Barbara Kaletta Anerkennung oder Abwertung
Barbara Kaletta
Anerkennung oder Abwertung Über die Verarbeitung sozialer...
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Barbara Kaletta Anerkennung oder Abwertung
Barbara Kaletta
Anerkennung oder Abwertung Über die Verarbeitung sozialer Desintegration
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Frank Engelhardt / Cori Mackrodt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15983-6
Danksagung
Ich bedanke mich bei allen Personen, die mir bei meiner Arbeit behilflich waren. Das betrifft insbesondere Wilhelm Heitmeyer und Jürgen Mansel, die mir jederzeit mit Tipps, Ratschlägen und Hilfestellungen zur Seite standen Ebenfalls gilt mein Dank Beate Küpper, die mir die ersten Schritte in den Arbeitsprozess sehr erleichtert hat. Darüber hinaus danke ich denjenigen, die mir sehr engagiert durch das Vermitteln von Interviewpartnern und Bereitstellen von Räumlichkeiten, in denen ich die Interviews durchführen konnte, geholfen haben. Ein besonderer Dank gilt meinen Interviewpartnern, die so offen über ihre Ansichten gesprochen und mir so bereitwillig über ihr Leben Auskunft gegeben haben. Und schließlich bedanke ich mich bei meinen Kollegen des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung sowie meinen Mitstreitern des DFG-Graduiertenkollegs „Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“, die mich nicht nur durch fachliche Anmerkungen, sondern ebenfalls durch ihre Freundschaft unterstützt haben.
Bielefeld, im März 2008
Barbara Kaletta
Inhalt
Vorwort ................................................................................................................................................ 9 1. Einleitung ................................................................................................................................... 11 2. Grundlegende Annahmen zum Konstrukt der Anerkennung ...................................... 21 2.1 Die Theorie Axel Honneths ............................................................................................ 21 2.2 Diskussion der Anerkennungskategorien Honneths .................................................... 26 2.3 Anerkennung als Grundbedürfnis und Modus von Integration ................................. 30 Exkurs: Schattenseiten der Anerkennung .............................................................................. 34 3. Erste theoretische Annäherung an das Forschungsproblem – Anerkennung und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ................................... 37 3.1 Die Theorie der Sozialen Desintegration ....................................................................... 37 3.2 Kritisches Zwischenfazit und weiteres Vorgehen ........................................................ 42 4. Theoretische Erweiterung ..................................................................................................... 45 4.1 Ausarbeitung der Schlüsselbegriffe der Theorie der Sozialen Desintegration .......... 45 4.1.1 Emotionale Anerkennung .................................................................................... 48 4.1.1.1 Anerkennung der personalen Identität .............................................. 52 4.1.1.2 Nichtanerkennung der personalen Identität ..................................... 56 4.1.1.3 Wahrnehmung von Anerkennung und Nichtanerkennung der personalen Identität ....................................................................... 58 4.1.1.4 Anerkennung der kollektiven Identität .............................................. 62 4.1.1.5 Nichtanerkennung der kollektiven Identität ..................................... 69 4.1.1.6 Wahrnehmung von Anerkennung und Nichtanerkennung der kollektiven Identität ....................................................................... 70 4.1.2 Positionale Anerkennung ..................................................................................... 73 4.1.2.1 Kollektive positionale Anerkennung .................................................. 73 4.1.2.2 Individuelle positionale Anerkennung ............................................... 80 4.1.2.3 Kollektive und individuelle positionale Nichtanerkennung ............ 85 4.1.2.4 Wahrnehmung von kollektiver und individueller positionaler Anerkennung und Nichtanerkennung .......................... 87 4.1.3 Moralische Anerkennung ...................................................................................... 91 4.1.3.1 Moralische Anerkennung als Adressat politischer Entscheidungen .................................................................................... 93 4.1.3.2 Wahrnehmung von moralischer Anerkennung und Nichtanerkennung als Adressat politischer Entscheidungen .......... 95 4.1.3.3 Moralische Anerkennung als politischer Akteur ............................. 101
8
Inhalt 4.1.3.4 Moralische Nichtanerkennung als politischer Akteur .................... 103 4.1.3.5 Wahrnehmung von moralischer Anerkennung und Nichtanerkennung als politischer Akteur ........................................ 104 4.2 4.3
Ausarbeitung des Zusammenhangs zwischen Nichtanerkennung, Selbst und GMF .............................................................................................................. Zusammenfassung der theoretischen Weiterentwicklung ......................................... 4.3.1 Zusammenfassung der Ausarbeitung der Anerkennungskategorien ........... 4.3.2 Zusammenfassung der Ausarbeitung des Zusammenhangs zwischen Nichtanerkennung, Selbst und GMF ...............................................................
105 113 113 119
5. Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs ........................ 123 5.1 Datenerhebung: Qualitative Interviews ....................................................................... 5.2 Interviewauswertung ....................................................................................................... 5.2.1 Analyseschritt I: Zusammenfassung der Anerkennungskategorien und Strukturierung der Befragten .......................... 5.2.1.1 Personale Identität .................................................................................. 5.2.1.2 Kollektive Identität ................................................................................. 5.2.1.3 Individuell positional .............................................................................. 5.2.1.4 Kollektiv positional ................................................................................ 5.2.1.5 Moralisch als Adressat politischer Entscheidungen ........................... 5.2.1.6 Moralisch als politischer Akteur ........................................................... 5.2.1.7 Gruppierung der Befragten ................................................................... 5.2.2 Analyseschritt II: Nichtanerkennung, Missachtung und Abwertung von Fremdgruppen .......................................................................... 5.2.2.1 Negative Anerkennungsbilanzen in allen drei Dimensionen – Starke Orientierung an gesellschaftlichen Werten .......................................... 5.2.2.2 Negative Anerkennungsbilanzen in allen drei Dimensionen – Starke Ablehnung gesellschaftlicher Werte ...................................................... 5.2.2.3 Negative positionale und moralische Anerkennungsbilanzen – Starke Orientierung an gesellschaftlichen Werten ........................................... 5.2.2.4 Negative positionale und moralische Anerkennungsbilanzen – Keine extreme Orientierung an gesellschaftlichen Werten ............................ 5.3 Zusammenfassung der Ergebnisse der qualitativen Interviews ................................
123 128 128 131 136 137 139 144 145 146 148 151 163 177 185 198
6. Ergebnisdarstellung und Perspektiven für weitere Forschung ................................. 207 Anhang .................................... ......................................................................................................... 215 Literaturverzeichnis ......................................................................................................................... 221
Vorwort
In modernen Gesellschaften ist vor dem Hintergrund des globalen Wandlungsdrucks eine Integrations-Desintegrationsdynamik entstanden, in der sich Zugangs-, Teilnahme- und Zugehörigkeitsprobleme mit Anerkennungsverletzungen verbinden und in Ängsten vor und Erfahrungen von Prekarität, Ausgrenzungen und Verunsicherungen ihren Ausdruck finden. Diese können unter bestimmten Umständen in zerstörerische Handlungs- oder Regressionspotenziale für eine humane Gesellschaft und liberale Republik umschlagen. Wenn auch moderne Gesellschaften einerseits über beträchtliche Integrationspotenziale verfügen und Existenz-, Partizipations- und Zugehörigkeitschancen bieten, so ist doch andererseits die zunehmende Krisenanfälligkeit der Vergesellschaftungsmuster infolge von Strukturkrisen, Regulierungskrisen und Kohäsionskrisen nicht zu übersehen. Auch wenn heute die äußere Stabilität der Gesellschaft noch nicht in Frage gestellt ist und offene Desintegrationsprozesse bisher selten geblieben sind, so steht doch die innere Qualität der demokratischen Gesellschaft angesichts beachtlicher Normverletzungen, der Rechtfertigung von Ungleichheitsideologien, der Abwertung solidarischer Orientierungen, fremdenfeindlicher Einstellungen und diskriminierender Verhaltensweisen, interethnischen Konflikten und Feindseligkeiten ein ums andere Mal auf den Prüfstand. Um diesen Fragen nachzugehen, ist einerseits der Bielefelder Forschungsverbund „Desintegrationsprozesse – Integrationspotenziale einer modernen Gesellschaft aufgelegt worden, der von 2002 bis 2005 vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) mit 17 Teilprojekten gefördert worden ist. Andererseits läuft seit 2002 bis voraussichtlich 2011 die von der VolkswagenStiftung geförderte Langzeitstudie zur Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit. Die Arbeit von Barbara Kaletta reiht sich in die skizzierte Grundproblematik ein. Dabei konzentriert sich die Autorin auf den Bielefelder Desintegrationsansatz in kritischer und weiterführender Weise. Kritisch in der Weise, dass Barbara Kaletta eine Präzisierung der Anerkennungsdimensionen vorschlägt. Sodann fokussiert sie ihre Arbeit auf den von der Theorie Sozialer Desintegration postulierten Zusammenhang zwischen dem Erleben von Anerkennungsmängeln und feindseligen Mentalitäten. Sie übernimmt diese These, um sie weiterführend zu präzisieren. Genau diese zwei Aspekte stehen im Mittelpunkt dieses Buches, das als Dissertationsprojekt im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs (GK 884) in Bielefeld begonnen und dann während der Tätigkeit als Forschungsassistentin der internationalen Forschergruppe „Control of Violence“ am Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld abgeschlossen wurde. Das Buch bietet sowohl eine Präzisierung in theoretischer Hinsicht als auch empirische Hinweise dafür, dass die Forschungslinie des Bielefelder Ansatzes zur Theorie Sozialer Desintegration als Erklärungsansatz von Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit, d.h. der Abwertung und Diskriminierung schwacher Gruppen erfolgversprechend weiterverfolgt werden sollte.
Bielefeld, im März 2008
Wilhelm Heitmeyer
1. Einleitung
„Die Hölle, das sind die anderen.“ Mit dieser Aussage lässt Jean Paul Sartre sein Theaterstück ‚Geschlossene Gesellschaft’ enden (Sartre, 1999 S. 59). Geäußert wird die Wahrnehmung durch eine der drei Hauptfiguren, den Journalisten Garcin. Garcin befindet sich gemeinsam mit zwei Frauen – der wohlhabenden und eitlen Estelle und der Postangestellten Ines – in einem geschlossenen Raum. Bereits zu Beginn des Stückes wird deutlich, dass der Schauplatz der Handlung das Jenseits ist, die drei Personen also tot sind. Auch ihnen selbst ist bewusst, dass sie gestorben sind, und nun gehen sie davon aus, dass sie sich aufgrund der Taten, die sie im Leben begangen haben, in der Hölle befinden. Sie stellen sich darauf ein, physisch gefoltert und gequält zu werden, aber nichts dergleichen geschieht. Doch bald wird den dreien klar, dass sie nicht dazu verdammt sind, körperliches Leid zu ertragen, sondern dass es ihnen bestimmt ist, sich wechselseitig auf psychischer Ebene zu quälen, sich hierdurch den Tod ‚zur Hölle zu machen’ und somit gegenseitig als Folterknechte der anderen zu agieren. Spannend für die Thematik der vorliegenden Arbeit ist, dass diese gegenseitige Folter durch wechselseitig verweigerte Anerkennung eintritt. Dass es den drei Verstorbenen möglich ist, sich wechselseitig psychisch zu foltern, ergibt sich daraus, dass jede/r sich gerade nach der Anerkennung der Person im Raum sehnt, die keinerlei Interesse daran hat, diese Anerkennung zu gewähren. Während die lesbische Ines sich die Liebe der eitlen Estelle wünscht, strebt diese nach einer Bestätigung ihrer Attraktivität durch Garcin. Dieser wiederum wünscht sich eine Anerkennung auf intellektueller Ebene durch Ines. Keine der Personen ist bereit, die eingeforderte Anerkennung zu gewähren, und so verletzen und quälen sie sich wechselseitig. Das bedeutet, Jean-Paul Sartre beschreibt in seinem Theaterstück die Hölle als ein Konstrukt, das aus der Verweigerung einer begehrten Anerkennung entsteht. Wenngleich eine solche Höllenanalogie natürlich eine extreme Darstellungsweise ist, so wird hierdurch doch die elementare Wichtigkeit, die die Anerkennung anderer Personen für einen Menschen spielen kann, bzw. die Bedeutung, die eine Verweigerung von Anerkennung besitzt, deutlich. Es zeigt darüber hinaus einerseits, dass nicht für jede Person die Anerkennung einer jeden beliebigen anderen Person erstrebenswert ist – so empfinden die Figuren die Anerkennung der Person, die sich nach der Anerkennung des Betroffenen sehnt, eher als abstoßend – und andererseits, dass Anerkennung sich auf verschiedene Weise ausdrücken kann. Während sich Ines eine affektive, liebende Anerkennung von Estelle wünscht, handelt es sich bei der Anerkennung, die diese sich von Garcin erhofft, um eine Form von Bewunderung, wenn sie sich um die Bestätigung ihrer Attraktivität bemüht. Demgegenüber strebt Garcin nach einer Beachtung seines Intellekts. Es wird also deutlich, dass unterschiedliche Arten der Anerkennung von unterschiedlichen Personen ein unterschiedliches Ausmaß an Wichtigkeit für verschiedene Menschen besitzen. Welche Arten der Anerkennung mehr oder minder universell und somit für einen Großteil der Angehörigen westlicher Gesellschaften erstrebenswert sind und von welchen Personen diese in der Regel erwartet bzw. gewährt werden, ist ein Aspekt, der im Verlauf der vorliegenden Arbeit geklärt werden soll.
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Einleitung
Dass Anerkennung im menschlichen Zusammenleben eine zentrale Bedeutung besitzt, spiegelt sich unter anderem in der Häufigkeit wider, mit der sie im alltäglichen Leben wie auch in Medienberichten thematisiert wird. So gilt das Streben nach Belohnung, Erfolg, Lob, Beifall, Ehre, Beliebtheit, Wertschätzung, Popularität, Achtung, Würdigung, Respekt, Lohn, Prestige usw. als Streben nach einer gesellschaftlich nicht nur legitimen, sondern darüber hinaus erwünschten Zielsetzung. In medialen Berichterstattungen wird z.B. die Anerkennung verschiedener Lebensprofile, die Ehrung sportlicher, künstlerischer oder wissenschaftlicher Leistungen, politischer, literarischer oder gemeinnütziger Beiträge usw. thematisiert, um nur einen kleinen möglichen Ausschnitt zu nennen. Auch im wissenschaftlichen Feld fand schon früh, z.B. innerhalb philosophischer Werke, eine Auseinandersetzung mit dem Konstrukt statt, die später von weiteren Disziplinen aufgegriffen wurde. Eine Suche nach wissenschaftlicher Literatur zum Thema (soziale) Anerkennung bietet eine Fülle von Ergebnissen. In Philosophie und Sozialphilosophie setzten sich bereits Johann Gottlieb Fichte (vgl. Fichte, 1980) und Georg Wilhelm Friedrich Hegel (vgl. Hegel, 1976) mit dem Konstrukt auseinander. Hierbei fokussiert Fichte in seinen Ausführungen lediglich auf eine reziproke Anerkennung des Status als Rechtsperson, wohingegen Hegels Auseinandersetzungen mit dem Konstrukt nicht auf diese eine Sphäre beschränkt sind. Eine solche umfassendere Betrachtung der Anerkennung ergibt sich aus dem, zu dem von Fichte verschiedenen, Menschenbild Hegels. So sieht Fichte die Menschen als eigennützige, atomisierte Individuen, die lediglich aus Vernunftgründen zur Herstellung sozialer Ordnung reziprok die eigenen Freiheiten zugunsten der Anderen begrenzen und somit sowohl deren Status als Rechtsperson anerkennen als auch dadurch den eigenen Status als Rechtspersonen sichern. Im Gegensatz dazu begreift Hegel – in Anlehnung an die klassische Politik des Aristoteles – den Menschen als soziales Subjekt, das von seiner Natur her teleologisch auf ein gemeinschaftliches Zusammenleben hinstrebt. Ein solches Hinbewegen auf einen Zustand der „Sittlichkeit“ sieht Hegel durch Kämpfe um Anerkennung realisiert. Gesellschaft wird also nicht wie in der Theorie Fichtes rein vertraglich von außen erzeugt, sondern es findet ein stufenweise erfolgender Weiterentwicklungsprozess statt, der durch eine Erweiterung von Anerkennungsverhältnissen gekennzeichnet ist. Auf diesem Konzept Hegels aufbauend setzt sich Axel Honneth mit dem Anerkennungskonstrukt auseinander (vgl. Honneth, 2003a; Honneth, 2005). So betrachtet auch Honneth den reziproken Austausch von Anerkennung als Grundlage für die Existenz einer moralischen Gesellschaft. Diese kann nur bestehen, wenn in ihr Anerkennungsverhältnisse existieren, durch die allen Gesellschaftsmitgliedern die Ausbildung einer intakten Identität ermöglicht wird. Hierzu notwendig ist die Existenz drei unterschiedlicher Arten reziproker Anerkennungsverhältnisse, die Honneth als Liebe – wechselseitige Anerkennung in emotionalen Nahbeziehungen –, rechtliche Anerkennung – Anerkennung von Gleichwertigkeit durch die Einbindung in Rechtsverhältnisse – und Wertschätzung – Anerkennung individueller Besonderheiten und Leistungen – bezeichnet. Hierauf wird in Kapitel 2 der vorliegenden Arbeit näher eingegangen. Diese Auffassung Honneths ist Kern einer wissenschaftlichen Kontroverse über Anerkennungspolitik, die er mit Nancy Fraser führt (vgl. N. Fraser, Honneth, A., 2003). Fraser kritisiert an Honneth, dass im Rahmen seines Ansatzes die Wichtigkeit von ökonomischen Aspekten für die Herstellung von Gerechtigkeit vernachlässigt bzw. mangelnde Anerkennung als „Nebenprodukt einer unfairen Verteilung“ (N. Fraser, 2003 S. 51) gedeutet wird. Fraser plädiert entsprechend für eine erweiterte Gerechtigkeitskonzeption, die sowohl ökonomische Umverteilung als auch eine Politik der Anerkennung umfasst. Ihr Anerkennungsbegriff ist hierbei eingeschränkter als der Honneths, da sie sich dagegen ausspricht, die Anerkennung von Besonderheit in eine Anerkennungspolitik einzuschließen, und tritt demgegenüber dafür ein,
Einleitung
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den Begriff auf ‚Anerkennung von Gleichwertigkeit’ zu beschränken. Mit Fragen nach einer Anerkennung von Gleichwertigkeit kultureller Gruppen im Rahmen einer Politik der Anerkennung setzt sich ebenfalls Charles Taylor auseinander (vgl. Taylor, 1993, 1996). Zentral für Taylor ist die identitätsstiftende Funktion von Anerkennung. Da sich laut Taylor die Identität des Einzelnen auf der Anerkennung der kulturellen Gemeinschaft, der er angehört, gründet, zählt er diese zu den gesellschaftlichen Primärgütern wie materielle Grundversorgung oder Gewährung der Menschenrechte und tritt dafür ein, „daß wir den Kulturen die Möglichkeit einräumen sollen, sich innerhalb vernünftiger Grenzen selbst zu behaupten“ (vgl. Taylor, 1993 S. 59). Weitere Wissenschaftler, die sich innerhalb der philosophischen Disziplin mit dem Anerkennungsthema beschäftigen, sind Paul Ricoeur, dessen Ausdifferenzierung des Konstrukts primär auf seinen unterschiedlichen sprachlichen Bedeutungen beruhen (vgl. Ricoeur, 2006), Avishai Margalit, der eine ‚negative Anerkennung’, also eine Anerkennung, die sich aus der Abwesenheit psychischer Demütigung ergibt, insbesondere durch staatliche Institutionen thematisiert (vgl. Margalit, 1997) oder Rainer Forst, der das Anerkennungskonstrukt für seine Gerechtigkeitstheorie nutzbar macht, deren Grundbegriffe er über eine Auseinandersetzung mit der Kontroverse zwischen Liberalismus und Kommunitarismus ableitet (vgl. Forst, 1996). Über die soeben kurz erwähnten Arbeiten hinaus findet sich eine Fülle weiterer philosophischer Betrachtungsweisen, die sowohl explizit das Konstrukt der Anerkennung als Gegenstandsbereich nennen, als auch solche, die sich ausschließlich implizit hiermit befassen, sich aber anerkennungstheoretisch interpretieren lassen. Nicht nur die Philosophie, sondern auch die Psychologie setzt sich mit dem Anerkennungsthema auseinander. Ein Vergleich dieser größtenteils psychoanalytischen Arbeiten mit einigen der philosophischen Betrachtungsweisen (z.B. durch Hegel, Honneth oder Forst) verdeutlicht, dass in der psychologischen Disziplin ein weitaus kleinerer Ausschnitt dessen, was der Begriff der Anerkennung fasst, bzw. eine andere inhaltliche Bedeutung, betrachtet wird. So werden innerhalb der psychoanalytischen Auseinandersetzung zumeist ausschließlich emotionale oder libidinöse Bindungen als Grundlage gegenseitiger Anerkennung betrachtet. Insbesondere ist in diesem Bereich die Arbeit von Jessica Benjamin anzuführen (vgl. Benjamin, 1993). Auch in die Soziologie hat der Anerkennungsbegriff, vor allem durch neuere Arbeiten, Einzug gehalten. Wie Alexander Heck im Rahmen seiner Dissertation verdeutlicht, können zwar ebenfalls klassische soziologische Ansätze wie die von Ferdinand Tönnies oder Emil Durkheim anerkennungstheoretisch interpretiert werden (vgl. Heck, 2003), explizit setzen diese sich jedoch nicht mit der Thematik auseinander. Aktuelle, einerseits im Bereich der Arbeitsund Organisationssoziologie verwurzelte empirische Arbeiten finden sich insbesondere bei Ursula Holtgrewe, Stefan Voswinkel und Gabriele Wagner (Holtgrewe, Voswinkel S., & G., 2000), wobei Wagner sich in ihrer Beschäftigung mit dem Anerkennungsthema nicht ausschließlich auf eine berufliche Sphäre bezieht, sondern sie darüber hinaus ebenfalls in einen weiteren gesellschaftlichen Kontext einordnet (vgl. G. Wagner, 2001). In den arbeitssoziologischen Auseinandersetzungen der genannten Autoren – sowie weiterer Autoren, die im o. a. Sammelband Forschung zum Anerkennungsthema im beruflichen Sektor präsentieren – liegt der Fokus der Arbeit auf einer empirischen Auseinandersetzung mit dem Thema, die auf qualitativen Methoden basiert. Weitere empirische Forschungsarbeiten sind darüber hinaus in Jugendsoziologie und Pädagogik zu finden, die sich hauptsächlich mit der Frage nach der Bedeutung von nicht erlebter Anerkennung für Gewalthandeln im Jugendalter beschäftigen und auf eine affektive oder emotionale Anerkennung fokussieren.
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Einleitung
Peter Sitzer und Christine Wiezorek schreiben innerhalb eines Überblicksartikels zum Thema Anerkennung: „In den letzten Jahren haben anerkennungstheoretische Argumentationen zunehmend Eingang in Forschungs- und Evaluationskonzepte gefunden, die sich mit Fragen zu gesellschaftlicher (Des)Integration, z.B. in Bezug auf Migrationsprozesse oder Erwerbsarbeit, mit Fragestellungen der Sozialisation, (institutioneller) Erziehung und Bildung (Bertram, Helsper, & Idel, 2000; Kramer, Helsper, & Busse, 2001; Prengel, 1993, 2002; Wiezorek, 2003) oder gesellschaftlichen Problemkonstellationen wie Fremdenfeindlichkeit oder Gewalt auseinandersetzen.“ (Sitzer & Wiezorek, 2005 S. 123). Darüber hinaus finden bei Sitzer und Wiezorek empirische Arbeiten von Nunner-Winkler (vgl. Nunner-Winkler, 2001) und Dollase (vgl. Dollase, 2001) Erwähnung (vgl. Sitzer & Wiezorek, 2005 S. 125 ff.). Diese wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit dem Konstrukt zeigen, in welch vielfältiger Weise der Anerkennungsbegriff aufgefasst und untersucht werden kann. Eine Gemeinsamkeit besteht zwischen den meisten der erwähnten Ansätze durch die implizite oder explizite Annahme, dass ein Erleben von Anerkennung elementar für die Entwicklung und Aufrechterhaltung einer positiven Identität von Menschen ist. Demgegenüber differieren die Ansätze einerseits dahingehend, ob das Konstrukt z.B. als Voraussetzung von ‚Sittlichkeit’ bzw. Grundlage für moralphilosophische Postulate, als Leitfigur politischen Handelns, als Notwendigkeit zur Befriedung der menschlichen Triebnatur, als Aspekt gesellschaftlicher Integration usw. betrachtet wird, also welche Funktion oder ‚Aufgabe’ dem Konzept – neben einer Identitätssicherung oder –ermöglichung – zugesprochen wird. Andererseits unterscheiden sich die Ansätze ebenfalls dahingehend, was unter einem Praktizieren von Anerkennung inhaltlich zu verstehen ist. Während die philosophischen Arbeiten zumeist darauf abzielen, Anerkennung auf theoretischer Ebene möglichst lückenlos in ihren verschiedensten Facetten zu erfassen und verschiedene mögliche Inhalte praktizierter Anerkennung anführen, fokussieren die empirischen arbeitssoziologischen Beiträge bewusst lediglich auf einen Ausschnitt dessen, was Anerkennung bedeuten kann – nämlich Anerkennung für Leistung oder Nützlichkeit. Ein anderer Ausschnitt möglicher Bedeutungen des Anerkennungskonstruktes wird innerhalb der genannten jugendsoziologischen und pädagogischen Forschung untersucht, innerhalb derer insbesondere eine emotionale oder affektive Anerkennungsform in den Mittelpunkt rückt. Es zeigt sich also, dass Anerkennung in verschiedensten Formen z.B. als universelle Achtung, Respekt vor Andersartigkeit, Lob für Besonderes, Bewunderung von Status, Liebe usw. betrachtet werden kann, um nur einen kleinen Ausschnitt der vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten von Anerkennung zu nennen. Welche Art(en) der Anerkennung in der vorliegenden Arbeit betrachtet werden sollen, also welche Ausdrucksformen von Anerkennung untersucht werden, wird an gegebener Stelle – zunächst in Kapitel 2 und später ausführlicher in Kapitel 5 – geklärt werden. Es bleibt somit an der jetzigen Stelle noch zu erläutern, welche Funktion oder Aufgabe der Anerkennung beim hier praktizierten Vorgehen betrachtet werden soll. Eine solche Festlegung der betrachteten Funktion wirkt sich schließlich darauf aus, welche der fast unendlichen Möglichkeiten an Ausdrucksformen von Anerkennung letztendlich in Kapitel 5 identifiziert werden, und scheint somit unabdingbare Voraussetzung dafür zu sein, ein derart umfassendes Konzept wie das der Anerkennung zu untersuchen. Denn es scheint nicht durchführbar zu sein, jegliche Art, in der sich Menschen anerkannt fühlen können, in eine theoretische und empirische Analyse mit aufzunehmen. Es wurde bereits angesprochen, dass in der vorliegenden Arbeit diejenigen Arten von Anerkennung betrachtet werden sollen, die für einen Menschen als besonders elementar gelten können. Um besonders elementare Formen der Anerkennung zu identifizieren, kann die Frage
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gestellt werden, warum Anerkennung in der philosophischen Betrachtungsweise als ein sittliches Konzept beschrieben wird. Diese Sichtweise ergibt sich aus einem Menschenbild, nach dem Menschen keine atomisierten Individuen, sondern gemeinschaftsorientierte Lebewesen sind. Ein derartiges Menschenbild wird auch in der vorliegenden Arbeit zugrunde gelegt. Es wird davon ausgegangen, dass Menschen danach streben, Gemeinschaften zu bilden, in die sich jeder Einzelne integriert fühlen kann. Nun ist aber zu fragen, woran der Einzelne erkennt, dass er sich bestimmten Gemeinschaften zugehörig fühlen kann, also in diese integriert ist. Dies geschieht dadurch, dass die weiteren Mitglieder der Gemeinschaft seine verschiedenen persönlichen Eigenschaften und Rollen anerkennen, also anerkennende Handlungen vornehmen, die sich auf Eigenschaften und Rollen dieser Person beziehen. Zugehörigkeit wird somit durch das Praktizieren von Anerkennung demonstriert. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass Zugehörigkeit oder Integration durch jede mögliche Art des anerkennenden Handelns in jeder Situation oder von jeder beliebigen Person ausgedrückt wird. Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, diejenigen Arten der Anerkennung zu identifizieren, die in verschiedenen Ebenen des Zusammenlebens Indikatoren für Zugehörigkeit sind, und diese genauer zu untersuchen. Das bedeutet, Anerkennung wird in dieser Arbeit in ihrer Funktion, als Modus von Integration zu wirken, betrachtet und es werden entsprechende Arten solcher Anerkennung genauer herausgearbeitet. Auf diese wird fokussiert, da davon ausgegangen wird, dass die Wahrnehmung einer solchen Anerkennung als besonders elementar erlebt wird. In der hier erfolgenden Untersuchung wird aber nicht ausschließlich die Wichtigkeit des Erlebens von Anerkennung, sondern ebenfalls die Bedeutung eines Nichterlebens von Anerkennung thematisiert und eingehend erläutert. Dabei werden die Fragen gestellt, wie sich einerseits ein solches Nichterleben von Anerkennung auf das Selbstverständnis bzw. die Identität eines Menschen auswirkt und andererseits, welche Bedeutung einem Nichterleben von Anerkennung für das Zusammenleben unterschiedlicher Gruppen in einer Gesellschaft zukommt. Genauer formuliert, wird gefragt, welche Rolle ein Nichterleben von Anerkennung bei der Entstehung menschenfeindlicher Einstellungen – also Einstellungen, aufgrund derer bestimmte andere Menschen als minderwertig betrachtet werden – spielt. Die Annahme, dass ein solcher Zusammenhang zwischen dem Nichterleben von Anerkennung und feindseligen Einstellungen besteht, beruht auf Postulaten der Theorie der Sozialen Desintegration von Heitmeyer und Anhut (vgl. Anhut & Heitmeyer, 2000). Auf diese Theorie geht die in der vorliegenden Arbeit vertretene Betrachtungsweise des Konstrukts ‚Anerkennung’ in seiner Funktion als Aspekt gesellschaftlicher Integration zurück. Entsprechend wird in der Desintegrationstheorie umgekehrt ein Nichterleben von Anerkennung mit einem gesellschaftlich desintegrierten Zustand in Verbindung gebracht. Wie in Kapitel 2 dieser Arbeit noch ausführlicher zu beschreiben ist, wird postuliert, dass Menschen, die in eine Gesellschaft integriert sind, ‚objektive’ Integrationsleistungen in Form von Teilhabe und Zugehörigkeit innerhalb dreier gesellschaftlicher Ebenen erbracht haben. Mit dieser Teilhabe innerhalb der drei gesellschaftlichen Ebenen sind jeweils spezifische Arten der Anerkennung verbunden. Die Theorie postuliert, dass ein Scheitern beim Lösen der objektiven Integrationsaufgaben und damit verbunden ein Nichterleben der damit verknüpften Anerkennung einen Auslöser für die Ausbildung feindseliger Einstellungen des Betroffenen darstellen kann. Ein Zusammenhang zwischen Gefühlen der Nichtzugehörigkeit und der Entstehung menschenfeindlicher Einstellung wurde bereits mehrfach untersucht und aufgezeigt. Insbesondere ist hier auf Arbeiten im Rahmen des Langzeitprojekts ‚Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit’ zu verweisen (vgl. Endrikat, Schaefer, Mansel, & Heitmeyer, 2002; Mansel, Endrikat, & Hüpping, 2006; Mansel & Heitmeyer, 2005; Wolf, Schlüter, & Schmidt, 2006). Als ‚Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit’ wird dabei die Auffassung
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Einleitung
einer Person bezeichnet, dass die Wertigkeit von Menschen durch ihre Zugehörigkeit zu bestimmten sozialen Gruppen determiniert ist und somit Angehörige von als schwach wahrgenommenen Gruppen bzw. Gruppen, denen in der sozialen Hierarchie ein niedriger Platz zugeschrieben wird, als minderwertig zu betrachten sind. Innerhalb des Projekts wird die Abwertung von neun verschiedenen Gruppen jährlich empirisch untersucht. Wie bereits erwähnt, wurde der Zusammenhang zwischen einer sozial desintegrierten Position bzw. der Eigenwahrnehmung als desintegriert und der Abwertung von Angehörigen schwacher Gruppen verschiedentlich anhand dieses Datenmaterials näher beleuchtet. Auseinandersetzungen mit der speziellen Rolle, die die Anerkennung als ein Aspekt gesellschaftlicher Integration für diesen Zusammenhang spielt, wurden jedoch bisher nicht explizit vorgenommen. Es ist Ziel der vorliegenden Arbeit, diese Lücke zu schließen. Das bedeutet, es soll ein möglicher Zusammenhang zwischen dem Nichterleben sozialer Anerkennung und der Ausbildung feindseliger Einstellungen näher beleuchtet werden. Dazu ist zunächst einmal genauer auf den Anerkennungsbegriff zu fokussieren. So werden in Kapitel 2 einige grundlegende Annahmen zum Konstrukt der Anerkennung erörtert, indem zunächst eine kurze Beschreibung des Ansatzes Axel Honneths dargestellt wird, der eine sehr ausführliche und detaillierte Auseinandersetzung mit dem Konstrukt der Anerkennung vorgenommen hat. Anschließend wird auf die Funktion der Anerkennung als Indikator und Modus gesellschaftlicher Integration eingegangen. Es folgt ein Exkurs, der sich damit auseinandersetzt, dass Anerkennung nicht ausschließlich positive Aspekte besitzt und aufgrund dessen auch der Blick auf mögliche negative Seiten der Anerkennung nicht vernachlässigt werden sollte. In Kapitel 3 werden dann die für die vorliegende Arbeit relevanten Postulate der Desintegrationstheorie erörtert. Hierbei wird deutlich, dass die Theorie der Sozialen Desintegration zwar einen Zusammenhang zwischen Anerkennungsmängeln und der Ausbildung feindseliger Mentalitäten postuliert, jedoch keine genauere theoretische Auseinandersetzung mit diesem möglichen Zusammenhang vornimmt. Diese Lücke soll durch die vorliegende Arbeit geschlossen werden, indem die Annahmen der Theorie der Sozialen Desintegration im Sinne der Grounded Theory auf Basis empirischen Datenmaterials konkretisiert und verfeinert werden. Das bedeutet, ein möglicher Zusammenhang zwischen einem Nichterleben von Anerkennung und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit wird qualitativ, mit Hilfe leitfadengestützter Interviews, genauer beleuchtet. Es werden also die bisher existierenden Annahmen der Desintegrationstheorie nicht getestet, sondern empirisch präzisiert. Für die Erfüllung dieser Zielsetzungen werden in Kapitel 4, das den Theorieschwerpunkt der Arbeit darstellt, die notwendigen Grundlagen geschaffen. Das Kapitel beinhaltet zunächst eine genauere theoretische Ausarbeitung der in der Theorie der Sozialen Desintegration genannten Anerkennungskategorien, die in Unterkapitel 4.1 vorgenommen wird. Diese Notwendigkeit besteht, da die bisher innerhalb der Theorie genutzten Anerkennungskategorien inhaltlich noch wenig präzise sind und aus diesem Grund keine hinreichende Basis für quantitative Datenerhebungen bieten. Während der Ausarbeitung der Anerkennungskategorien wird einerseits verdeutlicht, dass es sinnvoll ist, das Konstrukt in eine größere Anzahl von Subdimensionen zu untergliedern, als dies innerhalb der Desintegrationstheorie erfolgt. Andererseits werden diese Unterdimensionen detaillierter beschrieben und dargestellt, wodurch es ermöglicht wird, sie als Grundlage für die Konzeption eines Interviewleitfadens zu nutzen. Es wird somit eine Erweiterung der Theorie der Sozialen Desintegration vorgenommen, da die durch die Theorie benannten relevanten Anerkennungsdimensionen sowohl näher ausgeleuchtet als auch weiter untergliedert werden. Neben dieser Erweiterung beinhaltet die theoretische Ausarbeitung ebenfalls eine Differenzierung der Desintegrationstheorie, da durch die in der vorliegenden Arbeit vorgenommene Fokussierung auf den
Einleitung
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Aspekt der Anerkennung eine stärkere Trennung zwischen einer „objektiven“ Integration und der damit einhergehenden Erfahrung von sozialer Anerkennung notwendig ist, als sie innerhalb der Desintegrationstheorie erfolgt. In Unterkapitel 4.2 wird anschließend erneut eine theoretische Erweiterung vorgenommen, indem zunächst eine theoretische Auseinandersetzung mit einem möglichen Zusammenhang zwischen dem Nichterleben von Anerkennung, der Selbstwahrnehmung eines Menschen und der Entwicklung menschenfeindlicher Einstellungen statt. Hierzu setze ich mich mit dem Konstrukt des ‚Selbst’ auseinander. Wie in den meisten anerkennungstheoretischen Ansätzen gehe ich davon aus, dass ein Erleben und Nichterleben von Anerkennung sich auf das Selbst eines Menschen auswirkt. Während der Auseinandersetzung mit den Auswirkungen von (Nicht-)Anerkennung auf das menschliche Selbst wird ebenfalls erörtert, welche Konzeption von ‚Identität’ oder ‚Selbst’ für eine solche Fragestellung sinnvoll ist. Es wird verdeutlicht, dass für die bearbeitete Thematik die Verwendung eines sozialpsychologischen Ansatzes von Patricia Linville fruchtbar ist, die das ‚Selbst’ nicht – wie z.B. Honneth, der sich auf die Konzeption Meads bezieht – als Einheit betrachtet, sondern davon ausgeht, dass es sich in verschiedene, teilweise voneinander unabhängige Selbstaspekte untergliedert (vgl. Linville, 1985). Es wird argumentiert, dass bestimmte Arten der Anerkennung, jeweils spezifische Selbstaspekte beeinflussen, während andere Selbstaspekte von diesen unberührt bleiben können. Unter Bezugnahme auf die Sociometer-Hypothese von Leary et al. wird die Wichtigkeit eines positiv bewerteten Selbst für die Wahrnehmung, in ein Kollektiv integriert zu sein, verdeutlicht und hieraus die Wirkung von (Nicht-)Anerkennung als Bedrohung für die wahrgenommene Integration abgeleitet (vgl. Leary, 2004; Leary & Baumeister, 2000; Leary, Tambor, Terdal, & Downs, 1995). Auf Basis dessen werden erste theoretische Überlegungen über die Frage, warum ein bedrohtes Selbst bzw. eine bedrohte Integration die Abwertung schwacher Gruppen nach sich ziehen kann, angestellt. Diese theoretischen Annahmen werden dann in Kapitel 5 durch die Durchführung und Analyse qualitativer Interviews durch empirisches Material verfeinert, erweitert, präzisiert und weiterentwickelt. Hierbei wird anhand von Fallbeispielen dargestellt, wie die Erfahrung verweigerter Anerkennung und sozialer Missachtung dazu führen kann, dass eine Abwertung von schwachen Gruppen praktiziert wird. Dies geschieht, indem Personen, die sich hinsichtlich ihrer strukturellen Integration voneinander unterscheiden (arbeitslos, prekär beschäftigt, normal erwerbstätig), zu ihrem Erleben, in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen anerkannt zu werden, und zu ihren Einstellungen gegenüber schwachen Gruppen befragt werden und die Aussagen der Befragten in der anschließenden Analyse aufeinander bezogen werden. Dabei werden darüber hinaus weitere Faktoren, die für das Zusammenwirken von Nichtanerkennung und feindseligen Einstellungen bedeutsam sind, diese also mit beeinflussen, identifiziert. Das Abschlusskapitel, Kapitel 6, enthält die Gesamtzusammenfassung der Ergebnisse der theoretischen und qualitativ empirischen Forschung und gibt einen Ausblick auf weitere vorzunehmende Forschung. Zusammengefasst bedeutet das, dass im theoretischen Teil dieser Arbeit einerseits eine Differenzierung der Theorie der Sozialen Desintegration vorgenommen wird, indem stärker zwischen Integration und Anerkennung unterschieden wird als dies innerhalb der ursprünglichen Theorie erfolgt. Zusätzlich wird die Theorie erweitert, da die durch sie genannten Anerkennungsdimensionen sowohl weiter untergliedert als auch ausführlicher beleuchtet werden Darüber hinaus wird die Theorie erweitert, indem genauere Aussagen über den Zusammenhang zwischen verweigerter Anerkennung, Selbst und der Abwertung von Fremdgruppen (bzw. Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit) getroffen werden (vgl. Abb. 1).
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Einleitung
Integration durch Rollenübernahme Differenzierung der Theorie durch Unterscheidung zwischen Integration und Anerkennung Damit verbundene Erfahrung, Anerkennung zu erhalten
Verschiedene Unterformen der Anerkennung
Erweiterung der Theorie durch Ausarbeitung von Unterformen der Anerkennung und des Zusammenhangs zwischen Anerkennungsmängeln, Selbst und der Abwertung von Fremdgruppen
Abwertung von Fremdgruppen
Selbstsicht Abb. 1
Weiterentwicklung der Theorie der Sozialen Desintegration
Nachdem auf der theoretischen Ebene diese Differenzierung und Erweiterung vorgenommen wurde, findet in einem nächsten Schritt eine empirische Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Zusammenhang zwischen der Erfahrung verweigerter Anerkennung und der Abwertung von Fremdgruppen statt. Wie durch Abbildung 2 verdeutlicht wird, ist es Ziel dieses empirischen Teils, die Erklärungskraft der erweiterten Theorie zu erhöhen.
Einleitung
19 Empirische Ergebnisse über Begründung und Legitimation der Selbstsicht
Anerkennungsmängel Empirische Präzisierung des Zusammenhangs zwischen Anerkennungsmängeln, Selbstsicht und Abwertung von Fremdgruppen Abb. 2
Selbstsicht
Abwertung von Fremdgruppen
Erhöhung der Erklärungskraft der Theorie durch empirische Analysen
Die empirischen Analysen tragen zu einer erhöhten Erklärungskraft der Theorie auf zweierlei Weise bei. So können einerseits hierdurch die theoretischen Aussagen über den Zusammenhang von verweigerter Anerkennung, Selbst und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit untermauert werden. Andererseits liefert der Empirieteil genauere Erkenntnisse darüber, welche Anerkennungsmängel im Zusammenhang mit einer bestimmten Selbstsicht insbesondere zu einer Abwertung von Fremdgruppen beitragen, worauf sich eine solche Selbstsicht gründet und welche Funktion die Abwertung der Angehörigen bestimmter Gruppen innerhalb dieses Zusammenhangs für den Betroffenen erfüllt. Hierdurch wird es dann möglich, Aussagen darüber zu treffen, welche Anerkennungsmängel im Zusammenhang mit welcher Selbstsicht welche Art der Abwertung von Fremdgruppen nach sich ziehen kann.
2. Grundlegende Annahmen zum Konstrukt der Anerkennung
2.1 Die Theorie Axel Honneths Wie soeben erwähnt, hat man sich mit dem Konstrukt der Anerkennung in verschiedenen historischen Epochen sowie in unterschiedlichen Disziplinen mehr oder weniger explizit auseinandergesetzt. Dies verdeutlichen auch Peter Sitzer und Christine Wiezorek im Rahmen eines Überblicksartikels zu dem Thema (vgl. Sitzer & Wiezorek, 2005). Als die wohl differenzierteste und detaillierteste aktuelle Auseinandersetzung mit dem Anerkennungskonstrukt kann Axel Honneths Arbeit ‚Kampf und Anerkennung’ betrachtet werden. Honneth identifiziert innerhalb seines Ansatzes drei idealtypische Kategorien der Anerkennung. Hierbei handelt es sich um „die ‚Liebe’ als leitende Idee von Intimbeziehungen, de[n] Gleichheitsgrundsatz als Norm von Rechtsbeziehungen und das Leistungsprinzip als Maßstab der Sozialhierarchie“ (Honneth, 2003b S. 168). Honneth entwickelt diese Anerkennungskategorien auf der Basis von Überlegungen Georg Wilhelm Friedrich Hegels. Honneths Berufung auf diese Theorie bringt es mit sich, dass er – wie auch Hegel – die Verweigerung von Anerkennung als Auslöser für soziale Kämpfe, die ihrerseits wiederum Auslöser für gesellschaftliche Weiterentwicklung sind, betrachtet. „[E]s sind moralisch motivierte Kämpfe sozialer Gruppen, ihr kollektiver Versuch, erweiterten Formen der reziproken Anerkennung institutionell und kulturell zur Durchsetzung zu verhelfen, wodurch die normativ gerichtete Veränderung von Gesellschaften praktisch vonstatten geht.“ (Honneth, 2003a S. 149). Der von Honneth betrachtete soziale Wandel ist durch die Erweiterung von Anerkennungsbeziehungen gekennzeichnet. „Entweder werden neue Persönlichkeitsanteile der wechselseitigen Anerkennung erschlossen, so daß das Maß an sozial bestätigter Individualität steigt, oder ein Mehr an Personen wird in die bereits existierenden Anerkennungsverhältnisse einbezogen, so daß der Kreis der sich wechselseitig anerkennenden Subjekte anwächst.“ (Honneth, 2003b S. 220). Als primärste Form der Anerkennung identifiziert Honneth ein Konstrukt, das er als Liebe bezeichnet. Dieses Anerkennungsverhältnis beinhaltet alle Beziehungen, die „nach dem Muster von erotischen Zweierbeziehungen, Freundschaften und Eltern-Kind-Beziehungen aus starken Gefühlsbindungen zwischen wenigen Personen bestehen.“ (Honneth, 2003a S. 153). Es handelt sich also um eine Form der Anerkennung, deren Basis eine „affektive Zustimmung und Ermutigung“ ist (Honneth, 2003a S. 153). Im Rahmen seiner Argumentation, dass das Liebesverhältnis eine Anerkennungsart darstellt, interpretiert Honneth diese – basierend auf der Argumentation Hegels – psychoanalytisch und sieht in den im frühkindlichen Alter erfahrenen Interaktionen zu den ersten Beziehungspartnern den Grundpfeiler für gelingende Bindungen an andere Personen. Diese Wichtigkeit der frühkindlichen Erfahrungen und die Betrachtung des Liebesverhältnisses als Muster reziproker Anerkennung werden aus der psychoanalytischen Objektbeziehungstheorie hergeleitet. Innerhalb dieser Theorie wird „das Gelingen von affektiven Bindungen von der frühkindlich erworbenen Fähigkeit zur Balance zwischen Symbiose und Selbstbehauptung abhängig gemacht“ (Honneth, 2003a S. 157). Es wird argumentiert, dass
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Grundlegende Annahmen zum Konstrukt der Anerkennung
mit der Geburt eines Kindes ein symbiotisches Verhältnis zwischen Mutter und Kind entsteht, innerhalb dessen sich beide in einer absoluten Abhängigkeit befinden. Durch den in der folgenden Entwicklung des Kindes stattfindenden Ablösungsprozess lernt es, „daß es auf die liebevolle Zuwendung einer Person angewiesen ist, die unabhängig von ihm als ein Wesen mit eigenen Ansprüchen existiert“ (Honneth, 2003a S. 164). Weiter wird argumentiert, dass das Streben nach einer Liebesbeziehung im Erwachsenenalter durch den Wunsch entsteht, das ursprüngliche Verschmelzungserlebnis mit der Mutter wieder aufleben zu lassen. Diese Beziehung kann aber nur dann entstehen, wenn der Partner als eine unabhängige Person anerkannt wird. Somit beschreibt Honneth das Liebesverhältnis als „eine durch Anerkennung gebrochene Symbiose“ (Honneth, 2003a S. 172). Diese Anerkennung ist sowohl durch individuelle Unabhängigkeit von der anderen Person gekennzeichnet als auch durch eine emotionale Bindung an sie. Das bedeutet, sie existiert auf der Basis von Zuwendung in Kombination mit einer Unterstützung von Selbstständigkeit durch die andere Person, ist also gebunden an Sympathie und Anziehung. Die Bezeichnung dieser Anerkennungsdimension als Liebe und die damit verbundene Fokussierung auf starke Gefühlsbindungen bedeutet, dass hier Anerkennung in Form einer bedingungslosen Schätzung eines Menschen unabhängig von seinen individuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten betrachtet wird. Daher kann sie nur auf einen sehr engen Personenkreis beschränkt sein. „Jedes Liebesverhältnis (…) ist dadurch an die individuell unverfügbare Voraussetzung von Sympathie und Anziehung gebunden; über den sozialen Kreis von primären Sozialbeziehungen hinaus läßt es sich, weil positive Gefühle gegenüber anderen Menschen unwillkürliche Regungen sind, nicht beliebig auf eine größere Zahl von Interaktionspartnern übertragen“ (Honneth, 2003a S. 173 ff.). Die Erfahrung von Liebe ist nach Honneth Voraussetzung dafür, am öffentlichen Leben teilhaben zu können. Eine Teilnahme am Gemeinwesen erfordert darüber hinaus eine weitere Form der Anerkennung. Es handelt sich hierbei um eine Anerkennung, die Personen sich gegenseitig zugestehen, indem sie sich darauf einigen, wechselseitig bestimmte normative Verpflichtungen einzuhalten. Diese Anerkennungsart bezeichnet Honneth als rechtliche Anerkennung. In ihren Ursprüngen ist diese Dimension auf Überlegungen Fichtes zurückzuführen. Das Konstrukt der rechtlichen Anerkennung nach Fichte beinhaltet zum einen, die „äußere Freiheit“ eines Anderen anzuerkennen, und diesen Anderen des Weiteren nicht in seiner „inneren Freiheit“ – also in seinem Anderssein bzw. Fremdsein – einzuschränken. Die Gewährung einer solchen Anerkennung setzt voraus, ebenfalls von seinem Gegenüber in dieser Form geachtet zu werden. Es besteht also die Notwendigkeit der Reziprozität. Fichte postuliert: „Man hat Rechte soweit man Rechte zugesteht“ (Fichte, 1980 S. 84). Ein ähnlicher Gedankengang liegt den Annahmen Georg Herbert Meads zugrunde, wenn er argumentiert, „daß wir zu einem Verständnis unserer selbst als Träger von Rechten nur dann gelangen können, wenn wir umgekehrt ein Wissen darüber besitzen, welche normativen Verpflichtungen wir dem jeweils anderen gegenüber einzuhalten haben: erst aus der normativen Perspektive eines ‚generalisierten Anderen’, der uns die anderen Mitglieder des Gemeinwesens bereits als Träger von Rechten anzuerkennen lehrt, können wir uns selbst auch als Rechtsperson (…) verstehen“ (Honneth, 2003a S. 174). Mead identifiziert somit rechtliche Anerkennung als gegenseitige Achtung aufgrund des Wissens um gemeinsam geteilte Normen. Hieran kritisiert Honneth, dass aus einer derartigen Argumentation weder Aussagen über die Art der fraglichen Rechte noch über ihren Legitimationsmodus abgeleitet werden können. Somit nimmt Honneth einen Rückgriff auf Hegels Überlegungen vor, auf Basis derer ein Begründungsmodus des modernen Rechtssystems, der aus dessen Struktur erwächst, identifiziert
Die Theorie Axel Honneths
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werden kann. So basiert rechtliche Anerkennung seit der Moderne auf universalistischen Prinzipen. Das bedeutet, die Anerkennung der im Rechtssystem einer Gesellschaft verankerten Normen kann nur geschehen, wenn das „Rechtssystem als Ausdruck der verallgemeinerbaren Interessen aller Gesellschaftsmitglieder verstanden werden“ kann (Honneth, 2003a S. 177). Die Rechtsnormen einer modernen Gesellschaft können somit nur dann als legitimiert gelten, wenn alle Gesellschaftsmitglieder über die Möglichkeit verfügen, als „freie und gleiche Wesen“ diesen Normen zustimmen zu können (vgl. Honneth, 2003a S. 177). Das bedeutet, wenn sich Gesellschaftsmitglieder gegenseitig als Rechtspersonen anerkennen, so unterstellt dies, dass alle die Fähigkeit besitzen, über moralische Normen vernünftig zu entscheiden, unabhängig von ihrem Charakter oder ihren Leistungen. Dass eine Differenzierung zwischen der allgemeinen Fähigkeit, über Normen vernünftig zu entscheiden, und besonderen Eigenschaften von Personen vorgenommen wird, ist Resultat des Übergangs zur Moderne. Ist in traditionellen Gesellschaften die Anerkennung als Rechtsperson eng an die soziale Wertschätzung eines Menschen, die ihm aufgrund seiner gesellschaftlichen Rolle zuteil wird, geknüpft, so findet mit dem Übergang zur Moderne eine Loslösung hiervon statt. Durch diese Loslösung kann zwischen zweierlei Arten von Eigenschaften, aufgrund derer Personen Anerkennung erfahren können, differenziert werden. Während eine dritte Anerkennungsart, die Honneth als soziale Wertschätzung bezeichnet, auf Basis besonderer Eigenschaften, die eine Abgrenzung gegenüber anderen Menschen ermöglichen, vergeben wird, so erfolgt eine Anerkennung als Rechtsperson aufgrund allgemeiner Eigenschaften, die eine Person überhaupt erst zur Person werden lassen (vgl. Honneth, 2003a S. 183 ff.). Was diese allgemeinen Eigenschaften umfassen, ist nicht eindeutig umrissen und unumstößlich festgesetzt, sondern steht im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Wandlungsprozessen. Welche Fähigkeiten als dafür notwendig erachtet werden, am Prozess gesellschaftlicher Willensbildung teilzuhaben, spiegelt sich darin wider, welche Rechte welchen Gesellschaftsmitgliedern zuerkannt werden. In je mehr Rechten sich umso mehr Gesellschaftsmitglieder wechselseitig anerkennen, desto umfassender sind die Eigenschaften, die die Fähigkeit zur Mitbestimmung über gesellschaftliche Normen – von Honneth bezeichnet als moralische Zurechnungsfähigkeit – repräsentieren. „Die kumulative Erweiterung individueller Rechtsansprüche, mit der wir es in modernen Gesellschaften zu tun haben, läßt sich als ein Prozeß verstehen, in dem der Umfang der allgemeinen Eigenschaften einer moralisch zurechnungsfähigen Person sich schrittweise vergrößert hat, weil unter dem Druck eines Kampfes um Anerkennung stets neue Voraussetzungen zur Teilnahme an der rationalen Willensbildung hinzugedacht werden mussten“ (Honneth, 2003a S. 185 ff.). Der Auslöser für die Erweiterung der individuellen Grundrechte ist im Umbruch vor der traditionalen zur modernen Rechtsauffassung zu sehen, der zu einer Loslösung individueller Rechtsansprüche von sozialen Statuszuschreibungen führte (Honneth, 2003a S. 187). Aus der Ansicht, dass jedem Gesellschaftsmitglied die gleichen Rechte und somit der Anspruch auf vollwertige Mitgliedschaft in der Gesellschaft zustehen, entwickelten sich nach T.H. Marshall sukzessiv die Grundrechte der modernen Gesellschaft (Marshall, 1963S. 67 ff.). So entstanden aus dem Gleichheitsanspruch zunächst die liberalen Freiheitsrechte, die jedem Staatsbürger Schutz im Hinblick auf seine Freiheit, seine Leben und sein Eigentum zusichern. Danach setzte sich die Überzeugung durch, dass jedem Bürger das Recht auf politische Teilhabe zusteht. Aus den politischen Teilhaberechten und der Einsicht, dass die Möglichkeit, am politischen Willensbildungsprozess teilzunehmen, einen gewissen Lebensstandard und ökonomische Sicherheit voraussetzt, entwickelten sich in westlichen Gesellschaften die sozialen Wohlfahrtsrechte.
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Grundlegende Annahmen zum Konstrukt der Anerkennung
Mit Entwicklung der bürgerlichen Freiheitsrechte entwickelte sich laut Honneth die dritte Dimension der Anerkennung, die soziale Wertschätzung. Während es sich bei rechtlicher Anerkennung um Anerkennung handelt, die auf dem Gleichheitsprinzip basiert und keine Privilegierung oder Sonderstellung von Personen zulässt, wird soziale Wertschätzung gerade für diese Besonderheit von Menschen vergeben, also für Aspekte, die einen Menschen von den übrigen Angehörigen der Gesellschaft unterscheiden. Die Beurteilung darüber, für welche Aspekte dieser Unterscheidbarkeit Anerkennung vergeben wird, geschieht aufgrund gemeinsamer gesellschaftlicher Werte, deren Gültigkeit gesellschaftlichen Wandlungsprozessen unterworfen ist. Somit existiert „ein symbolisch artikulierter, stets offener und poröser Orientierungsrahmen, in dem diejenigen ethischen Werte und Ziele formuliert sind, deren Insgesamt das kulturelle Selbstverständnis der Gesellschaft ausmacht“ (Honneth, 2003a S. 197 ff.). Auf Basis dieses „kulturellen Selbstverständnis[ses]“ wird beurteilt, aufgrund welcher Besonderheiten von Menschen soziale Wertschätzung vergeben wird. In modernen Gesellschaften besteht ein Wertekonsens dahingehend, dass soziale Schätzung primär für die individuelle Leistung einer Person vergeben wird. Diese von Fähigkeiten und Eigenschaften abhängige Wertschätzung konnte sich – wie eben erwähnt – erst mit dem Übergang von traditionalen zu modernen Gesellschaften entwickeln. So ist in traditionalen Gesellschaften der Wert des Subjektes nicht von seiner individuellen Leistung abhängig, sondern von seiner Zugehörigkeit zu einer Statusgruppe. Während die Wertschätzung innerhalb einer Statusgruppe symmetrisch verläuft, liegen zwischen den verschiedenen Gruppen asymmetrische, hierarchisch angeordnete Anerkennungsverhältnisse vor. Mit dem Übergang zur Moderne findet nun eine Verschiebung des Werterahmens statt, der regelt, wofür Anerkennung vergeben wird. Personen werden nun nicht mehr für eine auf zugeschriebenen Kriterien basierende Gruppenangehörigkeit – legitimiert durch religiöse oder metaphysische Überlieferungen – anerkannt. Stattdessen wird Wertschätzung aufgrund individueller Fähigkeiten und Eigenschaften vergeben. Es sind also „nicht mehr kollektive Eigenschaften, sondern die lebensgeschichtlich entwickelten Fähigkeiten des einzelnen, an denen die soziale Wertschätzung sich zu orientieren beginnt“ (Honneth, 2003a S. 203). Somit sind die Gesellschaftsmitglieder nun darauf angewiesen, Anerkennung selbst zu „erarbeiten“. Wertschätzung wird dem zuteil, der in der Lage ist, so zu agieren, dass seine Selbstverwirklichung zur Umsetzung der Ziele der Gesellschaft beiträgt. Das bedeutet, die Vergabe dieser Art der Anerkennung basiert auf dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit. Jeder der drei soeben erläuterten Dimensionen der Anerkennung stellt Honneth jeweils eine Dimension der sozialen Missachtung gegenüber. Als elementarste Form der Missachtung – eine Missachtung, die der Anerkennungsdimension der Liebe entgegensteht – nennt Honneth die physische Misshandlung. Während die Erfahrung von Liebe es einem Menschen ermöglicht, mit sich allein sein zu können, da er sich des Rückhalts durch andere Menschen sicher sein kann, wirkt die Erfahrung von körperlicher Schädigung diesem Bewusstsein entgegen. Dies geschieht, da durch die Erfahrung, dem Willen einer anderen Person ausgeliefert zu sein, die Autonomie der angegriffenen Person infrage gestellt wird. Honneth führt an, dass mit solchen physischen Angriffen persönliche Erniedrigungen oder Demütigungen einhergehen. Als Beispiele für derartige Misshandlungen nennt Honneth Folter oder Vergewaltigung (vgl. Honneth, 2003a S. 214). Er merkt an, dass die Erfahrung von physischer Misshandlung kulturell oder historisch invariant ist und somit unabhängig von äußeren Umständen eine Erschütterung des Vertrauens in die soziale Welt bedeutet, auch wenn gesellschaftliche Legitimationssysteme existieren, die physische Misshandlungen zu rechtfertigen versuchen (vgl. Honneth, 2003a S. 215). Dies gilt nicht für die der rechtlichen Anerkennung und der Wertschätzung
Die Theorie Axel Honneths
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gegenteiligen Dimensionen. Wie im Falle der Anerkennungsebenen wird bezogen auf diese Dimensionen ebenfalls die Wahrnehmung der Missachtung von geschichtlichen Veränderungen beeinflusst. Das Gegenstück der rechtlichen Anerkennung zeigt sich durch einen Ausschluss eines Menschen von gesellschaftlichen Rechten. Durch eine solche Exklusion wird einem Menschen vermittelt, dass ihm nicht die gleiche Zurechnungsfähigkeit wie allen anderen Gesellschaftsmitgliedern unterstellt wird. Einer Person wird hierdurch somit angezeigt, sie besitze nicht den Status eines gleichberechtigten Interaktionspartners. Diese Art der Missachtung variiert historisch, weil die Frage danach, was es bedeutet, moralisch zurechnungsfähig zu sein, im geschichtlichen Verlauf unterschiedlich zu beantworten ist. Denn wie Honneth anführt, bemisst sich „die Erfahrung der Entrechtung (…) daher stets nicht nur an dem Grad der Universalisierung, sondern auch an dem materialen Umfang der institutionell verbürgten Rechte“ (Honneth, 2003a S. 216). Verletzungen innerhalb der Dimension der sozialen Wertschätzung bezeichnet Honneth als „Beleidigung“ oder „Entwürdigung“ (vgl. Honneth, 2003a S. 217). Diese erfolgen, wenn Lebensformen oder Überzeugungsweisen von Personen oder Kollektiven als minderwertig oder mangelhaft beurteilt und durch entsprechende Verhaltensweisen degradiert werden. Das bedeutet, es handelt sich hierbei um Verhaltensweisen, die mit einer sozialen Entwertung von Personen einhergehen. Ebenso wie die Definition der moralischen Zurechnungsfähigkeit historisch variiert, so sind auch die Erfahrungen innerhalb dieser Missachtungsdimension von geschichtlichen Veränderungen betroffen. Hierdurch wird beeinflusst, ob ein Mensch solche Missachtungen auf sich als individuelles Subjekt bezieht oder sie auf seine Zugehörigkeit zu einem Kollektiv zurückführt. „Allerdings kann ein Subjekt solche Arten der kulturellen Degradierung überhaupt nur in dem Maße auf sich als Einzelperson beziehen, in dem sich die institutionell verankerten Muster sozialer Wertschätzung historisch individualisiert haben, also statt auf Kollektiveigenschaften auf individuelle Fähigkeiten wertend Bezug nehmen“ (Honneth, 2003a S. 217). Weiter argumentiert Honneth, dass Anerkennungs- und Missachtungserfahrungen sich auf das Selbstbild eines Menschen – oder Selbstverhältnis, wie er es bezeichnet – auswirken. Er interpretiert hierbei den Begriff des Selbst im Sinne einer positiven oder negativen Selbstevaluation der anerkannten bzw. missachteten Person. Als Elemente des Selbstverhältnisses identifiziert er das Selbstvertrauen, die Selbstachtung und die Selbstschätzung. Jeden dieser Aspekte sieht er durch eine der Anerkennungsdimensionen beeinflusst. Elementare Voraussetzung für die Entwicklung eines positiven Selbstverhältnisses ist laut Honneth die Ausbildung des Selbstvertrauens. Dieses entsteht, wie Honneth unter Bezug auf Winnicott argumentiert, durch die frühkindliche Beziehung des Kindes zur Mutter. Das Selbstvertrauen definiert Honneth als „’Fähigkeit zum Allein’“ (Honneth, 2003a S. 168) und „das Vertrauen in die Fähigkeit der autonomen Koordinierung des eigenen Körpers“ (Honneth, 2003a S. 214). Es entwickelt sich, indem das Kind durch den Ablösungsprozess von der Mutter lernt, sein „eigenes personales Leben“ zu führen (vgl. Winnicott nach Honneth, 2003a S. 168). Durch den Prozess der Differenzierung von der Mutter entwickelt das Kind, das sich zunächst als Einheit mit seiner Mutter begreift, ein eigenständiges Bild von sich selbst, wie Jessica Benjamin, ebenfalls unter Bezug auf Winnicott, anführt. „Das Selbst entsteht im Bewusstwerden seiner Verschiedenheit von anderen“ (Sitzer & Wiezorek, 2005 S. 111). Gelingt der Ablösungsprozess von der Mutter, so erwächst durch das Anerkennungsverhältnis der Liebe im Kind das Bewusstsein, dass es sich der Zuneigung der Mutter sicher sein kann. Diese Einsicht stellt die Basis für die Entstehung des Selbstvertrauens des Kindes dar: „das Kleinkind
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Grundlegende Annahmen zum Konstrukt der Anerkennung
gelangt dadurch, dass es sich der mütterlichen Liebe sicher wird, zu einem Vertrauen in sich selber, das es ihm ermöglicht, sorglos mit sich allein zu sein“ (Honneth, 2003a S. 168). Eine Schädigung dieser Identitätsdimension durch den Versuch, die körperliche Unversehrtheit eines Menschen zu schädigen, betrachtet Honneth als die elementarste Form des Angriffs auf die Selbstbeziehung. Dadurch, dass durch einen solchen Akt der betroffenen Person die Verfügungsgewalt über ihren eigenen Körper verwehrt wird, wird laut Honneth ihr Vertrauen in die Welt und in sich selbst gestört. Seiner Argumentation nach wird mit einer physischen Misshandlung immer „ein dramatischer Zusammenbruch des Vertrauens in die Zuverlässigkeit der sozialen Welt und damit der eigenen Selbstsicherheit einhergehen“ (Honneth, 2003a S. 215). Während also die Entstehung des Selbstvertrauens auf dem Anerkennungsverhältnis der Liebe basiert, so ist mit dem Anerkennungsverhältnis des Rechts die Ausbildung der Selbstachtung verknüpft. Diese Achtung seiner selbst entwickelt ein Individuum laut Honneth aus dem Bewusstsein heraus, dass es von Anderen geachtet wird. Das Bewusstsein, von Anderen geachtet zu werden, beruht auf der Erkenntnis, Träger individueller Rechte zu sein, die dem Individuum die Möglichkeit, sozial akzeptierte Ansprüche stellen zu können, zusichern. Aus diesen Überlegungen zieht Honneth den Schluss, „daß ein Subjekt sich in der Erfahrung rechtlicher Anerkennung als eine Person zu betrachten vermag, die mit allen anderen Mitgliedern ihres Gemeinwesens die Eigenschaften teilt, die zur Teilnahme an einer diskursiven Willensbildung befähigen; und die Möglichkeit, sich in derartiger Weise positiv auf sich selbst zu beziehen, können wir ‚Selbstachtung’ nennen“ (Honneth, 2003a S. 195). Als dritten Aspekt der Selbstbeziehung führt Honneth die Selbstschätzung an. Diese resultiert aus dem Anerkennungsverhältnis der sozialen Wertschätzung. Da soziale Wertschätzung für Fähigkeiten, Leistungen und Erfolge vergeben wird, die für die Gesellschaft nützlich sind, entsteht hieraus entsprechend die Selbstschätzung als ein „gefühlsmäßiges Vertrauen (…), Leistungen zu erbringen oder Fähigkeiten zu besitzen, die von den übrigen Gesellschaftsmitgliedern als ‚wertvoll’ anerkannt werden“ (Honneth, 2003aS. 209). Die Selbstschätzung entspricht somit dem, was umgangssprachlich als Selbstwert bezeichnet wird. Selbstachtung und Selbstschätzung unterscheiden sich durch die Fähigkeiten, aufgrund derer sich ein Mensch positiv auf sich selbst bezieht. Die Unterscheidung liegt darin, ob diese Fähigkeiten allgemein geteilt oder ein individuelles Merkmal der betroffenen Person sind. Während also die Selbstachtung die Eigenwahrnehmung als anderen Personen gleichgestellt widerspiegelt, repräsentiert die Selbstschätzung die Eigenwahrnehmung als gegenüber Anderen verschieden. Im Falle einer Missachtungserfahrung betreffen allerdings beide Arten dieser Selbstdefinition die Frage, ob die bewertende Person sich im Verhältnis zu anderen Personen als schlechter gestellt wahrnimmt. Wird nun ein Individuum mit Erfahrungen solcher sozialer Missachtung konfrontiert, so wirkt sich dies schädigend auf seine Selbstbeziehung aus, „weil das normative Selbstbild eines jeden Menschen, seines ‚Me’, wie Mead gesagt hatte, auf die Möglichkeit der steten Rückversicherung im Anderen angewiesen ist, geht mit der Erfahrung von Mißachtung die Gefahr einer Verletzung einher, die die Identität der ganzen Person zum Einsturz bringen kann“ (Honneth, 2003a S. 213). 2.2 Diskussion der Anerkennungskategorien Honneths Mit der Weiterführung der Anerkennungstheorie Hegels liefert Honneth einen ausgereiften Ansatz, der einerseits eine eindeutige Gliederung dessen, was der Begriff der Anerkennung bedeutet – also welche Arten von Anerkennung unterschieden werden können –, umfasst. Des
Diskussion der Anerkennungskategorien Honneths
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Weiteren stellt seine Theorie die Bedeutsamkeit der Anerkennung für das Selbstbild eines Menschen heraus und zeigt darüber hinaus auf, wie durch ‚Kämpfe um Anerkennung’ gesellschaftliche Anerkennungsverhältnisse erweitert werden. Nichtsdestotrotz bleiben einige kritische Anmerkungen zu Honneths Ansatz zu erwähnen. Zunächst einmal führt die Fixierung auf ‚Kämpfe um Anerkennung’ dazu, dass Honneth sich ausschließlich mit der Erweiterung von Anerkennungsverhältnissen beschäftigt. Empfinden Personen oder gesellschaftliche Gruppierungen in einer der drei Sphären ihre Ansprüche auf Anerkennung als nicht ausreichend berücksichtigt, so resultiert hieraus ein Kampf um Anerkennung, und das Rechts- oder Normensystem wird derart erweitert, dass auch diese Person oder Gruppe sich auf einen legitimen Anspruch auf die jeweilige Anerkennungsart berufen kann. „Stets ist es innerhalb einer jeden Sphäre möglich, erneut eine moralische Dialektik von Allgemeinem und Besonderem in Gang zu setzen, indem unter Berufung auf das allgemeine Anerkennungsprinzip (Liebe, Recht, Leistung) ein besonderer Gesichtspunkt (Bedürfnis, Lebenslage, Beitrag) eingeklagt wird, der unter den Bedingungen der bislang praktizierten Anwendung noch nicht angemessen Berücksichtigung gefunden hat“ (Honneth, 2003b S. 220). Honneth sieht hier den Aspekt der Erweiterung von Anerkennungsverhältnissen dadurch verwirklicht, dass entweder das „Maß an sozial bestätigter Individualität steigt, oder ein Mehr an Personen (…) in die bereits existierenden Anerkennungsverhältnisse einbezogen“ wird (Honneth, 2003b S. 220). Bezogen auf die Anerkennungssphäre des Rechts ist ein solcher Wandel leicht nachvollziehbar. So hat beispielsweise die Einführung des Lebenspartnerschaftsgesetzes erstens zu einer Erweiterung der rechtlichen Anerkennung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften geführt1 – durch eine rechtliche Bestätigung der Legitimität von Homosexualität –, und zweitens wurde hierdurch die Personenzahl, die über die Möglichkeit des rechtlichen Schutzes ihrer Partnerschaft verfügt, erhöht. Hinsichtlich der Sphären „Liebe“ und „soziale Wertschätzung“ führt Honneth an: „So mag ein moralischer Fortschritt in der Sphäre der Liebe bedeuten, schrittweise jene Rollenklischees, Stereotype und kulturellen Zuschreibungen zu beseitigen, die der Möglichkeit einer wechselseitigen Anpassung an die Bedürfnisse der Anderen strukturell im Wege stehen; und für die Anerkennungssphäre der sozialen Wertschätzung wird ein solcher Fortschritt dementsprechend bedeuten, jene kulturellen Konstruktionen radikal zu hinterfragen, die in der Vergangenheit des industriellen Kapitalismus für die Auszeichnung von nur einem kleinen Kreis von Tätigkeiten mit dem Titel der ‚Erwerbsarbeit’ gesorgt haben“ (Honneth, 2003b S. 222). Bei einer Fokussierung auf solche ‚positiven’ Folgen von Anerkennungsmängeln wird allerdings der Blick dafür verschlossen, ob diese sich nicht möglicherweise ebenfalls fortschreitend etablieren und als immer weniger hinterfragbar gelten, anstelle zu Kämpfen um Anerkennung zu führen, die eine Erweiterung des Anerkennungsverhältnisses bewirken. Es wird also die Möglichkeit vernachlässigt, dass eine Entwicklung eintreten kann, die darin mündet, dass es sich als gesellschaftliche Norm etabliert, bestimmte Arten der Anerkennung nicht zu vergeben bzw. bestimmte Personen von Anerkennung auszuschließen. Als Beispiel für die Reduzierung von Anerkennungsverhältnissen innerhalb der rechtlichen Sphäre können Maßnahmen der U.S.-amerikanischen Regierung angeführt werden, die zu einer Gewährleistung der inneren Sicherheit nach den Terroranschlägen des 11. September angeführt werden. Hier zeigt sich, dass mit diesen Sicherheitsgesetzen – bezeichnet als ‚USA Patriot Act’ – eine Verminderung der liberalen Freiheitsrechte der U.S.-amerikanischen Bevölkerung einherging. So wurden hierdurch die Rechte auf Versammlungs- und Meinungsfreiheit stark 1
Auch wenn hierdurch keine rechtliche Gleichstellung mit dem Schutz heterosexueller Partnerschaften erfolgte.
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Grundlegende Annahmen zum Konstrukt der Anerkennung
eingeschränkt. Darüber hinaus wurden durch den ‚Patriot Act’ Einschnitte in die Persönlichkeitsrechte der in den Vereinigten Staaten lebenden Ausländer erwirkt. So können Ausländer, die einer terroristischen Straftat verdächtig sind, ohne Begründung oder Anklage in Haft genommen und ein rechtlicher Beistand verwehrt werden. Diese Entrechtung hatte nicht, wie von Honneth postuliert, einen kollektiven Kampf um die Wiederherstellung dieser Rechte zur Folge. Zwar zeigten sich vereinzelt Versuche, dem Prozess entgegenzuwirken, eine kollektive Bewegung blieb aber aus. Wie das im Internet abrufbare Transkript des Radiobeitrags „Die eingebettete Demokratie“ von Egon Koch beim Sender WDR 3 verdeutlicht, steht dies mit einer Weigerung U.S.-amerikanischer Medien, solche rechtlichen Einschränkungen öffentlich zu kritisieren, im Zusammenhang (Koch, 2004). Solche Mechanismen tragen somit dazu bei, dass Personen, die in ein rechtliches Anerkennungsverhältnis eingeschlossen waren, von diesem ausgeschlossen werden und bleiben. Auch bezogen auf die Dimension der ‚sozialen Wertschätzung’ finden sich Prozesse, die zu einer Einschränkung der Möglichkeiten führen, Anerkennung zu erhalten. So findet sich einerseits beispielsweise ein fortschreitender Trend innerhalb der Massenmedien, Beleidigungen und Erniedrigungen von Personen gezielt als Mittel zur Unterhaltung einzusetzen. ‚Reality’Fernsehformate, deren Gegenstand das bewusste Vorführen und Abwerten der Schwächen der Teilnehmer ist, sind zunehmend verbreitet und werden nur marginal hinterfragt. Es ist zu vermuten, dass derartige Medienformate dazu beitragen, Normen der gegenseitigen Anerkennung aufzulösen und ein öffentliches Bewusstsein zu schaffen, nach dem es legitim ist, zum Zwecke der Unterhaltung Personen öffentlich oder privat zu missachten. Trifft diese Vermutung zu, so führen derartige Missachtungen nicht zu einer Erweiterung von Anerkennungsbeziehungen, sondern bringen stattdessen eine Verfestigung von Normen der gegenseitigen ‚Nichtanerkennung’ mit sich. Eine weitere Abnahme der Möglichkeiten, soziale Wertschätzung zu erfahren, findet sich bezogen auf den beruflichen Sektor. Hier identifiziert Stefan Voswinkel einen sozialen Wandel, durch den sich ein Nichtanerkennen von bestimmten Berufsgruppen immer weiter etabliert. Dies verdeutlicht Voswinkel, indem er die ‚soziale Wertschätzung’ in die Konstrukte Bewunderung und Würdigung teilt (vgl. Voswinkel, 2000). Bei der Würdigung handelt es sich um eine Anerkennungsform auf horizontaler Ebene. Sie ist eine moralische Verpflichtung und äußert sich in Rücksichtnahme und Respekt. Die Basis der Würdigung ist der soziale Austausch, sie wird vergeben für Einsatz, Beiträge, Engagement und Opfer, die erbracht werden. Gewürdigt wird das Ausführen der „harten, schmutzigen“ Arbeit, die niemand gerne erledigt. Somit handelt es sich bei dem Konstrukt der Würdigung um Dankbarkeit für Pflichterfüllung. „Würdigung erfährt derjenige, der in einer langfristig angelegten Arbeitsbeziehung Verpflichtungen auf sich nimmt, indem er sich in den Betrieb einordnet, seine Lebensplanung unter Außerachtlassung alternativer Opportunitäten auf das Unternehmen ausrichtet und auch zu einem ‚Dienst nicht nur nach Vorschrift’ bereit ist“ (Voswinkel, 2000 S. 41). Dagegen beruht das Konzept der Bewunderung auf ökonomischen Erwägungen. „Man erhält sie für eine hohe Produktivität der Arbeit, für wirtschaftlichen Erfolg, für Kompetenz und Entscheidungsfähigkeit, auch für körperliche Kraft und Geschicklichkeit. Bewunderung ist als Anerkennungsgehalt in Arbeitsbedingungen enthalten, die solche Aspekte fördern und voraussetzen.“ (Voswinkel, 2000 S. 41). Bewundert werden somit Fähigkeiten, Leistungen und Erfolge. Die Bewunderung „bezieht sich auf die individuell zurechenbare, besondere Leistunng“ (Holtgrewe, 2002 S. 199) Voswinkel stellt nun einen Wandel dahingehend fest, dass dem Konstrukt der „Bewunderung“ ein immer weiter steigender Stellenwert beigemessen wird, während die Wichtigkeit der „Würdigung“ immer weiter abnimmt. Er
Diskussion der Anerkennungskategorien Honneths
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kann aufzeigen, dass „verschiedene sozioökonomische und –kulturelle Veränderungsprozesse die Voraussetzungen für den stark auf Würdigung basierenden Anerkennungsmodus der deutschen Arbeitsbeziehungen aufzulösen scheinen und (…) die moralischen Ansprüche, die sich aus Würdigungserwartungen herleiten, kulturell entwertet werden. Was zählt, ist eher der Erfolg als die Bemühung. Würdigung einzufordern, gilt eher als Zeichen mangelnden Selbstbewusstseins und Erfolgs, nach Bewunderung zu streben, wird demgegenüber anerkannt“ (Voswinkel, 2000 S. 49). Somit ist also feststellbar, dass durch eine fortschreitende Individualisierung zwar die Möglichkeiten, selbst Anerkennung herzustellen – und diese nicht automatisch aufgrund einer Kollektivzugehörigkeit zu erhalten oder nicht zu erhalten – erweitert werden. Andererseits jedoch wird diese Herstellung von Anerkennung dadurch erschwert, dass die Anzahl der Handlungsweisen, die als anerkennungswert gelten, abnimmt. Hier ist also ein sozialer Wandel erkennbar, bei dem nicht der Kreis sich wechselseitig anerkennender Subjekte wächst, sondern im Gegenteil eine partiell bestehende Verweigerung der Anerkennung für Personen, die bestimmte Arten der Erwerbsarbeit ausüben, weiter zunimmt und somit immer mehr Personen aus Anerkennungsverhältnissen ausgeschlossen werden. Bezogen auf die Sphäre der Liebe erörtert Honneth, dass sich hier eine Erweiterung des Anerkennungsverhältnisses dadurch ergibt, dass Rollenklischees und Stereotype ausgeräumt werden, die eine wechselseitige Bedürfnisbefriedigung verhindern. Auch hier vernachlässigt Honneth eine Entwicklung, die einer Bedürfnisbefriedigung durch die Aufnahme emotionaler Beziehungen entgegenwirkt. So zeigt z.B. Richard Sennett auf, dass mit der Ausweitung des globalen Kapitalismus und der damit verbunden Forderung nach flexiblen Arbeitnehmern die Möglichkeit, stabile emotionale Beziehungen aufzubauen, innerhalb derer die Befriedigung von Bedürfnissen stattfinden kann, abnimmt (vgl. Sennett, 2006). Das bedeutet, auch hier zeigen sich Tendenzen, die dazu beitragen, dass der Kreis der Personen, die in Anerkennungsverhältnisse eingebunden sind, nicht gezwungenermaßen zunimmt, sondern die gesellschaftliche Entwicklung ebenso dazu beitragen kann, dass Menschen – hier die „flexiblen Menschen“ – aus solchen Anerkennungsverhältnissen herausfallen können. Mit der Fixierung Honneths auf die Erweiterung von Anerkennungsverhältnissen als Folge der Kämpfe um Anerkennung geht des Weiteren einher, dass andere Möglichkeiten, um Anerkennung zu kämpfen, die andere Folgen nach sich ziehen, nicht angesprochen werden. Honneth interpretiert den Kampf um Anerkennung ausschließlich im Sinne eines Kampfes um die Erweiterung der Anerkennungsverhältnisse und sieht diesen Kampf darin legitimiert, dass ein Vorenthalten von Anerkennung zu einer Verletzung des Selbstverhältnisses eines Menschen führt. Nicht angesprochen wird die Möglichkeit, das Selbstverhältnis eines Menschen auf eine andere Weise zu schützen. Darüber hinaus ist festzustellen, dass Honneths theoretische Ausführungen als Grundlage für eine – in der vorliegenden Arbeit angestrebte – empirische Analyse von Anerkennungsverhältnissen zu unkonkret erscheinen. So gibt Honneth nur wenige Beispiele, wie die drei Arten der Anerkennung konkret praktiziert werden. Es bleibt beispielsweise weitgehend unerwähnt, durch welche Interaktionen das Anerkennungsverhältnis der Liebe gekennzeichnet ist – es finden sich lediglich als eine Art Randbemerkung zwei beispielhafte Erläuterungen (vgl. Honneth, 2003a S. 170). Auch die Frage, ob eine rechtliche Missachtung einen faktischen Ausschluss von den Rechten einer Gesellschaft bedeutet, oder ob ein Mensch schon dann rechtlich missachtet wird, wenn jemand gegen die ihm zugesicherten Rechte verstößt, lässt Honneth offen. Auf welche Weise Menschen sich gegenseitig wertschätzen können, also wie Wertschätzung durch verbale und nonverbale Kommunikation konkret getauscht wird, wird ebenfalls nicht angesprochen.
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Grundlegende Annahmen zum Konstrukt der Anerkennung
Auch hinsichtlich der Ausarbeitung der Missachtungsdimensionen und der Auswirkungen von Missachtungserfahrungen auf das Selbstverhältnis einer Person bleibt Honneth an verschiedener Stelle unkonkret. So wird zwar angemerkt, dass Missachtungen unterschiedliche Tiefengrade besitzen können; was dies aber genau bedeutet, und welche unterschiedlichen Konsequenzen unterschiedlich intensive Missachtungen für das Selbstverhältnis mit sich bringen, bleibt unbeantwortet. Ebenfalls kritisch anzumerken ist, dass Honneth als Gegenstück der Erfahrung von Anerkennung ausschließlich aktive Missachtungserfahrungen anführt. Ein schlichtes Vorenthalten von Wertschätzung oder Liebe, das sich möglicherweise ebenfalls negativ auf das Selbstverhältnis von Menschen auswirken kann, wird somit nicht berücksichtigt. Als weiterer kritisch zu betrachtender Punkt findet sich das Identitätskonstrukt, das Honneth innerhalb seiner Erörterungen als Legitimationsmittel für die Einforderung von Anerkennungsansprüchen anführt. In Honneths auf Hegel und Meads basierender Argumentation gilt eine Einforderung von Anerkennung als legitim, da sie als subjektivitätskonstitutiv betrachtet wird. Das bedeutet, Honneth nimmt an, Individuen sei es nur durch das Erleben von Anerkennung möglich, eine ‚vollständige’ Identität zu entwickeln, während soziale Missachtungen einen Zusammenbruch dieser Identität mit sich brächten (vgl. Honneth, 2003a S. 213). Honneth stützt diese Argumentation somit auf das Identitätskonzept George Herbert Meads, der Identität als ein in sich geschlossenes Konzept betrachtet, das entweder vollständig oder unvollständig sein kann. Kritisch zu diskutieren ist nun, ob Menschen tatsächlich ‚vollständige’ bzw. ‚unvollständige’ Identitäten besitzen, oder ob das Selbst nicht möglicherweise eine sehr viel offenere Kategorie ist, die sich aus den unterschiedlichsten Aspekten zusammensetzt, die von Individuen zu Individuum hinsichtlich des Vorliegens und der Wichtigkeit variieren. Dies wird an späterer Stelle der vorliegenden Arbeit näher zu diskutieren sein. 2.3 Anerkennung als Grundbedürfnis und Modus von Integration Insgesamt ist festzustellen, dass die Anerkennungskategorien Honneths eine sehr nützliche Untergliederung des Anerkennungskonstrukts bieten, also sehr klare Aussagen darüber zulassen, welche Dimensionen das Konstrukt ‚Anerkennung’ beinhaltet. Eine empirische Analyse auf Basis dieser theoretischen Dimensionen scheint allerdings nur schwer möglich, da jede dieser Dimensionen – vor allem aber die Dimension der sozialen Wertschätzung2 – derartig viele mögliche Interaktionen umfasst, dass es nicht durchführbar – und ebenfalls nicht sinnvoll – erscheint, innerhalb einer Untersuchung zur Anerkennung jede dieser Verhaltensweisen zu berücksichtigen. Somit sind die in der vorliegenden Arbeit zu untersuchenden Anerkennungskategorien noch weiter zu präzisieren. Diese Einschränkung basiert auf den folgenden Überlegungen. Wenn auch in der vorliegenden Arbeit nicht, wie innerhalb Honneths Argumentation, davon ausgegangen wird, dass ein Nichterleben von Anerkennung zwangläufig die Unvollständigkeit des betroffenen Menschen zur Folge hat, so wird hier doch angenommen, dass die Erfahrung bestimmter Arten der Anerkennung fundamental für das Selbstbild einer Person ist. Wenn nun die Annahme vertreten wird, dass ein Mensch ohne eine positive Selbstwahrnehmung nicht existieren kann, bedeutet das, dass es sich bei einer solchen positiven Selbstwahr2
So ist es vorstellbar, dass im Grunde jede erdenkliche Verhaltensweise, die von einem Menschen auf Basis des von Honneth angesprochenen „kulturellen Orientierungsrahmens“ als nützlich bewertet wird, wertgeschätzt werden kann.
Anerkennung als Grundbedürfnis und Modus von Integration
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nehmung, so wie dem Schutz derselben, um elementare Grundbedürfnisse handelt. Hängt die Selbstwahrnehmung von bestimmten Arten der Anerkennung ab, so ist die Erfahrung dieser Anerkennung ebenfalls ein menschliches Grundbedürfnis. Hiervon geht auch Abraham Maslow aus, der sich innerhalb seiner Theorie mit den „basic human needs“, also menschlichen Grundbedürfnissen, beschäftigt (vgl. Maslow, 1987). Maslow argumentiert, dass Menschen sich in bestimmter Art und Weise verhalten, um hierdurch ihre Bedürfnisse zu erfüllen. Diese Bedürfnisse stehen zueinander in einer hierarchischen Folge, was bedeutet, dass die Bedürfnisse, die sich auf einer späteren Hierarchiestufe befinden, erst dann angemeldet werden, wenn die Bedürfnisse der früheren Stufen befriedigt sind. Auf der ersten Hierarchiestufe verortet Maslow die physiologischen Grundbedürfnisse eines Menschen. Primär ist somit die Befriedigung von Hunger, Durst, Schlafbedürfnis usw., also aller Bedürfnisse, ohne deren Erfüllung der menschliche Organismus nicht überlebensfähig ist. Sind diese befriedigt, so findet sich auf der zweiten Stufe das Bedürfnis nach Sicherheit. Gemeint sind hiermit die Bedürfnisse nach „security; stability; dependency; protection; freedom from fear, anxiety, and chaos; need for structure, order, law, and limits; strength in the protector; an so on“(Maslow, 1987 S. 18). Hierunter fällt somit ein Bedürfnis nach rechtlicher Anerkennung, die sich in der Zusicherung universeller Rechte widerspiegelt. Auf der dritten Stufe steht bei Maslow das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Liebe. Zu beachten ist, dass Maslow hier von einem Zugehörigkeitsbegriff ausgeht, der einen Zusammenschluss innerhalb einer emotionalen Ebene beschreibt („belongingness“). Das bedeutet, bei dem Zugehörigkeitsbedürfnis, das Maslow vorschwebt, handelt es sich um ein Bedürfnis danach, aufgehoben zu sein und emotionalen Rückhalt zu erfahren. Mit seiner Betrachtung des „need to belong“ und dessen Erfüllung durch emotionale Beziehungen macht Maslow also deutlich, dass es sich auch beim Anerkennungsverhältnis der Liebe um ein menschliches Grundbedürfnis handelt. Die vierte Stufe umfasst Erfordernisse, die Maslow als „esteem needs“ bezeichnet. Diese untergliedert er in das Bedürfnis, etwas zu erreichen und Kompetenz zu erlangen einerseits und das Bedürfnis, Ansehen und Prestige zu erhalten, andererseits. Hierdurch wird somit die Unentbehrlichkeit des Anerkennungsverhältnisses der sozialen Wertschätzung verdeutlicht. Diese Bedürfnisse fasst Maslow als derart eng mit dem Bedürfnis nach Selbstachtung („self-esteem“) –vermutlich nicht als Selbstachtung im Sinne Honneths verstanden, sondern im Sinne des Selbstverhältnisses insgesamt – verbunden, dass er diese durch seine Eingliederung unter den Begriff „esteem-needs“ gemeinsam mit dem Bedürfnis nach einer positiven Bewertung des Selbstverhältnisses mit diesem gleichsetzt. Als vierte Bedürfnisstufe nennt Maslow sodann das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung, also danach, z.B. musikalisch oder malerisch, also kreativ tätig zu werden. Es lassen sich somit drei von Honneth erwähnten Anerkennungsverhältnissen sowie das Selbstverhältnis eines Menschen in die Bedürfnistheorie Maslows überführen. Zu beachten ist allerdings, dass Maslow eine Hierarchie dieser Bedürfnisse postuliert, die weder von Honneth noch in der vorliegenden Arbeit vertreten wird. Darüber hinaus führt Maslow zwar an, dass das Bedürfnis nach Wertschätzung in einem engen Zusammenhang mit dem Bedürfnis nach Identität steht, bzw. setzt diese gleich. Er vernachlässigt aber, dass ebenfalls die Erfüllung bzw. Nichterfüllung des Bedürfnisses nach Sicherheit – rechtlicher Anerkennung – und des Bedürfnisses nach Liebe im Zusammenhang mit der Selbstbewertung eines Menschen stehen. Nun gibt der soeben kurz angerissene Ansatz Maslows zwar einen tieferen Einblick in die Frage, warum die Erfahrung von Anerkennung für Menschen wichtig ist. Der eigentlichen Intention, zu einer weiteren Einschränkung der hier untersuchten Anerkennungskategorien zu gelangen, habe ich mich aber noch nicht weiter angenähert. Dies ermöglicht die SoziometerHypothese, deren Kernanliegen die Klärung der Frage ist, warum es für Menschen wichtig ist,
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Grundlegende Annahmen zum Konstrukt der Anerkennung
sich selbst positiv zu bewerten (vgl. Leary, 2004; Leary & Baumeister, 2000; Leary et al., 1995). Das bedeutet, Baumeister und Leary betrachten Maslows Annahme, das Streben nach einer positiven Selbstbewertung sei ein menschliches Grundbedürfnis, als begründungsbedürftig. Demgegenüber gehen sie davon aus, Maslows Annahme, dass es sich bei dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit um ein menschliches Grundbedürfnis handelt, sei durch evolutionspsychologische Argumente belegt (vgl. Leary & Baumeister, 2000 S. 10 ff.). Diese Argumentation, die eine Notwendigkeit von Zugehörigkeit auf evolutionäre Aspekte zurückführt, indem die Vorteile der Organisation in Gruppen und Gesellschaften hervorgehoben werden, verdeutlicht, dass die Autoren das Zugehörigkeitsbedürfnis nicht wie Maslow auf eine rein emotionale Ebene beschränken. Dies zeigt sich, da nicht nur das Erfordernis, Nachkommen zu zeugen und zu versorgen, sondern ebenfalls die Vorteile des gemeinschaftlich genutzten Wissens und der Arbeitsteilung angesprochen werden. In dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit sehen nun Vertreter der Soziometer-Hypothese das Bedürfnis nach einem positiven Selbstverhältnis verankert. Dies wird durch die Annahme begründet, der Selbstwert zeige über die Rückmeldung anderer Personen an, ob ein Mensch sich einer Gruppe zugehörig fühlen kann. „Sociometer theory goes beyond previous observations that self-esteem is simply influenced by other people’s appraisals to propose that the selfesteem system is designed to monitor and respond to other’s responses, specifically in regard to social inclusion and exclusion” (Leary & Baumeister, 2000 S. 10). Hier werden somit Fremdbewertungen durch andere – Anerkennung und Missachtung – als Indikator für den Zustand der gesellschaftlichen Einbindung oder des gesellschaftlichen Ausschlusses betrachtet. Diese Betrachtungsweise wird ebenfalls in der vorliegenden Arbeit vertreten, allerdings werde ich mich hier präziser mit diesem Ansatz auseinandersetzen, als dies innerhalb der Arbeiten von Leary und Baumeister geschieht. Baumeister und Leary führen verschiedene Arten negativer Fremdbewertung an, die sich negativ auf die Selbstbewertung einer Person auswirken und damit einen Indikator für eine drohende soziale Exklusion darstellen. Sie nennen hierbei Bewertungen, die eine Person als sozial unerwünscht, inkompetent, unattraktiv, unverantwortlich oder unmoralisch darstellen (Leary & Baumeister, 2000 S. 17). Eine Betrachtung dieser Arten der negativen Bewertungen – also Missachtungen – verdeutlicht allerdings die Problematik, dass die Autoren nicht explizit zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Kontexten, innerhalb derer diese Bewertungen erfolgen können, differenzieren. Während so z.B. zwar eine negative Bewertung der Attraktivität einer Person möglicherweise den Abbruch einer persönlichen Beziehung andeuten kann, ist es eher unwahrscheinlich, dass sich ein Mensch hierdurch in seiner gesellschaftlichen Einbindung auf struktureller Ebene bedroht fühlt.3 Die Frage danach, durch welche Arten der Bewertung durch andere eine Person sich in welchem Kontext bedroht fühlen kann, setzt eine Differenzierung nach eben diesem Kontext voraus. Darüber hinaus ist nicht davon auszugehen, dass jede Art der Fremdbewertung eine gleichermaßen starke Indikatorfunktion für gesellschaftlichen Einschluss bzw. drohenden Ausschluss aufweist. Das bedeutet, soll eine Präzisierung bedeutsamer Arten der Anerkennung vorgenommen werden, so ist erstens notwendigerweise zu klären, welchen relevanten Kontexten ein Mensch zugehörig sein kann, also auf welchen gesellschaftlichen Ebenen er integriert oder desintegriert ist. Zweitens muss eine Auseinandersetzung mit Frage stattfinden, welche Arten der Anerken3
Diese Annahme steht allerdings im Gegensatz zu der Argumentation Baumeisters und Learys, die davon ausgehen, dass eine solche Missachtung ebenfalls eine Bedrohung der beruflichen Inklusion einer Person darstellen kann (vgl. Leary & Baumeister 2000, S. 17).
Anerkennung als Grundbedürfnis und Modus von Integration
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nung Indikatoren für Ein- oder Ausschluss in/aus den jeweiligen identifizierten Kontexten sein können. Hierzu ist zunächst einmal zu verdeutlichen, was in der vorliegenden Arbeit unter dem Begriff der Integration verstanden wird. Denn darüber, was generell unter dem Begriff verstanden wird, welche Aspekte er umfasst und welche Merkmale Personen oder Systeme aufweisen müssen, um als integriert betrachtet werden zu können, existiert eine Vielzahl von Definitionen und Ansichten. Auf der allgemeinsten Ebene kann zwischen absoluten und relationalen Integrationsbegriffen differenziert werden (vgl. Friedrichs & Jagodzinski S. 11). Bei der Verwendung absoluter Integrationsbegriffe wird die Frage untersucht, ob ein System als Ganzes als integriert oder desintegriert betrachtet werden muss. Demgegenüber impliziert die Beschäftigung mit einem relationalen Integrationsbergriff die Fragestellung, ob eine Person innerhalb des Systems eine integrierte oder desintegrierte Position einnimmt. Es findet somit die Relation zwischen dem Ganzen und einem Teil Beachtung. Bei der Frage nach der gesellschaftlich integrativen Wirkung des Empfindens von Anerkennung steht das Individuum im Mittelpunkt der Betrachtung. Das Anerkennungskonstrukt ist somit zunächst einmal Modus für die relationale Integration eines Individuums, bezogen auf eine Gruppe. Relationale Integrationsbegriffe können nun ihrerseits danach untergliedert werden, an welchem Kriterium festgemacht wird, ob eine Person bezogen auf ein System als integriert bzw. desintegriert betrachtet werden kann. Hierbei kann Integration/Desintegration an „inneren Zuständen“, „äußerem Verhalten“ oder einer Kombination aus beiden festgemacht werden (vgl. Friedrichs & Jagodzinski, 1999 S. 12ff.). Werden bestimmte „innere Zustände“ als Indikator für die Integration einer Person in den Mittelpunkt der Betrachtung gesetzt, so wird also die Frage nach Integration an Bewertungen und Gefühlen der integrierten bzw. desintegrierten Person festgemacht. Hierbei können z.B. die Identifikation mit der betrachteten Gruppe, die Orientierung an ihren Zielen, die Einschätzung, ob die vorhandenen Herrschaftsstrukturen als legitim erachtet werden, oder das subjektive Gefühl, von der Gruppe angenommen zu werden, als Kriterien für den Integrationszustand einer Person herangezogen werden. In der hier vorliegenden Arbeit wird ein eben solcher Aspekt der Integration betrachtet, wenn Arten der Fremdbewertung identifiziert werden, durch deren Erhalt eine Person eine Selbstbewertung – durch das Selbstverhältnis als „Soziometer“ – darüber vornimmt, ob sie in einem bestimmten gesellschaftlichen Bereich „dazu gehört“ oder eine eher randständige Position einnimmt. Das bedeutet, die angesprochene Einschränkung der zu untersuchenden Anerkennungskategorien wird vorgenommen, indem speziell die Arten von Anerkennung aufgezeigt werden, die als Anzeige für die Zugehörigkeit zu bestimmten gesellschaftlichen Integrationsdimensionen interpretiert werden können. Hierzu wird zunächst einmal angeführt, welche Integrationsdimensionen unterschieden werden. Dies geschieht durch eine Auseinandersetzung mit der Theorie der sozialen Desintegration nach Heitmeyer und Anhut, deren Vorteil es ist, dass sie nicht nur Dimensionen objektiver gesellschaftlicher Integration berücksichtigt, sondern darüber hinaus ebenfalls darauf eingeht, welche Arten von Anerkennung mit der jeweiligen Dimension verknüpft sind.
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Grundlegende Annahmen zum Konstrukt der Anerkennung
Exkurs: Schattenseiten der Anerkennung Bis zum jetzigen Kapitel der vorliegenden Arbeit habe ich mich primär mit den positiven Aspekten der Anerkennung auseinandergesetzt. So wurde die Erfahrung, anerkannt zu werden, als Indikator für einen gesellschaftlich und gemeinschaftlich integrierten Status betrachtet. Und selbst Zustände sozialer Missachtung wurden, im Rahmen einer Auseinandersetzung mit dem Anerkennungskonzept Axel Honneths, als Auslöser für eine Erweiterung von Anerkennungsverhältnissen angeführt, also durchaus positiv gedeutet. Es soll jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass Anerkennung nicht ausschließlich durch positive Aspekte gekennzeichnet ist, sondern darüber hinaus ebenfalls negative Seiten besitzt. Es ist davon auszugehen, dass Anerkennung solange für die an einer Interaktion beteiligten Partner positiv konnotiert ist, wie diese Interaktion durch Gegenseitigkeit gekennzeichnet ist, wenn also der Wunsch nach Anerkennung des einen nicht die Erfüllung des Wunsches nach Anerkennung des anderen einschränkt. Das bedeutet, ein Austausch von Anerkennung scheint für die Betroffenen so lange positiv zu sein, wie die Erfüllung von Anerkennungsansprüchen des anderen nicht einen Verlust der eigenen Selbstbehauptung zur Folge hat. Ein solcher Ausgleich von vergebener Anerkennung und Selbstbehauptung kann jedoch auf mehrere Arten gestört werden, wodurch als Folge die negativen Seiten von Anerkennung zu Tage treten. Eine Störung des Gleichgewichtes kann sowohl durch die Vergabe von Anerkennung – also durch den ‚Anerkennenden’ als Handelnden – als auch durch das Einfordern von Anerkennung – also durch den ‚Anzuerkennenden’ als Handelnden – verursacht werden, wie im Folgenden erläutert wird. Anerkennender als Handelnder: Anerkennung als Machtmittel Wenn es sich, wie angenommen, bei der Befriedigung des Verlangens nach Anerkennung um ein elementares menschliches Bedürfnis handelt, bedeutet das, dass die Befriedigung dieses Verlangens für denjenigen, der das Bedürfnis danach verspürt, eine große Wichtigkeit besitzt. Diese Wichtigkeit kann sich nicht nur in dem generellen Wunsch, von irgendeinem anderen Menschen anerkannt zu werden, ausdrücken, sondern ebenfalls auf die Anerkennung einer ganz bestimmten Person gerichtet sein. Der Wunsch, von einer bestimmten Person anerkannt zu werden, ermöglicht es wiederum dieser Person, das Verhalten des Anzuerkennenden in ihrem Sinne zu beeinflussen, indem sie die Erfüllung des Wunsches nach Anerkennung an bestimmte Voraussetzungen knüpft. Dies muss nicht explizit geschehen, indem diese Voraussetzungen offen ausgesprochen werden, sondern kann ebenso gut implizit durch unterschwellige Signale kommuniziert werden. Das bedeutet, ein Mensch, der potenzielle Quelle einer als wichtig bewerteten Anerkennung ist, verfügt über die Möglichkeit, denjenigen, der nach seiner Anerkennung strebt, zu manipulieren und zu kontrollieren. Anerkennung und Macht sind somit nicht nur in dem von Holtgrewe unter Bezug auf Frerichs angesprochenen Sinn miteinander verknüpft, dass demjenigen, der über Macht verfügt, zugleich ein großes Ausmaß an Anerkennung zuteil wird (vgl. Holtgrewe et al., 2000 S. 16). Es ist ebenso der Fall, dass derjenige, dessen Anerkennung begehrt wird, in der Lage ist, Macht auszuüben. Das bedeutet, das Gewähren oder Verwehren von Anerkennung kann als Machtmittel verwendet werden. Indem derjenige, dessen Anerkennung begehrt wird, diese gezielt einsetzt, kann er ein von ihm gewünschtes Verhalten desjenigen, der von ihm die Anerkennung einfordert, bewusst hervorrufen bzw. dessen von ihm unerwünschtes Verhalten minimieren. Anerkennung und Nichtanerkennung können somit zur Verhaltenskontrolle eingesetzt werden.
Exkurs: Schattenseiten der Anerkennung
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Anzuerkennender als Handelnder: Extremer Wunsch nach Anerkennung Negative Aspekte von Anerkennung treten nicht nur dadurch zu Tage, dass die Vergabe dieser durch den Anerkennenden als Machtmittel genutzt und zur Verhaltensmanipulation eingesetzt wird. Ein Gleichgewicht zwischen Anerkennung und Selbstbehauptung kann ebenfalls durch denjenigen, der Anerkennung einfordert, gestört werden. Das Streben nach Anerkennung wurde unter Anführung von Maslow als ein menschliches Grundbedürfnis bezeichnet. Wie die Befriedigung eines jeden anderen Bedürfnisses zum Selbstzweck werden kann, so trifft dies ebenfalls auf die Befriedigung des Anerkennungsbedürfnisses zu. Ein solcher übersteigerter Wunsch danach, anerkannt zu werden, also ein übertrieben starkes Einfordern von Anerkennung gegenüber dem Beziehungspartner, offenbart somit eine weitere negative Seite der Anerkennung. Diese negativen Aspekte eines übersteigerten Wunsches nach Anerkennung, bei dem ein Streben nach der Anerkennung anderer zum zentralen Element des Lebens einer Person werden kann, können auf zweierlei Art zu Tage treten. Ausnutzung von anderen Der Wunsch, von anderen Personen bewundert, geschätzt oder geliebt zu werden, kann derart stark ausgeprägt sein, dass er als Symptom für verschiedene psychische Krankheiten gedeutet wird. So ist dieses Bedürfnis beispielsweise eines von mehreren Definitionskriterien für eine narzisstische Persönlichkeitsstörung nach Kernberg, dessen Definition in vielen heutigen diagnostischen Systemen übernommen wurde. Kernberg führt an, die narzisstische Persönlichkeitsstörung sei gekennzeichnet durch ein „starkes Bedürfnis, geliebt und bewundert zu werden“ und zeige sich in „einem maßlosen Bedürfnis nach Bestätigung durch andere“ (Kernberg, 1978 S. 35). Hiermit verbunden ist, dass Beziehungspartner oftmals uninteressant werden, sobald sie – vermeintlich – keine ausreichende Quelle für Anerkennung mehr darstellen. Der Wunsch nach mehr Anerkennung kann somit in diesem Fall den Abbruch einer Beziehung nach sich ziehen, um die Suche nach neuen potenziellen Quellen der benötigten Anerkennung zu ermöglichen. Hier wirkt sich das Bedürfnis nach Anerkennung somit nicht stabilisierend, sondern zerstörerisch auf die Beziehung aus. Während Partner, die die gewünschte Anerkennung vergeben, idealisiert werden, werden Personen, von denen die eingeforderte Bewunderung verweigert wird, verachtet und entwertet. Das Verhältnis zwischen dem Einfordern, anerkannt zu werden, und der Anerkennung, die an den Beziehungspartner vergeben wird, ist somit in der Art gestört, dass das eigene Bedürfnis nach Anerkennung überbetont und die Bereitschaft, den Partner anzuerkennen, vernachlässigt wird. Dies zeigt sich auch darin, dass ein weiteres Charakteristikum der Persönlichkeitsstörung ein Mangel an Einfühlungsvermögen in die Gefühle anderer ist. Beziehungen, die narzisstische Persönlichkeiten zu anderen aufbauen, sind somit weniger durch Anerkennung als durch Ausbeutung gekennzeichnet. Menschen, deren Wunsch nach Bewunderung und Wertschätzung derart stark ausgeprägt ist, erbringen darüber hinaus Leistungen oftmals ausschließlich aus Gründen der Selbstdarstellung und sind bereit, ihre Wertideale zu ändern, um neue Bewunderer zu gewinnen (vgl. Kernberg, 1978 S. 35). Außengeleites Handeln Indem somit der Narzisst, wie soeben beschrieben, andere fast ausschließlich als Quelle für Bewunderung auffasst, macht er sie hierdurch zum Mittel der Befriedigung seines Wunsches, anerkannt zu werden. Demgegenüber macht sich eine Person, deren Handlungen durch das, was im Folgenden als ‚Außengeleitetheit’ bezeichnet wird, gekennzeichnet sind, selbst zum Mittel, indem sie aufgrund ihres Wunsches, Anerkennung zu erhalten, ihre Handlungen nicht
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Grundlegende Annahmen zum Konstrukt der Anerkennung
mehr an ihrem eigenen Willen orientiert, sondern ausschließlich derart handelt, wie sie meint, dass andere Personen es von ihr erwarten. So beschreibt Riesman, dass eine starke Orientierung an der Anerkennung anderer eine Person in einen Zustand versetzen kann, der sich auch als Selbstentfremdung bezeichnen lässt, wenn er über eine solche außengeleitete Person schreibt, dass sie „nicht viel mehr ist als die Abfolge verschiedener Rollen und Begegnungen mit anderen und schließlich nicht mehr weiß, wer er eigentlich wirklich ist und was mit ihm geschieht. Ebenso wie eine Firma ihren festen Preis zugunsten von Preisabsprachen aufgibt, die im geheimen bestimmt und nach der geschätzten Kaufkraft des jeweiligen Kundenkreises und auf Grund bestimmter Erwägungen wie das ‚wohlwollende’ Entgegenkommen dem Abnehmer gegenüber oder aus Werbezwecken variiert werden, so gibt auch der außen-geleitete Mensch die feste Charakterrolle des innen-geleiteten Menschen auf und übernimmt eine Vielfalt von Rollen, die er im geheimen festlegt und entsprechend den verschiedenen Begebenheiten und Begegnungen variiert“ (Riesman, Denney, & Glazer, 1974 S. 152). Wie eng die Beziehung zwischen einer solchen ‚Außengeleitetheit’ und der Möglichkeit des ‚Anerkennenden’, die Anerkennung als Machtmittel zu nutzen, ist, verdeutlicht Popitz in seiner Abhandlung über Autorität (vgl. Popitz, 1986). Er zeigt hier noch einmal, dass die Wünsche zweier Personen nach gegenseitiger Anerkennung asymmetrisch sein können. Seine Ausführungen zeigen, dass eine Person, die ihrem Gegenüber mehr Bewunderung und Wertschätzung entgegenbringt, als dieses ihr, das Gegenüber gleichzeitig als ihr überlegen, also als Autorität, anerkennt. Dieser Status des Gegenübers als Autorität kommt somit erst durch die Anerkennung als überlegen zustande. Andererseits bringt aber gerade dieser Status als Autorität es mit sich, dass die Anerkennung dieser Autorität als besonders wertvoll betrachtet wird. Es herrscht somit auch innerhalb dieses asymmetrischen Verhältnisses ein doppelseitiger Anerkennungsprozess vor, den Popitz durch folgende Schritte beschreibt: „die Anerkennung der Überlegenheit anderer Personen, die Zuschreibung von Prestige, und daran anknüpfend die Fixierung unseres Anerkennungsstrebens auf solche überlegenen Personen oder Gruppen“ (Popitz, 1986 S. 20). Aufgrund dieses doppelseitigen Anerkennungsprozesses entsteht eine Abhängigkeit der unterlegenen Person gegenüber der überlegenen, da der Unterlegene – wie Popitz erörtert – sich nach der Anerkennung und Wertschätzung der Autorität sehnt und ihre Missachtung fürchtet. Popitz beschreibt, dass der Unterlegene sich die Perspektiven und Einstellungen des Überlegenen aneignet, weil er, wenn er anerkannt werden möchte, vor dessen Urteil bestehen muss. Diese Übernahme von Perspektiven und Einstellungen ist für ihn unter anderem ein Merkmal einer Autoritätsbeziehung. „Autoritätswirkungen führen nicht nur zu Anpassungen des Verhaltens, sondern auch der Einstellung. Der Autoritätsabhängige übernimmt Urteile, Meinungen, Wertmaßstäbe der Autoritätsperson – seine (sic) ‚Kriterien’ – und mit ihnen seine (sic) ‚Perspektiven’, den Standpunkt und die Sichtweise, aus der er (sic) urteilt, seine (sic) Interpretationsregeln von Erfahrung. Autoritätsanerkennung bedeutet immer auch psychische Anpassung. Autoritätsbeziehungen gehen unter die Haut“. Der Wunsch nach der Anerkennung einer Autorität kann somit einen Akt der Selbstentfremdung mit sich bringen. Diese Bereitschaft des Anzuerkennenden, sich seiner selbst zu entfremden, also sein Verhalten an den Maßstäben zu orientieren, die die Autoritätsperson von ihm verlangt, bringt gleichzeitig mit sich, dass die Autoritätsperson Macht über ihn gewinnt. So schreibt auch Popitz über Autoritätspersonen: „sie geben den Ausschlag, haben uns in der Hand“ (Popitz, 1986 S. 20). Hiermit geht somit einher, dass eine Autoritätsperson Vorenthaltung oder Gewährung von Anerkennung auch immer dazu nutzen kann, eine autoritätsabhängige Person zu manipulieren und deren Verhalten zu beeinflussen, da Autorität „Fügsamkeit ohne Kontrolle, Übernahme von Einstellungen und Unabhängigkeit von Zwang“ (Popitz, 1986 S. 18). mit sich bringt.
3. Erste theoretische Annäherung an das Forschungsproblem – Anerkennung und Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit
3.1 Die Theorie der Sozialen Desintegration Das Konstrukt der Anerkennung wird innerhalb der Theorie der Sozialen Desintegration nach Heitmeyer und Anhut als Element von Integrationszuständen betrachtet (vgl. Anhut & Heitmeyer, 2000). Integration wird, basierend auf einem Ansatz von Bernhard Peters, definiert als die gelungene Lösung dreier Arten von Problemen. Als diese drei zu lösenden Integrationsaufgaben identifiziert Peters die Orientierung in der objektiven Welt und die Koordination von äußeren Handlungen, die Stiftung affektiver Beziehungen zwischen Mitgliedern sozialer Einheiten und die Entwicklung von Verfahren, um konfligierende Ansprüche ausgleichen zu können. Diese drei Aufgabenstellungen sind in drei gesellschaftlichen Ebenen verortet, die von Heitmeyer und Anhut als strukturelle, sozio-emotionale und institutionelle Ebene bezeichnet werden. Peters’ Ansatz wird durch Heitmeyer/Anhut wie folgt reformuliert. Es werden drei zu Peters’ Ansatz analoge Integrationsdimensionen identifiziert, durch die Aspekte der ökonomischen, kulturellen und politischen Integration innerhalb eines Konzepts verknüpft sind. Bezeichnet werden die Dimensionen als individuell-funktionale Systemintegration, kommunikativ-interaktive Sozialintegration und kulturell-expressive Sozialintegration. Gesellschaftliche Integration im Rahmen der individuell-funktionalen Systemintegration, also auf struktureller Ebene, setzt in diesem Ansatz nicht – wie im Falle des Ansatzes von Peters – vorrangig die Lösung von Koordinations- und Orientierungsproblemen voraus, sondern zielt auf die Gewährleistung der Teilhabe an gesellschaftlich produzierten Gütern ab. Die kommunikativ-interaktive Sozialintegration bezieht sich auf die institutionelle Ebene. Integration erschließt die Möglichkeit, einen Ausgleich konfligierender Interessen sicherzustellen, ohne die Integrität anderer Personen zu verletzen, also unter Einhaltung der Grundnormen Fairness, Solidarität und Gerechtigkeit. Dies setzt Teilnahmechancen und Teilnahmebereitschaft am politischen Diskurs und an Entscheidungsprozessen, also aktive Teilnahme an der Herstellung und Änderung von gesellschaftlich geteilten Normen, voraus. Das Integrationsziel der kulturell-expressiven Sozialintegration ist die Entwicklung kollektiver und individueller Identität und des sozialen Rückhalts. Sie findet somit durch expressive Vergemeinschaftung statt. Eine Integration erfolgt über die Herstellung emotionaler Beziehungen zu Anderen. Voraussetzung für eine Integration ist hier somit die Möglichkeit und Fähigkeit, sich sozio-emotionalen Rückhalt zu sichern und sich hierdurch ein Erleben von Nähe, Geborgenheit, Einbindung und Unterstützung zu sichern. Um die erforderlichen Integrationsleistungen zu erbringen, werden sowohl objektive als auch subjektive Ressourcen benötigt. Auf struktureller Ebene stellen sich diese objektiven Ressourcen in Form von Teilhabechancen an materiellen und kulturellen Gütern der Gesellschaft dar. Voraussetzung hierfür sind die objektiv bestehenden Zugänge zu gesellschaftlichen
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Erste theoretische Annäherung an das Forschungsproblem
Teilsystemen, Arbeits- und Wohnungsmärkten. Diese müssen ein subjektives Maß an Anerkennung, bezeichnet als positionale Anerkennung, mit sich bringen. In der institutionellen Ebene sind notwendige Integrationsressourcen die objektiven Teilnahmechancen an Aushandlungsprozessen und die subjektive Teilnahmebereitschaft hierzu, sowie die Möglichkeit der Konfliktaustragung unter Wahrung der Integrität des Anderen. Die mit dieser Integrationsdimension verknüpfte Art der Anerkennung wird als moralische Anerkennung bezeichnet. Auf sozio-emotionaler Ebene werden Zuwendungs- und Aufmerksamkeitsressourcen sowie ein ausreichendes Maß an emotionaler Anerkennung benötigt. Diese Anerkennungsdimension wird unterteilt in eine Anerkennung der personalen Identität und eine Anerkennung der kollektiven Identität. Abb. 3 fasst das Erläuterte zusammen. Integrationsdimension: operationalisiert als Lösung folgender Aufgabenstellungen:
Beurteilungskriterien
individuellfunktionale Systemintegration Teilhabe an den materiellen und kulturellen Gütern einer Gesellschaft
kommunikativinteraktive Sozialintegration Ausgleich konfligierender Interessen, ohne die Integrität anderer Personen zu verletzen
Zugänge zu Teilsystemen, Arbeitsund Wohnungsmärkten etc. (objektive Subdimension)
Teilnahmechancen [am politischen Diskurs und Entscheidungsprozeß] (objektive Subdimension) und Teilnahmebereitschaft (subjektive Subdimension)
Anerkennung [der beruflichen und sozialen Position] (subjektive Subdimension)
Anerkennungsformen: Abb. 3
positionale Anerkennung
Einhaltung von Interessensausgleich und moralische Anerkennung sichernden Grundnormen [Fairneß, Gerechtigkeit, Solidarität] moralische Anerkennung
kulturellexpressive Sozialintegration Herstellung emotionaler Beziehungen zwischen Personen zwecks Sinnstiftung und Selbstverwirklichung Anerkennung der personalen Identität durch das Kollektiv und die soziale Umwelt Anerkennung und Akzeptanz kollektiver Identitäten und ihrer jeweiligen Symboliken durch andere Kollektive
emotionale Anerkennung
Integrationsdimensionen, Integrationsziele und Beurteilungskriterien für eine erfolgreiche soziale Integration
Es wird somit bei diesem Ansatz nicht die klassische Dichotomie von System- und Sozialintegration vertreten, wie sie insbesondere die strukturfunktionalistische Theorie nach Talcott Parsons unter ausdrücklicher Bezugnahme auf die Gesellschafts-Gemeinschaftskonzeption von
Die Theorie der Sozialen Desintegration
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Ferdinand Tönnies postuliert. Demgegenüber wird der Aspekt der Sozialintegration hinsichtlich der unterschiedlichen Bedeutung von Wert- und Normvorstellungen für die Integration differenziert. „Von zentraler Bedeutung erweist sich hierfür die Unterscheidung moralischer Normen (oder Grundprinzipien) und sozialer Konventionen“ (Anhut & Heitmeyer, 2000 S. 49). Es wird somit eine Unterscheidung zwischen der Integration aufgrund universell geltender, allgemein gesellschaftlicher geteilter Werte (interaktiv-kommunikative Sozialintegration) und aufgrund von tradierten Werten, deren Gültigkeit auf eine bestimmte Gemeinschaft beschränkt ist (kulturell-expressive Sozialintegration), vorgenommen. Integrationschancen und –möglichkeiten werden beeinflusst durch gesellschaftlichen Wandel. Als Folge des Wandels identifizieren Heitmeyer und Anhut drei zu den jeweiligen Integrationsdimensionen analoge gesellschaftliche Krisen. Eine fortschreitende Verschärfung der Krise auf struktureller Ebene ist gekennzeichnet durch eine Zunahme sozialer Polarisierung (Strukturkrise), die sich auf die individuell-funktionale Integration aufgrund eines Anwachsens von sozialer Ungleichheit und sozialer Ausgrenzung auswirkt. Auf institutioneller Ebene entwickelt sich eine gesellschaftspolitische Entsolidarisierung voran (Regulationskrise), die in Form von sozialem Ungerechtigkeitsempfinden und einem Rückgang von Rücksichtnahme negativ auf die Möglichkeit der interaktiv-kommunikativen Sozialintegration wirkt. Die Veränderungen innerhalb der sozio-emotionalen Ebene sind durch ambivalente Individualisierung gekennzeichnet (Kohäsionskrise), die die Chancen, sozialen Rückhalt zu sichern, vermindern und das Risiko einer sozialen Isolation erhöhen. Mit misslingender Integration innerhalb dieser drei Ebenen sind nach Heitmeyer und Anhut Minderungen der Möglichkeit, die mit den Ebenen jeweils verknüpfte Art der Anerkennung zu erfahren, verbunden. Nach der Theorie der Sozialen Desintegration sind somit randständige gesellschaftliche Positionen Auslöser dafür, dass dem Inhaber ein mangelhaftes Ausmaß an Anerkennung zuteil wird. Es wird weiter argumentiert, dass das Erleben solcher Anerkennungsmängel ein auslösendes Moment für die Ausbildung feindseliger Einstellungen sein kann. Somit wird also im Rahmen der Theorie der sozialen Desintegration ein Zusammenhang zwischen misslingender Integration, damit verbundenen Anerkennungsmängeln und der Ausbildung feindseliger Mentalitäten postuliert. Es wird argumentiert: „Verweigerte Anerkennung benötigt (…) eine Entlastungsfunktion, um ein positives Selbstbild aufrecht erhalten zu können, oder sucht sich ein Ventil in Gestalt von Opfern, um auf die eigenen Nöte aufmerksam zu machen, die aktuellen Positionen zu sichern oder den eigenen Aufstieg zu sichern“ (Anhut & Heitmeyer, 2000 S. 53). Die Ausbildung abwertender Einstellungen gegenüber schwachen Gruppen wird als eine solche Entlastungsfunktion betrachtet, da angenommen wird, dass sie es den Betroffenen ermöglicht, ihre eigene, diesen Gruppen überlegene Position hervorzuheben und sich hierdurch selbst aufzuwerten. Erste empirische Belege für den Zusammenhang zwischen Desintegrationserfahrungen bzw. Anerkennungsmängeln und feindseligen Einstellungen – bezeichnet als Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit – zeigen Endrikat et al. auf, wenn sie basierend auf Daten einer repräsentativen Fragebogenstudie das Postulat stützten können, „daß Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und gewalt- wie diskriminierungsnahe Verhaltensintentionen um so ausgeprägter sind, je größer die Desintegrationsbelastungen in unterschiedlichen Teildimensionen mit der Folge einer negativen Anerkennungsbilanz sind.“ (Endrikat et al., 2002 S. 40).
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Erste theoretische Annäherung an das Forschungsproblem
Was ist Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit? Während die Theorie der Sozialen Desintegration somit einen Erklärungsansatz sowohl für die Entstehung feindseliger Einstellungen als auch feindseliger Handlungen – also Gewalttätigkeit – darstellt, wird in der vorliegenden Arbeit mit der Betrachtung des Konstrukts der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (GMF) ausschließlich auf die Erklärung abwertender Einstellungen fokussiert. Wie die Bezeichnung ‚gruppenbezogen’ verdeutlicht, handelt es sich bei den hier untersuchten abwertenden Einstellungen nicht um solche, die aufgrund interindividueller Feindschaftsverhältnisse bestehen, sondern um solche, die gegenüber Personen aufgrund einer bestimmten Gruppenzugehörigkeit entwickelt werden. Heitmeyer postuliert, Kern aller Abwertung von Gruppen sei die Annahme der Verschiedenwertigkeit von Menschen, die aus der Zugehörigkeit dieser Menschen zu bestimmten Gruppen begründet wird. Er bezeichnet eine solche Annahme als ‚Ideologie der Ungleichwertigkeit’ (vgl. Heitmeyer, 2002a). Für die Entstehung derartiger Ungleichwertigkeitsüberzeugungen sind drei Dimensionen von primärer Bedeutung. Die erste Dimension beinhaltet die Aufwertung der Eigengruppe und die Demonstration von deren Überlegenheit durch die Abwertung von Fremdgruppen aufgrund deren wahrgenommener Unterlegenheit. Die zweite Dimension bezieht sich auf eine Zustimmung zu utilitaristischen Kalkülen, indem eine Unterscheidung zwischen nützlichen und ausnutzenden bzw. leistungsstarken und entbehrlichen Gruppen vorgenommen wird. Als dritte Dimension ist eine Machtdemonstration gegenüber Unterlegenen und Abgewerteten zu nennen. Es wird deutlich, dass das Konstrukt der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit eine große Spannweite besitzt. So ist zu verzeichnen, dass nicht nur Personen ausländischer Herkunft aufgrund der soeben genannten Annahmen abgewertet werden, sondern dass sich eine Zuschreibung von Minderwertigkeit auf eine Vielzahl von Gruppen, die als andersartig wahrgenommen werden, beziehen kann. Aus diesem Grund fordert Heitmeyer, sich im Rahmen einer Untersuchung von ‚Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit’ nicht auf die Betrachtung von Einstellungen gegenüber einer bestimmten Gruppe zu beschränken, sondern verschiedene Elemente menschfeindlicher Einstellungen zu untersuchen (vgl. Heitmeyer, 2002a S. 20 ff. ). Dies wird seit dem Jahr 2002 innerhalb der Langzeituntersuchung ‚Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit: Empirische Langzeitbeobachtung menschenfeindlicher Einstellungen in der Bevölkerung’ praktiziert. Bei den untersuchten menschenfeindlichen Einstellungen handelt es sich um folgende: o
o
o
Rassismus: Hierunter werden Annahmen über die Minderwertigkeit von Gruppen fremder Herkunft gegenüber der Eigengruppe verstanden, die auf ‚natürliche’ bzw. ‚biologische’ Attribute zurückgeführt wird (vgl. Hraba, Hagendoorn, & Hagendoorn, 1989). Fremdenfeindlichkeit: Bei diesem Konstrukt steht die Abwertung von Fremdgruppen aufgrund von kulturellen und materiellen Aspekten im Mittelpunkt. Fremdgruppen werden als Konkurrenz um Ressourcen und Positionen oder als ‚kulturell rückständig’ wahrgenommen und aufgrund einer solchen Wahrnehmung abgewertet (vgl. Pettigrew & Meertens, 1995; U. Wagner, van Dick, & Zick, 2001). Antisemitismus: Dieser Aspekt Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit bezieht sich auf die Abwertung von Menschen jüdischer Herkunft, denen bedrohende Verschwörungen und die Absicht der Ausbeutung zugeschrieben wird (vgl. Bergmann & Erb, 2000).
Die Theorie der Sozialen Desintegration o
o o
o
o
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Heterophobie: Hier wird die Abwertungen von ‚Andersartigen’, also Personen, die nicht der ‚Norm’ entsprechen, betrachtet. Das Projekt ‚Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit’ beschäftigt sich hinsichtlich dieses Konstrukts mit der Abwertung von Behinderten, Homsexuellen und Obdachlosen. Nachdem dieses Syndromelement zunächst als ein zusammengefasstes Konstrukt untersucht wurde, wurde im Jahr 2005 hinsichtlich der einzelnen Facetten aufgelöst und somit drei separate Elemente untersucht, die die Abwertung von a. Behinderten und deren angeblichen Unterstützungsforderungen, b. Homosexuellen – also Personen, die, teilweise öffentlich, ein ‚normabweichendes’ sexuelles Verhalten zeigen – und c. Obdachlosen – also Personen, die den Normalitätsvorstellungen eines ‚geregelten Lebens’ nicht nachkommen (vgl. Heitmeyer, 2006a S. 22) beinhalten. Islamophobie: Dieses Konstrukt umfasst Bedrohungsgefühle und ablehnende Einstellungen gegenüber Muslimen und der muslimischen Kultur. Etabliertenvorrechte: Diese Element Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit beinhaltet den Anspruch Alteingesessener gegenüber ‚Neuen’ und ‚Zugezogenen’, die sich noch nicht angepasst haben, eine Vormachtsstellung zu besitzen. Zentral ist hierbei die Verweigerung von Gleichberechtigung gegenüber dieser Gruppe der ‚Neuen’ (vgl. Sidanius & Pratto, 1999). Sexismus: Hier wird die Betonung der Unterschiede zwischen den Geschlechtern und die damit einhergehende wahrgenomme Höherwertigkeit des Mannes sowie die Zuschreibung eines traditionellen weiblichen Rollenbildes untersucht (vgl. Glick & Fiske, 2001). Abwertung von Langzeitarbeitslosen: Für das Erhebungjahr 2007 wurde das Syndrom erneut erweitert, so dass seit diesem Zeitpunkt ebenfalls die Abwertung von Langzeitarbeitslosen aufgrund einer ihnen zugeschriebenen gesellschaftlichen Nutzlosigkeit berücksichtigt wird.
Da postuliert wird, dass allen diesen Elementen der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit ein gemeinsamer Kern – die Ideologie der Ungleichwertigkeit – zugrunde liegt, wird das Konstrukt der Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit als Syndrom bezeichnet (vgl. Abb 4). Das empirische Vorliegen dieses Syndroms wurde erstmals im Untersuchungsjahr 2002 aufgezeigt und konnte in den folgenden Erhebungsjahren repliziert werden (vgl. Heitmeyer, 2002b, 2003, 2005, 2006b, 2007). Das bedeutet, es konnten durch die Berechnung von Korrelationen zwischen allen untersuchten Komponenten der Menschenfeindlichkeit Zusammenhänge zwischen diesen aufgezeigt werden.
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Erste theoretische Annäherung an das Forschungsproblem
Fremdenfeindlichkeit Rassismus
Abwertung von Behinderten
Antisemitismus
Sexismus Syndrom Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit
Homophobie
Abwertung von Obdachlosen
Abb. 4
Etabliertenvorrechte
Islamophobie Abwertung von Langzeitarbeitslosen
Das Syndrom Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit
3.2 Kritisches Zwischenfazit und weiteres Vorgehen Eine Blick auf den Forschungsstand zeigt, dass zwar an verschiedener Stelle Zusammenhänge zwischen einer desintegrierten Position und dem gleichzeitigen Erleben einer Anerkennungsverweigerung einerseits und dem Vorliegen „Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit“ andererseits untersucht wurden, es finden sich aber bisher keine Arbeiten, die sich explizit und ausschließlich mit der Rolle des Nichterlebens von Anerkennung in diesem Zusammenhang auseinandersetzen. Diese Lücke soll im Folgenden geschlossen werden. Um sich mit der interessierenden Fragestellung zu beschäftigen, ist es zunächst einmal notwendig, genauer zu betrachten, welche Arten der Interaktion gemeint sind, wenn die Therie der Sozialen Desintegration auf postionael und morlische Anerkennung sowie die Anerkennung der personalen und der kollektiven Identität verweist. Hier zeigt sich, dass innerhalb der Desintegrationstheorie die verschiedenen Anerkennungsarten zwar genannt und ebenfalls den drei Ebenen gesellschaftlicher Integration zugeordnet werden, dass aber darüber hinaus keine explizite Definition der Konstrukte vorliegt, die als theoretische Grundlage für empirische Arbeiten herangezogen werden kann. Aus diesem Grund wird im folgenden Kapitel dieser Arbeit eine solche Definition der einzelnen Dimensionen vorgenommen.
Kritisches Zwischenfazit und weiteres Vorgehen
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Eine weitere theoretische Lücke, die die Desintegrationstheorie als Anerkennungstheorie aufweist, ergibt sich aus der Frage, in welchem Verhältnis objektive Desintegration und empfundene Anerkennung zueinander stehen. Da der Fokus der vorliegenden Arbeit auf der Auseinandersetzung damit liegt, ob und unter welchen Bedingungen Anerkennungsmängel die Ausbildung feindseliger Mentalitäten nach sich ziehen und die Klärung der Frage nach dem Zusammenhang zwischen Desintegration und Anerkennungsmängeln sehr umfangreich zu sein scheint, kann aus diesem Grund der Zusammenhang nicht detailliert beleuchtet werden. Somit muss sich die vorliegende Dissertation damit begnügen, auf den Aspekt der Desintegration und ihrer Entstehung durch gesellschaftlichen Wandel und auf die durch ihn hervorgerufenen Krisenphänomene als Metatheorie der hier anvisierten Erörterung des Anerkennungskonstrukts zu verweisen und auf den Klärungsbedarf bezüglich einer präzisen Beziehung zwischen Metatheorie und Anerkennungsvariable hinzuweisen. Dies bedeutet allerdings nicht, dass das Verhältnis zwischen objektiver Desintegration und der Erfahrung sozialer Anerkennung komplett vernachlässigt werden kann. So bringt eine intensivere Auseinandersetzung mit Anerkennung als Aspekt sozialer Desintegration unweigerlich eine Beschäftigung hiermit mit sich. Es soll aber herausgestellt werden, dass nicht auf den genauen Wirkzusammenhang der Konstrukte eingegangen wird. Des Weiteren ist zu kritisieren, dass in der ursprünglichen Desintegrationstheorie zwar postuliert wird, dass feindselige Einstellungen ein Resultat verweigerter Anerkennung darstellen, zunächst aber unbeleuchtet bleibt, wie der dahinter liegende postulierte Mechanismus genauer aussieht. In einem späteren Beitrag erläutern Anhut und Heitmeyer jedoch drei mögliche Wirkungsweisen eines Zusammenhangs zwischen Anerkennungsmängeln und gewalttätigem Verhalten (Anhut & Heitmeyer, 2005). Es wird angeführt, dass einerseits Anerkennungsdefizite in den drei Dimensionen spezifische Verarbeitungsmuster, die im Zusammenhang mit der jeweiligen Anerkennungsdimension stehen, nach sich ziehen können. So wird beschrieben, dass z.B. positionale Anerkennungsdefizite, resultierend aus einer wahrgenommenen Konkurrenzsituation, die Abwertung ethnischer Anderer nach sich ziehen können, während moralische Missachtungen ggf. in nationalautoritären oder rechtsextremen Einstellungen und emotionale Missachtung in individueller Gewaltbereitschaft münden. Als zweiter möglicher Wirkzusammenhang wird angeführt, Anerkennungsverletzungen könnten durch jedes erdenkliche Verarbeitungsmuster kompensiert werden und die Art des Anerkennungsdefizits kristallisiere sich durch eine spezifischere Variante der jeweiligen Verarbeitungsart heraus. Der dritte der angeführten potenziellen Wirkzusammenhänge zielt darauf ab, dass ein Zusammenwirken der drei Anerkennungsdimensionen das hierauf folgende Reaktionsmuster bedingt, wobei somit Anerkennungsdefizite in einer Dimension durch Anerkennungsgewinne in einer anderen Dimension kompensiert werden können (vgl. Anhut & Heitmeyer, 2005 S. 91ff.). Wie bei Anhut und Heitmeyer, so wird auch in der vorliegenden Arbeit das dritte Interpretationsmuster als am wahrscheinlichsten erachtet. Diese potenzielle Wirkungsart wird von Anhut und Heitmeyer wie folgt näher erläutert: „Die Wahl eines spezifischen Handlungsmusters (Wirkungsfiguration 1) oder einer Variante desselben (Wirkungsfiguration 2) wäre dann nicht mehr auf eine spezifische Anerkennungsverletzung in einer (oder mehreren) Integrationsdimensionen rückführbar. In der Konsequenz hieße das, dass das gewählte Verarbeitungsmuster zwar subjektiv dasjenige wäre, wovon die Person sich in einer gegeben Situation den größten Effekt verspricht, dass hierbei aber die oben genannten biographischen Dispositionen (Erfahrungen, Kompetenzen, Zurechnungsmuster) sowie individuelle und soziale Gelegenheitsstrukturen (Einbindung in soziale Milieus etc.) von ausschlaggebender Bedeutung dafür sein dürften, welche Wahl letztlich getroffen wird“ (Anhut & Heitmeyer, 2005 S. 92ff.).
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Erste theoretische Annäherung an das Forschungsproblem
Wie genau ein Verarbeitungsmuster gestaltet sein kann, durch das Anerkennungsmängel mit der Abwertung schwacher Gruppen kompensiert werden, wird an späterer Stelle der vorliegenden Arbeit näher erläutert. Hierbei setze ich mich zunächst noch einmal auf theoretischer Ebene mit einem solchen Verarbeitungsmuster auseinander. Im Rahmen dieser Auseinandersetzung gehe ich kurz auf den von der Theorie der Sozialen Desintegration angeführten Begriff des ‚Selbst’ eines Menschen, dessen Beeinflussung durch das Erleben von Anerkennungsmängeln und die Frage, wie sich diese Beeinflussung auf die Verarbeitung der Anerkennungsmängel auswirkt, ein. Nach dieser kurzen theoretischen Beschäftigung mit dem Forschungsproblem nähere ich mich diesem im Anschluss auf empirischer Ebene. Das bedeutet, das Kernstück des empirischen Teils der vorliegenden Arbeit wird es sein, den postulierten Zusammenhang mit Hilfe qualitativer Interviews näher zu beleuchten. Hierdurch soll somit eine datengestützte Präzisierung und Verfeinerung des Postulats der Theorie der Sozialen Desintegration erfolgen. Bevor dies geschehen kann, ist allerdings zunächst eine Lücke der Desintegrationstheorie zu füllen. Hierbei handelt es sich um die Klärung der Frage, wie die Schlüsselbegriffe positionale Anerkennung, moralische Anerkennung und sozio-emotionale Anerkennung zu verstehen sind. Wie bereits erwähnt, werden diese in der Desintegrationstheorie zwar den aufgeführten Desintegrationsebenen zugeordnet, eine detaillierte Auseinandersetzung mit diesen wird aber nicht vorgenommen. Dies ist aber einerseits zwingend erforderlich, um qualitative Interviews zu diesem Phänomenbereich führen zu können. Somit wird im folgenden Abschnitt zunächst eine ausführliche Beschreibung der Anerkennungskategorien erarbeitet und es werden erste Gedanken über die Art des Zusammenhangs zwischen dem Erleben von Anerkennungsverweigerung und der Entstehung von Gruppenbezogener Menschenfeinlichkeit angestellt. Anschließend werden auf Basis dieser Ausarbeitung qualitative Interview geführt, die den theoretisch angenommen Zusammenhang zwischen einem Erleben von Anerkennungsmängeln und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit empiriebasiert weiter präzisieren.
4. Theoretische Erweiterung
4.1 Ausarbeitung der Schlüsselbegriffe der Theorie der Sozialen Desintegration Um also eine Grundlage für die durchzuführenden qualitativen Interviews zu schaffen, werden zunächst einmal die in der Theorie der Sozialen Desintegration genannten Anerkennungsdimensionen theoretisch exakter herausgearbeitet. Hierzu werde ich mich in einem ersten Schritt mit der Frage auseinandersetzen, wie die jeweilige Art der Anerkennung vergeben werden kann. Das bedeutet, es wird erst einmal nicht – wie beispielsweise innerhalb der Theorie Honneths – der Adressat von Anerkennung in das Zentrum der Betrachtung gestellt, sondern die Quelle. Zunächst einmal beschäftige ich mich somit nicht mit der Erwartung oder Wahrnehmung von Anerkennung oder Missachtung. Eine solche Auseinandersetzung erfolgt zu einem späteren Zeitpunkt. Bei der Beschreibung der Anerkennungskategorien wird folgendermaßen vorgegangen: Die Ausarbeitung erfolgt anhand dreier Schritte. Wie bereits erwähnt, wird in einem ersten Schritt beschrieben, wie die jeweils betrachtete Anerkennungsart vergeben werden kann. Nach dieser Beschreibung folgt die Erörterung der Frage, wie ein Vorenthalten bzw. eine Negation der jeweiligen Anerkennungsart praktiziert wird. In diesen beiden ersten Schritten steht somit nicht die Person, die Adressat der Anerkennung ist, im Zentrum der Betrachtung. Dies ändert sich mit dem dritten Schritt der Ausarbeitung der Anerkennungskategorien, innerhalb dessen gefragt wird, wie sich das Erleben oder Nichterleben der Anerkennungsart für den Adressaten der Anerkennung darstellt. Die drei Schritte, anhand derer die Ausarbeitung der Anerkennungsdimensionen vorgenommen wird, sind somit folgende: o o o
Beschreibung der jeweiligen Anerkennungskategorie Beschreibung der Negation der jeweiligen Anerkennungskategorie Beschreibung des aus Anerkennung oder Nichtanerkennung bzw. Missachtung resultierenden Gefühls
Die Ausarbeitung des ersten Schritts erfolgt, indem bezogen auf jede der Dimensionen vier Fragen beantwortet werden: o o o o
Wofür wird die Anerkennung vergeben bzw. was wird an einem Menschen anerkannt? Auf welche Art und Weise wird die Anerkennung vergeben? Von wem wird die Anerkennung primär vergeben? In welchem Fall und mit welcher Begründung wird die Anerkennung vergeben?
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Theoretische Erweiterung
Wofür wird die Anerkennung vergeben bzw. was wird an einem Menschen anerkannt? Die Frage, wofür Anerkennung vergeben wird bzw. was an einem Menschen anerkannt wird, ist implizit durch die Verortung der Anerkennungsdimensionen in den jeweiligen Integrationsebenen abzulesen. Während der folgenden Ausarbeitung soll dies noch einmal explizit verdeutlicht und erörtert werden. Auf welche Art und Weise wird die Anerkennung vergeben? Mit der Frage, was in den verschiedenen Integrationsdimensionen anerkannt werden kann, ist des Weiteren die Frage verbunden, wie diese Anerkennung vergeben wird. Sowohl innerhalb des Einleitungsteils dieser Arbeit, als auch im Rahmen der Erläuterung der Theorie Axel Honneths konnte verdeutlicht werden, dass der Begriff der Anerkennung verschiedene inhaltliche Bedeutungen in sich birgt. So wie in den verschiedenen Ebenen gesellschaftlicher Integration verschiedene Gegenstände der Anerkennung existieren, so wird diese Anerkennung ebenfalls auf unterschiedliche Art und Weise kommuniziert. Um dies zu verdeutlichen, werden die von Honneth entwickelten Anerkennungsarten auf die in der Theorie der Sozialen Desintegration entwickelten Integrations- und Anerkennungsdimensionen bezogen. Weiter ist mit der Frage danach, wie die jeweilige Anerkennungsart vergeben wird, der Aspekt verbunden, ob diese Vergabe individuell oder gruppenbezogen erfolgt. Hier besteht einerseits die Möglichkeit, dass Anerkennung oder Missachtung einem Individuum auf Basis gruppenbezogener Stereotype zuteil wird. Demgegenüber kann Anerkennung oder Missachtung ebenfalls aufgrund von individuellen Eigenschaften von Menschen vergeben werden. Von wem wird Anerkennung vergeben? Differenzen in der Art und Weise, wie Anerkennung oder Missachtung praktiziert wird, stehen im Zusammenhang mit der dritten zu klärenden Frage, von wem die Anerkennung vergeben wird. So kann Anerkennung einerseits von Personen in ihrer Rolle als Einzelakteure vergeben werden, aber andererseits auch in ihrer Rolle als Repräsentanten von Kollektiven. In einem solchen Fall werden entsprechend diese Kollektive anstelle der individuellen Repräsentanten als Quelle der Anerkennung erlebt werden. Des Weiteren ist zu berücksichtigen, dass nicht jede mögliche Person bzw. jedes Kollektiv, die/das die jeweils fokussierte Anerkennungsart vergeben kann, tatsächlich auch eine für den Adressaten bedeutsame Quelle dieser Anerkennung ist. Das heißt, es ist in diesem Zusammenhang ebenfalls die Frage zu stellen: Welche Akteure sind im Zusammenhang mit der betrachteten Anerkennungsart primär relevante Quellen der Anerkennung? In welchem Fall und mit welcher Begründung wird die Anerkennung vergeben? Anerkennung wird in der vorliegenden Arbeit als subjektive Dimension gesellschaftlicher Integration betrachtet. Auf eine solche Weise kann aber das Konstrukt nur dann interpretiert werden, wenn gesellschaftlich geteilte Vorstellungen darüber herrschen, unter welchen Bedingungen ein Mensch Adressat der jeweiligen Art der Anerkennung werden sollte. Das bedeutet, soziale Anerkennung kann nur dann Indikator für gesellschaftliche Integration sein, wenn gesellschaftlich geteilte Verhaltenserwartungen – also Normen – darüber existieren, unter welchen Rahmenbedingungen die Vergabe von Anerkennung angemessen ist bzw. eingefordert werden kann. Es ist festzustellen, dass die Normen, an denen die Vergabe der unterschiedlichen Anerkennungsarten orientiert ist, sich hinsichtlich des Grades ihrer Verbindlichkeit unterscheiden. Während, wie sich zeigen wird, moralische Anerkennung an Rechtsnormen – der verbindlichsten Form von Normen – orientiert ist, basiert die Vergabe von positionaler und sozio-emotionaler Anerkennung auf einer weniger verbindlichen Art, den Konventionen.
Ausarbeitung der Schlüsselbegriffe der Theorie der sozialen Desintegration
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Begründet und gerechtfertigt werden Normen durch Werte, also gemeinsam geteilte Vorstellungen darüber, was wünschenswert ist (vgl. Friedrichs, 1999 S. 270). Während somit die Norm vorgibt, wann eine bestimmte Anerkennungsart vergeben werden sollte, zeigt der Wert an, warum dies geschehen sollte. Normen zeigen somit auf, dass einem Menschen eine bestimmte Art der Anerkennung zuteil werden sollte, wenn er sich in einer bestimmten Art und Weise verhält bzw. wenn ein bestimmtes kennzeichnendes Kriterium auf ihn zutrifft. Der Wert gibt sodann an, wie sich der Mensch verhalten sollte bzw. welches Kriterium auf ihn zutreffen sollte, damit er legitimer Adressat von Anerkennung werden kann. Zur Beschreibung der Anerkennungsdimension ist es somit notwendig, neben der Frage, was anerkannt wird, wie anerkannt wird und durch wen die Anerkennung erfolgt, ebenfalls zu klären, auf welcher Norm, die durch welchen Wert legitimiert wird, sie basiert. Neben diesen vier Fragen, die zur Beschreibung der für die jeweilige Anerkennungskategorie idealtypischerweise charakteristischen Punkte herangezogen werden, wird anschließend erörtert, inwieweit die Intensität der vergebenen Anerkennung durch ein öffentliches respektive privates Praktizieren beeinflusst wird. Das heißt, es wird die Frage gestellt: Wie wirkt sich öffentliches Praktizieren der Anerkennung im Vergleich zu einem privaten auf die Qualität bzw. Intensität dieser Anerkennung aus? Wie bereits angeführt, erfolgt nach der Erörterung, wie die jeweilige Anerkennungsart praktiziert wird, eine kurze Ausführung darüber, auf welche Art sie negiert wird. Im Anschluss daran wird die Frage gestellt, welche Auswirkungen eine Anerkennung bzw. eine Negation der Anerkennung für den Adressaten dieser Interaktion mit sich bringt. Hier ist insbesondere zu klären, wann eine Person einen Mangel an Anerkennung bzw. eine Missachtung auch tatsächlich als solche wahrnimmt. Hierzu ist es zunächst notwendig, sich damit auseinanderzusetzen, wann Menschen überhaupt erwarten, Anerkennung zu erhalten. Denn die Wahrnehmung eines Mangels setzt immer das Erwarten eines Mehr des mangelnden Gegenstandes voraus. Es ist somit zunächst einmal zu klären, auf Basis welcher Kriterien Menschen ihre Ansprüche – und hiermit verbunden Erwartungen –, Anerkennung zu erhalten, ausbilden. Hierbei beziehe ich mich auf Annahmen von Morten Deutsch, der argumentiert, die Ausbildung von Ansprüchen erfolge anhand von fünf verschiedenen Einflussfaktoren (vgl. Deutsch, 1985 S. 52 ff.). Diese sind: o o o o o
„The influence of ideologies and myths“, „The weakening of official ideologies”, „Experiences changes in satisfaction-dissatisfaction” “Comparing oneself to others” “Increasing victim’s bargaining power“.
Bei der auf diesen Punkten basierenden Erläuterung, wie Menschen Ansprüche darauf, anerkannt zu werden, ausbilden, werden die Kriterien Deutschs inhaltlich zwar übernommen, allerdings wird eine andere Bezeichnung verwendet, da die von Deutsch genutzte als problematisch betrachtet wird. So wird es vorgezogen, nicht die Begriffe ‚Ideologie’ und ‚Mythen’ zu verwenden, sondern anstelle dessen von gesellschaftlich geteilten Vorstellungen bzw. Normen und den diese legitimierenden Wertvorstellungen zu sprechen. Auch die Bezeichnung ‚Opfer’, die Deutsch verwendet, da er sich mit dem Gefühl relativer Deprivation beschäftigt, wird bezogen auf die Anerkennungsproblematik nicht genutzt. Somit werden in der vorliegenden Arbeit folgenden Bezeichnungen Verwendung finden:
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Theoretische Erweiterung o o o o o
Normen und Wertvorstellungen Wandel von Normen oder Wertvorstellungen Bedürfnisse des Betroffenen Vergleich mit anderen Einflussstärke des Betroffenen
Die drei zu beschreibenden Anerkennungsdimensionen werden somit weiter ausgearbeitet, indem bezogen auf jede der drei in der Theorie der Sozialen Desintegration angeführten Anerkennungskategorien die Fragen erörtert werden, wie Anerkennung vergeben und negiert wird, sowie die Frage, was es beinhaltet, wenn ein Mensch sich anerkannt oder nicht anerkannt bzw. missachtet fühlt. Die Grundlage des später zu erarbeitenden Messinstruments stellen sodann ausschließlich die im dritten Schritt der theoretischen Ausarbeitung angestellten Überlegungen dar – also die Überlegungen, inwiefern ein Mensch sich bezogen auf die jeweilige Dimension anerkannt oder nicht anerkannt bzw. missachtet fühlt. Anders als innerhalb der Theorie der Sozialen Desintegration wird in der vorliegenden Arbeit nicht mit der Beschreibung der positionalen Anerkennung sondern mit der der emotionalen Anerkennung begonnen. Dies geschieht, da für die Beschreibung der emotionalen Anerkennung eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem Begriff der Identität zwingend notwendig ist, auf die dann im Zusammenhang mit den Beschreibungen der anderen Anerkennungsdimensionen an verschiedener Stelle wieder zurückgegriffen werden kann, wenn eine Beschreibung dieser im Anschluss an die Ausarbeitung der emotionalen Anerkennung erfolgt.. 4.1.1
Emotionale Anerkennung
Was wird anerkannt? Als erste der drei Anerkennungsarten wird die Dimension der sozio-emotionalen Anerkennung erläutert, die innerhalb der Theorie der sozialen Desintegration in der kulturell-expressiven Sozialintegrationsdimension verortet ist. Der Inhalt dieser Anerkennungsdimension wird beschrieben als Anerkennung der personalen Identität durch das Kollektiv und die soziale Umwelt einerseits und als Anerkennung und Akzeptanz kollektiver Identitäten und ihrer jeweiligen Symboliken durch andere Kollektive andererseits (Anhut & Heitmeyer, 2000 S. 48). Was aber ist unter den Termini „personale Identität“ und „kollektive Identität“ zu verstehen? Der Identitätsbegriff wird nicht nur in der Alltagssprache, sondern ebenfalls im wissenschaftlichen Gebrauch in uneindeutiger und vielschichtiger Weise verwendet. „The concept of identity has become ubiquitous within the social and behavioural sciences in recent years, cutting across disciplines from psychoanalysis and psychology to political science and sociology. Each of these disciplines, however, has one or more conceptualizations of ‘identity’ that make a common discourse difficult” (Burke, Owens, Serpe, & Thoits, 2003 S. 1). Nicht nur die Tatsache, dass der Identitätsbegriff in verschiedenster Bedeutung verwendet wird, sondern auch, dass oftmals keine eindeutige Definition des jeweiligen Bedeutungsinhalts vorgenommen wird, macht den Umgang mit diesem Terminus problematisch. So merkt Philip Gleason zum Identitätsbegriff an: „Those who write on these matters use it casually; they assume that the reader will know what they mean” (Gleason, 1983 S. 910).
Ausarbeitung der Schlüsselbegriffe der Theorie der sozialen Desintegration
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Die wesentlichen Bedeutungen des Identitätsbegriffs entwickelten sich einerseits aus Ansätzen psychoanalytischer und andererseits aus Ansätzen interaktionistischer Denkrichtungen (vgl. Straub, 1998 S. 73 ff.). In psychoanalytischer Hinsicht wurde das Konstrukt stark durch die Arbeiten Erik Eriksons geprägt. Erikson bezeichnet den Terminus zunächst als ‚Ich-Identität’, wovon er aber später Abstand nimmt und sich auf den Begriff ‚Identität’ beschränkt. Erikson setzt primär die Entwicklung der Identität in den Mittelpunkt der Betrachtung, nicht aber die Frage danach, was unter dem Terminus ‚Identität’ zu verstehen ist. Seiner Argumentation über die Entstehung der Identität legt Erikson eine persönlichkeits-, entwicklungspsychologische und klinische Konzeption zugrunde (vgl. Straub, 1998 S. 75). Dies zeigt sich darin, „daß der Identitätsbegriff unweigerlich mit einer spezifischen Krisenerfahrung und deren psychischen Bearbeitung durch das betroffene Subjekt in Zusammenhang gebracht wird“ (Straub, 1998 S. 83). Erikson betrachtet somit Identität als einen Aspekt, den das Individuum in Eigenleistung notwendigerweise dadurch herstellen muss, dass bestehende Handlungs- und Alltagsroutinen infrage gestellt werden. Wie bereits angesprochen, nimmt er keine klare Definition des Identitätsterminus vor. Straub merkt an, Erikson biete an verschiedensten Stellen Umschreibungen an, aus denen Bestimmungsmerkmale von Identität abgeleitet werden können. Hieraus folgert Straub, Identität nach Erikson sei – in Übereinstimmung mit diversen anderen theoretischen Ansätzen – „als jene Einheit und Nämlichkeit einer Person aufzufassen, welche auf aktive, psychische Synthetisierungs- oder Integrationsleistungen zurückzuführen ist, durch die sich die betreffende Person der Kontinuität und Kohärenz ihrer Lebenspraxis zu vergewissern sucht“ (Straub, 1998 S. 75). Hierbei legt Straub somit ansatzweise dar, was Erikson potenziell unter dem Begriff Identität verstanden hat („Einheit und Nämlichkeit einer Person“);4 im Zentrum der Definition steht aber – wie erwähnt – der kognitive Prozess, aufgrund dessen die Identität einer Person gebildet wird („psychische Synthetisierungs- oder Integrationsleistungen“). Identität wird also als innerer Zustand eines Menschen aufgefasst. Was aber eine Identität ausmacht, die von außen beobachtet und der betreffenden Person zugeschrieben kann, bleibt unbeantwortet. Erikson geht lediglich darauf ein, wie sich Phasen der Identitätsdiffusion – als notwendige Voraussetzung einer gelingenden Identitätsbildung – bzw. dauerhafte pathologische Identitätsdiffusionen nach außen hin zeigen. Solche Diffusionen spiegeln sich demnach in Orientierungslosigkeit und Handlungsunfähigkeit wider. Da Eriksons Konzeption von Identität ein entwicklungspsychologischer Ansatz zugrunde liegt, innerhalb dessen solche äußerlich beobachtbaren Identitätsdiffusionen als Entwicklungsstadien, die jeder Mensch durchläuft, betrachtet werden, stellt sich hier Identität nicht als etwas Individuelles dar, das verschiedenen Menschen eigentümlich ist. Sie scheint eher dichotom aufgefasst zu werden als entweder durch „Einheit und Nämlichkeit“ hergestellt oder aufgrund einer (zeitweiligen) Lebenskrise infrage gestellt zu werden. Im Hinblick auf anerkennungstheoretische Fragestellungen ist somit ein derartiger Identitätsbegriff aus zweierlei Gründen nicht brauchbar. Erstens handelt es sich nicht um ein Verständnis einer Identität, die nach außen hin für andere Personen sichtbar wird, so dass es möglich wäre, sie anzuerkennen oder zu missachten. Zweitens ist nicht einsichtig, inwiefern Menschen sich in ihrer Identität voneinander unterscheiden, was eine Grundlage dafür darstellt, dass Personen in unterschiedlicher Weise in ihrer Identität anerkannt werden. Mit den Aspekten der Unterschiedlichkeit von Menschen und der Außendarstellung dieser Unterschiedlichkeit setzt sich demgegenüber Erving Goffman innerhalb seiner Definition des 4
Wobei auch Straub hier nicht weiter aufklärt, was unter der Beschreibung ‚Einheit und Nämlichkeit einer Person’ zu verstehen ist.
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Theoretische Erweiterung
Identitätskonstrukts auseinander (vgl. Goffman, 1967). Auch diese interaktionistische Perspektive nahm starken Einfluss auf die Bedeutung des Terminus. Dem Identitätsbegriff ist hiernach inhärent, dass ein Mensch aufgrund seiner Identität als zu anderen Menschen verschieden identifiziert wird. Den Begriff der Identifikation benutzt Goffman hierbei im Sinne eines Sichtbarwerdens und Zuschreibens. Identität wird dabei anhand von „Identitätsaufhängern“, auf Basis derer Aussagen über eine Person getroffen werden können, dargestellt und wahrgenommen (vgl. Goffman, 1967 S. 74 ff.). Somit bezieht sich hier der Identitätsbegriff nicht auf eine innerliche Einheit des Menschen, sondern auf eine äußerliche Selbstdarstellung und deren Wahrnehmung durch andere. Für die Fragestellung, in welcher Art ein Mensch in seiner Identität anerkannt werden kann, ist eine derartige Definition gewinnbringend, da offensichtlich nur anerkannt werden kann, was von einem Beobachter wahrnehmbar ist. Von daher wird im Folgenden der Identitätsbegriff im Sinne Goffmans verstanden. Im Allgemeinen wird der Identitätsbegriff, ähnlich wie innerhalb der Theorie der Sozialen Desintegration und auch bei Goffman, in die Kategorien personale Identität und soziale Identität bzw. kollektive Identität unterteilt. Die soziale oder kollektive Identität eines Menschen beruht auf Aspekten, die eine Person aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Gruppe identifizieren. Mummendey definiert basierend auf Tajfel den Gruppenbegriff wie folgt: „Eine Gruppe ist eine Ansammlung von Menschen, die fühlen oder wahrnehmen, daß sie eine Gruppe sind, die sich selbst als Angehörige einer Gruppe kategorisieren, und die konsensual in der gleichen Weise von anderen kategorisiert werden“ (Mummendey, 1984 S. 9). Mummendey nennt somit zwei Aspekte, die eine Gruppe als Gruppe kennzeichnen. Erstens müssen sich die Angehörigen der Gruppe als solche verstehen, zweitens müssen Nichtangehörige der Gruppe diese ebenfalls als eine solche wahrnehmen. Für die Klärung der Frage, in welcher Art der Terminus der sozialen bzw. kollektiven Identität zum jetzigen Zeitpunkt in der vorliegenden Arbeit verwendet wird, ist der zweite dieser beiden Aspekte von Bedeutung. Denn bei einer Bezugnahme auf den Identitätsbegriffs im Sinne Goffmans erfolgt die Identifikation einer sozialen Identität auf Basis der Tatsache, dass eine Person als Angehörige einer bestimmten Gruppe erkannt wird. Voraussetzung hierfür ist, dass die Gruppe von der identifizierenden Person als solche wahrgenommen wird. Das bedeutet, die Identifikation einer sozialen Identität erfolgt, indem eine Person als Angehörige einer Gruppe wahrgenommen wird und diese Kategorisierung als ‚Identitätsaufhänger’ fungiert. Im Zusammenhang mit diesem Prozess werden Merkmale, die die Angehörigen der betrachteten Gruppe teilen und die sie von Angehörigen anderer Gruppen unterscheiden, zur Definition der sozialen Identität herangezogen. Während die soziale Identität also mit den gemeinsamen Merkmalen, die von Angehörigen einer Gruppe geteilt werden und die sie von anderen Gruppen unterscheiden, in Zusammenhang steht, betrifft die personale Identität Aspekte, durch die sich einzelne Individuen von anderen Menschen differenzieren. Sie bezieht sich somit auf Aspekte, die die Einzigartigkeit einer Person hervorheben. Goffman argumentiert, dass der Begriff der Einzigartigkeit von Menschen auf ihre „positiven Kennzeichen“ bezogen ist, die als „Identitätsaufhänger“ dienen (vgl. Goffman, 1967). Während die meisten solcher „positiven Kennzeichen“ einzeln betrachtet auf eine Vielzahl von Menschen zutreffen, kennzeichnet demgegenüber ein Zusammenspiel verschiedener dieser Merkmale einen Menschen in seiner einzigartigen persönlichen Identität. Goffman versteht somit unter persönlicher Identität „positive Kennzeichen oder Identitätsaufhänger und die einzigartige Kombination von Daten der Lebensgeschichte, die mit Hilfe dieser Identitätsaufhänger an dem Individuum festgemacht wird“ (Goffman, 1967 S. 74). Die persönliche Identität entsteht laut Goffman also aus der Biografie eines Menschen. Dabei legt
Ausarbeitung der Schlüsselbegriffe der Theorie der sozialen Desintegration
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er dem Begriff der Biografie ein Verständnis zugrunde, nach dem „Jedes und alles, was ein Individuum getan hat und actualiter tun kann, (…) als in seiner Biographie fassbar verstanden“ wird (Goffman, 1967 S. 81). Die Biografie setzt sich also aus Handlungsweisen zusammen, die ein Individuum genutzt hat und nutzt, um sich gegenüber seinen Interaktionspartnern auszudrücken. Dieses Ausdrücken geschieht auf zweierlei Arten. „Die Ausdrucksmöglichkeit der Einzelnen (…) scheint zwei grundlegend verschiedene Arten von Zeichensetzung in sich zu schließen: der Ausdruck, den er sich selbst gibt, und der Ausdruck, den er ausstrahlt. Die erste Art umfasst Wortsymbole und ihre Substitute, die der Einzelne eingestandenermaßen und ausschließlich dazu verwendet, diejenigen Informationen zu vermitteln, die er und die anderen mit diesen Symbolen verknüpfen. Hier haben wir es mit Kommunikation im traditionellen und engeren Sinn zu tun. Die zweite Art umfaßt einen weiten Bereich von Handlungen, die von anderen als aufschlussreich für den Handelnden aufgefasst werden, soweit sie voraussetzen können, daß diese Handlungen aus anderen Gründen als denen der Information unternommen wurden“ (Goffman, 1969 S. 6). Goffman unterscheidet somit zwischen Handlungen, die intendiert genutzt werden, um eine bestimmte personale Identität darzustellen, und nicht in diesem Sinne intendierten Handlungen, die aber ebenfalls Grundlage dafür sind, einen Menschen zu identifizieren, also seine personale Identität zu erkennen. Als welche Art von Mensch eine Person auf Basis ihrer Biografie von einem anderen Menschen identifiziert wird, hängt davon ab, durch wen sie identifiziert wird. So wird beispielsweise ein Mensch innerhalb einer Arbeitsbeziehung auf eine andere Weise von seinem Gegenüber identifiziert als innerhalb einer Ehe. Denn die zu identifizierende Person wird in den verschiedenen sozialen Beziehungen unterschiedliche – intendierte wie nicht intendierte – Handlungen vornehmen, die zu ihrer Identifikation führen. Innerhalb der Theorie der Sozialen Desintegration wird das Konstrukt der personalen Identität in der Ebene der kulturell-expressiven Sozialintegration verortet und auf emotionale Beziehungen bezogen. Personale Identität innerhalb der Desintegrationstheorie wird somit als eine personale Identität, die ein Mensch in emotionalen Beziehungen zu erkennen gibt, verstanden. Das bedeutet, der Identitätsbegriff ist nicht mit dem Goffmans gleichzusetzen, sondern besitzt einen sehr viel weniger umfassenden Gegenstandsbereich. Dies soll allerdings nicht bedeuten, ein Mensch agiere innerhalb emotionaler Beziehungen von anderen seiner Identitäten, z.B. seiner Berufsidentität, losgelöst. Es ist aber zu verdeutlichen, dass die Darstellung der personalen Identität von der Interaktionsbeziehung, in der sie dargestellt wird, determiniert ist. Wenn im folgenden Abschnitt somit die Frage geklärt wird, wie eine Anerkennung der personalen Identität in Sinne der Theorie der Sozialen Desintegration praktiziert wird, so bedeutet das, dass hierbei immer die Interaktion zwischen Akteuren betrachtet wird, zwischen denen eine unmittelbare emotionale Beziehung besteht und die folglich eine geringe soziale Distanz zueinander aufweisen. Zusammenfassend wird noch einmal festgehalten, dass der Identitätsbegriff hinsichtlich sozialer und persönlicher Aspekte unterteilt werden kann, wobei die soziale Identität an Merkmalen festgemacht wird, die einem Menschen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe im Zusammenhang mit deren Merkmalen zugeschrieben wird. Die persönliche oder personale Identität eines Menschen wird demgegenüber als Identität innerhalb emotionaler Beziehungen, die durch vergangene und aktuelle Handlungsweisen identifiziert wird, aufgefasst. An dieser Stelle wird der Identitätsbegriff in der vorliegenden Arbeit somit nicht im Sinne einer Ich-Identität nach Erikson verstanden. Es besteht somit eine klare Abgrenzung des zunächst verwendeten Begriffs der Identität gegenüber Identitätstermini, denen der Aspekt der Selbstidentifikation zugrunde liegt. Den Kern dieses Begriffsverständnisses verdeutlicht Goffman, wenn er schreibt: „Soziale und persönliche Identität sind zuallererst Teil der Interessen
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und Definitionen anderer Personen hinsichtlich des Individuums, dessen Identität in Frage steht“ (Goffman, 1967 S. 132). Nur ein derartiger Identitätsbegriff kann zur Klärung der Frage, wie eine Anerkennung von Identität praktiziert werden kann, verwendet werden. 4.1.1.1 Anerkennung der personalen Identität Wie wird anerkannt? Nachdem erörtert wurde, was in der vorliegenden Arbeit an dieser Stelle unter dem Terminus ‚personale Identität’ verstanden wird, und was somit Gegenstand der Anerkennung der personalen Identität ist, werde ich mich im Folgenden damit auseinandersetzen, wie Personen einen Menschen in seiner personalen Identität anerkennen. Es ist angeführt worden, dass die Anerkennung der personalen Identität im hier verwendeten Sinn innerhalb emotionaler Beziehungen, die durch eine geringe soziale Distanz gekennzeichnet sind, praktiziert wird. Nun ist eine der elementaren Funktionen persönlicher Beziehungen,5 dass diese das Bedürfnis eines Menschen nach Bindung bzw. Zugehörigkeit befriedigen. Dass es sich bei der Befriedigung des Bedürfnisses nach Zugehörigkeit – „need to belong“ – um eine fundamentale menschliche Motivation handelt, zeigen Baumeister und Leary in einem Überblick über die empirische Literatur zu diesem Forschungsfeld (vgl. R.F. Baumeister & Leary, 1995). Hierbei ist allerdings kritisch anzumerken, dass von den Autoren an keiner Stelle eine explizite Definition des Terminus ‚Zugehörigkeitsbedürfnis’ vorgenommen wird. Baumeister und Leary beschreiben den Begriff aber wie folgt: „First, there is a need for frequent, affectively pleasant interactions with a few other people, and, second, these interactions must take place in the context of a temporally stable and enduring framework of affective concern for each other’s welfare“(R.F. Baumeister & Leary, 1995 S. 497). Emotional angenehme (“affectively pleasant”) Interaktionen ergeben sich aber nicht durch einem Umgang mit jedem beliebigen anderen Menschen, und nicht jeder andere Mensch besitzt die Motivation, eine zeitlich stabile, andauernde („temporally stable and enduring“) Beziehung mit der betreffenden Person einzugehen. Voraussetzung hierfür ist, dass das Bild dieser Person, als das sie identifiziert wird – also ihre personale Identität – von ihrem Gegenüber als positiv bewertet wird, wenn das Gegenüber also die identifizierte personale Identität anerkennt. Dass der Betreffende die personale Identität der Person anerkennt, demonstriert er ihr umgekehrt somit dadurch, dass er bereit ist, ihr Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu befriedigen. Eine Anerkennung der personalen Identität zeigt sich somit durch die Demonstration der Bereitschaft, mit einem Menschen regelmäßig auf emotionaler Ebene zu interagieren, eine stabile und andauernde Beziehung mit ihm einzugehen, also sein Zugehörigkeitsbedürfnis zu befriedigen. Insofern ähnelt das Konstrukt der Anerkennung der personalen Identität der Anerkennungsdimension, die Honneth als ‚Liebe’ bezeichnet. Denn auch Honneth hebt die Funktion der Anerkennung, das Bedürfnis nach emotionaler Zugehörigkeit zu befriedigen, hervor, wenn er anführt, dass eine gegenseitige Anerkennung in Form von Liebe durch den Wunsch hervorgerufen wird, „mit einer anderen Person verschmolzen zu sein“ (Honneth, 2003a S. 169). Unter den Begriff der Liebe fasst Honneth eine Anerkennung, die Menschen zuteil wird, für die eine Person „Sympathie und Anziehung“ empfindet, die also vergeben wird, wenn „positive Gefühle gegenüber anderen Menschen“ vorhanden sind (vgl. Honneth, 2003a S. 174). Als Beziehungskonstellationen, innerhalb derer die Anerkennungsart der Liebe getauscht wird, nennt Honneth „erotische Zweierbeziehungen“, Mutter-Kind5
Variierend nach verschiedenen Forschungstraditionen lassen sich in der Forschungsliteratur eine Reihe weiterer Aspekte und Funktionen persönlicher Beziehungen hervorheben. Einen Überblick geben Friedrich Lösel und Doris Bender (vgl.
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Beziehungen, aber auch Freundschaften (vgl. Honneth, 2003a S. 153). Er geht somit in seinem Verständnis des Begriffs ‚Liebe’ über das Alltagsverständnis dieses Wortes hinaus. Neben der Tatsache, dass der Liebesbegriff in der Regel nicht derart weit gefasst ist, dass er ebenfalls auf zwischenmenschliche Beziehungen in Form von Freundschaften bezogen wird, ist des Weiteren anzumerken, dass Honneth sich nur marginal mit der Frage auseinandersetzt, wie Anerkennung in Form von Liebe durch konkrete Interaktionen praktiziert wird. Er beschränkt sich darauf, innerhalb eines Satzes zwei Beispiele hierfür anzuführen: „in Freundschaften mag es das gemeinsame Erleben eines selbstvergessenen Beisammenseins sein, in erotischen Beziehungen ist es die sexuelle Vereinigung, durch die der eine sich mit dem anderen differenzlos versöhnt weiß“ (Honneth, 2003a S. 170). Wie genau wird also eine Anerkennung, die durch die Befriedigung des Bedürfnisses nach emotionaler Zugehörigkeit vermittelt wird, praktiziert? Peggy Thoits argumentiert, dass dies durch eine Verhaltensweise, die sie unter Bezug auf Kaplan als soziale Unterstützung definiert, geschieht. Denn den Begriff der sozialen Unterstützung definiert sie wie folgt. „Social Support will be defined here after Kaplan (vgl. Kaplan et al., 1977), as the degree to which a person’s basic social needs are gratified through the interaction with others” (Thoits, 1982 S. 147). Thoits merkt kritisch an, dass innerhalb des Forschungsfelds zu sozialer Unterstützung das Konstrukt in unterschiedlichster Art – teilweise mangelhaft – definiert und operationalisiert wird. Sie gibt einen Überblick über verschiedene Studien (Thoits, 1982 S. 146 ff.). Welche Dimensionen soziale Unterstützung nach der von ihr angeführten Definition umfasst, leitet Thoits aus der Annahme darüber ab, dass Menschen diverse soziale Bedürfnisse besitzen, die durch andere Personen erfüllt werden müssen. Das bedeutet, Thoits nennt neben dem in der hier vorliegenden Arbeit genannten Zugehörigkeitsbedürfnis – „need to belong“ – noch weitere soziale Bedürfnisse, die durch soziale Unterstützung befriedigt werden. Allerdings ist davon auszugehen, dass alle von Thoits beschriebenen Bedürfnisse durch die von Baumeister und Leary im Zusammenhang mit der Erfüllung des Zugehörigkeitsbedürfnisses genannten „affectively pleasant interactions“, die im Bemühen um das Wohlergehen einer Person praktiziert werden, ebenfalls befriedigt werden. Somit können die von Thoits genannten sozialen Bedürfnisse unter den in der vorliegenden Arbeit nach Baumeister und Leary angeführten Begriff des Zugehörigkeitsbedürfnisses subsumiert werden. Thoits argumentiert, dass die sozialen Bedürfnisse eines Menschen durch zwei Arten sozialer Unterstützung befriedigt werden. Diese sind sozio-emotionale Unterstützung und instrumentelle Unterstützung (vgl. Thoits, 1982 S. 147). Sozio-emotionale Unterstützung wird durch die Demonstration von Zuneigung, Anteilnahme, Verständnis oder Achtung praktiziert. Instrumentelle Unterstützung wird vergeben durch Ratschläge, Auskünfte, Hilfe bei familiären oder beruflichen Aufgaben oder finanzielle Unterstützung. Wer erkennt an? Klusmann setzt sich damit auseinander, welche Personen Quelle sozialer Unterstützung sein können bzw. in welcher Beziehung Personen, die soziale Unterstützung bieten, zu der zu unterstützenden Person stehen (vgl. Klusmann, 1989 S. 19 ff.). Es wird deutlich, dass die soziale Distanz zu einer Person, von der ein Mensch Unterstützung erhält, stark variieren kann. Klusmann beschreibt, dass vom nahen Angehörigen bis zum berufsmäßigen Helfer jeder Mensch Quelle unterstützenden Verhaltens sein kann. Hierdurch zeigt sich nun, dass nicht jedes Unterstützungsverhalten eine Anerkennung der personalen Identität darstellt. Es wurde argumentiert, dass die personale Identität eines Menschen durch unterstützendes Verhalten anerkannt wird, da ihm hierdurch vermittelt wird, dass sein Gegenüber mit ihm als einzigartiger Person
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eine emotionale Beziehung führen möchte und hierdurch sein Bedürfnis nach emotionaler Zugehörigkeit befriedigt. Ein derartiges Gefühl wird nicht vermittelt, erfolgt ein Unterstützungsverhalten durch einen professionellen, bezahlten Helfer. In einem solchen Fall wird ein Mensch nicht als einzigartiges Individuum anerkannt, sondern allenfalls in seiner Rolle als Klient unter vielen Klienten. Somit ist es bedeutsam, herauszustellen, dass eine Anerkennung der personalen Identität nur erfolgt, wenn die unterstützende Verhaltensweise von Personen gegeben wird, die zum „Kern des Beziehungsfeldes eines Menschen“ gehören (Klusmann, 1989 S. 20). Es wurde verdeutlicht, dass eine Anerkennung der personalen Identität vermittelt wird, indem einem Menschen durch unterstützende Verhaltensweisen von wichtigen anderen6 gezeigt wird, dass eine Beziehung zu ihm als einzigartiger Person gewünscht wird. Warum wird anerkannt? Als Einleitung dieses Abschnitts der vorliegenden Arbeit wurde erwähnt, dass für jede der hier besprochenen Anerkennungsarten erörtert wird, was anerkannt wird, von wem die Anerkennung vergeben wird, wie die Anerkennung praktiziert wird und an welchen gesellschaftlich geteilten Verhaltenserwartungen die Vergabe der Anerkennung orientiert ist. Nachdem somit aufgeführt wurde, dass der Gegenstand der emotionalen Anerkennung der personalen Identität eben diese personale Identität ist und sie von für den Anerkannten wichtigen Personen durch ‚sozial unterstützendes’ Verhalten vergeben wird, bleibt noch zu beschreiben, auf Basis welcher gesellschaftlichen Normen und Wertvorstellungen sie getauscht wird. Hier zeigt sich der allgemein geteilte Konsens, dass emotionale Beziehungen durch ein gegenseitig unterstützendes Verhalten gekennzeichnet sein sollen. Das bedeutet, es ist die gesellschaftlich geteilte Meinung, dass mit der Aufnahme einer emotionalen Beziehung unterstützende Verhaltensweisen verbunden sind. Dass diese Annahme vorherrscht, ist einleuchtend, da, wie bereits erwähnt wurde, die Befriedigung des Zugehörigkeitsbedürfnisses – die durch soziale Unterstützung erfolgt – eine elementare Funktion sozialer Beziehungen ist. Damit geht einher, dass emotionale Anerkennung einen Wert an sich darstellt, der mit dieser Norm, in einer emotionalen Beziehung Anerkennung zu erfahren, verknüpft ist und das Streben nach der Aufnahme emotionaler Beziehungen nicht nur legitimiert, sondern darüber hinaus als wünschenswert kennzeichnet. Darüber hinaus existieren ebenfalls gesellschaftlich geteilte Annahmen darüber, wie groß das Ausmaß an Unterstützung sein sollte, das in unterschiedlichen zwischenmenschlichen Beziehungen praktiziert wird. Im Allgemeinen besteht die Annahme, dass, je geringer die soziale Distanz in einer Beziehung ist, umso größer das Ausmaß an ausgetauschter sozialer Unterstützung sein sollte. Dies verdeutlicht Klusmann an einem Beispiel, wenn er anführt: „Normalerweise ist es z.B. üblich, daß Eltern ihre Kinder in der Berufsausbildung unterstützen, von entfernten Verwandten wird dieses Verhalten nicht im gleichen Maß erwartet. Von einem langjährigen Ehepartner ist ein höheres Maß an Loyalität zu erwarten als von einer kurzfristigen Bekanntschaft“ (Klusmann, 1989 S. 25). Neben einer solchen Variation des quantitativen Ausmaßes an sozialer Unterstützung mit der sozialen Distanz einer Beziehung variiert ebenfalls die Qualität und Intensität der Anerkennung sowohl zwischen den Beziehungen unter6
In der Theorie der Sozialen Desintegration wird neben der hier erörterten Anerkennung der personalen Identität durch das soziale Umfeld ebenfalls die Anerkennung dieser Identität durch andere Kollektive erwähnt. Hier ist fraglich, wie ein solcher Anerkennungsprozess, bei dem die persönlichen Eigenschaften eines Individuums durch ein Kollektiv (oder mehrere Kollektive) anerkannt werden, gestaltet sein soll.
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schiedlicher sozialer Distanzen als auch innerhalb von Beziehungen gleicher oder ähnlicher sozialer Distanz. Die Anerkennung der personalen Identität ist in ihrer Intensität somit kontinuierlich, kann also mehr oder minder intensiv praktiziert werden. Es ist davon auszugehen, dass mit abnehmender sozialer Distanz tendenziell intensivere Formen der Anerkennung erfolgen, wobei zu beachten ist, dass hierbei die wahrgenommene soziale Distanz der an der Beziehung beteiligten Personen relevant ist, nicht die gellschaftliche Zuschreibung einer sozialen Distanz zu einer bestimmten Art von Beziehung. Das heißt, es ist hierbei von Bedeutung, ob die betreffende Person z.B. bezogen auf die Beziehung zu ihrer Mutter eine geringe soziale Distanz empfindet, und nicht, dass die gesellschaftliche Vorstellung vorherrscht, eine Beziehung zur Mutter sei in der Regel durch eine geringe soziale Distanz gekennzeichnet. Darüber hinaus variiert die Intensität der Anerkennung zwischen Beziehungen ähnlicher oder gleicher sozialer Distanz damit, in welcher Weise die soziale Unterstützung, die Indikator für diese Anerkennung ist, vermittelt wird. So können emotionale wie auch praktische Unterstützungshandlungen sowohl demonstrativ, um den Beziehungspartner aktiv in seiner personalen Identität anzuerkennen, vorgenommen werden, als auch pragmatisch und routinemäßig aus Gründen der Gewohnheit erfolgen. Während das Spektrum der letztgenannten Handlungen durch eine geringe Intensität gekennzeichnet ist, gehen demgegenüber demonstrativ anerkennende Handlungen mit einem größeren Ausmaß an Intensität einher. Auch eine demonstrative Anerkennung der personalen Identität kann mehr oder minder intensiv sein. Hierbei spielt der Faktor des öffentlichen Raumes eine besondere Rolle. Hiermit ist gemeint, dass sozial unterstützende Verhaltensweisen, die aus Gründen der aktiven Demonstration einer Anerkennung der personalen Identität vorgenommen werden, sowohl unter Ausschluss als auch unter Beteiligung der Öffentlichkeit – also außerhalb wie auch innerhalb des öffentlichen Raumes – erfolgen können. Demonstrationen der Anerkennung im öffentlichen Raum finden sich insbesondere bezogen auf die Dimension der sozio-emotionalen Unterstützung in Form öffentlicher Zuneigungsbekundungen, die teilweise z.B. in Form von Hochzeitsfeierlichkeiten institutionalisiert sind. Es soll noch angemerkt werden, dass hier kein linearer Zusammenhang zwischen der Demonstration der Anerkennung der personalen Identität innerhalb des öffentlichen Raumes und ihrer Intensität postuliert wird; allerdings ist dennoch anzunehmen, dass die Intention, die einer öffentlichen Demonstration von Anerkennung zugrunde liegt, im Regelfall die Steigerung der Intensität der Anerkennung ausmacht. Zusammengefasst bedeutet das, daas die Intensität der Anerkennung der personalen Identität auf einem Kontinuum variiert, wobei routinemäßige sozial unterstützende Verhaltensweisen, die aus Gründen der Gewohnheit erfolgen, weniger intensiv sind als eine demonstrative Anerkennung, die sowohl im privaten als auch im öffentlichen Raum erfolgen kann. Die Übergänge zwischen diesen Kategorien sind nicht klar voneinander abgegrenzt, sondern gehen fließend ineinander über (vgl. Abb. 5).
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Theoretische Erweiterung
Öffentlichkeit öffentlich
hoch
Intensität der Anerkennung
privat
niedrig
keine Anerkennung
routinemäßige Anerkennung
Abb.5
Intensität der Anerkennung der personalen Identität
4.1.1.2
Nichtanerkennung der personalen Identität
demonstrative Anerkennung
Es herrscht also die gesellschaftlich geteilte Annahme, dass innerhalb einer sozialen Beziehung, die durch eine geringe soziale Distanz gekennzeichnet ist, emotionale Anerkennung vergeben wird. Dass eine Person nicht in ihrer personalen Identität anerkannt wird, kann somit einerseits daraus resultieren, dass sie über keine solchen emotionalen Beziehungen verfügt. Andererseits ist es darüber hinaus ebenfalls möglich, dass ein Mensch innerhalb einer bestehenden emotionalen Beziehung nicht in seiner personalen Identität anerkannt wird. Dies geschieht, wenn der Beziehungspartner ihm die für eine emotionale Beziehung typische soziale Unterstützung vorenthält und es entsprechend verweigert, das Bedürfnis nach Zugehörigkeit durch emotional befriedigende Interaktionen zu erfüllen. Werden die Erwartungen einer Person auf die beschriebene Art nicht erfüllt, bezeichnet Elster dies als eine passive Negation von Erwartungen (vgl. Elster, 1985). Das bedeutet, eine Verweigerung oder ein Nichtvorhandensein sozial unterstützenden Verhaltens stellt eine passive Negation der Anerkennung der personalen Identität dar. Neben einer solchen passiven Negation existiert nach Elster darüber hinaus die Möglichkeit aktiver Negation. Hierbei ist zentral, dass nicht nur das anerkennende Verhalten unterbleibt, sondern das gezeigte Verhalten darüber hinaus das Gegenteil der anerkennenden Verhaltensweise darstellt. Da eine Anerkennung der personalen Identität durch unterstützendes Verhalten von wichtigen anderen Personen praktiziert wird, bedeutet somit eine aktive Negation der Anerkennung der personalen Identität, dass ein belastendes Verhalten durch diese Personen gezeigt wird. Das heißt, es handelt sich um ein Verhalten, das emotional unbefriedigend ist, Indikator für einen möglichen Abbruch der Beziehung sein kann und aus diesem Grund die Funktion, das Zusammengehörigkeitsbedürfnis zu befriedigen, nicht erfüllen kann. Es stellt somit einen Verstoß gegen die
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Beziehungsnormen dar. Solche Verstöße können sowohl emotional als auch physisch erfolgen. Emotionale Verstöße sind z.B. das Ausnutzen des Beziehungspartners, von ihm als ungerechtfertigt empfundene Kritik oder Vertrauensbrüche. Mit physischen Verletzungen setzt Honneth sich innerhalb seiner Theorie als Gegenstück der Liebesdimension auseinander, klassifiziert sie allerdings als einziges dieser Dimension gegenteiliges Verhalten. Honneth argumentiert: „Die physische Mißhandlung eines Subjekts stellt einen Typ von Mißachtung dar, der das durch Liebe erlernte Vertrauen in die Fähigkeit der autonomen Koordinierung des eigenen Körpers nachhaltig verletzt“ (Honneth, 2003a S. 214). Indem Honneth allerdings die Folgen von Missachtung auf die Verletzung der autonomen Koordinierung des Körpers der betroffenen Person und deren Folgen beschränkt, vernachlässigt er die negativen Auswirkungen psychischer Missachtungen. Das bedeutet, er vernachlässigt, dass auch andere Verletzungen als physische bei der betroffenen Person die Wahrnehmung, missachtet zu werden, hervorrufen können. So führt z.B. Mary Clark an: „Separation, alienation, ostracism, humiliation – all are denials of human bonding, of acceptance within a circle, a group, a family, a support system“(Clark, 1990 S. 45). Entsprechend ruft jede dieser Verhaltensweisen bei einem Menschen das Gefühl, nicht anerkannt zu werden, hervor. Empirisch können Lettner et al. anhand einer repräsentativen Längsschnittuntersuchung der österreichischen Bevölkerung zeigen, dass solche emotionalen Missachtungen – bezeichnet als „soziale Belastung“ – durchaus negativen Einfluss auf das Wohlbefinden der Befragten ausübten (vgl. Lettner, Sölva, & Baumann, 1996). Zwar zeigte sich, dass nur ein geringer Teil der Personen angab, belastende Beziehungen zu führen, und innerhalb der sozialen Netzwerke der Befragten zahlenmäßig wenige Personen vertreten waren, zu denen die Beziehung als belastend wahrgenommen wurde, trotzdem sollte die Bedeutung solcher belastenden Beziehungen nicht vernachlässigt werden. Es wurden also, basierend auf den Annahmen Elsters, zwei Gegenstücke der Anerkennung der personalen Identität beschrieben. Während eine passive Negation der personalen Identität als ein Nichtvorhandensein von Unterstützung und Rückhalt beschrieben wurde, wurde eine aktive Negation als durch körperliche Misshandlungen und emotionale Abwertungen vermittelt bezeichnet. Es wurden somit zwei starre, voneinander trennbare Negationskategorien erörtert. Dies erscheint aus zweierlei Gründen unzureichend. Einerseits ist nicht davon auszugehen, dass jede Art der passiven Negation, die innerhalb einer bestehenden Beziehung erfolgt – also nicht auf das Nichtvorhandensein emotionaler Beziehungen zurückzuführen ist – stets aus den gleichen Motiven heraus praktiziert wird und entsprechend in unterschiedlicher Weise interpretiert werden kann. Das bedeutet, es ist sinnvoll, passive Negation weiter nach den Motiven, aus denen heraus sie praktiziert wird, zu differenzieren. Andererseits ist nicht anzunehmen, dass nicht-anerkennende Handlungen derart strikt voneinander getrennt werden können, dass es stets möglich ist, sie eindeutig einer bestimmten Kategorie zuzuordnen. Es ist vielmehr zu vermuten, dass sowohl anerkennende als auch nicht anerkennende Handlungen kontinuierlich in ihrer Intensität zunehmen (vgl. Abb. 6). Auf diesem Kontinuum findet sich, sozusagen als Nullpunkt, das Spektrum einer nicht erfolgenden Anerkennung, die nicht aus einer bestimmten Intention heraus vorenthalten wird. Das bedeutet, hier beruht ein Nichteintreten der Anerkennung nicht auf der Intention, das Gegenüber zu schädigen, sondern resultiert möglicherweise aus Gedankenlosigkeit oder Unkenntnis. Findet sich ein Motiv, auf Basis dessen die Anerkennung verweigert wird, so nimmt die Intensität der Negation entsprechend zu. Auch das Spektrum der Intensität dieser intendierten Anerkennungsverweigerung variiert mit dem Motiv, auf Basis dessen die Anerkennung verwehrt wird. In Bereichen einer stärkeren Intensität geht diese intendierte Anerkennungsverweigerung in den Abschnitt dessen, was Elster als aktive Negation bezeichnet, über. Eine solche aktive Negation wird im Folgenden
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Theoretische Erweiterung
mit dem Begriff Missachtung belegt. Auch dieser Bereich der Missachtung ist keine starre Kategorie homogener Handlungsweisen, sondern umfasst diverse Aktionen, die sowohl intensivere als auch weniger intensive Negationen darstellen können. Auch hierfür spielt der Faktor des öffentlichen Raumes eine wichtige Rolle. So stellen öffentliche Missachtungen vor den Augen Dritter die personale Beziehung und somit die künftige Befriedigung des Bedürfnisses nach Zugehörigkeit in einem stärkeren Maß infrage als Missachtungen, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit erfolgen. Entsprechend ist eine öffentliche Missachtung der personalen Identität durch eine stärkere Intensität gekennzeichnet als eine nicht öffentliche Missachtung der personalen Identität.
Öffentlichkeit öffentlich hoch
Intensität der Missachtung
niedrig
aktive Negation
privat
intendierte Anerkennungs- nicht intendierte Anerken- Anerkennung verweigerung nungsverweigerung
Abb. 6
Intensitäten der Nichtanerkennung der personalen Identität 7
4.1.1.3
Wahrnehmung von Anerkennung und Nichtanerkennung der personalen Identität
Anerkennende und nicht anerkennende Verhaltensweisen, die von der handelnden Person bzw. von einer Beobachterperspektive aus als solche bewertet werden, müssen nicht unweigerlich vom Adressaten der Handlungen in gleicher Weise beurteilt werden. So werden z.B. Annahmen zweier Personen darüber, welche Verhaltensweisen innerhalb einer emotionalen Beziehung gezeigt werden sollten und entsprechend als anerkennend bewertet werden, stark von 7
Auch diese Annahmen werden unter der Vorraussetzung, dass die fragliche Missachtung stets durch die gleiche Person erfolgt und die Intensität somit nicht durch die soziale Distanz der Beziehung beeinflusst wird.
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individuellen Vorstellungen der Beteiligten beeinflusst. Entsprechend besteht die Möglichkeit, dass sich eine Person durch bestimmte Handlungen ihres Interaktionspartners anerkannt fühlt, während dieselbe Handlung bei einer anderen Person diese Wahrnehmung nicht auslöst. Somit ist es nicht sinnvoll, die Wahrnehmung, in der personalen Identität anerkannt zu werden, an konkreten ‚unterstützenden’ Verhaltensweisen festzumachen, sondern vielmehr an dem Empfinden der betroffenen Person, ob sie Unterstützung – welcher Art auch immer – erhält. Das bedeutet, es wird das individuelle Empfinden eines Menschen betrachtet, in seiner personalen Identität anerkannt, also unterstützt zu werden und Rückhalt und Beistand zu erfahren. Die zentrale Frage ist also, ob sich die betrachtete Person als aufgenommen, aufgehoben und einer emotionalen Bindung zugehörig wahrnimmt, unabhängig davon, auf Basis welcher ‚objektiver’ Kriterien sie diese Empfindung entwickelt. Baumeister und Leary vertreten die Annahme, dass das Bestehen dieser Wahrnehmung, also die Befriedigung des Bedürfnisses nach emotionaler Zugehörigkeit – in der vorliegenden Arbeit verstanden als Anerkennung der personalen Identität – von elementarer Wichtigkeit für einen Menschen ist. „A lack of belongingness should constitute severe deprivation and cause a variety of ill effects“(R.F. Baumeister & Leary, 1995 S. 497). Wann eine Person sich selbst als anerkannt bzw. nicht anerkannt erlebt, bzw. welche innerhalb einer Beziehung praktizierten Verhaltensweisen sie als anerkennend bewertet, hängt stark von ihren individuellen Ansprüchen ab. Wird das, was ein Mensch beansprucht, nicht erfüllt bzw. dem Anspruch aktiv entgegengehandelt, so wird hierdurch das Gefühl, nicht anerkannt bzw. missachtet zu werden, hervorgerufen. Es ist allerdings nicht davon auszugehen, dass das Bedürfnis nach Zugehörigkeit und entsprechend der Anspruch auf soziale Unterstützung bei allen Menschen gleich stark ausgeprägt ist. So kann die Stärke des Bedürfnisses interpersonal variieren. Während manche Personen ein stärkeres Bedürfnis nach Zugehörigkeit besitzen, sind andere durch ein geringeres Ausmaß an Unterstützung von anderen Menschen zufrieden zu stellen. Welches Ausmaß und welche Art sozialer Unterstützung beansprucht werden, hängt aber nicht ausschließlich davon ab, wie stark das Bedürfnis nach Zugehörigkeit ausgeprägt ist. Darüber hinaus existieren weitere Variablen, die beeinflussen, welche Annahmen Menschen darüber entwickeln, welche Unterstützung sie von anderen Menschen erhalten sollten. Wie bereits einleitend erwähnt, nennt Deutsch vier weitere Einflussfaktoren, die sich auf das Ausmaß an Ansprüchen, die Menschen stellen, auswirken. Hierbei handelt es sich um ‚Normen’, das ‚Ausmaß der Veränderung dieser Normen’,8 ‚Vergleiche mit anderen’ und die ‚Möglichkeit, Einfluss zu nehmen’ (vgl. Deutsch, 1985 S. 52 ff.). Es wurde bereits angeführt, dass eine allgemeine, gesellschaftlich geteilte Annahme darüber besteht, dass innerhalb emotionaler Beziehungen unterstützendes Verhalten gezeigt wird. Darüber hinaus wurde erläutert, dass ebenfalls im Allgemeinen angenommen wird, dass das Ausmaß der Unterstützung mit der sozialen Distanz variiert. Diese geteilten Verhaltenserwartungen werden entsprechend beeinflussen, welches Ausmaß an Unterstützung eine Person innerhalb einer personalen Beziehung erwartet. Das bedeutet, Menschen werden tendenziell ein größeres Ausmaß an sozialer Unterstützung erwarten, je geringer die soziale Distanz der jeweiligen Beziehung ist. Darüber hinaus wurde erwähnt, dass die Erwartungen darüber, wie die unterstützenden Verhaltensweisen des Gegenübers konkret praktiziert werden sollen, stärker von individuellen Aushandlungsprozessen und weniger durch gesellschaftlich geteilte Annah8
Deutsch spricht von Ideologien und Mythen. Diese Begriffe sollen aber hier vermieden werden.
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men beeinflusst sind. Dies heben Boszormenyi-Nagy und Spark hervor, wenn sie argumentieren: „There is a constant give-and-take of expectations between each individual and the relationship system he belongs to. We oscillate constantly between posing and discharging obligations“ (Boszormenyi-Nagy & Spark, 1973 S. 18). Doch auch über die Art der Verhaltensweisen, durch die Personen innerhalb einer sozialen Beziehung miteinander agieren sollten, finden sich gesellschaftlich geteilte Vorstellungen, wie Boszormenyi-Nagy und Spark anmerken. Sie sprechen hier von „manifest obligations“ (vgl. Boszormenyi-Nagy & Spark, 1973 S. 18). So bestehen bezogen auf den Aspekt sozialer Unterstützung z.B. gesellschaftlich geteilte Annahmen darüber, dass diese in Form körperlicher Zuwendung eher in Beziehungen des familiären Bereichs und weniger in Freundschaftsbeziehungen ausgedrückt werden. Da es, wie mehrfach erwähnt, eine allgemeine Annahme ist, dass mit dem Bestehen einer personalen Beziehung gleichzeitig der Austausch sozialer Unterstützung verbunden ist, sind des Weiteren gesellschaftliche Annahmen über die Erwartungen, dass ein Mensch soziale Beziehzungen – primär familiäre Beziehungen – herstellt bzw. aufrechterhält, relevant für die Ausbildung von Ansprüchen einer Person darauf, soziale Unterstützung zu erhalten. Diese Erwartungen über die Herstellung und das Aufrechterhalten zwischenmenschlicher Beziehungen sind ebenso wie gesellschaftliche Normen und Wertvorstellungen im Allgemeinen nicht konstant, sondern unterliegen Wandlungsprozessen. Ein solcher Wandel bedeutet nicht, dass bestimmte Normen und Werte aufhören zu existieren, sondern dass die Einstellungen der Bevölkerung zu ihnen sich verändern. „Nicht die Werte wandeln sich, sonders das Ausmaß, in dem einzelne Werte von Mitgliedern der Gesellschaft vertreten werden“ (Friedrichs, 1999 S. 270). Wie Ulrich Beck beschreibt, nimmt aufgrund fortschreitender Individualisierungstendenzen die Einbindung in familiäre Kontexte immer mehr ab (vgl. Beck, 1986 S. 163 ff.). Während noch in den 60er Jahren die Vorstellung vorherrschte, dass eine Ehe und die Gründung einer Familie untrennbar mit der Biografie eines Menschen verbunden sind, ist es heutzutage nicht mehr unhinterfragt, ob eine Person eine familiäre Beziehung eingeht. Die Einbindung in den familiären Kontext ist somit nicht mehr gesellschaftlich vorgegeben, sondern wird nun vielmehr der Entscheidung des Einzelnen überlassen. Die Verbindlichkeit der Norm, eine Familie zu gründen, nimmt somit ab. Das bedeutet, die gesellschaftlichen Erwartungen, eine Beziehung, die Rückhalt stiftet, einzugehen, sind geringer geworden und die Aufgabe, sich soziale Unterstützung zu sichern, liegt mehr in der Hand des Individuums. Das Wissen, dass es gesellschaftlich nicht mehr eingefordert wird, eine eheliche Partnerschaft einzugehen, überlässt es somit dem einzelnen Individuum, soziale Beziehungen entsprechend seines aktuellen Bedürfnisses nach Zugehörigkeit einzugehen oder abzubrechen. Hiermit geht allerdings einher, dass personale Beziehungen instabiler geworden sind. Wie Richard Sennett beschreibt, wird diese Instabilität von Beziehungen durch die gesellschaftliche Verhaltensanforderung, flexibel auf die Anforderungen des kapitalistischen Marktes zu regieren, also räumlich mobil zu sein, verstärkt (vgl. Sennett, 2006). Wie soeben erwähnt, führt Deutsch nun aus, dass die Ansprüche, die ein Mensch ausbildet, von gesellschaftlichen Verhaltensanforderungen beeinflusst werden. Hiernach wäre anzunehmen, dass die Verhaltensanforderung, geografisch mobil zu sein und hierzu ebenfalls den Abbruch sozialer Beziehungen in Kauf zu nehmen, die Ansprüche darauf, unterstützende Beziehungen aufzubauen oder aufrecht zu erhalten, reduziert. Hierbei wird allerdings vernachlässigt, dass es sich bei dem Bedürfnis nach Zugehörigkeit um ein elementares menschliches Grundbedürfnis handelt, das nicht ohne weiteres willentlich ‚reduziert’ werden kann. Somit ist davon auszugehen, dass Personen, deren Zugehörigkeitsbedürfnis stark ausgeprägt ist, ihre Ansprüche auf den Aufbau unterstützender Beziehungen nicht willentlich reduzieren können. Durch die fortschreitende Instabilität sozialer Beziehungen und die somit von den
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Betroffenen nicht intendierten Abbrüche solcher Beziehungen erhöht sich somit das Potenzial, einen emotionalen Anerkennungsmangel zu erfahren. Vergleiche mit anderen beeinflussen sowohl die Ansprüche eines Menschen darauf, soziale Beziehungen einzugehen als auch darauf, welche Verhaltensweisen innerhalb der Beziehung vom Interaktionspartner erwartet werden. Es ist somit zu vermuten, dass Menschen, die sich in einem Umfeld bewegen, innerhalb dessen viele Personen in emotionale Beziehungen eingebunden sind, ebenfalls Ansprüche darauf entwickeln, soziale Beziehungen zu pflegen. Ansprüche, die Interaktionspartner innerhalb von persönlichen Beziehungen aneinander stellen, werden ebenfalls durch Vergleichsprozesse beeinflusst. Das bedeutet auch, welche Verhaltensweisen eines Interaktionspartners als ‚unterstützend’ erlebt und entsprechend beansprucht werden, wird durch Vergleiche mitbestimmt. Hierbei existieren verschiedene Vergleichsmaßstäbe, die ein Mensch heranziehen kann. Einerseits können Ansprüche an eine Beziehung auf Basis des Vergleichs mit früheren ähnlichen Beziehungen vorgenommen werden. In einer Liebesbeziehung kann die vergleichende Person ihre Ansprüche z.B. auf Basis der Erfahrungen, die sie mit früheren Partnern gesammelt hat, ausbilden. Darüber hinaus kann ein Mensch Ansprüche, die er an eine Beziehung stellt, durch den Vergleich mit früheren Beziehungen des Interaktionspartners ausbilden – soweit er Kenntnisse über diese besitzt. In einer Partnerschaft kann eine Person somit nicht nur ihre eigenen früheren Partner als Vergleichsmaßstab heranziehen, sondern ihre Ansprüche ebenfalls auf Informationen gründen, die sie über die früheren Partnerschaften ihres Gegenübers besitzt. Eine weitere Quelle für Vergleiche stellen darüber hinaus aktuelle ähnliche Beziehungen anderer Personen dar. Ist – wie soeben erwähnt – davon auszugehen, dass die Annahme darüber, welche Ansprüche eine Person innerhalb einer persönlichen Beziehung stellen kann, stark von individuellen Aushandlungsprozessen hierüber bestimmt wird, so kommt gerade innerhalb solcher Beziehungen der Möglichkeit, den Interaktionspartner zu beeinflussen, starke Bedeutung zu. Generell stellen Personen umso mehr und umso weiter reichende Ansprüche, je größer die von ihnen wahrgenommene Einflussstärke ist. Dies gilt nicht nur für Beziehungen innerhalb des Arbeitsmarktes oder auf politischer Ebene, sondern betrifft ebenso emotionale Beziehungen. So schreiben Brehm et al. über die Möglichkeit, andere Personen zu beeinflussen – von ihnen bezeichnet als soziale Macht –: „It affects all kinds of relationships – between friends as well as lovers, at work as well as in the family, in superficial as well as close encounters” (Brehm, Miller, Perlman, & Campbell, 2002 S. 308 ff.). Die Autoren geben einen Überblick über Studien, die aufzeigen, in welcher Weise ‚soziale Macht’ in personalen Beziehungen demonstriert bzw. vergrößert wird (vgl. Brehm et al., 2002 S. 316 ff.). Durch das Zusammenspiel der von Deutsch genannten Faktoren entwickelt also ein Mensch Ansprüche bezüglich der Aufnahme einer sozialen Beziehung und der Art, in der die Beziehung geführt werden soll. Werden diese Ansprüche nicht erfüllt bzw. wird ihnen entgegen gehandelt, ist hiermit die Wahrnehmung, nicht in der personalen Identität anerkannt bzw. in dieser missachtet zu werden, verbunden. Ob sich ein Mensch somit in seiner personalen Identität anerkannt oder missachtet fühlt, hängt von seinen individuellen Ansprüchen ab. Die Intensität des Empfindens von Anerkennung oder Nichtanerkennung steht, wie bereits im Zusammenhang mit dem Praktizieren von Anerkennung und Nichtanerkennung beschrieben, in Verbindung mit der Intention, die dem Sender zugeschrieben wird. So wird eine als intendiert wahrgenommene, demonstrative Anerkennung als intensiver erlebt als eine nicht demonstrative, latente Form des unterstützenden Verhaltens. Demgegenüber wird ein Vorenthalten von Anerkennung, deren Nichtvorhandensein auf Gedankenlosigkeit des Gegenübers attribuiert und als nicht intendiert erlebt wird, weniger belastend sein als eine Nichtanerkennung, der die
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Intention, zu schädigen oder zu provozieren, unterstellt wird. Ebenso werden öffentliche aktive Missachtungen wahrscheinlich als belastender wahrgenommen als nichtöffentliche. 4.1.1.4
Anerkennung der kollektiven Identität
Was wird anerkannt? Nach der Theorie der sozialen Desintegration bezieht sich die sozio-emotionale Anerkennung der Identität einer Person nicht ausschließlich auf die personale Identität eines Menschen. Wie bereits erwähnt, findet neben der Anerkennung dieser individuellen Identität ebenfalls die Anerkennung der kollektiven Identität einer Person durch andere Kollektive Beachtung. Der Ausdruck „kollektive Identität“ wird häufig synonym mit dem Terminus „soziale Identität“ verwendet. Es wurde bereits erörtert, dass sich der Begriff „soziale Identität“ – wie er in der vorliegenden Arbeit unter Bezug auf Goffman verstanden wird – auf Merkmale bezieht, durch die ein Mensch von anderen aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Kategorie identifiziert wird. Auch der Begriff „kollektive Identität“ wird oftmals in dieser Art und Weise definiert. Burke führt an, dass der Terminus in Politikwissenschaft und Soziologie bei der Analyse von Intergruppenkonflikten häufig Verwendung findet, indem er mit verschiedenen sozialen Kategorien gleichgesetzt wird. Es werden beispielsweise der Begriff der „Ethnie“ (vgl. Calhoun, 1994) oder der Begriff der „gemeinsamen Kultur innerhalb sozialer Bewegungen“ (vgl. Snow & Oliver, 1995) synonym mit kollektiver Identität verwendet. Solche Bezeichnungen verdeutlichen, dass hier Gruppenzugehörigkeit genutzt wird, um die Angehörigen dieser Gruppe zu identifizieren, ihnen also eine Identität zuzuschreiben. Soll erörtert werden, wie die Anerkennung einer kollektiven Identität praktiziert werden kann, so ist zunächst einmal zu klären, welche Gruppen, die als ‚Identitätssymbol’ dienen können, innerhalb der Desintegrationstheorie in dieser Dimension betrachtet werden. Die Anerkennung der kollektiven Identität wird von der Theorie in der Dimension der kulturellexpressiven Sozialintegration verortet. Betrachtet wird entsprechend eine kollektive Identität, die für die Sozialintegration einer Person bedeutsam ist. Es ist zu vermuten, dass eine Gruppe nur dann eine sozialintegrative Funktion erfüllen kann, wenn sie sich durch Beständigkeit und Dauerhaftigkeit auszeichnet. Kennzeichen von über einen längeren Zeitraum bestehenden Gruppen ist, dass diese einen gemeinsamen ‚kulturellen Hintergrund’ herausbilden.9 Eine derartige Annahme bringt zwei Fragen mit sich, die zunächst einmal zu klären sind. Erstens ist zu beschreiben, was unter einem solchen ‚kulturellen Hintergrund’ verstanden wird. Zweitens beziehe ich mich in der vorliegenden Arbeit auf einen Begriff von kollektiver Identität im Sinne Goffmans. Identität wird also als das Bild, das eine Person von einem Menschen aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer Gruppe besitzt, verstanden. Die Zuschreibung dieser Identität erfolgt durch die Auffindung und Zuschreibung von Identitätsaufhängern dieser Gruppe zu der ihr angehörenden Person. Neben der Klärung der Frage, was den gemeinsam geteilten ‚kulturellen Hintergrund’ einer Gruppe ausmacht, ist somit des Weiteren zu beantworten, auf welche Art dieser Hintergrund, der die Gruppe als von anderen Gruppen verschieden kennzeichnet, dazu beiträgt, Identitätsaufhänger der Zugehörigkeit bereitzustellen. 9
Für die hier zu untersuchende Fragestellung findet in diesem Zusammenhang allerdings keine Untersuchung von Berufsgruppen, die eine Berufskultur ausbilden, statt, da eine Anerkennung dieser in der strukturellen Integrationsebene verortet und dem Konstrukt der positionalen Anerkennung zuzuordnen ist.
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Beide Fragen lassen sich durch eine Auseinandersetzung mit dem Kulturbegriff von Alexander Thomas erörtern. Thomas betrachtet das Konstrukt aus einer handlungstheoretischen Sichtweise heraus (vgl. Thomas, 1999). Das bedeutet, er definiert Kultur als aus den Handlungen von Menschen ableitbar, da nach seiner Auffassung diese Handlungen immer durch die jeweilige Kultur, der die Personen angehören, determiniert sind. Thomas sieht Kultur somit als einen Bezugsrahmen, der Handlungsmöglichkeiten und Handlungsgrenzen schafft und der hierdurch einen Orientierungsrahmen für die Angehörigen der jeweiligen kulturellen Gruppierung vorgibt. Kultur wird somit als ein System verstanden, das Beurteilungs- und Verhaltensstandards repräsentiert. Hieraus resultiert, dass Gruppen, die sich durch unterschiedliche Kulturen auszeichnen, bezogen auf „sozial relevante Einstellungen, Werte, Normen und Verhaltensweisen“ (Thomas, 1999 S. 105) variieren.10 Das bedeutet, der ‚kulturelle Hintergrund’, der eine bestimmte Gruppe als von anderen verschieden kennzeichnet, spiegelt sich in den für diese Gruppe typischen Beurteilungs- und Verhaltensweisen wider. Kultur wird somit primär durch die Handlungen ihrer Angehörigen sichtbar (vgl. Thomas, 1999). Es handelt sich hierbei um Handlungsweisen, die als symbolischer Indikator der kulturspezifischen Verhaltensstandards – basierend auf Normen und Wertvorstellungen – dienen. Darüber hinaus existieren materielle Symbole, die die Normen und Wertvorstellungen der jeweiligen Kultur repräsentieren. Mit solchen materiellen Symbolen beschäftigt sich Thomas nicht explizit. Doch es ist davon auszugehen, dass solche materiellen Symbole als Resultate von kulturell geleiteten Handlungsweisen ebenfalls relevant für die Frage danach sind, was Kultur bedeutet. Das bedeutet, solche Symbole können als ‚kulturelle Werke’ betrachtet werden. Griswold nennt solche Werke ‘kulturelle Objekte’ und definiert diese als „shared significance in embodied form. Significance refers to the object’s incorporation of one or more symbols, which suggest a set of denotations and connotations, emotions and memories“ (Griswold, 1986 S. 5). Solche kulturellen Objekte, die sowohl Handlungen leiten als auch aus ihnen resultieren, sind nun neben den Handlungen der Angehörigen einer Kultur symbolische Indikatoren für diese. Kultur wird somit auf zweierlei Weise sichtbar. Einerseits zeigt sie sich in den Verhaltensweisen ihrer Angehörigen, die Ausdruck des jeweiligen kulturellen Orientierungsrahmens sind. Andererseits kann sie an ‚kulturellen Objekten’ festgemacht werden, die ebenfalls diesen Orientierungsrahmen symbolisieren. Sowohl diese Verhaltensweisen als auch diese Objekte können somit als Identitätsaufhänger dienen und einen Menschen als einer Gruppe, die durch eine bestimmte Kultur gekennzeichnet ist, zugehörig identifizieren, ihm also die jeweilige kollektive Identität zuschreiben. Es wird somit im Folgenden die Identifikation eines Menschen anhand von sozialen Identitätsaufhängern betrachtet, die mittels Normen, Werten, Verhaltensweisen und kulturellen Objekten einer Gruppe erfolgt. Mit einer Identifikation einer Person aufgrund von kulturspezifischen Symboliken ist nicht ausschließlich das reine Erkennen von kulturspezifischen Handlungen und ‚kulturellen Objekten’ verbunden. In einem zweiten Schritt bedeutet eine solche Identifikation, dass eine Zuschreibung der hinter diesen Verhaltensweisen und Objekten stehenden Normen und Werte der betreffenden Kultur vorgenommen wird. Anerkannt werden daher im Zusammenhag mit der kollektiven Identität zwar äußerlich zunächst einmal die Symboliken, die aufgrund kultureller Werte und Normen eine Bedeutung haben. Darüber hinaus ist aber eine derartige Anerkennung auch auf die dahinter liegenden Werte und 10
Es ist zu beachten, dass solcherlei Einstellungen, Werte, Normen und Verhaltensweisen ebenfalls Angehörige verschiedener Berufsgruppen voneinander unterscheiden können. Wie aber bereits erwähnt, wird an dieser Stelle eine Identifizierung mit der Berufsgruppe, die im Zusammenhang mit positionaler Anerkennung behandelt werden wird, nicht betrachtet.
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Normen einer Kultur als solcher bezogen. Das bedeutet, wenn bis hierher kulturelle Normen und Wertvorstellungen als Orientierungsrahmen betrachtet wurden, innerhalb dessen vorgegeben wird, wofür Anerkennung zu vergeben ist, so werden diese nun als Gegenstand des Anerkennens in den Mittelpunkt der Betrachtung gerückt. Wie wird anerkannt? Nachdem somit verdeutlicht wurde, was der Gegenstand einer Anerkennung der kollektiven Identität ist, ist als nächstes zu fragen, wie die kollektive Identität von Gruppen, die eine gemeinsame Kultur teilen, anerkannt wird. Einen Hinweis hierauf gibt eine Aufzählung möglicher politischer Ziele kollektiven Handelns von Minderheitengruppen, die eine gemeinsame Kultur teilen, durch Bernhard Peters. Peters führt sieben solcher Ziele an, die er in die Kategorien ‚kommunal’ („communal“) und ‚nicht kommunal’ unterteilt (vgl. Peters, 1999 S. 27 ff.). Als ‚kommunale’ Ziele nennt er solche, die auf die Verbesserung des Status der Gruppe insgesamt abzielen, wohingegen ‚nicht kommunale’ Ziele die Verbesserung der Position der einzelnen Angehörigen der Gruppe betreffen. Das bedeutet, ‚nicht kommunale’ Ziel bezwecken die Erfüllung gleicher Einzelinteressen durch das Handeln als Gruppe, während ‚kommunale’ Ziele die Interessen der Gruppe als solcher verfolgen. Als eines dieser Ziele führt Peters die Herstellung von Anerkennung an. Er nennt dieses Ziel „recognition, respect, status“ und klassifiziert es als ‚kommunales’ Ziel (vgl. Peters, 1999 S. 32). Durch diese Klassifikation als ‚kommunal’ verdeutlicht er, dass es sich hier nicht um Anerkennung oder Respekt vor einzelnen Angehörigen der jeweiligen Gruppen handelt, sondern dass hierbei die Anerkennung der Gruppe als solcher betrachtet wird. Peters führt an, dass es verschiedene Dinge bedeuten kann, einer Gruppe Anerkennung entgegenzubringen. Er setzt sich mit vier solcher Bedeutungen auseinander. Zunächst einmal führt er an, dass hiermit die Möglichkeit der kulturellen Gruppe, sich öffentlich Gehör zu verschaffen, gemeint ist. Dieser Aspekt wird in der vorliegenden Arbeit als moralische Anerkennung behandelt und zum jetzigen Zeitpunkt zunächst einmal vernachlässigt. Als zweites kann laut Peters eine Anerkennung kultureller Gruppen die Durchsetzung spezieller Leistungen, Schutzmaßnahmen oder Rechte, die über die Leistungen, Schutzmaßnahmen oder Rechte anderer gesellschaftlicher Gruppierungen hinausgehen, bedeuten. Peters merkt hierzu allerdings selber an, dass es als strittig betrachtet werden kann, ob eine Gruppe auf eine solche Anerkennung tatsächlich einen Anspruch besitzt, führt aber an, dass diese Frage von der Moralpsychologie zu klären sei. Als dritte Form der Anerkennung der kulturellen Differenz nennt Peters sodann die Gewährleistung des Schutzes vor Beleidigungen gegenüber Glaubensvorstellungen oder kulturellen Praktiken einer bestimmten Gruppe. Viertens kann eine Anerkennung kultureller Gruppen betrachtet werden „as a positive appraisal, as appreciation, esteem, praise, honor” (vgl. Peters, 1999 S. 33). Eine derartige Wertschätzung kultureller Gruppen kann, wie Peters anführt, z.B. durch öffentliche Ehrungen der Gruppe als solcher praktiziert werden. Honneth sieht eine derartige Anerkennungsforderung als nicht legitimierbar, wenn er kommentiert: „Im Gegensatz zu jener Wertschätzung, die normativ vom institutionalisierten Prinzip der Leistungsgerechtigkeit verlangt wird, entfällt bei der positiven Bewertung kultureller Lebensformen jede Möglichkeit der normativen Einforderung“ (Honneth, 2003b S. 199). Entsprechend ist es fraglich, ob eine derartige Wertschätzung durch die betroffene Gruppe beansprucht und infolge dessen ein Vorenthalten als Nichtanerkennung interpretiert wird. Ähnliches gilt für die zweite der angeführten Forderungen, also den Anspruch auf eine rechtliche Bevorzugung der jeweiligen Gruppe. Diese kann zwar als legitim betrachtet und entsprechend eingefordert werden – z.B. im Falle ‚positiver Diskriminierung’ –
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es ist aber nicht unhinterfragbar, ob ein Nichtgewähren einer rechtlichen Bevorzugung tatsächlich als Missachtung aufgefasst wird. Demgegenüber ist die Vorenthaltung der dritten Art der Anerkennung kultureller Gruppen mit einer aktiven Negation des Gleichheitsrechts gleichzusetzen, wie noch ausführlicher erläutert werden wird. Von dieser kann angenommen werden, dass sie als missachtend interpretiert wird. Dieser dritten Anerkennungsforderung nach Peters liegt das Verständnis dessen zugrunde, was in der vorliegenden Arbeit unter der Anerkennung der kollektiven Identität verstanden wird. Es ist allerdings zu beachten, dass Peters aus dem Blickwinkel politischer Forderungen argumentiert, d.h., er setzt sich mit der politischrechtlichen Seite von Anerkennung auseinander. Das bedeutet, er erörtert Ziele, die eine Ausweitung gesellschaftlicher Rechte auf die betreffende kulturelle Gruppe beinhalten. Eine solche staatliche Anerkennung der Rechte von Minderheitengruppen durch deren objektive Einbindung in ein Rechtssystem steht zwar in einem engen Zusammenhang mit der Anerkennung der kollektiven Identität der Angehörigen der jeweiligen Gruppe. Primär bezieht sie sich aber auf die Anerkennung als Rechtsperson, also als Person, der formal Rechte zugesichert werden. Da darüber hinaus die Frage danach, ob bestimmte Menschen aufgrund einer Gruppenzugehörigkeit über bestimmte gesellschaftliche Rechte verfügen oder nicht verfügen, in der vorliegenden Arbeit dem ‚objektiven Integrationsstatus’ zugeordnet wird, wird diese entsprechend nicht näher erläutert. In der vorliegenden Arbeit interessiert demgegenüber die Frage, ob in alltäglichen Interaktionen die beschriebene Anerkennung – unabhängig von objektiven rechtlichen Verankerungen – praktiziert wird. Warum wird anerkannt? Kern der Anerkennung der kollektiven Identität ist also die Forderung, die kulturellen Merkmale einer Gruppe nicht herabzuwürdigen oder zu verachten. Wie bereits erwähnt, bezeichnet Peters die Forderung nach Anerkennung als ‚kommunales’ Ziel. Das bedeutet, hier werden nicht potenzielle Beleidigungen, Verachtungen oder Respektlosigkeiten gegenüber Einzelpersonen, sondern gegenüber der Gruppe an sich erörtert. Das, was solche Gruppen identifizierbar macht, ist ihre gemeinsame Kultur, die durch typische Verhaltensweisen der Gruppenmitglieder und spezifische ‚kulturelle Objekte’ sichtbar wird. Das heißt, Gegenstand von potenziellen Herabwürdigungen einer Gruppe als Gruppe ist ihre Kultur, repräsentiert durch Verhaltensweisen und kulturelle Objekte. Der Forderung nach einem Schutz vor derlei Beleidigungen kann nun nur die Annahme zugrunde liegen, dass verschiedene gesellschaftliche Gruppierungen, unabhängig von solchen kulturellen Besonderheiten, als gleich zu betrachten sind. Das bedeutet, warum diese Art der Anerkennung praktiziert wird, orientiert sich an der Norm, Menschen als Menschen – unabhängig von ihren gruppenbasierten Eigenheiten – gleich zu behandeln. Der Wert, der diese Norm legitimiert, ist somit die Annahme absoluter menschlicher Gleichheit. Wer erkennt an? Bisher ist nur unterschwellig angesprochen worden, wer die Quelle der Anerkennung der kollektiven Identität ist. Es ist nahe liegend, dass diese Art der Anerkennung im Regelfall durch Angehörige anderer Kollektive praktiziert wird, die sich von den Angehörigen der betrachteten Gruppe hinsichtlich ihrer Normen, Wertvorstellungen, kulturellen Objekte und Handlungsweisen unterscheiden. Die hier betrachtete Anerkennung der kollektiven Identität ist von daher eine Anerkennung der Unterschiedlichkeit einer Gruppe relativ zu der Gruppe der anerkennenden Person(en), die durch Respekt vor der Gruppe und die Achtung ihrer Gleichheit praktiziert wird.
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Es geht hier somit um den Anspruch, anders sein zu dürfen – also auch kulturelle Besonderheiten praktizieren zu dürfen – und trotzdem als gleich anerkannt zu werden. Hier zeigt sich, dass die Anerkennung der Gleichheit und die Anerkennung der Unterschiedlichkeit nicht losgelöst voneinander betrachtet werden können, sondern miteinander verwoben sind. Denn eine Anerkennung der Unterschiedlichkeit bedeutet, kulturspezifische Handlungsweisen und ‚kulturelle Objekte’ anzuerkennen, also nicht herabzuwürdigen, indem das Recht dieser Gruppe auf Gleichheit gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen geachtet wird. Das bedeutet des Weiteren, eine Anerkennung der kollektiven Identität wird immer nur dann bedeutsam, wenn sie negiert wird. Nachdem aufgezeigt wurde, was Gegenstand der betrachteten Anerkennungsart ist, wie und warum diese Anerkennung praktiziert wird und wer Quelle der Anerkennung ist, beschäftige ich mich im Folgenden noch einmal mit dem Gegenstand der Anerkennung, also mit der kollektiven Identität. Eine Auseinandersetzung mit dem bis hierher Angeführten zeigt, dass eine Anerkennung der kollektiven Identität zumeist als für Angehörige von Minderheitengruppen relevant angesehen wird. Es erscheint aber vorschnell, die Anerkennung der kollektiven Identität mit der Nichtdiskriminierung solcher Minderheitengruppen gleichzusetzen. Zwar finden sich zwischen den beiden Konstrukten Überschneidungspunkte, sie sind aber voneinander zu trennen. Dies soll im Folgenden verdeutlicht werden. „Diskriminierung wird als Handlung verstanden, als eine registrierbare Folge individuellen Handelns, die eingetreten ist, weil Akteure andere Akteure aufgrund wahrgenommener sozialer oder ethnischer Merkmale als ungleiche bzw. minderwertige Partner angesehen und, im Vergleich zu den Angehörigen des eigenen Kollektivs, entsprechend abwertend behandelt haben“ (Markefka, 1995 S. 43). Markefka führt vier gesellschaftliche Bereiche an, innerhalb derer Diskriminierung durch eine solche ‚abwertende Behandlung’ sichtbar wird. Zum einen nennt er den formellen oder informellen Ausschluss der benachteiligten Gruppen von der Mehrheitsbevölkerung z.B. durch Ghettobildung. Als zweiten gesellschaftlichen Bereich führt Markefka die Sphäre der Wirtschaft und Arbeit an. Hier findet sich Diskriminierung, indem Angehörigen der benachteiligten Gruppe eine freie Berufswahl oder –ausübung verwehrt wird. Benachteiligungen finden sich darüber hinaus innerhalb der Politik, wobei Angehörigen der diskriminierten Gruppe keine volle politische Gleichberechtigung gewährt wird. Als vierten gesellschaftlichen Bereich, in dem eine Diskriminierung stattfinden kann, nennt Markefka die rechtliche Sphäre, wobei sich hier eine Benachteiligung durch eine Ungleichheit vor Gesetz und Justiz ausdrückt (vgl. Markefka, 1995 S. 43 ff.). Hieraus lassen sich zwei Aspekte ableiten, die es ermöglichen, das Konstrukt der Nichtdiskriminierung vom Konstrukt der Anerkennung der kollektiven Identität abzugrenzen. Eine erste Unterscheidung bezieht sich auf die Frage, worauf die Anerkennung bzw. Nichtdiskriminierung bezogen ist. Während im Falle der Forderung nach Nichtdiskriminierung diese auf die soeben erläuterten sozialen Bereiche bezogen ist – u. U. ‚legitimiert’ durch die kulturellen Merkmale einer Gruppe –, betrifft die Anerkennung der kollektiven Identität die kulturellen Merkmale der jeweiligen Gruppe als solche. Die zweite Unterscheidung betrifft die Frage, wer Adressat der Anerkennung bzw. Nichtdiskriminierung ist. Während im Falle der Forderung nach Nichtdiskriminierung die Interessen des Individuums im Mittelpunkt der Betrachtung stehen, gilt dies im Falle der Anerkennung der kollektiven Identität für die jeweilige Gruppe als Ganzes. Wird nun also nicht die Benachteiligung der Angehörigen einer Minderheitengruppe in verschiedenen gesellschaftlichen Sphären betrachtet, sondern eine Abwertung der kulturellen Merkmale einer Gruppe, so ergibt sich, dass die hier betrachtete Art der Anerkennung nicht
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nur für Angehörige einer ethnischen Minorität relevant ist, sondern ebenfalls für Angehörige der Mehrheitsgesellschaft bedeutsam sein kann. Denn auch für Angehörige der Mehrheitsbevölkerung kann die Achtung vor spezifischen kulturellen Werten Relevanz besitzen. Hier ist zunächst die Unterscheidung zu treffen, ob die kollektive Identität der Mehrheitsbevölkerung aufgrund der Gruppenzugehörigkeit auf der Makro- oder auf der Mesoebene betrachtet wird. Findet eine Auseinandersetzung mit kollektiver Identität im Makrokontext statt, so bedeutet dies, dass es sich hierbei um eine kollektive Identität aufgrund von Staatsangehörigkeit handelt. Hierbei soll noch einmal hervorgehoben werden, dass dies nicht bedeutet, dass hiermit die Anerkennung gemeint ist, die einem Menschen aufgrund seiner Rolle als Staatsbürger, der an politischen Entscheidungen teilhat, entgegengebracht wird. Es wurde mehrfach darauf verwiesen, dass hier dem Begriff „kollektive Identität“ das Verständnis einer kulturellen Identität zugrunde gelegt wird. Durch die Betonung des kulturellen Aspekts wird verdeutlicht, dass vielmehr die Bedeutsamkeit der gemeinsam geteilten Bewertungs- und Verhaltensstandards einer Gesellschaft und nicht die Möglichkeit, ihre politischen Strukturen mitzugestalten, gemeint ist. Die Anerkennung einer kollektiven Identität auf Basis der deutschen Kultur zeigt sich somit dadurch, dass den für die deutsche Gesellschaft spezifischen Verhaltensweisen und den aus der deutschen Geschichte erwachsenen ‚kulturellen Objekten’ Achtung entgegengebracht wird, indem diese nicht abgewertet werden. Als Beispiel für kulturspezifische Verhaltensweisen kann die Pflege deutscher Traditionen – die oftmals stark mit christlichen Traditionen vermischt sind – angeführt werden. ‚Kulturelle Objekte’ sind z.B. Fahnen, die Nationalhymne, geschichtlich bedeutende Ereignisse – Revolutionen, gewonnene Kriege, Staatsgründungen –, Personen – Herrscher, überragende schöpferische Persönlichkeiten – oder Institutionen – Dynastien, Parlamente, Militär (vgl. Hillmann, 1994 S. 657). Die Theorie der Sozialen Desintegration postuliert, dass eine Vorenthaltung der Anerkennung einer kollektiven Identität nicht durch Mitglieder der Eigengruppe erfolgt, sondern durch Angehörige anderer Kollektive praktiziert wird. Das bedeutet, dass eine Vorenthaltung der Anerkennung einer soeben beschriebenen ‚patriotischen’ kollektiven Identität durch Personen, die nicht der deutschen Mehrheitsgesellschaft angehören, praktiziert wird. Da in der vorliegenden Arbeit die Arten der Anerkennung, die als Indikator für Integration betrachtet werden können, untersucht werden und nicht davon ausgegangen werden kann, dass eine Vorenthaltung von Anerkennung durch nicht der Mehrheitsgesellschaft angehörende Gruppen als Anzeichen für soziale Exklusion betrachtet werden kann, wird im Folgenden eine Anerkennung der kollektiven Identität im Makrokontext nicht weiter erörtert. Wie bereits erwähnt, finden sich auch bezogen auf den Mesokontext weitere Möglichkeiten, Personen anhand kollektiver Merkmale zu identifizieren. Dies gilt nicht nur für bereits genannten, als schwach wahrgenommene Gruppen, bei denen es einem Menschen in der Regel nicht freisteht, ob er ihnen angehören möchte oder nicht. Die Wahl einer frei wechselbaren Gruppenzugehörigkeit wird davon beeinflusst, welchen Lebensstil eine Person hat. Wie die Lebensstilforschung aufzeigt, existiert eine Fülle unterschiedlicher Verhaltensweisen, Interaktionen, Meinungen und Einstellungen, die dazu führen, dass Menschen verschiedenste Gruppen gründen bzw. sich ihnen anschließen. Die Angehörigen der Gruppe verhalten sich sodann in einer bestimmten, gruppentypischen Art und Weise und entwickeln unterschiedliche Normund Wertvorstellungen sowie spezifische Symboliken. Das bedeutet, sie unterscheiden sich – nach hier vorliegendem Verständnis – kulturell und können anhand dieser Unterscheidungsmerkmale identifiziert werden. Der Lebensstil eines Menschen wird in der Ungleichheitsforschung im Allgemeinen als subjektives Merkmal sozialer Ungleichheit betrachtet. Unter subjektiver Ungleichheit wird das
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Demonstrieren objektiver Ungleichheiten durch das Verhalten verstanden. Der Ungleichheitsforscher Stefan Hradil merkt an: „Unter den genannten Dimensionen sozialer Ungleichheit sind ‚objektive’ und ‚subjektive’ zu unterscheiden. ‚Objektive’ Ungleichheiten (zum Beispiel des formalen Bildungsgrades) bestehen und vermitteln Vor- bzw. Nachteile, ob dies den Betroffenen und ihren Mitmenschen bewusst ist oder nicht, ob sie ihnen Gewicht zumessen oder gleichgültig gegenüber stehen. ‚Subjektive’ Ungleichheiten (…) bestehen hingegen nicht ohne das Denken und Handeln der Betroffenen“ (Hradil, 2005 S. 32). Solche subjektiven Ungleichheiten zeigen sich in Form von Lebensstilen und Lebensweisen. Die Frage, wie stark ein Lebensstil durch die objektive soziale Position determiniert ist bzw. in welchem Maße Menschen von der sozialen Position losgelöst darüber entscheiden können, wie sie ihr Leben führen, wird zum Teil sehr kontrovers diskutiert. Es ist allerdings davon auszugehen, dass im Zuge fortschreitender Individualisierung der Lebensstil immer weniger dadurch determiniert ist, welche gesellschaftlichen Vorstellungen bezüglich der Verhaltensweisen von Inhabern bestimmter sozialer Positionen existieren. Der Lebensstil kann somit immer mehr als ein symbolisches Stilisierungsmittel genutzt werden, das Ausdrucksform einer sozialen Position sein oder aber auch zur Kompensation derselben gewählt werden kann. Werner Georg postuliert, dass Lebensstile eine „wahrnehmbare, klassifizierbare und prestigeträchtige Stilisierungspraxis“ darstellen (vgl. Georg, 1998 S. 98), die auf eine „gewisse repräsentative Außenwirkung“ abzielt (Georg, 1998 S. 93). Die Bedeutung der Außenwirkung des Lebensstils betont auch Hradil, wenn er schreibt: „Den Menschen in modernen Gesellschaften wird ihr Lebensstil immer wichtiger. Sie definieren sich in wachsendem Maße nicht nur über beruflichen Erfolg und familiäres Glück, sondern auch über ihre persönliche Lebensweise. Sie gestalten und ‚stilisieren’ ihr Leben oft sehr bewußt, sind dabei immer häufiger auf Außenwirkung bedacht und machen gerade diese zum Maßstab für ein ge- oder mißlungenes Leben“ (Hradil, 2005 S. 437). Eine solche „Stilisierungspraxis“ unterschiedlicher Vorstellungen über Lebensarten bietet somit die Möglichkeit, Personen über kollektiv geteilte Verhaltensweisen zu identifizieren. Eine Klassifikation der Bevölkerung nach Lebensstilen durch Schneider und Spellerberg – wobei als Klassifikationsgrundlage die Variablen Freizeitverhalten, Musikgeschmack, Lektüregewohnheiten, Fernsehinteressen, Kleidungsstil, Lebensziele und Wahrnehmung des persönlichen Alltags dienten – führte zu einer Gruppierung der Befragten nach neun unterschiedlichen Lebensstilen (ein ausführlicher Überblick findet sich bei Schneider & Spellerberg, 1999 S. 107ff.). Schneider und Spellerberg bezeichnen die daraus resultierenden Personengruppen als „Hochkulturell Interessierte, sozial Engagierte“; „Arbeits- und Erlebnisorientierte, vielseitig Aktive“, „Expressiv Vielseitige“, „Sachlich-pragmatische Qualitätsbewusste“, „Hedonistische Freizeitorientierte“, „Häusliche mit Interesse für leichte Unterhaltung und Mode“, „Einfach Lebende, arbeitsorientierte Häusliche“, „Sicherheitsorientierte, sozial Eingebundene mit Vorlieben für volkstümliche Kultur und Mode“ und „Traditionelle, zurückgezogen Lebende“ (vgl. Schneider & Spellerberg, 1999). Angehörige verschiedener Lebensstilgruppen unterscheiden sich somit hinsichtlich der Ansichten, die sie vertreten, und der Verhaltensweisen, die sie zeigen. Somit besteht die Möglichkeit, einen Menschen als Anhänger einer bestimmten Lebensart zu identifizieren. Hierbei handelt es sich allerdings noch nicht um die Identifizierung einer kollektiven Identität. Dies erklärt sich daraus, dass Menschen zwar Unterschiede im Alltagsverhalten von Personen erkennen und zur Kenntnis nehmen, jedoch nicht über ein kognitives Klassifikationsschema verfügen, nach dem sie Personen einordnen und somit als einer bestimmten Lebensstilgruppe zugehörig kennzeichnen. Dies ist anders, wenn Personen ihren Lebensstil praktizieren, indem sie sich bestimmten – offiziellen oder inoffiziellen – Gruppen Gleichgesinnter anschließen. Hier ist eine außerordentliche Vielzahl von offiziellen und inoffiziellen Gruppen
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denkbar, innerhalb derer Menschen ihre unterschiedlichen Lebensstilpräferenzen ausleben können. So lassen sich beispielhaft religiöse Gruppen, Gruppen, die ehrenamtlich Hilfeleistungen erbringen, Literaturzirkel, Computerclubs, politische Gruppen, Sportgruppen usw. nennen. Auch subkulturelle Gruppen sind zu erwähnen – z.B. Gruppen aus Techno-, Punk-, GothicSzene usw. –, die durch ihre Selbstpräsentation demonstrativ andere Werte oder Ansichten vertreten als die Mehrheitsgesellschaft und andere Verhaltesweisen und Symboliken präferieren. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe macht sodann einen Aspekt des Lebensstils einer Person bzw. den Lebensstil als solchen manifest und ermöglicht die Identifizierung der Person als jemand, der bestimmte Ansichten und Wertvorstellungen vertritt und Vorlieben für bestimmte Verhaltensweisen besitzt. Eine solche Gruppenzugehörigkeit macht einen Menschen identifizierbar, verleiht ihm also eine kollektive Identität. Diese Identität kann nun von Menschen anerkannt werden, die der betreffenden Gruppe nicht angehören, indem diese respektieren, dass Angehörige der Gruppe sich zwar hinsichtlich von Norm- und Wertvorstellungen von ihnen unterscheiden, sie diese aber aufgrund dessen nicht abwerten oder beleidigen. Das bedeutet, im Falle der Anerkennung der kollektiven Identität handelt es sich nicht wie im Falle der Anerkennung der personalen Identität um einen aktiven, besondere als positiv bewertete Aspekte hervorhebenden Akt, sondern um eine passive Anerkennung, die durch Nichtmissachtung praktiziert wird. Das heißt, eine Nichtanerkennung der kollektiven Identität liegt vor, wenn eine solche Abwertung bzw. Beleidigung erfolgt. 4.1.1.5
Nichtanerkennung der kollektiven Identität
Es ist ein Spezifikum der Anerkennung der kollektiven Identität, dass diese, wenn sie erfolgt, im Grunde nicht sichtbar ist, also erst dann relevant wird, wenn sie vorenthalten wird. Die Anerkennung der kollektiven Identität wird definiert als Achtung des Gleichheitsanspruchs einer Gruppe unabhängig von ihrer praktizierten kulturellen Unterschiedlichkeit zu der Gruppe der anerkennenden Person. Es handelt sich also um eine Nichtbeleidigung kulturspezifischer Verhaltensweisen und ‚kultureller Objekte’ von Gruppen, unabhängig davon, ob es sich hierbei um Minderheits- oder Mehrheitsgruppen handelt. Umgekehrt bedeutet somit eine Missachtung der kollektiven Identität die Beleidigung, Herabwürdigung oder Verachtung kulturspezifischer Handlungsweisen und ‚kultureller Objekte’ einer bestimmten Gruppe. Wenn nun mit der Betrachtung der Anerkennung der kollektiven Identität eine Anerkennungsart im Mittelpunkt steht, die nur dann sichtbar wird, wenn sie negiert wird, so folgt hieraus, dass ein Nichteinhalten des Anspruchs, anerkannt zu werden, immer im Sinne einer Missachtung, also einer aktiven Negation, erfolgt. Es existiert somit kein Kontinuum der Negation, das von einer Vorenthaltung der Hervorhebung einer positiven Besonderheit der Gruppe bis zu einer Hervorhebung der negativen Besonderheit der Gruppe reicht. Das bedeutet nicht, dass eine Missachtung der kollektiven Identität durch keinerlei Varianz gekennzeichnet ist. Auch diese Negation der Anerkennung zeichnet sich durch unterschiedliche Tiefengrade aus. Diese werden einerseits durch die Art und Weise der Abwertung beeinflusst. So ist zu vermuten, dass z.B. eine Abwertung in Form eines Witzes über kulturelle Spezifika der Gruppe einen anderen Tiefengrad der Beleidigung besitzt als eine verbal-aggressive direkte Abwertung derselben. Ein weiterer Aspekt, aufgrund dessen die Intensität einer Missachtung der kollektiven Identität variiert, ist wiederum, ob sie in öffentlichem oder nichtöffentlichem Raum geschieht. So ist
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davon auszugehen, dass Abwertungen, die innerhalb der öffentlichen Sphäre stattfinden, einen sehr viel stärkeren Tiefengrad aufweisen als Abwertungen im Rahmen des Privaten. 4.1.1.6
Wahrnehmung von Anerkennung und Nichtanerkennung der kollektiven Identität
Nun ist aber nicht zwingend davon auszugehen, dass eine Abwertung der gemeinsamen Kultur einer Gruppe auch in jedem Fall dazu führt, dass sich die Angehörigen dieser Gruppe in ihrer kollektiven Identität missachtet fühlen. Um sich mit einem solchen Empfinden der Anerkennung bzw. Missachtung der kollektiven Identität zu befassen, ist es notwendig, ein weiter gefasstes Verständnis des Terminus Identität einzuführen. Bisher wurde der Begriff der Identität nach Goffman aufgefasst und als das ‚Bild’ beschrieben, als das ein Mensch durch eine andere Person identifiziert wird. Neben dieser Auffassung von Identität – unterteilt in personale und soziale Identität – führt Goffman den Begriff der Ich-Identität ein. Hiermit ist nun nicht mehr eine Identifikation der betroffenen Person durch eine andere Person gemeint. Demgegenüber rückt die Selbstidentifikation der betrachteten Person in den Mittelpunkt (vgl. Goffman, 1967 S. 132). Mit einer Selbstidentifikation auf der Basis von Gruppenzugehörigkeit setzen sich Tajfel und Turner im Rahmen ihrer Theorie der sozialen Identität (Social Identity Theory – SIT) auseinander (vgl. Tajfel & Turner, 1979, 1986). Die Theorie beruht unter anderem auf Experimenten nach dem so genannten minimalen Gruppen-Paradigma, einer experimentellen Methode zur Untersuchung sozialer Kategorisierungen (vgl. Hogg & Vaughan, 1998 S. 361). Diese zeigten, dass allein die von außen erfolgte Klassifizierung von Personen nach Gruppen ausreicht, um die Individuen dazu zu motivieren, die Angehörigen ihrer eigenen Gruppe zu favorisieren (vgl. Tajfel & Turner, 1979). Auf Basis dieser Ergebnisse konzipierten Tajfel und Turner die SIT. Sie argumentieren, dass Individuen eine soziale Identität entwickeln, indem sie sich in soziale Kategorien einordnen und diese als Basis für eine Selbstidentifikation heranziehen. Diese soziale Identität ermöglicht einer Person eine Definition dessen, wer sie ist,11 und gibt ihr darüber hinaus Auskunft darüber, welches Verhalten aufgrund dieser Tatsache von ihr erwartet wird. Mit der Frage, in welcher Weise eine Selbstkategorisierung dazu führt, dass eine soziale Identität entsteht, setzen sich Tajfel und Turner darüber hinaus im Rahmen der von ihnen konzipierten Selbstkategorisierungstheorie (Self-categorisation Theory) auseinander. Es wird erläutert, Selbstkategorisierung bedeute, dass ein Individuum sich durch gruppenspezifische Prototypen – „a fuzzy set of features that define each group and describe appropriate behavior for members of each group“ (Hogg & Vaughan, 1998 S. 369) – definiert und wahrnimmt. Eine solche Wahrnehmung, Teil einer sozialen Gruppe zu sein, ist um so wahrscheinlicher, je geringer die subjektiv wahrgenommenen Unterschiede zwischen den jeweiligen Gruppenmitgliedern und je größer die Unterschiede zu Personen, die nicht der Gruppe angehören, in einer gegebenen Situation sind (vgl. J. C. Turner, Hogg, Oakes, D., & Wetherell, 1987 S. 51 ff.). Selbstkategorisierungen hängen somit von drei Faktoren ab, nämlich der Ähnlichkeit zu anderen Gruppenmitgliedern, der Unähnlichkeit zu außenstehenden Personen und dem sozialen Kontext. Es existiert eine Vielzahl von Untersuchungen, die die Bedeutsamkeit dieser Aspekte aufzeigen. „For example there is evidence that ‚cognitive unit-forming’ relations such as the 11 Und wie sich diese Person darüber hinaus auf Basis dieser Information selbst bewertet. Auf diese Aspekte von Identität soll aber zu einem späteren Zeitpunkt ausführlicher eingegangen werden.
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perceived similarity of others to self in attitudes and values, proximity and social contact, sharing a common fate or being in the same boat, shared outcomes (success or failure on an joint task), shared threat, a common enemy and so on” (J. C. Turner et al., 1987 S. 52). Turner et al. verweisen auf Studien von Heider, Lott und Lott, Hornstein, Sole et al., Dion, Turner und Worchel, die diesen Zusammenhang verdeutlichen (vgl. Dion, 1979; Heider, 1958; Hornstein, 1972; A. J. Lott & Lott, 1965; Sole, Marton, & Hornstein, 1975; J. C. Turner, 1981; J.C. Turner, 1982; Worchel, 1985). Wenn nun also, wie Tajfel und Turner zeigen konnten, eine simple Klassifikation von Gruppen nach einem beliebigen Merkmal ausreicht, damit dieses Merkmal als gemeinsam geteiltes definiert und eine Selbstkategorisierung realisiert wird, dann ist zu vermuten, dass dies – innerhalb eines relevanten sozialen Kontexts – ebenfalls zutrifft, wenn eine Gruppe betrachtet wird, die als gemeinsame Merkmale Verhaltensweisen und ‚kulturelle Objekte’, also eine Kultur, teilt. Eine solche ‚kulturelle’ Selbstkategorisierung ist Grundlage für die Selbstwahrnehmung einer kulturellen, soziale Identität. Ein Postulat der SIT lautet: „Individuen streben danach, eine positive soziale Identität zu erhalten, die vollständig durch die Mitgliedschaft zu einer Gruppe definiert ist“ (U. Wagner, Dick, & Zick, 2001 S. 410). Hierdurch wird die Bedeutsamkeit der Anerkennung der kollektiven Identität hervorgehoben. Ist ein Individuum mit seiner kulturellen Gruppe hoch identifiziert, d.h., definiert es sich auf Basis kulturspezifischer Verhaltensweisen und nimmt die ‚kulturellen Objekte’ seiner Gruppe als für sich bedeutsam wahr, so kann es nur dann eine positive soziale Identität erhalten, wenn es sich in seiner kollektiven Identität anerkannt fühlt, da die assoziierten kulturspezifischen Verhaltensweisen und ‚kulturellen Objekte’ nicht durch Angehörige anderer Gruppen abgewertet werden. Anderenfalls wird die Person in der Möglichkeit, sich positiv auf ihre soziale Identität als Angehörige der jeweiligen kulturellen Gruppe zu beziehen, eingeschränkt. Ist nun eine Person mit ihrer Gruppe hoch identifiziert und ist es ihr entsprechend wichtig, in ihrer kollektiven Identität anerkannt zu werden, so hängt ihre Wahrnehmung, in dieser Identität anerkannt zu werden, des Weiteren davon ab, wie stark ihre Ansprüche, anerkannt zu werden, ausgebildet sind. Die Ansprüche, in der kollektiven Identität anerkannt zu werden, werden insbesondere von den durch Deutsch angeführten Aspekten ‚Normen’, ‚Bedürfnisse’ und ‚Einflussstärke’ beeinflusst. Wie bereits erwähnt, ist die Achtung der kulturspezifischen Merkmale einer Gruppe an der Norm universeller menschlicher Gleichheit orientiert. Die Einhaltung dieser Norm entspricht – bezogen auf moderne westliche Gesellschaften – der Anerkennung eines Menschen als Mensch und gilt daher als fundamentaler gesellschaftlicher Grundwert. Hieraus folgt die Annahme, dass die Ansprüche, in der kollektiven Identität anerkannt zu werden, nur in geringem Maß variieren und sehr stark durch diese gesellschaftliche Annahme bestimmt sind. Wie sehr ein Anspruch darauf besteht, in der kollektiven Identität geachtet zu werden, hängt ebenfalls davon ab, wie stark das Bedürfnis nach einer solchen Achtung ausgeprägt ist. Je stärker dieses Bedürfnis nach Achtung ist, umso mehr wird ein Mensch die Achtung seiner Kultur beanspruchen. Es ist aber davon auszugehen, dass die Faktoren, die ein solches Bedürfnis beeinflussen, vielfältig sind. So ist z.B. zu vermuten, dass das Ausmaß, in dem ein Mensch mit der jeweiligen kulturellen Gruppe identifiziert ist, seine Bedürfnisse auf Achtung der kollektiven Identität beeinflusst. Über die Art dieses Zusammenhangs lassen sich aber keineswegs eindeutige Aussagen aufstellen, sondern lediglich vage Vermutungen anführen. Es lässt sich aus den Annahmen Tajfels ableiten, dass gerade eine Missachtung kultureller Gemeinsamkeiten zu einer hohen Identifikation mit der Gruppe führen kann. Denn Tajfel nennt
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die Möglichkeit, dass Identität durch „certain social consequences which are common to all or most members of the group“ konstruiert werden (Tajfel, 1978 S. 5). Nun könnte einerseits vermutet werden, dass eine Person, die hoch mit einer kulturellen Gruppe identifiziert ist, ein besonders starkes Bedürfnis nach Achtung der betreffenden Kultur besitzt, darüber hinaus die Abwertung der kulturellen Gruppe eine Identifikation mit dieser noch weiter verstärkt und somit das Bedürfnis nach Achtung weiter intensiviert. Auf der anderen Seite ist es allerdings ebenso sehr denkbar, dass eine hohe Identifikation, die durch die kollektive Abwertung hervorgerufen wird, das Bedürfnis nach Achtung der kulturellen Werte durch außenstehende Personen abschwächt, da die Ansichten außenstehender Personen durch die integrative Funktion der Identifikation mit der abgewerteten Gruppe weniger relevant wird. Dass zumindest negative Folgen von Diskriminierung – die zu einer erhöhten Identifikation mit der betrachteten Gruppe führt – durch eine hohe Identifikation mit der Gruppe abgeschwächt werden, zeigten Experimente von Schmitt et al. (vgl. Schmitt, Spears, & Branscombe, 2003). Auch die Frage danach, wie groß der gesellschaftliche Einfluss einer kulturellen Gruppe ist, beeinflusst das Ausmaß des Anspruchs der Mitglieder, nicht durch Angehörige anderer Kollektive missachtet zu werden. Wie die Theorie der Sozialen Dominanzorientierung (Social Dominance Theory, SDT) postuliert, sind Gesellschaften auf gruppenbasierten Hierarchien aufgebaut (vgl. Sidanius & Pratto, 1999). Während dominierende, am oberen Ende der Hierarchie stehende Gruppen über ein großes Ausmaß an Macht und Einflussstärke verfügen, bleibt diese unterlegenen Gruppen in der Regel verwehrt. Soziale Hierarchien werden laut SDT innerhalb dreier verschiedener Schichtsysteme gebildet. Erstens findet sich das System der Altersgruppierung, in dem ältere Altersgruppen einen höheren Platz in der Hierarchie einnehmen als jüngere. Als zweites werden Hierarchien durch das System der Geschlechterrollen festgelegt, wobei Männer einen gegenüber Frauen dominanten Platz einnehmen. Als drittes und im hier beschriebenen Zusammenhang interessierendes System wird das arbiträre Schichtsystem angeführt. Innerhalb dieses Schichtsystems werden Gruppen aufgrund ihrer spezifischen Merkmale in eine hierarchische Ordnung eingeteilt. Hieraus wird abgeleitet, dass auch die hier betrachteten Gruppen, die sich durch verschiedene kulturspezifische Merkmale auszeichnen, unterschiedliche Plätze innerhalb der gesellschaftlichen Hierarchie einnehmen können. Die SDT postuliert, dass gesellschaftliche Mechanismen existieren, die dazu beitragen, dass bestehende soziale Hierarchien aufrechterhalten werden, und diese legitimieren. Eine solche Legitimität der bestehenden Hierarchien kultureller Gruppen wäre jedoch bedroht, wenn einflussstarken Gruppen eine Anerkennung ihrer Kultur vorenthalten bliebe. Hieraus lässt sich ableiten, dass vor allem einflussstarke Gruppen eine Anerkennung ihrer kollektiven Identität beanspruchen, da diese zu einer Legitimation ihres überlegenen Status beiträgt. Missachtungspotenzial, das sich aus aufgrund der Einflussstärke gebildeten Ansprüchen ergibt, besteht somit, wenn dominante kulturelle Gruppen nicht anerkannt werden, obwohl sie eine überlegene soziale Stellung einnehmen und die Anerkennung aufgrund dieser einfordern. Betrachtet man darüber hinaus den Aspekt der Einflussstärke nicht als Determinante von Ansprüchen, die bezüglich des Erhalts von Anerkennung entwickelt werden, sondern geht man davon aus, dass jede kulturelle Gruppe über den Anspruch verfügt, dass ihr eine Anerkennung ihrer Kultur entgegengebracht wird, so zeigt sich, dass vor allem Missachtungspotenzial für Gruppen besteht, die sich durch eine geringe Einflussstärke auszeichnen. Wie bereits erwähnt, geht die SDT davon aus, dass es ein gesellschaftlicher Mechanismus ist, Statushierarchien aufrecht zu erhalten. Eine solche Aufrechterhaltung kann gerade dadurch praktiziert
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werden, dass Gruppen, die sich am unteren Ende der Statushierarchie befinden, Anerkennung verwehrt wird. Zusammenfassend wird noch einmal festgehalten, dass somit die Wahrnehmung, in der kollektiven Identität anerkannt oder missachtet zu werden, davon abhängt, ob ein Mensch sich mit der infrage stehenden Gruppe identifiziert, oder ob er dies nicht tut. Darüber hängt ein solches Gefühl der Anerkennung oder Missachtung von den Ansprüchen des Menschen ab, anerkannt zu werden. Je stärker der Anspruch, anerkannt zu werden, bei einer Person ausgeprägt ist, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich durch Abwertungen und Beleidigungen der kulturellen Merkmale ihrer Gruppe durch Angehörige anderer Kollektive in ihrer sozialen Identität missachtet fühlt. 4.1.2 Positionale Anerkennung 4.1.2.1
Kollektive positionale Anerkennung
Nach der Theorie der sozialen Desintegration wird positionale Anerkennung im Zusammenhang mit einer gesellschaftlichen Integration vergeben, durch die die Teilhabe an materiellen und kulturellen Gütern einer Gesellschaft und der Zugang zu gesellschaftlichen Teilsystemen (Arbeits- und Wohnungsmärkte etc.) ermöglicht werden. Es wird angeführt, dass sie auf der beruflichen und sozialen Position einer Person innerhalb der Gesellschaft basiert (Anhut & Heitmeyer, 2000 S. 48). Hieraus ergibt sich die Frage, weshalb für unterschiedliche soziale Positionen unterschiedlich viel Anerkennung vergeben wird. Axel Honneth argumentiert im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem Konstrukt der sozialen Wertschätzung, dass diese auf Basis der Leistungen, die eine Person für die Gesellschaft erbringt, gewährt wird. Was als Leistung gilt, wofür also ein Mensch wertgeschätzt wird, wird durch die Werte und Ziele einer Gesellschaft bestimmt. So führt Honneth an: „Diese Vermittlungsaufgabe leistet auf gesellschaftlicher Ebene ein symbolisch artikulierter, stets aber offener und poröser Orientierungsrahmen, in dem diejenigen ethischen Werte und Ziele formuliert sind, deren Insgesamt das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft ausmacht; (…) Das kulturelle Selbstverständnis einer Gesellschaft gibt die Kriterien vor, an denen sich die soziale Wertschätzung von Personen orientiert, weil deren Fähigkeiten und Leistungen intersubjektiv danach beurteilt werden, in welchem Maß sie an der Umsetzung der kulturell definierten Werte mitwirken können“ (Honneth, 2003a S. 198). Honneth setzt hierbei eine intersubjektive Anerkennung auf der Basis individueller Fähigkeiten und Leistungen in das Zentrum der Betrachtung, durch die anhand eines gesellschaftlichen Orientierungsrahmens bestimmten Eigenschaften von Individuen ein gewisser „sozialer ‚Wert’“ zugeschrieben wird (vgl. Honneth, 2003a S. 198). Während, wie Honneth anführt, dieser „soziale Wert“ in ständischen Gesellschaften einer Person noch über die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Stand, also aufgrund von Kollektiveigenschaften, zugeschrieben wurde, ist er in modernen Gesellschaften primär auf individuelle Leistungen und Fähigkeiten des Einzelnen zurückzuführen. Zwar erörtert Honneth, dass auch soziale Gruppen weiterhin Kämpfe um Anerkennung ausfechten, also nach einer Aufwertung der für sie repräsentativen Fähigkeiten streben, „aber innerhalb der auf konflikthaftem Weg zustande gekommenen Wertordnung bemißt sich das soziale Ansehen der Subjekte doch an den individuellen Leistungen, die sie im Rahmen ihrer besonderen Formen der Selbstverwirklichung gesellschaftlich erbringen“ (Honneth, 2003a S. 207). Honneth gelangt hierdurch zu dem Schluss, dass Individuen die Wertschätzung, die sie aufgrund der Zugehörig-
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keit zu einer sozialen Kategorie erhalten, positiv auf sich selbst beziehen können (vgl. Honneth, 2003a S. 209). Durch diese Argumentation macht Honneth auf eine Tatsache aufmerksam, die zu einem späteren Zeitpunkt erneut aufgegriffen werden soll, nämlich, dass Personen einerseits Wertschätzung für konkret erbrachte individuelle Leistungen erfahren können, aber andererseits auch für Fähigkeiten und Eigenschaften, die repräsentativ für die Berufsgruppe stehen, der sie angehören. Wie bereits erwähnt, ist allerdings der Begriff der sozialen Wertschätzung nach Honneth sehr weit gefasst und kann sich auf eine Vielzahl möglicher anzuerkennender Fähigkeiten und Leistungen beziehen. Somit müsste eine Untersuchung von sozialer Wertschätzung als solcher jegliche Verhaltensweisen, die an der Erfüllung gesellschaftlich relevanter Werte orientiert sind, mit einbeziehen. Von alltäglichen Hilfeleistungen über das Tätigen von Spenden bis hin zur politischen Teilhabe müsste jegliches Verhalten, das wertgeschätzt werden kann, weil es sich an der Erfüllung gesellschaftlicher Ziele orientiert, berücksichtigt werden. Aus diesem Grund wird, wie bereits angeführt, im Zusammenhang mit dem Konstrukt der positionalen Anerkennung eine Einschränkung des Inhalts der Wertschätzung dahingehend vorgenommen, dass nur solche wertschätzenden Verhaltensweisen betrachtet werden, die primär das Ausmaß der gesellschaftlichen Integration eines Menschen auf struktureller Ebene widerspiegeln. Hier wird, unter Rückgriff auf die Desintegrationstheorie, davon ausgegangen, dass dies auf Wertschätzungen zutrifft, die für solche Leistungen und Fähigkeiten eines Menschen vergeben und erwartet werden, die mit seiner sozialen Position verbunden sind. Um zu verdeutlichen, wie im Falle dieser Anerkennungsdimension was anerkannt wird, lässt sich somit bis hierher anführen, dass es sich um eine soziale Wertschätzung handelt, die auf Basis gesellschaftlicher Wertemuster für bestimmte gesellschaftliche Positionen, für Fähigkeiten, die notwendig sind, um diese Positionen auszufüllen, und für Leistungen, die aufgrund dieser Positionen erbracht werden, vergeben wird.12 Um dies ausführlicher zu erläutern, gilt es zunächst, zwei Fragen zu klären. Einerseits ist bisher nicht erörtert worden, was unter dem Begriff der ‚sozialen Position’ verstanden wird. Nachdem im Folgenden diese Begriffsklärung vorgenommen wird, wird im Anschluss daran des Weiteren zu beschreiben sein, auf Basis welcher gesellschaftlicher Wertemuster Anerkennung für bestimmte gesellschaftliche Positionen vergeben wird. Was wird anerkannt? Die soziale Position einer Person ist durch ihre Stellung im Gefüge sozialer Ungleichheit markiert. Eine Auseinandersetzung mit Konzepten der sozialen Ungleichheitsforschung macht aber deutlich, dass eine Fülle von Dimensionen identifiziert werden können, anhand derer diese Stellung festgemacht werden kann.13 Einerseits finden sich Modelle sozialer Ungleichheit, die diese in Form von Klassen oder Schichten repräsentiert sehen und primär an Differenzierungen bezogen auf Besser- oder Schlechterstellung im Wirtschaftsprozess orientiert sind. Die soziale Position eines Menschen ist innerhalb eines solchen Modells also durch seine Zuordnung zu einer bestimmten Klasse oder Schicht gekennzeichnet. Eine derartige Klassifikation bzw. ‚soziale Positionierung’ kann allerdings die Zusammenfassung von ansonsten sehr heterogenen Personen, die ausschließlich eine ähnliche Stellung im Wirtschaftprozess teilen, zu einer Gruppe zur Folge haben. Demge12
Es ist zu beachten, dass mit der sozialen Position einer Person natürlich auch Arten der rechtlichen Anerkennung – z.B. Arbeitsverträge – verknüpft sind. Diese stehen aber nicht primär in Zusammenhang mit dem Erleben eines subjektiven Integrationsgefühls. 13 Ein ausführlicher Überblick findet sich bei Hradil, 2001 und Burzan, 2005.
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genüber beziehen Konzepte der ‚sozialen Lage’ zusätzlich weitere ungleichheitsrelevante Aspekte wie Alter, Geschlecht, ethnische Herkunft, Religionszugehörigkeit usw. in den Gruppierungsvorgang mit ein. Während Modelle von Klasse und Schicht meist unterstellen, dass bestimmte innere Haltungen (wie die Lebens- oder Denkart) durch die äußeren Lebensbedingungen – also Schicht- oder Klassenzugehörigkeit – stark beeinflusst werden, gehen ‚Lebensstil-‚ oder ‚Milieukonzepte’ davon aus, dass die objektive Stellung eines Menschen zwar seine Lebensweise beeinflussen kann, dies aber nicht notwendigerweise tun muss. Bei derartigen Konzepten sozialer Ungleichheit ist der Fokus weniger auf die objektiven Kriterien gerichtet,14 und es werden unterschiedliche Werthaltungen, Mentalitäten, Verhaltensweisen oder Interaktionen mit berücksichtigt. Entsprechend folgt nach derartigen Modellen eine differenziertere Klassifikation von Personen als auf Basis von Klassen- oder Schichtkonzepten. Allerdings erscheint für das hier zu untersuchende Konstrukt der positionalen Anerkennung auch die Zuschreibung der sozialen Position in Form einer sozialen Lage oder eines sozialen Milieus nicht detailliert genug. Es wurde bereits angedeutet, dass positionale Anerkennung für die Leistungen und Fähigkeiten eines Menschen, die mit seiner sozialen Position verknüpft sind, vergeben wird. Personen, die einem Milieu oder einer Lage zugeordnet werden, unterscheiden sich aber hinsichtlich solcher Leistungen und Fähigkeiten, so dass die Zuschreibung einer sozialen Position aufgrund einer solchen Gruppierung für eine Erörterung des Konstrukts der positionalen Anerkennung nicht gewinnbringend ist. Diese Überlegungen lassen es sinnvoll erscheinen, als Indikator für die soziale Position keine übergeordnete Kategorie wie Klasse, Schicht, Milieu oder Lage heranzuziehen, sondern sich direkt auf die Stellung eines Menschen im Arbeitsmarkt zu beziehen, die in einer sehr viel direkteren Weise in Zusammenhang mit den tatsächlichen und zugeschriebenen Leistungen und Fähigkeiten einer Peson steht. Somit wird im Folgenden die Erwerbs- oder Berufsposition als Grundlage der positionalen Anerkennung betrachtet.15 Warum wird anerkannt? Als Nächstes ist zu klären, auf Basis welcher „kulturell geteilten Verhaltensanforderungen“ unterschiedliche Berufspositionen unterschiedlich stark wertgeschätzt werden und durch welche gesellschaftlichen Wertvorstellungen diese unterschiedliche Wertschätzung legitimiert wird. Bereits Emile Durkheim argumentiert, dass ein zentraler Aspekt moderner Gesellschaften ist, dass sie aus funktional differenzierten Lebensbereichen bestehen und das Gefüge sozialer Beziehungen auf Arbeitsteilung basiert (vgl. Durkheim, 1992). Da durch die Arbeitsteilung eine gegenseitige funktionale Abhängigkeit der Angehörigen unterschiedlich spezialisierter Berufsgruppen geschaffen wird, entsteht nach Durkheim aufgrund dessen, was er als „organische Solidarität“ bezeichnet, ein Zusammenhalt – ein „soziales Band“ oder eine „Kohäsion“ (vgl. Durkheim, 1992) – zwischen ihnen. Durkheim wählt diesen Terminus, da er die Zusammenarbeit der Berufsgruppen innerhalb einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft als analog zur Zusammenarbeit der Organe des menschlichen Körpers betrachtet. So wie das Herz im Kör14
Was nicht bedeutet, dass diese vernachlässigt werden. Eine Trennung zwischen Erwerbs- und Berufsposition soll hervorheben, dass die Position, die ein Mensch aufgrund seines Berufs innehat, in der Gesellschaft mehr oder weniger Ansehen genießen kann. Des Weiteren ist die Frage danach, ob ein Mensch überhaupt einer Erwerbsarbeit nachgeht, von Bedeutung. „Dieser ‚Erwerbsstatus’ ist zu unterscheiden vom Berufsstatus und dessen vielfältigen Abstufungen je nach dem Maß des Einkommens, der Qualifikation, der Anweisungsbefugnis etc.“ (Hradil 2001, S. 181). Jede Auseinandersetzung mit dieser Ungleichheitsdimension in der vorliegenden Arbeit schließt beide Aspekte mit ein. 15
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per eines Menschen auf die Tätigkeit der Nieren angewiesen ist, damit der Körper überleben kann, so sieht Durkheim einzelne Berufsgruppen auf die Arbeit anderer Berufsgruppen angewiesen. Das bedeutet, aus der beruflichen Spezialisierung ergibt sich eine gegenseitige funktionale Abhängigkeit, die zu einer Kooperation führt, aus der eine „organische Solidarität“ erwächst. „Organische Solidarität“ ist somit Modus zur Herstellung von Integration. Somit sind das Konzept der „organischen Solidarität“ nach Durkheim und das Konzept der positionalen Anerkennung zwischen verschiedenen Berufsgruppen eng miteinander verwandt. Eine „organische Solidarität“ zwischen Angehörigen verschiedener sozialer Positionen kann sich somit in Form reziproker Anerkennung zeigen, die Mitglieder von Berufsgruppen Mitgliedern anderer Berufsgruppen entgegenbringen, da sie sich ihrer Abhängigkeit von diesen bewusst sind.16 Durkheim geht allerdings innerhalb seiner Darstellung der „organischen Solidarität“ auf zwei im Zusammenhang mit dem Anerkennungskonstrukt wichtige Punkte nicht ein. Dadurch, dass er den Terminus „organische Solidarität“ aus der Idee ableitet, gesellschaftliche Segmente arbeiteten zusammen wie die Organe des menschlichen Körpers, von denen jedes ohne das andere nicht existieren kann, setzt er sich einerseits nicht damit auseinander, dass sich in einer Gesellschaft neben arbeitsteilig organisierten Berufsgruppen ebenfalls gesellschaftliche Gruppen finden, die nicht in den Arbeitsprozess eingebunden sind. Da diese im Grunde genommen keinen ‚Nutzen’ für die arbeitsteilig organisierte Gesellschaft erbringen, müssten sie als von der Gesellschaft ausgeschlossen betrachtet werden.17 Im Zusammenhang mit einem solchen Nutzenaspekt setzt Durkheim sich ebenfalls nicht weiter damit auseinander, dass nicht jede berufliche Tätigkeit als für das gesellschaftliche Fortbestehen gleich nützlich betrachtet wird und somit manche Berufsgruppen weniger stark durch „organische Solidarität“ integriert sind als andere. Mithilfe der Argumentation Durkheims lässt sich somit zwar beschreiben, warum Angehörige verschiedener Berufsgruppen sich gegenseitig anerkennen, nicht aber, aus welchem Grund die Angehörigen mancher Berufsgruppen weniger Anerkennung erfahren als die Angehörigen anderer Berufsgruppen. Aufbauend auf der Argumentation Durkheims entwickeln Davis und Moore ihre „funktionalistische Schichtungstheorie“ (vgl. Davis & Moore, 1967). Hierbei gehen sie über die Grundannahmen Durkheims hinaus, indem diesen drei Kernannahmen hinzufügt werden. Erstens wird postuliert, dass die Erwerbspositionen innerhalb einer Gesellschaft unterschiedlich starken Nutzen für den gesellschaftlichen Fortbestand aufweisen. Zweitens besteht die Annahme, dass die fähigsten Gesellschaftsmitglieder die wichtigsten Positionen einnehmen müssen, was drittens dadurch gewährleistet wird, dass mit den wichtigsten Positionen die höchsten Belohnungsanreize verbunden sind. Diese Belohnungsanreize sind einerseits materieller Art, andererseits handelt es sich um symbolische Belohnungen, die durch die Meinung anderer Gesellschaftsmitglieder transportiert werden. Auch wenn die Aussage, das Ansehen einer Tätigkeit spiegele tatsächlich ihren ‚faktischen Nutzen’ für die Gesellschaft wider, als widerlegt betrachtet werden kann, so trifft doch zu, dass einige Erwerbspositionen als wichtiger bewertet werden und somit anerkannter sind als andere. Wenn somit der von Davis und Moore postulierte faktische Zusammenhang zwischen dem 16 Wobei eine solche Solidarität nur zwischen verschiedenen Berufsgruppen, nicht innerhalb einer Berufsgruppe vorherrschen kann, da sich innerhalb einer Berufsgruppe die Angehörigen durch das Teilen bestimmter Eigenschaften auszeichnen; nicht dadurch, dass sie sich unterscheiden (vgl. Durkheim, 1992, S. 183). 17 Wobei Durkheim weniger auf die Integration einzelner Gruppen in die Gesellschaft eingeht, sondern primär auf den Gesamtintegrationsgrad einer Gesellschaft als solcher fokussiert.
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Ansehen einer Position und deren Nützlichkeit nicht empirisch auffindbar ist, so ist doch festzustellen, dass das Ansehen einer Position in der öffentlichen Meinung durch deren vermeintliche Nützlichkeit legitimiert und somit der Zusammenhang immer wieder neu konstruiert wird. Dies verdeutlicht, auf Basis welcher gesellschaftlichen Wertvorstellungen eine unterschiedliche Bewertung verschiedener Erwerbspositionen und die Vergabe von Gratifikationen aufgrund der Stellung im Arbeitsmarkt einer kapitalistischen Gesellschaft vorgenommen wird. Denn wenn, wie Durkheim argumentiert, eine „organische Solidarität“ dadurch entsteht, dass die einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft aufgrund beruflicher Spezialisierung wechselseitig voneinander abhängig sind, sollte aus dem Bewusstsein einer derartigen Abhängigkeit resultieren, dass alle Gesellschaftsmitglieder sich gegenseitig in gleicher Weise für ihre Tätigkeit anerkennen, was faktisch nicht geschieht. Dieser Widerspruch wird durch das Anführen der unterstellten unterschiedlichen Nützlichkeit verschiedener sozialer Positionen für den Fortbestand der Gesellschaft überwunden. Auch scheint bei Durkheim problematisch, dass er gesellschaftlichen Zusammenhalt aufgrund von Arbeitsteilung als „Solidarität“ bezeichnet. Er verwendet den Terminus „organische Solidarität“, um die gegenseitige Abhängigkeit der in den Arbeitsmarkt eingebundenen Personen voneinander zu verdeutlichen. Bezogen auf eine solche Einbindung in den Arbeitsmarkt scheint aber dieser Ausdruck unpassend. Denn dem Solidaritätsbegriff innewohnend ist im Allgemeinen die Annahme, dass hiermit ein Verzicht auf die Verfolgung eigennütziger Interessen einhergeht (vgl. Kaufmann, 1984). Wechselseitige Abhängigkeit der in den Arbeitsmarkt eingebundenen Individuen ergibt sich nach Durkheim aber gerade durch die Verfolgung von Einzelinteressen. Von daher scheint der Begriff der Kooperation dem der Solidarität vorzuziehen und die Einbindung von Personen über den Arbeitsmarkt einer kapitalistischen Gesellschaft als Einbindung in eine Kooperationsgemeinschaft aufzufassen. „Unter einer Kooperationsgemeinschaft versteht man ein allseits nützliches, kooperatives System, ein Unternehmen der Arbeitsteilung und Zusammenarbeit zu wechselseitigem Vorteil“ (Kersting, 2000 S. 22). Die in eine Gesellschaft eingebundenen Individuen bilden somit durch die Erfüllung ihrer Funktion im Gefüge der Arbeitsteilung eine Kooperationsgemeinschaft. Innerhalb dieser Kooperationsgemeinschaft werden nun gemeinschaftliche Kooperationsgewinne erwirtschaftet. Sodann stellt sich die Frage, wie diese gemeinsam erarbeiteten Gewinne unter den Angehörigen der Gesellschaft verteilt werden sollen. Dies kann anhand zweier unterschiedlicher Prinzipien erfolgen. Bei der ersten handelt es sich um das ‚Prinzip der absoluten Gleichheit’. Das andere, das in kapitalistischen Gesellschaften die Grundlage für die Verteilung der Kooperationsgewinne darstellt, kann als ‚Prinzip relativer Gleichheit’ bezeichnet werden. „Das Prinzip der absoluten Gleichheit besagt in seiner extremsten Form, daß zwischen den einzelnen Menschen in einer Gesellschaft hinsichtlich ihrer verschiedenen Rechte und Pflichten sowie ihrer sozialen und wirtschaftlichen Möglichkeiten keine Unterschiede existieren sollen“ (Frerich, 1990 S. 27). Die Annahme einer relativen Gleichheit besagt demgegenüber: „nur denjenigen das Gleiche, die gleich viel verdienen“ (Tugendhat, 1993 S. 373). Hieraus resultiert, dass die Notwendigkeit besteht, Begründungsmaßstäbe dafür anzuführen, warum eine Person mehr oder weniger verdient als eine andere, durch die eine ungleiche Verteilung legitimiert ist. Ein Begründungsmodus, an dem die unterschiedliche Verteilung gemeinschaftlicher Kooperationsgewinne orientiert sein kann, ist der unterschiedliche Bedarf verschiedener Gesellschaftsmitglieder. Es handelt sich also um eine Verteilung nach dem Bedarfsprinzip. Demgegenüber kann eine unterschiedliche Verteilung des gemeinschaftlich Erwirtschafteten ebenfalls durch unterschiedliche Leistungen legitimiert werden, d.h. am Leistungsprinzip orientiert sein. Der hier zugrunde liegende Verteilungsgrundsatz besagt: „daß jeder, der eine gleich hohe Leistung erbringt, auch ein gleich hohes Einkommen erhalten soll“ (Frerich,
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1990 S. 28). Wie bereits im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Funktionalen Schichtungstheorie erwähnt, wird die Güterverteilung innerhalb des Arbeitsmarktes durch Verweise auf das Leistungsprinzip legitimiert. Doch nicht nur die Güterverteilung, auch die Vergabe von Anerkennung wird innerhalb des Arbeitsmarktes durch Leistungskriterien gerechtfertigt. Denn wie die Funktionale Schichtungstheorie postuliert, sind nicht nur materielle Ressourcen, sondern auch Anerkennungshandlungen als Gratifikationen für gesellschaftlich relevante Leistungen zu betrachten (vgl. Davis & Moore, 1967). Das bedeutet, Tätigkeiten, deren Verrichtung eine größere Leistung für den gesellschaftlichen Fortbestand zugeschrieben wird, sind anerkannter als Tätigkeiten, deren Verrichtung eine weniger große Leistung für die Gesellschaft unterstellt wird. Die Annahme, dass jeder, der relativ zu anderen mehr leistest, auch mehr dafür erhalten soll, ist innerhalb des Arbeitsmarkts ein weitgehend unhinterfragtes Prinzip. Dieses Leistungsprinzip wird nun durch gesellschaftliche Wertvorstellungen darüber beeinflusst, welche Handlungsweisen als Leistung und welche Positionen als leistungsstark betrachtet werden. Solche Wertvorstellungen geben zwar eine Tendenz einer vertikalen Anordnung von wahrgenommen Leistungen und vermeintlich wichtigen Positionen vor, eindeutige gesellschaftlich geteilte Annahmen über die ‚richtige’ Rangfolge finden sich allerdings nicht. Während das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit relativ stabil und unhinterfragt ist, sind Wertvorstellungen darüber, was als Leistung bzw. welche Position als leistungsstark zu bewerten ist, stärker gesellschaftlichen Wandlungsprozessen unterworfen wie Voswinkel innerhalb seiner Ausführungen über die Konstrukte der Bewunderung und der Würdigung verdeutlicht (vgl. Voswinkel, 2000). Es wurde bisher verdeutlicht, was Gegenstand einer positionalen Anerkennung ist, wie sie praktiziert wird, und warum bzw. wann sie vergeben wird. Es wurde also gezeigt, dass positionale Anerkennung für die soziale Position einer Person in Form von Wertschätzung vergeben wird und auf der gesellschaftlich geteilten Wertvorstellung basiert, dass Personen, die mehr leisten als andere, auch mehr erhalten sollten als andere. Der Leistungsaspekt ist somit der Wert, der die Norm legitimiert, an der die Vergabe von Anerkennung orientiert ist. Was als Leistung beurteilt wird, ist abhängig von gesellschaftlich geteilten Werten, die in Zusammenhang damit stehen, welche Leistungen als nützlich für eine Gesellschaft betrachtet werden. Zwar wurde also als Gegenstand der betrachteten Anerkennung die soziale Position eines Menschen genannt, die bis hierhin vorgenommene Auseinandersetzung mit diesem Gegenstand scheint allerdings nicht erschöpfend genug, um den gesamten potenziellen Inhalt einer positionalen Anerkennung fassen zu können. Aus diesem Grund werde ich mich im Folgenden noch einmal ausführlicher mit der Frage beschäftigen, was anerkannt wird. Die Funktionale Schichtungstheorie führt neben dem bisher Dargestellten an, dass ökonomische wie auch symbolische Gratifikationen mit bestimmten ‚leistungsstarken’ Positionen verbunden sind, um den fähigsten Gesellschaftsmitgliedern einen Anreiz zu bieten, diese Positionen zu übernehmen. Auch wenn die Annahme, dass auf diese Weise gewährleistet ist, dass die fähigsten Personen die wichtigsten Positionen ausfüllen, ausgesprochen fraglich ist, so beleuchtet sie doch einen weiteren Aspekt, der für die Wertschätzung, die einer bestimmten sozialen Position entgegengebracht wird, bedeutsam ist. Dies ist die Tatsache, dass unterschiedlichen Positionen nicht nur unterschiedlich wichtige Beiträge für die Gesellschaft unterstellt werden, sondern dass ebenfalls den Angehörigen dieser Positionen bestimmte als mehr oder weniger nützlich erachtete Fähigkeiten zugeschrieben werden. Es zeigt sich also, dass die Anerkennung einer Berufs- oder Erwerbsposition auf zweierlei Gegenstandsbereichen gründet:
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Leistung, die durch eine bestimmte Position erfüllt wird: So können z.B. Angehörige der Berufsposition ‚Arzt’ anerkannt werden, weil die Herstellung der Gesundheit der Angehörigen einer Gesellschaft als wichtige Leistung für den gesellschaftlichen Fortbestand betrachtet wird. Fähigkeiten, die als Voraussetzung wahrgenommen werden, um die Leistungen zu erbringen, die durch eine bestimmte Position erfüllt werden sollen: Ebenso können somit z.B. Angehörige der Berufsgruppe ‚Chirurg’ anerkennt werden, da den Angehörigen dieses Berufsstandes eine Geschicklichkeit unterstellt wird, die notwendig ist, um eine Operation durchzuführen, die die Gesundheit eines Gesellschaftsmitglieds herstellt.
Bei der bis hierher beschriebenen Anerkennung einer sozialen Position handelt es sich um eine ‚gruppenbezogene’ Form der Anerkennung. Denn diese ist nicht auf die Fähigkeiten und Leistungen eines bestimmten Individuums bezogen, sondern auf Fähigkeiten, über die die gesellschaftlich geteilte Annahme vorherrscht, dass sie zu der Erfüllung einer bestimmten Erwerbsund Berufsposition benötigt werden, und auf Leistungen, die im Allgemeinen durch eine bestimmte Berufs- und Erwerbsposition erbracht werden. Es handelt sich somit um eine kollektive Anerkennung, die im Zusammenhang mit Aspekten des Berufsprestiges steht (vgl. Hradil, 2005 S. 279). Eine solche Wertschätzung sozialer Positionen kann zunächst einmal über öffentliche Diskurse vermittelt werden. Eine solche öffentliche Wertschätzung wird z.B. durch die Massenmedien praktiziert, indem die besondere Wichtigkeit einer Position aufgrund der damit assoziierten Fähigkeiten und erbrachten Leistungen herausgestellt wird. Quelle der Anerkennung ist somit in diesem Fall nicht ein konkreter Anderer, sondern die ‚öffentliche Meinung’. Es handelt sich hierbei somit um eine kollektive Anerkennung einer gesamten Berufs- oder Erwerbsgruppe. Diese ‚öffentliche Meinung’ kann darüber hinaus von Einzelpersonen aufgenommen und in alltäglichen Interaktionen als Grundlage der Anerkennung bestimmter sozialer Positionen herangezogen werden, wobei in diesem Falle also einzelne Individuen die Quelle der Anerkennung sind. Eine derartige Wertschätzung ist also einerseits auf die gesamte Berufsgruppe als solche bezogen und wird kollektiv vergeben. Darüber hinaus kann aber andererseits eine Übertragung der mit der Berufsposition assoziierten Fähigkeiten auf bestimmte Individuen stattfinden und hierdurch Grundlage für eine individuelle Anerkennung aufgrund kollektiv geteilter Eigenschaften werden. Mit der Frage danach, wie stark in der amerikanischen Bevölkerung Tendenzen bestehen, die soziale Position eines Menschen auf vermeintlich individuelle Fähigkeiten zurückzuführen, setzten sich 1998 Lopez, Gurin und Nagda auseinander. Unter Bezug auf Analysen des ‚General Social Survey’ aus dem Jahr 1994, der ‚National Election Study’ 1992 sowie Langzeitanalysen diverser amerikanischer Surveys von den späten 1970er Jahren bis in die 1980er Jahre kommen sie zu dem Schluss: „There are widespread individualistic interpretations in the United States for differences in job status and income” (Lopez, Gurin, & Nagda, 1998 S. 306). Vermutlich ist für eine derartig starke Attribution der sozialen Position auf angenommene individuelle Fähigkeiten vor allem der amerikanische Aufstiegsgedanke verantwortlich, wonach propagiert wird, dass Erfolg oder Versagen ausschließlich von den persönlichen Fähigkeiten eines Individuums abhängen. Der Kern dieser Annahme ist somit folgender: „An opportunity to get ahead is available to all; the position of individuals in the stratification system is determined by their personal efforts, traits, and abilities; therefore, inequality across individuals and
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groups differences in personal qualities and thus is fair rather than unjust” (Lopez et al., 1998 S. 306). Eine derartige Ideologie lässt somit andere Ursachen für gesellschaftlichen Erfolg als persönliche Eigenschaften weitestgehend nicht zu. Wenn auch in Deutschland eine solch extreme Annahme über individuelle Fähigkeiten als Determinante wirtschaftlichen Erfolgs nicht vertreten wird, so verstärken sich doch auch hier immer mehr Tendenzen, sozialen Erfolg in der Verantwortung der Einzelperson zu sehen. Wie Ulrich Beck beschreibt, nimmt mit fortschreitender gesellschaftlicher Individualisierung die Möglichkeit und Notwendigkeit zu, die persönliche Biografie selbst zu gestalten. „Individualisierung bedeutet in diesem Sinne, daß die Biographie der Menschen aus vorgegebenen Fixierungen herausgelöst, offen, entscheidungsabhängig und als Aufgabe in das Handeln jedes einzelnen gelegt wird“ (Beck, 1986 S. 216). Ist die Biografie eines Menschen von seinem persönlichen Handeln abhängig, so basiert sie – und entsprechend die soziale Position des Individuums – auf den persönlichen Leistungen und Fähigkeiten des Betroffenen. Das bedeutet, je mehr durch die gesellschaftliche Entwicklung die Gestaltung der Individualbiografie in die Hände des Einzelnen gelegt wird, umso mehr wird sein Platz innerhalb der Gesellschaft als durch eigene Leistungen bestimmt angesehen. Und hieraus resultierend werden vermutlich umso stärker die mit bestimmten sozialen Positionen assoziierten Fähigkeiten auf die Angehörigen dieser Positionen übertragen, da die Position immer weniger als durch strukturelle Gegebenheiten determiniert betrachtet wird.18 Wird somit eine ‚gruppenbezogene Anerkennung’ auf einen konkreten Angehörigen einer solchen Position übertragen, so wird dieser Angehörige hierüber aufgrund gruppenbezogener Kriterien individuell anerkannt. Hiermit ist gemeint, dass daraus, dass gesellschaftlich geteilte Annahmen darüber bestehen, aus welchen Positionen welche Leistungen für die Gesellschaft resultieren und welche Fähigkeiten notwendig sind, um diese Leistungen zu erbringen, resultiert, dass den Inhabern dieser Positionen solche Fähigkeiten zugeschrieben und die durch Angehörige der Berufsgruppe erbrachten Leistungen auf sie übertragen werden. Es findet also eine Stereotypisierung aufgrund der Berufs- oder Erwerbsposition statt, über die eine bestimmte Person in einer interindividuellen Kommunikation eine konkrete andere Person anerkennt. 4.1.2.2
Individuelle positionale Anerkennung
Was wird anerkannt? Neben einer Anerkennung der sozialen Position als solcher auf Basis von Fähigkeiten und Leistungen, die dieser sozialen Position zugeschrieben werden und auf Individuen übertragen werden können, ist des Weiteren eine Anerkennung von Fähigkeiten, die ein Mensch als Individuum tatsächlich besitzt, und Leistungen, die er tatsächlich erbringt, relevant. Dass eine Bewertung von tatsächlichen Fähigkeiten und Leistungen nicht zwangsläufig mit der Bewertung einer sozialen Position übereinstimmen muss, zeigt Hradil, wenn er als Beispiele folgende landläufige Redeweisen anführt: ‚Sie ist zwar nur eine einfache Verkäuferin, aber tüchtig’ oder ‚Er ist zwar Direktor, aber unfähig’ (Hradil, 2005 S. 276). Bei der Wertschätzung individueller Leistungen und Fähigkeiten handelt es sich somit um die Anerkennung, die ein Mensch dafür 18
Es ist anzumerken, dass nicht nur die Zuschreibung von Eigenschaften auf Basis der gesellschaftlichen Lage durch Individualisierungstendenzen verstärkt wird; auch das tatsächliche Verfügen oder Nichtverfügen über Qualifikationen wird für den Einzelnen bedeutsamer. Denn je mehr die gesellschaftliche Position von den Eignungen eines Menschen abhängt, umso wichtiger sind diese folglich, um eine gewisse Position zu erreichen, und umso stärker ist ihr Besitz Quelle für Anerkennung.
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erhält, wie kompetent er seine jeweilige – mit mehr oder weniger Anerkennung verknüpfte – soziale Position tatsächlich ausfüllt. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass die Möglichkeit, bestimmte, für die Gesamtgesellschaft bedeutsame Leistungen zu erbringen und Fähigkeiten zu zeigen, immer nur innerhalb der eingenommenen Berufs- oder Erwerbsrolle möglich ist. Somit ist die Chance, positionale Anerkennung für individuelle Fähigkeiten und Leistungen zu erhalten, von der Berufs- und Erwerbsposition eines Menschen abhängig. Wer erkennt an? Quelle einer individuellen positionalen Anerkennung kann zunächst einmal jede Person sein, die Kenntnisse über die Fähigkeiten eines Menschen und die von ihm erbrachten Leistungen besitzt. Quelle einer Anerkennung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Position – also aufgrund eines kollektiv geteilten Merkmals – kann demgegenüber grundsätzlich jeder Mensch sein. Die Anerkennung kann entsprechend sogar ‚anonym’, z.B. durch Medienberichterstattungen, deren Gegenstand eine Auseinandersetzung mit der jeweiligen Berufsposition ist, erfolgen. Um diesen Punkt zu erhellen, wird im Folgenden zunächst nicht weiter der soeben angerissenen Frage nachgegangen, wer Quelle der Anerkennung sein kann, sondern noch einmal detaillierter erörtert, wie positionale Anerkennung genau praktiziert wird. Denn hinsichtlich dieser Frage wurde bisher lediglich erläutertet, dass dies durch eine soziale Wertschätzung praktiziert wird, ohne genauer zu erörtern, was hierunter zu verstehen ist. Wie wird anerkannt? Wertschätzung zu vergeben bedeutet, den Wert von etwas zu schätzen, also zu zeigen, dass er wahrgenommen wurde, bzw. ihn hervorzuheben und seine besondere Bedeutung und Wichtigkeit zu verdeutlichen. Eine Wertschätzung von tatsächlich erbrachten Leistungen und tatsächlich besessenen Fähigkeiten wird somit durch die Demonstration, dass diese als wertvoll erkannt werden, vermittelt. In diesem Zusammenhang ist noch einmal auf die durch Voswinkel angeführte Differenzierung zwischen Bewunderung und Würdigung zu verweisen. Während manche Leistungen und Fähigkeiten eher bewundert werden – z.B. die Leistung eines schnellen beruflichen Aufstiegs bzw. die Fähigkeit, sich gegenüber beruflichen Konkurrenten durchzusetzen –, werden andere eher gewürdigt – z.B. die ‚Leistung’, tagtäglich ‚Routineaufgaben’ zu erfüllen, oder die Fähigkeit, sich für andere aufzuopfern. Es ist zu beachten, dass der Wert von Leistungen und Fähigkeiten nicht nur durch explizites ‚Loben’ dieser vermittelt wird, sondern beispielsweise eine erbrachte Leistung ebenso gut durch eine Dankbarkeitsaussage desjenigen, der von ihr profitiert, geschätzt werden kann. Es soll damit noch einmal hervorgehoben werden, dass unter der hier betrachteten Wertschätzung nicht ausschließlich eine explizite Belobigung zu verstehen ist, sondern jede verbale wie nonverbale Verhaltensweise, die den Wert dessen, was ein Mensch im Zusammenhang mit seiner sozialen Position tut und kann, verdeutlicht, eine positionale Anerkennung darstellt. Ein direktes Aussprechen von Lob ist in den meisten Fällen darüber hinaus auf eine Anerkennung individueller Leistungen und Fähigkeiten beschränkt und schließt die Anerkennung der sozialen Position als solcher somit nicht mit ein. Für eine Vergabe von sozialer Wertschätzung für eine bestimmte soziale Position ist demgegenüber insbesondere die Einhaltung bestimmter ‚Höflichkeitsnormen’, oder – wie Engels, der sich mit nonverbalen Verhaltensmustern auseinandersetzt, es bezeichnet – ‚Benimmregeln’ relevant. „Gerade für unsere Überlegungen zu Status und nonverbalem Verhalten könnten ‚Benimmregeln’ sehr aufschlussreich sein, da sie in Abhängigkeit vom Status der Beteiligten ganz prägnante Verhaltensmuster vorschreiben, die die Statusrelation deutlich werden lassen“ (Engels, 1976 S. 27). Hier wird also Wertschätzung
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vergeben, indem Verhaltensrituale eingehalten werden, die von Erving Goffman als Ehrerbietung bezeichnet werden. Goffman führt an: „Leute, die jemandem Ehrerbietung erbringen, können natürlich wissen, daß sie dies nur deshalb tun, weil er der Vertreter oder Repräsentant einer bestimmten Gruppe ist. Sie geben ihm, was ihm gebührt, nicht auf Grund dessen, was sie über ihn ‚persönlich’ denken, sondern trotz diesem“ (Goffman, 1996 S. 66). Weiter führt Goffman an, dass eine solche Form der Ehrerbietung nicht zwangsläufig auf einem asymmetrischen Verhältnis der Interaktionspartner beruhen muss, sondern ebenfalls zwischen statusgleichen Personen kommuniziert wird. Solche Rituale der Ehrerbietung zeigen sich einerseits durch Vermeidungsrituale und andererseits durch Zuvorkommenheitsrituale. Hierbei beinhalten Vermeidungsrituale eine Ehrerbietung, die in Form von Achtung durch das Wahren von Distanz – sowohl symbolisch als auch räumlich – gezeigt wird. Bezogen auf die Wahrung räumlicher Distanz zeigte beispielsweise ein Experiment von Lott und Sommer, dass die Entfernung, die Interaktionspartner in einem Gespräch zueinander einnehmen – bezogen auf die Wahl des Sitzplatzes –, danach variiert, ob sie sich als statusgleich oder –ungleich wahrnehmen. So wurde bei ungleichem Status eine größere Distanz eingenommen als im Falle von Statusgleichheit (vgl. D. F. Lott & Sommer, 1967). Diverse weitere Studien untermauern diesen Zusammenhang (vgl. Hearn, 1957; Sommer, 1961; Steinzor, 1950; Strodtbeck & Hook, 1961). Während also Vermeidungsrituale angeben, was in einer Interaktion nicht getan werden sollte, beinhalten Zuvorkommenheitsrituale Vorschriften darüber, was getan werden sollte (vgl. Goffman, 1996 S. 79 ff.). Goffman nennt hier z.B. Begrüßungen, kleinere Hilfsdienste oder Einladungen. Der Vollzug einer solchen Ehrerbietung wird darüber hinaus von einem Verhaltenselement beeinflusst, das Goffman als „Benehmen“ bezeichnet. Hierbei handelt es sich um die Art und Weise, wie ein bestimmtes Verhalten ausgeführt wird, d.h., er sieht die Ehrerbietung als durch bestimmte Eigenschaften der handelnden Person beeinflusst. Als Beispiel führt Goffman an, dass „Benehmen“ sich auf Ehrerbietung auswirken kann, wenn das Ehrerbietungsritual unbeholfen oder unsicher ausgeführt wird (vgl. Goffman, 1996 S. 90). Darüber hinaus zeigt sich ein Zusammenhang von Ehrerbietung und „Benehmen“ „darin, daß die Bereitschaft, anderen die ihnen gebührende Ehrerbietung zu zollen, eine der Eigenschaften ist, die man anderen durch das eigene Verhalten ausdrücken möchte. Durch die Bereitschaft, sich selbst gut zu benehmen, erweist man wiederum den Anwesenden Ehrerbietung“ (Goffman, 1996 S. 91). Eine Person im interindividuellen Umgang in ihrer sozialen Position anzuerkennen bedeutet somit, dass ihr Gegenüber sich in einer Interaktion derart verhält, dass die erwarteten Vermeidungs- und Zuvorkommenheitsriuale eingehalten werden. Wie bereits kurz angesprochen, ist im Zusammenhang mit positionaler Anerkennung relevant, wer die Quelle der Wertschätzung ist. Es wurde erwähnt, dass sowohl bezogen auf eine individuelle wie auch eine gruppenbezogene positionale Anerkennung die verschiedensten Menschen Quelle der Anerkennung sein können, insofern sie Kenntnisse über die Fähigkeiten und Leistungen der Person bzw. deren soziale Position besitzen. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Anerkennung jeder dieser möglichen Personen vom Adressaten der Anerkennung als gleich wichtig eingeschätzt wird. Hier scheint es, dass – anders als im Falle der sozioemotionalen Anerkennung der personalen Identität – die Anerkennung nicht umso bedeutsamer wird, je geringer die soziale Distanz der Akteure ist, sondern dass hier zu den Menschen, deren Anerkennung als besonders wertvoll betrachtet wird, tendenziell eine größere soziale Distanz besteht. So kann einerseits gerade die Tatsache, dass zu diesen Personen keinen enge soziale Nähe besteht, eine positionale Anerkennung umso wertvoller machen. Denn eine Wertschätzung von Leistungen, Fähigkeiten oder der sozialen Position, die durch nahe stehende Personen vergeben wird, wird unter Umständen vom Betroffenen nicht als von einer Aner-
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kennung der personalen Identität losgelöst betrachtet. Das bedeutet, es ist für den Anzuerkennenden nicht immer eindeutig zu klären, ob er tatsächlich aufgrund seines Erfolgs anerkannt wird oder aufgrund von Sympathie. Andererseits – und dies scheint in dem Zusammenhang der wichtigere Faktor zu sein – sind als Quelle der Anerkennung primär Personen wichtig, denen eine Kompetenz dahingehend unterstellt wird, zu beurteilen, ob erbrachte oder zugeschriebene Leistungen bzw. Fähigkeiten tatsächlich als ‚wertvoll’ bewertet werden können. Es handelt sich somit um Menschen, die Popitz als Autoritäten bezeichnet bzw. als „Wissende“ oder „Könnende“ bezeichnet (vgl. Popitz, 1986 S. 24). Im Falle der individuellen positionalen Anerkennung handelt es sich zumeist um als kompetent erlebte Arbeitskollegen oder Vorgesetzte. Popitz postuliert, die Anerkennung solcher Autoritäten werde als besonders wertvoll erlebt und somit besonders stark angestrebt. Es wird somit deutlich, dass die positionale Anerkennung ebenso wie die Anerkennung der personalen Identität in ihrer Intensität variiert, also kontinuierlich ist. Diese Intensität wird einerseits, wie soeben erwähnt, dadurch beeinflusst, wer Quelle der Anerkennung ist. Bereits im Zusammenhang mit der Intensität der emotionalen Anerkennung wurde darüber hinaus auf die Wichtigkeit des Faktors des öffentlichen Raumes hingewiesen. Während dieser bezogen auf die emotionale Anerkennung allerdings insbesondere in Kombination damit, wie die Anerkennung vergeben wird, bedeutsam ist, scheint er hinsichtlich der positionalen Anerkennung die Kombination auf Öffentlichheit/Privatheit und Quelle der Anerkennung umso gewichtiger.19 Es scheint also insbesondere für diese Anerkennungsdimension bedeutsam zu sein, ob die anerkennenden Handlungen öffentlich oder nicht öffentlich praktiziert werden. Das bedeutet, die Intensität der vergebenen Anerkennung variiert damit, ob sie in einem privaten Rahmen unter Ausschluss von Beobachtern praktiziert wird oder demgegenüber im öffentlichen Kontext, in dem die anerkennende Handlung für eine Vielzahl von Personen sichtbar ist, z.B. durch Zeremonien erfolgt. Unter Zeremonien versteht Erving Goffman standardisierte symbolische Akte, die keine instrumentelle Bedeutung besitzen, sondern deren Zweck es gerade ist, Anerkennung zu vermitteln. Als Beispiele für eine zeremonielle Anerkennung einer individuellen Leistung können die Verleihung der Doktorwürde, die Vergabe von Medaillen für außergewöhnliche Verdienste, die Vergabe von Förderpreisen für herausragende Leistungen usw. genannt werden. Derlei Ehrungen können sowohl für eine konkrete individuelle Leistung einer – bzw. mehrerer – Personen praktiziert werden, als auch symbolische Ehrungen eines gesamten Berufs- oder Erwerbsstands sein. Als öffentliche Ehrung eines bestimmten Berufsstands ist z.B. das symbolische Überreichen von Medaillen an Repräsentanten dieses Berufsstands im Rahmen einer öffentlichen Veranstaltung denkbar (durch eine solche Zeremonie ehrt z.B. die Stadt Düsseldorf in dieser Form jährlich den Berufsstand der Feuerwehrleute; siehe www.duesseldorf.de). Eine öffentliche Anerkennung ist also eine besonders starke Form der Wertschätzung, da diese einerseits in Anwesenheit von Beobachtern vorgenommen wird. Andererseits wird bei solchen öffentlichen Ehrungen die Anerkennung meist nicht von Personen als Individuen vergeben, sondern von Personen in ihrer Eigenschaft als Repräsentanten von Kollektiven. Das bedeutet, die Anerkennung geht von einem Kollektiv, also von einer Vielzahl Personen, aus. Bei einer solchen Ehrung werden somit die Ziele dieses Kollektivs
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Dies soll nicht bedeuten, dass der Art und Weise, wie positionale Anerkennung praktiziert wird, kein Einfluss auf ihre Intensität zugesprochen wird. Es wird davon ausgegangen, dass Abb. 18 nicht ausschließlich für emotionale Anerkennung gilt, sondern ebenfalls auf positionale Anerkennung übertragen werden kann.
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ostentativ hervorgehoben und der Anerkannte für das Erreichen dieser Ziele im Namen aller Angehörigen der Gruppe belohnt. Wie die Intensität der positionalen Anerkennung durch die Kobination aus privater oder öffentlicher Vergabe und der Kompetenz der Quelle beeinflusst werden kann, ist noch einmal in Abb. 7 dargestellt.
Öffentlichkeit hoch
öffentlich
Intensität der Anerkennung
niedrig
privat
wenig kompetent
Sehr kompetent Kompetenz der Quelle der Anerkennung
Abb.7
Intensität positionaler Anerkennung
Zum Abschluss dieses Abschnitts wird zusammenfassend noch einmal festgehalten, dass positionale Anerkennung eine Wertschätzung darstellt, die einer Person für den wahrgenommenen ‚Nutzen’ ihrer gesellschaftlichen Position und ihrer Leistungen zuteil wird und entsprechend ihren gesellschaftlichen ‚Wert’ anzeigt. Dieser gesellschaftliche ‚Nutzen’ wird an den als unterschiedlich wertvoll klassifizierten Erwerbs- und Berufspositionen inklusive der mit ihnen assoziierten Fähigkeiten und Leistungen festgemacht. Darüber hinaus wird positionale Anerkennung ebenfalls auf Basis der tatsächlichen Fähigkeiten und Leistungen eines Menschen vergeben. Die Tatsache, dass positionale Anerkennung an der wahrgenommenen ‚Nützlichkeit’ eines Gesellschaftsmitglieds orientiert ist, gibt darüber Auskunft, dass durch sie einem Menschen ein bestimmter ‚Wert’, den er für die Gesellschaft besitzt, vermittelt wird. Entsprechend kann dem Betroffenen ebenfalls eine ‚Wertlosigkeit’ durch ein Fehlen von Anerkennung oder durch soziale Missachtung vermittelt werden.
Ausarbeitung der Schlüsselbegriffe der Theorie der sozialen Desintegration 4.1.2.3
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Kollektive und individuelle positionale Nichtanerkennung
Als Gegenstück zur positionalen Anerkennung setze ich mich im Folgenden mit der positionalen Missachtung oder Nichtanerkennung auseinander. So wie positionale Anerkennung Menschen zuteil wird, die als besonders fähig im Hinblick auf die Verwirklichung gesellschaftlicher Zielsetzungen wahrgenommen werden, so widerfährt entsprechend soziale Nichtanerkennung oder Missachtung den Menschen, deren Position und damit einhergehende Fähigkeiten und Leistungen als wenig ‚nutzbringend’ eingestuft werden. Wie das Gegenstück der Anerkennung der personalen Identität, so ist auch das Gegenstück der positionalen Anerkennung kontinuierlich und zeichnet sich durch unterschiedliche Tiefengrade aus. Diese stehen im Zusammenhang mit der Intention, die der nicht anerkennenden Handlung zugrunde liegt. Auch hier ist der ‚Nullpunkt’ der Anerkennung darin zu sehen, dass diese ohne eine bestimmte dahinter liegende Intention nicht vergeben wird, obwohl das Gegenüber dies erwartet. Dass keine Intention hinter dem Verhalten steht, bedeutet, dass das Verwehren der Anerkennung z.B. aus Gedankenlosigkeit, aus Nichtwahrnehmung der anzuerkennenden Leistung, aus Nichtwahrnehmung des Umstands, dass Anerkennung erwartet wird, oder Ähnlichem resultiert. Eine Steigerung des Tiefengrades der Negation findet sich entsprechend, wenn das Verwehren der erwarteten Anerkennung intendiert erfolgt. Das bedeutet, das Verwehren der Anerkennung besitzt eine stärkere Intensität, wenn es mit dem Ziel praktiziert wird, die Person, die Anerkennung erwartet, zu ‚schädigen’. Am intensivsten sind sodann Handlungen, die das Gegenteil der erwarteten Anerkennung zum Ausdruck bringen. Hierunter sind also Handlungen zu fassen, die eine Herabwürdigung und Beleidigung der Fähigkeiten und Leistungen bzw. der sozialen Position eines Menschen widerspiegeln. Während eine nicht erfolgende Anerkennung – intendiert wie nicht intendiert – einer Person zwar die Wertschätzung für ihre soziale Position und deren Erfüllung vorenthält, bedeutet dies aber noch nicht, dass dieser Person gegenüber eine respektlose Behandlung an den Tag gelegt wird. Auch wenn ein Mensch nicht aufgrund seiner sozialen Position aktiv wertgeschätzt – bewundert oder gewürdigt – wird, so kann ihm dennoch noch immer Anerkennung in Form von Respekt entgegengebracht werden. Eine solche Anerkennung durch Respekt wird dem Betroffenen demgegenüber verweigert, wenn er das Ziel von Missachtungen, also aktiver, intendierter Abwertung ist. Dass durch ein derartiges Verhalten ein Verlust von Respekt zum Ausdruck gebracht wird, wird durch eine Beschreibung Axel Honneths deutlich, der diese Form der sozialen Missachtung auch als Entwürdigung bezeichnet. Es scheint auch denkbar, in diesem Zusammenhang den Begriff der Entwertung zu verwenden, da positionale Beleidigungen und Geringschätzung darauf abzielen, der Person zu verdeutlichen, dass sie aufgrund ihrer Position oder ihrer Leistungen keinen oder nur einen geringen Nutzen für die Gesellschaft besitzt. Auch diese kann verschiedene Tiefegrade besitzen, die davon abhängen, als wie kompetent die Quelle betrachtet wird, ob sie öffentlich oder privat vorgenommen wird und ob sie – wie bezogen auf die Missachtung der personalen Identität detallierter dargstellt – intendiert oder nicht intendiert erfolgt. Das bedeutet, es hängt von diesen Aspekten ab, ob die Art der vorgenommenen Abwertung mehr oder weniger beleidigend oder herabwürdigend ist. Das durch Abb. 6 dargestellte Schema, das die Intensität der Missachtung der personalen Identität abbildet, kann somit auf die Intensität der positionalen Missachtung übertragen werden. Positionale Missachtung kann ebenso wie die positionale Anerkennung sowohl auf konkrete Leistungen und Fähigkeiten bestimmter Individuen bezogen sein als auch auf bestimmte Positionen und die damit stereotyp verknüpften Fähigkeiten und Leistungen. Innerhalb von Arbeitsgesellschaften wird insbesondere dann Anerkennung für ‚wertvolles’ Handeln vergeben,
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wenn dies im Rahmen eines Arbeitsverhältnisses erfolgt bzw. in Positionen, die als ‚Erwerbspositionen’ zu bezeichnen sind. Zwar werden im Allgemeinen auch Leistungen für die Gesellschaft wertgeschätzt, die außerhalb des Arbeitsmarktes, z.B. im Rahmen ehrenamtlicher Tätigkeiten vorgenommen werden; als primär anerkennenswert gelten demgegenüber dennoch Tätigkeiten, die im Zusammenhang mit dem beruflichen Status eines Menschen stehen und mit Macht und Erfolg assoziiert werden.20 Das bedeutet, Personen, die derartige Leistungen z.B. aufgrund von Erwerbslosigkeit nicht erbringen können, bleibt eher die Möglichkeit verwehrt, positionale Anerkennung zu erhalten bzw. sich diese zu verschaffen. Es zeigt sich, dass ganz im Gegenteil der Status der Erwerbslosigkeit darüber hinaus die Wahrscheinlichkeit erhöht, Ziel intendierter positionaler Abwertungen zu werden. Wie sich eine stereotype Abwertung aufgrund des Status als erwerblose Person darstellen kann, zeigt Hans Uske in einer Analyse des Diskurses über Massenarbeitslosigkeit (vgl. Uske, 2000). So ist laut Uske mit dem Arbeitslosenstatus konkrete Geringschätzung durch Politik und Medien verknüpft. Uske führt auf, wie im Mediendiskurs „der Arbeitslose“ als Individuum entweder als Täter oder als Opfer dargestellt wird. Beides ist mit Akten sozialer Missachtung in Form von Beleidigung verbunden. „In Politik, Medien und im Alltag stehen Arbeitslose im Verdacht, nicht arbeiten zu wollen oder zu können. Sie sind entweder ‚Versager’ (wahlweise ‚unflexibel’, ‚qualifikationslos’, ‚nicht mobil genug’, ‚nicht mehr so leistungsfähig’) oder ‚Arbeitsunwillige’ (wahlweise ‚Drückeberger’, ‚Sozialschmarotzer’, ‚clevere Ausnutzer’, ‚Faulenzer’), manchmal auch beides“ (Uske, 2000 S. 169). Somit wird Erwerbslosen im öffentlichen Diskurs positionale Missachtung entgegengebracht, indem sie entweder als „Drückeberger“ dargestellt werden, die sich nicht rechtzeitig qualifiziert haben oder nicht bereit sind, persönliche Opfer für einen Arbeitsplatz zu erbringen, oder als „ökonomischer Versager“ beleidigt werden, deren Fähigkeiten den Ansprüchen des Arbeitsmarktes nicht genügen und die somit als unbrauchbar gelten. Hier erfolgen somit positionale Beleidigungen bezogen auf (nicht vorhandene) Fähigkeiten und (nicht erbrachte) Leistungen, die Menschen aufgrund ihrer sozialen Lage zugeschrieben werden. Auch Nancy Fraser verdeutlicht diese ‚Anerkennungsproblematik’ von Erwerblosen, wenn sie argumentiert, dass, wenn staatliche Umverteilungsmaßnahmen bei gleich bleibender Anerkennungsordnung vorgenommen werden, „die Gesellschaft gespalten wird, in die Gruppe der sozial geschätzten EinkommensbezieherInnen und SteuerzahlerInnen auf der einen Seite und die KostgängerInnen wohlfahrtsstaatlicher Transferleistungen auf der anderen Seite“ (G. Wagner, 2005 S. 136ff.). Hieraus resultiert, dass Empfänger von Transferleistungen stereotyp als „Schnorrer“ (Abwertung auf Basis des Nichterbringens von Leistungen) mit positionaler Missachtung konfrontiert werden (vgl. N. Fraser, 2003 S. 90). So wie also positionale Anerkennung des Berufs- und Erwerbsstatus auf Basis der stereotyp zugeschriebenen Fähigkeiten und Leistungen, die mit dieser Position assoziiert sind, vergeben wird, so gilt dies entsprechend ebenso für ihr Gegenstück, die positionale Missachtung. Entsprechend birgt nicht nur der Status der Erwerbslosigkeit Potenzial, Ziel positionaler Missachtung zu werden, sondern dies trifft auch auf Tätigkeiten zu, die am unteren Ende der Statushierarchie angesiedelt sind. So schreibt Petra Frerichs in Bezug auf die Möglichkeit, auf Basis der sozialen Position Anerkennung zu erfahren: „In diesem Bezugsrahmen gilt die Haus- und Familienarbeit gegenüber der Erwerbsarbeit als minderwertig, die körperliche gegenüber der 20 Hier ist erneut auf die Unterscheidung Voswinkels zwischen Bewunderung und Würdigung zu verweisen (vgl. Voswinkel, 2000). Es ist davon auszugehen, dass Tätigkeiten außerhalb des Arbeitsmarktes allenfalls gewürdigt werden.
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geistigen Arbeit, die Handarbeit gegenüber der Kopfarbeit, die ausführende gegenüber der anweisenden Arbeit“ (Frerichs, 2000 S. 271). So wird mit solchen Positionen tendenziell assoziiert, dass zu ihrer Ausübung keinerlei oder lediglich geringe Fähigkeiten benötigt werden, und den Angehörigen dieser Berufsgruppen unterstellt, über lediglich geringe Fähigkeiten zu verfügen. Derartige Annahmen bedeuten somit eine Herabwürdigung der Inhaber der Position und ihrer tatsächlichen Fähigkeiten, die sich in abwertenden Handlungen widerspiegeln können. Eine stereotype positionale Abwertung kann darüber hinaus aus der Verknüpfung mit weiteren Merkmalen einer Person resultieren. Hier kann z.B. die Unterstellung genannt werden, Frauen seien für bestimmte ‚Männertätigkeiten’ nicht qualifiziert. So werden Frauen tendenziell als weniger kompetent und leistungsstark wahrgenommen als Männer, wie Eva Cyba unter Bezug auf Eckes anführt. „Erwartungen über Leistungsfähigkeit und Kompetenz sind – in einem für die Beteiligten meist nicht durchschaubaren Ausmaß – durch diese Geschlechterstereotype gesteuert“ (Cyba, 2000 S. 184). Entsprechend erhöht sich für Frauen die Wahrscheinlichkeit, in bestimmten sozialen Positionen mit Nichtanerkennung oder Abwertung konfrontiert zu werden, unabhängig davon, ob sie faktisch über die für die Position notwendigen Fähigkeiten verfügen bzw. die geforderten Leistungen erbringen. Doch nicht nur eine Abwertung der Erwerbs- oder Berufsposition aufgrund von stereotyp zugeschriebenen Fähigkeiten und Leistungen – also der Abwertung der Berufs- oder Erwerbsrolle als solcher – ist potenzielle Quelle positionaler Missachtung. Auch durch die Abwertung tatsächlicher individueller Fähigkeiten und erbrachter Leistungen können Individuen positional missachtet werden. Dies kann z.B. dadurch geschehen, dass dem Betroffenen grundsätzlich die Befähigung abgesprochen wird, die jeweilige soziale Position adäquat auszufüllen, bzw. einzelne der von ihm erbrachten Leistungen als unzureichend abgelehnt werden. 4.1.2.4
Wahrnehmung von kollektiver und individueller positionaler Anerkennung und Nichtanerkennung
Auch bezogen auf die Dimension der positionalen Anerkennung gilt es als nächstes zu erläutern, wann sich eine Person, die Adressat von Anerkennung bzw. Missachtung ist, hierdurch wertgeschätzt bzw. missachtet fühlt. Der Akt, positionale Wertschätzung zu vergeben, wurde als ein Hervorheben des Wertes einer bestimmten sozialen Position oder bestimmter konkreter Fähigkeiten und Leistungen beschrieben. Somit entspricht die Wahrnehmung von Wertschätzung dem Empfinden, dass andere Personen die eigene soziale Position und die eigenen persönlichen Fähigkeiten und Leistungen als wertvoll und nützlich beurteilen. Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Mensch solche Bewertungen tatsächlich auf sich selbst bezieht – also sich hierdurch anerkannt fühlt –, variiert mit der Subdimension der positionalen Anerkennung. Während eine Anerkennung der individuellen Fähigkeiten und Leistungen direkt auf persönliche Merkmale des Individuums bezogen ist, scheint es nahe liegend, dass ein Individuum sich hierdurch als persönlich geschätzt und für die Gesellschaft nützlich wahrnimmt. Demgegenüber ist es im Falle einer Anerkennung, die sich auf die Berufs- oder Erwerbsposition der Person bezieht - wie bereits im Zusammenhang mit der Anerkennung der kollektiven Identität erläutert – relevant, ob sich die betreffende Person mit der Berufs- oder Erwerbskategorie identifiziert, d.h., ob sie eine soziale Identität auf Basis dieser Position besitzt. Es ist angesprochen worden, dass eine Selbstkategorisierung bereits durch ein ‚minimales Gruppenparadigma’ erzeugt werden kann. Es ist somit keine Voraussetzung für die Ausbildung einer solchen sozia-
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len Identität, dass die relevante Gruppe, wie im Falle der Anerkennung der kollektiven Identität, über eine gemeinsame Kultur verfügt. Ist eine Person mit ihrer Erwerbs- oder Berufsgruppe hoch identifiziert, bedeutet das, dass es ihr nur dann möglich ist, sich positiv auf diese soziale Identität zu beziehen, wenn die Berufs- oder Erwerbsposition in Interaktion mit anderen Personen bzw. im öffentlichen Diskurs wertgeschätzt wird. Wie bei einer Anerkennung der personalen Identität, gilt auch für die positionale Anerkennung, dass die Frage, welche konkreten Verhaltensweisen ihres Gegenübers Menschen als anerkennend wahrnehmen, zwischen unterschiedlichen Personen stark variieren kann. Während sich beispielsweise eine Person möglicherweise ausschließlich durch ein explizites Lob einer erbrachten Leistung anerkannt fühlt, empfindet sich eine andere bereits durch ein zustimmendes Nicken als geschätzt. Aus diesem Grund kann die Erfahrung von positionaler Anerkennung nur bedingt an konkreten anerkennenden Handlungen festgemacht werden. Interessiert somit nicht die Handlung als solche, sondern das Erleben des Anerkannten, so scheint es am sinnvollsten, sich mit dessen Wahrnehmung zu befassen, aufgrund von Fähigkeiten, Leistungen oder der sozialen Position als nützlich und wertvoll betrachtet zu werden. Gleiches gilt selbstverständlich ebenso für das Gegenstück, also die Negation der positionalen Anerkennung. Auch hier ist die Wahrnehmung, positional nicht anerkannt bzw. missachtet zu werden, zu betrachten. Hierbei ist davon auszugehen, dass diese Wahrnehmung durch explizite, missachtende Verhaltensweisen wahrscheinlicher hervorgerufen wird als durch nicht erfolgende Anerkennung. So merkt Voswinkel an: „Im Falle der bloßen Nichtanerkennung werden sie zwar enttäuscht sein, weil etwas Beanspruchtes oder Erhofftes ausbleibt, aber sie können diese Tatsache zumindest zeitweise selbst durch Ignorieren gewissermaßen ‚nichtanerkennen’, nicht zur Kenntnis nehmen. (…) Anders bei aktiver Missachtung: Hier wird das Subjekt als minderwertig bewertet. Es liegt unter dem Durchschnitt, ihm wird die übliche Achtung als Subjekt vorenthalten“ (Voswinkel, 2001 S. 43). Allerdings ist festzustellen, dass dieser Aussage Voswinkels die Annahme zugrunde liegt, bei der Negation positionaler Anerkennung handle es sich um eine dichotome Kategorie. Es wird unterstellt, Anerkennung könne entweder ausbleiben oder das Gegenteil der Anerkennung eintreten. Allerdings ist es gerade bezogen auf das Empfinden negierter Anerkennung bedeutsam, auf den kontinuierlichen Charakter dieser Kategorie hinzuweisen, der unter anderem davon abhängt, welche Intention der Anerkennungsverweigerung zugrunde liegt bzw. welche Intention der Adressat der Nichtanerkennung seinem Gegenüber zuschreibt. So macht es hinsichtlich der Intensität der wahrgenommen Negation einen deutlichen Unterschied, ob der Betroffene diese auf eine Unaufmerksamkeit seines Gegenübers zurückführt oder ob er ihm die Intention, bewusst Anerkennung zu verweigern, unterstellt. So ist ein „nicht zur Kenntnis nehmen“ der nicht erfolgenden Anerkennung mit Sicherheit leichter praktizierbar, wird die Nichtanerkennung auf eine Gedankenlosigkeit oder Unachtsamkeit des Gegenübers attribuiert, wohingegen dies bei weitem schwieriger ist, betrachtet der Betroffene Vorsätzlichkeit als Auslöser. Wie Voswinkel richtig anmerkt, ist ein solches Ignorieren nur schwer praktizierbar, erlebt der Betroffene eine aktive Missachtung. Allerdings vernachlässigt er, dass auch solche Missachtungen unterschiedlich intensiv sein und wahrgenommen werden können, in Abhängigkeit davon, auf welche Art und Weise die Beleidigung oder Abwertung vorgenommen wird. Ob ein Mensch eine Nichtanerkennung überhaupt als eine solche wahrnimmt, hängt davon ab, ob er erwartet, Anerkennung zu erfahren. Wie die Erwartung bzw. der Anspruch, Anerkennung zu erhalten, beeinflusst werden, wird unter Anführen der von Deutsch genannten
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fünf Kriterien – Normen und Wertvorstellungen, Wandel dieser Normen und Wertvorstellungen, Bedürfnisse des Individuums, Vergleich mit anderen, Einflussstärke – kurz erläutert. Die Vergabe von positionaler Anerkennung orientiert sich am Leistungsprinzip. Wie bereits erörtert, bedeutet das, dass Menschen, die die wichtigsten Fähigkeiten besitzen, die wichtigsten Leistungen erbringen oder eine soziale Position innehaben, die mit wichtigen Leistungen und Fähigkeiten in Verbindung gebracht wird, die meiste Anerkennung erhalten sollten. Hieraus resultierend wird die Annahme eines Menschen darüber, welches Ausmaß an Anerkennung ihm zusteht, sich daran orientieren, ob er seiner Ansicht nach Fähigkeiten besitzt und Leistungen erbringt, die wichtig sind, und wie sehr seine soziale Position wichtige Fähigkeiten erfordert und wichtige Leistungen erfüllt. Wie bereits erläutert, existieren zwar gesellschaftlich geteilte Wertvorstellungen darüber, welche Leistungen, Fähigkeiten und Positionen als gesellschaftlich nützlich betrachtet werden; eine eindeutige Hierarchie wird durch diese Annahmen allerdings nicht festgelegt. Diskrepanzen zwischen Ansprüchen und Erhalt von Anerkennung können sich hier somit einerseits durch Diskrepanzen der Auffassungen von Anerkennendem und Anerkanntem darüber ergeben, welche Leistungen und Fähigkeiten anerkennenswert sind. Darüber hinaus können solche Diskrepanzen aus unterschiedlichen Ansichten darüber, ob eine bestimmte Position anerkennenswerte Fähigkeiten voraussetzt bzw. anerkennenswerte Leistungen durch sie erfüllt werden, entstehen. Für die Vergabe von positionaler Anerkennung ist nicht nur relevant, dass die Tatsache, wann eine Person anerkannt werden sollte, durch das Leistungsprinzip – gewichtet durch Wertvorstellungen darüber, was Leistung ist – reguliert wird; auch die Frage danach, wie diese Anerkennung vergeben wird, ist von gesellschaftlichen Verhaltensanforderungen beeinflusst. So ist zu vermuten, dass bezogen auf die Art der Kommunikation – verbal oder nonverbal –, durch die die positionale Anerkennung vermittelt wird, unterschiedliche Erwartungen bestehen, je nachdem, ob es sich um eine Anerkennung der Berufsposition an sich – beruhend auf stereotyp zugeschriebenen Fähigkeiten und Leistungen – oder um die Anerkennung individueller Fähigkeiten und Leistungen handelt. So ist davon auszugehen, dass die Erwartung der Anerkennung einer Berufs- oder Erwerbsposition als solcher in den seltensten Fällen in Form der Erwartung verbal ausgedrückter Wertschätzung besteht. Die Erwartung von Anerkennung beruht hier – wie bereits weiter oben erläutert – vielmehr auf der Einhaltung von Vermeidungs- und Zuvorkommenheitsritualen, die gegenüber Angehörigen bestimmter Berufs- und Erwerbsgruppen eingefordert werden. So sind mit der gesellschaftlichen Wertvorstellung des Leistungsprinzips solcherlei Rituale, die vorgeben, in welcher Weise Angehörigen verschiedener Berufsgruppen zu begegnen ist, eng verknüpft. Die Anerkennung der Berufsposition wird somit primär durch die Einhaltung solcher wertschätzender Verhaltensweisen, die auf gesellschaftlich geteilten Verhaltensregeln basieren, erwartet werden (z.B. Aufhalten der Tür für einen Statushöheren oder die Einhaltung der erwarteten räumlichen Distanz). Ein Vorenthalten von Anerkennung kann hier somit intendiert, durch die bewusste Missachtung derartiger Verhaltensregeln, resultieren, oder aber, z.B. durch Unkenntnis dieser Regeln, unintendiert sein. Demgegenüber beziehen sich Erwartungen der Wertschätzung von tatsächlichen Fähigkeiten und Leistungen sowohl auf verbale als auch auf nonverbale Verhaltensweisen. Hier können bestimmte nonverbale Reaktionen auf erbrachte Leistungen, symbolische Ehrungen oder aber eine lobende Erwähnung dieser Leistung erwartet werden. Unter Rückgriff auf Honneth wurde bereits angeführt, dass der allgemeine kulturelle Werthorizont einer Gesellschaft, der festlegt, welche Tätigkeit als anerkennenswert gilt, nicht starr
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festgelegt ist und sich somit wandelt. Dies kann bezogen auf positionale Anerkennung daran verdeutlich werden, dass ein Wandel zu beobachten ist, durch den sich verändert, welche Resultate von Tätigkeiten als Leistung bewertet werden und auf welche dies nicht zutrifft. Dieser Wandel kann durch die Auseinandersetzung mit den durch Voswinkel angeführten Konzepten der Bewunderung und der Würdigung aufgezeigt werden. Wie bereits eingangs angeführt, unterteilt Voswinkel Leistungen einerseits in Einsatz, Beiträge, Engagement und Opfer, für die Anerkennung in Form von Würdigung vergeben und erwartet wird. Andererseits sieht er Leistung in Form von Produktivität, Kompetenz, Entscheidungsfähigkeit usw. repräsentiert, für die Anerkennung in Form von Bewunderung vergeben und erwartet wird. Voswinkel stellt nun einen Wertewandel dahingehend fest, dass dem von ihm identifizierten Konstrukt der „Bewunderung“ ein immer weiter steigender Stellenwert zukommt, während die Wichtigkeit der „Würdigung“ immer weiter abnimmt. Dieser Wandel bringt mit sich, dass soziale Positionen, die eher mit der Anerkennungsform der Würdigung als der Bewunderung verknüpft sind, entwertet und damit einhergehend entweder die Erwartungen einer Anerkennung in Form von Würdigung reduziert werden, oder aber – wenn sich die neue Anerkennungsordnung noch nicht vollständig etabliert hat – Erwartungen, Würdigung zu erhalten, zwar noch bestehen, aber nicht mehr erfüllt werden. In einem solchen Fall folgt, dass für Angehörige von Positionen, die primär ‚gewürdigt’ und nicht ‚bewundert’ werden, das Nichtanerkennungspotenzial wächst, da sich hieraus ein Auseinanderdriften der Erwartungen, Anerkennung zu erhalten, und dessen, wofür Anerkennung vergeben wird, entwickeln kann, wenn Erwartungen sich an alten Leistungsbegriffen orientieren, die Vergabe von Anerkennung sich aber nach gewandelten Vorstellungen richtet. Wie bereits erwähnt, richtet sich das, was ein Mensch beansprucht, danach, was er braucht. Dass es sich im Falle der Erfahrung von Anerkennung um ein menschliches Grundbedürfnis handelt, wurde bereits erwähnt. Allerdings ist davon auszugehen, dass es Menschen gibt, die mehr, und andere, die weniger von dem Erhalten von Anerkennung abhängen. Es ist anzunehmen, dass Menschen, die mehr Anerkennung benötigen, um zufrieden zu sein, ebenfalls mehr Anerkennung beanspruchen als Menschen, die durch ein geringes Ausmaß an Anerkennung zufrieden gestellt sind. Demnach ist das Nichtanerkennungspotenzial für Personen, die ein größeres Ausmaß an Anerkennung benötigen, stärker ausgeprägt als das von Personen, die durch ein eher geringes Ausmaß an Anerkennung zufrieden gestellt werden. Wie bereits erläutert, beruht das Leistungsprinzip auf der Annahme, dass jeder, der eine gleich hohe Leistung erbringt, hierfür eine gleich hohe Gratifikation erhalten soll. Der Vergleich mit anderen ist somit zentrales Kriterium, das sich auf die Erwartung positionaler Anerkennung auswirkt. Wenn also eine Vergleichsperson, die die gleiche soziale Position bekleidet bzw. über gleiche Fähigkeiten verfügt oder gleiche Leistungen erbringt, hierfür mehr Anerkennung als die vergleichende Person erhält, ist zu vermuten, dass dadurch den Erwartungen der vergleichenden Person widersprochen wird und bei ihr die Wahrnehmung einer Nichtanerkennung resultiert. Die Annahmen einer Person darüber, was ihr zusteht, werden des Weiteren verändert, wenn ihr Einfluss auf Aushandlungsprozesse bezüglich des Erwünschten zunimmt. So steigen mit zunehmendem Einfluss ebenfalls die Erwartungen. Bezogen auf den Erhalt von Anerkennung für eine bestimmte soziale Position ist es für den Einzelnen so gut wie unmöglich, ein größeres Maß an Anerkennung ‚auszuhandeln’. Eine solche Erhöhung des Anerkennungspotenzials kann sich nur ergeben, werden mit einer Position wichtigere Fähigkeiten oder Leistungen assoziiert oder werden die mit ihr assoziierten Fähigkeiten und Leistungen als wichtiger wahrgenommen als zuvor. Ein solcher Prozess kann allenfalls durch bestimmte gesellschaftli-
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che Ereignisse beeinflusst werden. Zu nennen ist hier beispielsweise die Erhöhung der Anerkennung des Berufsstands der Feuerwehrleute in den Vereinigten Staaten von Amerika nach den Terroranschlägen des 11. September 2001. Treten derartige Prozesse ein, so ist ebenfalls ein Zuwachs von Ansprüchen auf Anerkennung der Angehörigen der Berufsgruppe zu erwarten. Demgegenüber liegt die Möglichkeit, Anerkennungspotenziale für bestimmte individuelle Fähigkeiten und Leistungen zu erhöhen bzw. eine „höhere“ soziale Position zu erreichen, in stärkerem Maß in der Hand des Einzelnen. So ist anzunehmen, dass mit einer Erweiterung der eigenen Fähigkeiten, der Aneignung neuer Fähigkeiten, dem Erbringen besonderer Leistungen oder einem sozialen Aufstieg der Anspruch darauf, positionale Anerkennung zu erhalten, steigt. Nichtanerkennungspotenzial besteht hier somit, wenn der ‚Wert’ einer bestimmten Position oder der mit ihr assoziierten Fähigkeiten und Leistungen steigt, bzw. wenn eine Person Handlungen vornimmt, die zu einer verstärkten Anerkennung ihrer Fähigkeiten und Leistungen führen soll bzw. durch die sie einen sozialen Aufstieg erwirkt, sie aber trotzdem nicht mehr Anerkennung erhält als zuvor. Abschließend ist noch hervorzuheben, dass die Erwartungen, Wertschätzung zu erhalten, zwar durch die soeben erläuterten fünf Einzelkomponenten beeinflusst werden, die Komponenten hierbei aber nicht voneinander getrennt wirken. Das bedeutet, der Anspruch, Anerkennung zu erhalten, wird immer durch ein Zusammenwirken dieser Einzelkomponenten gebildet. 4.1.3 Moralische Anerkennung Was wird anerkannt? Die soeben betrachtete positionale Anerkennung wird im Zusammenhang mit der sozialen Position eines Menschen vergeben, die er innerhalb der strukturellen gesellschaftlichen Ebene aufgrund marktwirtschaftlicher Mechanismen einnimmt. Marktwirtschaftliche Zusammenschlüsse basieren auf Kooperationsgemeinschaften, also auf einem für alle Beteiligten nützlichen System, das auf Arbeitsteilung und Zusammenarbeit beruht, um einen gegenseitigen Vorteil zu realisieren. Das bedeutet, die Beteiligten einer Kooperationsgemeinschaft arbeiten auf ein gemeinsames Ziel hin, den Kooperationsgewinn, der auf die Kooperationspartner verteilt wird. Da die Verteilung ungleich ist, entstehen Interessenskonflikte. Wie Heitmeyer und Anhut anführen, ist es die Funktion der institutionellen Integrationsebene, einen Ausgleich der durch die ungleiche Güterverteilung des Marktes konfligierenden Interessen der Gesellschaftsmitglieder zu gewährleisten. „Auf der institutionellen Ebene geht es um die Sicherstellung eines Ausgleichs konfligierender Interessen unter Einhaltung von Grundprinzipien, die von allen als fair und gerecht bewertet werden können und die prinzipielle moralische Gleichwertigkeit des ‚Gegners’ anerkennen. Da über diesbezügliche Verfahren des Schlichtens, des Ausgleichs, der Verhandlung in einem demokratischen System nur konsensuell entschieden werden darf, geht es aber in einem zweiten Schritt notwendigerweise auch um die Sicherstellung ausreichender Partizipationschancen zur Teilnahme an öffentlichen und diskursiven Auseinandersetzungen bei der Festlegung bzw. Änderung entsprechender Verfahren“ (Anhut & Heitmeyer, 2000 S. 47). Es soll also allen Bürgern der Zugang zu politischen Partizipationsmöglichkeiten ermöglicht werden, was bedeutet, dass als Voraussetzung hierfür Mittel zur Verwirklichung der dazu notwendigen liberalen und demokratischen Rechte bereitgestellt werden. Beides geschieht über die Definition der Gesellschaftsmitglieder als Staatsbürger. Denn der Status als Staatsbür-
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ger „ermöglicht es schließlich jedem Bürger, in einem politisch substantiellen Sinn an Diskursen der Rechtfertigung [der politischen Normen, die einen Interessenausgleich garantieren sollen, Anm. d. A. ] teilzunehmen und sich als Teil einer politischen Verantwortungsgemeinschaft zu begreifen.“ (Forst, 1996 S. 214 ff.). Kern der moralischen Anerkennung ist die Anerkennung eben dieses Status als gleichberechtigter Staatsbürger. Voraussetzung für eine Teilnahme an „politischen Diskursen der Rechtfertigung“ ist laut Marshall ein Mindestmaß an Verfügungsgewalt über wirtschaftliche Güter (vgl. Marshall, 1963). Wie dieser anführt, ist das Verfügen über ein gewisses Ausmaß an materiellen Ressourcen notwendig, um eine rechtliche Gleichheit aller – als Adressaten liberaler Freiheitsrechte und politischer Partizipationsrechte – zu gewährleisten. Dieses Mindestmaß an Ressourcen soll durch gesellschaftliche Wohlfahrtsrechte garantiert werden. Die Funktion gesellschaftlicher Wohlfahrtsrechte ist es somit einerseits, die Möglichkeit, am politischen Diskurs teilnehmen zu können, zu sichern. Darüber hinaus soll ebenfalls die personale Autonomie21 jedes Gesellschaftsmitglieds, die ihm durch seinen Status als Staatsbürger zugesichert wird, gewährleistet werden. Eine solche Gewährleistung der Autonomie bedeutet, dass sichergestellt wird, „dass jedem Mitglied der Gesellschaft prinzipiell die gleiche Chance auf die Verwirklichung seines Lebensplans eingeräumt“ wird (Kneip, 2004 S. 43). Es wird also der aus dem Marktgeschehen resultierenden Ungleichverteilung, die zu eingeschränkten Verwirklichungschancen von Lebensplänen der ‚Verlierer’ des Marktgeschehens führt, entgegengewirkt. So argumentiert Marshall, den Status eines gleichberechtigten Staatsbürgers einer Gesellschaft zu besitzen, bedeute, „soziale Rechte auf die Teilnahme am gesellschaftlichen und kulturellen Leben zu haben, ein ‚gesellschaftliches’ nach den jeweiligen gesellschaftlichen Maßstäben anerkennenswertes Leben zu leben – die Mittel zur Verwirklichung ‚liberaler’ und ‚demokratischer’ Rechte zu haben“ (Forst, 1996 S. 215). Ist es also Kern der moralischen Anerkennung, den Status eines Gesellschaftsmitglieds als Staatsbürger anzuerkennen, so ist hiermit verbunden, dass diese Anerkennung eine Gewährleistung dieser sozialen Rechte zu ermöglichen. Aus dem bisher Angeführten wird deutlich, dass innerhalb der institutionellen Desintegrationsebene zweierlei Ansprüche erfüllt werden müssen. Einerseits ist es die Aufgabe, einen Ausgleich herzustellen, indem einer sozialstrukturell bedingten Einschränkung der Möglichkeit sozialer Teilhabe entgegengewirkt wird und hierdurch das Recht auf gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe gewährleistet wird. Es soll also ein Ausgleich der durch den Markt produzierten Ungleichheiten vorgenommen werden. Dies geschieht, indem die Gesellschaftsmitglieder unter den Bedingungen der Solidarität – und nicht wie im Falle der strukturellen Ebene unter Bedingungen des Wettbewerbs – miteinander kooperieren. Solidarität wird in der Desintegrationstheorie unter Bezug auf Kaufmann (vgl. Kaufmann, 1984) als eine „Reziprozität von Rechten und Pflichten innerhalb eines Kollektivs bzw. als eine auf die kollektivschädigende Verfolgung von eigennützigen Interessen verzichtende allgemeine Kooperationsbereitschaft“ verstanden (Anhut & Heitmeyer, 2000 S. 50). Das bedeutet, der in der institutionellen Integrationsebene vorzunehmende Ausgleich erfolgt unter der Bedigung, dass jedes Gesellschaftsmitglied hierbei die gleichen Rechte erhält und die gleichen Pflichten zu erfüllen hat. Enstprechend soll er fair und gerecht erfolgen und eine Gesellschaft ermöglichen, die von ihren Angehörigen als fair und gerecht bewertet werden kann.
21 Verstanden als Fähigkeit des Menschen zur freien Selbstbestimmung und Selbstverfügung (vgl. Kneipp 2004, S. 41).
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Die zweite Funktion der institutionellen Integrationsebene, erfüllt durch den liberalen Rechtsstaat, liegt in der Sicherstellung, dass alle Mitglieder der Gesellschaft über das gleiche Recht verfügen, am demokratischen Willensbildungsprozess teilzuhaben. Diesen Funktionen der insitutionellen Integrationsebene entsprechend ist moralische Anerkennung mit zweierlei Kernaspekten verbunden. Einerseits resultiert sie aus Handlungen, die eine Einhaltung der Grundnormen Fairness, Solidarität und Gerechtigkeit ermöglichen und die als solidarisch, fair und gerecht erlebt werden. Andererseits steht sie in Verbindung mit der Möglichkeit, am politischen Diskurs teilzunehmen (vgl. Anhut & Heitmeyer, 2000 S. 50 ff.). Hintergrundbedingung beider Arten der Anerkennung ist es, dass das anzuerkennende Individuum Adressat gesellschaftlicher Rechte ist, also über den Status eine gleichberchtigten Staatsbürgers verfügt. Eine Anerkennung erfolgt, wenn diese Rechte faktisch gewährleistet sind bzw. das betroffene Individuum die Wahrnehmung besitzt, dass diese Rechte umgesetzt werden. Dies gilt es im Folgenden für beide Anerkennungsfacetten zu erläutern. 4.1.3.1
Moralische Anerkennung als Adressat politischer Entscheidungen
Wie wird anerkannt? Die erste Form der moralischen Anerkennung soll durch die Herstellung einer auf Solidarität basierenden gesellschaftlichen Ordnung, die als gerecht und fair wahrgenommen werden kann, gewährleistet werden. Diese Art der Anerkennung liegt vor, wenn eine Gesellschaftsordnung existiert, innerhalb derer jedes Gesellschaftsmitglied relativ zu den übrigen Mitgliedern die gleichen Pflichten erbringen muss und die gleichen Rechte erhält. Die Erfüllung eines solchen Anspruchs wird durch politisches Handeln ermöglicht oder verhindert. Das bedeutet, politische Entscheidungen bedingen die Möglichkeit der Gesellschaftsmitglieder, sich moralisch anerkannt zu fühlen, dadurch, dass eine relative Gleichheit hinsichtlich des gesellschaftlichen Gebens und Nehmens aller Staatsbürger einer Gesellschaft geschaffen wird. Bei moralischer Anerkennung handelt es sich also nicht um eine Form der Wertschätzung oder der Anerkennung von Besonderheit, sondern um eine Achtung und Respektierung der Gleichheit. Bei dieser Art der Anerkennung umfasst also der Akt des Anerkennens nicht eine Hervorhebung oder Bevorzugung im Sinne einer Wertschätzung oder Freundschaftsbekundung. Menschen werden nicht dadurch moralisch anerkannt, dass sie gegenüber anderen bevorzugt werden. Denn moralisch durch politische Entscheidungen anerkannt zu werden bedeutet, als gleichwertiger Staatsbürger behandelt zu werden. Moralische Anerkennung wird also nicht durch Hervorhebung oder ‚Erhöhung’, sondern durch Nichtbenachteiligung praktiziert. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass es sich bei dem Gegenteil der Anerkennung um das Praktizieren von Benachteiligung handelt. Eine Nichtbenachteiligung bzw. Benachteiligung ist entweder vorhanden oder nicht vorhanden. Dieses Vorhanden- oder Nichtvorhandensein ist nicht durch weitere graduelle Abstufungen gekennzeichnet. Warum wird anerkannt? Solidarität – die eine faire und gerechte, also ‚nicht benachteiligende’Gesellschaft ermöglichen soll – wurde beschrieben als Prinzip, bei dem alle Beteiligten unter Verzicht auf Verfolgung eigennütziger Interessen die gleichen Pflichten erfüllen und Anspruch auf die gleichen Rechte besitzen. Das bedeutet, die soziale Ordnung muss derart organisiert werden, dass alle Gesellschaftsmitglieder Adressaten der gleichen Rechte sind und die gleichen Pflichten zu erfüllen haben. Ist dies gewährleistet, kann jedes Gesellschaftsmitglied als gleichberechtigter Staatbür-
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ger anerkannt gelten. Das bedeutet, die gesellschaftliche Norm, an der die Vergabe einer solchen Anerkennung orientiert ist, ist die Anforderung, eine durch Solidarität gekennzeichnete, faire und gerechte Gesellschaftsordnung herzustellen. Wie aber ist es möglich, einen derartigen gesellschaftlichen Zustand zu realisieren? Innerhalb der Desintegrationstheorie wird als Bezugsgrundlage dafür, unter welchen Bedingungen ein Ausgleich konfligierender Interessen stattfinden kann, John Rawls Gerechtigkeitstheorie angeführt (vgl. Heitmeyer & Anhut, 2000, S. 48). Solidarität wird in der Desintegrationstheorie als ‚Gerechtigkeitsersatz’ bezeichnet, wobei anzumerken ist, dass sie sich im Rawlsschen Sinne Solidarität als Nebenprodukt einer gerechten Gesellschaft ergibt, während sie innerhalb der meisten deutschen Ansätzen als Voraussetzung von Gerechtigkeit aufgefasst wird (vgl. hierzu ausführlicher Priddat, 2000). Dies ist aber für die folgende Argumentation zweitrangig. Relevant ist allerdings, dass Solidarität und Gerechtigkeit in einem Wechselverhältnis stehen und nicht als voneinander losgelöst betrachtet werden können. Als Vertreter eines „egalitären Liberalismus“ betrachtet Rawls die Gesellschaftsmitglieder nicht als atomisierte Individuen, sondern als Kooperationspartner, die vor der Aufgabe stehen, die erwirtschafteten Kooperationsgewinne unter Einhaltung allgemein anerkannter Gerechtigkeitsgrundsätze zu verteilen (vgl. Rawls, 1975). Rawls nimmt an, dass Menschen sich auf die von ihm genannten Gerechtigkeitsgrundsätze einigen würden, begegneten sie sich in einem „Schleier der Unwissenheit“. Durch diese Konzeption beschreibt er eine Situation, in der keiner der Beteiligten Kenntnis darüber besitzt, welche konkrete Person er selbst ist, also welche persönlichen Ziele oder Interessen er besitzt. Dass bedeutet, auch wenn Rawls Individuen nicht, wie strengerere liberale Positionen, als atomisierte Individuen betrachtet, sondern als Kooperationspartner, so ist doch zur Erzeugung von Gerechtigkeit – und wohl auch zur Bereitschaft, solidarisch zu handeln – die völlige Losgelöstheit von anderen Menschen Voraussetzung (vgl. Sandel, 1995 S. 24 ff.). Das bedeutet, zur Herstellung von Gerechtigkeit – und Solidarität – ist es nach Rawls notwendig, von den eigenen Lebensumständen Abstand zu nehmen. Auf diese Weise gibt Rawls somit auf einer theoretischen Ebene objektive Kriterien vor, die erfüllt sein müssen, damit eine Gesellschaft von einem außenstehenden Beobachter als solidarisch bzw. gerecht eingestuft werden kann. Die Frage, wie Personen und Institutionen verfahren müssen, die Quelle einer Anerkennung auf Basis von Solidaritätsprinzipien sind, könnte somit durch einen solchen außenstehenden Beobachter unter der Berufung auf Rawls Gerechtigkeitsprinzipien – theoretisch – geklärt werden. Umgekehrt ließe sich auf diese Art objektiv feststellen, ob eine Gesellschaft als unsolidarisch – und somit als ihre Staatsbürger moralisch missachtend – bezeichnet werden muss. Hierbei wäre allerdings noch nichts darüber ausgesagt, ob sich die einzelnen Staatsbürger auch tatsächlich durch das gesellschaftliche System und die getroffenen politischen Entscheidungen gerecht behandelt, also moralisch anerkannt wahrnehmen. Es ist nicht davon auszugehen, dass Personen in dem Moment, in dem ihre persönlichen Ziele und Zwecke betroffen sind, derart rational urteilen, dass sie die zugrunde liegenden Umstände so bewerten, als würden sie ihre persönlichen Ziele und Zwecke nicht kennen, als befänden sie sich also im „Schleier der Unwissenheit“. Ist es nicht möglich, die Bewertung einer Situation losgelöst von eigenen Zielen und dem Vergleich mit anderen Menschen vorzunehmen, so ist es denkbar, dass ein außenstehender Beobachter eine gesellschaftliche Gegebenheit nach Rawls Gerechtigkeitskriterien als solidarisch bewertet, während ein Mensch, der bei der Einschätzung der Situation seine eigenen Interessen ins Kalkül nimmt und dabei einen anderen Menschen als besser gestellt als sich selbst wahrnimmt, die Situation als benachteiligend erlebt. Da nicht davon auszugehen ist, dass Menschen die Beurteilung, ob ihnen selbst als Mitglied
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einer Gesellschaft eine nicht benachteiligende Behandlung widerfährt, losgelöst von Zielen, Erfahrungen und Vergleichen mit anderen Personen vornehmen, kann eine allgemeine Theorie einer gerechten Gesellschaft hier nicht weiterhelfen. Das bedeutet, gerade bezogen auf diese Facette der Anerkennung ist es zentral, nicht das Praktizieren von Anerkennung oder Nichtanerkennung zu betrachten, sondern vielmehr die Wahrnehmung des einzelnen Gesellschaftsmitglieds, anerkannt oder nicht anerkannt zu sein. Aus diesem Grund beschäftige ich mich an dieser Stelle nicht näher mit der Frage, wie diese Anerkennung verweigert wird, wie im Falle der anderen Anerkennungsdimensionen, sondern es findet im Folgenden direkt eine Auseinandersetzung mit der Wahrnehmung statt, anerkannt oder nicht anerkannt zu werden. 4.1.3.2
Wahrnehmung von moralischer Anerkennung und Nichtanerkennung als Adressat politischer Entscheidungen
Es wird somit als nächstes das Individuum, das sich durch die gesellschaftliche Ordnung anerkannt oder nicht anerkannt fühlen kann, in den Mittelpunkt der Betrachtung gesetzt. Während die Ausführungen der Theorie der Sozialen Desintegration so gelesen werden können, dass die Wahrnehmung, moralisch anerkannt zu werden, bereits besteht, wenn die Gesellschaft insgesamt als solidarisch, fair und gerecht erlebt wird, liegt in der vorliegenden Arbeit der Fokus auf der Wahrnehmung, persönlich derart behandelt zu werden. Dieses Verständnis lege ich auf Basis der Annahme zugrunde, dass Menschen durchaus die Meinung vertreten können, die Gesellschaft sei alles in allem nicht gerecht, hierbei aber nicht der Ansicht sind, selbst zu dem Personenkreis zu gehören, der durch diese Ungerechtigkeit benachteiligt wird. Nach dem Verständnis des Anerkennungsbegriffs der vorliegenden Arbeit ist nicht davon auszugehen, dass diese Personen sich durch die Wahrnehmung einer nicht gerechten Gesellschaft missachtet fühlen. Die Wahrnehmung, moralisch anerkannt oder nicht anerkannt zu werden, beruht auf Annahmen des Betroffenen darüber, ob gesellschaftliche Solidaritätsprinzipien eingehalten oder nicht eingehalten werden. Solidarität wurde definiert als Reziprozität von Rechten und Pflichten unter Verzicht auf eigennützige Interessen. Die Wahrnehmung, solidarisch behandelt zu werden, ergibt sich folglich dann für einen Menschen, wenn er der Ansicht ist, dass seine Kooperationspartner ebenso ihre Pflichten erfüllen wie er selbst, bzw., dass ihnen nicht mehr Rechte zugestanden werden als ihm selbst. Umgekehrt resultiert die Annahme, nicht solidarisch behandelt zu werden, aus der Wahrnehmung, dass Kooperationspartner weniger Pflichten erfüllen bzw. mehr Rechte erhalten als die betroffene Person selbst. Das Erleben, solidarisch und somit gerecht behandelt zu werden, basiert somit auf den Erwartungen eines Menschen darüber, welche Rechte und Pflichten er und andere Gesellschaftsmitglieder erfüllen müssen. Wer erkennt an? In welchem Ausmaß verschiedene Gesellschaftsmitglieder Pflichten zum Wohle aller zu erfüllen haben, wird durch politisches Handeln bestimmt. Für das hier betrachtete Konstrukt bedeutet das, dass auf die Wahrnehmung, aufgrund politischer Entscheidungen relativ zu anderen die gleichen Pflichten erbringen zu müssen und die gleichen Rechte zu erhalten, fokussiert wird. Politische Maßnahmen, die festlegen, von welchen Gesellschaftsmitgliedern welche Pflichten verlangt und welche Rechte ihnen gewährt werden, sind nicht an einzelne Individuen gerichtet, sondern an bestimmte gesellschaftliche Untergruppen. Menschen können somit immer
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nur in ihrer Eigenschaft als Angehörige bestimmter gesellschaftlicher Positionen Adressaten politischen Handelns sein. Bei der Frage, ob sich eine Person durch politische Maßnahmen gerecht oder ungerecht behandelt fühlt, wird somit keine individuell vergebene, sondern eine gruppenbasiert vergebene Anerkennung betrachtet. Aus dem bisher Gesagten ergibt sich also, dass unter der Wahrnehmung eines Menschen, moralisch anerkannt zu werden, verstanden wird, dass er sich gerecht behandelt fühlt, weil er sich nach seinem Empfinden durch politische Entscheidungen als Angehöriger einer bestimmten sozialen Position – gegenüber Angehörigen anderer Positionen – als gleichberechtigter Staatsbürger behandelt wird. Das bedeutet, es handelt sich um die Wahrnehmung, gerecht behandelt zu werden, weil der Betreffende aufgrund seiner gesellschaftlichen Position – nach seiner Wahrnehmung – aufgrund politischer Entscheidungen nicht mehr Pflichten erfüllen muss bzw. weniger Rechte erhält als Angehörige anderer gesellschaftlicher Positionen. Nimmt die Person nicht wahr, auf diese Weise persönlich gerecht behandelt zu werden, so geht dies mit dem Empfinden einher, nicht in der rechtlich zugesicherten Gleichwertigkeit anerkannt zu werden. Da diese Wahrnehmung auf politischen Entscheidungen beruht, ist offenkundig, dass diese Form der Anerkennung ausschließlich im öffentlichen Raum praktiziert werden kann. Zusammengefasst kann also festgestellt werden, dass die erste Form der moralischen Anerkennung dann besteht, wenn ein Mensch die Ansicht vertritt, durch politische Gegebenheiten und Maßnahmen solidarisch behandelt zu werden. Eine solche Anerkennung als gleichberechtigter Staatsbürger ergibt sich aus der Wahrnehmung, als Angehöriger einer sozialen Gruppe aufgrund von politischen Handlungsweisen nicht im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Gruppierungen benachteiligt zu sein. Das Empfinden moralischer Missachtung zeigt sich also in der Wahrnehmung, als Bürger der deutschen Gesellschaft durch politische Entscheidungen schlechter behandelt zu werden als andere Gesellschaftsmitglieder. Eine solche Wahrnehmung kann immer nur in Abhängigkeit davon bestehen, welche politischen Handlungsweisen erwartet werden. Missachtungsgefühle beruhen hier entsprechend auf der Nichteinhaltung bzw. dem Zuwiderhandeln von Ansprüchen, die an politisches Handeln gestellt werden. Wie bereits im Zusammenhang mit den übrigen Anerkennungsdimensionen erläutert, nennt Deutsch Bedingungen, auf Basis derer Menschen ihre Erwartungen bilden. Zentral für die betrachtete Facette der moralischen Anerkennung sind von diesen Kriterien die Normen und Wertvorstellungen der Gesellschaft, der Wandel dieser Normen und Wertvorstellungen und insbesondere der Vergleich mit anderen Personen. Sollen Wertvorstellungen identifiziert werden, die die Erwartungen von Bürgern an politisches Handeln beeinflussen, so besteht die Schwierigkeit, dass Maßnahmen, die in den verschiedenen Politikbereichen vorgenommen werden, von unterschiedlichen Wertvorstellungen geleitet sind. Eine Auseinandersetzung mit allen möglichen Werten, die z.B. mit Maßnahmen der Sicherheitspolitik, Außenpolitik, Umweltpolitik usw. in Verbindung gebracht werden können, wäre entsprechend derart umfangreich, dass dies an dieser Stelle nicht erfolgen kann. Aus diesem Grund setze ich mich im Folgenden ausschließlich mit dem politischen Sektor auseinander, mit dem Entscheidungen verbunden sind, durch die insbesondere Rechte und Verpflichtungen der Bürger geregelt sind und die vermutlich am ehesten Ungerechtigkeitsgefühle bei Betroffenen hervorrufen. Es wird angenommen, dass dies insbesondere auf Maßnahmen zutrifft, die die Sozial- und Wohlfahrtspolitik betreffen. Die Beantwortung der Frage, welche (sozial-)politischen Maßnahmen eine Person erwartet, hängt zunächst einmal von gesellschaftlich geteilten Wertvorstellungen darüber ab, wie weitreichend Eingriffe des Wohlfahrtsstaats sein sollen bzw. welche Rechte manchen Bürgern hierdurch gewährt und welche Pflichten anderen abverlangt werden, ohne den Status ihrer Gleichheit als Staatsbürger zu verletzen. Gleichheit kann einerseits als absolute Gleichheit und andererseits
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als relative Gleichheit verstanden werden. Während absolute Gleichheit bedeutet, dass zwischen einzelnen Gesellschaftsmitgliedern bzw. gesellschaftlichen Gruppen keinerlei Unterschiede bezüglich ihrer Rechte und Pflichten wie auch ihrer wirtschaftlichen Möglichkeiten bestehen sollten, bedeutet relative Gleichheit, dass es aufgrund der Legitimation durch einen bestimmten Bezugsstandard Unterschiede zwischen einzelnen Menschen oder Gruppen geben darf. Während in keiner westlichen Industrienation Wertvorstellungen, die auf einem reinen Prinzip der absoluten Gleichheit beruhen, vertreten werden, finden sich weniger strenge Formen dieses Postulats, und zwar „mit der Forderung (…), daß gewisse Differenzierungsgrade zwischen den verschiedenen Menschen nicht überschritten werden sollen oder zumindest untere Schwellenwerte (z.B. existenzminimales Einkommen) zu beachten sind“ (Frerich, 1990 S. 27). Bezugsstandards, an denen die Herstellung einer relativen Gleichheit orientiert sein kann, sind einerseits Leistung und andererseits Bedarf. Es ist festzustellen, dass sowohl die Frage, an welchen dieser Extrempositionen sozialpolitisches Handeln wie stark orientiert sein sollte, als auch die Frage der Auslegung der einzelnen Gleichheitsprinzipien, nicht eindeutig beantwortet werden können. Kersting führt an, es bestünde eine „verwirrende Vielfalt egalitärer Distributionsprinzipien“ (Kersting, 2000 S. 35). So resultiert z.B. aus einer starken – aus der Tradition der liberalen Theorie erwachsenden – Orientierung an Leistung als Maßstab der relativen Gleichheit, dass ausschließlich Handlungen zur Herstellung gleicher Handlungsfreiheiten als legitim gelten können. Maßnahmen, die zu einer Schmälerung des selbst erwirtschafteten Besitzes einzelner Bürger führen, sind nach diesem Begründungsmaßstab abzulehnen. Hier ist allerdings zu beachten, dass derartige Einschränkungen von Privatbesitz unweigerlich erfolgen müssen, soll über die rechtliche Zusicherung von Handlungsfreiheit hinaus ebenfalls eine Chancengleichheit gesichert werden. Denn hierzu „müssen Qualifizierungsmöglichkeiten mit marktunabhängigem, einkommensneutralem Zugang etabliert werden, die nur kollektiv finanziert werden können, also durch Steuern und Abgaben. Da aber selbst in allgemein zugänglichen und gebührenfreien Ausbildungsinstitutionen der Qualifikationserfolg und damit auch die karrierepolitischen Erfolgsaussichten von Begabung, Leistungsverhalten und häuslichem Umfeld abhängen, kann ein Anhänger der Chancengleichheit auch zu der radikalen Überzeugung gelangen, daß man über den Zustand der Diskriminierungsfreiheit hinausgehen und zusätzlich für kompensatorischen Ausgleich zu sorgen habe, damit die, die unverdienterweise durch die natürlichen und sozialen Umstände benachteiligt sind, dafür entschädigt werden, etwa in Form einer Abwärtsegalisierung durch steuerliche Umverteilung“ (Kersting, 2000 S. 38 ff.). Demgegenüber zielen Maßnahmen, die auf Prinzipien der relativen Gleichheit unter Berücksichtigung des Bedarfs als Maßstab beruhen, darauf ab, den Gesellschaftsmitgliedern die Ressourcen bereitzustellen, die nötig sind, um ihnen die Verwirklichung ihres Lebensplans zu ermöglichen (Kersting, 2000 S. 39). Ist sozialpolitisches Handeln an Kriterien absoluter Gleichheit orientiert, so müssen hieraus Handlungen resultieren, die zu einer Auflösung jeglicher sozialer Ungleichheiten führen (vgl. Kersting, 2000 S. 39). Nun sind unterschiedliche politische Maßnahmen in verschieden starker Art und Weise an unterschiedlichen Wertvorstellungen orientiert. So finden sich z.B. in der deutschen Wohlfahrtspolitik zu 60% Maßnahmen der Sozialversicherungspolitik, durch die Ansprüche auf Leistungen primär durch die Beiträge der Versicherten ermöglicht werden und die dazu dienen, die soziale Position eines Gesellschaftsmitglieds auch im Versicherungsfall aufrechterhalten zu können (vgl. Schmidt, 2005 S. 218). Es handelt sich also um Maßnahmen, die primär auf den Prinzipien des Bedarfs beruhen. Darüber hinaus ist sozialstaatliches Handeln in der Bundesre-
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publik Deutschland durch so genannte Versorgungsprinzipien gekennzeichnet. Diese zeichnen sich durch einen weitreichenden Sozialschutz aus, der Personen unabhängig von ihrem Status als Erwerbs- oder Nichterwerbsperson zugute kommt und hauptsächlich aus Steuern, nicht aus Beiträgen der Versicherten gezahlt wird (vgl. Schmidt, 2005 S. 217 ff.). Solche Maßnahmen basieren somit auf weniger liberalen Prinzipien von Gleichheit. Darüber hinaus finden sich Fürsorgeleistungen, vor allem in Form von Sozialhilfe. Diese sind durch das Prinzip der Subsidiarität gekennzeichnet, was bedeutet, dass der Staat erst dann eine Unterstützungsfunktion erbringt, wenn Markt und Familie diese nicht mehr leisten können (vgl. Schmidt, 2005 S. 218). Hier ist somit wieder der Bezugsstandard des Bedarfs zentral. Abhängig davon, welchen dieser unterschiedlichen Verteilungsgrundsätze ein Individuum zustimmt, bildet es Erwartungen dahingehend aus, welche Leistungen es beanspruchen kann und welche Leistungen es zu erbringen hat. Beeinflusst wird eine Zustimmung oder Ablehnung verschiedenster Vorstellungen und die Ausbildung der Erwartungen durch öffentliche politische Diskurse, die verdeutlichen, dass Annahmen über die Angemessenheit verschiedener sozialpolitischer Maßnahmen alles andere als unumstritten sind. Aus dieser Uneinigkeit darüber, welche Wertvorstellungen sozialpolitische Maßnahmen leiten sollen, resultiert, dass sich die Erwartungen der Bürger an den unterschiedlichsten Positionen orientieren können. Hieraus können entsprechend Erwartungen,22 die nicht im Einklang mit tatsächlichen sozialpolitischen Maßnahmen stehen und somit die Grundlage einer moralischen Missachtung bilden, erwachsen. Das bedeutet, eine Diskrepanz zwischen den Wertvorstellungen einer Person und den Wertvorstellungen, auf denen wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen basieren, kann somit zu einer Diskrepanz zwischen den Erwartungen einer Person und den vorgenommenen politischen Maßnahmen führen und somit Quelle moralischer Nichtanerkennung sein. Das Handeln des Wohlfahrtsstaats sowie die Erwartungen von Bürgern sind also durch die mehr oder weniger starke Fokussierung auf bestimmte Werte gekennzeichnet. Eine Veränderung der verschieden starken Orientierungen an den unterschiedlichen Wertvorstellungen bringt nun eine Veränderung der sozialpolitischen Maßnahmen mit sich, die mögliche Diskrepanzen zu den Erwartungen von Gesellschaftsmitgliedern hervorrufen, verstärken oder abmildern kann. Eine Veränderung der bestehenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen kann – wie Deutsch anführt (vgl. Deutsch, 1985 S. 53) – zum einen durch schnellen sozialen Wandel, der die Legitimität des bestehenden Wertesystems infrage stellt, entstehen. Ein rapider sozialer Wandel, der sich stark auf die gesellschaftlichen Wertvorstellungen bezüglich der Umverteilung gesellschaftlicher Kooperationsgewinne auswirkte, ist z.B. in der deutsch-deutschen Wiedervereinigung zu sehen. Während die gesellschaftlich geteilten Wertvorstellungen innerhalb der DDR eher an Kriterien absoluter Gleichheit bzw. Bedarfsgleichheit orientiert waren, sind die Vorstellungen der Bundesrepublik Deutschland, die im Zuge der Wiedervereinigung ebenfalls für DDR-Bürger relevant wurden, stärker als Wertvorstellungen der DDR auf liberale Werte zugeschnitten (vgl. Hufnagel & Simon, 2004). Des Weiteren ist es möglich, dass ein Wertewandel aus der Unfähigkeit der Gesellschaft, weiterhin bestimmten Ansprüchen der Gesellschaftsmitglieder zu genügen, resultiert. Hier 22
Diese Erwartungen können selbstverständlich sowohl auf eine nicht benachteiligende Handlung gegenüber einer Person selbst, als auch auf solche Behandlung gegenüber anderen Personen oder Gruppen bezogen sein. Im Zusammenhang mit der Erörterung, ob sich ein Mensch als gleichberechtigter Bürger anerkannt fühlt, ist allerdings ausschließlich die Frage danach, ob er sich persönlich benachteiligt fühlt, relevant.
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kann als Beispiel die Forderung der Politik nach mehr sozialer Eigenverantwortung der Bürger aufgrund leerer öffentlicher Kassen angeführt werden. Hierbei handelt es sich also um eine Abschwächung von Prinzipien direkter materieller Umverteilung, die eher auf Erwägungen der Bedarfsgleichheit beruhen, und um eine Zuwendung zu Prinzipien, die primär auf Herstellung von Chancengleichheit, also liberale Wertvorstellungen, fokussieren. Drittens kann eine stärkere Auseinandersetzung mit den Wertvorstellungen anderer Gesellschaften dazu beitragen, dass die bestehenden verdrängt werden. Deutsch führt an, dass ein solcher Wertewandel z.B. aus einer verstärkten Kommunikation resultieren kann (vgl. Deutsch, 1985 S. 53). Wie Esping-Andersen in der international vergleichenden Studie „The three worlds of welfare capitalism“ aufzeigt, sind bezogen auf verschiedene westliche Industrienationen drei unterschiedliche Arten des Wohlfahrtsstaats aufzufinden. Er bezeichnet diese Typen als liberales, konservatives und sozial-demokratisches Wohlfahrtsstaatssystem (vgl. EspingAndersen, 1990). Deutschland rechnet Esping-Andersen dem Typus des konservativen Wohlfahrtsstaats zu. Die Art, in der sich die Wohlfahrtspolitik der angeführten Länder unterscheidet, zeigt, dass sie jeweils durch verschieden starke Fokussierung auf unterschiedliche Gleichheitsvorstellungen geprägt ist. Eine Auseinandersetzung der deutschen Gesellschaft mit sozialdemokratischen Systemen – wie den nordischen Ländern – oder liberalen Systemen – wie den USA – kann zu einem Wandel der in Deutschland herrschenden Wertorientierung führen. Das gilt sowohl für die Wertvorstellungen, anhand derer sozialpolitische Maßnahmen durchgeführt werden, als auch für die Wertorientierung einzelner Gesellschaftsmitglieder. Ein solcher Wandel begünstigt somit die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Diskrepanzen zwischen tatsächlich durchgeführten sozialpolitischen Maßnahmen und solchen, die von den Gesellschaftsmitgliedern erwartet werden. Ob sich ein Gesellschaftsmitglied in diesem Sinne moralisch anerkannt oder missachtet fühlt, wird aber nicht nur durch die Zustimmung oder Ablehnung bestimmter Wertvorstellungen beeinflusst. Zentral für diese Art der moralischen Anerkennung ist, ob eine Person sich aufgrund ihrer sozialen Position im Vergleich zu Angehörigen anderer sozialer Position als benachteiligt wahrnimmt. Entsprechend beruhen auch die Ansprüche, welche sozialpolitischen Maßnahmen erwartet werden, stark auf Vergleichen mit Angehörigen anderer Positionen. Insbesondere die sozialstaatliche Funktion der materiellen Umverteilung birgt hier Potenzial für das Entstehen von Benachteiligungsgefühlen. Denn bei einem Großteil der durch den Wohlfahrtsstaat umverteilten Güter handelt es sich um rivalisierende Güter.23 Diese sind, wenn sie nicht vermehrbar sind, pareto-optimal verteilt. Das bedeutet, die Verbesserung der Versorgungssituation einer Person bezogen auf dieses Gut führt zu der Verschlechterung der Versorgungssituation einer anderen Person. Die Situation eines Menschen, der zum Zwecke der Umverteilung Güter bereitstellen muss, führt also unweigerlich zu einer Verschlechterung seiner eigenen Situation. Relative Benachteiligungsempfindungen können somit dann entstehen, wenn eine Person die Auffassung vertritt, die Situation anderer Leistungsträger sei hierdurch weniger von Verschlechterungen betroffen als die eigene, bzw. die Situation der Empfänger von Leistungen werde durch die Umverteilung in unangemessener Weise verbessert. Ebenso kann für einen Empfänger sozialstaatlicher Leistungen ein Vergleich mit anderen Leistungsempfängern, die vermeintlich eine relative Bevorzugung erfahren – also relativ zu ihm selbst ein größeres Ausmaß an Leistungen erhalten –, zu der Empfindung von Benachteiligung führen.
23 Darüber hinaus betrifft Verteilungsgerechtigkeit ebenfalls nicht-rivalisierender Güter wie Grundrechte und Grundfreiheiten, die aber an dieser Stelle vernachlässigt werden sollen.
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Die Ansicht, moralisch anerkannt zu werden, entsteht also aus der Wahrnehmung, von politischen Entscheidungen persönlich im Vergleich zu anderen gerecht oder ungerecht behandelt zu werden. Damit weist diese Anerkennungsdimension eine Nähe zu dem von Gamson erläuterten Konstrukt des politischen Vertrauens auf. Gamson argumentiert, dass das politische Vertrauen zusammen mit dem Gefühl, das politische System beeinflussen zu können, das grundlegende Verhältnis der Bürger gegenüber politischen Akteuren ausmacht (Gamson, 1968). Während das Gefühl, Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen zu können – bezeichnet als political efficacy – sich auf den „Input“ bezieht, den ein Bürger zum politischen System beitragen kann, betrifft das politische Vertrauen die „Output“-Dimension der Politik. Wie Gamson schreibt: „the trust dimension refers to beliefs about the outputs of the political system” (Gamson, 1968 S. 42). Das bedeutet also, das Konstrukt Politikvertrauen erfasst die Frage, ob Bürger der Ansicht sind, dass politische Entscheidungen richtig und sinnvoll sind. Es zeigt sich, dass dieses Konstrukt somit zwar eine gewisse Nähe zur moralischen Anerkennung aufgrund politischer Entscheidungen aufweist, allerdings sehr viel genereller ist. Denn während das politische Vertrauen sich auf das Vertrauen in politische Entscheidungen ganz allgemein bezieht, ist das Gefühl, moralisch anerkannt zu werden, speziell auf die Wahrnehmung, durch politische Entscheidungen persönlich gerecht oder ungerecht behandelt zu werden, bezogen. Es handelt sich also um das Empfinden, als Adressat politischer Maßnahmen gerecht behandelt zu werden. Eine Wahrnehmung von Ungerechtigkeit aufgrund einer Benachteiligung durch politisches Handeln kann insbesondere dann belastend sein, wenn für die Betroffenen nicht die Möglichkeit besteht, die ursächliche Situation zu verändern. Eine solche Unmöglichkeit der Veränderung betrifft z.B. Menschen in ihrer Rolle als Träger des Sozialstaats, da nicht die Möglichkeit besteht, die Unterstützungsleistungen nicht zu erbringen. „Der Sozialstaat ist ein System zwangsorganisierter Hilfsbereitschaft und Mitmenschlichkeit resp. Mitbürgerlichkeit. Der Wohlfahrtsstaat ist keine moralisch neutrale Form der Zentralisierung und Koordination konkreter und spontaner Solidarität, sondern ein Zwangsverband, der die mitmenschlichen Unterstützungsleistungen abgaben- und steuerpolitisch erzwingt, die lebensweltlichen Netze der freiwilligen privaten Hilfe durch ein bürokratisches System umfassender Zwangsmitgliedschaft und gesetzlicher Umverteilung ersetzt“ (Kersting, 2000 S. 25). Sozialstaatsprinzipien abzuschaffen, wird allerdings wohl von den wenigsten Bürgern gefordert werden. Die Unzufriedenheit mit erfolgten oder geplanten sozialpolitischen Maßnahmen kann aber durchaus den Wunsch hervorrufen, auf die Sozialpolitik selbst Einfluss zu nehmen. Zunächst einmal scheint die Möglichkeit, sozialpolitische Entscheidungsprozesse mitzubestimmen, eher gering. Zwar werden demokratische Gesellschaften dadurch legitimiert, dass jeder Staatsbürger über das Recht verfügt, gesellschaftliche Normen mitzubestimmen; faktisch ist aber der Einfluss auf Wohlfahrtsprinzipien doch eher gering. So zeigt sich, dass Sozialpolitik sich aus „staatlichen, öffentlich-rechtlichen und privaten Handlungsträgern zusammensetzt und daß das Gelingen sozialpolitischer Intervention an die häufig kompliziert herzustellende Bedingung eines effektiven Zusammenwirkens zwischen staatlichen Institutionen und ‚intermediären’ Instanzen geknüpft ist“ (von Winter, 1990 S. 324). Wenn somit die Möglichkeit einer Einflussnahme für den Einzelnen eher gering erscheint, so kann sie doch z.B. durch Mitwirken in den von von Winter genannten „intermediären Instanzen“ wie Wohlfahrtsverbänden oder Gewerkschaften erhöht werden. Bedeutsam bei der Betrachtung einer solchen Möglichkeit, Einfluss zu nehmen, ist, dass es gerade diese ist, die durch die Gewährung sozialstaatlicher Leistungen ermöglicht werden soll, wie eingangs dieses Kapitels unter Bezug auf Marshall erläutert wurde. Dies gilt selbstverständlich nicht nur für eine Beeinflus-
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sung wohlfahrtspolitischer Maßnahmen, sondern für die Teilnahme an politischen Entscheidungsprozessen generell. Wie zu Beginn des Kapitels beschrieben, ist das Ermöglichen einer solchen Teilnahmechance die zweite Aufgabe der institutionellen Integrationsdimension. Entsprechend ist mit ihr eine zweite Facette der moralischen Anerkennung verbunden, nämlich eine moralische Anerkennung als politischer Akteur. 4.1.3.3
Moralische Anerkennung als politischer Akteur
Was wird anerkannt? Das Solidarsystem soll einerseits eine politische Teilhabe für alle Gesellschaftsmitglieder ermöglichen, anderseits beruht die Legitimität des gesamten gesellschaftlichen Systems auf der Zustimmung der Gesellschaftsmitglieder, die – wie soeben erläutert – nicht in jedem Fall gegeben ist. Das bedeutet, ein Staatsbürger, der sich nicht in seinem Recht auf solidarische Behandlung anerkannt fühlt, verfügt über das Recht, durch aktive Einflussnahme für die eigenen gesellschaftlichen Anliegen einzutreten und somit politisch zu partizipieren. Um den Mitgliedern einer Gesellschaft die politische Partizipation zu ermöglichen, müssen bestimmte Rahmenbedingungen – die Einbindung in Wohlfahrtsrechte und liberale Freiheitsrechte – gewährleistet sein. Axel Honneth setzt sich darüber hinaus mit der Frage nach den Fähigkeiten, die ein Mensch mitbringen muss, um am öffentlichen Willensbildungsprozess teilnehmen zu können, auseinander. Diese Fähigkeiten bezeichnet Honneth als die „moralische Zurechnungsfähigkeit“ eines Menschen (vgl. Honneth, 2003a S. 184 ff.). Im Rahmen seiner Ausführungen zur Dimension der rechtlichen Anerkennung setzt er sich mit der Frage auseinander, wann eine Person davon ausgehen kann, dass ihr eine solche Fähigkeit, vernunftgeleitet Entscheidungen über rechtliche Normen treffen zu können, unterstellt wird. Zur Klärung dieser Frage greift Honneth die Argumentation auf, dass eine Legitimation des Rechtssystems einer Gesellschaft nur erfolgen kann, wenn alle Mitglieder der Gesellschaft den Rechtsnormen auf gleiche Weise zustimmen können. Dies ist der Fall, wenn alle Angehörigen der Gesellschaft über die Möglichkeit verfügen, durch Teilnahme am gesellschaftlichen Willensbildungsprozess rechtliche Normen mit herzustellen. Vorraussetzung hierfür ist, dass die Gesellschaftsmitglieder als autonome Individuen, die in der Lage sind, über moralische Normen vernunftgeleitet zu entscheiden, anerkannt werden. Nach Honneths Argumentation resultiert hieraus, dass Personen, die Adressaten gesellschaftlicher Rechte sind, automatisch die Fähigkeit, autonom über moralische Fragen vernünftig zu entscheiden, unterstellt sein muss. Das bedeutet, es handelt sich hierbei nicht um von Individuum zu Individuum variierende Fähigkeiten, sondern um universelle, jeder Person aufgrund ihres Status als Staatsbürger zugeschriebene. Wie wir anerkannt? Rechtliche Anerkennung und die Anerkennung der Fähigkeit, die notwendig ist, um am politischen Willensbildungsprozess teilzuhaben, sind nach Honneth somit als synonym zu betrachten. Es stellt sich allerdings die Frage, ob nicht die Anerkennung der Fähigkeit, vernunftgeleitet bewerten, entscheiden und handeln zu können, über weitere Aspekte transportiert wird als lediglich über die Einbindung in gesellschaftliche Grundrechte. Denn eine tatsächliche Achtung des bestehenden Rechts, als vollwertiges Gesellschaftsmitglied gesellschaftliche Verände-
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Theoretische Erweiterung
rungen vornehmen zu können, muss nicht zwangsläufig in alltäglichen Interaktionen vermittelt werden.24 Im Folgenden wird eine Anerkennung der moralischen Zurechnungsfähigkeit, die über ein Bestehen oder Nichtbestehen des faktischen Status als Rechtsperson hinausgeht, betrachtet. Somit wird sie nicht lediglich, wie innerhalb Honneths Argumentation, implizit durch den Status als Autor gesellschaftlicher Rechte unterstellt..25 Das bedeutet, ich setze mich nicht mit der Frage auseinander, ob eine Person über das Recht verfügt, für ihre gesellschaftlichen Anliegen einzutreten, sondern ob ihr das Gefühl vermittelt wird, dass dieses objektiv bestehende Recht tatsächlich Berücksichtigung findet. Moralische Anerkennung ist somit keine rechtliche Anerkennung, sondern drückt die Möglichkeit aus, sich bei dem Versuch, politisch zu partizipieren und öffentlich ‚Gehör zu verschaffen’, wahrgenommen zu werden und somit auf eigene gesellschaftliche Anliegen aufmerksam machen zu können. Die reine rechtliche Anerkennung des Partizipationsrechts eines Staatsbürgers ist hierfür somit notwendige, jedoch nicht hinreichende Bedingung. Moralische Anerkennung betrifft vielmehr die Beachtung des Rechts eines Staatsbürgers, für seine gesellschaftlichen Anliegen einzutreten. Ein Eintreten für die eigenen Anliegen geschieht durch politische Partizipation. „Unter politischer Partizipation versteht man die freiwilligen Handlungen der Bürger mit dem Ziel, politische Sach- und Personalentscheidungen auf verschiedenen Ebenen des politischen Systems zu beeinflussen oder unmittelbar an derartigen Entscheidungen mitzuwirken“ (Gabriel & Brettschneider, 1998 S. 284). Unter solchen „freiwilligen Handlungen“ müssen nicht zwingend solche politischen Aktivitäten verstanden werden, die in der Partizipationsforschung gemeinhin als „Gladiatorenaktivitäten“ bezeichnet werden (Gabriel & Brettschneider, 1998 S. 284). „Gladiatorenaktivitäten“, die lediglich von einem kleinen Teil der Bevölkerung praktiziert werden, umfassen z.B. die Mitarbeit in Parteien und in politischen Entscheidungsgremien. Unter den Begriff „politische Partizipation“ fällt aber nach oben angeführter Definition jedwede Handlung, die darauf abzielt, das politische System zu beeinflussen. Entsprechend ist jeder Versuch, auf gesellschaftliche Problematiken aufmerksam zu machen, in den Partizipationsbegriff mit eingeschlossen. In der Partizipationsforschung wird allgemein zwischen konventioneller und unkonventioneller Partizipation unterschieden. Die konventionelle Partizipation umfasst nach Kaase „legale, auf öffentliche Wahlen bezogene verfasste oder nicht verfasste Handlungen mit unstrittig positivem Legitimitätsstatus“ (Kaase, 1992 S. 340). Konventionelle Partizipation kann somit einerseits auf der Ebene individueller Einflussnahme, aber auch über die Mitwirkung in Interessensorganisationen wie Verbänden, Non-Profit-Organisationen, Gewerkschaften oder Parteien stattfinden. Demgegenüber zeigen sich unkonventionelle Partizipationsformen als „unverfasste Handlungen unabhängig von ihrem Legalitäts- oder Legitimitätsstatus“ (Kaase, 1992 S. 349). Es ist anzunehmen, dass Personen konventionelle Formen der politischen Teilhabe zunächst nutzen, um auf gesellschaftlicher Ebene Beachtung zu finden, während unkonventionelle Einflussnahme eher erfolgt, wenn sich die Betroffenen in der Nutzung konventioneller Partizipation bereits unbeachtet, also nicht in ihrem Recht auf Partizipation anerkannt fühlen. „Konventionelle Aktivitäten scheinen primär den Zweck zu erfüllen, die politische Führung mit Informationen über die Mehrheitsmeinung zu versorgen, während 24
Darüber hinaus umfasst die rechtliche Anerkennung nach Honneth die Einbindung in jegliche Rechte einer Gesellschaft, während sich die hier angeführte Definition der moralischen Anerkennung lediglich auf das politische Partizipationsrecht bezieht. 25 Während die rechtliche Einbindung als Aspekt objektiver Integration im Zusammenhang mit moralischer Anerkennung keine weitere Betrachtung findet.
Ausarbeitung der Schlüsselbegriffe der Theorie der sozialen Desintegration
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unkonventionelle Aktivitäten eher einen Druck in Richtung auf politische Innovationen implizieren“ (Gabriel & Brettschneider, 1998 S. 290). Wie bereits erläutert, ist die Beachtung der durch diese Aktivititäten kommunizierten politischen Vorstellungen von Staatsbürgern Kern dieser Art der moralischen Anerkennung. Es handelt sich somit nicht um eine Anerkennung, die z.B. durch ein Wertschätzen einer scheinbar besonders relevanten oder wertvollen Meinung praktziert wird, sondern dadurch, dass eine bestimmte Meinung wahrgenommen wird. Warum wird anerkannt? Es wurde bereits erwähnt, dass eine rechtliche Anerkennung notwendige Voraussetzung für moralische Anerkennung ist. Denn diese orientiert sich an der gesellschaftlichen Norm, jedem Staatsbürger einer Gesellschaft die Möglichkeit zuzugestehen, an der Gesellschaftsordnung mitwirken zu können. Der Wert, durch den diese Norm legitimiert wird, ist die Vorstellung der politischen Gleichwertigkeit eines jeden Staatsbürgers, unabhängig von sozialer Herkunft, sozialer Position oder anderen individuellen Merkmalen. Wer erkennt an? Moralische Anerkennung wird durch das Beachten von politischen Ansichten, die durch politische Partizipation vermittelt werden, praktiziert. Adressaten von politischer Partizipation sind politische Eliten; also politische Repräsentanten und Personen in gesellschaftlichen Führungspositionen. „Im sozialwissenschaftlichen Sprachgebrauch werden politische Eliten als Personen mit Einfluss auf die politische Meinungs- und Willensbildung definiert. Bei Untersuchungen politischer Willensbildungsprozesse steht dabei in der Regel der Organisationsbezug im Vordergrund, d.h., man betrachtet die Inhaber politischer Herrschaftspositionen (politische Eliten im engeren Sinne) sowie die Inhaber von Führungspositionen in anderen gesellschaftlichen Sektoren (v. a. in Verwaltung, Wirtschaft, Medien, Wissenschaft, Interessengruppen; politische Eliten im weiteren Sinne)“ (Hoffmann-Lange & König, 1998 S. 450). Als Adressaten von Informationen über gesellschaftliche Probleme sind diese politischen, sozialen und wirtschaftlichen Eliten bzw. ‚die Öffentlichkeit’ entsprechend die Instanzen, die den Veränderungsbedarf der Bürger anerkennen oder nicht anerkennen können. 4.1.3.4
Moralische Nichtanerkennung als politischer Akteur
So wie die zweite Subdimension der moralischen Anerkennung nicht mit einer rechtlichen Anerkennung nach Honneth gleichgesetzt werden konnte, so kann ebenfalls ihr Gegenstück nicht als einer rechtlichen Missachtung synonym betrachtet werden. Laut Honneth handelt es sich bei rechtlichen Missachtungen um Missachtungen, „die einem Subjekt dadurch zugefügt werden, daß es vom Besitz bestimmter Rechte innerhalb einer Gesellschaft strukturell ausgeschlossen bleibt“ (Honneth, 2003a S. 215). Das bedeutet, so wie Honneth bezogen auf die Interaktionsdimension der Anerkennung ausschließlich auf die Eingebundenheit in das Rechtssystem fixiert ist, so fokussiert er bezüglich des Gegenstücks, also der sozialen Missachtung auf institutioneller Ebene, ausschließlich auf einen faktisch bestehenden Ausschluss von den Rechten einer Gesellschaft, also auf Entrechtung. Wie bereits erwähnt, bleibt somit bei Honneth die Frage nach der Vermittlung der moralischen Anerkennung, die über eine bestehende oder nicht bestehende rechtliche Anerkennung hinausgeht, unberücksichtigt. So wird also eine Nichtbeachtung oder ein Nichtwichtignehmen des Versuchs von Staatsbürgern, sich ‚Gehör zu
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Theoretische Erweiterung
verschaffen’ trotz des bestehenden Rechtes, gesellschaftliche Anliegen öffentlich zu machen, von Honneth nicht berücksichtigt. In der vorliegenden Arbeit wird die zweite Subdimension der moralischen Anerkennung als Wahrnehmung und Beachtung von gesellschaftlichen Anliegen bestimmter Bevölkerungsgruppen beschrieben. Es wurde hervorgehoben, dass diese Form der Anerkennung nicht als Wertschätzung bestimmter gesellschaftlicher Anliegen zu verstehen ist. Hieraus folgt, dass das Gegenteil dieser Anerkennung sich entsprechend nicht durch eine Abwertung solcher Anliegen ausdrückt.26 Demgegenüber zeigt sich dieses Gegenstück moralischer Anerkennung durch Nichtwahrnehmung oder -beachtung der Anliegen der Bürger. Auch wenn somit bei dieser Art der Nichtanerkennung keine aktive Abwertung bzw. Missachtung betrachtet wird, so bedeutet das nicht, dass die betrachtete Negation keinerlei Abstufungen besitzt. So scheint es relevant, aufgrund welcher Intention politische Eliten eine solche Nichtbeachtung praktizieren. Hier ist zu differenzieren, ob diese intendiert oder nicht intendiert erfolgt. Hierbei ist ebenfalls von Bedeutung, ob eine Wahrnehmung bzw. Nichtwahrnehmung im Zusammenhang mit der sozialen Position derjenigen, die die gesellschaftlichen Anliegen vorbringen, steht. Während Gruppen, die einen niedrigen sozialen Status aufweisen, ‚keine Lobby haben’, sind einflussreiche, statushöhere Gruppen eher in der Lage, ihren gesellschaftlichen Interessen Gehör zu verschaffen. Das bedeutet, die Frage nach Anerkennung oder Nichtanerkennung kann stark vom sozialen Status der anzuerkennenden Gruppe abhängen. Dies kann sich wiederum auf die Intensität einer von den Gruppenangehörigen wahrgenommenen Nichtanerkennung auswirken, wird diese einem eigenen niedrigen Status zugeschrieben. 4.1.3.5
Wahrnehmung von moralischer Anerkennung und Nichtanerkennung als politischer Akteur
Die Wahrnehmung, Adressat der zweiten Subdimension moralischer Anerkennung zu sein, zeigt sich, wenn sich die betroffenen Individuen aufgrund der Handlungsweisen gesellschaftlicher Eliten als Staatsbürger begreifen, deren Anliegen und Interessen wahrgenommen und beachtet werden. Umgekehrt bedeutet eine Wahrnehmung von Nichtanerkennung, dass sich Personen als einflusslos und ‚ungehört’ erleben. Der Anspruch, in seinen gesellschaftlichen Interessen beachtet zu werden, wird hier primär durch die Wertvorstellung der absoluten Gleichheit aller Staatsbürger, bezogen auf politische Einflussnahme und deren Gewährung durch die Einbindung in politische Partizipationsrechte, bestimmt. Darüber hinaus wird der Anspruch, in seinen Anliegen gehört zu werden, durch die Stärke des Bedürfnisses, sich Gehör zu verschaffen, tangiert. Erlebt also ein Staatsbürger den bestehenden Zustand als sehr gravierend, wird somit entsprechend das Bedürfnis, dass diese Problematik öffentlich Beachtung findet, stärker vorhanden sein als im Falle eines Problems, das als weniger gravierend erfahren wird. Entsprechend werden die Ansprüche, beachtet zu werden, dann stärker ausgeprägt sein, wenn das Problem als belastend erlebt wird. Ein Vergleich mit anderen Personen oder Gruppen, die für ihre Interessen eintreten, bzw. ein Vergleich mit dem früheren Vorbringen der eigenen Anliegen wirkt sich des Weiteren auf die Ansprüche aus, dass die Interessen wahrge26
Es ist zwar theoretisch denkbar und möglicherweise auch tatsächlich bereits eingetreten, dass eine solche Abwertung von Anliegen der Bürger durch gesellschaftliche Eliten erfolgt. Es ist jedoch nicht davon auszugehen, dass solcherlei Reaktionen einen Regelfall darstellen, was zu der Annahme führt, dass eine solche Abwertung vernachlässigt werden kann.
Ausarbeitung des Zusammenhangs zwischen Nichtanerkennung, Selbst und GMF
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nommen werden. So entwickeln Menschen dann größere Ansprüche, Beachtung zu finden, wenn eine Vergleichsgruppe in der Äußerung ihrer Interessen wahrgenommen wird bzw. wenn sie in der Vergangenheit selbst Beachtung gefunden haben. Die Wahrnehmung, anerkannt zu werden, ergibt sich somit, wenn Staatsbürger auf Basis der soeben erläuterten Kriterien den Anspruch entwickeln, eine öffentliche Beachtung ihrer Interessen zu erfahren, und diese Wahrnehmung durch politische Eliten erfolgt. Werden diese Ansprüche nicht erfüllt, bleiben die Interessen der Bürger also ungehört, so spiegelt sich das in einem Erleben von Nichtanerkennung wider. Es zeigt sich also, dass moralische Anerkennung mit dem – weiter oben im Zusammenhang mit dem Konstrukt des Politikvertrauens nach Gamson angesprochenen – Konzept der politischen Effektivität bzw. genauer, der externen politischen Effektivität, verwandt ist. Diese „bezeichnet und misst die empfundene Rücksichtnahme der politischen Entscheidungsträger auf die Anliegen der Bürger“ (Vetter, 2004 S. 131) oder wie Balch schreibt „the belief that the authorities or regime is responsive to influence attempts“ (Balch, 1974 S. 24). Zwei wichtige Unterschiede zu dem Konzept der moralischen Anerkennung zeigen sich jedoch darin, dass das Konstrukt der externen politischen Effektivität auf den wahrgenommenen Einfluss von Bürgern per se fokussiert. Demgegenüber steht im Falle der moralischen Anerkennung gesellschaftlicher Anliegen gerade im Mittelpunkt, ob sich eine Person selbst gehört fühlt, nicht die Wahrnehmung, ob ‚der Bürger an sich’ Einfluss auf die Politik nehmen kann. Zweitens ist davon auszugehen, dass es sich bei dem Konstrukt der moralischen Anerkennung um ein Phänomen handelt, dass einer politischen Beeinflussung vorausgeht. So ist es notwendige Bedingung, in den eigenen gesellschaftsbezogenen Anliegen wahrgenommen zu werden, aber eine Wahrnehmung muss nicht unweigerlich dazu führen, dass die Anliegen hierdurch auch berücksichtigt werden. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass sich moralische Anerkennung aus zwei Aspekten zusammensetzt. Bei beiden Aspekten ist zentral, dass Menschen als gleichberechtigte Staatsbürger einer Gesellschaft anerkannt werden. Es handelt sich somit um Anerkennung in Form der Achtung aufgrund von Gleichheit. Die erste Facette der moralischen Anerkennung betrifft hierbei die Achtung der Staatsbürger durch die Einhaltung von Solidaritätsprinzipien, die als gerecht wahrgenommen werden. Demgegenüber wird die zweite Facette der moralischen Anerkennung gerade dann relevant, wenn die erste Anerkennungsform nicht gewährleistet ist. Denn diese bezieht sich auf die Achtung einer Person als Staatsbürger, indem sie in ihrem Recht auf politische Teilhabe und somit Mitgestaltung gesellschaftlicher Rechte wahrgenommen wird. 4.2 Ausarbeitung des Zusammenhangs zwischen Nichtanerkennung, Selbst und GMF Die Theorie der Sozialen Desintegration nimmt an, es bestehe ein Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung, nicht anerkannt zu werden, und der Zustimmung zu menschenfeindlichen Aussagen, da das Erleben von Anerkennungsmängeln und Missachtungen das Selbst eines Menschen bedrohe und diese Bedrohung durch die Abwertung schwacher Gruppen verarbeitet werde. Das Konstrukt des ‚Selbst’ und die Frage danach, wie dies durch das Erleben von Anerkennungsmängeln und Missachtungen beeinflusst wird, werden allerdings innerhalb der Theorie nicht weiter beschrieben. Dies wird im Folgenden nachgeholt. Mit der Frage nach dem Verhältnis von Anerkennung und Selbstbild setzte sich bereits Johann Gottlieb Fichte auseinander. So sieht Fichte in der rechtlichen Anerkennung die notwendige Bedingung für die Entstehung des Selbstbewusstseins des vernünftigen Wesens (vgl.
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Lauth & Jacob, 1962 S. 371). Auch Hegel argumentiert, gegenseitige Anerkennung sei Voraussetzung, um Selbstbewusstsein zu entwickeln. Wie bereits erläutert, sieht ebenfalls Axel Honneth, unter Berufung auf diese Annahmen Hegels und George Herbert Meads, die Erfahrung von Anerkennung als zentral für das Bestehen eines positiven Selbstverhältnisses an. Um sich weiter mit dieser Annahme auseinanderzusetzen, ist es zunächst notwendig zu klären, was unter dem Begriff ‚Selbstbild’ oder ‚Selbst’ verstanden wird. Es zeigt sich, dass oftmals, wenn der Begriff des Selbst Gegenstand der Betrachtung ist, dieser synonym mit dem Begriff der Identität verwendet wird (vgl. z.B. Mummendey & Simon, 1997). Im Rahmen der Ausarbeitung der Anerkennungsdimensionen ist bereits auf den Begriff der Identität eingegangen worden. In diesem Zusammenhang wurde erläutert, wie die Anerkennung von personaler und kollektiver Identität, beruhend auf dem Identitätsbegriff Goffmans, vermittelt wird. Dabei wurde ‚Identität’ verstanden als das Bild eines Menschen, das andere Personen von ihm aufgrund bestimmter „Identitätsaufhänger“ sozialer oder personaler Art identifizieren. Anders formuliert, wurde der Terminus Identität als eine Kategorie genutzt, die kennzeichnet, aufgrund welcher durch andere Personen wahrgenommener Merkmale eines Menschen dieser anerkannt oder missachtet werden kann. Es wurden somit Identitätskategorien beschrieben, wie sie von einem außenstehenden Beobachter wahrgenommen, interpretiert und anerkannt oder missachtet werden. In einem weiteren Schritt wurde das Verständnis des Begriffs der sozialen Identität im Sinne der SIT angeführt. Hierbei stand nun nicht mehr ein Verständnis von Identität im Mittelpunkt, nach dem Identität durch einen Beobachter wahrgenommen wird, sondern es wurde darauf fokussiert, welches Bild ein Mensch von sich selbst aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe entwickelt. Es wurde somit zwar einerseits betrachtet, wie andere Personen die Merkmale eines Menschen bewerten, indem sie sie anerkennen oder missachten, und andererseits darauf eingegangen, ob sich der Mensch in seiner Identität anerkannt fühlt oder nicht. Vernachlässigt wurde aber bis hierher, wie die betroffene Person selbst die Merkmale ihrer Identität bewertet. Es blieb also unberücksichtigt, ob ein Mensch aufgrund seiner Eigenschaften ein positives oder ein negatives Bild von sich selbst besitzt. Wird nun die Auswirkung von erlebten Anerkennungsmängeln in das Zentrum der Betrachtung gerückt, so müssen aber solche Selbstbewertungen von Menschen berücksichtigt werden. Daraus folgt, dass der bisher betrachtete Identitätsbegriff zu kurz gefasst ist, um zu der Beantwortung einer solchen Frage herangezogen werden zu können. Um die bisher verwendeten Identitätskategorien auch begrifflich von den im Folgenden betrachteten Aspekten der Selbstbewertung zu trennen, wird der Terminus Identität hierbei nicht verwendet, sondern der Begriff des ‚Selbst’ bzw. ‚Selbstwert’ genutzt. Zur Analyse der Auswirkungen von Anerkennungsmängeln und Missachtungen auf das menschliche Selbst scheint die Kategorie des Selbst-Verständnisses oder Selbst-Bildes geeignet, wie sie durch Mummendey und Simon beschrieben wird. Hiernach wird das Selbst-Verständnis oder –Bild durch die eigene Bewertung des Selbst, also die Selbst-Definition oder SelbstInterpretation, bestimmt (vgl. Mummendey & Simon, 1997 S. 16 ff.). Eine solche SelbstInterpretation wird entlang unterschiedlicher Aspekte des Selbst, aus denen es sich zusammensetzt, vorgenommen. Diese Annahme geht auf die Theorie der Selbst-Aspekte von Patricia Linville zurück (vgl. Linville, 1985). Diese Theorie geht von folgender Basisannahme aus: „The self is cognitively represented in terms of multiple aspects“ (Linville, 1985 S. 95). Das bedeutet, es wird angenommen, dass sich das Selbstbild eines Menschen aus vielen verschiedenen Kategorien zusammensetzt, anhand derer Menschen ihr Wissen über ihr Selbst organisieren. Diese Kategorien oder Aspekte repräsentieren Informationen über bestimmte, den Menschen betreffende Ereignisse, sein Verhalten und seine Generalisierungen von sich wiederholenden Beo-
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bachtungen. „Such generalisations take the form of traits (extravert), roles (researcher, father), physical features (slim), category membership (male, black), behaviour (jogger), abilities (analytical), preferences (vegetarian), goals (professional success), autobiographical recollections (summers at the lake), and relations with others (loyal friend) [see (Gordon, 1986), (McGuire & Padawer-Singer, 1976), (Robinson, 1976) (Linville, 1985 S. 96)]” (Gergen, 1971). Das bedeutet also, das Selbst ist nicht durch eine eindimensionale Struktur gekennzeichnet, sondern beinhaltet eine Vielzahl von Konzepten und Unterscheidungen, die im Zusammenhang mit den verschiedenen Rollen und Merkmalen eines Menschen stehen. Laut Linville ist ein solches Konzept der multiplen Selbst-Aspekte analog zu diversen anderen Ansätzen, die sich mit dem Konzept der Selbstrepräsentation auseinandersetzen, zu sehen. Sie nennt hier den Ansatz von Bower & Gilligan, der das Selbst als „a system of nodes in an associative network“ beschreibt, so wie Konzepte, im Rahmen derer von Schemata (vgl. Markus, 1977), Prototypen (vgl. Kuiper & Derry, 1981; Rogers, 1981) oder einem multidimensionalen Eigenschaftsraum (vgl. Breckler & Greenwald, 1982) gesprochen wird. Als zweite Basisannahme des Selbst-Aspekte-Konzepts führt Linville an: „Self-aspects vary in the affect associated with them“ (Linville, 1985 S. 97) Das bedeutet, während die Selbstbewertung eines Menschen bezüglich bestimmter Selbst-Aspekte positiv ausfallen kann, kann sie hinsichtlich anderer negativ sein. Linvilles dritte Basisannahme bezieht sich auf die Vielfalt der unterschiedlichen SelbstAspekte und auf ihr gemeinsames Variieren. Hier geht die Autorin davon aus, dass die Anzahl der Aspekte, mit Hilfe derer Menschen ihr Selbst kategorisieren, interindividuell verschieden ist. Dabei ist die Vielfalt der Selbst-Aspekte durch die Anzahl der Rollen bestimmt, die die betreffende Person ausfüllt. Ebenso unterscheiden sich Menschen danach, wie stark ihre diversen Selbst-Aspekte miteinander korrelieren. Verfügt eine Person über eine große Anzahl von Selbst-Aspekten, von denen nur wenige miteinander zusammenhängen, so zeichnet sich diese Person laut Linville durch eine hohe Selbstkomplexität aus. Die Interpretation seiner Selbstaspekte kann ein Mensch entweder auf sich persönlich als Individuum beziehen, er kann bei der Interpretation aber auch auf eine soziale Kategorie, der er angehört, fokussieren. Abhängig davon, in welcher dieser beiden Arten ein Selbstaspekt interpretiert wird, handelt es sich somit entweder um eine Bewertung des individuellen Selbst oder des kollektiven Selbst. „Individuelles Selbst meint Selbst-Interpretation als einzigartiges Individuum (‚ich’), kollektives Selbst dagegen Selbst-Interpretation als austauschbares Gruppenmitglied (‚wir’)“ (Mummendey & Simon, 1997 S. 17). Die Interpretation eines Selbstaspekts kann somit als kollektiv bezeichnet werden, wenn die eigene Person hinsichtlich eines als sozial geteilt erlebten Selbst-Aspekts betrachtet wird. „Kollektives Selbst meint die Zentrierung der Selbst-Interpretation(en) um einen als sozial-geteilt erlebten Selbst-Aspekt, welcher damit das aktuelle Selbst-Bild dominiert“ (Mummendey & Simon, 1997 S. 18). Zusammenfassend wird festgehalten, dass hier unter dem Begriff des Selbst eine Selbstdefinition oder –interpretation verstanden wird. Diese kann sich auf verschiedene Aspekte des Selbst beziehen. Verschiedene Menschen verfügen über unterschiedlich viele Selbstaspekte, die miteinander variieren oder voneinander unabhängig sein können. Selbst-Aspekte können als individuell oder als kollektiv geteilt wahrgenommen werden, also im Zusammenhang mit dem kollektiven oder dem individuellen Selbst einer Person stehen. Leary et al. erläutern, dass eine solche Selbstinterpretation ebenso wie andere Einstellungen sowohl eine kognitive als auch eine emotionale Komponente besitzt (vgl. Leary et al., 1995 S. 519). Sie argumentieren unter Rückgriff auf Argumente Browns weiter, dass die im hier untersuchten Zusammenhang relevante Komponente der Selbstbewertung primär durch emotionale Prozesse geprägt ist (vgl.
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Brown, 1993). „People do not simply think favourable or unfavourable self-relevant thoughts; they feel good or bad about themselves” (Leary et al., 1995 S 519). Nachdem somit verdeutlicht wurde, was im Folgenden unter dem Begriff des Selbst oder der Selbstbewertung verstanden wird, gilt es als Nächstes, die Frage zu klären, wie sich die Verweigerung von Anerkennung auf eine solche Selbstbewertung auswirkt. Mit der Frage danach, wie sich das Selbstbild eines Menschen entwickelt, setzt sich George Herbert Mead auseinander27 (vgl. Mead, 1993). Er geht dabei davon aus, dass Personen ihre Identität durch die Annahme darüber, wie andere Menschen sie wahrnehmen, entwickeln. In seiner Identitätstheorie sieht er die Persönlichkeit als durch drei Instanzen repräsentiert, wobei eine dieser Instanzen, die des „Me“, durch die Annahme darüber, wie Bezugspersonen ein Individuum sehen, entwickelt wird. Sie beinhaltet die Vorstellung des Betroffenen von dem Bild, das ein Partner von ihm hat. Aus Meads Annahmen ist somit zu schließen, dass das Selbstbild einer Person direkt dadurch determiniert wird, ob ihr soziales Umfeld ihr Anerkennung entgegenbringt. Diese Argumentation ist analog zu der von Popitz, der postuliert: „wie alles Sich-selbst-Sehen immer auch ein Sehen mit den Augen anderer ist, so ist alles SichSelbst-Bewerten immer auch ein Bewerten mit den Augen anderer“ (Popitz, 1986 S. 118). Es wurde bereits erwähnt, dass auch Honneth, unter Berufung auf Mead, der Erfahrung von Anerkennung für die Ausbildung des Selbst einer Person – er benutzt hierfür den Terminus „Selbstbeziehung“ – eine elementare Funktion zuspricht. Er geht dabei differenzierter auf die Frage ein, in welchem Verhältnis Anerkennung und Selbstbeziehung zueinander stehen, indem er drei zu den Anerkennungsdimensionen analoge Facetten der Selbstbeziehung differenziert und diese als Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstschätzung bezeichnet. Während nun – unter der Berücksichtigung der Tatsache, dass Missachtungserfahrungen unterschiedliche Tiefengrade besitzen können – eine Missachtung innerhalb des Liebesverhältnisses zu einer Schädigung des Selbstvertrauens führt und rechtliche Missachtungen eine Verletzung der Selbstachtung nach sich ziehen, wirken sich Missachtungen im Sinne von Beleidigungen und Entwürdigungen auf die Selbstschätzung eines Menschen aus. Diese Annahmen über das menschliche Selbst und seine Beziehung zu erlebter Anerkennung scheinen in dreierlei Hinsicht problematisch. Erstens ist zu überlegen, ob die Differenzierungen Honneths nach Vertrauen, Achtung und Schätzung des Selbstverhältnisses von einem empirischen Standpunkt aus betrachtet tatsächlich sinnvoll sind. Zweitens wird in der vorliegenden Arbeit, wie bereits unter Erläuterung der Selbst-Aspekte-Theorie Linvilles erläutert, nicht postuliert, dass das Selbst lediglich aus einer einzelnen Facette – bei Honneth das Selbstverhältnis – besteht, die drittens durch jede Erfahrung von Missachtung unmittelbar beeinträchtigt wird. Honneth geht also unter Berufung auf Mead davon aus, dass der Mensch über ein Selbst verfügt, das er achtet, schätzt und dem er vertraut. Während diese Trennung im Zusammenhang mit den von Honneth dargestellten Anerkennungsfacetten auf theoretischer Ebene plausibel ist, scheint es allerdings fraglich, ob es empirisch tatsächlich möglich ist, zwischen dem Gefühl des Vertrauens in sich selbst, dem Gefühl der Achtung und dem Gefühl der Schätzung des Selbst zu unterscheiden. Empirisch liegt es näher, nicht zwischen solchen Gefühlen zu unterscheiden, sondern von der Annahme auszugehen, dass eine Person ihr Selbst aufgrund von sozialen Erfahrungen als mehr oder weniger positiv bewertet, ohne zu spezifizieren, welcher Art diese Bewertung ist. Des Weiteren problematisch ist die Eindimensionalität des Honnethschen Selbstverhältnisses, auf das sich ein Mensch nur dann positiv beziehen kann, wenn 27
Mead verwendet den Terminus Identität.
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er diesem vertraut, es achtet und schätzt. So argumentiert Honneth, „daß den verschiedenen Formen von Missachtung für die psychische Integrität des Menschen dieselbe negative Rolle zukommt, die die organischen Erkrankungen im Zusammenhang der Reproduktion seines Körpers übernehmen: durch die Erfahrung von sozialer Erniedrigung und Demütigung sind menschliche Wesen in ihrer Identität ebenso gefährdet, wie sie es in ihrem physischen Leben durch das Erleiden von Krankheiten sind“ (Honneth, 2003a S. 218).28 Wirken sich aber soziale Missachtungen tatsächlich derart gravierend auf die gesamte Selbstdefinition eines Menschen aus, dass durch sie „die Identität der ganzen Person zum Einsturz“ gebracht werden kann (vgl. Honneth, 2003a S. 213)? Empirische Befunde von Linville haben gezeigt, dass Schutzmechanismen des Selbst existieren, die im Falle psychischer Belastung einer Überlastung entgegenwirken (vgl. Linville, 1985). Diese Schutzmechanismen stehen im Zusammenhang mit dem Konstrukt der Selbstkomplexität. Wie bereits angeführt, definiert Linville die Selbstkomplexität einer Person als Funktion voneinander unabhängiger Selbst-Aspekte. Eine weitere Annahme des Konzeptes ist nun, dass die Selbstbewertung umso instabiler ist, je geringer die Selbstkomplexität ausfällt (vgl. Linville, 1985 S. 101). Setzt sich das Selbst eines Menschen aus einer großen Anzahl voneinander unabhängiger Selbst-Aspekte zusammen, so wird die Bewertung des gesamten Selbst nur sehr geringfügig durch negative Erfahrungen, die einen dieser SelbstAspekte betreffen, beeinflusst. Verfügt ein Mensch über eine geringere Anzahl unabhängiger Selbst-Aspekt, wird die Bewertung seines gesamten Selbst stärker durch negative Beurteilungen eines einzelnen Selbst-Aspekts beeinflusst. Am stärksten in ihrer Gesamtbewertung tangiert werden Personen, deren Selbst sich aus einer sehr geringen Anzahl voneinander abhängiger Selbst-Aspekte zusammensetzt. Das bedeutet, nur im Falle einer sehr geringen Selbstkomplexität besteht – wenn überhaupt – die Gefahr, dass ein Mensch durch äußere Umstände derart bedroht werden kann, dass sein gesamtes Selbstverhältnis „zum Einsturz“ gebracht wird. In einem nächsten Schritt stellt sich nun die Frage danach, wie intensiv das Erleben eines Anerkennungsmangels oder einer Missachtung sein muss und wie häufig ein Mensch diese erleben muss, damit sie sich negativ auf das Selbstverhältnis – bzw. hier: den gerade betroffenen Selbstaspekt – eines Menschen auswirken. Reicht ein einmaliger Anerkennungsmangel, um sich nachhaltig negativ auf das Selbstverhältnis auszuwirken? Nach den Annahmen Meads müsste bereits ein einmaliger Anerkennungsmangel eine negative Selbstbewertung des Betroffenen nach sich ziehen, da postuliert wird, die Eigenwahrnehmung entstehe auf Basis der Wahrnehmung des Gegenübers. Ist dies aber zutreffend? Es wurde bereits im Einleitungsteil dieser Arbeit erwähnt, dass Leary et al. den Selbstwert als Messinstrument für das Ausmaß der wahrgenommenen sozialen Inklusion eines Menschen – sie sprechen von einem ‚Soziometer’ – betrachten (vgl. Leary et al., 1995). Diese Annahme unterziehen sie einer empirischen Prüfung. Soziale Inklusion bzw. Exklusion wird hierbei von Leary et al. durch die Erfahrung von Anerkennung bzw. Missachtung operationalisiert.29 Leary et al. führen fünf Untersuchungen durch, innerhalb derer sie das Verhältnis von wahrgenommener sozialer Exklusion und dem Selbstwert eines Menschen untersuchen. Hierbei unterteilen sie das Konstrukt des Selbstwerts in den so genannten State- und Trait-Selbstwert. Während der Trait-Selbstwert das durchschnittliche Selbstwertniveau eines Menschen über verschiedene Situationen und die Zeit hinweg beschreibt, ist der State-Selbstwert leichter durch aktuelle Ereignisse zu beeinflussen und variiert somit mit den alltäglichen Erfahrungen eines Menschen (vgl. Leary et al., 1995 S. 519). Innerhalb der ersten vier von Leary et al. vorgenommenen Untersuchungen beschäftigen sich die 28 29
Honneth verwendet die Termini Selbstbeziehung und Identität synonym. Allerdings nutzen die Autoren diese Begrifflichkeiten nicht.
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Autoren mit der Beeinflussung des State-Selbstwerts durch konkrete Ereignisse, die eine soziale Exklusion anzeigen. Es kann festgestellt werden, dass eine Exklusion, die sich durch Missachtung in Form von Zurückweisungen ausdrückt, starken Einfluss auf den State-Selbstwert einer Person nimmt. Dieser Zusammenhang besteht auch dann, wenn die ausgeschlossene Person den sozialen Ausschluss als ungerechtfertigt betrachtet. Innerhalb der fünften Studie untersuchen Leary et al. das Verhältnis zwischen dem Gefühl einer generellen sozialen Exklusion und dem Trait-Selbstwert eines Menschen. Auch hier kann ein moderater Zusammenhang festgestellt werden. Während also einzeln erlebte Anerkennungsmängel oder Missachtungen den StateSelbstwert einer Person negativ beeinflussen, wird der Trait-Selbstwert durch eine generelle Bedrohung der Inklusion – die z.B. durch einen kontinuierlich erlebten Anerkennungsmangel bzw. eine kontinuierlich erlebte Missachtung anzeigt wird – gemindert. Wenn aber der TraitSelbstwert durch dauerhafte Desintegrationserfahrungen gemindert wird, so ist davon auszugehen, dass, wenn auch einzelne Erfahrungen von verweigerter Anerkennung und Missachtung nicht direkt einen Einfluss auf diesen nehmen, sie dennoch als eine schwache Bedrohung für ihn erlebt werden. Denn es ist davon auszugehen, dass das Exklusionsgefühl umso stärker wird, je häufiger Anerkennungsmängel erfahren werden. Somit sind einzelne Missachtungserfahrungen umso bedrohlicher für den Trait-Selbstwert, je häufiger sie auftreten. Da der State-Selbstwert ausschließlich von Situation zu Situation fluktuiert und somit nicht konstant ist, in der vorliegenden Arbeit aber eine Auseinandersetzung mit konstanten, generellen Selbstbewertungen vorgenommen wird, soll der State-Selbstwert von nun an vernachlässigt werden. Wenn im Folgenden von einer Bedrohung des Selbstwerts gesprochen wird, so ist hiermit die Bedrohung des Trait-Selbstwerts gemeint, die – wie soeben erläutert – aus Anerkennungsmängeln und Missachtungen resultieren kann und umso stärker wird, je häufiger und konstanter Anerkennungsmängel und Missachtungen erfahren werden. Nach Argumenten der Self-verification-Theorie widerstrebt es Menschen, ihr Selbstkonzept zu verändern (vgl. Swann, 1987). Hiernach ist also davon auszugehen, dass eine Person, die ihren Selbstwert durch die Verweigerung von Anerkennung bedroht sieht, versuchen wird, ihren Selbstwert zu stabilisieren. Steele erörtert die Frage, wie eine solche Stabilisierung erfolgen kann, und postuliert in diesem Zusammenhang zwei Hypothesen: “First, after an important self-concept is threatened, an individual’s primary self-defensive goal is to affirm the general integrity of the self, not to resolve the particular threat. Second, because of this overriding goal, the motivation to adapt to a specific self-threat of one sort may be overcome by affirmation of the broader self-concept or of an equally important, yet different, aspect of the self-concept, without resolving the provoking threat” (Steele, 1999 S. 376). Die empirische Gültigkeit dieser Hypothesen zeigt Steele anhand verschiedener Experimente auf (vgl. Steele, 1999 S. 386 ff.). Es ist also davon auszugehen, dass eine Person, die durch Anerkennungsmängel und Missachtungserfahrungen in ihrem Selbst bedroht wird, nicht versucht, die Quelle des Anerkennungsmangels zu ‚eliminieren’, sondern einen anderen ihrer Selbstaspekte zu bestärken. Es gilt im Folgenden zu klären, aufgrund welcher Annahmen davon ausgegangen wird, dass die Verweigerung von Anerkennung und die damit einhergehende Bedrohung des Selbst die Abwertung von Fremdgruppen nach sich ziehen kann. Bereits in Kapitel 3 wurde unter Bezug auf Anhut und Heitmeyer erwähnt, dass hier die dritte Variante der angeführten drei potenziellen Wirkungszusammenhänge zwischen Anerkennungsdefiziten und Gewaltverhal-
Ausarbeitung des Zusammenhangs zwischen Nichtanerkennung, Selbst und GMF
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ten30 als die wahrscheinlichste angenommen wird. Mit dieser beschreiben Anhut und Heitmeyer eine Wirkungsweise, bei der Anerkennungsmängel in einer Dimension durch Anerkennungsgewinne in einer anderen kompensiert werden können und darüber hinaus in Abhängigkeit von Moderatorvariablen im Falle von Anerkennungsdefiziten unterschiedliche Verarbeitungsmuster resultieren können (vgl. Anhut & Heitmeyer, 2005 S. 92ff.). Das bedeutet, es wird kein streng kausaler Zusammenhang postuliert, sondern davon ausgegangen, dass Desintegrationsbedrohungen und Anerkennungsmängel in unterschiedlicher Art und Weise verarbeitet werden können. In der vorliegenden Arbeit wird im Folgenden eines dieser potenziellen Verarbeitungsmuster, das in der Abwertung von Fremdgruppen mündet, näher beschrieben. Bis hierher wurde argumentiert, dass sich das Selbstbild einer Person aus verschiedenen Selbstaspekten zusammensetzt. Die Bewertung dieser Selbstaspekte, die sich darin widerspiegelt, ob ein Mensch ein positives oder negatives Selbstbild besitzt, wird durch die unterschiedlichen Arten der Anerkennung beeinflusst. Die gesamte Selbstbewertung eines Menschen ergibt sich aus der Bewertung der einzelnen Selbstaspekte und wird umso stärker von der Bewertung dieser einzelnen Selbstaspekte beeinflusst, je geringer die Selbstkomplexität einer Person ist. Anerkennungsmängel und Missachtungen führen somit nicht unweigerlich zu einem Zusammenbruch der positiven Selbstbewertung, sie stellen jedoch eine Bedrohung für einzelne Selbst-Aspekte dar. Diese Bedrohung ist umso stärker, je häufiger Anerkennungsmängel oder Missachtungserfahrungen erlebt werden und je mehr Selbst-Aspekte betroffen sind. Je mehr Anerkennungsmängel und Missachtungserfahrungen ein Mensch wahrnimmt und je stärker die betroffenen Selbst-Aspekte entsprechend bedroht sind, umso stärker ist die Person auch in ihrer Integration bedroht. Ein bedrohtes Selbst ist somit als ein durch eine Herauslösung aus gesellschaftlichen Zugehörigkeiten bedrohtes, also individualisiertes Selbst zu verstehen. Vor allem die durch positionale und moralische Anerkennungsmängel und Missachtungserfahrungen ausgelösten Ungleichwertigkeits- und Ungerechtigkeitsgefühle sind in diesem Zusammenhang relevant. Demgegenüber ist bezüglich der emotionalen Anerkennung – wie Heitmeyer und Anhut postulieren (vgl. Anhut & Heitmeyer, 2000 S. 57) – zu vermuten, dass diese primär eine moderierende Wirkung auf den Zusammenhang zwischen positionalen bzw. moralischen Anerkennungsmängeln und der Abwertung von Fremdgruppen ausübt. Es wird vermutet, dass die Erfahrung emotionaler Anerkennung – und somit die Stärkung der entsprechenden Selbst-Aspekte – dazu beiträgt, Anerkennungsdefizite der anderen Dimensionen aufzufangen und abzufedern. Zudem führen Anhut und Heitmeyer an, dass die Erfahrung von emotionaler Anerkennung in Jugend und Kindheit eine Auswirkung auf die sozialen Kompetenzen im Erwachsenenalter nimmt (vgl. Anhut & Heitmeyer, 2005 S. 89), die – wie bereits in Kapitel 3 erläutert – ebenfalls moderierende Wirkung auf den untersuchten Zusammenhang ausüben können. Es wurde bereits im Einleitungsteil argumentiert, dass das Bestreben, gesellschaftlich zugehörig zu sein, ein menschliches Grundbedürfnis ist. Um ein Gefühl gesellschaftlicher Integration herzustellen, bietet sich einer missachteten Person entweder die Möglichkeit, dem speziellen (z.B. positionalen) Anerkennungsmangel entgegenzuwirken, indem sie versucht, sich mehr Anerkennung zu verschaffen (z.B. eine ‚anerkennenswertere’ Position einzunehmen) und so das Gefühl der Integration in dem betroffenen Bereich zu stabilisieren. Solche Bemühungen 30
Die Autoren heben im Einleitungsteil des Beitrags hervor, dass die Argumentationsmuster nicht auf die Erklärung von Gewaltverhalten beschränkt sind, sondern ebenfalls auf andere Phänomen wie Rechtsextremismus, Abwertung und Abwehr ethnischer Anderer oder andere Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit übertragen werden kann.
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Theoretische Erweiterung
finden Dörre et al. im Rahmen einer qualitativen Untersuchung zur Entstehung rechtspopulistischer Einstellungen bei verschiedenen der befragten Personen. In der Untersuchung zeigt sich, dass einige der Befragten, die in Zeitarbeitsverhältnissen beschäftigt und aufgrund dessen von Anerkennungsmängeln und Missachtung betroffen sind, versuchen, die Zeitarbeit als Einstieg in ein ‚normales’ Beschäftigungsverhältnis zu nutzen – insbesondere wenn die Personen jung und gut ausgebildet sind (vgl. Dörre, Kraemer, & Speidel, 2004 S. 96). Doch ein derartiger Versuch, den bestehenden Anerkennungsmangel zu eliminieren, ist nicht der einzige – oftmals nicht praktizierbare – Weg, um das Bedürfnis nach Zugehörigkeit zu befriedigen. Es wurde darüber hinaus bereits unter Rückgriff auf die Untersuchung Steeles angeführt, dass Menschen nicht dazu tendieren, eine solche Bewältigungsstrategie zu wählen, also eine spezielle Bedrohung des Selbst zu beseitigen – z.B. einem Anerkennungsmangel entgegenzuwirken bzw. zu versuchen, sich in dem betreffenden Bereich mehr Anerkennung zu verschaffen. Es ist also zu vermuten, dass primär andere Wege gesucht werden, um einen durch Anerkennungsmängel bedrohten Integrationsstatus zu stärken. Mit einer solchen potenziellen Strategie zur Bewältigung eines bedrohten Integrationsstatus beschäftigen sich Dörre et al., die Vereinzelungserfahrungen als durch Prekärisierung, soziale Desintegration und marktförmige Kontrolle verursacht sehen (vgl. Dörre et al., 2004). Die Autoren argumentieren, das durch Vereinzelungsprozesse bedrohte Selbst werde zu stabilisieren versucht, indem die Betroffenen eine Empfänglichkeit für rechtspopulistische und rechtsextreme Ideologien entwickeln31 und dadurch „der individuelle Anschluss an imaginäre Gemeinschaften vollzogen wird“ (Dörre et al., 2004 S. 103). Diese Bewältigungsstrategie bezeichnen die Autoren als den Versuch, einen „Übergang vom Ich zum Wir“ herzustellen (Dörre et al., 2004 S. 100ff.). Dass dieser Übergang vom „Ich zum Wir“ durch eine imaginäre Gemeinschaft praktiziert wird und nicht etwa durch die Entstehung neuer Kollektivlagen hergestellt wird, sehen Dörre et al. in der durch den flexiblen Kapitalismus entstandenen Individualisierung begründet, die der Entstehung eines kollektiven Lagebewusstseins entgegenwirkt (vgl. Dörre et al., 2004 S. 101ff.). Die Autoren beschreiben exemplarisch anhand der Aussagen zweier Interviewpartner zwei Strategien, mithilfe derer die Befragten sich, über die Abwertung von Fremdgruppen, ihrer eigenen Integration versichern (vgl. Dörre et al., 2004 S. 103ff.). Im ersten Beispiel wird ein Interview mit einem Facharbeiter analysiert, der in Zeitarbeit eine Tätigkeit am Fließband ausübt, durch die er sich „zwangsfeminisiert“ fühlt. Nach der Beschreibung von Dörre et al. macht diese Erfahrung den Zeitarbeiter anfällig für rechtspopulistische Orientierungen, die es ihm ermöglichen, sich als einem Kollektiv der Starken und Männlichen zugehörig zu fühlen. Das zweite angesprochene Beispiel wird von den Autoren nur sehr kurz behandelt. Hier findet eine Auseinandersetzung mit den Aussagen einer im Rechenzentrum einer Großbank in Normalarbeit Angestellten statt. In diesem Fall handelt es sich um eine Befragte, die stark an gesellschaftlichen Normen orientiert ist und die Abwertung von Fremdgruppen durch die Anführung der Normverstöße dieser Gruppen legitimiert. Wie noch zu zeigen sein wird, finden sich ähnliche Muster innerhalb der für die vorliegende Arbeit interviewten Personen, die von Anerkennungsmängeln bzw. Missachtungserfahrungen betroffen sind. 31
Es ist kritisch anzumerken, dass die Autoren keine Beschreibung dessen geben, was sie unter einer Empfänglichkeit für rechtspopulistische und rechtsextreme Ideologien verstehen. Zwar erfolgt im Einleitungsteil des Artikels eine kurze Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Rechtspopulismus; wie sich aber eine Empfänglichkeit von Individuen für diesen ausdrückt, wird nicht behandelt.
Zusammenfassung der theoretischen Weiterentwicklung
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4.3 Zusammenfassung der theoretischen Weiterentwicklung Ziel des vierten Kapitels der vorliegenden Arbeit war es, sich detaillierter mit den Annahmen der Theorie der Sozialen Desintegration auseinanderzusetzen und diese auf theoretischer Ebene auszubauen und zu verfeinern. Einerseits wurden hierbei die für die Arbeit zentralen theoretischen Konstrukte genauer beschrieben. Andererseits wurden erste theoretische Überlegungen über einen möglichen Zusammenhang zwischen dem Erleben, wenig soziale Anerkennung zu erhalten, und der Entwicklung feindseliger Einstellungen gegenüber schwachen Gruppen angestellt. 4.3.1 Zusammenfassung der Ausarbeitung der Anerkennungskategorien Die Theorie der Sozialen Desintegration nennt vier im Zusammenhang mit gesellschaftlicher Integration relevante Anerkennungsdimensionen. Diese sind positionale Anerkennung, moralische Anerkennung, emotionale Anerkennung der personalen Identität und emotionale Anerkennung der kollektiven Identität. Eine Ausarbeitung dieser Anerkennungskategorien erfolgte in drei verschiedenen Schritten: o o o
Beschreibung der jeweiligen Anerkennungskategorien Beschreibung der Negation der jeweiligen Anerkennungskategorie Beschreibung des aus Anerkennung oder Nichtanerkennung bzw. Missachtung resultierenden Gefühls
Der erste Schritt, also die Beschreibung der Anerkennungskategorien, wurde durch die Beantwortung der folgenden Fragen vorgenommen: o o o o
Wofür wird die Anerkennung vergeben bzw. was wird an einem Menschen anerkannt? Auf welche Art und Weise wird die Anerkennung vergeben? Von wem wird die Anerkennung primär vergeben? In welchem Fall und mit welcher Begründung wird die Anerkennung vergeben?
Das Beschriebene wird im Folgenden noch einmal kurz zusammengefasst. Emotionale Anerkennung resultiert aus Beziehungen zwischen Personen, die der Sinnstiftung und Selbstverwirklichung dienen. Diese Anerkennungsdimension wird durch die Theorie der Sozialen Desintegration in zwei Subdimensionen unterteilt. Hierbei handelt es sich um eine Anerkennung der personalen Identität und eine Anerkennung der kollektiven Identität. Um die Frage zu klären, was bezogen auf diese Konstrukte Gegenstand der Anerkennung ist, wurde in der vorliegenden Arbeit zunächst einmal der Identitätsbegriff Goffmans zugrunde gelegt. Dieser wird als Konstrukt beschrieben, aufgrund dessen ein Mensch als von anderen Menschen verschieden identifiziert wird. Das heißt, die Identität einer Person ist das, was für andere Menschen an dieser Person aufgrund von „Identitätsaufhängern“ sichtbar wird. Es handelt sich also um ein Verständnis, nach dem Identität durch die Sichtweise eines Beobachters in Erscheinung tritt. Nach diesem Verständnis wird somit zunächst einmal das anerkannt oder nicht anerkannt, aufgrund dessen der Anerkennende eine Person als von anderen Perso-
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Theoretische Erweiterung
nen unterschiedlich klassifiziert. Ein derart umfangreiches Verständnis umfasst jedoch eine sehr viel größere Fülle möglicher „Identitätsaufhänger“ als von der Theorie der Sozialen Desintegration beschrieben. Aus diesem Grund wurde der Identitätsbegriff weiter eingeschränkt. Bezogen auf eine Anerkennung der personalen Identität bedeutet das, dass hier zunächst einmal „Identitätsaufhänger“ relevant sind, die ein einzelnes Individuum als von anderen Individuen verschieden kennzeichnen. Es handelt sich hierbei also um Merkmale, die eine Person aufgrund ihrer einzigartigen Biografie beschreiben. Darüber hinaus wurde der Begriff dadurch weiter eingeschränkt, dass lediglich solche Merkmale als relevant betrachtet werden, die die betreffende Person in ihrer Rolle innerhalb einer emotionalen Beziehung zeigt, die durch eine geringe soziale Distanz gekennzeichnet ist. Es wurde beschrieben, dass die Anerkennung einer solchen personalen Identität eines Menschen dadurch praktiziert wird, dass ihm sozioemotionale und instrumentelle Unterstützung gewährt wird (Wie?), da es eine gesellschaftlich geteilte Annahme ist, dass solche Verhaltensweisen den Kern einer stabilen emotionalen Beziehung darstellen (Warum?). Da der Identitätsbegriff in diesem Fall auf eine Identität beschränkt ist, die in der Rolle sichtbar wird, die ein Mensch innerhalb einer Beziehung mit geringer sozialer Distanz einnimmt, sind entsprechend diejenigen Personen Quelle der Anerkennung, zu denen solche Beziehungen bestehen (vgl. Abb. 8). Anerkennung der personalen Identität Was? Personale Identität: Als einzigartig identifizierte Person Wie? Warum? Wer? Abb. 8
sozio-emotionale und instrumentelle Unterstützung Anerkennung als Merkmal von Beziehungen mit geringer sozialer Distanz Personen, zu denen eine geringe soziale Distanz besteht
Anerkennung der personalen Identität
Eine Nichtanerkennung der personalen Identität kann einerseits daraus entstehen, dass ein Mensch über keinerlei Beziehungen, die eine geringe soziale Distanz aufweisen, verfügt. Andererseits besteht ebenso die Möglichkeit, dass ihm innerhalb bestehender sozialer Beziehungen lediglich ein geringes Ausmaß an sozio-emotionaler und instrumenteller Unterstützung zuteil wird. In diesem Fall handelt es sich beim Gegenstück der emotionalen Anerkennung der personalen Identität – wie auch bei der Anerkennung selbst – um ein kontinuierliches Konstrukt. Eine Verweigerung dieser Anerkennungsdimension ist somit nicht dichotom, sie liegt nicht einfach vor oder nicht vor, sondern zeichnet sich durch unterschiedliche Tiefengrade aus. So kann, ähnlich wie im Falle der positionalen Nichtanerkennung, eine Nichtanerkennung der personalen Identität unintendiert oder intendiert sein, und intendierte Nichtanerkennungshandlungen können unterschiedliche Intensitäten aufweisen, die bis hin zu physischer Misshandlung steigerbar sind. Während solche missachtenden Handlungen vom Adressaten höchstwahrscheinlich auch als Missachtung empfunden werden, trifft eine solche Kongruenz zwischen Intention des Handelnden und dem Erleben des Adressaten im Falle weniger offensichtlicher Formen missachtenden Handelns, ebenso wie bezogen auf manche Arten anerkennenden Handelns, nicht in jedem Fall zu. Das bedeutet, wann ein Mensch sich in seiner personalen Identität missachtet oder anerkannt fühlt, hängt stark von der Interpretation und dem Erleben des Betroffenen ab.
Zusammenfassung der theoretischen Weiterentwicklung
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Während also der Begriff der personalen Identität die Identifikation einer Person aufgrund ihrer einzigartigen, individuellen Merkmale beschreibt, bezieht sich demgegenüber der Begriff der kollektiven Identität auf Merkmale, die einem Menschen aufgrund seiner Zugehörigkeit zu einer sozialen Kategorie zugeschrieben werden (Was wird anerkannt?). Es wurde argumentiert, dass die Verortung des Begriffs durch die Theorie der Sozialen Desintegration innerhalb der kulturell-expressiven Integrationsebene bedeutet, dass unter kollektiver Identität eine Identität verstanden wird, die aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Gruppe besteht, die über eine gemeinsame Kultur verfügt. Es wurde der Kulturbegriff von Thomas herangezogen, der unter Kultur versteht, dass gemeinsam geteilte Beurteilungs- und Verhaltensstandards (z.B. Einstellungen, Werte, Normen) existieren, die durch das jeweilige Verhalten der Angehörigen einer Gruppe – als symbolischer Indikator der Bewertungsstandards – evident werden. Für den Begriff der kollektiven Identität bedeutet das, diese wird einer Person dadurch zugeschrieben, dass sie bestimmte Verhaltensweisen zeigt, die Indikator für die Bewertungsstandards der jeweiligen Gruppen sind – dies trifft z.B. insbesondere auf das Tragen materieller Symbole oder die Ausführung kultureller Rituale zu. Kern einer Anerkennung der kollektiven Identität ist somit, solche Indikatoren der Zugehörigkeit (Verhaltensweisen und materielle Symbole) sowie die dahinter liegenden Normen und Wertvorstellungen nicht abzuwerten oder herabzuwürdigen. Das bedeutet, bei der Klärung der Frage, wie eine solche Anerkennung praktiziert wird, wurde betont, dass es sich hierbei nicht um eine Wertschätzung solcher Verhaltensweisen und Wertsvorstellungen handelt. Es ist nicht Grundlage dieser Anerkennung, die Besonderheit und Einzigartigkeit einer Kultur zu schätzen und hervorzuheben. Demgegenüber ist zentral, dass Menschen aufgrund solcher Merkmale, die bestimmte Zugehörigkeiten zu einer sozialen Kategorie anzeigen, nicht als minderwertig oder wertlos missachtet werden. Das bedeutet, bei der Anerkennung der kollektiven Identität handelt es sich um eine Anerkennung der Andersartigkeit durch Akzeptanz der Gleichwertigkeit. Einer solchen Anerkennung liegt die durch das Grundgesetz rechtlich verankerte Wertvorstellung der absoluten menschlichen Gleichwertigkeit, unabhängig von bestimmten Zugehörigkeiten, zugrunde (Warum?). Praktiziert wird sie entsprechend von Menschen, die anderen sozialen Kategorien angehören als der Betreffende und entsprechend andere Bewertungs- und Verhaltensstandards vertreten (Wer?). Ein tabelarische Zusammenfassung ist noch einmal in Abbildung 9 dargestellt. Anerkennung der kollektiven Identität Was? Kollektive Identität: Aufgrund von Gruppenzugehörigkeit identifizierte Normen, Wertvorstellungen, Objekte und Verhaltensweisen Wie? Achtung der Gleichwertigkeit trotz Unterschiedlichkeit Warum? Annahme universeller menschlicher Gleichwertigkeit unabhängig von Gruppenzugehörigkeiten Wer? Angehörige anderer Kollektive Abb. 9
Anerkennung der kollektiven Identität
Diese Subdimension der Anerkennung wird entsprechend immer erst dann sichtbar, wenn sie verweigert wird. Das heißt, dass eine Anerkennung erwartet wird, wird besonders dann deutlich, wenn eine Nichtanerkennung der kollektiven Identität in Form von Herabwürdigung, Beleidigung oder Verachtung kulturspezifischer Handlungsweisen und materieller Symbole
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Theoretische Erweiterung
einer bestimmten Gruppe erfolgt. Wenn somit kein Kontinuum zwischen dem Gewähren und dem Vorenthalten dieser Anerkennungssubdimension besteht, da einer Nichtanerkennung immer eine direkte aktive Handlung zugrunde liegt, bedeutet das allerdings nicht, dass sich die Nichtanerkennung an sich nicht durch unterschiedliche Tiefengrade auszeichnet. Die Herabwürdigung kultureller Spezifika kann durchaus mehr oder weniger intensiv praktiziert werden. Ob ein Angehöriger einer Gruppe derartige, mehr oder minder intensive Missachtungen auch in dieser Weise wahrnimmt, sich also in seiner kollektiven Identität nicht anerkannt fühlt, hängt aber nicht nur davon ab, wie intensiv die Herabwürdigung ist, sondern auch davon, ob er selbst über die ihm zugeschriebene Identität verfügt, ob er sich also selbst mit der Gruppe identifiziert. Um dies zu verdeutlichen, wurde es notwendig, das in der vorliegenden Arbeit bis zu diesem Punkt vertretene Verständnis des Identitätsbegriffs zu erweitern. Während bis zu dieser Stelle Identität als das verstanden wurde, was ein Beobachter an einem bestimmten Menschen aufgrund bestimmter Identitätsaufhänger identifiziert, rückte nun die Frage danach, ob der Betroffene selbst diese Sicht des Beobachters teilt, wie er sich also selbst kategorisiert, in den Mittelpunkt. Es wurde also die Frage danach, ob eine Person sich einer bestimmten Gruppierung zugehörig fühlt, als notwendige Voraussetzung dafür angeführt, ob sie sich durch die Verhaltensweisen von Angehörigen anderer Kollektive anerkannt oder missachtet fühlt. Positionale Anerkennung ist verbunden mit der strukturellen Integration eines Gesellschaftsmitglieds. Das bedeutet, sie steht im Zusammenhang mit der Möglichkeit der Teilhabe an materiellen und kulturellen Gütern einer Gesellschaft und basiert somit auf den Zugängen einer Person zu gesellschaftlichen Teilsystemen wie Arbeits- oder Wohnungsmärkten. In diesem Zusammenhang ergeben sich Unterschiede im Ausmaß an positionaler Anerkennung, die verschiedenen Personen zuteil wird, aus der arbeitsteiligen Organisation von Gesellschaften. Denn diese bringt mit sich, dass unterschiedliche Arbeiten als unterschiedlich wertvoll für die Gesellschaft betrachtet werden. Mit als wertvoll betrachteten Positionen geht somit in der Regel ein größeres Ausmaß an positionaler Anerkennung einher als mit den als weniger wertvoll eingestuften Positionen. Das bedeutet, die Frage danach, was in Bezug auf das Konstrukt der positionalen Anerkennung anerkannt wird, wird einerseits durch den Verweis auf die soziale Position eines Menschen beantwortet. Es zeigt sich allerdings, dass mit diesen Positionen zwar bestimmte, für die Gesellschaft wertvolle Leistungen assoziiert sind und den Inhabern dieser Positionen aufgrund dessen bestimmte wertvolle oder nützliche Fähigkeiten zugeschrieben werden, diese aber nicht unweigerlich mit den durch diese Inhaber erbrachten Leistungen und ihren Fähigkeiten in Einklang stehen. Eine Anerkennung dieser tatsächlichen Fähigkeiten und Leistungen ist aber ebenfalls relevant für den ‚Wert’, der einem Gesellschaftsmitglied zugeschrieben wird. Aus diesem Grund wurde in der vorliegenden Arbeit zwischen einer positionalen Anerkennung, die einem Menschen für seine soziale Position zuteil wird, und einer positionalen Anerkennung seiner tatsächlichen Fähigkeiten und Leistungen unterschieden. Das bedeutet, hinsichtlich der Frage, was anerkannt wird, ließen sich zwei Subdimensionen der positionalen Anerkennung unterscheiden. Während die erste als kollektive positionale Anerkennung bezeichnet wurde, wurde die zweite individuelle positionale Anerkennung genannt. Die Betonung von Nutzen und Wert gesellschaftlicher Positionen verdeutlicht, dass es sich bei der positionalen Anerkennung um Wertschätzung im Honnethschen Sinn handelt. Die Frage danach, wie die beiden Arten der positionalen Anerkennung vergeben werden, lässt sich also dadurch beantworten, dass dies durch ein positives Hervorheben von Einzigartigkeit oder Besonderheit erfolgt. Eine derartige Wertschätzung orientiert sich an der in Arbeitsgesellschaften zentralen Leistungsnorm und der damit verbundenen Annahme, dass Leistung einen gesellschaftlichen Wert darstellt. (Warum wird diese Anerkennung vergeben?) Quelle dieser Anerken-
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nung (Wer?) kann grundsätzlich erst einmal jede beliebige Person sein – wobei sie im Falle der individuellen positionalen Anerkennung Kenntnis von den Fähigkeiten und Leistungen des Adressaten besitzen muss (vgl. Abb. 10). Es ist aber davon ausgehen, dass die Wichtigkeit der Anerkennung für den Adressaten dadurch beeinflusst wird, wer die Quelle der Anerkennung ist. Positionale Anerkennung kollektiv individuell Was? Soziale Position und damit assoziier- Individuelle Fähigkeiten und tatte Fähigkeiten und Leistungen sächlich erbrachte Leistungen Wie? Wertschätzung Warum? Leistungsnorm Wer? jede Person jede Person, die Kenntnisse über Fähigkeiten und Leistungen besitzt Abb. 10
positionale Anerkennung
In einem zweiten Schritt habe ich mich damit auseinandergesetzt, was es bedeutet, positionale Anerkennung vorzuenthalten. Es wurde erläutert, dass eine solche Vorenthaltung kontinuierlich ist und sich durch unterschiedliche Tiefengrade auszeichnet. So kann positionale Anerkennung z.B. unintendiert – möglicherweise aufgrund von Gedankenlosigkeit – ausbleiben, intendiert vorenthalten werden, oder es kann eine Handlung, die das Gegenteil der Anerkennung – also Abwertung – ausdrückt, erfolgen. Je nach Art der Handlung und der Intention des Handelnden besitzt die Nichtanerkennung somit unterschiedliche Intensitäten. Somit hängt das Erleben von Anerkennung und Nichtanerkennung – mit dem ich mich im dritten Schritt beschäftigt habe – ebenfalls stark davon ab, welche Intention der Adressat der Anerkennung oder Nichtanerkennung dem Handelnden zuschreibt. Ein Erleben von Nichtanerkennung ergibt sich dabei umso wahrscheinlicher, je mehr eine anerkennende Handlung erwartet wird. Während somit positionale Anerkennung für Unterschiedlichkeit des damit assoziierten Wertes vergeben wird, sind bezogen auf die moralische Anerkennung Kriterien der Gleichwertigkeit von zentraler Bedeutung. Diese Anerkennungsdimension ist verbunden mit den Teilnahmechancen und der Teilnahmebereitschaft am politischen Diskurs und an Entscheidungsprozessen unter Einhaltung der Grundnormen Fairness, Gerechtigkeit und Solidarität. Sie beinhaltet somit zwei Subdimensionen. Einerseits ist für ihre Gewährleistung notwendig, dass politische Entscheidungsprozesse unter Einhaltung der genannten Grundnormen erfolgen (erste Subdimension), andererseits bedeutet moralische Anerkennung, am politischen Diskurs, der Voraussetzung für diese Entscheidungsprozesse ist, teilnehmen und die eigenen Ansichten einbringen zu können (zweite Subdimension). Bezogen auf die erste Subdimension wurde argumentiert, dass politische Entscheidungen, die eine faire und gerechte Gesellschaft ermöglichen, derart erfolgen müssen, dass sie Kriterien der Solidarität entsprechen. Das bedeutet, sie müssen einen Zustand herstellen, bei dem alle Gesellschaftsmitglieder relativ betrachtet die gleichen Pflichten erfüllen und die gleichen Rechte erhalten müssen. Eine Sicherung dieses Prinzips ist Grundlage dafür, dass Bürger sich (hinsichtlich der ersten Facette) moralisch anerkannt fühlen können. Das bedeutet, im Falle dieser Anerkennungs-
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Theoretische Erweiterung
subdimension wird das Recht des Staatsbürgers auf eine solidarische Behandlung anerkannt (Was?), wenn innerhalb der Gesellschaft die Einhaltung von Solidaritätsprinzipen eine zentrale Grundnorm ist (Warum?). Welche Rechte Bürger erhalten und welche Pflichten sie zu erbringen haben, wird durch Entscheidungen der politischen Akteure festgelegt und beeinflusst. Das bedeutet, die Handlungen politischer Akteure stellen die Quelle dieser Anerkennungssubdimension dar (Wer?). Abbildung 11 veranschaulicht diese noch einmal in tabellarischer Form. Moralische Anerkennung als Adressat politischer Entscheidungen Was? Recht des Staatsbürgers auf eine solidarische Behandlung Wie? Achtung des Solidaritätsprinzips durch Nichtbenachteiligung aufgrund politischen Handelns Warum? Wer?
Solidarität als Grundprinzip der Gesellschaft Politische Akteure
Abb. 11 moralische Anerkennung – Entscheidungen Bezogen auf diese Dimension liegt somit eine Nichtanerkennung vor, wenn durch politische Handlungsweisen den Inhabern mancher gesellschaftlicher Positionen relativ mehr Rechte zugesprochen werden bzw. weniger Pflichten abverlangt werden als den Inhabern anderer Positionen. Die Wahrnehmung, anerkannt bzw. nicht anerkannt zu werden, ergibt sich somit aus der Wahrnehmung, aufgrund politischer Handlungen relativ zu Inhabern anderer Positionen die gleichen Rechte zu erhalten oder die gleichen Pflichten erfüllen zu müssen bzw. weniger Rechte zu erhalten oder mehr Pflichten erfüllen zu müssen. Die Wahrnehmung, nicht anerkannt zu werden, ist somit mit der Empfindung, ungerecht behandelt zu werden, verbunden. Die Handlungen politischer Akteure, aus denen solche Ungerechtigkeitsgefühle erwachsen können, sind jedoch nicht völlig unbeeinflussbar. So verfügt jeder Staatsbürger über das Recht, am politischen Diskurs teilzuhaben. Diese Tatsache ist Kern der zweiten Facette der moralischen Anerkennung. Bei dieser Anerkennungssubdimension ist zentral, ob dieses jedem Bürger objektiv zugesicherte Recht, tatsächlich derart umgesetzt wird, dass der Anzuerkennende den Eindruck gewinnt, wahrgenommen zu werden, wenn er sich dieses Rechts bedient und sich in politische Diskurse einbringt. Das bedeutet, anerkannt wird im Falle dieser Subdimension der moralischen Anerkennung das dem Bürger zugesicherte Recht (Warum?) auf politische Partizipation (Was?), indem die Anliegen, die er damit zum Ausdruck bringt, wahr- und wichtig genommen werden (Wie?). Das heißt, Anerkennung bedeutet in diesem Fall nicht Wertschätzung eines bestimmten Anliegens oder einer konkreten Einflussnahme, sondern ist vielmehr die (Be)Achtung eines zugesicherten Rechts, nämlich des Rechts zur gesellschaftlichen Partizipation. Adressaten eines solchen Einbringens in den öffentlichen Diskurs sind gesellschaftliche Entscheidungsträger, also gesellschaftliche Eliten. Entsprechend sind es eben diese gesellschaftlichen Eliten, die eine Partizipation der Bürger durch ein Wahrnehmen der Anliegen anerkennen oder nicht anerkennen (Wer?).
Zusammenfassung der theoretischen Weiterentwicklung
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Moralische Anerekennung als politischer Akteur Was? Durch Staatsbürgerstatus zugesichertes Recht auf politische Partizipation Wie? Wahr- und Wichtignehmen gesellschaftsrelevanter Anliegen Warum? Wer?
Zusicherung des Partizipationsrecht aller Staatsbürger Politische Eliten
Abb. 12 moralische Anerkennung – als politischer Akteur Eine Nichtanerkennung erfolgt somit bezogen auf diese Subdimension, wenn die Anliegen, die von Bürgern vorgebracht werden, nicht wahrgenommen oder ignoriert werden. Nichtanerkennung bedeutet somit Nichtbeachtung einer Handlungsweise. Die Wahrnehmung der Betroffenen, anerkannt oder nicht anerkannt zu werden, spiegelt sich entsprechend in der Wahrnehmung wider, im Vorbringen der eigenen Anliegen und Interessen gehört oder aber ignoriert zu werden. 4.3.2 Zusammenfassung der Ausarbeitung des Zusammenhangs zwischen Nichtanerkennung, Selbst und GMF Nachdem somit die Anerkennungsdimensionen als Schlüsselkategorien der Theorie der Sozialen Desintegration detaillierter ausgearbeitet wurden, habe ich mich in Kapitel 4 in einem nächsten Schritt auf theoretischer Ebene mit dem Postulat der Theorie auseinandergesetzt, dass eine Wahrnehmung von Anerkennungsmängeln die Ausbildung menschenfeindlicher Einstellungen begünstigt. Hierzu wurde argumentiert, dass die Erfahrung, anerkannt bzw. nicht anerkannt zu werden, sich auf das Selbstbild der betroffenen Person auswirkt. Da der Begriff des Selbst oftmals synonym mit dem Begriff der Identität verwendet wird, die Termini in der vorliegenden Arbeit aber in unterschiedlicher Weise aufgefasst werden, wurde er zunächst einmal vom Identitätsbegriff abgegrenzt. ‚Identität’ wurde zunächst als das Bild eines Menschen vestanden, das andere Personen von ihm aufgrund bestimmter „Identitätsaufhänger“ sozialer oder personaler Art identifizieren. Innerhalb der Auseinandersetzung mit der Frage danach, ob eine Person sich als in ihrer Identität anerkannt erlebt, wurde dann in einem weiteren Schritt nicht mehr ein Identitätsbegriff betrachtet, der darauf fokussiert, welches Bild durch einen Beobachter wahrgenommen wird, sondern es wurde Gegenstand der Betrachtung, ob ein Mensch sich selbst aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe eine kollektive Identität zuschreibt. Vernachlässigt wurde aber bis zu diesem Punkt, wie die betroffene Person solche Merkmale ihrer Identität bewertet. Innerhalb der Auseinandersetzung mit dem Identitätsbegriff blieb also zunächst unberücksichtigt, ob ein Mensch aufgrund seiner Eigenschaften – den kollektiven wie auch den personalen – ein positives oder ein negatives Bild von sich selbst besitzt. Dies wurde durch die Einführung des Begriffs des Selbstbilds überwunden, für dessen Inhalt in der vorliegenden Arbeit die Bewertung der eigenen Eigenschaften als zentrales Kriterium festgelegt wurde. Die Differenzierung zwischen den soeben erläuterten Kategorien ist noch einmal zusammenfassend in Abbidlung 13 dargestellt.
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Theoretische Erweiterung Begriff
Anerkennung der… Wahrnehmung der Anerkennung der…
Identität
Selbstwert Abb. 13
Begriffsverständnis Bild, als das Anerkennender den Anzuerkennenden identifiziert Eigenidentifikation mit einer identitätsstiftenden Kategorie Positive oder negative Beurteilung der eigenen Merkmale
Verständnis der Begriffe Identität und Selbstwert
Das Verständnis des Begriffs des Selbstbildes basiert auf dem sozialpsychologischen Ansatz von Linville. Dieser beinhaltet, dass das Selbst eines Menschen keine Einheit darstellt – wie dies z.B. von Mead vertreten wird –, sondern aus unterschiedlichen Selbstaspekten zusammengesetzt ist, die voneinander unabhängig sein können. Alltagserlebnisse können sich somit auf bestimmte Selbstaspekte auswirken, während sie andere völlig unberührt lassen. Die Erfahrung, in einem bestimmten Bereich nicht anerkannt zu werden, muss sich somit nicht gezwungenermaßen auf die gesamte Selbstbewertung negativ auswirken, was bedeutet, dass Erfahrungen verweigerter Anerkennung für das Selbst eines Menschen weniger gravierend sein dürften, als durch Honneth postuliert. Nichtsdestotrotz wirkt sich die Wahrnehmung, nicht anerkannt zu werden, negativ auf die Selbstbewertung einer Person aus, und dies scheint umso intensiver, je häufiger die Erfahrung der Nichtanerkennung ist und je mehr Selbstaspekte hierdurch betroffen sind. Eine Auseinandersetzung mit der Frage, warum Menschen, die häufig Anerkennungsverweigerungen erleben, die verschiedene Selbstaspekte berühren, dazu neigen, feindselige Einstellungen zu vertreten, wurde unter Bezug auf die Soziometer-Hypothese von Leary et al. vorgenommen. Die Autoren argumentieren, der Selbstwert eines Menschen sei ein Indikator, der ihm den Status der Inklusion in eine Gruppe anzeige, und bezeichnen ihn aufgrund dessen als Soziometer (vgl. Leary et al., 1995 S. 519). Ein niedriger Selbstwert zeige somit den Ausschluss aus einer Gruppe an. Das bedeutet, ist eine Person häufig mit der Wahrnehmung, nicht anerkannt zu werden, konfrontiert, die eine negative Eigenbewertung verschiedener Selbstaspekte mit sich bringt, so ist hierdurch die Wahrnehmung dieser Person, in damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Ebenen integriert zu sein, bedroht.32 Postulat der Theorie der Sozialen Desintegration ist, dass eine solche Bedrohung der Integration eine Entlastungsfunktion benötigt. Es wurde argumentiert, die Abwertung von als schwach wahrgenommenen Gruppen könne eine derartige Entlastungsfunktion darstellen. Diese theoretische Annahme wurde zunächst durch eine kurze Auseinandersetzung mit Forschungsarbeiten von Dörre et al. empirisch näher beleuchtet. Eine differenziertere empirische Analyse soll jedoch im folgenden 32 Unter Nennung von Annahmen Baumeisters wurde erläutert, dass eine solche Bedrohung sich allerdings nur ergeben kann, wenn die betroffene Person einen hinreichend hohen Selbstwert besitzt, da ein niedriger Selbstwert durch Anerkennungsmängel nicht bedroht, sondern vielmehr bestätigt würde (vgl. Baumeister, 1996). Anders als oftmals postuliert scheinen somit nicht Personen, die über einen geringen Selbstwert verfügen, anfällig für die Ausbildung feindseliger Mentalitäten zu sein, sondern vielmehr solche, die sich durch einen hohen Selbstwert auszeichnen.
Zusammenfassung der theoretischen Weiterentwicklung
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Kapitel der vorliegenden Arbeit mit Hilfe eigener qualitativer Interviews erfolgen. In diesem ersten, empirischen Teil gilt es somit, die hier geführten qualitativen Interviews genauer dahingehend zu untersuchen, welche Strategien es von Anerkennungsmängeln und Missachtungen betroffenen Personen ermöglichen, sich über die Abwertung von Fremdgruppen von der Bedrohung der eigenen Integration zu entlasten. Dabei steht in der vorliegenden Arbeit nicht wie in der Untersuchung von Dörre et al. eine Orientierung an den Inhalten rechtspopulistischer Parteien im Vordergrund – also die Orientierung an einer institutionalisierten Form der Abwertung von Fremdgruppen –, sondern es wird eine Orientierung an abwertenden Einstellung generell betrachtet. Neben der Auseinandersetzung mit der von Integrationsbedrohung entlastenden Funktion der Abwertung von Fremdgruppen werden darüber hinaus in einem weiteren Schritt Einflüsse aufgezeigt, die es für die Betroffenen notwendig machen, nach einem entlastenden Mechanismus zu suchen, und die es entsprechend begünstigen, dass eine Abwertung von Fremdgruppen erfolgt.
5. Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs
5.1 Datenerhebung: Qualitative Interviews Das mit den im Folgenden zu führenden Interviews verbundene Erkenntnisinteresse ist, die anerkennungstheoretischen Postulate der Theorie der Sozialen Desintegration zu erweitern und möglicherweise zu modifizieren. Das bedeutet, es wird eine Präzisierung der Theorie angestrebt, die als in der Empirie verankert betrachtet werden kann. Die theoretisch postulierte Wirkungsweise des Zusammenhangs zwischen der Negation von Anerkennung und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit wird somit durch empirisch gewonnene Daten beleuchtet, und es wird durch die Betrachtung von in der Realität existierenden Verarbeitungsweisen des Erlebten nach Einflüssen gesucht, die sich auf diesen Zusammenhang auswirken. Ein solches Forschungsinteresse legt es nahe, sich bei der Planung, Durchführung und Analyse der Interviews an Kriterien, die durch die Grounded Theory vorgegeben werden, zu orientieren. Denn bei der Methode der Grounded Theory handelt es sich um ein Verfahren zur Herstellung oder Weiterentwicklung von Theorien oder ihrer Verfeinerung. Die Methode ermöglicht also eine in den Daten begründete Entwicklung theoretischer Annahmen (vgl. Glaser & Strauss, 1999). Ausgangspunkt für die Anwendung der Grounded Theory ist das Vorliegen einer Forschungsfrage. Das Vorgehen in der vorliegenden Arbeit wird von der Frage geleitet, inwiefern das Vertreten menschenfeindlicher Einstellungen eine Entlastung von dem Erleben von Anerkennungsmängeln und Missachtung bieten kann. Diese Forschungsfrage basiert auf den Annahmen der Theorie der Sozialen Desintegration. Auch die Grounded Theory geht nicht davon aus, dass bei der Beantwortung einer wissenschaftlichen Fragestellung der dahinter stehende Forschungsgegenstand völlig unbekannt ist. Es wird berücksichtigt, dass es immer Ansatzpunkte gibt, von denen aus man sich einem Phänomen begrifflich nähert. Dieses Vorwissen wird sodann durch das erhobene empirische Material schrittweise weiterentwickelt. Es ist darauf zu achten, dass die letztendlich verfeinerten theoretischen Postulate eng an den empirischen Daten orientiert sind und darüber hinaus die Daten erklärbar machen. Das bedeutet, die Weiterentwicklung der theoretischen Annahmen soll plausibel aus den Daten abgeleitet sein, und die aus den Daten herausgearbeitete Struktur muss diese nachvollziehbar beschreiben können. Dies bringt mit sich, dass die bestehenden theoretischen Annahmen oder deren bereits erfolgte Weiterentwicklung revidiert werden müssen, findet sich in der Empirie ein Fall, der hiermit nicht in Einklang steht. Das bedeutet, es ist zu berücksichtigen, während der Analyse des empirischen Materials auch Gegenbeispiele zu den bis hierher bestehenden Annahmen zuzulassen. Krotz empfiehlt, bei qualitativer Forschung, die an der Methode der Grounded Theory orientiert ist, dem Interviewpartner möglichst klare, präzise und verständliche Fragen zu stellen. Entsprechend ist es nahe liegend, das Interview auf einen Leitfadens zu stützen (vgl. Witzel,
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Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs
1985 S. 230). In der vorliegenden Arbeit wird das problemzentrierte Interview als Erhebungsinstrument genutzt. Problemzentriertes Interview Das problemzentrierte Interview eignet sich für Forschung, die auf der Methode der Grounded Theory basiert, da es einerseits ein ausreichendes Maß an Offenheit bietet, das benötigt wird, um theoriegenerierend zu arbeiten, weil die Daten nicht durch vor Beginn der Erhebung eindeutig festgelegte Operationalisierungen erfasst werden. Andererseits wird nicht der Anspruch erhoben, derart offen vorzugehen, dass jegliches theoretische Vorwissen bei der Erhebung ausgeklammert wird. So bezeichnet gerade der Aspekt der Problemzentrierung bei dieser Methode, dass als Ausgangspunkt der Forschung die „vom Forscher wahrgenommenen gesellschaftlichen Problemstellungen“ zugrunde gelegt werden (vgl. Krotz, 2005 S. 170 ff.). Das bedeutet, als analytischer Rahmen wird zwar Vorwissen herangezogen, aber trotzdem wird das Prinzip der Offenheit berücksichtigt, da dem Befragten Raum zum freien Erzählen gelassen wird. Somit werden die als Nächstes zu erhebenden Daten mit Hilfe problemzentrierter Interviews gesammelt. Nach Witzel umfasst das Instrumentarium des problemzentrierten Interviews einen Kurzfragebogen, den Leitfaden, die Tonbandaufzeichnung und das Postskriptum (vgl. Witzel, 1985 S. 236). Der Kurzfragebogen dient dazu, losgelöst vom eigentlichen Interview die „biographisch geladenen Fragen“ (Witzel, 1985 S. 236) zu erheben, die zu der Entwicklung eines FrageAntwort-Schemas führen können, das beim problemzentrierten Interview jedoch vermieden werden soll. Auf diese Weise werden darüber hinaus die den Befragten kennzeichnenden Informationen aus dem eigentlichen Interview herausgehalten. Bei den für die vorliegende Arbeit geführten Interviews wird nichtsdestotrotz auf die Verwendung eines Kurzfragebogens verzichtet. Dies begründet sich dadurch, dass an ‚objektiven Informationen’ lediglich das Alter, der Schul- und Ausbildungsabschluss, der Familienstand/das Bestehen einer Partnerschaft und die Anzahl der Kinder abgefragt werden. Es scheint praktikabler, diese Informationen zu Beginn des Interviews abzufragen und sodann mit dem eigentlichen Gesprächsverlauf zu beginnen. Dem Problem, dass diese den Befragten kennzeichnenden Informationen in engem Zusammenhang mit seinen Ausführungen zum Forschungsproblem stehen, wird dadurch entgegengewirkt, dass dem Gesprächspartner Anonymität zugesichert wird. Der Leitfaden dient dazu, die Befragung zu strukturieren. Durch den Leitfaden werden die Befragten zu dem konkret interessierenden Problem hingeführt, ohne aber in ihren Antwortmöglichkeiten eingeschränkt zu werden. Der Leitfaden basiert auf der Formulierung und theoretischen Analyse des Forschungsproblems, die bei problemzentrierten Interviews immer am Anfang steht. Die Leitfadenfragen spiegeln hierbei die für das Interview wichtigen Themenaspekte, die in jedem Fall angesprochen werden sollen, wider. Die Existenz des Leitfadens verbietet es aber dem Interviewer nicht, ac-hoc-Fragen zu stellen, wenn sich im Gespräch Aspekte ergeben, die nicht durch Leitfadenfragen abgedeckt werden, aber für die Forschungsthematik bedeutsam sind. Den in der vorliegenden Arbeit durchgeführten qualitativen Interviews liegen zweierlei Arten des Erkenntnisinteresses zugrunde. Einerseits sollen die theoretisch erarbeiteten Anerkennungskategorien mit empirischem Material verglichen werden und hierbei die theoretischen Kategorien durch empirische Gegebenheiten weiter spezifiziert werden, so dass in einem weiteren Schritt die Erarbeitung eines präzisen quantitativen Messinstruments vorgenommen werden kann. Darüber hinaus soll der Zusammenhang zwischen der Erfahrung von Anerkennungsmängeln bzw. sozialer Missachtung und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit
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näher beleuchtet und hierdurch die Theorie der Sozialen Desintegration präzisiert und verfeinert werden. Für die Erarbeitung eines Interviewleitfadens bedeutet das, dass sowohl Fragen über schwache Gruppen in Deutschland als auch zum Erleben von Anerkennung bzw. Missachtung mit einfließen. Um nicht detailliert die Einstellungen gegenüber allen im GMF-Projekt behandelten Gruppen abzufragen, werden exemplarisch verschiedene Gruppen ausgewählt. Als Gruppe, die möglicherweise eine ökonomische Bedrohung darstellt, wird allgemein die Gruppe der ‚Ausländer’ herangezogen. Als Gruppe, die Gefühle einer kulturellen Bedrohung auslösen kann, werden Moslems berücksichtigt. Darüber hinaus wird die Einstellung gegenüber Homosexuellen als 'Normalitätsabweichler' abgefragt. Da die GMF-Kategorie der Etabliertenvorrechte sich auf eine Abwertung von Menschen, die irgendwo neu sind, bezieht und somit nicht auf eine bestimmte Minderheitengruppe fokussiert, wird aufgrund dieses Universalitätscharakters ebenfalls das Einfordern von Etabliertenvorrechten abgefragt. Nachdem zunächst einmal die allgemeine Ansicht des Interviewten über die jeweiligen Gruppen zur Sprache gebracht wird, werden im Anschluss daran die im GMF-Survey zur Messung der Abwertung der jeweiligen Gruppe verwendeten Items vorgelesen,33 und der Befragte wird gebeten, diese Items zu kommentieren. Darüber hinaus wird zum Abschluss des Interviews gefragt, ob es in Deutschland irgendwelche Gruppen gibt, die den Befragten stören oder ärgern. Vor der Abfrage der Einstellung gegenüber schwachen Gruppen erfolgt eine Auseinandersetzung mit dem Erleben von Anerkennung bzw. Missachtung. Den in den Leitfaden aufgenommen Fragen liegen hierbei die im ersten Teil dieser Arbeit angeführten theoretischen Anerkennungskategorien zugrunde. Das bedeutet also, die Erhebungskategorien, in denen sich die problemrelevanten Dimensionen des Interviews widerspiegeln, sind eng an theoretischen Vorüberlegungen orientiert, so dass es ermöglicht wird, theoretisches durch empirisches Wissen zu ergänzen und eine eng an der Problemstellung orientierte, möglichst objektive Auswertung vorzunehmen. Es werden somit Fragen zur positionalen Anerkennung der individuellen Fähigkeiten und Leistungen wie auch der Berufsgruppe an sich zu beiden Facetten der moralischen Anerkennung und der Anerkennung der kollektiven Identität sowie der personalen Identität durch Partner, Familie, Freunde und Bekannte gestellt. Der Befragte wird gebeten, sich relevante Erfahrungen ins Gedächtnis zu rufen und für jeden Bereich konkrete Beispiele zu beschreiben. Hierbei werden die Fragen zur positionalen Anerkennung leicht differenziert, je nachdem, in welcher Art von Beschäftigungsverhältnis sich der Befragte befindet bzw. ob er erwerbslos ist. Während sich so bei der später erfolgenden Interviewanalyse konkrete Missachtungserfahrungen anhand dieser Beschreibungen eindeutig als solche identifizieren lassen werden, scheint es schwieriger, Anerkennungsmängel, also den Erhalt von weniger Anerkennung als erwünscht, zu kategorisieren. Um dies zu erleichtern, erfolgt im Anschluss an die Abfrage jeder Anerkennungsdimension die Aufforderung, eine Aussage darüber zu machen, wie zufrieden der Interviewte mit der jeweiligen Situation ist. Als Hilfestellung bei der Konkretisierung einer solchen Zufriedenheitsaussage wird der Interviewte gebeten, seine Zufriedenheit durch eine Zahl zwischen null und zehn auszudrücken, wobei null bedeutet, dass der Interviewte mit der Situation ganz und gar unzufrieden ist, und zehn bedeutet, dass er mit der Situation absolut zufrieden ist. Zur visuellen Unterstützung wird ihm eine Skala von null bis zehn vorgelegt. Um nun festzustellen, ob eine Diskrepanz zwischen der bestehenden und der erwünschten Situation vorliegt, wird der Befragten sodann gefragt, ob der genannte Zufriedenheitswert für ihn
33 Dies wird meist durch die Aussage eingeleitet: „In den Interviews, die ich bisher geführt habe, habe ich öfter folgende Aussagen gehört..“
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Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs
ausreichend ist, oder ob er sich einen höheren Wert wünschen würde. Wünscht der Befragte sich einen höheren Wert, wird er sodann gebeten zu beschreiben, was sich an seiner Situation verändern müsste, damit dieser höhere Wert erreicht wird. Für die Verwendung eines Leitfadens empfiehlt René König: „Um den Leitfaden richtig zu gebrauchen, darf sich der Interviewer weder zu fest an ihn klammern noch sich munter über ihn hinwegsetzen. Im ersten Fall werden die Angaben wertlos wein, weil sie keine spontane Reaktion mehr darstellen, und im zweiten Fall, weil sie nichts mit dem Thema zu tun haben oder mit den Angaben aus anderen Interviews unvergleichbar sind“ (König, 1962 S. 151). Christel Hopf betont, dass vor allen Dingen der erstgenannte Punkt, also eine zu starre Orientierung am Leitfaden, die Qualität des Interviews mindern kann (vgl. Hopf, 1978 S. 101 ff.). Somit wird bei den zu führenden Interviews keine strikte ‚Abarbeitung’ der einzelnen im Leitfaden festgehaltenen Punkte in immer gleicher Frageformulierung vorgenommen, um nicht die Reichweite des Interviews dadurch einzuschränken, dass Interviewpartnern kein Platz zum freien Erzählen gelassen wird. Dennoch wird gewährleistet, dass keiner der im Leitfaden angeführten Themenschwerpunkte und Unterpunkte vernachlässigt wird. Die Gespräche werden auf Tonband aufgezeichnet und zur Analyse des Gesagten transkribiert. Nach dem Interview wird ein Postskriptum angefertigt, das nonverbale Aspekte und spontane Auffälligkeiten festhält, sowie die äußere Umgebung, innerhalb derer das Interview stattfindet – z.B. die Wohnsituation des Befragten – beschreibt. Auswahl der Interviewpartner Nach der Methode der Grounded Theory werden im Rahmen der Datenerhebung Personen danach ausgesucht, ob sie bezogen auf die interessierende Fragestellung einen ‚Expertenstatus’ besitzen, also ob sie eine besondere Sichtweise auf die Thematik besitzen. Das bedeutet, die Auswahl der Interviewpartner ist nicht an Kriterien der Repräsentativität oder der Vollständigkeit orientiert. Bezogen auf die in der vorliegenden Arbeit interessierende Forschungsproblematik ist davon auszugehen, dass im Grunde jeder Mensch als Experte hierfür betrachtet werden kann. Denn jeder Mensch erlebt Anerkennung, Nichtanerkennung und Missachtung und erwartet, durch sein soziales Umfeld anerkannt zu werden. Somit werden die Interviewpartner nicht danach ausgewählt, dass sie eine besondere Einstellung zu dem oder Sichtweise auf das Thema besitzen. Dennoch wird eine theoriegeleitete Auswahl vorgenommen. Ziel der Interviewanalyse ist, auf der Basis der Argumentationsmuster von Befragten, die sich nicht anerkannt bzw. missachtet fühlen, zu beleuchten, in welcher Art Anerkennungsmängel und Missachtungserfahrungen zu der Ausbildung feindseliger Mentalitäten beitragen und durch welche weiteren Faktoren dieser Zusammenhang in welcher Weise beeinflusst wird. Somit wird einerseits angestrebt, insbesondere Menschen zu befragen, die sich nicht anerkannt bzw. missachtet fühlen. Da es aber ebenfalls erhellend sein kann, Beschreibungen von Personen, die sich anerkannt fühlen, zu Vergleichszwecken heranzuziehen, wird nicht das Gefühl, wenig Anerkennung zu erfahren, als primäres Auswahlkriterium herangezogen. Um Faktoren aufspüren zu können, die einen möglichen Zusammenhang zwischen verweigerter Anerkennung und feindseligen Einstellungen beeinflussen, scheint es sinnvoll, Menschen auszusuchen, die sich zurzeit in voneinander verschiedenen Lebenssituationen befinden und somit über unterschiedliche Alltagserfahrungen verfügen. Darüber hinaus sollte nicht davon ausgegangen werden, dass jede Art der Nichtanerkennung bzw. Missachtung in gleicher Weise mit der Ausbildung feindseliger Mentalitäten in Zusammenhang steht. Aus diesem Grund sollen Personen befragt werden, die sich hinsichtlich der Qualitäten von Anerkennungsmängeln und Missachtungserfahrungen unterscheiden.
Datenerhebung: Qualitative Interviews
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Eines der für die vorliegende Arbeit zentralen Postulate der Theorie der Sozialen Desintegration ist, dass die Anerkennung, die einem Menschen entgegengebracht wird, mit dem Grad seiner gesellschaftlichen Integration variiert. Aus diesem Grund werden die Interviewpartner danach ausgewählt, wie sie in die Gesellschaft integriert sind. Für den hier interessierenden Zusammenhang zwischen Anerkennungsmängeln und GMF werden primär fehlende Zugänge zu der individuell-funktionalen Systemintegration und Einflusslosigkeit auf die kommunikativinteraktive Sozialintegration als bedeutsam betrachtet (vgl. auch Anhut & Heitmeyer, 2000 S. 57). Da in einer Arbeitsgesellschaft Integration vor allem über Arbeit stattfindet und die strukturelle Integration sich ebenfalls auf die politischen Einflussmöglichkeiten bezieht, richtet sich die Auswahl der Interviewpartner nach der Art ihrer Integration auf struktureller Ebene. Hierbei ist es nicht ausreichend, ausschließlich eine Unterscheidung zwischen den beiden Extrempolen integriert vs. desintegriert zu treffen. Robert Castel postuliert innerhalb des von ihm konstruierten Zonenmodells, dass aus fortschreitenden Globalisierungstendenzen und dem damit einhergehenden Wandel von Unternehmensstrukturen eine Dreiteilung der Arbeitsgesellschaft resultiert (vgl. Castel, 2000). Die so von ihm identifizierten Segmente bezeichnet Castell als ‚Zone der Integration’, die durch Normalarbeitsverhältnisse gekennzeichnet ist, als ‚Zone der Entkoppelung’ („désaffiliation“), der die vom Arbeitsmarkt ausgeschlossenen Personen angehören, und als ‚Zone der Verwundbarkeit’ („vulnerabilité“), die eine Zwischenzone zwischen den beiden übrigen darstellt und die Individuen umfasst, die sich in prekären Beschäftigungsverhältnissen („précarité“) befinden. Unter einer prekären Beschäftigung versteht Castel die Tätigkeit innerhalb ‚atypischer Beschäftigungsverhältnisse’. Dies beschreibt er – bezogen auf die französische Gesellschaft – wie folgt: „Die sog. ‚atypischen Beschäftigungsverhältnisse’ (…) umfassen eine Masse von heterogenen Situationen, befristete Verträge (CCD), Leiharbeit, Teilzeitarbeit und verschiedene Formen ‚geförderter’, also vom Staat im Rahmen der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit subventionierter Beschäftigung“ (Castel, 2000 S. 349). Bezogen auf Deutschland ist hier die Beschäftigung im Rahmen der so genannten ‚Ich-AG’ oder ‚Mini-Jobs’ zu nennen. Definitionskriterien von prekären Beschäftigungsverhältnissen zeigen Dörre et al. auf (vgl. Dörre et al., 2004 S. 85). Sie führen an, dass Erwerbsarbeit dann als prekär betrachtet werden kann, wenn sie relativ zum kulturellen Minimum einer Gesellschaft als nicht existenzsichernd zu betrachten ist, eine Zugehörigkeit zu sozialen Netzen, die sich über den Arbeitsplatz bilden, behindert und den Betroffenen vom vollen Genuss institutionell verankerter sozialer Rechte – z.B. Tarif-, soziale Schutz- und Sicherungsrechte usw. – und Partizipationschancen ausschließt (vgl. Dörre et al., 2004 S. 85). Diese Definition erweitern die Autoren sodann auf der Basis von Ergebnissen einer Interviewanalyse und führen an: „Eine Erwerbsarbeit kann als prekär gelten, wenn sie neben strukturell bedingter und subjektiv reflektierter Benachteiligung mit der Erfahrung sozialer Desintegration verbunden ist“ (Dörre et al., 2004 S. 90). Nach Ergebnissen von Dörre et al. trifft es auf einen Großteil atypischer bzw. flexibler Beschäftigungen zu, dass die hierin Beschäftigten ihre Situation als prekär beurteilen. Dörre et al. kommen zu dem Ergebnis, dass gerade im Bereich der Leiharbeit vermehrt Prekäritätserfahrungen der Betroffenen festzustellen sind. „Von prekärer Beschäftigung kann im Untersuchungsfeld Leiharbeit gesprochen werden, weil sich die Beschäftigungssituation der Befragten auch subjektiv von als ‚normal’ wahrgenommenen Beschäftigungsverhältnissen unterscheidet. Die erlebte strukturelle Benachteiligung betrifft nicht nur den Zugang zu Ressourcen und Rechten, sondern auch die Anerkennungsbeziehungen“ (Dörre et al., 2004 S. 86).
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Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs
Als Interviewpartner, die der ‚Zone der Verwundbarkeit’ zugeordnet werden können, werden somit einerseits Personen ausgewählt, die in Leiharbeitsverhältnissen beschäftigt sind. Darüber hinaus wird eine Interviewpartnerin ausgewählt, die ihren Lebensunterhalt durch zwei Teilzeitstellen finanziert und ihre Beschäftigung gegenüber ‚normalen’ Arbeitsverhältnissen als benachteiligend erlebt, sowie ein Interviewpartner, dessen Lebenslauf seit seinem Schulabschluss immer wieder von Phasen der Arbeitslosigkeit gekennzeichnet war und der sich zurzeit in einer zunächst auf sechs Monate befristeten Arbeitsbeschaffungsmaßnahme befindet. Neben solchen prekär beschäftigten Personen werden darüber hinaus ebenfalls Personen, die in Normalarbeitsverhältnissen beschäftigt sind, also der ‚Zone der Normalität’ zugerechnet werden können, interviewt. Die Vermittlung der Interviewpartner, die in Leih- und Normalarbeitsverhältnissen beschäftigt sind, erfolgte zum größten Teil über Vertreter der IG-Metall. Als Angehörige der ‚Zone der Entkoppelung’ wurden erwerbslose Personen interviewt. Die Vermittlung der arbeitslosen Interviewpartner erfolgte einerseits über die Bielefelder Einrichtung ‚Perspektive für Arbeitslose’. Hierbei handelt es sich um eine Beratungsstelle der gemeinnützigen Gesellschaft für Arbeit- und Berufsförderung Bielefeld mbH, die kostenlos Arbeitslose und von Arbeitslosigkeit bedrohte Personen unterstützt.34 Darüber hinaus erfolgte eine Vermittlung von derzeit erwerblosen Personen über den Ratinger Stadtteiltreff ‚Cafe Lichtblick’ – eine Einrichtung der Stadt Ratingen –, der für die Bewohner des Stadtteils Ratingen West einen Treffpunkt bietet. Es ist noch einmal hervorzuheben, dass eine wie soeben beschriebene Auswahl der Interviewpartner nicht erfolgt, um zu erörtern, in welchem speziellen Verhältnis der Integrationsgrad eines Menschen mit dem Erleben von Anerkennung in Zusammenhang steht. Das Postulat der Theorie der Sozialen Desintegration, der Integrationsgrad einer Person beeinflusse die Art der erfahrenen Anerkennung, dient hier somit als Hintergrundannahme, die nicht durch die empirischen Daten untersucht werden soll, sondern ausschließlich herangezogen wird, um Interviewpartner auszuwählen, die sich hinsichtlich der Qualität der erlebten Anerkennungsmängel und Missachtungen unterscheiden. Insgesamt wurden Interviews mit 17 Personen geführt. Acht dieser Personen waren erwerbslos, vier arbeiteten innerhalb von Normalarbeitsverhältnissen und fünf waren prekär beschäftigt. Es handelt sich um Befragte beiderlei Geschlechts, die unterschiedliche Familienstände und verschiedene Bildungsniveaus aufweisen. 5.2 Interviewauswertung 5.2.1 Analyseschritt I: Zusammenfassung der Anerkennungskategorien und Strukturierung der Befragten Nach Vorgaben der Methode der Grounded Theory ist es zu vermeiden, die Interviewanalyse auf bereits im Vorfeld bestehende Kategorien zu stützen. Es wird empfohlen, die Daten zunächst nach dem Vorgehen des offenen Kodierens zu strukturieren, was bedeutet, Konzepte, anhand derer die Analyse vorgenommen wird, aus den Aussagen der Interviewpartner zu entwickeln. Diese Art des Kodierens wird in der vorliegenden Arbeit allerdings erst in einem zweiten Analyseschritt praktiziert. In einem ersten Schritt ist es zunächst das Anliegen, aus allen geführten Interviews diejenigen auszuwählen, die für die hier interessierende Forschungsfrage von besonderem Interesse sind. Es handelt sich dabei um diejenigen Interviews, die mit 34
http://www.gab-bielefeld.de/home/index,id,55,selid,54,type,VAL_MEMO.html
Interviewauswertung
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Menschen geführt wurden, die die Wahrnehmung besitzen, wenig Anerkennung zu erfahren. Aus diesem Grund werden die Daten zunächst einmal anhand der bereits als Erhebungskategorien genutzten Anerkennungsdimensionen kodiert. Die zunächst genutzten Kategorien – so bezeichnen Glaser und Strauss übergeordnete Konzepte, die mehrere Codes umfassen – sind somit folgende: o emotional/personale Identität Hierunter werden zunächst einmal alle Aussagen gefasst, die im Zusammenhang mit der Anerkennung der personalen Identität getätigt werden. o emotional/kollektive Identität Unter dieser Kategorie werden alle Aussagen des Befragten subsumiert, die Aufschluss darüber geben, ob er eine Anerkennung seiner kollektiven Identität erfährt. o positional/individuell Diese Kategorie dient zur Gruppierung der Aussagen, die bezüglich der positionalen Anerkennung einer Person im Zusammenhang mit ihren individuellen Leistungen und Fähigkeiten getätigt werden. o positional/ kollektiv Hierunter fallen alle Beschreibungen über Anerkennung, die einem Befragten aufgrund seiner Berufsposition zuteil wird. o moralisch/Adressat Diese Kategorie umfasst Aussagen, die im Zusammenhang mit dem Eindruck des Befragten stehen, durch politische Maßnahmen gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen benachteiligt oder nicht benachteiligt zu werden o moralisch/Akteur Mit dieser Kategorie werden die Berichte der Interviewpartner darüber festgehalten, ob sie über den Eindruck verfügen, sich bei einem Einsatz für ihre gesellschaftlich relevanten Anliegen Gehör verschaffen zu können.
Diesen vorgegebenen Kategorien werden basierend auf einer Mischung aus theoretischen Vorannahmen und offenem Kodieren Untercodes zugeordnet. Für die Kategorien emotional/personale Identität, positional/individuell und positional/kollektiv werden folgende Codes vergeben: o wahrgenommene Anerkennung: Hiermit werden Aussagen codiert, die konkrete, als anerkennend erlebte Handlungen des sozialen Umfelds des Befragten beschreiben. o wahrgenommene Nichtanerkennung/Missachtung: Durch diesen Code werden Aussagen gekennzeichnet, die konkrete empfundene Negationen von Anerkennungen beschreiben Darüber hinaus werden alle Kategorien anhand der Kodierung
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Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs o wahrgenommene Anerkennungsbilanz kodiert. Dieser Code beinhaltet das Empfinden des Befragten, ob er auf Basis der erlebten konkreten anerkennenden oder missachtenden Verhaltensweisen den Eindruck besitzt, insgesamt in ausreichendem Maß Anerkennung zu erhalten.
Dass den Kategorien emotional/personale Identität, positional/individuell und positional/kollektiv darüber hinaus die Codes wahrgenommene Anerkennung und wahrgenommene Nichtanerkennung/Missachtung zugeordnet werden, ergibt sich aus der Feststellung, dass die befragten Personen im Falle dieser Anerkennungsarten eindeutig zwischen dem Erleben von Handlungen, die sie als anerkennend empfinden, dem Erleben von Handlungen, die sie als nicht anerkennend bzw. missachtend empfinden und der generellen Wahrnehmung, ob sie das Ausmaß der erfahrenen Anerkennung (wahrgenommene Anerkennungsbilanz) als ausreichend bewerten, differenzieren. Demgegenüber werden bei der Beschreibung der Kategorien emotional/kollektive Identität, moralisch/Adressat und moralisch/Akteur konkrete anerkennende oder missachtende Handlungen – wenn diese überhaupt genannt werden – nicht eindeutig von dem Empfinden, anerkannt bzw. nicht anerkannt zu werden, getrennt. Aus diesem Grund besteht – orientiert am empirischen Material – diese Kategorie ausschließlich aus dem Code wahrgenommene Anerkennungsbilanz. Aus den beiden Facetten der moralischen Anerkennung wird anschließend eine Kodierung, die sich aus den beiden Anerkennungsbilanzen zusammensetzt, erstellt. Für die positionale Anerkennungsbilanz werden keine nach individueller und kollektiver Anerkennung getrennten Codes vorgegeben, sondern es wird direkt basierend auf den getrennt dargestellten Erlebnissen von Anerkennung und Nichtanerkennung bzw. Missachtung eine gemeinsame Anerkennungsbilanz beschrieben. Für die aufgeführten Kategorien werden somit die in Abbildung 14 dargestellten Untercodierungen gebildet. Anerkennungskategorien
Untercodierungen
emotional/personale Identität
wahrgenommene Anerkennung wahrgenommene Nichtanerkennung/Missachtung
Emotionale/kollektive Identität positional/individuell
positional/kollektiv
wahrgenommene Anerkennungsbilanz wahrgenommene Anerkennungsbilanz
wahrgenommene Anerkennung wahrgenommene Nichtanerkennung/Missachtung wahrgenommene Anerkennung wahrgenommene Nichtanerkennung/Missachtung
moralisch/Adressat moralisch/Akteur Abb. 14 Kategorien und Codes der Anerkennungsdimensionen
wahrgenommene Anerkennungsbilanz wahrgenommene Anerkennungsbilanz
Interviewauswertung
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Der Code Anerkennungsbilanz wird das primäre Kriterium darstellen, auf dessen Grundlage die Befragten zu einer Gruppe von Personen, die sich als anerkannt erlebt, und einer Gruppe, die sich nicht anerkannt bzw. missachtet fühlt, zusammengefasst werden. Im Folgenden werden nun die zusammengefassten Aussagen aller Interviewpartner über jeden Anerkennungscode kurz dargestellt und die Befragten im Anschluss daran hinsichtlich ihres Erlebens, anerkannt bzw. nicht anerkannt zu werden, gruppiert. 5.2.1.1
Personale Identität
Anerkennung Die Auswertungen der Äußerungen der Befragten zeigen auf, dass eine emotionale Anerkennung auf ganz unterschiedliche Art und Weise und durch die verschiedensten Personen vermittelt wird. So werden nicht nur Partner, Eltern oder gute Freunde als Quelle dieser Anerkennung genannt, sondern ebenfalls z.B. die Schwägerin, Großmutter oder Geschwister. Während einige der Befragten einen relativ großen Personenkreis nennen, der sie emotional anerkennt, beziehen andere sich auf einzelne, spezielle Personen, die ihnen dann auffallend wichtig zu sein scheinen. Verhaltensweisen, die die Interviewpartner als emotional anerkennend beschreiben, werden im Folgenden unter Oberbegriffe gruppiert und kurz erläutert.35 Zunächst einmal beschreiben Befragte, dass ihnen emotionale Anerkennung schlicht durch eine Kontaktaufnahme von Seiten relevanter anderer entgegengebracht wird. Es wird berichtet, dass es bereits als anerkennend empfunden wird,36 wenn wichtige Bezugspersonen sich regelmäßig melden bzw. häufig Kontakte herstellen, also die Befragten anrufen oder besuchen. Hier werden besonders Kontakte hervorgehoben, die trotz einer größeren räumlichen Distanz aufrechterhalten werden. Als zweite Oberkategorie von Verhaltensweisen, die die Befragten als emotional anerkennend empfinden, finden sich solche in Form von praktischer Unterstützung und Hilfestellung. Hierzu zählen Hilfen bei der Kindererziehung und –betreuung, im Haushalt, in Notsituationen oder auch bei der Arbeitssuche. In verschiedenen Fällen wird betont, dass solche Hilfestellungen von der/den jeweils relevanten Person/en zu jeder Tages- und Nachtzeit eingefordert werden können. Auch das Gewähren finanzieller Hilfen wird auf die Frage danach, wie Bezugspersonen dem/der Befragten zeigen, dass er/sie ihnen wichtig ist bzw. dass sie ihn/sie lieben, genannt. Als eine dritte Obergruppe emotional unterstützender Verhaltensweisen werden Umgangsweisen, die als verbale Unterstützung bezeichnet werden können, genannt. Hierunter fällt, dass den Befragten in schwierigen Situationen Zuspruch gegeben und Mut gemacht wird. Darüber hinaus wird berichtet, dass unterstützende Personen dazu ermuntern, Dinge zu tun, die für den/die Befragten gut sind. Auch das Geben von Ratschlägen zur Verbesserung der bestehenden Situation oder einfach, dass die Bezugspersonen darüber nachdenken, wie die Situation der/des Interviewten zu verbessern wäre, wird als Verhaltensweise genannt, die als emotional anerkennend gewertet wird. Des Weiteren berichten die Interviewten von Verhaltensweisen, die hier unter der Oberkategorie ‚Aufmerksamkeit’ zusammenge35 Hierbei beziehe ich mich nicht auf eine in der Literatur zu sozialer Unterstützung bestehende Kategorisierung, da zu diesem Untersuchungsfeld kein eindeutiges Klassifikationsschema vorliegt, sondern eine Fülle unterschiedlicher Ansätze existiert, die verschiedenste Unterstützungsdimensionen beschreiben. 36 Es wurde danach gefragt, wie die Bezugspersonen dem/der Interviewten zeigen, dass sie/er ihnen wichtig ist bzw. dass sie ihn/sie lieben.
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fasst werden. Hierunter fallen Symboliken, die den Befragten verdeutlichen, dass die ihnen nahe stehenden Personen an sie denken, und die deren Wichtigkeit für die Bezugsperson verdeutlichen. Genannt wird z.B. das Versenden von SMS – unterzeichnet mit HDL37 – das Mitbringen von Blumen bzw. anderen Dingen, von denen die Bezugspersonen wissen, dass sie den Befragten gefallen, oder auch das Backen von Kuchen. Auch das Basteln eines Geburtstagsgeschenks sowie Versuche – positive – Überraschungen zu erwirken, fallen unter diese Kategorie. Weitere emotional anerkennende Verhaltensweisen sind solche, die den Befragten verdeutlichen, dass sie sich auf ihre Bezugspersonen verlassen können. Hier wird berichtet, dass es möglich sei, diesen Personen Dinge über sich selbst anzuvertrauen, dass die Bezugspersonen also durch ihr Verhalten verdeutlichen, dass die Befragten ihnen gegenüber Dinge über sich preisgeben und Intimitäten austauschen können. In diesem Zusammenhang werden auch die Wichtigkeit von Ehrlichkeit und Vertrauenswürdigkeit als anerkennendes Verhalten genannt. Doch nicht nur Vertrauenswürdigkeit, auch dass die Bezugspersonen den Befragten vertrauen, wird als wichtig erachtet. Als weitere Gruppe von emotional anerkennenden Verhaltensweisen finden sich solche, die hier unter der Bezeichnung ‚Akzeptanz von Unterschiedlichkeit’ zusammengefasst werden. Hier berichten die Befragten, dass Bezugspersonen ihnen zeigen, dass sie sie lieben bzw. dass sie ihnen wichtig sind, indem sie sie so akzeptieren, wie sie sind. Es wird berichtet, dass die Bezugspersonen Rücksicht auf die Interessen der Befragten nehmen – sogar, wenn diese Interessen anders sind als die eigenen – und dass sie auch Verständnis und Toleranz gegenüber Verhaltens- und Lebensweisen zeigen, die für sie selbst nicht lebbar sind. Weitere Reaktionen von Bezugspersonen, die als emotionale Anerkennung wahrgenommen werden, sind, dass sich diese Personen über Erfolge der Befragten freuen und stolz auf deren Leistungen sind. Auch Verhaltensweisen, die den Befragten zeigen, dass wichtige andere sich um sie sorgen, diese sich also erkundigen, ob es ihnen gut geht bzw. Maßnahmen ergreifen, damit es ihnen – körperlich – gut geht, werden genannt. Als weitere Gruppe emotional anerkennender Verhaltsweisen finden sich Beschreibungen, die hier als ‚nonverbales Verstehen’ bezeichnet werden. So wird die Frage: „Wie zeigt Ihnen die Person, dass Sie ihr wichtig sind bzw. dass sie Sie liebt?“ häufig damit beantwortet, dass dies einfach durch die Anwesenheit der Person und das Zusammensein – und gemeinsame Lachen – mit ihr, ohne dass ein bestimmtes Anliegen besteht, geschieht. Hierbei wird über ein gegenseitiges Verstehen ohne Worte berichtet. Ein solches gegenseitiges Verstehen drückt sich auch durch zwanglose Umgangsformen untereinander aus. Eine Befragte berichtet z.B., dass die Qualität ihrer emotionalen Beziehungen gerade dadurch gekennzeichnet ist, dass keine ‚sinnlosen’ Regeln bestehen – z.B. „Wenn ich dieses Mal anrufe, rufst du nächstes Mal an“ –, deren Nichteinhaltung zum Abbruch der Beziehung führen könnte. Und als eine letzte wichtige Oberkategorie von Verhaltensweisen, durch die die Befragen sich emotional anerkannt fühlen, finden sich solche, die unmittelbare Beweise der Zuneigung sind. Dies sind das Aussprechen von Sätzen wie „Ich habe dich lieb“ oder „Ich habe dich gern“ oder aber auch körperliche Zuneigungsbekundungen z.B. durch Küssen, Händchenhalten oder auch Umarmungen, die nicht nur bezogen auf Liebesbeziehungen, sondern auch auf Freundschafsbeziehungen genannt werden. Die Befragten, die verschiedene dieser beschriebenen anerkennenden Verhaltensweisen erfahren, besitzen somit das Gefühl, von anderen Menschen emotional anerkannt zu werden. So berichten Befragte z.B. von der Wahrnehmung, so akzeptiert zu sein, wie sie sind. Des Weiteren wird das Gefühl beschrieben, sich auf andere verlassen zu können, die hinter einem stehen 37
Abkürzung für „Habe dich lieb.“
Interviewauswertung
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und zu denen man gehen kann, wenn es einem nicht gut geht. In diesem Zusammenhang wird ebenfalls die Wahrnehmung berichtet, nicht allein schwierige Situationen bewältigen zu müssen, sondern „auf jemanden zurückgreifen“ zu können, der solche Situationen gemeinsam mit einem bewältigt. Nichtanerkennung und Missachtung Auch emotionale Anerkennungsmängel und emotionale Missachtungen werden von den Befragten erlebt. Es wurde zunächst versucht, diese Negationen der Anerkennung der personalen Identität möglichst kontinuierlich hinsichtlich ihrer Tiefengrade abzustufen. Wie im Theorieteil angeführt, wurde dabei davon ausgegangen, dass aktive Negationen, die das Gegenteil der erwarteten Anerkennung zum Ausdruck bringen, durch eine besonders starke Intensität gekennzeichnet sind. Demgegenüber ist die Intensität einer nicht erfolgenden erwarteten Anerkennung weniger stark und ihre Stärke dadurch bestimmt, ob die Verweigerung der Anerkennung als intendiert oder nicht intendiert betrachtet wird. Während eine Differenzierung der Aussagen nach Berichten über aktive Negationen und nicht erfolgte Anerkennung leicht durchzuführen war, konnte eine Differenzierung zwischen verschiedenen Intentionen der Nichtanerkennung nicht realisiert werden, da in vielen Fällen nicht nachvollzogen werden konnte, ob der Befragte seinem Gegenüber eine Intention – und wenn ja, welche – unterstellt bzw. dies nicht tut. Aus diesem Grund werden die Aussagen über Negationen der personalen Anerkennung ausschließlich hinsichtlich der Dichotomie von aktiver Negation, bezeichnet als Missachtung, und nicht erfolgter Anerkennung, bezeichnet als Nichtanerkennung, klassifiziert. Diese Nichtanerkennungen und Missachtungen können danach unterteilt werden, ob sie innerhalb aktuell bestehender Beziehungen erlebt werden, ob sie durch den misslungenen Versuch, neue Beziehungen aufzunehmen, bzw. den Wunsch, sich weitere Beziehungen zu erschließen, hervorgerufen werden, oder ob sie innerhalb vergangener Beziehungen aufgetreten sind und zu deren Abbruch geführt haben. Bei der ersten Kategorie von Missachtungen und Nichtanerkennungen handelt es sich also um solche, die sich mit der Zeit innerhalb der aktuellen Beziehungen entwickelt haben und somit zu Bestandteilen dieser Beziehungen geworden sind. Hier wird von Nichtanerkennungen berichtet, die dadurch hervorgerufen werden, dass Bezugspersonen sich ausschließlich dann melden, wenn sie ein bestimmtes Anliegen haben. Auch Beziehungen, die sehr routiniert ablaufen und bei denen die Anwesenheit des Beziehungspartners als selbstverständlich hingenommen wird, werden als emotional mangelhaft bewertet. Gleiches gilt für Beziehungen, über die berichtet wird, dass die Interaktionspartner nicht „auf der gleichen Wellenlänge“ agieren. Als Missachtungserfahrungen innerhalb bestehender Beziehungen werden das Ausnutzen von Hilfeleistungen sowie häufiges Auftreten von Konflikten und Streitigkeiten angeführt. Nichtanerkennung wird darüber hinaus ebenfalls durch den Wunsch, sich weitere Beziehungen zu erschließen, erlebt. Hier wird primär von ungebundenen Personen der Wunsch nach einem unterstützenden Lebenspartner geäußert. Aber auch misslungene Versuche, sich einen neuen Freundeskreis zu erschließen, werden angeführt. So finden sich Beschreibungen von Nichtanerkennung, die darauf zurückgeführt werden, dass die betroffene Person in einem neuen Bekanntenkreis „nicht mitreden“ kann und sich aus diesem Grund nicht aufgenommen fühlt. Am massivsten erscheinen die Nichtanerkennungen und vor allem Missachtungen, die von den Interviewpartnern in vergangenen Beziehungen erlebt wurden und letztendlich zum Abbruch dieser geführt haben. Es wird über nicht erfolgte Anerkennung berichtet, die dadurch hervorgerufen wird, dass der Betroffene nicht mehr als Ansprechpartner gesucht wird bzw.
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Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs
Freunde plötzlich nicht mehr für den Interviewpartner da sind. Missachtung haben Befragte dadurch erlebt, dass ihre Probleme nicht ernst genommen werden bzw. deren Unwichtigkeit demonstriert wurde. In diesem Zusammenhang findet sich auch die Wahrnehmung von Interviewpartnern, dass solche ehemaligen Bezugspersonen sich ausschließlich für sich selbst interessieren und nur sich selbst für wichtig halten. Darüber hinaus finden sich Missachtungen, die dadurch hervorgerufen werden, dass Beziehungspartner verdeutlichen, dass dritte Personen für sie eine größere Wichtigkeit besitzen. Auch eine Weigerung, sich in die Gründe für bestimmte Verhaltensweisen von Interviewpartnern hineinzudenken und ausschließlich die eigene Sichtweise als richtig und normal zu betrachten, wird als missachtend wahrgenommen. Hiermit geht einher, dass die Betroffenen sich von früheren Bezugspartnern unverstanden fühlten, die ihre Entscheidungen oder die Wahl bestimmter Lebensarten kritisierten und unerbetene Ratschläge gaben. Auch „Lästereien“ und Beleidigungen, die teilweise erfolgen, weil die Beziehung anders verläuft, als es sich die Bezugspartner wünschten, werden angeführt. Ebenso werden das Missgönnen positiver Erlebnisse, angelogen zu werden und der Missbrauch von Vertrauen als Missachtungserfahrungen innerhalb vergangener Beziehungen genannt. Solche Nichtanerkennungen und Missachtungen, die zum Abbruch von Beziehungen geführt haben, aber teilweise auch solche, die innerhalb aktueller Beziehungen bestehen, wurden primär durch Umbrüche innerhalb des Lebenslaufs der Betroffenen hervorgerufen. So werden z.B. die Geburt eines Kindes oder Arbeitslosigkeit oftmals als Auslöser für den Abbruch – oder die Verschlechterung – von emotionalen Nahbeziehungen genannt. Hier zeigt sich, dass primär finanzielle und zeitliche Einschränkungen – im Falle von Mutterschaft – aber auch das Verfügen über ein größeres Zeitkontingent als die Freunde – im Falle von Arbeitslosigkeit – zu Unverständnis und hierdurch zu Verschlechterung oder Abbruch von emotionalen Beziehungen führen können. Damit einhergehend entsteht bei den Betroffenen das Gefühl, nur ein wertvoller Freund zu sein, wenn man – wie eine der Befragten es ausdrückt – „mitzieht“ und ansonsten nicht mehr „aktuell“ bzw. „out“ zu sein. Anerkennungsbilanzen Es zeigt sich, dass die interviewten Personen in zwei Gruppen unterteilt werden können, von denen eine über alle angesprochenen Beziehungen hinweg eine positive Anerkennungsbilanz zieht, während dies auf die zweite Personengruppe nicht zutrifft. Hiermit ist weder gemeint, dass die Personen, die eine positive Anerkennungsbilanz ziehen, von allen Bezugspartnern ausnahmslos emotional anerkannt werden, noch ist gemeint, dass Personen, die keine positive Anerkennungsbilanz ziehen, ausschließlich Anerkennungsmängel und soziale Missachtung erfahren. Allerdings ist festzustellen, dass eine Gruppe von Befragten sich als mit den für sie wichtigen emotionalen Nahbeziehungen zufrieden äußert, während eine zweite Gruppe sich Veränderungen in einer oder mehreren Beziehungen zu Freunden, zum Partner, zu den Eltern oder einem Elternteil, den Geschwistern usw. wünscht. Während somit die Gruppe, die sich als mit ihren Beziehungen zufrieden äußert, als Gruppe derer, die eine positive emotionale Anerkennungsbilanz ziehen, bezeichnet wird, werden die Befragten, die Veränderungsbedarf bezüglich einer oder mehrerer Beziehungen anmelden, als Gruppe, die keine positive Anerkennungsbilanz zieht, bezeichnet. Es ist festzustellen, dass der überwiegende Teil der Befragten aufgrund der Erfahrungen, die die Personen im emotionalen Nahbereich machen, eine positive Anerkennungsbilanz zieht. Dies bedeutet allerdings nicht, dass diese Personen in ihrem Leben bisher ausschließlich emotional anerkennende Nahbeziehungen geführt haben. Es zeigt sich aber, dass die Befragten aktuell eine für sie ausreichende Anzahl von Bezugspersonen nennen können, von denen ih-
Interviewauswertung
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nen ein bedingungsloser Rückhalt und ein Gefühl der Vertrautheit und Verlässlichkeit vermittelt werden. Mit der Nennung solcher befriedigenden Beziehungen geht einher, dass diese Interviewpartner vergangene Beziehungen, die sich durch belastende Aspekte auszeichnen, nicht als die aktuelle Situation belastend beschreiben. So werden Abbrüche vergangener Beziehungen durchweg nicht als negativ bewertet. Zwar wird berichtet, dass der Moment, in dem die Beziehung abgebrochen wurde, schwierig bzw. traurig, oder– wie eine Befragte angibt – eine „harte Zeit“ war; alles in allem sind die Befragten jedoch damit zufrieden, wie die Beziehung verlaufen ist. Rückblickend werden die Personen, zu denen der Kontakt abgebrochen wurde, teilweise als Menschen beschrieben, von denen die Betroffenen angeben, dass sie zu ihnen aus heutiger Sicht ohnehin keine Beziehung führen möchten. So werden sie beispielsweise als nicht vertrauenswürdig, „aufsässig“ oder auch als „so ein bisschen fertig“ bezeichnet. Auch in den Fällen, in denen die fraglichen Personen nicht in einer solchen Art abgewertet werden, werden sie aus der heutigen Sicht doch als unwichtige Menschen, die keinen besonderen Stellenwert im Leben der Befragten einnehmen, beschrieben. Das bedeutet also, es wird keine Wiederaufnahme der jeweiligen Beziehung gewünscht. Allerdings äußern die Befragten sich auch nicht unzufrieden darüber, solche emotionalen Missachtungen und Anerkennungsmängel erlebt zu haben. Diese werden vielmehr als wichtige Erfahrung interpretiert, die einen gelassenen Umgang mit aktuellen oder zukünftigen Beziehungen ermöglichen, da erfahren wurde, dass immer wieder neue Beziehungen hergestellt werden können und dass es, wenn eine emotionale Nahbeziehung abgebrochen wird, andere Beziehungen gibt, die emotionalen Rückhalt bieten. So beschreibt eine Interviewpartnerin, dass sie nach Abbrüchen dreier Freundschaftsbeziehungen heute keinerlei enge Freundschaften mehr aufbaut. Sie pflege zwar Bekanntschaften, mit denen sie abends gerne mal wegginge, emotionalen Rückhalt verschafft sie sich aber ausschließlich über den Partner, die Eltern und Geschwister. Ähnliches berichtet ein Interviewpartner, der angibt, in früheren Freundschaften eine „Pseudosolidarität“ erlebt zu haben. Unter einer solchen „Pseudosolidarität“ versteht er, dass seine damaligen Freunde ein Zusammengehörigkeitsgefühl ausschließlich forciert haben, um ihn letztendlich auszunutzen. Er erläutert, heute keine Freundschaftsbeziehungen mehr zu pflegen, sondern sich ausschließlich auf seine Familie zu verlassen, die er als uneingeschränkt „solidarisch“ beschreibt. Darüber hinaus stellt er ein Gefühl des Eingebundenseins über die Zugehörigkeit zur Subkultur der Gothic-Szene her, innerhalb derer er zwar nur bindungslose Bekanntschaften pflegt, sich aber durch die gemeinsame Abgrenzung zur Kultur der Mehrheitsgesellschaft mit der Gruppe verbunden fühlt. Als positive Seite abgebrochener Beziehungen wird des Weiteren die Erfahrung genannt, dass es ebenfalls erträglich ist, über einen gewissen Zeitraum hinweg auf sich selbst gestellt zu sein. Ein Interviewpartner beschreibt dies folgendermaßen: „B: (…) Deswegen sage ich immer: ‚Lieber ein Schnitt.’ Meine Frau hat immer Angst und sagt: ‚Mensch, du hast so viele Freunde... Bekannte gehabt, mit denen du etwas unternommen hast.’ Dann sage ich immer: ‚Ja, aber das fehlt mir jetzt nicht.’ I: Haben Sie Bedenken, auch mal keine Freunde mehr zu haben, oder meinen Sie, auch immer wieder neue Freunde finden zu können? B: Ich hatte vor meiner Frau eine sehr lange Beziehung, die ist in die Brüche gegangen. Und ich habe da eigentlich kennenge... ich habe es schätzen gelernt, da alleine zu sein. Wirklich alleine zu sein. Ich glaube, diese Erfahrung erlaubt es mir jetzt auch, so radikal eigentlich vorzugehen. Ich denke, nur wer Angst hat vor dem Alleinsein, der wird auch keine Menschen kennen lernen. Der verfällt in eine gewisse Art der Panik, und der wird halt immer alles Mögliche versuchen, um an Leute zu kommen. Und wenn man auf Teufel... auf Teufel komm raus was erzwingen will, dann geht das nie gut. Also, von daher, lieber mal sagen: ‚Nee.’ Das ist besser.“
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Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs
Das bedeutet also, vergangene Missachtungs- und Nichtanerkennungserfahrungen können dazu beitragen, Ängste vor möglichen zukünftigen Beziehungsabbrüchen zu minimieren. Es zeigt sich also, dass die berichteten Anerkennungsmängel und Missachtungserfahrungen der Vergangenheit bei den hier interviewten Personen eine größere Unabhängigkeit von emotionaler Anerkennung hervorzurufen scheinen und sich somit nicht negativ auf die aktuell gezogene Anerkennungsbilanz auswirken. Neben diesen Befragten, die eine positive emotionale Anerkennungsbilanz ziehen, finden sich ebenfalls solche Befragte, die dies nicht tun. In diese Kategorie fallen Interviewpartner, die sich dahingehend äußern, dass ihnen bestimmte Arten emotionaler Beziehungen – z.B. ein Lebenspartner oder Freunde – fehlen, sowie solche, die innerhalb bestehender Beziehungen weniger Anerkennung, als sie sich wünschen, bzw. Missachtung erfahren. Eine genauere Beschreibung dieser Berichte wird innerhalb des zweiten Analyseschritts im Zusammenhang mit den Ausführungen einzelner Interviews vorgenommen. 5.2.1.2
Kollektive Identität
Anerkennung, Missachtung Bei den wenigsten der befragten Personen ließ sich während des Interviews eine Identifikation mit einer bestimmten Gruppe oder Lebensart feststellen. Einerseits liegt dies möglicherweise daran, dass die Frage nach der Identifikation mit einer Gruppenzugehörigkeit nur schwer derart zu stellen ist, dass der Interviewte nicht verwirrt wird und nachvollziehen kann, worauf der Interviewer hinaus will. Hier zeigte sich, dass die Frage danach, ob es Gruppen gibt, die dem Interviewpartner wichtig sind, die Befragten zumeist verwirrte bzw. die Frage direkt verneint wurde. Auch das beispielhafte Anführen spezifischer Gruppen, um die Frage zu verdeutlichen, schlug fehl, da die Befragten sich in diesem Fall ausschließlich auf die genannten Beispielgruppen bezogen. Andererseits besteht natürlich ebenfalls die Möglichkeit, dass die meisten der Befragten über keine kollektiven Identitäten verfügen. Bei den Interviewpartnern, bei denen die Identifikation mit einer Gruppe festgestellt werden konnte, ergab sich diese Feststellung nicht durch die Beantwortung der im Interviewleitfaden gestellten Fragen zu diesem Thema, sondern diese Identität kristallisierte sich im Gesprächsverlauf heraus. Während sich mehrere Interviewpartner mir ihren Herkunftsregionen – Ostdeutschland und Ruhrgebiet – identifizierten, deren Einwohnern ein positiver kultureller Habitus, der sich von anderen Regionen unterscheidet, zugeschrieben wird, findet sich bei einem Interviewpartner einen Identifikation mit der katholischen Kirche und ihrem Wertesystem, wohingegen sich ein weiterer Befragter mit dem Lebensstil der Gothic-Szene identifiziert. Fragen danach, ob Abwertungen der Wert- und Lebensvorstellungen, die typisch für die genannten Gruppen sind, den jeweiligen Befragten beleidigen, wurden verneint. Die Personen, von denen Abwertungen ausgehen könnten, werden dabei als darüber uninformiert beschrieben, wie positiv die Denk- und Lebensweisen der jeweiligen Gruppe sind. So argumentiert ein Befragter, man müssen diesen Personen lediglich die positiven Attribute der Gruppe aufzeigen, damit sie beleidigende Äußerungen revidieren. Direkte, aktive Abwertungen oder Beleidigungen der kollektiven Identität durch Angehörige anderer Gruppen erlebt keiner der Befragten. Ein Interviewpartner fühlt sich allerdings dadurch nicht anerkannt, dass andere Personen ihr Leben nicht an den Wertvorstellungen der für ihn relevanten Gruppe orientieren. Hierauf wird an einer späteren Stelle näher eingegangen.
Interviewauswertung 5.2.1.3
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Individuell positional
Anerkennung Die Auswertungen der Interviews zeigen, dass von den meisten Befragten eine positionale individuelle Anerkennung zunächst einmal damit gleichgesetzt wird, gelobt zu werden. So beantwortet ein großer Teil der Interviewten die Frage danach, wie gezeigt werde, dass ihre Tätigkeiten wichtig sind, durch Berichte über Lob für erfüllte Aufgaben bzw. durch Erwähnungen, dass Tätigkeiten so erfüllt wurden, wie der Lobende es erwartet. Neben solchen sehr direkten, verbalen Anerkennungshandlungen werden aber darüber hinaus noch weitere Verhaltensweisen von Kollegen und Vorgesetzen beschrieben, die als anerkennend erlebt werden. So wird es z.B. von Personen, die es erlebt haben, Tätigkeiten ausführen zu müssen, die einfacher sind, als es ihren Qualifikationen entspricht, als anerkennend empfunden, Tätigkeiten, die mit ihrer Qualifikation korrespondieren, auszuführen. Auch das Erledigen von Aufgaben, die über die formale Qualifikation hinausgehen, wird in der Regel als anerkennend erlebt, da es als eine besondere Auszeichnung der eigenen Fähigkeiten betrachtet wird, Tätigkeiten zu verrichten, die über das formal Erlernte hinausreichen.38 Auch Beförderungen oder aber die Aufforderung, besonders wichtige und verantwortungsvolle Tätigkeiten zu übernehmen, werden als Verhaltensweisen genannt, die als besondere Wertschätzung der Fähigkeiten aufgefasst werden. Des Weiteren werden die Akzeptanz von bzw. das Interesse an der Meinung zu fachlichen Problemen als anerkennende Handlungen beschrieben. Neben diesen gängigen Arten, Adressat positionaler Anerkennung zu werden, berichtet darüber hinaus einer der Befragten, eine spezielle Ehrung dadurch erlebt zu haben, dass der Bürgermeister von Lemgo um ein Treffen mit ihm bat, da er einiges über die Arbeit des Befragten gehört habe und ihn kennen lernen wolle. Nichtanerkennung und Missachtung Neben solchen anerkennenden Erlebnissen berichten die Befragten allerdings ebenfalls von Situationen, in denen sie nicht die Anerkennung, die sie erwarteten, erhalten, in denen sie sich also von Nichtanerkennung betroffen fühlen. Verglichen mit der Kategorie der Nichtanerkennung der personalen Identität, ist es bezogen auf die Kategorie der positionalen Nichtanerkennung besser möglich, zwischen verschiedenen Intentionen – bzw. zwischen Vorliegen vs. Nichtvorliegen einer Intention – einer Nichtanerkennung zu differenzieren. Eine detaillierte, zufrieden stellende Differenzierung konnte aber auch hier nicht vorgenommen werden, so dass diese nur in Ansätzen erfolgt und ansonsten primär die Dichotomie von aktiver Negation und Nichtanerkennung beschrieben wird. Bezogen auf das Erleben von Nichtanerkennung fällt auf, dass erwerbstätige Personen und erwerbslose Personen, die sich positionale Anerkennung primär aufgrund von Haus- und Erziehungsarbeit erschließen, Nichtanerkennung dadurch empfinden, dass sie weniger Lob und Zuspruch für erledigte Aufgaben erhalten, als sie beanspruchen. Demgegenüber nehmen erwerbslose Personen, die sich als ‚Arbeitslose’ begreifen, und Personen, die in Leiharbeitsverhältnissen beschäftigt sind, vor allem dadurch Mängel an Anerkennung wahr, dass ihnen die Möglichkeit verwehrt wird, ihre Fähigkeiten und Leistungen unter Beweis zu stellen. So wird von diesen mehrfach bemängelt, dass es als belastend erlebt wird, keine Tätigkeiten ausführen zu können, die ihren Fähigkeiten und Qualifikationen entsprechen und für die es möglich 38 Eine Interviewpartnerin empfindet es allerdings als nicht anerkennend, da sie sich eine besondere Beachtung dieser Situation wünscht, die nicht erfolgt.
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Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs
wäre, anerkannt zu werden. Die Befragten berichten, dass oftmals uninteressante Routinearbeiten ausgeführt werden müssen, für die in der Gesellschaft keine Anerkennung vergeben wird. Ein in Zeitarbeit beschäftigter Befragter erwähnt ebenfalls, dass er sich durch die Tätigkeit in einem sozialen Umfeld bewegt, das nicht in der Lage sei, seine Fähigkeiten zu erkennen, und ihm aus diesem Grund eine Anerkennung dieser Fähigkeiten verwehrt bleibt. Arbeitslose Personen nennen als potenzielle Quelle individueller positionaler Anerkennung, die ihnen verweigert wird, häufig Sachbearbeiter des Arbeitsamtes und mögliche Arbeitgeber. Hier wird eine Anerkennung von Fähigkeiten dadurch verweigert, dass diese nicht wahrgenommen werden bzw. man sich nicht mit ihnen auseinandersetzt. So finden sich Berichte der Befragten, dass Sachbearbeiter des Arbeitsamtes und potenzielle Arbeitgeber sich nicht für die Qualifikationen der Befragten interessieren, wenn der Betroffene z.B. als zu alt oder zu unflexibel betrachtet wird. So berichtet z.B. eine Befragte über die Weigerung eines Sachbearbeiters, sich mit den von ihr mitgebrachten Unterlagen auseinanderzusetzen. Dass Qualifikationen und Fähigkeiten durch die Mitarbeiter des Arbeitsamtes ignoriert werden, wird auch dadurch von arbeitslosen Interviewpartnern wahrgenommen, dass die Betroffenen entweder keine oder unpassende Arbeitsangebote erhalten. Während also diese Befragten primär von Anerkennungsmängeln berichten, die dadurch entstehen, dass ihre Fähigkeiten gar nicht erst wahrgenommen werden, berichten Personen, die in Normalarbeitsverhältnissen beschäftigt sind bzw. ihre soziale Position über die Verrichtung von Hausarbeit definieren, dass sie einen Mangel an Anerkennung dadurch empfinden, dass die Erledigung ihrer Arbeit als selbstverständlich betrachtet und eine gute Leistung nicht hervorgehoben wird. Hier besteht also das Gefühl, dass die Erfüllung der Arbeitsaufgaben wahrgenommen, dies aber nicht erwähnt wird. Bei erwerbstätigen Personen liegt in diesem Fall nicht ausschließlich der Wunsch nach einer verbalen Hervorhebung des Geleisteten vor. So gibt z.B. eine Interviewpartnerin darüber hinaus an, ihre Entlohnung entspräche nicht ihrer Tätigkeit bzw. aufgrund der Aufgaben, die sie leiste, stehe ihr eine Beförderung zu, um die sie sich bereits bemüht habe und die ihr nicht bewilligt wurde. Eine weitere Befragte bemängelt, dass nicht hervorgehoben wird, dass nur sie bestimmte Aufgaben erledigen könne, nicht aber ihre Kollegen. Neben solchen Situationen, in denen die Befragten weniger individuelle Anerkennung erhalten, als sie sich wünschen, in denen sie also eine Nichtanerkennung erfahren, werden ebenfalls Situationen genannt, in denen die Interviewpartner aktive Missachtungen ihrer Fähigkeiten und Tätigkeiten durch direkte Abwertungen und Beleidigungen erleben. Von arbeitslosen Personen werden nicht nur direkte persönliche Beleidigungen als Missachtung ihrer Fähigkeiten erlebt; auch eine große Anzahl an abgelehnten Bewerbungen wirkt sich in dieser Weise aus. Ein Interviewpartner berichtet, dass er es als empörend empfunden habe, aufgrund von Überqualifikation eine Stelle nicht erhalten zu haben. Hier findet sich also eine Missachtung dadurch, dass nicht – wie erwartet – eine hohe Qualifikation geschätzt wird, sondern dies demgegenüber durch die Verweigerung des Arbeitsplatzes abgewertet wird. Doch nicht nur arbeitslose Befragte berichten über Missachtungserfahrungen, auch Personen, die in Zeitarbeit und in Normalarbeitsverhältnissen beschäftigt sind, erzählen von derartigen Erlebnissen. Eine häufig genannte und offensichtliche Missachtung der Arbeit findet sich hier durch die Aussage von Kollegen oder Vorgesetzen, die Tätigkeit werde in einer inkorrekten Art und Weise ausgeübt bzw. das Ergebnis sei nicht zufrieden stellend. Hierbei wird Kritik besonders dann als belastend erlebt, wenn der Kritiker als besonders kompetent oder die Kritik als ungerechtfertigt wahrgenommen wird. Daneben finden sich Missachtungserlebnisse dadurch, dass erledigte Arbeiten von anderen Personen wieder zunichte oder rückgängig gemacht werden. Auch Ver-
Interviewauswertung
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suche von Dritten, dem Betroffenen zu erklären, wie er seine Arbeit effektiver erledigen könne, sowie das Erledigen von Arbeiten in einer Art und Weise, die offensichtlich dem Vorgehen widerspricht, das der Betroffene aufgrund seines Fachwissens wählen würde, werden als missachtend empfunden. Als weitere Form der Missachtung von Fähigkeiten findet sich auch bei in Normalarbeitsverhältnissen beschäftigen Personen die Vergabe von Routinetätigkeiten. Darüber hinaus werden ebenfalls der Entzug von Aufgaben, die bisher zum Tätigkeitsbereich des Betroffenen zählten, sowie die Bevorzugung von Kollegen bei der Vergabe von Tätigkeiten genannt. Neben den beschriebenen Anerkennungsmängeln und Missachtungen auf individueller Ebene, die die Fähigkeiten und Qualifikationen der Betroffenen als Einzelpersonen betreffen, berichten die Befragten ebenfalls über Anerkennungsmängel und Missachtungen, die sich auf ihre soziale Position als solche beziehen. 5.2.1.4
Kollektiv positional
Anerkennung Neben der Möglichkeit, auf einer individuellen Ebene positionale Anerkennung zu erfahren bzw. diese nicht zu erfahren, besteht die Möglichkeit, kollektive positionale Anerkennung zu erhalten bzw. nicht zu erhalten. Allerdings wurde das Erleben kollektiver positionaler Anerkennung, also einer Anerkennung, die sich auf die soziale Position der Betroffenen bezieht, in den geführten Interviews von den Befragten selten angesprochen. Lediglich einer der Interviewten erwähnt eine derartige Anerkennungsart. Bei diesem Interviewpartner handelt es sich um eine in Zeitarbeit beschäftigte Person. Als Verhaltensweise, durch die der Gruppe der Zeitarbeiter von entleihenden Firmen Anerkennung entgegengebracht wird, nennt der Interviewte, dass solche ‚anerkennenden’ Firmen Zeitarbeiter lediglich dann einstellen, wenn – wie es als ursprüngliche Funktion der Zeitarbeit gedacht war – eine vorübergehende Auftragsspitze zu erkennen ist, die durch kurzzeitigen Einsatz zusätzlicher, qualifizierter Arbeiter überbrückt werden muss. Der Interviewte betrachtet Zeitarbeiter somit als anerkannt, wenn sie ihrem ursprünglichen Einsatzgebiet entsprechend beschäftigt werden. Nichtanerkennung und Missachtung Nicht erfüllte kollektive Anerkennungsansprüche werden ebenfalls so gut wie nicht – ausschließlich von dem soeben bereits erwähnten Zeitarbeiter – angesprochen. Hier bemängelt der Betroffene, dass nicht anerkannt wird, dass Zeitarbeiter oftmals sehr viel besser qualifiziert sind als viele Festangestellte, da sie durch einen häufigen Wechsel der Arbeitsstelle ein großes Ausmaß an Erfahrungen sammeln. Wird also auf der kollektiven Ebene wenig über anerkennende Verhaltensweisen bzw. das Vorenthalten solcher anerkennenden Verhaltensweisen gesprochen, so findet sich demgegenüber eine Vielzahl an Berichten über Handlungen, die der Anerkennung eindeutig gegenteilig sind, also über Missachtung. Hier ist festzustellen, dass positionale kollektive Missachtung ausschließlich von Personen, die arbeitslos oder in Zeitarbeitsverhältnissen beschäftigt sind, angesprochen wird. Arbeitslose Personen berichten von Erfahrungen kollektiver Abwertungen durch zwei Quellen dieser Missachtungen. Einerseits sprechen die Interviewpartner die Art, in der in den Medien und durch politische Eliten über Arbeitslose berichtet und gesprochen wird, als Aspekt der Missachtung an. Hier wird zunächst bemängelt, Arbeitslose würden in der Öffentlichkeit als Betrüger dargestellt, die sich auf Kosten der Allgemeinheit ein Leben ohne Erwerbsarbeit
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Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs
ermöglichen wollen. Dieses Bild werde durch politische Maßnahmen, die zu immer stärkeren Kontrollen führen, denen sich Bezieher des Arbeitslosengelds II zu unterwerfen haben, verstärkt. Eine Interviewpartnerin bezeichnet solche politischen Maßnahmen und die durch sie hervorgerufene Darstellung von Erwerbslosen als Massendiffamierung. Aufgegriffen und reproduziert werde ein solches Bild des kriminellen, ausnutzenden Arbeitslosen durch die Medien, wobei die privaten Fernsehsender als hierbei führend betrachtet werden. Es herrsche die Ansicht vor, dass Menschen, die arbeiten wollten, auch Arbeit fänden, wodurch somit die Erwerbslosigkeit in die Verantwortung der Arbeitslosen gelegt werde und aus der Arbeitsunlust der Betroffenen resultiere. Arbeitslose Personen würden nach den Beschreibungen der Interviewpartner somit primär als Belastung für den Steuerzahler wahrgenommen. Neben solchen Erfahrungen der Abwertung durch die Öffentlichkeit berichten die Befragten ebenfalls über Abwertungen im persönlichen Umgang, die sie aufgrund ihres Arbeitslosenstatus erleben. Einerseits finden sich hier Bemerkungen, die im Bekanntenkreis fallen gelassen werden, wie z.B., dass arbeitslose Personen um das große Ausmaß an frei verfügbarer Zeit zu beneiden seien. Auch die bereits angesprochene Ansicht, die betroffene Person bemühe sich nicht genügend, um Arbeit zu finden, da Personen, die arbeiten wollten, auch Arbeit fänden, wird oftmals im Bekanntenkreis der Betroffenen vertreten. Neben dem Bekanntenkreis stellen darüber hinaus Sachbearbeiter des Arbeitsamtes eine Quelle für Abwertungen und Beleidigungen dar. So sind z.B. Beschreibungen von beleidigendem und überheblichem Auftreten von Sachbearbeitern gegenüber Erwerbslosen zu finden. Doch zeigt sich, dass eine Missachtung arbeitsloser Personen nicht nur durch direkte Beleidigungen der Sachbearbeiter praktiziert wird. Es wurde im theoretischen Teil der vorliegenden Arbeit kurz erläutert, dass positionale Anerkennung primär Aspekte der Wertschätzung – und somit auf Missachtungsebene der Beleidigung – beinhalte. Innerhalb einer Fußnote fand Erwähnung, dass in sie aber ebenfalls Aspekte rechtlicher Anerkennung mit einfließen, die allerdings nicht weiter zu berücksichtigen seien. Nach den hier geführten Interviews sowie Gesprächen mit Personen des Bielefelder Arbeitslosenzentrums und der Einrichtung ‚Perspektive für Arbeitslose’ zeigt sich allerdings, dass bezogen auf erwerbslose Personen positionale Missachtung des Öfteren ebenfalls durch rechtliche Missachtung vermittelt wird. Diese werden durch Gedächtnisprotokolle eines Mitarbeiters des ‚Arbeitslosenzentrums Bielefeld’ verdeutlicht, die er über Beratungsgespräche mit Arbeitslosengeldempfängern erstellt und zur Berücksichtigung in der vorliegenden Arbeit zur Verfügung gestellt hat. In diesen Protokollen sind Fallgeschichten von zu beratenden Personen festgehalten, die neben beleidigenden Verhaltensweisen der Sachbearbeiter ebenfalls Verstöße gegen die ihnen durch das Sozialgesetzbuch zugesicherten Rechte erfahren. In einer überwiegenden Mehrzahl der Fälle wird von den Sachbearbeitern zunächst einmal gegen die §13 und 14 des SGB I verstoßen. Während §13 regelt, dass der Leistungsträger verpflichtet ist, die Bevölkerung über die ihr durch das Sozialgesetzbuch zugesicherten Rechte aufzuklären, regelt §14, dass jede Person das Recht besitzt, über die im Sozialgesetzbuch verankerten Rechte durch den Leistungsträger, gegenüber dem die Rechte geltend gemacht werden, beraten zu werden. Aus der schriftlichen Zusammenfassung der Beratungsgespräche wird deutlich, dass gegen diese Rechte verstoßen wird, indem entweder wichtige Informationen verschwiegen oder fehlerhafte Auskünfte gegeben werden. In beiden Fällen folgen weitere rechtliche Missachtungen, da hieraus resultiert, dass den betroffenen Personen die ihnen zustehenden Hilfen zu einem verspäteten Zeitpunkt, in vermindertem Maß oder gar nicht bewilligt werden. Werden die betroffenen Personen hierauf aufmerksam, so wird beschrieben, dass ihren Versuchen, sich für die Gewährleistung der ihnen rechtlich zugesicherten staatlichen Hilfen einzusetzen, zunächst einmal von den Sachbearbeitern entgegengewirkt wird. Es finden sich Berichte, dass
Interviewauswertung
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Sachbearbeiter, die auf eine fehlerhafte Bearbeitung hingewiesen werden sollen, ihre Bürotür von innen verschließen, sich von Kollegen verleugnen lassen, Anrufe nicht beantworten, oder sich im direkten Gespräch weigern, die inkorrekte Bearbeitung eines Falles einzugestehen. In solchen Fällen werden die Betroffenen mit dem Hinweis, sie könnten rechtlichen Widerspruch gegen die Entscheidung einlegen, abgewiesen. Eine Entsprechung der Rechte erfolgt in den beschriebenen Fällen erst nach vehementem Einsatz der benachteiligten Hilfeempfänger bzw. des Beraters des Arbeitslosenzentrums. Neben der Gruppe der Arbeitslosen berichten ebenfalls die befragten Zeitarbeiter von massiven kollektiven Missachtungen auf positionaler Ebene. Diese betreffen einerseits die Art, in der mit den Beschäftigten durch leihendes und entleihendes Unternehmen umgegangen wird, andererseits werden sie darüber hinaus durch den alltäglichen Umgang mit fest angestellten Kollegen und Vorgesetzten hervorgerufen. Hinsichtlich der Behandlung durch entleihendes und verleihendes Unternehmen wird berichtet, dass Arbeitsverhältnisse immer wieder, teils unvorhersehbar, beendet werden und die Betroffenen somit jederzeit kurzfristig von Arbeitslosigkeit bedroht sein können. Zwar ist die Möglichkeit solcher kurzfristiger Kündigungen Kern des Zeitarbeitsmodells; gesteuert werden sollten Einstellungen und Kündigungen allerdings durch Variationen in der Auftragslage, die es dem Unternehmen erschweren, Mitarbeiter fest einzustellen. Als missachtend wird somit von den in Zeitarbeit beschäftigten Personen empfunden, dass die Ursache für kurzfristige Kündigungen nicht als durch die Auftragslage verursacht gesehen wird, sondern darin, dass die Zeitarbeiter von rechtlichen Vorteilen wie Kündigungsschutz oder Urlaubsgeld ausgeschlossen bleiben sollen. Als weiterer Grund für häufige Kündigungen wird angenommen, es solle verhindert werden, dass die beschäftigten Zeitarbeiter sich untereinander kennenlernen, zusammenschließen und gemeinsam gegen die ihnen widerfahrenden Missachtungen vorgehen. Unverlässliche Angaben über die voraussichtliche Dauer des Arbeitsverhältnisses und teils unvorhersehbare Kündigungen führen dazu, dass es den Zeitarbeitern erschwert wird, ihr Leben im Voraus zu planen. Die Planbarkeit des weiteren Beschäftigungsverlaufs wird ebenfalls dadurch erschwert, dass teilweise Übernahmen in eine Festanstellung zwar zugesagt werden, diese Zusage dann jedoch nicht eingehalten wird. Als weitere Quelle der Missachtung von Zeitarbeitern kommt hinzu, dass über sie innerhalb der Firmen, in denen sie beschäftigt werden, ein stereotypes, abwertendes Bild vorherrscht. So werden sie, wie die Interviewpartner berichten, oftmals als Menschen, die jede Arbeit annehmen und „alles mit sich machen lassen“, bzw. als „Sklaven“ wahrgenommen. Dieses Bild von Zeitarbeitern spiegelt sich im Verhalten von Arbeitgebern und Kollegen gegenüber den betroffenen Personen wider. Einerseits wird geschildert, dass potenzielle Arbeitgeber starkes Unverständnis an den Tag legen, wenn eine Stelle aufgrund mangelhafter Arbeitsbedingungen abgelehnt wird. Andererseits verfestigen sich Wahrnehmungen, die sich auf das Verhältnis zwischen Zeitarbeiten und fest angestellten Arbeitern am Arbeitsplatz auswirken. Durch das Bild des Zeitarbeiters, der jede Arbeit annimmt und sich nicht gegen Ungerechtigkeiten zur Wehr setzt, etabliert sich am Arbeitsplatz eine Hierarchie zwischen Personen, die über Zeitarbeitsverträge beschäftigt sind, und den im entleihenden Unternehmen fest angestellten Personen. So nehmen sich fest angestellte Beschäftigte im Verhältnis zu Zeitarbeitern oftmals als statushöher wahr und demonstrieren dies im alltäglichen Umgang mit Leiharbeitern, was von den Betroffenen als abwertend empfunden wird. Dies führt einerseits zu Konkurrenzkämpfen zwischen fest angestellten Arbeitern und in Zeitarbeit beschäftigten Personen und andererseits zu Versuchen der Festangestellten, ihr Etabliertenwissen gegenüber den Zeitarbeitern zu verschließen. Neben solchen direkten Konkurrenzkämpfen am Arbeitsplatz fin-
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Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs
den sich ebenfalls Abwertungen der Zeitarbeiter, die aus ‚verlorenen Konkurrenzkämpfen’ ehemals Normalbeschäftigter resultieren. Das bedeutet, es wird von Beleidigungen durch entlassene Angestellte berichtet, die sich aus einem Ärger gegenüber den ‚billigeren’ Zeitarbeitern ergeben. Neben derartigen Beleidigungen sind Leiharbeiter ebenfalls von rechtlichen Anerkennungsmängeln betroffen. So berichten die Interviewpartner, dass Firmen oftmals nicht bereit sind, die anfallenden Reisekosten der Zeitarbeiter zu übernehmen, so wie es den Beschäftigten gesetzlich zusteht. Darüber hinaus werden Vermutungen geäußert, Firmen wendeten illegale Methoden an, um Leiharbeiter entlassen und zu einem späteren Zeitpunkt wieder einstellen zu können, wodurch eine Verlängerung des Vertrages und die Gewährung von Kündigungsschutz und Urlaubsansprüchen umgangen wird. Weitere rechtliche Missachtungen finden sich durch Verstöße gegen den Arbeits- und Gesundheitsschutz sowie gegen das Arbeitszeitgesetz. Anerkennungsbilanzen beider Dimensionen Aus den soeben beschriebenen Erfahrungen sowohl individueller als auch kollektiver positionaler Anerkennung, Nichtanerkennung und Missachtung ergibt sich nun das Gefühl, im Zusammenhang mit der sozialen Position anerkannt oder nicht anerkannt zu werden, also die positionale Anerkennungsbilanz. Hierbei wird Personen, die sich als mit der Situation insgesamt zufrieden beschreiben, eine positive Anerkennungsbilanz zugeschrieben, während Interviewpartnern, die den Wunsch äußern, die bestehende Situation zu verändern, eine negative Anerkennungsbilanz zugeschrieben wird. Es ist festzustellen, dass die arbeitslosen Befragten berichten, sich bezogen auf ihre Position als Arbeitsloser weder auf individueller noch auf kollektiver Ebene positionale Anerkennung erschließen zu können. Es zeigt sich allerdings, dass alle der befragten Arbeitslosen Kinder haben und manche sowohl einen Partner als auch Kinder haben. Somit besteht für alle diese Personen die Möglichkeit, positionale Anerkennung aus ihrer Rolle als Elternteil, der Erziehungsarbeit leistet, bzw. aus der Erledigung von Hausarbeit zu ziehen, sich also über die Tätigkeit als Hausfrau/-mann bzw. Mutter/Vater positional zu integrieren. Während einige der Befragten diese Möglichkeit für sich nutzbar machen und sich auf diesem Wege positionale Anerkennung erschließen, versuchen andere dies ebenfalls, stellen aber fest, dass sie auch über diese Position keine Anerkennung erfahren. Eine dritte Gruppe von Befragten zieht erst gar keine Identifikation mit dieser Rolle in Erwägung. Die erste dieser Gruppen der arbeitslosen Befragten, also die Personen, die sich über eine Identifikation mit der Rolle als Hausfrau/-mann und Mutter/Vater Anerkennung erschließen, weist eine positive positionale Anerkennungsbilanz auf. Zwar finden sich auch bei diesen Personen positionale Anerkennungsmängel und Missachtungserlebnisse, diese werden aber nicht als belastend bewertet. So wird berichtet, man wünsche sich etwas mehr Aufmerksamkeit oder Lob; alles in allem besteht bei diesen Interviewten aber kein Bedarf, die bestehenden Anerkennungsverhältnisse zu verändern. Zwar geben auch von diesen Interviewpartnern einige an, es sei ihr Ziel, wieder eine Erwerbsstelle zu finden und sich in den Arbeitsmarkt zu integrieren, dies wird aber durch finanzielle Erwägungen begründet. Personen, denen es gelingt, sich positionale Anerkennung aufgrund von Haus- und Familienarbeit zu erschließen, ziehen somit positive positionale Anerkennungsbilanzen. Ebenso ist festzustellen, dass die meisten in Normalarbeitsverhältnissen beschäftigten Befragten angeben, ein ausreichendes Ausmaß an positionaler Anerkennung zu erfahren. Eine Auseinandersetzung mit den Schilderungen der Personen, die ein zufrieden stellendes Ausmaß an positionaler Anerkennung erfahren, zeigt, dass es anscheinend möglich ist, kollektive positionale Anerken-
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nungsmängel durch ein befriedigendes Ausmaß an individueller positionaler Anerkennung auszugleichen. So berichtet ein arbeitsloser Befragter, der sich über seine Rolle als Hausmann und Vater definiert, kollektive Missachtungen dadurch zu erfahren, dass ihm beim Zusammentreffen mit fremden Personen oftmals demonstriert werde, er sei als Mann nicht in der Lage, die richtigen Entscheidungen im Umgang mit seinem Sohn zu treffen. Der Befragte gibt an, er sehe ein solches Absprechen von Fähigkeiten als Beleidigung für Väter im Allgemeinen und wünsche sich eine Veränderung im Denken seiner Mitmenschen. „Also, ich würde mir für Männer generell wünschen, dass man auch einem Mann in Bezug auf Kinder mal etwas zutrauen würde. Das ist nicht. Das ist in unserer Gesellschaft nicht. Mann und Kind, das kann nicht gut gehen. Also, das ist noch in vielen Köpfen so.“
Allerdings gibt der Interviewpartner an, er selbst fühle sich nicht durch diese Erlebnisse belastet. Er betont mehrfach, ihm sei ausschließlich die Anerkennung seiner tatsächlichen Fähigkeiten durch sein näheres soziales Umfeld wichtig, und diese erhalte er in ausreichendem Maß. Ein weiteres Beispiel dafür, dass Mängel an kollektiver positionaler Anerkennung durch individuelle positionale Anerkennung ausgeglichen werden können, findet sich in den Schilderungen einer Befragten, die als Rechtsanwaltsgehilfin in einer Kanzlei tätig ist. Die Interviewpartnerin beschreibt das Verhalten von Anwälten fremder Kanzleien ihr gegenüber als für sie missachtend, da die beschriebenen Personen ihr aufgrund ihres niedrigeren sozialen Status als Gehilfin überheblich und abfällig begegnen. Demgegenüber empfindet sie das Verhalten der in ihrer Kanzlei arbeitenden Anwälte als sehr anerkennend. So beschreibt sie es z.B. als Wertschätzung ihrer Fähigkeiten, Tätigkeiten auszuüben, die über ihre formalen Qualifikationen hinausgehen. Zwar gibt sie an, dass sie die beschriebenen Missachtungen aufgrund ihrer Position als Rechtsanwaltsgehilfin als belastend empfindet, ist aber alles in allem mit der Anerkennung, die sie aufgrund ihres Berufs erfährt, zufrieden. Auch hier wird also kollektive positionale Missachtung durch die Erfahrung individueller positionaler Anerkennung ausgeglichen. Während also die arbeitslosen Personen, die sich über die Tätigkeiten für die Familie und im Haushalt positional integrieren, und der größte Teil der in Normalarbeitsverhältnissen beschäftigten Befragten positive positionale Anerkennungsbilanzen ziehen, ziehen hingegen die übrigen Arbeitslosen und die in Zeitarbeitsverhältnissen beschäftigten Befragten negative Anerkennungsbilanzen. Es wurde bereits erwähnt, dass von den übrigen Arbeitslosen einige keine Identifikation mit der Rolle der in Familienarbeit tätigen Person vornehmen, ihre Selbstsicht somit auf die Rolle als Erwerbsloser fokussieren, während andere zwar den Versuch unternehmen, über diesen Weg positionale Anerkennung herzustellen, ihnen dies aber nicht gelingt. Die Befragten, die sich durch das Erleben negativer Anerkennungsbilanzen auszeichnen, beschreiben als ein mit diesen einhergehendes Gefühl die Wahrnehmung, nicht nützlich zu sein, nicht gebraucht zu werden bzw. eine Belastung zu sein. So wird von den arbeitslosen Befragten des Öfteren das Erleben, in den Augen anderer ein Sozialschmarotzer oder Abschaum zu sein bzw. als eine Belastung für den Steuerzahler empfunden zu werden, genannt. Die Interviewpartner schildern Gefühle der Demütigung und des Beschämtseins. Des Weiteren fällt auf, dass einige der Interviewpartner Attribute verwenden, die das Gefühl, verdinglicht zu werden, zum Ausdruck bringen. In seinem Buch „Verdinglichung“ beschreibt Axel Honneth, dass eine solche als Folge der Herauslösung eines Menschen aus jedweder Anerkennungsbeziehung zu verstehen ist (vgl. Honneth, 2005). Zwar trifft eine derartige, vollständige Herauslösung aus jeder Anerkennungsbeziehung nicht auf die hier befragten Personen zu, dennoch ist festzustellen, dass die Betroffenen massive Anerkennungsmängel erleben, die ihnen auf die Sphäre der Arbeitswelt bezogen tendenziell das Gefühl, verdinglicht zu werden, vermitteln. So beschreibt
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Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs
eine erwerblose Interviewpartnerin ein Verdinglichungsgefühl durch die Wahrnehmung, für die Sachbearbeiter der Arbeitsagenturen lediglich eine Nummer zu sein. Ebenfalls finden sich in den Gedächtnisprotokollen des Mitarbeiters des Arbeitslosenzentrums über Gespräche mit Erwerblosen Belege dafür, dass diese sich von Mitarbeitern von Arbeitsagenturen „wie Vieh“ bzw. menschenunwürdig behandelt fühlen. Bei in Zeitarbeitsverhältnissen beschäftigen Personen wird die Wahrnehmung beschrieben, als billiges Arbeitsmaterial betrachtet zu werden, das verschlissen werden kann und für das es immer wieder Nachschub gibt. Derlei Wahrnehmungen werden von allem auf die soeben beschriebenen rechtlichen Anerkennungsmängel zurückgeführt. 5.2.1.5
Moralisch als Adressat politischer Entscheidungen
Anerkennungsbilanzen Während einzelne der Interviewpartner eine positive Anerkennungsbilanz, bezogen auf die erste Facette der moralischen Anerkennung, ziehen, sich also nicht durch politische Entscheidungen gegenüber anderen Bürgern benachteiligt fühlen, trifft dies auf den größten Teil der Befragten nicht zu. Die Interviewten, die berichten, politisch ungerecht behandelt zu werden, führen hierbei unterschiedliche Gruppenzugehörigkeiten als Ursache für die wahrgenommene Benachteiligung an. Während einige angeben, als Durchschnittsbürger/-steuerzahler gegenüber der gesellschaftlichen Elite benachteiligt zu werden, nennen andere ihre soziale Position als (allein stehende) Mutter, Arbeitslose, Geringverdiener, Person in einem prekären Beschäftigungsverhältnis oder ALG II-Empfänger, die relativ zu anderen Personengruppen ungerecht behandelt werden. So wird unter Bezug auf die zur Zeit der geführten Interviews beschlossenen politischen Reformen berichtet, dass diese für die Betroffenen als Durchschnittsbürger lediglich eine Verschlechterung der Situation mit sich brächten, wohingegen die oberen gesellschaftlichen Schichten hierdurch profitierten. Es wird argumentiert, dass durch eine Kürzung von staatlichen Zuschüssen und des Arbeitslosengeldes bei gleichzeitiger Mehrwertsteuererhöhung die Befragten als Normalverdiener bzw. Arbeitslose benachteiligt werden und ein weiteres Auseinanderdriften von Arm und Reich vorangetrieben werde. Eine weitere Benachteiligung gegenüber Besserverdienenden wird durch Reformen der Kindergeldregelung wahrgenommen. Hier wird eine Bevorzugung der Besserverdienenden bezogen auf steuerliche Vergünstigungen bei der Finanzierung der Kinderbetreuung wahrgenommen. Ein Interviewpartner argumentiert, steuerliche Vergünstigungen ermöglichten Besserverdienenden eine praktisch kostenlose Betreuung des Kindes, was bewirken solle, dass diese besser verdienenden Bürger mehr Kinder in die Welt setzen. Diese Regelung bewirke, dass beide Elternteile weiter – in finanzieller Hinsicht – uneingeschränkt ihrer Berufstätigkeit nachgehen können, bei gleichzeitiger kostenloser Kinderbetreuung durch Dritte. Neben solchen allgemeinen Beschreibungen von Besserverdienenden, Angehörigen der oberen gesellschaftlichen Schichten oder – wie einige der Interviewpartner sagen – „Reichen“ als Profiteure von politischen Maßnahmen wird als spezielle, unter diese Beschreibungen fallende Gruppe, die immer wieder von den Interviewpartnern genannt wird, die Gruppe der Politiker selbst angeführt. So werden politische Entscheidungen, die zuungunsten der Befragten als Durchschnittsbürger ausfallen, von verschiedenen Interviewpartnern auf einen ausschweifenden Lebensstil der Politiker zurückgeführt, der es den Politikern nach Ansicht der
Interviewauswertung
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Befragten darüber hinaus unmöglich macht, sich in die Lebensverhältnisse der einfachen Bürger hinein zu versetzen. Doch nicht nur gesellschaftlich ‚besser gestellte’ Personen werden als Gruppen, gegenüber denen sich die Befragten benachteiligt fühlen, angeführt. Gruppen, die des Weiteren genannt werden, sind z.B. ‚Normalbeschäftigte’, die gegenüber ‚prekär Beschäftigten’ bevorzugt werden, Arbeitslose, die gegenüber Arbeitenden bevorzugt werden, oder ‚Ausländer’, die gegenüber Deutschen bevorzugt werden. Es ist festzustellen, dass ein großer Teil der Befragten sich durch staatliche Maßnahmen ungerecht behandelt, also moralisch missachtet, fühlt. 5.2.1.6
Moralisch als politischer Akteur
Anerkennungsbilanzen Während sich also die Interviewpartner in überwiegendem Maße als gegenüber anderen Mitbürgern durch politische Maßnahmen benachteiligt betrachten, wird von den meisten allerdings grundsätzlich zunächst einmal die Möglichkeit gesehen, gesellschaftliche Veränderungen hervorzurufen, indem man öffentlich auf Missstände aufmerksam macht. Während allerdings hierbei einige wenige Interviewpartner angeben, dass Politiker im Allgemeinen ihren Anliegen als Durchschnittsbürger Aufmerksamkeit und Interesse entgegenbringen bzw. froh darüber sind, wenn Bürger sich engagieren und ihre Meinung kundtun, sich also von politischen Eliten anerkannt fühlen, sind andere der Ansicht, Politiker hörten nur dann auf ihre Meinung, wenn sie durch Druck der Bürger dazu gezwungen werden. Hier werden Politiker teilweise regelrecht zu Feindbildern stilisiert, die es durch politische Partizipation zu ‚bekämpfen’ gilt. In diesem Zusammenhang wird beispielsweise geäußert, die Politiker säßen „am längeren Hebel“, so dass man als „kleiner Piepel“ nur wenig gegen sie „ausrichten“ könne. Wie noch beschrieben werden wird, äußern sich weitere Interviewpartner hierzu noch um Einiges vehementer. Unabhängig davon, ob nun Politiker als Feindbilder oder als Volksvertreter betrachtet werden, sehen aber die Interviewpartner grundsätzlich die Möglichkeit, dass durch – mehr oder weniger konventionelle – politische Partizipation Einfluss auf politische Entscheidungen genommen werden kann. Allerdings wird die Frage, ob die Befragten das Gefühl haben, über die Gelegenheit zu verfügen, selbst eine politische Partizipation zu initiieren und sich für ihre Anliegen einzusetzen, von ihnen sehr unterschiedlich beantwortet, wobei ein großer Teil der Personen, die sich nicht durch politische Eliten anerkannt fühlen, eine pessimistische Sichtweise vertritt. Demgegenüber nehmen sich primär die Personen als auf politischer Ebene selbstwirksam wahr, die sich von politischen Entscheidungsträgern anerkannt fühlen, sich teilweise bereits politisch engagiert haben und hierdurch das betrachtete Anliegen verwirklichen konnten. Eine Interviewpartnerin differenziert hierbei zwischen Kommunal-, Landes- und Bundespolitik, wobei Entscheidungen, die auf kommunaler Ebene getroffen werden – auf die von ihr bereits eingewirkt wurde – als sehr viel leichter zu beeinflussen als Landes- und Bundespolitik bewertet werden. Als Engagement, durch das auf Anliegen aufmerksam gemacht werden kann, wird die Mitarbeit in Vereinen oder Gruppen genannt, oder auch das Schreiben von Briefen an Kommunalpolitiker. Als einflussstärkste Maßnahme, durch die die eigene Meinung hörbar gemacht werden kann, wird das Durchführen von Demonstrationen gesehen. Unabhängig davon, ob die Befragten davon ausgehen, dass politische Entscheidungsträger der Meinung der Bürger grundsätzlich Interesse entgegenbringen, oder ob sie der Ansicht sind, es sei notwendig, politi-
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Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs
schen Druck zu erzeugen, um gehört zu werden, wird generell die Auffassung vertreten, Demonstrationen seien ein sinnvolles Vorgehen, um auf gesellschaftlichen Änderungsbedarf aufmerksam zu machen. Während allerdings Personen, die der Ansicht sind, politische Eliten zeigten Interesse an ihren Ansichten und Anliegen, es als unproblematisch erachten, selbst politisch aktiv zu werden, sehen gerade Personen, die die Meinung vertreten, es sei notwendig,, Druck auszuüben, um gehört zu werden, sich nicht in der Lage, sich politisch zu engagieren. Mehrfach wird im Zusammenhang mit Demonstrationen als Partizipationsform auf die Studentenproteste in Frankreich im Jahr 2006 gegen eine Lockerung des Kündigungsschutzes als auf ein in Deutschland nicht nachahmbares Vorbild verwiesen. Obwohl also von den Befragten, die sich nicht anerkannt fühlen, ebenfalls Demonstrationen als Möglichkeit, auf sich aufmerksam zu machen, gesehen werden, wird es aber von ihnen als unmöglich betrachtet, sich zu organisieren und wirkungsvolle Demonstration durchzuführen. Es zeigt sich also, dass gerade die Befragten, die der Ansicht sind, dass politische Entscheidungsträger kein Interesse daran haben, welche Anliegen ihnen als ‚normalen’ Bürgern wichtig sind, eine nur sehr geringe Möglichkeit, auf sich aufmerksam zu machen, sehen, da es ihnen schwierig erscheint, die Mitbürger zu motivieren, sich gegen gesellschaftliche Missstände einzusetzen. Eine Missachtung des Rechts, auf politische Entscheidungen Einfluss zu nehmen, wird somit durch ein Zusammenwirken einer wahrgenommen Ignoranz politischer Eliten gegenüber über den Anliegen der Betroffenen und der Unmöglichkeit, Mitbürger zu motivieren, sich durch ein massiveres Vorgehen Gehör zu verschaffen, vermittelt. Anerkennungsbilanzen beider Facetten Insgesamt zeigt sich, dass sich die Befragten in Abhängigkeit beider Facetten der moralischen Anerkennung danach unterscheiden lassen, ob sie sich durch staatliches Handeln und die Möglichkeit, hierauf Einfluss zu nehmen, als persönlich gerecht oder persönlich ungerecht behandelt wahrnehmen. Hierbei ist zu beachten, dass bei der Betrachtung des Gerechtigkeitsempfindens nicht auf die Frage fokussiert wird, ob ein Interviewpartner die Gesellschaft als solche als gerecht oder ungerecht empfindet. Bei dieser Dimension ist vielmehr von Interesse, ob ein Interviewpartner sich persönlich als gegenüber anderen Bevölkerungsmitgliedern benachteiligt wahrnimmt. Personen, auf die dies zutrifft, wird sodann eine negative Anerkennungsbilanz zugeschrieben, während Personen, die sich nicht in einer solcher Weise wahrnehmen, eine positive Anerkennungsbilanz zugeschrieben wird. 5.2.1.7
Gruppierung der Befragten
Die geführten Interviews wurden somit bisher dahingehend analysiert, ob der jeweilige Interviewpartner, bezogen auf das Erleben von Anerkennung innerhalb der erörterten Dimensionen, eine positive oder eine negative Bilanz zieht. Interviewpartnern wird hierbei eine positive Anerkennungsbilanz in der jeweils betrachteten Dimension zugeschrieben, wenn sie das Ausmaß der erfahrenen Anerkennung als zufrieden stellend bewerten, sich also keine Veränderung der jeweils relevanten Situation wünschen. Demgegenüber wird Interviewpartnern eine negative Anerkennungsbilanz in der jeweiligen Dimension zugeschrieben, wenn in dem Interview deutlich wird, dass sie mit dem Ausmaß an erfahrener Anerkennung unzufrieden sind bzw. sich eine Veränderung im Verhalten der jeweils relevanten Personen ihnen gegenüber wünschen. Es werden somit keine kontinuierlichen Abstufungen der Anerkennungsbilanzen danach vorgenommen, ob ein Interviewpartner eine positivere Anerkennungsbilanz zieht als ein
Interviewauswertung
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anderer – was den Aussagen nach nur schwer zu realisieren ist –, sondern die Interviewpartner werden bezogen auf die Dichotomien ‚Anerkennungsbilanz positiv/negativ’ untersucht. Sodann gilt es in einem nächsten Schritt, die Befragten hinsichtlich der erlebten Anerkennung zu gruppieren. Das bedeutet, es sollen zum einen die Befragten, die sich wenig anerkannt fühlen, zu einer Gruppe zusammengefasst und von denen getrennt werden, die das Gefühl haben, anerkannt zu werden. Wie bereits unter Bezugnahme auf Holtgrewe im theoretischen Teil der vorliegenden Arbeit angeführt wurde, wird in einer Arbeitsgesellschaft Anerkennung insbesondere auf der Basis von Arbeit vergeben, was bedeutet, dass in einer Arbeitsgesellschaft primär das Erleben von positionaler Anerkennung als Indikator gesellschaftlicher Integration relevant ist. Positionale Anerkennung ist hier als Gruppierungskriterium somit besonders relevant, da das Gefühl, ein wichtiger Teil der Gesellschaft zu sein, gerade aus den alltäglichen, spezifischen Reaktionen des Umfelds, die ein Mensch aufgrund seiner sozialen Position erfährt, gebildet wird. Da durch die Erfahrung moralischer Anerkennung das Gefühl vermittelt wird, als gegenüber anderen Bürgern gleichwertiger Bürger gerecht behandelt zu werden, ist auch diese Dimension ein wichtiger Indikator für das Gefühl, gesellschaftlich integriert zu sein. Der emotionalen Anerkennung wird demgegenüber innerhalb der Theorie der Sozialen Desintegration primär die Funktion zugeschrieben, abmildernd oder verstärkend auf das Bedürfnis nach Entlastung einer in anderen Dimensionen nicht anerkannten Person zu wirken. Aus diesem Grund wird die Gruppierung der Befragten auf Grundlage der Dimensionen der moralischen und der positionalen Anerkennung vorgenommen und in einem nächsten Schritt die Gruppe der Befragten, die sich nicht anerkannt fühlen, dahingehend betrachtet, wie sie sich hinsichtlich des Erlebens oder Nichterlebens emotionaler Anerkennung unterscheiden. Das bedeutet, die Befragten werden unterteilt in eine Gruppe, die sowohl hinsichtlich der positionalen wie auch der moralischen Dimension negative Anerkennungsbilanzen zieht, und eine Gruppe, auf die dies nicht zutrifft. Es zeigt sich, dass von den 17 Interviewpartnern sechs der Gruppe derer, die in den beiden Dimensionen negative Anerkennungsbilanzen aufweisen, angehören und sieben der Personengruppe, die sich in einer oder beiden Dimensionen anerkannt fühlen, zugeordnet werden.39 Darüber hinaus finden sich zwei Interviewpartnerinnen, für die keine eindeutige Zuordnung zu einer dieser beiden Gruppen vorgenommen werden kann, da beide hinsichtlich beider Dimensionen eine eher neutrale Bilanz ziehen. So erlebt die erste dieser beiden Gesprächspartnerinnen, Diana – die in einem Normalarbeitsverhältnis in einer Landesbehörde angestellt ist –, sich zwar als auf der kollektiven Ebene positional anerkannt, ist also mit dem Ausmaß an Anerkennung, das ihr als Angehöriger ihrer Berufsrolle entgegengebracht wird, zufrieden. Teilweise unzufrieden äußert sie sich aber hinsichtlich der individuellen Aspekte ihres Berufs. Hier fühlt sie sich zwar einerseits von ihren Arbeitskollegen anerkannt, kritisiert aber andererseits das Verhalten ihrer Vorgesetzten. Sie gibt an, sich von diesen in ihrer Arbeit nicht anerkannt zu fühlen. Auf die Frage danach, was sich am Verhalten der Vorgesetzten ändern sollte, antwortet sie, sie wünsche sich mehr „Führung“ und eindeutigere Arbeitsanweisungen. Alles in allem scheint die Bilanz, die Diana bezogen auf das Erleben positionaler Anerkennung zieht, weder eindeutig positiv noch eindeutig negativ. Ähnlich stellt sich die Situation hinsichtlich des Erlebens moralischer Anerkennung dar. So fühlt sich Diana nicht durch politisches Handeln benachteiligt. Ihre Möglichkeiten, politische Veränderungen hervorzuru39 In dieser zweiten Gruppe weisen alle Interviewpartner positive positionale Anerkennungsbilanzen auf. Fünf der Personen ziehen ebenfalls positive moralische Anerkennungsbilanzen, während dies auf die übrigen drei nicht zutrifft.
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Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs
fen, sollte sie sich benachteiligt fühlen, betrachtet sie aber als sehr begrenzt. Auch die moralische Anerkennungsbilanz ist somit weder als klar positiv noch als klar negativ klassifizierbar. Die zweite der beiden Interviewpartnerinnen, die neutrale Anerkennungsbilanzen aufweisen, Elke, gehört der Gruppe der prekär beschäftigten Gesprächspartner an, da sie ihren Lebensunterhalt mit Hilfe zweier Arbeitsstellen finanziert. Darüber hinaus ist Elke allein erziehende Mutter zweier Kinder. Hinsichtlich der positionalen Dimension spricht Elke ausschließlich über individuelle Aspekte der Anerkennung. Hier zeigt sich, dass sie sich innerhalb des einen Beschäftigungsverhältnisses, einer Teilzeitstelle als Buchhalterin, als wenig anerkannt erlebt – obwohl sie dort ebenfalls anerkennende Reaktionen erfährt –, wohingegen sie sich innerhalb ihres zweiten Arbeitsverhältnisses – einer Teilzeitstelle als Thekenkraft in dem Stadtteiltreff, in dem das Interview geführt wurde – ausgesprochen anerkannt fühlt. Über die Reaktionen, die sie aufgrund dieser Arbeitsstelle erlebt, äußert sie sich sehr zufrieden und wünscht sich keinerlei Veränderungen des Verhaltens anderer Personen ihr gegenüber. Insgesamt ist auch hinsichtlich dieses Fallbeispiels nicht eindeutig klassifizierbar, ob die Interviewpartnerin eine positive oder eine negative positionale Anerkennungsbilanz zieht. Dies trifft bei Elke ebenfalls auf das Erleben moralischer Anerkennung zu. So fühlt sie sich zwar in ihrer Rolle als allein erziehende Mutter durch politisches Handeln gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen benachteiligt, betrachtet sich aber als Bürgerin, die ein Recht hat, politisch zu partizipieren, nicht als machtlos. Sie ist der Ansicht, dass sie durch eigenes Engagement auf politische Entscheidungsprozesse Einfluss nehmen kann, und hat auch in der Vergangenheit bereits auf lokal politischer Ebene partizipiert. Somit kann also im Falle Elkes, ebenfalls bezogen auf das Erleben moralischer Anerkennung der Interviewpartnerin, nicht eindeutig eine positive oder negative Anerkennungsbilanz zugerechnet werden. Die Interviewpartnerinnen Elke und Diana können somit nicht eindeutig als Personen, die sich insgesamt anerkannt oder nicht anerkannt fühlen, klassifiziert werden und werden aufgrund dessen keiner der beiden Gruppen zugeordnet. Im Folgenden wird nun die Gruppe derer, die sich nicht anerkannt fühlen, dahingehend näher betrachtet, welche ihrer Angehörigen feindselige Einstellungen ausbilden, welche Rolle das Erleben emotionaler Anerkennung hierbei spielt und ob sich weitere Variablen finden, die einen Einfluss auf das Bedürfnis nicht anerkannter Personen nehmen, sich Entlastung zu verschaffen. 5.2.2 Analyseschritt II: Nichtanerkennung, Missachtung und Abwertung von Fremdgruppen Nachdem somit die Befragten hinsichtlich ihrer Anerkennungsbilanzen gruppiert worden sind, werde ich mich von jetzt an ausschließlich mit den Argumentationsmustern der Befragten auseinandersetzen, die sich tendenziell wenig anerkannt fühlen. Die Befragten können nun wiederum danach unterschieden werden, ob sie die erlebten Missachtungen und Nichtanerkennungen derart verarbeiten, dass eine Abwertung von Fremdgruppen resultiert, oder ob die Erlebnisse in einer anderen Art bewältigt werden. Im nun folgenden Analyseschritt werden einerseits die Verarbeitungsmuster von erlebter Nichtanerkennung und Missachtung, die eine Abwertung von Fremdgruppen nach sich ziehen, näher beleucht und dabei mit Verarbeitungsmustern von Befragten, die keine Abwertung schwacher Gruppen nach sich ziehen, verglichen. Bei der Codierung von Aussagen, die eine solche Abwertung von Gruppen widerspiegeln, wurde zunächst einmal ein sehr weit gefasstes Verständnis der zu untersuchenden Kategorie
Interviewauswertung
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zugrunde gelegt. Das bedeutet, als eine derartige Abwertung wurden alle diejenigen Aussagen betrachtet, die eine negative Wahrnehmung der jeweiligen Gruppe bzw. eines Angehörigen der Gruppe aufgrund der Gruppenzugehörigkeit bzw. eine negative Einstellung gegenüber dieser Gruppe und ihren Angehörigen zum Ausdruck bringen. D.h., es wurden solche Aussagen als feindselig eingestuft, die Angehörigen einer Gruppe aufgrund dieser Gruppenzugehörigkeit Wertvorstellungen, Denkweisen oder Verhaltensweisen zuschreiben, die vom jeweiligen Befragten als abzulehnen beurteilt werden. Eine Auseinandersetzung mit Personen, die sowohl negative Anerkennungsbilanzen aufweisen als auch Fremdgruppen abwerten, zeigt, dass sich Gemeinsamkeiten in den Argumentationen dieser Befragten finden. Es wurde bereits angeführt, dass Dörre et al. argumentieren, Personen entwickelten rechtspopulistische Einstellungen, um hierdurch eine imaginäre Gemeinschaft zu kreieren, die es ihnen ermöglicht, ihr durch Vereinzelung bedrohtes Selbst zu stabilisieren. Auf Basis dieses Vorwissens wurde vermutet, dass ähnliche Mechanismen auch im Falle der für die vorliegende Arbeit befragten Personen zutreffen sind und somit Interviewpartner, die sowohl Anerkennungsmängel erleben als auch Angehörige von Fremdgruppen abwerten, dies tun, um hierüber ein Gemeinschaftsgefühl mit den Angehörigen der Eigengruppe herzustellen. Die zentrale Frage, mit der ich mich somit zunächst im Rahmen der Interviewanalyse auseinander gesetzt habe, ist diejenige, wie genau eine „imaginäre Gemeinschaft“, deren Herstellung mit der Abwertung von Fremdgruppen verbunden ist, konstruiert wird. Die Interviews wurden somit zunächst hinsichtlich der Frage analysiert, wie es den von Vereinzelung bedrohten Personen gelingt, sich der Zugehörigkeit zu einer solchen Gemeinschaft zu vergewissern. Hierbei stellte sich heraus, dass es sich bei den betrachteten Interviewpartnern nicht – wie es nach den Ausführungen von Dörre et al. in der vorliegenden Arbeit zunächst vermutet wurde – um Menschen handelt, die sich vereinzelt und gesellschaftlich ausgeschlossen fühlen, sondern dass es sich hier – wie zu zeigen sein wird – gerade um Personen handelt, die trotz der erlebten Nichtanerkennung mit einer großen Selbstverständlichkeit betonten, wichtiges, unentbehrliches Mitglied der Gesellschaft zu sein. In der folgenden Interviewanalyse wird herausgearbeitet, dass eine solche Wahrnehmung als gesellschaftlich integriert von den jeweiligen Interviewpartnern durch die Annahme konstruiert wird, ein an wichtigen gesellschaftlichen Wertvorstellungen orientiertes Leben zu führen. Die Wahrnehmung, integriert zu sein, speist sich bei diesen Befragten somit aus deren Selbstsicht, an nach ihrer Ansicht ‚normalen’ gesellschaftlichen Regeln orientiert zu leben, also selbst ‚normal’ zu sein. Die Wichtigkeit dieser Selbstwahrnehmung für den hier interessierenden Zusammenhang zeigte sich im Verlauf der nach der Methodik der Grounded Theory vorgenommenen Interviewanalyse. Um einen möglichen Zusammenhang zwischen Nichtanerkennung bzw. Missachtungserfahrungen und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu beleuchten, wurden zunächst die Aussagen der Interviewpartner über die im Interview angesprochenen schwachen Gruppen näher betrachtet. Ziel war es hierbei zunächst, anhand des offenen Kodierens zu Kategorien zu gelangen, in die die Einstellungen der Befragten gegenüber diesen Gruppen eingeteilt werden können. Es zeigte sich, dass Interviewpartner, die sich durch Vorurteile gegenüber Gruppen auszeichneten, diese dadurch begründeten, die Angehörigen dieser Gruppen verhielten sich nicht ‚normal’. Diese Feststellung führte dazu, die Interviews hinsichtlich des ‚Normalitätsaspekts’ noch einmal näher zu betrachten. Diese Auseinandersetzung mit dem Begriff der ‚Normalität’ zeigte, dass manche der Interviewpartner die Eigenwahrnehmung vertreten, selbst ‚normal’ zu sein, da sie ihr Leben in einer Art gestalten, die – der Ansicht des Interviewpartners nach – als für die Gesellschaft wünschenswert betrachtet werden kann. Besonders eine der Interviewpartnerinnen weist während des Gesprächs
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Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs
wiederholt darauf hin, sie selbst sei ‚normal’, wobei sie eben diesen Ausdruck nutzt. Unter Verwendung der Methode des In-vivo-Kodierens nach Strauss – also eines Kodierens, bei dem Begriffe genutzt werden, die der Befragte selbst verwendet (vgl.Strauss, 1998 S. 64)– wurden solche Interviewpassagen mit dem Code ‚Annahme der eigenen Normalität’ gekennzeichnet. Nach Sichtung der Aussagen weiterer Interviewpartner, von denen einige derlei Annahmen ebenfalls, andere diese aber nicht vertraten, wurde sodann die Kategorie – so bezeichnen Glaser und Strauss übergeordnete Konzepte – ‚Selbstwahrnehmung’ gebildet. Innerhalb der folgenden Darstellung der Analyse einzelner Interviews wird diese Kategorie näher beleuchtet, indem unter dem Unterpunkt ‚Selbstwahrnehmung’ erörtert wird, ob der Befragte bestimmte gesellschaftliche Wertvorstellungen vertritt, von denen er annimmt, dass sie als für jedes Gesellschaftsmitglied verbindlich gelten bzw. gelten sollten. Es wird darüber hinaus beschrieben, ob der jeweilige Befragte seine Lebensweise an diesen Wertvorstellungen orientiert und sich aus diesem Grund selbst als ‚normal’ wahrnimmt. Stellen, an denen Interviewpartner Aussagen über Angehörige bestimmter Gruppen machten, wurden sodann durch die Kategorie ‚Bewertung von Gruppen’ gekennzeichnet, die basierend auf den ersten Analysen des Interviewmaterials derart spezifiziert wurde, dass sie die Codes ‚Zuschreibung nicht normalen Verhaltens’ und ‚Keine Zuschreibung nicht normalen Verhaltens’ umfasst. Als Schlüsselkategorien – nach Strauss und Corbing der Begriff für bedeutsame Kategorien – finden sich für das vorliegende Interviewmaterial somit die im Vorfeld bereits festgelegten Anerkennungskategorien sowie die durch offenes Kodieren erstellten Kategorien ‚Selbstwahrnehmung’ und ‚Bewertung von Gruppen’. Die Anerkennungskategorien sowie die Kategorie ‚Selbstwahrnehmung’ werden im Folgenden für jedes Fallbeispiel zunächst dargestellt und im Anschluss durch axiales Kodieren (vgl. Strauss, 1998) aufeinander und auf die Kategorie ‚Bewertung der Gruppen’ bezogen. Das bedeutet, jedes Interview wird nun hinsichtlich folgender Kategorien dargestellt und analysiert: o o o o o o
Emotionale Anerkennung Moralische Anerkennung Positionale Anerkennung Selbstwahrnehmung Bewertung von Gruppen Bezug der Kategorien ‚Anerkennung’ und ‚Selbstwahrnehmung’ aufeinander und auf die Kategorie ‚Bewertung von Gruppen’
Es ist darauf hinzuweisen, dass bei der Analyse der verschiedenen Interviews die Reihenfolge, in der die Anerkennungsdimensionen dargestellt sind, variieren kann, da hierdurch der Bezug einzelner Dimensionen aufeinander erleichtert wird. Bei diesem Bezug der Kategorien aufeinander zeigte sich, dass gerade ein Zusammenspiel aus der Selbstsicht, ‚normal’ zu sein und der damit inkongruenten Erfahrung, wenig Anerkennung zu erhalten, bedeutsam für das Bestehen einer feindseligen Haltung gegenüber schwachen Gruppen ist. Das bedeutet, es wird nun zu zeigen sein, dass insbesondere Personen, die sich selbst als ‚normal’ bezeichnen, die Wahrnehmung, keine Anerkennung zu erfahren, als Bedrohung ihrer eigenen Normalität erleben und hieraus folgend eine Abwertung von Gruppen vornehmen, die ihrer Ansicht nach – im Gegensatz zu ihnen selbst – ‚tatsächlich’ nicht ‚normal’ sind. Dies wird im Folgenden anhand ausgewählter Interviews näher dargestellt und ausführlicher beleuchtet.
Interviewauswertung 5.2.2.1
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Negative Anerkennungsbilanzen in allen drei Dimensionen - Starke Orientierung an gesellschaftlichen Werten
Annette Die erste betrachtete Interviewpartnerin heißt Annette. Sie ist 38 Jahre alt, geschieden und allein erziehende Mutter von sieben Kindern. Sie lebt in Westdeutschland. Geboren und aufgewachsen ist sie in der ehemaligen DDR. Der von ihr erreichte Schulabschluss der Polytechnischen Oberschule ist analog zum westdeutschen Hauptschulabschluss. Zurzeit lebt Annette hauptsächlich vom Bezug des Arbeitslosengelds II, sie arbeitet aber darüber hinaus nebenbei einerseits in der Küche des Stadteiltreffs, in dem das Interview geführt wurde, und andererseits als Putzkraft in einer Sportstätte. Auch wenn Annette sich zwar primär über den Erhalt von Arbeitsolengeld II finanziert – sie bezeichnet das als „vom Amt leben“ –, definiert sie sich nicht selbst als ‚Arbeitslose’. Als Tätigkeiten, die sie ausübt, nennt sie sowohl die soeben erwähnten Beschäftigungen im Stadtteiltreff und als Putzkraft, darüber hinaus führt sie ebenfalls Aufgaben, die sie in ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter erfüllt, an. Annette gehört zu den Interviewpartnern, die negative Bilanzen in allen drei Anerkennungsdimensionen ziehen. Emotionale Anerkennung Bezogen auf die Anerkennung der personalen Identität berichtet Annette, dass sie sich von ihren Kindern sehr geliebt fühlt und zwischen ihr und den Kindern ein sehr starker familiärer Zusammenhalt besteht. Doch wird deutlich, dass eine emotionale Anerkennung, die ausschließlich durch die eigenen Kinder erfolgt, nicht ausreichend ist, um das Bedürfnis nach emotionalem Rückhalt und sozialer Unterstützung zu befriedigen. Annette erwähnt, dass es einen Großvater und eine Großmutter der Kinder gibt – die Eltern ihres Exmannes –, die ihr zeitweise deren Betreuung abnehmen, wenn sie darum bittet. Sogleich merkt Annette aber an, dass sie sich in Notfallsituationen – z.B. im Falle von Krankheit – mehr Unterstützung durch ihr soziales Umfeld wünschen würde. Zu ihren Eltern, die noch in der ehemaligen DDR wohnen, pflegt Annette seit zehn Jahren nur noch selten Kontakt. Dies begründet sie einerseits mit der Tatsache, dass sie selbst hauptsächlich nicht bei den Eltern, sondern bei ihrer Großmutter aufgewachsen ist. Andererseits besteht eine Distanz zu den Eltern aufgrund der Tatsache, dass Annette sich durch das Verhalten ihrer Mutter nicht in ihrer personalen Identität anerkannt fühlt. Einer der Gründe hierfür ist ein Unverständnis der Mutter gegenüber Annettes Umzug nach Westdeutschland, von dem Annette sagt, die Mutter habe ihn ihr nie verziehen. Hiernach sei der Kontakt größtenteils abgebrochen und verschiedene Versuche, ihn wieder herzustellen, scheiterten regelmäßig. Als Beispiel für dieses Scheitern beschreibt Annette einen Besuch, den sie ihrer Mutter abstattete, und bei dem diese ihr die Übernachtung in ihrem Haus verweigerte. Darüber hinaus fühlt sich Annette durch Bemerkungen ihrer Mutter über die Anzahl ihrer Kinder stark beleidigt und verletzt. So äußert die Mutter Unverständnis über Annettes Entscheidung, sieben Kinder in die Welt zu setzen, indem sie bemerkt, es sei heutzutage nicht nötig, derart viele Kinder zu bekommen, da es die Anti-Baby-Pille gebe. Annette gibt an, unmittelbar nach dieser Aussage einen starken Hass gegen ihre Mutter empfunden zu haben, wohingegen sie ihr heute gleichgültig gegenübersteht. Auch gegenüber ihren Geschwistern empfindet Annette ein Gefühl der Gleichgültigkeit. Sie begründet dies mit der Wahrnehmung von Desinteresse ihrer Geschwister ihr gegenüber. Lediglich die Großmutter, bei der Annette aufgewachsen ist, wird von ihr als Person, die ihr emotionale Anerkennung entgegenbringt,
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Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs
beschrieben. Annette berichtet, dass sie regelmäßigen telefonischen und brieflichen Kontakt zu ihrer Großmutter pflegt, der vor Annettes Mutter verheimlicht wird. Darüber hinaus stellt Annette ihre Großmutter als sehr umsorgend dar. So berichtet sie z.B. von Geld- und Kuchensendungen der Großmutter an ihre Kinder. Quelle eines unbedingten emotionalen Rückhalts ist aber auch die Großmutter nicht für Annette, da aufgrund der großen räumlichen Distanz und der Verheimlichung des Kontakts vor Annettes Mutter eine Kommunikation ausschließlich telefonisch und brieflich stattfindet. Dass der Kontakt zur Großmutter keinen hinreichenden emotionalen Rückhalt für Annette bietet, wird aus ihren Aussagen deutlich, wenn sie im Zusammenhang mit ihrem Wegzug aus Ostdeutschland und dem Zurücklassen der Großmutter erwähnt, dass sie „das so abgetrennt“ habe, und sie anführt: „Weil da ist ja im Prinzip jetzt keiner mehr.“ Die Frage, wie zufrieden sie damit ist, ohne einen festen Partner zu leben, beantwortet Annette zunächst, indem sie erwidert, sie wünsche sich keinen Partner. Im nächsten Satz relativiert sie diese Aussage jedoch sofort, indem sie aussagt, manchmal vermisse sie schon einen Partner, habe aber keine Zeit für eine Partnerschaft. Sie begründet darüber hinaus ihr Leben als Alleinstehende damit, es sei nicht möglich, einen Mann zu finden, der in der Lage sei, mit sieben Kindern zu leben. Sie berichtet, ihr letzter Partner habe sich wegen der Kinder getrennt. Darüber hinaus zeigt Annette ein starkes Misstrauen gegenüber Männern. So nennt sie als weitere Begründung dafür, keine Partnerschaft mehr einzugehen, sie könne sich nicht sicher sein, ob ein neuer Partner nicht vielleicht „an die Kinder drangeht.“ Auch in der Frau, die sie als ihre beste Freundin bezeichnet, findet Annette keinen bedingungslosen Rückhalt. Zwar gibt sie an, diese Freundin immer aufsuchen zu können, wenn sie es möchte, und berichtet, von ihr oft Hilfe erhalten zu haben. Allerdings erwähnt sie bezogen auf diese Beziehung auch Verhaltensweisen der Freundin, die sie unzufrieden mit der Freundschaft machen. Sie erzählt, die Freundin rufe sie ausschließlich dann an, wenn sie auf Annettes Hilfestellung angewiesen sei. Annette reagiert hierauf mit Gegenseitigkeit, indem sie sich ebenfalls ausschließlich dann bei der Freundin meldet, wenn sie etwas von ihr benötigt. Neben dieser Freundin existiert des Weiteren ein Bekanntenkreis, in den Annette eingebunden ist. Dieser Bekanntenkreis setzt sich aus Frauen des Stadtteiltreffs, in dem Annette arbeitet und in dem das Interview geführt wurde, zusammen. Annette gibt an, dass sie mit diesen Frauen gelegentlich abends etwas unternimmt, es sich bei ihnen aber nicht um Bekannte handelt, gegenüber denen sie viel von sich preisgibt. Was Annette über ihr Verhältnis zu diesem Bekanntenkreis schildert, verdeutlicht, dass es sich auch hierbei um eine Gruppe handelt, die für sie eher Quelle von Missachtungen ist, als dass sie eine Rückhalt stiftende oder unterstützende Funktion erfüllt. Zunächst war es für Annette, als sie vor sechs Jahren erstmals den Stadtteiltreff aufsuchte und noch niemanden in der Stadt kannte, sehr schwierig, in diese Gruppe aufgenommen zu werden. Zwei Jahre habe es gedauert, bis sie nicht mehr ignoriert wurde. Wie sie sich auch verhalten habe, es sei immer verkehrt gewesen. Nachdem sie von der Gruppe ignoriert wurde, zog sie sich zunächst zurück, um nicht weiter mit dem Gefühl, ausgeschlossen zu sein, umgehen zu müssen, das sich daraus ergab, nicht mitreden zu können und zu dürfen. Sie beschreibt, dass sie zu dieser Zeit fast ausschließlich alleine war. Weil sie aber auch mit dieser Situation unzufrieden war, versuchte Annette sodann erneut, Kontakt mit den Frauen des Stadteiltreffs aufzunehmen. Nachdem sie immer wieder hartnäckig probierte, sich in Gespräche einzubringen, wurde sie irgendwann von den anderen Frauen akzeptiert. Doch auch heute ergeben sich noch Situationen, in denen Annette sich ausgeschlossen fühlt, weil sie bei bestimmten Themen, die die Zeit betreffen, in der sie noch nicht zu der Gruppe gehörte, nicht mitreden kann. Darüber hinaus beschreibt Annette, dass generell ein wenig wohlwollendes
Interviewauswertung
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Klima innerhalb des Bekanntenkreises vorherrscht. Sie berichtet, dass Personen, die neu in den Stadteiltreff hineinkommen, generell zunächst einmal ignoriert werden. Dieses Verhalten beschreibt sie als eine Art Initiationsritual, das alle ‚Neuen’ über sich ergehen lassen müssen, so dass letztendlich nur die Hartnäckigen aufgenommen werden. Auch das Verhältnis der ‚Etablierten’ untereinander ist nicht durchweg freundschaftlich. Annette erlebt häufig, dass Frauen übereinander „lästern“ bzw. „gegeneinander hetzen“. Auch über Annette wurde und wird abwertend gesprochen. Alles in allem scheint es in Annettes Leben keine Person zu geben, die ihr das Gefühl vermittelt, ihr in schwierigen Situationen bedingungslos Rückhalt und Unterstützung zu gewährleisten. Ihr Menschenbild ist tendenziell negativ. So bedauert sie, es gäbe zu viele „harte Menschen“, und dass die meisten Menschen nur mit sich selbst beschäftigt seien. Sie betont, man müsse aufpassen, dass andere Menschen einen nicht ausnutzen, und man könne niemandem trauen. Insgesamt wird somit deutlich, dass Annette bezogen auf das Erleben von emotionaler Anerkennung der personalen Identität negative Anerkennungsbilanzen zieht. Es gibt in Annettes sozialem Nahraum keine Person, die es ihr ermöglicht, sich stabil emotional eingebunden und bedingungslos in ihrer personalen Identität anerkannt zu fühlen. Während des Interviews finden sich keine Hinweise darauf, dass Annette über eine kollektive Identität verfügt, deren Anerkennung für sie bedeutsam sein könnte. Moralische Anerkennung Auch bezogen auf das Erleben moralischer Anerkennung zieht Annette negative Bilanzen. Sie empfindet die durch die Politik getroffenen Entscheidungen durchgängig als für sie nachteilig. Sie begründet dies damit, dass sie – wie sie sagt – „vom Amt“ lebt. Als durch die Politik benachteiligte Gruppen, zu denen sie sich selber zählt, nennt sie „arme Leute“, „normale Arbeiter“ und „allein stehende Mütter“. Ihrem Eindruck nach wird auf die Interessen dieser Gruppen nicht nur nicht eingegangen, ihnen wird – nach Annettes Ansicht – darüber hinaus zuwider gehandelt. „Dass wir immer benachteiligt sind, finde ich“, sagt Annette. Als Gruppe, die einen Vorteil von politischem Handeln besitzt, nennt sie „die Reichen.“ In ihrem Ungerechtigkeitsempfinden fordert Annette, auch diese Personengruppe solle einmal „so richtig bluten“ gelassen werden. Als weitere Gruppe, der gegenüber Annette sich durch staatliches Handeln benachteiligt fühlt, nennt sie „die Ausländer“. Sie empfindet Ungerechtigkeit, da in ihrer Wahrnehmung staatliche Zuschüsse, die einerseits ihr selber nicht gewährt werden, andererseits für „die Ausländer“ bereitstehen bzw. finanziell schlecht gestellte Ausländer, die nach Deutschland kommen, sofort Hilfen erhalten, die ihr selbst erst nach intensivem Einsatz genehmigt werden. In ihrem Empfinden ist diese von ihr wahrgenommene Ungleichbehandlung „nicht richtig“, und sie erlebt sie als ungerecht und ärgerlich. Annette nimmt sich selbst als bezogen auf politisches Handeln einflusslos wahr. Sie stellt die Frage, wie es denn überhaupt möglich sei, gegenüber der Politik auf die eigenen Interessen aufmerksam zu machen. So ist es nach ihrem Empfinden nicht durchführbar, z.B. durch Demonstrationen auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen. Dies begründet sie, wenn sie erläutert, die Menschen seien heutzutage zu unmotiviert, um auf die Straße zu gehen und sich für ihre Anliegen einzusetzen. „Wer macht das denn heute noch mit?“ fragt sie. Grundsätzlich ist sie aber der Ansicht, dass es möglich ist, durch Demonstrationen wahrgenommen zu werden und etwas zu bewirken, wenn denn die Möglichkeit besteht, die Leute hierzu zu motivieren.
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Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs
Positionale Anerkennung Auf die erste Frage zur positionalen Anerkennung, wie ihr gezeigt wird, dass die Aufgaben, die sie tagtäglich erfüllt, wichtig sind, reagiert Annette irritiert und verständnislos gegenüber dem Inhalt der Frage. Sie erwidert: „Was soll ich denn da jetzt sagen? Wie die mir das zeigen? Das weiß ich jetzt gar nicht. Das ist ganz einfach, dass man das macht, weil man das machen muss, oder?“ Nach kurzem Überlegen beschreibt sie, dass ihre Kinder ihr zeigen, dass sie als Mutter gebraucht wird. Diese Aussage relativiert sie in ihren nächsten Sätzen sogleich, indem sie zunächst erläutert, es habe in der letzten Zeit sehr nachgelassen, dass ihre Kinder ihr zeigen, dass sie ihre Arbeit zu schätzen wissen. In ihren weiteren Beschreibungen gelangt sie dann zu dem Schluss, dass sie mittlerweile keinerlei anerkennende Reaktionen ihrer Kinder mehr erfährt („Das ist dann nicht mehr.“). Hierdurch erfährt sie also eine Nichtanerkennung ihrer individuellen Leistungen. Sie erwähnt, dass sie durch ihr weiteres soziales Umfeld Reaktionen erlebt, die eine Wertschätzung ihre Leistungen als allein erziehende Mutter von sieben Kindern, die nebenbei noch arbeitet, ausdrücken. Hierauf geht sie allerdings nicht weiter ein und stellt sich sogleich im nächsten Satz selbst die Frage, ob ihre Kinder die Leistungen ebenfalls zu schätzen wissen. Die ausgiebige Beschäftigung mit den Ansichten ihrer Kinder über die Wichtigkeit ihrer häuslichen Arbeiten und die nur marginal wahrgenommenen anerkennenden Reaktionen ihres weiteren sozialen Umfelds lassen darauf schließen, dass Annette sich vor allem die Anerkennung ihrer Tätigkeiten durch Personen, die direkt von diesen Tätigkeiten betroffen sind – ihre Kinder –, wünscht. Dieser Anerkennung ist sie sich jedoch nicht sicher. Die Möglichkeit, sich eine positionale individuelle Anerkennung über die Identifikation mit ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter zu erschließen, bleibt Annette somit weitgehend versperrt. Konkret auf die Anerkennung, die sie bezogen auf ihre Erwerbstätigkeiten erlebt, angesprochen, antwortet Annette, sie erhalte von ihrer Chefin im Stadtteiltreff für ihre Arbeit manchmal Lob. Auch diese Aussage relativiert sie wieder, indem sie im nächsten Satz aussagt, so etwas werde allerdings heute immer weniger gesagt. In diesem Bereich erfährt Annette somit eine Anerkennung ihrer individuellen Leistungen, sie scheint aber mit dem Ausmaß der Wertschätzung nicht zufrieden zu sein. Ihre Bemerkung, man werde heutzutage immer weniger gelobt, veranlasst sie dazu, von dem Verhalten von Personen zu erzählen, das diese ihr während ihrer Tätigkeit als Putzkraft in einer Sportstätte entgegenbringen. Es wird deutlich, dass Annette sich in diesem Arbeitsverhältnis positional nicht anerkannt und missachtet fühlt. Sie beschreibt, dass die erledigten Arbeiten niemals positiv hervorgehoben werden, demgegenüber ausschließlich Kritik geübt wird. Sie erlebt hier somit sowohl eine Nichtanerkennung als auch eine Missachtung ihrer individuellen Leistungen. Darüber hinaus berichtet sie, dass die geleistete Arbeit dadurch missachtet wird, dass der von ihr herstellte Zustand in kürzester Zeit durch die Jugendlichen, die die Sportstätte nutzen, rückgängig gemacht wird. Dies erlebt Annette insbesondere deswegen als missachtend, weil die von ihr zu säubernden Räume nicht in einem Zustand ‚normaler’ Unordnung zurückgelassen werden. So beklagt Annette, dass Umkleidekabinen, die von ihr gesäubert werden müssen, durch rücksichtsloses Verhalten der Jugendlichen stark verschmutzt und Abfälle auf dem Boden verteilt werden. Annette beschreibt das Verhalten der Jugendlichen mit der Redewendung „die Sau rauslassen“. Das bedeutet, sie erlebt eine Missachtung ihrer sozialen Position als Putzfrau, die sich durch das respektlose Benehmen der Jugendlichen ausdrückt. Die Weigerung der Jugendlichen, sich innerhalb der Sportstätte so zu verhalten, wie es gesellschaftlichen Konventionen entspricht, nimmt Annette als Demonstration einer Geringschätzung ihrer Rolle als Putzkraft wahr, die dafür verantwortlich ist, die Folgen des abweichenden Verhaltens zu beseitigen. Diese positionale Missachtung auf kollektiver Ebene wird von einer individuellen positionalen Nichtanerkennung begleitet, die sich dadurch aus-
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drückt, dass Annettes Chef es ignoriert, wenn sie Aufgaben, die über ihre eigentlichen Pflichten hinausgehen, erfülle. Neben einer solchen Nichtanerkennung der individuellen Leistung berichtet sie ebenfalls über Missachtungen durch Kritik des Chefs, von dem sie keine Beanstandungen ihrer Arbeit erwartet, sondern sich demgegenüber mehr Unterstützung im Umgang mit dem unangepassten Verhalten der Jugendlichen wünscht. Als Beispiel beschreibt sie eine Situation, in der sie aus Frust über die starke Verschmutzung der Umkleidekabinen die Reinigung derselben verweigerte. Als Folge beschwerten sich die Jugendlichen bei ihrem Chef – beim „obersten“ Chef, wie Annette hervorhebt –, der sie daraufhin zur Rede stellte, indem er sie darauf hinwies, dass eine Vernachlässigung ihrer Arbeit nicht noch einmal vorkommen dürfe. Für Annette stellt diese Kritik eine individuelle Missachtung dar, da sie sich selbst als eine Person sieht, die alle ihre Aufgaben pflichtbewusst erfüllt. Missachtend ist für sie die Fehlinterpretation ihrer Beweggründe, die nicht in Unzuverlässigkeit gründeten, sondern in dem Wunsch, gegen das Verhalten der Jugendlichen zu protestieren, durch den Vorgesetzten. Neben der als beleidigend und ungerechtfertigt empfundenen Kritik des Chefs spiegelt die Situation für Annette darüber hinaus Aspekte einer Missachtung ihrer sozialen Position wider. So nimmt sie auch die Beschwerde der Jugendlichen als ungerechtfertigt wahr und betrachtet sie als Indikator für ein abwertendes Verständnis über die Berufsrolle der Putzfrau. Denn als Annahme der Jugendlichen darüber, was ein angemessenes Verhalten einer Putzkraft in dieser Situation gewesen wäre, formuliert sie: „Weil ne Putzfrau hat das eben einfach wegzumachen.“ Die Frage, ob Annette etwas an dem Umgang, den ihr andere Personen im Zusammenhang mit ihrer Putzstelle entgegenbringen, verändern möchte, bejaht sie.40 Sie hat bereits darüber nachgedacht, das Arbeitsverhältnis zu kündigen, entschied sich aber aufgrund ihrer finanziellen Situation dagegen. Annette ist insgesamt unzufrieden mit ihrer Situation, bezogen auf den Erhalt positionaler Anerkennung. Sie gibt an, dass sie sich eine Veränderung der Situation wünscht. Auf die Frage, was sich verändern müsste, damit sie zufriedener ist, erläutert sie, dass die eben beschriebenen Missachtungserfahrungen aufhören müssten. Selbstwahrnehmung Annette nennt verschiedene gesellschaftliche Wertvorstellungen,41 die sie als Grundlage für die ‚richtige Art zu leben’ betrachtet. Sie nimmt von sich selbst an, gemäß dieser Wertvorstellungen zu leben, und vertritt aufgrund dessen die Überzeugung, ‚normal’ zu sein, also so zu sein, wie ‚man sein sollte’. Dies wird deutlich, wenn sie an verschiedenen Stellen des Interviews darüber spricht, welche Aspekte sie bei der Erziehung ihrer Kinder für ‚richtig und wichtig’ hält und welche von ihr als ‚richtig’ und ‚normal’ bewerteten Verhaltensweisen sie ihren Kindern vorlebt. Dass sie ihre Erziehungsweise für die richtige hält, wird an einer Stelle des Interviews besonders deutlich, als sie erwähnt, es gäbe auch Personen, die ihre Kinder anders erziehen als sie selbst – an der Stelle spricht sie über die Ausgehzeiten der Kinder –, und anschließend Gründe anführt, weshalb ihr Vorgehen vorzuziehen ist. Als von Annette als wertvoll bewertete Verhaltensweise findet sich einerseits die Erfüllung von Leistungsnormen. Hier erläutert sie, sie demonstriere ihren Kindern, dass es richtig sei, arbeiten zu gehen und nicht den ganzen Tag zu Hause zu verbringen. Sie vertritt die Überzeu40
Demgegenüber ist sie mit dem Umgang anderer ihr gegenüber im Zusammenhang mit ihrer Arbeit im Stadtteiltreff zufrieden. 41 Die Nennung ergab sich aus dem Gesprächsverlauf. Das bedeutet, die Frage nach der Zustimmung zu Wertvorstellungen wurde nicht explizit gestellt.
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Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs
gung, ihre Kinder hätten diese Wertvorstellung bereits übernommen, worauf sie stolz ist. Laut Annette sind die Kinder – im Gegensatz zu anderen Jugendlichen – nicht „faul“. Dies verdeutlicht sie, wenn sie berichtet, selbst wenn ihre Kinder krank seien, bestünden sie darauf, die Schule zu besuchen. Sich selbst betrachtet Annette ebenfalls als besonders leistungsfähig und willig. Sie betont, sie habe bereits in ihrer Jugend sehr viel gearbeitet. Darüber hinaus geht sie davon aus, andere Personen seien nicht in der Lage, die Aufgaben, die sie als Mutter von sieben Kindern zu erfüllen habe, zu bewältigen. „Sollen die erst mal das machen, was ich mach mit sieben Kindern. Das würden die doch nicht schaffen. Die kommen mit zwei nicht klar, sag ich dann immer. Ja. Das ist so. Dann denk ich so, was die für Probleme haben, och nee. Wenn die meine hätten, dann würden die doch durchdrehen, sage ich immer.“
Neben ihrem Zuspruch zu Leistungsnormen und der Wahrnehmung, entsprechend dieser zu handeln, sieht Annette ihre eigene Normalität – und die ihrer Kinder – durch ein Verhalten verdeutlicht, das sie selbst als ein „sehr gutes Sozialverhalten“ bezeichnet. Hiermit meint sie, dass ihre Kinder und sie einerseits nicht entgegen Gesetzesnormen handeln und darüber hinaus ebenfalls ein ‚ordentliches und ruhiges’ Verhalten an den Tag legen. So betont sie, dass weder sie selbst je Drogen eingenommen habe, noch ihre Kinder illegale Rauschmittel konsumierten. Dies führt sie auf ihren Einfluss und ihre Erziehung zurück. Darüber hinaus betont Annette, in ihrer Familie herrsche ein angemessener Umgangston untereinander, ihre Kinder seien alle sehr ruhig, wüssten sich zu benehmen und machten keine Probleme. Die Betonung, ein den gesellschaftlichen Regeln entsprechendes Leben zu führen – basierend auf den Wertvorstellungen ‚Leistung’ und ‚Einhaltung von Ruhe und Ordnung’ –, verstärkt Annette, indem sie Gruppen anführt, die den ihrer Ansicht nach richtigen Lebensvorstellungen nicht entsprechen. Durch ein Aufzeigen von Gruppen, die ‚nicht normal’ sind, verdeutlicht sie somit ihre eigene Normalität. Dies erfolgt insbesondere auf Situationen bezogen, in denen ihre Annahmen über die eigene Normalität durch Anerkennungsmängel und Missachtungen infrage gestellt werden. Bezug der Kategorien ‚Anerkennung’ und ‚Selbstwahrnehmung’ auf die Kategorie ‚Bewertung von Gruppen’ In ihrer sozialen Position als Putzfrau erlebt Annette Missachtung und geringschätziges Verhalten, das eine Abwertung ihrer Berufsrolle demonstriert. Es ist anzunehmen, dass sie diese Abwertung besonders belastet, da ein Aspekt, durch den sie sich ihrer Normalität versichert, die Tatsache ist, ein nach gesellschaftlichen Leistungsvorstellungen lebender Mensch zu sein. So berichtet sie beispielsweise, dass die soeben geschilderte Erfahrung von Kritik aufgrund von nicht erledigter Arbeit – wobei das Nichterledigen erfolgte, um gegen das Verhalten der Jugendlichen gegenüber ihr in ihrer Rolle als Putzkraft zu protestieren – sie fast dazu gebracht habe, „den Job hinzuschmeißen“. Die erlebten Abwertungen benötigen eine Entlastungsfunktion, die es Annette ermöglicht, ihre gesellschaftliche Integration und entsprechend ihre eigene Normalität zu bestärken. Dies erfolgt, indem sie diejenigen ihrer Verhaltensweisen betont, die sie gegenüber den Jugendlichen, die sie als primäre Quelle der positionalen Missachtung identifiziert, als Menschen auszeichnen, der an gesellschaftliche Konventionen angepasst lebt. Hierbei beziehen sich ihre Äußerungen zunächst auf die Gruppe der Jugendlichen, mit denen sie im Rahmen ihrer Tätigkeit als Putzkraft umgeht – also auf die konkrete Quelle der Missachtung -, werden dann aber allgemeiner, so dass Abgrenzungen von der Gruppe ‚der Jugendlichen’ insgesamt erfolgen, die auf weitere Gruppen ausgeweitet werden. Auslöser dieser Abwertung ist somit nicht das Erleben einer Nichtanerkennung, sondern die Erfahrung konkreter Missachtung durch die zu-
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nächst abgewerteten Jugendlichen. Wie im theoretischen Teil erläutert, ist mit einer positionalen Nichtanerkennung die Verweigerung von Wertschätzung verbunden, wohingegen mit positionaler Missachtung eine Verweigerung von Respekt verbunden ist. Das bedeutet, im Zusammenhang mit Annettes Missachtungserlebnissen, deren Quelle die Gruppe der Jugendlichen ist, ist nicht ein Nichterleben von Wertschätzung, sondern ein Nichterleben von Respekt zentral. Um sich hiervon zu entlasten, indem das Verhalten der Jugendlichen als ‚unnormal’ klassifiziert wird, und um sich darüber hinaus von diesen ‚unnormalen’ Jugendlichen abzugrenzen sowie sich in ihrer Normalität zu bestätigen, zieht Anette einerseits ihre Selbstwahrnehmung, ein „gutes Sozialverhalten“ zu besitzen – also ihr Verhalten an Werten wie ‚Ruhe’ und ‚Ordnung’ zu orientieren – heran. Andererseits bestätigt sie sich in ihrer Selbstsicht als Person, die nach normativ adäquaten Verhaltensweisen lebt, indem sie sich durch ihre eigene Orientierung an Leistungsnormen gegenüber den Jugendlichen abgrenzt. Hierzu führt sie Verstöße der Jugendlichen gegen Leistungsnormen auf. Sie kritisiert, die Jugendlichen heutzutage seien alle „faul“ und „lungern nur herum.“ Um diesem Verhalten entgegenzuwirken, schlägt sie vor, diese Jugendlichen ins Ausland – „in arme Länder“ – zu schicken, damit sie dort eine nützliche Aufgabe übernehmen können. In diesem Zusammenhang überlegt sie, dass nicht nur Jugendliche, die in Deutschland nichts leisten, in „armen Ländern“ arbeiten sollten, sondern mit jeder Person, die nicht an Leistungsnormen angepasst lebt, in dieser Art und Weise verfahren werden sollte. „Wir haben doch ganz viele Arbeitslose, ne? Und schicken ganz viel Geld ins Ausland sonstwo hin. Weil das sind keine Schulen und das muss doch alles errichtet werden, ne? Warum schicken die da nicht einfach welche hin? Keine Arbeit? Nehmen wir welche vom Arbeitsamt, so und so, Trupp zusammen und dahin. Verstehe ich nicht, warum die das nicht machen. Da sind dann bestimmt auch viele Alkoholiker dabei, viele Drogenabhängige. Und wenn die dann dahin gehen, sind die nachher vielleicht gar nicht mehr drogenabhängig.“
Annette betrachtet ein an Leistungsaspekten orientiertes Leben somit nicht nur als die ‚normale’ und ‚richtige’ Art zu leben, sie schreibt darüber hinaus erwerbslosen Personen eine untätige Lebensweise zu, wertet sie dadurch ab und differenziert sich somit von ihnen. Diese Differenzierung wird dadurch noch verstärkt, dass Annette pathologisches Verhalten (Drogen- und Alkoholsucht) auf Untätigkeit zurückführt, bzw. das Erbringen von Leistung als ‚Heilmittel’ für ein solches Verhalten anführt. Eine solche Sichtweise und ihre bereits beschriebene Selbstwahrnehmung, ihr Leben an Leistungskriterien auszurichten, bestärken sie somit in ihrer durch positionale Anerkennung bedrohten Annahme, selbst ‚normal’ und ‚richtig’ zu sein. Annette bekräftigt ihre bedrohte Selbstwahrnehmung, so zu leben, wie es ‚richtig und üblich’ ist, nicht nur durch ihre Orientierung an Leistungsnormen; auch über ihr „Sozialverhalten“ nimmt sie eine Abgrenzung zu der ‚nicht normalen’ Gruppe der Jugendlichen vor. Hierbei bewertet sie ihr eignes „Sozialverhalten“ – und das ihrer Kinder – als „gut“, da sie ihr Leben an Wertvorstellungen von ‚Ruhe und Ordnung’ orientiert.42 Eine an diesen Werten orientierte Lebensweise bezeichnet sie nicht nur als „gutes Sozialverhalten“, sondern ebenfalls als „eine Erziehung haben“. Sie grenzt nun sich und ihre Kinder als Personen, die „eine Erziehung haben“, von der Personengruppe der Jugendlichen, die ihre Berufsrolle als Putzfrau missachten, durch Schilderung von Verhaltensweisen derer ab, die die Missachtungserfahrungen auslösen und nicht den Wertvorstellungen von ‚Ruhe und Ordnung’ entsprechen. Sie betont, dieses Verhalten der Jugendlichen sei nicht normal. Nachdem sie somit die Nichtnormalität dieser 42
Diese Formulierung nutzt sie selbst nicht.
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Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs
konkreten Personen festgestellt hat, kommt sie zu dem Schluss, die Jugendlichen seien heutzutage generell „schlecht erzogen“. Als nächstes führt sie an, es gebe fast keine deutschen Jugendlichen mehr. Sie sagt: „Die sind doch meistens nur noch türkisch, russisch, Marokkaner.“ Sie betont speziell die fehlende Erziehung dieser ausländischen Jugendlichen und kommt zu dem Schluss, dass nicht nur die ausländischen Jugendlichen keine Erziehung besäßen, sondern dass dies auf Ausländer generell zuträfe bzw. ausländische Eltern kein Interesse daran besäßen, ihre Kinder zu erziehen. Um dies zu belegen, beschreibt sie ihre Wohnsituation. Sie lebe in einem Haus mit hundert Parteien; bei lediglich dreien dieser Parteien handle es sich um deutsche Mieter. Über die ausländischen Bewohner berichtet sie, diese machten an dem Mietshaus „alles kaputt“. Besonders die Zerstörung der Fahrstühle beschäftigt Annette, da von dieser auch „Unschuldige“ in Mitleidenschaft gezogen werden. Sie selbst sei bereits einmal stecken geblieben. Sie bekräftigt hier somit ihre Selbstwahrnehmung, ‚normal und gut’ zu sein, da sie im Gegensatz zu „den Ausländern“ die „Unschuldige“ ist. Ihr Empfinden, ein an Wertvorstellungen, die ein solches Verhalten verbieten, orientiertes Leben zu führen, bekräftigt sie des Weiteren dadurch, dass sie anmerkt, sie sei bereit, ihre eigenen Kinder mit körperlicher Gewalt zu bestrafen, wenn diese sich in einer ähnlichen Art verhielten. – „Die würden von mir eine kriegen.“. Annette sieht sich als Menschen, der sich generell von „den Ausländern“ gestört fühlt. Allerdings stören sie die Ausländer, die ihre Kinder nicht erziehen. Um dies zu betonen, berichtet sie von einer Bekannten, die Ausländerin ist und im Hinblick auf ihre Kinder, so wie Annette selbst, Wert darauf lege, dass diese sich ‚normal verhalten’, und sie somit erziehe. Aber es gebe eben auch viele Ausländer, die dies nicht täten. Dass Ausländer in der Regel nicht erzogen seien und kein Interesse an Erziehung hätten, sieht Annette des Weiteren durch ihre Beobachtungen des Verhaltens türkischer Frauen verdeutlicht, die die Schalen der von ihnen gegessenen Kürbiskerne auf die Straße spuckten, anstatt sie zu entsorgen. Für Annette ist dies ein Zeichen von Nichtanpassung und Nichtnormalität, was sie unter anderem dadurch zum Ausdruck bringt, dass sie diese Frauen als Schweine bezeichnet. Normal sei es, die Kürbiskernschalen in einer Tüte zu entsorgen. Durch die Selbstsicht, im Gegensatz zu den von ihr beschriebenen Frauen zu wissen, welches Verhalten den gesellschaftlichen Vorstellungen entspricht, kann sie sich erneut ihrer eigenen Normalität und dadurch ihrer Integration vergewissern. Ein weiteres Zeichen der Nichtanpassung sieht Annette in der von ihr wahrgenommenen Weigerung von „Ausländern“, die deutsche Sprache zu erlernen bzw. in der deutschen Sprache zu kommunizieren. Dieses Verhalten führt sie auf mangelnde Bemühungen, sich anzupassen, zurück und kennzeichnet die betreffenden Ausländer als zu „faul“, um „sich anzupassen“. Dieses Nichtbemühen bedeutet für Annette, dass diese nicht bereit sind, sich an Leistungskriterien zu orientieren. Hierdurch kann sie sich erneut als leistungsbereiter und ‚richtig lebender’ Mensch von der Gruppe der ‚nicht leistungsbereiten Ausländer’ abgrenzen und somit ihre eigene Normalität betonen. Zusammengefasst heißt das, Annette versucht zunächst, ihre ‚richtige’ und ‚wünschenswerte’ Lebensweise, die Indikator ihrer Integration ist, hervorzuheben, indem sie sich gegenüber der konkreten Gruppe der ‚nicht normalen’ Jugendlichen abgrenzt, die die primäre Quelle der von ihr erlebten positionalen Missachtung ist. Diese Abgrenzung generalisiert sie in einem nächsten Schritt auf Jugendliche allgemein und zählt darauf folgend immer weitere Gruppen auf, von denen sie sich differenzieren und sich somit in der Selbstwahrnehmung, ‚normal’ und angepasst zu leben, also integriert zu sein, bestärken kann. Neben der Gruppe ‚der Jugendlichen’ nennt sie die Gruppe ‚der Ausländer’ und die Gruppe der ‚Arbeitslosen’.
Interviewauswertung
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Neben den positionalen Missachtungen aufgrund ihrer Berufsrolle, die von den Jugendlichen des Sportvereins ausgehen, erfährt Annette zwar keine weiteren positionalen Abwertungen, sie fühlt sich aber – wie beschrieben – darüber hinaus auf individueller Ebene nicht positional in ihren Leistungen anerkannt. Zwar berichtet sie ebenfalls von der Erfahrung, positionale Anerkennung zu erhalten, diese scheint aber nicht ausreichend, um die erlebte Nichtanerkennung und die Missachtungen zu relativieren, wie es beispielsweise im Falle einer anderen Interviewpartnerin – die sich insgesamt durch positive positionale Anerkennungsbilanzen auszeichnet – festzustellen ist. Diese Interviewpartnerin heißt Grit, ist 33 Jahre alt, hat Abitur und arbeitet in Ostdeutschland als Rechtsanwaltsgehilfin. Grit berichtet, dass sie aufgrund dieser Berufsposition des Öfteren Missachtungen durch Personen, die in der beruflichen Hierarchie über ihr stehen, erlebt. Sie schildert, das Verhalten von Anwälten fremder Kanzleien ihr gegenüber sei abfällig und demonstriere ihr ihren niedrigeren Status. Diese Begegnungen bewertet Grit als unangenehm. Demgegenüber erfährt sie ein großes Ausmaß an individueller positionaler Anerkennung, die ihr von Vorgesetzten der eigenen Kanzlei vermittelt wird. So beschreibt sie, dass ihre Arbeit wertgeschätzt werde und sie sich dadurch in ihren Fähigkeiten anerkannt fühle, dass Arbeitsaufgaben an sie herangetragen werden, die über die Tätigkeiten, die aufgrund ihres formalen Status zu leisten seien, hinausgehen. Hieraus resultiert, dass Grit sich, obwohl sie teilweise von positionalen, kollektiven Missachtungen betroffen ist, keine Änderung ihrer beruflichen Situation wünscht und sich somit hinreichend positional anerkannt fühlt. Obwohl auch Annette über Erfahrungen positionaler Anerkennung berichtet, scheinen diese Erlebnisse in ihrem Fall nicht ausreichend, um eine Relativierung der erlebten kollektiven Missachtungen und individuellen Nichtanerkennungen zu erwirken und sie in ihrer Wahrnehmung, normal zu sein, ausreichend zu bestärken. Neben den Erlebnissen positionaler Missachtung und Nichtanerkennung fühlt sich Annette ebenfalls nicht moralisch anerkannt. Es ist festzustellen, dass eine solche Art der Missachtung scheinbar nicht, wie emotionale und positionale Missachtung, eine Bedrohung für Annettes Annahme, so zu sein, wie es gesellschaftlich wünschenswert ist, darstellt. Es wurde bereits als Definitionsmerkmal von moralischer Missachtung angeführt, dass diese zu einem Gefühl, persönlich ungerecht behandelt zu werden, führt. Eben dies spiegelt sich in Annettes Aussagen wider. Dieses Ungerechtigkeitsgefühl ist bei Annette in besonderem Maß ausgeprägt, da Annette sehr stark an der Wertvorstellung absoluter menschlicher Gleichheit orientiert ist. Diese Wertvorstellung ist für sie von großer Bedeutung, sie nutzt aber die Zustimmung zu dieser nicht wie die Zustimmung zu den Werten ‚Leistung’ und ‚Einhaltung von Ruhe und Ordnung’, um sich selbst als normal zu klassifizieren. Zwar sieht sie sich als Menschen, der andere Personen zunächst einmal nach Gleichheitsgrundsätzen behandelt, nutzt diese Selbstsicht allerdings nicht, um sich gegenüber anderen Personen, die sich nicht an dieser Vorstellung orientieren, abzugrenzen, indem sie aufzeigt, dass diese ihrer Auffassung nach nicht ‚normal und richtig’ leben. Sie nimmt diese Wertvorstellung vielmehr als anzustrebendes Ideal einer ‚richtigen’ Lebensweise wahr, die sie aber nicht zu einer Bestärkung ihrer Normalität heranziehen kann, da sie im alltäglichen Leben nicht praktiziert wird. Nach Annettes Empfinden ist jede Art der Ungleichbehandlung ungerecht. In ihrer Selbstsicht gesteht sie ebenfalls der von ihr abgewerteten Gruppe „der Ausländer“ ein Recht auf Gleichbehandlung zu. Voraussetzung ist hierfür allerdings, dass diese sich an die nach ihren Normalitätsvorstellungen richtige Lebensweise anpassen. So lehnt sie beispielsweise die Aussage ab: „Wenn in Deutschland die Arbeitsplätze knapp werden, sollten wir die Ausländer nach Hause schicken.“ Ein solches Vorgehen ist nach Annettes Auffassung als Ungerechtigkeit zu
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Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs
betrachten, solange die betroffenen Ausländer sich ‚ruhig und ordentlich’ verhalten und einer Erwerbsarbeit nachgehen. Aufgrund dieser starken Zustimmung zu Gleichheitskriterien wäre es für Annette von zentraler Bedeutung, dass staatliches Handeln sich an der Wertvorstellung absoluter menschlicher Gleichwertigkeit orientierte. Die von ihr wahrgenommenen unterschiedlichen Behandlungsweisen verschiedener Bevölkerungsgruppen bzw. –schichten empfindet sie als ungerecht. Sie empfindet sich und Menschen in ihrer Lage als gegenüber „den Reichen“ ungerecht behandelt und fordert aufgrund dessen, diese „Reichen“ durch steuerliche Veränderungen „richtig bluten“ zu lassen. Den Wunsch, „die Reichen“ finanziell mehr zu belasten, überträgt Annette allerdings nicht auf andere finanzpolitische Bereiche. Demgegenüber führt sie sogar an, sie halte es für ungerecht, dass sie selbst – aufgrund ihrer benachteiligten finanziellen Situation – mehr staatliche Zuschüsse für ihre Kinder erhalte als „die Reichen“ und könne nachvollziehen, wenn diese sich darüber ärgerten. Die Erwartung einer solchen strikten Gleichbehandlung sieht Annette nicht nur durch eine wahrgenommene Bevorzugung wohlhabender Mitbürger infrage gestellt. Sie empfindet sich ebenfalls als gegenüber (neu zugezogenen) ausländischen Mitbürgern, die sich in einer ähnlichen finanziellen Situation befinden wie sie selbst, benachteiligt. Verschärfend zu dieser empfundenen Benachteiligung kommt hinzu, dass Annette keine Möglichkeit sieht, auf diese Benachteilung aufmerksam zu machen bzw. sich öffentlich für ihre Interessen einzusetzen. Sie betrachtet also die Quelle der Verstöße gegen ihr Gleichheitsideal – nämlich staatliches Handeln – als nicht beeinflussbar. Sodann richtet sich die aus ihren Ungerechtigkeitsempfindungen entstehende Wut gegen die als Profiteure der Ungleichbehandlung wahrgenommene Gruppe. So äußert Annette zunächst ihr Unverständnis darüber, dass „Ausländer“ – ihrer Meinung nach – bei der Vergabe von staatlichen Zuschüssen bevorzugt würden. Sie zählt Fälle auf, in denen ihrer Wahrnehmung nach aus dem Ausland zugezogenen Familien materielle und finanzielle Zuschüsse gewährt würden, die Annette und ihre Familie nicht erhielten bzw. die den ausländischen Familien schneller oder durch weniger komplizierte Verfahren bewilligt würden. Annette äußert ihr Unverständnis darüber, warum der Staat „dann alles gibt.“ Sie beschreibt: „Die kriegen eine Wohnung, die kriegen Möbel, die kriegen alles. (kurze Pause) Finde ich ungerecht. (kurze Pause) Finden Sie das gerecht? Sagen Sie mal Ihre Meinung! Würden Sie das gerecht finden? Neben mir ist eine Familie eingezogen, die kam irgendwo aus dem Ausland. Keine Ahnung wo. Klar, die haben nichts, die haben es da bestimmt schwer, aber die kommen hier hin, die kriegen alles. Direkt so von heute auf morgen. Wenn ich was will, dann muss ich ein Jahr laufen, bis ich das überhaupt kriege. Ne, das finde ich auch nicht für richtig, also.“
Während Annette ihren Ärger über die empfundene Schlechterbehandlung schildert, sucht sie im Verlauf ihrer Beschreibungen nach weiteren Argumenten, die ihre Wahrnehmung, ungerecht behandelt zu werden, bestärken. Hierbei erläutert sie, dass diese Ungerechtigkeit nicht nur durch eine schlichte Ungleichbehandlung zustande komme, sondern dadurch noch verstärkt werde, dass „die Ausländer“ eine Gruppe darstellten, die – anders als sie selbst – entgegen gesellschaftlicher Wertvorstellungen handelt. Zu dieser Ansicht gelangt sie, nachdem sie sich selbst fragt, wofür „die Ausländer“ die erhaltenen staatlichen Zuschüsse eigentlich verwendeten. Sie beantwortet sich diese Frage selbst, indem sie anführt, die Ausländer machten damit sehr viel „Schmu“. In diesem Zusammenhang fällt ihr darüber hinaus ein, dass – in ihrer Wahrnehmung – „die Ausländer“ nicht nur die ihnen vom Staat – ungerechterweise – zur Verfügung gestellten Zuschüsse erhielten, sondern darüber hinaus illegale Methoden anwendeten, um sich ein größeres Ausmaß an Zuschüssen zugänglich zu machen, als ihnen zustünde. So unterstellt sie: „Das gibt es alles. Und kassieren doppelt Geld sogar. Weil die was weiß ich
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wie viele Namen haben.“ Nachdem sie zu dieser Ansicht gelangt ist, führt sie weiter an, dass „die Ausländer“ nicht nur in diesem Bereich, sondern ebenfalls in anderer Art und Weise kriminell seien. So argumentiert sie, die Tatsache, dass „die Ausländer“ kostspielige Autos besäßen, obwohl sie keiner Erwerbsarbeit nachgingen, ließe sich drauf zurückführen, dass sie hier Geld durch illegale Handlungen beschafften. „Die fahren die dicken… die die schönsten Autos, die dir überhaupt nicht kaufen kannst. Wo haben die das denn her? Das ist doch nicht von hier. Vom normalen Geld verdienen ist es doch gar nicht. Die haben doch gar keine Arbeit. Und woher haben die denn so ein Auto? (kurze Pause) Die verkaufen Drogen, oder was. Ist ganz klar. Die machen krumme Geschäfte.“
Annette schreibt somit „den Ausländern“ zu, sich Geld vom Staat zu erschleichen und darüber hinaus mit dem Verkauf von Drogen Geld zu verdienen.43 Um zu verdeutlichen, dass sie sich diese Anschuldigungen nicht ausgedacht hat, beschreibt sie den Vorgang des Drogenhandels genauer. Sie erläutert, die von ihr beschriebenen Personen führen in die Niederlande, unter dem Vorwand, Blumen zum Weiterverkauf zu erwerben. Anstelle von Blumen handelten sie jedoch mit Drogen. Um diese Angaben zu bekräftigen, gibt Annette an, ihre Tochter habe sie über diese Drogengeschäfte informiert. Die Tochter sei durch die Intention, über den Handel mit Blumen Geld zu verdienen, in diese Kreise hineingeraten und dadurch auf diese Art des – von Ausländern praktizierten – Drogenhandels aufmerksam geworden. Annette begegnet somit der von ihr empfundenen Benachteiligung durch staatliches Handeln, indem sie die damit verbundene Ungerechtigkeit hervorhebt. Das Ausmaß an Ungerechtigkeit verdeutlicht sie dadurch, dass sie beschreibt, wie sie selbst, die so lebt, wie es ‚richtig und wünschenswert’ ist, gegenüber den ‚nicht-normalen’ Ausländern, die sich kriminell verhalten, benachteiligt wird. Das bedeutet, das Aufzeigen der ‚Nicht-Normalität’ und die damit verbundene Abwertung der Fremdgruppe erfolgt zur Verdeutlichung der Ungerechtigkeit, die Annette erlebt. Neben einem Mangel an positionaler und moralischer Anerkennung finden sich bei Annette ebenfalls Defizite an emotionaler Anerkennung. Im theoretischen Teil der vorliegenden Arbeit wurde postuliert, dass das Erfahren emotionaler Anerkennung primär den Zusammenhang zwischen Nichtanerkennung in den übrigen beiden Dimensionen und der Ausbildung feindseliger Mentalitäten beeinflusst. Dass emotionale Missachtungen selbst Auslöser einer menschenfeindlichen Einstellung sein könnten, wurde demgegenüber nicht ausdrücklich postuliert. Dieser Annahme einer beeinflussenden Funktion liegt die Vermutung zugrunde, dass das Erleben der emotionalen Anerkennung ein Gefühl des Eingebunden- und Aufgehobenseins ermöglicht und hierdurch die integrationsbedrohenden Erfahrungen der Missachtungen in den übrigen beiden Dimensionen ‚abfedert’. Personen, die keinerlei emotionale Anerkennung erhalten, bliebe demgegenüber die Möglichkeit einer solchen Entlastung verwehrt. Diese Hypothese steht im Einklang mit den von Annette angeführten Schilderungen. Wie erläutert, pflegt Annette zwar Kontakte zu Familienangehörigen und Bekannten; diese Personen scheinen ihr allerdings keinen hinreichenden emotionalen Rückhalt zu bieten und somit keine Relativierung der von Annette erlebten Anerkennungsmängel und Missachtungen zu gewährleisten. Auf emotionaler Ebene sind für Annette somit ebenfalls die Möglichkeiten eingeschränkt, sich
43 Darüber hinaus schwingt auch in dieser Aussage eine Abwertung und dadurch Selbstabgrenzung aufgrund von Leistungskriterien mit.
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innerhalb personaler Beziehungen ihrer eigenen Normalität vergewissern zu können und sich hierdurch eine Entlastungsfunktion von den erlebten Missachtungen zu verschaffen. Demgegenüber zeigt sich, dass auch die von Annette erlebte emotionale Missachtung durch ihre Mutter – wie auch die moralischen und positionalen Defizite – in einem direkten Zusammenhang mit ihren feindseligen Einstellungen steht. Annette kann nicht nachvollziehen, wieso ihre Mutter sich ihr gegenüber missachtend verhält, obwohl sie sich immer wie eine ‚gute Tochter’ verhalten – also ein „sehr gutes Sozialverhalten“ gezeigt – hat. Dass sie das missachtende Verhalten als Angriff auf ihre Normalität betrachtet, wird deutlich, wenn sie aussagt: “Ich weiß nicht, was ich verbrochen hab. Ich hab ganz normale Sachen eigentlich gemacht.“ Als ein ‚nicht normales’ Verhalten, das sie ebenfalls hätte zeigen können, aber nicht gezeigt hat, nennt sie den Konsum von Drogen. „Wenn ich jetzt Drogen genommen hätte. Das gab’s ja bei uns im Osten sowieso nicht. Oder irgendwas Schlimmes, was die heute so machen. Und manche Mütter verzeihen denen.“ Auch im Falle dieser Missachtungen zieht Annette als Kontrastgruppe, durch die sie demonstrieren kann, dass sie selbst relativ zu dieser Gruppen eine ‚richtige’ Lebensart pflegt, erneut die Gruppe der „Ausländer“ heran, der Annette – wie bereits angeführt – zuschreibt, Drogen zu konsumieren bzw. mit Drogen zu handeln. Annette erlebt ebenfalls durch ihren Bekanntenkreis emotionale Missachtungen, die sie als „Lästereien“ bezeichnet. Es zeigt sich, dass sie diese Erfahrungen im Allgemeinen – im Gegensatz zu den Missachtungen durch die Mutter – nicht als Bedrohung ihres ‚Normalseins’ auffasst. Sie betont, dass nicht nur über sie, sondern über jede andere Person im Bekanntenkreis „gelästert“ werde, und beschreibt diesen gegenseitigen Umgang als ‚normal’. Es ist somit anzunehmen, dass die meisten solcherlei Missachtungserfahrungen im Bekanntenkreis Annette nicht in ihrer Selbstwahrnehmung, ‚normal’ zu sein, bedrohen und aufgrund dessen keine Entlastungsfunktion benötigen, durch die sie sich ihrer Normalität vergewissern kann. Dies gilt allerdings nicht, wenn die Abwertungen durch den Bekanntenkreis Aspekte von Annettes Leistungsfähigkeit betreffen – sich also als individuelle positionale Abwertungen darstellen. Beziehen sich die „Lästereien“ ihrer Bekannten auf ihre Selbsteinschätzung als leistungsfähige Person, so nimmt Annette eine Abwertung der Bekannten vor, indem sie diese als weniger leistungsfähig abqualifiziert und sich hierdurch in ihren eigenen Fähigkeiten – und somit ihrer Normalität – bestärkt. Mit Annette wurde soeben das Beispiel einer Interviewpartnerin beschrieben, die stark in der Selbstwahrnehmung verhaftet ist, so zu leben, wie es nach – von ihr selbst als verbindlich definierten– allgemeinen gesellschaftlichen Maßstäben richtig und wünschenswert ist. Es konnte gezeigt werden, dass in diesem Fall Missachtungen eine starke Diskrepanz zwischen wahrgenommenem Fremdverhalten und Selbstwahrnehmung der Betroffenen auslösen, der begegnet wird, indem die Betroffene sich dadurch ihre Selbstwahrnehmung bestätigt, dass sie Gruppen aufzeigt, die – im Gegensatz zu ihr – nicht ‚normal’ sind und dies durch – von ihr wahrgenommene – Verhaltensweisen der Gruppenmitglieder begründet. Mit Annette wurde ein Fallbeispiel beschrieben, bei dem die Betroffene einerseits Nichtanerkennung und Missachtung in allen drei Dimensionen erlebt und andererseits stark von ihrer eigenen Normalität überzeugt ist. Als Kontrast hierzu wird nun das Fallbeispiel des Interviewpartners Christoph vorgestellt.
Interviewauswertung 5.2.2.2
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Negative Anerkennungsbilanzen in allen drei Dimensionen – Starke Ablehnung gesellschaftlicher Werte
Christoph Auch Christoph erlebt Nichtanerkennung und Missachtung in allen drei Dimensionen, reklamiert aber nicht für sich, ‚normal’ zu sein. Demgegenüber stilisiert er geradezu ein Selbstbild, das sich dadurch auszeichnet, nicht an gesellschaftliche Normen und Wertvorstellungen angepasst zu sein. Christoph gehört zu den Interviewpartnern, die als prekär beschäftigt kategorisiert wurden. Er lebt in Westdeutschland, ist 44 Jahre alt, ledig und kinderlos. Er hat Abitur und ein Soziologiestudium absolviert. Zurzeit arbeitet er als Datentypist und wird von einer Zeitarbeitsfirma beschäftigt. Positionale Anerkennung Bereits zu Beginn des Interviews zeigt sich, dass Christoph scheinbar aufgrund seiner Beschäftigung als Zeitarbeiter kollektive positionale Missachtung empfindet. So bittet er als erstes darum, nicht als Leiharbeiter bezeichnet zu werden, was er als Beleidigung empfindet, sondern den Ausdruck Zeitarbeiter zu nutzen, welcher die korrekte Bezeichnung sei. Neben einer solchen – von Christoph wahrgenommenen – generellen Abqualifizierung von Leiharbeitern durch diese Bezeichnung berichtet er darüber hinaus von konkreten missachtenden Erlebnissen, die sich aus seiner Beschäftigung als Zeitarbeiter ergeben. Er beschreibt in diesem Zusammenhang, dass er die Regelung der Arbeitszeiten der Zeitarbeiter in dem Betrieb, für den er arbeitet, als erniedrigend erlebt. So ist es den Zeitarbeitern nicht gestattet, länger als 35 Wochenstunden zu arbeiten, Überstunden werden auf einem Zeitkonto verbucht, das dann anstelle der zustehenden Urlaubtage herangezogen wird, wenn die betroffenen Personen ihren Urlaub beantragen. Durch diese Beschreibung zeigt sich, dass positionale Missachtungen nicht ausschließlich durch Negationen von Wertschätzung, sondern ebenfalls in Form von rechtlichen Missachtungen in Erscheinung treten können. Christoph beschreibt weitere rechtliche Missachtungen, die sich dadurch zeigten, dass den Zeitarbeitern im Falle von Dienstreisen nicht das ihnen zustehende Wegegeld gezahlt werde. Christoph vermutet, dass eine Beschwerde hierüber eine Kündigung nach sich ziehe. Als eine weitere rechtliche Missachtung, von der er als Zeitarbeiter betroffen war, berichtet Christoph folgenden Vorfall: Die entleihende Firma, für die er zum damaligen Zeitpunkt beschäftigt war, habe ihm mit der Begründung gekündigt, die Firma werde aufgelöst und in mehrere Regionalgesellschaften untereilt. Nach seiner Kündigung bei dieser Muttergesellschaft sei Christoph auf Basis eines neuen Tarifvertrags bei einer der Regionalgesellschaften eingestellt worden. Durch diese Neuanstellung habe er somit seine Urlaubsansprüche und den Kündigungsschutz verloren. Zu einem späteren Zeitpunkt habe sich sodann herausgestellt, dass die Auflösung der Muttergesellschaft nicht vorgenommen und lediglich als Vorwand genutzt worden sei, um den Zeitarbeitern – wie es Christoph ausdrückt – einen Teil ihrer erworbenen Rechte zu „rauben“. Wie eine positionale Missachtung in Form von Beleidigung – also eine der Wertschätzung gegenteilige Handlung –, so bedeutet auch eine positionale Missachtung durch ein Vorenthalten von Rechten eine Verweigerung von Respekt. Diese wird höchstwahrscheinlich in einem noch intensiveren Maß erlebt als eine Nichtrespektierung durch Beleidigung. Neben rechtlichen Missachtungen berichtet Christoph darüber hinaus auf einer Ebene des persönlichen Umgangs von abwertenden Interaktionen mit fest angestellten Arbeitskollegen, die ihm aufgrund seiner Beschäftigung als Zeitarbeiter widerführen. Diese beruhten auf Hie-
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rarchien zwischen Festangestellten und Zeitarbeitern. Diese würden dadurch weiter verfestigt, dass fest angestellte Kollegen, denen die Möglichkeit eröffnet werde, sich fortzubilden, das hierdurch erworbene Wissen nicht an die in Zeitarbeitverhältnissen beschäftigten Kollegen weitergäben, es also – wie Christoph es ausdrückt – monopolisierten. Dieses Verhalten bezeichnet Christoph auch als „Dummhaltestrategie“. Neben einem solchen Ausschluss der Zeitarbeiter vom Wissen der Festangestellten beschreibt Christoph ein Machtverhalten, durch das die fest angestellten Kollegen ihre Überlegenheit gegenüber den Zeitarbeitern demonstrierten. Christoph beschreibt: „Die deckeln, wo sie nur können“, und führt an, dass vor allem in kleineren Betrieben fest angestellte Kollegen versuchten, die Zeitarbeiter „dumm dastehen“ zu lassen bzw. sich die anspruchsvollsten Arbeitsaufgaben zu sichern, um auf diesem Weg ihren Arbeitsplatz gegenüber den Zeitarbeitern zu verteidigen. Christoph gibt an, viele Festangestellte verträten die Ansicht, Zeitarbeiter seien nichts anderes als Sklaven. Neben solchen kollektiven positionalen Missachtungen erlebt sich Christoph darüber hinaus nicht als individuell positional anerkannt. Er schildert seine Unzufriedenheit darüber, ausschließlich uninteressante Routinetätigkeiten ausüben zu können und somit nicht entsprechend seiner Qualifikationen – für die er Anerkennung erhalten könnte – arbeiten zu können. Er ist somit unzufrieden, weil er seine eigentlichen Fähigkeiten nicht zeigen kann und die Zeitarbeit darüber hinaus auch keine Perspektive dahingehend bietet, dass sich die Situation ändern könnte. Neben der Tatsache, seine Fähigkeiten nicht zeigen zu können, wird Christoph ebenfalls dadurch in seinem Fachwissen nicht anerkannt, dass nach seiner Wahrnehmung in der Firma, die ihn beschäftigt, personalbezogene Entscheidungen getroffen werden, die auf Basis dieses Fachwissens als falsch zu beurteilen sind. Christoph erwähnt ebenfalls individuelle positionale Missachtungen, die er als Mobbing bezeichnet. Er gibt an, diese Erfahrung habe ihn verbittert. Moralische Anerkennung Über politisches Handeln und die Möglichkeit, sich selbst in politische Prozesse einzubringen, äußert Christoph sich enttäuscht. Er ist unzufrieden mit durchgeführten politischen Maßnahmen. Er macht allerdings keine Aussagen darüber, ob er sich als relativ zu anderen Bürgern durch politische Entscheidungen benachteiligt fühlt. Das bedeutet, es kann nicht eindeutig geklärt werden, ob Christoph politische Maßnahmen generell als für den Bürger an sich als schlecht beurteilt, oder ob er sich durch diese relativ zu anderen Bevölkerungsgruppen ungerecht behandelt, also missachtet fühlt. Mit der Möglichkeit, sich für seine politischen Interessen ein- und diese umzusetzen, ist Christoph sehr unzufrieden. Seit seiner Studentenzeit habe er sich immer wieder aktiv politisch beteiligt, sei hierbei aber immer wieder enttäuscht worden. Ein Engagement innerhalb der großen Volksparteien habe er hierbei schon immer abgelehnt. Er begründet dies durch die Annahme, das einzige Ziel der innerhalb dieser Parteien agierenden Personen sei das Knüpfen von Seilschaften und der Erhalt der eigenen Macht, nicht die Durchsetzung politischer Anliegen. Seine Partizipation sei durch das Mitwirken innerhalb der PDS, der linken Jugendpartei der FDP und verschiedener kommunistischer Gruppen erfolgt, die er nicht näher benennt. Die Möglichkeit, tatsächlich politischen Einfluss auszuüben, sieht er aber hierdurch nicht gegeben. Dies führt er einerseits darauf zurück, dass sich auch hier die Strukturen immer mehr denen, die sich innerhalb der großen Volksparteien finden, annäherten. So merkt er an: „Man verfällt zurück in dieselbe Kriecherei gegenüber den großen Vorsitzenden.“ Andererseits betrachtet er einen Großteil der in kleineren Parteien organisierten Personen als zu unfähig, um tatsächlich ihre Anliegen durchzusetzen. Darüber hinaus bewertet er ebenfalls viele dieser dort angestrebten Ansprüche als nicht real praktikabel.
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Neben seinem parteipolitischen Engagement hat Christoph ebenfalls versucht, die zusammen mit ihm in Zeitarbeitsverhältnissen beschäftigten Kollegen zu mobilisieren, um gegen die beschriebenen rechtlichen Missachtungen gegenüber Zeitarbeitern vorzugehen. Die Art, in der „die Leute unter das Existenzminimum“ gedrückt würden, betrachtet er als illegal und ist somit davon überzeugt, dass es möglich sei, rechtlich hiergegen vorzugehen. Doch der Versuch, sich gemeinsam mit seinen Kollegen für die eigenen Anliegen einzusetzen, sei an deren Reaktionen gescheitert, die er als „unsolidarisch“ bezeichnet. Er beschreibt: „Aber ich hab da auch versucht, die Kollegen zu organisieren, aber das hat alles kein Zweck. Da wird man bestenfalls noch angeschissen.“ Insgesamt sieht Christoph somit nicht die Möglichkeit, seine Anliegen durchzusetzen. Er zieht den Schluss, dass er sich nun nicht mehr gesellschaftlich engagieren wolle, weil er hierbei immer wieder auf „konservative Strukturen“ gestoßen sei. Emotionale Anerkennung In Christophs Leben existieren nur wenige Personen, die ihn in seiner personalen Identität anerkennen. Als einzige Menschen, die ihm emotionalen Rückhalt bieten, nennt er Angehörige seiner Familie. Er berichtet, diese seien die einzigen Menschen, an denen er festhalte. Seiner Ansicht nach lösen sich alle sozialen Beziehungen zu irgendeinem Zeitpunkt auf, nur die Beziehungen innerhalb der Familie bleiben immer bestehen. Er gibt an, innerhalb seiner Familie herrsche eine „Solidarität“, die sich darin zeige, dass sich hier Menschen finden, die ihm helfen, wenn er „auf die Klappe“ falle. Er erklärt, er kaufe z.B. absichtlich keine Waschmaschine, um über einen Vorwand zu verfügen, der es ihm ermögliche, regelmäßig seine Familie zu besuchen. Christoph hat keine Partnerin. Er berichtet aber, dass er dies gerne ändern würde, sagt aber über sich selbst aus, er sei nicht „liebensfähig“. Christoph pflegt ebenfalls keine Freundschaften. Er berichtet, in der Vergangenheit drogensüchtig gewesen zu sein, da er „hart gekifft“ habe. Aus diesem Grund habe sich sein Freundeskreis irgendwann ausschließlich aus Drogensüchtigen und Dealern zusammengesetzt. Mit dem Beschluss, sein Leben zu ändern, habe er sich dann von diesen Freunden losgelöst. Dies habe für ihn einerseits Vereinzelung mit sich gebracht, sei aber auch eine Befreiung gewesen. Er schildert, zu diesen früheren Freunden habe zwar „eine Solidarität“ bestanden. Man habe das letzte Bier miteinander geteilt und sei füreinander da gewesen. Allerdings habe sich letztendlich durch den Drogenkonsum eine Gefühlskälte ausgebreitet, mit der er irgendwann nicht mehr leben wollte. Christoph kompensiert seine Anerkennungsdefizite durch den Aufbau einer kollektiven Identität, die es ihm ermöglicht, sich aufgenommen und integriert zu fühlen. Er bezeichnet sich als der Gothic-Szene44 zugehörig. Er schätzt an dieser Szene, dass sie sich durch eine starke Emotionalität auszeichnet, die im Gegensatz zu der in seinen letzten Freundschaftsbeziehungen erlebten Gefühlskälte steht. Ungewöhnlich ist die Art und Weise, in der diese Szene Christoph ein Gefühl der Zugehörigkeit und des Aufgehobenseins vermittelt. Denn dieses ergibt sich nicht durch individuelle Kontakte zu bestimmten anderen Szene-Angehörigen. So antwortet Christoph auf die Frage, ob die Gothic-Szene eine Gruppe ist, die ihm Rückhalt biete: „Ja, 44
Der Begriff Gothic bezeichnet eine in den 1980er Jahren entstandene Subkultur, die der so genannten Schwarzen Szene zuzurechnen ist. Ihre Anhänger werden oftmals als realitätsfern wahrgenommen. Sie gelten als introvertiert, friedfertig und ästhetisch orientiert. Die Mehrheitsbevölkerung wird von Gothic-Anhängern oftmals als egoistisch, konservativ und konsumorientiert eingestuft.
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die Gruppe an sich nicht. Die Szene hier. Das sind keine einzelnen Menschen. (…) Aber es ist auch nicht so der Kontakt zu irgendwelchen Cliquen oder sonst was.“ Christoph schildert, dass für ihn die Zugehörigkeit zu der Szene dadurch charakterisiert ist, gerade keine regelmäßigen Kontakte zu anderen Menschen zu pflegen, sondern immer wieder mit fremden Personen unverbindlich für lediglich einen begrenzten Zeitraum zusammenzukommen. Ein Austausch mit anderen Szene-Angehörigen erfolgt primär anonym über das Internet. Christoph beschreibt, dass, wenn ihm Personen innerhalb der Internetkommunikation sympathisch sind, ebenfall zwei- bis dreistündige Telefonate folgen können. Nach solchen Telefonaten finden hin und wieder persönliche Treffen statt, die aber nicht zu einer stabilen Bekanntschaft führen. Ansonsten ergeben sich persönliche Treffen in Szene-Diskos oder auf ‚Conventions’, werden darüber hinaus aber ebenfalls nicht weiter vertieft. Es sind also keine bestimmten Menschen, die Christoph Rückhalt vermitteln; ein Gefühl der Zugehörigkeit bezieht er vielmehr daraus, einen szenespezifischen Lebensstil zu führen, aufgrund dessen er sich eingebunden fühlt. Dies beschreibt Christoph, indem er anführt: „Es gibt ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl im Bereich der Szene“. Im Zusammenhang mit seinen Beschreibungen der Gothic-Szene spricht Christoph häufig über „Solidarität“ und „Zusammenhalt“. Das bedeutet, die Szene vermittelt ihm eine emotionale Anerkennung, die nicht durch interpersonale Kontakte, sondern durch den schlichten Besitz gemeinsamer Wertvorstellungen und Lebensweisen vermittelt wird. Darüber hinaus fühlt sich Christoph durch die Szene anerkannt, weil sie es ihm ermöglicht, seine Gefühle auszuleben. Hierbei handelt es sich primär um traurige und melancholische Gefühle. Christoph integriert sich in die Gothic-Szene, indem er „schwarz“ ist, d.h. traurig ist und leidet. Er gibt an, alles, was „bunt“ ist, also die „Lachgesellschaft“ und „ich-muss-glücklich-werdenGesellschaft“, abzulehnen. Er ‚nutzt’ gerade die ihn gesamtgesellschaftlich ausschließenden Mobbingerfahrungen, die er durch Angehörige der ‚Mehrheitsgesellschaft’ erlebt, um sich durch die entstehende Verbitterung und Traurigkeit in die Subkultur einzufügen. Zusammengefasst bedeutet das, dass die Szene Christoph die Möglichkeit bietet, sich anerkannt und zugehörig zu fühlen, indem er ihrer im Verhältnis zur ‚Mehrheitsgesellschaft’ andersartigen Lebensart entspricht, die kollektive Identität der Szene stilisiert und gerade durch diese Stilisierung von der Szene anerkannt wird. Es handelt sich hierbei somit nicht um eine Anerkennung der kollektiven Identität, wie sie innerhalb der Theorie der Sozialen Desintegration beschrieben wird. Denn dort wird auf eine Anerkennung kollektiver Lebensstile von Gruppen fokussiert, die durch Angehörige von Fremdgruppen vergeben wird. Eine solche Anerkennung ist für Christoph irrelevant. Er betont, dass es ihn nicht beleidigt, wenn Menschen, die der Szene nicht angehörig sind, Gothic-Mitglieder als weltfremd betrachten oder sich über die Rituale der Szene lustig machen. Er gibt darüber hinaus an, dass die Szene für ihn nicht identitätsstiftend sei. Wenn Christoph dies selbst auch derart empfindet, so entsprechen seine Ausführungen genau dem Konstrukt, das in der vorliegenden Arbeit als kollektive Identität beschrieben wurde. Denn er hebt immer wieder hervor, wie wichtig ihm das Zugehörigkeitsgefühl und die Lebensart der Szene sind. Diese Wichtigkeit der Anforderung, der Lebensart der Szene zu entsprechen, wird dadurch deutlich, dass Christoph in einem Großteil des Interviews über die Spezifika der Gothic-Szene spricht, ‚Fachwörter’ der Szene benutzt und über die spezielle Lebensweise der Mitglieder referiert. Entsprechend wird – unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Christoph dies nicht derart empfindet – hier aus einer Beobachterperspektive heraus der Begriff der kollektiven Identität genutzt.
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Selbstwahrnehmung Der Interviewpartner Christoph wird der als erstes betrachteten Interviewpartnerin Annette gegenübergestellt, da er zwar wie sie ebenfalls von Erleben der Nichtanerkennung bzw. von Missachtungserfahrungen innerhalb aller drei Dimensionen betroffen ist, sich aber hinsichtlich von Annahmen über die eigene ‚Normalität’, die das Zusammenwirken von Nichtanerkennung und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit beeinflusst, stark von ihr unterscheidet. Während Annette die Überzeugung vertritt, selbst so zu leben bzw. Wertvorstellungen zu vertreten, die dem, was für eine ideale Gesellschaft wünschenswert ist, entsprechen, wurde bis hierhin bereits deutlich, dass Christoph motiviert ist, sich anders zu verhalten als entsprechend der Normen, die im Allgemeinen als gesellschaftlich wünschenswert gelten. Während somit Annette sehr stark bestrebt ist, so zu sein, wie es ihrer Ansicht nach die Gesellschaft von ihr erwartet, versucht Christoph gerade, anders zu sein, als es seiner Meinung nach die Gesellschaft verlangt. Dass es Christoph wichtig ist, ein solches Bild zu vermitteln, wird bereits zu Beginn des Interviews deutlich. Er beschreibt sich selbst als ehemaligen Drogenabhängigen und betont seine Nichtdurchschnittlichkeit, indem er über seinen Alltag innerhalb der Drogenszene berichtet. Er demonstriert, dass es für ihn ‚normal’ ist, nicht ‚normal’ zu sein, indem er über seinen Umgang mit Drogendealern, Obdachlosen sowie männlichen und weiblichen Prostituierten berichtet, als sei es nicht außergewöhnlich, sich in dieser Szene zu bewegen. Er selbst bezeichnet seine damalige Zugehörigkeit zur Drogenszene als eine Abrechnung mit den tradierten, positiv besetzten Werten. Er gibt an, solche bürgerlichen Werte abzulehnen, seit er 14 Jahre alt ist. In einer Selbstbeschreibung, die sich auf seine Studienzeit bezieht, bezeichnet sich Christoph als Anarchist. Auch damals sei er – wie er es nennt – „undergroundmäßig“ orientiert gewesen. Wie bereits ausführlicher beschrieben, fühlt es sich heute als der Gothic-Szene zugehörig, die er nutzt, um seine ‚Nichtnormalität’ zu stilisieren. Im Gespräch bezeichnet er selbst die Szene als Subkultur – klassifiziert sie somit selbst als nicht durchschnittlich – und verdeutlicht auch hier seine ‚normale Nichtnormalität’, indem er wie selbstverständlich mit den spezifischen Semantiken der Szene umgeht, als seien sie alltägliche Begrifflichkeiten. Er betont, dass er es nicht nur ablehnt, den Normen der Mehrheitsbevölkerung zu entsprechen, sondern darüber hinaus ebenfalls nicht bereit ist, Normvorstellungen innerhalb der Subkultur zu erfüllen. Er gibt an, Normeinhaltung halte er generell für spießig. Als weiteres Indiz dafür, dass es Christoph wichtig ist, anders zu sein als die Mehrheitsgesellschaft erwartet, ist die Tatsache zu sehen, dass er sich selbst als Misanthrop bezeichnet und angibt, er besitze keine Ambitionen, Freundschafts- oder Bekanntschaftsbeziehungen zu anderen Personen aufzubauen. Er betont somit über diese Stilisierung des Einzelgängerdaseins einmal mehr seine ‚Andersartigkeit’. Christophs Selbstdefinition, nicht so zu sein, wie es nach gesellschaftlichen Vorstellungen als ‚normal’ zu betrachten ist, ist nicht auf die sozio-emotionale Ebene beschränkt. So lehnt er auch hinsichtlich seines politischen Engagements eine Partizipation in Form von Mitarbeit in konventionellen Parteien ab und demonstriert durch sein Mitwirken in kommunistischen Gruppen bzw. der PDS, dass auch seine politischen Anliegen nicht den Mehrheitsanliegen entsprechen. Auch auf struktureller Ebene gibt sich Christoph ‚unnormal’, wenn er betont, er lehne Leistungsstreben ab, habe keinerlei Interesse an materiellen Gütern und hasse Wettbewerb. Aufgrund dieser Ablehnung von Leistungsnormen wird es Christoph erleichtert, mit den erlebten positionalen Missachtungen umzugehen. Dadurch, dass er sich nicht an den Normen der Leistungsgesellschaft orientiert, stellen die Missachtungserfahrungen keine Bedrohung seiner eigenen ‚Normalität’ dar und sind entsprechend für ihn kein Indikator für einen Ausschluss aus der Mehrheitsgesellschaft, aus der er sich bereits selbst durch sein Bestreben, nicht normal zu sein, ausschließt. Er nutzt, ganz im Gegenteil, gerade diese Missachtungserfahrun-
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gen, um über die damit einhergehenden negativen Gefühle die für ihn wichtige Integration in die ‚schwarze Subkultur’ herzustellen. Seinen Anspruch, nicht ‚normal’ zu sein, lebt er somit über die Gothic-Szene aus, die ihm somit die Möglichkeit bietet, positionale Missachtungen zu verarbeiten, und darüber hinaus emotionale Anerkennung und Zugehörigkeit stiftet. Bezug der Kategorien ‚Anerkennung’ und ‚Selbstwahrnehmung’ auf die Kategorie ‚Bewertung von Gruppen’ Da Christoph nicht den Anspruch besitzt, so zu handeln und zu denken, wie es seiner Meinung nach für eine ideale Gesellschaft wünschenswert ist, kann eine derartige Selbstwahrnehmung nicht durch Erfahrungen von Nichtanerkennung und Missachtung infrage gestellt werden. Entsprechend benötigt Christoph keinen Mechanismus, der ihn von mit seiner Selbstwahrnehmung inkongruenten Erlebnissen entlastet, da sich für ihn keine inkongruenten Erlebnisse ergeben. Somit besteht für ihn nicht – wie für Annette – die Notwendigkeit, Gruppen aufzuführen, die im Gegensatz zu ihm ,nicht ‚normal’ sind, um sich in seiner eigenen Normalität zu bestätigen. Entsprechend äußert sich Christoph ablehnend gegenüber jeder Art von Vorurteilen. Er gibt an, sich nicht von der muslimischen Kultur bedroht zu fühlen, er lehnt Homosexualität nicht ab und fordert keine Etabliertenvorrechte ein. Ganz im Gegenteil äußert er sich stark ablehnend gegenüber solchen Einstellungen. Hierbei kritisiert er insbesondere das Einfordern von Etabliertenvorrechten und führt dabei Konflikte zwischen deutschstämmigen Bürgern und Migranten darauf zurück, dass Migranten einige, seiner Meinung nach elementare, Rechte aufgrund ihres Status verweigert werden. Es scheint somit, dass die Frage danach, ob sich eine Person selbst als Menschen auffasst, der so lebt, wie es seiner Meinung nach in einer idealen Gesellschaft richtig und wünschenswert ist, ein wichtiger Einflussfaktor im Zusammenhang mit dem Erleben von Nichtanerkennung und Missachtung und der Ausbildung feindseliger Mentalitäten ist. Bei den beiden dargestellten Fallbeispielen handelt es sich sowohl in Bezug auf das Erleben von Missachtung und Nichtanerkennung um Extrempositionen, da beide Interviewpartner Defizite hinsichtlich aller drei Dimensionen aufweisen. Ebenfalls extrem ist die Selbstsicht beider als ‚normal’ bzw. ‚nicht normal’. Im Folgenden wird nun auf die Aussagen weiterer Interviewpartner eingegangen, die eine stärker gemäßigte Selbstsicht bezogen auf die Frage der eigenen Normalität besitzen. Es zeigt sich, dass auch hier ähnliche Muster wie die bereits beschriebenen erkennbar sind. Zunächst werden die Aussagen eines Interviewpartners präsentiert, der ebenfalls Nichtanerkennung und Missachtung in allen drei Dimensionen erlebt und wie auch Christoph eine Zustimmung zu Leistungsnormen ablehnt. Anders als Christoph stilisiert er sich aber nicht über diese Ablehnung als gesellschaftlich unangepasst. Wie auch Christoph stellt er seine gesellschaftliche Integration über die Ausbildung einer kollektiven Identität her. Im Gegensatz zu diesem nutzt er die Identität allerdings nicht, um sich hierdurch in eine Subkultur – losgelöst von gesamtgesellschaftlichen Wertvorstellungen – zu integrieren, sondern sieht gerade die von dem betreffenden Kollektiv vertretenen Wertvorstellungen als Basis dafür, so zu sein, wie es gesellschaftlich wünschenswert ist. Das bedeutet, über diese Wertvorstellungen definiert sich der Interviewpartner Dirk selbst als Menschen, der so lebt, wie es ‚gut und richtig’ ist. Dirk Dirk ist 43 Jahre alt und lebt in Westdeutschland. Er gehört der Gruppe der prekär beschäftigten Interviewpartner an, da er derzeit innerhalb einer befristeten Arbeitsbeschaffungsmaßnahme bei einer sozialen Einrichtung beschäftigt ist. Dirk hat in seinem bisherigen Berufsleben immer wieder längere Phasen der Arbeitslosigkeit erlebt und war häufig in unsicheren Beschäf-
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tigungsverhältnissen angestellt. Er besitzt einen Hochschulabschluss als DiplomSozialpädagoge. Er lebt unverheiratet in einer Partnerschaft und ist Vater eines achtjährigen Jungen, dessen Mutter seine Lebenspartnerin ist. Positionale Anerkennung Bei dem Beschäftigungsverhältnis, in dem Dirk derzeit angestellt ist, handelt es sich um eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Dies bringt mit sich, dass die Arbeitsstelle zunächst auf sechs Monate befristet ist und höchstens um weitere sechs Monate verlängert werden kann. Es ist unsicher, ob Dirk im Anschluss eine weitere Beschäftigung findet oder arbeitslos werden wird. Diese Situation wie auch die geringe Entlohnung, die mit seiner Stelle verbunden ist, empfindet Dirk als unbefriedigend, betrachtet die Umstände aber auch als Herausforderung. Während Dirk sich insbesondere innerhalb seiner letzten Arbeitsstelle individuell positional anerkannt gefühlt hat, ist es in Phasen der Arbeitslosigkeit oftmals vorgekommen, dass er mit positionaler Nichtanerkennung und Missachtung konfrontiert war. Er berichtet, in früheren Zeiten seien Arbeitslose vor allem dadurch von kollektiver Missachtung betroffen gewesen, dass in öffentlichen Debatten die Ansicht vertreten worden sei, Menschen, die arbeiten wollten, fänden auch Arbeit. Es sei von den Betroffenen erwartet worden, jede Arbeit anzunehmen, unabhängig davon, ob es sich bei der ausgeübten Tätigkeit um eine befriedigende, den Fähigkeiten entsprechende Tätigkeit handelte bzw. ob die Bezahlung derart gering sei, dass sie gerade ausreiche, um zu überleben. Mittlerweile seien solche Missachtungen dadurch geringer geworden, dass die Schwierigkeiten, eine Arbeitsstelle zu finden, stärker in das öffentliche Bewusstsein gelangt sind. Dennoch sei mit einer Position, die es ermöglicht, eigenes Geld zu verdienen, noch immer mehr Anerkennung verbunden als mit der Position als Erwerbsloser. Neben solchen Missachtungen durch öffentliche Diskurse beschreibt Dirk eine konkrete Situation der Missachtung aufgrund seiner Rolle als Arbeitsloser innerhalb einer interindividuellen Kommunikation. Bei seinem Gesprächspartner handelte es sich um einen Sachbearbeiter des Sozialamts, bei dem Dirk einen Antrag auf ALG II stellen wollte. Er berichtet, er sei in das Büro des Sachbearbeiters eingetreten und sei bereits im selben Augenblick von diesem angeschrieen worden. Diese Reaktion führt er auf seine damalige Rolle als Sozialleistungsbedürftiger zurück und beschreibt dieses Erlebnis als belastend. „Aber in dem Sinne, dass ich jetzt heute noch drüber rede und mir das haften geblieben ist, dann kann man natürlich davon ausgehen, dass mir das schon was ausgemacht hat. Sonst würde ich ja nicht irgendwie nach nem halben Jahr oder dreiviertel Jahr drüber reden. Also, das fand ich schon sehr diskriminierend. Muss ich schon ganz klar sagen. Weil egal ob arbeitslos, Schwarz oder Weiß oder Männlein oder Fräulein. Wenn einer irgendwo reinkommt, sagt man erst mal ‚Guten Morgen’. Und ich habe davon gehört, dass der Umgang allgemein so mit den Arbeitslosen von einigen Sachbearbeitern sehr häufig so ist.“
Um sich im alltäglichen Umgang mit anderen Personen weiteren Missachtungen aufgrund seiner Rolle als Erwerbsloser zu entziehen, entwickelte Dirk Vermeidungsstrategien. So schildert er, er habe beispielsweise vormittags keine Einkäufe erledigt, um nicht als Arbeitsloser identifiziert zu werden. „Während meiner Arbeitslosigkeit habe ich es immer tunlichst vermieden, früh morgens einkaufen zu gehen. Weil irgendwie hab ich mich unwohl gefühlt als junger dynamischer Mann im besten Alter, im Grunde genommen, da morgens um 10 oder um 11 da beim Real-Markt rumzulaufen und meine Lebensmittel einzukaufen. Weil ich hatte immer gedacht, jetzt sieht’s mir jeder an. Der Mann hat keine Arbeit, der ist irgendwie, also das Selbstwertgefühl relativ unten, dass ich dachte, man sieht mir das wie Pinocchio an der Nase an. Und da hab ich mich nicht wohl bei gefühlt. Ich selber hab mich nicht wohl gefühlt. Das mag total gar nicht stimmen, aber ich hab immer versucht zuerst, so ab zwei Uhr hab ich gesagt: ‚Ist völlig okay.’ Weil da kann man ja auch irgendwie
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Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs Schichtarbeiter sein und dann einkaufen gehen. Aber ich hab es vermieden möglichst, morgens einkaufen zu gehen.“
Eine weitere Strategie, potenzielle Missachtungen zu vermeiden, beschreibt Dirk, wenn er berichtet, dass er in Phasen der Arbeitslosigkeit Fragen von Bekannten, darüber, wie er seinen Tag gestalte, auswich. Dies wiederholt er mehrfach: „Und den Fragen bin ich eigentlich immer ausgewichen. Weil ich war sehr unzufrieden mit meiner Arbeitslosigkeit nachher. Weil ich einfach arbeiten wollte und bin der Frage ausgewichen, bin einfach der Frage ausgewichen.“ Neben positionalen Missachtungen in seiner Rolle als Arbeitsloser erlebte Dirk – insbesondere in Phasen, in denen er soeben eine Arbeitsstelle verloren hatte, die er als zufrieden stellend empfand – darüber hinaus das Gefühl individueller positionaler Nichtanerkennung. So beschreibt er, dass der Wegfall einer Tätigkeit, in der er sich sehr anerkannt fühlte, für ihn belastend war. Das Gefühl der Nichtanerkennung beschreibt er als daraus resultierend, dass er nun nicht mehr seine Fähigkeiten unter Beweis stellen konnte und keine sinnvolle Aufgabe mehr zu erfüllen hatte. Er habe versucht, sich mit der Situation zu arrangieren, indem er sich immer wieder die positiven Seiten einer Arbeitslosigkeit vor Augen führte. Doch dies sei immer schwieriger geworden, je länger die Phase der Arbeitslosigkeit andauerte. Während also der Wegfall der zuvor erlebten Anerkennung Belastung für Dirk darstellte, war er aber darüber hinaus nicht von aktiven individuellen Missachtungen – also einer Abwertung seiner Fähigkeiten und Leistungen – durch den Umgang mit anderen Menschen betroffen. Alles in allem erwähnt Dirk wiederholt, Zeiten der Arbeitslosigkeit seien bei ihm oftmals mit einem niedrigen Selbstwert einhergegangen und er habe sich teilweise sehr schlecht gefühlt. Möglicherweise wurde dieses Gefühl auch durch die Tatsache verstärkt, dass Dirk auch mit dem Ausmaß an emotionaler Anerkennung, das er erhält, unzufrieden ist. Das bedeutet, bezogen auf den sozio-emotionalen Bereich spricht er über Beziehungen zu für ihn wichtigen Personen, die er gerne hinsichtlich des zwischenmenschlichen Umgangs ändern möchte. Emotionale Anerkennung der personalen Identität Dirk erläutert, das Verhältnis zu seinen Geschwistern sei zufrieden stellend, wohingegen er nicht explizit über das Verhältnis zu seinen Eltern spricht. Er berichtet, durch seine Familie werde ihm Rückhalt vermittelt und es gäbe immer jemanden, der ihn unterstütze. Er beschreibt allerdings, dass Kontakte meist ausschließlich telefonisch stattfinden und darüber hinaus die Beziehung zu seinem jüngeren Bruder problematisch sei. Trotzdem sei er mit dem Verhältnis zu seiner Familie insgesamt betrachtet zufrieden. Dennoch finden sich bei Dirk personale emotionale Anerkennungsdefizite, betrachtet man weitere seiner emotionalen Bindungen. Mit der Beziehung zu seiner Partnerin ist Dirk unzufrieden. Er sagt aus: „Ich weiß nicht, ob wir momentan ne glückliche Beziehung führen. Das kann ich momentan gar nicht sagen.“ Er beschreibt, sich eine Veränderung der Partnerschaft zu wünschen. Auf die Frage, was sich ändern müsse, damit er zufriedener wäre, antwortet er, es sei die alltägliche Interaktion miteinander, die sich verbessern müsse. Die Beziehung habe sich innerhalb der Phasen, in denen er arbeitslos war, sehr verschlechtert. Zu diesen Zeiten sei er oftmals unzufrieden gewesen, was zu Spannungen geführt habe. Er berichtet von häufigen Streitereien, die auch aktuell noch stattfinden und meist darin enden, dass seine Partnerin und er – die beiden leben in getrennten Wohnungen – das Gespräch abbrechen, sich in die eigenen Wohnungen zurückziehen und nicht mehr miteinander reden. Solche Streitereien seien zunächst in Zeiten der Arbeitslosigkeit aufgetreten und wirkten sich noch auf die Beziehung, wie sie heute ist, aus. Er erinnert sich demgegenüber an Zeiten – z.B. während gemeinsamer Urlaube –, die er als sehr harmonisch
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empfunden habe. Dirk wünscht sich, die Beziehung könnte auch im Alltag derart glücklich sein. Allerdings betrachtet er es als Voraussetzung hierfür, über mehr Geld verfügen zu können, was er als nicht realisierbar ansieht. Die Beschreibung eines Zusammenlebens, wie er es sich wünscht, bringt eine Zustimmung zu einer bürgerlichen Lebensart zum Ausdruck und scheint ein Bedürfnis nach Harmonie und sozio-emotionaler Zugehörigkeit widerzuspiegeln. So wünscht er sich Folgendes: „Wo ich zum Beispiel unheimlich Spaß dran hätte, ein eigenes Haus zu haben, mit Garten. (…) Und ich glaube das wäre für mich etwas, wo toll wäre. Ein eigenes Haus mit Garten, wo man drauf planen kann und eventuell sogar noch ein zweites Kind in die Welt setzen. Wo man sagen kann, ‚Scheiß Arbeit’, wenn mal ein ‚Scheiß Tag’ da war, aber ich hab hier mein eigenes Heim, komm zurück.“
Ausführlich beschreibt Dirk anschließend, dass sich seiner Ansicht nach ausschließlich die finanziellen Rahmenbedingungen der Situation ändern müssten, damit es ihm möglich sei, seine Pläne zu verwirklichen, womit dann ebenfalls eine Verbesserung der Beziehung zu seiner Partnerin einherginge. Auch Dirks Freundschaftsbeziehungen bieten ihm keinen bedingungslosen emotionalen Rückhalt, was bedeutsam ist, da er erwähnt, echte Freundschaften seien für ihn nicht durch die Häufigkeit des Kontaktes, den man pflegt, sondern gerade durch ein besonderes Vertrauensverhältnis zueinander gekennzeichnet. Hier berichtet er zwar zunächst, solche rückhaltstiftenden Beziehungen zu besitzen, gibt aber als Nächstes an, auch diese Freundschaften hätten sich durch seine Arbeitslosigkeit verschlechtert. Es beschreibt: „Da habe ich auch festgestellt, dass ich da so ein bisschen rausgefallen bin manchmal. So dass ich nicht als erster Ansprechpartner gesucht wurde.“ Dies führt er darauf zurück, dass er erwerbslos war, während die übrigen Freunde eine solche Erfahrung bisher noch nicht erlebt haben. Umgekehrt beschreibt er ebenso, dass er genauso wenig seine Freunde als Unterstützung bei der Verarbeitung seiner Erwerbslosigkeit gesucht hat, wenn er erläutert, er sei kein Mensch, der seine Freunde mit Problemen „vollblubbert“. Alles in allem deuten Dirks Erzählungen über die Beziehung zu seinen Freunden darauf hin, dass seine Erwerbslosigkeit dazu geführt hat, dass er nicht mehr die gleiche Lebenswelt wie seine Freunde hat und sich das ursprüngliche Zusammengehörigkeitsgefühl stark verringert hat. Die Tatsache, dass weder Dirk seine Freunde als Ansprechpartner bei Problemen sucht, noch als erster Ansprechpartner von diesen gesucht wird, deutet darauf hin, dass auch der Freundeskreis keine Quelle bedingungslosen emotionalen Rückhalts für ihn darstellt. So bezeichnet sich Dirk auch selbst als „Einzelgängertyp“. Emotionale Anerkennung der kollektiven Identität Auch bezogen auf die Dimension der Anerkennung der kollektiven Identität hat Dirk das Gefühl, nicht anerkannt zu werden. Er bezeichnet sich selber als Christ, der bemüht ist, sein Leben an christlichen Wertvorstellungen, die für ihn von großer Bedeutung sind, zu orientieren. Allerdings zeigt sich, dass sich Dirk durch die Verhaltensweisen anderer Gesellschaftsmitglieder nicht in seiner Identität als Christ anerkannt fühlt. Es sei hervorgehoben, dass es sich hierbei nicht um Missachtungserfahrungen, also das Empfinden, von andern Personen aufgrund der Zustimmung zu christlichen Wertvorstellungen beleidigt zu werden, handelt. Dirk widerfährt keine Abwertung seiner christlichen Lebensart durch andere Personen, er empfindet vielmehr ein Gefühl der Nichtanerkennung dadurch, dass die Mehrheit der deutschen Bevölkerung nicht den seiner Ansicht nach richtigen, christlichen Wertvorstellungen entspricht. Wenn er somit auch keine Beleidigung der ihm wichtigen Wertvorstellungen erlebt, was mit einem Vorenthalten von Respekt einherginge, so scheint bei ihm dennoch der Eindruck zu bestehen,
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durch ein Verhalten, das nicht an christlichen Wertvorstellungen orientiert ist, würde ihm eine respektlose Einstellung gegenüber den ihm wichtigen Wertvorstellungen demonstriert. Dies wird aus der Heftigkeit seiner Reaktionen geschlossen. Dass Dirk sich in seiner Identität als Christ nicht anerkannt fühlt, wird deutlich, wenn er kritisiert, dass – seiner Empfindung nach – der größte Teil der in Deutschland lebenden Menschen Atheisten seien. Er bezeichnet Atheismus als „Schwachsinn“ und möchte darüber hinaus nicht glauben, dass Menschen sich bewusst und aufgrund rationaler Erwägungen dafür entscheiden, Atheisten zu sein. Seiner Meinung nach ist die Entscheidung für Atheismus keine freie Wahl von mündigen Bürgern, sondern das Resultat einer Manipulation. Auf Dirks Wahrnehmung, in seiner kollektiven Identität nicht anerkannt zu werden, wird im Zusammenhang mit der Erörterung seiner menschenfeindlichen Einstellungen noch differenzierter eingegangen. Moralische Anerkennung Dirks Ansicht nach wird die Gruppe der Arbeitslosen durch politische Maßnahmen gegenüber anderen gesellschaftlichen Gruppen benachteiligt. Als Menschen, gegenüber denen Erwerbslose in besonderem Maß nachteilig behandelt werden, nennt er „die Besserverdienenden“. Als Beispiel hierfür führt er Familienförderungsmaßnahmen an, von denen ausschließlich besser verdienende Gesellschaftsmitglieder profitierten. Er argumentiert, dieser Personenkreis werde besonders gefördert, da es Ziel der Maßnahmen sei, dass ausschließlich privilegierte Personen mehr Kinder in die Welt setzen. Basis solcher Vorgehensweise seien Erwägungen, die Wirtschaft zu beleben. Weiter gibt Dirk an, die meisten gesellschaftlichen Entscheidungen träfe ohnehin nicht „die Politik“, sondern „die Wirtschaft“. Er betrachtet das politische System als ‚verlängerten Arm’ der Wirtschaft, da nach seiner Ansicht politische Maßnahmen ausschließlich der Wirtschaftbelebung dienen und nicht den direkten Interessen der Bürger. Dies habe zur Folge, dass politisches Handeln – innerhalb des minimalen Handlungsspielraums, den Politiker noch besäßen – ungerechte Maßnahmen zur Folge habe. „Bei den etwas sozial Schwächeren, da wird ja nicht rangegangen. Es wird praktisch auf die Besserverdienenden aufgebaut.“ Dirk führt an, Politiker handelten allerdings nicht aus einer „Boshaftigkeit“ heraus auf diese Weise, sondern aus Unkenntnis über die Bedürfnisse des Bürgers. „Dass die praktisch Entscheidungsträger sind über Sachen, über die sie gar keine Ahnung haben.“ Wie bereits erwähnt, betrachtet Dirk den Handlungsspielraum der Politik als sehr begrenzt. Primär sei „die Wirtschaft“ der Entscheidungsträger, was dazu führe, gesellschaftliche Ungerechtigkeit zu verhärten und auszubauen. Dirk argumentiert, „die Wirtschaft“ habe ein Interesse daran, eine gewisse Arbeitslosenquote als eine Reserve an Arbeitskraft aufrecht zu erhalten, um hierdurch den derzeit Beschäftigten Niedriglöhne zahlen zu können. Für die Politik sei es nur schwer möglich, einen Ausgleich für die betroffenen Geringverdiener zu schaffen, da ihre Handlungsmöglichkeiten, Gerechtigkeit herzustellen, stark eingeschränkt seien. „Was will man machen? Soll man einerseits versuchen, beziehungsweise die Politik kann denen ja nicht größere Löhne geben. Deswegen sage ich ja, ist ja die Wirtschaft und nicht die Politik macht die Löhne. Aber angenommen, sollen die Verkäuferinnen jetzt höheren Lohn bekommen? Damit die sich besser fühlen gegenüber den Arbeitslosen? Oder soll den Arbeitslosen weniger Geld, noch weniger Geld, gegeben werden, damit die Spanne größer ist. Damit die sich wohl fühlen?“
Dirk befürchtet, dass dies der Weg sein wird, den „die Politik“ geht und somit durch politische Maßnahmen die ohnehin Schwachen noch weiter benachteiligt werden, wodurch er als potenziell zukünftig wieder Arbeitsloser erneut persönlich benachteiligt würde.
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„Und ich hab irgendwie das Gefühl, als wenn da wieder angegriffen wird. An denen, die wieder keine Arbeit haben und gesagt wird: ‚Okay.’ Und das sieht man ja auch in der Praxis. Es wird sehr schnell irgendwas gekürzt von der Grundsicherung. Wenn man da mal was nicht macht. Da mal nicht nen Termin einhält. Wird schnell gekürzt, und es wird selbst von diesen paar Euro, die man bekommt, schnell rangegangen und wieder was weggekürzt.“
Das politische System ist nach Dirks Auffassung somit nicht in der Lage, ihm eine persönlich gerechte Behandlung zuzusichern. Wenn Maßnahmen, die innerhalb des Handlungsspielraums der Politik liegen, vorgenommen werden, so hat dies also nach Dirks Ansicht zur Folge, dass für ihn keine Annäherung an eine gerechtere Behandlung hergestellt, sondern die Situation im Gegenteil noch verschärft wird. Dirk besitzt keinerlei Interesse daran, auf politisches Handeln Einfluss zu nehmen. Zwar besteht bei ihm der Eindruck, Politiker zeigten durchaus ein Interesse an den Anliegen der Bürger. Dies bewertet als positiv, da seiner Meinung nach Politiker keine Ahnung vom Leben der „einfachen Bürger“ hätten und es somit sinnvoll sei, sich hierüber und über die Anliegen der Bürger zu informieren. Er selbst verfügt allerdings über keinerlei Motivation, sich für seine Anliegen einzusetzen. Er sei nicht „der Typ dafür“. Darüber hinaus äußert er sich, wie auch andere Interviewpartner, ebenfalls skeptisch gegenüber der Möglichkeit, seine Mitbürger zu motivieren, sich gemeinsam für Veränderungen aktiv einzusetzen. Eine Einflussmöglichkeit sieht er aber nur dann gegeben, wenn sich eine hinreichend große Menge an Menschen zusammenfindet und organisiert. „Es heißt, man kann ja nur aufbegehren, indem man sich zusammen tut. Es nützt ja nichts, wenn ich mich hier mit nem Plakat irgendwo doof rumlaufe, sondern ich muss ja irgendwie, wenn ich aufbegehre, die typische Demonstration muss man sich ja organisieren und zusammen tun. Und das macht der Deutsche nicht mehr. Der Deutsche will zusehen, dass er seine Ruhe hat und in seinem Bereich zufrieden ist. Der andere interessiert ihn nicht mehr so grundsätzlich so sehr. Das sind, glaube ich, alles Gründe, warum in Deutschland so was nicht so schnell passiert. Ich glaube, die werden sich noch sehr viel gefallen lassen, bevor was passiert.“
Seiner Meinung nach besitzen die Deutschen darüber hinaus nicht die Mentalität dazu, „auf die Straße zu gehen“ und sich für ihre Rechte einzusetzen. Phänomene wie die französischen Studentenproteste gegen die Lockerung des Kündigungsschutzes werde es in Deutschland nicht geben. Dabei ist Dirk durchaus davon überzeugt, dass solcherlei Proteste eine große Einflussstärke besitzen. Selbstwahrnehmung Es wurde bereits erwähnt, dass Dirk im Gegensatz zu den bisher vorgestellten Interviewpartnern, die sich selbst als ‚normal’ betrachten, eine solche Selbstdefinition nicht aufgrund von Leistungsnormen vornimmt. Anders als der Interviewpartner Christoph stilisiert er sich zwar nicht durch die Ablehnung von Leistungsstreben als ‚nicht normal’, er verdeutlicht aber dennoch, dass er persönlich gesellschaftlichen Leistungserwartungen eher abgeneigt gegenübersteht. So gibt er an, es habe teilweise auch freiwillig gewählte Phasen der Erwerbslosigkeit in seinem Leben gegeben, in denen er sehr zufrieden damit war, nicht zu arbeiten. Er berichtet, dass er nach Abschluss seines Studiums „nicht so ein großer Freund war von Arbeit“ und darüber hinaus „nie ein Freund von Geld war“. Er sei nie „ehrgeizig oder geldgeil“ gewesen. Er sagt: „Hat mich nicht groß interessiert. So dass ich da nie eine durchgehende Karriere gemacht habe.“ Obgleich er heute gerne seiner Arbeit nachgeht und spätere Zeiten der Arbeitslosigkeit als belastend empfunden hat, äußert er auch heute noch Unverständnis über eine
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starke Orientierung an finanziellem und materiellem Gewinn sowie beruflichem Erfolgsstreben. Wenngleich sich Dirk also nicht über eine Zustimmung zum gesellschaftlichen Wert der Leistung als ‚normal’ definiert, so gehört er doch zu den Interviewpartnern, die von ihrer eigenen Normalität überzeugt sind. Der Selbstwahrnehmung, so zu sein, wie es für eine ideale Gesellschaft richtig und gut wäre, legt Dirk seine kollektive Identität als Christ zugrunde. So sagt er über die Wertvorstellungen, die mit seiner Identifikation als religiöser Mensch verbunden sind: „Es geht ja darum, was das Leben ist.“ Hiermit verdeutlicht er, als wie zentral er christliche Wertvorstellungen betrachtet. Seine Identifikation mit dem Christentum basiert einerseits darauf, dass er ein Leben, das an traditionellen Familienwerten orientiert ist, befürwortet. Als eine für ihn ideale Lebensweise beschreibt er ein Szenario, innerhalb dessen ein klassisches Familienbild mit einer klassischen Rollenaufteilung eine zentrale Rolle spielt. Dirks Zustimmung zu einem traditionellen, christlichen Familienverständnis als idealer Lebensart beinhaltet überdies, dass er sexuelle Freizügigkeit strikt ablehnt. Nach seiner Auffassung stellt es eine ‚gute und richtige’ Lebensweise – die er selbst praktiziert – dar, in einer stabilen Partnerschaft zu leben und sich an dauerhaften zwischenmenschlichen Bindungen zu orientieren. Darüber hinaus sind für ihn ein respektvoller Umgang mit anderen Menschen und eine Orientierung an Höflichkeitsnormen ein weiteres zentrales Kriterium, über das er seine eigene Lebensart als richtig definiert. Bezug der Kategorien ‚Anerkennung’ und ‚Selbstwahrnehmung’ auf die Kategorie ‚Bewertung von Gruppen’ Dirk erlebt Anerkennungsmängel und Missachtungen in allen drei Dimensionen. Es ist festzustellen, dass er für die meisten dieser Erfahrungen keine Entlastung benötigt, da es sich hierbei nicht um Erlebnisse handelt, die ihn in seiner Selbstsicht, so zu leben, wie es ‚gut und richtig’ ist, und somit in seiner gesellschaftlichen Integration, bedrohen. So berichtet er aus Zeiten der Erwerbslosigkeit von Erlebnissen positionaler Nichtanerkennung und Missachtung, die ihn zwar belasten. Da er seine ‚Normalität’ aber nicht darüber definiert, ein Mensch zu sein, der nach beruflichem und finanziellem Erfolg strebt, können ihn diese Erfahrung nicht in seiner Wahrnehmung, eine gesellschaftlich integrierte Person zu sein, bedrohen. Hiermit steht im Einklang, dass er keine Abwertung schwacher Gruppen aufgrund ökonomischer Kriterien vornimmt. Im Interview auf eine ‚ökonomische Bedrohung’ durch ‚Ausländer’ angesprochen, gibt Dirk zunächst einmal an, ein Mensch sei für ihn ein Mensch und er verurteile niemanden aufgrund seiner Nationalität. Den Satz ‚Wenn in Deutschland die Arbeitsplätze knapp werden, sollten wir die Ausländer nach Hause schicken’ bewertet er als „Schwachsinn“. Erneut verdeutlicht er seine Ablehnung von Leistungsnormen, wenn er anführt, eine solche Denkweise mäße der Arbeit an sich zu viel Bedeutung zu. Man solle besser „mal irgendwelche Ziele im Leben entwickeln, die über das eigentliche Arbeiten und Produzieren und Tun und Machen hinauskommen.“ Die von Dirk wahrgenommen Erlebnisse moralischer Nichtanerkennung vermitteln ihm das Gefühl, durch politisches und wirtschaftliches Handeln nicht gerecht behandelt zu werden. Doch auch diese Erfahrungen berühren ihn nicht in einer Art und Weise, aufgrund derer er ein Ventil benötigte, das eine Entlastung von diesen Erfahrungen ermöglicht. Politische Maßnahmen betrachtet Dirk als zum größten Teil auf ökonomischen Erwägungen basierend. Somit ist die erlebte Ungleichbehandlung für ihn Ausdruck eines Ungleichheitsverständnisses, das auf Kriterien wirtschaftlichen Erfolgs und ökonomischer Leistung aufgebaut ist. Da er also von der Annahme ausgeht, politische Maßnahmen beruhten nicht auf der Wertvorstellung absoluter menschlicher Gleichheit, sondern vielmehr auf dem Wert der Leistungsfähigkeit, fühlt er sich aufgrund der Tatsache, ein nicht an Leistungskriterien orientiertes Leben zu führen, durch
Interviewauswertung
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politische und wirtschaftliche Maßnahmen nicht abgewertet. Entsprechend bedroht ihn auch diese Wahrnehmung nicht in seiner Selbstsicht, eine wünschenswerte Lebensart zu praktizieren und integriert zu sein. Dirk scheint ebenfalls die Erfahrung personaler Nichtanerkennung und Missachtung gut bewältigen zu können. So äußert er sich zwar unzufrieden über den alltäglichen Umgang mit seiner Partnerin und mit seinen Freunden und wünscht sich Veränderungen innerhalb dieser Beziehungen. Allerdings scheint für ihn der Wert langfristiger, stabiler Beziehungen derart zentral, dass die Qualität seiner Beziehungen, durch die ihm wenig emotionaler Rückhalt zuteil wird, zweitrangig ist. Das bedeutet, eine langjährige, stabile Beziehung scheint ihm bedeutsamer als die Erfahrung, innerhalb dieser Beziehung in seiner personalen Identität anerkannt zu werden. So betont er während des Interviews sowohl die Länge der Beziehung zu seiner Partnerin, mit der er mittlerweile seit neun Jahren in einer Partnerschaft lebt, als auch die Länge der Beziehung zu seinen Freunden, die er teilweise seit 30 Jahren kennt. Erfahrungen der Nichtanerkennung, die Dirk belasten, sind solche, die er gegenüber seiner kollektiven Identität als Christ wahrnimmt. Mit dieser Identifikation sind diejenigen Wertvorstellungen verbunden, aufgrund derer er für sich selbst reklamiert, so zu leben, wie es wünschenswert ist. Wie bereits beschrieben, ist Dirk der Ansicht, Personen, die sich als Atheisten bezeichnen, entschieden sich nicht aufgrund einer bewussten Wahl für eine solche Einstellung, sondern diese sei das Resultat einer Manipulation.45 Seinem Verständnis nach ist es somit nicht möglich, dass sich ein mündiger Mensch aufgrund rationaler Erwägungen dafür entscheidet, die christliche Religion als für sein Leben unwichtig zu beurteilen. Menschen, die sich derart wahrnehmen, seien Opfer einer allgemeinen Vorstellung darüber, die christliche Religion sei unmodern. „Und ich bin fest davon überzeugt, dass die Masse der Menschen auch in unserem hoch zivilisierten Deutschland so etwas von manipulierbar sind und auf Ziele, die man haben will, hinführbar sind. Das ist schon ziemlich enorm. Und ich glaube ganz einfach, es hat sich irgendwie ausgebreitet, Atheist zu sein. Beziehungsweise hat sich’s so ausgebreitet, dass es nicht mehr modern ist, Christ zu sein, das ist irgendwie veraltet. Christ zu sein ist veraltet.“
Ein solches Unverständnis gegenüber einer anderen Denkweise als der eigenen lässt vermuten, dass sich Dirk durch die atheistische Einstellung seiner Mitbürger in seiner Auffassung, selbst ‚normal’ zu sein, bedroht fühlt. Anders als der Interviewpartner Christoph, der sich in seiner kollektiven Identität als Gothic-Anhänger anerkannt fühlt, da es für ihn ausreichend ist, dass die übrigen Mitglieder seiner Subkultur die für ihn wichtigen und verbindlichen Wertvorstellungen der Szene einhalten, ist es Dirks Wunsch, dass christliche Wertvorstellungen als gesamtgesellschaftlich verbindlich betrachtet werden. Das bedeutet, für Dirk ist es nicht ausreichend, sich durch die Zustimmung anderer aktiv praktizierender Christen zu christlichen Wertvorstellungen anerkannt zu fühlen, sondern er strebt nach einer gesamtgesellschaftlichen Verbindlichkeit dieser Werte. Dirk versucht, sich durch die mit seiner kollektiven Identität verbunden Wertvorstellungen als ‚normal’ zu definieren, während Christoph sich hierüber als ‚nicht normal’ stilisiert. Entsprechend stellt die Nichtanerkennung der Bevölkerungsmehrheit für Dirk eine Bedrohung seiner eigenen Normalität und somit seiner Integration dar. Er sucht nach Gruppen, die – im Gegensatz zu ihm – tatsächlich ‚nicht normal’ sind, und versucht durch deren Abwertung, den Wert der christlichen Lebensweise und somit seine eigene Normalität zu verdeutlichen. Diese 45
Dirk erläutert allerdings nicht, durch wen diese Manipulation vorgenommen wird.
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Abwertung richtet sich zunächst einmal gegen Atheisten, die er als primäre Quelle einer verweigerten Anerkennung betrachtet. Er wertet diese Gruppe ab, indem er ihre Angehörigen als unreflektierte Personen, die lediglich wirtschaftlichen Zielen nacheifern, abqualifiziert. Als weitere Gruppe, die seiner Meinung nach – im Gegensatz zu ihm – als eindeutig ‚nicht normal’ zu betrachten ist, kennzeichnet er „die Homosexuellen“. Homosexualität sei eine Sache, die ihm „zu weit“ gehe. Dass es sich bei Homosexuellen um ‚nicht normale’ Menschen handle, verdeutlicht er dadurch, dass er aussagt, sie seien eine Randgruppe, bei der „nichts Mainstream ist“. Die Anormalität von Homosexualität hebt er des Weiteren dadurch hervor, dass er diese als – nicht angeborene, sondern angeeignete – Perversion, die mit Promiskuität einhergeht, bezeichnet. Auch Promiskuität ist für ihn ein ‚nicht normales’ Verhalten, von dem er sich abgrenzt und seine eigene Normalität verteidigt, wenn er darüber hinaus ebenfalls „die Jugendlichen von heute“ abwertet, weil sie häufig den Geschlechtspartner wechselten. „Ich finde es beispielsweise pervers, dass da in irgendwelchen Nachmittagsshows, die ich auch mal gesehen habe, als ich noch arbeitslos war, da irgendwelche Jugendliche mit 18, 19 Jahren sich brüsten damit, mit 122 Frauen geschlafen zu haben. Das ist doch nicht normal. Im Normalfall wären das 122 Kinder.“
Dass diese Abwertung von Promiskuität und Homosexualität eine Bekräftigung seiner Selbstsicht, als Christ ‚normal’ zu sein, bedeutet, wird deutlich, wenn er von einem Bekannten erzählt, der nach christlichen Wertvorstellungen lebt und aus diesem Grund vorehelichen Geschlechtsverkehr ablehnt. Er kritisiert, diesem Freund werde aufgrund seiner Lebensart Unverständnis entgegengebracht, und führt an: „Da halten die den alle für bekloppt. (…) Als wenn der jetzt pervers wäre. Nicht die Homosexuellen, er wäre jetzt pervers.“ Diese Aussage spiegelt somit deutlich wider, dass Dirk der Nichtanerkennung der von ihm als richtig erachteten Lebensart völlig verständnislos gegenübersteht, wenn er zur Verdeutlichung, dass es sich bei dieser Lebensweise um die eigentlich richtige handele, die seiner Meinung nach tatsächlich ‚anormale’ Gruppe der Homosexuellen anführt. Nachdem Dirk sich zunächst nicht abwertend gegenüber der Gruppe ‚der Ausländer’ geäußert hatte, fällt ihm nun auch eine Untergruppe von ‚Ausländern’ ein, bei denen es sich wie bei ‚den Homosexuellen’ um Menschen handele, die ein ‚nicht normales’ Verhalten zeigten. Hier nennt er die Gruppe der ‚türkischen Jugendlichen’, die er, anders als sich selbst, als nicht an die gesellschaftlichen Wertvorstellungen von ‚Ruhe und Ordnung’ angepasst ansieht. So kritisiert er, diese Jugendlichen „spucken wie Sau“, „kiffen“ und hätten keinerlei Respekt. Bis hierher wurden die Aussagen von Personen dargestellt, die Nichtanerkennung und Missachtung in allen drei Dimensionen erleben und sich ausschließlich hinsichtlich ihrer Selbstsicht, ‚normal’ bzw. nicht ‚normal’ zu sein, unterscheiden. Somit habe ich mich noch nicht mit dem Postulat der Desintegrationstheorie auseinandergesetzt, das Erleben emotionaler Anerkennung beeinflusse den Zusammenhang zwischen der Negation von Anerkennung und der Ausbildung feindseliger Mentalitäten. Dies wird im Folgenden geschehen, indem die Interviews dreier Personen analysiert werden, die positional und moralisch negative Anerkennungsbilanzen ziehen, sich jedoch auf emotionaler Ebene anerkannt fühlen. Von diesen Interviewpartnern definiert eine Person sich als Mensch, der so lebt, wie es gesellschaftlich wünschenswert ist, wohingegen die beiden anderen kein derartiges Selbstbild besitzen.
Interviewauswertung 5.2.2.3
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Negative positionale und moralische Anerkennungsbilanzen – Starke Orientierung an gesellschaftlichen Werten
Daniela Daniela ist 28 Jahre alt, verfügt über einen Hauptschulabschluss und hat sowohl eine Ausbildung zur Floristin als auch zur Repro-Medienassistentin absolviert. Zurzeit ist sie arbeitslos, plant aber, sich gemeinsam mit ihrer Mutter in der Bekleidungsindustrie selbstständig zu machen. Geboren wurde Daniela in der ehemaligen DDR, lebt aber seit der Wiedervereinigung in Westdeutschland. Sie hat einen sechsjährigen Sohn und einen Partner, der nicht der Vater des Sohnes ist. Daniela erlebt sowohl positionale als auch moralische Anerkennungsmängel, auf sozioemotionaler Ebene fühlt sie sich jedoch anerkannt. Emotionale Anerkennung Während Daniela aktuell ein Netzwerk von Personen, die ihr emotionalen Rückhalt sichern, aufgebaut hat, berichtet sie demgegenüber von Erfahrungen emotionaler Nichtanerkennung und Missachtung, mit denen sie in der Vergangenheit umzugehen hatte. Sie beschreibt, vor einigen Jahren in einen aus fünfzehn Personen bestehenden Freundeskreis eingebunden gewesen zu sein. Dieser habe sich durch die Geburt ihres Sohnes stark verkleinert, was für Daniela mit der Erfahrung sowohl von Anerkennungsdefiziten als auch von aktiver Missachtung verbunden war. Daniela berichtet, aufgrund der Verantwortung, die sie mit der Geburt ihres Sohnes zu übernehmen hatte, sei sie für den größten Teil ihres Bekanntenkreises als Freundin nicht mehr interessant gewesen. Sie beschreibt einerseits einen Verlust von emotionaler Anerkennung, der sich dadurch ergab, dass viele ihrer Freunde den Kontakt zu ihr abbrachen. Sie berichtet darüber hinaus von Missachtungserfahrungen, die aus den Bemerkungen von Freunden resultierten, sie sei langweilig und spießig geworden bzw. wie „eine alte Schachtel“. Neben solchen emotionalen Missachtungen von Freunden, die sich aufgrund ihrer neuen Rolle als Mutter ergaben, berichtet Daniela des Weiteren über missachtende Verhaltensweisen dieser ehemaligen Freunde, die sich aus einem Unverständnis gegenüber ihrer Situation als nicht Erwerbstätiger ergaben. Sie beschreibt, dass diese Personen ihr nicht nur keinen sozialen Rückhalt boten, den sie sich in dieser Phase der beginnenden Arbeitslosigkeit gewünscht hätte. Darüber hinaus wurde ihr vermittelt, sie solle sich über den Status als Erwerbslose freuen, da sie nun ihren Alltag frei gestalten und entsprechend ihren Wünschen verbringen könne. Daniela gibt an, durch diese Erlebnisse verletzt gewesen zu sein: „Tat dann auch schon irgendwo ein bisschen weh, weil man war vorher doch ein Team und eine Clique, und dass man dann so urplötzlich, dass man dann so fallengelassen wird und man im Prinzip nichts mehr wert ist, solange wie man nicht irgendwo mitzieht und irgendwo durch irgendwelche Diskotheken zieht oder irgendwo mit in die Stadt geht. ‚Ho, jetzt gehen wir mal einkaufen.’ Dann ist man urplötzlich dann halt nicht mehr aktuell. Man ist out sozusagen, weil man macht nicht mehr das Neueste vom Neuesten mit und man trägt nicht mehr das Neueste vom Neuesten, man ist halt out.“
Danielas Ausführungen, sie habe sich „out“ bzw. „nicht mehr aktuell“ gefühlt, spiegeln somit ihr damaliges Gefühl, aus einem Bekanntenkreis ausgeschlossen zu werden, also nicht mehr integriert zu sein, wider. Gleichzeitig führt sie aber an, dass vier Personen, die von dem ursprünglich fünfzehn Personen umfassenden Freundeskreis übrig geblieben sind, für sie „TopFreunde“ seien. Sie gibt an, diese Freunde in jeder Notsituation aufsuchen zu können, um sich Hilfestellungen einzuholen. Diese Freunde beschreibt sie als sehr unterstützend und führt als
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Beispiel dafür an, diese Personen hätten ihr immer wieder bei der Suche nach einer neuen Arbeitsstelle geholfen. Sie ist mit diesen Beziehungen ausgesprochen zufrieden und wünscht sich keinerlei Veränderungen. Selbiges trifft auf die Beziehung zu ihrem Partner zu. Sie berichtet, ihr Partner sei Quelle ihres Selbstwerts, und glaubt, dass sie ohne den Partner bereits „am Boden“ sei. So antwortet sie auf die Frage, ob ihr Partner sie unterstütze: „Ja. Ja, also der steht hinter mir. Weil das Selbstbewusstsein sinkt ja auch. Man hat ja überhaupt kein Selbstbewusstsein, man denkt irgendwo, ja, ich bin blöd und mich will keiner mehr, alle anderen sind schlauer, und dann ist es schon wichtig, dass die Familie hinter einem steht und sagt: ‚Horch, du hast die und die Situation, es ist im Moment blöd, aber wir sehen zu, dass du da wieder rauskommst. Wir unterstützen dich und und und.’ Und genauso ist es auch bei meinem Partner, der unterstützt mich genauso und hilft mir auch, wo er kann, und er sagt: ‚Es ist halt schwierig im Moment, es ist keine einfache Situation, aber das schaffen wir.’“
Daniela wird also sowohl von ihrem Partner als auch von ihrer Familie – sie nennt hier ihren Bruder und ihre Eltern – emotional wie auch praktisch unterstützt und erlebt hierdurch ein großes Ausmaß an sozialem Rückhalt. Daniela zieht einen sehr großen Teil ihrer emotionalen Anerkennung aus dem Zusammenhalt ihrer Familie. Hier fühlt sie sich eingebunden und zugehörig. Sie spricht teilweise fast überschwänglich über das Verhältnis zu ihren Familienangehörigen und betont, es gebe nichts, was sich an der Beziehung zu ihrer Familie verändern sollte. Positionale Anerkennung Während Daniela somit auf ein ausreichendes Maß an emotionaler Anerkennung zurückgreifen kann, fühlt sie sich bezogen auf die positionale Dimension nicht anerkannt bzw. missachtet. Auf einer individuell positionalen Ebene erlebt Daniela keine aktive Missachtung, sie erfährt aber ebenfalls keinerlei Anerkennung für ihre persönlichen Fähigkeiten und Leistungen. Dies bringt sie allerdings nicht direkt mit ihren tatsächlichen Leistungen oder Fähigkeiten in Verbindung, sondern verknüpft diese Erfahrung mit ihren Erlebnissen, wenig kollektive positionale Anerkennung zu erhalten. Das bedeutet, Daniela führt das Nichtwahrnehmen dessen, was sie leistet, darauf zurück, dass mit ihren sozialen Positionen als Arbeitslose und als Mutter generell wenig Anerkennung verknüpft ist. So begründet sie die Tatsache, keine individuelle Anerkennung zu erleben, damit, dass die Leistungen, die eine Frau in ihrer Rolle als Mutter erbringt, grundsätzlich wenig gesellschaftliches Ansehen besäßen und aus diesem Grund niemand ihren individuellen Einsatz zu schätzen wisse. Es zeigt sich somit, dass sich Daniela die Anerkennung, die ihr aufgrund ihrer Position als Arbeitslose verwehrt bleibt, auch nicht über ihre Mutterrolle erschließen kann. Eine Nichtanerkennung ihrer Fähigkeiten nimmt Daniela darüber hinaus im Umgang mit den Sachbearbeitern des Arbeitsamtes wahr. Sie bemängelt, die Sachbearbeiter nähmen keine Rücksicht auf sie als Person, sondern sähen sie ausschließlich als Nummer. So fühlt sie sich in den Leistungen, die sie erbringt, um eine Arbeitsstelle zu finden, von Angestellten des Arbeitsamtes und durch die langwierigen bürokratischen Prozesse der Behörde ignoriert. „Wenn man mit denen zusammenarbeitet, und man hat alle Unterlagen zusammen, und man geht wirklich hin und bringt alles wirklich zum Termin mit, und die müssen nicht Ewigkeiten drauf warten, da müsste das doch eigentlich wirklich durchlaufen. Aber das tut es nicht. Dann heißt es: ‚Kommen Sie dann mal wieder.’ Dann heißt es: ‚Ach nee, das können wir jetzt nicht sagen.’“
Der Eindruck, in ihren individuellen Fähigkeiten ignoriert zu werden, wird darüber hinaus dadurch verstärkt, dass Daniela an Weiterbildungsangeboten teilnehmen muss, an denen sie wenig Interesse hat, damit sie – wie sie vermutet – nicht in der Arbeitslosenstatistik auftauche.
Interviewauswertung
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Basierend auf derartigen Erfahrungen ergibt sich bei Daniela das Gefühl, nicht als Individuum mit eigenen Fähigkeiten und Leistungspotenzialen wahrgenommen zu werden. Die Erlebnisse individueller Nichtanerkennung sieht sie als eng mit Nichtanerkennung und Missachtung aufgrund kollektiver Merkmale verbunden. Sie führt beispielsweise die Ignoranz der Angestellten der Arbeitsagentur gegenüber ihren Fähigkeiten unter anderem auf die Tatsache zurück, dass sie über einen Hauptschulabschluss verfügt. Ihrer Ansicht nach kennzeichne dieser Schulabschluss eine Arbeit suchende Person bereits derart negativ, dass die Angestellten des Arbeitsamtes die betroffene Person nicht weiter beachteten und sich nicht mit deren anderen Fähigkeiten und Qualifikationen auseinandersetzten. Eine von ihr empfundene öffentliche Wahrnehmung des Hauptschulabschlusses beschreibt sie wie folgt: „Das ist so die Hauptschule halt jetzt. Also zu meiner Zeit, in dem… Moment, also vor 10 Jahren halt noch nicht, da ging es noch, da war die auch schon verrufen, aber jetzt, das wird ja immer schlimmer. Das sieht man ja auch in den Medien, das wird wirklich immer schlimmer. Ein Hauptschulabschluss, das ist das Allerletzte quasi, unterstes Niveau sozusagen.“
Des Weiteren berichtet Daniela von einem respektlosen Verhalten der Sachbearbeiter im Umgang mit Hilfe suchenden Personen generell. Dies führt sie darauf zurück, dass die betreffenden Sachbearbeiter einerseits aufgrund einer angespannten Personalsituation und der daraus resultierenden Überforderung „genervt“ seien. Neben dieser Attribution des „genervt Seins“ auf eine Unterbesetzung des Arbeitsamtes führt sie es darüber hinaus auf das Verhalten von „Ausländern“ gegenüber den Sachbearbeitern zurück. Sie beschreibt eine Situation, in der ein „Ausländer“ ein Gespräch zwischen ihr und einem Sachbearbeiter mehrfach gestört habe und auch durch weiteres unangepasstes Verhalten negativ aufgefallen sei. Neben missachtenden Erfahrungen durch die Mitarbeiter des Arbeitsamtes beschreibt Daniela ebenfalls Reaktionen von Bekannten, die sie als beleidigend empfunden hat. „Ja und die, die voll von Anfang an berufstätig waren und integriert waren und nie irgendwie so was mal hatten, die verstehen solche Situationen auch nicht. Die sagen: ‚Ach, so was gibt es nicht.’ Es heißt ja immer: ‚Wer Arbeit sucht, der findet, oder wer arbeiten will, der kriegt auch welche, egal, was es ist.’“
Hier ist somit eine Abwertung von Daniela in ihrer Rolle als Arbeitslose mit einer Abwertung ihrer persönlichen Fähigkeiten bzw. Eigenschaften verbunden, da ihr durch die Aussage, wer eine Arbeitstelle wolle, erhalte auch Arbeit, vermittelt wird, ihre Fähigkeiten seien nicht ausreichend, um eine Arbeitsstelle zu finden bzw. sie sei zu anspruchsvoll, was ihre Wünsche an eine Tätigkeit angeht. Diese Abwertung durch ihre Bekannten basiert auf einem generellen gesellschaftlichen Bild über Arbeitslose, das Daniela ebenfalls als missachtend empfindet. So werden ihrer Wahrnehmung nach Arbeitslose meist als „Sozialschmarotzer“ und „Abschaum“ betrachtet, bzw. als „faule Socke“, die „keinen Bock“ hat, zu arbeiten. Ein Gefühl, das sich aus derlei positionalen Anerkennungsmängeln und Missachtungen ergibt, beschreibt Daniela als Demütigung. Sie ist sehr unzufrieden mit der Situation, wie sie zurzeit besteht, und wünscht sich, sie zu verändern. Moralische Anerkennung Auch bezogen auf das Erleben moralischer Anerkennung äußert Daniela sich unzufrieden. So betont sie, jegliche politischen Entscheidungen, die getroffen werden, seien zu ihrem Nachteil. Dies sieht sie einerseits dadurch begründet, dass die Träger gesellschaftlicher Entscheidungen keine Ahnung vom Leben der Durchschnittsbürger besäßen. Diese Unwissenheit führe zu gesellschaftlichen und politischen Maßnahmen, die Danielas Ansicht nach die Ausbildung einer
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Zweiklassengesellschaft nach sich ziehen. Als Endszenario dieses Prozesses beschreibt sie eine Gesellschaft, innerhalb derer keine gesellschaftliche Mitte mehr existiert und die Bürger in eine Gruppe der Benachteiligten, die in „Slums“ wohnt, und eine Gruppe von bevorzugten Bürgern, „die Reichen“, unterteilt sind. Zu diesen „Reichen“ zählten dann die Personen, die auch bereits heute von politischen Maßnahmen profitieren. Als Gruppen von Menschen, auf die dies zutrifft, nennt Daniela Angehörige zweier Institutionen. Die erste Personengruppe, die durch gesellschaftliche Entscheidungen bevorzugt wird, sind Danielas Ansicht nach die Politiker selbst. Sie führt somit die für sie nachteiligen Maßnahmen nicht nur auf die bereits erwähnte Unwissenheit von Politikern zurück, sondern ebenfalls auf eine Eigenbevorzugung dieser Politiker. So betrachtet sie politische Maßnahmen als ein „in die eigene Tasche Wirtschaften“ der Politiker. Andererseits nennt sie „die Wirtschaft“ als Institution, deren Angehörige durch die Beeinflussung gesellschaftlicher Prozesse sich selbst besser stellen als den Durchschnittsbürger. Das bedeutet, Daniela empfindet das Verhalten der „Reichen“ gegenüber den Benachteiligten als ungerecht und unsolidarisch, wenngleich sie selbst diese Worte nicht verwendet. Sie spricht davon, dass den Maßnahmen „das Menschliche“ fehle, dass also politische und gesellschaftliche Entscheidungen nicht mehr zugunsten der Menschen getroffen werden, sondern ausschließlich auf Basis von Vorteilsdenken der Einflussreichen. Als Gegenbeispiel für einen Staat, durch den die Bürger sich ihrer Ansicht nach anerkannt fühlen konnten, nennt sie die ehemalige DDR. Als an dem Staat vorbildlich empfindet sie, dass dieser dafür Sorge getragen habe, dass jede Mutter für ihr Kind einen Krippenplatz erhielt und darüber hinaus nach der Geburt eines Kindes wieder problemlos in den Arbeitsmarkt integriert wurde. Die Möglichkeit, selbst für die eigenen gesellschaftlichen Anliegen einzutreten, nimmt Daniela als sehr eingeschränkt wahr. Als Maßnahmen, durch die es realisierbar wäre, sich politisch zu engagieren, nennt sie einerseits die Gründung einer eigenen Partei – als hypothetische Vorstellung, die sie sofort wieder verwirft – und andererseits die Organisation massiver kollektiver Proteste. Hier nennt sie als Vorbild Proteste französischer Studenten gegen eine Lockerung des Kündigungsschutzes für Berufsanfänger im Frühjahr 2006. Ihre Beschreibungen deuten hierbei allerdings darauf hin, dass sie diese Proteste mit kurz vorher stattgefundenen Krawallen benachteiligter Jugendlicher desintegrierter französischer Vorstädte vermischt, die mit massivem Gewalthandeln einhergingen. Dies kann aufgrund ihrer Beschreibung von Szenarien geschlossen werden, die sie für wünschenswert für die deutsche Gesellschaft hält. Hierbei regt sie zu massiven Gewalthandlungen an, um auf Missstände innerhalb der deutschen Gesellschaft aufmerksam zu machen. „Die [Politiker] haben uns im Griff, die können also mit uns machen, was sie wollen. Normalerweise wirklich komplett alle auf die Straße, drei Tage lang nicht tanken, drei Tage lang nicht arbeiten, egal wo es ist, also wirklich komplett alles weglassen. Und dann so, dass sie zittern, dass sie wirklich anfangen zu zittern, die lachen doch über uns. Mit den Deutschen können wir es machen. … Die würden nicht nur zuhören, sondern die würden in dem Moment wirklich, das muss so weit gehen, dass die Angst kriegen. Die haben ja Angst, dass diese Ausschreitungen wie in Frankreich hier mit den ganzen Studenten, die da waren und die ganzen Bürger, wo die ganzen Krawalle waren und so. Das haben die Politiker öffentlich in den Medien noch gesagt, dass, wo dann hier Nachahmer waren hier im Osten, Potsdam war das glaube ich, oder. … Irgendwie waren da Nachahmer, die haben das dann auch nachgemacht und haben Autos angezündet und so weiter, und dann haben die das doch noch ganz groß im Fernsehen gesagt: ‚Hoffentlich passiert das nicht hier, und die probieren das, dass solche Krawalle und Ausschreitungen hier nicht passieren.’ Die haben Angst, dass so was auch hier passieren könnte, und ich sage ganz ehrlich, ich gebe denen jetzt vielleicht noch drei oder vier Jahre, und wenn das so weitergeht, das kann bis hin gehen zum Bürgerkrieg. Dass die Leute wirklich nachher komplett auf die Straße gehen. In der ehemaligen [DDR] hat es funktioniert. Die sind auf die Straße gegangen, die haben demonstriert und die haben sich durchgesetzt.“
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Daniela ist somit der Ansicht, um auf gesellschaftliche Missstände aufmerksam zu machen und eine Veränderung dieser herbeizuführen, sei es notwendig, derart massiv vorzugehen, dass gesellschaftliche Entscheidungsträger aus Angst vor den Bürgern Maßnahmen initiieren, die für diese vorteilhaft sind. Sie wünscht sich nichtsdestotrotz, in ihrem Recht auf Mitbestimmung ebenfalls wahrgenommen zu werden, ohne zu derartig massiven Handlungsweisen greifen zu müssen. Als ideales Szenario schildert sie folgendes: „Ich muss ganz ehrlich sagen, es müsste Möglichkeiten geben, wo wirklich normale Bürger ein Mitspracherecht haben, komplett und mit eintreten und komplett mit drinne sind und mit Entscheidungen treffen dürfen. So was zum Beispiel, das würde uns schon wieder ein Stückchen weiterbringen. (…) Denn die [normalen Bürger] haben die Alltagserfahrungen, was ein Politiker nicht hat.“
Es ist somit deutlich zu erkennen, dass Daniela nicht nur bezogen auf die positionale Anerkennungsdimension von Defiziten und Missachtungen betroffen ist, sondern sich ebenfalls hinsichtlich der moralischen Dimension nicht anerkannt fühlt. Selbstwahrnehmung Daniela betont weniger offensichtlich als die Interviewpartnerin Annette, bezüglich verschiedener Wertvorstellungen so zu leben, wie es ihrer Ansicht nach richtig und wünschenswert ist. Es ist dennoch aus ihren Aussagen erkennbar, dass sie diverse Verhaltensweisen praktiziert und Wertvorstellungen zustimmt, die sie als maßgeblich für eine ideale Gesellschaft betrachtet. Als besonders bedeutsam scheint für Daniela in dieser Hinsicht ein an Leistungskriterien orientiertes Leben zu sein. Sie betont wiederholt, dass sie nicht aufgrund einer Unwilligkeit, zu arbeiten, erwerbslos sei bzw. ihr Leben als Erwerbslose genieße, sondern dass sie immer bemüht war und ist, eine Arbeitsstelle zu finden. In diesem Zusammenhang erwähnt sie ebenfalls, dass „jeder normale Mensch“ den Wunsch verspüre, „seinen Berufsweg einzuschlagen“. Nach ihren Wertvorstellungen ist es richtig und wünschenswert, kämpferisch und ehrgeizig zu sein, und in eben dieser Weise beschreibt sie sich selbst. So hebt sie mehrfach hervor, andere Personen ertrügen im Gegensatz zu ihr Phasen der Erwerbslosigkeit nicht, was sich darin zeige, dass ein großer Teil der Arbeitslosen drogen- oder alkoholabhängig sei. Sie gibt an, Verständnis dafür zu besitzen, dass Menschen, die nicht über den Ehrgeiz, den sie selbst besitzt, verfügen, sich irgendwann „hängen lassen“. Sie selbst resigniere aber nicht und schaffe es immer wieder, sich aus diesem „Kreislauf“ herauszuziehen. Sie hebt hervor, sie habe beispielsweise sogar Arbeitsstellen als Putzkraft angenommen, um in die Gesellschaft integriert – ein Ausdruck, den sie selbst verwendet – und keine Außenseiterin zu sein. Ihren Arbeitseifer hebt sie darüber hinaus durch ihren Fleiß bezogen auf die Hausarbeit hervor. Sie beschreibt: „Das war immer alles geleckt sozusagen, das war immer alles astrein sauber.“ Des Weiteren betont sie ihre Fähigkeiten, indem sie anführt, würden sozial bevorzugte Personen, wie z.B. Politiker, darauf angewiesen sein, ihr Leben zu leben, wären diese dazu nicht in der Lage. Auch bezogen auf eine intellektuelle Sphäre ist Leistung für Daniela ein wichtiges und erstrebenswertes Kriterium. Sie stellt sich als einen an Bildung und gesellschaftlichen wie politischen Zusammenhängen interessierten Menschen dar und grenzt sich von anderen Personen ab, auf die dies nicht zutrifft. So kritisiert sie, es gäbe beispielsweise viele Personen, die sich nicht für Politik oder gesellschaftliche Zusammenhänge interessierten und nicht einmal sagen könnten, welche politischen Parteien derzeit regieren. Sie schlägt vor, einem solchen Bildungsverfall mit strengeren Regeln und mehr Disziplin durch das Schulsystem zu begegnen. Als Vorbilder nennt sie Gesellschaften wie China oder Japan, in denen in der Schulbildung mehr
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Wert auf die Leistung von Schülern gelegt werde. In Rahmen dieser Ausführungen Danielas wird ebenfalls deutlich, dass sie auch eine starke Angepasstheit an soziale Höflichkeitsnormen – die sie ebenfalls als durch das japanische und chinesische Schulsystem vermittelt betrachtet – als gesellschaftlich wünschenswertes Verhalten definiert. Wie bereits die Interviewpartnerin Annette, die in diesem Zusammenhang von einer „guten Erziehung“ spricht, definiert sich auch Daniela sowohl über die Selbstwahrnehmung, leistungsstark zu sein, also auch über die Wahrnehmung an Benimmregeln angepasst, als Menschen, der so lebt, wie es für eine ideale Gesellschaft richtig wäre. Zwar macht Daniela keine direkten Aussagen darüber, dass sie sich selbst als einen Menschen betrachtet, der stark an Höflichkeitsnormen orientiert handelt. Die Vehemenz, mit der sie allerdings eine Nichteinhaltung solcher Normen kritisiert, lässt darauf schließen, dass sie sich selbst als danach lebend wahrnimmt. Bezug der Kategorien ‚Anerkennung’ und ‚Selbstwahrnehmung’ auf die Kategorie ‚Bewertung von Gruppen’ Es scheint, als bedrohte insbesondere die von Daniela wahrgenommene positionale Nichtanerkennung und Missachtung ihre Selbstsicht, aufgrund der Anpassung an Leistungsaspekten ein gesellschaftlich wünschenswertes Leben zu führen. Während eine solche Bedrohung im Fallbeispiel der Interviewpartnerin Annette dadurch sichtbar wird, dass diese immer wieder hervorhebt, dass sie doch ‚normal’ sei, findet sich bei der Interviewpartnerin Daniela keine solche direkte Betonung der Selbstwahrnehmung als ‚normal’. Hier zeigt sich die Bedrohung dieser Selbstsicht primär dadurch, dass Daniela nach Rechtfertigungen sucht, die das Erleben von Nichtanerkennung und Missachtung derart erklären, dass sie mit ihrer Selbstsicht als an Leistungsnormen orientiert vereinbar sind. Dies geschieht, indem sie den Personen, die durch ihr Verhalten Danielas Selbstwahrnehmung als leistungsstarke und –fähige Person infrage stellen, Unkenntnis und Unverständnis gegenüber ihren Handlungen und Entscheidungen unterstellt. So erklärt sie beispielsweise die früheren Erfahrungen der Nichtanerkennung ihrer Leistungen als Hausfrau und Mutter durch ihren damaligen Bekanntenkreis mit der Aussage, die Bekannten hätten nicht verstanden, dass es wichtig sei, eine Familie zu gründen und Verantwortung zu übernehmen, und dass dies ein großes Ausmaß an Arbeit mit sich bringe. Bedeutsamer als diese Nichtanerkennung ihrer häuslichen Arbeiten sind aber für Daniela Erfahrungen der Missachtung, die sich aus ihrer Position als Erwerbslose ergeben. Hier versucht sie, ihre Selbstsicht als leistungsstark nicht durch eine Abwertung der Personen, die die Missachtungserfahrungen auslösen, zu schützen, sondern dadurch, dass sie versucht, ihre Position als Erwerbslose zu rechtfertigen. Während des Interviews führt sie mehrere Erklärungen dafür an, arbeitslos zu sein, die hervorheben sollen, dass sie keine Mitschuld an dieser Situation trägt. So gibt sie zu Beginn des Gesprächs an, es sei schwierig für sie, eine Arbeitsstelle zu finden, da sie seit einem Bandscheibenvorfall gesundheitlich eingeschränkt sei und aus diesem Grund nur bestimmte berufliche Tätigkeiten annehmen könne. Darüber hinaus gibt sie an, auch als allein erziehende Mutter46 eines ebenfalls kranken Kindes – ihr Sohn leidet unter einer Nierenerkrankung und Asthma – nur schwer eine Arbeitsstelle finden zu können. Sie betont, ein Mensch zu sein, der arbeiten möchte, bemängelt aber, die Sachbearbeiter der Arbeitsagentur verstünden nicht, dass die Arbeitsangebote, die sie ihr unterbreiteten, mit dieser Situation nicht vereinbar seien. Das bedeutet, um sich trotz ihrer Arbeitslosigkeit weiterhin als leistungsstarke Person wahrnehmen zu können, führt Daniela das Weiterbestehen der Erwerbslosigkeit auf eine Ignoranz gegenüber ihrer speziellen Situation zurück. So hebt sie hervor, niemand sei 46 Daniela betrachtet sich selbst als allein erziehend, da ihr Partner nicht der Vater des Kindes ist.
Interviewauswertung
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bereit, Verständnis für ihre Lage zu zeigen. Auch Absagen ihrer Bewerbungen führt sie darauf zurück, dass die Vertreter der angeschriebenen Unternehmen kein Verständnis für ihre besondere Situation aufbrächten. Bezogen auf die Absagen ihrer Bewerbungen führt sie aus: „Und da habe ich dann irgendwann, sage ich auch ganz ehrlich, die Lust verloren gehabt, weil immer wieder Absagen, immer wieder, egal wie man es versucht hat, keiner hat irgendwo richtig verstanden, warum auch die Situation mit meinem Sohn halt, dadurch, dass der halt auch so krank ist.“
Zunächst scheint die Annahme nahe liegend, derlei Aussagen, die Daniela als Rechtfertigung für ihre Position als Erwerbslose anführt, böten ihr die Möglichkeit, die durch Nichtanerkennung und Missachtung erlebten Belastungen zu relativieren. Es wird jedoch deutlich, dass Danielas Vermutung, die Mitarbeiter der Arbeitsagentur verstünden ihre Situation nicht und hielten sie aus diesem Grund möglicherweise für eine Person, die nicht arbeiten möchte, für Daniela eine Dissonanz zwischen ihrer Selbstwahrnehmung als leistungsbereite Person und der von ihr angenommenen Fremdwahrnehmung durch die Angestellten des Arbeitsamtes bedeutet. Um sich von diesem nicht wünschenswerten Bild abzugrenzen, verweist sie auf Personen, die im Gegensatz zu ihr tatsächlich kein Interesse daran aufbrächten, eine Arbeitsstelle zu finden. Als Bevölkerungsgruppe, auf die dies zutreffe, identifiziert sie „die Ausländer“. Bezogen auf die Motivation der „Ausländer“, eine Arbeitsstelle anzunehmen, sagt sie: „Also da ist es klar, die wollen nicht.“ Sie hebt hervor, dass hier besonders die Gruppe derer, die neben der Unwilligkeit zu arbeiten ebenfalls aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse eine Unfähigkeit zu arbeiten mitbrächten, ein gesellschaftliches Problem darstelle. Durch das Anführen einer klar definierten Gruppe, die Danielas Ansicht nach somit unfähig und nicht willens ist, einer Arbeitstätigkeit nachzugehen, und durch ihre eigene Abgrenzung zu dieser Gruppe ist es Daniela möglich, sich in ihrer eigenen Leistungsbereitschaft, als Person, die arbeiten möchte, zu bestätigen bzw. ihre eigene Leistungswilligkeit – und somit Integration – gegenüber dieser Gruppe zu verdeutlichen. Die von Daniela wahrgenommene Arbeitsunfähigkeit der ausländischen Mitbürger ist überdies bedeutsam, da Daniela, die beklagt, selbst als „Schmarotzer“, der dem Steuerzahler „auf der Tasche liegt“, bezeichnet zu werden, gerade diese ausländischen Bürger als Gruppe derer betrachtet, die tatsächlich dem Steuerzahler „auf der Tasche liegen“. Dies wird deutlich, wenn sie fordert: „Aber ich muss ganz ehrlich ein bisschen in die Richtung, dass man wirklich sagt, die, die wirklich kein Deutsch können und wirklich nur hier sind und im Prinzip wieder dem Steuerzahler zur Last fallen im Prinzip, dass da irgendwo ein Punkt gemacht wird.“
Bezogen auf die Auseinandersetzung mit Danielas Abwertung von „Ausländern“ ist aber nicht nur die Tatsache bedeutsam, dass sie „Ausländer“ als Personengruppe anführt, deren Angehörige im Gegensatz zu ihr selbst nicht ‚normal’ sind, da diese Personen nicht leistungsbereit und –fähig seien und somit die eigentliche Last für den Steuerzahler darstellten. Darüber hinaus attribuiert Daniela Nichtanerkennung und Missachtungen, die sie während ihrer Besuche bei der Arbeitsagentur erlebt, auf die Gruppe der „Ausländer“. Wie bereits beschrieben, führt Daniela die Erfahrung der Nichtanerkennung und Missachtung durch die Mitarbeiter der Arbeitsagentur teilweise darauf zurück, dass diese Mitarbeiter oftmals „genervt“ seien. Dieses „genervt Sein“ entschuldigt sie sodann dadurch, dass die auf dem Arbeitsamt anzutreffenden „Ausländer“ sich gegenüber den Sachbearbeitern respektlos verhielten. Sie schildert folgende Situation:
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Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs „Die [Ausländer] werden dann auch richtig frech. Also ich habe selber so eine Situation auch miterlebt. Also, dass eine Frau [eine Sachbearbeiterin der Arbeitsagentur] wirklich völlig überfordert war. Ich saß im Gespräch mit ihr und da kam, ich weiß nicht, was es für einer war, ob es jetzt ein Türke oder Kurde war, jedenfalls ein Südländer, der kam da laufend immer rein und unterbrach immer unser Gespräch, und der wurde auch richtig so laut und schmiss mit Sachen durch die Gegend. Also die werden da richtig unfair. Und dass die dann nachher gestresst sind, die Mitarbeiter vom Arbeitsamt, und dann irgendwo auch blocken, das ist dann auch klar.“
Daniela führt somit einerseits „die Ausländer“ als Gruppe „Leistungsunwilliger“ und „-fähiger“ an, durch die sie ihre eigene Leistungsbereitschaft hervorheben und positionale Nichtanerkennung relativieren kann, und attribuiert andererseits positionale Nichtanerkennung auf das Verhalten „der Ausländer“. Darüber hinaus nutzt sie das soeben beschriebene unangepasste Verhalten der „Ausländer“, um sich der gesellschaftlichen Erwünschtheit ihrer Selbstsicht als Mensch, der Höflichkeitsnormen und Benimmregeln beachtet, zu bestätigen. Wie bereits erwähnt, ist für Daniela anscheinend u. a. Indikator gesellschaftlicher Integration, soziale Regeln einzuhalten und Höflichkeitsnormen zu entsprechen. Ihre Integration aufgrund solcher Handlungsweisen hebt sie dadurch hervor, dass sie Personen – „die Ausländer“ – anführt, die ihrer Ansicht nach nicht integriert sind, da sie derlei Regeln nicht einhielten. Ihre Beschreibungen eines solchen respektlosen Verhaltens zeigen darüber hinaus, dass sie sich von „den Ausländern“ selbst durch dieses Verhalten ebenfalls in ihrer Identität als Deutsche missachtet fühlt. So führt sie an, „die Ausländer“ verhielten sich respektlos, da sie auf „die Deutschen“ herabsähen. Ihrer Ansicht nach benehmen sich „die Ausländer“, als seien sie „die Größten und die Besten und überhaupt die Helden“. Sie persönlich erlebe fast täglich Respektlosigkeit durch ausländische Mitbürger, da sie selbst in einem stark von Ausländern besiedelten Stadtteil lebe. Es werde ihr als deutscher Frau regelmäßig beleidigend begegnet, indem sie als „Schlampe“ und „leicht zu haben“ bezeichnet werde. Auch in diesem Fall ist somit die Attribution von Missachtungen, die durch die Mitglieder der abgewerteten Gruppe hervorgerufen werden, ein bedeutsamer Faktor für die Entstehung von Danielas feindseliger Einstellung. Wie bei der Interviewpartnerin Annette, so zeigt sich auch durch die Aussagen Danielas, dass moralische Missachtungen nicht ihre Selbstwahrnehmung als Mensch, der so lebt, wie es für eine ideale Gesellschaft wünschenswert ist, bedrohen. Bezogen auf diese Anerkennungsdimension ist die Wahrnehmung, aufgrund nicht ‚idealer’ gesellschaftlicher Verhältnisse persönlich ungerecht behandelt zu werden, losgelöst von der eigenen Selbstsicht bedeutsam. Auch diese Missachtungen werden von Daniela als belastend erlebt. Diese Belastung wird von ihr, wie auch von Annette, in einem besonders starken Maß empfunden, da auch Daniela die Wichtigkeit einer absoluten Gleichbehandlung betont. Sie erläutert, die Auffassung zu vertreten, jeder Mensch verdiene die gleiche Behandlung, und bezeichnet diese Art, mit anderen umzugehen, als „das Menschliche.“ Sie beschreibt: „Weil im Prinzip, jeder Mensch ist gleich, egal welche Hautfarbe, egal welche Nationalität, dieses Menschliche wieder.“ Daniela spricht davon, dass wirtschaftlichen und politischen Maßnahmen dieses „Menschliche“ fehle. Anders als Annette nennt Daniela allerdings nicht „die Ausländer“ als Gruppe, die von dieser Ungleichbehandlung profitiert, sondern sie sieht die Wirtschaftseliten und Politiker selbst als die Personen, die aus ihren Handlungsweisen einen ungerechtfertigten Vorteil ziehen. Ihre Reaktion auf dieses Ungerechtigkeitserleben richtet sich sodann nicht gegen eine schwache Gruppe, sondern gegen die Politiker, die sie als illegitim bevorzugt wahrnimmt. Gegen diese Persongruppen richtet sich ihr Ärger. So vertritt sie – wie bereits erwähnt – einerseits die Ansicht, es sei notwendig, die Politiker durch Gewalthandeln in Angst zu versetzen. Eine weitere Abwertung erfolgt dadurch, dass Daniela Politiker als ahnungslos und realitätsfern und darüber hinaus verlogen darstellt. Des Weiteren nutzt sie auch die Abwertung dieser Gruppe zur Relativie-
Interviewauswertung
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rung positionaler Missachtungserfahrungen, die sie in ihrer Rolle als Erwerbslose, die als Last für den Steuerzahler empfunden wird, wahrnimmt. Dies geschieht, wenn sie betont, die durch Politiker verursachten Kosten seien für den Steuerzahler eine ebensolche Belastung wie solche, die durch Arbeitslose entstünden. „Der [Politiker] wird hinchauffiert, der hat Telefon umsonst, der darf fliegen für umsonst, das sind alles Kosten, das kriegen auch wir zu spüren dann als Steuerzahler in dem Moment. Es heißt ja immer, ja die Arbeitslosen sind nur Steuerzahler, also bzw. tun den Steuerzahlern weh, ich meine, es sind auch die Politiker mit ihren Ausgaben. Es war doch jetzt wieder neulich im Fernsehen, dass irgendwo hier, wer war das, auch wieder hier Partys gefeiert und die haben sich irgendwelche bestimmten Frauen kommen lassen und und und. Das war wieder ganz groß in den Medien. Wirklich, die belügen uns bewusst. Die erzählen uns irgendwas und jeder, ja, ja… und keiner macht was. Die belügen uns bewusst.“
Während also das Erleben von Nichtanerkennung und Missachtung auf positionaler Ebene ihre Eigenwahrnehmung, selbst so zu sein, wie es ‚gut und richtig’ ist, bedrohen bzw. moralische Nichtanerkennung sie in ihrem Empfinden, persönlich gerecht behandelt zu werden, beeinträchtigt, fühlt sie sich hinsichtlich der emotionalen Dimension sehr stark anerkannt. Im theoretischen Teil der vorliegenden Arbeit wurde zunächst postuliert, dass emotionale Anerkennung Bedrohungs- und Benachteiligungsgefühle abmildert und somit eine Entlastungsfunktion darstellt, die einer Ausbildung feindseliger Einstellungen vorbeugt. Dies scheint im Falle der Interviewpartnerin Daniela nicht zuzutreffen. Hier scheint demgegenüber die Erfahrung, von ihrer Familie in diversen Lebensbereichen anerkannt zu werden, dazu beizutragen, dass Daniela in ihrer Selbstsicht, so zu sein, wie es ‚gut und richtig’ ist, bestätigt wird, wodurch die Erfahrung von Nichtanerkennung und Missachtung möglicherweise eine verstärkte Wahrnehmung von Inkongruenz zwischen Selbst- und Fremdwahrnehmung hervorruft. Trifft diese Vermutung zu, so bedeutete dies, dass ein Erleben emotionaler Anerkennung bei einem Menschen, der die Selbstsicht, so zu sein, wie es gesellschaftlich wünschenswert ist, vertritt, die Wahrscheinlichkeit, feindselige Einstellungen zu entwickeln, verstärkt. Es wurden mit Annette, Daniela und Dirk Fallbeispiele feindseliger Interviewpartner angeführt, die sich durch ein Selbstbild, so zu leben, wie es wünschenswert ist, auszeichnen. Durch den Interviewpartner Christoph konnte das Fallbeispiel eines nichtfeindseligen Menschen aufgezeigt werden, der sich selbst darüber definiert, so zu sein, wie es gerade nicht als gesellschaftlich wünschenswert angesehen wird. Zum Abschluss sollen nun die Aussagen zweier nichtfeindseliger Interviewpartner beleuchtet werden, die sich weder als Personen betrachten, die weder besonders bemüht sind, sich so dazustellen, wie es gesellschaftliche ‚richtig und gut’ ist, noch sich in gegenteiliger Weise präsentieren.
5.2.2.4
Negative positionale und moralische Anerkennungsbilanzen –Keine extreme Orientierung an gesellschaftlichen Werten
Bernd Bernd ist 52 Jahre alt, lebt in Ostdeutschland und ist derzeit im Rahmen eines Zeitarbeitsverhältnisses beschäftigt. Er verfügt über einen Hauptschulabschluss und eine Ausbildung zum Lichtbogenschweißer. Bernd ist verheiratet und hat einen erwachsenen Sohn.
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Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs
Positionale Anerkennung Bernd war nach Beendigung seiner Ausbildung in verschiedenen Firmen beschäftigt. Phasen der Erwerbslosigkeit erlebte er zunächst nicht, bis im Jahr 2001 die Firma, in der er zu dieser Zeit angestellt war, geschlossen wurde. Es folgte eine Zeit der Arbeitslosigkeit, die er nach fruchtlosen Versuchen, erneut eine Festanstellung zu finden, durch die Beschäftigung in Leiharbeit beendete. Bezogen auf den Zeitraum der Erwerbslosigkeit berichtet Bernd von der Wahrnehmung einer individuellen positionalen Nichtanerkennung. Diese Nichtanerkennung ist einerseits darin begründet, dass er, seit ihm die Festanstellung gekündigt wurde, zwischen 300 und 450 erfolglose Bewerbungsversuche unternommen hat. Durch diese fruchtlosen Bemühungen erlebt er sich als in seinen Qualifikationen nicht anerkannt. Darüber hinaus werden in Bernds Wahrnehmung seine Qualifikationen dadurch ignoriert, dass ihm die für ihn zuständige Arbeitsagentur seit Beginn seiner Erwerbslosigkeit nicht ein einziges Arbeitsangebot hat zukommen lassen. Darüber hinaus berichtet Bernd, dass Firmen, bei denen er sich bewarb, oftmals seine Qualifikationen von vornherein ignoriert hätten, da sie ihn als zu alt ablehnten. Als missachtend empfand Bernd darüber hinaus die Absage einer Firma unter der Begründung, er sei für die Stelle überqualifiziert. Anstelle einer erwarteten Anerkennung der Qualifikation erfolgte hier somit eine Missachtung dieser dadurch, dass sie als Grundlage für seine Ablehnung herangezogen wurde. Neben diesen Erlebnissen von Nichtanerkennung und Missachtung seines individuellen Könnens während der Phase seiner Arbeitslosigkeit erlebt Bernd darüber hinaus Missachtung auf kollektiver positionaler Ebene, die sich seit seiner Beschäftigung als Zeitarbeiter aufgrund dieses Zeitarbeiterstatus ergeben. Diese Missachtung resultiert einerseits aus Strategien der Gewinnmaximierung von verleihendem und entleihendem Unternehmen, die Zeitarbeiter nach Bernds Ansicht weniger als Menschen und vielmehr als Arbeitsmaterial wahrnehmen. Andererseits ergeben sich nach Bernds Wahrnehmung kollektive positionale Missachtungen von Leiharbeitern darüber hinaus durch den alltäglichen Umgang mit Personen, die innerhalb der entleihenden Unternehmen fest angestellt sind. Einen missachtenden Umgang dieser Kollegen mit Zeitarbeitern sieht er durch ein stereotypes Bild, das über Zeitarbeiter existiert, begründet. Diese Bild beinhalte einerseits die Annahme, Zeitarbeiter nähmen jede Arbeit an bzw. führten jede Tätigkeit aus, und basiere andererseits auf dem Vorurteil, Zeitarbeiter seien unqualifiziert. So beschreibt Bernd: „Und dann ist es so, dass man als Leiharbeiter prinzipiell, wo man hinkommt, ja man hat erst mal keinen Ruf, erstens wird mal gedacht, man kann mit den Leuten alles machen, die kann man für alles nerven, die können alles machen. Jede Arbeit, die wir nicht machen wollen, die können die machen oder nicht, also was die niedrigen Arbeiten… was die schlechten Arbeiten sind. Dann wird immer so gedacht, dass die Leute unqualifiziert sind. Das kommt dazu. Und dass man eigentlich manchmal mit dem Umgangston… wie gesagt, muss ich aber betonen nicht überall, aber es gibt so die Sachen, wo das dann so richtig durchkommt, dass man die Leute wirklich als Unterstes annimmt. ‚Bei denen brauch ich nicht drauf zu achten, Hauptsache die arbeiten, und die kann man auch antreiben nach Strich und Faden.’“
Diese stereotype Meinung über Zeitarbeiter führe dazu, dass im entleihenden Unternehmen fest angestellte Arbeiter sich als statushöher als die Zeitarbeiter wahrnehmen und – wie es Bernd durch die Beschreibung „antreiben nach Strich und Faden“ beschreibt – ebenfalls danach handeln. Als konkretes Beispiel eines solchen Hierarchiedenkens beschreibt Bernd eine Situation, in der er sich während der Arbeitszeit in einem Gespräch mit weiteren Zeitarbeitern befand, während ein fest angestellte Kollege hinzukam:
Interviewauswertung
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„Und da kam er [der Kollege in Festanstellung] bloß an und sagte, ich soll meine Arbeit machen, ich soll nicht rumstehen und quatschen. Da hab ich ihm bloß gesagt: ‚Pass auf, mein Bruder, du bist genau bloß wie ich, der letzte Popel hier, wenn ich mich mit denen jetzt unterhalte, dann unterhalt ich mich mit denen. So, und du treibst mich noch lange nicht an. So, und wenn es dir nicht passt, dann gehst du zu deinem Vorgesetzten.’ Weil es auch bloß ein einfacher Kollege war: ‚So, dann gehst du hier zum Meister oder zum Chef und sagst ihm das, beschwerst dich über mich.’“
Neben den aktuellen Kollegen sind darüber hinaus Arbeiter, die ihre Anstellung im entleihenden Unternehmen verloren haben und dies auf die Anwesenheit von ‚billigeren’ Leiharbeitern zurückführen, eine weitere Quelle potenzieller Missachtung. So schildert Bernd eine Begegnung mit gekündigten Arbeitern eines westdeutschen Betriebs, in dem er als Leiharbeiter aus Ostdeutschland zu dieser Zeit tätig war. Er berichtet, wie die Entlassenen aus Frust über die Kündigung und die Tatsache, dass er als Leiharbeiter aus Ostdeutschland zu einem geringen Lohn beschäftigt wird, ihn als „Scheiß Ossi“ beschimpfen. Bernd gibt allerdings an, dass er dieses Verhalten in gewisser Weise nachvollziehen kann, und empfindet es somit nicht als stark belastend. Belastender ist für ihn, von Kollegen in Festanstellung „gar nicht akzeptiert“ und nicht als voll- und gleichwertig qualifizierte Arbeitskraft wahrgenommen zu werden. Wie bereits erwähnt, finden sich neben solchen kollektiven positionalen Missachtungserfahrungen, die auf einem persönlichen Umgang mit anderen Menschen beruhen, solche Missachtungen, die aus einem Gewinnmaximierungsstreben von verleihendem und entleihendem Unternehmen resultieren. Bernd beschreibt zunächst eine rücksichtlose und aufgrund dessen von ihm als missachtend empfundene Behandlung, wenn er über die Schwierigkeiten von Leiharbeitern, die eigene Lebenssituation zu planen, berichtet. Als Beispiel hierfür schildert er eine Situation, in der ihm zunächst eine Festanstellung im entleihenden Unternehmen zugesichert und diese Zusicherung sodann ignoriert wurde: „Ja, und da hatte man mit mir einen Vertrag abgeschlossen, einen befristeten Vertrag, und das natürlich gleichzeitig. Da war dann im Arbeitsvertrag sogar festgehalten worden, dass eigentlich der befristete Vertrag als Probezeit genommen wird. Wie steht’s hier? Geplante Übernahme durch die Firma T [Entleiher]. Also war das so, dass eigentlich, aber wie es so ist, ich meine, es wusste anschließend keiner mehr was davon, weder Firma T noch D [Verleihunternehmen] wusste was davon. Und nach 6 Monaten war dort Schluss.“
Neben einem solchen rücksichtlosen Verhalten durch Verleiher und Entleiher wurde Bernd darüber hinaus durch die beteiligten Firmen ebenfalls mit rechtlichen Missachtungen konfrontiert. Bernd schildert folgende Situation: Das verleihende Unternehmen, bei dem er zu dieser Zeit beschäftigt war, beorderte ihn zu einem Arbeitseinsatz in einer Materiallagerhalle der entleihenden Firma. Seine Arbeitsaufgabe sei es gewesen, Schweiß- und Schleifarbeiten an verzinkten Materialien auszuführen. Er kritisiert, dass ihm hierbei, anders als es gesetzlich vorgeschrieben ist, kein Mund- oder Atemschutz zur Verfügung gestellt wurde und ebenfalls keine Absaugung der entstehenden Zinkoxiddämpfe und des Schwermetallstaubs vorgenommen wurde. Weiter bemängelt er, es habe nur unzureichende Möglichkeiten gegeben, die Hände zu reinigen, es sei nicht gewährleistet worden, die Mahlzeiten an einem nicht durch Schwermetallstaub belasteten Ort einzunehmen, die Beleuchtung sei schlecht und Stromkabel und Leitern defekt gewesen. Weiter berichtet der Befragte von Verstößen gegen das Arbeitszeitgesetz dadurch, dass die zulässige Arbeitszeit massiv überschritten wurde. Nach seinen Schilderungen wurde von den Arbeitern verlangt, 14 bis 20 Stunden zu arbeiten; Pausen wurden nur nach massivem Drängen des Vorarbeiters genehmigt. Bernd zieht aus solchen Erfahrungen folgenden Schluss:
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Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs „Und das ist dann auch der Umgang mit den Leiharbeitern. Da denkt man sowieso, dass die alles machen aus Dankbarkeit, dass die überhaupt arbeiten dürfen. Wobei man da noch nicht mal über die Konditionen sprechen braucht, die für Leiharbeitnehmer bestehen. Die sind sowieso unter aller Würde.“
Mit solchen Konditionen, die „unter aller Würde“ sind, bezieht er sich einerseits auf eine geringe Entlohnung von Leiharbeit und andererseits auf weitere rechtliche Missachtungen, die dadurch entstehen, dass Leiharbeitern oftmals die ihnen zustehenden Reisekosten nicht erstattet würden. Er erläutert, dass Beschwerden über solche Ereignisse eine Kündigung nach sich zögen. Dass diese Arten der Missachtung die Verweigerung eines grundlegenden Respekts gegenüber Zeitarbeitern zum Ausdruck bringen und sich aus diesem Grund für Bernd als besonders belastend darstellen, wird deutlich, wenn er aussagt, Leiharbeiter würden von den Firmen primär als billiges Arbeitsmaterial, für das es immer wieder „Nachschub“ gebe, betrachtet. In seiner Wahrnehmung, lediglich „Material“ zu sein, dass von Firmen zur Maximierung von deren Gewinnen genutzt wird, wird Bernd durch die Vermutung bestärkt, es gebe eine Absprache zwischen Zeitarbeitsfirmen und privaten Arbeitsvermittlungsagenturen. Laut SGB III § 421g besteht für Personen, die länger als drei Monate arbeitslos sind und einen Anspruch auf Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe besitzen, die Möglichkeit, sich von der Arbeitsagentur einen so genannten Vermittlungsgutschein ausstellen zu lassen. Mit diesem Gutschein kann der Arbeitslose sich an eine private Arbeitsvermittlungsagentur wenden, deren Vergütungsanspruch durch die Agentur für Arbeit übernommen wird. Bernd vermutet nun, es bestünden Absprachen zwischen Zeitarbeitsfirmen und privaten Arbeitsvermittlern, nach denen die Zeitarbeitsfirmen Angestellte entlassen, diese drei Monate lang arbeitslos sind, einen Vermittlungsgutschein erhalten und durch den privaten Arbeitsvermittler wieder an die Zeitarbeitsfirma, die sie drei Monate zuvor entlassen hat, vermittelt werden. Nach einiger Zeit entließe die Zeitarbeitfirma den Arbeiter wieder und der Kreislauf beginne erneut. Bernd vermutet, ein weiterer Grund für häufige Kündigungen und Wiedereinstellungen der Zeitarbeiter sei, dass auf diese Weise keine sozialen Netzwerke zwischen Leiharbeitern gebildet werden können, auf Basis derer es den Betroffenen möglich wäre, sich zu organisieren und gemeinsam gegen die Missstände im Umgang mit Zeitarbeitern vorzugehen. Während Bernd somit positionale kollektive Missachtungen – also positionale Missachtungen, die ihn in seiner Rolle als Zeitarbeiter abqualifizieren – sowohl im individuellen Umgang mit anderen Personen wahrnimmt als sie auch durch die Praxis von verleihendem und entleihendem Unternehmen empfindet, scheint er letztere als belastender zu erleben als erstere. Wie bereits erwähnt, gehen diese Missachtungen mit einem Vorenthalten von Respekt einher und rufen bei Bernd das Gefühl hervor, nicht als Mensch, sondern als Arbeitsmaterial bzw. „das Unterste“ wahrgenommen zu werden. Dies spiegelt sich in folgender Passage deutlich wider: „Ständig verfügbares Arbeitsmaterial, er [der Zeitarbeiter] ist eine ständig verfügbare Arbeitskraft. Im Grunde genommen ohne Rechte. Er hat Rechte, aber er traut sich zum größten Teil nicht, die Rechte einzufordern. Er ist die unterste Stufe. Drunter gibt es gar nichts mehr. Harzt IV gibt’s da unten drunter. Er ist auf der untersten Sprosse.“
Die Wichtigkeit von Anerkennung und Missachtung, die durch die am Prozess der Leiharbeit beteiligten Firmen vermittelt wird, zeigt ein Interview mit einem weiteren Zeitarbeiter, Rüdiger. Hier wird deutlich, dass eine positionale kollektive Anerkennung, die durch die beteiligten Firmen praktiziert wird, einen Ausgleich für das Erleben positionaler kollektiver Missachtungen bieten kann, die durch den Umgang mit Arbeitskollegen hervorgerufen werden. Rüdiger erlebt ebenfalls kollektive positionale Missachtungen im Umgang mit Vorgesetzten und fest angestellten Kollegen, er fühlt sich aber durch die Rahmenbedingungen, die durch die Zeitarbeitsfirma,
Interviewauswertung
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für die er arbeitet, geschaffen werden, anerkannt. Insgesamt ist Rüdiger mit seiner Arbeitssituation zufrieden, verspürt keinen Bedarf, etwas an seiner Berufssituation zu verändern und gehört somit der Gruppe der sich positional anerkannt fühlenden Interviewpartner an. Wie Bernd lebt Rüdiger in Ostdeutschland, hat einen Hauptschulabschluss und eine Facharbeiterausbildung. Er wurde nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung arbeitslos und ist seitdem bei einer Zeitarbeitsfirma angestellt. Rüdiger ist 44 Jahre alt. Er verfügt über eine Facharbeiterausbildung als Maschinenbauer, Schlosser, Schweißer und Einrichter. In der Fachrichtung Maschinenbau hat Rüdiger einen Meistertitel erworben. Zum Zeitpunkt der deutschdeutschen Wiedervereinigung arbeitete Rüdiger seit ca. drei Jahren als Meister und war Vorgesetzter von 30 Personen. Nach „der Wende“ wurde dann der Betrieb, in dem er angestellt war, dreigeteilt und die Teile verkauft. Der Bereich, in dem Rüdiger beschäftigt war, wurde „abgerissen“, so dass Rüdiger, nachdem die Firma „aufgeräumt“ und „besenrein übergeben“ wurde, im November 1993 arbeitslos wurde. Bezogen auf die Phase der Arbeitslosigkeit berichtet er von dem Empfinden, nicht anerkannt zu werden, das sich aus seiner Wahrnehmung ergab, potenzielle Arbeitgeber verlangten von ihm, „zum Nulltarif“ zu arbeiten. Dies veranlasst ihn dazu, verschiedene Arbeitsstellen nicht anzunehmen. Im Mai 1994 begann Rüdiger für eine Zeitarbeitsfirma zu arbeiten und ist seitdem für diese tätig. Im Gegensatz zu Bernd ist Rüdiger nicht von einem häufigen Wechsel der entleihenden Firma betroffen. Sein Arbeitsleben ist somit durch eine größere Kontinuität gekennzeichnet. Wie Rüdiger berichtet, ist er während der 12 Jahre, innerhalb derer er als Zeitarbeiter beschäftigt ist, acht Jahre für die gleiche entleihende Firma tätig gewesen. Es ärgert ihn zwar, dass er aufgrund seiner Beschäftigung als Leiharbeiter nicht mehr in seinem Status als Meister anerkannt wird und er lernen musste, sich anderen unterzuordnen. Auch die Tatsache, dass Vorgesetzte und fest angestellte Kollegen nicht anerkennen, dass Zeitarbeiter wichtige Tätigkeiten ausüben und somit ebenfalls gebraucht werden, kritisiert er. Die Nichtanerkennung führt er darauf zurück, dass diese Menschen eine „komische Meinung“ über Zeitarbeiter besäßen. Er bezeichnet solche Ansichten als überheblich und empfindet sie als missachtend. Er sagt: „Die denken, du kannst nichts, du bist nichts, und du bist bloß Leiharbeiter.“ Damit geht eine individuelle positionale Nichtanerkennung der Fähigkeiten einher, da nach Rüdigers Wahrnehmung aufgrund dieser Ansichten kein Interesse an seinem Werdegang und an seinem Können gezeigt werde. Darüber hinaus besteht bei Rüdiger der Eindruck, Zeitarbeiter müssten besser qualifiziert sein und mehr arbeiten als Festangestellte, um eine Anstellung behalten zu können. „Und dann fordern sie die Arbeitleistung, die fordern von dir mehr Arbeitsleistung als von den eigenen Leuten, die müssen besser qualifiziert sein praktisch wie die eigenen Leute.“ Trotz dieser Missachtungserfahrungen beschreibt sich Rüdiger als im Großen und Ganzen nicht unzufrieden mit seiner beruflichen Situation und verfügt über keinerlei Ambitionen, sich um eine andere Arbeitsstelle zu bemühen, so wie Bernd dies tut. Dies scheint im Zusammenhang mit der Tatsache zu stehen, dass Rüdiger sich durch die äußeren Bedingungen seiner Beschäftigung, die ihm die Zeitarbeitsfirma bietet, bei der er angestellt ist, anerkannt fühlt. Er berichtet, dass er durch diese – verglichen mit anderen Zeitarbeitsfirmen – sehr gut entlohnt werde. Die Firma biete Vorsorgeuntersuchungen für ihre Mitarbeiter an, und es werde auf den Arbeitsschutz geachtet. Dieser werde regelmäßig durch Vertreter des Betriebsrats kontrolliert. Während Rüdiger somit unter angemessenen äußeren Rahmenbedingungen tätig und trotz Missachtungserfahrungen durch die Kollegen zufrieden ist, ist Bernd sowohl von Missachtungen durch die Kollegen als auch durch die Praxis der beteiligten Unternehmen betroffen und fühlt sich als „Unterstes“ bzw. „Arbeitsmaterial“ behandelt. Allerdings merkt auch Bernd an, dass es ebenfalls Firmen gebe, die keinen missachtenden Umgang gegenüber Leiharbeitern
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praktizierten. Von diesen Firmen fühlt er sich dadurch anerkannt, dass diese Leiharbeiter lediglich dann anfordern, wenn sie eine Auftragsspitze zu verzeichnen hätten. Das bedeutet, Bernd fühlt sich von diesen Firmen dadurch respektiert, dass sie die Zeitarbeit zu dem Zweck nutzen, für den sie ursprünglich konzipiert wurde. Er berichtet, von solchen gebe es allerdings immer weniger. Neben einer Wahrnehmung positionaler Missachtung besteht bei Bernd darüber hinaus das Empfinden, aufgrund seiner sozialen Position als Zeitarbeiter ebenfalls nicht durch politisches Handeln anerkannt zu werden. Moralische Anerkennung Bernds Wahrnehmung, durch politisches Handeln nicht anerkannt zu werden, besteht aufgrund des Empfindens, politische Maßnahmen seien Ursache dafür, dass es Unternehmen ermöglicht werde, Zeitarbeiter wie Arbeitsmaterial und nicht wie Menschen zu behandeln. In einer Beschreibung darüber, wie Firmen Leiharbeiter „verschleißen“ erläutert er: „Die rufen an, den brauchen wir nicht mehr, schickt uns mal nen anderen. Oder den können wir nicht mehr gebrauchen schickt uns morgen nen anderen. Und darauf gehen die Firmen, und dadurch ist das alles sehr, sehr schlecht. Aber das ist ja auch aufgrund der Politik. Das ist die Gesetzeslage so, da die ja jetzt Leiharbeiter kündigen können, so lange sie wollen. Sie müssen ja noch nicht mal die Firma wechseln. Früher war das, nach einem gewissen Zeitraum mussten die ja weg aus der Firma und mussten ja zwischendurch woanders arbeiten mal wieder und konnten dann zurückkommen. Aber das ist ja heute nicht mehr. Heute können sie ja unbegrenzt die Leiharbeiter nehmen, und dadurch ist das alles ein bisschen auch vom Gesetzgeber her so gut geregelt worden, dass die Firmen sagen, ist billiges Arbeitsmaterial. Da brauchen sie nicht suchen, ist mal wer körperlich verschlissen, kommt der Neue.“
Er betrachtet politische Maßnahmen somit nicht als Erzeuger ausgleichender Maßnahmen, die zu einem gerechteren Umgang mit in Leiharbeit beschäftigen Personen führen, sondern sieht diese demgegenüber als auslösendes Moment der Benachteiligung, das eine ungerechte Behandlung gerade erst ermöglicht. Darüber hinaus nimmt er politische Entscheidungen als nicht auf die Bedürfnisse des „normalen Arbeiters“ zugeschnitten wahr. Nach seinem Empfinden orientieren sich Politiker ausschließlich an ihrer eigenen Lebenswelt und bevorzugen dadurch die „Besserverdienenden“. Allerdings sind nach Bernds Wahrnehmung die Einflussmöglichkeiten der Politik grundsätzlich stark eingeschränkt. So werden seiner Ansicht nach politische Entscheidungen primär nicht durch die Politik selbst, sondern durch die Medien getroffen, wobei Politiker dem, was die Medien vorgeben, lediglich „hinterher hecheln“. So seien Politiker ausschließlich daran interessiert, in den Medien ein gutes Bild von sich darzustellen, was dazu führe, dass politische Maßnahmen nicht mehr an Fakten und Bürgerinteressen orientiert seien, sondern auf dem an Gewinnmaximierung orientierten Kalkül finanzstarker Medienkonzerne beruhten. Entsprechend hält Bernd es für sinnlos, sich parteipolitisch zu engagieren. Seiner Ansicht nach können Bürgerinteressen nur dadurch vertreten werden, dass sich die Bürger selbst losgelöst von der Parteipolitik für ihre Anliegen einsetzen. Dass dies nicht einfach zu realisieren sei, verdeutlicht er durch Beschreibungen darüber, wie er den Verlauf der Leipziger Hartz IV-Proteste wahrgenommen hat. Er zeigt sich mit der Möglichkeit, durch die Demonstrationen auf die Anliegen der Hartz IV-Empfänger aufmerksam zu machen, bis zu dem Moment zufrieden, in dem diese nach seiner Auffassung für parteipolitische Selbstdarstellungszwecke instrumentalisiert worden seien. Er erläutert: „Nachdem sich welche profilieren wollten und die dann den Lafontaine gebracht haben dort auf die Bühne, ist das Ding karren gegangen. Danach ging das karren.“
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Emotionale Anerkennung Während sich Bernd somit weder auf positionaler noch auf moralischer Ebene anerkannt fühlt, erlebt er hingegen auf emotionaler Ebene ein großes Ausmaß an Anerkennung und somit sozialem Rückhalt. Er beschreibt das Verhältnis zu seiner Ehefrau und zu seinem Sohn als ein sehr harmonisches. Darüber hinaus erfährt er auch in weitläufigeren Verwandtschaftsbeziehungen emotionalen wie instrumentellen Rückhalt. Er erläutert, hier könne er jederzeit um Hilfestellungen bitten, wenn dies nötig sei. Er berichtet, innerhalb der Verwandtschaft bestehe ein „großer Zusammenhalt“, und er äußert sich sehr zufrieden mit den Beziehungen zu den Mitgliedern seiner Familie. Gleiches gilt für die Beziehungen zu seinen Freunden. Diese, sowie seine Ehefrau, kennt er bereits seit seiner Kindheit. Er beschreibt das Verhältnis als sehr vertrauensvoll, was besonders zu Zeiten der DDR sehr wichtig für ihn war. Er gibt an, er habe den Freunden nie „nach dem Mund reden“ müssen. Er berichtet, es habe Zeiten gegeben, in denen er dem DDR-Regime sehr kritisch gegenübergestanden habe und aus diesem Grund in das Visier „gewisser Institutionen“ geraten sei. Auch in dieser Situation habe er sich auf seine Freunde verlassen können, was ihn und seine Freunde sehr eng „zusammengeschweißt“ habe. Er hebt hervor: „Unter der Gefahr, dass man selber Nachteile erleidet, dann doch noch zu jemandem zu stehen, das macht viel aus.“ Er ist der Ansicht, dass seine Freundschaften, die zu der damaligen Zeit geknüpft worden sind, beständiger und dauerhafter sind, als Freundschaften, die Personen heutzutage zueinander aufnehmen. Heutige Freundschaften seien stärker dadurch gekennzeichnet, dass sie abgebrochen würden, sobald Probleme auftauchten. Somit verdeutlicht er demgegenüber den enormen sozialen Rückhalt, den seine Freunde ihm böten, wenn er angibt: „Das sind Verbindungen, das bleibt ne ewige Freundschaft dann auch.“ Hinweise darauf, dass es eine kollektive Identität gibt, die für Bernd bedeutsam ist, ergeben sich aus dem Interview nicht. Selbstwahrnehmung Nach den von Bernd während des Interviews getätigten Aussagen zu urteilen, scheint er nicht zu den Menschen zu gehören, die ihre eigene Denk- und Lebensweise als ‚die normale’ klassifizieren. Es wurde beschrieben, dass unter der Selbstwahrnehmung als ‚normal’ verstanden wird, dass ein Mensch seine eigenen Handlungen und Wertvorstellungen als wünschenswert für eine ideale Gesellschaft betrachtet und aus diesem Grund die Überzeugung vertritt, es sei richtig, dass andere Gesellschaftsmitglieder sich ebenfalls hieran orientierten. Zwar finden sich auch im Interview mit Bernd Annahmen über Handlungsweisen, die er für sich selbst als wertvoll wahrnimmt; er scheint aber nicht den Anspruch zu vertreten, es sei zu verurteilen, wenn andere Gesellschaftsmitglieder sich nicht hieran orientieren. So betont er beispielsweise, ihm sei es wichtig, seinen Sohn mit Strenge und nach eindeutigen Regeln erzogen zu haben. Eine strenge Erziehung, die auf strikten Regeln beruht, stellt für Bernd somit einen Wert dar. Er definiert sich hierüber aber nicht als im hier verstandenen Sinn ‚normal’, da er eine solche strenge Erziehung nicht als allgemein verbindlich einfordert bzw. ‚schlecht’ erzogene oder erziehende Menschen aufgrund dessen abwertet, wie dies z.B. die Interviewpartnerin Annette tut. Zwar gibt er an, z.B. die weniger autoritären Erziehungsvorstellungen seiner Cousine nicht zu vertreten, verurteilt die Cousine aufgrund dessen jedoch nicht. Im Interview wird deutlich, dass ein weiterer wichtiger Wert für Bernd das Aneignen von Bildung ist. So ist es ihm selbst wichtig, während seiner Schulzeit eine umfassende Allgemeinbildung vermittelt bekommen zu haben. Er verweist während des Interviews außerdem auf Bücher, die er bereits gelesen hat, und präsentiert nach dem Interview seinen Bücherbesitz. Während des Gesprächs schildert er, er habe
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zu DDR-Zeiten in Ostdeutschland verbotene Bücher von West- nach Ostdeutschland geschmuggelt, und verdeutlicht somit, dass er bereit war, Risiken auf sich zu nehmen, um sich kulturell weiterzubilden. Darüber hinaus betrachtet er es generell als gesellschaftlich wünschenswert, den Bürgern eine umfassende Bildung zu ermöglichen. Doch auch über die Zustimmung zu dieser Wertvorstellung definiert sich Bernd nicht als ‚normal’. Das bedeutet, er betrachtet es zwar als erstrebenswert, in Deutschland ein effektiveres Bildungssystem als das bestehende zu etablieren – er nennt hier das Schulsystem der DDR als positives Beispiel -, jedoch zieht er seinen eigenen Bildungsstand nicht als Standard heran, um daran den Bildungsstand anderer Personen zu bewerten. Dass Bernd kein Mensch ist, der seine eigenen Wertvorstellungen als Maßstab dazu nutzt, festzulegen, welche Denk- und Handlungsweisen in einer idealen Gesellschaft wünschenswert wären, wird darüber hinaus dadurch deutlich, dass er anführt, er könne es nachvollziehen, dass Personen, die in einem anderen Kulturkreis als dem westlichen aufgewachsen sind, andere Wertmaßstäbe verträten und Verhaltensweisen zeigten als Personen, die nach westlichen Wertvorstellungen sozialisiert wurden. Dass Bernd seine eigenen Wertvorstellungen nicht als absolut für ein ‚Normalsein’ setzt, wird darüber hinaus deutlich, wenn er an verschiedenen Stellen des Interviews anregt, sich häufiger in die Lebensweise anderer Menschen hineinzuversetzen, um diese besser zu verstehen. Bezug der Kategorien ‚Anerkennung’ und ‚Selbstwahrnehmung’ auf die Kategorie ‚Bewertung von Gruppen’ Einerseits erlebt sich Bernd als in seiner personalen Identität anerkannt und gibt an, durch Freunde und Familie Rückhalt zu erfahren. Wie die Theorie der Sozialen Desintegration postuliert, entlastet eine solche Erfahrung von Nichtanerkennung und Missachtung anderer Dimensionen und beugt dadurch der Ausbildung feindseliger Mentalitäten vor. Allerdings ließ die Analyse des Gesprächs mit der Interviewpartnerin Daniela vermuten, dass das Erleben einer Anerkennung der personalen Identität ebenso eine diesen Zusammenhang bestärkende Wirkung besitzen kann, vertritt die betroffene Person die Selbstwahrnehmung, ‚normal’ zu sein, und sieht sie sich durch die Reaktionen ihres emotionalen Umfelds hierin bestärkt. Bei Bernd handelt es sich nicht um einen Interviewpartner, der sich darüber definiert, aufgrund bestimmter Wertvorstellungen im hier definierten Sinne ‚normal’ zu sein. Das bedeutet, er ist kein Mensch, der sich selbst über eine ‚normative Normalität’ definiert, woraus folgt, dass Erlebnisse der Nichtanerkennung sowie Missachtungen nicht als Angriffe auf eine solche ‚Normalität’ interpretiert werden können. Für Bernd ist es somit nicht bedeutsam, dass sein Umfeld ihn aufgrund der Annahme, er sei besonders leistungsfähig und –orientiert, als integriert wahrnimmt. Entsprechend kann er Erfahrungen positionaler Nichtanerkennung und Missachtung nicht als inkongruent zu diesem Wunsch interpretieren. Er benötigt somit keine Entlastung von positionalen Anerkennungsdefiziten dadurch, dass er sich von Gruppen differenziert, die vermeintlich weniger an Leistungskriterien orientiert sind als er – wie dies die Interviewpartnerin Annette tut – bzw. seine Möglichkeit einschränken, sich in dem Maße an Leistungskriterien zu orientieren, wie er es eigentlich könnte – wie es die Interviewpartnerin Daniela beschreibt. Die Aussage ‚Wenn in Deutschland die Arbeitsplätze knapp werden, sollten wir die Ausländer nach Hause schicken’ bezeichnet er demgegenüber als „Dummheit“, lehnt derartige Annahmen also entschieden ab. Auch die Erfahrungen moralischer Missachtung setzt Bernd nicht in abwertende Einstellungen um. Er fühlt sich durch diese nicht – wie Anette oder Daniela – in seinem persönlichen Gleichheitsanspruch verletzt. Das bedeutet, er sieht diese nicht als Ausdruck einer ungerechten
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Benachteiligung, sondern schreibt sie vielmehr einer generellen Handlungsunfähigkeit bzw. Handlungsinkompetenz des politischen Systems zu. Bernd fühlt sich nicht durch die muslimische Kultur bedroht, er lehnt Homosexualität nicht ab und fordert ebenfalls keine Etabliertenvorrechte ein. Seiner Ansicht nach verdient zwar ein Mensch, der einen besonderen Einsatz für die Gesellschaft oder die Menschheit geleistet hat, seine „Hochachtung“; eine Bewunderung von Personen aufgrund deskriptiver Merkmale lehnt er demgegenüber ab. „Aber von Geburt her, oder Hautfarbe, oder Religion, dass er dadurch was Besseres ist. Nö. Sag ich nicht. Oder vom Kontostand her ist er auch nicht was Besseres, auch nicht. Das hat damit nichts zu tun. Er muss was getan haben für die Welt.“ Während mit Bernd das Fallbeispiel eines nicht feindseligen Interviewpartners beschrieben wurde, der insbesondere positionale kollektive Missachtungserfahrungen erlebt, die er aufgrund der Rahmenbedingungen seiner Beschäftigung wahrnimmt, wird mit der letzten Interviewpartnerin, Inge, im Folgenden das Fallbeispiel einer nicht feindseligen Interviewpartnerin beschrieben, die sich insbesondere durch Erlebnisse auf individueller positionaler Ebene missachtet fühlt. Inge Inge ist 51 Jahre alt, ist derzeit arbeitslos und wohnt in Westdeutschland. Sie verfügt über das Abitur und eine Ausbildung zur Phonotypistin. Nach Beendigung dieser Ausbildung hat sie 21 Jahre lang als Sekretärin im öffentlichen Dienst gearbeitet. Dieses Arbeitsverhältnis, in dem Inge unkündbar war, beendete sie aufgrund massiver Missachtungserfahrungen selbst. Inge ist verheiratet und hat eine erwachsene Tochter. In der Vergangenheit hat sie massive positionale Missachtungen erlebt und fühlt sich auch zurzeit weder positional noch moralisch anerkannt. Mit dem Ausmaß an emotionaler Anerkennung, das sie erlebt, ist sie zufrieden, ist aber besorgt, dass ihr soziales Netz sich auflösen und sie ihren emotionalen Rückhalt verlieren könnte. Positionale Anerkennung Inge ist momentan arbeitslos und fühlt sich aufgrund dieses Status mit Missachtungen konfrontiert. Als Quelle dieser Missachtungserfahrungen nennt sie Politik und Medien. Einerseits empfindet sie das Bild von Erwerbslosen, das insbesondere in Nachmittagstalkshows der privaten Fernsehsender gezeichnet wird, als extrem beleidigend. Andererseits fühlt sie sich durch immer strengere Kontrollen von Arbeitslosengeldbeziehern durch die Politik als potenzielle Betrügerin diffamiert. Darüber hinaus vermittelten nach Inges Wahrnehmung derartige Kontrollen die Botschaften, Arbeitslose seien an ihrer Situation „selbst Schuld“ und Personen, die willens seien zu arbeiten, fänden auch Arbeit. Dies empfindet sie als Person, die sich seit ca. einem halben Jahr fruchtlos bewirbt, als beleidigend. Neben einer solchen kollektiven positionalen Missachtung empfindet sie darüber hinaus eine Missachtung ihrer individuellen Fähigkeiten. Diese ergibt sich dadurch, dass ihr durch das Arbeitsamt Umschulungen mit der Begründung verweigert werden, das angestrebte Berufsfeld sei zu weit von ihrer bisherigen Tätigkeit als Sekretärin entfernt. Sie interpretiert diese Ablehnung als Indikator für die Annahme, sie sei nicht dazu fähig, sich in ein neues Aufgabengebiet einzuarbeiten. Neben diesem missachtenden Einzelereignis belastet sie darüber hinaus eine alltäglich erlebte Nichtanerkennung ihrer Leistungen und Fähigkeiten. Diese ergibt sich aus der Wahrnehmung, tagtäglich keinerlei Aufgaben erfüllen zu können, anhand derer es ihr möglich wäre, ihr Können unter Beweis zu stellen. Ihr werde zwar von ihrer Familie vermittelt, dass sie im Haushalt gebraucht werde, dies geschehe
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aber primär in einer abwertenden, nicht in einer anerkennenden Art und Weise. So beschreibt sie: „Allerdings auch nur in dem Sinne: ‚Jetzt bist du ja zu Hause, du kannst ja.’“ Mehr noch als solche aktuellen kollektiven und individuellen Erlebnisse von Nichtanerkennung und Missachtung belasten Inge allerdings individuelle Missachtungserfahrungen, die sie während ihrer Berufstätigkeit erlebt hat. Sie berichtet, sie sei derzeit arbeitslos, da ihr letzter Chef sie aus ihrer Arbeitsstelle „herausgemobbt“ habe. Sie beschreibt, zunächst habe der Vorgesetzte begonnen, sie aufgrund ihres äußeren Erscheinungsbildes zu beleidigen. Er habe sie darüber hinaus aufgefordert, dankbar dafür zu sein, in einem unkündbaren Arbeitsverhältnis im öffentlichen Dienst angestellt zu sein. Nachdem sie derlei Angriffe ignorierte, seien ihr nach und nach ihre Arbeitsaufgaben entzogen worden, bis sie nur noch Routinetätigkeiten erledigen durfte. Diese Verhaltensweisen des Vorgesetzten waren für Inge mit starken Missachtungsgefühlen verbunden. So vermittelte die Aufforderung, für eine Arbeitsstelle dankbar zu sein, die Auffassung, Inge sei ungerechtfertiger Weise, trotz mangelnder Qualifikationen, in dem betreffenden Arbeitsverhältnis beschäftigt. Durch die Tatsache, dass ihr fortlaufend Tätigkeiten entzogen wurden, wurde des Weiteren transportiert, die von ihr verrichtete Arbeit sei wertlos und ihre Fähigkeiten reichten nicht aus, um alle das Arbeitsverhältnis umfassenden Aufgaben adäquat zu erfüllen. Sie beschreibt: „Die Arbeit, die ich vorher gemacht hatte, für die ich Lob und Anerkennung bekommen hatte, plötzlich war das alles nichts mehr wert, ich sollte nur noch kiloweise irgendwelches Papier abschreiben.“ Doch nicht nur diese direkten Angriffe ihres Vorgesetzten stellten für Inge eine Belastung dar, auch die Reaktionen ihres weiteren sozialen Umfelds erlebte sie als missachtend. So sei sie bei dem Versuch, sich Unterstützung gegen das Verhalten des Chefs zu suchen, oftmals auf Unverständnis gestoßen. Einerseits sei ihr vermittelt worden, sie sei zu empfindlich und solle versuchen, dies zu ändern. Derartige Reaktionen vermitteln somit die Annahme, Inge fehlten die nötigen Voraussetzungen, um sich in ihrem Beruf durchzusetzen. Des Weiteren erlebte sie direkte Missachtungen ihrer Leistungen dadurch, dass ihr unterstellt wurde, sie übe ihre Tätigkeit nicht adäquat aus und sei damit selbst für die Beleidigungen ihres Vorgesetzten verantwortlich. Inge berichtet, nachdem sie begonnen habe, sich gegen die Angriffe ihres Chefs zur Wehr zu setzen, habe dieser sie als psychisch krank diffamiert und sie vor anderen Personen als Lügnerin bezeichnet. Dies und der soeben beschriebene fehlende Rückhalt weiterer beteiligter Personen führten dazu, dass Inge sich tatsächlich in psychologische Behandlung begab und letztendlich die Arbeitsstelle kündigte. Neben diesen vergangenen Erfahrungen individueller positionaler Missachtung sowie aktueller kollektiver positionaler Missachtung und individueller positionaler Nichtanerkennung aufgrund des Status als Erwerbslose nimmt Inge sich ebenfalls als moralisch, also nicht durch staatliches Handeln, anerkannt wahr. Moralische Anerkennung Es wurde bereits erwähnt, dass Inge sich durch politische Maßnahmen, die eine strengere Kontrolle von Arbeitslosengeldempfängern umfassen, diffamiert und somit missachtet fühlt. Darüber hinaus fühlt sie sich durch staatliches Handeln gegenüber anderen Bevölkerungsgruppen benachteiligt. So betrachtet sie geplante und politische Reformen als ausschließlich für gesellschaftlich privilegierte Personen von Vorteil und als nachteilig für sich selbst als Erwerbslose, sowie auch für ‚Normalverdiener’. Bei Inge besteht der Wunsch, sich gegen diese Entscheidungen zur Wehr zu setzen und sich für ihre Anliegen als Arbeitslosengeldempfängerin einzusetzen. Sie betrachtet es aber als
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unrealistisch, dass genügend Leute sich zusammenfinden, um sich für die Interessen der Arbeitslosengeldempfänger einzusetzen. Sie führt dies einerseits darauf zurück, dass in der Öffentlichkeit generell die Meinung vertreten werde, jeder sei für sein eigenes Schicksal verantwortlich, und es aufgrund dessen keinen gesellschaftlichen Zusammenhalt mehr gebe. Andererseits sei der Status der Erwerbslosigkeit durch die Darstellung Arbeitsloser in den Medien bei den Betroffenen mit einem derart großen Schamgefühl verbunden, dass diese nicht genügend Mut aufbrächten, um sich öffentlich für ihre Anliegen einzusetzen. „Und wenn ich mir dann angucke, was dort so gesagt wird in den Medien, speziell in den Privatsendern, also das ist tödlich. Das führt aber genau dazu, dass die Leute sich zurückziehen und sich lieber in Grund und Boden schämen: ‚Ich bin arbeitslos’, anstatt auf die Straße zu gehen und zu sagen: ‚Wisst ihr was, Leute, tut mal was gegen die Arbeitslosigkeit, anstatt hier nur große Sprüche zu machen.’“
Als Vorbild für eine erfolgreiche Durchsetzung der Bürgerinteressen nennt auch Inge die französischen Studentenproteste gegen die Lockerung des Kündigungsschutzes im Jahr 2006. Sie wünscht sich einen ähnlichen Einsatz für die Anliegen von Sozialhilfeempfängern in Deutschland, hat aber aus eben genannten Gründen keine Hoffnung auf eine Realisierbarkeit solcher Proteste. Auf die Frage, ob es möglich sei, durch Protestverhalten in den eigenen Anliegen öffentlich wahrgenommen zu werden, antwortet sie: „Wenn es genug gäbe, ja. Ich meine, in Frankreich haben wir das ja gesehen. Aber hier schämt man sich zu Tode.“ Inge fühlt sich somit einerseits durch politische Maßnahmen ungerecht behandelt und sieht andererseits wenig Möglichkeiten, auf diese Benachteiligung und die damit verbundene Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen, sich also für eine Beendigung dieser Benachteiligung einzusetzen. Emotionale Anerkennung Alles in allem fühlt Inge sich in ihrer personalen Identität anerkannt; vollständig zufrieden ist sie allerdings auch auf dieser Ebene mit dem Ausmaß der erlebten Anerkennung nicht. Sie beschreibt Empfindungen von Nichtanerkennung, wenn sie berichtet, ihre sozialen Kontakte seien durch die Phase, innerhalb derer sie durch ihren Vorgesetzen „gemobbt“ wurde, stark zurückgegangen. Ihr habe zu dieser Zeit die Kraft gefehlt, diese Kontakte zu pflegen. Nun, in der Phase der Erwerbslosigkeit, vermisse sie häufigeren Kontakt zu anderen Menschen. Durch ihre Arbeitslosigkeit habe sich ihr soziales Netz noch einmal verkleinert, da sie nun auch weniger Kontakt zu ehemaligen Kolleginnen – die sie während ihrer ‚Mobbingerlebnisse’ stark unterstützten – pflege. Sehr zufrieden zeigt sie sich allerdings mit den sozialen Beziehungen, die die Zeit der ‚Mobbingerfahrungen’ und die Aufgabe der Arbeitstelle überdauert haben. Sie berichtet von unterstützendem und aufmunterndem Verhalten dieser Freunde. Diese bieten ihr somit emotionalen Rückhalt, den sie scheinbar sehr stark benötigt. Dies wird deutlich, wenn sie sagt: „Also das [die Beziehung zu einer engen Freundin] funktioniert schon noch. Gott sei es gedankt. Vielleicht gerade noch rechtzeitig. Ich meine, viel von Freundschaften und Beziehungen lief eben auch über den Beruf. Diese Seite ist nur noch sehr eingeschränkt da.“ Die Qualität der bestehenden Freundschaftsbeziehungen beschreibt Inge als ausgesprochen positiv, sie äußert sich an verschiedenen Stellen hierzu in einer nahezu überschwänglichen Art und Weise. Über die Beziehungen zu ihren Familienangehörigen äußert Inge sich ebenfalls zufrieden, wobei sie dies aber verglichen mit ihren Berichten über die Freundschaftsverhältnisse in einer emotionsloseren Weise tut. So berichtet sie beispielsweise in Bezug auf ihre Mutter, sie schätze an ihr, dass diese sich niemals dahingehend geäußert habe, es sei ein Fehler gewesen, ihre Arbeitsstelle zu kündigen, bzw. sie hätte das Verhalten ihres Vorgesetzten aushalten sollen, an-
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statt zu kündigen. Die Frage, ob sie zufrieden mit dem Verhältnis zu ihrer Mutter sei, bejaht sie unter der Anmerkung, es sei heute besser als vor einigen Jahren. In einer ähnlichen Art spricht Inge über das Verhältnis zu ihrem Mann. Sie sagt aus, es bestehe ein starker Zusammenhalt zwischen ihr und ihrem Mann, was sich dadurch zeige, dass ihre Ehe die Phase, innerhalb derer Inge „gemobbt“ wurde, überstanden habe. Auf die Frage, wie ihr Mann ihr zeige, dass sie ihm wichtig ist, antwortet sie, er fordere sie mittlerweile nicht mehr auf, das „Heulen“ einzustellen, wenn es ihr schlecht gehe. Während Inge sich somit von ihren Freunden durch direktes unterstützendes Verhalten in ihrer personalen Identität anerkannt fühlt, ergibt sich dieses Gefühl bezogen auf ihre Mutter und ihren Ehemann dadurch, dass diese kein missachtendes Verhalten – mehr – zeigen. Inge nimmt derzeit somit emotionalen Rückhalt wahr, sie berichtet allerdings von Ängsten davor, dass zukünftig einige ihrer jetzigen sozialen Kontakte abbrechen könnten. Sie beschreibt, es ängstige sie der Gedanke, sie werde sich möglicherweise derart durch die Arbeitslosigkeit verändern, dass dies unter anderem auch die Beziehung zu ihrem Mann beeinflusse. Teilweise sei ihre Ehe hierdurch bereits verschlechtert worden. Sie beschreibt dies folgendermaßen: „Nur es ist ein wesentlicher Teil von dem, was auch die Beziehung ausmacht, dass ich natürlich anders gewesen bin und anders aufgetreten bin, als ich noch Arbeit hatte, als ich noch berufstätig war.“ Aussagen, die einen Hinweis darauf geben, dass es eine kollektive Identität gibt, die für Inge bedeutsam ist, finden sich nicht im Interview. Selbstwahrnehmung Die Annahme eines Menschen, so zu denken und zu handeln, wie es für eine ideale Gesellschaft wünschenswert ist, ist Teil des Konzepts, das dieser Mensch über sein Selbst besitzt. Es ist zu vermuten, dass ein Selbstkonzept, so zu sein, wie es ‚gesellschaftlich richtig’ ist, sich nur entwickeln kann, wenn die betreffende Person ihr Selbst in ausreichender Art und Weise als positiv bewertet bzw. über ein hinreichend positives Selbstbild verfügt. Das bedeutet, es ist unwahrscheinlich, dass ein Mensch, der sich selbst als ‚wertlos’ betrachtet, die Überzeugung entwickelt, so zu leben, wie es für eine ideale Gesellschaft richtig und wünschenswert wäre. Es ist festzustellen, dass die Interviewpartnerin Inge über einen sehr geringen Selbstwert verfügt. Es scheint, als habe sie bereits zu der Zeit, in der sie erwerbstätig war und ihr Vorgesetzter begann, sie zu beleidigen, keinen überdurchschnittlich hohen Selbstwert gehabt. Diese Vermutung besteht, da sie berichtet, sie habe sich innerhalb des ersten Jahres der Angriffe durch den Chef nicht dagegen gewehrt, sondern habe alle Beleidigungen „geschluckt“. Darüber hinaus beschreibt sie, sie habe sich in der Zeit, in der sie mit dem „Mobbing“ des Vorgesetzten leben musste, sehr verändert. Sie habe sehr viel geweint. Sie sagt, sie fühle sich „jetzt nicht mehr so wie vorher“. Durch die Erfahrung, „gemobbt“ zu werden, ist somit ihr Selbstwert noch weiter reduziert worden. Das Gefühl, das das Verhalten des Vorgesetzten bei ihr auslöste, beschreibt sie folgendermaßen: „Und das finde ich ganz schlimm, da fühle ich mich wirklich wie auf den Schrott geschmissen. Aussortiert. Also, was das Büro anging, habe ich damals immer gesagt: ‚Ich komme mir vor wie so ein altes Möbel, ausrangiert’“. Sie schildert, es sei schwer für sie, nach allem bisher Erlebten nun auch während der Phase der Arbeitslosigkeit weiterhin Stärke und Selbstbewusstsein zu zeigen. An dieser Stelle des Interviews beginnt sie zu weinen. Sowohl Inges Schilderungen ihrer Gefühle als auch, dass sie während des Interviews zu weinen beginnt, legen nahe, dass ihr Selbstwert eher negativ ist. Entsprechend ist es unwahrscheinlich, dass sie eine Selbstsicht, so zu sein, wie es richtig und wünschenswert ist, vertritt. Es finden sich im Interview darüber hinaus keinerlei Äußerungen, die eine derartige Selbstein-
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schätzung und die Übertragung der damit verbundenen Wertvorstellungen auf andere vermuten lassen. Ganz im Gegenteil vertritt Inge die Ansicht, dass die Orientierung anderer Menschen an Wertvorstellungen, die nicht den eigenen entsprechen, respektiert werden sollte. So führt sie bezogen auf das von muslimischen Frauen praktizierte Tragen von Kopftüchern aus: „Die sind das so gewöhnt, machen das so. Ob ich das persönlich jetzt als gut oder schön empfinde, ist eine andere Geschichte, aber ich möchte ja bitte auch nicht darauf hingetrimmt werden, dass ich mich jetzt anders anzuziehen hätte, als ich es gewöhnt bin, oder wie auch immer. Und da muss man den Leuten in gewisser Weise das schon so lassen.“
Des Weiteren betont Inge, es störe sie, wenn Menschen versuchten, anderen ihre Ansichten oder ihren Willen aufzuzwingen. So kritisiert sie beispielsweise an den Strukturen religiöser Sekten: „Es ist nämlich so, da sitzt irgendjemand, der sagt, das hat ihr gefälligst so und so zu tun, und alle anderen haben zu gehorchen. (…) Das ist das Problem, und ich finde das einfach sehr problematisch, wenn jemand versucht, den anderen seinen Glauben, seinen Willen oder sonst was aufzudrücken. Also die Entscheidungsfreiheit, ob ich etwas mache oder nicht, die muss immer noch gegeben sein.“
Dieses Verhalten, anderen Personen nicht die eigenen Wertvorstellungen aufzuoktroyieren, scheint Inge nicht nur von anderen zu erwarten, sondern betrachtet es ebenfalls als für sich selbst verbindlich. Somit vertritt sie nicht den Anspruch, ihre eigenen Wertvorstellungen und Verhaltensweisen als allgemein wünschenswert zu definieren und aufgrund dessen als ‚normal’ anzusehen. Bezug der Kategorien ‚Anerkennung’ und ‚Selbstwahrnehmung’ auf die Kategorie ‚Bewertung von Gruppen’ Da sich Inge anscheinend nicht aufgrund einer Orientierung an Leistungsnormen als ‚normal’ definiert, sich also nicht als besonders anerkennenswert aufgrund einer an Leistungskriterien orientierten Lebensweise betrachtet, können die Erfahrungen positionaler Missachtung und Nichtanerkennung nicht ein solches Selbstbild bedrohen. Während positionale Nichtanerkennung und Missachtung für die Interviewpartner, die sich aufgrund einer Orientierung an Leistungskriterien als ‚normal’ definieren, eine Erfahrung von Dissonanz hervorrufen, scheinen diese im Falle Inges bis zu einem gewissen Grad mit ihrem negativen Selbstwert in Einklang zu stehen. Da Inge mehrfach betont, Sozialhilfeempfänger setzten sich nicht öffentlich für ihre Anliegen ein, weil sie sich für ihre Situation schämten, kann vermutet werden, dass sie aufgrund der erlebten Missachtung ebenfalls das Gefühl von Scham verspürt. Menschen entwickeln das Gefühl der Scham, wenn sie wahrnehmen, an einem bestimmten Gütekriterium zu scheitern (vgl. Holodynski, 2006). Ist somit die Annahme korrekt, dass Inge sich für ihre Situation als Arbeitslose schämt, so geht hiermit einher, dass sie bis zu einem gewissen Grad selbst der Ansicht ist, einem gesellschaftlichen ‚Gütekriterium’ nicht entsprochen zu haben. Dies unterscheidet sie von den Interviewpartnerinnen Annette oder Daniela, die aufgrund ihrer Annahme, durch eine Orientierung an Leistungskriterien ‚normal’ zu sein, Nichtanerkennung und Missachtung als durchweg ungerechtfertigt wahrnehmen und somit versuchen, diese zu entkräften. Eine solche Entkräftung – durch das Aufzeigen von Gruppen, deren Angehörige es viel eher ‚verdienen’, missachtet zu werden – erfolgt bei Inge nicht, da die Missachtung in gewisser Weise mit ihrer Selbstwahrnehmung im Einklang steht. Ein derartiges Verhalten entspricht dem Postulat Baumeisters, aggressives Verhalten zeigten ausschließlich Personen, die einen überhöhten Selbstwert besitzen, wenn dieser infrage gestellt wird, während Menschen mit niedrigem Selbstwert abwertende Verhaltensweisen anderer als Bestätigung ihrer Selbstsicht betrachten.
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Inge berichtet, emotionalen Rückhalt durch für sie wichtige Personen zu erleben, der ihr hilft, die erlebte Missachtung zu bewältigen. So beschreibt sie, dass sie einerseits während der Zeit, in der sie mit den abwertenden Verhaltensweisen ihres Vorgesetzten konfrontiert war, durch ihre damaligen Arbeitskolleginnen unterstützt wurde. Andererseits erlebt sie ebenfalls in der aktuellen Phase der Arbeitslosigkeit Unterstützung durch ihren Ehemann und ihre Schwägerin. Ohne ein Zusammenwirken mit der Ansicht, ‚normal’ zu sein, scheinen solche Erfahrungen vom Erleben der Missachtung zu entlasten und einer Ausbildung feindseliger Einstellungen vorzubeugen. Inge zeigt somit keinerlei abwertende Einstellungen gegenüber schwachen Gruppen als Reaktion auf ihre positionalen und moralischen Anerkennungsmängel und Missachtungserfahrungen. Sie betont im Gegenteil die Wichtigkeit der Wertvorstellung absoluter menschlicher Gleichheit und bezeichnet in diesem Zusammenhang das Einfordern von Etabliertenvorrechten als Verstoß gegen das Grundgesetz. Darüber hinaus betrachtet sie weder die Gruppe der ‚Ausländer’ als Auslöser für ökonomische Schwierigkeiten, noch fühlt sie sich durch die Anwesenheit von Angehörigen anderer Kulturen bedroht. Sie betrachtet Homosexualität nicht als gegenüber der Heterosexualität ‚unnatürlich’ und spricht sich auch in diesem Zusammenhang dafür aus, das Ideal der menschlichen Gleichheit zu berücksichtigen, indem sie dafür plädiert, Liebe nicht daran zu messen, zwischen welchen Geschlechtern sie stattfindet. 5.3 Zusammenfassung der Ergebnisse der qualitativen Interviews Durch die geführten Interviews konnte das Postulat der Theorie der Sozialen Desintegration, das Erleben von Nichtanerkennung und Missachtung benötige eine Entlastungsfunktion, die durch die Ausbildung feindseliger Mentalitäten evident wird, näher beleuchtet werden. Es wurde sowohl verdeutlicht, auf welche Weise eine Zustimmung zu Aussagen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit von der Wahrnehmung, nicht anerkannt bzw. missachtet zu werden, entlasten kann, als auch aufgeführt, welche Einflussfaktoren existieren, die eine derartige Entlastung notwendig werden lassen. Es konnte gezeigt werden, dass nicht – wie zunächst angenommen – Personen, die sich selbst als vereinzelt oder desintegriert erleben, gruppenbezogen abwerten, sondern dass eine solche Entlastungsstrategie gerade von den Befragten gewählt wurde, die davon überzeugt sind, selbst eine integrierte Position einzunehmen. Ein erstes, allgemeines Postulat, das aufgrund der Analyse der Interviews aufgestellt wird, lautet somit: Eine Abwertung schwacher Gruppen, die im Zusammenhang mit einem Nichterleben von Anerkennung steht, wird insbesondere von Personen vorgenommen, die betonen, gesellschaftlich integriert zu sein. Es ist festzustellen, dass diese Personen Unverständnis und Empörung über verweigerte Anerkennung und das Erleben von Missachtung, die ihre Nützlichkeit und Wichtigkeit infrage stellen, äußern, und nicht – wie zunächst vermutet – über Ängste vor Vereinsamung berichten. Übereinstimmend mit der Soziometer-Hypothese, die postuliert, dass der Selbstwert eines Menschen ein Messinstrument für die ‚gefühlte Integration’ der Person darstellt (vgl. Leary, 2004; Leary & Baumeister, 2000; Leary et al., 1995), verfügen die betrachteten Personen über einen hohen Selbstwert. Die Ergebnisse der Interviewanalyse decken sich entsprechend ebenfalls mit der von Roy Baumeister vertretenen These, dass nicht, wie in der bisherigen Forschungsliteratur oftmals angeführt, Menschen, die über einen geringen Selbstwert verfügen, aggressives Verhalten – oder im hier vorliegenden Fall ‚aggressive’ Einstellungen – zeigen, son-
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dern dass dies gerade auf Personen mit hohem Selbstwert zutrifft (vgl. R. F. Baumeister, Boden, & Smart, 1996). Wie bereits in Kapitel 4.2 der vorliegenden Arbeit erläutert, argumentieren Baumeister et al., aggressives Verhalten resultiere aufgrund des Zusammenwirkens eines hohen Selbstwerts mit der Erfahrung einer nicht dem Selbstwert entsprechenden Reaktion durch das soziale Umfeld. „In this view aggression emerges from a particular discrepancy between two views of self: a favourable self-appraisal and an external appraisal that is much less favourable. That is, people turn aggressive when they receive feedback that contradicts their favourable views of themselves and implies that they should adopt less favourable views” (R. F. Baumeister et al., 1996 S. 8). Analog hierzu sind also feindselige Äußerungen – verbales aggressives Verhalten – der von negativen Anerkennungsbilanzen betroffenen Interviewpartner zu erwarten, wenn die Personen gleichzeitig einen hohen Selbstwert besitzen bzw. der Überzeugung sind, dass ihnen ein gesellschaftlich zentraler Platz zusteht, da dieser durch die wahrgenommenen Anerkennungsmängel angezweifelt wird. Umgekehrt wurde mit der Darstellung der Aussagen der Interviewpartnerin Inge verdeutlicht, dass ein Mensch mit geringem Selbstwert Missachtungserfahrungen eher als Beleg der eigenen Selbstzweifel auffasst und nicht dazu neigt, schwache Gruppen abzuwerten. Dies bedeutet, es entstehen für die Person keine inkongruenten Erfahrungen, die eine Entlastungsfunktion benötigen. Durch die Interviewanalyse konnte aufgezeigt werden, dass sich die Annahme der Befragten, ihnen ‚stehe’ eine zentrale gesellschaftlichen Position ‚zu’, aus der Selbstsicht speist, an wichtige gesellschaftliche Normen und Wertvorstellungen angepasst zu leben. Ein nächstes zentrales Postulat, das sich aus der Interviewanalyse ergibt, ist somit folgendes: Das Gefühl, integriert zu sein, kann aus der Wahrnehmung resultieren, an als wichtig wahrgenommene gesellschaftliche Wertvorstellungen angepasst zu leben und aufgrund dessen dem eigenen Empfinden nach ‚normal’ zu sein. Dass umgekehrt auch der Zustand der eigenen gesellschaftlichen Integration unter anderem durch die Akzeptanz gesellschaftlicher Normen widergespiegelt wird, erläutern Anhut und Heitmeyer. Die Autoren führen an, dass die Tatsache, dass ein Gesellschaftsmitglied freiwillig die gesellschaftlichen Normen akzeptiert, von seinem Grad der gesellschaftlichen Integration abhängt (Anhut & Heitmeyer, 2005 S. 86). Dieses Postulat steht im Einklang mit der hier vertretenden Annahme, dass die Selbstsicht der Interviewpartner, ein Mensch zu sein, der an gesellschaftliche Wertvorstellungen angepasst lebt, die Wahrnehmung widerspiegelt, in die Gesellschaft integriert zu sein. Anhut und Heitmeyer ziehen dieses Postulat heran, um ein Verhalten, das nicht den gesellschaftlichen Normen entspricht – Gewalthandeln –, durch einen gesellschaftlich desintegrierten Zustand zu erklären. In der vorliegenden Arbeit interessiert demgegenüber, wie Personen reagieren, die einen integrierten Status aufweisen, wenn sie durch Nichtanerkennung und Missachtung in ihrer persönlichen Integration bedroht werden. Es wurde innerhalb einer kurzen Auseinandersetzung mit den Untersuchungsergebnissen von Dörre et al. angedeutet, dass sich in den dort vorliegenden Interviews Muster finden, nach denen primär die Personen, die sich durch eine starke Angepasstheit an gesellschaftliche Normen und Wertvorstellungen auszeichnen, dazu neigen, Fremdgruppen, die ihrer Ansicht nach diesen Normen nicht entsprechen, aufgrund dessen abzuwerten. Die in der vorliegenden Arbeit geführten Interviews verdeutlichen darüber hinaus, dass solche Abwertungen insbesondere dann erfolgen, wenn die durch diese Normakzeptanz bestehende positive Selbstsicht durch das Erleben von Anerkennungsmängeln und Missachtung infrage gestellt wird. Aus welchen Gründen eine Person die
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Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs
Selbstwahrnehmung entwickelt, ein Mensch zu sein, der in besonderem Maß an gesellschaftlichen Wertvorstellungen orientiert lebt, konnte durch eine Analyse der Interviews nicht geklärt werden. Möglicherweise ergibt sich eine solche starke Normorientierung gerade aus der Erfahrung von Nichtanerkennung und Missachtung und dient dazu, über diese Normakzeptanz die gesellschaftliche Zugehörigkeit zu demonstrieren und sich hierüber ein Zugehörigkeitsgefühl zu dieser zu verschaffen. Ob das Erleben von Nichtanerkennung und Missachtung aber tatsächlich dazu beiträgt, dass eine solche starke Angepasstheit entsteht, oder ob diese aus anderen Gründen entwickelt wird, ist allerdings – wie soeben erwähnt – lediglich Spekulation und kann auf Basis der hier geführten Interviews nicht belegt werden. Die Analyse verdeutlichte also die Relevanz der Tatsache, dass die feindseligen Interviewpartner ein Selbstbild besitzen, nach dem sie an die gesellschaftlichen Wertvorstellungen angepasst leben, sich also so verhalten, wie es – ihrer Ansicht nach – als allgemein richtig und wünschenswert gilt. Zick und Küpper bezeichnen eine solche Betonung der eigenen Lebensart als der richtigen als „Verweis auf die eigene Normalität“ (Zick & Küpper, 2006 S. 116). Die Autoren zeigen anhand einer Analyse von Daten des Projekts Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit auf, was – wie bereits erwähnt – Dörre et al. anhand qualitativer Forschung verdeutlichen, nämlich dass vor allem Personen zur Vorurteilsbildung neigen, die sich darauf berufen, Menschen zu sein, die so leben, wie es üblich und richtig ist bzw. wie es die meisten Menschen tun. Vorurteile werden also insbesondere von Personen vertreten, die davon ausgehen, den Normalitätsanforderungen der Gesellschaft zu entsprechen.47 Zick und Küpper schließen hieraus, dass Personen, die sich als ‚normal’ wahrnehmen, diese Normalität als Rechtfertigungsstrategie nutzen, um Vorurteile zu vertreten. Das bedeutet, die Autoren betrachten die Frage, ob sich eine Person selbst als ‚normal’ bezeichnet, ausschließlich darauf bezogen, ob sie das Vertreten der von ihr geäußerten Vorurteile als ‚normal’ betrachtet, wenn sie anführen: „Man äußert Vorurteile und rechtfertigt sie damit, daß man ‚ja nur so denkt wie andere auch’ und daß ‚das jawohl normal sei’“ (Zick & Küpper, 2006 S. 117). Die in der vorliegenden Arbeit geführten Interviews legen allerdings nahe, dass die Annahme einer ‚eigenen Normalität’ – im Sinne der Annahme, selbst so zu denken und zu handeln, wie es für die Gesellschaft wünschenswert ist – im Zusammenhang mit der Äußerung von Vorurteilen in einem weiter gefassten Kontext zu betrachten ist, als ausschließlich bezogen auf die Legitimation der Vorurteile. So zeigt sich zwar, dass Interviewpartner, die Vorurteile äußern, diese Äußerung derart begründen, dass sie hierdurch ihre Annahme darüber, die Zustimmung zu diesen Vorurteilen sei ‚normal’, verdeutlichen. Darüber hinaus konnten die Interviews jedoch verdeutlichen, dass die Rolle der Selbstsicht als ‚normal’ ebenfalls dafür bedeutsam ist, ob in einem vorherigen Schritt Vorurteile überhaupt erst vertreten werden. Durch die Analyse der hier geführten Interviews konnte somit gezeigt werden, dass Annahmen über die ‚eigene Normalität’ zwar als Rechtfertigung von Vorurteilen dienen können, diese Vorurteile aber erst durch ein Zusammenwirken der Annahme, selbst normal zu sein, mit einer Bedrohung dieser Annahme entwickelt werden. Aus den ersten beiden Postulaten kann somit folgendes Postulat, das durch das Interviewmaterial gestützt wird, abgeleitet werden:
47 Hierbei wurden sowohl eine ‚deskriptive Normalität’ durch das Item ‚Ich denke so wie die meisten Menschen’ als auch eine ‚normative Normalität’ durch das Item ‚Ich lebe so, wie es üblich und richtig ist’ erfasst.
Zusammenfassung der Ergebnisse der qualitativen Interviews
201
Personen, die sich aufgrund ihrer Zustimmung zu bestimmten Wertvorstellungen als ‚normal’ betrachten und darüber hinaus Nichtanerkennung und Missachtung erleben, neigen dazu, mit der Abwertung von Fremdgruppen zu reagieren. Es sei darauf hingewiesen, dass bei dieser Betrachtung des Normalitätskonstrukts – anders als im Artikel von Zick und Küpper – eine klare Trennung zwischen einer ‚deskriptiven Normalität’ – einer Normalität, die sich daraus ergibt, so zu sein wie die meisten Gesellschaftsmitglieder – und einer ‚normativen’ Normalität – einer Normalität, die auf der Annahme beruht, so zu sein, wie es ‚gut und richtig’ ist – vorgenommen wird. Denn für den hier interessierenden Zusammenhang ist, wie bereits erläutert, bedeutsam, dass sich ein Mensch als ‚normal’ wahrnimmt, da er davon ausgeht, sich so zu verhalten, wie es ‚gut und richtig’ ist. Es ist also das Konstrukt der ‚normativen Normalität’ relevant. Das bedeutet, bei der betrachteten Normalität handelt es sich nicht um die Annahme, aufgrund eines für die aktuelle Gesellschaft besonders prototypischen Verhaltens oder aufgrund der Zustimmung zu einer besonders prototypischen Einstellung ‚normal’ zu sein. Vielmehr ist hiermit gemeint, dass die jeweilige Person bestimmte ihrer Verhaltensweisen und Einstellungen als prototypisch für eine – ihrer Ansicht nach – wünschenswerte bzw. ideale Gesellschaft betrachtet und aus diesem Grund eine Zustimmung zu solchen Wertvorstellungen und ein Praktizieren solcher Handlungen von anderen Gesellschaftsmitgliedern einfordert. Das bedeutet, die jeweilige Person fasst sich selbst als normal auf, weil sie davon ausgeht, bestimmte gesellschaftlich wünschenswerte und somit auch von anderen einklagbare Handlungen zu praktizieren bzw. Wertvorstellungen zu vertreten. Es handelt sich also nicht um eine Normalität, die die Personen sich zuschreiben, weil sie sich so verhalten wie der Durchschnittbürger, sondern weil sie sich so verhalten, wie es – ihrer Meinung nach – ethisch und moralisch richtig ist. Für die Entstehung von feindseligen Einstellungen ist ein Zusammenwirken aus dem Erleben von Nichtanerkennung und der Selbstwahrnehmung als ‚normal’ aufgrund einer ‚normativen Normalität’ relevant. Ein derartiges Selbstverständnis nimmt Einfluss auf die Erwartungen der Interviewpartner an die Reaktionen ihres sozialen Umfelds auf ihre – ihrer Ansicht nach – angepasste Lebensart. Das bedeutet, wer sich selbst als Person, die einer bestimmten Wertvorstellung entspricht, erlebt, erwartet, hierfür von anderen Gesellschaftsmitgliedern anerkannt zu werden. Die Intensität der Annahme einer Person darüber, wie sehr sie an welche Wertvorstellungen angepasst lebt, wirkt sich auf die Erwartung aus, Anerkennung zu erfahren. Werden diese Erwartungen nicht erfüllt, bedroht dies die Wahrnehmung, selbst ‚normal’ zu sein. Tritt die aufgrund der Annahme, selbst ‚normal’ zu sein, erwartete Anerkennung nicht ein, so wird die Annahme des Betroffenen, tatsächlich ‚normal’ zu sein, bedroht. Da die Normalitätswahrnehmung Indikator für eine integrierte gesellschaftliche Position ist, bedeutet eine Bedrohung der Normalitätswahrnehmung gleichzeitig eine Bedrohung der gesellschaftlichen Integration des Betroffenen. Ein von Desintegration bedrohtes Individuum benötigt – wie mehrfach angeführt – eine Bewältigungsstrategie, um sich seiner Integration bzw. seiner eigenen Normalität zu vergewissern. Es wird vermutet, dass das Anführen von Vorurteilen eine solche Bewältigungsstrategie darstellen kann. Wird die Eigenwahrnehmung als Person, die so lebt, wie es gesellschaftlich richtig und wünschenswert ist, durch die hiermit inkongruente Erfahrung von Anerkennungsmängeln und Missachtung infrage gestellt, so kann daraus die
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Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs
Ausbildung von Vorurteilen resultieren, um die eigene Normalität hervorzuheben, indem die Person sich selbst als Angehörige der ‚normal lebenden’ Gruppe von Angehörigen ‚nicht normal lebender’ Gruppen abgrenzt. Das bedeutet, es erfolgt eine Abwertung von ‚Unangepassten’, um die eigene Angepasstheit und entsprechend Integration zu betonen. Mummendey erläutert, dass die Definition der Gruppe, der ein Mensch ähnlich ist, nur durch die Klärung der Frage vorgenommen werden kann, welche weiteren Gruppen existieren, denen er unähnlich ist. Das bedeutet, die Identifikation einer möglichen Eigengruppe erfolgt immer in Abgrenzung zu anderen Gruppen (vgl. hierzu auch Mummendey & Simon, 1997 S. 12). Eine Identifikation mit der Gruppe derjenigen, die gesellschaftlichen Wertvorstellungen entsprechen und somit so leben wie es richtig und wünschenswert ist, kann somit dadurch hervorgehoben und betont werden, dass Gruppen aufgezeigt werden, die nicht an diese wünschenswerten Normen angepasst sind. Eine Abwertung dieser unangepassten Gruppen aufgrund der Tatsache, dass ihre Angehörigen den wichtigen Wertvorstellungen – vermeintlich – nicht entsprechen, bietet darüber hinaus die Möglichkeit, die positiven Aspekte der eigenen Angepasstheit an diese Werte zu verdeutlichen. Die Inkongruenz zwischen verweigerter Anerkennung und der Annahme, selbst so zu leben, wie es richtig und wünschenswert ist, also ‚normal’ zu sein, verstärkt das Bedürfnis, sich seiner eigenen Normalität zu vergewissern, und diese Vergewisserung wird durch Ausschluss und Abwertung von ‚nicht normalen’ Fremdgruppen praktiziert. Der beschriebene Mechanismus wird noch einmal durch Abbildung 15 visualisiert.
Wahrnehmung, aufgrund der Orientierung an als wichtig eingestuften Wertvorstellungen integriert zu sein
Bedrohung
Wahrnehmung, nicht anerkannt zu werden
Abwertung der Angehörigen der Gruppe und eigene Höherstellung Entlastung von Bedrohung
Suche nach Gruppen, deren Angehörigen eine Nichtanpassung an die als wichtig eingestuften Wertvorstellungen unterstellt wird
Abb. 15 Entlastung von Nichtanerkennung durch feindselige Einstellungen Es wird also nicht – wie bei Dörre et al. postuliert – davon ausgegangen, dass von Desintegration bedrohte Personen als Selbstschutz neue ‚imaginäre Zugehörigkeiten’ konstruieren, sondern dass insbesondere Personen, die ihre gesellschaftliche Integration darüber definieren, dass sie selbst eine ‚normale’ Lebens- und Denkweise praktizieren, durch Anerkennungsmängel
Zusammenfassung der Ergebnisse der qualitativen Interviews
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hierin bedroht werden und gerade diese Personen das Anführen von Vorurteilen über ‚Anormale’ als Bewältigungsstrategie nutzen, um die eigene Normalität und Integration zu verdeutlichen. Es wird somit postuliert, dass die Wahrnehmung der eigenen Normalität einen bedeutenden Einfluss auf den Zusammenhang zwischen Nichtanerkennung und GMF nimmt. Die Überzeugung der Befragten, selbst zu den ‚normalen’ Mitgliedern der Gesellschaft zu gehören, besitzen sie – wie nun mehrfach angeführt – aufgrund einer Lebensweise, die an gesellschaftlichen Normen orientiert ist, bzw. einer Zustimmung zu bestimmten von ihnen als richtig und verbindlich klassifizierten Wertvorstellungen. Ist es nun Funktion der geäußerten Abwertungen, sich selbst in seiner an diese Wertvorstellungen angepassten Lebensweise zu bestätigen, so bedeutet das, die vorgenommene Abwertung schwacher Gruppen ist immer an der jeweils bedrohten Wertvorstellung orientiert. Das bedeutet, die Äußerung der Abwertung geschieht nicht ‚wahllos’. Welche Vorteile vertreten werden, hängt davon ab, aufgrund welcher Wertvorstellungen die durch Nichtanerkennung bedrohte ‚Normalität’ beansprucht wird. Eine Auseinandersetzung hiermit ermöglicht, dass die hier zugrunde gelegte, zunächst einmal sehr weit gefasst Kategorie der ‚Abwertung von Gruppen’ nun näher eingegrenzt werden kann. Ein Blick auf Arbeiten zur Vorurteilsforschung zeigt, dass die von den Interviewpartnern vorgenommenen Abwertungen zwei von drei Komponenten enthalten, anhand derer Pettigrew und Meertens das von ihnen erörterte Konstrukt des „subtle prejudice“ definieren (vgl. Pettigrew & Meertens, 1995). Als Definitionskriterien dieser Art von Vorurteilen nennen die Autoren, dass sie erstens der Verteidigung traditioneller Werte dienen, zweitens die Minderwertigkeit der Fremdgruppe durch kulturelle Differenzen verdeutlicht wird und drittens positive Gefühle gegenüber der Fremdgruppe geleugnet werden. Die ersten beiden dieser Aspekte treffen ebenfalls auf die von den für die vorliegende Arbeit interviewten Personen geäußerten Stereotype zu. So wird die vermeintliche ‚Randständigkeit’ der abgewerteten Gruppe genutzt, um die Erwünschtheit der durch Nichtanerkennung bedrohten Angemessenheit von Wertvorstellungen zu verdeutlichen und die aufgrund dessen von dem jeweiligen Interviewpartner gezeigten Verhaltensweisen als ‚richtig’ zu verteidigen. Die vermeintliche ‚Randständigkeit’ wird hierbei über ‚unangemessene’ und somit als abweichend klassifizierte Verhaltensweisen, die aufgrund kultureller Unterschiedlichkeit praktiziert werden, begründet. Welche Normen als richtig und wertvoll betrachtet werden, variiert aber zwischen den Interviewpartnern. Es zeigt sich, dass alle feindseligen Interviewpartner es zunächst einmal als grundsätzlich wertvoll und ‚normal’ betrachten, gesellschaftlichen Regeln zu entsprechen und durch Regelakzeptanz gesellschaftliche Ordnung zu gewährleisten. Über die Selbstwahrnehmung, ein Mensch zu sein, der sich an gesellschaftliche Regeln, die öffentliche Ordnung stiften, hält, versichern sich die Befragten primär der eigenen Normalität. Daneben betont ein Großteil dieser Befragten den Wert der Orientierung an Leistungs-, Pflichterfüllungs- und Fleißnormen und definiert sich über die Zustimmung zu diesen Wertvorstellungen als ‚normal’. Inkongruenzen mit der Selbstsicht, ‚normal’ zu sein, können sich durch Erlebnisse von Missachtung und Nichtanerkennung auf positionaler wie auch auf emotionaler Ebene ergeben. Wie die Fallbeispiele der Interviewpartner Annette und Dirk verdeutlichen, besitzt somit die emotionale Anerkennung nicht ausschließlich eine den Zusammenhang zwischen positionaler bzw. moralischer Anerkennungsweigerung und GMF beeinflussende Funktion – wie innerhalb der Theorie der Sozialen Desintegration postuliert –, sondern kann ebenfalls selbst auslösendes Moment für die Äußerung von Vorurteilen sein. Das bedeutet, es konnte gezeigt werden, dass
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Empirische Weiterentwicklung des postulierten Zusammenhangs
auch Erlebnisse der Missachtung der personalen und kollektiven Identität im Zusammenhang mit einer Ausbildung feindseliger Einstellungen stehen können. Insbesondere die Erfahrung von positionaler und emotionaler Nichtanerkennung bedroht die Selbstsicht, ‚normal’ zu sein und kann somit auslösendes Moment für eine Abwertung schwacher Gruppen darstellen. Doch konnte nicht nur ein direkter Einfluss der emotionalen Anerkennung aufgezeigt werden. Es war ebenfalls möglich, eine den Zusammenhang zwischen positionaler Nichtanerkennung und GMF beeinflussende Funktion der emotionalen Anerkennung zu verdeutlichen. Allerdings ist dieser weniger eindeutig als durch die Theorie der Sozialen Desintegration postuliert, sondern wird im Anschluss an die Interviewanalyse als äußerst ambivalent betrachtet. Die den Zusammenhang zwischen Nichtanerkennung und der Abwertung schwacher Gruppen beeinflussende Wirkung der emotionalen Anerkennung ist ambivalent. Das bedeutet, nach einer Auseinandersetzung mit insbesondere den Aussagen der Interviewpartnerin Daniela wird postuliert, dass das Erleben personaler emotionaler Anerkennung nicht – wie zunächst angenommen – ausschließlich eine abschwächende Wirkung auf den Zusammenhang zwischen Missachtungserfahrungen und die Zustimmung zu Vorteilen ausübt. Demgegenüber wird angenommen, dass im Falle einer Person, die die Selbstsicht vertritt, ‚normal’ zu sein, der Zusammenhang verstärkt werden kann, da die emotionale Anerkennung dazu beiträgt, den Betroffenen in seiner Selbstsicht, ‚normal’ zu sein, zu bekräftigen. Das bedeutet, es wird davon ausgegangen, dass ein dreifaches Zusammenwirken aus positionaler Anerkennungsverweigerung, der Annahme der ‚Eigennormalität’ und dem Erleben personaler emotionaler Anerkennung bedeutsam für die Zustimmung zu Vorurteilen ist. Demgegenüber konnte das Fallbeispiel des Zeitarbeiters Christoph verdeutlichen, dass die Integration in eine Subkultur und die damit verbundene Erfahrung der Anerkennung der kollektiven Identität einen Ausgleich für Nichtanerkennung und Missachtung, die durch die Mehrheitsgesellschaft ausgelöst werden, bieten kann und somit einer Abwertung von schwachen Gruppen entgegenwirken kann. Wie sich zeigte, kann eine solche kollektive Identität eine Loslösung von den Wertvorstellungen der Mehrheitsgesellschaft ermöglichen und entsprechend Nichtanerkennung und Missachtung, die aus diesen Wertvorstellungen resultieren, unbedeutend werden lassen. Bezogen auf das Erleben positionaler Nichtanerkennung und Missachtung zeichnete es sich ab, dass hier Erlebnisse der Missachtung – insbesondere wenn sie durch ein Nichtgewähren von Rechten transportiert werden –, die mit einem Vorenthalten von Respekt einhergehen, als belastender erlebt werden als Erfahrungen der Nichtanerkennung, die auf einem Vorenthalten von Wertschätzung beruhen. Positionale Missachtung bedeutet Vorenthalten von Respekt, positionale Nichtanerkennung Vorenthalten von Wertschätzung. Es zeigte sich darüber hinaus, dass ein Nichterleben moralischer Anerkennung nicht als Bedrohung für die Selbstsicht, ‚normal’ zu sein, interpretiert wurde. Bei einer moralischen Nichtanerkennung durch politische Entscheidungen scheint ausschließlich die Wahrnehmung bedeutsam, persönlich im Vergleich zu anderen gesellschaftlichen Gruppen benachteiligt, also ungerecht behandelt zu werden.
Zusammenfassung der Ergebnisse der qualitativen Interviews
205
Die Wahrnehmung moralischer Nichtanerkennung stellt für sich betrachtet keine Bedrohung der Selbstwahrnehmung, ‚normal’ zu sein, dar, vermittelt aber ein Empfinden von Ungerechtigkeit. Im Zusammenhang mit der Abwertung schwacher Gruppen ist hierbei darüber hinaus relevant, wer als ‚Gruppe der Bevorzugten’ erlebt wird. Dies verdeutlicht das Gespräch mit Annette, die die Gruppe der „Ausländer“ als relativ zu sich selbst bevorzugt wahrnimmt und aufgrund dieser Wahrnehmung zum Ziel von Abwertungen macht. Die Wahrnehmung, moralisch nicht anerkannt zu werden, ist für ein Vertreten feindseliger Einstellungen relevant, wenn die abgewertete Gruppe als gegenüber der Eigengruppe bevorzugt wahrgenommen wird. Ein Einfluss der moralischen Missachtung als politischer Akteur konnte nicht festgestellt werden. Das Vornehmen von Zuschreibungen ist aber nicht nur bezogen auf die Dimension der moralischen Anerkennung relevant, sondern ebenfalls im Zusammenhang mit einem Erleben positionaler Nichtanerkennung und Missachtung. Hier ist zu beachten, dass hiermit nicht in jedem Fall die betreffende Gruppe als diejenige klassifiziert wird, die die erwartete Anerkennung vorenthält („Angehörige der Gruppe bringen mir keine Anerkennung entgegen“), sondern insbesondere indirekte Zuschreibungen bedeutsam sind, durch die die Angehörigen der Gruppe dafür verantwortlich gemacht werden, dass der Betroffene von Dritten keine Anerkennung erfährt. Dies ist z.B. im Zusammenhang mit der Verweigerung von positionaler Anerkennung von Bedeutung, wenn – wie im Falle der Interviewpartnerin Daniela – Gruppen abgewertet werden, die den Erhalt der erwarteten Anerkennung vermeintlich erschweren.
6. Ergebnisdarstellung und Perspektiven für weitere Forschung
Kerngegenstand der vorliegenden Arbeit ist das Konstrukt der sozialen Anerkennung. Wie mehrfach verdeutlicht werden konnte, umfasst dieser Begriff eine weit reichende Vielzahl unterschiedlicher Bedeutungen und wird mit den verschiedensten Handlungen in Verbindung gebracht, deren Ziel es ist, ganz unterschiedliche Funktionen zu erfüllen. Es war somit zunächst einmal notwendig, klarer einzugrenzen, welches Verständnis dem in dieser Arbeit untersuchten Anerkennungsbegriff zugrunde liegt. So wurde zunächst einmal festgelegt, dass hier die Eigenschaft dieses Konstrukts, als Modus gesellschaftlicher und gemeinschaftlicher Integration zu operieren, von zentralem Interesse ist. Das bedeutet, das Erleben oder Nichterleben von Anerkennung wurde in seiner Funktion als subjektiv wahrgenommene Manifestation eines gesellschaftlich integrierten oder desintegrierten Zustands untersucht. Ziel der empirischen Analysen der vorliegenden Arbeit war eine Auseinandersetzung mit der durch die Theorie der Sozialen Desintegration aufgestellten Hypothese über einen Zusammenhang zwischen dem Erleben verweigerter Anerkennung und der Abwertung schwacher Gruppen. Ich habe mich diesem Ziel unter Nutzung qualitative Methoden genähert, mit Hilfe derer eine Präzisierung des Postulats der Desintegrationstheorie erfolgt ist. D.h., die Zielsetzung der Arbeit war es, die Theorie durch empirisches Material näher zu beleuchten und auszuarbeiten und hierdurch ihre Erklärungskraft zu erhöhen. Als Grundlage für die geplante qualitative Forschung wurde in einem ersten Schritt zunächst einmal zwischen der objektiven gesellschaftlichen Integration auf Basis der Übernahme gesellschaftlicher Rolle und dem damit verbundenen Erhalten von sozialer Anerkennung differenziert und die hierbei identifizierten Anerkennungskategorien positionale Anerkennung, moralische Anerkennung, sozio-emotionale Anerkennung der personalen Identität und sozio-emotionale Anerkennung der kollektiven Identität wurden weiter untergliedert (vgl. Abb. 16), theoretisch genauer beschrieben und ausführlicher ausgearbeitet. Hierzu wurde erörtert, wie die jeweilige Anerkennungsart vergeben wird, wie sie verweigert wird und wie sich für den Adressaten von Anerkennung bzw. Nichtanerkennung deren Wahrnehmung darstellt. Hiermit gingen Überlegungen einher, dass es sich bei einigen Dimensionen der Anerkennung, Nichtanerkennung und dem Erleben dieser Phänomene nicht um dichotome Konstrukte handeln kann, die vorliegen oder nicht vorliegen, sondern dass es von Relevanz ist, sie hinsichtlich kleinster Abstufungen ihrer Intensität als kontinuierlich zu betrachten. Dies trifft auf die Dimensionen der positionalen Anerkennung und der Anerkennung der personalen Identität zu, wohingegen moralische Anerkennung und die Anerkennung der kollektiven Identität entweder vorliegen oder nicht vorliegen und es zwischen diesen beiden Ausprägungen keine Abstufungen gibt. Positionale Anerkennung wurde beschrieben als eine Form der Wertschätzung im Sinne Honneths, die an Leistungsnormen orientiert ist, und die einer Person für den ‚Wert’, den sie für die Gesellschaft besitzt, zuteil wird. Es zeigte sich, dass eine solche Wertschätzung sich in eine individuelle und eine kollektive Subdimension unterteilen lässt. Während eine individuelle positio-
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Ergebnisdarstellung und Perspektiven für weitere Forschung
nale Anerkennung für die spezifischen, einzigartigen Leistungen eines bestimmten Individuums vergeben wird, ist eine kollektive positionale Anerkennung auf eine bestimmte soziale Position und die ihr zugeschriebene Nützlichkeit für die Gesellschaft bezogen. Moralische Anerkennung wurde als eine Form der Achtung von Gleichwertigkeit durch die Einhaltung der jedem Bürger zugesicherten Rechte beschrieben. Es handelt sich um eine Anerkennung, die rein formal jedem Angehörigen der Gesellschaft in seiner Rolle als Staatsbürger zugesichert wird. Hiermit verbunden ist einerseits der Anspruch, den Anzuerkennenden durch staatliches Handeln relativ zu anderen Staatbürgern nicht zu benachteiligen. Das heißt, es handelt sich um eine Anerkennung, die gesichert ist, wenn nicht einige Gesellschaftsmitglieder relativ zu anderen mehr Pflichten zu erfüllen haben oder Adressaten von weniger Rechten sind. Darüber hinaus beinhaltet moralische Anerkennung die Gewährleistung des Rechts der anzuerkennenden Person, sich für ihre gesellschaftspolitischen Anliegen öffentlich einzusetzen und hierbei Gehör zu finden. Gemeint ist hierbei also keine rein rechtliche Anerkennung, die einem Menschen durch seinen Einschluss in das Recht, politisch partizipieren zu dürfen, entgegengebracht wird. Vielmehr handelt es sich um eine Anerkennung, die durch die praktische Demonstration, dass dieses Recht ernst genommen wird und Geltung besitzt, erfolgt. Bei der emotionalen Anerkennung der personalen Identität handelt es sich um eine Anerkennung, die einem Menschen durch das Praktizieren von sozialem Rückhalt innerhalb von Beziehungen, die durch eine geringe soziale Distanz gekennzeichnet sind, vermittelt wird. Hier wird der Mensch als einzigartige Person mit einer einzigartigen Biografie durch das Praktizieren von Liebe, Zuneigung oder Freundschaft anerkannt. Dahingegen ist für eine Anerkennung der kollektiven Identität nicht die Einzigartigkeit eines Menschen, sondern seine Zugehörigkeit zu einer Gruppe, also ein kollektiv geteiltes Merkmal, von Bedeutung. Diese Form der Anerkennung spiegelt sich in Achtung und Respekt wider. Gruppenzugehörigkeiten, die für eine solche Anerkennung als relevant betrachtet werden, sind solche, deren Angehörige eine bestimmte Weltsicht und bestimmte Wertvorstellungen teilen. Eine Anerkennung solcher Gruppenzugehörigkeiten findet durch das Respektieren der Andersartigkeit der Angehörigen dieser Fremdgruppe und deren Wertvorstellungen relativ zur Eigengruppe statt. Ein Angehöriger eines Kollektivs wird somit von den Angehörigen eines anderen Kollektivs dadurch anerkannt, dass diese keine Abwertung der mit seiner Kollektivzugehörigkeit verbundenen Wertvorstellungen und Symboliken vornehmen. Eine Anerkennung der kollektiven Identität bedeutet also eine Achtung von Unterschiedlichkeit durch Demonstration von Gleichwertigkeit. Die in der Theorie der Sozialen Desintegration genannten Anerkennungskategorien wurden also weiter ausgearbeitet, indem der Inhalt dieser Kategorien näher beschrieben wurde und die Kategorien hierbei weiter verfeinert wurden, so dass sich anstelle der vier in der Desintegrationstheorie genannten nun sechs Anerkennungskategorien finden, die für ein subjektives Erleben gesellschaftlicher bzw. gemeinschaftlicher Integration relevant sind.48
48 Eine ausführlichere Zusammenfassung der Ausarbeitung der Anerkennungskategorien ist in Kapitel 4.3.1 zu finden.
Ergebnisdarstellung und Perspektiven für weitere Forschung
209
Individuellfunktionale Systemintegration
Kommunikativinteraktive Sozialintegration
Kulturell-expressive Sozialintegration
Positionale Anerkennung
Moralische Anerkennung
Emotionale Anerkennung
Individuelle positionale Anerkennung
Kollektive positionale Anerkennung
Moralische Anerkennung als politischer Akteur
Moralische Anerkennung als Adressat politischer Entscheidungen
Anerkennung der personalen Identität
Anerkennung der kollektiven Identität
Abb. 16 Erweiterte Anerkennungsdimensionen In einer weiteren theoretischen Auseinandersetzung wurde anschließend erörtert, wie sich eine Verweigerung von Anerkennung bzw. die Wahrnehmung einer Person, nicht anerkannt zu werden, auf die Identität bzw. auf das Selbst des Betroffenen auswirkt. Hier wurde die Annahme aufgestellt, dass ein Erleben von Anerkennungsverweigerung bzw. Missachtung nicht unweigerlich – wie Honneth es unter Bezug auf den symbolischen Interaktionismus Meads formuliert – einen ‚Einsturz’ der Identität eines Menschen nach sich ziehen muss. Dies resultierte aus der Tatsache, dass in der vorliegenden Arbeit dem Begriff der Identität – hier bezeichnet als Selbst – ein anderes Verständnis als bei Mead oder Honneth zugrunde gelegt wird. Es wurde unter Anführung des sozialpsychologischen Ansatzes von Linville argumentiert, das Selbst einer Person setze sich aus verschiedenen unterschiedlichen Selbstaspekten zusammen, die voneinander unabhängig sein können. Eine Alltagserfahrung, die einen dieser Selbstaspekte berührt, muss nicht notwendigerweise auch einen anderen tangieren. Entsprechend ist das Erleben einer Anerkennungsverweigerung immer nur für einen oder wenige Selbstaspekte relevant und nicht für das Selbst einer Person insgesamt. Weiter wurde argumentiert, dass Anerkennungsverweigerungen – auch wenn diese vereinzelt keine ‚Gefahr’ für das Selbstkonzept darstellen – dennoch bedeutsam sind und umso bedeutsamer werden, je häufiger sie erfahren werden. Unter Bezugnahme auf die Sociometer-Hypothese Learys wurde erneut verdeutlicht,
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Ergebnisdarstellung und Perspektiven für weitere Forschung
dass das Erleben verweigerter Anerkennung und die damit verbundene Bedrohung des Selbstwerts Indikator für ihren gesellschaftlichen Ausschluss, also Indikator einer drohenden Desintegration, sind. Über die Klärung der Frage, was eine von verschiedenen Möglichkeiten sein kann, dieser Bedrohung zu begegnen, habe ich mich der Fragestellung genähert, warum das Erleben verweigerter Anerkennung die Abwertung schwacher Gruppen nach sich zieht. Wie auch innerhalb der Desintegrationstheorie wurde argumentiert, es handle sich hierbei um einen Abwehrmechanismus, um das bedrohte Selbst zu schützen. Eine genauere Auseinandersetzung mit der Frage, wie ein solcher Abwehrmechanismus gestaltet ist, wurde empirisch, auf Basis qualitativer Interviews, vorgenommen.49 Die sechs im theoretischen Teil erarbeiteten Anerkennungskategorien wurden als Erhebungskategorien zur Erstellung eines Interviewleitfadens genutzt, anhand dessen Interviews geführt wurden, die zu einer empirisch begründeten Präzisierung des durch die Desintegrationstheorie postulierten Zusammenhangs zwischen einem Nichterleben von Anerkennung und der Abwertung von Menschen aufgrund von Gruppenzugehörigkeiten herangezogen wurden. Es zeigte sich, dass von den interviewten Personen diejenigen dazu neigten, im Anschluss an das Erleben von Anerkennungsverweigerung gruppenbezogen abzuwerten, die die Selbstsicht vertraten, Menschen zu sein, die an bestimmten, von ihnen als richtig und wichtig erachteten, gesellschaftlichen Wertvorstellungen orientiert leben, die ihrer Ansicht nach für die gesamte Gesellschaft als verbindlich gelten sollten bzw. gelten. Es wurde postuliert, dass ein solches Selbstbild den Betroffenen als Indikator für die eigene gesellschaftliche Integration dient und durch die Erfahrung einer nicht gewährten Anerkennung, die Anzeichen eines potenziellen gesellschaftlichen Ausschlusses ist, bedroht wird. Es wurde anhand der geführten Interviews dargestellt, dass als Reaktion auf diese Bedrohung ein Aufzeigen von Gruppen erfolgt, deren Angehörige nach Ansicht des Interviewpartners (anders als er selbst) nicht an den (von ihm) als richtig betrachteten Wertvorstellungen orientiert leben. Es erfolgt eine Selbstabgrenzung von diesen Gruppen und zugleich deren Abwertung, indem die Wahrnehmung, dass diese nicht nach gesellschaftlich erwünschten Werten leben, betont wird und unterstellt wird, dass eigentlich diese Personen es sein sollten, denen die Anerkennung verweigert wird. Es wird somit die durch Anerkennungsverweigerung bedrohte Selbstsicht, ‚richtig und normal’ zu sein, dadurch bestärkt, dass ‚andere’, die in der Sicht des Betroffenen in Wirklichkeit nicht ‚richtig und normal’ sind, aufgezeigt werden. Mit einer solchen Darstellung dieser ‚anderen’ ist deren Abwertung und die eigene Höherstellung verbunden.50 Die Erklärungskraft der Theorie der Sozialen Desintegration wurde somit erhöht, da mit der Selbstsicht als gesellschaftlich integriert der von Anerkennungsmängeln betroffenen Person eine Variable identifiziert wurde, ohne deren Berücksichtigung der Mechanismus, aufgrund dessen das Erleben von Anerkennungsmängeln eine Abwertung von Fremdgruppen nach sich zieht, nur unzureichend beschrieben werden kann (vgl. Abb. 17). Zwar nennt die Desintegrationstheorie den Selbstwert einer Person als relevante Größe im Zusammenhang mit der Entstehung feindseliger Mentalitäten, jedoch die Tatsache, dass insbesondere die Selbstsicht, gesellschaftlich integriert zu sein, da die Zustimmung zu bestimmten Wertvorstellungen dies legiti49 Eine ausführlichere Zusammenfassung der theoretischen Ausarbeitung des Zusammenhangs zwischen Anerkennungsverweigerung und der Abwertung schwacher Gruppen findet sich in Kapitel 4.3.2. 50 Eine ausführlichere Zusammenfassung der Ergebnisse der Interviewanalyse findet sich in Kapitel 5.3.
Ergebnisdarstellung und Perspektiven für weitere Forschung
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miert, von großer Relevanz hierbei ist, konnte erst in der vorliegenden Arbeit aufgezeigt werden. Auch das Ergebnis, dass diese Selbstsicht insbesondere durch die Zustimmung zu universellen Werten westlicher Industriegesellschaften wie z.B. Leistungsstreben bzw. –bereitschaft oder Selbstdisziplin geprägt wird, trägt dazu bei, dass die vorliegende Arbeit die Erklärungskraft der Desintegrationstheorie erweitert wird. Dies gilt ebenfalls für die Erkenntnis, dass eine spezifische Selbstsicht nur durch einen spezifischen Anerkennungsmangel infrage gestellt wird und eine damit verbundene spezifische Abwertungsreaktion noch sich zieht.
legitimiert (z.B. positionale) Anerkennungsmängel
Selbstsicht als normal (da z.B. leistungsbereit
Zustimmung zu universellen gesellschaftlichen Werten
Abwertung von Fremdgruppen (z.B. als „faul“ stereotypisierten)
Abb. 17 Erhöhte Erklärungskraft der Theorie durch die empirische Analyse Nachdem also der durch die Desintegrationstheorie postulierte Zusammenhang zwischen einem Nichterleben von Anerkennung und der Ausbildung feindseliger Mentalitäten empirisch weiter präzisiert werden konnte, sollte es Ziel zukünftiger Forschungen sein, Anerkennung auch quantitativ zu erheben und festzustellen, ob der in der vorliegenden Arbeit qualitativ beleuchtete Zusammenhang quantitativ relevante Ausmaße besitzt, oder ob es sich bei den durch die geführten Interviews aufgezeigten Muster um Einzelfälle handelt. Erste Untersuchungen in diesem Bereich liegen bereits vor. So wurde auf Basis der in der in diesem Buch präsentierten erweiterten Anerkennungskategorien ein quantitatives Messinstruments zur Erfassung der Wahrnehmung, die jeweiligen Anerkennungsformen zu erhalten, entwickelt und im Rahmen von Internetpretests hinsichtlich seiner Messgüte mit zufrieden stellenden Ergebnissen überprüft. Verschiedene aus diesem Instrument entwickelte reliable und valides Kurzskalen wurden in den Fragebogen einer Vorstudie des Projektes Gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit im Erhebungsjahr 2007 aufgenommen, wodurch es ermöglicht wurde, erste quantitative Analysen über den Zusammenhang zwischen Anerkennungsmängeln und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit vorzunehmen. Da in dieser Vorstudie keine Daten über die Selbstsicht der Befragungspersonen bzw. ihre Zustimmung zu universellen gesellschaftlichen Werten erhoben wurden, ist es leider nicht möglich deren moderierende Wirkungsweise zu überprüfen und es muss sich darauf beschränkt werden, lediglich einen
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Ergebnisdarstellung und Perspektiven für weitere Forschung
direkten Zusammenhang zwischen Anerkennungsmängeln und Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zu untersuchen. In der Vorstudie wurden 203 Personen auf Basis von Telefoninterviews befragt, die am Sozialwissenschaftlichen Umfragezentrum der Universität Duisburg-Essen durchgeführt wurden. Es handelte sich hierbei um keine bevölkerungsrepresentative, aber dennoch hinsichtlich demografischer Merkmale heterogene Stichprobe. 42,4% der Befragten sind männlich. Die Alterverteilung streut zwischen 16 und 89 Jahren, mit einem Mittelwert von 44,5 Jahren. Während 1% der Befragten über keinen Schulabschluss verfügen, besitzen 13,3% einen Haupt-, Volksschul- oder Abschluss der polytechnischen Oberschule nach der 8. Klasse. 35,5% haben die Schule mit der mittleren Reife oder dem Abschluss der polytechnischen Oberschule nach der 10. Klasse beendet. 23,6% verfügen über das Abitur, die Fachhochschulreife oder einen Abschluss der polytechnischen Oberschule nach der 12. Klasse. 23,3% weisen ein abgeschlossenes Hochschulstudium auf. In der Befragung wurden unter anderem die im GMF-Projekt untersuchten feindseligen Einstellungen (Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Etabliertenvorrechte, Homophobie, Behindertenabwertung, Obdachlosenabwertung, Islamophobie und Sexismus) sowie verschiedene Anerkennungsdimensionen (kollektive und individuelle positionale Anerkennung, moralische Anerkennung als politischer Akteur und als Adressat politischer Entscheidungen und Anerkennung der personalen Identität)51 erhoben. Itemformulierungen sowie Mittelwerte, Standardabweichungen und Reliabilitäten der Skalen sind im Anhang dargestellt. Um festzustellen, welche Arten der Abwertung mit welchen Anerkennungsdimensionen zusammenhängen, werden zunächst einmal Korrelationen zwischen den Skalen berechnet. Die Koeffizienten sind im Anhang dargestellt. Es zeigt sich, dass die Anerkennung der personalen Identität lediglich zu einem der Syndromelemente, nämlich Behindertenabwertung, einen Zusammenhang aufweist. Ebenso findet sich in Bezug auf die moralische Anerkennung als politischer Akteur ein Zusammenhang zu lediglich einem Syndromelement (Rassismus). Demgegenüber hängen die zweite Facette der moralischen Anerkennung sowie die positionalen Anerkennungsformen mit mehreren Syndromelementen zusammen. Es zeigt sich, dass insbesondere die Anerkennungsarten der kollektiven positionalen Anerkennung und der moralischen Anerkennung als Adressat von politischen Entscheidungen mit den Syndromelementen Islamophobie, Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus zusammenhängen. Auf Basis dieser Erkenntnisse soll nun im Folgenden aufgezeigt werden, welche Erklärungskraft beide Anerkennungsdimensionen gemeinsam für jede dieser drei Syndromfacetten bieten. Hierbei wird sowohl die vereinte Erklärungskraft der direkten Effekte berücksichtigt, als auch mithilfe schrittweiser Regressionsmodelle zusätzlich analysiert, ob darüber hinaus ebenfalls ein Interaktionseffekt aus beiden Variablen eine signifikanten Einfluss besitzt52. Die Analysen ergeben, dass im Falle der Syndromvariablen Islamophobie und Antisemitismus bei einer gemeinsamen Berücksichtigung der Anerkennungsvariablen und ihrer Interaktion keine dieser unabhängigen Variablen mehr einen signifikanten Einfluss besitzt (siehe Anhang). 51 Die Anerkennung der kollektiven Identität wurde aufgrund von Schwierigkeiten bei der Erhebung nicht mit erfasst. 52 Zur Berechnung von Interaktionseffekten mithilfe schrittweiser Regressionen siehe Kühnel, S., & Krebs, D. (2001). Statistik für die Sozialwissenschaften. Grundlagen. Methoden. Anwendungen. Reinbek bei Hamburg. S. 558 ff.
Ergebnisdarstellung und Perspektiven für weitere Forschung
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Anders verhält es sich bezogen auf das Syndromelement Fremdenfeindlichkeit (siehe Anhang). Hier ergeben die Analysen, dass die Varianz der Fremdenfeindlichkeitsskala zu 16% durch ein Modell, das die beiden direkten Einflüsse der Anerkennungsskalen beinhaltet, erklärt werden kann (r = 0,419), wobei beide Variablen einzeln betrachtet einen signifikanten Einfluss nehmen. Die Varianzaufklärung wird noch erhöht, berücksichtigt man die Wechselwirkung der beiden Anerkennungsskalen. Der Interaktionsterm der beiden Variablen wird signifikant und erhöht den Anteil der erklärten Varianz auf 20,5%. Hierbei verschwindet der direkte Einfluss der positionalen Anerkennung, während der der moralischen Anerkennung signifikant bleibt. Das bedeutet, Personen neigen insbesondere dann zu einer Abwertung von ‚Ausländern’, wenn sie empfinden, dass sie eine soziale Position einnehmen, mit der nur ein geringes Ausmaß an Anerkennung einhergeht und aufgrund derer sie gleichzeitig durch politische Entscheidungen oftmals benachteiligt werden. Aber auch ausschließlich das Gefühl, aufgrund der sozialen Position durch politische Entscheidungen benachteiligt zu sein, begünstigt eine Zustimmung zu feindseligen Aussagen gegenüber Ausländern (vgl. Abb. 18).
Benachteiligung durch politische Entscheidungen
Benachteiligung durch politische Entscheidungen X Verweigerung von Anerkennung aufgrund der sozialen Position
Fremdenfeindlichkeit
Abb. 18 Erklärung von Fremdenfeindlichkeit durch positionale und moralische Anerkennung Diese Ergebnisse geben allerdings schon allein aufgrund der geringen Stichprobengröße lediglich Hinweise auf einen Zusammenhang zwischen Anerkennungsmängeln und der Abwertung von Fremdgruppen. Die Analysen sollten somit auf Basis einer größeren, repräsentativen Stichprobe wiederholt werden. Bei solchen weiteren quantitativen Analysen sollte darüber hinaus insbesondere eine mögliche moderierende Funktion der Selbstsicht einer Person als ‚normal’ Berücksichtigung finden, auf die die Ergebnisse der Interviewanalyse einen Hinweis geben. Können die in den Interviews aufgefundenen Muster, dass nur ein Zusammenwirken aus einem Nichterleben von Missachtung und der Selbstsicht eines Menschen bedeutsam für die Entstehung der Abwertung schwacher Gruppen ist, auch quantitativ festgestellt werden, so
214
Ergebnisdarstellung und Perspektiven für weitere Forschung
verdeutlicht dies die Wichtigkeit der Berücksichtigung sowohl von Bedingungen der gesellschaftlichen Struktur (Integrationszustand, der ein bestimmtes Ausmaß an Anerkennung mit sich bringt/gesellschaftliche Wertvorstellungen, die Voraussetzung für bestimmte Selbstsichten sind) als auch individueller Bedingungen (Selbstsicht/individuell wahrgenommene Anerkennung) bei der Untersuchung der Frage, welche Faktoren sich begünstigend auf die Entwicklung feindseliger Mentalitäten auswirken. Diese Forderung unterstellt allerdings, die strukturellen Bedingungen, in die ein Gesellschaftsmitglied eingebunden ist – bzw. sein Integrationszustand – stünden in Zusammenhang mit dem Ausmaß der von ihm erlebten Anerkennung. Diese Annahme ist allerdings zum jetzigen Zeitpunkt ein rein theoretisches Postulat, das bisher weder genauer theoretisch begründet noch empirisch untersucht wurde. Es findet sich somit ein weiterer Gegenstand künftiger Forschungstätigkeiten in der genaueren Klärung des Verhältnisses zwischen objektiver Integration aufgrund der gesellschaftlichen Position und subjektiv empfundenen Integration, die sich durch wahrgenommene Anerkennung widerspiegelt. Weitere Forschungsfragen, die im Hinblick auf die hier untersuchte Thematik interessant sind und durch die vorliegende Arbeit nicht geklärt werden konnten, sind darüber hinaus, warum einige Menschen bestimmte Wertvorstellungen als elementar für ihre Selbstsicht, normal zu sein, nutzen und auf Grundlage welcher Bedingungen diese Selbstsicht entwickelt wird. Auch die Frage danach, welche Entlastungsfunktionen außer der Abwertung von Fremdgruppen sich von Anerkennungsmängeln bedrohten Personen bieten, die sich selbst als normal wahrnehmen, konnte hier nicht geklärt werden und sollte Gegenstand weiterer Untersuchungen sein. Wenn somit auch noch ein großes Ausmaß an des Weiteren zu leistender Forschung existiert, so konnte doch die vorliegende Arbeit zur Klärung einiger bedeutsamer Fragestellungen beitragen. Denn es wurde ein Beitrag dazu geleistet, sowohl auf theoretischer (Kapitel 4) als auch auf empirischer Ebene (Kapitel 5) die Wichtigkeit des Erlebens von sozialer Anerkennung für Individuen einerseits und für das Zusammenleben unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen andererseits herauszustellen.
Anhang
Rassismus; ơ= 0,365 Item
Mittelwert Standardabweichung
Aussiedler sollten besser gestellt werden als Ausländer, 3,25 da sie deutscher Abstammung sind.
1,099
Die Weißen sind zu Recht führend in der Welt.
0,784
3,45
Fremdenfeindlichkeit; ơ= 0,651 Item
Mittelwert Standardabweichung
Es leben zu viele Ausländer in Deutschland.
2,59
1,111
Wenn Arbeitsplätze knapp werden, sollte man die in Deutschland lebenden Ausländer wieder in ihre Heimat zurückschicken.
3,00
1,416
Antisemitismus; ơ= 0,534 Item
Mittelwert
Standardabweichung
Juden haben in Deutschland zuviel Einfluss.
3,51
1,344
Durch ihr Verhalten sind die Juden an ihren Verfol3,67 gungen mitschuldig.
1,166
Homophobie; ơ= 0,703 Item
Mittelwert Standardabweichung
Es ist ekelhaft, wenn Homosexuelle sich in der Öffent2,93 lichkeit küssen.
0,988
Homosexualität ist unmoralisch.
3,33
0,864
Ehen zwischen zwei Frauen bzw. zwischen zwei Män1,91 nern sollten erlaubt sein.
1,211
Anhang
216 Sexismus; ơ= 0,708 Item
Mittelwert Standardabweichung
Frauen sollen sich wieder mehr auf die Rolle der Ehefrau und Mutter besinnen.
3,26
1,056
Für eine Frau sollte es wichtiger sein, ihrem Mann bei seiner Karriere zu helfen, als selbst Karriere zu ma- 3,48 chen. a
0,846
Etabliertenvorrechte; ơ= 0,563 Item
Mittelwert Standardabweichung
Wer irgendwo neu ist, sollte sich erst mal mit weniger zufrieden geben.
2,33
Wer schon immer hier lebt, sollte mehr Rechte haben, 2,83 als die, die später zugezogen sind.
1,416 1,71
Islamophobie; ơ= 0,634 Item
Mittelwert Standardabweichung
Muslimen sollte die Zuwanderung nach Deutschland 3,20 untersagt werden. a
1,232
Durch die vielen Muslime hier fühle ich mich 3,17 manchmal wie ein Fremder im eigenen Land. a
1,344
Obdachlosenabwertung; ơ= 0,535 Item
Mittelwert Standardabweichung
Die Obdachlosen in den Städten sind unange2,56 nehm.
1,219
Die meisten Obdachlosen sind arbeitsscheu.
3,18
1,525
Bettelnde Obdachlose sollten aus den Fußgänger2,87 zonen entfernt werden.
1,450
Behindertenabwertung; ơ= 0,688 Item
Mittelwert
Für Behinderte wird in Deutschland zu viel Auf3,46 wand betrieben.
Standardabweichung 0,810
Anhang
217
Behindertenabwertung; ơ= 0,688 Item
Mittelwert
Standardabweichung
Viele Forderungen von Behinderten finde ich 3,48 überzogen.
1,204
Behinderte erhalten zu viele Vergünstigungen.
1,045
3,52
Kollektive positionale Anerkennung; ơ= 0,878
Menschen werden unterschiedlich behandelt, je nachdem, welchen Platz sie in unserer Gesellschaft einnehmen (z.B. als Arzt, Arbeiter, Angestellter, Hausfrau/mann, Rentner, Arbeitsloser usw.) Wenn Sie an Ihren Platz in unserer Gesellschaft denken, wie gehen andere Menschen mit Ihnen um? Item
Mittelwert
Standardabweichung
Manche Menschen denken, Leute wie ich wären 2,78 weniger wert als sie.
0,965
Es gibt Leute, die meinen, dass Menschen wie 2,88 ich für unsere Gesellschaft unwichtig sind.
0,937
Es gibt Menschen, die glauben, dass Leute wie 3,00 ich für unsere Gesellschaft keinen Beitrag leisten.
0,935
Indivdiuelle positionale Anerkennung; ơ= 0,834
Bitte denken Sie als nächstes an die Arbeiten, die Sie alltäglich z.B. im Beruf oder im Haushalt zu erledigen haben. Wie gehen andere Personen mit Ihnen um? Item
Mittelwert
Standardabweichung
Manche Menschen glauben, dass ich meinen 3,29 Pflichten nicht gewachsen bin.
0,743
Es gibt Leute, die denken, dass ich meine Arbeit 3,42 schlechter erfülle als der Durchschnitt.)
0,664
Andere Leute zweifeln an meinen Fähigkeiten.
0,735
3,27
Anerkennung der personalen Identität; ơ= 0,825
Bitte denken Sie als nächstes an ihr Privatleben. Wie sehr treffen die folgenden Aussagen zu? Item
Mittelwert
Es gibt Menschen, bei denen ich mich geborgen 1,20 fühle.
Standardabweichung 0,446
218
Anhang
Anerkennung der personalen Identität; ơ= 0,825
Bitte denken Sie als nächstes an ihr Privatleben. Wie sehr treffen die folgenden Aussagen zu? Item
Mittelwert
Standardabweichung
Ich habe Kontakt zu Menschen, die sich um 1,27 mich kümmern.
0,482
Ich kenne Menschen, die mir zeigen, dass ich zu 1,19 ihnen gehöre.
0,391
Moralische Anerkennung als Adressat politischer Entscheidungen; ơ= 0,727
Ob politische Entscheidungen einen selbst zufrieden stellen, hängt auch davon ab, welchen Platz man in unserer Gesellschaft einnimmt. Wenn Sie nun noch einmal an Ihren Platz in der Gesellschaft denken, wie sehr treffen dann die folgenden Aussagen zu? Item
Mittelwert
Standardabweichung
Auf Leute wie mich wird bei politischen Ent2,12 scheidungen keine Rücksicht genommen.
0,892
In der Politik werden Entscheidungen getroffen, 2,14 die Leuten wir mir schaden und anderen nutzen.
0,862
Viele Leute werden durch politische Entschei2,21 dungen besser behandelt als Menschen wie ich.
0,847
Moralische Anerkennung als politischer Akteur; ơ= 0,672
Als nächstes geht es um Ihre Möglichkeit, darauf aufmerksam zu machen, wenn Sie gesellschaftlich oder politisch ungerecht behandelt werden. Wie sehr treffen die folgenden Aussagen zu? Item
Mittelwert
Standardabweichung
Wenn ich ein gesellschaftliches Anliegen habe, 2,36 schaffe ich es, dass es wahrgenommen wird.
0,726
Ich kann mir Gehör verschaffen, wenn meine 2,08 Interessen nicht berücksichtig werden.
0,712
Ich habe keine Möglichkeit, auf meine Anliegen 2,99 aufmerksam zu machen.
0,753
Anhang Korrelationskoeffizienten: GMF – Anerkennung Positionale Positionale Anerkennung Anerkennung - kollektiv - individuell Sexismus n.s n.s. Islamophobie 0,198* n.s. Fremdenfeindlichkeit 0,312** 0,225* Antisemitismus 0,199* 0,217* Etabliertenvorrechte n. s n. s. Rassismus n. s. 0,273** Obdachlosenabwertung n. s. n. s. Behindertenabwertung n. s. n. s. Homophobie n. s. n. s. Abwertung von Langzeitarbeitslosen ** = p < 0,01; * = p < 0,05
219
Personale Anerkennung n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. 0,246** n.s.
Moralische Anerkennung - Adressat n.s. 0,217 0,368** 0,227* n.s. n.s. n.s. n.s. n.s.
Schrittweise Regression Anerkennung/Islamophobie Nicht standardisierte Standardisierte Koeffizienten Koeffizienten Modell B Standardfehler Beta 1 (Konstante) 1,98 ,0,7 Koll. positionale Aner- 0,13 0,10 0,14 kennung Mor. Anerken0,18 0,12 0,15 nung/Adressat 2 (Konstante) 1,92 0,08 Koll. positionale Aner- 0,06 0,11 0,07 kennung Mor. Anerken0,19 0,12 0,16 nung/Adressat Interaktionsterm 0,22 0,12 0,18
Moralische Anerkennung – Akteur n.s. n.s. n.s. n. s. n.s. 0,222* n. s. n. s. n. s.
T 26,75 1,30
Signifikanz 0,00 0,20
1,45
0,15
23,79 0,58
0,00 0,57
1,55
0,12
1,77
0,08
220 Schrittweise Regression Anerkennung/Antisemitismus Nicht standardisierte Standardisierte Koeffizienten Koeffizienten Modell B Standardfehler Beta 1 (Konstante) 1,70 0,06 Koll. positionale Aner- 0,10 0,09 0,13 kennung Mor. Anerken0,16 0,10 0,17 nung/Adressat 2 (Konstante) 1,68 0,07 Koll. positionale Aner- 0,07 0,09 0,08 kennung Mor. Anerken0,17 0,10 0,18 nung/Adressat Interaktionsterm 0,11 0,10 0,11
Schrittweise Regression Anerkennung/Fremdenfeindlichkeit Nicht standardisierte Standardisierte Koeffizienten Koeffizienten Modell B Standardfehler Beta 1 (Konstante) 2,29 0,06 Koll. positionale Aner- 0,19 0,09 0,23 kennung Mor. Anerken0,27 0,10 0,26 nung/Adressat 2 (Konstante) 2,21 0,07 Koll. positionale Aner- 0,11 0,09 0,13 kennung Mor. Anerken0,28 0,10 0,27 nung/Adressat Interaktionsterm 0,27 0,10 0,25
Anhang
T 27,30 1,19
Signifikanz 0,00 0,24
1,60
0,11
24,47 0,74
0,00 0,46
1,67
0,10
1,05
0,30
T 36,56 2,28
Signifikanz 0,00 0,03
2,64
0,01
32,98 1,21
0,00 0,23
2,84
0,01
2,66
0,01
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