ARISTOTELES CONTRA AUGUSTINUM
BOCHUMER STUDIEN ZUR PHILOSOPHIE Herausgegeben von Kurt Flasch - Ruedi Imbach Burkhard ...
52 downloads
1347 Views
22MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
ARISTOTELES CONTRA AUGUSTINUM
BOCHUMER STUDIEN ZUR PHILOSOPHIE Herausgegeben von Kurt Flasch - Ruedi Imbach Burkhard Mojsisch - Olaf Pluta
Band 21 UDO REINHOLD JECK Aristoteles contra Augustinum
B.R. GRUNER AMSTERDAM/PHILADELPHIA 1994
UDO REINHOLD JECK
Aristoteles contra Augustinum Zur Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele bei den antiken Aristoteleskommentatoren, im arabischen Aristotelismus und im 13. Jahrhundert
B.R. GRÜNER AMSTERDAM/PHILADELPHIA 1994
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Jeck, Udo Reinhold: Aristoteles contra Augustinum : zur Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele bei den antiken Aristoteleskommentatoren im arabischen Aristotelismus und im 13. Jahrhundert / Udo Reinhold Jeck. - Amsterdam ; Philadelphia : Grimer, 1993 (Bochumer Studien zur Philosophic ; Bd. 21) ISBN 90 6032 339 4 NE: GT
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Jeck, Udo Reinhold. Aristoteles contra Augustinum : zur Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele bei den antiken Aristoteleskommentatoren, im arabischen Aristotelismus und im 13. Jahrhundert / Udo Reinhold Jeck. p. cm. -- (Bochumer Studien zur Philosophie ; Bd. 21) Includes bibliographical references and indexes. 1. Aristotle-Contributions in doctrine of relation of the soul to time. 2. AristotleInfluence. 3. Aristotle-Study and teaching-History. 4. Soul-History of doctrines. 5. Time-History. 6. Philosophy, Ancient. 7. Philosophy, Arab. 8. Philosophy, Medieval. 9. Philosophy, Medieval-Islamic influences. I. Title. II. Series. B491.S6J43 1993 128'. 1--dc20 93-41209 ISBN 90 6032 339 4 CIP No part of this book may be translated or reproduced in any form, by print, photoprint, microfilm, or any other means, without written permission from the publisher. ©by B.R. Grüner, 1994 Printed in the The Netherlands B.R. Grüner is an imprint of John Benjamins Publishing Co. John Benjamins Publishing Co. • P.O. Box 75577 • 1070 AN Amsterdam • The Netherlands John Benjamins North America • 821 Bethlehem Pike • Philadelphia. PA 19118 USA
Meiner Groβmutter Anna Korte zum 90. Geburtstag (22, 1. 1992)
Inhalt
Vorwort.. Abkürzungsverzeichnis Einleitung
XI XIII XV
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren 1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.5. 1.6. 1.7. 1.8.
Einführung Der Text der Aporie und ihr Status im Corpus Aristotelicum Boethos Alexander von Aphrodisias Themistios Simplikios Johannes Philoponos Die antiken Aristoteleskommentatoren zum noetischen Sein der Zeit im Kontext der griechischen Philosophie
3 6 14 17 26 37 60 71
Teil II - Der arabische Aristotelismus 2.1. 2.2. 2.3. 2.3.1. 2.3.2. 2.4. 2.4.1. 2.4.2.
Einfiihrung Avicenna Averroes Die arabisch-lateinische Übersetzung der <aristotelischen Zeitaporie> Der Kommentartext 131 aus dem Physikkommentar des Averroes Zur arabisch-jüdischen Überlieferung und Kritik an der Zeitphilosophie Galens Averroes als Erbe der spätantiken Galenrezeption Galen und die Zeitphilosophie des Moses Maimonides
99 103 114 114 125 152 152 171
Inhalt
Teil III - Das 13. Jahrhundert 3.1.
Allgemeine Einleitung und Übergang zum 13. Jahrhundert
3.2.
Die grundlegenden Dokumente: Die lateinischen Übersetzungen der <aristotelischen Zeitaporie> Der griechische Urtext Die altere lateinische Übersetzung (Translatio Vetus) Die jüngere lateinische Übersetzung (Translatio Nova/ Recensio Nova) Die arabisch-lateinische Übersetzung
3.2.1. 3.2.2. 3.2.3. 3.2.4. 3.3. 3.3.1. 3.3.2. 3.3.3. 3.3.4. 3.4. 3.4.1. 3.4.2. 3.4.3. 3.4.4. 3.5. 3.5.1. 3.5.2.
177
182 182 187 190 195
Die Vor- und Frühphase des Averroismus in der Zeitphilosophie des 13. Jahrhunderts Alexander von Hales Robert Grosseteste Roger Bacon Albertus Magnus I
200 202 206 212 219
Die zweite Phase der Aneignung der Zeitphilosophie des Averroes Albertus Magnus II Thomas von Aquino Bonaventura Robert Kilwardby
233 235 267 274 280
I
287 289
3.5.3. 3.5.4. 3.5.5.
Neue Argumente im Streit urn Averroes Ulrich von Straβburg Radikale Averroisten: Aegidius Romanus I und Siger von Brabant. Thomas von Aquino II Aegidius Romanus II Anonymus
3.6. 3.6.1. 3.6.2.
Die zeittheoretische Krise um 1277 Die Pariser These zum Sein der Zeit vom 7. März 1277 Heinrich von Gent
327 329 339
VIII
296 303 314 323
Inhalt
3.6.2.1. 3.6.2.2. 3.6.2.3. 3.6.2.4.
339 342 344
3.6.3.
Einführung Das Grundproblem: Die <aristotelische Zeitaporie> Sechs Aristoteleszitate zum seelischen Sein der Zeit Heinrichs Kurzfassung des elften Buches der Confessiones Vorbereitende Analysen zum Verhältnis von Zeit und Bewegung Die Zeit als Kontinuum, Diskretum und Diskretum im Kontinuum Abschlieβende Bemerkungen zur Zeittheorie des Heinrich von Gent Petrus Johannis Olivi
3.7. 3.7.1. 3.7.2.
Der zeittheoretische Averroismus nach 1277 Dietrich von Freiberg Meister Eckhart
427 429 445
I. Die aristotelische Zeitaporie nach der griechischen Handschrift J II. Henricus a Gandavo: Quodlibet III, Quaestio XI - Utrum tempus possit esse sine anima
453
3.6.2.5. 3.6.2.6. 3.6.2.7.
354 368 376 396 399
Anhang
459
Literaturverzeichnis Quellen I: Handschriften Quellen II: Drucke Sekundärliteratur
479 481 489
Indices Index Index Index Index Index
der Personen der Sachen griechischer Wörter lateinischer Wörter arabischer Wörter
503 509 515 517 521
IX
Österreichische Nationalbibliothek, Cod. phil. gr. 100, f. 27r
Vorwort Die vorliegende Untersuchung wurde 1992 von der Fakultät für Philosophie, Pädagogik und Publizistik der Ruhr-Universität Bochum als Dissertation angenommen. Zuerst danke ich Herrn Prof. Dr. Kurt Flasch. Er hat meine philosophische Ausbildung nicht erst seit der Arbeit an der Dissertation übernommen. Vielmehr ermutigte er mich nach schon abgeschlossener Berufsausbildung zu einem völligen Neubeginn. Der Erwerb der Hochschulreife und das Studium der Phi losophie wären mir ohne seine langjährige Unterstützung nicht möglich gewesen. Die Erforschung der Zeitphilosophie Augustins unter seiner Leitung war daher kein plötzlicher Entschluβ, sondern das Ergebnis eines kontinuierlichen Lernprozesses, der mir viel Freude bereitet hat. Herrn Prof. Dr. Burkhard Mojsisch bin ich für die Übernahme des Korreferates ebenfalls zu Dank verpflichtet. Darüber hinaus stellte er mir seine Transkriptionen zur Zeitphilosophie Ulrichs von Straβburg zur Verfügung, veranlaβte die Ausdehnung der Arbeit auf die antiken Aristoteleskommentatoren und unterstützte mich stets bereitwillig mit wichtigen Hinweisen. Seine Akribie in der philosophischen Forschung wurde mir dabei zum Vorbild. Herrn Dr. Olaf Pluta danke ich für seine geduldige und intensive Beratung bei der Herstellung des Manuskriptes. Meine Kenntnisse in der lateinischen Paläographie sind das Ergebnis seiner Schulung. Herr Prof. Dr. Ludwig Hödl stellte mir Texte zur Philosophie des P. J. Olivi zur Verfügung. Mit Herrn Prof. Dr. Gerhard Endress und Herrn Priv.-Doz. Dr. Wilfried Kühn konnte ich die arabischen Texte dieser Untersuchung besprechen. Zuletzt sei allen Bibliotheken, die mir Mikrofilme und Photographien ihrer Handschriften überlieBen, gedankt, besonders aber Frau Dipl. Bibl. Annette Ni colas von der Stadtbibliothek Hagen für ihre langjährige Unterstützung bei der Literaturbeschaffung. Bochum, den 14. November 1992
Udo Reinhold Jeck
Abkürzungsverzeichnis a a. a. corr. add. arg. art. b Bibl. Nat. c. CCL CCM cod. comm. concl. CPTMA corr. ex d. del. ed. Ed. Colon. f. ff. fasc. fol. frag. HistASt in marg. in praep. inq. 1. lat lect. m. n. om.
1. Kolumne articulus ante correctionem addidit argumentum articulus 2. Kolumne Bibliotheque nationale capitulum Corpus Christianorum Series Latina Corpus Christianorum Continuado Mediaevalis codex commentum conclusio Coipus Philosophorum Teutonicorum Medii Aevi correxit ex distinctio delevit edidit Editio Coloniensis folium folia fasciculus folio fragmentum Historisches Archiv der Stadt (Köln) in margine in praeparatio inquisitio liber latinus, latina, latinum lectio membrum numerus omisit
Abkürzungen p. prop. q. SBPK StiB sq. sub lin. sup. lin. sol. TAL TMat TN TV TVat text. t. comm. tr. V V.
pars propositio quaestio recto Staatsbibliothek Preuβischer Kulturbesitz Stiftsbibliothek sequitur sub linea supra lineam solutio Translatio Arabico-Latina Translatio Matritensis Translatio Nova Translatio Vetus Translatio Vaticana textus textus commentum tractatus verso versus
XIV
Einleitung Albert der GroBe, der wirkungsmächtigste Aristoteliker des 13. Jahrhunderts, verstand sich in seinen Aristoteleskommentaren als Peripatetiker. Sorgfältig sammelte er aus den ihm zugänglichen Schriften Dokumente der peripatetischen Schule. Dabei verglich er die unterschiedlichen Quellen miteinander. Auf diese Weise bildete er sich eine begründete Meinung von den Thesen seiner Vorgänger. Alberts Möglichkeiten waren begrenzt. Seine Arbeitsweise zeigt jedoch, daB der Traditionsfaden nicht abgerissen war. Albert verfügte aber nicht nur über Nachrichten und Informationen aus den Texten der antiken Aristoteleskommentatoren, sondern war auch auf kaum eingrenzbare Weise von der Philosophie der Araber abhängig. Die gegenwärtige Forschung zur Philosophie des 13. Jahrhunderts muβ daher die Entwicklungslinien rekonstruieren, die von der Spätantike über die arabische Philosophie zur Frühphase der lateinischen Aristoteleskommentierung fuhren. Die Arbeiten der antiken Aristoteleskommentatoren, die Texte der arabischen Philosophen und die lateinischen Aristoteleskommentare sind keine in sich abgeschlossenen Problemkreise, sondern eher drei eng miteinander vernetzte Systeme. Was für den Aristotelismus in seiner Gesamtheit gilt, bezieht sich auch auf seine speziellen Inhalte wie etwa die Philosophie der Zeit. Die hier vorgelegte Untersuchung zum Verhältnis von Zeit und Seele beschränkt sich daher nicht auf einen bestimmten Kulturkreis. Sie deutet vielmehr die überlieferten Untersuchungen zum Verhältnis von Zeit und Seele als die Verknüpfung antiker Problemlösungen mit den Entwürfen der arabischen Philosophen und der Den ker des lateinischen Westens. Der Leitfaden der Untersuchung ist dabei ein Textabschnitt aus dem Zeittraktat des Aristoteles, die sog. aristotelische Zeitaporie>. Der erste Abschnitt der Untersuchung zeigt, wie die antiken Physikkommentatoren von Boethos bis Simplikios diesen aporetischen Text erklärten. Im Zentrum steht dabei die Auslegung des Alexander von Aphrodisias. Den der Spätantike nahmen zunächst die Araber auf bzw. wiesen ihn in kritischer Distanzierung zuriick. Ein zweiter Abschnitt stellt daher die Analysen der arabischen Zeitphilosophie vor. Während Avicenna das seelische Sein der Zeit bekämpft, steht Averroes mehr in der Tradition der Spätantike. Er nimmt mit bestimmten Modifi kationen die Konzepte des Alexandrismus in der Zeitphilosophie auf. Vermittelt
durch lateinische Übersetzungen, beeinflussen Avicenna und Averroes die Zeitphilosophie des 13. Jahrhunderts. Im 13. Jahrhundert zeigt sich der Einfluβ der Spätantike auf die Zeitphilosophie als Averroismus. Die Geschichte des allmählichen Vordringens der Konzeption des Averroes in die Auslegung der Zeitaporie im 13. Jahrhundert expliziert daher ein drifter Teil. Die Diskussionen zur Zeitaporie im 13. Jahrhundert zeigen, daB gerade dieser Text des Aristoteles immer wieder zum Vergleich mit entsprechenden ÄuBerungen des Augustinus herausgefordert hat. Das Spektrum der Stellungnahmen reicht dabei von radikaler Ablehnung bis zu uneingeschränkter Zustimmung. Erst die Philosophen dieser Zeit konnien die These des Aristoteles zum Verhältnis von Zeit und Seele mit der eigentümlichen Konzeption des Augusti nus vergleichen. Sie haben das elfte Buch der Confessiones für das 13. Jahr hundert neu entdeckt.
XVI
Erster Teil Die antiken Aristoteleskommentatoren
1.1. Einführung Im Zeittraktat des Aristoteles gibt es einen berühmten Abschnitt, der in der Se kundärliteratur als <aristotelische Zeitaporie> bekannt ist. Er erstreckt sich über mehrere Sätze. Im Kern beschäftigt er sich mit dem Verhältnis von Zeit und Seele (Phys. IV 14, 223 a 21-29). Der aporetische Charakter dieses Textes hat bewirkt, daß es bis jetzt noch keine, nach allen Seiten befriedigende Auflösung gibt.1 Der Ausdruck <Aporie> ist daher berechtigt.2 In der Antike bestand ein großes Interesse an den Aponen im Werk des Ari stoteles. Daher erregte der Textabschnitt, der heute den Titel <aristotelische Zeitaporie> trägt, die Aufmerksamkeit der Aristoteliker. Vermutlich hat schon Alexander von Aphrodisias die Bezeichnung <Aporie> dafür gebraucht, obwohl sich erst bei Simplikios die entsprechende Bezeichnung nachweisen läßt.3 Die Entstehungszeit der erhaltenen antiken Physikkommentare sowie der Fragmente von Physikkommentaren, die sich auf die Zeitaporie beziehen, er1 Die bisher umfangreichste Zusammenfassung der Forschungen zur <aristotelischen Zeitaporie> hat F. Volpi vorgelegt. Vgl. dazu: F. Volpi, Chronos und Psyche. Die aristotelische Aporie von Physik IV, 14, 223 a 16-29, in: E. Rudolph (Hrsg.), Zeit, Bewegung, Handlung. Studien zur Zeitabhandlung des Aristoteles (Forschungen und Berichte der Evangelischen Studiengemein schaft 42), Stuttgart 1988, 26-62. Allerdings beschränkt sich F. Volpi bei den mittelalterlichen Physikkommentaren auf den Text des Thomas von Aquino. Die Tradition der arabischen Aristo telesauslegung sowie die Physikkommentare der Renaissance berücksichtigt er nicht. 2 Diese Bezeichnung geht auf Aristoteles selbst zurück, denn der erste Satz der Aporie enthält die Formulierung (ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 22). Schon sehr früh, in der Zeit unmittelbar nach der Veröffentlichung des nachgelassenen Corpus Aristotelicum, war es bei den Peripatetikem üblich, bestimmte problematische Abschnitte aus den Schrif ten des Aristoteles aufzugreifen, zu erläutern und ihre Argumentationsstruktur auf aporetische Annahmen zurückzuführen. Hier ließ sich das Pro und Contra vorführen. Zugleich erreichte die Kunst der Ausleger, bestimmte schwierige Stellen aufzulösen, ein hohes Niveau. P. Moraux hat die Spuren dieses gleichsam literarischen Kunstgriffes in den überlieferten Texten gesammelt. Neben Alexander von Aphrodisias verweist er besonders auf Sosigenes, der als einer der Lehrer des Alexander gilt. Vgl. P. Moraux, Der Aristotelismus bei den Griechen von Andronikos bis Alexander von Aphrodisias, Bd. 2: Der Aristotelismus im I. und IL Jh. n. Chr. (Peripatoi 6), Berlin/New York 1984, 336, Anm. 6: «Wenn man sich daran erinnert, wie beliebt die Form der zur Behandlung philosophisch-exegetischer Probleme bei Alexander war, wird man es für sehr wahrscheinlich halten, daß auch der Lehrer Alexanders (sc. Sosigenes) mit dieser Methode arbeitete.» 3 Vgl. SIMPLICIUS, Phys. 759, 29: Selbst in dieser kurzen Zeile findet sich also eine Anspielung auf die von Alexander von Aphrodisias gepflegte Gattung der
3
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren streckt sich über einen Zeitraum von einem halben Jahrtausend.4 Die Frühge schichte der Auslegung der Zeitaporie liegt im dunkeln. Erste Spuren einer Auseinandersetzung zeigen die Fragmente des Boethos und des Alexander von Aphrodisias. Alexander hat die für die Spätantike maßgebliche Kommentierung dieses Textes vorgelegt.5 Eine Rekonstruktion aus fragmentarischen Texten entfällt bei den entspre chenden Kommentaren des Themistios, Philoponos und Simplikios. Sie sind vollständig überliefert. Ihre jeweilige Auslegung der Zeitaporie dient daher als Basis des ersten Teils dieser Untersuchung. Die spätantiken Aristoteliker erar beiten hier die Grundlagen für die Auslegung der Zeitaporie im arabischen Sprachraum. Averroes vermittelt die entsprechenden Diskurse dann den Philo sophen des 13. Jahrhunderts.6 4
Manche Kommentare und Texte zur aristotelischen Physik sind wohl für immer verloren. Schwere Defekte haben auf diese Weise das Bild entstellt, das sich aus den Diskussionen der Zeitaporie in der Antike rekonstruieren läßt. Die Reste des Physikkommentars des Alexander von Aphrodisias zeigen die Größe des Verlustes an, der auch durch die Auswertung indirekter Quellen nicht zu beheben ist. Von den frühen Untersuchungen des Boethos zur aristotelischen Zeitphilosophie blieb ebenfalls kaum etwas erhalten, obwohl Boethos als ein von Alexander hochgeachteter Kommentator zu bezeichnen ist, der gleichsam Pionierarbeit auf dem Gebiet der Kommentierung der aristotelischen Physik geleistet hat. Die Vorgeschichte der Auslegung Alex anders zur Zeitaporie liegt im dunkeln. Die Nachwirkungen seiner Exegese sind dagegen deut lich spürbar. 5 Die Rekonstruktion der Positionen des Themistios, Philoponos und Simplikios erfordert keine besonderen Maßnahmen. Bei Alexander von Aphrodisias dagegen ist die Situation anders. Hier ergibt erst die Sammlung unterschiedlicher Texte aus weitverstreuten Materialien einen klaren Befund. Allein diese sekundären Quellen gleichen den Verlust seines verschollenen Physikkommentars aus. 6 Alexanders Kommentar scheint die Hauptquelle des Averroes bei der Auslegung der aristoteli schen Physik gewesen zu sein. Aber Averroes hat auch Themistios studiert. Der Physikkommentar des Averroes ist auf diese Weise ein Spiegel der antiken Kommentare. Daher ermöglicht erst eine Untersuchung der Auslegungen der antiken Kommentatoren zur <aristotelischen Zeitaporie> das Verständnis der Ausführungen des Averroes. Indem Averroes bestimmte Ausle gungsmuster der Antike direkt oder indirekt aus diesen Quellen übernahm, wirkte er selbst wie ein Transformator der entsprechenden Leistungen der antiken Kommentatoren in den philoso phischen Diskurs des 13. Jahrhunderts im lateinischen Westen. Eine Auseinandersetzung mit Averroes war auf diese Weise auch immer eine Auseinandersetzung mit bestimmten antiken Theoremen. Die Behauptung ist nicht übertrieben, daß erst Averroes die Aristoteliker des 13. Jahrhunderts auf das Niveau erhoben hat, das die Kommentatoren der Spätantike längst erreicht hatten. Die Philosophen des 13. Jahrhunderts, die den Zeittraktat des Aristoteles kommentierten, wußten sehr wenig über die Meinungen der antiken Peripatetiker zu diesem Text. Averroes hat ihnen durch seine Auslegung der Zeitaporie das grundlegende Auslegungsschema dieser Text stelle, das in der Spätantike erarbeitet worden war, in aller Kürze mitgeteilt. Aber indem er aus 4
1.1. Einführung Eine Untersuchung, die die Entwicklungslinie der Auslegungen zur Zeitaporie von der Spätantike über den arabischen Aristotelismus bis zum 13. Jahrhun dert rekonstruiert, ist deshalb sinnvoll. Als Basis der Untersuchung erscheint es zunächst notwendig, die überlieferten Texte der antiken Aristoteleskommenta toren zur <aristotelischen Zeitaporie> einer intensiven Analyse zu unterziehen. Diese Untersuchung ist dabei immer auf Averroes und das 13. Jahrhundert aus gerichtet. Bei der Erforschung der antiken Kommentare muß der Ausgangs punkt der Entwicklungslinie erkennbar sein, die in ihrem weiteren Verlauf zu der Auslegung des Averroes und den Deutungen der lateinischen des 13. Jahrhunderts führt. Nur auf diese Weise wird sichtbar, inwieweit die Diskussion der lateinischen Aristoteliker zur Zeitaporie zwar ein Reflex spätantiker Problemstellungen, aber auch eine eigenständige, ursprüngliche Leistung ist.7
der Fülle der Texte auswählte und bestimmte Kommentarergebnisse der Antike zurückdrängte, blieben wichtige Gesichtspunkte unberücksichtigt. Dennoch hat das Studium des Physikkommentars des Averroes die Philosophen des 13. Jahrhunderts mit den Schwierigkeiten der Zeit aporie bekannt gemacht. Auf diese Weise ist die antike Tradition der Auslegung dieser schwieri gen Aristotelesstelle nicht in der Spätantike abgebrochen, sondern lebte, vermittelt durch Aver roes, im 13. Jahrhundert wieder auf, obwohl keiner der antiken Physikkommentare damals zu gänglich war. Der Physikkommentar des Averroes hat stimulierend auf die Diskussionen der Zeitaporie durch die lateinischen Peripatetiker gewirkt. Innerhalb eines halben Jahrhunderts, von etwa 1230 bis 1300, entstand eine Fülle von kontroversen Deutungen, in der sich das aus der Spätantike übernommene Konzept des Averroes trotz Widerstände immer mehr durchsetzte. Wer die Originalität der Philosophen des 13. Jahrhunderts erkennen will, muß einen Vergleich zwi schen den Auslegungsstrategien der Antike, dem daraus konzipierten Extrakt des Averroes und den Kommentaren der lateinischen Peripatetiker durchführen. 7 Die antiken Physikkommentare waren den Philosophen des 13. Jahrhunderts unzugänglich. Es wäre jedoch möglich gewesen, hier einen Zugang zu erhalten. Die lateinische Übersetzung eines kurzen Abschnitts aus dem Physikkommentar des Simplikios ist nämlich im 13. Jahrhun dert im Umlauf gewesen. Vgl. M. Clagett, The quadratura per lunulas. A thirtheenth-century fragment of Simplicius' commentary on the Physics of Aristotle, in: J. H. Mundy/R. W. Emery/ B. N. Nelson (Hrsg.), Essays in Medieval Life and Thought. Presented in Honor of A. P. Evans, New York 1965, 99-108. 5
1.2. Der Text der Aporie und ihr Status im Corpus Aristotelicum Der Text der <aristotelischen Zeitaporie>1 bietet, wie ihn W. D. Ross konstitu iert hat, keine philologischen Besonderheiten wie etwa Textverderbnisse oder Überlieferungslücken. Auch verzeichnet W. D. Ross keine übermäßig hohe Variantendichte, die die Textkonstitution erschwert. Außerdem ist fast der ge samte Text durch die griechischen Kommentare abgesichert. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29 (Ed. W. D. ROSS)
1 2 3
Nach heutiger Zählung ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29. Vgl. Aristoteles, Physica, ed. W. D. Ross, Oxonii 1950, Variantenverzeichnis.
6
1.2. Der Text der Aporie und ihr Status im Corpus Aristotelicum
Im Hinblick auf die inhaltliche Struktur des Textes und aus Gründen der Übersichtlichkeit erscheint es sinnvoll, den Abschnitt in mehrere Teilstücke zu zerlegen. Diese gesonderten Einheiten sind teils einzelne Sätze, teils bestimmte Satzteile, die hier ein besonderes Gewicht erhalten sollen. Auf diese Weise die <aristotelische Zeitaporie> in sechs Hauptabschnitte (I-VI), wobei Satz IV in drei Glieder (IVa-c) zerlegt wird: ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29 (nach Sätzen und Satzabschnitten gegliedert)
7
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Weil die antiken Kommentatoren bei der Auslegung dieses Satzgefüges un terschiedliche Schwerpunkte gesetzt haben, ist es die Aufgabe dieser Untersu chung, aus diesen Differenzierungen eine bestimmte Entwicklungslinie zu re konstruieren. Vorher bedarf es jedoch einer grundlegenden Betrachtung zur inneren Struktur der Aporie. Der Text besitzt innerhalb des Corpus Aristotelicum eine gewisse Sonderstellung, die seine Einordnung und Kommentierung erschwert. Aristoteles untersucht in der Zeitaporie das Verhältnis von Zeit und Seele. Dieser Text ist auf gewisse Weise singular im Corpus Aristotelicum. Es gibt im Zeittraktat Passagen, die mit diesem Abschnitt verwandt sind,4 aber nirgendwo schiebt Aristoteles das Verhältnis von Zeit und Seele so in den Vordergrund. Auch in seinen anderen überlieferten Schriften finden sich keine vergleichbaren Passagen. Aber einige Texte zeigen doch eine verwandte Argumentationsstruk tur. Im vierten Buch der Metaphysik des Aristoteles ist ein bestimmter Textab schnitt überliefert, der eine Verwandtschaft mit der <aristotelischen Zeitaporie> erkennen läßt.5 Während Aristoteles in der Zeitaporie das Verhältnis der Seele zum Zählbaren erforscht, untersucht er im vierten Buch der Metaphysik das Verhältnis der sinnlichen Wahrnehmung zum sinnlich Wahrnehmbaren. Aristo teles geht es zunächst um eine Kritik der Thesen des Protagoras.6 Von der Zeit 4
Diese Bezüge erforschten die Aristoteliker des 13. Jahrhunderts. Vgl. 3.6.2.3., S. 344-353. Vgl. R. Sorabji, Time, Creation and the Continuum. Theories in antiquity and the early mid dle ages, London/Ithaca N.Y. 1983, 90/1: «Next in order probably comes our passage in the Physics, in which he reverses position and says that nothing would be countable, if there were no souls. Hence only the substratum ... of time would exist. In agreement with that, he argues in the Metaphysics (at least on one interpretation [Metaph. 4.5, 1020b30-1011a2]) that if there were no beings with soul, then perhaps... there would be no perceptibles ... , but there would still exist the substrata ... which give rise to perception.» 6 Ebenso wie Platon war auch Aristoteles gezwungen, sich der Auseinandersetzung mit den So phisten zu stellen. Der Streit um das Verhältnis der sinnlichen Wahrnehmung zum Wahrnehm5
8
1.2. Der Text der Aporie und ihr Status im Corpus Aristotelicum
spricht Aristoteles an dieser Stelle nicht. Er sagt auch nichts über die Natur der Zahl oder über die Beschaffenheit des Zählbaren. Aber indem er die sinnliche Wahrnehmung in ihrer Relation zum Wahrnehmbaren untersucht, nähert er sich seinen eigenen Überlegungen zur Zeitaporie. Insofern ist es sinnvoll, die Parallelstelle hier vorzustellen. Dabei fällt auch Licht auf die Struktur der Zeit aporie. Die Analogie dieses Textes zu Phys. IV 14, 223 a 21-29 fällt sofort auf. Schon die stilistischen Ähnlichkeiten, die z.T. bis in die einzelnen Formulierun gen gehen, wären einer näheren Analyse wert. Die inhaltlichen Parallelen sind für diese Untersuchung jedoch wertvoller. Auch sie sind leicht zu finden. (1) Aristoteles fragt zunächst nach dem Sein des Wahrnehmbaren, das mit dem Sein der beseelten Entitäten verbunden ist. Wären die beseelten Dinge nicht vorhanden, dann wäre die Wahrnehmung für sich nichts. Die Ähnlichkeit der Fragestellung zu Satz ІІ der Zeitaporie ist nicht zu übersehen. Während Aristoteles dort nach dem Verhältnis der zählenden Seele zum Zählbaren fragt, untersucht er hier die Relation zwischen dem Beseelten und dem Wahrnehmba ren. (2) Aristoteles begründet die relationale Verknüpfung des Wahrnehmbaren mit den beseelten Entitäten durch einen Hinweis auf das Sein der sinnlichen Wahrnehmung. Ohne die beseelten Seienden gäbe es keine sinnliche Wahrneh mung. (3) Nachdem Aristoteles die Abhängigkeit der Grundrelation vom Sein der beseelten Entitäten diskutiert hat, geht er zur Betrachtung des sinnlich Wahr nehmbaren als dem zweiten Glied der Relation über. Auch darin kann man eine Parallele zur <aristotelischen Zeitaporie> erkennen. Was Aristoteles dort als bezeichnet, erscheint hier als úπєίμєvov, eine Analogie, die schon A. Torstrik 1857 aufgefallen ist.7 Aristoteles stellt zunächst fest, daß das sinn
baren war nicht neu, sondern hatte seine Wurzeln in der vorsokratischen Philosophie. Daher ist es nicht verwunderlich, daß Aristoteles der Destruktion der sophistischen Philosophie in der Metaphysik einen bedeutenden Stellenwert einräumt. Schon Platon kannte verschiedene Deutun gen dieses Verhältnisses. So spricht er im Theaitet von der relationalen Struktur der Wahrneh mung und des Wahrnehmbaren, die gleichsam wie ein Zwillingspaar miteinander verknüpft sind, so daß immer beide zugleich entstehen und vergehen. Vgl. PLATON, Theait. 156 b 1/2:
7
Vgl. A. Torstrik, " πє őv. Ein Beitrag zur Kenntniß des aristotelischen Sprachge brauchs, in: Rheinisches Museum für Philologie, N. F. 12 (1857) 167: « ' nennt und der Aristoteles es öfter, z. B. Met. 5. 1010 b 33, wo von der Relation des
9
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
lich Wahrnehmbare und die Sinneswahmehmung (durch die Aufhebung einer wahrnehmenden Seele) auf gewisse Weise stets folgenlos wegfallen können. Die Sinneswahrnehmung ist nämlich, so fügt Aristoteles erklärend hinzu, eine Af fektion der wahrnehmenden Entität. Dies leuchtet unmittelbar ein, denn ohne ihren seelischen Bezugspunkt ist jede Rede von einer Wahrnehmung sinnlos. Davon unberührt bleiben aber die Entitäten, auf die die sinnliche Wahrneh mung zielt Sie sind es, die als die Zielpunkte der Wahrneh mung die sinnliche Wahrnehmung selbst anregen. Es ist nicht zu übersehen, daß Aristoteles dieses Zugrundeliegende deutlich von dem ihm sinn lich Wahrnehmbaren unterscheidet. Und, was noch wichtiger ist, er gibt einen Hinweis, der das notwendige Vorhandensein des Zugrundeliegenden begründen soll. (4) Es bedarf eines außerseelischen Seienden, das Aristoteles nennt. Gäbe es das nicht, dann wäre die sinnliche Wahrnehmung reflexiv auf sich gerichtet, was nach Aristoteles nicht zulässig ist. Die Wahrnehmung kann sich nicht selbst Gegenstand sein. Sie braucht ein <Etwas>, das zugleich auch ein ist, nämlich einen äußeren Anstoß. Einen Anstoß gibt hier nur das, was früher vorhanden ist. Früher als alles andere aber sind die basalen Entitä ten, auf die die Wahrnehmung zielt. (5) Aristoteles belegt diese These mit einem Hinweis auf das Verhältnis des Bewegenden zum Bewegtwerdenden, wobei sofort einsichtig ist, daß das Bewe gende, d.h. das, das den Anstoß gibt, früher sein muß als das Bewegte, das den Anstoß empfängt oder ihn erleidet.8 Neben diesem Text aus der Metaphysik gibt es noch zwei weitere Paral lelstellen aus der Psychologie des Aristoteles, die hier Beachtung verdienen. Der erste Text bezieht sich ebenfalls auf die Struktur der sinnlichen Wahr nehmung.
10
1.2. Der Text der Aporie und ihr Status im Corpus Aristotelicum
Der erste dieser Texte fällt sofort durch eine gewisse Ähnlichkeit zu den Formulierungen der Zeitaporie auf. Wie dort geht Aristoteles auch hier von ei ner Relation aus und untersucht die Modalitäten, die Sein und Nichtsein dieser Relation regeln. Aristoteles bezieht sich dabei erneut auf.die sinnliche Wahrnehmung, indem er das Verhältnis der zur Wahrnehmung fähigen Entität zum Wahrnehmbaren erforscht: (a) Wenn beide Relationsglieder in eine Einheit fallen, und zwar so, daß sie in ihrer Bezüglichkeit eines, aber durch ihr jeweiliges Sein verschieden sind, dann ist ihre Verfassung auf ein relationales Zugleich abgestimmt. Damit ist gemeint, daß die Relation durch das Zugleichsein ihrer Glieder aufgebaut und durch den Fortfall dieses Zugleichseins aufgehoben wird. (b) Nachdem Aristoteles die relationale Verfaßtheit zwischen dem zur sinnli chen Wahrnehmung Fähigen und dem Wahrnehmbaren bestimmt hat, verweist er zu ihrer Erläuterung auf das Verhältnis von Gehör und Ton. Im wirklichen Hören sind das Gehör und der Ton untrennbar miteinander verknüpft, d.h. die o.g. Relation befindet sich im Modus der Aktualität. (c) Diese enge Verknüpfung beschränkt Aristoteles allein auf den Modus der Aktualität. Hinsichtlich der Potentialität bestreitet er die Notwendigkeit dieses Zusammenhanges und bekräftigt seine Auffassung durch eine Kritik der älteren Naturphilosophie. Diese Philosophen meinten, daß es ohne das Sehen, eine be stimmte Modifikation der sinnlichen Wahrnehmung, weder ein Schwarzes noch ein Weißes gäbe. Nach Aristoteles ist diese Meinung teils richtig, teils falsch. Er betrachtet die sinnliche Wahrnehmung und das Wahrnehmbare auf doppelte Weise, denn er beachtet sowohl den Aspekt der Potentialität als auch den Modus der Aktualität. Das Beispiel des Sehens und der Farbe zeigt klar, was Aristote les hier sagen will: Unter dem Aspekt der Aktualität, d.h. im wirklichen Sehen, bilden Sehen und Farbe eine Einheit. Hier hatten die alten Naturphilosophen recht. Unter dem Modus der Potentialität - bei Abwesenheit des aktuellen opti schen Wahrnehmungsprozesses - bleibt jedoch allein die Farbe bestehen. Das übersahen die Vorgänger des Aristoteles.9
11
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
In bezug auf das Verhältnis des Sehens zur Farbe hat Aristoteles hier zu nächst nur die Rahmenbedingungen abgesteckt. Die Feinstruktur dieses Ver hältnisses enthüllt sich aber erst dann, wenn noch eine weitere Aussage aus sei ner Psychologie zur Sprache kommt. Aristoteles befaßt sich dort mit dem Verhältnis des Sehens zum Sichtbaren. Sichtbar ist die Farbe. Davon ist aber das zu unterscheiden, was nur durch den Logos faßbar ist, nämlich ein namenloses, für das Sichtbare basishaftes Seien des, das an sich Sichtbare. Dieses an sich Sichtbare, d.h. die nur durch den Lo gos vom Sichtbaren unterscheidbare Entität, besitzt jedoch in sich die Ursache des Sichtbarseins.10 Themistios bezeichnet es in seinem De anima-Kommentar als das Die Parallelstellen zur Zeitaporie zeigen in ihrer Gesamtheit, daß es im Corpus Aristotelicum mehrere in Form und Argumentations struktur mit der Apo rie verwandte Aristotelesstellen gibt. Sie sagen zwar nichts zum Verhältnis von Zeit und Seele, aber sie enthalten Hinweise, die zur Interpretation der Zeitapo rie zur Verfügung stehen. Die antiken Physikkommentatoren fanden hier also folgende Informationen und Richtlinien: a) Die Zeitaporie ist, wie vergleichbare Texte zeigen, durch re lationale Momente strukturiert. Es war also notwendig, die entsprechenden Bezüge aufzusuchen. b) Aristoteles hat diese relationalen Strukturen zusätzlich durch das -Gefüge beschrieben.
12
1.2. Der Text der Aporie und ihr Status im Corpus Aristotelicum
) Wie in seinen Analysen zur Wahrnehmung arbeitete Aristote les augenscheinlich auch bei der Analyse des Verhältnisses von Zeit und Seele mit der Annahme eines Es war Struktur in der also notwendig, sowohl diese Zeitphilosophie zu etablieren als auch das Verhältnis von Zeit und Seele in seiner Beziehung zur Wahrnehmungstheorie des Aristoteles zu klären. Die antiken Aristoteleskommentatoren haben diese Aspekte aufgegriffen und umfassend diskutiert.
1.3. Boethos Themistios
Simplikios
Wer die Geschichte der Kommentierung der <aristotelischen Zeitaporie> in der Antike untersucht, muß zunächst die Kommentarreste und Fragmente stu dieren, die sich aus der Frühzeit der Aristoteleskommentierung erhalten haben. Erst dann ist es möglich, die antike Diskussion bis in das 1. Jh. v. Chr. zurückzuverfolgen. Das erste dieser älteren Bruchstücke ist ein Fragment des Boethos, das Themistios und Simplikios überliefert haben.3 Wie viele Aristoteleskommentatoren nach ihm ging auch Boethos bei der Widerlegung der Zeitaporie von zahlentheoretischen Überlegungen aus. Dies ergibt sich aus der Argumentationsstruktur des Aristoteles. Aristoteles be hauptet in der Zeitaporie, daß unmöglich etwas Zählbares exi stiert, wenn nicht ein Seiendes vorhanden ist, das zu irgendeinem (künftigen) Zeitpunkt zählt Wer diesen Satz des Aristoteles angreifen wollte, mußte versuchen, die Ver klammerung der zählenden Seele mit dem Zählbaren aufzubrechen. Boethos parallelisierte daher das Zählbare mit dem Wahrnehmbaren 1
THEMISTIUS, Phys. 160, 26-28. SIMPLICIOS, Phys. 759, 18-20. 3 Der Kontext dieses Satzes etwa bei Simplikios macht es wahrscheinlich, daß sowohl Themistios als auch Simplikios dabei nicht mehr die Originalquelle benutzten, sondern das Fragment aus dem Physikkommentar des Alexander von Aphrodisias übernommen haben. 2
14
1.3. Boethos Wie das Zählbare sich zum Zählenden verhält, so verhält sich nach seiner Ansicht auch das sinnlich Wahrnehmbare zum Wahrnehmenden. Mehr als diese , so scheint es, ist aus dem Fragment nicht ersichtlich.5 Dennoch ist es möglich, etwas zur Genese dieser Aristoteleskritik zu sagen. Dies gelingt nicht allein durch eine präzise Analyse des überlieferten Bruch stückes. Auch der Kontext bedarf eines sorgfältigen Studiums. Erst dann treten die Motive zutage, die Boethos bewogen haben, das Beziehungsgefüge zwischen zählender Entität und dem Zählbaren durch einen kritischen Hin weis auf das Verhältnis des Wahrnehmenden zum Wahrnehmbaren zu erhellen. Es scheint nämlich, als habe Boethos seine Kritik an Aristoteles aus der Be schäftigung mit der Kategorienschrift des Aristoteles gewonnen.6
5
P. Moraux hat sich in seinem umfangreichen Werk über die antiken Aristoteleskommentatoren auch zur Zeitphilosophie des Boethos geäußert. Vgl. P. Moraux, Der Aristotelismus bei den Griechen von Andronikos bis Alexander von Aphrodisias, Bd. 1: Die Renaissance des Aristote lismus im 1. Jh. v. Chr. (Peripatoi 5), Berlin/New York 1973, 170/1: «In den zwei übrigen Fragmenten ist von der Zeit die Rede. Das erste stammt wahrscheinlich auch aus dem Kommen tar Alexanders. Es enthält nämlich einen Einwand den laut Simplikios Alexander ausführlich begründete, um ihn dann zu widerlegen. Da Themistios den Gehalt der Lösung Alexanders, allerdings ohne Namensnennung, wiedergibt, liegt die Vermutung nahe, daß das Boethos-Zitat bei unseren beiden Zeugen auf Alexander zurückgeht. Boethos scheint mit seinem Einwand darauf hinzuweisen, daß die Zeit als "Zählbares" von einem Zählenden hier von der menschlichen Seele, ebenso unabhängig sein kann, wie etwa das Wahrnehmbare unabhängig von dem Wahrnehmungsakt existieren kann. Dieser Einwand ent spricht ziemlich genau der im Kategorienkommentar beobachteten Tendenz, die Zeit als objektiv existierend zu betrachten. Er scheint also nicht, wie es bei Alexander der Fall sein wird, als ein dialektisches Moment innerhalb eines -Komplexes gestanden zu haben, sondern spiegelt wohl die eigene Ansicht des Boethos wider.» 6 P. Moraux liefen daher in diesem Zusammenhang den richtigen Hinweis, indem er bei seiner Analyse der Reste des verlorenen Kommentars des Boethos zur Kategorienschrift des Aristote les auf die besondere Bedeutung der Kategorie der Relation bei Boethos verweist. Boethos hat sogar eine heute verlorene Schrift zur Relationskategorie verfaßt, die den Titel trug (vgl. P. Moraux, Der Aristotelismus bei den Griechen von Andronikos bis Alexander von Aphrodisias, Bd. 1: Die Renaissance des Aristotelismus im 1. Jh. v. Chr. (Peripatoi 5), Berlin/New York 1973, 157). Es ist daher wahrscheinlich, daß Boethos die Kategorienschrift des Aristoteles, die zu seiner Zeit im Mittelpunkt des Interesses stand, mit großer Aufmerksamkeit studiert hat. Vgl. in diesem Zusammenhang: Th. A. Szlezák, Pseudo-Archytas über die Kategorien. Texte zur griechischen Aristoteles-Exegese (Peripatoi 4), Berlin/New York 1972, 15f. Wichtig ist auch: P. M. Huby, An excerpt from Boethos of Si don's commentary on the Categories?, in: Classical Quarterly 31 (1981) 398-409; H. B. Gottschalk, The earliest Aristotelian commentators, in: R. Sorabji (Hrsg.), Aristotle Transformed. The Ancient Commentators and Their Influence, London 1990, 55-81. 15
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
In der Kategorienschrift weist Aristoteles auf die relationale Verklammerung des Wissens und des Wißbaren hin. Zudem vergleicht er diese noetische Beziehung mit der Relation der sinnlichen Wahrnehmung und des Wahrnehmbaren Aristoteles hatte also das Wißbare als Gegenstand eines noetischen Aktes mit dem Wahrnehmbaren als dem Objekt eines Aktes sinnlicher Wahrnehmung verbunden. Daher war es möglich, auch das Zählbare als Gegenstand eines noetischen Aktes mit dem Wahrnehmbaren in eine bestimmte Beziehung zu setzen. Aber Boethos konnte in der Kategorienschrift des Aristoteles noch eine an dere Mitteilung finden. Nach einem bestimmten Hinweis des Aristoteles scheint das Wahrnehmbare früher als die sinnliche Wahrnehmung zu sein.8 Indem Boethos nun diese Aussage des Aristoteles zum Wahr nehmbaren ebenfalls auf das Zählbare übertrug, be hauptete er, daß das Zählbare früher als das Zählende sei, oder mit anderen Worten, das Zählbare schien unabhängig vom Zählenden zu sein. Nichts an deres sagt das Fragment des Boethos.9 Diese zahlentheoretischen Überlegungen entfalten aber erst dann ihre zeitphi losophische Brisanz, wenn man sie als Kritik an der Zeitaporie deutet. Dann be sagen sie, daß die Zeit als die zählbare in der Bewe gung eben nicht von der Seele abhängig ist. Zeit und Seele sind dann nicht mit einander verknüpft, sondern vielmehr getrennt. So haben die späteren Kom mentatoren jedenfalls die Kritik des Boethos an der Zeitaporie des Aristoteles aufgefaßt. Der erste, der ihr widersprochen hat, war Alexander von Aphrodisias.
7
8
Vgl. ARISTOTELES, Cat. VII 6 b 33-36: ...
Vgl. ARISTOTELES, Cat. VII 7 b 36: Wenn diese Interpretation zutrifft, dann sind die Diskussionen zur <aristotelischen Zeitaporie> in der Antike von Anfang an bestimmt durch die Forschungen, die die frühen Aristotelesausleger des 1. Jh. v. Chr. zur Deutung der Relationskategorie unternommen haben. Das Argument des Boethos war verführerisch. Es hat aber bei den späteren antiken Kommentatoren keine Nachah mer gefunden, sondern ist vielmehr auf heftige Kritik gestoßen. Erst Thomas von Aquino hat in seinem Physikkommentar im Kampf gegen Averroes auf vergleichbare Weise die Zeitaporie kommentiert. Vgl. 3.5.3., S. 310. 9
1.4. Alexander von Aphrodisias Nach gegenwärtiger Quellenlage war Alexander von Aphrodisias der erste, der die Auslegung der <aristotelischen Zeitaporie> durch Boethos kritisierte. Seine Auseinandersetzung mit Boethos wurde für die antiken Kommentatoren gera dezu klassisch, so daß sich sowohl Themistios als auch Simplikios darauf bezo gen haben. Der Versuch einer Rekonstruktion der Position des Alexander von Aphrodi sias ist mit vielen Schwierigkeiten behaftet. Das größte Hindernis für die For schung ist der Verlust seines Physikkommentars. Weil aber Simplikios eine große Anzahl von Fragmenten und Thesen aus Alexanders Physikkommentar überliefert hat, ist es möglich, sich einen Eindruck von der Konzeption des Aphrodisiers zu verschaffen.1 Eine Verbindung dieser Bruchstücke mit anderen Quellen ermöglicht einen Einblick in Alexanders Auslegung der aristotelischen Zeitphilosophie. Zu die sen sekundären Texten gehört auch die Abhandlung De tempore.2 Zusammen gewähren sie eine detaillierte Aussage zu Alexanders Erforschung der <aristo telischen Zeitaporie>. Das sicherste Zeugnis zur Exegese der Zeitaporie des Aristoteles durch Alex ander von Aphrodisias bietet das durch Simplikios überlieferte Fragment. Hier handelt es sich weder um eine durch verschiedene Übersetzungsstufen entstellte 1
Da Alexanders Physikkommentar nicht nur die späteren Kommentatoren entscheidend beein flußt hat, sondern sicher auch viele Zitate aus anderen Quellen enthielt, die schon zur Zeit des Themistios und Simplikios auf andere Weise nicht mehr zugänglich waren, ist die Analyse an entscheidender Stelle behindert. Allerdings bieten die von Simplikios überlieferten Fragmente einen gewissen Ersatz. Die Einbettung dieser Fragmente in den Text des Simplikios gestattet au ßerdem einen Einblick in den Kontext der einzelnen Bruchstücke. Der Nachteil vieler Fragment sammlungen, die die Texte aus ihrem Zusammenhang reißen und unhistorisch isolieren, entfällt daher. 2 Zum arabischen Text des verlorenen griechischen Originals vgl.: A. Badawi, Commentaires sur Aristote perdus en grec et autres épîtres (Recherches publiées sous la direction de l'Institut de Lettres Orientales de Beyrouth, nouvelle série, A. Langue arabe et pensée islamique I), Bey routh 1971, 19-24. Eine davon angefertigte lateinische Übersetzung ist bekannt. Vgl. dazu: G. Théry, Autour du décret de 1210: IL - Alexandre d'Aphrodise. Aperçu sur l'influence de sa noétique (Bibliothèque thomiste VII), Le Saulchoir Kain 1926, 92-97. Dieser Traktat ist hier deshalb von so großer Bedeutung, weil er einen gewissen Ersatz für das bietet, was durch die bei Simplikios überlieferten Fragmente nicht zu erschließen ist. Obwohl Alexander hier nach ei gener Aussage gelegentlich von Aristoteles abweicht, so bleibt er ihm doch in den Grundthesen stark verpflichtet.
17
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren Quelle noch um einen bloßen Bericht. Hier spricht Alexander mit eigenen Worten. Dieses bisher kaum beachtete Fragment befindet sich im Kommentar text des Simplikios in unmittelbarer Nachbarschaft zum Fragment des Boethos. Daraus läßt sich schließen, daß beide Textabschnitte schon im verlorenen Physikkommentar Alexanders eng beieinander standen. Die Ausführungen des Aphrodisiers sind daher als Reaktion auf die Aristoteleskritik des Boethos zu verstehen. Alexander von Aphrodisias diskutiert die<aristotelischeZeitaporie> nach ei nem ihm eigentümlichen Schema, das der literarischen Gattung der angehört. Es besteht kein Zweifel, daß auch das hier zu untersu chende Alexanderfragment dieser Gliederung gehorcht. Der erste Teil des Fragmentes formuliert die der zweite Abschnitt konzentriert sich auf die Der erste Teilabschnitt des Alexanderfragmentes hat folgende Gestalt:
Es ist der Erforschung wert, so sagt Alexander, ob folgende Aussage des Aristoteles wahr ist: Wenn das Seiende, das zählen wird nicht existiert, ist auch das Zählbare nicht vorhanden. Alexander for muliert die Frage nach dem Zusammenhang von Zeit und Seele unter Anleh nung an den zweiten Satz der Zeitaporie. Oder mit anderen Worten: Die Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele ist nach der Vorgabe des Aristoteles zunächst ein zahlentheoretisches Problem. Wenn kein zählendes Seiendes vor handen ist, gibt es auch kein Zählbares. Gemäß dem Vorbild des Aristoteles in der Zeitaporie ergänzt Alexander seine Aussage: Indem das Zählende nicht existiert, gibt es nicht nur kein Zählbares sondern auch nichts, was gezählt wird Auf diese Weise erweitert Alexander den ba3
ALEXANDER ap. SIMPL., Phys. 759, 21-28.
18
1.4. Alexander von Aphrodisias
salen Satz unter Anlehnung an Aristoteles sukzessiv und baut ihn aus. Dies hat einen bestimmten Sinn: Es geht Alexander (wie Aristoteles) um das Sein der Zahl im Verhältnis zur Seele. Die Verklammerung von zählender Entität und Zahl (Gezähltes/Zählbares) ist nämlich nicht grundlos. Es gibt sie nur, weil die Zahl ihr Sein im Gezähltwerden hat. Gemäß dieser Auffassung ist die Zeit von der Seele abhängig. Alexander berücksichtigt aber auch die Gegenposition, denn es ist zu prüfen, ob die Zahl ihr Sein der Seele verdankt oder nicht. Alles, was er hier im Hin blick auf die Zahl erarbeitet, gilt zugleich auch für die Zeit. Alexander drückt die Gegenposition vorsichtig aus. Er gibt zu bedenken, daß das Zählbare selbst als das, was gezählt worden ist nicht mit der zählenden Entität zusammen aufgehoben zu werden scheint. Dafür gibt Alexander ein Beispiel. So deutet er als das Zählbare selbst einzelne Seiende wie Pferde oder Menschen. Diese Entitäten existieren für sich, auch wenn sie nie in Relation zu einem zäh lenden Seienden gestanden haben. Anschließend an diese zahlentheoretischen Überlegungen bezieht Alexander das Ergebnis seiner Untersuchung auf die Zeit. Hat Aristoteles nicht selbst gezeigt, daß die . Alexander hielt es wohl für nötig, die schwie rigen und umständlichen Formulierungen des Aristoteles in eine andere und gängigere Form zu gießen. Hier stehen sich zwei widersprüchliche Thesen ge genüber:
(a)
(b)
Das Zählbare existiert nicht ohne das Zählende.
Das Zählbare existiert. ohne das Zählende.
Was für die Zahl und ihre Modifikationen gilt, bezieht sich gemäß der Natur der Zeit als Zahl auch auf die Zeit:
19
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
(a)
(b)
Die Zeit existiert nicht ohne die Seele.
Die Zeit existiert ohne die Seele.
Die These (b) läßt sich ohne Schwierigkeit als die Position des Boethos er kennen. Indem Alexander nun die Lösung der Aporie durchführt, stellt er zugleich die Argumente zur Widerlegung des Boethos bereit. Die Auflösung der Aporie dokumentiert der zweite Teil des Alexanderfrag mentes4:
Die antithetische Tendenz dieses Textes gegenüber Boethos fällt sofort auf. Ein Zählbares an sich wie Boethos behauptete, gibt es nach Alexander nicht. Vielmehr existieren bestimmte Seiende wie Pfer de oder Menschen die in den Status des Zählbaren gelan gen. Alexander spricht daher nicht von einem Zahlbaren, sondern von einer Entität, der es zuteil geworden ist zählbar zu werden Die prozessuale der bloß vorhandenen Seienden in Zählbare bezeichnet der Infinitiv Das bloß Vorhandene existiert, aber zählbar ist es nur in Relation zur Seele.
4 Diese hier vorgenommene Aufteilung des Alexanderfragmentes in zwei Teile ist keine Inter pretation, sondern beruht auf den Angaben des Simplikios. Vgl. dazu: SIMPLICIUS, Phys. 759, 29: 5 ALEXANDER ap. SIMPL., Phys. 759, 29-760, 3.
20
1.4. Alexander von Aphrodisias
Diese Behauptung sichert Alexander durch relationstheoretische Überlegun gen ab und bezieht sie auf die Zeit. Das Zählbare besteht bei der Zeit gemäß der Anweisung des Aristoteles in den Bestimmtheiten des Früher und Später. Sie repräsentieren auf diese Weise die Zeit. Insofern diese Früher und Später zählbar sind, erscheinen sie im Modus der Relationalität. Als Teil einer Rela tion steht und fällt ihre Eigenschaft als Zählbare mit dem anderen Glied der Relation, der zählenden Seele. In Analogie zur Unterscheidung zwischen einzelnen Seienden wie Pferde und Menschen an sich und ihrem Modus als Zählbare führt Alexander im Hinblick auf die Zeit die Bewegung ein: Da die Früher und Später als Zählbare entfallen, wenn die zählende Entität nicht existiert, gibt es auch keine Zeit. Nichts hindert dann aber, daß das der Zeit Zugrundeliegende die Bewegung vorhanden ist. Indem Alexander von Aphrodisias die Rede vom Zugrundeliegenden in die Diskussion über die <aristotelische Zeitaporie> einbringt, fällt endlich das entscheidende Wort. Dieses ist die Bewegung als reine Bewegung. Das der Zeit ist also keine Quasi-Zeit oder ein irgendwie gear tetes Zeitsubstrat, das außerhalb der Seele existiert und zeithafte Bestimmthei ten haben kann, ohne selbst Zeit zu sein. Nur das Studium der antiken Kom mentare vermag zu verhindern, daß dieses moderne Konstrukt die Diskussion weiter belastet, ein Begriff, der mehr verdunkelt, als er erklärt. Indem Alexander dieses -Modell in die Diskussion einführte, gab er dem Streit um das Verhältnis von Zeit und Seele eine neue Richtung. Alexanders Modell erschien so einleuchtend, daß ihm alle anderen antiken Kommentatoren darin gefolgt sind: Ohne die Seele ist allein das der Zeit, die Bewegung, vorhanden. Als Zählbares existiert dieses jedoch erst dann, wenn die zählende Seele vorhanden ist. Dies mußte Alexander gegen Boethos und zur Lösung der Aporie festhalten. Auf diese Weise hat er das Verhältnis der endlichen Seele zur Zeit zu klären versucht und die Seele als zeitkonstituierend aufgezeigt. Alexander kennt jedoch auch eine zeitverursachende kosmische Seele. Dies beweist folgende Zitatensammlung aus drei unterschiedlichen Quellen in drei verschiedenen Sprachen:
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren I. Alexander ap. Simpl.
IIa. Alexander, De tempore «Et dico quod si destrueretur anima que numerai motus, destrueretur tempus, et si destrueretur anima non moveretur orbis, et si non moveretur orbis, destruerentur motus omnes quoniam ipse est causa motuum omnium, et sic temporis.»1 IIb.
7
ALEXANDER, De tempore; Théiy 95. Der kursiv gedruckte Satzabschnitt fehlt in der arabi schen Übersetzung. Vgl. dazu: F. W. Zimmermann/H. V. B. Brown, Neue arabische Überset zungstexte aus dem Bereich der spätantiken griechischen Philosophie, in: Der Islam 50 (1973) 315: «BADAWI (S. XII) erwähnt, daß eine lateinische Übersetzung gemacht worden ist, zieht sie jedoch nicht heran. In der Tat ist sie öfter nach dem Arabischen zu verbessern als umgekehrt, steuert aber doch einige beachtenswerte Lesarten bei... » 8 Vgl. A. Badawi, Commentaires sur Aristote perdus en grec et autres épîtres (Recherches publiées sous la direction de l'Institut de Lettres Orientales de Beyrouth, nouvelle série, A. Langue arabe et pensée islamique I), Beyrouth 1971, 22, 2-4. 22
1.4. Alexander von Aphrodisias
Es gehört zu den Leistungen, die Alexander von Aphrodisias in Hinblick auf die Auslegung der <aristotelischen Zeitaporie> zuzuschreiben sind, daß er die Auslegung der Zeitaporie in die kosmische Dimension vorangetrieben hat. Auch dabei ist es notwendig, auf ein von Simplikios überliefertes Alexander fragment zurückzugreifen. Ein Abschnitt aus Alexanders nur in arabischer und lateinischer Fassung überliefertem Traktat De tempore ergänzt dieses Bruch stück. Das erste Alexanderfragment geht indirekt von Überlegungen des Aristoteles aus dem zwölften Buch der Metaphysik aus. Alexander bezieht sich dabei auf eine bestimmte Passage, in der Aristoteles die Beziehung des Himmels zum Er sten Beweger in den Blick nimmt. Aristoteles erklärt dort die unaufhörliche und kontinuierliche Kreisbewegung des ewigen Kosmos aus der stützenden Funktion des göttlichen Dieser bewegt wie eine Begehrtes Gedachtes
und ein
Das Begehrte und Gedachte ist dabei der Zielpunkt eines Begehrens und Denkens Diese Funktionen schreibt Alexander nach den o.g. Angaben des Simplikios (Zit. I) der Seele des Himmels zu.10 Die Himmelsseele ist auf diese Weise der Verursacher der kosmischen Kreisbewe gung und damit auch die Ursache aller anderen Bewegungen bzw. Veränderun gen.11 Sie verursacht dabei auch die Zeit, denn sie konstituiert die Bewegung, das der Zeit. Durch eine Vernichtung der (Himmels-) Seele ent fällt demnach jegliche Bewegung. Hier bricht der Bericht des Simplikios zu Alexanders Konzeption einer zeiterzeugenden Weltseele ab. Nähere Hinweise zu Alexanders Verschmelzung der Philosophie der Zeit mit der Kosmologie der Himmelsseele, die genau an diese Stelle anknüpfen, gibt es
9
Vgl. ARISTOTELES, Met. XII 7, 1072 a 26/7:
10
Alexander knüpft hier an die Lehre des Aristoteles von der Beseelung des Himmels an. Vgl. ARISTOTELES, De caelo II 2, 285 a 29/30: ... 11 Vgl. zur Diskussion dieser Frage: Ph. Merlan, Ein Simplikios-Zitat bei Pseudo-Alexandras und ein Plotinos-Zitat bei Simplikios, in: Rheinisches Museum für Philologie 89 (1935) 154160.
23
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren ausreichend in der separaten Abhandlung Alexanders De tempore (Zit. II). 12 Der Aphrodisier hat seine These dort in wenigen Sätzen zusammengefaßt. Die Seele, die die kosmische Urbewegung , ist die kosmische Seele. 13 Sie bewegt den Himmelskreis, der auf seine Weise alle anderen Bewegungen aus sich entläßt. Aufgrund dieser Annahme vertritt Alexander folgende These:
Durch eine Zerstörung der {kosmischen) Seele fällt auch die Zeit weg.
Die Begründung dafür lautet: a)
Eine Vernichtung der (kosmischen) Seele beendet die Bewegung des Himmelskreises.
b)
Indem der Himmel seine fundamentale Bewegung einstellt, fehlt die treibende Ursache der anderen untergeordneten Bewegungen.
12 Alexanders Abhandlung De tempore ist nicht im Original erhalten, sondern liegt wie viele an dere Texte Alexanders nur in einer arabischen bzw. lateinischen Übersetzung vor. Die Suche nach arabischen Quellen scheint aber die einzige Möglichkeit zu sein, das Corpus der Schriften Alexanders noch zu erweitern. Die Edition des arabischen Textes von Alexanders Abhandlung De tempore durch A. Badawi besprechen: F. W. Zimmermann/H. V. B. Brown, Neue arabische Übersetzungstexte aus dem Bereich der spätantiken griechischen Philosophie, in: Der Islam 50 (1973) 314/5. Aus der arabischen Übersetzung der Abhandlung Alexanders, deren Status in nerhalb der überlieferten Schriften Alexanders noch ungeklärt ist, hat Gerhard von Cremona eine lateinische Übersetzung angefertigt, die auch Quellenwert besitzt. Dieser Text soll hier als Basis der Untersuchung dienen. Zwar kann der Traktat De tempore den verlorenen Physikkommentar Alexanders nicht ersetzen, aber er bietet in kurzen und knappen Umrissen die gesamte eigene Zeittheorie Alexanders. Viele einzelne Ausführungen lassen sich, wie R. W. Sharpies 1982 ge zeigt hat, durch die von Simplikios überlieferten Fragmente aus dem verlorenen Physikkommentar des Alexander von Aphrodisias absichern. Vgl. R. W. Sharpies, Alexander of Aphrodisias, On Time, in: Phronesis 27 (1982) 58-81. 13 Alexanders Rede von der Seele in De tempore erinnert an die kontroversen Texte zur Besee lung des Himmels aus Aristoteles' kosmologischer Hauptschrift De caelo. Alexander hat sich an dieser Kontroverse beteiligt und entsprechende Thesen dazu entwickelt. Vgl. R. W. Sharpies, The Unmoved Mover and the motion of the heavens in Alexander of Aphrodisias, in: Apeiron 17 (1983) 62-66.
24
1.4. Alexander von Aphrodisias
)
Wenn aber jede Bewegung entfällt, gibt es auch keine Zeit.14
Eine Zusammenfassung der Konzeption Alexanders ergibt also folgendes Bild: Alexander geht vom des Aristoteles aus. Dieser ist das Ziel des Den kens und der Begierde der Himmelsseele, die dabei die ewige und kontinuierliche Kreisbewegung hervorbringt. Diese kosmische Kreisbewe gung veranlaßt die anderen innerweltlichen Bewegungen und damit die Zeit. Auf diese Weise erfährt das Verhältnis von Zeit und Seele seine erste und kosmische Dimension, indem Alexander auf die zeitverursachende Seele des Universums zurückgeht. Davon ist die zweite Dimension des Verhältnisses von Zeit und Seele zu un terscheiden, die bei der menschlichen Seele ansetzt. Die kosmische Seele er zeugt zunächst die Bewegung. Diese dient der menschlichen Seele als vov für die Zeit. Nur wenn diese Seele sich zählend zur vorgefundenen Bewe gung verhält, gibt es ein Zählbares und damit auch Zeit. Fällt die endliche Seele jedoch weg, dann ist nur reine Bewegung vorhanden. Damit ist durch das dop pelte Verhältnis von Zeit und Seele jede nur denkbare Möglichkeit einer ir gendwie seelenunabhängigen Zeit negiert. Dieses Zeitmodell ist eine Rekonstruktion aus den überlieferten Resten der Auslegung des Alexander von Aphrodisias. Es zeigt jedoch nur die Grundzüge. Insofern gleichen die Fragmente Alexanders einem Trümmerfeld, das den Grundriß des Gebäudes zwar notdürftig andeutet, aber von der Gesamtheit sei ner ehemaligen Architektur nur sehr wenig erkennen läßt. Der stattliche Bau erhält erst bei den Nachfolgern Alexanders deutliche Konturen.
14
Die Nähe des hier diskutierten Abschnitts aus De tempore zur <aristotelischen Zeitaporie ist nicht zu übersehen. R. W. Sharpies hat zuerst auf diese Tatsache aufmerksam gemacht, ohne sie in einem größeren Rahmen zu untersuchen. Er erkannte jedoch die Beziehung des durch Simplikios mitgeteilten Bruchstückes aus Alexanders verlorenen Physikkommentar zu dem Traktat De tempore. Vgl. R. W. Sharpies, Alexander of Aphrodisias, On Time, in: Phronesis 27 (1982) 70: «Well, both Aristotle and Alexander hold that time would not exist in the absence of soul. Alexander however has two arguments for this conclusion where Aristotle has only one, expli citly. Both authors argue that time depends on soul on the ground that it is soul that numbers movement; but Alexander adds, apparently as a separate argument, that in the absence of soul there would not be any movement. It is his standard doctrine that the movement of the heavenly spheres is caused by the desire of their souls to emulate the changelessness of the Unmoved Mo ver. »
25
1.5. Themistios Die Analyse der überlieferten Fragmente des Alexander von Aphrodisias zur Auslegung der Zeitaporie führt zwar zu grundlegenden Ergebnissen, ist aber durch die mehr indizienhafte Beweisführung mit vielen Unsicherheiten behaf tet. So hinterlassen die Texte des Aphrodisiers einen zwiespältigen Eindruck. Der Grundriß dessen, was Alexander vorgelegt hat, läßt sich in etwa erkennen, aber für die Rekonstruktion des Gesamtentwurfs ist die Überlieferungslage zu dürftig. Selbst die Äußerungen aus sekundären Quellen schaffen hier kaum Ab hilfe. Während bei Alexander von Aphrodisias nur wenige Zeugnisse zur Verfü gung stehen, ergeben sich bei der Bearbeitung der entsprechenden Passage aus der Physikparaphrase des Themistios keine Überlieferungsprobleme.1 Um die eigenständige Leistung des Themistios in bezug auf die <aristotelische Zeitaporie> voll zu würdigen, ist es notwendig, seine Paraphrase in ihre ele mentaren Bestandteile aufzulösen. Erst dann läßt sich der textliche Eigenanteil des Themistios gewinnen und von sekundären Formulierungen abtrennen.2 Eine Untersuchung der Paraphrase, die Themistios zu ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29 geschrieben hat, ergibt folgendes Bild: I
In einem ersten Textabschnitt setzt sich Themistios mit der grundle genden Relation der Aporie auseinander.
1 Vermutlich hat die Bezeichnung <Paraphrase> dem Physikkommentar des Themistios ein falsches Etikett aufgedrückt und seiner Bewertung in der neueren Sekundärliteratur geschadet. Themistios übernimmt den Text des Aristoteles fast vollständig in seine eigene Ausarbeitung. Doch es gelingen ihm dabei Formulierungen von größerer Transparenz. Insofern hat er eine ei genständige Leistung vollbracht. Daher fand sein Kommentar bei den späteren Aristotelikern große Anerkennung. Simplikios benutzte manche Passage aus dem Physikkommentar des The mistios, aber auch Averroes hat sich mit den Thesen des Themistios auseinandergesetzt. 2 Das Textsubstrat, das nach der Abtrennung des Aristotelestextes aus der Physik zurückbleibt, ist kein reiner Themistiostext, sondern enthält Satzelemente aus anderen Werken des Aristoteles, Bruchstücke von Alexanders Formulierungen und Fragmente anderer Herkunft. Erst wenn diese Bestandteile so weit wie möglich identifiziert sind, ergibt sich ein klares Bild der Arbeitsweise des Themistios. Wie der Künstler ein Mosaik, so hat Themistios seine Paraphrase zusammen gesetzt und dadurch dem Leser den schwierigen Sachverhalt der Physikvorlesung des Aristote les nahegebracht. Paraphrase, das bedeutet bei Themistios ein Verfahren, ohne das kein Kom mentator jemals auskommen wird: ein erklärendes Umschreiben, das die Dichte eines Basistex tes und damit Durchsichtigkeit erreicht.
26
1.5. Themistios
II
Auf die Disposition des Problems folgt eine Kritik an Boethos, wobei die Abhängigkeit des Themistios von Alexander besonders deutlich zu erkennen ist.
III
Einen dritten und abschließenden Abschnitt hat Themistios der kosmologischen Fundierung der Zeitaporie gewidmet.
Der erste Abschnitt (I) zeigt folgende Struktur: Textabschnitt I Aristoteles
Themistios
3
THEMISTIUS, Phys. 160, 19-26. Den hier eingeklammerten Aristotelestext hat W. D. Ross im Variantenapparat seiner Physikedition als berücksichtigt.
27
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Durch die Zerlegung des ersten Textabschnitts in seine Elemente zeigt sich das ausgewogene Verhältnis des aristotelischen Basistextes zum Eigenanteil des Themistios. Insofern ist die Paraphrase keine bloße Textübernahme, die mit einigen zusätzlichen Füllwörtern auskommt, sondern eine kunstvolle Umstruk turierung des Ausgangstextes. Themistios beginnt die Auslegung mit einer einleitenden Bemerkung, die das Grundproblem der <aristotelischen Zeitaporie> ohne Umschreibung anspricht: Wenn die Zeit (wie es die Zeitdefinition des Aristoteles verlangt) das Gezählte an der Bewegung ist, wie, so fragt Themistios, ist es dann möglich, daß das Gezählte bzw. die Zeit existieren, auch wenn kein zählendes Seiendes vorhanden ist? Nach der Eruierung der für die Aporie grundlegenden Relation <Seele/Zeit> verweist Themistios auf die Antwort des Aristoteles in Satz IVa der Zeitaporie.4 Dort stützt sich Aristoteles auf den In tellekt der Seele Wenn nichts anderes zu zählen vermag als der der Seele, wie ist es dann möglich, daß die Zeit (als Zahl) existiert, wenn keine Seele vorhanden ist? Themistios zeigt nun, daß diese Antwort des Aristoteles für alle möglichen Spielarten der Grundrelation gilt, indem er die Untersuchung durch weitere zahlentheoretische Bemerkungen verfeinert. Zunächst bezieht er sich gemäß der Anweisung des Aristoteles auf die Zahl Diese läßt sich in zwei Modifikationen aufspalten, in das Zählbare und das Gezählte Wie aber hängen diese Modifikationen mit der Zahl zusammen? Themistios unterwirft das o.g. Gefüge zunächst dem -Schema. Aber auch das zählende Seiende soll in die zwei Modifikationen der und der aufgespalten sein, ohne daß Themistios hierzu nähere Angaben macht. Dieses Verfahren enthüllt sich demnach als doppelte Applikation des -Schemas. Es ist nicht schwer, den Sinn dieses Schemas bei Themistios zu begreifen. Es soll nicht nur den Text des Aristoteles erklären, sondern auch erkennen lassen, daß jeder Einbruch in die eine Seite der Relation zur Aufhebung des anderen Relationsgliedes führt. Fällt die zählende Entität weg, ob im Akt oder in der Potenz, dann entfällt auch die Zahl, sei es in der Potenz oder im Akt. Da die zählende Entität die Seele ist, die Zahl aber die Zeit repräsentiert, so heißt das
28
1.5. Themistios
in bezug auf das Verhältnis von Zeit und Seele, daß es weder eine potentielle noch eine aktuelle Zeit gibt, wenn die Seele (potentiell oder aktuell) entfällt. Damit hat Themistios seine Argumentation auf die Spitze getrieben, so daß er zusammenfassend unterstreichen kann: Ohne die Seele gibt es keine Zeit. Die doppelte Applikation des -Schemas erfüllt also die Funktion, die Abhängigkeit der Zeit von der Seele für alle nur denkbaren Möglichkeiten zu erweisen. Themistios scheint allerdings nicht der Urheber dieser Auslegungsweise ge wesen zu sein, sondern die Indizien verweisen auf Alexander von Aphrodisias. Solange aber keine weiteren Textzeugnisse auftauchen, ist die Physikparaphrase des Themistios die erste Quelle, die die Anwendung dieses Schemas auf die <aristotelische Zeitaporie> in aller Deutlichkeit zeigt. Nachdem Themistios die Abhängigkeit der Zahl bzw. der Zeit von der Seele diskutiert hat, kritisiert er die These des Boethos vom außerseelischen Sein der Zeit. Der Textabschnitt (II) des Themistios, der sich auf die Kritik an Boethos bezieht, ist ein aus mehreren Quellen kunstvoll zusammengesetztes Textgewebe. Man findet Satz- und Wortelemente aus der Physik und der Kategorienschrift des Aristoteles, die Themistios mit Satzbruchstücken aus dem Physikkommentar des Alexander von Aphrodisias, dem Fragment des Boethos und eigenen Be merkungen verschmolzen hat.5 Die hermeneutische Kunst des Themistios be stand darin, diese unterschiedlichen Textelemente zu einem in sich geschlosse nen und einheitlichen Text zusammenzufügen. Themistios führt die Kritik an Boethos auf doppelte Weise durch: Zunächst trägt er eine auf Aristoteles gestützte These zur Verfassung der Relationskate gorie vor (IIa), dann aber wendet er das von Alexander von Aphrodisias zur Boethoskritik entwickelte -Schema an (IIb). Themistios entfaltet zunächst die grundlegende Relation zwischen Seele und Zeit (Zahl) durch die doppelte Applikation des -Gefüges. Dann verwendet er es zur Kritik an Boethos. Auf diese Weise vertieft er das Verständnis der Beschaffenheit dieser relationalen Verknüpfung und erprobt ihre kritische Brauchbarkeit. Der Text des Themistios ist dabei das Ergebnis einer Synthese aus dem Fragment des Boethos, einem Bruchstück aus der Kategorienschrift des Aristoteles und wenigen eigenen Bemerkungen:
5
Es ist nicht ausgeschlossen, daß einige dem Themistios zugeschriebene Textelemente auf bis her nicht identifizierte Quellen zurückgehen.
29
Teil І - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Textabschnitt Themistios
Aristoteles
Boethos
Ausgangspunkt der Überlegungen des Themistios ist das Fragment des Boethos. Dieser hatte behauptet, daß die Zahl auch ohne die zählende Entität vorhanden sei. Die Zeit als Zahl wäre dann von der Seele unabhängig. Zur Begründung verweist Boethos auf die Unab hängigkeit des Wahrnehmbaren von dem Wahrnehmenden. Themistios weist diese Kritik zurück. Boethos, so sagt er, habe sich hier ge täuscht. Zur Begründung seiner Kritik zieht Themistius die Relationslehre des Aristoteles heran. Aristoteles unterscheidet im siebten Kapitel seiner Kategorienschrift zwei Arten der Relationskategorie. Zu den Relationen, deren Glieder nicht zugleich sind, gehört das Verhältnis der sinnlichen Wahrnehmung zum Wahrnehmbaren. Das Wahrnehmbare existiert nämlich früher als die Wahrnehmung.7 Bei dieser Art der Relation, wo das Prinzip der strengen Gleichzeitigkeit der Relations glieder aufgehoben ist, hatte Boethos angesetzt. Wie das Wahrnehmbare früher 6 7
THEMISTIUS, Phys. 160, 26-28. Vgl. ARISTOTELES, Cat. VII 7 b 15. Vgl. ARISTOTELES, Cat. VII 7 b 36:
30
1.5. Themistios
ist als die Wahrnehmung, so sollte auch das Zählbare früher als die zählende Seele vorhanden sein. Die Zeit wäre gemäß dieser Konzeption völlig unabhän gig von der Seele. Dieser Auslegung widerspricht Themistios. Boethos hat nach seiner Meinung die Relation, die Aristoteles in der Zeitaporie zugrunde gelegt hat, nicht ange messen gedeutet. Es gibt nämlich auch Relationen, die, wie Aristoteles sagt, ih rer Natur nach zugleich bestehen.8 Als Beispiele nennt Ari stoteles das Verhältnis des Herrn zum Knecht. Wo man von einem Knecht spricht, da muß ein Herr sein, und ohne Herren gibt es keine Knechte. Auf dieses Konzept des Aristoteles bezieht sich Themistios. Er ordnet die Be ziehung dem Relationstypus zu, der das Prin zip der Gleichzeitigkeit streng bewahrt. Boethos verstieß gegen diese Regel. Er hat daher das Grundprinzip der <aristotelischen Zeitaporie> mißverstanden und der Intention des Aristoteles nicht entsprochen. Doch damit ist die Kritik des Themistios an Boethos nicht beendet. Themi stios hatte gezeigt, daß sich die fundamentale Relation der Zeitaporie aus dem Relationstypus der Gleichzeitigkeit entfaltet. Was aber geschieht, wenn diese Relation zusammenbricht? Was bleibt, wenn die zählende Seele wegfällt? Gibt es dann keine Zeit mehr? Dies beantwortet Themistios im zweiten Abschnitt seiner Boethoskritik. Themistios sichert also zunächst die Reziprozität und Gleichzeitigkeit der Relation, die der <aristotelischen Zeitaporie> zugrunde liegt. Danach diskutiert er einen weiteren Aspekt seiner Kritik an Boethos. Dabei ist der direkte Einfluß des Alexander von Aphrodisias wahrnehmbar.9 Textabschnitt IIb Themistios
8
Vgl. ARISTOTELES, Cat. VII 7 b 15: Hier ist es möglich, die Physikparaphrase des Themistios mit Alexanders Kommentar zu ver gleichen. Wäre nicht das von Simplikios tradierte Fragment Alexanders überliefert, dann ließe sich das Konzept, das Themistios hier vorlegt, nur ihm selbst zuschreiben. So aber ist gleich er kennbar, daß Themistios das Modell Alexanders bis in die Einzelheiten hinein kopiert hat. Vermutlich besteht auch bei seinen anderen Ausführungen zur Auslegung der Zeit aporie eine Abhängigkeit von Alexander. Dies ist gegenwärtig jedoch nicht mehr nachprüfbar.
9
31
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Themistios
Alexander bei Simplikios
Die Gleichzeitigkeit, so hatte Themistios gegen Boethos gezeigt, bestimmt die Grundstruktur der Relation zwischen der zählenden Entität (Seele) und der Zahl (Zeit). Dieses Zugleich durchzieht auch im Modus der Potentialität die gesamte Struktur dieser Beziehung, wobei die Seele als das Zahlenkundige der Zahl (Zeit) in der Modifikation des Zählbaren gegenübersteht. Dieses relationale Zugleich entfällt durch die Aufhebung eines der Relati onsglieder. Indem das Zahlenkundige nicht existiert, gibt es auch kein Zählba res, d.h. ohne die Seele ist keine Zeit vorhanden. Dennoch existiert etwas, das die Aufhebung der Relation nicht berührt, dem, wie Themistios mit Alexander von Aphrodisias sagt, das Zählbarsein zuteil geworden ist Es ist das von dem Aristoteles spricht. Alexander be zeichnet es als das der Zeit und interpretiert die Formel des Ari stoteles als Hinweis auf die Bewegung Ohne die zählende Seele sind Zahl bzw. Zeit undenkbar. Wohl aber existiert etwas außerhalb der zählenden Seele, das der Zeit als Basis dient. Dies hatte Boethos übersehen. Er glaubte, die Zeit sei ohne die Seele vorhanden, dabei
10
THEMISTIUS, Phys. 160, 29-161, 1. Vgl. SIMPLICIUS, Phys. 759, 29-31. Vgl. A. Torstrik, "0 Ein Beitrag zur Kenntniß des aristotelischen Sprachge brauchs, in: Rheinisches Museum für Philologie, N. F. 12 (1857) 161-173; R. Brague, Du temps chez Platon et Alistote. Quatre études, Paris 1982, 97-144. 11
32
1.5. Themistios
gibt es nach Themistios (und Alexander) ohne die Seele nur die reine Bewe gung. Die Formel und die Kritik an Boethos ist erst dann verständlich, wenn der Übergang vom der Zeit zur Zeit selbst vor Augen steht. Diesen Schritt vollzieht Themistios auf folgende Weise: Textabschnitt IIc Themistios
Aristoteles
Themistios gibt zunächst zu, daß die Bewegung ohne das Gezähltwerden existiert. Es ist daher an sich nicht notwendig, die Bestimmtheiten des Früher und des Später aus der Bewe gung abzutrennen und in ihrem Fürsichsein auszusondern , Sie befinden sich potentiell in der Bewegung. Erst ihre Aktua lisierung durch Auffassung Sonderung und Zahl bewirken die Genesis der Zeit. Wie aber, so fragt Themistios abschließend, wäre diese Determination mög lich ohne die Existenz einer Seele Auch hier stellt er abschließend fest, daß die Zeit an das Sein der Seele gebunden ist, wobei mit <Seele> immer noch die menschliche Seele gemeint ist. Diesen zwei Ebenen der Zeitkonstitution: (a)
Ebene I bezieht sich auf die individuelle Zeiterzeugung. Dabei mißt ein Individuum die Bewegung. Die Seele umgreift die das der Zeit, hebt die heraus und gewinnt dadurch die Zeit als Zahl. Auf diese Weise ist die Zeit von ei nem individuellen Intellekt abhängig.
(b)
Ebene II transzendiert den engen Rahmen menschlicher Bewegungs messung in Richtung auf die kosmische Urbewegung. Diese Himmels rotation erzeugt die kosmische Seele durch ihre Ausrichtung auf den göttlichen
Bei der Diskussion dieser zweiten kosmischen Ebene geht Themistios von der Bewegung aus, aber er begreift sie nun nicht mehr allein als der Zeit, sondern er fragt nach ihrer Ursache. Die Bewegung ist zwar als ein Ausgangspunkt der Zeit, aber ihre eigene Herkunft bleibt dabei un bekannt. Ist denn die Bewegung wirklich von der Seele unabhängig, wie Aristo teles in der Zeitaporie anzudeuten scheint? Oder existiert auch diese Bewegung nicht oline eine Seele? Jene Seele kann jedoch nicht die menschliche Seele sein. Vielmehr ist die endliche Seele in Richtung auf die kosmische Seele zu transzendieren. Themistios hat in diesem. Zusammenhang nicht viel über die kosmische Seele geschrieben. Dennoch enthält auch dieser Textabschnitt einige interessante Aspekte. Zunächst paraphrasiert Themistios Satz IVc der Zeitaporie: Textabschnitt IIIa Themistios
13
Aristoteles
THEMISTIUS, Phys. 161, 5. Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 27/8.
34
1.5. Themistios
Diesen Satz des Aristoteles interpretiert Themistios als einen Hinweis auf die Abhängigkeit der Bewegung von der kosmischen Seele. Die Himmelsseele initi iert die Kreisbewegung des Universums Sie ist das Prinzip aller anderen Bewegungen, denn sie verändert auch die körperlichen Be stimmtheiten des Wachstums und der Ab nahme Die Kreisbewegung selbst richtet sich durch das Denken und die Begierde der Himmelsseele auf den göttlichen Zum Beweis dieses Konzeptes, das Themistios von Alexander14 übernommen hat, verweist Themistios darauf, daß die Bewegung der Lebewesen das Werk einer S e e l e i s t . Warum sollte der Himmel dabei eine Ausnahme machen? Textabschnitt IIIb Themistios
14 15 16
Alexander
Vgl. 1.4., S. 22. THEMISTIUS, Phys. 161, 5-7. Statt in Zeile 7 irrtümlich ALEXANDER ap. THEM., Phys. 161, 7. Vgl. ALEXANDER ap. SIMPL., Phys. 760,
17. 17
THEMISTIUS, Phys. 161,7/8.
35
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Die kosmische Urbewegung bezeichnet Themistios nun als Basis der Zeit. Wie verhält sich aber die von der Himmelsseele initiierte Bewegung konkret zur Zeit? Zunächst weist Themistios mit Aristoteles darauf hin, daß die Zeit die Zahl jeder Bewegung ist, denn jede Bewegung besitzt die quantifizierbare . Auf diese Weise kann Themistios die Gesamtheit der innerweltlichen Beweglichkeiten von der kosmischen Kreisbewegung bis zu den anderen Bewegungsstrukturen der Zeit unterwerfen und damit aus dem aktiven Sein der Himmelsseele ableiten: Textschnitt IIIc Themistios
Aristoteles
Nimmt man alle bisher genannten Thesen zusammen, dann zeigt sich, daß Themistios gemäß seiner zweistufigen Auslegung der<aristotelischenZeitaporie> das theoretische Grundgerüst, das sowohl die individuelle Zeitmessung als auch die kosmische Verankerung der Zeit umfaßt, ohne Einschränkung von Alexander von Aphrodisias übernommen hat.
18 19 20
ARISTOTELES, Phys. IV 11, 219 b 1/2. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 28. THEMISTIUS, Phys. 161, 8-12.
36
1.6. Simplikios Im Physikkommentar des Simplikios befindet sich die umfangreichste Analyse zur<aristotelischenZeitaporie>, die aus der Antike erhalten ist.1 Darin laufen alle Strömungen und Positionen zusammen, die bisher zur Diskussion standen. Weil hier ein durch keinerlei Überlieferungsverluste entstellter Text zur Verfügung steht, entfällt bei Simplikios die Rekonstruktion seiner Position aus Fragmenten und sekundären Quellen. Auch die Zerlegung einer Paraphrase in ihre Elemente, bei der erst nach komplizierten Analysen der Eigenanteil eines Verfassers zutage tritt, ist bei Simplikios im Gegensatz zu Alexander von Aphrodisias und Themistios unnötig. Seine Auslegung zur aristotelischen Zeitaporie läßt sich daher bis in die Feinheiten studieren.2 Hindernisse in der Form oder in der Überlieferung stören die philosophische Analyse also nicht. Simplikios führt den Leser Satz für Satz durch den gesamten aporetischen Text des Aristoteles. Dabei ermöglicht er ihm ein detailliertes Verständnis selbst singulärer Formulierungen. Auf diese Weise erhellt Simplikios das Sinngefüge der Aporie sogar bis in die grammatikalischen Feinheiten der Syntax. Aus exegetischen Gründen ist es daher sinnvoll, den umfangreichen Kom mentarabschnitt3 des Simplikios ebenfalls in kleinere Sinneinheiten zu zerlegen. Dadurch präsentiert sich der Gedankengang seines Textes klarer, weil erst so die Strategie der Auslegung ungebrochen zum Vorschein kommt. Gemäß diesem Verfahren gelingt eine sinnvolle Aufteilung des Kommentar textes. Jedem Teilabschnitt steht daher hier ein bestimmter Satz des Aristoteles 1 Da der von H. Diels konstituierte Text des Physikkommentars von Simplikios aus heutiger philologischer Sicht problematisch ist, wäre eigentlich eine Verifikation an den Handschriften notwendig. Zur Problematik vgl: L. Tarán, The text of Simplicius' Commentary on Aristotle's Physics, in: I. Hadot (Hrsg.), Simplicius, sa vie, son œuvre, sa survie: actes du colloque inter national de Paris (28 Sept.-ler Oct. 1985) [Peripatoi 15], Berlin/New York 1987, 246-266; D. Harlfinger, Einige Aspekte der handschriftlichen Überlieferung des Physikkommentars des Sim plikios, in: I. Hadot (Hrsg.), Simplicius, sa vie, son œuvre, sa survie: actes du colloque interna tional de Paris (28 Sept.-ler Oct. 1985) [Peripatoi 15], Berlin/New York 1987, 267-286. 2 Der umfangreiche Kommentar des Simplikios zum Zeittraktat des Aristoteles ist selbst auf vielfache Weise die Quelle unserer Kenntnis bestimmter Zeittheorien des Neuplatonismus. Vgl. in diesem Zusammenhang: S. Sambursky/S. Pines, The Concept of Time in Late Neoplatonism. Texts with Translation, Introduction and Notes, Jerusalem 1971. 3 Simplikios hat gemäß der Methode seiner Auslegung den Zeittraktat des Aristoteles in Ab schnitte zerlegt und diese Segmente der Reihe nach analysiert. So faßt er den Text als eine in sich geschlossene Sinneinheit auf.
37
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
aus der Zeitaporie in der Reihenfolge seiner textlichen Anordnung als Über schrift voran. Diese äußere Struktur des Kommentarabschnittes spiegelt die innere Gliede rung des Stoffes, die aus dem Grundschema der Auslegung des Simplikios re sultiert. Dabei ergibt sich klar, daß Simplikios den Grundriß seiner Analyse aus dem Physikkommentar des Alexander von Aphrodisias übernommen hat, der auch die Auslegung des Themistios entscheidend mitbestimmte. Wie bei Alexander und Themistios bleibt auch bei Simplikios die folgende Doppelung der Analyse erhalten: I
Simplikios diskutiert zunächst Probleme der individuel len Zeitkonstitution.
II
Dann rekonstruiert er die Einbettung der Zeit in den kosmologischen Gesamtentwurf des Aristoteles.
Eine genetische Betrachtung zeigt, daß die Entwürfe des Alexander von Aphrodisias, des Themistios und des Simplikios in ihrem Aufbau keiner verti kalen Linie folgen, sondern eine horizontale Entwicklungsstruktur besitzen. Die späteren Kommentatoren haben den Entwurf des Aphrodisiers also nicht we sentlich vertieft, sondern nur erweitert.4 Dennoch setzte Simplikios auch eigene Akzente. Anders als Alexander war er offener für eine neuplatonische Auslegung der Zeitaporie. Daher erfordert die Interpretation seiner Aristotelesexegese eine spezielle Erforschung dieser Ten denz. Simplikios beginnt seine Untersuchung mit einer Analyse der grundlegenden Problemstruktur der Aporie:
4 Wie überall in seinem Physikkommentar hat Simplikios auch den Abschnitt zur Zeitaporie mit Texten anderer Autoren angereichert. Dadurch sind Thesen und Fragmente erhalten geblieben, die sonst unwiederbringlich verlorengegangen wären. Diese Indizien zeigen auch den Überliefe rungsstand innerhalb des Aristotelismus gegen Ende der Antike bzw. in der frühbyzantinischen Phase an. Die Kommentare zur Physik, die Simplikios nicht aufführt, waren wohl schon zu sei ner Zeit verschollen. Zur Zeittheorie des Simplikios vgl. zudem: H. Meyer, Das Corollarium De tempore des Simplikios und die Aporien des Aristoteles zur Zeit, Meisenheim 1969; E. Sonder egger, Simplikios: Über die Zeit. Ein Kommentar zum Corollarium de tempore (Hypomnemata 70), Göttingen 1982.
38
1.6. Simplikios
I
Zunächst fällt auf, daß Simplikios die Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele, so wie sie Aristoteles gestellt hat, in keiner Weise als einen Fremd körper im Zeittraktat des Aristoteles betrachtet. Ganz im Gegensatz zu späteren Interpreten hebt Simplikios die umstrittene Textpassage auch nicht besonders hervor. Dies hat seinen Grand darin, daß er die Fragestellung nicht als außer gewöhnlich empfunden hat. Er kannte ja neben den Thesen der älteren Aristo teleskommentatoren nicht nur die entsprechenden Untersuchungen Platons und Plotins zu dieser Frage, sondern auch die Texte anderer neuplatonischer Philo sophen zum Verhältnis von Zeit und Seele. Warum sollte Aristoteles die Frage nach der Beziehung von Zeit und Seele, sei es als menschliche Seele, sei es als kosmische Seele, nicht stellen und diskutieren? Dies gehörte gleichsam zur Ge pflogenheit antiker Zeittheoretiker. Es war eigentlich nichts Besonderes. Jene Schärfe der Diskussion, die die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Zeit und Seele später bei den Arabern und im 13. Jahrhundert angenommen hat, fehlt bei Simplikios völlig. Gemäß dieser Konstellation besaß der erste Satz der Zeitaporie nur den Zweck einer die Problematik charakterisierenden Überschrift. Simplikios geht zunächst von ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 16/7 aus, indem er die dort gestellte Frage des Aristoteles aufnimmt: Wie verhält sich die Zeit zur Seele?6 Dieses Problem bedarf jedoch einer Präzisierung und Verdeutlichung, Aristo teles hat daher nach Simplikios den Kern der Fragestellung in Satz I der Aporie klarer formuliert. In dieser verdeutlichten Fassung des ersten Satzes der Aporie erfährt die Grundproblematik deshalb eine Vertiefung. Aristoteles stellt nämlich jetzt zur Diskussion, ob die Zeit vorhanden ist oder nicht wenn die Seele nicht existiert Aristoteles wollte also nicht allein das Verhältnis von Zeit und Seele erforschen, sondern er wollte die ge5 6
ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21/2. Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 16/7:
39
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
genseitige Abhängigkeit von Zeit und Seele unter dem Aspekt des Seins in den Blick nehmen.7 Dies gelang ihm allerdings, wie Simplikios durch die Interpre tation des zweiten Satzes der Aporie zeigt, nur durch die Einführung einer ba salen Relation, die dieses Verhältnis strukturiert.8 II
Während Aristoteles im ersten Satz der Aporie nach dem Verhältnis von Zeit und Seele hinsichtlich des Seins spricht, wählt er im zweiten Satz andere Be zeichnungen. Die Zeit ist eine Zahl. Daher liegt die Lösung des o.g. Problems in zahlentheoretischen Überlegungen. Die Seele heißt bei Aristoteles deshalb die <Entität, die zählen wird>. Die Zeit nennt er das . Welche Systematik hinter dieser Begriffsstruktur liegt, zeigt schon die Physikparaphrase des Themistios deutlich. Simplikios bearbeitet dieses Problem je doch weitaus umfangreicher. Es scheint vernünftig so argumentiert er, daß die Glieder einer Relation zusammen vorhanden sind und auch gemeinsam ver gehen Dies geschieht in der Weise der Reziprozität.10 Aristoteles hatte in der Kategorienschrift zwei Seinsweisen der Relationen dadurch unterschieden, daß er auf das Prinzip der Gleichzeitigkeit achtete. Er differenzierte dabei zwischen Beziehungen, deren Glieder zugleich bestehen
8
Zum Problem der Relationskategorie bei Simplikios vgl. auch: Luna, La relation chez Simplicius, in: I. Hadot (Hrsg.), Simplicius, sa vie, son œuvre, sa survie: actes du colloque interna tional de Paris (28 Sept.-ler Oct. 1985) [Peripatoi 15], Berlin/New York 1987, 113-147. 9 ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 22-24. 10 Vgl. SIMPLICIUS, Phys. 759, 1/2:
40
1.6. Simplikios
müssen, und anderen Beziehungen, die an diese Vorbedingungen nicht gebun den sind. Simplikios knüpfte an diese Unterscheidung an, indem er die Relation, die der Zeitaporie zugrunde liegt, als Bezug gemäß der Gleichzeitigkeit definierte. Dabei entschied sich Simplikios für den speziellen Terminus der ebenfalls auf die Kategorienschrift des Aristoteles zurückgeht.11 Dieser Be griff schien Simplikios wohl besonders geeignet, einerseits die Relationalität selbst, andererseits aber auch die Aufhebung der Beziehung mit aristotelischer Terminologie angemessen zu formulieren. Damit diese Verklammerung noch deutlicher zutage tritt, greift er zu einem erläuternden Beispiel. Auch links und rechts sind nicht voneinander trennbar, ohne daß der Sinn dieser Bestimmun gen entfällt.12 Nachdem Simplikios durch einen Rückgriff auf die Kategorienlehre des Ari stoteles die Syn-Existenz der Relationsglieder aufgezeigt hat, formuliert er die Struktur der syn-existenten Relationsglieder nach dem Schema, das schon bei Themistios nachweisbar ist. Die Relation umfaßt sowohl das Zahlenkundige als auch das Zählbare, wobei das Zahlenkundige nichts anderes meint als die Seele oder den Intellekt der Seele. Aber Simplikios begnügt sich nicht damit, den der Seele bloß zu er wähnen. Er bestimmt ihn näher als das aktive Seelenvermögen, mit dem wir zählen. Die Seelenpotenz, die zählt, kann nicht passiv sein, sondern muß in sich Aktivität besitzen. Insofern ist das erste Relationsglied eindeutig bestimmt. Das zweite Glied erweist sich dabei als die Zeit. Nach Simplikios läßt sich also zusammenfassend sagen:
Schon die Konstellation der Relation, die dem zweiten Satz der Aporie zugrunde liegt, gibt zu erkennen, daß ohne das aktive Seelenvermögen keine Zeit denkbar ist.13
41
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Mit dieser Einsicht in die grundlegende Relationalität des zweiten Satzes der Aporie gibt sich Simplikios jedoch nicht zufrieden. Er versucht, tiefer in die Terminologie und Denkweise des Aristoteles einzudringen. Im Satz II der Aporie setzt Aristoteles die <Entität, die zählen wird> in eine Beziehung zum . Merkwürdig bleibt dabei die Einführung eines futurischen Parti zips in die Relation während als Entsprechung zum das entgegenge stellt hatte, erscheint es Simplikios vielmehr notwendig, den Begriff des zu verwenden. Dadurch enthüllt sich die Ursache der termino logischen Asymmetrie im Satz des Aristoteles. Simplikios weist darauf hin, daß die Spezialtermini und keine inhaltliche Differenz meinen: Dasselbe
ist das , und .
Wer den Terminus auswählt, spricht gemäß der Potentialität wer sich (wie Aristoteles) für den Ausdruck entscheidet, formuliert nach Maßgabe der zukünftigen Zeit Das, was zu zählen vermag, zählt gegebenenfalls nicht jetzt, aber vielleicht in der Zukunft. Simplikios sieht hier keinen inhaltlichen Unterschied. Ebenso läßt sich das aus dem Modus der Potentiali tät in einen futurischen Ausdruck umwandeln. Es trägt dann die Bezeichnung Die Schwerfälligkeit dieses Ausdrucks hat Aristoteles wahrscheinlich zu seiner terminologischen Veränderung bewogen. Im Satz II der Aporie wechselte er daher die Ebene und ging von einem futurischen Ter-
42
1.6. Simplikios
minus zu einem Ausdruck über, der die Potentialität deutlicher signalisiert. Aristoteles wollte zudem wohl eine schwerverständliche Terminologie vermei den. Er entschied sich deshalb für einen klareren Ausdruck.15 Simplikios hat mit der Auslegung des zweiten Satzes der Aporie folgende Einsichten erreicht: A
Satz II der Aporie enthält eine Relation, deren Glieder unter dem Zwang der Gleichzeitigkeit stehen. Das eine Relationsglied kann nicht ohne das andere bestehen.
Die Glieder der Relation befinden sich im Modus der Potentialität oder im Tempus des Futurum. Indem Sim plikios zeigt, daß diese terminologische Asymmetrie keinerlei inhaltliche Differenz bedeutet, erklärt er Satz II der Aporie bis in die grammatikalischen Feinheiten als stimmig.
Diese Interpretation des zweiten Satzes zeigt nach Simplikios deutlich, daß die Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele eine klare Antwort zuläßt: Die Zeit vermag nicht ohne die Seele zu existieren. Mit dieser Auslegung des zweiten Satzes versucht Simplikios die Aussage des dritten Satzes zu verbinden. III
Die Bemerkungen des Simplikios zu Satz III der Zeitaporie zeigen, daß er auch hier nach einem bestimmten Konzept arbeitet, das er nicht selbst entwik-
43
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
kelt, sondern nur vorgefunden hat. Die doppelte Applikation des -Schemas, das schon Themistios benutzte, findet nämlich auch in der Auslegung von Satz III der Aporie durch Simplikios Anwendung. Nachdem er im Satz II die Basisrelation in ihrer Potentialität betrachtet hat, untersucht er nun im Satz III ihren Übergang von der Potentialität zur Aktualität, allerdings nur in Hinblick auf das zweite Relationsglied. Simplikios beginnt seine Auslegung, indem er auf die Verknüpfung von Satz II mit Satz III hinweist. Der dritte Satz ist eigentlich nur eine Fortsetzung des zweiten. Aristoteles nahm ihn hinzu, um Satz II erklärend zu erweitern. Wäh rend der zweite Satz die Grundrelation <Seele/Zeit> durch die Verklammerung der zahlentheoretischen Bestimmtheiten im Modus der Potentialität zeigt, macht der dritte Satz ihre Verbindung auch im Übergang von der Potentialität zur Aktualität sichtbar. Nachdem Simplikios auf diese Weise die Verbindung der beiden Sätze her vorgehoben hat, übersetzt er die Termini des Aristoteles in eigene, paraphrasierende Ausdrücke. Diese Formulierungen sind so gewählt, daß sie zugleich einen Hinweis auf ihren jeweiligen Modus enthalten. Das Relationsglied II (die Zahl oder die Zeit) erscheint bei Aristoteles auf der modalen Ebene der als das während es Simplikios mit dem kom plizierteren Ausdruck umschreibt. Auch für die Zahl bzw. die Zeit im Modus der Aktualität (/TÒ hat Simplikios einen anderen Ausdruck gefunden. Er nennt sie (!) Die Termini und deuten dabei den Wechsel der Modalitätsstufen an. In den relationstheoretischen Überlegungen zu Satz III liegt also die Wurzel dessen, was später als die potentielle und aktuelle Zeit bei Averroes und im 13. Jahrhundert für die größten Schwierigkeiten gesorgt hat.17 Weil Simplikios den schwierigen Gedankengang des Aristoteles für erklä rungsbedürftig hält, gibt er ein erläuterndes Beispiel. Er verweist auf eine Menge von Soldaten Die Soldaten, so sagt er, sind zählbar aber in dem Sinne, daß sie gezählt worden sein kön nen .18 Oder mit anderen Worten: Das Zählbarsein der
44
1.6. Simplikios
Soldaten ist ein Vermögen, das auf ein wirkliches Zählen angelegt ist. Insofern sind das und Modifikationen der einen Zahl. In deren Begriff sind sie aufgehoben und vereint. Und aus der Einheit dieses Begriffs fächern sie sich dann gemäß dem -Schema auf. Satz erscheint auf diese Weise als ein Anhängsel des zweiten Satzes der Aporie. Er soll zeigen, daß jegliche Modifikation der Zahl nicht ohne die Seele Bestand hat. Da die Zeit aber eine Zahl ist, vermag sie nicht ohne die Seele zu existie ren. Beide, sowohl die potentielle als auch die aktuelle Zeit, sind ohne die Seele nicht denkbar. Daß Aristoteles diesen Gedankengang genommen hat, beweist Simplikios durch die Auslegung des Satzes IVa, der auf diese Weise die Funk tion einer Zwischenbilanz erhält. IVa
Der Text des Simplikios, der sich auf Satz IVa der Zeitaporie bezieht, zeigt keine ausführliche Auslegung dieses Satzteiles. Dafür gibt es bestimmte Grün de. Simplikios faßte Satz I der Zeitaporie als Problemformulierung, Satz II und III als Ausarbeitung eines ersten Argumentationsblockes und Satz IVa als Ant wort auf die in Satz I gestellte Frage auf. In dieser Funktion der Fragebeant wortung erhält Satz IVa den Charakter einer resümierenden Zusammenfassung. Insofern hielt Simplikios keine weitere Auslegung für notwendig, sondern be nutzte die Gelegenheit, um die Argumentation des Aristoteles, die zwischen Frage und Antwort eingebettet ist, in einer gleichsam strukturell verbesserten Fassung vorzustellen. Der Text des Simplikios ist ein Alternativentwurf zu den schwierigen For mulierungen des Aristoteles. Jedenfalls hat Simplikios richtig gesehen, daß Satz II und III einen von den Sätzen I und IVa eingerahmten geschlossenen Block bilden. Gemäß dieser Struktur bietet Satz IVa nicht mehr als eine abschließende Bilanz der in Satz II und III gewonnenen Ergebnisse.
19
ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 25/6.
45
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Bilanz meint in diesem Fall aber nur Zwischenbilanz, da die Zeitaporie mit Satz IVa nicht abgeschlossen ist, sondern noch eine tiefgreifende Richtungsän derung erfährt. Das Verhältnis der individuellen Seele zur Zeit hat Simplikios nämlich anschließend in den kosmologischen Bereich übertragen. Der Gedankengang des Aristoteles ist aus seinen Formulierungen in Satz II und III nur sehr schwer zu erkennen. Simplikios will nun zeigen, daß sich diese Argumentation in drei Schritten klarer und durchsichtiger gestalten läßt. Die Verknüpfung der Argumente geschieht dabei auf dreifache Weise. Sim plikios formuliert in Anlehnung an die grammatikalische Struktur von Satz IVa mit Hilfe von drei Bedingungssätzen (jeweils durch die konditionale Konjunk tion eingeleitet) eine Paralleifassung zum ersten Abschnitt der Zeitaporie. Entsprechend dieser dreifachen Struktur argumentiert Simplikios nun in drei Schritten: I
Wenn kein Seiendes zur Verfügung steht, das zählen wird ist auch das Zählbare nicht vor handen
II
Ist nun das Zählbare gibt es auch keine Zahl Zählbaren.
III
Da also der Intellekt der Seele und die Zeit eine Zahl ist, existiert, wenn die Seele nicht vorhanden ist auch die Zeit nicht.20
nicht existent, nach dem Modus des
Es ist Simplikios damit gelungen, unter Berücksichtigung der Termini des Aristoteles den Gedankengang der Sätze II und III klarer und durchsichtiger zu gestalten. Damit ist der erste Block der <aristotelischen Zeitaporie> abgeschlossen. Simplikios geht nun gemäß der Leitlinie der Aporie von der individuellen Zeit-
46
1.6. Simplikios
gewinnung zur kosmischen Fundierung des Verhältnisses von Zeit und Seele über. Dies geschieht jedoch nicht mit einem Sprung, sondern sukzessiv. Der an schließende Satz IVb erhält dabei einen zweifachen Sinn: Simplikios verknüpft ihn nicht nur mit dem Block I, sondern interpretiert ihn auch als Hinweis auf Block II. IVb
Die Auslegung des Satzes IVb vollzieht Simplikios in mehreren Schritten. a) Zunächst referiert er ausführlich die Thesen des Boethos. Die ser Abschnitt enthält keinerlei eigenständige Bemerkungen. Simplikios dokumentiert zunächst nur den Stand der Diskus sion zwischen Boethos und Alexander von Aphrodisias, indem er die These des Boethos zum außerseelischen Sein der Zeit vorstellt. b) Damit verknüpft Simplikios Äußerungen des Alexander von Aphrodisias, wobei er den entsprechenden Textabschnitt in zwei Teile zerlegt. Teil A zeigt mit Alexanders Worten die Problemstellung, Teil enthält die Auflösung der Aporie. Eine graphische Darstellung der einzelnen Textabschnitte zeigt folgende Struktur:
21
ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 26/7.
47
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Simplikios
Boethos
Alexander
Fragment des Boethos
Fragment des Alexander I
Fragment des Alexander II
22
SIMPLICIUS, Phys. 759, 18-760, 3.
48
1.6. Simplikios
Simplikios teilt zunächst das Fragment des Boethos mit. das auch durch Themistios überliefert ist: Boethos, so heißt es, habe gegen die These des Aristote les zur Abhängigkeit der Zeit von der Seele einen Einwand erhoben. Gegen diesen Einspruch benötigt Simplikios ein Gegenargument. Er zitiert daher das schon oben diskutierte wertvolle Fragment aus dem nur fragmentarisch über lieferten Physikkommentar des Alexander von Aphrodisias, das nur an dieser Stelle zu finden ist.23 Simplikios zerlegt das Fragment des Alexander in zwei Hälften. In der ersten Hälfte, so sagt Simplikios, hat Alexander sich sowohl mit dem Einwand des Boethos beschäftigt als auch die Lösung vorbereitet, indem er zunächst dem Aristoteles folgte. In der zweiten Hälfte löst er dann die Aporie auf Nur hier, bei Simplikios, findet sich also die Bezeichnung <Aporie> für Phys. IV 14, 223 a 21-29. Die Mitteilung des Alexanderfragmentes war für Simplikios kein Selbst zweck, sondern sollte anzeigen, daß nach seiner Ansicht das durch Alexander von Aphrodisias in Auseinandersetzung mit Boethos vorgelegte Lösungsmodell der Aporie weiterhin uneingeschränkte Gültigkeit behielt. Simplikios wollte daher die Deutung des durch Alexander, die hier die spe zielle Bezeichnung -Modell trägt, weder verbessern noch ein schränken. Er hat sich ihr vielmehr vorbehaltlos angeschlossen. Daher ist es nicht notwendig, die Einzelheiten noch einmal zu wiederholen. Welche Schlußfolgerungen hat Simplikios selbst aus der Lösung des Alexan der von Aphrodisias gezogen? Dies läßt sich aus den Ausführungen entnehmen, die der Wiedergabe der Fragmente im Kommentartext unmittelbar nachfolgen. Simplikios stimmt der Auflösung des Problems durch Alexander uneinge schränkt zu. In dem o.g. Fragment seines Physikkommentars behauptete der Aphrodisier nämlich, daß die Bewegung das der Zeit sei. Diese Lösung, so meint Simplikios ebenfalls, habe Aristoteles ohne Umschweife mit der Formel aus Satz IVb der Zeitaporie ausdrücken wol len. Nichts spricht nämlich gegen die These, daß die die der Zeit als dem Zählbaren zugrunde liegt auch dann existiert, wenn keine Seele vorhanden ist Bewegungen verlaufen nämlich gänzlich ohne die (menschliche) Psyche Nur die Zeit als die durch einen Beobachter (gemäß der Zeitdefinition des Aristoteles) festgestellte Zahl der Bewegung gibt es dann nicht mehr. 23
Vgl. 1.4., S. 18ff.
49
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Es ist kaum möglich, die Ergebnisse der Auslegung des Alexander prägnan ter zu formulieren:
Die Zeit hängt von der Seele ab, ruht jedoch auf der Bewegung als ihrem Zugrundeliegenden.24
Doch damit ist der Argumentationsgang des Simplikios noch nicht abge schlossen. Es folgt nun ein Textabschnitt, der das von Alexander übernommene -Modell durch neue Argumente absichern, aber auch die Kritik des Boethos an Aristoteles zurückweisen soll. Eine Analyse dieses Abschnittes zeigt, daß Simplikios dem Mißverständnis des Boethos auf dreifache Weise begegnet. Wie das sinnlich Wahrnehmbare auch ohne die sinnliche Wahrnehmung vorhanden sei, auf diese Weise, so glaubte Boethos, könne auch die Zeit ohne die Seele existieren. Dagegen gibt Simplikios zu bedenken: Î
Boethos hat nicht verstanden, daß die grundlegende Relation der Zeitaporie auf das Zugleich ihrer Glieder aufbaut. Daher erkannte er auch nicht, wie das -Schema die Struktur derartiger Relationen regelt: Die Relationsglieder beziehen sich sowohl im Modus der Potentialität als auch im Status der Aktualität aufeinander. Gegen Boethos ist zu daher zu sagen: Die Zeit existiert sowohl potentiell als auch aktuell niemals ohne die Seele.
50
1.6. Simplikios
II Bleibt man bei der Aussage der Zeitaporie, dann heißt das: Ist es unmöglich, daß die zählende Psyche vorhanden ist, dann gibt es auch für das Zählbare keine Möglichkeit der Existenz. Die Zähl barkeit ist nicht an sich gegeben. Ohne eine Seele ist schon der Be griff selbst sinnlos. Ein außerseelisches Sein erhält die Numerabilität allein durch die Seele. Die fußt daher lediglich auf einer realen Basis, was Boethos nach Alexander von Aphrodisias vollkommen übersehen hatte. III Boethos bezog sich bei seiner Argumentation auf die sinnliche Wahrnehmung. Weil das Wahrnehmbare von der unab hängig ist, glaubte er, auch die Zeit sei autonom. Simplikios dage gen zeigt, daß das, was für den noetischen Bereich des Zählens gilt, auch in der sinnlichen Wahrnehmung seine Berechtigung besitzt. Boethos hat also mit seinem Ausweichen auf die nichts gewonnen. Simplikios beweist dies einleuchtend aus der Struktur der Wahrnehmung selbst, indem er, durch ein Beispiel aus der Psychologie des Aristoteles25 veranlaßt, das Sehen in den Mittelpunkt seiner Überlegungen stellt. Das Sehen richtet sich auf das Sichtbare wobei beide miteinan der verklammert sind. Das Sichtbare als Farbe aber verbleibt nicht nach der Aufhebung des Sehens. Bei der Annihila tion der genannten Relationen bleibt nur ein jeweils spezifisches zurück. Hierbei gibt es nach Simplikios zwischen der sinnlichen Wahrnehmung und dem noetischen Zählakt keinen Un terschied. Nicht anders verhält es sich bei der Beziehung der Seele zur Zeit. Die Aufhebung der Seele evoziert das Verschwinden der Zeit. Nur die Bewegung als ihr eigenes ist davon nicht betroffen. Dies hatte Boethos nicht erkannt. Indem ihn Sim plikios in der Psychologie der widerlegte, demonstrierte er ihm gerade dort seine theoretische Schwäche.26
51
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Abschließend ist es noch notwendig, zu einer zusammenfassenden Wertung des Satzes IVb gemäß der Auslegung des Simplikios zu gelangen. Nach Simplikios kommt diesem Satz im Grunde eine Brückenfunktion zu. Er verweist nicht nur auf die Sätze I bis IVa der Aporie, indem er abschließend die Situation der individuellen Zeitgewinnung erklärt, sondern er hebt durch seinen indirekten Hinweis auf die Bewegung die Zeitkonstitution aus der Enge des endlichen Bewegungsraumes in die Weite des überindividuellen Kos mos. Simplikios hatte wie Alexander von Aphrodisias und Themistios keinerlei Bedenken, die <aristotelische Zeitaporie>, und damit das Verhältnis von Zeit und Seele, auch auf den kosmologischen Bereich auszudehnen. Sollte die Zeit nicht ebenfalls dem Prinzip verbunden sein, von dem nach den Worten des Aristoteles Himmel und Natur abhängen? Zudem versuchte Simplikios, die Zeitphilosophie des Aristoteles an plato nische Auffassungen anzunähern. Er schloß seine Forschungen zur Zeitaporie sogar mit einem Piatonzitat ab. Wollte er damit etwa andeuten, daß die Zeit aporie die Brücke ist, die die Zeitphilosophie Platons mit den Zeituntersuchun gen des Aristoteles verbindet? Oder glaubte er, daß Aristoteles im innersten Kern seiner Zeitphilosophie immer noch Platon verpflichtet blieb? IVc
Bei einer näheren Betrachtung dieses Satzes fallen zunächst die zwei satzein (lat. ut) verbindet zunächst Satz IVc mit Satz leitenden Partikeln auf. Das IVb. Es verdient wie das (lat. si) besondere Beachtung. Das konditionale räumt ein, daß die in IVc genannte Unabhängigkeit der Bewegung (KLvon der Seele nur in Verbindung mit Satz IVb seine Gül tigkeit besitzt. Oder mit anderen Worten: Wenn Satz IVb auf ein außerseeli sches verweist, das als zu deuten ist, dann gilt dabei die Voraussetzung, daß dieses Zugrundeliegende als Bewegung ohne die Seele
52
1.6. Simplikios
existiert. Aristoteles hat also nicht gesagt, daß die ohne Einschränkung von der Seele unabhängig ist, sondern er hat ihre Unabhängigkeit von der Psy che durch die einleitenden Satzpartikeln ausdrücklich nur auf einen Sonderfall eingeschränkt. Diese Akribie des Aristoteles ist den antiken Kommentatoren nicht entgangen.28 Sie haben diesen Satz vielmehr zum Ausgangspunkt ihrer Ausdehnung der Zeitaporie auf den kosmischen Bereich gemacht. Hatte Aristo teles, wenn er von Seele und Bewegung sprach, ausschließlich das Verhältnis 28
Spätere Ausleger haben die Sonderstruktur des Satzes IVc nie richtig ernst genommen. In der Moderne verstellte außerdem das Subjekt/Objekt-Schema den Blick auf den Text des Aristoteles völlig. Vereinfachend hieß es: Hier die Seele oder das <Subjekt>, dort die selbstverständlich von der Psyche unabhängige Bewegung im Sein. Eine solche Auslegung reduziert den Satz des Aristoteles dabei auf die Formel: . Indem sie die Oberhand gewann, geriet die Frage nach der näheren Bestimmtheit dessen, was Aristoteles über den Zusammenhang von Bewegung und Seele gedacht hatte, in Vergessenheit. Kaum je mand fragte, was hier mit gemeint ist. Der Satz IVc sank gemäß dieser verkürzenden In terpretation zur trivialen Selbstverständlichkeit herab, während sich das gesamte Interesse fast ausschließlich auf den Satz IVb verlagerte. Diese durch moderne Auslegungsschemata hervorge rufene Verzerrung des Sachverhaltes bedarf unter Berufung auf die Ergebnisse der antiken Ari stoteleskommentatoren einer kritischen Prüfung. Dabei ist es notwendig, die Frage unter Be rücksichtigung der Quellen erneut zu diskutieren. Wichtig ist hier die Kontroverse zwischen E. Fink und W. Wieland. Vgl. zunächst: E. Fink, Zur ontologischen Frühgeschichte von RaumZeit-Bewegung, Den Haag 1957, 231/2: «Die Charakteristik der Zeit als Zahl der Bewegung führt zuletzt noch auf die schwierige Frage, ob denn die Zahl der Bewegung sei, gleichgültig ob ein sie Zählendes ist, d.h. gleichgültig, ob die Seele zählt. Wie steht die Seele zur Zeit? Ver nimmt sie jene nur, gleichsam sich passiv verhaltend, - oder ist das Zählen der Seele in irgendei ner dunklen Weise mit Grund dafür, daß Zeit „ist"? Nicht als ob die Seele die Zeit produzierte, aber sie bringt am Ende doch etwas ausdrücklich zum Vorschein: eben die Anzahl der Jetzte, den ARITHMOS KATA PROTERON KAI HYSTERON; das Früher und Später aber bewirkt die Seele nicht, sie kann es nicht bewirken, denn es liegt je in der Bewegung des Bewegten selbst. Aber sie bewirkt die Heraushebung des Wieviel, die Heraushebung der Zahl in Bezug auf das Früher und Später. Durch das Zählen der Seele „entsteht" Zeit. Aber ist sie damit etwas „Subjektives" oder gar etwas bloß Menschliches, eine vom Menschen mitgebrachte „reine Form seiner Sinn lichkeit" oder etwas dergleichen? Der antike Begriff der Seele und auch des NOUS ist gerade nicht zunächst „anthropologisch", sondern kosmisch, zielt ab auf die Weltseele und die Weltver nunft, und erst mittelbar auf die menschliche Seele und ihr Denken. Aristoteles geht hier an die ser Stelle der „Physik" dem problematischen Zusammenhang von Zeit und Seele nicht weiter nach, das Problem wird nur angeritzt, nicht entwickelt. Es hat seine große Stelle in der Lehre vom „unbewegten Beweger", von der NOESIS NOESEOS, - Aristoteles springt schnell zu einer anderen Aporie über.» Dagegen wendet sich W. Wieland, Die aristotelische Physik, Göttingen 1962, 328, Anm. 14: «Auch hier bleibt es natürlich die Seele, die die Zählung und Messung vornimmt. Die Pointe der aristotelischen Zeitlehre geht verloren, wenn man hinter der zählenden Seele die Weltseele sucht, wie es etwa Fink (S. 231), wohl im Anschluß an Simplicius (760, 11 ff.), etwas voreilig bei der Interpretation von 223 a 16ff. tut... »
53
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
der menschlichen Psyche zur sublimaren im Blick? Den antiken Kom mentatoren fiel es im Gegensatz zu den modernen Aristotelesauslegern nicht schwer, die kosmologische Fundierung der Beziehung von Zeit, Bewegung und Seele bei Aristoteles zu bemerken. Alexander von Aphrodisias erarbeitete das entscheidende Modell dieser Beziehung, Themistios übernahm es, und Simplikios baute es mit Akribie weiter aus. Nur dieser Genauigkeit seiner Aristoteles exegese ist es zu verdanken, daß Simplikios' Kommentarabschnitt zu Satz IVc so überzeugend wirkt. Simplikios legt nahe, daß der Verweis des Aristoteles auf den Zusammen hang zwischen Seele und Bewegung keine zufällige Randbemerkung, sondern für das Verständnis der Zeitaporie von zentraler Bedeutung ist. Durchaus ge nau, so sagt Simplikios, sei Aristoteles bei der Vorlage des Satzes IVc vorge gangen. Um diese Genauigkeit zu dokumentieren, zieht Simplikios zwei Schluß folgerungen aus dem Satz des Aristoteles. Zunächst blickt er auf die erste und naheliegende Auslegung dieses Satzes: Die Bewegung existiert dabei unabhängig von der Seele und fungiert als das einer Relation. Sofern nämlich bei einer Entgegensetzung im Sinne eines relationalen Gefüges die Seele als ein Relationsglied dem Begriff nach aufgehoben wird spricht nichts dagegen, daß zwar nicht die Zeit existiert, die Bewegung aber dennoch vorhan den ist. Diese Auslegung bezieht sich auf die Situation der individuellen Zeit gewinnung durch die endliche menschliche Seele. Die endliche Psyche und die Bewegung sind nicht wesenhaft miteinander verklammert. Der Verstand quan tifiziert nur die und gewinnt so die Zeit. Zählt jedoch keine Seele, gibt es zwar keine Zeit, aber unvermindert die Bewegung.29 Anders liegen nach Simplikios die Verhältnisse, wenn die Analyse den engen Raum menschlicher Bewegungserfahrung in Richtung auf die Himmelsbewe gung verläßt. In der kosmischen Sicht der ergeben sich andere Aspek te. Dort ist die endliche Trennung zwischen Seele und Bewegung aufgehoben. In bezug auf die Zeit heißt das: Vermag die nicht ohne eine zu existieren, dann fällt nicht nur die Zeit, sondern auch die Bewegung hinweg, wenn eine (kosmische) Seele nicht vorhanden ist.30
54
1.6. Simplikios
Es zeigt sich demnach, daß Simplikios' Auslegung des Satzes IVc keineswegs gewaltsam ist. Er hat nur die Äußerung des Aristoteles, der hier die Beziehung von Seele und Bewegung/Zeit in den Blick nimmt, als einen Spezialfall der uni versellen kosmischen Beziehung zwischen Seele und Bewegung gedeutet. Dem Sinne nach ist er dabei wie Alexander von Aphrodisias vorgegangen. Simplikios bemüht sich nun, dieses kosmologisch begründete Modell des Alexander von Aphrodisias dem Leser vorzustellen. Zunächst geht er dabei von der kosmischen Kreisbewegung aus. Die Kreisbewegung, aus der die anderen Bewegungen und Veränderungen das Sein haben, deutet er nach eigener Aussage wie Alexander von ) Aphrodisias aus dem Intellekt und dem Streben der Himmelsseele. Wenn diese Seele entfällt, dann verschwindet auch jede an dere Bewegung.31 Zeit ist dann nicht mehr möglich. Damit hat Simplikios das Fundament seiner Konzeption preisgegeben. Die weiterführenden Untersuchungen, die sich daran anschließen. sind nicht mehr als eine Absicherung seines kosmischen Grundmodells durch kosmologische, aus der aristotelischen Naturphilosophie entnommene Theo reme.32 Sie erbringen keine neuen Einsichten zur Zeitaporie und brauchen da her nicht Gegenstand dieser Untersuchung zu sein. Wichtiger ist die Einsicht, daß die kosmologische Auslegung der Zeitaporie, die Simplikios wie kein ande rer exzessiv durchgeführt hat, auch die beiden letzten Sätze der Zeitaporie be stimmt. V/VI
55
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Nachdem Simplikios im Anschluß an Alexander von Aphrodisias den Satz IVc der aristotelischen Zeitaporie als Hinweis auf die indirekte Konstitution der Zeit durch die Seele des Himmels interpretiert hatte, konnte er die Exegese der folgenden Sätze V und VI nicht isoliert vornehmen, sondern mußte sie mit den Ergebnissen aus der Auslegung von Satz IVc zu einem einheitlichen Block ver schmelzen. Simplikios analysiert die beiden Sätze, indem er sie in eine rekapi tulierende Überlegung zum Verhältnis von Zeit und Seele einbindet. Die Einsicht in die Bestimmheit des gewinnt Sim plikios dabei durch eine Reflexion, die von den bisher erzielten Einsichten aus geht. Er erinnert erneut daran, daß die Zeit als zählbare Zahl verschwindet, wenn die zählende Entität entfällt. Was bedeutet das für die Strukturbestim mungen des Simplikios gibt darauf eine klare Antwort. Er deutet das zunächst als Erstreckung der Bewegung. Ausgehend davon vervollständigt er nun die o.g. Reflexion: Mag auch die Zeit durch die Aufhebung der zählen den Seele entfallen, so verbleibt doch das als ein Ge füge, das gemäß der Erstreckung des Seins der Bewegung existiert.34 Jedenfalls empfängt die Zeit das erst durch das Diese Analyse der Determinanten der im Anschluß an Satz V und VI der Aporie ist mit einer Untersuchung der Erstreckung der Bewegung verbun den. Eine Auslegung, die von dort aus in die Tiefe geht, gelangt über die De terminanten der Bewegung nicht nur zur selbst, sondern auch zu ihrem Ursprung. Dadurch erhält die Bewegung (und damit die Zeit) Anschluß an ih ren kosmischen Urgrund. Die Zeit ruht auf der Erstreckung der aber die universelle Bewegung ist selbst von ihrer kosmischen Ursache abhängig. Gemäß seinem kosmologischen Konzept geht Simplikios von der Seele des Himmels aus. Wenn diese Seele vergeht, die der Ursprung des Entstehens und die Ursache jeder Bewegung ist, dann existiert auch die Zeit nicht mehr, insofern sie mit der (Himmels-) Seele zusammen vorhanden ist
56
1.6. Simplikios
Der Bezug zwischen Seele, Bewegung und Zeit erscheint hier aus der Per spektive des aristotelischen Universums. Mit Recht habe Aristoteles, so sagt Simplikios, daher darauf verwiesen, daß das Zählbare als Zeit aufgehoben sei, wenn die zählende Seele wegfällt. Entfällt nämlich das Prinzip des Entstehens und der Bewegung dann sind auch die Bewegung und das Entstehen aufgehoben Diese Verklammerung von Seele und Bewegung hat Aristoteles nach Simplikios im Auge gehabt, als er in Satz IVc der Zeitaporie die Frage nach dem Zusammenhang von Seele und Bewegung ansprach.36 Immer mehr drängt Simplikios den Satz IVc der Zeitaporie in den Vorder grund. Er versteht ihn als ein Symbol für die kosmologische Auslegung der Zeitaporie. Diese universelle Exegese der aristotelischen Aporie bietet gleich sam die Möglichkeit, die Zeitgewinnung der endlichen die Aristoteles im ersten Abschnitt der Aporie diskutiert, in den großen Rahmen des Kosmos ein zufügen. Die individuelle Zeitgewinnung, bei der eine endliche Seele die Bewe gung zählt, gibt es nur, weil die Himmelsseele die verursacht und da mit auf ihre Weise vorstrukturiert hat. Insofern erscheint die Zeitaporie als ein aufsteigender Weg von der individuellen zur kosmischen Seele. Dieses kosmologische Modell, das Simplikios am Ende seiner Auslegung der Zeitaporie vorstellt, bietet ihm zuletzt sogar die Möglichkeit, das Konzept des Aristoteles durch seine spezifische Theorie des Zusammenhangs von Zeit und Seele mit dem Entwurf Platons zu verbinden. Zum Abschluß seiner Auslegung faßt Simplikios zunächst die gesamten Er gebnisse seiner Untersuchungen zusammen: Die Zeit ist etwas, das an der Be wegung vorhanden ist Bewegung ist hier im kosmischen Maßstab zu verstehen. Wenn also diese entfällt, dann muß auch die Zeit als das Etwas an der Bewegung wegfallen. Ebenso fällt auch die Zeit, die im Entstehen ihr Sein besitzt, durch die Aufhebung der Seele, die die Ursache des Entstehens und der Bewegung ist, in ihrer Gesamtheit fort.37
57
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Kronzeuge dieser Verankerung der Zeit in der kosmischen Seele als dem Urgrund der Bewegung ist für Simplikios der Satz IVc der Zeitaporie, den er hier erneut anfügt: <Wenn es zulässig ist, daß die Bewegung ohne die Seele exi stiert> so heißt das im Verständ nis des Simplikios: <Wenn es zulässig ist, daß die Bewegung ohne das Bewe gende ist>. Es ist jedoch nach Simplikios nicht zulässig. Das letzte Bewegende deutet er daher mit Platon als die Quelle und den Urheber der Bewegung.38 Simplikios bezieht sich dabei auf Platons Phaidros. Platon bezeichnet dort die Seele als das immer Bewegte und insofern Unsterbliche Ein Bewegendes und ein von einem anderen Bewegtes könnte da gegen auch zu einem Stillstand des Lebens und der Bewegung gelangen. Davon grenzt Platon deshalb das Unsterbliche und sich selbst Bewegende ab, denn dieses autokinetische Seiende beendet nicht seine eigene Ak tivität. Für alle, die Bewegung erfahren, ist demnach die sich selbst bewegende Seele eine Quelle und ein Ursprung der Bewegung.39 Dies ist für Simplikios die entscheidende Formel. Platons Satz von der Seele als Quelle und Ursprung aller Bewegung erhält daher eine grundlegende Quali tät: Simplikios erhebt ihn zum Kernsatz seiner Kosmologie, den er auch an an derer Stelle gern zitiert.40 Gegen Ende der Auslegung der Zeitaporie durch Simplikios erscheint daher Platons Philosophie der als Höhepunkt der kosmologischen Interpretation der Zeitaporie. Die Himmelsseele ist nach Sim plikios die Ursache, aus der alles Entstandene hervorgeht
40
Simplikios hätte nicht den Versuch einer Synthese von Platon und Aristoteles in der Begrün dung der Naturphilosophie gewagt, wenn es nicht möglich gewesen wäre, an latente Bezugs punkte anzuknüpfen. Vgl. in diesem Zusammenhang: F. Solmsen, Plato's First Mover in the eighth book of Aristotle's Physics, in: Philomates. Studies and Essays in the Humanities in Memory of Ph. Merlan, The Hague 1971, 171-182.
58
1.6. Simplikios
Und sie ist gemäß diesem Verständnis die Seele, zu der Aristoteles in der Zeitaporie hinführen will. Die umfangreiche und komplizierte Studie, die Simplikios zur Zeitaporie an gefertigt hat, ist, entwicklungsgeschichtlich betrachtet, der Höhepunkt der aus der Antike überlieferten Forschungen zur Zeitaporie.41 Hier sind alle damals zugänglichen Möglichkeiten der Auslegung dokumentiert und analysiert. Ohne die Ausführungen und Analysen des Simplikios blieben manche Details der frü heren Diskussionen völlig unverständlich. So nahm Simplikios die von Alexan der von Aphrodisias in Auseinandersetzung mit Boethos gewonnene Ausle gungsstruktur der Zeitaporie ins Zentrum seiner textanalytischen Konzeption auf. Die Basis seiner Exegese ist dabei der Satz IVc der Aporie. Weil die Bewe gung das der Zeit ist, existiert die Zeit als etwas an der Bewe gung. Wenn daher die durch die Himmelsseele initiierte kosmische Kreisbewe gung wegfällt, gibt es auch für die endliche zählende keine Zeit mehr. In der Auslegung des Simplikios führt die Zeitaporie demnach von der menschli chen Intellektualität zur Seele des Himmels. Gemäß dem Physikkommentar des Simplikios besitzt die Rede des Aristoteles von der Seele in der Zeitphilosophie mehr Ähnlichkeit mit den entsprechenden platonischen Theoremen, als die moderne Forschung annimmt. Sie lehnt die Lösung des Simplikios zur Zeitaporie fast ausnahmslos als neuplatonisch ab. Dennoch führen seine Untersuchungen zu einer bestimmten Sensibilisierung bei der Bestimmung der Natur der in der aristotelischen Zeittheorie. Darin liegt ihr unbestreitbarer Wert für die moderne Aristotelesforschung.
41
Zur weiteren Wirkungsgeschichte des Simplikios auch im arabischen Sprachraum vgl.: I. Hadot, The life and work of Simplicius in Greek and Arabic sources, in: R. Sorabji (Hrsg.), Aristotle Transformed. The Ancient Commentators and Their Influence, London 1990, 275-
59
1.7. Johannes Philoponos Johannes Philoponos hat eine Fülle von Schriften hinterlassen, die durch die Vielfalt ihrer Themenstellung weit über das übliche Programm der Aristote leskommentatoren hinausgehen. Der Physikkommentar des Philoponos gehört dabei zu den Frühschriften. Er läßt sich sehr genau auf das Jahr 517 datieren.1 Im Vergleich zu den anderen aus der Antike überlieferten Physikkommenta ren ist der Text des Philoponos ziemlich häufig Gegenstand umfangreicher Un tersuchungen gewesen.2 Auch die exponierten Thesen des Philoponos bzw. ihre interessante Wirkungsgeschichte haben oft zu Forschungsarbeiten angeregt.3 Im Hinblick auf die Zeittheorie teilt Philoponos jedoch das Schicksal der anderen antiken Aristoteleskommentatoren. Auch seine zeitphilosophischen Texte fan den in ihrer Gesamtheit bisher wenig Beachtung.4 Hier ist es aber erforderlich, den engen Rahmen einer Einzeluntersuchung zu sprengen. Dies geschieht durch die Einordnung der Thesen des Philoponos zur Zeitaporie in die allgemeine Entwicklungslinie der Auslegung seit Boethos und Alexander von Aphrodisias. Wie auch im Hinblick auf Themistios und Simplikios bleibt Alexander der große . Ähnlichkeiten und Übereinstimmungen zwischen den Thesen des Johannes Philoponos und den Texten der anderen Kommentato ren brauchen nicht zwangsläufig auf direkten Abhängigkeiten zu beruhen. Sie können auch dadurch verursacht sein, daß alle überlieferten Physikkommentare der Antike mehr oder weniger vom Entwurf Alexanders abhängen. Nichts un terstreicht auffallender die Rolle als Standardkommentar, die dieser Text in der Spätantike angenommen hatte. Der Verlust seiner Physik erschwert trotz der Reste, die Simplikios aufbewahrt hat, die genetische Einordnung der Thesen des
1
Vgl. K. Verrycken, The development of Philoponus' thought and its chronology, in: R. Sorabji (Hrsg.), Aristotle Transformed. The Ancient Commentators and Their Influence, London 1990, 239. 2 Zur Bibliographie vgl.: R. Sorabji (Hrsg.), Aristotle Transformed. The Ancient Commenta tors and Their' Influence, London 1990, 497-499. 3 Für die Wirkungsgeschichte des Physikkommentars ist wichtig: Ch. Schmitt, Philoponus' Commentary on Aristotle's Physics in the Sixteenth Century, in: R. Sorabji (Hrsg.), Philoponus and the Rejection of Aristotelian Science, London/Ithaca N.Y. 1987, 210-227. 4 Vgl. Philoponus, Against Aristotle on the Eternity of the World, ed. C. Wildberg, London/ Ithaca N.Y. 1987.
60
1.7. Johannes Philoponos
Philoponos in die allgemeine Entwicklungslinie der antiken Physikkommentare außerordentlich. Hinzu kommt, daß die Auslegung der Zeitaporie durch Philoponos völlig frei von Hinweisen und Quellenangaben ist, die bei Simplikios so reichlich zu finden sind. Weder paraphrasiert Philoponos wie Themistios, noch schmückt und be reichert er seine Ausführungen wie Simplikios mit Zitaten aus heute verlorenen Schriften. Wäre aus der Antike allein die Auslegung des Philoponos zur Zeit aporie erhalten, dann bliebe die bedeutende Leistung des Alexander von Aphrodisias auf diesem Gebiet völlig verborgen. Nur wer durch das Studium der Ex egese des Simplikios mit den Details dieses Spezialgebietes der antiken Zeitphi losophie vertraut ist, vermag im Text des Philoponos die Anspielungen zu ent decken, die auf seine Herkunft schließen lassen. Simplikios verfaßte seinen Physikkommentar nach 5325, während der Text des Philoponos 517 entstanden ist. Chronologisch gehört demnach die Ausle gung des Philoponos vor die Untersuchung des Simplikios. Die hier vorge nommene Abweichung von der zeitlichen Anordnung bedarf daher der Begrün dung. Für eine Unterbrechung der Chronologie sprechen sowohl didaktische als auch inhaltliche Gründe. Die Auslegung des Simplikios ist eine bedeutende Lei stung, die in sich die Ergebnisse der wichtigsten antiken Physikkommentatoren zur Zeitaporie versammelt. Mag sein Text zu einem großen Teil von Alexander abhängig sein und vielleicht sogar umfangreicher, als hier nachweisbar war, so hat er doch einen in sich geschlossenen und bruchlosen Gesamtentwurf vorge legt. Die Auslegung des Simplikios ist insofern die Krönung der aus der Antike überlieferten Auslegungen zur<aristotelischenZeitaporie>. Anders ist die Sachlage bei Philoponos. Philoponos hat sich bei der Ausle gung der Zeitaporie nicht von platonischen Einflüssen leiten lassen. Sein Text weist eher in Richtung auf die arabischen Kommentatoren. Philoponos stuft zu dem die Bedeutung der Zeitaporie für die Zeitphilosophie bewußt herunter. Daher zeigt sein Kommentar bestimmte Eigenheiten, die ihn vom Text des Simplikios deutlich abheben. Dazu gehört die Klarheit und Durchsichtigkeit der Argumentation ebenso wie die Konzentration des Stoffes. Auch in formaler Hinsicht gibt es Unterschiede zum Entwurf des Simplikios. Philoponos hat keinen einheitlichen Text zur Zeitaporie hinterlassen. Seine 5
Vgl. I. Hadot, The life and work of Simplicius in Greek and Arabic sources, in: R. Sorabji (Hrsg.), Aristotle Transformed. The Ancient Commentators and Their Influence, London 1990, 290.
61
Teil I - Die antiken Aristoteleskommentatoren
Auslegung zerfällt gleichsam in zwei Hälften von unterschiedlicher Qualität. Hinzu kommt noch, daß Philoponos diese zwei Hälften an zwei voneinander entfernten Stellen seines Physikkommentars plaziert hat. Dadurch gelangt in seine Konzeption eine bestimmte Asymmetrie. Philoponos hat daher die syste matische Vollendung der Analyse des Simplikios nicht erreicht. Eine Zuordnung der über zwei Texthälften verteilten Exegese des Philopo nos zu den einzelnen Sätzen des Zeitaporie ergibt folgende Übersicht:
Satz
Abschnitt I
Abschnitt II
І/
770, 3-23
—
III
—
775, 6-13
IVb/c
—
775, 14-19
770, 23 IVc
— 771,3
775, 20 V/VI
— 776, 4
Die inhaltliche und formale Asymmetrie der Auslegung der <aristotelischen Zeitaporie> durch Philoponos veranlaßt bestimmte Schwierigkeiten für den Rezipienten. So findet er an unerwarteter Stelle umfangreiche Äußerungen, die sich ohne Schwierigkeiten bestimmten Sätzen der Zeitaporie zuordnen lassen. Dort aber, wo Philoponos gemäß der Sukzession des aristotelischen Leittextes die Zeitaporie kommentiert, muß er mit wenigen Bemerkungen und skizzenhaf62
1.7. Johannes Philoponos
ter Ausführung zufrieden sein. Dennoch sind beide Texte aufeinander bezogen und ergänzen sich gegenseitig. Wer einen von ihnen vernachlässigt, erhält da her ein falsches Bild vom Gesamtentwurf. I
II
Philoponos hat keine direkte Auslegung von Satz I und II der Zeitaporie aus gearbeitet. Aber es gibt einen Abschnitt seines Physikkommentars, der sich die sen Texten zuordnen läßt. Philoponos behandelt dort die ersten zwei Sätze der Aporie Diese baut sich auf zwei Fragen des Aristoteles auf: In Phys. IV 14, 223 a 16/7 fragt Aristoteles zunächst nach dem Verhältnis der Zeit zur Seele.8 Wenig später erscheint die Problematik dann auf modifizierte Weise (Phys. IV 14, 223 a 21/2). Aristoteles fragt nun nicht mehr bloß nach dem Verhältnis von Zeit und Seele, sondern er stellt das Sein der Zeit zur Disposition: Existiert die Zeit, wenn die Seele nicht vorhan den ist, oder gibt es sie dann nicht mehr? Philoponos geht bei der Auslegung dieser Frage von der Zeitdefinition des Aristoteles aus. Wenn die Zeit gemäß ihrer Definition die Zahl der Bewegung ist, dann muß nach der Zeitphilosophie des Aristoteles nicht die , sondern die vorgelegt hat, gewann erst in ihrer Funktion als Reaktion auf alternative Auslegungsmöglichkeiten ein spezifisches Profil. Nur aus dieser Perspektive erscheint sie in ihrer unbestrittenen Bedeu tung. In der Sekundärliteratur, die sich mit der Zeitphilosophie des Thomas von Aquino befaßt hat, steht der Physikkommentar nicht nur auf diese Weise im Vordergrund. Er gilt zuweilen auch als der Text, der die zentrale Fassung der Zeitlehre des Thomas von Aquino enthält. Diese Position unterschlägt die ande ren Varianten. Ist diese einseitige Stellungnahme erst einmal rückgängig ge macht, dann finden auch hier wie bei Albert entwicklungsgeschichtliche Be trachtungen mehr Beachtung.
1
Vgl. F. Beemelmans, Zeit und Ewigkeit nach Thomas von Aquino (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters XVII 1), Münster 1914. 2 Vgl. A. J. Festugière, Le temps et l'âme selon Aristote, in: Revue des sciences philosophi ques et théologiques 23 (1934) 5-28; P. F. Conen, Aristotle's Definition of Time, in: New Scholasticism 26 (1952) 441-458; P. F. Conen, Die Zeittheorie des Aristoteles (Zetemata 35), München 1964; J. Dubois, Signification ontologique de la définition aristotélicienne du temps, in: Revue thomiste 60 (1960) 39-79, 234-248; J. Dubois, Trois interprétations classiques de la définition aristotélicienne du temps, in: Revue thomiste 61 (1961) 399-429; M. de Tollenaere, Aristotle's Definition of Time, in: International Philosophical Quarterly 1 (1961) 453-467; J. Dubois, Les présupposés originels de la conception aristotélicienne du temps, in: Revue thomi ste 63 (1963) 389-423, 548-562; J. Dubois, Le temps et l'instant selon Aristote, Paris 1967.
267
Teil III- Das 13. Jahrhunden
Der Physikkommentar des Thomas von Aquino entstand in den Jahren ab 12693. Thomas schrieb ihn mehr als zehn Jahre nach Alberts Physikkommen tar, der aus den 50er Jahren des 13. Jahrhunderts stammt.4 Der Kommentar zur Physik des Aristoteles gehört damit zum Spätwerk des Aquinaten. Thomas ver faßte ihn zu einer Zeit, als er sich mit dem prominentesten Vertreter des latei nischen Averroismus, mit Siger von Brabant, auseinandersetzen mußte. Dieser hatte selbst viele kontroverse naturphilosophische Probleme diskutiert. Dabei schrieb er auch über die Aporien der Zeit.5 Von dieser spätesten Phase der Zeitphilosophie des Aquinaten sind die The sen der Frühzeit zu unterscheiden. Thomas hat sie in einem ganz anderen hi storischen Kontext ausgearbeitet. Das grundlegende Dokument dieser Entwick lungsphase ist der Sentenzenkommentar. Dieser Text stammt aus den Jahren 1254/5. Etwa gleichzeitig arbeitete Albert an seinem Physikkommentar. Die Thesen, die Albert dort zur Philosophie der Zeit erarbeitete, konnte Thomas also noch nicht rezipieren. Alberts Frühschrift De IV coaequaevis dagegen, die ihm sicherlich zugänglich war, enthielt keinen Bezug zu Averroes. Sie fiel des halb als veraltet hinter das damals schon erreichte Niveau der Aristotelesausle gung zurück. Albert genügte diese Schrift in den 50er Jahren selbst nicht mehr. Wollte Thomas nicht längst Überholtes reproduzieren, dann mußte er einen Neuansatz wagen. So griff er - wie etwa zeitgleich Albert bei der Ausarbeitung seines Physikkommentars - auf Averroes zurück. Die Polemik, die Roger Ba con gegen die Zeitphilosophie des Averroes geäußert hatte, war Thomas dabei fremd. Wie Albert setzt er sich zunächst unbefangen mit dem Physikkommen tar des Arabers auseinander. Thomas hatte im Sentenzenkommentar keine Gelegenheit, eine in allen Ein zelheiten ausgearbeitete Zeittheorie vorzulegen. Er mußte sich daher auf einen 3
Vgl. J. Brams/G. Vuillemin-Diem, Physica Nova und Recensio Matritensis - Wilhelm von Moerbekes doppelte Revision der Physica Vetus, in: Miscellanea mediaevalia 18 (1986), 274/5. 4 Vgl. P. Hossfeld in: Albertus, Physica, Libri 1-4, ed. P. Hossfeld; Editio Coloniensis IV/1, Monasterii/Westf. 1987, VI, 4-6: «Itaque non est vitiosum concludere Albertum anno aut 1251 aut 1252 Physicorum libros coepisse et ad summum anno 1257 illud De anima scripsisse.» 5 Vgl. an älterer Literatur: P. Mandonnet, Siger de Brabant et ľ Averroisme latin au XIIIe siècle, 2. partie (Les Philosophes Belges VII), Louvain 1908-1911, 71-94. Für die Einordnung der Zeitphilosophie des Siger von Brabant in die allgemeine Entwicklung des 13. Jahrhunderts ist immer noch wichtig: Cl. Baeumker, Die Impossibilia des Siger von Brabant. Eine philosophi sche Streitschrift aus dem XIII. Jahrhundert (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mit telalters II 6), Münster 1898, 148-165. Vgl. auch die neuere Edition: Siger de Brabant, Écrits de logique, de morale et de physique, ed. B. Bazán (Philosophes Médiévaux XIV), Louvain/Paris 1974, 77-79.
268
3.4.2. Thomas von Aquino I
Grundriß beschränken. Um so bedeutsamer erscheint es, daß er dabei die Frage nach dem Zusammenhang von Zeit und Seele nicht übergangen hat:
«Invenitur autem in actu qui motus est, successio prioris et posterions. Et haec duo, scilicet prius et posterius, se cundum quod numerantur per animam, habent rationem mensurae per modum numeri, quae tempus est. Unde di rit Philosophus, IV Physicorum, text. 101, quod tempus est numerus motus secundum prius et posterius. Et est numerus numeratus, et non numerus simpliciter. Sicut enim dicimus quod duo canes est numerus numeratus, et duo est numerus simpliciter; ita etiam numerus prioris et posterions in motu est numerus numeratus, qui est tem pus. Ex quo patet quod illud quod est de tempore quasi materiale, fundatur in motu, scilicet prius et posterius; quod autem est formale, completur in operatione animae numerantis: propter quod dicit Philosophus, IV Physic, text. 131, quod si non esset anima, non esset tempus».6
Die Ausführungen des Thomas von Aquino zu Zeit und Seele sind sehr kurz. Dennoch enthalten sie wertvolle Informationen zu seiner Deutung der Zeitaporie: a) Zunächst ist festzuhalten, daß Thomas von Anfang an die Bedeutung der <aristotelischenZeitaporie>für die Zeitphilosophie erkannt hat. Er konnte sie nicht mehr wie Albert in der Frühschrift De IV coaequaevis folgenlos überge hen. b) Zur Einsicht in die Bedeutung dieser Textstelle hat ihm das Studium der Zeitphilosophie des Averroes verholfen. Auch darin überholt Thomas den frü hen Albert. Er vollzieht aber damit nur das, was Albert etwa zur gleichen Zeit in seinem Physikkommentar ebenfalls unternimmt. Roger Bacon hatte schon in den 40er Jahren eine umfangreiche Kritik an Averroes verfaßt.7 Anders als Ba con bezieht sich Thomas bei der Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele jedoch kritiklos auf die Zeitphilosophie des Averroes. Er übernahm daraus die 6 7
THOMAS AQUINAS, In I Sent. d. XIX q. 2 a. 1 sol.; Mandonnet/Moos I, 467. Vgl. 3.3.3., S. 215/6.
269
TeilIII- Das 13. Jahrhundert Rede vom materialen Sein der in der Bewegung, das in der Seele seine formale Vollendung findet. Zwar ließ sich Thomas nicht auf das Potenz/Akt-Schema des Averroes ein, aber wenn er das materiale Sein der Zeit in der zählenden Seele zur Vollendung kommen läßt, dann steht eindeutig das Komplettierungsschema des Averroes im Hintergrund.8 Der bei Albert stets präsente Avicenna fehlt jedoch ganz. Vor die Alternative gestellt, zwischen Avicenna und Averroes zu wählen, entschied sich Thomas für Averroes. c) Im Hinblick darauf fiel es ihm nicht schwer, die Abhängigkeit der Zeit von der Seele zu lehren, wobei er sich auf die Zeitaporie des Aristoteles be rief.9 Der frühe Thomas stimmt also mit Averroes10 darin überein, daß Aristo8
Vgl. AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 109; Venetiis 1562, 187 r C: «Dicamus igitur ad hoc, quod extra mentem non est nisi motum, et tempus non fit, nisi quando mens diuidit motum in prius, et posterius: et haec est intentio numeri motus, idest motum esse numeratum: ergo substantia temporis, quae est in eo quasi forma, est numerus, et quod est in eo, quasi materia, est motus continuus: quoniam non est numerus simpliciter, sed numerus motus.» Vgl. auch: AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 88; Venetiis 1562, 174 r A/B: « ... sed ta lia non habent esse completum, sed esse eorum componitur ex actione animae in eo, quod est in eis extra animam: et entia completa sunt illa, in quorum esse nihil facit anima, vt post declarabitur de tempore, scilicet quoniam est de numero entium, quorum actus completur per animam.» AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131; Venetiis 1562, 202 v G/H: «Secundum igitur hunc modum dicitur tempus habere esse extra animam simile perfecto, et si non sit perfec tum.» 9 Vgl. THOMAS AQUINAS, In I Sent. d. XIX q. 2 a. 1 sol.; Mandonnet/Moos I, 467: « ... propter quod dicit Philosophus, IV Physic., text. 131, quod si non esset anima, non esset tem pus.» 10 Auf diese den späteren Ausführungen im Physikkommentar widersprechende These im Sen tenzenkommentar des Thomas von Aquino hat schon F. Beemelmans hingewiesen. Vgl.: F. Beemelmans, Zeit und Ewigkeit nach Thomas von Aquino (Beiträge zur Geschichte der Philoso phie des Mittelalters XVII 1), Münster 1914, 20/1: «Wenn es aber in der Physik heißt, es kann nichts Zählbares geben, wo keine Seele ist, so ist das falsch. Thomas hat diese Ansicht nicht immer vertreten; in dem Sentenzenkommentar löst er die Frage durch folgende Unterscheidung. Die Zeit enthält ein formales und ein materiales Element; sonst versteht er unter der Form der Zeit ihr „Vorher und Nachher", ihre Kontinuität unter der Materie; aber hier im Sentenzenkom mentar ist Materie der Zeit das „Vorher und Nachher" so, wie es in der Bewegung sich findet; die Zahl dagegen ist ihre Form, und sie erhält diese Form erst im Geiste, der sie zählt. Gegen stand der Zählung ist das „Vorher und Nachher", es bildet die Grundlage der Zeit in der wirkli chen Welt. Die Zeit hat einen halb subjektiven, halb objektiven Charakter; sie existiert nicht wie ein Mensch oder ein Stein außerhalb der Seele, noch ist sie darum ein Traum oder eine Chimäre; sie ist ein Mittelding; sie gleicht darin den Allgemeinbegriffen oder der Wahrheit, die alle ein Fundament in der Wirklichkeit besitzen, durch die Tätigkeit der Seele aber hinsichtlich ihrer Form vollendet werden. Wie man sieht, ist dies alles nur eine Ausschmückung der Lehre des Aristoteles.» F. Beemelmans merkt dabei an (21 Anm. 2): «Averroes legt die Stelle ähnlich aus, 270
3.4.2. Thomas von Aquino I
teles in der Zeitaporie die Lehre vom innerseelischen Sein der Zeit vertreten habe. Eine Stellungnahme zum Problem der Weltseele, das Robert Grosseteste angedeutet und Roger Bacon umfangreich diskutiert hatte, findet sich bei Tho mas nicht. Wie Averroes spricht auch der Aquinate stets von der Individualseele. Er scheut sich auch keinesfalls, seine Dependenz von dem Araber offen zulegen. Sehr deutlich geschieht dies bei seiner Rezeption der von Averroes entwickelten Theorie der Abhängigkeit des Zeitempfindens von der Himmelsbe wegung. 11 Hier hätte sich Thomas auch zur Theorie einer zeiterzeugenden Weltseele äußern können. Da aber Averroes in seiner Zeitphilosophie niemals davon sprach, verzichtete auch Thomas auf eine entsprechende Bemerkung. d) Im Sentenzenkommentar des Thomas von Aquino ist Augustinus allgegen wärtig. Das elfte Buch der Confessiones erwähnt Thomas in seinen zeitphiloso phischen Bemerkungen jedoch nicht. Die Theorie des Averroes hatte alles an dere in den Hintergrund gedrängt. Thomas übernahm jedoch nicht nur kritiklos die Zeitphilosophie des Aver roes. Er stellte vielmehr das von Averroes konzipierte Komplettierungsmodell zusätzlich auf ein intellekttheoretisches Fundament. Die Zeitphilosophie er schien auf diese Weise als ein Spezialgebiet der Intellekttheorie. Thomas löste das Problem der Zeit wie die Frage nach der Wahrheit. Die Zeit erhielt daher denselben Status wie die Universalien. Thomas verfügte auf diese Weise über ein leicht einsichtiges Zeitmodell, das gerade deshalb immer wieder Nachahmer gefunden hat. Der Ausgangspunkt der systematischen Überlegungen des Tho mas von Aquino zur Zeit sind seine wahrheitstheoretischen Forschungen, die später in den Quaestiones disputatae (1256-1258/9) ihre bis heute bekannteste Gestalt erhalten haben. Thomas fußt dabei jedoch auf einer Fassung, die als die Keimzelle seiner Wahrheitstheorie zu bezeichnen ist. Sie befindet sich ebenfalls im Sentenzenkommentar (1254/5). Es scheint, als habe Thomas allein in dieser frühen Fassung eine Verknüpfung zwischen Wahrheitstheorie, Intellekttheorie und Zeittheorie hergestellt.
Ρhys. IV com. 131 ... » Die Entdeckung des Averroismus in der frühen Zeittheorie des Thomas von Aquino fällt daher in das Jahr 1914. 11 Vgl. THOMAS AQUINAS, In I Sent. d. XIX q. 2 a. 1 sol; Mandonnet/Moos I, 469: «Un de dicit Commentator, IV Physic., quod sentimus tempus, secundum quod percipimus nos esse in esse variabili ex motu caeli. Et inde est quod omnia quae ordinantur ad motum caeli sicut ad causam, cujus primo mensura est tempus, mensurantur tempore; et quicumque sentit quamcumque variabilitatem quae consequitur ex motu caeli, sentit tempus, quamvis non videat ipsum motum caeli.»
271
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Thomas klassifizierte zunächst die Entitäten auf dreifache Weise, indem er ihre innere Verschiedenheit systematisch zu begründen versuchte: I
Zunächst gibt es Seiende, die sich außerhalb der Seele in gänzlicher Vollendung befinden. Thomas nennt sie daher voll endete Seiende (entia completa). Als Beispiel verweist er auf Mensch und Stein.
II
Dem entgegengesetzt sind Entitäten, die keinerlei Bezug zur außerseelischen Gegenständlichkeit besitzen. Thomas denkt dabei an Träume oder andere fiktive Vorstellungen (Chimäre etc.).
III
Zwischen diese Extreme setzt Thomas eine dritte Gruppe. Diese Seiendheiten verfügen über ein Fundament in der au ßerseelischen Dingwelt, erhalten aber die Vervollständigung ihrer Sachheit durch eine Tätigkeit der Seele (operatio animae).12
Thomas verweist zunächst erläuternd auf die Natur der Universalien. Als konkretes Beispiel nennt er den Begriff der . Die ist ir gend etwas <extra animam>. Sie erhält aber dort nicht ihre immanente Allge meinheit. Erst wenn der Intellekt diesen Begriff auffaßt und eine for miert, erhebt er die zur <species>.13 Nach der Analyse des Universalienbegriffs vollzieht Thomas den Übergang zur Philosophie der Zeit. Die Zeit besitzt als außerseelisches Fundament eine 12 Vgl. THOMAS AQUINAS, In I Sent. d. XIX q. 5 a. 1 sol.; Mandonnet/Moos I, 486: «Respondeo dicendum, quod eorum quae significantur nominibus, invenitur triplex diversitas. Quaedam enim sunt quae secundum esse totum completum sunt extra animam; et hujusmodi sunt entia completa, sicut homo et lapis. Quaedam autem sunt quae nihil habent extra animam, sicut somnia et imaginado chimerae. Quaedam autem sunt quae habent fundamentum in re extra ani mam, sed complementum rationis eorum quantum ad id quod est formale, est per operationem animae, ut patet in universali.» 13 Vgl. THOMAS AQUINAS, In I Sent. d. XIX q. 5 a. 1 sol.; Mandonnet/Moos I, 486: «Humanitas enim est aliquid in re, non tarnen ibi habet rationem universalis, cum non sit extra animam aliqua humanitas multis communis; sed secundum quod accipitur in intellectu, adjungitur ei per operationem intellectus intentio, secundum quam dicitur species ...» Zur Theorie der vgl.: J. Pinborg, Logik und Semantik im Mittelalter. Ein Überblick, mit einem Nach wort von H. Kohlenberger (problemata 10), Stuttgart-Bad Cannstatt 1972, 90 f.
272
3.4.2. Thomas von Aquino I
materiale Basis. Dies ist die durch <prius> und <posterius> strukturierte Bewe gung. Seine Ergänzung findet dieses Fundament durch einen formalen Aspekt. Dies leistet die Zählung als Tätigkeit des Intellektes.14 Auf diese Weise ist die Zeit der Wahrheit vergleichbar.15 Möglich war diese Verschmelzung von Zeit philosophie, Wahrheitslehre und Intellekttheorie nur deshalb, weil Thomas so wohl auf den Metaphysikkommentar16 als auch auf den Physikkommentar des Averroes zurückgriff. Doch diese Konzeption mußte zwangsläufig dann zu sammenbrechen, als sich Thomas allmählich aus dem Einflußbereich der Philo sophie des Averroes zurückzog.
14
Vgl. THOMAS AQUINAS, In I Sent. d. XIX q. 5 a. 1 sol.; Mandonnet/Moos I, 486: « ... et similiter est de tempore, quod habet fundamentum in motu, scilicet prius et posterius ipsius motus; sed quantum ad id quod est formale in tempore, scilicet numeratio, completilr per Opera tionem intellectus numerantis.» 15 Vgl. THOMAS AQUINAS, In I Sent. d. XIX q. 5 a. 1 sol.; Mandonnet/Moos I, 486: «Si militer dico de veritate, quod habet fundamentum in re, sed ratio ejus completur per actionem in tellectus ...» 16 Vgl. AVERROES, In Aristotelis Met. VI, t. comm. 8; Venetiis 1562, 152 r D/E.
273
3.4.3. Bonaventura Die Zeittheorie Bonaventuras ist nicht direkt greifbar, sondern bedarf einer Rekonstruktion aus verstreuten Bemerkungen.1 Hauptquelle ist dabei der Sen tenzenkommentar. Bonaventuras zeitphilosophische Bemerkungen dienen dort aber nicht der Erforschung der Zeit, sondern eher zur Bestimmung der Natur des Aevum. Trotzdem ist es nicht notwendig, sich auf die Gesamtheit der Ar gumentationsweise Bonaventuras einzulassen. Zur Standortbestimmung seiner Denkweise genügt die Auswahl einiger zentraler Gesichtspunkte. Bei der Diskussion über die Natur des Aevum erhebt sich die Frage nach der Einheit der Zeit. Ihre Lösung soll einen Rückschluß von der Natur der Zeit auf die Bestimmtheit des Aevum ermöglichen. Im Hinblick auf die Einheit der Zeit stellt Bonaventura mehrere Positionen vor. Deren Analyse und Destruktion durch Bonaventura ergeben interessante Einblicke in seine Konzeption des Ver hältnisses von Zeit und Seele. Die erste Position demonstriert die Einheit der Zeit durch einen Hinweis auf die Einheit ihres Trägers, des Primum Mobile. Die Zeit ist deshalb einheitlich, weil sie auf der Einheit dieser Bewegungsursache basiert. Ruht die Bewegung des Primum Mobile, dann entfällt auch die Zeit. Gegen diese Position führt Bo naventura Augustinus an. Augustinus, so sagt er, habe selbst bei Aufhebung der Himmelsbewegung noch die Bewegung der Töpferscheibe zugelassen. Die Zeit existiert also nicht nur in der Bewegung des Primum Mobile, sondern auch in anderen beweglichen Dingen.2 Bonaventura bezieht sich dabei auf eine Äußerung aus dem elften Buch der Confessiones des Augustinus:
1
Zur Zeittheorie Bonaventuras vgl: V. C. Bigi, La dottrina della temporalità e del tempo in San Bonaventura, in: Antonianum 39 (1964) 437-488, 40 (1965) 96-151; Il concetto di «tempo» in S. Bonaventura e in Giovanni Duns Scoto, in: De doctrina Ioannis Duns Scoti. Acta Congressus Scotistici Internationalis Oxonii et Edimburgi 11-17 sept. 1966 celebrati. Vol. II: Problemata Philosophica (Studia Scholastico-Scotistica 2), Romae 1968, 349-359. 2 Vgl. BONAVENTURA, In II Sent. d. 2 p. 1 a. 1 q. 2 conci.; Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1885, 59 a: «Dixerunt ergo aliqui, quod tempus est unum ratione subiecţi, in quo primo est et per se, quo remoto, removetur et tempus. Unde dixerunt, quod tempus est unum, quia est in primo mobili, cuius motu cessante, cessat et tempus. - Sed illud non sufficit dicere, quia, sicut dicit Augustinus, si cessaret motus primi mobilis, adhuc posset moveri rota figuli; et constat, quod mensuraretur ille motus: ergo non tantum est ibi, immo et in aliis rebus mobilibus.»
274
3.4.3. Bonaventura
I Conf. XI 23, 29 «An uero, si cessarent caeli lumina et moueretur rota figuli, non esset tempus, quo metiremur eos gyros et diceremus aut aequalibus morulis agi, aut si alias tardius, alias uelocius moueretur, alios magis diuturnos esse, alios minus?»3
Damit ist eine zweite Sentenz verwandt:
II Conf. XI 23, 30 «Nemo ergo mihi dicat caelestium corporum motus esse tempora, quia et cuiusdam uoto cum sol stetisset, ut uictoriosum proelium perageret, sol stabat, sed tempus ibat. Per suum quippe spatium temporis, quod ei sufficeret, il la pugna gesta atque finita est. Video igitur tempus quandam esse distentionem.»4
Das Diktum I nimmt seinen Ausgang von einer Diskussion der kosmologischen Fundierung der Zeit. Augustinus fragt zunächst, ob die Zeit aus den Be wegungen der Himmelskörper abzuleiten sei. Diese These lehnt er mit Hinweis auf die Mannigfaltigkeit der Bewegungen ab. Aber auch dabei ist eine Ein schränkung notwendig: Wäre jede Bewegung ohne Unterschied der Ausgangs punkt von Zeit, dann gäbe es eine Vielfalt von Zeiten nebeneinander. Zur Ver deutlichung vollzieht Augustinus ein Gedankenexperiment. Was geschieht, so 3 4
AUGUSTINUS, Conf. XI 23, 29 v. 3-7; Verheijen 208. AUGUSTINUS, Conf, XI 23, 30 v. 39-43, Verheijen 209.
275
Teil III - Das 13. Jahrhundert
fragt er, wenn sich eine Töpferscheibe (rota figlili) trotz ruhender Himmels körper bewegt? Womit soll ein Beobachter die Bewegung der Töpferscheibe messen? Und wie stellt er fest, daß sie sich einmal schneller, dann aber auch langsamer bewegt? Grundsätzlich sind zwei Aspekte denkbar: I
Während eines einheitlichen Zeitraumes durchlaufen zwei Scheiben bei verschiedener Umdrehungsgeschwindigkeit zwei unterschiedlich lange Umdrehungsstrecken (Abb. I).
II
Oder eine identische Umdrehungsstrecke verbraucht unter schiedliche Zeiten (Abb. Π).
Daß sich die rechte Töpferscheibe doppelt so schnell wie die linke dreht, ist durch einen Vergleich mit der kontinuierlichen Himmelsbewegung leicht fest stellbar. Dabei ist die Himmelsbewegung nicht die Zeit, sondern nur eine Be zugsgröße. Absolut mißt ein Beobachter die Bewegungen mit der Zeit. Wenn aber, und hier setzt das Gedankenexperiment des Augustinus an, die Himmels bewegung ruht, fehlt die Bezugsgröße. Steht dann die beobachtende Seele den Töpferscheiben isoliert und ohne Maßstab gegenüber? Das Ziel des Augustinus bei der Beantwortung dieser Frage ist klar. Er versteht die durch die Seele konstituierte Zeit als einen absoluten Maßstab, der die Messung der Umdre hungsgeschwindigkeit der Töpferscheiben ohne jeden Vergleich mit der Him melsbewegung erlaubt. Augustinus führt diesen Vergleich ein, um seine Zeit theorie zu erläutern. Der Verweis auf Josuas Schlacht, die eine Zeitstrecke
276
3.4.3. Bonaventura durchlief, während die Gestirne ruhten, dient ihm dabei als theologisch-kosmologische Absicherung seines Gedankenexperimentes.5 Bonaventura benutzte das Gedankenexperiment des Augustinus6, um die kos mologische Verankerung der Zeit im Primum Mobile zur Diskussion zu stellen. Weil Augustinus die Zeitmessung beim Stillstand der Himmelsbewegung an der bewegten Töpferscheibe vollzog, ist die Zeit an keine privilegierte Bewegung gebunden. Sie bleibt nach Augustinus seelischen Ursprungs. Diese Schlußfolge rung hat Bonaventura aufgegriffen. Die Zeit, so sagt er abschließend, ist für Augustinus eine Affektion des freien Willens, die nicht der Himmelsbewegung unterworfen ist.7 Die Zeittheorie des Augustinus dient Bonaventura dazu, die kosmologische Fundierung einer einheitlichen außerseelischen Zeit kritisch zu befragen. Wie paßt diese Theorie zur eigenen Konzeption Bonaventuras im Sentenzenkommentarl Dies geht aus seiner unmittelbar sich anschließenden Diskussion einer zweiten Position klar hervor. 5
Vgl. IOS. 10, 12-13; Colunga/Turrado 181: «Tunc locutus est Iosue Domino, in die qua tradidit Amorrhaeum in conspectu filiorum Israel, dixitque coram eis: Sol, contra Gabaon ne movearis, Et luna contra vallem Aialon. Steteruntque sol et luna, Donec ulcisceretur se gens de inimicis suis. Nonne scriptum est hoc in libro iustorum? Stetit itaque sol in medio caeli, et non festinavit occumbere spatio unius diei.» Eine spätere Reflexion dieser Problematik findet sich z.B. bei Thomas von Straßburg. Vgl. THOMAS AB ARGENTINA, In II Sent. d. 2 q. 1 a. 2; Venetiis 1564, 131 v b: «Praeterea, tempore Iosuae stetit sol et per consequens alia corpora caelestia steterunt, alias corpora caelestia non mansissent in ea proportione in qua fuerunt ante Sta tionem illam, et tarnen tunc fuit tempus secundum Beatum Augustinum lib. 11. confes. ubi ait sic, Nemo mihi dicat motus caelestium corporum esse tempora, quia cuiusdam uoto dum perageret bellum sol stabat et tempus ibat.» 6 Die Diskussion dieses Gedankenexperiments findet sich keineswegs nur bei Bonaventura, sondern auch bei Richard von Mediavilla, der es vermutlich aus dem Sentenzenkommentar Bo naventuras übernommen hat. Vgl. RICARDUS DE MEDIA VILLA, In II Sent. d. 2 a. 1 q. 2 conci.; Brixiae 1591, 37 b: «Ad tertium dicendum, quod si non esset Angelus, nisi ille qui modo est inferior suum esse, non mensuraretur aeuo proprie dicto: sed mensura propria quae plene ra tionem aeui non haberet. Sicut si coelum non moueretur et vna rota ibi moueretur ad huc secun dum August. 11. libr. confessionum longe vltra medium, iudicaremus illum motum breuem, vel longum: sed hoc etiam per propriam illius mensuram quae tarnen proprie rationem temporis non haberet.» 7 Vgl. BONAVENTURA, In II Sent. d. 2 p. 1 a. 1 q. 2 conci.; Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1885, 59a: «Item, tempus est in affectionibus et cogitationibus liberi arbitrii, quod non subest motui caelesti, sicut vult Augustinus.» Bonaventura bezieht sich auf AUGUSTINUS, Conf. XI 27, 36 v. 48-52; Verheijen 213: «Affectionem, quam res praetereuntes in te faciunt et, cum illae praeterierint, manet, ipsam metior praesentem, non ea quae praeterierunt, utfieret;ipsam metior, cum tempora metior. Ergo aut ipsa sunt tempora, aut non tempora metior.» 277
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Auch hier untersucht Bonaventura die Frage nach der Einheit der Zeit. Diese zweite Konzeption findet die Einheit der Zeit ebenfalls in der Einheitlichkeit ihres Subjektes. Jetzt ist aber das Subjekt nicht mehr der außerseelische Kosmos bzw. das Primum Mobile als Fundament des Kosmos, sondern die Einheitlich keit der Seele. In der Seele erscheint (apparet) die Zeit zuerst. Die Zeit ist Zahl und Maß der Bewegung. Gemäß ihrem Wesen und Habitus befindet sie sich in der bewegten Sache oder im Bewegten. Jenes vollzieht gemäß den Determinan ten der Bewegung, dem Früher und Später, seinen Verlauf. Ihre aktuelle Zäh lung erhält die Zeit jedoch von der Seele. Diese Position schreibt Bonaventura Aristoteles und Augustinus zu. Es ist die Seele, die durch Hinblicknahme auf das Maß der Bewegung des Primum Mobile alle Bewegungen und Veränderun gen zählt.8 Wichtig ist in diesem Zusammenhang, welchen Philosophen Bonaventura diese Position zuschreibt. Er setzt zunächst Augustinus und Aristoteles in einen Zusammenhang. Aber Bonaventura nimmt auch, wie der Hinweis auf die numeratio actuali s zeigt, Averroes dazu. Bonaventura hat den Sentenzenkommen tar 1252 beendet. Bei ihm findet sich demnach eines der ersten historisch nach weisbaren Zeugnisse zum Bestand einer Allianz:
Augustinus - Aristoteles - Averroes.9
Bedauerlicherweise hat Bonaventura keinerlei konkreten Hinweis auf die Philo sophen gegeben, die ihre Zeittheorie in der Mitte des 13. Jahrhunderts auf Ari stoteles, Averroes und Augustinus stützten. Er selbst schloß sich dieser Mei nung nicht an. Dennoch ist seine Stellungnahme zur Aristotelesauslegung des 8
Vgl. BONAVENTURA, In II Sent. d. 2 p. 1 a. 1 q. 2 concl.; Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1885, 59 a/b: «Et ideo dixerunt alii, quod tempus est unum ratione subiecţi, in quo primo appa ret. Cum enim tempus sit numerus sive mensura motuum, et numerus iste secundum essentiani et habitum sit in re mobili vel mota, in qua est prius et posterius, secundum actualem vero numerationem sit a parte animae, sicut vult Philosophus et Augustinus, cum anima omnes motus et mutationes numeret aspiciendo ad mensuram motus primi mobilis, scilicet per diem, annum et horam; voluerunt dicere, quod unum est tempus ratione subiecti, in quo primo apparet; quia, etsi omnia habeant proprias periodos, tarnen omnia numerantur et mensurantur per mensuram motus regularis et certi et nobis notissimi, scilicet motus mobilis primi.» 9 Die entsprechenden Hinweise in Alberts Physikkommentar sind geringfügig später anzuset zen.
278
3.4.3. Bonaventura
Averroes differenziert. Die Zeit, so sagt Bonaventura unter Hinweis auf Aristo teles, ist keine zählende Zahl, sondern gezählte Zahl (numerus numeratus). Und deshalb erhält sie einen gesicherten Status. Die Zeit ist demnach kein irreales Gebilde der Seele (fictio animae). Sie fußt vielmehr auf der Anordnung der Dinge außerhalb der Seele (dispositio rei extra).10 Analog zu der Auslegung der <aristotelischen Zeitaporie> durch Averroes weist auch Bonaventura die Verwechslung der Zeit mit einer fiktiven Vorstellung zurück.11 Und wie der Araber diskutiert er die Zeit als eine nach Perfektion drängende Entität.12 Die Stellungnahme Bonaventuras zu Averroes ist daher schwer zu rekonstruieren. Deutlicher drückt sich in dieser Frage R. Kilwardby aus.
10
Vgl. BONAVENTURA, In II Sent. d. 2 p. 1 a. 1 q. 2 concl.; Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1885, 59 b: «Tunc non posset dici unum ratione subiecti, in quo primo esset,nin quo primo appareret, cum utrumque esset aeque primum et evidens; ratione animae, quia tempus non est numerus numerans, sed numeratus, ut Philosophus vult, et tempus est dispositio rei extra, non fictio animae.» 11 Vgl. AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131; Venetiis 1562, 202 r E: «Et, quia esse numeri in anima non est omnibus modis esse in anima: quoniam, si ita esset, esset fictum, et falsum, vt Chimera, et Hircoceruus.» Was für die Zahl gilt, bezieht sich bei Averroes auch auf die Zeit. 12 Vgl. BONAVENTURA, In II Sent. d. 2 p. 1 a. 2 q. 1; Ad Claras Aquas (Quaracchi) 1885, 64 b: « ... tempus est mensura secundum esse imperfectum ... »
279
3.4.4. Robert Kilwardby Zu den bisher wenig beachteten Texten zur Zeitphilosophie des 13. Jahrhun derts gehört auch Robert Kilwardbys Traktat De tempore, den O. Lewry 1987 erstmals ediert hat.1 Dieser Text ist wahrscheinlich in den späten 50er Jahren nach dem Physikkommentar Alberts entstanden.2 Auch vom Frühentwurf des Thomas von Aquino trennen ihn einige Jahre. Der Umfang und der systemati sche Aufbau des Traktates zeigen zudem, daß Kilwardbys Untersuchung nicht mehr zu den frühen zeitphilosophischen Forschungen des 13. Jahrhunderts ge hört. Deren Mannigfaltigkeit und innovative Lebendigkeit fehlen der Ausarbei tung Kilwardbys. Seine Leistung ist eher in der systematischen Zusammenfas sung des Stoffes zu suchen. Kilwardbys Zeittraktat ist eine Quaestionensammlung, die nicht nur im In halt, sondern auch im äußeren Aufbau noch stark an den zweiten Physikkom mentar Roger Bacons erinnert. Wie Bacon dort, so beginnt Kilwardby hier sei ne zeitphilosophischen Untersuchungen mit der Frage nach dem Sein der Zeit:
«Questio 1. Vtrum tempus sit de entibus extra animam».3
Zunächst bespricht Kilwardby vier Argumente für das seelische Sein der Zeit: 1) Jedes Seiende besteht aus Teilen, die zugleich existieren. Dies ist bei der Zeit nicht der Fall, obwohl auch sie aus Teilen zu sammengesetzt ist. Sie ist also nicht nach Art eines außersee lischen Seienden vorhanden.
1
Vgl. Robert Kilwardby O. P., On Time and Imagination. De tempore, De spiritu fantastico, ed. O. Lewry (Auctores Britannici Medii Aevi IX), Oxford 1987. 2 Vgl. O. Lewry, Einleitung zu Robert Kilwardby O. P., On Time and Imagination. De tem pore, De spiritu fantastico, ed. O. Lewry (Auctores Britannici Medii Aevi IX), Oxford 1987, XX: «... it seems plausible that the De tempore is the work of the Oxford master, perhaps in the late 1250s.» 3 ROBERTUS KILWARDBY, De temp. q. 1; Lewry 7, 2-8, 21.
280
3.4.4. Robert Kilwardby
2) Zudem besteht die Zeit aus nichtseienden Teilen, denn Ver gangenheit, Zukunft und Gegenwart sind nicht wahrhaft vor handen. Eigentlich gibt es nur den präsentischen Augenblick. Die Zeit selbst existiert nicht. 3)
Ganz in diesem Sinne verweist Kilwardby auf die Zeitdefini tion des Aristoteles. Er versteht sie als Hinweis auf das seeli sche Sein der Zeit. Wenn die Zeit aus der Zählung des Früher und Später der Bewegung erwächst, dann können die Bewe gungsdeterminanten und <Später> nur in der Seele zugleich sein. Dort tragen sie dann zur Konstitution von Zeit bei. Also existiert die Zeit nur in der Seele. Sehr leicht ist hier das nur wenig modifizierte Komparationsmodell zu erkennen, das Avicenna in seinem Zeittraktat vorgestellt hat.4
4) In diesem Zusammenhang diskutiert Kilwardby auch die Zeit philosophie des Augustinus. Aus den o.g. oder ähnlichen Gründen habe Augustinus in den Confessiones behauptet, daß die Zeit nur in der Seele existiere. Die Zeit sei nicht die Er streckung irgendeines außerseelischen Seienden, sondern eine Affektion der Seele aus dem Fluß der Dinge. Dabei konstitu iere sich die präsentische Intention der Seele aus der Erwar tung der zukünftigen und der Erinnerung der vergangenen Dinge die Zeit.5 Interessant ist nun, wie Kilwardby die Gegenthesen zum seelischen Sein der Zeit einbringt. Auch dabei begegnen einige aus anderen Texten dieser Zeit ver traute Argumente. Sie zeigen deutlich, wieviel Kilwardby dabei Roger Bacon zu verdanken hat.
4
Zur Diskussion vgl.: 2.2., S. 105-108. Vgl. ROBERTUS KILWARDBY, De temp. q. 1 n. 4; Lewry 7, 15-21: «Propter has et consimiles rationes posuit Augustinus quod tempus non sit nisi in anima, sicut patet libro 13 (!) Confessionum, et sicut patet ibidem, capitulo 30, tempus secundum ipsum est quedam distensio non alicuius existentis extra animam set affectionis animi presentís eidem et derelicte in eo ex re bus transeuntibus, in qua scilicet affectione intentio animi presens trahicit expectationem futurorum in memoriam preteritorum.» Die ungenaue Zitierung zeigt, daß R. Kilwardby seine In formationen über Augustinus nicht aus einer Lektüre des Originals gewonnen hat. 5
281
Teil III - Das 13. Jahrhundert'
5) Wie Bacon verweist Kilwardby zunächst auf die Zeit als Ur sache aller Vergänglichkeit. Die (individuelle) Seele kann je doch nicht der Grund dieser (universellen) Vergänglichkeit sein. 6) Ebenfalls wie Bacon erinnert Kilwardby an das außerseelische Sein der Bewegung. Alles, was die Bewegung bestimmt, de terminiert auch die Zeit. Daher muß die Zeit wie die Bewe gung ihr wahrhaftes Sein außerhalb der Seele besitzen. Erst nachdem diese Grundvoraussetzungen geklärt sind, beginnt Kilwardby mit der Widerlegung der o.g. drei Punkte (1-3). 7) Die Zeit gehört zu den Seienden, die ihrem Wesen nach in der Sukzession und im Transitus existieren. Ihre Bestandteile sind daher nur auf sukzessive Weise vorhanden. 8) Deshalb kann niemand behaupten, daß die präsentische Zeit nicht existiert. Hierbei ist nämlich die Sukzessivität zu beach ten. Sie garantiert, daß die Zeit ihre Totalität zwar nicht zu gleich, jedoch in der sukzessiven Folge erreicht. 9) Eine sukzessive Entität bedarf daher keiner zusammenfassen den intellektuellen Instanz. Vielmehr empfängt sie ihre Struk turen aus der strömenden Bewegung. Eine Widerlegung des Augustinus nimmt Kilwardby in diesem Zusammen hang nicht vor. Dies geschieht erst in der zweiten Quaestio, die folgenden Titel trägt: «Quid sit tempus».6
Hier führt Kilwardby eine grundsätzliche Klärung des Verhältnisses zwi schen Aristoteles und Augustinus herbei. In der Frage nach der Definition der Zeit folgt er wie Grosseteste und Bacon eher Aristoteles als Augustinus. Weil 6
ROBERTUS KILWARDBY, De temp. q. 2; Lewry 8, 22 f.
282
3.4.4. Robert Kilwardby
die Zeitdefinition des Augustinus nach seiner Ansicht metaphysisch ist, akzep tiert Kilwardby sie nicht.7 Wie seine Vorgänger Grosseteste und Bacon be grenzt er die Zeitphilosophie gemäß Aristoteles auf die Naturphilosophie bzw. auf die naturphilosophische Betrachtungsweise (secundum phisicam considerationem). Und wie alle bisher bekannten zeitphilosophischen Untersuchungen der 50er Jahre geht auch der Traktat De tempore nur ganz oberflächlich auf die Konzeption des Augustinus ein. Kilwardbys Diskussion der Frage nach dem Sein der Zeit erinnert damit in vielfacher Weise an die Antworten seiner Vor gänger Robert Grosseteste und Roger Bacon. Diese Abhängigkeit zeigt sich auch in der Auslegung der Zeitaporie in der vierzehnten Quaestio seines Zeit traktates:
«An possit esse tempus cum non sit anima»:
Kilwardby entwirft diese Fragestellung nach der vertrauten Weise einer Quaestio: a) Gibt es nicht Gründe, die dafür sprechen, daß die Zeit ohne die zählende und unterscheidende Seele vorhanden ist? Nach Aristoteles existieren doch Bewegung und Zeit gemäß ihrer Aktualität zugleich.9 Damit verbindet Kilwardby den aporetischen Einwand der Zeitaporie, daß es die Bewegung ohne die Seele gibt.10 Also muß auch die Zeit ohne die Seele vorhanden sein.11 7
Vgl. ROBERTOS KILWARDBY, De temp. q. 2 n. 10; Lewry 8, 23-27: «Si est tempus, quid est? Quid sit secundum Augustinum dictum est; set quia hec con sideratio quoniam secundum Augustinum magis metaphisica videtur, videamus quid sit secundum phisicam considerationem Aristotilis, qui dicit in 4 Phisicorum, tempos est numerus motus secundum prius et posterius.» 8 ROBERTOS KILWARDBY, De temp. q. 14; Lewry 28, 8-29, 25. 9 Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 20/1: ... - Transl. vetus; Bossier/Brams 188, 9/10: «... tempus autem et motus simul secundum quod potentia et actu sunt?» 10 Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 27/8: ... Transl. vetus; Bossier/Brams 188, 18: « ... ut si contingit motum esse sine ani ma.» 11 Vgl. ROBERTUS KILWARDBY, De temp. q. 14 n. 73; Lewry 28, 9-13: «Potestne esse tempus cum non sit anima distinguens et numerans ipsum? Videtur quod sic, quia dicit Aristoti-
283
Teil III - Das 13. Jahrhundert
b) Nachdem Kilwardby auf diese Weise die eine Seite der Aporie unter deutlicher Bezugnahme auf den Aristotelestext der Translatio Vetus vorgetragen hat, stellt er das Gegenargument vor. Dabei geht er jedoch nicht von dem Text der Zeitaporie aus. Vielmehr umschreibt er die These, daß die Zeit nicht oh ne die Seele zu sein vermag, mit einer anderen Aristotelesstel le: Erst wenn die Seele selbst zwei Jetztpunkte setzt, nämlich den einen hier und den anderen dort, diesen als , je nen als <später>, dann entsteht Zeit.12 Gemäß dieser Konzep tion ist die Zeit von der Seele abhängig.13 Die Aporie zwischen der Abhängigkeit und der Unabhängigkeit der Zeit von der Seele ist damit in ihren Verzweigungen formuliert. Kilwardby geht nun zur eigentlichen Diskussion über. Die Auslegung des Averroes belegt die Abhän gigkeit der Zeit von der Seele. Hier beschränkt sich Kilwardby auf eine kurze zusammenfassende Paraphrase der zentralen Aussagen des Averroes zum 131. Kommentartext des vierten Buches der Physik des Aristoteles: Außerhalb der Seele ist die Zeit in der Potenz, während sie in der Seele ihre Aktualität er hält.14 Kilwardbys Beschreibung der Auslegung des Averroes ist also korrekt und objektiv.
les in capitulo de tempore quod tempus et motus simul sunt secundum actum et formam, et infra, si contingit motum esse sine anima, et prius et posterius in motu sunt sine anima; tempora au tem hec sunt secundum quod mensurabilia sunt.» 12 Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 11, 219 a 26-30:
vetus; Bossier/Brams 175, 8-12: « ... cum enim altera extrema medii intelligimus, et dicat anima ipsa nunc duo, hoc quidem prius illud vero posterius, tunc et hoc dicimus esse tempus. Determi nato enim ipso nunc, tempus esse videtur ... » 13 Vgl. ROBERTUS KILWARDBY, De temp. q. 14 n. 74; Lewry 28, 14-18: «Contra, in eodem supra, cum intelligimus extrema motus et motum medium, et dicit anima ipsa nunc duo, hoc quidem prius, illud vero posterius, tunc et hoc dicimus esse tempus. Determinato autem ipso nunc, tempus esse videtur. Ex quo videtur quod non sit tempus antequam determinet et numeret motum.» 14 Vgl. ROBERTUS KILWARDBY, De temp. q. 14 n. 75; Lewry 28, 19-29, 1: «Responsio Auerroys consentit ultime auctoritati, dicens quod tempus non est in motu sine anima nisi in potentia, et fit in actu per animam numerantem. Vnde dicit quod tempus non erit si anima non erit: secundum enim quod prius et posterius sunt numerata in potentia, est tempus in potentia; et se cundum quod sunt numerata in actu, est tempus in actu.»
284
3.4.4. Robert Kilwardby
Die Diskussion der Zeitaporie bleibt jedoch unvollständig, wenn kein Aus weg aus ihrer Aporetik erkennbar ist. Kilwardby beginnt daher, ihre Auflö sung vorzubereiten. Dabei greift er nicht etwa auf das Komplettierungsmodell des Averroes zurück wie etwa noch wenige Jahre vorher Thomas von Aquino. Er nähert sich vielmehr dem Verfahren Roger Bacons, der eine scharfe Wider legung des Averroes verfaßt hatte.15 Allerdings ist der Ton Kilwardbys weni ger hart und zurückweisend. Zunächst verweist Kilwardby auf eine Aristotelesstelle, die in den Umkreis der Zeitaporie gehört.16 Wenn die Zeit nach den Worten des Aristoteles eine Bestimmtheit (passio) an der Bewegung ist, dann kann sie nur außerhalb der Seele existieren. Auf diese Weise ist sie nicht nur mit der Bewegung verbun den, sondern sie quantifiziert auch die Bewegung als ihr Maß. Im Anschluß daran formuliert Kilwardby noch einige zusätzliche Überle gungen. Dabei macht er sich seine eigene Stellungnahme nicht leicht. Er ver sucht vielmehr, zu einer differenzierten Position zu gelangen. Kilwardby stellt zwei basale Theoreme auf: Die Zeit ist sowohl (a) unbegrenzt und unbestimmt als auch (b) begrenzt und bestimmt. Allein die Begrenzung und Bestimmung der Zeit vollzieht die zählende Seele. Nur hier ist nach dem Verständnis Kil wardbys der Ort, wo Averroes ansetzt. Damit drängt er die diffizile Argumen tation des Averroes auf einen geringfügigen Rest zusammen. Zugleich ver drängt Kilwardby jeden Gedanken an eine intellektuelle Konstitution der Zeit.17 Kilwardby hält fest, daß wir der Zeit nicht durch unsere Definition oder Zählung zur Existenz verhelfen. Wir quantifizieren nur etwas, was auch ohne uns existiert. Die Zeit erhält von ihren Beobachtern nur noch eine ihr eigen-
15
Vgl. 3.3.3., S. 215/6. Vgl. ROBERTUS KILWARDBY, De temp. q. 14 n. 75; Lewry 29, 1-3: «Aristotiles autem dicit in eodem passu quod tempus est passio quedam motus vel habitus, numerus existens, quod concordat prioribus auctoritatibus.» Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 18/9: ... Transl. vetus; Bossier/Brams 188, 7/8: «Aut quia motus quedam passio est habitus numerus existens ... » 17 Vgl. ROBERTUS KILWARDBY, De temp. q. 14 n. 77; Lewry 29, 8-17: «Propterea dicendum est secundum predeterminata quod est tempus simpliciter inlimitatum et indeterminatum vel limitatum et determinatum, et hoc est tempus sine omni actione anime, et hoc volunt omnes auctoritates ad hoc inducte. Secundo modo non est sine numeratione anime et determinatione, et hoc vult auctoritas illa cui consentit Auerroes. Vnde ibidem ubi sumpta est auctoritas ista, dicit Aris totiles quod sic cognoscimus tempus cum diffinimus motum, prius et posterius determinantes, et tunc dicimus fieri tempus quando prioris et posterioris in motu percipimus se usum. Et iterum ibidem,determinamiustempus in accipiendo aliud et aliud nunc et medium ipsorun alterum.» 16
285
Teil III - Das 13. Jahrhundert
tümliche Maßeinheit zugewiesen.18 Hinter der komplexen Argumentations struk tur Kilwardbys steht demnach Avicennas Konzept einer allgemeinen, für alle verbindlichen außerseelischen Weltzeit. Eine Vermittlung zwischen Averroes und Avicenna bzw. eine Anlehnung an Averroes, wie sie Albert und Thomas jeweils auf unterschiedliche Weise wenige Jahre vorher propagiert hatten, ist bei Kilwardby nicht denkbar. Weil er die Intellektualisierung der Zeit ablehnte, ist in seiner von Roger Bacon herzuleitenden Methode der Interpretation der aristotelischen Zeittheorie eine intellekttheoretische Reflexion vollkommen aus geklammert.
18 Vgl. ROBERTUS KILWARDBY, De temp. q. 14 n. 77; Lewry 29, 18-25: «Nota bene verba, quod non dicit quod 'facimus' tempus per nostram diffinitionem vel numerationem, set per hoc cognoscimus illud; et non dicit quod tunc 'fit' tempus quando percipimus prioris et pos terions distinctionem, set quod tunc dicimus fieri tempus. Item, non dicit 'facimus' tempus in accipiendo nunc aliud et aliud, set determinamus, quasi dicens priusquam numeremus nunc in motu et motum, fuit tempus, set non fuit nobis determinatum et notum secundum certas quantitates et diffinitas horarum et dierum et huiusmodi.»
286
3.5. Neue Argumente im Streit um Averroes Um 1270 war die Denkweise des Averroes in die zeitphilosophischen Forschun gen der Aristoteliker so weit eingedrungen, daß sie die Auseinandersetzung um das Verhältnis von Zeit und Seele ganz beherrschte. Gleichzeitig lag erstmals eine verbesserte Übersetzung der aristotelischen Physik (Translatio Nova) vor. Sie bestimmte als entscheidender Faktor den weiteren Verlauf der Diskussion. Zunächst entwickelte Ulrich von Straßburg eine Position, die zwar ganz un ter dem Einfluß der Thesen Alberts stand, aber auch eigene Konturen erkennen läßt. Albert übernahm im Physikkommentar nur die Lösung der Zeitaporie von Averroes. Daneben arbeitete er einen eigenen Vorschlag zum Verhältnis von Zeit und Seele aus. Ulrich dagegen schloß sich teilweise dem von Averroes ent wickelten Perfektionsmodell an. Auf diese Weise rückte er vorsichtig an Aver roes heran. Weniger um Ausgleich bemüht als Ulrich, der unmittelbare Schüler Alberts, war Aegidius Romanus. Er erweist sich zunächst in der Zeitphilosophie seines Sentenzenkommentars als ein getreuer Schüler des Averroes. Ohne jede Modi fikation übernimmt er die Anschauungen des Arabers zum Verhältnis von Zeit und Seele. Darin stimmt Aegidius mit den wenigen Äußerungen, die von Siger von Brabant zum Verhältnis von Zeit und Seele überliefert sind, vollkommen überein. Im Physikkommentar verfeinert Aegidius die Methode der Aristotelesausle gung, ohne jedoch seine Grundintention aufzugeben. Wie Albert deutet er die Zeitaporie mit den Methoden des Averroes. Er löste dessen Auslegung von der arab.-lat. Physikübersetzung ab und übertrug sie auf den Text der Translatio Nova. Die Interpretation der Zeitaporie durch Averroes gilt nun nicht mehr al lein (wie bei Albert) als korrekte Auslegung des Aristotelestextes, sondern über Albert hinaus als eine angemessene Umschreibung des Verhältnisses von Zeit und Seele. Ein vergleichbares Verfahren verfolgt ein Anonymus, dessen Auslegung der Zeitaporie ebenfalls ganz von Averroes abhängig ist. Es gab demnach um 1270 eine Gruppe von Philosophen, die, ausgehend von Alberts Physikkommentar, die Averroesrezeption in der Zeittheorie noch weiter verstärkten und vertief ten. Den Versuchen dieser Gruppe entgegengesetzt sind die Konstruktionen eines älteren Albertschülers, der dessen Averroesrezeption überwinden wollte: Tho mas von Aquino bemühte sich, die averroistische Auslegung der Zeitaporie un287
Teil III - Das 13. Jahrhundert
ter Benutzung der Translatio Nova zurückzudrängen. Er versuchte, im Text der Zeitaporie jene Tendenzen aufzuspüren, die auf ein außerseelisches Sein der Zeit zu deuten schienen. Daß er damit wenig Erfolg hatte, zeigt die Isolation an, in die Thomas mit seiner Zeitphilosophie geraten war. Die von Averroes inspirierte Lehre zum Verhältnis von Zeit und Seele hatte um 1270 auf breiter Front gesiegt.
288
3.5.1. Ulrich von Straßburg Albert der Große hat oft über die Philosophie der Zeit geschrieben und gelehrt. Die reifste Gestalt und umfangreichste Ausarbeitung zur Theorie der Zeit legte er jedoch in seinem Physikkommentar vor. Weil es daneben noch andere ver gleichbare Texte gibt, in denen er sich zu zeitphilosophischen Problemen geäu ßert hat, ist seine Zeittheorie über verschiedene Werke verstreut und vielfach zersplittert. Auf diese Weise blieben Zeugnisse aus allen Phasen der philosophi schen Entwicklung Alberts erhalten. Neben älteren Texten, die seinen frühen Entwurf zur Zeitphilosophie dokumentieren, sind jüngere Ausarbeitungen überliefert, die im Umkreis der Physikvorlesung oder auch später entstanden. Niemals aber hat Albert alle seine Thesen zu einem einheitlichen Traktat zu sammengefaßt. Selbst die Darstellung im Physikkommentar macht hier keine Ausnahme, da Albert dort vom Aspekt der Zeitphilosophie abstra hierte. 1 Daher gibt es keine abschließende und alles zusammennehmende Fas sung der Zeitphilosophie Alberts des Großen. Nur durch eine hypothetische Re konstruktion ließe sich erschließen, wie seine Zeittheorie ausgesehen haben mag, nachdem er Ende der 60er Jahre die Kommentare zum Corpus Aristotelicum abgeschlossen hatte. Der Abschnitt zur Zeitphilosophie in der Summa theologiae bietet hier keine näheren Aufschlüsse, denn die Echtheit dieses Tex tes ist stark umstritten. Auch der Kommentar zum Liber de causis hilft kaum weiter. Er beschäftigt sich mehr mit dem Begriff der Ewigkeit als mit der Struktur der Zeit. Zu dieser Zeit, gegen Ende der 60er Jahre, hat Alberts Mitarbeiter Ulrich von Straßburg ein Werk unter dem Titel De summo bono ausgearbeitet. Ulrich versuchte dabei die Überwindung der systematischen Defizite in der Philoso phie Alberts. Die Edition dieses Textes ist neuerdings in Gang gekommen.2 Zu den bisher unveröffentlichten Teilen von De summo bono gehört auch ein Ab schnitt, der für das Verständnis der zeitphilosophischen Diskussion im Jahr1
Vgl. 3.4.1., S. 235/6. Vgl. Ulrich von Straßburg, De summo bono, Liber 1, hrsg. von B. Mojsisch, mit einer Ein leitung von A. de Libera und B. Mojsisch und einem Anhang zur Einleitung von R. Imbach [CPTMA I, 1], Hamburg 1989; De summo bono, Liber 2, Tractatus 1-4, hrsg. von Α. de Li bera, mit einer philologischen Vorbemerkungen zur Edition "Ulrich von Straßburg, De summo bono" von . Flasch und L. Sturlese und einem Vorwort von A. de Libera, [CPTMA I, 2 (1)], Hamburg 1987; De summo bono, Liber 4, Tractatus 1-2, 7, hrsg. von S. Pieperhoff [CPTMA I, 4 (1)], Hamburg 1987. 2
289
Teil III - Das 13. Jahrhundert
zehnt vor der Krise von 1277 von großer Bedeutung ist. Noch im 15. Jahrhun dert wurde die darin enthaltene Zeittheorie Ulrichs studiert und zur Kenntnis genommen. 3 Eine kritische Edition bereitet B. Mojsisch vor. Seine vorläufige Transkription ist die Arbeitsgrundlage dieser Untersuchung.4 Ulrichs Zeittraktat zeigt eine stark systematisierte Grundstruktur. Ulrich be mühte sich gemäß der Form seiner 'Summe' um eine eigenständige Gliederung des Stoffes. Er löste sich zunächst von der äußeren Form des Physikkommen tars. Damit verzichtete er auf den leitenden Grundriß des aristotelischen Zeit traktates. Für Ulrich war es weniger wichtig, den gesamten überlieferten Stoff in aller Breite vorzuführen. Er arbeitete vielmehr daran, die einzelnen Theo rieelemente aus ihren traditionellen Standorten innerhalb der Aristoteleskom mentare zu lösen und systematisch enger miteinander zu verbinden. Insofern ist Ulrichs Zeittraktat ein wichtiger Schritt in Richtung auf eine Systematisierung der Zeitphilosophie, wie sie gegen Ende des 13. Jahrhunderts durch Dietrich von Freiberg ihren konzentriertesten Ausdruck fand. Wie viele andere Zeitphilosophien aus dem 13. Jahrhundert bedarf auch Ul richs Entwurf nicht nur der Edition, sondern auch der systematischen Erfor schung. Die grundlegende Ausrichtung seiner Zeittheorie ist jedoch durch die Erörterung seiner spezifischen Stellungnahme zum Verhältnis von Zeit und Seele leicht zu ermitteln. Ulrich hat zu diesem Problem einen speziellen Ab schnitt verfaßt, der sich eng an Alberts entsprechende Digression aus dem Phy sikkommentar anschließt.5 Aber sein Entwurf trägt auch eigenständige Züge der Deutung und Bewertung. Wie bei Albert basiert Ulrichs gesamte Zeitphilosophie auf Avicennas The se einer außerseelischen, universell zugänglichen und abgesi cherten Weltzeit. Daher beginnt Ulrichs Untersuchung mit einem Hinweis auf Avicenna. Nach Ulrich war Avicenna derjenige Philosoph, der die Zeit als eine außerhalb der Seele in der Natur existierende Quantität aufgefaßt hat.6 Wie 3
Vgl. DIONYSIUS CARTUSIANUS, In II Sent. d. II q. 2; Opera omnia 21, 130 b B: «Udalricus demum in Summa sua, libro quarto, fatetur quod tempus sit aliquid extra animam, et realis mensura motus realiter a motu distincta.» 4 Vgl. Ulrich von Straßburg, De summo bono, Liber 4, Tractatus 2, 15-24, hrsg. von . Moj sisch [CPTMA I, 4 (3)], Hamburg (in praep.). 5 Vgl. ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 3; Hossfeld 263, 18-265, 13: «Hic est digressio declarans sententiam eorum qui dicunt tempus non esse nisi in anima.» 6 Vgl. ULRICUS DE ARGENTINA, De summo bono IV 2, 23; Mojsisch: «Liquet etiam ex omnibus praemissis, quod tempus est species quantitatis, et ex hoc arguit Avicenna, quod sit quid existens in rerum natura ...»
290
3.5.1. Ulrich von Straßburg
Avicenna und Albert versteht Ulrich deshalb die Zeit in erster Näherung als ein natürliches Kontinuum. Er deutet sie als außerseelische Weltzeit. Mit dieser These des Avicenna konfrontiert Ulrich die skeptischen Argu mente, die Aristoteles zu Beginn seines Zeittraktates diskutiert hat. Sie stellen das Sein der Zeit auf radikale Weise in Frage. Eine solche Untersuchung gehört daher mit Recht an den Anfang der Zeitphilosophie. Erst wenn die Zeit in ih rem Bestand gesichert ist, darf ihre Erforschung beginnen. Ulrich bezieht sich zunächst auf die skeptische Zerstörung des Seins der Zeit durch einen Hinweis auf das Nichtsein der Zeitdimensionen.7 In der frühesten Phase seiner zeitphilosophischen Entwicklung hatte Albert diese These vom Nichtsein der Zeit und ihrer Dimensionen mit den Überlegungen des Augusti nus aus dem elften Buch der Confessiones verbunden.8 Im Physikkommentar unterblieb dieser Hinweis. Auch Ulrich nimmt von dieser Parallelisierung Ab stand. Er hat für Augustinus einen anderen systematischen Platz vorgesehen. Nach diesem Hinweis geht Ulrich zu den Aporien des Jetzt (nunc) über. Wenn Vergangenheit, Zukunft und Gegenwart nicht sind, sondern nur das Jetzt existiert, ergeben sich bestimmte Konsequenzen. Ist nur das Jetzt vorhanden, dann gibt es notwendigerweise verschiedene Jetztpunkte. Ein Jetzt allein paßt nicht zu allen Zeitdimensionen. Mehrere Jetztpunkte vermögen aber nicht zu gleich zu existieren. Die Zeit wäre sonst in sich permanent. Nun besitzen aber mehrere Momente in einer Jetztfolge eine bestimmte Beschaffenheit: Bevor ein späteres Jetzt folgen kann, muß das frühere vernichtet sein. Das zieht zwei Schwierigkeiten nach sich: Entweder vergeht das frühere Jetzt in sich selbst, oder es entschwindet durch den nachfolgenden Augenblick. Die erste Weise der Vernichtung ist unmöglich. Ein Jetzt, das in sich existiert und aus sich selbst zur Vernichtung strebt9, ist ein Widerspruch in sich. In ihm wären Existenz 7
Vgl. ULR1 JUS DE ARGENTINA, De summo bono IV 2, 23; Mojsisch: « ... tempus nihil esse, quia paites eius non sunt. Praeteritum enim fuit et non est; futurum vero erit et nondum est; praesens similiter non est... » Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 10, 217 b 34. 8 Vgl. 3.3.4., S. 221-228. 9 Vgl. ULRICUS DE ARGENTINA, De summo bono IV 2, 23; Mojsisch: « ... constat enim ex praedictis, quod ipsum non est nisi nunc; illa necessario sunt plura et non unum in diversis partibus temporis; illa autem plura nunc non possunt simul esse, quia tunc tempus esset de nu mero permanentium; ergo sunt plura sibi succedentia, et tunc oportet, quod, antequam succedat posterius nunc priori, quod primum sit corruptum. Et hoc etiam est impossibile, quia vel est corruptum in se ipso vel in nunc sequenti; non primo modo, quia ipsum est in se ipso, id est, quando ipsum est; cum autem corruptum est, tunc non est; ergo simul est et non est, quod est impossibile; item non secundo modo, quia, cum inter illa nunc necessario sit tempus, quod su pra probavimus, et in tempore sint infinita nunc potentia, primum nunc manet cum infinitis
291
Teil III - Das 13. Jahrhundert
und Nichtexistenz zugleich gegeben. Dies ist jedoch undenkbar. Ebensowenig erweist sich der zweite Argumentationsgang als schlüssig. Er fordert, daß ein früheres Jetzt den nachfolgenden Augenblick vernichtet. Auch diese Annahme enthält eine Aporie. Zwischen jenen beiden Jetztpunkten befindet sich nämlich Zeit. In dieser Zwischenzeit sind aber potentiell unendlich viele Momente denkbar. Das erste Jetzt verbleibt also mit einer unendlichen Anzahl von Jetzt punkten, die erst nach ihrer Vernichtung eine Existenz des zweiten Augenblicks ermöglichen. Auf diese Weise wäre das erste Jetzt zur Annihilation unfähig. Ohne die Überwindung der unendlichen zwischenzeitlichen Jetztpunkte verblie be es allein in der Permanenz. Die skeptische Diskussion des Jetztpunktes zer stört also die präsentische Zeit und löst ihr Sein in ein Nichts auf. Weder exi stieren die Zeitdimensionen, noch gibt es eine Jetztfolge. Daher bleibt nur üb rig, eine innerseelische Zeit anzunehmen. Nachdem Ulrich Avicenna und die skeptischen Thesen zum Sein der Zeit in einen Gegensatz gesetzt hat, stellt er Augustinus und Galen zwischen diese Ex treme. 10 Wie begründet Ulrich diese Zwischenstellung? Warum ordnet er Galen und Augustinus nicht der zweiten - skeptischen - Position zu? So war Albert in sei ner Frühschrift De IV coaequaevis im Hinblick auf Augustinus vorgegangen.11 Ulrich dagegen schlägt einen anderen Weg ein. Seiner Meinung nach leugnen Galen und Augustinus nicht das Sein der Zeit. Sie denken nicht nach dem Ver fahren des Skeptizismus, ein Ausdruck, den Ulrich zwar nicht gebraucht, der aber sachlich gerechtfertigt ist. Augustinus und Galen stimmen mit der ersten Position (Avicenna) darin überein, daß die Zeit existiert. Aber sie behaupten dennoch, daß die Zeit in der Seele ist. Keinesfalls befindet sie sich innerhalb der Natur. Nur insofern lassen sie sich auf eingeschränkte Weise der zweiten, radikal skeptischen Position zuordnen. Ulrich sichert also zunächst den systematischen Ort der Zeittheorie des Galen und Augustinus zwischen Avicenna und dem Skeptizismus. Danach untersucht er die innere Struktur ihrer Theorie. Dabei verläßt er sich auf die Aufarbei tung der Quellen, die Albert im Physikkommentar vorgenommen hat. Ulrich hat hier, so scheint es, kein eigenes Quellenstudium durchgeführt.
nunc, quae sunt in tempore intermedio, et sic nunc esset de permanentibus, quod falsum est; ergo praesens non est; ergo nec tempus est.» 10 Vgl. ULRICUS DE ARGENTINA, De summo bono IV 2, 23; Mojsisch: «Inter haec autem quidam philosophi media via gradiuntur, ex quibus est Galenus, et consentit ei Augustinus ...» 11 Vgl. 3.3.4., S. 221-228.
292
3.5.1. Ulrich von Straßburg
Ulrich versucht zunächst, den allgemeinen zeitphilosophischen Typus der Theorie eines innerseelischen Seins der Zeit zu verdeutlichen. Dabei bedient er sich der Analysen Alberts, der selbst wieder aus Avicennas Zeittheorie ge schöpft hatte. Durch Albert lernt Ulrich Avicennas Begriffe und Denkmodelle kennen. Wichtig ist für Ulrich vor allem das Aggregations- bzw. Kongregati onsmodell.12 Wie Albert sieht auch er hier Analogien zu den Modellen des Au gustinus und Galens. Ulrich stellt also mit Albert und Avicenna zunächst die allgemeine Struktur jeder Theorie des seelischen Seins der Zeit vor. Dabei verzichtet er wie Albert auf vertiefte Quellenstudien. Ulrich berührt die Zeittheorie des Augustinus in haltlich nur ganz oberflächlich. Galens fragmentarische Bemerkungen zum Verhältnis von Zeit und Seele finden eher seine Beachtung. Das bedeutet nicht, daß Ulrich Galens Überlegungen den Analysen des Augustinus prinzipiell vor gezogen hätte. Das Gegenteil ist der Fall. Nach Ulrich geht Galen bei seinen Theorien roher (rudius) als Augustinus vor. Er setzt die Zeit nicht nur in die Seele, sondern er läßt sie aus den Bewegungen der Seelenkräfte entspringen.13 Ulrich stützt sich bei seiner Analyse der Galenfragmente ebenfalls auf Alberts Physikkommentar. Es fehlt eine erneute und an den Quellen sich orientierende eigenständige Auslegung. Immerhin läßt sich der tiefste und innerste Grund der Zusammenstellung von Galen und Augustinus erkennen. Er ist zwar in erster Näherung im gemeinsa men Bekenntnis des Galen und Augustinus zum innerseelischen Sein der Zeit zu suchen. Dies ist jedoch noch zu vage. Die Übereinstimmung geht viel tiefer. Wenn Augustinus die Zeit aus den inneren Veränderungen der geistigen Sub stanzen ableitet, dann scheint er ähnlich wie Galen zu verfahren.14 In die Gruppe zwischen Avicenna und den skeptischen Negationen der Zeit stellt Ulrich neben Augustinus und Galen die Zeitphilosophie des Averroes. 12
Vgl. ULRICUS DE ARGENTINA, De summo bono IV 2, 23; Mojsisch: «Et sicut dicit Avi cenna, isti dicunt tempus esse congregationem momentorum, quia non percipitur tempus, nisi quando momenta congregantur, et quia haec congregatio fit secundum extensionem imaginatio nis vel alterius potentiae animae ex praesente in praeteritum vel in futurum, haec protensio est conünuitas temporis, ut isti dicunt.» 13 Vgl. ULRICUS DE ARGENTINA, De summo bono IV 2, 23; Mojsisch: «Galenus autem multo rudius dixit, quia vult, quod tempus non solum sit in anima sicut in abstrahente rationem prioris et posterioris a momentis motus rerum extra animam, sed quod essentialiter consistat in motibus animae secundum actum imaginationis vel alterius potentiae animae ...» 14 Vgl. ULRICUS DE ARGENTINA, De summo bono IV 2, 23; Mojsisch: «Et ideo patet, quod ratio Galeni nihil valet. Tarnen Augustinus videtur ei consentire, quia ipse in libro Super Genesim ponit tempus in vicissitudinibus creaturae spiritualis ...»
293
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Auch hier legt Ulrich keine detaillierte Analyse vor, sondern schöpft ebenfalls aus Alberts Physikkommentar. Wie Albert wiederholt er nur kurz die aus dem Kommentartext 131 zum vierten Buch der Physik bekannte These zum Sein der Zeit, die Averroes aus den Analysen der antiken Aristoteleskommentatoren zur <aristotelischen Zeitaporie> entnommen hatte. Außerhalb der Seele ist die Zeit in der Potenz. Ihre Komplettierung geschieht in und durch die Seele.15 Ulrich legt Wert auf die Feststellung, daß er über die mannigfaltigen Thesen zum seelischen Sein der Zeit zuverlässig (fideliter) berichtet habe. Im Hinblick auf dieses Problem stellt er jedoch zuletzt jedem die eigene Entscheidung frei.16 Diese erstaunliche Äußerung Ulrichs bedarf eines näheren Kommentars. Zu nächst ist daran zu erinnern, daß Ulrich die Darstellung der einzelnen Thesen zum seelischen Sein der Zeit fast vollständig aus Alberts Physikkommentar übernommen hat. Eine eigene Prüfung der Texte fand also nicht statt. Insofern ist Ulrich von Albert abhängig. Aber er setzt auch eigene Akzente. Weder Ga len noch Augustinus weist er zurück. Auch ihre naturwissenschaftliche Qualität bezweifelt er nicht. Ulrich macht also die eindeutige und mehrfache Verurtei lung ihrer Zeitphilosophie durch Albert rückgängig. Er bereitet damit die er neute Augustinusrezeption der 70er Jahre des 13. Jahrhunderts vor, die ihrer seits auf die völlige Rehabilitierung der Zeittheorie des Augustinus durch Diet rich von Freiberg vorausweist. Aber auch die Zeitphilosophie des Averroes ist zulässig. Ulrich sieht inhaltliche Bezüge zu Galen und Augustinus. Ulrich läßt daher anders als Albert in bezug auf das seelische Sein der Zeit einen gewissen Meinungspluralismus zu. Dennoch ist seine persönliche Haltung zu dieser Frage nicht indifferent. Ulrich bietet vielmehr selbst eine bestimmte Lösung an. Grundsätzlich hält er nach eigener Aussage mit den an der Existenz der Zeit fest. Damit folgt Ulrich wie Albert der Position Avicennas. Er lehnt also die skeptischen Thesen, die das Nichtsein der Zeit postu lieren, entschieden ab. Auf dieser Grundvoraussetzung ruht Ulrichs Antwort auf die Frage nach dem seelischen Sein der Zeit. Sie ist nicht schwer zu ver stehen. Ihre Konzeption basiert auf einer Vermischung der Theorie eines realen außerseelischen Zeitkontinuums (Avicenna) mit der These von der Komplettie rung der Zeit durch die Aktivität der Seele (Averroes). Dieses Modell war 15 Vgl. ULRICUS DE ARGENTINA, De summo bono IV 2, 23; Mojsisch: «Averroes autem consentiens in hoc, quod tempus sit media via, ... et dicit, quod tempus in potentia est extra animam in mobili per motum et complementum eius fit ab anima et in anima.» Vgl. ALBER TUS, Phys. IV tr. 3 3; Hossfeld 264, 66-68. 16 Vgl. ULRICUS DE ARGENTINA, De summo bono IV 2, 23; Mojsisch: «Fideliter ergo expositis istis opinionibus, ut quilibet eligat, quod voluerit... »
294
3.5.1 Ulrich von Straßburg
nicht neu. Ulrich hat es auch nicht selbst entwickelt. Aber er tmg das Konzept in konzentrierter und leicht verständlicher Fassung vor. Die Zeit erfordert eine Betrachtung unter verschiedenen Aspekten. Einmal erscheint sie als Konti nuum, dann aber als Diskretum. Insofern die Zeit zur Gattung des Kontinuums gehört, fällt sie unter die außerseelischen Dinge. Dadurch entspricht dieses spezifische Zeitmodell der Konzeption Avicennas. Daneben ist die Zeit jedoch unter die Form des Diskretums subsumiert. Dieses Diskretum spaltet sich selbst wieder in zwei Modifikationen auf. Als gezählte Zahl (numerus numeratus), die durch die außerseelische Bewegung einen Gegenstandsbezug erhält, existiert die Zeit <extra animam>. Daneben aber ist sie eine formale oder zählende Zahl, die ihren Status der komplettierenden und zählenden Seele verdankt. Auf diese Weise integriert Ulrich die Zeittheorie des Averroes in sein Gesamtmodell. Averroes erhält dadurch eine eigentümliche Wertung innerhalb der Zeitphilo sophie Ulrichs.17 Dieses sorgfältig zwischen Avicenna und Averroes austarierte Modell fand Ulrich bei Albert dem Großen vor. Hier schien der Widerspruch zwischen Avi cenna und Averroes aufgehoben und zu einer höheren Einheit vereinigt. Albert hat daher viele Nachfolger gefunden. Zu ihnen gehörte auch Ulrich von Straß burg. Obwohl Ulrich im Streit um das Sein der Zeit eigene Akzente setzte und andere Bewertungen als Albert vornahm, folgte er bei der speziellen Auflösung voll und ganz Albert. Daher läßt sich auch hier sagen: «Unverhältnismäßig prädominierende Autorität war für Ulrich ... Albert der Große ... » 18
17
Vgl. ULRICUS DE ARGENTINA, De summo bono IV 2, 23; Mojsisch: « ... et sic verum dicit Averroes et alii, qui dicunt tempus esse in anima.» 18 Vgl. A. de Libera/B. Mojsisch, Einleitung zu: Ulrich von Straßburg, De summo bono, Liber 1, hrsģ: von . Mojsisch, mit einer Einleitung von A. de Libera und B. Mojsisch und einem Anhang zur Einleitung von R. Imbach [CPTMA I, 1], Hamburg 1989, XI.
295
3.5.2. Radikale Averroisten: Aegidius Romanus I und Siger von Brabant 1. Ulrich von Straßburg war in der Zeitphilosophie kein Averroist. Aber er zeigte Verständnis für die Thesen des Averroes. In gewisser Beziehung gab er dem Araber sogar Recht. Ulrich schrieb sein Werk gegen Ende der 60er Jahre des 13. Jahrhunderts. Etwa zur gleichen Zeit arbeitete Aegidius Romanus am ersten Band seines Sentenzenkommentars. Dort entwickelte er seine spezifische Ansicht zur Zeitphilosophie. Dabei durfte Aegidius das Verhältnis von Zeit und Seele nicht übergehen. Seine Analyse dieses Problems zeigt den außerordentlich großen Einfluß, den die Zeitphilosophie des Averroes damals gewonnen hatte. Aegidius befindet sich ganz auf der Linie des Averroes. Er entwickelte zu nächst keine eigene alternative Zeitphilosophie. Selbst den arabisch-lateinischen Aristotelestext zieht er nicht in Zweifel. Wenn jemand um 1270 in der Zeitphi losophie ein Averroist war, dann war Aegidius Romanus mit Sicherheit Aver roist. Die zentrale Fassung seiner Zeittheorie hat Aegidius Romanus im Physik kommentar niedergelegt. Die Thesen zur Philosophie der Zeit, die sich im er sten Buch des Sentenzenkommentars finden, sind jedoch früher entstanden. Als Vorstufe zur Ausarbeitung der Physik zeigen sie die Zeitphilosophie des Aegi dius Romanus in statu nascendi. Mit seinen Bemerkungen legt Aegidius eine Untersuchung über das Verhältnis von Zeit und Ewigkeit vor. Dabei beschäftigt er sich in diesem frühen Entwurf nur kurz mit der Theorie des seelischen Seins der Zeit. Als konsequenter und radikaler Averroist modifiziert er dort die The sen des Averroes kaum. Er wendet sie vielmehr uneingeschränkt an und erklärt ihren Inhalt. Aegidius beginnt nach dem Vorbild des Aristoteles mit der Bestimmung der Zeit als Zahl. Da die Zeit keine beliebige, sondern eine spezifische Zahl ist, be darf sie einer näheren Bestimmung. Die Zeit als Zahl ist eine gezählte Zahl. Dies geht, so bemerkt Aegidius, klar aus den Untersuchungen des Aristoteles hervor. Auch Averroes hat jene Definition aus der Physik des Aristoteles ent nommen. Und er hat ihr eine bestimmte Interpretation gewidmet. Aegidius übernimmt diese Auslegung. In bezug auf die Zeit bedeutet das, daß erst die Seele die in der Bewegung verborgene heraushebt.
296
3.5.2. Radikale Averroisten: Aegidius Romanus I / Siger von Brabant
Indem sie jene Bewegungsmomente zählt, erschließt sie sich die Zeit als ge zählte Zahl. Ohne die Seele gibt es demnach keine Zeit.1 Aegidius begnügt sich jedoch nicht mit einer oberflächlichen Beschreibung der Theorie des Averroes. Er geht vielmehr ins Detail. Und auch dabei erweist er sich ganz und gar als Schüler des Arabers. Die Zeit als gezählte Zahl (nume rus numeratus) ist nur dann ein aktuell Gezähltes (aliquid actu numeratum), wenn eine aktuell zählende Seele (anima actu numerans) den Prozeß der Zäh lung durchführt. Die Zeit hat demnach ohne die Seele nur ein potentielles Sein (esse potentiale). Sie empfängt ihre Aktualität (actualitas) ausschließlich von der Seele.2 Aegidius belegt seine Position durch einen Rückgriff auf Averroes. Dabei faßt er die Theoreme des Arabers aus den Kommentartexten 109 und 131 zum vierten Buch der Physik des Aristoteles zu einem einheitlichen Konzept zu sammen. Zunächst bezieht er sich auf Kommentartext 109. Dieser Abschnitt ist von besonderer Bedeutung, da er über das commentum 131 hinaus den konkre ten Prozeß der Zeitgewinnung beschreibt. Averroes begreift dort die Zeit als das Produkt einer geistigen Formierung der Bewegung im Modus ungestalteter Materialität. Die Zeit erscheint dabei als ein seelisches Phänomen. Außerhalb der Seele existiert nur die reine Bewegung. Die Zeit ist also eine von der Intellektualität an der Bewegung erzeugte intelligible Struktur: «Dicamus igitur ad haec, quod extra men tem non est nisi motum et motus. Et tempus non fit, nisi quando mens dividit motum in 35 prius et posterius. Et haec est intentio numeri motus, idest motum esse nume ratum. Ergo substantia temporis, quae est in eo quasi forma, est numerus. Et 1 Vgl. AEGIDIUS ROMANUS, In I Sent. d. XIX p. 1 q. 2 a. 1; Venetiis 1521, 106 r a D: «3. Ex ista secunda sequitur tertia. nam si tempus habet rationem numeri et non cuiuslibet numeri: sed numen numerati: vt plane Philosophus in IVo determinat: et Commentator suus qui dicit quod prius et posterius in motu vt sunt numerata ab anima hoc est tempus: cum ad esse talium faciat anima: sequitur quod ad esse temporis faciat anima: quod Commentator dupliciter decla rat.» 2 Vgl. AEGIDIUS ROMANUS, In I Sent. d. XIX p. 1 q. 2 a. 1; Venetiis 1521, 106 r a D: «Nam cum tempus habeat rationem numeri numerati: cum non sit aliquid actu numeratum: nisi sit anima actu numerans: licet esse potentiale possit habere tempus absque anima: actualitatem tarnen ab anima suscipit.»
297
Teil III - Das 13. Jahrhundert
quod est in eo quasi materia, est mo40 tus continuus, quoniam non est numerus simpliciter, sed numerus motus.»3
32 haec: hoc D 33 motum et motus: motus et motum P1 et motus om. D 34 fit: sit P2 37 ergo: igitur P 1 38 forma add. eius P1 40 quoniam in marg, P 2 del. quando P 2
Aegidius referiert die These des Averroes mit leicht veränderter Termino logie. Die Zeit ist ein Kontinuum, das die <prius/posterius-Struktur> nicht ak tuell enthält. Nur wenn der Geist (mens), wie Averroes sagt, signierend in den Fluß des Kontinuums eingreift, erhält die potentielle Zeit ihre eigentümliche Aktualität. Die Bewegung selbst existiert ohne die Seele. Weil sie die <prius/ posterius-Struktur> nur potentiell enthält, repräsentieren ihre Determinanten nur dann die Zeit, wenn eine aktuell zählende Seele numeriert. Die vollständige Abhängigkeit des Aegidius von Averroes ist jedoch noch besser durch einen Vergleich seines Textes mit den Ausführungen des Averroes erkennbar: Aegidius
Averroes commentimi 109
«Praeterea. Cum sit quid continuum: prius et posterius non sunt ibi in ac tu: nisi secundum quod per animam signantur: et ideo nisi esset anima signans et numerans: licet tempus potentialiter esset: eo quod talia sig nari et numerari pos sent: actu tarnen non esset.
«Dicamus igitur ad haec, quod extra mentem non est nisi motum et mo tus. Et tempus non fit, nisi quando mens dividit motum in prius et pos terius.»4
3
AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 109, v. 32-41. Vgl. P 1 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 15453 (ff. 54rb-54va), P 2 = Paris, Bibl. Nat., Cod, lat. 16159 (f. 67) und D = AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 109; Venetiis 1562, 187 r C. 4 Vgl. Anm. 3.
298
3.5.2. Radikale Averroisten: Aegidius Romanus I / Siger von Brabant
Aegidius
Averroes
commentum 131 Et ista est sententia Commentatoris. qui ait. quoniam possibile est [vt motus sit absque eo quod anima sit]. [Secundum quod prius et poste rius sunt in eo numerata in potentia, est tempus in potentia. Secundum quod sunt numerata in actu: tempus est in actu. tempus іgitur in actu non erit nisi anima sit. potentia vero erit: licet anima non sit.]»5 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß sich Aegidius ohne jede Kritik auf Averroes bezieht. Wie die Formulierung zeigt, benutzte er auch die Transl. Arab.- Lat. als Ausgangstext seiner Überlegungen. Im Phy sikkommentar hat Aegidius diese Textgrundlage aufgegeben. Er bezieht sich nun auf die neue Übersetzung des Wilhelm von Moerbeke. Das von Averroes geprägte Auslegungsschema behält er jedoch bei. Wenig später war ein derartiger Kompromiß jedoch nicht mehr möglich. Aegidius mußte sich mit den neuen Theorien und Texten zur Naturphilosophie auseinandersetzen, die Thomas von Aquino initiiert hatte. Der Aquinate arbei tete seinen Physikkommentar ab 1269 in Paris aus. Darin benützte er die neue Übersetzung der Physik des Aristoteles aus der Feder des Wilhelm von Moer beke. Im frühen Entwurf der Zeitphilosophie des Aegidius fehlt davon jede Spur. Aegidius schrieb also das erste Buch seines Sentenzenkommentars noch ohne Kenntnis der neuesten philosophischen Entwicklungen. Er muß es also vor dem Physikkommentar des Thomas von Aquino verfaßt haben. Nachdem Tho mas seinen Kommentar veröffentlicht hatte bzw. nachdem die neue Physiküber setzung erschienen war, mußte Aegidius seinen Standpunkt neu begründen. Deshalb kommentierte er die Physik auf der Basis des neuen Textes. Die Phy sikauslegung des Aegidius Romanus entstand also nach 1272. Der Sentenzen-
5
AEGIDIUS ROMANUS, In I Sent. d. XIX p. 1 q. 2 a. 1; Venetiis 1521, 106 r a D-b E; AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131; Venetiis 1562, 202 r F.
299
Teil111 - Das 13. Jahrhundert
kommentar ist jedoch älter. Aegidius hat ihn in den Jahren vor 1272 verfaßt.6 Aegidius gehörte damit vermutlich zu den radikalen Aristotelikern und Averroisten, die Thomas von Aquino mit seinem Physikkommentar bekämpfte.7 2. Die Position des Aegidius Romanus bedarf keiner weiteren Exposition. Sie ist mit den Thesen des Averroes vollkommen identisch. Dabei rezipierte Aegi dius den Araber mit einer gezielten Auswahl. Er verknüpfte bestimmte Theo reme des Averroes zu einem bestimmten Argumentationsgang. Dieser scheint für die Averroisten dieser Zeit typisch gewesen zu sein. Daher erlaubt er Rück schlüsse auf die Zeitphilosophie des Siger von Brabant. Der Rückgriff des Ae gidius auf commentum 109 läßt sich nämlich auch bei Siger nachweisen. Siger schreibt in seinem Kommentar zum Liber de causis:
«,Est autem tempus, ut dicitur quarto Physicorum, nume rus motus secundum prius et posterius', ita quod in motu est successio partis post partem; et qui apprehendit prius et posterius in motu numerando et distinguendo ea, tem pus apprehendit, eo quod ratio temporis in numeratione prions et posterions in motu consistit.»8
Siger verweist zunächst auf die aristotelische Zeitdefinition. Die Zeit ist die Zahl der Bewegung im Hinblick auf das Früher und Später. Dann jedoch geht Siger zur Bestimmung der Bewegung als Kontinuum über. Die Bewegung ist ein Kontinuum. Ihr Sein entsteht sukzessiv. Die Gewinnung von Zeit richtet sich nun gemäß der Zeitdefinition des Aristoteles auf dieses Bewegungskontinuum aus. Averroes beschreibt diesen Prozeß der Zeitgewinnung als Teilung (dividere) der Bewegung durch den menschlichen Geist (mens). Bei Aegidius signiert (signare) und numeriert (numerare) ein Beobachter die Bewegung. Si ger von Brabant verweist auf das Numerieren (numerando) und Trennen (dis tinguendo) der Bewegung. Aegidius und Siger gebrauchen also fast die gleiche 6
J. M. Quinn setzt für das ersten Buch des Sentenzenkommentars 1275 an (vgl. J. M. Quinn, The Concept of Time in Giles of Rome, in: Augustiniana 29 (1979) 25, Anm. 148). Aus den o.g. Gründen ist ein Termin in der Nähe von 1270 wahrscheinlicher. 7 Um 1270 entstehen somit eine Reihe interessanter zeitphilosophischer Entwürfe, deren inne rer Zusammenhang noch einer näheren Klärung bedarf. Erst wenn das geschehen ist, verläßt die hier vorgeschlagene Chronologie den Status der Hypothese und gewinnt Sicherheit. 8 SIGERUS DE RABANTIA, De caus. q. 8; Marlasca 56, 6-11.
300
3.5.2. Radikale Averroisten: Aegidius Romanus I / Siger von Brabant
Terminologie. Und beide beziehen sich dabei auf Averroes. Averroes und die Averroisten beschreiben also den Entstehungsprozeβ der Zeit als Teilen und Zählen des Bewegungskontinuums. Darüber hinaus zeigen die Formulierungen des Siger von Brabant noch eine weitere Besonderheit. Siger bezeichnet die Numerierung, die nach Averroes nichts anderes als ein Akt des Geistes bzw. des Intellektes ist, als Apprehension. Der zählende Intellekt erfaßt (apprehendit) die Zeit, wenn er das Bewegungskontinuum zählt. Die Bestimmtheit (ratio) der Zeit erweist sich dabei als Zählung (numeratio) der Bewegungsdeterminanten. Wenn diese Signierung jedoch ein Prozeß des Intellektes ist, dann befindet sich die Zeit bei Siger ebenso wie bei Averroes in der Seele. Zugleich ist Siger mit seiner spezifischen Terminologie und seinem Hinweis auf die ein Vorläufer der in Paris verurteilten 200. These zum seelischen Sein der Zeit. R. Hissette hat zuerst einen Zusammenhang der o.g. ÄuBerung Sigers mit der 200. Pariser These hergestellt.9 Seine Argumentation ist überzeugend. Sie bestätigt sich in diesem Zusammenhang. Siger von Brabant paßt mit seiner Sentenz ohne Probleme in das Netz gegenseitiger Abhängigkeiten, die sich für die Zeittheorien der Jahre um 1270 nachweisen lassen. Mit der Position des Aegidius Romanus ist Sigers Auffassung ohne Zweifel nah verwandt. Leider sind die Texte, die Siger zur Auslegung der Zeitphilosophie des Aristoteles geschrieben hat, verloren. Daher ist eine genauere Rekonstruktion seiner Position nicht möglich. Erhalten blieb nur Sigers Sophisma aus den Impossibilia:
«Quod bellum troianum esset in hoc instanti.»10
Siger spricht dort nicht vom Sein der Zeit in der Seele. Aber wenn er die Antinomien des Jetztpunktes diskutiert, dann führt er seine Leser zugleich in die Aporien der Zeit. Von dort war es nur ein Schritt bis zur Absage an ein auBerseelisches Sein der Zeit. Siger hat diesen Schritt vollzogen. Die Indizien 9
Vgl. R. Hisette, Enquête sur les 219 articles comdamnés à Paris le 7 Mars 1277 (Philosophes Médiévaux XXII), Louvain/Paris 1977, 153/4. 10 Vgl. Siger de Brabant, Écrits de logique, de morale et de physique, ed. B. Bazån (Philosophes Médiévaux XIV), Louvain/Paris 1974, 77-79.
301
Teil III - Das 13. Jahrhundert
sprechen hier für sich. Aber durch den Verlust der Quellen sind weitere konkrete Aussagen unmöglich. Sicher ist nur, daB die Positionen der radikalen Averroisten auf den Widerspruch des Thomas von Aquino stießen. Ist es ein Zufall, daB Thomas von Aquino damals in Paris einen Physikkommentar in Angriff nahm?
302
3.5.3. Thomas von Aquino II Wie sich aus den Ausführungen des Thomas von Aquino zur <aristotelischen Zeitaporie> im Sentenzenkommentar ergibt, war er bei der Auslegung dieser Stelle in hohem Maβe von Averroes abhängig. Zwar hatte er die Einbindung seiner Auffassung in eine Theorie des Intellektes versucht, aber er gelangte über das Komplettierungsschema des Averroes nicht hinaus. Dennoch lieBen sich auf diese Weise die Lehre vom Intellekt und die Philosophic der Wahrheit harmonisch mit der Zeittheorie verkniipfen. Etwa fünfzehn Jahre später gab Thomas in einem anderen historischen Umfeld seine frühe Auslegung der Zeitaporie auf. Er versuchte, zu einer neuen Kornmentierung zu gelangen. Seine Bemühungen betrafen aber nicht nur die Exegese, sondern auch die Textbasis. Weil ihm Wilhelm von Moerbeke eine verbesserte Übersetzung der Physik des Aristoteles zur Verfügung gesteilt hatte, befand sich Thomas in einer günstigeren Situation als Albert. Albert löste die Probleme der mangelhaften Übersetzungen gelegentlich mit abstrusen Konstruktionen. Diese frühe und fehlerhafte Stufe der Aristotelesrezeption iiberwand Thomas von Aquino. Bei seiner Auslegung der Zeitaporie hat Thomas das Grundproblem gleich zu Beginn scharf umrissen. Die Frage ist, ob die Zeit existiert oder nicht, wenn die Seele nicht vorhanden ist.1 Dennoch fehlt bei Thomas jeder Hinweis auf die Brisanz dieses Problems. Dessen Bedeutung geht kaum aus seinem Text hervor. Thomas, der hier an der Schwelle der 70er Jahre des 13. Jahrhunderts stand, diskutierte immerhin eine Frage, die zu den umstrittensten Problemen der Zeitphilosophie zählte. Eine Notiz zu Averroes fehlt ganz. Albert hatte noch in seinem Physikkommentar jenen Theoretikern der Zeit, die das Sein der Zeit auBerhalb der Seele leugneten, eine eigene Digression gewidmet. Ulrich von Straβburg, der etwa zur gleichen Zeit wie Thomas an seinem Zeittraktat schrieb, war ihm darin gefolgt. Eine vergleichbare ÄuBerung bei Thomas gibt es jedoch nicht. Er übergeht die Confessiones des Augustinus mit Stillschweigen.2 Auch von den Fragmenten Galens berichtet er nichts. Auffällig ist daher 1
Vgl. THOMAS AQUINAS, In Aristotelis Phys. IV lect. 23 n. 627; Maggiòlo 309: «Est ergo dubitatio, utrum non existente anima esset tempus, aut non.» 2 Das Fehlen des Augustinus bemerkte schon F. Beemelmans. Vgl. F. Beemelmans, Zeit und Ewigkeit nach Thomas von Aquino (Beiträge zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters XVII 1), Münster 1914, 23: «Es ist auffallend, daβ Bonaventura an der Stelle, wo er die objek tive Realität der Zeit bespricht, nicht auf die Gedanken Augustins eingeht; daB er sie gekannt hat,
303
Teil III - Das 13. Jahrhundert
die Liberalität des Ulrich von Straβburg, der etwa zur gleichen Zeit wie Tho mas an seinem Zeittraktat schrieb. Er lieB dem Leser die Wahl zwischen divergierenden Möglichkeiten in der Beurteilung des Verhältnisses von Zeit und Seele.3 Im Hinblick darauf erscheint die starre Haltung des Aquinaten besonders deutlich. Indem Thomas so verfuhr, trug er mit dazu bei, daB die Kenntnis alternativer Zeittheorien abhanden kam. Thomas verschwieg Averroes. Aber seine Auslegung der Zeitaporie ist der groBangelegte Versuch, den Einfluβ des Averroes aus der Diskussion um das seelische Sein der Zeit zurückzudrängen. Thomas gab seine eigene frühere Position auf. Dabei lieB er Albert, der in der Auslegung der aristotelischen Zeitphilosophie stark von Averroes abhängig gewesen war, hinter sich zurück. Nach Thomas von Aquino besteht der Text der <aristotelischen Zeitaporie> aus drei Teilen:
a) Problemstellung:
Satz I
b) Problemlösungsversuch: Satz II-IVa c) Problemlösung:
Satz IVb-VI
Für den ersten Abschnitt (a) ist keine umfangreiche Auslegung erforderlich. Dort ergibt sich die Problemstellung klar aus den Formulierungen des Aristoteles: Ist die Zeit in ihrer Existenzweise von der Seele abhängig oder nicht? Auch der zweite Abschnitt (b) bereitet Thomas keine Schwierigkeiten. Seine Auslegung beschränkt sich daher auf eine Paraphrase. Thomas zeigt in Anlehnung an die Formulierung des Aristoteles dessen Grundposition. Wenn es unmöglich ist, daB ein des Zählens fähiges Seiendes existiert, dann gibt es auch kein Zählbares, das in sich die Möglichkeit zum Erleiden einer Zählung einschlieBt. Ohne das Zählbare ist keine Zahl vorhanden. Eine Zahl existiert nur bei einer aktuellen Zählung. Es gibt sie allein dort, wo ein Zählbares in der Potenz vorhanden ist. Wenn also kein Seiendes vorliegt, das zählen kann, existiert lä8t sich kaum bezweifeln. Albertus gibt die Meinung des groβen Kirchenvaters kurz und tref fend wieder und scheut sich nicht, dennoch anders zu denken. Thomas wiederum schweigt von Augustinus.» 3 Vgl. 3.5.1., S. 294.
304
3.5.3. Thomas von Aquino II
auch keine Zahl. Zum Zählen ist jedoch nur die Seele bzw. der intellektuelle Teil der Seele (anima intellectiva) fähig. Da jedoch die Zeit eine Zahl ist, entfällt ohne eine intellektuelle Seele auch die Zeit.4 Thomas bedient sich hier des Potenz/Akt-Schemas, um Ordnung in das Gefüge der Zahlenkonstitution zu bringen. Aber er benutzt es nicht nach Art des Averroes. Von einer potentiellen oder aktuellen Zeit spricht Thomas in diesem Zusammenhang nicht. Die entscheidende Passage der Zeitaporie ist für Thomas der dritte Abschnitt (c). Damit setzte er sich umfangreich auseinander. Hier fand Thomas den zentralen Hinweis, der ihm den Ausstieg aus der Konzeption einer innerseelischen Zeit zu ermöglichen schien. Thomas faβt diesen zweiten Abschnitt als Diskussion einer Alternative auf:
I
Entweder ist die Zeit ein von der Seele abhängiges Seiendes (ens),
II
oder sie ist eine von der Seele unabhängige Entität. Dann ware sie, wie Aristoteles in Satz IVb der Aporie sagt, ein .
Die zweite Auffassung lieβ sich nach Thomas auch durch den Hinweis auf die auβerseelische Seinsweise der Bewegung stützen, von der Aristoteles in Satz IVc der Aporie spricht. Was für die Bewegung gilt, bezieht sich auch auf die Zeit. Die der Bewegung ist als Zählbares die Zeit
4
Vgl. THOMAS AQUINAS, In Aristotelis Phys. IV lect. 23 n. 628; Maggiòlo 309: «Quia si impossibile esset esse aliquod potens numerare, impossibile esset esse aliquod numerabile, potens scilicet numerari. Sed si non est numerabile, non est numerus; quia numerus non est nisi in eo quod numeratur actu, vel quod est numerabile in potentia. Relinquitur ergo quod si non est aliquod potens numerare, quod non sit numerus. Sed nihil aliud natum est numerare quam anima, et inter partes animae non alia quam intellectus; quia numeratio fit per collationem numeraiorum ad unam primam mensuram, conferre autem rationis est. Si igitur non est anima intellectiva, non est numerus. Tempus autem est numerus, ut dictum est. Si ergo non est anima intellectiva, non est tempus.»
305
TeilIII- Das 13. Jahrhundert (Satz V?VI).5 Die Rede des Aristoteles in Satz IVb vom erreicht bei Thomas den Status eines alles entscheidenden Fixpunktes der Auslegung. Thomas von Aquino hat hier den grundlegenden Wendepunkt der Aporie gesetzt. Dies war nur dadurch möglich, weil ihm mit der Translatio Nova die genaueste und sicherste Übersetzung des 13. Jahrhunderts zur Verfügung stand. Dadurch erregte das
«hoc, quod utcumque ens»
seine Aufmerksamkeit.6
5
Vgl. THOMAS AQUINAS, In Aristotelis Phys. IV lect. 23 n. 629; Maggiòlo 309: «Et dicit quod aut oportet dicere quod tempus non sit, si non est anima; aut oportet hoc dicere verius, quod tempus est utcumque ens sine anima, ut puta si contingit motum esse sine anima. Sicut enim ponitur motus, ita necesse est poni tempus: quia prius et posterius in motu sunt; et haec, scilicet prius et posterius motus, inquantum sunt numerabilia, sunt ipsum tempus.» 6 Zu diesem Ergebnis kommt auch F. Volpi. Vgl. F. Volpi, Chronos und Psyche. Die aristotelische Aporie von Physik IV, 14, 223 a 16-29, in: E. Rudolph (Hrsg.), Zeit, Bewegung, Handlung. Studien zur Zeitabhandlung des Aristoteles, Stuttgart 1988, 34/5: «Die ganze Stelle sieht Thomas als eine Antwort auf die Frage nach der Seinsweise der Zeit. Entscheidend ist dabei, wie er den aristotelischen Text einteilt. Er betrachtet nämlich die Zeilen 223 a 16-23 als dia(lat. sed lektische Entfaltung der Aporie und läBt die Antwort des Aristoteles erst beim aut) beginnen. Dabei hat er möglicherweise im Text der von ihm benutzten lateinischen Übersetzung einen festeren Anhaltspunkt gefunden, als ihn der griechische Text eigentlich bietet... Thomas betrachtet somit den Satz, in dem die Abhängigkeit der Zeit von der Seele behauptet wird (impossibile est tempus esse, anima si non sit beziehungsweise nur als den Schluβsatz in der Darstellung der Aporie, nicht aber als die eigentliche These des Aristoteles. Diese läBt er erst im darauf folgenden Satz beginnen. Sie besagt, daB die Zeit unabhängig von der Seele ein gewisses Seiendes (utcumque ens = ) ist ...» Die Interpretation von F. Volpi ist angemessen. Volpi sieht deutlich die Bedeutung, die die neue Physikübersetzung für Thomas von Aquino gewonnen hat. Hätte er die Spur weiter verfolgt, dann wäre er notwendigerweise auf die ältere Übersetzung sowie auf Albert und Averroes gestoBen. Dazu befindet sich in seinem Aufsatz jedoch kein Hinweis.
306
3.5.3. Thomas von Aquino II
Den Fortschritt, den die Physica Nova für die Kommentierung des Thomas von Aquino bedeutete, verdeutlicht ein Vergleich der Auslegung Alberts mit dem Kommentar des Thomas: Aristoteles
Albert
Averroes
«Sed tunc [1] aut oportet dicere, quod tempus est aliquando, cum sit anima, et non habeat esse extra animam, et tunc erit esse temporis fictum sicut esse chimerae et tragelaphi; [2] aut oportet dicere, quod motus est, cuius passio est tempus.»7 Das «aut» [1] im lateinischen Aristotelestext veranlaβt Albert, eine Alterna tive zu setzen («aut» [2]). Weil er zudem für das
die Übersetzung
«hoc quod aliquando cum sit»
zur Verfiigu g hatte, kam es zu einem sinnentstellenden Miβverständnis. Gemäβ Alberts Paraphrase entsteht aus der Translatio Vetus:
7
ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 c. 16; Hossfeld 289, 53-57.
307
Teil III - Das 13. Jahrhundert
[tempus] est.»8
«... sed aut hoc quod .... aliquando cum sit.
folgende Überformung:
« ... quod tempus est
[anima] ... »9
aliquando, cum sit
Albert formt das «cum sit» zu einem Nebensatz aus, der auf die Abhängigkeit der Zeit von der Seele verweist, indem er den Terminus «[anima]» einfügt. Das der Zeit, die Bewegung, erscheint auf diese Weise als Seele. Albert deutete also vornehmlich den cum-Satz. Das beachtete er weniger. Ein solches Miβverständnis wäre mit der Translatia Nova
est tempus ... » 10
quod utcumque ens
«Sed aut hoc,
kaum möglich gewesen, da die gesamte grammatikalische Struktur hier klarer zutage tritt. Die neue Translation eliminierte den Nebensatz {cum sit) und ersetzte ihn durch das genauere «ens»:
ens
cum sit
Albert verfehlte also aufgrund der ungenauen Übersetzung den Sinn dieser Stelle und verdrehte ihren Gehalt ins Gegenteil. Sie bezog sich nunmehr nicht auf etwas, das auf nicht näher definierte Weise auBerhalb der Seele die Zeit aus
8
ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 26/7, Transl. vetus; Bossier/Brams 188, 17/8. ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 c. 16; Hossfeld 289, 54. 10 ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 26/7, Transl. nova, n. 455; Maggiòlo 308.
9
308
3.5.3. Thomas von Aquino II
sich entläβt (= Bewegung), sondern auf die Abhängigkeit der Zeit von der Seele. Doch nicht nur das. Albert legt diese Stelle mit Averroes aus. Dies beweist das angeschlossene Textstück «fictum sicut esse chimerae et». In der Alternative zwischen der vollständigen Abhängigkeit der Zeit von der Seele [1] und ihrer gänzlichen Unabhängigkeit [2] erscheint das
«hoc quod aliquando cum sit»
in der Argumentation Alberts als Hinweis auf das ausschlieBlich seelische Sein der Zeit. Albert hatte also den Sinn dieser spezifischen Aristotelesstelle vollständig miBverstanden. Thomas bemerkte dies. Daher bemühte er sich um eine Korrektur. Er sah, daB mit der o.g. Formulierung des Aristoteles nicht die Seele gemeint war. Deshalb bezog er diese Formel auf die auBerseelische Bewegung. Mit seiner Auslegung gelang ihm daher ein entscheidender Schritt nach vorn. Er bewirkte zudem, daβ sich das Interesse der späteren Aristoteleskommentatoren auf den Satz IVb der Zeitaporie konzentrierte. Dabei blieb Thomas jedoch nicht stehen. Er nutzte seine neue Einsicht in das Wesen des zu einer völlig neuen Interpretation. Zugleich versuchte er damit eine umfangreiche Begründung seiner These einer auBerseelischen Zeit. Sein Ziel war es, den Einfluβ des Averroes, dem auch Albert in gewisser Weise nachgegeben hatte, zurückzudrängen. Thomas bemiihte sich, das Sein der Zeit möglichst weit in die auBerseelische Natur zu verschieben. Auch dabei ging er in mehreren Schritten vor. a) Thomas postuliert zunächst die Prädominanz der auβerseelischen Dingwelt. Er gibt zu bedenken, daB die Zahlen erst nach den vorhandenen Dingen entstehen. Zwar sind die gezählten Seienden ebenso wie die Zahl von einer zählenden Entität abhängig, aber das Sein der gezählten Entitäten verursacht nicht der zählende (endliche) Intellekt. Nur ein übergeordneter Verstand, der zugleich die Ursache der Dinge ist, verfügt über ihr Sein. Niemals aber besteht
309
Teil III - Das 13. Jahrhundcrt
eine Abhängigkeit der seienden Dinge vom Intellekt der menschlichen Seele. Daher hängt auch die Zahl nicht von der menschlichen Seele ab (wie Averroes meinte), sondern allein die Zählung.11 Es ist leicht erkennbar, daB diese zahlentheoretische Argumentation Vorläufer in der antiaverroistischen Polemik eines Bacon und Kilwardby hat.12 Thomas bemüht sich zudem um die Unterordnung des menschlichen Intellektes unter den . Für einen sekundären Intellekt sind die Dinge nicht das Ergebnis seiner eigenen Konstitution. Ihm ist das sinnlich Wahrnehmbare nur gegeben. Daher beruft sich Thomas auch bei der folgenden Darlegung auf die VerfaBtheit der sinnlich wahrnehmbaren Seienden (sensibilia). b) Die sinnlich wahrnehmbaren Dinge existieren, auch wenn keine sinnliche Wahrnehmung (sensus) besteht. Daher ist auch die Existenz des Zählbaren und der Zahl nicht an das zählende Seiende gebunden.13 Diese Argumentation ist alt. Schon die Philosophie der Spätantike entwikkelte vergleichbare Überlegungen.14 Es erscheint zwar unwahrscheinlich, daB Thomas hiervon nähere Kenntnis besaB. Ausgeschlossen ist es jedoch durch seine Kontakte zu Wilhelm von Moerbeke nicht. Sicher ist z. Zt. nur, wie Thomas dieses Beziehungsgefüge benutzt hat. Dabei bleibt zweifelhaft, ob eine solche Parallelisierung zwischen den Gegenständen der sinnlichen Erfahrung (sensibilia), des Intellektes (intelligibilia) und der Zählung (numerabilia) überhaupt zulässig ist. Thomas' Konzeption bot hier eine weite Angriffsfläche. Dennoch versuchte er, diese wenig gesicherte Position zu stützen und weiter auszubauen. Damit griff er dann in das von Aristoteles im ersten Abschnitt der Aporie gebrauchte Gefüge der Abhängigkeit der Zeit von der Seele ein. c) Zunächst läBt sich Thomas auf eine Diskussion des zweiten Satzes der Aporie ein. Vielleicht ist es zutreffend, daB das Zählbare ebenfalls unmöglich ist, wenn ein zählender Intellekt nicht zu existieren vermag. Wahr bleibt näm11
Vgl. THOMAS AQUINAS, In Aristotelis Phys. IV lect. 23 n. 629; Maggiòlo 309: «Ad evidentiam autem huius solutionis considerandum est, quod positis rebus numeratis, necesse est poni numerum. Unde sicut res numeratae dependent a numerante, ita et numerus earum. Esse autem rerum numeratarum non dependet ab intellectu, nisi sit aliquis intellectus qui sit causa rerum, sicut est intellectus divinus: non autem dependet ab intellectu animae. Unde nec numerus rerum ab intellectu animae dependet: sed solum ipsa numeratio, quae est actus animae, ab intellectu animae dependet.» 12 Vgl. 3.3.3., S. 215, Anm. 13; 3.4.4., S. 285, Anm. 17. 13 Vgl. THOMAS AQUINAS, In Aristotelis Phys. IV lect. 23 n. 629; Maggiölo 309: «Sicuti ergo possunt esse sensibilia sensu non existente, et intelligibilia intellectu non existente, ita possunt esse numerabilia et numerus, non existente numerante.» 14 Vgl. 1.3., S. 14-16.
310
3.5.3. Thomas von Aquino II
lich, daβ durch die Unmöglichkeit einer wahrnehmenden Seele auch das Wahrnehmbare selbst unmöglich ist. Die Rede vom Wahrnehmbaren verliert ihren Sinn, wenn nie jemand wahrnimmt. Soweit ist diese Frage unter dem Gesichtspunkt der Unmöglichkeit zu beurteilen. Im Gegensatz dazu, d.h. in bezug auf die Möglichkeit, läβt sich aber følgendes sagen: Besteht ein sinnlich Wahrnehmbares, dann ist es auch wahrnehmbar. Es kann Gegenstand einer sinnlichen Wahrnehmung sein. Damit ist aber nach Thomas noch nicht gesagt, daB dieses sinnlich Wahrnehmbare, um mit Recht den Namen <Wahrnehmbares> zu tragen, auch Gegenstand einer aktuellen sinnlichen Wahrnehmung eines aktuell vorhandenen Wahrnehmenden sein muβ. Wann dieser <Wahrnehmungstrager> hinzutritt, ist an sich gleichgültig. Wichtig ist nur, daB dessen Existenz prinzipiell möglich ist. Thomas beharrt also zunächst auf der Autonomie der auBerseelischen Dingwelt. Dieses <erkenntnistheoretische> Dogma transformiert er dann auf die zahlentheoretische Ebene und damit auf die Zeit. Weil die Autonomie der Dinge gegenüber der seelischen Instanz gegeben ist, deshalb ist auch die Zeit als das Zählbare von dem zählenden Seienden unabhängig.15 Mit dieser Argumentationskette verbindet Thomas eine Reflexion iiber Zeit und Bewegung. Sie soll alle bisher genannten Beweise für das auBerseelische Sein der Zeit bekräftigen und in sich zusammenfassen. d) Thomas geht davon aus, daB sich die Bewegung in der auBerseelischen Natur befindet. Sie verfügt (auf gewisse Weise) iiber ein weltliches Sein wie etwa ein Stein oder ein Pferd. Diese Dinge besitzen nach Thomas durch ihr diskretes Sein an sich und absolut eine Zahl. Wie es z.B. eine bestimmte Anzahl von Steinen gibt, selbst wenn keine zählende Seele existiert, so muβ auch die Zahl der Bewegung auBerhalb der Seele vorhanden sein. Insoweit hält Thomas streng am auBerseelischen Sein der Zeit fest. Dennoch ist die Seele an der Konstitution der Zeit nicht ganz unbeteiligt. Dies liegt an einer bestimmten Unvollkommenheit der auBerseelischen Zeit. 15
Vgl. THOMAS AQUINAS, In Aristotelis Phys. IV lect. 23 n. 629; Maggiölo 309/10: «Sed forte conditionalis quam primo posuit, est vera, scilicet quod si est impossibile esse aliquem numerantem, impossibile est esse aliquod numerabile: sicut haec est vera, si impossibile est esse aliquem sentientem, impossibile est esse aliquid sensibile. Si enim est sensibile, potest sentiri, et si potest sentiri, potest esse aliquod sentiens; licet non sequatur quod si est sensibile, quod sit sentiens. Et similiter sequitur quod si est aliquid numerabile, quod possit esse aliquid numerans. Unde si impossibile est esse aliquod numerans, impossibile est esse aliquid numerabile: non tarnen sequitur quod si non est numerans, quod non sit numerabile, ut obiectio Philosophi procedebat.»
311
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Allerdings definiert Thomas diese Unvollkommenheit präzis, um seine Konzeption vom Perfektionsmodell des Averroes zu unterscheiden. Dies geschieht durch folgende Reflexion: Es gibt zwischen den gewöhnlichen Dingheiten und der Bewegung eine wichtige Differenz. Die Bewegung besitzt in der Natur kein statisches Sein. Dadurch unterscheidet sie sich von der fixierten Existenz permanenter Entitäten. Allein die Seele konstituiert die Totalität der Bewegung. Sie verklammert die frühere Anordnung des Beweglichen mit seiner späteren Disposition. Diesen Befund überträgt Thomas auf die Zeit. Auch die Zeit hat nur als unteilbares präsentisches Jetzt ein Sein auβerhalb der Seele. Ihre Totalität empfängt sie ebenfalls von der Seele. Sie zählt die in der Bewegung. Insofern ist die Zeit nach den Worten des Aristoteles ein und daher unvollkommen (imperfecte). Dies will Thomas aber allein in Analogie zur Bewegung verstanden wissen. Wie die Bewegung ohne die Seele unvollkommen ist, so ist auch die Zeit ohne die Seele unvollständig. Das Verhältnis von Zeit und Seele ist nach dem Verhältnis von Bewegung und Seele konstruiert. 16 Weil Thomas mit Hilfe der neuen Textübersetzung nachgewiesen zu haben glaubte, daB es bei Aristoteles eine auBerseelische Vorform der Zeit als gibt, kommt er immer wieder darauf zurück. Die Diskussion des ist auf diese Weise die Basis seiner Auslegung und seine eigenstandige Leistung. Ohne die neue Übersetzung des Wilhelm von Moerbeke wäre dieser exegetische Neuansatz jedoch nicht möglich gewesen. Aber was war damit gewonnen? Hatte nicht auch Averroes das auBerseelische Sein der Zeit un-
10
Vgl. THOMAS AQUINAS, In Aristotelis Phys. IV lect. 23 n. 629; Maggiölo 310: «Si ergo motus haberet esse fixum in rebus, sicut lapis vel equus, posset absolute dici quod sicut etiam anima non existente est numerus lapidum, ita etiam anima non existente esset numerus motus, qui est tempus. Sed motus non habet essefixumin rebus, nec aliquid actu invenitur in rebus de motu, nisi quoddam indivisibile motus, quod est motus divisio: sed totalitas motus accipitur per considerationem animae, comparantis priorem dispositionem mobilis ad posteriorem. Sic igitur et tempus non habet esse extra animam, nisi secundum suum indivisibile: ipsa autem totalitas temporis accipitur per ordinationem animae numerantis prius et posterius in motu, ut supra dictum est. Et ideo signanter dicit Philosophus quod tempus, non existente anima, est utcumque ens, idest imperfecte; sicut et si dicatur quod motum contingit esse sine anima imperfecte. Et per hoc solvuntur rationes supra positae ad ostendendum quod tempus non sit, quia componitur ex partibus non existentibus. Patet enim ex praedictis, quod non habet esse perfectum extra animam, sicut nec motus.»
312
3.5.3. Thomas von Aquino II
vollkommen genannt?17 Was unterschied die Konzeption des Thomas von Aquino von der Aussage des Averroes? Zunächst ist zu sagen, daβ Thomas versuchte, das von Averroes bekannte Potenz/Akt-Schema aus der Zeitphilosophie hinauszudrängen. Zwar kennt auch er wie Averroes Stufen in der Vervollkommnung der Zeit, aber er spricht nicht von einer potentiellen Zeit. Das ist schon Zeit. Die Seele faβt dieses Vorgegebene nur noch zu einer Totalität zusammen. Sie überführt keine potentielle Zeit in die Aktualität. Ebensowenig formiert der Intellekt eine auBerseelische Materialität. Die Seele umgreift nach Thomas nur noch, was auBerhalb der Seele schon vorhanden ist, jedoch wegen der Sukzessivität der Teile der Zeit in der Natur getrennt existiert. Thomas glaubte, er habe das Sein der Zeit auBerhalb der Seele nachgewiesen. Daher konnte seiner Meinung nach die Zeit nicht auBerhalb der Seele nur in der Potenz vorhanden sein. Albert konstruierte diese These als des Aristoteles, Thomas fand sie aufgrund seiner genaueren Textkenntnis bei Aristoteles selbst. Aber gerade dort, wo er den entscheidenden Schritt zum verbesserten Aristotelesverständnis gefunden zu haben glaubte, bei der Philosophie des , setzten seine Gegner an. Sie hielten den Entwurf des Aquinaten für widersprüchlich und nicht angemessen. Befindet sich die der Zeit <extra animam> in der Natur? FaBt die Seele das schon Gegebene nur noch zusammen? Oder ist es die Seele, die diese Struktur erst hervorbringt? Bleibt die Zeit in der Natur nur deshalb unvollkommen, weil die Seele ihre an sich vollendeten Teile noch nicht zu einer Einheit zusammengefügt hat? Oder muβ die Seele eine potentielle Struktur erst zur vollen Aktualität erheben? An dieser Problematik zerbrach die Überzeugungskraft der Argumente des Thomas von Aquino. Seine Gegner fanden für das eine andere Deutung. Die Dokumente ihrer Auseinandersetzung mit Thomas befinden sich im Physikkommentar des Aegidius Romanus und in den naturphilosophischen Fragmenten eines Anonymus aus der Pariser Artistenfakultät. Beide Texte sind daher als unmittelbare Reaktion auf die Konzeption des Thomas von Aquino zu werten.
17
Vgl. AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131; Venetiis 1562, 202 v G/H: «Secundum igitur hunc modum dicitur tempus habere esse extra animam simile perfecto, et si non sit perfectum.»
313
3.5.4. Aegidius Romanus II Aegidius Romanus hat sich an vielen Stellen seines umfangreichen Werkes zur Philosophie der Zeit geäuBert. Die zentrale Fassung seiner Zeittheorie befindet sich jedoch im vierten Buch seines Physikkommentars. Im Gegensatz zu anderen zeitphilosophischen Texten des 13. Jahrhunderts hat die Erforschung der Konzeption des Aegidius Romanus im Phy sikkommentar Fortschritte erzielt. A. Maier versuchte 1950 eine allgemeine entwicklungsgeschichtliche Einordnung1, während J. M. Quinn 1978/9 eine systematische Untersuchung vorlegte.2 Zur Datierung des Phy sikkommentar s schlug J. M. Quinn die Zeit um 1272 vor.3 Wenn jene Einordnung richtig ist, dann kommt diesem Text eine besondere Bedeutung zu. Er entstand nämlich in zeitlicher Nähe zur Verurteilung von 1277. Daher gehört er in eine Reihe mit dem Phy sikkommentar des Thomas von Aquino und dem Text des Pariser Anonymus. Wichtig ist hier besonders die Beziehung der Zeitkonzeption des Aegidius Romanus zu Thomas von Aquino. Eine solche Rezeption ist schon dadurch wahrscheinlich, daB Aegidius nun im Gegensatz zu seinem Sentenzenkommentar die Translatio Nova als Basistext zur Auslegung der Physik ausgewählt hat. Es war Thomas von Aquino, der die neue Übersetzung zuerst benutzen konnte. Damit sorgte er zugleich fiir ihre Verbreitung. Diesen neuen Stand der Forschung muβte Aegidius daher berücksichtigen. Aegidius kannte den Physikkommentar des Thomas von Aquino. Aber auch Thomas' älteres Zeitkonzept aus dem Sentenzenkommentar hat er wahrscheinlich studiert. Die Nähe dieses frühen Entwurfs zu Averroes war für Aegidius sicher hilfreich. Der erste Band seines eigenen Sentenzenkommentar s zeigt daher ebenfalls eine Rezeption des Averroes. Diese Vorgeschichte blieb nicht ohne Folgen. Die Analyse zum Verhältnis von Zeit und Seele, die Aegidius in seinem eigenen Physikkommentar vorgelegt hat, zeugt vom unveränderten Einfluβ des arabischen Kommentators auf das Denken des Aegidius Romanus.
1 Vgl. A. Maier, Die Subjektivierung der Zeit in der scholastischen Philosophie, in: Philosophia Naturalis 1 (1950) 379f. 2 Vgl. J. M. Quinn, The Concept of Time in Giles of Rome, in: Augustiniana 28 (1978) 310352, 29(1979)5-42. 3 Vgl. J. M. Quinn, The Concept of Time in Giles of Rome, in: Augustiniana 29 (1979) 25, Anm. 148.
314
3.5.4. Aegidius Romanus II
Aegidius stützte sich zunächst wie Thomas von Aquino bei der Auslegung der <aristotelischen Zeitaporie> auf den von Wilhelm von Moerbeke angefertigten Text der Translatio Nova. Daher begriff er leicht den Wendepunkt der Aporie. Er teilte deshalb seine Auslegung in zwei Hälften. Die erste Hälfte bezieht sich auf die Auslegung der Sätze I bis IVa, während der zweite Abschnitt die Sätze IVb bis VI untersucht. Schon J. M. Quinn erkannte, daβ Aegidius in diesem Teil seiner Untersuchung stark von Averroes abhängig ist.4 Da er aber keine entwicklungsgeschichtliche Analyse vornahm und nur den Physikkommentar des Thomas von Aquino gelegentlich zum Vergleich heranzog, blieb ihm der wahre Stellenwert der Auslegung des Aegidius Romanus innerhalb seines historischen Kontextes verborgen.5 Aegidius suchte den Sinn des ersten Abschnittes der Zeitaporie in der Frage, ob die Zeit als ein Seiendes bei der Seele (ens apud animam) zu betrachten sei. Er löste dieses Problem, indem er zunächst die formale Struktur der Auslegung der Zeitaporie des Averroes beibehielt. Insofern blieb Aegidius seiner frühen Konzeption treu. Da er jedoch die neuesten Ergebnisse der Textkritik nicht vernachlässigen wollte, löste er sich von der fehlerhaften arabisch-lateinischen Übersetzung. Aegidius stiitzte sich nun auf die Translatio Nova. Sie war der neueste und beste der damals verfügbaren Texte. Aegidius benutzte die neue Übertragung aber nicht wie Thomas als Waffe gegen Averroes. Er erkannte vielmehr, daB das Auslegungsmuster des Averroes bestens zum Text der Translatio Nova paBte. Die Auslegung des Aegidius Romanus ist darin nicht nur von dem Verfahren Alberts abhängig, sondern auch mit der Methode eines Anonymus aus der Pariser Artistenfakultät und der Auslegung des Dietrich von Freiberg verwandt. Sie ist aber auch die konsequente Fortführung der eigenen Zeittheorie des Aegidius Romanus aus dem Sentenzenkommentar. Zwischen der radikal averroistischen Position des Aegidius Romanus im Sentenzenkommentar und im Phy sikkommentar gibt es keinen Unterschied. Das ist auch ohne die chronologisch-genetischen Überlegungen, die immer mit einem Unsicherheitsfaktor belastet sind, nachweisbar.
4
Vgl. J. M. Quinn, The Concept of Time in Giles of Rome, in: Augustiniana 29 (1979) 23, Anm. 142: «Giles undoubtedly relies heavily on Averroes throughout his analysis of the connection between time and the soul.» 5 J. M. Quinn versucht gelegentlich, den Kommentar des Aegidius Romanus mit dem Physikkommentar des Thomas von Aquino zu berichtigen, statt die Konzeption des Aegidius als Gegenentwurf zu Thomas zu verstehen.
315
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Zunächst paraphrasiert Aegidius bei der ersten Hälfte der Zeitaporie (Satz IIVa) die Translatio Nova. Dann deutete er den Text durch das von Averroes übernommene Potenz/Akt-Schema. Dabei vereinigte er dieses Denkschema mit dem causa/effectus-Modell. Die Aristotelesparaphrase hat bei Aegidius zunächst einen propädeutischen Sinn. Sie soll den Leser in den Text des Aristoteles einführen. Aristoteles fragt zunächst, ob die Zeit existiert oder nicht, wenn keine Seele vorhanden ist (Satz I). Dabei ist es unmöglich, daβ ein Zählbares existiert, wenn keine zählende Seele zur Verfugung steht (Satz II). Folglich ist weder die gezählte Zahl noch das Zählbare ohne die Seele denkbar (Satz III). Diese beiden Modifikationen der Zahl unterwirft Aegidius mit Averroes dem Potenz/Akt-Schema. Das Zählbare ist die Zahl in der Potenz, das Gezählte die Zahl im Akt. Nachdem Aegidius derart die Modifikationen der Zahl gedeutet hat, vollzieht er mit Aristoteles den Übergang zur Zeit. Da nichts anderes zur Zählung in der Lage ist als der Intellekt, ist die Zeit nicht ohne die Seele vorhanden (Satz IVa).6 Diese Paraphrase bringt nur in erster Näherung eine korrekte Aristotelesauslegung. Durch die Einbindung des Potenz/Akt-Schemas signalisiert Aegidius zunächst seine Nähe zu Averroes. Diese Annäherung ist in der auf die Paraphrase folgenden Auslegung noch deutlicher zu erkennen. Dort hat Aegidius das Potenz/Akt-Schema mit dem causa/effectus-Modell auf eindrucksvolle Weise verknüpft. Wenn eine Wirkung gegeben ist, dann muβ auch eine Ursache vorhanden sein. Dies ist der Ausgangspunkt der Argumentation des Aegidius. Mit dieser Aussage verbindet er dann das Potenz/Akt-Schema. Daraus ergeben sich bestimmte Konsequenzen: Aktuelle Wirkungen haben aktuelle Ursachen, potentielle Wirkungen potentielle Ursachen. Wenn nun die Ursache un möglich ist, dann ist auch die Wirkung sowohl potentiell als auch aktuell unmöglich. In bezug auf das Verhältnis von zählender Seele und Zahl heiβt dies: Wenn die Ursache (zählende Seele) unmöglich ist, dann ist im Hinblick auf die 6
Vgl. AEGIDIUS ROMANUS, In Aristotelis Phys. IV lect. 28; Venetiis 1502, 112 v b: «Dicit ergo quod dubitabit utique aliquis utrum cum non sit anima: si utique erit tempus aut non videtur enim non esse tempus cum non sit anima: quia cum impossibile sit esse aliquem numerantem impossibile est esse aliquod numerabile: quare manifestum est quod neque est numerus numeratus uel numerabilis: si non sit anima numerans. numerus autem omnis: aut est quod numeratur in actu: aut quod est numerabile in potentia. Si autem nihil aliud quam anima est aptum natum numerare et anime intellectus: quia numerabile est opus rationis et intellectus. sequitur si anima per intellectum est numerans tempus: aut est numerus numeratus uel numerabilis impossibile est esse tempus si non sit anima numerans ipsum.»
316
3.5.4. Aegidius Romanus II
Zahï als Wirkung sowohl die potentielle Zahl (Zählbares) als auch die aktuelle Zahl (gezählte Zahl) unmöglich.7 Wie Averroes halt Aegidius an dem Ursprung der Zahl aus der Seele fest. Ebenso versucht er eine Analyse der Zahl nach dem von Averroes vorgegebenen Potenz/Akt-Schema. Ihre Modifikationen entfalten sich nach der Vorgabe dieses Modells. Was aber für die Zahl gilt, bezieht sich auch auf die Zeit. Die Zeit kann weder potentiell als Zählbares (numerus numerabilis) noch aktuell als gezählte Zahl (numerus numeratus) ohne die Seele zur Existenz gelangen. Aegidius' Kommentar der ersten Hälfte der Zeitaporie ist ganz von der entsprechenden Auslegung des Averroes abhängig. Die Analyse der zweiten Hälfte gestaltet er interessanter und lehrreicher. Wie im ersten Teil, so zeigt sich auch hier, daβ die Auslegungsmethode des Averroes nicht an die Translatio Arab.Lat. gebunden war. Sie lieβ sich vielmehr problemlos auf die Translatio Nova übertragen. Nachdem Aristoteles im ersten Teil der Aporie auf die Abhängigkeit der Zeit von der Seele verwiesen hat, untersucht er im zweiten Teil die Möglichkeit einer Einschränkung. Aristoteles macht dort auf die von der Seele unabhängige Bewegung aufmerksam. Ist die Zeit nicht (gemäβ der lateinischen Fassung sei nes Textes) auf diese Weise ein , eine auBerseelische Entität, die eine innere Beziehung zwischen Zeit und Seele negiert? Aegidius begreift daher den zweiten Teil der Zeitporie des Aristoteles als Alternative zwischen zwei Möglichkeiten:
I
Entweder ist die Zeit ein , wie Aegidius mit der Translatio Nova sagt, ein Seiendes, das der Ergänzung (ens suppletum) bedarf,
7
Vgl. AEGIDIUS ROMANUS, In Aristotelis Phys. IV lect. 28; Venetiis 1502, 112 v b: «Notandum autem quod sicut ponuntur esse effectus: sic oportet quod ponantur et cause. Si ergo effectus sunt in actu habuerunt causas in actu. Si autem sunt in potentia habent causas in potentia. propter quod si impossibile est esse causas non erunt effectus in actu nec in potentia. Si igitur impossibile est esse numerans non erit numeratum aliquid in actu nec numerabile in potentia quare si non potest esse anima numerans non videtur quod esse possit nec tempus ut est numerus numeratus nec ut est numerus numerabilis.»
317
Teil III - Das 13. Jahrhundert
II
oder sie ist ohne jeden Rückbezug zur Seele an die Bewegung gebunden.
Aegidius faβt also den zweiten Teil der Aporie nicht als einen homogenen Block auf, der dem ersten Teil in seiner Gesamtheit entgegenzusetzen wäre. Er zerlegt ihn vielmehr in zwei Hälften. Satz IVb und IVc ergänzen sich nicht gegenseitig. Sie repräsentieren vielmehr die zwei Seiten einer Aporie: a) Satz IVb («Sed aut hoc, quod utcumque ens est tempus») soll auf die (durch die Seele) ergänzungsbedürftige Zeit verweisen. Das ist daher als konkreter Hinweis auf eine für die Zeit notwendige Perfektion zu verstehen. Die perfektive Kraft der Seele ergänzt die so aufgefaBte Zeit. Die Zeit ist demnach von der Seele abhängig. Das deutet bei Aegidius also nicht wie bei Thomas auf die Unabhängigkeit der Zeit von der Seele hin. Es signalisiert vielmehr ihre Konstitution durch die seelische Aktivität. In diesem Zusammenhang ist leicht erkennbar, daB dieselbe Formel bei und unterschiedliche Reaktionen hervorrief. Der Einfluβ der Zeitphilosophie des Averroes war in dieser Phase seiner Rezeption so angewachsen, daB er die Diskussion bis in die Einzelheiten des Aristotelestextes beherrschte. b) Satz IVc («ut si contingit motum esse sine anima») erscheint dagegen als Indiz für eine von der Seele unabhängige Bewegung, die auf eine ebenfalls von der Seele unabhängige Zeit verweist.8 8
Vgl. AEGIDIUS ROMANUS, In Aristotelis Phys. IV lect. 28; Venetiis 1502, 112 v b: «Soluit ad quaestionem quesitam dicens: quod aut hoc quod est tempus est utrumque (1) ens id est aliquo modo ens suppletum sic non fit: aut (2) quia si contingit esse motum sine anima et prius et posterius in motu sunt absque eo quod sit anima: erit tempus aliquo modo absque eo quod sit anima: Nam hoc scilicet prius et posterius in motu secundum quod sunt numerabilia sunt tempus.» (1) Die Lesart des Druckes von 1502 «utrumque» ist sicher falsch. Die Handschrift Brügge, Stadtbibliothek, 513, f. 243 v a Z. 2 zeigt an dieser Stelle: «utcumque». (2) Vgl. auch hier: Brügge, Stadtbibliothek, 513, f. 243 v a Z. 2: statt «sic non fit: aut» lies: «si non sit anima».
318
3.5.4. Aegidius Romanus II
Zur Entscheidung zwischen diesen Alternativen beginnt Aegidius eine Untersuchung, die mit der Analyse des Thomas von Aquino zu Zeit und Seele im Sentenzenkommentar verwandt ist. Sie verdankt ihre wesentlichen Strukturen Averroes. 9 Daner steht sie der eigenen friihen Zeitphilosophie des Aegidius Romanus nahe. Die Analyse des späten Thomas von Aquino, die im Physikkommentar ausgearbeitet ist und sich durch einen radikalen Antiaverroismus auszeichnet, hat Aegidius dagegen nicht übernommen. Aegidius erläutert seine Analyse in vier Schritten. Wie Thomas im Sentenzenkommentar wendet er zunächst ein dreigliedriges Grundschema an:
a)
Es gibt sinnlich wahrnehmbare Dinge (res sensibiles), die im realen Sein existieren und zu deren Existenz die Seele nichts beiträgt.
b)
Daneben existieren Entitäten, die ihr gesamtes Sein der Seele verdanken. Dazu gehören die fiktiven Vorstellungen.10
c)
Nur die dritte Art des Seins ist hier von Interesse. Sie nimmt eine Mittelstellung zwischen den beiden ersten Gruppen ein. Bei dieser Seinsklasse ist das Sein einerseits von der Seele abhängig, andererseits jedoch autonom.11
9
Vgl. 2.3., S. 148/9; 3.4.2., S. 272/3. Wenn Aegidius als Beispiele für fiktive Vorstellungen die Termini und wählt, dann verweist dies nicht allein, wie J. M. Quinn meinte (vgl. J. M. Quinn, The Concept of Time in Giles of Rome, in: Augustiniana 29 (1979) 24, Anm. 144), auf Averroes, sondern ebensosehr auf den Physikkommentar Alberts des Groβen. Vgl. AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131; Venetiis 1562, 202 r E: « ... esset fictum, et falsum, vt Chi mera, et Hircoceruus.» Albert nimmt diese Formulierung nur z.T. auf. Vgl. ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 c. 16; Hossfeld 289, 56: « ... [fictum sicut esse chimerae et] tragelaphi.» 11 Vgl. AEGIDIUS ROMANUS, In Aristotelis Phys. IV lect. 28; Venetiis 1502, 112 v b-113 r a: «Dubitaret forte aliquis utrmm tempus sit solum ens apud animam. Dicendum quod aliqua sunt 10
319
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Auch der Hinweis des Aegidius auf die Universalien ist mit der Analyse des Thomas von Aquino verwandt. Wie Thomas parallelisiert Aegidius die Zeit mit den Universalien. Dadurch transformiert er sie in die Intellekttheorie. Die dritte Gruppe der Entitäten, die ihren ontologischen Status zwischen völliger Abhängigkeit und gänzlicher Unabhängigkeit von der Seele besitzt, enthüTlt sich dabei als eine Klasse spezifischer Seiendheiten. Sie erhalten ihre perfektive Bestimmtheit vom Intellekt. Diese Wesenheiten besitzen zunächst ein materiales Fundament in den Dingen. Ihre Vollendung und Ergänzung dagegen ubernimmt die Seele. Der Intellekt ist es, der das sachlich Vorliegende ohne die Spezifikationen der Materie betrachtet und auf diese Weise das Sein der Universalien gewinnt. Aegidius fiihrt seine Konzeption direkt auf den De animaKommentar des Averroes zurück.12 Was für die Universalien gilt, trifft auch auf die Zeit zu. Die Seele wirkt bei der Konstitution des Seins der Zeit mit. Aber nicht das gesamte Sein der Zeit geht von der Seele aus. Materialiter ist die Zeit, auch wenn es keine Seele gibt, als in der Bewegung verborgen. Die formale Bestimmtheit der Zeit erhält ihre Vollendung nur dadurch, daβ diese Strukturmomente der Bewegung als von der Seele zählbare Bestimmtheiten eine faBbare Gestalt erhalten. Wenn keine Seele existiert, gibt es also nur das materiale Gefiige der Bewegung. Es repräsentiert nach Aegidius das, was Aristoteles in Satz IVb der Zeitaporie als bezeichnet hat. Ist die Zeit auf diese Weise material vorhanden, so fehlt ihr nur noch ihre formale Ergänzung (formale complementum). Es existiert nur das Früher und Später in der Bewe-
ad quorum esse nihil facit anima cuiusmodi iste res sensibiles ut habent esse in esse reali: aliqua vero sunt que toturn esse quod habent: habent ab anima et non sunt nisi entia apud animam: ut chimera et tragelaphus et cetera talia figmenta aliqua autem sunt ad quorum esse aliquo modo facit anima. non tarnen totum esse quod habent: habent ab anima ut universalia ...» 12 Vgl. AEGIDIUS ROMANUS, In Aristotelis Phys. IV lect. 28; Venetiis 1502, 113 r a: « ... ut universalia que secundum esse materiale quod habent sunt in re extra formalitatem: tamen et complementum recipiunt ab anima, universale enim materialiter est ipsa natura rerum particularium. formaliter autem est huius natura prout consideratur absque conditionibus materie: et quia intellectus est qui considerat talia absque conditionibus materie: intellectus est qui facit universalitatem in rebus: ut vult Commentator in primo de anima. facit ergo intellectus ad esse universalium. non tamen totum esse quod habent: habent ab anima. essent enim universalia materialiter etiam si non esset anima.» Aegidius Romanus bezieht sich auf AVERROES, In Aristotelis De an. I, t. comm. 8; Crawford 12, 21-26: «Demonstratur per hoc quod ipse non opinatur quod diffmitiones generum et specierum sunt diffinitiones rerum universalium existentium extra animam; sed sunt diffinitiones rerum particularium extra intellectum, sed intellectus est qui agit in eis universalitatem.»
320
3.5.4. Aegidius Romanus II
gung in seiner rein materialen Unbestimmtheit. Diese rohe und ungeformte Materialität bedarf zu ihrer Vervollständigung der Strukturierung. Die Momente der Bewegung bleiben sonst nur im Modus der Zählbarkeit zurück, während sie erst als Gezählte (numerata) den vollen Status der Zeit empfangen.13 Aus dieser Konzeption ergibt sich ein Problem, das Aegidius abschlieβend löst. Warum ist es überhaupt notwendig, daB die Seele die materiale Bewegungsstruktur zum Zweck der Formalisierung zählt? Aegidius erläutert die Berechtigung dieser Frage nicht näher. aber seine Absicht ist klar. Er will verhindern, daB die materiale Bewegungsstruktur schon den vollen Seinsbestand der Zeit zugesprochen erhält. Dies kommt ihr nicht zu. Zur Auflösung des Problems greift Aegidius erneut auf das Potenz/Akt-Schema des Averroes zurück. Die Bewegung ist kontinuierlich. Sie enthält die diskrete nur potentiell. Ihre Aktualität erhält jene erst durch eine Signation der Seele. Dies ist nach Aegidius mit den Punkten vergleichbar, die ihr potentielles Sein in der Linie nur durch eine spezielle Bezeichnung verlieren und dadurch zugleich ihre Aktualität gewinnen. Wenn dies so ist, dann kann die der Bewegung, das materiale Fundament der Zeit, aus der potentiellen Verschlossenheit in der Bewegung nur durch die zählende Seele zur Aktualität gelangen. Also ist eine Zählung zur Konstitution der Zeit unerläBlich. Die Zeit bliebe sonst in der Bewegung verborgen und verschlossen. Wie Averroes faBt auch Aegidius den Zählakt der Seele als <Entbergung> der Zeit aus ihrer Latenz in der Bewegung auf.14 13
Vgl. AEGIDIUS ROMANUS, In Aristotelis Phys. IV lect. 28; Venetiis 1502, 113 r a: «Essent enim universalia materialiter etiam si non esset anima: sic etiam suo modo et ad esse temporis facit anima. non tarnen tempus totum esse quod habet: habent ab ea. esset enim tempus materialiter et si anima non esset que numeraret illud ipsa enim prius et posterius in motu sunt tempus materialiter completur tarnen ratio formalis ipsius temporis ex eo quod talia sunt numerabilia ab anima. bene ergo dictum est quod si non esset anima quod esset tempus utcumque: quia esset materialiter non esset tamen secundum suum formale complementum. essent enim ipsa prius et posterius in motu ut sunt materialiter. tempus etiam si non esset anima. non tamen essent talia ut complent formalem rationem temporis: quia non essent ut sunt numerata secundum quem modum completur formalis ratio temporis.» 14 Vgl. AEGIDIUS ROMANUS, In Aristotelis Phys. IV lect. 28; Venetiis 1502, 113 r a: «Ulterius forte dubitaret aliquis ad quod oportet prius et posterius in motu numerari ab anima ad hoc quod com leatur formalis ratio temporis. Dicendum quod cum motus sit continuus ipsa prius et posterius in motu sunt in potentia et si sunt in actu hoc est per signationem anime: sicut in linea continua puncta sunt in potentia etfiuntin actu: eo quod signamus illa: oportet ergo ipsa prius et posterius in motu numerari ab anima: et anima facit ad quoddam complementum temporis. inquantum numerando et signando ipsa prius et posterius in motu facit ad quandam actualitatem eorum.»
321
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Wie Thomas und der unbekannte Physikkommentator aus der Pariser Artistenfakultät setzt auch Aegidius Romanus das aristotelische ins Zentrum seiner Auslegung. Sowohl der Anonymus als auch Aegidius legen diese Stelle mit dem Verfahren des Averroes als potentielle Zeit aus. Thomas dagegen verdrängt dieses Schema aus seiner Auslegung. Auch er denkt das als unvollkommene Zeit. Aber er faβt diese unvollkommene Zeit schon als auβerseelisch existierende Zeit auf, die nur noch der Zusammenfassung bedarf. Eine Zusammensetzung gleichwertiger Teile zu einem Ganzen unterscheidet sich aber erheblich von einer aus potentiellen Mo menten verfertigten Perfektion. Im Unterschied zu der averroistischen Auslegung der Zeitaporie findet Tho mas im den Hinweis auf eine rein auβerseelische Zeit. Aegidius bleibt mit dem anonymen Kommentator eher auf der Linie des Averroes, indem er das seelische Sein der Zeit in den Vordergrund schob. Aegidius knüpfte damit nicht nur an die Konzeption des frühen Thomas an, sondern blieb auch seiner eigenen Position im Sentenzenkommentar treu.
322
3.5.5. Anonymus Wenn Thomas von Aquino mit seinem Physikkommentar die Absicht gehabt haben sollte, den Einfluβ des Averroes bzw. der Averroisten in naturphilosophischen Fragen zuriickzudrängen, dann ist er mit seinem Vorhaben gescheitert. Davon zeugt nicht nur der Physikkommentar des Aegidius Romanus, sondern auch ein anonymer Kommentar zur Physik, den A. Zimmermann 1968 veröffentlicht hat.1 Der Text liegt in einer Abschrift Gottfried von Fontaines vor. Gottfried hatte auch, wie kürzlich nachgewiesen worden ist, Interesse an den Schriften des Dietrich von Freiberg.2 Wahrscheinlich schrieb er diese fragmentarischen Notizen in seiner Studienzeit. Dann ist der anonyme Physikkommentar möglicherweise eine Vorlesungsnachschrift. A. Zimmermann hat in diesem Text Beziige zum Physikkommentar des Thomas von Aquino gefunden. Aber auch Parallelen zu den Werken des Siger von Brabant fielen ihm auf.3 Der Text ist zwischen 1270 und 1277 zu datieren. Wahrscheinlich ist jedoch der Zeitraum zwischen 1271 und 1274.4 Die angegebenen Daten schwanken und sind unsicher. Dennoch bleiben die wenigen erhaltenen Notizen des Anonymus zur Theorie der Zeit ein wertvolles Dokument. Es erlaubt einen zusätzlichen Einblick in die Entwicklung der Zeitdiskussion zwischen dem Physikkommentar des Thomas von Aquino (1269f.) und der auf den Anfang der 80er Jahre des 13. Jahrhunderts zu datierenden ÄuBerung Dietrichs in der Abhandlung De origine rerum praedicamentalium.5 Zusammen mit den Texten des Aegidius Romanus, der Bemerkung des Siger 1 Vgl. A. Zimmermann, Ein Kommentar zur Physik des Aristoteles aus der Pariser Artistenfakultät um 1273 (Quellen und Studien zur Geschichte der Philosophie XI), Berlin 1968. 2 Vgl. M. R. Pagnoni-Sturlese, Per una datazione del De origine di Teodorico di Freiberg, in: Annali della Scuola Normale Superiore di Pisa, s. 3,11 (1981) 431-445; L. Sturlese, Einleitung zu: THEODORICUS, De origine rerum praedicamentalium, ed. L. Sturlese, in: Dietrich von Freiberg, Opera omnia, Tom. III (CPTMA II, 3): Schriften zur Naturphilosophie und Metaphysik, mit einer Einl. von K. Flasch hrsg. von J.-D. Cavigioli, R. Imbach, B. Mojsisch, M. R. Pagnoni-Sturlese, R. Rehn, L. Sturlese, Hamburg 1983, 132f.; L. Sturlese, Dokumente und Forschungen zu Leben und Werk Dietrichs von Freiberg (CPTMA, Beiheft 3), Hamburg 1984, 14. 3 Vgl. A. Zimmermann, Ein Kommentar zur Physik des Aristoteles aus der Pariser Artistenfakultät um 1273, XVf., XIXf. 4 Vgl. A. Zimmermann, Ein Kommentar zur Physik des Aristoteles aus der Pariser Artistenfakultätum 1273,XIIIf. 5 Vgl. 3.1., S. 177/8., Anm. 5.
323
TeilIII- Das 13. Jahrhundert von Brabant, der 200. verurteilten These von 1277 und den Forschungen des Heinrich von Gent zur Philosophie der Zeit gewährt dieser Text einen Einblick in die schwer zu durchschauenden zeitphilosophischen Strömungen der 70er Jahre des 13. Jahrhunderts. Das komplizierte Gefüge der gegenseitigen Abhängigkeiten und Beziehungen dieser Theoreme gewinnt damit deutlichere Konturen. Die überlieferten Notizen des Anonymus zum vierten Buch der Physik sind kurz und knapp. Dennoch nimmt die Diskussion über die Struktur der Zeit darin einen groβen Raum ein. Daraus läβt sich erkennen, welche Bedeutung dieses Problem damals in Paris hatte. Aus einem Randproblem war allmählich eine wichtige Frage geworden. Sie ist mit Recht den anderen damals heiβ diskutierten und heftig umstrittenen Fragen zur Naturphilosophie an die Seite zu stellen. Im Text des Anonymus findet sich auch ein längerer Abschnitt zur <aristotelischen Zeitaporie>. Der anonyme Kommentator hat seine Analyse dieses Textes sorgfältig ausgebaut und stringent durchdacht. Aber seine Auslegung steht nicht isoliert da. Sie läBt sich leicht aus ihrem historischen Kontext begreifen. Durch verbesserte Textkenntnis rückte um 1270 die Rede des Aristoteles von der auBerseelischen Zeit als in den Mittelpunkt der Diskussion. Im Hinblick darauf waren zwei Auslegungen möglich: I
Das lieB sich zunächst als Hinweis auf das reale auBerseelische Sein der Zeit verstehen. Dies versuchte Thomas von Aquino, um die Konzeption des Averroes vom auBerseelischen potentiellen Sein der Zeit zurückzudrängen.
II Es war aber auch das Gegenteil denkbar. Dann erschien das als Beweis fiir das potentielle Sein der Zeit. Die Zeitphilosophie des Averroes blieb dabei berücksichtigt. Und ihre prinzipiellen Ergebnisse in der Auslegung fanden Beachtung. Diesen Weg schlug schon Aegidius Romanus ein. Ein vergleichbares Verfahren wählte auch der anonyme Kommentator aus der Pariser Artistenfakultät, dessen Kommentar hier zur Diskussion steht.6
6
Da keine exakte Datierung der beiden Texte möglich ist, bleibt unentschieden, wer hier die Priorität besitzt. Wahrscheinlich sind jedoch die Überlegungen des Aegidius Romanus älter.
324
3.5.5. Anonymus
Zentraler Ausgangspunkt der Überlegungen des Anonymus ist also wie bei Thomas und Aegidius Romanus das aus Satz IVb der Zeitaporie. Ohne eine vorbereitende Bemerkung beginnt der Anonymus seine Analyse sofort mit einem Hinweis darauf. Er scheut sich auch nicht, ohne Ausweichen die Verbindung mit Averroes herzustellen. Nach der Theorie des Averroes, so sagt er, habe Aristoteles damit das potentielle Sein der Zeit gemeint.7 Wie Aegidius Romanus deutet der Anonymus diese Formulierung <ens qualecumque> (oder <ens utcumque>) als Hinweis auf das auβerseelische Fundament der Zeit. Und wie Aegidius Romanus löst der anonyme Physikkommentator die Auslegungsmethode des Averroes von der Translatio Arab-Lat. ab und bezieht sie auf den Text der Translatio Nova. Auch der Anonymus hat sich von der Intention des Aquinaten nicht leiten lassen. Er mu8 erkannt haben, daβ dessen Versuch, allein mit Hilfe einer neuen Übersetzung die Deutung des Averroes zu widerlegen, gescheitert war. Ihm war auBerdem bewuBt, daB die neue griech.lat. Übersetzung der <aristotelischen Zeitaporie> der Exegese des Averroes sogar entgegenkam. Nur so schien es ihm möglich, zu einer angemessenen Auslegung der Aporie zu gelangen. Nachdem der Anonymus die allgemeine Tendenz seiner Analyse vorgestellt hat, geht er ins Detail. Dabei diskutiert er beide Seiten der Aporie. Die Zeit ist eine Zahl. Wenn nun keine zählende Seele existiert, ist immer noch das Zählbare als Bewegung vorhanden. Deren Sein hängt bekanntlich nicht von der zählenden Seele ab. Aber es bleibt zu bemerken, daB die Zahl eine durch die Einheit gemessene Vielheit ist. Dies ist jedoch ohne die Seele nicht möglich. Wenn es also keine Seele gibt, existiert auch kein Zählbares in seiner Eigenschaft als Zählbares. Daraus ergibt sich, daβ das Zählbare in der Potenz auf eine Aktualisierung zielt. Diesen ProzeB führt allein die Seele durch. Ohne ein derartig Tätiges muβ das Zählbare in der Potenz verbleiben. Aus dem Zählbaren entsteht kein Zählbares . Auch eine Zahl ist ohne den Intellekt nicht möglich. Erst wenn wir die der Bewegung begreifen, gelangen wir demnach zur Zeit. Nur in ihrer Aktualisierung erreicht jede einzelne Entität die ihr angemessene Auffassung.8 7
Vgl. ANONYMUS, In Aristotelis Phys. IV, Zimmermann 87, 18-20: «ARISTOTELES dicit, quod tempus est ens qualecumque, si sit motus, etsi non sit anima. Quod exponit COMMENTATOR dicens, quod est ens in potentia.» 8 Vgl. ANONYMUS, In Aristotelis Phys. IV, Zimmermann 87, 20-29: «Est enim numerus. Nunc autem etsi non sit anima numerans, nihilominus est numerabile, ut motus, cuius esse ex anima numerante non dependet. Sed cum numerus sit multitudo mensurata per unum, quod non est sine anima - si etiam non posset esse anima, non posset esse numerabile secundum quod
325
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Nach Thomas von Aquino ist nun folgendes Faktum festzuhalten: Wenn es unmöglich ist, daβ eine zählende Entität existiert, dann gibt es auch nichts Zählbares. Erst im Hinblick auf eine Seele ist es sinnvoll, von einem Zählbaren zu sprechen. Das Zählbare befindet sich auf diese Weise in einer Beziehung zur Seele. Daraus folgt nach der Philosophie des Aquinaten aber nicht, daB in jedem Fall eine zählende Entität aktuell existieren muβ. Es kann auch dann ein Zählbares geben, wenn die zählende Entität zwar möglich ist, aber gerade nicht existiert. Dieses Seiende führt keinen konkreten Zählvorgang durch, weil es augenblicklich nicht existiert. Aber es wäre prinzipiell dazu in der Lage. Wenn es zur Existenz gelangt, dann kann es zählen.9 Auch für den Anonymus gibt es nur im Zusammenhang mit einer Seele ein Zählbares. Aber anders als Thomas besteht er zusätzlich darauf, daB dieses Zählbare ohne die aktuell zählende Seele stets in der Potenz verharrt. Das Zählbare bedarf also in jedem Fall zu seiner Verwirklichung der Seele. Die Existenz einer Seele muB nicht nur an sich möglich sein, sie muB auch den ZählprozeB durchführen. Andernfalls ist das Zählbare zwar nicht unmöglich, aber eben nur möglich, keinesfalls jedoch verwirklicht. Der anonyme Kommentator zeigt sich also auch bei diesem Problem als ein gelehriger und erfindungsreicher <Schüler> des Averroes.
numerabile - ergo, cum numerabile sit in potentia ad aliquem actum, qui ex anima dependet, sine agente non erit numerabile nisi in potentia. Et sic non erit actu numerabilis, qui est actu numerus, nisi sit anima numerans actu. Quando enim prius et posterius in motu percipimus, tunc tempus percipimus. Unumquodque autem percipitur secundum quod in actu.» 9 Vgl. THOMAS AQUINAS, In Aristotelis Phys. IV lect. 23 n. 629; Maggiölo 310: «Unde si impossibile est esse aliquod numerans, impossibile est esse aliquid numerabile: non tarnen sequitur quod si non est numerans, quod non sit numerabile, ut obiectio Philosophi procedebat.»
326
3.6. Die zeittheoretische Krise urn 1277 Nachdem der Einfluβ des Averroes in der Zeitphilosophie um 1270 einen bestimmten Höhepunkt erreicht hatte, war die Diskussion zum Verhältnis von Zeit und Seele in den Mittelpunkt des Interesses gerückt. Die Auslegung des Averroes hatte zunächst wichtige und neue Einsichten in die Konzeption des Aristoteles verschafft. Aber der Streit um das seelische Sein der Zeit war damit nicht geschlichtet. Er verschärfte sich vielmehr. Ein Zeichen flir die Heftigkeit und Radikalität der Diskussion ist die 1277 verurteilte 200. Pariser These vom seelischen Sein der Zeit. In dieser Situation der Verurteilung des innerseelischen Seins der Zeit durch den Bischof von Paris erschien es notwendig, die bisher bekannten Theoreme zum Verhältnis von Zeit und Seele erneut und vertieft zu überprüfen. Welchen Standpunkt nimmt Aristoteles ein? Lehrt er in der Zeitaporie tatsächlich das innerseelische Sein der Zeit? In welcher Beziehung zu Aristoteles steht die Konzeption des Averroes? Wie ist die Zeittheorie des Augustinus in diesem Zusammenhang zu beurteilen? Die frühen Aristoteliker des 13. Jahrhunderts hatten diese Fragen schon vor 1277 gestellt. Aber erst nach 1277 erhielten sie ein besonderes Gewicht. Auf wen bezog sich die Verurteilung des seelischen Seins der Zeit? Auf Aristoteles und Averroes? Oder gar auf Augustinus? Es ist daher nicht verwunderlich, daB Heinrich von Gent kurze Zeit nach 1277 einen groBangelegten Versuch untemahm, die Zeittheorie des Aristoteles, Averroes und Augustinus aus einem einheitlichen theoretischen Konzept zum Verhältnis von Zeit und Seele zu erklären. Dabei stand Heinrich in der Tradition der averroistischen Auslegung der Zeitaporie. Im Ausgang von dieser Position entwickelte er zudem eine spezifische Kritik an der Zeittheorie des Augustinus. Das hat ihn auBerdem veranlaBt, das elfte Buch der Confessiones einer sorgfältigen Prüfung zu unterziehen. Diese Akribie war für das 13. Jahrhundert ohne Beispiel. Davon profitierte Petrus Johannis Olivi. Die 1277 in Paris verurteilte These vom seelischen Sein der Zeit veranlaBte ihn zu einer Auseinandersetzung mit den Theoretikern des seelischen Seins der Zeit. Dabei stellte er sich gegen die Zeitphilosophie des Augustinus. Zugleich bekämpfte Olivi die Aristotelesauslegung des Averroes. Olivi hielt am auBerseelischen Sein der Zeit fest. Er war auf diese Weise der legitime Erbe der Zeittheorien des Roger Bacon, Bonaven-
327
Teil III - Das 13. Jahrhundert
tura, Robert Kilwardby und Thomas von Aquino. Olivi setzte ihren Kampf für das natürliche Sein der Zeit in den schwierigen Jahren nach 1277 fort.
328
3.6.1. Die Pariser These zum Sein der Zeit vom 7. März 1277
«200. Quod evum et tempus nichil sunt in re, sed solum in apprehensione».1
Die Thesen, die Bischof Etienne Tempier am 7. März 1277 in Paris verurteilt hat, sind in jüngster Zeit der Gegenstand mehrfacher Untersuchungen gewesen.2 Dabei hat die 200. Sentenz, die sich auf die Natur des Aevum und der Zeit bezieht, erstmals die Beachtung gefunden, die sie verdient. Sie gehort nicht nur zur Wirkungsgeschichte der <aristotelischen Zeitaporie> im 13. Jahrhundert, sondern sie dokumentiert auch die durch die Diskussion über das seelische Sein der Zeit ausgebrochene Krise der Zeitphilosophie in den Jahren um 1270. Die mit der Auslegung der Zeitaporie zusammenhängenden Thesen waren nun nicht mehr rein akademische Spezialfragen zur Auflösung eines schwierigen philosophischen Textes. Durch ihre Brisanz drangen sie vielmehr aus der Werkstatt der Aristoteleskommentatoren in die ideologischen Kämpfe der Tagespolitik ein. Um die Tragweite dieser These zu erkennen, ist zunächst eine grundlegende Bestandsaufnahme des Satzinhaltes notwendig. Die 200. These lä6t sich leicht in zwei Hälften zerlegen. Sie nimmt sowohl zum Problem des Aevum als auch zum innerseelischen Sein der Zeit Stellung. Die Forschung hat diese Zweiteilung gelegentlich übersehen. Sie konzentrierte sich bisher fast ganz auf die zeitphilosophische Aussage der 200. These. Dagegen halt die Sentenz ausdrücklich fest, daβ die Zeit (tempus) und die ewige Dauer (aevum) nichts Dingliches sind, sondern allein zur gehören. Die Theorie des Aevum ist jedoch ein Sonderproblem. Es kann deshalb hier nicht Gegenstand der Untersuchung sein. Jene These, daB das Aevum neben der
1
Vgl. H. Denifle (Hrsg.), Chartularium Universitatis Parisiensis I, n. 473; Bruxelles 1964 (Nachdr. der Ausgabe Paris 1899), 554. 2 Vgl. R. Hissette, Enquête sur les 219 articles condamnés å Paris le 7 Mars 1277 (Philosophies Médiévaux XXII), Louvain/Paris 1977, 152-154; K. Flasch, Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277. Das Dokument des Bischofs von Paris, eingeleitet, übersetzt und erklärt von K. Flasch (excerpta classica VI), Mainz 1989, 246/7.
329
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Zeit nicht auβerseelisch begründet, sondern ein innerseelisches Konstituens ist, bedarf noch einer näheren Erforschung an anderer Stelle. Auffällig ist, daB der Satz von 1277 die Ewigkeit (aeternitas) nicht berücksichtigt.3 Wie immer dieses Fehlen auch zu erklären ist, es berührt die Aussagen zur ewigen Dauer und zur Zeit nicht. Die These von 1277 bezieht sich allein auf das seelische Sein dieser zuletzt genannten Bestimmtheiten. Die Pariser These zum Sein von ewiger Dauer und Zeit zerfällt in zwei Abschnitte:
I
Die erste Teilthese (200/1) negiert, daB der Zeit und dem Aevum ein Sein nach Art der auBerseelischen Dingheiten zukommt. Sie befinden sich vielmehr in der Seele.
II
Die zweite Teilthese (200/2) umschreibt dieses innerseelische Sein. Die soll als ein spezifischer Seelenakt Zeit und Aevum in sich enthalten.
Beide Teilthesen hängen dadurch zusammen, daB die erste Teilthese die Voraussetzung der zweiten ist. Abschnitt 200/1 nimmt im Hinblick auf die Zeit aber nur eine Frage auf, die sich den Kommentatoren des Zeittraktates des Aristoteles zu dieser Zeit oft gesteilt hat. Die Beziehung zur Diskussion der Zeitaporie ist dabei leicht zu erkennen. Wie dort liegt auch hier eine Aussage zum Verhältnis von Zeit und Seele vor. Es handelt sich also um ein Problem, das jeden gewissenhaften Kommentator der Physik des Aristoteles zu einer Stellungnahme zwang. Die Frage nach dém Verhältnis von Zeit und Seele hatte sich somit zur Kernfrage der Zeitphilosophie des 13. Jahrhunderts entwickelt. Welche Positionen dabei möglich Waren, ist der Gegenstand dieser Untersuchung. Jener erste Teil3
Probleme der Ewigkeit bzw. mit der Ewigkeit zusammenhängende Fragen behandeln folgende 1277 verurteilte Thesen: 4, 12, 31, 45, 51, 52, 70, 71, 72, 80, 83, 87, 91, 93, 95, 98, 107, 109, 125, 202, 203. Wenn 21 von 219 Thesen sich mit Fragen zur Ewigkeit, Aevum und Zeit befassen, dann zeigt diese Statistik, daB jene Problematik zu den umstrittensten Themen in der Philosophie der zweiten Halfte des 13. Jahrhunderts zählt.
330
3.6.1. Die Pariser These zum Sein der Zeit vom 7. März 1277
abschmtt bedarf also zunächst keiner weiteren Diskussion. Die 200. These von 1277 zeigt nur eine extreme Ansicht dessen, was die Zeittheoretiker vor 1277 und danach immer wieder diskutiert haben.4 Der Anonymus, der die 200. These verfaBt hat, ist dabei keine Ausnahme. Er verfolgte in diesem Zusammenhang nur eine Ansicht, die sich der Auffassung jener Philosophen näherte, die das Sein der Zeit mit der Seele in einen Zusammenhang brachten. Aber er übersteigerte diesen Anspruch durch seinen Hinweis auf die reine Immanenz der Zeit. Dies hat ihm den Widerspruch des Bischofs eingetragen. Doch auch andere Philosophen und Aristoteleskommentatoren seiner Zeit wären ihm hier nicht gefolgt. Diese spezifische Stellungnahme zum innerseelischen Sein der Zeit spiegelt sich auch in der Terminologie des zweiten Abschnittes der 200. These wider. Die Zeit, so heiβt es dort, sei allein in der . Dabei bedarf es zu nächst der Klärung, was hier mit gemeint ist. Dieser Terminus enthält bestimmte Schwierigkeiten. Eine sichere Übersetzung ist dabei schwer möglich. Selbstverständlich sind keine Bezüge zur neuzeitlichen BewuBtseinsphilosophie gegeben. Formulierungen wie <Subjektivität der Zeit> ergeben nur Fehldeutungen, die den komplizierten Seelentheorien des 13. Jahrhunderts in keiner Weise entsprechen. Zur Aufklärung dieses Problems hat R. Hissette versucht, in den Schriften der radikalen Aristoteliker mit dem o.g. Satz übereinstimmende ÄuBerungen zu finden. Im Kommentar des Siger von Brabant zum Liber de causis stieB er auf die oben schon analysierte ÄuBerung5:
« ... et sicut apprehensione prioris et posterioris in motu distinguendo et numerando ea tempus apprehendimus ... »6
4
Albert der Grofie fragt in der Summa de creaturis, ob die Zeit aus der Natur stammt oder sich in der Seele befindet («An tempus sit a natura, an in anima tantum?»). Im Physikkommentar überprüft er das Verhältnis der Zeit zur Seele («Hic est digressio declarans sententiam eorum qui dicunt tempus non esse nisi in anima»). Dabei durchdenkt Albert im Grunde nur die Problematik, die auch der Verfasser der 200. These vor Augen hatte, aus dessen Text oder mündlicher Rede der Bischof von Paris diese These entnahm. 5 Vgl. 3.5.2., S. 300-302. 6 SIGERUS DE BRABANTIA, De caus. q. 8; Marlasca 56, 14-16.
331
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Wenn wir uns, so heiβt es in diesem Text, durch das Friiher und Später in der Bewegung angeeignet haben, d.h. wenn wir die Zeitdeterminanten voneinander geschieden und gezählt haben, erfassen wir die Zeit. Diese Auffassung steht, wie ebenfalls oben gezeigt, den Thesen des Averroes nicht fern. Dort heiBt es: «Dicamus igitur ad haec, quod extra mentem non est nisi motum et motus. Et tempus non fit, nisi quando mens dividit motum in 35 prius et posterius. Et haec est intentio numeri motus, idest motum esse numeratum. Ergo substantia temporis, quae est in eo quasi forma, est numerus. Et quod est in eo quasi materia, est mo40 tus continuus, quoniam non est numerus simpliciter, sed numerus motus.»7
32 haec: hoc D 33 motum et motus: motus et motum P 1 et motus om. D 34 fit: sit P 2 37 ergo: igitur P 1 38 forma add. eius P1 40 quoniam in marg. P 2 del. quando P 2
Trotz dieser Übereinstimmung bleiben Unklarheiten. Averroes spricht von <mens>, Siger und der Pariser Anonymus sagen . Dies allein zeigt schon die Notwendigkeit einer näheren Definition jenes Seelenaktes. Da Zählen und Trennen intellektuelle Tätigkeiten sind, ist die Beziehung der zum Intellekt zu untersuchen. Eine Analyse der Bedeutung von in der Mitte des 13. Jahrhunderts kann sich als repräsentatives Beispiel zunächst auf die Psychologie Alberts des Groβen berufen. Von ihm waren die radikalen Aristoteliker des 13. Jahrhunderts in vielfacher Weise abhängig. Zu ihnen gehorte wohl auch der Anonymus, der die 200. These verfaBt hat.
7
AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 109, v. 32-41. Vgl. P 1 = Paris, Bibl. Nat, Cod. lat. 15453 (ff. 54rb-54va), P 2 = Paris, Bibl. Nat., Cod. lat. 16159 (67ra) und D = AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 109; Venetiis 1562, 187 r C.
332
3.6.1. Die Pariser These zum Sein der Zeit vom 7. März 1277
Albert der Groβe hat sich im zweiten Buch seines De anima-Kommentar s ausführlich zur Bestimmtheit der geäuβert. Im vierten Kapitel des dritten Traktates, das den Titel trägt:
«Et est digressio declarans gradus abstractionis et modum.»1
befindet sich eine umfangreiche Analyse dazu. Gemäβ Albert ist die Frage nach der eine Frage nach den erfassenden Potenzen (potentiae apprehensivae) der Seele. Der Bereich dieser Potenzen ist dabei ziemlich weit gefaβt. Das erschwert zunächst die Analyse. Doch auch darin liegt ein Erkenntniswert. Weil der Geltungsbereich der wächst, erhalten ihre einzelnen Verzweigungen eine genau abgegrenzte Funktion. Albert unterscheidet in seiner Psychologie vier Stufen der : a) Auf der ersten und untersten Stufe der erfolgt die Abtrennung der Form von der Materie. Die wahrnehmende Kraft (vis apprehensiva) bleibt hier auf die Gegenwart der wahrgenommenen Materie und ihrer Begleitphänomene angewiesen.9 Darüber geht die zweite Stufe hinaus. b) Diese Stufe der ist mit der <potentia imaginativa> verknüpft, ein Seelenvermögen, das die Form durch Abstraktion von der Materie gewinnt. Auf die Gegenwart der Materie verzichtet dieses Seelenvermögen. Die der Materie, die die Form individuieren und sich daher an einem singulären Seienden befinden, entfernt jene Seelenpotenz allerdings noch nicht.10 Daher ist auch dieser Grad der Abstraktion noch zu transzendieren. 8
ALBERTUS, De an. II tr. 3 c. 4; Stroick 101, 48-102, 65. Vgl. ALBERTUS, De an. II tr. 3 c. 4; Stroick 101, 68-71: «Quorum primus et infimus est, quod abstrahitur et separator forma a materia, sed non ab eius praesentia nec ab eius appendiciis; et hanc facit vis apprehensiva deforis, quae est sensus.» 10 Vgl. ALBERTUS, De an. II tr. 3 c. 4; Stroick 101, 72-78: «Secundus autem gradus est, quod separatur forma a materia et a praesentia materiae, sed non appendiciis materiae sive condicionibus materiae; et hanc apprehensionem facit imaginativa potentia, quae etiam singularibus non praesentibus retinet formas sensibilium, sed non denudat eas a materiae appendiciis.» 9
333
Teil III - Das 13. Jahrhundert
c) Die dritte Stufe der erfaβt Intentionen, die zwar ohne die sinnliche Wahrnehmung nicht erkennbar waren, aber dennoch höherer Natur sind. Albert denkt an die sozialen Beziehungen. Diese Stufe der ist der Erkenntnis benachbart, aber an Vergleich (collatio) und Meinung (aestimatio) gebunden.11 Es ist klar, daB damit noch nicht die Endstufe erreicht ist. Dies geschieht erst in Richtung auf den Intellekt, der als höchste Erkenntnisinstanz gilt. d) Albert bestimmt den Intellekt als vierte und oberste Stufe der . Der Intellekt erfaBt hier die reine, von allem Beiwerk der Materie entblöBte Washeit.12 Albert ordnet die vierte Modifikation der dem Intellekt zu. Daher ist es erlaubt, die hier gewonnene Einsicht über die intellektuelle Struktur der mit dem zweiten Abschnitt der 200. These zu verknüpfen. Dort heiBt es, die Zeit sei allein in der . Damit ist gemeint, daB die Zeit - wenn dem Intellekt auch eine spezifische zukommt - allein im Intellekt existiert. Die Tätigkeit des Intellektes erstreckt sich ja nicht nur auf die Erkenntnis der reinen Washeit, sondern auch auf das Zählen. Wenn die Zeit in der existiert, dann bedeutet das nichts anderes, als daB sie im Intellekt vorhanden ist. Damit ist der Zusammenhang der 200. These mit der Diskussion zur Zeitaporie im 13. Jahrhundert gesichert.13 11
Vgl. ALBERTUS, De an.II tr. 3 c. 4; Stroick, 101, 90-102, 4: «Tertius autem gradus apprehensionis est, quo accipimus non tantum sensibilia, sed etiam quasdam intentiones quae non imprimuntur sensibus, sed tarnen sine sensibilibus numquam nobis innotescunt, sicut est esse socialem et amicum et delectabilem in convictu et affabilem et his contraria, quae quidem cum sensibilibus accipimus, et tamen eorum nullum sensibus imprimitur.» 12 Vgl. ALBERTUS, De an. II tr. 3 c. 4; Stroick 102, 11-20: «Quartus autem et ultimus gradus est, qui apprehendit rerum quiditates denudatas ab omnibus appendiciis materiae nec accipit ipsas cum sensibilium intentionibus, sed potius simplices et separatas ab eis. Et ista apprehensio solius est intellectus, sicut est intellectus hominis per hoc quod convenit omni homini, vel intellectus substantiae et, ut universalitet* dicatur, intellectus quiditatis universalis omnis rei, secundum quod est quiditas ipsius, et non per hoc quod convenit isti et non illi.» 13 Allerdings bleibt noch die Frage, warum der anonyme Verfasser der 200. These nicht selbst den Terminus gebraucht hat. Darüber sind nur Vermutungen möglich. Für eine Entscheidung dieser Frage bedürfte es einer umfangreichen Untersuchung der Theorie der in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Erst dadurch wäre eine befriedigende Lösung dieses Problems möglich. Das ist hier nicht zu leisten. Wichtig ist nur der Beweis, daB die
334
3.6.1. Die Pariser These zum Sein der Zeit vom 7. März 1277 Eine Analyse der Wirkungsgeschichte der 200. These ergibt erstaunliche Resultate. I. Zunächst ist festzuhalten, daβ die 200. These von 1277 in eine bestimmte Richtung keinerlei abschreckende Wirkung hatte. So nahm Dietrich von Frei berg direkt zu der These Stellung14, ohne ihrer Forderung zu entsprechen. Sei ne Philosophie der Zeit, die weiter unten näher zu untersuchen ist, folgt ohne jede Einschränkung der 1277 verurteilten zeitphilosophischen Konzeption. II. Neben dieser negativen gab es auch positive Reaktionen. Dazu gehört die Stellungnahme des Raimundus Lullus in dem Dialog Declaratio Raimundi, per modum dialogi edita.15 Innerhalb dieses Werkes diskutiert Lullus die vom Pariser Bischof verurteilte These als Aussagen der Philosophie, die er als <Socrates> 200. These in den Umkreis der Diskussion um die <aristotelische Zeitaporie> gehört. Insofern ist sie ein bedeutendes Dokument flir die Wirkungsgeschichte der aristotelischen Zeittheorie im 13. Jahrhundert. 14 Wichtig ist in diesem Zusammenhang der immer noch nicht ausreichend gewürdigte Traktat De mensuris des Dietrich von Freiberg. Vgl. THEODORICUS, De mensuris, ed. R. Rehn, in: Dietrich von Freiberg, Opera omnia, Tom. III (CPTMA II, 3): Schriften zur Naturphilosophie und Metaphysik, mit einer Einl. von K. Flasch hrsg. von J.-D. Cavigioli, R. Imbach, B. Mojsisch, M. R. Pagnoni-Sturlese, R. Rehn, L. Sturlese, Hamburg 1983, 203-239. Zur ersten Orientierung vgl.: N. Largier, Zeit, Zeitlichkeit, Ewigkeit. Ein Aufriss des Zeitproblems bei Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700, Bd. 8), Bern/Frankfurt a. M./New York/Paris 1989, 40f. Gegen Ende des Traktates fragt Dietrich nach der Verfassung der Maβe , und . Vgl. THEODORICUS, De mens. 8 (1); Rehn 238, 40-44: «Ultimo autem quantum ad propositum negotium quaerendum, quid importent mensurae durationis circa entia, quorum sunt mensurae, utrum videlicet aliquam rem naturae extra animam seu conceptum intellectus, vel utrum [solum in apprehensione] consistant et sint quidam modi determinati circa rem mensuratam opere rationis vel intellectus.» Dietrich nimmt also mit der Formulierung <solum in apprehensione> Bezug auf die 200. These. Er übernimmt sogar ihre spezifische Terminologie. Dietrichs Antwort ist klar. Wenn die Zeit gemäβ den Thesen des Aristoteles, des Averroes und des Augustinus ein Werk der ist, dann gilt dies um so mehr bei den MaBen der einfacheren und körperlosen Dingheiten. Vgl. THEODORICUS, De mens. 8 (5); Rehn 239, 59-67: «Si igitur mensura alicuius corporalis passionis, qualis est motus, non est aliquid reale naturale extra animam existens, sed determinatur talis mensura motui opere rationis, quae mensura seu numerus motus est tempus secundum Philosophum IV Physicorum et Commentatorem ibidem et Augustinum XI Confessionun, multo magis in rebus simplicioribus et a corporeitate separatis mensura durationis eis determinabitur opere rationis. Et sic universaliter omnium entium durationis mensura non erit aliquid reale naturale extra animam existens.» 15 Vgl. Raimundus Lullus, Declaratio Raimundi, per modum dialogi contra aliquorum philosophorum et eorum sequacium opiniones erroneas et damnatas a venerabili patre domino episcopo Parisiensi, ed. Kl. Pereira/Th. Pindl-Büchel, in: Raimundi Lulli Opera Latina, Tom. XVII, nn. 76-81 (CCM LXXIX), Turnholti 1989, 219-402. 335
Teil III - Das 13. Jahrhundert
personifizierte: «Socrates dixit, quod aeuum et tempus nihil sunt in re, sed solum in apprehensione,»16 Dieser mit <Socrates> bezeichneten Personifikation tritt Lullus selbst als Dialogpartner gegenüber. Dabei entwirft er entsprechende Antithesen. Im Hinblick auf die 200. These erscheinen so die Motive, die die orthodoxe Theologie dem innerseelischen Sein der Zeit gegenüberstellte. Lullus hat ihnen eine literarische Gestalt verschafft. Er geht zunächst von der Schöpfung der Welt als einem realen Akt des Neuanfangs aus. Aber ohne die Zeit als <ens reale> wäre ein derartiger Schöpfungsakt nicht möglich. Auch die Bewegung könnte ohne die Realität (realitas) der Zeit nicht existieren. Lullus nimmt also eine absolute Weltzeit an, die durch ihr auβerseelisches Sein Raum für reale Ereignisse vorgibt. Zeit und Bewegung sind so eng miteinander verknüpft wie Ton und Hören bzw. Farben und Sehen. Lullus bezieht sich jedoch nicht nur auf die Schöpfung als reales zeitliches Ereignis in der Vergangenheit, sondern er denkt auch an die zukünftige Auferstehung (resurrectio). Im Hinblick darauf erscheint die ewige Dauer (aevum) als unumgänglich.17 Lullus hat also sowohl zur Zeit als auch zum Aevum Stellung genommen. Seine Bemerkungen zeigen deutlich, warum die Lehre vom seelischen Sein der Zeit und des Aevum der Orthodoxie so unerträglich erschien: Sie verstöβt gegen die Dogmen von der Erschaffung der Welt und der Auferstehung des Menschen. Indem bestimmte Philosophen des 13. Jahrhunderts indirekt daran rüttelten, führten sie die Zeitphilosophie in die Krise des Jahres 1277. III. Nach dieser unmittelbaren Reaktion war die Wirkungsgeschichte der 200. These noch nicht beendet. Weil die Zeitphilosophie des 13. Jahrhunderts die Diskussionen der Folgezeit determinierte, ist auch die Verurteilung des seelischen Seins der Zeit weiterhin von Bedeutung gewesen. Ein interessantes Beispiel dafür befindet sich im Sentenzenkommentar des Johannes von Baconthorpe. Baconthorpe diskutiert nach bekannter Manier die Frage, ob die Zeit auBerhalb der Seele vorhanden sei oder nicht. Unter den Argumenten, die das auBerseelische Sein der Zeit postulieren, findet die Pariser These nun indirekt ihren 16
RAIMUNDUS LULLUS, Decl. c. 200 v. 2-3; Pindl-Büehel 391. Vgl. RAIMUNDUS LULLUS, Deel. c. 200 v. 4-11; Pindl-Büehel 391: «Raimundus ait: In 87 capitulo probatum est, quod mundus creatus est et inceptus de nouo. Cuius initium esset impossibile, si tempus non esset ens reale. Et idem sequitur de motu, qui sine realitate temporis esse non posset, sicut audire, quod sine sono esse non posset, neque uidere sine colore. Item, probatum est in 17 capitulo, quod resurrectio erit futura, ratione cuius aeuum erit necessarium, cuius necessitas significata est in praedicto capitulo.» 17
336
3.6.1. Die Pariser These zum Sein der Zeit vom 7. März 1277
Platz. Wer das welthafte Sein der Zeit postuliert, muβ die Pariser These be streken, Im Dokument von 1277 erscheint die Theorie vom seelischen Sein der Zeit auch deshalb als verurteilte Position, weil Bischof Tempier am Sein einer auβerseelischen Weltzeit festhielt. Das Argument, von dem Baconthorpe berichtet, schlieBt sich der Position Tempiers an. Es liefert aber eine Begründung, die bei Tempier fehlt. Anders als Lullus verzichtet diese Begründung jedoch auf dogmatische Überlegungen. Aber wie Lullus setzt sie auf die auBerseelische Realität der Bewegung. Diese philosophische Argumentation ist aus der Diskussion der Zeitaporie im 13. Jahrhundert bekannt. Wenn die Zeit ihr Fundament in der Bewegung hat, so heiBt es nun unter Zurückweisung der 200. These, sei niemand von den modernen Philosophierenden (modernis phylosophantibus) so ungebiidet (rudis), daB er das Sein der Bewegung auBerhalb des Intellektes abstreite. Vielmehr ist die Zeit die Zahl der Bewegung usw.18 Hier ist es unwichtig, welche Thesen Baconthorpe dieser Behauptung entgegensetzt. Seiner eigenen Entscheidung kommt in diesem Zusammenhang nur eine geringe Bedeutung zu. Wichtiger erscheint vielmehr der Nachweis, daB die Pariser These weiterhin ihren Platz in der Diskussion um das seelische Sein der Zeit behauptet hat. IV. Die Pariser These von 1277 entstammt einem bestimmten Diskussionszusammenhang. Um 1270 nahm der Einfluβ des Averroes auf die Zeitphilosophie der lateinischen Aristoteleskommentatoren derart zu, daB Thomas von Aquino und einige Jahre später auch der Bischof von Paris in die Diskussion eingriffen. Thomas schrieb einen neuen Physikkommentar, der Bischof von Paris verurteilte bestimmte zeitphilosophische Thesen ohne jede Begründung. Die Kenntnis dieser Zusammenhänge ging jedoch allmählich verloren. So ordnete Konrad von Megenberg in seiner Yconomica die Pariser Verurteilung ganz anders ein. Er versteht sie als Kampfansage an Wilhelm von Ockham und seine Schule («Wilhelmus de Occham et suos sequaces»). Auch Konrad beruft sich auf die Bewegung. Und er verbindet die Apprehension mit der Aktivität des Intellektes. Wenn alle Apprehension des Intellektes aufgehoben ist, so bleibt immer
18
Vgl. IOHANNES BACHON, In II Sent. d. 2 q. 1 a. 3 § 2 arg. 2; Cremonae 1618, 463 C/D: «Ad hoc est secundus articulus Parisiensis, quod aeuum, et tempus nihil sunt in re, sed solum in aprehensione; error. Sed iste articulus non potest intelligi contra aliquos ponentes, qui ponerent, quod tempus nihil est quantum ad suum fundamentum, quod est motus, quia numquam fuit aliquis ita rudis errans de modernis phylosophantibus, qui negauit motum esse ens extra intellectual; ergo intelligitur, quod sit error, quod nihil sit in re, sed solum in aprehensione, secundum quod est numerus motus, quod est propositum.»
337
Teil III - Das 13. Jahrhundert
noch der kontinuierliche Fluβ der auBerseelischen Zeit. Weitergehende Untersuchungen nahm Konrad jedoch nicht vor.19 V. Besser informiert als Konrad war Dionysius der Kartäuser. Ein sehr spates Dokument der Reaktion auf die verurteilte These von 1277 befindet sich in seinem Sentenzenkommentar. Dionysius diskutiert die Pariser These im Kontext seiner Zeitphilosophie, die überwiegend auf den Thesen der Theoretiker des 13. Jahrhunderts beruht. Er beweist dabei eine ausgezeichnete Quellenkenntnis. So ist es nicht verwunderlich, daB er auch von der 200. Pariser These wuBte. Allerdings erwähnt Dionysius sie nur am Rande. Nach seinen Angaben haben bestimmte Philosophen behauptet, daB sich die Zeit nicht von der Bewegung des <primum mobile> unterscheide. Diese Himmelsbewegung enthält das Früher und Später, insofern die Seele diese Determinanten zählt. Jene Theoretiker beriefen sich nach Dionysius auf Augustinus, der in seiner Genesisauslegung die Zeit als Bewegung der Schöpfung bezeichnet habe. Weil nun die Bewegung etwas in der Sache ist, entgeht diese Zeittheorie der 1277 verurteilten These, gemäβ der die Zeit und das Aevum allein in der Seele und nicht in der Natur sind. Aber es ist nicht allein die auBerseelische Bewegung, die der Konzeption von 1277 entgegensteht. Jene Bewegung ist vielmehr kosmologisch ver ankert. Dadurch sichert sie die auBerseelische Zeit ab. 20 Deshalb findet in der von Dionysius diskutierten Zeitkonzeption nicht das elfte Buch der Confessiones Erwähnung, sondern die Zeittheorie des Augustinus aus der Genesisauslegung. Es ist sehr wahrscheinlich, daB eine systematische Erforschung der mittelalterlichen Zeittheorien noch weitere Reaktionen auf die 200. Pariser These von 1277 zutage fördern könnte. Hier müssen jedoch weitere Nachforschungen entfallen. Die oben angeführten Belegstellen sollen nur zeigen, daB die Verurteilung von 1277 nicht nur im 13., sondern auch im 14. und 15. Jahrhundert die zeitphilosophische Diskussion beeinfluβt hat. 19
Vgl. CONRADUS, Yconomica III 1; Krüger 164: «Error est, quia cessante omni apprehensione intellectus humani adhuc partes temporis succederent sibi et fieret preteritum, presens et futurum. Ille articulus est contra Wilhelmum de Occham et suos sequaces, qui ponunt motum temporis et omnes successiones preter animam res indistinctas a permanentibus rebus.» 20 Vgl. DIONYSIUS CARTUSIANUS, In II Sent. d. 2 q. 2; Opera omnia 21, 128 a C/D: «Aliqui tarnen dicunt, quod tempus non differt a motu primi mobilis secundum rem aliquam absolutam. Sunt namque (ut dicunt) prius et posterius in motu primi mobilis in quantum ab anima numerantur. Et allegant pro se illud Augustini quinto super Genesim: Tempus est creaturae motus. Quumque motus sit aliquid in re, dicunt se non impingere in illum articulum condemnatum seu excommunieatum: Tempus et aevum nihil sunt in re, sed solum in apprehensione.»
338
3.6.2. Heinrich von Gent
3.6.2.1. Einführung Nachdem der Bischof von Paris am 7. März 1277 die These vom seelischen Sein der Zeit verurteilt hatte, kam die Diskussion dieses Problems keineswegs zum Stillstand. Das Verbot steigerte vielmehr die Qualität des Diskurses mit einer bis dahin unbekannten Intensität des Quellenstudiums. Ein wichtiges Dokument, das den Stand der Auseinandersetzung einige Jahre später belegt, findet sich im dritten Quodlibet des Heinrich von Gent.1 Heinrich hat diesen Text zu Ostern 1278/9 vorgetragen.2 Eine Analyse der Konzeption des Heinrich von Gent erlaubt aber nicht nur einen Einblick in die kontroversen Diskussionen zur Philosophic der Zeit nach 1277. Sie vermag auch die Lücke zu schlieβen, die sich zwischen 1277 und der auf Anfang der 80er Jahre des 13. Jahrhunderts zu datierenden Abhandlung De origine rerum praedicamentalium des Dietrich von Freiberg auftut. Dietrich hat diesem Traktat einen kurzen Abschnitt zur Philosophie der Zeit eingefügt. Daraus geht hervor, daβ er damals - und nicht erst später in der Abhandlung De natura et proprietate continuorum - der Zeittheorie des Augustinus in bestimmten Punkten folgte. In dieser Zeit vollzog sich die Rückkehr des Augustinus. Dietrich revidierte die Eliminierung des Augustinus aus der Naturphiloso1
Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodlibet III q. 11: «Utrum tempus possit esse sine anima», in: Quodlibeta Magistri Henrici Goethals a Gandavo doctoris Solemnis: Socii Sorbonici: et archidiaconi Tornacensis. cum duplici tabella. Voenumdantur ab Iodoco Badio Ascensio, sub gratia et privilegio ad finem explicandis, Parisiis (1518) ff. 63 r X-65 r E. Alle folgenden Zitate aus sind nach den Handschriften überprüft. Die Paginierung der Ausgabe von 1518 bleibt in Klammem bestehen, um das Auffinden der Zitate zu erleichtern. Zum kritischen Text vgl. auch: Anhang, S. 463-476. 2 Vgl. A. Maier, Die Subjektivierung der Zeit in der scholastischen Philosophie, in: Philosophia Naturalis 1 (1950) 365: «Heinrich hat in seinem dritten Quodlibet, das Ostem 1279 disputiert worden ist ... » R. Macken kommt zu einer anderen Datierung. Vgl. Henricus de Gandavo, Quodlibet I, ed. R. Macken; Henrici de Gandavo Opera omnia V, Leuven/Leiden 1979, XVII: «Quodl. III Temps de Pâques 1278 (ou temps de Pâques 1279 selon Paulus)». R. Macken bezieht sich auf: J. Paulus, Henri 'e Gand. Essai sur les tendances de sa métaphysique (Études de Philosophie Médiévale XXV), Paris 1938, XV, n. 1.
339
Teil III - Das 13. Jahrhundert
phie, die Albert der Groβe in seinem Physikkommentar vollzogen hatte. Auf dem Gebiet der Philosophie der Zeit kam Augustinus trotz groBer Widerstände zu neuem Ansehen. War Dietrich damit ein Einzelgänger? Oder hatte er Vorläufer, an deren Ergebnisse er anknüpfen konnte? Diese Fragen muβ sich jeder stellen, der die noch weitgehend im dunkeln liegende Vorgeschichte der Zeittheorie Dietrichs untersuchen will. Licht auf dieses wenig erforschte Gebiet vermag eine Analyse der elften Quaestio des dritten Quodlibet von 1278/9 zu werfen. Wie dieser Text zeigt, war Heinrich vermutlich der erste, der sich zu dieser Zeit wieder intensiv mit der Zeittheorie des Augustinus auseinandersetzte. Viele Philosophen des 13. Jahrhunderts kannten die Zeitphilosophie des Augustinus. Das elfte Buch der Confessiones war niemals verlorengegangen. Aber die scharfe Verurteilung durch Albert hatte dem Ansehen der Zeitphilosophie des Augustinus zunächst doch erheblich geschadet. Erst allmählich kam es zu einer Umwertung. Ende der 50er Jahre setzt sich R. Kilwardby in seinem Traktat De tempore wieder mit Augustinus auseinander. Selbst Ulrich von StraBburg, Alberts eigener Schüier, wertet um 1270 die Zeitphilosophie des Augustinus weitaus positiver als Albert. Aber erst Heinrich von Gent legte unter dem Eindruck der Verurteilung von 1277 eine vertiefte Analyse zum Text des Augustinus vor. Die Augustinuspassagen aus Quodlibet III q. 11 sind weitaus umfangreicher als alle anderen Texte, die einzelne Philosophen des 13. Jahrhunderts zur Zeitphilosophie des Augustinus veröffentlicht haben. Seit Alberts Frühschrift De IV coaequaevis hatte sich niemand mehr, soweit die Quellen diese Aussage zulassen, so umfassend mit dem Text des Augustinus beschäftigt. Schon daraus läBt sich erkennen, welche Bedeutung Heinrich der Frage nach dem seelischen Sein der Zeit einräumte. Warum hatte er sonst seine gesamten Ausfuhrungen auf dieses Problem konzentriert? Und warum wäre es nötig gewesen, sich so intensiv mit Augustinus auseinanderzusetzen? Es kann kein Zweifel daran bestehen, daB sich Heinrich von einer eingehenden Analyse und Kritik der Zeittheorie des Augustinus einen groBen theoretischen Gewinn versprach. Der sich immer mehr verschärfende Konflikt zum Verhältnis von Zeit und Seele, der 1277 zur Verurteilung der These vom seelischen Sein der Zeit gefiihrt hatte, verlangte nicht nach aufgezwungenen Lösungen, sondern dem philosophischen Niveau der Zeit entsprechend nach rationaler Klärung. Der Bischof von Paris hatte die 200. These zum seelischen Sein der Zeit verurteilt. Was aber war darunter zu verstehen? Inwieweit waren Aristoteles, Averroes und Augustinus von dieser Verurteilung betroffen? Diese Fragen benötigten eine Klärung. Es ist daher nicht verwunderlich, daB Heinrich von Gent unmittelbar nach 1277 eine genaue Un340
3.6.2. Heinrich von Gent
tersuchung dieser Probleme in Angriff nahm.3 Es versteht sich von selbst, daβ dazu ein vertieftes Quellenstudium notwendig war. Heinrichs Zeittraktat ist die elfte Quaestio zur Philosophie der Zeit innerhalb des umfangreichen dritten Quodlibet.4 Die Bezeichnung erscheint hier in mehrfacher Hinsicht berechtigt. Heinrich behandelt ein spezifisches Problem innerhalb eines genau abgegrenzten Rahmens. Diesen vorgegebenen Bedingungen ist die Argumentation angepaβt. Alberts Digression zum seelischen Sein der Zeit («Hic est digressio deelarans sententiam eorum qui dicunt tempus non esse nisi in anima»), Heinrichs elfte Quaestio und Dietrichs Zeittraktat («De natura et proprietate continuorum») sind Entwicklungsstufen einer zunehmend fortschreitenden Systematisierung der philosophischen Darstellung der Frage nach dem seelischen Sein der Zeit. Heinrichs Quaestio besetzt auf dieser Entwicklungslinie die Mitte zwischen den kaum gegliederten Ausführungen Alberts und der streng systematischen Argumentation Dietrichs. Heinrichs Quaestio besteht fast ausschlieBlich aus einem sorgfältig vorbereiteten Vergleich zwischen Aristoteles und Augustinus. Heinrich konfrontiert bestimmte Thesen des Aristoteles und gezielt ausgewählte Sätze aus dem elften Buch der Confessiones miteinander.5 Dabei spielte Averroes als Ausleger des Aristoteles eine zentrale Rolle. Heinrich hat auch die Thesen Galens nicht übersehen. Aber die Schwerpunkte seiner Untersuchung sind doch Aristoteles und Augustinus. Wichtig ist dabei, wie Heinrich die Akzente setzt. Sofort fällt auf, daB er ungewöhnlich breit und
3 Heinrich hat die Bedeutung der 1277 in Paris verurteilten 200. These vom seelischen Sein der Zeit erkannt. Flir die Einschätzung seiner Beziehung zur Verurteilung von 1277 sind folgende Selbstzeugnisse von Bedeutung. Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. XIII q. 14; Decorte 149, 2-4: «Hinc etiam iamdiu, occasione disputationum et altercationum quas magistri Parisienses habebant inter se de perfectione statuum maiori vel minori, audivi dominum papam CLEMENTEM, cum adhuc esset legatus ... » Diese Aussage zeigt, daB Heinrich schon friih in die inneren Auseinandersetzungen der Pariser Professoren eingeweiht war. Heinrich war sogar Mitglied der Kommission, die 1277 den Pariser Bischof beriet. Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodlibet II q. 9; Wielockx 67, 21-23: « ... in hoc enim concordabant omnes magistri theologiae congregati super hoc, quorum ego eram unus ... » 4 Eine erste umfangreiche Analyse der Zeitphilosophie des Heinrich von Gent hat P. Porro vorgelegt. Vgl. P. Porro, Enrico di Gand nella scolastica del XIII secolo. Una questione controversa: La natura del tempo (Universitå degli studi di Bari, Facoltå di Lettere e Filosofia, Corso di Laurea in Filosofia), Bari 1986/7. Vgl. bes. S. 114 f. 5 Vgl. P. Porro, Enrico di Gand sul problema della realtå del tempo in Agostino (Quodl. III, q. 11), in: L'Umanesimo di Sant'Agostino, Atti del Congresso intemazionale, Bari 28 - 30 ottobre 1986, a cura di M. Fabris, Bari 1988, 589-611.
341
Teil III - Das 13. Jahrhundert
umfangreich Augustinus zitiert. Er fertigt aus dem elften Buch der Confessiones gleichsam eine Kurzfassung an. Dieses kontrahierte Exzerpt vergleicht er dann mit einer gezielten Auswahl von Aristoteleszitaten. Beide Textgruppen bilden die Basis seiner Abhandlung. Das grundlegende Problem, das in Heinrichs elfter Quaestio zur Diskussion steht, ist jedoch die von Aristoteles in der Zeitaporie aufgeworfene Frage nach dem seelischen Sein der Zeit. Daher beginnt Heinrich seine Ausführungen mit einer Analyse dieses Textes.
3.6.2.2. Das Grundproblem: Die<aristotelischeZeitaporie> Die elfte Quaestio des Heinrich von Gent ist harmonisch gegliedert. Der Text besitzt eine genau festgelegte Struktur. Heinrich beginnt die Untersuchung mit der Frage nach dem seelischen Sein der Zeit. Die Aufgabe dieser Untersuchung ist daher, den inneren Aufbau seiner Argumentation aus der Konfrontation des Aristoteles mit Augustinus hinreichend zu erklären. Heinrichs Sätze sind zunächst nichts anderes als eine Paraphrase verschiedener Aristoteleszitate: Heinrich von Gent
Aristoteles
«Circa secundum arguitur, quod tempus non possit esse sine anima, quoniam numerus non est sine numerante.6 Tempus autern secundum Philosophum IV Physicorum est [numerus motus],7 et non est numerans ipsum nisi anima concipiens 8 prius et posterius in tem[prius et posterius in motu], 9 pore secundum 10 ut vult Philosophus ibidem.» 6 Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 22/3, Transl. nova; Maggiölo n. 454, 308: «Impossibile enim cum sit numeraturum esse aliquem, impossibile est numerabile esse aliquod.» 7 ARISTOTELES, Phys. IV 11, 219 b 2, Transl. nova; Maggiölo n. 409, 281. 8 Vgl ARISTOTELES, Phys. IV 11, 219 a 27-29, Transl. nova; Maggiölo n. 409, 281: « ... et duo dicat anima ipsa nunc, hoc quidem prius, illud vero posterius, tunc et hoc dicimus esse tempus.» 9 ARISTOTELES, Phys. IV 11, 219 a 31, Transl. nova; Maggiölo n. 409, 281. 10 HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 463, 1-5 (Parisiis 1518, 63 r).
342
3.6.2. Heinrich von Gent
Dagegen stellt Heinrich ein Verzeichnis aller Aristotelesstellen, die möglicherweise auf ein auβerseelisches Sein der Zeit verweisen. Innerhalb der Zeitphilosophie des Aristoteles schien es demnach einen Dissens zu geben: Heinrich von Gent
Aristoteles
«Contra est illud, quod dicit Philosophus in IV Physicorum [Tempus] [et motus simul sunt, et] 11 , non sunt potentia et actu. Sed motus habet [esse sine anima].12 Ergo etc.» 13 Formal ergibt sich folgende Zusammenfassung der Aristoteleszitate:
tempus in anima
11 12 13
tempus extra animam
I
219 a 27-29
II
219 a 31/b 2
III
223 a 22/3
IV
223 a 20
V
223 a 27/8
ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 20, Transl. nova; Maggiòlo n. 452, 308. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 27/8, Transl. nova; Maggiölo n. 455, 308. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 463, 6-8 (Parisiis 1518, 63 r).
343
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Die Basis der Auswahl Heinrichs ist der Text der Zeitaporie (Phys. IV 14, 223 a 21-29). Dabei wählte er zwei charakteristische Bruchstücke so aus, daβ der Gegensatz zwischen auBerseelischer und innerseelischer Zeit sofort greifbar ist. Um diese zentralen Aussagen gruppierte Heinrich verwandte Texte aus dem Zeittraktat des Aristoteles. Weiter unten hat er dieses Verfahren noch ausgeweitet und vertieft.14 Das Grundproblem der Zeitphilosophie des Heinrich von Gent ist damit vorgestellt. Nun beginnt Heinrich eine Reihe allgemeiner Reflexionen zur Philosophie der Zeit. Sie verdeutlichen die Schwierigkeiten dieser naturphilosophischen Disziplin. Heinrich entnimmt seine Informationen aus verschiedenen Quellen (Moses Maimonides, Aristoteles, Averroes). Dadurch erhält jener Abschnitt die Form eines historischen Abrisses. Die Frage nach dem Sein der Zeit erscheint dabei als das schwierigste Problem der Zeitphilosophie.15
3.6.2.3. Sechs Aristoteleszitate zum seelischen Sein der Zeit Das Grundproblem der Untersuchung Heinrichs ist also die Frage nach dem rechten Verständnis der Zeitaporie des Aristoteles. Diese Problematik ist mit groBen Schwierigkeiten verbunden. Heinrich stellt daher eine Reihe von Abschnitten aus dem Zeittraktat des Aristoteles vor, die zur Erhellung dieser dunklen Aristotelesstelle beitragen sollen. Jene Textabschnitte bringen mehr oder weniger deutlich das Verhältnis von Zeit und Seele in den Blick, Es ist nicht mehr die Zeitaporie allein, die nach Heinrich als Hinweis auf das seelische Sein der Zeit zu verstehen ist. Heinrich kennt ein ganzes System miteinander vernetzter Textstellen, die sich alle um das zentrale Problem der Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele zentrieren. Er hat diese Stellen gesammelt, 14
Heinrich von Gent war mit den philosophischen Fragen der Physik des Aristoteles vertraut. Vgl. L. Bellemare, Authentické de deux Commentaires sur la ,Physique' attribués å Henri de Gand, in: Revue philosophique de Louvain 63 (1965) 545-571. 15 Vgl HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 463, 9-16 (Parisiis 1518, 63 r X): «Cum quaestio ista sit de esse temporis, oportet intelligere in principio, quod esse debile valde habet et obscurum, quoniam, ut dicit Rabbi Moses in libro suo secundo, duae res coniunguntur in tempore simul, et quod est accidens cohaerens motui. Et Veritas motus per se exigit, ut non quiescat ullo modo. Et hoc est, quod facit naturam temporis latere plures hominum, et nesciverunt, utrum vere sit an non, sicut Galenus et alii sapientes. Unde Plato non discemens esse temporis ab esse motus posuit, quod tempus esset motus caeli...»
344
3.6.2. Heinrich von Gent
paraphrasiert und knapp gedeutet. Dabei hielt sich Heinrich bei jedem einzelnen Zitat eng an den lateinischen Aristotelestext. Seine Ausfuhrungen gleichen einer fortlaufenden Paraphrase mit unterschiedlicher Dichte an Aristotelestext. Heinrich beginnt mit einem Aristoteleszitat, das durch einen Hinweis auf das Nichtsein der Zeitdimensionen die Aufhebung des Seins der Zeit andeutet: Zitat I Heinrich von Gent
Aristoteles
«Propter quod etiam Philosophus tractans de tempore in IV Phy si corum in principio quaerit, tempus de numero an Et persuadet, aut... Si enim aspiciamus ad partes temporis, ex quibus tamquam totum continuum debet constitui, quae sunt praeteritum et futurum, cum non sint, illud enim sic ... hoc autem....... est, sic Quod autem constituitur ex non entibus, est, quod sit ens inquantum huiusmodi. Secundum hoc ergo, ut videtur, tempus in rei veritate extra animam non est ... »16
[utrum] [sit] [eorum, quae sunt], [non]. [quod] [omnino non sit aut vix et obscure].
[factum est, et] [non est], [futurum] [et] [nondum est]. [impossibile]
16 HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 463, 19-464, 8 (Parisiis 1518, 63 r X); vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 10, 217 b 31-34; 218 a 2, Transl. nova; Maggiòlo n. 390/1, 273.
345
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Heinrich versteht diese Reflexion, die Aristoteles zu Beginn seines Traktates vorlegt, als Hinweis auf das seelische Sein der Zeit. Er bezieht sich dabei indirekt auf die Auslegung des Averroes. Nach Averroes ist dieser Abschnitt eine der für die Frage nach dem Sein der Zeit entscheidenden Äuβerungen des Ari stoteles. lm 88. Kommentartext seines Physikkommentar s bezeichnet er die Zeit zunächst als eine verborgene Entität. Aber er begreift die Ausführungen des Aristoteles auch als Verweis auf das seelische Sein der Zeit. Auβerhaib der Seele existiert die Zeit nur in der Potenz.17 Auch Albert deutet die hier diskutierte Aristotelespassage in seinem Frühwerk De IV coaequaevis als Hinweis auf das seelische Sein der Zeit.18 Inwieweit Albert damals schon der Auslegung des Averroes folgte, ist noch ungeklärt. In seinem Physikkommentar ist dieser Einfluβ jedoch unübersehbar. Dort versteht Albert diese Textstelle mit Averroes als Verweis auf das potentielle Sein der Zeit. Er bezieht sich dabei ausdrücklich auf die Meinung einiger nicht näher bestimmter Philosophen, die die Aktualität der Zeit erst beim Intellekt (apud intellectum) erfolgen lassen. Er selbst legt sich allerdings zunächst nicht näher fest.19 Heinrich dagegen schlieBt sich der These des Averroes an.20 Während Albert im Physikkommentar noch eine gewisse Unsicherheit erkennen läBt, nimmt Heinrich mit gröBerer GewiBheit an, daB Aristoteles hier das innerseelische Sein der Zeit gelehrt habe. Mit dieser problematischen Stelle verkniipft Heinrich einen zweiten Abschnitt, der deutlicher das Verhältnis von Zeit und Seele in den Blick nimmt:
17 Vgl. AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 88; Venetiis 1562, 174 r B: «Et forte hoc innuebat, cum dixit, aut erit difficile, et occultum, idest erit de entibus latentibus, quia, si in anima non essent, non essent nisi in potentia.» 18 Vgl. 3.3.4., S. 221. 19 Vgl. ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 c. 1; Hossfeld 260, 9-14: « ... ergo tempus omnino nihil est, aut si est, vix est, sicut sunt ea quorum esse est permixtum privationi, et [cum hoc obscure est, quia secundum potentiam est, et forte apud intellectum est actus eius, ut QUIDAM dixerunt. Sed nos de hoc INFERIUS quaeremus].» 20 Vgl. dazu: P. Porro, Enrico di Gand nella scolastica del XIII secolo. Una questione controversa: La natura del tempo (Università degli studi di Ban, Facoltà di Lettere e Filosofia, Corso di Laurea in Filosofia), Bari 1986/7. Vgl. bes. S. 114 f. Porro diskutiert Heinrichs Stellungnahme zu dieser spezifischen Aristotelesstelle. Er erkennt jedoch nicht, daB Heinrichs Grundproblem in der Philosophie der Zeit die Frage nach dem Verhältnis von Zeit und Seele ist. AuBerdem bleibt ihm der Standort Heinrichs im Gesamtzusammenhang der Diskussion des 13. Jahrhunderts weitgehend verborgen.
346
3.6.2. Heinrich von Gent
Zitat II Heinrich von Gent
Albert {Paraphrase ans Textelementen des Aristoteles und Averroes)
«Unde secundum quod vult Philosophus, cum non percipimus motu intelligentiae transmutationem aliquam currere a priori in posterius, non percipimus tempus esse, quemadmodum dormientes in Sardis tempus dormitionis suae [non perceperunt], sed copulabant nunc primum, [quo dormire] coeperunt, [cum nunc posteriori, quo evigilaverunt, et non perceperunt tempus intermedium, sed putabant, quod] unum esset, [quando dormire inceperunt et quando surrexerunt, et] removebant [totum tempus medium propter] [insensibilitatem].»21 Dieser zweite Abschnitt aus dem Beziehungsgefüge der Aristotelesstellen, die nach Heinrich Hinweise auf das seelische Sein der Zeit geben, ist besonders wichtig. Hier bestand die Möglichkeit einer Rezeption für jene Philosophen, die Widerspruch gegen eine Theorie der Zeit erhoben. Die Auslegung dieses Textes hat deshalb eine lange Vorgeschichte. Sie reicht bis zu den spätantiken Aristoteleskommentatoren. Averroes deutet die mythologische Anspielung des Aristoteles ebenfalls als Hinweis auf das seelische Sein der Zeit.22 Aber Heinrich hat nicht nur den Physikkommentar des Averroes zur Kenntnis
21
HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 464, 10-17 (Parisiis 1518, 63 r X); vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 11, 218 b 21 sqq., Transl. nova; Maggiòlo n. 403, 277; ALBERTUS, Phys. IV ti*. 3 c. 4; Hossfeld 266, 3-9. Der von Heinrich aus Albert exzerpierte Text ist selbst wieder eine Mischung aus Alberts eigenen Worten mit Formulierungen des Aristoteles und Averroes. Zur weiteren Auflösung vgl. die Edition Hossfelds. 22 Vgl. AVERROES, In Aristotelis Phys., t. comm. 97; Venetiis 1562, 178 r A/B.
347
Teil III - Das 13. Jahrhundert
genommen. Er benutzte auch Alberts Auslegung. Und er scheute sich nicht, einen ganzen Abschnitt aus dessen Paraphrase zu übernehmen. Im weiteren Verlauf seines Kommentars zu Phys. IV 11, 218 b 24-27 bezieht sich Averroes auch auf die Thesen Galens. Heinrich nimmt diesen Hinweis auf. Zugleich rezipiert er hier Albert. Allerdings teilt er dessen radikale Intervention gegen Augustinus nicht. Heinrich beschränkt sich zunächst auf eine kurze Reflexion zu Galen und Augustinus. Beide haben nach Heinrich das Sein der Zeit in die Seele gesetzt, denn sie leiteten die Zeit aus der Reaktion der innerseelischen Veränderungen auf auβerseelische Bewegungen ab. 23 Heinrich von Gent setzte also die Tradition der Zusammenstellung von Augustinus und Ari stoteles fort. Zugleich vertiefte er sie, indem er die Anzahl der Kontaktpunkte zu erweitern versuchte. Nur so ist es zu verstehen, daB er auch das folgende dritte Aristoteleszitat mit Augustinus (und Galen) zusammenstellte: Zitat III Heinrich von Gent «Quorum opinio videtur confirmari per hoc, quod dicit Philosophus fit et
Aristoteles
[Si sint tenebrae et nihil per corpus patiamur, motus autem] [in anima], [simul videtur fieri] [tempus]. [Et tempus cognoscimus, cum definimus motum prius et posterius determinantes, et tunc dicimus fieri tempus, quando prioris et posterioris in motu sensum percipimus].»24
23
Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 465, 2-4 (Parisiis 1518, 63 v Y): «Idcirco [Galenus et Augustinus] non posuerunt esse temporis nisi in anima, scilicet [in vicibus motuum animae] circa conceptus paitium motus, quarum una iam praeteriit, alia nondum est»; ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 c. 4; Hossfeld 265, 28-32: « ... [et hoc] modo dixerunt [GALIENUS] et AUGUSTINUS nos percipere tempus esse in tempore, dixerunt enim, quod esse in tempore est esse in vicibus motuum animae vel alterius creaturae spiritualis ...» 24 HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 465, 4-9 (Parisiis 1518, 63 v Y); vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 11, 219 a 4-6, 22-25, Transl. nova; Maggiòlo n. 404, 408, 281.
348
3.6.2. Heinrich von Gent
Im 98. Kommentartext seines Physikkommentars nutzt Averroes diese Textstelle zu einer umfangreichen Diskussion des Zusammenhangs zwischen Zeit, Seele und Bewegung. Galens Kritik an Aristoteles, aber auch Platons Höhlengleichnis spielen dabei eine grundlegende Rolle. Albert schlieβt sich der Pole mik des Averroes gegen Galen an. Er stellt dabei die Argumente vor, auf die Heinrich hier nur zurückzugreifen brauchte.25 Heinrich beschränkt sich daher darauf, die Ausführungen des Aristoteles zu paraphrasieren. Ihm ist es zunächst nur wichtig, den Zusammenhang dieses Zitats mit den anderen Textabschnitten, die sich im Zeittraktat des Aristoteles auf das seelische Sein aer Zeit beziehen, möglichst einsichtig zu präsentieren. Er bemüht sich daher auch nicht, die inhaltliche Struktur dieses Textes näher zu explizieren, sondern hastet eilig zum nächsten Zitat weiter. Die Methodik seiner Zeit, gleichsam quantitativ die Autoritäten zu kumulieren, macht sich auf diese Weise bemerkbar: Zitat IV Heinrich von Gent
a medio, autem determinato enim aut et
Aristoteles «[Cum enim altera extrema] [et dicat anima duo], [hoc quidem prius, illud] [posterius, tunc] [dicimus tempus esse] [enim ipso nunc; tempus] [videtur]. [Quando] [tamquam unum ipsum nunc sentimus], [sicut] [idem] [prioris] [et posterius alicuius] [non] [sicut prius et posterius in motu], [non videtur tempus fieri], [quia neque motu s]».26
25
Vgl. 3.4.1., S. 245-254. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 465, 9-14 (Parisiis 1518, 63 v Y); vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 11, 219 a 26-33, Transl. nova; Maggiölo n. 409, 281.
26
349
Teil III-Das 13. Jahrhundert
Das vierte Aristoteleszitat gehort mit Recht in diese Konfiguration. Es zählt zu den wenigen Belegstellen im Zeittraktat des Aristoteles, wo Aristoteles direkt die Funktion der Seele bei der Zeitkonstitution in den Blick nimmt. Heinrich hat seinen Text nicht unmodifiziert von Aristoteles übernommen. Er setzte vielmehr aus einer groβen Anzahl von Bruchstücken kunstvoll eine zweite Fassung zusammen. Ziel dieses Umformungsprozesses ist der Nachweis, daB die Seele bei der Zeitgewinnung aktiv beteiligt ist. Sie nimmt zwei Einschnitte in das Bewegungskontinuum vor. Die erste Diskretion bezeichnet sie als das , die zweite als das <Später>. Erst durch diese Signation ist uns Zeit zugänglich. Das vierte Zitat bereitet insofern die Einsicht in den ProzeB der Zählung vor, aus dem die Zeit als Zahl hervorgeht. Erst das Sein der Zeit als Zahl läβt ihren seelischen Ursprung ohne Hindernisse erkennen. Daher geht Heinrich zur Diskussion der eigentlichen aristotelischen Zeitdefinition über: Zitat V Heinrich von Gent « ... ut dicit Philosophus: ipse id,
Aristoteles ..... [Non] [est] [motus], [sed] [quod] [secundum] [numerum habet motus].»27
Die Bestimmung der Zeit als Zahl der Bewegung ist das vorletzte Glied in der Kette der Aristoteleszitate, die sich auf das seelische Sein der Zeit beziehen. Heinrich hat auf diese Weise aus dem Zeittraktat des Aristoteles eine Kurzfassung hergestellt. Der Schwerpunkt dieses Extraktes runt auf dem seelischen Sein der Zeit. Entsprechend dieser Konzeption schlieBt Heinrichs Sichtung des aristotelischen Zeittraktates unter Hinblicknahme auf das seelische Sein der Zeit mit der <aristotelischen Zeitaporie>. Dieser Text hebt gleichsam alle anderen Zitate in sich auf. Alle Auszüge laufen darauf wie auf ein teleologisches Ziel zu. Dabei ist Zitat V mit dem Einblick in die Zahlhaftigkeit der Zeit nur ein Vorgriff auf diesen letzten Auszug. Aristoteles stützte seine Zeitdefmition auf den Begriff 27
HENRICUS A GANDAVO, Quodl. IllIIIq11;Anh. 465, 15/6 (Parisiis 1518, 63 v Y); vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 11, 219 b 2/3, Transl. nova; Maggiòlo n. 409, 281.
350
3.6.2. Heinrich von Gent
der Zahl. Indem er zugleich die Zahl als Produkt der Seele begriff, stellte er schon in der Anlage der Zeitdefinition die Basis fiir seine späteren Bemerkungen in der Zeitaporie her. Mit den Problemen der Zeitaporie leitet Heinrich von Gent seine Aristoteleszusammenfassung ein. Und mit diesem Text schlieβt er auch seine Bemerkungen zu Aristoteles zunächst ab: Zitat VI Heinrich von Gent
Aristoteles
«Et concludit dubitationem quaestionis propositae dicens:.... vel. ... Et facit argumentum, quod opponens adduxit, dicens:....
[Utrum autern, cum non sit anima, erit tempus] [non, dubitabit] [aliquis]. [Si autem nihil aliud aptum natum est numerare quam anima et animae intellectus, impossibile est esse tempus, anima si non sit].»28
Die Zitate I bis VI, die Heinrich hier zusammengestellt hat, sind die Element e der aristotelischen Theorie vom seelischen Sein der Zeit. Dabei stützte sich Heinrich auf die umfangreichen Bemühungen der lateinischen Aristoteleskommentatoren um ein angemessenes Verständnis des aristotelischen Zeittraktates. Diese Anstrengungen hatten um 1270 einen Höhepunkt erreicht. Niemals zuvor waren im lateinischen Westen in so kurzer Zeit so bedeutende Aristoteleskommentare entstanden wie damals. Heinrich hatte das Netzwerk der Aristoteleszitate, die sich auf das seelische Sein der Zeit beziehen, nicht ohne bestimmte Vorarbeiten knüpfen können. Er schöpfte aus dem reichen Fundus der Aristotelesexegese und rezipierte bestimmte vorgegebene Schwerpunkte der Forschung. Schon Averroes sah Ähnlichkeiten zwischen diesen Textabschnitten. Die lateinischen Aristoteleskommentatoren folgten ihm dabei. Daher konnte Heinrich die Texte bequem aneinanderreihen. Auf diese Weise gelangte er zu einer komprimierten Fassung der Zeittheorie des Aristoteles. 28
HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 465, 16-21 (Parisiis 1518, 63 v Y); vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21/2, 25/6, Transl. nova; Maggiölo n. 453/4, 308.
351
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Das erste Zitat stellt das Sein der Zeit schlechthin in Frage. Einerseits, so heiβt es dort sinngemäβ, existiert das Zukünftige noch nicht, andererseits gibt es das Vergangene schon nicht mehr. Was aber (wie die Zeit) aus derartigen Nichtseienden zusammengesetzt ist, kann nicht an der Substanz partizipieren. Wenn die Substanz das auβerseelische Seiende ist, dann bleibt für die nicht an der Substanz partizipierende Zeit nur die Seele als der Existenz übrig. Das zweite Zitat ergänzt diesen Gedankengang. Es enthält einen Hinweis auf die entscheidende Bedeutung der Seele bei der Konstitution von Zeit. Die Seele verknüpft die Jetztpunkte. Dann jedoch, wenn sie aus bestimmten Gründen ihre Aktivität aufgibt - wie bei den mythologischen Schiäfern von Sardes -, ist ihr die Zeit zwischen dem Ende der Aktivität und dem Beginn ihrer erneuten Tätigkeit unzugänglich. Zum Nichtsein der Zeit (Zit. I), das als Nichtsein auBerhalb (und Sein innerhalb) der Seele zu deuten ist, kommt nun der Ursprung der Zeit aus der Seele hinzu. Ein Beweis dafür ist der Zusammenhang von ZeitbewuBtsein und Seelentatigkeit. Aus dem driften Zitat ist ergänzend zu erfahren, daB die Seele selbst zur Zeitkonstitution keine äuBeren Gegenstände oder Wahrnelrmungen benötigt. Bei Finsternis oder der Abwesenheit körperlicher Gegenstände ist schon die innerseelische Veränderung zeithaft. Allerdings braucht die Seele zur Zeitkonstitution Bewegung. Darauf verweist das vierte Zitat. Nur wenn die Seele in den Bewegungsfluβ eingreift und bestimmte Determinanten in der Bewegung hervorbringt (prius/posterius-Struk tur), sind die Vorbedingungen zur Zeitgewinnung durch Zählung gegeben. Die Zeit ist nämiich die Zahl der Bewegung. Dies zeigt das fiinfte Zitat. Da jedoch Zahl und zählende Seele in einem Zusammenhang stehen, leitet Aristoteles nach Heinrich im sechsten und abschlieBenden Zitat die Zeit aus der konstitutiven Tätigkeit der Seele ab. Weil die Zahl nicht ohne die Seele existiert, ist auch die Zeit an die Seele gebunden. Heinrich hat jede Bemerkung, die auf eine Verbindung zwischen Zeit und Seele schlieBen läβt, sorgfältig aus dem Zeittraktat des Aristoteles herausgefiltert. Diese so eruierten Textsteilen fügte er zu einem Textverbund zusammen. Auf diese Weise gewann er eine Linie kontinuierlicher Argumentation, die sich durch den gesamten Zeittraktat des Aristoteles zieht. Keinen Hinweis hat er ausgelassen, sondern jedes Indiz aufgegriffen. Auf diese Weise erscheinen die aneinandergereihten Aristoteleszitate als Eckpunkte eines Sinngefüges, das auf der <aristotelischen Zeitaporie> ruht. Heinrich stellt seine ausgewählten Aristoteleszitate zunächst nur vor. Ihre Verknüpfung ergibt sich aus ihrem inneren Zusammenhang. Ist diese Verbin352
3.6.2. Heinrich von Gent
dung einmal erkannt, dann erscheinen diese Aristotelesstellen nicht als eine lose Zitatenkette, sondern als eine konsequente Argumentationsreihe. Interessant ist die Tatsache, daβ Heinrich zwischen den ausgewählten Aristoteleszitaten und bestimmten Bemerkungen des Augustinus im elften Buch der Confessiones einen Zusammenhang sah. Schon andere hatten im 13. Jahrhundert Aristoteles mit Augustinus verglichen, aber niemand hat - soweit bekannt die Ähnlichkeiten zwischen Aristoteles und Augustinus in dieser Frage so extensiv wie Heinrich von Gent erforscht. Heinrich steht damit in den 70er Jahren des 13. Jahrhunderts einzig und ohne Beispiel da. Folgende Übersicht der Aristoteleszitate dokumentiert seine Exegese:
Zitate
Kapitel
Zeilen
I
IV 10
217 b 31-34, 218 a 2
III
IV 11
219 a 4-6, 22-25
IV
IV 11
219 a 26-33
V
IV 11
219 b 2/3
VI
IV 14
223 a 21/2, 25/6
Urn dem Leser die Analogie zwischen Aristoteles und Augustinus so eindringlich wie möglich vorzuführen, geht Heinrich nach der Vorstellung der Aristoteleszitate ohne Zwischenabschnitt zu Augustinus liber.
353
3.6.2.4, Heinrichs Kurzfassung des elften Buches der Confessiones Die Augustinuszitate Heinrichs beweisen, daB er das elfte Buch der Confessiones genau studiert hat. Er begnügte sich nicht mit einzelnen Kernthesen aus diesem Werk, Heinrich griff vielmehr auswählend in den Text des Augustinus ein. Aber er bemühl sich bei seiner umfangreichen Auswahl um Textnähe und Texttreue. Jedenfalls fällt das Bemtihen Heinrichs um Authentizität sofort auf. Doch Heinrich erstellte nicht nur eine zufällige Auswahl von Zitaten. Vielmehr erarbeitete er eine gezielie Zusammenstellung. Auf diese Weise fügte Heinrich die ausgewähiten Textbruchstücke zu einer neuen Einheit zusammen. Sein Extrakt ist eine Kurzfassung des elften Buchs der Confessiones. Die Struktur dieser kontrahierten Fassung verdient deshalb eine genaue Betrachtung. Es erscheint daher geboten, durch eine Detailanalyse das Entscheidende herauszuarbeiten. Heinrich nahm seine Auswahi im Hinblick auf Aristoteles vor. Das allein war nichts Neues, Das hatten andere schon früher getan. Nach Heinrich wurde erst recht so verfahren Entscheidend ist hier, daB Heinrich den Text des Augustinus nicht aus Raumgründen zu einer Kurzfassung komprimierte. Er konstruierte vielmehr einen Text, der einerseits zu den ausgewähiten Aristoteleszitaten paBte. andererseits die Schärfe, Dichte und Intensität der Gedankenführung des Augustinus widerspiegelte. Diese geschickte Auswahi läβt dabei erkennen, was die Zeittheoretiker in der zweiten Halite des 13, Jahrhunderts an diesem spätantiken Text interessierte. Wichtig ist auch das. was Heinrich weglieβ. Das des elften Buches der Confessiones drängte er nach Möglichkeit zurück. Dadurch helen alle Textabschnitte weg. die die Zeitanalyse des Augustinus in die quasi dialogische Struktur der Confessiones einbetten. Allerdings blieben Rudimente der Textstruktur des Augustinus auch in der gekürzten Version zurück. Heinrich konnte sie nicht weglassen, ohne den Gedankengang zu zerstören. Durch diese Kurzfassung trat jedoch der forschende und tastende Charakter des elften Buches der Confessiones in den Hintergrund. Dennoch legte Heinrich den Kern der Argumentation frei. Die Rehabilitation des Augustinus ging in den 70er Jahren des 13. Jahrhunderts einher mit einer neuen Genauigkeit und Intensität der Lektüre der Confessiones. Bevor Heinrich jedoch seine Augustinuszitate vorstellt, diskutiert er in einer Einleitung die zentrale Absicht des Augustinus in der Zeitphilosophie: Die Zeit 354
3.6.2. Heinrich von Gent
existiert allein in der Seele. Nur dann, wenn die Seele vorhanden ist, gibt es Zeit. Die Zeit folgt dabei der Bewegung, deren Zahl und Maβ sie ist. Dabei meinte Augustinus nach Heinrich nicht die äuBere Bewegung. Er insistiert vielmehr auf die innerseelische Veränderung, die ihrerseits wieder von äuBeren oder anderen Bewegungen abhängig ist.29 Die Zentrierung auf das seelische Sein der Zeit ist für Heinrich das Ziel der Forschungen des Augustinus. Unter diese Maxime stellt er sein Augustinuskonzentrat zusammen. Charakteristisch ist schon, wie Augustinus dort beginnt: Zitat I Heinrich von Gent
Augustinus XI 14, 17
I «Unde et dixit XI Confessionum:
Quid est tempus? Quis hoc facile breviterque explicabit?
Quid autem familiarius et notius in loquendo commemoramus quam tempus?
Quid est ergo tempus? Si nemo ex me ouaerat: scio; si quaerenti explicare velim, nescio: fidenter tarnen dico scire me, quod, si nihil praeter-
«Nullo ergo tempore non feceras aliquid, quia ipsum tempus tu feceras. Et nulla tempora tibi coaeterna sunt, quia tu permanes; at illa si permanerent, non essent tempora. Quid est enim tempus? Quis hoc facile breuiterque explicauerit? Quis hoc ad uerbum de illo proferendum uel cogitatione comprehenderit? Quid autem familiarius et notius in loquendo commemoramus quam tempus? Et intellegimus utique, cum id loquimur, intellegimus etiam, cum alio loquente id audimus. Quid est ergo tempus? Si nemo ex me quaerat, scio; si quaerenti explicare uelim, nescio: fidenter tamen dico scire me, quod, si nihil praeter-
29
Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 465, 21-466, 3 (Parisiis 1518, 63 v Y): «Et est intentio Augustini, ut dictum est, quod tempus non est nisi in anima et nisi sit anima et quod sequitur motum ut numerus et mensura eius, non eum, qui est extra, sed eum, qui est in conceptibus animae vel de eo, qui est extra, vel de quocumque alio.»
355
Teil III - Das 13. Jahrhundert
iret, non esset praeteritum tempus, et si nihil adveniret, non esset futurum tempus, et si nihil esset, non esset praesens tempus. Duo ergo illa, praeteritum et futurum, quomodo sunt, quoniam et praeteritum iam non est et futurum nondum est? Praesens autem, si semper esset praesens et in praeteritum non transiret, iam non esset tempus, sed aeternitas. Si ergo praesens, ut tempus sit, ideo sit, quia in praeteritum transit, quomodo et hoc esse dicimus, cui causa, ut sit, illa est, quia non erit, ut scilicet non vere dicamus tempus esse, nisi quia tendit in non esse?»30
iret, non esset praeteritum tempus, et si nihil adueniret, non esset futurumtempus, et si nihil esset, non esset praesens tempus. Duo ergo illa tempora, praeteritum et futurum, quomodo sunt, quando et praeteritum iam non est et futurum nondum est? Praesens autem si semper esset praesens nec in praeteritum transir et, non iam esset tempus, sed aeternitas. Si ergo praesens, ut tempus sit, ideo fit, quia in praeteritum transit, quomodo et hoc esse dicimus, cui causa, ut sit, illa est, quia non erit, ut scilicet non uere dicamus tempus esse, nisi quia tendit non esse?»31
Heinrich eröffnet die Reihe der Augustinuszitate bzw. seine komprimierte Fassung des elften Buches der Confessiones mit einem fast vollständigen Exzerpt aus Abschnitt XI 14, 17. Die einleitenden Ausführungen des Augustinus bis zu diesem Punkt läβt er beiseite. Heinrich beginnt direkt mit der bis heute berühmten Frage des Augustinus: . Hier setzt die von Heinrich erarbeitete Kurzfassung des augustinischen Zeittraktates ein. Die Gegenüberstellung des gekürzten Textes mit den entsprechenden Abschnitten der von L. Verheijen 1981 veröffentlichten kritischen Ausgabe der Confessiones läfit Heinrichs Verfahren erkennen. Er hat den Augustinustext nur am Anfang von Abschnitt XI 14, 17 leicht gekurzt. Sonst aber hielt sich Heinrich ziemlich genau an seine Vorlage. Der Grund für diese Kürzung ist leicht zu erkennen. Die entscheidende Frage des Augustinus - - soll deshalb die Kurzfassung des elften Buches der Confessiones einleiten, weil nach dem Verständnis Heinrichs erst hier die eigentliche Zeitanalyse des Augustinus beginnt. Heinrich setzt bei der ihm wichtigsten Textquelle an. Dabei vernachlässigt er die einleitenden Abschnitte des elften Buches vollständig. Er will vielmehr einen Augustinustext präsentieren, in dem das Aporetische der Zeit deutlicher zutage tritt. Es soll 30 31
HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 466, 4-16 (Parisiis 1518, 63 v Z). AUGUSTINUS, Conf. XI 14, 17. v. 1-19; Verheijen 202/3.
356
3.6.2. Heinrich von Gent
sich zeigen, daβ der Begriff Zeit kaum zugänglich ist. Vergangenheit und Zukunft gibt es, weil innerweltliche Gegebenheiten auftauchen und wieder verschwinden. Dennoch existiert die Vergangenheit nicht mehr und die Zukunft noch nicht. Dazu kommt das rapide Verschwinden der Gegenwart. Die Zeit tendiert auf diese Weise zum Nichtsein. Dies dokumentiert Heinrich sorgfältig. Darm reiBt er nach Kapitel XI 14, 17 erneut eine gröBere Lücke auf: Zitat II Heinrich von Gent
Augustinus XI 18, 23
II :<Et respondet dicens:
«Sine me, domine, amplius quaerere,
Sunt futura et praeterita, volo scire, ubi sunt. Quod si non valeo, scio tarnen ubicumque sint, non ibi ea futura esse aut praeterita, sed praesentia. Nam si ibi futura sunt, nondum ibi sunt, si et ibi praeterita sunt, iam non ibi sunt. Ubicumque igitur sunt, quaecumque sunt, non sunt nisi praesentia.»32
spes mea; non conturbetur intentio mea. Si enim sunt futura et praeterita, uolo scire, ubi sint. Quod si nondum ualeo, scio tamen, ubicumque sunt, non ibi ea futura esse aut praeterita, sed praesentia. Nam si et ibi futura sunt, nondum ibi sunt, si et ibi praeterita sunt, iam non ibi sunt. Vbicumque ergo sunt, quaecumque sunt, non sunt nisi praesentia.»33
Nachdem Heinrich den Abschnitt XI 14, 17 als Einstieg in die Zeittheorie des Augustinus benutzt hat, übergeht er die Kapitel XI 15, 18 bis XI 17, 22. Erst mit Beginn des Abschnittes XI 18, 23, d.h. dort, wo Augustinus nach dem <Wo> der Zeit fragt, kommt er unter der Heinrichs wieder zu Wort. Die Frage nach dem Ort der Zeit birgt in sich die Frage nach dem Sein der Zeit. Sie ist demnach eine wichtige Station zur Einsicht in das seelische Sein der Zeit. Das Nicht-mehr-Sein der vergangenen und das Noch-nicht-Sein der zukünftigen Zeitabschnitte führen dabei zur Rücknahme der Zeitdimensionen in die Seele. 32 33
HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 466, 16-21 (Parisiis 1518, 63 v Z). AUGUSTINUS, Conf. XI 18, 23 v. 1-7; Verheijen 205.
357
Teil IIIIDas 13. Jahrhundert Diese fundamentale Einsicht des Augustinus will Heinrich dem Leser vermitteln. Daher unterbricht er dessen Argumentationsstrang und greift ihn erst dort wieder auf, wo er in aller Dichte zu dieser Einsicht fiihrt: Zitat III Heinrich von Gent
Augustinus
III
XI 20, 26
«Et est responsio Augustini, quod sunt, sed non nisi in anima concipiente, non autem in re extra. Unde dicit capitulo <XX>: Quod autem nunc liquet et claret, nec futura sunt nec praeterita, nec proprie dicitur: tria tempora sunt,
praesens de praeteritis, praesens de futuris, praesens de praesentibus. Sunt enim haec in anima quaedam, et alibi ea non video, praesens de praeteritis memoria, praesens de praesentibus contuitus, praesens de futuris expectatio. Si haec permittuntur dicere, tria tempora video, fateor, quia tria sunt, praesens, praeteritum et futurum.»34
«Quod autem nunc liquet et claret, nec futura sunt nec praeterita, nec proprie dicitur: tempora sunt tria, praeteritum, praesens et futurum, sed fortasse proprie diceretur: tempora sunt tria, praesens de praeteritis, praesens de praesentibus, praesens de futuris. Sunt enim haec in anima tria quaedam et alibi ea non uideo, praesens de praeteritis memoria, praesens de praesentibus contuitus, praesens de futuris expectatio. Si haec permittimur dicere, tria tempora uideo fateor que, tria sunt. Dicatur etiam: "Tempora sunt tria, praeteritum, praesens et futurum", sicut abutitur consuetudo; dicatur.»35
Eine Betrachtung der Bearbeitung, die Heinrich am Text des Augustinus vorgenommen hat, führt zu folgenden Beobachtungen: Heinrich geht mit dem Text des Augustinus zunächst behutsam um. Er bewahrt seine im 34 35
HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 466, 21-467, 4 (Parisiis 1518, 63 v Z). AUGUSTINUS, Conf. XI 20, 26 v. 1-10; Verheijen 206/7.
358
3.6.2, Heinrich von Gent
Vergleich zum 13. Jahrhundert altertlimliche und schwerfälligere Diktion möglichst genau. Trotz dieses Purismus läβt Heinrich aber dort ganze Passagen fort, wo der tastende und wenig dogmatische Charakrer des elften Buches der Confessiones deutlich zutage tritt. Manche Eigentümlichkeit in der Diktion des Augustinus fiel daher der Zensur Heinrichs zum Opfer. Durch die Frage nach dem <Wo> der Zeit unter Bevorzugung der Gegenwart hat Heinrich das innerseelische Sein der Zeitdimension in der Theorie des Augustinus angemessen dargestellt, Danach versucht er eine Vertiefung des Verständnisses dieser These. Die Zentrierung der Zeittheorie des Augustinus auf die Seele - durch die Rücknahme der Zeitdimensionen in die Seele unter Präferenz der Gegenwart dokumentiert Heinrich mit einer Reine von Augustinuszitaten. Er hat die Texie sorgfältig ausgesucht und sie ohne Kommentar miteinander verbunden. Auch hier zeigt erst die Gegeniiberstellung der beiden Texte das ganze Ausma8 der redaktionellen Eingriffe Heinrichs. Aber Heinrichs Redaktion 1st keine Verstümmelung des Textes. Durch die Konzentration des Stoffes gewinnt der Inhalt an Dichte und die Darstelung an Klarheit. Die Zitatenkette des Heinrich von Gent besitzt folgende Struktur: Zitat IV-X Heinrich von Gent
Augustinus XI 25, 32
IV «Confiteor ignorare me adhuc. quid sit tempus.
«Et confiteor tibi, domine, ignorare me adhuc, quid sit tempus ... »36 XI 26. 33
V Visumque mihi est nihil aliud esse tempus quam distentionem, sed cuius rei, nescio, et minim, si non ipsius animi.
36 37
«Inde mihi uisum est nihil esse aliud tempus quam distentionem: sed cuius rei, nescio, et minim, si non ipsius animi.» 37
AUGUSTINUS, Conf. XI 25, 32 v. 1-2; Verheijen 210. AUGUSTINUS, Conf. XI 26, 33 v. 19-21; Verheijen 211.
359
Teil III - Das 13. Jahrhundert
VI
Non metior futurum, quia nondum est, non praesens, quia nullo spatio tenditur, non praeteritum, quia iam non est.
«Quid enim metior, obsecro, deus meus, ei dico aut indefinite: "Longius est hoc tempus quam illud" aut etiam definite: "Duplum est hoc ad Mud?" Tempus metior, scio; sed non metior futurum, quia nondum est, non metior praesens, quia nullo spatio tenditur, non metior praeteritum, quia iam non est. Quid ergo metior? An praetereuntia tempora, non praeterita?»38 XI 27, 34
VII Et metimur tarnen tempora.
«Et metimur tarnen tempora ... »39
VIII Non ergo ipsa, quae iam non sunt, sed aliquid in memoria mea metior, quod infixum manet
XI 27, 35 «Non ergo ipsas, quae iam non sunt, sed aliquid in memoria mea metior, quod infixum manet.»40
IX
XI 27, 36
affectione, quam res praetereunies faciunt et, cum illae praetereunt, manet ipsa.
38 39 40
«Affectionem, quam res praetereuntes in te faciunt et, cum illae praeterierint, manet, ipsam metior praesentem, non ea quae praeterierunt, ut fieret; ipsam metior, cum tempora metior.
AUGUSTINUS, Conf. XI 26, 33 v. 21-27; Verheijen 211. AUGUSTINUS, Conf. XI 27, 34 v. 21; Verheijen 212. AUGUSTINUS, Conf. XI 27, 35 v. 43-45; Verheijen 213.
360
3.6.2. Heinrich von Gent
Ergo ipsa tempora sunt ipsa, aut non metior tempora.
Ergo aut ipsa sunt tempora, aut non tempora metior.»41
X
XI 28, 37
Sed quomodo minuitur aut consumitur futurum, quod nondum est, aut quomodo crescit praeteritum, quod iam non est, nisi quia in animo tria sunt? Nam et expectat et attendit et meminit, ut id, quod expectat, per id, quod attenditur, transeat in id, quod meminit. Quis negat futura nondum esse? Sed tarnen iam est et in animo expectatio futurorum. Et quis negat praeterita iam non esse? Sed tarnen adhuc est in animo memoria praeteritorum. Et quis negat praesens tempus carere spatio, quia in puncto praeteriit? Sed tarnen perdurat attentio, per quam pergat abesse, quod aderit. Non igitur longum tempus futurum, quod nondum est, sed longum futurum longa expectatio futuri est, neque longum praeteritum tempus, quod non est, sed longum praeteritum longa memoria praeteriti est. 42
«Sed quomodo minuitur aut consumitur futurum, quod nondum est, aut quomodo crescit praeteritum, quod iam non est, nisi quia in animo, qui illud agit, tria sunt? Nam. et expectat et attendit et meminit, ut id quod expectat per id quod attendit transeat in id quod meminerit. Quis igitur negat futura nondum esse? Sed tarnen iam est in animo expectatio futurorum. Et quis negat praeterita iam non esse? Sed tarnen adhuc est in animo memoria praeteritorum.. Et quis negat praesens tempus carere spatio, quia in puncto praeterit? Sed tarnen perdurat attentio, per quam pergat abesse quod aderit. Non igitur longum tempus futurum, quod non est, sed longum futurum longa expectatio futuri est, neque longum praeteritum tempus, quod non est, sed longum praeteritum longa memoria praeteriti est.
43
Heinrich hat die Augustinuszitate IV bis VI sorgfältig voneinander getrennt. Bei den Zitaten VI bis X faβte er dagegen aus unterschiedlichen Abschnitten ohne kennzeichnende Trennung sowohl einzelne Bruchstücke (VII/VIII) als auch ein ganzes Kapitel (X) zu einem fortlaufenden Text zusammen. Heinrich 41 42 43
AUGUSTINUS, Conf. XI 27, 36 v. 48-52; Verheijen 213. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 467, 5-468, 2 (Parisiis 1518, 63 v Z). AUGUSTINUS, Conf. XI 28, 37 v. 1-13; Verheijen 213/4.
361
Teil III - Das 13. Jahrhundert
ermöglicht auf diese Weise einen zusammenfassenden Überblick. Diese verkürzte Fassung soll dem Leser eine Lektüre des gesamten elften Buches der Confessiones ersparen. Heinrich bietet durch seine Zusammenfassung auch einen Einblick in die Grundgedanken der Zeitphilosophie des Augustinus. Dabei beschränkt er sich auf die nach seiner Ansicht wesentlichen Abschnitte. Die Auswahl zeigt, worauf es Heinrich bei seinem Studium des elften Buches der Confessiones ankam. Nachdem er die Grundfrage des Augustinus () zitiert hatte (I), leitete er zur nächsten wichtigen und weiterführenden Frage nach dem <Wo> der Zeit iiber () (II). Es zeigt sich dabei, daB die Zeitdimensionen nicht auBerseelisch vorhanden sind (III). Diese drei einleitenden Passagen dokumentieren die Fragestellung des Augustinus. Danach beginnt ein neuer Argumentationsgang. An dessen Ende steht die detailliert begründete Erkenntnis, daβ die Zeitdimensionen aus der Erstreckung der Seele entspringen. Diese Einsicht vermittelt Heinrich mit Hilfe der Zitate IV bis X. Von Au gustinus' Bekenntnis seines Nichtwissens im Hinblick auf die Zeit (IV) über eine nähere Analyse der MeBbarkeit der Zeitdimensionen bis zum Nachweis ihres seelischen Seins (X) führt Heinrich den Leser durch die Zeitphilosophie des Augustinus. Heinrich selbst sagt dabei zunächst nichts. Aber weil die spezifische Auswahl seine Handschrift trägt, erhält der Leser nicht nur Informationen zur Zeittheorie des Augustinus. Er erkennt zugleich etwas von dem Bild, das Heinrich von Gent, ein Philosoph der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, von Augustinus, einem Denker der Spätantike, entworfen hat. Am Ende seiner Augustinusexzerpte faBt Heinrich als Ergebnis zusammen: Die Zeit existiert nach Augustinus nur in der Seele. Sie ist nichts anderes als die Einwirkung (affectio) bzw. der in der Seele verbleibende Begriff (conceptus) des der vorübergehenden Dinge (rerum pertranseuntium). Nachdem Heinrich auf diese Weise die zentralen Aussagen des Augustinus vorgestellt hat, schematisiert er sie. Dabei faBt er Augustinus' Theorie der Zeitdimensionen in wenigen Sätzen zusammen:44
44
Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 468, 2-9 (Parisiis 1518, 63 v Z): «Ecce plane, quid de proposita quaestione sensit Augustinus, videlicet quod non esset nisi in anima et nihil aliud quam affectio seu conceptus transitus rerum pertranseuntium manens in anima, ut quod tempus futurum nihil aliud sit quam conceptus secundum expectationem praetereundi, praeteritum nihil aliud quam conceptus secundum recordationem iam pertransiti, praesens vero nihil aliud quam conceptus secundum attentionem iam praetereuntis.»
362
3.6.2. Heinrich von Gent
tempus futurum
conceptus secundum expectationem praetereundi
tempus praesens
conceptus secundum attentionem iam praetereuntis
tempus praeteritum
conceptus secundum recordationem iam pertransiti
\
Heinrich von Gent hatte durch tiefgreifende Analysen ein übersichtliches Schema der Zeittheorie des Augustinus gewonnen. Doch damit war Heinrichs Auseinandersetzung mit dem elften Buch der Confessiones noch nicht beendet. Zur Illustration seiner komplexen Zeittheorie benötigte schon Augustinus ein aus der sinnlichen Erfahrung genommenes Exempel. Er wählte dazu den kontinuierlichen Fluβ einer Melodie. Heinrich griff dieses Verfahren auf: Zitat XI Heinrich von Gent
Augustinus XI 28, 38
XI «Verbi gratia, sicut dicit: Dicturus sum canticum, quod novi: antequam incipiam, in totum expeccoetatio mea tenditur, cum pero, quantum ex illa in praeteritum decerpsero, tendit in memoriam,
quod dixi et in expectationem,
«Dicturus sum canticum, quod noui: antequam incipiam, in totum expectatio mea tenditur, cum autem coepero, quantum ex illa in praeteritum decerpsero, tenditur et memoria mea, atque distenditur uita huius actionis meae in memoriam propter quod dixi et in expectationem prop363
TeilIII- Das 13. Jahrhundert quod dicturus sum. Praesens, cum adest, adest attentio, per quam traicitur, quod erat futurum, ut fiat praeteritum. Quod quanto magis agitur, tanto abbreviatur expectatio et prolongatur memoria, donec tota expectatio consumatur. Et cum tota transierit in memoriam, finita est actio. Et quod in toto cantico, hoc in singulis particulis fit eius, hoc in actione longiore
est,
hoc in tota vita hominis, hoc in toto saeculo filiorum homi.45
num.»'
ter quod dicturus sum: praesens tarnen adest attentio mea, per quam traicitur quod erat futurum, ut fiat praeteritum. Quod quanto magis agitur et agitur, tanto breuiata expectatione prolongatur memoria, donec tota expectatio consumatur, cum tota illa actio finita transient in memoriam. Et quod in toto cantico, hoc in singulis particulis eius fit atque in singulis syllabis eius, hoc in actione longiore, cuius forte particula est illud canticum, hoc in tota uita hominis, cuius partes sunt omnes actiones hominis, hoc in toto saeculo filiorum hominum, cuius partes sunt omnes uitae hominum.»46
Mit diesem Abschnitt setzt Heinrich das Ende seiner Kurzfassung des elften Buches der Confessiones. So schroff er Augustinus beginnen läβt (I), so abrupt endet sein Konzentrat. Der aus dem elften Buch der Confessiones exzerpierte Text franst gegen Ende aus. Heinrich läβt immer gröBere Teilabschnitte ausfallen. Welche Fülle der Einsicht wäre möglich gewesen, wenn Heinrich von Gent das explikative Beispiel des Augustinus in Zitat XI überprüft und denkend vertieft hätte. In der kommentarlosen Kurzfassung Heinrichs geht der philosophische Sprengstoff, der in den Thesen des Augustinus verborgen ist, fast verloren. Der ganze Umfang der Kürzungen Heinrichs am Text des elften Buches der Confessiones ist durch folgende Tabelle ersichtlich: 45
HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 468, 10-20 (Parisiis 1518, 63 v Z-64 r
Z). 46
AUGUSTINUS, Conf. XI 28, 38 v. 14-27; Verheijen 214.
364
3.6.2. Heinrich von Gent
Zitat
Conf. XI
Zeile
Verheijen
I
14, 17
3/4 6/7 8-19
202/3
II
18,23
2-7
205
III
20,26
1/2, 3-9
206/7
IV
25,32
1/2
210
V/VI
26,33
20/1 211 24-26
VII
27,34
21
212
VIII
27,35
43-45
213
IX
27, 36
48/9 51/2
213
X
28,37
1-13
213/4
XI
28,38
14-26
214
365
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Wie alle Philosophen des 13. Jahrhunderts hatte auch Heinrich von Gent kein Interesse an dem Reichtum und der literarischen Struktur des elften Buches der Confessiones. Heinrich reduzierte den Text des Augustinus auf das ihm Wichtige. Dabei schuf er ein Konzentrat, das in Stil und argumentativer Dichte gut zu dem ins Lateinische übersetzten Aristoteles paβte. Die eigentümlichen Strukturen der Analysen des Augustinus und sein Stil gingen bei diesem Konzentrationsprozeβ fast ganz verloren. Ein Vergleich des Umfangs und des Inhalts der Augustinuszitate Heinrichs mit dem Exzerpt, das Albert in seiner Frühschrift De IV coaequaevis angefertigt und durchgearbeitet hat47, zeigt Heinrichs eigentümliche Arbeitsweise. Seine Kurzfassung des elften Buches der Confessiones erlaubt einen genaueren Einblick in die Argumentation des Augustinus. Heinrich erreicht ein vertiefteres Verständnis der Zeitphilosophie des Augustinus. Er hat auf diese Weise die Bemühungen Alberts in der Frühschrift De IV coaequaevis weit überholt. Was Albert damals gesagt hatte, genügte der nachfolgenden Generation nicht mehr. Sie las das elfte Buch der Confessiones gegen Ende der 70er Jahre des 13. Jahrhunderts wieder genauer. Jene Philosophen erkannten, daB eine kurze und skizzenhafte Auseinandersetzung mit Augustinus, wie sie Albert u.a. vorgetragen hatten, dem Stand der Diskussion über das seelische Sein der Zeit nicht mehr entsprach. In diesen Jahren nahm die Riickkehr des Augustinus ihren Anfang. Die umfangreiche Analyse Heinrichs läβt dabei erkennen, daB das Interesse an Augu stinus' Zeitanalysen groB war. Wenn die Philosophen dieser Zeit das elfte Buch der Confessiones erneut und vertieft studierten, dann deshalb, weil sie ihre Argumentationsweise am Zeittraktat des Aristoteles und an Averroes geschult hat ten. Wer Augustinus dem Aristoteles an die Seite stellen wollte, muβte den Text des elften Buches der Confessiones von theologischen Implikaten . Heinrichs Forschungen zu Augustinus stehen nicht isoliert da. Ihre Intention ist nur aus dem historischen Kontext begreifbar. Dazu gehort die Vorgeschichte der Augustinusrezeption in der Zeitphilosophie des 13. Jahrhunderts. Aber auch die Verurteilung der 200. Pariser These vom seelischen Sein der Zeit ist hier wichtig. Die Basis der gesamten Untersuchungen Heinrichs zur Zeitphilo sophie ist jedoch seine Bemühung um ein angemessenes Verständnis der Zeittheorie des Aristoteles. Heinrich bezieht dabei die Ergebnisse der Auslegung des Averroes mit in seine Untersuchung ein. Erst die Verknüpfung dieser verschiedenen Komponenten und Rücksichten erklärt die Notwendigkeit einer ver47
Vgl. 3.3.4., S. 223-227.
366
3.6.2. Heinrich von Gent
tieften Rezeption des elften Buches der Confessiones in den 70er Jahren des 13. Jahrhunderts.48 Heinrich von Gent hat sich dieser Situation gestellt. Daher bietet die erste Hälfte seiner Zeitabhandlung eine umfangreiche Gegenüberstellung bestimmter Aristoteleszitate mit einer Auswahl vergleichbarer Augustinustexte. Heinrich unternahm hier im Prinzip nichts anderes als das, was Albert schon versucht hatte. Aber er ging weitaus genauer und systematischer vor. Wer Heinrichs Quodlibet studierte, konnte nicht mehr übersehen, daβ es in Hinblick auf das seelische Sein der Zeit bestimmte Parallelen zwischen Augustinus und Aristote les gab. Nachdem dieser Nachweis gelungen war, ging Heinrich zu einem neuen Abschnitt über. Er versuchte dort zu zeigen, daB die Position des seelischen Seins der Zeit ganz entscheidende Schwächen besitzt. Die Theoretiker einer auBerseelischen und für alle verbindlichen Weltzeit haben dagegen ein gewichtiges Argument auf ihrer Seite. Sie können, wie schon Aristoteles selbst, auf das Phänomen der natürlichen Bewegung verweisen. Eine Zeitanalyse muβ immer schon Bewegungsanalyse sein. Gemäβ dieser Auffassung ist die zweite Hälfte der Untersuchung Heinrichs eine detaillierte Analyse der Beziehung der Zeit zur Bewegung. Heinrich arbeitet mit einer Theorie der Aspekte der Bewegung, die er als Basis für seine abschlieBende Lösung der Frage nach dem seelischen Sein der Zeit benutzt.
48
Vgl. P. Porro, Enrico di Gand sul problema della realta del tempo in Agostino (Quodl. III, q. 11), in: LTJmanesimo di Sant' Agostino, Atti del Congresso internazionale, Bari 28-30 ottobre 1986, a cura di M. Fabris, Bari 1988, 509-611. P. Porro hat zuerst auf die Bedeutung der Augustinusexzerpte des Heinrich von Gent aufmerksam gemacht. Aber er übersah dabei die Konstellation . Zudem erkannte er nicht die grundlegende Rolle der <aristotelischen Zeitaporie> für die Auswahl der Augustinuszitate. Seine Analyse ist vielmehr dadurch belastet, daB sie den Kontext der Augustinusstudien Heinrichs kaum berücksichtigt. Insofem tastet sich Porro am Text entlang. Die eigentlichen Absichten Heinrichs blieben ihm dabei verschlossen. Auch eine entwicklungsgeschichtliche Analyse fehlt bei Porro. Dadurch entging ihm auch die fundamentale Bedeutung der Thesen Heinrichs für die Geschichte des zeitphilosophischen Averroismus im 13. Jahrhundert Dennoch sind die Untersuchungen Porros nicht ohne Bedeutung. Er war in dieser Hinsicht einer der ersten, der die Augustinusrezeption in der Zeitphilosophie des 13. Jahrhunderts zum Gegenstand einer Untersuchung gemacht hat.
367
3.6.2.5. Vorbereitende Analysen zum Verhältnis von Zeit und Bewegung Nachdem Heinrich von Gent in Hinblick auf das seelische Sein der Zeit die Thesen des Aristoteles und des Augustinus in der ersten Hälfte seines Zeittraktates angemessen vorgestellt hat, geht er zur Kritik ihrer Positionen über. Die Zeit ist keine Fiktion. Sie muβ vielmehr irgend etwas sein.49 Wenn Heinrich damit auf ein Sein der Zeit verweist, dann scheint er das auBerseelische Sein der Zeit im Auge gehabt zu haben. So dachte schon Aristoteles in der Zeitaporie. Er sprach das () an und verwies zugleich auf die Bewegung (κίvησιs). 50 Diesen DenkanstoB nahm Heinrich auf. Er hatte in der ersten Hälfte seines Zeittraktates fast nur eine Seite der aristotelischen Zeitaporie näher in den Blick genommen. Neben die Aristotelesstellen, die auf das seelische Sein der Zeit verweisen, setzt Heinrich jetzt andere Textpassagen. Diese ÄuBerungen zeigen eine entgegengesetzte Position.51 Es ist die Aufgabe dieses Abschnittes, Heinrichs Argumentation gegen das seelische Sein der Zeit und die Quellen seiner Argumente zu betrachten. Heinrich beginnt unter Hinblicknahme auf Aristoteles mit einer Analyse der Bewegung. Sein Gedankengang ist dabei nicht schwer zu erkennen. Wenn die Zeit in der Seele existiert bzw. nur in der Seele vorhanden ist, fiihrt diese Annahme zu bestimmten SchluBfolgerungen. Die Zeit erscheint dann zunächst unter dem Aspekt einer Abstraktion vom realen Bewegungsfluβ. Ein Beobachter betrachtet sie insofern ausschlieBlich als einen Übergang vom Nichtsein über ein <mittleres> Sein zum erneuten Nichtsein. Der Seele ware allein das Gegenwärtige gegeben. Das Zukünftige ist noch nicht vorhanden, und das Vergangene existiert nicht mehr. Aber auch das Gegenwärtige ist für die Seele letztlich nur ein schnellerer oder langsamerer Übergang. Eine Übertragung dieses Standpunktes auf das auBerseelische Sein ergibt ein Problem. Soll dieser plötzliche Übergang, den die Seele allein anerkennt, auch der Bewegung anhaften? Und das zu dem alleinigen Zweck, daB wenigstens da-
49
Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 469, 1 (Parisiis 1518, 64 r A): «Sed quid est?» 50 Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 27. 51 Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 469, 1/2 (Parisiis 1518, 64 r A): «Numquid sentiendum est, quod secundum veritatem tempus non nisi in anima est?»
368
3.6.2. Heinrich von Gent
durch ein Augenblick in der vorübergehenden Sache, insofern sie entschwindet, zu setzen ist? Aber, so wendet Heinrich ein, wenn ein Augenblick nicht die Bezeichnung <Seiendes> verdient, weil er ais soldier nicht existiert, ist dann der Übergang selbst seiend? Auch er ist doch unbeständig. Die Folgerung aus jener Überlegung ist, daB auch die Bewegung nicht existiert« Wer so argumentiert, spricht nach Heinrich gegen das verläβliche Zeugnis der Sinne, die sich nicht täuschen lassen.52 Weil diese Argumentation als hypothetische Konstruktion der sinnlichen Erfahrung widerspricht, lehnt Heinrich sie ab. Er gibt anderes zu bedenken. Heinrich schlieBt sich nämlich nicht der Meinung derer an, die dem Augenblick kein Sein zusprechen. Vielmehr weist er auf das Gegenteil hin: Der Augenblick oder die Gegenwart existieren auBerhalb der Seele. Heinrich setzt dabei voraus, daB der Übergang (transitus) und die Übertragung (translatio) auBerhalb der Seele vorhanden sind.53 Diese Setzung des präsentischen Jetzt (nunc/instans) als seiend ist wichtig. Auch für die Kritik Heinrichs an Augustinus erlangt diese These Bedeutung. Bemerkenswert ist schon der Ausgang der Argumentation nicht allein von der Natur der Bewegung, sondern auch von der Bestimmtheit des Jetzt. Diese Präsumtion ist nicht folgenlos. Zunächst ergeben sich aus dem Postulat eines existierenden präsentischen Jetzt bestimmte Überlegungen. Sie lassen sich in drei Aspekte aufgliedern, die jeweils eine gesonderte Beachtung verdienen:
I
Wenn das Jetzt oder der Augenblick auBerhalb der Seele existiert - sei es auch schwach und unbestimmt -
52
Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 469, 2-11 (Parisiis, 64 r A): «Si enim in anima neque ullus intellectus comprehenderet motusfluxum,et secundum partes suas de non esse per esse medium fluerent in non esse iterum, et sic pars transiret post partem, quaedam citius, quaedam tardius. Numquid in re ipsa secundum se esset modus durationis suae in esse saltern subitaneus eo, quod nihil est in toto motu nisi transitio subita, ut sic saltern sit ponere instans in ipsa re transeunte, inquantum transit, aut si instans non meretur dici aliquid, quia non manet, similiter neque ipse transitus, quia similiter non manet? Et per consequens negabitur, quod non sit motus omnino in rebus, contra clarum iudicium sensus non decepti.» 53 Vgl HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 469, 11-14 (Parisiis 1518, 64 r A): «Revera necesse est ponere instans sive praesens esse in natura rei extra animam, si transitum vel translationem aliquam ponamus extra animam, quia instans necessario sequitur id, quod transfertur, inquantum transfertur, ut vult Philosophus.»
369
Teil III - Das 13. Jahrhundert
und die Bewegung wegen der kontinuierlichen Sukzession der Ubergänge in den Dingen vorhanden ist,
II
III
|
dann ergibt sich auf ähnliche Weise auch eine Verknüpfung der Zeit mit der Bewegung. Die Zeit folgt nämlich hinsichtlich ihrer Augenblicke der Bewegung, indem die Jetztpunkte die sukzessiv fortschreilenden Übergange, die die Bewegung verursachen, messend eingrenzen.54
Aristoteles weist in der Zeitaporie auf die aui3erseelische Bewegung hin. Deshalb greift Heinrich die Theorie vom seelischen Sein der Zeit massiv an. Was bedeuten die hierbei erreichten Einsichten für die Position des Augustinus? Auch darauf gibt Heinrich sorgfältig Auskunft. Er setzt die oben gewonnenen Einblicke in das Verhältnis von Zeit und Bewegung gegen Augustinus ein. Dessen Beweise zum seeiischen Sein der Zeit reichen ihm nicht aus. Die Bewegung hat keinen anderen modus essendi als die Zeit. Im Hinblick auf das Sein verhaiten sich Zeit und Bewegung gleich: I
Der Zustand der Bewegung in der Vergangenheit existiert ebensowenig wie die vergangene Zeit.
II
Dies gilt auch für die Zukunft. Der zukünftige Bewegungsverlauf ist wie die zukünftige Zeit nicht vorhanden.
III
Vergleichbares trifft auf die Gegenwart zu. In der Bewegung ist nur der aktuelle Übergang gegenwärtig, wie in der Zeit nur das Jetzt.
54
Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 469, 14-20 (Parisiis 1518, 64 r A): «Et si concedatur nunc instans esse in re extra animam quantumcumque debiliter, sicut ponirnus motum esse in rebus propter successionem continuam transituum unius post alterum, consimiliter necesse habemus ponere et in ipso motu tempus esse, quia tempus sequitur motum ex successione instantium mensurantium transitus succedentes, qui causant motum, sicut ipsum instans sequitur transitum ipsum.»
370
3.6.2. Heinrich von Gent
Dieser Sachverhalt ist nach Heinrich die Basis der Zeitphilosophie des Augustinus. 55 Heinrich beurteilt die Zeittheorie des Augustinus wie Albert im Physikkommentar nach dem Komparationsmodell, das Avicenna als Basis der Theorien vom seelischen Sein der Zeit entwickelt hat. Heinrich benutzte jedoch diese Parallelstruktur von Zeit und Bewegung als Ansatzpunkt fiir die Widerlegung der Zeitphilosophie des Augustinus. Nach Heinrich von Gent hat Augustinus seine Philosophie der Zeit auf das Faktum des Nicht-mehr-Seins der Vergangenheit, des Noch-nicht-Seins der Zukunft und des transitorischen Seins der Gegenwart gegründet. Dies zeigt folgendes Schema:
Heinrich akzeptiert zwei Theoreme zur Bewegung:
(I) Die Struktur der Zeit gilt auch fiir die Bewegung;
(II) die Bewegung existiert auβerhalb der Seele.
Aus der Zusammenfassung beider Theoreme ergibt sich die Einsicht, daB auch der Zeit auf eine zunächst noch unbestimmte Weise ein auBerseelisches 55
Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 469, 20-470, 3 (Parisiis 1518, 64 r A): «Nec plus possunt concludere persuasiones Augustini ad probandum tempus non esse in rebus, sed solum in anima quam motum, quia non alium modum essendi habet motus quam tempus, sicut patet inspicienti, quia, quod de motu in praeterito acceptum est, non est, sicut neque tempus praeteritum, et quod de motu futurum est, nondum est, sicut neque tempus futurum, et quod de motu in praesenti est, motus non est, sed in solo transitu est, sicut est de instanti. Super hoc enim Augustinus fundat omnem suam persuasionem.»
371
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Sein zukommt. Wenn das so ist, dann bricht die Zeittheorie des Augustinus in sich zusammen. Hierbei ist allerdings zu bedenken, da£ damit noch nicht das abschlieβende Urteil Heinrichs zu Augustinus' Zeittheorie vorliegt. Die endgültige Abrechnung Heinrichs mit Augustinus erfolgt erst am Ende seines Zeittraktates. Zunächst diskutiert er nur, welche Konsequenzen sich fiir eine Theorie der Zeit ergeben, wenn der Hinweis des Aristoteles aus der Zeitaporie,
Beachtung findet. Auf diese Weise erscheint die Bewegung als das Phänomen, dessen Betrachtung die einseitige Sicht einer rein seelischen Zeit überwindet. Aber auch dabei sind abstrakte Extrempositionen zu vermeiden. Vielmehr ist ein Einblick in die Fiille und Vielfalt der Aspekte des Problems notwendig. Dies erreicht Heinrich durch seinen Hinweis auf Averroes, dessen Thesen zur Philosophie der Zeit gerade in den 70er Jahren des 13. Jahrhunderts auf dem Gipfelpunkt ihres Einflusses standen.56 Bevor Heinrich von Gent Averroes in den Blick nimmt, widerlegt er einen bestimmten einseitigen Entwurf zur Philosophie der Zeit. Diese Position verzichtet durch ausschlieBliche Beriicksichtigung der Bewegung völlig auf eine Leistung der Seele bei der Konstitution der Zeit. Wenn die Zeit hinsichtlich ihres Seins der Struktur der Bewegung entspricht, dann ist sie ebenso wie die Bewegung rein auBerseelisch vorhanden. Ein Sein der Zeit in der Seele bedeutet dann nichts anderes als das Sein ihres Begriffes in der erkennenden Seele.57 Strenggenommen ist damit jedoch kein seelisches Sein der Zeit, sondern ein seelisches Sein des Begriffes der Zeit gemeint. Die Theorie einer auBerseelischen Weltzeit, wie sie Avicenna vertreten hat, ware für Heinrich nicht akzep-
56
Vgl. 3.5., S. 287/8. Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 470, 7-12 (Parisiis 1518, 64 r A): «Et videretur alicui dicendum, quod sic: Si tempus in suo esse perfecte sequitur esse motus, tunc sicut motus totum esse suum habet omnino extra animam in rebus motis et non habet esse in anima nisi per suam speciem tamquam in cognoscente, sic neque tempus habet esse in anima nisi sicut in cognoscente per suam speciem, sed secundum rei veritatem in motu extra existente in re.» 57
372
3.6.2. Heinrich von Gent
tabel gewesen. Die Auffassung des Averroes steht ihm näher, wie sein Hinweis auf den Araber beweist. Mit der ontologischen Einordnung der Zeit unter die Seienden, die auβerhalb der Seele nur potentiell vorhanden sind, bereitet Averroes das in Kommentar text 131 ausführlich diskutierte vor. Dieses philosophische Konzept ist grundlegend für seine Lehre zum Verhältnis von Zeit und Seele. Darauf bezieht sich auch Heinrich. Er nimmt daher auf diese Weise Anteil am Streit um die Zeittheorie des Averroes, der in den 70er Jahren des 13. Jahrhunderts einen Höhepunkt erreicht hatte: Heinrich von Gent
Averroes
«Sed non est ita. Dicit enim Commentator super capitulum de tempore, [est de numero entium, quorum actus quod tempus completur per animam], et [entibus latentibus], quae, [si] [anima non] esset, [non essent nisi in potentia] ... »58 Eine Unterwerfung der Zeit unter dieses von Averroes angewandte Schema zeigt, daB sie auf gewisse Weise sowohl ein Sein in als auch auβerhalb der Seele besitzt. 59 Heinrich nimmt also die Aristotelesauslegung des Averroes in seine Theorie des Verhältnisses von Zeit und Seele auf. Er reiht sich damit in die Gruppe der Theoretiker ein, die in den 70er Jahren des 13. Jahrhunderts nicht Thomas, sondern mehr der von Averroes initiierten und von Albert übernommenen Auslegung der <aristotelischen Zeitaporie> folgten. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daB Heinrich von Gent wiederholt auf diesen zentralen Text zurückkommt. Der Ausgang vom auBerseelischen Sein der Bewegung erbrachte nach Heinrich den Beweis, daB (auf gewisse Weise) eine auBerseelische Zeit anzunehmen ist. Demgegenüber bestehen Gründe, die für das seelische Sein der Zeit spre58
HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 470, 12-16 (Parisiis 1518, 64 r A/B); vgl. AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 88; Venetiis 1562, 174 r B. 59 Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 470, 17-20 (Parisiis 1518, 64 r B): «His visis dicendum ad quaestionem, quod tempus quodammodo habet esse sine anima in re extra, et quodammodo in anima et non sine anima, in quo resedit sententia Philosophi circa esse temporis. Quod expresse patet ex eo, quod dicit antefinemcapituli de tempore ...»
373
Teil III - Das 13. Jahrhundert
chen. Averroes hatte diese Aporie durch das aristotelische Potenz/Akt-Schema zu überwinden versucht. Heinrich dagegen verdeutlicht zunächst beide Positionen durch einen erneuten Rückgriff auf die<aristotelischeZeitaporie>: Heinrich von Gent
Aristoteles
«Quod expresse patet ex eo, quod dicit ante finem capituli de tempore: [Dignum], inquit, [consideratione est, et quomodo] [se habet] [ad animam, et propter quid in omni videtur tempus, et in terra et in mari et in caelo]. Per hoc ergo, quod dicit: 'Et propter quid' etc., expresse insinuat, quod per motum habet esse in rebus extra.»60 Heinrich von Gent versteht diese einfuhrenden Sätze des Aristoteles als Exposition des Problems: Einerseits bezieht sich die Zeit in gewisser Weise auf die Seele, andererseits beherrscht sie den gesamten Kosmos. Diese Universalität ist nach Heinrich durch die Omnipräsenz der Bewegung bedingt. Mit dem Satz <propter quid etc.> habe Aristoteles darauf verweisen wollen, daβ die Zeit mit Hilfe der Bewegung ein Sein in den auBerseelischen Dingen besitze. Aristoteles vertieft diese These durch eine Bemerkung, die Heinrich anschlieBend zitiert: Heinrich von Gent
Aristoteles
«Et hoc est, quod subiungitur respondendo ad illud 'propter quid' dicens:... [Aut quia] tempus [quaedam passio est], motus scilicet, hoc autem moventur.... [omnia], [tempus autem et motus simul] [secundum actum et potentiam sunt].»61
60
HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 470, 19-471, 1 (Parisiis 1518, 64 r B); vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 16-18, Transl. nova; Maggiölo n. 451, 308. 61 HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 471, 1-4 (Parisiis 1518, 64 r B); vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 18-21; Maggiölo n. 452, 308.
374
3.6.2. Heinrich von Gent
In diesem zweiten Abschnitt seiner Paraphrase der Zeitaporie läBt sich Heinrich von Aristoteles die Bewegung als das auβerseelische Fundament der Zeit bestätigen. Dieser Text zeigt nach seiner Auffassung, daB die Zeit auf gewisse Weise (quodammodo) mit der auBerseelischen Bewegung verknüpft 1st. Aber die Zeit existiert auch in der Seele. Dies demonstriert der andere Teil der Zeitaporie, der nach Heinrich nun keiner genauen Explikation mehr bedarf: Heinrich von Gent
Aristoteles
«Per illud autem, quod dicit: [Quomodo] [se habet] [ad animam], innuit , quod quodammodo habet esse in anima, quod explicat satis, cum statim adducit argumentum probans, quod tempus non est sine anima, quia [tempus est numerus motus]. Numerus autem non est sine numerante, quod non est nisi anima.»62 Heinrich läBt sich nicht mehr detailliert auf diese Seite der Zeitaporie ein. Er wiederholt nur kurz und knapp die Grundthesen des Aristoteles: Die Zeit existiert nicht ohne die Seele, weil sie die Zahl der Bewegung ist. Weil die Zeit eine Zahl ist, bedarf sie zu ihrem Sein eines Zählenden. Heinrich sieht nicht nur den aporetischen Charakter dieser Aristotelesstelle, sondern er weiβ auch um die Problematik der Zeit als <esse utcumque>. Diese Formulierung zog gerade in den 70er Jahren des 13. Jahrhunderts die Aufmerksamkeit auf sich.63 Aber Heinrich geht darauf zunächst nicht direkt ein, sondern verweist nur auf das Sein der Zeit. Diese Unzugänglichkeit der Zeit erschwert ihre Erforschung. Die folgende groBangelegte Analyse Heinrichs ist aber als Antwort auf diese Problematik zu verstehen.
62
HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 471, 4-9 (Parisiis 1518, 64 r B); vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 16/7, Transl. nova; Maggiölo n. 451, 308; idem. Phys. IV 11, 219 b 1/2, Transl. nova; Maggiölo n. 409, 281. Die restlichen Formulicrungen Heinrichs lehnen sich inhaltlich ebenfails stark an Aristoteles an. Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 22-24, Transl. nova; Maggiölo n. 454, 308. 63 Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 471, 9/10 (Parisiis 1518, 64 r B): «Sed quomodo tempus habet esse [utcumque], satis difficile est videre et obscurum ... »; vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 27, Transl. nova; Maggiölo n. 455, 308.
375
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Heinrichs bisheriger Gedankengang erfüllt dabei in mehrfacher Hinsicht den Zweck einer vorbereitenden Analyse: I
Der beständige Wechsel zwischen den Argumenten für und gegen das seelische Sein der Zeit führt direkt zur Einsicht in den aporetischen Charakter der Frage nach dem seelischen Sein der Zeit. Der Leser lernt hier nicht nur die Feinheiten des Problems kennen, sondern begreift auch, daβ beide Seiten - das seelische und das auBerseelische Sein der Zeit - auf ge wisse Weise ihre Berechtigung haben. Eine akzeptable Theo rie der Zeit muβ also beide Perspektiven berücksichtigen. Diese Auffassung hatte Heinrich von Averroes bzw. von den Philosophen, die Averroes folgten, gelernt.
II
Die zentrale Rolle der Natur der Bewegung tritt allmählich in den Vordergrund. Sie erweist sich als das Phänomen, das den Schlüssel zum wahren Verständnis der Natur der Zeit in sich birgt.
3.6.2.6. Die Zeit als Kontinuum, Diskretum und Diskretum im Kontinuum Im bisherigen Verlauf seiner Untersuchung hat Heinrich den aporetischen Charakter der Frage nach dem seelischen bzw. auBerseelischen Sein der Zeit ausführlich diskutiert. Augustinus und ein nach Averroes ausgelegter Aristoteles waren umfangreich zu Wort gekommen. Heinrich bleibt jedoch nicht bei der Aporetik stehen. Er will wissen, was die Zeit ist ().64 Aristoteles hatte ausdrücklich gefordert, die Frage nach dem <Was> der Zeit mit einer Analyse der Bewegung zu beginnen.65 Heinrich schlieBt sich daher diesem Ver64
Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 471, 10/1 (Parisiis 1518, 64 r B): « ... et necesse est ad hoc declarandum videre, quid sit tempus re et definitione.» 65 Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 471, 13-15 (Parisiis 1518, 64 r B): «Cum autem quaeritur, quid sit tempus, ab hinc oportet incipere, quid sit motus, ut dicit Philosophus in capitulo de tempore.» Heinrich bezieht sich auf ARISTOTELES, Phys. IV 11, 219 a 2/3, Transl. nova; Maggiölo n. 404, 281: «Accipiendum autem, quoniam quaerimus quid sit tempus, hinc incipientibus, quid ipsius motus est.»
376
3.6.2. Heinrich von Gent
fahren an. Es bedarf zur Einsicht in das Wesen der Zeit einer griindlichen Analyse der Bewegung. Erst wenn aus dem Phänomen der Bewegung die Verfassung der Zeit einsichtig geworden ist, ist eine Entscheidung zwischen Aristoteles und Augustinus möglich. Heinrich beginnt daher zunächst mit einer auf Aristoteles fuβenden Beschreibung des allgemeinen Charakters der Bewegung. Ohne hier näher auf die aristotelische Bewegungstheorie aus dem sechsten Buch der Physik einzugehen, lassen sich doch folgende Fakten festhalten: Die Bewegung erscheint zunächst als eine bestimmte Sukzession der Translation des Beweglichen von einem früheren zu einem späteren Punkt im örtlichen Raum. Bei dieser Bewegung ist nichts aktuell (in actu) als die einfache Veränderung (simplex mutatio).66 Folgende Graphik verdeutlicht dies:
Dieses Schema der Bewegung legt Heinrich seinen weiteren Analysen zugrunde. Er entwickelt daraus drei Theoreme zur Bewegung. Aus der hier vorgelegten Definition der Bewegung ergibt sich zwar nicht unmittelbar, daβ dies möglich ist. Eines ist jedoch schon aus der graphischen Darstellung der Bewegungsbahn eines die Bewegung konstituierenden Beweglichen leicht zu erken66
Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 471, 15-21 (Parisiis 1518, 64 r B/ C): «De motu autem clarum, quod nihil aliud est quam successio quaedam translationis ipsius mobilis a priori in posterius eius, secundum quod movetur, cuius quidem motus nihil est in actu nisi simplex mutatio et per earn totus motus, ut iam dicetur. Qua quidem mutatione id, quod movetur motu locali, in qua est apertior ratio motus, mobile semper super sibi aequale in spatio translatum est, ut habetur in VI Physicorwn.»
311
Teil III - Das 13. Jahrhundert
nen: Das Verhältnis des Beweglichen zum Bewegungsfluβ gleicht im Hinblick auf Aktualität und Potentialität dem Bezug des präsentischen Jetzt zum kontinuierlichen Zeitfluβ. Bevor Heinrich diese Beziehung jedoch näher entfaltet, betrachtet er die Bewegung in ihrer Eigenschaft als Kontinuität und Diskretion. Heinrichs Philosophie der Zeit ist in ihren wesentlichen Fundamenten eine Theorie der Bewegung. Darin folgt sie ohne Modifikation der Konzeption des Aristoteles. I
Die erste und grundlegende Eigenschaft der Bewegung ist ihre anhaltende Fortdauer (continuatio), durch die der BewegungsfluB nicht aufhört, zum Stehen kommt oder abnimmt. Also ist der erste und grundlegende Aspekt der Bewegung ihre Kontinuität.67
II
Das zweite Theorem nimmt einen anderen Aspekt der Bewegung in den Blick. Dort ist die Kontinuität (continuatio) zu vernachlässigen. Ein gliedernder Eingriff in die Kontinuität des Bewegungsflusses führt nämlich zu einem in sich abgesonderten Teilstück (distinctum). Auf diese Weise entstehen im Strom der Bewegung diskrete Abschnitte. Beide, sowohl der BewegungsfluB als auch das diskrete Teilstück, sind aber dabei an sich (secundum se) mit der Gegenwart verknüpft und nicht davon unterscheidbar (indistinctum).68 Diese komplizierte Definition beschreibt den Sachverhalt genau. Sie soll ausdriicken, daβ ein Beobachter des kontinuierlichen Bewegungsflusses im Hinblick auf die Gegenwart bestimmte Einschnitte vornimmt. Kontinuität und Diskretion sind deflnierte Aspekte der Bewegung. Als für sich bestehende Hinblicknahmen bleiben sie jedoch abstrakt. Erst die Identität beider Abstraktionen führt zu einer synthetischen Einheit der Perspektiven im dritten Theorem zur Bewegung.
67
Vgl. HENRICUS DEGANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 471, 22-472, 1 (Parisiis 1518, 64 r C): « ... primo eius continuationem, qua non cessat fluxus eius nec sistit aut deficit.» 68 Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 472, 1-3 (Parisiis 1518, 64 r C): «Secundo id, quod de ea acceptum est, ut distinctum ab eo, quod accipiendum, et utrumque secundum se indistinctum ab eo, quod de ipsa instat in praesenti.»
378
3.6.2. Heinrich von Gent
III
Das dritte Theorem benennt die synthetische Einheit der beiden Bewegungsaspekte. Einbringung der Diskretion in die Kontinuität heiβt Setzung des und <Später> in den kontinuierlichen Bewegungsfluβ. Diese beiden Aspekte ergeben zusammen das einheitliche Phänomen der Bewegung.69
Durch den ersten Aspekt erscheint die Bewegung als Kontinuum. Der zweite Gesichtspunkt beleuchtet die Möglichkeit, Diskretionen in diese Kontinuität einzubringen. Der dritte Aspekt ist als synthetische Einheit von Diskretion und Kontinuität die Diskretion in der Kontinuität.10 Heinrich formuliert also zunächst die drei Aspekte der Bewegung. Dann setzt er sie fiir seine Zeitanalyse ein. Die von Aristoteles postulierte Verklammerung von Zeit und Bewegung erlaubt diesen Schritt. Als Zwischeniiberlegung schaltet Heinrich eine Reflexion über das Verhältnis der drei Bewegungsaspekte zur Seele ein. Sie soll den Übergang von der Bewegung zur Zeit vorbereiten. Dabei enthüllt sie das Beziehungsfeld zwischen Seele und Bewegung: I
Der erste Aspekt zeigt die Bewegung in ihrem reinen Fürsichsein. Die kontinuierliche Bewegung existiert in der bewegten Entität. Dabei ist keine Abhängigkeit von der Seele gegeben.
II
Der zweite Aspekt existiert nur dann, wenn eine die Diskretionen setzende Seele sich auf die Bewegung bezieht.
III
Wenn das so ist, dann zeigt der dritte Aspekt, der die zwei ersten Hinblicknahmen zu einer synthetischen Einheit zusammenfaBt, die Doppelstruktur des Verhältnisses von Bewegung und Seele: Einerseits ist die Bewegung von der Seele unabhängig, andererseits ist ihre diskrete Struktur nur in der Seele vorhanden.71
69
Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 472, 3-5 (Parisiis 1518, 64 r C): «Tertio est considerare in ea utrumque illorum, ut continuata secundum rem ad id, quod instat de ea, et ut distincta secundum rationem prioris et posterioris.» 70 Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 472, 5-7 (Parisiis 1518, 64 r C-64 v C): «Primo modo consideratur ut continuum, secundo modo ut discretum quid, tertio vero modo ut discretum in continuo.» 71 Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 472, 7-13 (Parisiis 1518, 64 v C): «Primo modo translatio illa, quae motus est, tantum habet esse in re mota, quia esset in ea, etsi
379
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Heinrich hat hier ein Schema gefunden, das die Lösung der Frage nach dem <Was> der Zeit schon vorgezeichnet enthält. Eine Zusammenfassung und Verknüpfung der drei Bewegungstheoreme mit der Struktur der beobachtenden Seele ergibt folgendes Beziehungsgefüge:
Theorem
Modus
Zeit
I
continuum
in re
II
discretum
in anima
III
discretum in continuo
partim in anima/ partim in re
An sich betrachtet, bilden und bleiben die drei Theoreme zur Bewegung, die Heinrich von Gent aufgestellt hat, die Axiome jeder Bewegungslehre. Im Hinblick auf die Zeit entfalten sie jedoch weit darüber hinaus ihre Eigenschaft als Grundstrukturen für eine Theorie der Zeit. Diese Verknüpfung ist durch die enge Verwandtschaft der Zeit mit der Bewegung möglich. Trotzdem bemüht sich Heinrich, die Plausibilität dieses Übergangs von der Bewegung zur Zeit für jedes der drei Bewegungstheoreme sorgfältig zu beweisen. Dabei beginnt er mit der Kontinuität der Zeit. Die Zeit befindet sich nur in der Natur im Modus des Kontinuums. Auf diese Weise ist sie auβerseelische Weltzeit. In der Seele besitzt sie daher kein derartiges Sein. Wenn hier trotzdem ein Sein in der Seele Erwähnung findet, dann als ein Vorhandensein analog zur seelischen Existenz eines Erkannten (cognitum) im Erkennenden (in cognoscente). Auch die Bewegung oder das Bewegliche als anima non esset apprehendens earn. Secundo modo habet esse in conceptione animae tantum, quia discretio partium motus a termino medio continuante non est in re extra, sed earn solum format mentis conceptus. Tertio modo partim est in re, partim est in anima. Inquantum enim habet rationem continui, est in re, inquantum videtur de ratione discreti, in anima.»
380
3.6.2. Heinrich von Gent
Erkanntes sind auf diese Weise in der Seele vorhanden.72 Diese These lebt von dem schlichten erkenntnistheoretischen Ansatz, daβ das Erkannte als bloβ Aufgenommenes im Erkennenden keine Modifikation erfährt. Im Hinblick auf die Zeit heiβt das, daB sie im Modus der Kontinuität auBerhalb der Seele reine Weltzeit ist. Dies unterstreicht Heinrich dadurch, daB er sich auf die einleitenden Passagen zur <aristotelischen Zeitaporie> bezieht. Aristoteles spricht dort von der universellen Zeit. Sie ist die Zeit der im Kosmos existierenden Teile der Welt wie Erde, Meer und Himmel.73 Diese auBerseelische Weltzeit deutet Heinrich als den kontinuierlichen ZeitfluB, der die innerweltlichen Dinge beherrscht. Heinrich benutzt sein dreigliederiges Schema zur Lösung der Probleme, die bei der philosophischen Bearbeitung der <aristotelischen Zeitaporie> anfallen. Seine Lösung ist einfach. Er verteilt die verschiedenen Passagen der Zeitaporie über das aus der Bewegungslehre entwickelte Schema. Zunächst bringt er die Rede des Aristoteles von der Weltzeit im ersten Teil seiner Gliederung unter. Dabei interpretiert er sie als Fluβ der kontinuierlichen Zeit. Dann geht Heinrich zum Sein der Zeit in der Seele über. Die Betrachtung der Zeit unter dem Aspekt eines Diskretums fiihrt zu der Auffassung, daB die Zeit nicht auBerhalb, sondern allein in der Seele existiert. Heinrich von Gent begründet das mit einem Hinweis auf das zweite Theorem zur Bewegung, das die Beziehung des kontinuierlichen Bewegungsflusses zu seiner diskreten Strukturierung in den Blick nimmt. Die Messung des kontinuierlichen Zeitstromes bzw. die Setzung des und <Spater> geschieht im Hinblick auf die Fixierung eines präsentischen Jetzt. Erst durch den gegenwärtigen Augenblick erscheint das Vergangene als Nichtseiendes. Es ist dann scharf abgegrenzt vom gegenwärtigen Augenblick und nicht mit ihm verbunden. Weil die Vergangenheit auf diese Weise nicht in der Natur existiert, kommt ihr al-
72
Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 472, 17-20 (Parisiis 1518, 64 v C): «Si ut secundum primam, sic tempus solummodo habet rationem continui sicut et motus, et est solummodo in re, quae movetur per ipsum motum, et non in anima, nisi forte sicut in cognoscente per suam similitudinem, sicut et ipse motus et ipsum mobile et cetera cognita ab ipsa.» 73 Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 472, 21/2 (Parisiis 1518, 64 v C): «Et de isto modo essendi dicit Philosophus, quod tempus est in terra et in mari et in caelo ... »; vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 16-18, Transl. nova; Maggiòlo n. 451, 308: «Dignum autem consideration est, et quomodo igitur se habet tempus ad animam, et propter quid in omni videtur esse tempus, et in terra, et in mari, et in caelo.»
381
Teil III - Das 13. Jahrhundert
lein ein seelisches Sein zu. Entsprechendes gilt auch für die Zukunft74, wie folgendes Schema verdeutlicht:
Heinrich von Gent illustriert diesen Ansatz allerdings nicht mit den Passagen der Zeitaporie, die den inneren Zusammenhang von Zeit und Seele zeigen. Er verwendet vielmehr ein die Problematik noch vertiefendes Aristoteleszitat. Dazu greift er aus der o.g. Konfiguration der Aristotelesstellen zum seelischen Sein der Zeit heraus.75 Dort hatte sich gezeigt, daβ jenseits des präsentischen Jetzt Vergangenheit und Zukunft als Nichtseiende zu betrachten sind. Ein solches Verfahren, das durch Hinblicknahme auf ein präsentisches Jetzt ein Früher und Später setzt, ist eine Tätigkeit des messenden und Diskretionen setzenden Intellektes. Nach Heinrich hat Aristoteles daher in diesem die Zeit in ihrem Modus als Diskretion aufgefaBt. Heinrich gibt also hier die tiefere Begründung dafür, daB und auf welche Weise mit der <aristotelischen Zeitaporie> in einem inneren Zusammenhang steht. Heinrich von Gent hat also mit seinem griffigen Schema die beiden aporetischen Aspekte der Zeittheorie des Aristoteles zu einem einheitlichen Konzept verbunden. Nach seiner Auffassung liegt hier aber auch der Schlüssel zur Zeittheorie des Augustinus verborgen. Im Rahmen seines ständigen Vergleichs ari74
Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 473, 1-9 (Parisiis 1518, 64 v C): «Si vero consideratur tempus, ut sequitur motum secundum aliam considerationem eius, sic tempus solummodo habet esse in anima et non in re extra, quia, quod praeteriit ut praecisum ab instanti praesenti et non copulatum ei, omnino in re non est, et ideo esse, quod habet, in conceptu mentis habet. Et similiter quod futurum est, quia nondum est. Et secundum hanc considerationem temporis procedit quaedam argumentatio Philosophi, qua probat, quod tempus non est, quia partes eius, praeteritum scilicet et futurum, non sunt, et ex non entibus non constituitur ens.» 75 Vgl. 3.6.2.3., S. 345.
382
3.6.2. Heinrich von Gent
stotelischer Zeitthesen mit der Zeittheorie des Augustinus, aber auch, weil es die Untersuchung erst jetzt angemessen ermöglicht, betrachtet er anschlieβend die Zeittheorie des Augustinus. Dabei ist seine Grundauffassung, daB Augusti nus im elften Buch der Confessiones die Zeit ebenfalls als Diskretum verstan den hat. Das könnte zwanglos erklären, warum einige Philosophen des 13. Jahrhunderts das mit bestimmten Passagen aus dem elften Buch der Confessiones verglichen haben. Hinter beiden steht die Konzeption der Zeit als Diskretion. Daher entsprechen sich die Aussagen des Aristoteles und des Augustinus in diesem Punkt so auffällig. Interessant ist nun, wie Heinrich auf der Basis seiner Theorie einer als Diskretum verstandenen Zeit die Zeittheorie des Augustinus beschreibt. Augustinus versteht die Dimensionen der Zeit aus ihrem Sein in der Seele. Allein dort sind sie in Permanenz greifbar. Dem entspricht das Sein des Augenblicks insofern, als dieser keine andere Existenz als den sofortigen Übergang in das Nichtsein besitzt. Der Jetztpunkt als Diskretum ist daher eigentlich nicht im Sein vorhanden, denn was sofort ins Nichtsein übergeht, verfügt iiber keine welthafte Beständigkeit.76 Heinrich versucht also die Entsprechung zwischen Aristoteles und Augustinus dadurch zu begründen, daB er der gesamten Zeitanalyse des Augustinus die Konzeption einer nach Art eines Diskretums aufgefaBten Zeit unterstellt. Dabei känn er sich seiner Meinung nach auf Augustinus selbst berufen. Ausgangspunkt ist der Abschnitt, wo Augustinus die Zertrümmerung der Ausdehnung des Jetztpunktes durchführt. Augustinus geht es um die des präsentischen Jetzt. 77 Wir sagen nicht wahrhaft, daB die Zeit ist, wenn wir nicht ihre Tendenz zum Nichtsein in den Blick nehmen. Das präsentische Jetzt ist gleichsam vom Nichtsein umstellt. Diesen Aspekt der Zeit, so will Heinrich andeuten, hat zunächst Aristoteles gefunden. Aber er läβt sich auch in der Zeit analyse des Augustinus nachweisen.
76
Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 473, 14-17 (Parisiis 1518, 64 v C): «Augustinus secundum istam considerationem ponit solummodo esse ex hoc, quod sunt in anima, in cuius recordatione permanent. Et similiter est de esse instantis, quod non aliter habet esse quam sic, ut statim transeat in non esse.» 77 Vgl. AUGUSTINUS, Conf. XI 15, 20 v. 50-52; Verheijen 204: « ... quod tamen ita raptim a futuro in praeteritum transuolat, ut nulla morula extendatur.» Vgl. auch: AUGUSTINUS, Conf. XI 14, 17 v. 16-19; Verheijen 203: «Si ergo praesens, ut tempus sit, ideo fit, quia in praeteritum transit, quomodo et hoc esse dicimus, cui causa, ut sit, illa est, quia non erit, ut sci licet non uere dicamus tempus esse, nisi quia tendit non esse?»
383
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Eine Deutung der Zeit als Diskretum hat intellekttheoretische Folgen. Es bedeutet, daβ der vom präsentischen Jetzt ausgehende Intellekt ein und ein <Später> setzt. Er miβt auf diese Weise die Zeit, die sich dann im Modus ihrer MeBbarkeit befindet. Die Bestimmung der Zeit als Diskretum ist eine The orie der Zeitmessung durch den zählenden Intellekt. Daner denkt Heinrich folgerichtig, wenn er an dieser Stelle Augustinus und Aristoteles im Hinblick darauf miteinander vergleicht. Ihre jeweiligen Thesen zur MeBbarkeit der Zeit unterwirft Heinrich einer sorgfältigen Analyse. Zeitmessung bedeutet die Feststellung einer langen oder kurzen Zeit durch Rückbezug auf eine MaBeinheit. DaB aber die Problematik noch tiefer liegt, hat Augustinus gezeigt. Als gründlicher Leser des elften Buches der Confessiones weiB Heinrich das.78 Augustinus gewinnt als Ergebnis einer längeren Meditation, daB lange und kurze Zeit hier in bezug auf die Vergangenheit gesetzt - allein in der Seele existieren. Darauf geht Heinrich aber nicht näher ein. Vielmehr bemüht er sich um einen strukturellen Vergleich zwischen Augustinus und Aristoteles hinsichtlich der MeBbarkeit der Zeit.79 Heinrich hatte schon oben gezeigt, wie er die Zeit als Diskretum im Modus ihrer MeBbarkeit versteht. Indem ein Beobachter in den kontinuierlichen Zeitfluβ MaBeinheiten setzt, verwandelt sich der Zeitstrom in ein Diskretum. Das Anlegen eines Maβstabes aber bedeutet stets die Messung von Quantitäten. Die Zeitmessung manifestiert sich daher als Feststellung kürzerer oder längerer Zeitquanten. So schlicht und einfach diese Feststellung hier auch erscheint, in Hinblick auf Augustinus und Aristoteles birgt sie groBe Schwierigkeiten in sich. Nach Augustinus läBt sich die Vergangenheit nicht als kurz oder lang
78
Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 473, 17-19 (Parisiis 1518, 64 v C): «Et secundum eandem considerationem Augustinus dicit, quod de praeterito non dicimus longum vel breve nisi secundum esse, quod habet in anima.» 79 Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 473, 19-474, 6 (Parisiis 1518, 64 v C): «Sed solum dicimus, quod fuit longum vel breve secundum esse, quod habet in rebus extra, et similiter de futuro solum, quod erit longum vel breve, cum Philosophus dicat, quod longum et breve dicuntur in utroque propter distantiam maiorem vel minorem ad instans indivisibile, cui copulantur, secundum quod dicimus tempus, quod fluxit a diluvio, esse longum, et similiter, quod fluet usque in finem mundi. Et breve dicimus id, quod fluxit a mane usque ad vesperam, et similiter, quod fluet a vespera usque in noctem. Prius enim in tempore et posterius est secundum ad ipsum nunc distantiam, ipsum autem nunc terminus praeteriti et futuri est. Quare, quoniam ipsa nunc in tempore sunt, et prius et posterius in tempore erunt; in quo enim est ipsum nunc et ipsius nunc distantia.»
384
3.6.2. Heinrich von Gent
bezeichnen, sondern nur ihre mehr oder weniger gedehnte Erstreckung in der sich erinnernden Seele.80
Gegen dieses Modell des Augustinus, das in sich schon ausreichend Schwierigkeiten und Aporien birgt, setzt Heinrich das relativ einfache Zeitmessungsverfahren des Aristoteles. Seine Absicht dabei ist klar. Aristoteles und Augustinus haben beide die Zeit als Diskretum gedacht. Doch die unterschiedliche Weise ihrer Zeitmessung enthüllt eine fundamentale Differenz. Augustinus denkt die Zeit rein als Diskretum und nimmt ihre Seinsweise in die Seele zurück. Aristoteles dagegen betrachtet sie als ein Diskretum auf dem Hintergrund eines Kontinuums. Seine Zeitmessung enthält ein auβerseelisches und welthaftes Fundament. Augustinus dagegen verbleibt in einer vereinfachenden Abstraktion. Vergangenheit und Zukunft sind bei Aristoteles auf das reale gegenwärtige Jetzt bezogen. Sie verhalten sich dabei wie reale Zeitachsen zum Bezugspunkt, deren längere oder kürzere Erstreckungen als Abstände auf ihren Achsen erscheinen und durch Jetztpunkte eingegrenzt sind. Die vom Jetzt der Sintflut (t1) bis zum gegenwärtigen Jetzt (t0) vergangene Zeit war lang. Die Erstreckung von demselben gegenwärtigen Jetzt bis zum Ende der Welt (t2) ist als Zukunft ebenfalls lang. 81 Kurz dagegen ist sowohl die vergangene Zeit vom Tagesbe-
80
Vgl. AUGUSTINUS, Conf. XI 28, 37 v. 12/3; Verheijen 214: « ... neque longum praeteritum tempus, quod non est, sed longum praeteritum longa memoria praeteriti est.» 81 Heinrichs Verweis auf die Sintflut und das Ende der Welt ist nicht zufällig. Heinrich will damit zeigen, da8 beide Zeitpunkte reale Ereignisse in der Geschichte der Menschheit sind. Die
385
Teil III - Das 13. Jahrhundert
ginn (T1) bis zum Abend (t0) als auch die Erstreckung der Zukunft vom Abend (t0) bis zur Nacht (T2). Folgendes Schema veranschaulicht dies:
Ein Bezug dieser Überlegungen auf die von Aristoteles ständig gebrauchten Zeitbestimmungen und <Später> ergibt ein diesem Schema entsprechendes Bild. In der Vergangenheit ist das (prius1), was einen längeren Abstand zum gegenwärtigen Jetzt besitzt. Als <Spater> (posterius1) erscheint das, was dem gegenwärtigen Jetzt näher liegt. Umgekehrt verhält es sich bei der Zukunft. Dort heiβt (priuS2), was der Gegenwart näher stent, und <später> (posterius2), was von ihr entfernter ist.82
Ein Vergleich der Zeitmessung des Aristoteles mit dem Konzept des Augustinus zeigt, daB die von beiden entworfenen MeBweisen der Zeit formal nicht unterschiedlich sind. Beide beziehen sich sowohl bei der Messung der Vergangenheit als auch bei der Quantifizierung der Zukunft auf Erstreckungen, deren Bezugspunkt das gegenwärtige Jetzt ist. Einen Unterschied sieht Heinrich nur
Zeit kann also keine Fiktion sein. Heinrich halt an den Fundamenten der christlichen Geschichtsphilosophie fest. Dalier verteidigt er das Sein der Zeit gegen Miβverständnisse. 82 Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 474, 6-10 (Parisiis 1518, 64 v C): «Contrario autem dicitur prius et secundum praeteritum tempus et secundum futurum. In praeterito enim prius dicimus, quod longius est ab ipso nunc, posterius autem, quod propius, in future autem prius, quod propius est, posterius autem, quod procul.»
386
3.6.2. Heinrich von Gent
darin, daβ Augustinus allein seelische Erstreckungen miβt und quantitative Aussagen zur Zeit (lang/kurz) nur als Quasi-Messung seelischer Extensionen zuläBt. Wenn auch die MeBweisen der Zeit bei Aristoteles und Augustinus rein formal übereinstimmen, so findet Heinrich in der Seinsweise der dieser Messungen Differenzen. Er bezeichnet das von beiden Philosophen entwickelte MeBverfahren als formal identisch. Aber es bleibt seiner Meinung nach doch ein groBer Unterschied, ob das Objekt einer Messung eine seelische oder eine auBerseelische Extension ist. Die Fixierung von Zeitquanten in der endlichen Seele birgt aber in Hinblick auf die Zeitmessung noch eine andere fundamentale Schwierigkeit. Es ist ein groβes Verdienst Heinrichs, daB er dies gesehen hat: Eine endliche Seele kann auch nur endliche und begrenzte Zeitquanten . Die , die eine derartige Seele in sich selbst <miBt>, sind daher eingeengt. Das Zeitsystem des Augustinus ist insofern geschlossen. Die Konzeption des Aristoteles bleibt dagegen offen, weil sie die Weltzeit in sich integriert. Nach Heinrich denkt Aristoteles die Vergangenheit und Zukunft als offene Dimensionen. Das vergangene Sein ist im Hinblick auf seine <praeteritio>, einen ins Deutsche kaum übersetzbaren Fachterminus, unvollendet. Oder einfacher ausgedrückt: Die Vergangenheit kann sich erweitern. Es bleibt immer noch etwas übrig, das in die Vergangenheit übergeht. Nicht anders ist es bei der Zukunft. Die zeigt die Offenheit der Zukunft für neue Ereignisse.83 Augustinus dagegen hat nach Heinrich ein anderes Konzept für Vergangenheit und Zukunft. Diese Dimensionen erscheinen in den Zeitanalysen des elften Buches der Confessiones als durch Augenblicke abgegrenzte seelische Erstrekkungen. Die Seele kann daher ihre Vergangenheit und ihre Zukunft nicht ins Uferlose erweitern.84 Es ist bedauerlich, daB die Äuβerungen Heinrichs an dieser Stelle so kurz und damit notgedrungen schwerverständlich sind. Es scheint nämlich, als habe er hier bestimmte Momente der Zeittheorie des Augustinus in den Blick genommen, die auch für die gegenwärtige Forschung von Bedeutung sind. Hier 83
Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 474, 13-17 (Parisiis 1518, 64 v C): «Nota ergo, quod secundum primam considerationem temporis Philosophus intelligit praeteritum et futurum, quae ponit esse in rebus esse imperfecta quaedam, et in sua praeteritione, in qua restat aliquid praetereundum, et similiter in sua futuritione, in qua semper restat aliquid accidendum ...» 84 Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 474, 17-19 (Parisiis, 1518, 64 v C): « ... Augustinus autem intelligit ipsa ut'iam omnino perfecta secundum sua instantia terminantia ipsa in sua praeteritione et in sua futuritione!»
387
Teil III - Das 13. Jahrhundert
verläβt Heinrich die vorgezeichneten Wege und beginnt eigenständige Untersuchungen zum Problem der Zeit. Dabei geht ihm erstmals die Fremdheit und Ungewöhnlichkeit der Theorie des Augustinus auf. Was bedeutet es, wenn eine endlich begrenzte Seele eingegrenzte Erinnerungen und eingeengte Erwartungen hat? Schrumpfen dann nicht die Zeitdimensionen ebenfalls zu determinierten Abschnitten zusammen? Wie steht die sterbliche Seele zu so gewaltigen Zeiträumen wie etwa, um im Weltbild des 13. Jahrhunderts zu bleiben, den Zeiterstreckungen von der Sintflut bis zur Gegenwart oder von der Gegenwart bis zum Ende der Welt? Heinrich von Gent hat diese Fragen nicht weiter vertieft. Er benutzt sie ausschlieβlich zur kritischen Auseinandersetzung mit Augustinus. Heinrich kritisiert Augustinus. Aber er gesteht ihm auch eine gewisse Einsicht zu. Zunächst geht Heinrich davon aus, da6 seine exegetische Analyse ein adäquates Verständnis des elften Buches der Confessiones ermöglicht.85 Wer wie Augustinus Zukunft und Vergangenheit allein unter dem Aspekt des punktuellen Jetzt analysiert, dem erscheint die Zeit zwangsläufig als ein seelisches Phänomen. Durch die Atomisierung des präsentischen Jetzt bzw. die Unterbrechung des Zeitkontinuums entschwindet die Verbindung von Vergangenheit und Zukunft. Diese Dimensionen existieren nicht. Sie verbleiben allein in ihrem Bezug zur Seele. Dies zeigt folgende Graphik:
85
Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 474, 20-475, 3 (Parisiis, 64 v C/ D): «Quibus consideratis patere potest inspicienti tota determinatio Augustini prolixa in XI Confessionum. Et revera, quod dicit, secundum considerationem suam verum est. Si enim praeteritum et futurum considerentur ut stantia inter sua instantia iam omnino praeterita et futura, verum est, quod non sunt nisi in anima et non sine anima.»
388
3.6.2. Heinrich von Gent
Nach dem Zeitmodell des Augustinus zerfallen gemäβ der Interpretation des Heinrich von Gent die Zeitdimensionen und in Jetztpunkte. Ausgehend vom gegenwärtigen Jetzt und seiner Beschaffenheit erschlieBt sich Augustinus das Zeitfeld der Vergangenheit als eine Reihung von punktuellen Momenten. Dementsprechend gilt auch die Zukunft als Jetzt-Anhäufung. Augustinus atomisiert die Zeit. Allein das isolierte gegenwärtige Jetzt erscheint in seinem Übergang von einem Noch-nicht-Sein zu einem Nichtmehr-Sein als seiend. Als Bestimmung der Seinsart der Zeit bleiben nur noch die in bezug auf den präsentischen Augenblick gedachten Jetztpunkte der Zukunft und der Vergangenheit in ihrer Zuordnung zur Seele. Aber ihre Verbindung mit dem präsentischen Jetzt ist dadurch vollkommen aufgehoben und jegliches Moment der Kontinuität negiert. Die Zeit als Diskretum und als vollständige Negation der Kontinuität ist nach Heinrich von Gent das Fundament der Zeittheorie des Augustinus. Oder mit anderen Worten: Jede konsequent auf der Basis des Diskretums gedachte Philosophic der Zeit führt notwendigerweise zur Theorie eines seelischen Seins der Zeit. Insofern hat Augustinus seine Forschungen und Meditationen zum Wesen der Zeit folgerichtig zu Ende geführt. Auf dieses Ergebnis seiner Augustinuskritik legt Heinrich von Gent höchsten Wert. In der Bestimmung der Zeit als Diskretum durch Augustinus liegt seiner Meinung nach der Grund, daB die Zeitanalysen aus dem elften Buch der Confessiones zur Bestimmung der Natur der Zeit nicht ausreichen. Nach diesen Überlegungen faBt Heinrich das Ergebnis seiner kritischen Untersuchungen zusammen. Zugleich reduziert er es auf zwei wesentliche Kritikpunkte. Die Zeitanalyse des Augustinus ist deshalb unzulänglich und berücksichtigt nicht angemessen die Natur der Vergangenheit und der Zukunft, weil ihr zwei schwere Mängel anzulasten sind:86
I
Zukunft und Vergangenheit sind bei Augustinus jeweils durch vergangene und zukünftige Jetztpunkte eingegrenzt. Die Zeitdimensionen erscheinen auf diese Weise als endgültig quantifizierte Erstreckungen.
86
Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 475, 3-6 (Parisiis 1518, 64 v D): «Sed illa eius consideratio multum insufficienter respexit naturam temporis in praeterito et futuro includendo ipsa inter instantia praeterita et futura et non copulando ad instans praesens ...» Vgl. Alberts Kritik an Augustinus nach dem Aggregationsmodell Avicennas (3.3.4., S. 222).
389
Teil III - Das 13, Jahrhundert
Diese Abgeschlossenheit der an sich offenen Zeitdimensionen hat ihren Grund in der Endlichkeit der menschlichen Seele. Daβ ein solches in sich geschlossenes Zeitsystem möglich war, liegt auch an Augustinus' Bestimmung der Natur der Zeit aus der Verfassung des Jetztpunktes. Dieser Gesichtspunkt führt zum zweiten Aspekt der Augustinuskritik Heinrichs:
II
Augustinus hat die Kontinuität der Zeit vernachlässigt. Er bedachte nicht, daB der präsentische Jetztpunkt keine fursichseiende und vom Nicht-Sein umstellte Entität ist, sondern kontinuierlich mit der Zukunft und der Vergangenheit verbunden bleibt.
Ganz anders als Augustinus geht Aristoteles vor. Er nimmt die Zeit als Kontinuum in den Blick. Heinrich führt noch einmal den Aspekt der Weltzeit gegen Augustinus ins Feld. Der kontinuierliche Fluβ der kosmischen Zeit ist zwar
390
3.6.2. Heinrich von Gent
durch den Anfang und das Ende der Welt selbst wieder eingegrenzt, aber das stört Heinrich von Gent nicht. Nach seiner Auslegung der Konzeption des Aristoteles soll die Zeit zwischen diesen Endpunkten kontinuierlich verlaufen.87
Die kosmische Zeit erscheint Heinrich von Gent viel bedeutsamer als die kurze Zeitspanne, die der menschliche Geist umgreift. Statt vor der Unergründlichkeit des menschlichen zu erschauern, liest Heinrich das elfte Buch der Confessiones ganz anders. Wo Augustinus den Mit-Denkenden in schwer zu entwirrende Aporien führt, sieht er nur die Geringfügigkeit unserer Seele gegenüber der überlangen Dauer des Kosmos. Heinrich von Gent bestimmt den Gegensatz zwischen Aristoteles und Augustinus als Gegensatz zweier Konzeptionen. Dieser Gegensatz erscheint als Differenz zwischen der Interpretation der Zeit als diskretes Kontinuum und als Diskretum. Dabei zieht Heinrich die Theorie des Aristoteles () den Ausführungen des Augustinus (<multum insufficienten) deutlich vor. Die Untersuchung endet aber nicht damit, daβ Heinrich eine der Theorien schlechthin verwirft und die andere bevorzugt. Bei einer solchen Entscheidung ware der doppelte Charakter der Zeit als Kontinuum und als Diskretum verfehlt. Beide Aspekte entsprechen vielmehr nach derAristotelesauslegung Heinrichs der einen Natur der Zeit. Heinrich vollzieht daher eine Synthese. Er versteht die Zeit als einheitliches Phänomen mit jeweils spezifischen Eigenschaften als Kontinuum und als Diskretum. Heinrich versucht also eine Kombination zwischen diesen Momenten, indem er sie als synthetische Einheit begreift. 87
Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 475, 6-10 (Parisiis 1518, 64 v D): « ... sicut in sua consideratione copulavit ea Aristoteles et valde bene. Ipsum enim nunc est tota substantia temporis, in quo consistit totum esse temporis, quod per suum fluxum secundum aliud et aliud esse causat unum tempus continuum compositum ex praeterito et futuro ab initio mundi usque in finem suum.»
391
Teil III - Das 13. Jahrhundert
I
Die Zeit umfaβt durch ihre Eigenschaft als Kontinuum ihre gesamten Teile, d.h. das gegenwärtige Jetzt verknüpft Vergangenheit und Zukunft.
II
Darüber hinaus läβt sich die Zeit in quantitativ begrenzte Abschnitte zerlegen, wenn ein ausgewählter Jetztpunkt den kontinuierlichen Zeitfluβ in ein Früher und Später . Ein derartiger Einschnitt ist als Mitte zwischen den Zeitdimensionen auch ihre verbindende Einheit.88
Nur so zeigt sich nach Heinrich von Gent die vollkommene <essentia> der Zeit. Ihr diskreter Charakter ist dadurch aufgehoben, daB die Kontinuität den Augenblick mitkonstituiert. Insofern erscheint er als Einheit von Diskretum und Kontinuum. Dieses Ineinander von Diskretum und Kontinuum ist aber bei Heinrich keine Synthese gleichwertiger Momente, sondern eher eine Aufhebung hierarchisch angeordneter . Die Zeit als Kontinuum und Diskretum denkt Heinrich als jeweils unterschiedliche Stufen ihrer Perfektion. Diese <Stufung> der Zeit bedarf einer näheren Begründung. Es ist nicht ohne weiteres einsichtig, warum die Zeit in ihrer Eigenschaft als Kontinuität unvollkommener als im Modus der Diskretion sein soll. Heinrich begründet seine These daher durch einen Riickgang auf die Natur der Sukzession. Die Bestimmtheit (ratio) der <successio> besteht in der VerfaBtheit des Früher und Später. Die Sukzession erscheint erst dann als solche, wenn ein Beobachter bei der Bewegung eines Körpers ein bestimmtes Jetzt fixiert. Im Hinblick darauf repräsentieren die fruheren und späteren Bewegungsphasen des Körpers den Verlauf seiner <succession Ein derartiger Einschnitt ist zugleich ein Messen der Bewegung. Sie hat daher den Charakter des Diskretums. Die Sukzession besitzt gemäB dieser Bestimmtheit eher die Eigenschaft eines Diskretums als die Verfassung der Kontinuität. Der Begriff der Kontinuität paBt besser zu permanenten Quantitäten.89 Die Zeit besteht nur partiell als Kontinuität. Im Modus des 88
Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 475, 10-14 (Parisiis 1518, 64 v D): «Si vero consideretur tempus secundum eius tertiam considerationem, ut scilicet habet partium suarum praeteriti et futuri continuationem secundum rem ad praesens nunc et cum hoc ut distincta secundum rationem prioris et posterioris respectu instantis medii continuantis, sic consideratur secundum perfectam rationem esse eius.» 89 Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 475, 14-17 (Parisiis 1518, 64 v D): «Ratio enim successionis formaliter consistit in ratione prioris et posterioris, non in ratione continuationis, quia illa convenit permanentibus ut quantitatibus positionem habentibus.»
392
3.6.2. Heinrich von Gent
Kontinuums sind Zeit und Bewegung nämlich unvollkommen und existieren nur potentiell.90 Die Perfektion erreichen sie allein in ihrer synthetischen Einheit als Diskretum im Kontinuum.91 Die erste Weise der Analyse nimmt die Zeit als Kontinuum. Ihre Ergänzung ist die Sicht der Zeit als Diskretum. Das geschieht durch Einbringung des Früher und Später in die Kontinuität. Beide Momente zusammen ergeben damn die Synthese des Diskretums mit dem Kontinuum. Die Zeit erhält so einen Zwischenstatus. Als ein Kontinuum, das in sich die Unterscheidung des Früher und Später enthält, besitzt sie eine natürliche Basis. Sie ist aber zugleich das Ergebnis eines konstitutiven Aktes des Geistes.92
Der Geist oder der zählende Intellekt greift trennend in das Kontinuum ein. Er setzt einen Jetztpunkt als präsentisches Jetzt. Auf diese Weise sondert er das vom <Später>. Dadurch perfektioniert der Intellekt die Welt-Zeit als 90
Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 475, 17-20 (Parisiis 1518, 64 v D): «Tam ergo ratio motus quam ratio temporis, inquantum ratio essendi eoram tantum consistit in continuatione quadam iuxta primam considerationem, non est perfecta ratio ipsorum, sed est quasi in potentia ad perfectionem ...» 91 Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 475, 20/1 (Parisiis 1518, 64 v D65 r D): « ... perfectionem, quae consistit in distinctione secundum prius et posterius secundum istam tertiam considerationem.» 92 Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 475, 21-476, 1 (Parisiis 1518, 65 r D/E): «Quae quidem ratio continuationis eorum, licet sit in re extra, et sequitur naturam motus in tempore, ut motus ipse realiter habet esse in mobili continue translato; ratio tarnen distinctionis partium talis continui secundum prius et posterius non habetur ex natura rei, sed potius ex conceptu mentis.»
393
Teil III - Das 13. Jahrhundert
natürliches Kontinuum zu ihrer wahren und vollkommenen Seinsweise. Daher verweist Heinrich auch auf die aristotelische Zeitdefinition. Die perfektive Einbringung des und <Später> in das Zeitkontinuum zur Herstellung eines Diskretums im Kontinuum erscheint so als Verwirklichung der aristotelischen Zeitdefinition.93 Zugleich benutzt Heinrich die Gelegenheit, das von Averroes in die Zeitdiskussion eingeführte vorzustellen: Material hat die Zeit ein Sein in der auβerseelischen Dingwelt, formal existiert sie jedoch nur in der Seele. Es zeigt sich dabei, wie durch den Gegensatz
<esse materiale - esse formale>
auch die Gegenüberstellung
<esse imperfectum - esse perfectivum/completivum>
scheint.94 Heinrich benutzt also das von Averroes im Hinblick auf die <aristotelische Zeitaporie> entwickelte Strukturschema der Zeit ohne jede Modifikation. Dies war eine Rezeption, fur die Heinrich von Gent in den zeitphilosophischen Analysen der Peripatetiker des 13. Jahrhunderts viele erprobte und bewährte Beispiele fand. Heinrichs Zeitmodell
93
Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 476, 1-4 (Parisiis 1518, 65 r E): «Et ideo secundum hane rationem formalem et perfectivam tempus habet esse in anima solum tamquam mensura et numerus motus secundum prius et posterius, secundum quod definit tempus Philosophus.» Zur aristotelischen Zeitdefinition vgl.: ARISTOTELES, Phys. IV 11, 219 b 1/2, Transl. nova; Maggiölo n. 409, 281: « ... hoc enim est tempus, numerus motus secundum prius et posterius.» 94 Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 476, 4-7 (Parisiis 1518, 65 r E): «Tempus ergo secundum esse quasi materiale et in radice instantis habet esse in rebus extra, sed secundum suum esse formale et completum secundum partes prioris et posterioris habet esse in anima.»
394
3.6.2. Heinrich von Gent
<partim in anima/partim in rebus>95
ist eng verblinden mit dem durch Averroes benutzten Potenz/Akt-Schema. Wenn die Zeit nur teilweise in den Dingen ist, dann existiert sie nur als potentielle Zeit.96
Status
Modus
Seinsart
continuum
imperfectum
in rebus
discretum
completivum
in anima
partim in rebus * partim in anima
discretum in continuo
Klarer läβt sich Heinrichs Verbindung zur Zeittheorie des Averroes nicht ausdrücken. Das dreigliedrige Schema, das Averroes seiner Theorie des Verhältnisses von Zeit und Seele zugrunde gelegt hatte, rezipiert Heinrich von Gent ohne Abschwächung.97 Damit kniipft er an die Linie der Zeitphilosophen an, die sich von der Averroesrezeption des friihen Thomas bis zu den Diskussionen 95
Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 476, 7-9 (Parisiis 1518, 65 r E): «Et hoc, ut supra dictum est, natura est successivorum, quod scilicet partim habent esse in rebus, partim vero in anima.» 96 Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 476, 11-13 (Parisiis 1518, 65 r E): «Sic ergo tempus secundum esse verum, sed imperfectum et in potentia habet esse in rebus, ut procedit secundum argumentum, secundum autem esse verum et perfectum in anima ...» 97 Vgl. 2.3., S. 149.
395
Teil III - Das 13. Jahrhundert
der averroistischen Physikkommentatoren zu Beginn der 70er Jahre des 13. Jahrhunderts erstreckt. Es gibt keinen Bruch in dieser Kontinuität. Heinrich steht in seiner Zeit nicht isoliert da. Mit diesem unzweifelhaften Bekenntnis zu Averroes gelangte Heinrich an den Schluβ seines Argumentationsganges. Er hätte damit seinen Zeittraktat abschlieBen können. Doch er nutzt die Gelegenheit für eine zusätzliche Bemerkung. Gemäβ der Struktur seiner Abhandlung, die von dem Gegensatz zwischen Augustinus und Aristoteles geprägt ist, soll der Antagonismus ihrer Zeitmodelle auf verschärfte Weise noch einmal zum Ausdruck kommen. Auch dabei geht Heinrich ganz von dem von Averroes iibernommenen dreigliedrigen Schema des Seins aus.
3.6.2.7. Abschlieβende Bemerkungen zur Zeittheorie des Heinrich von Gent Bevor Heinrich von Gent seinen Zeittraktat beendet, blickt er noch einmal auf Aristoteles und Augustinus zurück. Die Positionen beider Zeittheoretiker erfordern einen gründlichen und umfassenden Vergleich. Dabei stellt sich Heinrich eindeutig auf die Seite des Aristoteles. Aristoteles denkt nach Heinrich von Gent das seelische Sein der Zeit als intellektuelle Vollendung einer auBerseelischen Weltzeit.98 Daβ dieses Perfektionsmodell gemäβ der Aristotelesauslegung des Averroes geformt ist, erwähnt Heinrich hier nicht. Averroes hatte in seiner Auslegung die Zeit sowohl von den Naturdingen (a) als auch von den fiktiven Vorstellungen (b) abgetrennt. Er nahm auβerhalb der Seele eine potentielle, innerhalb der Seele jedoch eine aktuelle Zeit an (c). Nach der von Averroes begründeten und von Heinrich iibernommenen Aristotelesauslegung findet die Zeit ihre Vollendung erst in der zählenden Seele. <Extra animam> ist die Zeit nur ein <esse imperfectum>. Sie besitzt aber dadurch ein auβerseelisches Fundament. Diese reale Basis fehlt nach Heinrich von Gent dem Entwurf des Augustinus. Daher ergreift er die Gelegenheit, dies noch einmal und jetzt abschlieBend zu beanstanden.
98
Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 476, 12-14 (Parisiis 1518, 65 r E): «... secundum autem esse verum et perfectum in anima, secundum quod iam expositum est iuxta determinationem Philosophi.»
396
3.6.2. Heinrich von Gent
Gemäβ dem Schema des Averroes teilt Heinrich die seelische Zeit, wie sie Augustinus denkt, den fiktiven Vorstellungen zu. Die Zeit hat nach dem Konzept des Augustinus nur ein unwahres Sein. Dies begründet Heinrich mit einer Überlegung, die den fehlerhaften Realitätsbezug der rein seelischen Zeit demonstrieren soll. Dabei kleidet er die Essenz seiner Argumente gegen die Zeittheorie des Augustinus in die Gestalt einer Aporie. Wenn, so sagt Heinrich sinngemäβ, weder eine auBerseelische Weltzeit noch ein darin fundierter Augenblick existiert, hat dies bestimmte Konsequenzen. Unter Berücksichtigung der zusätzlichen Annahme, daB dabei der Himmel als Bewegungs- und Zeitursache veränderungslos runt, führt dies nach Aristoteles zum Zusammenbruch der Zeit. Eine Seele nach dem Modell des Augustinus könnte aber dann immer noch Zeit hervorbringen. Durch ihre aktive Erstreckung auf die Ereignisse bis zu diesem kosmischen Nullpunkt mit Hilfe der Erinnerung (recordatio) konstituiert sie die Dimension der Vergangenheit. Die Erinnerung bleibt der Seele auf diese Weise erhalten, obwohl durch Bewegungslosigkeit keine Welt-Ereignisse mehr stattfinden." Heinrich von Gent führt seine Bedenken nicht näher aus, aber was er sagen will, ist klar: Durch einen kosmischen Stillstand bricht die Weltzeit zusammen. Die durch eine Seele Zeit bliebe davon jedoch unberührt. Dies erscheint ihm paradox, fiktiv und wenig begründet.
Hier ist nicht näher zu untersuchen, ob diese nur auf MiBverständnissen beruht. Sicher sind andere Auslegungen möglich, wie 99
Vgl. HENRICUS DE GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 476, 14-17 (Parisiis 1518, 65 r E): «Sed esse fictum et non verum habet in anima secundum considerationem Augustini, quale haberet, etsi omnino tempus non esset neque instans et caelum staret nec aliquid moveretur, sed solum recordatio eius in anima maneret.»
397
Teil III - Das 13. Jahrhundert
die folgende Analyse des Petrus Johannis Olivi zeigt. Wichtig ist zunächst milder Nachweis, daü es Heinrich gelungen ist, grundlegende Probleme der Zeittheorie des Augustinus aufzudecken. Damit hat er in den 70er Jahren des 13. Jahrhunderts die Diskussion um die Zeittheorie des Augustinus neu belebt und auf eine breite Basis gestellt.
398
3.6.3. Petrus Johannis Olivi Zu den Philosophen, die sich nach der Verurteilung von 1277 kritisch zum Verhältnis von Zeit und Seele1 äuüerten, gehört auch Petrus Johannis Olivi (1248-1298).2 Er lehnte die Konzeption der Zeit, wie sie Augustinus im elften Buch seiner Confessiones vortrug, als eine Fiktion strikt ab. Das zentrale Dokument seiner Auseinandersetzung mit Augustinus ist die dritte Quaestio seines ersten Quodlibet. Dieser Text entstand vermutlich zu Beginn oder Ende der 80er Jahre des 13. Jahrhunderts.3 Darin trug Olivi fast alle Argumente gegen die Zeittheorie des Augustinus zusammen, die innerhalb des 13. Jahrhunderts von verschiedener Seite in Erscheinung traten.4 Welche Bedeutung der Streit um das seelische Sein der Zeit in der philosophischen Diskussion damals besaB, zeigt nichts deutlicher als der Ort, den Olivi seiner Kritik zugewiesen hat. Er beginnt seine Quodlibeta mit naturphilosophischen Fragen zu den Problemen von Raum, Zeit und Bewegung. So stellt Quodlibet I q. 1 die Frage, ob Gott in einem Zeitpunkt eine beliebige Sache durch den Raum zwischen zwei Ortspunkten bewegen könne.5 Auf diese Weise erhalten die Probleme Ort, Distanz und Jetztpunkt nicht nur ihre 1 Die vorhandene Literatur zur Zeitphilosophie Olivis ist äuβerst spärlich. Vgl. dazu: O. Bettini, La temporalita delle cose e I'esigenza di un principio assoluto nella dottrina di Olivi, in: Antonianum 28(1953) 148-187. 2 Zur allgemeinen Orientierung vgl.: K. Flasch, Das philosophische Denken im Mittelalter. Von Augustin zu Machiavelli, Stuttgart 1986, 378-380. An neueren Editionen zu Olivi hier nur eine Auswahl: Petrus Joannis Olivi, Quaestiones in quatuor libros Sententiarum, ed. B. Jansen, Quaracchi 1922-1926; ders., De perlegendis philosophorum libris, ed. F. M. Delorme, in: Antonianum 16 (1941) 31-44. 3 Für den Hinweis auf diesen Text und die Beschaffung der Textvorlage schulde ich Herrn Prof. Dr. L. Hödl Dank. Textbasis ist folgender Druck: Petrus Ioannis Olivi, Quodlibeta, Venetiis 1509 (Bayerische Staatsbibliothek, 2° Inc. s.a. 969m; Titelblatt fehlt). 4 A. Maier hat sich in ihrem grundlegenden Aufsatz zur Problematik des innerseelischen Seins der Zeit in der mittelalterlichen Philosophic nur am Rande mit Olivi befaβt. Dabei bezieht sie sich aber nicht auf die Quodlibeta Olivis, sondern auf eine Handschrift ohne sichere Zuschreibung an Olivi. Vgl. dazu: A. Maier, Die Subjektivierung der Zeit in der scholastischen Philosophie, in: Philosophia Naturalis 1 (1950) 362, Anm. 3; 364, Anm. 6; 367, Anm. 12. Vgl. auch: A. Mai er, Zur handschriftlichen Überlieferung der Quodlibeta des P. J. Olivi, in: Recherches de théologie ancienne et médiévale 14 (1947) 226 ff. 5 Vgl. PETRUS IOANNIS OLIVI, Quodl. I q. 1; Venetiis 1509, 1 a v. 5-9: «QUeritur ergo Primo an deus possit in vno instanti transferre aliquam rem de vno loco ad alterum per spacium intermedium.»
399
Teil III - Das 13. Jahrhundert
spezifisch philosophische Behandlung, sondern auch eine systematische Verknüpfung. Die zweite Quaestio diskutiert weiterführend den Zusammenhang von Jetzt und Zeit.6 Erst in der dritten Quaestio spitzt Olivi die Fragestellung zu. Dabei bringt er das Problem des auβerseelischen Seins der Zeit zur Sprache («TErtio queritur an tempus sit aliquid extra animam»1). Die Frage nach dem innerseelischen Sein der Zeit war im Universitätsbetrieb gegen Ende des 13. Jahrhunderts ein spektakuläres Thema. Ihre Diskussion nahm oft polemische Züge an. Sie gehört zudem in eine Reihe mit den Problemen, die bestimmte Philosophen in den sog. Sophismata erörterten.8 Jedenfalls forderte die Problematik stets erneut zu modifizierten Lösungsvorschlägen auf. Da es sich um ein Theorem des Augustinus handelte, fand das Thema groBes Interesse. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daB auch Olivi seine Forschungen zum seelischen Sein der Zeit in einen bestimmten naturphilosophisch-theologischen Zusammenhang setzte. Die Lösung der Frage, ob Gott eine Sache in einem Augenblick zwischen zwei Ortspunkten bewegen könne, bereitet den Boden für die zeitphilosophischen Untersuchungen vor. Olivi folgte dabei wie viele andere Dozenten seiner Zeit der Gewohnheit, die Quodlibeta mit plakativen Überschriften zu versehen. Dadurch gewann er das Interesse der Zuhörer für seine Ausführungen. Aber Olivi blieb nicht bei unverbindlichen Ankündigungen stehen. Er gab seiner Abhandlung vielmehr eine sorgfältig durchdachte philosophische Struktur. Der Formalismus der mittelalterlichen Quaestio behinderte ihn dabei nicht. Olivi bediente sich seiner zur Darstellung der inneren Bewegung seines kritischen Denkens. Auf diese Weise verstärkte die Form die Strenge der philosophischen Forschung. Olivi bringt nun zunächst die Thesen jener Autoren vor, die das innerseelische Sein der Zeit vertreten haben. Das sind Averroes und Augustinus. Eine derartige Konfiguration war gegen Ende des 13. Jahrhunderts schon längst keine Besonderheit mehr, sondern eher ein Gemeinplatz. Nicht diese Zusammenstellung ist daher von Interesse. Vielmehr verdient die unterschiedliche Beachtung, die Olivi jenen beiden Zeittheoretikern geschenkt hat, eine erhöhte Aufmerksamkeit: Olivi richtete nämlich sein gesamtes kritisches Instrumenta6
Vgl. PETRUS IOANNIS OLIVI, Quodl. I q. 2; Venetiis 1509,1 a v. 59/60: «SEcundo queritur an tempus sit idem quod nunc fluens.» 7 PETRUS IOANNIS OLIVI, Quodl. I q. 3; Venetiis 1509, 2 a v. 29/30. 8 Vgl. SIGERUS DE BRABANTIA, Impossibilia; in: Siger de Brabant. Écrits de logique, de morale et de physique, ed. B. Bazan (Philosophes Médiévaux XIV), Louvain/Paris 1974, 7779. Vgl. auch 3.5.2., S. 301/2.
400
3.6.3. Petrus Johannis Olivi
rium gegen Augustinus. Mit Averroes beschäftigt er sich dagegen kaum. Er faßt dessen Position nur in einem kurzen Satz zusammen: Averroes, der Kom mentator, sage, so heißt es bei Olivi, daß nach der Aufhebung der Seele keine Zeit vorhanden sei.9 Olivi gebraucht damit die kürzeste Formel, die das 13. Jahrhundert für die These des Averroes zum Verhältnis von Zeit und Seele ge funden hat. 10 Ohne jedoch dieses Theorem, das zwar etwas undifferenziert, aber sinnentsprechend die Gedanken des Averroes zum seelischen Sein der Zeit wiedergibt, näher zu bedenken, geht Olivi sofort zu Augustinus über. Während Olivi die Zeittheorie des Averroes etwas vernachlässigt, widmet er den entsprechenden Überlegungen des Augustinus seine ganze Aufmerksamkeit. Er zitiert nicht nur ziemlich wörtlich, sondern auch vergleichsweise umfang reich aus dem elften Buch der Confessiones. Darin gleicht der Augustinusex trakt Olivis der Zusammenfassung des Heinrich von Gent in der elften Quaestio seines dritten Quodlibet. Das Exzerpt Heinrichs überragt jedoch die Auszüge Olivis quantitativ.11 Wie bei Heinrich von Gent ist es nun wichtig, was Olivi aus dem Zeittraktat des Augustinus entnommen hat. Das Augustinusexzerpt Olivis ist deshalb nicht so umfangreich wie der ent sprechende Auszug des Heinrich von Gent, weil Olivi andere Intentionen als Heinrich verfolgte. Ihm ging es um die Konzentration der philosophischen Kri tik auf Augustinus' Konzept einer Annihilation des präsentischen Jetzt. Aber die wörtlichen Entlehnungen Olivis aus dem elften Buch der Confessiones finden sich z.T. auch bei Heinrich. Olivi könnte also Heinrichs Quaestio zum seelischen Sein der Zeit vor Augen gehabt haben. Der folgende detaillierte Vergleich zeigt jedoch, daß es neben einzelnen Übereinstimmungen auch zahlreiche Differenzen gibt. Wo Olivi Au gustinus zitiert, verwendet er gelegentlich Wörter und Satzbruchstücke des Augustinustextes, die sich nicht in Heinrichs Exzerpt finden. Eine eigenständige Augustinuslektüre Olivis ist also wahrscheinlich. Hein richs kontrahierte Fassung mag dabei durchaus der Leitfaden einer direkten Rezeption des elften Buches der Confessiones gewesen sein. Wenn Olivi sein Augustinusexzerpt also nirgendwo vorgefunden, sondern eigenständig konzi piert hat, dann zeigt dies, wie sorgfältig er seine intensive Auseinandersetzung
Vgl. PETRUS IANNIS OLIVI, Quodl. I q. 3; Venetiis 1509, 2 a v. 30/1: « ... quia Com mentator dicit: tolle animam et non erit tempus.» 10 Vgl. AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131; Venetiis 1562, 202 r A- 202 v H. 11 Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Parisiis 1518, 63 r X-65 r E: «Utrum tempus possit esse sine anima». Vgl. auch Anh., S. 463-476.
9
401
Teil III - Das 13. Jahrhundert
mit der Zeitphilosophie des Augustinus vorbereitet hat. Dies war im 13. Jahr hundert selten. Es bestätigt zudem die Qualität der Analysen Olivis. Und es läßt erkennen, daß Olivis Kritik an Augustinus die Basis seiner spezifischen Zeitphi losophie repräsentiert. Eine Einsicht in Olivis Strategie ermöglicht folgender Vergleich seines Augustinusexzerptes mit den Auszügen des Heinrich von Gent: Heinrich von Gent
Petrus Johannis Olivi
«Quid est tempusi»12 « ... quod, si nihil praeteriret, non esset praeteritum tempus, et si nihil adveniret, non esset futu rum tempus, et si nihil esset, non esset praesens tempus.»13
[I] « ... quid est tempus. cum quicquid de eo est preteri tum vel futurum nihil sit.
[II] presens autem nullum spa cium habeat: et finaliter determinat. [IlI] non ergo ipsa que iam non sunt: sed aliquid in memoria mea metior quod infixum manet in animo meo: [IV] in quo inquam tempora me tior affectione quam res pretereuntes in ipso faciunt. que quidem manet cum ille pretereunt ipsam affetionem metior pre sentem non ea que pretereunt ip sam metior: cum tempora me tior.
«Non ergo ipsa, quae iam non sunt, sed aliquid in memoria mea metior, quod infixum manet ... » 14
« ... affectione, quam res praetereuntes faciunt et, cum illae praetereunt, manet ipsa. Ergo ip sa tempora sunt ipsa, aut non me,15 tior tempora. »
HENRICUS A GANDAVO, Quodl III q. 11; Anh. 466, 4/5 (Parisiis 1518, 63 v Y v. 20). Während sich Heinrich von Gent ziemlich genau an den Text des Augustinus hielt, gleicht Olivis Extrakt eher einem Mosaik, das modifizierte Textbausteine aus der Vorlage enthält. 13 HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 466, 8-10 (Parisiis 1518, 63 v Z v. 21/ 2). 14 HENRICUS A GANDAVO, Quodl. I l l q. 11; Anh. 467, 10/1 (Parisiis 1518, 63 v Z v. 38/ 9). 15 HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 467, 11-13 (Parisiis 1518, 63 v Z v. 39/ 40). 12
402
3.6.3. Petrus Johannis Olivi [ V ] Et iterum post. «Quis negat futura
nondum esse?.
Quis igitur
negat futurum
Sed tarnen iam est in animo
ex
teritum
pect atio futurorum.
ne-
est in animo
gat praeterita
Et quis
iam non esse? Sed
rum:
et pre
non esse. Sed tarnen iam expectatio
et memoria
futuro-
preteritorum.
tarnen adhuc est in animo memo
Et quis negat presens tempus ca
ria praeteritorum.
rere spacio: quia in puncto
praesens
Et quis
tempus
carere
negat spatio,
teriit: sed tarnen perdurat
quia in puncto praeteriit? Sed ta
per
rnen perdurat
aderit. longum
attentio, per
quam
pergat
abesse, quod aderii.
igitur
longum
tempus
Non
quam pergat
ad esse quod
igitur
tempus
turum non est aliud q u a m
futurum,
expectatio ria) futuri:
longum
turum longa expectatio futuri
preteritum
est aliud quam
memoria
preteriti.»17
neque longum pus,
quod
praeteritum teriti
praeteritum
non est, sed longa memoria
tem
fu
longa
(Originaltext: memo
quod n o n d u m est, sed longum fu est,
preattenio
tempus longa
longum prae
est.»16
Eine Untersuchung seiner Exzerpte aus dem elften B u c h der
Confessiones
zeigt, daß O l i v i die These des Augustinus v o m seelischen Sein der Zeit ausrei chend durch seinen Auszug belegt. Ebensosehr legt er jedoch Wert auf die Aus sagen z u m Nichtsein der Zeitdimensionen. O l i v i spitzt seine spezifische Zitaten sammlung sogar fast ausschließlich auf die Dokumentation der Ausdehnungslosigkeit
des Nichtseins
bzw.
des Jetztpunktes bei Augustinus zu.
Augustinus annihiliert die Dimensionen der Zeit sukzessiv. Deshalb w i l l O l i v i zeigen, daß dabei nur die punktuelle Präsenz des ausdehnungslosen Jetzt punktes ü b r i g bleibt. D i e Atomisierung der Zeit führt als Punktualisierung des Jetzt z u m seelischen Sein der Zeit. 1 8 I m A u g e n b l i c k schrumpft die Zeit p r o -
16 HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 467, 17-468, 2 (Parisiis 1518, 63 v Z v. 42-48). 17 PETRUS IOANNIS OLIVI, Quodl. I q. 3; Venetiis 1509, 2 a v. 33-47. Die wörtlichen Ent lehnungen Olivis aus dem elften Buch der Confessiones sind hier kursiv gedruckt, seine eigenen Bemerkungen jedoch nicht. Zur Herkunft der einzelnen Zitate vgl. auch: AUGUSTINUS, Conf. X I 14, 17 v. 3/4, 8; 15, 20 v. 53; 27, 35 v. 43-45; 27, 36 v. 48-51; 28, 37 v. 5-14, Verheijen 202,204,213/4. 18 Spezielle Varianten dieser Argumentation überliefert Ulrich von Straßburg. Sie zeigen, wel che Bedeutung die Diskussion zur Beschaffenheit des Jetztpunktes im Streit um das seelische
403
Teil III - Das 13. Jahrhundert
gressiv gegen Null. Daher fällt sie aus dem außerseelischen Welt-Raum in den seelischen Innen-Raum zurück.19 Olivi bewegt sich damit auf einer Linie, die Albert initiiert hatte, als er Au gustinus mit dem Aggregationsmodell des Avicenna zu deuten versuchte.20 Und Sein der Zeit schon um 1270 angenommen hatte. Vgl. ULRICUS DE ARGENTINA, De summo bono IV 2, 23; Mojsisch (in praep.): « ... constat enim ex praedictis, quod ipsum non est nisi nunc; illa necessario sunt plura et non unum in diversis partibus temporis; illa autem plura nunc non possunt simul esse, quia tunc tempus esset de numero permanentium; ergo sunt plura sibi succedentia, et tunc oportet, quod, antequam succedat posterius nunc priori, quod primum sit corruptum. Et hoc etiam est impossibile, quia vel est corruptum in se ipso vel in nunc sequenti; non primo modo, quia ipsum est in se ipso, id est, quando ipsum est; cum autem cor ruptum est, tunc non est; ergo simul est et non est, quod est impossibile; item non secundo modo, quia, cum inter illa nunc necessario sit tempus, quod supra probavimus, et in tempore sint infinita nunc potentia, primum nunc manet cum infinitis nunc, quae sunt in tempore inter medio, et sic nunc esset de permanentibus, quod falsum est; ergo praesens non est; ergo nec tempus est.» 19 Die Diskussionen zur Struktur des Jetztpunktes führte später zu umfangreichen Untersuchun gen. Nikolaus von Straßburg hat die verschiedenen Ansätze in seiner Summe zusammengefaßt. Vgl. auch: NICOLAUS DE ARGENTINA, Summa II tr. 10 q. 1-6; Suarez-Nani 65-94: «De nunc temporis». Vgl. auch zum Zusammenhang zwischen dem außerseelischen Sein der Zeit und der Theorie des Jetztpunktes: T. Suarez-Nani, Tempo ed essere nell'autunno del medioevo, il De tempore di Nicola di Strasburgo e il dibattito sulla natura ed il senso del tempo agli inizi del XIV secolo (Bochumer Studien zur Philosophie 13), Amsterdam 1989, 118-140. 2 0 Vgl. ALBERTUS, S. de creat. I (De IV coaequ.) tr. 2 q. 5 a. 1; Borgnet 34, 365 b: «His rationibus consentit Augustinus dicens, quod tempus non nisi in anima est, et tempus est secun dum eum distensio animi per imaginationem inter designationem duorum momentorum. Mo menta autem duo nihil aliud vocat, quam duas renovationes sitas in mobili quod movetur, sicut duas elevationes in sole, quia sol secundum cursum communes distinguit horas et momenta. Unde collectio horum momentorum per imaginationem tempus est.» Vgl. ALBERTUS, Phys. IV tr. 3. . 3; Hossfeld 263, 39-54: «Dicit autem ista sententia, ut refert AVICENNA, quod in veritate, tempus non est nisi aggregano momentorum'. Huius autem signum esse dicit, quod percipitur tempus, quando momenta congregantur. Momenta autem designare sic vel aliter est in voluntate aggregantis et designantis; verbi gratia, cum dicit, erit sic vel sic cras vel post duos dies, quando elevabitur sol, et posset, si veliet, aliud designare, quod esset momentum determi nans quam solis elevationem. Cum autem momentorum aggregationem sic dicant illi esse tem pus, dicunt tarnen, quod anima comparat momentum momento secundum successionem motus, et ideo tempus est per modum extensionis continuae; protenditur enim imaginatio vel alia vis animae in praeteritum ex praesenti vel in futurum, et hanc protensionem vocant isti temporis continuitatem.» Albert bezieht sich hier auf Avicenna. Vgl. AVICENNA, Suff. I I 10; Venetiis 1508, 33 r b D: «Dixit autem sententia quam prenominauimus: quod tempus non est nisi aggregatio momentorum. Cum enim tu ordinaueris momenta sibi succedentia et coniunxeris non dubitabis quin illorum aggregatio sit tempus. Et quando quidem sic est: tunc cum cognouerimus momenta: cognoscemus et tempus. Sed non est momentum nisi quantum concessit momentator:
404
3.6.3. Petrus Johannis Olivi
Olivi folgte Albert auch darin, daß er die Zeittheorie des Augustinus im elften Buch der Confessiones zu einer Darstellung der Punktualisierung des Jetzt kon densierte.21 Olivi strebte jedoch über Albert hinaus. Mit Heinrich von Gent 22 postulierte er nicht allein eine punktualistische Augustinusdeutung. Olivi be gründete sie auch wesentlich umfangreicher. Er zeigte ihre verborgenen Kon sequenzen und durchdachte kritisch ihren Geltungsanspruch. Olivi beschreibt zunächst die Theorien des seelischen Seins der Zeit, die Averroes und Augustinus aufgestellt haben. Dann umreißt er kurz die Gegen position. Dies geschieht zunächst nicht durch umfangreiche Ausführungen zur Zeit als res naturae. Olivi begnügt sich hier noch mit einem kurzen Hinweis auf bestimmte Fakten, die sich beim Postulat eines seelischen Seins der Zeit erge ben. Was wäre die Schlußfolgerung, so fragt er, wenn die Annahmen des Au gustinus zuträfen? Er selbst gibt darauf folgende Antwort: Wenn sich die Zeit allein in der Seele befindet, dann genießen die bewegten außerseelischen Dinge hinsichtlich der Zeit keinerlei Privileg gegenüber den ruhenden Seienden. Die scheinbar unauflösliche Verklammerung zwischen Zeit und außerseelischer Bewegung wäre damit gesprengt. Die Zeit mißt dann bewegte und unbewegte Dinge gleichermaßen. Für eine ausschließlich seelische Zeit als Maßstab wäre es
hoc est scilicet vt signet initium alicuius accidentis quod accidit illi: et dicat verbi gratia erit sic et sic post duos dies. Cuius sensus est scilicet quod erit cum eleuatione solis post duas eleuationes. Ergo momentum est eleuatio solis. Ergo eleuatio solis non fit momentum: nisi propter assignationem illius qui hoc dixit. Si enim voluisset: aliud signum posuisset: sed eleuatio solis est communior et notabilior et diuulgatior. Et ideo elegit hoc: et alii huiusmodi ad determinandum tempus. Ergo tempus est collectio rerum que sunt momenta designata: aut que soient poni mo menta designata. Et dixerunt quod tempus non habet esse aliter nisi hoc modo. Scitur autem hoc ex rationibus prepositis.» 2 1 Vgl. ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 . 3; Hossfeld 264, 51-62: «AUGUSTINUS etiam dispu tans, an tempus sit in anima, quaerit, si tempus sit extra animam, ubi sit. Praeteritum enim cum non sit, nusquam est in rerum natura; futurum etiam cum nondum sit, non habet esse in rerum natura; ergo si tempus est in rerum natura extra animam, hoc erit praesens. Quaeramus ergo, quid sit praesens. Hoc autem est, cuius nihil praeteriit et nihil futurum est. Hoc autem non est annus vel mensis vel dies vel hora vel aliqua pars horae divisibilis; ergo praesens non est nisi indivisibile nunc. Sed indivisibile nunc non est tempusnpars temporis; ergo ratione illius non erit tempus extra animam.» 2 2 Vgl. HENRICUS A GANDAVO, Quodl. III q. 11; Anh. 474, 20-475, 3 (Parisiis 1518, 64 v C/D, v. 39-42): «Quibus consideratis patere potest inspicienti tota determinatio Augustini prolixa in X I Confessionum. Et re vera, quod dicit, secundum considerationem suam verum est. Si enim praeteritum et futurum considerentur ut stantia inter sua instantia iam omnino praeterita et futura, verum est, quod non sunt nisi in anima et non sine anima.»
405
Teil III - Das 13. Jahrhundert
nämlich gleichgültig, ob ein außerseelischer Gegenstand ruht oder sich be wegt.23 Es besteht hier kein Zweifel, daß sich die durch das Gedan kenexperiment des Augustinus24 vom Stillstand des Kosmos (und der bewegli chen Töpferscheibe) sowie durch die vergleichbaren Hinweise Galens25 auf die
23 Vgl. PETRUS IOANNIS OLIVI, Quodl. I q. 3; Venetiis 1509, 2 a v. 48-50: «Quia secun dum hoc motus et res mote non plus secundum rem essent in tempore quam cetere res:ntem pus plus esset in illis quam in aliis.» 2 4 Vgl. AUGUSTINUS, Conf. X I 23, 29 v. 3-7; Verheijen 208: «An uero, si cessarent caeli lumina et moueretur rota figuli, non esset tempus, quo metiremur eos gyros et diceremus aut aequalibus morulis agi, aut si alias tardius, alias uelocius moueretur, alios magis diuturnos esse, alios minus?»; ders., Conf. X I 23, 30 v. 39-43, Verheijen 209: «Nemo ergo mihi dicat caelestium corporum motus esse tempora, quia et cuiusdam uoto cum sol stetisset, ut uictoriosum proelium perageret, sol stabat, sed tempus ibat. Per suum quippe spatium temporis, quod ei sufficeret, illa pugna gesta atque finita est. Video igitur tempus quandam esse distentionem.» Augustinus bezieht sich auf los. 10, 12-13. Obwohl der Bischof von Paris 1277 bei der Verur teilung des innerseelischen Seins der Zeit Augustinus quasi mitverurteilte (vgl. Anm. 40), hatte niemand gegen diese Thesen des Augustinus aus dem elften Buch der Confessiones etwas ein zuwenden. Daß es aber Zeit geben sollte, während der Kosmos ruht, war für die konsequenten Peripatetiker nach der Aristoteles- und Averroesrezeption des 13. Jahrhunderts undenkbar. Kei ner der radikalen Aristoteliker hätte diese These ernsthaft vertreten. Ausgehend von Averroes lebten sie genau das Gegenteil. Vgl. AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 98; Venetiis 1562, 179 r : «Et manifestum est quod nos non sentimus nos esse in esse transmutabili, nisi ex transmutatione coeli. Et, si esset possibile ipsum quiescere, esset possibile nos esse in esse non transmutabili: sed hoc est impossibile.» Ohne das Bewußtsein der eigenen Veränder lichkeit gibt es für Averroes keine Zeit. Die eigene Veränderlichkeit erwächst jedoch aus der Rotation des Himmels. Stünde dieser durch supranaturale Einwirkung still, gäbe es demnach keine Zeit. Weil ein konsequenter Averroist stets den Stillstand des Kosmos leugnen mußte, ge riet er auf diese Weise mit den biblischen Texten in Widerspruch. Die aristotelische Kosmologie erregte insofern theologischen Widerstand. Der Bischof von Paris verurteilte daher 1277 die ent sprechenden Thesen der radikalen Aristoteliker. Vgl. H. Denifle (Hrsg.), Chartularium Universitatis Parisiensis I, n. 473; Bruxelles 1964 (Nachdruck der Ausgabe Paris 1899), 549: «100. Quod theologi dicentes quod celum quandoque quiescit, arguunt ex falsa suppositione; et, quod dicere, celum esse, et non moveri, est dicere contradictoria.» Vgl. op. cit. 552: «156. Quod si celum staret, ignis in stupam non ageret, quia Deus non esset.» Vgl. op. cit. 553: «186. Quod celum nunquam quiescit, quia generatio inferiorum, que est finis motus celi, cessare non debet; alia ratio, quia celum suum esse et suam virtutem habet a motore suo; et hec conservat celum per suum motum. Unde si cessaret a motu, cessaret ab esse.»
Vgl. AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 97; Venetiis 1562, 177 v M: «Non sicut existimauit Galenus. Galenus enim credidit quod Aristoteles intendebat quod nos non comprehendimus tempus, nisi cum mouemur, idest quando per imaginationem comprehendimus mo tum: et quod hoc est signum quod tempus non est extra motum. Et cum Galenus existimauerit 25
406
3.6.3. Petrus Johannis Olivi
ruhenden Pole der Welt bzw. auf das statische Weitzentrum in ihrer ablehnen den Haltung gegen eine innerseelische Zeit noch bestärken ließen. Das waren für sie einerseits falsche Schlußfolgerungen aus berechtigten naturphilosophi schen Überlegungen (Galen), andererseits völlig fiktive Konstruktionen (Au gustinus) zur Loslösung der Zeit von der weltlichen außerseelischen Bewegung. Daher ist klar, daß die Befürworter der Zeit als eines natürlichen Kontinuums extra animam verhindern wollten, daß die Zeit wie bei Galen und Augustinus aus der kosmischen Bewegung in die reine Immanenz der Seele zurückfiel. Olivi stellt zunächst die beiden konträren Positionen vor. Er setzt dabei (a) die Zeitthesen des Averroes und des Augustinus gegen (b) die Theorie der au ßerseelischen Realität von Zeit und Bewegung. Dann gibt er gemäß der inneren Struktur der Quaestio die des Problems. Im strikten Gegensatz zu Augustinus stützt er sich hierbei auf seine Konzeption eines außerseelischen Zeitkontinuums. Olivi modifiziert das Problem des Verhältnisses von Zeit und Seele mehr und mehr zur Frage nach dem natürlichen Sein oder der seelischen Immanenz des Zeitkontinuums. Olivi läßt im Hinblick auf die Existenz der Zeit eine doppelte Aussage zu. Zunächst ist es sinnvoll, die Zeit hinsichtlich ihrer Existenz als ein Ganzes auf zufassen. Dann erscheint sie wie die permanenten Entitäten in ihrer Totalität zugleich. Diese Auffassung der Existenz der Zeit spricht Olivi nun Augustinus zu. Was aber ist damit gemeint? Wie ist diese Behauptung zudem mit der Theo rie des Augustinus vom präsentischen Jetztpunkt vereinbar? Hat Augustinus die Zeit nicht durch seine Konzentration auf den Jetztpunkt zerstört? Er führt sie doch durch die sukzessive Division des Jetztpunktes in immer kleinere Zeitein heiten gegen Null. Dies ist für Olivi kein Widerspruch. Nachdem Augustinus die Zeit außerhalb der Seele vernichtet hat, setzt er sie (nach Olivi) in der Psy che wieder zusammen. Olivi gibt Augustinus mit dieser Sichtweise zunächst nur scheinbar recht. Die Zeit läßt sich nur im Modus einer von der imaginatio kon stituierten synthetischen Vorstellung zu einer Einheit zusammenfassen. Ein strömendes Kontinuum ist nur in der Einbildungskraft als Ganzheit präsent. Augustinus rettet die Totalität der Zeit. Aber er verlegt sie in die erkennende und synthetisierende Seele. Damit signalisiert Olivi Zustimmung zu Augustinus. Doch es ist eine Akzeptanz mit einer fundamentalen Einschränkung. Sie birgt zudem das Moment ihrer Kritik in sich. Wenn Augustinus hier Recht erhäit, dann nur deshalb, weil Olivi ihm eine vorstellende kognitive Hinblicknahme hoc, contradixit Aristoteli et dixit quod multotiens comprehendimus res quiescentes, et moue֊ mur, cum omnis imaginatio sit motus: vt quando comprehendimus polos mundi, et centrum.»
407
Teil III - Das 13. Jahrhundert und imaginative Synthese auf das außerseelische reale Zeitkontinuum zugesteht. Doch für Olivi ist dies ein unzulässiges Gedankenexperiment. Die Zeit ist kein Ganzes nach der Denkweise des Augustinus. Vielmehr sind andere Überlegun gen notwendig. Das, was Olivi Augustinus zugesteht, ist eine Aufnahme der Zeit in die Vorstellung. Auf diese Weise läßt sich jedes Seiende in einen Gedan keninhalt überführen. Jede Sachheit kann Gegenstand eines Begriffes sein.26 Die Zeit gleicht darin allen anderen Entitäten.27 Sie gewinnt aber nur deshalb in der Vorstellung eine Totalität, weil sie als fließendes Kontinuum allein dort ihre synthetische Einheit erhält. Nur insofern ist sie eine komplexere Entität als ein bloß sinnlich vorhandener Gegenstand.28 Aber die Intellektion einer außersee lisch vorgefundenen Weltzeit ist gewiß nicht die eigentümliche Intention des Augustinus. Olivi gesteht Augustinus nämlich keinesfalls eine Konstitution der Zeit in der Seele zu. Er spricht nur von einer seelischen Synthese der Zeitdi mensionen im Sinne außerseelischer Fragmente, die sich allein in der Auffas sung {consideratio) zu einer Einheit verklammern lassen.29 Dagegen stellt Olivi eine zweite Betrachtungsweise
zur Existenz der Zeit.
Gemäß dieser Theorie sind die Teile der Zeit als wahrhaft existierende und au2 0 Olivi gehört damit zu den Zeittheoretikem, die ein seelisches Sein der Zeit völlig ablehnten. Er beharrte auf dem natürlichen bzw. außerseelisch vorhandenen Sein der Zeit («Tempus est res naturae»). Vgl. auch: NICOLAUS DE ARGENTINA, Summa I I tr. 9 q. 5 a. 6 (1); Suarez-Nani 45, 195-198: «Et ideo de ista materia sunt alii, qui dicunt, quod tempus secundum totum suum esse sit res naturae, nec secundum esse formale nec secundum esse materiale dependeat ab anima, sed solum deprehensio temporis sit ab anima.» (Zur <deprehensio> vgl. auch das zweite Albertzitat in Anm. 27.) Weil Olivi in diese Kategorie der Zeitphilosophen gehört, ist auch der Unterschied seiner Konzeption zu der des Heinrich von Gent trotz mancher Ähnlichkeiten klar. Während Heinrich von Gent auf das materia/forma-Modell in seiner Zeittheorie nicht verzichtet, findet sich bei Olivi davon keine Spur. 27 Der Hinweis auf das Sein der Zeit in der Seele als erkannte Entität, die sich mit anderen Er kenntnisinhalten vergleichen läßt, findet sich schon beim frühen Albert. Vgl. ALBERTUS, S. de creat. I (De IV coaequ.) tr. 2 q. 5 a. 1; Borgnet 34, 367 a: « ... ergo esse temporis non dependet ab anima, sed temporis perceptio»; ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 7; Hossfeld 290, 1316: «Sed anima actione numerantis ponit et causat temporis deprehensionem, et quoad hunc ac tum non est tempus extra animam.» 2 8 Vgl. THOMAS AQUINAS, In Aristotelis Phys. IV lect. 23 n. 629; Maggiòlo 310: « ... sed totalitas motus accipitur per considerationem animae, comparantis priorem dispositionem mobilis ad posteriorem. Sic igitur et tempus non habet esse extra animam, nisi secundum suum indivi sibile: ipsa autem totalitas temporis accipitur per ordinationem animae numerantis prius et poste rius in motu ...» 2 9 Vgl. PETRUS IOANNIS OLIVI, Quodl. I q. 3; Venetiis 1509, 2 a v. 51-54: «Dicendum quod de existentia temporis possumus loqui dupliciter. Primo scilicet earn simul totam accipiendo: ac si tota instai՝ permanentnim esset simul: et sic non est nisi in consideratione nostra.»
408
3.6.3. Petrus Johannis Olivi
ßerhalb der Seele vorhandene Zeitabschnitte zu betrachten. Dabei zeigt der kontinuierliche Zeitfluß, daß ein Teil der Zeit dem anderen ohne Unterbre chung folgt. Ein Zeitabschnitt vergeht, während das andere Teilstück des Kon tinuums zur präsentischen Existenz gelangt. Auf diese Weise befindet sich die Zeit außerhalb des spezifischen Zugriffs der Seele in der Natur. 30 Olivi ver wendet hierbei nicht ohne Grund den Ausdruck apprehensio. Zweifellos spielt er damit auf die 1277 in Paris verurteilte 200. These zum innerseelischen Sein der Zeit an.31 Damit ist sicher, daß die Philosophen gegen Ende des 13. Jahr֊
3 0 Vgl. PETRUS IOANNIS OLIVI, Quodl. I q. 3; Venetiis 1509, 2 a v. 55-58: «Secundo mo do secundum quod vna eius pars vere sit et existit post alteram: et secundum quod vna inde pre terit: et alia vere aduenit: et sic vere est in rebus extra apprehensionem anime.» 3 1 Vgl. H. Denifle (Hrsg.), Chartularium Universitatis Parisiensis I, n. 473; Bruxelles 1964 (Nachdruck der Ausgabe Paris 1899), 554: «200. Quod evum et tempus nichil sunt in re, sed solum in apprehensione.» Vgl. auch: R. Hissette, Enquête sur les 219 articles condamnés à Pa ris le 7 Mars 1277 (Philosophes Médiévaux XXII), Louvain/Paris 1277, 152-154; . Flasch, Aufklärung im Mittelalter? Die Verurteilung von 1277. Das Dokument des Bischofs von Paris, eingeleitet, übersetzt und erklärt von K. Flasch (Excerpta classica VI), Mainz 1989, 246/7; ders.: Welche Zeittheorie hat der Bischof von Paris 1277 verurteilt? (Ms. 1992); L. Bianchi, Il vescovo e i filosofi. La condanna parigina del 1277 e l'evoluzione dell' aristotelismo scolastico, Bergamo 1990, 16, 120. Zur 200. verurteilten These sind hier noch einige grundsätzliche Be merkungen notwendig. Eine Unterscheidung zwischen der Formulierung und <solum in apprehensione> ist sinnvoll. Dabei erhält das Adverb <solum> eine grundlegende Bedeutung. In der kann sich dabei ein seelischer Inhalt befinden, der vor seiner geistigen Erfassung <extra apprehensionem> gewesen ist. Davon zu unterscheiden ist ein Gedan keninhalt, der seine Entstehung nicht einem Zugriff der Seele auf die Äußerlichkeit verdankt, sondern einer innerseelischen Genese. Insofern bezieht sich die Formulierung <solum in apprehensione> auch auf andere seelische Inhalte wie z.B. Relationen. Das hat B. Mojsisch in bezug auf Petrus Aureoli gezeigt. Vgl. dazu: B. Mojsisch, , in: Historisches Wörterbuch der Philosophie 8, hrsg. von J. Ritter/K. Gründer, Basel 1992, 591. Im Hinblick auf das Ad verb <solum> gewinnt auch die restliche Formulierung einen konkreteren Sinn. Die sinnliche Seelenkraft entfällt, weil ein sinnlicher Seeleninhalt ohne Hinblicknahme auf die Außenwelt undenkbar ist. Die Imagination fällt ebenfalls weg. Sie ist nach damaliger Auffas sung nicht primär auf noetische Entitäten bezogen. Daher bleibt als aktive Seelenpotenz, die auch einen Bezug zu Zahl und Zählung besitzt, nur der Intellekt übrig. Eine solche Eingrenzung ist notwendig, um sich nicht in der Vielfalt der Bedeutungsinhalte der Formel zu ver lieren. Vgl. auch: Ps.-ALBERTUS, De apprehen.; Borgnet 5, 555 a-728 b. Eine befriedigende Lösung läßt sich durch einen Rückgriff auf die aristotelische Begrifflichkeit erreichen. Es gibt ei ne Stelle im Corpus Aristotelicum, wo Aristoteles und miteinander zu verbinden scheint. Vgl. ARISTOTELES, De an. III 10, 433 a 9/10: Φαίνεται δέ ye δύο ταũτα kiνοũντα, ή őρεξις ή νοũς, eï TIV την φαντασίαν τιθείη ως νόησίν τίνα. Nur bei gewissen Spezialfällen scheint die φαντασία irgendeine geistige Kraft (νόησίν τίνα) zu sein. Klarer und entschiedener formuliert es Aristoteles an einem anderen Ort. Vgl. ARISTO-
409
'leil IIl - Das 13. Jahrhundert
Hunderts diese Pariser Verurteilung auf Averres und Augustinus bezogen ha ben. Im Hinblick auf das gesamte spezifische Diskussionsfeld zum Verhältnis von Zeit und Seele in der Naturphilosophie des 13. Jahrhunderts ist keine ande re Möglichkeit denkbar. Wer hätte denn sonst gemeint sein können? Olivi nimmt die Verurteilung von 1277 ernst. Daher zeigt er wenig Sympa thien für die Position des Augustinus. Den restlichen Raum der Quaestio nimmt nämlich der Versuch ein, sie angemessen zu widerlegen. Dies geschieht in zwei Schritten: Olivi stützt zunächst die Position des außerseelischen Seins der Zeit durch drei Beweise. Mit Hilfe dieser Ergebnisse greift er dann auf umfassende Weise Averroes und Augustinus an. Die Ausführungen Olivis erfüllen zunächst die Funktion einer das außerseeli sche Kontinuum der Zeit stützenden Untersuchung. Aber diese Argumentation ist so angelegt, daß sie indirekt die Position des Augustinus destruiert oder min destens die Kritik am elften Buch der Confessiones vorbereitet. I. Das erste Argument appelliert an die sinnliche Wahrnehmung. Olivi ver weist dabei auf den sichtbaren Bezug der Zeit zur Bewegung. Wer die Zeit in die Seele setzt, zieht sie von der außerseelischen Bewegung ab. Damit fällt die Zeit in die Innerlichkeit der Seele. Sie erscheint so als ein Phänomen der Im manenz. Oder umgekehrt formuliert: Es gibt auch Zeit, wenn keine äußerliche Bewegung vorhanden ist. Eine solche Position leugnet dann das Sein der Bewe gung, wenn sie die Zeit auch da postuliert, wo keine Bewegung vorhanden ist. Hier setzt Olivi an. Wer verneint, daß außerhalb der Seele Bewegungen exi stieren, negiert die sinnliche Erfahrung (sensus). Wir sehen doch, so meint Oli vi mit Hinweis auf den gesunden Menschenverstand, unzweifelhaft (indubitabiliter) die Bewegung der Dinge. Ein Schiff segelt über das Meer. Danach läuft es in einen Hafen ein, den es später wieder verläßt. Befänden sich diese Bewe gungen nur in uns (nisi in sola apprehensione nostra32), dann wären sie ein Nichts. Zeit und Dauer der Bewegung sind aber dasselbe. Und wenn die Bewe-
TELES, De an. III 3, 427 b 14/5: φαντασία γαρ pov՛ καΐ αίσθήσeως՝ καΐ διανοίας. Aristoteles trennt hier die φαντασία streng von der sinnlichen Wahrnehmung (αίσθησις) und vom Denken (δίάνοια). Die allerletzten Zweifel aber beseitigt eine Äußerung des Aristoteles zum Verhältnis von Denken, Zählen, Zeit und Zahl im Zeittraktat der Physik. Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 25/6: ei μηδέν άλλο πεφυκεν αριθμείν ή ψυχή καΐ ψυχής՝ νοvς ... Die , von der die 200. Pariser These spricht, ist also der Intellekt. 3 2 Vgl. dazu ebenfalls die 1277 verurteilte 200. Pariser These zum seelischen Sein der Zeit: Chartularium Universitatis Parisiensis I, n. 473; loc. cit., 554: «200. Quod evum et tempus ni֊ chil sunt in re, sed solum in apprehensione.»
410
3.6.3. Petrus Johannis Olivi
gung außerhalb der Seele vorhanden ist, dann existiert auch die Zeit extra animam. 33 IL Das zweite Argument ist schon subtiler. Es bezieht sich auf das Verhältnis der Zeit zu sich selbst und zu ihren Teilen. Erneut vollzieht Olivi dabei ein Ge dankenexperiment. Was wäre anzunehmen, wenn sich die Zeit nicht in den au ßerseelischen Dingen befände? Augenscheinliche Widersprüche und faktische Unmöglichkeiten. Nichts könnte wahrhaft vergehen. Kein gegenwärtiges Sei endes wäre nach irgendeinem vergangenen Zustand vorhanden. Dies käme nicht nur einer Negation der Zeitbestimmungen und <Später> gleich, sondern auch einer Verneinung der außerseelischen Zeitdimensionen. Olivi operiert mit der Kraft des Faktischen, denn er beruft sich auf den .34 I I I . Wie intensiv sich Olivi mit der Pariser Verurteilung des seelischen Seins der Zeit beschäftigte, zeigt auch das dritte Gegenargument, das er in seiner Quaestio aufgestellt hat. Auch hier verweist er wieder auf die apprehensio. Die Apprehension ergreift die Zeit in ihren drei Dimensionen (Vergangenheit, Ge genwart und Zukunft). Nach Olivi ist es falsch und sogar phantastisch, wenn jemand behauptet, daß es keine aus der Gegenwart entstandene Vergangenheit gebe. Und ebenso irrig ist die Meinung, daß nach einem Vergangenen nichts Gegenwärtiges neu entstehe bzw. daß nach diesem Gegenwärtigen nichts Zu künftiges in die Gegenwart gelange.35 Olivi polemisiert hier gegen die Thesen des Augustinus von der Nichtigkeit der realen Zeitdimensionen. Aber trifft er die Intention des Augustinus mit sei-
33 Vgl. PETRUS IOANNIS OLIVI, Quodl. I q. 3; Venetiis 1509, 2 a v. 59-67: «Primo scilicet ex respectu temporis ad motum. qui enim negat motum esse in rebus extra animam: negat sensum: quia indubitabiliter sentimus et videmus muitas res moueri et multos motus in eis fieri: alias quando nauis currit per mare ad portum: vel a portu: ille cursus nihil esset: nisi in sola apprehensione nostra. Sed motus non potest esse extra: quin eius duratio sit extra cum ipso et in ipso. tempus autem est idem quod duratio motus. ergo vere tempus est extra: sicut et motus.» 34 Vgl. PETRUS IOANNIS OLIVI, Quodl. I q. 3; Venetiis 1509, 2 a v. 67-2 b v. 6: «Secundo probatur ex respectu temporis ad seipsum et ad suas partes. si enim tempus nihil est in rebus ex tra animam: tunc nihil realiter preterit: nec aliquid presens realiter sit post aliquod preteritum. Sed non solum contra rationem imo contra sensum est negare prius et posterius: seu preteritum et presens sibi succedens et futurum presenti successurum.» 35 Vgl. PETRUS IOANNIS OLIVI, Quodl. I q. 3; Venetiis 1509, 2 b v. 6-12: «Tertio probatur ex respectu ad nostram apprehensionem: quia nostra apprehensio apprehendens tempus secun dum tres sui partes: scilicet preteritum presens et futurum: est omnino falsa et fantastica: si nihil fuit preteritum: quod aliquando erat presens et si post illud preteritum nullum presens est factum: et si post hoc presens nullum futurum fiet presens.»
411
Teil IIΙ - Das 13. Jahrhundert
nen Einwürfen? Sind die o.g. Punkte Ι-ΠΙ nicht nur die Sichtweise des sog. < g e sunden Menschenverstandes>, der über die Folgerungen der Philosophie hin sichtlich der Zeit bestürzt ist? Aber Olivi wäre nicht von dem Problem des see lischen Seins der Zeit wahrhaft betroffen gewesen, wenn er sich ausschließlich auf einen empirischen Befund gestützt hätte. Er appelliert zwar an die alltägli che Erfahrung, aber dies geschieht auf der Basis seiner Konzeption einer au ßerseelischen und kontinuierlichen Weltzeit. Diese philosophisch begründete Theorie sichert Olivi zunächst nur durch Hinweise auf die Erfahrung ab. Erst dann folgen konkretere Begründungsverfahren. Nachdem Olivi die drei Beweise zum außerseelischen Sein der Zeit vorgetra gen hat, geht er abschließend zur endgültigen Auseinandersetzung mit Averroes und Augustinus über. Er beginnt mit einer Kritik an Averroes, die aus zwei Schichten besteht: Zunächst beschreibt er die Position des Kommentators (A), dann widerlegt er sie (B). (A) Zuerst äußert sich Olivi zum Verhältnis des Averroes zu Aristoteles. Da bei läßt er offen, ob Averroes bei der Frage nach dem seelischen Sein der Zeit die Ansicht des Aristoteles angemessen erklärt. 36 Nach dieser Vorbemerkung gibt Olivi eine konzentrierte Darstellung der Aristotelesexegese des Averroes. Olivi berücksichtigt zunächst nicht die Auslegung des Arabers zur <aristoteli schen Zeitaporie>.37 Er bezieht sich anfänglich auf die Zeitdefinition der Phy sik. Dort bestimmt Aristoteles die Zeit als die Zahl der Bewegung im Hinblick auf das Früher und Später. Die Zeit ist lediglich eine Zahl. 38 Entscheidend ist nun, daß Averroes nach Olivi die Theorie der Zahlhaftigkeit der Zeit mit sei ner spezifischen Ansicht des Zeitkontinuums verbindet. Die quantitative Teilung eines Kontinuums ist nie in actu, sondern stets in potentia vorhanden. Sie exi stiert allein in der quantifizierenden noetischen Instanz der Seele. Die Verklam36 Vgl. PETRUS IOANNIS OLIVI, Quodl. I q. 3; Venetiis 1509, 2 b v. 15/6: « ... aut forte se quitur viam sui Aristotelis: cuius est expositor.» 3 7 Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 21-29: πότερον δε μη ούσης ψυχής εϊη αν ό χρόνος ή οv, απόρησεLev αν τiς. αδυνάτου γαρ οντος είναι του άριθμήσοντος αδύνατον και άριθμητόν Tι εΐναι, ώστε δήλον Öτι ούδ ' αριθμός, αριθμός γαρ ή το ήρίθμημενον ή το άριθμητόν. ει δε μηδέν άλλο πέφυκεν άρίθμειν ή ψυχή και ψυχής νους, αδύνατον εΐναυ χρόνον ψυχής μη ούσης, άλλ ' ή τούτο δ ποτέ ον εστίν ό χρόνος, οίον ει ενδέχεται κίνησυν εΐvαւ άνευ ψυχής, το δε πρότερον καΐ ύστερον εν κινήσει ε σ τ ί ν χρόνος δε ταύτ ' εστίν η αριθμητά έστι,ν. Zur Exegese des Averroes vgl. AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 131; Venetiis 1562, 202 r A202 v H. 3 8 Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 11, 219 b 1/2: τούτο γάρ εστίν ό χρόνος, αριθμòς Κινήσεως κατά τò πρότερον καΐ ύστερον.
412
3.6.3. Petrus Johannis Olivi merung der These von der Kontinuität der Zeit mit den Überlegungen ihrer Zahlhaftigkeit ist bei Averroes nicht zu übersehen. Auf diese Weise verknüpft der Araber seine Thesen zur Zeit als Zahl, Kontinuum und Konstituens der Seele. Das Averroesreferat des Olivi ist damit eine Synthese der Kommentartexte 109 (Kontinuum/Diskretum-Modell) und 131 (Potenz/Akt-Schema) 39 aus dem vierten Buch des Physikkommentars
des Averroes. Zusammenfassend gesagt:
Die zahlhafte Trennung der Teile (distinctio partium
numeralis) eines Bewe-
gungskontinuums ist außerhalb der Seele nie aktuell, sondern nur potentiell vorhanden. Die Seele setzt Einschnitte in die Bewegung. Die Zahl dieser poten tiell vorhandenen Einschnitte verwirklicht sich dann in der intellektuellen See lenpotenz, d.h. in unserer apprehensio. Dies erklärt Olivi erneut mit indirektem Hinweis auf die 200. Pariser These40 aus dem Jahr 1277.41
Vgl. AVERROES, In Arist. Phys. IV, t. comm. 109; Venetiis 1562, 186 v M-l87 r D; t. comm. 131; Venetiis 1562, 202 r A֊ 202 v H. 4 0 Vgl. Chartularium Universitatis Parisiensis I, n. 473; loc. cit., 554: «200. Quod evum et tempus nichil sunt in re, sed solum in apprehensione.» Die Deutung der in der 200. Pariser These als Intellekt schließt einen Bezug zu Augustinus nicht zwangsläufig aus. Au gustinus identifiziert die Zeit nicht nur mit der . Auch Geist und Zählung spielen im elften Buch der Confessiones eine bedeutende Rolle. Dabei geht Augustinus in mehreren Stufen vor: 1. Zuerst zerstört er die Annahme eines außerseelischen Seins der Zeit durch die progres sive Annihilation des präsentischen Jetztpunktes. Diese Destruktion negiert die Auffassung einer außerseelischen Welt-Zeit. Wenn es also Zeit gibt, muß sie sich nach Augustinus ausschließlich in der Seele befinden. 2. Danach bestreitet er zwar ihre Identifizierung mit der außerseelischen Bewegung, nicht jedoch die indirekte Bedeutung der Bewegung für die Zeit. 3. Aus diesen Prämissen folgert Augustinus nun, daß die außerweltlichen Veränderungen Eindrücke in der Seele zurücklassen. Deren innerseelische Erstreckungen sind das Basisphänomen der Zeitdimen sionen. 4. Die innerseelischen Erstreckungen durchdringt eine noch unbestimmte Quantität, die der Geist, der innere <Maßstab> unserer Psyche, erfaßt und bestimmt. Ohne diese noetische Quantifizierung der ausgestreckten, aber hierarchisch unter- und ungeordneten Potenzen unserer Seele durch den Intellekt versänken wir im Chaos der Fülle unserer Erinnerungen und der Ziel losigkeit irregulärer Erwartungen. Vgl. AUGUSTINUS, Conf. X I 27, 36 v. 46-48; Verheijen 213: «In te, anime meus, tempora metior. Noli mihi obstrepere, quod est: noli tibi obstrepere turbis affectionum tuarum. In te, inquam, tempora metior.» Die quasi permanente Hinblicknahme des Augustinus im elften Buch der Confessiones auf Messen und Zählen (z.B. das Mo dell der Quantifizierung der Silben eines Textes), die sich in den entscheidenden letzten Kapiteln noch intensiviert, hat bestimmte Gründe. Das legt den Schluß nahe, daß die Zeit für Augustinus die Synthese seelischer Extensionen mit der zählenden Intellektualität ist. Wenn eine höhere noe tische Seelenpotenz die niedrigeren Seelenteile mit latenter Quantität numeriert, gibt es das Phä nomen Zeit. . 4 1 Vgl. PETRUS IOANNIS OLIVI, Quodl. I q. 3; Venetiis 1509, 2 b v. 13-21: «Ad illud igitur Commentatoris potest dici quod loquitur de existentia temporis primo modo sumpta. aut forte sequitur viam sui Aristotelis: cuius est expositor. Ille enim dixit quod tempus est numerus motus secundum prius et posterius: et quia distinctio partium numeralis non est in aliquo continuo actu: sed solum in potentia: ideo actualis distinctio prefati numeri non est nisi in apprehensione anime distinguente in motu et tempore varias partes secundum prius et posterius.» 4 2 Vgl. PETRUS IOANNIS OLIVI, Quodl. I q. 3; Venetiis 1509, 2 b v. 21-23: «Licet autem hoc quod de distinctione dictum est sit verum: tarnen tempus non plus est numerus motus quam quantitas sit numerus rei...»
414
3.6.3. Petrus Johannis Olivi
Das reale Anschauungsobjekt dieser Verknüpfung kennt jeder als Uhr, wobei die Verfeinerung der Messung lediglich ein technisches Problem ist. Die hi storische Erforschung dieser Entwicklung bleibt dabei der Gegenstand der Technikgeschichte. Ihre fundamentale Interpretation leistet jedoch die Natur philosophie. Aus dem Vergleich zweier realer Kontinuitäten zieht Olivi eine weitere Schlußfolgerung: Die Zeit ist als Zahl nicht allein ein reales Maß der Bewe gung, sondern auch der Maßstab ihrer selbst.43 Die Zeit in ihren Funktionen als Maß-Zahl der Bewegung und als Meßwert ihrer selbst sind daher zwei gleich gewichtige Eigenschaften des einen außerseelischen Zeitkontinuums. Olivi drückt diesen Sachverhalt auch noch anders aus. Die Zeit unterscheidet sich in ihrer Zahlhaftigkeit nicht von anderen Zahlen, die eine teilbare Ganzheit quantifizieren. 44 Weil sich die Zeit als ein reales kontinuierliches Ganzes zeigt, ist sie auch in Teile zerlegbar. Diese Teile sind ebenfalls zahlhaft. Olivi ver meidet auf diese Weise Überlegungen zur seelischen Konstitution der Zahl bzw. der Zeit. Er zieht sich auf die gegenseitige Vergleichbarkeit realer Maße zu rück. 45 Seine These stützt Olivi durch kontinuitätstheoretische Überlegungen. Wie sich ein Kontinuum als kontinuierliche Einheit von der diskreten Quantität un terscheidet, so differiert auch die Zeit von der Zahl bzw. von den Bestimmthei ten der Zahl. 46 Die Zeit ist zwar Maßzahl, aber wesenhaft bleibt sie ein reales Kontinuum. Eine Zahl transzendiert nie die Diskretion, weil sie stets diskreten Entitäten anhaftet.47
Vgl. PETRUS IOANNIS OLIVI, Quodl. I q. 3; Venetiis 1509, 2 b v 23-25: «... aut quam extensio sit numerus quantitatis: nec tempus est plus numerus motus quam suiipsius ... » 4 4 Vgl. PETRUS IOANNIS OLIVI, Quodl. I q. 3; Venetiis 1509, 2 b v. 25-27: «... nec aliter est numerus quam quodcumque totum in diuersas sui partes numerale seu distinguibile.» 45 Diese Position als Argument gegen das seelische Sein der Zeit vertritt in leicht abgewandelter Form schon der frühe Albert. Vgl. auch: ALBERTUS, S. de creat. I (De IV coaequ.) tr. 2 q. 5 a. 1; Borgnet 34, 367 a: «Praeterea, Adhuc erit motus velocior motu. Quae non possunt esse nisi in comparatione ad mensuras. Si ergo mensuratur motus non existente anima, esse temporis non dependebit ab anima. » 4 6 Vgl. PETRUS IOANNIS OLIVI, Quodl. I q. 3; Venetiis 1509, 2 b v. 27-29: «Item eo modo quo continuum inquantum unum et continuum differì a quantitate discreta: oportet quod tempus differat a numero et a ratione numeri.» 4 7 Vgl. PETRUS IOANNIS OLIVI, Quodl. I q. 3; Venetiis 1509, 2 b v. 29-30: « ... quia ratio numeri inquantum est talis: est ratio discretorum inquantum talium.»
43
415
Teil I I I - Das 13. Jahrhundert
Der Streit um das seelische Sein der Zeit führt auch bei Olivi zu einer Theo rie des Zeitkontinuums. 48 Dabei setzt er voraus, daß dieses Kontinuum seiner
Die Frage nach Kontinuum und Diskretum der Zeit war schon unter den unmittelbaren Schü lern und Nachfolgern des Aristoteles umstritten, wie Simplikios in seinem Corrolarium de tem pore im Hinblick auf Straten von Lampsakos berichtet. Vgl. SIMPLICIUS, Phys. 788, 36-789, 48
Zur Edition und englischen Übersetzung dieses Fragmentes vgl. die neue Ausgabe: W. W. Fortenbaugh et al. (Ed.), Theophrastus of Eresus, Sources for his Life, Writings, Thought & Influence I, Leiden/New York/Köln 1992, ո. 151 , 306, 3-9; 307: «But Strato of Lampsacus criticized the definition of time given by Aristotle and his associates, and, although he was a pupil of Theophrastus who followed Aristotle in almost everything, he took a new path. For he did not accept that time was the number of motion, because number is discrete quantity, but motion and time are continuous, and the continuous is not numerable.» Vgl. auch die entsprechenden Diskussionen im weiteren Aristotelismus. Zunächst ist Areios Didymos zu nennen. Vgl. AREIUS DIDYMUS, Epitomes fr. 6 (vgl. Stob. ecl. I 8 40 p. 252 H); in: Doxographi Graeci; Diels 449, 15-19:
Für die Zeit nach Areios Didymos gibt es ein Fragment des Nicolaus von Damaskus. Vgl. NICOLAUS DAMASCENUS, Compendium I 16; in: Nicolaus Damascenus, On the philosophy of Aristotle. Fragments of thefirstfivebooks translated from the Syriac with an introduction and commentary by H. J. Drossaart Lulofs, Photomechanical reprint with additions and corrections (Philosophia Antiqua XIII), Leiden 19692, 72: «a If time cannot be understood without the now — b the now is at the same time a beginning and an end: the begin ning of the future time, and the end of the past time — c it is necessary that time is continuous.» (Aus technischen Gründen entfällt hier der Abdruck des syrischen Originals. Vgl. op. cit. 73, 811.) Für Alexander von Aphrodisias fließen die Quellen reichlicher. Seine Abhandlung De tem pore war in lateinischer Übersetzung durch Gerhard von Cremona dem lateinischen Mittelalter sogar bekannt (vgl. 1.4., S. 17). Vgl. auch: ALEXANDER, De tempore; in: G. Théry. Autour du décret de 1210: II. - Alexandre d'Aphrodise. Aperçu sur l'influence de sa noétique (Biblio thèque Thomiste VII), Le Saulchoir Kain 1926, 94: «Et instans quidem quando currit, facit tem pus et cum tempus est actu ipsum non dividitur in annos et menses aut dies, nisi estimacione.» Zum arabischen Text, der das verlorene griechische Original ebenfalls ersetzen kann, vgl.: A. Badawi, Commentaires sur Aristote perdus en grec et autres épîtres (Recherches publiées sous la direction de l'Institut de Lettres Orientales de Beyrouth, nouvelle série, A. Langue arabe et pen sée islamique I), Beyrouth 1971, 21, 13/4:
416
3.6.3. Petrus Johannis Olivi
inneren Verfaßtheit nach nur außerseelisch vorhanden sein kann. Ist die Zeit aber allein als reales Kontinuum denkbar? Für Olivi bestand daran kein Zwei fel. Er beharrt ohne eine philosophische Begründung auf dieser Annahme. Da bei ist eine andere Stellungnahme durchaus möglich. Dietrich von Freiberg griff Thesen nach der Art Olivis mit seiner spezifischen Konzeption zur Be stimmtheit aller Kontinuitäten an. Als er seine These vom seelischen Konti nuum der Zeit aufstellte, war er daher gezwungen, eine grundlegende Theorie des Kontinuums aufzustellen. Aus diesem Konzept leitete Dietrich dann sämtli che Gattungen der continua ab.49 Höhepunkt und Abschluß der gesamten Quaestio ist die Auseinandersetzung Olivis mit Augustinus. Anders als Heinrich von Gent, der Augustinus und Ari stoteles bzw. Averroes in ein Gleichgewicht zu bringen versuchte, konzentriert Olivi seine gesamten Bemühungen auf die Widerlegung des Augustinus. Das Zugeständnis, das er zunächst gegenüber Augustinus gemacht hatte 50 , war da her nur formeller Natur. Erst jetzt schreitet Olivi massiv zur eigentlichen K r i tik an Augustinus. Der grundlegende Ansatzpunkt seiner scharfen Auseinander setzung mit ihm ist dabei die Punktualisierung und Annihilation des präsenti schen Jetzt. Dies ist die nach Olivi zentrale These des elften Buches der Confessiones. Daher muß auch dort der Versuch einer erfolgreichen Widerlegung des Augustinus ansetzen. Doch bevor Olivi dazu übergeht, schaltet er noch eine grundlegende Analyse der Beziehung von Sein und Zeit in den subtilen Gang seiner Überlegungen ein.
Vgl. ALEXANDER ap. SIMPL., Phys. 748, 23/4: λέγει ουι՛ ÖTL Ò νυν τòν χρόνοι՜ δι αιρεί δυνάμει, τουτεστι τω επινοείσθαι. In bezug auf Themistios gibt es einen Hinweis, den Averroes dem 13. Jahrhundert überliefert hat. Vgl. AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 106; Venetiis 1562, 185 ν Η: «Themistius vero videtur concedere tempus percipi ad per ceptionem vnius instantis: quoniam assimilatili՛ instans puncto. Et sicut vnus punctus sufficit in numeratione lineae, scilicet in diuisione eius, saltem in duo, ita est instans. Et hoc erit quando imaginatur pars prior motus in illo instanti, et posterior eo: et hoc erit in tribus instantibus praesentibus.» Außerdem ist auf die umfangreichen antiken Analysen zur Philosophie des νυν bei Aristoteles in den erhaltenen antiken Physikkommentaren des Themistios, Simplikios und Jo hannes Philoponos zu verweisen. Den Peripatetikern des 13. Jahrhunderts war allerdings keiner dieser Texte bekannt. 4 9 Vgl. THEODORICUS, De nat. cont. 1; Rehn, 251, 14-252, 59: «Natura et proprietas continuorum in generali.» 5 0 Vgl. PETRUS IOANNIS OLIVI, Quodl. I q. 3; Venetiis 1509, 2 a v. 54/5: «... et hoc mo do veram est quod Augustinus dicit.»
417
Teil III - Das 13. Jahrhundert
Nach Olivi ist das Sein äquivok oder analog auf zweifache Weise auszusagen: 'Zunächst ist das augenblickliche (instantaneum) oder gleichzeitige (simultaneum) Vorhandene <seiend>. Dann jedoch erhalten sukzessive Entitäten, die in einem kontinuierlichen und strömenden Prozeß des Werdens (in continuo et successiuo fieri) entstehen, das Prädikat <seiend>. Das prozessuale Sein existiert fließend. Während ein Teil von ihm vorhanden ist, vergeht das andere Teilstück usf. Keine partielle Erstreckung existiert zugleich mit den anderen Abschnitten des strömenden Kontinuums. Nichts derartig Bestimmtes entsteht spontan. In einem kontinuierlichen Prozeß gibt es keine Sprünge, sondern die Gesamtheit tritt erst allmählich in Erscheinung.51 Oder kurz: Es gibt Seiendes, das in einem einzigen Augenblick zugleich existiert, aber auch Entitäten, die nicht momen tan, sondern nur sukzessiv entstehen.52 Was heißt das aber in bezug auf die Zeit? Auch darauf gibt Olivi ausreichend Antwort. Die Zeitdimension des Präsens läßt sich nach Olivi einerseits als die augenblickliche Gegenwart einer Diskretion, andererseits als Teil einer Konti nuität verstehen. Olivi gibt aber dem Kontinuum den Vorzug. Wie ist nun das Präsens in einem Kontinuum zu betrachten, wenn die Punktualisierung des prä sentischen Jetztpunktes völlig entfällt? Olivi stellt fest: Die Gegenwart reprä sentiert stets einen Abschnitt, niemals die Totalität der Zeit. Sie existiert nur als Erstreckung eines strömenden Kontinuums. Die Gegenwart ist auch nicht bloß ein Augenblick. Eine derartige Annahme führt nur dazu, daß sich bei der Su che nach der Existenz des präsentisch vorhandenen Jetzt immer kleinere Zeit einheiten ergeben, deren Grenzwert Null ist.53 Kein Teil der Zeit wäre dann
Vgl. PETRUS IOANNIS OLIVI, Quodl. I q. 3; Venetiis 1509, 2 b v. 30-36: «Ad rationem vero cui Augustinus videtur ínniti pro quanto posset sumi contra secundum modum realis exis tentie temporis: dicendum quod esse est equiuocum seu analogum ad esse instantaneum seu simultaneum: et ad esse successiuum quod est in continuo et successiuo fieri, ita quod dum vna eius pars sit: altera transit. Et ita quod nulla eius pars sit tota simul: quia nulla pars eius sit in in stanti.» 52 Vgl. W. Breidert, Das aristotelische Kontinuum in der Scholastik (Beiträge zur Geschichte der Philosophie und Theologie des Mittelalters N. F. 1), Münster 19702; ders.: Zum maßtheore tischen Zusammenhang zwischen Indivisibile und Kontinuum, in: Miscellanea mediaevalia 16,1 (1983) 144-152; R. Sorabji, Time, Creation and the Continuum. Theories in antiquity and the early middle ages, London/Ithaca N. Y. 1983; W. Wieland, Die aristotelische Physik. Untersu chungen über die Grundlegung der Naturwissenschaften und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles, Göttingen 1962 (19702) 278-316. 53 Vgl. AUGUSTINUS, Conf. X I 15, 20 v. 53; Verheijen 204: « ... praesens autem nullum habet spatium.»
51
418
3.6.3. Petrus Johannis Olivi
existent. Diese Schlußfolgerung hat Augustinus in seinem Zeittraktat gezogen.54 Olivi dagegen will das Präsens nicht als punktuelle Gegenwart gelten lassen, sondern vielmehr als Zeitdimension, die kontinuierlich in Erscheinung tritt und fließend verströmt. Er beharrt daher auf der Existenz einer präsentischen Er streckung, die an ihren Rändern in die anderen Zeitdimensionen übergeht. Kei nesfalls w i l l er einen präsentischen Jetztpunkt zulassen. Die dadurch verur sachte Annihilation der Zeit und ihrer Teile lehnt er ab. Durch die Theorie des realen außerseelischen Kontinuums verfügte Olivi über eine solide Basis für eine gezielte Kritik an der Zeitphilosophie des Au gustinus. Erneut verweist er darauf, daß sich das Sein der Zeit zwar einerseits auf den unteilbaren Jetztpunkt reduzieren, andererseits aber auch als teilbares (kontinuierliches) Ganzes verstehen läßt. Die Simultaneïtät der Zeit besteht dann sowohl im momentanen Zugleich eines atomisierten und unteilbaren Jetzt punktes als auch in der Gleichzeitigkeit der Seienden in einer teilbaren Zeiterstreckung.55 Olivi will jedoch vom unteilbaren Jetzt weg zum realen außerseeli schen Zeitkontinuum. Wie ist nun innerhalb eines derart verfaßten Kontinuums die Gegenwart zu denken? Die gegenwärtige Zeit oder das gegenwärtige Sein dürfen nach Olivi nicht auf das Zugleich eines unteilbaren Jetztpunktes zusam menschrumpfen. 56 Eine Identifizierung der Zeit mit dem präsentischen Jetzt punkt führt sonst ohne Zweifel zur Nichtigkeit der anderen Dimensionen der Zeit. Diese stürzen dann in die Punktualität hinein. Das gesamte Sein der Zeit konzentriert sich so im dimensionslosen Punkt. Das Ergebnis dieser Konzen tration ist dann eine Annihilation. Die Gegenwart bzw. die gegenwärtige Zeit gleicht eher einer fließenden kontinuierlichen Erstreckung. Diese Dilatation besitzt eine Analogie zum Fließband: Ein zu Beginn der Laufstrecke aufgeleg ter Gegenstand (die in die Gegenwart eintretende Zukunft) fällt am Ende der Laufstrecke herab (das Gegenwärtige versinkt in die Vergangenheit). Im Hin-
Vgl. PETRUS IOANNIS OLIVI, Quodl. I q. 3; Venetiis 1509, 2 b v. 36-39: «Et consimiliter presens equivocatili՛ ad presens instantaneum: et ad presens quod est pars temporis. nam pre sens quod est pars temporis: nunquam est toturn simul seu in instanti: quia tunc non esset tem pus nec pars temporis.» 55 Vgl. PETRUS IOANNIS OLIVI, Quodl. I q. 3; Venetiis 1509, 2 b v. 39-43: «Rursus scien dum quod esse simul seu esse simultaneum: potest consimiliter equiuocari: vt vno modo sumatur propriissime pro esse in nunc indiuisibili. alio autem modo sumatur pro esse cum alio in eodem tempore diuisibili: seu in suo toto.» 5 6 Vgl. PETRUS IOANNIS OLIVI, Quodl. I q. 3; Venetiis 1509, 2 b v. 43-46: «Et hoc modo dicimus presens tempus esse de presenti seu esse presens: non quia partes eius sint simul in vno nunc indiuisibili: sed quia continentur in ilIo toto: quod presens tempus vocamus.» 54
419
Teil III - Das 13. Jahrhundert
blick auf das Bild eines derartig fließenden Kontinuums erscheint das punktu elle Jetzt nur als eine Abstraktion. Es ist daher falsch, die Zeit nach gewöhnli cher Ansicht 57 mit dem einen unteilbaren Jetzt zu identifizieren. 58 Wer bei der Bezeichnung <Jetzt> bleiben will, muß sie für die gegenwärtige und teilbare Zeit gebrauchen.59 Olivi streitet daher vehement gegen das Dogma von der Zeit als einem unteilbaren Jetztpunkt. Im Gegensatz dazu begreift er das Stück Ge genwart, das uns vertraut und zugänglich ist, nicht als ein ausdehnungsloses Zeitatom, sondern als die teilbare Dilatation eines fließenden Kontinuums. Als Theologe brauchte Olivi zudem den realen außerseelischen Zeitfluß. 60 In dieser Weltzeit läßt er dann als zwei singuläre Punkte nur den ersten unteilbaren Au genblick der creatio und den letzten Augenblick des Zieles aller Zeiten zu. 61 Der weitere Gedankengang der Quaestio zeigt klar, daß alle diese Beweise und Überlegungen gegen den unteilbaren präsentischen Jetztpunkt und für ei nen außerseelischen kontinuierlichen Zeitfluß in ihrer systematischen Bünde lung ausschließlich gegen Augustinus gerichtet sind. Doch damit ist für Olivi noch nicht erklärt, wie und wodurch die Zeittheorie des Augustinus im elften Buch der Confessiones ihren spezifischen Charakter erhalten hat. Bei seiner Beantwortung dieser Frage benutzt er einen rhetorischen Kunstgriff. Er tritt aus dem Argumentationsfluß des Textes heraus und spricht den Leser direkt an. Vorher tauschte Olivi im Verlauf der Quaestio nur sich widersprechende PosiVgl. J. Hamesse, Les Auctoritates Aristotelis. Un florilège médiéval, Étude historique et édi tion critique (Philosophes Médiévaux XVII), Louvain/Paris 1974, ո. 138; 151, 31: «Nihil habemus de tempore, nisi nunc et praesens tempus.» 58 Die grundlegenden Texte zur Theorie des <Jetzt> im 13. Jahrhundert sind neben der griech.lat. und der arab.-lat. Translation des aristotelischen Zeittraktates der entsprechende Kommentar des Averroes zur Physik des Aristoteles (Vgl. AVERROES, In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 104-107; Venetiis 1562, 182 v H-186 r B: «Quam rationem habeat ipsum Nunc ad ipsum tem pus. Cap. 4.»; ders., In Aristotelis Phys. IV, t. comm. 121-128; Venetiis 1562, 195 v I-200 r A: «Quo pacto ipsum Nunc continuat tempus ... Cap. 7.») sowie ein Kapitel aus dem Zeittraktat des Avicenna (Vgl. AVICENNA, Suff. II 12; Venetiis 1508, 34 v a A-35 v a P: «De declaratione instantis»). Daß die erhaltenen lateinischen Physikkommentare des 13. Jahrhunderts im Hin blick auf die Theorie des Augenblicks zu prüfen sind, ist selbstverständlich. 5 9 Vgl. PETRUS IOANNIS OLIVI, Quodl. I q. 3; Venetiis 1509, 2 b v. 46-48: «Falsum est igitur illud quod vulgariter dicitur scilicet quod de tempore non habemus nisi nunc: loquendo de nunc indiuisibili: licet sit veram sumendo nunc pro tempore presenti et diuisibili.» 6 0 Thesen zur Jetztstruktur und Zeitkontinuum erscheinen in den Quodlibeta des 13. Jahrhun derts oft unter theologischen Überschriften. Vgl. auch: AEGIDIUS ROMANUS, Quodl. V q. 2; Lovanii 1646, 208 b-210 b: «Vtrum sit dare ultimum instans, in quo Christus vivebat?» 6 1 Vgl. PETRUS IOANNIS OLIVI, Quodl. I q. 3; Venetiis 1509, 2 b v. 48-50: « ... quia post debet dici quod in toto tempore non est actu aliquod nunc indiuisibile: nisi in sui initio et fine.» 57
420
3.6.3. Petrus Johannis Olivi tionen aus. Nun aber spricht er direkt zu einer fiktiven Person. Dabei denkt Olivi jedoch nicht an einen beliebigen Rezipienten. Er meint vielmehr einen Leser, der die These vom seelischen Sein der Zeit bzw. der die Position des Augustinus vertritt. Olivi kommt also indirekt mit Augustinus ins Gespräch.62 Diesem wirft er folgende Unstimmigkeiten vor: Wer alles Vergangene und Zu künftige negiert 63 , engt die Zeit vollständig ein. Es sei denn, er behauptet, daß das unteilbare Jetzt sämtliche Zeitdimensionen umfaßt.64 Dies wäre jedoch ab surd. 65 Daher ist die These vom unteilbaren Jetzt nicht zu halten. Wer das
Hätte Olivi die einzelnen Positionen zum seelischen Sein der Zeit zwei Personen in den Mund gelegt, dann wäre aus dem kunstvoll verschlungenen Text seiner Quaestio die ineinander ge knüpfte Rede eines Dialogs geworden. 63 Schon der frühe Albert verwirft eine vollständige Negation der Zeitdimensionen Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit. Vgl. ALBERTUS, S. de creat. I (De IV coaequ.) tr. 2 q. 5 a. 1; Borgnet 34, 367 b: «HIS SUPPOSITIS, respondemus ad objectum primum, quod partes tem poris non tendunt omnino in non esse: et idcirco illa objectio non concludit nisi quod de esse temporis nihil est accipere manens, et hoc est verum.» 6 4 Vgl. PETRUS IOANNIS OLIVI, Quodl. I q. 3; Venetiis 1509, 2 b v. 50-53: «A toto igitur quod dicitur quod scilicet quicquid temporis preteriit aut futurum est: est simpliciter nihil, quicquid autem temporis sumpseris preter indiuisibile presens totum necessario est preteritum vel futurum.» 65 Olivi greift hier eine Theorie an, die später Meister Eckhart vertreten hat. Vgl. ECHARDUS, Pr. 77; DW I I I 336,1: «Nim abe daz nû der zît, so bist dû allenthalben und hast alle zît.» Die große Bedeutung des Jetztpunktes für die Philosophie Eckharts ist bekannt. Der spezifische Zu sammenhang von Eckharts Theorie des Jetzt mit den Zeitanalysen des Augustinus blieb jedoch bis jetzt unerforscht. Folgende Überlegung wäre möglich: Eckhart, der das elfte Buch der Confessiones nachweislich kannte (vgl. 3.7.2.), ließ sich von der Annihilierung des präsentischen Jetztpunktes bei Augustinus inspirieren. Durch progressive Teilung treibt Augustinus das prä sentische Jetzt gegen Null. Die erste Folgerung daraus ist, daß sich die Zeit ausschließlich in der Seele befindet. Diese augustinische Reduktion der Weltzeit auf den dimensionslosen Jetztpunkt ist als Annihilierung für Eckhart interessant. Versteht er sie als eine erste Stufe der Rückführung unserer Seele zum zeitfreien Intellekt, der mit nichts etwas gemein hat? Gelangt über das Nichts des Jetztpunktes unsere Seele zum der , der Bestimmtheit des eigenschaftslo sen Intellektes? Zu Nichts und Negation bei Eckhart vgl. auch: B. Mojsisch, Nichts und Nega tion. Meister Eckhart und Nikolaus von Kues, in: Historia Philosophiae Medii Aevi. Studien zur Geschichte der Philosophie des Mittelalters, Festschrift für Kurt Flasch zu seinem 60. Geburts tag, hrsg. von B. Mojsisch/O. Pluta, Amsterdam/Philadelphia 1991, 675-693, bes. 681. Eck hart scheint also die Annihilierung des präsentischen Jetztes der Zeit als Sprung aus dem Jetzt der Zeit in das der aufgefaßt zu haben. Diese Frage ist alt. Schon Albert hat sie diskutiert. Vgl. ALBERTUS, De caus. II tr. 1 . 10; Fauser 72, 39-73, 26: «De quando et nunc aeternitatis et temporis». Vgl. auch: ALBERTUS, De caus. II tr. 1 . 10; Fauser 72, 4345: « ... quaerunt NONNULLI, utrum idem sit quando aeternitatis et temporis et utrum idem nunc temporis et aeternitatis ...» Die spezifische Wendung, die Eckhart dieser Frage gegeben 62
421
Teil III - Das 13. Jahrhundert
wirkliche Werden und Existieren der Zeit derartig mißversteht, ist ein Opfer seiner eigenen Einbildungskraft. Ein solches Zeitatom ist nicht viel mehr als ein gedankliches Konstrukt. Weil die Zeittheorie des elften Buches der Confes siones auf der Konzeption eines unteilbaren Augenblicks beruht, bleibt sie nur eine Täuschung. Die These des Augustinus ist daher für Olivi nicht nur eine Fiktion der Einbildungskraft, sondern auch ein wissenschaftliches Konstrukt ohne jeden Realbezug. Die Theorie vom seelischen Sein der Zeit erscheint somit als ein spitzfindiges Gedankenexperiment unter Zuhilfenahme der Imagi nation. Die verschlungene, sorgfältig kalkulierte und streng argumentativ abge sicherte Struktur des elften Buchs der Confessiones, die Augustinus zur Ver mittlung seiner Zeittheorie vorgelegt hat, ist aus der Perspektive Olivis nicht mehr als die glänzende Inszenierung einer Fiktion. Albert der Große warf Au gustinus' Unkenntnis in der Naturwissenschaft vor.66 Bei Olivi ist er das Opfer seiner eigenen Einbildungskraft. Dies ist die Summe der Untersuchungen Olivis zum seelischen Sein der Zeit. Olivi bringt sie über den Umweg eines fiktiven Lesers direkt gegen Augustinus vor.67 Olivi hätte seine Untersuchung hier abschließen können. Doch er wollte wohl seine Auffassungen noch tiefer begründen. Daher hielt er eine letzte Auseinan dersetzung mit der Theorie des unteilbaren Jetzt für erforderlich. Dies ge schieht durch eine Hinblicknahme auf die außerseelische Bewegung. 68 Die Bewegung ist dabei eine Erscheinung, die nach Olivi (und
hat, läßt sich nur durch eine angemessene Untersuchung der genetischen Entwicklung der JetztTheorien in der zweiten Hälfte des 13. und zu Beginn des 14. Jahrhunderts erkennen. Vgl. in diesem Zusammenhang auch: N. Largier, Zeit, Zeitlichkeit, Ewigkeit. Ein Aufriß des Zeitproblems bei Dietrich von Freiberg und Meister Eckhart (Deutsche Literatur von den Anfängen bis 1700; Bd. 8) Bern/Frankfurt am Main/New York/Paris 1989, 179 ff. 6 6 Vgl. ALBERTUS, Phys. IV tr. 3 4; Hossfeld 265, 35/6: « ... nec AUGUSTINUS sciverunt bene naturas rerum.» Im Zeitalter der streng formal strukturierten Summen und Quaestio֊ nen erschien die Einbringung naturwissenschaftlicher Forschungen in ein theologisches Medita tionsbuch als ein vorwissenschaftliches Verfahren. Daher war nach der Aristotelesrezeption mit einer Fülle neuer Fakten zur Naturwissenschaft das elfte Buch der Confessiones aus der Per spektive bestimmter Peripatetiker des 13. Jahrhunderts kaum mehr als ein Kuriosum. Die Aristoteliker dieser Zeit mußten zur Kenntnis nehmen, daß die des Augustinus gegenüber der Physik des Aristoteles unvollkommen und voller bitümer war. 6 7 Vgl. PETRUS IOANNIS OLIVI, Quodl. I q. 3; Venetiis 1509, 2 b v. 53-55: «Dicendum quod tale instans non sumitur nisi in sola imaginatione. Et ideo cum ex ea arguis ad reale fieri et existere temporis fallit te imaginatio tua.» 6 8 Vgl. . Jansen, Olivi, der älteste scholastische Vertreter des heutigen Bewegungsbegriffs, in: Philosophisches Jahrbuch 33 (1920) 137-152.
422
3.6.3. Petrus Johannis Olivi Aristoteles69) das Phänomen der Zeit an sich trägt. Olivi beginnt mit einer Strukturbeschreibung der Ortsbewegung (motus localis). Bei der Ortsbewe gung ist eigentlich nur der transitus von p1 nach p2 wahrnehmbar. Dieser transitive fluxus einer bewegten Entität läßt sich beliebig begrenzen, wobei sich der Abstand zwischen p1 und p2 entsprechend verengt. Dabei streben die imaginierten Limitationen (px—) eines bewegten Gegenstandes durch die Distan zen des Ort-Raumes progressiv gegen Null (px— = 0). Die stetige Division von Kontinuitäten führt demnach in die seit der antiken Philosophie bekannten Aporien der Punktualität. Die Fixierung der Punktualität pz auf einer Linie der örtlichen Bewegung bewirkt zudem eine Division. Der Abschnitt, der (räum lich) vor diesem Einschnitt anzusetzen ist, erhält den Status der Vergangenheit. Das Teilstück, das dieser Setzung (räumlich) folgt, ist der Zukunft zugeordnet. Bei dieser Division versucht unsere Apprehension irgend etwas Fixes fest-zustellen. Ist eine derartige Fixierung überhaupt im realen und außerseeiischen Sein vorhanden? Gibt es in der strömenden Ortsbewegung ein aktuell Fixierba res? Ist nicht jede derartige geistige Stabilisierung vielmehr der Akt einer Ima gination, die sich ein Fixum vorstellt und ein-bildet? Was bedeutet denn ein ak tueller Einschnitt in das Kontinuum der Bewegung? Und was bewirkt eine Di vision des parallel zur Bewegung existierenden Zeitkontinuums? Olivi rindet auf diese Fragen nur eine Antwort: Zeit und Bewegung wären keine Einheit mehr, sondern in zwei Bewegungen und zwei Zeiten zerschnitten. Diese Behauptung verifiziert Olivi durch geometrische Überlegungen zur Struktur der Linie. Dabei gerät er in die Aporien der Punktualität.70 Was meint denn Punktualität? Was bedeutet die Setzung von Singularitäten in strömende continua wie Zeit und Bewegung? Derartige Setzungen sind nach Olivi mit Wi dersprüchlichkeiten behaftet. Wenn der aktuell gesetzte Punkt die Beendigung oder den Anfang einer Linie bezeichnet, ist dann nicht der aktuelle Augenblick der reale Abschluß der früheren und der wirkliche Anfang der folgenden
69
Vgl. ARISTOTELES, Phys. IV 14, 223 a 18/9:
Zu beachten sind in diesem Zusammenhang die Bemerkungen des Dietrich von Freiberg zur Problematik von Punktualität und Kontinuum. Vgl. THEODORICUS, De nat. cont. 1 (6); Rehn 252, 39-43; ders., De nat. cont. 2 (12); Rehn 255, 102-108. Da für Olivi die Zeit eine abstammt, in dem befindet es sich auch. Nichtsein und Nichtigkeit der Zeit bedeuten also bei Eckhart nicht die Negation der Zeit schlechthin, son dern beziehen sich auf ihr Sein in der Seele. Insofern erhalten die Ausführun gen Eckharts in den Sentenzen I und I I ihre angemessene Erklärung. Woher stammt aber das Konzept Eckharts und mit wem ist es verwandt? Zu nächst ist hier Dietrich von Freiberg zu nennen. Aus der anschließenden Be merkung geht jedoch noch mehr hervor. Eckhart beschäftigt sich dort mit der konstitutiven Kraft der Seele. Er zeigt ihre aktive Funktion bei der Konstitution bestimmter Propositionen, die dadurch dem Sein nicht verhaftet sind. Eckhart nennt zunächst die Zeitdimensionen