sich und hörte ein seltsames Rascheln. Er warf einen Blick auf seine Arme und sah, daß sie unter blaugoldenen Schwingen verborgen waren. Von irgendwoher ertönte ein klagender Vogel
schrei, dann sagte eine heisere alte Stimme: »Er ist der Auserwählte!« Und der Mann mit der weißen Kapuze rief: »Seht den lebenden Gott!« Er warf sich dem Auserwählten zu Füßen, der einst als Poul Mer Lo in dieses Land gekommen war.
36
Nach Beendigung der Zeremonien ruhte Enka Ne 611. sich für kurze Zeit in seiner Suite im Tempel der Weinenden Sonne aus, wo er nur von einem Krieger bewacht wurde. Der Gott-König hatte das prächtige Federkleid abgelegt und trug jetzt einen schlichten Samu, wie ihn jeder Tagelöhner seines Volkes besaß. Die Suite, deren Wände, Decken und Fußböden aus einer Art Marmor bestanden, aus dem rote, grüne und goldene Streifen leuchteten, war keineswegs luxuriös eingerichtet. Aber wenn man diese Ausstattung mit dem Inneren des kleinen strohgedeckten Hauses am Kanal des Lebens verglich, mußte man doch den Ein druck gewinnen, sich in einem Palast zu befinden. Die Seitenteile der Couch, auf der Enka Ne ruhte, bestanden aus Ebenholz mit Kupferintarsien; die Ma tratze war eher ein Daunenkissen aus Milanylfedern unter einem hauchzarten Netzgewebe. Von der Dek ke hingen große Kristallkugeln herab, die sich beim leisesten Luftzug bewegten und das Licht reflektier ten, das durch schmale hohe Fenster in den Raum fiel. Der Gott-König gähnte, reckte sich ausgiebig und richtete sich auf. Er hatte Hunger. Aber es gab wich tigere Dinge als Essen.
Er ließ Yurui Sa rufen, den Ordensgeneral der Blinden – den Mann in der weißen Kapuze. Der Leibwächter nahm den Befehl des Gott-Königs entgegen, ohne ihn dabei anzusehen oder den Auf trag zu bestätigen. Kurze Zeit später betrat Yurui Sa den Raum. Er blieb wartend an der Tür stehen. Sein Blick war wie der des Kriegers unverwandt auf die Decke gerichtet. »Oruri grüßt dich, Yurui Sa.« »Herr, der Gruß ist ein Segen.« »Nimm hier auf der Couch neben mir Platz, denn ich habe dir viel zu sagen.« »Herr«, bat der Mann, »habe Mitleid mit deinem unwürdigen Diener ... Ich ... ich darf dich nicht se hen!« »Warum nicht?« »Es ist schon immer so gewesen«, fuhr Yurui Sa fort, »und es muß so bleiben. Wenn der Gott-König das Federkleid abgelegt hat, dürfen die Augen der Menschen nicht auf ihm ruhen.« »So ist es früher gewesen. Aber nichts bleibt ewig bestehen. Wenn das Federkleid abgelegt ist, schläft der Gott, aber der König ist weiterhin wach. Deine Augen dürfen auf dem König ruhen, Yurui Sa. Ich habe gesprochen.« »Herr, ich bin dessen nicht würdig.« »Ich wünsche es!« sagte Enka Ne befehlend.
Yurui Sa senkte langsam den Kopf. Der Gott-König lächelte ihm aufmunternd zu, aber auf dem Gesicht des Ordensgenerals stand ein ängstlicher Ausdruck. »In Zukunft wird sich einiges ändern«, versicherte Enka Ne ihm. Yurui Sa seufzte ergeben. »Ja, Herr, einiges wird sich ändern.« »Nimm Platz bei mir und berichte, wie es dazu ge kommen ist, daß der Fremde Poul Mer Lo jetzt zum Gott-König der Bayani ausersehen ist, sobald die Zeit der Wiedergeburt naht.« Yurui Sa holte tief Luft. Dann setzte er sich vorsich tig auf den äußersten Rand der Couch, als fürchte er, diese Vermessenheit müsse sofort eine Bestrafung nach sich ziehen. Dies war jedoch anscheinend nicht der Fall. Da durch ermutigt, begann er Paul Marlowe zu erklären, wie es dazu gekommen war, daß ein Mensch der Er de in wenigen Tagen zum Gott-König von Baya Nor ausgerufen werden sollte. »Herr«, sagte Yurui Sa, »wir durften Wunder erle ben, die uns Oruris Willen erkennen halfen ... Vor vielen, vielen Tagen hörte der eine, der jetzt namenlos ist, daß der Fremde Poul Mer Lo eine weite Reise be absichtigte. Dieses Wissen wurde ungnädig aufge nommen, und die Krieger erhielten den Befehl, die Reise zu beenden, bevor sie begonnen hatte.« Yurui
Sa gestattete sich ein leichtes Lächeln. »Herr, du weißt selbst am besten, was sich bei dieser Gelegen heit ereignet hat. Die Krieger versäumten es, ihren Auftrag zu erfüllen, obwohl die königliche Leibwa che bei solchen Dingen selten versagt. Ihr Haupt mann kehrte allein zurück und wiederholte Poul Mer Los Botschaft, bevor er sich in Oruris Arme stürzte. Am gleichen Tag litt der Namenlose unter Schmerzen in der Brust, hustete beständig und konnte lange nicht sprechen. Auf diese Weise gab Oruri allen zu verstehen, daß er mit dieser falschen Auslegung sei nes Willens nicht einverstanden war.« »Er hat gehustet, sagst du?« »Ja, Herr. Die Tränen standen ihm dabei in den Augen.« Paul erinnerte sich an seine erste und letzte Au dienz bei Enka Ne 610. Er sah einen alten Mann vor sich – einen alten Mann, auf dessen schwachen Schul tern eine schwere Last ruhte. Ein alter Mann, der sei nen Husten zu unterdrücken versuchte ... »Weiter, Yurui Sa.« »Herr, schon zu dieser Zeit gab es in der heiligen Stadt einige, die seltsame Gedanken hatten. Und ei nige – ich selbst gehörte zu ihnen – fragten sich, was dieses Ereignis zu bedeuten hatte. Als später Krieger zu Poul Mer Los Haus geschickt wurden, das zerstört werden sollte, sandte Oruri uns eine Erleuchtung, die
seinen Willen deutlich machte, denn sie war von ei nem unverkennbaren Zeichen begleitet.« »Woraus bestand dieses Zeichen?« »Herr, als das Haus zu brennen begann, wurde der Namenlose von einem großen Husten befallen, und als die Flammen erstarben, verschied der Namenlose ebenfalls. Daraus wurde offenbar, daß Oruri ihn ge richtet hatte ... Dann sprach das Orakel zu uns und verkündete, aus der Asche werde neues Feuer erwa chen ... Und so, Herr, wurdest du deinem Volk ge zeigt.« Paul Marlowe, ehemals Poul Mer Lo, jetzt Enka Ne 611., schwieg nachdenklich. Er war noch immer mü de – unendlich müde. In den letzten Tagen hatte sich mehr ereignet, als er zumindest vorläufig assimilieren konnte. Er lächelte grimmig vor sich hin. Aber dazu blieb noch Zeit. Das ließ sich alles nachholen ... Dann erinnerte er sich plötzlich an Shon Hu und die drei Jungen. »Als Poul Mer Lo aus dem Wald in die Stadt zu rückkehrte, ließ er seine Begleiter in einem Boot auf dem Kanal des Lebens warten. Ich wünsche, daß die se Leute – und der Junge, der sich ihnen unterdessen angeschlossen hat – unverletzt nach Baya Nor ge bracht werden.« »Herr, ich bitte um Vergebung, aber das ist bereits geschehen. Die Krieger der Leibwache erhielten den
Auftrag, nach Poul Mer Lo Ausschau zu halten. Sie haben das Boot, seine Besatzung und den Jungen entdeckt, der Shon Hu eine Nachricht zu überbringen hatte.« »Sie sind unverletzt?« »Herr, sie sind verhört worden, aber ihnen wurde kein Haar gekrümmt.« »Das ist gut, Yurui Sa, denn diese unbedeutenden Leute haben einen Freund, dem ihr Wohlergehen am Herzen liegt.« Der Ordensgeneral zögerte unentschlossen, bevor er es wagte, die Frage zu stellen, die sich ihm auf die Lippen drängte. »Herr, der Jäger Shon Hu hat gesagt, Poul Mer Lo habe nicht nur mit Oruri gesprochen, sondern auch seine Gestalt mit eigenen Augen er blickt ... Verzeih mir, Herr, aber kann das sein?« »Er hat nur die Wahrheit gesagt.« »Dann ist mein Herz mit Freude erfüllt, denn ich habe mit einem Großen gesprochen, der seinerseits mit einem noch Größeren Worte gewechselt hat ... Gestatte mir, daß ich mich zurückziehe, Herr, um diese Wunder zu überdenken.« »Yurui Sa, dein Wunsch soll dir gewährt werden. Schicke mir diese Leute, die Poul Mer Lo auf seiner langen Reise begleitet haben. Laß auch Essen bringen, denn meine Gäste sind hungrig ... Und denke daran, daß sich in Zukunft einiges ändern wird.«
Der Ordensgeneral erhob sich. Er holte nochmals tief Luft. »Herr, ich eile, deine Befehle zu erfüllen. Und ich werde mich daran erinnern, daß einige Ver änderungen bevorstehen.« Als er gegangen war, streckte Enka Ne 611. sich auf der Couch aus. Sein Leibwächter starrte weiterhin unbeweglich zur Decke hinauf.
37
Der Abend war klar und warm. Paul Marlowe, der nur einen fadenscheinigen Samu trug, saß am Kanal des Lebens nicht weit vom Weg der Arbeit entfernt; ebenfalls in seiner Nähe lag die Stelle, an der früher ein kleines Haus gestanden hatte – aber dort wuchs jetzt nur Gras aus der Asche. Theoretisch hatte er noch siebenunddreißig Tage zu leben. In letzter Zeit hatte er kaum noch Gelegenheit, Enka Nes Persona abzulegen, denn seine Arbeit und die Plä ne, die er verwirklichen wollte, duldeten keinen Auf schub. Seit seiner überraschender Erhebung zum GottKönig von Baya Nor hatte er unermüdlich daran gear beitet, dem Fortschritt eine feste Grundlage zu geben. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, vor allem dafür zu sorgen, daß die Bayani ihre mittelalterliche Welt verließen und schöpferisches Neuland betraten. Auf diese Weise hoffte er sicherzustellen, daß auch hier ei nes Tages technischer Fortschritt, künstlerische Vollendung und freiheitliche Geisteshaltung im Leben der Menschen bestimmend wurden. Die Aufgabe war groß – zu groß für einen Mann, der nur ein Jahr lang als absoluter Herrscher regierte. Aber was auch später kam – oder wer auch später kam –, der Anfang war immerhin gemacht. Und Paul Marlowe
hatte genügend Geschichte studiert, um beurteilen zu können, daß diese Verwandlung sich nicht wieder aufhalten oder gar rückgängig machen lassen würde, sobald sie einmal in Gang gekommen war. Und sie war tatsächlich in Gang gekommen. Daran konnte niemand mehr zweifeln. Überall bestanden jetzt Schulen. Er hatte die Lehrer selbst ausbilden müssen; aber das war leichter als er wartet gewesen, denn in seiner Position standen ihm selbstverständlich die Dienste der intelligentesten Männer von Baya Nor zur Verfügung. Sie lernten be reitwillig und gaben das erworbene Wissen weiter – allerdings nicht aus eigenem Antrieb und aus dem Bedürfnis heraus, ihren geistigen Horizont zu erwei tern, sondern nur deshalb, weil Enka Ne es so befoh len hatte. Aber vielleicht kamen Begeisterung, Wis sensdurst und Eigeninitiative später von selbst. Je denfalls blieb die wichtigste Tatsache davon unbe rührt: Baya Nor verfügte jetzt über Schulen, und die Kinder der Bayani lernten erstmals in der Geschichte des Volkes Lesen und Schreiben. Paul war nicht lange mit den breiten Kappablättern zufrieden gewesen, die er als Papierersatz benützt hatte, sondern ließ bereits handgeschöpftes Papier aus Holzschliff und Knochenleim herstellen; aus der gleichen ›Fabrik‹ kamen auch Pinsel, Wasserfarben, Tinte und Schreibfedern. Einige der Priester, die Paul
als erste unterrichtet hatte, waren jetzt damit beschäf tigt, die Geschichte der Stadt und ihrer Gott-Könige, Lieder, Sagen und Gesetze aufzuzeichnen. In den Schulen würde also bald kein Mangel an Unter richtsmaterial mehr herrschen. Auf technischem Gebiet waren unterdessen gewal tige Fortschritte erzielt worden. Die Bayani erwiesen sich als geschickte Handwerker mit rascher Auffas sungsgabe; Paul brauchte ihnen nur ein neues Prinzip zu erklären und konnte sich darauf verlassen, daß sie es begriffen – und verbesserten. Er hatte ihnen ge zeigt, daß stromlinienförmige Bootskörper das Was ser zerteilten, anstatt es wie die bisher gebräuchlichen Boote vor sich herzuschieben, und er hatte den Ge brauch des Segels demonstriert. Jetzt fuhren stromlinienförmige Segelboote auf den Kanälen von Baya Nor und erreichten mit weniger Anstrengung höhere Geschwindigkeiten als die plumpen Kähne früherer Zeiten. Aber es gab auch andere weniger offensichtliche Veränderungen, auf die Paul mit Recht stolz war. Er hatte die Todesstrafe für zahlreiche Vergehen abge schafft; sie wurde nur noch über Mörder und Ge waltverbrecher verhängt. In die gleiche Richtung ziel te die Abschaffung der Folter und die Errichtung von Schwurgerichten, die über Fälle verhandelten, die der Gott-König nicht selbst entscheiden mußte.
Aber eine Einrichtung, die er am liebsten ebenfalls abgeschafft hätte, durfte er nicht antasten: das Men schenopfer. Die Bayani hatten sich überraschender weise recht gut mit der Zerstörung und Veränderung ihrer Gebräuche und Traditionen abgefunden, aber Paul war sich darüber im klaren, daß die ›konservati ven‹ Elemente nicht mit seinen Maßnahmen einver standen waren. Vorläufig hatten sich diese Unzufrie denen noch nicht zusammengeschlossen, aber wenn er es wagte, an den Grundfesten ihrer Religion zu rütteln, würden sie sich vermutlich geschlossen als ›politische‹ Gruppe dagegen auflehnen. Da Paul aber keinen Bürgerkrieg riskieren durfte, der alle Fort schritte zunichte machen würde, hatte er keine Mög lichkeit, das traditionelle Opfer abzuschaffen. Im merhin betraf es jährlich nur etwa zwanzig junge Menschen, und die Opfer wetteiferten untereinander um diese Ehre. Der Tod auf dem Altar war eine große Auszeichnung, denn die Erwählten durften sicher sein, daß Oruri sie in Gnaden aufnehmen würde. Paul fand diese Vorstellung allerdings kaum erhe bend und fragte sich, ob er seine Meinung in den nächsten siebenunddreißig Tagen ändern würde. Aber er hoffte, daß er imstande sein würde, sein Los mit der gleichen Ruhe wie Shah Shan zu tragen. Wer zu leben verstand, müßte auch sterben können ... Während er hier am Kanal des Lebens saß und
über die Ereignisse der letzten Monate nachdachte, war Paul Marlowe mit sich selbst zufrieden. Er hatte den Anfang gemacht. Die Bayani waren auf dem be sten Weg, ihre mittelalterliche Welt zu verlassen und in eine neue Zeit einzutreten. Das Leben eines Men schen war ein geringer Preis für diesen Fortschritt. Paul blieb noch lange am Ufer sitzen. An warmen Abenden, wenn die neun Monde von Altair V über den Nachthimmel zogen, hatte er oft auf der Veranda des Hauses gesessen, und Mylai Tui hatte ihm gedul dig zugehört, während er in einer Sprache philoso phierte, die sie kaum verstand. Er dachte an die fast beschämende Ergebenheit der kleinen Eingeborenen zurück, die ihm das Leben in Baya Nor erst erträglich gemacht hatte. Er erinnerte sich daran, wie stolz sie darauf gewesen war, von ihm ein Kind empfangen zu haben, und wünschte sich, sie hätte es auch geboren. Und er stellte sich vor, wie glücklich sie gewesen wäre, wenn sie gewußt hätte, daß Poul Mer Lo, ihr Herr, dazu bestimmt war, Gott-König von Baya Nor zu werden. Dann glaubte er plötzlich Geister um sich herum zu sehen. Ann ... Mylai Tui ... Ein ungeborenes Kind ... Shah Shan ... Und eine junge Frau, mit der er vor langer Zeit jenseits des Himmels den Kaiserwalzer getanzt hatte. Jetzt hob er den Kopf und sah zu diesem fremden
Himmel auf, dessen Konstellationen ihm unterdessen vertrauter als die Konstellationen des Himmels seiner Kindheit geworden waren. Er hob den Kopf und beobachtete die neun Monde von Altair V, die Wildgänsen gleich über den nächtli chen Himmel zogen. Und dann begann sein Herz schmerzlich laut zu pochen. Er zählte die Monde sorgfältig, rieb sich mit zit ternden Fingern die Augen und begann nochmals zu zählen. Dann holte er tief Luft und zählte sie zum dritten mal. Er sah dort oben zehn Monde – nicht neun. Das konnte nur bedeuten, daß ... Paul setzte sich in Bewegung und rannte vor An strengung keuchend in die heilige Stadt zurück – zu rück zu der Suite, wo er noch immer sein bisher nutz loses Funkgerät aufbewahrte.
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Paul stand auf dem Dach des Tempels der Weinen den Sonne. Er starrte die Monde an, die sich jetzt be reits dem Horizont näherten. Es waren noch immer zehn Monde. Das Funkgerät lag in seiner Hand, die Teleskopan tenne war ausgezogen. Er zitterte so heftig, daß seine Finger mehrmals von den winzigen Knöpfen abrutschten, mit denen er Sender und Empfänger auf fünfhundert Meter ein stellte. Falls der zehnte Mond von Altair V tatsächlich ein Raumschiff war, das um den Planeten kreiste, würden bestimmt sämtliche Wellenlängen ständig automatisch abgehört. Aber wie sollte das Raumschiff von der Erde kommen – falls es wirklich ein Raum schiff war? Es hatte Altair V kaum drei Jahre später als die Gloria Mundi erreicht. Aber Paul wußte, daß es zum Zeitpunkt des Starts der Gloria Mundi keine an deren Raumschiffe – von den amerikanischen und russischen Schiffen abgesehen – gegeben hatte, die über das Entwicklungsstadium hinausgekommen waren. Was konnte das Ding dort oben sein, falls es kein Raumschiff war? Ein riesiger Meteor, der in eine Kreisbahn um den Planeten eingeschwenkt war? Ein Raumschiff von einem fremden Stern?
»Bitte, lieber Gott, laß es ein Schiff von der Erde sein«, betete Paul, während er auf den Sprechknopf drückte. »Bitte, lieber Gott, laß es ein Schiff von der Erde sein – und laß diesen blöden Kasten funktionie ren!« Dann sagte er so ruhig wie möglich: »Altair fünf an Raumschiff. Altair fünf an Raumschiff. Bitte auf fünf hundert Meter melden. Bitte auf fünfhundert Meter melden ... Kommen.« Er schaltete auf Empfang um und wartete unge duldig, während er die zehn Monde anstarrte, als könne er sie hypnotisieren. Aber er hörte nichts – nur das Geräusch des leichten Wellenschlags an den Tempelmauern. Nur sein lautes Herzklopfen. Paul drückte wieder den Sprechknopf. »Altair fünf an Raumschiff. Altair fünf an Raumschiff. Bitte auf fünfhundert Meter melden. Bitte auf fünfhundert Me ter melden. Kommen.« Noch immer nichts. Die Monde würden bald am Horizont versinken, und dann konnte er alle Hoff nungen begraben. Vielleicht waren sie bereits außer Reichweite des kleinen Senders. Vielleicht funktio nierte das verdammte Ding überhaupt nicht mehr. Vielleicht kreiste dort oben ein außerirdisches Raum schiff, dessen Besatzung keine Funkwache eingerich tet hatte, weil sie aus kleinen grünen Männern be stand, deren Köpfe telepathische Antennen waren.
Vielleicht war der zehnte Mond tatsächlich nur ein gigantischer Felsbrocken ohne Leben und Wärme ... Vielleicht ... Vielleicht ... Zumindest funktionierten die Empfängerkreise noch. Paul hörte deutlich das Knattern atmosphäri scher Störungen – eine sinnlose Geräuschkulisse, die nur bewies, daß irgendwo in der Atmosphäre ein elektrischer Sturm tobte. »Antworte endlich, verfluchtes Ding!« brüllte Paul. »Du kannst dich nicht einfach an die Monde hängen und dort oben vorbeischweben ... Ich bin allein hier, hörst du? Allein ... Allein unter Halbwilden und Kin dern, mit denen ich nicht sprechen kann ... Sag end lich etwas, der Teufel soll dich holen!« Und dann geschah es. Ein Wunder. Die Stimme eines Menschen aus dem Raum. »Cristobal Colon an Altair fünf.« Die atmosphäri schen Störungen waren lauter geworden. Aber die Worte – die herrlichen Worte – drangen klar aus dem Lautsprecher. »Cristobal Colon an Altair fünf ... Grüße von der Erde ... Mit wem sprechen wir? Kommen.« Pauls Kehle war wie ausgetrocknet, und seine Stimme versagte. Er öffnete den Mund, brachte aber nur ein ersticktes Gurgeln heraus. Dann ballte er die rechte Hand zur Faust, bis die Fingernägel in die Handfläche eindrangen, und holte tief Luft.
»Ich bin Paul Marlowe«, stieß er mühsam hervor. »Der einzige Überlebende ...« Seine Stimme brach ab, und er mußte mehrmals neu ansetzen. »Der einzige Überlebende der Gloria Mundi ... Wann ... wann haben Sie die Erde verlassen? Kommen.« Die Antwort blieb aus. Paul fluchte unbeherrscht, als er merkte, daß er vergessen hatte, auf Empfang umzuschalten. Er drückte auf den Knopf und hörte diesmal eine andere Stimme. »... Name ist Konrad Jürgens, Captain der Cristobal Colon.« Der Mann sprach gutes Englisch mit seltsam kehligem Akzent. »Wir sind zweitausendneunund zwanzig, also vor vier subjektiven Jahren, mit Hyper antrieb von der Erde gestartet ... Wir freuen uns, Sie noch lebend anzutreffen – einen der großen Pioniere der Raumfahrt. Was ist aus der Gloria Mundi und Ih ren Kameraden geworden? Wie sehen die Bewohner des Planeten aus? Haben sie die Kanäle gebaut, die dort unten liegen? Müssen wir uns vor ihnen in acht nehmen? Wie sollen wir Sie finden? Kommen.« Paul starrte wie gebannt die Monde an, die jetzt dicht über dem Horizont schwebten. Irgendwie hatte er sich doch einen klaren Kopf bewahrt. »Tut mir leid, aber ich kann nicht gleich alles erklä ren«, antwortete er rasch. »Sie verschwinden bald hinter meinem Horizont, und die Verbindung reißt dann wahrscheinlich ab ... Wenn Sie das Gebiet zwi
schen den Kanälen fotografieren, muß der Landeplatz der Gloria Mundi auf Vergrößerungen zu sehen sein. Aus niedriger Höhe ist der Krater, der durch ihre Selbstzerstörung entstanden ist, vermutlich mit blo ßem Auge zu erkennen. Landen Sie dort. Ich schicke Leute zu Ihnen hinaus, die Sie hierherbringen. Blei ben Sie aber unter allen Umständen an Bord, bis mei ne Leute auftauchen. In dieser Gegend leben Einge borene, die schon einen Teil der Besatzung der Gloria Mundi auf dem Gewissen haben ... Meine Leute kön nen den Landeplatz in etwa zwei Tagen erreichen ... Sie sind klein, dunkelhäutig und durchaus mensch lich.« Er dachte an Aru Re und lachte leise. »Wahr scheinlich wird es Sie sogar überraschen, wie mensch lich diese Leute wirklich sind. Kommen.« »Verstanden. Ihre Anweisungen werden genau be folgt. Sind Sie bei guter Gesundheit? Kommen.« Paul lachte fast hysterisch, als er antwortete: »Mir geht es besser als je zuvor. Kommen.« Sekunden später hörte er: »Cristobal Colon an Paul Marlowe. Ihre Anweisungen werden genau befolgt. Sind Sie bei guter Gesundheit? Kommen.« Paul sah die zehn Monde nacheinander unterge hen. Er versuchte die Cristobal Colon zu erreichen, aber sein Sender war zu schwach. Er schaltete wieder auf Empfang um. »Cristobal Colon an Paul Marlowe. Ihre Anweisun
gen werden genau befolgt. Wir hören Sie nicht mehr. Ihre Anweisungen werden genau befolgt. Wir hören Sie nicht mehr ... Cristobal Colon an Paul Marlowe. Ih re Anweisungen werden ...« Er schaltete das Funkgerät ab und schob langsam die Antenne zusammen. Das Unmögliche erschien auf eigenartige Weise unvermeidbar – nachdem es sich ereignet hatte. Paul Marlowe blieb noch lange auf dem Dach des Tempels stehen, sah zu den Sternen auf und versuch te zu erkennen, welche Folgen dieses Ereignis für ihn persönlich haben würde. Seine Gedanken kreisten je doch immer wieder um das Raumschiff, mit dem er gesprochen hatte. Ein Flug mit Überlichtgeschwindigkeit ... Wie mochte dieser Hyperantrieb funktionieren? ... Mit Überlichtgeschwindigkeit durch Zeit und Raum ... Der Flug hatte nur vier Jahre gedauert ... Die Cristobal Colon mußte siebzehn Jahre nach der Gloria Mundi ge startet sein ... Und trotzdem kreiste sie bereits jetzt um Altair V ... Die Hälfte ihrer Besatzung hatte ver mutlich noch die Schulbank gedrückt, als er bereits im Kälteschlaf zu den Sternen unterwegs war ... Kein Wunder, daß er als Pionier des Raumflugs galt ... Cri stobal Colon – ein guter Name für ein Schiff, das Neu land für die Menschheit erkundete ... Bald, bald wür de er wieder mit Männern sprechen, die sich deutlich
an den Frühling in London oder Paris oder Rom er innerten. Mit Männern, die noch wußten, wie Bier oder Roastbeef oder Frutti di Mare schmeckten. Män ner – und vielleicht auch Frauen –, deren Erschei nung, Auftreten und Sprechweise ihm alles ins Ge dächtnis zurückrufen würden, was er jenseits des Himmels gekannt und freiwillig aufgegeben hatte ... Dann wurde er wieder ruhiger, als die natürliche Reaktion einsetzte. Er war todmüde, so sehr hatten ihn Hoffnung und Aufregung erschöpft. Er wollte nur noch schlafen.
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Enka Ne 611. saß in Gedanken versunken auf seiner Couch. Der Leibwächter an der Tür sah unbeweglich zur Decke auf. Die Cristobal Colon war inzwischen heil gelandet, und der Gott-König hatte der Besat zung dreißig Krieger seines Gefolges entgegenge schickt. Die Männer hatten nicht nur ihre Dreizacke, sondern auch Spruchbänder getragen, auf denen zu lesen stand: Bienvenu! Willkommen! Benvenuto! Welco me! An der Spitze des Zuges waren ein Jäger, ein Halbwüchsiger und ein verkrüppelter Junge aufge taucht. Enka Ne konnte sich lebhaft vorstellen, wie erstaunt und verblüfft die Raumfahrer gewesen sein mußten ... Und nun schritten Menschen der Erde durch die Straßen von Baya Nor ... Yurui Sa, der Ordensgeneral der Blinden, betrat den Raum und sah zu Enka Ne hinüber, obwohl der Gott-König nur einen Samu trug. »Herr, dein Befehl ist ausgeführt. Die Fremden warten im Brunnenhof ... Sie sind groß und kräftig, diese Männer, sogar größer als ...« Yurui Sa sprach nicht weiter. »Sogar größer«, fuhr der Gott-König lächelnd fort, »als der andere Mann, der vor langer Zeit im Brun nenhof auf Enka Nes Erscheinen gewartet hat.«
In den vergangenen Monaten hatte sich eine Art Freundschaft zwischen Yurui Sa und dem Gott-König entwickelt – aber nur unter vier Augen – der Leib wächter zählte nicht – und wenn der Herrscher das Federkleid abgelegt hatte. Diese beiden Männer ver schiedener Welten respektierten einander instinktiv als verwandte Geister. »Herr«, sagte Yurui Sa, »ich habe den Silbervogel gesehen. Er ist ein wunderbares Ding und sehr schön.« »Ja«, stimmte der Gott-König zu, »ich bezweifle nicht, daß er sehr schön ist.« Beide schwiegen nachdenklich. Yurui Sa warf ei nen Blick aus dem hohen Fenster neben sich. Der Himmel wurde bereits dunkler, als die Abenddäm merung herabsank. Bald würden die ersten Sterne aufleuchten. »Ich könnte mir vorstellen«, begann Yurui Sa zö gernd, »daß es wunderbar wäre, mit diesem silbernen Vogel in ein Land jenseits des Himmels zu fliegen ... Besonders dann, wenn man das Land bereits kennt und sich lange danach gesehnt hat.« »Yurui Sa, ich glaube, du stellst mir eine versteckte Frage«, warf Enka Ne ein. »Vergib mir, Herr«, antwortete Yurui Sa demütig, »ich stelle in der Tat eine Frage – obwohl der GottKönig über dem Urteil der Menschen steht.«
Enka Ne seufzte schwer. Yurui Sa stellte dem GottKönig eine Frage, die Paul Marlowe bisher noch nicht zu beantworten gewagt hatte. Er stand auf, durchquerte den Raum und trat auf den kleinen Balkon hinaus. Die Sonne stand jetzt groß und rot am Horizont. Sie unterschied sich auf den er sten Blick nicht allzusehr von der Sonne, die vor Jah ren über einer englischen Landschaft untergegangen war ... Und trotzdem ... Und trotzdem ... Sie war an ders. Ohne Zweifel schön, aber andersartig. Er dachte an viele Dinge zurück. Er dachte an blau en Himmel und weiße Schäfchenwolken und Korn felder. Er dachte an ein kleines Farmhaus, an Stim men, die er noch im Ohr hatte, und an Gesichter, die er sich nicht mehr vorstellen konnte. Er dachte an ei nen Geburtstagskuchen und an ein Spielzeugraum schiff, das lautlos startete, sobald man einen Hebel nach unten drückte. Und dann dachte er an Ann Marlowe, die in einem kleinen Boot auf einem unbekannten Fluß gestorben war. Er dachte an Mylai Tui, die so stolz gewesen war, weil sie sein Kind unter dem Herzen trug. Er dachte an Bai Lut, der einen Drachen gebaut und sei nen eigenen Tod, die Zerstörung der Schule und eine weite Reise veranlaßt hatte, die zu der verblüffenden Entdeckung führte, daß alle Menschen wirklich Brü der waren. Und er dachte an Shah Shan, den jungen
Mann mit den klaren Augen und dem wachen Verstand – gelassen in dem Bewußtsein, daß sein Le ben seinem Volk gehörte ... Die Sonne versank am Horizont. Er blieb auf dem Balkon stehen und beobachtete, wie sie langsam un terging. Dann kam er in den Raum zurück. Der Gott-König warf Yurui Sa einen lächelnden Blick zu. »Früher einmal«, begann er leise, »kannte ich einen Fremden, Poul Mer Lo, der mit einem Sil bervogel hierhergekommen war. Ohne Zweifel wäre es sein größter Wunsch gewesen, wieder in sein Land jenseits des Himmels zurückzukehren ... Aber ich kenne diesen Mann nicht mehr, denn ich bin zu sehr mit den Angelegenheiten meines Volkes beschäftigt.« »Herr«, erwiderte Yurui Sa mit einem seltsamen Leuchten in den Augen, »ich habe nie eine andere Antwort erwartet.« »Geh nun«, sagte Enka Ne, »denn ich darf meine Gäste nicht länger warten lassen.« Ein Luftzug drang durch die offenen Fenster und berührte das prächtige Kostüm, das locker über einen Ständer gehängt war. Die leuchtendbunten Federn zitterten leicht und hingen dann wieder still.