Martin Andree
Archäologie der Medienwirkung Faszinationstypen von der Antike bis heute (Simulation, Spannung, Fiktiona...
110 downloads
2432 Views
114MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Martin Andree
Archäologie der Medienwirkung Faszinationstypen von der Antike bis heute (Simulation, Spannung, Fiktionalität, Authentizität, Unmittelbarkeit, Geheimnis, Ursprung)
Wilhelm Fink Verlag
Bibliografisc he Information Der Deuuchen BibliOlhek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nuionalbibliografie; detaillierte bibliografische D:llen sind im Internet übe r hnp:l/dnb.ddb.dc abrufbar.
Alle Rechte. auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vo rbehalten. Dies betrifft auch die Vervielfältigung und Ü bertragung einzelner Textabschnitte, Zeichnungen oder Bilder durch alle Verfahren wie Speicherung und Übertragung auf P.apier, Tr.ansp.arente, Filme, Bänder, Platten und andere Medien, soweit es nicht §§ 53 und 54 URG ausdrücklich gest.atten.
2. Auflage 2006 ISBN 10: 3~7705 ·4160~ X ISBN 13: 978 ~J - 7705 -4160·7
e 2005 Wilhe1m Fink Verlag, München wwwJink.de Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München Herstellung: Ferdina nd Schö ni ngh GmbH , Paderborn
Inhalt
I. Einführung: Die Wirkungs mac ht der Medien
I. Fragestellung ( I): Warum wirke n Medien? ...... .. ...... ..................................... ..... ... ... ............. 7 2. Fo rsch ungssland ........................................................................................................... _........ 15 3. Fragcstellung (2): Ähnlichkeit, Geheimnis, Unminclbarkeit, Ursprung. Authentizität ... 20 4. !\ Ic lhodik .................................................................................................................................. 26
5. Von den drei Ancn, dieses Blich zu lesen ........ .................................................................. 3 1
11 . Ähnlichkeit: Der Reiz der Simulation
I. Der r.,'lythos der Ahnlichkeit: Rezeptionsweisen der T äuschung (llms) .................... 33 2. Theorien des Bildes (PEiRCE / GOMBRJCH / Eco) ........................................................... 41 3. PrOtotypen der Simulacionsthcor1e (PLATON / ARiSTOTELES) ...................................... 57 4. Lektüren der Bctrachlllng (psEUDO-ßoNAVENnJRI\ / NIIOI'O JmlSollll1lfllt) ................. 85 5. Rezeprions\Veisen der Illusion (Lessing / Mendc1ssohn) ............................................... 10 1 6. Schlechte und gUle Ahnlichkeir: Kopie und Ideal (\VINCKEI.J.IANN) .......................... 11 7 7. Die Nachahmung des Subjekts (~'I O RI IL / SCJ.ILEGUJ.) .................................................. 135 8. Fazit und Ausblick: VinucUe Realitäten (pkfJStation) ...................................................... 151
Ill. Geheimnis: Der Reiz des M ysteriösen
1. Der Mythos des Geheimnisses: Von Schleiern und SchweUen (E....,odIIS) ••••.......•..•.. ... 156
2. Der Reiz der Tiefe (AUGUSTINUS) .................................................................................... 173
3. E.·d:llf'J: Der sprechende Kosmos. 1 (Ü HLY / FOUG\ ULT) ........................................... 203 4. Die El1Istehung der Neugierde und der Fikcionalitäl (DAMPIER / D EFOE) .............. 209 5. . her Spannung und Lcsesucht (l...A ROCHE / WALPOLE / HOI'RIANN) .................... 251 6. Die Wiedergebun des Geheimnisses im Geiste der Kunst (GOETHE) ....................... 281
7. E.yk/m: Der sprechende Kosmos. 2 (Novt\u s) ............................................................. 314 8. Fazit und Ausblick: Vom Tod der Tiefe (Monieo UM ins":!) ............................................ 31 7
5
IV. U nmittelbarkeit: D e r Reiz des E rlebens
I. Unmittelbarkeit zwischen Ähnlichkeit und Geheimnis ........... ......... ... ........ ..... ............. 335
2. Gottunminelbarkeit: Von Gesichten und Visionen (Seuse I ßre mano) .................... 339 3. HCr'.lensunmine.lbarkeil: Empathie und Rührung (H ERD ER) ...... .......................... ........ 365
4. Ausblick (EU/tl!]) ................................................................................................................. 380
V. Ursprung: D e r Reiz des Arc h aischen
I. Ursprung zwischen Ähnlichkeit, Geheimnis, Unminelbarkcit (Gmuü I PLATON) ...... 392
2. Die Wiederkunft des Sinns (NOVALlS) .............. .. .................................. ........................... .406 •
3. Ausblick (HITLER I Cmftlm/(~ ........................................................................................... 423
VI . Authe ntizitä t: D e r Rdz d es Echten
1. Echt oder gefi lsdlt? (\,\IOI.FRAM VON EsCIIEN BACI I) .............................. .. ................... 432 2. D ie Entstehung des Ori&';nals (YOUNG) ..................................................... .. ... .. .............. 461 3. Ausblick (lJig IJroJlxr I l-lillrr·Ttlgebiirlxr I M jrhllf/jfldeson) ............................................. 486
VII . F azit (PASCI-JASIUS RADBERTUS) ................................................................................... 50 1
VIII . Lite ra turverzeic hni s I. Quellen .......... .............................................. .. ..................................................... .. ................. 5 16 2. Darstellungen ........................................................................................................................ 525
IX. Abbildungsnachweise .................................................................................................. 577
X. N ac hbemerkung .............................................................................................................. . 58 1
XI . Registe r ...................................................................... .. ............ ... ........................ ..... ............ 582 I. Personenregistcr ... ................ ......... .............. ........ ................................................ ...................... 582 2. Saclucgistc r ..... ............................................... ..... ....... ....................................... ..................... 588
6
I. Einführung: Die Wirkungsmacht der Medien
Sokraler. Laßt uns dann zuschen, weshalb wohl. O der gibTer [HorneT] uns selbst das Warum am besten in die Hand? E r sagt nämlich: (...1 H tmlOj,tner. D as leuchter mir ein.
Sokraler. Wieso denn? Ich selbst verstehe es ja jetzt noch nicht recht, und du verstehst es?
Hemlogtnts: Nein, beim Zeus, ich auch nicht.I
I. Fragestellung (1): Warum wirken Medien? Medien JIIirken -
J\lleditn k önnen Menschen in den Se/bi/Illord treiben. So soll Gocmes ll7erther angcb ~ lieh ei ne ,Epidemie von Selbstmorden' ausgelöst haben. Schon bei Wenhers Tod im Ro man spielt eine Selbstmordgeschichrc aus der fede r Lessings eine Ro Ue: " WeITher läßt ElI/i/j(J Ga/olli als Wegweiser auf seinem Pulte aufgeschlagen zurück, Christine von Laßberg soUdie Geste aufgenommen und sich mit IVtrlher in der T asche ertriinkt haben. Ein anderer erhängte sich mit dem Buch als zweifelh aftem Freund und WCb,",veiser, und in London beging cin Mädchen mir IfVerlher unter ihrem Kopfkisscn Selbstmo rd." z A'/edien können Menschen in Killer venwndeln. Wayne 1...0 tötete 1992 bei seinem Amoklauf zwei Menschen, nachdem er zuvor immer und immer wieder die johannes-ApokA!Jpse durchgelesen harrc und das Projekt der endzeiclichen gÖrtlichen R.'lche dann als seine persö nliche r-.1ission auffaßte.] Roben Sreinhäuser !'tATON: IP",tt. Griechisch und deutsch. I-I rsg. \'on Günther Eigler, übers. \,on rriedrich D. E. Schleiennacher. Bd. 1-8. Dannstadt: Wiss. Buchges. 1990. Bd. 3, S. 4271Kro~IoJ 392e]. 2
WANIEK, Erdmann: " If/trthtr lesen und Werthcr 21s Leser ." In: Gotll)t· YtariJoole I (1982), S. 5 1.92, hier S. 78.
J
Vgl. BAR'n., Alexander. " E r spielte einwandfrei Violine. Gcorg Stefan T roller sucht die Wahrheit eines Mö rders: ,Amok'." In: FAZ (164) 2001, S. 42.
7
Abb. I; ,Nur ein Bild'? Bildervc.rehrung auf dem Athos.
•
8
erschoß am 16. April 2001 in Erfurr 16 Menschen, danach sich selbst in der Kosrümierung eines Kämpfers nach ausuferndem Konsum des Computerspiels Coltnters/rike. In einem anderen Fall benutzten jugendliche Serienmörder Oliver Stones Film Na/lIml Bom Killers als Vorlage für ihre Schlächtereien: .. Sie mordeten nach Drehbuch. Sie stammelten Dialogfetzen, als sie abdrückten":' D as Muster selbst ist nicht neu; 1785 berichtet eine Zeitschrift: .. In der Gegend von Baiem und Srhu'aben ro neten sich [... ] gef.ihrlich schwännende Jünglinge zusammen und wollten nichts geringeres ausfUhren, als sich durch Mord, und Mordbrennerei auszuzeichnen [... [. ,Sie wollten Schiller's Räuber realisieren."'s Solche spektakulären, ,direkten' Folgen von Medienkonsum sind sicherlich die radikal sten Beispiele einer Medienu1irkJmg. die oft im Bild eines gewaltsamen Einflusses besc hrieben wird , weswegen es dann Sinn macht, von Wirkungsmach/ zu sprechen: Rezipienten, die sich im ,Bann' solcher Texte oder Filme beflflden, fühlen sich ,übermächtigen Kräften willenlos ausgesetzt' und werden zu den Instrumenten ei ner ,höheren Gewalt'.6 Diese Reaktionen stehen in einer direkten Beziehung zu der Sligges/ioltskmji, welche Bilder, Texte, Filme ausüben können, und die seit Jahrtausenden bezeugt sind. Seit Urzeiten werden bestimmten Büchern, Ikonen, Skulpturen im Kult geheimnisvolle, magische Kräfte zugeschrieben, man sagt, sie seien götdicher Herkunft, etwa ,vom Himmel gefallen', man fü rchtet sie, kniet vor ihnen, betet sie an, verehrt sie wie Götter, pilgert hin zu ihnen , man küßt und liebkost sie, spricht mit ihnen, umarmt sie. Umgekehrt können Medien auch durch Verfolgung heimgesucht werden, als handelte es sich um feindliche Personen: Im Ikonoklasmus werden Bilder zertrümme n , Darstellungen feindlicher Kräfte werden geci1gt, Bücher werden verbranlll. Es gibt demnach eine Parallelität zweier Umganb'Sweisen mit Medien, von denen die eine eher neutral, alltäglich ist ~Ze itllngsartike1 ~, die andere dagegen intensiv, tIItphatisch. In e",phatischen Rezeptionsprozessen kann dann sogar die ganze Bandbreite emotionaler Reaktionen hervorgerufen werden, welche auch rur das ,wirkliche Leben ' bezeugt sind, sie erzeugen Angst und Schauder, Vergnügen und Freude, körperliche Reak tionen wie Zittern , erhöhte Aremfrequenz, innere E rhitzung (.. mein Kopf wurde immer heißer und heißer", oder
~
WEFING, Heinrich: " Noch kann OÜ"er SlOne ruhig schlafen." In: FAZ 100 (2002), S. 53. S Die ano nyme Rezension aus dem MIJ!!.a~ln Mr Phikmphie und IdJiinen U ltralIIr von 1785 ist abgedruckl in GRAWE, Christian: Fritdn'rh Schi/Irr ,Die RiilllNr. ' Erliillltnlnlfn lind Dolt.umtnlt. Sru[tgan: Reclam 1976, S. 182-164. hier 183. , Ludwig Pielsch beschreibt 1893 den Effekl seiner Lektüre von Gottfried Kellers Dtrgrine Htinrich wie fo lgt: "Eine neue Welt ging mir darin auf. Es nahm mich zunächsl vollständig gefangen, ergritf Iksitz von meiner Phantasie, meinem Denken und Empfinden;'; zitien in ZACH, Alfrcd (H rsg.): GOIf/ritd Ktlltr illl Spitf.t/ stinrr Ztit. Urttik lind Btrirhlt von Ztilgtnosltn iibu dtn Mtnsrhen lind D/rhler. Zürich: Scicnria 1952, S. 23 .
9
Abb. 2 und 3: Die Kulrurkritik verOrtel die ,Gefahren' der l>.kdienwirkung in der Verwec hslung von Medium und Wirklichkeit. Eine harmlose Variante ist etwa Don Quixo te, der in einer ,Traumweh' lebt (A. Schrocdlcr, Don Qllichollt. Stahlstich aus Urania. T tlJ(htnblich ollf dtlJ Jahr 1838); gefährlicher ist die ,Verführung' durch r.,·lcdien, etwa zu Kriminalität oder hier zur Unzucht (F. R. Ingouf Leu Jcunc nach S. Frcudenbergcr, Lu IIItrllrs du Itlllps. Kupferstich vor 1783).
10
der Rezipient hat ein "warmes Geftih) im Bauch" erc.7) - und, als Kardinalreaktion einer emphatischen Medienrezeption, die immer wieder erwähnten
Tränen. Den Rekord der Tränen hält bis heute der rrühneuzeitliche Medienkon sument Ignatius von Loyola. In seinem Geistlichen Tagebuch erwähnt er allein in der kurzen Periode "vom 2. Februar bis zum 12. März PS44J allein hundertftinfundsechzigmal ,Tränen', und in den lerzren neun Monaren befaßt sich das Tagebuch überhaupr nur mit dem Vorhanden sein oder Nicht-Vo rhandensein von Tränen."s Das liesr sich dann etwa so (Eintrag vom 13. Mai 1544): " Vor und nach der Messe Tränen; in der Messe eine große Fülle davon und die wunderbare innere Stimme, noch viel mehr als sonst."9 Nach den Tränenexzessen, welche bereits die Romane von Richardson hervorgerufen harren, erfordern auch IWerlher-Lektüren das Accessoire des Taschenruch s: " Da sitz' ich mir zer[)oßnem Herzen, mir klopfender Brust und mir Augen, aus welchen wollüstiger Schmerz tröpfel t, und sag Dir, Leser, daß ich eben ,Die Leiden des jungen Werthers' von meinem lieben Goethe - gelesen? - nein , verschlungen habe."lo Bis heute zeigt das Hydrometer der Tränen an, ob etwa ein Film oder ein Buch in der Lage ist, den Rezipienten ,mitzureißen': .. I er)', [00, T acrually sob. Once at the movies my husband got up :tnd walked our and pretended he didn't know who I was because 1 was still crying when the film en dcd and I was making such a noise ir was the mOSt em-barrassing."11 AJle diese Rezeptionsmuster sind äußerliche IndiktJloren für die geradezu banale Tatsache, daß Medien wirken und ihre Rezipienten ,überwältigen' diese Evidenz ist unbestreitbar, offensichclich, zweifels frei. Zugleich ist der Befund jedoch zutiefst rätselhaft, denn im Falle sämdicher dieser tlllphalisrhm Medienerlebnisse handelt es sich ja eben immer ,bloß' um Medien. Aus sprach- oder kognitionstheoretischer Sicht ist die linguisti sche Materialität eines Texts wie Goethes Il7erlherprinzipieU von derselben Beschaffenheit \vie , Sdbsuussagen von ~sem, zitien in SCHÖN, Erich: " r-.-Iem:alilätsgcschichtc des ~scglücks." In: u.stgliide. Eint IlfrgtSStnl Erfohnmg? H rsg. "on Alfrcd Bellcbawn und Ludwig 1\lmh. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 151-175, hier S. 163.
Das gtistlidN T(l§bllrh. H rsg. von Adolf Haas und )leIer Knauer. Freiburg u. a.: Herder 196 1, S. 233. , Ebd. , S.217.
,
I GNA'n us VON 1..0 YOI.J\ :
10
Chrisrian Danicl Schuba" in: Dtillsrht Chronik. 5. Dezember 1774; abgedruckt in GOETHE, J ohann Wolfgang: Il7rrkt. Hombllrgtr Allsgabt. ßd. 1- 14. H rsg. " o n Erich Trum. München: Beck 1988. Bd. 6, S. 528f.
11
Aus einem Inre n~cw, do kwnentien in NE.LL. Viclor: Li)!1 in 0 lJook. TOt PsyrholoKf oJ &odingfor Pltasllrt. Ncw Ha"en , Landon: Yale U1' 1988, S. 287-299, hier S. 294. VgL auch folgendes Proto ko U: "Sehr o ft ist es mir passien , daß die Bücher so U'llurig waren, daß ich ständig weinen mußte. 1... 1 Die Situationen fessdn mich meistens so, cbß mir die Personen real vorkommen"; zitie" in GR.""-F, Wemer: "Die Erfahrung des Leseglücks. Zur lesegcschichllichen Entwlcldung der Lesemo tivation." In: uJt!/ikk. Eine I'"!!SJtnt E,fohnmg? Hrsg. von Alfred BcUebatun und Ludwig MUlh. O pladen: WesldcUlscher Verlag 1996, S. 181-212, hier S. 189.
11
diejenige eines no nnalen Zeirungsartikel s l ! - und doch hat man den Eindruck, als sei die An und \'(Ieise des Verstehens gänzlich umerschiedlich.l l D enn in Berichten über solche emphatisrhen Rezeprionserlebni sse gibt es eine erstaunliche Ko nstante, in der auf immer neue Weise eine immer ähnliche Aussage über eine ganz spezi fi sche Erscheinungsweise der MedialiMI ge troffen wird. Tatsächlich wird immer wieder behauptet, daß in solchen intensiven Rezeprio nsprozessen nicht ,bloß' eine Zcichenano rdnung dechiffriert worden ist, sondern daß man es mit ,mehr' als ,nur' Zeich en zu tun hatte: " things happen there (hat become as !"tal as if they were happening in your own life", beschreibt es eine Lesenn. l " Die geradezu halluzinatüri sche Überschreitung der Medialität im Rezepcion sprozeß kann sogar so weit ge hen, daß man Rezipienten geradezu erinnern muß: "Es ist doch nur ein Film." Immer wieder begegnet man dem Phantasma, daß Z uschauer oder I...eser berichten, das Rezeprion serlebnis habe nicht mehr in der Sphäre des Mediums stattgefunden, sondern sei ,wie wirklich ' oder sogar ,wirklicher' al s die Realität selbst gewesen: In den Büchern steckte e ine Welt, in die man eintre te n kon nte, wann immer man wolhe. Ich las die Bücher - u nd kriegte nic ht mehr mit, was ringsum geschah. r''1I) .............. 33 O cr Mythos des Geheimnisses: Von Schleiern und Schwellen (ExodIlJ) ............. 156 Unmin clbarkcit zwischen Ahnlichkeit und Geheimnis .......................................... 335 Ursprung zw. Ahnlichkeit, Geheimnis, Unmittelbarkeit (Gmuü / Platon) ....... 392 ProtOtypen der Simulationstheorie (P L.r\TON / ARISTOTELES) ............................... 57
Sp ätantike - Mittelalte r 111 .2 11 1. 3 VI. I 11. 4 IV.2
DerReizderTiefe (A uGUSTINUS) ............................................................................. 173 ExklllJ": D er sprechende Kosmos, 1 (O HLY / FOUC,\ ULT) .......................... ..... ..... 203 Echt ode r gefalscht? (\'VOLfRAM VON E.scHENBACH) ............................................ 432 Lektüren der Berr:l.chrung (PSEUDO-BON/\ VENTURA / N,IO/!() jmfJalltHlHu) ...... .. .. 85 Gottunmittclbarkcir: Von Gesichten und Visio nen (Seuse / Bremano) ........... .. 339
Ne uzeit 111 .4 11.5 V I. 2 11.6 11. 7 IV. 3 11 I. 5 11 1. 6 11 1. 7 V.2
D ie Entstehung der Neugierde und der Fiktio nalität (D/\MPIER / D EFOE) ...... . 209 Rezeptio nsweisen der Illusio n (Lessing / Mendclssohn) ...................................... 101 Die Entstehung des Originals (YOUNG) ................................................................... 46 1 Schlechte und gute Ahnlichkeit: Kopie und Ideal (\'VINCKELMru'SN) .................... 117 Die Nachahmung des Subjekts (MORITZ / SCHLEGEL) ......................................... 135 H cn~cnsu nminclbarkeit: Empathie und Rührung (H ERDER) ............................... 365 Über Spannung und Lcsesuchr (LA ROCHE / WALPOLE / HOFFMANN) ........... 25 1 Die Wiedergeburt des Geheimnisses im Geiste der Kunst (GOETHE) ...... ... .. ... 280 ExkJm: Der sprechende Kosmos, 2 (NOVALlS) ...................................... ............... 314 Die Wiederkunft des Sinns (NOVAU S) ............... ...................................... .. .............. ..406
Au sb lick 11.8 111 . 8 IV.4 V.3 V1. 3
Fazit und Ausblick: Virtuelle Realitäten (PIqySlalion) ...................................... ........ . 15 1 Fazit und Ausblick: Va m Tod der Tie fe (Monira LtuinJkg) ..... ....... .... .. ... ....... ....... . 317 Ausblick (Ea/a!}) ......................................................................... .. ........ ........................ 380 Ausblick (HITLER / Gmftkmd) ..................................................................................... 423 Ausblick (Btg Brotbtr / Hitler- T agtbiitbt r / MithatlJack.ron) .. .................................... 486
31
(3) Außerd em richtet sich das Buch aber auch an Personen, die sich beruflich mit dem Thema MedienwirkJmg auseinanderse tzen, an Werber, Regisseure, Journalisten, Medienmanager und so fort~ die sich für die Vorgeschichte der medialen Wirkungsmach t in teressieren. Solche Leser sollten sich durch Vorablektüre des Fa::(jts einen Überblick über die Gesamtkonzeption der Untersuchung verschaffen. Sie können dann über die dort eingearbeireten Hyperlinks (z. B. [11. 3]) nac h Lust und Laune weirerlesen. Vor allem fü r Leser oh ne philologisch -philosophische Spezialkenntnisse sind als Ankerpunkte auch die akruell und feuilletonistisch gehaltenen Ausblicke von N utzen, denn sie gewähren einen Einblick in die jeweilige Problemstellung ,aus heutiger Sicht', erl auben so einen schnelleren Einstieg in die ,archäologischen' Fallstudien und machen die übergreife nden Traditionslin ien sofort sichtbar. Auch in den Ausblicken und in den gesamten Tex t sind Hyperlinks eingearbeitet, die erlauben, die jeweils relevanten Themenbereiche geziel t anzusteuern. So kann jeder Leser nach eigenem GuSto durch den Text ,surfe n'. Zuletzt gestattet das Register eine schnelle Ansteuerung spezifisc her Aspekte. Vor allem Leser ohne um fangreiche kommunikationstheoretische oder philologische Vorkennmi sse können im Sachregister auch Fachbegriffe gezielt nachschlagen. Wenn ein Begriff auf einer Seite definiert oder für die folgende Argumentation zugrunde gelegt wird, dann ist die Seitenzahl im Register fe n hervorgehoben.
32
11. Ähnlichkeit: Der Reiz der Simulation
Die Frage der Chinesen beim Anblick engländischcr Bildnisse, ob die Personen denn wirklich so fl eckig wären, als sie durch Licht und Schatten erschienen, kann uns darauf aufmerksam machen. daß GemäJdc nicht eigentlich täuschen, daß Einsicht und Gewöhnung dazugehön , um die \X'ahrhcit des Scheins in ihnen zu find cn. 63
1. D er Mythos der Ähnlichkeit: Rezeptionsweisen der Täuschung (Zeuxis) Ahnlicbktit ist hier Überschrift eines Kapitel s über Silllllllll;Ol1 und die mediale Erzeugung IJirlllfd/er IIVe/len. Z ugleich ist der Begriff jedoch keineswegs selbstcrklärcml, sogar in ve rschiedener Hinsicht irrcftihrend, und bedarf daher einer kurzen Klärung. Zunäc hst einmal gibt es keine überkommene Theorie mit dem Titel A hnljehkeil. 64 O cr T cnninus Ahnlichkeil spielt eine wichtige, aber dennoch sekundäre Bedeuwng in drei miteinander verwandten Themenseellungen, und zwar innerhalb (1) de,r Theorie der N achahmung (lIIilllesis) und des ~olis"'Jls, (2) de r Theorie des Bildes bzw. des ikonischen Zeirhem, und (3) der Theorie der JI/lfsion. Diese drei Theoriescränge la ssen sich locker den G rundelemenren der kom~J ScIll.I!GEt . August Wilhelm:
Nitbtbt- Sthrifttn und Britft. Bd. 1·6. 1·ln g. \·on Edgar Lohncr. Snutgart: Ko hlhammer 1962ff. Bel. 2: Dli Kunstuhrt, S. 87.
boI
Wie stets gibt es eine gewichtige Ausnahme. Bei Fo ucault ist der Begriff der Ahnlichkeit ein zentraler T enninus zur C haraktcrisicrung des \'onnodernen Spraehversti ndnisses; vgl. FOUCAU LT, Mich el: Dir Ordnung drr Dingt. Eint Arrhöologif Jfr HlIl1IanM-üstnsrhlljten. Frankfun/ M.: Suhrkamp 1966. Diese ein flußreiche Arbeit hat zahlreiche Fo lgepublikatio nen auch zum Aspekt der Ähnlichkeit angeregt. ,:gl. crwa n ~!-Icdic h FUNK. G erhard. Gen ~L\TrE..'1 KtOTr und Michael PA UE.N (Hrsg.): Astlxh'k du A bnlitbtn. Frankfun/ f'.L Fischer 2001 . Bei Fo ucault wird der Begriff jedoch nitht aus Dispositio nen der Simulation und dcr "';"'tlis aufgebaut. sondern aus J cr llnfllogia als Vcrhälmisentsp rcchung; dementsprechend läßt sich sein Ansatz hier nur bedingt intcgrieren. Ich werde die Problematik gesondert aufgreifen (111. 3/7(.
33
munikativen Urszene, in der eine ,virtuelle Reali tät' entsteh t, zuo rdnen: (1) Ein Sender ahmt nach beziehungsweise stellt dar, (2) das mediale Substrat seiner nac hahmenden Mitteilung iM das Bild-Zeichtn (lkon), durch welches (3) der Empfanger ,getäuscht' beziehungsweise illudierl wird. D as Verbindungsglied, das aUe drei Stränge miteinander teilen, ist der Aspek t der Ahlllichkeit (der Begri ff Simulation, abgeleite t aus similis, ,ähnlich', weist dieses fund ament noch aus6~ ; und um es scho n einmal zuzuspitzen: D ie Ähnlic hkeit ist geradezu die Bedingung der Möglichkeit von Nachahmung, Bild, Reali smus und lllusioll. In der di skursiven Konfiguration von D arstellung, Ikonizität und Illusion erzeugt die Ahnlichktit dann das Phantasma einer Übtrschreitung der Medialität. D em Modell nac h akkumuliert das Zeichen Ähnlichkeiten und nähert sich dabei dem Referenten so lange, bis es idealerweise mit diesem ko nvergiert, seine eigene Zeichenhaftigkeit durchstreicht und die /lblJioll der Präsenz hervorruft. Wie noch ersieh dich werden wird [11. 3], ist die Programmatik der Ähnlic hkeit unauflöslic h mit Konzepten des Bildes verknüpft (auch wenn sie gleichwohl el'\va Sprache, Musik, Gestik und vieles mehr umfaßt). So verstan· den, mach t ein Kapitel ,Ä hnlichkeit' im Z usammenhang ,emphatischer Kommunikationen' Sinn - aus Sicht unserer Zeit, in der mediale \Virkunbrs macht tatsächlich innerhalb einer ,Bilderflut' erzeugt wird, in der ,Illusion' vorwiegend in der Sphäre der visuellen Wahrnehmung stattfinde t, in der medial er· zeugte Faszination in erster Linie in den virruellen Bildweiten von Film, Kino, Computerspielen und Cyberspace erlebt wird. Dagegen steh t vor allem der geschriebene Texl im I,'okus dieser Untersuchu ng. Es wird also auch zu zeigen sein , inwiewei t Bild und Text im Rezep tionsprozeß vergleichba r sind , eine Pragc, der ich mich gesondert zuwende (lI. 2]. Im abendländi schen Kulrurraum liegt di e Urszcne der Programmatik der Ähnlichkeit und der Erl.eugung t'irtllt/ler IY/elten in der griechi schen Antike. D as hat seine Erklärung vor allem in der zemraJen Bedeutung der An schauung und der visuellen Wahrnehm ung in der griechischen Diskursökonomie. Schon de r griechische tVlythos sah die göttlichen Kräfte al s sichtbare Gestalten und faß t sie in anschauliche Vorgänge. Nicht von ungef.ihr bedeutet Plarolls Idee, idell bzw. eidos "eigentlich" ,A ussehen. Gestalr'66, und die platOnische Erken ntnis wird stets im metaphorischen Peld der visucUen Wahrnehmung cntfahct. 67 In der griechischen Kosmogonie wird, im Gege nsatz zu dem heb räischen Pendant, nie gesprochen. 6S Vgl. KLUGE, Friedrich:
E!Jmolot!ioo lf/örlmJluh d" dtMISfhtn Sprutht. 22. Auflage. neu be·
arbeitet von Elm:,u Seebold. ß cdin, New York: de Gru)'ter 1989. S. 673 ["simulieren" l; bereits die Ancike kenn! die nmMlntio als ,Vo rspiegelung'. 66
Vgl. dazu BoRMANN, K2rJ: PI(l/on. 3., übcrarb. Aufl. Frdburg/ Br., ~'I ünch en : Alber 1993.
S.49. 61
Vgl. u. a. PLIITON: If/tr,tt. Griechisch und dCUlsch. H rsg. von Günther Eigler, übers. \'o n Friedrich D. E. Schlciermachcr. ßd. 1-8. Darmsradt: Wiss. Buchges. 1990. Bd. 7, S. 8 1 ITimaioJ, 47al; \'gl. auch HAGSTRUM. Jean H.: The Sültr Anl. TIN Tradition oJ Li/"a'Y Pir/onolüm und En&lilh Potlry from Da'dm /0 Gf'l!]. Chicago: Universiry of C hicago Press 1958. S. 5.
34
Die griechische Kulrur ist spätestens seit dem 5. Jahrhundert auf eine hervorstechende \Veise von einer Faszination an Sillllflolionsmedien von der Skulptur über das Bild bis hin zum Theater geprägt. Das rief schon in der Antike im Rückblick Erstaunen hervor. Plinius berichtet in seiner Hisloria NaIlfralis [17 n. e hr.) über die Frühzeit der griechischen Kunst: ..ein Bild des Malers ßularchos [wurde] l... ] mit Gold aufgewogen ]... ]. So groß war bereits die Wertschätzung der Malerei l'(lIIla itWI dignolio piclJ(me emll. Dies muß wohl zur Zeit des Romulus der Fall gewesen sein l...]; wenn ich nicht irre, hat die Kunst bereits damals einen solchen Ruhm, eine solche Vollendung erreicht [lIIoniftsla ia", Ilfne c!,m·ltlle arlis, ardto absollllione]."6a Bularchos soLI in der zweiten Hälfte des 8. J ahrhunderts vor unserer Zeitrechnung tätig gewesen sein.69 Eine andere, bei Plinius überlieferte ,historische' Begebenheit eines \Vetrstreits zwischen den beiden Malern Zeuxis und Parrhasios, soll sich Ende des 5. Jahrhunderts zugetragen haben. Aufgrund ihrer durchschJagenden Wirkung läßt sich die Episode durch aus als Ursprungsmythos der bildenden Kunst bezeichnen:70 D ieser [ZeuxisJ habe so erfo lgreich [Ionlo mamo} gemalte Trauben ausges tellt, daß die Vögel zwn Schaupla tz herbeiflogen; Parrhasios aber habe einen so narurgetreu gemalten Iilo t'tnlole rrprmnlolol lcinenen Vorhang aufgestellt, daß der auf das Urteil der Vögel stolze Zeuxis verlangte, man solle doch endlich den Vorhang wegnehmen und das Bild zeigen; als er seinen Irrrum einsah, habe er ihm in aufrichtiger Beschämung den Preis zuerkann t, weil er selbst zwar die Vögel , Parrhasios aber ihn als Künstler habe täuschen lfifeliJJt~ kö nnen .71
Die ungeheure Bedeutung dieser kJcinen Erzählung in der abendländischen Tradition läßt sich daran ablesen, daß durch die gesamte Kunstgeschichte eine Vielzahl vergleichbarer Geschichten erzählt werden , die in ihrem theoretischen Kern exakt wie der antike Mythos funktionieren. Beispiele aus der Antike wäre n erwa: "E in Hengst sucht die von Apelles gemalte Srute zu bespringen; Wachteln fliegen auf ein Bild zu, auf dem, als Narurgegenstand, ProtOgenes eine Wachtcl gemalt hat; das gemalte Bild einer Schlange bringt das Zwitschern der Vögel zum Verstummen"; aus der Zeit der Renaissance: " Das Lamm, das der heilige Täufer J ohannes auf einem Bilde des Tizian im Annc
608 PLiNIUS SECUNDUS der Altere:
Nalllrlumd,. L:ncinisch-dcutsch . H rsg. und übers. vo n Rode-
rich Kö nig. Dannsudt: Wiss. Buchges. 1978, Bd. 35, S. 49 [XXXV, 55-561. 6'J
Vgl. T I·U8.IE, Uleich und Felix BECKER (H rsg.): Allgtmrinu Ltx;kon der bildtndtn KiinJlltr. Bd. 1-37. Leipzig. Engelmann 1907ff. Bd. 5, S. 213f.["Bularchos"J.
70 Vgl. zur Bcdcurung dieses M)'lhos im Kontexi der Asthetik auch KOR......'ER. Hans el al. (H rsg.): Die Trollbtn du Z'II..\"iJ. Formen kiinJtlmidx r UYirkJirhleriIJ,!nrignllng. Hildeshcim el a1. : Olms I 990, so~e SCHLÜTER. Renale: Zm:,:iJ lind PromtfbtllJ. Die Oberuindllng du j\ larhahmlingJ' Jeon~pfJ in tftr A JfhttiJe der FriihromanfiJe. Frankfun/ r-.·I. CI al. : Lang 1995. 71
N alllrlumdt. Lateinisch-deutsch. Hrsg. und übers. von Rodeeich König. Dannstad t: Wiss. Buchges. 1978, Bd. 35 , S. 55 [XXXV, 64-6 51.
PUNIUS SECUNDUS der Ältere:
35
trägt. soll ein Murrerschaf zum freudigen Blöken veranJaßr haben" , von einem "Bildnis Dürers" wird berichtet, daß "ein Hund es für den Herrn selbst hielt". " Dem Bildnis Paul I I I. von Tizian wird, als es zum Trocknen im Fenster steht. von Passanten, die das Bild für den Papst selbst halten, Reverenz erwiesen [... 1. ähn(jch etgeht es mit Rembrandts Bildnis seiner Dienerin"; "Philipp II. soll das Bild seines Va ters, das Tizian eben vollendet hatte. für die Erscheinung seines VaAbb. 7: Die Ents tehung des ,Realismus' in der lers selbst gehalten hagriechischen Malerei läßt sich vo r allem durch erhaltene ben und dem auf dem Mosaike erahnen. I-lier ein Detail alls A ll xrmdm Jirg iilm Bildnis des RaffacI darD ruillS aus Pompeji. gestellten Papst Leo X. reicht ein Kurienkardinal Time und Feder zur Unterschrift"; im viktorianischen England lassen sich Bienen an den von Mallais gemalten Blumensträußen nieder. 72 Solche Variationen zum Thema belegen. daß der Zeuxis-Mythos und seine implizite Kunstmeorie Prorotyp des Programms ist. welches Rezipienten von der Antike bis hin zum Kinobesucher oder Computerspieler unserer Tage so steuert, daß sie sich durch ein mediales Artefakt als Simulation einer Wirklichkeit, als ,virtuelle Realitä t' faszinieren lassen. Tatsächlich ist die kurze Geschichte eine Mikrotheorie der Ähnlichkeit; ihre wichtigsten impliziten Aussagen sind: (I) Entscheidend für den Wen einer medialen Darstellung ist die I l'7irklif~ bei dem Re~itnft1l, seine Bewertung ist die allein gültige. Das entspricht der Grundsiruation jeder emphatischen Kommunikation: Man kann das Angebot annehmen oder ablehnen. Dabei spielt es keine RoUe. daß es hier T iere sein 72
Alle Beispiele sind zusammengestellt aus KRI S, Ernst und OHO K URZ: Die Lryndl IIO HI j(ibutllr. EingtJrhirhtlir/xr Vmllth. Frankfurt / ~l : Suhrkamp 1995, S. 89-92; hier fmd en sich die bibliographischen Hinweise.
36
kö nnen, die auf die Darsrellung ,hereinfallen' und sie mit dem Gegenstand ve rwechseln; ganz im Gegenteil erfüllen sie hier die Punktion eines ,objektiven Maßstabs,.n (2) Der Bewenungsmaßstab beläuft sich hier allcin auf den Aspekt der Ahnlirbktil: D er hervorragendste Künstler ist zugleich derjenige, dessen Kunstwerke den Referenten am gc nauesten reproduziert und den Rezipienten ,täuscht'. (3) Das täuschend ech te Kunstwerk er.leugt eine virtuelle Wirklichkeit, weIche zugleich in ein sekJmdäreJ Verhältnis zu einer primären Wirklichkeit74 gestellt wird (et\.va ,echten T rauben'). Im geschilderten Extremfall einer TällIchung des Rezipienten muß dabei zwischen einem Beobachter erster und zweiter O rdnung unterschieden werden [11 . 5] . D as Radikal der ,Täuschung' betrifft nur den Beobachter erster Ordnung, der (so die Geschichte) kein Bild, sondern etwa ,Trauben' oder einen ,Schleier' wahrnimmt. E in Beobachter zweiter Ordnung kann die Täuschung durch schauen und auf Ähnlichkeit zurückführen (Beobachter wie Zeuxis können so auch retrospektiv ihre eigenen Beobachrungen beobachten und im nachhincin ihren eigenen Irrtum crkcnnen).75 E rst die BeobachTUng einer Diffrrenz zwischen Signifikant (,Zeichen') und Signifikat (,Bezeich netem') führt zur Diagnose der Ähnlichkeit, in den Wo rren Sonessons: "u sign can be apprchended as being similar tO whar ie stand s for, onIr to the ex tcm [hat is has been recognizcd as being different from ic. lconiciry is si",i11m"!] 0" tbe baclegrormd oJ disJimil",ity."76 Das Ähnlichkeitsuneil des Rezipicnten basiert also auf einer latent midaufenden Wirklichkeitsreferenz.n (4) Damit steht dem Rezipienten ein Binärcode zur Verfügung, ,ähn lich / unähnlich', mit dem man Ko mmunikationen cntweder den posidven oder den negativen Wert zuweisen kann. Die Unterscheidung der Ähnlichkeit wird als ,analog', nicht als ,digital' beschrieben: Ein Bild kann ,ähnlicher' als ein andcres sein. 78 Dennoch ist der Code in seiner Z weiwertigkeit kategorisch:
13 So auch GOMBRICH, Ernst H.: .. ~1cditations o n a Hobby Horsc." In: E. H. G.: Mtdüalion! on o l-lobi?J HorJt and olmr w'!!! on Iln tlHory aft. London: Phaido n 1994 [1963), S. I- l i , mer S. 5:
of
"ror thc birds tO fl)' at the painring is a sign of a complcle ,objecrivc' illusion." .~ Auch hier gih: Wie fragwürdig die Unlerscheidung aus theoretischer Sicht auch immer sein
mag -
dies ändert zunächst nichts an der Faktizität ihrer Verwendung. Vgl. auch FElD MANN, Harald: Mimw ,md lf/irkJjlhIuiJ. lI.Iüochcn: rink 1988, S. 17.
1~ Vgl. dazu bereits PAP, Julius: Ivm!J ""d IIbllio". Leipzig: Vcit 19 14, S. 4-6. 7~
SONESSON, Göran: Pifton"aICo"«pIJ. Lund: UP 1989, S. 22 1.
n An anderer Stelle f1iegen bei Plinius Ra~n an "täuschend ähnJich gemalte D achziegel" heran (ad /tg"hru", si",ilil"r!i"tm 10m· dtrrpli imagi"e adl/()km"t;. PUNIUS SECUNDUS der Altere: Na/"r· leII"dt. Lateinisch -deutsch . H rsg. und übers. von Roderich König. D annstadr: Wiss. Buchges. 711
1978. Bd. 3S. S. 27 1XXXV. 231 . Vgl. auch SOIOLZ, O liver R.: Bild, Danltlhm& Zarm". P!Ji/osophiJrhe T lHorien bildhaft" Darsttll",,/,. Frciburg/Br., München:
t\l~r
199 1, S. 20.
37
Er ist kanon, krilenon, regJ(li 9 , fungi ert hier gar als Spiel regelin einem \Ve ttstreit. Die Rezipienten des Zcuxis·Mythos führen ihre Beurteilung vo n Kunstwerken ausschließlich auf Grundlage dieser einzigen Binäropposirion, ,ähnlich / un ~ ähnlich', durch, und entscheiden daraufhin, ob sie annehmen oder ableh nen beziehungsweise welchen Wert sie dem Bild beimessen. Die Ähnlichkeit determiniert hier den Wert und die Wirkung des Kunstwerk s, und tatsächlich gilt: " illusio nism was the ideal and the goal of ancient art".80 Die Anwendung dieses Kriteriums von Z euxis und Parrhasios ist in unserem Beispiel insofern obsessiv, als es gemäß der Logik der Geschichte gänzlich irrelevant ist, /IltiS nachgeahmt wird, es ist die Ähnlichkeit selbst und ihr Effekt, die ,T äuschung', welche Vergnügen bereiten: "D enn von Dingen, die wir in der Wirklichkeit nur ungern erblicken, sehen wir mit Freude möglichst getreue Abbildungen [eikonal], zum Beispiel D arstellungen von äußerst unansehnlichen Tieren und von Leichen"sl, wird AristoteIes das fo nnulieren. Das rechtfertigt Parrh asios' kurioses Pro jekt, ein G emälde herzustellen, welches bloß einen Schleier abbildet. Derselbe Absol uti smus der Ähnlichkeit findet sich auch in einer weiteren Anekdo te über Zeuxis. Dieser "soll auch später einen Knaben gemalt haben, der Trauben trug; als Vögel hinzuflogen, trat er erzürnt 1... 1 vor sein Werk und sagr,e: ,Die Trauben habe ich besser gem alt al s den Knaben, denn hätte ich auch mit ihm Vollko mmenes geschaffen, hätten sich dic Vögel fürchten müssen. " 'S2 Bis hierhin ist der Zcuxis· Mythos lesbar als Prototyp eines Faszinatio nsmus ters, welches bis zu den ,täuschend echtcn' Simulatione n des Cyberspace Gültigkeit besitzt. D abei ist bemerkenswert, daß sic h die Aktuali tä t der G eschichte bis in die unerkannte n Vorausse tzungen und Inko härenzen dieser Rezeptio nsweise hinein fo rtsetzt. Der T ext installiert zwar ko nse'luem das Kriterium der Ahnlichkeit des abbildenden Gemäldes mir seinem O riginal als Steuerungsgröße. Aber bei näherem Hinsehen gerät scho n der mitlaufende U7irklichkeilsbeZllg der Ähnlichkeitsbeziehung ins Wanken. Die Rel atio n der Ähnlichkeit soUja zwischen dem Bild und der If/irklirhkeit bestehen - erst ein Iso mo rphismus zwischen dem Bild -Zeichen und seinem Gege nstand würde di e Zeichenrelatio n motivieren. N un find et im Falle des Zeuxis· M)'thos gar kei· ne Prüfung Statt, inwieweit die G emälde den ,wirklichen' Trauben beziehungs. weise SchJeiern ähneln - Vögel und Parrhanios erkennen die Gegenstände
19
So fo nnuliert Luh mann im Zusammenhang de r Theorie symbolisch generalisierter Ko m m uni ka tionsmedien im Falle der Rclig1on; LUHMANN, N ilu as: Oft Rrligioll drr Cmlurhrifi. Frankfurt / M.: Sulukamp 2002, S. 93.
110
D 'OTMNGE MASTA I, r-.brie-Louise: 1II11non in An'. Trompe l'Otil A /-/üIOry mI",. London: Seckcr & Warburg 1976, S. 46.
81
ARISTOTELE$: Potlile. G riechisch-D eutsch. Übers. und hrsg. \'o n Manfred Puhrrnan n. Stuttgart: Reclams 1994, S. 11 P 448bJ.
I!.Z
PUNIUS SECUNDUS der Ältere: Nalur/eNndt. Lateinisch-deutsch. H rsg. und übers. \'on Roderich König. D annstadt: Wiss. Buchges. 1978, Bd. 35 , S. 55 / 57 1'XXXV, 66].
38
oJ Pirlorial llhmo-
einzig und allein aufgrund ihres VonvisJtnI der dargestellten Gegenstände. Dieses Detail bringt tatsächlich die gesamte Lehre des ,natürlichen Zeichens und der mimtsis ins Wanken. Denn es ist ein kategorialer Unterschied, ob die Ähnlichkeit der ,natürlichen Zeichen' in der Na/llr, in der Wirklichkeit verankert ist, oder ob sie auf die Erkennungsmuster des Rezipienten zurückgeht. Denn das ,natürliche Zeichen' soU sich ja gerade dadurch privilegie ren, daß es nicht ,bloß' auf einer erlernten Konvention beruht, sondern ,mehr' ist, es soll in den Dingen selbst begründet sein. Die Implikationen erscheinen im Falle des Zeuxis-Mythos banal, aber was sie bedeuten, kann man sich eigentlich nur verdeutlichen, indem man die ,natürlichen Zeichen' unserer Zeit, die Photographien, die Filme, herbeinimmt: Sind sie denn gar nicht ,in den Dingen selbst' fundiert, beruht ihre Darstellung, wie die der Schriftzeichen, einzig und allein auf ,Konvention', aJ so auf erltrnten Vorstellungsbildtm, sind sie letztlich auch nur ,abstrakt' wie ein Tex t? Der daraus resultierende Verdacht, daß es sich bei dem venneintlichen Wirklichkeitsbezug des ähnlichen Zeichens um eine Sc himäre handelt, die ta tsächlich nur auf erlernten Mustern der Wiedererkennung fundiert ist, wurde in zeichentheorecischen Kontexten schon früh artikuliert. Eine besonders prägnante Passage bei Auguscinus lautet: j
Es suchen alle nach einer Beziehung, bei der sich der bezeichnende Ausdruck und das zu beschreibende D ing runlichst ähnlich sind Inblls q"(Jt signiji((Jnlllr similio sin~. Weil aber ein Ding einem anderen in viel fac her Beziehung ähnlich Isimiltl sein kann, so haben solche Zeichen unter Menschen keine allgemeine Geltung, sofern man sich darüber nicht eigens verständigt Inisi rollStllSliS (Jcre· dOII·' 3
Diese Passage fUhrt auf direktem \'(Iege zu der zweiten, noch gewichtigeren Leerstelle innerhaJb de,r impliziten Ähnlichkeitstheorie des Zeuxis-Mythos. D enn tatsächlich fehlt jegliche Aussage darüber, Oll! wtkbt l17rist sich ein BildZeichen als ähnlich qualifiziert. T atsächlich war bereits in der griechischen Antike das Konzepr der Ähnlichkeit im Kontext kriti scher Prüfunge n umstrittener, als man annehm en möc hte. Pro tagoras antwortet einmal Sokrates, der, wie sich später zeigen wird [11. 3), ebenfalls ein Verfechte r der Ähnlichkeit ist: jedes Ding ist jedem Dinge gewissermaßen ähnlich. Sogar ist auf eine Art das Weiße dem Schwarzen ähnlich und das Harte dem Weichen, und was sonst einander am meisten eIlIgegengesetzt zu sein scheint I... ). Eins ist wie das
!I)
AUGUSnN US, Aurelius: AlIsgtuvihl/t S{hnfttn. Bd. 1- 10. München: Köse! & Puslel 1911 ff. (= Bibliothek der Kirchenväter). Bd. 8: AlIsgtu'öhl/t proluisdx S{hnltt" homilthsdx" lind ktJ/uJxh.f(Jx" J"haIJs, $. 85f. lOt domina Chns/jana H, 25].
39
andere, so daß du auf diese Art auch das beweisen könntest, wcnn du woll tcsT, daß alles einander ähnlich ist. 6oI
Dieser Einwand von Protagoras ist kaum zu entkräften, und Sokrares nU[zc daraufhin nicht die Gelegenheit, den Begri ff der ,Ähnlichkeit' näher zu erläutern. Tatsächlich schweigen die Texte seit der Antike, wenn es um die Klärung dessen geht, was als ,ähnlich' zu gel ten hat, oder aber die Ausführungen werden ungelenk: D er Begriff der Ähnlichkeit ist notorisch umerbestimm r.85 Wie gehr der Zeuxis-Mythos mit dem Thema um? Tatsächlich umgeht er das Problem auf dieselbe Weise, wie das im Rezeptionsprozeß bis heure geschieht. Denn es bleibt unausgesprochen, was das ,Ähnliche' ist, ebenso, wel che Aspekte der Darstellung ,ähnlich ' zu sein haben, die Geschichte fokussiert sich f,ranz auf die Rezipientenperspektive. Der einzige \Veg, das Funktionieren des Programms zu prüfen, ist hier per trial und error - durch Testläufe mit Versuchspersonen also, die auf die Darstellung ,hereinfallen' soll en. Es ist nicht bekannt, weshalb die Bilder erst von den Vögeln, dann von Parrhasios als ähnlich decodierr wurden. E ntscheidend ist, daß es geschehen ist, und vielmehr: Daß die Logik der kJeinen Geschichte das als Selbsrve rständlichkeic präsentiert. Es muß darüber also nicht gesprochen werden , es ist doch kJar. Und genau dies ist der Grund, warum Ähnlichkeit nie zum Gegenstand einer eigenständigen Theorieb ildung geworden ist: Weil Ähnlich keit stets als das Vorausgesetzte in den ze ntralen Theorien medialer Repräsentation fu ngie rt hatte, so selbstverständlich, daß man es nicht noch einmal zu erklären hatte. So gesehen, vollzog sich die Selbstreprod uktion der Simulation auf der Basis einer Leerstelle, und sie lief nur durch den perfekt gerarnten blinden Fleck in ihrem Zentrum so geschmiert: dem Begriff der Ähnlichkeit - verborgen womöglich hinter dem Schleier des Parrhasios.
800
PUTON: IWrrkt. Griechisch und deutsch. H rsg. von Günther Eigler, übers. von Friedrich D . E. Schleiermacher. Bd. 1-8. Damm adt: Wiss. Buchges. 1990. Bd. 1, S. 141 WrolagoraJ, 331 d].
85
Plawn schweigt sich zu diesem TIlema aus; Aristoreles eTWa definien teils taulOlogisch, teils offen: ,,Ähnlich heißen Dinge, die voUständig vom Identischen affizien werden, ferner Dinge, die mehr vom Identischen als vom Verschiedenen affizien werden, und Dinge, deren Qualität fine ist; auch das nennt man einem anderen Dinge ähnlich, was mit ilun die meisten oder wichtigsten Gegenteile gemein hat, innerhalb deren es sich verändern kann"; ARISTOTEW S: A'lllapl!Jn·k.. Hrsg. und übers. von Friedrich Bassenge. Berlin: Aufbau 1960. S. 119 [10 18a]. In diesem Sinne hätte Protagoras recht: Schwan und Weiß ließen sich durchaus als ähnlich beschreiben . Offen bleibl auch, welche Eigenschaften d er ,Wirklichkeit' relevant sind. um im r.,·tedi um ,nachgeahmt' zuwerden, und welche sich der Künstler sparen kann. Man könnte eine Reihung aus Platons Kratylos extrapolieren, und zwar die ,Eigenschaften' anführen, in denen die Laute dem Sein ,ähnlich' sein sollen; da die Sprache das ganze Sein abbildet, müßte der IoGtalog der Eigenschaften ebenso vollständig sein; diese ergeben dann aber folgende malerische Reihung: Bewegung Ir], D urchdringung [i], unruhige Bewegung [ph. ps, s, z] , Stillstand Id, I], Glätte [11, Schlüpfrigkeit IgII, Innerlichkeit Inl, Größe la. cl. Rundheit 101. PUTON: IWtrke. Griechisch und deutsch. H rsg. von Günther Eigler , übers. von Friedrich D. E. Schleiennachc.r. Bd. 1-8. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1990. Bd. 3, S. 529-53 1 IKra~/os, 426a-427dl ; "gI. GENbTrE, Gcrard: Mi!1lolo§ktn. Rtisl nach Kratl/irn. Übers. von M. von Killisch-Ho m. München: Fink 1996 (1976], S. 38.
40
2. Theo rien des Bildes (PEIRCE/ GmmRlCH / Eco / A UERBA CH)
Jn
den letzten Jahrzehnten ist da s Paradigma des Bild·Zcichens durch ex tensive Anstrengu ngen th eo retisch erschJossen word en. Umfangreiche Arbeiten aus einer Reihe von Disziplinen, ange fan ge n von der Kunstgeschichte über die Psychologie und Kognicionstheorie bis hin zur Semiotik sowie der neu entstandenen ßildscmiocik haben die Theorie des natürlichen ZeidJtNs einer fundamentalen Revisio n unterzogen. Die Ergebnisse soUen kurz referiert werden und die folgenden Anal)'sen in den Kontext der akrueUcn Theorien der Iko nizität steUen. Prinzipiell bestand seit der Antike kein Zweifel an der Ztichenhqfiigkeit des Bildes und seiner inhärenren VtnlJeisllngss/nlkfllr, fraglich war allenfalls die Na rur der Rela/ion zwischen Signifikat und Signifikant. Für die kJassische, referentielJe Zeichentheone steUre sich hier kein gravierendes Problem, denn sie konnte die abstrakten, sprachlichen Zeichen auf Konvenlion zurückführen, die ikonischen Zeichen dagegen durch Ahnlichkeit mit dem bezeichneten Oo/eh mo tivieren. Das Bild-Zeichen würde dann ,Eigenschaften' mit dem Gegenstand teilen, die Motivation des Zeichens würde garantiert durch seine Fundierung in der Sph äre der Gegenstandswelt. Dieses Modell wurde jedoch durch die Z urückweisung des referentiellen Zeichenmodell s ins Wanken gebracht und letztlich zertrümmert. Bereits die früh e Semio tik entdeckt die "exrensio na1 fallacy".116 Schon Peirce erkennt im letzten Viertel des 19. J ahrhunderts zumindest ansatzweise, daß die Objek tseite des ,semiotischen Dreiecks' Ge nach T erminolobrie Ausdruck, Inha1t, fVJertnl, bei Peirce Representamen, Interpretant, Objeh, bei Ogdon / Richards Symbo l, Re ferenz, Rrftrtnl) obsoler ist: Tatsächlich lassen sich Zeichen nicht durch den Rekurs auf den bezeichneten ,Gegenstand' definieren, sondern ausschließlich durch den Verweis auf andere Zcichen87 (eine Erkenntnis, zu der 86 117
Eco, Umbcrto: A Thtory 0/ Stln;onrJ. Bloomingron: Indiana Univcrsity Prcss 1976, $. 62. Symptomatisch ist dabei, daß das Ob jekt zwar noch einen Platz in Pcirccs triaruschem ZeichenmodeUerhält ~,A sign stands for something 10 the idea which il produccs o r modifies. [••. 1That for which ir stands is caUed is objtrl); dieses wird jedoch zugleich ,deko nstruiert': ,,111Co bject of represcmation can bc nothing bur a reprcsemacion fo which the first representation is the interpretam. But an endlcss sen es of represcmations. cach rcprescnting the o ne bchind it. may bc conecivcd tO ha\·c an absolute objcct as its limit. TIN 1I1tall;nl. of Q rrj>rrJtl,/alion ((In bt nOlhilll. bill (I rrprmlllalioll. In fact, it is no ming but the rcpresemacion itsclf conceived as strippcd of irrele"ant d o thing. Rut this dmhing ne"er can bc completdy strippcd off; il is o nl)' changed for something more diaphanous. So there is an infinite regression herc. Finally, the intcrprctant is no thing but another rep rescmation tO which thc torch of tTUth is handed alo ng; and as rcprcsenl3tion, it has its interpretant agam. Lo, anm her infinite sen cs." P EIRCE, Charles Sanders: Colltrltd PafNrr. Ud. 1-8. Hrsg. von Chades Hamtone und raul Weiss. Cambridgc: Harvard UP 193Iff., 1.339; "gI. erwa Fo nn ulierungen wie: "thc Sign and thc Explanation togethcr make up another Sign, and since the explanatio n wiU bc a sign, it will probably require an additional explanatio n, which taken together with the already enla.rged Sign will make up a still larger Sign; and proceeding in thc same way, we shall. o r sho uld.
41
auch N ierzsche auf anderem Wege gelangt~ - Eco nennt diesen Sac hverhalt einer rein binnensys remischen Verweisungss rrukrur das Prinzip der IInend!;rhen SelJliose.89 Aus dieser fun damentalen Einsicht speiste sich letztlich der /ingllislir Iltm in den G eisteswissenschaften, sie inspirierte den Strukturalismus, den Konstruktivismus und poststrukturalistische Theoriebildungen, welche all esamt das Band zwischen Zeichen und Gegenstand kappten und das Augenmerk fortan auf die Bif1llellfunktionalität der Zeichenmarrizen legten - vo n Interesse sind sei tdem Symbo/.rysleme, DiskJ(rse, KOlllflllmika/ions!Jsleme, (JI(lopoielisehe Sysleme. E s versteht sich, daß das Leitparadigma dieser Epistemo logie der Texl ist, fast möchte man zuspitzen: die Tex lur. Dagegen mußte das IkO!1 und seine per se emphatische Verbindung zum Gegenstand (Ähnlichkeit) eine Herausfo rderung, ja geradezu eine Provo katio n sein für Theo rien, welche erfolgreich darlegen ko nnten, daß Systeme ihre Rationalität aus sich selbst heraus, nicht jedoch durch den Rekurs auf eine außersys temi sche ,Wirklichkeit' ko nstruieren. Dami t wird das Bild un d seine Ähnlichkeitsrelatio n aber zum T estfall für epistemologische Fundamem alprobleme: ..What is at stake here are issues such as the l...] debHe between reali sm and no minalism , and th e concepts of nature and culture, rheir bo rderlines and im errelatio ns."90 Ganz symp tomatisch für die Schwierigkeiten, we lche das Bild-Zeichen den neuen theoreti schen Basisannahmen bereitete, ist die frü he Erschließ ung des T hemas durch Peirce.9 1 Ik o nische Zeic hen im hergebrach ten Sinne - Pcircc nennt sie auch H)'P0ikons (ep 2.276) - werden (erstaunlic herweise) im Rückgriff auf die klassische T heorie d urch ihre / fhn/ichkeil mit dem O bjekt definiert uhjmatcl)' reach a Sign of itsclf, containing ics own explanation and t.h ose of all its signifying pans; and according 10 this explanatio n each such part has some other pan s as its Obiect.·'
Ebd., 2.230. 81!
89
N ierJ:sche beschreibt das Sprachsyslem als "bewegliches Heer vo n r-,·Ietaphem. Metonymien. Anthropomo rp hismen kurz eine Swrunc von m enschlichen Relatio nen"; und : " alle diese Relationen IvclWeiscnJ immer nur wieder auf einander" (N 1E·17..Sc/-IE, Friedcich : Saintlirbr If/trkt. KritiJrhe SllIditnaJlJgobe. !-I rsg. vo n Gio rgio CoUi und Mazzino r..-Io ntinari. ßd. 1-15. München ct a1: drv,dc G ru}'lcr 1988. ß d. I, S. 880 und S. 885); dieser IJIffaphorologiJdx Ansatz \.vird dann später \·0 11 der D cko nsrruktion aufgeno mmen und präzisiert; "gI. D ERRID1', Jagues: " D ie weiße ~·f ythologie. Die r-.k ra pher im philosop hischen Text." In: J. D.: Ivmdgiingr d(rPhilosophie. H rsg. von Peler E ngclm ann. W ien: Passagen 1988, S. 205-258, S. 344-355.
Eco, Um berto : A TbfOry of Srmio!irs. ßloomington: Indiana Universiry Press 1976, S. 68; vgl. DE r..-L\N, Pau!: A lltgonu ofPJading. Figllral u mglloge in RouJJrou, NitZ1rht, Rillet, lind Pro/lif. New H ave n, La ndo n: Yale Universic}' Press 1979, S. 9: "The interp retatio n o f lhe sign is no t, fo r Peirce, a meaning but anothcr sign; it is a reading, not a decodage, aod Ihis reading has. in its rum, 10 bc inrcrp rcled into ano ther sign, and so o n (ld infini/IIN1."
'XI
91
) OHA,,/Srr...,', Jo rgcn D ines: D;ologir SrmiosÜ. An E!!try on Signs m,d Mraning. ß loomington , Indianapolis: Indiana UP 1993, S. 90. PEIRCE, Charles Sanders: Collrrlrd Popm. Bd. 1-8. Hrsg. von Ch arles H anstone und Paul Weiss. Cambridge: H arvard UP 193 Iff., im Fließtext zitiert als C P und der anfolgendcn Stellenangabe nac h der N otierung dicscr Ausgabe; vgl. zur Theorie der Iko ruzirät bei Pcirce RANSDEu ... Joseph: "The Epistcmic Functio n o f Iconid ry in Perception." In: Pt;rre-Sflldin t
(1979),5. 51-66.
42
(hier bleibt I>eirce hinter seinen eigenen Ko nzeptio nen zurück): " the relatio n berween the sign and its ob ject [... 1consists in a mere resemblance between them. I call a sign which stands fo r so mething merd }' because it resembles it, an ironH (C I> 3.362); und: "a sign ma)' be ironie, th at is, ma)' represem its o bject 2.276). Z ugleich wird der Begriff der Ähnlichkeit mainl y b y irs similarity" jedoch deko nsrruiert; .. alles listl mit allem anderen sowo hl ähnlich als auch unähnlich" ,?2 heißt es etwa , und: "An)'thing whatevcr [... 1 is an !co n o f an)'thing, in so far as it is like that thing" (C P 2.247). Peirce übernimmt also zwar die Vo r!:,Yaben der Traditio n ftir d ie D efmiti o n der Iko nizität, registriert aber zug leich die vö llige Unbes timmtheit des definirori schen Begri ffs d er Ähnlichkeit. D ieser innere \Viderspruch in Peirce's Theorie des Iko ns wird aber nur noch verstärkt d urch seine These vom Universalismus des Semantischen. Wenn nämlich nach I>eirce nicht nur die Sprache, so ndern auch alle Wahrnehmungsprozesse einen semantisch en Charakter haben, dann liegt das Fo lgepro blem auf d er Hand : D as gesamte Feld der visuellen \'\fahrnehmung hätte es nich t mit ,Dingen', so ndern mit ikonischen Zeichen zu tun.'}} In diesem Sinne verschwimmt dann Peirces zweite Ko nzeptio n des lko n, das reine lk on, mit der Imllliltelb(/ren OlyekiuJ(/hmehlllllng. .. in contemplating a painting, there is a mo me nt w hen 'we loose the conscio usness that it is not the thing, the distinction o f the real and thc cop)' disappears, and ir is fo r the mo mem a pure dream 1...[. At that mo mcnr wc are conremplating an iron." (CP 3.362). Die beschriebene Suggestio n d er Illusio n weckt Reminiszen zen an den Z euxis-M)'tho s. Zugleich ha I Peirce an diesem Punkr, möglicherweise o hne d ies zu durch schauen, das Iko n bereits zertrümmert, denn es verwandelt sich in eine reine Paradoxie: E inerseits so ll das gesamte Feld der Wirklichkeitswahrnehmung zeichtnhaft sein - zugleich überschreitet aber d ie lk onii}liit der Kognitio n die Zeichenha ftigkcit und verwandelt sich in IInmillelbore If/ahmehtmmg. Dieser fundamentale Widerspruch läßt sich noch weiter entfalten:
(er
To eharaercnzc an icon as a sign which dcsignates merely bccausc of a Iikcness is to impl)' that similarity is a sufficicnt ground of iconic rcprcscmation. This implieation leads [Q absurd eonsequenecs. Ir would rcquirc Othcrischer Propositionen ." In: C. S. P.: StmiIJliJdN Sfhriften. Bd. 1-3. H rsg. und übers. von Christian Kloescl und
H elmut Pape. Frankfun / M.: Suhrkamp 1986 11 8961. Bd. 1, S. 230-269, hier S. 253. 91
VgJ. NOTli, Winfried: Handbuch dtr Stmio/i!t.. 2., neu bearb. Aufl . Srun gan. Weimar: Metzler
2000, S. 193-196.
43
objcct available as known o r rcmembcrcd, sincc an)' rwo or ",ore objects resemble each other in somc respect_94
Peirce gelangt noch nicht zu der einzig möglichen logischen Konsequenz aus seiner Umkreisung des Problems: ,,A convention or mle 0/ interpretation /JIUst fSMblish thegrollnd ot the representation (and accordingfy signification) 0/ the icon" - so fo rmuliert es Greenlee_95 Damit zerr,illt jedoch der Unterschied zwischen dem ikonischen und dem normalen Zeichen Qetzteres nennt Peirce S)'f!lbo~, der ja in der unterschiedlichen Zeicheruelation begründet sein soUte (das lkon repräsentierte qua Ahnlichkeit, das Symbol qua Konvention): Wenn das lkon ebenfalls auf Basis einer Konvention repräsentien, dann ist es ,eigentlich' ein Symbol. D as heißt: Es gibt keine Ikons, sondern nur Symbole. Genau diese Schlußfolgerung wird dann auch in der Erforschung des ikonischen Zeichens vor allem in den sechz iger und siebziger Jahren gezogen. Der Titel eines Aufsatzes von Biennan , 1962 veröffentlicht, ist diesbezüglich eindeutig: ThaI there (Ire no Iconie Signs.% Einflußreich war vor allem Umberto Ecos Kritik der Ikonizität. Morris hatte noch an dem referentiell en Modell und einer gradueUen Skala von lkoni zitätssrufen festgehalten: "Ein Zeichen ist in dem Maße ikonisch, wie es selbst die Eigenschaften seiner D eno tate hat l...j. Das Porträt einer Person ist in hohem Maße ikoni sch, aber es ist nicht völlig ikonisch, da die bemalte Leinwand nicht die Beschaffenheit der Haut oder die Fähigkeir zu sprechen oder sich zu bewegen hat, wie es die po rträtierte Person aufweist. Ein Film ist ikonischer, aber auch er ist nicht völlig iko nisch."97 Dagegen wendet Eco ein: Was bedeutet es denn, wenn man sagt, daß das Po rträt, das Annigoni von der Königin Elisabcth gemalt hat, dieselbcn Eigen schaften wie die Königi n Elisabeth hat? Der gesunde Menschenverstand antwortet: Weil es dieselbe Foml dcr Augen, der N ase [... 1 hat. Aber was heißt d enn ,dieselbe Form der N ase'? Die Nase ist dreidimensional, während das Bild der N ase nur zweidimensional ist. D ie Nase hat, aus der Nähe bctrach tet, Po ren und kleine Unebenheiten [...1.'"
,. GREENLEE, Douglas: Prim 's Conctpl ojSign. The Hague: Mouto n 1973. S. 75f. 95 Ebd., S. 78. ?6
ßIERMAN,
Anhur K.: "That [here are no iconic signs." In: Pbilosoplry und PIJeIlOHlrR% §ca/
Rmarrh 23 (1962), S. 243-249.
Zeichm, Sproche lind Vtrho/fen. ~·tit einer Einfü hrung von Karl-O no Apel. D üsseldorf: Schwann 1973, S. 99; die vic1zitienc Passage finde r sich irn Original (dm.: SJgns, Language und Behaliollr. Ncw York: Prcntice Hall 1946) auf S. 23.
97 M O RRI S, Charles William:
?8
Eco, Umbcrlo: Ei'!fohnmg in dü Semiotik. Obers. von JÜfgen Trabant. München: Fink 1972, S. 200. VgL zu dem Thema auch BtACK, Max: "Wie stellen Bilder dar?" In: KlInsI, lf1ahrnthnl1m& Wirklichkdl. Hrsg. vo n Erns[ H. G ombrich, Julian Hochbcrg und M. ß . Frankfun / M.: Suhrkamp 1977, S. 115-154, hier S. l36ff.
44
Wenn man so will , hat das Porträt keine Eigenschaft mir der realen Königin gemein. 99 Eco betont darüber hinaus eine Einsicht, die sich ebenfalls schon bei Peirce find et. Dieser hatte (im Widerspruch zu seinen Formulierungen, welche die Ähnlichkeit auf das ikonisch dargestellte Oo/tkt bezogen) bereits festges tellt, daß sich die Ähnlichkeitsrelatio n nicht auf Gegenstände, sondern nur auf das "Vorsrellungsbild im Bewußtsein " bezieht. lOo Aus diesem Grunde können auch Darstellungen von nicht-existenten Gegenständen, etwa Zentauren, Kobo lden , Einhörnern ,illusioni stisch' dargestellt und al s ,ähnlich' rezipief[ werden: 1ol Die Ähnlichkeitsbeziehung erfaßt auch Fälle der " zero-denotation",\02 also Abbildungen von Dingen, die es ,in Wirklichkeit' nicht gibt. 10J Die Ähnlichkeitsrelation besteht also zwisc hen dem Iko n und dem Perzepliomlllodell des Rezipiem en - so einer der tragenden Pfeiler von Umberto Ecos Kritik der Ikonizität.104 Mit Eco kann man die Ähnlichkeit des ikonischen Zeichens dann wie fo lgt reformulieren: D as ikonische Zeichen reproduzien nicht die Eigenschaften eines Gegenstandes, sondern das erlernte und konventio nelle lJIental seI seiner \'Vahrnehmungsmuster. Dadurch, daß sich die \Xlahrnehmung an distinkten, erlermen Mustern orientiert,105 besitzt die visuelle Kognitio n also eine selJlantische Basis. In diesem ')') Vgl. zu diesem Problem auch SCHOtZ, Oliver R.: Bild, D(lNlei/llng, ZtidJtn. Phi/()f()phisdJt TINorien bildhafltr DflrJltllllng. Freiburg/ Br. , München: i\lber 1991, S. 44ff. '00
.,
.,
So die Formuliemng vo n Peirce in I'EIRCE, Chades Sanders: " K.1tegoriale Strukturen und graphische Logik." In: C. S. P.: Stmiolü(he S(briften. Bd. 1-3. Hrsg. und übers. \'o n Chcistian Kloesd und Helmut Pape. Frankfurt / i\t : Suhrkamp 1986 [1903 1. Bd. 2, S. 98-166, hier S. 113 . Peirce vcrv.'eist etwa auf das Iko n einer ..Srarue eines Zentauren" ; wenn diese "einen Zentauren darstellt, dann aufgrund seiner Gestalt, und diese Gestalt wird es gleichennaßen aufweisen, o b ein Zentaur cxistien oder nicht." PEIRCE, Charlcs Sanders: " Dritte Vorlesung über den Pragmatismus. Die Veneidigung der Kategorien .. " In: C. S. P.: StmiohHhe S(hriften. Ud. 1-3. HIsg. und übers. \'o n Chrisrian Klocscl wld Helmut Pape. Frankfun/ r..t: Suhrkamp 1986 (1 896). Bd. 1, S. 431-462, hier S. 435. Bei Good.man heißt es: " picrures o f goblins and unieom s are quite easily gradcd as mo re or less realistic or naruralistic or fanta stic, though dus cannot depend upon degrcc of resemblancc to goblins and unicoms." G OODMAN, Nelson: "Seven Stricmres o n Similarity." In: N. G.: Prob/mlI ad ProjutI. Indianapolis: Uo bbs-MerrillI 972 [1 970) , S. 437-447, hier S. 438. SONESSON, Göran: Pirlon'a/ Con«pII. Lund: UP 1989, S. 227 . Was wiederum bedeutet, daß die Rezeprionsweisen der lI/'uion per se nichts mit derjenigen der FileJiona/iliil zu run haben muß (lU. 4] : " Für die Bildung ästhetischer Illusion und dam.it die Illusionstheorie ist die Frage nach der Fikrionalität weitgehend unerheblich, da lllusio n ebenso bei do minant fikrionalen wie vo rwiegend niehtfikcionalen Werken gebildet werden kann und allgemein im Zustand ästhetischer Illusion die Frage nach der ,Wahrheit' der Fiktion in den Hintergrund Irin." WOLF, Weroer: A.ilhthIdN lIIufion lind IIII1!io1lIdurth-
bruhung in der Erzäh/1eNnsl. Th«;rit und CeJ(bichle mit S(hu~rpllnkJ aiif engliHhtm illunonsstiirmdfm Erztih/tn. Tübingen: N iemeyer 1993, S. 43. Vgl. ruerl.u Eco, Umbcno: Einftihmng in dir SemiOlile. Übers. von Jiirgen Trabant. München: Fink 1972, S. 197·249. Vgl. dazu auch Gombrichs ,minimwn image': "Our whole percept:ual appararus is somehow hypcrsensitized in this direetion of phys iognomic visio n and the merest hint suffiees for us to create an expressive physiogno my that ,looks' at llS with surprising intcnsity. [... 1
45
Sinne sind aber ikonische Zeichen (und damit aUe Fonnen der Bildkommunikation bis hin zum Film) auf dieselbe Weise wie sprachliche Zeichen konventionell und erlernt - so die These Ecos und Goodmans. I06 Auch Goodman weist die Konzepte von Ähnlichkeit und Ikoniziüt als unbrauchbar zurück: "similarity [ends under analysis either to vanish enrirely or to require for its explanation jusr wh at it purpOrts to explain. «107 Aus der Optik solcher Theoriebildungen entspricht das Bildverste hen weitgehend dem Texrverstehen: "eine Trennung von Sehen und Lesen, Wahrnehmen und Dekodieren [istJ nicht möglich ... 108 Diese ,Dekonstruktion' von Ähnlichkeit und lkonizität wurde durch Er· geb nisse aus anderen Wissenschaften sehr weitgehend untermauert. So wurde etwa Peirces Postulat der Semantizität der Wahrnehmung bestätigt. Tatsächlich ließ sich nachweisen, daß die Sinne nicht (wie eine passive Kamera) unmjrre1bare Reize wahrnehmen, welche erst durch höhere kognitive Ebenen des Gehirns in Informatione n umgerechnet werden, sondern daß schon die Ebene der Sinneswahrnehmung einen semantisc hen Charakter aufweist. Bereits in den sechziger und siebzigerjahren wurde in der Neurophysiologie nachgewiesen, daß die Sinneswahrnehmung nur Inputs registriert, die im Rahmen eines exi stierenden Vorwissens inlerprelier!JtJr sind. Reize existieren auf der neuronalen Ebene solange nicht, wie sie keine BedeJ(IIIng für den Rezipienren besitzen, auch dann nicht, wenn sie nachweislich innerhalb des WahrnehmungsfeJd s liegen - die ,Realität' ist also nu.r ein Ausschnitt der vom System verstehbaren Strukturen, der Rest wird nicht registriert. 109 the group o f shapes thaI can bc read as phrsiogno my has priorjl}' over all mher readings." GOMJIR1CII, Ernst H.: ,.Meditations on a Hobby Horse." In: E. H. G.: A-!"Jit(Jlions Ol l u Hobly Hol"Jt und olbiT mqys on t!Je Ibtory oJ ort. London: Phaidon 1994 [1 963]. S. 1- 11 , hier
S. 6. ,~
Vgl. G OODMAN. Nelson: Sprorhrn dir I&nsl. Enfll'llif riner Symbollbtont . Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1997 [1968]. G OODMAt'l, Nelson: "Seven Srricrures on Similarity." In: N. G.: Prob/nllS und Projrels.
Indianapolis: Bobbs-r-.krrill 1972 [1970J, S. 437-447, hier S. 446. ,~
GROSS, Sabine: Ust·Zdrhen. Kognition, Midi"", lind Maltn'o/iMI im usrproi!ß Darmstadt:
Wissenschaftliche Buchgcscllschaft 1994, S. 4. ,~
46
Eine Versuchsanordnung prüft erwa, ob das Nervens)'5tem als Um erbau des Be\\tußtseins auch dann Aktivität zeigt, wenn der Input des ,Sinnenreizes' zwar im Wahmehmungsfeld liegt, aber nicht verstanden wird. Ein schönes empirisches Beispiel zu diesem Thema bringt von Focrster in dem Aufsatz "über das Konstruieren von Wirklichkeiten" (vgl. r O ERSt"ER, Heinz vo n: "über das Konstruieren von Wirklichkeiten." In: H. \'. F.: IWllsen lind Ceu.lmn. übers. von Wolfram Kar! Köck. Frankfurt / r..-t.: Suhrkamp 1993 [1973], S. 25·49). E s geht hier wn das Beispiel eines Elektrocnzcphalogramm-Experimems an einer Katze. Versuchsanordnung ist, daß eine Kar..:e in einem Käfig nur dann Futter durch Niede rdriic~en eines Hebels erhält, wenn parallel ein wiederholt ertö nender Einzelton ,x' auftritt. Uber den gesamten Zeitraum werden die Aktivitäten der Nervenbahnen registriert, und zwar sowo hl von den unminclbar an das O hr anschließenden, die Hörsignale übenninelnden Nerven bis hin zu den höheren Ebenen des Verstehens im auditorischen Cortex. D as E rgebnis ist verblüffend; denn zunächst kann bei dem E rtönen des Piepton s keine korrespondierende neUlonaie Aktivität beobachtet werden, und zwar (erwartungsgemäß) nicht im Cortex, aber
\'\fahrnehmung muß a1 so im Sinne einer zielgerichteten Abtastbewegung verstanden werden, bei der etwa das Gesichtsfeld auf bekannte Erkennungsmuster durchgescannr wird. D emgemäß erzeugen Systeme ihre Realitätskonstruktion auf der Grundlage präcxistenrer Interpretierbarkeiten (darüber hinaus besitzen neurona1e Systeme ohnehin keine Ein-und Ausgänge, reproduzieren demgemäß ausschließlich binnensystemische Z ustands veränderungen. Ne uronale Sys teme können also nichr, was Bewußtseinssysteme können: Erst diese können zwischen Selbstreferenz und Fremdreferenz unterscheiden und dann die fordaufende Wahrnehmung als \'\felt konsrituieren).lIo G anz ähnliche Befun de liefe rn kognirionspsychologische Srudien zur Bilderkennung. Auch hier erwiesen sich VorsteUungen einer ,unmittelbaren Sinnes"vahrnehmung' a1s irrig. Tatsächlich operiert das Auge nie ,unschuldig', im G eb'Cnteii ist es ein infonnationsverarbeitendes O rgan, welches die Umwelt au f Basis kognitiver Rahmen entziffert, ganz ähnlich wie bei der Lektüre schrifdicher Texte; \'\fahrnehmung ist " aktive Sinnkonstruktion".lll So konstatiert eine früh e russische Pioruerstudie über clie Abtastbewegungen des Auges bei der Bilderkennung: "The human eyes voluntaril y aod iovolunrarily fLxate on mose elements o f an object which carry or may carry essential and useful infonnatioo. The more infonnacion is comained in an element, the longe r the eyes Stay on it."112 Die Spurbahnen der visuellen Abtastbewe-
crslaunlicherweisc !lichI einmll.l in de n unmi uclbar an das G ehö r angrenzenden Nervenbahnen. Erst nachdem die Kal'l.C das Signal ed en u haI, also l'trr/mllien haI: ,Piep IOn bedculet Nahnmg'. wird der T o n überha upt wahrgenommen; solange der Ton nichl imerpredcrbar ist, gibt es für diesen T o n auf der Ebene des neuro nalen Syslems (/Hrh in dtr IlnmittdbIJrtn Näht ~m Ohr keine Entsprechung - auf Srs lcmebcne cxistierl das Signal nichl. Wie, so m iißlc man daran anschließend fragen , kö nnen Sr slcme dann lernen ? So richtig auch iSI, daß Sr slcme ihrc Wirklichkcilcn selbst erzeugen, so falsch iSI in der T al die Annahme eines ,solipsistischen Konstruktivism us'. Ein solches System würde nur wissen. was es weiß, und wäre in bezug auf nichl imerpretierbare Inputs (pieprä ne) nicht lem fahig. SYSleme bleiben also anfallig fiir ,Noise' von ,außen', auch wenn nichr beobachlbar ist, wie. lntcrcssanterweise kann diese systemische Afflzierbarkeit über den Begriff der EntrOpie errechnel werden; und zwar gih für alle S)'Sleme, die ihre innere O rd nung \'ergrößem , daß sie d urc h ihre Umwelt irritierbar sein mNllrn. Vo n Focrster bezeichnel diesen Sachverhalt als Prinzip der Ordnung dNtrh Slömng. vgl. f OERSTI! R, H einz von: "Über selbst-organisiercnde Sr stcm c und ihrc Umwelten." In: H. v. F : IPissrn lind G t U7JSfn . Übers. von Wolfram Kar! Köck. Frankfun 1 M.: Suhrkamp 1993[ 1960], S. 21 7ff.
'"
Berühmt gewo rden sind in diesem Z usammenhang die Untersuchungen von r..b tura na und Varela zwn Sehvennögen beim Frosch. die wesentliche Anregungen im Hinblick auf die E ntwicklung von Konstruk ti vism us und Syslemtheorie gelieren hll.ben; vgt. Mt\TU RA.t~ A , Hwnben o R. und Francisco J. VAREI.A: A J/lopoiuiJ and Cognition. TIx &nlizntion oflht Liting. D ordrecht CI aI.: Reidel 1980; ferner dies.: Dtr Ballm tkr ErlunnlniJ. Dit biolo,giselxn lf/ Nrzrln du mrnsrhh·rhtn E rA!tnnrns. München: G o ldmann 1990; sowie M AH .lRANA. Humbcrto S.:
Erktnlfm. J)it Org/milnlion und Vtrleii'pmln!. l'On If/irleliehkdl. AlIsgtlvähllt Jrhrif tm biologisrhm Epislfmologir. Braunschweig er al.: Vieweg 1982.
'"
~r
GROSS, Sabinc: Lm-Ztirhen. KPgllition, MtdiHHI lind Mairrilllitiil im Lurprotrß. D annstadt: Wissenschaftliche Buc hgesellschaft 1994, S. I ; vgl. SoNESSON. G ö ra n: Pirlorinl Conrrpls.
Lund: ur 1989, S. 265.
'"
YARß US, Alfred L: EJt Mo/'tmtnls nnd Vision. New Yo rk: Plenum 1967, S. 2 1 I.
47
gung dokumentieren dabei eindrücklich die semantische O peration der visuel len Sinn-Suche . Ebenso ist erwiesen, daß die Fähigkeit zur D ecodierung komplexerer Bilder von Kindern erst erlernt werden muß. 1I3 Daher kann man festhalren, daß Peirces Basisannahme einer Universalität des Semanti schen mirtierweiJe umfassend bestätit-,rt ist. Die In fo rmationsverarbeirung beginnt nicht auf hö heren kognitiven Ebenen, im Gegenteil steuert sie be reits die Sinneswahrnehmung: geometrieal element and feature analrsis is basiealJy independent of thc higher order eognitive processes. Thc seqllcncc of fiX ation points is, however, relared [0 scmantic interpretation of the fonns and represents thus manipulation wirh the memo ry eontcm . The semantic level of perceprllal-cognitive process seems [0 control eye scanning. Eye movemem control is reflectcd in thc non-random (Markov) sequence of fiXation s. The target point sclection is probably a hier. archical onc. h s highest level is rcprcscm cd b y the semantic o nc. A ny visual o b ject (fonn) known ro the subjcet is rep resented by an organizcd strueture in which each semantie featurc has its locatio n, weight and sys tem o f relationships wirh other feature s 1... 1. The input pa ttern, if imcrprcred p sycho logieall)', is probabl)' automatically bro kcn into meaningful, less complcx sub-p arr.erns the meanings and interrelatio n of which correspo nd to a cenain scmantic Strucrur c.! !~
Die visuelle Wahrnehmung von Bildern basiert also auf ähnliche Weise auf Mustererkennung wie ein Leseakt; im üb rigen ist auch der Blic k auf Bild und Welt ähnlich gerichtet wie beim Lesevorgang (was in dem sehr reduzie rten Gesichtsfeld der Fovea begründet ist), und wie beim Lesen springt der Blick auch hier zwischen den als semantisch bedeutsam aufgefaßten Punkten in Porm von S(J(c(Jden. Eine weitere, bemerkenswerte Analogie zwischen Se hen und Lesen ergibt sich aus der Oszillation zwischen Input und Vorwissen; denn die Zielgerichrethei r des Blicks ergibt sich bereirs aus der Anlage des Gesichtssinns, der - schon au f der Ebene seiner Mechanik! - zwischen einem nur diffus wahrgenommenen Feld in der Peripherie der Retina und dem klaren Ausschnirr der Fovea differenziert, wobei jedoch das weire Feld verminderter Sehschärfe einen Kontext erzeugt, nämlich entsprechende Hinweise liefert auf das, was erst dann klar gesehen wird, wenn man den Blick darau f ,richter'. 115
'"
Vgl. GROSS, Sabine: Lm-Z,irben. Kognitioll, Mtdimll lind M lllrrialiliil im Lmpro~ß. Dam"lSladt: Wisscnschafcl..ichc Buchgesellschaft 1994, S. 102; t\'lACKWO RTH. N. H. und] . S. BR UNNE. R: "How Adults and Chrildren Search and Recognize Picturcs." In: Hlllllal/ D twlopmml 13 (1970),5. 149-177.
'"
V. CI aL: "Role of the Physical and Scmantic Componems of Fonn D uring Ere Scanning." In: Cognilon mld E.Jt M OI!tlllmIJ. Hrsg. von Rudolf Groner und Paul Fraissc. Amsrerdam er aL: North HoUand Pubtishing 1982, S. 24-33, hier S. 32 f.
'"
Vgl: HOCHBERG, ]ulian: "Die Darstellung von Dingen und Menschen." In: Kunsl, If/ohrnthmllllll If/irk}irbletil. Hrsg. von Ernst H. Gombcich,J. H. wld Max Black. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1977, S. 61·114.
48
BOZ KOV,
\V/eitere Bestätigungen aus der Kognitionstheorie wären anzuschließen. So wie sen Ryan /Schwartz bereits 1956 nach, daß in Abbildungen ein Zuwachs an Ähnlichkeit keine Verbesserung der Erkennbarkeit erzeugt, diese sogar reduziert. Versuchspersonen wurde derselbe Gegenstand (1) als Foto, (2) als reali sti sche, schattierte Zeichnung, (3) als Scrichzeichnung und (4) als Comic gezeigt. Klares Ergebnis war, daß die Comiczeichnungen am schnellsten und am besten wiedererkannt wurden, weil sie offenbar die relevanten In fonnationen einer prototypischen Mustererkennung deutlicher reproduzieren.116 Ein ähnlicher Befund liefert ein Seitenblick auf das Erlernen von Malfertigkeiten bei Kindern: Diese beginnen gerade nicht mit der konkreten Wahrnehmung, im Gegenteil reproduzieren sie abstrakte Konzepte. Das Kind beginnt also mit ideogrammatischen Zeichen, dagegen muß eine anschauliche, realistische Darstellung erst mühsam erlernt werden. 117 Eine der wirkungsmächtigsten Bestätigungen der Konventionalitär des Bild-Zeichens lieferte jedoch die Kunstgeschichte, insbesondere die Arbeiten Panofskys und Gombrichs. ll8 Eine besonders prägnante Fallstudie schildert letzterer in Art lind 1lllIIion: \Vhen Dürer publishcd hi s famou s woodcut of a rhinoceros, hc had [0 rcly on secondhand e"idence which he ftll ed in (rom his own imagination, coloured, no doubt, by whar he had leamed (ro m the most exotic of beasrs, the dragon with its armoured bod)'. Yer ir has bccn shown that this half-invcnted creature served as a model for all rcnderings of the rhinoccros, cven in narural-history books, up to the eightecmh ccntury. \'(!hen, in 1790, James Bruce published a drawing of the beasr in his Trot'tls Jo DilCOt'tr Jbe SOIIrrt of !be Ni/e, hc pro udly showed that hc was awarc of this fact: "TI1C anima! reprcscntcd in this drawing is a native of Tchcrkin, ncar Ras el Fcell ... ] and this is thc first drawing of thc rhinoceros with a double ho rn that has ever )'et becn prcsentcd to thc public. The first figure of rhe Asiatic rhinoccros, thc spccics ha"ing but one horn, was painted b}' Albert Durer, from the life [...J. It was wonderfull}' ill-executed in all its parts, and was the o rigin of all the monstrous fonns under which rhat anima! has been paintcd, evcr since [...]. Several modem philosophcrs ha"c made amends for this in our dars; t-.1r. Parsons, Mr. Edwards, and the Counr de Buffon, have given good figure s of ir from life; thcy ha"c indeed somc faults,
". '" ".
RYAN, T. und C. SCHWARTZ: Speed of Pcrcepoon as a Ftmcoon of ~·I ode o f Represcmaoon." In: Amtri{all Journal of P!J{hololJ 69 (1956), S. 60-69. Vgl. HER.Io,IERE.'J. Göran: AJjXrtl of AlJllNtia. Lund: Gleerup 1983, S. 11 9ff. ; ARNHElM, Rudolf: AnlmaNli{hU Dmktn. ZN, Einhril t't)fl Bild Nnd Brgrilf. Köln: Dtm-Iont 1966, S. 239ff.; VOLKELT, Hans: "Zur Psychologie der Kinderkunst." In: SANDER, Friedrich, und H. V.: GanzhtilJf>!Jrhologie. München: ßeck 1962, S. 29 1-299. Vgl. u. a. PANOFS"-, ', Erwin: Mtaning in Iht ViJNal ArlJ. New Yo rk: Doubleday 1955: ders.: SINdim~, lIeonolo§·e. HumaniJtis{ht Thtmtn in de, I&nl1 du JVnaissana. Köln: Dtm-Iom 1980 [19621; GOMBRJCH, Ernst H.: Arl and I11Nlion. A Sllidy in Iht P!Jrholog) ofPirlorial RrprrstnlaliM. Landon: Phaidon 1995 p 9601; ders.: Symbohdmagtl. Landon: Phaidon 1972: ders.: The Image and Iht Eye. Furlht, Sludiu in Iht P!J(holog, oJ Pir!orial JVpmtnfaJion. Oxford: Phaidon 1982.
49
O U~;H,,''-'"-'crfcc! du plication o f realiry 10 the point of dtlusion"; ,.it rep resents the culminatio n o f pictorial realism", heißt es in D 'OTRANG E MASTAI, Marie-Louise: 1IIusion in Art. T rom~ I'Otil A His/ory oJ Pirlorial 1IIusionism. Landon: Sccker & Warburg 1976, $.8, S. 15; ich benutze die Bezeichn ung in diesem Sinne. Im engeren Sinne wird er in der Kunstgeschichte definicn durch weitere stilistische Kennzeichen; beispielsweise darf kein Teil des abgebildeten Gegenstandes außerhalb des gezeigten Rahmens liegen etc.
,n
,.
oJ Pitlorial
IVprtJtn/ahon.
D 'OrRA.t~GE
MASTAI, Marie-Lauise: 1IIusion in Art. Tmmflt l'Ot;l A I-liJlOry IIbmonjs",. Landon: Scckcr & Warb urg 1976, S. 27.
oJ Pir/on·(11
D 'ÜTRANGE MAs rAI, Marie-Louise: 1IIusion in Art. Trom/N IOtii A Hislory /lllIs;onjsm. J..ondon; Scckcr & Warburg 1976, S. 38.
oJ Pir/orial
Dieser Übergang spiegelt SIch auch In der Geschichte des mimesis-Begriffs wieder; vg!. WILI ..EMS, Goufried: AnHhaulirhletil. Zu Throrit lind Gurhirhle dtr lt7ort-BiId-ßt-!(jthllngtn lind du IiltroriHhtn Damtllungssfils. Tübingen: Niemerer 1989, $. 22 1.
57
eine Skenographie für den Hintergrund eines Stücks von Aischylos. I~ Auch die in der Tragödie verwendcten Masken dienen zunächst der Verstärkung solcher Effekte: ..The overall impression is one of ancmpted naruralism."1 4· Auch hier wird die reali stische \Virkung durch Kombination der Medien am· plifiziert: " Das neue Medium Theater, nac hdem es um 400 v. e hr. unwider· ruflich ctabliert und verbreitet war, war ein ,Kultursc hock'''.'48 Das Hereinbrech en dieser I/irluellen IPellen über die hlfiechische Kultur ist demnach eine mediengeschichtliche Revolution, gegen die sich da s Neue un serer ,Neuen Medien' (vom Fernseher bis zum Internet) geradezu traditionell ausmacht. Diese unerhörten DarsteUungsminel wurden dann auch Gegen stand der philosophischen Reflexion, und tatsächlich ist die antike Theorie der Ahnlichkeil, der Ikoni~liil und des RetlliSHlIiS bis heure über weite Strecke n das Fundament von Rezeptionsweisen der Simulation. Dabei lassen sich drei Stufen ausmachen: Die Auseinandersetzung mir den neuen Medien begi nnr bei den Sophisten (1) , wird dann durch P laton aufgegriffen (2) und schließlich von Aristoteles fon gesetzt (3).
(1) Eine frühe Behandlung erfuhr das Thema bereits bei den Sophisten , jenen Protophilosophen, welche ihre Tätigkeit noch unter dem pragmatischen Aspek t der Ausbildung von Schwern verstehen (der soplJisles ist einer, der kundig isr),14? sich daher vor allem anwendungsbezogenen Gebicten wie etwa der Bcredsamkeit und dem ,ko rrekten Sprachgebrauc h' zuwenden und - wie etwa Protagoras und im Gegensatz zum Platoni smus - Wahrh eit (tllelbeitl) noc h eher im Sinne einer Rich tigkeit (o rlhoepeia) auffassen. Das ,\Vissen', das sie auf der Basis von Beobachtung und Erfahrung erzeugten, war elllpeiritl, und es war immer Minel zum Zweck.ISO Dementsprechend konnte ein Sophist wie Gorgias unideologisch und pragmatisch die machtvoUe \Virkung des logos auf
VgJ. D'ÜT'R.J\NGE to.1ASTAI. Marie-Lowse: J/IJlJion in Art. "frompe I'On·l A History of Picton"ul lIIuPOnlim. London: Secker & Warburg 1976, S. 34. Vgl. zur Weiterentwicklung der nühnendekorarion KI NDERMAN N, Hcinz: 7kafrtgeJchichtt ElITOpas. Ud. 1-5. Salzburg: Müller 1957ff. Bd. 1: Das Tmatrr (/tr Anklet und du MifftlaltrrJ. S. 45ff. Bei den frühen gemalten Uühnenbildern gibt es allerdings Einschränkungen reclmischer Narur. Beispielsweise konnte man sie noch nicht effizielll auswechseln; ,.demnach blieb die Bemalung rur eine ganze Tetralogie die gleiche." BLUME, HOTSf-Dieter. Einfohnmg in das antike "flxatrrultstn. Dannst::adt: Wiss. Buchges. 1984, S. 62.
'"
,.
PICKARD-CAMßRIIx:;E, Sir Anhur. "fix Dromakc Feskl'tJlsojAtlxns. 2. Übcrarb. j\ ull Oxford: Clarendon 1968 (19531 , S. 192; ,"g!. KINDERMAt~N, Heinz: "flxaJ"l!schichJe Ellropas. Bcl. 1-5. Salzburg; Müller 1957ff Bd. I: Das "flxattr dtr Antike und du MifftlolJtr1, S. S7ff. FAUJsnCH, Werner. Die Geschichte dtr MN/im. Bd. 1-2. Gömngcn: Vandenhocck & Rup. recht 199M. Bd. 1: Das Mtdium als lVtll. S. 208ff., hier S. 220.
'"
VgJ. auch EISENHUT, Wemer: Einflihnmg in die alltike RhtJonle lind ihn Geschiehtt. Dannstadt: Wissenschaftliche Buehgesellschaft 1974, S. 16.
ISO
Vgl. PFElFFER, Rudolf: Geschichte der leJaJS'lir!xn Philologie. Von Mn Anfongrn bü ZMm Ende (It.s Htlknismlls. Reinbck: Rowohh 1970 (19681, S. 33-80.
58
den Hörer beschreiben und - in seiner " Rede über Helena" Z iel einer jeden Rede rue Täuschung (apole) herausstellen:
als positives
D ie göttlichen Beschwörungen d urch [den Logos, M. A.IISI näm lich werde n zu Freudebringcm und Entführe rn von Leid; denn vereinigt sich die Wirkkraft der Beschwörung mit der A nsic ht der Seelc, so betört und bekehrt und gestaltet sie dic Seele um d urch Zauberei 19ot/tial. Für Zauberei und Magie lnJagtlol aber sind zwei A nwend ungen [Im/mi/all der Ku nst [/echne] aus fi ndig gemacht worden, wclche Fehlleirungen der Seele [p.ryches homorlemolol und Täuschungen de r Ansicht [doxoi 0pflle1Jlala] sind. l s2
Dort wo im Zeuxis-Mymos Gemälde den Rezipienten täuschen, ist es bei dem Sophisten Gorgias rue Mach t des sprachlichen logos (ein Beleg für rue Gelrung der Simulation nicht nur im visuellen Bereich, sondern auch in der Sphäre der sprachlichen Kommunikation). Für die Er.delung der Wirkung stehen dem Rhetor oder Schriftsteller ,techni sche Mittel ' (Iechnai heurenltlJ) zur Verfügung, die man bei den Sophisten erlernen kann. Mit Wahrheit hat das ganze nichts zu run, ganz im Gegenteil: D iejenige Rede wirkt beim Rezipienten, die " nach Regel n der Kunsr verfaßt, nichr etwa im Blick auf Wahrheit [alelheia] gesprochen ist".IS3 D iese illusionäre ,Täuschung' des Rezipienren hat (ebenso wie im Zeuxis-Mythos) aJ so noch nichts mit einem ,Betrug' zu tun, ,T äuschung' bezeichnet vielmehr clie positiv verstandene persuasive Wirk ungsmachr. der Sprache. Plurarch beschreibt aus de r Retrospektive das positi ve Verhältnis der attischen Tragödie zu r Täuschung mit dem expliz iten Verweis auf Gorgias: In voller Blüte jcdoch stand die Tragödie (in Athen) und w ar in aller M unde; sie geriet zum wunderbaren H ö r- und Schauspiel fur die ~'1 e n sc hen danu ls und bot durch ihre Myt he n und Leidenschaften eine Täuschung (opale), bei der, wie Gorgias sagt, derjenige, der täuscht, m eh r Rech t hat als der, der nicht täuscht, und das Getäuschte andererscits mehr versteht als der, der nicht getäusch t wird. Wc r täusc ht, hat nämlic h mchr Recht, weil e r ausgefü hrt hat, w as er ver-
'"
Go rgias spricht durchweg und, wie es scheint, in allgtmrinrm Sinne von der Gewah des logoI als Gcwah der Sprache, die in der Rede wirksam wird. Nur einen Absatz vor der zitiertcn Passage bezieht er etwa die D ichtkunst in seine Erwägungen mit ein. Buchheim übersetzt zwar "durch die Rede", relativiert diese Entscheidung fur den engeren Begriff aber, indem er in seinem Kommentar betOnt, daß die Rede "gerade durch ihre sprachliche Form einen göttlich wirkenden Charakter" erhahe. Vgl. GORGlAS: Rrden, Fr(lgmente und Tesb'monien. Griechisch-Deutsch. Hrsg. u. übers. vo n Thomas Buchheim. Hamburg: Meiner 1989, S. 166.
m
GORGlAS: Redm, Fr(lgmente lind Testimonien. Griechisch-Deutsch. Hrsg. u. übers. von Tho~ mas Buchheim. Hamburg: ~" einer 1989, S. 9 L,Lobprcis der He1ena", Fragment 11, IOJ.
m
GORGlAS: Rtden, Fragmente lind Tesb'nJonien. Griechisch-Deutsch. Hrsg. u. übers. von Thomas Buchheim. Hamburg: Meiner 1989, S. 1t ["Lobpreis der HcJena", Fragment 11, 131.
59
sprach; der Gcciiuschtc aber versteht mehr. denn schön läßt sich hinreißen von der Lust der Worte, was nicht empfindungslos ist.lSo!
\Xlie im Zeuxis-Mythos ist auch hier die ,Täuschung' das \Xlirkungsziel der Kunse Die Aufgabe des Sophisten ist es dann, seinen Schülern die /uhnisrhen Mille! und Wege aufzuzeigen, wie die opale und die dadurch eintretende \'?irkung - bei Gorgias plm·ke (Schauder), deos Gammer), po/hos (Sehnsuchr)t 55 erzeugt werden. (2) Auf dieser Grundlage fo nnulien Platon dann die erste Theorie der Simulation, in der die positiv verstandene ,Täuschung' dann zu einem negativen ,Betrug' wird. Tatsächlich lassen sich Platons AusfUhrungen zur lUusionsmacht der [\'Iedien in einem doppelten Sinne als Antagonismus verstehen. Z unächst einmal setzt sich Platon ab vom pra.x.i sorientien en und ,nur' auf Effekt kalku Lierten Wissen der Sophi sten, der efllpeiritl, und verkündet das Konzept ein er reinen, apodiktischen Erkenntnis, der epis/eflle beziehungsweise Jophia. l S6 Die Rhetorik als ,klassische' Disziplin der Sophisten fü hrt laut Platon ihre Beweise nur auf dem Feld des \VahrscheinLichen durch, nicht auf demjenigen des Otwendigen. Die sokratisch-plato ni sche Philosophie löst die ell/peiria ab durch das ,reine \Vissen', die rpis/ellle, das \Vahrschcinliche wird dagegen ausgelagert in den Bereich der bloßen Meinung, der doxa. Da s sophi stische Wissen erscheiß( jetzr als Hal bwissen, und die Bereiche von 10ms/ und Rhe/orik geraten in einen Strudel der Ablehnung. Tatsächlich werden CfWa im Sophis/u- Dialog Sop histen und Kün stler gleichermaßen als (bloß!) täuschende Bildermac her (eidolopoiol) charakterisie rt .m Genau für diese se kundäre Sphären ist abe r in der platonischen Evidenz des Wahren-Schö nen-Guten kein Platz m ehr. Z ugleich sreUen sich Sokrafes und Pl aton kategori sch gegen die aUgemeine Faszination an der Wirkungsmachr der neuen virrueUen Welten, die man im-
'"
!)UITARCH: Dt g/oria Alhrni"'Slim 5, Moralia 34&, zitiert in GORGlAS: RLd"" Frag"''''lt lind Ttsbmonim. Griechisch-Deutsch. H rsg. u. übers. von Thomas ßuchhcim. Hamburg: Meiner 1989.5.93.
,.
Vgl. GORGI.AS: !Vdm, Frogmfnlf lind l tslimonirn. Griechisch -Deutsch. H rsg. u. übers. \·on Thomas Buchheim. Hamburg: Meiner 1989,5. 9 [,.Lobpreis der I-Iclena", Fragment 11 .91.
'"
Vgl. PLATON: ljrrrkr. Griechisch und deutsch. H ng. "on Günther Eigler, über5. von Friedrich D. E. Schlcicnnachcr. ßd. 1-8. Dannstadt: Wiss. Buchges. 1990. ßd. 6. 5. 279~287; S. 299-305; S. 387-401 [Sophislu 233d-236c; 239c-241b; 264b-268dJ; vgl. CANTO, Mo nique: ,,Acu of Fake. Thc Ico n in P!atonic Thought." In: Rrprolflrations 10 (1985),5. 124- 145; ROSEN, Sranlcy: PllIto'; Sophist. TIN Drump ojOri/jna/ and J",agt. New Haycn. London: Yalc Ui> 1983. 5. 145ff.
60
Der " Antagonismus "on soprustischer Herausforderung und philosophischer Reaktion ist ungefalu ein Jahrhunden lang, in der Zeit von 430 bis 330 "o r Chrisrus, die bewegende Kraft der griechischen Bildungsgcschichtc gewcsen". FU IIR.MIu~N, Manfrcd: Dit antikr Rhtlorik. Eine EinfUhrung. München et al.: An:cmis 1984, S. 36. Vgl. dazu auch PFEIFFER. Rudolf: GtHhkhlt drr /e1I1uisrhtn Philo/ogtt. Von dtn Anjängm In; '{!Im Emu du I-Itll",ismlls. Reinbek: Rowohlt 1970 11 968[. 5. 8 1fr.
mer wieder in den Quellen spürt. Die Theorie der Simulation tritt also dezidiert kulrurkritisch auf: For us, who have lived with (he herüage of Greek and posr-Grcck art throug~ hout our Iives, ir may nced a good deal of historical imagination [0 recapture the thrill and the shock which the first illusionist images must have caused when shown on the stage or on the walls of Grcek houses. There is reason to bclieve mat this did nOt happen before Plato's Iifetime and [hat his outburst agamst the triekcries o f painting was an outburst against ,modern art' 158
Nur vor dem sozialgeschichtlichen Hintergrund dieser griechischen Medienrevolution erklärt sich die kritische Haltung von Sokrates und Plawn gegenüber der Kunst. Wie die Kulturkritik heute gegen Fernsehkonsum und VideospieJe vorgeht., stellt sich auch PlatOn gegen die ,neuen Medien ' seiner Zeit, er will die Dichter und Künstler, welche neuerdings virtuelle \'(Ielten herstellen, aus seinem utopischen Philosophen staat verbannen. Sokrates und PlatOn haben den triumphalen Vormarsch der neuen Form theatralischer Illusion selbst erlebt, und auch die ,täuschend echten' Simulationen des Zeuxis markieren diesen Punkt, denn dieser war ein Zeitgenosse von Sokrates und Platon und vor allem im letzten Viertel des 5. Jahrhunderts tätig l 59 (Xenophon berichtet von einem Besuch des Sokrates bei Parrhasios).I60 Das erklärt auch den Kern der platonischen Kritik an der Simulation, wcl ~ ehe erwa die Virtualität der Tragödie als Bedrohung sieht. In ihr tritt die offensichtliche Vermittlung durch ei nen Erzähler gänzlich zurück, alles wird so gezeigt, als ob es tatsächlich ,real' geschehe - erst da s theatralische Schauspiel, so Platon, bestehe nämlich ausschließlich aus mimesis, .DarsteUung'!61
,.
GO)o.IBRICH, Ernst H.: Art ond IIINRM. A SI1I9 in Jht PlJrJxJIog Lo ndo n: Phaido n 1995 11 9(0), S. 108.
oJ Pifforiol Rrpfr.JtnJoJion.
Vgl. zur Datierung ThIl!ME, Umch und Felix BECKER (Hrsg.): Allgtmtinu Lt....ikon der bildrndtn KiinJJItr. Bd. 1-37. Leipzig: Engelmann 1907ff. Bd. 36, S. 472 b,Zeuxis'l Im genauere:n bezieht sich Platons Kritik am Thcucr möglicherweise auch auf den ,Niedergang' des attischen Theaters in zunehmend sensationsoricntienen Darstellungen (,'gI. auch BOYD,John 0.: The r"Nnrtion of Mimui! ond ill Duline. Cambridge/ Mass.: I-Iarvard U)l 1968, S. 7). Die Korn:lation mit den Innovationen der ,realistischen Malerei' wurde schon von der älteren Forschung hervorgehoben ("gi. bereits COLLINGWOOD, Ro hin G.: TIN Pn'ndplu ofArt. Oxford: Clarendon 1938. S. 49; SclIWEIT.lER., Bcmhard: PklJon lind die bikltnde KIInsJ d"Criuhtn. Tübingen: Niemc)'cr 1953. S. 83; WEBSTER., Tho mas B. L : " PIaIO and Aristocle as Critics of Greek An." In: SJmbokle 01htnm 29 (1952), S. 8-23, hier S. 9). D as trifft im wesentlichen den Sachn'.rhalt; man soUte jedoch mit Keuls differenzieren, daß zentrale Neuerungen in der !\la1e:rei scho n etwa eine Generation " or Platon , also bereits zur Lebenszeit des Sakrales stllttgdunden haben; vgl. KEULS, Eva c.: PklJo od Cruk PoinJ;ng. Leiden: Brill 1978, S. 60 und S. 87. Vgl. XENOPHON: Erinnmtngtn on SoJuaJu. Übers. von J ohannes ImlScher. Bedin: Akademie
'"
1955, S. 133 f. [H!, 10[. Vgl. PLATON: W"kt. Griechisch und deutsch. H rsg. von Günther Eigler. übers. von Priedrich D. E. Sc.hleiermacher. Bd. 1 ~8. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1990. Bd 4, S. 205 [Poultio. 394b): Im Theater werde ,.das dem Dichter Angehö rige zwischen den Reden"
61
Damit wendet er sic h gegen die TiiflSchllllg, welche bei Gorgias noch einen positiv verstandenen \'\firkungseffekt dargesteUt haue, und wandelt diese um in einen moralisch verwerflichen ,ß errug'. Zur Kennzeichnung dieser sekundären Sphäre verwendet Plawn neben apate typischerweise Begri ffe wie phantnsma (Trugbild) oder thallllJ(Jtopoios (Gaukler). 1m Umfeld de r ,neuen Medien' dia gnostiziert Plaron dann die Gefahren solcher ,Scheinwelten', '.velche er am Beispiel von ,Bett' oder ,Tisch' enrwirft: Das reine Sein gehö re der Sphäre der unwandelbaren Idee an, wo hingegen bereits die vom Tischler herges tellten Gegenstände bloß Abbilder dieser ewigen Ideen seien. D er Maler (zograpbos) erzeuge dagegen nur ,Abbilder von Abbildern', also bloße Schattenbilder (eido10), welche " um das Dreifache von der Wahrheit abstehen" l6.2 - so die Kern aussage der berühmten Passage aus dem zehnten Buch der Politeill. Oie ähnlichen DarsteUungen der Kunst ersch einen als o ntologisch minderwertige Schattenbilder.1(oJ Wenn ein Kün stler etwa "ein guter Maler !zographos] [istJ und zeigt, wenn er einen Tischler gem al t hat, ihn nur hübsch vo n fern , so wird er doch Kinder wenigstens und unkluge Leute anführen, daß sie das Gemälde für einen wirklichen Tischler halten"l64 - die Kun st ist allenfall s etwas für die Dummen, die darauf hereinfallen. Die Täuschung ist aus ethischen Gründen nicht vertretbar, was mutatis mutandis für die RhetOrik gilt; Rhetorik und D ich tkunst erscheinen hier als verwandte techntli der Herstellung virtuelle r Welten. Bemerkenswert ist, daß diese Passage , in der es ,e ige ntlich' um eine Ablehnung der sprachlichen Darstellung (mimesis) gehen soll , gänzlich von der ßild lichkeit des Bildes unterwandert wird,l r.~ denn im Tex t ist über wei te Strecken nur vom Maler (zogmphos) die Rede, erst später wird dann ,wie selbsrversrändlieh ' der Schwenk zurüc k zu.r sprachlichen mimesis voUzogen (" Dieses lein mimeles, ,Nach bildner'] wird auch der Tragödiendichrer sein l...j" l~ . D ie Anschaulichkeit des Bildes scheint das stets als selbsrve rständlich und unhimerherausgeworfen und " nur noch die Wechselreden" übriggclassen. ,~
PLATON: U7tr~.
Griechisch und deutsch. Hrsg. \·on G ünther Eiglcr, übers. von Friedrich D. E. Schleiennachcr. Bd. 1-8. DanllStadt: Wiss. Buchges. 1990. Bd. 4, S. SOS !poU"fr;(I, 599a].
'"
Vgl. CANTO, Monique: "Ans of rake. 11Ie Icon in PlalOnic 1110Ughl." In: Rrpmrnfa/;ons 10 (1985), S. 124-145, hier S. 126f.
,~
1l7trkr. Griechisch und deutsch. Hrsg. von G ünther Eigler, übers. \'o n Friedrich D. E. Schlcicnnacher. Bd. 1-8. Dannstadt: Wiss. Buchgcs. 1990. Bd. 4, S. S03 tpou/ritl 598c]; vgl. die fa st gleichlautende Fonnulierung in SophiJltJ 234b (Bd. 6, S. 281 ), wo bezeichnenderweise de r Sophist als Nachbildner denunziert wird; dieser sei " durch Verfertigung gleichnamiger Nachbildungen ]m;mtmala] des wirklichen vermittelst der ~hle r kunst 19roph;ke luhne]imstandei... ], unnachdenkliche junge Knaben. wenn er ihnen VO ll fern das Gemalte zeigt. zu täuschen".
'"
,~
62
PLATON:
Dies bctOIll auch H AU .I\"I:'ELL, Slephen: A rislollt's Portiu. London: Duckwo nh 1986, S. 53.
Il7tr..u. Griechisch und deUisch. Hrsg. von Günther EigJcr, übers. von Friedrich D. E. Schleic.nnacher. Ud. 1-8. Dannstadt: Wiss. Buchgcs. 1990. Bd. 4, S. SO l tpou·Wo, 597eJ.
PLATON:
fragt Vorausgesetzte zu sein ,167 welches aUes Reden über ,virtuelle Welten' überhaupt erst ermöglicht, ganz unabhängig davon, ob es sich um Bild· oder Te..Yhnedien handelt. In diesem Sinne ist das Konzept des Bildes eineflmdalllellla/e Meltlpher,l68 welche der Programmatik der Ähnlichkeit vo rausgeht: Seit der griechischen Antike ist das Bild das Medium der Ähnlichkeit schlechthin. Die Implementierung des Bildes al s Lcirmcdium der Ähnlichkeit und als O rientierungsgrö ße für andere Medien geht jedoch nicht auf Plawn zurück. D as Ideal einer Sprache, welche sich durch die Kunstfertigkeit des Dichters zur Suggestionskraft des Bildes aufschwinge, fin det sich bereits in einem Ausspruch des Lyrik ers Simo nides von Keos, der an der Wende vom 6. zum 5. Jahrhundert vo r unserer Zeitrechnung lebte. N ach der Überlieferung bei Plutarch hat dieser " die Malerei lzographi(Jl eine stumme Poesie !poiesis sioposaJ und die Poesie !poiesisJ eine redende Malerei [zogmphia /alollsa]" genannt. G anz symptOmatisch ist auch Plutarchs anfolgende Erläuterung: D ie T ate n nämlich, welche die Maler lzographo/l als gesche he nde darstelle n, beschre iben die (sprachliche n) Erzählunge n Ilogoll als vergangcne E reignisse. Und wenn die einen dies zwar mit Farben und Fo nnen , die ander en dagegen mit Wone n und Redewendunge n de ud ich m ache n und sich in bezug auf Material und Method e der N ac hahmung [/lj'le Ieoi lropoi! nllilleseoS] unterscheiden, so liegt ihnen do ch be iden ein und de rselbe Z weck zugm nde, lind von den HislO· rike rn lbi!lodkon] is t de rjenige der beste, welcher seine D arstellung [ditgesi.r] wie ein G em älde ijrapbe] mil G e m ütsbewegunge n und Miene n gem al t hat [eidolopoitin] . D em e ntsprechend s trebt Thuk)'dides in seiner E r..:ählung 1/0 logo] ste ts nach diese r Anschaulichkeit [UUlIgtit/], wie er bem üht ist, den Z uhö re r lakrotllesJ zu e inem Z usc hauer [lbMles] zu m ache n, und den Lese rn I (,"(~~noskonles] d ie E reignisse so ersc hreckend lind au früttelnd beiz ubringen, als ob sie dire kt zusc ha uen würde n IPtd JOIIS boronlasl. 1... 1 D urc h de n Vortrag [diuJbtsüJ und die
'"
" Was nun G emälde, Staruen und die anderen nachbildenden Werke I... J betrifft, so befin det sich niemand im Irrrum, wenn er aus der i\hnlichkeit [similiaJ des Bildes die diesem Bild ähnlichen D inge [,.,.bus similiaJ erkennen will"; t\ UGUS'I1 NUS, t\ urd ius: A usgtll!iiblle S(hrijlm. ß d. 1- t O. München: Kösel & Pustel 1911ff. (= Biblio thek der Kirchenväter). lkI. 8: Ausge-
II-iiblu praktisrJu Sd"iftm IJqmilnisdJtn und /ealtfhttisdJtn Inhalls, S. 86 IDe dotlrina Chrishtma I I,
-,'-I .
Zur Unhintergehbarkeit diskursbcgriindcnder ~'I etap hern siehe BLUME.....mERG, H ans: " Paradigmen zu einer Metap ho ro logie." In: 'fmorie der Mllaphlr. H rsg. von Anselm H a"erkamp. 2., erg. Aufl. Dannstadt: Wiss. Buchges. 1996 11960J, S. 285-315; dcrs.: " Licht als Metapher der Wahrheit. Im Vorfeld der philosophischen Bcgri ffsbildung." In: Studium Gmfralf 10 (1957), S. 432-447; D ERRlDA, Jaq ues: " D ie weiße i\ t},thologie. Die r-.ktap her im philosoph.ischen T ext." In: J . D.: IVlndgänge dtr Philosophie. H rsg. \'o n Peter Engelmann. Wien: Passagen 1988, S. 205-258, S. 344-355; eine gute Übersicht biete! D E.BA·n N. ßem hard: Die Rohonolitiil dtr Ml/ap/Nr. Eine sprochphilosophiseht und /eJJmnluniJegtionslhto,.,.tisem Un/m uchung. Bedm, Ncw Yo rk: de G ru}'ter 1995, S. 214-222.
63
Ausgestaltung [diaO'poJis] der Ereigrusse besitzen sie [die Erzählungenl die Anschaulichkeit eines Gemäldes [mO/EnD graphiktJ. 169
E s gilt also auch für sprachliche Texte das Ideal einer bildlirhen AnschalllirhhiJ, welches Zuhörer und Leser durch die Kraft ihrer Suggestion in Zilscholier verwandelt (ein kühner Anspruch!). Nach dieser Auffassung muß der sprachlich vorliegende Text in den Z ustand der ,A nschaulichkeit' (uUJrgeia)I7O treten, er muß verfahren ,wie die Malerci' und ihre Erzeugnisse dem Gege nstand ähl1lirh machen (wie auch immer man sich das vorzustellen hat), wobei das Bild als Arc hetyp der Ähnlichkeit stets mitgedacht wird - was dann bei Horaz zu der berühmten Fonnulierung 111 pie/um poiesiJ gerinnen wird: E ine Dichtung solle sein wie ein Gemälde. l7I Von nun an ist das Paradigma des visuell wahrgenomme nen Bildes (der Malerei, der Skulprur etc.) unauslöschlich mir jeder Thematisierung von ,sprachlicher Anschaulichkeit' verbunden. Die Ähnlichkeit des ,Bildes' ist seither die zentrale Leirvorstellung bei der Genese auch der ,sprachlichen' Ähnlichkeit, sei es, um die Ebenbürtigkeit der ,redenden Malerei' zu beweisen, sei es, um die ,Ü berlegenheit' der synästhetischen visuellen Wahrnehmung zu betOnen, sei es, um die ,unmittelbare Zugänglichkeit' des Bildes hervorzuheben oder aber sogar eine Überlegenheit anderer Medien wie etwa Sprac he odet sogat der Musik aus dem Vergleich zu emwik kern - diskurskon stituietender Vergleichsmaßstab bleibt das Bild, welches die Konstruktion der Anschaulichkeit überhaupt erst ennöglichl, ganz unabhängig davo n, um welches Medium es sich handelt. So wird man seil dem in immer neuen Formul.icrungcn etwa von der " Malerey eines Poetcn "l12, von ,sprachlichen Bildern ' und dergleichen mehr sprechen: EI iJl die Bildlirhkei/ des BildtJ, Jl-'tlrhe die Progra"'''J(,tik der Almlichkeit erzt11gI. Plaron indessen greift nicht nur die Leirvo rstellung der bildJichen Anschaulichkeit auf und fügt sie in seine Theorie der ",i",esiJ ein (weitere Belege werden auf den nächsten Seiten folgen). Wie immer kritisch seine Ablehnung der
11>9
Aus dem Griechischen nach PJ.UTARCH: OtNlTtJ Mora/tI. Griechisch - Französisch. ßd. 1- 11. Paris: BeUes Letttes 1984. Bd. 5, I, S. 189/ 191 [Potmm Athtnoioi Endoluolrroi 346 f347c]. Der Begriff elltstarrunt wiederum der Rhetorik und ist hier verbunden mit dem ,vorAugen-steUen'; \'gl. HAGSTRUM, J ean H.: Tb, SÜltr ArtJ. Tbt Tradition oJ litera? P;rlon·{I/iJHI ond EngliJh Pothy from Dryd," 10 Crf!J. Chicago: Unh'ersity of C hicago Press 1958, S. 11 f.
'"
HORAZ: An" PottiC4. Die DichllulnJI. Lateinisch·deutsch. Übers. von Eckard Sch äfer. Srun:garr. Reclam 1972, S. 26f. [V. 361]. Im eigentlichen Zusammenhang handel! es sich bloß um einen beiläufigen Vergleich, der nicht .im geringsten als ,Theorem' lesbar ist; dennoch \'crselbständigte sich die Rezeption des Satzes als Instruktio n über die ,Anschaulichkeit' der Sprache schon in der Antike; \'gl. l\lARKIE\1:'1CZ, Henryk: ",U t picrura poiesis.. .' A H istory of the T opos and the Problem." In: New ü/rra!J HislOry 18 (1986/ 87), S. 535-558; W IU.F_I\IS, Gottfried: AnJ(houlichktit. ZN Throne und Guchichlt dtr lt7ort-BiM· Bt:rjthungtn und du IiltronJ(htn DorsltllungJJti/s. T übingc.n: N icmeye.r 1989, S. 21 7ff.
112
GOTrscHED, Johann Christoph: Versuch tin,r mhirhtn DithllulnJI. Faks. Nachdruck der 5. Auf!. Lcipzig 1751 . Dannstadt: Wiss. Buchges. 1962, S. 142.
64
Simulation auch sein mag, zugleich liefert er die erste Theorie einer Signifikation kraft Ähnlichkeit überhaupt, deren Grundpfeiler ausnahmslos bis heute das Sprechen über Simulation tragen. Die Urszene der Ähnlichkeit nach Plawn entfaltet sich in einem denkbar ein fac hen begrifflichen Raum; es gibt ein Abbild (tik on) von einem Vorbild, das zu jenem im Verhälmis der Ähnlichkeit (homoioles) steht; das menschlich verfertigte Abbild wird mimesis des Originals genann t; die alte Frage, ob man diesen Begriff durch ,Nac hahmung' odet ,Darstellung' übersetzen soll, ist in unserem Kontext nicht entscheidend, da es sich stets um eine Darste ll ung dllrch Ahnlichkeil handcJt. 173 All e drei BeD as ü bersetzungsp roblem stellte sich bereits mit den flÜhe n Platon-Übersetzungen elWa von Schleiermacher (d cr vorwiegend mir ,Nach ahmung' übersetzt, aber ebenfalls ,D ars tellung', ,Abbild', ,Nachbildung' und dergleichen einsetzt) oder Zeller (der tro tz seinem o ffiziellen Verweis auf ,Nachahmung' fast stets ,darstellen' oder ,ausdrücken' verwendet). Das 111ema wurde vo n philologischer Seite scho n flÜh in einer lexikologischen Srudie thematisiert durch KOLLER, Hennann: Die Mimesis in der Anfikr. N arhahmNng, DarslrllNIIg, A NsdfJIr!e. Bem: Francke 1954, Vor allem aus vorklassischen Quellen lo kalisiert Koller den Urspnmg der mimesis in der tänzerisch-musikalischen Darstellung. Das Wo n sei abgeleitet vo m mimos, dem Schauspieler des o rgiastischen Kultes (dieses Detail ist mittlerweile um stritten), und bezeichne vielleic ht sogar die Dio nysosmaske des Schauspielers selbst (ebd. S. 11 9 und 37 ff.). Daraus ergebe sich, daß die " traditio nelle Deunmg als ,Nachahmung' (...1 trre fiihrend" sei und " nur einen kJeinen Ausschnitt des griechischen ß edeun mgsfcldes" wnfasse (ebd., S. 210). D ie \-iclen Srationcn der von ihm ausgelösten Debane können hier nielli nachgezeichnct werden; dennoch möchte ich zwei Ei n wä n de aufne hmen : (1 ) Z un äc h st einm al sc heim d er Beg riff in sich de n Paradigmawechscl vom lVI/I zur Si"mullioll abzubildcn; d amit hätte Koller im Hinblick auf den Ursprung des Begriffs recht, zugleich würdc dieser dann jedoch zunehmend eingeengt auf die Sphäre der l/hlSio" (vgl. WIUJ1\ IS, Gottfried: AIIJth(l{dirbluiJ. ZII Tlm)n't IIl1d Gurhirhle dfr 1/7ort·ßild- ßt~fhNlIgtll I /nd des Iilmmlrmll DOrslrllllllgsslils. T iibingcn: Niemeyer 1989, S. 22 1). (2) Erstaunlich ist ferner, daß die Debanc selbst die Unbestimmt heit des Ähnlichkeitsko llzcprs im Zenrrum des ",imuI/- Begriffs fon schreibt. Im Kontext unserer Argumentation möchte ich zuspirl.end behaupt~n, daß sich zwar alle Philo logen darüber einig sind. daß sich ",imtsis im Modus der A hlllitlJluil auf eine ,Wirklichkeit' beziehe Uneinigkeit herrscht lediglich in bezug auf den Grad der Ähnlichkeit; Hat die DarsteUung ,Eigenwert' oder ist sie bloß ein ,mechanischer Abdruck'? O der: j17it ähnlich ist die mimesis? Genau diese Frage spielt aber in den griechischen Q uellen keine entscheidende Rolle; daher beein fl ußt die Entscheidung zwischen ,Nachahmung' und ,DarsteUung' meine Argumentation in keiner Weise. Aus Sicht der vicldiskutien en Belegstellen aus dem 5. Jahrhunden ist es weitgehend unerheblich, ob, wie in einem Fragment des Äschylus, ein ,bestimmter' Wo lf narhl/abml oder ,irgendein' Wolf dargeSltllt ",oird (vgl. zu dieser Stelle SÖRBOM, Göran: MimUlI olld Art. Sflldiu ill Im Onglll and EarIJ Dm/op",ml of Oll Aulhrtir V ()(ohll/my. Bo nniers: Svenska 1966, S. 28f.). Entscheidend ist einerseits der Aspekt der A hlllithJuil und andererseits der Kot?-tcxt, der klar die Stoß tichtung vo rgibt: Das DargesteUte soll vom Rezipienten qua Ähnlichkeit ,,,,.je auch inuncr' für den G egenstand gehalien werden können. Exakt dieselbe Logik erklän die Verwendung des Begriffs bei Aristo teIes, bei dem auch mimests durchaus vom O riginal abweichen darf. solange sie den Zweck der lebendigen Darstellung nicht verfehlt; vgl. elWa: " Da die Tragödie Nachahmung von t-,·tenschen ist, die besser sind als wir, muß man ebenso verfahren wie die guten Portrännaler. Denn auch diese geben die indivldueUen Z üge wieder und bilden sie ähnlich und zugleich schöner ab." (ARlsrOTELES: Potli!e. G riechisch-Deutsch. Übers. und hrsg. von t.bnfred Fuhnnann. Sruttgan: Reelams 1994, S. 49 [1454bJ). Auch Halliwell betOnt die G efahr "of overimerprering pre-Plato nic occurences of mimesis terminology in o rder fO make them conccprually richer (han their comexts warum", und konstatiert: " the no tio n o f resemblance remains ceOlral" (H ALLlWELL, Stephen: AnSIOflt's POtflu. Londo n: Duckwonh 1986, S. 11 0, 112). Vgl. zu dem Thema eben falls WElmE, \\fIadimir: " Vom
65
griffe stellen dabei wechselseitig ihre eigene Evidenz her und können mitunrer sogar in fast synonymem Verhältnis zueinander stehen. 174 Der wohl weitgehendste Versuch Pl aton s in Richtung einer Theorie der Signifikation durch Ähnlichkeit ist wohl der Krarylos-Dialog; hier ge ht es um nichts weniger als die Frage, ob das Medium der Sprache motiviert ist, also etwa das \'\fO rt ,Nashorn ' in einem abbildend-ähnlichen VerhäJmis zu seinem Gegenstand steht, oder ob es durch Konvention (.!J f1lheke) festgelegt sei. Daß dies für die Antike bereits ein ausge fallener Gedanke war, beweist die ironisierte Rahmenhandlung. D enn Kratylos, Vertreter der Abbildtheorie, sagt seinem Gegenspieler Hermogenes, sein Name sei nicht Hermogenes - eine Anspielung auf die Tatsache, daß Hennoge nes ann ist, eine ,etymologische Analyse' jedoch zeigt, daß sein Name ,reich' bedeutet (,von Hermes, dem GOrt des Reichrums, absrammend').175 \Vie immer skurril Platons Argumentation 1n aus heutiger Sicht erscheinen mag, die ungeheure Wirkungsmacht des Kral)'los belegt dagegen, daß die Ulopie von einer transparenren, die Dinge gleich sam zeigenden, ,malenden' Sprache über Jahrtausende ungebrochen ist,177 und das,
~'limesis." In: EranoJ-johrllllrh 31 (1962). S. 249-273; KARDJ\ UN, ;"hria: D~/" Minmisbt,griJ! in d~r griubisdJtn Alllik~. NtNbtlrafbllmgtn ~ineJ NRlJlrillrnrn &,grif fu als AnJ(Jj'z Zu
Sinn der
tintr ntNtn InltrprtlOlion dtr pIoIOlliJfhttlMnJloNJ!oJJNng. t\ m sterdam ct 1'11.: Nort h HoUaml 1993.
'"
VgL zum syno nymen Gebrauch vo n miRluis und IJORloiofi u. a. fo lgende Beisp iele PI..ATON: Il7trkt. Griechisch und deutsch. H rsg. von Günther Eigler, übers. \'on Friedrich D. C. Schleiennacher. Bd. 1-8. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1990. Bd. 3. S. 5 1 8 IKro~/oJ, 423a l oder z. 11. Bo. 4, S. 203 Woh'ltia 393cl; zu rikon und mimWJetwa Bd. 3, S. 547f. IKroD'loJ 432b-dl ; zu tiJeoll und /JO",oion z. Il ebd, Ud. 7, S. 34-39 I""RllIios, 28b-3OcI.
'" '"
Vgl. G ENET m, G erare!: A1imolo,giJern. RtiJt noth Kru!Jlirn. Übers. \'on M. \'on Kj](isch-I-lo rn . r-,'Iünchen: Fink 1996 119761. S. 28.
on
66
Die mimetischen Bezeichn ungstechniken des Kro!JloJ sind, ähnlich wie im vorgestcUen Fall des ,I-lermogenes', einerseits eine Ko mbination aus epon)'mischer und etymologischer Motivatio n (denn aUe von Sakrales untersuchten Etymo logien behandeln das entsprechen. de WOrt als Eigennamen). andercrseits bemhen sie auf der Onomatopocsie des L1utcS, wobei bei Plato n das erste Tableau eines phonetischen Symbolismus überhau pt vorgestellt wird. Vgl. PJ..ATON: ]J7trJee. Griechisch und deutsch. I-Irsg. \'on Günther Eigler, übers. vo n Friedrich D . E. Schlciermacher. Bd. 1-8. Darmsradt: \X' iss. Buchges. 1990. Ud . 3, S. 529-533 IKra!JloJ, 426c-427e], und GENETTE, Gerard: Mi",ologiJern. IVi.rt I/(uh Kra!Jkrn. Übers. \'on M. \'on KilJisch-Ho m . München: Fink 1996119761. S. 13-45. Eine Vielzahl \'o n Folgctheorien prominenleSter Auraren belegt, wie wirkungs":lächcig der G edanke oder d cr Wunsch war, dic gesamte Sprache könne im Verhältnis de r Ahnlichkcit zu ihrem Gegenstand stehen. G rob gerastert durc hläuft der Gedanke folgcnde geschichtliche Enrwicklung: Beispielsweise widmen sich Augustinus oder J ohn \'?allis (1616- 1703) der Expressivität der Laute (,Stimme'), analog zu Soknu es. Dagegen gilt die Aufmerksamkeit etwa Leibniz' und seiner Zeitgenossen den Hieroglyphen, also der Schrift. Die Schrift wird dabei entweder in eine natürliche Verkn üpfung zu Lauten gerückt, wie in der Pho nomimographie Jo hann Georg Wachtcrs (1673- 1757), der das Alphabet als graphisch e Nachahmung der Sprechwedaeuge versteht, oder es führen ldeomimograph.ien im Stil von Rowland J ones (1722- 1774) symbolische Lektüren des Alphabets und dessen natürlicher Nachahmung der Ideen durch. Oft gehen pho netische und graphische Mimesis Hand in Hand. wie etwa bei de Brosses oder de Gebelin (zweit~ Hälfte des 18. Jahrh underts). Vg l. GENE1TE, Gerard: Mimologilun. Reist no(h Krll!Jlirn. Ubers. \'on M. \'o n Killisch-Ho m. München: Fink 1996 ]l976}.
obwohl sich die figur der ,Ähnlichkeir' aus einer paradoxalen Disposition gegen alle Evidenz enrfaltel. Denn der Kerngedanke ist ja, daß das Zeichen (A bbild) dem Bezeichneren (U rbild) so ähnlich lvii lIIöglich sein soll. Auch im Zeuxis-Mythos soUte ein Hergestellres, dort ein Bild, die Natur ,nachahmen' - wodurch sich in letzter Konse'luenz das Bild selbst auflöst, da es nicht mehr von seinem ,Gegen stand', von der ,N atur', unterschieden werden kann , so daß Rezipienten ,getäuscht' werden. Gerade also in ihrem vollständigen Gelingen löscht sich die Semantik der Ähnlichkeit selbst aus, was erstaunlicherwei se von PlatOn durchaus erwähnt wird, ohne daß jedoch eine nähere Erläuterung folgen würde - auch hier wird Ähnlichkeit wieder zum blinden Fleck des Vorausgesetzten. Denn die Kommunikation der Ähnlichkeit als Kommunikation ist gleichzeitig keine Kommunikation mehr. Man denkt, man kommuniziert, und finder sich dann plötzlich - in der Gegensmndswelt, der plij'sis, wieder: [Sokrates:J Wären dies wohl noch so zwei verschiedene Dinge wie Krarylos und des Kraty los Bild Itikon], wenn einer von den Göttern nicht nur deine Farbe und Gestalt Idmmld kill' srht1!w] nachbildete laptikastin], wie die Maler [zogmpholl, sondern auch alles Innere ebenso machte wie das deinige, mit denselben Absmfungen der Weichheit und der Wärme, und dann auch Bewegung, Seele und Vernunft, wie dies alles bei dir ist, hineinlegte und mit einem Worte alles, wie du es hast, noch einmal neben dir aufstellte; wären dies dann Kratylos und ein Bild des Kral)'los oder zwei Kral)'los? [Kratylos: ] Das, dünkt mich, wären zwei Krat)'los. 111
Bemerkenswert ist erneut, wie diese arration über die Möglichkeiten sprtJrhlirher Simulation wieder durch die Bildlichkeir des Bildes getragen wird. 11? Eine ideale, ähnliche Sprache wäre eigentlich gar keine Sprache, sondern wie ein von Görrern gemaltes Bild, das Farbe und Gestalt perfekt darstellen würde. Auch hier ist das Bild die aUem Sprechen vorausgesetzte Selbstverständlichkeit. Zugleich dekonsrruien Platon das Ko nzept eines ,absoluten Bildes' als ko mmunikationstheoretische Aporie. Eine Überschreitllng der Medialiläl durch eine Akkumulation von r fhnlichkeilen ist eine reine Paradoxie, denn dann hätte man es bloß mit einer Verdoppelung des Gegenstandes zu tun. Hinzu kommt, daß die Totalsimulatio n das Funktio nieren der Kommunikation untergräbt: " man würde von keinem von beiden [Original und Bildl mehr angeben kö n-
.-.
Pr.ATON: lf7rrlu. Gricchisch und deutsch. H rsg. von Günthcr Eiglcr, übers. \'On Fcicdrich D . E. Schleicrrn3chcr. Bd. 1-8. DannSladt: Wiss. Buchgcs. 1990. Bd. 3, S. 547 [Kra!rlos,
432b-cJ. Eine Vielzahl weiterer, ähnlicher Nachweise aus Platon finden sich in KEULS. Eva c.: PlaiD arid GrrrJe Painh·"g. Leidcn: Brill 1978, S. 36-47; vgl. ELSE, Gerald F.: PlaID ami An'Jlollt on Porlry. Hrsg. von Pctcr Burian. Chapcl Hill, London: Univcrsiry of North Carolina Prcss 1986, S. 15f. ; WIUEMS, Gottfricd: A"srhalih"thluil. ZN Thtt;n't Nm' Gmhi(hlt,ur If/orl- ßildß~tI)I,"!!" lind diS IilrranJ(IN" Darsldlli"gJJlils. Tübingcn: Nicmc)'cr 1989, S. 224.
67
oeo, welches das Ding selbst wäre und welches das Wort": 80 Dennoch - und das ist im Zusammenhang mit dem obigen Zitat erstaunlich - bleibt eine möglichst naturgetreue Simulation IrolZ ihres paradoxen Charaklers stets Z ieJpunkr der milllesis nach Plaron - wie auch immer kritisch er sie dann beurteilen mag_ So wird eine ,natürliche Sprache' im Km!Jlos wieder durch den Vergleich mi t einem Bild(!) geken nzeichnet, welches " Farben" und "Z üge" des Gegensmnds nachahmt: ,,\'(ler nun aUe Warben und Z ügeJ darsteUt [apodidollsJ, der wird auch sc hö ne Zeichnungen und Bilder [eikonasl darsteUen [opodidosinJ , wer aber etwas hinzusctzt oder wegnimmt, der macht zwar auch Bilder und Zeichnungen, abcr schlcchte_"181 Idealerweise, so die innere Logik auch hier, würde eine auf die Dinge hin durchsichtige Sprache zum Bild werden. An anderer SreIJe, in der Polileia, implementiert PlatOn die Metapher des Spiegels: 182 Am schneUslen aber wirst du wohl, wenn du nur einen Spiegel (kPloplf'OlIl nehmen und den überall herumtragen willst, bald die Sonne machen und was am Himmel ist, bald die Erde, bald auch dich selbst und die übrigen lebendigen Wesen und Geräte und Gewächse und aUes, wovon nur soeben die Rede war. / Ja, scheinbar, sagte er, jedoch nicht in Wahrheit seiend. / Schön, sprach ich, und wie es sic h gebührt, triffst du die Rede. Nämlich einer von diesen Meistern, meine ich, ist auch der Maler (zogmpl)()s).I83
Die figur des Spiegels ist in sofe rn das Radikal der Ähnlic hkeit, al s sie den Code im Code selbst dupüzierr: D er Code unterscheidet zwischen ,ähnlich / unähnlich'; auf der Seite des Ähnlichen wird dann noch einmal unterschieden, und zwar zwischen einem natürlichen Abbild 1S4 (als Spiegelbild) und PL>\TON: II7,rkt. Griechisch und deutsch. !-Irsg. \'o n Günther Eigler, übers. von Friedrich D. E. Schleiennacher. Bd. 1-8. Dannstadt: Wiss. Buchges. 1990. Bd. 3, S. 549 IKru!'YIOJ. 432d]; die Absurdität einer solchen VorsteUung hat Swift durch die ,Gelehrten von Balnibarbi' karikien , welche nicht mehr durch Sprache kommu nizieren, sondern die Gegenstände selbst mit sich herumtragen; siehe SWIFT, Jo nathan: Clllli/irls Tm/!tlJ. H rsg. \'on Petcr Dixon und Jo hn Chalker. London u.a.: Penguin 1985, S. 230.
'"
PI..ATON: Il7trkt. Griechisch und deutsch. Hrsg. von Günthcr Eiglcr, übers. von Fricdrich D. E. Schleiennacher. Bd. 1-8. Darmstadr. Wiss. Buchges. 1990. ßd. 3. S. 545 lKru!'YIOJ. 431c].
'"
Vgl. zur Kulrurgeschichte des Sp iegels HARn.AUS, Gusta \' Friedrich: 2allbtr du Spirgtls. r-,'Iünchen: Piper 195 1.
'"
PI..ATON: Il7trkt. Griechisch und deutsch. Hrsg. von Günther Eiglcr, übers. von Friedrich D. E. Schlciennacher. ßd. 1-8. Dannstadr: Wiss. Buchges. 1990. Bd. 4, S. 797 !J>oh'ltill, 596c-e]
,. 68
Dabei kann es sich auch um d ie Metapher des ,Schattcns' handeln (allerdings nicht bei Plato n, wo er ,bloß' die fit/ola bezeichnet); so gibt Plinius eine allgemeine antike Aufassung wieder, wenn er den Ursprung de r r-,'Ialerd im Schattenriß lokalisicn: "alle icd och sagen. ~an habe den Scharten eines Men schen mit Linien nachgezogen" ; PUNJUS SECUN DUS der Altere: Naillr/eundt. Latcinisch-deutsch. Hrsg. und übers. von Rodcrich Kö nig. Dan n stadt: Wiss. Buchges. 1978, Bd. 35 • S. 21 [XXXV, 15]; \'gl. ganz ähnlich zur Entstehung der Plastik ebd., S. 109 [XXXV, 151].
einem hergesteUten Abbild (erwa einem Gemälde). Durch diese Wendung wird der Spiegel zur Ähnlichkeit par exceUence aufgebaut - das Ähnliche wird dabei so ähnlich , daß es hinter einer Verdoppelung der Welt verschwinder. Plawns berühmter Spiegel-Vergleich, ironischerweise ursprünglich abwertend gemeine, wird dann zum Archetyp einer Metapher, die bis heute alles Kommunizieren über (künstlerische) \XlirklichkeitsdarsteJlung ermöglicht. ISS Es läßt sich also zusammenfassen: Platon liefert die erste umfassende Theorie der Simulation, implementiert im Anschluß an Simonidcs das Bild als fundameneale Metapher der Ähnlichkeit und definiert das Spiegelbild als Radikal einer quasi-vollkommenen mimesis. Zugleich enclarvt er das ,absolme Bild' als Paradoxie, weil es nur eine Verdoppelung des Gegenstands bewirkt. Aber auch unabhängig von dieser Aporie ist die mimesis der \Xlirklichkeit nach Platon abzulehnen , da sie einen bloß sekundären, innerhalb der platonischen Ontologie sogar nur tertiären Status besitzt. Die Simulation ist dabei in sofern gefilirlieh, al s der erzeugte Effekt der Illusion eine - hier negative verstandene Täuschung hervorruft. Vor dem Hintergrund dieser Leitlinien ist dagegen bemerkenswert, daß Plaron die im Feld der Kunst kritisierten Kategorien, vor allem diejenige der A hnlirhkeil, dann zu tragenden Pfeilern seiner eigenen E rkenntni slehre macht. Z wischen der platonischen Idee und der bloßen Erscheinung spannt sich das Band der A hnlichkeil, 186 auf dem man durch die Erscheinung hindurch zur
,.
186
Vgl. zu einer Geschichte der Spiegd -r-,-Ietapher im Z usammenhang künstlerischer Wirklichkd tsdarsteUung nach wie vo r ABRAMS, Meycr Howard: Tin Mirror and tbe ump. Romanti( Thmy anti 1!Je Cnhrtll TrodJhon. New Yo rk: O xfo rd UP 1953; vgl. zur Ik:griindung der Metapher bei Platon HAGSTR uM,Jean H.: 1m Sillrr Arts. Tbe Trodition ojU frrary Pitlonunsm and E wgiiJh Pomy f roR! Drydew /0 er'!!. Chicago: University of Chicago Press 1958, S. 5; vgl. zur Bedeutung des Spiegels als Leitgrößc realistischer ßildlichkeit, eTWa im antiken 1\-loti" des ,geraubten Spiegelbildes' KOPPEN, Erwin: Li/rra/ur ,md Phclogrophir. Obtr Gesrhirhte und Thtmlltil:. rin" Alrditntn/duhng. Stungart: Metzler 1987. S. 16ff. In immer neuen Kontexten dient die Spiegelmetapher als Ideal einer realistischen Darstellung und überflUiet dann das ästhetische Schrifttum der Neuzeit; "gi. als Beisp iel aus ,>iden das folgende Lescpro lOkoll aus dem 18. J ahrhunden, welches Richardson der zweiten Auflage seiner Pamrla (1741 ) vorschickte; es handelt sich wn einen Brief vo n Aaron Hili: .JThe low scenesl are absolute Na/lire htrrrif or, if they must be confess'd her Rntmblann, at least, as our /n(t Fan gives our rörr in thc Loohng-glau," R.!CHARDSON, Samuel: Pamrla or, Virtut RLIl-·arr/rd. In a S m 'es of Lrflm from a &auhJul )'oung Damsrlto her Paren/s [.. .j . Bd. 1-4. N eudruck Oxford: Basil Blackwell 1929 (:::: Sh akespcare H ead Edition), Bd. I, S. xviii. Zwar ist die wirkliche Welt ,bloß Abbild', wie man es aus dem Höhlengleichnis kennt, wo vor allem von ,Schatten' (shas) und - ebenfalls pejorativ - von rMola die Rede ist (PI..ATON: IWrrkt. Griechisch und deutsch. Hrsg. von Günther Eigler, übers. von Friedrich D . E. Schleiennacher. ßd. 1-8. Dannsudt: Wiss. Buchges. 1990. Bd. 4, S. 554-559 Woh'trlo, 5 14a-5 16aJ). Aber andererseits wissen wir aus dem Timaios, daß der welrerzeugende Schöpfer (drR!iou'lfJs) die Welt als Abbild des ewig Seienden hervorgebracht hai ~, Denn indem diese unsere Welt sterbliche und unsterbliche Lebewesen erhielt und deran mit ihnen erfu1lt ward, ist sie ein sichtbares Lebewesen, das die sichtbaren Lebewesen wngibt, als Abbild [tikon] des nur denkbaren Lebewesens"; vgl. schon vorher. E s ist "durchaus notwendig, daß diese Weil von eTWas ein Abbild sei"; ebd" Bd. 7, S. 209, S. 35 ITimaiol, 92c, 29b1; "gI. ferner die kurze Passage in der Pon,ria, die einen mimrIes beschreibt, der alle Dinge als Nachahmungen der Ideen geschaffen hat: Bd. 4, S. 795/797 [596c] ; vg!.
69
\Xlahrheir der Idee fortschreiten kann, und zwar - so die Logik des Vergleichs von Plawn - ausgerechnet so, wie man von der Ähnlichkeit des Gemäldes auf das O bjekt schließen würde: Auch wcnn man den Sinunias gemalt 1ge9ro"""mon] sieht, [kann man] sich dcs Sinu nias sclbst crinnern? - Das kann man frcilich, sagtc cr. - Und nicht wahr, in allen diesen Fällcn enureht uns Erinnerung, d as einmal aus ähnlichen [bOlllOioll] Dingen, das anderemal aus unähnlichen [atlbomotlln] l... ]. Abcr wenn nun einer bei ähnlichen Dingen sich etwas crinnert, muß ihm nicht auch das noch dazu begegnen, dass er innewird, ob diese ctwas zurückbleiben in der Ähnlichkeit [Jmflloiofn] oder nicht hinter dem, d essen cr sich erinnert? - Notwcndig .187
\Xlährend die Simulation zuvor nur ein ,bloßes' Abbild war, ge langt Platon hier immerhin imp lizit zu der Einsicht, daß gerade die Ähnlichkeitsbeziehung auch ein Erkennrnisminel sein konnte - ein Gedanke, der von späteren Theorien einer idealisierenden Nachahmung aufgegriffen werden wird [11.6]. Derselbe Pla· ton, der die Kunst aus seinem Ideal sraa t verbannen will, formulierr diesen Gedan ken ausgerechnet wieder in der ßildlichkeit der Kunst, des Bildes und der medialen Wirklichkeit. Daher scheim man seine Absage an die mimesis der Kunst zumindes t noch einmal in ein anderes Licht rücken zu müssen. D enn auch Plaron verfügt über einen emphatisc hen BChrriff des Künstle rs, auch in der kunstkritischen Politeitl. Durch solche Künstler werde nämli ch der ideale
MEI. IlE.RG, Arne:
Tb/on"eI oJMimflli. Cambridge: CU P 1995, S. 22f.). Das 13and zwischen
dcr Wch und dcm c....oig Scicnden wird dann, .... oie stets bei Plalon z....oischen Urbild und Abbild, ausgercchnct durch dic Ähnlichkcit konstiruien (\'gl. u. a. cbd., Bel. 7, S. 41. S. 45, S. 53 und so fon in der Begrifflichkcit von b011l0;01l [Timaiol 3 1b, 33b, 37c]). Auch im Aspek t der ,Proportio nalität' tritt der As pekt auf, allerdings im Begriff dcr allolog;lr. Vgl. ebd. S. 41 [3 Ic]. Dcmgemäß läßt sich das Abbild (un Kontcxt dcr platonischen Ontologie) auch aufwen en: Da es im Vcrhälmis zur Ahnlichkcit zum cwig Scicndcn steht, kann man den \X/eg der Schöpfung im Mcdium der Ähnlichkeit zurücklaufen - da nn wird die Sonne erwa zu einem positi\, verstandenen rikon des Guten (ebd., Bd. 4, S. 545 JPolilria 509a]). Vgl. zu dieser aporetischen Verwendung der Ähnlichkcit bei Platon auch CANTO, l\ lonigue: "Acts of Fake. The Icou in Platonic l1\Ouglu." In: IVpmrnlalionl lO( 1985), S. 124- 145, hicr S. I 36ff., sowie t-,·t EJ.BE.RG (wie oben), S. 30f. P UTQN: l17rrh. Griechisch und deu tsch. Hrsg. von Günther Eiglcr, übers. \'on Friedrich
D. E. Schleiennacher. Bd. 1· 8. Dannstadt: Wiss. Buchges. 1990, Bd. 3, S. 57 iPhaiJofl, 73e-74a ]. Die Stelle steht im Zusarrunenhang mit der ananlllllis-Lchre, nach der die Seele das ,Urbild' im ,Abbild' (der Wirklichkeit) erkenncn kann, indem sic sich an dic vor ihrer Inkarnation unmittelbar geschauten Ideen erinncn. So wird die Ähnlichkcit zur Vorausset zung der anOllllltnr. Da das Abbild zum Urbild im Verhältnis d er Ahnlichkcit stcht, kann die p.ryr!Jt die Idecn durch ,u-anszendicrende' Anschau ung dcr Wirklichkeit erblickcn sofern sie über das LcklÜreprogramm der Ahnlichkeit verfUgt. Hier tauch t üb rigens ebenfalls die Aporie auf, daß das ,absolut Ahnlichc' nielli mehr ,ähnlich' ist, da es nicht ,zurückbleibt' in bezug auf das Urbild: Im Vcrlauf der Arg1.lffiemanOn geh t es dann nur noch um "das Gleichc [Ioiolllon]"; ebd., Bd. 3, S. 57 [PhaidoIl 74a]. Das ist dann dic Idtt, dcr B.egriff der Ahnlichkeit dagegen verschwindct gänzlich, dic Diffcre nz zwischen dem .Ähnlichen' und dem .Gleichen' ist aufgelöst (ohne daß die Aporic hicr allcrdings von Plaron themarisien wird).
70
Staat entworfen , durch "diese des göttlichen Urbildes lParade{glllaJ sich bedienenden Zeichner [chrollltfloi zogmpholl"!88; sie werden ..wie eine Tafel [pinllXj" Staat und Menschen herbeinehmen, die Tafel reinigen und dann den ideaJen Staat ,maJen', dabei Maß nehmend an der IdeenweJt: wenn sie sich an die Arbeit geben, werden sie woh1 häufig auf beides hinsehen, auf das in der Narur Gerechte, Schöne, Besonnene und alles dergleichen und dann auch wieder auf jenes bei den ~'lenschen Vorhandene, und werden mischend und zusammensetzend aus ihren Bestrebungen das Mannhafte hereinbilden nach Maßgabe dessen, was Homeros schon, wo er sich unter den Men schen fmdet, das Göttliche und Gottgleiche genannt hat. 189
Wenn man bedenkt, wer die großen Künstler sind , die das vollbringen - es sind natürlich die Philosophen - dann wird auch Platon s Ablehnung der künstlerischen Nachahmung verständlich, und zwar im Rahmen einer DiskuskO!lkJlmni; Plaron verdammt die Ähnlichkeit der Kunstsimulation und ihrer ,virruellen \'\Ielren ', um sie im gleichen Augenblick!90 seiner eigenen Philosophie einzuverleiben.!?! Ga nz ähnlich , wie die Kulrurkritik vor den Verlockunge n des Fernsehers warm, um stan dessen die Lektüre eines ,gu ten Buches' zu empfehlen, diskreditiert PlatOn die Verlockungen der Kun st, um desto emphaa scher die Verheißungen der Philosophenkunst und ihren ewigen Wahrheiten zu plaz iere n. (3) Gerade darin lieb"" aber vermudich b ereirs der Stein des AnstOßes, welcher zu einer erneuten Revision der Sitnulatio n stheorie durch Ans/oIe/es fü hrt. PlatOns Rigorismus überfordert Philosophie und Wirklichkeit zugleich 192 - der Philosophen staat wurde nie verwirklich t, und die Leure gingen weiter ins
II!lI
,~
1'10
I't ......TON: IVtrkt. Griechisch und dcutsch. Hrsg. "on Gümher Eigler, übers. \·on Friedrich D. E. SchJciennacher. ßd. 1-8. Dannstadr: Wiss. Buchges. 1990. Bd. 4, S. 5 19 [Polittia, SOOcj. PI..ATQN: IlVtrkt. G riechisch und dCUlsc h. H rsg. von Günther E igler, übers. von Friedrich D. E. Schlciemucher. Ud. 1-8. Dannsladt: \'(/iss. Buchgcs. 1990. ß d. 4, S. 5 19 JPolitria, 50 1bJ; \'gl. zu dieser Passage auch P i\NOFSKY, Erwin: Idlo. Ei" &ilrag Zl'r Brgriffig!frhkhtt dtr liltlr", /&,,/lIhton·r. Leipzig, ße.rlin: Teubne r 1924, S. I f. Und zwar dem Augenblick der Ausdifferenzierung eines philosophischen Wissens, das sich aber, wie. die Politda zeigt, noch als eine universale Epistemologie durchzusetzen sucht, und zwar hier gegen eine ,KwlSt'; Ergebnis wird sein, d aß die Kunst ihre ehemalige Funktio n - dic Vermittlung von Wissen - \'cclien; vgl. dazu ausftihrlich SOIl..AFFER, Hemz:
Pot/ie ,md IlViJsm. Dit E"wthllng du ästhttisrbtn BfU.'IIßlJti"s lind dtr philologisrht" Erkt""lnis. Frankfun/1-.-I.: Suhrkamp 1990.
'" In
Vgl. auch E I.5E, Gcrald P.: P/oIO (md An/lollt on Potlry. Hrsg. \'on Petcr Burian. Chapcl Hili, London: Uni"crsiry of Nonh Carolina Press 1986, S. 43f., der auch die erstaunliche Referenz auf Horner bespricht. Vgl. ß LUl\I.E...~BE.RG, Hans: "Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik". In: H. S.: llYir/dirhktiltn in dmtn ",ir Itbt". Aufsätze und eine Rede. Snmgan: Redam 1981, S. 104· 136.
71
Theater oder lauschten den \Xfo rten des Rherors, die mimeJis in Ge mälde und Skulprur blühte trotz ihrer Verurteilung durch Plaron fort. Genau an di eser Stelle setzt AristoteIes an, dessen Rehabilitierung der milllesis in Literarur und Kunsr man als eine Synthese zwischen dem sophistisch-pragmatischem Standpunkt (1) und Plarons theoretischem Rigorismus (2) begreifen kann. Nach der plakativ vereinfachten Formulierung aus der späteren Tradition de finierr AristoteIes ,Kun st' als Nachahmung der Natur. Dabei bedarf es mindestens zweier Präzisierungen. Zunächst einmal bezeichnet der griechi sch e Begriff für Kun st, teehne, die Kun stfemgkeit in einem sehr weiten Sinne,\93 er umgreift "alle Fähigkeiten des Menschen, wcrksetzend und gestaltend wirk sam zu werden", also sowohl das " Künstliche" als auch das " Künstlerische". ]94 Terhm verknüpft theoretische Kenntnis mit praktischer Anwendung und Fertigkeit, und sowohl Rhetorik als auch Dichtkunst sind al s solch e technai zu verstehen. Zugleich verankert Aristoteles die /edme der lIIimesis dadurch in seiner Metaphysik, daß er die Narut (p1!}Jis) als schaffend-produzierendes Prinzip auffaßt. D adurch wird aber die teehne der Narurnachahmung (lIIilllcsis) zu einem naturanalogen Proze ß. Die Definition der Kunst als Nachahmung der Natur in der Pf!JJik lauter vollständig: "die Kun stfertigkeit lteehne] bringt teils zu t Volle ndung fopngaJaJlhtl/l , was die Natur nicht zu Ende bringen kann, teil s eifert sie ihr (der Natur) nach rmillleiltl/l".195 Die !/,imu is der Natut im Kunstwerk voUziehr also die Verwirklichung (enlelerheia) des Vorhandenen auf iihnliche We ise wie die Na mr selbst: " In ähnlicher Iho1!loioJJ Wei se ve rhält es sich auch bei dem, das von Natur aus entsteht. D enn der Same bringt erwas wie durch Kunst hcrvor. "]% Daher gilt, so ßlumcnbcrg:
,.
Vg!. 1·1.A1...L1WELL, Stephen: Anstotlt'f POttiu. Lo ndo n: D uckwonh 1986, S. 44ff. B L U~IE,'mERG,
Hans: "Nachahm ung dcr Narur." In: H. B.: Wirk/ichktittn in amm Mir Itbtn. Aufsätzc und cine Rcdc. Sruttgan: Rcdam 198 1, S. 55-103, hier S. 55. t\usgchend \'o n solchen Formulierungen war das Konzcp t dcr mimui! d ann Ausgangspunkt \·crschicdcncr a/~l1ItilftrTheorie bildungen , welche sie als MOla r menschlicher Sinn bildungen (Benjamin), amhropologische Ko nstante (Lukacs/ Ho lzl Adomo), als s):mbolischer Gcncra to r der menschlichen Lcbenswelt (Rica:ur) erc. interpretieren (eine Ubcrsicht bictct r..-IhlSCHER, Thomas: Mimui!. Bielefeld: tu sthcsis 200 1, S. tOff.; ders.: "Asthcrik und r..-limcsis." In: Mimui! IIna Alm/niCk. H rsg. von T. M. Köln: D imer 1999, S. 42ff.); d agcgcn berücksichtige ich hier nur den Bereich der mimui! im engeren, ästhetischcn Sinnc.
'"
ARls roTEI.ES: Pl!Jfllr:: Vo rlcsung über Narur. Bd. 1-2. H amburg: Meiner 1987, Bd. 1, S. 89f. [199al. Zur Verwendung des mimmi· Begriffs kann man vereinfac hend sagen, d aß Platon den Ausdruck unschärfe r und allgemeiner benutzt, Aristotcles dagegen mimui! vorwiegend als genuin ästhetischen Begriff gcbraucht; dennoch bem üht sich auch AristOlcies l:l Ient um eine allgemeine Begründ ung des Begriffs, wcnn cr etwa mimui! als eine An ,anthro pologische Konstantc' zu Beginn der Poetik beschreibt; vg!. dazu auch GEBA UER, Gum er und Chrisloph \'VUI.F: Mimui!. KM/lllr, KNifft, Gut/Ischaft. Reinbek: Rowohlt 1992, S. 81 und RlcrnuR, Paul: Die Itbtlfdigt Mttaphtr. Übers. von Rainer Rochlitz. 2. Aufl. Münc hen: Fink
,.
1991 [1 975[. S. 48. ARlSTOTFl ES: M ttapl!Jfik. H rsg. und übers. \'on Friedrich ßassenge. Berlin: Aufbau 1960,
S. 169 [1034.[.
72
"Natur und ,Kun st' sind strukturgleich". t97 So wird die Dich tung in der Poetik wie ein Organismus besch rieben,198 und die Geschichte der dramatischen Gartungen erweist sich als zielgerichrete Selbsrentfaltung der Natur (pl!}sis) im Sinne einer Verwirklichung (enlelecheia): Die Enrwicklung der Tragödie " hörte auf, sobald sie ihre eigentliche Natur verwirklicht hatte", und "als der gesprochene Dialog au fkam, wies die Natur selbst auf das geeignete Versmaß."I99 Indem AristoteIes also die Poetik in das allgemeine System seiner Metaphysik einbettet, schließt er sie wieder an die episleme der Philosophie an, aus der Platon sie vertrieben hatte. Durch diese Wendung macht AristoteIes die Kunst nach Pl aton wieder theoriefahig. Z ugleich bleiben auch hie r Poetik und Rh etorik (immerhin:) sekundäre Sphären des \'Vi ssens: lOO " Philosophische Anerkennung ist nur die Kehrseite der Behandlung von Kun st als bloßer Technik.'rrlt. im bi/allrr stiner luhnisfhtn RtprotlN~trVaruil. Dm· Stumm ~r KMnslso':(fologit. Frankfun/ M.: Suhrkamp 1963, S. 7-44.
11 8
dcrten diskursiven Vcrschiebungen verschärft. Im Konrext der Querelle des Anaens el Modeme.r}6g stellt sich die Frage nach der Bedeutung der Antike im Sinne eines normativen Maßstabs fü r die zeitgenössische Literatur und Kunst.J69 Ausgangspunkt war in der Renaissance die Wiederentdeckung der antiken Kunsttheorie gewesen, und zwar namentlich derjenigen des Aristote· les. In der Rezeption wird dessen Poe tik auf das ,Gesetz' Alle KJmst ist Nachahmung der Natur hin zugespitzr. Die Beachtung dieses Grund satzes zieht sich durch das gesamr.e ästhetische Sc hrifttum der Zeit, die deutschsprachigen Poeriken von O pilZ (1624) bis Gottsched (t 730) inbegri ffen. 17o Todorov resütmert: " Der Grundsatz der Nachahmung herrscht unangefochten über die Kun sttheorie der ersten drei Viertel des t B.Jahrhunderts.")71 Und weiter gilt, daß die Kün stler als Maßstab nicht nur die antike Theorie und die Natur be· achten sollen, sondern daß auch rur die Weise der Narurnachahmung selbst durch die erhaltenen Bildwerke der Antike ein Maßstab vorgegeben ist.J72 Die griechische \Verke zeigen ja die Essenz der Natur, sie liefern die Natllr der Na· t/lr. " Diese [...1 warme, aufrichtige, wahr und offen daliegende Natur, welche uns in den griechischen Kunstwerken so tief und lebendig rührt, ist ein Muster det N aturnachahmung für alle Künstler und ein Gesetz, das der griechische Genius der Natur vorgeschrieben hat."m Der berühmte Satz Winckelmanns lautet: " Der einzige \Veg für uns, groß, ja, wenn es möglich ist, unnachahmlich
D ie qlmrlle im engcren Sinne findet in Frankreich am Endc des 17. j ahrhunden s statt . sie umfaßI jcdoch eine makrokulturclle J)eualle, welche bereits in der Renaissancc beginnt; vgl. dic inslmko\'c E inicinlllg zu Pcrrallhs Rcfcrenztexl , j AUß. !-I ans-Ro bcn: "Ästhetischc Nomlen und geschichtliche Rcflexio n in der ,QucrcUc dcs Ancicll5 ct des ~lod ern es." In: PERIV\ULT, CharIes: Poralli/e du Antiens rf Modmlu rtI n qNi rtgilT/lelu {IriS r/lu SfJ"tnns. I-Lrsg. von Hans- Robert jauß. München: E idos 1964, S. 8-64; historisch noch wnfassender argwnentien ROTLER, Hans Gcrd: Tradilionolitä/lInd Modtmilä/ in dtr ruropäisthtn l.j/rra/ur. D annstadt: Wiss. Buchgcs. 1979, S. 69ff. Vgl. FUHR.\I/\NN , Manfrcd: Einjiihmng in die anh"lu Dirhlllngslhrorir. D armstadt: Wiss. Buchges. 1973. S. 185-309. 37U
Vgl. OprrL, Marun: 811r/J t'fm der Dtll/HM" Por/t'!!. I-Irsg. von Comelius Sommer. Srurtgart: Reclam 1970, S. 17; G O"ITSCI·IED, j ohann Chrisroph: VtrSUt/J tinrr mlürhrn Dirh/leMnst. Paks. der 4. Auf!. Leipzig 175 1. Dannstadt: Wiss. Buchges. 1962. S. 97ff.
)71
TODOROV. Tz\'etan: Symoo/fhrorien. ü bers. \'on Beate Gygcr. Tübingen: Niemeycr 1995 (= Konzepte der Sprach- und Uterarurwisscnschafl, 54), S. 108. Dabei vcrschicbt sich jedoch schon während der Aufklärung das jeweils zugrundeliegende Ko nzepl desscn, was als Na/ur " crstanden wird, und bereits bei Bodmer und Brcitinger konruriert sich zunehmend eine _ noch reproduktiv vcrs[andene - Einbildungskraf[. Vgl. I-IERRMANN; H ans PCler: N a/lImllthabntNng Uni' EinbiMtmgsJeroji. Zur entuitklung dtr dtu/srlxn Porlik IXJn 1670 bis 1740. Bad I-Iomburg et al.: G chlen 1970.
m
Das iSI vor allem eine !-lilfe angesichts der noto rischen Unterbesrimmtheit der ästhetischcn Begrifflichkcit: " Keiner der in den Auscinandcrse[zungen wesentlichen Bcgriffc wird auch nur annähernd explizic.n oder anal)'tisch gcklän. Was ist ,Narur'? Untcr welchen Bedingungen giI[ ein Ancfakt als der Natur ,ähnlich'?" GEßAUER, Guntcr und Chrisloph WUI.J·: "'-limuis. KultiIr, Kunst, Gud/srhoji. Reinbek: Rowohlt 1992, S. 219.
m
SnIlU.E.R, Friedrich: Säntt/itht lf'erkt. Bd. 1-5. 8. Aul1. Dannstadr: Wiss. Buchges. 1987. Bd. 5: Erziihtllngtn. Thrort/üthe Sthriflrtl, S. 515 L,über das Pathetischc'1 .
119
zu werden, ist die Nachahmung der Alten. "J74 Damit wird die fundamentale Paradoxie aller /lJi/IJesis, die o ben bereits ausführlich besprochen wurde [II. 1/2/3]. durch eine zweite verdoppelt und potenziert. D enn die Kunst ist gleich in zweifacher Hinsicht einer hö heren Instanz unterwo rfen, sie ist ,Imitat" erstens der ,Namr' und zwei tens der ,antiken Kunstwerke', beide soU sie ,nachahmen'. Z ugleich soU die Kunst jedoch ,frei ' sein , ,autonom' und ,originell'. Z iel ist also, wie es Winckelmann fo nnuliert, durch ,Nachahmung' ,unnac hahmlich' zu werden - eine Fassung der Ähnlichkeit, rue so paradox ist,m daß dies unfreiwillig ko mische Z üge erhalten kann, wie es etwa scho n im Titel einer Abhandlung von J o hann E lias Schlegel (dem O nkel der beiden Ro mantiker) der Fall ist: "Abhandlung, dass rue Nachahmung der Sache, der man nachahmet, zuweilen unähnlich werden müsse".376 Diese Paradoxie nun markiert präzise das zentrale Problem, um das sich rue Flut der ästhetischen Sc hriften des 18. Jahrhunderts gruppiert. D ie Lösung liegt darin , daß m an die Paradoxie ve rdeckt, indem man eine gute Ähnlichkeit von einer schlechten, der Kopie, umerscheidet. D er Begriff wurde bereits im SpätmineJalter aus lateinisch ropi(l (Vorrat, Mittel, Fülle) in die deutsche Sprache entlehnt und bezog sich vor allem in der Kanzleisprache auf Vervielf.i.lti gungen und Abschriften von O riginaldo kumenten.377 Im Z uge einer Bedeutungserweiteru ng bezeichnete der Begriff dann zunehmend exakte Nachbildunb'Cn vor allem antike r oder kano ni scher Kun stwerke, also auch hier noch in Absctzung zum Original, aber bereits im Sinne einer möglichst treuen J",ilfl{ion, we lche oft durch eine /lJechanische Duplikation erzielt wird - charakteristisch sind etwa die Abgüsse antiker Skulpturen.378 Genau aus diesen Dispositio nen heraus fo rmiert sich der Gebrauch des Begriffs im Kontext der ästhetischen Theorie, wo sich der Aspekt der Nachbildung auf zwei Dimensionen beziehen kann. Handelt es sich um das Kopie ren von anderen Kun soJJt'rken, dann gerät der Begriff im Sog der O riginalitätsauffassung in die Nähe des ,Plagia[s'. Perrault, der wirkungsmächtige Memo r der ,Moderne', formuliert im Umkreis der Q llerelle bereits 1688: " I'idee
'"
;ibtr die l\rorbabmung der gn'rrhiscbm IPerlet in du Molmi und Bi/dbaurr!eHnsJ. SlndJebrribtn. Hrsg. von Ludwig Uhlig. Srungan: Redam 199 1, S. 4.
'"
Vgl. auch STEIGER, Emil: " Dialektik der Begriffe Nachahmung und Originalitäl." In: Tmdition und Urspriinglithletil. Akten des 3. Internationalen Germanislcnkongresses 1965 in AmSlerdam. Bem, t-,·Iünchen: Francke 1966, S. 29-38, hier S. 37f.
} 16
Vgt. ScHl..EGEI., JOHru'\1N EI.IAS: "Abhandlung, daß die Nacha h.~ ung der Sache. der man nachahmet, zuweilen unähnlich werden müsse." In: J. E. S.: As/hrhJebt und drama/urg/seht Scbrifltn. Heilbronn: Henninger 1887, S. 96-105.
WINCKEL.MANN, Johann Joachim: Gtdonkln
KLUGE., Friedrich: E!JmokJlischrs llYjjrltrbum drr dtlilschtn Spruehr. 22. Aufl age, neu bearbeitet von EImar Seebold. Bedin, New York: de Gruyter 1989, S. 404. 318
120
Paul, Artur ROSENBAUER, Erlch H UBALA und Chriscian LE.,' lZ: Prob/mit tkr Kbpit von drr Anfikt bis ~m 19. j ahrhundert. München: Casmer & CalIwey 1992.
Vgl. ZANKE R,
d'excelJem ho mme & I'idee d e copiste son st deux idees incompatibles."379 Bei Lessing heißt es (iro nischerweise fa st wörtlich aus Yo ungs COIyeclllreJ on Original Composifion (1759) ,ko piert'): Bei der ersten Nachahmung [des G egenstandes] ist der Dichter Original, bei der andem Ider Nachahmung der Weise, in der ein anderer Künscler den Gegenstand zeigt] ist er Kopist. Jene ist Teil der allgemeinen Nachahmung, welche das Wesen seiner Kunst ausmacht, und er arbeitet als Genie.380 In die ser Passage von Lessing ist der Dichter nur dann Kopist, wenn er die Werke anderer Künstler kopiert, wo hingegen die N achahmung der Nallir noch in den Bereich der Originalität fillt. Ze ntral ist nun, daß sich der Begriff der Ko pie nicht nur auf Plagiat, sondern auch auf die Nachbildung der Nallirbeziehen kann. Ursprünglich tritt er ganz n eutral als Synon ym für ,Nachahmung' auf. So spricht Breitinger im Falle einer vollko mmenen Nachahmung neutral von " Original" und "Copie".381 Knigge fragt sich im Kontext der Bühnenillusio n , " wie treu der Schriftsteller und Schauspieler die Natur copiert oder o b er sie verfehlt hätte" .l82 D ab ei schreibt sich jedoch zunehmend eine DiJforenz zwischen einer (positiv gewen eten) Nachahmung und einer (n egativ gewerteten) Ko pie in das KräfrefeJd der aristotelischen N arurnachahmung ein. Ln dieser Fassung mutiert der Künstler gcnau dann zu einem bloßen ,Ko pi sten', wenn er seine Naturvorlagc kleinlich genau und exakt repro duziert. In Winckelmanns wirkungsmächtigem T ext
Gedtmken über die N achahmung der griechischen IWerke in der Malerei lind Bi/dhallerkmul (1755/ 56) heißr es erw", Die Nachahmung des Schönen der Natur ist entweder auf einen einzelnen Vorwurf gerichtet, oder sic sammlcr die Bemcrkungen aus "crsduedenen einzelnen und bringt sie in eins. Jenes heißt, eine ähnliche Kopie, ein Porträt machen; es ist der Weg zu holländischen Fonnen und Figuren. Dieses aber ist der
)79
'"
.. l&l
P ERRAULT, Charles: Para/lUt du A I/den! ,I Modemu tn (t qui "gardt lu arts tl lu sdtnftJ. Paks. N achdruck dcr Ausgabe Paris 1688- 1697. H rsg. " on H ans-RobertJauß. München: Eidos 1964. Bd. 1, S. 11 2 [i. Ong.: S. 47]. LESSING, Gonho ld Ephraim: LooAmn oder Obrr dit Grrn'{!n dtr Malerti ,md PotJi.t. Hrsg. von 1ngrid Krcuzet". Sruttgart: Redam 1994, S. 62. Bci Young heißl cs, hicr in der Übe rsctzung von T eubcrn (1760): " Dic Nachabmungtn sind von doppelter Art. In einige.n wird dic Narur, in andcm werdcn die AUlaren nachgeahmct. Wir nennen die erstem Originalt und behaltc n dcn Namen der Nachahmung nur für die letzlere." YOUNG, Edward: Grdlmlun iibrr dit Original. lfVtrlu. In tinem Schrtibtn du D. )'oungs an dem [sü] V trjamr du Grondi!on. [Übers. "on H . E. von TeubernJ. Leipzig: H einsius 1760. Faksimile Nachdruck. Heidelbcrg: Schneider 1977, S. 15 . ß REITING ER, Johann Jacob: CrihJdu Dich/leun!l. Zürich 1740. Faks. N achdr. Sruugan: Metzler 1966, S. 64. K.'l IGGE, Adolph Freiherr von: Ausgtll·iihltt lfVtrkt. Hrsg. vo n Wolfgang Ferncr. ßd. 1- 10. H an novcr: Fac kelträger 1993. ßd. 6. S. 114 {Obtrdtn Umgang mit MtnHhtn, I, 23].
12 1
Weg zum allgem ein en Schönen und zu idealischen Bildem desselben, und derselbe ist es, den die G riechen geno mmen haben.}8)
\Vinckelmanns Passage unterschiedet also die Kopie als ,bloße Imitacion' von einer Nachahmung, die z ugleic h ,mehr' zu sein vorgibt als nur Nac hahmung. Zentral ist dabei seine Unterscheidung zwischen zwei Kunsrparadigmen, Holland und Griechenland, wobei er Holl and die Seite der ,Ko pie' zuwe ist. Winckelmann hat dabei zweifelsohne die niederländi sche Malerei des 17. und beginnenden 18. J ahrhunderts im Auge, Abb . 15: Ul tra-reali stische Nachahmung von ,Blumen di e sich bekanntl.ich lind rrüclllcn' in der holländischen r. .lalcrci. Rache! durch eine extreme ß ildRu)'sch, BI,,"mlJ/rtll!ß ( 1706). au sze ichne t. realistik Diese wird aber durch die Verwendung eines mechani schen Hilfsmittel s aus der Optik erziel t, und zwar durch die Verwendung der C/JIIJera obscllm. D as technische Prinzip der ,Lochkamera' ist zwar bereits seit der Ancike bekannt. Als Hilfsminel in der Kun st, welches gestattet, ein exaktes ,Kamerabild ' der Wirklic hkeit im Bild quasi-mechanisch ,nachzumalen', setzt sie sich erst seit dem 16. Jahrhundert durch. J 84 ,Entdeckt' wird die roll/era obsmrf/ dabei iro nischerwei se im Kontex t der Perspektitlt von eben jenen Renaissancekünstlern, die au s der Retrospektive al s Begründer der Vorstellung einer kün stlerisch-genialischen Auto no mie erscheinen, aber das Gerät noch ganz unbefangen zur N achahmung der No/ur eingesetzt haben. Ausgerechnet Lco nardo hatte empfohlen: " Der Geist des Malers
\V1 NCKEJ.MANN, Johann Joachim: Crr/onletn ;ibtr die f\!(lrhahnllmg du gn·uhiJrhtn l/7rrlet in du M(llmi und BikJh(lurr/eJmsf. SrndHhrribtn. Hrsg. von Ludwig Uhlig. Srunb>art: Redam 199 1, S. 13. Vgl. !-I ICK, Ulrike: Cesrhirhlt dir 0pliJrhm Mrdirn. ~'I ünch en : Fink 1999, S. 22ff.
122
sollte sein wie ein Spiegel"J85. Schon im Rahmen der während der Renaissance geforderten N achahlJ/lmg der Nalllrgreift man also auf das optische Instrument der camem obsCllrtJ zurück, und die holländische Malerei ist später der Kulminationspunkt dieser Entwicklung. Sie bemüht sich, Bilder herzus tellen, die exakt so beschaffen sind wie der LichteinfalI des realen Objek ts im menschlichen Auge (ein Kon strukt, welches sich al s Steuerungsgröße bis in aktuelle Theorien der lkonizitär nac hweisen läßt).386 Die holländischen ,N etzhautbilder' positionieren sich auf einer Grenzlinie zwischen Kun st und Narur,J87 und das Ergebnis ist - wieder einmal eine neue, nie erreichte ,Perfektion der Nachahmung', welche wirklichkeitsgetreue Simulationen der Dinge zeigen soll. Es ist exakt diese (aus der Retrospektive: fotografische) Bildrealiscik, welche jetzt, etwa bei WinckcJmann, zunehmend kritisch beurteilt wird. Die holländischen Bilder erscheinen je tzt als ,bloße' Kopien, wobei dem Begriff der Kopie dabei zunehmend das Stigma einer bloß lIJechanischen Reproduktio n wie etwa durch eine callJertJ obsCllrtJ anhaftet. Exakt die selbe Opposition wie bei \'\finckeJmallll findet sich in Goethes Text "Einfache Nachahmung der Narur, Manier, Stil" (1789) wieder: Künstler, welche bloß über eine "beschränkte Natur" verfügen, sollen " mit Treue und Fleiß" die " Gestalten" und " Farben" der N atur "auf das Genaues te" nachahmen.}88 Sie werden dabei gleichsam auf die Organe von ,A uge und Hand ' reduziert und erscheinen so im Licht eines einf.'iltigen Handwerkertums. Auch Goethc lo kalisiert diese Vorstufe der Kunst klar im O rbit der holländischen Kun st und bezeichner ihre ,beschränkten Gegenstände' als " Blumen und Früchte",38? welche, in den Worten Schlegels zur Landschaftsmalerei, " im Zimmer gleichsam eine portative Natur" abbilden. 390 In den nächsten Jahr.r.ehnte n wird die Verbindung des Begriffs der Kopie mü Vorstellungen einer ,bloß' mechanischen RrprodJlklion wcitcr ausgebaut und
;l8S
Zitien in AU'ER.S, Svetlana: 10"111 alJ ßutbrribll1lg. Holto,uliJdx Malmi da / 7. jabrlnlRduts. Köln: DuMont 1998, S. 111. VgL etwa die poi1ll-projt{h<m-lbtolj Gibsons, beispielsweise in G IßSON, James J.: "The Infonnario n available in Picmres." In: J. J. G.: IVaso1ls for IVa/ilm. Selectcd Essays. Hilisdale, Lo ndon: ErJbaum 1982. S. 269-283.
187
ALPERS, Svcuana: JvmJl a/s ßutbrribu1Ig. Holto"distbt Malmi du / 7. jabrhllndtrlJ. Köln: DuMo lll 1998. \'or aUcm ",UI picrura, ita visio': Keplen r...IOOeU des Auges und das Bildcrmaehcn im Norden" , S. 79- t 46.
'"
GOl;.'THE, Johann Wolfgang: IPtrkt. HambllW r A IIJgabe. Bel. \ -14. H ng. von Erich Trunz. r.,·IÜnchen: Bcrk 1988, Bd. 12, S. 30f.[ "Einfache Nachahm ung der Narur, Manier, Stil" j.
J8II
3',10
G OE.1l-lE., Jo hann Wolfgang: IPtrkt. Hambllt;gtrAlIsgabt. Bel. 1- 14. Hrsg. von Erich Trunz. Müncncn: Beck 1988, Bd. 12, S. 32. [ "EiI .fache Nachahmwlg dcr Nanlf, Manier, Stil'T SCHLEGEL, Augusl Wilhclm: IVitü(he Srbriflrn lind Britft. Bel. 1-6. Hrsg. vo n Edgar LohncT. Sruttgan : Ko hlh:unmer 1962ff. ßd. 2: Dit KxnSlltbrr, S. 85.
123
zementien. J9 1 In Goethes Text Der Sammler Imd die Seinigen (1799) wird die Nachahmung ebenfalls als Vorstufe, aJs " Base der bildenden Kunst" aufgefaßt, wobei der Künstler sich übe r diese Stufe zu ,erheben' habe, weil man ihn sonst "einen Copislen nennen und mit diesem Won gewissermaßen einen ungiinstigen Begriff verbinden" müsse. Goethe vergleicht solche Kopien dann mit den rein optisch-mechanischen Doppeln des SCh(llIennsses: "Die Neigung zu Schanenrisse n hat erwas, das sich dieser Liebhaberei nähert" , heißt es, und zugleich wird präzisiert, woran es solchen Kopien mangelt: " D er Nac hahmer verdoppelt nur das Nachgeahmte o hne etwas hinzu zu thun oder uns weite,r zubringen. ,d92 J ean Paul betont, daß "der Grundsatz, die Natur treu zu kopieren, kaum einen Sinn" haben kö nne, da schon der "gemeinste Nachdrucker" den karegoriaJen Unterschied zwischen Wirklichkeit und medialer Repräsentation zu respektieren habe. Es bestehe ebe n "ein Unterschied [... 1 zwischen den Landschaftgemälden des Dichters und zwischen den Auen- und Höhen-Vermessungen des Reisebeschreibers".}9} Ganz ähnlich bemißt Mendei ssohn dem Kunstwerk einen MehTWerl gegenüber einer rein optisch-mechani schen Wiedergabe: "die entzückendste Landschaft reizt un s in der Call/em obsroro nicht so sehr, aJs sie durch den Pinsel eines großen Landschaftsmalers, zu reizen im Stande ist."J9~ In Jean Pauls Der KDlJlel (1822- 1824) taucht der Begriff der Kopie immer wieder im Kontrast zur ,wahren Kunsr' auf (auch hier übrigens oft im Zusammenhang mit der ,holländischen Mal e rei~; echte "Kunst" dagegen, so heißl es, " ve redle stets, sie sei kein bloßes Silho ueu enb rett des Gesichts oder eine englische Kopiermasc hine der Gestalten , sonde rn eine scJber gebärende Mado nna".39S AUe diese Beispiele belegen c.lie Ablehn ung der Kopie als inflationäres Genre rein muh(lfIisrher ,Wirklichkeirsverdo ppeJungen' angefangen bei den Kamerabildern der holländischen MaJerei, den ,Schattenrissen', ,Nachdrucken' und ,L:lI1dschaftsvermessungen' - aus Sicht einer allmählich Kontur gewinnenden ,hohen Kun st' [111. 6]. Im Konrexi dersel ben ästhetischen Debane taucht übrigens ein weiterer,
'"
DieseTheone der ,schlechten Ähnlichkeit' bleibt fe ster Bestandteil der Ästhetik des 19. Jahrhunderts. Viele Nachweise (.Copie', ,Duplikat' etc.) werden aufgefUhrt in EISE.Ul , Ulf: &0/i'"1111 ,md Jdtologit. 2Mr Kn·tiJe dtr IillruriJrhtn TINon', n(lrh 1848 Q11I BtispI'tl du ,DIII/HMn MIIJ(II11JJ'. Srung.m: Metzler 1976, S. 48ff. und S. 58ff. Die realistische Version der ,idealischen Nachahmung' wird dann die ,Verklärung' se:in. GOl:.I HE, Jo hann Wo lfgang: IPtrA:t. Hrsg. im Auftrag der Großherl.Ogin Sophie \·on Sachsen. Weimar. Böhlau 1887ff. AbL I, ßd. 47. S. 194 ID" Smnmkr lind dir Stin;gtn. Brief 8J.
)9)
JEAN PA Ul..: Säm/lich< If/trh. Hrsg. von Narben i'o1il!er. Abtg. 1-2. ~lünchen: Hanser 1963. Bd. 5, S. 34f. IVOf1rhlll, dtr ASlhttiJe., § 31. M END EJ..5SOUN:
AilhrtiHbt Srbrifttn in AllJlmhl Hrsg. von Quo F. Best. Danns[adt: Wiss.
Buchges. 1974 ,S. 179 I" I-I auptgrundsärzc der schö nen Künste und Wissenscha ften'1-
m
J EAN PAUl..: Siiml/irhr IlVtrh. HistonJrh-luitiJrhtAIIJgabt. Abt. 1-3. Weimar: Böhlau 1927ff.
Abi. I, Bd. 15. S. 3741Dtr Komtl, IIT].
124
bi s heute pejorativ verwendeter Begriff einer ,skJavischen Imitation' auf, und zwar das Norhiifftn. \Vie der Begriff der Kopie wurde auch dieser Begriff im 17. Jahrhundert noch ganz wertneurral verwendet und bezeichnete schlicht ,Nachahmung'. Opitz referiert nur AriswteJes' D ikrum der Narurnachahmung, wenn er feststellt: "die gantze Poeterey [besteht] im nachäffen der Natur".}% Sc ho tteLius bezeichnet ganz ähnlich 1663 die " Kun st" o hne Abwertung als "Nachäffin der Narur".391 Einen bYanz kJaren Befund liefert die deutsche Übersetzung eines Satzes von Huef. Im französischen Original heißt es (1670): " mensonge, qui est L'i",i/ation de 1a verite", was die Happe1 sche Übersetzung (1682) wie folgt übersetzt: "Lügen / welche eine ArJlin der \Vahrheit iSt".}98 Dagegen wird die D ifferenzierung zwischen der guten und der schlechten Nachahmung den Begriff ,Nachäffen' zu einer ausgrenzenden, polemischen Bezeichnung verschieben, wie wir sie bis heute venvenden: [... ] so würden wir von diesem Thoren sagen: er iiJft dem Sokrates nach;
I... ] der
Thor 1... 1ergreift also, was ihm am nächsten liegt, äfft nach, um nicht nachahmen zu dürfen; trägt die ganze ObetOäche einer fremden Individualität auf die seinige über [... I. m
Der kulrurelle Himergrund dieser Er.lählung von der ,idealischen' achahmung und der schlechten Kopie ist sicherlich die von kulturellen Eliten als ,innatio när' empfundene VervieJniltigung und ,D emo krntisierung' virtueller Welten. Ein schö ner Beleg findet sich in der Originalfassung von The Prtlllde (1805), in welcher der Romantiker Wo rdsworth in versepischer Form den Prozeß seiner dichterischen Erweck ung darstellt und dabei auch auf die Vertreter der ,sc hlechten Ähnlichkeit' zu sprechen kommr:-IOO
J'IIII
Qprr.l. Manin:
BNm
t'f)ff
d" DrNlsrhtn Potlr'!J. f-lrsg. von Comelius Sommer. Sruttgart:
Rccbm 1970, S. 17.
m
...
.-lünehcn: Fink 1970, $. 120.
'"
Vgl. auch STENGER. Erleh: CUfhirhlt der PholograplJit. l1erlin: VD I 1922. S. 6f. Vgl. BUDDEMEIER, H einz: Panorama, Diorama, Pholographit. Enlslthung und IVirung nrNr,. Mrmt" im 19. Johmllfldtrt. München: Fink 1970, S. 122ff.
~2t
Vgl. I EWHAU.., Beaumont: CUfhirblt der Photographir. ehen: Schirmer/ Moscll 989. S. 75.
bcrs. \'on Rcinhard Kaiser. i>. lün-
Ko ppen h:u eine Reihe \'on Beispiclen efÖnen. die hier kUI"".t wiederholt seien: In Raabes Nm·elle Off LJr (1888) erscheint der Photognph als gescheilen er Künstler. der d ann als Ldchenphowgraph zu Vennägen kommt; in 1bscns 117i1dmlr (1884) ist der Pho tograph eine Vediererfigur, welcher immer wieder \'o n einer absurden Erfindung phantasiert: d ie Pho[()graphic auf die Hö he der Kuns t empol"".tUfiihren; selbsl in Max D authendeys Biographie seines Vaters, eines früh en Pho togntphen, ,überwindet' der Sohn schließlich das bloße ,H andwerk' der vätedichen Phologntphie und wird dann Lyriker (= Künstler). Vgl. KoppE..'1, Erwin: Li/trolllrllnd Pholographie. ObtrGtsrhiflJlt lind Thtmah·k tintr Mtditnm/dttu"g. Srungan: Metzler 1987, S. 61 -63 ~a~); S. 65-67 (lbsen); S. 83-85 (DaUlhendc)').
134
7. Die Nachahmung des Subjekts (MORITZ / SCHLEGEL)
Die Paradoxie von der Doppelnatur ästhetischer Wirklichkeiten, die sich sowohl als ,Nachahmung' als auch als ,Original' zu erweisen haben [lI. 6], ist in der zeitgenössischen Diskussion schon früh registriert worden. Am bckannresten ist Lessings Ausspruch aus dem 70. Stück seiner Homblfrgischen Dramaturgie: .. Die Nachahmung der Natur müßte folglich entweder gar kein Grundsatz der Kunst sein; oder, wenn sie es doch bliebe, würde durch ihn selbst die Kunst, Kunst zu sein aufhö ren ".431 Wie oben ersichtlich, erzeugt" dieses Problem die Vorstellung einer ,schlechten Kopie' im Gegensatz zur ,guten Nachahmung'. Fraglich ist allerdings die Evidenz dieser Unterscheidung. Denn die ,schlechte Ko pie' und die ,gute Nachahmung' sind miteinander vergleichbar über den Aspekt der AJmlichkei/, clie sie mit ihrem Gegenstand aufweisen. Die Nachahmung gerät so in eine gefährliche Nähe zur Ko pie und droht, mit in den Sog der Ablehnung gezoge n zu werden. In der Tat ist eine Folge dieser diskursiven Verschiebung, daß durch den Konsen s hinsichtlich der Kopie auch das Prinzip der N achahmung der N a/ur durch die Ro mantik ge nerell in Frage gestellt wird: Bei NoIJ,r denken sich viele nichts weiter als das ohne Z utun men schlicher Kunst Vorhandene. \Xlenn man zu diesem negativen Begriff der Natur, einen ebenso passiven vom Nachahmen hinzufügt, so daß es ein bloßes Nachahmen, Kopieren]!1, Wiederholen bedeutet. so wäre die Kunst in der T at ein brotloses Unternehmen. Man sicht nich t ein, wanlln man sich quälen sollte, ein zweites jenem ganz ähnliches Exemplar von ihr in der Kunst zustande zu bringen, das für die Befriedigung unseres G eistes nichts voraus hätte als etwa die Bequemlichkeit des Genusses:m
" Warum sagen sie nicht gleich: die Kunst soll das Schöne darstellen", fährt August Wilhelm Schlegel in seiner Argumentatio n fo rt. Diese Kritik an der N arhahllJJl!lg hat in der Fo rschung zu einem allgemeinen Ko nsens geführt, in dem immer wleder die Obel1JlindJlng des N (/rhtJhllllmgskonzepfes durch die Ro man-
LESSING, Gonhold Ephraim: I-Iamhllwsr/)e DromalllWt. Hrsg. von Klaus Srurrgan: RecJam 1981, S. 359 [70. Stück}. 4lZ
I.~
Berghahn.
SCHLEGEL, August Wilhdm: KriliJdJt 5rhrifttn lind Britft. Bd. 1-6. Hrsg. von Edgar Lohner. Srungan: Kohlhammcr 1962ff. Bd. 2: Die KMn$llthrt, S. 85.
135
tik behauptet wurde:H3 Der Kopist ,Zeuxis' soU hier durch den Schöpfer ,Promedleus' abgelöst worden sein: Der griechische t>.-laler Zeuxis und der Titanensohn Prometheus verkörpern in der T at zwei einander entgegengesetzte Konzeptionen des künstlerischen Schaffens: Sie repräsentieren die Dichotomie von ,Nachahmung' lind ,Schöpfung', die sich im Verlauf des 18. Jahrh underts herausbildete. Auf die Unvereinbarkeit dieser beiden Konzeptionen folgte nocwendigerweise ein Paradigmawechsel, der an die SteUe des obsolet ge\Vordenen Primats der Naturnachahrnung eine moderne Schöpfungsästhetik treten ließ, die dem zunehmenden Selbstbewußtsein der Künstler Rechnung tnlg.~:;.1
Eine genaue Lckriire des ästhetischen Schrifttums des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts zeigt hingegen, daß von einer ,Überwindung' des Nac hah mungsprinzips nur in einem sehr eingesc hränktem Sin ne, möglicherweise gar nicht gesprochen werden kann :U5 Dagegen gih: " In der Geschichte unserer ästhetischen Theorie ist diese Di sposition, das äs thetische Gebilde aus seinem Verhältnis zU( ,Wirklichkeit' zu legitimieren, niemals ernstlich verlassen worden. « 4}6 Denn die Romantik findet einen bemerkenswerten Ausweg aus dem Dilemma zwi schen Nachahm ung und Originalität, und zwar durch den Rückgriff auf eine arislOteiische Denkfigur. Wie o ben dargelegt, ist Kunst und Narur bei Aristmdes strukruranalog im Aspekt ihrer schö pferischen Kraft {II. 3]. Die Fertigkeit der !eehne (, Kunst') beste ht demgemäß bei AristQtdes einerseits darin , nachzuahmen, andererseits aber zu ,voUenden'. Im Aspekt des Schö pferischen iihneln sich aJ so Narur und Kunst, " Die Do ppeJbestimmung hängt mit m
So argumcnticn eigentlich die gesamte Forschung zur i\ sthecik des 18. Jah rh underts schon seil J ahrzehnten; vgl. neben den bislang und im fo lgenden diskucien en Tilcln u. a. TuMA RKIN, Anna: " D ie Überwindung der M.imesislehre in der Kunsnheo rie des 18. Jahrh undertS. Zur Vorgeschichle der Romantik." In: Futgabe fir SamurlSingrr. H rsg. vo n H arry Maync. Tübingen: r-,Iohr 1930, S. 40~55; PREISENDANZ, Wolfgang: " tlI.imesis und Poiesis in dcr dCUlschen D ichntngstheo rie des 18. Jahrhunderts." In: Rt!(!J>lion uml Pro,luktioli ~.i;chrn 1570 und 1730. Festschrift Hir Günther We)'dl zwn 65. Geburtstag. Hrsg. von \X'o lfdietrich Rasch el al. München 1972, S. 537-552; I'ETERSE...... J ürgen H .: Mi"miJ - JmitahoN achphmung. Eint Gmhichlt dtr turopäi;chrn Pot/iA!. München: Fink 2000, hier das Kapilel " Von der Aufklärung bis zum E nde des 18. JahrhundertS: Die Auflösung des Nachahmungsprinzips in Poetik und Astherik", S. 23 1-258; MADLAND. Helga: " Imitation 10 Creation. The Changing Concept of Mimesis from Bodmer and ßreiringe r 10 Lenz." In: Eighlttnlh-Ctnlury Gm",m Au/horJ and Ilx ir A tJlllttic Thron·u. U ltrpluT't pnd Ihr Olher ArlJ. H ng. von Richard Crirchficld und Wulf Koepke. Cotwnbia: Camden 1988, S. 29-43.
'" '"
~HI. OTER, Renate:
Zrux1J und Promtl!Jtu./. Dir Obtruindung du NachahmungJleon'{!p/J in dtr A JI!Jrtik drr Friihromantik. Frankfurt / M. et al. : Lang 1995, S. 275. Ein genaues STUdi um der Monographie von SCHtO'"rER. die italienische SchriftsieUer untersucht, steUt fest, daß fast aUe besprochcncn Texte 'rolt ihrer ßelOnung des Schöpferischen an dem Nachahmungskonzeprlu/hallm. BtuMENBERG, Hans: "Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans." In: Nachahmung und lIIullon. B rsg. vo n Hans Roben Jauß. München: Fink 1969 (= Poetik und He[Jneneucik, 1), S. 9-27, hier S. 10.
136
der D oppeldeutigkeit des Begriffs von ,Narur' als produzierendem Prinzip (mllum nalurans) und produzierter Gestalt (nalum Iwlllmltl) eng zusammen. Es läßr sich aber leicht sehen, daß in dem Element der ,Nachahmung' die übergrei fende Komponente liegt: denn das Aufgreifen des von der Natur Liegengelassenen fügt sich doch der Vorzeichnung der Natur, setz t bei der Entelechie des Gegebenen an und vollstrech sie" :",37 D ie Kunst erschafft auf ähnliche Il:7eise wie die Narur. Schon im 15. Jahrhundert kann Blumenberg einen Beleg rur eine deutlichere Artikulation des Schöpferischen ausmachen. In diesem Zusammenhang sollte man die Doppeldeutigkeit im Auge behalten, die schon der Terminus ,Schöp fung' bzw. malia an sich trägt. D er Begriff hat eine onrologische und eine ästhetische Sinndimension, denn er bezeichnet die ,Wirklichkeit' als das von Gon geschaffene einersei ts, andererseits das vom Menschen oder ,Künstler' Gemachte.",38 Schon für den löffelschnitzenden Laien des Nikolaus von Kues gilt dann, daß auch seine Kunst ,Nachahmung' ist, "aber nicht Nachahmung der Natur, sondern Nachahmung der an infillila Gottes selbst, und zwar insofern diese originär, urzeugend, schöp fe risch ist, nicht aber insofern sie fakti sch diese Welt geschaffen hat."u9 M.it dem Au fkommen der Genieästhetik gewinnt der Vergleich zwi sc hen der Schöpferkraft G ones und derjenigen des Künsders neue Aktuali tät [VI. 2] ; Lenz fo rmuliert etwa: ,,\'Vir sind, [....1 oder wollen wenigsten s sein, die erste Sp rosse auf der Leiter der freihan deInden selbständigen Geschöpfe, und da wir eine Welt. hie da um uns sehen, die der Beweis eines unendlich freihandelnden Wesens ist, so ist de r erste Tri eb, den wir in unserer Seele fühlen, die Begierde 's ihm nachzurun":'40 rür die rormulierung der modernen Programmatik der Ähnlichkeit stehen al so gleich zwei Topoi aus der Tradition zur Verfügung, durch die man das Dilemma ,Nachahmung' ve rsus ,Schöpfung' lösen kann, ohne dabei das Theorem der Almlichk eil Zu ver/auen. Denn nach Ari stoteIes ähnell die Kun st der Natur im Aspekt des Schöpferischen. Und das ,Schöp ferische' ähnelI umgekehrt der ß .: IWir/elkhletiltn in dmm Mir lebin. Aufsät".lc und einc Rcdc. Sruttgan: Reclam 1981, S. 55-103, hier S. 55. BLUMEN IJERG, I·lans: "Nachahmung der Narur." In: H.
Vgl. dazu .auch O E.RRIDA, Jacgues: " Kraft und Bcdeutung." In: J. 0 .: Die J(hnft lind die DiJlmnz. Übers. von Rodolphe Gasche. Frankfun1M.: Suhrkamp 1976 (1963] ,S. 9-52; hier S. 21f.
'"
ß.: IWirk}i(hJui/eII in dmm Mir Itbtn. Aufsätze und eine Rede. Stuttgarr. Reclam 198 1, S. 55- 103, hier S. 58f. Vgl. fenler zu der Tradierung der Analogie Künstler I Narur (GOtt) im Aspekt des Schöpferischen im M..ittelalter FuSCH, Kun: "Ars imitatur naruram. Platonischer Narurbcgriff und mirtclaltc[liche Philosophic der Kunst." In: PafUsi(l. Studien ~r Philosophie Plolons lind ~r ProbltmF(hirhlt du Plolonis"'lIs. H rsg. von K. F. Frankfun1M.: M..inerva 1965, S. 265-307. ß LUMENBERG, Hans: "N achahmung der Natur." In: H.
Lr:.J-lz, j ako b t.1.ichacl Reinhold: lt7erlu. Hrsg. von Friedrich Vok Sruttgan: Rcclam 1992, S. 373 L,An.m('rk ungen übers Thcater" ]. Vgl. auch Coleridge; die dichterische Imagination sei einc " repetition in the fmi te mincl o f the etemal act o f creatio n in the infinite I 1\1\.-1". COLERlDGE, Samucl T arlor: A Critiro! Edilio" ofImMqjor lV'orh. Hrsg. von Heather J oanna J ackson. Oxford, New Vork: OUP 1985, S. 3 13 [Biogrophi(l Ultrorio, 13].
137
,Schöpfung', wodurch wiederum der schöpfende Mensch dem schöpfenden Gon äJmlich ist. Es war Karl Philipp Moritz', der diese Evidenzen in die Programmatik der Ähnlichkeit einfügte: Jedes schöne Ganze aus der H and des bilden d en Kü nstlers, ist d aher im Kleinen e in Abbild des höchste n Schönen im grossen G anzen der Narur; welche das noch !llilltlbar durch die bilde nde H and d es Kü nstlers n ach e rsc h a fft, was unmittelbar nicht in ihren grosse n Plan gehörte.-wl
Durch diese Verschiebung, durch die ,A ufwertung' der Narut in der Beton ung ihres ,schöp feri schen' \Vesens, wird es ab jetzt möglich sein, schöpferisch und nachahmend zugleich zu sein. Sehr deutlich wird das bei August Wilhe1m Sc hlege l, der viele Ideen von Moritz übernimmt und fortführt: \'\!ird nun d ie Natur in dieser würdigs ten Bedeurung gen o mme n, nicht als eine ~h sse von Produkte n, sonde rn als d as Pro duzierende se lb S[, und der Ausdruck Nachahmung ebenfalls in d em edleren Sin ne, wo e s nicht h eißt, die Ä ußerlich keiten eines Me nsc he n nach ä ffe n[1l . sondern sich die M axime n seines H an d clns zu eigen m ach en, so isl ni.hls gtgen den Gnmdsalz einiflU.<enden, !lOch ihm hillif'Zltfligen: die Krlllsl soll die N a/lfr !ltIchahmtfl. Das h eißt nämJich, sie soll wie die Natur selbständig schaffend , organisiert und o rganisierend, lebe ndige Werke bilden, die nicht e rs t durc h ein e n fremden r. .lechanismus I!I, wie etwa ein e Pe ndeluhr, sond ern durc h innewohne nd e Kraft, wie d as So nncn srs te m , beweg lich sind , und vollende t in sich zu rückkehren. All! diese It7/ist h(ll Pro"'tlhtfls die Na/ur lJachge. ahmt, als e r d en r...lensch e ll aus irdisc hem Ton fo nnte lind ihn mit ein em vo n de r Sonne em wan d ten runken beleb te.-w2
Diese Stell e zeigt deutlich, daß von einer ,Überwindung der Nachahmung' kaum die Rede sein kann - denn es ist ausgerech net Prome theus, der die Natur nachahmt; es handelt sich um eine "Nach ahmung der schöpferischen Na tur im Kün stler".441 Durch die ,Aufwertung' der Natur in der Betonung ihres schöpferischen Charakters drohen ,Natur' und ,Kun st' sogar zu Synonymen zu werden - was am radikalsten bei Novalis fo rmuliert ist: "Die Natur hat Kunstinstinkt - daher ist es Geschwä tz, wenn man Narur und Kunst
.,
M ORITZ, Kar! Philipp: ßtitrily '{!Ir
A stbtHIe. Hrsg. \"o n Hans J oachim Schrimpf wld Hans
Adler. Mainz: Dieterich 1989, S. 44 !.,Über die bildende Nachahmwlg des Schönen" ]. Diese Natur entspricht dann wiederum dem Schönen; j\·lorirJ: behauptet, daß " das Schö ne um desto schö ner sey, jcmdu das große uns wngcbende Ganze sich darinn zusammendrängt Wld spiegelt." Ebd., S. 103 !.,Bcstinunung des Z wecks einer Theorie der schö nen Künste" ]. 442 44}
138
Knh"sdx Jrbrifttn lind Briift. Bd. 1-6. Hrsg. von Edgar Lohner. Sturtgacl: Kohlhammer 1962ff. ßd. 2: Dir IVlnstkb", S. 9 1 (meine Hervorhebung). So Heselhaus in einem Diskussionsbeicrag, abgedruckt in J AUß, Hans Roben (Hrsg.): N o(hpbmung lind IlIlIs;on. KoUquiwn Gießen 1963. München: Eidos 1964 (= P(}(HIe lind I-ImlltntuHIe, I), S. 18S.
ScIILEG EL, August Wilhdm:
unrerscheiden will. ,,444 In ihrem Aspekt des ,Schöpferischen' wird die Natur also zum Analogon des Kün stlers. Und diese Idee formu liert Moritz, wie Todorov herausstellt, auf eine völlig neue \Veise. Denn: " Es ist jetzt nicht mehr das Werk, das nach ahmt, sondern der Künstl er. "445 Die Erweiterung der Sinndimension geht aber noch weiter. Vor Moritz ahmte ein Werk ein Urbild nach. J etzt ahmt das " Genie" das "Vorbild" einer personifizierten, schöpferischen Namr nac h, und es ahmt nicht ,sie', sondern ,ihr', im Dativ, nac h, das heißt, der Künstler ,wenei fert' mit ihrer erzeugenden Kraft: \X' em also von der Natur selbst, der Sinn fur ihre Schöpfungskraft in sein ganzes Wesen, und das Maaß des Schö nen in Aug' und Seele gedrückt I!J ward, der begnügt sich nicht, sie anzuschauen; er muß ihr [!j nachahmen, ihr nachstreben, in ihrer geheimen Werkstarr sie belauschen, und mit der lodernden Flamm' im Busen bilden und schaffen, so wie sie ..w6
Vor diesem Hintergrund erscheint auch die nächste historische Schlußfolgerung von Moritz völlig legitim. Das Anschlußproblem - auf welche Weise nämlich das Genie ,der' Schöpferkraft der Natur ,nachahmt' - wird von ihm dadurch gelöst, daß das Genie auf sich selbst zurückgreift. Um die "dunkel geahndeten Verhältnisse jenes grossen Ganzen" [- der Naturl darzustellen, muß die 111atkraft [- das Geniel , worinn sie schlummern, sie /lach sith selber, allS sirh Jtlber bilde/l. 1... 1Aus d iesem Brennpunkte muß sich, nach des Auges gemessener Weire, ein zartes und doch getreues [11 Bild des höchsten Schönen rün den, das die vollkommenen Verhältnisse des grossen Ganzen der Narur, eben so wahr und richtig, wie sie selbst, in seinem kJeinen Umfang faßt .....7
Und ge nau ruer liegt die entscheidende Verschiebung, welche die vormoderne von der modernen Programmatik der Ähnlichkeit scheidet. In der Vonnoderne nämlich war die Antike die Narur der Natur; dagegen wird jetzt zunehmend NOVAUS: [f/mu, Tn§biirhtr Nd Bn"rft Fn'tdn'rh Ilon Hardtnbergs. Hrsg. von Hans-J oachim Mähl und Richard Sam ucl. ßd. [-3. München, Wien: Hanser 1978. Bd. 2, S. 8\0. ....5
TODOROV, T zvetan: Symbolthtonrn. Übers. von ß eate G)'ger. Tübingen: Niemeyer 1995 (= Ko nzepte der Sprach- wld Literarurwissenschaft, 54), S. [48. MORITL, Kar] Philipp: Bdtriigt ~r AJ~~t'ik. Hrsg. von Hans Joachim Schrimpf und Hans Adler. Mainz: Diererich 1989, S. 44 ["Ubcr die bildende Nachahmung des Schönen''). Das Nachahmen des " Vorbilds" im Sinne von " nachstreben" und " wencifern" ist auf S. 28 belegt. Es handelt sich dabei wn keinen Einzelfall; die bereits angesprochene Schrift \'on Johann Elias Schlegel weist diese Ausdrucksweise scho n im Titel auf (" Abhandlung, dass die Nachahmung der Sache, der man nachahmet, zuweilcn unähnlich werden müsse'1; auch bei Klopstock ahmt der Dichter der Narur - im Dativ - nach; vgl. GEll_HAUS, Axel: Enlhllsinsmos Mnd Kolleiil Rtjlt:>.:iontn iilNr dtn Urspnmg dtr Dirhllmg. München: Fink 1995,
S. 209f. t-.l0 RlTZ, Kar! Philipp: Bdträ§ ZNr Äslhttik. Hrsg. von Hans Jo achim Schrimpf und Hans Adler. Mainz: Dieterich 1989, S. 50 b,Übet die bildende Nachahmung des Schö nen'').
139
das (schöpferische) SII'?iekl aufgebaut zur Natur der Na rur.«8 \'(fieder fühn die Moritz-A uslegung Schlegels den ursprünglichen Gedanken ein Stück weiter fo rt: \'\'0 aber soll der Künstler [... ) die schaffende Natur find en [...j? In seinem eigenen Innern, im l\'littelpunkt seines \X1esens durch Anschauung, kann er es nur, oder nirgends. Die Astrologen haben den Menschen Mikrokosmos, die kleine Welt, genannt [...). Denn wegen der durchgängigen Wechselbestimmung aller Dinge is t jeder [sicj Atom Spiegel des Universums.449
So kann Schlegel zuspitzen: "der Mensch iSI in der K.Jmsl NOnll der N(/IJ(I'~so. Es gibt eine Entsprechung z...vischen dem modernen Subjekt und der Namr, und diese Entsprechung wird von Schlegel durch den Rückgriff auf ein we iteres uraltes Modell der Ähnlichkei t mit Leben gefüll t. dasjenige nämlich von der Vo rstellung einer Ahnlichkeil zwischen dem Men schen als Mikrokosmos lind der Weh als Makrokosmos [111 . 3 / 7].~51 In dieser Verschiebung nähert man sich der Gleichung Mensch (Genie) = Natur = Kunst. ,Kunst' wäre demnach die Nachahmung, oder, wie man jetzt sagen wird, der A IISdntck~52 des Subjekts, zumindest qualifi ziert sich das Sub jekt auf besondere \'(lobei die VerehnlOg vor allem der griechischen Antike weifer exislien , aber nun el>cn auch, weil sie " die fPinJli Mrnsrhlxif' darslcllt; SCII LEGEJ., Fried rieh: KritiJdJt A/(JglI/~. ß~ . 1-22. München ct al.: Schöningh 1958ff. Ud. I: SIHditn de; /ekmise/)tn A lltrfHnlS. S. 277 I"Über das Studiwn der G riechischen Poesie" j. E ine histOrische Hed eirung dieses Interesses der Nachahmwlg am Subjekt findet sich bereits in T U/lL\ RK.IN, Anna: " Die Überwindung der Mimesislehre in der Kunsn heorie des 18. Jahrhunderts. Z ur Vorgeschichte der Ro mantik." In: Frslgalx Jiir SmflHd Singtr. Hng. \'on Harr)' i\b ync. T übingen: Mo hr
1930, S. 40-55.
",
'" '"
SCHLEGEL, August Wilhehn: Kritisrh, Sehn'jü" Hnd Briifr. ßd. 1-6. Hrsg. \'on Edgar Lohner. Sruttgan; Ko hJhanuner I962ff. ßd. 2: Die NmJtlthfP, S. 92. Ebel .. meine Hervorhebung. Die Lehre einer Ahnlichkeit zwischen Mensch und Kosmos wird bereits in der ionischen Narurphilosophie fo rmuliert und dan n im i\1inclaher neu aufgelegt durch die Integratio n der Vorstellung von der Go n ebenbildlichkeit des Menschen. Die ,Überwindung' der N achahmung d urch den AUJ(Jf'Hek ist ein e weitere Variante des Gemeinplatzes vo n der ,Ablösung der M.imesis'. vor allem im Kontext der Entstehung der modemen Lyrik ~Scse nhcimer Lieder', ,von Gonsched zu Herder' etc.) . Eine erhellende Analyse bietet vor allem G UHIKE., KMI S.: " D ie Entdeckung des Ich in der Lyrik. Vo n der N achahmung zwn Ausdruck der Affekte." In: Tradi/ion, Nor"" Innot'ilh·on. Sorjalu und IiltranJ(hu T rodih'onJ/!trhal/m in dtr Friih~il dtr diH/Jehen AufIeliif'Hng. Hrsg. von Wilfried ßamer. München; Oldenbourg 1989, S. 93- 121. Guthkes Analyse ist in fast allen Details zuzustimmen, aber ich bin auch hier skeptisch hinsichtlich der ,Überwindung der Naturnachahmung'. Wenn im ästhetischen Schriftrurn überhaupt explizit einmal hiervon die Red e ist, dann figuriert der ,Ausdruck' (der ,echten Gduhle' etc.) doch aufgrund seiner Unmilltlbarletil geradezu als Steigerungsfonn der Nachahmung. Hinzu kommt, daß sich das Genie nicht einmal in Konkurren z zur Natur stellt. Viehnehr wird im Kräftefcld der
140
Weise zum Gegensmnd der Darstellung. Ein weiteres Beispiel dieser neuen Wendung von der ,gU[en' und der ,schlechten' Nachahmung, bei der die ,gute' Nachahmung die mimesis des Subjekts ist, findet sich bei Novalis: Der Künstler vivificin in sich das Princip einer bestimmten Individualitact u.illkiihrlich. / Es gibt eine symptomatische und eine gcnetische Nachahmung. Die Ictztc ist allcin lcbendig. Sie setZI die innigste Vereinigung der Einbildungskraft, und des Vemandes voraus. / Dieses Vermögen eine fre mde Individualitact nicht blos durch eine oberflächliche Nachwahrhaft in sich zu erwecken ahmung zu täusc hen - ist noch gänzlich unbekannt - und beruht auf einer höchst wunderbaren Pmrlralion und geis tigen Mimik. Dcr Künstler macht sich zu allem, was er sicht und sern wil l.~5}
Damit wird auf der Ebene der Theorie das eingeholt, was ,literarisch' seit der Empfindsamkeit diskursiv Thema ist: Die Darstellung der Subjektivität. Herder schrieb bereits 1770: " Denn was war diese erste Sprache als eine Samm lung von Elementen der Poesie? Nachahmung der tönenden, handelnden , sic h regenden arur! Aus den Interjektionen aUer \'(lesen geno mmen und von Interjektionen menschlicher Empfindung beiebet!"~S4 Und bereits bei Mendelssohn war ein ebeneffekt der JlJusion die "Vollkommenheit des Künstlers, die wir in ihnen wahrnehmen; denn alle \'(lerke der Kun st sind sichtbare Abdrücke von den Jo'ähigkeiten des Künstler, die uns, so zu sagen, seine ganze Seele anschauend zu erkennen geben. Diese Vollkommenheit des Geistes erregt ein ungemein grösseres Vergnügen, aJ s die bloße Ahnlichkeit 1... J".m Diese diskursive I euerung wird vor allem durch die ,ko pernikani sche Wende' in der Philosophie unrerfUne n . Bereits der britische Sensualismus, dann vor allem Kams Transzendemalphilosophie stellen die E rkennmismöglichkeit des ,Ding an sich' in Frage, privilegieren dagegen die Vorstellung des Sub jekts als unhimergehbarc Realität. Wenn ,Wirklichke.it' nach Kam nur noch auf der Ebene der subjektiven Vorstellung stanfindet, dann ergibt sich daraus zwangsläufig, daß auch der Gegenstand der Kunst nicht mehr die ,\'(lirklichkeit' ~ ,Narur'') sein kann , sondern allenfalls die Vorstellung von ihr. Daraus folgt: Die vormoderne Kunst ist die N(I(h(lhmung der N(I/J(r, die moderne Kunst ist die Nachahmung der (Narur aJs:) Jubjek/it-i/ät. 4S6 Genau dies wird aber in der [QNarumachahmung jetzt ganz einfach behauptet: Das Gerne ist Narur. ."
NOVALlS: If/rrh, Tagtbiirhtr und Brirfr FrirJrirh J'I('" 1·larrknlN'1.J. H rsg. \·on Hans-Joachim Mahl und Richard Samucl. ßd. 1-3. München, \X' ien: Hanser 1978. Bd. 2. S. 323f. I-I ERDI~R,
Jo h:mn Gottfried: Abhandlung iibtr tim UrJpmng du SprodJr. I-I rsg. von 1·lans D ietrich Innscher. Stungart: RecJam 1966, S. SO. M.ß~DF I .ssoI·I N:
AJIIKliJrht Smriflrn in AUSII'ahl. Hrsg. vo n Quo F. BeSt. Dannstadl: Wiss.
ßuchges. 1974, S. 179 1" Hauptgrundsätze der schönen Künste und Wisscnschaften'l Ein Paralldbcfund ergibt sich für anderc Medien, etwa die r..·lusik [111. 8): ,,(he shift from (... 1 musical rcprescntation 1... 1 10 whal came 10 be called musical expression in thc later cighteemh cenrury (... 1 w;lS 1... 1 a move tO\\'2rd grcaler similitude in representation"; so
\ 4\
mantischen Programmatik glasklar und unzweideutig hervo rge ho ben. In Tiecks ro mantischem Manifest, FrtlllZ Sltmb(IIdI It/andemngm (1798) wird an zentraler Stelle geäußert: ",was soll ich mir allen Zweigen und Blättern ? mit dieser genauen Ko pie PI der G räser und Blumen? Nicht diese pnam::en, nicht die Berge will ich abschreiben, sondern mein Gemüt, meine Stimmung, die mich gerade in diesem Mo mente regiert"':lS7 D iese Verschiebung von der achahmung der arur zu der D arstellung der Sub jektivität kann man ebenfalls daran deutlich erkennen, daß ästheti sche Konzepte wie ,das Schö ne' und ,das Erh abene', die zuvor auf GegenItandIwclten bezogen wurden, also etwa auf die schöne N atur oder die erhabene Landschaft, ,sub jektiviert' werden. N icht zuletzt infolge der Beeinflussung durch Kam transpo niert Schiller diese Kategorien bereits t 793 in die Sphäre des Subjekts - dem Schö nen emspricht jetzt die ,Anmut', dem E rhabenen die ,\'\lürde'. "So wie Anmut der Ausdruck einer schönen Seele, so ist \Xlü rde der Ausdruck einer erhabenen Gesinnung. « 458 D er Einfluß von Kams Erkenntnistheorie im Z usammenhang mit der Nachahmung des Sub jekts läßt sich sehr schön in der programmatischen Rahmenerzählung von E. T. A. Hoffmanns ErählzykJus Die SempionI-Briider (erschienen 18 19- 182 1) belegen. Hjer treffen sich vier Freunde, und einer, C)'pri an, berichtet von seiner Begegnung mit einem wahnsinnigen Grafe n, der sich für den Märtyrer Serapio n hält. Als C}'P ri an sich bemüht, Sera pi o n von sein er ,wirklichen' Identität zu überzeugen, wendet dieser ein: Viele haben das auch unglaublich gefunden und gemeint, ich bilde mir nur ein, das vor mir im äußern Le ben wirklich sich ereib,"en zu sehen was sich nur als Geburt meines Geistes, meiner Famasie gesralre. Ich halte dies nun ftir eine der spit:r.findigsten Albernheiten die es geben kann. Ist es nicht der Geist allein, d er das was sich um uns her begibt in Raum und Zeit, zu erfas sen vermag? [... 1Ist es nun also der G eist aUein, der d ie Begebenheit vor uns erfaßt , so hat sich das auch wirklich begeben , was er dafür anerke nnr. ~S9
Zunächst einmal ist auffti.llig, daß auch hier die Sphäre der ,Vorstellungen ' al s unhimergehbar dargestell t wird ; auch hier ahmt Kunst nicht mehr die Na/ur, sondern die Vorstelbmgtn der Subjektivität nach. Diese kantianische \'\lende vollzieht dcr T ext, aber er rcichen sie an durch die Thematisierung der ,Illusion'. Für Sera pio n - einen Beobachter erster O rdnung - ist seine BeobachNEUBA UER, John: T~ E"'(lndpotion oJMlIsftfro", umgllugr. Drporlllrtfrom J\limu/s in Eighlttnlb CtnlNry Aesl!J,hll. Ne\\' Havcn; Yalc ur 1986, S. 6f. ~S1
T IECK, Ludwig; Fronz SI(/7/baUs lWlJnJmmgrn. Hrsg. von Alfrcd Anger. Snmgart: Rcdam 1966, S. 258.
~'WI
SCHilLER. Friedrich: Sümllitbt lWrrh. Bd. 1-5.8. Auf}. Dam1Sladt; Wiss. Buchges. 1987. Bd. 5: Erzühbtngrn. ThtortliJ(~ Stbriji(R, S. 470("Übcr Anmut und Würde'<j.
,. 142
HOFI'MANN, Ernst Thcodor Amadeus: Die S(ropions.BriiMr. München: Winkler 1963, S. 26 ["Der Einsiedler Scrapion'1, im folgenden im Fließtexl zilien.
tung real (wie für Franziskus das spreche nde Kruz ifix), e rst rur einen Beobachter 7.weitcr O rd nung stellt sich se in Beobachten, seine Halluzinationen und Gespräche mit Abwesenden, als ,ILlusion' dar. Die Frage, wer dabei getäuscht wird, kann tatsächlich rur den Kamianer nur noch beobochlembbiingig beamworte t werden. Serapio n s ,Welt' e rscheim aus Sich t der ,Kunst' insofern als privilegiert, als sie (lfIsscb/iejlich aus seiner Inne rlichkeit, aus se iner Subjektivität strömt, ihm ist "die E rke nntnis der Duplizität geraubt" : " E s gibt eine innere \Velt, und die gei stige Kraft, sie in vo ller K1arheit, in dem vollendeten G lanze de s regesten Lebens zu schauen" , deren Erkenntnis sonst durch die störende " Außenwelt" (54) beeimrächtigt wird. Dadurch, daß Scrapion die Verbindung zur Außenwelt abgesc hnitte n hat, kann er sein Inneres, seine ,Phamasie' vollendet darstellen: Scrapion erzählte jetzt eine No velle, angelegt, durchgeführt, wie sie nur der geistreichste, mit der feurigsten Famasie begabte Dichter anlegen, durchführen kann. AUe G estalten traten mit einer plastischen Ründung, mit einem glühenden Le ben hervor, daß man fortgerissen, bestrickt von magischer Gewalt wie im T raum daran glauben mußte, daß Serapio n alles selbst wirklich von seinem Berge erschaut. (26f.) Dadurch wird er zum .,Schutzpatro n " der versammelten Fre unde, er wird zum Maßs tab de r N (Jchllhfllmrg des Sul!JeklS: Jeder prüfe wo hl , o b er auch wirklich das geschaut, was er zu verkünden unterno mmen [...[. \'\/enigst.ens strebe jeder recht ernstlich danach, das Bild [1[ , das ihm im Innern aufgegangen recht zu erfassen mit allen seinen Gestalten, Farben, Lichtern und Schauen, und dann, wenn er sich recht emzündet davon fühlt, die Darstellung ins äußere Leben [zu] tragen. (55) Zentral ist dabei -
und dies sei noch e inmal fe stge halten - daß die Frage der Fiklionaliläl [111. 4) auch im Kontext der modernen Programmatik der Ähnlic hke it überh(lJ(p/ keine einschränkende Rolle spiell. 460 In der Logik des ,serapio ntisehen Prinzips' ist es vö llig gleic hgültig, daß die Dichtung ein Pro dukt der Ph antasie ist - entsc heidend ist vielmehr, daß diese Dichtung ,wie wirklich' e rscheint. Die virtuelle Welt de r Dichtung hat jetzt zwar eine andere Qualität, sie kann traumhafte Züge habe n , sie kann eine Phantasiewelr sein. A be r gerade Wie schon zuvor angemc[kt (11 . 2/ 3) , muß lUusion und Fikrionalilät voneinandcr unterschieden werden. Das "Wcsen der abbildlichen \Virkung wird" von der Fiktionalität "nicht berührt" (pM, Julius: KIIn!1 Nnd IIINsion. Leipzig: Veit 1914, S. 6). Daß Fikrionalität pcr se nichts mit lUusion zu NO hat bzw. diese nicht einschränken muß, kann man auch zeicheolheorerisch herleiten. Ein Begriff oder ein Bild bedeutet auch dann etwas, wenn er keine Extension auf der ,Gegcnstandsebcnc' bcsir.n GEinhorn j . VgL ScHOLZ, Oliver R.: Bild, DarstdlNng, Ztidltn. PhiloJOpbiJeht Thtoritn biUhoJttr Dars/tI/Jlng. Freiburg/Br., r-,'Iünchen: Alber 199 1,5. 142, 5. 25ff.
143
dadurch ist sie jetzt ,wie wirklich'. Denn die Mcthode der Nachahlllung des SlIbj eklI - also der D arsteUung der ,inneren Bilder' der Phantasie - verbürgr die Realität der virtueUen Welt und ist somit ein Mittel der /I/lIJioflsJärdenmg. Diese Verschiebung der tvtimologik in Richtung einer Nachahlllung des Subjekt! erl aubt aber auch die Intcgration des genieästhetischen AutOnomie-Konzepts [VI. 2] in die Programmatik der Ähnlichkeit, indem die ,absolute Subjektivität' des Genies im Schaffe nsprozeß auf sich selbst zurüc kgreift (sich gewissermaßen ,selbst inspirien ' [IV. 3]). D ann ist die subjektive Kunst ,in sich selbst begründet'; Das Ich muß sich, als darstellend, setzen. l... ) Gibt es eine besondre darstellende Kraft - die blos um darzustellen, darstellt - darstellen, um darzustellen ist ein F "!),tJ Darstellen. Es wird damit nur angedeutet, daß nicht das Obilecr] qua solches sondern daJ leb, als Grund der Thiicigkeit, die Thätigkeit bestinunen soll. Dadurch erhält das Kunstwerk einen freyen, selbsmändigen Isicl idealischen Karacter - einen imposanten Geist - denn es ist Jjeh/bo m Produkt eines Ich.>1(,1
Mit dieser diskursiven Konfiguratio n erzielt die romantische Programmatik der Ähnlichkeit eine Innovation, die bis heute gilt. Denn bis in unsere Tage wird ,Kun st' verstanden al s ,DarsteUung' ein es Ich, als ExpressitJi/ij/ des modemen JlIl?jekls (weswegen bis heute in kreativen Beru fen an einen hohen Grad der ,Selbstverwirklichung' geglaubt wird). An diesem Punkt läßt sich aber auch das sprarb/iche Medium ffiitTIologi sch aufbauen. Der histOri sche Hintergrund ist, daß in der aufkommenden Thematisierung der Medialitä t im 18. Jahrh unden vor allem am Text/ Bild-Vergleich durchgespielt wird, ob MaJerei oder Dichtung (oder auch Musik) die ,höchste' Kunst sei. D abei geraten die sprachlichen ,Nachahmungen' der Literatur tendenziell in Beweisnot, da die Ähnlichkeit des Bildes im Sinne einer Nachahlllung der Na/Irr für viele Autoren eine höhere Evidenz besitze Es gibt zwar immer wieder Vorstöße, die sprachliche Nachahmung zu motivieren, einerseits in Richtung O nomatOpöie, aber vor allem seit Breitinger im Rückgriff auf die (aristotelisch gep rägte) Metapher, und auch Utopien einer kratylischen Signi fikation [11. 3] schreiben sich weiter for(. 462 NOVALlS; IIYtrh, Tagtbii(htr ,md Bn4e' Fn·rdrich l'(JIf l-Iord",bt'l,J. H rsg. ,'on Hans-Joaehim Mähl und Riehard Sanme!. ßd. 1-3. r-,'!ünchen, Wien: Hanser 1978. Bd 2, S. 194. Die kratylische Sehnsucht ist eigentlich durchgängig fe stzustellen; so bemüht sich noch Nova\is. die Idee ,natürlicher' Klangfiguren, deren Herstellung Chladni in Entdrclamgtn übt,. die TINori, du Klangt! 1787 vorgestellr hane, rur eine Phonomimetik urbar zu mach en: ,Jedes Wort sollte eine ac ustische Fo nncl seiner Construccion, seiner Aussp rache seyn die Aussprache selbst ist ein höheres, If,iHlisclm Z rieh", einer höheren Aussprache. Alles dies hänh'f an den Geserzen der .IhJoriolion. Die sog[enannte] willkürlichen Zeichen dürften am Ende nicht so willk[ührlichJ seyn , als sie scheinen - sondern dennoch in einem gewisen Realnexus mit dem Bezeichneten stehn. Inscinktartige Sprache - Ausartung des In stinkts - con\'enoo nelle Sprache - diese soll wieder instinktarrige, aber gebildete Sprache
144
Auf der anderen Seüe gibt es jedoch gänzlich neuartige Vorstöße hin sichtlich der Frage, wie man sprachliche Kommunikation als ,natüdiche Signifikauon' auffassen kann . Eine Pioniertat zur Profilierung der sprachlichen mimesis ist schon Lessings u lOkocn. Hier wird erstmals in den Blick gebracht, daß bildliche Darstellungen " nur einen einzigen Augenblick" des Geschehen s darstellen können, wohingegen sprachliche D arstel1ungen in der Lage sind, Prozesse in der Zeit (,HancUunge n') nachzuahmen:'63 Durch die Verschiebung der Programmatik der Ähnlichkeit zur NochohmlllJg des Suijekls kann nun eine weitere mimologische Dimension hinzuge fugt werden. Denn gerade die Sprache kann man der menschlichen VorstellungsweIt al s besonders nah oder sogar kongruent auffassen.ol64 Und das wird explizit im Hinblick auf ihr Medill'" herausgestell t. Novalis etwa fonnuliert: " Poesie ist D arstellung des Gemüths - der innern \Velt in ihrer G esamtheit. Sc ho n ihr MediulJI, die Worte, deuten es an , denn sie sind ja die äußre O ffenba rung jenes innern Kraftreichs."465 Bei August Wilhelm Schlegel heißt es: D as M tdillHl der Poesie aber ist eben dasselbe, wodurch der menschliche G eist überhaupt zur Besin nung gelangt, und seine Vorstellungen zu willkürlicher Yerknüp fung und Äußerung in die Gewalt beko mmt: die Sprache. D aher ist sie auch nich t an Gegenstände gebunden, so ndern sie scha fft sich die ihrigen selbst; sie ist die um fa ssendste aller Künste, und gleichsam der in ihnen überall gegenwärtige Univcrsalgeist. oI66
werden." (NOVALlS: (W,rkt, Tngtbikbtr Nnd Brirft Fn't(Jrifh 1!'O n I-Ionltnbtrgs. I-Irsg. vo n '·Ians) o achim Mähl und Richard Samue!. Bd. 1· 3. München , Wien: Hanser 1978. Bel 2, S. 540); ferner träumt Novalis \'on der Wiederkunft einer ideomimetischen Sprache: " Das wird die goldene Zeit ser n, wem} alle Won e - FigNrtnu'O rlt - t-,'Iythen - und alle Figuren Sp rachfiguren _ Hieroglr fen se)'n werd en - wenn man Figuren sprechen und schreiben - und WOrte \'o llko mmen plascisieren, und Musicieren lern!. Ber de K ünste gehö ren zusammen, sind unzertrennlich verbunden und werden zugleich vollendet werden." Ebd., S. 458. Vg.1. neben den Kapiteln zur Neuzeit in GENET I'E, G crard: MimoJogiletn. Rrise narh Kro!Jlirn. Ubers. von M. vo n KiIlisch-Horn. München: Fink 1996 11976J ferner Z IMMERMANN, ) ö rg: "Asthecisehe Erfahrung und die ,Sp rache der N arur.'" In: Sprofm Nnd IPt/I,tjahnlng. H rsg. vonJ. Z. München: Fink 1978, S. 234-256 und G OODSODY, Axcl: N O/Nr-
sprocb,. Ein difh/ungJlmorttiJ(hu K.t;nztpl Jer RDmanfik. Nlld Jtillt WirJtraujnahme ill der modtmrn dtNllfhrll Na/u,ryn'k. (Nol'tJliJ - EitmnJo1f'. 0 h",olln - Eifh). Neumünster. Wachho \tz 1984. Vg!. LESSING, Gon ho ld E phraim: Lookoon odtr Obtrdit Glrnzell Jer Mo/mi Nnd Potn·e. \-I rsg. von Ingrid Kreuzer. Stungart: RecJam 1994, hier $cite 11 5. Vgl. etwa: "Wenn Wö n er nicht bloß Z eichen, so ndern gleichsam die Hüllen sind, in welchen wir die G edanken sehen l!J: so betrachte ich eine ganze Spr:ache, als einen Umfang von sichtbar gewordenen G eda nken"; H ERnER, Johann Gottfried: Siim",,/idJl Wtrke. Bd . 1-3 1. H rsg. vo n Bemhard Suphan. Bedin: Weidmannsehe Buchhandlung 1877 ff. Bd. 2, S. 12 ~ ,Ue ber die neuere deutsche U n er:atur' l Herder enrwirft dann das P roje kt einer "Semio tik" als " Enr-L.ieferung der Menschlichen Seele aus ihrer Spr:ache" (ebd .• S. (3). NOVA LlS:
(W,rkt, Togtbiirhtr Nlld Bn'tft Fri,drifh
11011
Hardrnbttgs. Hrsg. \'on Hans-) oachim
Mäh! und Richard Samue!. Bel. 1-3. München, Wien: Hanser 1978. Bd. 2, S. 810 (meine Hervorhebung). SOU.EGEL, August WilheIm: Kritisdlt 5{hnJitn lind Britft. Bel . • -6. H rsg. von Edgar Lohner. Srungan: Ko hlhammer 1962ff. Bd. 2: Dir KJinJllthrt. S. 225 (meine Hervorhebung).
145
Das Medium der Sp rache erhält also eine mimologische Aufwe rrung, weil man annimmt, es sei den ,Gedanken' und ,Phantasien' der Subjektivität, die es abbildet, besonders ähnlich. Man könnte zuspitzend behaupten, daß eine mimesis von ,Gegenständen' tendenzieU die Ähnlichkeit des BiJdes bevorzugt, wo hin gegen die neuartige mimesis des Subjekts plötzlich der Sprache eine völlig neue Bedeutung verleiht. Tatsächlich fmden sich Belege für diese Auffassung, etwa in Novalis' Heinn"ch VOll Oflerdingen: Bc}' dcn Bildcrn ist die Natur die herrlichste Lchrmeisrerin. Sie erzeugt unzäh lige schöne und wunderliche Figuren, giebt die Farben, das Licht und den Schatten, und so kann eine geübte Hand, ein richtiges Auge, und die Kenntniß von der Bereirung und Vennischung der Farben, die Namr auf das vollko mmenste nachahmen. Wie natürlich ist daher auch die Wirkung dieser K ünHc, das Wohlgefallen an ihren Werken, zu begreifen. l...] da unsre Sinne dazu \·on der N atur, die auch jenes hervorbringt, so eingerichtet sind, so muß uns auc h die künsruche N achahmung der N amr ge fallen. Die N atur will selbst einen Genuß von ihrer großen Künstlichkeit haben, und darum hat sie sich in den r.,·lenschen "erwandeh, wo sie nun selbcr sich über ihre Herrlichkeit freU[ [... 1. Dagegen ist "on der Dichtkunst sonst nirgends äußerlich etwas anzutrcffen. [... 1 Es ist alles innerlich, und wie jene K ünstler die äußern Sinne mit angehmen Empfindungen erfüllen, so erfüll t der D ichter das inwendige Heiligthum des Gcmüths mil neuen, wunderbaren und gefalligen Ged anken. Er weiß jene geheimen Kräfte in uns nach Belieben zu erregen, und giebt uns durch \'\Ione eine unbekannte herrliche Welt zu "ernehmen:'67
Ab nun stehen dem Rezipienten also zwei Rezeptionsweisen de r Ähnlic hke it zur Verfügu ng. Er kann - vonnodern und ,naiv' - Texte als Nachahmung der Narur lesen; er kann - modern und ,subjektiv' - Texte als DarsteUunge n von ,Ph antasien' oder ,Vorstellungen' enrziffern. Dadurch aber läßt sich wiederum die G röße des Aulors auratis ieren. Denn aus der nun gewonnenen diskursiven Konfiguration heraus liegt es jetzt nahe, virrueUe \'(Ielten als N ach ahmungen des Autorgeistes zu dechiffrieren. Ein schöner und früher Beleg ist folgend e Charakterisierung des idealen Lesers du.rch Lenz (1774): Werd ich l!] gelesen und d er Kopf ist so krank oder so klein, dass alle meine Pinselzüge unwahrgenonunen vorbeischwimmen, geschweige in ein Gem älde zusammenfließen - Trost! ich wollte nicht gelesen werden. Angeschaut. \\' erd ich aber vorgestellt und verfehlt - so möch t ich Palette und Farben ins Feuer schmeißen l... ]. Aber wie gewinnen könnte ich (saf::,rt der Künstler) 0 welch ein herrlicherer Dank? welch eine seligere Belohnung aUer ;"'fühe, Furcht und leiden [... ] - als meine Ideen lebendig gemacht, realisiert zu sehen. Zu sehen das
NOVALlS: IW,rkt, Tagthürh,r lind Bn"tft Fn"tdn"rh 1'On l-Iardrn,"'l!,J. Hrsg. von Hans-Joachim Mähl und Richard Samucl. Bd. 1-3. München, Wien: Hanser 1978. Bd. I, S. 255f Il-Itilln·rh IlOn Ofttrdingtn, Erster Teil, Die Erwartung, 21.
146
Ganze und seine Wirkungen, wie ich gedachte. 4U
Lenz' Beschreibung der literari schen DarsteUung beront die Ahn/ichkeil durch den rypischen Verweis auf die A nschaulichkeit ikonisch· bildlicher Darstellungen. Die ,Pinselzüge' des Texts soUen beim Leser zu einem ,Gemälde zusam· menffießen', und wenn das gelingt, wird eine Unumerscheidbarkeit von Ab· bild und Urbild suggeriert, dann nämlich erscheim einem der Auwrgeist selbst. Die Moderne begreift daher Literatur al s ,Selbstdarstell ung' ihrer Auto· ren [VI. 2]. Das gilt einerseits in einem ,wörtlichen' Sinne und im Rückgriff auf die gerade von Rousseau erfu ndene Ka(egorie der modernen Auwbiogra· phie al s Darstellung der Seele ihres Verfassers: Ich plane ein Umernehmen, das kein Vorbild hat und dessen Ausfü hrung auch niemals einen Nachahmer III find en wird. Ich will vor meinesgleichen einen Menschen in aller \X' ahrheit der N atur zeigen, und dieser Mensch werd ich sein. I...] O ie Posaune des Jüngsten G erichts mag erschallen, wann immer sie will, ich werde VO f den höchsten Richter treten, dies Buch in der I-land, und laut werde ich sprechen: " Hier ist, was ich geschaffen, was ich gedacht, was ich gewesen . Mir gleichem Freimut habe ich das Gute und das Böse gesagt. Vom Bösen habe ich nichts verschwiegen, dem Guten nich ts hinzuge fügt t.. .]. Ich habe mich so gezeigt, wie ich gewesen bin: veräch tlich lind niedrig, wo ich es war, und ebenso edelmütig und groß, wo ich es war: ich habe mein Inneres so enthüllt, wie du selber es geschaut hasl, ewiger G eist."46?
Schlegel erläutert 1800 im Blick auf Ro usseaus Conftssio"s, "daß das Beste in den besten Romanen nichts anders ist als ein mehr oder minder verhülltes Selbstbekenmnis des Verfassers".47o Friedrich Schlegel hat dieses Programm selbst angewendet, als er fast zeitgleich (1799) den Roman vlrinde veröffem· lich t, in dem er bekanntlich seiner Liebesbeziehung zu D oroth ea Vcit ein lite· rarisches Denkmal setzte. Wie ,direkt' oder ,indirekt' autObiographisches Erle· ben in diesen Text einge flochten ist, spielt hier keine Rolle. Fakt ist, daß der L E..~Z, J a kob
l\1..ichacl Rcinhold: If/ rrkt. H rsg. von Friedrich Vo it. Sruttgan: Redam 1992, S. 386 [,.Anmerk ungen übers 1h"!ater'l .IIJ'1
ROUSSEAu, J acques: &ktnnlnÜu . Übers. VOll Ernst 1·lardt. Frankfurt/ M.: Insel 1985, S. 37. Bemerkenswert an dieser Stelle ist auch, daß der abso lule Logos des gönlichen apokalyp tischen Gerichtsbuchs [IV. 2) ersetzt wird durch die sclbslyerfaßte Biographie. Der T ext laulet im Original: ,J e fonne un entreprise qui n'eut jamais d ' excmple CI do nt I'cxec:utio n n 'aura poinl d'imitateur. J e \'eux montfer a mes semblables un homme dans toute la "erilc de la narure; Cl cel ho mme ce sera moi.[ ...] Que 1a lrompctte du jugement dcrnier sonne quand elle voudra, je viendrai, ce livre a la main, me prcsenter devant le souverain juge. J e dirai hautement: Voila ce que j'ai fait, ce que j'ai pcnse, ce gue je fus. J'ai dit le bien el le mal avec la mcme fran chise. J e n'ai rien tu de maivais, rien ajoute de ban [... J. Je me suis montre lel que je fu s; meprisable el vii quand je ,'ai elc, ban, genereux, sublime, quancl je I'ai eIe: i'ai dcvoile mon intcrieur tcl que tu LElre cternel1 l'a5 \'U w i-mcme." D efS.: Lu COnjtJliO,'S. H rsg. "on Acl. Vaan Be"er. PliriS: G amier : 926, S. 9f.
470
SCHLEGEL, Friedrich: Krif/J(heAusgobe. Bcl. 1· 22. r-.-Iünchc n
Cl
al.: Schö ningh 1958ff. Bd. 2:
ClJOfukJrrislikrn und Kn·Ii/un 1, S. 337.
147
erotische Text von den meisten Zeitgenossen als ,autObiographisch' gelesen wurde; als ,Skandalro man' ist er möglicherweise der meistgelesene romantische Ro man überhaupt. 471 Aber auch im weiteren Sinne ist Poesie ab jetzt ein ,,(reller Spiegel der MtIIschenseele".412 Und damit begründet die Ro mantik eine Lektüre, die Texte al s ,Spiegel' der Individualität ihrer Urheber begreift. Im berühmten ArhenäumFragment 116, dem ,Manifest der Romantik', erkJärr Friedrich Schlegel zu r ,romantischen Poesie': Sie kann sich so in das Dargestellte verlieren, daß man glauben möchte, poetische Individuen jeder Art zu charakterisieren, sei ihr Eins und Alles; und doch gibt es noch keine Fonn, die so dazu gemacht wäre, den Geist des Autors voll ständig auszudrücken: so daß manche Künstler, die nur auch einen guten Roman schreiben wollten, von ungcfahr sich selbst dargestellt haben. m
Als Fazit bleibt nun, daß die allgemein verbreitete Auffassung einer ,Ü berwindung' det Programmatik der Ähnlichkeit in der Romantik unzureichend ist. Es ist zwar richtig, daß der Begriff der ,Nachahmung' durch die Auffassung vo n der schlechten Kopie in Mißkredit gerät, aber hier darf man nicht auf Parolen hereinfall en ~ Ja keine Nac hahmung der Natur. Die Poesie ist durchau s das Gegenteil") .474 Die Programmatik der Ähnlichkeit wird lediglich mit dem Konzept der Originalität [VI. 2] verkJammerr, und sie voUzieht dabei zugleich die kopernikani sc he \'\fende - die mediale Welt repräsentiert ab jetzt ,Vorstell ungen', die Literatur wird zur Expressil!itäl des schiip flriscben (- naIJlr-iJhnlicbm) S"bjekts. Wie o ben ersichtlich, wird diese Darstellung des Subjekts zumeist explizit aus dem T heorem der Nochobfllu!lg der No/ur transpo niert. I n der Logik der Nochabllllmg des S#bjekls ist die idea.le Rezeptio n dann nicht mehr die lUusion des Gegenstands, sondern die lUusion der aukroriaJen Vorstellungswelt. Was bleibt also bes tehen von der These einer angeblichen ,Ü berwind ung des Nachahmungskonzepts durch die Ro mantik'? Das Ko nzept der Nochoh· /)Jung der Natur wird wenn überhaupt parolenhaft abgelehnt, aber vielmehr sublimiert durch eine Neufassung im Sinne einer Nachah fllung des Subjekls. Parallel dazu bleibt das Ideal einer ,lebendigen Gegenwart" einer illusio nären Macht der virtueUen Wirklichkeit durchgängig erhalten. Die Unterscheidung zwischen der ,guten' und der ,schlechten' Ähnlichkeit
'"
Vgl. den Kommentar in SCHLEGEL, Friedrich: KriliJ(he AIIJgabe. Bd. 1-22. München el al.: Schöningh 1958ff. Bd. 5: Dichlllngen, S. LV .
m
SCHLEGEl.. Friedrich: KriliJrm ANJgabt. Bd. 1-22. München CI al.: Schöningh 1958ff. Bd. 2: Chara!eJmilihn Nnd Kriliken I, S. 356 (meine Hervorhcbung).
m
SCHI...EGEI.. Fricdrich: KriIiJdH AlI1gabe. Bd. 1-22. München er al.: Schöningh 1958ff. ßd. 2: CharaleJenJliktn Nnd Kn"liken J, S. 182. NOVALlS: Wtrh, Tagtbiühtr Nnd Bn·ife Fn·edn(h nJn Hanknbetg1. Hcsg. von Hans·Joachim Mäh! und Richard Samucl. Bd. 1-3. München, Wien: Hanser 1978. Bd 1, S. 737 [Brief an Bruder Karl, Ende März 1800].
148
bleibt bestehen und wird im 19. Jahrhundert infolge der wachsenden Kluft zwischen ,hoher Literatur' und der ,Trivialliteratur' sowie ,mechanischer Reproduktionsrechnologien' zunehmend in strumentalisiert - zur Hierarchisierung von Rezep tionsweisen. Aus dieser Logik ergibr sich cüe Spirale einer Dialektik der ,naiven' Lektüre der Ähnlichkeit und einer sich davon absetzenden ,ästhe tischen' Lektüre intellektueller Eliten. "Schon das im 19. Jahrhundert zu datierende Aufblühen der Trivialliteratur, des Kitsches oder der zum al sbaldigen Konsum bestimmten Künste l... J ist eine gegenläufige Erscheinung zum L'Arl pOllr l'A rf'.475 Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts kö nnen sich ,triviale, unreflektierte' Rezep tionswcisen, die ,bloß' in der Aktualisierung der dargestellten \X1elt stek kenbleiben, die also nicht zum Phantasma der autori sierten Dichtervorstellung oder anderen präferierten Rcferenzen476 fü hren, den Vorwurf der Naivität einhandeln . Das gilt bis in die heutige Zeit. Bei Kris/ Kurz heißt es dementsprechend zur bildenden Kunst, der Standpunkt der Natur-Ähnlichkeit sei "ein durchaus naiver; man hat ihn darum auch als den Standpunkt der Laienoder Eindnlcksäs/he/ik bezeichnet: Sie rechnet es dem Künscler zum Lob an , daß er das Vorbild der Natur in seinem Werke getreu nachschafft." m In einem anderen T ext wird eine vollständige lUusion im Schauspiel als ",primitive' Verhaltensweise" von Ungebildeten und Kindern beschrieben. 478 Bei Gueeti heißt es, " realistic fictio n is [...]. at least by design, no naesthetic".479 Hagscrum muß sein Interesse für die mimetischen Aspekte von Literatur und Kunst geradezu rechtfertigen und bekennt entschuldigend: "art l... [ must necessarily be lIlore than the mere reduplicatio n of perceptible o bjecrs".48J Auch die Rezeptionstheorie schreibt diese Unterscheidung fo rt. Die Le ktüre de r IlJusio n sei " am reinsten und uneingeschränktesren l...J in der Rezeptio n des Kindes" ausgeprägt, welches die " Imaginatio n" noch in völlige r " Rückhaltlosigkeit" erfahre. Die entsprec hende Textgattung ist die " Ko nsumliteratur, die übe rhaup t nur {tl als Auss toß ftir die E rzeugung ill usionärer \Virklich-
m
J AUß, H ans Roben: A s/lJthidJt E11lhung und httrtuisrlJt I-Itr11IMtutiJe. 4. Aufl Frankfurt / M.: Suhrkamp 1984, S. 126. Im übrigen wird die Modem e diese Spirale der ,überwindung' naiver LeklÜren in IX«JJU fonschrauben. Am Ende des 20. Jahrhunden s erscheinen d ann die Leser des Aurorgeistes als naiv, denn sie erkennen nicht das ,formale System des Kunstwerks' oder die ,i\-laterialitäl des Textes', und so weiter (111. 6 / 8) . KRIS, Ernst und Duo KURZ: Die Ltgrndt /'Om KiinJ/ltr. Ein gtJchirhtli{hrr Vmu{h. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1995, S. 89.
". 479
KRIS, Ernst: Die ii;/hth·srht //hiJion. Phiinomtnt dir Ntn!1in dir Sirhl dir P!J(hoano!JJt. Übers. \'on PCler Schütze. Frankfun / i\L Suhrkamp 1977, S. 42. G UErI1 , J ames: lP'oro·MJlnc. Tht Au/mh·{ AJfN(t of Narrative Fiction. New ß runswick/ N. J .: Rurgers UP 1980, S. 173f. H AGSIlWM, Jean H.: Tht SiJllr Ar/!. The Tradition ofU ttrll'J Pirlorio"·sm (lnd E ng/iJh POitryJrom D'J'dtn /0 Gr~. Chicago: University of Chicago Press 1958, S. 16 (meine Hervorhebung).
149
keif d urch den Rezipienten eine Funk tion har."481 D ementsprechend wird das "Lesen" von "Trivialro manen" al s "aktive Leseverweigerung" bezeichnet, weil es sich "jeder hö heren l!l Fo nn der Rezeptio n" verschließt.482 \'V'ie sieht diese ,naive Le ktüre' nun aus? Diese Frage kann eine klass ische Studie beantwo rten, die zu eine r Zeit entstan d, al s der Ro m an im Hinblick auf seine \'V'irkung noch mit dem Kino ko nkurrieren kann; die Rede ist von Leavis' Fidion ond Ihe Rt(,ding Pllblic (1932). Leavis urteilt in dieser Zeit noc h über das Medium des Ro mans: "A n ilJusion o f life so vivid that o ne can be persuaded o f its reality is given by fiction alone".43J Lcavis hat nun für ihre Studie eine Um frage unter po pulären Autoren ihrer Zeit durchgeführt und sie befragt, wo rauf sie ihren E rfolg zurückfti hren. Die überwältigende Mehrheit der Antworten erklärt den E rfolg durch die Mac ht der Illusio n, die befragte n Autoren zitieren Fanpost: YOli have the power
I... ] o f making
rOUf charaClers lit't. T he)' become one's
frie nd, . 1/ /1 All the pcop le who live in the p ages of your work are so intensely real. Ooe knows them as fricnds. 1/ / ] Your c haractcrs are so human that the)' live with me as frie nds. I... ] T hc)' are alJ " al men. with real men's rcmp tations l.. .J.48-1
Ein Autor an twortet: " M y chief (/Nd nll-tlbsorbil1g cancern is fo r the charac rers: to stechern vividly, to fteh hem fro m man)' points of view".485 Die ,naive Lektüre' wird hier exakt analog zu den bislang erarbei teten Ergebnissen beschrieben: Ih re fa szinierende Wirk ung liegt in de r Wi rklichkei tsillusion der virruellen Welt begründet. D iese ,naive LektÜre' ist nun - in wei cher f orm auch immer - Bes tandteil einer jeden Rezeptionshandlung. Sel bst die im G ravita do nsfeld der Ästhetik argumentierend e Rezepd o nsrn co ri e schließt die ,naive Lektüre' nichr aus. Die ,naive Le ktüre' ist hier - analog zu dem Srufenmodell det Äs thetik, das o ben etwa am Beispiel von G oeth e besprochen wurde - gewissennaßen das Fundament, der erste Schritt. Bereits bei Ingarden ist die Stufe der ,Illusion' mithin eine Vorstufe der ästhecischcn Lektüre: "D enn im Literarischen Kuns rwerk sollen nicht bloß bestimmte D in ge und Menschen mit sprachlichen Mitteln intentio nal entworfen werde n, sondern sie sollen sich in entsprechend gewählten Ansichten dem Leser ifi-
STIERI.E, K2rlheinz: "Was heißt Rezeption
bei fiktionalen Texten?" In: P()(ti(a 7 (I97S),
S. 345-387, hier S. 358f. Ebd., S. 360.
LEi\. " IS, Q uccnie Dorothy: Fi(tion and Ibl Rrading Publir. London: ßellew 1990 [19321, S. 51.
Ebd., S. 58. Ebd., S. 59.
150
gen."w, Und auch bei Stierle darf immerhin in der ,ersten Lektüre< Illusio n herrschen.487 Wie man sich ,hö here' Srufen der Lektüre vorzustellen hat, wird alsbald deutlich werden [III. 1/2/6).
8. Fazit und Ausblick: Virtuelle Realitäten (P/aySlalioll) Die Programmatik der Ähnlich keit fundiert sich seit ihrer Grundlegung in der griechischen Antike auf der Annahme, daß Zeichen solange Ähnlichkeiten mit ihrem G egenstand akkumulieren, bis die mediale Repräsentation eine ,täuschend echte Wirklichkeirsillusion' er-.leugt. Auf diese Weise erzeugen virtuelle Welten dann das Phantasma, im Vollzug vo n Ko mmunikation durch das Mittel der Ahnlkbkeil die ,Überwindung< und ,Ü berschreitung' der Kommunikation herzustellen. Die Ähnlichkeit ist der ebenso kontinuierliche wie vergebliche Versuch der Kommunikatio n, ihrem ,Gegenstand' so nahe zu ko mmen, daß sie sich dabei selbst auslöscht [lI . 1] . Ähnlichkeit kann dabei nicht durch den Rekurs auf eine außerkommunikative \'Virklichkei t fundiert werden, sondern ist eine G röße, die ausschließlich sysremjmmanen r konditioniert wird. So gesehen ist Ähnlichkeit eine historisch beobachtbare Größe, es gibt zeitlich varüerendc ,Stile der Realismen' [II. 2]. Bereits in der Antike ist die Programmatik der Ähnlichkeit gekoppelt an emphatische Kommunik ation wie etwa Theater und bildende Kunst. Plawn und Ari stOteJes enrwickeln den theoretischen Rahmen kraft Ähnlichkeit erzeugter ,virtueller Wirklichkeiten', der bis heute G elrung besi tzt [lI. 3). Im ~1i[telalter wird die Programmatik der Ähnlichkeit vo r al lem eingesetzt, um die Universalien des christlichen ordo transparent zu machen [11. 4] . Daneben gibt es etwa in der höfischen Literatur Ansätze, die Simulation auch im profanen Bereich zu etablieren [II. 51 . Die Kunst als emphatische Ko mmunikation der Moderne dockt in der Renaissance fest an die antike Mimologik, vor aUem an die aristotelische Maxime der N(lCbahllJllng der N atur, an, gerät jedoch besonders im 18. Jahrhunderr in Ko nHikr mit der entstehenden Ideologie der Originalität [VI. 2). Dies führt einerseits zur Unterscheidung zwischen einer ,ideali schen' Nachahmung und der schlechten Kopie [11.6]. Andererseits wird die Maxime der N achahmung der Na tur im Ko ntext der transzendentalphilosophischen Wende in die Sphäre der Welt als Vorstellung tran spo niert. D eshalb wird moderne Kunst zuneh0186
LNGARDE..~, Roman:
Vom Erkrnnrn du lilmm jrhtn J01nJIu-'trle.s. Tübingen: Niemcyer 1968,
S. 57. -187
D arauf hat jedoch die "zweite Le ktüre" der " D urcharbcirung" zu folgen; "gI. STIERLE, Karlheinz: ,,\Vas heißt Rezeption bei fiktionalen Texten?" In: POthm 7 (1975), S. 345-387, hier S. 367f.
151
mend zur Nachahmung des Sub jekts und seiner Innerlichkeit [11. 7] . Generell gilt für die emphatische Kommunikation der Moderne, daß neue Technologien der Herstellung von Ähnlichkeit oder aber die PopuJarisierung emphatischer Kommunikatio nen zu einer zunehmenden Abse tzungsbcwcgung einer avantgardistisch verstandenen Kunst [111. 6] von einer ,naiven' Lektüre der Ähnlichkeit ftihren. Dies schränkt die Relevanz emphatischer Lek ruren der Ähnlichkeit jedoch keinesfaU s ein. Ganz im Gegenteil ist die transparente ,Lektüre der Ähnlichkeit' in der heutigen Zeit die absolut dominierende Rezeprionsweise. Denn wie in jeder Zeit bedient sich die emphatisc he lektüre virtueUer Welten stets des "vorläufigen Gipfels der IIlusionstechnologien"4S8 - und das sind heute Kino, Fernseh en und Compute rspiele. Na rürlich sind gerade di ese Medien Z ielscheibe d er Kulturkritik. In A nbetracht des " triumphalen Vonnarschs elektronisc her Kommunika tion s- und Infonnationsverarbeirungstechno logien"489 läßt sich diese Sicht jed och nur noch für immer kleinere Rezipie n tenkreise wirklic h a ufrechterhalten [[1[ . B} . D em e ntsprechend hat sich bereits in den sechziger Jahre n ein W ide rstand gegen de n elitä r-ästhetische n Vorwurf der Naivität fonni ert. Fasz inierend ist d abei, daß sich die Wertung verkehrt, die z ugrundeliegende T op ik selbst dabei nicht angetastet, ja nicht eirunal wahrgenommen wird - die virtuelle ,Oberfläc hlichkeit' ist dann ebe n ,gut'. E in Beispiel: Susan Sontag preist das Fernse he n als ein Medium, d as gerade nicht interpretiert werden soll, als Medium der "Transpare nz", sie favo ri siert Kunstwe rke, " de te n Obernäche so geschlossen und klar, deren Impul s so stark und de re n Sprac he so dire kt ist, daß das We rk · k ann ... nun, ganz em · facl 1 se ·m k ann , was es 1St. · ..490 sem Ähnlich verh ält es sic h, wenn Marsha U McLuhan in Undtrs/anding i\lltdia (1964) d as Fe rnsehen geradez u als E rlösung b egreift , an ihm seine mime tische Fähigkeit zur Syn ästhesie, als "unified sense and imaginative life", herauss tell t und gerade die Immanenz dieses Mediums anpteist: Thc >,oung pcople who havc cxpericnccd a dccade of TV have naturally imbidcd an urge toward involvemcnr in depth mat makes all the remote visualizcd goals of usual culture seem not onl}' unreal but irrelevant, and not o nl}' irrelevant but ancmic. It is thc total mvolvcmcnt in all-inclusivc 1I0WIIUS that occurs in }'oung livcs via TV's mosaic imagc. 4?1
RO·I-LER, F1o rian: "Ästhetische Herausford erungen von Cyberspace." In: RAIIIII lind Vtrfah· "n. !-Irsg. von Jörg Huber wld Alois Mactin r.,'lüller. Basel, Frankfurt / M.: Slrocmfcld, Roter Stern 1993 (::: Interventionen 2). $. 29-42; hier $. 31. BIRKERTS, $ven: Die GNltn/xrg EI«;rn. Lm n im dtkJmn;J(hrn Zti/(llle,.. ü bers. von K un Ncff. Frankfurt/ M.: Fischer 1997, $. 9. ~90
$ONTAG, Susan: ".Against Interpretation." In: S. S.: KunJI lind Anti/eNnJI. 24 hitrariJ(ht Ana!prn. Rcinbck: Rowohlt 1968, S. 9-18, hier S. 16.
'"
Mc LUI·IAN, MarshaU: Undmla1ld;nl!. Media. The E-.:"ltnJ101lJ Rouuedge 200 1 [1964] , S. 366, zuvor $. 344.
152
0/ Man.
London, New Yo rk:
A n der Beschreibung dieser ,o be rflächliche n Immanenz' der an unseren A u ~ gen vorbeiffimm emden virtueUen \'(Ielt, ihrer ,Gegenwärtigkeit' und , Konkrer~ heit' hat sich b is he ute wenig geändert: Die Inhalte werden als flüchtig empfunden (... 1. Das Tempo ist rapide, ein S tak~ kato von In fonnationsschübcn, die Grundbeweb'Ung mehr ein horizontales Assozüercn als ein vertikales Kumulieren I.. ,}, Hinzu kommt, daß visueUe wie nichtvisucUe elektronische Komm unikationstechnologien im Benutzer auf ei~ nen verstärkten G egenwartsbezug des Bewußtseins hinwirken, das sich in folgc~ dessen im ständigen fl uß befindet. m Man mag diesen Medic nwcchsel b edauern ode r anpreisen , an seine r Faktizität ist nich t zu rütteln. Rainald Goe tz kommentiert d as in seine m T ext Ratle, und zwar in eine m Kapitel, das e r "Ästhetisch e Theorie« ne nnt: D ie Konstruktion von Gesicht: das sich Zeigen. Wie das alles funktioniert. Was für eine Erkenntnismaschine da dauernd läuft, was flir ein wirklich unglaubliches r-.knschen-Zeigeding das Fernsehen ist. Fertig. Ganz kurL Abschied, Wiedersehen, dankeschö n. I...J Sprache: 00. Yes: ein ko nkretes Lcbeo. 4'H Der Traum, den die Programmatik de r Äh nlichkeit von Zeuxis (II . 1] bis z um C)'berspace der P/t!yS/tlf;on e rzeugt (.täu schen d echtlj, ist jedoch stets dersel be. Und wie zu jede r Zeit glauben auch wir, daß unsere überlegenen, digital e rze ugten ,virtuellen \'(Ie!ten,494 baJd die Gren ze zwischen Medium und Wirklichkeit einbreche n lassen: "In der dritten Welt de r Zivilisatio nen wird l...J der Urkonilikr von l...J Wirklichkeit und Phantasie aufgehoben."m In dem Press- Release Text für das P/qyStol;on-S piei GelO1vtfY (Mark teinführung Weihnachten 2002) heißt es: Eine atemberaubend realistische Erfahrung, die neue Maßstäbe in der Unterhaltung setzt und die die G renzen zwischen Film und Spiel verschwimmen lässt - Tht Gtlau''!Y™ (Alters freigabe ab 16) ist wahrhch die nächste Generation. 1... 1 Der Schauplatz von Tbt Gelllu-'tryTM ist vieUeicht die größte, lebendige Umwelt, die je in einem Videospiel zu sehen war: Über 50 QuadratkilOmeler im BI RKERTS, $ven: Dir Gutenbt'!, Blrgien. L.mn im tldetroniJthen Zeitalter. Obers. von Kun Neff. rra nk fun / ~l : r ischer 1997, S. 166
m
GOErl., Rainald:
,.
VgJ. auch RHf-INGOI..D, Howard: Virluelle 1J7t1ttn. Rlistn im Cybtnpacr. Reinbck: Rowohlr
Rat'!'.
ErziiMmg. Frankfun: Suhrkamp 2001, S. 264.
1992. BREDEKAMP, H orst: "Cyberspace, em Geisrerreich. Freiheit fürs Internet. Eine Achter-
bahn durch die Reste der zerfallenden Utopien." In: Frankfurler Allgemtine Ztitung von Sam stag, 3. Februar 1996, Beilage " Bilder und Zeiten".
153
Hcrzcn Londons wurdcn mit Hilfc von 50.000 digitalen Fo tografi en in atcmberaubender, fotOrcalistischer Dctailtreuc akribisch nachgebildet. Der Spieler kann über 60 lizenzienc und defomUcrbare Fahr.lcugc durch die Metropolc stcucrn - mit allen wichtigen Hauptverkchrsstraßen und Seitengassen, ,·om Hrdc Park bis zum Towcr von London.496
Das Ko nzepr der Plqy5tt11i011 beruht also ganz wesen dich auf dem Prin zip der Ill usion. die Vermarktung des Produkts fokussiert sich stark auf die ,Fasz ination der Täuschung'. Das belebrt die ungebrochene Faszination der ProgmmlfltJtik der Almlichkeit. die emphatische LcklÜren unserer Zeit geradezu dominien , was auch durch den Erfolg des Produkts belegt wird. Nach Info rmationen des Herstellers Son)' ist die CD -ROM-gesrutzte Hardware PI'!YSffltionl mit knapp fUnf Millionen verkauften Einheiten in Deutschland die erfolgreichste Videospielkonsole aUer Zeüen . ["lehr als 1500 Spielewclten wurden bisher für PI'!)5ta/io,, 1 aUein in Deutschl and verö ffen dicht. Das neue Computer Emerrain mem Sys tem PIt~)'S/(l1;0,,2 wurde am 24. 11. 2000 lanciert und hat sich bis Ende August 2002 1 Mill.ion mal ve rkauft. Für PI'!JSftlfiOlt2 sind bislang 280 Software-Titel auf dem deutsc hen Markt erhältlich. Der Traum von der virruelJcn \X'elt. das " Phamasma der hundertprozentige n Nachahmung des Realen"m wird demgemäß seit knapp 2500 Jahren von der Programmaük der Ähnlichkeit erzeugt, und es gibt bislang weder Indizien dafUr, daß er sich jemals erfü llen könnte, noch Anzeichen, daß cr einmal ausgeträumt sein könnte . Tatsächlich hat die Kontinuität de r mimolowschen Bewebrtillg etwas Beklemmendes. Denn der Fl uchtpunkt des Beweises, der immer wieder angetreten wird - die Identität von Welr und Medium, die Verschmel zung von \'\firkLichkeit und Kommunikatio n - verweist auf ein Projekt, dessen Gelingen die Ernüchterung gleich miterzeugt ...Auf Verwechslung des SYlIJbols mit dem Symboli sinen - auf ihre Idemisierung - auf den Glauben an wahrhafte, voll stländige] Repraesentation - und Relation des Bildes und des Originals - 1... 1auf der Folgerung von äußerer Aehnlichkeil - 1... 1 beruht der ganze Aberglaube und Irnhum aller Zeiten, und Vö lker und Indi viduen.,,~98 Selbst wenn eine virruelle Weh einmal ununterscheidbar wird von der richtigen \X'elr, dann haben wir eben noch eine Welt - so JIJ!Jal? Dagegen weiß jedoch sogar der ,naivste' Rezipient, wann er es mit eine r künstlichen Realität zu tun hat: .. If you're ever confused abour which reaHr)' you're in , )'ou put )'our hand on your eyes and see if you're wearing Eye-pho-
Der Texi wurde mir freundlicherweise von d er Finna Fink & Fuchs Public Relations AG in Wiesbaden zur Vcrfiigung gesleUI. ßAUDRIIJ.ARD, Jean: Dit j a/alrn S/m/t§"rn. i1.1i! einem Anhang \'on Oswald Wiener. ü bers. von Ulrike ß ockskopf und Ronald Vo ullic. M ünchen: Ma!rhcs & Scitz t 991, S. 70. NOVALlS: lVt,.. u, TagtbH(!Ju Nd Briife Fnrdrith t'(}n Hamenbt'l,s. H rsg. von Hans-J oachim Mihl und Richard Samucl. ßd. 1-3. München , Wien: Hanser 1978. Bd. 2, S. 637.
154
nes o r no t".4?9 Bereits Eusebius von Caesarea hatte in der ersten Hälfte des 4. Jahrhunderts festgestellt: ..Scho n den Heiden ist klar, daß leblose Statuen keine Götte r sind" .soo
Abb. 17: Vinuelle Realität im Cybmpaa.
RUCKER. Rudy. R. U. SIRJ US und Q UEI!N Mu: Mondo 2000. A Um', euide 10 lbe
soo
j\ ,ftW EtW'
Ne\\' York: Thames :md Hudson 1992, S. 264. Die SfCUC iSI aus dem griechischen Texi Vo,bmilllng du ElY./ngrlillmr, zicien bei LUCK, Gcorg: Magie lI"d a"dm Gthtimlth"" in tkr A"IiJu. Stungan: Kröner 1990 S. 159.
155
ITI. Geheimnis: Der Reiz des Mysteriösen
Uns fesselt keineswegs nur das Ah nliehe, und je mehr J-licrogl}rphe, dcs(Q beharrlicher das Dculcnwollcn. 1 Das große Geheimnis ist aUen offenban, und bleibt ewig unergründlich.2
1. Der Mythos des Geheimnisses: Von Schleiern und Schwellen (ExodJ/S) Die Programmatik der Ahl1lirhkeil erzeugt die Faszination einer virtueJJcn \'\felt. Ein typischer Expo nent der heutigen Mcdiologie ist das Pcrnschcn. Seine bewegten Bilder simulieren die Gegenstandsweh und lassen Rezipienten in den Z ustand der /l/lIsio1l verfall en: Sie ve.rgessen für Augenblicke, daß sie es nur mil Bild-Zeichen zu tun haben. Die Suggestionskraft der Bilder ist so stark , daß man die Z uschauer bisweilen beinahe erinnern muß: "Es ist doch nur ein Film." Genau diese \Virkungsmacht der Bilder wird dann auch o ft von der Kul TUrkritik als Gefahr dargesrelJr. So ist die cliesbezügliche Ablehnung des Fern sehens ein regelrechtes Stereotyp : Die Bild-Zeichen der Filme seien nur oberflächlich, sie lull ten den Rezipienten bloß ein. D ie Rezeptio nsweise der ill usio n wird dann auch diskriminiert: T )'pischerweise sind es (wie scho n bei Pl atOn) clie Kinder oder die Dummen, die auf die o berflächliche Bilderwclt hereinfaUen. Selbstverständlich handel! es sich bei solchen Parolen um Re flexe einer ästhetisch-elitaristi schen Auffassung. Sie eignen sich jedoch perfek t, um das Gegenstück zur Rezeptionsweise der Ahnlichkei t herauszuarbeitell. D elln neben der Suggescionskraft virrueUer \'(lelren wird ein ganz anderer FaszinaI KOMMEI! EI I , ~bx: Gtist lind Bllrhslabe in dtr Oirhtllng. CfHtbt, SrlJilltr, Kitist, I-Mkitr/in. Frankfun / M.: Klostcnnann 1956, S. 13f. Z NOVi\L1S: Htinn'rh von OjitrrJin!!n. Ein Roman. H rsg. von Wolfgang Frühwald. Snmgarl: Reclam 1965, S. 149.
l 56
tionsryp sichrbar. Im Gegensatz zum ,flachen' und ,oberflächlichen' Genuß von Bildern profilien sich eine Rezeption sweise, die in die Tiife des Texts eindringt. Sie ist nicht nach dem Medienkonsum abgeschlossen , sondern aufgrund der Untrgnindlirhktit des T ex ts eine Jlllendliche AJlfgabe. Sie vollzieht sich nicht in der fraglosen Transparenz bildLicher \Vel ten, sondern Liegt immer ein wenig im Dunkel, im Nebel, erweist sich als schwierig. Die Rede ist von der Lektüre des GebeilJJnisses, dem Komplement zur Lektüre der Ähnlichkeit. Weil Ahnlichkei/ und Gebeilllflis als Faszinatio n srypen o ft in Konkurrenz zueinander stehen, ist die gegen seitige Kritik vorprogrammiert - kein Wunder also, daß der Literat die ,naive' Illusion der virtuellen Wehen ablehnt. Auch in gan z anderen diskursiven Umfeldern tauchen ganz ähnliche Abgren zungen auf. Schreiten wir auf der Zeitachse um etwa 1600 Jahre zurück, find et sich folgende Passage in Auguscinus' Dt dot/rina Chris!itlfltl (397 / 426): da diese [die Heiden] ja von Menschenhand gemachte Bilder für wirkliche GÖtter hiehen, so wurden sie (dem Heiligen Geiste) nicht so nahes rehend befunden. [... 1 Das gebe ich allerdings zu, daß noch tie fer diejenigen l\'lenschen gesunken sind, welche Werke aus Menschenhand ftir Göner hahen [die Heiden] , als diejenigen, die wcnigstcns Wcrke aus Goueshand ftir solche haltcn [die Juden) . [... ] Umcr cinem Zeichen dient nämlich derjenige, dcr irgcndeiner etwas bezeichnenden Sache diem oder sie verehrt, ohne zu wissen, was sie cigentlich bezeichner. (... 1es [verrät) aber kn«htische Schwäche [... ), (... 1 die Zeichen furdie durch sie bezeichneten Dinge zu nehmen' W ieder einmal wird eine Lektüre der Illusio n als ,naiv' gebrandmarkt, wird eine ,hohe< Form der Rezeptio n von ,nied eren' Stufen unterschieden. Wer aus Sicht der Kulturkritik de,r T exrob ernäche verhaftet bleibe, e.rscheine bei Augustinus ganz ähnlich als ,Knecht' de.r Zeichen (gegenüber demjenigen, der den T ex i ,meisten'): Die ,Dummen' halten auch hier die ,Bilder' ftir die \Virklichke,ir selbst. Und eben so wie der Ästhet eine ,unerschöpfliche Tiefe' hinter der Obernächlichkeit d es T extes aufspannt, welche die ,Kinder' und ,Dummen< nicht erfa ssen, sind es hier die ,H eiden' und J uden', die nicht erkennen , was sich ,eigentlich' hinter dem T ext verbirgt. Der Vorwurf der ,Naivität' an die ,Diener' einer ,obern ächlichen ' Lektüre ist ein T o tschlagargumem - das erifft im wörtlichen Sinne im Falle eines Tex[es zu, dessen \VurzeJn noch einmal um weitere 1000 bis 1500 Jahre älter 4 sind ) AUGUSTINUS, Aurelius: AIIsgtlnihllt Sdmfttn. Bd. 1- 10. München: Kösel & Pustet 19 11 ff. (= ßiblio thek der Kirchen\':.itu). Bd. 8: Aillgtuiih/It prolehSfht Sfhnfttn homilttisfhtn lind hll«htti-
stIlln Inha/Is. S. 119-121 IDt dotlrina Christiana IH, 7-91. ~ Die Überlieferung des
E:.;odlls. ilie zunächst auf Moses' AUlorsehaft zurUekgefUhrt worden war. liegt weitgehend im D unkel und ist seit J ahrhunden en ..Gegensta nd der r orschung. D er Aufenthalt (zwnindcst eines T eils) des jüilischen Volkes in Agypten J:.ißt sich näherungsweise bestimmen durch die Angabe in Exodus I, 11 , nach der die lsf2eliten beim Bau der Städte ,PilOm' und ,Ramses' beteiligt Wllren; diese Städte werden mit RamsC5 rI . (1290-1224 v. e hr.) in BeziehWlg gesetzt ("gi. RENOTORFF, Rolf: Dal Abt Tt.Jlamtnl. Eine Einfohnmg. 3., durchges.
157
als Augusrinus' Oe d()(lrina Chrisliana. Im bib~ schen Exodllr ruft Moses zu einer Massentötung auf: "Gucrte ein jglicher sein Schwc n auff seine Lenden / vnd durchgehet hin vnd wider / von einem thor zum andern im Lager / Vnd erwuerge ein jglicher seinen Bruder / Freund vnd Nehesten." D er mosaischen Aufforderung zum Totschlag leisten die Leviten sogleich Folge: " Die kinder Lcvi theten wie jnen Mose gesagt hatte / Vnd fiel des tages vom volc k drey rausent Man. ,,6 Was hanen die 3000 Israeliten verschuldet, die hier auf Geheiß des Moses erschlagen werden? Jahwc harre am Sinai die zehn GebOte erlassen; und Teil des Dekalogs ist bekanntlich das Bildemerbol. 7 Das wird im Altargesetz noch einmal im Hinblick auf ,andere Görrer' spezifizierr, Jahwe legt fest: "darumb solt jr nichts neben mir machen / silber und bTUeldene Goe rter solt jr nicht machen."s Schon in den Gesetzen wird also der Aspekt der AlISsclJliejlichktil
Aufl. Neukirchen: Ncukirchencr 1988, S. 12). Der Auszug aus Ägypten wird somit etwa zwischen 1290 und 1250 angeset'"l.t (vgl. ROBERT. Andre und Andre FEUII.LET (]-Ing.): Einltilling in die /-Itiligt Srhriji. Bd. 1-2. Wien, Freiburg, Basel: I-Ierder 1963. Bd. 1: Allgtm,in, EinltillingIjragtn lind Altu Ttslomm/, S. 223; andere Ko mmentare setzen den Auszug maximal SO Jahre später an). Vgl. ferner zu dem Aufenthah semitischer Gruppen in Ägypten während des zweiten Jahnausends SCHMIDT. Werner H.: E.. . wllIl, Sinui lind MoSt. Ennigllngm i!' E."\:" , ., 9 lind 24. Dannstadt: Wis5. Buchges. 1983. S. 24ff. Die Geschichte des Auszugs ist o ffenb.tr zunächst durch mündliche ü berlieferungen tradien wo rden. Die heute vorliegende Rcdakuo n des E.WJdNI besteht 2US einem /\ malgam verschiedener Slringe. die sich weilgehend :auch rekonstruieren lassen. So wird ein Johllill vom Elohisltn unterschieden; eine dritte Schicht ist die sogenannte l'n"esltr/rhrifl. Der iahwisrische Strang iSI um 950, dic clohistische Sd llcht ungefahr um 800. die Priesrcnchrift ist um 550 cntsundcn (die beste Übersicht bicten ScHMIDT. Werner H.: Einfobnmg in dal Alle Teslanltnl. 5., er\\'. Aun. Bcrlin. New Yo rk: de G ruyter 1995. S. 40-62. bcs. S. 47 und ZENGEN., Erich CI al.: I::.inltitlll&in tim All' TultlNltnl. 3.. neu bearb. Aufl Sruttgart: Ko hlhanuner 1998, S. 87-124: vgl. auch IBEN., Gerhard und Hetmann TIM.M (1·lrsg.): 001 Blirh fltr Biirlxr. Alltl Tu/amml. Einfohnm,gen, T,XI" N:Jmmtnlarr. München: Pipc.r 1980. S. 22f.). Diese Zeitangaben sind ZW2r mittlervrcile weitgehend ak.zep. tiert, aber dennoch spckulark Eine spätere Entstehung ,soga.r n ach 722' ist nach Kaiser nicht auszuschließen (,-gi. KAISER. Dtto: EinldlJtng ,-" dal Allt Tellom,nl. Eint Einfohnmg i" ihrt E'1!bnillt lind Problem,. 5.. grundlegend neubcarbcilete Aufl. Gütenloh: f','lohn 2000. S. 1(6). Die Endredaktion des T extes wird zur Zeit E sr.ls mngcfunden haben (um 400 " . Chr.): hiernach dürften allcnf2Us marginale Nachträge vorgeno mmen worden sein (vgl. SCHARIJERT, Josef: E.w)dul. Würl.burg: Echter 1989 (= Die Neue Echter Bibel. Kommentar zum Ahcn ~esta me nt mit der Einheitsübcrselzung. üefenll\g 24). S. 7). Vgl. ferner FOHREN.. G eorg: Obtrlüjtnmg lind Gesfhirhlt du E.. .WIlS. Berlin: Töpclmann 1964. !
Eincn hervorragenden ü berblick über den Stand der Forschung hinsichtlich zentraler Fragestellungen bietet VERVE..'mE, Marc: "Cunenl T endencies and De, ·clopmcnls in the Srnd~' of the Book of Exodus." In: S/JtJiu 1-" IIx BooA: of E.. .WIlI. Rtdor60n, lVrrp60n, Inlttprrlo60". H ng. von M. V. uuven: LUI> 1996, S. 21 -60.
, Bibliu Gmnoniro. übers. ,'o n Martin Luther. Faks. Nachdruck der Ausgabe Wittenberg 15-45. Sruttgan: Württembcrgische Bibelansralt 1967, Exodus 32127-281. , ,.Du solt dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen / weder des das oben im Himel / noch des vnlen auff E rden / oder des das im Wasser "met der erden ist." Biblit, Cm1ltlfliru. übers. \'o n Manin Lmher. Faks. Nachdmck der Ausgabe Winenberg 1545. Snltt!:,oan: Wiirltcm bergische Bibelansralt 1967, Exodus 20 (4J .
• Biblio Germoniro. übers. von Martin Luther. Faks. Nachdruck der Ausgabe Wincnberg 1545. Sruttgan: Württembergische ßibelanst:alt 1967, Exodus 20 1231.
158
des eincn Gon es mit dem Bilderverool ve rklammert.? Dieses Gesetz hattcn dic Israeliten im ß undesschJuß am Sinai besehworen.1o Damit vollzieht die jüdi. sehe Religion einen medialen Paradigmawechsel: Die Entwicklung verläuft weg von der ,An schaulichkeit' in die Abstraktion. Simulationen von Gort sind im Bilderve rbot nicht mehr vorgesehen, dagege n ist das Leitmedium von nun an die S rbriJl.11 Zut Erlangung dieser Schri ft steigt Moses auf den Berg Sinai, um dort die Gesetzestafeln, von GOtt selbs t geschrieben, in Empfang zu nehmen. GOtt wird hier zum tlbsoililen Alltor, Moses ist der absoillte [Vi/pient. D aß die A n e ig~ nung der görrJichen Schrift ein mühseliges Unterfangen ist, zeigt bereits die D aue r dieser absoluten Rezeption: Moses verbleibt bekanndich 40 T age und Nächte auf dem Berg. Die Israeliten jedoch, deren notorisches Ab fallen vom jahwe·G lauben exponiertes Thema des Alten Testaments ist, haben, als Moses auf dem Berg verschollen scheim, Aaron gebeten: .. mach vns Goetter / die fur vns her gehen". Daraufhin sammelt Aaron Gold fü r eine Statue "vnd entwarffs mit eim griffel / Vnd machte ein gegossen Kalb / vnd sie sprachen / Das sind deine Goetter j sraeJ / die dieh aus Eb'YPtcnlande gefue ret haben.'1eng auff / wie ein rauch vom ofen / das der gam ze Berg seer bebete. / Vnd d er Posaunen do h n ward jmer stercker. r.,'lose redet / vnd G o tt ann vo rtet jm laur. 37
D iese Requisiten des N uminosen würden sich semiotisch als .indexikalische Zeichen' (peirce) beschreiben lassen, denn als ,Am:eichen' stehen sie in einem direkten, realen und ,kausalen' Z usammenhang zu ihrer Ur-Sache, die sie zugleich ,anzeigenirken sic das Ungewö hnliche [tioIIMsJ, d adurch aber, daß sie dem Gewohmen nahcslehen, die Klarheit [Japhnj ." Ebd., S. 73 [l485bJ. Diese,r Widerspruch, der sich ähnlich auch in der Rhtlon'le nachweisen läßI (" AUe unterhalten sich ja in Metaphern und mitIeIs J\usdrücken mit eigenTÜmlicher und vorherrschend er Bedeutung. E s ist daher klar, daß sich unbemerkl ein fremdartiger Ton einstellen wird, wenn jemand sich gut darauf verslchl. und der Ausdruck an Klarheit gewinnen wird." AR1 ~10TEtES: Rhtlonk. ü bers. und hrsg. von GemOI Krapinger. Stuttgart: Reclam 1999, S. 156 [1405a]), durchziehl d ie aristOlelische MClaphorologie und kann nicht aufgeho ben werden: " Das Ahnliche sehen heißI nach dem Ausspruch des Arisloteles das ,Identische' in und (fOIZ der ,D ifferenz' zu erfassen." Rica:ur sicht, ausgehend \'o n Aristoreles. das Oszillieren der Metapher zwischen AhnIichkeil und Geheimnis als ihr ko nstitutives r>.krkmal. Die Metapher ist zugleich Vereinbarkeir und Abweichung, Verhältnismäßigkeil und Impertinenz, sie ,Slellt \'or Augen' und ,verdeckt', sie ist Abbild und Mysterium: " Die Melapher als Redefigur stellt den Prozeß, d er Ilrn/uk.1 durch Verschmelzung d er Differenzen in der Identität die semamischen Felder he\'orbringt. tiffrn d urch einen Ko nflikt '?!I7Jfhm Identität und Differenz dar." RICOlUR, Paul: Dir kINnd;!! Mtl(lpbtr. ü bers. von Rainer Rochlit7.. 2. Aufl. München: Fink 199 1 [1 9751, S. 275, dann S. 189. Von daher läßI sich die r.,·lerapher sowohl fur die Prograrrunacik der Ahnlichkcit als auch tUr d ie des Geheimnisses instrumemalisieren lUld in den jeweils brauchbaren Aspektcn nuancieren .
'" 186
A UGUSTINUS, Aurdius: AUJgfU'ähltt Srbrif tm. Bd. 1- 10. München: Köset & Puslel 1911ff.
(= BibliOlhek der Kirchenväler). Bd. 8: A UJl/u';ihlle praktilfhe Stbrifien holllilthJfbtn lind kolulNhJ(lNn Il/holl1, S. 61 [De dortn'ntl O"7Jh'tlntl 11 , 10, 15].
Es sei hier am Rande erwähnt, daß in der Zeichen theorie des Augustinus die Tiefe der Schrift durch die ,hinter' den Dingen, den res verborgene n Bedeurungen entfaltct wird - während die griechische Fassung der Metapher auf der Ebene der Zeichen erzeugt wird, besitzen hier schon die Dinge ,uneigentliche Bedeurungen' [111.3]. 124 Dieser Aspekt stÖrt hier ebensowenig wie etwa der Frage, ob Augustinus der Begründ er der Le hre vom vierfachen Schriftsinn ist. m Entscheidend ist, dt1ß durch das Theorem der signa tmns/at(J eine Tiefe des Tex tes erzeugt wird. Aus diesen Dispositionen leitet sich dann das Begehren der augustini schen Lektüre ab, hinter den signa tmns/ata den verborgenen, geheimen Sinn zu entdecken. Dieser sensJlS "!JstiCIIPf, ist der ,eigentliche' Sinn des Textes, er läßt sich beschrieben als 1!)'P0IIOiaI27 (Hinter-Sinn), der im cigentlichen Sinne inkommunikabel ist: Es sind göttliche, Ir(Jflji!lIdenta/e Signifikate, die sich sprachlich nicht reproduzieren lassen.l28 Vgl. D UCHRow, Ulrich: 5prorhl.'(f"Jliintlnis I/nd bib/isrht1 Hörrn bti Al/gl/1tin. Tübingen: Mo hr 1965 (= Hcm lcneutische Untcrsuchungcn zur Theologie, 5), S. 149ff. ; STRAUSS, Gerhard: Sthrijigrbrouch, Schrijiau1/r!png I/nd Srhriflbtwtis bti Augu1tin. T übingen: Mohr 1959, S. 79ff. Späler wird man dann differenzieren. etwa zwischen a/lrgoria in ,.'trbis und alltgoria injarfis, Vgl. STRAUSS, Gerhard: Sthn!,!!broudJ, S(hrijiausltgung und 5rhrijilHu.'tis bri Augultin. T übingen: r-.-Iohr 1959, S. 143ff. ; \'gl. zum vierfachcn Schriftsinn auch fG\RPI', Heincich: S(hriji, Grisl
und ll/orl Gol/u. Grltung und [Wirkung dir 8ibrl in dir Gmhichte drr Kirrln. Von drr Alltn Kirrhe biJ ~m Ausgang drr RrjormalionJ'{!il. D annstadt: Wiss. Buchges. 1992, S. 94ff.
So ncnm ihn Origcnes; vgl. HAAS, Alois Maria: " Was ist ~'I )'s rik?" 1n: Alxnd/iim'iJdlt ' ,",ysh"le ilJl Millr!allrr. S}'mposio n Kloster Engclben 1984. H ng. \'o n Kurt Ruh. Snmgart: Mcr,de r 1986, S. 3 19·341 , hier S. 324. D er Begriff wird scho n im H ellenismus bei der Auslegung \"on Ho mer und Hesiod vcr· wendel und geht danach schon im 2. Jahrhundert v. Chr. in dic jüd iseh ·hellenistische Theorie der Schrifrauslegung ein; \'gl. FRE'T AG, H arunut: "Quae sunt per allegociam dicta. D as theologische Verständnis der Allegorie in der frühchri stlichen und mittelalterlichen Exegese ,'on Gal 4, 2 1-3 1." In: Vrroum rf Signum. Btilrrigt ~r nltdiiil'1!hsdnn Brdrulungsjor. sdHmg. Festschrift für Friedrich Ohl)'. Hrsg. von H ans Fro mm, Wolfgang Hums und Uwe Ruberg. Bd. 1-2. München: Fink 1975. Ud. 1, S. 27-43, hier S. 28f. D er Begriff eines zentralen, fundamentalen oder transzendentalen SignifIka ts (im Singular) geht auf D errida zurück, der damit das T extphantasma eines " Endpunkts aller Verweise" bezeichnet; D ERRIDA, Jac'lues: Gramlf/a/ologir. ü bers. von Hans·J örg Rheinbergcr lind Hanns Z ischler. Frankfurt / M.: Suhrkamp 1994 [1 9671. S. 456; vgI. KnTLER, Friedrich: A/lftchrribtsysltlJlt (1800 / 1900). 3. Aufl. München: Fink 1995, S. t 8. Christus wäre etwa das Transzendenralsigniflkat der Bibel, denn "alles und alles deutet auff yhn und saget von )'hm"; LI.JTHER, Manin: IWrrh . Kritische Gesammtausgabe. ßd. 1·66. Weimar: Böhlau 1883· 1995. Bd. 26, S. 263 ~,Vo m i\ bend mahl Christi. ß ekendnis", 15281, S. 263. In der Bibclhermeneucik ist d ann die Kenntnis des transzendentalen Signifikats, hier fropuS genannt, Voraussctzung flir die O ffenbarung der Schrift ,im rechten Geist': "Wenn wir uns zu Christus hinwenden, \I,o11oia der Schrift aufgebaut. In letzter Konse· qucnz ist der verstehende Geist jedoch Gort selbst, der Geist im Innern des Menschen also identisch mit dem G eist im Innern der Heiligen Schrift. Diese Au ffassung, Kongenialitöt genannt, wird tatsächlich zu einer fu ndamemalen Prämi sse späterer mystischer Texte, weil man aus ihr aUe Ausformungen der Vereinigung mit Gott, der IInio ,,()'Stica, ableiten wird [IV. 2]. IS4 Ein Beispiel kongenialen Versrehens liefert etwa folgende Passage: Darauf sprichst Du [... ] mit lauter Stimme Deinem Knecht inwendig in sein O hr lind sprengst meine Taubheit und schreist es mir ein: ,,0 Mensch, was meine Schri ft sagt, sage ich. Dennoch sagt sie es aufWeise der Zeit. Aber mei· !lern \X'o rt ko mmt Zeit nicht bei [...]. So bin ich es, der es sicht, was ihr seht durch meinen G eist. wie ich es bin. der es spricht, was ihr aussprecht durch mei nen G ei s t."I S~
\Vcnn es aber der GeiSI Gon es iSI, welc her das Verstehen im Inncrn des Men· sehen voUzieht, dann versteht Gott sich in letzter Konsequenz selbst - eine
l~!
,,,
A UG USllN US, Aurelius: Bdu nnlnissr. Lateinisch und deutsch. ü bers. von Joseph Bemhard.
Frank furt 1M.: Insel 1987, S. 465/467 n X , IOJ. Augustinus emwickclt unter anderem das Konzept vo n ChriStuS als mal!sltr inltrior, vgl. etwa /\ UGUSTI NUS, Aurelius: ANsgru'ähltr Schrift",. ß d. 1- 10. München: Köscl & Pustet 191 1ff. (= Bibliothek der Kirchenväter). ßd. 4: VOrlräge iilx, das Et"tlllgrliNm du Hriligm Johallllu. S. 339ff. VgJ. ferner D UC HROW, Ulrich: Sprachl'm fiindnis Nnd biblisrhts HÖfln Ini A uguslin. T übingen: Mo hr 1965 (= He[Jn eneutische Untersuchungen zur Theologie, 5), S. 174ff. und D ASSMANN, Ernst: ANgustillus. Hf/ligr' lind Kirrmnlrhrrr. Stungart et al.: Kohlhammer 1993, S. 46f.
'"
VgL QUIl\'T , J osef: " Mystik und Sp rache. Ihr Verhältnis zueinander, insbesondere in der spekulativen Mystik ;.,.Icister Eckhans." In: DtllfS(ht Vitrlt!iahm chrif t jiir Li trraillflJ 1SSfnsrhtift IIl/d GrislesgurIJichlt 27 (1953), S. 48·76, hier S. 61. Die mystische " Einheitsspckulation" bedeutet zugleich, daß der ~'I }'s cik er "das innerste Wesen der Seele als irgendwie gleich· geartet mit dem inners ten göttlichen Sein zu erfassen trachten muß, denn nicht nur kan n G leiches \'o n Gleichem erkannt werden, sondern auch nur zwischen G leichem ist eine Einswerdung möglich." Es sei am Rande bemerkt, daß in d ieser Konstruktion A bnlicbktil und Crhtjmnis incir..ander verschränkt sind.
'"
A UGUSl'INUS, Aurelius: Beklnnlnisse. Lateinisch und deutsch. ü bers. von Joseph Bem hard. Frankfurt / ~ 1.:
Insel 1987, S. 829 lXIII , 29J .
193
RätseJfigur, eine intransitive Paradoxie. ' S6 Dann ist es möglich, die T opik von Tiefe und Hö he zusanunenzulegen - der Abstieg (in die Tiefe des Innern / der Sc hrift) konvergiert mit dem Aufstieg ' 57 (in die Hö he Gones): "Sie kennen ihn nicht, diesen Weg, auf dem sie von ihrem Ich zu Ihm hinabsteigen [deJcendan/J und durch Ihn hinaufsteigen lascendani] soll ren zu ihm." I58 Im Zusanunenhang mit der Unterscheidung auße n / innen thematisie rt Augustinus dann auch die Differenz zwischen lauter und leiser Lektüre. Von einem lesergeschichtlichen Standpunkt ist zunächst darauf hinzuweisen, daß in der Antike beinahe aussc hließlich laut gelesen wurde. 159 Demgemäß hat vor allem die augustinische Beschreibung des leise lesenden Ambrosius die Au fmerksamkeit auf sich gezogen, zu Recht, denn Ambrosius, der Augustinus mit der allegorischen Deutung venraut macht, figuri ert in den Bekenn/nissen ja in E in Topos, der sich in immer neuen Variationen durch das ganze t-,·Littelalter hindurch und darüber hinaus verfolgen läßt. Eine schöne Ausfiihmng fmdet sich etwa in einem bemerkenswenerweise Parudoxo überschriebenen Werk von Scbastian Franck (1534). In dem Kapitel "Niem and kennt G o n als Gon " heißt es: " Man muß das licht im Licht, Gon in GOI! suchen und finden , wie David sagt (ps 36): In Iwnine ruo \; demus lumen. D en n Gou kennt niemand, als er sich selbst. D arum mag G OII kurl.WTI vo n nichts erkannt werden, als von GOII, das ist: von ihm selbst, durch seine Kraft, die man den heiligen Geist nennt. [...] Also muß GOI! sich selbst lehren, loben. wissen, billen, erhö ren, gewähren, wollen und vollenden" ; FRANCK, Sebastian: Poradoxo. Hrsg. vo n Siegfried Wollgast. Berlin: Akademie 1995,S.27f. Die LtleJiirt dt,. '1i"ife ist immer zugleich eine LtleJiirt dtr 1-1ö1x, denn sie erbringt die Erhebung zu GOI! - dieses Konzept find et sich bereits bei O rigenes, bei dem das geistige Verständnis die onogo/!,t zur Folge hu ; vgl. KAKP I', H einrich : Srhrijt, Grist llnd IVon Gottes.
Gdlung ud Uri,.hO/g dr,. l3i/n/ in dr,. GUdlieblt der Kirrbt. Von ,/tr Allen Kirrht bis '{!Im A'/J/!,tlng dtr Rtfo,",(lh·ons~iI. Darmstadt: Wiss. Buchges. 1992, S. 39. D ie ßrktnnlnislt akzentuieren
,. '"
194
immer wieder die Vorstellung des Lebens als ein Aufstieg zu G o n; \'gl. etwa d ie Passage: "So stieg ich denn Srufe um Srufe empor, von der Kö rperwelt zu der d urch den Kö rper empfmdendcn Seele, weiter zu ihrem inneren Vemlögen , [... 1 abennals weitcr zu dcr überlegenen Kraft der Vernunft ]... 1zur rein geistig schauenden SelbSIClurchdringung: [... 1 da schaute ich ,D ein Unschaubares im Minel der Schöpfungsdinge erkenmnisweise' _ aber dar:1O mich fesrzuschaue n, das vennochte ich rucht"; ,\ UGUSIlNUS. Aurelius: Bt/wIßt· nim. Lateinisch wld deursch. Übers. ,'o n J oscph Bcmhard. Frankfurt / r..·I.: Insel 1987,
S. 347 [VII , 171. AUGUSIlNUS, Aurelius: Bdetnnlßim. La teinisch lmd deutsch. Übers. vo n J oseph Bem hard . Fran kfurt/ M.: Insel 1987, S. 197. Eine Ursache ist sicherlich die Verw endung der sogenanmen Jm'plura roßtll/Ua, einer Schrift, die keine Wonseparierung durch Leerzeichen kennt, alle Wöner also fortlaufend mitein ander verbindet, was den fluß des Lesens erheblich erschwen und die Z uhilfenahme der Stimme bei der Lektüre nahelegt. Einschlägig dazu ist die Arbeit vo n SAE.,"GER, Pau!: Sport btlll'ttn IIYon/J. Tht Ongil/s oJSi/mI RIoding. Stanford: SUP 1997. Die ,klassische' Srudie zu de.r Differenz zwischen lau ter und leiser Lektüre in der Antike ist BALOGI·I, Joscph: " Voces paginarum. Beitriige zur G eschichte des lauren Lesens und Schreibens." In: Phi/olo/!,III 82 (1927), S. 84- 109 und S. 202-240. Baloghs These war, d aß in der Antike übe rwiegend laut gelesen wurde. D azu hat sich eine mittlerweile ansehnliche K ontroverse enrwickelt, die ich hier nicht nac hzeichne. Eine neue Studie arbeitet den Forschungssland zu dem Thema ausfuhrlich auf und bestätigt weitgehend Baloghs ursprünglichen Befund; die Antike kennt im übrigen natürlich auch die leise Lektüre, \'o r allem im K ontext erwü nschter D iskretion. Vgl. BUSCH, Stephan: " u.utes und Leises Lesen in der Antike." In: Rbini!rhu MUSl lI'" fü,. Phih/ogit. NM Folge 145 (2002), S. 1-45: hier fmden sich wnfangreiche bibliographische Angaben.
der Tat als exemplari sc her Leser schlechthin. Die berühmte Stelle sei noch einmal ausführlich zitiert. Augustinus hatte "keinen Begriff" davon, was für Trost er lAmbrosiusJ fand im Unglück und welch köstlichcn Wohlgeschmacks er sich freute, wenn der cic finners te tocculJlIJlIJ Mund, der Mund seines Herzens, vom Brote D eines Wortes immer aufs neue zehrte !mnlinart/j (... ]. \\fenn er aber las, so gli nen die Augen über die Blätter, und das Herz spürte (rilm/balt/ti nach dem Sinn, Stimme und Zungc abcr ruhten . Oft I... ] sah ich ihn so stillJ/tldteJ ins Lesen versunken, anders nie. Und war ich dann gcrawne Zeit schweigend dagesessen - wie hätte man es auch gewagt, ihm lästig zu faU en in solcher Sammlung Isilt1llio]-, so em fcm te ich mich wieder. u,o
D ie Besc hreibung führt viele Aspekte der augustinischen Lektüre des Geheimni sses zusammen. Man erkennt sogleich eine charakteristische Kombinatio n von Geheimnis, Innerlichkeit, Tie fe, geistiger Speisung. Hinzu ko mmen tatsächlich zwei weitere eher technische Dimensio nen, und zwar erstens cliejenige der leisen Lektüre, zweitens der Aspekt der Wiederholung durch das ,Wiederkäuen' (mmina/io), das uns schon zuvor begegnet ist. Tatsächlich scheint die ungewöhnliche stille Lektüre eine Manifestatio n der augustinischen Lektüre des Gebeimnisses zu sein. Ambrosius, in den Bekenn/nissen der Expo nent der AJJegorese, der ge istigen Auslegung, rezipiert die verba aeterno eben ausschließlich in seinem Innern , mit dem Rezeptionsorgan des H erzens. Man sollte die Szene nicht als ,ParadigmawechseJ< zur stillen Lektüre überinterprecicren , da erstens die laute Lektüre noch über Jahrhunderte hinweg clie do minante Form des Lesens bleiben wird , und weil zweitens die DichotOlnic laut versus leise in den Bth mllnissen nicht ko nsequent durchgehalten wird. 16 1 Der stiljen Lektüre kommt vielmehr die Funktion zu, im Leserideal des Ambrosius eine An absolut innerlicher Lektüre zu zeigen. 162 Darin deutet sich bereits an, daß spätere Zeiten zunehmend die von Augusrinus eingesetzten Tennini als MerkmaJe der kontemplatillen stillen Lektüre verstehen we rden, also silentio (Schweigen) als inntre Sammlung und IIItdit(l/io (Nachdenken) als Versen-
160
A UGUSTIN US, Aurdius: Bdu nnlnim. Lateinisch und deutsch. Übers. von Joseph Bemhard. Frankfurt/ M.: Insel 1987, S. 249/ 251 [V1 , 3].
'"
So gibt es Stellen, die eher ein ,Srufe nmodell' nahcJegcn, also eine Abfolgc. welchc laut beginnt. dann leise endet: " als ich das alles außen Jas und innen wahr crfand" (e bel., $. 44 1 [IX . 4]). Verwunderlich wäre im Falle einer Bevorzugung der s rillen Lektüre. warum im Kontext der ScJbsnhemacisierung der Bekenntnisse vornehmlich vom .H ören' dic Rede ist: " In diesem Sinn soll man mich hören [Sir ilaque audia~", heißt es erwa (ebel., S. 495 [X, 41).
162
" A psychological mcchanism and a philosophical idca bccamc o ne." STOCK, Brian: Augustine Ibe Rrader. Mrdilalion, SelfK110wkdge and lhe Elhiu 0/ Inlrrprrlalion. Cambridgc/ Mass. , London: Belknap 1996, S. 62.
195
k ung in die JChrifl.163 Vo r allem die ",edilatiolM avanciert zur zentralen Bezeichnung fl.ir Augustinus' Ko nzept einer iltfler/irhetJ Lektlire der Tiife (vgl. zu komplementären, anschaulichen Aspekten der lIIeditt/tio dagegen 11. 4). E in hervorstechendes Merkmal dieser kontemplativen Lektüre ist auch ihr Insistieren auf Wiederholung. D as ist bereits in der Narur der UflCT}',nind/irhkeit der Schrif t angelegt. J ede l.Jktüre des Geheilllnisses erfordert Wiederholungen, um die Dunkelheit aufzuhellen oder sich dem Geheimnis, der f!yPOflOirJ, immer mehr anzunähern. "Alle, die dieses Buch verstehen wollen, müssen es neunmallesen heißt es im ersten Absatz eines mystischen Offenbarungsbuchs. 165 Bei Augustinus wird dieser Aspekt durch die Verwendung des Begri ffs m",iltatio zum Ausdruck gebracht. Wie oben ersichtlich, gilt das ebenso für Ambrosius; in einer zuvor besp rochenen Stelle hieß es: " Diese \Välder [sihJoeJ - haben nicht auch sie ihre Hirsche, die sich do rt zurückziehen [n'ClpietJtesJ und sich erquicken, sich ergehen und äsen [pt/srentesJ, sich legen und wiederkäuen [mllliIttllttes]?"I66 D ie unendliche Tiefe der Heiligen Schrift erfo rdert die unendliche If7iederholuflg der Lektüre dieses einen T extes (die anderen T exte kann man dagegen vernachlässigen).167 H
,
,~
,. '"
,. '"
196
So folge ich zugleich der Analyse ßickenbac hs und schränke sie jedoch leicht ein; denn do n wird bereits als ,Sanunlung' inlerpretiert, was eben zunäc hst noch ,Schweigen' ist (BICKE,'\!IMCH, Ma cthias: Von dm Miiglichktilm tintr ,inntrrn' GtHhichlt du U ImI. Tübingen: Niemeyer 1999 (= Commwuca tio, 20). S. 79). Silmtio ist im zuletzt besprochenen Zitat nachgewiesen; Nachweise fü r Hltdiltltio wären ctwa: ,.Und längst schon brenne ich d ara u f, ,nachzudenken Deinem Gesell.' [mlditan' in Itgt lila]". AUGUST1NUS. Aurdius: ßlktl/nlmSIt. Latcinisch und deutsch. Übers. von J oseph Bernhard. Fra nkfu n / ~t : Insel 1987. S. 603 (XI, 2J. oder: " Gewähre mir [... ] die Spanne Zeit. m ich bctrnchccnd [nwlil(llioniIJ/l/] in die Tiefen D eines Gese[zes zu versenkcn, und halte es dcnen. die d a ,anklopfen', nich t verschlossen!" (Ebd., S. 607 [XI, 2]). Vgl. zu dieser Rezeptions form RUI'I'ERT. Fidelis: " i\·lediratio - Ruminatio. Zu cinem Grundbegriff christlicher Meditation." In: Erix ,md Allftrag, 53 (1977), S. 83·93; "gI. zur FUll.titlclaher;\ S. 314-339. Ich habe nicht zuletzt auf eine Fallstudie zur Mystik \'enichtet. weil dcr aporctische Charakter diescr Texte so offensichtlich ist und sich daran uber die J ahrhunden e wenig i nden (\'gl. auch RUJ-I, Kurt: GtSthirhlt dtr alNndliinmSfhtn Alystik. ßd. 1-3. München: Beck 199Off. ßd. I. S. 22); ich werde auf das Thema jedoch im Zusammenhang mit der Progranunatik der Unmifldbar1etil zurückkommen [IV. 2} . Die I.j,cratur zur Mystik und ihren Gthtimnimfl isr uferlos; im folgenden seien einige Arbeiten erwähnt . die sich du rch ihre aktuellen ko nununikatiOllstheo retischen Ansätze profilieren. Vgl. vor allem HAAS, Mois t\h.cia: Mystik. als Aussagt. Eifahrunf,s-, Omk.- uf/(I Rtdtjormtn fhnillirhtr My slik. Frankfun1M.: Suhrkamp 1996; konstruktivistische Analysen der Mystik liefern die Studien \'on Katz, insbesondere KATZ, Ste\'en T .: ,.111e ,ConsCfYatin:' Charactcr o f Mystical Experience." In: Mystiris", and Rtlioolls Trmlihons. I-lrsg. \'on S. T. K Oxfo rd u. a.: Ox ford Uni\'ersit}, Press 1983. S. 3-60; den.: " Lmguage. Epistemology, and Mysticism." In: Mystirism and Pbi· loJ6phifal Alla!Jsü. I-lrsg. \'on S. T. K. NN' York: Dxford Uni"crsit}, Press 1978, S. 22-74; den.: " M)'stical Speech and Mystical Meaning." In: Alyslidsm and Llnguagt. Hrsg. \'o n S. T. K. Dxford u.a.: Oxford Unh'ersit}, Press 1992, S. 3-41 ; einen systemrneo rcrischen Ansatz verfolgen die Beitrige des Bands LUJ-IMANN, Niklas und Petcr FUClIs: Rtdrn u"d S(hu,~igrn. 2. Auf!. Frankfun1M.: Suhrkamp 1992. Auch zu dieser " theologischen Grundaporie" (\'gl. J ONGEJ., Eberhard: Goll als Gtheimnis d(r 117t11. Zur Btgriindung dtr Tht%Ot des Gtk.rru'{!!/tn im Slrril :(!Iisfhen Theismus und Alheismus. Tübingen: Mo hr 1977. hier S. 44) kann nur ein minimaler Ausschnitt aus der Literamr angesprochen werden. Vgl. \"o r aUem Orro, Rudol f: Das Htiligt. O,"r das IfTlltionalt in dtr Itkt du Giitlirhtn undsti" VtrlJällnti !(!Im & tionaltn. Breslau: Tre\\lcndt & Granier 1920; ferner RAH NER, Kar!: "Über die Vr:rborgenheit G o nes." In: K. R..: Srhriftrn !(!Ir Thtologit. ßd. 1- 16 Zürich er aJ.: Bcnziger 1967ff. ßd. 12. S. 185-305. Einen guten 5)'stc:matischen Einstieg bietet ScHÜTZEICHEJ.. I-leciben : U7,gt i" das GtlNimnis. Btilr'ägt!(!lr Fllndam(IIlallhtologit. Trief: Paulin us 1989. Vgl. zwn religionsphilosophischen Hintergrund RlEß, Klaus: GOIl1!l1i(ht"
Btgnll lind Gthtimnis. Zu tintm Endt naliir/i(htr Thtologit als AllJgang ntuzeit/ühtr Rtligionsphilosophit. Sr. Dailien: Eos 1990. Eine wissenssozio logische Analyse zur Inslrumentalisierung d es Geheimnisses im frühen Christentum bietet THEIßEN, Gerd: " Die pragmatische Bedeutung der Gehcimnismo tive im Markusevangcliwn." In: Surrryad Con(talmtlll. SlullitJ If/ tbe Htilory oJMtdiltrmntan and Ntar Easltrn RlIiOons. Hrsg. \'on Hans G. Kippenberg und Guy B. Strownsa. Leiden et aJ.: Bri1Il995, S. 225-245; SCHIlDENBERGER, J ohannes: Vom Gdltlmnü du GOllml(}rles. Heidclberg: Kede 1950.
209
Mys terium der Kontemplatio n, das Kreuzsymbol ist ein beliebter Einstieg in das Geheimnis. 218 Die Scholastik betont. daß die Haupclehren Dreifaltigkei l, Inkarnation, die Sakramente sm,vie die Auferstehung nicht durch den Verstand erkennbar sind; es "vird also unterschieden zwischen \Vahrheiten, die dem Verstand zugänglich sind. und solchen, die ihm verbo rgen bleiben. Und wie bereits angesprochen, ist das Geheimnis der Trinüät eine nie versiegende Quelle von kommentierenden Traktaten. Eine umfangreiche Theologi e des Geheimnisses wird Nikolaus von Kues in De dor/o ignoml1tia (1440) vorlegen: GOrt als das abso lut G rößte und Unendliche kann vom endlichen Verstand nur in der ignoranlitl dei, dem Nicht-Wissen erfaßt werden. Das Unendliche kann allenfalls über Analogien (etwa die mathema tische Unendlichkeit) erahnt werden - damit ist die ignomntia dei in bezug auf das von ihr hergestellte \'(Iissen von Gort eine negativt Theologil 19 (welche im übrigen seit ihren Ursprungen bei Philo vo n Alexandria im Bündnis mit de r Allegorese auftrir~. Auch Versuche der Gonesschau aJ s Erkenntnis der Einheit in den Gegensätzen (coinriden/;(l oppositonlHl) sind Figuren des spekulativen Geheimnisses. l2l Zentral für meine Argumentation ist nun, daß diese gesamte mittelalterliche Programmatik des Geheimni sses letztlich um einen zentraJen T ex t herum gebaut ist, und zwar um das Blffh der Biirhtr, die Bibel, und seine unendliche Tie fe. Um mit OhJy zu sprechen, sind aUe Wissenschaften des !\.1irtelall'ers letzclich "Wegbereiter des Schriftsinns'c222 dieses einen Buches. Dieser Befund find et einc Ko rrelation in einer rein mediemcchnologisc hen Hinsicht. Denn das Mittelalt er iSI die Ze it dcr wenigen Bücher, und dies nic hl zuietzi aufgrund der Tatsache. daß Bücher nach wie vor müh sam abgeschrieben werden müssen. Daraus fo lg t eine radikal e Eincngung des Kano ns, und das bedeutet fur das Mittelalter zunächst einmal die weitestgehende Ein-
'"
Ein ßcisipd aus \;elen: In der franziskllIlischen Theologie ist das Kreuz eines der zenrralen ~'t }'s tericn, es markiert die ,Mjne der Schrift', demgemäß erfolgt " die Öffnung der Schrift durch den Schlüssel des Kreuzes"; vgl. ausfiihrlieh HOI.5ßUSCH. \\lerner: EIt",rnlr rinrr Knll'{ullnologir in dtn SpälHhriflrn &fla/orn,,,f'tlI. D üsseldo rf: Paunos 1968, hier S. 209. Vgl. auch \'(/I1TSCBlER, Smmuus M.: Knl/t Trin;liil, Anologir. TrinüonJ{bt Onlologi, IInltr 11m, LtilbiM du Knl/trS, dotgrJlrlll alt aJlhttiJr!N Tlnolol,it. Wür.:burg: Echter 1987.
'"
Die wnfangreiche Tradition der negativen 111cologie umfaßt unter anderen Augustinus, Pseudo Dio nysius Arcopagita, ScONS Eriugena, Thomas vo n Aquin, Meister Eckhart: \'gl. SCBOrt':E.ICHEL. Heri bcn: IWrge in das Grht/mnis. Btiträgt t!'r F""da",tntoltbtologü. Trier. Paulinus 1989, S. I3f.
;!20
~,
Vgl. FlNEMA.'l. Jocl: "The Structure of the Allegorical Desire." In: J. F.: TIx SlIbpt/iI;!y Effi(1 in IWuttm Littrory T rodilion. Eut9 TOJl-1un tbt Rlltast of ShaluJ/N0rt's l17ili Cambridge/ Mass.: MIT Press 1991. S. 3-3 1. hier S. 5. Vgl. J\ LVAREZ-GO.\mz, Mariano: Dir torroo'J/nt Gtgtf/lnzrt du U",,,d/i(lxn lNi i\ 'ihIoNs l'On 10m. München: Pustet 1968; HAAS, Alois Maria: Dtl/m mislift narrt ... in (oligin, roindr/md,. ZNm Vubäll"is NihJlolIs' l'On KJits t!'rMyslile.. Basel, Frankfun1M.: Helbing & ü chtenhahn 1989; einen geschiclulichen Überblick bietet WEIER, Reinho ld: Das Thrma 1·'O m l!rrbo'1/Ntn GOIlI'ON N ihJltlNS I'ON KJies t!' Mnrtin u //Nr. Phi!. Diss. 1965. O~u.Y,
Friedrich: "Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter." In: F. 0.: Sthriflrn !{!Ir m;lItlalttrlif/N" Btdtulllflgsjomhllng. Dannstadt \\liss. Buchgcs. 1977 (1 958), S. 1-31, S. 8.
210
schränkung breiresrer Bevölkerungsschichten auf Partizipation an nur einem einzigen Text, und zwar der Bibel. Letztlich wird ein Großteil der mittelalterlichen Kommunikationsressourcen darauf verwendet, dieses eine Buch zu tradieren und auszulegen: .. Fragen wir nach dem geistigen Sinn des WortS, so haben wir auszugehen von der Bibel, um deren Verstehen das Mittel aher in G ottesdienst und Unterweisung, in zahllosen Kommentaren und mit aUen Mitteln der Künste, die Dichrung eingeschlossen, gerungen hat.'c223 Die mittelalterliche Bevorzugung der Programmatik des Geheimnisses läßt sich demgemäß auch durch die begrenzten Ressourcen ihrer Medienökonomie erklären, oder, um es plakativ zu formulieren: \v/o nur ein Text gelesen wird, da braucht es eben Tiefe. Endlose, wiederkäuende \V/iederholungslektüren immer ein und desselben Buchs (und darunter fallen Predigten, Lesungen, die Lirurgie, bildliche DarsteLlungen und vieles mehr!) lassen sich auf diese Weise motivieren: Der eine Text ist ,unausschöpflich', und er enthält aUe Wahrheiten. Die horizontale Beschränkung wird durch vertikale Tiefe kompensicn. Die Kehrseite der Medaille ist, daß mit dem \Vegfallen der medientechnologischen Beschränkung auf das eine Buch die Hauptmotivation für eine unendliche Tiefe und immer wieder neu ansetzende \V/iederholungslektüren (m",jnotio) obsolet wird. Und genau dies ist der Fall. EngeJsing prägte in seiner frühe n Srudie zur Lesergeschichte die Rede von der vormoclernen, intensit'tn l.....ektiire der wenigen Bücher (etwa der Bibel), vo n dcr cr die modernc Fonn der exle11Jille" uktiire vieler \'erschiedener Texte unterscheidet. Engel sing lokalisiert diesen Paradigma wechsel in die zweite Hälfte des 18. J ahrhunderts, also in den Kontex t der Proliferation der Bücher infolge der w nehmenden Durchsetzung des Buchdrucks. 224 Die Revolution der Druckerpresse erbringt einerseits eine allgemeine Beschleunigung des Leseprozesses, ..weil der mechanisch vervielfältigte Text in seiner völligen Uniformität weit automatischer gelesen werden konnte als jedes Manuskript":225 Schnellere Leser können aber auch lIIehr Bücher lesen. Dieses Bedürfnis wird durch den noch wichtigeren, zweiten Aspekt der drucktechnischen Revolution be fri edigt, und zwar durch die prinzipielle Möglichkeit einer immensen VcrvieJfiltigung verschiedener Bücher zu einem verhälrnismäßig günstigen Preis. Genau diese Konstellation erzeugt eine einschnei dende Veränderung in bezug auf die Lektiire du Gehei/JInisses. Denn der eingeschränkte Zugrif f war eine der konstituierenden Bedingungen des antiken und mittelalterlichen Geheimnisses gewesen, der beispiclweise auch die Eingeweihtcn von der Masse schied [111. 1]. Dagegen ennöglicht der Buchdruck die ll3
Ebd., S. 2.
w
Vgl. ENGEI..5L'\'G, Rolf: Der BN'!.rr ols Lm r. Ltsrrlf1{hichlt in Drllls(hkmd (1500-1800). Sruttgart: t.letzlcr 1974 [19591.
m
Reinhard: "Gibt cs cinc Lcscrevolunon am Ende des 18. J ahrhundcrtS?" In: Dit If/dl du Lestns. Von d" S(hriftrolle bis '{!IIH BiMs{himl. f.l.rsg. vo n Rogcr Charncr und Guglielmo Cavallo. Frankfun/ M., New Vmk: Campus 1999, S. 419-455, hier S. 425. \X/ I'ITMfu'\'N,
21 1
Verfügbarkeit sehr vieler verschiedener Texteinheiren (und dies für potentiell aUe T eilnehmer des kommunikativen Geschehens).Z26 Narurgemäß braucht ein T ex t aus der Perspektive einer exleIJsiven Leseweise nicht mehr unfaßbar tief zu sein und unendliche Auslegungsanstrengungen zu erzeugen. denn man will ihn gar nicht immer wieder lesen - für un s. extensive Leser schlechthin. die wir täglich vo n einer nie dagewesenen Informationsflut überschwemmt werden. eine geradezu absurde Vorstellung. Der auffalligsre Aspekt. in dem die extensit!e Lektüre sich von der intensiven differenziert, ist das Kriterium der Nellgierde. Diese Neugierde unterscheidet sich in sofern yon antiken und mittelalterlichen Formen der Cllriosilas. als sie ent jet'?! eine Begierde nach Ne/uni ist. " In der klassischen Antike und im europäischen Mittelalter wurde die Orientierung am Neuen in der Regel verurteilt: Man sah in ihr lediglich ein Z ugeständnis an die Macht der Zeit, die yon den mündlich oder schriftlich tradierten Vorbildern wegführte. "221 Erst der Buchdruck und die Möglichkeit der schnellen Vervielfaltigung von Inform atio nen bietet die Voraussetzungen für die Ausformung der genuin modernen Kategorie des Neue/,. Und ko nsequent wird die di.fferenlia specifica der entstehenden neuen Publikationsfonnen wie Einblattdruck, Flugblatt und Zei rung im Verhältnis zu den yormodernen Medien darin liege n, daß sie das N tllc medial erzeugen und verfügbar machen. Mit der E rfindung des NCIICII durch den Buchdruck ents teht al so auch das ko rrelierende Rezeptio nsorgan au f seiten des Lesers, die Ntugierde. Die gedruckten Medien "erweiterten" die Kenntni sse det Rezipienten "über den enge n Kreis der Primärerfahrung hin aus und befriedigten die Neugier, eine Eige nschaft. die noch im Mittelalter verpönt gewesen war, in der beginnenden Neuzeit aber zur trcibenden Kraft der \Velterkundung wurde. "228 Ein neuer Berufszweig wird fo rtan (und bis heute!) das Aktuelle im Kommunikationssystem fo rtlaufend herstellen: D er JOllmalisllllls erblickt das Licht der Welt,!..">9 an die Stelle der Predigt tritt die Vermittlung des Der Buchdruck erbringt also auch eine ,Demokratisienmg' des Wissens, und diesen gewaltigen Impuls wird später die Leihbiblio thek fo rtsetzen [[11 . 5). Vgl. zur Proliferation der T itel durch den Buchdruck auch GII:SECKE, Michael: ",D en brauch gemein machen.' Die rypographische Erfassung der Unfreien Künste." In: Schltirr lind SchJllflle. Hrsg von t\lcid a und Jan Assmann. Bd. 1: Gthrimnis lind Offintlichkril. München: Fink 1997, S. 291 · 311 . hier S. 29M. Vgl. fcm cr zu zeilgenössischen Erönenmgen zur ,Büchcrfl ul' den.: Dtr ßllchdmcl!. i" tkr friihtn Ntllztil. Ei"e hislo,ücm FallstIldie iibrr die Dllrrhsr~ng ntlltr l"jo,11/a60nJ- lind Kol1mlllnilwhonsluhllolo§·tn. Frankfurt/ i\L Suhrkamp 1991 , S. 171 (,,,Von \'berflussz der buecher' und dem Überhandnehmen der ,nuw fundigkcit"'). 211
G ROYS, Boris: Obtr das Nrllr. Vrr!lIch r;nrr KPtfllriiletmomir. München. Wien: Hanser 1992.
S. 23. Der Befund gilt für die Antike jedoch nur bedingt; so dieme das Neue, die Abwechslung des SlOffe s in der antiken HislOriographie bereits der Umcrhalrung (psychogo§a). Vgl. P E11~ R, Hcrrmann: Il?ohrhti/llnd KP"Jf. GuchichfJJrbm'hllng lI"d Plogill/ im klllssiHhen AI/rr""n. Leipzig, ßcrlin: T cubncr 1911, S. 423. !!8
W ILKE, JÜfgcn : GmndiJigt dtr Mrditn- lind KtJmmllnilwh·onsgtJchich/t. Von dtn A'!ftillf!.tn bis im 20. Jahrhllndrrt. Köln CI al: Böhlau 2000, S. 38.
m
Vgl. auch LEAVlS, Quccnic Do rothy; Fichon IlnJ fbe IVIlJin/!. Puhllf. Londo n: Bellcw 1990
[19321. S. 83 ff.
212
Neuen: "This tran sfo nnacio n in arcirudes roward the new is reflected in the seve ntee nth ~century development of ,news' as a signi ficant if ambiguous co n ~ ccprual ca tegory, and of journalism as a po pular if ecleecie pro fessio nal accivi ~ ry."230 D er Begriff des Journals selbst t.rägt den Verweis auf das Neue noch an sich; in ihm verbirgt sich das lateinische dillrnlllJl (täglich) und der fran zösische jour, er bezeichnet lagesaktllelle Pllblik.ationsjömlen, und zwar bereits vor der Ein· führu ng des Buchd rucks dasgiof71ale (Tagebuch), dann aber im 17. J ahrhundert d ie T ageszci rung. 231 Die Proli feratio n der T ex te (abe r auch der Bilder [11. 6]) d urch den Buchdruck hebelr fo lglich eine ko nstirucive Bedingung des Geheimnisses aus - zu dieser E insicht gelangt auf anderen \Vegen auch Aleida Assmann : "unter den Verhä ltnisse n expandierender Druckö ffemlichkeit und Alphabetisierung ldrohtJ die Geheimnistraditio n der D o ppeJcodierung ve rlo renzugehen."232 Die E ntstehung der extensiven Lektüre und ihrer Lust am neuen T ext erzeugt zugleich eine allmähliche, über Jahrhunderte währende Erosio n der eige nlichen Lektüre des Geheimnisses, deren Endpunkt wir vennutlich gerade erIeben [111. 8] . D ie allmähliche Durch serzung des Buchdrucks vervielfältigt die Menge der rezipierten T ex te, und umgekehrt p ropo rtio nal wird die Tie fe der Rezeption reduziert. \Vichtig ist jedoc h, daß dabei die Programmatik des Geheimnisses nicht ausgelöscht wird. Im Gegenteil: Mit der Zahl der T exte werden auch die Geheimnisse vcrvielfaltigt. Die Struktur verschiebt sich jedoch in einer ganz entscheidenden D imension. Die Lek türe der Neugierde verlangt es nac h vielen, immer neuen Stimuli . Die unendliche Tiefe wird in dieser Rezeptio nsweise aufgegeben, an ihre Stelle treten die vielen, endlichen Geheilllnisse (Hö risch nennt sie Riilsel 233) oder aber die Reduktio nssrufe des Geheimnisses: das Interessante. MCKEON, 1-.1ichael: Tht Ori:§nJ 0.1 Iht EnghJh Not'tl (1600- /140). Balcimore: Johns Hopkins UP 1988, S. 46. Vgl. KL UGE, Friedrich: E!J'nolo:§srhn lfi'iirltmllrh dtr dtlll!rhrn Spradlt. 22. Auflage, neu bearbeitel von Elmar Seebold. Bcdin, New York: de G ruyter 1989, S. 342. Vgl. zur Entstehwlg der Tageszeitung wn die Mine des 17. J ahrhunderts auch WILKE, J Ül"gen: G"md~ gt dtr "'-[tdirn· lind KommlinileulionJgtJrhirbJr. Von (Im A'!fongrfl bis ins 20. Jabrhllfldm. Kö ln CI a1: Böhlau 2000, S. 57, hier weitere Lhera turhinweise.
m
A5SMA.'l"N, Aleida: " D er D ichtung Schleier." In: 5rhltitr lind Srhu.'ttk. Hrsg von t\. und J an Assmann. Bd. 1: GtlltimniJ lind Olfrnllirhluil_ München: Fink 1997, S. 263-2SO, S. 272. Hörisch hat die Unterscheid ung zwischen Rä tsel und Geheimnis auf Basis einer Gocrnelckrüre erarbeite!. Mein e Unterscheidu ng (endliche versus unendliche Geheimnisse) entspricht der seinigen, ich folge nur seiner T enninologie nicht, da sie im Sprachge brauch (auch Gocrnes) allenfalls als T endenz, nicht aber als Regel fe stgestellt werden kann. Auch im Falle " o n Unterhaltungsliteratur wird ,Rä tsel' und ,Geheimnis' oft s)'nonym "erwendet (im Sinne: Das GrlltinmiJ du großrn Ullbt/eannlen und so fo rt). Nur die Theologie verwendet zur Bezeichnung der Une[kenn barkeit Gones stringent die Bezeichnung ,Geheimnis'. Vgl. zu der Unterscheidung HORISCH, J ochen: Dit anturt Goelht~/. Poelisrht Mobilmurhung du Sub/tlets 11m 1800. München: Fink 1992, S. 172- 190 sowie HÖRISCH, J ochen: " Vom Geheimnis zwn Rä tsel. D ie offenbar geheimen und profan edeuchteten Namen Walter Benjamins." In: 5rhltirr und SrhM'tIIt. Hrsg von Aleida und J an Assmann. Bd. 2: Gthrimnis und Offinba",ng. München: Fink 1998, S. 161- I SO, hier S. 162. E ine kompakte Monographie zur
213
Die AbenleJIcr, welche un zählige Titel ve rsprechen, avancieren sogar voriibergehend zu einer Gattung der er?ählenden Literatur. !34 Bei solchen Lektüren erlischt das Geheimnis nach Abschluß der Lektüre, denn die Neugierde ist be fri edigt - und wendet sich anderen, neucn G eheimnissen zu. Wichtig ist, daß dic extensive Lektürc dic Paradoxie des unendlichen Geheimnisses (als kommunizien es N ichr-Kommunizierbares) in die vertikale Ebene transponiert. Zwar kann man die endlichen Ge heimnisse jetzt lüften, aber zuglcich wachscn immer neue nach. Die Informationen des N eJletI, Interessanten, UngeulÖhnlichen befriedigen die Neugierde, reproduzieren jedoch stän dig einen neuen Informationsmangel. Im eigentlichen Sinne kann man das Neue nie wissen, denn sobald man es weiß, ist es alt. Die Bedeutung dieser Rehabilitierung der Neugierde2.lS kann man gar nic ht hoc h genug einschätzen. Als Laster hatte sie die mittelalterliche Wirklichkeit noch in zwei Sphären gespalten: In der einen ,zeigte' sich eine zur O ffenbarung zuhandene Realität von konstantcr Größe. Was sich nicht von selbst den Menschen crö ffnete, hatte Gott ihnen voren thalten, mußte also der Sphäre de s göttlichen Erkennmisvorbehalts zugerechnet werden, in die einzudringe n Sünde war. D iese Konstruktion wurde jedoch vor allem durch rue Entdeckung der neuen Realitäte n, namentlich der lerm incogflita durch Kolumbus sowie die E rfindung des Mikroskops sowie des Fernrohrs durch G alilei, zunehmend fragw ürdig. Man stell te etwa im Falle der stellaren \'(Ielten fest, daß es Realitä tsbezirk e gi bt, die ohne technischc Hilfsmittel für das menschlichen Se hvermögen unsichtbar bleiben - eine zuvor undenkbare Vorsrellung. D iese Einsicht markien einen ., Einschnitt, jenseits desscn ständiger Z uwachs det zugänglichen Realität crwartet wc rden konnte.«2.l6 Ga nz symptOmati sch ist fo lgende Passage (von 1667): .,the Microscopc alone is enough tO silencc all oppo sers. [...J now by the means of that excelIenr Inslm!!letll, we havc a far greater number o f di fferent kinds o f things reveal'd ro us, than were conrained in the visible Univers beforc".237 D araus erwächst auch der psychologi sche Reiz, den Kul rurgeschichrc des Rä tsels bietct HAIN, Mamilde: Röl;tl. Sru ttgan : Metzler 1966. Zwei bekan nte Beispiele: l\b n denke el\,.,a an Fischans Affin/rNrlirht lind UngthtNrlirhe GurhirhlJSrhriji von Gargan rna und Pantagruel (1575) oder an G rimmelshausens Drr Abtnlhtllrljrm SimpliriJSimlls Ttlllsrh (1668-69). Man könnte als einen vo rläufigen H ö hep un kr dieses ,Genres' die Sanunlu ng Biblio/htle dtr Abtn/htllfl'r ansehen, die 18 10 vo n Sc.hleiennachers Freund J ohann Christian Ludig Haken veröffentlich t wurde. Vgl. dazu auch GRIM" IIN GER, Rolf: HanJm So'{jalgesrhirhJe dtr tUli/srht" Li/tra/ur wm 16. Jahrhundert biJ il'r C tgtn~'(Jrl. ßd. 4: UEDING, G en : Kkwile lind Romantik. DtulJrlu Li/tra/ur im Zritalltr tkr Fran?jJSiIrlnn RfI/()llIh'on (1789· /815). r-,·tlinchen , Wien: Hanser 1987, S. 5 16ff. Vgl. 7.ll der langen, bereits im 12. Jahrhunden beginnenden E nrwic k.l ung B LUME.t'18 ERG, Hans: Dtr Prozrß dtr /IJeon!iJ{hm Ntu.!jerdt. Fra nkfurt / M.: Suhrkamp 1980, S. 122- 183.
E bd .. S. 18 1. SPRAT, Thomas: Tht His/ory of /In RiJyal 5odt(J ofu ndon, For Iln JmprrJl7'ng ojNalllral Knoll4tdgt. Londo n: Many n 1667. Paks. Neudruck 1966. S. 385. Die Bezeichn ung ,H isto ry' ist aus hcuriger Sicht irreftihrend. es handelt sich vielmehr um eine apologetische DarsrcUung der Royal Society.
214
Ausgriff auf neue Realitäten zu wagen. Die Idassischen T o poi sind dabei die Weite der Weltmeere so'.vie der Ausgri ff auf die Gestirne - in Anlehnung an die T opograp hie der Höhe beziehungsweise Tiefe [111. 1/2]. ßlumenberg nennt als Beispiel einer solchen Überschreitung der \'\fahrnehmungsschweUe die Geschichte vo n den sogenannten ,Säulen des I-lerkules', also den Bergfel sen beiderseits der Straße von Gibraltar, welche für die Antike das ,E nde der bekannten \'\fel t' symbo li siert hatten . Noch Dame erfand zu Beginn des 14. Jahrhunderts in der Divifla COnJmedia die Episode des neugierigen Odysseus, der aus \Xfißbegierde nicht nach Ithaka heimkehrt und statt dessen die Säulen des I-l erkules d urchf.'ihn:
1...1als wir zu der Enge, wo Herkules die Zeichen setzte, kamen, daß weiter vorwdringen niemand wage. I...] ,,0 Brüder", sagt ich, [...1 .,Versagt dem kurzen Abend eurer Sinne, der euch noch übrig ist, nicht die E rfa hrung, der Bahn der So nne fo lgend, jenen T eil der \'(felt, der unbewo hnr ist, zu erkunden!,ird dargestellt bei H UNTER, Mkhacl: Snrner and Sorittl in RrJloralion England. Camb ridge CI aL: CUP 1981.
'" 2 16
Einen Überblick gibt auch die Apologie der Rß)'ul Sodttl, SPRt\ T, Thomas: Tbt History oJ fbe Ro]ul SodttJ oJ um/on, POl" tIn lmproling oJ Na/llral Knowltdgt. London: Mart)'n 1667. Faks. Neudruck 1966. Sprat heht auc h die p ri\.jJegicrte Stellung Englands als Weltmach t hervor:
Parallel dazu entstehen aber scho n früh popularisierende Texte, welche sich eher an die Neugierde de s Publikums wenden. Ein Beispiel ist etwa der von John Wilkins (einem der GründungsmitgLieder der Society)244 anonym veröffentlichte T ext The DÜCOIftry oJ0 IVorld in the Moone (1638), ein Stück ,Wissense haftsliteratur', in dem spekulativ ,enthüllt' wird , daß sich auf dem Mo nd eine Welt ähnlich der unsrigen befindet. Symptomatisch ist sc hon der Beginn der Vorrede: " If amongs t th)' leisure ho ures thou canst spare an)' fo r the perusall of this discourse l...]"245 - es geht also scho n hier allch um Unterhalrung, wieder ein Beleg dafür, daß noch im 17. Jahrhundert keine klare Ausdifferenzierung von \'V'issenschaftstexten im Gegensatz zu Umerhalrungsliterarur erfolgt ist. Symptomatisch ist auch, daß der eigencliche Text mit einer Apologie der Nmgierde beginnt: " Here is an ernestnesse and hungering after novelty which doth still adhere unto all o ur natures .. 246 - und rypischef\.1leise wird diese Neugierde vor der Geschichte des Sündenfalls, dem mittelalterlichen Paradebeispiel für die fol ge n der Clm'osi!as, rechtfertigt. Die Neugierde der Sonety bei ihrer Bemühung um das Inrprovement ojNallira/ K1IOJII/edge. so ihr Motto, ist ganz esse ntiell auf das Sammeln möglich st vieler Daten und empirisch verbürgter Informationen angewiesen. Genau in dieser Hinsielu waren die Aktivi täten der Roj'o/Socie()' schon seit dem Beginn ihre s Wirkens auf di e Berichte von Reisenden angewiesen, welche die Säulen des Herkulcs überschritten (auch wenn die Landung auf dem Mo nd noch einige Jahre auf sich wanen lassen sollte). D emgemäß wurden 1665 in den PhilosophiCtI/ Transac/ions der Gesellschaft eine Anleirung für Re,isende zum richtigen Sammeln wissenschaftlich brauchbarer In formationen und D aten veröffentlichr: Diru lions flr Sea-Men going inlo the Easl & lf/est-Indies. 247 Die Reisenden werden do rt aufgerufen, alle Begebenheiten mit Meßinstrumenten wie Kompaß oder Senkblei zu beobachten und zu vennessen, dazu ein Tagebuch zu führen , in welches sie aUe Daten exakt eintrage n. Wie in einem Manual werden ihnen präzise Standards und TabeUen vorgegeben, nach denen die ko rrekte wissenschaftliche Beobachtung zu erfolgen hat.248 "l1us meir care o f an Uni/mal Jn/dlif!nrt, is befriended by Na/11ft itsclf, in thc siruarion o f England [... ]"; ebd., 5.86.
'"
Eine Übersicht über die Gründer der Royal Sodtry bietet HARTLEY, Harold (l-trsg.): The fWytll Socitry. I/i Ongins and FOllndm. London: Royal Sodet}' 1960, zu Wilkins siehe S. 47f(
N}
D ie vollständige bibliogntphische Angabe lautet WILKINS,J ohn: The Discovcry o f a Wodd in the Moone. Or, J\ Discourse Tending tO Prove mat 'cis probably there may be anomer habitable World in that Planer. London, Printed by E. G. for t-.l.ichacl Sparke and Edward PorrcSt, 1638, hier S. AJ.
Ebd., S. 1. VgL auch SPRAT, Tho mas: 71N His/ory of/ht Royal Soritry ojLondon, For /be Imprm.;ngojNoillml Knowkdf!. London: Man}'n 1667. Paks. Neudruck 1966, der auf die Kooperation mit Kaufleuten sowie der breiten Kom:spundenz der Royal Sodtry hinweist (5. 86ff.). U3
diesem Zusammenhang nach wie vor FRAI"11.l, Ra}' W.: Tht Engliih Trat'tllir and IIx MOI.>tmenl oJ ldw (!660-17J2). lincoln, Ne bras ka 1932/ 1933, S. 15ff. Vgl.
7.U
217
Diese Initiative führte wiederum dazu, daß viele Rei sende tatsächlich aufzeichneten, was ihnen ,hinter den Säulen des Herkules' widerfuhr, und danach ihre Berichte publizierten. D as erstaunliche Ergebnis war, daß diese Berichte nicht nur mit wissenschaftlichem Interesse gelesen wurden, sondern eine populäre Euphorie für die Lekrüre von Reiseberichten aus den entlegenen, noch weitgehend unbekannten Gebieten ,hinter der Schwelle' ausbrach. Es sei zwar eingeräumt, daß es selbstverständlich schon viel früher frühneuzeitliche Reiseberichte gab, etwa Richard Hakluyts t 589 publizierte Sammlung Tbe Pn'ncipal Navigations, Vqyages, und DiJcolltn'eJ of Jhe English NaJion. 249 Die voyage na"oli/lts um und nac h 1700 besitzen jedoch eine ganz andere Qualität. Sc hon allein die Vielzahl der Veröffentlichungen sowie die häufigen Neuauflagen sprengen alle bekannten Dimensionen (wobei man sich dabei immer im klaren sein muß, daß diese ,PopuJarisierung' sich noch innerhalb einer vorwiegend städtischen Bildungselite abspielt und daß Auflagen zu dieser Zeit im Schnin zwischen 1500 bis 3000 gedruckten Exemplaren liegen; um die Mitte des 18. Jahrhunderts waren etwa die Hälfte aller Engländer noch Analphaberen).2so Die Anzahl allein der Reiseberichte im E ngland des 18. Jahrhunderts wird in der Forschung auf etwa 2000 Titel geschätzt. 251 D er Auslöser dieser Bewegung wutde 1697 unter dem Titel A NeJII Vvouge Rollnd Jbe IF/orld veröffentlicht. Die Widmung, "To the Right Honourable Charles Mountaguc, EsCJ; Pres idenr of the Royal Sociery"252 bennent den Zweck .. for the promOting o f use ful knowlegde" und stellt so unmißverständlich die Verbindung zu den Vorgaben der Roj'(11 Sode'], her. Erstaunlicherweise blieb der Text jedoch keinesfall s auf
Einen hervorragenden Überblick bietet die Anthologie ADAMS, Percy G. (Hrsg.): Tr(//,I U ltra111ft Ihrollgh tht Agn An Anthalo!). New York, London: Garland 1988. D emgemäß vollziehen sich die Veränderungen, die hier punktuell bctrachtet werden, oft über Jahrzehnte bis J ahrh unde rte. Die ,Popularisicrung' des Lcsens ist ein solcher Prozeß, d er b is in da s 19. J ahrhu ndert andauert; die e in ze lnen Ve rä stelungc n diese r sozialgeschichtlichcn ,Lesergeschichte' kö nnen jedoch hier nicht TIlema sein. Für die Entstehung des englischen Lesepubliktuns ist nach wie \'or einschlägig AI.TICK, Richa rd
D. : Tm Englüh Common Rtadtr. A Sodal HiJtory 11m MalJ Rtading Pllblir (1800-/900). Chicago, 1..ondon: The Univcrsir)' of Chicago Press 1957, hier S. 20f. und S. 23. Vgl. ferner ENGE.LSING, Rotf: Analphabetmtllm lind Lt/etiirr. ZlIr So-;ialgpcbichle du LuenJ in DrulJchltmd tfI·ismen ftlldultr lind indllJtndltr GtJtllIChaji. S[Ungart: Mer.der 1973. VgL EDWAWS, Philip: 7M SIOry 1'm Vrryagt. Sta-Narrah·'.>tJ in Eigbtunth-Ctnlllry England Cambridge: CU P 1994, S. 1f.; in diesem Band fmd en sich umfangreiche bibliographische Angaben. DAMPIER, William: A Ne", V ~age Rollnd tm lf7orld. Londo n: Knap ton t 697, S. A2; de r Titel lautet komplert: A ncw Voyage Round the World. D escribing parriculady, Thc hlhmllJ of Anunea, scveral Coas[s and Islands in the lf/utlnditJ, the Islcs of Cape Vmt, (he Passage b)' Ttrra dti Fllego, (hc SOllih Sea CoaSIS o f Chili, Ptm, and Mexitrr, the Isle of Cua", one of the LAdronu, Mindunnao, and o lher PIJilippint and East- India Islands ncar CQ1IIbodia, China, "'o "" ola, ummia, etlt/m, Cle. j\lrul Holland, SlImah'a, Nirobarlsles; the Ctlpt of Good Hopt, and Sallta Hrlltna. Thcir Soil, R.i\'ers, Harborus, Plams, Fruits, Animals, and Inhabi(ants. Their Customs, Religion, Government, Trade, etc. ß y lf7illiam Dampier. Illustraled ",':ith Particular Maps and Draughrs. 1..ondon, Primed for Jamu Map/on, at [he Croll-'n in SI Palll s C hruchyard. MD C XCVl I.
218
den limitiertcn Leserkreis einer Fachpublikatio n der N atural HiJtory beschränkt. Im Gegenteil - durch die Veröffentlichung wurde der Verfasser, dcr Seemann William Dampier (der möglicherweise Hilfe bei der Abfassung seines Textes erhalten hars1 mit einem Schlag zum berühmtesten Reisenden und ,Freibeuter' seiner Epoche. Eine bibliographische Prüfung illustriert, daß dieser früh e Text im zeitgenössischen europäischen Buchmarkt ein Verkaufsschlager gewesen sein muß. Das beweist einerseits die rasche geographische Verbreitung: D er umfangreiche T ext wurde 1697 in England veröffentlicht, bereits 1698 erschienen Übersetzungen in Frankreich und Holland, 170 1 erfolgte die deutsche Ausgabe. D ie hohe Popularität wird auch durch die Vielzahl der Au flagen belegt. N ur zwei J ahre nach der Erstausgabe ersc hien in London bereits die vierte Auflage , in D eutschland lassen sich beispielweise in der Anfangszeit Au flagen aus den J ahren 170 1, 1702, 1703, 1707 und 1708 nachweisen. Hinzu kam, daß Dampier schnell weitere Texte nachlegte; es folgte ein Supplementband, eine Reise nach Australien und nach New Holland, die ebenfalls immer wieder neu gedruckt wurden. Dampiers Bericht weist sich schon in seinem Titel als N migktit aus. Die Publikation wird in der Vorrede dadurch legitimiert, daß die In fo rmationen, die er über entlegene Gebiete vorstell t, noch völlig unbekannt sind: " I may witho ut vani ty encourage the Reader (0 expect man)' things wholl )' new to him".2!>4 Auch in Folge bemüht sich D ampicr darum, nur N mes zu beri chten: "And for this reason, that I might Avoid needless Repetitions, and hasten to such particulars, as the Publiek halh hitherto had no acco unt o f, I havc chosen to comprize the Relation of m)' Vo)'age hithen o in (his shon compass".25S D ampier hält sich dabei recht genau an die Dispositionen der RoytllSociety. Wie do rt angewiesen, hatte er auf seiner Reise ein Tagebuch geführt. Sein Buch "is composcd of a mixt Relation o f Places, and Acrions, in the same order o f time in which rhey occurred: fo r which end I kept a JOllrnal [!I o f every days O bservations."256 D er Tex t ist ferner mir Kartenmaterial angereichert: " For the better apprchending the Course of the Vo)'age, and the Situation o f the Places mentioned in ir, J have caused several maps to be engraven. and so me particular D raughts o f my own Composure", Abweichungen von bestehenden kartographischen Erfassungcn werden mir seiner Kenntnis dieser m
Dampiers T ext basic" auf seinen umfangreichen Reisetagebüchem , die übrige ns in der Bn/üh Libmry im O riginalmanuskrip t eingesehen werden können; das endgültige Produkt weicht jedoch beträchtlich von dem ursprünglichen joNrnal ab. Bereits im 18. Jahrhunden gab es Spekulationen über einen möglichen G hostwriter, das Thema wurde bis heute kontrovers diskutien , in der neueren Fo rsch ung wird eine Bearbeitung d urch Damp ier immerhin rur möglich erachtet; vgl. EOWARDS, Philip: The Story ofIm v ~ogt. Sto·I' ,1o" oh"tv in Eighlunlh-CenlNry E"gland Cambridgc: C UP 1994, S. 17ff. DAMPIER, William : A l"tUJ V q ogt Rt;rmd lhe [Y/ orfd. Londo n: Knapton 1697, S. 1\4. EIxI., S. 4f.
E bd., S. 1\3; meine Hervorhebung.
219
Gebiete verteidigt: "The Reader may judge how well I was able to do ir, by my severaJ Traverses abour it, mencioned in this Book".ll7 Dampier legt in seinem T ext detaillierte Beobachrungen vor, die tatsächlich streng dem Ablauf seiner Reise fo lgen. Ein Ausschnirr aus einer Kapirelüberschrift kann einen Eindruck von der bunten Ansammlung von Infonnatio nen über entlegene Gebiete liefern: The Inhabitants, and of the Tartan forcing the Chil1m (0 Cut off their Hair. Their Habits, and the linIe feer of their \X/omen. Cbina-ware, China-roots, Tea, erc. A Village at SI. Jobll's Island, and of the Husbandry of their Rice. A story of a Cillm Pagoda, or Idol-Temple, and Image. Of the China jonks, and their Rigging. ThC)' leave SI. John'l and the (oaS I of China. A mos t OUtfagious Sionn. Urplll SanI, a Lighl, or ;"kteor appcaring in Sronns. The PiJcadortJ, or Fis/mI Islands near FomloJa: A Tarlarian Gamson, and Chinue Town on one o f these Islands. The anchor in the Harbour ncar the TllrlllfJ Gamson, and tre.u wlth the Governor. Of AJllqy in the Provincc of Foleifll, and Makao a ChilltJt :md POrlllgm Town ncar G mlon in China. Thc Habits of a Tarlarian O fficer and his Rctinuc. Their prescnts, excellent becf.2511 D er N utzen des Textes für dcn Leser wird in der Vorrede dann auch kJar herausgestellt, und zwar soll seine Neugierde befriedigt werden: "gracify his ClIfioli(/'.159 D er Text positioniert sich al so in das G ravitations feld des empiri stischen Forschunbrsprojekts der RIo'oISoaety. Daß man dabei ollcb untcrhalten woUte, belegt der Vergleich des gedruckten Te xtes mit den Reisetagebüchern D ampiers, deren Origin aJmanuskriptc überliefert sind: Die Reihenfo lge d er geschilderten Begeb enheiten ist zwar identisch, in vielen Passagen finden sich jcdoch gravierende Eingriffe, welche die nüch ternen Notizen dramatisieren, lirernrisieren und ,be sser lesb ar' machen. 260 Dem großen Erfolg von A NtlP Vl2)'ogt rrmnd tbe lY/orid ließ nicht nur Dampier weitere Publikationen folgen. Er erzeub'1e einen Boom der Reiselit.e rarur, und das nicht zuletzt, da sich die Bücher hevorragend verkauften - die 1.'O)'oge 261 noffoh'tJeJ erwiesen sic h als ein lukratives Geschäft. E in ßeispicltexr ist die Veröffentlichung von Dampiers Bekanntem L o nel Wafcr im Jahr 1699: A NeJv VlD'tJge ond DesrriptiotJ oj tbe lsthnJl(J oj Alllenm. 262 Wafer, ein Arzt, harrc Ebd., S. A4 und A5. Ebd., S. 403.
.. '"
Ebd., S. A4, meine I-Iervo rhcbung. Vgl. d azu EO\l:'ARDS, Philip: TIN Story EnghndCambridge: CUP 1994, S. 29(. Vgl. EOWARDS, Philip: Tht Story Cambridge: CUP 1994, S. 6.
oJ 1!Je
oJ tht
VC!1({gt. Sra-i\,formlj,'tl ift Ei.ghJunlh·CtftINry
Vl!)'ogt. Sto-Normlit'tJ in Eit.hJunlh-Crnlllry Eng/(Imt
Die \'oUständige bibliographische Angabe der von mir verwendeten Ausgabe: A Ncw Voyagc and Descripcio n of the IsthIRNS of Amtri((J. G iv;ng an Account o f rhe Author's Abodt me.re, The Form and Afolu of me U Nfttry, [he CoasJI. Hills, Rhom, &c. lf/ tHHiJ, Soil,
220
D ampier auf einem T eil seiner Reise begleitet und berichtet, ähnlich wie Dam pier, n ur von Begebenheiten, die nell sind und bei diesem nicht erwähnt wo rden waren: " But I shall nOt em er imo the Disco urse o f o ur Vo)'age after this, Mr. DOll/pier, who was in the same Vessel, having do ne it particularl)'.'er auf den neuen Trend aufspringt, um am Erfolg zu partizipieren. Bezeichnend sind dann auch die Ve rschiebungen, die gegenüber dem " Archetyp " stattfinden, der sich ja recht eng an die Vorgaben der Royal Sone!) gehalten hatte . \Vafers T ext ist schon von seinem Stil her eher an das Massenpublikum gerichtet, er ist romanhafter, spannender und unterhaltender, und bezeichnenderweise sind die Illustratio nen im Gegensatz zu Dampiers nüchternen Skizzen bis ins Detail ausgefUhrte Genrebilder von den fremden und rä tselhaften Indianem .2.65 Wafer beliefert den Markt also bereits m it einem Prod ukt, das den Blick in die Fremde viel stärker ästheti siert: ,,\Vhi le I was Praying and Meditating rhus o n my sad Co nditio n, I saw the Mo rning Star appear" heißt es etwa in diesem ,Bericht', an anderer SreUe: " Providence still dircctcd all fo r the bctter."uc. Die Reiseberichte aus dieser Z eit belegen klar, daß ihre Auto ren noch nach dem richtigen ,T o n' suchen und daß sie sich weitgehend im unklaren sind, wer denn eibrcndich die Rezipiem en ihrer T exte sind, o b es sich etwa um Ko llegen aus der Seefahrt handelt. um ein gelehrtes Fachpublikum der Nalliml His/ory oder den neugierigen Laien. Ein Beispiel ist die folge nde Stelle bei D ampier:
IPtOllNr, &c. "("U, Fmil, 8r01ls, Birds, Fish, &c. The Indian Inhobil«nls, therr Fea rures, Complexion, &c. therr Manners, CuslOms, Employments, ~Iarriages. Feasts, l-Iunring, Computado n, Languagc. ete. With Remarkablc OmmnftJ in thc SONlh Sr«. and clsewherc. Sy lJoncl Wafer. Illustrated with sevcral Coppcr. Plaues. Londo n: Primcd fo r J ames Knapton, at the CrOIl." in St. POlils Church.yard, 1699. Z6.I
WAI'ER. lJoncl: A N tfIJ V90gt anti Durripti01l oJ Im Islhl1lllJ oJ A l1Im·(a. London: Knapton 1699, S. 43. Vgl. fe rner. "we march'd 0 \'C1" Land, :m d took Sonlo Mana; and made those Excursio ns imo the S. StOJ. whieh lI.lr. Ringr"Ou rd.ates in the 44th part of the Hislory o f thc BII«onim . Mr. DOI1IfJitr has told. in his IntrodNrtion to his V90gt rolli" Im World, in wh:n m.anner thc Company di,-idcd with reference to C.apt. Sha'!J." (S. 4f.); oder. "The)' lold us of Gwrge Gai'!Js Dis2Sler. whose Drowning r-,.l.r. DOl1lpitr rd.ates p. 17" (S. 10). E bd., S. 190. Vgl. Ebd. S. 28: "The Indians maner of Bloodletring"; S. 102: "The Indians in therr Rohes in COllncil and Smoaking tobacco after their wa)'."; S. 140: "The Indians nurching up o n .I Visit, 0 1 to Feast". Ebd .• S. 19 und S. 21.
221
As (0 rn)' Stile, it canno! bc cxpccrcd, that a Seaman should affect Politcncss (.. .]. I ha\'c frcqucnd y indccd, di"cstcd m)' self o f Sca Phrascs, TO grarif)' the Land Reader; for wruch (he Seamen will hardly fo rgivc mc: And yer, possibly, I shall not scem Complaisam cnough [0 the other; becausc I still rerain [he usc of so man)' Sea-tenns.I ... J' am persuadcd, that ifwhal l 5a)' bc intelligible, it mat· tcrs nOf gready in what words it is express'cl. For the same reason I ha"c not becn CUriOliS 3 S IC thc spcUing of the Namcs o f Placcs, Plants, Fruits, Animals, '" . ctc·"
Ferner muß beront werden, daß sich eine generische Unterscheidung zwisc hen Roman (rontana) und Geschichtsschreibung (hiJlory) noch nicht stabilisiert hat. Das belegt ein Blick auf die Klassifikationen des zeitgenössischen Buchhandels; ein Beispiel: In 1672 the bookseller Jo hn Starke)' advercised his list of publications b}' printing a catalog o f books divided infO the foUowing six ealegeries: Diviniry; Ph}'siek; Law; History; Poetr')' and Plays ; aod lVliseclianics I.,.}. Undcr thc hcading ,history' he includes Sueronius, Rabclais, the ,Novcls' of Qucvodo, biographics, travcl narratives-and the eolleetion at whose end the catalog itsclf is printed: T IN Anna/s oj Lot't, Con/aining Se/u t Hislon'u oj Ibe AIRoun oj diL'trs Pn'nm CO/IriS, P/~tJJanl!J RLlaled.:!68
Dies und andere Belege illustrieren kJar, daß in der Kommunikatio nssi ruacion ,um 1700' die Untersche idung zwischen Hislory und RO/!lm1fe im modernen Sinne noch osziUi en , und tendenziell wird der Begriff rrmul!lce vorwiegend abwertend benutzt. Zugleich is t diese KonsteUacion der Ausgangspunkt, von dem au s geschäftstüchtige Autoren den Markt mir eljimdef1en Reisebericht en beliefe rn werden. Wie sich zeigen wird , entwickelt sich erst allmählich die moderne Rezeptionsweise der jileJiontJltn LeleJiirt - das verdeutlichen die fo lgenden Ausführungen zu Defoe, die ich anschließend in den allgemeinen Kontext der Entstehung der Fikcionalität einbetten werde, Nach dem Erfolg authentischer Reiseberichte beginnen nämlich Autoren wie Defoe, der als J ournalis~9 ein Profi hinsichtlich der massenwirk samen Aufbereitung des Neuen gewesen ist, die unstillbare Neugierde des Publikums
..
DAMPfER, \X' ilIiam: A N,Jj' Vl!)'pgt Rollnd ,Jx IVorM, London: Knapron 1697; S. A4 . MCKEON, M.ichacl: TIN On!!"1 of IIN ERglilh Nord (1600-1740). Balrimore: Johns Ho pkins UP 1988, S, 26. E.in t: andert: Fonn der zcitgenössischen Kbssifikarion [mdel sich in den Ti/(I,,-, diesc }x:nu!Zcn Fo nnulierungen wit: IIx Iift of, ad/''f'''lIrrJ, ITat"fh bzu', wyagn, ""moin, Itllm, tonfeISig"l und so fon, aber auch in diest:r Taxmo mit: gibl es keint: Trennlinie zwi· schen ,Fikrion' und ,Wirklichkeil'; " by far rnc mosl papular of generic lenns 10 be found in rilles from thc Rt:naissanct: o n was histor)'''; "g!. ADAMS, Percy G.: Tra/Jrl Ut,ra/lu" ond t!Je E'fJ/ll/jon of IIN NOI'tl Lexington/ Ky,: Uni"crsiry Press of KenNck}' 1983, S. 8. VgL etwa auch zum Z usammenhang \'on Berichten über Piraterie und Seefahrl in der Presse und Defoes Arbeit an Robillson CmsOf u, a. NOVAK, ~ I aximillian E.: [Vo/ism, MJ"h, Qnd Nillory in Difot'S Firtion, Jjncoln. London: Uni"ersit)' o f Nebraska Press 1983, $, 23-46; ROGERS, Pat: Robinlon CrIISot. London CI al.: George Allen & Unwin 1979, $, 95.
222
mit eifill1denen Reiseberichten zu beliefern, die sie jedoch al s authentisch ausgeben. D abei f.1lschen sie die Phänorypie authentischer Berichte so kennmisreich, daß in vielen Fällen bis heute nich t eindeutig festgestellt werden kann, o b die beschriebene Reise startgefunden hat oder nicht. 270 Ein Beispiel für ein en T ext, der sicherlich von den zei tgenössischen Lesern für ech t gehalten wurde , ist Defoe s 1724 anonym erschienener T ext A N ew V l!J'age ROllnd Ibe Il:7orld, By (l COllrse never s,/i/ed before.271 Auch dieses Buch handelt letzdich vo n der Neugierde, die es befriedigt: .,Such was the unsatisfied Thirsr of New Discoveries, which I brought o ut of Eng/lind with me", heißt es an einer Stelle, und an einer anderen wird als Beweggrund geäußert: ,,(O sati sfy my Curiosiry".:m Auf dieser Reise, die gar nicht stattgefunden hat, werde n Entdeckungen gemacht. Im zweiten T eil wird eine Passage durch die Anden nach Peru gefund en273 , Inseln werden das erste Mal erfaßt und so fo rt: " I canno t help being of O pinio n, let our Mapmakers place them [the islands] where they will , [hat those Islands, where we so success fully fish'd for Oysters, o r rather for Pearl, are the same which the anciem Geographers have caU'd Sa/oll/oll'S Islands".274 Und auch diese Reise trumpft auf mit Superlativen der Nelligkeit. " we should be the first that ever wem such a VoyageH und: " We then call 'd a Council, and resolv' d (0 go no fanher S. being then in the L1titude of sixry seven SOlllb, which 1 suppose, is the fa rrhest SOIiIbel7l Latitude that any Europe(lll Ship ever saw in those Seas...275 Der T ex t kopiert also durchaus den Gestus der Beschreibungen ,tatsächli cher' Reisen. Dennoch gibt es auch Differenzen. Das zeigen die programmatischen Äußerungen in der Vorrede, welche die F/III der veröffentlichten Reiseberichte ins fad enkreuz nehmen: It has for some Agcs been thought so wunderful a thing to sail the Tour or e itele o f the Globe, that whcn a Man has done this mighry Feat, he prcsently thinks it deserves TO be recordcd like Sir FrtUlti! Dmke's. So as soon as Men have actcd the Sailor. thc)' come a-shorc and write Books o f their Voyage, nor onl}' TO make a great noise of whar they have done rhemsclves. but prcrcnding
270
Vgl. r-,·tCKEON. Michael: TIx Orio ·n! H op kins UP 1988. S. 105.
oJ IIx
EnguJh Novtl (1600· 1740). Balcimo re: Jo hns
D E.FOE., Dame!: A NllP V!?Jogt RLiJllld the 1170& , By 0 CoHrIr I/tl,'t f sml,J btfOrt. Landon: Bcn cswo n h, Mears 1725. Wieder die vollständige bibliographische l\ngabe: A new Voyage Ro und [he Wodd, By a Course never sailed before. Being a Voyagc undenaken by some t-.Ierchants, who afterwards proposed the Setting up an EaJf·Jndio Company in F1anders. Illuslratcd with Coppcr Plates. Landon: Printcd fo r A. ß cn csworth, at thc IVd LyON, in Jlal"·Nos/(f-RoJj~ and W. Mears, at the l..ßmb, without Trmpk.8 of. M.DCc. xxv. m
Ebd., Bd. 11 , $. S4 und S. 64.
m
Vgl. hierzu VICKERS, lIse: Difot ond ImNrlP Stimm. Cambridgc: C UP 1996 (= Cambridge srudies in cighteenth-cenrury E nglish literature and thought, 32), S. 142.
v, m
Ebd., S. 204. Ebd., S. 9 und S. 19 1.
223
to show the wa)' to othcrs to comc after thcm, thcy set up for Tcachers and Chan Makers to Posterit)'. Tho' most of thern have had this Misfortunc , thai whatevcr Success the)' have had in the Vo)'age, the)' havc had vcry tittle in (hc Relation; cxccpt it bc (0 ICU us, thai a Seaman when he comes to the Press, is prctty much out of his Elemcnt, and a ver)' good Sailor ma)' make but a ver)' indifferent Author.!76 D er Text steUt sich also Ln K o nkurrenz zu den Berichten einfacher Seeleute (z. B. Dampier) und beh auptet sogar deren ,Überbierung', indem er Anfo rderungen der Ästhetik in einen Textkorpus einführt, welcher ursprünglic h nur der ,Vennehrung des \'(fissen s über die Welt' zum Z iel hatte. E s wird sogar behauptet: "The Voyage round the World, b e in it self of no Value", und: "few [navigators], if any of them, have divened us with that Variet)' which a Circle o f that Length must needs offer." Die vielen D etailinfo nnatio nen anderer Berichte seien nur für Seeleute brauchbar, "and hOlv few are thq? bur nOt at a1l ro the Purpose when we come expecting to find the History of dle Voyage." Diese langweiligen Berichte " have linie or nothing of Story in them , for the use o f such Readers who never intend to go to Sea, and }'er such Read ers may desire to hear how it has far'd with those that havc, and how Affairs stand in th ose remote parts of the World. "m Interessanterweise wird dab ei jedoch das Prinzip der Authentizität nicht angetastet - es heißt weiter: Fot these Reasons, whcn firs t I set out upon a cruising and ttading Voyage tu the EaIl, and tesolv'd t O b>O an)' where, 1... 1 I also tesolv'd [0 take such exact noricc of ever)' thing that past wilhin my Reach, that I WQuid be able 1... 1 10 &"ve an Account o f my Voyage, differing from all that I had ever seen beforc, in the narure of such Observations, as weil as thc mannet of rclating them : And as this is perfectly new in its Fonn, so 1 cannot doubt bUT it will be agreeable in the Parriculars, seeing either no Voyagc ever made before, had such Vane ry o f Incidents happening in ir, so use ful and so di"erring, o r no Person that sail'd o n those Vo)'agcs, has thought fit to publish them after this manner. 278 N ach den programmatischen Aussagen der Vorrede liegt also das Neue an D efoes ,authentischer' Nelv Vllj'tlge ROJlfld tbe lt70rldin der unterhaltenden A ufbereirung einer außerordentlichen Vielzahl ungewöhnlicher, zugleich authentischer Abenteuer, der Text erzählt eine aufregende StoD' - und das ist gewissermaßen Defoes Course f/etJer sm'/ed bifore: Er beliefen die Neugierde des emstehenden Massenpublikwns mit einem Produkt, das genau auf die Wünsche des Lesers hin zugeschnitten ist. Defoe erweitert also die literarisierenden T enden zen , die sich schon bei
v.
DEfOE.
DanieJ: A Nt'" Vl?Jagt RbH"d IIN I170rld, By a COHnt ntt'tr Jailtd btforr. London:
Beneswonh, Mears 1725, S. 1. m
Ebd.• S. 2r. Ebd., S. 4.
224
Wafer fanden (im übrigen finden sich auch bei Defoe ähnlich ,ästhetische' Illustrationen wie bei Wafer), und macht die Befriedigung der Neugierde zum Programm - und zwar so konsequent, daß er seinen Lesern Lügengeschichren als wahre Begebenheiten auftischt. Die Proliferation der Reiseliterarur gewinnt damit eine Eigendynamik, die sich schon zu Beginn des 18. Jahrhunderts nicht mehr kontrollieren läßt. Sie bedient die zeitgenössische Begierde nach dem Neuen, nach dem Ungewöhnlichen, sie beliefert diejenigen, die selbst nicht die Säulen des Herkules durchschreiten kö nnen, mir (zur NO( erfundenen) Geschichten des ,ganz anderen': Von Indianern, \'(Iilden und Menschenfressern. Das Medium bietet sich an als Substitut für mangelnde Wirklichke itser fa hrung (I. 1/ 2] . Wer nicht reisen kann, dem steht immerhin noch die Wel t der Bücher offen, oder, wie es in Defoes Gentlemon heißt: If he la gentleman] has not travell'd in his routh [... ], he may make the tour of the world in books [.. .J. He may tra\'ell by land with the historian, by sea wirh the navigators. He may go round the world with Dampier and Rogers, and kno' a thousand limes morc in doing ir than aU those illirct3rc sailors. He may make aU distam places near tO rum in bis reviewing the voiagcs of those thar saw them, and all the past and rernore accounts present to him by the historians that have wrinen of them.219
Die Autoren, die Reiseberichte erfinden und als hisrorisch ausgeben - "The Editor beJjeves the thing to be a just History of Fact; neither is there an)' Appearancc of Ficuon in it"UIO, heißt es bereits zu Beginn der Lif t find Stronge SHrprii!ng AdlJcnlHns ojRtJbinson Cmsoe (17 19) - beziehen die innere Evide nz ihrer \'(Ielten nicht zuletzt aus dem gc'-vissenhafren Studium der echten Reiseberichte, deren Fundus sie hemmungslos plündern. 281 Nur ein kleiner Vergleich sei hier nachge\viesen. Dampier: ,,1 wellt a Passenger, designing when I came [hither, to go from thence tO the Bay of Call1pcad!J, in the Gulph of Mexico, to cut Log-wood";282 Defoe: "we should l...J perhaps, run some o ne \YIay, and some ano ther, amo ng ehe Log-wood Cutters at the Ba)' of COlllpench'!}"28J; S,-vift: "we me t with Captain Pocock of BristOl , [...] who was going tO the bay
D EFOE, Danicl: Tht u Rlpltor EngliJh Gmt!tn/(ln [. ..}. Hrsg. von Kar! D. Bülbring. London: Nun 1890, S. 225. VgL dic faksimilicrle Vorrede in DEFOE, Danicl: 1"'IN Lif t ond Srrongt Surpri~ngAd/-~nlum oJ Robinson CmsOt, o/ )'ork, Mon·ntr I... ]. London: Everyman t 994. Zu dem Maferial, das in RiJbinson CmJOt eingegangen iSf, ,'gI. ROGERS, Par: Robinson CmsOt. Lo ndon et al.: George Allen & Unwin 1979,S. 27-34. Auch hier finden sich wieder Fäden, dic auf die Royal Socitry zurückverweisen, etwa die Geschichte von Roben Knox, der ncunzehn Jahrc in Ceylon festsaß und dann durch dcn Wissenschaftler Roben Hooke in Kontakt mit der Societ), kam. DA.\II'!E.1t, William: A Ntw
V~(.gt
Round Ihe lf/orM. London: Knapton 1697, $. ü.
D EFOE, Danicl: A Nt~, Vlryogt Round Iht lWo&, By (l COUTJe nt/vr lailtd btfort. London: Bctlcswonh, tI-Icars 1725, Bd. 2, S. 14.
225
o f Campechy, to cut logwood." 284 Seir kur~em ist auch erw iesen, daß Dcfoes A New Vl!)'oge Round the IVorld starke Anleihen bei einer Reisebeschreibung von J o hn N arborough m acht (ein T ext, der hier nicht berücksichtigr wird); auch aus diesem Buch übernimmt Defoe Passagen fast wö rtlich.285 Außerdem o rientiert sich D efoes Buch, vor aU em der zweite T eil, welcher eine An d e n ~ d urchquerung them atisiert, bis in D etails an den zeitgenössischen K e nntni s~ smnd der Kanographie. 286 Die Fiktion maJr genau die Regionen aus, wel che auf den zeitgenössischen Karten noch o ffe ne SteUen markieren, dringt also in ,un bekanntes Gebiet' ein, bevor es erfo rscht ist. Auch Defoes sensacio neUer Bucherfolg Robinson CnlSoe läßt sich noch aJs eine ,T äuschung' des Publikum s beschreiben. Der T ext markiert einen M e il e n ~ stein, vielleicht sogar den D urchbruch in der E ntwicklung des europäischen Ro mans, in jedem faUe ist er der erste moderne Bestseller. Der Preis lag mit 5 Schillingen rechr hoch (ein Arbeiter verdieme kaum mehr als das Do ppel te in einer Woche); dennoch war die erste Auflage anscheinend schon nach drei Wochen vergriffen; jeden falls erschienen weüere Auflagen von wahrscheinlich je tausend Exemplaren am 12. Mai, 6. J uni und 8. AUb'1.lSt. Ein noch deutlicheres 1ndiz für die Popularität des Buches war die T atsache, daß noch im selbcn Jahr nicht weniger als vier RaubdnICke erschienen, wovon d rei durch Kürzungen vom O riginal abwichen, u m au f diese Weise den Preis zu un terbieten. 287
Erstaunlich ist auch bei diesem T itel die d urchh1ängige Behauptung der Hi sto~ rizirär des Geschehens; in den Worten McKeons: " How can an autho r s ince ~ tely bclievc thai he is tclling the t:ruth if he knows thaI hc ha s invenred thc stOry to whose historicity he earnesdy attests?"288 Als nach der Verö ffendi~ chung Zweifel an der \X/ahtheit des Geschehens geäußert werden (nichr z u ~ letzt au fgru nd von Irrtümern im T ext in folge der schn ellen N iederschrift), wehrt sich sein ,,A mo r" Robin son vehement gegen die infamen U m e rstel~ lungen, der T ex t sei ,bloß' eine rOll/tJftce - scho n in den Farther AdvenlJlres 0/ Robinson Cmsoe (ebenfaUs 17 19) heißt es: "All the endeavours o f envio us p eo~ pie to reproach it with being a ro mance, tO search ir fo r erro rs in geography, S'.l:'1 vr, Jo nathan: Gullivrr's
Trtlt~/s.
Landon: Pcnguin 1967, S. 267.
Vgl. VICKERS, Ilsc: Oifot anti IIN NtM,SeimftJ. Cambridgc: CU P 1996 (= Cambridgc srudics in eightccnth-cenrury E nglish lilernture and tho ught, 32), S. 143ff. Vickcrs zeigt überzeugend die Orientieru ng an MOLL., Herrnan: TIN Col1lpkat Gtogruphtr. Landon 1709. Vgl. VICKERS, lIsc: Oifrx ad IIN Nt'" Seimts. Cambridge: CUP 1996 (= Cambridge srudies in eighteenth -ecnnuy English litcra ture and thought, 32), S. 142.
.. 226
PETLOLD, D ieter: Danid Difot, ,Robinson ClJis(Jt~ München: Fink 1982, S. 29. Einen allgcmeineren Überblick über den europ äischen Erfolg des Textes als ,r-,·(ythos der Ij tcratur' Uf1(cr Berücksichtigung weiterer Robinsonadcn b ictet GREEN, Marcin: TIH Robinson CIJiJOt Slory. Uni versiry Park, Landon: Pcnns}'lvania Starc UP, S. 19ff. MCKEON, Michael: TIN Ori§ns UP 1988, S. 120.
oJ Im E nglish NOI.~I (16(}(J./740).
Baltim o rc: J olm5 I-Iop kins
inconsistency in the relation, and contradictions in the fa ct, have proved abortive, and as impotent as malicious".289 Chades Gildon hatte direkt nach dem Erscheinen bereits des ersten Bandes Robinson Cmsoe als Erftndung bezeichnet und seinen Urheber der Lüge bezichtigt (.. tc make a Lie go down for Truth"l'X), und als noch während der Publikation seiner Kritik bereits die Farther AdIJen/llres erschienen, erneuert er seinen Vorwurf im Postscript. Darauf anrwortet " Robinson" in der Vorrede zu der nächsten Fortsetzung, in SenoNs Reßeclions dlln'ng /be Lif t And SlIrpn''{f'ngAd/.!eIlIllres oj Robinson Cmsoe, natürlich IIJnllen I!J Hilllse!f, von 1720: I have heard, that the envious and ill-disposed part of [he world have rais'd some objeetio ns l...J on prctcnee,Jor U!(JI11 oj (I bett~r rtt'lIOfl ; that (os IhO sf!Y) the story is feign'd, that thc names are borro wed, and that ir is aU a romanec; that there never were any such man or placc, o r crreumstances in any mans life; that it is all fonn 'd and embellished by inventio n to impose upon the \Vo lId. I Robinson Cmsoe being ar [his time in peffeet and sound mind :tnd memory. thanks be f.O God therefo rc; do hereby declare, thcir objcction is an invention seandalolls in design, and fal se in fact; and d o afCIl1T1, that the story, though allegorieal, is also histo rical.291
Zwar wird im folgenden auch einiges über die uncigentliche, bemerkenswerterwei se allegonsch genannte Wahrheit extemporiert, was avancierten Lesern dann die Möglichkeit einräumte, Robinson Cmsoe beispielsweise al s Allegorie der görtlichen Lenkung menschlicher Schicksale oder auf Defoes eigenes Leben2')2 zu deuten. Dennoch wird die Historizität und Auth emizität des Textes in den fVßtclions durchgängig und ko nscCjuem bekräftigt. Aber auch diese Täuschung wird noch übertroffen, auf eine \'Veise, die man durchaus als unve rfroren bezeichnen kann. Denn diese zweite Fortsetzung ist eine SammJung D EFOE, D aniel: Rbnumm a!ld Na" afi,'tS. H rsg. \'on George A. Aitken. Londo n: Dem o. J. Bd, 2: The Farthe,. Ad''(nlllfU oJ RbbinJon Cnm(. INing IIx Strond and Lul Part ojHiJ Lif t, S. vii. Schon hier fmdet sich ein Hinweis auf eine ,zusätzliche', mo ralische Wahrheit: "The jusr application of every incidem , the religious and useful inferences drawn fro m e\'ery p art, are so man)' restimonies 10 the good design o f making it public, and m us t legitimate all the pan that ma)' bc callcd invention or parn ble in the slo r)'." (Ebd.) 2?0
GILDON, Chad es: Lift A nd Strange Sllrpri~ng Atlt.'tnlllrrl oJ "'.fr. D ..... Dt F. .., London, Hont,. f..J. Lo ndo n: Ro bcrrs 19 19. Reprint in: RbbinJon Cnmt Examin 'd and Crifio'trd. H rsg von Pau! D o rUn. London, Paris: D em 1923, S. 88 IS. 8J. Aueh hier oszilliert die Fikcio nskritik - Gildon bezichtigt Ocfoc einerseits der Lüge und deckt die Widerspruche im T exI au f, kritisiert zugleich vor allem die fehlende mora/iJdK Wahrheit (crwas skurril: der T ext wirke abschreckend auf Sccleute), rii wnt da bei aber ein:,,1 am far from being an Enem )' 10 the Writers o f Fables", ebd., S. 82 IS. 2J.
ufo A nd SlIrpn'~ng A tI/.'rllfllrtJ IVrilltn I!J HimJt!f Lo ndo n: Printed
Die Titelseite enthält als Angaben: StriOIlJ RLjlUh'OfIJ dllring Iln
of RBb"lJon CT'IIJOl:
IVith hiJ ViJion oJ IM A ngelirJe WorM.
for W. T aylo r, at thc Ship and Black-Swan in Pater-nosrer-Row. 1720. Ich zitiere aus dem Reprint London: Cunstable 1923, S. \'. m
Vgl. daz u auch das Kapitel " Religio n and Allegory" in ROGERS, Pat: RbbinJon CT'IIJot. London el al.: Georgc Allen & Unwin 1979, S. 51 -72.
227
moralischer Betrachtungen. Es folgt nicht nur ein langer " Essay upon Honest)'''; es gibt auch ein Kapitel "Of ehe Immorali ry of Conversarion, and ehe Vulgar Errors o fBeha viourC 1973; DAVIS, Lcnnard J .: Farlllal FitHonJ. TIN On!!nJ oJ Im E ng/üh Nm_'t/. Philadelphia: University of Pcnnsilvania Press 1996 119831; MCKEON, t-o tichacJ: Tm OdgjnJ oJ Im E ngllih NOllt l (16()()·' 740). BaIrimo re: Jo hns H op kins UP 1988. Dic bcrührme Stelle aus dem 14. Ka pitel der Biographio J..jltrodo (18 15- 18 17) lautet: " tO uansfer from o ur inward nature a human inrerest and a scm blance o f truth sufficicm tO procure for these shadows o f imagination that willing suspension of disbclief for [he momenl, which conscrules poecic faith." COl.f:.RJDGE, Samucl Taylo r: A Cdh{o/ EdiHon oJ IIN M% r Works. H ng. vo n Heather Jo annaJackson. Oxford, New Yo[k: OUF 1985, S. 3 14 ]Biagrophio Li lrrtido. 14j . RABKIN. E ric S.: N OfTaht't SIIJ/NnJr. " Whtn Sli", Tllr7Ird SjMII!'!JJ ... " Ann Arbor: The Uniycrsity o f Michigan Press 1973, S. 36.
229
fiktionalen Lektüren sprechen?]') Dabei handelt es sich um eine spezifische Rezeptionskompetenz, die erlernt werden muß.lOO D emgemäß bemühe ich mich llln eine möglichst spio:e Eingrenzung des Rezeptions· phänomens der ji/eliol/(Jlm Ltlelü" und bereinige das Thema von einer ganzen Reihe von Elementen, die den Begriff so überdetemllnien haben, daß er viel an D istinktionsflihigkeil \'cxlo ren hat. Verworfen wird erwa die (craditionell an Platon und AristOieies anknü pfende) oniologiJdu Fundierung des Fiktio nalitätsbegriffs, da in dieser Fassung der Begriff uno richtigerweise zur Neb'lltivseife der Unterscheidung wahr / falsch aufgebläht wird: Fik· tio nalität wäre dann alles, was sich irgendwie als Trug, Schein, Illusio n und dergleichen beschreiben läßt. ParnUei dazu wird der Begriff konse'luent entflochten \'o n der milll"is· Theo rie (s. oben). D ementsprea ttung und Rezep tio nsgemein schaft im D etail klären.358 Die obige Fallsrudie belegt, daß sich die jiktionalen Ltk lüre im Falle der Reiseliteratur all mählich aus einer Rezeptio nsweise heraus entwickel t, die ursprüng lich von der Authentizität und Historizität des G eschehens ausgeht. Dieser Befund korrespo nd iert mit den Ergebnissen Mc Keons in anderen zeitgenö ssischen Ro m angattungen.359 D a keine Quellen zur Rezeptio nsweise weniger gebildeter Leser vorliegen, bleib r zwar offen, in welchem genauen Zeitrahmen sich die Ko n vention je nac h Leserschicht jeweils durchsetzt, es ist jedoch anzunehmen, daß gung zu erfinden." Ebd. Vgl. I'ETZOLD, Dieter. Danitl Dtjöt, ,Robinson CmsQt ·. München: Fink 1982. S. 36f. .l}6
S\'('1 FT, Jo nathan: Culli/.'tr's Trtl/.'tIJ. Lando n: Pcnguin 1967, S. 43. Ebd., S. 40.
353
So kann Davis zeigen, daß auch in der Frühzeit der Augblanpresse die ,News', die übrigens noch in Fo nn \'o n Balladen \'cröffemlicht wurdcn, sich als authcntisch und histo risch ausgaben, zugleich jedoch zur Steigcrung dcs Verkaufs oft erfundene Begebenheitcn beinh alteten, was auch hier scho n zu einer ,Skepsis' hinsichtlich dcs Wahrheitsgehalts führte; DAVIS, Lennard J.: Fa(fulIl F;chOlls. TIx Origins of Im English NO/!fl Philadelphia: Univcrsir)' o f Pennsilvania Press 1996 [19831, S. 42ff. VgL McKEON, !\'lichacl: The Ong;ns Hop kins ur 1988, S. 90- 131.
244
of Im English Not'tl (1600· 1740).
Balcimo re: J o hns
der Penetrationsprozeß um 1740 beginnt und bis ans E nde des 18. Jahrhunderts andauert.l6O E rst jetzt wird sich die trennscharfe Unterscheidung von Hi storie und Ro m an allgemein durchgesetzt haben, und Rezipienten werden bei Texten wie Romanen die Frage nach deren Wahrheit SIIspendiertn, in dem Wissen , daß ihr Geschehen ,frei erfunden' isr.161 Unabhängig von der Frage nach dem Zeitpunkt dieses Übergangs liegt das eigentliche, weitaus faszinierendere Problem jedoch auf einer viel einfacheren Ebene. Wirklich erstaunJich und erkl ärungs bedürftig ist bei näherer Betrac hrung der allgemeine Befund , daß sich die fiktionale Lektüre überhaupt durchsetzt, und zwar gegen den allgemeinen Trend der Bevorzugung historisch-authentischer T exte {VI. 1-3] . D enn man mag streiten über den unterschiedlichen G rad der Tolemnzgegenüber der freien Erfmdung des Stoffes, aber unbestreitbar richtet sich das Begehren aller Rezipienten auf wabre T exte. In einer englischen Übersetzung Bayles heißt es (1697): " BookseUers and aumors do all m ey can to make it believed mat these secrer Histories have been taken fro m private manuscripts: mey vef)' weH know, mat love-intrigues, and such like advenrures, please more when mey are believed co be real, chan when ehey are ehought co be mere fa bles."362 Wieso verstricken sich die Beteiligten des Literarurbetriebs in aufwcndige Apologien, leiten komplexe Theoreme über If/"brsrbeinlicbkeit aus Aristoteles ab, erfi ndcn umständliche Geschi chten, auf welchen verschJungenen Wegen Ein vergleichender Blick auf Rezensionen in Deutschland zeigt eine ähnliche T endenz. Noch in den dreißigcr J ahren des 18. J ahrhundcns stellen sie noch d ie Wahrheit der Gcschichte heraus; dics wird in den nächstcn Jahrl.chnten zunehmend in die Forden mg nach Wahrscheinlichkeit wngebildet, wobei die Frage nach der Historizität bezeichnenderweise ausgespart wird. Nach dcr J ahrhundenmine wird zunchmend die moralische Nül2lichkeit und der Aspekt der Rührung arrikulien. Dcmnach ist hier davon auszugehen, daß die Fikrionalität durchschaut wird, andererseits handelt es sich natürlich auch hier wn professio neUe Leser, und es ist fraglich , inwieweit man \'on solchcn Aussagen auf Rczeprio nsweisen aus dem Publikum schließen darf. VgL SPIEGEL. Marianne: Dtr Roman und uin Pllblihm i", friibm 18. Jahrhundm. Bonn: BoU\.Jer 1967. ~,
Diese Positio n vertrcten ebenfalls K1.EIN SCHMIDT, E cich: "Die Wirklichkeit der IJteralUr. Fiktionsbcwußtscin und das Problem der ästhetischen Realität von Dichnmg in der Frühen Neuzeit." In: DUilJfht Virrtt!jahmchriji fir Lileralu~iJJtnJ(htift lind Ctülugu chirhle 56 (1982), S. 174- 197, sowie BERTI-IOLD, Christian: FiJelion und Vitldeutigk.til. Zur EnlJlthllng moderner Kullurtuhnilun ms UstnS;1II 18. jabrhllndm. Tübingen: Niemeyer 1993 (= Communicatio, 3), S. 198. Die Diffcrenzen Z\.\ischen dieser Position und dem weitgehenden Konsens vor allem dc r mediä\.Jsrischen Forschung, wo die Entslehung der Fiktionalität weitaus früher lokalisien wird, basieren meines Er;J.chtens weniger auf einer unterschiedlicher Deurung der Q uellen als \.Jclmehr auf einer unterschiedlichen De finition von Fiktionalität; leider legen weder Kleinschmidt noch Benhold eine klare Definitio n ihrer (engeren und rezeptionsorienrienen) Vcrwend ung des Begriffs vor. Eine ko mpaktc Darstcllung der verschiedenen Positionen in der Forschung bietet HAUG, Walter: " Geschichte, Fiktion und Wahrheit. Zu den literarischen Spic1fonnen zwischcn Faktizität und Phantasie." In: Hislo,;uhts undjiJetionaJu Erziihkn ;111 Mill(/aller. H tsg. von Fcin: Peter Knapp und Manuela Niesner. Bcdin: Duncker & Humblot 2002, S. 11 5-132. BAYI.E, PiCHe: A genmll tfjrtionary hülonral and niticaL In u'hilh a ntlV and a«llfUlt Iranslotion of
Iht a lehraltd Mr. Btrylt is incll/md. Bd. 1- 10.2. Aufl. Londo n 1734- 1741. Bd. 4, S. 365f. [" Nidhard'l
245
o minöse Herausgeber in den Besitz ,echter' und verbürgter Manuskripte gelangt sind , belüge n dabei ihre Leser, und verbrämen ihre Produkte mit dem Verweis auf allegorische und mo ralische \X/ahrheiten - das aUes, um ein ,frei erfundenes' Produkt auf einen Markt zu werfen, der klar und eindeutig nach ,wahren Geschichten' verlangt? Noch 1794 (!) ko nstatiert Hoche: " E s ist mir unbegrei flich, wie sich Menschen so lange in der erdichteten Welt herumrummein"; warum bleibt man also nicht einfach bei der Wahrheit? Hoche fahn an späterer Stelle fort: "N utzen dürfen die Leser nicht von dieser Lektüre erwarten; es bleibt ihnen immer der Zweifel übrig - was ist wahr an dieser Geschichte und was ist Erdichrung. Ich dächte l...J daß diese Art der Lektüre wol überflüssig wäre. Es giebt ja wahre Geschichten und gute Reisebeschreibungen genug."J63 Hinzu ko mmt, daß, wie im Falle von D efoe, viele zeitgenössischen Leser noch gar nicht über die Kenntnisse verfügen, einen T ext fikti o nal zu lesen. Und zuletzt gilt scho n damals, was auch heute noch wahr ist, daß nämlich für keinen Leser der Aspekt der Fiktionalität jemals einen Wert dargestellt hat. " Once we have o pened the pages of a novel we do not wish to be reminded chat the events recorded are no r true hisrory."J64 Eine empirische Srudie zur heutigen fikti o nalen Lektüre stellt unmißverständlich fest: " altho ug h ficrion is the usual vehicle for ludic reading, it is not irs lack of [ruch - irs ,ficti viry' - that rend ers it plcasurable."J6S Vor diesem Hintergrund ste U, sich also umso dringender die Frage nach der F"nk tion der enrstehenden Erfindungen beziehungsweise Fiktionali tät. Die o bige Fallsrudie zeigt eine enge Verknüpfung der fiktio nal en Le ktüre mit der Rezeptio nswcisc der Ntilgierde. Das legt die E rkJärung nah e, daß die Fiktio nalirät ein Mittel ist, das gestattet, die durch den Buchdruck ermöglichte Proliferatio n der Bücher noch einmal zu potenzieren. Der Buchdruck scha ffr die lee/mologische M iiglichkeil einer VielzahJ von (fext-)\Velten. Dieser Reiz einer ,Pluralität' der \X/elren, verstärkt durch die tatsächlichen Emdeckungen bislang unbekannter Gebiete der Erde, wird 1638 noch geradezu naiv artikuliert: " I have now in some measure shewed that a pluraliry of worlds does nOt contradict any priciple of [eason o r place of Scriprure",366 heißt es in Wilkins' Apologie eincr Parallelwelr auf dem Mo nd . Die Etjindllng ,wahrer' Geschich(cn und die sich daraus allmählich und HOCHE, Jo hann Gon fricd: V trtrollft Bn·rft iibtr die jttrfge Ilbtnfmlltr!i(he uStJII(hf lind iibtr tiM Einflllß dmdbrn auf dit Vrrmindmmg des hiluslirlxn und öJftntliriun Glii(h. Hannover: Ritscher 1794, erst S. 30, dann S. 38.
.,
..
246
NELSON. William: Fa(1 or Fi(lion. TJu Dilrn"'la of Iht fVnaüstmtt Slorylrllrr. Cambridgc/ l\h ss.: Harvard UP 1973, S. 66.
NE.I..L, Victor: Losl in a &ok. T ht PSJ(bology Yale UP 1988, S. 50 .
of fVadingfor PlttUNrr.
Ne\\' !-laven, Lendo n:
IWU.KlNS, JohnJ: The Discovery of a Wodd in the Moone. O r, /\ Discourse T ending tO Pro"e that 'cis probably thefe may bc another habitable World in that Planet. Lo ndon, Printed by E. G. fo r fo,fichacl Sparke and Edward FOITest, 1638, S. 43.
zeirversetzt entwickelnde fiktionale Lektüre entfalten also die dem Buchdruck inhärente Möglichkeit der Erzeugung einer Vielfalt möglicher Welten erst wirklich. \'(fenn es eine Nachfrage nach Neuigkeiten, E ntdeckungen, Interessantem, nach Slories gibt, dann ist nichts naheliegender, al s frei zu erfinden, wonach der Markt verlang267 und die N eugierde dann entsprechend mit etjimdetun Neuigkeiten zu beliefern. Diese These läßt sich durch zeitgenössische Reflexionen zur Entstehung der Fiktio nalität untermauern, die belegen, daß man den sich vollziehenden Paradigmenwec hsel bereits sehr früh erkannte. Dabei findet sich bezeichnenderweise dieselbe Argumentatio n einmal im Umkreis des galanten Ro mans, im 17. Jahrhundert, und dann im bürgerlichen Kontext im 18. Jahrhundert. Pierre Daniel Huet findet bereits 1670 eine punktgenaue Begründung für die eigentlich un verständliche Lust an Fiktionen und Fabeln: C we inc lination aux fa bles [... [: e lle leur Qes homm es l e st naturelle , & a so n a m o rce dans la dispo sitio n m esm e d e leur esprit, & de lcur ame; car le desir d 'appre ndre, & d e savoir est p articulie r l'ho mme [... 1. Cela vient, selon m on sens, d e ce que les facultc s de no stre ame e stanr d 'une trop grande es tenduc, & d 'une capacitc! trop vaste pour estre remplies par les ohjets presens, L'ame cherche d ans le passe & dans l'avenir, dans la veriti: & dans le m en so ngc, dans les espaces imaginaires, & dans l'imp o ssihle mesme, d e quo)' les o ccupe r & les e xercer .31.8
a
Huet entwickelt seine Apologie der Fiktion also im Rückgriff auf Aristotele s und dessen (ursprünglich: lIIilll%gisrbe.' These, daß ,Nachahmungen Vergnügen bereiten', was in seinem Kontext allenfalls halb richtig ist, denn AristoteJes ging es ja um N achahlllungen, nicht dagegen um tlölligJrt!i etjimdene Gesrhichlen [11. 3) . Sympromatisch ist bei Huet jedoch noch eine weitere Verschiebung gegenüber dem O riginal, denn das Vergnügen wird ja jetzt durch die ,Wißbegierde' hervorgerufen, in der zeitgenössischen deutschen Übersetzung (1682) heißt es: " die Begierde zu wissen" (149). Diese Wißbegierde ist nach Huet so
,.,
Es fmden sich erstaunliche Parallelen zu diesem Befund . Zunächst einmal läßt sich scho n im 16. und 17. Jahrhunden eine ganz äh nliche Tendenz in der frühen rlugblanpresse nachweisen (" gI. D AV1S, Lclmard J.: Fot/ual Fit/ions. Tht Origins of lhe English l\ 10 l .'tl Philadelphia: Uni"ersit}, o f Pennsil"ania Press 1996 119831, S. 42ff.), denn auch don verkauften sich (wie heute) Sensationen besser als ,wahre Begebenheiten'. Erst im Verlauf der Zeit wird sich die Fo rderung nach Wahrheit in der Presse durchsetzen, nicht zuler~t durch Strafandrohung. Üb rigens wane! auch in anderen Bereichen die N eugierde nicht auf das Neue, sondern stellt es her, wn es dann im Kuriositti1tnkabinert auszustellen. Ein Beispiel ist das Bed ürfnis, " in den Tiergänen If/undmhim als Unica und Rarissima vorweisen zu können, sofern nur jene Arbcitsamkcit und Geschicklichkeit am Werke sind, Paarungsokkasio nen zu schaffen und auch vor J!,t"{!J'ungtntn Ztugungtn nicht zurückzuschrecken." BLUME.!'lBERG, Hans: Drr Pro~ß drr Ihtort/isrhtn Ntugimit. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1980,
S. 22 5. HUET, PieITe Danicl: TrQiti dt I'ori§ nt du rofl/(lnS. Faksimiledruck nach der Erstausgabe von 1670 und der Happeisehen Übersetzung "on 1682. Hrsg. \'on Hans Hinterhäuser. Snmsan: Met".ller 1966, S. 81f., im folgenden im A.ießtext zirien.
247
außerordentlich , daß sie sich nichr mehr der zuhandenen Wahrheit zufried e n ~ gibt (das, was ,sich zeigt') - und deshalb greift sie in die Sph äre der Fiktionen und der Fabeln aus. Erstaunlich ist, wie hier die lf/ißbegierde also zur legitimierenden G röße für die FiklioNalilät wird, und Huet scheut sich nicht, sie beim Namen, nämlich Liige (IJ/ensonge) zu nennen - geradezu eine Verkehrung der augustinischen Thesen (dort soUte sich die Wißbegierde ja an der Wahrheit des einen Buchs, der Bibel, befriedigen [III. 2)). Faszinierend ist auch clie Beschreibung der Medienrezeption mit diätetischen Metaphern [IV. 2) . Der Ausgriff der Wißbegierde wird zunächst als ,Kompensation' dargestellt: Wo keine Wahrheit/ Brot (venli/paill) vorhanden ist, da grei ft man ebenzu Kräutern und Wurzeln (herbes/ meines) und ,nährt sich von der Lüge: " nous le nourissons du mensonge" (80f.). Aber diese Bildli ch ~ keit eskaliert in einem Me n s ch / Tier~ Verg l ei c h : Die Objekte, die sich den ,Be~ stien' (bestes) zeigen (qJli se prisen/ent [!J aleurs sens), ,follen ihren Geist aur (relJl~ plit) , so daß das ,Fressen' ihre Begierde stillt. D as ist beim Menschen anders: " on ne voit point en dies ceITe avidite inqui re '1ui agite incessamenr I'esprit de l'homme". Der \'\fissens-Durst des Menschen ist al so unstillbar und bewirkt seine ständige "rec herche de nouvelles conoissances, pour propo noinner, s'il le peut, I'objet a la puissance, & y trouver un plaisir semblable a celuy qu'on uouve a appaiser une frum violeme, ou a se desalterer aprcs une faim violente." (83). [v1it anderen \'\forten: Die Neugierde des Menschen iiberlnJJi noch den Hunger des wilden Ti eres, es ist ein ,gewah.samer' Hunger und Durst, der den Menschen plagt. Dieser Wissens"durst« ist insofern unnatürlich , als er per se nichl gestill t werd en kann, die dargestell te Begierd e des Menschen ist unendlich - und dieser gewaltige Drang nach Wissen und nach Neuem iSl, so Huer, der Grund, warum es überh aupt ein Interesse an fiktiona lem Lügenwissen gibt. Es ist ge ~ radezu erstaunlich, daß dieser frühe Text in dieser Formulierung eine Rerhlftrligllflg der Fiktionalität und des Roman s ve rficht. In der Tat ist sie eine genaue Umkehrung der augustinische n Lektüre der Tiefe, und zwar bis in die Bildlichkeü hinein: D ort wo der augustinische Leser wie eine Kuh den selben Text wiederkäur (ntlllinario), ist jetzt von dem unstillbaren Hunger eines wilden Tie ~ res clie Rede, das fiktionale Texte verschlingt. Huers Apologese findet zu einem Zeitpunkt stan, an dem die Fiktionalirät des galanten Romans bereits verdächtig wurde (nach 1660) und zunehmend der Legitimation bedurfte. Dieselbe Si tuation wiederholt sich Mine des 18. Jahrhunderts am Paracligma des ,bürgerlichen Romans' und der zun e h ~ menden Einsicht in dessen Fiktionalität (nach 1740), und tatsächlich rauchen hier E rklärungen auf, die derjenigen Huets weitgehend gleichen. Zwei B ei ~ spiele seien ausführlich zitiert, das eine eher kritisch, das andere eher neuual Warburton, der Bischof von G louces ter, zeichnet in seiner Einleitung zum 3. Band der Clonssa H"r!oIJ.'t (1748), die Richardson in späteren Auflagen e limi ~ nieren wird, die Evolution der Fiktionalität nach, wie sie sich ihm darstellt: 248
as (he course o f human anions is too slow tO gratify our inquisiu"e curiosiry, obscrvant men "cr)' easil)' contrived to sausf)' its rapicliry, b y the invcntion of HisIOlY. \'\fhich, b y recording the prineipal circumstances of past facts, and laying them close rogethcr I... ] kCPf the mind from languishing, and gavc constall( exereise ro its reflections. Bur as ir commonl)' happens, thar in all indulgem refinemem s on our satisfac tio n, the Procurers ro o ur pleasure run into excess; so ir happened here. Strici marrers of fact, how delicarely soever dressed up , soon grew too simple and insipid co a taste stimulated by the Lmcury of An: The)' wanted something o f more poignanc)' (0 q uicken and enforce a jaded appetite. Hence the o riginal of the [lIst barbarous Rt;manm, abounding wirh this false provocati"e of uncommon, extraordinary, and miraculous Advenrures. 369
D er Schriftsteller und Kritiker John Hawkesworth läßt in der vierten Ausgabe seines J ournals Tbe AdventIrrer in einem Essay "Of the different kinds of narrative, and why they are univcrsally read" die Entstehung der erzählenden Genera Revue passieren: His/ory is a relation o f the most natural aod imporram e"cms: histor)', therefore, gratifies curiosit)" but it does no t oft.en exeife either terror aod piery [... 1. VtryagtJ and Tmt'tIJ have nearly thc same exceUcneics and the same dcfects: no passion is stro ngl)' cxcited except wonder [.. .J. Biogmpby would always engage the passions, if ir could s uffieientl)' gratify curiosit)' [... ]. Bul Nalllft is now exhausted ; all her wo nders have been accumulatcd , ever)' reecss has bccn cxp lorcd, desen s ha"e been tra"crsed, Alps climbed and the secrcts of the deep disclosed; time has beeo eompcUcd 10 res[Qre thc empires aod the heroes of antiquiry; aU have passcd in review; )'C I fa ne)' rcquires new gratifications, and curiosit)' is still unsarisfi ed. [... ] Tht Epir POt'" at onee grati fies euriosiry and m oves the passio ns I... ]. The DId Rt;",ance may be eonsidered as a kind of Epie [.. .j. In bo th these speeies of wriring muh is appareotly " iolated: but though (he evem s are not always p rodueed by probable means, )'el the pleasure arising frolll the sto ry is not mueh lessened ; for fa nc)' is still eaptivated with "arier)', and passion has scarce leisure to rcflect, thar she is agitated with the fate of imaginary bcings, and int.ercstcd in e"cm s that nc\"cr happened. J1O
Beide Texte bestätigen noch einmal, daß das Rezeprionsorgan der Nmgierde die treibende Krafr bei der Vervielfilrigung der Texte und der Durchsetzung der txttnSitlCf1 Lektüre is t, bei Warburton findet sich ebenfalls die diäteti sche BildLichkeit ((lppetite) . Vor allem Hawkesworth verfügt ferner über eine trenn scharfe Differenzierung zwischen RIJmonce und HistolJ', zwischen fiktionalen und Der Text ist nicht abgedruckt in der Shakesptan H rad EdiliOll, findet sich jedoch in WILLI AMS, loan (Hrsg.): No//rl anJ Romanet ('7(XJ.I 8(0). A DOrNmm/a'Y RLrord. London: Routledge & Kegan P:aul 1970, S. 122f. HAWKESWORTII,John: "Of the different kinds of narrative, and why they are universaUy read." ln: TbeAd,'tnfurrr 4 (18. No\'. 1752), S. 19-24. hier S. 20-22.
249
nicht-fiktionalen T exten, die unserer heutigen Klassifizierung weitgeh end entspricht. Beide Auwren fundieren den Ursprung der Rolllance eindeutig in der ruchr-fikti onalen H istory_ Sie lassen (wie zuvor auch Huee) keinen Zweifel aufkommen, daß prinzipiell JIIahn T exte eigentlich zu bevorzugen wären und die Verletzung der \Xfahrheit durch fiktionale Texte zumindest der Legitimation bedarf; Hawkesworth : .. Ir may be thoughr strange m at the mind sho uld wirh pleasure acquiesce in me open violation o f the most known and obvio us rrums.,,171 Und beide T exte lo kalisieren die eigentliche Leistung der Fiktio nalirät in der Proliferation des Neuen und Interessanten über das Maß des Hisw tischen hinaus und bestätigen damit die These: Die Fiktiontllitäl de/illlitiert die BeschränkJmgm der Texterzeugung und pOlenziert die V emie!folliglingsIlIiiglichkeilen des Buchdmcks. Das läßt sic h auch durch die faktische Vennchrung der RollIfIne als Publikationsfonn fiktionalen IlVissens untennauem. Beaujeans Auszählung eines umfassenden bibliographischen Verzeichnisses aller in Deutschland veröffentlichten Bücher zeigt hinsichtlich des Ro man s fo lgendes Bild:172 1750-1760: 73 176 1- 1770: 189 177 1- 1780: 413 178 1-1790: 907 179 1- 1800: 1623 180 1- 1810: 1700 Da s kann durch eine erstaunliche Koinzidenz untermauert werden. Den n parallel zu der Proliferation der Bücher durch die Entstehung der fiktio nalen Lektüre verläuft die Vennehrung der Zugriffsmöglichkeiten durch die allmählich sich durchsetzenden Leihbibliotheken. .. Die Leihbibliomek entwickelte sic h in
'"
Ebd .. S. 23. BE.AUJEAN, r.larion: Drr T ri/.ialrom(ln im 18. JahrlJlmdrrt. Sonn : Bouvier 1964 (:::: Abha nd lungen zur Kunst-, Musik- und Uternrurwissenschaft), 5. 178f. , basierend auf KAYSER, Christian Gonlob: Intkx LorNpltlllissin1l1! 1...ibrof1lHl [. ..J 1!()lhliindigts Biirmr-u .;,-ilcon rnlhallrnd (lllt ~'M ' 750 biJ i!'HI e ntk du Jahm 1832 in DrulHhlandgrdfJJr/etrn Biirlx r. T eil 6: i\ nhang Romane. Leipzig 1836; vgl. ferner J ENTlSCH, Rudo lf; Drr dtulsrh-laltim;rm Biirmrmar/et narh dm Ltip~jgtr OSItr1mssrlenl(llogrn I!M 1740, 1770 und 1800 in stinrrGlidtfJJng und If/undlung. Leipzig: Voigtländer 1912; KOPPlTZ, Hans-J oachim: ..Z ur Bibüographic der deutschen Buch produktion des 18. Jahrhunderts." In: Zrilsrhriji fir Bibliolhrm'tsrn und Biblio!!,uphit 9 ( 1962), S. 18-30. Es läß t sich zwar nac h 1770 ebenfalls ein srarkes Anwachsen der Publikationen \'on Schaus pielen bemerken, d as da nn jedoch auf dem erreichten Niveau verbleibt. Vgl. ScllULTE-5ASSF..., Jochen: Dir K.!ih"k, an drr Tniiallilrralur stil drr Aujleliinmg. Sludirn i!'r Cmhirhlt du modtl7ltn Kitsehhtgrilft. Fink: München 197 1,5. 46; dasselbe gilt natürlich für die Z unahme dcr Schriftsteller; "gI. HAFERKORN, Hans-Jürgen: Zur Enls/rhung dtr biirgtrliehIilmm;ehtn In/rlligtnz lind du Sehrijislrllm in Drll/srhland '{!Jisrhrn 1750 und' 800. In: Dtu/sehn BiirgtrtuHl und hftr(ln;rht lnltlligtnz. Hrsg. von Bernd Lutz. 5nmgan: l>.Ietzler 1974 (= Uternrurwissenschaft und Sozialwissenschaften, 3), S. 113-275. Vgl. fern er: KAp l', Fricdrich; Curh;ehlt du dtu/srhm Burhhandrls. Bd. 1-4. Leipzig: Börsenve rein 1886ff., vor allem Bd. 3.
250
Europa gegen Ende des 17_ Jahrhunderts aus dem alten Brauch einiger Buchhändler, Bücher zur Lektüre zu leihen_ ,,)73 D efocs Robinson CmsOt wurde 17 t 9 veröffentlicht; nur wenige Jahre später wird in E ngland die erste Abonnemenbibliothek gegründet: .,The flrsl real circulating library in Britain seem s {Q have been that of AUan Ramsay, rue poet and ex-wigmaker of Edinburgh, who began {Q rem books from hi s shop in 1725."374 Diese G leichzeitigkeit der Entstehung der Leihbüchereien parallel zur Durchsetzung der fiktio nalen Lektüre unterstreicht die hohe Bedeutung des Leserwunschs nach neuen und abwechslungs reichen T exten. Die Fiktionalitäf im modernen Sinne, verstanden al s ,freie Erfmdung des Sroffes', haf also in ihrem Ursprung wenig mit Autono mie zu ruo, sie ist vielmehr das texrueUe und rezeptive Ko rrelat der Vervielfiltigungsmöglichkeiten des Buchdrucks. D ie Fiktionalität wird keines'.vegs als besondere Qualität kunsrauronomer Texte herausgestellt, ganz im Gegenteil wird sie zunächst durchweg verleugnet; sie ist gewissermaßen das Bankert der Druckerpresse. Dieser Befund erkJärt, warum die Fiktio nalität selbst nie ein Programm emphatisc her Rc:zeptionsweisen wurde. Ein Leser späterer Zeiten, der versiert ist im Umgang mit fik tionalen Texten, wird allenfalls E upho rie zeige n im Hin blick darauf, daß er sich in einer ,täuschend echten' t.irtmllen \'\Ielt befindet (Ahnlithktil), und daß diese Welt riilstlhaji oder tnlltgtn ist, mindestens jedoch i"ltrtJs(mle Züge hat (GthtimniI), wohingegen er sich jedoch kaum je daran berauschen wird, daß der T ext frei tifimdtn ist und daß es diese andere Weh ,gar nicht gibt'. Bcrthold bemcrkr zur Unterscheidung zwischen Wirklichkeil und Fiktion: .. es kommt der Mehr,whl der Leser auch ni chr darauf an".375
5. Über Spannung und Lesesucht (LA
RaCH E / H aFFMAN )
Im letzten Abschnitt ko nnte gezeigt werden, '.vie durch die technologische Möglichkeit der T ex tprolife ratio n das Rezeptioosorgan der NtJlgierde entsteht. Die Fiklionaliliil ist die Verlängerung dieser Konstellatio n: Sie bietet die Möglichkeit, die Neugierde tld i'ifinilil/ll imme r wieder neu zu befriedigen. Wenn nichts Interessantes passiert (und das ist meistens der Fall), dann kann man Interessantes jct".lt frei erfinden. m
MARll NO, Albeno: " D ie deutsche Leihbibliothek und ihr Publikwn." In: Ultralxr in tür
w(!okn &II-'fgllng. AuJiäfr.r.! lind Forlfhllnl.lbtrifhlt t!t1l1 19. jahmllndtrl. Hrsg. von Albeno r-.hrtino. Tübingcn: Nieme}'cr 1977, S. 1-26, hier S. 2.
'"
AI.TICK, Richard D.: TIx EngliJh Common PoLadtr. A Social l-liJlory of Im Mall PoLading Pllblir (1800·'900). Chicago, London: Thc Univcrsir)' of Chicago Press 1957, $. 59f.
P)
ß ERTII OID, Christian: Filetion lind VitldtlingJuil. Zlir Enls/thllng modmur JVtlhirluhni/un du
U ltnl im 18. jahmllndtrl. Tübingen: Nicmeyer 1993 (= Communicatio, 3), S. 198.
251
Die These dieses Kapitels ist nun, daß die beschriebenen Umwälzungen im Umfeld der txlensilltn LtkJÜrt im Verlauf des 18. und 19. J ahrhunderts dadurch eine Fortsetzung finden, daß sich die Lekrurekonvention der Spann/mg durchsetzt. Sicherlich hat es Spannung al s Rezeptionswcise immer schon gegeben, und zwar vor aUem im Drama. Dagegen ist bereits beim ersten Augenschein erstaunlich, daß es in der Theoriebildung um das Drama vorwiegend um Affekte rzeugung ging, der Aspekt der Spann/mg dahingegen unterbelichtet blieb. Dagegen gilt unbestreitbar, daß die Durchsctzung der extensiven Lektüre fiktio naler Texte im 18. und 19. Jahrhundert eine Rezeptio nsweise hervorbringt, bei der es den Ro manlesern ganz vorwiegend, mituntet sogar ausschließlich um das \'\firkungsziel der Spann/mg geht. Um so erstaunlicher ist, daß das Thema Spannllng von der Literarurwissenschaft durchaus vernachlässigt worden ist ..l16 Tatsächlic h ist der Z usammenhang von Spann/mg und txlensiver LtkJiirt m eines Wissens bislang noch nie eingehend anaJysien worden, o bwo hl er sich geradezu aufdrängt. Die oben dargelegte Vermehrung der Texte und die Rezeptionswei se der Neugierde favorisieren T ex te mit endlicht!l GeheimnisstIl. D as unendliche Geheimni s des einen T ex tes wird durch die endlichen Geheimnisse der (porentieIl: unendlich) vielen T ex te crsetzt. Man will erfah ren, wie es an entlegenen Onen der \'\feh aussieht, ob und wie Ro binson Crusoe seine Heimat wieder erreicht hat, und wenn man es dann weiß, erlischt auch das Interesse an dem Buch. Die Neugie rde, die diese l....ektüren amreibt, kennt dabei keine ,Ehrfurch t' (wie im Falle des Geheimnisses), sie ist erst befriedi&Tt, wenn der Schleier gelü fte t ist. Folgl.ich sind so lch e l....ektüren sind im merji!laloricntien , ihr Z iel ist die Lö sung des Rätsels oder der Verwicklu ngen am E nde des T ext.s: ,,'ne span nende Handlung, da s find ich eige ntlich immer so ga nz- also zum Beispiel jet? grad bei dem Mein Her/. so weiß dass einfach diese frage am Anfang warum hat die sich jetzt umgebracht ne? Also dann diese Auflösung fa nd ich schon genial also so was find ich dan n ein fach roll" ..ln Während im FaUe der uktiirt dtr Titft der Text seine Aktualität auch nac h Beendigung des T extes behält und seine Geheimnisse unausschö pflich bleiben, wird die Ltkliirt der Spmmllng darauf ,reduziert', die Neugierde zu befriedigen, und mit der Entdtc/eJmg der endlichen Geheimnisse und der AJtjlösling seiner Rätsel verliert det T ext seinen W'eft. ",Oon 't tell me how it end s!' we plead with fri end s who recommend a movie o r lend us a thriller.".l18 In dieser Logik
".
Das wurde neuerlich monien in A,~Z. Tho mas: ültrolNr M"d usl. Glüc!e N"d V "/NII lNim U S(fI. München: Bet:k 1998; \'gl. das Kapitel "Spannungskunsl und G lückslechniken" (S. ISO-171); vgl. auch den.: ,.Spannung durch Trennung. Ubcr die literarische Stimulatio n "on UnlUSt und LuSL" In: T "n",mgrn. Hng. \'o n Jo hannes Crcmenus CI 21. Wfuzburg; Kö nigshausen & Newnann 1994, S. 17-34. Lcktiircproto ko ll, zilien in PETm. Corinna: Pqchologit du Romonlt.JtnJ. Ltltslroft§rn slIlyr!eI1t'tn Antigmmg tintl /iltrorilrhtn TtxltJ. Wcinhcim, München: Juvenla 2001. S. 89. NFl I , Victor: Losl in Q &oie. TIN Psyrbo/og! Yale UP 1988,S. SM.
252
oJ ~Qdi"gJor PkasNrr.
~r
New Ha"en, London:
gibt es nur ,Einweg'-Texte. die man nach dem Konsum ,wegwerfen' kann. \X1iederholungslektüren machen hier wenig Sinn, denn der Tex t hat nac h Preisgabe der finalen AII/klön"'g seinen Zweck erfüllt. Sowohl die LekJüre der Spannung als auch die LekJiire der Tieft folgen der Probrrammatik des GeheinmisseJ, denn beide streben nach Offenbarung. Die emscheid ende Differenz liegt darin, daß in der extensive n Leseweise die Lösung nicht mehr in der Vertikalen, sondern in der Horizomalen lokalisiert wird. \'(feil die Auflösung Haupttriebfeder dieser Lektüre ist, richtet sich ihre Begierde in die Horizomale, ans Ende des Tex tes, und motiviert so die Beschleunigung der Rezeption. Daher zeichnen sich solche Lektüren durch Ungedll/d aus. Die Eile kann so weit gehen, daß man Seiten überschlägt oder vor Abschluß der Lektüre auf die letzten Seiten vorgreift. Es kann übrigens rur heutige Leser empirisch belegt werden, daß Lektüren im Z ustand der Spannung signiflkam schneller verlaufen als andere. Die hö here Lesegeschwindigkeil behauptet sich tendenziell sogar gege n Lektüren von Lesern höherer Bildungssc hichten, die generell schneller lesen. J79 Schon zu Beginn des 18. J ahrhunderts lassen sich Indizien rur die wachsende Bedeurung final orientierter Lektüren find en, begleitet von einem schwindenden Imeresse an der epischen Breite der hö fi schen Romane: " the)' [the Eng1ishl have no sooner begun a Book bur the)' desire ro see (he end of it: VgL NEU ... Victor: u ut in a Boo.t. Tht P!J(/}()hgy ojRraJingJor P/tQ!lirr. New Ha\'t: n, London: Yale UP 1988, S. IO6ff. ; PE'ITE, Corinna: P!J(holob'e du Roman/m n!. Lm!tra/rgim '{!Ir !Nbjele.6l'rn AlltignNII/. rillt.s /ilrran:uIJen Te.:>:lu. Wdnheim, München: Juvem:l 2001, S. 120. Unabhängig da\'on sind mir keine Studien bekanm, die den Aspekt der !(hnf/ftn Lc sewdse mit dem der SpunnNng \'erkoppeln. Das gilt selbst in Kapiteln wie "Zell und Suspen se" in J UNKERJORGE.'1, IUlf: SpunnNII/.. N llrratit..,. V trJohrrll!ll'fism du Lu erule.6,imlll/.. Eine Sllidit am &ispitl drr Rri.srromantl'On JIlIu VtrIIt. Frankfurt/ r-.t E t a1: Lang 2002, S. 217-225. oder in PQrt.:, Peter: Dir bit im Drama. 211r Tuhlll"le dromatiJ(htr Spunlllillg. G ä ttingen: Vandenhocck & Ru prech t 1970, Ein Fo rsc h ungsStra ng zur Entsteh ung d er Ifhntlltn Lektüre im 18. J ahrhunden behandelt jedoch Leseanweisungen und Lescpro pi deutiken und kann als ParaUclbt:fund die obigen Ergebnisse untermauern; \'gl. KOPP, Detle\' und Nikolaus WEGMANN: ",Wenigt: wis5Cn noch, wie Leser !ieset.' Anmerkungen zum Thema: Lesen und Geschwindigkeit." In: GmllOlliHile lind DtNIHhlln/tmihl im Ztitoltrr drr Tuhnolo§t. Ahm (iu GmllllnÜltnlages 1987. Bd. 1-4 . Hrsg, \'o n Norbt:n OcUcrs, Tübingen: Nieme)'er 1988. Bd. I, S. 92-104; dies.: " Das Lest:tempo als BildungsfaklOr? Ein Kapitel aus der Geschichte des Topos ,Le sen bildet'. In: Dtr Dllil!(IJllllttm'(h/ 40, H. 4, (1988), S. 45-58; dann BICKENBACl-I, Manhi2s: Von dtn Mög/i(hluittll ein" ,inllrTrll' Gu(hi(hlt du Lr.stlls. T übingen: Niemert:r 1999, und zwar du Kapitel "Geschwindigkeit als Lektüretcrhnik" (S. 134-173). Die Ausfiihrungen 12ssen sich durch2us mit den hit:r allll.lysient:n Aspekten vernetzen. Bicken bach resUmien etwa: " Die Kbge über zu schnelles Lesen t:t2blien en sich vennehn n2ch der Zeit des Buchdrucks." (Ebd., S. 139). Ebt:nso intt:rt:ssant ist der Befund, daß die kursorische Lektürc 21s nt:ue Aneignungswcist: gtlthrltll Wisst:ns (t:rwa bei Hcrder) aus der Imerakrio n mit der Hhnti/tn Rczeprio nswdse in Ronunen 2bgc.leitet wird, Obwohl sich der Großteil vor allcm de r i heren Forschungsliterarur zur ,spannung' mit dramatischen T exten befaßt ("gi. als typisches Beispiel PFISTER, Manfred: Da! Drama. Theorie lind Ana!]!e. München 1977, hier S, 141- 148), scheint das spätt: Aufkommen des Spannungsbcgriffs seine Verkoppelung mit der (Rom2n-)L.thiin 2nzudeulI': n. Wt:il weder im Theater noch in vorgeltllgencn Ganungen eine Beschleunigung der Rezeprio nsweise möglich ist, wt:rden in ihrem Umfeld allenfalls Wirkungsk2tt:gorien der psychischen E rregung fotmu!it:n (r}'pischerwcist: AristoteJes' Angst und Schauder), jedoch keine der Spullllling,
253
The Prodigious Length of the Anciem RolIJanreJ [... 1 has made Romances so much cry'd down, as we find 'em at present."laQ Berich te über eine Beschleunigung der Lektüre werden in den Quellen seit der l\1irte des 18. Jahrhunderts zunehmend artikuliert. Eine humoristi sche Reflexion zu dieser neuen Form des Lese ns fmd et sich im 1759 publizierten ersten Buch des T ns/ralll Jbmu!J. D er Erzähler wendet sich hier direkt an seine ,weibliche' Leserin , und unrersrell r ihr, ein Texrdetail überlesen zu haben, wes"vegen er sie ,bestra ft' und sie anweist, das letzte Kapitel noch einmal sorgf.iJ tig zu studieren: - How could )'OU, iadam, be so inanentive in reading the last chaprer? I rold rou in ir, Tha/ "!J mothtr U'QS not a papül.-Papist! You to ld me no such thing. Sir. [...] [- ] as a punishment fot it, I da insist upon it, that rau immediatclr rum back, thar is, as soon as }'ou ger ro the next full StOP, and tead the whole chapter o"er again. I ha"e imposed the penance upon the lady, neither out of wantonness o r cruehy, but from the best of motives; and therefore shall make her no apo lo&)' fo r ir when she returns back: -Tis (0 rebuke a "kious taste which has crep' ioto thousands besides hersc\ f,--of reading straight forward s, more in quest o f the advenrures, than o f the deep erudirion and knowledge which a book o f this cast, if read over as it should be, would infallibly impan with them. [... ) - But here comes m)' fai r l.••dy. Have )'ou read over again the chapter, Madam, as I deslred )'ou?-You have: And did )'OU nOI observe the passage, upon the sccond reading, which admits the illference?-Not a word like itl Then, i\-ladam, bc pleased 10 ponder weil the last !ine but o ne of the chapt er, where I take upo n mc to sa)', " Ir was llutJsruy I should be born be fo re I was chrislen'd." Had rn)' mo rher, i\hdam, been a Papist, that consequence did no t follow. Ir is a terriblc misfo rtune for (his same book of mine, but more so with the Republick of Lcners;- [... Ithat mis self-same \; Je prunenc}' for fresh advenrures in all things, has got so stro ngly imo our habit and humo urs,- and so who lIr intem are wc upon sarisf)ring the impatience o f our concupiscence that war,-that no thing but the gross and more camal pans o f a composition will go down-The subtle rums and 51)' commullicario ns of science nyoff, like spirits, upwards;-the heavr moral escapes d ownwards; and both the Olle and the o ther are as much los t to the world, as if the)' were sriliieft in the bortom of the ink-ho m .}31
Auch hier erscheinen die Frauen wieder als die ,Dummen'; bis in unsere Tage halten sich Stereotype von krimi-versessenen weiblichen Leserinnen. Die hu moristische Vert:errung Sternes ennvirft ein Bild von der Lektüre, die schnell den Text durchläuft, ohne sich an D etails aufzuhalten. Sie zeichnet sich durch
l!M)
MANLEY, Mary de la Rivicre: Tllt Surrt HiJto'.] ofQ llu n ZarolJ, anti fix Zaro'?irJl/s [. ..J. Paks. Nachdr. der Originalausgabe von 1705, hrsg. \'on r-.1alcolm J. Bosse. Ncw Vork, Landon: Garland 1972, S. 1\3.
STERNE, Laurcnce: TIx Lif t (md Opinions ofTn I tro", Shanr!J, S. 47-49 11, 201.
254
,Lüsternheit' (pruritnry) aus, und es fallt explizit der augusrinische Begriff der äußeren Sinnen begierde, der ronCllpisftnlia (das wird auch ausgebaut durch die Rede von den grrm and mon famal paris, auf welche die weibliche Aufmerksamkeit gerichtet sei). Die Lektüre wird einerseits geradlinig vollzogen, das rtading Jlmighl jonvard läßt keine Zcil für Re flexionen. Die Schnelligkeit der Lektüre wird durch impalience angetrieben, die immer auf der Suche nach jnsh advenllfrtJ ist - solche ,Abemeuer' sind, wie scho n angesprochen, schon seit dem Ende des 16. Jahrhunderts Erkennungsmerkmal ,interessanter' Texte. Der MotOr dieser schnellen Lektüre ist die Spannung. wir kennen das Phänomen am besten aus dem ,Krimi', und Alewyn hat eine Beschreibung des Konzepts am Beispiel des Detektivro mans geliefert: Eine Leiche wird gefunden. Die Umstände erlauben keine andere Diagnose als f\·(ord. Aber wer ist der T äter? Das ist die Frage, die alle Gemüter beschäftigt und beängstigt, die aber nicht beantwortet wird, bis das Ende der Erzählung erreicht ist. Die Frage wird dringlicher, nachdem ein zweiter Mord geschehen ist, ein dritter. Die Fahndung wird fieberh aft. Spuren werden ge funden , verfolgt und wieder "erloren. H)1x)thesen werden aufgestellt und umgestoßen. Aber langsam schälen sich einige gesicherte Tatbestände heraus. Ihre richtige DeunlOg und Verknüpfung ergibt die Antwort auf die srumme Frage, die die Leiche gestellt hat, die Rekonstruktion des Hergangs und die Erminlung des T äters. l82
Alcwyns T ypologisierung macht deutlich, daß in l e e~ te r Ko nscCJlIcnz die Logik des Geheimnisses der Enn öglkhungsgrund der Spannung ist. Das G eheimnis geht als ko mmunikativer Sachverhalt auf eine Paradox ie zurück - es wird etwas ko mmuniziert, das sich nicht kommunizieren läßt. Die In formatio n des Geheimnisses markiert stets einen Mangel an Info nnatio n. Dasselbe gilt aber auch fü r die Rezeptio nsweise der Spannung, deren Info nnationen immer einen Jrif0m/(llionslllangd hersteUen.JaJ D er Detektiv ko rreliert in bezug auf den Info rmatio nsmangel mit dem Leser, er ist gewissennaßen der prQ[otypische Leser des Gehtilllnisses. 38-l D em Detektiv I Leser werden dann Botschaften mitgereih , die ihn ausführlich darüber informieren, daß ihm Informatio nen feh len - und zwar die entscheidenden! Die Leiche isr tatsächlich das ideale S}'m-
)C
AU!WYN. Richard: "Ursprung des D etektivromans." In: R. A .: Problrme Nnd CU/(lhM. Ess(l.JI. Fr1/Inkfun/ M.: Insel 1974. S. 341 -361, S. 34 1. Der Aspekt des Inform:nionsmangels wird in allen Untersuchungen zwn Thema herausgestellt und ist do n hinli nglich ,ausdifferenzien' worden. UNGERER, Friedrich: Dromohsdx Spanfllmg in ShnluJ/N0fn TrogMitn. Phi!. Diss. München 1964 unterscheidet ,to tale Spannung', ,Altcmati\'spann ung' und ,Verlaufsspannung' (5. 5f.); POrl:, Pcter: Die Zri! im Droma. ZN' TuhniJr. dramatischer SpannNng. Göttingcn: Vandenhoeck & Ruprecht 1970 differenziert "Spannung auf den Ausgang" \'on "Spannung auf den Gang" (5. 15).
18o
Vgl. ASllEE, Sue: " Margcry Allingham and Reader Response.'< In: 7i1vnhrlh Cmlllry SIIJ!XnJt. The Thdlltr trJmtJ of Agt. H rsg. " o n Clive Bloom. Houndsmills et al.: Mllemillan 1990,
5. 16 1-173.
255
bo l dieser Struktur, denn sie stellt die Frage nach ihrem Mörder, kann diese Frage aber nicht mehr beantworten. Die Leiche ist gewissermaße n das Rätsel schlechthin: Sie ist zugleich Information und Mangel an Information. Und neue In formationen, neue Leichen, dramatisieren den Informationsmangel nur noch. Das erklärt auch den Zusammenhang zwischen Spannung und Relardatioll. 385 Es ist die erlebte zeitliche Verzögerung zwischen Frage und AmwOrt, die den Rezipienten ,spannt' und ihn den \Viderstand des Textes so schnell wie möglich überwinden läßt. Die Rttardat;on der ex tensiven Lektüre entspricht genau der Baniere (Tabus, Verbote, Schleier, Schwellen, erc.), weiche zuvor das unendliche Geheimnis vor der Enthüllung schützte [111. 1]. Die Lektüre der Spannllng vervielfaltigr und tcmporalisiert also lediglich die Programmatik des unendlic hen Ge heimnisses: Spannung wird generie rt durch eine Kombination von InJoml(Jlionsmangei und Rttardienmg, die Bescbleunigllng der Lektüre ist die logische lesetechnische Kon sequenz aus diesen Vorgaben. In diesem Sinne we rde ich den Begriff fortan verwenden; ich plädiere auch hier für eine spitze Fassung des Begri ffs und halte ihn frei von Nebenaspekten wie etwa der IdenliJikntioffB" sowie psychologischen E ffekten wie etwa Angsjl87, da Diese ist neben dem Info nnationsmangel die zweile Konsrame der Spann ungs forschung und wird in allen r-,'Ionographien thematisiert. Die Retardation kann durch en:wungene UmcrbrCi:hungen die Sphäre der Le ktüre selbst überschreiten; das Prinzip wurde im 18. Jahrhunden als FortStI'{!ingsrom,m erfunden und iS I bis zur heutigen Plazierung der Werbepa use im Fernsehen relevam. Vgl. auch ISER. Wo lfgang: Drr Ak/ du Lmns. TJxont iislhrhidJtr IPirhmg. 4. Aufl. München: Fink 1994, S, 29M. Spannung findet auch ohne Identifikation statt. auch wenn ich nicht besu eire. daß Identifikation die Span nung steigern kann. Vgl. als Beispiele zu D arstellungen, welche den Aspekt dcr Identifikatio n bzw. der ,Sympalhie' bclonen, auch O UL \NDER, Stephen: Dmmul;( SlIsprnsr in Ellnpidn' und Stnt{o's ,Mrdro'. New York et al.: Lang 1989, S. 9f. und S. 298ff.: UNGERER, Friedrich: DrolllahsdJt Sponnllng in Sholusptoru Tragödirn. Phi!. Diss. München, S. 133f. ,Spannung" so der eindeutige leltikognphische Befund , hai im alIgcme.inen Worrgebrauch zunächst einmal nirhts mit ,Angsr' und dergleichen zu run j vgl. erwa folgende Definitio n: "auf etwas Z ukünftiges gerichtere erregte Erwarrung, gespannte Neugier", deflllien DNdrn. Das große IPörterlJlim dtr dtNtsrhrn Spro(hr. Hrsg. vom WissenschafUichen Rat und den Mitarbeitern de r Dudcruedaktion. Bd. 1-8. Mannheim et al.: Dudem·erlag 1995, Bd. 7, S. 3 15. Dementsp rechend macht es Sinn, die Angst u ennscharf zu diffe renzieren (Drocse umerscheidet etwa Ilm·1I und JNsptnstj "gI. DROESE, Kersrin: Thnllllnd SNsptnH in den Fil11ltll A !frrd Hitrh((}(/cs. Coppcogmve 1995). Psychische Z uslände, die im Ko ntext der Spannung genannt werden (Angst, Brdrohllng, Gtjohr, Btgthrrn, !..PsI elc.) lassen sich ferner als cin psrchisches Ko rrelat aus dem Injormohons11longtl ableiten (man furchtet, begehn, mhlt sich bedroht durch erwas, dessen Eintreffen unsicher isrj erwünscht ist der ,Spann ungsausgleich'j vgl. etwa LE\"(IJ N, Kun: GllIndifigt du topologisrhen PlJrhclo~·r. Bem , Sruttgan , Wien: Huber 1969, S. 183). Das Gtflihl der Spannung selbst bleibl Slets unterdc te ~niert (" gI. BOCHLER, Kar!: " Die ästhetische Bedeurung der Spannung." In: Ztilsrhnft for Asthrhlr. lind ollgtmrint !vlnshJiJ.Jtnsrhojt 3 (1908), S. 207-254, h ier S. 2IOff.); \'gl. zu den kö rperlichen SyrnplOmen dieses Lcktürecrlebnisses - E rhö hung von Puls- und Atemfrcqucnz, 1·lautfeuchtigkeit, Muskel\'erkrampfungen - auch H IENGER, J örg: "Spann ungsliterarur und Sp iel. Bemerkungen zu einer Reihe pop ulärer Erzählfonnen." In: UnltrhaltllHgslitrmlur. Zu ihm Throne und Vtrtridigung. H rsg. von Jö rg Hienger. Göttingen: Vandenhocck & Rupprechl 1976, S. 32-54, hier S. 42). Es erscheint jedoch fraglich, diese p sychischen T extEjfi/eJe zur Ursache des Phänomens zurückzubiegen (vgl. ANZ, Tho mas: Liltra/uT und !..PsI.
256
sie im Z usammenhang mir Spannung auftreten und diese sogar stcigern können, jedoch keine konstirutiven Bedingungen der Rezeptio nsweise der Spannung darstellen. D er Ursprung des BegriJfs ,Spannung' als Bezeichnung einer Rtzep/iomwcise oder einer be so nderen Qualität von Tex/en liegt erst in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, was ein Indiz für einen Z usammenhang mit der Eman zipation der ex/emiuen Lek/üre sein kö nnte. Das ist insofern schwierig zu beurteilen, als der Äquivalenzbegri ff in den romanischen Sprachen und auch im EngLischen im Umfeld der Rtlorda/ion (suspendere/ /endere) beheimatet ist und dort schon früher, et\va im Umkrcis von o//ention als ,Aufmerk samkeit', belegt ist;388 ein etym o logischer Zusammenhang konnte bislang nicht nachgewiesen werden. 389 Im D eutsche n lassen sich Belege innerhalb des Wortfeld von ,spannen' sei t dem Mittelalter belegen; klassische Kontexte sind et\va der ,gespanme Bogen'. Diese Form der Spannung wird scho n im Mittelal ter auf den menschlichen Kö rpe r übe rtragen, im Sinne eines ,gespannten Leibs', und zuletzt kann ,spannen' auch ,fesseln' bedeuten, ein Gebrauch, der den Aspekt der Retardation berei ts beton t.390 D er mittelalterliche Wonkern , der dann bei der späteren Umprägung des Begriffs zur Bezeichnung einer Rezeptio nsweise tragend sein wird, läßt sich wie folgt destillieren: Spolllumg bezeichnet den Zustand eines aus dem Gleichgewichtszustand geratenen Systems (typi schetweise ein gespanntes Band) und den D ülng desselben, wieder in das Glei chgewicht zurückzukehren (spät,e,r wird dann der Leser oder Zuschauer der Auflösung des T extes zudrängen). Das Bild des gespannten Bands, das zwischen zwei Polen (Anfang/ Ende) befestigt ist, enthält ferner den Aspekt einer (ge"val tsamen) Tremllmg, die es zu überwinden gilt. Eine logi sche Ableirung ist der ,gespannre Bogen' (- Spannungsbogen), der zugleich den Aspekt der Re/ord(ltion sowie der Schnelligk eit impliziert. l9I
Gtiirlc lind Ungtjjrlc btim I_.lJrn. 1\Hlnchen: Beck 1998, S. I 64ff.). Eine Synopse weiterer Aspekte aus der Fo rschung (über Identifikation und Angst hinaus) bietet J UN KERJO RGEN, Ralf: Spannlill.g. N(lrr(lti~'t Vt1ahf"tnnwistn fltr u srrokli,.imlllg. Eine SfI!dit (l1lJ ßtispirt &r ROstrollJfm e t'OlI Jl(kJ V mlt. Frankfurt / ~·1. Et al: Lang 2002, S. 25f. ; \'gl. zur Diskussion der Idemifikacio n auch S. 36-38. Vgl. etwa W ARTBU RG, Walther vo n: Fron'{jJ"sis(hu Etylllolo/jS(OO lWörltrvu(h. ß d. I ff. Bonn: Klopp I 928ff. die Stichwo n e " anenderc" und "anencio" (ßd. I, S. 702-7 17) und " fendere" (ßd. 13, S. 196-20 1. l8'J
Vgl. dazu auch F UCHS, Andrea: Drolllfltiscbe Spallnl(ng. 'I'Iodtmrr ßrgnJl - A lililcu &ntrpl. Stungan, Weimar. ;"'lcfzler 2000 (= D rama, Beiheft 11 ); hier wciterfuhrende uternrurhin• welse. Vgl. GRIMM, Jacob und Wilhelm: Dmlsdxs WiirtrrVl((h. Le ipzig: Hirzcl: 1854ff. Bd. 10/ 1, Sp. 1914- 19 16 L,Spannung'1, vgl. auch Sp. 1895-1908 L,spannen'T
'"
Anz verweist hier ebenso schö n wie überinterprecic.rcnd auf die Szene der ,gespannten Armbrust' im ,Zentrum' des lf/ilbrllll Tri}, vgl. ANZ, Tho mas: "Spannung durch Trennung. Über die litera rische Stimulation von Unlust und Lust." In: T f"t"nl("!!". Hrsg. von Jo hannes Cremenus el al. Wür-I.burg: Königshausen & Neumann 1994, S. 17-34, hier S. 22f.
257
Im 18. Jahrhunden wird der Begriff bereits insofern ausgeweitet, als er zunehmend ,aus dem Gleichgewicht ger:uene Psychen' bezeichnen kann ,ln im Kontext vo n Phäno menen im Bereich des seelischen Schmerzes oder der nervlichen ,Anspannung' . Ferner bedeucet er in diesem Umfeld bereits einen Z ustand erhöhter Aufmerksamkeit: "ein jeder spannte, als er anfing zu erzählen". 393 In genau dieser Bedeutung taucht der Begriff auch in der LeseSllcbl-Debatte auf; er wird dann um die Mitte des 19. Jahrhunderts explizit zur Bezeichnung sp(lnnender T exle oder sp(lnnender Lekliiren verwendee - ich komme am Ende dieses Kapitels darauf zurück. Ocr spannende Text wird ab jeezr als \Viderstand (&Iardalion) zwischen der Frage und ihrer Beanrwo rrung (lnjom/(llionslllonge4 aufgefaßt. Die Lust der spannenden Lektüre besteht dann darin , diesen Parco urs im schnel1m Durchlauf zu überwinden . Der Sp(lnmmgsbogen läßt sich dann als Korrelation z"rischen dem Infor1!J(1lionsfIJ(lngtl und der &Iordolion der Aunösung beschreiben; solche Spannungsbögen lassen sich auch empiri sch als Rezeptionsverhalten nachweisen. 394 Aus all dem wird auch ersichtlich, daß das Prinzip der Spannung im Grun de ziemlich banal ist. D er Rezipienten wird so info rmiert, daß ihm für eine Weile die entscheidenden Info rmatio nen vo renthalten bleiben. Variatio nsbreite ergibt sich einerseits durch Zwischenschalrung von ß eobachterperspektiven: Der Leser kenm den Mö rder, aber der Ko mmi ssar kennt ihn nicht der Ko mmissar kennt den Mö rder, aber der Leser kennt ihn nicht - und so fo rt. Ferner kann man den übergeo rdneten Spannungsbogen (\'(Ier ist der Mö rder?) durch zah lreiche Binnenrätscl anreic hern (\'\las war das für ein Geräusch?). Solche Spannungsmittcl dominieren unseren heutigen Medicnalltag. T ypisch und millionenfach gezeigt ist etwa der dijJhanger. Der Held kann sich
'"
Intt::rt::ssanterwcise ist dit::se psychische (An-)Spannung im 18. Jahrhunden zunächst noch o ft cin Effekt des N"rndlirht" GtJxi",ni!m. der Ltleliirt du Tiift; bei Schiller heißt es in ,. Vo m E rhabenen": ..Alle Retigionen haben ihre Mysterien. welche ein heiliges Grnuen unterhalten. und so wie die to.hjesräl der Gottheit hinter d em Vorhang im Allerheiligsten wo hnet. so pAcgt sich auch die MajeSt2t der Kö nige m it G eheimnis zu umgeben, um die Ehrfurchr der Untertanen durch diese künstliche Unsichtbark t::it in fo rtdauernder Spann ung zu t::rhalten." ScHilL ER. Prit::drich: SiimllidJt Werkt. Bd. 1-5.8. AuR Dannstadt: \X' iss. Buchges. 1987. Bd. 5: ErrfthIJl"§ ". ThttJrtti!rht SrhriJtM. S. 508. In "Ober naive und sentimenwische D ichrung" heißt t::s liber den sentimentalischen Dichter: " D aher dieser Ernst, diest:: Knft. dit::scr Schwung, diese Tie ft::, die alles charakterisiert::n. \\'2S \·o n ihm ko mmt; dahcr auch dit::se immerwiihrende Spannung des G emüts. in dt::r \\1r bei Lesung desselben erhahen werden ." Ebd .• S. 736. D er Beleg vo n Campe wird zitiert in GRIMM. Jacob und Wilhelrn: DrNlsrhn l17örtrroJlrIJ. Leipzig: H,irl.cJ: 1854(f. Bel. X I I, Sp . 1908. Vgl. BORRL\;,GO. Hcinz-LOIhar. Spo"nJl"g i" J't:>d "nd Fil",. Spon",mg und SNJpmJt tlh T t..'(II.'tr· a,.btiIJlngska/~rim. Dlisseldorf: Schwann 1980. S. 168- 198 '?Hlplorischr Kota/ogt tJlischtn , 790 Nnd ISJO. I-Irsg. von G. j., A. M. und R. \Vi. Hildcsheim: Gerslcnberg 1979. S. 477-5 15, hier S. 478 und S. 485; M/\R'nNo. Albcrto: " D ie deutsche Leihbiblioth ck und ihr Publikum." In: LiltralNr in dfr so~nkn BtJJ'I'gNng. A1ifsiitrf Nnd Ffmr!;NngSbrrid;lr ~m 19. JahrhNndtrt. Hrsg. von A. M. Tübingcn: N iemeyer 1977, S. 1-26.
272
fa ssen_"447 D ie Leihbibliothek bedient selbsrverständlich die Rezeptionsweise der IVeugierde. Bei Bergk heißt es: " Wir lese n die Buecher, die wir selbst besizzen, immer am wenigsren, wenn wir an einem Orte wohnen, wo große Lesebi bliotheken sind, und wo wir immer das Neueste aussuchen können."448 Die Leihbiblio thek pmenziert sowohl Sclmelligkeit als auch Extensi/litiü, weil vor al1em die beliebten ,Novitäten' nur tage- oder wochenweise ausgeben werden. 449 Dementsprechend artikuliert die Lesewut-Debatte auch Kritik an der leih bibliothek, die sich mitunter liest wie heuriges E ifern gegen Spielhöllen oder dergleichen: " Dieselben zeitgenössischen Stimmen, die gegen die verhängnisvolle Lesewut eiferten, haben sich vor allem den Leihbibliotheken als wichtigster Brutstätte dieses Lasters angenommen. Sie galten al s ,mo ralische Giftbuden und Bo rdelle', die ihr ,Arsenik des Geistes' jung und alt, hoch und niedrig einträufelten."4so Ein Ansatzpunkt der LesewUf-Kritiker besteht in dem Vorschlag, die sorgfaltige Auslese der Bücher in den Leihbibliotheken staatlich zu kontrollieren; Beyer etwa empfiehlt, daß die Leitung solcher Biblio theken nur doch durch " Bücherkenner" erfolgen dürfe, welche die ßuchbeständc im ständigen Kontakt mit der ,gelehrten Welt' auf nÜlL:liche T exte einschränken sollen. m Dieselbe Kritik wird übrigens auf andere neue Distributionsfonnen von Texten ausgeweitet, etwa die Almanache, Kalender und Zeitschri ften. Es ist diese von den Zeitgenossen erlebte, explosionsartige Vermehrung der Textbestände und die Vereinfachung des Zugriffs, welche zur ß ildwelt der Seuche führen: " seit dieser Rornanenseuche, sind an den kleinsten, sonst unbedeutenden Orten öffentliche LeseJäden errichtet worden, wo man ehemals von der-1011
JÄGER, Gcorg und Jö rg SCHONERT: " Dic Leihbibliothek als literarische Institution im 18. und 19. Jahrh unden. Ein Problemaufriß." In: Dit Ltihbibliolhtle als InstilN/ion des liltra,jschtn Ltbtns im '8. Nnd 19. JahrilNndtrl. Orgonisationsfon1ltn, Best/indt, Pllblikxm. Hrsg. von G. J. undJ. S. Hamburg: HauswedeU 1980, S. 7-62. S. 22. Vgl. auch J örg SCHONERTs Aufsatz in demselben Band: "Zur T )'lx>logie und Stratcgic der Schaucr- und Verbrechensliterarur (1790-1860),S.165- 195. BERGK, Jo hann Adam: Dit Kunsl, Blluhtr t!' Imn. Ntbsl Btmtrkxngtfl Ntlnr 5{hnJten lind Schrijislrlltr. Jena: Hempel 1799, S. 34. "gerade bei den Romanen mit ihrem untcrhaltcnden Charakter vedangten die Kunden immer wieder ,Novitäten'. so daß gute Leihbibliothekcn ihre Bestände ständig cm euenen." J AG ER, Georg und Jö rg SCHON ERT: " Die Leihbiblio thek als literarische Institution im 18. und 19. J ahrhundcn. Ein Problemaufriß." In: Dit
", ~ !IO
Ltihbibliolhrle als Institlltion dtS lilrran'Sfhtfl Ltlnns im 18. Nnd ' 9. Jabrhllndtrt. Organisationifomltn, &sliindr, PNblikxm. Hug. von G. J. undJ. S. Hamburg: HauswedcU 1980, S. 7-62, hier S. 21. Ebd., S. 45. Wl'lTM/\NN. Reinhard: Gu{bichtt du dtutsdun BII{hhIllIMls. 2., durchges. Aufl. München: ß eck 1999, S. 211. BEYER, J ohann Rudo lph Gonlieb: " Ueber das Büeheriesen, in so fern es zum Luxus un serer Zeiten gehön . Vorgelesen in der churrurscl. Mamz. Academie nützlicher Wisscnschaften zu Erfun, am 2tcn FebL 1795. In: Acta A fM/miat Eltctorabj Mogllntinat Scitntial'llm IIfitilllfl qNae EifNm esf. Erfurt: Keyscr 1796. Heft 9, S. 1-34. hier S. 32-34; ganz ähclich im Epilog von HOCHE, Johann Gottfried : Vtrfralilt Bntft iibt,. dit jt't!i! abentMlltrli{ht LtsUII{hl lind iibt,. den Einflllß dmtllnn 019 dit Vtmlindtnmg des hÖlIslichen lind öJfonllirhtn Glikles. Hannover: Ritschcr 1794, S. 146.
273
gleichen Dingen gar nichts wüßte; wodurch also die Allgemeinhei t der Seuche rech t national geworden"m; " Die Lesesuchr ist [...1ein wirklich großes Uebel, das so ansteckend ist, wie das gelbe Fieber in Philadelphia".453 Man kann diesen Aspekt der zunehmende Verbilligung und Verfügbarkeit der T exte im Z usammenhang mit der extensiven Rezeptio nsweise gar nicht genug hervorheben, da er die Medieruandschaft bis heute do miniert. Ein Kulminationspunkt wird im 20. J ahrhundert durch die Durchsetz ung der elektronisc hen Medien (Radio, Pern sehen) erreicht, bei denen bezeichne nderweise GeldJwrt und (f7iederbolbarkeit der T ex te simul tan annulliert werden. D agegen hängt das BildarsenaJ einer gefahrli chen, schädlichen Sucht offenbar mir dem Aspekt der Neugierde zusammen. Denn die neue, extensive Form der Lektüre des Geheimnisses ist für die ,Abhängigen' vor allem deshalb fa tal, da die final geschürz ten Spannungsbögen einerseits die Lektüre immer mehr beschleunigen (der ,Trip' der Süchtigen wird immer kürzer), wohingegen das E rlöschen des Interesse am Ende des T ex ts die Dringlichkeir nach neuem ,Stofr nur noch dramatisiert. Die zeitgenössischen T exte zeichnen alarmierende Szenen solcher bedauernswerter Lesesüchtigen: Daher sicht m an Bücherleser und Lcscrinnen, die mit dem Buch e in der H and aufstehen und zu Bette gehen, sich damit zu Tische setzen, es neben der Arbeit liegen haben, auf Spaziergängen sich dam.ir tragen, und sich von der einmal angefangenen Lek türe nicht wieder trennen können, bi s sie sie voUender haben. Aber kaum is t die letzre Seite eines Buches verschlungen, so sehen sie sich schon wieder gierig um, wo sie ein anderes herbekommen wollen , und wo sie nur irgend etwas auf einer T oilette, auf einem PulTe, oder sonsr wo erblicken, das in ihr Fach gehön , oder fu r sie lesbar scheinet, da nehmen sie es mit, lind verschlingen es m ir einer A n von Heißhunger. Kein T abaksb ruder, keine Kaffesc hwester, kein Weimrinker, kein Spielgeisr kann so an seine P feife, BoutciUe, an den Spicl- odcr Kaffee tisch, anachin se)'n, als manche Lcschungrige an ihre Lcscre)'en.· 54
In diese Rede von der Sucht der Bücherabh ängigen läßt sich natürlich auch die diätetische Bildsphäre hervorragend integrieren. Aus der speisenden N ahrung der Heiligen Schri ft wird jetzt ein " Betäubungsmittel" oder ein "Gift": " D er Leser verschluckt G ift, ohne es zu wissen, und labt sich an Z aubertränken, ohne die fürchterlichen Wirkungen zu ahnden, die sie für seinen Ko p f
'"
274
HE.INZMANN, Johann Georg: Appel an mtint Nation. Bem 1795, $. 147. HOCIIE, Johann Gonfricd: Vtrlrallie Brirft ;;!Jtr ,lirjt't!§ abtnlhtll(r/kbt Lmsllehi llnd ;;!Jtr drn Einflllß dmtlbm all! dir Vtnnindmmg du hÖlIslimrn lind i[Jfonfli(hrn Gt;;rJes. Hannover: Ritscher 1794, S. 68. BEYER, Johann Rudo1ph Gottlieh: "Ueher das Bücherlesen, in so fern es Ztun Luxus unserer Zeiten gehört. Vorgelesen in der churftirstl. Mainz. Academie nützlicher Wissenschaften zu Erfun, am 2ten Fehr. 1795. In: Ae/a Aem/tmiae Eke/oratis Mogllnhlult Sdtntiantm Nh'h'Nm qNat 6fNrti u f. Erfurt: Keyser 1796. Heft 9, $. 1-34, hier S. 7.
und für sein Herz haben" .m T atsächlich kann diese Sucht töd lich enden, wovor Be rgk deutlich warm: " Die Folgen einer solchen geschmack- und gedankenlosen Lektüre sind I...J unsinnige Verschwendung, unüberwindliche Scheu vor jeder Anstrengung, [...1 Unterdrückung der Stimme des Gewissens, Lebensüberdruß, und ein früh er T od. « 456 O ffen bleibt nur noch wer die Leser sind, und welche StO ffe sie vorzugsweise ko nsumieren. \'\fie scho n so oft erscheinen auch hier die Frauen als ,dumme' oder beso nders ,gefährdete' Leser: wenn man unser weibliches Publikum l...] genauer srudiert (...1, und weiß, daß es sein Leben mit der Lektüre ged ankenloser Ro mane hinbringt, und daß sich seine D enkungsart mit jedem Buche verändert, so wird man nicht leugnen können, daß der Einfluß des BücherIesens auf die Menschen sehr groß sei. D ie meisten Frauenzimmer lesen nichts als Romane: [...] so lche, die ihr Gefühl verstimmen, sie in eine Zauber- und Geisterwelt hineinwerfen, zu Riner- und Saufgelagen führen, eine übernatürliche Empfmdclei in ihnen rege machen, ih re D enkungs- und Sinnesart verkehren, dies sind ihre Lieblingsschri fmeller, an die welche sie Zeit, G esundheit und Leben verspielen.457
Bei den Lesesto ffen handelt es sich also ebenfalls durchaus um die bisher beschriebenen Ro mangattungen. Aus der Retrospektive vo n 1794 veron et etwa Hoche den Ursprung der "Lesesucht" wie folgt: Wenn man die Schri ften ansiehet, die o llOge fahr seit zwanzig Jahren unter den l\'lodclesern graßirten, und nun leere Pl äne in den Biblio theken ausftill en: so wird man die Periode der G enien, der Empfi ndsamkeit oder Em pfmdclei (... 1 nicht verkennen. D iese Periode ist von einer anderen verdrengt, in welcher Wunderdinge, Abscheulichkeiten, Rinennähren, die Gegenstände der Lek rür e sind. 4S8
E in ähnliches Bild zeichnet Heinzmann: Unsre Lescläden enthalten o hnehin fa st nichts als Ro mane, Schauspiele, Reisen; und die Reisen sind ja größtentheils Roman; halb Lüge und halb Wahrheit. (..,1 Betrachtet man noch weiter d ie Fo lgen der verliebten Romanen, so wird
".
B EKGK , Johann Adam:
Die /VIn!I, Blm ber
~
lesen. NebSI BemerJennl/n uebtr Schriften lind
SrhrijlJltlltr. Jcna: Hcmpcl 1799, $. 264, zuvor $. 41 5. Ebd., S. 41 2. Ebd., S. 41 3,
••
HOCHE, Jo hann G on fricd : Vtrfrulllt Bn'tft übtr die jt'i!!! abtnlMlltrljrhe LtJeJllrhl lind iibtr den Einflllß dffIelben Oll! die V trl'1lindmmg du hiJil1lirht" lind öffinlh'(Mn GIÜrh . H annover. Ritscher 1794, S, I Sf.
275
man da noch weit mehr zu tadeln find en.( .. .J N un aber führt die Abwechslung auch Rinergeschichten und hoechst schreckhafte Scenen herbe}" die schwachen Ner\'en werden onguponll,.459
Beyer: weil man f...1jetzt Sagen de r Vorzei t, Ri ttergeschichten und Scenen aus der alten Weh [liestJ , wo Menschenblut wie Wasser fli eßt; zur andern Ze it empfind sa me Ro mane, wo das T öd ren einer Fliege Al terationen erregt; sodann wied er Hexen und Zaubergesc hic hten , Fee nm ährehe n , Reisebeschreibungen, Briefe über Länder und Sitten ließt, je n achdem es die ~·t ode mit sich bringt. 460
Es
Abb. 23: Dars reUung einer romansüchcigcn Leserin, die ihre Pflichten als Mutter vernachlässigt. Kupferstich von 1798.
,.
wird deutlich, daß schon aus der Rer.rospektive Mine der neunziger Jahre des 18. Jahrhun derts klar Reiscro man, empfindsamer Roman und Schauerroman als zentrale T extgartungen erfaßt werden, und ferner diagnostiz iert man auch scho n ein Abfolgeprinzip
HE1NZMANN,Johann Georg: Apptl an mrint Nalion. ß ern 1795, S. 143f.. meine I-ler\'orhcbung. ß EYER, J ohann Rudo lph Gorilieb: "Ucbcr d as ßücherlesen, in so fern es zum Luxus unserer Zeiten gehört. Vorgelesen in der churflirstl. Mainz. Academie nützlicher Wissen schaften zu Erfurt, am 2ten Febr. 1795. In: A rM A radtl!liae Elrcloralis A'!ogllfllinae Srirnlimlllfl IIlihilm quae E,jlmi fsl . Erfurt: Kcyscr 1796. He ft 9. S. 1-34, hier S. 5.
276
der Übersteigerung. Diese Befunde aus der Lesesllchl-Debattc lassen sich durchaus durch Belege aus der autobiographischen Literatur untermauern; man wird erneut unwillkürlich an den heutih>en Konsum von Computerspielen erinnert. Wie immer ,s tilisiert' solche Selbstzeugnisse aus der Retrospektive auch sein mögen, sie bes tätigen kJ ar die umrissene Rezeptionsweise in allen D etails: Schnelligkeit der Lektüre, Vielzahl der gelesenen T exte, die beschriebenen ,extensiven Textgatrungen ', also wie oben (unter anderem) Reiseben·chte sowie Liebes- und Sr/NII/erromane, die finale O rientierung dieser Lektüre und, daraus erwachsend, die Rezeptionswcise der Sptwnllng, und zuletz t dic Leihbibliothek als Verteilerstelle dieser L.esesroffe. Zwei Belege hi erzu seien ausftihrlich zitiert. Friedrich Christaph Schlosser berichtet über die Zeit seiner Jugend um 1790: In dieser Zeit ward eine Lesebibliothek, die schon vorher für die Offiziere in unserer Stadt errichtet war, sehr erweitert und auf mehr als tausend Bände gebracht. Ich begann schon in der Tertia das Lesen dieser Bücher, war aber zu sehr durch Arbeiten beschäftigt, als daß ich es härte zu weit treiben können, obgleich ich schon damals zwei und auch drei Bücher in einer Woche las. Als ich nach Sekunda kam, wo uns d er Ko nrekto r nicht zu beschäftigen verstand, ward das Lesen eine Wut. Reiseb eschreibungen , Rom ane, L.cbensbeschrcibungen, sogar solche wie Bahrdt's Leben und andre, kurz alle Prod ukte unserer damals erst recht aufblühenden Uterarur wurden von mir verschlungen. Ich hatte in Zeit von d rei Jahren über vierlausend Bücher d urchlaufen [.. .].461
Ganz ähnLiches berichtet Karl August Varnhagcn von Ense; die Begebenheit dürfte sich um das J ahr 1795 abgespielt haben: hier l... 1han e sich eine Leihbibliothek eingemietet I.. ,], Da fa nd sich denn ausgestellt, was nur mein Herz begehrte, Ritter- und Geistergeschichten, R.1ubcrromane, U ebcsabenteuer, Robinsone und W undennärchcn aJler Art. Ich hatte daheim Bücher genug und las viel und gem darin, aber solche Bücher wie die bezeichneten feh lten mir ganz und gar. Ich ko nnte d er Versuchung nicht widerSTehen und verschaffte mir den erwünschten und leider auch verbotenen Gen uß! [... } Ich las also heimlich, mit allem Eifer und aller Spannung eines jugendlichen Sinnes, und fti hlte mich glücklich in dem phantastischen Leben, das neben dem wirklichen so zauberisch mir aufging. l... 1War eine Gcschichte abgebrochen, etwa der zweite Theil n icht vorrätig, so empfand ich die lebhafteste Unruhe und konnte mich gar nicht zufrieden geben, als mein Lesen wirklich zum Schlusse kam, bevor ich den einiger angefangenen Romane erlangt hane! Noch lange Zeit nachher hafteten die Titel verdrießlich mahnend in meinem Gedächtnis, und das Unglück wolhe, daß sie sonst mir nie mehr vorkamen, denn höherscehende Leihbiblio theken hielten schon auf bessere Auswahl. Erst zwanzig Jahre spätcr in Bö hmen, wo durch Zufall solcher Schund noch unAbgedruckt in VO LKMru~N, Ernst (Hcsg.): Erltbnim mit ßjjrJ)(rn in dtlllHhtn Sdbl't!lIgnimn. Bd. 1-2. Weimar: Q. A. 1937/ 1940. Bd. 1, $. 39.
277
verzehrt lag, konnte ich dem unvergessenen Anfang eines solchen Buches den unbekannten Schluß endlich anreihen, und ich gestehe, daß ich mir diese G enllgrullng nicht versagte :~62
Die zeitgenössischen Belege do kumentieren kJar den finalen Fluchtpunkt der exlensitJen Lektüre, und benutzen in diesem Z usammenhang durchgehend den Begriff der Sp(mnlmg, entsprechende SteUen in Z itaten von Beyer (gespaNnte Neugier), Heinzmann (die schwachen Nerven werden angespaNn/) und Varnhagen von Ense (Ich las also heimlich, mit aUern Eifer und aUer Spamllmg eines jugendlichen Sinnes) wurden o ben kursiv hervorgehoben. 4G3 Es ist jedoch zu betOnen, daß, wie oben erwähnt, der Begriff ,Spannung' hier noch nich t eine T exteigen schaft oder Rezeptionsweise bezeichnet, wie ...vif es ron, wenn wir von spannenden Büchern oder Lektüren sprechen. Hier steht er noch im Kontext der seelischen oder nervlichen Spannung und bezeichnet noch nicht einen Modus des Lesens, sondern den Zmland des Lesers; das belegt auch folgende SteUe: Da es den Schriftstellern, die für die Unterhaltung der Lcsewelr arbeiten, nicht darum zu mun ist, Nutzen zu schaffen, sondern gelesen zu werden: so bedienen sie sich aller Mittel, welche ihren Geistesprodukten einen Reiz, eine anziehende Kraft geben und die Begierde spomun, o hne zu berechnen, ob auf die SpOlIlIIWg Erschlaffung, oder auf die Sättigung Fieberhitze fo lgt. Gleich den Mundköchen großer Herren, welche die einfac hen und gesunden Speisen mit so viel fremden Lind reizenden G ewürzen, Süßigkeiten und Säuren versetzen. wodurch die Eßlust vermehrt, aber auch die Speisen ungesund gemacht werden; gleich diesen vermischen die Schri ftsteller die guten lind gesunden Gedanken, welche sie dem Publiko auftischen, mit so vielen, die Einbild ungskraft erhitzenden Bildern, sc hlüpfrigen Gemählden, wollüstigen Süßig keiten, witzig scheinenden Einfallen &c., welche auf die Sinnlichkeit des Lesers einen weit tiefem Eindmck machen, und weit bleibenderc Wirkungen zurücklassen, als die wenigen belehrenden und bessernden Wahrheiten.464
"62
VA&"JHAGE..'-J VON ENSE, Kar! August: Dmhiirdighitm du rignm Lebens. ßd. 1-2. ß cdin: Rüncn & Locning 197 1. ßd. 1, S. 90f. Ein früher Beleg im Zusammenhang der T exrrczeprion. die erste deutsch e Übersetzung des Troiti von H uet (1682), steht dagegen noch im KOnlcxt der D auer der OndlJNrmdm AN!mrrleJolllhit. " nachdem sie weniger wnbschweiffe gebrauchen I spannen sie Idie Romane] den Geist nicht so sehr ein [nt ttndtnt pos tontl'upri1 " . H UET, Pierre Danicl: T roiti de roriginr des romons. Faksimiledruck nach der Erstausgabe von 1670 und der Happclschen Übcrsen:ung von 1682. Hrsg. von Hans Hinterhäuser. Stutlgan: r-.ler-.der 1966, S. 7 u nd
S. 105. BEYER, Johann Rudolph Gonlieb: "Ueber das ßücherlesen, in so fern es 7.unl Lux us unserer Zeiten gehö n . Vorgelesen in der churflirscl. Mainz. Academie nützlicher W issenschaften zu Erfun, am 2ten Febr. 1795. In: Ario A (l1Iltmiot Elrrtoro/is MogNn#not Sn'enfianun NJiIiNm qNoe EifNrli uf. Erfurt: Kcyser 1796. He ft 9, S. 1-34, hier S. 16f.
278
Wichtig ist dagegen der Befund , daß sich die Verwendung des Begriffs der (Seelen -) Spannung im Z usammenhang mit der TexIrezeptio n bereits um 1800 habitualisiert. Die avancierteste Verwendung des Begri ffs ,um 1800' findet sich bei SchJegel , der etwa schon 1798 den Reiz der ,vielen schlechten Bücher' auf "die Spannung der Neugier"46S zurückführt. Von hier ist es nicht mehr weit zur festen Verbindung des Begriffs mit einer Rezrplionsweise um die Mitte des 19. J ahrh unden s. D abei zeigen schon früh e Äußerungen Schlegels, daß die ästhetische Theorie eine nachträgliche Anbindung des Spannungsbegri ffs an die aristotelischen, ursprünglich am D rama erprobten Wirkungskategorien von ,Schauder' und ,F urcht' sucht (eine Fehlinterpretatio n, die sich in der Fo rschung bis heU[c nachweisen l äßf~6('); bei Vischer heißt es dann schon 1847, daß bei Aristoreles " in der Furcht namentlich das besondere Mo ment der Spannung hervorzuheben ist, in welcher außer der steigenden Bangigkeit, die selbst nicht o hne Lust ist, sobald der Z uschauer sich au f der Seite der dro henden Krafr schl ägt, noch ein Reiz der Wißbegierde liegt. «467 Eine Verwendung des Begri ffs im heutigen Sinne läßt sic h erst in Apho rism en Orto Ludwigs nachweisen, die zwischen 1840 und 1860 em standen sind.
SCIILEG EL, Fried rich: Ktih"scm Ausgabt. Bd. 1-22. München et al.: Schöningh 1958ff. Bd. 2: Chamlettristiktn und Krihlun 1, S. 330 ~,G esp räch über die Pocsie'l Noch wenige J ahre zuvo r oszillien dcr Begriff bei Schlegel noch sriirker, e[W3 in dem Aufsarz "Ober das Srudium der griechischen Posic" (1795-97) im Z usammcnhang mit der dra marischen Spannu ng; einige Stellen seien als Beispiele ziticn : " In stetem Schrccken würden wir bis zur ßewußdosigkcit erst2rren; in steter Rührung zerschmelzen . Sopho kles hingegen weiß Sch recken und Rührung im \'oUko nunenstcn G leichgewicht wohltätig zu mischen, an treffenden SteUen durch entzückende Freude und frische Anmut köstlich 7-U würzen, und dicses schöne Le ben in gleichmäßiger Spann ung über das G anze zu \'erbreitcn." "Statt einer gleichmäßigen Spannung in einem wo hltätigen Wechsel \'o n Bewegung und Ruhe lbeim Schö ne n-Guten] wird {heim H äßlich-Schlechten] d ie T eilnahmc durch ein schmtrzli{ms Zm rn in widersprechende Richrungen hin und hergerissen . Wo sich das G em üt nac h Ruhe sehnt. wird es durch ':(!rriitrndt lY/ul gefolten , wo es Bewegung verlangt, durch schlrppmdt lI1attigktii ermüdet" ; ..Wenn es dem Wunderbaren, der Kraft, dem reizenden Leben an glücklichem Ebenmaß, an freier H armonie, kur,o; an schiintr Organisation fehlt, so kann tragische Spannung wohl erregt, aber ohne Mo noto nie und Frost nicht lange genug erhalten, und in einfacher Reinheit ü ber ein großes ganzes verb reitet werden." Ebd., Bd. 1: Sfliditn du kkmischrn A lttrlums. S. 298f., S. 3 11 , S. 336. oIU
So greife n psychologisch in spirien e Texte b is heute AristoteIes' Wirkungskategorien vo n tlws (l ammcr) und pbobos (Schauder) au f und deuten diese als Ursprung der Spannungstheo rie. D ie Begriffe werden dann ,frei übcrserzt', etwa mit ,Spannung und Rührung' (vgl. CONRAD, H orst: Die litrruriscm Angst. Das Sc!JrtcleJicbr in SchautrromantiJe und Dtltletivgeschichlt. D üsscldorf: Bcnclsmann t 974, S. 11 , sowie die bei JoUes entstandene D isserta tio n G ARTE, H ansjörg: Kunstjorm Schautrroman. Eint morpbologisdlt &griffibtshinn/lmg du Sensah"onsromans im 18. Jahrhundtrt t'O n lValpoks ,Cmtlt oj Otmnto' bis j ran Pauls ,Titan '. Leip zig: G arte 1935). Innerhalb dicser Logik macht cs dann sicherlich Sinn, die kathartis als Auflösung zu verstehen. Vgl. e[Wa BoRRINGO, Heinz-Lothar: Spann/mg in Ttxl und Film. Spannung und SusptnR al.; TrxM,arVtifflngskot(gorim. Düsseldorf: Schwann 1980, S. 38f.
-167
VISCHER, Friedrich Theodo r: A SlhttiJe odt, IViSStnscbaji des Schi/nm. Teil I-} Sruttgan : ~läc ken 1847- 1857. T eil 1, S. 330f.
279
Hier heißt es in einem T extabschnitt, det mit "Spannung im Drama" überschrieben ist: J e größer die Spannung eines Srückes, desto leidcnschafdicher verlangen wir vorwärts zu kommen, desro leidenschafdicher verabscheuen wir alles, was uns hemmt. Wer eilt, um etwas zu erfahren, dessen \,(lissen er leidenschaftlich begehrt, der wird keine Augen für die Schönheit seines Weges haben und für das Schö nste, Witzigste, was ihm ein Begegnender mineilt, für die geisrrciclme, amüsanteste Unterhaltung kawn ein halbes O hr; ja er wird den Begegnenden, der ihn aufhalten will, und dem er unter anderen Umständen snmdenlang lauschen könnte, los zu werden suchen, je schneller je lieber. Eine Regel wäre also: in Stücken mit großer Spannung immer das einfachste Wort zu wählen.468
Dieser kurze Abschni tt bestätigt noch einmal alle d rei Faktoren, die oben zU[ Definitio n der Lek/üre der Spanl1ung verwendet wurden: Ilifommtiol1slIJangel, Re/arda/ion sowie die daraus resultierende Schl1elligkeit der Rezeption shandJung. Ein Apho ri sm us mit dem Titel "Tragische Spannung" berom die Ausrichtung der Ungeduld auf das Ende des T exts: ..\Vie denn überhaupt in der T ragödie keine Spannung sein darf, al s eben jenes immer intensive r we rdende GefühJ des Ausganges, also das immer uneotrinnbarere Notwendigwerden des Ausganges selber":"''} Von daher belegen Ludwigs Äußerungen zur dramatischen Spannung aber auc h, daß ein unbestreübarer Zusammenhang zwischen der Rezeptionswe ise der Spannung und der ex/emilJtIl Le ktüre besteht. Vor allem die Beronung der Ullgeduld läßt aufhorchen. Mir sind Rc Ocrionen über den srhllrlltll Kon sum literarischer T exte erst seir der Neuzeit bekannr gewo rden - ein Indiz dafür, daß die Lek/üre der Spofltllmg, zumindest in dieser Fa ssung, erst eine neuzeitliche Errungenschaft isr. 470
0168
... 470
280
LUDWlG, Ouo: Gela11l11lt/Je S (hnjitn. H rsg. von AdolfSlem . Bd. 1-6. Leipzig; Grunow 1891. ßd. 5: SINditn lind !erih!(!Jt 5rhriftrn. S. 425f. (Unter ,Dramamrgische Aphorismen' 18401860), S. 425. Ebd., S. 426. D cr überraschende Befund bezieht sich also zWlächst cirunal auf den spezifisch deutschen Begriff der SpannNng. Sichere Aussage n übe r die Vorgeschich te ließen sich nur gewinnen, indem man parallel überprüfen würde, inwieweit sich im G ravitationsfeld der Rcrardationstheorie im roma nisch-englischen Sprachrawn ein ähnliches Ergebnis einstellt.
6. Die Wiedergeburt des Geheimnisses im Geiste der Kunst (GOETHE) Die Lesewut als Exponent der Lektüre der Spannung kennzeichnet den Endpunkt einer Bewegung, deren Anfang oben in der naturwissenschaftlichen Revolution Bacons und ihrer Legitimation der Neugierde verort.et wurde [111. 4] . Der Prozcß der Au fklärung hat dann das substamieUe, prinzipiell unlösbare Geheimnis ausgelöscht; Max Weber nennt das Ergebnis bekanntlich ElI'zollbenmg:m Das würden einerseits die oben analysierten Textgattungen untcnnauern, denn ihre endlichen Geheimnisse sind " fiktiv", sind von Menschen hergestellte Konstruktionen, deren Überwindung dem Leser eine spannende Unterhaltung bieten und die dann am Ende des Textes aufgelöst werden. Diese neue Einstellung zum Geheimnis zeigt eine klare Differenz zur Vonnoderne, und zwar hinsichtlich des gesamten Weltbil des. In der Vormoderne gibt es gemäß Augustinus von Gon erl aubte und verbotene Geheimnisse [111. 1] . Die Wirklichkeit ist demgemäß in zwei Sphären geschieden: In der einen befinden sich die Dinge, die Gort den Menschen zeigt, um sich ihnen zu offenbaren; in diese Sphäre gehören auch die Geheimnisse der Heiligen Schrift. Der andere Bereich dagegen enthält all das, was Gon dem Men schen enlile!;I, es ist die Sphäre des götdichen Erkenntni svorbeh ahs. Von diesen Naru rgeheimnissen kann man allenfalls wissen, daß es sie gibt. Aus der Disposition, daß es Orte und Räume des Naturgeheimnisses il1 der IWel1 gibt, folgt jedoch, daß es il1l1cr!;(db der so verstandenen Wirklichkeit eine Sphäre gibt, die für das menschliche Erkenmnisvenllögen im eigentlichen Sinne IInerkml1bar isr. In dieser Auffassung koexistiert Sichtbares und Unsichtbares in der Wirklichkeit. In die Sphäre des Uncrkennbaren eindringen zu wollen heißt, das Hoheitsrecht Gones über seine Geheimnisse verletzen, heißt, sein wollen wie Gon. Solches Aufbegehren gegen götdiche Verbote ist Sünde, ist ein teuflisches Verbrechen. Es verwunden daher nich t, daß die Vertreter der neuen Wissenschaft, Bacon, Galilei, und auch Paracelsus sowie Nostradamus in den Verdacht gerieten, die O pfer teu flischer Einflüsterungen zu sein. Die zunehmende Verarbeitung dieses Sachverhalts in der Literatur bezeugt diesen Ko nflikc " Das Teufelsbündner-Mo civ raucht gegen Ende des Mittelalters immer häufi-
~11
WEBER, r-.hx: Gua11Jmtllt A lljiiil-{! ~r IVligionJJOifologit. ßd. 1-3. Tübingcn: r-,Iohr 1922ff. Bd. 1, S. 94 (.,D ie prOlestantische Ethik und der Geist des Ka pitalismus") ; für Weber beginnt dieser Prozeß allerdings bereits in der altjüdischen Prophetie und finder im aufgeklärten Protestantismus sein Ende. Vgl. insgesamt auch BoLZ, N a rben: ANSZUg aNJ der rnlZI1Nbrrltn lY/tll. PhiloJophiJ(!Nr Extrt",iJmNJ ~ iJ(htn dtn bridtn Wtllkritgtn. Müncben: Fink 1989.
281
ger auf. ,,472 Typischerwei se wird das Verbrechen des Aufbegehrens gegen G Ort als abschreckendes Beispiel dargesteUt, an dessen E nde vorwiegend Reue lind Umkehr, aber auc h der gräßliche Untergang stehen kö nnen. In diesem Umfeld positio nierr sich dann auch der große Publikumserfolg der Lebensgeschichte eines gewissen FOJfJI. D er T ext, der noch weitgehend den Strukturmerkmale n der mittelalterlichen Legende folgt, wurde 1587 ano nym bei Spies in Frankfurt gedruckt, erfuhr dann vor aUem im ersten Jahrzehnt immer wieder neue Au flagen und wurde zügig ins E nglische überse tzt.471 Noch 1624 hält Wilhehn Schickard die " D ocro ris Fausti legenda" für eine sehr berühmte ("fam osissimaU) Geschichte, rue den Vergleich mit internationalen E rfo lgs titeln nicht zu scheuen brauchte. 474 Faszinierend an ruesem T ext ist die O sziIJatio n zwischen eine r mittel alterlichen Scheu vor dem gö ttlichen E rkenntnisvotbehalt und der freizügigen Belieferung der Neugierde des Rezipienten. Schon Fausts Wißbegierde besitz t einen frü hneuzei tlichen Stachel. D er voll ständige Titel weist zugleic h in die Vergangenheit und in die Zukunft: Hisroria von D. Johann Fauste n / dem weitbcschre)'ten Zauberer vnnd Schwartzkuensder / Wie er sich gegen dem T euffel auff eine benandte zeit verschrieben / Was er hierzwischen fuer selrzame Abemheuwer gesehen / sclbs angerichtet vnd getrieben / biß er enddich seinen wol verdienten Lohn empfangen. t"tehrentheils auß seinen e)'gencn hinderlasscncn Schrifften / aUen hochtragenden fürwitzigcn lind Gottlosen Men schen zum schrecklichen Bey. spiel / abschcwlichen Exempel / vnd treuwhertziger Warnung zusammen gezogen / vnd in den Druck ve rfertiget. (3) D er Text, der sich klar als Exempel gegen die go tteslästerliche Wißbegierde po sitio niert, bedienr also rueselbe \Xlißbegierde ausgiebig. VOt allem in der zweite n Häl fte (Kapitel 33 • 59) wird rue Neugierde des Lesers mit einem Po tpourri aus ZONberry, Beschu-'enm~ Gouckelry und Bullschafien befriedigt AbenlheJllr fo lgt auf Abenlhewr. Z ugleich wird Faust jedoch noch klar aus Sicht des mittelal terlic hen Lasterkatalogs beurteilt: Er .. trachtet [...] T ag vnd Nacht nach / name an sich Adlers Flügel / wolte aUe Gründ am Himmel vnd E rden erforschen / d ann sein Fürwitz / Freyheit vnd Leichtfertigkei t stache vnnd reitz te jhn al so / daß
."
FRENZEL, Elisabeth: Mofillt der IVtl/h·ltraINr. Ein U .'\.7Ieon difbtllngJ!.mhirhlither Uing11thniflt. 4. , überarb. Au(]. Sruugan: Krö ner 1992. S. 685 (Stichwort ..T eufelsbündner'').
m
Das frühe ste erhaltene Exemplar der englischen HiJlon"e ist aus dem Jahre 1592. darin heißt es allerdings: Ntw!y il"prinlrd, so daß scho n eine frühere Version existiert haben muß. VgL die Einführung in MARLOWE, Chrisropher: Dot/or FaNJIIIJ. Hrsg. " o n J ohn D . Jump. London: Broad water 1962, S. xxiv.
m
D er Text ist im Anhang folgender Ausgabe abgedruckt: A NONYMUS: HiJloria/iOn D. Johann Fmulrn. Text des Druckes von 1587. Kritische Ausgabe. I-I rsg. "on Stephan r üssel und I-Ians-J oachim Kreu[zet. Sruttgan: Reclam 1988, $. 300, im fo lgenden im Fließtext zitie rt.
282
er auff eine zei t etliche zäuberische vocabula / figguras / chacteres vnd coniurationes / damit er den T e ufel vor sich m öchte fo rdern / ins Werck zusetzen / vnd zu probiem jm rurnam e" (15) - das biblische Bild der Selbstübe rhebung ,wie ein Adler' (Sptüche 23, 5 / Jesaja 40, 31) unterstreichr die EinbetfUng des T exts in den christlichen ordo. Damit korrespondiert die Zweck bestimmung. Das Buch kJassifizien sich schon im Titel als ,schreckliches Beispiel' und ,abscheuliches Exempel', den Lebe nden zur Mahnung: "darauß jeder Chrisr zu lernen / sonderlich aber die eines hoffenigen / sto)tzen / fü rwiezigen vnd trotzige n Sinnes vnd Ko pffs sind / Gou zu förchten / Zauberey / Beschwerung vnnd andere Te uffelswercks zu fliehen / so Gott ernstlich verbotten hat« (123), heißt es am Ende des Textes, der dann mit ein em biblischen Z itat schließt, welches vor den Ve rfü hrunge n des T eu fels warn t. Faszinierend im Kontex t d er o bigen Ausführunge n zur Entstehung der extensiven u k türe ist auch eine Schilderung des Faust als Leser vieler Bücher, die zumaJ obscur und unverständlich sind. Wie in Zeite n weitge hend en Analph ab eti smus' d en Schreibern , di e in da s Geheim n is der Sc hrift, also rätselhaft er und unve rständlicher Ze ichen, eingeweiht sind, geradezu magische Fähigkeite n zugeuaut werden, so muß auch dem vormodernen Mensc hen der Leser vieler, noch dazu dunkJer oder gar fremd sp rachiger T ex te naturgemäß verdäch tig gewese n sein: Zu dem fa nd D. Fausrus seines gleichen / d ie b"engen mit Cha1dcischen / Persischen / Arabischen vn d Griechischen Worten / figuris / characT'c ribus / coniuratio nib us / incan tationibus / vnnd wie so lchc namcn dcr Beschwerung " nd Zauberey mögcn gencnnet werdcn. Vnd diese erlchlte Stück waren lauter D arda mae artcs / Nigromantiae / cannina / "encfi cium / va ricinium / incantatio / vnnd wie solche Buecher / Wörter vnd Namen genennel werden mocgen. Das gefi el D. Fausto wal / speculiert vnd srudien Nacht " nd T ag darinnen. (14)
Auf di ese \Y/eise wird also im J ahre I 587, etwa 200 Jahre vor der .Lesesucht' , eine Kritik an der extellSiven IVifptiollSllltise, an der Lektüre vieler Bücher zur Befriedigung einer unersättlichen lVi/begierde formuli ert. Bezeichn end ist auch, daß Faust durchgängig als historisch verbürgter Gelehrter geschildert wird. \Y/ie immer unglaublich die Episoden aus heutiger Sicht sein mögen, den Zeitgenossen wurde der T ex t als sauber recherchierte (A uto-) Biographie eines vor nicht allzu langer Zeit verstorbenen , bekannten Wissenschaft1ers verkauft. Der D rucker Spies fungiert hier selbst als Herausgeber eines Manuskripts, das ihm ..durch einen guten Freundt von Speyer mitge th eilt vnd zugesc hickt wo rde n" ist. D er T ex t stammte angeb lich weitestge hend von Faust selb st: "sie fand en auch diese deß Fausti Hisroriam auffgezeichnet / vnd von jhme b eschrieben"475. Daß solche Histon·oe tatsächm
Zuerst ebd., S. 6, dann S. 123.
283
lieh als authemisc he Berichte [VI. 1] gelesen wurden. belegt ein zeitgenössischer Einspruch, der die \X/ahrheit des Textes anzweifelt: ..Diß ist boeßlich und buebelkh erdichtet und erlogen "~16. Demgemäß gewährt das Dokument einen Einblick in das popu läre BUd eines Gelehrten im ausge henden 16. Jahrhundert. dessen Fo rschungstrieb die G renzen des Erlaubten überschreitet. Und so befassen sich (im Gegensatz zu Gocthes Text!) weite Passagen in der ersten Hälfte des T extes nach dem T eufelsbund (Kapitel 11 -32) mit Fausts Fragen an den T eufel und dessen Antwonen. Zwar betont Mephisto hinsichtlich der ..Astronomia oder Asrrologia": "es sind verbo rgene \Verck Gortes / welche die Menschen nkht [...1ergrün den können" ; danach kolportiere er die Offenbarungen der Geheimnisse jedoch ebenso genüßlich wie kryptisch. Auf die Frage nach dem Ursprung der \'(felt anewortet Mephisto etwa: "GOtt machte anfanglieh den Himmel auß dem Mittel deß Wassers / vnd theilet die \Vasser vom Wasser / hieß das Firmament den Himmel / So ist der Himmel Kuglecht und Sc heibi ech t / auch beweglich / der vom \Vasser geschaffen / zusammen gefüget / vnd al so befestiget ist / wie Crismll [... ]" :m Solche Formulierungen ersc heinen nur im Rückblick als absichdich rätselhaft kom/mierl. T atsächlich hat sie der ano nyme Verfasser aus der zeitgenössischen (oder leicht veral teten) gelehnen Literarur, wissenschaftli chen Ko mpendien und Textsammlungen beinah e wörtlich entnOIl1Jnen und abgeschri eben. Im ralle des o bigen Z imts smmmen sie etwa aus Harunann Schede ls Blich der Chroniken von 1493:18 Es handelt sich also keinesfall s um eine ,ästhetische Gestaltung des Numi nosen', vielmeh r sind solche Passagen symptomatisch für ein vormode.rnes WcltbUd, in dem das Unerk cnnbare noc h seinen Platz innerhalb der Wirklichkeit einnimmt und die sprachliche Fo rm des Paradoxo ns die angemesse ne Form seiner Repräsentatio n ist.419 Das vormoderne, dem Menschen von Gon vorenthaltene Naturgeheimnis is t nicht etwas, das man wisse n könnte und das noch nicht erkannt worden ist, sondern es ist prinzipiell nich/ erkennbar und als solches not, ein Teil der Realität ist eben grundsätzlich der E rforsc hung entzogen. Demgemäß darf in der vormodernen ,\Xlissenschaft' noch über Dinge kommuniziert werden, von denen man weiß, daß sie eigentlich inkommunikabel sind, und in solchen Kontcxten verwendet man die Aussagefonn des Paradoxons. Als grundsätzlich der Erkcnnbarkcit entzogene Sphäre durchdringt das Geheimnis alle Sphären de.r vormodernen Welt; es gibt nicht nur die Geheimnisse der Erkenntnis wie ctwa Gon oder die Schöpfung, vielmehr ist das Ge' 16
So Augustin Lcrchheimer 1597, dem Informationen "orliegen, welche dem Inhah des T exts klar widersprechen; s. ebd., S. 297.
m
Ebd., zuerst S. 45, dann S. 46f.
' 78
Der Text ist im kritischen Apparat abgedruckt; "gi. cbd., S. 229f.
, 1'9
Vgl. K1J!IN, Wolf Peler: Am A'!Jang u'ordas Ir/ort. Tmon;- lind U-ifJtnHhqfisgrsrhirbJlirhe Elel1ltnJe
jriihnellrfit/irlxn SprarbbtlVllßtmns. Bcrlin: Akad emie 1992, S. 76.
284
heimni s auch eine dominante soifale Größe der ExkJIISion: 480 Der einzelne Soldat wird .,von der Repräsentanz, von militärischer \Vürde ausgeschlossen"; der G läubige wird von der Durchdringung der Liturgie ausgeschlossen, denn .,Messe und Bibel werden lateinisch, nicht in der Sprache des Volkes gelesen u . Zu letzt entfaltet die Arkanpo litik der Monarchen das Prinzip absoluter Herrschaft im Sinne des Gottesgnadentums: ..Die apologeti sche Literatur der Staatsarkana bringe die Mincl zur Sprache, mit deren Hilfe der Fürst sein Souveränitä t, die jura impecü, aUein behaupten kann - eben die arcana impecü, jener ganze durch MachiaveU inaugurierte Katalog geheim er Praktiken, die die Erhaltung der Herrschaft über das unmündige Volk sichern soUen."481 Politische \VeltkJugheit besteht noch bei Gracian darin, ,nie von sich selbst zu reden'.481 Und auch Kunstwerke existieren vor 1600 noch oft im Geheimen: " the prefetence was tO circulate manuscriptS amo ng friends and allow the work to slip into prior be devious routes and means."483 Die epistemologischen Umwälzunge n der Aufklärung werden diese Formen d es Geheimnisses annullieren. Das gilt nicht nur für die neue, oben beschriebene Substitution der intensiven IJkJiire der Tiife durch die Rezeptionsweise der extensiven IJkliire {Ill . 4 /5]. Auch und gerade im sozialen und politischen Bereich wird das aufgeklärte Bürgerrum das absolutistische Geheimni s als Herrschaftsinsrrument zuruckweisen und dagegen ihr Ko nzept der O.ffilltlichkeit stelJen, welches es, ironischerweise, zunächst in den ,geheimen GesellDie sozio logische Erforschung des Geheimnisses und dem Z UslulUllenhang bei d er E.' ·o lucio n gesellschaftlicher Ö ffentlichkeit wurde be!,oriindet durch Simmels Kapitel .,Das Geheimnis und d ie geheime Gesellschart " in SIM.MEI.. G eorg: So~ologit. UIIJtrJuthNn!!n iilx,. dir F(),.",tI/ drr V rrgmluthaftNng. Leipzig: Duncker & Humblo t 1908, S. 337-402. Sinund dc fmien das Geheimnis als ,tri2disch', da es mindestens zwei Ko mmuniknio nsp:mncr bedarf, d ie seinen Inhall kennen. und mindestens einen weiteren, der "on diesem Wissen ausgeschlossen wird. Vgl. 21s ncucre, systemtheoretische Arbeit SIEVERS, Burk:lrd: Crhdm· IIÜ 111111 CrhrimhollNn.!. ill so:jalrn Syslrmrn. Opladcn: Westdeutschcr Vcrlag 1974 (= Srudicn zur Sozialwissenschaft, 23). Einen sehr schö nen histo rischen Überblick über die sozialen Funkcio nen d es Geheimnisses in der griechischcn und jüdisch·christlichen Traditio n geben (lie Beiträge in dem Band K1PPI1~ ßERG . Hans G. und Gu)' B. STROUMSA (Hrsg.): Srrmyand Conftalmenl. SJudits ill Ihr Hislory of MtlliJmantan and Nta" EMlrm Rtligions. Leiden et al.: Brill
."
1995. HAßERMAS, Jücgen: Slnlhllnnllldrl drrOjfenJh·thluil. Untersuchungen zu einer Katego rie der bürgerlichen GeseUscha ft. 2. Aufl. Frankfun / ~·I. : Sulukamp 199 1, erSI S. 63, dann S. 117. Vgl. zu den al'rano imptrii 2uch STOU.EIS. Michael: CrsthirhJr dts öjftnJlirhrn RJrhlJ ill DrlllsthJalld. Bd. 1: 1600- 18011 München: Beck 1988; ders.: Slaallind SJaalsrä!oll in Jrr/rUhtll ! rll~iI. Frankfun/ M.: Suhrbmp 1990; J<M..'TORO\lfJCZ, Ernst H .: " M)'steries ofState. An AbsolutiSt Concept am its latc Medic"al Origins." In: Tin Hafl'(Jf(1 Tlnowgital RJtirw 68 (1955), S. 65-91; DONNAWSON, Peter S.: MathüJtlrlli and MysJrry ofStalr. C2mbridge: CUP 1988; die ents prech enden Bcirräge in ENGEL, GiSel2 Klaus REICliERT und Heide WUNDER (Hrsg): Das Grhtimn;s um Brginll dtr tllropäisrbm Modtmt. Frankfurt/ M.: K10 slcrmann 2002. Vgl. AssMANN, A1eida: " Maske - Schweigen - Geheimnis." In: Das Gthtimnis am Bfg;IIII dtr tliropiiisthrn Modtmt. Hrsg. "on G isela Engel, Klaus Reichen lind Heide Wunder. Fnnkfun / ~ t. : Klostermann 2002. DA v ls, Lcnnard J.: FadIlaI FimOlls. Tht On§IIs oJ Jbt EII.!./ish 'o.vl Philadelphia: Uni"ersit), o f Pennsil"2ni:l Press 1996119831 , S. 139.
285
schaften' erprobt. 4s.1 Die o ffensichdic he Differenz zwischen dem bürgerlichen IdeaJ der ,tmalen Publizität' (Kam) und dem Geheimbundwesen ist Gegenstand vieler wisse n· schafdicher Erklärungsversuche gewesen. Es zeichnet sich dabei ein Konsens ab, daß die Geheimbünde al s Vorläufer der bürgerliche n Öffendichkcit au f· zufassen sind, iro nischerwei se " bezeichnete das Geheimnis den sozialen Mög· lichkeitsraum praktizierter AufkJärung",4ßs politisch gesehen sind sie Instfu· mente zur Aus löschung des vormodernen Geheimnisses. Das gilt mutatis murancü s auch für das Geheimnis aJ s gnoseologische Größe. Das neue \XlissenschaftsideaJ einer universaJe n Kenntnis der \Velt, einer lückenlose n Erschließung der \Xlirklichkeir wei st cüe Vorstellung von Verborgenem und Emzogcnem innerhalb der \Velt zurück. Erst jetzt wird I nvisibilität zur Inkommunikabilität im harten Sinne. "Etwas, was seiner Natur nach geheim ist, ist nicht nur unerkennbar; man kann darüber auch nic ht so ko m· munizieren, als o b man es erkannt häne."486 Erst ab jetzt gilt die "U nmöglich keit des N arurge heimnisses und des ErkennmisvorbehaJts".487 \Xlas man nicht beobachten kann, darüber brauc ht man in der W'issenschaft fo rtan nicht zu sprechen. D as prinzipiell Uflerktnnbart wird aus dem Z uständigkeitsbereich der \Xlisse nschaft emfernt und anderen Erk ennrnisweisen zugewiesen, etwa der Religion und ihrer spezifisc hen \Xlissensfo nn, dem Glaubtfl. Bei Locke heißt es (1690): -n lcrc can bc 0 0 c"idcocc, that any ttaditioo:tl Rc"clatio n is of di"inc O rigi nal, in rhe \'\lords \vc rccci"c it, and in the Scnsc \vc undcrsrand it. so d car, and so certain, as that of thc Principlcs of Rcason: And thcrcforc, NOlhing Ihal is (on Irary 10, and infOnSlsltnl JJilh /ht dUlr al/d Stlfmätnl Die/alts of /Vason, l)tu 0 Righl 10 br II'l,nl, or asstnltd 10, as (I J\I!Olltr ofFailh, whrrrin &ason h,lS no/hing 10 do. m
Symptomatisch an Lockes Aussage ist nicht nur, daß das Geheimnis in die Sphäre der religiösen Glaubens ausgelagert (- ausdifferenziert) wird, sondern daß die \Vissenschaft alle Vernunftwahrheiten ihrem eigenen Zuständigkeitsbereich zuschlägt, der Religion nur noch den Bereich des prinzipiell UnerklärDer ,Klassiker' dieser These ist nach wie "ar K OSEJ.J. ECK. Reinhard: Kritik Hnd KnJt. Eint S'IIJit ~r Pa/hol/nm drr bii'1!rlidJtn IYl dl. Fr:rnkfurt/ M.: 1973 [19591. Vgl. auch HÖIX I-IEK. Lucian: Öjftnllirhkni lind Gthtil1lnu. Eint btgriffll,tJrhifhlüht UnltrJlI(hllnl, t!'r En/l/thNn/, dtr Ojftn/lühluil in Jrr jriihtn Ntll~iI. Srungart: KIen 1979 (= Sprache und Geschichte, 4). SCIIINDLER, Narben : "Aufklirung und Geheimnis im lllwninatcno rdcn." In: Gthtil1lt GmllJfhajlrn. H rsg. von Peter Chrisrian Ludz. Heidclbcrg: Lamben Schneider 1979. S. 203-239, hier S. 220. LUI'IMANN, Niklas: "Geheimnis, Zeit und Ewigkeit." In: N. L und )leter Fucus: fVdrn und Sr!Ju't'igtn. 2. AuEl. Frankfurttrvl.: Suhrkamp 199 1,S. 101- 137, hier S. 104, vg l. auch S. 125f. ß LUMEN BERG, Hans: Drr Pro~f der theorttiJ,htn NtHgitnlt. Frankfun / M.: Suhrkamp 1980,
S. 200. 4811
LocKE., J o hn: An EJIlf} unu",in/, HlIl1Ian U"dm/anJinl,. Hrsg. von Peter H . Niddilch.
Oxford: OUP 1975, S. 695f.
286
baren zuweist, und zuletz t sogar den Richtersruhl für diese Aufteilung des \'Visscn s usurpien . Wie immer kontrovers d as im 17. und 18. Jahrhundert noch diskutiert wird, die hier vorgeschlagene Auslösc hung des Geheimnisses in der \'Vissenschaft hat sich zwei fellos durchgesetzt. Kam nimmt den Faden etwa 100 J ahre später auf: Es btibt Geheimnisse, Verborgenhciten (arcana) der Natur, es kann Geheimnisse (Geheimnishalrung, secrcla) der Po litik gebcn. dic nicht öffendich bckann! werden sollen; aber beide können uns doch, so fe rn sie auf empirischen Ursachen beruhen, bekannt werden. I...J in Ansehung. was nur Gon run kann 1... 1, da kann es nur eigendiches, nämlich heiliges Geheimnis (mysteriwn) der Religion gebe n.f3'.l
D emgemäß wird die epistemo logische G röße des vormodernen, ,eigenrlichen' Geheimnisses zum H(jJlenlllll der Religion. Z ugleich überlebt es jedoch in der zunehmend emphati sch verstandenen ,autOno men Kunst'. Die These ist zwar nicht neu;'90 ist jedoch im Ko ntext der letzten Kapitel erklärungsbedürftig, denn wie oben ersichtlich hatte die Literatur in Fonn der extensiven, fiktionalen Sp annungslektüre eine zei tgemäße An twort au f das neue mediemechnolo gi sehe Umfeld ge fund en. Die Revolution der Druckerpresse hatte dabei eine völlige Um schichtung des Le sepublikums hervorge rufen. Info lge der zunehmenden Alphabetisicrung drängten immer neue Leser auf den Markt, was zur Fo lge hatte, daß für diese n expandierend en Markt immer mehr ,Masse' produziert wurde. Die Fo rschung kann plausibel darlegen, daß die Schwelle in Deutschland etwa in den siebziger Jahren des 18. Jahrhunderts anzusiedeln ist.'m Z ugesp itzt kann man behaupten, daß das säkulare Publikum vor diesem Zeitpunk t (vorwiegend G elehne, der Adel und allm ählich auc h das ho he bis mittlere Bürgertum) verh ältni smäßig homogene Erwartungen an die Lesesto ffe steUcen, wo hingegen sich KAt>.'T. Immanuel: Die IVligion ;,merhalb dtr Vorländcr. Hamburg: Mciner 1956, S. 805f.
'"
Grrn~n
dtr bloßen l/emNnft. Hrsg. von Kar!
D ie 111CSC iSI bereits in \'crschicdenen Ko ntexten geäußert wordcn. Dic wohl o rigincllstc Fassung findet sich bei Fucu S. Pcter: " Vom schweigenden Ausflug ins AbstraklC. Zur Ausdifferenzienmg der modcm en Lyrik." In: liklas LU U MA.~N und P. F.: IVdm Nnd S(h.nun. 2. Auf] . Fnmkfun / M.: Suhrkamp 199 1, S. 138· 177, ein Aufs2t2, auf den ich später zurückko mme. Vgl. ferner VOIGTS, l'.b nfred: DaJ gthtimnistlfJl/e V tmh»indtn du CeJximniJJtJ. Ein V mNdJ. Wien: Passagen· Verlag 1995; eine ko mpakte Zusammen fassung bietet ders.: "Thesen " orn Verhältnis " o n Aufkl ärung und Geheimnis." In: SdJltitr lind Sth • .,IIt. Hrsg \'on Aleida und J an Assmann. Bd. 2: Gtbtimnis lind Offinbal'Ung. München: Fink 1998, S. 65-80. D en Zusamm enhang zwischen ,geheim en G esellschaften' und einer ,A sthetisierung des Geheimnisses' wurde kürL:lich neu dargestellt in SIMONIS, Linda: Die 10mst du GthtimM. EsofenJ(ht K.JJmmNnileotion "nd äsfhtlistht DOf'JlellNng im 18. j oIJrh"ndtrl. Heidclbcrg: Winter 2002. Vgl. ebenfalls VOGES, M.ichael: AlljleJiinmg Nnd Gtbtimnis. UnfmN'
dJNngtn iJlr V tr'l!lifllllng LlfJn U ferofllr· Nnd So~algtJ(hi(hfe am Btispitl der Antigllng du GthtimhNnd· lila/mais im Roman d~s spött!l 18. j ehrhNndtrts. Tübinge:l: Niemerer 1987. Vgl. SCUULTE·SASSE, J ochen: Die Kritik an der T n,iolliferofJlr Stil der AJljIeliirNng. SINNen iJlr Gmhithlt de! mOtkmtn KjU(hbtgriffi. Fink: Münc hen 197 1, S. 44ff.
287
danach zunehmend eine Differenzierung einer ,H o hen Literatur' von einer ,Trivialliteratur' mit zwei verschiedenen Lese rschichten und auch Le seweisen abzeichnet. 492 E in sehr früh er Beleg für diese Wahrnehmung findet sic h bei N icolai ( 1773): Die zwanzig ~1illi o n e n Ungelehrte vergelten den 20000 Gelehrten VerachTUng mit Vergessenheit; sie wissen kaum, daß die Gelehrten in der Weh sind. \X'eil nun kein Gelehrter für Ungelehrte schreiben will, und dennoch die ungelehrte Welt so gut ihr Bedürfnis hat, als die gelehrte, so bleibt das Am t für Ungelehrte zu schreiben, endlich den Verfassern der Insel Felsenburg, den Postillenschreibern, und der morali schen Wochenblätter, deren Fähigkeiten den Fähigkeiten der Leser, die sie sieb gewähl t baben, viel genauer entsprechen [... 1.493 Die D ati erung der Schwellenzeit auf die siebziger J ahre wird im übrigen auch scho n wenig später durch Äußeru ngen innerhalb der Lesesucht-D ebatte bestätigt. Bei Hoche heißt es 1794: " Wenn man die Schri fte n ansiehe t, die o hn gefahr seit zwanzig Jahren unter de n Modelese rn graßinen"; bei H cinzmann: " In D eutschland , und darunter vorzüglich in Sachse n und Preussen , welche Provinzen doch für die aufge klärtesten geac htet werden, sind seit dem J ahr 1773, bis zu dem J ahr 1794, also in ein er Zeit von 20 Jahren, nac h einer ganz mäßigen Berechnung 5850 Romane ersc hienen".494 Alle drei zeitgenössischcn Belege verlegen den Überga ng in der Wahrnehmungswei se um 1773/ 1774. Die gesamte ,Revolu tio n des Le sens' erzeugte dabei erstmals einen lukrativen Buchmarkt, dami t jedoc h auch den ncuen T ypus des Be ru fsschri ftstellers, der von dem Ertrag seiner Veröffentlichungen seinen Lebcnsuoterhah finan zierte. D er E rfo lg hing selbsrverständlich von der Hö he und Menge der erziel ten Auflagen ab, weswege n sich viele Auro ren bemühten, die Bedürfni sse ihrer Käufer zu befriedigen (ebenfall s eine E nrwicklwlg, die bi s in die ,Sc hund'-SpiraJe des heutigen Fernsehens und der Orientierung des Programms an den Bedürfnissen der Masse zur E rzeugung m öglichsr hoher Einschaltquoren fo [[läufr).495 Das machte sie in den Augen der Kulturkritik zu bloßen "Geldauto-
m
D agegen hat es den T opos der ,Mengenverachnmg' scho n seit der Anrike gegeben, welche aber eben daraus resultiert, daß nur der Elite von Ij teraten Zugang zum Schriftmm vo rbehalten ist; vgl. Z IUiEL, Edgar. Die EI/IJlthling du GtnidJ(griffu. Eil/ Bli/rag ':{!Ir Ttlun· gtJfhichtt dtr AI/II1et lind du FriihkapiloliJmllJ. Tübingen: Mo hr 1926, S. I 88ff.
~9}
N ICOLAI, Friedrich: Dl1.I ubtn 1I1td die Mlil/llngm du Htrrn MO§Sltr Stbo!dIlJ Nolhol/hr. H rsg. \'on Fri(z Briiggcmann. Leipzig: Reclam 1938 (= Deutsche l.ite rarur (... ) Reihe Aufklärung, Bd. 15), S. 72.
4')4
H OCUE, johann Gonfried: Vtrlmlilt Britfi iibtr dit Jet1fgt obtn/htll(r/irht w eJHrhl lind iibtr dm
Eil/fillß dmtlbtn auf dit Vmllindmmg du hiillJlirhtn lind öffrl/,Iirhrn Gliirk;. Hanno ver: Ritscher 1794, S. 15; HEINZMANN,johann Geo rg: Apptlon mtint N oIIOn. Bem 1795, S. 148. G rundregel der Progranungestaltung ist das UOJI O!?jutionoblt Programming (LO!»; vgl. ScUUMACHER, Marianne: FmlJthtl/ ftmJthtl/. Modtlk dtr Mtditn· lind FemJththeorit. K öln: D uMont 2000, S. 20 1f.
288
ren" : "sie richten sich nach dem herrschen den Ge schmake, und es ist ihnen glekhgiilcig worüber sie sc hreiben, wenn es nur Aufsehen erregt", sie sind "Chamäleonsarcig" und betreiben "FabrikschriftsteUerey"496, Dementsprec hend werfen die Autoren der Lescsucht-Debatte den Ko nsumenten spannender Ro mane auch vor, daß sie ,Schund ' ko nsumieren,4on woraus sich wiederum die Teilung des Lesepublikums ergibt:
Abb, 24: Die Durchsetzung des Buchdrucks bringt zugleich den T }'pus des Schriftstellers hervor, der mü seinen Produkten die Bedürfnisse des Lcsepublikums befriedigt, Dies führt zum Vorwurf der ,Fabrikschriftstellcrci', Kupferstich nach Berggold 1798,
Solche Schriftsteller. die sich selbst gestehen dürfen , daß sie die Ac hrung der Weh verdienen, haben auch ein besseres Publikum al s das sogenanmc grom UJtpllbliklll!l; denn für dieses schreibt die grosse Menge von Allrags-Schriftstellern; - die edlem Su len gehen i!' einer "intm Quelle; - und fur dieses QffJerltJene, obgleich weniger zahlreiche Publikum
H ElNZMANN, J ohann Georg: Apptl an "'tint Nation, S em 1795, S, 148f. Ein Beispiel aus vielen: Die Lcsesüchtigen, so Bergk, lesen in erster Linie ,Schund', .,Die schlechtesten Bücher werden am meisten gelesen und am weitesten verbreitet, und da sie also die meisten Auflagen erleben, so weneifem einige unserer Buchhändler, sich ein ander an schlecl1ter Waare zu übertreffen, wenn sie nur schreiende Farben und groteske Figuren hat. Wielands Agafhon wurde innerhalb mehr als zwanzig Jahren nur einmal aufgelegt, und SpitßtII1 lind Cra",m Romane erleben in wenigen Jahren neue Auflagen, Man kann also dan us sehen, wie wenig jener, und wie sehr diese gelesen werden," BERGK, J o hann Adam: Die Kxn1f, B1ItdNr t!' Imn, Neb1f Btnltr/eJmgen 1Ieber Schriften 1Ind SchrijfJJdltr, J ena: Hempcl 1799, S. 4 14.
289
zu schreiben, sollte wohl die größte Ambition würdiger Männer sern [... 1. Laß es geschehen, lieber Mann, daß du von den Automaten nicht gelesen wirs t.493
In diesem Sinne wird die Rezeption ,hoher Literatur' zunächst einmal zu einem soz ialen Distinktio nsmerkmal aufgebaut. Die Spannungsleser sind wie ,AutOmaten" die Helden der Trivialliteratur sind " Maschinen, die der Verfasser sich drehen läßt wie er Will",499 triviale T exte und Leser sind also gleichermaßen vorhersehbar, wohingegen die ho he Literatur ,unergründlich ' sein wird. \'(1arum rekurriert die ,hohe Literarur' jedoch ausgerechnet au f das unendliche Geheimnis vormoderner Prägung? Dafür gib t es eine andere E rklärung. Ein Problem der Legi timatio n der sich ausdifferenzierenden, spezifischen Kommunikationsweisen von Literarur und Kunst im 18. J ahrhundert war, daß es den verschiedenen Entwürfen der Au fkl ärungsphilosophie nicht gelang, die Kunst auf dem Prinzip der Ratio nalität zu fundieren. 1m Gegenteil wird sie in Anlehnung an Wo lff und Leibniz der ais/hesis, also der sinnlichen Wahrnehmung, zugeschl agen, gehört damit aber zunäch st einmal in die Sphäre der niederen Erkenntnisve rmögen.500 Baumgartens Buchtitel A es/hetica (17501758) als Bezeichnung der wissenschaftlichen Bemühung um das Sc hö ne ist also Programm. D ie Kunst und das Schöne werden au f der Sinnlichkeit und dem Gefühl fundiert und partizipieren demgemäß nicht an der ,reinen Erkenntnis'. Symptomatisch ist Kants Diktum: Scbiin ist, Ipas ohne Begriffgefäll/. Aus der NOt der bloß sinnlic hen Erkenntni s wird selbst Kant eine Tugend mac hen, indem er den Aspekt der fo rmalen Unbestimmbarkeit des Äs th etischen zu einer Q uali tät des Uns(1gb(1ren aufbaut, die dem genui n theologisc hen Ko nzep r der Unergründlichkei t zumindest äh nel e Unter einer ästhetischen Idee aber verstehe ich diejenige Vorstell ung der Einbildungskraft, die viel zu denken veranlaßt, o hne daß ihr doch irgend ein bestimmter Gedanke, d. i. ein Brgriff, adäquat sein kann, die folglic h keine Sprache völlig erreicht und verständlich machen kann. [... J die ästheti sche Idee [...1 ist
HEiNZMANN,Johann Georg: Apptl an mrillt 1'\.'01;011. Bem t 795, S. 109. H OCHE, Jo hann Gou fried: V trtraufe Bnifr ülNr dir jt/iJl,t abentJJtutrlidJt U JUurhf lind ülNr tiM
Einfluß timt/ben auf dit Vmnindtnmg du hiillslirlNn lind öffintfirhm GIÜrks. H anno\'er: Ritscher 1794, erst S. 49. ~
290
Selbst\'erständlich mangelt es nicht an Versu~hen, dieses Manko zu beheben oder gar ,aufzuheben', am bekanntesten sind Schillers A .JfhetisdJt Bdtft und sein D iknun "Schö nheit ist Freiheit in der Erscheinung" (SCHI ll..ER, Friedrich: Sii11ltJidJt IFtrke. Bd. 1-5. 8. Aufl D armstadt: Wiss. Buchges. 1987. Bd. 5: E'iJihlulIgrn. Thtorr!irrhe Srhriftrn, S. 4(0); seine Lösung erweist sich als ebenso unbefriedigend wie schon der Ausgangspunkt, Kanl S Kn·,ik dtr UmiJs/erajt, als Versuch einer Aussöhnung von Pragma und Theorie, \'on Narur und Freiheit . Vgl. zur Ästhetik als ,...Desiderat der G noseologie" auch ADLER, Hans: Die Prögnonz du Dllnkeln. GnoJeologit, Allhetile, GtJ(hirhlsphik)Jophit bti johanl/ GOltfdtd Hmlrr. Hamburg: Meiner 1990, S. 1-48.
eine Vorstellung (... 1, die (...] zu einem Begriffe viel Unnennbares hinzudenken läßt und mit Sprache, als bloßem Buchstaben, Geist verbindet. 5O]
Diese Ausführungen zur Unsagbarkeit und Unausschöpflichkeit der Kunst, die Kam im übrigen in enge r Anbindung an den Begriff des Genies [VI. 2] entwickelt, lassen zugleich durchscheinen, daß es auch um eine Differenz der Rezeptionsweisen geht, denn im Ko nte xt des Geheilllnisses der Kunst taucht plötz lich die henneneutische paulinische Unterscheidung zwischen Buchstabe und Geist auf [IV. 1) . Das Geheimnis der Kunst, ihre Unausschöpflichkeit, konstituiert sich also durch einen sel/sus spin'/ualis hinter dem bloßen Buchstaben - das erinnert an die augustinische Lektüre der Tiefe. T atsäc hlich wird diese an der Bibel entwikkelte Rezeptionsweise am Ende des 18. Jahrhunderts auf literari sche Texte umgeleitet, wofür die programmatischen und einflußreichen Schriften von Hamann und Herder Pate stehen können. D eren rezeptionstheoretische Innovation ist ebenso einfach wie brillant. Beide übernehmen die rationalistische Unterscheidung von Vernunft und Sinnlichkeit, verkehren jedoch die Wertigkeit, indem sie (im Rückgriff auf empfindsam-pieti stisc he Gemeinplätze) die ElllpfinduNg, das Gifijhl als ursprünglich, unmittelbar und authe ntisch gegenübe r der Ratio pritnlegieren und - das erinnert an Augustinus - die Unterscheidung innen / außen akzentuieren. Von diesem Standpunkt aus leiten sie die an der Heiligen Schrift erp robte Lektiire der Tiefe auf poetische T exte dadurch um, daß sie behaupten, daß Bibel lind Poesie ein und derselben Textgattung angehö ren, daß also etwa der ß ibeltext den Ursprung der Poesie darstelle, und daß Kunstschöpfung analog zur göttlichen Sc höpfung zu sehen sei G, lndem er [der Schöpferl aUes nennt [... 1 wird er Nachahmer der Gottheit, der zwei te Sc höpfer, also auch poiettS, Dichter. [...) das Wesen der Dichtkunst [...] [ist] Nachalunung der scha ffende n, nennenden Gottheit"sol . So kann die I1k/iire der Tiefe, welche hinter den Buchstaben den geisfigen Sinn ermittelt, für Bibel und Poesie gleichennaßen zur Geis/hermeneutik [IV. 2] modelliert werden. Aus dieser Sicht ist hinrer der meclialen Buchstabenhülle der Geist ihres Verfassers verborgen (im übrigen die geheifflnisllolle Lesart der N achahfflung des SubJ,k!s [11. 7)). Das gilt für die Bibel G,Wer Augen hat, zu sehn, und eine Seele, was Geist, was Charakter in einer Schrift ist, zu fühlen; wird Zug für Z ug Johannes Geist in seiner Offe nbarung finden" so1 ebenso wie für Dichtung KANT, Immanuel: Kritile dtr UrttilJlerajt. Hrsg. von Kar! Vorländer. Hamburg: Meiner 1990 (= Philosophische Bibliothek 39a), S. 169 und S. 17 1. HERDER, Johann G oufricd: SömnlllidN lf7trke. Bd. 1-31. Hrsg. von Bemhard Suphan. Berlin: Weidmannscne Buchhandlung 1877 ff. Bd. 12, S. 7 I Vom Geisl ,ltr Ebröisdxn Poesie (1783)J. HERDER, Johann Gonfried: Sömm"irht lf7trle.t. Bd. 1-3 1. Hrsg. von Bernhard Suphan. Berlin: Weidmannsehe Buchhandlung 1877 ff. Bd. 9, S. 278 IMARA1\J ATHA. Das Buch von der Z ukunft des Herrn, des NeueIl T estaments Siegel (1779)1.
291
(.. D en Geist Ho raz, Homers, Sophokles, P lato lasse ich aus wen Schriften auf mich wirke n: sie sprechen zu mir, sie singen, sie lehren mich: ich bin um sie, lese in ihr Herz, in ihre Seele<eS(4). So wird jetzt die Oberfläche, der ,A usdruck' der Dichtung, anaJog zur Heiligen Schrift, zum Ve hikel eines dahinter liegenden InhaJts, und das ist dann die E nlpjifldltflg, das Gifiihl, der Geisl, die Seele und so fo rt: "der Gedanke Imuß] zum Ausdrucke sich verhalten [...] wie die Seele zum Kö rper , den sie bewoh net: und so ists für den Dichter. E r soll E mpfindungen ausdrucken".505 D abei wird die gesamte Top ik der christlic hen Lekliire der Tiefe überno mmen : Innen / Außen, Seele / K örper, Kern/ Sc hale, und so weiter. Und es fi nde n sich weitere E ntlehnungen aus der christlichen Leklüre der Tiefe. So eignen sich H amann und H erder auch das Ko nzept einer ,himer' den \'V'orten verbo rgenen Universalsprache an, die aUe Kommunikatio nsteilnehmer verstehen (Hamann: " Reden ist übersetzen - aus einer E ngelsprache in ein e Men schensprache"; H erder: "Es giebt eine Symbolik , die aUen Mensc hen gemein i s {,<e~. Außerdem wird der verborgene geistige Sinn nich t nur in die Tiefe der Sc hrift projiziert, sondern, ähnlich wie bei Augustinus, auf aUe Dinge der Schö pfung hin uni ver sali sierr [III. 3/7): Der h.ieroglyphische Adam ist die Historie des ganzen Geschlechts im symbolisc hen Rade: - - der Charakter der Eva, das Original zur schönen Natur und systematischen Ökonomie, die nicht nach methodischer Heiligkeit auf dem Stirnbl:m geschrieben steht; sondern unte n in der Erde gebildet wird , und in den Eingeweiden, - in den Nie ren der Sachen selbst, verborgen liegt. 507 Z uJetzt simuliert der Gestus ihrer Texte die Erregtheit der prophetische n Offe nbarung, sie verfügen über den rätselhaften Aspekt des ,Ge nialischen'. D as Gef/i~ [VI. 2] ist ein Ko nzept, das scho n Lessing gegen dje klassizistische Regelpoe tik ins Feld führt, auch KlopstOc k wende r sich ab von dem geJeluten Dichte r (poeta dOllIlS) und steUt dagegen das Genie als Seher (poelo !ltlles). Bei H ERnER, J ohann Gortfricd: Sä",""lirh, II7,rkt. Bd. 1-3 1. Hrsg. " o n ßc rnhard Suphan. Be rlin: Weidmannsche Buchhand lung 1877 ff. Bd. 10, S. 146 [Bn·r.ft, daJ S/HdiHIII drrTbrolcgir brfrrJfond (1780/ 85), Brief 9[. HERnER, Jo hann Gon fricd: Sä",,,,,lifbr Wtrkl. Bd. 1·31. Hrsg. von Bcrnhard Suphan. Bedin: Wcidmannschc Buchhandllillg 1877ff. Bd. 1, S. 394 [Uebtr dit ntlltTt dtHfsrhe U llrra· IHr. Eint Btilagr, dir nmu/e U fftra/Nr brtrtffind (11766/ 67); 3. SammJung]. 1·IMoLANN, J ohann Gcorg: SokTtlliJrbe J)rnk»·ürdigktiltn. Anl!Jttira in nllrr. Srurtgan : Rcdam 1998, S. 87; H ERnER,Jo hann Gortfricd: SönllJlt/ir!Jt If'rrkt. Bd. 1-3 1. Hrsg. \'on Bcrnhard Suphan. Bertin: Wcidmannsche Buchhandlung 1877ff. Bd:,,; S. 13 [Utbrr dit ntlltn DtNfsr!Jt LilltralNr. Frag",ente (1768» ) HMoLANN, J o hann Gcorg: Sole.rafüdN Dtnbiirdigkrifen. A tJfbrtira in nHU. Stuttgan: Rcdam
1998, S. 93. SOlI
Vgl. auch SCHMIDT. J ochen: Dir Gnrbirb't dn Gmir-Gedanktn! in der drHfsrhen LiltTtlfllT, Philosophie Hnd Politile (1750· 1945). Bd. 1-2 Darmstadt: Wiss. Buchgcs. 1988. ß d. 1: Von fltr
AHjleliinmg bi! iII'" Idtaüs",HJ.
292
Hamann ist der genialisch-kryptische Gestus ebenfalls ein Kontrapunkt zur aufklärerischen Vernunftdoktrin ; hier liegt ein wichtiger zeitgenössischer Ausgangspunkt der Legitimation halbwahnsinniger Genies und dem unendlichen Geheimnis ihres trunkenen StammeIn s. \X1ar vorher die Ko mmunikatio nsweise der emphatisch-unverständlichen ,Prophetie' de r Domäne der religiösen Offenbarung göttlichen Geistes vorbehal ten [IV. 2], so läßt sich ab jetzt ästhetische Unverständlichkeit als besondere Q ualität einer quasi-proph etischen Inspiratio n vennarkten, die dann nur den begnadeten Rezipienten der ,ho hen Kunst' zugänglich ist - b is heute. D as Schwierige konturiert sich jetzt in der Kun st als O bjekt der Faszinatio n. Vor allem Hamanns esmerische Texte gehö ren zu den schwierigsten Texten der Weltlüeratur überhaupt, seine A esthetica in nuce nennt sich im Unterti tel Rhapsodie in kabbalistischer Prose, und beginnt mit einem Ho raz-Zitat, das den E in Hiltigen den E inlaß in die Schrift verwehren so ll: "Odj profanum vulgus & arceo" (,Hinweg, unheilige r p öbel').S09 Hamann und Herdcr markieren frühe Vorstufen , das Geheimnis, die Tiefe, das Schwierige und Esmerische als ,besondere Q ualitäten' einer ,ho hen literatur' od er ,Ästhetik' zu lancieren. Wichtig ist, daß zu dieser Zeit die Lektüre des Geheimnisses und die Lektüre der r fhnlichkeil jedoch noch ko nvergieren; ein Befund, der nicht fü r nur Hcrder und Hamann, sondern auch für viele andere Theoretiker des 18. Jahrhunderts zutrifft. Ein typisches Beispiel ist die zei tgenössische Auffass ung von der Hieroglyphe: Sie ist Geheimnis und Bild zugleich.s1o Selbst Hamanns Esoterik behauptet, das Geheimnis sei immer zugleich anschaulich. Be kannt ist fo lgende Passage über die Entzifferung des Sinns hinter der O ber nächc der Schöp fu ng (also ganz analog zu Augustinus): " Rede, daß ich Dich sehe! - Dieser Wunsch wurde durch die Schöpfung erfüllt [...]".Sl1 D iese Konvergenz von Geheimnis und Ähnlichkeit entspricht auf ein er anderen Ebene erwa dem Befund bei der Mecapher, die auch rätselhaft [111.2] und anschaulich-bildlich [11. 3] zugleich iSt. E in anderer Herold einer durch Schwierigkeit geadelten ,hohen Kunst' ist Mo ritz, der den Aspekt des hinter den Buchstaben verborgenen Autor-Geists übernimmt, welcher dann vom Rezipienten, ähnlich wie bei Hamann/ He[der, durch Einfühlung decodiert wird [VI. 3] . Mo ritz er.teugt das Geheimnis des
H AMANN, J ohann Gcorg: So!erafüdJt Dtnku-iird;gluittn. A Ufmfita in nNft. Srungan: Red am , 1998, S. 81; ganz ähnlich esoterisch geben sich die "Sokratischen Denkwürdigkeiten": ..An das Publicum, oder, Niemand. den Kundbaren" (S. 1). ! IO
'n
D ie VOCSlCUung der Hieroglyphe durchzieht das ästhetische Schrifttum und wird o ft, aber nicht immer im Sinne einer zugleich iihn/ithtn, "';~selhafilnJ Nnf11illelhartn und NrsfJriinglithtn Signiflkation vemanden. Vgl. u. a. die D iskussio n der Ro usseauschen Hieroglyphe in D ERRlDA, J acques: Grof11f11aloloie. Übers. von Hans-J ö rg Rhcinberger und Hanns Zischler. Frankfun / t\·I.: Suhrkamp 1994 [1967]. S. 407 f. Que1len bclege werden in der fortlaufenden Argumentatio n immer \\fieder zitien . HAMANN, J ohann G eorg: Sok ratische DtnlewiirJiglerilln. AesJmJita in 1998, S. 87.
ml tl.
Sruttgan: Redam
293
Kunstwerks vor allem durch Figurationen der [n/mnsitivilii/ (er prägt bekanntlich die Wendung des in sicb se/bs/ vollende/en IVmshverks) und wird damit zu einem wichtigen Botschafter der äs theti schen A II/onomie: Die Narur des Schönen besteht ja eben darinn, daß sein innres Wesen ausser den Gesetzen der Denkkraft, in seiner Entstehung, in seinem eigenen Werden liegt. Eben darum, weil die Denkkraft beim Schönen nicht mehr fragen kann, warum es schön sey? ist es schö n. Denn es mangelt der Denkkraft völlig an einem Vtrgleichungipllnkie, wornach sie das Schöne beurnheilen, und beachten könnte. [...1Das Schöne kann daher nicht erkannt, es muß hervorgebracht oder empfunden werden. SI!
Dem Geheimnis des Kunstwerks korreliert dann die G röße des Genies, und zwar sowohl auf der Ebene der Produktion als auch auf seiten der Rezep/ion. Das Genie kann Kunstwerke hersteUen, weil es einerseits eine Unendlichkei/ umfaßt (" Der Horizont der thätigen Kraft aber muß bei dem Ge nie so weil, IIne die NO/llr selber, seyn''), zugleich muß das Genie das ,dunkel geahndete Ganze' der Kunstgegenstands über die paradoxe Figur der ln transitivität, der Selbs/begründllng herstellen, muß es "n(lch sicb selber, (I/IJ sich selber bilden". Das hat zur Folge, daß nur das Genie das unendliche Geheimnis des geniale n Kun stwerks ergründen kann: ..Allein da unser höc hster Genuß des Schönen dennoch das l17erden desselben alls IIIISfl!r eigenen Kraft unmöglich mit sich fassen kann - so bleibt der einzige höchste Genuß dessel ben immer dem scha ffe nden Ge nie, das es hervorbringt, seJber".5IJ Die Anlehnungen an das götdiche Ge heim ni s sind überd eutlich: Unendlichkei/ Go ttes, Selbs/begritndlmg Gottes, sowie de r Aspekt der Kongeniali/iü [IV. 2]: Nur, wer vom Geist beseel t ist, versteht dann auch den Geist, den senJIIs spin'/llo/is, hinter dem Buchstaben - in der Ergriindung des geistlichen Sinnes verstand auch GOrt in letzter Ko nsequenz sich selbst [111. 2] . Aus diesen Dispositio nen wird sich im Verlauf von mehreren Jahrzehnten die romantische Auffassung entwickeln, in der das Ge heimnis geradezu zum Prinzip einer unergrit"dlichen Poesie wird [111.8] . Wie sich die einzelnen Verästelungen dieser diskursiven Verschiebungen in der literarischen Praxis niem
M ORITZ. Kad Philipp: Bti/räge Zflr Ai/«h·i!.. Hrsg. von Hans Joachim Schrimpf und Hans
Adler. tl.hinz: Diererich 1989. S. 51f. ("Ober die bildende Nachahmung des Schönen'1- Für Moritz gilt im übrigen dasselbe wie oben fur Hamann und Hcrder. Das Kunstwerk ist Geheimnis ""d Zflgln'rh anschauliche Klarheit; "gI. auch die Besprechung im Abschnitt ,D ie Nachahmung d~ Subjekts' [11. 7]. sn
M ORlr.l. Karl Philipp: Btilräge Zflr Ai/heh·i!.. H rsg. von H ans Joachim Schrimpf und H ans
Adler. Mainz: D ieterich 1989, in der zitierten Reihenfolge S. 48. S. 49. S. 51 II.Ober die bildende Nachahmung des Schönen«l. Auch die Kongenialität ist Gemeinplatz; ein weiteres Beispiel aus vielen: "jedes einzelne Kunstwerk [kann] nur durch dasselbe G efuhl , von dem es hervorgebracht ward, erfaßt und innedich begriffen werden"; WACKENRODER. Wilhelm Heinrich: S/im/lirht Werkt lind Bntft. HiJlonJrh·len'tiJrhe ANJgObt. Hrsg. von Silvio Vietta und Richard Littlejohns. Heidelberg. Winter 199 1 Bei. I , S. 219 L,Phantasien über die Kunst'l
294
derschlage n und dann ,um 1800' das Geheimnis514 im Geiste der auto nomen Kunst wiedergebo ren wird, läßt sich schön an Goethes Langzeitprojekt illustrieren, an dem er etwa 60 Jahre gearbeitet hat, dem Famf. Es scheint zunächst einleuchtend, daß sich der FauststOff zu der Zeit, als Goethe ihn als etwa 23-jähriger aufgriff, durch seine RiitselhaJtigkei! empfahl. E r ist Ende des 18. Jahrhunderts ein Archaismus, spielt im dunklen, gotischen Spärmittelalter, verfügt über Z üge des Dunklen, Düsteren, Dämo nischen. S15 D as darf jedoch nicht zu vorschnellen Schlüssen verleiten, denn genau dadurch gerät der StOff zunächst einmal in eine (im Nachhinein:) gefahrliehe Nähe zur ex tensiven Unterhaltungslite rarur der unglaublichen Begebenheiten. Das gilt um so mehr, als der Ur/alls! etwa 1773- 1775 entstanden ist,516 also zu einer Zeit, in welcher man überhaupt erst begann, Überlegungen hinsichdich der trivialen Massenliteratur anzustellen. Zwar gab es zu allen Zeiten leichte und schwere Texte, und auch über Geschmack ließ sich seit jeher streiten; dennoch brauchten sich Künstler um 1774 noch nicht für Auflagenerfolge und Popularität zu schämen. D em entspricht, daß Goethe in dieser Zeit ein Nachwuchsschri ftstell er war, der sich noch nicht sc heute, den Publikumsgeschmack zu treffen. Aus diesem Blichvinkel verfügt auch der Ur/alls! durchaus über Aspekte, die zeigen, wie genau Goethe die Bedürfnisse des Publikums erspÜtte. Zunächst einmal ser-Lr der UifallSf das erfolgsträchtige Schreibprogramm des Srurm und Drang (Gefühl , Genie, Natur) fon , das auch IPerl"" (1774) und GbiZ von Ber/ichingen (U raufführung: t 4. 4. t 774) zu sensationellen Publikumserfo lgen ge-
,.
,,.
Vgl. zwn Gthtimmi bei Gocthe vor allem d ie Monographie MEHRA. Marlis Helena: Dit &dtJlllmg dtr Formt! ,Offinbam GtmimniJ' in G~/hes Spiitwrrk. Snmgan: Heinz 1982. die alle rdings P(luSI nicht berücksichtigt. Eine ko mpakte Z usarrunenfassung fIndel sich in dies.: " Gocthes Altersfonnel ,O ffenbares Geheimnis'." In: ZtiJHhriji jiir dtulschtn PhlJomgit 98 (1979), S. 177-201; vgl. außerdem LoRENZ, Ono: " Verschwiegenheit. Z wn GeheimnisMotiv der ,Rö mischen Elegien.'" In: j ohann l17o!fgang G~/he. Sonderband Tex! & Kritik. Hrsg. von Heinz Ludwig Am old. München: edition text & keitik 1982, S. 130-152. Einen Versuch d er D ifferenzierung zwischen ,Geheimnis' und ,Rätsel' bielel HÖRJSCH. j ochen: Dit andere Goelhetfit. Poetische Mobilm(lchung du SNbjeleJs Nm 1800. München: Fink 1992, S. 172- 190; vgl. zum Ra"fsel bei Goethe t>.1xn·HAEl, Rupprecht: " Ein Logogriph als Glied der großen Konfession Goerhes." In: Goelhe-j(lhrbJlrb 28 (1966). S. 50-66. Einen motivgeschichtlichen Überblick bietet I-lARTLAUB, GUSlav F.: ..Goethe als Alchemisc." In: Euphorion 48 (1954). S. 19-40. In den G esp rächen mir Eckennann heißr es: ...Der Faust entstand mit meinem Wenhcr; ich brachte ihn im J ahre 1775 mil nach Weimar.'" GOETHE. Johann Wolfgang: Gtdtn/eaNsg(lbe dtr IY/trkt, Briift und Gupräfhe. Hrsg. von Ernst Beud er. Bei. 1-24. Zürich: Anemis 1949. Bd. 24: j ohann Pelrr E f/em1lann. Gupräche "li! Gorlhe in den letzten jahnn stints Lebens, S. 3 11. Vgl. zur Entstehung u. a. GRUMACH, E m sr: " Zwn Urfausr." In: j(lhrlJuch rkr GOfIINGml4chaft NF 16 (1954). S. 135-143; REIO I. Hclgard: Die EntstthNng dtr mIm fiinf S:c!"en du G~tI)tSchen , UifaJls/~ München: Fink 1968. NOu...ENDORFS, Valter: V tr Slmt Nm den Uifausl. The Hague. Paris: Mo mon 1967; hier wurde behauprer. G oethe habe an zwei Werken gearbeirer, einem ,Faust' und einem ,Urfaust'; dagegen wendet sich SCHEIBE. Siegfried: " Bemerku ngen zur Entsrehungsgeschichte des frühen .Faust'." In: G~/he-jahrbuch 32 (1970). S. 61-7 1; vg!. ferner r-.1ASON, Eudo Goethe's PausJ. lls Gmesis and P"'fXJrl. Berke ley. Los Angcles 1967, S. 39-91.
c.:
295
macht hatte. Die spätmittelalterliche, düstere, go ti sche Szenerie des Stücks positioniert sich durc haus in das Gravüacionsfeld des Erfolgsmodells der Volks- und Schauerliterarur. Ähnliches gil t in übrigen für die Gretchemragödie, die zur Zei t ihrer Entstehung zunächst einmal genußvoli das kassenschlagerverdächtige Motiv der ,verführten Unschuld ', hier in der Facette der ,Kindsmörderin', ausschlachtet. sn Und zuletz t sind Szenen wie ,A uerbachs Keller' al s komödianti sche Einlagen klar der Unte rh altung des Publikums gewidmet. Im Kontext der zeitgenössischen Rezeptionsweisen empfiehlt sich der Fauststoff zunächst einmal für I1ktiiren der SpannJing. Dieser Befund wird noch verstärkt, wenn man den Aspekt der Fiktiono/itäl hinzuzieht. Waren Fausts Zaubereien 1587 noch als wahre Historio verkauft worden, ist der Stoff einem au fgeklärten Publikum ein Arc haismus, ist die Viel zahl übernatürlicher Motive, etwa Beschwörungen, Magie, Hexerei, Zauberspiegel und so fon, nur noch fiktional decodierbar, droht dann aber unversehens zum unterhaltenden Schauerstück zu mutieren. Wie läßt sich vo r einem aufgeklärten Publikum überhaupt eine Gespenstergeschichte im Dunst vo n Aberglauben und D ämonie legitimieren, die von einern Gaukler und Magier handelt, der Beschwörungen und Zaubereien durchführt und dabei seine Seele au sgerechn et dem Teufel verschreibt518 - und zwar nicht al s j abllla, sprich, Puppenspiel, nicht als Schauerliterarur, und auch nicht al s volkstümlich-komödiantische ,Höllengeschichte' (wie etwa Maler Müllers FaJlsts I1ben von t 778), sondern als ,e rn ste', in Verse gegossene Litemt,,2 Diese Problemko nstellation erhellt die Schwierigkeit von Goethes ,ernstem' Faust und erklärt die Langwierigkeit des Projekts, in de ssen Verlauf der Tex t zunehmend ästhetisiert wurde. Ve rmu tlich ist scho n das überlieferte Ma nuskript des UifOllSt eine bereinigte Fassung, denn zeitgenössische Belege zu Goethes Vorlesungen aus seinen frühesten Fausrmanuskripren in den Jahren t 774/ 1775 berichten von einem ungestümen Helden ("Paradirt sich drauf als D onor Faust / D aß'm Teufel selber vor ihm graußt'j, der noch wilder zu sein scheint al s der des Uifallst. Wieland berichtet von einer Gefangnisszene, "wo Faust so wü thend wird, daß er selbst den Mcphisrophcles erschreckt"; und zuletz t findet sich bei Böttiger eine Notiz, rue vorgelesene "Wolluscsccnen" bezeugt.sl9 E s gibt also durchaus Inruzien dafür, daß schon das erhahene Ur sn
Vgl. SCHMIDT, J ochen: GMllNs FallsI. Ersltr lind ~/tr Ttil Grundloyn, IVtrk, IVirkung. t-,'Iünchen: Beck 1999, S. l SOf.
SIS
Auch Schmidr sieht diese Schwierigkeit: Vgl. SCm,uDT, Jochen: GMlho Fallst. Ersttr 111/(1 ~iltr Ttil Grund/agtn, lf7trk, lf7irkung. München: Beck 1999, S. 42f.; Schmidt geht in diesem Zusammenhang besonders auf die ,Psycho logisierung' des T eufels ein.
m
Vgl. dazu GRUfo,IACI'I , Ernst: "Zum Urfaust." In: Jahrbll(h dtr Gottht-Gm /lJehaft N F 16 (1954), S. 135-143, hier S. 136-138.Vgl. ferner MASON, Eudo GMlhel I--"'ollsl. Ils Genesis and Pllrport. Berkeley, Los Angeles 1967, S. 39-91. Bei den m eisten früheren Arbeiten geht es um die Frage nach der ,Einheit' der Fauslkonzeption, die ich hier nicht berücksichtige; vgl. etwa MAlER, H ans Albert: .,G octhes Phantasiearbeit am Fauststoff im J ahre 177 1." In: PllbliclJlions of IIN Mot/t,." Langllage A SJoa'ahon 67 (1952), S. 125-146, hier S. 130; vgl. E pPELSI-lEIMER, Rudolf: GotJhtJ FallJt. DaJ Dra11la i11l Doppe/Trieh. Verlllth einir Dilllllng i11l GdJle du
296
c.:
fills/- Manuskript eine abgeschwächte, zumindest aber '1uanritariv bereinigte Fassun g eines Textes ist, dessen Ursprung das Kräftefeld einer Hö llen- und Mo rdgeschichte noc h keineswegs hinter sich gelassen harte. Als solche blieb der T ext Skizze, erst 1790 verö ffentlichte Goethe Falls/ als Fragment (welch es Leser bezeichnende rweise noch durch seinen ,Bänkelsängerton' befremdete s2fr Tnlgjidie drilltr Theil Flksimile-Nachdruck Hildesheirn: Olms t 963, S. 7.
Ebd., S. 26 und S. 28.
313
mert. Fallst ist danach zugleich das erSte K1mstgeheifllnü als auch der e rste LitemtllnlJüsensehtiftler. Während sich die Theologen fortan um den schwindenden Rest des realen Ge heimnisses des göttlichen Autors in der Welt kümmern , ob liegen dem Literaturwissenschafcler fortan diegefllachlen Geheimnisse IOJergriindlieher Kunstwerke: Er mthüll t das, was das ,Genie' zuvor verhüllt hat. 570
7. Exkurs: D er sprechende Kosmos, 2 (NOV ALlS)
An diese r Stelle gilt es, eine n Strang wieder aufzugreifen, der oben bereits ausgelegt wurde und der hier lediglich einer kurzen Ergänzung bedarf. Es konnte zunächst gezeigt werden, daß die mittelaherliehe lJk/iire der Tiife und ihre Lesetechnik der Allegorese nicht auf die Rezeption von T ex/en beschränkt war, sondern daß sie eine geradezu universale, kosmische Dimension annimmt: jeder Gege nstand der Welt kann der divinatio als Au sgangspunkt dienen, die Welt ist lesbar ,wie ein Buch', wenn man sich darauf versteht, die Signaturen zu dechiffrieren [111. 3]. Dieses Prinzip einer kosmischen Sympathie ge rät nach Foucault gegen Ende der Renai ssance, im 17. jahrhundert, zunehmend ins \YJanken . Info lge der Aufklärung wird die LektÜre der Divination diejenige des Irren, und das Zeitsymbo l einer solchen D ysfunktion ist Don Qllixote, de r ständig universale Sinnzusamme nhänge in seine banale Lebenswirklichkcir hinein phantasiert. N un ist Faust, wie oben ersichcli ch, ebe nfaUs ein Lese r de r Signaturen, und dies im Gege nsa tz zu D o n Quixote kaum in einem läc herli chen, sondern in einem sehr emphatisc hen Sinne. Wie ist das zu verstehen? Tatsächlich ist die Divination zu keiner Zei t verschwunden, ganz im Gege nteil verwandelt sie sich im Augenblick ihrer zunehmenden Erosion in Litera/ur. Scho n Foucault bemerkt eher marginal, daß die "tiefe Zusamme ngehörigkeit von Sprache und \YJelt" die Reorganisation des \YJissens am Ende des 16. jahrhunderts in einer ,Literatur' überlebt, die "das \Viedererscheinen des lebendigen Seins der Sprache dorr offenbart, wo man es nicht erwartet härte." Die ,Uterarur' hat einen "Gegendiskurs" gebilde t, "indem sie so von der repräsentati ven oder bedeutenden Funktion der Sprache zu jenem rohen Sein zuruckging".571 Die Kreiszeichen der divina/io, welche dem histori schen Faus t noch als ein probates Erkenntnismirrel gedient haben dürften , verwandeln
570
Wenn )(jeder Fausl liesl als Koinzidenz des Beginns der deUlschen Dichnmg und Beginn einer htrmmtNfiJe/un L..tJ:Jiirt, dann trifft das im wesentlichen denselben Sachvcrhalt, nur daß es sich dabei eben wn die Einführung der hermencutischen Rezep tionsweise in einen von nun an genuin h"'trarüe/un Texlcorpus handeli. Vgl. KJTI1.ER, Friedrich: ANjsehrtiblSYJI"'Jt (1800 / 1900).3. Aufl. München : Fink 1995, S. 11 -30.
'"
FOUCAULT, M.ichel: Die OnlnNng dir Dingt. Eine Archäologie der I-IlImamuJ$(nJ(hafttn. Frank-
314
fun / M.,Sulukomp 1993 [1966]. S. 75f.
sich im Verlauf der Aufklärung in ein literarisches k lol;v. Dieses Überleben der Divinatio n in der fiktio nalen \Velt der Literatur erkJärt fe rner die erstaunliche T atsache, daß man in literarischen Lektüren etwa Anred en des Mondes hinnimmt, also die Dom äne des Ästheti schen von der Empirie freihält; .. \Vir en eilen Gedichten die poetische Lizen z, die Landschaft al s beseelt zu deuten - mit trauernden \'Väldern, liebenden Blumen, tröstenden Gestirn en- , als wären wir auf der Kulturstufe des Animismus stehengeblieben."572 Die emphatische Lektüre des Buches der Natur als der O ffenbarung ein es Tiefensinns überlebt also die ,Säkularisation" indem sie zur Spezialtechnik ein er ,besonderen' Textga ttung wird. \Vährend die Lesbarkeit der Schöp fung etwa in der Con/;nllatio des obenlheuer!;chen S;mplidss;n/; G rimmeIshausens (1669) noch explizit auf das allgemeine o ntotheologische ModeU der Buchmetapher rekurrien,57J läßt sich bei Brockes bereits eine ,Literarisierung' der Di vination erkennen. Spätestens bei G oeche scheint dieser Vo rgang abgeschlossen zu sein (.. Les characteres de la N ature so nt grands er beaux et je pretend s gu'ils SO llt to us lisibles'').574 Ein Effekt dieser Transrnutation ist etwa die literarische Lmdschafi, eine Steuerungsgröße, die bis heute unseren Medienko nsum reguliert. Um es einmal ganz plakativ darzustellen: Ein schlimmes Unwe n er erscheint der Vormoderne als verknüp ft mit dem kosmischen Sinnzusammenhang, es isr lesbar al s unmi n clbare Botschaft (zum Beispiel ,Gon es Zo rnl 575 Im Zeitalter der Repräse ntation wäre ei ne so lch e Auffassung Abetglallbe - mit einer Ausnahme, und zwar in der Literatur. I-tier werdcn Unwetter weitcrhin unbelrn unmittelbare Botschafte n darstellen, etwa des drohenden Unheil s. D as gilt crsraunli cherweise bis zum heutigen Tlmller. Mit Ein tritt des G ewitters ,ahnen' wir zugleich, daß jetzt der schreckliche Showdown hereinbrechen wird, und zwar obwo hl wir im alltäglichen Leben eine solche Auffassung zurückweisen würsn S1)
SOIl..AFFER, !-I cmz: Pouit "nd 1~'iSJtn. Dü E nwthllng du iiJlhtlürhtn ßtN'Nßu,;nJ lind dtr philol6fjJrhtn Erktnnlms. Frankfun / M.: Suh rka mp 1990, S. 95. " D cmn ach ich aber 1... ] von einem hciligcn Mann gelcsen / daß cr gcsagt / dic gantzc weitC Wclt sc)' ihm cin grosses Buch / d arin ncn er dic Wundcrwerckc GOttCS erkcnncn: und zu dcssen Lob angcfrischt wcrdcn möchte [... ] d ie kJeine J nsul mustc mir die gantze Wch seyn;;; GRJ;\lME I..5HAUSI!.'-l: Der oben/hr"mühe SimplitisJimNs TiNlsrh Nnd Contiml(ztio du (l!NnlhtNrlitben Simplitimmi. I-I rsg. \'on Ra lf T arot. T übingcn: N icmc)'cr 1967, S. 568.
11~
D icse Außcrung G oethes an C har10 u c \-on Stein zicien Blumcnbc.rg und lcgt sie wie fo lgt aus: .. Im Ausdruck ,Charaktete' ist für Goeme und seine Zeitgenossen noch ein magischcr Hintcrgrund wahrneh mbar, dic Aufladung mil der Bed eu rung einer dem Wesen d er D inge unmittelbar A usdruc k verschaffend cn Signatur, einer ihncn eingegrabenen unauslösch lichcn Ursch rift, dic auch , in dc n Sakramenten traktatcn dcr Scho lastik, in dcn Begriff dcs (hnr(lrler indtkbiliJ eingcgangen war." BLUMF...~ B E.RG, l-fans: Dü LesbtIrluit dtr IWell. 2., d urchgeschcnc Aufl. Frankfun / M.: Suhrkamp 1983 11 98 1] , S. 230.
11S
In ländlichcn, religiös bestimmtcn G emeinschaftcn übrigen s noch bis in unser Jahrhundcn hinein: " War das Wettcr schlech t, so hicß das: G o n zürnte. D urch Gebete ho ff tC ITl2n. G Ott gnädig zu stimmcn und Schicksalsschläge abzuwendcn." W EISS, !-Im s: Die uN/e nm Lnn§ nf}Jg. Mit Pho tographicn \'o n Konrad Nußb aumer. Köln: Kiepcnheuer & Wirsch 1987. 143.
s.
31 5
den. Schon Ritter steLlte fest, ..daß diese Gleichzeitigkeit wissenschaftlicher Objektivierung und ästhetischer Vergegenwärtigung im Vethältnis zur Narur nicht zuf.-illig ist." Der vonnodeme, göttlich belebte Kosmos, den man ganzheitlich durch allgemeine Becrachrung (/heorin) hatte begreifen und interprctiercn kö nnen, überlebt die Zerlegung durch die entstehende Narurwissenschaft nur in der ganzheitlich-divinatorischen Weltschau der Nn/llriisthe/ik. 576 Spätestens in der Romantik ist die dit,ina/io dann geradezu das Markenzeichen eines ästhetischen Verhältnisses zur \'Velr: Dichtern, Schöngeistern und Ästheten aLlein ist es ab jetzt vergönnt, die !ylllbolische Bedm/Jlng der Dinge zu erkennen. Für Novalis etwa muß der Dichter "den redenden Geist aller Dinge und Handlungen in seinen unterschiedlichen Trachten sich vorzubilden, und alle Gatrungen von Spracharbeiten zu fertigen und mit besondern, eigenthümlichen lsic] Sinn zu beseelen vermögend sein. um Die Sprache der Dinge (" Der Mensch spricht nicht allein - auch das Universum sprich/- alles spricht unendliche Sprachen.! Le hre von den Signaruren"s7~ ist nur für den Dichter vernehmbar; und nur die dichteri sche Sprache gewährleistet den natütlichen Zusammenhang zur \'Velt, weil sie (so die Suggestion) al s einzige die kosmische Sympathie in sich trägt und sichtbar macht. Blumenberg konstatiert: "Zwischen dem Buch der Narur und dem der Offenbarung bildete sich cin drittes li/erarisches Genus heraus, das eines nahen ode r fernen Tages zu einem weiteren Buch werden konnte oder gar mußte und dann wiederum zum einzigen und absoluten Buch, zur neuen Bibel."s79
Vgl. RllTER. Jo achim : ..Landscha ft . Z ur Funktio n d es Asthetischen in der modem cn Gcscllschaft." In: J R.: SlIbJlletilitiil. Frankfun/ M.: Suhrkamp 1974, S. 141 -163, S. 172- 190; das Zirar auf S. 154; Kritik und Richtigstellungen zu T eilaussagen Ritters fmden sich u. a. in GROB, Rum u nd Dieter. "Von den schrecklichen zu dcn e rhabenen Bergen. Zur Entstchung der ästhetischen Narurerfahrung." In: liYandtl des modrrnrn NalllrlNgnJli. H rsg. von Heinz-DieterWeber. Ko nstanz: Universitäts-Verlag 1989, S. 53-96 und SEEL, ~hnin: Einr ASlhrb"k dir j\ 'alllr. Frankfun / M.: Suhrkamp 1991. S. 227 -229. m
NOVALlS: IIVtrkt, Tagtbiifhrr lind Bn·tft Fritdn"fh t'On Hanll nIJr'l.J. Hrsg. von Hans-Joachim MähJ und Richard Samuel. ßd. 1-3. München, Wien : Hanser 1978. Bd. 2, S. 844 1" FGlgmeme und Studien, 3, 449 (1800)1. D ieselbe Reziprozität von WeJt1ektüre und Kunstproduktion weist das fo lgend e Zitat auf: ,,Aus einem lo.Icnschcn spricht für dieses Ifrühel Zeitalter Vernunft und Gottheit nicht vernehmlich nicht frappant genug - Steine, Bäume, Thicrc müssen sprechen, um d en Menschen sich selbst fUhlen, sich selbst besinnen zu machen. / D ie erste Kunst ist Hierogll'Phisrik." Ebd., ßd. 2, S. 360 L,Vorarbeiten", 214
(1798)1· Ebd .. Bd. 2, S. SOO 1,.Das allgemeine Brouillon", 1431. BLUMEN BERG, Hans: Dir l..eJbarhil dtr 111'111. 2., durchgcsehene Aufl. Frankfun/ M.: Suhrkamp 1983. S. 170 (meine Hcrvorhebung). ßlunlcnberg ftihn die Ausbildung dieser neuartigen Erwanungen an die " menschliche Schöpferkraft" nicht nur auf die Evolution einer " idealistischen Anthropologie" zurück, sondern erklän sie vor allem durch d ie .,Entdeckung zwcier Sprachwehen: der höchster Ahenümlichkeit verdächtigen Sprache des Sanskrit und, die Neugierde endgültig bestärkend, die Enträtselung der ägyptischen Hiero · glyphen durch Champollion" (ebd., S. 169) - womit Genette und Blumenberg die gleiche histo rische Bruchstelle markieren.
316
8. Fazit und Ausblick: Vom Tod der Tiefe (Monica Le/llinsky) Das Geheimnis (Jllratisiert Kommunikatio nen und verlernt ihnen einen MehrJlltrt. Scit frühesten Zeiten konstituiert sich das Geheimnis als Paradox, welches die Überschreitung der Kommunikation verheißt und doch immer nur Ko mmunikation bleibt Geheimnisse kommunizieren das N icht-Kommuni zierbare: Das Unaussprechliche, das Une ndliche, das Un sagbare. Das Geheimnis verfügt dabei über eine ko mplexe Szene: Es konstiruiert sich durch die T opik der Höhe oder Tiefe. der Überschreitung, greift dabei auf Gemeinplätze von Schwellen und Schleiem zurück, und verfügt dabei sogar über eine charakteristisc he Landschaft aus RaJlch und Nebel, Feuer und lf7olken, Be'l.en oder gar E rdbeben [111. 1] . Ein Geheimnis bleibt nur solange ein Geheimnis, wie es nicht enthüllt ist. In der ursprünglichen, jüdisch-christlichen Fassung ist das G eheimnis unendlich, wodurch eben auch unendliche Auslegungsan strengungen angeregt werden, rne vor aUern rne lf7iederholllngslekliire immer desselben T extes m o tivieren. Das wird sicherlich auch durch die fehlende Möglichkeit der Rep roduktio n vieler verschiedener Texte bedingt: Wo es nur einen oder sehr wenige wenige T ex te gibt, da braucht man eine T iefe, rne den ReiZ erzeugt, imme r ti efer in das dunkle Innere de r Schrift vorzuscoßen (A ugustinus) [III. 2) . Dagegen bringt die medientec hno logische Revolution des Buchdrucks erhebliche Turbul enzen in die Programmatik des Geheimnisses, denn eine Ei nschränkung der Textviel falt f.illt zunehmend weg. Mit der Möglichkei t der Rep roduk tion immer neuer. anderer T exte entsteht die korrelierende Rezep n onsweise der Neugierde. Diese reduzien die Tiefe der T exte, proliferiert aber zugleich die Anzahl der Geheimnisse. Dementsprechend fallt die Mo tivatio n eine r unendlichen Tiefe weg. die vielen Geheimnisse der vielen T exte werden zunehmend endlich ko nstruiert, in dieser Fassung erlösc hen sie mit der Auflösung am Ende des Te xtes und erfo rde rn keine \'Viederholungslektüren mehr. Dagegen werden ab jetzt IInmdlich viele G eheimnisse das Interesse der Rezipienten wecken. In dem äußerst eigendynamischen Prozeß der Steigerung des Leserbedürfnisses nac h neuen, interessanten T exten und ihrer zunehmenden exlmsiven Leseweise entstehen Texte, in denen Auto ren die Historizität vortiilfschen, um einen expandierenden Markt zu b eliefern. Aus dieser historischen Ko nsteUano n erwächst während des 17. und 18. Jahrhunderts die Lektüre der Fiklionaliliil, welche schließlich die Frage nach der Historizität und Wahrhei t des T extes gänzlich suspendiert. Die Fiktio nalität ist demnach ein Mittel, welches auf T extebene die drucktechnischen Möglichkeiten der Verviel filtigung noc h einmal pmenziert und neugierige Lese r bedient [111. 4]. Innerhalb des 18. Jahrhunderts gewinnt diese Entwicklung weiter an D ynamik. Die einandet übersteigernden fiktio nalen T extgarrungen der Rei selitera317
rur, der empfindsamen Romane und der Schauerromane werden zunehmend auf die Belieferung de,r Neugierde der Rezipienten hin kalkuliert, die am Ende des Textes durch die Au flö sung befriedigt wird. Aus diesen Dispositionen der extensillen Rezeptio nsweise läßt sich in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts die Evolution der Lektüre der Spannung beobachten. Diese Leseweise zeichn et sich durch eine schnelle Lektüre aus, denn Ziel des Lesers ist die Auflösung des endlichen Geheimnisses am Schuß des Tex ts, um danach idealerweise mit einem neuen Ro man fortzufahren. Die sozialgeschichtliehe Institution dieser neuartigen Rezeptionsweise ist die Leihbibliothek. Sämtliche Komponenten dieser neuartigen Leseweise lassen sich detailliert in der zeitgenössischen Auseinandersetzung zur LeseJucht nachzeichnen [111. 5] . Mit der zunehmenden Umschichtung des Lesepublikums beginm jedoch zugleich eine Ausdi ffe renzieru ng einer ,hohen Li terarur' von einer populären , ,trivialen' Lektüre, der es ,bloß< um den ,Konsum' der vielen Romane geht. Das "'/endliche GeheittlniJ, welches in der vormodernen Lektüre der Tiefe an göttliche O ffenbarungen gebunden war, erlebt jetzt ein Recycling im Kontext der Kun st und Literarur [111. 6). Sc ho n der Geniekult übernimmt d as Mysterium als Kennzeichen der O rigin alwerke, es "giebt etwas in der Poesie, da s weit über den Verstand der Prosa hinau s reicht; es giebt Geheimnisse darinnen, die nicht erkJäret und nur bewundert we rden können ", heißt es bei Yo ung bereits I 759,sao und seit der Romantik wird das Geheimnis geradezu zur (onditill sine 1"" non aUer ho hen Kun st. Das führt zu charakteristi sche n Verschränkungen der Programmatiken von Ähnlichkei t und Ge heimnis, denn Kun st ist ab jetzt zugleich ansc haulich e Simulation des menschlichen Geistes [11. 7) al s auch gchcimnisvolJ e Offenbarung einer Tiefe: ",AUe Kunst ist allegorisch,«ss l, heißt es in Tiecks Franz Slem balds If/andenmgen. Eine typische Verschränkung dieser Programme wäre dann die ,an schauliche' DarsteUung der unendlichen ,Tiefc' der Subjektivität; so heißt es dann etwa bei Mo rir-L ( 1788): " Eben darum rührt uns die Schönheit der menschlichen Gestalt am meisten, weil sie die inwo hnende VoUkommen heit der N atur am deutlichsten durch ihre zarte Oberfl äche schimmern, und un s, wie in einem hellen Spiegel, auf den G rund unsres eignen Wesens, durch sie schauen läßt.',s82 Die \Xfiedergeburt des Geheimnisses im Geiste der Kunst wendet sich also zunehmend der Tiefe des Subjekts zu, die Ro mantik entdec kt vor aUem den TraJlfll als Z ugang zu den rätselhaften Abgründen der Innerlichkeit. Bei Nova~
YOUNG, Edward: Ged(Jnken iibtr die Onginal- llYerk e. In fine Sdm ibtn du D. }"ormgJ Im dtm flic] V tTjimer du GrandiJOII. [Übers. von H . E. ,·o n Teubemj. Leipz.ig: Hcinsius 1760. Faksimile Nachdruck. Hcidclberg: Schneider 1977, S. 29.
"'
Tl ECK, Ludwig: Front S lmlbnldJ IlYondmmgtn. Hrsg. " on A1frcd Anger. Srungart: Reclam
1966, S. 257; " gI.
KRE~lER,
D eclef: Rßmonlite. Srungan, Weimar:
~-let2.1er
2001 , S. 107.
MORJTl, Karl Philipp: Brilriige ~r A I/helite. Hrsg. von Hans J oachim Schrimpf und Hans Adler. ~binz: Dieterich 1989, S. 84 b,Die Signarur des Schö nen. In wie fern Kunstwerke beschrieben werden können?'l
318
lis heißt es: .,Ist nicht jeder, auch der verwo rren Ste Traum, eine sonderliche E rscheinung, die auch ohne noch an göttliche Schickung dabei zu denken, ein bedeutsamer Riß in den geheimnisvoUen Vorhang ist, der mit tausend Falten in un ser Inneres hineinfiUt?«583 Im Kontext des ro mantischen Schreibprogramms, welches sich immer mehr den Untiefen der Subj ektivität zuwendet, rückt dann ein neues ,Leioncdium' in den Fo kus der Aufmerk samkeit. Im 18. Jahrhundert hatte man sich im Kielwasser der mimesis-Theorie tendenziell am Vo rbild der A nschaulichkeit der bildenden KJmst, al so vor allem an der griechischen Skulptur und der italienischen Malerei o rientiert [11. 6). Von der Tendenz her ist also das Bild in den äsmetischen Diskussio nen der Zeit das l1ilmediunr. "das vollko mmenste Gedicht [istJ [...J zugleich die vollko mmenste Beschreibung des höchsten Meisterstücks der bildenden Kunst"584. Das verschiebt sich im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts, und das Ergebnis ist eine " revision of ehe hierarchy of me arts: music, apparemly me most subjective, becomes Ihe art par excellence" .585 Man entdeckt zunehmend die rätselhafte Zeichensprache der Nlusik.586 In einem typischen Medienvergleich zwi schen Malerei und Musik schlägt etwa in Herders Schrift " Ob Malerei oder Tonkunst eine größere Wirkung gewähre?" (1785) das Pendel tendenziell in Richtung der Musik aus. Erwartungsgemäß wird die \'Virkung des anschaulichen Bildes im Idiom der Illusion NOVALIS: Htinric/; l'On Ofttnlingm. Ein Ro man. '·Ing. \'on Wolfgang Friihwald. Stuttgan: Reclam 1965, S. 13. MORliL, Karl Philipp: ßtilräge ~r A Jlhttik. Hrsg. von Hans j o achim Schrimpf und Hans Adler. Mainz: Dieterich 1989, S. 90 1" D ie Sign atur d es Schö nen. Inwiefern Kunstwerke beschrie ben werden kö nnen?"1
HOBSON, Marian: The Objut oJ Arl. The ThtOly oj,J/INsion; in 18lh·CrnlNry Fmnrr. Cambridge CI al. : CUP 1982, S. 44. Schon Herder sieht dic D ifferenz der l\'lusik im [\'Iedien vergleich in ihrer Ti1(". " Die \X/ürkungen dessen, was in unser O hr angend un einfließt, liegen gleichsam tie fer in Nnmr Seele, da clie Gegenstände des Auges ruhig vor NnJ liegen"; HERDER, j o hann G o nfried: Siil1lllllh'rhe IlVtrkt. Bd. 1-3 1. Hrsg. von Be rnhard Suphan. Berlin : Weidmannsche Buchhandlung 1877ff. Bd. 4, S. 47 IKritiJrlN lf/iJ1dtr, 4. Wäldchen]. Vgl. zu dem Thema u. a. NEUBAuER, j o hn: The EHlrln fiptltion ofMUJirlro", LangNtlgt. DtparlNre from MimeJis in Eighlun/h Crn/ury A nlhetirJ. New Haven, Londo n: Yale UP 1986; L UBKOU " Christine: Afy/hoJ MUflR.. PortiJrhe Entu.iitft du MUJi/eaIiHhm in dtr U ltra/ur Nm 1800. Frciburg / Br.: Ro mbach 1995; NA U ~lANN, ßarbarn: ,,,Mit j>,'lusik versteht sichs von selbst.' Friedrich Schlegels Re flexion dcs Musikalischen im Ko ntext der G attungspoctik." In: ~gtlluam Nnd Grentgiinge. Von potlJs{hm GallNngen. Hng. von Ebcrhard Lämmen und Dietrich Scheunemann. Münchcn: Editio n Text & Kritik 1988, S. 72-94; NAUMANN, ßarbara (Hrsg.): Die SthnJJlchl dtr Spmrhe nach dtr MNJi/e. Tex/e ff1r IIINflhlilchtn Portik I(Hl 1800. Stuttgan et al.: Metzlcr 1994; KÄ US ER, Andreas: " Klang und Prosa. Zum Vcrhälmis von Musik und LJternrur." In: DtNIJehe V;trtt!JahrJ1(hrift fiir LilemluflliJJtIlJrhtifl und Gtillugmhichle 68 ( 1994), S. 409-428; SCHER, Steven Paul (Hrsg.): LiltmlNr Nnd MNJi/e. Ei" HandbN(h ff1r Thtodt N"d Pra.""';J fi"u komparoH· Jhsrhtn GrrnwbielJ. Berlin: E. Schmid t 1984; BoRMANN, Alexander von: " D er T ö ne Licht. Z wn frühromantischen Programm der W o nmusik." In: Die Alelllah"tiil der Friihromantik Hrsg. yo n ErnSI Behler und j ochen Hö risch. Paderbom CI al.: Schö ningh 1987, S. 19 1-207; KIT I1.ER, Friedrich: " Musik als Meclium." In: IF/ahrnehnllmg lind Gmhichlt. Marleimmgtn ~r A illhuis molmahs. Hrsg. von ß cmhard J. D OlZler und Ernst Müllcr. Bcrlin: Akademie 1995, s. 83-99.
319
und der virtuellen Welt [11. 1-8] ausgebreitet, der Rezipient "ist in un serm Himmel gewesen, hat Göttinnen und Götter erblickt, hat das Ambrosia ihrer Lippen, den Duft ihres Sc hJeiers, den G lanz ihres Antlitzes genossen und gekostet"587; im Gegensatz dazu erscheint das Faszinosum der Musik al s Gebei/JInis, ihre " Wirkung" ist "sehr dunkel" (224). Als Expressivität der Empfindungen, aJ so der ,Tiefe' der Subjektivität, ist ihr Gegenstand "das Unendliche" (228) und ein "Unermäßliches" (229). Enclang diesen Linien wird die Musik zunehmend zum paradigmatischen Leitmedium des romantischen Kunstgeheimnisses. In Wackenroders Phantasien über die !Vmsl fiir Freunde der 10msl,S8S 1799 postum von Tieck herausgegeben, wird zunächst immer wieder die geheimnisvolle Tiefe d er Kunst beschworen: " Die wahre Schö ne, die G röße der Kunst ist unergründlich" (185), wobei die Rätselhaftigkeit der Kunst erwarrungsgemäß noch ko rrelierr mit der Nachah/JIung des Suo/ekls [11. 7] : Die Kun st " richtet unsem Blick in unser Inneres, und zeigt uns das Unsichtbare" (99), sie ist einmal wieder zugleich gehei/JInisvoll und ahnlich: Der Kunst ist durch "dunkle und geheime Wege, eine wunderbare Kra ft auf das Herz des Menschen eigen. Sie redet durch Bilder de r Menschen, und bedienet sich also einer Hieroglyphen schri ft" (98). Auch hier ist die MJlSik Paradigma der idealen, ge heimnisvoll en Kun st, welche, erwarnmgsgemäß, zugleich Imergriindlich als auch anschau/ich das Innere der Subjektivität o ffenban , den "geheimn isvollen Strom in den Tiefen des mensc hlichen Gemüthes" (220): "welche Kunst führt au f ihrer Bühne jene Seelen"~)'Slerien mit so dunkJer, ge heimnißreicher, ergre ife nder Bedelltsamkci t all f?" (222) Jetzt wird das Medium der Musik zu einer zentralen O ri entierungsgröße; sie ist (analog zu Hamanns/ Herders Urpoesie) zugleich rätselh afte als auch unmittelbare verständliche UniversaJsprache, eine "Sprache der Engel" (207): "Sie greift beherzt in die geheimnisvolle Har fe, schlägt in der dunklen Welt bestimmte, dunkJe \'V'under.leichen in bestimmter Fo lge an, - und die Saiten un seres Her.lens erklingen, und wir verstehen ihren Klang. "(220) Die Musik is t aJ so unmittelbar zugängliche Nachahmung des Sub jekts, erschließt sich aber zugleich nur dem Eingeweiht.en: Keiner, der nicht zu dem mysr'schen Fest gelassen, Kann den den Sinn der dunklen Kunst erfassen,
H ERDER, J ohan n GQ[[fried: Sii",,,,tlicht ll7trkt. Bd. 1-31. Hrsg. von Bcmhard Suphan. ß edin: Weidmannsche Buchhandlung 1877 ff. ß d. 15, S. 225 1/ Ob ~hlc rci o der Tonkuns t eine größere Wirkung gewähre?" (1785)1. Im Fließtext fortan zitiert nach WACKEN RODER, Wilhelm Heinrich: Sämtliche lV'erke lind Bn"efi. Histo risch-kritische Ausgabe. Bd. 1-2. Hrsg, von Sikio Vietta und Richard Littlejohns. Hcid dberg: Winter 199 1, Bd. I; vgl. zwn Themenkom plex von Musik und GeRihl bei Wackeruoder KERTL-WE IZEL, AJexanrlrn: Die Trpns~ndtnz dtr Gtjiihlt. Befl'ehNngtll ~iS(hen
MNSile Nnd GtJiihl bti If'/oc/etnroder / Tiuk Nnd die MNSik,iislheh'k der Rgmonli!e. St. Ingbcrt: Röhrig 200 1.
320
Keinem sprechen diese Geistertöne, Keiner sicht den Glanz der schönstcn Schöne, D em im innern Herzen nicht das Siegel bre nnt, \X' elches ihn als E ingeweihten nennt, Woran ihn der Tonkunst Geist erkennt. (235)
Über Schopenhauers Musikphilosophie verläuft die Entwicklung über \Xlagncr dann hin zur ebenso hermetischen wie enthu siasmierten Preisung der inkommensurablen, unergründlichen Musik durch den frühen N ictzsehe. Parallel dazu gewinn t die Verrätselung einer ho hen Kun st an Eigendynamik. Vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundens wird eine dez idiert kryptische und esoteri sche modeme Kun st kontra stiv zu der immer größeren Masse neu alphabetisierten Leser und ihres Konsums von T rivialliterarur in Position gebracht: "Die Hermetik moderner Literatur ist ein Gemeinplarz.' <S89 Die Rätselhaftigkeit und Schwierigkeit wird dann zu einer zentralen AnfordenlOg an ,hohe Dichtung' ver festigt: "Ein gutes Gedicht verbirgt, was es enthüllt." s90 Eine schöne Synopse dieser modemen Kunsrauffassung liefert O scar \Xlilde in seinem berühmten Essay "The Critic as Artist" (1890/ 91 ); ich ke nne keine po intienere Beschreibung des modemen Kun stgeheimnisses und zitiere daher eine längere Passage: r..,lost of our clderly English paint.ers [I) spend rheir wicked and wasrcd lives in preaching upon the domain of the poets, marring their mocives by dums}' u eatment, and striving ro render, by visible form o r colour, the marvel of what is invisible , thc splendour of what is nOt seen. Their pierures are, as a natural conscqucnce, insuffcrably tedious. They have degraded the invisible arts imo ob\,jous arts, and the o ne thing not worth looking ar is the obvious. [...] pierures of this kind will not really fa scinate the critic. He will rum from thcm to such works as made him brood and dream and fan c)' to works that possess the subtle qualit), of suggestion , and seem tO rell o ne that e"en from them thete is an escape into a wider world. Ir is sometimes said that the traged)' of an arrist's He is that he cannot realise rus ideal. Bur rhe true tragedy that dogs [he steps of most arrisrs is [hat the)' realise their ideal too absolutcly. For, when the ideal is realised, ir is robbed of its wonder and its mysrery, and becomes simply a new srarring-point for an ideal that is o rner than irself. Trus is the reason wh}' music is the perfeet t)'Pe of art. Music can nevcr reveal irs ultimatc sccrcr. This, also, is the explanation of the value of limitations in art. The sculpror gladl)' surrendcrs imit:lrive colour, and the painter thc acrual dimcnsions of fonn , because by such renunciations thc)' are able [Q avoid too definitc a represenration o f thc Real, wruch would be mere imitation, and toO definite a realisation of the Ideal, wruch would be too purcly inteUectual. [... 1 BAßLER, "-·lori[2: Die Entdtrhmg der Tex/Jlr. Unt'tT!tiindlichJeeit in der /VJrrJ!TOJa der u!lpbatl$rhen M odern' (19/0-1916). Tijbingen: Niemeycr 1994 (= Studien zur deutschen Literatur, 134), S. I. KIl.!.)',
Walter. Lueu'tistll. SdJTtibu.'t'ism. München: Beck 1982, S. 22.
32 \
thc aesthcuc critic rCJccts thesc obvious message lO dcüver, and having deüvcred seeks rather for such modes as suggest imaginative beauty makc all imerpretations
modcs of an tha t havc but OIlC it become dwn b and stcrile, and reverie and mood, and by thcir truc, and no interpretation final. ~9 1
Peter Fuchs hat das Thema der rätselhaften Dunkelheit moderner Lyrik in einem Aufsatz zur Dichtung Baudelaires und Mallarrnes in Augensc hein genommen und gelangt dabei zu Ergebnissen, die hier ergänzend eingeflochten werden könne n.~92 Fuchs weist darauf hin, daß auch hier die unergründliche Tiefe moderner Poesie mit dem (Subjekt-) Ko nzepc des Genies verkoppelt ist, welches in so fern eine parado xale diskursive Größe ist, als die ,Einzigartigkeit' und ,U nerschöpflichkeit', die es für sich proklamiert, in ein em "sehr präzisen Sinne inkommunikabel" sind.S93 Diese Paradoxie der modernen Lite rarur scheim (einmal wieder) in dem monströsen quantitativen Mißverhältnis von Primärtext und Ko mmemar auf, indem die Entparadoxierungsanstrengungen des Kommentars zu sagen versuchen, " was unter keinen Umständen gesagt werden sollte".594 In Anlehnung an die obige n Ausfü hrungen zum religiösen Geheimnis soll te man noch einmal pointieren: Es ist keinesfall s unmöglich, iiberGeheimni sse zu kommunizie ren. Ganz im Gegenteil saugen Ge heimnisse Texte an, wenn sie über eine hinreichende, di skursiv konstruierte Version ob scurer Ko mplexität verfügen. O der einfacher gesagt: Rätsel wirken nur solange irri tierend und faszinierend, wie sie ungelöst bl eiben, also immer neue Lösungsversuche snmutieren. 595 Es ist unmöglich, die O ffenbarung des Ge heimnisses (z. ß . ,Gon essch au~ zu enthüll en,5% weil dann das Geheimnis implodiert: Der literarurwissenschaftliche Ko mm entar brächte da s Geclichr zum ErJöschen wie clie Sc hoWILDE, Oscar: Tht Complttt IlYorb. Bd. 1-12. New York: D o ublcday, Page 1923. Bd. 4, S. 162q,The e titic as Anist'']. Im Falle der von Fuchs untersuchten T extgruppe schließen an unseren I-l inrergrundtopos ,Geheimnis' D etivatc an wie "Suggestion, Evokation, Musikalität, Handlungslosig keit" oder " Beschwö rung, Anspielung, r-.-lagie" (FUCHS, Peter. " Vom schweigenden Ausfl ug ins Abstrakte. Zur Ausdifferenzierung der modemen L)'rik." In: N ikJas Luhmann lind P. F.: RLtkn lind Schu-'tigtn. 2. Aufl. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1999, S. 138-177, hier S. 17 1f.).
'"
Ebd., S. 146. Vgl. auch S. 138-151. Ebd., S. 166. Ebd., S. 176. Ahnlich sieht es bereits Mephisrophcles im FOllit, der den (e mphatischen!) Signiflkantensalat der I-Iexenbeschwö rung ko rrnncntiert: " D enn ein \'o Ukommner Widerspruch / Bleibt gleich gcheimnisvoU für Kl uge wie fur To ren. [... ) Gewö hnlich glaubt der Mensch, wenn cr nur Worte hö n , / Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen." GOETBE,johann Wolfgang: IlYtrke. I-Iomb",};tr Alligobt. Bd. 1-14. H rsg. \'on Erich Trunz. München: Beck 1988, Bd. 3, S. 82, V. 2557-2566. Das wurde scho n für die Apostel, die Verwalter bzw. " Haushalter "bcr Gottes geheimnis" zum Problem, die nicht o hne Grund den ~knschen " Milch [... ) zu trincken" geben ""nd nicht [feste) speise"; Biblio Genf/onko. Übers. von Martin Luther. Faks. Nachdruck der Ausgabe WiTtenberg 1545. Stungarr. Wüntembergische Bibclanstalt 1967, erst 1 Ko rinther 4, I , dann 1 Korinther 3, 2.
322
lastik das mystische Erlebnis. Nun bemerh Fuchs zu Recht, daß (in unse rer Argumentatio n: auch) die mo de rne Lyrik sich von dieser Anlage her in ein Ko mmunikatio nsdilemma hineinman övriert. \'VeiJ sie al s Ko mmunikation auftritt, implizierr das kommunikative Absichten, so daß sie, wenn sie sich al s inko mmunikabel gibt, "gegen d as Gesetz [antritt] , unter dem sie angetreten ist.,,597 Das kann man allgemein fo rmulieren: Man kann nicht Sinnlosigkeit (als Erscheinungs form des G eheimnisses) in einem Medium p roduziere n, dessen Auropo iesis auf der N ichtnegierbarkeit von Sinn fußt. Das zeigt jedoch, wie fundam ental das Problem ist, mit dem man es zu tun hat. D enn was seit Jahrtausenden als Geheimnis kommunizie rt wird, ist als Ko mmunikatio n immens unwahrscheinlich. Man muß das einmal po lemisch zuspitzen. In der Vormoderne ließ sich kryptisch-sinnlo ses Gestammel noch als Symp tOm des religiösen Geheimnisses verstehen und in das bestehende \Veltbild integrieren, man ko nnte es aUenfaUs als Ketzerei demarkieren. Seit der Ausdif ferenzierung des Geheimnisses im 18. J ahrhundert hat die Unverständlichkeit nur noch in Religion und Kunst ihre n Platz, wer in der alltäglichen Kommunikatio n, jenseits dieser Sphären d es modernen Geheimnisses, dadaistisch stammel t oder in O rakelidiomen göttliche Ge heimnisse murmelt, gehört ab jetzt als \Xtahn sinniger ins Irrenhaus.598 Dabei ist die "Sinnlosigkeit" der modernen Literatur in ihrem Kontext ebenso so rgf.i ltig codiert, wie das scho n beim vo rmodernen unendlichen Geheimnis der Fall war. Die gezielte Destruktion der Sprach fu nktion ko mmuniziert ihrerseits anh and von Paradoxien, T autOlogien, Verschränkungen, Inversio nen und Verkehrungen 599 das ,Unsagbare' (und kommuniziert es eben doch nicht), wobei der Ein satz dieser ,Mittel' kommunikativ sowohl ,kalkuliert' (vo n de r T extseite) als auch ,kalkulierbar' (von der Lesetseite) ist. Die Desorientierung von Erwartungen ist also ihrerseits ko nventioneUund befri edigt Erwartungen det Erwartungsdurchbrechung. Emphatische Ko mmunikation ist keineswegs im harren Sinne ,subversiv', weil sie dann nicht als
FUCHS, Peter: " Vom schweigenden Ausfl ug ins Abstrakte. Z ur Ausdifferenzierung der modem en Lyrik." In: N iklas Luhmann und P. F: RLdtn und Sthu'tigen. 2. Aufl. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1992, S. 138-1 77, hier S. 159. Vgl. FOUCAULT, Michel: Il7ahnJinn und C mlhthrift. Eine Curbichte de! IWahnJ im Zeitalter der Vernunft. Fra n kfurt / ~-I.: Suhrkamp 1969.
m
D ie ,Originalität' dcr mode m en Liternrur und ihrcr Abweichung fo lgt hier der Traditio n; ähnliche Strukruren lassen sich beispielsweise in der Sprache der i\'lysrik nachweisen, die ebenfall s ko nventionelle Minel der Unsag barkeit e"oluierr hat: Parado xien, apophatische Negario nen, Übersteigerungen und H yperbeln und so fo n ; vgl. SEYl' PEL,] oachim: " Mystik als Grenzphänomen und Existential." In: DaJ Myslerium und die MYJtik. Beiträgt ZU einer Thtologit der thnitlidJtn COllmrf(lhrung. Hrsg. " o n l oser Sudbrack. Wiiaburg: Echter 1974, S. 11 1-154, hier S. 139ff. (" Parado x und T auto logie als Stilm.inel der G renze"); Q UINT, Josef: ,, ~·t ys rik und Sprache. Ihr Verhälmis zueinander, insbesondere in der spekuJativen r.,'tysrik Meister Eckharrs." In: DeuUdlt VierltIJabmrhnJi fiir U ttrotumim nJthafl und CtÜIUgtJrhithle 27 (1953), S. 48-76.
323
Kommunikatio n auftreten könnte. Das ,Geheimnis' ko nterkariert E rwartlln ~ gen nur in bezug auf den ko mmunikativen ,Nonnalfall', ist aber im ßinn e n ~ raum der Emp hase Ko nventio n. Auch hier gilt wieder, daß es kein b eobachterunabhängiges Geheimnis gibt, daß also in der Kommunikatio n darüber entschieden wird, welche Ko mmunikationen al s Ge heimnis anerkannt oder als schierer Unfug abgetan werden. Es muß festgelegt werden, wef Zauberer ist und wer GaukJer. \'\fie beim heiligen Stein der N aturreligion muß auf Rezipiente nseite darüber entschieden werden, o b ein Mysterium vorliegt oder nicht. D es halb ,gibt' es weder rätselhafte T exte noch unausschö pfliche Kunstwerke, sondern allenfalls ,geheimnisvolle Lektüren'. Das sieht bereits O scar
Wilde: me pierure (Mona LisaJ becomes more wonderful to us man ir reaU)' is, and rcvcals ro us a seerer of whieh, in truth , ir knows nothing, and r.hc music of thc ffi ys tical prosc is as swcet in our cars as was that flurcplaycr's music thar lcm tO ehe lips of La Giaconda thosc subtle and poisonous curves. [... J For when rhe work is finished it has, as ir wcre, an independcnt life of irs own, and may dclivcr a message far othcr than that whieh was put imo its lips to say.600 Kein Text ist unau sschöpflicher als ein anderer. ,Geheimni s', ,Rätselhaftigkeit', ,Unausschöpflichkeit' sind nichts anderes als Gemeinplätze det Selb ststeuerung emphatischer Ko mmunikatio n, mit deren Hilfe sie sich seihst auratisierr, die jedoch prinzipiell in jeder Kommunikation (auf jeden T ext) anwe ndbar si nd.6Ol Mögliche rwe ise ist es auch d ieses late nre602 \'\fi ssen der Moderne um die Tatsache, daß die Dunkelhei t esoterische r Kunst nic ht m ehr in ein er sinnscif[ende n Tran szendenz verankert ist, sondern als Effe kt konstmiert wird , '\veswegen das unendliche Geheimflis, das nach der Aufkl ärung in der ho hen Kun st überlebte, immer weiter erodiert ist. Schon seit der Ro mantik kann das emphatisc he Verständni s des Kun stge heimnisses immer auch in Iro nie umsch lagen - ein frühes Zeugnis dieser HaJrung ist Friedrich Schl egeJ s "Ü ber die Unverständlichkeit" (1800), wo es etwa heißt: Alle höchsten Wahrheiten jeder Art sind durchaus trivial lind cben darum ist nichts notwendigcr al s sic immcr neu, und wo möglich inuncr paradoxer aus7.UW ILDE, Oscar: '["he Complele lf7ork.r. Bd. 1-12. New York: Doubleday, Page 1923. Bd. 5, S. 157 und S. 159 ["The e rioc as Artist'l D amit stelle ich mich gegen die Auffassung der Rezeptionstheorie nach !ser, welche die ,Leerstellen' (" das ,l' Jichrs' zwischen den Positio nen"; ISER, Wolfgang: Drr AkI du U sens. Throne iiJthrli!rhtr lf7irhmg. 4. Aufl r-,'Iünchcn: Fink 1994 11 9761, S. 349) flic einc besondere, substantielle Qualität des literarischen Textes hielt und behauptete, " daß die Lebha ftigkeit unserer Vorstellungen proportio nal zu den Leersrellcnbcrrägen anstcigt." Ebd., S. 293. Es handelt sich wn Beobachtungen zweiter Ordnung: " D er Begriff [Latenz] bezcichnct dic ~'Iöglichkei[, zu beobachtcn und zu beschreiben, was andere njrht beobachte n kö nnen." LUI-IMANN, N iklas: Die lf7imnsrboji der Gesrllsrhofl. Frank furt / ~·I. : Suhrkarnp 1992, S. 89.
324
drücken, damit es nicht vergessen wird, daß sie noch da sind, und daß sie nie eigentlich ganz ausgesprochen werden können. 601 Für die Gegenwart gilt, daß es immer weniger Rezipienten gibt, welche die Mühe n einer uktiire der Tiife noch auf sich nehmen: .,\XliI erlebe n in un seren Tagen ein Schwinden der Tiefe, ge naugenommen sogar des Paradigmas der Tiefe." 604 N icht genug damit, daß die ästhetische Lektüre der Tiefe seit der Ideologiekritik und der Verabschiedung des Bildungsbürgers605 in den letzten Jahrzeh nten al s Rezeptionsweise zu einem Rudiment geworden ist. Hinzu kommt, daß die T opoi, welche die Unverständlichkeit der modernen Kun st jahrzehn telang mit sich herumgetragen hat - daß die Welt zerrissen und das Leben sinnJ os sei, daß Texte eher Fragen stellen als Antworten geben, daß nichts so ist wie es scheint, daß Wahnsinn und Genie eng beieinander liegen , daß ein Künstler Tabus bricht oder facette nha fte Versatzstücke collage nartig mo ntiert - alle diese Gemeinplätze des modernen Kun stgeheimnisses erscheinen heute entsetzlich alt, langweilig, überholt, und stimulieren in w er Banalität kaum noch Entzifferungsanstrengungen. 606 Die Frage ist, wo ukliirefl der Tiife heute überhaupt noch zukunftsfahig sind. Ei ne Insel der Allegorese stellt dabei siche rlich die PSJpchologie dar. Denn sie hat seit dem 19. Jahrhundert dem zentrale n Gegensmnd der modernen Programmatik sowohl der Ähnlichkeit al s auch des Geheimnisses, de m Subjekl, eine zu nehmende V ertitf img verliehen. Auch hier werden A))f1lichkeil und Geheimnis wirkungsvoll verklammert: Nach Freud ist die Traumsprache zugleich anschauliche Bildersprache und ve rschlüsseltes Rätsel. Ein genaue Analyse kann klar zeigen, daß die Innovation der Traumdeutung im wesentlichen darin besteht, Pennutarionsregeln aus der kJassischen Henneneutik und Rherorik (als Reflexionstheorien derukliire der Tiife) auf einen neue n Gegenstand, die men schliche Psyc he, umzulenken. 607 \Vo im Mittelalter Dinge als Al1egoSCl-I LEG E.I.., Friedrich: Knfisch, A Ufgabt. Bd. 1-22. München et al.: Schö ningh 1958ff. Bd. 2: Chara/eltnllilun ul/Il Krili/een J, S. 366 [/ Über die Um'erständlichkeit'l ß IRKERTS, Sven: Die C Ulmbtrg EkgiUl. Lm n im dtleJronisrhen bilaller. Übers. von Kurt Neff. Frankfun / M.: Fischer 1997, S. 102. Auerbach prophezeite bereits 1958, dem " gebildeten Bürgemun" dro he die Implosio n, " weil es sich durch eigene T ätigkeit so sehr ausgeweitet hat", daß seine Kulrur nicht mehr distinktionsfahig sei: "das minoritäre Publikum, die Elite, [ist] durch Expansion in ihrem Dasein bedroht" - die Po pularität der Zlatco , Erkan & Stcfan etc. verbürgt das Ende dieser Bewegung. Vgl. AUERßAOI, Erich: Liltra/lmpracbt lind Plfbli/eJtm in dtr Ioltimlebtn Spölanlilu und im /l.4illelolltr-. Bem: Francke 1958, S. 255. Dies wird auf der anderen Seite auch sichtbar "am Rückgang der Wenschätzung von Belesenheit, am Rückgang des Prestigcwertes von Lesen und vo n Buchbcsitz." Vgl. SCHON, Erich: " Vor dem Ende der Lcsekulrur? Zur Zukunft des Lesens." In: ZlI-'ürhtn Luranimahon lind littranfehtr So~aliJalion. Kon?fplt der Lese{r)fordtnmg. Hrsg. von Thomas Eic hler. Oberhausen: Athena 1997, S. 15- 19, hier S. 16f. Vgl. TODOROV. Tzvetan: Sy mbol/heont n. Übers. von Beate Gygcr. Tübingen: N iemc)'er 1995 (= Konzcpte der Sprach- und Literaru.rwissenschafl. 54), S.247-254; ders.: " On Linguisric S)'mbolism ." In: Ntw U ltr-ary Hislo'J 6 (1974), S. 111-134; sowie Rlc rnu R, Paul: Dit lnltr-
325
rien von Heilswahrheiten lesbar waren, da emzifferc heute die Psychologie die Symbolismen des Umerbewußrseins. Sobald man die Psychologie selbst auf die berühmte Bank legt, kommt dabei sters dasselbe ans Licht: Das Unterbewußtsein der Psychoanalyse ist die Texrauslegung, die Lektüre der Tiefe.ws Die Faszination. welche für viele Men schen bis heure von der Psychologie au sgeht, wird letzdich erzeugt durch den Reiz des Mysteriösen - in den Worren Freuds: In den bestgedeureten Träumen muß man oft eine Stelle im Dunkel lassen, weil man bei der Deurung merkt, daß don ein Knäuel von Traumgedanken anhebt, der sich nicht entwirren will, aber auch zum Trauminhalr keine weiteren Beiträge geliefert hat. Dies ist dann der Nabel des Traums, die Stelle, an der er dem Unerkannten aufsitzt. Die Traumgedanken, auf die man bei der D eutung gerät, müssen ja ganz allgemein ohne Abschluß bleiben und nach allen Seiten hin in die netzarcigen Verstrickung unserer Gedankenwelt auslaufen.609
Es ist das Verdien st Lacans, die benmneulische Tätigkeir des A nalytikers hervorgehoben zu haben - "whar makes me p syche a critical allegory of itse1f and [... J justifies psychoanalysis as rhe allegory of mat allegory«61 0 - eine Einsicht, die innerhalb des p sychologischen ,Establishments' jedoch bislang weirgehend ignoriert wurde. Die Psychologie isr nur ein kJei ner Au släufer innerhalb der jahrrausendelangen Tradition der Allegore se. Jenseits der Psychologie bl eibt dagegen die Frage, o b sich nach der Au slöschung des gauloisesrauchenden Jmcllekruell en, der im Kaffehaus seinen Camus goutiert, noch zei tgemäße Lekriircn der Ti efe im Kräftcfcld ei ner
..
pnlaliofl. Ein V trJ"Hfh ii/nr FrtHd. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1969 .
..
5. 205-258, 5.344-355
'" 326
Siehe dazu auch Derridas Freud-Lckriire, in der er darlegt, daß die fWldierend e l\ktapher, durch die Freud seine Theorie der Psyche fonnulien, das SchrifnnoocUdes ,Wunderblocks' is t, jenes Spielzeug, auf dessen Fo lie Kinder Spuren und Wone einzeichnen können (- Bewußtsein), die dann (durch Trennung von Folie und Untergrund mit Hilfe eines durchgezogenen, dünnen Stabs) wieder ausgelöscht werden, aber als Einritzungen, als Palimpsest kaum wahrnehmbar auf der Folie fonexisricren (- Unrerbewußrsein); vgl. DERRlDA , Jacques: " Frcud und der Schauplatz der Schrift." In: J. D.: Dit Srhrifi Hnd die DiJfmfl~ 6. Aun. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1994 [19671 , S. 302-350. Vgl. zur Unhimergehbarkeit diskursbegriindender Metaphern ferner BLUMENBERG, Hans: " Ü Chl als Metapher der Wahrheit. Im Vo rfeld der philosophischen Begriffsbildung." In: SIHcUilI1/ Grn"(//~ 10 (1957), S. 432-447; ders.: " Paradigmen zu einer Metaphorologie." In: Thront ,Irr MtlUpbtr. Hrsg. von Anselm Ha"erkamp. 2., erg. Aun. Darmstadr: Wissenschafcliche Buchgesellschaft 1996, S. 285-3 15. IEmveröffenclichung 19601 Blumenberg hat insbesondere den Begriff der ,absoluten Metapher' geprägt; "gi. zur dckonsrruktivistischen Versio n dieses Theorems D ERRIDA, Jacques: " Die weiße 1\·lythologie. D ie Metapher im philosophischen Text." In: J. D .: RPndgiingt dff Philosophit. Hrsg. von Peter Engelmann. Wien: Passagen 1988, FREUD, Siegmund: Dit TmumdlHIHng. Frankfun/ l-ol: Fischer 1972 (= Freud-Srudienausgabe, 2), S. 503. FI..'\'EMAN, Jocl: ..The Srructure of the AllegoricalDesire. " In: J. F.: Tht Sulytrtitily Effiet in IPuttm Liltrary Tradition. Emry Tou-'(JnJ Ihr RI/tase oJ Shakuptun 's IPi//' Cambridge/ Mass.: MIT Press 199 1, S. 3-3 1, hier S. 20.
Af.'onlgardi 11 flnden lassen. Die Frage ist sc hwer zu beantwo rten; möglicherweise ist es die Theorie der Postmoderne selbst, welche zugleich letzter Ausläufer des unendlichen GeheimniueJ al s auch sein T o tengräber ist. Denn bemerkenswert ist ja die D oppelmoral der Postmoderne: Einerseits hat sie die ästhetischen Lektüren der Tiife annulliert, den Bildungsbürger aus Amt und \'V'ürde vertrieben, hat lustvoll Henneneutiken textuelIen Hintersinns ,deko nstruierr' und an deren Stelle die Obeifliiche, die ,Materialität der KOHmJltnikation 6 /1 gesetzt (das dekonstruktivistische Lektürekonzept erweist sich dabei als spätes Remake von Luthers T orpedierung des kirchlichen Lehramts durch das sola scripturoPrinzip, dessen basale N aivität es kopiert: Die G rundannahme, die Schrift könne sich ,selbst auslegen'6o). An die Stelle des seelenvollen Gesangs hat die Postmoderne, möglichetweise ohne das zu wollen oder vorherzusehen, den DJ und die Technik des sO!llplings gesetzt. Aus dem autonomen Künstler, der mit Hilfe eines geeigneten Ins truments oder dem Gesang die Tiefen seiner Subjektivität offenbart, wird der DJ , der ein " Reproduktionsgerät zum Instrument" transfo nnierr61 4 und dessen Kunst im Mixing von Platten beste ht, also in der Reprod uktio n von Reproduziertem. Die Expressivität der Seele hat sich in die Materialität des Medialen verwandelt. Der DJ erzeugt rucht, sondern er mixt, der DJ macht kein Lied, sondern Sound. Tatsächlich ist der DJ der Inbegriff der 1mbegrenzten
'"
Der Begriff wird seil etwa 1825 aus d er militärischen in die ästhetische Sphäre übertragen und don zunächst zur Kennzeichnung politischer Kunst, in der zweiten Häl fte des 19. J ahrhunderts dann aber immer mehr zur Bezeichnung einer ,ho hen' und schwierigen K;}-Insr (Apollinaire. ßaudclaire) velWendet. Vgl. BARCK, Karlhein z: ..Avantgarde." In: AslhrhJ(ht GnmdbtgriJle. Hisloris(hts IViirltrbllch. Bd. 1-7. H rsg. von K. B. u. a. Sruttgan, Weimar: Metzler 2000ff. Bd. I, S. 544-577.
'"
So der p rogrammatische Titel eines umfangreichen Sammelbandes; GUMBRECHT, H ans
Ulrich und K. Ludwig P FEIFFER Q--Jrsg.): Malmalilöl dtr KO"'''llInilwlion. Frankfun/M.: Suhrkamp 1988. Hinsichtlich des Rezep tionsaktes wird dann empfohlen, nicht mehr zu ,interpretieren', sondern einfach zu ,lesen'; vgl. WELLßERY, David: " Interpretatio n versus Lesen. Posmenneneutische Ko nzepte d er T exterärterung." In: IVif international ';1 dit Liltralll~1isenschtift?
Mtlhodtn· und Thtoritd,;ll!Iwion in den LiltraIUf2J imnschnflen. KJillllrtlk Btsondtrhtittn lind inltrleNllllrtlltr AIIs!t1J(scb 0'" Btispitl des Inlupnlnlionsprobk",s (1950-1990).
Hrsg. von Lutz D anneberg und Freidrich Vollhardt. Srungan, Weimar 1996, S. 123- 144.
'"
."
In vielen ,antihermeneutischen' Aussagen Luthers kö nnten Postsuukturalisten ilu Plädoyer flir ,Materialität' wiederfmde n: " D er heytig geyst ist d er eynfeltigsr schreyber [...1, drumb auch seyne wom nit mehr denn eynen einfcltigen synn haben kunden, wilehen wir d en schrifftlichen oder buchstabischen [Zungen syn n nennen. [... 1 Es Ieydetl die Schrifft nit solch spalten des buchstabenß und ge)'stcs", heißt es etwa; LUHIER,. Martin: Werkt. Kritische Gesanuntausgabe. Bd. 1-66. Weimar: Bö hlau 1883ff. Bd. 7, S. 654 1" Au f das überchrisclich usw. Buch Bock Emsers Antwon " (I 52 1)], S. 650f. ; oder: "er [der Papst] sagt, die Schrift wäre dunkel und hätte mancherlei Auslegung [... ]. Und es ist nie eine giftigere, schändlichere Lehre aufgekommen, denn d aß Menschen [... ] sich über die Schrift zu He rren und Richtern gesetzt und haben aus derselben gemacht. was sie nur wollten"; d ers.: Vom unJrtitn lVilIen. Ubers. von Jusrus J o nas, hrsg. von Freidrich Gogancn. München: Kaiser 1924, S. 83f. Vgl. POSO IARDT, Ulf: Dj-ell/lurt. D,;lPjodetys und Pople.u/illr. 2., elW. Aufl. Rcin bek: Rowohlt 200 1, S. 365.
327
Semiose [H. 2] : Die Zeichensp rache des DJ verweist auf keinen Referemen mehr, sondern ausschließlich auf andere Zeichen, auf andere Medien. Der DJ is t das zum Symbol zementierte Dikrum McLuhan s: The medium is Ihe meISage. Und ganz analog ist nicht mehr der Geis t / die Seele das Rezep tionsorgan, sondern es isr der Kö rper, der die Reize von Musik und Drogen aufnimmt: " D er fe rne, ferrgiitige Basswummbeat, der sagte: hier sind wir endlich richtig. Und wie in diesem Moment, mit jedem Schlag und Herzsc hlag mehr, mit jedem Lungenzug, mir jedem Arem-ja und -nein, mit jedem ruJ s und Lid schlag und mir jedem Schrirr noch immer mehr, mit einem Mal und wie in Zeitlupe rapide exp lodierend, diese Pille mit sagenhafter Wucht zu wirken bego nnen harre."6\S O berfläche ist das Prinzip, T echno die Utopie ein er Kultur "ohne
/ogoS" :616 KRYPSE- REGEL. Ein Text soU kein Geheimnis haben. Er soll te nich ts vcrschweigen, was er selber von sich selber weiß. Diese i\'laxime ist hilfreich , um gege n eventuell sich einschlcichcnde, obskuramische Poetisicrungen und Scheintiefgriindigkeircn gezielt vorgehen und sich zur Wehr setzen zu können. Sag alles, was du weißt. So klar und simpel, wie es geht.617
Erstaunlich an diesem Befund ist jedoch, daß die Theorien, welc he in den letzte n J ahrzehnten Subjekt, Men sch, Geist und Hintersinn so lustvoll ze rITÜmmenen und die Materialität etablierten (ohne daß ein DJ davon wissen muß), zugleich im G ewand der kryptisch -ästh eti schen Geheimbotschaft auftraten. Nichr umsonSt impl.i zien die Vorstellung einer dekonslmierenden Lektüre das Bild von -rieft und Enlhül/ung (und tatsäc hlich ist de Mans Lckrürewcise ja aus dem elose readillg des New Criticism erwachsen). Nicht zuEillig ist das Herzstück der Dekonsrruktion nach Derrida eine Melaphor%gie. 618 Eine brillante Volte, um auf dem \Xfeg der Tieft die Obetjliiche (das unendliche G leiten des Signifikanten in der dijfirance) zu inthro ni sieren. 6 19 Eine ge nial e Verkeh
Erzählung.
'"
G O ET.l, Rainald:
~1~
J ANKOWSKJ , Marrin: "Tanz nach zwölf. Techno als Erscheinungsform D emocracischer D ecadence Reality." In: Dtll/seln Vitrttfjolmschrifi für LittrofllnJisslnschaft lind GtüfesgtJ(bicblt 73 (1999), S. 28-42, hier S. 40.
on
GOET.l, Rainald:
... ."
328
RP/!t.
Rollt.
Frankfurt: Suhrkamp 200 1, S. 152.
Erziihlllng. Frankfurt: Suhrkamp 2001 , S. 209 .
Vgl. D ERRIDA,Jacques: " D ie weiße r..·lythologie. Die Metapher im philosophischen Text." In: J. D .: RPndgii"gt ,Irr Phiwsopbit. Hrsg. von Peter Engelmann. Wien: Passagen 1988, S. 205-258, S. 344-355; vgl. ebenfall s O E MAN, Pau!: " Episfemologie der Metapher." In: Thront dir Mtloplm: H rsg. von Anselm Haverkamp. 2., erg. Aufl. Darmstdt: Wiss. ß uchges. 1996, S. 414-437. VgL O ERR1DJ\ , J acques: Gramnlolologie. Übers. \'o n Hans-J örg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1994 [1967]. Eine ähnliche Paradoxie schleicht sich auf ganz andere Weise mitunter in die OJ-Culture ein. Sie entdeckt etwa die Tiefe der Oberfläche, die Spirirualität des Kö rpers: " Eine Mo notonie [der Musik], die wirklich die Sprache des Lebens spricht, und deshalb, so sehr sie äußerlich minimal daher kommt, in Wirklich -
rung: Wo früher das Eigentliche (die Tiefe) hinter der Oberfläche verbo rgen lag, da wird jetzt das Eigentliche (die Oberfläche) hinter der Tiefe versteckt. Und diese Tiefe hat es in sich - Derridas Groll/II/al%gie wird nicht nur getragen von einer biblischen Metaphorik, die wunderschöne Kabbala seiner T exte steht darüber hinaus in bezug auf Esoterik den Texten Hamann s in nichts nach. Handelt es sich al so um eine der üblichen Einverleibungen - desavouiert die Postmoderne das Geheimnis, die Tiefe, auf dieselbe \'(Ieise, wie Platon den Philosophen die Kunst überträgt [11. 3] oder wie Augustinus den Theologen die Wißbegierde zueignet [111. 2)' Die Frage läßt sich sowohl bejahen al s auch verneinen. Es ist wahr: Wo Avantgarden der lvfoderne einmal Ka fkas Geheimnisse entzifferten oder j oyce enthüllten, da legen jerzt eingeweihte Oberseminaristen die wunderschönen Rärsel der pos tmodernen Theorie aus. Die entscheidende Differenz ist bloß, daß da s jenseits des O berseminars niemanden mehr interessiert. Die Avantgarde hat sich - in eskalierender Abse tzung zu der immer weiter expandierenden, exletlsi"en Lektüre - selbst so ad abJllrdlill/ überzüchter, daß diese Selbstmarginalisierung jetzt ihre Implosio n herbeiführt, und zwar nicht zuletzr dadurch, daß der Zirkel von Lese rn der Tiefe immer kleiner wird und nicht einmal mehr als Orientierungsgröße überhaupt noch wahrgenommen wird. Es hat nichts mit KuJturkritik zu run , wenn man feststellt, daß die Penetration der radikal extensiven elektronischen Medien dazu geführt hat, daß vielen Rezipieme n mi ttlerweile schlicht die Kompetenz zur Durchführung selbsr einfacher LektüreIl der 1i"ife abhanden gekommen ist. Hoc hschullehrer aus den Philologien registrieren an ihren Stude nten den um sich greifenden Analphabetismus der Tiefe: "Sie kapierten es nichl."620 Es sieht demgemäß so aus, als sei die Hieroglyphiscik der Pos tmoderne der würdige Tmcngräber des unendlichen Geheimnisses und seiner Rezeptionsweise, der Lektüre der Tiife. Das Geheimnis selbst geht nicht unter, es existiert weirer - aber in seiner extensive n Form, als endliches Geheimnis. Scho n das Geheimnis der Psychologie überlebt allenfalls im bürge rlichen Trauerspiel amerikanischer Therapie und im Psycho· Thriller. Das unendliche und ehrfurchtgebietende Mysterium der christlichen Religio n wurde in die populäre Fonn der endlichen Geheimnisse spiritueller Literatur tran sponiert. keif ein Maximum an Fundamemalität und Deepness fo nnuliert. Von da ko mmt für \~el e, weil es so tief im Kö rperlichen wttr.lelt, ein spirituelles Moment ins Spiel." GOET[;, Rainald: Rm.'r. Erziiblllng. Frankfurt: Suhrkamp 2001, S. 266. ErstaWJ1ich auch die Verwendung der augustiniscbcn Argumentation: Auch die hllmililaJ der Heiligen Schrift war ja nur scheinbar o berflächlich. 620
BIRKERTS, Sven: Die Cllltnbtrg E/tgitn. Lu tn im tltktrrm;srhtn Zti/alltr. Übers. \'on Kun Neff. Frankfurt / M.: Fischer 1997, S. 26. Demographische Studien belegen klar den statistischen Rückgang des Lesens; die T endenz des ,Lese-Zappings' belegt, daß die an elektronischen r"ledien \'ermittclte, schnelle und fragmentarisierte In fo rmatio nsaufnahme zunehmend auch aufTextlekriiren übergreift. Vgl. uJtt'froa/Jtn in DtlllJchland inJ ntlltn jahrlallJtnd. Hrsg. von der Srifnmg Lesen. Hamburg: Spiegel-Verlag 200 1 (:::; Schriftenreihe ,Lesewclten', 3),
5. 11 , 19,262,286.
329
In esoterischen Biographien wird die göttliche O ffenbarung zum Roman verdünnt - ein Beisp iel ist der anonym verö ffentlichte Esoterik-Bestseller Der EingellJ(!ihle. Eindn'icke von einer großen Seele, bezeichnenderweise von seinem Schüler, selbstverständlich eine .,wahre" Geschichte, da es "diesen Menschen tatsächlich gib t", auch wenn sein Schüler sich "a us vielen G ründen genö tigt" sieht, "seine Identität zu ve rschweigen".621 Solche Esoterik-Ro mane, As trologie und Spiritismus, Wellness-Trend und Ayurveda, ,ganzheitliche Homöopathie' und Pop-Buddhismus, sie alle sind die extensiven, niedlich zurechtgestu tzten Bonsai-A bleger eines ehedem furchterregenden heiligen Baum s: "D ass aber die Men schen am Ende also han nach des Baums Wurzel lüste ttcn, ist ein geheimnis, Mys terium, und den KJugen und Weisen bisher verbo rgen gewesen, wird auch nicht in der Hö he aufgehen, sondern in der Tiefe in großer Ein falt, gleichwie der edle Baum mit seinem Kern und Herzen aIJezeit ist den Weltkluge n verborgen gewesen, ob sie gleich gemeiner haben, sie stünden auf des Baumes Wurzel und Spi tze, so ist es doch nichr meh r als ein lichter Dunst vor ihren Augen gewesen. "622 Eine mit tiefschwarzem Humo r gezeichnete Elegie auf den T od der ästh eti schen Lek/lire der Tiefe singt dann auch Martin Amis' Ro man The Informalion (1995). Es beschreibt den ZerfalJ eines Schriftstellers, Rich ard Tull, eine Art j oyce- Karikatur: " He was trying tO write ge nius noveIs, like j oyce. j oyce was the best yet at genius noveIs, and even he was a drag about half the time. Richard, ar&ruably, was a drag aU o f th e time. If you had to se rt! e on a o ne· word descriptio n of hi s stuff then you would almos t cerrain)y make do wirh Imread"ble."623 Iro ni scherweise ist dabei Richard s besc hränkrer bester r reund ein Bestsc ll eraucor, dessen Texte sind dagegen " barbarical.ly p lain ." (140) Richard s erster Roman schien noch vielversp rechend: " the verdicr o n AJorelhoughl was as fo llows: nobody understOod ir, or eve n finished it, bur eCJually, nobody was sure it was shit." (40) Doch dann geht es bergab: "Three yea rs later, by which time he had become Books 3nd Arrs Editor of a lüde magazine calJed Tbe U llie Magazine Oittle then, and lirtJer now), Richard published his second novel, Dre"ms dOll 'I meall Of!Jlbing. in Britain, bot not in America. His third novel wasn't published anywhere. Neither was his fo urth. Neither was hi s fi fth. In chose duee senrences we adumbrate a Mahabharala of pain." (40f.) Dabei werden die Fundamentaltopo i einer schwierigen, ästh etischen Modem e genußvoU zerlegt. In einem Radioinrerview wird Richard beispielsweise auf seinen ncucn Ro man , Ohlle Tilel, angesprochen, und antwortet mit einem Gemeinplatz aus der Theorie des autOnomen Kun stwerk s:
'"
[ANONYMUS:j Dff Eingtll-'tihü. Eindriiclee D rocm cr-Knaur 1985, S. 9.
tV)n
tintT großtn Sult. Von stintm Schiiltr. i\'fünchcn:
BÖHME, Jacob: ANrora odtr M0'1!nriJre im ANfgang. Hrsg. von Gcrhard Wehr. Fra nkfurt/ M.: Insel 1992, S. 64 [1,651. ~\."s ,
zloen .
330
Marrin: The Information. London: Flamingo 1995, S. 170f., im folgen de n im F1icßlexl
,Whar's your novel trying [0 say?' [... ) ,lt's not tt'}~ ng to say an)'thing. lt's saying ie' ,Bur /lIbaI is ir saying?' ,!r's s a)~n g irsel f. For a hundred and fift}' thousand words. I couldn', pur it in anothcr wa)'.' ,Richard Tull? Thank you ver)' much .' (340)
D er Text läßt keinen Zweifel aufkommen, daß die Epoche dunkJer und schwieriger Tex te unwiderruflich vergangen ist: Richard's bod)' knew that whatevcr ir was Richard srood for - ehe OOt-sOworldly, ehe conro n ed, the difficult - had failed. Los Angeles sought trans cendence ever)'where you looked, through astrology or crys tal o r body-wo rship o r temple-going, bur these were stabs at worldly divination, forccasrs abour how to do better in the here and now. (364)
Es ist also die Körperliebkeil, die Materialität, also das, was die postmoderne Theorie nach der ,Vertreibung des Geistes'624 hinterlassen hat, welche jetzt die Urteile verkündet. Immer wieder wird der Zerfall von Richards Kö rper ausgiebig geschildert, angefangen bd seinen büschelweise ausfallenden Haaren, seiner Auszehrung, sei ner Nikocin-, Droge n- und Alkoholsucht - im krassen Gege nsatz zu Gw)'n Batt)" det gesund aussieht wie ein Fernsehprediger, ein "video vicar" ( 141). Scho n die kö rperlich e Differenz zwischen Zerfall (Ri chard) und Gesundh eit (Gw)'n) ist jetzt die Evidenz für die Anullierung des geistigen Hintersinns: "if you looked like shi t, and fell' Lik c shit, and behaved like shit, then prcn)' soon you wcrc going tO smelJ like shit" (237). Da ist es ganz logisch, daß auch die Effekte von Richards dunkJen und schwierigen Tex ten kö rperfeindlich sind, denn die Lektüre seiner Bücher macht moderne und aufgeschlossene Menschen krank. Als ihm durch die Hilfe seines Freund-Kontrahenten eine Agentin vermittelt wird, beginnt diese mit der Lektüre von Ohne "filef. " Hal fway down page four an acute migraine and she never suffered from migraines, o r even headaches - sem her crashing inro the bathroom pillshel ves. Shc still had a bruise where she'd barked her forehead against the mitror" (193). Sie gibt den T ext an ihre Assistentin weiter: "halfwa)' through the anomalously brief flrst chapter of Untitled, Crcssida had suffered an arrack of diplopia 0 1' do uble vision - of sufflcient sevcrity fo r her G P ro suspect a case of (you'll like thi s) ,vascular embarassment' or even, quite possibl}', an o rganic lesion o f the central nervous system" (2 10). Hiernach werden Verlage direkt beschickt: "Tob)' Middlebrook, of the Quadram Press, having spent fifteen minutes with Unh'Iled on his lap, was admittcd the same day to St. Bartholomew's hospital with a case of vasomotor rhinitis. 614
Auch dies ein programmarischer Buchritel: KJ TrLER, Priedrich (H rsg.): Dir AlIslrtibling des Ctisfes allJ dtn CtültJUimnJfhcifttn. Prog ramme des I'OJIJIrNk!lIroIÜmIlJ. Paderborn Cf aL Schöningh 1980.
331
At present, he was in bcrwecn sinus operation s" (237). D ie Zukunft gehö rr demgemäß dem endlichen Geheimnis und der korrelierenden Rezeptionsweise, der Lektüre der Spannung. Auch wenn hier und da noc h einmal ein ,o ffenes Ende' auftritt oder gar ambiguisierre Filme entstehen, die Wiederholungslektüren anregen (z. B. IYlulholland Dn·ve) , so ist der allgemei ne Trend unbestreitbar: Texte sollen einfach verständlich sein, sie so llen spannend sein, sich am E nde aunösen. Daher werden sie nur einmal rezipiert, danach erli scht das Interesse und man wendet sich neuen T exten zu. Ideale rwei se kosten Texte möglichst wenig Geld und besitze n gar keine Materialität mehr, denn ihre Aufbewahrung mach t so wenig Sinn wie die L'lgerung benutzter Pappbecher: Film und Fernsehen bieten die ideale techno logische Lösung. Ein typisches Bei spiel für die Programmatik des Geheimnisses in diesem Ge nre ist de r wo hl populärste fiktive Held aller Zeiten, James Bo nd . D er hat es stets mit rätselhaft-bed rohlichen Gegnern zu tun, bezeichnenderweise lauter der Name des Schufts in Flemings Prototyp , Cosino '",pie (1953) ,Le Chiffre', D er spannende Handlungsbogen ist immer e rfo lgreich und immer derselbe: Bo nd erh ält eine gefahrliche Mi ssion, tri fft auf einen Gegner, der ihn vorübergehend gcfangennimmt oder entführt. Das ist exakt die Strukrur der Trennung, der Retardation [1 11 . 5), und typischerwei se tickt ab jetzt der Zünder der Bombe, welc he die We lt au slösc hen soll . Bo nd kann dann selbstverständlich entkommen und besiegt seine Gegner, entschärft die Bombe lind so fort: 1.....e ChijJre lös t sich auf. Es ist eklatant, daß solche Handlungsbögen die narrati ven Musler des spmlfle!lden Ro mans aus dem 18. J ahrhundert übernehmen und fo rtschreiben. D as Ließe sich problemJos für Legionen von populären Filmen aus J-1o ll}'wood zeigen; interessante r ist jedoch, daß sich auch die \'Vahrnehmungsweise von ,Mythen des Alltags' durch solche erlernten Rezeptionsweisen erklären lassen. Beso nd ers sc hö n läßt sic h das an de r mögliche rwei se sen satio nellsten Enthüllung zeigen, welc he die \"elt bislang erlebt hat. Am 2 1. Januar 1998 gi ng eine Meldung durch die Wcltpresse, in der eine geheime Aff.1.re zwischen dem amerikanischen Präsidenten Clinton und einer Praktikantin, Monica Lewin sky, aufgedeckt wurde: Ein Skandal ,625 der wie eine Bo mbe einschlug. Al s in der If/oshington Posl erste Details bekannt werden, kocht die Presse auf der Suche nach mehr Informationen über das Geheimnis. Die größten und wichtigstcn Fernsehsender stellten in ihren I achrichtcn dic Berichte über den hislorischen Papstbesuch in Kuba immer wieder hintan, sobald neue Einzelheiten über geheime Tonbandaufzeichnwlgen, über cin mysteriöses Kleid mit Flecken, über die Stimme des Präsidenten auf Monicas Anrufbeantworter oder über ihre heimlichen Bcsuche im Weißen Haus ans Licht ~
Vgl. BUSBY, Roben : Dtjnlfling J!Je Amm·ton PrWtkmy. Clintoll anJ IM uMinJk.J SfonJaI.
Houndsmills ct aL: Palgr::ave 2001. 332
kamen. Jedcs noch so kleine Gerücht, jede Mutmaßung und Verdrehung wurde bis ins Ictzte Dctail ausgeschladHcr. 626
Eine publizistische Studie zeigt deutlich, daß die Neflgierde, die SpannJing so groß ist, daß selbst die renommierte Presse ihr Ethos der quellemreuen Bericllte rstartung suspendiert: ..The initial lJ7ashiflgtofl Post story ran 1608 word s. It com ained four ,on the record' quotes l.. ']' It also quo red rwemy-four anon)'mous sourees, who were loosely identified in an)' number o f different wa)'s." 621 Die Korrelation von IVißbegierde und Ifljöm/OtioflIflIangel führt zu einem groresken Output von "gossip, analysis, and speculation [...]. On Good Morniflg AflIencll, in those early days, 72 per cem of all irs statements were based o n anonymous sources o r characterized as analysis or pundirry, as distinct from hard reporting - that is, o f elead y sourced fact. ,,628 Das führt natürlich zu Falschmeldungen - zur Befriedigung der Neugierde entsteht also auch hier, ganz ähnlich wie im 18. Jahrhundert, eine Form von Fiktionalität. Dem Publikum werden eifimde!le oder zumindest nicht seriös verbürgte Episoden für wahr verkauft; Kalb spricht von der HolliJlJoodizotion der Presse. Das Beispiel zeigt auch noch einmal, wie sehr Geheimnisse T exte an sauge n. In det ersten Pressekonferenz des Weißen Hau ses nach der Enthüllung befassen sich 11 3 von insgesamt 128 Fragen det Journalisten mit der Aff.'ire. All ein in der IVmhiflgton Post wurden zwischen dem 22. und dem 27. Januar 1998 in sgesamt 120 Artikel zu der EnthüUunggebracht.629 Die Lewin sky-A fflire ähnelt dabei einem empfindsamen Roman mit einem Schuß Sex & CrifllC: Es wird das I nreresse von voyeuri stischen Lesern befriedigt, di e sich an intimen und ge heimen Detail s aus dem Privatleben anderer berausc hen. \Xlie schon im 18. Jahrhundert handelt es sich um eine JIJohre Geschichte, so der Untertitel de r deutsc hen Überse tzung von Mo rto ns Biographie. 630 Erwartungsgemäß findet sich da s Thema der Meslllliance; der Kla ssiker, Adelige r liebt bürgerliches Mädchen, erscheint transpo niert in die Paarung Präsident - Praktikantin. Auch das Mo tiv der lIeifiihrten UnschIlIdi st identisch; weitere Anlehnungen sind die ge trennten Liebenden sowie die Entführung des Intrige nopfers - Mo nica ...vird beispielsweise vom FBI entführt oder muß sich über lange Zeiträume vor den Nac hstellungen der Paparazzi verbergen. Ein weiteres bem erkenswertes Struktunnerkmal läßt sich identifizieren. Wie zuvor ersichtlich , treten die geheim en ,Herzensgeständnisse< des empfmdsamen Romans oft in Fo rm authentischer Do kumente auf, die, wie etwa beim 6!1>
r..IORTON, Andrew: MOl/ieo uuillJky . Ibn uW/ln Geschiehtt. Berlin: Ullstcin 1999, S. 255f. KALB, Marvin: One S({IndotOlfS Story. Clil/IOI/, uuil/sJg, ol/d t/;e Thirtul/ Dtrys thaI lomished
Anltncon jOlimolisR'. New Vork CI al: Thc Frec Press 2001, S. 128. Ebd .• S. 130. 6..'?
Vgl. KALB, Man'in :
0,., Scol/da/oll! SIOry. ClinlM, uu..jl/sky , al/d Ihe Thirtul/ D'!Jslboi lomisINd
Amtncol/jollmolis11I. New Vork er al: The Frec Press 2001, S. 138 und 156. 6lO
MORTON, Andrcw: MOl/iro uuinsJg. Ihn )j'o/ln Gmhirbu. ß crlin: UllSlcin 1999.
333
Frdlllein IJon Slemheilll, ursprünglich an eine Vertraute gerichtet waren und später gegen den Willen oder zumindest ohne Wissen und Zustimmung der Betro ffen en ,enthüllt' werden und an das Licht der Öffentlichkeit geraten [111. 5). Exakt dasselbe findet bei Monica statt: Ohne ihr Wissen nimmt ihre Herzensfreundin Linda Tripp vertrauliche Telefongespräche auf, in denen Monica sich über ihr Verhältnis zu Clinton au sspricht, und leitet diese an die Ermittler weiter, durch die sie dann an die Presse gelangen. In der Presse beginnt dann der Prozeß der Enthüllung des Geheimnisses. Geradezu banal ist die Frage nach dem Bö sewic ht~ dem ,Lovelace', der sein Opfer gnadenlos ins Verderben stürzen will: Selb stverständlich handelt es sich dabei um den Ermittier Kenneth Starr, der erbarmungslos Monica und ihrer Liebe zum Präsidenten nachstellt. Es wird dann derselbe K enneth Starr sei n, dessen RepOrl die Veröffentlichungen der Presse noc h übertrumpft, wobei zum Softporno mutiert, was Monicas Biograph als empfindsamen Rom an darstel len wird. Hjer werden dann wirklich alle Geheimnisse enthüllt; unter T ageseintragungen (1) werden über lange Passage n sämtliche Intimitäten veröffentlicht. Stereotyp werden die Tage, an denen es zum Austausch von Zärtli chkeiten geko mmen ist, entsprechend marki ert: " D. Februaf)' 28 SEXUAL EN COUNTER" heißt es typisc h in einer Überschrift, und dann geht es beispiels• • wel se weiter: ~h.
Lcwinsky Icsti ficd that aftcr thc Prcsidcm gave her gifts, they had a sexual encou nter: ,,\VIe went back over by the bathroom in the hallway, and we kissed. \VIe were kissiog and he unbunoncd m)' drcss and fondlcd m)' breasrs wirh m )' brn o n, and lhell rook ,-hcm OUI of m)' bra and was kissing th cm and fo uch iog them wirh his hands anel with his mouth. lieh crspare uns den RcstJ" Ms. Lewinsky Icstificd that shc and thc Presidcnr huggcd , aod " he said he didn' r want (Q gcr addicrcd to mc, and hc didn' t want me to get addicted to hirn. " They looked at each other for a mo mem.611
Ein erfahrener Journali st wird später kommentieren : ",None of us had ever seen a story like chis before. ".632
'"
STARR, Kenncth W.: Tht S/a1T Rrport. Tht Findingl oJ lndtJNndtlll COJU lld Ktmulh IV. SlolT on Pmidtnl Clinlon ond Ihe UU.ffll~ Affair. Ncw Yo rk: Public Affairs t 998.
~ll
KALB, Marvin: One SwndulOiIl Slory. Clinlon, uuinlJg, and du Thirtten DOYI Ihol tomiJhed
Amrn"tanjoJlmuliJm. New York
334
Cf
at: The Frce Press 2001, S. 242.
IV. Unmittelbarkeit: Der Reiz des E rlebens
"Die Unmittelbarkeit ist abgeleitet."
1
1. Unmittelbarkeit zwischen Ähnlichkeit und Geheimnis D er Begriff der Unmittelbarkeit ist bislang allenfalls marginal Gegensmnd einer Theoriebildung gcworden. 2 1n unserem Kontex t ist cr deftniert als Figur der Übcrschreirung von Medinlitiil schlechthin. Die Kommunikatio nsfo nn der Unmittelbarkeit bezieht ihre Aura daraus, daß sie im-medialfls ist, al so vorgibt, nicht in Form eines Mediums vorzuliegen. 1m Lichte dieser Definitio n läßt sich Derridas GrllllJllltllO/ogit als herausrage ndste Analyse der Unmittelbarkeit lesen (I. 2) . Seine Untersuchung [astet die abendländische Tradition im Hinblick auf die Unterscheidung Still/Ille versus Sclmft ab und zeigt, daß die Ablehnung der Schrift (am prägnantesten ist die paulinische Wendung: "Denn der Buchstaben [fit/emJ tödter / Aber der Geist ISpiri/m) machet lebendig"J) immer zugleic h einer Ablehnung von M ediafi/älemspricht. Dagegen ist es die Präferenzseite der Opposition, die S/ill/II/e, welche innerhalb der unaufhörlichen Fortschreibung der Medialität das Phantasma einer Un-Mittelbarkcit zugleich erzeugt und verschiebt. 4 Analog wird Unll/illefbarkeil auch hier verstanden - es handelt sich um alle Kommunikatio nsphänomene, die zugleich in einem Medium vorüegen und
1
D ERR1DA. J ac'lues: CrammaJo!ogit. Übers. vo n Hans-J ö rg Rheinberger und Hanns Zischler. Frankfurt/ M.: Suhrkamp 1994 [1967] . S. 272.
l
D ie einzige mir bekannte i\-Ionographie. die U'lmifftlbadetil im Titel trägt und den hier beschriebenen Sachverhalt rhematisiert, ist die Dissertation Z IMMERMANN, Chriscine: UnmilulbarkLil. Thton"en iibtr dt n Urspnmg tür Mllsik lind dtr Sprache in dtr A Slhtlik dn 18. jahmllndtrlJ. Frankfun / l\·J. el al.: Lang 1995. Im bibliographischen Anhang findet sich auch do n keine DarsleUung mit Unmilltlbarktil im Titel, allerdings ist die U ste der berücksichtigten Fo rschungslitc.rarur insgesamt knapp. Hinzu ko num . daß Z immermann keine D efinition dessen vorlegt, was sie unter Unnlilttlbarktit verSieht.
l
Bib/ia C m!/(U/ira. Übers. \'On Martin Lurher. Faks. Nachdruck der Ausgabe Witlenberg 1545. Stungan : Württt'.mhergische Bibdanstah 1967, 2
Korinth e ~
3 [6] .
~ Vgl. D ERRIDA, Jacques: Crammafologie. Übers. von H ans-J ö rg Rheinbcrger und Hanns Z isch-
ler. Frankfun / M.: Suhrkamp 1994 (1967] .
335
doch sugge rieren, die Medialität zu überschreiten. Dann sc hwindet .,die leiseste E rinnerung an Arbeit, Kunst und Bedürfnis. \Xlir werden das Ivledi"m nicht mehr gewahr, die Hülle schwindet, und unmittelbar genießen wir die reine Schö nheit"S - in diesen \Xlorten beschreibt Schlegel die ästhetisch -roman tische Fassung der Unmittelbarkeit, hier in der Schattierung der Kunstverbergung (celare artem). Das Zeichen ist so kunstvoll hergestellt, daß man den Gegenstand selbst zu erblicken scheint. \Xlähren d man im Normalfall in Fo rm von Zeichen, Texten, Sprache kommuniziert, führt die Unmittelbarkeit direkt in medias res, sie suggeriert einen direkten Kontakt mit den Dingen, erzeugt Phantasmen der sinnlichen Vision, der Berührung, der Körperlichkeit. Det Rezipient liest nicht mehr, sondern et erlebt. Die Programmatik der Unmittel barkeit wird also durch exakt dieselbe Paradoxie etzeugt wie A 'hfllichkeit und Geheimnis, auch sie suggeriert als Kommunikatio n zugleich eine Uberschreit""g det Ko mmunikation. Demzufolge erscheint die Unmittelbarkeit oft verstrickt mit der Programmatik der Ähnlichkeit odet des Geheimnisses. E s wird im Verlauf der Argumentation deutlich werden, daß sich die Methodik der isolierellden Darstellung, wie sie in den Kapiteln zu /fhlllichkeit und Geheimflis angestrebt wurde, kau m mehr aufrechterhalten läßt, denn mit fortschreitendem Etkennrnisstand läßt sich die lnteraktion der beschriebenen Programme immer weniger ausblenden. Tatsächlich hätten sich die berei ts besprochenen Texte ebell sogut zum Ausgangspunkt von Ausführungen über die Unminclbarkei t geeignet. Ein radikal ähnliches Zeichen im Sinne von Z euxis oder Gorgias, das sich auf dem \Veg der Sim"lalioll dem Signifikat immer wc iter annähen, kann nicht anders als unmittelbar wirk en [11. 1/3]. Die Illusion suggeriert cinen unve rmi ttehen , direkten Kontakt mit dem Gegenstand [11 . 5J. Bis hin zur ,täuschend echten' SpieJewelc der PIt!)'Statioll bedeutet ein Zuwachs an Ähnlichkeit immer zugleich eine Steigerung der Unmirtelbarkeit [11. 8). Je perfekter und überzeugender die Simulatio n, destO mehr tritt das Medium zutück und verwandeI r sich in Erlebnis. So ragr das im Kontext der Ahnlichkeil bereits besprochene V e'l,egCflJlldrtiglfflgspri"ifp [11 . 3], welches darauf abzielt, die Gegenstände (in maximaler An schaulichkeit) ,vor Auge n zu steHen', immer zugleich in die UnlJlittelbarkeit hin ein. Die Radikale der Simulation, etwa das kün stliche Doppel der G eliebte n im Kuppelsaal des Tristall, erzeugen immer auch die Suggestion der Gegenwart, der Vision, der Berührung. Dasselbe gilt rur die Anschaulichkeit der Betrachtung (11 . 4]. die eben fall s idealerweise zu einem IlIIlJIillelbaren Erlebnis führt: ,.Habe also auf all es acht [al/ende], als ob du dabei gegenwärtig wärest Isi presem essnl"6, ~ SCHLEGEL, Fricdrich:
Krif1Jr!Jt """ugoht. ßd. 1-22. München et al.: Schö ningh 19 58ff. Bd. I: SlId im du /eJowJrhtn A lftrluHIJ, S. 298 L.Übcr das Studi um der Gricchischen Poesic" ]; mein e Hcn to rheb ung.
~ PSEUDO- BoNAVf.,......'TURA: Dit Btfrorhlungtn iihrr dos Leben ClmJh. Üb ers. vo n J ohann Jako b
Hansen. Paderbom: ß onifacius 1896, S. 182.
336
hatte Pseudo· Bonavenrura seine Leser aufge fo rdert. Das sprec hende Kruziftx des Franziskus entspricht einem direkten Kontakt mit Jesus. Auch die vielen LekrüreprotOko lie. die immer wieder die fast magische Anwesenheit des Be· schriebenen beschwö ren, illustrieren ein unlllilleibares Erlebnis (11. 5] ; um mit Lessing zu sprechen: "Ergrimmt. mit Bogen und Köcher. steiger Apollo von den Z innen des O lympus. leh sehe ihn nicht allein herabsteigen, ich häre ihn."7 Solche ukIiiren der Unlllittelbarkeit werden dann immer wieder reimprägnierr durch Figuren der G leichsetzung von Text und Au tor. Scho n bei Augustinus hieß es "Sie iraque audiar" (,in diesem Sinn soll man mich hö ren'). als wäre es möglich. aus dem Buch heraus unmittelbar den Auto r sprechen zu hören.8 D iese Figur wird Ro usseau in seiner epochemachenden, modernen Variante, den Conftssions, übernehmen: "nachdem man mich gelesen hat lapres III ·{///oir lllj"9. Der Leser liest hier keinen Buchstabentext. sondern tritt in .direk· ten' Kontakt mit der Aurorseele (11. 7] . Bei I...enz heißt es: "Werd ich gelesen und der Kopf ist so krank oder so klein, dass alle meine Pinselzüge unwahr· genommen vorbeischwimmen, geschweige in ein Gemälde zusammenfließen - Trost! ich wollte nicht gelesen werden."'o Diese Überschreitung der Medialität, die den T ex t zu einem unmittelbaren Gesprächspartner erhebt, kann dann so weit gehen, daß das Buch zum quasi·menschlichen Freund wird; das ist schon bei Goethes IPer/her SOll und wird dann, wie Leavis zeigt, auch für das Gros der populären Romane gelten: YOLI havc thc power I...J of making YOllt charactcrs liL't. T hcy become o ne's fcien d, . [/ /J All thc pcoplc who live in thc pagcs o f YOllr work are so intenscly real O ne knows rh em as frie nds. [/ / j YOllr characters are so human thaI Ihe)' live with me as fricnds. {...l They are al1 ('tnl ",m, with real men's temptatio ns 1... j.12
Umgekehrt lassen sich ebenfalls für das Verhältnis zwischen Geheilllllis und Ulllllilleibarkeit umfangre iche Konvergenzen nachweisen. D enn je weiter man 1
LESSING, Gorthold Ephraim: L"okoon odlr Ober dir. Gf'tn~n dir Malm; lind Poesie. Hrsg. yo n Ingrid Kreuzer. Snmgan: Reclam 1994, S. 107; meine Hcryorhebung.
B
AUG Us'nNUs, Aurclius: &krllllln;m. L:u einisch und deutsch. Übers. von J oscph Bemhard. Frankfun/ M.: Insc,11 987, S. 494 IX, 41.
?
ROUSSEAU, J acq ucs: Brknmlnim. Übers. von E rnst Harde. Fran kfun / M.: Insel 1985, S. 37; fra nzösisch: ders.: Lu eo,iftJSions. Hrsg. \'on Ad. Vaan Bevcr. Paris: Garnier 1926, S. 9.
1&
LENZ, J ako b r-.1.ichael Reinhold: !f/trkt. Hrsg. von Friedrich Voil. Stuttgart: Reclam 1992, S. 386 ~,Anmerkungen übers Theater''J.
11
Der T ext beginnt mit eine r Aufforden mg an den Leser: "laß das Büchlein deinen Freund seyn, wenn du aus Geschick oder eigner Schuld keinen nähern find en kannst." GOETH E, Jo hann Wolfgang: Siimlhrhe W'trke, ßngr, Tagebikhtr und Gespriicht. 1. Abteilung, Bd. 8: Die LLidl n du j al/gm 117lrlhus. Die ltyah/vtnnu:dJschaftln. KJcine Prosa. Epen. Hng. von Waltraut W iethölter. Frankfun/ r..t: D eutscher Klassiker Verlag 1994, S. 10, Z. 9- t 1.
12
L EAV1S, Q ueenie Do rom)':
Firtion and Ihe fVading Pub/ü. Londo n: Bellew 1990 /1 9321, S. 58.
337
in die Tiefe vordringt, je höher man sich über die Dinge erhebt, desto mehr nähert man sich dem G eheimnis und seiner Offenbarung - die Unmillelbarkeit ist immer zugleich auch eine Dislanzyem·ngenmg. Der Auserwählte, der Eingeweihte hat dann möglicherweise sogar das Privileg, mit Gott direkt zu sprechen, wie Moses etwa Jahwe auf dem Sinai Jlnmillelbar begegnet [III . 1] . Das Geheimnis korreliert dann mir der Unmittelbarkeit - o hne noch einmal den Cursus des Geheimnisses durchlaufen zu müssen, läßt sich das durch einen Seirenblick auf einschlägige Lexiko nartikel zeigen. Lewkowitz schreibt im Jüdischen Lex ikon unter dem Stichwort Geheimnis: " Das Geheimnis der Religion ist die Unmittelbarkeit der göttlichen Selbstoffenbarung. l... ] Gorresschau ist das Überwältigtsein der erschüttenen Seele von dem sich ihr offenbarenden Gone. [...] Die Unmirrelbarkeir der Go treso ffenbarung erweiten das Blickfeld des Geistes ins Unbetretene, nicht zu Betretende."13 Rahner fo rmulien im Lexikon für Theologie lind Kirche, ebenfalls unter dem Stichwo rt ,Geheimnis', das Folgende: "GOtt Ibleibt 1 [ ... 1 das unmirrelbar in sich selbst geschaute unbegrei fliche Geheimnis.«1 4 Die Unmi rrelbarkeir teilt dabei einen zentralen Aspekt mit dem Geheimnis: Die auf dem Wege der Unmittelbarkeit übertrage nen transzendentalen Signjfikate sind auch hier stets nicht-sprachlich. So verhiel t es sich beispielsweise im Falle der augustinischen Lektüre der Tiefe, deren Allegorese himt:r der Obe rfläche einen geheimen, zugleich nicht-sprachlichen Tiefe nsinn (hypofl oia) erschließt [111. 2] . Der Interpret enth üllt dadutch die Geheimllisse des Textes, seine trallszendelltalen SiglliJikllte, die immer zugleich nicht-paraphrasictbar sind, denn an sonSten briiuchtell zuk ünftige Rezipienten nur noch den Ko mmentar zu lesen. Exa kt d a ~se lbe gilt mutatis mutandis auch für die Programmatik der Unmittelbarkei t. Scho n bei Augustin us war ja die absolute Ko mmunikation mi t GOtt im SchJlleigen der " Visio n von O stia" nichl-spmchlich und zugleich ImlIIitle/bar.15 Es ist lo hnend, auch diese zentrale Stelle noc hmals kurz zu zi tieren: Brächte es einer dahin, [...J daß jede Art Sprache, jede Art Zeichen [olllms linglll' tI Olll1lr S~fI/(IIIJ und alles, was in Flüchtigkeit sich ereignet, ihm völlig verSUlln mte [ silra~ l .... 1 Wenn also nach diesem Wort das AU in Schweigen versänke ltnerII LEWKOWITZ, Alben : " Geheimnis,." In: j iidiuhtJ Lt;o.:ikon. Ein en:ry!elopiidiJrbu Hand/md; du jiitliJrhtn lJ7iJsens. Bd . 1-4. Bcgr. von G co rg Hcrlitz und Bruno Kirschne r. Berlin: J üdischer Verlag 1927. Bd. 2, Sp _936-937, hier Sp . 936. 14
RA I.INER, Ka rl: " G eheim nis." In: U >,,"ikonfiir Thrologit lind Kirrbt. Bd. 1- 10. 2., vö llig neu b ear b. Aufl . Hrsg. von J osep h Ho fer und Karl Rah ner. Freiburg: Herde r 19 57-1965. Bd . 4, Sp. 593-597, hier Sp. 594.
a Vgl. zur Frage nach der Unmirtelbarkeir der G o rteserkenm nis auch GRABMANN, J\'[artin: Drr gijltlirht Gmnd RltnJlhkrhtr lJ7obrlJtilstr!e"m/niJ nOlb AlIglIstinllJ lind Tboll/os I.'on A qllin. FOTSrb"ngen iihu dir ollgllsh'nisr!;e IlIlIminations/mode "nd ihrr BeNrttil"ng dllrrh dm hl Themas '.'fm A qllin_ Münster: Aschendo rff 1924, S. 18ff. G rahmann weist da ra uf hin, daß AugusUnus sein Ideal der G o rn mmirtelbarkeit in seinen Sp ätschriften insofem leicht zurücknimmt, als er eine direkte und vo llst2 ndige Schau G o ttes n ur noch Mo ses, den Apostcln ete. vo rbehält u nd an eine "gänzliche Entrückung" ko ppelt (S. 20).
338
llfl~,
weil es sein L'luschen zu dem erhoben hat, der es erschaffen, und wenn nun er allein spräche [... 1 ist nicht dies es, was da gesagt ist: "Geh ein in die Freude deines Herrn [illlrli in gal,diuni dOll/illi 11/11?,, !6
Bemerkenswert ist, wie dezidiert dieser Text (als Text!) seine Medienkrilik voträgt. Die rotale Kommunikation findet in der rotalen Annullierung von Kommunikation, ohne omnis linglta el omne slgnltm, statt, im vollständigen Schweigen, lind erbringt zugleich das ,Eingehen' in GOtt als Kulminationspunkt der Unmillelbllrkeil. Das transze ndentale Signifikat wird dabei jenseils aller Sprache und Medialität erlebI, die 0'Ponoia ist immer und ausnahmslos Nichl-mehr-Medifflll.
2. Gottunmittelbarkeit: Von Gesichten und Visionen (SEUSE / BRENTA NO)
Die Programmatik der Unmillelbarkeil zeichnet sich durch eine direkte Teilhabe an transzendentalen BOtschaften aus. Ein typi scher Archetyp dieser Kommunikationsweise ist di e Auffassung vom Dichter al s Sprachrolu göttlicher Nachrichten im Kontext der InspiraliolfJlheon'e: "der Inspirierte [...J zeichnet sich aus durch seine Unmittelbarkeitu . 17 In der griec hischen Fassung figurieren die neun Musen, Töchter von Zeus und Mnemosyne, als QueUe der l nspiraDo n und eben auch der Erinnenmg (V. 1] : Der antike Sänger (aoMos) reproduzicrr da s, was ihm die Mu sen eingeben. " Inspiration ist wörtlich zu ve rstehen als der Akt, in dem göttliches Pneuma den Menschen [... 1überkommt."'8 Das bekannteste Beispiel aus der griechischen Antike ist die Invokatio n der Musen aus dem zweite n Gesang der /liaS". Kündet, ihr tvtusen, mir jetzt, die ihr hauset im hohen Olrmpos; Göttinnen seid ihr, allgegenwärtig 1P0rtIlei und alles erkennend [/e isle lepOlIlai; Unser Wissen ist nichts IOl/de h· idnltflJ, wir horchen allein dem Gerüchte: Welches waren die Fürsten der Danaer und die Gebieter? N ie vermöcht' ich die Schar zu verkündigen ll/9t1mo",011 oder zu nennen lOl/oll/asol, Härt' ich auch zehn Kehlen zugleich, zehn redende Zungen, Wär' unverwüstlich die Stimme und ehern das Herz mir geschaffen, 16
A UGUSnNUS, Aurelius: Bdetnnlnim. Lateinisch und deutsch. Übers. vo n j oseph ßcmhard. Frankfurt/ M.: Insel 1987, S. 465/ 467 fiX, 101.
II ß ARMEYER, E ike: Dir MUJUI. Ein Btitrag ~r [,upir(l!ionslhton'e. t...lünchen: Fink 1968, S. 13. Vgl. zur Tradierung der r.-Iusenanrufung in der modemen Literatur ARENOT. Dieler: "Sage mir, Muse ... HomerI', Heinrich: Stbrifl, Gfisl und 117011 Goltu. GtltNng Nlld lV'irhlllg dfr BüJtI in Jfr Gesr/)id;lt dir KirrlJt. VOll dfr AI/rn Kirrhr biJ ?!IHI ANsgang drr RLjormatiollsi!il. Dannstadt: \'Viss. ßuchges. 1992, S. 82. Vgl. DI NZ ELBACHER, Pe!er: Visior. Nd Visitmsh'ltralNr im Milltlülltr. Sillngart: ~LielSema nn 198 1, hier S. 243. Vgl. neben d em Ho helied als Quelle auch 2 Ko rinther 11 , 2 sowie Epheser 5, 3 1f.
355
Frömmigkeit und Taubeneinfalt derjenigen, der wird diese Schrift verdanken." Der Text f.'ihn später fort: " Die Offenbarungen und Gesichte. die der all~ mächtige Gon sich würdigt. seinen Auserwählten mitzuteilen, gründen und beginnen in der Einfalt des Glaubens. [...J Nur vor solchen sind die himm ~ tischen Geheimnisse offen" .BI Es scheim gerade diese Einfall zu sein, welche Vorstellungen einer besonders aufnahmebereiten Empfindlichkeit und der blo ß passiven Aufnahme und \Xliedergabe transzendentaler Mitteilungen ve r ~ stärkt. So empfangt Mechrhild den Text Das fließende u cht der GOI/heil (- 1250 ~ 1282) direkt von Gon. Bereits in der Eingangspassage wird Gon als Autor vorgestell t (...Eya hette gOt, wer hat dis buoch gemachet?' ,Ich han es gemachet"'); immer wieder wird die Gotrunmittelbarkeit des T ex tes bestätigt ("Alsust ist dis buoch minnenklich von gotte har komen und ist us men s di ~ ehen sinnen nit genomen.,,).B2 Immer wieder reimprägnierr der Text die Grundkonstellation der Schreibsituation: Die Einfalt der Seele, die Gnade der direkten Kommunikation mit GOtt, welche zunäch st geheimge halten wird und erst durch einen (mitumer göttlichen) Schreibbefehl und die diesseitige Legiti ~ mation durch den Beichtvater (ein T opos der frauenmystischen Literatur)83 in einen Text gegossen wird, der dann das Phanrasma eines unmittelbaren , au ~ thennschen mystischen Erlebnisses erzeugt. IW Die GotnlOminelbarkeit, fo nnal VON r-,'!AG D EßUKG: DaJ flitßendt LirbJ fltr GOJlIJtil. Hrsg. von Margol Schmidl. Einsicdcln CI al.: Benzigcr 1955, S. 48; im O riginal heißt es: "Sufficcre debet o mnino pro t('sumonio verhaus pio rum credulau fidcl iwn ej us, pe r quam hac scriplUra innoruit . sincera dcvotio CI simplicitas colwllbina [... 1 [l I Revclationes er visio nes, (illas o mnipolens D eus elcrtis suis mainfestare digna tur. fidci simplidu.s in ipsis fund:u er inchoat [... 1 T alibus namquc palent sccrcta coclesua [... 1"; abgedruckl in fu/!tlaJiollu Gtrlrudionoe M trh'hildionot. ßd. 1 ~2. Hrsg. von den Benedikunern von Solesmes. Paris: Oudin 1877. Bd. 1. S. 436(.
81 i\'! ECHT H ILD
0,
VON M AG D EßUKG: Das ßitfondt Lirb, dtr GoJlbtil. Nach der Einsiedler Handschrifl in kritischen Vergleich mil der gesamlen Überlieferung. Hrsg. \'o n H ans Neumann. Bd. 1~2. München, Zürich: Artemis 1990. Bd. I , S. 5 und S. 17.
82 M ECHT IHLD
83
SIelIennachweise zwn Schreibgebor find en sich 1I. a. in der Amholog1e ScH MlDT, Margot (Hrsg.): M U!Jlbiki/,!()n Magdtbu'J!,. ,/rh lanzt, u'tnll du ",irh jiibnl'. Freiburg/ Br.: H erder 1988, S. 53 ff.; eine Synopse der TIlematisierung des Lcsens und des Buches bietel WEBER, Barbara: Die Fun/eJion ,Ier A lllagJuirlelirbluiJ in der MtJapbon'/e Ao/trhthikiJ /.!()II Magdtbu'J!,. Göppingen; Kümm ede 2000, S. 135ff. D ie gönliche Autorschaft vedeiht Mechthild die Rolle einer ,Prophecin'; vgl. STADLEK, Helena: KOlifrolllalion und Nadifolgt. Die mtlaplJOrlJthe find IIamllil'f AJlJguJallfing der ,Jlnio ,,!yJlit(l' im ,Fh'tJJtII,ltn Lithl dtr GOI/beil' /,'O n M uhlbild /'On M agdtbu'l,. Bem CI al.: Lang 200 1, S. 36ff. Vgl. zwn Motiv des Seelsorgers im Umkreis frauenmystischer Visionsliteranu PETERS. Ursula: RtligioJt Erfahrung als IÜtral7Jrhn Fa!eJu"l. Zur VO'J!,mhirblt und Gtnm jrautn"!yJ/ü{her Texlt du 13. find 14. }obrl",nderls. Tübingen: Niemeyer t 988, S. 10 1· 188; BORKLE, Susannc: Ultra/ur im KJoslrr. T iibingen, Basel; Francke 1991 , S. 193ff. sowie RINGLER, Siegfried: Vilen· ulI(I Olftnbarungslilemlur in FrO/(mkJÖJJern du M i/ltWllm. Qutllen ul/(I Sludim. Zürich, München: Anemis 1980, S. 175ff.
84
Vo r allem neuere, lirerarurwissenschafdich inspirierte Monographien zur m ysuschen Literarur arbeilen (zu Rechl) die literarischen Vo dagen dieser T exte heraus, die festen, immer wied er~ kehrenden Muslern folgen - was im übrigen nicht verwunderlich ist, denn der Ri:ickgriff auf bestehende Ko mmunikatio nsmuster ist injtdtHI JüleNnü-'fn SYJltltl die Bedingung der Möglich ~ keit erfolgreichen Kommunizierens. Irreführend ist dagegen die Schlußfolgerung, man solle " den Blick weniger auf den Akt der Verschriftlichung religiöser E rfahrungen" lenken und
356
vor aUem durch das Ko nzep r eines Dialogs der Seele mü Gmt gestalret,8S fü h rt einerseits zu einer lange Reihe von Berichten über Jenseitsvisio nen86 un d kulminiert in Hö hep unkten mystischer Hochzeitslager mit Gott-C hrisrus: Nun geht die Allerliebste zu dem Allerschönsten in die verborgenen Kammern der unsichtbaren Gottheit. D ort fmdet sie der Minne Ben und Gelaß und Gon übennenschlich bcreit. D a spricht unser Herr: Hah,e r an, Frau Seele! (Seeleo) Was gebietest Du, Herr? (Gott) Ihr sollt nackt sein! (Seele,) Herr, wie soU mir dann geschehen? (Gort,) Frau, Ihr seid so sehr in mein Wesen gehoben D aß zwischen E uch und mir nichts sein kann. (... J Herr, nun bin ich eine nackte Seele, Und Du in dir selber ein reichgeschmückter GOtt. Unser zweier Gem einschaft Ist ewiges Leben ohne T od. Da geschieht eine selige Stille Und es wir ihr beidcr Wille. Er gibt sich ihr, und sie gibt sich ihm.&7
srandessen d en ,.literarischen Charakter d ieser Werke" stärker beachten (P E·mRS, Ursula:
RtligioJt Etjo/1I1mg ab h'l mmJdm Polei/mI. Zar VO'1!Sr/)ir/;le und C",ese !mutnnrysfÜ(IJer Ttxle du 1). lind /4. jahrlJund"1s. Tlibingen: N iem eyer 1988, S. 192). Denn hier dient der Verweis auf die ,Lilerarizilät' dazu, d as Textzemrum einer unminclbaren, authentischcn Erfahrung (llflzuh/tndtn (unausgesprochen wird de r Textmittclpunkt ästhetisiert und damit ,fiktionali siert') . Selbstverständlich spielt die Frage nach der ,Wirklichkeit' dieser Erfahrungen keine Rolle, aber man muß doch zuglc.ich erklären, IIItJwekhe IWtiu die Phantasmen d er Unminelbarkeit und der Authentizität im T ext erl.eugt werden, denn genau diese erzcugen ja die Faszination in der hisrorischen Rezeptionssituation: ,Gon hat direkt mit mir gesp rochen.'
8' Vgl. u. a. HL\UG, Waher: " Das Gespräch mit d em unvergleichllichen Panner. Der mystische
D ialog bei Mcchrhild voo Maged burg als Paradigma fw- eine person ale Gesprächsstruktur." In: Dns Grspriirh. Hrsg. von Karlheioz Stierle und Rainer Warning. München: rink 1984 (= Poetik und He nn eneutik, 11), S. 251-279; At'\JDERSEN, Elizabeth A.: The Voias 0/ Muhlhild ofMngdtbN'E- Oxfo rd er al.: Lang 2000.
116
Eine systematische Übersicht bieter BOCHSLER, Katharina: ,Ich han dn inne ungt!MrtN ding
gmhm. ' Dit jenmlmnOntn Mtrhlhi/dJ 'IOn Ma!fltbu'1. in dtr Tradition der nJillelolttrliriHn VisionJliltralur. Bem et al.: Laog 1997. 81 ~lEC HTI II LD VON ~-lAG DEB U RG: Das ß itßtndt Lid;1 dtr Gol/htit. Hrsg. von Margot Schmidl.
Einsiedcln er al.: Bc.nziger 1955, S. BOf.; das Origin al Jauter: "So gat du allerliebste zuo dem allerschönsten in die vetho lnen kamm eren d er unsUnlichen gotheit. D a vindet si der minne bette und minnen gelas, von gorte unmenschlich e bereit. So sprichet unser herre: ,stant, vrouwe scld' ,Was gcbutesr du, herre?' ,Ir sön r ueh usziehen!' ,Herre, wie sol mir denne geschehen?' r rouw sele, ir sint so sere geoarün in mich, das zwUschend uch und mit nihtes mag sin.' [... ] ,Herre, nu bin ich ein nakem sele und d u in dir selben ein wo lgezieret gOt.' So geschihe[ d a ein selig stilli nach ir beider 'Willen. Er gibc.t sich ir und si git sich ime." MECHTHILD VON MAGDEBU RG: Das flüßende Lirhl der GOflhtil. Nach der E insiedler H and schrift in kritischen Vergleich mit der gesamten Überlieferung. Hrsg. von H ans Neumann. Bd. 1-2. München, Zürich: Anemis 1990. Bd. t , S. 3 1f.
357
D as brautmysosc he E rlebnis erfa hrt Gmt hier in der höchstmöglichen Unmittelbarkeit, in der geschlechtlic hen Ve reinigung, in der mitunte r kaum gezügelte Leidensc ha ft mitschwingen kann; "je mehr seine Lust wächst, um so schö ner wird ihre H ochzeit, / J e enger das Minnebe n wird, um so innige r wird die Umarmung", heißt es an einer StelJe88, an einer anderen: "Eia H err! Liebe mich innig, und liebe mich häufig und lang!u89 Wie sc hon zuvor im FalJe der prophetischen Bücher thematisieren auch diese Visio nsberichte die Gotrunmi ttelbarkeit in erster Linie auf der E bene der Kommunikatio n zwischen Gott und Mystikerin, blenden dagegen d ie Frage nach der unmittelbaren Tex trezeption aus. D ennoch lassen sich Belege fin den, welche zeigen, daß solche Radikale der Unmittelbarkeit immer auch eine Steuerungs funktio n fü r das gesam te kommunikative Gesc hehen besitzen. In der Leb ensbeschreibung H einrich Seuses, des nach Meiste r Eckhart wohl berühm testen deutsc hen Mystikers, erfolgt die erste E kstase scheinbar spontan: do wart sin sei vcrzuker in dem libc neiss uss dem Iibe. Da sah er und horte, daz allen zungen unsprechlich ist: es waz fonnJos und wiselos und hate doch aller fo rmen und \visen froederuichen lust in ime.90 Tatsächlic h erweist sich di e SteHe allerdings als Lektüre, denn sie ZItiert fa st wörtlich die zentrale neutestamentliche Bibelstelle, welche der m ys tischen T radition als Auto ri sierung einer E rfa hrbarkeit G o ttes im diesseitigen E rl ebnis die nt: Ich kenne einen Me nschen in Chri s(O Ibotllil1etll ;11 Cbristo!''' / vor vierzehen jaren / Ist er in dem Leibe gewesen / so weis ichs nicht / Oder ist er ausscr dem Leibe gewesen / so weis ichs auch nicht / Gott weis es / Dersclbige ward 8tI
r-.'lECHTU1LD VON MAGDEBURG: Das ßitfemk Licht der Gottheit. Hrsg. vo n i\hrgot Schmidt. Einsieddn et al.: Benziger 1955. S. 66; im Origina!: " Ie sin Iusl me wahsel. ie ir bruclofl grässer wirt. / Ie das minne bet enger wirt, ie die wnbehalsunge n aher gaL" MECHTl-IlI..D VON MAGDEUURG: Das ßitßmde LithJ der GoI/heil. Nach der Einsiedler Handschrift in kritischen Vergleich mit der gesamlen Überlieferung. Hrsg. von l-lans Newnann. ßd. 1-2. München. Zürich: Anemis 1990. Bd. I, S. 17.
S9
MECHTIi lID VON MAGDEBURG: DM ßitßtnde Lithl dir Gotthtil. H rsg. von MargO! Schmid t. Einsiedeln et aJ.: Benziger 19 55, S. 68; im Original: " Eya h erre, minne mich sere und minne mich d ikc wld minn e mich lange!" MECHTIiIl..D VON MAGDEUURG: DM ßießtnde Lichl der GolJmit. Nach der Einsiedler Hand sch rifl in kritischen Vergleich mir der gesamlen Überlieferung. Hrsg. von Hans Newnann . Bd. 1-2. Münchcn, Zürich: An cmis 1990. ßd. I, S. 20.
90
SEUSE. Heinrich: Dmlstm SfhriJitn. Hrsg. von Karl Bihlmeyer. Sruttgart: Ko hlhammer 1907.
S. 10. 91
D . i. " Ich, Paulus"; auch diese Srilisierung. die " paulinische Wend ung", ada ptien die Vita an anderen Stellen. Vgl. MISCH, Geo rg: Die Geschichle der Alltobiographie. Bd. 1-4. 2., durchges. Auf}. Frankfurt/ M.: Schuhe-Bulmke 1931-1969. Bd. 4. I. S. 121. Vgl. zur ,paulinischen Wendung' auch die Imcrprelatio n in Ll.t~ DBI.OM,Johannes: GtJJ"rhle lind OJfonbamngtn. Vom d IImgtn t'On ~'ttll"rmn Wtisllngtn lind iibtmaliirlithm Ersthtinllngen im ,i/ltslrn Chdslenlllffl. Lund : Cleerup 1968 (= Acta Reg. Socielatis Hwnanio rum utterarwn Lundensis, 65), S. 42f( bes.
S. 45.
358
entzücket / bis in den dritten Himd. Vnd ich kennen densdbigen Menschen / Ob er in dem Leibe oder ausser dem Leibe gewesen ist, weis ich nicht / Gort weis es / Er ward entzuecket in das Paradis / vnd höret unaussprechliche wo rt 92 lOl1?Ja stnlaM / orrana vtrba] / welche kein fvlensch sagen kan.
Se uses Initiationserlebnis entpuppt sich demgemäß als eine Lektüre der paulinischen Protomystik, und zugleich wird es zum Inzentiv, die unmillelbare Erfahrung der Transzendenz erneut herbeizu führen. ,.Der lo f, uf den sin leben dur na viI zites gerihtet was mit inrlicher uebunge, waz ein steter flizz emziger gegenwurtikeit in minneklicher vereinung mit der ewigen wisheit: m Seuse bemüht sich nun , das E rlebnis d er Transzendenz über T extko nsum, also: lf7iederholllflgslekJüren herbeizuführen, denn die nächsten visionären Erlebnisse in der Vita sind durchweg an Lektüren gekoppelt. Die fo lgenden T extstellen, die sich an der Reihenfolge im Text orientieren , do kumentieren deutlich, wie die unmittelbare Eman ation des Bezeichneten (der ,E\vigen \V/eisheit', also: Jesus) aus der [,ektüre immer besser funktioniert: Es geschah, so er morncndes aber dar ze tisch gesass, so ruo fte si ldic Ewige Weisheit] us der wlse Salomon und sprach al so: "l...J" 0 0 er dis schocn rede hort lesen vor ime, do zehand gedahle sin sendes herz also: ,,[.. .J" u spricher si ldie Ewige Weisheit] also: ,,1 ... 1". (12f.)Eins tages las man in ze tische von der wlsheit, da von sin herz ingruntlich bewegt ward. Si I!I sp rach also: "I...]". (13) Und als verr er si in den usgcleiten bise haften der schri ft mit den inren ogen gesehen mochte, da zogte si sich ime also: ,,1.. -1". (14) Hie mite kom er in ein gewonheit, wenn er loblieder horte l... ] sagen ald singen, so wart im sin herl und muor geswintlich in gefuert mir einem abgescheiden inblik in sin lieplichoostes lieb, von dem alles tiep fl usset. (15)
AUe angeführten Z itate entstammen dem dritten Kapitel der Vita, an dessen Ende Seuse die Fähigkeit besitzt, die temporäre, unmittelbare Vision der ,Ewi gen Weisheit' Oesus) über Lektüren der Heiligen Schrift intentional herbeizuführen: l.1ktiirr. und Erlebnis gehen jetzt ineinander über, die Decodierung von Signifikanten erLeugr die unmittelbare Präsenz des Signifikats. Interessanterweise handelt es sich bei den Lesungen, von denen hier die Rede ist, um die leclio des klösterlichen RefektOriums, welche ja mtsächlich leibliche und geistige Speisung der Mönche miteinander verbindet.94 Diese klerikale Eßgewohnheit
92
91
'/-I
Bib/fa CmfJaniftl. Übers. von ~brtin Lmher. Faks. Nachdruck der Ausgabe Wiltenberg 1545. Snlttgart: Württembergische Bibclanstah 1967,2 Korimher 12 [2-4.J.
SEUSE, Heinrich: DtJl!Jrhe Jrhriftm. Hrsg. \'o n Kar! BihJmeyer. Sruttgart: Kohlhammer 1907 S. 11 , im folgenden im Fließtext ziriert. Siehe dazu J EANNERh"" ', Michel: A FfmJ oflVonis. BonqJlfJJ and Tab/t To/Ies in JIN fVnaiJJanct. Übers. "on J eremy Wh.ircley und Emma Hughes. Cambridge: Cambridge Uni"ccsiry Press 199 1. (1 9871. S. 112ff.
359
Abb. 29: Von der Lckrüre bis zur himmlischen Vision: An ron van D yck, Der heilige Fron~ikuJ in E/eJlaJe.
360
ist eine in stirutionali sierte, lebensweltlic he Fassung d es T o pos vom Text al s geistlic her Speise, in der man GOtt unmittelbat zu sich nimmt; die kulti schlirurgi sche Versio n ist die E ucharistie [VII] . Nachdem Seuse die Fähigkeit besitzt, T ex trezepno n in Gotteserlebnis ineinander übergehen zu lassen, entspricht es dieser Logik, wenn er die Urunitte1barkeit der Ko mmunikatio n mit GOtt durch die E intärowierung einer H erzellssrbrifl auf seinen Kö rper noch einmal imprägniert. Die aus heutiger Sicht gan z erstaunliche, im m ystischen Ko ntex t dagegen nicht ungewöhnliche Passage sei ausführlich zitiert: Eins tages [...1 kam [erl in ein minneklich berrahrnnge und sprach also: "ach , zarter got, wan könd ich etwas minnezeichens erdenken, daz ein ewiges minnezeichcn wen cnzwischan mir und dir zu cinem urkundc, daz ich din und du mins herzens ewigti minne bist, daz kein vergessen niemcr me verdiJgcn möhti!" In dicsem inbrünstigen ernste warf cr vornan sinen schapren [SchulterkJcid] auf und zerlies [freimachen] vornan sinen b uosen, und nam einen grifel in die hand und sach sin hcrz an und sprach: "ach gcwaltiger gor, nu glb mir hllt kraft und macht zc vollbringen nun beglrde, wan du muosr hut in den grund mins herzens gcsmelzer wcrden." Und vie an und stach dar mit dem grifcl l!] in daz fIaisch ob dem herzen die nchti, und stach also hin und her und auf und ab, unz Ibis] er den namen IH S eben uf sin herz gezeichent. Von den scharpfen stichen wiel daz bluot vast uss dem [leische und fan uber den lip abe in den buosen. Daz was im als minneklich an ze sehem von der funn cn minne. daz er dez smcrzcn nit vii ahtete. Do er dis getet, do glc er also vcrserte lind bluo tige uss der cell uf die cancell wldcr das crucifixus lind knuwcl nider und sprach: "e)'a, herr mine und mi ns herzens einigti minne, nu luog an mins herzens grossen beglrde! Herr, ich enkann [kann nicht] noch enmag dich nir fllrba z in mich gedrukcn; owe hcrr, ich bite dich, da z du es volbringest und daz d u dich nu fu.rb az in den gmnd mins herzens dmkest und dinen heiligen namen in mich also zeichenst, daz du uss minem her.len niemer me gescheidest." (15f.) Der T ex t ist vor allem d eshalb so bemerkenswert, weil er belegt. wie die Herzmsscbrifi als bibli sche Leitvorstellung einer ab soluten Textaneignung beim Rezipienten umgesetzt wird, um die in de n biblischen A rchetyp en versprochenen E ffekte d er Gottunmittelbarkeit herzustellen. Seuse hat bereits die Erfah rung gemacht, daß die Lekriiren d er H eiligen Schrift eine IlIIflJittelbllre E rfahrung Gottes auslösen kö nnen. Z ugleich liefert dieselbe H eilige Schrift im Mo tiv d er HerzellSschrift ein Radikal der gorrunmittelbaren K o mmunikatio n ; sie ist quasi die Umkehrfunkrio n zur r~lei schwerdung des Wones, sie ist eine ,Exkamanon', welche das Fleisch zum Zeichen m acht.9s Die Einschreibung d es N amen s J esu auf d as eigene H erz ist also nichts anderes als die Übersetzung d es biblischen T extes in die Unmittelbarkeit der Leiblichkeit, sie ist die JIIIIIJitlelbare 'JS
Vgl. ASSMANN, AJeida: "Exkarnatio n. G edanken zur Grenze zwischen Körper und Schrift." in: Ralln/llnd Vtf!abrrn. Hrsg. von J ö rg Huber und AJois Martin Müller. Basel, Frankfun/ M.: Roter Stern 1993 (= interventionen 2), S. 133- 155.
361
Lektüre schJechthin. Dabei wird durch die Ei nschreibung des Ze ntralsignifik ars ,IH S' auf das H erz eine ell/ig"; Verbindung hergestellt zwischen dem Zentrum des Rezipienten und dem Zentrum der H eiligen Schrift. Rezipient und Textzeic hen sind jetzt ItnfIJÜIt:!bar miteinander verbunden und gehen inein ander auf (gan z ähnlich wie bis heute bei Tätowierunge n). Dabei wird die ,Lektüre' durch die Ko ntinuität der Bezekhnung pcrpetuiert. Zugleich ist der ScblJlerz der E in schreibung in den Körper% der körperliche Bürge dieser Schnittstelle: .,Sc hme rz ist [... ] eine Weise des unrrune1baren Verstehens im (Nicblmebr-) IvlediuflJ der uiblicbkeit. ,,97 Das Körperzeichen stellt die dauerhafte und umnine lbare Prä senz J esu in Aussicht. Das gelingt - die H erzensschri ft strahlt wenig später ein wunderbares Licht aus und bestätigt so die erreichre Gotrunmi nel barkeit: Eins males na meri, do er von sinem gebet kom, do gie er in sin ceU und sass also uf sinen sruol, und nam der alrveter buoch under sm hobt zuo einem kussin l!]. In dem entsank er in sich selb und d ucht in, daz neiswas lichtcs us drungi von sinem herzen, und er luogte dar: do erschein uf sinem hetzen ein guldin krUz l...J. Also nam der diener sin kapcn und schluog si über da z herz und meinde, daz er daz usbrehend klar licht gern heri bedecket, daz cz nieman mochri han gesehen. 0 0 brunnen die usdringcnt glcnz als wunncklich, wie vast er su barg, daz es nir half von ire krcfrigen schonheit. (17) I n einer anderen Vi sio n zeigt sich später in Seuses transparentem Brustko rb die " Ewige Weisheit", die nun zusammen mit sei ner Seele sein Herz bewo hn t: Gcswind sah er dar und sah, daz dcr lip ob sincm herzen ward als lutcr als ein kristalle, und sah enmiten in dem herzen ruowcklich sizen dic cwigen wishcir in minneklicher gestalt, und bi dem sass des die ners sele in himcl scher scnung. (20) Es sei betOnt, daß die gesamte V ita ein breites E nsemb le von Techniken entwickelt, die der obsessiven Reproduktion und Amplifizierung des einen, we sentl ic hen Texte s dienen und die Unmillelbarkeil der An e ign ung verstärken - der ,ideaJe Leser' so U Reinigungshandlungen vollziehen, er ist iso liert und frei von Ablenkung; er so ll irerativ lesen (also den Text immer wieder reimpräg nieren) und seine Leben swclr multimedial semanti sch anreichern , etwa durch Bilder. E s ist aufschJ ußreich, daß parallel dazu immer !16
Dies impliziert ,archaische' Vorstellungen: " Die frühe sten Zeugnisse der SignifIkatio n verraten nämlich ein VClmögen, I... j den Schmer.l des Materials zu empfmden, in das sich die Zeichen einschreiben." KAMPER, Dietmar: ",Der G eist tö tet, aber der Buchstabe macht lebendig.' Zeichen als Narben." In: Sc/lnfl. Hrsg. von H ans Ulrich Gumbrechr und K. Ludwig Pfeiffer. Fink: r-.-hinchen 1993 (= Materialität dcr Zeichen A, 12), S. 193-200, hier S. 194.
91 C HRIS11ANS, H eiko: Obtr dm Schmtrt Eint UnIm IlChlIng
Gtnllinplölifn. Bedin: Akademie 1995, S. 35. Das Kapitel " Medialität" (S. 15-47) untersucht den inuinsischen Z usammenhang zwischen dem Sdlmtrzal s T extgröße und der Herstellung von Unmille/barktil.
362
"fm
wieder ,Se use' als divinatOri scher Welt-Leser (111. 3] dargesteUt ist, dem die Gcgcnstandswelr mehr und mehr zur Folie der unmittelbaren Gorteserfahrung wird: Ocr Morgenstern wird zu Maria (5. Kap.), die Fastnacht wird eine himmlische Fastnacht (11 . Kap.), zum ersten Mai setzt er der Gottesmutte r einen geistlichen Maibaum (Kap. 18) und so fon. Die ,Welt' entspricht zunehmend einer unmittelbaren Offenbarung des Heilswissens. Die Konstruktionsweise solcher unlllittelbaren Gotteserfahrungen bleibt in der m}'stischen Ko mmunikatio n über J ahrhunden e hinweg in ihrer Grund struk tur se hr konstant. Ich möchte mir einem neuzeitlichen Beispiel schließen; es handelt sich um Das bittere Leiden linsen H emt j esu Christi. Nach den Betrachtungen der gottseligen Allna }0,tharina Ellllllerich, welche der Ro mantiker Clemens Brentano nach seinen persönlichen E rfa hrungen und Gesprächen mit der M)'stikerin niederschrieb und dann 1834 veröffentlichte; im übrigen war dieser Text sein erfolgreichstes Buch. Die folgende Passage gibt den ,authenti schen Berich t' der Emmerich über eine Vision wieder: "Erwa vier J ahre, ehe ich ins Kloster ging l...] war ich einmal um die rvLirragszeit in der Jesuirenkirche zu Coes feld und kniete auf der Orgelbühne vor einem Kruzifix in lebhaftem Gcbec Ich war ganz in Betrachrung versunken, da wurde mir so sachte und so heiß, und ich sah von dem AJtare der Kirche her, aus dem T abe rnakel, wo das heilige Sakrament stand, meinen himmlischen Bräutigam in Gestalt eines leuchtenden J ünglings vor mich hintreten. Seine Linke hielt einen Blumenkranz, seine Rechte eine Dornenkrone, er bo t sie mir zur Wahl dar. Ich griff nach der Do rnenkrone, er setzte sie mir auf, und ich drückte sie mit beiden Händen auf den Kopf, worauf er verschwand, und ich mit einem heftigen Schmerz rings um das Haupt wieder zur Besinnung kam. I... ] Am folgenden Tage war mir der Kopf über den Augen und an den Schläfen bis zu den Wangen nieder stark geschwollen und ich harte furchtbare Schmerzen.'nmg dtr Mlisi/e lind dtr Spratbe indtr A$Ihtli/e du 18. Jahrhlmdtrls. Frankfun / M. el al.: Lang 1995, S. 167.
I~
Herder: Sä"""tlidJt IlYtrkt, ßd. 2, S. 254f. (" Über Thomas Abbts Schriften. D er Torso einem D enkmaal, an seinem Grabe errich tet. Erstes Stück. 1768J.
m
Vgl. PU T ON: lV'erkt. G riechisch und deutsch. Hrsg. von Günther Eiglcr, übers. von Friedrich D . E. Schleiennacher. Bd. 1-8. Dannstad t: Wiss. Buchges. 1990. Bd. 1,5.21 (Ion,
Z IMMERMANN,
535c~536aJ.
380
VO ll
Mündern und Händen"IS4 - auffallig ist hier die Häufung der bei Herder nachgewiesenen Medien der Nic ht-Medialität (Laute, Stimmen, Geräusche,
Gesten, Blick etc.) [IV. 3] . Das folgende Zitat aus Kar! Philipp Moritz' Anion Reiser (hier 1785) betOnt dagegen die GiftihLrunmittelbarkeit einer empathi schen LektÜre: Im neumen Jahre las er alles, was Geschichte in der Bibel ist, vom Anfange bis zu Ende durch; und wenn einer von den Hauprpersonen, als Moses, Samuel, oder David, gestorben war, so konme er sich tagelang darüber betrüben, und cs war ihm dabei zumute, als sei ihm ein Freund abgestOrben, so lieb wurden ihm immer die Personen, die viel in der Weh getan, und sich einen Namen gemacht hatten. So war Joab sein Held, und es schmerzte ihn, soo ft er schlecht von ihm denken mußte. Insbesondere haben ihn ofr die Züge der Großmut in Davids Geschichte, wenn er seines ärgsten Feindes schonte, da er ihn doch in seiner Gewah harte, bis zu Tränen gerührt. m
In immer neuen Variationen wird das Phantasma der Unmittelbarkeit beschrieben; in einem Text von Stefan Andres findet sich die Besc hreibung einer Lektüre in einem bebilderten (1) Buch: Auf einem anderen Bild trar ein t..,(Önch mir ciner bittenden Gebärde in eine GcHingniszeUe, in dcr cin 1\'lann mit cntsctzten Augen auf der Pritschc saß und sich mit der Hand ins Haar fuhr. Dammcr standen die Wofte: ,Zehn Jahre Zuchthaus'. leh war oft und lange bei dcm Verurteilten in der Zelle, ließ mir von ihm crzählen, was cr getan harre, und begann mit ihm mir allerlei auszudenken, wic man sich die Zeit vertreiben könnrc.l S6 Die Lektüre hat hier also die urururrelbare Qualitä t eines visio nären E rlebnisses; auch das läßt sich bi s in akrueUe Lektürebeschreibungen nachwei sen: .,Ich identifizierte mich mit dem Helden , sah m ich an seiner SteUe Gefahren beste hen, Schmerz erleiden oder Freude erleben", berichtet ein Leser, ein anderer: " inne rlich [...} habe ich scho n immer aUes ,mitgelebt'. Oft bin ich in die Ro Ue der Figuren wirklich mit hin eingeschlüp ft, habe mitgelebt, mitgeiacht und geweint."lS7 ln einer anderen Lektürebiographie wird von einer ,unio m ys tica' berichtet: ..\'Venn ich lese, so ist es meist so, daß ich voUkommen im Gelesenen aufgehe [...). Es [ist] mir häufig so, daß ich nach Beenden des Buches die verschiedenen Personen, welche auftreten, sowie ihr Leben schmerzlich
Abgedruckt in UNSELD, Siegfried (H rsg.): Ersle UJe~Erltbnim. Frankfun / M.: Suhrkamp 1975,S. 54.
'"
MORrrt.:, Karl Philipp: AnIon RriJlr. Ein p!Jrhologisrher Roman. Snntgart: Rcclam 1972, S. 18. ANDRES, Stefan: Dtr Knobt im Brunnen. Ra/Non. München: Piper 1953, S. 319.
1~7
Selbstaussgagen \'on Lesern, zitiert in SOION, Erich: " Mentalitätsgeschichte des Leseglücks." In: u stgljjrJe. Eine vergessene Eifahrung? Hrsg. von Alfred Bellebaum und Ludwig Muth. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 151 -175, hier S. 168f.
381
vermisse. «ISS Diese Beispiele sollen genügen, um zu zeigen, wie sich die bislang besp rochenen Radikale der Unmittelbarkeit bis heure in Berichten von ,visionären' Medienerlebnissen niedersc Wagen. Das Begehren der Untl,itle/barkeil bTil t also dem Erlebnis, der Erfahrung, der Visio n, d er Auditio n, der Berührung - nichts ist ihr so sehr zuwider wie die Media/ilöl. So wird dann auch immer wieder betont, man habe eben niehl ..- gelesen? - nein, verschlungen"I S9; "you get ehe feeling you are no t reading any mo re, )'ou're not reading words, you're not reading sentences, ie's as if you are completely living inside ehe siruacion.« I60 Die Programmatik der Unmittelbarkei t verwandelt die verachteten ,\'(1örter' und ,Sätze' in Erlebnis. Die Ablehnung der Bücher, der Schrift, der Medialiär ist ebenso uralt wie die Medialität selbst, sie beginnt mit der Able hn ung der buchscabenversessenen Schriftgelehrten durch den Buchscabentext des Neuen T estamen ts und ist bis heure ungebrochen. Auch wir ziehen das ,echte Erlebnis' dem Fernsehft.lm vor.\6\ Wolfram, der Verfasser des Parift}(l/, brüstet sich sogar, er könne weder lesen noc h schreiben und seine Geschichte komme demgemäß ohne mediale Stü tze aus - sie ist gewissermaßen so nackel t1l1C II/oc}; wie Mechthild im gÖttlichen Liebesbett:
GRAF, Werner: " D ie Erfahrung eies I..eseglücks. Zur lesegeschichtlichen Entwicklung dcr I..cscmotivatio n." In: u lfglikle. Eint l'trgtlJtnt Eifalmmg? Hrsg. von Alfred BcUcbaum und I..ud wig rvlm h. Opladen: Westdeutschcr Verlag 1996, S. 18 1-2 12,hier S. 194. Christian Danicl Schuban in : J)mllf!Jt Chronik. 5. Dezember 1774; abgedruckt in GOETII E, J ohal1l1 Wolfgang: lV'trkt. /·I(I,,,blffF,t rAHlg(lbt. ß d. 1-14. I-I rsg. von Erich Trunz. ~Hinch e n: neck 1988, Bd. 6, S. 528f. i\ US eincm
Interview, dokumenrien in NEU., ViclQr: LoJI in 0 Book. TIN P1JflJology ojRt(lding Jör PItOJNrr. New Haven, Londo n: Yale UP 1988, 5. 287-299, hie r 5.290.
'"
382
Medienkririker empfehlen seit Platon, man solle das Buch zuschlagen, den Fernseher ausschalten, und dann an die frische Luft gehen. Die Alternative zwischen ,Wirklichkeit' und ,Mediwn' implodiert jedoch bei näherem Hinsehen. Das Jf/ i rk/ifhletifmltbniI i stl et'.ttlic h ebenso codiert wie das /I'ltditntrlebms. Wer etwa meint, im Naturerlebnis erschließe sich einc Erfaruungswclt jenseits aller Mcdialitit, im; tatsächlich ist die Erfahrung der schönen Natur texrueU codiert. Enthusiastische Bergreisende tun beispielsweise nichts anderes, als kulturell co d ien e Rezeptions muster abzuspule n, welc he im ü brigen erst seit dem 18. J ahrhunden zur Verfügung stehen. Vgl. dazu GROI'I, Ruth w1d Dieter: " Von den schrecklichen zu den erhabenen Bergen. Zur Entstehung de r ästhctischen Naturcrfahrung." In: lI'1o/ldti du !Hot/mltn N olHrbtgriffi. Hrsg. von Heinz-D ieter Weber. Ko nstanz: Universitäts-Verlag 1989, S. 53-96 sowie den ,Klassiker' RnTER, Joachim: " Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modem en GeseUscha ft." In: J. R..: Subjtktil1"tiil. Frankfun / I\L Suhrkamp 1974, 5. 14 1- 163, S. 172- 190. D ie Fo lge ist, daß psychologisch inspirien e Kompensatio nstheorien ins Wanken geraten, welche eine Primärweh (\Xlirklichkeit) von einer sekundären Textsphäre unterscheiden und dann klassischerweise behaup· ten, daß man sich in Medien das ho lt, was einem die Wirklichkeit vorenthält: " Wo das reale I..cbcn zu wenig an spannungsclTegcnden Siruationen bictct, stehcn vielfältige Möglichkeiten zu ihrer künstlichen Inszenicrung bereit"; A..'\IZ, Tho mas: u 'ltrolNr Hili! L ul. Glikk uß(1 VIIIIIII beim L mn. München: Beck 1998, S. 151. D ie Medialität ist eben nifhl die schlechte Alternative zu ciner uruniuclbaren Wirklichkeit, d ie gerade aus irgendwelchen Gründen nicht zur Hand ist. Wer dic Media1ität ausschaltet, der schaltet zugleich die Wirklichkeit aus. All das ändert natürlich niehlS an der Faktizität der Unterscheid ung.
ich spraeche iu die aven tiure von. swer des von mir geruoche, der enzcl si keinem buoche. ichne kan dehemcn buochstap. da nemelU genuoge ir urhap: disiu aventiure ven ane der buoche stiure. e man si hete viir ein buoch, ich wacre c nackct anc (uoch, so ich in dem bade saeze, ob ich des 'Iuesten nichr vergaeze.162
Mechthild selbst behauptet ebenfalls: " leh enkan noch mag nit schriben, ich sehe es mit den ougen miner sele und hoefe es mit den Ofen mines ewigen geiste s".163 Die virtuellen Textgestalten, welche nur zwischen Buchdeckeln exis tieren und doch ausgerechnet die Bücher verfluchen, sind Legion; Faust beklagt den " Bücherhauf, / Den Wünne nagen" l64, und Kar! Moor aus Schilie rs Riillbem " ekelt [es] vor diesem tintenklecksen den Säkulum".165 Auch der Herausgeber von Rousseaus La nOllvelle Heloise (1761) bedauert die Verdorben heit des Romanlesens: ,,11 faut des spectades dan s les grandes villes, et des Ro mans aux peuples corrumpus. J'ai vu les mocurs de mon temps, et j'ai publie ces lertres. Que n'ai-je vecu dans un siede ou je dusse les jetter au feu!" l66 In einem Buch von Herder heißt es: " Du lerntest alles aus Büchern [... j: schlafender Jüngling, sind die \'Vorte, die du da liesest und litterarisch verstehen ler-
,~
'"
.
,
'"
".
WOLFRAM VON EsCH E.N8 ACU : Pa"~jl_'ill. Mittelhoch deutsch I Neuhochdeutsch. Nach der Aus&'llbe von Kar! Lachmann. Obers. von Wolfgang Spiewok. Bd. 1-2. Stungart: Redam 198 1, S. 115,24 - 116,2; Spicwo ks Übersetzung sei hinzugezogen, obwohl sie die Stelle zu frei im Sinne einer Auseinandersetzung mit Hanmanns gdehner Dichnmg übersetzt: " Wer aber will, dass ich weiterer.lähle, darf diese Geschichte keineswegs als gelehrtes Buch betrachten. Ich selbst kann nämlich weder lesen noch schreiben. Es gibt ihrer freilich viele, die Dichtung auf Bildung und Gelehrsamkeit gründen. Diese meine Geschichte fugt sieh nicht den G rundsätzen gelehrter Schulweisheit. Ehe man sie für ein Buch solcher Art nähme, wollte ich lieber nackt und ohne Bad etuch im Bad sitzen, wenn ich nur wenigstens einen Badewedel zu Hand hätte." r-.Ü1Cl rn-IILD VON MAGDEBURG:
Da1ßitßtnde ü rb, dtr GoI/heil. N ach der Einsiedler Hand-
schrift in kritischen Vergleich mit d er gesamten Üb erlieferung. Hr~g. von Hans Neumann. Bd. 1-2. München, Zürich: Artemis 1990. Bd. 1, S. 243; vgl. die Übersetzung in MECHTHI LD VON MAGDEBURG: DtlJ ßitßtlldt ü rh, der GoI/heil. Hrsg. \'on r-.-targot SchmidI. Einsiedeln et al.: Benziger 1955, S. 190. GOETHE, J o hann Wo lfgang. Werkt. l-IafllbN'J?,tr AN1l0he. Bd. 1- 14. H rsg. vo n Erich Trunz. München: Beck 1988. Bd. 3, S. 2 1 (V. 402J . SCHII..LER, Friedrich: Sämtliche lfVtrke. Bd. 1-5.8. Aufl. Dammadr: Wiss. Buchges. 1987. ßd. 1: GedirhJ!. Dramtn I, S. 502. ROUSSEAU. Jean-J acques: LI NOllvtlle Htloiit. Bd. 1-2. Hrsg. von D anie! Momet. Paris: Hachcne 1925. Bd.2, S. I.
383
nest, die lebenden Sachen, dic du sehen solltest?"1 67 Ein T ext von Schopenhauer warnt vor dem Konsum von Texten, viele hätte sich dabei sc ho n "dumm gelesen"168; und N icrzsc he bedauert in der Geburt der Tragödie, daß er sie schriftlich verfaßt hat, anstatt sie den Rezipienten musikalisch vorzutragen: "Sie hätte singet1 sollen, diese ,neue Seele' - und nicht redenl "169 RainaJd Goeez beklage im Schrifonedium: "da kö nnte ich Ihnen noch sehr viel Musik vorspielen oder Bilder vormalen zum Thema JjJace. Das täte ich gerne. Aber ich muß Worte schreiben, ich arme Sau" .170 Von daher gehört es seit jeher zum guten T on der Unmittelbarkeit, daß Texte eben alles andere sind als ,bloß Texte'. Die Unmittelbarkeit verleugnet deshalb oft die Kommunikatio nssituation. Die Entstehung unmittelbarer BOtschaften wird oft inszeniert als unwillkürliches, zuHilliges oder gar erzwungenes Z ustandeko mmen. T ypisc herweise, so geht die Fabel, sind Texte der Unmittelbarkeit überhaup t nicht für ein rez ipierendes Publikum bestimmt, sind gar nicht zu den kommunikativen Zwecken verfaßr worden, für die sie dann später - aJ s Erbauungsbuch, als Offenbarungstext, als Roman, al s ,A ugenzeugenvideo' - verwendet werden [VI. 1~3] . Sc ho n Augustinus' Conftssiones sollen ,eigentlich' ein priva tes Gebet sein und gewähren so unmittelbare Einblikke in eine ,ungc ftlterte' individuelle Zwiesprac he mir GOtt. 171 Dasselbe gilt für die mitunter fragmentarisch und erregte, uneinheidiche Formensprac he der Mystik , welche vorgibt, direkt den göttlichen Ei ngebungen zu fo lgen. Seuse etwa hat seine Vita " nach der wise [verfaßt], al s su ime dez ersten von gOte in luhten;"'72 und auch Nostradamu s' obscurantisches Ges tammel soll eine #11mille/bare \Xliedergabe seiner ekstatischen Einl euchtungen sein. Diese Sprechweisen der Unmittelbarkeit durchlau fen nun ebe nfalls die kopernikani sche Wende, werden adapticrt zur ArtikuJation der Seele, des Gcisres, de s Gefühl s. KJopstocks Gesrus der hingerissenen Erregtheit wird ,direkt' das inspirative Erlebnis reproduzieren, das sich seiner bemächtigt, und in welchem scho n der Auro rgeist eine entscheidende RoUe spielt. Die empfindsamen Briefromane sind tagesakruelle, unmittelbare Ge ständnisse des Herzens
'"
HERDER, J o hann Gottfried: AIIJgruiibltt Werkt in Eini!kINJgpbm. SdJfiftt» i!,r Litern/"r. Bd. 2, I: Kn'!iJ(1N lV'aUtr. ErsJeJ biJ ,Inltu lI'7iildclNn. Vitrlu lV'iilddxn. PprnliponJtna. Hcsg. \'on Regine O n o. Be din: Aufbau 1990, S. 506.
IM
SCHOPENHAUER, Anhur: Iflrrkt. Nach den Ausgaben letzIer Hand. Hrsg. von Ludger Lütkehaus. Bd. 1-5. Zürich: Haffmans 1991. Bd. 5, S. 480 JParergar und Paralipomcna,
29 1]. 16?
NIETLSCHE, Friedrich: Sal"tlirlN lV'trkt. KriliJclN S/liditntlIlJgphe. Hrsg. von G io rgio Colli und r..hzzino Monrinari. Bd. 1-15. Münchcn CI a1: drY, de Gm}'ler 1988. Bd. I , S. 15.
170
GOElL, Rainald: Im. Frankfun / M.: Suhrkamp 1983, S. 302.
'"
VgL H ERZ<X>, Reinhard: " Non in sua v<Xc. Augustins Gespräch mit Gon in den ,Confessiones' . Voraussetzungen und Folgen." In: DaJ Guprii{h. Hrsg. von Kadheinz Sa ed e und Rainer Warning. München: Fink 1984 (= Poetik und Hermeneutik, 11), S. 213-250.
In
SEUSE, Heinrich: DtN/JrINSrhrijten. Hrsg. von Karl Bihlme}'cr. Srungan: Kohlhammer 1907,
S. 4.
384
an Ve rtraute; auch die Kraftausdrücke der Stürmer und Dränger sind Ausru fe direkt und unge ftltert übertragener Leidenschaften. In diesem Sinne schreiben sich Ko mmunikatio nsweisen der Unmittelbarkeit ungebrochen bis in die heutige Zeit fon , ange fangen bei Kommunikatio nsformen des ,Direkten' von der Dichterlesung b is zum LrvE-Ko nzen . D as Medium der Unmittelbatkc::it ist seit dem 19. Jahrhundert zunächst die Phmographie, welche Bilder liefert, die ,unmittelbar' von der Na tur selbst geschrieben sind; dasselbe gilt dann mutati s mutandis für den Film und heutige Phänotypien virtueller lV'ellen, die über UtOpien der Unmittelbarkeit erzeugt werden. So so ll ein Gerät zur Her stellung des Cyberspace über elektronische Impulse die Auslö sung von Nervenreizen auf der Retin a ullmillelbarauslösen: ,.we can access a much higher bandwidth sensatio n b y an in fo rmation channel direcl!J' [ 0 the brain. Best of all, we can accomplish this noninvasivel y - without resorting to surgical implants."173 In diesem Sinne gilt für die heutige, audiovisuelle Medienlandschaft sicherlich eine sehr enge Verbindung zwischen UllltJillelbarkeil und SimulatioN (bereits Peirce behaup tet: ,.The only wa)' o f communicating an idea d irec dy is by mean s o f an icon"l74) [Il. 8). \'