Ines Himmelsbach Altern zwischen Kompetenz und Defizit
VS RESEARCH Schriftenreihe TELLL Herausgegeben von Christiane ...
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Ines Himmelsbach Altern zwischen Kompetenz und Defizit
VS RESEARCH Schriftenreihe TELLL Herausgegeben von Christiane Hof, Technische Universität Flensburg Jochen Kade, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/Main Harm Kuper, Freie Universität Berlin Sigrid Nolda, Technische Universität Dortmund Burkhard Schäffer, Universität der Bundeswehr München Wolfgang Seitter, Philipps-Universität Marburg
Mit der Reihe verfolgen die Herausgeber das Ziel, theoretisch und empirisch gehaltvolle Beiträge zum Politik-, Praxis- und Forschungsfeld Lebenslanges Lernen zu veröffentlichen. Dabei liegt der Reihe ein umfassendes Verständnis des Lebenslangen Lernens zugrunde, das gleichermaßen die System- und Organisationsebene, die Ebene der Profession sowie die Interaktions- und Biographieebene berücksichtigt. Sie fokussiert damit Dimensionen auf unterschiedlichen Aggregationsniveaus und in ihren wechselseitigen Beziehungen zueinander. Schwerpunktmäßig wird die Reihe ein Publikationsforum für NachwuchswissenschaftlerInnen mit innovativen Themen und Forschungsansätzen bieten. Gleichzeitig ist sie offen für Monographien, Sammel- und Tagungsbände von WissenschaftlerInnen, die sich im Forschungsfeld des Lebenslangen Lernens bewegen. Zielgruppe der Reihe sind Studierende, WissenschaftlerInnen und Professionelle im Feld des Lebenslangen Lernens.
Weitere Titel in Planung: Cornelia Maier-Gutheil Zwischen Beratung und Begutachtung Pädagogische Professionalität in der Existenzgründungsberatung Wolfgang Seitter (Hrsg.) Professionalitätsentwicklung in der Weiterbildung
www.TELLL.de
Ines Himmelsbach
Altern zwischen Kompetenz und Defizit Der Umgang mit eingeschränkter Handlungsfähigkeit
Mit einem Geleitwort von Wolfgang Seitter
VS RESEARCH
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Dissertation Universität Frankfurt, 2008 D 30
1. Auflage 2009 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2009 Lektorat: Christina M. Brian / Britta Göhrisch-Radmacher VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16442-7
Geleitwort
Die Studie von Ines Himmelsbach verortet sich im Feld einer empirisch fundierten Alternsforschung, die den Umgang mit eingeschränkter Handlungsfähigkeit im Alter aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive in den Blick nimmt. Dabei untersucht sie sowohl aus einer institutionellen Experten- wie aus einer biographischen Betroffenensicht die unterschiedlichen Modi dieses Umgangs. Neben der phänomenologisch dichten Vermessung des Feldes ist aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive besonders interessant, dass sich die Autorin für die pädagogische Formenvielfalt, die das institutionelle Feld und die biographischen Aneignungsmuster strukturieren, interessiert. Genau in dieser Verbindung von empirisch dichter Beschreibung der sozialen Welt von Sehbehinderung und der Fokussierung auf die Formen des Pädagogischen liegt die originelle und produktive Leistung der Arbeit. Unter dem Gesichtspunkt einer erziehungswissenschaftlichen Theoriebildung, die den gesamten Lebenslauf von Menschen zum Gegenstand hat, liefert die Studie von Himmelsbach einen weiteren wichtigen Befund: die gleichzeitige und gleichwertige Betrachtung von Öffnung und Schließung, von Entwicklung und Entwicklungsbegrenzung, von Kompetenz und Defizit. Die Pädagogisierung des Umgangs mit altersbedingter Sehbehinderung erzeugt keine linearen Ablaufmodelle der Bewältigung, sondern eröffnet komplexere Formen der Strukturierung, die sich zwischen den Polen eingeschränkter Handlungsfähigkeit und biographischer Entwicklungsoffenheit bewegen. Die Studie verweist damit auf die Notwendigkeit einer behutsamen, empirisch begründeten und relativierenden Sicht auf Lern- und Bewältigungsformen im Lebenslauf, die sich eindeutigen und vordergründigen Etikettierungen entziehen und stattdessen die (changierenden) Übergänge, die Brüche und Schlaufen, die hybriden Verbindungen von Fortschritt und Fortsetzung angesichts biographischer Begrenzung in den Blick nehmen. Insofern stellt diese methodisch und sprachlich äußerst präzise gearbeitete Untersuchung nicht nur einen wesentlichen Baustein einer gerontologisch informierten erziehungswissenschaftlichen Theorie der Altenbildung dar, sondern auch einer lebensalterbezogenen Theorie der Bildung. Wolfgang Seitter
Dank
Eine derartige Arbeit ist ohne das eifrige Zutun vieler Personen nicht zu denken; diesen Menschen möchte ich an dieser Stelle aufs Herzlichste danken. Prof. Dr. Jochen Kade danke ich für sein stets offenes Ohr für inhaltliche wie persönliche Belange, er stellte einen Betreuer dar, den man sich konstruktiver nicht wünschen könnte. Prof. Dr. Hans-Werner Wahl und Dr. Kathrin Boerner danke ich für die intensive Begutachtung am Ende der Arbeit und die wertvollen Anregungen zu Beginn. Großer Dank gebührt zudem den Teilnehmern der Interpretationswerkstatt. Ihre kritischen und wertvollen Anregungen haben die Arbeit immer wieder aufs Neue vorangetrieben. Prof. Dr. Dr. h.c. Gisela Zenz danke ich für steten Zuspruch und die wertvollen Anknüpfungspunkte am Forum Alterswissenschaften und Alterspolitik. Dr. Dörte Naumann, als treue Begleiterin der Arbeit, möchte ich für den permanenten Austausch und die sprachlichen Hinweise danken. Mirko Striewski danke ich für seinen analytischen und kritischen Blick und Ursula König für die gelassene Unterstützung gerade in der Endphase. Sabine Bollig und Sandra Martini sei für Rat, Tat und Erheiterung gedankt. Danke sagen möchte ich aufs Herzlichste meinen Eltern und meiner Schwester für die liebevolle Begleitung und tatkräftige Unterstützung. Zu besonderem Dank bin ich Matthias Weismüller verpflichtet, der auch diese Etappe aufs Beste mit mir gemeistert hat und ohne dessen steten Zuspruch die Arbeit sicherlich nicht vorliegen würde. Weiterhin danken möchte ich all jenen, die hier nicht mehr einzeln aufgeführt werden können, insbesondere lieben Freunden, die durch stete Ermunterung, Aufheiterung und den Glauben an dieses Projekt unterstützend tätig waren. Schließlich möchte ich noch allen Studienteilnehmern danken, dass sie sich auf dieses Projekt mit mir eingelassen haben und mit stoischer Ruhe und großer Offenheit über ihr Leben und Arbeiten mit einer altersbedingten Sehbehinderung berichtet haben. Ines Himmelsbach
Inhaltsverzeichnis
Einleitung .......................................................................................................... 15
Teil I 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6
Theoretische Grundlagen, Untersuchungsgegenstand, Methode ................................................................................... 19
Theoretische Prämissen aus Gerontologie und Erziehungswissenschaft............................................................................. 21 Problemaufriss – Zur Dichotomisierung der Altenbildung.......................... 22 Gerontologische Theoriebildung in Bezug auf Defizit und Kompetenz...... 27 Defizitbegriff aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive...................... 32 Diskussion des Defizitbegriffs mit Blick auf die Altenbildung ................... 34 Altern und pädagogische Institutionen Empirie der Altenbildung ........... 37 Altern als Balanceakt Biokulturelle Unfertigkeit ..................................... 39
2 Formen des Pädagogischen....................................................................... 43 2.1 Ausgangspunkt zur Einnahme einer neuen Perspektive auf die Altenbildung Entgrenzungsthese.............................................................. 43 2.2 Strukturlogik des Pädagogischen Aneignung, Interaktion, Vermittlung .. 47 2.3 Prozessausschnitt im Fokus Formen pädagogischen Handelns ................ 50 2.4 Pädagogische Felder I – Das Spannungsfeld Erwachsenenbildung/ Therapie/Beratung ....................................................................................... 52 2.5 Pädagogische Felder II Das Differential Bildung - Hilfe ......................... 56 2.6 Die soziale Welt – Beobachtungsperspektive zur Beschreibung der Integration von Vermittlung und Aneignung............................................... 57 3 3.1 3.2 3.3 3.4
Sehbehinderung im Alter .......................................................................... 61 Die Besonderheit der altersbedingten Makuladegeneration ........................ 61 Untersuchungsgegenstand Betreuung älterer Sehbehinderter .................. 62 Erkenntnisse der gerontologischen Sehbehindertenforschung..................... 65 Folgen für eine erziehungswissenschaftliche Betrachtung .......................... 70
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Inhaltsverzeichnis
4 Fragestellung und Akteure ....................................................................... 71 4.1 Auf dem Weg zu den Strukturen des Lernens Älterer ................................. 71 4.2 Akteure Auswahl der Institutionen und Teilnehmer................................. 72 5 5.1 5.2 5.3
Methodisches Vorgehen ............................................................................ 77 Grounded Theory als Forschungsmethode .................................................. 77 Die Charakteristik des Forschungsprozesses ............................................... 79 Methodische Umsetzung im eigenen Forschungsprozess............................ 80
Teil II Die Perspektive der Experten................................................. 87 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7
Differenzorientierter professioneller Umgang mit der Sehbehinderung ......................................................................................... 89 Kurzporträt Frau Jansen............................................................................... 90 Analyse der Einstiegssequenz...................................................................... 91 Setting Positionierung und Ausdifferenzierung........................................ 99 Formen des Umgangs mit der Sehbehinderung im Kontext der Beratungsgruppe Vermittlungsaktivitäten .............................................. 105 Formen pädagogischen Wissens – Differenzierung und Typisierung ....... 112 Phasenhaftigkeit eines auf Dauer gestellten Beratungsangebots ............... 120 Synthese Die Beratungsgruppe als pädagogisches Arrangement ........... 127 Defizitorientierte Betrachtung der Älteren vor dem Hintergrund der eigenen Betroffenheit als Jüngere.................................................... 131 Kurzporträt Frau Meschke......................................................................... 131 Analyse der Einstiegssequenz.................................................................... 132 Setting Positionierung in einem mangelhaften Versorgungsnetz ........... 141 Formen des Umgangs mit der Sehbehinderung ......................................... 145 Formen pädagogischen Wissens Probleme und Routinen ...................... 155 Betrachtung von Phasen bei weitgehender Phasenlosigkeit ...................... 159 Zusammenfassung - Unerreichbarkeit im Vordergrund ............................ 163
Fallvergleich Professionell betreute versus selbstinitiierte Selbsthilfe ................................................................................................. 165 3.1 Settings Ähnliche Konzepte, unterschiedliche Wirkung ........................ 165 3.2 Pädagogisches Wissen – Zielgruppenorientierung vs. Eigeninteresse....... 167 3
Inhaltsverzeichnis 4 4.1 4.2 4.3 4.4
11
Integration der weiteren Experten Spektrum der Sehbehindertenhilfe................................................................................. 173 Strukturierung der Settings der Sehbehindertenhilfe ................................. 174 Formen des Umgangs in der Sehbehindertenhilfe ..................................... 178 Systematik pädagogischen Wissens........................................................... 185 Überblick über Ausgestaltung von Phasen in den Angeboten ................... 188
Teil III Die Perspektive der Betroffenen.......................................... 195 1 1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6
2 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7
3 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
Integration in die Sehbehindertenwelt als Ort des Ankommens nach der Verrentung ............................................................................... 197 Leben mit Sehbehinderung von Geburt an ................................................ 197 Deutungskontext Sehbehinderung als biographische Kontinuität .......... 199 Handlungskontext Umgangsformen mit der Sehbehinderung im Alter.. 210 Relevanz von Institutionen im Umgang mit der Sehbehinderung ............. 213 Relevanz pädagogischer Formen im Umgang mit der Sehbehinderung .... 222 Synthese Sehbehinderung im Alter als Glücksfall der Vergesellschaftung .................................................................................... 223 Hoffnung auf Heilung als biographisch geleitetes Aneignungsmuster ................................................................................... 227 Die Sehbehinderung als eine von vielen Erkrankungen ............................ 227 Auftauchen der Sehbehinderung im Interview – Ambivalenz von Kontinuität und Diskontinuität .................................................................. 228 Deutungskontext Ambivalenz zwischen überwundenen Krankheiten, beruflicher Kompetenz und Unsicherheit der Zukunft .............................. 235 Handlungskontext – Umgang mit der Sehbehinderung im Alltag ............. 238 Relevanz von Institutionen im Umgang mit der Sehbehinderung ............. 241 Relevanz pädagogischer Formen im Umgang mit der Sehbehinderung .... 246 Synthese Suche nach Heilung zwischen Kontinuität und Diskontinuität ............................................................................................ 247 Fallvergleich Formen des Umgangs und ihr Bezug zu selbst- und fremdbestimmten Defizit- und Kompetenzzuschreibungen................. 249 Verläufe von Defiziten und Kompetenzen ................................................ 249 Umgangsformen mit der Sehbehinderung ................................................. 251 Relevanz von Institutionen im Setting von Defiziten und Kompetenzen .. 251 Differenz pädagogischer Formen – Information versus Aneignung.......... 252 Sehbehindertenwelt vs. Welt des Sehens................................................... 253
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Inhaltsverzeichnis
4 4.1 4.2 4.3 4.4
Einordnung weiterer Teilnehmer........................................................... 255 Deutungskontexte einer altersbedingten Erkrankung ................................ 255 Handlungskontexte .................................................................................... 269 Relevanz von Aneignung und Vermittlung ............................................... 278 Zusammenfassung mit Blick auf Kompetenz- und Defizitzuschreibung... 281
Teil IV Die soziale Welt der Sehbehinderung und ihre pädagogischen Formen......................................................... 283 1 Die soziale Welt der Sehbehinderung .................................................... 285 1.1 Das institutionelle Arrangement aus Sicht der Akteursperspektiven......... 288 1.2 Strukturen der sozialen Welt der Sehbehinderung..................................... 293 2 Pädagogische Formen.............................................................................. 301 2.1 Relationierung pädagogischer Formen der Akteure der Sozialen Welt..... 301 2.2 Bezug auf Sinnwelten neben den pädagogischen Formen......................... 303 3
Das Netzwerk der sozialen Welt der Sehbehinderung.......................... 305
Teil V
Altenbildung in sozialen Welten – Empirische und theoretische Perspektiven .................................................... 307
Literatur .......................................................................................................... 315
Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Zusammenhang der Entwicklungen von Gerontologie, Erwachsenenbildung und Altenbildung mit Blick auf Defizite .......... 23 Abb. 2: Einordnung von Theorien der Gerontologie ....................................... 29 Abb. 3: Optimierung durch Selektion und Kompensation............................... 31 Abb. 4: Der synonyme Bezug auf ein pädagogisches Defizit und auf die gerontologische Defizithypothese....................................................... 36 Abb. 5: Graphische Darstellung der Metaebene zu Strukturbildungsprozessen im Rahmen der Universalisierungsthese.. 45 Abb. 6: Zuordnung der theoretischen Ansätze zu Betrachtungsebenen........... 46 Abb. 7: Ebenen der Betrachtung des Pädagogischen....................................... 47 Abb. 8: Kategorien auf der Ebene des Pädagogischen Wissens ...................... 51 Abb. 9: Differenzen und Übergänge zwischen Erwachsenenbildung, Beratung und Therapie........................................................................ 53 Abb. 10: Mobilisierungsereignisse .................................................................... 55 Abb. 11: Übersicht über die Betreuungsformen für ältere Sehbehinderte ......... 64 Abb. 12: Vereinfachte Übersicht über Hilfsmittel in Bezug zur Sehschärfe ..... 65 Abb. 13: Vorangenommener Weg der Betroffenen durch Institutionen der Sehbehindertenhilfe ............................................................................ 74 Abb. 14: Prozesse im Blindenbund.................................................................. 100 Abb. 15: Übersicht über die von Frau Jansen formulierten Beziehungen........ 101 Abb. 16: Schematische Darstellung der Einordnung der Teilnehmer.............. 114 Abb. 17: Phasenverlauf in der Beratungsgruppe ............................................. 122 Abb. 18: Zusammenfassung Frau Jansen......................................................... 129 Abb. 19: Schematische Übersicht über die Verweise im Rahmen der Selbsthilfegruppe .............................................................................. 142 Abb. 20: Überblick über die Phasenhaftigkeit des Angebotes der Selbsthilfegruppe .............................................................................. 160 Abb. 21: Zusammenfassung Frau Meschke..................................................... 164 Abb. 22: Übersicht der befragten Experten ..................................................... 173 Abb. 23: Zuordnung der Angebote zu Settings................................................ 174 Abb. 24: Modell über Ansatzpunkt des LPF- und O&M-Trainings ............... 182
14 Abb. 25: Abb. 26: Abb. 27: Abb. 28: Abb. 29: Abb. 30: Abb. 31: Abb. 32: Abb. 33: Abb. 34: Abb. 35: Abb. 36:
Abbildungsverzeichnis Übergänge im Angebot des Optikers ................................................ 189 Übergänge im Angebot der Augenärztin .......................................... 190 Übergänge im Angebot des Trainers ................................................ 190 Die Phase der Anbindung im Vergleich............................................ 191 Übersicht über Prozesse der Überführung in die Selbständigkeit in den unterschiedlichen Kontexten .................................................. 194 Zeittafel Frau Ebeling ....................................................................... 198 Zusammenfassung Frau Ebeling....................................................... 225 Zeittafel Frau Kirchhoff.................................................................... 228 Zusammenfassung Frau Kirchhoff.................................................... 248 Zuschreibungen von Defiziten und Kompetenzen ............................ 282 Wege der Betroffenen versus Wege der Experten ............................ 293 Netzwerk der sozialen Welt der Sehbehinderung ............................. 306
Teil I Theoretische Grundlagen, Untersuchungsgegenstand, Methode
Einleitung
„Altenbildung“ beschreibt ein empirisch stetig wachsendes Feld (Schröder & Gilberg, 2005). Programme sämtlicher Bildungsträger bieten spezielle Kurse für Senioren in vielerlei Themenfeldern an. Dies reicht von Kursen in Literatur und Kunst, bis hin zu Gedächtnistrainings, PC-Kursen und Angeboten zur Biographiearbeit (Susanne Becker, Veelken & Wallraven, 2000; S. Kade, 2007; Klingenberger, 1996). Theoretisch jedoch ist dieses Feld bislang wenig eindeutig in der Forschung verortet worden. Zwar gibt es zahlreiche Ansätze, die das Phänomen der Altenbildung zu fassen suchen, doch schon die Uneindeutigkeit der Begrifflichkeit Bildung im Alter zu benennen, als Geragogik, Gerontagogik, Altersbildung oder eben Altenbildung zeigt auf, dass es sich um ein unterbestimmtes Feld handelt, das noch weitestgehend auf der eigenen Legitimierungsebene verhandelt wird. Auffällig bei allen Ansätzen theoretischer Fundierung ist die Orientierung an Dichotomien im Themenkreis der Bildung im Alter: Maßgeblich die Unterscheidungen Defizit/Kompetenz, Drittes/Viertes Lebensalter und Abhängigkeit/Autonomie stehen Pate für dichotome Differenzierungen. Altern kann jedoch nicht als strikte Trennung zwischen drittem und viertem Lebensalter betrachtet werden, als ‚späte Freiheit’ (Rosenmayr), die sich prompt in ein Alter der Abhängigkeit verwandelt. Vielmehr muss sich die Diskussion um eine Altenbildungstheorie wesentlich weiter differenzieren um auch Grenzen auf differenten Ebenen besser in den Blick zu bekommen. Als Untersuchungsfeld, um diesem Zwischenreich und den Konsequenzen für die Altenbildung auf die Spur zu kommen, dient das Feld der Betreuung sehbehinderter Älterer beobachtet an der altersbedingten Makuladegeneration (AMD), die hauptsächlich für „Altersblindheit“ verantwortlich ist. Sie verläuft progressiv und kann bis zu einem Grad legaler Erblindung (Visuswert von kleiner 0,3) führen (Schütt & Holz, 2001). Im Alter von einer Sehbehinderung betroffen zu werden, kann vielerlei bedeuten: Das Sichtbarwerden des eigenen Alterns, die Bedrohung von Erblindung oder Unabhängigkeit, die Fortsetzung eines Lebens mit zahlreichen Erkrankungen und/oder eine Lernangelegenheit. Der Umgang mit einer im Alter eintretenden Beeinträchtigung, die mit 60 Jahren ebenso auftreten kann wie mit 90 Jahren, wird in dieser Arbeit als etwas betrachtet, dem individuelle oder institutionelle Formen von Aneignung und Vermittlung implizit sind. Um die Frage möglicher, neuartiger, Formen von Altern und
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Einleitung
Bildung in den Blick zu bekommen, werden mit Rückgriff auf die Arbeiten von Kade & Seitter pädagogische Formen im Umgang mit der Sehbehinderung aus dem empirischen Material rekonstruiert. Für die inhaltliche Untersuchung von bereits bestehenden Interventionsprogrammen, speziell für ältere Sehbehinderte, wird in dieser Arbeit somit eine erziehungswissenschaftlichen Perspektive gewählt. Dies deshalb, da die Pädagogik über das Repertoire an Formen verfügt, welche die Möglichkeiten bieten, Interventionsprogramme als Lehr-LernProzesse zu beschreiben. Aus der Perspektive der Aneignung (durch Befragung von Teilnehmern) wie der Vermittlung (durch Befragung der Experten) kann damit das „Wie?“ eines Interventionsangebotes aufgedeckt werden. Das Feld der Betreuung älterer Sehbehinderter wird somit in dieser Studie weniger von der medizinisch-therapeutischen Seite, als von institutionell-pädagogischen Interventionen betrachtet. Dieser Ansatz unterscheidet sich von klassischer hypothesentestender Interventions- und Evaluationsforschung. Diese suchen mehr die Frage der erzielten Ergebnisse einer Intervention zu beantworten. Somit steht dort nicht das Individuum mit seinen Handlungspraktiken im Blick. Vielmehr interessieren Outcomes des Wohlbefindens oder der Lebenszufriedenheit zu Messzeitpunkten vor und nach Interventionen. Zudem wird mit hypothesentestenden, quantifizierenden Verfahren die Person und der Einfluss des Kursleiters weitestgehend außer Acht gelassen. Diese Arbeit versteht sich in der Gemengelage dichotomer Diskussion als ein Plädoyer für systematisch-kontinuierliche Begriffsbildung, die der Lebenswelt und der Diskussion um die Realität des Alterns durch die Verzahnung empirischer Einblicke in Form qualitativer Analysen und theoretische Verortung gerecht zu werden versucht. Als empirische Studie angelegt, versucht diese Arbeit Differenzierungen und erste Vorschläge für eine andere Verortung der Altenbildung zu unterbreiten, indem ein Untersuchungsfeld, nämlich die exemplarische Wirklichkeit älterer Menschen, ausgewählt wurde, das sich nicht in die streng dichotomen Differenzierungswelten einordnen lässt. Die Arbeit gliedert sich in fünf Teile, die in sich abgeschlossen und somit auch einzeln lesbar sind. Teil I behandelt die theoretischen und methodischen Grundlagen der Arbeit. Die Grundlagen für die erziehungswissenschaftliche Sichtweise dieser Arbeit werden gelegt, indem anschließend an die Entgrenzungsthese und die aus ihr resultierenden Formen der Strukturrückgewinnung eingeführt wird. Durch das Aufgreifen aktueller Erkenntnisse der Altenbildungsdiskussion im Spannungsfeld von Erziehungswissenschaft und Gerontologie wird die unterschiedliche Verwendung dichotomer Begrifflichkeiten wie insbesondere Defizit versus Kompetenz aufgedeckt. Die Konzepte ‚Biokulturelle Unfertigkeit’ und ‚Altern als Balanceakt’ (P. B. Baltes, 2007) dienen als öffnen-
Einleitung
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de Konzepte, um kontinuierliche Strömungen zu beschreiben, denen Kompetenz und Defizit nur als Extrempole dienen. Bezogen auf die Empirie lässt sich diese Kontinuität im Begriff der ‚Sozialen Welt’ nach Strauss (1998) fassen. Die Nutzung des Konzeptes der sozialen Welt erlaubt es die Dimensionenvielfalt der zwei Akteursperspektiven zu beschreiben. In diesem Teil wird weiter die Sehbehinderung im Alter als Phänomen ‚akzelerierten Alterns’ (Wahl) und in seinen psychosozialen Folgen vorgestellt, um daran anschließend Thesen für eine erziehungswissenschaftliche Betrachtung auf der Basis gerontologischer Sehbehindertenforschung abzuleiten. Auf Basis dieser Prämissen wird die Fragestellung entwickelt und es werden die untersuchten Akteure der sozialen Welt der Sehbehinderung vorgestellt. Im Zentrum steht dabei die Frage nach den Formen des Umgangs mit der Sehbehinderung aus der Sicht der Institution und des Individuums. Den Abschluss von Teil I bildet die methodische Vorgehensweise der Arbeit unter Verwendung der Grounded Theory als Auswertungsmethode. Die empirischen Ausarbeitungen erstrecken sich von den Teilen II bis IV, wobei jeder Teil eine spezifische Perspektive fokussiert: Teil II widmet sich der Akteursperspektive der Experten. Mit der Darstellung zweier Fallporträts wird in die Kernkategorien dieser Perspektive eingeführt. Ergänzt wird diese Sicht durch die Beiordnung der weiteren untersuchten Angebotsformen. Die Ausdifferenzierung dient am Ende dieses Teils dazu, ein möglichst komplettes Bild über die ‚gängigsten’ Betreuungsformen für ältere Sehbehinderte zu beschreiben und die Relevanz des Pädagogischen in diesem Bereich herauszustellen. Die Akteursperspektive der Betroffenen bildet den Fokus in Teil III. Analog zu Teil II werden über zwei kontrastierende Fallporträts die wesentlichen Kernkategorien für diese Sichtweise dargestellt. Diese Kategorien beschreiben umfänglich den Umgang mit einer Sehbehinderung. Anschließend werden diese Kategorien durch die Einordnung der weiteren Betroffenen ausdifferenziert. Der letzte empirische Teil, Teil IV, relationiert unter der Schlüsselkategorie der sozialen Welt der Sehbehinderung beide Akteursperspektiven. Dabei werden sowohl die Unterschiede der beiden Akteursperspektiven wie deren gemeinsame Bezüge aufeinander ausgearbeitet sowie die aufgedeckten pädagogischen Formen relationiert. Der abschließende Teil V nutzt den empirischen Ertrag und hebt diesen auf die Ebene der theoretischen Auseinandersetzung mit Altern und Bildung. Er verfolgt das Ziel, die Diskussion eine erziehungswissenschaftliche Theorie des Alterns zu befördern, indem das Konzept der sozialen Welt für eine Fundierung der Altenbildung in ihrer Empirie vorgeschlagen wird.
1 Theoretische Prämissen aus Gerontologie und Erziehungswissenschaft
Den Umgang mit einer im Alter auftretenden Sehbehinderung zu strukturieren und zu beschreiben, ist Aufgabe dieser Arbeit. Im individuellen wie im institutionellen Umgang spielen dabei Zuschreibungen von Defiziten und Kompetenzen eine den wissenschaftlichen Diskurs tragende Rolle. Aus diesem Grund bildet die Untersuchung der Reflexion insbesondere des Defizitbegriffs und dem ihm entgegen gesetzten Konzept der Kompetenz auf theoretischer Ebene die Grundlage der theoretischen Auseinandersetzung. Die Diskussion des Defizitbegriffs bietet die Möglichkeit diesen Begriff für die Altenbildung neu zu verorten: Plädiert wird hier für die Ablösung des dichotomen Denkens. Sinnvoller erscheint vielmehr ein Denken, das Kompetenz und Defizit nur als Extrempole betrachtet, zwischen welchen sich die ganz unterschiedliche Wirklichkeit älterer Menschen verortet. Es muss immer noch ein Mangel an empirischen Arbeiten konstatiert werden, die sich generell dem Phänomen der Strukturen des Lernens Älterer widmen. Zwar halten Interventionsgerontologie (Schacke & Zank, 2004) und die konzeptuelle, ja programmatische Arbeit der Altenbildung (Hoffmann-Gabel, 2003; Klingenberger, 1996; Mötzing, 2005; Wingchen, 2004) didaktische und methodische Rezepte parat, wie für Ältere das Lernen zu gestalten sei, doch es gibt nur wenig Information darüber, wie die Beteiligten selbst, sowohl auf Institutionenseite, wie auch auf Adressatenseite mit geschaffenen Programmen umgehen1. Diese Arbeiten argumentieren zumeist nur von der Seite der Kompetenz oder vor dem Hintergrund gravierender Beeinträchtigungen (bspw. Demenz). Das Thema Sehbehinderung im Alter bietet nun die Möglichkeit eben jenes Zwischenreich zu untersuchen und die Wirklichkeit des Alterns zu differenzieren. Zwar liegen bei den Betroffenen Beeinträchtigungen im Sinne von Defiziten vor, aber nur in den seltensten Fällen führt dies zu Formen uneingeschränkter Abhängigkeit.
1 Eine wichtige Arbeit zur Aufdeckung von Strukturen des Lernens Älterer stellt die Arbeit von Sylvia Kade (2001) dar, in der sie die Strukturen selbstorganisierter Alteninitiativen über die Kategorie "reflexive Milieus" strukturiert.
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Theoretische Prämissen aus Gerontologie und Erziehungswissenschaft
1.1 Problemaufriss – Zur Dichotomisierung der Altenbildung Die Konzeptionen von Altenbildung2 resultieren zumeist aus einem Bezug auf gerontologische wie auf erwachsenenbildnerische oder sozialpädagogische Theoriebildung (S. Becker et al., 2000; Bubolz-Lutz, 2000; S. Kade, 1994, 2007). Die Zugänge sind dennoch bisweilen diffus, denn es fällt zunehmend schwerer den Gegenstandsbereich einer Pädagogik für Alte eindeutig zu bestimmen, da sich das Alter nicht trennscharf von anderen Lebensphasen abgrenzen lässt (Schweppe, 2004). In einem überblicksartigen Aufriss werden im Folgenden die immer noch vorherrschenden Aspekte einer Begriffsdichotomisierung entlang chronologischer Etappen dargestellt; dies als Einstieg in den Themenkreis meiner These zur Unterkomplexität der Altenbildung. Exemplarisch werde ich dies an den beiden Bezugsdisziplinen Erwachsenenbildung und Gerontologie aufzeigen, da diese im Fortlauf der Arbeit weiter im Zentrum stehen3. Am deutlichsten lässt sich die These anhand des Defizitbegriffs darstellen. Zur Differenzierung des Defizitbegriffs und dem damit einhergehenden dichotomen Begriff, der Kompetenz finden sich in den Disziplinen der Gerontologie und der Erziehungswissenschaft unterschiedliche Entwicklungen bei gleichzeitigem Bezug aufeinander. Weitere ordnungsgebende Dichotomien resultieren aus dieser Entwicklung. Unten stehende Abbildung gibt einen ersten Überblick über ineinander verzahnte theoretische und empirische Entwicklungsstränge. Der Betrachtung der Entwicklung der Gerontologie in Grobzügen folgt der Blick auf die Entfaltung von Theoriedebatten in der Erwachsenenbildung4. In einer zusammenfassenden Diskussion werden am Ende dieses Problemaufrisses die Folgen für die Altenbildung dargestellt.
2 In dieser Studie wird der Begriff der Altenbildung verwandt, da er zunächst als der neutralste Arbeitsbegriff erscheint. Damit soll hier zunächst offen gehalten werden, ob es sich bei dem Begriff um die Konstituierung einer eigenen Disziplin handelt oder aber um ein Konzept. Altenbildung wird hier ausschließlich in der Adressierung älterer Teilnehmer verwandt. Altersbildung (S. Kade, 2007) Geragogik (Bubolz-Lutz, 2000) und Gerontagogik (Klingenberger, 1996) sind dahingegen mit spezifischen Konzepten hinterlegt. 3 Für eine Hinwendung zur Altenbildung/Altenarbeit aus sozialpädagogischer Perspektive bildet ‚Sozialpädagogik der Lebensalter’ (Böhnisch, 2005) eine gute Einführung. 4 Aus beiden Disziplinen werden nur diejenigen Etappen herausgegriffen, die für die Entwicklung der Altenbildungsdebatte eine Rolle spielen.
Problemaufriss – Zur Dichotomisierung der Altenbildung Abbildung 1:
Zusammenhang der Entwicklungen von Gerontologie, Erwachsenenbildung und Altenbildung mit Blick auf Defizite
Dekaden
Entwicklungen in der Gerontologie
bis 60er 70er
Vorherrschendes Defizitmodell des Alters
Entwicklungen in der Erwachsenbildung
Æ Folgen für die Konzeptionen von Altenbildung
Stärkung des Weiterbildungsgedankens durch die Bildungsreform
Abgrenzung von der Erwachsenenbildung, da Ältere bereits in nachberuflicher Phase Legitimation für die Altenbildung: Ältere können und sollen Lernen Weitere Legitimation für die Altenbildung Zahlreiche Zielgruppenformulierungen für verschiedene Lebensbereiche Älterer
gerontologische Kritik am Defizitmodell durch empirische Studien aus der Intelligenzforschung 80er 90er
Altersstilforschung: Betonung der Varianz von Typen an Lebensstilen im Alter
Theorien zum ‚succesful aging’: SOK-Modell, Aktivitätstheorie
Differenzierung drittes/viertes Lebensalter seit etwa 2000
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Vermehrte Studien zum vierten Lebensalter
Durchsetzung des Konzepts des ‚lebenslangen Lernens’ Deutlichwerden der Veränderungen von Lebensstilen und Mentalitäten (‚Risikogesellschaft’, Erlebnisgesellschaft’, ‚Multioptionsgesellschaft’ Differenzorientierter Blick auf Adressaten löst den defizitbetonten Blick auf die Adressaten ab
Übersteigerung der Überwindung des Defizitmodells führt zu einseitiger Betrachtung der Älteren als unabhängig und lernfähig Fokus der Altenbildung auf drittes Lebensalter (Bildung) Ansätze zu Entwicklungsmöglichkeiten im vierten Lebensalter
In Bezug auf die Entwicklungen der Gerontologie der letzten 40 Jahre sprechen Wahl & Heyl (2004) von der ‚Konsolidierung der Alternsforschung’ (S. 107). Die Entwicklung der Gerontologie der letzten 40 Jahre in Deutschland5 zeichnet sich zunächst durch einen bedeutenden Meilenstein aus: Die Aufwei5 Der maßgebliche Bezug auf die Entwicklung der Gerontologie im deutschsprachigen Raum trägt dem Umstand Rechnung, dass sich Altenbildungskonzeptionen weitestgehend auf deutschsprachige Entwicklungen beziehen.
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Theoretische Prämissen aus Gerontologie und Erziehungswissenschaft
chung der biologisch determinierten Defizithypothese mit Anbeginn der 60er Jahre (Lehr & Thomae, 1987). Das Plädoyer, empirisch wie theoretisch, für mehr Kompetenz im Alter zieht eine Reihe von Theorieansätzen nach sich, die auf unterschiedlichen Ebenen die Defizithypothese (Altern sei einzig durch Abbau gekennzeichnet) zu widerlegen suchen (Atchley, 1989; P. B. Baltes & Baltes, 1989; Havighurst, 1963; Tartler, 1961). Den Ausgangspunkt findet diese Bewegung in der Intelligenzforschung, weitet sich zunehmend weiter aus bis zu Theorien des erfolgreichen Alterns Ende der 80er Jahre. In den 90er Jahren gerät zunehmend die Individualisierung von Lebensstilen in den Blick. Auf das Alter bezogen, findet dies in der Formulierung von differenten Altersbildern (Filipp & Meyer, 1999; Kohli, Neckel & Wolf, 1997; Lehr & Niederfranke, 1991; Palmore, 1998) Ausdruck, die sich mit der Differenzierung positiver wie negativer Altersstereotypen auseinandersetzen. Dabei ist insbesondere bei den Altersbildern nach gesellschaftlichen Fremdbildern und individuellen Selbstbildern zu unterscheiden. Während erstere von der Tendenz her dem Altern gegenüber negativ eingestellt sind, bewerten sich Ältere selbst mit 80 Jahren noch nicht als alt. Ausgelöst durch das Werk „Das dritte Alter“ von Laslett (1995), findet eine Differenzierung zwischen drittem Lebensalter, als ‚späte Freiheit’ (Rosenmayr) und einem vierten beeinträchtigen Lebensalter statt, welches von Baltes immer wieder als ‚unvollendete Architektur der Humanontogenese’ (P. B. Baltes, 1999) beschrieben wird. Empirische Untersuchungen, welche nach wie vor die Kompetenz im Fokus haben, konzentrieren sich zunächst auf die Erforschung des dritten Lebensalters. So beklagen Wahl & Heyl noch 1999 die Ermangelung von Studien zur Hochaltrigkeit (vgl. S. 53). Erst mit Ende der 90er Jahre finden vermehrt auch Studien zum vierten Lebensalter statt, das sowohl chronologisch (über 80 Jahre) wie inhaltlich (Zunahme von Multimorbidität, etc.) ausdifferenziert betrachtet wird, wie beispielsweise in Studien zur Hochaltrigkeit oder zu Demenzen, Geh- und Hörbeeinträchtigungen, Pflegebedarf, etc.. Die Entwicklung der Erwachsenenbildung in Deutschland (vgl. hierzu R. Arnold, 2001; J. Kade, Nittel & Seitter, 1999; Olbrich, 2001; Seitter, 2000) in den letzten 40 Jahren lässt sich von den wesentlichsten Leitlinien mit Bezug auf die Altenbildung mit dem besonderen Ereignis der Bildungsreform darstellen. In den 60er/70er Jahren setzt sich im Zuge der Bildungsreform ein neuer fundamentaler Begriffswechsel durch, der durch den Strukturplan für das Bildungswesen (1970) eingeführt wird: Weiterbildung wird von nun an als Wiederaufnahme des organisierten Lernens nach einer abgeschlossenen Erstausbildung definiert und damit an das allgemeine Bildungswesen rückgebunden. Weiterbildung wird damit neben schulischer, beruflicher und universitärer Bildung als quartäre Säule des Bildungswesens etabliert. Lernen wird somit zur dauerhaften
Problemaufriss – Zur Dichotomisierung der Altenbildung
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Aufgabe für alle. Der Bildungsprozess sollte nicht okkassionell, kompensatorisch und vorübergehend, sondern dauerhaft, komplementär und lebensbegleitend gestaltet werden. Diese prinzipielle Unabgeschlossenheit wurde im Begriff des lebenslangen Lernens, dessen Formulierung ebenfalls in die Zeit der Bildungsreform fällt und insbesondere von der UNESCO und der OECD lanciert wurde, noch radikalisiert. Die Typik des fertigen Selbst gerät damit in die Krise: Plastizität, Selbstentwicklungsfähigkeit sowie dauernde Rekonstruktion und Neuschreibung des eigenen Lebenslaufs ersetzten das statische, fest gefügte Erwachsenenbild und entsprechen damit der gesellschaftlichen Zumutung, flexibel, mobil, anpassungsfähig und stets lernbereit zu agieren. Weiterbildung/Erwachsenenbildung wird damit zunehmend zum Medium von Individualisierung und Biographisierung und damit zum Medium der Temporalisierung des Lebenslaufs. Weiterbildung/Lebenslanges Lernen werden somit als ein den Lebenslauf umfassender Sozialmodus etabliert und grenzen sich von den Begriffen vorheriger geschichtlicher Phasen, der Volksbildung als unspezifischer Volksaufklärung und der Erwachsenenbildung als altersspezifische Institutionalform ab (vgl. Seitter, 2000). Zeitgleich findet ein Paradigmenwechsel auf theoretischer wie auf praktischer Ebene statt. So spricht Olbrich davon, dass „die 60er Jahre […] einen Markstein in der Entwicklung der Erwachsenenbildung hin zu einer eigenen Forschungs- und Wissenschaftsdisziplin [bildeten]“ (Olbrich, 2001, S. 355) Dieser betrifft nicht alleinig die Erwachsenenbildung, sondern die Erziehungswissenschaft im Allgemeinen.
Diskussion Während in der Gerontologie ein vorherrschendes, insbesondere biologisch geprägtes Defizit vom Alter zunehmend durch differenziertere Theoriebildungsprozesse bezüglich der Integration von Theorien des ‚succesful aging’ abgelöst wird, konzentriert sich die Erwachsenenbildung in den 70er Jahren zunächst in einer Form der Verengung auf die berufliche Weiterbildung und die öffentlichen Formen von Weiterbildung – wie im Angebot von Volkshochschulen und kirchlichen Trägern vorgegeben. Beide Wissenschaftsdisziplinen gelangen trotz unterschiedlicher Ausgangslagen zu einem Punkt, an dem die Individualisierungstendenzen der Gesellschaft für den Fortgang der Forschung relevant werden. Die Gerontologie nimmt die Individualisierung über die Altersbildforschung (Filipp & Meyer, 1999) auf. In der Erwachsenenbildung hingegen wird beispielsweise mit dem Versuch der Entgrenzungsthese (Lüders, Kade & Hornstein, 1995), eine Theoriedebatte ins Rollen gebracht, welche sowohl in Bezug auf die Adressaten
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Theoretische Prämissen aus Gerontologie und Erziehungswissenschaft
selbst wie auch auf die Institutionen der Erwachsenenbildung, zunehmende Individualität und deren Risiken reflektiert. Es ist insofern ein Unterschied bei der Verwendung des Defizitbegriffs zu markieren, als die Gerontologie, wenn sie sich auf Defizite bezieht, vor allem auf biologische Abbauprozesse verweist, die unumkehrbar sind, wohingegen in den Erziehungswissenschaften der Defizitbegriff ein Verständnis der Adressaten als entwicklungsbedürftig beinhaltet. Damit wird das Defizit umkehrbar gestaltet und in Richtung Steigerungsmöglichkeiten aufgelöst. Altenbildung als noch wenig theoretisch fundiertes Feld bedient sich der Theorie aus beiden Disziplinen, legt ihren Fokus jedoch eindeutig auf die Negierung des Defizits. So liegen erste Legitimierungsbemühungen der Konstitution einer Altenbildung in der Abgrenzung von Erwachsenenbildung begründet, die auf berufliche Weiterbildung (vgl. Wallraven, 1999, S. 309) fokussiert. Zudem bildet die Widerlegung der biologischen Defizithypothese den Nährboden für die weitere Legitimierung: Ältere sind aufgrund der Ergebnisse der Intelligenzforschung entwicklungs- und lernfähig und stellen damit Adressaten für eine zu konstituierende Altenbildung dar. In den 80er Jahren spielt der aufkommende Begriff des ‚lebenslangen Lernens’ der Entwicklung in die Hände, indem Lernen im Alter nicht mehr eigens über das Ende der Beruflichkeit hinaus legitimiert werden muss. Der Individualisierungsgedanke in beiden Grundlagendisziplinen führt zur Ausdifferenzierung der Altenbildung hinsichtlich von Programmen und Zielgruppenformulierungen. Theorien des erfolgreichen Alterns werden jedoch nicht als deskriptive Ansätze aufgenommen, sondern vielmehr programmatisch eingesetzt. Sie führen in der Altenbildung zum Paradoxon einer einseitigen Betrachtung Älterer von der Warte der Kompetenz aus. "Die Altenbildung erkannte sofort, welche Impulse für die Bildungsarbeit von der Verzahnung des Kompetenzbegriffs mit Forschungsergebnissen über die Intelligenzentwicklung älterer Menschen und ihrer Lernkapazitäten [...] sowie mit dem Aktivitätsparadigma ausgehen. Entsprechend formulierte sie zahlreiche Kataloge von Qualifikationen und Fähigkeiten, deren Erwerb [...] eine Voraussetzung für die Bewältigung solcher Aufgaben ist, die wiederum ein erfolgreiches Altern ermöglichen." (Wallraven, 1999, S. 308)
Differenzierungen nach drittem und viertem Lebensalter verschärfen diese Tendenzen, indem sich Altenbildung zunehmend auf das dritte Lebensalter fokussiert und das vierte Lebensalter dem medizinischen System überlässt. Erst in jüngster Zeit entwickelt die Altenbildung Konzepte, die auch noch im vierten Lebensalter Entwicklungsmöglichkeiten bieten (Bubolz-Lutz, 2000). Durch die einseitige Fokussierung auf entweder drittes oder viertes Lebensalter, bleiben jedoch mildere Einschränkungen für die Bearbeitung im Spektrum
Gerontologische Theoriebildung in Bezug auf Defizit und Kompetenz
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von Altenbildung unterbeleuchtet. Dies erscheint insofern bedenkenswert, als diese Zwischenformen von Abhängigkeit und Unabhängigkeit gerade für das zunehmende Alter mehr und mehr an Bedeutung erlangen. Damit sind die Auffälligkeiten der Entwicklung der Altenbildung im Spannungsfeld von Gerontologie und Erziehungswissenschaft kurz aufgezeigt, diese Entwicklungen näher zu beleuchten, ist Aufgabe der nächsten Abschnitte.
1.2 Gerontologische Theoriebildung in Bezug auf Defizit und Kompetenz In der Vielfalt der gerontologischen Theoriebildung (Lehr, 2000; Wahl & Heyl, 2004) schlägt sich die Behandlung von Defiziten und die Stärkung von Kompetenzen vornehmlich in den Defizitmodellen und Theorien des erfolgreichen Alterns nieder. Zur gerontologischen Theoriebildung werden verschiedene Ordnungsmodelle vorgeschlagen. Der Ordnungsversuch von Lehr (2000), welcher psychosoziale Theorien des Alterns durch die Verbindung einer inhaltlichen mit einer chronologischen Sortierung klassifiziert, untergliedert nach sieben Ordnungspunkten:
Defizitmodelle Phasen- und Verlaufstheorien Theorien des erfolgreichen Alterns Wachstumstheorien Copingmodelle Kulturanthropologische Theorien und Multikausale Modelle von Langlebigkeit und Wohlbefinden
So beschreibt Lehr (2000) die inhaltliche Ausrichtung und Ausdifferenzierung gerontologischer Theorien folgendermaßen: "Von hier aus gesehen werden zunächst die "mechanistischen" Defizitmodelle des Alterns erörtert. Während diese einen Abbau von psychischer Funktionsfähigkeit im Alter konstatieren, stellen so genannte Phasen- oder Verlaufstheorien neue Muster des Erlebens und Denkens im Alter fest. Unabhängig von solchen Verlaufstheorien entstanden verschiedene Theorien eines erfolgreichen Alterns. Diese suchten und suchen der Zielsetzung psychosozialer Gerontologie gerecht zu werden [...]. Das Ziel wurde darin gesehen, älteren Menschen zu helfen, besser zu leben. Allerdings so bekennt HAVIGHURST - bestehe kein Unterschied darin, was unter ‚besser leben’ zu verstehen ist. So erklären sich die Unterschiede zwischen Disengagement-
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Theoretische Prämissen aus Gerontologie und Erziehungswissenschaft Theorie, Aktivitätstheorie, Kontinuitätstheorie, Theorie der selektiven Optimierung und Kompensation." (Lehr, 2000, S. 45)
Demnach beschreiben Defizitmodelle vor allem den biologischen und psychischen Abbau im Alter, während Theorien des erfolgreichen Alters deskriptive Elemente herauszustellen versuchen, die es dem älteren Menschen ermöglichen besser zu leben. Da dieses ‚besser’ aber nicht voraussetzungslos geklärt werden kann, entwickeln sich im Bereich des erfolgreichen Alterns verschiedene Theoriestränge, wie die
Aktivitätstheorie (Havighurst, 1963; Tartler, 1961), mit der Grundannahme, dass Zufriedenheit aus Aktivität und Funktionshaftigkeit bestehe Kontinuitätstheorie (Atchley, 1989), mit der Grundannahme, dass erfolgreiches Altern durch die Herstellung von innerer wie äußerer Kontinuität6 gewährleistet werden kann Theorie der selektiven Optimierung und Kompensation (P. B. Baltes & Baltes, 1989) Disengagement-Theorie (Cumming & Henry, 1961), die zunächst alle Ansätze in Frage stellt, indem sie argumentiert, der ältere Mensch wünsche sich eine ‚soziale Isolierung’, da die Forderung nach Steigerung der Aktivität im Alter, die Einstellung auf den herannahenden Tod verhindere.7 In der wissenschaftlichen Debatte wird sie als eine Theorie der Defizit-Perspektive gehandelt, gegen die aufgrund der alles bestimmenden Macht von positiven Alternsbildern, jahrzehntelang angekämpft wurde.
Gegenüber diesem Ansatz der Gliederung gerontologischer Theorien schlagen Wahl & Heyl (2004) eine Ordnung entlang der Aspekte Veränderungs- und Kontinuitätstheorien vor, die in einem Vierfelderschema weiter differenziert wird nach der Betonung universeller und differentieller Elemente. Dabei interessieren in meiner Aufzählung vor allem die Metatheorien. Unter Veränderungstheorien universeller Natur werden Theorien eingeordnet, die alternsbezogene Verände6 Innere Kontinuität bezeichnet dabei die Fortdauer psychischer Einstellungen, der Affektivität, der Erfahrungen und Fähigkeiten. Äußere Kontinuität hingegen bezeichnet die Vertrautheit des Verhältnisses von psychischer und sozialer Umwelt, im Sinne vom Erleben und Ausüben von Handlungen in vertrauter Umwelt mit vertrauten Personen (vgl. Lehr, 2000, S. 63f.) 7 Die Diskussion Disengagement-Theorie versus Aktivitätstheorie kann wohl als prominenteste Theoriedebatte der Gerontologie bezeichnet werden: Immer wieder wird diese Theorie als überholt beschrieben, doch kennzeichnet sie sich durch die Besonderheit, dass sie die Mikroebene individuellen Alterns mit der Makroebene des gesellschaftlichen Umgangs mit Älteren zu verbinden sucht. Zudem sollten die biologischen Verluste als Teil des Systems betrachtet und integriert werden und durch das Disengagement neutralisiert werden.
Gerontologische Theoriebildung in Bezug auf Defizit und Kompetenz
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rungen behandeln, die weniger auf die Unterschiede zwischen Personen zielen. Dementsprechend betonen Veränderungstheorien differentieller Natur, die Unterschiede der Veränderungen zwischen Personen. Selbiges gilt für die universelle und differentielle Dimension der Kontinuitätstheorien. Als Kontinuitätstheorien behandeln sie allerdings altersbezogene Stabilität (vgl. Wahl & Heyl, 2004, S. 137). Abbildung 2:
Veränderungstheorien
Kontinuitätstheorien
Einordnung von Theorien der Gerontologie (nach Wahl & Heyl, 2004, S. 140f) Betonung universeller Elemente (überindividuell) Gewinn-Verlust-Entwicklungsmodell SOK-Modell – zunehmende Notwendigkeit von Selektion, um weiterhin Gewinne zu erzielen; Notwendigkeit stärkerer Kompensation Kontrolltheorien – Zunahme sekundärer Kontrollstrategien Kontrolltheorien – Bewahrung primärer Kontrolle auch im höheren Lebensalter SOK-Modell- Bewahrung von ‚Entwicklung’ und Optimierung auch im höheren Lebensalter
Betonung differentieller Elemente (individuell verschieden) Biographische Determinanten des Alterns – veränderungsauslösend im höheren Lebensalter/Alternsformen Interindividuelle Variation von intraindividueller Entwicklung über die Lebensspanne Biographische Determinanten des Alterns – kontinuitätsstützend Kontinuität im Wandel
An der von Wahl & Heyl beschriebenen Meta-Ebene ist bemerkenswert, dass die thematisierten Theorien von Baltes und Thomae sowohl kontinuierliche wie diskontinuierliche Aspekte mitbedenken. Altern besteht zu einem guten Teil aus Stabilität, aber auch aus Veränderung. Umso bedeutsamer ist es darauf hinzuweisen, dass zuweilen ‚Normsetzungen’ (Wahl & Heyl) diese Differenziertheit unterschlagen: "Auch laufen Theorien […] bisweilen Gefahr, Präskriptionen, d.h. Normsetzungen, vorzugeben. So könnte man etwa die Aktivitätstheorie dahingehend verstehen, sie wolle alten Menschen vorschreiben, dass nur aktives Altern auch gutes Altern sei. Lebenslaufansätze könnten auch so verstanden werden, dass im Laufe des Lebens bestimmte Stufen oder Krisen durchlaufen werden müssen, damit am Ende Altern gelingen kann. Solche impliziten oder expliziten normativen Elemente in Theorien sind problematisch, und es ist schon viel gewonnen, wenn sie […] deutlich erkannt werden." (Wahl & Heyl, 2004, S. 153)
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Theoretische Prämissen aus Gerontologie und Erziehungswissenschaft
Da meines Erachtens in der Altenbildung genau diese Normsetzung geschehen ist, möchte ich im Folgenden beispielhaft auf die Theorie der selektiven Optimierung mit Kompensation (SOK-Modell) eingehen. Diese Theorie ist die weithin am häufigsten zitierte Theorie im Rahmen der Altenbildung.
Ein psychologisches Modell erfolgreichen Alterns: Theorie der selektiven Optimierung mit Kompensation Baltes und Baltes (1992) bezeichnen als Brennpunkt der Gerontologie den Versuch „eine Theorie und Praxis des ‚guten’ Alter(n)s vorzulegen“ (S. 25). Aufgrund der Komplexität der Messung des Alters als gut oder erfolgreich schlagen sie Kriterien vor, die für die Erforschung einer solchen Theorie in Betracht kommen. Es handelt sich dabei um „Lebenslänge, körperliche Gesundheit, seelisch-geistige Gesundheit, soziale und gesellschaftliche Produktivität, psychosozialer Entwicklungsstand, Lebenssinn, Lebenszufriedenheit und Selbstwirksamkeit beziehungsweise persönliche Handlungskontrolle“ (ebenda, S. 26) Die in diesem Modell vorgeschlagene Vorstellung von erfolgreichem Altern, damit Ausdruck von Kompetenz, bezieht zwar diverse Kategorien mit ein, sieht jedoch längeres Leben als Zielvariable: "Gutes oder erfolgreiches Altern liegt dann vor, wenn im Durchschnitt, bei gleichzeitiger Minimalisierung von körperlicher, mentaler und sozialer Gebrechlichkeit beziehungsweise deren psychischer Bewältigung (Coping), immer länger gelebt wird." (ebenda, S.27)
Zur Erlangung des Ziels des erfolgreichen Alterns schlägt Baltes das in Abb. 3 dargestellte Modell vor: Bezogen auf dieses Modell stellt ‚Kanalisierung’ den Ausdruck der Individualität im Alter dar. Zudem muss Altern immer eine gewisse Beschränkung beinhalten, was die Bandbreite des Realisierbaren anbelangt (bspw. chronische Erkrankungen, die Nähe des Todes). ‚Entwicklungsmöglichkeiten’ bezeichnet die Tatsache, dass es bestimmtes Wissen und bestimmte Lebensformen geben kann, die durch langes Leben und die Bewältigung von schwierigen Lebensaufgaben gefördert werden, damit also die Stärken des Alters darstellen. Die Ergebnisseite ist Ausdruck einer individuellen, den Lebensumständen angepassten Alter(n)sstrategie. Drei Prozesse sind dafür verantwortlich: Optimierung (Training), Selektion (sich weniger vornehmen), Kompensation (altersfreundliche Verkehrstechnologie).
Gerontologische Theoriebildung in Bezug auf Defizit und Kompetenz Abbildung 3:
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Optimierung durch Selektion und Kompensation (Quelle: Baltes & Baltes, 1992)
Vorbedingungen
Entwicklung und Altern als Spezialisierung (Kanalisierung)
Mechanismen
Ergebnis
Optimierung
Eingeschränktes aber selbstwirksames Leben
Selektion Verlust an biologischen Entwicklungsund Kapazitätsreserven
Kompensation
Altersspezifische Entwicklungsmöglichkeiten (Kultur des Alters)
Verdeutlicht wird dies von Baltes immer am Exzellenzbeispiel Rubinstein: Dem Pianisten wird nachgesagt, dass er die Schwächen des Alters dadurch bezwang, dass er weniger Stücke spielte (Selektion), diese häufiger übte (Optimierung) und vor schnelleren Passagen Verlangsamungen einführte, um so das Nachfolgende durch die Kontrastierung schneller erscheinen zu lassen (Kompensation) (vgl. P. B. Baltes & Baltes, 1992, S. 29). "Entwicklung wird also verstanden als Prozess, der Gewinne und Verluste umfasst, wobei die Gewinne auch in der weiteren Differenzierung der Persönlichkeit als Ergebnis der gelungenen Auseinandersetzung mit Grenzen des Lebens sind. Bildung (in ihrer anregenden, unterstützenden und kompensatorischen Funktion) wird begriffen als Prozess und als Ergebnis der aktiven Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Person und seiner Umwelt. Beides legt eine Definition von Kompetenz nahe, die zwischen Merkmalen der Person und der Umwelt differenziert und erfolgreiches Altern als Ergebnis einer gelungenen Wechselwirkung zwischen Person und Umwelt interpretiert. " (Kruse, 2001, S. 558)
Neben den Fortschritten, die das SOK-Modell für die Gerontologie und sicher auch für die Altenbildung gebracht hat, muss doch kritisiert werden, dass durch den Fortschritts- und Entwicklungsglauben dieses Modells, Defizite im klassischen gerontologischen Sinne zunächst aus dem Blick geraten sind. Für jedwede Einschränkung sind Mechanismen der Kompensation vorhanden. Defizite werden somit wegselektiert. Von den Theorien des guten Alterns geht ein Appell in
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Theoretische Prämissen aus Gerontologie und Erziehungswissenschaft
Richtung Altenbildung aus, der erklären kann, warum Altenbildung explizit auf Kompetenz und drittes Lebensalter fokussiert8: "Je höher die allgemeinen körperlichen, mentalen und sozialen Kapazitätsreserven, desto wahrscheinlicher wird gutes Altern, gleichgültig nach welchem Kriterium man es bestimmt (Baltes & Baltes, 1992, S. 26).
Und mit diesem Zitat wird zudem die Zielgruppe definiert. Es bedarf Menschen mit hohen Kapazitätsreserven, um das pädagogische Programm rechtzeitig anlaufen zu lassen und damit den optimalen Ertrag zu erhalten.
1.3 Defizitbegriff aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive Die Selbstbeschreibung der Erwachsenenbildung ist in dem Leitbild des autonomen Erwachsenen fundiert, der selbstbestimmt und eigenverantwortlich Bildungsinteressen verwirklicht (vgl. S. Kade, 2001). In Bezug auf Altern kommt damit eine Leitdifferenz zum Tragen, die zwischen dem „autonomen“ Erwachsenen und dem „abhängigen“ Alter trennt. Von erziehungswissenschaftlicher Theoriebildung her betrachtet, als Beispiel einer Ordnung sei der Vorschlag von Kade, Nittel & Seitter genannt, spielt diese Polarisierung, der die Dichotomisierung kompetent versus abhängig inhärent ist, kaum eine Rolle. Kade, Nittel & Seitter (1999) beschreiben als systematische Ordnung der Theorieansätze unter Berücksichtigung der Dimension des Verhältnisses von Institution und Subjekt vier typische Zugänge (S. 61) und entwickeln aus diesen einen weiteren fünften Zugang:
einen institutions- und professionsorientierten Zugang einen bildungszentrierten Zugang einen lebenslauforientierten Zugang einen subjektorientierten Zugang sowie die Entwicklung eines relationsorientierten Zugangs
Im institutionszentrierten Zugang wird die institutionell-professionelle Thematisierungsperspektive verbunden mit Planungs- und Gestaltungsansprüchen. Dabei wird die Defizitbestimmung des Adressaten institutionell definiert. Der bildungszentrierte Zugang verbindet die Fokussierung auf selbstbestimmte Lern- und Bildungsprozesse mit der Perspektive ihrer institutionellen Nicht-Gestaltung bzw. Nicht-Gestaltbarkeit. Die Perspektive wird auf das sich bildende Subjekt 8
Für eine umfassende Kritik am SOK-Modell, siehe Lehr (2000, S. 65)
Defizitbegriff aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive
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gerichtet und dementsprechend ein Defizit an den Adressaten gesellschaftlich und wissenschaftlich definiert. Die Verantwortung für den Bildungsprozess liegt bei den Subjekten. Im lebenslauforientierten Zugang wird vor dem Hintergrund der Unterscheidung von Institution und Organisation auf unterschiedliche Institutionalisierungsformen des Lernens im Lebenslauf Erwachsener abgehoben. Dieser verbindet eine umfassende Aufmerksamkeit für institutionell verantworte Bildungsprozesse einerseits mit dem Gesamtspektrum selbstorganisierten Lernens. „Erwachsenenbildung erscheint dabei nur noch als eine (Durchgangs)Station des lebenslangen Lernens.“ (J. Kade et al., 1999, S. 74). Lernen kann nun in sozialen Bewegungen, Freizeitgestaltung, Medien oder im Alltag beobachtet werden. „Er ist damit einerseits offen für Varianten, die den Akzent des Wechselverhältnisses auf die institutionelle Seite setzen und von Lerndefiziten beim Erwachsenen ausgehen […], auch wenn dem Erwachsenen in eingeschränktem Maße Fähigkeiten zur selbstorganisierten Identifizierung und Aufhebung seiner Lerndefizite zugeschrieben werden.“ (ebenda, S. 79). Der subjektorientierte Zugang schließlich ist dadurch gekennzeichnet, dass er die umfassende (eher pädagogische) Fokussierung auf einerseits institutionell verantwortete und andererseits selbstorganisierte Lern- und Bildungsprozesse mit der (eher erziehungswissenschaftlichen) Annahme ihrer Nicht-Gestaltbarkeit verbindet. Er unterstellt eine Differenz der Handlungslogiken wie Handlungsrationalitäten zwischen Erwachsenenbildung und Erwachsenen. Damit wird der Adressat nicht mehr defizitbezogen, sondern differenzbezogen betrachtet. Differenzbezogen bedeutet dabei, dass nicht die Engführung auf Institution oder Subjekt in den Blick genommen wird, sondern vielmehr das Interesse an der Vielfalt von Aneignungsprozessen der gesamten Lebensführung in den Vordergrund tritt. Die Entwicklung des relationsorientierten Zugangs schließlich trägt dem Umstand Rechnung, dass die Komplexität und Entwicklungsdynamik des Lernens Erwachsener nur unter dem Bezug auf die vier vorgestellten Ansätze möglich erscheint (vgl. J. Kade et al., 1999). Aus diesen kurz skizzierten Verhältnissen von Institution und Subjekt lassen sich Schlüsse auf einen erziehungswissenschaftlich definierten Defizitbegriff ableiten. Der erziehungswissenschaftliche Defizitbegriff bestimmt das Verhältnis von Lehrendem zu Lernenden, von Institution zu Subjekt. Entwicklungsfähigkeit wird durch die Etablierung eines Defizits nicht ausgeschlossen, vielmehr stellt es den Ausgangspunkt für Steigerung und Fortsetzung dar.
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Theoretische Prämissen aus Gerontologie und Erziehungswissenschaft
1.4 Diskussion des Defizitbegriffs mit Blick auf die Altenbildung Die Diskussion des Defizitbegriffs, der in den beiden Disziplinen Erziehungswissenschaft und Gerontologie unterschiedlich definiert ist, findet sich in der Altenbildungsdebatte mit den jeweilig definierten Bezügen. Zunächst wurde der Altenbildung die Zuständigkeit für das von Fremdhilfe abhängige Alter zugeschrieben (vgl. B. Arnold, 2000; S. Kade, 2001). Diese Annahme spiegelt angeblich die Rezeption einer gerontologischen Defizithypothese wieder. Es bestehen Defizite und die Altenbildung hat die Aufgabe diese auszugleichen und durch Steigerung zu ersetzen. Dies ist von der Altenbildung her damit zu begründen, dass die Konstitutionsphase der Gerontologie in jene Phase fällt, die in der Erwachsenenbildung durch den Siegeszug des Weiterbildungsgedankens geprägt war (vgl. Wallraven, 1999). Somit musste für eine nachberufliche Pädagogik zunächst Abstand geschaffen werden. Diese Generierung von Abstand führte zu zwei Entwicklungstendenzen in der Konzeption von Altenbildung: Auf der einen Seite entstehen Konzepte, die sich mit Bezugnahme zur oben genannten Leitdifferenz voll und ganz auf die „autonomen“ Alten konzentrieren und als Grundlage dafür den Allgemeinbildungsgedanken stark in den Vordergrund stellen. Auf der anderen Seite entstehen Konzepte, die eher für das „abhängige“ Alter denken und Autonomie und Zufriedenheit als pädagogisch zu bearbeitende Zielvariablen anstreben (Bubolz-Lutz, 1984; Klingenberger, 1992). Bei letzteren handelt es sich um Ansätze, die sich eher der Gerontologie verschreiben und durch ihre enge Bindung an sie einen Verzicht auf eine differenzierte Bildungsdebatte tolerieren und vielmehr mit diesem Begriff instrumentell umgehen: Diese Ansätze betrachten das Individuum als ‚Bildungsgefäß’, das mit bestimmten Kompetenzen anzufüllen ist (vgl. Wallraven, 1999). Sie verschreiben sich damit eher ‚Theorien des erfolgreichen Alterns’ (vgl. Lehr, 2000). Eine differenzierte Orientierung an der Theoriebildung der Erwachsenenbildung findet allerdings kaum statt. Dementsprechend mangelt es an Ansätzen, die sich an der aktuellen Erwachsenenbildungsdiskussion orientieren. Bei allen Bemühungen um Ansätze zur Altenbildung wäre jedoch zu erwarten, mit Rückgriff auf eine Erwachsenenbildungsdiskussion, dass nicht diese Leitdifferenz von Autonomie und Abhängigkeit in den Vordergrund tritt, sondern dass plurale Bildungsangebote geschaffen werden, welche bei der Differenzierung im Alter ansetzen und Differenzierung anerkennen (vgl. S. Kade, 2001). Denn es ist zu konstatieren, dass sich Alter und Lernbemühungen nicht automatisch altersspezifisch, sondern vielmehr biographie- und lebensphasenspezifisch gestalten. Diese Erkenntnisse sind sowohl aus der Gerontologie, als auch der Erziehungswissenschaft ableitbar.
Diskussion des Defizitbegriffs mit Blick auf die Altenbildung
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Dennoch ist in der Praxis der Altenbildung anderes geschehen. In „einer Art Vorwärtsstrategie hat sich die Altersbildung der letzten Jahre von dem Negativimage der Zuständigkeit für das ‚abhängige’ Alter zu befreien versucht und sich mit ihrem Zielgruppenprogramm vor allem an das ‚autonome’ Alter gewandt. Mit der einseitigen Förderung des autonomen Alters bzw. des ‚jungen Alters’ durch die Altersbildung wird die Kluft zwischen dem autonomen und abhängigen Alter vertieft und dieses in die Zuständigkeit der auf Betreuungsarbeit spezialisierten Altenarbeit, wenn nicht gar des Gesundheitssystems entlassen“ (S. Kade, 2001). Zudem fördert die praktische Altenbildung mit einer derartigen Entwicklung die Phantasie eines Steigerungsdiskurses, der die Problematiken des Schwundes und der Endlichkeit des Lebens nicht ernst nimmt. Gerade aufgrund der Bemühungen um Eigenständigkeit als Disziplin Altenbildung kreist der Diskurs zu Inhalten längst nicht mehr nur um die Themen Nachholen von Bildungsdefiziten oder um Bildung im Allgemeinen. Es werden, nun mit Rekurs auf die Gerontologie, Themen wie Erhalt der Selbständigkeit, das Altern lernen, oder Kompetenzen aufrechterhalten mit in den Katalog der Angebote aufgenommen. Aber gerade hier an der Schnittstelle von Gerontologie und Altenbildung scheint mir eine interdisziplinäre Vermengung in Bezug auf den Begriff des Defizits zu herrschen. Bei der Aufdeckung dieser Vermengung geht es um die Rezeption von Metatheorien der Gerontologie in der Altenbildungsdiskussion. Im Rahmen der Bildungsdiskussion beschränkt sich diese Rezeption auf zwei Theoriestränge: Defizithypothese (‚Abbau’) versus Aktivitätstheorie (‚Zufriedenheit’), die zur Legitimierung der Altenbildung herhalten müssen. Entscheidend für das Entdecken dieser Begriffsüberlagerung war für mich das folgende Zitat, indem sich das Zusammenspiel der Begrifflichkeiten verdeutlicht: "Folgerichtig untermauern die Altenbildner mit geriatrischem Intelligenzvokabular, gerontologischen Lerntheorien, Entwicklungstheorien und einem Setting anspruchsvoller Kompetenzen ihren Anspruch auf ‚Lebenshilfe’. Das pädagogische Handlungsinteresse beruht oberflächlich auf dem ‚Aktivitätsmodell’ und ihm inhärenten Entwicklungsoptimismus; tatsächlich könnte der lange Katalog von notwendig zu erlernenden Kompetenzen auch darauf schließen lassen, daß die Altenbildner insgeheim Anhänger der ‚Defizithypothese’ geblieben sind, ja sie zur Legitimierung ihrer Arbeit brauchen." (Wallraven, 1999, S. 303).
Die Defizithypothese der Gerontologie berichtet nicht die Adressierung der Teilnehmer im Sinne einer Kompensation, vielmehr spricht diese schon als historisch geltende und zudem aus den Naturwissenschaften kommende Theorie, jegliche Entwicklungsfähigkeit ab. Als pädagogische Kategorie gedacht, kann meines
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Theoretische Prämissen aus Gerontologie und Erziehungswissenschaft
Erachtens die Defizithypothese nicht angeführt werden. Das Missverständnis wird versucht mit folgender Grafik nochmals auf den Punkt zu bringen:
Abbildung 4:
Der synonyme Bezug auf ein pädagogisches Defizit und auf die gerontologische Defizithypothese
Das Defizit in der Erziehungswissenschaft
Die Defizithypothese in der Gerontologie
- Defizit als teilnehmerrelevante Variable
- Defizit als Metatheorie der Altenbildung mit historischem Wert
- Defizit als Ausdruck von Assymmetrie zwischen Lehrenden und Lernenden
‚Defizit‘
- Defizit bedeutet nicht Absprache von Entwicklungsfähigkeit
- Defizit als Absprache von Entwicklungsfähigkeit
- Ausgangspunkt der Entwicklung
- Bezug auf Lernen maximal über Intelligenz
- Ansatz für den Lehr-LernProzess - Defizit ist nicht lebensalterbezogen
- Defizit als Ausdruck unwiderbringlicher biologischer Abbauprozesse des Alters
Gleichschaltung des Begriffs im Altenbildungsdiskurs
Während der erziehungswissenschaftliche Defizitbegriff als multilateral zu kennzeichnen ist, ist der gerontologische Begriff eher unilateral formuliert. Beides erweist sich als Stärke und Schwäche gleichzeitig. Während der Defizitbegriff in der Gerontologie ein unwiederbringliches biologisches Abbauphänomen markiert, bezeichnet er in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion den Startpunkt eines Entwicklungspotentials. Zudem ist der gerontologische Defizitbegriff vor allem auf das alternde Individuum oder die Pluralität der Individuen bezogen, wohingegen er in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion einerseits als Beziehungsvariable verstanden werden kann, welche Asymmetrien beispielsweise zwischen Lehrenden und Lernenden kennzeichnet. Er kann einzig auf den Adressat abgestellt sein, indem der Adressat mit einem Defizit gekennzeichnet wird, welches es zu beheben gilt. Wesentlich erscheint mir aber, dass der gerontologische Defizitbegriff nur randständig an Lernprozessen ansetzt, dies maximal über die Definition von Plastizität und Intelligenz im Alter. Ganz an-
Altern und pädagogische Institutionen Empirie der Altenbildung
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ders gestaltet sich dort der erziehungswissenschaftliche Defizitbegriff, der die Lehr-Lern-Situation erst konstituiert. Durch die synonyme Verwendung wird der Begriff des Defizits unscharf. Es vermischen sich die unterschiedlichen Bezüge aufeinander. Aus dieser Hinsicht muss bisher insbesondere die Altenbildung, durch die Gleichsetzung des Defizitbegriffs mit dem gerontologischen Begriff, in dieser Hinsicht als unterkomplex gekennzeichnet werden. Mit diesen aufgedeckten Phänomenen treten Fragen an die Altenbildung in den Vordergrund, die lauten:
Wie kann die empirische Altenbildung mit weiterhin bestehenden Defizithypothesen umgehen? Wie geht die Erziehungswissenschaft mit Defiziten um, die nicht im Feld des Pädagogischen liegen und, die nicht kompensierbar sind?
Meine These geht in die Richtung, dass insbesondere die Altenbildung ihren Fokus vermehrt auch auf den Schwund von Kompetenzen legen und von dieser Warte her Konzepte und Theorien entwickeln müsste. Denn durch die Verwendung der bisher vorherrschenden Begrifflichkeiten wird eine Ausblendung von bestehenden, nicht negierbaren Defiziten nur weiter vorangetrieben. Einen ersten Ansatz hierzu soll die hier dargelegte Empirie liefern. Denn die Betrachtung des Umgangs mit körperlichem Abbau in der Empirie, der sich aber nicht gleich vollends im medizinischen System verortet, könnte Entscheidendes zur Altenbildungsdiskussion beitragen.
1.5 Altern und pädagogische Institutionen Empirie der Altenbildung Nachdem die Altenbildung in ihren Bezügen zu Defizit und Kompetenz dargestellt wurde, wird im Folgenden unter diesem Punkt die Altenbildung nochmals als empirisches Phänomen diskutiert. Um die Diskussion zur Altenbildung besser nachzuvollziehen, lohnt es ihre Geschichte zu betrachten. Die Bemühungen um eine explizite Altenbildung nehmen ihren Ursprung in der Zeit als beispielsweise von Ursula Lehr und Hans Thomae (1987), in ihren Studien an der Bonner Längsschnittstudie (BOLSA), nachgewiesen wurde, dass Ältere nicht nur von Abbau geprägt sind, sondern sowohl als produktiv als auch als lernfähig einzustufen sind. Mit diesen ersten bedeutsamen Studien der Altersforschung in Deutschland gewinnen erstmals positive Aspekte des Alterns über die stark negativ getönte Sicht auf das Altern Oberhand. In Folge dieser und auch weiterer Studien gewinnt die Altenbildung
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Theoretische Prämissen aus Gerontologie und Erziehungswissenschaft
in Deutschland mehr und mehr an Bedeutung und ihr Fokus wird verlagert. Denn es ist nicht abzustreiten, dass schon in früheren Phasen (vgl. B. Arnold, 2000) die Sorge um die Älteren, aber mehr in Form von Hilfe älterer sozial Benachteiligter, im Interesse der Pädagogik stand. Der neue Fokus zielt auf die „Bildbarkeit“ des älteren Menschen. In diesem Sinne wird in der Altenbildung von der Überwindung der Defizithypothese gesprochen. Der Adressat wird nun als autonom und lernbereit dargestellt und kann somit als Adressat von Bildungsangeboten betrachtet werden. Die erwähnten Studien fallen in die Zeit der Bildungsreformära, die eben gerade in der Erwachsenenbildung einen enormen Ausdifferenzierungsschub zur Folge hatte und somit auch der Altenbildung dienlich war. In diesem Sinne sind parallele Tendenzen in der Erwachsenenbildung wie in der Altenbildung zu verzeichnen: Dies gilt in der Ausdifferenzierung von Angeboten. Altenbildung ist nicht mehr länger nur Fürsorgeleistung, sondern vielmehr entstehen mit Beginn der 80er Jahre auch außerhalb von Volkshochschulen Angebote, wie die Universität des 3. Lebensalters (Böhme & Dabo-Cruz, 2003) oder andere Formen des Seniorenstudiums. Im Laufe der 90er Jahre dann werden die Seniorenverbände selbst in ihren Bildungsbemühungen aktiver (vgl. S. Kade, 2001) und es ist eine Bandbreite von Angeboten zu verzeichnen, die sich beispielsweise mit Anliegen des Älterwerdens, der Produktivität des Alters, dem Übergang in den Ruhestand oder auch mit eigener Biographiearbeit auseinandersetzt. Diese Entwicklungen finden sich nicht nur in der Trägerschaft von klassischen Bildungseinrichtungen, sondern auch in Form selbstorganisierter Tätigkeit und Trägerschaft (vgl. S. Kade, 2001). Ebenfalls eine Parallele zu den Entwicklungen in der Erwachsenenbildung selbst. Von den 90er Jahren bis heute entstehen zunehmend Ratgeber und Arbeitshilfen für die Arbeit mit älteren Menschen (Hoffmann-Gabel, 2003; Klingenberger, 1996; Mötzing, 2005; Wingchen, 2004). Laut J. Kade (1997a) ist gerade das Erscheinen von Praxishilfen Indiz für die Öffnung eines zentriert-geschlossenen Diskurses, der ein breiteres Publikum erreichen will und sich von den klassischen Bildungsinstitutionen löst und somit auch Bildung in Pflegeheimen, in privaten Initiativen oder Selbstbildung anregen will. Doch was bedeutet diese Überwindung der Defizithypothese empirisch? Wer ist eigentlich durch die neuen Programme und Angebote angesprochen, an diesen Bildungsbemühungen teilzunehmen? Meines Erachtens hat diese Öffnung hin zur Kompetenz paradoxerweise zu einem Ausschluss einer bestimmten Klientel geführt. Denn nicht die Gesamtheit der Älteren ist durch diese Formen von Bildung angesprochen, sondern nur die unabhängigen, autonomen Älteren, zumeist kurz nach der Verrentung, zwischen dem 60. und 80.Lebensjahr. Der Unterschied zur Erwachsenenbildung liegt einzig darin, dass auf die spezifische Lebensphase des Übergangs in den Ruhestand reagiert wird. Aber eine derartige
Altern als Balanceakt Biokulturelle Unfertigkeit
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Adressatenorientierung kennen wir gleichermaßen aus dem Bereich der Arbeiterbildung oder der Mutter-Kind-Kurse, die ebenso auf soziale oder lebensphasenspezifische Aspekte reagieren. Mit dieser Orientierung kann meines Erachtens noch nicht von der Etablierung einer eigenen Disziplin gesprochen werden, sondern es geht vielmehr um einen Aspekt der Ausdifferenzierung der Erwachsenenbildung/Weiterbildung. Bei all diesen Ausführungen wird deutlich, wer nicht adressiert wird: die Gruppe der über 80-jährigen oder die Gruppe derjenigen Personen, die schon in früherem Alter mit altersbedingten Einbußen wie Demenz, Immobilität oder eben auch Sehbehinderung zu kämpfen hat und damit nicht mehr der agilen autonomen Zielgruppe zuzurechnen ist. Auch für diese Personengruppe wurden Angebote entwickelt: Angebote in Form von Interventionen, von Hilfsangeboten, in denen es beispielsweise darum geht, Alltagskompetenz aufrechtzuerhalten. Aber derartige Angebote werden häufig nicht als Altenbildung mit Bezug auf Pädagogik betrachtet. Vielmehr verorten sie sich in einer eigenen Disziplin, der Geragogik, die sich mehr an gerontologische Traditionen und deren Wissensbestände anlehnt. Die Altenbildungsdiskussion ist damit insgesamt, sowohl theoretisch wie empirisch, noch als unterkomplex zu kennzeichnen: Theoretisch, da kein umfassendes Alternskonzept dargestellt werden kann; empirisch gilt gleiches für die Entwicklung von Programmen und Konzepten. Diese zielen entweder nur auf Unabhängigkeit oder bewegen sich schon im Bereich der Pflege. Es fehlen diejenigen Formen, die ein „Dazwischen“ kennzeichnen. Folgt man den Thesen zur Entgrenzung des Pädagogischen, welche die Veränderungen mit Durchsetzung des Konzepts des lebenslangen Lernens im Blick haben, sollte keine Unterscheidung nach Lebensaltern getroffen werden, sondern vielmehr nach Lebensphasen- und Alltagsbezug.
1.6 Altern als Balanceakt Biokulturelle Unfertigkeit Doch wie nun diesen Dichotomien, die eine Erklärung und Begründung von Altenbildung im positiven Sinne erst ermöglichen, entrinnen? Für theoretische Vorüberlegungen kann der posthum erschiene Artikel „Alter(n) als Balanceakt: Im Schnittpunkt von Fortschritt und Würde“ von Baltes (2007) Ansatzpunke liefern, indem Unterscheidungen eingeführt werden, die für die weiteren Überlegungen als hilfreich erachtet werden. Zunächst ist seine Unterscheidung der „biokulturellen Unfertigkeit“ für diese Arbeit in einem erziehungswissenschaftlichen Rahmen hilfreich. Dabei wird die biologische Unfertigkeit hinterlegt mit der genetischen evolutionären Selek-
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Theoretische Prämissen aus Gerontologie und Erziehungswissenschaft
tion, in der die Phase des Alterns nicht berücksichtigt ist. Genetische Selektion findet vor allem in der Phase der Reproduktionsfähigkeit statt. Damit kennzeichnet die biologische Unfertigkeit das unwiderlegbare Faktum biologischer Abbauprozesse. Kulturelle Unfertigkeit dahingegen wird in der Argumentation von Baltes dadurch gekennzeichnet, dass die biologische Unfertigkeit im vierten Lebensalter durch Kultur nicht mehr ausgeglichen werden kann. Damit stößt Entwicklung an eine Grenze. Sie hinkt der biologischen Determiniertheit hinterher. Das besondere an dieser Unterscheidung ist, dass sie die Referenzsysteme Biologie/Medizin und Kultur/Bildung zueinander ins Verhältnis setzt und damit anschlussfähig für diese Studie ist. Die in dieser Arbeit verfolgte These geht in die Richtung, dass die bisherigen Fundierungen von Altenbildung erstens eben jene kulturelle Unfertigkeit unterschlagen und sie in kulturelle Fertigkeiten verwandeln und zweitens, dass sie weitestgehend biologische Unfertigkeit negieren, um sich von der Defizithypothese des Alterns abzusetzen. Baltes unterscheidet in seinem Artikel zwar weiterhin nach drittem und viertem Lebensalter, in der Hinsicht, dass für das dritte Lebensalter größeres Entwicklungspotential gesehen wird, während im vierten Lebensalter der Optimismus des dritten Lebensalters subjektiv nicht fortgesetzt werden kann. Dennoch finden zwei Aspekte Betonung, die in früheren Artikeln (bspw. P. B. Baltes, 2001; P. B. Baltes & Baltes, 1992) weniger hervorgehoben wurden: Das Einzelschicksal und der Balanceakt. Das Einzelschicksal wird durch die Nennung des Baltes-‚Klassikers’ zur Erklärung seines SOK-Modells mit dem Beispiel Rubinstein hervorgehoben. Doch wird er in diesem Artikel anders eingeführt als in den früheren Artikeln. Obwohl als 80-jähriger beschrieben, wird er hier dem dritten Lebensalter zugeordnet und als Exzellenzbeispiel eingeführt. Das Einzelschicksal wird von Baltes damit in den Vordergrund geschoben, aber es hat in den Arbeiten Baltes nicht dazu geführt dieses empirisch zu bearbeiten. Für diese Arbeit interessieren aber nicht ausschließlich die Exzellenzbeispiele oder Sonderfälle. Auf den Punkt gebracht, interessiert die Vielfalt der Einzelschicksale, ihre Pluralität. Der Balanceakt schließlich wird von Baltes mit den Worten umschrieben, das „es um eine neue Mischung von normativem und lebenspraktischem Denken“ gehe. „Für den Einzelnen oder auch Subgruppen mag Wertabsolutismus sinnvoll und unterstützungswert sein, für die Variationsbreite des Alters und die finalen Entscheidungen des Menschen über sich selbst scheinen sie weniger adaptiv.“ (ebenda, S. 32). Das Altern als Balanceakt zu begreifen bedeutet also, dass die Grenze zwischen Normierungen und individuellem Handeln nicht trennscharf ist.
Altern als Balanceakt Biokulturelle Unfertigkeit
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Diese Begriffe sind anregend für eine Diskussion der Altenbildung, weil diese den absoluten Verlust im Sinne einer biokulturellen Unfertigkeit umgeht, diesen eher pädagogisch auffasst und auf Entwicklung hin stilisiert. Für den spezifischen Fall der Sehbehinderung im Alter sind diese Begriffe interessant, weil hier ein Beispiel massiver biologischer Beeinträchtigung vorliegt. Es geht also um die Frage, wie Balancierung in diesen Fällen erreicht wird. In dieser Arbeit wird der Einzelfall zum Gegenstand der Forschung gemacht. Dafür ist ein qualitatives Vorgehen angebracht. In Bezug auf Einzelschicksale in ihrem Bezug zu Institution stellen die empirischen Arbeiten aus der Erziehungswissenschaft den geeigneten Orientierungsrahmen dar. Insofern kann für die empirische Untersuchung die institutionell konturierte Altenbildung zunächst außer Acht gelassen werden. Sie wird am Ende der Arbeit wieder aufgegriffen.
2 Formen des Pädagogischen
2.1 Ausgangspunkt zur Einnahme einer neuen Perspektive auf die Altenbildung Entgrenzungsthese Die Einbettung der Altenbildung in den Entgrenzungsdiskurs (J. Kade, 1997a) lässt diese auf erweiterter Ebene diskutierbar werden. Die Einnahme einer den Blick öffnenden Theorieperspektive erlaubt die Überwindung der aufgedeckten Enge der Dichotomien. Ausgangspunkt für die Betrachtung der Altenbildung stellt damit die „gesellschaftstheoretische Neubestimmung der Erwachsenenbildung“ (Seitter, 2003, S. 17) dar, die von J. Kade seit 1989 mit dem Entgrenzungsdiskurs beschrieben wird (J. Kade, 1989c, 1997a; Lüders et al., 1995). Der Begriff der Entgrenzung oder Universalisierung ist als Folge der Arbeiten Kades zu pluralen Vermittlungs- und Aneignungsverhältnissen zu betrachten und nimmt ihren Ursprung in der Zeitdiagnose der „reflexiven Modernisierung“ (Beck, Giddens & Lash, 1996). Kade beobachtet eine Universalisierung und Entgrenzung des Pädagogischen auf drei Ebenen: die institutionelle Entgrenzung als zunehmende Loslösung von typisch pädagogischen Institutionen und Räumen, die normative Entgrenzung im Sinne des Entstehens neuer Mischungsverhältnisse von pädagogisch-strukturierter und nicht-pädagogisch-strukturierter Aneignung, aufgrund derer es in der Erwachsenenbildung kaum noch möglich ist, gesellschaftliche Lern- und Bildungsverhältnisse von pädagogischen zu unterscheiden und schließlich die Entgrenzung der individuellen Aneignung selbst, die zunehmend die von der Erwachsenenbildung angenommene Grenze hin zur Lebenswelt und Biographie unterläuft (vgl. J. Kade, 1997a). Mit dem Konzept der Entgrenzung wird eine neue Theorieperspektive eröffnet und damit neue Ordnungsstrukturen ermöglicht, die das Feld der Erziehungswissenschaft beschreibbar machen (vgl. J. Kade, 1997a). Dafür ist es aber zunächst notwendig von klassischen Ordnungsvorstellungen der Erziehungswissenschaft Abstand zu nehmen: "Diese, den erziehungswissenschaftlichen Diskurs öffnende Theoriestrategie ist zunächst eher dekonstruktiv angelegt. Sie attackiert die Grenzziehungen, die unter dem Einfluß des bildungspolitischen Professionalisierungs- und Institutionalisierungsprogrammes der Bildungsreformära den wissenschaftlichen Diskurs lange Zeit do-
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Formen des Pädagogischen miniert haben, und stellt damit die Einheit des Pädagogischen in Frage. Thematisiert werden Phänomene der Auflösung alter Ordnungen und Strukturen, gefragt wird indes kaum nach neuen Strukturbildungen. Im Entgrenzungsdiskurs bleibt noch ungeklärt, wie die durch zunehmende Pluralität, ja, Beliebigkeit pädagogischer Ziele, durch thematisch-inhaltliche Ausdehnung, massenmediale Erweiterung der Reichweite und die umfassende soziale Inklusion der Bevölkerung gewachsene Komplexität des Pädagogischen wieder unter Kontrolle gebracht werden kann. Es stellt sich damit die Frage nach neuen Strukturen, die sich in diesem entgrenzten Feld des Pädagogischen nach dem Brüchigwerden traditioneller pädagogischer Denk- und Handlungsmuster herausbilden." (J. Kade, 1997b, S. 32).
Die Frage nach neuen Strukturen ist gleichzeitig als die Frage nach der Einheit des Pädagogischen zu betrachten. Es geht um die Schwierigkeit der Beschreibbarkeit eines „ausgefransten Feldes“ (Egloff, 2003) und damit um Fragen nach der Möglichkeit der Erfassung von Lern- und Bildungsprozessen Erwachsener, um die Frage nach geeigneten analytischen Kategorien. In den vergangenen Jahren wurden unterschiedliche Wege in der empirischen Rekonstruktion und theoretischen Bestimmung von Kategorien beschritten, die versuchen das pädagogische Feld wieder zu ordnen. Diese Ordnungsversuche dienen in meiner Arbeit als Grundlage zur Bestimmung einer Ordnung im Feld der Altenbildung. Auf theoretischer Ebene dienen sie dazu, die Entwicklungen der Altenbildung vor einem ‚entgrenzten’ Hintergrund zu betrachten. ‚Entgrenzung’ bedeutet nach meinem Verständnis damit für die Altenbildung, die Überwindung von Dichotomien durch die Beobachtung der empirischen Realität sowie die Möglichkeit die konstituierenden Elemente von Altenbildung durch den Rekurs auf pädagogische Formen näher beschreibbar zu machen. Die Forschungsansätze zu den Formen des Pädagogischen entwerfen differente Sichtweisen auf das Feld des Pädagogischen, indem der Ausschnitt der Betrachtung unterschiedlich eingegrenzt wird. Diese Ausschnitte der Beobachtung sind in den vorzustellenden Ansätzen von Formen des Pädagogischen (Dewe, 2005; J. Kade & Seitter, 2007c, 2007d; Manhart & Rustemeyer, 2004; Nohl, 2006; Prange & Strobel-Eisele, 2006; Schäffter, 1997) auf einer Metaebene wie folgt zu unterscheiden: Alle Ansätze arbeiten sich an Strukturbildungsprozessen des Pädagogischen ab. Drei Ebenen der Betrachtung sind zu unterscheiden (siehe Abb. 5): Der Fokus auf Prozessausschnitte pädagogischen Handelns (Aneignung, Vermittlung und/oder Interaktion), der Fokus auf ein pädagogisches Handlungsfeld als Ganzes (Bildung, Beratung, Hilfe) oder aber, auf abstraktester Ebene, die Strukturlogik des Pädagogischen als Ganzes.
Neue Perspektive auf die Altenbildung Entgrenzungsthese Abbildung 5:
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Graphische Darstellung der Metaebene zu Strukturbildungsprozessen im Rahmen der Universalisierungsthese
Interaktion
Vermittlung
Aneignung
Prozessausschnitt
Pädagogisches Handlungsfeld / Strukturlogik pädagogischer Felder
Strukturlogik des Pädagogischen
Die Ebene der Prozessausschnitte bezieht sich auf die konkrete Ebene der Kurssituation als Beobachtungsfeld. Es wird differenziert nach der Logik der einzelnen Akteure:
Interaktion als Betrachtung des Kommunikationsprozesses im Kursverlauf Vermittlung, Lehren als Betrachtung des Vermittlungsprozesses der Kursleiter bzw. Anbieter Aneignung bzw. Lehren auf der Ebene der Betrachtung der Adressaten.
Dahingegen wird auf der Ebene des pädagogischen Handlungsfeldes, beispielsweise in den Ansätzen von Manhart & Rustemeyer (2004), Dewe (2005) und Schäffter (1997), verhandelt, an welche Grenzen oder Übergänge die Erwachsenenbildung stößt.
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Formen des Pädagogischen
Auf der Ebene der Strukturlogik des Pädagogischen steht die Organisation des Pädagogischen als Ganzes zur Diskussion. So steht die Frage im Vordergrund, was das Spezifische des Pädagogischen ausmacht. Diese Frage geht über ein pädagogisches Feld, wie beispielsweise die Erwachsenenbildung hinaus. Abbildung 6:
Zuordnung der theoretischen Ansätze zu Betrachtungsebenen
Interaktion Pädagogische Kommunikation (Kade & Seitter, 2003, 2007c,d)
Vermittlung (Kade, 1997) Lehren (Prange & Strobel-Eisele, 2006)
Aneignung (Kade & Seitter, 2003) Lernen (Prange & Strobel-Eisele, 2006)
Manhart & Rustemeyer (2004) : Das Differential Bildung – Hilfe Dewe (2005): Metatheorie der Kommunikationsformate Erwachsenenbildung, Therapie, Beratung Schäffter (1997): Bildung zwischen Helfen, Heilen und Lehren
Kade & Seitter (2007 c,d): Umgang mit Wissen
Am zentralsten für dieses Projekt ist der Ansatz von Kade und Seitter. Einerseits, da die präzise Kategorienbildung im Bereich der Operationen Aneignen und Vermitteln einen guten Nährboden für die hiesigen Analysen darstellt, andererseits wird zusätzlich die Verallgemeinerung und der theoretische Anschluss an die Strukturlogik des Pädagogischen insgesamt als Grundlage für eine theoretische Diskussion der Ergebnisse als wesentlich erachtet.
Strukturlogik des Pädagogischen Aneignung, Interaktion, Vermittlung
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2.2 Strukturlogik des Pädagogischen Aneignung, Interaktion, Vermittlung Die Frage nach Strukturen des Pädagogischen wurde von Kade und Seitter über mehrere Jahre in empirischen Rekonstruktionen und mehreren Forschungsprojekten erörtert und führte zur Bestimmung von Formen des Pädagogischen. Verankert sind diese Arbeiten in der Systemtheorie9. Im Zentrum stehen damit, als zentrale Begriffe der Systemtheorie, Kommunikation und Interaktion (s. Abb. 7). Abbildung 7:
Ebenen der Betrachtung des Pädagogischen Setting
Vermittlung Formen päd. Kommunikation Information Aneigungsbezogene Wissensvermittlung Päd. Kommunikation Selbstbeobachtung
Formen päd. Wissens Vermittlungswissen Aneignungsbezogenes Vermittlungswissen Überprüfungswissen
Kommunikation
Aneignung
Pluralität von Aneignungsformen Aneignung von Welt Aneignung von Wissen Geselligkeit etc.
Im Mittelpunkt der Betrachtungen steht das Erziehungssystem als Kommunikationssystem (Luhmann, 2002). Es handelt sich um eine dreiperspektivische Unterscheidung. Auf der Ebene der Beobachtung der Interaktion stellt ‚pädagogische Kommunikation’ (J. Kade & Seitter, 2003) den für pädagogisches Handeln zentralen Aspekt dar. Dabei bezeichnet pädagogische Kommunikation eine Kommunikation, welche auf Steigerung von Fähigkeiten in Bezug auf den Lebenslauf zielt (J. Kade & Seitter, 2007b, S. 13). Pädagogische Kommunikation ist durch die Codes ‚vermittelbar/nicht vermittelbar’ (J. Kade, 1997b) und bes-
9 Besondere Bedeutung erfährt dabei die Auseinandersetzung mit und die Weiterentwicklung von Werken Luhmanns zum Erziehungssystem (J. Kade, 1997b; Lenzen, 2004; Luhmann, 2002; Luhmann & Lenzen, 1997)
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Formen des Pädagogischen
ser/schlechter doppelt kodiert.10 Die Beobachtung der Operationen Vermitteln und Aneignen machen die Perspektiven der Beteiligten an der Interaktion sichtbar. Für die drei unterschiedlichen Aspekte wurde in unterschiedlichen Phasen der Theoriebildung Formen rekonstruiert, die sich für die Operation der Vermittlung als Formen pädagogischen Wissens (Vermittlungswissen, Aneignungsbezogenes Vermittlungswissen und Überprüfungswissen), für die pädagogische Kommunikation als Formen pädagogischer Kommunikation (Information, Aneignungsbezogene Wissensvermittlung, pädagogische Kommunikation und Selbstbeobachtung) und schließlich für die Aneignung als die Rekonstruktion pluraler Aneignungsformen (Aneignung von Welt, Aneignung von Wissen, Geselligkeit, etc.) beschreiben lassen (vgl. Abb. 7). Ihren Ursprung nehmen die Untersuchungen zur Systembildung des Pädagogischen im Feld der Erwachsenenbildung, durch zunehmende Abstrahierung erlangen die Ordnungsversuche aber Bedeutung für das gesamte System des Pädagogischen. "Die Suche nach einem möglichen strukturellen/systemischen Zusammenhang zwischen höchst divergenten Feldphänomenen hat dabei nicht nur die Einführung von Begriffen mit einem hohen Abstraktionsgrad zur Folge, sondern verortet – gerade deshalb – die erwachsenenpädagogische Analyse in einem allgemeineren erziehungswissenschaftlichen Kontext. Die ‚Systembildung des Pädagogischen’, wie Kade seine diesbezüglichen Versuche nennt, sehen daher auch von einer engen feldbezogenen Fixierung auf die Erwachsenenbildung ab und versuchen, eine Bestimmung für das gesamte Feld der Pädagogik zu liefern." (Seitter, 2003, S. 19)
Insbesondere diese Weiterentwicklung der Theorie lässt diesen Ansatz fruchtbar für die Untersuchung des hybriden Feldes der Altenbildung werden, da die Theorieansätze durch die zunehmende Abstraktion anschlussfähig für den gewählten Untersuchungsgegenstand sind. Die Arbeiten der Gruppe um Kade können in Bezug auf die oben (vgl. Abb. 6) dargestellte Metaebene der Theorienbetrachtung pädagogischer Formen sowohl auf der Ebene der Prozessebene wie auch der Strukturlogik pädagogischer Felder eingeordnet werden. Seitter (2003) beschreibt die zwanzig Jahre währende Auseinandersetzung um die Systembildung des Pädagogischen in drei wesentlichen Phasen: der Fokussierung auf Aneignung, weiter auf Zusammenhänge der Interaktion und schließlich dem Blick auf die Vermittlungssituation. 10
„Die Codierungen reflektieren jeweils eine Grenze des Erziehungssystems: Der Code vermittelbar/nicht-vermittelbar zum psychischen System, der Code besser/schlechter die Grenze zu anderen gesellschaftlichen Funktionssystemen.“ (J. Kade & Seitter, 2007d, S. 14).
Strukturlogik des Pädagogischen Aneignung, Interaktion, Vermittlung
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"Pointiert formuliert hat die Radikalisierung der Teilnehmerorientierung, verstanden als empirisches Programm zur Rekonstruktion des Aneignungshandelns von Teilnehmern, in seinem faktischen Vollzug paradoxerweise wieder zur verstärkten Einbeziehung der Vermittlungsperspektive geführt bzw. zur Relationierung von Vermittlung und Aneignung im Rahmen von systemtheoretisch inspirierten Versuchen zur (Einheits-) Bestimmung des Pädagogischen." (Seitter, 2003, S. 14)
Im Folgenden werden die einzelnen Kategorien und ihre Ableitung aus dem Konzept der pädagogischen Kommunikation erläutert. Wird im Sinne der Kategorienentwicklung aus dem von Kade & Seitter realisierten UMWISS-Projekt (J. Kade & Seitter, 2007c, 2007d) ausgegangen, so muss bei Vermittlungsprozessen nach mehreren Ebenen unterschieden werden. "Analog zur Bestimmung von pädagogischer Kommunikation als Zusammenhang von Wissensvermittlung, aneignungsbezogener Wissensvermittlung und Wissensüberprüfung lässt sich pädagogisches Wissen als Zusammenhang von Vermittlungswissen (Wissen über Wissensvermittlung), aneignungsbezogenem Vermittlungswissen (Wissen über aneignungsbezogene Wissensvermittlung) und Überprüfungswissen (Wissen über Wissensüberprüfung) spezifizieren. Dies Ausprägungsart und -intensität der einzelnen Dimensionen sowie ihre variierenden Relationen sind dabei nicht im Vorfeld theoretisch-normativ, sondern nur empirisch-rekonstruktiv zu bestimmen" (J. Kade & Seitter, 2004, S. 329)
Zum einen geht es um die Rekonstruktion von Prozessen der Wissensvermittlung, die sich auf der Ebene von ‚Settings’ im Untersuchungsfeld nachzeichnen lassen, ein zweiter Parameter sind die Formen pädagogischen Wissens und schließlich die Beschreibung von Phasen, um die Zeitlichkeit der Angebote ebenfalls untersuchen zu können. Abb. 8 präsentiert überblicksartig die Formen pädagogischen Wissen, wie sie aus der Veröffentlichung von J. Kade und Seitter (2007b) herausgearbeitet wurden. Pädagogisches Wissen in seiner Funktion als aufgabenbezogenes Wissen ist demnach zu unterteilen in Adressatenwissen, Vermittlungswissen, Wissen über Wissen und Überprüfungswissen. Adressatenwissen bezieht sich dabei auf unterschiedliche Dimension des Wissens über die Teilnehmer. Dimensionen stellen das Wissen über Zielgruppen und die Einbettung in die individuellen Kontexte der Betroffenen dar, Wissen über die zu bearbeitenden Problembereiche der Adressaten, Wissen über die Entwicklungsund Zukunftsperspektive der Betroffenen sowie den Beziehungsaspekt der Kommunikation. Vermittlungswissen fokussiert auf den Prozess des Vermittelns selbst. Von Bedeutung sind Wissen über Gestaltung, Methoden und Ablauf. In der Dimension des vermittlungsbezogenen Aneignungswissens kommt die Reflexivität des Vermittlers über seine eigenen Aneignungsbedarfe und Probleme der Vermittlung in den Blick. Überprüfungswissen kennzeichnet das Wissen
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Formen des Pädagogischen
über Selektions- und Bewertungsprozesse. Wissen über Wissen schließlich stellt das Wissen der Vermittler über das Wissen selbst als „(Veränderungs-) Ressource“ (Seitter, 2007a) dar. Die von J. Kade und Seitter vorgeschlagene Dimensionierung von Pädagogischem Wissen ist für den hiesigen Untersuchungsbereich von besonderem Wert, da mithilfe dieser Kategorien ein Werkzeug an die Hand gegeben wird, die Sehbehindertenwelt von ihrer pädagogischen Strukturierung her zu beschreiben. Neben den am empirischen Material zunächst zugrunde gelegten Kategorien von Kade und Seitter, sollen aber andere Möglichkeiten und Überlegungen zur Formenbildung aktueller Natur nicht außer Acht gelassen werden.
2.3 Prozessausschnitt im Fokus Formen pädagogischen Handelns Als weiterer Ansatz der Formenrekonstruktion auf der Ebene der Prozessausschnitte pädagogischen Handelns sind die Arbeiten von Prange & Strobel-Eisele (2006) anzuführen. Ihr Fokus liegt auf der Operation der Vermittlung. Auch sie messen der Frage nach der Einheit des Pädagogischen hohe Bedeutung bei: "Dabei scheint die Tendenz dahin zu gehen, für jedes Spezialgebiet besondere Handlungsformen anzugeben, so dass aus dem Blick gerät, was das Gemeinsame des pädagogischen Handelns in den verschiedenen Bereichen ist. Deshalb bedarf es der besonderen Bemühung, das spezifisch Pädagogische pädagogischer Handlungen zu erfassen, wenn man es nicht bei dem unverbundenen Nebeneinander unterschiedlichster Handlungsformen und einer eigenen Terminologie für jedes Fachgebiet belassen will." (Prange & Strobel-Eisele, 2006, S. 8)
Die Autoren unterscheiden bei ihrem Ordnungsversuch nach elementaren Formen (Zeigen, Übung, Darstellung, Aufforderung, Rückmelden) und komplexeren Formen (Arrangement, Spiel, Arbeit, Erlebnis, Strafe). Entsprechend dem von den Autoren verwandten Formbegriff, muss die Form aus dem Kontext lösbar sein. Trotz aller Verschiedenheit von Alter, Geschlecht oder sozialer Einbettung muss etwas Einendes gegeben sein, damit man vom Pädagogischen sprechen kann (vgl. ebenda, S. 37). Grundformen zeichnen sich dadurch aus, dass sie beschreiben, was in jedem Fall gegeben sein muss, um von pädagogischen Situationen zu sprechen. Komplexe Formen hingegen fokussieren auf Aspekte der „Gelegenheitserziehung“ (ebenda, S. 105), wobei dabei immer wieder auf die Grundformen verwiesen sein muss, um von pädagogischem Handeln sprechen zu können. Es handelt sich also bei den komplexen Formen um die Beschreibung von Situationen, die nicht in institutionelle Settings eingefügt sein müssen: Das Lernen in Alltag, Freizeit, durch Erfahrung, ja im beiläufigen Leben.
Abbildung 8: Kategorien auf der Ebene des Pädagogischen Wissens
Prozessausschnitt im Fokus 51
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Formen des Pädagogischen
2.4 Pädagogische Felder I – Das Spannungsfeld Erwachsenenbildung/ Therapie/Beratung Die Strukturlogik pädagogischer Felder als Ansatz, der nicht direkt die Operationen des Handelns im Blick hat, sondern eher die Ordnung über die Felder der Erwachsenenbildung in ihren Grenzbereichen, interessiert aufgrund der Parallelität der Konstituierung von Grenzbereichen im Untersuchungsfeld der Sehbehindertenhilfe. Betrachtet man das Feld der Altenbildung befinden wir uns ebenso in einem Spannungsfeld zwischen Erwachsenenbildung/Altenbildung, Therapie und Beratung. Die Formdebatte pädagogischer Feldern ist eher auf einer Meso-, denn auf einer Mikroebene der Operationen anzusiedeln. Bernd Dewe (2005) untersucht auf dieser Mesoebene die Kommunikationsformate Erwachsenenbildung, Beratung und Therapie und entwirft eine „integrative Theorieperspektive“, denn „[i]n theoretischen Begründungen der Erwachsenenbildung wird die Rekonstruktionsperspektive zu eng angelegt und Erwachsenenbildung voreilig von strukturell ähnlichen Interventionsformen getrennt betrachtet.“ (S. 150). Als ordnungsgebende Kriterien seines integrativen Blicks über die drei Kommunikationsformate stellen die Aspekte Einheit, Übergänge und Differenz dar. Alle drei Formate betrachtet er zunächst als Moratorium, denn sie stellen mehr oder weniger eine Unterbrechung des Alltags dar. Zudem sieht er sie als Foren zur Entlastung vom akuten Handlungsdruck und ordnet allen drei Großformen die zentralen Aufgaben der Wissenstransformation, der Kompetenzentwicklung, der Inklusion/Exklusion und die damit verbundenen Vermittlungsleistungen zu (vgl. Dewe, 2005, S. 150). Einheit wird auf den Ebenen von Beziehungen, Institution und Profession sowie auf der Ebene einer systemtheoretischen Betrachtungsweise dargestellt. So kennzeichnet alle drei Formate die Verteilung von Laien- und Expertenrollen im Sinne eines asymmetrischen Verhältnisses. In Bezug auf Institution und Profession ist von Einheit auszugehen, da stets professionelle Instanzen in Lebenszusammenhänge einschreiten. Und systemtheoretisch betrachtet ist das zu adressierende Individuum immer von Exklusion bedroht. Diese „Exklusionsindividualität“ (Luhmann) nutzen alle Formate, indem sie Risiken des gesellschaftlichen Ausschlusses bearbeiten und damit eine Chance zur Re-Integration herstellen. Einen Überblick über die Formen von Differenzen und Übergängen bildet Abb. 9 ab. Bedeutsam und hervorzuheben sind in dieser Differenzierung insbesondere die Aspekte des Bezugspunkts, des Ziels und des Wissens.
Pädagogische Felder I Abbildung 9:
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Differenzen und Übergänge zwischen Erwachsenenbildung, Beratung und Therapie (Quelle: Dewe, 2005, S. 154)
Analytische Differenzierungen institutionalisierter Kommunikationsformte/ Interventionsformen praktischer Lebens- und Entwicklungshilfe für alle Formen gilt
Erzeugung eines Moratoriums im Prozess problemlösenden Handelns durch Unterbrechung des Handlungs- und Entscheidungsflusses in Alltag und Beruf ERWACHSENENBILDUNG Bildungsinteresse, Wissensund Informationsdefizite
BERATUNG
THERAPIE
Eingeschränkte Entscheidungsfähigkeit, Problemdruck
Interaktionsstruktur
Variables Beziehungsgeflecht
Bezugspunkt Aufgabe
Welt Abstraktes Wissen themenbezogen zugänglich machen; Steigerung von Kompetenzen
Rolle des Adressaten Ziel
Teilnehmer
Schwache Intensität der Beziehung Berater/Klient Situation Bearbeitung der Inkongruenz der Perspektiven; Angebot von Beobachtungsund Handlungsalternativen Klient
Störung der lebenspraktischen Primärbeziehung; Problemdruck Intensive Zweieroder Gruppenbeziehung Personale Identität Neuaufbau bzw. Wiederherstellung/ Heilung des personalen Geltungssystems
Anlässe
Wissen Gruppenstruktur
Interventionseigenschaften, Methoden
Differenziert zwischen Teilnehmer intra- und interpersonell (Erwerb von Fachwissen, soziale Kontakte und Erwachsenenbildner, etc.); konsens- und wahrheitsorientierte „Welterschließung“ Themenbezogenes Wissen Sekundärgruppenstruktur mit primärgruppenhaften Methoden (z.B. Arbeitsgruppe) Animativ; prospektiv; innovativ; generierend; kompetenzsteigernd; aufbauend
Patient
Forderung der Selbsthilfe-, Selbststeuerungs- und Problemlösefähigkeit; Begründung von lebenspraktischen Entscheidungen
Veränderung defizienter Selbststeuerungsfähigkeiten bzw. innerpsychischer Realitäten in einer Situation massiver Störungen
Problembezogenes Wissen Sekundärgruppenstruktur = spezifisch
Identitätsbezogenes Wissen Künstlich erzeugte Primärgruppenstruktur = diffus
Situationsbewältigend; stützend; je nach Art der Beratung mehr oder weniger direktiv
Substitutiv; retrospektivrehabilitativ; integrierend; kompensatorisch; aufdeckend
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Formen des Pädagogischen
Als zweiter Ansatz der feldspezifischen Ordnung von Formen im Umfeld von Bildung/Hilfe bzw. Erwachsenenbildung/Therapie sei der Versuch Schäffters genannt, der seine Ordnung (ebenso ausgehend von der Entgrenzung des Lernens) vom Begriff des ‚Lernanlasses’ her aufbaut (Schäffter, 1997). Interessant ist an diesem Ansatz, dass er für seine Ordnungsversuche insbesondere Ältere im Blick hat und damit auch einen Beitrag zur Altenbildungsdiskussion leistet, was für die bisher besprochenen Ansätze nur indirekt geltend gemacht werden kann. Für seine Ordnungsstruktur definiert Schäffter zunächst ein Lernverständnis, das für die Entgrenzung des Lernens Geltung hat: „Grundsätzlich wird daher ein Verständnis von Lernen erforderlich, das weder zu eng an einen unmittelbaren Verwendungszusammenhang gebunden ist, noch zu beliebig alles und jedes bereits zum bedeutsamen Aneignungsprozeß erklärt. Im ersten Fall wird Lernen auf zweckgerichtete Qualifikationsvermittlung und Kompetenzerwerb reduziert, wo sich viele ältere Erwachsenen zu Recht fragen, ob es ihren Bedürfnissen und ihrer Lebenslage entspricht, sich abermals fremdbestimmten Leistungsanforderungen zu unterwerfen. Im zweiten Fall wird zu wenig zwischen zieloffenen Formen von Geselligkeit, gemeinsamen Beschäftigungen und sozialintegrativem Engagement einerseits und zielstrebiger Aneignung bislang unerschlossener Themenbereiche und fremdartiger Wissensbestände andererseits unterschieden.“ (Schäffter, 1997, S. 691)
Für seine Zwecke wird weiter der Lernbegriff als strukturierende Umweltaneignung definiert, was einen systemtheoretischen Rekurs deutlich macht, wobei Lernen als „besonderer Beziehungsmodus im Verhältnis zur systemspezifischen Umwelt“ betrachtet wird und damit die Luhmannsche Unterscheidung von einem geschlossenen Sinnsystem (‚Mensch’) und der zur Kommunikation hingewandten Medaille des Menschen (‚Person’) aufgreift (vgl. Luhmann, 2002, S. 28). Dies, um schließlich in vier zentralen, systemtheoretisch inspirierten, Begriffen das Verständnis von lernender Umweltbeziehung näher zu erläutern. Die vier Begriffe, denen er sich widmet, sind die der Irritation, des Mobilisierungsereignisses, des Lernanlasses und des Wissens. Für diese Arbeit und die Differenzierung von unterschiedlichen Feldern scheinen insbesondere die Begriffe der Irritation und des Mobilisierungsereignisses: So ist das Aufscheinen von Neuem vom kognitiven System als Irritation erfahrbar. Sie stellt eine Grenzerfahrung, den Stein des Anstoßes dar, erfüllt damit die Funktion der Überschreitung bekannter Sinnzusammenhänge und bietet dadurch die Anschlussmöglichkeit für Aneignung11. Allerdings muss eine Irritation nicht zwingendermaßen in neuartige An-
11 Auf das hier betrachtete empirische Material gedacht, spiegelt sich die Irritation der Betroffenen insbesondere in den Diagnosesequenzen wieder. Durch die Diagnose der Erkrankung wird ein Bruch
Pädagogische Felder I
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eignungsprozesse münden, vielmehr kann neue Information auch „assimilativ“ in Form von „Bestätigungslernen“ angeeignet werden, indem die eigenen Wissensstrukturen und Deutungsmuster dergestalt umgedeutet werden, dass das eigene Weltbild eben nicht irritiert wird (vgl. Schäffter, 1997, S. 696f.). Wird die Irritation nicht über Negation, Trivialisierung oder Banalisierung abgetan, stellt die „Transformation“ der Irritation in systemspezifische Information ein Mobilisierungereignis dar, dass als Lernanlass bezeichnet werden kann. Dieses verläuft in einer Reihe von Formen, die in Abb. 10 zusammenfassend dargestellt sind. Abbildung 10: Mobilisierungsereignisse (Quelle: Schäffter, 1997, S. 701) Gegensatzpaar
soziale Rollen
Operationen
abhängig selbständig
Helfer – Klient
Unterstützung + Fürsorge
Heilen
Diskrepanzerlebnis Hilflosigkeit Autonomieverlust Überforderung Funktionsstörung
gesund – krank
Therapeut – Patient
Kontrollieren
Kontrollverlust
Missionieren
Fehlorientierung Orientierungsverlust Konflikt
Ordnung – Unordnung einsichtig uneinsichtig
Leitung - Mitarbeiter Vorbild – Adept
Regeneration – Wiederherstellung Strukturieren Macht ausüben Überzeugen Erwecken
Recht - Unrecht (konform – abweichend Wissen – Nichtwissen
(Schieds-)Richter - Parteien
Helfen
Urteilen
Lehren
Unsicherheit Erstaunen Verblüffung
Lehrender – Lernender
Entscheidungsprozess pro/contra Kognitive Strukturierung
Dabei stellen die unterschiedenen Formen die Deutung der Irritation als Diskrepanzerlebnis dar, die in ein polares Schema gesetzt werden. Über die sozialen Rollen wird das Verhältnis in einer (pädagogischen) Situation beschrieben, das bestimmten Operationsformen folgt.
erzeugt, an dem Grenzen des Wissens und der Handlungsmöglichkeiten überschritten werden, die Aneignung von neuem Wissen erst möglich erscheinen lassen.
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Formen des Pädagogischen
2.5 Pädagogische Felder II Das Differential Bildung - Hilfe Als vierter Beitrag zur Formendiskussion wird der Ansatz von Manhart & Rustemeyer (2004) herangezogen. Dieser Ansatz lässt sich entsprechend dem oben dargestellten Metamodell ebenso in die Betrachtungsweise eines pädagogischen Handlungsfeldes einreihen. Veröffentlicht wurde dieser Ansatz unter dem Titel: „Die Form der Pädagogik – Der Schematismus ‚Bildung-Hilfe’ als Differenzial pädagogischer Expansion“. Anders als bei J. Kade & Seitter (2004) werden hier nicht die Formen der Interaktion, Vermittlung und Aneignung in ihrem Vollzug untersucht, vielmehr wird eine Rekonstruktion von Wissens-, Wahrnehmungs-, und Praxisformen von Pädagogik im Spannungsfeld Hilfe-Beratung versucht. Es wird an eine Theorie der Systeme angeschlossen, indem ‚Sinn’ und ‚Kommunikation’ als Grundbegriffe fungieren. Der Fokus dieser Arbeit wird aber zugleich auf eine Theorie von Feldern bezogen. Damit liegt der Blick auf der „umkämpfte[n] und prekäre[n] Struktur von Grenzbildungen, die Zugehörigkeiten und Ausschließungsstrategien zu generieren“ (Manhart & Rustemeyer, 2004, S. 266). Aus diesen Prämissen heraus wird die Form der Pädagogik von den Autoren folgendermaßen bestimmt. "Die Form der Pädagogik bezeichnet gesellschaftliche Kommunikation unter dem Aspekt ihrer Relation zu Prozessen der Personenveränderung. Dazu etabliert sie gesellschaftlich eine spezifische Form temporaler Erwartungshorizonte. Die pädagogische Sinnform schematisiert Personen defizittheoretisch, indem sie nach möglichen Veränderungspotenzialen fragt, an denen ihre Interventionen ansetzen und institutionelle Formen gewinnen können. (Manhart & Rustemeyer, 2004, S. 267)
Abgeleitet aus der defizittheoretischen Bestimmung von Personen lässt sich bezogen auf pädagogische Felder der Schematismus „Bildung-Hilfe“ einführen, wobei im Pol der Bildung die Defizite als aufhebbar gekennzeichnet werden. In diesem Falle setzt pädagogisches Handeln als Perfektionierung an. Am entgegengesetzten Pol der Hilfe sind Defizite als unveränderlich gekennzeichnet. In diesem Falle zielen pädagogische Formen auf die Stabilisierung von Personen, um eine Exklusion aus gesellschaftlichen Zusammenhängen zu verhindern. (vgl. ebenda, S. 270). Dabei bezeichnet Bildung, bezogen auf Person und Subjekt sowie Hilfe, bezogen auf Körper und Psyche, nur die Extrempole. Besonders reizvoll ist an dieser Differenzierung das Aufzeigen des Kontinuums von Bildung und Hilfe. Trennscharfe Grenzziehungen sind kaum leistbar in diesem Feld. Sowohl die Formen Hilfe als auch Beratung lassen sich differenzieren nach Hilfe zur Selbsthilfe, Hilfe zur Teilnahme an Unterricht, Vermittlung, Training oder Hilfe zum Leben. Beratung gliedert sich entsprechend nach Beratung als Selbstberatung, Beratung als Entscheidungshilfe und Beratung als psychische
Die soziale Welt
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Einflussnahme. Mit dieser Unterteilung wird kenntlich gemacht, in welcher Weise die Formen zwischen dem Pädagogischen bis hin zum Medizinischen oder der Therapie changieren können. Das entworfene Modell über den Schematismus ‚Bildung- Hilfe’ verdeutlicht für diese Studie die Bedeutsamkeit von Kontinuen. Das Feld wird ähnlich bestimmt, wie der auffindbare Problembearbeitungsbereich in Bezug auf die Sehbehinderung im Alter. So sind Formen des pädagogischen nicht nur in Formen des Trainings erwartbar, sondern auch in Konstellationen der Beratung.
2.6 Die soziale Welt – Beobachtungsperspektive zur Beschreibung der Integration von Vermittlung und Aneignung Die bis zu diesem Teil der Arbeit aufgespannten Themen plädieren vor allem für Offenheit und Varianz gegenüber dem Feld der Sehbehinderung im Alter: durch die Kritik an der Altenbildung und die Offenheit der Formendiskurse scheint diese Haltung angebracht. Dennoch gilt es eine Klammer zu manifestieren, die all diese Aspekte zusammenhält. Für den Untersuchungsbereich stellt diese Klammer die Einführung des Konzepts der „sozialen Welt“. Dies ermöglicht die Herstellung eines Zusammenhangs, der in der Verbindung von individueller (Un-)Fertigkeit und institutionellen Angeboten besteht. Denn in dem untersuchten Feld werden Betroffene auf Angebote bezogen, so dass eine bloß individuelle Beschreibung ihres Umgangs mit der Sehbehinderung zur kurz greifen würde. Nicht einzig die Schwere der Erkrankung, das Lebensalter oder die Bildungsbiographie sind zu beschreiben, sondern dies ist zu relationieren mit der sozialen Welt, in der die Betroffenen leben. Zudem bietet die Verwendung dieses Konzepts als Schlüsselkategorie die Möglichkeit der integrativen Beschreibung von Vermittlung und Aneignung und gewährleistet damit die gemeinsame Beobachtung unterschiedlicher Akteursperspektiven in einem aufeinanderbezogenen Kommunikationsraum. Das Konzept der ‚sozialen Welt’ geht auf Anselm Strauss (1998) zurück und wird folgendermaßen definiert: "Eine soziale Welt ist eine – nicht unbedingt große oder in sich geschlossene – Gemeinschaft, die mindestens an einer elementaren Sache (mit damit zusammenhängenden Handlungsgruppen) arbeitet; die Örtlichkeiten hat, wo ihre Aktivitäten stattfinden; die eine Technologie hat, um ihre Aktivität durchzuführen; und die Organisationen unterhält, um den einen oder anderen Aspekt ihrer Aktivitäten zu fördern." (Strauss, 1998, S. 293)
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Formen des Pädagogischen
Betrachtet man den Untersuchungsgegenstand unter derjenigen Kategorisierung, die alle im Folgenden entwickelten Kategorien unter sich subsumiert, so ist von einer sozialen Welt zu sprechen, die sich zwischen Alter und Sehbehinderung verortet. Im Anschluss an Clarke (2007) ist die Herstellung von Zugehörigkeit oder Teilnahme an der sozialen Welt ein wesentliches Kriterium. Aber es ist auch zu unterscheiden, in welcher Form andere soziale Welten thematisiert, ein- und abgegrenzt werden: "There typically exist intraworld differences as well as the more conventionally expected interworld differences of perspective, commitment, and inscribed attributions. For Strauss, negotiations of various kinds – persuasion, coercion, bartering, educating, discursively and otherwise repositioning, etc. – are strategies to deal with such conflicts and are routinely engaged." (Clarke, 2007, S. 4547)
Beispielhaft sei dies im Hinblick auf das Material kurz verdeutlicht: Das Leben im Alter wird durch den Eintritt einer Sehbehinderung maßgeblich verändert. Für das betroffene Individuum kann und muss von einem kritischen Lebensereignis gesprochen werden. Pläne für das ‚Leben im Alter’ sind in der vorgestellten Art und Weise nicht mehr umsetzbar. Neben den durchkreuzten Plänen treten plötzlich der Körper und seine Erkrankung in den Vordergrund. Es geht nicht mehr um die Realisierung von Ruhestandsprojekten, im Sinne von Reisen oder Leseprojekten. Vielmehr erfolgt in den meisten Fällen eine ausgiebige Auseinandersetzung mit dem medizinischen System als Ort der Heilung, Behandlung und Therapie. Hinzu kommt in fortgeschrittenen Stadien der AMD das Zurückgeworfensein auf den Alltag und dessen Bewältigung, da die gewohnten und routinierten Fertigkeiten des Alltags zum Teil außer Kraft gesetzt oder zumindest gefährdet sind. Doch mit dieser Beeinträchtigung fällt das Individuum nicht in einen luftleeren Raum. Vielmehr nimmt es Kontakt auf zur sozialen Welt der Sehbehinderung, einer Welt, die einer eigenen Regelhaftigkeit, wie hier zu zeigen sein wird, zu folgen scheint, die bisher im Leben der Betroffenen nur selten oder gar keine Rolle gespielt hat. Doch was kennzeichnet die soziale Welt, in die das Individuum sich integrieren oder bewusst davon abgrenzen muss? Einige Etappen, Phasen und Merkmale der sozialen Welt der Sehbehinderung, der ‚Sehbehindertenwelt’ werden im empirischen Teil ausgearbeitet. Für eine Einführung an dieser Stelle erscheint folgendes erwähnenswert12: Betroffen von einer Sehbehinderung im Alter stößt das Individuum auf ein bereits existie12 Eine endgültige Beschreibung der sozialen Welt der Sehbehinderung kann erst nach Vorstellung der Analysen vorgenommen werden, vgl. hierzu Teil IV dieser Arbeit.
Die soziale Welt
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rendes Betreuungs-, Therapie- und Beratungssystem, das durch die Expertenwahl möglichst breit abgebildet wird. Wenn diese Versorgungswelt bislang in Deutschland auch noch nicht ausreichend für eine umfassende Versorgung der AMD-Patienten ausgebaut scheint, so ist aber dennoch zu konstatieren, dass Strukturen geschaffen wurden, mit denen die Betroffenen konfrontiert werden, die bestimmte Angebote offerieren, die aber auch bestimmte Erwartungen und Vorstellungen an die Betroffenen richten. Für eine erste Charakterisierung der Sehbehindertenwelt ist von zentralem Interesse, dass diese Angebote zumeist erst seit relativ kurzer Zeit mit Personen in Berührung kommen, die erst im Alter von einer Sehbehinderung betroffen sind. Dies bedeutet, dass sowohl die Angebote als auch die Erwartungen an Klienten noch weitestgehend am Bild des ‚Blinden’ orientiert sind. Macht dies einen Unterschied, könnte man fragen. Ja, denn dieser Unterschied ist enorm und nicht trivial. Hält man sich das Bild vom Blinden im Gegensatz zum älteren Sehbehinderten vor Augen, ergeben sich maßgebliche Differenzen. So ist der ältere Sehbehinderte sowohl sehbehinderter Älterer als auch sehbehinderter Älterer: Entscheidend ist somit die Sehbehinderung ebenso wie das Alter. Beim blinden Menschen hingegen wird davon ausgegangen, dass er den Großteil seines Lebens und damit vor allem die Phase der Beruflichkeit als ‚Blinder’ verbringen wird. Das Konzept sozialer Welten (Clarke, 2007) bietet sich in diesem Falle an, da es für die empirische Analyse zu leisten vermag, was Baltes im Begriff des Balanceaktes theoretisch formuliert. Durch die Fragen nach sozialen Aggregationen, deren Zusammenhalt und deren Strukturierung (Strübing, 2005) werden die drei oben erwähnten Ebenen der Kompetenz- und Defizitzuschreibung durch die Möglichkeit ihrer Relationierung miteinander in Einklang gebracht. Damit stellt die Theorie sozialer Welten den geeigneten Rahmen dar, um die Welt des Umgangs mit einer Sehbehinderung im Alter unter Einbettung ihrer Akteure zu beschreiben und um letztendlich deren Kompetenz- und Defizitzuschreibungen einzuordnen.
3 Sehbehinderung im Alter
3.1 Die Besonderheit der altersbedingten Makuladegeneration Die senile oder altersbedingte Makuladegeneration unterscheidet sich gravierend von einer normalen im Alternsprozess auftretenden Verschlechterung des Sehvermögens, das durch Brillen meist gut zu kompensieren ist. Folgt man der Einteilung von Gerok und Brandtstädter (1992) so ist von einem normalen Alterungsprozess auszugehen, wenn mit zunehmendem Alter Beeinträchtigungen bei einem Großteil der älteren Bevölkerung einhergehen. Dahingegen ist von pathologischen Veränderungen zu sprechen, wenn es sich um spezifische, nichtkorrigierbare Veränderungen handelt, die mit funktionellen Einbußen einhergehen. In der Regel werden von solchen krankhaften Veränderungen nur eine Minderheit der Bevölkerung betroffen (vgl. auch Heyl, 2005). Unter diesen krankhaften Veränderungen nimmt die altersbedingte Makuladegeneration einen bedeutsamen Stellenwert ein. Zwar nimmt der Katarakt die häufigste Prävalenzrate ein, er ist aber operativ gut zu korrigieren und führt nicht zu dauerhaftem Sehverlust. Bei AMD hingegen handelt es sich um die häufigste Ursache von Sehverlust in den westlichen Staaten ab einem Alter von 50 Jahren und aufwärts (vgl. Bellmann & Holz, 2001, S. 49; Wahl, 1997, S. 43). Sie betrifft etwa jede fünfte Person zwischen 65 und 74 Jahren und etwa jede dritte Person jenseits von 75 Jahren (Fine, Berger, Maguire & Ho, 2000; Holz, Pauleikhoff, Spaide & Bird, 2003). Nach Schätzungen leiden demnach weltweit 25-30 Millionen Menschen an dieser Erkrankung (McLaughlan, 2003). Es handelt sich bei dieser Erkrankung um eine Degeneration der Makula, der Stelle des schärfsten Sehens, die das gesamte Spektrum von leichten Störungen bis hin zu den stärksten Einschränkungen der Sehschärfe bzw. des Gesichtfeldes abdecken (vgl. Wahl, 1997, S. 43). Unterschieden wird nach einer trockenen und nach einer feuchten Form. Von der trockenen Form ist der überwiegende Anteil der Betroffenen (85-90%) betroffen. Die feuchte, aber radikalere Form, die zudem in den meisten Fällen für einen schweren und häufig auch plötzlichen Sehverlust verantwortlich ist, rangiert dementsprechend bei einem Betroffenheitsgrad von 10-15%. Die trockene Form ist meist noch recht gut durch vergrößernde Sehhilfen kompensierbar, zudem schreitet sie in der Regel langsamer voran. Diese Form der Erkrankung wird ausgelöst durch das Wachstum abnor-
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Sehbehinderung im Alter
maler Blutgefäße, ‚choroidal neovascularization’ genannt, unterhalb der Makula. Die entstandenen Gefäße geben Serum und Blut in das Gewebe hinter dem Auge ab. Dadurch entstehen blasenartige Gebilde in der Netzhaut. Dies führt zunächst zur Wahrnehmung von Verzerrungen und kann im Verlust des zentralen Gesichtsfeldes resultieren (vgl. www.amdalliance.org). Allerdings wurden gerade in den letzten Jahren für die feuchte Form neuartige Therapieformen, insbesondere die Anti-VEGF-Therapie entwickelt, die seit kurzem den Patienten zur Verfügung stehen13. Anti-VEGF steht dabei für ‚vascular endothelial growth factor’, was soviel bedeutet wie die Einflussnahme auf das Wachstum der Gefäße in Form der Blockade dieses Wachstums (Ferrara, Damico, Shams, Lowmann & Robert, 2006; Gragoudas, Adamis, Cunningham, Feinsod & Guyer, 2004). Gemäß erster Studien zu dieser Therapie kann es durch deren Einsatz das erste Mal gelingen, den Sehverlust nicht nur einzudämmen sondern auch wieder Sehfähigkeit zurückzuerlangen. Jedoch können mit dieser Therapieform nur ca. 20% der Betroffenen der feuchten Form der Makuladegeneration behandelt werden. Die Pathogenese dieser Erkrankung ist noch nicht vollends erforscht, doch es gibt Anzeichen dafür, dass es sich um eine Krankheit handelt, die sich auf verschiedene genetische und ökologische Faktoren zurückführen lässt, wobei das Alter den wichtigsten Risikofaktor darstellt (Schütt & Holz, 2001; Schwartz, 2000). Ein frühes Stadium der Krankheit kann durchaus noch beschwerdelos sein, wohingegen in einem späten einfachste Tätigkeiten zum Hindernis werden können. In der Regel befällt diese Krankheit beide Augen und tritt erst nach dem 60. Lebensjahr ein. Die Spätformen können zu einem Visus von bis zu 0,02 reichen, was im technischen Sinne Blindheit bedeutet.
3.2 Untersuchungsgegenstand Betreuung älterer Sehbehinderter Die Betreuungslandschaft für ältere Sehbehinderte ist in Deutschland, aber auch in anderen Ländern (Lidoff, 2003), noch weit davon entfernt flächendeckend gewährleistet zu sein. Es besteht die Sorge, dass Betroffene über 65 Jahren nur unzureichend oder gar keine Hilfe bekommen, da sie von den Rehabilitationsmaßnahmen für Erwerbstätige ausgeschlossen sind (McLaughlan, 2003). Aber es existieren sowohl von verschiedenen Professionen gesteuerte wie auch interdisziplinäre Angebote zur Intervention bei Sehbehinderung im Alter. Als interdisziplinärer Ansatz sind die Low-Vision-Ambulanzen – zumeist angesiedelt an Augenkliniken – zu werten, die in Zusammenarbeit von Augenärzten, Optikern und Rehabilitationstrainern für Sehbehinderte und Blinde, Beratungen und Anpas13
Zum Zeitpunkt der Erhebungen für diese Studie war diese Therapieform in Deutschland noch nicht zugelassen.
Untersuchungsgegenstand Betreuung älterer Sehbehinderter
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sungen von Hilfsmitteln vornehmen. Ebenso informieren Blindenverbände und Selbsthilfeverbände (www.proretina.de, www.amd-alliance.org, www.dbsv.org) über entsprechende Formen der Intervention für Betroffene. Dennoch trifft für die meisten Menschen zu, dass sie sich – zumindest bisher – noch eigenständig um ihre Betreuungsangebote bemühen müssen. Rechtlich sind sie aber nicht anders gestellt als jüngere Sehbehinderte und haben somit ab einem Sehrest von weniger als 30% Anrechte auf die Übernahme von Kosten für Hilfsmittel, auf Blindenhilfe, einen Behindertenausweis sowie die Teilnahme an einem Orientierungs- und Mobilitätstraining (O&M) (Demmel & Drerup, 2006a, 2006b). Aufgrund der finanziellen Lage des Gesundheitssystems, des zu erwartenden Anstiegs an Makulapatienten und der bereits in den letzten Jahren als rückgängig zu beurteilenden Finanzierungspraxis von Hilfsmitteln befürchten Verbände eine zunehmende Zuspitzung in der Versorgungslage älterer Menschen (McLaughlan, 2003). Bezüglich der Betreuungsangebote existieren zahlreiche Formen, die auch älteren Sehbehinderten zur Verfügung stehen. Die Angebote sind zunächst zu unterteilen in Formen der instrumentellen Bereitstellung und Anpassung von Hilfsmitteln optischer oder technischer Art. Ein weiterer Bereich fällt in die Anpassung des Alltags an die Sehbehinderung durch Trainings. Psychosoziale Betreuung, bei der vor allem die Bewältigung und die Steigerung der Problemlösekompetenz aufgrund der Sehbehinderung im Zentrum steht, stellt einen dritten Bereich dar. Ein letzter Bereich schließlich ist jener der Selbsthilfegruppe, die in Deutschland noch schwach ausgeprägt ist, aber mehr und mehr an Bedeutung gewinnt. Zu diesen ‚klassischen’ Formen treten in der Interventionsforschung entwickelte Konzepte und Modelle, die Kombinationen der oben genannten Modelle anstreben oder neue Ansätze für den Umgang mit der Sehbehinderung verfolgen, wie etwa musiktherapeutische Angebote, hinzu. Kaum zu finden sind in Deutschland Programme der Unterstützung von Lebenspartnern, wie das bei Lighthouse International angesiedelte Programm, da diese häufig ebenso unter der neu eingetretenen Situation der chronischen Krankheit leiden (Cimarolli, Sussman-Skalka & Goodman, 2004; Sussmann-Skalka, 2003). Neben den klassischen Programmen existieren neuerdings vermehrt Broschüren und Bücher zum Umgang mit der Erkrankung, zum einen adressieren diese die Betroffenen (Jonas, 2006; Schäfer, 1997; Schulze, 1999) selbst, zum anderen die Betreuenden (Schäfer, 1997; Schulze, 1999, 2003), um sie über den geeigneten Umgang mit Sehbehinderten zu informieren. Diejenigen institutionellen Angebote, die in der Literatur beschrieben werden (siehe Abb. 11), können als multiprofessionell beschrieben werden. Zudem differenzieren sie nach Örtlichkeiten und insbesondere Inhalten. Die Beschreibung hingegen ist sehr unterschiedlich. Während bei einigen Angeboten einzig
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Sehbehinderung im Alter
Zielformulierungen beschrieben werden, liegen insbesondere zu den psychologischen und ophthalmologischen Angeboten Evaluationsstudien vor. Abbildung 11: Übersicht über die Betreuungsformen für ältere Sehbehinderte Formen der Betreuung Low Vision Ambulanzen (Keil, 2001) Optische Hilfsmittel (Rosenbloom, 2000)
O & M Training (Rockwitz, 2001)
LPF-Training (Cory, 2001)
Psychosoziale Beratung (S.Becker et al., 2006) Unterstützung für Angehörige (Cimarolli et al., 2004; Sussmann-Skalka, 2003)
Selbsthilfegruppen (www.proretina.de)
Musiktherapie (Austermann, 2001)
Angestrebte Inhalte
Orte in der Regel Kliniken
Beteiligte Professionen Augenärzte, Optiker,
Verschreibung und Anpassung von optischen Hilfsmitteln; Verhaltensänderung beim Lesen und Fokussieren von Gegenständen Training am Blindenlangstock in häuslicher Umgebung und im näheren Umfeld
Kliniken, Augenärzte, Optiker
Augenärzte, Optiker
im eigenen Umfeld, im Rehabilitationszentrum im eigenen Umfeld, im Rehabilitationszentrum
Rehabilitationslehrer für Sehbehinderte und Blinde
in Kliniken
Psychologen, Pädagogen,
im Rehabilitationszentrum, Telefonkonferenzen
Psychologen, Ergotherapeuten
in der Regel Gaststätten
Laien, Betreuung durch Professionelle bspw. Ärzte oder Rehabilitationslehrer
im Rehabilitationszentrum
Musikpädagogen
Trainings in Aktivitäten des täglichen Lebens wie Kochen, Wäsche waschen, Essen, Hilfsmittelgebrauch Umgang mit Emotionen und Problemlösetechniken Information und Austausch, Vergleich von Lösungen, Stressmanagement, Einrichten des Zuhauses Beratung und Austausch in sämtlichen Bereichen der Behinderung wie Informationen zu Hilfsmitteln, Therapiemöglichkeiten Körpergefühl und Bewegungsfähigkeit wiederherstellen und erhalten
Rehabilitationslehrer für Sehbehinderte und Blinde
Erkenntnisse der gerontologischen Sehbehindertenforschung
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Um einen besseren Überblick über die Betreuungslandschaft für AMD-Patienten zu gewährleisten, folgt eine kurze Beschreibung oben stehender Angebote: Zu nennen ist erstens die Versorgung mit und Anpassung von technischen Hilfsmitteln, die durch den Augenarzt oder den Optiker gewährleistet werden kann (Holz et al., 2003). Für AMD-Patienten kommen dabei Lupen, Lupenbrillen, Lesegeräte oder Vorlesegeräte in Betracht. Diese technischen Hilfsmittel unterliegen einer natürlichen Grenze. Da sie alle mit Vergrößerungen arbeiten, ist ab einem Visus von 0,02 die Grenze erreicht, mit der die Lesefähigkeit erhalten werden kann: Abbildung 12: Vereinfachte Übersicht über Hilfsmittel in Bezug zur Sehschärfe (Quelle: www.augeninfo.de/index.php) Sehschärfe (Visus) 0,2 bis 0,4 0,2 bis 0,4 0,1 bis 0,3 0,02 bis 0,1
Vergrößernde Sehhilfe Verstärkte Lesebrille Leseglas (Lupe) Lupenbrille bzw. Fernrohr-Lupenbrille Bildschirm-Lesegerät
Vergrößerung 1- bis 2-fach 2- bis 12-fach 2- bis 12-fach 5- bis 60-fach
Zudem werden Trainings in Lebenspraktischen Fertigkeiten (LPF) und Trainings in Orientierung & Mobilität (O&M) angeboten. Für das O&M-Training liegt die Finanzierung bei der Krankenkasse, beim Training in LPF muss die Finanzierung in Eigenleistung getragen werden. Die beiden unterschiedenen Trainings fokussieren auf den Umgang mit der Sehbehinderung im alltäglichen Leben und schließen alltagspraktische Fertigkeiten mit ein (Crews & Whittington, 2000; Wahl & Schulze, 2001). Daneben besteht noch die Möglichkeit der Teilhabe an Selbsthilfegruppen und Beratung im Blindenbund. Diese Formen der Betreuung dürften wohl als ‚klassische‚ Formen zu kennzeichnen sein. Beklagt wird das Fehlen psychosozialer Betreuung (Kämmerer et al., 2006; Kemp, 2000) sowie das Fehlen der Betreuung der Partner von sehbehinderten Älteren. Leider liegen letztere Angebotsformen meist nur als Modellprojekte vor.
3.3 Erkenntnisse der gerontologischen Sehbehindertenforschung Der Erforschung des Phänomens der Sehbehinderung im Alter fehlt es allerdings nicht an Dynamik, was sich durch zahlreiche Veröffentlichungen in spezifischen Fachzeitschriften, genannt seien hier Vision & Aging, Journals of Visual Impairment & Blindness, Visual Impairment Research, ausdrückt. Betonen möchte
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Sehbehinderung im Alter
ich die Aspekte der Ergebnisse zu psychosozialen Konsequenzen des Sehverlustes im Alter sowie Outcomes zu Interventionsmaßnahmen.
3.3.1 Psychosoziale Konsequenzen des Sehverlustes im Alter In einem umfassenden Review, verfasst am Deutschen Zentrum für Alternsforschung, wurde eingehend auf die psychosozialen Folgen des Sehverlustes im Alter hingewiesen, die hier kurz aufgeführt werden (Burmedi, Becker, Heyl, Wahl & Himmelsbach, 2002a, 2002b):
Emotionale Anpassung Im Vergleich zum ‚normalen’ Altern, wo Depressivitätswerte bei unter 5% der Personen angenommen werden, liegen bei Älteren, die im Alter von einer Sehbehinderung betroffen werden, die Depressivitätswerte zwischen 24% und 45%. Die Unterschiede sind abhängig von den jeweiligen Untersuchungsmethoden und den Kategorisierungen: Auch wenn zahlreiche Studien ausschließlich mit deskriptiven und korrelativen Daten arbeiten, muss die Bedeutung von Depression als Folge einer Sehbehinderung im Alter als äußerst hoch eingestuft werden. Leider existieren kaum Ergebnisse über längsschnittliche Werte, die nochmals einen anderen Zusammenhang von Alter und Sehbehinderung aufweisen könnten. Es wird noch Forschung benötigt zu sozialen Unterstützungsleistungen und Einsamkeit. In diesem Bereich können aber drei Dimensionen aufgezeigt werden: Soziale Unterstützungsleistungen werden von Sehbehinderten weniger empfangen als von sehenden Älteren, soziale Unterstützung bildet einen wesentlichen Beitrag gegen negative Gefühlslagen und soziale Unterstützung wird vor allem von Kindern (oder Freunden) geleistet.
Behaviourale Anpassung Wenn die Rede auf behaviourale Anpassung kommt, so ist damit ein Konzept der Evaluation von Alltagskompetenz gemeint, im Sinne der Definition von M. Baltes und Wilms (1998). Für diese Alltagsaktivitäten sind insbesondere in der psychologischen und medizinischen Forschung differenzierte Skalen wie ‚Activities of Daily Living (Katz, Downs, Cash & Gratz, 1970), Instrumental Activities of Daily Living (Lawton & Brody, 1969) und Barthel Index (Mahoney & Barthel, 1965) eingeführt. Zudem wurden in den letzten Jahren spezifische Ska-
Erkenntnisse der gerontologischen Sehbehindertenforschung
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len für die Beurteilung der Alltagskompetenz von Sehbehinderten entwickelt: So beispielsweise der ‚National Eye Institute Visual Function Questionnaire’, der ‚Activities of Daily Vision Scale’ oder der ‚Adaptation to Vision Loss Scale’ (Burmedi et al., 2002a). Der Vorteil gerade des letztgenannanten Konstruktes ist, dass spezifisch auf die Einstellungen zu Interventionsformen, die Akzeptanz des Sehverlustes und Beziehungen zur sozialen Umwelt eingegangen wird (A. Horowitz & Reinhardt, 1998; Wahl, Becker, Burmedi & Schilling, 2004). In einem überblicksartigen Review über die Forschung zu Alltagskompetenz auf der Ebene der Sehbehinderung Älterer beschreiben Burmedi et al. (2000a) wichtige Ergebnisse und Forschungsanforderungen. Berücksichtigt werden dabei die Ebenen Alltagskompetenz, Mobilität und Freizeitaktivitäten, abgebildet in unterschiedlichsten Skalenkombinationen. Zusammenfassend lassen sich folgende Ergebnisse beschreiben. In Bezug auf die Abhängigkeit bei der Verrichtung von Alltagsaktivitäten (gemessen in der Notwendigkeit von Unterstützungsleistungen bei mindestens einer ADL-Aktivität) liegen bei älteren Sehbehinderten höhere Werte vor als bei gesunden Alten, aber auch als beispielsweise bei Hörgeschädigten. Aber in Anbetracht von anderen gesundheitlichen Beeinträchtigungen oder Depression sind niedrigere Abhängigkeitswerte dargestellt. Konsequenzen der Sehbehinderung sind ebenso in Orientierung und Mobilität festzustellen. Auch wenn ältere Sehbehinderte selten an das Zuhause gebunden sind, so ist dennoch (auch bei leichten Sehbeeinträchtigungen) eine Limitierung der Mobilität feststellbar. Bei der Mobilitätsvariablen wird aber von den Autoren insbesondere darauf verwiesen, dass diese durch Rehabilitation, soziale Unterstützungsleistungen und Umweltveränderungen gut modifizierbar sind. In der Limitierung von Freizeitaktivitäten konnten keine einfachen Zusammenhänge zwischen Sehschärfe und derartigen Aktivitäten durch die Analyse zahlreicher empirischer Studien nachgewiesen werden. Die Abnahme von Freizeitaktivitäten wird zurückgeführt auf zweierlei Faktoren. Einerseits sind vor allem diejenigen Aktivitäten betroffen, die ein hohes Maß an Sehfähigkeit benötigen (bspw. Lesen, Kino, Theater) andererseits kann der Rückzug von Freizeitaktivitäten als eine Anpassungsstrategie an den Sehverlust gedeutet werden, der es erlaubt sich Aktivitäten zuzuwenden, die für ein Leben mit Sehbehinderung angemessener erscheinen (vgl. Burmedi et al., 2002a). Demzufolge ist auf allen Ebenen des Alltags mit Beeinträchtigungen zu rechnen. Ein wichtiges Maß zur Bewältigung dieser Einschränkungen liegt für die Sehbehindertenforschung in der Analyse von Coping- und Kontrollstrategien.
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Sehbehinderung im Alter
Die Bedeutung von Coping- und Kontrollstrategien Die Beurteilung von Coping- und Kontrollstrategien im Bereich der älteren Sehbehinderten zielt vor allem auf die Einschätzung von Bewältigungsleistungen und der Veränderung von Zielerreichungsprozessen. Sie dienen der Aufklärung interindividueller Unterschiede der Perzeption der Sehbehinderung. Beispielhaft seien die Arbeiten von Brennan et al. (2001), Brennan & Cardinali (2000), Boerner (2003) und Wahl et al. (Wahl et al., 2004; Wahl, Becker, Schilling, Burmedi & Himmelsbach, 2005) genannt. Brennan & Cardinali (2000) versuchten in einer qualitativen Studie den Nachweis „neuartiger“ Bewältigungsstrategien älterer Sehbehinderter zu fassen. Sie stellen dabei Bewältigungsstrategien in den Kontext der Zeit. Zunächst greife das Individuum zurück auf „preexisting coping strategies“, doch wenn diese nur eine marginale Verbesserung erzielen oder inadäquat seien, werden von den Betroffenen „novel coping strategies“ entwickelt. Als derartig neue Bewältigungsstrategien wurden von den Autoren diejenigen Strategien bezeichnet, die sich einerseits auf den Umgang mit der Sehbehinderung beziehen und die zudem erst seit kurzem angewendet werden. Die entwickelten Kategorien beziehen sich auf drei Bereiche: soziale Dimensionen, psychologische Dimension oder behaviourale Dimension. Kritisch muss an dieser Studie aus dem hier verfolgten Blickwinkel betrachtet werden, dass insbesondere neuartige Coping-Strategien nur in ihrem Verhältnis zur Sehbehinderung und nicht in der Dimension der Biographie bewertet werden. Hierzu ein Beispiel: „I want to exchange ideas with other visually impaired people. I could learn something.” (ebenda, S. 330) wird als neuartige Coping-Strategie codiert. Unbeachtet bleibt dabei die Tatsache, dass es sich bei der Form des Austauschs um eine biographische Strategie zum Umgang mit Problemen handeln könnte und es damit keineswegs um eine neue Coping-Strategie ginge, sondern ein lebenslanges Muster der Bewältigung von Krisen handelt. Dies zumindest würde die Thesen unterstützen, die in einer früheren Arbeit ausgearbeitet wurden (Himmelsbach, 2003), dass neue Umgangsformen in diesem Feld nur selten aufzudecken sind, wohingegen sich in den meisten Fällen eine biographische Programmierung rekonstruieren lässt. Wahl et. al. (2004) weisen in den Ergebnissen ihrer Studie zu Kontrollstrategien mit Rückgriff auf den kontrolltheoretischen Zugang von Heckhausen & Schulz (1995) darauf hin, dass entsprechend diesem Modell der Einsatz von primärer selektiver Kontrolle (als Einsatz von Anstrengung, Zeit und dem Erlernen neuer Fertigkeiten zur Aufrechterhaltung von Zielen) zu verbesserter Alltagskompetenz führt. Zudem führen der Einsatz von kompensatorischer primärer Kontrolle (als Rückgriff auf die Hilfe anderer, der Nutzung von Hilfsmitteln zur Aufrechterhaltung von Zielen) und sekundärer selektiver Kontrolle (als kognitive
Erkenntnisse der gerontologischen Sehbehindertenforschung
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Strategien zur Abwertung konkurrierender Ziele oder der Aufwertung des bestehenden Ziels) zu verbessertem positivem Affekt (Wahl et al., 2004). Die Arbeiten zu Kontrolle und Coping bringen Strategien des Handelns in Verbindung mit Parametern der Lebenszufriedenheit und des Alltags. In dieser Arbeit wird nun das „Wie“ dieser Strategien näher untersucht. So steht weniger ihre Wirkung auf Affekte oder Lebenszufriedenheit im Zentrum denn der Bereich ihrer Konstitution.
3.3.2 Interventionsprogramme – Ein Bericht über Outcomes Studien zu Interventionsprogrammen beschreiben, wenn sie über die reine Beschreibung der Inhalte hinausgehen zumeist Outcomes von Interventionsprogrammen. Unter ‚Outcomes’ ist in der empirisch-quantitativen Sozialforschung im Bezug auf Rehabilitations- und Interventionsforschung „die über Indikatoren erfasste Zielerreichung in Abhängigkeit der Zielformulierung und unter Berücksichtigung des relativen Beitrags von Prädiktoren“ (Bullinger & RavensSieberer, 2000, S. 309) zu verstehen. ‚Indikatoren’ können sich dabei auf die Wiederherstellung von Selbständigkeit, die Wiedererlangung der Mobilität, auf Krankheitsbewältigungsmanagement oder gesundheitsökonomische Aspekte beziehen. Durch den Einsatz von Interventionsprogrammen kann sowohl die Performanz von Alltagsaktivitäten erzielt werden, wie auch zu einer Senkung der Depressivitätswerte beigetragen werden. Horowitz, Reinhardt, Boerner & Travis (2003) weisen aber darauf hin, dass nicht Rehabilitation alleine, sondern ebenso die Bedeutung von sozialer Unterstützung und der allgemeine Gesundheitszustand für die Veränderung dieser Werte entscheidend ist. Birk et. al. (2005) und Kämmerer et. al. (2006) konnten in einem Pilotprojekt die Verbesserung der Depressivitätswerte durch Rehabilitation nachweisen. Insbesondere die Bearbeitung von Emotionen führte hier zu einer Besserung. Aber auch problemzentriertes Coping veränderte sich dahingehend, dass die Veränderung von Bewertungen, die Veränderungen von Routinen mit Anpassung an den Sehverlust sowie die Inanspruchnahme von Hilfe verbessert werden konnten. Schließlich seien noch die Anregungen für Interventionsprogramme von Cimarolli, Boerner & Wang (2006) genannt. Sie untersuchten, inwiefern „life goals“ in Interventionen integriert sind und wie die Adressaten von Interventionsprogrammen dies erlebten. Am bedeutsamsten und effektivsten erwiesen sich dabei Interventionsprogramme, die auf die Verbesserung von Alltagsaktivitäten zielten. Von den Klienten wurde angegeben, dass die Verbesserung von Alltagsaktivitäten gleichzeitig ihr emotionales Befinden und ihre Motivation verbessert habe. Dies misst den Interventionsformen zu alltagspraktischen Fertigkeiten
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Sehbehinderung im Alter
einen relativ hohen Stellenwert bei, der in Kontrast zum Verhältnis der Teilnahme älterer Sehbehinderter an diesen Angeboten steht. Weiter wird aber auch von der Nicht-Erreichung von Lebenszielen durch Interventionsformen berichtet. Als Ursache wird genannt, dass Angebote ansetzten, bevor die Teilnehmer sich ihrer Ziele bewusst wurden oder sich persönliche Ziele veränderten. In diesem Sinne wird von den Autoren explizit eingefordert, die Wünsche der Betroffenen stärker in die Interventionsangebote mitaufznehmen.
3.4 Folgen für eine erziehungswissenschaftliche Betrachtung Die oben berichteten Erkenntnisse aus der Low-Vision-Forschung münden in fünf Thesen, die zur Eingrenzung der Fragestellung führten und die in der Empirie Behandlung finden werden. These 1: Die hier vorgestellten Erkenntnisse könnten noch weiter ausgebaut werden, sofern Informationen zum tatsächlichen Umgang vorlägen, der sich nicht unbedingt in Skalen messen lässt. These 2: Was der Betrachtung bisher fehlt, ist die konkrete Verwendung der Copingstrategien in ihrer Einbettung in den Alltag. These 3: Es können bisher kaum Aussagen getroffen werden über den tatsächlichen Verlauf von Interventionsprogrammen, wenig ist bekannt über deren Innenleben. Somit können durch die vorgelegte Studie auch Erkenntnisse gewonnen werden, die die kurvenartig verlaufenden Ergebnisse zur Anpassung an den Sehverlust näher erklären. These 4: Durch die qualitative Strukturierung der Arbeit können hier besser „neue“ Strategien aufgedeckt werden, da ein Zusammenhang von Biographie und dem Umgang mit der Sehbehinderung in individuellen wie in institutionellen Kontexten hergestellt wird. These 5: Gerade die Untersuchungen zu den Interventionsprogrammen lassen bisher völlig die Perspektive und damit auch die Rolle der Trainer außer Betracht. Welche Komplexität an Aneignung und Vermittlung durch die Trainingssituation vorliegt, kann mit diesen Studien bisher nicht beschrieben werden.
4 Fragestellung und Akteure
4.1 Auf dem Weg zu den Strukturen des Lernens Älterer Durch die zunehmende Verdichtung der Fragestellung im Laufe des Projektes konnte unter gezieltem Ausschluss theoretischer Debatten der Rehabilitationswissenschaften und der maßgeblichen Einschränkung auf die Altenbildungsdebatte die Fragestellung nach den Strukturen des Lernens Älterer unter der Bedingung von limitierter Handlungsfähigkeit ausgearbeitet werden. Theoretisch bedeutet die Fragestellung nach den Strukturen des Lernens Älterer unter der Bedingung des Defizits, zunächst die Anwendung der Universalisierungsthese auf das Feld der Altenbildung und leistet damit einen Beitrag zur empirischen Ausweitung der Ergebnisse der Arbeiten J. Kades in einem neuen Feld. Ebenso wird durch die Frage eine neue Sichtweise auf die theoretische Fundierung von Altenbildung entworfen; dies durch den Versuch, jenseits von Disziplinfragen und Bedürfniskonstruktionen, einen Beitrag zu einer Ordnung des Feldes mittels der Rekonstruktion von Formen. Die hier dargestellten Muster von Aneignungs- und Vermittlungsstrukturen, sprich der Akteursperspektiven, stellen damit einen neuartigen Blick auf die Altenbildung dar, indem diese von der Empirie aus denkend, rekonstruiert wird. Nicht nur für die Altenbildung, sondern für die erziehungswissenschaftliche Forschung generell wird die Relationierung der Perspektiven sowohl der Aneignungsseite, wie auch der Vermittlungsseite als innovativ gekennzeichnet, steht doch in den meisten Arbeiten bisher nur eine Perspektive im Vordergrund (Bastian, 1997 Ludwig 2000; Hof, 2001; J. Kade, 1989a; Ludwig, 2000). Aus der differenzorientierten Bezugsnahme auf das Defizit in der Altenbildung wird damit der Frage nachgegangen, ob erstens bestimmte Defizite in der Altenbildungsdiskussion außer acht gelassen werden, und zweitens nach den Lücken in der Anwendung altenbildungsspezifischer Defizitkonstruktionen gefragt. Drittens steht die Frage im Vordergrund, was geschieht, wenn Defizite auf handlungspraktischer Seite mit aufgenommen werden. Die Integration des Konzeptes der ‚biokulturellen Unfertigkeit’ bezeichnet dabei das Phänomen der Sehbehinderung als Beispiel für ein ‚dazwischen’ gelagertes Phänomen. Mit diesem Ansatz wird die Unterkomplexität der Altenbildung insofern bearbeitet, als dass
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Fragestellung und Akteure
die Bildungsprozesse im Alter durch diese Untersuchung weitere Spezifizierung erlangen. Bezogen auf das Material ist die Frage nach den Strukturen des Lernens Älterer jedoch noch zu abstrakt. Da die Analyse auf mehreren Ebenen dargestellt wird, die zwar nicht genau dem Vorgehen der Analyse, aber doch deren Logik folgen, muss die Fragestellung in kleinere Einheiten heruntergebrochen werden, welche sich auf verschiedene Aspekte des Materials beziehen. Mit folgenden Fragen wurde das Material aufgebrochen und sukzessive auf höhere Abstraktionsstufen hin zur hier vorliegenden Endfassung der Relationierung ausgebaut: Institutionen: Welche Formen des Umgangs mit der Sehbehinderung sind im Blick der Trainer? Welches Wissen liegt über die Teilnehmer vor? Wie sind die Programme aufgebaut? Welche Probleme tauchen im Umgang mit den Teilnehmern auf? In welchem institutionellen Zusammenhang bieten sie die Programme an? Teilnehmer: Wie wird die Sehbehinderung kontextualisiert? Welche Defizite werden dargestellt? Lässt sich rekonstruieren, warum Betroffene an bestimmten Angeboten teilnehmen, an anderen nicht? Welche Formen des Umgangs mit der Sehbehinderung wählen die Teilnehmer? Welche Aussagen treffen die Teilnehmer über die Angebote? Welche Bereiche der Lebenswelt werden im Umgang mit der Sehbehinderung thematisiert?
4.2 Akteure Auswahl der Institutionen und Teilnehmer Das besondere Anliegen und das methodische Alleinstellungsmerkmal dieser Arbeit besteht darin, dass das Phänomen eines institutionellen Umgangs mit der Sehbehinderung sowohl aus der institutionellen wie auch aus der Teilnehmerperspektive in den Blick genommen wird, oder pädagogisch gesprochen, gleichzeitig aus einer Adressaten- wie einer Kursleitersicht. Aus diesem Grund wurden als Material fünf Anbieter befragt und 15 Personen, die von der Sehbehinderung selbst betroffen sind und an Kursen/Angeboten für ältere Sehbehinderte teilnehmen. Zu den untersuchten Institutionen zählen ein Optiker, eine Augenärztin mit psychotherapeutischer Zusatzausbildung, ein Trainer für Orientierung und Mobi-
Akteure Auswahl der Institutionen und Teilnehmer
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lität (O&M) sowie Lebenspraktische Fertigkeiten (LPF), eine Beratungsgruppe im Rahmen eines Blindenbundes sowie eine Selbsthilfegruppe. Diese Betreuungslandschaft wird in den Blick genommen, um das Phänomen Altenbildung von ihren definitorischen Grenzen aus zu untersuchen. Denn sowohl die befragten Experten sehen sich nicht unbedingt als „Altenbildner“, da sich ihre Tätigkeit vor allem vor dem Hintergrund einer Sehbehindertenwelt vollzieht. Dies impliziert die Frage, ob überhaupt pädagogische Formen in ihrer Handlungspraxis zu erwarten sind. Ebenso sind die Formen dieser Betreuung nicht als primär erwachsenenpädagogisch im Sinne einer Weiterbildung oder Bildung überhaupt zu verstehen. Die Auswahl der erhobenen Perspektiven beruht auf folgenden Vorüberlegungen: Es war ein Anliegen, diejenigen Betreuungsangebote und deren Teilnehmer auszuwählen, die für die Betroffenen weithin verfügbar sind. Dabei handelt es sich um Angebote, die rein praktisch am weitesten verbreitet sind und, die sich nicht in Modellphasen befinden – die getroffene Auswahl kann vor diesem Hintergrund als pars pro to gelten. Neben dem Zugang gibt es einige ganz pragmatische Gründe für die Auswahl: So sind beispielsweise für Modellprojekte dichtere Daten vorhanden als für die schon länger etablierten Angebote, was deren Evaluation angeht. Zudem sollte mit den erhobenen Angeboten der für die Lebenswelt angenommene ‚klassische’ Weg von Patienten der Makuladegeneration eingeschlagen werden: Angenommen deshalb, da zu Beginn der Studie davon ausgegangen wurde, dass die Angebote unterschiedlich vom Zugang, der Akzeptanz der Sehbehinderung durch die Teilnehmer sowie deren Erwartungen zu beurteilen sind (vgl. Abb. 13, linke Seite). Diesen Annahmen lag die Erwartung zugrunde, dass sich Unterschiede im Aneignungsverhalten abbilden könnten. Aber auch auf der Seite der Vermittlung (Abb. 13, rechte Seite) wurden mit dem angenommen ‚Ablauf’ Augenarzt, Optiker, Selbsthilfegruppe/ Beratungsgruppe und schließlich Training in O&M/LPF Erwartungen an die Aufdeckung und Relevanz pädagogischer Formen geknüpft. Betrachtet man diese Abfolge erziehungswissenschaftlich wäre davon auszugehen, dass sich die Formen des Pädagogischen vom Augenarzt hin zum Training verstärken sollten. Während zu Beginn vor allem von Information auszugehen ist, sollten sich in sich verstärkendem Maße Formen von Wissensvermittlungsprozessen niederschlagen. Als zentral wurden auf diesen unterschiedlichen Ebenen eines Ablaufmodells durch die Sehbehindertenhilfe die Erwartungen der Teilnehmer erachtet, die Vermittlungs- und Aneignungsprozesse bedingen. Es wurde angenommen, dass die anfängliche Erwartung der Hoffnung auf Heilung durch zunehmende Beteiligung an Interventionsprogrammen und zunehmender Akzeptanz der Erkrankung immer weiter in Richtung Erlernen von Kompetenzen verändert wird.
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Fragestellung und Akteure
Abbildung 13: Vorangenommener Weg der Betroffenen durch Institutionen der Sehbehindertenhilfe
Teilnahmeprinzip
Zunehmende Information über die Erkrankung führt zu zunehmender Teilnahme
Relevanz des Akzeptierens der Erkrankung
Weg hängt zusammen mit Akzeptanz der Erkrankung
Erwartungen der Teilnehmer
Vorgestelltes Ablaufmodell
Heilung, Information, Linderung
Augenarzt
Linderung
Optiker
Information, Beratung
Selbsthilfegruppe/ Beratungsgruppe
Erlernen von Kompetenzen
Training in O&M, LPF
Vermittlungsprozesse
Zunahme an pädagogischen Formen
4.2.1 Institutionen Experten als Vertreter verschiedener Angebotsformen Die Experten, als Vertreter der verschiedenen Angebotsformen, interessieren insbesondere aufgrund ihres Wissens über die eigenen Vermittlungs- und Handlungsprozesse. Durch ihre Aussagen werden die verschiedenen Formen der Betreuung Älterer thematisiert und von den Formen des Pädagogischen her beleuchtet. Die Angebote differenzieren in Dauer, Ort, institutioneller Einbettung und Profession der jeweiligen Experten. Bezüglich der Dauer ist zu differenzieren zwischen einigen Beratungsterminen (2-3-mal) bis hin zu einer unbegrenzten Teilnahme (Selbsthilfegruppe, Beratungsgruppe). Von den Örtlichkeiten her finden die Angebote sowohl im häuslichen Setting der Betroffenen wie auch in der Arztpraxis, dem Optikerfachgeschäft, in Vortragsräumen oder in geselliger Runde statt. Ebenso weisen die Angebote Unterschiede in der institutionellen Einbettung auf: Dies kann die Einbettung in einen großen Blindenbund (Beratungsgruppe) sein, oder aber die Selbständigkeit (Ärztin, Optiker, O&M/ LPFTrainer), wie aber auch das selbstorganisationelle Setting der Selbsthilfegruppe.
Akteure Auswahl der Institutionen und Teilnehmer
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Auf der Seite der Experten muss allerdings von einer ‚positiven Selektion’ ausgegangen werden, da sich die einzelnen Experten alle für die Makuladegeneration im Besonderen weitergebildet haben, in Berufsverbänden zur Verbesserung der Lage für die Betroffenen engagiert sind, oder aber selbst betroffen sind.
4.2.2 Teilnehmer Betroffene mit Erfahrungen in institutionellen Betreuungskontexten Die Betroffenen dieser Studie wurden über den Kontakt zu den Experten gewonnen, da es maßgeblich für die Studie war, dass sie an einem Betreuungsangebot teilgenommen hatten. Somit war der Zugang zu den Betroffenen über die Experten vor allem ein forschungspragmatisches Vorgehen. Dennoch ist das Interesse an den Teilnehmern nicht speziell auf nur dieses eine Betreuungsangebot bezogen, sondern sie sind in ihrer umfassenden Wahrnehmung der Erkrankung von Bedeutung. Zahlreiche Betroffene der 15 Befragten sind nicht nur Teilnehmer an einem Angebot, sondern haben schon mehrere Formen der Betreuung durchlaufen. Gerade diese Kombination der Angebote, die Formen der Aneignung sowie der Einfluss auf die Verarbeitung der Erkrankung sind in dieser Studie von Bedeutung. Erst dadurch können weiterführende Aussagen über die Strukturen des Lernens Älterer getroffen werden. Die befragten Personen differenzieren nicht nur in Bezug auf ihr Alter (60-90 Jahre), sondern auch dem Zeitrahmen der Betroffenheit der AMD-Erkrankung (von wenigen Monate bis hin zu mehreren Jahren). Sie befinden sich somit in unterschiedlichen Stadien der Verarbeitung der Erkrankung und damit unterliegen ihre Teilnahmemotive auch unterschiedlichen Ursachen. Diese bisher geschilderten Aspekte konnten bereits vor der Teilnahme an dieser Studie angenommen werden. Nach der Erhebung der Interviews zeigten sich noch weitere Differenzierungsmerkmale: So ist ein unterschiedliches Erleben der medizinischen Behandlung durchaus einflussreich auf den Umgang mit Institutionen. Ebenso ist die Hilfsmittelnutzung sehr variierend unter den verschiedenen Teilnehmern. Zudem müssen die Biographieschilderungen als wesentliches Kriterium beachtet werden, um über den Umgang mit der Sehbehinderung Aufschluss geben zu können. Dementsprechend muss bei der Datenerhebungsstrategie von einer Zwischenform zwischen ‚theoretischem und selektiven Sampling’ (Strauss, 1998, S. 71) ausgegangen werden. Dies bedeutet, dass einerseits Dimensionen vor der Erhebung festgelegt wurden und möglichst breit angelegt werden sollten, andererseits dann aber die Fallauswahl an wesentlichen Kontrasten, die aus dem Material resultierte, vorgenommen wurde.
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Methodisches Vorgehen
Zur Analyse der Daten wurde auf das methodische Konzept der Grounded Theory zurückgegriffen, das weniger einen methodischen Forschungsprozess beschreibt als Konzepte liefert, wie Theorien generiert werden können. Für die Analyse pädagogischer Formen bietet sich das Konzept besonders gut an, da es bei gleichzeitiger Offenheit gegenüber dem Material dennoch die Möglichkeit des Einsatzes von sensibilisierenden Konzepten ermöglicht, die an das Material herangetragen werden können. Zudem erscheint für die Aufdeckung pädagogischer Formen in diesem Kontext ein streng sequenzanalytisches Vorgehen (Objektive Hermeneutik, Konversationsanalyse) wenig geeignet, da für die vorliegende Untersuchung weniger die Konstruktion des Interviews denn dessen Inhalt von erkenntnisleitendem Interesse war.
5.1 Grounded Theory als Forschungsmethode In der Grounded Theory wird „Wirklichkeit theoriebildend gestaltet, und dieser Prozeß schließt im Kern das Rekonstruieren von Fällen sowie das Kontrastieren dieser Fälle ein. […] Forschung ist demnach ein Interaktionsprozeß zwischen Forschern und ihrem Gegenstand („etwas erscheint als etwas“), und dieser Prozess ist geleitet von einem Erkenntnisinteresse auf Seiten des Forschers („für jemanden“).“ (Hildenbrand, 1998, S. 12). Da sich das methodische Konzept der Grounded Theory vor allem darauf beruft, die Möglichkeit herzustellen, am Ende des Forschungsprozesses eine dichte Theorie herzustellen, sei kurz auf das Theorienverständnis der Grounded Theory eingegangen. Es wird vorausgesetzt, dass eine Theorie auf unterschiedlichen Ebenen unerlässlich ist, um soziale Phänomene besser zu verstehen (vgl. Strauss 1998, S. 31). Theorien werden von Glaser und Strauss nicht als unumstößlich und ewig geltend gedeutet, sondern vielmehr als Theorien mittlerer Reichweite. Die Interpretation des Datenmaterials soll nachvollziehbar sowie sinnvoll sein und weiteren Überprüfungen an der Wirklichkeit standhalten (vgl. Strauss 1998, S. 37). Die Entwicklung von Theorien fußt im Konzept der „Theoretischen Sensibilität“. Es beruht auf zweierlei Prämissen, die sich aus dem Konzept der sensibilisierenden Konzepte (‚sensitizing concepts’) nach Blumer (2004) herleiten: Es
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Methodisches Vorgehen
geht um Theoriegenerierung im Verhältnis zu Vorwissen und im Verhältnis zur kreativen Leistung des Forschenden selbst. Das Herangehen an den Forschungsprozess ist in der Grounded Theory vor allem am Prinzip der Offenheit orientiert und enthält, gerade auch in älteren Schriften von Glaser und Strauss (1967) widersprüchliche Aussagen zum Vorwissen: Auf der einen Seite soll theoretisches Vorwissen weitestgehend ausgeschlossen werden, um die Theorien aus den Daten heraus zu konstruieren. Auf der anderen Seite werden Theorieaspekte als notwendig erachtet, um an die wissenschaftliche Diskussion anschließen zu können. In einem später erschienen Werk verweist Strauss darauf, dass das „Kontextwissen“ (Strauss 1998, S. 36f.) wesentlicher Bestandteil des Forschungsprozesses sei, dazu gehören, laut seinen Aussagen, sowohl Fachwissen als auch Forschungserfahrungen, aber auch persönliche und alltägliche Erfahrungen. Auch diese würden Möglichkeiten liefern, um Vergleiche anzustellen, Variationen zu entdecken und schließlich auch nach geeigneten weiteren Fällen zu suchen. Diese Auffassung der Integration von Vorwissen in den Forschungsprozess wird dadurch gestützt, dass das Konzept der „Theoretischen Sensibilität“ zudem das Vorgehen nach der Grounded Theory als Kunstlehre beschreibt und damit kreative Aspekte, neben dem reinen Verstehen, beinhaltet. Das Handeln des Wissenschaftlers wird in die Nähe des Künstlers gerückt, Strauss bezieht sich dabei auf John Dewey, der künstlerisches Handeln als Erfahrungsprozess beschrieben hat. Als Parameter in der Grounded Theory gelten dabei der unvoreingenommene Blick und das Gestalten von Wirklichkeit in der wissenschaftlichen oder künstlerischen Auseinandersetzung mit dieser Wirklichkeit. Als Konsequenz wird auf die Formulierung eines strikten Regelwerks verzichtet, es werden nur Anregungen für die Forschungspraxis formuliert, die aber dann am Gegenstand selbst entwickelt werden müssen. Als wesentliche Operationen gelten das Kodieren und das Verfassen von Memos. Sensibilisierende Konzepte sind im Bezug auf die Arbeit mit Grounded Theory folgendermaßen zu kennzeichnen: "[T]he research is guided by a set of sensitizing concepts – less specific suggestive ideas about what might be potentially fruitful to examine and consider, an emergent meaningful vocabulary that alerts the researcher to promising avenues of investigation. Here the empirical data are then used to refine and improve the sensitising concepts and their interrelations to build theories that better capture and reflect the empirical terrain. It is important in this approach to attend carefully the range of variation of a given phenomenon and to any negative cases, as these are strong sources for revising concepts and refining understanding of their interrelations." (Clarke, 1997, S. 65)
Die Charakteristik des Forschungsprozesses
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Sie unterscheiden sich von quantitativen Hypothesen durch die ihnen implizite Offenheit. Dennoch haben sie eine ähnliche Funktion wie Hypothesen der quantitativen Forschung. Sie werden eingesetzt um sowohl bei Datenerhebung als auch der Analyse eine Strukturierungshilfe zu bieten, und dem Forscher eine Leitlinie an die Hand zu geben, was die wichtigen Aspekte der Untersuchung sind (vgl. Strübing, 2004). Konstitutives Merkmal der Grounded Theory ist das Verständnis der Methode als Methode des ständigen Vergleichens. "Strauss hat diesen […] Grundgedanken des ständigen Vergleichens als Analysemodus später zu einem dreistufigen Kodierprozess ausgebaut, dessen einzelne Etappen weder als gegeneinander distinkt, noch als in einer festen Sequenzialität aufeinander folgend zu verstehen sind." (Strübing, 2004, S. 20)
Operationalisiert wird die permanente Vergleichsanalyse durch das dreistufige Kodierverfahren. „Kategorien, ihre Merkmale und deren Relationen werden im Zuge der komparativen Analyse nicht nur [...] einer Verdichtung, Überprüfung und Differenzierung unterzogen, sondern überhaupt erst entwickelt.“ (Nohl 2006, S. 39). Das Merkmal des Vergleichs wird aber nicht nur auf der Analyseebene des Kodierverfahrens eingesetzt, sondern bestimmt den gesamten Forschungsprozess. So impliziert auch das ‚Theoretical Sampling’ als präferierte Erhebungsstrategie, die Auswahl der Fälle oder des Datenmaterials nach internen und externen Kontrasten und Vergleichen.
5.2 Die Charakteristik des Forschungsprozesses Das Kodierverfahren der Grounded Theory unterscheidet nach drei Prozessen des Kodierens: Offenes Kodieren, axiales Kodieren sowie selektives Kodieren. Auch wenn sich die unterschiedlichen Kodierverfahren zunehmender Abstraktion der Daten bedienen, sind sie dennoch nicht als sequentiell zu erachten. Dies liegt begründet in dem permanenten Rekurs auf das Datenmaterial. Es muss jederzeit jeder entwickelte Kode an das Datenmaterial zurückgeführt und an ihm überprüft werden können. Dennoch wird jeder Forschungsprozess zunächst mit dem offenen Kodieren begonnen. Dieses Verfahren dient der Entwicklung von Konzepten. Die entwickelten Kodes bleiben auf dieser Ebene noch provisorisch. „Jede Art von Interpretation hat an diesem Punkt noch den Stellenwert eines Versuchs“ (Strauss, 1998, S. 58). Dabei ist es Ziel dieses Prozesses, die einfache Paraphrase des Textes zu überwinden. Als Strategie zur Überwindung der Paraphrase wird erstens die Genese von Fragen an das Material und zweitens die genaue Analyse
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Methodisches Vorgehen
des Materials vorgenommen. Fragen an die Daten zu stellen bedeutet, Fragen zu generieren, die erste Bezüge zu entwickelnden Theoriemustern herstellen. Die genaue Analyse des Datenmaterials soll der Ausdifferenzierung, Verifizierung und Sättigung von Kodes dienen (vgl. Strauss, 1998, S. 61f.). Als Strategien für diesen Analyseschritt werden „weit hergeholte Vergleiche“ und „dimensional analysis“ als Integration von Beziehungen der Kategorien vorgeschlagen (Strauss & Corbin, 1998) sowie das Ausbuchstabieren von Handlungsalternativen im Sinne einer Lesartenkonstruktion. Der Prozess des axialen Kodierens bezieht sich auf die genaue Analyse einer bestimmten Kategorie. In diesen Analyseschritt wird das von Strauss vorgeschlagene „Kodierparadigma“ integriert (Strauss, 1998, S. 56f.), indem die entwickelte Kategorie genau nach Bedingungen, Interaktionen zwischen den Akteuren, den Strategien und Taktiken und den Konsequenzen auszudifferenzieren ist. "Zugleich sind die Fragen des Kodierparadigmas im wesentlichen nur die systematische Formulierung all jener Fragen, mit denen wir im Alltag den Sinn von Ereignissen zu erschließen versuchen, indem wir nach Zusammenhängen suchen – auch hier zeigt sich, wie stark die grounded theory an Alltagsheuristiken anknüpft und deren Bedeutung für wissenschaftliches Handeln unter Beweis stellt." (Strübing, 2004, S. 27)
Hauptziel des axialen Kodierens ist das Anlegen von Zuschreibungen, die den Zusammenhang von Phänomenen herzustellen suchen. Dem selektiven Kodieren implizit ist die Suche nach geeigneten Schlüsselkategorien. Damit geht die Auswahl und Begrenzung von relevanten Kodes für diese zentralen Kategorien einher, die den Untersuchungsgegenstand angemessen beschreiben können. In dieser Arbeit handelt es sich bei dieser Schlüsselkategorie um die soziale Welt der Sehbehinderung. Sie vermag die entwickelten Kategorien der empirischen Analyse zu bündeln und zu dimensionalisieren. Alle Ebenen des Kodierprozesses werden begleitet vom Verfassen von Memos. Memos werden als diejenigen Schriftstücke verstanden, die den Kodierprozess reflektieren und inhaltlich ausdifferenzieren. Hier werden Vergleiche angestellt, die auch über den analysierten Text hinausweisen. Ähnlich dem Kodierprozess sind auch sie auf unterschiedlichen Abstraktionsebenen zu verfassen.
5.3 Methodische Umsetzung im eigenen Forschungsprozess Die methodologische und methodische Grundlegung und Orientierung ist im Folgenden mit der konkreten Umsetzung in der eigenen empirischen Arbeit ins Gespräch zu bringen. Auf der Ebene der unterschiedlichen Akteursperspektiven
Methodische Umsetzung im eigenen Forschungsprozess
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werden die Erhebungs- und Auswertungsmethoden dargestellt, die ein wenig differieren, aber weitestgehend nach den Regeln der Grounded Theory durchgeführt wurden.
5.3.1 Pädagogische Formen als Sensibilisierende Konzepte Für die Arbeit am Material dienten die von Kade und Seitter (J. Kade & Seitter, 2004, 2007c, 2007d) im Zuge der Suche nach einer Einheit des Pädagogischen entwickelten Kategorien. Insbesondere dienten sie als ‚sensibilisierende Konzepte’, um die Schlüsselkategorie der Sozialen Welt der Sehbehinderung aufzudecken. Sie wurden mit dem Zweck eingesetzt, Aussagen über den Gehalt an Pädagogischem in der Betreuungslandschaft älterer Sehbehinderter Auskunft zu geben, da dieser nicht als genuin pädagogischer Arbeitsbereich, sondern zunächst eher als Grenzbereich pädagogischer Aktivität identifiziert werden musste. Somit verhelfen sie auf empirisch-analytischer Ebene zur Abstrahierung der pädagogischen Elemente in einem rehabilitativen Feld. Durch die Einbettung der Arbeit in den Entgrenzungsdiskurs sichern sie zudem den Anschluss und die Weiterentwicklung einer theoretischen Perspektive für die Altenbildung.
5.3.2 Experten Experteninterview als Methode der Datenerhebung und -Auswertung Die Experten wurden in dieser Studie als Personen befragt, die selbst Teil des untersuchten Handlungsfeldes (vgl. Meuser & Nagel, 2002, S. 73), des Umgangs mit der Sehbehinderung im Alter, sind. Sie vertreten die institutionelle Seite des Umgangs in verschiedenen Angebotsstrukturen. Diese Sichtweise wird durch die Interviews mit den Betroffenen ergänzt und deren Perspektive auf den Umgang mit der Sehbehinderung gegenübergestellt. Die Funktion der Interviews ist also nicht etwa als randständig und explorativ zu deuten, sie stehen ebenso im Zentrum des Interesses wie die Teilnehmerinterviews selbst. Sie sind als komplementär zu diesen zu deuten. „Das Interesse an den Experteninterviews ist hier ein abgeleitetes Interesse, d.h. abgeleitet von einer Forschungsfrage, für deren Bearbeitung auf ExpertInnenwissen nicht verzichtet werden kann.“ (ebenda, S. 40). Das Experteninterview wird der Gruppe der teilstandardisierten Leitfadeninterviews zugeordnet (vgl. Hopf, 2003, S. 353). In dem hier verwandten Leitfaden, der die thematische Vergleichbarkeit (vgl. Meuser & Nagel, 2002, S. 81) der fünf Interviews sichern soll, wurden Themen abgehandelt, die Auskunft über die Institution selbst, die Form des jeweiligen Trainings, die Teilnehmerbe-
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Methodisches Vorgehen
schreibung sowie Zugang zu den methodischen und didaktischen Voraussetzungen der Angebote liefern. Dabei wurde der Leitfaden im Zuge der voranschreiten der Analyse angepasst und durch weitere Fragen ergänzt. Es gilt festzuhalten, dass die Experten nicht zu ihrer eigenen Biographie befragt wurden, da für die Fragestellung nach dem individuellen und organisationalen Umgang von Institutionen mit dem Phänomen der Sehbehinderung im Alter, diesem Ansatz nur wenig Bedeutung beigemessen wird. Dies unterscheidet sich von anderen erziehungswissenschaftlichen Untersuchungen, die sich mit Kursleitern auseinandersetzen und einen subjektiv biographischen Zugang favorisieren, um die Bedeutung von „Kursleitertätigkeit für die Kursleiter selbst“ zu rekonstruieren (J. Kade, 1989b, S. 13). In dieser Studie hingegen ist vielmehr der institutionelle Blick auf ein Altersphänomen von Bedeutung. Aus diesem Grund ist die Rolle der Experten nach Meuser und Nagel (2002) folgendermaßen zu definieren: "Im Unterschied zu anderen Formen des offenen Interviews bildet bei ExpertenInneninterviews nicht die Gesamtperson den Gegenstand der Analyse […].Der Kontext, um den es hier geht, ist ein organisatorischer oder institutioneller Zusammenhang, der mit dem Lebenszusammenhang der darin agierenden Personen gerade nicht identisch ist und in dem sie nur einen ‚Faktor’ darstellen." (S. 72f.)
Dennoch wird der Experte in dieser Studie in seiner subjektiven Dimension des Expertenwissens betrachtet, wie dies für theoriegenerierende Experteninterviews im Unterschied zu explorativen oder systematisierenden Interviews (Bogner & Menz, 2002, S. 38f.) dargestellt wird. Das bedeutet, er ist mehr als reiner Informationsträger, sondern seine subjektiven Handlungsorientierungen und seine formulierten Beziehungserwartungen bilden den Ausgangspunkt für die theoretischen Schlussfolgerungen der Datenanalyse. Bei der Analyse der Interviews mit den fünf Vertretern der Angebote für ältere Sehbehinderte wurde das Vorgehen nach Meuser & Nagel (2002) angewandt. Es handelt sich bei diesem Verfahren der Analyse theoriegenerierender Experteninterviews um ein Verfahren, das sich an Vorgaben nach Glaser & Strauss (1967) anlehnt, aber für Experteninterviews einige Verkürzungsstrategien einbaut, denn „[a]nders als bei der einzelfallinteressierten Interpretation orientiert sich die Auswertung von ExpertInneninterviews an thematischen Einheiten, an inhaltlich zusammengehörigen, über die Texte verstreuten Passagen – nicht an der Sequenzialität von Äußerungen je Interview“ (Meuser & Nagel, 2002, S. 81). Dieser Aufbruch des Sequenzialitätsprinzips war für die hier dargestellte Studie im Fokus der Experteninterviews insofern von Nutzen, da so Konzepte, die Auskunft über die Grundlagen von Vermittlungs- und Aneignungsstrategien in die-
Methodische Umsetzung im eigenen Forschungsprozess
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sem speziellen Feld geben könnten, auf Basis eines thematischen Vergleichs kontrastiert werden konnten. Die Analyse folgte in allen Schritten den Vorgaben von Meuser & Nagel. So wurden die Interviews nach der Transkription zunächst einzeln analysiert. Hierbei ging es darum, die thematischen Inhalte, Handlungsweisen und Deutungsmuster des einzelnen Interviews herauszuarbeiten. Ziel war, das Material zu verdichten und zu reduzieren. Im Anschluss an die Paraphrase, immer noch auf der Ebene der Einzelinterviews, wurden diese Informationen durch Überschriften gekennzeichnet und somit segmentiert und eine erste Ordnung auf thematischer Seite des Materials vorgenommen. Im Anschluss an diesen Datensortierungsschritt wird die Ebene der Einzelinterviews verlassen und die Analyse konzentriert sich nun auf den Vergleich der bisherigen thematischen Ergebnisse auf Ebene der fünf erhobenen Datenquellen. Ab dem nächsten Schritt beschäftigte die Frage nach gemeinsamen und unterschiedlichen Positionen der Experten. Die letzten beiden Schritte der Analyse behandelten die Ebenen der Kategorisierung und theoretischen Generalisierung. Dargestellt finden sich diese beiden Schritte in dieser Arbeit in der Integration der Experten und schließlich der Relationierung auf der Ebene der sozialen Welt. Dabei hat die Kategorisierung zum Ziel, Systematisierung von Relevanzen, Typisierungen, Verallgemeinerungen und Deutungsmustern (vgl. ebenda, S. 88) herzustellen. Im letzten Schritt der theoretischen Generalisierung wird von den „Spuren des Expertenwissens“ (ebenda, S. 89) abstrahiert und auf der Ebene von Theorien gearbeitet. Für diese Arbeit ist dieser Schritt der Theoriegenerierung nicht mehr in der Analyse der Interviews selbst dargestellt, sondern obliegt, aufgrund der Heranziehung von zweierlei Perspektiven, der Betrachtung, welche in Teil IV dieser Arbeit ausgeführt wird.
5.3.3 Betroffene Problemzentriertes Interview und Grounded Theory Die Bedeutung der Biographie im Umgang mit der Sehbehinderung, insbesondere als Indikator für die Deutung der Erkrankung als Phänomen von Kontinuität oder Diskontinuität (Himmelsbach, 2003), führte für die vorliegende Studie zur Entscheidung der Biographie im Interview wieder Raum zu lassen. Jedoch war von vornherein klar, dass die Biographie in dieser Studie eine andere Bedeutung haben wird, da nun neben dem Umgang mit der Sehbehinderung auch der Hinwendung zu Institutionen mehr Bedeutung beigemessen werden sollte. Aufgrund dieser, in gewissem Sinne zielgerichteten, Suche nach Informationen zum Umgang mit der Sehbehinderung wurde von einem narrativen Inter-
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Methodisches Vorgehen
view Abstand genommen und die Erhebung im Sinne des problemzentrierten Interviews nach Witzel (2000) organisiert. Witzel beschreibt sein Vorgehen als ein theoriegenerierendes Verfahren, das den vermeintlichen Gegensatz zwischen Theoriegeleitetheit und Offenheit durch ein „induktiv-deduktives Wechselspiel“ versucht zu lösen, indem einerseits angestrebt wird, Raum zu schaffen für die subjektive Problemsicht des Befragten, zum anderen werden an diese Narrationen aber leitfadengestützte Fragen und Ergänzungen angeschlossen, die am Erkenntnisinteresse des Forschers ansetzen und so die Zielgerichtetheit der Aussagen sichern soll. Zudem gewinnt dieses Verfahren auch vor dem Hintergrund der Auswertungsstrategie der Grounded Theory an Bedeutung, da sein Verfahren als theoriegenerierendes Verfahren in Anlehnung an Glaser und Strauss (1967) klassifiziert wird und auch für die Auswertungsphase, wie in dem von mir vorgeschlagenen Weg „sensitizing concepts“ (Blumer) genutzt und in der weiteren Analyse fortentwickelt und am empirischen Material erhärtet werden. Als Grundpositionen des Problemzentrierten Interviews stellt Witzel die Problemzentrierung, die Gegenstandsorientierung und die Prozessorientierung dar (vgl. Witzel 2000). Die Problemzentrierung zielt darauf ab, dass bereits während des Interviews die Äußerungen der Teilnehmer verstehend nachvollzogen werden und Fragen bzw. Nachfragen stets am interessierenden Problem orientieren. Dabei wird neben der Produktion von breitem und differenziertem Datenmaterial bereits die subjektive Sichtweise des Interviewten berücksichtigt und vom Interviewer die Kommunikation zunehmend auf das Forschungsproblem zugespitzt. In den Interviews dieser Studie mit Betroffenen der Makuladegeneration wurde versucht dem Rechnung zutragen, indem von einem narrativen Einstieg aus die Nachfragen über den Umgang zur Sehbehinderung mehr und mehr auf das Thema der Teilnahme an Angeboten geleitet wurde. Dabei wurde aber immer versucht mehr Wissen über die spezifischen Formen des Umgangs in und außerhalb von Institutionen zu berücksichtigen. Die Gegenstandsorientierung betont die Flexibilität der Methode gegenüber den unterschiedlichen Anforderungen des Gegenstandes. Damit wird in der Interviewsituation ein gewisser Freiheitsgrad geschaffen, der je nach Reflexivität und Eloquenz des Befragten stärker auf Narrationen oder unterstützend auf Nachfragen im Dialogverfahren setzt. Aufgrund der Unterschiedlichkeit der hier Befragten entsteht dadurch auch nicht zwingend ein Problem aus der Situation heraus, dass einige Teilnehmer nur bedingt bereit waren über ihre Biographie zu berichten, aber zu den einzelnen Nachfragen sehr präzise Stellung beziehen konnten, Das betrifft beispielsweise den alltagspraktischen Umgang mit der Sehbehinderung.
Methodische Umsetzung im eigenen Forschungsprozess
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Der Aspekt der Prozessorientierung schließlich lässt sich ebenfalls nochmals auf die Interviewsituation beziehen und betont die Bedeutung „sensibel und akzeptierend auf die Rekonstruktion von Orientierungen und Handlungen“ einzugehen, um dem Betroffenen das Gefühl des Ernstgenommenwerdens und der zunehmenden Vertrauensbildung einzuräumen. Sie vereinfacht dem Befragten die Elaborierung seiner Problemsicht und lässt auch Entwicklungen, das Ausführen von möglicherweise für die Interpretation hilfreichen Redundanzen, wie aber auch Paradoxien zu. Zum besseren Nachvollzug der Umsetzung der von Witzel (2000) formulierten Prämissen ist im Anhang der Leitfaden für die Befragung der Betroffenen angefügt. In einem Prozess des offenen Kodierens wurden zunächst zwei Interviews analysiert und erste Kategorien aufgedeckt. Einerseits wurde dabei die Biographie auf die Bedeutung des Eintritts der Sehbehinderung beachtet, andererseits wurde nach Formen des Umgangs mit der Sehbehinderung hin kodiert. In einem nächsten Schritt wurde die Integration der sensibilisierenden Konzepte der pädagogischen Formen im Sinne von Aneignungsprozessen integriert. Daraufhin wurden zwei kontrastierende Fallporträts erstellt. Mithilfe des Auswertungsprogramms AtlasTI wurden im Sinne eines axialen Kodierens die weiteren Interviews in Bezug auf die entwickelten Kategorien hin kodiert. Ziel dieses Schrittes war die Ausdifferenzierung und Dimensionalisierung der in den Fallporträts entwickelten Kernkategorien. Auf dieser Ebene findet eine Abstraktion der Einzelinterviews statt, indem von nun an die Kategorien im Vordergrund stehen. Der letzte Analyseschritt, im Sinne einer Hinführung zur Schlüsselkategorie anlehnend an das selektive Kodieren, beinhaltet die Relationierung der beiden Akteursperspektiven. Im Zentrum steht dabei die Schlüsselkategorie der sozialen Welt der Sehbehinderung, die beide Perspektiven zu integrieren vermag.
Teil II
Die Perspektive der Experten
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Die Perspektive der Experten
Ziel dieses Abschnittes ist die institutionelle Sichtweise auf die soziale Welt der Sehbehinderung zu beschreiben und die Phasenhaftigkeit der Vermittlung und Interaktion in diesem Feld herauszuarbeiten. Die Datengrundlage sind Experteninterviews, anhand derer die Betreuungslandschaft für ältere Sehbehinderte beschrieben wird. Gleichzeitig verdeutlichen sie die institutionelle Perspektive auf das Phänomen der älteren Sehbehinderten. Um das Handeln der Experten zu rekonstruieren, wird zunächst der Blick auf die Dimensionen ihres Umgangs mit der Sehbehinderung gelenkt. Die Perspektive der Experten wird anhand eines zunehmend ausdifferenzierten Modells beschrieben. Der Ausgangspunkt für die Modellbildung ist die Darstellung zweier Fallporträts (Kap. 1 und 2), die in einem kontrastiven Fallvergleich (Kap. 3) zusammengeführt werden (Beratungsgruppe/Frau Jansen, Selbsthilfegruppe/Frau Meschke). Hier werden die wesentlichen Kategorien des Umgangs mit der Sehbehinderung im institutionellen Kontext aus dem Interviewmaterial herausgearbeitet. Darauf aufbauend werden anhand dieser Kategorien die weiteren Experteninterviews zusammengeführt. Das Ergebnis des Vergleichs der Perspektiven aller Experten (Kap. 4) sind die ursprünglich in den Fallportraits herausgearbeiteten, aber weiter dimensionalisierten Kategorien des Umgangs mit Defiziten und Kompetenzen im Bereich der Sehbehindertenhilfe. Die leitende Fragestellung dieses Abschnittes ist, welche Formen des Umgangs mit der Sehbehinderung die Experten wählen und kennen und in welchen intraund interinstitutionellen Setting ihre Veranstaltungen stattfinden. Besondere Aufmerksamkeit erhält hier die Frage, inwiefern die Experten in ihren Veranstaltungen auf pädagogisches Wissen zurückgreifen, d.h. welche Formen des Adressaten-, Vermittlungs- und Überprüfungswissens sie beschreiben. Dabei interessiert vor allem, wo die Experten ihre Klientel auf einem Kontinuum von defizitär bis kompetent einordnen. Es geht damit einerseits um die Handlungen der Experten als Vermittler, andererseits um deren Einstellungen und Verortungen im Feld der ‚Sehbehindertenwelt’.
1 Differenzorientierter professioneller Umgang mit der Sehbehinderung 1
Differenzorientierter professioneller Umgang
Das Leitkonzept dieses Kapitels ist das Konzept des „pädagogischen Arrangements“ nach Prange & Strobel-Eisele. Demnach ist von einem Arrangement im pädagogischen Sinne dann auszugehen, wenn komplexe Formen des pädagogischen Handelns aufeinander treffen. Die pädagogische Grundstruktur des Arrangements ist, dem Lernenden Angebote zu unterbreiten, die er je nach seinen subjektiven Neigungen und Gegebenheiten für sein Lernen nutzt (Prange & Strobel-Eisele, 2006). Die Ordnungsstruktur des „pädagogischen Arrangements“ trifft für das Angebot der Beratungsgruppe zu, da hier unterschiedliche Vernetzungsleistungen und Rollenverteilungen innerhalb und außerhalb des Angebots bestehen. Dies wird nachfolgend näher ausgeführt. Das spezifisch auf AMD-Patienten zugeschnittene Gruppenangebot der Leiterin der Beratungsgruppe, Frau Jansen14, ist Teil der Angebotsstruktur eines Blindenbundes. In der Einstiegssequenz werden erste Dimensionen des Umgangs herausgearbeitet. Dabei lässt sich die Einstiegssequenz in drei thematische Aspekte untergliedern: Einerseits beschreibt sie den organisatorischen Zusammenhang zwischen ihrer eigenen Arbeitsstelle und den Angeboten des Blindenbundes. Andererseits erwähnt und bewertet sie mögliche Trainingsformen im Blindenbund. Im dritten Teil beschreibt sie, was sie an der Zielgruppe der AMD-Patienten besonders findet und warum sie ein speziell auf diese Patienten zugeschnittenes Angebot für nötig erachtet. Damit finden sich in der Einstiegssequenz erste Dimensionen, die sich
auf die Institution, auf die Formen der Intervention und auf die Adressaten beziehen.
14 Das wiedergegebene Datenmaterial in Form von Zitaten ist maskiert. Namen und Orte wurden vollständig anonymisiert.
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Differenzorientierter professioneller Umgang
Diese werden im Zuge der Analyse des restlichen Interviews weiter verfeinert. Sie stehen im Zusammenhang mit Aspekten des Settings, den Umgangsformen mit der Sehbehinderung, den pädagogischen Formen und den thematisierten Phasen des Ablaufs des Angebotes. In der Gesamtschau wird deutlich, welche Rolle die aufgedeckten Dimensionen der Institutionalisierung, die Kenntnis der Adressaten und die Anwendung pädagogischen Wissens für diese Gruppe spielen: Es entstehen professionalisierte Handlungen, die einerseits das Alter in den Kontext der Sehbehindertenwelt, andererseits die Sehbehinderung in den Kontext der allgemeinen Bedingungen des Alternsprozesses stellen. Weiterhin zeigt die Expertin biographisches Interesse für die Adressaten, da sie die Teilnehmer anhand ihrer eigenen Biographie kategorisiert.
1.1 Kurzporträt Frau Jansen Frau Jansen ist Mitarbeiterin eines Blindenbundes und ausgebildete Rehabilitationslehrerin für Sehbehinderte und Blinde. Sie führt keine vollständigen Trainings mehr durch, sondern ist ausschließlich in der Beratung tätig. Da ihr ihre Stelle relativ großen Gestaltungsfreirum lasse, hat sie vor ca. 10 Jahren eine Beratungsgruppe für AMD-Betroffene gegründet, die einmal pro Monat mit ca. 35-40 Teilnehmern tagt. Eine solche Beratungsgruppe kann als besondere Form einer „Selbsthilfegruppe“ oder eines „Selbsthilfe-Projektes“15 bezeichnet werden. Neben der Beratungsgruppe bestehen ihre Aufgaben darin, sehbehinderte und blinde Bürger individuell oder telefonisch beraten. Frau Jansen ist Mitte fünfzig und hat nach dem Abschluss eines Lehramtsstudiums vor fast dreißig Jahren, als eine der ersten, die Ausbildung zur Rehabilitationslehrerin für Sehbehinderte und Blinde abgeschlossen. Sie ist seit fast zwanzig Jahren hauptberuflich im Blindenbund tätig. Das Interview mit Frau Jansen konzentrierte sich vor allem auf das Angebot der Beratungsgruppe. Behandelt wurden folgende Themen: die Beschreibung der Beratungsgruppe, die Sicht auf die Teilnehmer und das Selbstbild der Trainerin.
15
Zeman (2000, S. 202) definiert Selbsthilfegruppe bzw. Selbsthilfe-Projekt folgendermaßen: "Als Selbsthilfegruppe wird ein informeller Kreis von etwa 10-15 Menschen bezeichnet, in dem auf Basis gemeinsamer Betroffenheit wegen eines gesundheitlichen, psychischen oder sozialen Problems Erfahrungen, soziale Zuwendung und praktische Hilfeleistungen ausgetaucht werden. SelbsthilfeProjekte und –Initiativen bieten – oft mit professioneller Anregung und Unterstützung – praktische Hilfe, Informationen und Interessenvertretung auch für Menschen an, die nicht zu den unmittelbaren Gruppenmitgliedern gehören."
Analyse der Einstiegssequenz
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1.2 Analyse der Einstiegssequenz In der Einstiegssequenz (1/9-3/51) des Interviews, beschreibt Frau Jansen das institutionelle Setting ihrer Tätigkeit, die spezifischen Formen ihrer Beratungstätigkeit sowie die spezielle Problematik von Betroffenen der AMD, die schließlich Anlass gab für die Gründung der Beratungsgruppe. Erst im letzten Abschnitt wird auf strukturelle und organisatorische Aspekte der Beratungsgruppe für Makulapatienten eingegangen. Die Sequenz ist zu Beginn gerahmt durch die Eingangsfrage nach der „Beratung“ und einer weiteren strukturierenden Frage der Interviewerin, in der näher Ablauf und Inhalt der Beratungsgruppe erfragt wird. In dieser einleitenden Sequenz des Interviews wird die Erzählaufforderung zunächst insofern zurückgewiesen, weil vor dem Bericht über Inhalte die Entstehungsbedingungen abgesteckt werden müssen. Der Erzählrahmen wird zunächst weiter gesteckt und im Verlauf der Sequenz auf die Gruppe hin fokussiert. Es kommt in der Sequenz zur Überlagerung von Themen, die aber einen guten Aufriss über das Spektrum des Interviews liefern. Die nun vorgestellte Analyse der Sequenz wird aus diesem Grund nicht sequenzanalytisch dargestellt, sondern folgt der Vorstellung der thematischen Einheiten (gemäß Meuser & Nagel, 2002) der Einstiegssequenz. Zu diesen thematischen Einheiten gehören die von ihr selbstständig vorgenommene Positionierung in einem institutionellen Setting, ihre diversen Beratungstätigkeiten sowie die Generierung einer neuen Angebotsform speziell für AMD-Patienten.
1.2.1 Positionierung in einem institutionellen Setting Anstatt den Inhalt der Beratungsgruppe oder deren Ablauf zu schildern, verweist Frau Jansen zunächst auf ihre Funktion und Einbettung im institutionellen Setting des Blindenbundes. I: was umfasst denn diese beratung (..) alles oder wie läuft die ab? ST: also die berA:tung (2 sek.) wart- ich muss vielleicht jetzt folgendes vorausschicken (I: h=hm.) ehm meine meine stelle hier als rehabilitationslehrerin für blinde und sehbehinderte in münchen wird zu einem großen teil von der stadt münchen bezahlt (I: h=hm.) das is aber=ne sehr (...) ja eh ein- einmalige lösung (I: h=hm.) also des gibt keine anderen kommunen, die das noch irgendwie machen, des des wenn wenn da irgendwo rehatrainer angestellt sind, dann läuft das auf anderer basis. das is hier auch zu=ner zeit gemacht worden, wo die stadt noch mehr geld hatte. heute is würde sie das auch nich- machen, aber des hat sich jetzt so eingespielt (.) und is eh nich so viel geld, also die zAHLT eh dem blindenbund in bayern dafür, dass ich da- also das meiste geld, dass ich da bin. das heißt, ich werde auch, ich eh verbringe einen gro-
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Differenzorientierter professioneller Umgang ßen teil meiner arbeitszeit damit, dass ich menschen aus münchen, die in münchen wohnen oder in münchen arbeiten berA:te. des sind sehr oft halt (.) ältere menschen, (I: h=hm.) ganz oft mittlerweile> wie gesacht, menschen, die an makuladegeneration leiden (..) (1/9-1/35)
Die Eingangssequenz beginnt, nach einem kurzen Vorgespräch, mit der Frage der Interviewerin nach der Beratungsgruppe. Frau Jansen hatte diese im telefonischen Vorgespräch erwähnt und der Interviewerin anhand von Broschürenmaterial beim Treffen vor dem Interview vorgestellt. Die Eingangsfrage der Interviewerin beabsichtigte die Beschreibung der Tätigkeit in der Beratungsgruppe. Frau Jansen setzt zwar mit der Beratung an, weist aber dann die Erzählaufforderung zurück, um den institutionellen Rahmen vorauszuschicken. Dies kann hier zweierlei bedeuten, einerseits kann sie ein breiteres Verständnis von Beratung haben, das über die Beratungsgruppe hinausgeht. Die zweite Möglichkeit kann derart interpretiert werden, dass sie, bevor sie ihre Arbeit in der Gruppe erklären kann, zunächst andere Phänomene (institutioneller oder organisatorischer Art) erklären muss, um ihre Tätigkeit in der Gruppe beschreiben zu können16. Sie beginnt somit bei sich, stellt aber nicht ihr Individuum in den Vordergrund, sondern ihre Position, ihre Stellung innerhalb einer Organisation sowie die von ihr selbst geschaffene Rolle in dieser Institution. Sie betont explizit ihre besondere und einzigartige Stellung und nennt ihre volle Berufsbezeichnung „Rehabilitationslehrerin für Sehbehinderte und Blinde“. Sie betont, dass ihre Stelle durch die Stadt München finanziert wird und sie, im Unterschied zu ihrem Berufsstand, andere Aufgaben hat als Trainings in Lebenspraktischen Fähigkeiten und O&M durchzuführen. Hauptargument dieses Abschnittes ist jedoch die Einbettung und die Mischfinanzierung ihrer Stelle durch die Stadt und den Blindenbund Bayern. Diese Einzigartigkeit der Finanzierung scheint für ihren Handlungsspielraum entscheidend zu sein, weder die Stadt noch der Blindenbund verfügen vollkommen über sie und somit entsteht durch die Mischfinanzierung Handlungsfreiheit. Sie bezeichnet sich als Sonderfall. Ihre besondere Stellung innerhalb der Institution gibt der Expertin die nötige Zeit, ihre inhaltliche Kompetenz zur Bera16 Anmerkung zum Forschungsprozess und zur Bedeutung der Schilderung institutioneller Zusammenhänge durch die Experten: Zum Zeitpunkt der Interviews waren institutionelle und organisatorische Beschreibungen noch nicht im Fokus. Der Interviewerin ging es einzig und allein darum, Informationen zu gewinnen, die das Wissen um die Aneignung der Teilnehmer erhellen könnten oder die Sicht der Experten auf die Teilnehmer darlegen könnten. In den Analysen muss diese Ansicht jedoch grundlegend revidiert werden, da alle Experten viel Raum auf die Beschreibung institutioneller und organisatorischer Kontexte verwenden und diese Rahmenbedingungen damit zu einem wesentlichen Beschreibungskriterium der Arbeit der Experten werden.
Analyse der Einstiegssequenz
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tung einzusetzen. Dies unterscheidet sie von den vorwiegend ehrenamtlichen Mitarbeitern des Blindenbundes. Gleichzeitig hat sie gegenüber freiberuflich arbeitenden Professionellen den Vorteil, nicht jede Tätigkeit einzeln abrechnen zu müssen. Deswegen habe sie auch gegenüber Freiberuflern wesentlich mehr Freiheit. Inwiefern sie diesen ‚besonderen’ Freiraum nutzt, ergibt sich aus dem Folgenden: ST: das heißt, ich werde auch, ich eh verbringe einen großen teil meiner arbeitszeit damit, dass ich menschen aus münchen, die in münchen wohnen oder in münchen arbeiten berA:te. des sind sehr oft halt (.) ältere menschen, (I:h=hm.) ganz oft mittlerweile> wie gesacht, menschen, die an makuladegeneration leiden (..) (1/28-1/35)
Sie charakterisiert sich als zuständig. Für wen sie zuständig ist, verdeutlicht sich an dieser Stelle zum ersten Mal. Sie ist vor allem für die Bürger der Stadt zuständig. Die Klientel ergibt sich aus der Finanzierung. Eben jene unterliegt einem Wandel, der aus dem demographischen Wandel allgemein, aber insbesondere dem Auftauchen einer neuen Erkrankung resultiert. Damit werden die Ratsuchenden weiter spezifiziert. Es handelt sich mehr und mehr um ältere Personen, wovon wieder mehr und mehr an AMD erkrankt sind. Die angesprochenen Themen der Finanzierung, des Sonderfalls, der Tätigkeit und der Adressaten überlagern sich in einem späteren Abschnitt der Eingangssequenz nochmals und lassen weitere Schlüsse zu. ST: mein vorteil, also nich mein- also der vorteil mit MIR is, dass ich solche beratungen und solche KURZtrainings eben ohne=n kostenträger mache, ich krieg ja mein geld schon (I: h=hm.) also des heißt, es is sehr unbürokratisch und es ist eben völlig frei von kosten für denjenigen, der das eben diese beratung von mir kriegt oder diese anweisungen und das ist also schon mal sehr selten heutzutage, wo ja alles immer(.) aber das wird auch enden (.) mit dem mit dem moment, wo ich hier nicht mehr arbeite, bin ja nicht mehr so: jung, hör ja relativ bald auf zu arbeiten und ich fÜRchte die stadt münchen wird diese stelle dann leider nicht mehr verlängern. (2/10-2/21)
Für die Adressaten ist die Art der Finanzierung ebenso von Vorteil, da sie so jegliche Angebote kostenfrei und unbürokratisch nutzen können. Auch hier spricht sie von ihrer Rolle, und nicht von sich als Individuum. Implizit drückt sie damit aus, dass die Hemmschwelle zur Teilnahme bzw. Annahme des Angebots für die Personen wesentlich niedriger ist, da sie von der Organisation einer Finanzierung entlastet sind. Sie vermutet allerdings, dass es diese Sonderrolle zukünftig nicht mehr geben wird. In Zeiten knapper Haushalte besteht kaum Hoffnung auf eine Weiterfi-
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Differenzorientierter professioneller Umgang
nanzierung ihrer Stelle. Sie befürchtet, dass ihre aufgebaute Arbeit zu versanden droht, da diese Form des Arbeitens nur in der Sonderrolle möglich scheint. 1.2.2 Professioneller Umgang mit der Sehbehinderung Neben den institutionellen Aspekten entfaltet die Eingangssequenz erste Formen des Umgangs. Zunächst spricht die Befragte ihre weiteren Tätigkeiten im Blindenbund an, bevor sie auf die Beratungsgruppe zu sprechen kommt. Besonders interessant erscheint der Einstieg in die Beschreibung ihrer vielfältigen Tätigkeiten im Rahmen des Blindenbundes. ST: das heißt, ich werde auch, ich eh verbringe einen großen teil meiner arbeitszeit damit, dass ich menschen aus münchen, die in münchen wohnen oder in münchen arbeiten berA:te. des sind sehr oft halt (.) ältere menschen, (I:h=hm.) ganz oft mittlerweile> wie gesacht, menschen, die an makuladegeneration leiden (..) die rufen entweder hier an (I: h=hm.) reden wir telefonisch drüber oder sie kommen, sofern sie des noch können selber vorbei oder mit freunden oder bekannten oder familienangehörigen, enkeln oder so was, dann reden wir HIER drüber und ich zeig ihnen so=n paar hilfsmittel (I: h=hm.) und was es eben so gibt, weise sie darauf hin, dass es zum beispiel (.) sprechende uhren, dass man telefone (I: h=hm.) eh mit großtasten haben kann gibt oder bildschirmlesegeräte, so=n kram oder ich geh- eben zu den leuten ins haus und mach hausbesuche und berate sie dort, das is verschieden. (.) was ich außerdem halt noch mach für münchener bürger und bürgerinnen und menschen, die hier in münchen arbeiten (.) wenn die irgendwelche wege innerhalb von münchen neu lernen wollen, neue arbeitsstelle, neuer hausarzt, neue lieblingskneipe oder irgendwie sagen, ich möchte überhaupt bisschen mobiler werden und kommen immer am marienplatz nie: richtig klar, dann mach ich auch so (..) einweisungen (..) training (.) an ort und stelle (I: h=hm.) aber ich hab kein grundtraining mehr, wenn jemand lernen möchte mit dem weißen stock zu gehen oder überhaupt selbständig wieder rauszugehen, dann verweis ich auf die vielen freiberuflichen kollegen und kolleginnen, die hier im gebiet tätig sind (I: h=hm. h=hm.) und das zahlt dann die krankenkasse. (1/28 – 2/8)
Gleich zu Beginn der zitierten Sequenz bricht sie einen Satz ab, der mit „ich werde auch dafür bezahlt“ enden könnte und ersetzt ihn durch ich „verbringe einen großen teil meiner arbeitszeit“. Mit diesem Ausdruck und der anschließenden Beschreibung ihrer Tätigkeiten verweist sie darauf, dass sie ihre Arbeit gar nicht als Arbeit versteht. Die Tätigkeiten wirken somit beiläufig und es fehlt ihnen an Dringlichkeit. Dies ist dahingehend interpretierbar, dass sie selbst keinerlei persönliche Interessen mit der Arbeit verbindet, vielmehr sieht sie sich als die zuständige Person für die Arbeit und aus diesem Grund führt sie sie aus. Es bleibt zu prüfen, ob dies nur für die in dieser Sequenz aufgeführten Tätigkeiten
Analyse der Einstiegssequenz
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gilt und die Beratungsgruppe ihr ein besonderes Herzensanliegen ist, oder ob bei ihrer Ausführung der Tätigkeit eher von einer distanzierten „Professionalität“17 auszugehen ist. Mit „berA:te“ (1/31) liefert sie ein Stichwort, mit dem sie ihre gesamte Tätigkeit, ihren Arbeitsalltag und damit ihre Handlungen (kurz: die Mikroebene), umfassend umschreibt. Das Beratungssetting lässt sich nach ihren Aussagen folgendermaßen beschreiben: Sie bietet verschiedene Formen der Beratung an, dies kann sowohl telefonisch als auch persönlich geschehen. Betroffene AMD-Patienten, andere Sehbehinderte oder Blinde suchen sie zu diesem Zweck in ihrem Büro auf. In diesen Beratungen geht es vor allem um die Vorstellung von Hilfsmitteln, Handlungsvorschläge (Tipps) also um Information. Sie schildert explizit, dass sie nur auf diese hinweist und nicht mit den Betroffenen die Anwendung explizit übt. Dies kennzeichnet wiederum ihre besondere Stellung als Rehabilitationslehrerin, sie führt kein Training aus, sondern ist ausschließlich beratend tätig. Eine Beratung kann auch ins private Umfeld der Betroffenen übertragen werden, je nachdem, wie die Klienten dies wünschen. Zudem bietet sie eine Art „Orientierungshilfe“ in Form eines Kurztrainings an, das speziell auf die Orientierung an bestimmten Orten ausgerichtet ist. Training mit dem Stock, als längerfristige Trainingsmaßnahme, wird von ihr nicht mehr angeboten, hierfür wird auf freiberufliche Kollegen verwiesen. Für ihren eigenen Arbeitsbereich ist derartiges ausgeschlossen. Einerseits könnte sie an ihre zeitlichen Ressourcen gebunden sein oder aber an ihre Mittel. Ein weiterer Aspekt wäre die für sie fehlende Bedeutsamkeit des längerfristigen Angebots für ältere Sehbehinderte. Die letzte Lesart verweist auf die Besonderheit ihrer Angebote als Schließung einer Versorgungslücke. Für die anderen Angebote existieren Kostenträger, weshalb nicht von ihr in der exponierten Stellung das Angebot angeboten werden muss, entsprechend zu dem Nachsatz „das zahlt dann die krankenkasse“. All diese beschriebenen Formen zeigen ein breites Beratungsspektrum auf, welches von ihr bewältigt wird. Bislang kommen ausschließlich Individualangebote zur Sprache, die nicht spezifisch auf eine Form der Sehbehinderung oder Erblindung zugeschnitten sind. Es wird bislang wenig darauf eingegangen, wie mit den Betroffenen umgegangen wird. Es handelt sich eher um eine Beschreibung des Arbeitsalltags. Die Angebote stehen nebeneinander, es gibt keinerlei 17 Nittel (2004) unterscheidet die Begriffe Profession (gesellschaftliche Makroebene), Professionalierung (Prozess-bzw. Mesobereich), Professionalität (Mikrobereich): Mit Professionaliät ist in dieser Sichtweise ein szensisch-situatives Handeln gemeint. Sie ist damit nicht an die Existenz einer Profession gebunden, vielmehr markiert sie einen flüchtigen Zustand von Beruflichkeit. Professionalität verbindet Wissen und Können, sie markiert die widersprüchliche Einheit jener Kompetenzen und Wissensformen, die den Umgang mit beruflichen Widersprüchen, Paradoxien und Dilemmata erlauben und somit das Unwahrscheinliche – die erfolgreiche Bearbeitung der Klientenprobleme – wahrscheinlich werden lassen.
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Hierarchie oder Abfolge. Es können sowohl einzelne Beratungsformen in Anspruch genommen werden wie auch ein Bündel davon. Der Freiheitsgrad der Beraterin wird relevant. Dank ihrer Stellung ist sie nicht an Leistungskataloge gebunden. Sie kann einzelne Segmente aus dem Training isolieren und bedarfsgerecht anbieten, entweder mit Hilfsmittel oder ohne. Wie sie dies bedarfsgerecht speziell für Ältere bzw. Makulapatienten umsetzt, erläutert sie in einer weiteren Sequenz aus dem Anfang des Interviews. Es kann eine Einweisung stattfinden, wie man mit dem Stock läuft. Diese dauert nur einen Nachmittag und geht speziell auf die Ängste und Probleme im Umfeld des Betroffenen ein. Obwohl sie nur noch in der „Beratung“ und nicht mehr im „Training“ arbeitet, gilt es bezüglich bestimmter Alltagsprobleme ihr professionelles Wissen als Rehabilitationslehrerin zu aktivieren: I:
weil das klingt ja nach einem sehr interessanten angebot eben, das heißt sie können sowohl ehm bestimmte trainingssegmente, wenn auch nicht das basistraining, anbieten ST: h=hm. I: wo eben die person, oder sie eben weitervermitteln [an die trainer] ST: [ja, ja genau] oder wenn=s halt nur, wenn=s halt nur bei älteren herrschaften darum geht, die mak- zum beispiel mit makuladegeneration, dass sie sich aus ganz bestimmten gründen nicht mehr in die stadt trauen, dann kann ich mit denen auch mal einen NACHmittag gehen und mit son=m weißen stützstock, dann können sie doch das machen, und wenn sie über die straße gehen, heben=sen mal schnell hoch und und oder irgendwie so, also das nützt auch manchmal (2/30 – 2/37)
Sie scheint ihre Beratungstätigkeit an den Bedürfnissen der Klienten zu orientieren und nicht institutionellen oder leistungsrechtlichen Normen zu unterliegen. Zudem wurden bislang keinerlei Phasen gekennzeichnet, es scheint, als ob jedes Angebot nach Bedarf zu jederzeit verfügbar ist.
1.2.3 Die besondere Problematik von AMD-Patienten führt zu neuem Angebot Während des Interviews galt das besondere Interesse dem Angebot der Beratungsgruppe für AMD-Patienten. Auf Nachfrage der Interviewerin wird das Thema der Beratungsgruppe im Interview das erste Mal thematisiert, nachdem der Arbeitsalltag von Frau Jansen umrissen wurde. Für die Beschreibung des Umgangs mit der Sehbehinderung im Alter erscheint dieser Abschnitt aus der Eingangssequenz besonderes interessant:
Analyse der Einstiegssequenz
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I:
und ehe jetzt sagten sie ja auch, oder haben mir ja eben auch die unterlagen gegeben ehe, dass sie speziell diese makula (.) Gruppe oder amd gruppe anbieten, wie laufen, wie kamen sie denn auf die idee, sie sagten die besteht jetzt schon seit zehn [jahren] ST: [ja so ungefähr]zehn jahre. also (.) vor zehn jahren wusste ich ehrlich gesagt gar noch nicht so genau, was a-, was makuladegeneration is , altersbedingte makuladegeneration is und wi- kamen aber immer mehr anfragen, oder immer mehr (..) leute vorbei, betroffene vorbei, die (.) ältere leute, die schlecht sahen, und wenn ich dann gefragt hab, was ist die u- ursache dafür, war=s dann immer makuladegeneration und erstens mal hab ich dann selber angefangen mich da=n bisschen d=rüber zu informieren, damit wenigsten weiß, wovon ich rede (I: h=hm.) und zweitens ha=m die halt gesacht, wir würden so seh:r gerne mit menschen mal auch reden, denen denen=s ähnlich geht wie UN:S, denn die war=n immer, diese diese leute waren immer beim bei so normalen blindenvereinen nich so ganz richtig aufgehoben, denn in in blindenvereinigungen oder selbsthilfegruppen sind ja menschen die (.) MEIstens (.) menschen, die schon sehr lange nicht sehen oder die noch nie gesehen haben und deren problemlage, eh also sowohl psychologisch als auch rein praktisch technisch ganz anders ist als jemand der sein ganzes leben lang gut gesehen hat (...) und auf einmal ehm sozusagen im lauf jählings (..) vor=ne mauer gerannt is und auf ei=mal jetzt sachen neu LER:nen muss beziehungsweise manche sachen einfach noch kann, aber bestimmte andere sachen nicht kann und zum beispiel auch dies- dieses dilemma, was eben ganz (.) ganz vIE:le immer gesacht hab=n, jetzt hab ich mich so: gefreut, darauf dass ich endlich in rente bin und alle bücher lesen kann, zu denen ich nie kam (.) nur jetzt geht das gerade nicht, das sind also so fragen, die jemand, der eh schon sehr sehr lange nicht sieht eh so in dieser tragweite gar nicht verstehen kann, weil er seine bücher schon immer hört. (2/54 – 4/3)
Es werden in dieser Sequenz zwei Ursachen angegeben, die zur Gründung des Angebots führten. Das sind einmal die Notwendigkeit Wissen über die Erkrankung zu erwerben, also ein individuelles Motiv und andererseits die besondere Klientel, die nicht in die bisherige Angebotsstruktur des Blindenbundes passt. Bevor Frau Jansen ein Beratungsangebot anbietet, muss sie sich zunächst Wissen über die Erkrankung, die vor ca. zehn Jahren gehäuft bei ihren Klienten auftauchte, erwerben. Dieses Wissen erwerben zu müssen, drängt sich ihr förmlich auf. Es taucht nicht wie eine Art Programm auf, sondern vielmehr stellt sich die Problematik im Arbeitsvollzug. Die Betroffenen tauchen in all ihren Beratungsangeboten auf. Sie muss sich nun explizit um diese kümmern. Sie spricht also hier zunächst nicht über den Aufklärungsbedarf der Patienten, sondern über ihren eigenen. Die Betroffenen sind noch eine diffuse, unterbestimmte Gruppe, denen sie zunächst ihre allgemeinen Angebote anbietet. Vom Abschnitt, der beginnt mit „und zweitens“, an geht sie auf ihre Klienten ein. Hier macht sie deutlich, dass sie von den Klienten aus denkt. Ihre Bedürfnisse werden in einem neuen Angebot gebündelt: Sie wünschen sich den
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Differenzorientierter professioneller Umgang
Austausch unter Gleichgesinnten. Wie sehr Frau Jansen von den Klienten her denkt und, inwiefern sie sich erfolgreich Wissen über die AMD-Patienten angeeignet hat, wird ebenso in diesem Abschnitt deutlich. Sie trifft klare Abgrenzungen zu anderen Sehbehinderten und Blinden, die zumeist ihr Leben lang schlecht oder gar nicht sahen und damit vor vollkommen andere Probleme gestellt sind. Die Problemlage differenziert sie zudem in psychologische und praktische Aspekte und stellt damit eine andere Verarbeitung der Erkrankung, wie auch andere Probleme im Alltag für diese Patientengruppe in den Vordergrund. Mit „läuft jählings gegen eine Mauer“ stellt sie den Bruch, die Diskontinuität in den Vordergrund, der für diese Menschen von zentraler Bedeutung ist. Plötzlich, und häufig ohne Vorahnung, sind die einfachsten Alltagskompetenzen nicht mehr möglich und müssen neu erlernt werden. Ebenso die Zeitlichkeit und das Alter, als Merkmal der älteren Klientel, hat sie im Blick: Als Rentner Bücher nicht lesen zu können, bedeutet nicht nur die Sensibilität für den Kompetenzverlust des Lesens, sondern auch für eine Zerstörung der Lebensplanung für das Alter. Und abschließend fasst sie ihre besondere Klientenkenntnis nochmals zusammen und liefert damit auch den Grund für die Notwendigkeit eines eigenen Programms: Personen, die schon lange nicht sehen, können diese Probleme nur schwer nachvollziehen oder verstehen. Es braucht also für die Bedürfnisse der AMD-Patienten eine eigene Angebotsform, die mit der Beratungsgruppe geschaffen wurde. In dem Sinne ist sie hier als das „Auge der Klienten“ zu betrachten: Sie kennt die Probleme von AMD-Patienten und deren Lebenswelten. Sie handelt als sei sie nur ein Teil, ein Hilfsmittel der Betroffenen. Es geht nicht um ein Anpassen der Hilfsmittel an die Betroffenen, vielmehr ist die Information bereits angepasst an die Klienten. Dieses Anpassen kennzeichnet ihre Leistung. Allein durch die Betrachtung der Einstiegssequenz lassen sich am Fall Frau Jansens wesentliche Erkenntnisse für die Fragestellung gewinnen. Dank ihrer „Sonderrolle“ kann sie ein innovatives Angebot schaffen, das sich einerseits von der „normalen“ Arbeit unterscheidet, aber dennoch in das Angebotsspektrum des Blindenbundes eingebettet ist. Zudem werden erste Umgangsformen der Beratung und der Information deutlich. Auf der Ebene des pädagogischen Wissens wird bereits ein differenziertes Adressatenwissen deutlich. Aber es stellen sich zudem weitere Fragen an das Interview: Woher hat sie das Wissen über die Erkrankung und die Klienten erworben? Wie realisiert sie die neue Angebotsform genauer? Welche Formen des Umgangs mit der Sehbehinderung beschreibt sie über das gesamte Interview hinweg? Im Folgenden werden diese sich hier überlappenden Elemente anhand des weiteren Interviews vertieft dargestellt und ausdifferenziert. Gleichzeitig soll im nächsten Schritt eine erste analytische Trennung nach Aspekten des Settings, des
Setting Positionierung und Ausdifferenzierung
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Umgangs mit der Sehbehinderung und den pädagogischen Formen vorgenommen werden. Das Hauptaugenmerk dieser Ausarbeitung liegt dabei auf der Beratungsgruppe.
1.3 Setting Positionierung und Ausdifferenzierung Der Begriffs des ‚Setting’ wird an dieser Stelle eingeführt, um die über das Angebot bestehenden Informationen näher zu beschreiben und diese hinsichtlich Vermittlungs-, Aneignungs- und Überprüfungsoperationen vorzustrukturieren (vgl. J. Kade & Seitter, 2007a). Im Falle Frau Jansens verweist das Setting auf Operationen und bettet die Angebote in ein Netz von institutionellen Angeboten für Sehbehinderte ein. Es lässt sich in Beziehungen (außerhalb der Institution) und Prozessen (innerhalb der Institution Blindenbund) beschreiben. Zur weiteren Beschreibung des Settings gehören in diesem Fallporträt das Angebotsspektrum des Blindenbundes als Beratungsleistung und das spezifische Angebot der Beratungsgruppe als Mischform von Beratung und Moderation. Im Vergleich zu den anderen Angeboten ist das spezifische Merkmal der Beratungsgruppe, dass es sich einer hybrid-uneindeutigen Form bedient. Denn hier changieren unterschiedliche Kommunikationsformate (Wissensvermittlung, Information, Geselligkeit, etc.). Im Gegensatz dazu sind die weiteren Angebote, von denen berichtet wird, als explizit-intensiv zu kennzeichnen. Diese Unterscheidung auf der Ebene der Vorstrukturierung der noch näher zu erläuternden pädagogischen Formen macht erneut den Pionierstatus von Frau Jansens Angebot deutlich.
1.3.1 Organisation, Ablaufwissen, Positionierung In der Organisation des Blindenbundes wird den Betroffenen eine Reihe von Angeboten zur Verfügung gestellt. Von institutioneller Seite her können die Hinweise auf diese unterschiedlichen Angebotsformen als Prozesse der Institution verstanden werden. Durch diese Zusammenhänge lässt sich die besondere Stellung der Beratungsgruppe innerhalb der Institution herausstellen.
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Differenzorientierter professioneller Umgang
Abbildung 14: Prozesse im Blindenbund Verortungen
individuelle Beratung im Blindenbund
Telefonberatung im Blindenbund ‚Kurztrainings’ durch den Blindenbund
Bewertungen/Aktivitäten innerhalb des Blindenbundes außerhalb des Blindenbundes eigene Tätigkeiten Tätigkeiten dritter außerhalb kaum Basistätigkeit im BlinLobbyarbeit: Werbung vorhanden denbund für die Gruppen, Beratung auch durch ehrenamtliche Mitarbeiter Basistätigkeit im Blinaußerhalb kaum denbund vorhanden außerhalb kaum spezielle Serviceleistung vorhanden von Frau Jansen, die nicht abgerechnet werden muss
Die Tätigkeiten, welche Frau Jansen zu ihrem Aufgabenbereich zählt (individuelle Beratung, Telefonberatung, Kurztraining), werden von der Befragten als spezifische Angebote des Blindenbundes gekennzeichnet, die außerhalb des Blindenbundes kaum verfügbar sind. Damit wird der Blindenbund auf eine Sonderstellung verwiesen. Er ist die Institution, in welcher die umfassendste Beratung für jedwede Augenerkrankung möglich ist. Vor allem Frau Jansen nimmt besondere Tätigkeiten wahr, da ihre Stelle speziell für derartige Bedürfnisse der Adressaten eingerichtet wurde: Die Zusammenarbeit von Kommune und Verband ermöglicht ihr eben jenen Freiraum, wie er bereits in der Eingangssequenz dargestellt wurde. Alle drei Angebotsformen lassen sich als explizit-intensive Settings kennzeichnen. Frau Jansen steht den Adressaten in einer asymmetrischen BeraterKlient-Konstellation gegenüber. Sie ist die Expertin, welche die Lösungen für die defizitären Adressaten sucht. Besonders an dieser Situation ist, eine individuelle Beratung anbieten zu können. Ihre Tätigkeiten müssen keinerlei Curricula befolgen. Frau Jansen fokussiert im Interview auf die eigenen Tätigkeiten. Das Spektrum des Blindenbundes ist aber noch wesentlich weiter zu fassen: Beispielsweise werden verschiedene Selbsthilfegruppen unterhalten, Erwachsenenbildungskurse und Freizeitaktivitäten für Sehbehinderte und Blinde angeboten. Insofern geht die Beratung über explizit-intensive Settings hinaus und nimmt hybride Formen an. Diese kennzeichnen den Blindenbund über eine Beratungsinstitution hinaus als ‚Lebensstil’institution. Jedem Betroffenen steht es offen zwischen diesen Angeboten zu changieren und sich in unterschiedlichen Settings zu verorten.
Setting Positionierung und Ausdifferenzierung
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Außer diesem ‚innerhalb’ gibt es mit Verweis auf das Interview mit der Leiterin der Beratungsgruppe noch ein ‚außerhalb’ zu kennzeichnen. Die Verweisungszusammenhänge, welche an dieser Stelle aufgedeckt werden, werden als Beziehungen gekennzeichnet. Fasst man die Beziehungen, also die Verbindungen und Schnittstellen mit anderen Institutionen der ‚Sehbehindertenwelt’ zusammen, ergibt sich das in Abb. 15 dargestellte Bild. Abbildung 15: Übersicht über die von Frau Jansen formulierten Beziehungen Verortungen
Bewertungen/Aktivitäten innerhalb des Blindenbundes eigene Tätigkeiten
Augenärzte
-
-
außerhalb des Blindenbundes
Tätigkeiten dritter
Aufstellen von Ärztelisten für die Betroffenen gescheiterter Kontaktaufbau zu Augenarztpraxen
-
Vermittlung an den Blindenbund findet nur aus Augenkliniken statt
Zahlreiche Optiker können zu Low Vision nur unzureichend beraten Kooperation mit dem Blindenbund
Optiker
Zusammenarbeit mit einem auf LowVision spezialisiertem Optiker
Gemeinsames Auftreten in Sachen Lobbyarbeit
-
Selbsthilfegruppen
-
-
-
Training in Orientierung und Mobilität (O&M)
±
Training in lebenspraktischen Fertigkeiten (LPF)
±
±
±
Zu wenige vorhanden Nicht an den Bedürfnissen von älteren Sehbehinderten orientiert wird eigentlich von älteren Sehbehinderten nicht benötigt bei Bedarf Weitervermittlung wird eigentlich von älteren Sehbehinderten nicht benötigt bei Bedarf Weitervermittlung
zu anderen Augenerkrankungen bestehen hier Angebote
± wird vom Blindenbund nicht angeboten
± wird vom Blindenbund nicht angeboten
Zunächst ist festzustellen, dass sich Beziehungen zu allen in dieser Arbeit untersuchten Angebotsträgern – aber auch nicht mehr! – aufzeigen lassen. Bewertet man diese Tätigkeiten oder will sie näher beschreiben, muss man unterschiedli-
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Differenzorientierter professioneller Umgang
che Aktivitäten und ihre Bewertungen berücksichtigen. Um das Netz der Verweisungszusammenhänge zu komplettieren, muss innerhalb der Kategorie des Blindenbundes eine weitere Differenzierung erfolgen. Mit ‚eigene Tätigkeiten’ werden Tätigkeiten der Expertin und ihres Arbeitsbereiches gekennzeichnet. Es handelt sich dabei um Verweise, auf welche die Betroffenen im Kursgeschehen Zugriff haben. Different dazu sind die ‚Tätigkeiten Dritter’ zu betrachten, die zwar Verweise im Blindenbund betreffen, aber nicht direkt von Frau Jansen wahrgenommen werden und damit von den Betroffenen nicht direkt in der Kursinteraktion erfasst werden können. Betrachtet man die Inhalte der Abbildung, so ist auffällig, dass vielfältige Beziehungen aufrechterhalten werden oder sich im Aufbau befinden (+), stagnieren (±) oder als unzureichend empfunden werden (-). Damit sind die Beziehungen als ambivalent zu kennzeichnen. Durchgehend positive Verweise finden sich nur auf den Optiker. Eindeutig negative Verweise auf das medizinische System. Die Beziehungen zu LPF und O&M werden insofern als ambivalent gekennzeichnet, dass in diesem Gebiet der Trainings Weitervermittlungsprozesse und Kontakte bestehen, aber diese Trainings für das Klientel der AMD-Betroffenen nur teilweise als sinnvoll erachtet werden. Die Probleme, insbesondere in der Zusammenarbeit mit Augenärzten, werden nicht verschwiegen, so gelang es beispielsweise bisher nicht eine konkrete Kooperation mit einem Augenarzt herzustellen: ST: aber des fällt mir nämlich gerade ein des war mal ganz toll, da gab=s mal einen augenarzt, der war in so=ner augenarztpraxis mit mehreren der hat sich direkt an uns gewandt und hat gesacht, er möchte für die vielen patienten mit makuladegeneration, die er einfach immer wegschicken muss und sagen muss, tut mir leid, wir können nix machen für euch, ihr seht nun mal so schlecht (.) ehm irgendwie so=ne auffang (.) sprechstunde machen (I: h=hm.) und wollte DAS zusammen mit dem blindenbund irgendwie organisieren. aber der kriegte dann in seiner gemeinschaftspraxis da sehr wenig positive rückmeldung und hat sich dann wohl über einiges geärgert und is inzwischen in köln. also (.) aber da ham wir schon=n paar mal zusammen gesessen und i- fand ganz tolle sache (.) ja wär- das gewesen aber (.) er war offensichtlich der einzige, der das toll fand (6/13-6/28)
Ebenso wird der innovative Charakter und die Bedeutung eines differenzierten Angebotes durch die Abgrenzung zu anderen Selbsthilfegruppen dargestellt und damit auch der Mangel solcher Angebote ausgedrückt: ST: und zweitens ha=m die halt gesacht, wir würden so seh:r gerne mit menschen mal auch reden, denen denen=s ähnlich geht wie UN:S, denn die war=n immer, diese diese leute waren immer beim bei so normalen blindenvereinen nich so ganz richtig aufgehoben, denn in in blindenvereinigungen oder selbsthilfegruppen sind ja men-
Setting Positionierung und Ausdifferenzierung
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schen die (.) MEIstens (.) menschen, die schon sehr lange nicht sehen oder die noch nie gesehen haben und deren problemlage, eh also sowohl psychologisch als auch rein praktisch technisch ganz anders ist als jemand der sein ganzes leben lang gut gesehen hat (...) und auf einmal ehm sozusagen im lauf jählings (..) vor=ne mauer gerannt is (3/14-3/28)
Gerade diese differenten Beziehungen zu unterschiedlichen Settings bestimmen das Angebot der Beratungsgruppe. Und von der Beobachtungsperspektive dieser Studie betrachtet, resultiert die Einrichtung einer hybriden Struktur einer Beratungsgruppe aus diesen Beziehungen.
1.3.2 Angebotsspektrum entlang der Bedürfnislage der Adressaten Doch bevor nochmals auf die Beratungsgruppe im Besonderen eingegangen wird, werden zunächst die weiteren Beratungstätigkeiten Frau Jansens betrachtet. Frau Jansen rekurriert in ihren Ausführungen nicht ausführlich auf die vielfältigen Angebote des Blindenbundes, sondern sie stellt vielmehr ihre eigenen Tätigkeiten in den Vordergrund. Wie bereits aus der Einstiegssequenz ersichtlich, umfassen diese weit mehr als die Tätigkeit in der Beratungsgruppe. Auffällig wird bei der Beschreibung ihres Tätigkeitsfeldes, dass die Bedürfnisse der Betroffenen im Zentrum stehen und somit die jeweilige Form der Betreuung prägen. Die weiteren Beratungskonzepte richten sich erstens nicht nur an ältere Sehbehinderte, können aber, dank der individuellen Beratungssituation, auf diese Klientel angewendet werden. Zweitens können diese die Entstehung der Beratungsgruppe weiter erklären. Und drittens zeigen die Individualangebote Frau Jansens, dass sie eine profunde Kenntnis der Betroffenen und ihrer Problemlagen in ihre Beratungstätigkeit einfließen lässt. Entsprechend zu Hofs (2001) Definition von ‚Beratung’ und ihrer Abgrenzung von den Formen Training, Moderation und Unterweisung, lässt sich Frau Jansens Tätigkeit folgendermaßen einordnen: "[D]as Fachwissen des Dozenten [wird] mit den konkreten Fragen und Problemen der Teilnehmer in Beziehung gebracht […]. Dabei bilden die konkreten Problemlagen und Situationen der Teilnehmer den Ausgangspunkt für die Wissensvermittlung. Entsprechend kommt dem Berater nicht die Aufgabe zu, sein Wissen systematisch und vollständig darzulegen, sondern immer nur so weit, wie es im Zusammenhang mit den Problemlagen der Teilnehmer steht. Da die Adressaten in die Lage versetzt werden sollen, selber ihre Problemsituationen zu meistern, wird besonderer Wert darauf gelegt, dass die Lernenden sich aktiv am Problembearbeitungsprozess beteiligen und die Berater primär eine fachliche und methodische Unterstützung anbieten." (Hof, 2003, S. 29)
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Differenzorientierter professioneller Umgang
In der kurzen Beschreibung (1/28-1/55) ihrer weiteren Tätigkeiten, die bereits aus der Einstiegssequenz bekannt sind, wird durch die Wortwahl und das von ihr eigens eingebrachte „berA:te“ die Parallelität zur Definition Hofs sichtbar. Es geht in den Beratungstätigkeiten nicht darum, die Probleme für die Teilnehmenden zu lösen. Sie gibt allein Hinweise auf Hilfsmittel oder Wohnraumanpassungen, ohne mit ihnen die notwendigen Kompetenzen einzuüben. Am Beispiel der Mobilität verdeutlicht sie, wie die Beratungseinheiten auf die Bedürfnisse der Ratsuchenden ausgerichtet sind. Beratung wird nur auf die Orte fokussiert, die für die Betroffenen wichtig sind. Sie selbst entscheiden über ihren Beratungsbedarf und arbeiten somit aktiv an der eigenen Problembearbeitung mit. Insofern besteht hier ein Unterschied zur länger andauernden Trainingssituation, wie sie beispielsweise im O&M- und LPF-Bereich angeboten wird, erstens auf Grund der Dauer und zweitens muss in diesen Trainings immer erst angeeignet werden, bevor der Teilnehmer seine individuellen Bedürfnisse anmelden kann.
1.3.3 Beratungsgruppe - Einführung von ‚Moderation’ in den Blindenbund In der Beratungsgruppe ist die Beratungstätigkeit um den Aspekt der Moderation erweitert. Die Rollen der Gruppenteilnehmer und der Leiterin der Gruppe werden differenziert. "Auch beim Unterricht als Moderation stehen die persönlichen Problemlagen der Teilnehmer im Zentrum. Dabei wird allerdings den Teilnehmern nicht so sehr das Fachwissen des Pädagogen zur Lösung seiner Probleme angeboten. Stattdessen übernimmt er in erster Linie die Aufgabe, Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen der Lernende methodisch angeleitet das eigene Wissen aktualisiert und ordnet, um mit diesem ihm zur Verfügung stehenden Fundus Probleme zu bearbeiten." (Hof, 2003, S. 29)
Ausgangspunkte sind ebenso die Bedürfnisse der Teilnehmenden, auch wenn vermehrt Aufgaben an die Gruppenteilnehmer abgegeben werden. Dies geschieht in einer von Frau Jansen vorgegebenen Formenvielfalt eines pädagogischen Settings. Sie sieht ihre Rolle in der Weitergabe von fachlicher Information („ophthalmologischer Bereich“) und der Vermittlung zur Infrastruktur für Sehbehinderte (Angebote der Stadt, Ärztelisten, Trainervermittlung, etc.). Die Rolle der Teilnehmer sieht sie im Austausch, für welchen sie nur den räumlichen und organisatorischen Rahmen schafft. Sie überlässt es den Teilnehmern, wie sie mit diesen Rahmenbedingungen umgehen, ohne jegliche Überprüfung und durch ihre zeitweilige eigene Abwesenheit.
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Die Ergänzung des Angebotes durch den Aspekt der ‚Moderation’ lässt dieses Setting als hybride Struktur erscheinen. Zwar sind Elemente von ‚Beratung’ konstitutiv für den Gruppenzusammenhang, doch die Form, wie beispielsweise Rollenwechsel und die Adressierung der Adressaten vorgenommen wird, weisen über ein explizit-intensives Setting hinaus. Es werden hybride Formen integriert, in welchen insbesondere die asymmetrische Rollenverteilung aufgehoben wird. Die einzelnen Elemente dieses Settings werden in den nachfolgenden Gliederungspunkten ausgearbeitet. Dabei geht es um die Formen des Umgangs mit der Sehbehinderung sowie deren Arrangement im Sinne pädagogischer Formen.
1.4 Formen des Umgangs mit der Sehbehinderung im Kontext der Beratungsgruppe Vermittlungsaktivitäten Bei der Darstellung der Formen des Umgangs mit der Sehbehinderung aus Expertensicht geht es zunächst darum herauszuarbeiten, in welchen Dimensionen (vgl. Strauss, 1998, S. 44f.) die Sehbehinderung für die Experten von Relevanz ist. Es ist von Interesse, was Sehbehinderung für die Experten bedeutet und nicht, wie sie pädagogisch mit Sehbehinderung umgehen. Betrachtet man die Formen des Umgangs mit der Sehbehinderung im Falle Frau Jansen, ohne zunächst das Pädagogische daran in den Vordergrund zu stellen, ergibt sich Folgendes: Zunächst taucht die Sehbehinderung als etwas auf, über das Frau Jansen selbst erst Informationen einholen muss. Die altersbedingte Makuladegeneration taucht plötzlich im Arbeitsalltag auf, ohne dass Frau Jansen darüber informiert war. Zudem wird Sehbehinderung im Interview als etwas relevant, über das Information, im Sinne fachlicher Information, weitergegeben wird. Sehbehinderung taucht drittens als instrumenteller Umgang auf. Frau Jansen stellt Hilfsmittel vor. Ein weiterer Aspekt des Umgangs mit der Sehbehinderung liegt in der Funktion von Geselligkeit als Medium des Austauschs zwischen den Betroffenen. Frau Jansen setzt Geselligkeit funktional ein. All diese Aspekte schließlich verdeutlichen ihr Konzept von Beratung, respektive Moderation, in der Beratungsgruppe.
1.4.1 Eigene Wissensaneignung über Formen der Sehbehinderung Die Thematisierung von Sehbehinderung im Falle Frau Jansens vollzieht sich dergestalt, dass sie im Zuge ihrer langjährigen Tätigkeit in der Betreuung von Sehbehinderten und Blinden zunehmend mit der altersbedingten Makuladegeneration, als neue Form einer Erkrankung mit einem speziellen Klientel, in ihrem
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Arbeitsalltag konfrontiert wird. Für das sich wandelnde Beratungsfeld muss sie sich neues Wissen aneignen und neue Formen des professionellen Umgangs finden. Dieses Faktum an sich muss zunächst noch nichts Neues darstellen. Da aber Frau Jansen thematisiert, dass diese Wissensaneignung notwendig wurde, soll diese Tatsache näher beleuchtet werden. Im Zuge ihrer eigenen Wissensaneignung entwickelt die Expertin eigene „Theorien“ über die Erkrankung. ST: also (.) vor zehn jahren wusste ich ehrlich gesagt gar noch nicht so genau, was a-, was makuladegeneration is, altersbedingte makuladegeneration is und wi- kamen aber immer mehr anfragen, oder immer mehr (..) leute vorbei, betroffene vorbei, die (.) ältere leute, die schlecht sahen, und wenn ich dann gefagt hab, was ist die u- ursache dafür, war=s dann immer makuladegeneration und erstens mal hab ich dann selber angefangen mich da=n bisschen d=rüber zu informieren, damit wenigstens weiß, wovon ich rede (3/4-3/12)
Frau Jansen stößt nicht während einer Weiterbildung auf das Thema, sondern wird durch ihre Klienten mit AMD konfrontiert. Die Anzahl der Hilfesuchenden steigt und Frau Jansen sieht Aneignungsbedarf für ihre eigene weitere Tätigkeit. Um diese neue Klientengruppe besser betreuen zu können („damit wenigstens weiß, wovon ich rede“), weitet sie ihr Wissen um die Erkrankung aus. Diese Ausweitung des Wissens und der eingebrachte Bedarf der Klienten selbst, stellt den Entstehungshintergrund der Gruppe dar, wie auch schon in der Einstiegssequenz genannt (siehe 1.2). Als Folge dieser langjährigen Beschäftigung sind „laienhafte Theorien“ entstanden, die ihr helfen, vor allem das „warum“ der Erkrankung zu erklären. Bei der hier zitierten Sequenz bleibt aber unklar, ob die Suche nach der Ursache der Erkrankung für sie selbst, für ihre eigene Handlungsfähigkeit von Nöten ist, oder ob ihre Klienten immer wieder einen Erklärungsansatz für die eigene Erkrankung einfordern. Drittens vermischen sich ihre „laienhaften Theorien“ mit dem Wissen über die Adressaten. ST: eh (.) ich hab da so=n paar ganz (..) laienhafte theorien, ich ich meine ja, dass gerade diese generation, die jetzt so siebzig achtzig is so viel unter makuladeneration leidet, weil die in den sechziger und siebziger jahren mit den schlechten sonnenbrillen, die ja damals noch keinerlei schutz hatten und (.) platsch auf=m rücken lagen und in die sonne geguckt haben (I: h=hm.) ohne zu wissen, was die strahlen eben dieser der makula antun können (I: h=hm. is vielleich wir-) eine eine ein aspekt unter sehr sehr vielen und m- männer haben ham halt nich so oft in=ner (.) weiß ich nich. also es gibt, is ja auch so offensichtlich, dass dunkelhäutige menschen weniger an makula erkranken als blauäugige, frauen halt häufiger als männer, warum auch immer. also deshalb is schon mal ganz klar sind viel sind viel mehr frauen da. außerdem, des hat ich ja vorhin schon gesagt aber
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ohne des ding, neigen ja oder sind frauen eher bereit über ihre probleme und krankheiten zu reden als männer, also männer reden natürlich furchtbar gerne über ihre krankheiten aber zuhause (.) bei ihren frauen in der regel, aber nicht außerhalb. mh (...) also zugeben des zugeben, ich hab=n ich hab=n problem, ich hab=ne schwäche ich ich des liegt ja frauen noch viel weniger als frauen und sich dann darüber auch noch auseinandersetzen. (.) eh männer neigen ja dann eher dazu sich zuhause zu vergraben und die gattin zu tyrannisieren aber (.) des is eben auch=n grund, warum relativ weniger (.)männer da sind und vielleicht auch so=n bisschen, dass männer mehr resignieren, wenn ihnen so was passiert. denn die leute, die in diese gruppe kommen oder diese selbsthilfegruppe oder zur beratung kommen, die kommen ja deshalb, weil sie eben nicht resignieren, weil sie ja irgendwas dagegen tun wollen oder (...)ja eh rat und hilfe und stärke und so was holen wollen. aber (.) ja die männer, die dann in diese gruppe kommen, die kommen halt natürlich auch ganz gerne, weil da soviel frauen sind aber wenn man, müssen=s ja nun nich gleich machen, aber kommen=se, warten se mal=n halbes jahr da da gibt=s ga- viele von den herrschaften, die sagen ohne ohne die hörbücher könnt ich gar nich mehr sein (10/9-10/28)
Der Wiederholung inhärent sind die Aspekte der Variation. So werden immer wieder unterschiedliche Perspektiven auf Phänomene der Sehbehinderung, der Hilfsmittel etc. miteingebracht. Dies geschieht einerseits, indem die Rolle des Vermittelnden wechselt. Frau Jansen bestreitet die Beratungsgruppe nicht alleine. Sie schlägt eventuell ein Hilfsmittel vor, gibt dies zum Test an einen Betroffenen, welcher dieses dann wieder vorstellt. Sie nutzt fachliche Experten, beispielsweise Juristen, zu den Rechten von Sehbehinderten in Bezug auf Blindenausweis, etc. berichten. Gerade dieser Aspekt der Rollenvariation kennzeichnet die Betroffenen als in ihrer Lebenswelt und in ihrem Problem kompetent. Auf der Ebene des Gestaltungswissens der Kurssituation, sind im Falle Frau Jansens das Arrangement der Rollenverteilung, das Arrangement der Durchlässigkeit zu anderen Angeboten, die Beschränkung auf AMD-Patienten sowie die hohe Bedeutung der Kommunikation zu benennen. Nimmt man die Kategorie des vermittlungsbezogenen Aneignungswissens, welches problematische Aspekte der Vermittlungsseite reflektiert und Aneignungsnotwendigkeiten von Vermittlern selbst thematisiert, in den Blick, lassen sich im Falle der Leiterin der Beratungsgruppe darunter diejenigen Aspekte subsumieren, die auf der Ebene des Umgangs mit der Sehbehinderung als eigene Wissensaneignung über die Sehbehinderung beschrieben wurden: Um die Beratungsgruppe überhaupt anzubieten, muss neues Wissen über die Erkrankung und die Teilnehmer angeeignet werden. Diese Aneignungsnotwendigkeit setzt sich bis in die Gegenwart fort, damit Frau Jansen weiterhin auf die Bedürfnisse der Adressaten eingehen kann.
1.5.3 Überprüfungswissen Besondere Bedeutung kommt dem Überprüfungswissen in dem Sinne zu, dass nicht erwünschtes Wissen zurückgewiesen, falsches Wissen korrigiert, systematisiertes Wissen adressatenspezifisch übersetzt und vermitteltes Wissen richtig angewendet werden muss (Seitter, 2007b). Diese Ausprägung pädagogischer
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Formen ist in der Beratungsgruppe nicht von Bedeutung. In ihrer Zielsetzung und Rollendefinition als Kursleiterin wird dies exemplarisch vorgeführt: ST: mein mein ziel ist keinesfalls, dass jemand jetzt irgendwie: alleine dann eine amerikareise unternimmt oder so was (I: h=hm.) also wie wie jemand dann seine selbständigkeit oder seine (..) bisschen gewonnenen mut oder selbstvertrauen nutzt, das ist mir ehrlichgesagt egal (17/25-17/30)
Durch die Rücknahme der Ziele und die Beimessung von Indifferenz bezüglich der Nutzung des angeeigneten Wissens wird Überprüfungswissen in diesem Falle obsolet. Einmal mehr betont Frau Jansen mit dieser Einstellung die Bedeutung der Eröffnung eines Möglichkeitsraums, der jeweils individuell von den Betroffenen aufgegriffen oder abgelehnt werden kann. Die unter diesem Punkt dargestellten pädagogischen Formen im Angebot der Beratungsgruppe werden im Folgenden ergänzt durch eine weitere Sichtweise auf das Feld der Übergänge. Anders als die detaillierte Schilderung von pädagogischen Wissensformen liegt dabei der Fokus auf der inhaltlichen, zeitlichen und räumlichen Ablaufgestaltung als Sinnbild für die Eingliederung in eine institutionelle Praxis und das Austreten aus selbiger in ein selbständigeres Leben.
1.6 Phasenhaftigkeit eines auf Dauer gestellten Beratungsangebots Quer zu dem Wissen zum Zusammenhang von Vermittlung und Aneignung und der Durchleuchtung der eigenen Vermittlungspraxis werden unter diesem Gliederungspunkt Übergänge in den Blick genommen. Dies interessiert vor allem, da in den ersten Hypothesen zum Feld von einer Art institutionellem Ablaufmodell (auf Augenarzt folgt Optiker, dann Beratungsgruppe bzw. Selbsthilfegruppe und schließlich ein Training) ausgegangen wurde. Da die Trainer maßgeblich an einem solchen Prozess beteiligt sein könnten, wird an dieser Stelle nochmals untersucht, inwiefern die Trainer selbst auf ein solches Ablaufmodell innerhalb ihrer eigenen Tätigkeit rekurrieren und wie es sich von der eingangs eingebrachten Hypothese unterscheidet. Zudem liefert diese Untersuchung der Übergänge bzw. Phasen nochmals einen anderen Blick auf Formen, der quer zu dem direkten Vermittlungsgeschehens liegen. Denn die Bedeutung der Untersuchung von Phasen im Angebotsgeschehen ermöglicht Erkenntnisse über die Bezüge zwischen den Angebotsformen und ist daher maßgeblich für ihren Vergleich. Die Darstellung erfolgt entlang dreier Phasen (entsprechend Seitter, 2007a). Damit werden die Felder des Problembearbeitungsprozesses der Sehbehinderung im Alter aufgezeigt. Aus der Expertensicht müssen in Phase I (Inklusion, Übergang von draußen nach drinnen) zwei Differenzierungen beachtet werden. Zum
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einen treten die Experten in ein ‚außen’ vom Kursgeschehen aus betrachtet, um Teilnehmer zu adressieren. Zum anderen aber nehmen die Experten ein ‚außen’ wahr, das aber durch die Teilnehmer hergestellt wird. Dies ist der Zeitpunkt ihrer Sehbehinderung, an dem sie sich an die Institution wenden. Phase II, die Phase der Bearbeitung der Problematik und Phase der Fortsetzung und Steigerung im ‚Drinnen’ bildet im Wesentlichen die Formen ab, welche die Bindung der Teilnehmer gewährleisten sollen und eine Entwicklung, Fortsetzung und/oder Steigerung im Blick haben. Hier kann aber nochmals eine Gewichtung vorgenommen werden, welche Formen der Problembearbeitung besonders im Zentrum stehen. Gesondert zu betrachten ist, im Falle der Selbsthilfe, nochmals Phase III als mögliche Phase eines Übergangs – betrachtet vom Kursgeschehen aus – von einem ‚Drinnen’ nach ‚Draußen’. Besonders ist diese Phase in der Selbsthilfe deshalb, da es sich bei dieser Angebotsform um ein auf Dauer angelegtes Angebot handelt. Es findet somit kein explizites Entlassen bspw. in die Selbständigkeit statt (anders als beispielsweise bei Trainings in O&M und LPF, Beratung bei Optiker). Es findet sich theoretisch kein Ende der Adressierung. Dennoch sind für diese Phase Prozesse beschreibbar, etwa das Fernbleiben oder Austreten oder aber auch Prozesse der Weitervermittlung an andere Einrichtungen. Über diese Beschreibung der Phasen lässt sich somit zunächst auf Ebene des Einzelangebotes und später im Vergleich das Netzwerk der Sehbehindertenhilfe dichter beschreiben und es lassen sich mögliche Passungsverhältnisse und -probleme ableiten und darstellen. Für den Fall der Beratungsgruppe stellt folgendes Schaubild die interne Phasenhaftigkeit des Angebotes zusammen:
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Differenzorientierter professioneller Umgang
Abbildung 17: Phasenverlauf in der Beratungsgruppe PHASE I (Anbindung – Einzelberatung, Öffentlichkeitsarbeit)
PHASE I
PHASE II
(Anbindung - Experte, Selbstadressierung - Teilnehmer)
(Fortsetzung, Steigerung, Aufrechterhaltung der Bindung)
ENDE OFFEN
PHASE III
PHASE III
PHASE III
PHASE III
(Ende der Adressierung – Depressiven)
Ende der Adressierung Weitervermittlung
Ende der Selbstadressierung Austritt
Ende der Adressierung Weitervermittlung
Kein weiteres Lern-/ Informationspotential in der Gruppe
GRUND
Hilfebedarf kann in Gruppe nicht abgedeckt werden
GRUND
GRUND
GRUND
Störung der Gruppe
Ergänzung/ Steigerung zum Gruppenangebot Ergebnis des Austauschprozesses
1.6.1 Zugang zur Institution – Phase der Adressierung Nach Fischer (2007) müssen in dieser ersten Phase des Zugangs zur Institution noch nicht notwendigerweise Vermittlungsaktivitäten stattfinden, vielmehr geht es um die Anbindung des Teilnehmers an das jeweilige Angebot. Unter dem Phänomen der Anbindung gibt es dreierlei Prozesse zu beobachten. Einerseits wendet sich Frau Jansen mit der Institution an ein außen – die Öffentlichkeit – und wirbt für die Angebote des Blindenbundes auf großen Festen und Blindentagen. Zum anderen wird angestrebt die Angebotsattraktivität zu erhöhen, indem sich der Verband umbenannte in Sehbehinderten- und Blindenbund. Damit soll dem Stigma, nur für Blinde da zu sein, entkommen werden und die Schwelle für Interessenten niedriger werden. Frau Jansen hat zudem einen Flyer entworfen, den sie den Adressierten nach den Beratungen mitgibt. Mit diesem wendet sich also direkt an die zukünftigen Teilnehmer. Interessant ist die Konzeption des Flyers, der schon erste Tipps für den Alltag bereithält und somit suggeriert, dass
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die Teilnahme an der Veranstaltung weitere Tipps offenbaren wird. Damit obliegt dem Flyer das Versprechen für eine erfolgreiche Zukunft. Wesentlich in der Adressierung im Angebot von Frau Jansen sind zweitens jedoch ihre weiteren Arbeitsbereiche, insbesondere die Einzel- wie die Telefonberatung. Hier schafft sie einen privaten Raum, wo abgeklärt werden kann, ob die Teilnahme an der Gruppe das adäquate Mittel für die Betroffenen ist. Wesentliche Attraktivität vermittelt hier der Gedanke des Austauschs unter Gleichgesinnten, also der Ausbruch aus der Isolation durch diese Erkrankung. Aber auch das Angebot des geselligen Beisammenseins bei Kaffee und Tee steht als Attraktor im Vordergrund. Die Inhalte des Angebotes, die zukünftige Adressierung, werden nicht verschleiert, sondern offen dargelegt. Auch schon die Rollensegmente, Frau Jansen als Expertin und die Teilnehmenden als Erfahrungspool, gerade in alltagsweltlicher Kompetenz, werden vorgestellt. Andererseits wenden sich nach Schilderung Frau Jansens die Teilnehmer an sie und nehmen damit eine Selbstadressierung vor. Hierbei handelt es sich um die dritte Form der Herstellung von Anbindung: I:
h=hm. h=hm. h=hm. und ehm können sie denn ungefähr sagen, zu welchem punkt ihrer sehbehinderung die teilnehmer sich an sie wenden? also kommen die direkt nach ihrer diagnose? kennen die ihre sehbehinderung schon länger? ST: die kennen ihre sehbehinderung meistens schon länger, aber dann nach eh (..) ne: na ja, es is verschieden, also (..) es is verschieden. manche leiden schon länger an der makuladeneration und ham das mal auch schon irgendwie gehört und so was, aber es is jetzt ne gravierende sehverschlechterung eingetreten, dann, die kommen. (16/17 16/42)
Eine Form von Selbstadressierung tritt immer dann auf, wenn erste Enttäuschungen bezüglich des medizinischen Systems aufgetreten sind. Dann wird die Heilung als unwahrscheinlich akzeptiert und gravierende Probleme tauchen im Alltag auf. Es besteht somit ein Bedarf an Information und bestenfalls liegt auch schon eine Änderungsbereitschaft vor, denn mit dem momentanen Zustand kann nicht weitergearbeitet werden. Von den Adressaten her ist somit eine Selbstadressierung vor dem Hintergrund derjenigen Motivation zu beschreiben, die vor allem eine Linderung oder Lösungen für den Alltag in den Vordergrund stellt. Dies steht im Gegensatz zu den Aktivitäten der Leiterin, denn ihr Ziel ist zunächst die Anbindung an den Kurs. Zumindest ist dies die Sicht der Expertin auf die Adressaten. Wir stoßen hier somit auf einen Unterschied in der Adressaten- und der Expertensicht, der noch weiter von Belang sein wird: die Anbindung an das Angebot steht dem Ziel der Anbindung entgegen.
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1.6.2 Verweilen Phase der Adressierung als Steigerung und Fortsetzung Wesentlich für Phase II als Phase der Adressierung als Steigerung und Fortsetzung sind die Parameter der
Strukturierung von Raum (Raumwissen), Strukturierung von Zeit (Zeitwissen), der Strukturierung von Beziehung (Beziehungswissen) und die Steigerung der Aneignungsbereitschaft (Motivierungs- und Belohnungswissen) (Egloff, 2007; Seitter, 2007a).
Diese Elemente interner Strukturierungsprozesse dienen der Förderung von Aneignung und zur Aufrechterhaltung der Teilnahme der Betroffenen. Der Problembearbeitungsprozess des Kurses findet in der Strukturierung von Raum seinen Ausdruck, indem das Gruppentreffen in einen Raum im Blindenbund integriert wurde. Es bieten sich Anschlussmöglichkeiten an weitere Hilfen, Hilfsmittel können direkt erworben werden. Die Strukturierung von Raum bedeutet einerseits eine institutionelle Einbettung, ein institutionelles Zugehörigkeitsgefühl. Anderseits erfolgt durch die Auswahl des Raumes gleichzeitig die Strukturierung von Beziehung. Denn es wird nicht irgendein Raum im Blindenbund ausgewählt, sondern die „Gesellschaftsräume“ (4/3). Ein Ort, in dem Bewirtung stattfindet, wo geselliges Beisammensein möglich ist. Hiermit findet eine Vorstrukturierung der Beziehung der Betroffenen untereinander statt. Kurz, es wird gefördert, dass in den Gruppentreffen mehr geschieht als die bloße Aufnahme von Information. Zudem begünstigt die Strukturierung des Raumes das Prinzip der Rollenverteilung, auf welches Frau Jansen wert legt. Ein Raum, der sie nicht auf die Beziehung der einzig Lehrenden zurück wirft, sondern den konstitutiven Aspekt der Beratungsgruppe des Austauschs untereinander fördert. Aneignungsfördernde Strukturierung von Beziehung findet somit inhaltlich über Austausch und Kommunikation, aber auch in den ‚formelleren’ Teilen der Gruppensitzungen statt. Die Betroffenen werden selbst aktiv und nehmen die Rolle der Lehrenden ein, indem sie aus ihren Alltagserfahrungen berichten. Dabei erfüllt die Strukturierung von Raum und Beziehung mehrere Funktionen:
differenzorientierte Adressierung der Teilnehmer wird ermöglicht defizitäre Strukturierung kann verdeckt werden Vorbildfunktion für andere Betroffene wird ermöglicht Aneignungsverpflichtung bleibt locker: Jeder kann auswählen, welche Informationen für die eigene Selbständigkeit für wichtig erachtet werden (Fehlen von Überprüfungswissen)
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Die Strukturierung von Zeit ist im Drinnen der Beratungsgruppe als formales Kriterium entscheidend, was die Periodizität der Treffen angeht: Einmal monatlich. Die jeweiligen Treffen selbst sind dann lose zeitlich vorgegeben – ca. 2 Stunden. Mit zwei Stunden ist dabei der Aufmerksamkeitsfokus auf die Gruppe durch die Expertin selbst angegeben. Durch die Zeiten der Geselligkeit, im Voraus und im Nachhinein der Treffen, verschwimmen hier zeitliche Grenzen. Durch diese lose zeitliche Strukturierung wird ein Übergleiten zwischen Realität und Angebot befördert. Sie begünstigt das Einbringen der eigenen Lebenswelt in die Realität der Veranstaltung. Das Motivierungs- und Belohnungswissen ist im ‚Drinnen’ des Kurses maximal durch die Bereitstellung von Informationen im Fortlauf der Veranstaltungen zu kennzeichnen. So verspricht Frau Jansen das Erstellen einer Ärzteliste und nimmt damit die Bedürfnisse der Adressaten als Probleme im medizinischen System auf. Eine Ärzteliste war als Thema schon für die beobachtete Sitzung vorgesehen, konnte aber von der Leiterin noch nicht realisiert werden. Das Versprechen dieser Information, geeignete und auf AMD spezialisierte Fachkräfte im Stadtraum ausfindig zu machen, steigert die Teilnahmebereitschaft der Teilnehmer. Eine adäquate medizinische Betreuung liegt im Zentrum ihres Interesses.
1.6.3 Austreten, Fernbleiben, Weitervermittlung Das Ende der Adressierung In der Beratungsgruppe gibt es kein explizites Ende der Adressierung mit Hinblick auf ein zu erreichendes Ziel. Der Teilnehmer entscheidet selbst, wann das Ende für ihn erreicht ist. Es gibt also keine konkrete Überführung in eine selbst zu gestaltende Selbständigkeit (wie im Falle der O&M und LPF-Trainings). Dennoch lassen sich im Angebot der Beratungsgruppe Prozesse beschreiben, die ein Ende der Adressierung anzeigen. Sie bestehen in den Formen des Abbruchs, des Fernbleibens und der Weitervermittlung an andere Einrichtungen. Diese müssen nicht chronologisch sein. Sie können in jeder Phase auftauchen. Besonders markant ist das Beispiel der „Depressiven“, die gar den Gruppenprozess stören. Deren Fernbleiben, also ein mögliches Ende der Adressierung, wird für die Gruppe als vorteilhaft gewertet und ihre Anbindung wird schon in Phase I versucht zu verhindern: ST: nur was was den den berater oder den trainer oder den helfer also irgendwo dann irgendwann MÜRbe macht ist, dass man im grunde genommen vorschlagen kann, was man will,es hat keinen zweck, weil, ich aber ich seh=s ja nich, oder, ne: des kann ich nich, eh ja aber dann frag-, ne: des will ich nich, aber es es dreht sich immer im kreis und und des sind dann wohl auch leute, die mit keinem problem fertig
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Differenzorientierter professioneller Umgang werden (.) wollen oder können oder manchmal denk ich auch des sind leute, die (.) die wollen gar nich, dass es ihnen besser geht, die ham sich jetzt eh (.) in diesem in diesem schwarzen loch sozusagen gemütlich gemacht, das heißt nich gemütlich, aber sie wollen (..), ich weiß nicht, also es gibt eben menschen, da hat des auch gar keinen zweck und die kommen vielleicht einmal und dann nimmermehr und des is auch für alle gut so (11/49-12/17)
Einen weiteren Aspekt des Endes der Adressierung in Phase I stellt die Weitervermittlung dar. Das Angebot der Beratungsgruppe scheint in diesen Fällen nicht angemessen und schon in der Einzelberatung, die ja als Anbindung fungiert, werden die Personen weitervermittelt an andere Einrichtungen, sei es der Optiker oder andere Reha-Trainer, die ein individuelles Angebot anbieten. Dabei ist anzumerken, dass die Weitervermittlung die Teilnahme an der Beratungsgruppe nicht unbedingt ausschließt (im Gegensatz zum Fernbleiben der Depressiven). Weitervermittlung kann angeboten werden, wenn a) das Gruppenangebot in seinem Hilfebedarf nicht geeignet erscheint. Damit wäre dann eine Weitervermittlung direkt nach Phase I angezeigt. Oder aber die Weitervermittlung (insbesondere Optiker) kommt b) im Verlauf der Teilnahme an der Beratungsgruppe zum Tragen. Das zusätzliche Angebot kann dann als Ergänzung oder Steigerung des Gruppenangebotes betrachtet werden oder als Ergebnis eines internen Austauschprozesses im Verlauf der Gruppendynamik. ST: derjenige meistens würd ich jetzt ma- sagen, derjenige oder diejenige bei der das augenleiden, also die makuladegeneration sehr sehr weit fortgeschritten is oder schnell fortgeschritten (I: h=hm.) die wirklich sind ja, is ja ne ganze bandbreite ne, also beim wenn wenn jemand jetzt tatsächlich nur noch GANZ wenig sieht, der sein ganzes leben lang nie: besonders selbständig war (..) verheiratet war (.) plötzlich witwer oder witwe geworden is (.)oder aus irgendwelchen andern gründen auf einmal allein is, wo das vorher nich war (..) DER oder diejenige würde sicherlich von einem lpf training profitieren (I: h=hm.) dem würd ich auch dann so was empfehlen (9/18-9/31)
Wie sich aber aus beiden Aussagen Frau Jansens feststellen lässt, gilt es für die Weitervermittlung den Wunsch des Teilnehmers selbst, seine eigene Einschätzung über die Möglichkeiten des Wiedererlangens von Selbstständigkeit sowie den Krankheitszustand bzw. Krankheitsverlauf mitzubedenken. Ergänzungen und Steigerungen sind somit insbesondere durch die individuellen Bedarfe und Ziele (Mobilität, Veränderung der Lebenssituation) gekennzeichnet oder aber durch eine Veränderung im Krankheitsbild (drastische Verschlechterung). Bezüglich des Austretens und Fernbleibens besteht nur wenig Wissen. Diese beiden Formen sind vor allem charakteristisch für Phase II. Die Personen nahmen schon an der Beratungsgruppe teil, kommen dann aber nicht mehr. Es
Synthese Die Beratungsgruppe als pädagogisches Arrangement
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handelt sich um ein klassisches Evaluationsproblem, um eine Wissenslücke bezüglich des Beziehungswissens. Kommen die Teilnehmer nicht mehr, kann man auch die Gründe dafür nicht mehr erfahren. Vermutet wird von Frau Jansen vor allem Überforderung. Das Realisieren, dass man die Ratschläge nicht annehmen kann und damit der Heilungswunsch zu stark im Vordergrund steht und damit die Veränderungsbereitschaft des Individuums verhindert ist. Diese Aspekte kennzeichnen das Phänomen des Abbruchs der Teilnahme, die damit weniger von der Leiterin, denn von den Teilnehmern selbst gesteuert werden: ST: ich kann das jetzt ja nur auf diesen einen (.) treff (I: h=hm.) selbsthilfetreff da(..)da irgendwie meine erfahrungen rausholt, ich denke mal jemand, das gibt=s sicherlich auch, dass jemand, der sich das ein paar mal anhört und dann sacht, denen geht=s ja gar nich so schlecht und nur mir geh- (.) der würde dann nicht mehr kommen (I: h=hm.) und des gibt ja auch ne ganze reihe leute, über die lange zeit weiß ich des jetzt gar nich mehr, da da is einmal jemand gekommen, vielleicht zweimal jemand (.) und dann nicht mehr, das kann auch andere gründe gehabt haben, aber es kann durchaus auch dieser grund gewesen sein (15/39-16/10)
1.7 Synthese Die Beratungsgruppe als pädagogisches Arrangement In der Zusammenschau (vgl. Abb. 20) lässt sich das Interview von Frau Jansen durch die Kennzeichnung differenter Formen auf den Ebenen des Settings, des Umgangs mit der Sehbehinderung, der Aufdeckung pädagogischen Formen sowie einer differenzierten Phasenhaftigkeit beschreiben. Entlang dieser Kernkategorien finden sich Prozesse der Institutionalisierung und Professionalisierung, differenziertes adressatenbezogenes Vermittlungswissen, eine ausgeprägte Thematisierung des Alternsprozesses sowie die Zuschreibung von Defiziten und Kompetenzen an die Adressaten. Auf der Ebene der Professionalisierung und Institutionalisierung in der Sehbehindertenwelt stellt der Umgang mit der Sehbehinderung einen wesentlichen Parameter dar. Durch die eigene Wissensaneignung zur Generierung von Hintergrundinformation wird erst die Einrichtung eines neuen, von den Betroffenen selbst eingeforderten Angebots, ermöglicht. Die Aneignung von Wissen steht zudem in engem Zusammenhang mit dem Adressatenwissen der Leiterin des Angebots. Es wird nicht nur fachspezifisches Wissen angeeignet, sondern ebenso differenziertes Adressatenwissen. Erst dies ermöglicht im Falle der Beratungsgruppe die intensive Auseinandersetzung mit Vermittlungswissen. Durch die genaue Kenntnis der Betroffenen, gelingt es wesentliche Bereiche der Weitergabe von Information, im Sinne von Aufklärung, Aufbereitung und Partizipation als Inhalte der Veranstaltungen einzusetzen. Diese werden dann im Sinne päda-
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Differenzorientierter professioneller Umgang
gogischer Formen durch ausgeprägtes Methoden- und Gestaltungswissen aufbereitet. Insbesondere Prozesse des Elementarisierens und des Übersetzens spielen eine Rolle, um die Aneignung der Adressaten zu steigern. In Bezug auf Adressaten- und Vermittlungswissen ist der Alterungsprozess von Bedeutung, der erst zur Generierung eines neuartigen Angebots führt. In weiteren Dimensionen spielt Altern vor allem vor dem sozialen Hintergrund eine Rolle: Vereinsamung, Verwitwung und drohende Isolierung bedürfen der Aufmerksamkeit der Leiterin. Dabei werden diese Themen aber nicht ins Zentrum gerückt, vielmehr schöpft die Leiterin aus ihrem Adressatenwissen, um einzuschätzen, welche Aspekte von Information für die Betroffenen jeweils individuell relevant sein könnten. So ist die Thematisierung des Alternsprozesses wesentlich verknüpft mit Kompetenzund Defizitkonstruktionen der Leiterin, die sich zudem in ihrer Beschreibung des Einschlusses und Ausschlusses von Teilnehmern in der Phasenhaftigkeit der Angebote niederschlagen. Während in ihrem Adressatenwissen die Differenzierungen nach ‚Lebenszugewandt’ und ‚Depressiv’ zunächst nur als Verarbeitungsvariablen in Bezug auf die Sehbehinderung auftauchen, sind sie hinterlegt mit Potenzialisierungswissen, das sowohl Aspekte des sozioökonomischen Alternsprozesses wie Aspekte von Diagnosewissen in Form von Bedarfsorientierung miteinschließt. Defizite und Kompetenzen werden auf die Personen bezogen und sind nicht einzig vom Alter oder von der Verarbeitung der Erkrankung abhängig. Die Gruppendifferenzierung im Adressatenwissen zeigt ein breites Spektrum auf, das entlang des Kontinuums ‚Lebenszugewandt’ als äußerste Kompetenzzuschreibung bis zu ‚depressiv’ als extremste Defizitzuschreibung eine Vielzahl von Veränderungsmöglichkeiten, Steigerungspotenzialen, aber auch Stagnation beschreibt. Insgesamt kann ihr Konzept der Beratung – mit dem Rückgriff auf Moderation und Beratung entsprechend nach Hof – mit den Worten Pranges als komplexes pädagogisches Arrangement beschrieben werden: "Statt Lernprozesse instruktiv anzuleiten und direkt zu steuern, werden Situationen arrangiert, mit der Annahme, dass sie einen ausreichenden Aufforderungscharakter haben, um die Subjekte zu selbstorganisierten Lernakten zu bewegen. […][Die] Ungewissheit über den Ausgang pädagogischen Handelns findet sich insofern beim Arrangement in besonderer Weise, eben dadurch, dass die erzieherische Absicht nicht nur sich verbirgt, sondern auch tatsächlich schwach gehalten wird, so dass zwischen Lernen und Nichtlernen gewählt werden kann." (Prange & Strobel-Eisele, 2006, S. 110)
Es ist gerade die Eröffnung eines Möglichkeitsraumes, die dieses Angebot kennzeichnet. Es besteht immer die Option zwischen Lernen und Nichtlernen.
Synthese Die Beratungsgruppe als pädagogisches Arrangement
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Abbildung 18: Zusammenfassung Frau Jansen Zusammenfassung Frau Jansen Setting Positionierung im Netzwerk Beziehungen Möglichkeiten Probleme Prozesse Einrichten der Stelle Öffentlichkeitsarbeit Angebotsspektrum Beratung nicht nur an Ältere gerichtet Entstehungshintergrund für AMD-Gruppe Deutlichkeit des Adressatenwissens Angebot der Beratungsgruppe
Umgang mit der Sehbehinderung Eigene Wissensaneignung Entstehungshintergrund Laienhafte Theorien Theorien über das "Warum" der Erkrankung Als Entlastung für die eigene Tätigkeit Als Erklärungshintergrund für die Betroffenen Erworbenes Adressatenwissen Problemlösung Männer vs. Frauen Gruppenzusammensetzung Kennzeichnen von Defiziten Weitergabe von Information
Beratung
Aufklärung
Moderation
Aufbereitung Partizipation Vorstellung von Hilfsmitteln Instrumenteller Umgang Ausschalten von Umwegen Geselligkeit
Pädagogische Formen Adressatenwissen Zielgruppenwissen Differenzierung entlang der Pole Lebenszugewandt/ Depressiv Kompetenz- und Defizitzuschreibungen Diagnosewissen
Möglichkeitsraum Vermittlungsziel: Relationierung der Erkrankung
Selbstadressierung der Teilnehmer Fortsetzung Strukturierung von Beziehung durch Rollenverteilung
Steigerung der Aneignungsbereitschaft durch Methodenkompetenz
Potentialisierungswissen Prognosen entsprechend der Gruppendifferenzierung Vermittlungswissen Methodenwissen Elemente des Elementarisierens Übersetzungsfunktion für Betroffene Wiederholung Variation Gestaltungswissen Beschränkung auf AMD-Patienten Arrangement der Rollenverteilung
Kommunikation steht im Vordergrund
Professionelle Distanz
Einzelberatung
Gruppendifferenzierung als Bedarfsorientierung
Überzeugungskraft durch Betroffenheit
Reale Ziele
Öffentlichkeitsarbeit
Strukturierung von Raum durch Bereitstellung besonderer Räumlichkeiten
Arrangement der Durchlässigkeit zu anderen Angeboten
Beratungskonzept
Anbindung
Eintrittszeitpunkt in die Gruppe als Bedarfsindikator
Austausch unter den Betroffenen
Rolle der Adressaten als Vermittler
Phasen
aneignungsbezogenes Adressatenwissen Überprüfungswissen nicht relevant Inkonsistenz der Gruppe Selbstbild als Leiterin der Gruppe
Ende der Adressierung Beratungsgruppe als auf Dauer gestelltes Angebot Ende zu unterschiedlichen Phasen je nach Bedarf Weitervermittlung Ende der Adressierung: Depressiven Ende der Selbstadressierung: Austritt
2 Defizitorientierte Betrachtung der Älteren vor dem Hintergrund der eigenen Betroffenheit als Jüngere 2
Defizitorientierte Betrachtung der Älteren
2.1 Kurzporträt Frau Meschke Als Koordinatorin19 einer Selbsthilfegruppe wurde Frau Meschke befragt. Die befragte Expertin ist Mitte vierzig und schon seit ihrem achtzehnten Lebensjahr von der Makuladegeneration betroffen. Diese frühe Erkrankung ist selten (Holz et al., 2003). Ihr Sehvermögen verschlechterte sich sehr langsam, was ihr nach eigenen Aussagen ermöglichte, sich nach und nach an die Sehbehinderung anzupassen. Frau Meschke arbeitet, mithilfe spezieller Hilfsmittel, welche vom Arbeitsamt zur Verfügung gestellt werden, im kaufmännischen Bereich einer Spedition, da sie ihren erlernten Beruf der Friseurin aufgrund der Sehbehinderung aufgeben musste. Seit nunmehr sechs Jahren leitet sie eine Selbsthilfegruppe zur Makuladegeneration. Zur Gründung der Gruppe kam es aufgrund der Initiative eines Augenarztes, dessen Bestreben es war die Lobby für Makulapatienten zu vergrößern. Da die Gruppe einen sehr großen räumlichen Einzugsbereich hat und die Personen bis hin zu einer Stunde Anfahrtsweg haben, sind die Angehörigen20 in der Regel immer mit bei den Treffen anwesend. Die Gruppe trifft sich nur selten, etwa einmal vierteljährlich, da es für Frau Meschke erstens schwierig ist, die weit verstreute Gruppe öfter zu versammeln und zweitens, weil sich für die Gruppe nur schwer neue Themen finden lassen. Das Interview mit dieser Expertin war von besonderem Interesse, da es bisher noch wenig Selbsthilfegruppen in Deutschland gibt, die sich ausschließlich 19 Koordinatorin bezieht sich auf die Terminologie von S. Kade (2007, S. 213), die damit die Leitungsrolle einer Gruppe bezeichnet, die mit spezifischen Problemen der Autorität oder aber der Laienhaftigkeit einhergeht. 20 Es ist besonders interessant, dass die Angehörigen zwar Teilnehmer der Gruppe sind, aber als solche nicht von Frau Meschke gesehen werden. Sie nimmt auf sie keinerlei Bezug, obwohl in der Interaktion die Angehörigen kaum von den Betroffenen zu unterscheiden waren. Zudem kann Frau Meschke dies selbst auch nicht optisch unterscheiden, höchstens am Klang der Stimme.
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Defizitorientierte Betrachtung der Älteren
der Makuladegeneration widmen. Als Kontrastfall zur Leiterin der Beratungsgruppe wurde sie ausgewählt, da die beiden Fälle maximal im Umgang mit Problemen innerhalb der Gruppe kontrastieren, zudem werden unterschiedliche Umgangsformen gewählt, obwohl eigentlich die gleiche Form (geleitete Selbsthilfegruppe versus eigenständige Selbsthilfegruppe21), ähnliche Inhalte und Ziele vorliegen. Zudem differenzieren die beiden Experten auf der Ebene der Professionalität. Während Frau Jansen als Professionelle agiert, handelt Frau Meschke vor dem Hintergrund eines selbst betroffenen Laien: Während Frau Jansen einen distanzierten adressatenbezogenen Blick auf das Phänomen der Sehbehinderung im Alter einnimmt, fällt bei Frau Meschke die eigene Betroffenheit und das Problem, ihre eigenen Interessen in der Gruppe nur schwer durchsetzen zu können, zusammen. Aber auch Parallelität und somit eine bestimmte Geschlossenheit kommt bei der Gegenüberstellung dieser beiden Fälle zum Tragen. Es handelt sich bei diesen um die einzigen Gruppenangebote dieser Untersuchung, die noch dazu beide in der Selbsthilfe etabliert sind.
2.2 Analyse der Einstiegssequenz Die Einstiegssequenz umfasst in diesem Interview die Sequenz 1/12 – 4/4622. Sie wird zu Beginn gerahmt durch die Einstiegsfrage der Interviewerin nach der Beschreibung der Selbsthilfegruppe und endet mit dem Rahmenschaltelement „ich weiß nun nicht mehr, was ich sagen soll“ (4/46), womit Frau Meschke die Beantwortung der Einstiegsfrage abschließt. In diesem vier Seiten umfassenden Text schildert Frau Meschke wesentliche Elemente, die im weiteren Verlauf des Interviews vertieft werden. Die Eingangssequenz lässt sich in zwei Abschnitte segmentieren: Es geht zunächst um den Entstehungshintergrund der Gruppe (1/12-2/15), worauf die Beschreibung der Arbeitsweise der Gruppe erfolgt (2/15 -4/46). Damit gibt die Einstiegssequenz vor allem Auskunft über das Angebot der Selbsthilfegruppe, zudem werden erste individuelle Umgangsformen mit der Sehbehinderung deutlich. Besonders prägnant sind die Differenzen zwischen Frau Meschke (als jüngere Betroffene) und den älteren Teilnehmern.
21
Auch hier wieder Verweis auf Zemann (2000), gleiche Form, aber ein wenig unterschiedliches Setting. Als Professioneller ist hier eher der Arzt zu beurteilen, der regelmäßig Vorträge vor der Gruppe hält. Ansonsten sind nur Laien anwesend. 22 Die Einstiegssequenz gestaltet sich in diesem Interview derart umfangreich, da es sich bei diesen ersten vier Seiten um einen geschlossenen Redebeitrag von Frau Meschke handelt, der alle Assoziationen zur Eingangsfrage abdeckt.
Analyse der Einstiegssequenz
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2.2.1 Entstehungshintergrund der Gruppe – Festigen einer Lobby Die Frage der Interviewerin ist zweigeteilt und die Leiterin der Gruppe schließt ihre Ausführungen an die zweite Frage an. Sie geht auf das Bestehen der Gruppe ein. In dieser Gründungsschilderung gibt sich die Expertin nicht als Sehbehinderte zu erkennen und grenzt sich von der Gruppe ab. Dies ist schon als erster Hinweis dafür zu deuten, dass in diesem Interview, das Individuum Frau Meschke eine bedeutendere Stellung haben wird als Frau Jansen, die auf einer distanziertprofessionellen Ebene agiert. Schon der erste Teil der Einstiegssequenz ist recht komplex und wird in der folgenden Darstellung in mehreren Abschnitten, dem Zugang Frau Meschkes zur Gruppe, dem eigentlichen Gründungstreffen sowie dem Beginn der Arbeit der Selbsthilfegruppe mit der Schilderung des Patientenkongresses betrachtet. I:
eh. vielleicht können wir zu beginn einfach mal damit anfangen indem sie mir die arbeitsweise ihrer selbsthilfegruppe vielleicht ein wenig beschreiben (...) also vielleicht fangen wir damit an seit wann bestE:ht die selbsthilfegruppe denn? ST: also die gruppe wurde (..) zwotausend gegründet (I: h=mm.) und zwar hab ich in der zeitung einen kleinen artikel gelesen (.) ein doktor (.) meier aus saulheim, der eh. augenarzt ist hat ehm betrOffene angesprochen und gemeint, dass man doch mal für makuladegeneration eine selbsthilfegruppe gründen könnte (.) und interessenten sollten sich melden. (I:h=hm) da hab ich angerufen und dann hat man sich dort in dem wartezimmer getroffen (...)und denn waren wir circa (.) ich nehme mal einfach an ZWAnzig mAnn (..) saßen dann da und ehm. ja und er hat dann etwas dazu erläutert, und hat gemeint dass man (..) dass die makuladegeneration einfach mehr lobby braucht ehm. man muss einfach sich mehr in den vordergrund drängen damit mehr forschungsgelder freigemacht werden und hat gefragt (.)wer denn da bereit wär da die sprecherin zu machen und da dass alles (.)ja (.) ziemlich Alte leute war=n hab ich mich dann mich dann gemeldet (.) und er hat mir dann (.)unterstützung versprochen auch im logistischen bereich (.) mit seiner sekretärin (.) und dann hab ich das gemACHT. (I: h=hm.) und (…) dann wurde da ein artikel in der zeitung veröffentlicht dass diese selbst=gruppe entstA:NDen ist. (I:h=hm.) und wir haben dann im (..) des war im (..) ich glaub im sommer (...) zwotausend. und dann haben wir (..) haben wir da schon ein erstes treffen gemacht? ich glaub wir haben dann schon im herbst ein erstes treffen gemacht wo der doktor meier dann einen vortrag gehalten hat. (I: h=hm.) und im frühjahr des nächsten jahres ging das erst richtig los. da haben wir dann einen (..) patientenkongress (I: [Ah. ja.]) [veranstaltet]hier in bad x.. also das hat mehr oder weniger der herr meier eh angeregt und organisiert also wir haben dann ärzte gehabt, die vorträge gehalten haben von x (I: h=hm.) und von der uniaugenklinik dort und wir haben vor allem viele firmen gehabt die (.) hILFSmittel ausgestellt haben. des war vor allem für die betroffenen interessant. (1/12-2/7)
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Defizitorientierte Betrachtung der Älteren
2.2.1.1 Eigener Zugang zur Gruppe Zu Beginn der Einstiegssequenz wird der eigene Zugang zur Gruppe thematisiert (1/18-1/22). Die Einstiegsfrage wird prompt mit Nennung der Jahreszahl beantwortet. Anschließend wird in den ersten Zeilen der Sequenz der eigene Weg in die Gruppe über einen Selbstbezug, das eigene Aufmerksamwerden durch einen Zeitungsartikel, dargestellt. Die verbale Verdeckung der Sehbehinderung wird zum ersten Mal auffällig. Es wird eine Differenz hergestellt zwischen denen, die lesen können und jenen, die es nicht können. Es mutet an, als ob eine Person, die regelmäßig die Zeitung liest, zum Leben dazu gehört. Denn Frau Meschke hätte auch sagen können, dass man sie auf den Artikel hingewiesen hat. Bisher ist aus dem Redebeitrag nicht ersichtlich, ob die Expertin selbst sehbehindert ist oder nicht, zumindest spricht sie von sich als sei sie sehend. Fest steht zunächst nur, dass sie von Außen auf die Gruppe aufmerksam gemacht wurde, welche von einem Augenarzt initiiert wurde. Sie ist also vom Gründungszeitpunkt an beteiligt.
2.2.1.2 Gründungstreffen Setzt man nun die Sequenz zum Gründungstreffen (1/36-1/40) in den Fokus, wird das Ziel oder das Motiv der Initiierung der Gruppe, zumindest das intendierte Ziel des Arztes deutlich gemacht, indem über seine Begründung der Selbsthilfegruppe berichtet wird. Es ist hier die Bemerkung sinnvoll, dass Frau Meschke selbst über die Intention des Arztes berichtet. In diesem Sinne kann die dargestellte Intention des Arztes dafür eingesetzt werden, ihr eigenes Ziel in den Vordergrund zu rücken und den Arzt nur als Stellvertreter sprechen zu lassen. Für eine derartige These spricht, dass das Thema der Forschungsgelder nur an den Rändern des Interviews Erwähnung findet, sich aber nicht in der Arbeit der Selbsthilfegruppe niederschlägt23. ST: und dann hat man sich dort in dem wartezimmer getroffen (...) und denn waren wir circa (.) ich nehme mal einfach an ZWAnzig mAnn (..) saßen dann da und ehm. ja und er hat dann etwas dazu erläutert, und hat gemeint dass man (..) dass die makula-
23
Erst als Frau Meschke am Ende des Interviews gefragt wird, ob es noch etwas zu ergänzen gäbe, kommt sie erneut auf die Forschungsgelder zu sprechen. Forschungsgelder tauchen aber nicht in dem Gespräch über die Gruppe auf. Für die weiteren Teilnehmer scheint dieses Thema nur wenig Bedeutung zu haben. Anderere Interpretationen könnten aber auch dahingehend aufgebaut werden, dass Frau Meschke selbst weiterhin an der Heilung ihres Leidens festhält oder aber sie das eigentliche Ziel der Lobbyarbeit in der Gruppe nicht erreichen kann.
Analyse der Einstiegssequenz
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degeneration einfach mehr lobby braucht ehm. man muss einfach sich mehr in den vordergrund drängen damit mehr forschungsgelder freigemacht werden und hat gefragt (.)wer denn da bereit wär da die sprecherin zu machen und da dass alles (.)ja (.) ziemlich Alte leute war=n hab ich mich dann mich dann gemeldet (.) und er hat mir dann (.)unterstützung versprochen auch im logistischen bereich (.) mit seiner sekretärin (.) und dann hab ich das gemACHT. (1/26-1/37)
Das Ziel der Gruppe wird vor allem politisch thematisiert. „Lobby“, „Forschungsgelder“, „Vordergrund drängen“ und „Sprecherin machen“ deuten eher auf ein öffentliches Engagement für die Gruppe der Makulapatienten hin, denn auf Hilfe zur Selbsthilfe im Umgang mit der Erkrankung. Dieses Motiv wird allerdings in den Mund des Arztes gelegt. Warum sie selbst zu dem Treffen geht, bleibt weiter verdeckt. Es ist nicht klar, ob sie Hilfe sucht oder Hilfe anbieten möchte. Hilfsbedürftigkeit, Information über die Erkrankung oder deren Therapie scheinen nicht im Vordergrund zu stehen. Diese Irritation entsteht aufgrund zweier Tatsachen. Zum einen kennzeichnet sie sich selbst nach wie vor nicht als Betroffene, sie könnte ebenso gut Vertreterin für Hilfsmittel oder eine Journalistin sein. Die Makuladegeneration taucht zwar auf, wird aber nur als Kontextwissen behandelt. AMD scheint als Gelegenheit zur Mitarbeit auf und dies ist auch als Nicht-Betroffene denkbar. Was sie aber preisgibt, ist ihre Rolle, in der zu gründenden Selbsthilfegruppe. Sie hat sich bereit erklärt „die sprecherin zu machen“, somit also eine „Leitungsfunktion“ wahrzunehmen. Dies bedeutet eigentlich noch nicht, dass sie die Zusammenkünfte leitet, es könnte, und dies liegt aufgrund des Kontextes nahe, auch um eine Vertretung der Gruppe nach außen handeln. Es ist an dieser Stelle noch nicht entscheidbar, ob sie Teil der Gruppe oder ihre Organisatorin ist. Aber erneut macht sie eine Differenz zwischen sich und den anderen. Sie ist nicht in der gleichen Weise in der Gruppe wie die anderen, sie ist die Sprecherin. Bezieht man das Kontextwissen über Frau Meschke in die Betrachtung ein, so ist sie beides, Teil der Gruppe und Organisatorin. Zudem erklärt sich die Abgrenzung zu älteren Menschen biographisch. Während sie schon in jungen Jahren von der Krankheit betroffen war, sind diese älteren Menschen, in ihren Augen, von der Lage überfordert. Außerdem sind sie als alte Menschen scheinbar generell nicht in der Lage, eine solche Gruppe zu leiten. Der eingeführte Unterschied liegt in der Altersdifferenz begründet: Es gibt sie und die Alten. Dennoch spielt die Ebene der Identitätsherstellung als Sehbehinderte im Falle Frau Meschkes eine Rolle, schon allein durch die noch immer andauernde verbale Verdeckung der Sehbehinderung: Ihre Sehbehinderung ist nicht als ein Ereignis zu kennzeichnen, sondern vielmehr als Prozess, der schon 30 Jahre lang andauert. In dieser Zeit kann sie sich sowohl als Sehende begreifen, aber auch als Blindwerdende oder Noch-Sehende. So erscheint in ihrem Falle die Erfahrung
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Defizitorientierte Betrachtung der Älteren
des Zwielichts bedeutsam. Aus diesem Grund ist, im Gegensatz zu Frau Jansen, von Bedeutung den Umgang mit der Sehbehinderung (siehe 2.4.1) von der individuellen Seite (eben der eigenen Betroffenheit) näher zu betrachten. Zentral für die Sequenz zum Gründungstreffen ist weiter das angeführte Zitat des Arztes, dass ein Motiv für die Gruppe darin läge „mehr forschungsgelder“ freizumachen. Dieser recht instrumentelle Bezug auf die Sehbehinderung taucht später in der Beschreibung der aktuellen Tätigkeiten nicht mehr auf. An dieser Stelle wird er aber als zentral eingeführt. Zum einen kann die Freimachung von Forschungsgeldern als Ziel bedeuten, dass die Hoffnung auf Heilung aufrechterhalten werden soll, schließlich stirbt die Hoffnung bekanntermaßen zuletzt. Es könnte auch bedeuten: als Teil der Gruppe hält man sich bereit für den Fall, dass es eine Heilungsmethode gibt. Es bleibt allerdings fraglich, warum dies im Interesse des Arztes ist oder zumindest, warum Frau Meschke dies so interpretiert. Damit wäre das Ziel der Gruppe nicht eine Verhaltensänderung und somit ein Lernziel, sondern vielmehr die Verhinderung des Aufgebens, eben die Aufrechterhaltung der Hoffnung. Das Leben bekommt durch die Teilnahme einen Inhalt: den Kampf um die Forschungsgelder. Ein Inhalt, der das andere Ziel (dass man wieder sehen kann) verschiebbar macht. Das Ziel (Sehen) ist in so weiter Ferne, dass man sich abfinden müsste mit seiner Situation. Durch Forschungsgelder hingegen wird ein neues Ziel eingeführt, was den Übergang zum ursprünglichen Ziel ermöglichen kann. Es wird etwas getan. Somit repräsentiert hier Forschung mehr als eine Wunderwaffe, anstatt als Wunder wird sie als Weg aufgezeigt. Über die Form der Selbsthilfe kann an dieser Stelle, anders als im Falle der Beratungsgruppe, somit noch nichts Endgültiges ausgesagt werden.
2.2.1.3 Erstes Treffen und Patientenkongress Das erste Treffen der Selbsthilfegruppe (1/42-2/7) wird kaum näher thematisiert. Es wird aber deutlich, dass dieses mit etwas beginnt, was später wesentlich den Bestandteil der Treffen ausmacht: den Vortrag Dr. Meiers. Auch wenn er nicht direkt in der Gruppe beteiligt ist, so sind seine Anwesenheit, die Organisation von Patientenkongressen und seine Vorträge die wichtigsten Beiträge zu den Treffen der Selbsthilfegruppe. ST: und wir haben dann im (..) des war im (..) ich glaub im sommer (...) zwotausend. (I: h=hm. ) und dann haben wir (..) haben wir da schon ein erstes treffen gemacht? ich glaub wir haben dann schon im herbst ein erstes treffen gemacht wo der doktor meier dann einen vortrag gehalten hat.(I: h=hm.) und im frühjahr des nächsten jahres ging das erst richtig los. (I: h=hm.) da haben wir dann einen (..) patientenkongress
Analyse der Einstiegssequenz
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(I: [Ah. ja.])[veranstaltet]hier in bad x.. also das hat mehr oder weniger der herr meier eh angeregt und organisiert also wir haben dann ärzte gehabt, die vorträge gehalten haben von x (I: h=hm.) und von der uniaugenklinik dort und wir haben vor allem viele firmen gehabt die (.) hILFSmittel ausgestellt haben. des war vor allem für die betroffenen interessant. (1/42-2/7)
Bedeutsamer noch als das erste Treffen wird der „Patientenkongress“ beurteilt. Zu diesem Zeitpunkt ging es „erst richtig los“. Beim Patientenkongress wurden wissenschaftliche Beiträge präsentiert wie auch Hilfsmittel ausgestellt. Es wurde sowohl die medizinische Forschung wie auch die instrumentelle Hilfe in den Vordergrund gestellt. Von besonderem Interesse ist erneut die Positionierung Frau Meschkes zur Veranstaltung, da sie ihre eigene Betroffenheit von der Erkrankung gänzlich maskiert, indem sie sagt, „des war vor allem für die betroffenen interessant“. Sie zielt mit diesem Satz auf die „Anderen“, die Alten und die Sehbehinderten. Da Frau Meschke selbst von AMD betroffen ist, ist diese Aussage nochmals ein Kennzeichen dafür, dass sie für sich selbst in der Gruppe eine andere Rolle gesucht hat und sich selbst nicht unbedingt als Teil der Gruppe, sondern als deren Organisatorin begreift. Auch die Nähe zu Dr. Meier lässt sich mit dieser Aussage einordnen. Sie fühlt sich hier als Expertin, die dieser Aufklärung oder Information nicht mehr bedarf.
2.2.2 Arbeitsweise der Selbsthilfegruppe 2.2.2.1
Ziele der Selbsthilfegruppe
Im zweiten Teil der Einstiegssequenz (2/15-4/46), nach Ausführung der Gründung der Gruppe, geht die Befragte auf die Arbeitsweise der Gruppe ein und nimmt damit auf den zweiten Teil der Frage der Interviewerin selbständig wieder Bezug. Hierbei rückt sie das Interesse eines vergemeinschafteten „wir“ in den Vordergrund und nennt als Ziele der Gruppe „hilfe zur selbsthilfe“, „berAten“, „zur seite stehen“ und Förderung des Austauschs. „Wir“ könnte die Selbsthilfegruppe meinen. Da sie aber hier von „anbieten“, im Sinne von, der Gruppe etwas anbieten spricht, ist davon auszugehen, dass sie sich erneut oder immer noch mit dem Augenarzt vergemeinschaftet und sich weiterhin (auch nach sechsjährigem Bestehen der Gruppe) nicht als Teil der Gruppe betrachtet. Zu den Inhalten der Gruppe, also zu den Angeboten, ist zu sagen, dass diese sich nun von den eingangs geschilderten Zielen unterscheiden. Es geht nicht mehr um die Vertretung der Gruppe in der Öffentlichkeit und um politisch-gesellschaftliche oder forschende Fragen. Vielmehr geht es nun darum, den betroffenen Individuen Hilfestellungen anzubieten. Wenn es um den konkreten Arbeitsvollzug der Gruppe
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Defizitorientierte Betrachtung der Älteren
geht, gewinnt die Hilfsbedürftigkeit an Bedeutung, die Chancen oder Hoffnungen auf Heilung treten zunächst in den Hintergrund. Zudem unterscheiden sich die an dieser Stelle genannten Ziele nochmals von der konkreten Realität der Gruppe, wo Widerstände ein großes Thema sind. ST: zu der arbeitsweise der selbsthilfegruppe E::IGENTlich ist zu sagen, dass ich gemerkt hab (.) also wir wollen zum einen selbsthilfe oder wir wollen hilfe zur selbsthilfe anbieten (I: h=hm.) also wir wollen einfach die leute berAten (.) wir wollen ihnen zur seite stehen wenn fragen sind (.)wir wollen ihnen (..) mitteilen, was es für möglichkeiten gibt zum beispiel hilfsmittel andere sachen (..)unterstützung anbieten ehm.(.) dass man sich austauscht untereinander finde ich vor allem wichtig (I: h=hm.) und dass die leute wissen es gibt auch noch andere die betroffen sind und man kann sich auch gegenseitig gute tipps (..) und ja (.) einfach ratschläge geben und (.)ich find das ist das wichtigste denn (I: ja.) man kann ärzt=vorträge organisieren und so weiter und (.) das umfeld der betroffenen die zu uns kommen ist eigentlich sehr groß. (2/15-2/34)
Daraus resultiert eine erste Sicht auf die Formen des Umgangs: Von den Themen her, besser gesagt von den Zielen, treten ähnliche in den Vordergrund wie dies bei der Expertin der Beratungsgruppe der Fall ist. Es handelt sich bei der Nennung um klassische Ziele der Selbsthilfe. Dabei stehen Information und Aufklärung im Vordergrund. Aber auch der Austausch unter den Betroffenen zu alltäglichen Hilfestellungen und individuellen Problemlösungen sowie die Einbettung in eine Welt der Sehbehinderten („es gibt auch noch andere die betroffen sind“) werden behandelt. Frau Meschke misst gerade dem Austausch eine besonders hohe Bedeutung zu. Dies ist fast schon als paradox zu kennzeichnen, da gerade an dieser Stelle die Probleme der Gruppe zu liegen scheinen und somit schon ein zweites Ziel ihres Engagements (neben der Lobbyarbeit) nicht erreicht werden kann. Zieht man für dieses Fallporträt die Kategorisierung von Hof (2001) zu Rate, handelt es sich bei dieser Gruppe ebenso wie bei der zuerst behandelten Form der Selbsthilfe um eine Mischform von ‚Moderation’ und ‚Beratung’.
2.2.2.2 Interessen der Teilnehmer Direkt im Anschluss an die idealtypisch formulierten Ziele der Gruppe bezieht sich Frau Meschke auf die Distanz, die für viele Teilnehmer zu überwinden ist, und schildert damit das erste Problem der Gruppe. Die Anreise der Teilnehmer ist sehr weit, sie benötigen Begleitung und deshalb ist es schwierig, die Betroffenen zu versammeln, weshalb das Interesse an den Gruppentreffen ausschließlich
Analyse der Einstiegssequenz
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gegeben sei, wenn etwas wie ein Vortrag oder die Vorstellung von Hilfsmitteln „geboten“ wird. ST: das umfeld der betroffenen die zu uns kommen ist eigentlich sehr groß. das geht von x bis (.) x (..) und deswegen is=es auch so (.) schwierig die leute zusammenzubekommen (I: h=hm.) weil sie ja (.) die meisten brauchen jemand der sie fährt (I: ja.) und darum ist das interesse nur da, wenn etwas geboten wird (I: h=hm.) also wenn ich jetzt sag, ich hab jetz=n arzt der hält uns=n vortrag über (.) alternative heilmethoden oder sonst irgend was dann kommen se gern (I: h=hm.)wenn ich aber sag wir wollen uns aber nur so treffen, dann ist das interesse eher sehr klein I: h=hm (.) und das machen sie fest an der distanz? (..) ST: ja. I: die [diese leute zurücklegen müssen] ST: [distanz und nicht] beweglichkeit der leute (I: ja) einfach die sind einfach nicht mobIL und ich denk schon dass das=ne rolle spielt also ich hab (.) zum beispiel hier dieser blindenverein in bad x die haben ei=n stammtisch eingerichtet einmal im monat. ich wollte des auch machen, ich hätte des mal in x ich wär auch mal nach y gefahrn (.) des wär jetzt kein problem, mein mann is unterstützt mich da in sachen fah=n schon sehr aber des interesse is nich da (I: h=hm.)sie freu=n sich, dass ich des mach und dass ich des organisier (.)aber NUR (..) wenn wirklich was anliegt. (2/333/10)
Sie kennt und erkennt die Interessen der Teilnehmer und reagiert auf diese. Aber durch die mehrfache Nennung der Dienstleistungserwartung der Teilnehmer schwingen zwei Aspekte mit. Zum einen, dass ihre eigenen Interessen von der Gruppe nicht abgedeckt werden. So hat beispielsweise die Einrichtung eines Stammtisches keinen Erfolg. Zudem ist sie verpflichtet etwas zu bieten, da sonst ‚mit den Füßen’ über ihr Angebot entschieden wird und die Teilnehmer fern bleiben. Als offene Frage bleibt in dieser Sequenz zurück, ob die über der Gruppe schwebende Abwesenheitsdrohung allein mit der Distanz in Verbindung zu bringen ist. Betrachtet man aber die weitere Folge der Sequenz, so wird deutlich, dass die Probleme der Nicht-Erreichbarkeit der Teilnehmer weiter reichen. 2.2.2.3 Nicht-Erreichbarkeit der Teilnehmer Schon in der Einstiegssequenz verdichtet sich das Problem der NichtErreichbarkeit der Teilnehmer, das über die Distanz der Betroffenen zum Veranstaltungsort hinausgeht. Es handelt sich vor allem um eine inhaltliche Nichterreichbarkeit. Denn die Seltenheit der Treffen ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass die Teilnehmer vor allem an Vorträgen interessiert sind, für welche immer erst Referenten gefunden werden müssen.
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Defizitorientierte Betrachtung der Älteren
ST: aber sonst (..) ja (.) und dementsprechend sind die treffen relativ selten (I:ja.) also ich hab dann (.) entweder hält der doktor meier mal n=en vortrag oder ich hab gehabt dass der leiter vom versorgungsamt x mal gekommen ist, weil ich merkte, dass viele gar nich wissen dass sie einen anspruch auf einen behINDertenausweis haben (I: ja. h=hm.) und was man da auch für vorteile haben kann (..) denn es is ja heut so die rentner haben ja auch nich mehr so die hohen renten (I: h=hm.) und jede ersparnis oder jede vergünstigung is immer interessant (.) und der hat des (.) zwar etwas kompliziert gemacht aber letzendlich war es ganz gut (.) er hat anträge dagelassen, es haben viele das befolgt, haben des gemacht haben auch bekommen, des fand ich WICHtig. (I: h=hm.) dann ham wer zum beispiel schweizer optiker dagehabt (.) die das ganz toll gemacht haben (.) ihre brillen lupen (..) mit den leuten die beraten das angepasst zum teil schon halb und so weiter (I: h=hm.) das war ganz toll (I: h=hm.) jetzt hab ich wieder=ne firma gehabt die ehm (..)bildschirmlesegeräte ausgestellt haben (..) (I: h=hm.) aus HAlle sin die gekommen (.) des fand ich ganz toll (.) die hab ich im internet gefunden und die war=n sofort bereit zu kommen (I:h=hm.) und (..) also da: is dann auch interesse da (.) aber sonst relativ wenig ebent wenn so was geboten wird (3/32-4/12)
Die Teilnehmer kommen nur, „wenn etwas geboten“ wird. „Was geboten bekommen“ bedeutet für die Teilnehmer, dass Experten auftreten (Augenärzte, Hilfsmittelfirmen oder Berater vom Sozialamt) und ihr Expertenwissen zur Verfügung stellen. Implizit wird hier deutlich, dass Frau Meschke – aufgrund ihrer Abgrenzung zu den Älteren und Sehbehinderten – nicht als Expertin wahrgenommen wird, sie agiert viel zu sehr wie eine Sehende. Wenn sie selbst etwas anbietet, kommen die Teilnehmer nicht. Das spricht für eine Kundenhaltung der Teilnehmer, die nicht der Idee einer Selbsthilfegruppe entspricht, weder politisch, noch auf Austausch basierend. Die Leiterin der Selbsthilfegruppe wird hier auf die Aufgabe der Organisatorin zurückgeworfen, sie muss Angebote zur Verfügung stellen, wird aber selbst nicht als Referentin oder Leiterin beispielsweise eines Stammtisches akzeptiert. Sie gibt nur Impulse, welche sie zuweilen aus den Bedürfnissen der Betroffenen, wie im Falle der Beratung zum Thema Blindengeld, ableitet.
2.2.3 Zusammenfassung Diffuse Ziele und Probleme mit den Teilnehmern In der Zusammenschau dieser langen Einstiegssequenz werden schon zahlreiche Aspekte deutlich, die im Folgenden unter der schon bekannten Kategorisierung (Setting, Umgangsformen, pädagogische Formen, Phasen) und unter Zuhilfenahme des weiteren Interviews näher beleuchtet und verdichtet werden. Es zeichnet sich deutlich ab, im Gegensatz zur Beratungsgruppe, dass eine große Diskrepanz zwischen den Interessen der Teilnehmer und der Leiterin der
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Gruppe vorherrscht. Zudem spielt in diesem Interview das Alter eine andere Rolle, während es im Falle Frau Jansens eher als differenzbezogen betrachtet wurde. Es herrscht in diesem Interview eine äußerst defizitäre Einstellung gegenüber den älteren Menschen vor, welche als unselbständig und überfordert gekennzeichnet werden. Somit wird der Altersunterschied eher als Hindernis erlebt. Ein besonderes Anliegen Frau Meschkes ist die Kennzeichnung der Probleme mit der Gruppe gegenüber der Interviewerin, welche noch näher zu ergründen sind. Frau Meschke betrachtet sich nicht als Teil der Selbsthilfegruppe, sondern als Organisatorin mit Expertenstatus, trotz eigener Betroffenheit. Für das weitere Vorgehen, sind einige Fragen besonders erkenntnisleitend. Bisher tauchten die Formen des Umgangs vornehmlich als Ziele des Umgangs in der Gruppe auf. Welche Formen lassen sich für den Arbeitsvollzug der Selbsthilfegruppe nun rekonstruieren? Welche Probleme im Umgang mit den Adressaten kennzeichnet sie näher? Gibt es einzig eine defizitäre Sicht auf die Adressaten oder wird diese pädagogisch als Ausgangsbasis für eine Steigerung genutzt?
2.3 Setting Positionierung in einem mangelhaften Versorgungsnetz Anders als die Beratungsgruppe, stellt die Selbsthilfegruppe ein Angebot für ältere Makulapatienten dar, das nur wenig nach außen vernetzt ist. Sicherlich spielt der ländliche Raum eine bedeutende Rolle. Dennoch ist die nähere Betrachtung der Verortungen zu anderen Einrichtungen wertvoll, um in einer späteren Phase auf die Durchlässigkeit der Angebote eingehen zu können (siehe 2.6). Zudem spielen bei der Nennung des Settings auch die Örtlichkeit sowie die beteiligten Personen an der Veranstaltung eine Rolle. 2.3.1 Verortungen zu anderen Einrichtungen und Institutionen Da außer zum Augenarzt kaum Kooperationen mit anderen Einrichtungen zu verzeichnen sind, ist in diesem Falle eher von Verweisen denn von Beziehungen zu sprechen. Verweise insofern, als dass zwar andere Angebote benannt werden, aber nur wenig Austausch mit diesen stattfindet. Verweise verorten sich einerseits innerhalb des Gruppenzusammenhangs, indem die jeweiligen Personen als Experten geladen werden. Andererseits liegen Verweise nach außen vor, in Form von Weitervermittlungen oder Empfehlungen. Als deren Resultat wird deutlich, dass Frau Meschke darauf bedacht ist, einen sehr autonomen Stil der Gruppe zu
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wahren. Zudem beleuchtet es die mangelnde Versorgungsstruktur nochmals aus einem anderen Licht. Abbildung 19: Schematische Übersicht über die Verweise im Rahmen der Selbsthilfegruppe Verweise auf Augenärzte
Optiker
Low Vision Ambulanzen Andere Selbsthilfegruppen Training in Orientierung und Mobilität Training in lebenspraktischen Fertigkeiten Kommerzielle Hilfsmittelfirmen Rechtliche Beratung
Aktivitäten Im Rahmen der Selbsthilfegruppe Verweise nach außen kaum Weiterempfehlungen: EnttäuBesondere Rolle Dr. Meier: schungen aus eigener Erfahrung, Beziehung zu Dr. Meier als Erfahrungen der Teilnehmer positives Beispiel eines unterstützenden Augenarztes Verständnis für ablehnende Haltung Empfehlung zu Dr. Meier zu der Augenärzte, weil diese hilflos gehen wird ausgesprochen seien Kritik: Patienten sollten weitervermittelt werden kaum Kenntnis über die Mögkeine konkrete Zusammenarbeit lichkeiten der Beratung zu Sehnach Enttäuschungen hilfen werden in den Gruppen thematiWeiterempfehlung häufig siert wird bei professionellen Vorträkeine Vernetzung erwünscht; gen Thema in den Treffen Wunsch nach eigenem Programm wird nicht zum Thema in den entschiedenes Ablehnen der WeiTreffen terempfehlung wird nicht erwähnt
werden immer wieder eingeladen wird in die Gruppe eingeladen
Weitervermittlung findet statt (Blindengeldantrag)
Die Kontakte der Koordinatorin beziehen sich maßgeblich auf das medizinische System oder auf die technische Unterstützung durch Hilfsmittel. Von der Bereitschaft anderer Augenärzte, Personen an die Gruppe weiterzuleiten, ist sie enttäuscht. ST: weil ich mal als dieser patientenkongress hier stattfand (.) bin ich hausieren gegangen von optiker zu optiker von augenarzt zu augenarzt in x und umgebung (.) hab werbung gemacht (.) habe gesagt (..) darf ich das hier aushängen programm in grossdruck (.) für leute die betroffen sind oder so (...) war eigentlich wenig mithilfe muss ich sagen (.) s=hat mich schon arg enttäuscht (12/22-12/28)
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Ihre Teilnehmer verweist sie daher mehr und mehr auf das Angebot von Dr. Meier, der durch seine Vorträge in der Gruppe immer wieder präsent ist. Weiter vermittelt sie an Low Vision Ambulanzen, damit ihre Teilnehmer zumindest Hilfsmittel testen können, wenn schon die Ärzte nicht in der Lage sind, sie darauf hinzuweisen. Der Verweis wird bewertet als Ausgleichsleistung zur mangelhaften ärztlichen Beratung. Mit Bezug auf ihre eigene Betroffenheit wird in den Verweisen eine Praktik deutlich, die sich an ihrer eigenen Betroffenheit orientiert. Wie im individuellen Umgang darzustellen sein wird, sind es bei ihr vor allem die technischen und optischen Hilfsmittel, die sei weiterhin nutzt. Somit grenzt sie sich in gewisser Weise auch vom medizinischen System ab, was sicherlich erklärbar ist durch ihren individuellen Umgang mit der Erkrankung. Die Abgrenzung geschieht aber nicht nur in Richtung medizinisches System, sondern umfasst fast jegliche weitere Form der Betreuung. Auch hier scheinen die Gründe im individuellen Umgang mit der Erkrankung zu liegen. Denn sie selbst lehnt für sich jegliche Form der Therapie oder Betreuungsangebot ab. Sie behauptet fast stolz, zumindest mit einem gewissen Ton der Entrüstung, auf die Frage, ob aus ihrer Gruppe jemand an Formen des Orientierungsoder LPF-Trainings teilnimmt, folgendermaßen: I:
nehmen sie denn auch an anderen angeboten teil? also jetzt an (.) sei es an einem stocktraining (.) an (.) [mobilitätstrainings] ST: [nein bis jetzt] I: an lebenspraktischen fähigkeiten? ST: noch nie jemanden gehört, der das gemacht hat I: noch nie von jemandem gehört, der das gemacht hat ST: also in MEIner gruppe NICHT! das kann ich definitiv für alle sagen (17/33-17/41)
Geradezu beispielhaft für die Isolation der Gruppe zu weiteren Versorgungsangeboten ist ihre Schilderung zu anderen Selbsthilfegruppen, von denen sie Kenntnis besitzt, die aber nicht ihrem Führungsstil und ihrer Vorstellung einer Selbsthilfegruppe entsprechen: ST: aber ausgetauscht hab ich mich schon mit der mit der frau dort in x. mal so was kann man den machen gut bei denen is natürlich alles optimal durchorganisiert (.) die sind ja des is ja richtig von (.) oben herab (I: h=hm.) durchorganisiert. da is das ja schon ganz anders ne? (I: h=hm.) die ham ja von die werden ja geschULT die ham UNTerstützung die kriegen ja programme geboten (.) (I: ja.) bei mir muss ich mir alles irgendwie selbst erarbeiten oder selbst SUCHen (I: h=hm.) und da is da schon=n großer unterschied (.) aber wenn man so ab und zu drauf zurückgreifen kann (.) is das schon ganz angenehm, ne? (I:h=hm.) also angeboten ham se mir=s auf jeden fall (I: ja.) klar das is schon mal ganz gut h=hm.
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I:
h=hm. und wurde ihnen da auch angeboten quasi ihre eigene x ((großer selbsthilfeverband)) gruppe aufzumachen? ST: ((bestimmt)) nein I: nein ST: nein. I: da hatten sie aber auch [kein interesse?] ST: [hätt ich auch nich] interesse dazu, so richtig durchorganisiert möcht ich=s eigentlich nich haben also da: (..) ne: möchte ich eigentlich nich, möcht schon mein eigener (.) oder möchte oder möchte selber (..) ja nich selbstbestimmen aber möchte schon selber entscheiden und das nich von oben diktiert bekommen (11/17-11/51)
Es wird eine gewisse Ambivalenz deutlich. Auf der einen Seite schildert sie die Ablehnung von Hierarchien, wie sie ihrer Meinung in größeren Selbsthilfeverbänden vorherrschen. Andererseits klingt es aus ihrem Mund fast neidvoll, dass andernorts Programme, Unterstützung und Schulung geboten werden, wohingegen sie in ihrer Gruppe auf sich alleine gestellt scheint. Die Ablehnung zur Zusammenarbeit wird aber maßgeblich durch die Ablehnung der Hierarchie gesteuert, sie möchte selbst bestimmen. Die Vernetzungen der Gruppe sind somit als äußerst rudimentär zu kennzeichnen. Die medizinische Versorgung steht im Vordergrund, während gerade Formen des Austauschs und des Trainings nicht in Betracht kommen. Dabei spielen einerseits persönliche enttäuschende Erfahrungen als Leiterin der Selbsthilfegruppe eine Rolle, aber auch ihr Selbstbild als Leiterin ist von Bedeutung.
2.3.2 Örtlichkeiten Im Gegensatz zur geselligen Atmosphäre in der Gruppe von Frau Jansen finden die Treffen der Selbsthilfegruppe in einem Krankenkassenraum statt, der von der Leiterin nur teilweise als geeignet für die Gruppe beschrieben wird, aber den wesentlichen Inhalten der Gruppe, die vor allem durch Vorträge geprägt ist, gemäß ist: ST: es is auch schon ganz typisch wir treffen uns in der aok die aok stellt uns den seminarraum kostenlos zur verfügung und dort ist eine reihenbestuhlung da (.) (I: h=hm.) für seminare halt und es is schon ganz typisch wenn wenn ein treffen ist die leute kommen rein (.) setzen sich hin also die haben (..) die haben einfach kein interesse (.)da irgendwie sich zu beteiligen oder was zu machen (3/12-3/20)
Der Ort fördert die, schon in der Eingangssequenz deutlich gewordene, Erwartungshaltung der Teilnehmer und trägt damit zu den Problemen der Gruppe bei.
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Es wird im Interview vom „Versuch“ (siehe 2.5.2) berichtet, wo Frau Meschke versuchte das räumliche Setting hin zu geselligerem Austausch hin zu verändern, doch konnte sie damit bei den Teilnehmern kein Interesse wecken.
2.3.3 Anwesenheit der Angehörigen ohne Adressierung Die Gruppe von Frau Meschke ist die einzige Angebotsform, die die Angehörigen in das Angebot miteinschließt. Das geschieht nicht aus programmatischen sondern eher aus pragmatischen Gründen. Doch aufgrund der Distanz, die viele Teilnehmer zurücklegen müssen, sind immer eine ganze Reihe von Angehörigen oder Freunden bei den Gruppentreffen anwesend. Auffällig ist allerdings, dass die anwesenden Angehörigen von Frau Meschke an keiner Stelle als Adressaten der Gruppe angesehen werden. Obwohl sie ebenso anwesende Teilnehmer darstellen, Hörer der Vorträge sind und zum Teil auch Fragen stellen, werden sie nicht beachtet oder integriert. Das Potential der Beteiligung der Angehörigen, gerade in Fragen der Organisation, wird in der Selbsthilfegruppe nicht ausgeschöpft.
2.4 Formen des Umgangs mit der Sehbehinderung Im Falle Frau Meschkes ist der Umgang mit der Sehbehinderung, aufgrund eigener Betroffenheit, zu differenzieren nach individuellem Umgang mit der eigenen Sehbehinderung und institutionellem Umgang mit der Sehbehinderung im Rahmen der Selbsthilfegruppe. Fragen nach der Nicht-Erreichbarkeit der Teilnehmer und der Identität als Sehbehinderte lassen sich durch diese Differenzierung ansatzweise beantworten.
2.4.1 Individueller Umgang Umgang mit der eigenen Sehbehinderung Für den individuellen Umgang stellt sich die Frage, wie Frau Meschke mit ihrer eigenen Erkrankung umgeht. Diese Frage ist von Interesse, da davon auszugehen ist, dass dieser Umgang sich in der Konzeption der Gruppe und in ihrem eigenen Selbstbild als Gruppenleiterin widerspiegelt. Bei den Äußerungen der Leiterin fallen insbesondere drei Aspekte auf: Einerseits das Wissen über die Erkrankung, zweitens der Umgang mit alltäglichen Lebenssituationen als Sehbehinderte sowie drittens die Ablehnung von Therapien und Medikamenten. Zudem spielt ihr Ehemann als einzige genannte Hilfsperson noch eine wesentliche Rolle.
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2.4.1.1 Wissen über die Erkrankung Frau Meschke demonstriert Wissen über ihre Erkrankung und die Erkrankung der weiteren Teilnehmenden. Sie stellt sich als Expertin zur Makuladegeneration dar. Sie hat Kenntnis von Therapien (in ihrem eigenen Krankheitsverlauf sowie durch die Kenntnis der Erfahrungen der Teilnehmer) und sie geht auf individuelle Unterschiede der Erkrankung ein, zum einen dass mit gleichem Visus unterschiedlich gesehen wird, aber auch dass das Sehen tagesformabhängig sei. Durch die permanente Information über die Erkrankung mittels Internet weist sie sich als auf dem aktuellen Stand stehender Experte aus, der zwischen trockener und feuchter Form der AMD-Erkrankung unterscheiden kann. Besonders bedeutsam für ihren eigenen Umgang ist die Kenntnis, nicht vollständig zu erblinden. Sie bezieht sich vornehmlich auf ihre eigene Person. Der Bezug auf die Teilnehmer wird hergestellt, indem sie sich von den älteren Teilnehmenden abgrenzt, auch im Wissen um die Erkrankung: ST: aber es sind auch welche dabei, ja wo die feuchte gekommen ist, wo die feuchte und die geht ja wirklich RApide innerhalb kürzester zeit (I: ja.)ich glaub des is auch=n problem (I: h=hm.) in kurzer zeit sich damit abzufinden oder (.) ich muss es halt lernen immer wieder und bei mir merk ich ja manchmal die verschlechterung ja gar nich, weil=s so schleichend geht (I: h=hm.) aber wenn das so schnell kommt das is schon schlimm (I: h=hm.) glaub ich (I: h=hm.) is noch schlimmer (17/12-17/26)
Die langjährige Kenntnis der Erkrankung, die Möglichkeit differenzieren zu können zwischen „trocken“ und „feucht“ und zudem das Glück, von der „trockenen“ Variante betroffen zu sein, was ihr Zeit zur Verfügung stellt um sich zu akkomodieren. Das ist ein Differenzkriterium gegenüber den Älteren, das sie selbst wieder im Vorteil erscheinen lässt. Selbst in der Form der Krankheit grenzt sie sich also von der Gruppe ab.
2.4.1.2 Umgang mit der Lebenssituation als Sehbehinderte Die langjährige Erfahrung mit der Sehbehinderung führt aber nicht nur zur Distanz zu den Teilnehmenden, vielmehr hat bei Frau Meschke zudem eine Distanzierung zum medizinischen System stattgefunden. In ihrem alltäglichen Umgang mit der Sehbehinderung bevorzugt sie Hilfen in Form von Hilfsmitteln, hat sich von dem Heilungsgedanken weitestgehend gelöst und nimmt kaum an Augenuntersuchungen teil. Dies widerspricht zunächst etwas der Forderung der Gruppe nach „Lobbyarbeit“, impliziert diese doch den Wunsch nach Heilung. Aber in
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ihrem individuellen Umgang setzt sie vermehrt auf Anerkennung der Erkrankung. ST: und dann ging das eigentlich ja von da ab hat das seine seinen weg genommen mit dieser abteilung dann habe ich diese erste lupenbrille bekommen die erste lupe bekommen und das hat sich dann gesteigert und dann bin ich immer mal wieder so alle paar jahre dorthin gefahren immer wenn ich mal wieder was neues brauchte oder es ging nicht mehr (..) dann hat man dort diese üblichen untersuchungen gemacht (.) ich hab meine neuen hilfsmittel bekommen, das ging immer anstandslos (..) ja und irgendwann hab ich dann (.) ich bin jetzt schon sehr viele jahre nicht mehr hingefahren (.) bin ich dann durch selbst selbstinitiative hab ich das dann gemacht (I: ja.) weil ich mich jetzt damit beschäftigt hab und kenne jetzt auch die einzelnen firmen, weiß was die anbieten und hab mich da einfach selber (.)umgeguckt (I: h=hm. h=hm.) und bin jetzt wieder auf der suche nach was neuem. ich hab jetzt so=n altes gerät stehen von reineker so=n uraltes und möchte=n bisschen was moderneres haben, und muss ma jetzt sehen weil die letzte firma aus halle die hat da richtig interessante sachen gehabt und da will ich mich jetzt ma- drum kümmern, dass ich mal was eigenes krieg- (I: h=hm.) also die ham ja die ham ja richtig gute sachen muss ich sagen die ham ja auch sachen wo(.) die auch für junge leute interessant sind. ich hab=s ihnen ja auch am telefon gesacht, also wir ham nur alte leute die ham richtig mit laptop gekoppelt (.) mit kameras, die das das tafelbild auch einfangen also das is schon für viele sicherlich von interesse denk ich mal (I: h=hm.) aber auch so kleine mobile schöne leichte geräte also da (.) schon toll h=hm. (13/14-14/53)
Bei näherer Betrachtung des obigen Zitates scheint ein weiterer Aspekt des Umgangs auf, nämlich jener der Gewöhnung. Die Erkrankung ist derart lange Thema in ihrem Leben und somit ständiger Begleiter, dass die Sorge um neue Hilfsmittel vielmehr als eine Handlung erscheint, so wie andere Menschen technische Haushaltgeräte neu anschaffen. Frau Meschke kennzeichnet sich in ihrem eigenen Umgang durch ein hohes Maß an Normalisierung, die Krankheit ist alltäglich und lebensbegleitend geworden. Als letzter wichtiger Aspekt im Umgang mit der Erkrankung kann ihre Berufstätigkeit genannt werden. Denn auch hier findet sich Frau Meschke in einer anderen Rolle als die älteren Sehbehinderten. Trotz ihrer Sehbehinderung war sie fast immer berufstätig und ist bis heute gefördert durch das Arbeitsamt, dies sowohl materiell wie auch finanziell: ST: ich habe friseuse gelernt, hab viele jahre in dem job gearbeitet und (.) ja des ging ja dann irgendwann nicht mehr. (I: h=hm.) dann hab ich nicht mehr gearbeitet (.) viele jahre nicht (I: h=hm. h=hm.) und bin jetzt im büro tätig ((schnauft)).(I: h=hm.) also ich hab jetzt dieses dieses gerät und mach jetzt so bürotätigkeit (.) also ich mach, erst hab ich ein ein ein, hab ich durch (..) sechshundertdreissigmarks job (I: h=hm.) im call center gearbeitet, weil ich irgendwie keine andere möglichkeit für mich gesehen
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hab, arbeiten zu können (I: h=hm.) ohne dass meine augen das wichtigste sind und hab dann irgendwann so=n call center geleitet, hab das dann abgebrochen, weil die firma da=n bisschen unseriös gelaufen ist. hat mir aber spass gemacht. (I: h=hm.) und jetzt bin ich im büro, mach bürotätigkeiten, mach kundenbetreuung, mach alles mögliche (.) bisschen schreibkram und so weiter, also mi=m internet (I: h=hm.) und so alle möglichen sachen, auftragsannahme und so I: h=hm. h=hm. und das gerät stellt ihnen das die firma? [oder bekommen sie das] ST: [s=arbeitsamt.] I: durch das arbeitsamt?] ST: gott sei dank s=arbeitsamt. (24/25-25/4)
Meines Erachtens nimmt sie aber diesen Unterschied, der einerseits in der beruflichen Aufgabe, andererseits in der permanenten materiellen Unterstützung begründet liegt, nicht wahr. Ihr ist nicht bewusst, dass die Älteren durch die Sehbehinderung auch mit ihrer Rolle in der Gesellschaft nochmals neu konfrontiert werden. Dies gilt auch für die Tatsache, dass für sie nicht in derartigem Umfange Unterstützungsleitungen verfügbar sind, da die meisten aufgrund von Pensionierung keinen Anspruch auf gleichwertige finanzielle Unterstützung mehr haben.
2.4.1.3 Ablehnung von Therapien und Medikamenten Die oben genannte Ablehnung der Therapien wird in einem weiteren Abschnitt des Interviews nochmals deutlich auf den Punkt gebracht: ST: nein. nein. (..) also die frau professor blauweiß hat damals ((räuspert sich)) mit mir dieses dieses erstgespräch geführt damals in neunzehnhundertsiebenundachzig und sie hat mir gesagt, was sache is und sie meinte, man könne nichts machen (I: h=hm.) ich könne versuchen=n neuen beruf zu erlernen (..) ich kann versuchen mit den hilfsmitteln da (.) halt (.) weiterzukommen, aber (..) sie hat gesagt, sie hält davon nichts, von vitaminpräparaten oder sonst irgendwas, ne (I: h=hm.) und ich hab dann (.)ich hab zwar viel gelesen im internet und hab mir auch viel im fernsehen angesehn, aber ich bin NIE jemand gewesen, der da von uniklinik zu uniklinik gefahr=n is, ich hab den in ulm damals gehört, ich hab den allerersten augenarzt gehört, und dann die professor blaupfeil und das war=s, (I: h=hm.) mehr hab ich nicht gemacht (3 sek.) vielleicht war=s=n fehler, ich weiß es nicht, aber, es geht so: schleichend ich denk mal, ich werde jetzt achtundvierzig in drei wochen, ehm wenn das so weiter geht, kann ich irgendwann immer ((lacht)) denk ich mal. also so ganz blind werd ich nich werden, und dass is, ja gott, ich denk immer heut is heut, und was morgen ist, das muss ich so hinnehmen, wie=s kommt, des is halt so (29/20-29/ 52)
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Frau Meschke hat keinerlei Interessen mehr an Augentherapien, insbesondere medizinischen Therapien. Sie hat sich damit abgefunden, dass sie nicht erblinden wird und durch die lange und langsame Gewöhnung an die Erkrankung glaubt sie nicht mehr an Therapien. Sie hat die Ratschläge der damals untersuchenden Ärztin alle befolgt: sie nutzt Hilfsmittel, hat einen neuen Beruf erlernt und akzeptiert, dass nichts zu machen sei. Allerdings geht aus den Sequenzen zur Ablehnung von Therapien bezüglich des individuellen Umgangs außer der Akzeptanz der Erkrankung nicht hervor, warum sie Therapien ablehnt und diese dennoch in der Gruppe derart ausführlich behandelt.
2.4.1.4 Der Ehemann als einzige Hilfsperson Eine Normalisierung wie im Falle der Hilfsmittel tritt auch mit den Hilfspersonen auf. Frau Meschke nennt als einzige Hilfsperson ihren Ehemann: ST: ich hab gott sei dank=n mann, der das ganz gut, der ganz gut, damit umgehen kann, das spielt sicherlich auch=ne rolle (I: ja.) als der hat das von anfang an, ja gut, ich hab ihn kennengelernt, kurz vorher (.) er hat das von anfang an mitbekommen sozusagen, und hat mich da immer unterstützt, unterstützt mich auch jetzt mit der selbsthilfegruppe oder mit im internet suchen, is er mehr als ich und so weiter (I: h=hm.) und guckt und macht und tut und druckt mir sachen aus und guckt rum und forscht und macht und stellt mir am computer die schriftgröße und macht das alles für mich, beklebt die tastatur mit größeren symbolen und (.) ja, und wenn ich in der küche, was nich seh, dann nimmt er halt=n lappen und putzt=s weg und dann is es halt gewesen (I: ja.) und so ist des auch o.k. (I: h=hm. schön.) und so hat sich das eingespielt im laufe der jahre, nur so kann man ((lacht)) klarkommen. ja sonst, unnötig sich das leben schwer machen, muss man sich nicht (29/54-30/21)
Er unterstützt sie und dafür ist sie dankbar. Dadurch, dass er die Erkrankung von Anbeginn an miterlebt hat, hat diese Unterstützung ebenso parallele Züge wie die Nutzung von Hilfsmitteln. Sie ist selbstverständlich geworden, es hat sich „eingespielt“. Wie in anderen Ehen Rollenzuschreibungen stattfinden, hat sich hier die Rollenteilung in Bezug auf „weniger sehend“ und „sehend“ ausdifferenziert.
2.4.2 Institutioneller Umgang in der Selbsthilfegruppe Auf der Ebene des institutionalisierten Kontextes wird die individuelle Normalisierung durch Routine abgelöst, die folgenreich für die Gruppenarbeit ist. Es
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treten andere Themen, wie die der Darbietung von Information über die Erkrankung und Hilfsmittel in den Vordergrund. Gründe für diese Diskrepanz zwischen individuellen Interessen und dem institutionellen Umgang liegen einerseits in den Bedürfnissen der übrigen Teilnehmer, andererseits in der Rolle, in der sich die Befragte als Koordinatorin der Gruppe verortet. Die Eingangssequenz verwies bereits darauf, dass die Ziele der Selbsthilfegruppe von der Koordinatorin eher diffus angelegt werden, beziehungsweise präziser ausgedrückt, dass sich ihre formulierten Ziele stark von der Gruppenrealität unterscheiden.
2.4.2.1 Lobbyarbeit Lobbyarbeit erscheint als wesentliches Ziel im institutionellen Umgang mit der Sehbehinderung. Lobbyarbeit erfolgt durch Auftreten in der Öffentlichkeit, für eine Verbesserung der Bedingungen für AMD-Betroffene in Richtung Heilung. Was allerdings diese Bedingungen sind, kann aus dem Interview nicht näher abgeleitet werden: am deutlichsten ist noch die Beschaffung von Forschungsgeldern, wie sie in der Eingangssequenz vorgestellt wurde. Es könnte aber auch Heilung das Thema sein, die Beschaffung von Geldern für die Gruppe, etc. Nicht näher differenziert werden können diese Möglichkeiten aufgrund der Tatsache, dass Lobbyarbeit zwar als wesentliches Element der Gruppe zu Beginn des Interviews bezeichnet wird, allerdings bei der Schilderung der Gruppenarbeit nicht mehr erwähnt wird. Es taucht erst wieder am Ende des Interviews auf. Es muss also davon ausgegangen werden, dass a) es sich ausschließlich um ein Thema handelt, das nur für Frau Meschke und Dr. Meier von Interesse ist und das b) von den Teilnehmern abgelehnt wird bzw. mit diesen nicht zu realisieren ist. Denn auch zum Ende des Interviews bleibt die Verwendung der Forschungsgelder offen: I:
gibt es denn noch etwas, was sie gerne ergänzen möchten, da dacht ich jetzt würde die frau himmelsbach endlich würde sie mich das mal das fragen ST: ((schallendes lachen)). I: ((lachen)) ST: ne, ergänzen also was ich mir wünschen würde, dass eigentlich mehr dafür getan wird, dass man einfach mehr forschungsgelder locker macht, des is des, was man sich eigentlich wünscht. das wünscht sich wohl jeder, der betroffen ist von seiner krankheit, ne (26/23-26/33)
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2.4.2.2 Vorträge und Information durch Experten Wesentlicher inhaltlicher Bestandteil der Gruppentreffen und damit ein entscheidender, wenn nicht der entscheidende Umgang mit der Sehbehinderung auf institutioneller Ebene, stellt das Heranziehen von Experten dar. Diese werden eingesetzt, um Informationen über die Erkrankung im Allgemeinen, unterschiedliche Therapieformen oder Hilfsmittel darzulegen: I:
wie kommen sie denn nun an die ganzen professionellen heran? (..) die treten ja sicher nich an sie heran ST: ne: aber durch den doktor meier I: durch den doktor meier. h=hm. ST: ich muss sagen der beschäftigt sich gerade mit dem thema (I: h=hm.) sehr intensiv (.) durch diese deutsche gesellschaft ganzheitlicher augenheilkunde hat der da viel gemacht. der macht auch akkupunktur sauerstofftherapien bietet der an und der hat sich mit dem thema schon immer sehr intensiv beschäftigt und der hat (.) dann gesagt also da: müssen wer und da: können wer und dann hat er über diese (.) ehm. nahrungsergänzungsmittel mal=n vortrag gehalten mit diesem lutein und diesen ganzen dingen dort (I: h=hm. genau. h=hm.) und hat dann uns da was erzählt und setzt sich auch hin und sagt dann mit vitamin c und ernährung kann man viel machen beeinflussen oder das eh. positiv beeinflussen sozusagen und so was macht der dann alles (.) oder gibt mir hinweise (I: h=hm.) ja (.) an diese (.) an diese ausstellerfirmen also diese hersteller bin ich ja durch diesen patientenkongress rangekommen (8/38-9/8)
Entscheidend für diese Form des Umgangs ist der Dienstleistungscharakter der Experteninformationen. Es sind diese Informationen, die sich die Teilnehmer wünschen. Als bedeutsam ist hervorzuheben, dass die Informationen, die von den Teilnehmern gewünscht werden in Kontrast zu den interessierenden Inhalten Frau Meschkes liegen. Wie das obige Zitat verdeutlicht, kommen die Ärzte zum Sprechen, im Besonderen erwähnter Augenarzt Dr. Meier, die etwas über Therapien im weitesten Sinne aussagen können. Das Themenspektrum umfasst alternative Therapien, Ernährungsinformationen und neuste Medikamente. Dies alles sind Themen, die für Frau Meschke persönlich nicht mehr im Vordergrund stehen. Sie selbst ist an den Therapien der Makuladegeneration nicht (mehr) interessiert. Damit ergeben sich folgende Schlussfolgerungen für den Informationsbereich der Gruppentreffen: erstens bedient Frau Meschke ausschließlich die Wünsche der Teilnehmer. Zweitens scheint auf, dass Dr. Meier durch die Anpreisung alternativer Therapieformen nicht nur den Informationsbedarf der Klienten stillen will, sondern die Hoffnung auf Heilung oder zumindest Linderung der Erkrankung aktiv aufrechterhält und zudem Leistungen in dieser Gruppe anpreisen
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kann. Zu einem späteren Zeitpunkt erklärt die Befragte zudem, dass fast die gesamte Gruppe mittlerweile den Augenarzt gewechselt hat und nun bei Dr. Meier in Angelegenheiten der Sehbehinderung vorspricht. Dr. Meier kann somit die Veranstaltungen zur Akquise neuer Patienten nutzen. Aber diese Akquise ist nicht die einzige Leistung Dr. Meiers in der Gruppe, er unterstützt die Gewinnung weiterer Experten, die die Bedürfnisse der Teilnehmer befriedigen können. Damit unterscheidet er sich im Wesentlichen von Augenärzten, mit denen die Teilnehmer der Gruppe bisher Erfahrungen gesammelt haben, wie dies die Befragte in einer weiteren Passage ausdrückt: ST: und was mich GAnz arg enttäuscht is, IMmer wieder rufen mich leute an, sie waren beim augenarzt und sie haben erfahren sie haben makuladegeneration SCHOCK! (I: h=hm.) was kann ich machen? hat man ihnen gesagt, dass es mittel gibt damit sie wieder lesen können (.) versuchen=s mal mit=m lesegerät mit=ner lupenbrille NEIN! nix oft oft wird denen NICHTS rübergebracht und das bringt mich so: auf die palme (I: h=hm.) das find ich schlimm (I: h=hm.) dann soll man doch die leute wenigstens an eine an eine ophthalmologische abteilung in der uniklinik oder irgendwohin schicken davon geht doch dafür gibt es ja diese abteilungen ich versteh=s nich (13/31-13/45)
Der Augenarzt Dr. Meier dient dieser Gruppe somit als Verbündeter, der sich von dem Gros der Augenärzte absetzt, da bei ihm Behandlung nicht an eine Grenze stößt, vielmehr zeigt er weitere Handlungswege auf. Für Frau Meschke persönlich allerdings liegt diese auf Dauer gesetzte Fortsetzung nicht in der Information über Therapieformen begründet, sondern in den bestehenden Möglichkeiten der Nutzung von Hilfsmitteln.
2.4.2.3 Vorstellung von Hilfsmitteln Die Informationen über Hilfsmittel stellen einen weiteren Bereich des institutionellen Umgangs mit der Sehbehinderung dar. In der bislang geschilderten Distanz zwischen Koordinatorin und Teilnehmern stellt die Vorstellung von Hilfsmitteln gar die einzige Überschneidung dar. Hiervon profitieren sowohl die Teilnehmer wie auch die Leiterin der Gruppe. ST: man gibt tipps zum beispiel so gesagt, guckt euch doch mal so=ne lupe an (.) ne EINfach normale lupe(.) probiert=s mal damit es is=n ERstes hilfsmittel was man in jeder jackentasche hat (.) also ich persönlich kann nich d=rauf verzichten oder oder so kleine dinge (.) wie so geldmünzboxen die (I: ja.) es gibt oder dann reich ich das rum, da hab ich=n anbieter gehabt der das anbietet solche dinge halt (I: h=hm.) versuch ich dann den leuten näher zu bringen (...) oder im haushalt oder (3 sek.) oder
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ich hab jetzt zum beispiel in x gibt es eine lowvision abteilung (I: h=hm.) eine ambulante (.) und die frau is UNheimlich nett und gibt sich müh, ich hab gesagt gehen=se dahin lassen se sich beraten die frau nimmt sich zeit (.) da:: sind schon viele dankbar geworden (5/42-6/6)
Die Hilfsmittelempfehlung ist nicht nur der einzige Bereich gemeinsamen Interesses, es ist zudem der einzige Bereich, indem die Leiterin ihr Expertenwissen an die Gruppe weitervermitteln kann, weil sie über Institutionenwissen verfügt, das den Teilnehmern fehlt. Aber auch in diesem Bereich sticht die Problematik der Erreichbarkeit der älteren Teilnehmer hervor. Selbst im einzig gemeinsamen Bereich, den Hilfsmitteln als instrumentelle Umgangsform, wird die Distanz zu den Teilnehmern deutlich. ST: ich hab=s mal versucht (.) und hab gemerkt dass ehm (..) leute in dem alter (...) mh.(..) da da is kein rankommen irgendwie also die die nehmen ich sag ihnen dann immer, ehm (.) versuchen sie=s einfach mal nehmen se mal=ne lupe zum beispiel und schaun sie mal durch und dann ((nimmt lupe in die hand und demonstriert die tätigkeit)) gucken se geht nich und legen weg. des sind so sachen da verSU:CH ich das ich das ich versuch=s in ruhe, die ham irgendwie die blocken so ab oder machen zu (I: h=hm.) des geht nich und fertich aus das geht sowieso nich mehr> (.) (I: h=hm.) da hab ich probleme muss ich ehrlich zugeben vielleicht auch der altersunterschied, ich weiß es nicht (6/27-6/40)
Die Teilnehmer akzeptieren die Hilfsmittel nicht in der von der der Leiterin, vorgeschlagenen Weise. Sie können sich nicht an die Hilfsmittel akkomodieren, wie dies Frau Meschke mit ihrer langjährigen Erfahrung der Sehbehinderung kann. Sie zeigt aber kein Verständnis für den Grund der Ablehnung von Hilfsmitteln. Frau Meschke rekurriert einzig auf den Altersunterschied. Im Weg steht ihr hierbei die eigene Normalisierung der Erkrankung. Am Fall der Hilfsmittel stößt sie auf das gleiche Problem, auf das andere Experten, beispielsweise die Augenärztin oder LPF- und O&M-Trainer mit der Abgrenzung zu Selbsthilfegruppen rekurrieren: Teilnehmer, die im Alter von einer Sehbehinderung betroffen werden, können nicht in gleicher Weise behandelt werden wie Personen, die schon lange von der Sehbehinderung betroffen sind. Hilfsmittel sind nicht nutzbar, bevor nicht eine Schulung des neuartigen Sehens mit diesem Hilfsmittel stattgefunden hat. Frau Meschke kennzeichnet sich mit ihrem Rekurs auf die Hilfsmittel damit als Langzeitbetroffene und somit als Blinde. Sie kann den Unterschied des Sehens nicht erklären. Ihr fehlt in Bezug auf das Adressatenwissen die Differenzierung nach der Betroffenheit in jungen Jahren und im Alter. Sie denkt einzig die Erkrankung der Makuladegeneration als einendes Kriterium und
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Defizitorientierte Betrachtung der Älteren
kann somit nur auf den Altersunterschied abheben, um die Nicht-Nutzung der Hilfsmittel zu erklären.
2.4.2.4 Selbstbild als Leiterin Das Selbstbild der Leiterin resultiert vor allem aus Wünschen an die Gruppe. Denn das Hauptproblem der Gruppe besteht in der Nicht-Erreichbarkeit der Teilnehmer. Dennoch soll hier nochmals insbesondere auf die von ihr angestrebten Formen des Umgangs eingegangen werden, damit im Abschnitt zu den pädagogischen Formen hierauf nochmals rekurriert werden kann. Befragt nach ihrem Selbstbild als Leiterin antwortet sie folgendermaßen: ST: am wichtigsten is, dass (..) ehm dass die (.), also ich möchte da nich immer ein dankeschön hören, sondern ich möchte einfach eine rege teilnahme haben (I: h=hm.) möchte einfach merken, dass interesse DA: is und das zeigen sie mir eigentlich indem=se kommen (I: ja.) und dass se nicht durcheinander quatschen sondern, dass=se zuhör=n (.) ehm, dass ehm (.) dass auch=n austausch stattfindet, dass sich einfach untereinander geholfen wird, das ist für mich wichtig (I: h=hm.) mh. (..) ja und einfach zu wissen, wenn ich, wenn ich=n ratschlag gegeben habe, wie so abteilungen für sehhilfen oder so weiter, dass dann hinterher gesagt wird oh: das war toll und ich hab jetzt das und das und das is für mich auch wichtig (I: h=hm.) einfach zu wissen, es wird auch angenommen, das is auch wichtig I: also diese rückmeldung [fordern] ST: [genau ja] I: [dass sie schon noch mal darauf zurück-] ST: [ja. des find ich auch] das find ich auch richtig. I: h=hm. ST: des is nicht, dass ich das dann einfach so sage, sondern die sollen des dann auch wahrnehmen und das wird auch (.) zum größten teil gemacht und des is auch gut oder wenn auch, wo die x optik da war=n, hab ich gemerkt, die ham dann ja nicht direkt verkauft, sondern die ham dann namen von optikern gegeben, die das auch herstellen und dann ham sind die leute dahingegegangen und ham sich auch machen lassen (I: h=hm.) die speziellen brillen und so weiter das find ich einfach, find ich gut (I: h=hm.) ja. (.) des is eigentlich für mich das wichtigste.(23/22-24/12)
Von Bedeutung ist erstens die Stärkung des Gruppengefühls, zweitens die erwarteten Rückmeldungen der Betroffenen sowie drittens das allgemein dargestellte Selbstbild der Leiterin. Die Stärkung des Gruppengefühls ist nur dann zu erreichen, wenn vermehrt Treffen stattfinden würden, zudem wünscht sie zur Erreichung dieses Ziels vermehrt auch gemeinsame Freizeitaktivitäten, die aber von den Betroffenen nicht
Formen pädagogischen Wissens Probleme und Routinen
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wahrgenommen werden. Das erwünschte Gruppengefühl ist damit nicht erreichbar. Frau Meschke signalisiert mit den Ausführungen zum Zusammenhalt der Gruppe implizit ihr Verständnis über die Asymmetrie in der Gruppe, kann dies aber wieder nur über die Altersdifferenz und Defizitzuschreibungen auflösen. Die erwünschten Rückmeldungen der Teilnehmer verstärken weiter das asymmetrische Verhältnis. Obwohl sie Austausch als Ziel der Gruppe in den Mittelpunkt stellt, hat sie eindeutige Erwartungen an die Teilnehmer, die nicht auf ein symmetrisches Verhältnis abzielen: die Teilnehmer sind ihr gegenüber zu Dankbarkeit für ihre Leistungen verpflichtet. Nur sie kann Hilfe anbieten, zumindest wird dies so dargestellt. Für sie sind diese Rückmeldungen, die sie eindeutig als Koordinatorin in gesonderter Stellung manifestieren und nicht als Gleiche unter Gleichen, die Motivation, die Gruppe überhaupt noch weiterzuleiten. Allgemein ist dabei die Frage nach dem Selbstbild als Leiterin eher als das einer distanzierten Kursleiterin zu fassen: Sie wünscht sich rege Teilnehmerzahlen, möchte eher eine Kursatmosphäre schaffen, denn einen Gesprächskreis. Sie formuliert, dass sie nicht möchte, dass „alle durcheinander schnattern“, sie sollen zuhören. Sie sollen die offerierten Angebote wahrnehmen und ihre positiven Erfahrungen rückmelden. Mit all diesen Erwartungen, die eindeutig auf sie als Leiterin der Gruppe gemünzt sind, verhindert sie geradezu ihre weiteren angesprochenen Ziele, die ihrem Selbstbild als Leiterin der Gruppe entsprechen, nämlich den Wunsch nach Austausch und gegenseitiger Hilfe. Dies wäre nur in einer symmetrischen Teilnehmer-Koordinatorin Relation denkbar. Damit ergibt sich für das Selbstbild der Leiterin und damit ihrem Beratungskonzept folgendes Bild: Die Prozesse des Scheiterns von Zielen sind hier wenig reflektiert auf die Interaktion mit den Teilnehmenden, da die Defizitzuschreibung der mangelnden Flexibilität im Alter immer schon die Begründungen für jeglichen Misserfolg liefern. Dieser steht unumstößlich im Raum, so dass der einzige Ausweg die Gruppe aufrecht zu halten, der Einsatz von Experten ist, die möglichst umfassend über die Erkrankung informieren.
2.5 Formen pädagogischen Wissens Probleme und Routinen 2.5.1 Adressatenwissen – Altersunterschied überlagert die Sehbehinderung Ebenso wie im Falle der Beratungsgruppe werden die Formen des Adressatenwissens in ihren Nuancen differenziert nach kontextbezogenem Zielgruppenwissen, adressatenbezogenem Diagnosewissen und personenbezogenem Potenzialisierungwissen. Folgt man diesen drei Parametern ist für die Leiterin der Selbsthilfegruppe besonders die einseitige Orientierung im Zielgruppenwissen ent-
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Defizitorientierte Betrachtung der Älteren
scheidend. So finden sich im Interview von Frau Meschke Beschreibungsformen der Klienten, die differenziert werden nach Berufstätigen (sprich Jüngere), Älteren und ‚Ausnahmen’ (15/28-17/27). Dabei sind die Berufstätigen, diejenigen Betroffenen, die noch nicht gravierend von der Sehbehinderung betroffen sind, denn sie können noch Auto fahren. Es sind diejenigen, die „rührig“ sind und sich durch ihre Aktivität von den älteren Betroffenen unterscheiden. Die „Älteren“ hingegen werden vor allem als zahlenmäßig viele verortet. Sie werden als diejenigen in der Gruppe dargestellt, die in einer abwartenden Haltung verharren („warten, was passiert“; „warten, was die anderen sagen“) oder in der Gruppe auf Ansprache hoffen („leute, die man betuddeln muss“). Sie sehen die Gruppe vorwiegend als Möglichkeit der Geselligkeit, als Ausbruch aus der Einsamkeit und verharren eher in passiver Haltung, denn an aktiver Beteiligung: ST: es sind eher die leute die man betuddeln muss(.) wo man machen MUSS, ah. schön, dass sie wieder da sind, die auch ansprache wollen, es sind oft leute, die dann die gelegenheit sehen raus zu kommen (.) andere zu sehen (I: ja. ja.) sich zu unterhalten, die wenig ansprache haben, alleinstehend sind (I: h=hm.) wo einfach man merkt (.) die (.) die wollen einfach nur, dass man sich kümmert, dass sie sich aufgehoben fühlen und nicht alleingelassen sind (I: h=hm.) des is oft so (.)(16/14-16/26)
Frau Meschkes defizitorientierte Perspektive auf die Gruppe der Betroffenen zeigt sich deutlich daran, dass sie die Betroffenen in aktive und weniger aktive Menschen unterteilt. Dabei nimmt sie ältere Menschen als passiv wahr. Sie greift im Zielgruppenwissen die schon in der Eingangssequenz verortete Differenzierung auf. Implizit hebt sie durch die Aussage, die Jüngeren seien weniger gravierend betroffen zweierlei Dinge hervor: Einerseits geht es um Bewältigung. Die Älteren können die Erkrankung nicht kompensieren. Andererseits sieht sie ab von der Unterscheidung eines subjektiven und eines objektiven Sehverlustes. Selbst wenn die Älteren in gleichem Maße betroffen wären, akzeptiert sie nicht, dass diese individuell die Sehbehinderung anders erleben. Der Kontext, indem das Adressatenwissen Frau Meschkes zu verorten ist, hat somit nur wenig mit den Folgen der Erkrankung gemein. Vielmehr entscheiden allein das Alter und das Eingebundensein in produktive Zusammenhänge über ihre Differenzierung. Aus diesem Grund fällt auch die Schilderung der Ausnahme einer älteren Dame mit großem Bewältigungspotenzial derart ins Gewicht. ST: aber es sind auch ich hab letztens eine frau kennengelernt, die war=s erste mal dabei, die is schon, ich weiß nich- wie als sie is (.) aber ich schätze mal so mitte siebzig achtzig, die die ausnahme war (.) also die frau geht am stock is aber geistig noch hell (I: h=hm.) aber DIE: hat sich jetzt=n lesegerät angeschafft, jetzt liest sie wieder die macht jenes die macht das (.) jetzt will se=n neues lesegerät, weil man damit sich im
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gesicht angucken kann, kann man es gesicht auf dem bildschirm sehen. es gibt auch solche leute, aber es ist eher die ausnahme.(16/1-16/12)
Wie auch in den Umgangsformen überlagert damit der Altersunterschied das Problem der Sehbehinderung. So finden die soziale wie lebensweltliche Einbettung nur wenig Aufmerksamkeit. Entscheidend ist einzig und allein das chronologische Alter mit seinen vorherrschenden Stereotypen. Adressatenspezifisches Diagnosewissen fokussiert auf den Aspekt der Bedarfe der Teilnehmer wie auch die Fähigkeit der Problembewältigung. Vor dem Hintergrund dieser Wissensform kollidieren in diesem Angebot die eigenen Wünsche mit denen der Teilnehmer. Während sich Frau Meschke aktive Teilnehmer wünscht, die ihr Interesse an Lobbyarbeit teilen, beschreibt sie die Teilnehmer als passiv, ohne aber ihre Bedürfnisse zu berücksichtigen. Sie interpretiert die Tatsache, dass die Teilnehmer „immer nur einen Arzt hören“ wollen und Expertenwissen über ihre Erkrankung nachfragen, als Passivität: ST: also einige einige sind dabei, die (.)ja die sind interessiert immer wieder was neues zu erfahren, gibt es was neues? (I: h=hm.) also da merkt man=n echtes interesse (.) einige sind dabei ehm. die kommen einfach nur um rauszukommen um sich zu unterhalten (.) es is wirklich so: die sind auch die sitzen da, die kümmern sich um nix, die interessiert auch kein lesegerät oder so (I: h=hm.) die kommen einfach nur na ja gut des is halt so und ehm (..) ja (..) und manche oder einige gibt es auch, die dann sagen, ach wir würden gern mal und die meisten wollen eigentlich nur ein arzt immer hören (I: h=hm.) kommt den heut kein arzt? (.)> I: ((lacht)) ST: steh=n se dann gleich da kommt denn heut kein arzt?> (.) nein heut kommt kein arzt, heut is nur die firma x hier und so (.) also des is (.) sie wollen am liebsten immer so a la sprechstunde oder a la fragen stellen, wenn der arzt kommt das hab des gefühl hab ich (18/4-18/24)
Die Bedarfe werden zwar von der Leiterin aufgenommen, indem sie immer wieder Experten in die Runde einlädt. Dennoch scheint sie kein Verständnis für die individuellen Problemkonstellationen zu haben. Als selbst Betroffene setzt Frau Meschke voraus, das richtige Wissen im Umgang zu haben. Deswegen nimmt sie die tatsächlich an sie herangetragenen Teilnehmerbedarfe schlicht als ‚falsch’ und ‚passiv’ wahr. Die Ursache für den ‚falschen’ Umgang liegt in ihren Augen wieder auf der Hand: das Alter der Betroffenen. Alles Vorhergesagte erklärt die schlechte Prognose in Bezug auf das Potenzialisierungswissen. Steigerungen werden kaum erwartet. Die Zukunftsperspektive in Bezug auf die Betroffenen wird eher als Stagnation gewertet. Durch die Passivität können die Teilnehmer ihren Zustand nur wenig verändern. Reine
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Defizitorientierte Betrachtung der Älteren
Informationsaufnahme ist in den Augen der Koordinatorin zu wenig, um einen erfolgreichen Umgang mit der Sehbehinderung zu finden. Formen von bündnisbezogenem Kooperationswissen schließlich äußern sich in diesem Falle über die Unerreichbarkeit der Adressaten: Das Eigeninteresse als Betroffene steht dem Heilungsinteresse in der Gruppe gegenüber. Wunsch und Wirklichkeit liegen weit auseinander. Es wird zwar ein partnerschaftliches Kooperationsverhältnis angestrebt, doch die Realität ist eher gekennzeichnet durch ein antagonistisches Verhältnis, indem Frau Meschke versucht die Ordnung und Organisation für die Gruppe zu übernehmen, aber weder als Expertin anerkannt ist, noch richtig auf der Seite der Betroffenen zuzuordnen ist.
2.5.2 Vermittlungswissen – Eigeninteresse versus Heilungsinteresse In der Gesamtschau wird deutlich, dass in diesem Fallportrait folgende Formen wenig zu finden sind:
Vermittlungswissen im Sinne eines vermittlungsbezogenen Aneignungswissens, aneignungsförderndes Methodenwissen oder Gestaltungswissen
Besonders deutlich wird die problematische Konstellation des Vermittlungswissens am Beispiel des „Versuchs“. Dies kann hier als aneignungsbezogenes Vermittlungswissen dargestellt werden dahingehend, dass die Probleme der Vermittlungsseite angesprochen werden. In diesem „Versuch“ intendierte die Befragte mangels eines vortragenden Experten den Austausch in der Gruppe ins Zentrum des Gruppentreffens zu stellen: ST: ja, also ich hab immer was. ich hab einmal den versuch gemacht (..) ich wusste nich was ich machen soll. also ich hatte keinen (.) wusste nicht welchen arzt ich einladen sollte (.) ich wusste ich muss jetzt wieder irgendwas machen (.) ich war in verzugszwang oder habe mich bedrängt gefühlt und musste was machen jetzt und hab gedacht jetzt machst du einfach=n treffen und machst mal weil wir uns auch so selten sehen und ich mir auch nich die (.) machst du mal sich besser kennenlerntreffen unter=nander erfahrungsaustausch. (I: h=hm.) dann war=s aber so ehm. (.) dass manch einer sich gemeldet hat seine erfahrungen zum besten gegeben hat was ich eigentlich gut fand und dann alle durcheinander schnotterten und sich grüppchen bildeten und ich und hab gesacht einer solch sprechen und alle sollen was davon haben denn sonst bringt das uns überhaupt nichts (.) wenn
Betrachtung von Phasen bei weitgehender Phasenlosigkeit
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sich immer nur zwei drei in grüppchen zusammenbilden und dann schnattern (I: h=hm.) das war ein WENig schwierig ((lacht)) aber letztendlich ist=s (8/1-8/25)
Insgesamt bewertet Frau Meschke zwar den Versuch positiv. Dennoch hat sie diese Form des Austauschs nicht mehr wiederholt. Problematisch ist die Herstellung von Ordnung in der Gruppe, der Austausch als gegenseitiger Erfahrungsaustausch mit Aneignungsmöglichkeit wird von den Betroffenen – ihrer Meinung nach – selbst verhindert. Als Reaktion auf diesen Versuch wird die Routine der Expertenvorträge weiter gefestigt. Das Problem wird verschoben und nicht durch Aneignungsleistungen des Vermittlers gelöst. Dies kennzeichnet gleichzeitig den Mangel von aneignungsförderndem Methodenwissen. 2.5.3 Überprüfungswissen Als letzte Ausprägungsform wird auch in diesem Falle kurz auf die Relevanz des Überprüfungswissens eingegangen. Es ist anders darstellbar als im Falle Jansen. Kennzeichnete dort die Eröffnung von Möglichkeitsräumen die untergeordnete Relevanz von Überprüfungswissen, ist in diesem Fall anderes zu konstatieren. Es wird zwar nicht offen über Selektion und Überprüfung geredet, doch ist die gesamte Handlungspraxis von Bewertungsmustern durchzogen: Die Teilnehmer interessieren sich nur begrenzt für technisierte Hilfsmittel, sie sind nicht fähig zu einem kooperierenden Austausch, sie sind zu alt für Weiterentwicklung. Das Überprüfungswissen dient im Falle Frau Meschkes der Abgrenzung von der Gruppe. Es repräsentiert den Wunsch nach jüngeren Teilnehmern und erklärt ihre Stellung in der Gruppenkonstellation als permanente ‚Außenseiterin’.
2.6 Betrachtung von Phasen bei weitgehender Phasenlosigkeit Im Vergleich zur Phasierung im Falle der Beratungsgruppe bildet dieses Interview nur wenige Übergänge einer Innen/Außen-Differenz ab. Phase I als Übergang von einem Außen ins Innen ist nur in rudimentärer Form ausgeprägt. Die Phase einer Fortsetzung und Steigerung stellt sich ausschließlich in der Reaktion auf die Bedürfnisse der Teilnehmer dar und die Phase des Übergangs von einem Innen ins Außen vollzieht sich als unkontrollierter Prozess, über den nur wenig Wissen besteht. Diese weitgehende Übergangslosigkeit kann zwar einerseits durch die zeitlich offene und unbegrenzte Angebotsform einer Selbsthilfegruppe erklärt werden. Da aber andererseits im Angebot der Beratungsgruppe dennoch
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Defizitorientierte Betrachtung der Älteren
eine sehr ausgeprägte Phasierung zu erkennen war, stellt sich die Frage, woran sich diese unterbestimmte Strukturierung festmachen lässt. Dazu dient die nähere Betrachtung der drei Phasen. Abbildung 20: Überblick über die Phasenhaftigkeit des Angebotes der Selbsthilfegruppe PHASE I (Anbindung – Öffentlichkeitsarbeit)
(PHASE I)
PHASE II
(Selbstadressierung Teilnehmer)
(Fortsetzung)
ENDE OFFEN
PHASE II (Weitervermittlung – LowVision-Ambulanzen) GRUND
LowVision Beratung kann in Gruppe nicht abgedeckt werden
2.6.1 Anbindung in rudimentärer Ausprägung Die Übergangsgestaltung von einem Außen in ein Innen wird passiv gestaltet. Passiv in dem Sinne, dass auch die Öffentlichkeitsarbeit weitestgehend auf die Selbstadressierung der Teilnehmer setzt. ST: dann hab ich mich ehm in x (.)dieser lowvision (.) stiftung dort bin ich in der zeitschrift miteingetragen als selbsthilfegruppe (I: h=hm.) und auch in den in den in dem augenblick? oder wie heißt diese zeitung, die in den augenarztpraxen ausliegt. ich glaub augenblick oder so ähnlich (.) da bin ich auch drin (I: h=hm.) (.) und da melden sich dann die leute oder (.) die augenärzte verweisen wenn ich glück hab mich
Betrachtung von Phasen bei weitgehender Phasenlosigkeit
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manch- oder verweisen die patienten wenn ich glück hab an mich weiter (12/912/20)
Die Teilnehmer müssen entweder auf die Homepage der Stiftung gelangen oder sich in bestimmten Magazinen in Augenarztpraxen informieren, um auf das Angebot aufmerksam zu werden. Der Übergang wird dann in den seltensten Fällen („wenn ich glück hab“) begleitet. Inwiefern die Selbsthilfegruppe auf die Selbstadressierung setzt, findet sich auch in folgender Sequenz. Bietet doch die Mundpropaganda den wesentlichen Ansatz zur Gewinnung neuer Teilnehmer. ST: aber es haben dann doch einige gelesen, die sich dann gemeldet haben und es kommen immer mal wieder so dazu, (I: hm.) die sich einfach melden und sagen sie möchten benachrichtigt werden und (..) die trag ich dazu und dann werden die halt automatisch mitbenachrichtigt (I: h=hm.) so kommt des eigentlich oder mundpropaganda (I: h=hm.) andere bringen wieder jemanden mit (I: h=hm.) war letzt der fall (.) das ergibt sich dann so. (I: h=hm.) aber ich (.) hab=s NIch geschafft auch jüngere leute, die=s sicherlich es auch gibt so wie mich, hab ich irgendwie noch nie erreichen können (I: h=hm.) was eigentlich schade wär- wenn denn da verspreche ich mir immer noch=n bisschen mit- eh mithilfe oder aktivitäten (.) weil jüngere leute da etwas mehr denk ich mal mehr machen wollen oder mehr mitmachen ne? (I: h=hm.) da hab ich bisher bis jetzt kein glück gehabt (.) absolut nicht. Schade (12/32-13/4)
Weitestgehend besteht die Gruppe aber aus Personen der Anfangsphase der Gruppe, die weiterhin durch Einladungsbriefe immer über die Treffen benachrichtigt werden. Diese konkreten Einladungen sind somit schon mit Teil der Fortsetzung des Angebots. Aufgrund der unregelmäßigen Treffen sind sie notwendig. Sie überlassen aber auch jedem Teilnehmer schon vor dem eigentlichen Treffen die Wahl der Teilnahme: Lohnt es sich zu dieser Sitzung zu kommen oder nicht. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass auch hier bei der Anbindungsschilderung wieder der Wunsch nach jüngeren Teilnehmern kenntlich gemacht wird. Diese konnten aber noch nicht erreicht werden.
2.6.2 Fortsetzung als Reaktion auf die Bedürfnisse der Adressaten Fortsetzung wird in der Gruppe überhaupt nur möglich, indem Frau Meschke die Bedürfnisse der Gruppe berücksichtigt, d.h. sich permanent externe AMDExperten zu Vorträgen einlädt. Dies spiegelt sich im Beziehungsgefüge in der Selbsthilfegruppe. Frau Meschke ist als Koordinatorin, nicht aber als Vermittlerin anerkannt. Die Beziehung unter den Betroffenen wird von Frau Meschke –
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anders als im Falle der Beratungsgruppe – als kaum existent zurückgewiesen, da die Teilnehmer nach den Veranstaltungen zügig den Veranstaltungsort verlassen und sich keine Gespräche unter ihnen entwickeln. Die Strukturierung des Raumes ist ebenso einzig von seiner Problematik beschrieben. Es handelt sich um einen Vortragsraum, der die Kommunikation erschwert und Frau Meschke immer schon an die gesonderte Position der Koordinatorin rückt, indem sie dem Plenum gegenüber verortet ist. ST: sie freu=n sich, dass ich des mach und dass ich des organisier (.)aber NUR (..) wenn wirklich was anliegt. (I: h=hm.) es is auch schon ganz typisch wir treffen uns in der aok die aok stellt uns den seminarraum kostenlos zur verfügung und dort ist eine reihenbestuhlung da (.) (I: h=hm.) für seminare halt und es is schon ganz typisch wenn wenn ein treffen ist die leute kommen rein (.) setzen sich hin also die haben (..) die haben einfach kein interesse (.)da irgendwie sich zu beteiligen oder was zu machen (3/9-3/29)
Die Strukturierung von Zeit ist eher in der Abfolge der Treffen problematisch. Aus diesem Grunde werden für jedes Treffen Einladungen versandt. Die jeweiligen Veranstaltungen hingegen sind strukturiert durch die Vorträge mit Diskussion. Dahingegen äußert sich am Beispiel des „Versuchs“ (8/1-8/38) durch die Nennung der Wortschöpfung des „Verzugzwanges“ sehr schön, dass Frau Meschke die Strukturierung als problematisch bewertet. Sie hinkt einerseits immer hinterher, die Bedürfnisse der Beteiligten durch die Rekrutierung von Experten zu stillen, da die Adressaten ohne Experten nicht zu den Veranstaltungen kommen. Weiter befindet sie sich immer im ‚Zugzwang’, da immer sie die Treffen strukturieren und planen muss, ohne Unterstützung zu erhalten. Weitervermittlung in andere Angebote, wie bereits unter dem Aspekt des Settings geschildert, gibt es in der Gruppe nur wenig. Sie werden vor allem nicht, wie im Falle der Beratungsgruppe, mit Adressatenwissen verknüpft. Die einzige Weitervermittlung, die für alle Personen angeboten wird, ist die in die Low-Vision-Ambulanz zur Anpassung optischer und technischer Hilfsmittel. Anders als in der Beratungsgruppe stellt die Weitervermittlung aber hier nicht den Übergang in ein anderes Setting dar, sondern vielmehr ein ergänzendes Angebot und ist damit Phase II zuzuordnen.
2.6.3 Austritt und Fernbleiben als unkontrollierter Prozess Im Falle der Selbsthilfegruppe ist die Steuerung von Phase III als Prozess des Übergangs von einem Innen in ein Außen als unkontrollierter Prozess von Seiten der Koordinatorin zu beschreiben. Vielmehr sind es die Teilnehmer selbst die
Zusammenfassung - Unerreichbarkeit im Vordergrund
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autonom und ohne Rückmeldung diesen Prozess steuern. Auf Abbrecher und Gründe für Austritt und Fernbleiben der Teilnehmer befragt werden vier Gründe genannt:
Es gibt Leute, die auf der Liste stehen, die ich noch nie gesehen habe Es gibt Leute, die nur kommen, wenn eine Firma da ist Die räumliche Distanz verhindert die Teilnahme Sie kommen unregelmäßig, aber sie halten Kontakt
Zusammenfassend wird damit die Gestaltung von Übergängen vielmehr den Teilnehmern selbst überlassen, als dass sie von der Koordinatorin der Gruppe gesteuert würde.
2.7 Zusammenfassung - Unerreichbarkeit im Vordergrund Im Zentrum dieses Interviews steht vor allem die Unerreichbarkeit der Teilnehmer. Maßgeblich für die Unerreichbarkeit sind zweierlei Phänomene: die Defizitkonstruktionen des Alters und die divergente Interessenslagen der Leiterin und der Teilnehmer. Frau Meschke nimmt eine exponierte Stellung in der Selbsthilfegruppe ein. Sie ist die Leiterin. Dieser Status spiegelt sich auf unterschiedlichen Ebenen wieder, ist aber zugleich mit dem Problem der Anerkennung eines Expertenstatus verbunden. Weder gegenüber den Teilnehmern kann sie als Expertin fungieren, noch gegenüber den Fachexperten. Ihnen gegenüber ist sie wieder ‚nur’ die Betroffene. Dieser Unterschied ist aber nicht entscheidend. Viel relevanter ist die Distanz zu den Teilnehmern. Sehr exponiert sind in diesem Interview die Defizitkonstruktionen, die sich auf allen Ebenen finden lassen, sei dies in den Umgangsformen, im Adressatenwissen oder in Elementen des Vermittlungswissens.
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Defizitorientierte Betrachtung der Älteren
Abbildung 21: Zusammenfassung Frau Meschke Zusammenfassung Frau Meschke Setting Verortung zu anderen Einrichtungen und Organisationen Verweise auf das medizinische System Schwierigkeiten mit Augenärzten und Kliniken Rolle des Augenarztes Weitestgehende Ablehnung von Kontakten Örtlichkeiten Schlungsraum Distanz, die für die Teilnehmer zu überbrücken ist Anwesenheit der Angehörigen ohne Adressierung
Umgang mit der Sehbehinderung Individueller Umgang Wissen über Erkrankung Krankheitsbild Therapien Differenz zu älteren Menschen Lebenssituation als Sehbehinderte Distanz zum medizinischen System Loslösung vom Heilungsgedanken eigenständiger Umgang mit Hilfsmitteln Normalisierung Berufstätigkeit Ablehnung von Therapien und Medikamenten Gewöhnung Akzeptanz der Erkrankung Hilfsperson: Ehemann Institutioneller Umgang Lobbyarbeit als Interesse des Arztes eigenes Kerninteresse Vorträge und Information durch Experten Vorstellung von Hilfsmitteln Selbstbild als Leiterin engagiert "Lehrerin"
Pädagogische Formen Adressatenwissen Zielgruppenwissen Alter als Problem Differenzierung entlang der Pole Ältere/Berufstätige Ausnahmen: Aktive Ältere Diagnosewissen Problembearbeitungsprozess interpretiert als Passivität Potentialisierungswissen Stagnation im Vordergrund Vermittlungswissen adressatenbezogenes Aneignungswissen Kein Interesse der Teilnehmer an Lobbyarbeit Kommt denn heute kein Arzt Verhinderung von Geselligkeit Methodenwissen Gestaltungswissen Kooperationswissen Überprüfungswissen
Phasen Anbindung kaum vorhanden dem Zufall überlassen Fortsetzung, Steigerung Strukturierung von Raum Problematik der Strukturierung von Zeit Problematik der Strukturierung von Beziehung Ende der Adressierung begrenzte Weitervermittlung weitestgehend unkontrolliert
3 Fallvergleich Professionell betreute versus selbstinitiierte Selbsthilfe
Obwohl beide oben beschriebenen Fälle im Umgang mit der Sehbehinderung einen Selbsthilfegedanken verfolgen, stehen sie dennoch im Kontrast zueinander. In diesem Fallvergleich wird der Kontrast herausgearbeitet und anhand der Aspekte Setting und Unterschiede im pädagogischen Wissen vorgestellt. Bei der Kategorie des Settings geht es um die Beschreibung der Organisation der Angebote. Die Aspekte Unterschiede im pädagogischen Wissen und Phasen auf dem Weg zu einer selbständigen Lebensführung befinden sich im Vergleich zu den Fallportraits auf einer höheren Abstraktionsebene. Die Analyse der pädagogischen Formen in zwei unterschiedlichen Arrangements der Selbsthilfe ermöglicht Aussagen über vorhandenes und nicht vorhandenes pädagogisches Wissen und die Repräsentation von Professionalität in dem Kontext der Arbeit mit älteren Sehbehinderten. Diese liegen bisher für dieses Feld nicht vor.
3.1 Settings Ähnliche Konzepte, unterschiedliche Wirkung Ausgehend von den oben vorgestellten Fallportraits unterscheiden sich beide Formen der Selbsthilfegruppe auf der Ebene des Settings hinsichtlich der Elemente Reichweite, Adressaten, Ziele der Wissensvermittlung, Orte, Akteure und Richtung der Vermittlung. Weiter kommt die Darstellung des Beziehungsgeflechts in einem Außen (Beziehungen) wie im Innern des Angebots (Prozesse) in den Blick. Folgt man der Ordnung Seitters (2004) sind beide Settings als explizit- intensive Settings (vgl. J. Kade & Seitter, 2003, S. 607f.), beziehungsweise analog zu Hof (2003) als personal strukturierte Wissensvermittlung zu beschreiben. Bei derartigen Settings steht die Wissensvermittlung im Zentrum: In der Beratungsgruppe übernimmt die Leiterin selbst diese Rolle, in der Selbsthilfegruppe leisten dies die Experten mit ihren Vorträgen. In beiden Settings werden Asymmetrien installiert. Im ersten Fall geschieht dies in der Dimension Professioneller-Klient. Im zweiten Fall wird eine doppelte Asymmetrie hergestellt, nämlich einerseits in der Form Experte-Klient, wenn die geladenen Experten auftreten. In dieser
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Fallvergleich Professionell betreute versus selbstinitiierte Selbsthilfe
Konstellation gerät die Koordinatorin auf die Seite der Selbsthilfegruppenmitglieder. In der Dimension Koordinatorin – Klienten übernimmt sie die Rolle der Koordinatorin und hebt sich von der Gruppe ab. Diese Asymmetrien prägen ein defizitäres Bild der Adressaten: Ihnen muss Wissen über die Erkrankung bzw. den Umgang mit der Erkrankung vermittelt werden. Allerdings sind auch hybride Strukturierungen in beiden Formen erkennbar. Diese tauchen auf, wenn sich beide Experten zur Bedeutung von Geselligkeit äußern. Dies geschieht einmal in der Antizipation einer Störung (Selbsthilfegruppe). Auf der anderen Seite handelt es sich um ein wesentliches Element des Lehr-Lern-Prozesses (Beratungsgruppe), indem der Geselligkeit eine vermittlungsfördernde Funktion zugewiesen wird. In der Beratungsgruppe wird weiter die Rollenumkehr eingeführt, indem den Teilnehmern eine doppelte Rolle zugewiesen wird. Einerseits ist die Asymmetrie als Teilnehmer vor allem in der hybriden Struktur des Austausches verortet. Andererseits hebt die Leiterin die Teilnehmer dann in die Rolle der Vermittler, wenn sie beispielsweise Hilfsmittel vorstellen. So gesehen haben wir es bei der Herstellung von Settings mit einer umgekehrten Ordnung auf Seite der Selbsthilfegruppe versus der Beratungsgruppe zu tun: Während in der Selbsthilfegruppe nur die Rolle der Koordinatorin in unterschiedlichen Formationen Bedeutung hat, können in der Beratungsgruppe die Teilnehmer selbst einen Rollenwechsel vollziehen. In der Beratungsgruppe werden die Teilnehmer aus ihrer Rolle des defizitären Adressaten befreit, indem sie eine vermittelnde und damit kompetente Rolle einnehmen, während die Teilnehmer der Selbsthilfegruppe in ihrem defizitären Status belassen werden. Bezüglich der Ziele der Selbsthilfe formulieren beide Leiterinnen ähnliche Ambitionen. Sie sehen „Hilfe zu Selbsthilfe“ zur (Wieder-)Herstellung einer selbständigen Lebensführung als Ziel. Während es bei der Formulierung von Frau Meschke allerdings bei einer idealisierten Zielvorstellung bleibt, die in der Umsetzung einige Probleme aufweist, hält sich Frau Jansen in ihren Zielsetzungen eher recht bescheiden und formuliert auch kein explizites Aneignungsziel. Sie möchte einzig Anregungen geben. Was sich die Teilnehmer letztendlich aneignen, ist für sie und ihre Rolle als Leiterin der Beratungsgruppe nicht wichtig. Anders stellt sich dies bei Frau Meschke dar. Die permanente NichtErreichbarkeit des Austauschs drängt sie in die Rolle, die Teilnehmer als inkompetent zu bewerten, da sie sich sonst selbst für die Probleme in der Gruppe verantwortlich machen müsste. Aber Frau Meschke scheint noch eine weitere Zielsetzung zu verfolgen, die eher ihre eigenen als die Interessen der Gruppe widerspiegeln. Dabei handelt es sich um die Lobbyarbeit der Gruppe. Da sich die Gruppe schon nicht in der Funktion der Selbsthilfe steuern lässt, steht sie erst recht mit ihrem Anliegen der Lobbyarbeit allein auf weiter Flur. In gleicher Wei-
Pädagogisches Wissen – Zielgruppenorientierung vs. Eigeninteresse
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se steht es um die Herstellung von Geselligkeit in der Gruppe. Das Ziel des Austausches scheint in dieser Gruppe ebenso nicht erreichbar. Bei Frau Jansens Beratungsgruppe hingegen ist die Geselligkeit ein konstitutives Element des LehrLern-Arrangements, an dem sie selbst auch nicht zwingend beteiligt ist. Beide Selbsthilfeformen zielen darauf ab eine Selbständigkeit der teilnehmenden Individuen zu erreichen. Beide Leiterinnen schließen auf dieser Ebene für sich selbst einen Lernbedarf aus. Frau Meschke, weil sie schon lange genug von der Erkrankung betroffen ist und sich als vollkommen selbständig wahrnimmt. Frau Jansen hingegen nimmt für sich aufgrund ihrer Professionalität und Distanz zur Erkrankung dieses Ziel der Selbständigkeit ebenso wenig in Anspruch. Die Richtungen, in denen Selbständigkeit realisiert werden soll, sind jedoch unterschiedlich: In der Selbsthilfegruppe wird Selbständigkeit ausschließlich durch Information (mittels Experten, Vorstellung von Hilfsmitteln) nahe gelegt. In der Beratungsgruppe wird den Teilnehmern ein Geflecht an Handlungsoptionen durch Information, Experten, Austausch und Beratung zur Verfügung gestellt. Auf der Ebene des Settings kontrastieren beide Gruppen in ihrem Beziehungsgeflecht im Innen und Außen. Der intensiven Vernetzung steht die Isolation eines Angebotes gegenüber. Während in der Beratungsgruppe Austauschprozesse konstitutives Element der Eröffnung von Ermöglichungsräumen sind, werden diese in der Selbsthilfegruppe weitestgehend ausgeschaltet. Beiden Gruppen gemein ist die kritische Betrachtung der Kooperation mit dem medizinischen System, auch wenn beide unterschiedliche Wege wählen: In der Beratungsgruppe wird die problematische Beziehung zum medizinischen System permanent dadurch kompensiert, dass Optiker geladen, Ärztelisten entworfen werden oder eben, zentral für die Gruppe, Frau Jansen selbst die ophthalmologischen Informationen aufarbeitet. Dahingegen verdeckt Frau Meschke in der Selbsthilfegruppe ihre eigene Kritik am medizinischen System, indem sie die Vorträge zu diesen Belangen auf die Experten verlagert. Alternativen werden hier nicht aufgezeigt. Diese werden in der Beratungsgruppe auf den Austausch verlagert.
3.2 Pädagogisches Wissen – Zielgruppenorientierung vs. Eigeninteresse 3.2.1 Adressatenwissen Das Adressatenwissen der beiden Expertinnen lässt sich hinsichtlich des Zielgruppenwissens differenzieren, einesfalls als Zuschreibung von Kompetenz und
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Fallvergleich Professionell betreute versus selbstinitiierte Selbsthilfe
andernfalls als Zuschreibung von Inkompetenz. Hinzu kommt der kontrastive Umgang mit der Kategorie des Alter(n)s. Beide Leiterinnen unterscheiden im Adressatenwissen nach Gruppen: Frau Jansen orientiert sich entlang der Unterscheidung der „Lebenszugewandten“ versus der „Depressiven“. Frau Meschke nimmt die Unterscheidung entlang der Dimension „Ältere“ versus „Jüngere“ vor. Diese Unterscheidungen implizieren unterschiedliche Defizit- und Kompetenzzuschreibungen im Hinblick auf die Entwicklungspotentiale, welche den Teilnehmern zugeordnet werden. Während in der Beratungsgruppe anhand der Biographie der Adressaten die Defizite entlang des psychischen Gesamtzustandes orientiert werden, spielt die Biographie der Teilnehmer im Rahmen der Selbsthilfegruppe keine Rolle. Hier scheint das wesentliche Unterscheidungskriterium die Produktivität zu sein, da dies eines der wenigen Aspekte ist, die zur Unterscheidung von Jüngeren und Älteren hervorgebracht wird. Als Jüngere und damit aktivere Personen werden diejenigen eingestuft, die vom chronologischen Alter her der Leiterin der Selbsthilfegruppe ‚näher’ erscheinen. Beide Leiterinnen identifizieren damit kompetentere und inkompetentere Gruppen, die einerseits die Arbeit in der Gruppe erleichtern bzw. Ziele verhindern. Diese Unterscheidung erleichtert die konkrete Arbeit in der jeweiligen Gruppe. Bemerkenswert ist dabei, wie wenig die Erkrankung in Bezug auf das Zielgruppenwissen selbst in der Differenzierung eine Rolle spielt. Frau Jansen stellt einen direkten Zusammenhang zwischen dem psychischen Zustand der Betroffenen und ihrer Biographie dar. Ihrer Wahrnehmung nach sind die „Depressiven“ Personen mit Schwierigkeiten in vielen Lebensbereichen. Bei Frau Meschke steht die Verarbeitung der Erkrankung in Bezug auf das Adressatenwissen überhaupt nicht im Vordergrund. Vielmehr scheint sie sich am Ziel der Lobbyarbeit zu orientieren, für die sie maximal die Jüngeren gewinnen kann. Auch wenn die Krankheitsgeschichte weitestgehend ausgeblendet wird, verknüpfen beide Gruppen auf unterschiedliche Weise die Dimension des Alterns mit der Dimension der erfolgreichen Gruppenzusammenarbeit. Dieser Umgang mit der Kategorie des Alterns steht mit drei Dimensionen aus den analysierten Fallporträts im Zusammenhang. Einerseits spielt die Kategorie des Alters eine wesentliche Rolle bei der Gründung der Gruppe. Weiterhin werden Gruppen mit älteren Menschen als eine besondere Herausforderung für die Gruppenarbeit beschrieben. Außerdem spielt das Alter eine Rolle, wie die Teilnehmer eingeschätzt werden. Alter in der Relation des Gründungsinteresses spiegelt einerseits eine Defizitzuschreibung an Ältere. Andererseits steht es dafür, dass ältere und jüngere Menschen unterschiedlich vom Sehverlust betroffen werden. Während Frau Meschke Älteren die Kompetenz abschreibt eine Selbsthilfegruppe zu koordinieren, steht für Frau Jansen die Differenz des Umgangs mit einer Sehbehinderung im Alter im Vordergrund. Denn schließlich bemerkt sie in ihrem Arbeits-
Pädagogisches Wissen – Zielgruppenorientierung vs. Eigeninteresse
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alltag, dass es zu wenig Angebote explizit für Ältere gibt, weswegen sie ein entsprechendes neues Angebot schafft. Es könnte die These entwickelt werden, dass genau diese Differenz zwischen Defizitkonstruktion und Differenzkonstruktion der Teilnehmer über den Erfolg der Gruppenarbeit entscheidet. In beiden Interviews taucht die Dimension des Alters im Arbeitszusammenhang der Arbeit mit älteren Menschen auf. Im Falle der Beratungsgruppe wird aus der professionalisierten Sehbehindertenwelt heraus argumentiert. Die Betroffenen finden in der bisherigen Betreuungslandschaft nicht die geeignete Angebotsform. Sie als ‚ältere’ Betroffene, die ihr Leben lang gut gesehen haben und nicht mehr am Erwerbsleben teilnehmen, benötigen eine neue Angebotsform. In diesem Sinne werden auch allgemeinere Aspekte des Alterns, wie die Problematik der Partizipation, die durch die Sehbehinderung verstärkt wird, mit in das Programm aufgenommen. Zudem gibt es ‚altersspezifische’ Ängste im Umgang mit der Sehbehinderung aufgrund von Multimorbidität. So steht in der Beratungsgruppe die Sehbehinderung im allgemeinen Kontext des Alterns. Dahingegen steht in der Selbsthilfegruppe das Arbeiten mit Älteren als Beispiel für besonders problematisches Arbeiten, ohne aber den Kontext des Alterns besonders zu thematisieren. Stattdessen steht die Ablehnung von aufgezeigten Handlungsoptionen im Vordergrund. Diese wird mit dem Alter der Betroffenen und dem Altersunterschied zur Leiterin begründet. In der dritten Dimension der Perspektive auf die Teilnehmer wird feiner differenziert. In der Selbsthilfegruppe zählt einzig der Begründungszusammenhang, wie sehr das schnelle Voranschreiten des Sehverlustes die Verarbeitung der Erkrankung erschwert. Im Gegensatz zu den Älteren konnte Frau Meschke ihre eigene Erkrankung lange verarbeiten. Ansonsten schätzt Frau Meschke das Alter generell als defizitär ein. Im Falle der Beratungsgruppe gestaltet sich diese Perspektive auf die Teilnehmer anders: Hier ist der Blick auf das Altern und die Individualität der Teilnehmer differenzierter. Die Sehbehinderung steht im Kontext des allgemeinen Rahmens des Alterns. Der Umgang mit der Sehbehinderung wird hingegen altersneutral auf der Ebene individueller Betroffenheit problematisiert. Das Diagnosewissen, als Wissen der Experten über die Problemkonstellationen der Adressaten, unterscheidet sich bei den Expertinnen hinsichtlich ihres statischen und dynamischen Wissens. Die Koordinatorin der Selbsthilfegruppe schätzt die Problembewältigung im Alter generell als niedrig und die Adressaten als eher inkompetent und betreuungswürdig ein. Die Leiterin der Beratungsgruppe hingegen verfügt dank ihrer langen Berufserfahrung über ein differenzierteres Wissen über die Probleme der Teilnehmer. Ihr Wissen ist über die Jahre angeeignet worden und speist sich aus ihrer Erfahrung in der Zusammenarbeit mit den Betroffenen. Für sie zählt die Unterschiedlichkeit und Individualität im Zusammenhang mit der Biographie, anstelle des kalendarischen Alters zum Zeit-
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Fallvergleich Professionell betreute versus selbstinitiierte Selbsthilfe
punkt der Erkrankung. Dieses differenzierte Diagnosewissen ermöglicht es ihr die Funktion des ‚Auges’ der Adressaten zu übernehmen und ihre Bedürfnisse aufzunehmen. Dahingegen lähmt die Perzeption der Leiterin der Selbsthilfegruppe ihrer Teilnehmer als ohnmächtige Klientel die Entwicklung von Angeboten. Dies liegt an der Diskrepanz zwischen den eigenen Bedürfnissen der Leiterin der Selbsthilfegruppe und den Bedürfnissen der anderen Beteiligten der Gruppe. Ihre Zielsetzung bezieht sich weniger auf die Verarbeitung der Erkrankung und den Umgang mit dem medizinischen System, denn auf den Wunsch nach Konstitution von Lobbyarbeit und gemeinsamen Freizeitaktivitäten. Das Potenzialisierungswissen als Blick der Expertinnen auf die Entwicklungsfähigkeit und die Zukunftsperspektive der Betroffenen ist in diesen beiden betrachteten Fällen eine direkte Folge des Diagnosewissens. Im Falle der Selbsthilfegruppe werden die Betroffenen als derart defizitär geschildert, dass ihre Entwicklung kaum noch möglich erscheint. Zu groß sei die Abwehrhaltung der Betroffenen. Weil Steigerung oder Entwicklung nicht möglich erscheinen, wird auf den Betreuungsaspekt abgestellt. Die Adressaten werden so beschrieben, dass sie zumeist aus ihrer Isolation flüchten und Ansprache suchen. Die Hinwendung an eine Öffentlichkeit wird nicht als Chance zur Veränderung betrachtet, sondern mit anderen Betreuungsformen Älterer gleichgesetzt. Das Diagnosewissen der Leiterin der Beratungsgruppe steht im Kontrast dazu. Hier steht Entwicklung im Vordergrund und Handlungsoptionen werden geschaffen. Auch wenn die Betroffenen in manchen Bereichen defizitär sind, wird ihre Individualität wahrgenommen und anerkannt. Deswegen wird auch nicht erwartet, dass alle Teilnehmer jedes Angebot zu jedem Zeitpunkt annehmen und schätzen. Gerade dieser Aspekt der Zeitlichkeit fehlt im pädagogischen Wissen von Frau Meschke.
3.2.2 Vermittlungswissen Vermittlungswissen als aneignungsbezogenes Vermittlungswissen und Methodenwissen unterscheiden sich in den beiden Fällen a) entlang der Unterscheidung Erreichbarkeit vs. Unerreichbarkeit und b) in der ausschließlichen Verwendung von Information einerseits und einem Methodenmix andererseits. Im vermittlungsbezogenen Aneignungswissen problematisieren die Experten sowohl Erreichbarkeit wie Unerreichbarkeit der Adressaten. Auf der einen Seite steht Frau Jansens permanente Ausrichtung auf die Adressaten. Sie wird eingesetzt zur Steigerung von Aneignung in Bezug auf aktuelle Problemlagen der Betroffenen. Sie reflektiert permanent die Bedürfnisse der Adressaten und setzt dies anschließend bedarfsgerecht um. Frau Meschke reflektiert zwar Teilnehmerbedarfe, ist dabei aber immer bemüht, dem Wunsch der Adressaten nach
Pädagogisches Wissen – Zielgruppenorientierung vs. Eigeninteresse
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Expertenwissen zu entsprechen. Doch anders als im ersten Fall führt dies zu vermehrter Unerreichbarkeit der Teilnehmer. Durch den permanenten Verweis auf Experten, hat Frau Meschke ihren eigenen Expertenstatus eingebüßt. Deswegen erfüllt sie ausschließlich die Funktion der Koordinatorin, die weder innerhalb noch außerhalb der Gruppe zu verorten ist. Es scheint fast so, als spiegele sich das aneignungsbezogene Vermittlungswissen direkt in der Darstellung der Teilnehmer als widerständig oder kooperativ. Die (Un-)Erreichbarkeit drückt sich zudem im Methodenwissen aus. Während Frau Meschke fast einzig auf Information setzt oder setzen muss, offeriert die Vielfältigkeit der methodischen Gestaltung des Angebots Frau Jansens zahlreiche Anschlussmöglichkeiten für die Adressaten. Während in dem Angebot von Frau Meschke fast ausschließlich ein Anschluss an medizinische und technische Umgangsformen mit der Sehbehinderung herrscht und nur bedingt Möglichkeiten des Austausches unter den Teilnehmern geboten werden, offeriert Frau Jansen den Adressaten Anschlüsse an die Lebenswelt durch therapeutische, altersspezifische und ophthalmologische Informationen im Sinne aneignungsbezogener Wissensvermittlung sowie durch Einnahme der Vermittlerrolle in der Gruppe und die Einbindung in Formen der Geselligkeit. Die Anschlüsse werden durch Variation, Wiederholung, Elementarisieren und Übersetzen hergestellt. Eine Differenz der beiden Angebote zeigt sich auch in der Phasengestaltung. Während im Falle der Beratungsgruppe ein differenziertes Bild über die Übergänge in einem dreiphasigen System gezeichnet wurde, erscheint die Selbsthilfegruppe relativ phasenlos. Dies spiegelt auf der Seite der Selbsthilfegruppe die mangelnde Perspektive von Potenzialisierung wider. Kann keine Entwicklungsfähigkeit für ältere Sehbehinderte angenommen werden, so ist die Gestaltung von Phasen, die Steigerung implizieren, kaum möglich.
4 Integration der weiteren Experten Spektrum der Sehbehindertenhilfe 4
Integration der weiteren Experten
Anhand der durch die Fallanalysen gewonnen Erkenntnisse und Kategorien zum Umgang mit Sehbehinderung, den pädagogischen Formen des Umgangs sowie der Betrachtung von drei Phasen im Geschehen der Sehbehindertenhilfe werden die weiteren Experten vorgestellt. Damit kann ein erstes Bild des Umgangs mit Defiziten und Kompetenzen im Alter nachgezeichnet werden und eine Strukturierung vorgenommen werden. Zur Orientierung dient unten stehende Übersicht über die Experten, anhand derer die einzelnen Angebote unterschieden werden. Abbildung 22: Übersicht über die befragten Experten Selbsthilfegruppe
Beratungsgruppe
O&M; LPF
Augenärztin
Optiker
Dauer
Unbegrenzt
Unbegrenzt
Individuell verschieden
Ca. 3 Termine
Wann
1x vierteljährlich
1x monatlich
Individuell verschieden
Nach Vereinbarung
Form
Gruppe
Gruppe
Ca. ½ Jahr, Termine individuell Beliebig, aber fest geregelt Individuell
Individuell
Individuell
Angebote
Vorträge von Ärzten; Hilfsmittelfirmen
Austausch; Vorstellen von Hilfsmitteln; Kontakte zu Ärzten
Räume einer Krankenkasse
Räume des Blindenbundes
Ophthalmologische Leistungen; Sehschule; psychosoziale Beratung Praxis
Beratung zu optischen Hilfsmitteln
Ort
Kompetenzschulung; Hilfsmittelberatung; Kontakte zu Selbsthilfe Bei Patient zuhause
Optiker
Die Übersicht verdeutlicht, dass die in den beiden Fallporträts analysierten Angebote die einzigen untersuchten Gruppenformen darstellen. Für die Integration der weiteren Experten bleiben nur noch Einzelangebote. Ein weiteres Kriterium
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Integration der weiteren Experten
unterscheidet die bereits analysierten Fälle von den nun folgenden: Nur in den Gruppenangeboten ist die Teilnahmedauer unbegrenzt. Die weiteren Angebote sind zeitlich begrenzt oder finden vereinzelt und unregelmäßig statt. Allen Angeboten von Experten im Umgang mit der Sehbehinderung ist hingegen gemeinsam, dass sie eine Hilfsmittelberatung anbieten. So gesehen scheint es, als ob die jeweiligen Experten in Hilfsmitteln die effektivste Hilfe zum Umgang mit einer im Alter eintretenden Sehbehinderung einschätzen. Im Theorieteil wurde mit einem hypothetischen und hierarchisch struktuierten Modell zur Einordnung von Funktionen und einem Ablaufmuster von Angebotsformen im Umgang mit der Sehbehinderung Älterer begonnen. Nach Analyse des Expertenhandelns lässt sich dieses Modell nun differenzierter darstellen. Anstatt von einem Ablaufmodell auszugehen, muss vielmehr von einer institutionellen Landschaft mit ausgeprägtem Netzwerkcharakter ausgegangen werden.
4.1 Strukturierung der Settings der Sehbehindertenhilfe Die Settings im Feld der Sehbehindertenhilfe näher zu skizzieren ist auf einer ersten Ebene der Integration der weitern Experten von Interesse. Die Struktuieren erfolgt über die Beschreibung der Formen unterschiedlicher Settings sowie den Vernetzungsstrukturen im Innen und Außen der Experten.
4.1.1 Settings zwischen explizit-intensiven und hybriden Formen Die Gruppenangebote wurden bereits in ihrer Ausrichtung beschrieben, ergänzt werden nun noch Augenärztin, Optiker und Trainer. Die Strukturierungen J. Kades & Seitters (2004) und Hof (2001) nutzend, lassen sich die Settings über alle Angebote hinweg, wie folgt, benennen: Abbildung 23: Zuordnung der Angebote zu Settings Angebot
Formen (Kade & Seitter)
Formen (Hof)
Augenärztin
Hybrid-uneindeutig
Beratung
Optiker
Explizit-intensiv
Unterweisung
Selbsthilfegruppe
Explizit-intensiv
Unterweisung, Beratung
Beratungsgruppe
Explizit-intensiv, hybrid-uneindeutig
Beratung, Moderation
LPF und O&M
Explizit-intensiv
Training
Strukturierung der Settings der Sehbehindertenhilfe
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Das Angebot der Augenärztin ist als hybrid-uneindeutig zu kennzeichnen, da eine Ambivalenz in der Kommunikation vorherrscht, die zwischen ärztlicher und beratender Kommunikation besteht. Die Ärztin, die bei AMD-Erkrankungen von Therapien abrät, kann dieses als Ärztin oft nicht glaubhaft machen, da die Betroffenen von ihr Heilung und nicht Beratung erwarten. Dabei ist ihr Angebot als Beratung zu kennzeichnen, da sie ihr Fachwissen mit den konkreten Problemlagen der Betroffenen in Beziehung setzt. Sie möchte die Klienten darin unterstützen trotz Sehbehinderung selbständig zu bleiben; unterstützt durch Hilfsmittelberatung und Gespräche. Die Vermittlung des Optikers kennzeichnet sich explizit-intensiv. Die Hilfsmittelberatung ist auf die Person zentriert. Allerdings ist nicht von einer Beratung – im Sinne von Hof (2001) – sondern eher von einer Unterweisung zu sprechen. Der Optiker erscheint als Fachexperte, der feststehendes Wissen über Hilfsmittel vermittelt. Die Problemlagen der Betroffenen sind dabei nur sekundär von Bedeutung. Die gleiche Form kennzeichnet das Training in Lebenspraktischen Fertigkeiten und Orientierung & Mobilität. Die Wissensvermittlung steht im Zentrum, sie ist das Programm. Dies muss der Trainer gegenüber seiner Klientel immer wieder verdeutlichen. Als Training ist es zu kennzeichnen, da das Ausprobieren und Einüben neuer Verhaltensweisen im Vordergrund steht. Das individuelle Handeln soll verbessert werden und zwar durch konkrete Handlungsstrategien. Durch diese Form setzt sich der Trainer von den anderen Angeboten ab. Dementsprechend sind über die fünf Angebotsformen hinweg jegliche Differenzierungen, die Hof (2001) vorschlägt, beschreibbar. Dennoch hängt die Differenzierung von Formen nicht mit den Selektionsmechanismen der Betroffenen zusammen. Denn die Betroffenen entscheiden über die Aneignung von Angeboten eher in Bezug auf konkrete und individuelle Problemlagen.
4.1.2 Beziehungsgeflecht der Sehbehindertenhilfe Allen Angeboten ist gemein, dass sie sich in der Anlage ihres Angebots als eine Art ‚Pionierprojekt’ begreifen. Für den Optiker gilt dies durch die Spezialisierung auf die Beratung für Sehbehinderte, für die Ärztin durch ein ganzheitliches Angebot durch psychosoziale Betreuung und Beratung. Das Training in LPF und O&M wird nicht schon per se als Pionierprojekt betrachtet, doch die Fokussierung auf ältere Menschen wird als neu erachtet. Zudem werden institutionelle Bemühungen von Trainer Jakob durch den Versuch der Konzeption eines ganzheitlichen Trainings vorangetrieben, das Elemente beider Trainingsformen integriert. Diese Pioniertätigkeit erfordert ein Beziehungsgeflecht auf professioneller
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Integration der weiteren Experten
Ebene zu anderen Einrichtungen, Angebotsformen und Professionen, um das eigene Angebot etablieren zu können. Die Experten bewerten insbesondere die Kooperations- oder Abgrenzungsprozesse als Außenbeziehungen unterschiedlich. Was jedoch alle Experten der Sehbehindertenhilfe eint, ist die Abgrenzung zum medizinischen System und dessen Fokussierung auf Heilung. Erklärungsansätze hierfür findet vor allem Trainer Jakob: ST: dass diese netzwerke nich gut genuch funktionieren (.) (I: h=hm.) man hat so kontakte zu bestIMMTen optikern, (I: h=hm.) zu bestimmten leuten, wir sind natürlich sehr stark auch an die pro retina oder am blindenverein oder so dran (I: h=hm.) machen da auch=ne rehaberatung (..) und so (.) gehen regelmäßig mal da hin, aber zu augenärzten zum beispiel, da gibt es häufig (.) schlechte kontakte, also wir versuchen das zwar (..) aber es is nich jeder augenarzt geeignet für seh- für hochgradig sehbehinderte, das muss man so sagen (I: h=hm.) ich hab den eindruck, dass eben viele augenärzte da berührungsängste haben (.) in dem bereich, weil des is ja auch (.) erstens wahrscheinlich so von der wissenschaft her sehr speziell,es is was anderes als=ne normale bindehautentzündung zu behandeln, sag ich mal (I: h=hm.) und zum andern blindheit is sicherlich die niederlage eines augenarztes und deswegen mag man da vielleicht nicht so viel damit zu tun haben (Herr Jakob, 10/5-10/33)
Hiervon ist nicht einmal die Augenärztin auszunehmen. Auch sie verurteilt die Anpreisung medizinischer Therapien, die kaum zu Besserung des Sehvermögens der Betroffenen beitragen. Dies liegt darin begründet, dass ihre Beratungstätigkeiten zu Hilfsmitteln häufig ins Leere laufen, da die Betroffenen, gerade in der Kommunikation mit einer Ärztin, Anregungen zu Therapie und Heilung erwarten. Ein weiteres Thema im Beziehungsgeflecht, bezogen auf die Verweise gegenüber Adressaten, stellt die Einstellung zu Selbsthilfegruppen dar, die von den Experten unterschiedlich bewertet wird. Während der O&M/LPF-Trainer die Kommunikation in Selbsthilfegruppen problematisiert, sieht die Augenärztin die Kommunikationsform zwar generell als geeignet, aber als problematisch für ältere Betroffene an: ST: (..) und das hat dann auch so=ne eigendynamik in den selbsthilfegruppen (..) da sind die, die es irgendwie hinkriegen die kings und die, die merken, oh die else, die kann ja kochen, die macht das ja noch und ich kann=s nicht mehr ja und dann fühlt man sich ziemlich schlecht und denkt das liegt an einem ja selbst, an meiner eigenen unpässlichkeit, dass ich des nicht kann (I: h=hm.) bin zu blöd dafür (...) also das hat dann auch so=ne dynamik in diesen sehbehindertenkreisen, die ich immer wieder versuche zu unterbrechen, wenn ich dabei bin (I: h=hm.) und sach, jetzt mal langsam, es kann nicht jeder alles können und eh beim einen ist die sehbehinderung so beim anderen so, der eine traut sich der andere nicht und eh dass die da sich selbst
Strukturierung der Settings der Sehbehindertenhilfe
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nicht so abgrenzen voneinander. DA: wär=s ja genau wichtig (I: ja. ja.) sich zu unterstützen, aber nicht nur so, dass man sacht, ich kann das und du kannst=s nicht ätsch ne (I: h=hm. h=hm.) aber das ist leider=n bisschen anders (Herr Jakob, 27/527/26)
Ein kritisches Moment in Selbsthilfegruppen wird hier beschrieben, dass sonst nirgendwo formuliert wird, aber sehr viel mit einem Gruppenzusammenhang von einem Training zu tun hat. Da Jakob den Gruppenzusammenhang negativ bewertet, plädiert er implizit für ein Individualangebot, das sich nach dem Tempo und den Bedürfnissen des Individuums richtet. Eher gegenteilig formuliert dies die Augenärztin: ST: und ich hab auch immer wieder, ich hab immer wieder auch mal versucht, ältere leute dazu zu motivieren, zum beispiel auch in den blindenverein zu gehen, gruppen zu suchen, selbsthilfegruppen zu suchen oder aufzusuchen, aber es gibt eben einfach viele ältere, die wollen das nicht (I: h=hm.) und da hab ich schon auch versucht herauszufinden, woran LIEGT DAS denn? (I: h=hm.) und natürlich liegt es halt sehr häufig eben wirklich, wie sie das ja auch (.) schon gesagt haben an der biographie an der eigenen lebensgeschichte, es gibt ja in DIEser generation, die da jetzt makuladegeneration hat (I: h=hm.) gibt=s ja eine (.) unglaublich viele, die ham SO: viel mitgemacht, die ham kriege mitgemacht, die sind immer auf sich gestellt gewesen (I: h=hm.) die sind es gar nicht gewöhnt, eh sich in gruppen hilfe zu suchen. des machen die nicht, die ham das immer alleine bewältigt und das wollen sie jetzt auch alleine bewältigen (I: h=hm. h=hm.) ja. (..) schade eigentlich. ne? (I: h=hm.) aber das is so meine erfahrung, vielleicht wird das bei einer anderen generation, also so=ne jüngere generation die eher gewöhnt ist in in gruppen sich eh aufzutun und und da: auch leute zu fragen und sich da hilfe zu suchen (.) dass die das besser können später (Frau Klein, 6/24-52)
Das Beratungsangebot der Augenärztin ist ebenso ein Einzelangebot. Die Kritik an Selbsthilfegruppen steht in diesem Falle mit dem generellen Problem der Institutionalisierung von Angeboten im Zusammenhang. Die Weitervermittlung soll zwar versucht werden, auch wenn nicht genügend geeignete Angebote für ältere Sehbehinderte vorhanden sind. Laut der Ärztin sind die verschiedenen Angebote nicht ausreichend vernetzt. Der Grund dafür liegt bei den Teilnehmern, da es in der Generation der gegenwärtig Betroffenen nicht üblich sei, in Gruppen zusammenzuarbeiten. Aus diesem Grund wird derzeit die Gruppe nicht als sinnvolles Angebot betrachtet. Die Augenärztin sieht nicht nur Initiativen wie die Selbsthilfe kritisch: ST: und insbesondere immer wieder in die richtung gearbeitet, dass das dass die krankheit unheilbar ist und dass sie=s in irgendeiner form akzeptieren (.) lernen (I: h=hm.
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Integration der weiteren Experten h=hm.) mit erfolg (.) im allgemeinen mit weniger erfolg, weil die meisten (.) einfach die hoffnung nicht aufgeben, dass man was machen KANN und was machen MUSS (I: h=hm.) dass es ja angebote gibt, von akupunktur bis spritzen und pdt und operation und dass eh alles ja auch sehr beworben wird (I: h=hm.) in den medien oder in irgendwelchen internetforen und da: wandern dann viele doch ab (I: h=hm.) das is aber einfach=ne entscheidung, die die patienten selber treffen (Frau Klein, 4/12-4/37)
Auch die medizinischen Angebote werden kritisch betrachtet. Im Vergleich zu anderen Experten geht es in dieser Kritik nicht um eine professionelle Differenz, sondern um ihre Einschätzung der Bedürfnisse der Patienten. Angebote außerhalb des medizinischen Systems haben keine Chance gegenüber den ‚Heilungsangeboten’ aus dem medizinischen System selbst, auch wenn diese Versprechungen nicht eingelöst werden können. Der Patient setzt vor allem auf die Heilungschancen. Es geht einerseits um eine Kritik am eigenen Berufsstand: Es wird nicht ehrlich gearbeitet. Andererseits gibt es gegenüber dem Patienten keine andere Alternative als ihm selbst diese Entscheidungsfreiheit zu lassen. Zusammenfassend kann eine Abfolge oder Hierarchie in den Angeboten wegen der institutionellen Vernetzung und den unterschiedlichen Bedürfnissen der Adressaten nicht dargestellt werden. Alle Experten stehen weiteren Angebotsformen ambivalent gegenüber. Diese Ambivalenz wird entweder professionsspezifisch oder mit den spezifischen Problemen der Betroffenen erklärt. Alle Experten stehen vor dem Problem mit der Heilungserwartung ihrer Klientel umgehen zu müssen. Der Umgang mit der Heilungserwartung kann folgendermaßen dimensionalisiert werden: ausgeprägt unterstützend, Übertragung der Verantwortung auf die Klienten, bis hin zu Überzeugungsarbeit, medizinische Therapien nicht in Anspruch zu nehmen.
4.2 Formen des Umgangs in der Sehbehindertenhilfe 4.2.1 Sehbehinderung im Alter als Institutionalisierungsphänomen Neben den Aspekten der Lobbyarbeit und dem Erhalt der Selbständigkeit lassen noch weitere Formen Sehbehinderung im Alter als Institutionalisierungs- und Professionalisierungsphänomen erscheinen. Da diese Erkrankung zunehmend auftritt, wächst das Interesse der Beteiligten an einem neu entstehenden Markt. Diese ökonomischen Aspekte scheinen insbesondere bei den Angeboten des Optikers, des O&M/LPF-Trainers und am Rande bei der befragten Augenärztin auf. Es geht um den Absatz von Produkten und Dienstleistungen, in dem die älteren Sehbehinderten als neue Klientel in Frage kommen. Gerade ökonomische
Formen des Umgangs in der Sehbehindertenhilfe
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Interessen fördern die Entwicklung neuer Angebote, falls sie nicht ehrenamtlich oder im Kontext eines Verbandes geschaffen werden. Abgesehen von Optiker Franz, geben die Experten eine marktorientierte Denkweise eher verdeckt preis. ST: so sagen wir, vor fünf jahren, ähm, ist das in der branche ja immer mehr ein thema wieder geworden. erstens weil man sicher auch aus wirtschaftlichen gründen sich geguckt hat, wo gibt es noch felder (I: h=hm, h=hm) und das andere aber gleichzeitig natürlich diese ganzen untersuchungen oder- oder diese- na ja, keine untersuchungen, das sind eigentlich, ähm, binsenwahrheiten, dass die alterspyramide, dass man gemerkt hat, dass auf grund der alterspyramide eben die amd zwangsläufig (.) äh, in- in in- äh, ein- ein- wahnsinniges potential so zu sagen, versorgungspotential da ist, aber da auch nur betreuungspotential, wie auch immer. (Optiker Franz, 1/432/8)
Nachdem die Älteren zunächst aus dem Fokus geraten waren, entsteht durch die epidemiologische Entwicklung der AMD ein neuer Markt. Darüber hinaus wird ohnehin nach neuen Zielgruppen und neuen Marktfeldern gesucht, nachdem mit klassischen Brillen nur noch wenig Geld verdient werden kann. Gerade bei AMD-Betroffenen wird wieder ein größeres „Versorgungspotential“ gesehen. Schon die Begrifflichkeit kennzeichnet die Marktrelevanz. Es geht nicht um die Versorgung individueller Bedürfnisse, sondern um den Absatz spezifischer Produkte. Die Argumentationszusammenhänge des Trainers und der Ärztin im Hinblick auf Institutionalisierungsphänomene liegen vordergründig in dem Wunsch nach Veränderung einer Angebotsstruktur für ältere Sehbehinderte. Dennoch dient der Absatz von Dienstleitungen auch dem Erhalt der eigenen ökonomischen Selbständigkeit. Der Trainer in LPF und O&M behandelt den Entstehungskontext der Programme folgendermaßen: ST: gut (.) das sind also zwei sachen, wie sie schon sachten, lebenspraktische fertigkeiten (I: h=hm.) das is=n programm, das eigentlich gleichzeitig ungefähr gleichzeitig mit dem anderen mit der (.) mobilitätstraining hieß es früher, heute sagen wir schulung (.) in orientierung und mobilität (.) eh so aus amerika gekommen ist also (.) das war im grunde anfang mitte der siebziger jahre als auch so hm so gesellschaftspolitisch wurde in der zeit ja so behinderung irgendwie hat=n anderen schwerpunkt bekommen (.) mehr auf eigenständigkeit und nicht rundumversorgung (.) und da hat das auch so reingepasst, dass dass (I: h=hm.) diese beiden programme haben zum ziel selbständigkeit von leuten, die eine sehbehinderung oder blindheit eben haben ehm zu verbessern (3 sek,)ehm (..) dieser erste bereich lebenspraktische fertigkeiten oder fähigkeiten sacht man heute, hat sich auch=n bisschen gewandelt (I: h=hm.) ehm da geht es darum, dass man sich selbst versorgen kann also mit alltäglichen verrichtungen. (Herr Jakob, 1/41-2/8)
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Integration der weiteren Experten
Der Trainer nähert sich dem Thema der Versorgung gesellschaftspolitisch über die sozialen Bewegungen der 70er Jahre und formuliert als Anspruch der Programme das Ziel der Selbständigkeit. Er begründet dies mit dem Paradigmenwechsel der 70er Jahre, der Behinderung in ein neues Licht stellt und mit neuen Programmen und Berufen dazu beitragen möchte, ein neues Bild von Behinderten zu erzeugen. Mit diesem Einstieg gibt Trainer Jakob Einblick in seine Reflexivität der Programme. Es geht nicht nur darum, Programme anzubieten, sondern auch ihre Institutionalisierung und Ausdifferenzierung mitzubedenken und mitzugestalten. Inhaltlich erscheint für ihn die finanzierungstechnisch begründete Trennung der Programme Mobilitätstraining und Training in Lebenspraktischen Fertigkeiten nicht sinnvoll. Dies gehe an den Bedürfnissen der Adressaten vorbei. Da sie aber der Logik der leistungsrechtlichen Begrenzung und Einschränkung folgt, ist sie seiner Meinung nach nachvollziehbar. Implizit wird damit der ökonomische Aspekt seiner Tätigkeit beleuchtet. Damit er als Trainer sein Geld verdienen kann, muss er sich an vorliegenden Normen orientieren. Die leistungsrechtliche Ausrichtung hat Priorität über der inhaltlichen. ST: also ich versuch das schon bewusst getrennt zu halten, um den LEUten auch diese trennung klar zu machen (I: h=hm.) sonst baut sich da schnell die erwartung auf, wir können ja jetzt mal, wenn der herr jakob kommt, üben, wie man torte isst oder so was ((lachen)) JA: (..) es gibt immer mal berührungspunkte, wo ich sag, wenn ich jetzt zum beispiel im raum (.) orie- ne raumerkundung mache, es soll jemand im haus sich bewegen, dann hat=s natürlich auch=n sinn, wenn er zum, was weiß ich, zum kaffeekocher geht, dass er dann auch mal=n kaffee kocht (I: h=hm.) ganz offiziell DARF ich das eigentlich nich machen (I: h=hm.) ne (.) also wenn ich das der krankenkasse sage, sagen würde im nachhinein, dann würden die sagen, dafür bezahlen wir sie nicht (I: h=hm.) und mit recht, da is einfach die grenze so gezogen, des is einfach so (.) inhaltlich ist es VÖLLiger schwachsinn natürlich, ja (I: h=hm.) ich würde gerne überhaupt nicht zwei programme unterscheiden, ich würde gerne zu den leuten hingehen und sagen, ich mach mit dir=ne reha (I: h=hm.) und zwar das, was du brauchst und des is umfassend (Herr Jakob, 29/37-30/9)
Gänzlich in anderem Licht wird das Angebot der Beratung von der Augenärztin eingeführt. Sie bietet die Beratung aus rein persönlichem Interesse an. Im Verlauf ihrer Tätigkeit als Ärztin bemerkte sie, dass die Organmedizin alleine nur einen Teil der Medizin abdeckt. Sie hat ein kritisches Medizinbild und votiert für ein ganzheitliches Medizinverständnis. Sie bezeichnet ihre Ausbildung nicht als Weiterbildung, sondern als Zusatzausbildung (Psychoanalytisches Institut), an dieser Stelle ihrer Erzählung ist der Prozess offen, sie hätte sich auch ganz für die Psychotherapie entscheiden können. Der Prozess des Beginns der Beratungstätigkeit über die Involviertheit und schließlich der Aufgabe der Tätigkeit ist
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einzig geprägt von Eigenmotiven und hat nichts mit dem Interesse der Patienten oder der epidemiologischen Entwicklung von Krankheiten zu tun. Nur aufgrund dieser intrinsischen Motivation nimmt sie ein neues, für ihren Bereich innovatives Behandlungskonzept mit auf. Die folgende Sequenz ist die erste, in der Sehbehinderte und Blinde in ihrem Interview auftauchen: ST: und hab mir, das ergab sich dann einfach so, dass ich mir patienten aus meinem (.) meiner praxis rausgefischt habe, wo ich gedacht habe, mensch, da könnt man eigentlich=n bisschen was machen (.) und hab denen das angeboten und das wurde sehr dankbar angenommen und dann hab ich mich praktisch auf diese ehm verlegt, auf solche patienten also insbesondere auf patienten, die eh mit der sehbehinderung oder erblindung nicht gut zurechtkamen (I: h=hm.) aber wer kommt damit schon zurecht (I: h=hm.) und denen hab ich des einfach angeboten und in in einzelgesprächen oder was ich ja auch gemacht hab für patienten, die also nicht sehbehindert oder blind waren, sondern, die ne schwere augenerkrankung hatten, eh kurse angeboten autogenes training oder katatones bilderleben. das dann in der gruppe (I: h=hm.)das hab ich dann auch viele jahre gemacht. (I: h=hm.) das wurde auch SEHR gut angenommen, das aber auch alles sehr sehr zeitaufwendig, ich hab das alles im grunde immer in meiner freizeit gemacht und deshalb hab ich das dann irgendwann gelassen (I: h=hm.) es ist sehr anstrengend und zeitaufwendig (Frau Klein, 3/22-3/45)
Zusammenfassend vermittelt die Betrachtung der Entstehungshintergründe und der dargestellten Motive der Experten einen ersten Eindruck von der sozialen Welt der Sehbehinderung aus der Warte der Experten. Es finden sich Ausdifferenzierungen mit Pioniertätigkeiten (wie im Falle Frau Jansens) und klassischen Formenentwicklungen, wie bei dem Trainer und der Augenärztin. Bezieht man sich auf das eingangs angenommene Ablaufmodell, muss dieses vom Entstehungskontext her ebenso zurückgewiesen werden, wie auf der Ebene der Settings. Das Betreuungssystem für ältere Sehbehinderte entsteht nicht systematisch, vielmehr handelt es sich um Einzelbemühungen aus unterschiedlichen Professionen oder Laientätigkeit heraus.
4.2.2 Operationalisierung anhand von Erklärungsversuchen und Wissensbekenntnissen Das Bestehen eines Marktes, der Wunsch nach Lobbyarbeit oder Selbständigkeit reichen allerdings nicht aus, um mit den Klienten arbeiten zu können. Darüber hinaus muss Wissen angeeignet und Konzept entwickelt werden, wie in diesem multiprofessionellen Feld mit den Bedürfnissen der Betroffenen umzugehen ist. Die Experten beschreiben diese Prozesse und Konzepte unterschiedlich. Ge-
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meinsam ist jedoch allen, dass es sich um Mischformen eigener Weiterbildung, Reflexivität derselben und angeeignetem Adressatenwissen handelt. In Bezug auf die Arbeit mit älteren Sehbehinderten in Form eines Trainings in LPF oder O&M beschreibt Trainer Jakob ein gut entwickeltes Modell, wann ein Training als sinnvoll erachtet werden kann. Das hier graphisch dargestellte Modell seiner Schilderungen (9/10-10/5) entsteht vor dem Hintergrund eines ausgeprägten Adressatenwissens, Diagnosewissen und dem Wissen um die Voraussetzungen für das eigene Training. Abbildung 24: Modell über Ansatzpunkt des LPF- und O&M-Trainings entsprechend den Schilderungen Trainer Jakobs (9/10-10/5)
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Nach einer Diagnose müssen für ein erfolgreiches Training am Langstock oder Blindenstützstock erst einige Etappen durchlaufen werden, die hier stufenförmig beschrieben werden. Zunächst muss das Ziel der Herstellung des Urzustandes des Sehens und die Hoffnung auf Heilung überwunden werden. Dies ist verbunden mit dem Gefühl tiefer Depression. Nur ein Teil schafft es aufgrund dieser Depression die Krankheit zu akzeptieren. Erst wenn dieser Punkt erreicht ist, kann der Trainer sein Angebot effektiv anbieten. Trainingsversuche vor diesem Zeitpunkt würden zudem zu einer Inakzeptanz des Hilfsmittels führen. Aus diesem Grund bietet der Trainer ein intensives Beratungsgespräch vor dem eigentlichen Training an, um den Zustand der Betroffenen und die Akzeptanz der Erkrankung wie die Steigerung der Aneignung des Angebotes zu erhöhen. Ähnlich vollzieht sich die Beschreibung dieses Prozesses im Falle der Augenärztin: Es stellt sich die Frage der Einschätzung der Krankheitsbearbeitung/ Krankheitsbewältigung bei allen AMD-Patienten in der Praxis. Sie fasst ihre Erfahrungen über die Krankheitsbearbeitung und die entsprechenden Möglichkeiten ihrer Beratungstätigkeit in ein Zahlenverhältnis. Es gibt das Drittel der „Schaffer“ und die „Resignativen“. In ihrer Arbeit muss sie sich auf die „Schaffer“ konzentrieren. „Schaffen“ bedeutet dabei, dass die Personen, die Krankheit verarbeiten können und damit für Hilfsmittel und Beratung offen stehen. ST: und würde sagen, ein drittel schafft es (I: h=hm. ja.) damit zurecht zu kommen. wobei des sind eh das sind immer- eh die hilfsangebote, die=s ja gibt, also vergrößernde sehhilfen, hörbücher, blindenverein, irgendwelche selbsthilfegruppen, die das alles annehmen (I: ja.) die irgendeinen unterstützenden menschen in ihrer umgebung haben, sei es ein ein ein kind, sei es ein partner, sei es=n guten guten freund oder gute freundin (...) und dann gibt=s eben gibt, die wirklich total resignieren und sich immer wieder auflehnen und die angebote, die=s halt gibt dadurch gar nich wirklich wahrnehmen (Frau Klein, 8/53-9/13)
Aber aus ihren Schilderungen leitet sich auch ab, dass dieses Drittel, diejenigen Personen sind, die ihre Kritik an medizinischen Angeboten ernst nehmen, und zudem nicht auf zweifelhafte medizinische Angebote zurückgreifen. Das Drittel der Schaffer bildet dementsprechend den Personenkreis ab, den sie kompetent beraten hat. Die Resignativen hingegen nehmen ihre Offerten nicht wahr, lehnen sich auf. Sie sind die Beratungsresistenten in der Augenarztpraxis. Gänzlich anders operationalisiert wird die Sehbehinderung im Optikerfachgeschäft. Die Betroffnen werden gar nicht vor dem Hintergrund der Bewältigung der Erkrankung betrachtet, nicht einmal von der Warte der spezifischen Sehbehinderung her. Die Weiterbildung diente ja auch nicht ausschließlich der Beratung zur altersbedingten Makuladegeneration, sondern zu Sehbehinderung allgemein. In der Dimension des Adressatenwissens sind es hier viel eher Zu-
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Integration der weiteren Experten
schreibungen an das Alter, welche die Arbeit mit der älteren Klientel erschweren. Der Optiker führt einen Unterschied Ältere/Jüngere über den Aspekt der Produktivität ein. Ältere haben weniger Interesse an den Hilfsmitteln als Jüngere, da sie diese nicht mehr für ihr Berufsleben benötigen. Zudem haben Ältere oftmals nicht mehr die kognitiven Kapazitäten zur richtigen Verwendung der Hilfsmittel. Das Angebot des Optikers ist das einzige Angebot, das an eine Grenze der Machbarkeit gerät, denn er kann ab einem verbleibenden Sehrest, gemessen im Visus von 0,02, keine Hilfsmittel mehr erfolgreich anbieten.
4.2.3 Weitergabe von Information Formen der Weitergabe von Information tauchen in allen Angeboten auf. Information wird vor allem angeboten in Form von Fachinformation über die Sehbehinderung. Allerdings lässt sich dies nicht beim Optiker finden. In seinem Falle wird einzig Information zu den Hilfsmitteln weitergegeben. Neben ophthalmologischen Informationen spielen aber auch Informationen zu seniorenspezifischen Angeboten (Frau Jansen, Augenärztin Frau Klein) oder zu finanziellen Förderungen bei Sehbehinderung statt (Frau Meschke, Frau Jansen, Frau Klein, Herr Jakob).
4.2.4 Vorstellung von Hilfsmitteln Ebenso werden in allen Angeboten Hilfsmittel angepriesen. Die Unterscheidung der Angebote ist dahingehend zu betrachten, wie der Hilfsmitteleinsatz eingeführt wird. Ob als reine Information, als Training mit dem Hilfsmittel oder als Unterweisung über die Funktionen des Hilfsmittels. Während in den Gruppenangeboten fast ausschließlich auf die Vorstellung von Hilfsmitteln gesetzt wird, bietet der Optiker eine minimale Einführung in die optischen Hilfsmittel an. Es handelt sich aber eher um ein Ausprobieren als um das Einüben von Fertigkeiten. Gleiches gilt für die Augenärztin. Das Training ist das einzige Angebot, in welchem der Hilfsmitteleinsatz systematisch eingeführt wird. Allerdings ist hier der Hilfsmitteleinsatz auf den Langstock beschränkt, da einzig hierfür kassenrechtliche Leistungen zur Verfügung stehen. Weitere Hilfsmittel (wie Bildschirmlesegerät, Lupen, Monokular) müssen en passant mit in das Training eingebaut werden und können somit ebenso mehr getestet als trainiert werden.
Systematik pädagogischen Wissens
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4.2.5 Geselligkeit Geselligkeit wird als Funktion nur in den Gruppenangeboten eingesetzt. Aber gerade im Bereich des Trainings in LPF und O&M muss der Trainer permanent sein Training von der erwünschten Geselligkeit der Teilnehmer abgrenzen. Dies liegt auch an den Örtlichkeiten. Ist dies doch die einzige hier betrachtete Angebotsform, die in der eigenen Häuslichkeit der Betroffenen stattfindet. Dementsprechend verschmelzen in der Situation des Trainings die Bereiche Lebenswelt und Unterricht. Dies drückt sich in der Form aus, dass die Betroffenen den Trainer häufig als Gast, denn als Trainer empfangen.
4.3 Systematik pädagogischen Wissens Unter Hinzuziehung der weiteren Experten lassen sich Formen des Adressatenwissens weiter differenzieren. Die Markierungen von Inkompetenz und Kompetenz mit spezifischen Bedürfnissen und der defizitäre Umgang mit dem Alter wie die Einbettung der Sehbehinderung in ein breiteres Verständnis von Altern sind zu ergänzen durch die Dimensionen von Fremd- und Selbstbestimmung hinsichtlich des Zielgruppenwissens. I: h=hm. (.) und wie würden sie denn jetzt ihre teilnehmer beschreiben? […] ST: ja, es gibt schon leute, wo man von vorn herein den eindruck hat, das sind leute, die lernen das (..) nicht für sich (I: h=hm.) die sehen das als=ne verordnete maßnahme, des hat ihnen der augenarzt gesagt, dass er ma=n mobilitätsunterricht machen soll (I: h=hm.)und dann machen die das, so wie man eben , was man verordnet bekommen hat und (2 sek.) also des kann man nicht von vorn herein sagen, das das wäre unfair, das wär- würde ja auch den (.) uns beeinflussen, wenn man sacht, das is von dem sowieso vergebens oder so ne,(.) ne: ne:, also das entwickelt sich mit laufe der schulungen eigentlich, dass man merkt, ehm (.) die machen das zwar, schaffen das auch ganz gut, ziehen sich aber immer wieder so auf diese position zurück, ich brauch das eigentlich gar nicht ich hab ja meinen mann, der das macht […] und (2 sek.) also besonders in diesem mobilitätsbereich is es so, wenn man da ne ZEITlang des nicht macht, obwohl man das gut gelernt hat und gut kann, dann verliert man das zutrauen, nich die fähigkeit, das zu machen, aber man verliert das zutrauen in sich selbst, dass man das schaffen kann (I: h=hm.) und dass man diese wege, die man so gehen muss auch alleine gehen kann (...) und dann is es irgendwie vorbei damit, dann lässt man=s irgendwann wieder sein (2 sek.) oder ganz sein (..) und dann gibt es leute, da merkt man, da die machen das für sich selbst, die wollen, die wollen des wieder können, die wolle wieder was herstellen und die machen das dann auch später (Herr Jakob, 15/21-16/9)
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Integration der weiteren Experten
Der Trainer unterscheidet nach zwei Gruppen. Die einen werden von Dritten geschickt und betrachten das Angebot als eine Art ‚Medikation’. Wenn man sich nur in das Training begibt, wird sich schon eine Besserung einstellen. Laut seiner Aussage verhalten sich diese Teilnehmer ambivalent im Sinne von Pflichtbewusstsein bei gleichzeitigem Rückzug. Die andere Gruppe hingegen kennzeichnet sich durch hohe Motivation, da sie selbst ihr Aneignungsziel kennt: Die Selbständigkeit. Wie in den anderen Experteninterviews schlägt sich dieses Zielgruppenwissen nieder auf das Potenzialisierungswissen. Entwicklung wird zwar für die Gruppe der Fremdbestimmten nicht ausgeschlossen, aber nur als wenig nachhaltig beurteilt. Dies steht im Kontrast zur Gruppe der Selbstbestimmten. In dieser Schilderung spielt Alter keine Rolle, diese Differenzierung kann auf jedes Alterssegment zutreffen. Dennoch wird das Alter von Trainer Jakob thematisiert, stellt aber nicht die maßgebliche Unterscheidung dar, wie im Falle der Leiterin der Selbsthilfegruppe oder des Optikers. Das Alter ist entscheidend hinsichtlich der Methode. So beansprucht die Arbeit mit Älteren mehr Zeit. Ein längerer Gewöhnungsprozess bei der Schulung des Sehens ist von Nöten. Zudem profitieren die Älteren besonders von der Integration des Trainings in den Alltag, da dort sofort die Übungen angewandt werden können. Alter wird in dieser Form des Adressatenwissens nicht auf die Defizite des Alterns bezogen, sondern vielmehr auf die Tatsache, dass ein Leben lang gut gesehen wurde. Insofern wird eher eine Differenz zur weiteren Klientel des Trainers hergestellt, die sich auch aus Kindern und jungen Erwachsenen zusammensetzt. Eine Lesart, die im Falle des Optikers gänzlich fehlt. Er definiert die Älteren als defizitär in dem Sinne, dass ihnen häufig die kognitiven Voraussetzungen zur Anwendung von Hilfsmitteln fehlen. Die weiteren Experten formulieren ebenso Probleme in der Gestaltung ihrer Vermittlungstätigkeit. Sie befinden sich im Spannungsfeld von Veränderungsbereitschaft und Widerstand innerhalb des Angebotes. So geht es in den folgenden Zitaten nicht um die Problematik der Anbindung an das Angebot, sondern vielmehr um die Schwierigkeiten im Verlauf der Vermittlungstätigkeit, somit um vermittlungsbezogenes Aneignungswissen. Dieses kreist um die Problematik des Widerstands. ST: also eben auch des verhalten, wenn man merkt, die leute machen des eigentlich gar nich, ja, man kommt nach zwei wochen wieder da hin, und hat ihnen eigentlich so gesagt jetzt sollen sie das doch mal üben, wie man die kaffeemaschine bedient und sollen mal jeden tag oder wenigstens zwei mal die woche kaffee kochen (I: h=hm.) hat das paarmal gemacht mit denen, dann kommt man nach zwei wochen hin und fragt man, na, wie war das mit dem kaffee kochen, hat=s geklappt, ja: ich hab=s ja gar nich gemacht ne (I: h=hm.) eh (..) ja, da muss man sich dann schon (..) da frag
Systematik pädagogischen Wissens
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ich mich dann schon, ob=s sinn macht, solche dinge dann weiter zu machen (I: h=hm.) oder ich versuch rauszukriegen, wo wo=s ran liegt, dass sie=s nich gemacht haben, gibt viele ursachen (I: h=hm.) kann sein dass dass se=s immer abgenommen bekommen, dass es ihnen nich- zugetraut wird […] ja: und eh (..) was erwart ich noch von den leuten (4 sek.) ne gewisse kognition is natürlich nicht schlecht, aber des kann ich einfach nich erwarten, es gibt leute, die die dinge anders also einfach noch nich begreifen und dann muss man=s eben anders erklären oder (.) versuchen andere möglichkeit der vermittlung zu finden (I: h=hm.) (4 sek.) und des is=ne interaktion genau, also klassisches beispiel is im mobilitätsbereich gibt=s immer wieder leute, die reden PAUSENlos, während sie üben ((lachen)) ja? über völlig andere dinge, die zu tun haben ja? (I: h=hm.) und da steckt häufig so:=ne angst dahinter, glaub ich, des is so im dunklen wald pfeifen ne und das is auch immer in=ner situation, wo ich noch ganz nah dabei bin und wenn ich merke, die sind technisch oder auch psychisch ein bisschen weiter gekommen, dann entfern ich mich, dann hab ich auch dieses gerede nicht mehr und sie merken dann so langsam, dass sie auch dann auch alleine gelassen (.) […] aber ich (.) mir is dann schon klar, warum die das machen (I: h=hm.) des is (.) natürlich is des auch personenabhängig, aber da stecken dann schon solche verarbeitungsprozesse auch drin (Herr Jakob, 23/11-24/15)
Für Widerstände wird einerseits die Defizitzuschreibung durch Angehörige verantwortlich gemacht. Die Betroffenen bekommen Aufgaben abgenommen, um nichts falsch zu machen. Andererseits wird Widerstand im Sinne von Ablenkung oder der mangelnden Konzentration auf die Ängste der Betroffenen reflektiert. Im ersten Fall wird versucht durch Ursachenforschung eine Fortsetzung zu sichern. Im zweiten Fall des Mobilitätstrainings wird mit einer Zumutung reagiert und dies als aneignungsförderndes Methodenwissen eingesetzt. Der Betroffene muss Wege alleine zurücklegen. Er ist nur noch in Sichtweite, aber kann nicht mehr mit dem Trainer kommunizieren. Gänzlich andere Formen des Widerstands beschreibt die Augenärztin in Bezug auf aneignungsbezogenes Vermittlungswissen. Dargestellt wird die Problematik des Widerstands im Sinne einer Beratungsresistenz im Spannungsfeld Erfolg/Misserfolg: Die Erfolgsaussichten der Gespräche in Bezug auf Erkennen der Unheilbarkeit und der Akzeptanz der Erkrankung sind eher gering, da viele Angebote, die beworben werden mit dem Angebot der Ärztin konkurrieren. Diese Angebote versprechen Heilung oder zumindest Linderung und sind deshalb zunächst nahe liegender als ein Akzeptieren der Erkrankung. Aus diesem Grund verliert sie zahlreiche Patienten: Entweder sie bietet ein Heilungsangebot oder der Patient wandert ab auf der Suche nach neuen Angeboten. Diese Entscheidung wird aber dem Patienten überlassen, anders als Trainer steuert sie nicht gegen die Patientenentscheidung. In ihrem Angebot steht vielmehr der Aspekt der Wiederholung als fast schon leidiges aneignungsförderndes
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Integration der weiteren Experten
Methodenwisssen im Vordergrund. Die Hoffnung auf Heilung zu bearbeiten stellt den maßgeblichen Teil ihrer Vermittlungstätigkeit dar. ST: sie kommen. und sie kommen immer wieder, ich hab da gehört und man kann doch akkupunktur (I: h=hm.) da hab ich, da is einer dort und da is einer in der schweiz und einer da: und was halten sie davon und dann kann man kann ICH einfach immer wieder mit ihnen darüber sprechen, was es bringt, was es nicht bringt, was es kostet, ob es sinnvoll ist das geld dafür auszugeben (I: h=hm.) oder vielleicht doch=ne schöne weltreise mit dem partner zu machen ehm ja. so einfach. ganz ganz baNALE dinge (I: h=hm.) es geht gar nicht um tiefschürfende gespräche, sondern es geht um die banalitäten des alltags (Frau Klein, 5/52-6/14)
Die Personen kommen immer wieder mit der Hoffnung auf Heilung und schöpfen bei jeder neuen Behandlung Hoffnung auf Heilung. Diese versucht sie durch Gespräche zu relativieren. Es geht im Grunde gar nicht darum psychotherapeutische Hilfestellung in Form einer Therapie bereitzustellen, sondern ein Ohr für die „Banalitäten des Alltags“ zu haben. Mit Bezug auf das vorangenommene Ablaufmodell steht nun noch die Frage im Raum, ob sich eine graduelle Steigerung pädagogischer Formen vom Angebot der Augenärztin hin zum Angebot des Trainers kennzeichnen lässt. Dies ist zu verneinen. Zwar gibt es Angebote mit weniger Spezifität im Bereich der pädagogischen Formen, doch in allen Angeboten lassen sich unterschiedliche Formen von Adressaten- und Vermittlungswissen kennzeichnen. Einzig Überprüfungswissen findet sich fast ausschließlich im Angebot des Trainers Jakob, der durch Abfragen und Vorführen den Lernfortschritt der Betroffenen kontrolliert. Viel entscheidender als Aspekte der Zunahme pädagogischer Formen scheint mir die jeweils auffindbare und von Angebot zu Angebot unterschiedene Bearbeitung von Veränderungsbereitschaft und Widerständen zu sein.
4.4 Überblick über Ausgestaltung von Phasen in den Angeboten Aufgrund des schon mehrfach erwähnten Netzwerkcharakters bietet die Betrachtung von Übergängen und Phasen die Möglichkeit, die bisher gewonnen Erkenntnisse nochmals auf einer zeitlichen Achse und einer Beziehungsachse zu betrachten. Besonders relevant erscheint vor allem die Darstellung der Phase I als Übergang der Sehbehinderten in ein Interventionsangebot, sowie die Phase III der Loslösung von diesem Angebot bzw. dessen Ende. Phase II, als eigentlich pädagogische, kennzeichnet die Strukturierungsleistungen zum Zeitpunkt der Adressierung. Zu den einzelnen Experten wurden Modelle angefertigt, die hier am Ende nochmals diskutiert werden sollen. Doch zunächst werde ich die Unter-
Überblick über Ausgestaltung von Phasen in den Angeboten
189
schiede der Programme anhand der einzelnen Phasen beschreiben. In diesem Zuge entsteht ein neues Modell der Systematik der Sehbehindertenhilfe für Ältere, das in Abgrenzung zum vorangenommenen Ablaufmodell steht. Schon rein vom Blick auf die schematisch dargestellten Phasen aus den einzelnen Interviews lassen sich Unterschiede erkennen. Zunächst werden die weiteren drei Angebote in ihrer Phasenhaftigkeit graphisch dargestellt (Abb. 26-28), bevor im Folgenden nochmals alle fünf Angebote mit Rekurs auf die einzelnen Phasen vergleichend beschrieben werden: Abbildung 25: Übergänge im Angebot des Optikers PHASE I (Anbindung – Öffentlichkeitsarbeit)
PHASE I
PHASE II
PHASE III
(Anbindung - Experte, Selbstadressierung - Teilnehmer)
(3x Beratungsgespräch)
(Ende der Adressierung: Verkauf/Nicht-Verkauf)
PHASE III Ende der Adressierung: Weitervermittlung GRUND
Visus des Teilnehmers zu schlecht für optische Intervention
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Integration der weiteren Experten
Abbildung 26: Übergänge im Angebot der Augenärztin PHASE I
PHASE II
PHASE III
( Selbstadressierung Teilnehmer)
(Fortsetzung, Steigerung – Untersuchung, Hilfsmittelberatung)
Ende der Adressierung: Selbständigkeit ENDE OFFEN Kontrolluntersuchungen
PHASE III Ende der Selbstadressierung Abbruch
Bei Erfolglosigkeit
GRUND
Suche nach alternativen Heilungsmöglichkeiten nach negativer Prognose
Abbildung 27: Übergänge im Angebot des Trainers PHASE I (Anbindung – individuelles Beratungsgespräch)
PHASE I
PHASE II
PHASE III
(Anbindung - Experte, Selbstadressierung - Teilnehmer)
(Fortsetzung, Steigerung)
(Ende der AdressierungSelbständigkeit)
Nächste Stufe im Verarbeitungsprozess
PHASE III
PHASE III
Ende der Adressierung
Ende der SelbstadressierungAbbruch
GRUND
GRUND
TN noch nicht bereit für Schulung, noch nicht weit genug im Verarbeitungsprozess
•Keine Verwendung für Hilfen •TN noch nicht bereit •Einschränkungen zu gering
Überblick über Ausgestaltung von Phasen in den Angeboten 4.4.1
191
Phase der Anbindung in den Interventionsprogrammen
Zunächst wird die Anbindung an das jeweilige Angebot betrachtet, die für alle Angebote relevant sind. Sowohl die Bedingungen der Phase, wie auch die Form der Anbindung (vor der eigentlichen pädagogischen Adressierung im konkreten Verlauf des Angebotes) unterscheiden sich schon in dieser ersten Phase. Damit ist noch nicht das Ziel des Angebotes gemeint, sondern vielmehr die konkrete Ausgangslage, die zur Ausrichtung des Angebotes an die älteren Sehbehinderten führt. Die folgende Abbildung gibt eine Übersicht über die wesentlichen Aspekte der Anbindung der fünf Experten: Abbildung 28: Die Phase der Anbindung im Vergleich Experten Augenärztin Frau Klein
Optiker Franz
Ziel der Phase
Bedingungen der Phase
Form der Anbindung
Folgen aus Phase der Anbindung/Anschlüsse
Anbindung Diagnose und Behandlung d. Sehverlusts, psych. schwierige Lage Anbindung Sehverlust, Verlust der Lesefähigkeit
Selbstadressierung der Teilnehmer
Phase II
Öffentlichkeitsarbeit, Beratungsgespräch, Selbstadressierung Individuelles Beratungsgespräch, Selbstadressierung der Teilnehmer, Aufklärung Einzelberatung, Selbstadressierung der Teilnehmer, Selbstadressierung, Arbeiten mit dem Bestand
Phase II
O&M/LPFTrainer Jakob
Anbindung Defizite in der Selbständigkeit
Frau Jansen Beratungsgruppe
Anbindung Bedarf der älteren Sehbehinderten
Frau Meschke - Beratungsgruppe
Anbindung Eigenes Interesse
Phase I (zu späterem Zeitpunkt) Phase II Phase III Phase II Phase III Phase II
Wie bei Fischer (2007) und in den Fallporträts dargestellt, geht es in dieser Phase der Anbindung um die „Herstellung von Bindungsbereitschaft im Medium des Erstkontaktes“ (ebenda, S. 17). Anbindung und Bereitschaft zur Teilnahme am Angebot ist also das Ziel von Phase I. Hier werden bereits Veränderungserwartungen an die zukünftigen Teilnehmer gestellt, die in Form von Bedingungen zum Teil direkt, zum Teil indirekt formuliert werden. Implizite wie explizite Veränderungserwartungen zeigen sich schon in den unterschiedlichen Anschlüs-
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Integration der weiteren Experten
sen an Phase eins. In allen Angeboten besteht die Möglichkeit des Übergangs von Phase I in Phase II als Übergang hin zur eigentlichen Adressierung der Teilnehmer in Form von Steigerung und Fortsetzung. Kann die Veränderungserwartung nicht erfüllt werden, kann nach Phase I in einigen Fällen direkt das Ende der Adressierung (Phase III) folgen. Im Falle des Trainers Jakob geschieht dies durch Einfügen einer Pause. Lässt der potenzielle Teilnehmer nach einem ersten Beratungsgespräch noch zu viel Hoffnung auf Heilung durchscheinen oder kennzeichnet sich durch depressive Stimmung, wird angeraten zu einem späteren Zeitpunkt das Training aufzusuchen. Es wird hier abgewartet bis die Eigenmotivation auf ein für das Training sinnvolles Niveau steigt. Bei Frau Jansen – wie bereits besprochen – kann ebenso auf die Anbindung direkt der Ausschluss bzw. die Unterbindung der Weitervermittlung an das Gruppenangebot erfolgen. Dies wird bei ihr durch im Rahmen der Differenzierung „Lebenszugewandt/ Depressiv“ entschieden. Für die anderen Angebote gibt es zum Zeitpunkt der Anbindung keine Ausschlusskriterien. Aber nicht nur die Anschlussprozesse gestalten sich different sondern auch die Formen der Anbindung selbst. Es ist zu unterscheiden nach einer Selbstadressierung der Teilnehmer und einer eher zugehenden Form der Anbindung durch die Experten. In allen Fällen wird von der Selbstadressierung der Teilnehmer berichtet. Die Teilnehmer wenden sich mit einem Hilfebedarf an das institutionelle Angebot. Zu unterscheiden sind die Formen der Anbindung in Bezug auf die Anbindungsleistungen der Experten selbst: Verschiedene Formen tauchen hier auf: Öffentlichkeitsarbeit, individuelle Beratungsgespräche und Aufklärung. Öffentlichkeitsarbeit durch Präsentation der Institution auf Messen und themenrelevanten Veranstaltungen finden sich für die Beratungsgruppe, den Trainer und den Optiker. Im Falle Frau Meschkes findet sich in medialer Form das Auftreten auf Internetplattformen. In der Beratungsgruppe und für das Training ist in den meisten Fällen ein individuelles Beratungsgespräch vor das eigentliche Angebot geschaltet, in welchem Abwägungen über die Fortsetzung der Teilnahme oder den Einschluss in eine Trainingsmaßnahme getroffen werden. Neben den realisierten Formen der Anbindung spielen in dieser Phase noch die Bedingungen der Phase eine Rolle. Die Bedingungen der Phase werden von mir verstanden als diejenigen, die die Experten für die Hinwendung der Teilnehmer an das Angebot nennen. Dabei kann es sich um die Realisierung eines Verlusts oder einer Schwierigkeit handeln, aber auch um Diagnose oder den Wunsch nach Behandlung und Therapie. Hierbei stellt sich am umfassendsten die Thematisierung der Sehbehinderung von der eigenen Profession her heraus. Während der Optiker auf den Verlust der Lesefähigkeit als Anbindungsbedingung, der Trainer auf Defizite in der Selbständigkeit und Frau Meschke von ihrem eigenen Interesse an den Teilnehmern berichtet, behandeln Augenärztin
Überblick über Ausgestaltung von Phasen in den Angeboten
193
Klein und die Leiterin der Beratungsgruppe die Bedarfe der Teilnehmer vor einem umfassenden sozialen, psychischen und fertigkeitsbezogenem Hintergrund. Aber in Bezug auf das wenig angenommene Training in Lebenspraktischen Fertigkeiten schildert Trainer Jakob eindrucksvoll die umfassenden Bedingungen zur Problematik der Anbindung an das Angebot: ST: und dann gibt=s noch=n anderen punkt außer dem finanziellen, dass das auch sehr viel mit scham und peinlichkeit zu tun hat (.) dieses thema lpf im gegensatz zu mobilität, das is eben klar, wenn du nix siehst, kann man net einfach los rennen, das weiß jeder (I: h=hm.) das sieht auch jeder ein und die leute, also die umwelt reagiert darauf eher so, toll, dass du das machst, jetzt läufst du wieder, jetzt sieht man dich wieder auf der straße (I: h=hm.) im lpf-bereich, da ist das anders, da hat man (...) da is die eigene unfähigkeit eher (.) so=n persönliches makel (I: ah ja.) so wird das oft wahrgenommen (.) wenn jemand nicht sauber essen kann, hat das eben=ne soziale hohe komponente und des wird bei vielen sehbehinderungen ja auch gar nicht so KLAR, weil die leute nicht WIssen, wie schlimm das wirklich is, die da mit am tisch sitzen (I: h=hm. man sieht=s ja nich) man sieht=s nich und der hat ja ne brille ja, also müsst=s doch gehen, warum saut er sich jetzt ein (I: h=hm.) oder warum kommt der nich klar oder warum hängt der mit der nase im teller ne so (28/37-29/5)
Einerseits wird die notwendige Überwindung für die Teilnahme an einem Training thematisiert, auf der anderen Seite die soziale Stigmatisierung von verlorenen Kompetenzen, die paradoxerweise ein Training verhindert. Denn nach der Schilderung dieser Beispiele müsste eigentlich ein Training erst recht in Anspruch genommen werden. Im Unterschied zum O&M Training sind die Beweggründe für ein Training unterschiedlich und sie haben viel zu tun mit der sozialen Wahrnehmung der Sehbehinderung. Während es geteiltes Wissen zu sein scheint, dass bei einer Sehbehinderung Anpassung in der Mobilität von Nöten ist, wird ein Mobilitätstraining durch das soziale Umfeld positiv honoriert. Bei dem Verlust von Fähigkeiten, die von sozialer Relevanz sind, wie Essensfertigkeiten, wird dies von den Betroffenen selbst nicht als Folge der Sehbehinderung, sondern als eigene – peinliche – Inkompetenz angesehen, sogar als „persönlicher Makel“, der nicht im Bereich der Adressierung in der Sehbehindertenwelt gesehen wird. Mit diesem Zitat insistiert Trainer Jakob auf die Notwendigkeit des Beratungsgespräches mit aufklärender Funktion für seinen Arbeitsbereich. Entscheidend für die Anbindung ist also nicht nur die eigene Bedarfsformulierung, die Anstrengungen der Trainer zu Werbung für das Angebot, sondern auch die Meinung über das Training von Seiten der Umwelt.
194 4.4.2
Integration der weiteren Experten Phasen des Übergangs in verschiedene Formen der Selbständigkeit
Die Formen der angestrebten Selbständigkeit variiert in den fünf Angeboten. Überblicksartig ist dies in unten stehender Abbildung angezeigt. Abbildung 29: Übersicht über Prozesse der Überführung in die Selbständigkeit in den unterschiedlichen Kontexten Experten
Ziel der Phase
Augenärztin Frau Klein
Selbständigkeit, Linderung
Optiker Franz
Verkauf, Sehfähigkeit erhalten Selbständigkeit im Alltag
O&M/LPF-Trainer Jakob Frau Jansen – Beratungsgruppe Frau Meschke – Beratungsgruppe
Form der angestrebten Selbständigkeit Emanzipation Anwendung Qualifikation
Selbständigkeit, Partizipa- Emanzipation tion Lobbyarbeit, Selbständigkeit
Aktivität
Ende der Phase
Ende offen Ende der Adressierung Ende der Adressierung – zeitlich bedingt Ende der Adressierung – zeitlich und inhaltlich bedingt Ende offen Ende offen
Augenärztin Klein und Frau Jansen zielen in Bezug der Selbständigkeit auf Emanzipation. Es geht darum, dass sich Betroffene mit der Sehbehinderung im Alltag behaupten können. Im Falle des Optikers interessiert die Selbständigkeit weniger in ihrem Vollzug, es geht ausschließlich um die Anwendung von Hilfsmitteln. Dahingegen versteht Trainer Jakob Selbständigkeit als Qualifikation. Für Frau Meschke hingegen bedeutet Selbständigkeit Aktivität. Damit hängt auch die Beendigung der Angebote zusammen. Gerade in denjenigen Angeboten, in denen das Ende offen ist, ist der jeweilige Begriff von Selbständigkeit durch die Betroffenen nur selbst zu bestimmen, dementsprechend können sie unbegrenzt auch teilnehmen. Dahingegen finden die beiden Formen des Optikers und des Trainers ein natürliches Ende im vollzogenen Aneignungsprozess bzw. Erwerb des Hilfsmittels.
Teil III
Die Perspektive der Betroffenen
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Die Perspektive der Betroffenen
Die Sichtweise der Betroffenen wird als zweite Akteursperspektive zur Darstellung gebracht. Beim Blick auf die individuelle Sicht der Sehbehinderung im Alter interessieren zunächst die Fragen der kontextuellen Einbettung der Sehbehinderung (Biographie, Familie, medizinisches System) sowie die verschiedenen Umgangsformen mit der Sehbehinderung (Akzeptanz, Hilfsmittel, Heilung, Hilfspersonen, etc.). Daran anschließend steht die Frage nach der Relevanz pädagogischer Formen im individuellen wie im institutionellen Umgang mit der Sehbehinderung im Zentrum. Einen ersten Eindruck der Sichtweise der Individuen vermitteln die kontrastierenden Fallporträts der Betroffenen Ebeling und Kirchhoff. Während für Erstere die Integration in die ‚Sehbehindertenwelt’ geradezu als Entlastung und Zuruhekommen im Alter zu deuten ist, stehen für Frau Kirchhoff vor allem Probleme der Akzeptanz der Sehbehinderung als irreversible Tatsache im Vordergrund. Die detailliertere Schilderung der Fallporträts dient der Aufdeckung der Kategorie des Umgangs mit Kompetenzen und Defiziten im Alter und stellt erste Bezüge zu den Kategorien von Vermittlung und Aneignung her. Aufbauend auf zwei Fallstudien, welche in einem Fallvergleich (Kap. 3) zusammengeführt werden, wird aus den weiteren Interviews (Kap. 4) entlang der Kategorien Deutungs- und Handlungskontexte, Diagnose, Teilnahme an Angeboten, Relevanz von Vermittlung und Aneignung und der Phasenhaftigkeit von Deutungs- und Handlungskontexten, über die Zusammenhänge des Umgangs mit Kompetenzen und Defiziten berichtet.
1 Integration in die Sehbehindertenwelt als Ort des Ankommens nach der Verrentung 1
Integration in die Sehbehindertenwelt
1.1 Leben mit Sehbehinderung von Geburt an Das Interview mit Frau Ebeling steht für die Herstellung biographischer Kontinuität. Die Sehbehinderung begleitet ihr Leben von Beginn, was sie als Sonderfall im Vergleich zu den weiteren Betroffeninterviews kennzeichnet. Entsprechend bestimmt die Sehbehinderung wesentliche Etappen ihres Lebens. Sie wirkt sich auf die schulische Laufbahn, die berufliche Karriere aus und selbst die frühzeitige Pensionierung wird mit der Sehbehinderung begründet. An AMD leidet sie erst nach der Verrentung. Diese wird bei einer Glaukom-Operation entdeckt. Zu diesem Zeitpunkt war sie aber schon, aufgrund ihrer vielfältigen Probleme mit den Augen, Mitglied in der Beratungsgruppe des Blindenbundes, was ihr den Umgang mit der neu eingetretenen Sehbehinderung wesentlich erleichterte. Es ist sogar davon auszugehen, dass sie erst mit ihrer Integration in den Blindenbund die Sehbehinderung als Problem überwindet, das sie ihr Leben lang begleitete. Frau Ebeling ist zum Zeitpunkt des Interviews 71 Jahre alt. Sie beschreibt ihre Kindheit aufgrund der Umstände des Krieges und der Sehbehinderung als schwer. Auch das Berufsleben als Kinderkrankenschwester ist durch die Sehbehinderung beeinträchtigt. Aufgrund von Schwierigkeiten mit Kollegen in den Kliniken, aber auch aus Unsicherheit aufgrund der Sehbehinderung, wechselt sie mehrfach die Anstellung und gestaltet ihr Leben als „Deutscher Zigeuner“ mit vielen beruflichen Auslandsaufenthalten. Der berufliche Werdegang kommt zur Ruhe mit ihrer Anstellung in einem Kinder- und Säuglingsheim, bei dem sie bis zu ihrer Verrentung im Alter von 56 Jahren tätig bleibt. Frau Ebeling war nie verheiratet und hat keine eigenen Kinder. Während ihrer Arbeit mit vernachlässigten Kindern übernimmt sie aber die Pflegschaft für ein Kind. Zudem übernimmt sie die Fürsorge für ein Kind einer verstorbenen Freundin, den sie heute ihren ‚Vizesohn’ nennt.
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Integration in die Sehbehindertenwelt
Abbildung 30: Zeittafel Frau Ebeling Jahreszahlen Ereignisse 1934 geboren zahlreiche Umzüge in der Kindheit, da der Vater Berufssoldat war 1941 Längerer Aufenthalt in Schwaben 1944 Umzug in den Schwarzwald zahlreiche Untersuchungen der Augen in der Kindheit Umzug an den Bodensee Besuch des Gymnasiums 1945 Evakuierung auf einen Bauernhof in Bayern 1949 Besuch der einjährigen Hauswirtschaftsschule 1950 Erlernen des Berufes der Kinderkrankenschwester ca. 1951 Scheidung der Eltern Verlassen des Krankenhauses nach der Ausbildung wegen schlechter Augen Mitarbeit auf der Neugeborenenstation Angestellt als Privatpflegekraft an verschiedenen Orten 1955 Wochenbettpflege in England und Italien Arbeiten auf Neugeborenenstation in Essen ca. 1960 Pflege eines Kindes mit Mehrfachbehinderung in Griechenland 1962 Arbeiten im Kinder- und Säuglingsheim einer Großstadt Letzte Jahre: Arbeiten in der Milchküche des Säuglingsheims 1968 Netzhautablösung, ½ Jahr Arbeitspause ca. 1970 Pflegschaft für ein Kind, das 21 Jahre bei ihr bleibt Mutterersatz für den Sohn einer Arbeitskollegin, die starb als er zwei Jahre alt war Jedes Jahr Reisen nach Namibia zum "Vizesohn" bis heute 1990 Diagnose: Grauer Star 1990 Einreichung der Rente aufgrund der Augenproblematik 1996 Linsenluxation Mitglied im Blindenbund Durch Bekannte in die Beratungsgruppe für Makulapatienten gekommen Netzhautablösung am zweiten Auge: zahlreiche Laseroperationen 2003 Operation am Grauen Star Einsetzen einer neuen Linse Bei Nachuntersuchung nebenbei Erwähnung der Makuladegeneration Zahlreiche Aktivitäten mit dem Blindenbund Zahlreiche Aktivitäten mit dem evangelischem Kreis
Strukturell lässt sich das Interview in drei Grobgliederungspunkte unterteilen. Es gibt zwei Biographiedarstellungen am Anfang (1/4-4/8) und zum Ende des Interviews (22/12 –26/43). Der Hauptteil des Interviews (4/13-22/11) hat die Sehbehinderung zum Thema. Er ist durch die Fragen der Interviewerin strukturiert nach Umgang mit der Sehbehinderung, Veränderungen des Alltags, Hilfsmittelnutzung, Verarbeitung der Erkrankung, Angeboten für Sehbehinderte und schließlich der Teilnahme an der Beratungsgruppe.
Deutungskontext Sehbehinderung als biographische Kontinuität
199
1.2 Deutungskontext Sehbehinderung als biographische Kontinuität Zur Betrachtung des Deutungskontextes werden zunächst die beiden entscheidenden Thematisierungen der Sehbehinderung in den Blick genommen: Zum einen das Auftauchen der Sehbehinderung im Interview zu Beginn der Biographieschilderung und die zweifache Diagnoseschilderung der Makuladegeneration. Im weiteren Verlauf dieses Gliederungspunktes wird die gesamte Biographieschilderung vor dem Hintergrund der Sehbehinderung dargestellt, um die Herstellung von Kontinuität zu rekonstruieren.
1.2.1 Auftauchen der Sehbehinderung im Interview Das Auftauchen der Sehbehinderung im Interview wird als eines der entscheidenden Parameter gedeutet, die für die Umgangsformen mit der Sehbehinderung in Relation zu Biographie und weiteren Kontexten Aufschluss geben (vgl. Himmelsbach, 2003). Im Falle Frau Ebelings taucht die Sehbehinderung direkt mit dem Erzähleinstieg auf. Fast lehrbuchartig beginnt Frau Ebeling die Schilderung ihrer Biographie, nach der offenen Erzählaufforderung, mit ihrem Geburtsjahr 1934. Anstatt mittels biographischer Etappen voranzuschreiten, wird direkt zum Thema der Sehbehinderung gewechselt. Und zwar hin zu einem Zeitpunkt, der noch vor ihrer eigenen Erinnerung liegt: Die Mutter stellt bei ihr schon als Säugling fest, dass etwas mit den Augen nicht stimmt: ST: also, ich bin 1934 geboren und eh ziemlich schnell hat meine mutter festgestellt, dass ich schlecht sehe, dass ich eben nur reagiere, wenn ich auf dem arm bin (I: h=hm) eh man hat dann festgestellt, dass ich also kurzsichtig bin, aber man musste dann ja erst mal gewisse zeit abwarten ehm um, damit ich größer werde (I: h=hm) ich bin dann meine ganze kindheit durch eigentlich bis 1944 (..) war ich JE:des halbes jahr in freiburg, das war DIE die ehm augenkapazität überhaupt zu der damaligen zeit, und zwar der professor stein (I: h=hm) der dann festgestellt hat, dass ich also (.) mein augapfel nach hinten sehr viel größer ist; er konnte nur nicht feststellen, wie groß, und dass die linse NIcht in der mitte is. (I: h=hm) und er hatte eigentlich vor, mich zu operieren, aber er hat=s dann abgelehnt oder nicht gemacht, weil er gesagt hat, die sehnen sind nicht dehnbar genug. ja? Und ehm im nachhinein war des wahrscheinlich mein großes glück, denn eh später wurde dann mein gutachten gemacht und da hieß es, wenn er das gemacht hätte, wär ich erblindet. (1/10-1/27)
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Integration in die Sehbehindertenwelt
Sehbehinderung als lebensbegleitendes Thema Gleich mehrere Aspekte werden mit dem ersten Satz angestoßen, die für die weitere Betrachtung des Falles Frau Ebeling relevant sind. Es deutet sich bereits an, dass die Sehbehinderung ein lebensbegleitendes Thema ist. Mit der Nennung der Mutter wird ebenso die Sorge der Eltern vorweggenommen. Sie charakterisiert sich als Kind, für das besondere Sorge von Nöten war. Wenn sie mit „ich bin dann durch meine ganze kindheit durch eigentlich bis 1944“ vom Säuglingsalter in die Kindheit, mit bewusster Erinnerung springt, könnte durch die Pause ebenso erwartbar sein, dass nun ein Sprung zur Kindheit hergestellt wird, der Ereignisse der Kindheit darstellt. Aber die Befragte schließt an das vorhergehende Thema weiter an und behandelt die ganze Kindheit vor dem Thema der Sehprobleme. Es gibt keine Aussage über ihre Kindheit außerhalb der Thematisierung der Sehbehinderung. Insofern kommt es zu einer Verdichtung, dass in ihrer Kindheit durch die Hinwendung zu einer medizinischen Institution eine Diagnose möglich ist. Dies evaluiert sie nun aus der Retrospektive. Mit dem chronologischen Sprung in die Schulzeit wird endgültig das Muster der Biographiedarstellung bestätigt: Die Darstellung der Biographie findet einzig und allein vor dem Hintergrund der Sehbehinderung statt. Mit dem Schuleintritt wird bereits zum dritten Mal eine zeitliche Epoche über das schlechte Sehen eingeleitet. Die stete Parallelität der Schilderungen bestätigt die Vermutung, dass es sich bei der Sehbehinderung um ein lebensbegleitendes Phänomen im Falle Frau Ebelings handelt. Dieses Muster wird bis zum Ende der ersten Biographiedarstellung fortgesetzt. Bis sie in der Gegenwart ankommt, wird jede neue chronologische Sequenz mit der Augenproblematik verknüpft. Frau Ebeling führt somit ihre Biographie als Biographie des Sonderfalls ein, ja gar des Herausfallens aus dem üblichen Kindheitsmuster. In jeder von ihr geschilderten Etappe taucht sie als „Sehbehinderte“ auf, die sich von anderen Kindern unterscheidet. Andersartigkeit aufgrund von Sehproblemen ist in diesem Fall das biographische Leitthema.
Bedeutungsformen der Behinderung und Wissen über die Erkrankung Aber nicht allein die Tatsache der lebensbegleitenden Sehbehinderung, sondern auch die Bedeutung für das Leben mit einer Sehbehinderung wird behandelt. Zunächst geschieht dies aus der Retrospektive der Kindheit. Dabei sind folgende Aspekte aus der Einstiegssequenz ableitbar: Erstens, Frau Ebeling verfügt über genaue Kenntnis und präzises Wissen über ihre Erkrankung und Krankheitsgeschichte. Dies drückt sich aus in der detaillierten Schilderung der Diagnose und
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Therapie aus der Retrospektive. Zweitens steht die Bedrohung der Blindheit von Kindheit an als Gefahr im Raum. Auch wenn die Befragte von dieser Bedrohung erst im Jugendalter erfährt und damit die permanente Sorge ihrer Eltern verstehen lernt, relationiert dies doch die heutige Erkrankung, da die absolute Blindheit bei AMD ausgeschlossen ist und damit weniger bedrohlich ist, als die frühere Erkrankung des Auges. Als dritter Aspekt der Bedeutung der Sehbehinderung lässt sich die Schilderung als „Sorgenkind“ der Eltern auffassen: Die Sehbehinderung ist nicht nur ein individuelles Phänomen, mit dem sie sich selbst arrangieren muss. Vielmehr ist die Sehbehinderung zudem ein finanzielles und familiäres Problem. Durch ständigen Hilfsmittelbedarf und die Sorge der Eltern externalisiert sich die Sehbehinderung auf ihr gesamtes Umfeld. Viertens sind ihre gesamte Kindheit hindurch Therapiebemühungen der Augen omnipräsent, aber das Drama des schlechten Sehens liegt außerhalb ihrer eigenen Macht: Die Betreuung war zu jeder Zeit optimal. Retrospektiv sind für die Deutung der Erkrankung somit vier Bereiche zu kennzeichnen:
Wissen um die Erkrankung Blindheitsbedrohung Sorgenkind der Eltern Therapiebemühungen
Dabei ist bedeutsam, dass ein Unterschied zur retrospektiven und zur gegenwärtigen Betrachtung der Erkrankung besteht. Denn außer der Bedeutung des Wissens um die Erkrankung ist zum Zeitpunkt des Interviews keiner der übrigen drei Aspekte mehr relevant.
1.2.2 Diagnose der Makuladegeneration „Ärzte reden nicht mit einem“ Nachdem der Intervieweinstieg schon die Mühen und Sorgen eines Lebens im Kampf mit einer Sehbehinderung aufzeigt, stellt sich im Folgenden die Frage, wie Frau Ebeling das zusätzliche Auftauchen einer weiteren Erkrankung am Auge im Alter deutet. Aus diesem Grund wird Einblick genommen in die Darstellung der AMD-Diagnose, um deren Verarbeitung und Umgang es im Interview vor allem geht. Im Falle der Befragten wird die Diagnose zweimal, in ähnlicher Weise geschildert. Dies ermöglicht, anhand eines internen Vergleichs, die Besonderheiten des Erlebens der Diagnose herauszuarbeiten. Die Schilderungen tauchen an zwei unterschiedlichen Stellen im Interview auf. Die erste Sequenz (3/24-3/50) steht im Großblock der Biographieschilderung I, kurz bevor auf die Mitgliedschaft in der Beratungsgruppe eingegangen wird. Diese stellt den Ab-
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schluss der Darstellung des Lebensweges dar. Die zweite Sequenz (10/39-11/17) hingegen ist eingebettet in den Darstellungen und Nachfragen zur Sehbehinderung und wird durch die Nachfrage nach dem Erleben der Diagnose durch die Interviewerin eingeleitet. Diagnose der Makuladegeneration I (3/24 – 3/50)
Diagnose der Makuladegeneration II (10/45 – 11/17)
ST: ja? mein augenarzt ist inzwischen dann verstorben, dann kam ne neue dran, die leider nicht sehr viel geredet hat. jedenfalls ich musste mir eh vor zwei jahren das auge operieren lassen mit der (..) em mi=m grauen star (I: h=hm) weil (..) sich sie wackelte schon, also die linsen die linsenluxation stand quasi vor der türe (I: h=hm) ja? Und (.) ehm ich musste aber ins krankenhaus, ich das konnt man nicht ambulant machen. ich sollte drin bleiben weil man nicht wusste (.) was für komplikationen kommen. ehm sie ham mich als letzte drangenommen und das war wohl auch richtig so. es hat ewig gedauert. die linse hat er also ganz schlecht zu fassen gekriegt und hat also wahnsinnige schwierigkeiten bereitet. und sie müssen mir dann ne linse ein ne besondere linse mit dioptrin auch drin (I: h=hm) eh ich hab seitdem ein wahnsinnig kompliziertes sehen. und bei der nachuntersuchung ham se gesagT: na ja und ihre makula is ja auch schon ganz schön weit. Ho. Ho. hab ich gesagt, ja was jetzt? Und da hab ich zu meiner augenärztin gesagt, warum sie mir das nicht gesagt hat. und da hat sie gesagT: wieso, sie haben doch sowieso alles was man nicht haben sollte. so ungefähr. also es ist jemand sie ist wohl sehr gut und so, aber reden kann sie nicht sehr gut mit einem (I: h=hm) und das ist ein ein ganz schlimmes problem (3/24 – 3/50)
I: Und wie sehen sie das heute? ST: ja also ich war damals sehr entsetzt, dass mir meine augenärztin das nicht gesagt hat, dass ich das, ich hab das so also (.) so serviert bekommen. der doktor in der uniklinik hat bestimmt gedacht, ich HAB=S ich weiß das (I: ja ja) ja? Und ich muss sagen, ich war schon=n bisschen (.) geschockt und ich bin auch zu meiner augenärztin dann gegangen und habe ihr gesagt, warum sagen sie mir das nicht? ja? Und ehm die antwort, die die sie mir gegeben hat, ich die fand ich GENAUSO schrecklich wie die Offerierung von der makula. also ich hab es ZWEIMAL eh auf ne eigentlich unmögliche art und Weise eh serviert bekommen und, na ja nun hab ich mein ganzes leben lang irgendwo nicht gut gesehen. und von daher gesehen MUSST ich=s ja irgendwie wegstecken. (I: h=hm) ja? Und ich musste auch versuchen, damit klarzukommen. und ehm als ich dann mi=m grauen star in die uniklinik bin, wie se das gemacht haben, also da war mir schon sehr sehr mulmig. da war also (I: h=hm) da hab ich mir lange überlegt, wie kommst de nach hause wieder, nicht. I: h=hm. aber da wussten sie das ja noch gar nicht? ST: nein, da wusst ich=s noch gar nicht. und dann DAS noch dazu. und, na ja es ging dann alles. es muss ja irgendwo weitergehen, nich. (10/39 – 11/17)
- Diagnose und Entsetzen darüber - Verweis auf die Unfähigkeit der Ärzte - zusätzlich Verweis auf den Verarbeitungsprozess, der von Kontinuität auf mehreren Ebenen gekennzeichnet ist (lebenslanges schlechtes Sehen, Angst vor der Prognose, es muss immer weiter gehen)
- nur Diagnose und Entsetzen über die Mitteilung der Erkrankung - Verweis auf die Unfähigkeit der Ärzte im Umgang mit den Patienten - Vermittelt implizit, dass mit besserer Information durch die Ärzte die Verarbeitung besser verlaufen könnte
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Erleben der Diagnose I Mit dem bestätigenden „ja?“ wird das Segment der vorherigen Augenoperation abgeschlossen und der Wechsel des Augenarztes beschrieben. Es kommt dabei zu einer kurzen Erzählung. Die Erzählung wird gerahmt durch das „Reden“ der Augenärztin. In der Erzählung erscheint das Gespräch mit dem Patienten als ein wesentliches Qualitätsmerkmal eines Augenarztes. Inhaltlich wird zunächst die Operation am Grauen Star beschrieben. Die Erzählung ist szenisch-episodisch aufgebaut, sie verfügt über die typischen Merkmale einer re-inszenierenden Darstellung: Mit dem ersten Satz des Segments markiert Frau Ebeling bereits die evaluative Bedeutung ihrer Erzählung (im Sinne von: meine Augenärztin redet zu wenig), die am Ende der Erzählung wieder aufgegriffen wird und nimmt damit den Höhepunkt ihrer Geschichte in einem „abstract“ vorweg. Als zweites folgt eine Orientierung, die die folgende Geschichte zeitlich und die Umstände situiert („jedenfalls ich musste mir eh ehf vor zwei jahren das auge operieren lassen mit der (..) em mi=m grauen star“). Daraufhin folgt eine Komplikation, die die Ereignisse der Operation näher beschreibt: Die Operation war dringlich, da andere Augenprobleme noch hinzukamen. Zudem konnte die Operation nicht ambulant durchgeführt werden, da die Gefahr von Komplikationen zu hoch war. und tatsächlich kam es zu Komplikationen, die heute zu einem „komplizierten Sehen“ führen. Dieses komplizierte Sehen könnte schon als Höhepunkt der Geschichte gedeutet werden. Den Höhepunkt der Erzählung stellt allerdings erst die Nachuntersuchung dar, deren Ergebnis und das anschließende Gespräch mit der niedergelassenen Augenärztin. Kennzeichnend hierfür ist die Verwendung von direkter Rede und die Steigerung der Emphase durch ihren eigenen Ausdruck der Verwunderung über die Diagnose („Ho. Ho. hab ich gesagt, ja was jetzt?“), die ihr beiläufig mitgeteilt wurde. Daraufhin kontaktiert die Befragte ihre Augenärztin, die ihren Hinweis auf die fehlende Diagnose der AMD mit den Worten abspeist: „wieso, sie haben doch sowieso alles was man nicht haben sollte. so ungefähr.“ Sie deutet zwar an, dass sie den genauen Wortlaut nicht wiedergeben kann. Sie drückt aber auf jeden Fall aus, dass sie auf eine Art und Weise von der Diagnose erfuhr, die sie nicht für gerechtfertigt hält. Das Resultat präsentiert sie dann schließlich im letzten Satz der Sequenz: „also es ist jemand sie ist wohl sehr gut und so, aber reden kann sie nicht sehr gut mit einem und das ist ein ein ganz schlimmes problem“. In diesem Resultat qualifiziert sie die Augenärztin zwar als Expertin auf ihrem Fachgebiet, zumindest hat sie diesen Ruf („wohl“), allerdings fehlt ihr die Fähigkeit sich angemessen mit den Patienten auseinanderzusetzen. Dies wird zudem als ein „schlimmes Problem“ gekennzeichnet. Die Erzählung dient somit dazu, zu verdeutlichen, dass sie von ihrer Makuladegeneration auf eine Weise erfuhr, die für eine Person, die derart viele Prob-
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leme am Auge hat, ungeeignet ist. Die Betroffene wird trotz großer Kompetenz in ihrer eigenen Bewältigung von Augenerkrankungen als inkompetent adressiert, indem ihr Fakten der eigenen Erkrankung vorenthalten werden. Disqualifiziert werden hier nicht die Ärzte, die die Operation durchführten. Im Mittelpunkt der Kritik steht die Augenärztin, zu der sie zu regelmäßigen Kontrollen geht. Der regelmäßige Kontakt macht sie zur Vertrauensperson, deren Aufgabe insbesondere die Aufklärung der Patienten ist. Diese zentrale Aufgabe erfüllt ihre Augenärztin hier nicht. Obwohl es sich hier um die erste Erwähnung der AMD und den kritischen Moment der Diagnose handelt, wird die Bedeutung für das eigene Leben in Sinne einer Kontinuitäts- oder Diskontinuitätserfahrung nicht erwähnt. Allein die Rolle der Augenärztin wird expliziert und sie wird wegen ihrer Fremdzuschreibung eines Defizits verurteilt. Neben der Defizitzuschreibung ist die Tatsache des Gesprächsbedarfs auf Seiten der Interviewten von zentraler Bedeutung. Diagnose der Makuladegeneration II Bei der Beantwortung der Frage wird erneut, wie bereits in der ersten Sequenz zur Diagnose der Makuladegeneration (3/24 – 3/50) nicht auf die Bedeutung für die Biographie oder die Bedeutung für den Alltag oder die Betroffenheit über die Diagnose abgehoben, sondern einzig und allein auf die Vermittlung der Diagnose durch die Augenärzte. Das Entsetzen bezieht sich nicht auf die Diagnose, sondern auf die Tatsache, dass sie nicht vorher von der Erkrankung gewusst hatte, obwohl sie schon weit fortgeschritten war. Der Augenarzt in der Klinik wird entlastet, da sie ihm unterstellt, davon ausgegangen zu sein, wenn man eine Krankheit habe, dann weiß man auch davon. Anders als bei der ersten Schilderung der Diagnose kommt noch eine Andeutung auf den Verarbeitungsprozess der Diagnose der Erkrankung hinzu: Die Diagnose wird deshalb nicht als Einschnitt in die Biographie betrachtet, da schon ein Leben lang das Sehen schlecht war und dies bewältigt wurde. Zudem wurde von der Operation keine Verbesserung des Sehens, sondern lediglich ein Aufhalten des Absinkens des Sehvermögens erwartet. Zumindest wurde befürchtet, dass es wieder, wie schon bei anderen Operationen, zu Komplikationen kommen könnte, die das Sehen weiter verschlechtern könnten. Die Verarbeitung zeigt also in gewissen Zügen Kontinuität in Bezug auf die Lebensgeschichte: Es zeichnet sich für sie kein anderer oder neuer Weg ab, mit der Sehbehinderung umzugehen. Mit der zusätzlichen Diagnose der AMD muss weiter so gehandelt werden wie mit dem Problem der Sehbehinderung schon vorher. Es werden keine Identitätsprobleme entzettelt wie in anderen Interviews. Die neue Erkrankung stellt nur eine weitere Perle in einer Kette von ihr bekannten Erkrankungen dar. Zu be-
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merken ist aber, dass durch das Fehlen des Diskontinuitätsmomentes die Frage nach der Betreuung einen anderen Stellenwert bekommt. Als Expertin in Sachen Sehbehinderung erwartet sie zumindest eine ehrliche Diagnose, in der ihr kein Wissen vorenthalten wird. Für ihren Umgang mit der Erkrankung ist die Kommunikation zentral. Dies wird noch in späteren Stellen des Umgangs mit der Sehbehinderung nachgezeichnet. Doch wie hat sich die Biographie von Frau Ebeling gestaltet, dass Phänomene der Diskontinuität in Bezug auf die Makuladegeneration nicht mehr auftauchen? An welchen Stellen tauchen Probleme im Alltag auf und wie werden oder wurden diese gemeistert? Antworten auf diese Fragen liefern die Betrachtung der Biographie aus der Sicht der Sehbehinderung, die das Leben mit der Sehbehinderung als Externalisierungsleistung und als Heldengeschichte kennzeichnen, und die Betrachtung lebensweltlicher Aspekte im Hinblick auf Umgangsformen mit der Sehbehinderung.
1.2.3
Biographie aus Sicht der Sehbehinderung Ein schwieriges Leben kommt mit dem Alter zur Ruhe
Durch den Einbezug der Lösung biographischer Krisen und Schwierigkeiten mit Fokus auf die Sehbehinderung, erklärt sich auf einer ersten Ebene, warum die Themen ‚Sorgenkind’, ‚Therapiebemühungen’ und ‚Blindheitsbedrohung’ heute nicht mehr im Vordergrund stehen. Auch wenn diese Aspekte nicht mehr explizit aufgegriffen werden, so lassen die im Folgenden dargestellten Sequenzen aus der Biographie erste Schlüsse über die Herstellung von Kontinuität und die Veränderung des Erlebens der Sehbehinderung in der Gegenwart zu.
1.2.3.1 Normalisierungstendenzen im Leben mit einer Sehbehinderung Die Darstellung der Biographie kennzeichnet sich in diesem Interview durch Normalisierungstendenzen. Für Einschränkungen durch ihre Behinderung findet die Befragte immer eine Lösung. Es wird durchgängig argumentiert, dass eher externe Faktoren die Befragte behindern: Für Abbrüche in der Bildungshistorie (Beendigung des Gymnasiums), für Schwierigkeiten im Berufsleben (Probleme in der Ausbildung, Mobbing am Arbeitsplatz) sind immer die Umstände verantwortlich, die außerhalb des eigenen Einflussbereiches stehen, wie der Krieg oder die Borniertheit von Kollegen. Die Strategie eigene Probleme wegzuerklären ist ein wesentliches Muster dieses Lebenslaufs. Dies korrespondiert mit der Darstel-
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lung der Diagnose. Der Schock über die Erkrankung liegt weniger in der Erkrankung selbst, denn in der zugewiesenen Defizitunterstellung an ihre eigene Person sowie der inkompetenten Kommunikation der Ärzte. Zur Erläuterung dieser Normalisierungsthesen wird exemplarisch eine Textstelle aus dem Berufsleben dargestellt: ST: und ich habe ehm kinderkrankenpflege erlernt. ich war kinderkrankenschwester, ich hab es wahn:sinnig schwer gehabt in der ausbildung, weil unsere chefärztin ich hab in tübingen erlernt gelernt die (.) wollte also dass ich absolut nicht das staatsexamen mache. die hat=s also (..) hat richti (..) in der heutigen zeit würde man sagen, die hat mobbing mit mir gemacht, ja? aber ich ich wollte partout und ich hab das auch durchgesetzt, aber ich hab dann (.) ich hab mein staatsexamen gemacht, aber ich bin nicht im krankenhaus geblieben (I: ah ja) weil ich mir gesagt hab, ich möchte nicht in die schwierigkeiten kommen, en (.) ne verkehrte spritze oder was dergleichen zu geben. also davor hat ich heillos angst. aber es gibt als kinderkrankenschwester ja sehr viel andre möglichkeiten. ich hab privatpflegen gemacht, ich war (..) eh auf neugeborenenstation erst und privatpflegen gemacht. (2/6 - 2/21)
Bei der Schilderung der Themen Berufsausbildung und Berufstätigkeit in der ersten Biographiedarstellung wird erstmals nicht die Sehbehinderung in den Vordergrund gerückt; sie taucht aber dennoch am Rande auf („verkehrte Spritze“). Im Vordergrund stehen vielmehr die Schwierigkeiten der Berufsausbildung im Konflikt mit der Chefärztin. Es wird mehrfach betont („wahnsinnig schwer“, „absolut nicht“), wie schwierig es war, die Ausbildung als Kinderkrankenschwester erfolgreich abzuschließen. Die Schuld an dieser Problematik wird einzig und allein der Chefärztin zugeschrieben; eigene Fehler oder Probleme werden nicht angeführt. Sie spricht sogar von Mobbing, wobei hier mögliche Motive der Chefärztin im Dunkeln bleiben. In der Schilderung wird der Interviewerin nahe gelegt, dass es einzig ihrem eigenen Durchsetzungsvermögen und dem absoluten Willen zur Erreichung des Traumberufs zu verdanken ist, dass sie die Ausbildung beendete. Der Anschluss „aber nicht im krankenhaus geblieben“ lässt zunächst vermuten, dass sie das Krankenhaus aufgrund der dortigen Strukturen und aufgrund der schlechten Erfahrung mit der Chefärztin verlässt. Ihr anschließender Kausalanschluss verweist allerdings wieder, wenn auch implizit, auf die Sehbehinderung. Aufgrund der schlechten Augen hat sie Angst, falsche Spritzen zu geben oder andere Dinge zu verwechseln. Das Thema der Hierarchie und der Strukturen im Krankenhaus scheint nur einen Begründungszusammenhang für den Wechsel der Institution darzustellen. Allerdings erkennt sie die anderen Möglichkeiten, die sie neben dem Krankenhaus als Kinderkrankenschwester hat und geht diesen Weg. Dort ist sie mit
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den Problemen der Sehbehinderung nicht konfrontiert und die riskante medizinische Intervention ist nicht von Nöten. Die Art und Weise, wie die Stellenwechsel nicht inhaltlich, sondern immer aufgrund von äußeren Konventionen argumentiert werden, repräsentiert ein Muster, das nicht nur den beruflichen Bereich umfasst. Vielmehr wird in jeder Lebenslage die Sehbehinderung, als Grund für Defizit- und Kompetenzzuschreibungen, verschoben oder gar negiert. Obwohl die Sehbehinderung als lebensbegleitend beschrieben wird, eröffnen sich Schwierigkeiten aufgrund dieser gravierenden Beeinträchtigung nicht als kausaler Zusammenhang, vielmehr sind Dritte für Komplikationen im Lebenslauf verantwortlich. Frau Ebeling hat durch diese Externalisierung also eine Strategie entwickelt, die ihr Leben nicht als Sonderweg eines Lebens mit Sehbehinderung darstellt. Stattdessen wird die Sehbehinderung in den Hintergrund gestellt, um Probleme zu vermeiden. Dies erscheint wesentlich für den Umgang mit der Sehbehinderung im Alter und damit dem Hinzutreten einer neuen Erkrankung an den Augen. Ihr Leben lang hat sie darum gekämpft mit ihrer Sehbehinderung anerkannt zu werden. Die Strategien für diesen Kampf sind voll entwickelt, so dass der neue Einbruch keine Diskontinuitätserlebnisse mehr hervorrufen kann.
1.2.3.2 Leben mit Sehbehinderung als Heldengeschichte Frau Ebeling kennzeichnet sich selbst als Heldin im Umgang und der Verarbeitung der Sehbehinderung. Sie zeigt sich als die Stärkere im Umgang mit dem Leben mit der Sehbehinderung. Zum Beispiel meistert sie die Schule trotz Sehbehinderung, indem sie immer in der ersten Reihe sitzt und die Sehbehinderung nicht zum Problem macht. Auch gegenüber der Interviewerin bringt sie diese Stärke in einer Sequenz zum Ausdruck, indem sie mit der Interviewerin in Interaktion tritt. Frau Ebeling fordert geradezu Bestätigung für ihren heroischen Umgang mit der Sehbehinderung ein: ST: ja? Und ehm (..) jetzt kommt noch dazu, also die linsenluxation, als sie die linse rausholen wollten die da im augapfel schwamm, ham=se entdeckt, dass sich hier die netzhaut löst. und ham geläsert und geläsert und geläsert und die wollte nicht dran. und dann ham=se mich operiert und ham gesagt sie versuchen=s anschließend noch mal. und haben mich also wieder (..) bis ich wirklich nicht mehr konnte, das ist ja wahnsinnig. Haben sie das mal in die augengekriegt, diese laserstrahlen? das das tut richtig weh mit der zeit (I: h=hm) ehm also sie ham se zu 95 prozent drangekriegt, so ham=ses mir gesagt. und ehm(..) ham dann mich in ruhe gelassen. (3/11-3/22)
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Ein weiterer Aspekt, der diese Stärke im Umgang mit der Sehbehinderung verdeutlicht, ist die Sorge der Eltern. Sie fürchteten um die Erblindung der Tochter, während sie selbst die Behinderung als „normal“ betrachtet. Durch ihren heroischen Umgang erfährt sie immer wieder Bestätigung und Ermutigung. So taucht die Sehbehinderung nicht als Behinderung, sondern als Herausforderung auf.
1.2.3.3 Mehr an Wissen der Anderen Gerade in Relation zur Diagnoseschilderung erscheint die Lesart des ‚Mehr an Wissen von Dritten’ für die Deutung der Sehbehinderung im Alter von entscheidender Bedeutung. Das ‚Mehr an Wissen’ wurde bereits in der Diagnoseschilderung durch das Verschweigen der neuen Diagnose aufgerufen. Die Augenärztin gibt ihr Wissen über die Erkrankung nicht preis. Dieser Wissensvorsprung ist für die Betroffene bedeutsamer als die Diagnose der Sehbehinderung selbst. Dieses Phänomen taucht im Alter nicht das erste Mal auf. Es reproduziert sich in der Biographieschilderung auch an anderer Stelle. So verschwiegen ihr die Eltern lange Zeit ihre Sorge um die drohende Erblindung: ST: und man sagt immer, das kommt von den augen. also es ging so weiter bis zu meinem achtzehnten lebensjahr und (.) da (.) blieb auf einmal die ehm dioptrinzahl stehen. sie sie ging nicht weiter. und meine mutter hat einen freudentanz aufgeführt. und ich hab immer gesagt ja warum wieso das (..) was soll das heißen. und und und das ist doch eh ja ok (.) es bleibt stehen aber (..) na ja also jedenfalls nach langem Hin und Her hat sie mir erzählt, der professor stock hätte gesagt, ich würde erblinden wenn das so weitergeht. und von dem moment an, wo es stoppt, ist es gebrochen. (I: a ja h=hm) und da war mir natürlich dann sehr viel klar und es ging dann auch langsamerer weiter, es wurde auch noch schlechter, aber langsamer. und ich habe ehm kinderkrankenpflege erlernt (1/48-2/6)
Das Spannungsverhältnis der geringeren Informiertheit über den eigenen Zustand scheint nun mit dem Alter gelöst und sie ist selbst ‚Herr der Lage’. Aus diesem Zusammenhang von Biographie und Alter als Selbstaufklärung ergibt sich ein Zusammenhang von Sehbehinderung und personaler Autonomie. Durch ein Wissensgefälle zu anderen Personen fühlte sich die Betroffene als Person nicht wahrgenommen und ernst genommen. Erst mit dem Alter ist nun diese Phase vorbei, auf Probleme gestoßen zu werden. Nun taucht die Sehbehinderung nicht mehr als Defizit auf. Denn die Sehbehinderung selbst ist nicht das Problem. Sie wird nur in bestimmten Situationen zum Problem. Diese Situationen werden nun gemieden (Wechsel der Augenärztin, Ausscheiden aus dem Berufsleben, etc.). Als idealer Ort stellt sich damit der Blindenbund dar. Hier wird sie nicht
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auf das Defizit der Sehbehinderung gestoßen, da hier andere Kommunikationsformen vorherrschen. Das Visuelle spielt eine geringere Rolle. Stattdessen sind die verbale Kommunikation und die Ansprache wesentlich.
1.2.3.4 Alter als Zeit der Vereinfachungen und Entlastungen Der oben erwähnte Zusammenhang von Sehbehinderung und personaler Autonomie wird explizit erhärtet durch die Aussage, dass mit dem Alter alles besser wurde. Seit der Verrentung sind zahlreiche Vereinfachungen und Entlastungen zu spüren. I:
ah ja, aber jetzt sagten sie vorhin auch, das klingt ja jetzt wieder sehr schön (…) aber sie sagten vorhin auch, seit der rente geht=s mir besser ST: ja ehm der druck is nicht mehr da, dieses eh es war dann zum schluss schon anstrengend mit den kindern, nich, die kinder ham denn ja zum teil=n gewicht und wenn die am boden sind sie müssen die hochheben und so und ehm ehm (..) ich mein, mir is es noch nie so gut gegangen wie jetzt, seit ich in der rente bin (I: h=hm) nich, also von daher gesehen, ich hab noch ein wunderbares leben. ja. ich hab ne einschränkung durch mein nichtsehen, aber ich hab des beste draus gemacht, was man machen kann. und ich sitze nicht da und eh tu trübsal blasen, sondern ich versuche das beste draus zu machen. ich hab n sehr schönen bekanntenkreis, ich hab=n liebevollen verwandtenkreis, also verwandtschaft, eh, ich fliege jeden winter nach namibia, um diesem kalten wetter zu entfleuchen. dort hab ich ein zweites zuhause, also mir geht es bestens. (25/41-26/3)
Einerseits entfällt der berufliche Druck: Man wird nicht mehr auf die Sehbehinderung gestoßen. Die Sehbehinderung ist nun zu einer Beeinträchtigung geworden, die autonom steuerbar ist. Das soziale Umfeld kann frei gewählt werden. Es wird zwar erwähnt, dass auch körperlich, die Anstrengungen am Ende des Berufslebens sehr groß waren. Aber durch die Erwähnung, dass der Druck nicht mehr da sei, lässt sich eine direkte Verbindung zu den schwierigen Verhältnissen aufgrund der Sehbehinderung herstellen, wie der Angst vor falscher Medikation oder die Probleme mit den Kollegen. Somit kommt ein anstrengendes Leben mit der Sehbehinderung durch die Verrentung zur Ruhe. Für dieses zur Ruhe kommen spricht zudem die Hinwendung zum Blindenbund, die parallel zur Verrentung stattfindet und die unter dem Aspekt der Relevanz von Institutionen (vgl. 1.5) näher behandelt wird.
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1.2.4 Zusammenfassung Relevanz der Biographie für die Deutung der Sehbehinderung Herausgearbeitet wurden bisher die Aspekte des Deutungskontextes. Für die Betroffene Ebeling steht dabei die Bedeutung der Biographie im Vordergrund. Auf der Ebene des Kontextes zentrieren sich Biographie und Kommunikation um die Bedeutung der Sehbehinderung. Die Biographie ist gekennzeichnet durch eine Normalisierung in Form einer Umdeutung des Lebens mit der Sehbehinderung als Heldengeschichte, Formen der Externalisierung und dem Versuch das Beste aus der Lage zu machen. Zudem beschreibt die Befragte mit Fortschreiten der Biographie einen Prozess der Selbstaufklärung, welcher in personale Autonomie im Alter mündet. Die Kommunikation ist für diesen Prozess der Selbstaufklärung wesentlich. Dargestellt wird dies dadurch, wie der Wissensvorsprung Dritter die Selbstaufklärung lange Zeit verhinderte und wie dies durch Kommunikation überwunden wird. Auf der Ebene der Deutungsprozesse können sowohl Kontinuitäts- wie Diskontinuitätselemente aufgezeigt werden. Beide stehen im engen Zusammenhang zum Kontext. Das Kontinuitätserleben zeichnet sich in der Darstellung der Biographie als Fortsetzung eines Lebens mit Sehbehinderung und durch die Normalisierungserfahrung ab. In diese kontinuierliche Schilderung brechen Diskontinuitätsmomente ein. Diese sind aber nicht ausschließlich auf negative Erfahrungen beschränkt. Es gibt auch positive Diskontinuitäten, wie das Alter als positiver Übergang, in dem das Defizit der Sehbehinderung verschwindet. Die einzige negative Diskontinuität ist die Diagnoseschilderung, die die gewonnene Autonomie über die Sehbehinderung kurzfristig gefährdet. Bezieht man diese Ergebnisse des Deutungskontextes auf Kompetenz- und Defizitzuschreibungen, so sind Fremd- und Selbstzuschreibungen zu unterscheiden. Dabei ist auffällig, dass Frau Ebeling, bedingt durch ihre Externalisierungsleistungen, Defizite vor allem als Fremdzuschreibung erlebt, während sie selbst sich durch ihr Wissen um die Erkrankung eher als kompetent darstellt.
1.3 Handlungskontext Umgangsformen mit der Sehbehinderung im Alter Die vorhergehenden Analyseaspekte zeigten auf, dass die Formen des Umgangs mit der Sehbehinderung in diesem speziellen Fall nicht allein auf das Alter bezogen sind. Die positive Bewältigung steht vor allem im Kontext des Lebensverlaufes. Erste Formen wurden im Zusammenhang des Deutungskontextes bereits gestreift: Normalisierungstendenzen, Sehbehinderung als Herausforderung, zur Ruhe kommen im Alter.
Handlungskontext Umgangsformen mit der Sehbehinderung im Alter
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Das besondere Augenmerk dieses Abschnittes gilt nun den im Interview auftauchenden Formen des alltäglichen Umgangs mit der Sehbehinderung. Es geht um die Frage nach Strategien, mit denen die Problemwahrnehmung der Sehbehinderung bearbeitet wird. Wichtig ist dabei aus erziehungswissenschaftlicher Sicht, an wen sich die Betroffenen zur Bearbeitung der auftretenden Probleme wenden. Der Fokus liegt damit vor allem auf den Handlungen.
1.3.1 Darstellung von Verhaltens- und Einstellungsveränderungen Die Befragte geht explizit darauf ein, dass Sehbehinderte ihr Verhalten ändern müssen. ST: und so komm ich ja ganz gut zu streiche, ich hab eine putzhilfe, die auch für mich bügelt und alles andere schaff ich noch. und wenn man dann immer in ein und denselben lebensmittelladen geht, dann weiß man ja dann mit der zeit so ungefähr. man muss man muss wenn man schlecht sieht ein ganz anderes denken entwickeln, nich (7/2-7/7)
In ihrer Schlussfolgerung und Begründung, warum sie gut zurechtkomme im Alltag, führt sie an, dass man ein anderes Denken entwickeln müsse. Dies lässt darauf schließen, dass es sich sowohl bei der Inanspruchnahme von Hilfspersonen, wie auch bei der Entwicklung von Routinen um einen Prozess handelt, der ein Umdenken erfordert, um „alte“ Routinen aufgeben zu können. Sie beschreibt sich hier nicht als Sehbehinderte, sondern als Person, die schlecht sieht. Sie beschreibt ihren Alltag also nicht vor dem Hintergrund einer körperlichen Behinderung, sondern eher vor dem Hintergrund eines Makels. Was für sie selbst diese Veränderungen der Denkweise bedeuten, schildert sie in folgender Sequenz auf Nachfrage der Interviewerin hin. ST: eh ja wissen se eh ein ein gut sehender, der kann ja alles sehen, der muss sich nicht merken, dass da ne treppe runtergeht. oder da dass da eh eh ne falle ist, also sagen wir mal=n stolperstein ist (I: ja) oder wie auch immer. das muss man sich da drin speichern (I: h=hm) nich? dadurch kriegt man n ganz anderes denken und was ganz ganz wichtig ist, dass alles zuhause an ein und demselben platz ist. und wenn besuch da ist sag ich immer: bitte ihr könnt alles nehmen, aber bitte bitte seid so gut und legt es wieder da zurück wo es war. nich. […] ja, und das das is was was man was jeder, der schlecht sieht, ehm (..) entwickelt mit der zeit. (I: h=hm) nich, auch (..) s gesichtsfeld wird ja kleiner (I: ja) schlüsselbund zum beispiel (I: h=hm) ich hab den doch da hingelegt ja wo ist der denn: nich? dann sucht man und und man sieht das nicht, weil man nur eine gewisse richtung hat. also es muss alles genau an seinen
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Integration in die Sehbehindertenwelt platz (I: h=hm) das ist ganz ganz wichtig. und dadurch entwickelt man schon anderes denken, nich? (7/5 – 7/42)
Das Aneignen einer neuen Denkweise wird im Kontrast zu sehenden Personen formuliert. Während Sehende viele Dinge nicht beachten müssen, muss ein schlecht sehender Mensch andere Ressourcen außerhalb und innerhalb der Wohnung aktivieren: Als eine Ressource wird die Merkfähigkeit und das Einprägen genannt, die das fehlende Sehen ausgleichen. Dazu kommt innerhäuslich die Entwicklung einer festen Ordnung, da man nicht mit den Augen suchen kann. Durch „und das DAS is was was man was jeder, der schlecht sieht, ehm (..) entwickelt mit der zeit“ drückt sie aus, dass Ordnunghalten und Merkfähigkeit natürliche Erfahrungsprozesse eines Sehbehinderten sind, im Sinne von ‚man muss nur oft genug stolpern’, daraus generiert sich die Erfahrung, dass das Leben einfacher ist, wenn man gleich Ordnung hält oder sich Wege merkt. Es handelt sich dabei um selbstbezügliche Aneignungsprozesse: Ich muss mich selbst verändern, um im Alltag weiter bestehen zu können.
1.3.2 Rolle von Hilfsmitteln Über die Verwendung optischer oder technischer Hilfsmittel berichtet Frau Ebeling nur wenig. Dennoch besitzt sie eine Reihe Hilfsmittel, die sie fast beiläufig erwähnt. Die Normalisierung der Sehbehinderung schlägt sich im Hilfsmittelgebrauch nieder, denn sie scheinen ihr kaum einer Erwähnung wert. Sie gehören zum Leben dazu. Neben einer Vielzahl von Lupen nutzt sie auch den weißen Stützstock. In Bezug auf die Hilfsmittel stellt sie mit der Abgrenzung zum Langstock sowohl ihre Kenntnis über die Hilfsmittel dar wie auch ihre Fähigkeit zur Differenzierung und Einschätzung der Gebräuchlichkeit. ST: ja eh ich hab=s ich hab wohl auch das internationale blindenzeichen eh eh was ich anziehe, wenn ich in gegenden gehe, wo ich nicht gehe. also wenn ich hier in der umgebung bin, zieh ich=s nicht an. aber wenn ich verreise, dann hab ich=s an. ich hab=n stock, also diesen blindenstütz:stock (I: h=hm stückstock) um ehm mir auch halt zu geben. ich denke, ich hab da mehr davon als wenn ich mit diesem (.) langen stock gehe. (I: h=hm) also mir ist dieser stützstock lieber. (I: h=hm) den hab ich immer dabei wenn ich (..) also wenn ich hier in der Umgebung nicht, aber wenn ich verreise oder ich woanders bin, dann nehm ich den immer mit. den kann man ja zusammenlegen und in die tasche tun, das ist kein problem. (8/49-9/9)
Relevanz von Institutionen im Umgang mit der Sehbehinderung
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Dass sie nicht jedes Hilfsmittel haben will, stellt ihr Beispiel zum Lesegerät heraus. Auch wenn es vielleicht sinnvoll wäre, eines zu besitzen, so ist es dennoch zu lästig, ein derart großes Gerät in der Wohnung zu haben. ST: ich wollte mir den einfach nicht hierher stellen, mir hat dieser, dieser kasten hat mich gestört. ich hab mir gesagt, solang ich=s noch mit ner lupe kann, die ich auch mal auf die seite stellen kann, dann ist das o.k. und dann hol ich mir lieber dieses Vorlesegerät, da gibt=s ja auch (18/27-18/33)
So besitzt Frau Ebeling zwar eine Reihe von Hilfsmitteln, schätzt deren Nutzung aber nach ihrem Bedarf ab und beschafft sich einzig die für sie sinnvollen Dinge.
1.3.3 Randständige Rolle von Hilfspersonen Frau Ebeling ist als allein stehende Frau darauf angewiesen, den Haushalt und Alltag alleine zu bewältigen. Sie bewertet ihre Situation in Bezug auf den Haushalt als positiv, indem sie formuliert, dass sie gut „zu streiche“ komme. Dies erreicht sie dadurch, dass sie auf externe Hilfe zurückgreift, wie die Putzhilfe, die auch das Bügeln für sie erledigt. Die Hilfsperson wird hier nur von ihrer Tätigkeit her erwähnt. Eine weitere Strategie ist das Einkaufen in immer gleichen Geschäften: durch die Etablierung von Routinen in diesem Bereich, weiß man, wo man die Dinge findet, die man braucht. ST: also h=hm ich hatte mal besuch von ner kusine. da hamm=er dann Hosen mir eingekauft und so. also da is es immer besser es is jemand dabei. dann hab ich eine sehr gute nachbarin, die mir sehr oft überweisungen oder dergleichen ausfüllt. Oder wenn ich dann mal im katalog irgendwas sehe, was ich was man ja dann anhand der bilder sehen kann, sie tut mir dann die nummern rausschreiben. (10/24- 10/30)
1.4 Relevanz von Institutionen im Umgang mit der Sehbehinderung Die Hinwendung zu Institutionen, als den institutionell geprägten Formen des Umgangs mit der Sehbehinderung, ist im Falle dieser Befragten von besonderer Bedeutung. Denn bei ihr taucht explizit die Institution des Blindenbunds eher als Bildungseinrichtung, denn als Informations- und Bewältigungseinrichtung auf. Damit kennzeichnet Frau Ebeling einen, im Vergleich zu anderen Betroffenen, besonderen Umgang mit Institutionen. Als weitere Institution für den Umgang mit der Sehbehinderung ist der Umgang mit dem medizinischen System wesentlich. Dies zeichnete sich bereits in der Diagnosesequenz ab.
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1.4.1 Beratungsgruppe Präventive Teilnahme als unerwarteter Glücksfall Genau wie in anderen Dimensionen unterscheidet sich Frau Ebeling auch im Zugang zur Gruppe von anderen Betroffenen. Da sie schon lange von Sehschwierigkeiten betroffen ist, war sie schon Mitglied im Blindenbund. Sie nahm nicht aufgrund der Diagnose der Makuladegeneration, sondern wegen anderen Augenkrankheiten Kontakt zur Beratungsgruppe auf. ST: ich war schon mitglied im blindenbund (I: h=hm) und ich bin eigentlich durch eine bekannte in die makulagruppe gekommen (I: ja) wo ich noch gar nicht wusste, dass ich eigentlich makula hab (I: h=hm) ja? Und ich einfach zur frau jansen gesagt hab, hier werden soviel Hilfsmittel angeboten, die ich eigentlich brauche oder von denen ich wissen muss oder sollte und ob ich trotzdem kommen dürfte. und nachher hat sich=s ergeben, dass ich eigentlich schon am richtigen platz war, ja? (3/52 – 4/9)
In dieser letzten Sequenz der Biographiedarstellung, in der sie in die Gegenwart springt, wird der Zugang zur Gruppe erstmals thematisiert: Die Makuladegenerationsgruppe als Ort, an dem sich Interviewerin und die Studienteilnehmerin kennen gelernt haben. Diese berichtende Sequenz steht unter dem Motto der Ironie ihrer Teilnahme. Sie ist schon Mitglied der Gruppe, bevor sie von ihrer eigenen Makuladegeneration erfährt. Sie selbst nimmt Kontakt zur Leiterin auf und bittet diese um Erlaubnis zur Teilnahme. Sie begründet zu dem Zeitpunkt ihren Teilnahmewunsch mit einem Wunsch nach besserer Information über Hilfsmittel. Der Zugang zur Gruppe wird in diesem Interview als schicksalhaft dargestellt, indem sie betont, dass sie im Nachhinein betrachtet „eigentlich schon am richtigen platz war“ (4/7f.). Somit ist Frau Ebeling im Sample die einzige Person, die sich durch eine präventive Teilnahme an einer Sehbehindertenintervention kennzeichnet.
1.4.2 Beratungsgruppe Bedeutung der Gruppe Die vordergründige Bedeutung der Gruppe für den Umgang mit der eigenen Sehbehinderung steht gegenüber der Geselligkeit und dem Knüpfen von Freundschaften im Hintergrund. Es werden keinerlei Probleme im Umgang geschildert, die die Teilnahme bedingen. ST: ne, eigentlich nich, eigentlich nich. (I: h=hm) es ist eigentlich immer irgendwo=n nettes unterhalten (I: schön) eigentlich nicht. und ich hab schon eh eh nette, viele liebe nette menschen kennen gelernt dadurch, nich (I: h=hm) und ehm ich mein, man sieht sich ja auch immer wieder, wem=ma, ich hab auch zum beispiel mit=m
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pfarrer geist voriges jahr war ich wernigerode vierzehn tage in einem haus vom blindenbund. und eh da waren einige dabei, die im blindenbund sind, es waren einige dabei, die nur beim pfarrer geist zu dem bei diesem kaffeetrinken sind. und des ist das war richtig nett (13/25 – 13/41)
Eine Unterschiedlichkeit der Angebote aufgrund von unterschiedlichen Augenerkrankungen oder unterschiedlichen Graden von Beeinträchtigung wird von Frau Ebeling verneint. Sie geht auf drei andere Punkte ein, mit welchen sie eigentlich an die vorherigen Sequenzen anschließt und diese weiter zu präzisieren versucht. Die Gruppen werden einerseits als Ort der Kommunikation gekennzeichnet. Mit der Äußerung „es is eigentlich immer irgendwo=n nettes unterhalten“ negiert sie den Unterschied von Gruppen dahingehend, dass sie in von ihr wahrgenommenen Angeboten Offenheit und Geselligkeit findet. Es bleibt hingegen offen, worüber sich unterhalten wird, ob die Sehbehinderung oder andere Themen überwiegen. Als Orte des Kennenlernens unterscheiden sich die Gruppen ebenso wenig. Ein Kennenlernen ist in allen Formen des Blindenbundes möglich. Die Bedeutung des Kennenlernens anderer Personen wird durch die Steigerung und Charakterisierung „ich hab schon eh eh nette, viele liebe nette menschen kennengelernt dadurch“ ausgedrückt. Man lernt nicht nur einfach Menschen kennen, sondern es handelt sich bei diesen Personen um besondere, schätzenswerte Menschen. Mit Rekurs auf die Biographieschilderung trifft man im Gegensatz zum früheren Berufsleben an diesem Ort Personen, mit denen das Faktum der Sehbehinderung den Kontakt nicht stört. Es handelt sich bei den Angeboten nicht nur um ein loses Gefüge des Zusammentreffens und damit fungieren die Angebote ebenso als Orte des Wiedertreffens. Andere nehmen regelmäßig teil und somit wird die Wiederbegegnung und Kontinuität der Kontakte gewährleistet. Es handelt sich also um eine Art interne Netzwerkbildung in der Welt der Sehbehinderten. Verdeutlicht wird dieses Zusammentreffen durch die Verdichtung anhand des Beispiels der Reise mit Pfarrer Geist. Obwohl diese Reise in einem anderen institutionellen Kontext stattfand, trifft man hier wieder auf die peergroup „Sehbehinderte der Stadt“. Die Gemeinsamkeit blind oder sehbehindert zu sein bleibt immer erhalten. Erneut handelt es sich hier um eine sehr positive Beurteilung der Aktivitäten in dieser Gemeinschaft. Die Wiederkehr von Personen hat eine hohe Bedeutung für Frau Ebeling. Diese Kontinuität vermittelt Sicherheit, Verlässlichkeit und den Fortbestand von Beziehungen. Diese Sicherheit scheint bedeutsamer als die Inhalte. Diese Gruppenbildung wurde als derart positiv angeeignet, dass die Teilnahme an Veranstaltungen immer weiter fortgesetzt wird, um das Netzwerk aufrecht zu erhalten. Diese Kernbedeutung des Gruppenzusammenhangs ist mit Rekurs auf die Diagnoseschilderung als logische Konsequenz des Anschlusses an ein nicht erfülltes Bedürfnis im Rahmen des medizinischen Systems zu deuten.
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Das medizinische System dahingegen bleibt im gesamten Interview kritisch beleuchtet. Doch auch hier bietet die Gruppe die Möglichkeit, dieses Bild zu revidieren. Dies wird als Inhalt der Gruppe nochmals besonders hervorgehoben. ST: nicht und wenn jetzt frau jansen zum beispiel die idee hat, da ne liste aufzustellen, wer is gut, wer redet auch mit einem. das ist ganz wichtig. (I: h=hm) dass man mit einem redet und nicht so, na ja sicher, sie ham doch alles, was (..) nich I: Und wenn sie, weil sie haben das vorhin schonmal betont, und zwar auch so im (…) mit dem augenarzt, aber dieses reden darüber, finden sie, dass das auch in der gruppe ein ort, um darüber zu reden? ST: ich denke, das kommt auf den einen oder den anderen darauf an, ob er darüber reden will (I: h=hm) oder ob er das nicht will. (I: h=hm) ja. ich meine ehm reden an für sich tut ja eigentlich immer gut. und ich denke auch, dass es wichtig ist, dass man da drüber redet, um es, man muss es ja verarbeiten. nich! (I: h=hm eben eben) immer nur schlucken kann man nicht. und ehm grade, wo kann mer reden, grade in so=ner gruppe, wo jeder das problem hat. und wo man sich ja vielleicht auch gegenseitig helfen kann, nich. ich find das gut. (I: h=hm)ich find das sehr gut. und grade wenn so=ne selbsthilfegruppe gibt, dann sollte man da auch hingehen und und soll sich was holen, nich (I: ja ja) und wenn’s nur kleinigkeiten sind. aber es ist doch irgendwo ne erleichterung da. (17/1 – 17/30)
Mit dem Thema der Ärzteliste stellt Frau Ebeling einen weiteren Aspekt der für sie wichtigen Aneignung in der Gruppe dar. Sie möchte sich Wissen und Informationen aneignen, um negative Erfahrungen nicht wiederholen zu müssen. Der Aspekt des Redens über die Erkrankung wird nun von der Interviewerin nochmals auf die Gruppe verlagert, durch die Frage, ob denn die Gruppe auch ein Ort des Redens über die Erkrankung darstelle. Es wird erneut die Autonomie der Teilnehmenden in den Vordergrund gestellt. Denn es ist abhängig vom Individuum, ob es darüber reden will. Es gibt keinen Zwang über Verarbeitung der Erkrankung zu sprechen. Für sich selbst nimmt sie aber diesen Austausch in Anspruch und zwar explizit im Bezug auf die Verarbeitung der Erkrankung. Die Gruppe qualifiziert sie als optimalen Ort für diesen Austausch, da alle betroffen sind. Bemerkenswert ist an diesem Ausschnitt, dass hier Frau Jansen auf einmal nicht mehr auftaucht. Die Schilderungen bezüglich des Austausches beziehen sich ausschließlich auf die Teilnehmer. Im Austausch scheint also Frau Jansen als Nicht-Betroffene nicht die geeignete Vermittlerin zu sein. Hier muss sich untereinander geholfen werden. Damit wird erstmals eine weitergehende Interpretation des Austauschs möglich. Er dient nicht einzig Formen der Geselligkeit, sondern auch Formen der Verarbeitung. An den Schluss dieses Segments stellt Frau Ebeling eine Gesamtevaluation der Selbsthilfegruppe. Sie sieht das Angebot als besonderes und nicht alltägliches Angebot. Für sie ist es nahezu Pflicht
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daran teilzunehmen, denn eine Erleichterung im Umgang mit der Erkrankung ist in jedem Falle gewährleistet. 1.4.3 Beratungsgruppe Rolle der Leiterin als Ansprechpartnerin In diesem Interview steht insbesondere die Rolle der Leiterin der Gruppe im Vordergrund, die von den Bedeutungen der Teilnehmer, des Kontakts und des Austauschs unterschieden wird. I:
aber jetzt nochmal zurück zur gruppe. […] wie würden sie denn sagen, inwiefern wurden denn eh ihre erwartungen erfüllt an die ehm gruppe ST: ja, erstens mal weil frau jansen und ehm ehm SELBST sehr interessiert ist, so neugierig ist, was gibt es. eh was tut sich in der weltgeschichte was augenkrankheiten anbelangt. […] manch eh na ja eh eh inzwischen sind wieder n paar jahre vergangen und es hat sich schon einiges getan, aber frau jansen ist inter, sehr interessiert uns das mitzuteilen. (I: ja) und sie forscht auch nach und allein DAS ist ja schon interessant, nich, ehm es gibt ja doch viel möglichkeiten, sich eh eh zu unterstützen, was essen zum beispiel anbelangt, nich. grüne sachen soll man viel essen bei augenkrankheiten. es gibt gewisse medikamente, wo man unterstützen kann. (.) ob sie einem dann helfen, ob sie einem was bringen, das muss man dann selber rausfinden, nich. aber es sind doch möglichkeiten sich da (I: h=hm) und ehm wenn sie nicht zu so=ner selbsthilfegruppe gehen, woher sollen sie das dann wissen? (I: ja, ja) nich? es gibt ja auch in der stadt münchen verschiedene hilfsangebote ehm um jemand zu haben zum vorlesen oder eh eh zum einkaufen gehen oder oder. es gibt ja unheimlich viel möglichkeiten, aber WISSEN muss mer=s (I: h=hm) nich, das ist das wichtige. und das, da ist doch frau jansen sehr ehm (..) sag mer mal intereessiert, uns das mitzuteilen. und sie frägt uns ja auch immer oder ab und zu, an was wir interessiert sind oder so. sie will jetzt ehm ehm ärzte n bisschen unter die lupe nehmen. wer ist gut, wer ist nicht gut. (15/50 - 16/31)
Die Frage der Interviewerin bezieht sich auf die Erwartungen an die Gruppe und damit insbesondere auf die Teilnehmer. Bemerkenswert ist, dass die Betroffene nun nicht bei der Gruppe, sondern bei der Leiterin ansetzt. Damit verleiht sie dieser den Status einer Informationsvermittlerin. Sie ist eindeutig nicht Teil der Gruppe, wie die weiteren Teilnehmer, die im vorherigen Punkt beschrieben wurden. Sie schreibt der Leiterin ganz bestimmte Informationen und Inhalte zu, wie Informationen aus der Forschung und Informationen über gute Ärzte. Die Beschreibung und Charakterisierung und damit die Engführung der Rolle Frau Jansens bildet einen Gegenpol zu den Erfahrungen mit den Augenärzten ab. Frau Jansen wird zwar nicht als Expertin qualifiziert, da sie selbst sich das Wissen auch immer wieder aneignen muss. Aber sie ist interessiert, neugierig und forscht immer wieder nach und gibt ihr neu erworbenes Wissen weiter.
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Dies unterscheidet sie wesentlich von den Augenärzten, die nicht mit ihr reden. Zudem lässt sie die Interessen der Teilnehmer gelten. Die Inhalte beziehen sich alle auf ein wissenschaftsbasiertes Wissen zur Eindämmung der Erkrankung (Nahrung, Medikamente). Es geht es nicht um die Bewältigung des Alltags, sondern um die Vermittlung von Wissen und Hoffnung im weitesten Sinne. Denn Frau Ebeling eignet sich aus der Vermittlung an, dass sich etwas tut und dass es Fortschritte im Kampf gegen die Erkrankung gibt (Medikamente, Möglichkeitsraum, etc.). Es geht um das Aufzeigen von Möglichkeiten, nicht aber den Erfolg der Therapien. Der einzige Ort der Vermittlung ist die Selbsthilfegruppe, da an anderen Orten nicht derart viel Wissen zugänglich ist. Es wird deutlich, dass die Selbsthilfegruppe quasi als Zwischeninstanz angesehen wird (vgl. auch Medikamente). Die Selbsthilfegruppe ist der Ort an dem das Wissen zusammenläuft, wo man über Möglichkeiten informiert wird. Der Weg zu anderen Institutionen muss aber eigenständig beschritten werden. Es könnte auch dieses breite, vielfältige, vielleicht auch teilweise konträre Wissen sein, das den Teilnehmer zu einem mündigen, autonomen Teilnehmer macht und ihm keine Handlungsweisen aufzwängt, sondern Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Dies wird bedeutsam, da Frau Ebeling Handlungsmöglichkeiten beschreibt, die sie selbst (noch) gar nicht annimmt (personelle Hilfe beim Einkaufen). Sie interpretiert die Eröffnung des Möglichkeitsraums als Hilfe zur Selbsthilfe: Man muss nur wissen, wo die Hilfen zur Verfügung stehen, handeln kann man dann selbst. Es ist weiterhin zu interpretieren, dass es sich bei der Aneignung von Wissen um eine Entlastung handelt. Es zählt nicht in erster Linie die Anwendung des angeeigneten Wissens sondern das Wissen um die Handlungsmöglichkeiten. Die Vermittlung von Wissen und Information steht im Vordergrund. Weder Frau Ebeling selbst, noch die anderen Teilnehmer werden diesbezüglich erwähnt. Sie scheinen nicht über das Expertenwissen auf dem Gebiet der Forschung und der Zusammenarbeit mit Ärzten zu verfügen. Diese Kompetenz ist alleinig Frau Jansen vorbehalten. Die Aspekte der Geselligkeit und des Aufgehobenseins scheinen den wesentlichen Ausschlag für die Teilnahme an der Beratungsgruppe für diese Betroffene zu sein. Zudem ist die Rollenverteilung in der Gruppe bedeutsam, die von der Betroffenen positiv gedeutet wird. Die Gleichgesinnten bieten Anschluss, Austausch und die Möglichkeit das Schicksal zu teilen. Die Leiterin hingegen vermittelt Informationen. Rückbezogen auf die dargestellte Biographie vor dem Hintergrund der Sehbehinderung erfüllt die Gruppe wesentliche Bedürfnisse der Betroffenen: Sie fühlt sich immer informiert, bekommt zukunftsrelevantes Wissen und kann so vermeiden, dass andere Personen mehr wissen als sie selbst.
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Und mit der Geselligkeit des Gruppenzusammenhangs ist die Problematik der Kommunikation aufgelöst.
1.4.4 Weitere Angebote Blindenbund als Bildungseinrichtung Neben der Beratungsgruppe nimmt die Befragte an zahlreichen weiteren Angeboten teil. Bemerkenswert ist, in Bezug auf das Thema des Alterns, dass die Hinwendung zur Institution des Blindenbunds mit der Verrentung zusammenfällt. Der Blindenbund scheint damit als neues soziales und gesellschaftliches Betätigungsfeld nach der Verrentung auf. Dies impliziert eine weitere Dimension des Umgangs mit der Sehbehinderung. In diesem Interview geht es nicht ausschließlich um den Umgang mit einer alterspezifischen Erkrankung, sondern um die globale Frage, wie die Lebensphase nach der Verrentung gestaltet wird. Die hinzugetretene Makuladegeneration ist nur ein Baustein in diesem Gesamtbild. In der Schilderung der Angebote des Blindenbundes hebt die Betroffene auf Angebotsformen ab, die zunächst an einen Verein oder eine Erwachsenenbildungseinrichtung erinnern und nicht an einen Selbsthilfeverband. Sie hebt ab auf die Themenbereiche gesellige Feste (Verein), Literatur, Yoga und Sprachen (Erwachsenenbildungseinrichtung). Der Eindruck entsteht deshalb, da bei der Thematisierung der Angebotsformen zum einen die Sehbehinderung, aber auch jedwede Thematisierung von Verarbeitung oder Information in Bezug auf die Sehbehinderung in den Hintergrund rückt. Es geht vielmehr um das Aneignen von Geselligkeit, Wissen, Freizeitangeboten, die auch andernorts ausgeführt werden könnten und nicht einer Selbsthilfeorganisation bedürften. Dennoch hebt sie durch das Beispiel des Englischkurses besondere Vermittlungsformen für Sehbehinderte hervor. Sie entschuldigt sich fast für die Probleme, welche die Gruppe der Lehrerin im Kontext eines Kurses gemacht hat. Dort war Lesekompetenz von Bedeutung, ungeachtet dessen, dass dieser Kurs gerade speziell für Sehbehinderte angeboten wurde. Vom Thema des Zugangs und der Angebotsstruktur verweist sie in der weiteren Folge der Sequenz auf ihre Aktivität innerhalb des Blindenbundes: „also insofern war ich immer irgendwo aktiv“. Dies kann nun in mehrere Richtungen interpretiert werden. Einerseits drückt sie ihre permanente Teilnahme an anderen Angeboten aus. Implizit kann es sich dabei auch um eine Selbstpositionierung handeln, die ausdrückt, dass sie durch die Sehbehinderung (oder das Alter) nicht in Passivität verfällt, sondern dank der Angebote weiterhin aktiv bleiben kann. Somit könnten die Angebote für Frau Ebeling auch die Aufrechterhaltung eines aktiven Alters bedeuten.
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I: Und die anderen angebote, jetzt den stammtisch und den seniorennachmittag ST: ja ja, da gibt es=n rundbrief (I: ah ja) und es gibt auch=ne kassette, die direkt hier gemacht wurde, jetzt wird=s irgendwo in freising gemacht, und da wird das immer aufgelistet, sommerfest, weihnachtsfeier, also das ist sehr viel und sehr schöne sachen sind da alle. literatur is da auch angeboten, yoga, ich hab mal n englischkurs mitgemacht im blindenbund. das war natürlich ein bisschen schwierig auch für die diese lehrerin dann, weil wir ja nicht so lesen konnten wie das andere können, aber sie hat sich große mühe gegeben. Wir waren=n kleiner kreis und das war eigentlich recht nett und lustig. (I: h=hm) da war auch der friedrich holsen dabei, der hat damals auch englisch gelernt. (I: h=hm) is schon lange lange her, also insofern war ich immer irgendwo aktiv. WEINPROBE. also es sind richtig nette sachen eh dabei und ehm und das schöne ist im blindenbund, dass (.) man setzt sich an=n tisch, mal da, mal dort, je nachdem wie es sich ergibt und man redet miteinander. jeder sieht schlecht und hallo ich bin frau ebeling und wer sind sie, und so. (12/10 - 12/36)
Die besondere Relevanz des Blindenbundes als Einrichtung wird in der Abgrenzung von anderen seniorenspezifischen Angeboten deutlich. Gleiche Angebotsformen, wie geselliges Beisammensein, werden unterschiedlich bewertet. ST: geht man in in=ne altenwohnanlage in so=n kaffeeklatsch, was es ja da gibt, da ist eine grüppchenswirtschaft. und wenn sie als außenstehender dahinkommen haben sie keine chancen, da irgendwo mit reinzurutschen. und das ist das schöne beim blindenbund, dass das nicht der fall ist. (I: h=hm) da setzt man sich dazu und dann redet mer und mer, es ist eine einheit, sag mer mal (12/38-12/46)
Abqualifiziert werden von ihr andere seniorenspezifische Angebote durch die Nennung von „Kaffeeklatsch“ (während der Seniorennachmittag von ihr nicht negativ beleuchtet wird) und „Grüppchenswirtschaft“. Dort herrsche eine Ausgrenzung vor, wenn man nicht von Anbeginn zur Gruppe gehört. Dies empfindet sie beim Blindenbund anders. Hier herrscht eine offene Atmosphäre, die den Anschluss an andere Personen ermöglicht. Man kann sich hier einfach dazu setzen, ja, man ist sogar eine „einheit“. Die gemeinsame Sehbehinderung wird hier als vergesellschaftendes Kriterium qualifiziert. Für Frau Ebeling scheint nicht das durch die Sehbehinderung entstandene Defizit im Vordergrund zu stehen. Vielmehr ist das Defizit des Nichtsehens ein Vorteil (gerade für ältere Personen), da es den Kontakt erleichtert und vielleicht auch die älteren Menschen offener füreinander macht. Die Betonung, Kontrastierung und die mehrfache Wiederholung dieses Aspektes im Interview mit Frau Ebeling veranschaulicht besonders deutlich, wie sehr sie sich mit dieser Institution aufgrund der vereinfachten Kommunikation und der Anschlussmöglichkeiten identifiziert. Die Angebote, die spezifisch auf die Sehbehinderung ausgelegt sind, scheinen eher im Hintergrund zu stehen. Die
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Geselligkeit und die Gestaltung von Freizeit sind für sie wichtiger. Dies lässt sich auch mit der Biographie in Verbindung bringen. Sie hat Ressourcen für all diese Aktivitäten, da aufgrund eines Lebens mit Sehbehinderung, die Verarbeitung nicht mehr als zentrales Thema auftaucht. Zudem ist festzuhalten, dass in diesem ausschließlich auf Angebote in der Gruppe bezieht, es tauchen keine Formen von Einzelangeboten auf. Die Identifikation mit der Institution geht soweit, dass die Betroffene sich einen Umzug aufgrund der Sehbehinderung in Erwägung zog24, der schließlich alleinig an der Infrastruktur des entsprechenden Hauses scheiterte. Die Sehbehinderung ist damit ihr vorherrschendes Alternsthema. Die Idee des Umzugs lässt sich parallelisieren mit der Vorstellung anderer Älterer alternative Wohnformen oder Betreutes Wohnen in Betracht zu ziehen. Der Gruppenzusammenhang in Form zeitlich begrenzter Angebote sollte in den Alltag integriert werden und damit permanent verfügbar sein. ST: also ich fand, ich fand eigentlich das angebot (..) grade für blinde und sehbehinderte, wenn die zusammen sind in einem haus eigentlich ganz hervorragend. und so wie es vorgestellt wurde am anfang also war ich hell begeistert. und ehm das haus ham=se als solches also ja sehr schön überlegt, durchdacht, aber sie haben=s an=n falschen platz gebaut. (..) es ist ehm an einem platz, wo man eigentlich das gefühl hat, man is gar nich mehr in münchen […]und das schlimme is, dass dahin ein bus geht, aber nur alle halbe stunde. und der bus, der dazwischen fährt, der fährt nur halbe strecke. und für=n blinden und sehbehinderten, wie soll der wissen, welcher bus jetzt da raus fährt oder auch nich rausfährt. das muss man da ja alles lesen können. (14/15-14/28)
Der Rückzug aus der Option ‚Wohnen mit anderen Sehbehinderten’ wird einzig aufgrund der infrastrukturellen Anbindung und Veränderung des Konzepts vollzogen. In der Abwendung von dem Angebot gewinnt das Alter dann noch implizit an Relevanz. Die schlechte infrastrukturelle Anbindung verweist auf das Aufgeben der Unabhängigkeit, der örtlichen Ausgrenzung und der drohenden Isolation. Insgesamt wird aber das Projekt als gescheitert beurteilt, da die Ziele für ein ansprechendes Wohnen unter Sehbehinderten nicht realisiert werden konnten. So bestätigt die umfassende Teilnahme an den Angeboten des Blindenbundes die Schlüsse aus der Teilnahme an der Beratungsgruppe. Der Blindenbund 24
Das Thema des Umzugs aufgrund der Sehbehinderung ist – anders als erwartet – ein präsentes Thema in mehreren Interviews. Es gibt auch andere Personen, die tatsächlich umgezogen sind: Frau Hansen, Herr Schuchmann, Frau Hellmuth. Die Motive des Umzugs sind vielfältig und häufig auch in Zusammenhang mit anderen Altersgebrechen oder familiären Situationen zu betrachten. Es ist die Frage, ob die Umzugsthematik auf eine Bedeutung der Einschränkungen hinweist oder ob eher unter den Alten eine differenziertere Auseinandersetzung mit dem Altersumzug stattfindet als erwartet.
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ist der Ort des Ankommens im Alter. Nach einem Leben voller Sorgen um die Sehbehinderung, wird diese Institution als derjenige Ort erlebt, der ein Leben ohne die fortwährende Problematisierung des Sehens ermöglicht. Somit fallen für Frau Ebeling an diesem Ort „erfolgreiches“ Altern und die Bewältigung der Sehbehinderung zusammen.
1.5 Relevanz pädagogischer Formen im Umgang mit der Sehbehinderung Vor dem Hintergrund von pädagogischen Formen im Sinne von Aneignungsstrukturen werden im Falle dieser Befragten drei Dimensionen relevant: Die Bedeutung der selbstbezüglichen Aneignung im Rahmen von Angeboten, der Aspekt der Geselligkeit als bedeutsamste Dimension, sowie die Gleichzeitigkeit von Vermittlung und Aneignung als Zuschreibung von eigener Kompetenz.
1.5.1 Selbstbezügliche Aneignung Selbstbezügliche Aneignung spielt im Falle der Betroffenen insofern eine Rolle, dass sie zu selektieren vermag, was sie sich aus der Beratungsgruppe aneignen möchte. Dieses angeeignete Wissen steht bei ihr im Bezug zur Gegenwart und zur Zukunft, da sie auch ‚auf Vorrat’ lernt. Mit dem angeeigneten Wissen sichert sie ihre Zukunft. Wenn es einmal schlimmer werden sollte, kennt sie Anlaufstellen und Hilfsangebote. In diesem Sinne bezieht sie sich auf Information. Aber auch Anschlussmöglichkeiten, die selbstbestimmt gewählt werden können, spielen eine Rolle, da sie Angebote, wie beispielsweise Trainings beschreibt, die sie aber ‚noch nicht’ belegt. So wird von ihr nicht jedes Lernangebot aus der Gruppe angenommen, sondern nur was für sie aktuell oder in Zukunft von Interesse erscheint. Entscheidend ist dabei die Gestaltung der eigenen Lebenswelt. Heilungsgedanken oder Therapien spielen in diesem Falle kaum eine Rolle. Frau Ebeling realisiert damit das angestrebte Modell der Beraterin Frau Jansen. Ermöglichungsstrukturen werden wahrgenommen und als solche erkannt, aber nicht als Belehrung aufgefasst.
1.5.2 Geselligkeit Wie nun schon mehrfach erwähnt, stellt auch aus einer Aneignungsperspektive der Aspekt der Geselligkeit eine entscheidende Rolle. Das beiläufige Lernen, im Sinne von sich informieren, mithören, Erfahrungen bewerten und austauschen
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steht im Zentrum ihrer Aneignung. Es dient dazu die permanente Problematisierung der Sehbehinderung zu beschränken. Vielmehr wird Geselligkeit unter Sehbehinderten gedeutet als Kommunikation des Normalen. Dies könnte als Argument dafür dienen, dass die Institution des Blindenbundes derart intensiv genutzt wird. Zudem wird hier die Grenze hin zur Lebenswelt erneut unterlaufen. Lebenswelt und Aneignungsprozesse sollen sich vermischen. Dies ist das implizite Ziel der Aneignung Frau Ebelings.
1.5.3 Gleichzeitigkeit von Aneignung und Vermittlung Die Gleichzeitigkeit von Vermittlung und Aneignung wird in diesem Falle gedeutet als Zwischenreich von Kompetenz und Lernbedarf. Frau Ebeling unterscheidet zwischen Gesprächen innerhalb der Gruppe der Teilnehmenden, persönlichen Gesprächen unter einzelnen Teilnehmern, und Gesprächen mit der Gruppe und Frau Jansen. Dies verbindet sie mit verschiedenen Themen und Inhalten. Innerhalb der Gruppe der Teilnehmenden sind die Verarbeitungsprozesse zentral. In persönlichen Gesprächen stehen Themen des Haushalts und Bereiche, für die keine Hilfsmittel zur Verfügung stehen, im Zentrum des Interesses. Dagegen wird die Information über medizinische Aspekte, hilfeleistende Informationen, etc. von Frau Jansen gegeben. Diese Rollendifferenzierung ist es, die die Gleichzeitigkeit von Vermittlung und Aneignung, aber auch von Defizit und Kompetenz darstellt. Man ist in der Gruppe nie als ausschließlich defizitär oder einzig kompetent anwesend. Es wird der Eindruck vermittelt, dass man sich je nach Bedarf in seine Rolle fügen kann. Damit interpretiert Frau Ebeling Aneignung sowohl als das Aufheben von Defiziten, aber auch als die Möglichkeit der Steigerung von Kompetenz. Es wird somit ein Zirkel skizziert, der sich im Sinne eines hermeneutischen Zirkels als permanente Steigerung ausdrückt.
1.6 Synthese Sehbehinderung im Alter als Glücksfall der Vergesellschaftung Abschließend werden nun nochmals Zusammenhänge herausgestellt, die in der Abarbeitung der einzelnen Kategorien zunächst unterbearbeitet bleiben mussten. Die Zusammenfassung der oben ausgearbeiteten Kategorien findet sich in untenstehender Abb. 31. Wesentlich ist im Falle dieser Betroffenen der Zusammenhang der Diagnoseschilderung mit dem Deutungskontext, der Relevanz der Institutionen wie der
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pädagogischen Formen. Als wesentliches Defizit auf der Seite der medizinischen Behandlung wird die mangelnde Kommunikation angeführt. Es ist genau dieses Element, das den Anstoß zur Hinwendung zur Gruppe gibt, sowie in den pädagogischen Formen unter der Geselligkeit auftaucht. Nur am Rande stehen die Aspekte des Kompetenzerwerbs und der Hilfsmittelnutzung. Dieser Zusammenhang erscheint entscheidend, wenn es darum geht, Angebote für ältere Sehbehinderte anzubieten: Denn im Falle von Frau Ebeling sind es nicht die üblichen Motivationen, die zur Teilnahme an Angeboten angenommen werden: Weder versucht sie ihre Krankheit zu verarbeiten, noch sucht sie im Angebot nach Heilungsmöglichkeiten oder will den Umgang mit Hilfsmitteln explizit erwerben. All diese Aspekte nimmt sie als Information auf, stellt aber immer wieder den Austausch und die Geselligkeit in den Vordergrund. Selbst das Altersthema taucht nur implizit auf, da der Eintritt in den Blindenbund zusammenfällt mit ihrer eigenen Verrentung. So versucht sie die Lücke in einem rollenspezifischen Übergang zu schließen.
Synthese Sehbehinderung im Alter als Glücksfall der Vergesellschaftung Abbildung 31: Zusammenfassung Frau Ebeling
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2 Hoffnung auf Heilung als biographisch geleitetes Aneignungsmuster 2
Hoffnung auf Heilung
2.1 Die Sehbehinderung als eine von vielen Erkrankungen Frau Kirchhoff ist 1922 geboren. Ihren Beruf als Chemotechnikerin übte sie bis zu ihrer Pensionierung im Jahre 1984 aus. Sie war nicht verheiratet und lebte bis zum Tode ihrer Mutter mit dieser zusammen. Frau Kirchhoff leidet erst seit Kürzerem an AMD, die bei ihr im Jahre 2004 diagnostiziert wurde. Im gleichen Jahr wird sie Mitglied in der Beratungsgruppe, die sie zum Zeitpunkt des Interviews erst einige Male besucht hatte. Der Umgang mit der Sehbehinderung ist in ihrem Falle mit einem anderen Thema belegt: Im Gegensatz zu Frau Ebeling konzentrieren sich die Umgangsformen mit der Sehbehinderung um Wissensaneignung über die Erkrankung und die Suche nach Heilungsmöglichkeiten. Frau Kirchhoff schöpft dabei tiefes Vertrauen aus ihrer Biographie, in der sie schon viele Krankheiten, wie Brustkrebs und Hüftoperationen positiv überwunden hat. Insofern lässt sich in ihrem Falle ein anderes Repertoire an Umgangsformen darstellen, die aber ebenso mit der Biographie zu verbinden sind wie bei Frau Ebeling. Im Interview von Frau Kirchhoff finden sich zwei Biographieschilderungen, die erste nach der offenen Erzählaufforderung der Interviewerin zu Beginn des Interviews (1/40-3/30). Die Befragte entfaltet ihr Leben in diesen Passagen ausschließlich vor dem Hintergrund der Berufsbiographie. Beendet wird dieses Segment durch die Frage der Interviewerin nach der Länge der Wohndauer im Stadtteil Haidhausen. Diese Frage wird von der Befragten mit dem Verweis auf die langjährige Wohndauer und einer Überleitung zum problematischen Autofahren beantwortet. Dies ist dann auch die Überleitung zur Sehbehinderung. Strukturell bestimmt die Thematisierung der Sehbehinderung den größten Teil des Interviews (3/51-24/35). Dabei fließen in die Schilderungen zum Umgang mit der Sehbehinderung immer wieder biographische Elemente ein, insbesondere hinsichtlich der Bewältigung von Erkrankungen. Die letzten Minuten des Interviews gestalten sich durch Nachfragen zur Biographie (24/36-30/41). Diese zweite biographische Phase ist länger als die Erste. In diesem Segment des Interviews finden vor allem die Freizeitinteressen der Befragten. Sie schildert ausführlich ihre Liebe zu Afrika und berichtet von mehreren Reisen in den 70er
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Hoffnung auf Heilung
Jahren. Zudem werden noch einige familiäre Aspekte angeführt, wie das Zusammenleben mit der Mutter, die enge Bindung an den Bruder. Ein weiterer Aspekt ist der Übergang in den Ruhestand. Abbildung 32: Zeittafel Frau Kirchhoff Jahreszahlen 1922
1945-1947 1947 1984
1984
2000 2000 2004 2004 – 2005
Dez. 2004
Ereignisse geboren in München - Haidhausen Schulabschluss: Mittlere Reife Besuch der Chemiefachschule Ausbildung als Chemotechnikerin arbeitslos; Leben bei der Mutter, Arbeit bei Bauern Arbeit am MPI für Biophysik in verschiedenen Abteilungen Zahlreiche Reisen nach Afrika Augenerkrankung (Grauer Star) der Mutter: Da habe ich viel gelernt Pensionierung Nach Pensionierung Mitgliedschaft im Deutschen Sozialwerk (Geselligkeit, kulturelles Angebot, Reisen), Akademie für Ältere, Wandergruppe Brustkrebs Hüftoperation - beidseitig Probleme mit der Halswirbelsäule Tod des nahe stehenden Bruders Entdeckung der Augenerkrankung Arztbesuche, Einnahme von Medikamenten und Behandlungen, Akupunktur Inkontinenzprobleme Guter Kontakt zu Optiker (über Freundin) Mitglied in der Beratungsgruppe Zahlreiche Staroperationen in der Familie Immer im gleichen Stadtteil Haidhausen gelebt.
2.2 Auftauchen der Sehbehinderung im Interview – Ambivalenz von Kontinuität und Diskontinuität Im zweiten Fallporträt gewinnt ebenso die Frage an Bedeutung wie, wann und als was die Sehbehinderung zunächst im Interview erwähnt wird. Dabei interessieren insbesondere das Auftauchen der Sehbehinderung im Interview wie auch die Schilderung der Diagnose bzw. das Aufmerksamwerden auf die Sehbehinderung.
Auftauchen der Sehbehinderung im Interview
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2.2.1 Erste Erwähnung der Sehbehinderung als Demonstration von Kompetenz Das erste Auftauchen der Sehbehinderung im Interview lässt Ambivalenz in der Deutung der Sehbehinderung aufscheinen, obwohl die Betroffene in der impliziten Nennung der Sehbehinderung zunächst Kompetenz demonstriert. Kompetenz wird in dem Sinne demonstriert, dass sie trotz der Erkrankung ihre Mobilität noch nicht einschränken musste. Die erste Erwähnung der Sehbehinderung findet im Kontext von Alltagshandlungen statt. Dies wird durch eine Nachfrage der Interviewerin zur Biographie ausgelöst, die aber von der Teilnehmerin nicht beantwortet wird. Stattdessen geht die Betroffene implizit auf die Sehbehinderung ein, indem sie über das Autofahren berichtet. Nachfolgend wird die Sehbehinderung explizit und es werden weitere Umgangsformen, sowie die Geschichte der Erkrankung angesprochen. I: kommen sie aber auch aus haidhausen oder-? ST: (.) ja natürlich. (I: h=hm) natürlich. ich wer- ich f- fahre sogar noch auto, dadrüber rede ich aber nicht mehr. (I: h=hm, h=hm) aber einige, die die gleiche erkrankung haben, (.) konnten auch sehr lange auto fahren. ich fahre halt nur noch strecken, die ich gut kenne zu tageszeiten, wo nicht viel verkehr ist. (I: h=hm) und auch heute, ich geh dann nach bad x, in das thermalbad (I: h=hm) zur wassergymnastik. also (.) es macht mir keine probleme. ich würde da schon zurückstecken, wenn ich merke, das geht nicht mehr. ich muss natürlich aufpassen, dass mich die sonne nicht blendet. (I: h=hm) und dann hab ich mir eine sehr gute sonnenbrille (.) gekauft. inzwischen ist es so, dass mich auch das streulicht blendet. ich muss also hut mit krempe tragen. (I: h=hm) und s- sehen sie, das ist noch nicht einmal ein jahr her, ich weiß nicht, was daraus wird. (I: h=hm) es kanns auch keiner sagen. (3/39-4/20)
Vier Aspekte sind bei dieser ersten impliziten Nennung der Sehbehinderung von Bedeutung:
Auftauchen des Autofahrens als problematisches Alltagshandeln Einsicht in die Problematik Demonstration von Kompetenz im Umgang mit der Sehbehinderung Aufscheinen von Diskontinuität und Unsicherheit
Der Anschluss an die Frage des Wohnorts kann einzig erklärt werden mit einer Lesart: Sie kommt aus Haidhausen, aber sie möchte darstellen, dass sie trotz ihres Alters mobil ist und über Haidhausen hinaus unterwegs ist. Sie demonstriert altersbezogene Kompetenz, mit damals 83 Jahren fährt sie noch Auto. In dem angeschlossenen Nebensatz nimmt sie ihre Kompetenz ein Stück weit zu-
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rück, da ihr bewusst ist, dass sie mit ihrer Sehbehinderung eigentlich nicht mehr fahren sollte. Sie spricht normalerweise nicht darüber, nennt es hier aber dennoch. Dies kann zum einen eine Demonstration von noch bestehender Kompetenz ausdrücken, aber auch die Bedeutung haben, dass sie sich von anderen Sehbehinderten, wie sie ja auch betont, nach wie vor unterscheidet. Sie widersetzt sich Ratschlägen und reizt den Verlust der Sehkraft bis aufs Letzte aus. Ihren Umgang versucht sie gleichzeitig zu entschuldigen oder zu rechtfertigen, da sie mit Kritik zu rechnen scheint. Zum Umgang ist hier festzuhalten, dass sie sich gegen die Aufgabe von Tätigkeiten und damit den Verlust von Autonomie zur Wehr setzt. Da dies die erste Stelle ist, an der die Sehbehinderung auftaucht, ist dies auch die erste Angabe, die Auskunft über den Stellenwert der Erkrankung gibt. Noch ist nichts bekannt zu ihren Heilungsbemühungen und dem Kontakt zu Ärzten. Dieser Kontext sollte also zunächst ausgeschlossen werden. Warum taucht die Sehbehinderung also vollkommen unvermittelt mit dem Verweis auf das Autofahren ohne die Nennung der Sehbehinderung auf? 1) Über das Auto fahren wird eine Kompetenz angesprochen, die eigentlich Sehenden vorbehalten ist. Daraus wäre zu schließen, dass sie sich selbst als Sehende und nicht als Sehbehinderte einstuft. Es könnte vermutet werden, dass sie die Erkrankung als Degenerationserscheinung noch nicht akzeptiert hat. 2) Die Stelle taucht zwar in unmittelbarem Anschluss an die Biographieschilderung auf, aber sie ist von der Biographie gelöst. Die Sehbehinderung wird also zunächst nicht unter Kontinuitäts- oder Diskontinuitätsaspekten dargestellt, sondern nur von der Seite der Kompetenz. 3) Der Versuch einer Normalisierung: Mit dem Verweis, dass andere Betroffene noch sehr lange Auto fahren konnten, schlägt sie für sich ein Zeitfenster heraus. Sie weiß zwar um das Fortschreiten der Erkrankung, was zu gegebenen Zeitpunkt die Aufgabe des Autofahrens erzwingt. Es handelt sich somit nicht um eine Verdrängung des Fortschreitens der Erkrankung. Es ist eher von einem Versuch der Normalisierung zu sprechen: So lange es geht, möchte sie ihr Leben kontinuierlich und normal fortsetzen. Mit diesen Kompetenz- und Abgrenzungszuweisungen beschreibt sie die Gegenwart. Betrachtet man den letzten Satz der obigen Sequenz, wird zudem der Blick in die Zukunft relevant und mit diesem ein weiterer Aspekt der Bedeutung der Krankheit, derjenige der Diskontinuität: Es ist eine erste Öffnung festzustellen, die nun explizit die Ungewissheit der Zukunft miteinschließt. Es kann von nun an sowohl abwärts wie aufwärts gehen. Die Erkrankung kann fortschreiten, gestoppt, vielleicht sogar geheilt werden. Somit kann diese Stelle einerseits als Hoffnung auf Heilung, andererseits aber auf einsetzende Resignation hin gedeutet werden. Sie ist an einer Stelle in ihrem Leben, an der sie nicht weiß, wie es
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weitergeht: Diese Ambivalenz versucht die Betroffene zu lösen durch ein biographisches Muster. Die Anwendung oder das Aufrufen einer Ressource: Heilung ist möglich, gerade in Anbetracht ihrer vielen überwundenen Erkrankungen. Dieses Muster zeigt sich bereits ausführlich in der langen Diagnosesequenz.
2.2.2 Diagnoseschilderung als Rückgriff auf das Wissen um das Sehen Ob sich die festgestellte Ambivalenz in Richtung Kontinuität oder Diskontinuität auflöst, ist mit der ersten Erwähnung der Sehbehinderung noch nicht zu beurteilen. Es kann zunächst kein eindeutiger Bruch in der Biographie rekonstruiert werden. Frau Kirchhoffs Schilderung der Augenerkrankung setzt zeitlich sehr weit vor der eigentlichen Erkrankung an. Der Bericht ist chronologisch zeitraffend dargestellt. Die Betroffene schildert die Ereignisse, welche sie genau dokumentiert hat, als würde sie aus einem Berichtsheft vorlesen. Sowohl ihre Genauigkeit, wie auch die Betonung der Vorkenntnisse aus beruflichen wie aus familiären Zusammenhängen legen eine Betrachtung der Erkrankung wie ein berufliches Phänomen nahe. So werden beispielsweise in der Chemie immer Berichtshefte angelegt. Die Schilderung der Diagnose wird dabei in einer recht langen Passage (4/30-7/8) dargestellt. Auffällig ist im Vergleich zu anderen Interviews, dass die Diagnose emotionslos und rein chronologisch berichtet wird. Dennoch scheinen erste Deutungen der Sehbehinderung und Handlungsformen auf. Es lassen sich Erkenntnisse aus dieser Passage ableiten als
bedachtes Handeln in Bezug auf die Augenerkrankung, ein hohes Maß an Selbstorganisation, Darstellung der Augenerkrankung als Kontinuität das Gefühl alles richtig gemacht zu haben, sowie selbstbezügliche Aneignung.
Die Geschichte der Erkrankung beginnt nicht direkt mit der ärztlichen Diagnose, wie dies in den meisten Interviews üblich ist. Vielmehr wird schon die Vorgeschichte miteinbezogen. I:
aber könnten sie mir noch mal erklären, wie wurden sie überhaupt auf die erkrankung aufmerksam? ST: ja, ich bin brillenträgerin. I: ja ST: und bin regelmäßig dann gegangen und dann- ich hab sogar die ganze krankengeschichte, also äh, kann ich genau, weil mittlerweile vergisst man ja auch manches
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Hoffnung auf Heilung und, äh, hab das mir alles zusammen aufgeschrieben, äh, wie das so ging. an- mit der- wie ich mit der lesebrille anfing (.) mit der lesebrille fing ich zweiundachtzig an. (I: h=hm) und, äh, ja- nein, ich hab früher angefangen, aber von da an hab ich jährliche kontrollen gemacht. (I: h=hm) und dann, äh, (.) wurde auch mal augenspiegel gemacht, gesichtsfeld, kontrolle zum grünen star (I: h=hm) wurde alles gemacht. zweitausendunddrei hab ich eine neue lesebrille (.) gebraucht. (I: h=hm) vermutlich hab ich da, ähm, ich dachte immer an grauen star.weil meine mutter hatte grauen star, mein bruder hatte grauen star, die (I: h=hm) großmutter hatte schon grauen star und die operation ist ja jetzt recht einfach geworden. (I: ja, ja, ja) bei meiner mutter war sie noch schrecklich. (I: h=hm) da hat sie drei wochen gedauert. (4/30-5/7)
Als Brillenträgerin geht Frau Kirchhoff seit Jahrzehnten regelmäßig zu Kontrolluntersuchungen, die sie zudem recht präzise dokumentiert hat. Sie vermittelt damit ein hohes Maß an Selbstkontrolle und Disziplin, im dem Sinne, dass sie ihrer Verantwortung als Patientin stets nachgekommen ist. Neben den Kontrollen ihrer Sehleistung hat sie zudem an altersspezifischen Vorsorgeuntersuchungen der Augeninnendruckmessung zur Vermeidung des Grünen Stars teilgenommen. Auf der einen Seite entdramatisiert sie den Prozess der Erblindung, da sie ihren Pflichten als verantwortungsvoller Patient nachkommt. Auf der anderen Seite drückt sie mit „wurde alles gemacht“ aus, dass die Entdeckung der Erkrankung und die Erkrankung selbst nicht in ihrer Verantwortung liegen, da sie alle Maßnahmen unternommen hat, um der Erkrankung vorzubeugen. ‚Vorbeugen’ trifft allerdings den Inhalt des Interviews nicht richtig, da die Erkrankung der altersbedingten Makuladegeneration zum Zeitpunkt der Diagnose außerhalb ihres eigenen Wissens liegt. Sie kennt die Erkrankung bis zum Zeitpunkt der Diagnose nicht. Ihre Vorsorgebemühungen beziehen sich auf andere Phänomene. Sie war aus familiären Gründen auf einen Grauen Star vorbereitet. Zudem war bei dieser Erkrankung die Prognose gut, da sich die Operationsmethoden seit der Betroffenheit der Mutter erheblich verbessert haben. Von dieser Warte aus betrachtet erscheint die Diagnose als Diskontinuität, als unerwartetes Faktum, das in die Biographie einbricht. Doch so wird es von Frau Kirchhoff nicht formuliert. Vielmehr rekurriert sie weiter auf ihr berufsbiographisches und krankheitsbiographisches medizinisches Wissen. Sie vertraut darauf, alles richtig gemacht zu haben, indem sie die Ratschläge der Ärzte weiter befolgt und verschiedene Medikamente einnimmt, obwohl die Krankheit weiter voranschreitet: ST: aber, ich hab auch viel gelernt dabei. (I: h=hm) diese augenuntersuchungen war ich zum teil dabei. die haben die ja dann immer nachmittags gemacht, wenn es ruhig war und so (I: h=hm, h=hm) das sind so meine vorkenntnisse und da ich viel mit
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medizinern zusammengeabeitet hab und eben auch krankheit in der familie war, weiß ich medizinisch einiges (5/40-5/47)
Die „Vorkenntnisse“, bezogen auf die Augenerkrankung der Mutter, werden in die Gegenwart gerettet und als Wissen für die eigene Erkrankung eingesetzt. Sie gewinnt diese sowohl aus der Berufsbiographie wie auch aus den Erfahrungen der Augenerkrankung der Mutter. Unbeachtet bleibt jedoch in ihren Schilderungen, dass diese Vorkenntnisse sich auf ein völlig anderes Krankheitsbild beziehen. In Bezug auf die Krankheitsgeschichte allgemein und die Berufsbiographie kann aber die obige Aussage auch dahingehend interpretiert werden, dass sie eine hohe Handlungskompetenz im medizinischen System hat. Sie weiß, wie mit diesen Personen und den Informationen aus dem System umzugehen ist, wie man sich als verantwortungsvoller Patient verhalten muss. Dennoch ist es gerade der Aspekt des Wissens, den sie hervorhebt, in dem Sinne, dass sie sich gegenüber ihrer eigenen Krankheitsgeschichte als kompetent und nicht als defizitär verortet. Die Krankheit wird also nicht alterspezifisch oder ophthalmologisch in den Blick genommen, sondern den Erfahrungen mit anderen Erkrankungen gleichgesetzt. Ihre Handlungskompetenz im medizinischen System und damit ihre Umgehensweise zum Zeitpunkt der Diagnose führt Frau Kirchhoff am Ende des Segments der Diagnoseschilderung aus: ST: und da ich viel mit medizinern zusammengeabeitet hab und eben auch krankheit in der familie war, weiß ich medizinisch einiges I: h=hm, h=hm, h=hm, (..) h=hm, (..) und jetzt waren sie hier beim jahr zweitausend (.) drei, da haben sie die neueST: ja da habe ich die neue lesebrille bekommen, da hat er sogar die augen getropft und gesagt, der graue star ist fast gleich geblieben, aber sie haben eine trockene makula. (.) und dann war noch mal im april eine kontrolle, die brille war im ok- äh okay, er empfiehl vitamin e. vitamin e habe ich bereits genommen, weil ich also rheuma habe, (I: h=hm) und ab mitte ab- ab mai habe ich noch vitamin a dazu genommen (I: h=hm) von desatomol amd. (I: h=hm) und im juni habe ich also diese augeninitiative, dieses heft gefunden. (I: h=hm) und das war insofern äh, sehr gut, weil ich im sommer in grindelwald war, also in der höhe un d dahabe ich mir diese gute brille zugelegt und konnte mit der sehr viel besser sehen. das habe ich schon gemerkt. (I: h=hm) ich mein, das sind dinge, die ihr mir hier sagen müsst. sie müssen (I: ja) ganz vorsichtig sein mit uv-licht. na ja, also trotzdem. (.) und dann (.) ja, diese sonnenbrille hat kantenfilter (I: h=hm) das ist be- kennen sie- wissen sie schon. (I: ja ja) dadurch habe ich auch so gut gesehen. (I: h=hm) und im august habe ich dann mit- ende august, gemerkt, äh, das linke auge normal und das rechte (.) gewellte linien. da fing das an ist aber dann (..) äh, das wurde dann von doktor tacker bestätigt, nicht?
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Hoffnung auf Heilung (I: h=hm) und äh, dann haben- meine nichte ist auch ärztin, die hat also drauf bestanden, die hat gesagt, das gibt es nicht, man nichts machen, du musst an die augenklinik gehen. wenn- da dachte ich erst, ich muss den arzt wechseln, da hat sie gesagt, nein nein, du musst das verlangen, der muss dir das geben. (I: h=hm) hatte die (.) sprechstundenhilfe mit entsprechenden bemerkung, die können doch nichts machen. und dann macht der doktor tacker den termin nicht aus, müssen sie ihn selbst ausmachen. dann habe ich gesagt, ich hab bereits einen termin, weil ich gefragt habe, was sie für unterlagen brauchen, also (.) es ist halt so. (I: h=hm) und dann ist das in dem rechten auge doch äh, relativ schnell weiter gegangen ((blättert)) da habe ich dann mal aufgeschrieben, also (..) und dann fing es kurz darauf an im oktober. also, ähm, im august fing es rechts an und im oktober fing es links an. (I: h=hm) da war ich schon an der uni-klinik und äh die ärztin hat gesagt, ja, es fängt an. (5/49-7/8)
Dieser Abschnitt ist als Fortsetzung des Beginns des Segments zu lesen, es geht weiter um die chronologische Berichterstattung der Sehbehinderungsgeschichte, welche in folgenden Etappen geschildert wird:
April: Augenkontrolle für neue Lesebrille: AMD Diagnose Mai: Verordnung von Medikamenten speziell für AMD Juni: Informationsbroschüre zu Makuladegeneration ermöglicht die Verschreibung einer geeigneten Sonnenbrille August: Feststellen einer Verschlechterung mit charakteristischen Merkmalen (gewellte Linien): rechtes Auge Bestätigung der Verschlechterung durch den Augenarzt Auf Initiative der Nichten: Hinwendung zur Augenklinik Oktober: Verschlechterung des linken Auges Bestätigung der Betroffenheit des linken Auges in der Uniklinik
Ihre einzelnen Handlungsschritte sind nun in diese Chronologie eingelagert und beinhalten folgende Aspekte: Hinwendung zu medizinischen Institutionen, Wissensaneignung über die Erkrankung, Bemühungen um Heilung. Obwohl von Anbeginn die Hoffnung auf Heilung vom betreuenden Augenarzt gering gehalten wird, wendet sich die Betroffene immer spezialisierteren Experten zu. Die eigene Wissensaneignung spielt in diesem Prozess eine nicht unbedeutende Rolle. Sie ermöglicht ihr nicht nur die spezialisierende medizinische Betreuung. Sie gibt außerdem auf der Ebene des Handelns Orientierungshilfe, als sie sich das erste geeignete Hilfsmittel (Sonnenbrille mit Kantenfilter) besorgen kann. Dieses Hilfsmittel ist effektiv und das Sehvermögen wird vorübergehend verbessert. Diese Tatsache puffert die Bedeutung der Erkrankung
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zunächst ab, erst mit der zunehmenden Verschlechterung wird die Bedrohlichkeit der Erkrankung erkannt. Die Bemühungen um Heilung drücken sich aus in der Einnahme von Medikamenten sowie der fortgesetzten Untersuchung der Augen. Sie nimmt sämtliche Medikamente, welche ihr empfohlen werden ein und wählt einen sehr engen Rhythmus an Untersuchungen. Die Bedeutung der rasanten Verschlechterung des Sehvermögens, trotz all dieser Maßnahmen, bleibt in diesem Bericht ungenannt. Zusammenfassend lässt sich die Diagnoseschilderung im Falle dieser Betroffenen auf folgende Kernaspekte zusammenfassen: Leitend ist die Demonstration von Kompetenz auf den Ebenen des Selbst- und des Fremdbezugs. Eine selbstbezügliche Demonstration von Kompetenz wird durch den Rückgriff auf das Wissen um das Sehen, die Selbstdiagnose (wenn diese mit dem Grauen Star auch die Falsche war) und schließlich ihr regelkonformes Verhalten als Patientin gezeigt. Die fremdbezügliche Kompetenz wird erstens durch die Übertragung von Kompetenz auf die Familie demonstriert, die ihr als Ratgeber dient. Und zweitens spiegelt sich diese in dem Wissen um die Erkrankung aus dem familiären Kontext wider.
2.3 Deutungskontext Ambivalenz zwischen überwundenen Krankheiten, beruflicher Kompetenz und Unsicherheit der Zukunft Während die Deutung der Erkrankung in der Diagnoseschilderung noch zwischen der Diskontinuität von ungewisser Zukunft und der Kontinuität als Hintergrunderfahrung im Umgang mit Ärzten und dem Anwenden von Vorkenntnissen liegt, wird in der näheren Betrachtung des Deutungskontextes die Biographie mit eingeschlossen, um nähere Auskunft über den Deutungshorizont der erst kürzlich eingetretenen Sehbehinderung zu erhalten. Das medizinische Berufswissen beleuchtet einen Aspekt ihres Hintergrundwissens aus der Vergangenheit. Dies vermittelt ihr in der Gegenwart Sicherheit im Umgang mit der Sehbehinderung, insbesondere mit dem medizinischen System. Betrachtet man aber die Herstellung einer Identität als Sehbehinderte, werden noch weitere Aspekte relevant. Beispiele dafür sind die Bedeutung zahlreicher überwundener Erkrankungen auf der Seite der Kontinuität und die Unsicherheit der Zukunft auf einer Diskontinuitätsebene. Ihre Identitätsherstellung als Sehbehinderte ist von großer Ambivalenz gekennzeichnet. Auf der einen Seite rekurriert sie auf das Muster zahlreicher überwundener Erkrankungen und damit auf ein tiefes Vertrauen in die Heilung von Erkrankungen. Auf der anderen
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Seite spürt sie zunehmend Verschlechterungen ihrer Sehkraft und gesteht ein, die Erkrankung unterschätzt zu haben.
2.3.1 Kontinuität Bedeutung früherer Erkrankungen Anhand von zwei Beispielen wird der Deutungskontext der früheren Erkrankungen für die Sehbehinderung dargestellt: Zahlreiche Erkrankungen tauchen in diesen beiden Sequenzen auf: Hüftprobleme, Gehbehinderung, Brustkrebs und Wirbelsäulenprobleme. Für alle diese zum Teil sehr gravierenden Probleme hat Frau Kirchhoff durch ihre Handlungskompetenz einen Umgang gefunden. Die Sequenzen befinden sich in jenen Teilen des Interviews, welche die Sehbehinderung zum Thema haben. Mit diesen Schilderungen relativiert sie zunächst implizit die Sehbehinderung. I:
h=hm. (..) dann- und gibt es denn auf grund der sehbehinderung sonst noch irgendwo äh, beeinträchtigung? ST: ja, ich hab ihnen ja gesagt, beide hüften. (I: h=hm) und die füsse hab ich also auch probleme. außerdem hab ich auch brustkrebs gehabt. also ich muss anscheinend von allem haben. aber das hab ich so früh entdeckt (I: h=hm) auch selbst entdeckt (I: h=hm) und, ähm, ich bin weder bestrahlt noch mit chemotherapie behandelt worden. (I: h=hm) lediglich mit dieser hormontherapie.(I: h=hm) die hab ich nicht vertragen. (I: h=hm) und dann hat der arzt das nach einem jahr abgesetzt, obwohl die normalerweise fünf jahre gemacht wird. I: und der krebs? ST: (.) is- ist a- hat sich nicht mehr gezeigt. (15/10-15/30)
Die Normalisierung der Sehbehinderung als eine Krankheit unter vielen stellt sich hier als Muster der überwundenen Krankheiten dar. Begleitet werden diese überwundenen Erkrankungen durch das Herausstellen der eigenen Kompetenz. Neben dem biographischen Berufswissen spielt das Erfahrungswissen von Krankheiten die entscheidende Rolle für die Deutung der Sehbehinderung. Die Krankheiten werden aufgrund ihrer Überwindung als „Macken“ abgetan. Die Sehbehinderung wird ausschließlich als beeinträchtigend dargestellt. Dass überhaupt, anstatt anderer Biographiedarstellungen, derart gehäuft auf die überwundenen Erkrankungen eingegangen wird, impliziert für die Deutung der Erkrankung das Kontinuitätsmoment. Mit der Erkrankung an den Augen wird ausschließlich die Krankheitsgeschichte fortgesetzt, sie wird nicht dramatisiert. Dass die Kontinuitätsdarstellung in der neuartigen Situation der Sehbehinderung nicht kippt, ist darauf zurückzuführen, dass immer vor dem Hintergrund der eigenen Kompetenz gehandelt wird: Die Betroffene kennt ‚gute’ Ärzte, weiß
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um Behandlungsmethoden, findet immer Lösungen für Beeinträchtigungen. Bislang ist noch jede Erkrankung geheilt worden. Zweifel an all diesen Aspekten scheinen in diesen Sequenzen, die sich zeitlich auf Gegenwart und Vergangenheit beziehen, nicht auf.
2.3.2 Diskontinuität Unsicherheit der Zukunft Einzig in der Zukunftsdimension sind Unsicherheiten und damit diskontinuierliche Momente feststellbar. Diese diskontinuierlichen Momente werden allerdings immer nur implizit angedeutet. Sie folgen alle dem gleichen Muster: Gerettet wird jede Sequenz zum Thema der Unsicherheit der Zukunft, indem erneut die Kompetenz im Umgang mit Erkrankungen in den Vordergrund gerückt wird. Das Ausschlagen oder Verdrängen dieses Zukunftsszenarios der eigenen Betroffenheit wird recht eindrucksvoll durch eine Begegnung mit einer anderen Betroffenen dargestellt: ST: also, wie ich das erste mal an der uni-klinik war, da hat mich dann jemand angesprochen und also ganz fürchterlich erschreckt. ähm, dier k- war wohl ikonenmalerin und kann jetzt überhaupt nichts mehr und ist verbittert. die hat gesagt, (I: h=hm) früher wollte von mir jeder ein bild haben und jetzt meldet sich keiner mehr. und war also derartig verbittert und unangenehm, dass ich gedacht hab, also ich möchte dich auch nicht mehr wiedertreffen. das äh- ich hab dann versucht ihr zu sagen, es gibt doch einige hilfen (I: h=hm) und dann hat sie immer gesagt, das ist alles nichts. (I: h=hm) also, ich finde, äh (.) das bringt einen auch nicht weiter. (I: h=hm, ja.) (..) es gibt dinge, die sind wie sie sind. die kann keiner ändern. und dann muss man sehen, wie man sich durchschlängelt. (20/27-20/44)
Sie gibt sich von den Schilderungen der Ikonenmalerin „ganz fürchterlich erschreckt“. Eine Betroffene in einem fortgeschrittenen Stadium der Erkrankung, noch dazu Künstlerin und auf das Augenlicht ganz besonders angewiesen, stellt sich ihr in ihrer Verbitterung, Hilflosigkeit und Inkompetenz vor. Erschreckt ist sie insofern, dass ihr eine mögliche Zukunftsversion vor Augen geführt wird. Interessant ist in Folge dessen ihre Reaktion, in der sie eher aus der Sicht einer Nicht-Betroffenen denn einer Betroffenen argumentiert. Hilfen sind immer möglich und Erkrankungen sind schicksalhaft, so ihre Aussage. Zudem wird die eigene Person von ihr selbst entlastet, insofern sie ausdrückt, „dich möchte ich auch nicht mehr treffen“. Die Konfrontation mit einer Person, die derartig negativ das Voranschreiten der Erkrankung verarbeitet, wird nicht als förderlich erachtet.
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In der kurzen Thematisierung der Veränderung vom Diagnosezeitpunkt bis heute wird ein drittes Mal ein katastrophisierendes Element dargestellt. Das Ausmaß der Entwicklung der Makuladegeneration war der Betroffenen nicht bewusst. Aber hier wird, mustergültig, wieder mit Kompetenz gepuffert: Das damalige Unwissen wurde ausgeglichen. Das Ausmaß, die Formen der Erkrankung und die Behandlungsmethoden sind mittlerweile bekannt. Das scheint sie zu entlasten, selbst wenn dies in keinem Zusammenhang mit der persönlichen Bedeutung von „wie schlimm das ist“ steht. I:
h=hm, h=hm. ja, ja. können sie das denn beschreiben, hm, wie ie sich (.) am anfang gefühlt haben, als sie von der diagnose, äh gehört haben und wie sich das jetzt verändert? ST: äch, das- ich hab das gar nicht gewusst, wie- wie, äh, schlimm das ist. (I: h=hm) die makula, das wusste man so von der schule her, das ist der schärfste fleck des sehens. aber das das so ausfallen kann und die versch- es gibt ja verschiedene variationen. das weiß ich inzwischen auch. (I: h=hm, h=hm, h=hm) und auch verschiedene behandlungsmethoden. je nach dem fall. (20/45-21/3)
Wie sich die Handlungsformen im Umgang mit der Sehbehinderung im Zeichen der Ambivalenz genauer konstituieren, wird im folgenden Gliederungspunkt thematisiert. Kenntlich wird dort, dass sie mit der Ebene der Verdrängung oder besser mit der Verschiebung der Zukunftsperspektive, im Sinne einer Verschlechterung, verbunden sind und damit mit der Deutung der Erkrankung kongruent sind.
2.4 Handlungskontext – Umgang mit der Sehbehinderung im Alltag Schon in der biographischen Einordnung tauchen einige Umgangsformen auf: man muss sich durchschlängeln, man hat halt Macken, es gibt doch Hilfen. Dort werden sie noch weitestgehend als Möglichkeiten des Umgangs für die Zukunft gewertet. Es handelt sich vor allem um Denkmuster, wie man mit der Erkrankung umgehen sollte. Im Verlauf des Interviews treten aber zunehmend konkrete Verhaltensweisen im Alltag auf. Es zeigen sich erste Verhaltensänderungen, indem Hilfsmittel beschafft und Hilfspersonen aus dem familiären Kreis um Rat gebeten werden. Auf einer abstrakteren Ebene ist in diesen unterschiedlichen Bereichen zumeist zu unterscheiden zwischen einem ‚Noch-nicht’ und einem ‚Bereits’. Es ist auffällig, dass die Betroffene bislang weitestgehend auf Hilfen im Alltag verzichtet, die sie als Sehbehinderte kennzeichnen. Auf diese Weise drückt sich in den Umgangsformen im Alltag erneut das Deutungsmuster der Ambivalenz aus. Insbesondere instrumentelle Hilfen sind momentan noch nicht
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von Bedeutung (wenn, dann nur in hypothetischer Weise) da noch keine Identität als Sehbehinderte ausgebildet wurde. Diese Identität als Sehbehinderte wird von ihr nicht entwickelt, da im Fokus des Interesses und der Beschäftigung mit der Sehbehinderung vor allem der Heilungswunsch steht.
2.4.1 Zurückhaltende Relevanz von Verhaltensänderungen Die Verhaltensänderungen zur Anpassung an die Beeinträchtigung werden von der Befragten schwerlich akzeptiert. Dies wurde bereits beim Thema des Autofahrens deutlich. Gerade die Kenntlichmachung in der Öffentlichkeit durch das Tragen eines Blindenabzeichnens wird auf die Zukunft verschoben. I: ST: I: ST:
nutzen sie denn weitere hilfsmittel? ja noch- noch nicht. noch nicht. h=hm noch nicht. die frau jansen wollte uns zwar so ein abzeichen für blinde verkaufen, aber das möchte ich nicht. I: h=hm, h=hm, h=hm ST: vorerst nicht. (12/53-13/4)
Obwohl nach weiteren Hilfsmitteln gefragt wird, wird auf das Blindenzeichen rekurriert, das nur ein rudimentäres Hilfsmittel darstellt. Die einzige Verhaltensänderung aufgrund von eingetretenen Schwierigkeiten stellt die Herstellung von Ordnung in der Küche dar. ST: ja natürlich. ich bemüh mich schon, die- die- die sachen- sie sehen ja, meine küche ist nicht praktisch, und (I: h=hm, h=hm) äh, also (..) so die- die- die kleinen gewürzflaschen, die hab ich alle in eine ki- kiste gestellt.(I: ah, sch- h=hm) und dann weiß ich, das ist in der und der kiste und dann find ich das auch. (I: h=hm) wenn das nur so drin steht, dann hab ich das nicht mehr gefunden. (I:h=hm, h=hm.) und das erzieht einen zur ordnung. (24/25-24/34)
Die Art und Weise, wie die Kiste mit den Gewürzen in die Küche gelangt, lässt auf ein übliches Muster der Verhaltensänderung schließen. Erst wenn man auf ein Problem gestoßen wird, wird das Verhalten verändert. Dies erklärt beispielsweise, warum kein Blindenzeichen getragen oder noch Auto gefahren wird. Überspitzt formuliert ist noch kein „Unfall“ passiert, der das eine oder das andere nötig gemacht hätte. Der Bereich der außerhäuslichen Mobilität ist noch nicht derart gefährdet, dass hierzu Hilfsmittel benötigt werden. Bislang machen nur häufige Tätigkeiten im näheren Umfeld eine Verhaltensänderung nötig.
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2.4.2 Beschaffung und Nutzung von Hilfsmitteln Aber Hilfsmittel werden angeschafft und auch genutzt. Die Relevanz der Hilfsmittel im täglichen Gebrauch zeigt sich beispielsweise eindrucksvoll in der Anschaffung neuer Lampen zur besseren Ausleuchtung der Wohnung. ST: der hat mir das g- (.) ja, es war dann so, ich hab e- ich wollte schon lang meine lampen ern- ändern. lampen ist ja ein ganz schwieriges, äh, kapitel. (I: h=hm)und dann hab ich gesagt, ach bei ihnen im geschäft, ist so gute beleuchtung, wo haben sie die her. ich hatte mich schon nach lampen umgesehen, aber, äh, das war nicht so ganz befriedigend. und dann hat er mir das geschäft genannt, das ist in heinburg, (I: h=hm) und dann sind wir dort mal hingefahren und dann kam die auch hier her und hat das hier für die wohnung gekuckt. (I: ah, schön, h=hm.) ich hab da noch eine ganz tolle lampe. ich hatte mir was anderes ausgesucht, das sah wohnlicher aus, (I: h=hm) aber das sei für meine augen besser. (13/42-14/4)
Die Beschaffung der Lampen steht eher unter einem Aspekt der Verbesserung der Wohnlichkeit als unter dem Aspekt des Hilfsmitteleinsatzes. Kenntlich wird dies durch die Aussage, dass die Lampen schon lange verändert werden sollten, und dass bei der Auswahl zunächst die Wohnlichkeit von Bedeutung war und nicht der Nutzen der neuen Lampen. Erst ein externer Ratschlag führt zur Anschaffung geeigneter Lampen für die Sehbehinderung. Dennoch besitzt sie bereits einige ‚klassische’ Hilfsmittel für Sehbehinderte, wie die bereits erwähnte Brille mit Kantenfilter, Lupen und ein Portemonnaie mit spezieller Sortiereinlage zum besseren Erkennen von Scheinen und Münzen: ST: ja, und- und ich hab was noch viel schöneres. (I: h=hm) das hat mir auch der optiker (..) ((läuft weg)) weil die hab ich (..) in jedem portemonnaie hab ich so ein ding (..) und (..) komischerweise kennen die leute das gar nicht. (I: h=hm) das hat mir der optiker (.) geschenkt. und ich h- hab mir dann ein zweites gekauft. für jedes portemonnaie- gucken sie mal, (I: ah ja.) (13/21-13/29)
Hilfsmittel werden somit allmählich im Alltag relevant. Doch gerade im Gegensatz zu anderen Betroffenen steht Frau Kirchhoff hier noch am Anfang und ist dem Hilfsmitteleinsatz gegenüber noch eher verhalten eingestellt. Dies kann einerseits damit begründet werden, dass die Sehbehinderung noch nicht als derart gravierend empfunden wird, dass Hilfsmittel überhaupt benötigt werden. Andererseits ist auch ein Bezug zu dem bereits bekannten Argument der noch nicht ausgeschlossenen Heilung in Erwägung zu ziehen.
Relevanz von Institutionen im Umgang mit der Sehbehinderung
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2.4.3 Rolle der Familie und Hilfspersonen Entsprechend zur Hilfsmittelnutzung gestaltet sich das Heranziehen von Hilfspersonen. Die Familie wird vor allem zu Zwecken der Informationsbeschaffung (vgl. Nichte als Beraterin in Sachen Therapie und Selbsthilfegruppe) genutzt. Ansonsten gibt es bisher wenige Situationen, in denen Hilfspersonen benötigt werden. Die Neuartigkeit der Situation, in der Hilfebedarf von Dritten notwenig ist, zeigt sich in der Stelle des Interviews, in welcher von Museumsbesuchen berichtet wird. ST: na ja, ich war jetzt mit meiner freundin in hamburg (I: ja) und haben die großen museen besucht, und es war alles sehr schön, (.) aber es gibt räume, wo ich einfach sag, da ge- geh ich weiter, weil die zu dunkel sind und die (I: h=hm) bilder zu klein. dann guck ich mir einfach die großen an. (I: h=hm) und äh, wenn ich ganz nah dran gehe, kann ich auch die schilder noch lesen, (I: h=hm) aber meine freundin hat mir viel vorgelesen und das (I: h=hm) war natürlich eine große hilfe. aber wie sich das auf andere auswirkt, weiß ich noch nicht. (23/24-23/38)
Neuartig ist die Situation, dass gewohnte Freizeitaktivitäten nun Unterstützungen erfordern und Beeinträchtigungen enthalten. Der Umgang mit diesen Situationen erfolgt sehr pragmatisch. Es werden einfach die großen Bilder angesehen und bei Bedarf liest die vertraute Freundin vor. Unsicher ist allerdings, wie sich die Situation der Hilfsbedürftigkeit auf andere Personen – und in Zukunft – auswirkt.
2.5 Relevanz von Institutionen im Umgang mit der Sehbehinderung Auf der Ebene der Institutionen spielen insbesondere der Umgang mit dem medizinischen System und das Angebot der Beratungsgruppe eine Rolle. Auch im Umgang mit Institutionen bleibt die bereits mehrfach analysierte Ambivalenz prägnantestes Kennzeichen. Die Betroffene befindet sich in einem Zwischenstadium von Hoffnung auf Heilung und Akzeptanz der Erkrankung als progredient, wobei die Hoffnung auf Heilung noch überwiegt. Dementsprechend werden sämtliche institutionellen Hilfeleistungen, insbesondere auf Heilung fokussiert. Die Ambivalenz wird kenntlich in der Gleichzeitigkeit der Erfahrung von Enttäuschungen und der aufkeimenden Hoffnung durch jüngst entdeckte Therapien.
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Hoffnung auf Heilung
2.5.1 Rolle des medizinischen Systems Die Kommunikation mit Ärzten nimmt einen hohen Stellenwert im Umgang mit der Sehbehinderung im Falle der Befragten ein. Sie stützen die permanente Suchbewegung nach Heilungsmöglichkeiten und bieten immer wieder Anlass zu Hoffnung auf Besserung des Sehvermögens. Zudem schöpft Frau Kirchhoff aus ihrer Biographie der überwundenen Erkrankungen viel Vertrauen aus der Kommunikation mit Ärzten. Dennoch sind schon in dieser noch recht jungen Geschichte der Sehbehinderung, Hoffnungen auf Heilung enttäuscht worden. ST: ich hatte auch eine (.) telefonnummer von einer ärztin, die das macht, aber die hat mir schon am telefon nicht gefallen, das war nicht die richtige für mich. I: frau, ja. h=hm, h=hm. h=hm (..) und äh, wie lang- wann haben sie denn mit der cortison-behandlung begonnen? ST: jaI: wie lange läuft die denn schon? ST: die war am vierzehnten ersten. I: am vierzehnten ersten. ST: und dann war nachuntersuchung und da hat man festgestellt, ähm da haben, die geben mir sogar diese aufnahmen mit hier. das ist alsoI: von dem auge, h=hm. ST: ja diese angiographie I: h=hm, floureszenzangiographie ST: ja. äh, dass das nichts war. (I: h=hm) also nichts gebracht hat. (9/11-9/32)
Entsprechend ihrer Schilderung blieb die Cortisontherapie am Auge erfolglos. Dennoch führen in ihrem Falle Misserfolge medizinischer Therapien nicht zur Aufgabe der Hoffnung auf Heilung, sondern scheinen diese eher weiter zu befördern. Der Misserfolg der Therapie wird dahingehend interpretiert, dass nur noch nicht die richtige Therapie für ihre Person gefunden wurde. In ihren Heilungsbemühungen schöpft die Befragte nicht einzig aus der Schulmedizin, auch alternative Therapien werden versucht. Es folgt alles dem Muster nichts unversucht zu lassen, schließlich wurden bisher alle Erkrankungen überwunden, seien sie noch so gravierend. ST: und habe, das hat mir der augenoptiker empfohlen, äh, davon halten die ärzte nichts, ich weiß das (I: h=hm) ich mache augenakupunktur, das hat mir eine dame gesagt, die also auch dies gleiche hat, (I: h=hm) sie hat es doch f- ähm, zehn jahre aufgehalten. (I: h=hm) jetzt sagen die ärzte natürlich, das bleibt sowieso stehen, also man kann es nicht beweisen. (I: h=hm, h=hm) aber ich probier es halt. (8/43-8/52)
Relevanz von Institutionen im Umgang mit der Sehbehinderung
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2.5.2 Angebot der Beratungsgruppe Das Angebot der Beratungsgruppe wird von Frau Kirchhoff gänzlich anders genutzt als von der ersten Betroffenen. Einerseits unterscheidet sich ihr Weg in die Gruppe. Sie beschreibt sich zum Zeitpunkt des Interviews noch als Neuling und reflektiert ihren Zustand als Neueinsteiger mit Unsicherheiten, was aus der Gruppe angeeignet werden kann und was nicht. Zudem gestaltet sie ihre Teilnahme selektiv und die Geselligkeit, wenn sie von ihr wahrgenommen wird, folgt bisher der Funktion, Heilungsmöglichkeiten zu erkunden. I:
und jetzt noch mal, äh, zu der (.) gruppe. (.) wie- wie war denn ihr weg in diese amdgruppe? ST: ja, das war ganz komisch. ich- ((lacht)) ich sag ja, die familie hält zusammen. ich hab eine nichte in hamburg, die ist juristin und die betreut auch leute, (.) äh, die dement sind und (I: h=hm) krank sind, also juristisch betreut. und da weiß die, dass es da eine sehr gute blindengruppe gibt. (I: h=hm) und an hand der zeitschrift hab ich dann auch gemerkt ähm die hamburger scheinen besonders gut zu sein. (I: h=hm, ja) und dann hat die gesagt, das muss es doch in münchen auch geben. (I: h=hm)und, na ja, äh ich hab halt so verschiedenes (unverständlich), ich hab es nicht gefunden. und die andere nichte, die ärztin ist, die hat es aber gefunden und hat gleich mit der frau jansen geredet. (I: h=hm, h=hm) und dann hab ich erst mal mit frau jansen gesprochen und dann hat die also gemeint, was in meinem fall zu machen wäre hätte ich ja eigentlich getan und hat mich eingeladen zu diesem treffen. (17/31-18/1)
Der Weg in die Gruppe wird im Falle Frau Kirchhoffs durch die Familie veranlasst. Es ist nicht klar, ob ihr Weg in die Gruppe freiwillig war. Zumindest drückt sie in ihrer Schilderung keine Eigenmotivation aus. Bedeutsam erscheint der erneute Verweis auf die Kompetenz. Beide Nichten werden als fachlich kompetent eingeführt, die eine in rechtlichen Betreuungsfragen älterer Menschen, die andere in ihrer Funktion als vertrauenswürdige Ärztin. Auffällig ist weiter, dass sie an dieser Stelle von „blindengruppe“ spricht, obwohl sie sich selbst noch als Sehende begreift, schließlich fährt sie noch Auto. Blindheit wird von ihr selbst für sich im gesamten Interview ausgeschlossen. Zunächst, vor Eintritt in die Gruppe, nimmt sie eine Einzelberatung mit der Leiterin der Gruppe wahr. Sie kann somit die eigene Geschichte an die Expertin loswerden. Mit dem Ergebnis, dass ihre Bemühungen, wenn sie auch nicht geglückt sind, dennoch ‚richtig’ waren. Diese Beruhigungsarbeit und Evaluation ihrer Tätigkeiten konnte nicht durch die Ärzte oder die Familie erreicht werden. Damit schildert sie erneut, wie sie die Zuschreibung eines Defizits verhindert. Ähnlich wie in den Vorsorgeuntersuchungen am Auge, hat sie erneut als kompetente Patientin gehandelt. Sie gelangt also nicht durch eine Defizitzuschreibung
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Hoffnung auf Heilung
in die Gruppe, sondern erneut durch die eigene Kompetenzzuschreibung. Sie nimmt die Einladung in die Gruppe wahr, weil eine anerkannte und von den Nichten geprüfte Expertin sie einlädt. Auf die gesamte Passage bezogen, ist auffällig, dass das Merkmal der ‚Qualität’ von Angeboten herausgestellt wird. Es häufen sich in dieser Textstelle positive Evaluationen: Die Kompetenz der Nichten, eine „sehr gute blindengruppe“, die „hamburger scheinen besonders gut zu sein“. Sie ist immer auf der Suche nach der bestmöglichen Alternative. Die erste Teilnahme an einer Sitzung wird von ihr, wie folgt, wiedergegeben. ST: also (.) ich war vor der operation, vor der ersten cortisonbehandlung. (I: h=hm) also ich mein, es war dezember. die erste. und wie das so will, se- ich sitze neben einem herrn, diesem doktor (..) schneider (I: h=hm, h=hm) der gerade vierzehn tage vorher diese behandlung hat machen lassen. (I: h=hm)aber äh, wir sind also im kontakt und bei ihm ist es geglückt. (I: ah ja.) und es ist ja ein großer witz, er ist auch physiker ((lacht)) und kennt e- also das halbe max-plank-institut für biophysik hat er gekannt. (I: ah ja) so war das alles. I: haben sie also nicht nur etwas über die augen auszutauschen ST: ja, wir (.) unterhalten uns. (I: schön) das ist witzig, so der einzige eigentlich mit dem ich sprechen kann, da hab ich gerade daneben gesessen (18/32-19/2)
Die erste Teilnahme an einem Treffen der Beratungsgruppe verläuft zeitlich parallel zu ihren Heilungsbemühungen mithilfe der Cortisontherapie. In dieser ersten Sitzung wird die Begegnung mit Dr. Schneider als schicksalhaft gekennzeichnet und es lässt sich fast vermuten, dass aus dieser Begegnung die Fortsetzung der Teilnahme resultiert. Dr. Schneider wird als Hoffnungsträger stilisiert. Er hat die Cortisontherapie gerade hinter sich gebracht und sie ist erfolgreich verlaufen. Gerade wenn man diese Begegnung im Vergleich mit der ‚Ikonenmalerin’ betrachtet, wird deutlich, dass Frau Kirchhoff den Kontakt genau zu jenen Hoffnungsträgern sucht. Es kann an dieser Stelle interpretiert werden, dass Dr. Schmidt für die Bedeutung der Kommunikation der Teilnehmer untereinander, das repräsentiert, was die Betroffene von der Gruppe erwartet. Die bedeutsamste Erinnerung an das erste Treffen ist somit bezogen auf die Erfüllung der Heilungserwartung und ist somit ein guter Motivationspunkt, um weiter an der Gruppe teilzunehmen. Durch die weitere Beschreibung von Dr. Schneider werden weitere Muster bestätigt. Dr. Schneider passt in ihre kompetent strukturierte Welt. Als Physiker, der Personen ihrer früheren Arbeitsstätte kennt, ist er vertrauenswürdig. Besonders interessant ist an dieser Stelle, was sie über ihre ersten Erfahrungen in der Gruppe nicht berichtet. Es wird keinerlei Bezug zu Hilfsmitteln, All-
Relevanz von Institutionen im Umgang mit der Sehbehinderung
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tags- oder Freizeitaktivitäten oder emotionalem Bewältigungsdruck hergestellt. Heilung ist das einzige Ziel, auch bei der Teilnahme an der Gruppe. Dem entspricht auch die Andeutung der selektiven Teilnahme an den Angeboten des Blindenbundes. Dies steht ganz im Gegensatz zur Teilnahme des ersten Fallporträts. I:
h=hm. (..) und ähm, (.) äh, das heißt von- äh von den angeboten des blindenbundes (..) mm, haben sie bisher die beratung bei frau jansen, erst ST: ja, ja I: mal individuell. ST: ja I: und dann jetzt diese ähm, (.) äh, gruppe in anspruch genommen. ST: jaja. also mitgliederversammlung hab ich geschwänzt, da war ich eingeladen dafür. (I: h=hm, h=hm) die haben ja verschiedene gruppen, aber- also eine (.) reicht mir (I: h=hm, ja) ich hab noch eine ganz gute gruppe in münchen, das nennt sich deutsche sozialwerk. das klingt so super sozial (I: h=hm) aber die unternehmen sehr viel. (I: h=hm) also, als ich aufgehört hab zu arbeiten, habe ich mich dem bridge zugewandt, vorher hätte ich gar keine zeit dafür gehabt. (I: h=hm)und äh, durch diesen bridgeclub habe ich dann damen kennen gelernt, die auch dabei sind (19/15-19/39)
Auf zweifacher Ebene wird die Selektion der Teilnahme in diesem Fall geschildert. Einerseits wird „geschwänzt“ und zwar die Mitgliederversammlung. Eine Lesart könnte hier sein, dass sie sich noch nicht in den Blindenbund integriert fühlt oder sich nicht integrieren will. Auf der anderen Seite wird nur die Beratungsgruppe wahrgenommen. Andere Angebote, die zwar bekannt sind, werden nicht als interessant eingestuft. Dies wird in Verhältnis zu der Teilnahme an anderen Gruppen außerhalb des Blindenbundes gesetzt, wo Freizeitaktivitäten eine Rolle spielen. Auch in ihrem Falle, wie beim ersten Fallporträt, wird der Übergang in den Ruhestand durch die institutionelle Organisation von Freizeitaktivitäten gestaltet. Dieser Übergang ist in ihrem Falle abgeschlossen. Aus diesem Grund sind die angebotenen Freizeitaktivitäten des Blindenbundes in anderen Gruppen nicht von Interesse. Zudem sollte an dieser Stelle nochmals auf die nicht vollzogene Identität als Sehbehinderte verwiesen werden. Anders als bei Frau Ebeling möchte die Betroffene ihr Leben als Sehende fortsetzen und nicht permanent mit der Sehbehinderung konfrontiert werden, indem sie auch noch an den weiteren Angeboten des Blindenbundes teilnimmt. Die Beratungsgruppe erscheint ausschließlich als Ort der Information zu Heilungschancen. Eine Integration in die Sehbehindertenwelt wird nicht angestrebt. Sehbehinderung und Altern werden in ihrem Falle nicht verknüpft. Den Anschluss bildet vielmehr das biographische Muster der überwundenen Krankheiten. Altern in institutionellen Kontexten findet an anderen Orten statt.
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Hoffnung auf Heilung
2.6 Relevanz pädagogischer Formen im Umgang mit der Sehbehinderung Abgeleitet aus den Umgangsformen der Befragten lassen sich drei Dimensionen von pädagogischer Relevanz in Bezug auf die Sehbehinderung kennzeichnen. Die Bedeutung von kompetenter Information, die Nebensächlichkeit von Geselligkeit und der Aneignung in Bezug auf eine Personenveränderung. Ihr Aneignungsverhalten ist durch die Kontinuität der Lebensführung im Vertrauen auf das medizinische System geprägt.
Bedeutung kompetenter Information Die Bedeutung zuverlässiger Information wird im Falle Frau Kirchhoffs durch zwei Dimensionen repräsentiert: Vertrauenswürdige und kompetente Personen, der biographische Anschluss an überwundene Erkrankungen, gepaart mit einem Vertrauen auf das medizinische System. Diese Dimensionen stellen Kontinuität her und geben Rückhalt in Suchbewegungen.
Nebensächlichkeit von Geselligkeit Geselligkeit ist in Bezug auf die Sehbehinderung nicht von Wert. Geselligkeit in der Form von Aneignung von Kultur und Bildung wird nicht in Institutionen der Betreuung der Sehbehinderung gesucht. Dies findet in anderen sozialen Welten statt, in denen sie explizit nicht auf die Sehbehinderung gestoßen wird.
Nebensächlichkeit von Aneignung Es geht hinsichtlich des Umgangs mit der Sehbehinderung im Falle Kirchhoff bisher kaum um eine Personenveränderung. Vielmehr werden Informationen gesammelt und Kontakte geknüpft, um die Heilungsoptionen zu optimieren. Die Sehbehinderung ist noch nicht als unumkehrbare Tatsache anerkannt. Dies verhindert Aneignungsprozesse, die zur Personenveränderung führen könnten.
Synthese Suche nach Heilung zwischen Kontinuität und Diskontinuität
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2.7 Synthese Suche nach Heilung zwischen Kontinuität und Diskontinuität Das Fallporträt dieser Betroffenen stellt die Dimensionen des Umgangs mit Sehbehinderung zum Beginn der Erkrankung dar. Zusammenfassend stellt unten stehende Abb. 33 sämtliche, in den vorherigen Punkten ausgearbeitete Differenzierungen der Kategorien dar. Entsprechend der relativ kurzen Betroffenheit sind die Heilungsbemühungen im Falle Frau Kirchhoffs omnipräsent. Besondere Relevanz haben dementsprechend die Institutionen als Informationsträger und Therapieeinrichtungen. Doch im Falle Frau Kirchhoffs lassen sich diese Heilungsbemühungen nicht nur auf die kurze Dauer der Betroffenheit beziehen. Diese stehen zudem in engem Zusammenhang zur Biographie: Kann sie doch auf eine Krankheitsbiographie der überwundenen Erkrankungen zurückblicken. Damit stellt die Hinwendung zu Institutionen die logische Fortsetzung ihrer Bemühungen zur Gesundung dar. Des Weiteren schöpft sie Wissen um Erkrankungen aus ihrer Berufsbiographie. Kontinuität wird hergestellt durch das biographische Muster der Überwindung schwerer Erkrankungen mit Vertrauen auf und Wissen um das medizinische System. Diese Fortsetzung puffert zudem eine mögliche Diskontinuität, die bislang auf die Zukunft verschoben wird: Die Erkrankung könnte nicht heilbar sein und das Sehvermögen könnte sich verschlechtern. Die Bedeutung und das Vertrauen auf das Medizinische spiegeln sich in diesem Fallporträt auch auf der Ebene der Handlungsformen. Im Vergleich zu anderen Betroffenen sind die Handlungen in Reaktion auf die Sehveränderung noch relativ zurückhaltend. So werden beispielsweise nur wenige Hilfsmittel genutzt. Aber eine geringe Hilfsmittelnutzung im Falle Frau Kirchhoffs ist ebenso auf die noch relativ geringe Beeinträchtigung zurückzuführen. In Bezug auf die pädagogischen Formen steht damit vor allem Information im Vordergrund. Geselligkeit wird nur unter der Funktion der weiteren Information und der Begegnung von Hoffnungsträgern thematisiert. Aneigungsprozesse im Sinne einer Personenveränderung sind derzeit kaum zu rekonstruieren. Dies ist wiederum mit dem Willen zur Kontinuität zu begründen. Dieser Fall steht damit im Lichte der Ambivalenz. Diskontinuitäten scheinen bereits auf, werden aber derzeit noch durch kontinuierliches Verhalten abgepuffert und in die Zukunft verschoben.
Wissen um Erkrankungen aus familiärem Kontext
Fremdbezug
Regelkonformes Verhalten. Selbstkontrolle, Disziplin
falsche Selbstdiagnose: Grauer Star
Rückgriff auf Wissen um das Sehen
Selbstbezug
Diagnose
Unsicherheit der Zukunft
problematisches Alltagshandeln
Demonstration von Kompetenz
Erstes Auftauchen
Erstes Auftauchen der Sehbehinderung/Diagnose
Frage der Identität als Sehbehinderte
Mobilität
Alltag
Wissen um Überwindbarkeit von schweren Erkrankungen
Familiengeschichte in Bezug auf Erkrankungen
Das Berufsleben als Basiskompetenz
Biographie
Kontext
Ambivalenz
Unsicherheit der Zukunft
Diskontinuität
Die Bedeutung früherer Erkrankungen
Kontinuität
Deutung
Deutungskontext
Ablehnung des Blindenzeichens
Ablehnung von Trainings
Das 'Noch nicht'
Ablehnung von Hilfspersonen?
Bedeutung der Nichten
Rolle von Familie und Hilfspersonen
dennoch einige Hilfsmittel vorhanden
stehen unter dem Aspekt der Wohnlichkeit
randständig
Rolle von Hilfsmitteln
Ablehnung von sehbehindertenspezifischen Hilfsmitteln (Blindenabzeichen)
Ordnunghalten
Verhaltensänderung
Handlungskontext
Zusammenfassung Frau Kirchhoff
Integration in die Sehbehindertenwelt wird nicht angestrebt
Ort der Information über Heilungschancen
versteht sich noch nicht als volles Mitglied
Altern in Institutionen andernorts
selektive Teilnahme
Heilung als einziges Ziel
Hoffnungsträger Dr. Schmidt
Erstes Treffen der Beratungsgruppe
vor dem Hintergrund von Qualität
vor dem Hintergrund der eigenen Kompetenz
veranlasst durch Nichten
Weg in die Gruppe
Das Angebot der Beratungsgruppe
Optiker als Vertrauensperson für die Optimierung des Alltags
Ärzte als kompetenteste Gesprächspartner
Die Rolle von Ärzten und Optikern
Relevanz von Institutionen
keine Personenveränderung
Nebensächlichkeit von Aneignung
Geselligkeit als Aneignung von Kultur außerhalb der Sehbehindertenwelt
Nebensächlichkeit von Geselligkeit
Rückhalt bei Suchbewegungen
als Herstellung von Kontinuität
Bedeutung von kompetenter Information
Relevanz pädagogischer Formen
248 Hoffnung auf Heilung
Abbildung 33: Zusammenfassung Frau Kirchhoff
3 Fallvergleich Formen des Umgangs und ihr Bezug zu selbst- und fremdbestimmten Defizitund Kompetenzzuschreibungen 3
Fallvergleich
Der Fallvergleich der beiden Fallporträts relationiert die Fälle vor dem Hintergrund der Kompetenz- und Defizitzuschreibungen über die ausgearbeiteten Kategorien hinweg. Zu diesem Zwecke werden zunächst die Phasenverläufe von Defizit- und Kompetenzzuschreibungen zueinander in Beziehung gesetzt (3.1). Darauf folgt die Darstellung des Zusammenhangs von Deutung der Erkrankung mit den rekonstruierten Umgangsformen (3.2). Der Einfluss der Umgangsformen auf das Zugreifen und die Aneignung von Angeboten wird in Punkt 3.3 differenziert. Den Abschluss dieses Kapitels bildet die Relationierung der Gesamtgestalt der beiden Fallporträts in Bezug auf die Integration in die Sehbehindertenwelt (3.4).
3.1 Verläufe von Defiziten und Kompetenzen Defizite und Kompetenzen werden in beiden Fällen unterschiedlich thematisiert. Betrachtet man die Fälle von der Warte des Kontrastes wird auffällig, dass die Zeitlichkeit von Defiziten und Kompetenzen in diesen Fällen der Angelpunkt der Unterschiedlichkeit darstellt. These I: Während Frau Ebeling ihr Leben lang die Sehbehinderung als Defizit betrachtet hat, ist mit der Hinwendung zur Einrichtung eine gemeinsame Basis für Kompetenz gefunden worden und das Defizit ist damit verschwunden. Bei Frau Kirchhoff hingegen ist ein Defizit im Umgang mit der Sehbehinderung bisher kaum aufgetaucht. Auch hier treten vor allem Externalisierungsleistungen in den Vordergrund. Die Selbst- wie die Fremdzuschreibung eines Defizits verortet sich im Falle Ebeling vor dem Hintergrund der Biographie in der Vergangenheit. Defizite werden ihr von außen zugesprochen: durch den Arbeitgeber, in schulischen Situationen und durch das Elternhaus. In der Dimension der Selbstzuschreibung werden Defizite relevant, indem das Leben als permanenter Kampf um die Neutralisierung der zugeschriebenen Defizite beschrieben wird. In der Vergangenheit
250
Fallvergleich
des Arbeitslebens ist die permanente Thematisierung der Augenproblematik das alles kennzeichnende Problem. Im Bereich des medizinischen Systems hingegen taucht ein Defizit in Bezug auf Inkompetenz auf. Dies geschieht in der Zuschreibung, nicht ernst genommen zu werden, indem wesentliche Fakten über die eigene Person verschwiegen werden. Dahingegen scheinen Defizite im Falle Kirchhoff maximal in einer auf die Zukunft gerichteten Dimension auf. Aus diesem Grund ist auch eine Selbst- bzw. Fremdzuschreibung nur schwer bestimmbar. Defizite werden vielmehr unbestimmt und implizit dargestellt oder mit allgemeinen Floskeln wie „man muss sich durchschlängeln“, „man muss das beste daraus machen“ abgetan. Sie werden durch die Herausstellung von Kompetenz verdeckt oder verschoben. In Bezug auf Selbst- und Fremdzuschreibungen von Kompetenz liegt in beiden Fällen der Bezug auf der Gegenwart. Beide beschreiben sich zum Zeitpunkt des Interviews als kompetent im Umgang mit der Sehbehinderung. Auf der Seite von Frau Ebeling wird dies durch ein Verschwinden bzw. Überwinden des Defizits aus der Vergangenheit gekennzeichnet, im Falle Frau Kirchhoffs durch die Negierung eines Defizits für Vergangenheit und Zukunft. Somit stellt sich einerseits eine eine Veränderungsleistung dar, andererseits eine Ausschlussleistung. Im Fall Ebeling verläuft das Leben mit der Sehbehinderung von einer defizitären Vergangenheit hin zu einer kompetenten Zukunft. Ihre Defizite tauchen in der Auseinandersetzung mit dem medizinischen System auf: Dafür steht die mangelnde Kommunikation, die den Ärzten als Defizit zugeschrieben wird, und das von ihr empfundene Defizit der Entmündigung auf. Dies wird durch die Teilnahme an der Beratungsgruppe unter ebenfalls Betroffenen ausgeglichen: Der Fokus liegt auf Kommunikation, Ehrlichkeit und Offenheit unter den Anwesenden. In Bezug auf die zugeschriebenen Defizite des Arbeitslebens in der Vergangenheit verschwindet das Defizit mit der Verrentung. Durch das Hinwenden zu einem Personenkreis, der ihre Defizite teilt, verwandelt sie das Defizit in Kompetenz. Sehbehinderung muss nicht mehr thematisiert werden, zum ersten Mal in ihrem Leben. Obwohl beide eine Berufsbiographie im medizinisch- naturwissenschaftlichen Bereich teilen, zieht Frau Kirchhoff andere Schlüsse für den Umgang mit der Sehbehinderung aus ihrem Berufsleben. Frau Kirchhoff ermöglicht dies einen kompetenten Umgang mit der Sehbehinderung: Die Ärzte können ihr nichts erzählen, sie ist Ko-Expertin auf diesem Gebiet: Sie reagiert auf die Sehbehinderung mit Kompetenz.
Umgangsformen mit der Sehbehinderung
251
3.2 Umgangsformen mit der Sehbehinderung These II: Aus der unterschiedlichen Bewertung von Defiziten und Kompetenzen resultieren differente Umgangsformen mit der Sehbehinderung. Im Falle Frau Ebeling wurde als Deutung die Kontinuität durch das Auflösen von Defiziten beschrieben. Im Falle Frau Kirchhoff steht demgegenüber die Deutung der Ambivalenz mit der Negierung von Defiziten. Resultierende Umgangsformen aus beiden Deutungen sind folgendermaßen gegenüberzustellen: Im Falle Ebeling beziehen sich die Umgangsformen mit der Sehbehinderung auf die gesamte Lebenswelt. Sie reichen von der Alltagsgestaltung durch Hilfsmitteleinsatz, ihre Kennzeichnung als Sehbehinderte durch Blindenabzeichen, ihre die Freizeitgestaltung im Rahmen des Blindenbundes sowie das Nutzen der Gruppen für den persönlichen Austausch zu Hilfsmitteln und der Alltagsgestaltung. Frau Kirchhoff hingegen wählt vor allem den Weg der Information über die Augenerkrankung und Heilungsmöglichkeiten. Das Umgestalten der Wohnung folgt eher der Optimierung der Behaglichkeit, denn der Anpassung an den Sehverlust. Mit der Deutung der Erkrankung hängen die Umgangsformen insofern zusammen, dass in beiden Fällen durch die jeweiligen Handlungsformen, Kontinuität hergestellt wird.
3.3 Relevanz von Institutionen im Setting von Defiziten und Kompetenzen These III: Während Frau Ebeling mit der Hinwendung zu Institutionen das Defizit der Sehbehinderung auflöst, droht im Falle Frau Kirchhoffs die Aufdeckung eines Defizits durch die Enttäuschung der Hoffnung auf Heilung. Als erweiterte Handlungsform wird die Bedeutung der Hinwendung zur Institution des Blindenbundes in den Blick genommen, die in beiden Fällen unterschiedlich ist. Überblicksartig stellt sie sich folgendermaßen dar: Im Falle Frau Ebeling taucht die Institution des Blindenbunds auf als Bildungseinrichtung, als Kommunikationsort, als Freizeitort und als Ort der Umgestaltung des Lebenszusammenhangs (geplanter Umzug). Frau Kirchhoff misst dem Blindenbund Bedeutung als Informationsort für ihre Heilung und als Kontakt- und Austauschbörse mit Personen, die ebenso auf Heilung fokussiert sind. Ihr Ziel ist die Wiederherstellung der Sehkraft. Es erfolgt keine persönliche oder soziale Integration in die Gruppe aufgrund des Handelns vor dem Hintergrund der Kompetenz. Durch die Hinwendung zu Institutionen der Welt der Sehbehinderung reproduziert sich die jeweilige Handlungsform, wie bspw. die Bearbeitung der
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Fallvergleich
Kompetenz. Beide rekurrieren noch auf weitere institutionelle Zusammenhänge, wie das medizinische System und die Betreuung durch Optiker. Beide lehnen weitere Trainings für sich im momentanen Stadium der Erkrankung ab und sind noch institutionell in anderen Einrichtungen vernetzt, die nicht ausschließlich der Sehbehinderung beigeordnet werden.
3.4 Differenz pädagogischer Formen – Information versus Aneignung These IV: Nur aufgrund der Akzeptanz der Sehbehinderung als irreversibles Schicksal sind Frau Ebeling differenzierte Aneignungsprozesse möglich. Die Suche nach Heilungsmöglichkeiten verhindert Aneignungsprozesse, da keine Defizite angenommen werden, die eine Personenveränderung nötig machen. Selbstbezügliche Aneignung spielt im Falle der Betroffenen Ebeling insofern eine Rolle, dass sie zu selektieren vermag, was sie sich aus der Beratungsgruppe aneignen möchte. Dieses angeeignete Wissen steht bei ihr im Bezug zur Gegenwart und zur Zukunft, da sie auch ‚auf Vorrat’ lernt. So wird von ihr nicht jedes Lernangebot aus der Gruppe angenommen, sondern nur was für sie aktuell oder in Zukunft von Interesse erscheint. Entscheidend ist dabei die Gestaltung der eigenen Lebenswelt. Heilungsgedanken oder Therapien spielen in diesem Falle kaum eine Rolle. Hinsichtlich des Umgangs mit der Sehbehinderung im Falle Kirchhoff geht es dagegen bisher kaum um eine Personenveränderung. Vielmehr werden Informationen gesammelt und Kontakte geknüpft, um die Heilungsoptionen zu optimieren. Die Sehbehinderung ist noch nicht als unumkehrbare Tatsache anerkannt. Dies verhindert Aneignungsprozesse, die zur Personenveränderung führen könnten. Im Falle Frau Ebeling spielt die Geselligkeit eine entscheidende Rolle. Das beiläufige Lernen, im Sinne von sich informieren, mithören, Erfahrungen bewerten und austauschen steht im Zentrum ihrer Aneignung. Es dient dazu die permanente Problematisierung der Sehbehinderung zu beschränken. Vielmehr wird Geselligkeit unter Sehbehinderten gedeutet als Kommunikation des Normalen. Dahingegen ist Geselligkeit ist in Bezug auf die Sehbehinderung im Falle Frau Kirchhoffs weniger von Wert. Geselligkeit in der Form von Aneignung von Kultur und Bildung wird nicht in Institutionen der Betreuung der Sehbehinderung gesucht. Dies findet in anderen sozialen Welten statt, in denen sie explizit nicht auf die Sehbehinderung gestoßen wird.
Sehbehindertenwelt vs. Welt des Sehens
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3.5 Sehbehindertenwelt vs. Welt des Sehens These V: Während Frau Ebeling sich völlig in die soziale Welt der Sehbehinderung integriert und diese Integration auf Dauer stellt, sucht Frau Kirchhoff durch die Teilnahme an der Sehbehindertenwelt die Abgrenzung von derselben. Kontrastierend sind die beiden Verortungen zur sozialen Welt der Sehbehinderung zu betrachten. Frau Ebeling sucht explizit die Integration in die Sehbehindertenwelt. Dagegen verhindern die Deutungen und Handlungen Frau Kirchhoffs eine solche Integration. Im Falle Ebelings ist die Sehbehindertenwelt durch ein umfassendes Betreuungssystem gekennzeichnet, das über diese Betreuung hinaus weite Teile des Alltagslebens beeinflusst. Für sie bedeutet die Sehbehindertenwelt die soziale Integration unter Gleichgesinnten. Gleichgesinnte werden über die gemeinsame Betroffenheit von der Sehbehinderung definiert. Der Umgang mit ihnen lässt die Sehbehinderung eher verschwinden, da sie in diesen Kreisen nicht als Defizit thematisiert werden muss. Dahingegen ist die Hinwendung zur sozialen Welt der Sehbehinderung im Falle Kirchhoffs gänzlich verschieden. Sehbehinderte werden nur bedingt als Gleichgesinnte angesehen, nur dann, wenn sie sich ebenso um Heilung bemühen. Freizeitaktivitäten mit ebenso Betroffenen werden hier gegenteilig interpretiert wie im Falle Ebelings. Die Freizeit und damit die Lebenswelt mit anderen Betroffenen zu teilen, erlebt Frau Kirchhoff als eine Konfrontation mit der Sehbehinderung. Dies ist eng verknüpft mit der Konfrontation mit einer ambivalenten Zukunft mit der eigenen Sehbehinderung. Insofern ist in diesem Falle eine Abgrenzung von der Sehbehindertenwelt die sinnvollere Strategie, um diese Ambivalenz in Richtung Kontinuität aufzulösen.
4 Einordnung weiterer Teilnehmer
Die Integration der weiteren Betroffenen hat zum Ziel Typologien25 (Kluge, 2000) entlang der in den Fallporträts rekonstruierten Kategorien herauszustellen. Wie bereits in den Fallporträts von Frau Ebeling und Frau Kirchhoff dargestellt, spielt dabei der Umgang mit den Kompetenzen und Defiziten in der Selbstbeschreibung als ‚neue’ Sehbehinderte eine erhebliche Rolle. Es geht einerseits um die Typologien von Deutungskontexten der Erkrankung. Diese sind hauptsächlich in den biographischen Abschnitten und den Diagnoseschilderungen zu finden. Die Deutungskontexte fungieren als wesentliches Kriterium der Kontinuitäts- und Diskontinuitätsherstellung mit Bezug auf die Erkrankung (4.1) Die Ebene der Handlungskontexte dient der Aufschlüsselung von Handlungsmustern (4.2) und die relationierende Ebene der Defizit- und Kompetenzzuschreibungen mündet in der Einordnung der jeweiligen Zuschreibungen. Aufbauend auf diese Deutungs- und Handlungskontexte mit den jeweiligen Defizit- und Kompetenzzuschreibung kann die Relevanz von Aneignung und Vermittlung innerhalb und außerhalb von Institutionen bewertet werden (4.4). Anhand dieser Kategorien kann abschließend ein Modell entwickelt werden, welches die Akteursperspektive der Betroffenen auf die soziale Welt der Sehbehinderung umfassend beschreibt (4.5)
4.1 Deutungskontexte einer altersbedingten Erkrankung Die Analyse von Deutungskontexten fokussiert auf den Zusammenhang von Deutungs- und Kontextualisierungsdimensionen. Die Deutungen werden in den Diagnosesequenzen am deutlichsten sichtbar. Sie lassen sich in zeitliche, soziale, 25
„Grundsätzlich handelt es sich bei jeder Typologie um das Ergebnis eines Gruppierungsprozesses, bei dem ein Objektbereich anhand eines oder mehrerer Merkmale in Gruppen bzw. Typen eingeteilt wird, so daß sich die Elemente innerhalb eines Typus möglichst ähnlich sind (interne Homogenität auf der ‚Ebene des Typus’) und sich die Typen voneinander möglichst stark unterscheiden (externe Heterogenität auf der ‚Ebene der Typologie’). […] Entsprechend besteht jeder Typus aus einer Kombination von Merkmalen, wobei jedoch zwischen den einzelnen Merkmalsausprägungen nicht nur empirische Regelmäßigkeiten (Kausaladäquanz), sondern auch inhaltliche Sinnzusammenhänge (Sinnadäquanz) bestehen sollten.“ (Kluge, 2000, S. Absatz 2)
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Einordnung weiterer Teilnehmer
auf Fähigkeiten beruhende und phasenläufige Ebenen sortieren. Die Kontextualisierungen subsumieren biographische, medizinische, familiäre, gesellschaftliche und institutionelle Ebenen. Die jeweils individuellen Verknüpfungen der Betroffenen in Bezug auf die beiden Typologien Kontext und Deutung stellen das jeweilige Deutungsmuster der Erkrankung dar. An dieser Stelle geht es weniger um die individuellen Verknüpfungen, vielmehr stehen verallgemeinerbare Typologien im Vordergrund.
4.1.1 Gestörter vs. alternder Körper - Deutungen In den Fallporträts haben sich die Diagnosesequenzen als entscheidende Parameter für die Deutung und damit auch den späteren Umgang mit der im Alter aufgetretenen Sehbehinderung erwiesen. Die geschilderten Diagnosesequenzen können auch in den weiteren Interviews als Indikator für die Deutung und den Umgang betrachtet werden. Dabei steht im Zentrum, was die Diagnoseschilderung, über einen Fall hinweg betrachtet, ausmacht: Sie kennzeichnet einen Bruch oder einen Kreislauf, der entweder eine Unterscheidung einführt oder Stabilität rekonstruiert. Von dem Zeitpunkt der Diagnose an ist die Krankheit nicht mehr wegzuerklären, ein Leben ohne sie nicht mehr möglich. Die Unterscheidung, die eingeführt wird, differenziert zwischen einem gesunden, funktionsfähigen Körper und einem krankhaften, beeinträchtigen Körper. Es ist nicht zu unterschätzen, welche Bedeutungsmacht diese Unterscheidung hat; dazu Corbin & Strauss (2004): "Ohne Krankheit geht man normalerweise bei allen körperlichen und oder geistigen Aktivitäten davon aus, dass man einen funktionierenden Körper hat, der die gewünschte Aktivität auszuführen vermag. Man setzt auch einen Körper voraus, der physiologisch so funktioniert, wie es von der Natur vorgesehen ist. […] Auf natürliche Weise wird man sich mit zunehmendem Alter bewusst, dass der Körper nicht mehr so arbeitet oder aussieht wie früher. Doch die Veränderungen sind so langsam, dass man sie kaum bemerkt. Meistens werden anstrengende Aktivitäten allmählich zurückgeschraubt oder durch andere ersetzt. […] Wenn aber der Körper aufgrund einer chronischen Krankheit […] versagt, können Leistungsfähigkeit und Aussehen für immer verändert sein." (Corbin & Strauss, 2004, S. 23f.)
Corbin und Strauss (2004) betrachten in ihrer Studie zunächst nur das Einsetzen einer chronischen Krankheit und grenzen es von dem natürlichen Alternsprozess ab. Übertragen auf die vorliegende Studie muss davon ausgegangen werden, dass die Diagnose der AMD bei den hier untersuchten Personen in ihren natürlichen Alternsprozess einbricht. Dabei kann die Erkrankung entweder als Teil des na-
Deutungskontexte einer altersbedingten Erkrankung
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türlichen Alternsprozesses oder eben als das Einsetzen einer chronischen, irreversiblen Erkrankung gewertet werden. Die Unterscheidung stellt zudem einen neuen zeitlichen Rahmen her: "Wenn eine schwere chronische Krankheit in das Leben eines Menschen einbricht, dann wird die Person der Gegenwart zwangsläufig von der Person der Vergangenheit getrennt, und alle Bilder, die er von sich für die Zukunft hatte, werden beeinträchtigt oder sogar zerstört. Wenn die Krankheit schwer und ihr Effekt auf die Aktivität des Menschen relativ erheblich ist, kommt es zu einem Bruch zwischen der Person, die er in der Vergangenheit war und in der Zukunft zu sein hoffte, und der Person, die er in der Gegenwart ist. Neue Konzeptionen davon, wer und was man ist – also Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft –, müssen aus dem entstehen, was noch übrig ist." (Corbin & Strauss, 2004, S. 66)
Die Zukunft muss von nun an neu definiert werden. Viele Wünsche und Erwartungen an das zukünftige Leben sind mit dem Eintreten einer gravierenden Sehbehinderung nicht mehr möglich. Beachtenswert ist allerdings, dass diese zukünftigen Aspekte für die Betroffenen zum Zeitpunkt der Diagnose nur teilweise relevant sind. Ein weiterer Aspekt scheint auf, wenn man die Relevanz des Körpers in der Spezifik einer Sehbehinderung betrachtet. Länger (2002) schildert in ihrer wissenssoziologischen Untersuchung zu Blindheit und Körper eine neuartige soziale Genese des Körpers, nämlich, dass der Betroffene „eine Metamorphose vom Organträger im Behandlungszimmer der Ärzte über das Navigationsinstrument im Mobilitätstraining zum Resonanzraum in face-to-face Situationen“ (Länger, 2002, S. 176) durchläuft. Es geht hier sozial weniger um das Individuum und seine Bedürfnisse, denn um eine funktionalisierte Betrachtungsweise unterschiedlicher Professionen. 4.1.2 Kontextualisierungen der Erkrankung Die Verortungen der im Alter aufgetretenen Erkrankung, verlaufen in den einzelnen Fällen unterschiedlich. Es sind jedoch vier Kerne, um die sie sich ranken. Diese Kerne lassen sich dimensionalisieren nach der bedeutsamsten Einordnung in die Biographie und nach Kontextfaktoren, die sich auf die soziale Situation oder den Diagnoseweg beziehen. Insbesondere hinsichtlich der Aspekte, die die Biographie als Kontext erscheinen lassen, ist nochmals zu unterscheiden, welche Bereiche der Biographie thematisiert werden: Einerseits ist eine Rückwendung in die Vergangenheit darstellbar, andererseits ein konkreter Gegenwartsbezug. Häufig wird die Veränderung des Lebens aufgrund des Eintretens der Sehbehinderung thematisiert. Nur selten wird ein zukünftiger Bezug auf das Leben mit der
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Einordnung weiterer Teilnehmer
Sehbehinderung dargestellt. Es handelt sich bei der Trennung der Aspekte nur um eine analytische Trennung zur Vereinfachung der Darstellung der Ergebnisse. Die vorgestellten Aspekte können selbstverständlich auch in Kombination relevant werden. Wird die Erkrankung vor dem Hintergrund des Medizinischen thematisiert, spielen die Aspekte Heilung, Behandlung, Therapie, (In-)Akzeptanz der Unheilbarkeit sowie die Kommunikation mit den Ärzten eine Rolle. Das Medizinische wird in allen Interviews thematisiert, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Dies ist eng verknüpft mit der Deutung der Erkrankung und zumeist auch der Dauer der Erkrankung. Das Alter der Personen spielt dabei weniger eine Rolle. Gerade die Studienteilnehmerinnen, die zum Zeitpunkt des Interviews erst kurz betroffen waren (Frau Kirchhoff, Frau Wolf) fokussieren ihre Schilderungen auf medizinische Aspekte. Sie stellen die Sehbehinderung als Behandlungsgeschichte dar. Es gibt aber auch erst kürzlich betroffene Personen, für die das Medizinische eine untergeordnete Rolle spielt (Herr Schuchmann, Frau Weishaupt). Diese erleben andere Erkrankungen als gravierender und einschränkender im alltäglichen Leben. So ist Herr Schuchmann neben der Sehbehinderung an Parkinson erkrankt und Frau Weishaupt ist Dialysepatientin. In ihren Fällen wird die Sehbehinderung als minderes Übel behandelt und auch Therapiebemühungen werden kaum geschildert. Bei Personen, die schon mehrere Jahre betroffen sind, ist mit Bezug auf das medizinische System vor allem die Enttäuschung omnipräsent. Diese Enttäuschungen werden jedoch unterschiedlich thematisiert: Einerseits als Enttäuschung über die Nicht-Heilbarkeit (Frau Heil, Frau Metzger, Frau Schneider). In diesen Fällen wurden zahlreiche Therapien erfolglos abgeschlossen. Die Anstrengungen und Mühen der Behandlung haben gegenüber dem medizinischen System einen negativen Beigeschmack zurückgelassen. Neben der Enttäuschung über die Unheilbarkeit werden Enttäuschungen über die Kommunikation während der Behandlung zur Sprache gebracht (Herr Nohlen). Der Betroffene Nohlen thematisiert die Sehbehinderung vor dem Hintergrund der Stigmatisierung als ‚Versuchskaninchen’. Dadurch, dass zum Zeitpunkt, an dem hier Befragte an Therapien teilnahmen, diese sich häufig noch im Forschungsstatus befanden, wird gerade von Herrn Nohlen insbesondere die Problematik der Ungewissheit des Ausgangs der Therapie wie die Behandlung als „Nummer“ dargestellt. Sehr bedeutsam ist die Verortung der Erkrankung im Zusammenhang mit der Biographie. Die Zusammenhänge zwischen Biographie und Sehbehinderung werden teilweise explizit ausgesprochen oder können durch die implizite Thematisierung von biographischen Mustern rekonstruiert werden. Am bedeutsamsten sind in den geführten Interviews die Ebenen
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Berufsbiographie, Krankheitsbiographie, biographische Dimension des Alter(n)s und Biographie als Gesamtgestalt.
Auf der Ebene der Berufsbiographie taucht AMD einerseits in einem Kontinuum vom Macher (Herr Nohlen) hin zum Leidenden (Frau Ebeling) auf. Das Erleben der Erkrankung wird hierbei der Berufsbiographie gleichgesetzt oder von ihr abgegrenzt, im Sinne einer Abwärts- oder Aufwärtskarriere. Während im Falle Nohlen die Erkrankung wie eine Managementaufgabe begriffen wird und damit der Umgang mit der Sehbehinderung an die Berufsbiographie anschlussfähig ist, setzt sich Frau Ebeling von ihrer Leidensbiographie des Berufslebens ab und wendet durch den positiven Umgang mit der Sehbehinderung das Blatt des Biographieerlebens. Andererseits taucht die Sehbehinderung, mit Bezug auf die Berufsbiographie auch als Diskontinuität auf. Dies trifft insbesondere im Fall der jüngeren Betroffenen Frau Wolf (Jahrgang 1945) zu. Bei ihr bricht die Sehbehinderung mitten ins Berufsleben ein. Sie kann ihre Die Tätigkeit als Lehrerin kann aufgrund der rasant fortschreitenden Sehbehinderung nicht mehr fortgesetzt werden. Der Kampf um den Erhalt der Sehfähigkeit bedeutet in diesem konkreten Fall den Kampf um den Erhalt der Produktivität. Zudem taucht die Biographie als Krankheitsbiographie im Rahmen der Kontextualisierung der Erkrankung auf. Die Sehbehinderung wird relationiert mit früheren und momentanen Erkrankungen. Die Bewertungen können dabei wieder recht unterschiedlich sein. Einerseits als Anschluss an überwundene Erkrankungen, andererseits als Einbruch in eine ‚Gesundheits’biographie, wie dies beispielsweise von Frau Müller geschildert wird, die sich als ihr Leben lang gesund verortet. Eine weitere biographische Dimension bildet die Auseinandersetzung mit dem Alter(n). Wird die Krankheit im Kontext des Alterns thematisiert, spielen die Themen Autonomie, Hilfsbedürftigkeit, Umzug oder Adressierung als alter Mensch eine Rolle. Dabei tritt einerseits das Altern als Abbauerscheinung in den Vordergrund, auf das man aufgrund der Sehbehinderung und anderer Gebrechen immer wieder gestoßen wird. ST: es ist eine behinderung (I: h=hm) und das sind alles behinderungen, die man haltaber ich sag immer, äh, äh, tsst- (...) ab achtzig ist einfach vorbei, das ist so (I: h=hm) und das bestätigen mir alle, die hier wohnen. wenn ich dann sag, bis achtzig war ich halt ein kerl, und jetzt ist nichts mehr, ja, sagen sie, das geht uns auch so (Frau Friedrich, 18/46-18/54)
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Frau Friedrich thematisiert beispielsweise das Altern als Abbauprozess. Sie erlebt Verluste im Bereich Sehen und Hören als beeinträchtigend und kennzeichnet beide Beeinträchtigungen als Bestandteile des normalen Alternsprozesses. Ab einem gewissen Alter ist mit Beeinträchtigungen zu rechnen und dieses Schicksal wird geteilt mit anderen Älteren. Ähnlich positiv sieht auch Frau Nohlen die Sehbehinderung als Bestandteil des natürlichen Alternsprozesses. Für sie ist das Alter eine Zeit des Loslassens und Aufgebens. ST: und des is eigentlich auch für uns (.) wieder jetzt sehr SCHÖN, weil wir haben einen modus gefunden, weil wir ham einfach mit bestimmten dingen ABgeschlossen, wovon wir wissen, des können wir in diesem leben nicht mehr oder das wollen wir auch nicht, wenn wir es könnten (Frau Nohlen, 1/43-1/48)
Anders stellt sich dies im Falle Frau Wolf dar. Sie beschreibt das Eintreten der Sehbehinderung als unnatürlichen und verfrühten Alternsprozess. In den Interviews wird das Altern ambivalent behandelt. Es wird durch den Eintritt der Sehbehinderung zumeist auf neue Weise relevant. Dies verdeutlicht die Auseinandersetzung der Betroffenen mit der Aufgabe von Fähigkeiten, dem generellen Loslassen, einem möglichen Umzug und Ähnliches. Dennoch gilt es zu betonen, dass – wie auch in den angeführten Beispielen deutlich – immer nur Teilbereiche angesprochen werden. Die Kontextualisierung des Alterns verläuft individuell unterschiedlich und auf verschiedenen Ebenen. Von der Kontextualisierung als Biographischer Gesamtgestalt ist dann zu sprechen, wenn in den Interviews die Sehbehinderung mit der gesamten Biographie in Zusammenhang gebracht wird. Der Zusammenhang zwischen Sehbehinderung und Biographie kann als Aufwärts- oder Abwärtstrend oder als zyklischer Verlauf beschrieben werden. Als Beispiel für einen zyklischen Verlauf sei hier Frau Friedrich genannt. ST: und dass man viel mit blinden zusammen war. (I: h=hm) und immer gern mit denen zusammen war. das war immer eine so herrliche stimmung (I: h=hm) äh, (..) w- bwenn man in- in kur war und (.) die frauen waren nett und sind auf ein- ich mein, ich bin ja (.) dann als witwe gekommen. (I: h=hm) und die haben sofort, wenn man- ich hab mich dann an einen anderen tisch gesetzt oder- ja wollen sie allein sein oder wollen sie, äh, ran, (.) ne? so t- d- das war immer so- so familiär alles. (I: h=hm, h=hm) das muss ich sagen, ja. (I: h=hm) ja. (..) und da sind ja heute noch weihnachtsfeiern und alles, werde ich immer eingeladen. zum geburtstag, äh, kommt ein geschenk, irgendwas, blumen oder- (I: h=hm) die sind da sehr drauf au- sehr familiär. aber die sterben halt alle weg, die alten. (Frau Friedrich, 22/23-22/43)
Die eigene Sehbehinderung wird mit der Kriegsblindheit des Ehemannes relationiert. Es bestehen keine Berührungsängste mit der sozialen Welt der Sehbehinde-
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rung, da die Blindheit des Mannes im Großen und Ganzen „familiär“ erlebt wurde. Durch die nun eingetretene eigene Sehbehinderung kann an dieses Gefühl des Eingebettetseins angeschlossen werden. Zu den Kontextualisierungen tritt der Aspekt der Familie, einerseits im Sinne der Sorge um die Familie, andererseits im Sinne der Sorge, der Familie eine Last zu werden. Aber auch der Aspekt, dass gar keine Familie vorhanden ist, tritt als Kontextualisierung der Erkrankung auf. In ersterem Falle wird AMD als eine erbliche Krankheit betrachtet. Heilungsbemühungen oder die Förderung der Forschung zur Therapie der AMD werden als Fortschritt für die Nachkommen betrachtet. Ihnen soll es nicht ergehen wie der eigenen Person. ST: dann habe ich aber gehört, ähm, jetzt musst du zu den ärzten gehen. (I: h=hm) ich muss dazu sagen, daß mein vater das auch hat hatte. und meine schwester hat es. (I: h=hm) ja, also da- deswegen denke ich bei mir (.) ist das ein eindeutig genetisch bedingt, das ist auch das was mir kummer macht, denn ich vermute, weil es auch meine frau hat. (I: h=hm) weil wir nicht wissen, wer das bei ihr in der familie hatte, dass meine kinder das bekommen. (I: h=hm) da habe ich also- ds- das macht mir eigentlich mehr kummer als meine eige (.) behinderung, der eigenen erkrankung. bin ich ehrlich, das macht mir sorgen. (Herr Nohlen, 10/11-10/27)
Eindrücklich ist dies im Fall Herrn Nohlens. Die Krankheit tritt derart gehäuft in der Familie auf, dass genetische Ursachen der Erkrankung nicht ausgeschlossen werden können. Die Sorge um die Kinder überwiegt der Sorge um die eigene Person. Im zweiten Falle, Frau Friedrich, wird die Sehbehinderung kontextualisiert mit der Aufgabe der eigenen Wohnung. Familiär ist dies bedeutsam, da sie das Angebot der Kinder ausschlägt, bei ihnen zu wohnen. Da sie selbständig bleiben möchte und der eigenen Familie nicht zur Last fallen will, zieht sie ins Betreute Wohnen. ST: und wie gesagt, meine tochter hat mir angeboten, die haben oben im haus zwei zimmer und n- eine dusche, (.) also e- da könnte ich wohnen. aber ich will das nicht, die hat noch ihren mann, wenn die witwe wäre, (I: h=hm) wäre das anders. aber die hat noch ihren mann, die hat enkelkinder, wo immer kommen und so, ich will das nicht, dass sie sich mit mir- hier bin ich versorgt. (I: h=hm) und hier ist t- das personal ist darauf eingestellt, dass sie machen, was man sagt (I: h=hm) und das- äh, wenn man dann um alles bitten muss erst (I: h=hm) das kann ich nicht. (Frau Friedrich, 19/3-19/17)
Ein dritter Aspekt kennzeichnet das Fehlen der Familie, dass die Bedeutung der Sehbehinderung umso gravierender hervorhebt.
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ST: und (..) manche sehen noch schlechter als ich und ich wundere mich dann, wie sie so noch immer so zurecht kommen. und viele haben ja auch noch einen ehemann oder (I: h=hm, h=hm) familie, nicht? dann ist es auch einfacher. (I: ja) weil allein ist es sowieso schwieriger. (I: ja, ja.) aber (..) die kommen scheinbar alle ganz gut zu- zurecht. tsu- ich unterhalt mich ja nur mit denen, die unmittelbar neben mir oder gegenüber sitzen- sitzen und da sind auch- sind wi- immer wieder andere, sicher, .hh, aber (.) also ich kann, sie kommen zurecht irgendwie, ja. (Frau Müller, 13/44-14/4)
Frau Müller erlebt die Sehbehinderung als Alleinlebende besonders schwer. Die Familie stellt bei Personen, die eingebettet in der Familie leben, einen Ausgleichsfaktor für Beeinträchtigungen dar, der ihr nicht zur Verfügung steht. Wird die Erkrankung vor einem gesellschaftlichen Hintergrund thematisiert, spielen die Aspekte des Status als Behinderter in der Gesellschaft, die (Angst vor) Ausgrenzung und die Möglichkeiten, welche die Gesellschaft älteren Behinderten offeriert, eine Rolle. Besonders deutlich wird dies, wenn das Blindenzeichen thematisiert wird. Viele erleben dieses als stigmatisierend, da sie nicht als Sehbehinderte ‚gekennzeichnet’ werden wollen. I:
und wie sieht das dann- das ist ja oft auch ein kritischer moment, sich dieses abzeichen anzustecken. ST: das hat mir keine schwierigkeiten gemacht. (I: h=hm, (.) schön.) das hab ich von anfang an gemacht. (I: h=hm.) da ging mein bekannten, ich- ich bin da mit zwei freundinnen verreist, .h da hatt ich das auch an, und dann sagt sie, das brauchst du doch jetzt nicht, du hast doch jetzt uns. ((lacht)) die mochten das nicht irgend wie, ja. (I: h=hm) dabei finde ich das gar nicht so schlimm. (Fr. Müller) ST: ja, weil man manchmal eine dumme antwort bekommt. Und ich gehe auch nicht, ich habe wohl dieses moderne abzeichen mit dem stock das internationale, aber ich geh nicht gern mit dem gelben abzeichen mit den drei punkten. Ich weiß nicht, es fällt den leuten noch mehr auf I: h=hm h=hm also mit dem gehen sie eigentlich nicht aus dem haus ST: kaum. Ich hab da so=n ganz kleines. Aber am abend kann ich nur mit der taxe wegfahren. das andere hat gar keinen zweck, wenn ich mal ins theater oder konzert gehe (Fr. Hansen, 4/10-4/17)
Weitere Formen der Stigmatisierung umfassen die Ausgrenzung Älterer oder Sehbehinderter in unserer Gesellschaft. Dies steht häufig damit im Zusammenhang in einigen Bereichen autonomes Handeln aufgeben zu müssen.
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4.1.3 Deutungen der Erkrankung Die Beobachtungen in Bezug auf die Deutung der Erkrankung sind ebenso breit gefächert: Auch in dieser Kategorie ist die gesamte Bandbreite darstellbar. Sie reicht von Kontinuitätsaspekten bis hin zu starkem Diskontinuitätserleben. Aber es werden auch zahlreiche Mischformen dargestellt. Diese drücken sich beispielsweise im Auftreten von Unwissen über die Erkrankung bei gleichzeitigem Schock über den Sehverlust aus: Man weiß noch nicht wie schlimm die Erkrankung ist, und ob es in Zukunft noch schlimmer werden wird. Man kann zunächst nur über den Schock des momentanen Sehverlustes urteilen und versucht diesen zu verringern. Erst die Zukunft lehrt einen, dass es noch schlimmer kommt und die AMD nicht wie andere Sehbeeinträchtigungen zu korrigieren ist. Diese Deutungsdimensionen werden mit der Kontextualisierung der Erkrankung jeweils individuell verknüpft. Die Herstellung von Kontinuität als Deutungsmuster der Fortsetzung kann auf die Gegenwart, die Vergangenheit oder die Zukunft bezogen sein. In den Fallporträts wurden die Deutungen einmal auf die Vergangenheit bezogen (Frau Kirchhoff) und einmal auf die Gegenwart (Frau Ebeling). Ein weiteres Beispiel der Herstellung von Kontinuität, gepaart mit der Relativierung anderer alterbedingter Erkrankungen, stellt Frau Friedrich her. Da ihr Mann aus dem Krieg blind heimkehrte, kennt sie das Leben mit der Sehbehinderung aus ihrer Ehe. Die Sehbehinderung bereitet ihr aus diesem Grund wenig Sorge, von größerer Relevanz ist die Erfahrung und Deutung des Sehverlustes. I:
h=hm, h=hm. ja. (..) und jetzt sagten sie ja, sie haben einige (..) äh, mit einigen dingen zu kämpfen, es sind ja nicht nur die augen ((lacht)), ähm, wie würden sie denn da sagen, sind die augen das schlimmste, die schlimmste einschränkung? oder sind andere dinge eher belastend? ST: äh, das gehör ist schlimmer. I: das gehör ist schlimmerST: und das hat mein mann schon immer gesagt. mein mann hat immer gesagt, wenn ich nicht mehr hören könnte, das wäre viel schlimmer. ich kann mich ja noch unterhalten. mein mann war auch aufgeschlossen und- (.) ich kann mich mit (unverständlich) jedem unterhalten und wenn mich halt einer übergeht, dem ist das auch passiert, (I: h=hm) dem hat einer mal gesagt, sei froh, dass du blind bist, du kriegst deine rente, he (.) .hh, (.) äh, aber hören, (.) das nicht hören, das ist viel schlimmer. (I: h=hm (..) h=hm) das- also das belastet mich mehr, wie das nicht sehen. (Frau Friedrich, 17/41-18/8)
Weiterhin bedeutet Herstellung von Kontinuität in den analysierten Interviews die Stabilisierung der Lebensphase mit der Sehbehinderung.
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Die Deutungsdimension der Diskontinuität findet ihren Niederschlag ebenso in den zeitlichen Dimensionen. So kann eine Destabilisierung bezogen sein auf Gegenwart, Vergangenheit oder Zukunft. Sie kann kurz-, mittel- oder langfristig ausgeprägt sein. Diskontinuitäten werden nicht nur durch die eigenmächtige Deutung der Personen ausgelöst, sondern teilweise durch die Meinungen Dritter weiter verschärft oder betont. Das Beispiel Frau Schneiders stellt anschaulich dar, wie der Verlust der Fähigkeit des Nähens durch die Zuschreibung von Inkompetenz der Augenärztin als Skandalon aufgefasst wird. ST: und, ähm, (..) und dann hat es mit meinen augen- (...) also in der zeit, in der ich gearbeitet habe, waren meine augen noch- noch in ordnung. also ich hab (I: h=hm) war eine brille getragen, aber, äh, ich habe noch keine beschwerden gehabt. und, ähm, (3 sek.) und dann plötzlich hab ich- (..) hab ich gemerkt, dass ich nicht mehrnicht mehr richtig sehen kann, beim- beim arbeiten, beim nähen. (I: h=hm) da hab ich es am er- ersten festgestellt. und zwar, öh ff- (..) hab ich da (.) äh, nicht mehr einfädeln können und- und- .hh, na ja, (I: h=hm) äähh, wi- äh, immer- immer genauer schauen müssen un- und, ..h, dann war ich (.) beim augenarzt, (I: h=hm) nd, äh, hat- man hat gesagt, also ess- irgendwas stimmt nicht und dann hat die augenärztin mir (.) dauernd gesagt, also das, ähm, ich hätte den grauen star, (I: h=hm) und ähm, (..) dann hab ich gesagt, ja also ich kann- ich kann nicht mehr- äh, kann nicht mal mehr einen saum nähen oder- oder nadel einfädeln und das war dann der gipfel von dis- von dieser bemerkung, die- den sie- die sie mir gegeben hat, ähm, ich halte meine arbeit nicht richtig. (.) da bin ich bald geplatzt. dann hab ich gesagt, dass weI: sie halten sie nicht richtig vor die augen? ST: ich halte sie nicht richtig. (I: ah ja.) ich soll es mal mitbringen, dann will sie mir zeigen, wie ich das halten soll. dann hab ich gesagt, das brauchen sie mir zeigen, wo ich mein leben lang in dem beruf war, ne? (Frau Schneider, (3/42-4/27)
Durch die Episode mit der Augenärztin wird hier verdeutlicht, dass die Beeinträchtigung zunächst als vorübergehend aufgefasst wird. Die lebenslange Tätigkeit als Schneiderin zu verlieren, liegt zunächst im Bereich des Unfassbaren und dementsprechend wird die Zuschreibung durch die Ärztin gewertet. Implizit wird mit dieser Schilderung der Einbruch von Diskontinuität, die Abkoppelung der Biographie von dem Leben mit der neuen Erkrankung in all seiner Härte verdeutlicht. Die Herstellung von Kontinuität oder Diskontinuität sind aber im Verlauf einer Erkrankung nicht als statisch zu betrachten. Vielmehr können diese Prozesse in der Zeit unterschiedlichen Bewertungen unterliegen. Zur Illustration des zeitlichen Verlaufs werden aus dem Sample zwei Fälle in ihrem phasenhaften Verlauf der Deutung der altersbedingten Sehbehinderung vorgestellt.
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Die Schilderung eines phasenhaften Verlaufs der Erkrankung Die Diagnoseschilderung im Falle Nohlen bezieht sich nicht auf einen ärztlichen Kontext, sondern auf die Darstellung des Lebens im Ruhestand. Dieser steht im familiären Kontext, gekennzeichnet von der Sorge um die eigene Familie sowie das schwierige Verhältnis zum eigenen Bruder, der ebenso von AMD betroffen ist: ST: so. jetzt. was wollen sie noch wissen? ich hab gesagt, neunzehnhundertvierun- nein neunzehnhundertneunundneunzig in Pension. (..) und neunzehnhundert (...) da hab ich zum erstenmal gemerkt, aber das hat mich überhaupt nicht beeindruckt (..) ich wusste allerdings von meinem bruder, der das vorher bekommen hat, der ist neun jahre älter, (I: h=hm) wie der das bekam, hab ich es mal gesagt, na der arme kerl, wenn ich dann soweit bin, kann ich ihn ja mal spazieren fahren. Wir waren- wir waren dann (unverständlich) zusammen. Und dann habe ich es selbst bekommen (..) und dann neuzehnhundertvierundneunzig eben brachial. (I: h=hm) und (.) da erst hat mich das wirklich erschüttert und zwar s- ganz gewaltig. (I: h=hm) und da hab ich da- das hab ich ja schon erzählt, da habe ich gesagt, mensch (..) das muss doch irgendwie weitergehen (..) äh, es müssten doch menschen vor mir da gewesen sein, die das auch gemeistert haben. Und dann habe ich in der stiftung blindenanstalt, nicht im blindenbund, (I: h=hm) es gibt eine stiftung blindenanstalt von der x gesellschaft, ich weiß nicht, ob sie das wissen (I: h=hm, h=hm) und da hab ich da angerufen und hab das- das denen geschildert, da war sicher ein blinder mensch am apparat. Und da hab ich gesagt, haben sie denn jemand der (.) sowas mitgema- oder der blind ist? und dann hat der gesagt, hat der dei- ich hab das am telefon gehört, in den kreis gerufen (..) ist hier jemand blind oder ganz blind oder- (.) und dann hatte sich die frau klein von der ich sprach (.) gemeldet und die war dann kurz blind. und diese frau klein, eine reizende frau, die aber viel älter ist würde ich mal sagen, (.) einen blindenhund hatte, die journalistin war (I: h=hm) und die auch außerdem noch uveitis hatte. (I: h=hm, h=hm) und (.) hm, da hab ich gesagt, mensch, es müsste doch mal so was geben, aber (.) äh es wäre (.) nicht richtig, wenn ich sagen würde, ich habe das iniziiert. sondern das hat die frau klein und die frau jansen haben das iniziiert (I: h=hm) aber ich war da von anfang an dabei. (Herr Nohlen, 7/51-8/38)
Die stete Verschlechterung des Sehens ruft zunehmend Aufmerksamkeit hervor. Biographisch ist relevant, dass der Übergang in den Ruhestand und der Ausbruch der Erkrankung zusammenfallen. Die Sehbehinderung steht im direkten Zusammenhang mit der Pensionierung. Dies ergibt sich aus den Zeitangaben: 1990 ist gleichzeitig das Jahr der Pensionierung und des Ausbruchs der Sehbehinderung. Allerdings erst 1994 bricht die Sehbehinderung „brachial“ aus. Ab diesem Zeitpunkt sind gravierende Beeinträchtigungen zu spüren. Der Eintritt der Sehbehinderung und die Unterscheidung krank/gesund und damit das Erleben von Diskontinuität werden erst durch massive Beeinträchtigungen und Erfahrungen von
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Hilflosigkeit relevant. Bis dahin wird die Erkrankung wegerklärt und nicht ernst genommen. Mit dieser Schilderung repräsentiert er ein typisches Phänomen der AMD: Die problematische zeitliche Trennung von Diagnose und gefühlten Ausbruch der Erkrankung im Sinne des Eintretens von Beeinträchtigungen26. Bedeutsamer ist hier aber, warum diese Erfahrungen so dargestellt werden und wie der Befragte dies für sich erklärt. Der Betroffene will seine Schilderung nicht beginnen mit diesem brachialen Ausbruch. Er beginnt vorher. Als er von der Sehbehinderung erfuhr, wusste er bereits von seinem Bruder, dass der Krankheitsverlauf nicht gut ist. Deswegen hat er gezielt den Kontakt mit seinen Freunden gepflegt. Die Sehbehinderung reicht weiter zurück in der Erzählung als er hier kommuniziert, obwohl er selber wusste, dass er die Sehbehinderung bereits hatte. Er kennt durch seinen Bruder den Krankheitsverlauf. Die anderen kennen, wenn überhaupt, nur seine Sehbehinderung und nicht die Entwicklungsperspektive. In diesem Sinne könnte man sagen: Hier bedeutet der Umgang mit der Diagnose der Sehbehinderung einen Umgang mit der bereits erfahrenen Sehbehinderung und dem Wissen über ihre weitere Entwicklung. Gerade im Wissen um die weitere Entwicklung unterscheidet er sich von vielen anderen Betroffenen. Wie geht er nun mit diesen zwei Wissensaspekten um? Mit dem Ausdruck „das hat mich nicht beeindruckt“ stellt er einen doppelten Bezug auf die Sehbehinderung her: Das damals Gegenwärtige hat ihn nicht beeindruckt, vielleicht, weil er das zweite Auge noch hat. Für die weitere Folge der Sehbehinderung könnte dieser Ausdruck zwei Bedeutungen haben, einerseits, dass er es hätte besser wissen müssen, andererseits kann er damit aber eine Haltung vertreten, dass die Zukunft zu diesem Zeitpunkt noch nicht relevant war. Er ist mit der Sehbehinderung umgegangen, als hätte er sie gar nicht, er hat sie nicht beachtet. Weiter gestützt wird diese Lesart durch die Beschreibung des Denkens zum Zeitpunkt der Verrentung („wenn ich dann soweit bin“) in Bezug auf seinen ebenso an AMD erkrankten Bruder: „ich kann den mal fahren“. Damit klingt an, dass er die Situation der Beeinträchtigung zunächst einmal ausschloss, im Sinne von ‚meine Zukunft sieht nicht aus wie deine’. Implizit unterstellt er dem Bruder damit, im Kampf um die Erhaltung der Sehfähigkeit nicht genügend getan zu haben. Doch der Ausbruch der Krankheit, das eigene Betroffensein von Einschränkungen verändert die Situation. Die Diagnose hat einen anderen Status, die noch nicht den für das Individuum bedeutsamen ‚Ausbruch’ markiert. Sie ist eher als Vorläufer zu charakterisieren. Mit „brachial“ betont er die Intensität des Ausbru26 Diese Diskrepanz erklärt sich dadurch, dass erst ab einem Restsehvermögen von weniger als 30% auf beiden Augen Beeinträchtigungen gravierend hervortreten. Vorher kann das weniger betroffene Auge Defizite im Sehen gut ausgleichen.
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ches der Beeinträchtigungen: Es gab keine langsamen Übergänge, es hat ihn voll getroffen. Erst hat er die Erkrankung abschätzig behandelt und dann traf es ihn wesentlich härter als er dachte, plötzlich und ohne positive Entwicklung. Möglicherweise könnte dies als Selbstvorwurf gedeutet werden. Er hat sich nicht innerlich vorbereitet auf die Erkrankung. Es war sein Stil, die Erkrankung nicht ernst zu nehmen. Zusammenfassend kann man im Falle dieses Betroffenen bezüglich der Deutung von zwei Phasen der Erkrankung sprechen. Er entscheidet sich ganz für die gegenwärtige Perspektive und nicht für die Prognose. Die Entwicklung gestaltet sich von einem langsamen Übergang (1990-1993), der wegerklärt wird, hin zum Nicht-Mehr-Übersehenkönnen. Mit „brachial“ ist dann die Entwicklung abgeschlossen. Diese Unterscheidung nach zwei Phasen muss ebenso für das Umgehen, also das Handeln in Bezug auf die Sehbehinderung aufrechterhalten werden. Die erste Phase kennzeichnet sich durch: Nicht zur Kenntnis nehmen, Vergessen, trotz des Wissens um den Verlauf. Dahingehend kennzeichnet sich die zweite Phase durch eine starke Betroffenheit, in der die Erfahrung der Sehbehinderung zunächst umfassendes Ergriffensein und eher Handlungsunfähigkeit bedeutet. Diese Phase hält allerdings nicht lange an und so kann man auf der Handlungsebene noch eine dritte Phase anschließen. In dieser bedeutet umgehen dann: nach Wegen suchen, die Sehbehinderung zu meistern. Hier ist die Annahme leitend, ich bin nicht der erste, der das hat, das müssen doch andere auch geschafft haben. Und zweitens, dass der Bruder es nicht gemeistert hat: es braucht den Nicht-Meisterer als Vergleich. Praktisch realisiert er dies, indem er das Telefon in die Hand nimmt und den Weg in die Beratungsgruppe findet. Kaum hat er sich erholt von dem schweren Schlag der körperlichen Sehbehinderung, gründet er schon eine Bürgerinitiative mit. Wollte man diese Diagnoseschilderung mit den Begriffen des Defizits und der Kompetenz beschreiben, ergäbe sich folgender Schluss: In Phase I wird die Sehbehinderung als Defizit vergessen. Erst in Phase II durch die tief greifende Erfahrung scheint ein Defizit auf, dieses wird also unmittelbar verknüpft mit einem biographischen Muster des ‚Meisterns’. Im Text ist dies nur die Sache eines Satzes, er greift sofort zum Telefonhörer. Er beschreibt es so, als ob es zeitlich unmittelbar aufeinander folgt. Kein Moment der Orientierungslosigkeit und Hilflosigkeit wird relevant. Er kennt sich aus in sozialen Gruppierungen, er weiß sofort, wo etwas zu erwarten ist und handelt sofort. Seine Souveränität wird nur ganz kurz in Frage gestellt. Er erhält sie auch nach diesem Schicksalsschlag weiter aufrecht.
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Isolierter phasenhafter Verlauf Gänzlich ohne den Verweis auf die eigene Biographie kommt die Darstellung der Diagnose im Fall Frau Müller aus. Zudem beinhaltet die Schilderung keinen Verweis auf Handlungen, also den Umgang mit der Erkrankung. Das Erleben der Erkrankung im Verlauf wird somit in dieser Sequenz vollkommen isoliert behandelt. Aber es findet sich ebenso wie im Falle Nohlen eine Differenzierung der Erkrankung von anfangs nicht schlimm bis zur Klimax ‚das ist alles tot’. Die Diskontinuität im Sinne eines Schocks findet hier erst durch die zunehmende Beeinträchtigung statt. ST: also das ist jetzt ungefähr neun jahre her, schätze ich, auf dem rechten auge. (I: h=hm) ja? auf dem linken war noch nichts und (.) als das festgestellt wurde, sagte der arzt, sie sehen ja noch mit dem anderen auge insgesamt bis siebzig prozent und das ist dann nicht so tragisch. aber ich hatte keine ahnung, dass das linke auch schlechter werden würde. I: h=hm. und jetzt ist auch das äh links ist auch das linke betroffen ST: seit gut drei jahren schlecht ja, hat das angefangen I: h=hm. (.) und, ähm (.) können sie ungefähr sagen wie momentan ihr visuswert ist, wie viel prozent sie auf beiden augen aufweisen? ST: rechts kann ich, äh, lesen überhaupt nichts mehr, das ist- das ist alles tot, ich hab nur noch- ich (I: h=hm) kann nur noch umrisse sehen, die für das linke auge vielleicht noch ein bisschen von bedeutung sind und links sehe ich fünf prozent. mehr ist nicht mehr da. (Frau Müller, 3/5-3/35)
Zunächst war in diesem Falle, wie so häufig, nur das eine Auge betroffen. Zu diesem Zeitpunkt, der beim Interview neun Jahre zurückliegt, wird die Erkrankung noch nicht ernst genommen. Auch der Arzt beschwichtigt sie, sie habe ja noch das andere Auge. Retrospektiv wird nun der Arzt für diese abwartende Haltung und die Herabsetzung der Erkrankung verantwortlich gemacht. Denn ihre Unwissenheit hindert sie daran etwas zu unternehmen und in Starre zu verfallen. Die Unwissenheit ist somit der Anlass für eine Anklage an den Arzt. Das Unwissen über die Konsequenzen der Erkrankung, die vertane Chance auf die Vorbereitung auf die Sehbehinderung oder gar deren Heilung wird dem Arzt zugesprochen. In einer weiteren Sequenz erläutert sie die Diagnosephase ein wenig detaillierter und geht auf die erlebte Phasenhaftigkeit der Erkrankung ein. ST: beim ersten mal war ich nicht schockiert, weil er sagte, das linke auge ist ja noch gut, das ist irgendwie noch- aber als das mit dem zweiten anfing- ich hab dann- ich wurde ja immer kontrolliert alle viertel jahr. und hab dann, damals hatt ich eine augenärztin, die hab ich dann immer gefragt, ist es denn nun schon soweit, nein, sagt
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sie, noch nicht. da war ich dann immer glücklich. und eines tages war es dann soweit. aber es war nicht gleich so sch- so rapide, ja? (I: h=hm) ich konnte immer noch lesen, aber das ging schon langsam abwärts und (..) das hat mich schon ganz schön schockiert. ich meine ich wusste davon, ich wusste auch, dass ich damit rechnen musste, aber dass man nachher gar nicht mehr lesen kann, nur mit hilfsmitteln und das ist auch sehr schwierig. (I: ja.) jetzt mach ich es bereits über den fernseher. (Frau Müller, 5/51-6/16)
Nun finden wir die gleiche Differenzierung wie bei Nohlen nach zwei Phasen. Allerdings wird im Falle Frau Müllers keine dritte aktive Phase geschildert. In der Phase der Kenntnis der Erkrankung, die aber noch ohne Beeinträchtigungen verläuft, wird die Erkrankung erneut wegerklärt und ignoriert. Das Phänomen der Beeinträchtigung wird auf die Zukunft verschoben, in diesem Moment zählt nur die Gegenwart. Die eigentliche Phase der Erkrankung setzt erst durch den Schock des Verlustes der Lesefähigkeit ein. In dieser Sequenz wird nun auch nicht mehr die Ärztin verantwortlich gemacht, vielmehr ist eine implizite Selbstanklage aus dieser Sequenz herauszulesen. Die Betroffene ging zwar regelmäßig zu Kontrolluntersuchungen und erweitert ihr Wissen über die Erkrankung. Andererseits war sie aber über das noch langsame Voranschreiten derart erleichtert, dass ein zukünftiges schlechteres Sehen weder vorbereitet noch akzeptiert wurde. In ihrem Falle zeigt sie in Bezug auf das Umgehen mit der Sehbehinderung eine Haltung des Abwartens und Ignorierens. Defizit- bzw. Kompetenzzuschreibungen sind in diesem Fall aus den Diagnoseschilderungen nicht nachzuweisen. Die Sehbehinderung wird hier nicht als Defizit erlebt. Vielmehr erscheint sie als von außen kommendes Schicksal, gegen das man machtlos ist.
4.2 Handlungskontexte Die Darstellung der Handlungskontexte basiert auf der These, dass diese jeweils individuell durch die Deutungskontexte bestimmt sind. Sie stellen die Umgangsformen mit der Erkrankung dar. Im Handeln wird sichtbar, wie an die Deutungen der Sehbehinderungen angeschlossen wird. Zu unterscheiden ist im Bereich der Handlungskontexte nach Kontexten und nach Handlungen. Dabei bezieht sich der Aspekt des Kontextes darauf, welche Problembereiche mit den Handlungen bearbeitet werden, respektive welchen Zweck sie verfolgen. Die Handlungen selbst stellen dann die Operationen dar, um den Problembereich zu bearbeiten. Diese unterschiedlichen Konstellationen von Handlungen und Kontexten werden im Folgenden mit Rückgriff auf alle Betroffenen ausgearbeitet.
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4.2.1 Kontextualisierung der Handlungen Häufig kreisen die Handlungen um Bereiche, die der Bewältigung bzw. Verarbeitung der Krankheit dienen. Es geht darum, die Erkrankung durch Information und Aneignung von Wissen zu erklären, eine Frage auf die Antwort des ‚Warum ich?’ zu finden. Dabei decken die Betroffenen das komplette Spektrum von Verarbeitungsunmöglichkeiten bis hin zum Verarbeitungserfolg ab. In Bezug auf Bewältigung und Verarbeitung gewinnen Formen der Umdeutung, der Normalisierung und der Relationierung bezüglich weiterer Erkrankungen an Macht. Meist bewegen sich die Strategien im Spektrum von Therapien und Heilungen. Fast ausschließlich in den Fällen, in denen die Erkrankung vollends akzeptiert ist, verändert sich der Kontext von Bearbeitung und Bewältigung in Richtung Lebenswelt oder Lebensführung. Therapien spielen dann weniger eine Rolle, es überwiegen Aussagen, wie man muss „das Beste daraus machen“ (Frau Nohlen) oder „andere sind wesentlich schlimmer dran“ (Frau Friedrich). Ein Beispiel für die absolute Auseinandersetzung mit dem Bereich der Verarbeitung und Bewältigung stellen die Studienteilnehmer Frau Wolf und Frau Kirchhoff dar. Aber in beiden Fällen ist die Bewältigung noch unsicher und implizit dargestellt. Beide fokussieren die Heilung. In ihrem Sinne dient dieser Handlungskontext der Wiederherstellung des Augenlichts. Die meisten Handlungen beziehen sich auf den Alltag und die Lebenswelt. Dies liegt einerseits an der Situation des Interviews, andererseits an der Spezifik der Beeinträchtigungen durch den Sehverlust. Die Situation des Interviews kann für diesen Bereich geltend gemacht werden, da es erstens einfacher ist über Hilfsmittel und Probleme im Alltag zu berichten, denn über Verarbeitungsprozesse. Zweitens waren in den Nachfragen zahlreiche Aspekte zu Handlungen des Alltags integriert. Die Spezifik der altersbedingten Makuladegeneration bringt in einem fortgeschrittenen Stadium zahlreiche Beeinträchtigungen im Alltag mit sich, insofern ist es nicht verwunderlich, wenn dieser Bereich eingehend von den Betroffenen behandelt wird. Der Kontext des Alltags und der Lebenswelt kann differenziert werden nach innerhäuslichen Problemen wie Kochen, Kaffee kochen oder Geräte bedienen und außerhäuslichen Problemen, wie im Falle von Frau Hansen an der Situation des Einkaufens problematisiert: I:
ja ja, h=hm jetzt sagten sie auch schon beim einkaufen ehm da gibt es auch schwierigkeiten ehm wie stellen sie denn das an, wie funktioniert das ST: also erstens mal haben wir hier einen tante-emma-laden (I: ja) der auch gewisse dinge hat. Dann kommt am Freitag so ein (..) ein wagen, der alles möglich hat. n bisschen obst, undsoweiter (I: h=hm h=hm) und wenn muss ich immer jemanden mitnehmen, denn in den großen supermärkten oder so, da kriegen sie ja gar keine hilfe (I: ja ja) sie kriegen keine verkäufer und wenn sie da fragen, wo liegt denn da
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die butter, ach gehen sie doch mal da hinten, da am ende des regals, da ist sowas (I: ja ja) und lesen können sie=s sowieso nicht, selbst wenn sie ne lupe mit haben (I: h=hm) und man kauft dann da auch oft was falsches. (Fr. Hansen, 8/10-8/42)
Ein weiterer Aspekt des Umgangs mit der Erkrankung ist die Aufklärung und Information über die Erkrankung, von der die meisten Studienteilnehmer vorher nichts wussten. Weiterhin ist ihr Handeln davon bestimmt, Ursachen für die Erkrankung zu finden, einschließlich einer Selbsthinterfragung. Die Frage des „Warum ich?“ steht häufig am Anfang von Information und Aufklärung. Die Nähe zur Verarbeitung und Bewältigung ist dabei nicht unbeabsichtigt. Schließlich kann dieser Kontext als ein Modus betrachtet werden, der schließlich auch die Bewältigung der Erkrankung befördern kann. Strategien dieses Bereichs können individuell oder institutionell verortet werden: Es handelt sich um Selbstaufklärung oder um Aufklärung durch Dritte. Der Interessenbereich kann dabei wiederum variieren: Es kann um Aufklärung über Ursachen der Erkrankung, Aufklärung über Medikation und Therapien, Information über Angebote oder Hilfsmittel gehen. Ein weiterer Kontext ist schließlich die Suche nach Geselligkeit. Dies kann die Funktion des Austausches haben, der Vermeidung von Isolation dienen oder auch neue Freizeitoptionen erschließen (vgl. Frau Ebeling). Beispielhaft sei Frau Hansen angeführt, die den Kontext der Geselligkeit im Sinne von Freizeitoptionen, hier in Blindenerholungsheimen, in den Vordergrund stellt. ST: na es wird auch mal drüber gesprochen, welche urlaubsmöglichkeiten vorhanden sind. Ich war zum beispiel schon in x-stadt, dann war ich auch mal am timmendorfer strand (I: h=hm h=hm) und da werden die leute, da sind natürlich viele ganz blinde, die werden natürlich vollkommener betreut (I: ja ja) nich in so heimen ist es durchschnittlich sehr schön in alburg, dann gibt es eine gruppe, da wird morgens eine stunde die zeitung vorgelesen (I: h=hm h=hm) und dafür müsste man sich hier immer jemand nehmen (I: ja) und ich weiß nicht, ob man da jemand kriegen würde, ne (Fr. Hansen, 6/7-6/28)
Geselligkeit taucht selbstverständlich nicht einzig bezogen auf die Sehbehinderung auf. Geselligkeit wird auch explizit außerhalb der Sehbehindertenwelt gesucht (vgl. Frau Kirchhoff). Aber auch sie setzt Geselligkeit als Handlungsform im Umgang mit der Sehbehinderung ein, wenn auch vor allem als Information für das weitere Vorgehen in Therapien.
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4.2.2 Handlungsmuster Die Kontexte von Handlungen sind mit unterschiedlichen Handlungsmustern verwoben. In keinem Fall taucht nur ein Handlungsmuster auf. Die Kombination von Handlungsmustern reflektiert die intensiven Bemühungen der Betroffenen, ihre aktuelle Situation zu verändern. Eines der wesentlichen Handlungsmuster ist, Veränderungen wahrzunehmen und zu gestalten. Diese Alltagsanpassungen werden häufig im lebensweltlichen Kontext vollzogen, ohne auf Institutionen zurückzugreifen. Sie folgen einem Prinzip des ‚Trial and Error’ und bewegen sich zwischen den Polen Aufgabe und Aufrechterhaltung lieb gewonnener Tätigkeiten. Diese Veränderungen zeigen sich geradezu mikroskopisch in der Beschreibung Frau Schneiders mit dem Beispiel des Fernsehens. Aufgrund der permanenten Verschlechterung des Sehens bedeutet Veränderung hier eine stete Anpassung bis zum Erreichen einer Grenze. ST: I: ST: I: ST: I: ST: I: ST: I: ST: I: ST: I: ST: I: ST: I: ST: I: ST:
beim- beim fernsehen, sehen sie, da, so sitze ich vor dem fernseher. h=hm, also ganz nah davor. ganz nah davor. und das monakular daneben. das monukular daneben. und dann, ähm, ähm, wenn ich s- (.) da setz ich mich dann so hin, nu ja. und- und wenn ich es ganz genau sehen will, dann mach ich so. ah, da haben sie es sich schon bequem gemacht. ja. und wenn ich- wenn ichoder so ((lacht)) oder so. ((lacht)) h=hm so, das ist dann meineh=hm meine stellung, ne? sehr (unverständlich) so sitz ich dann und schlafe ein. ((lacht)) ((lacht)) das passiert hin und wieder, ja. ja. und äh, äh- weiter a- und das war auch so ein- so ein merkmal, f- wie es noch mit dem s- mit dem sehen besser war, dann s- war der sessel hier gestanden. wo jetzt der andere steht, h=hm. hier gestanden. dann hab ich mein- dann hab ich das tischchen nicht gehabt. dann hab ich mein- meine, ähm, (..) diese- dieses gerät zum schalten die fernbedienung, h=hm da liegen gehabt. da hab ich mir ein glas wasser hingestellt. das war alles hier. ja, und dann wurde es schlechter und dann bin ich immer weitergerutscht. so. und jetzt bin ich so weit, dass ich gar nicht mehr weiter(unverständlich) kann, nicht? (I: h=hm) jetzt sis- jetzt ist es aus, nicht? das ist jetzt das- (.) nochweiter (unverständ-
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lich) geht es gar nicht mehr. nee, oder das- so- so bleibt es jetzt. und so- so steht er halthier mitten in der ges- in- mitten drin. kann man nichts machen, nicht? (Frau Schneider, 13/53-14/47)
Dieses sehr anschauliche Beispiel hat aber übertragen auf die Veränderungsprozesse geradezu symbolischen Wert. Die einmalige Veränderung reicht häufig nicht aus. Man muss sich einlassen auf einen permanenten Veränderungsprozess, betrifft dies nun die Alltagsgestaltung oder die Nutzung von Hilfsmitteln. Als ambivalent wird diese Veränderung von Frau Müller beschrieben. Anstatt weiterhin ins Ballett oder Theater zu gehen, besucht sie heute nur noch Konzertveranstaltungen, da hier das Sehen nicht von Bedeutung ist. ST: und dann hatten wir ein konzert, das ist dann kein problem und dann hatten wir noch ein ballett, da hab ich mir die erste reihe geben lassen, da sah ich aber dann auch nur einige gestallten, aber keine mimik. (I: h=hm) ja. und das muss man ja auch (..) sehen können. (I: ja.) deshalb geh ich auch gar nicht mehr gern ins theater, immer nur in konzerte. I: h=hm, (.) also sind da auch ein wenig die freude daran genommen worden. ST: Ja. allgemein, ja. wirklich, man verliert die freude an allem. (Frau Müller, 12/15-12/29)
Denn selbst bei den schönen Dingen des Lebens besteht das Risiko die Freude zu verlieren, kann man sie mit den Augen nicht mehr wahrnehmen. Erst die Veränderung hin zu einem weniger visuell bezogenen Feld der Freizeitaktivitäten lässt sie diese wieder genießen. Die Nutzung von Hilfsmitteln in lebensweltlichen Kontexten ist eines der zentralsten Umgangsmuster. Auf dieser Ebene findet sich ein breites Spektrum von Möglichkeiten. Dieses reicht vom Entdecken bis zum Anwenden. Aber auch Erfahrungen von Hoffnung und Enttäuschung bündeln sich in Bezug auf Hilfsmittel. So erweisen sich zahlreiche Hilfsmittel nach deren Anschaffung als nicht effektiv, nicht nutzbar oder nur passagère nutzbar. Zudem taucht im Handlungsmuster der Nutzung von Hilfsmitteln die Bedeutsamkeit von deren Beschaffung auf. Hilfsmittel werden gerne angeschafft, stellen sie doch ein Handwerkszeug dar, um über die Probleme des täglichen Lebens hinwegzuhelfen. Beklagt wird allerdings die Nutzbarkeit. Da Hilfsmittel auch gerne verkauft werden, aber deren Nutzung häufig nur unzureichend erklärt wird, können insbesondere Hilfsmittel, die bestimmte Fixation benötigen oftmals nicht richtig angewandt werden. Auch ein Bildschirmlesegerät, das mit dem Versprechen der Wiederherstellung der Lesefähigkeit verkauft wird, wird zuweilen als Enttäuschung erlebt, weil das Lesen von Büchern aufgrund der großen Anstrengung nicht mehr möglich ist.
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Einordnung weiterer Teilnehmer
In einem weiteren Handlungsmuster werden Hilfspersonen und Sozialkontakte zum Umgang mit der Sehbehinderung hinzugezogen. Wie in den anderen Handlungsmustern auch lässt sich dies auf alle genannten Kontexte beziehen. Hilfspersonen und Sozialkontakte werden über die Verarbeitung und Bewältigung der Erkrankung, die Unterstützung im Alltag, zur Aufklärung und selbstverständlich zur Geselligkeit herangezogen. Die Hilfspersonen können mit Bedacht auf die soziale Welt der Sehbehinderung gewählt werden, aber auch explizit außerhalb dieser verortet werden. So schildert Frau Müller, dass sie für die Verarbeitung mehr auf den Austausch mit Freundinnen, denn auf den Austausch mit Betroffenen setzt. I:
h=hm, ja, ja, (.) h=hm. und haben sie dann da, ähm, (..) auch noch mal äh, personen mit denen sie sich darüber austauschen können, also wie reagiert denn ihr bekanntenkreis auf die sehbehinderung? ST: oh na, die sagen was, die bewundern mich, was ich immer alles mache, ja? I: schön, h=hm, h=hm ST: was ich- (..) was ich nicht so empfinde, weil ich das tu, was ich gerade noch tun kann. I: ja ST: aber vielleicht sagen sie das ja auch, um mich aufzubauen. (((lacht))). (Frau Müller, 12/36-12/51)
Hilfspersonen können rein instrumentell eingesetzt werden, in Funktionen der Haushaltsführung, der Begleitung oder der Beratung. Darüber hinaus finden sich aber auch Beispiele, dass Hilfspersonen über diese Funktionalität hinaus als umfassende Lebensberater eingesetzt werden. Frau Janosch schildert dies in dem Sinne, dass die Trainerin in Lebenspraktischen Fertigkeiten für sie mehr darstellte als eine Trainerin. Vielmehr war sie es, die ihr über die Verzweiflung aufgrund der Sehbehinderung hinweghalf. Die Handlungsformen in Angeboten werden im Folgenden als institutioneller Umgang mit der Sehbehinderung thematisiert. Die Aufmerksamkeit liegt dabei auf der Ablehnung und der Annahme von Angeboten. Über das Aufzeigen des Weges in die Angebote wird ein Bild skizziert, welche Einflussfaktoren zur Aneignung eines Angebotes relevant sind. Hieran zeigt sich, dass Experten und Teilnehmer unterschiedliche Aspirationen mit den Angeboten verbinden. Die frühzeitige Annahme von Angeboten wird begünstigt, wenn die Betroffenen nicht monothematisch auf ihre Sehbehinderung angesprochen, sondern mit den Problemen der Alltagswelt ernst genommen werden und wenn die verbleibenden Kompetenzen im Rahmen des Angebotes weiter angewendet und fortgeschrieben werden können. Diejenigen Angebote erfahren mehr Zuspruch, die auf der Ebene der Handlungsoptionen argumentieren, denn auf Handlungsanweisun-
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gen. Um sich auf den Prozess der Handlungsanweisungen einlassen zu können, bedarf es intensiver Aushandlungsprozesse, die die Bedürfnisse der Adressaten abklären. Dies kennzeichnet sich im Interview Frau Schneiders dahingehend, dass sie ihre Motivation eine Selbsthilfegruppe zu besuchen, weniger vor dem Hintergrund akut zu lösender Probleme argumentiert, sondern vielmehr im geselligen und informativen Kontext. I:
ja, schön, h=hm. und was würden sie denn sagen sind ihre erwartungen an die gruppe, also warum gehen sie da hin zu der proretina-gruppe? ST: warum? ja, einmal dass ich (.) eben unter leute komm. (I: h=hm) unter gleichgesinnten sozusagen. (I: h=hm) und, äh, (.) dann sind es- sind es sehr nette menschen da. (.) und, äh, (..) man erfährt immer was. (..) was man vielleicht auch mal für sich verwenden kann. (I: h=hm) und, f- ja, und- und zur unterhaltung eben. dasdass ich nicht immer zu hause sitze. (Frau Schneider, 22/31-22/44)
Bedeutsam sind Abwechslung, Handlungsoptionen und Geselligkeit. Gleiches zeigt sich in der Argumentationsweise Frau Hansens. Geselligkeit steht wieder im Vordergrund der Motivation. Problematisierungen in der Selbsthilfegruppe – in Form von Jammern – werden eher als negative Aspekte erlebt. ST: aber man kennt sich, und: (..) ich meine, der blindenbund hat auch veranstaltungen (I: h=hm) die machen ein sehr schönes sommerfest fahren auch wohin und oder weihnachtsfest und da trifft man sich dann schon. man kennt sich also ich kenn die leute an der stimme (I: ja) und dann sagen die schon, ach frau jansen und da unterhält man sich, wie geht’s und (I: h=hm) also ich finde, es ist doch sehr von vorteil, aber es kommen auch welche in die gruppe, die erst neu makula haben, die dann jammern, ich kann meinen wagen nicht mehr fahren. ist doch klar, dass man nicht mehr auto fahren kann (Frau Hansen, 9/43-10/2)
Neben der Annahme spielt aber auch die Ablehnung von Angeboten eine Rolle. Die Prozesse der Ablehnung institutioneller Interventionsformen sind zu subsumieren unter den Aspekten der Selektion nach Bedürfnissen, aber auch dem Aufschub zukünftiger Beeinträchtigungen. Es wird somit nur wenig präventiv oder prophylaktisch gehandelt. Die Angebote werden solange abgelehnt bis die Situation nicht mehr haltbar ist, weil Beeinträchtigungen den Alltag stören oder erkannt wird, dass die Medizin nicht mehr helfen kann (Herr Nohlen). Das bedeutet, erst wenn die Lebenssituation an eine Grenze stößt, werden Institutionen relevant. Herr Nohlen kann, mit Verweis auf die oben geschilderte phasenhafte Verortung zur Sehbehinderung, hierfür als Paradebeispiel dienen. Zunächst hat ihn die Sehbehinderung nicht beeindruckt, erst als die Beeinträchtigungen an eine nicht mehr tolerable Grenze stoßen, wird aktiv nach Angeboten Ausschau
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gehalten. Eine weitere Grenze, die der selbständigen Alltagsgestaltung, ist aber noch nicht überschritten. Und so lehnt er für sich weiter Angebote von Trainings in Lebenspraktischen Fertigkeiten und Orientierung & Mobilität ab. Am bedeutsamsten für die Ablehnung von Angeboten ist aber die fehlende Identifikation der eigenen Person mit der Sehbehinderung. Viele der Älteren begreifen sich selbst nicht als sehbehindert oder haben die Sehbehinderung als normale Alterserscheinung internalisiert. Entsprechend lehnen sie eine Teilnahme an Angeboten, in denen sie als Sehbehinderte adressiert werden, ab. Dies beutet, dass die aktuelle Problemlage nicht in das Umfeld der Sehbehindertenwelt eingeordnet werden kann, sondern vielmehr auf der Ebene anderer Sinnwelten verhandelt wird. Gerade in Bezug auf die Trainings verharren die Teilnehmer damit in einer fatalistisch geprägten Abwartehaltung, die über fast alle Teilnehmer hinweg durch die Kennzeichnung des ‚noch nicht’ geprägt ist. Erst wenn der Alltag an die Grenze der Machbarkeit stößt, werden Programme relevant, die in die eigene Lebensführung eingreifen. Beim Weg in die Angebote fällt auf, dass sich der Zugang der Betroffenen teilweise nur mit Mühe rekonstruieren lässt. Beispielhaft seien Frau Schneider und Frau Müller hierzu angeführt. I: ähm, wie kamen sie den zu der proretina-gruppe? (..) wie war denn ihr weg dort hin? ST: weiß ich nicht mehr. (4 sek.) wie kam ich denn da hin? (7 sek.) wahrscheinlich durch die klinik irgendwie. (I: h=hm) ich kann es ihnen nicht sagen. (I: h=hm, hm) ich weiß es nicht mehr. I: h=hm. und wissen sie ungefähr, wie lange sie schon da hingehen? also war das da schon ganz schlimm mit den augen oder? ST: ja, es war schI: das war schon, h=hm. ST: das war schon- also da bin ich jetzt schon ein paar jahre. wie lang bin ich denn bei der proretina? ah, das wird jetzt schon vier jahre sein. I: h=hm, h=hm ST: bestimmt vier jahre. (Frau Schneider, 20/15-20/31) I: und wie kamen sie denn auf das angebot derST: wie kam ich darauf? (...) ich weiß nicht. aus dem bekanntenkreis müsst mich jemand darauf aufmerksam gemacht hat, ich wusste ja damals noch gar nichts vom blindenbund. irgendwer hat- hat mich darauf aufmerksam gemacht und ich habe dann angerufen. (.) wahrscheinlich beim blindenbund. und da gibt es verschiedene stellen und die haben (I: h=hm) mir dann zusgesagt, dass eine dame käme, um mit mir zu reden. (I: h=hm, h=hm.) und genau weiß ich das jetzt nicht mehr, wie es angefangen hat. (I: h=hm, h=hm) zumindest habe ich mich danach erkundigt. I: ja. h=hm. also das ging von ihnen aus,
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ST: ja I: die initiativen ST: ja (Frau Müller, 7/20-7/39)
Auffällig ist bei diesen Schilderung des Unwissens über den Zugang zum Angebot, dass immer Dritte den Weg eingeleitet haben. Im ersten Fall geschah dies durch die Klinik im zweiten Fall durch die Intervention von Dritten; wenn auch natürlich der letztendliche Weg dann von den Betroffenen selbst beschritten werden muss, wie dies Frau Müller darstellt. Es kann sich bei diesen Dritten sowohl um Nicht-Betroffene handeln, wie im Falle Frau Müllers dargestellt, aber auch andere Betroffene stellen einen wichtigen Referenzpunkt dar, wenn es um die Aneignung von Angeboten geht. So schildert Frau Friedrich den Austausch mit einem schon langjährig erblindeten Mann in ihrem Dorf als Aneignung des Zugangs zum Stocktraining. I:
ST: I: ST: DP: I: ST:
DP: ST:
h=hm und jetzt frag ich sie mal wieder, wo wir grade beim stock sind, also sie sagten jetzt schon, sie wurden über den anderen herrn, der auch probleme mit den augen hat, wurden sie aufmerksam auf das angebot. Aber wie ging=s denn jetzt weiter? Wie kam=s denn dann ehm der hat ihnen jetzt erst einmal vom herrn jakob erzählt der hat mir erzählt un hat mir aach dem sei adress gegeben h=hm h=hm un äh hast du angerufen ja da ham mir angerufen h=hm ja un hab ich gesagt, gut, wenn der mann schon mal hier is, gewese is, da weiß der auch er, wo=s lang geht (I: h=hm) un ich habe ihn, des erste mal hab ich ihn geführt, so wie ich gekonnt hab (I: h=hm h=hm) verstehn sie praktisch gezeigt, wo sie immer entlang läuft un da ist er schön mit mir ich hab, der is mit mir noch x-stadt gefahrn (I: h=hm) mi=m bus un da sind wir ausgestiegen, und wie wir raus waren hat er gesagt, frau metzger, sie können jetzt laufen wo SIE WOLLEN. ZUM AUGENARZT. Wir treffen uns beim augenarzt. Entweder sie kommen zum augenarzt oder ich muss sie an der polizei abholen oh war ich erschrocken, hab ich gesagt WAS (Frau Metzger, 18/8-18/39)
Das Vertrauen in die Orientierungsfähigkeit dieses erblindeten Mannes, lässt sie die Zumutungen, die das Angebot an sie stellt akzeptieren. Sie vertraut darauf, dass er den gleichen Trainer hatte und sich gut in seiner Umgebung orientieren kann. Dementsprechend geht sie auf die Trainingsmethoden des Trainers Jakob ein. Aber auch die Eigeninitiative der Aneignung des Angebots spielt im Sample eine wichtige Rolle. Im Falle Nohlens war dies bereits als eine Verarbeitungs-
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strategie im zeitlichen Verlauf der Deutung der Sehbehinderung zu beobachten. Die Suche nach einem Angebot, welches Hilfe in der schwierigen Situation anbietet, war Teil der Verarbeitung der Erkrankung. Gänzlich eigeninitiativ beschreibt auch Frau Friedrich ihren Zugang zur Selbsthilfegruppe. I: wie wurden sie denn auf das angebot aufmerksam? (...) wie kamen sie denn dahin? ST: wie kam ich denn auf diese (...) ich glaub in der zeitung war mal ein (..) ein artikel. (I: h=hm) denn das hab ich ja schon, so lang ich hier oben bin. also das muss schon zehn jahre sein, dass ich das kenn. (I: h=hm) oder hat mir das einmal jemand gesagt? das kann ich ihnen jetzt gar nicht sagen. ich bin ja dann sofort dran, wenn ich so was hör. (I: ja ja.) auch im fernsehen, wenn irgend- da bin ich sofort- so bin ich auch auf die selbsthilfe gekommen. (I :h=hm)a- äh, auf diese (.) blindenhilfe (I: ja, ja.) da hab ich gesehen von nordrhein-westfahlen, dass es da eine blindenhilfe gibt für makula (.) kranke. und da hab ich gedacht, na also wenn es das in nordrhein-westfahlen gibt, gibt es das in bayern auch. (I: h=hm) und dann hab ich zup- zu der petra gesagt, (.) äh, wo kann man sich denn da mal- wo- der wohlfahrtsverband (I: h=hm) hieß es dann. und da haben wir angerufen, und so klein, wie die welt ist, die sekretärin, die am apparat war, war genau die freundin von ihr. (I: h=hm) und am nächsten tag hatten wir schon die unterlagen, ne. (I: h=hm, h=hm. toll) aber, wie gesagt, das war schon früher, ich hab immer gebohrt, wenn ich so was- (I: h=hm)und immer hab acht, das könnt was für dich sein. (Frau Friedrich 21/10-21/48)
4.3 Relevanz von Aneignung und Vermittlung In der Zusammenschau aller Teilnehmer wird die gesamte Pluralität von Aneignungsformen abgedeckt: Es zeigen sich Formen der Aneignung von Welt, der Aneignung von Wissen, von Geselligkeit. Diese Formen finden sich auf den unterschiedlichen Ebenen der Deutungs- und der Handlungskontexte. Lernen im Zusammenhang mit der Sehbehinderung gewinnt an Bedeutung in den Kontexten:
Bewältigung einer Krise Anknüpfen an vorherige Lernprozesse Neustrukturierung der Biographie Wiederherstellung verlorener Kompetenzen Abwechslung und Kontakt nach Außen Suche nach Gleichgesinnten
Dafür werden in unterschiedlicher Weise plurale Aneignungsstrategien eingesetzt, die nach innerhalb und außerhalb der Institutionen zu kennzeichnen sind. Sowohl innerhalb wie außerhalb steht die (Wieder-)Aneignung von Lebenswelt
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bei den Betroffenen im Zentrum. Dies in dem Maße, dass einerseits die Hoffnung auf Wiedererlangung des Augenlichts im Sinne von Heilung fokussiert wird, oder aber Kompetenzen (wieder-)erlernt werden sollen. Der Ausgang dieser Aneignungsprozesse führt sowohl innerhalb wie außerhalb nicht immer zum Erfolg. Zu bedeutsam ist das Erreichen einer Grenze der Fortsetzung. So ist zu konstatieren, dass in den meisten Fällen Aneignungshoffnungen erst in die Institution getragen werden, wenn diese Grenze im Alltag erreicht ist. Hier bildet Frau Ebeling die Ausnahme durch ihre ‚präventive’ Teilnahme an Angeboten. Wenn auch innerhalb der Angebote die Wiederherstellung von Kompetenzen in Bezug auf die Lebenswelt im Vordergrund steht, spielen auch Aspekte der Aneignung von Wissen eine Rolle. Die Teilnehmer suchen nach Information und Erklärungshintergründen, die sie durch die Aufnahme des Lernens in Institutionen zu bearbeiten suchen. Insbesondere in den Gruppenzusammenhängen erweist sich die Aneignung durch Erfahrung als besonders bedeutsam: Erfahrungen werden ebenso unterschiedlich eingesetzt im Sinne von Bestätigungslernen oder aber dem Lernen von Neuen. In beiden Kontexten, institutionell wie individuell spielt die Bedeutsamkeit von Geselligkeit eine wesentliche Rolle. Formen der gefühlten Isolation oder Ausgrenzung werden in Bezug auf die Sehbehinderung, aber auch auf das Leben allgemein bearbeitet. Aber nicht nur Aneignungsprozesse spielen im Zusammenhang des individuellen und institutionellen Arrangements eine Rolle, sondern auch Vermittlungsprozesse an Gleichgesinnte. Gekoppelt mit der Aneignung – gleichzeitig mit ihr auftretend oder ihr nachfolgend – sind Aspekte der Vermittlung aufzuzeigen. Es geht dabei um Prozesse des Weitergebens von Erfahrung und Information. Wege der Aneignung durch die Institutionen sind zu kennzeichnen durch eine Veränderung des Weges innerhalb der Angebote und über die Angebote hinweg. Die Veränderung innerhalb von Angeboten kann sich in den Dimensionen des Rollenwechsels oder des Themenwechsels bewegen. Ein Rollenwechsel innerhalb der Institution stellt sich dar durch die Ablösung der Aneignungstätigkeiten durch Vermittlungsaktivitäten, wie dies Herr Nohlen beschreibt. Zunächst suchte er im institutionellen Angebot selbst Hilfe und Information zur Bearbeitung der Erkrankung. Heute bringt dieser Austausch nichts Neues mehr. Dennoch beteiligt er sich weiter an dem Angebot und diese Teilnahme wird als sinnvoll erachtet, weil er nun sein über die Zeit gewonnenes Wissen weitergeben kann. ST: aber ich war da von anfang an dabei. (I: h=hm) und (..) es fällt mir nicht immer leicht, da hin zu gehen. (I: h=hm) äh, einmal weil das immer wieder das gleiche ist
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Einordnung weiterer Teilnehmer und jeder der neu kommt sagt das gleiche. er sagt, was ich ja selbst auch empfinde, heut nicht mehr so stark, wenn ich in den spiegel guck, seh ich mich nicht richtig. (I: h=hm) ich seh schon so was, aber ich seh mich nicht richtig. (..) und ich geh da auch heute nicht hin, weil ich der meinung bin, dass mir da (.) körperlich geholfen wird. es kann mir niemand helfen. ich b- ich weiß da aber bestens bescheid. ich weiß wo, äh, ich sag mal, äh, augen bei mäusen verpflanzt werden. ich muss dazu sagen, dass ich eine ganze reihe von ärzten in der familie habe. (I: h=hm) und ähm (..) äh, was da alles gibt. jetzt (.) ich meine alles nicht, das was die frau von winzig sagt, (unverständlich) weiten weg, ein eigenen boten und die adressen. (I: h=hm) aber was ich als positiv empfinde ist (..) dass immer wieder mal was neues gesagt wird, was einem im täglichen leben hilft. sie haben das mitgekriegt, äh, mit diesem äh telefonapparätchen (Herr Nohlen, 8/33-9/8)
Für Herrn Nohlen gilt ebenso die Dimension des Themenwechsels. Er nimmt zwar weiterhin an der Beratungsgruppe als Vermittler teil, die Themen die ihn aber heute interessieren werden durch selbstbezügliche Aneignung realisiert. Er verbringt viel Zeit auf Hilfsmittelmessen, um sich die geeigneten Hilfsmittel selbst zu beschaffen. Er ist über die Teilnahme an der Beratungsgruppe und die fortdauernde Betroffenheit durch die Sehbehinderung zum Experten der Sehbehindertenwelt geworden. Inwiefern sich die Interessen an unterschiedlichen Themen über den Verlauf der Teilnahme verändern können, zeigt das Beispiel von Frau Hansen. ST: erst mal habe ich gehört, welche hilfsmittel es gibt (I: h=hm) wie die andern mit der krankheit fertig werden (I: h=hm) man prüft sich, wie man sich selbst verhält (I: ja ja) das ist es eigentlich (I: h=hm) und wenn man will, hat man kontakt zu andern (Fr. Hansen, 10/40-10/48)
So sind es die Bereiche der Hilfsmittel, des Austauschs, der Selbstprüfung und der Geselligkeit, die in unterschiedlicher Intensität und zu unterschiedlichen Zeitpunkten bedeutsam werden können. Wege der Aneignung durch die Institutionen über die Angebote hinweg, sind zu Kennzeichnen einerseits durch Verharren bei der gefundenen institutionellen Betreuung, andererseits über die Ablösung der Teilnahme an einer Angebotsform mit dem Übergang in eine neue. Insbesondere in den Gruppenangeboten spiegelt sich in den analysierten Interviews eine langfristige Teilnahme wieder, wenn auch thematische Interessen, wie oben beschrieben changieren können. Andere Angebote wie Therapien, weitere Beratungen oder Trainings werden dann dazu ergänzend wahrgenommen (Frau Müller, Frau Janosch, Frau Heil). Ablösungen zeigen sich in den Einzelangeboten. Einerseits steht dies im Zusammenhang mit ihrer zeitlichen Begrenzung, andererseits aber werden auch inhaltliche Grenzen von Angeboten wahrgenommen, die diese nicht mehr als
Zusammenfassung mit Blick auf Kompetenz- und Defizitzuschreibung
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passend für den aktuellen Problemzusammenhang beschreiben. Solche Übergänge zeigen sich im Verhältnis zum medizinischen System: Therapien werden nach einer gewissen Zeit aufgegeben, wenn Enttäuschungen oder die Einsicht der Unheilbarkeit der Erkrankung realisiert werden. Ein Übergang aus den Trainings wird nicht einzig durch die zeitliche Beschränkung hergestellt. Das Training kommt zu einem Ende, wenn die für den Betroffenen relevanten Themenbereiche abgearbeitet sind. Obwohl die Optiker ebenso einer Grenze unterliegen, was die Versorgung mit optischen Hilfsmitteln angeht, ließen sich im Sample keine Beispiele finden, die den Optiker als Betreuungsinstanz explizit ausschlossen. Kann er keine Lupen oder Brillen mehr verschreiben, wird er doch weiter als Informationsquelle zu Hilfsmitteln anderer Art genutzt (vgl. Frau Schneider, Herr Nohlen, Frau Ebeling).
4.4 Zusammenfassung mit Blick auf Kompetenz- und Defizitzuschreibung Zusammenfassend lässt sich ein dichtes Netz über den Umgang mit der Sehbehinderung der Teilnehmer spannen. Unter den Begriffen Deutungskontexte, Handlungskontexte und der Relevanz von Aneignung und Vermittlung wurden die einzelnen Dimensionen aufgeschlüsselt. Die Verortungen zum Leben mit einer Sehbehinderung im Alter stellen sich als Zusammenhang von Deutungen in unterschiedlichen Kontexten dar. Kontinuitäts- und Diskontinuitätserleben können sich über die Zeit verändern. Sie sind aber immer bezogen auf Kontexte. Diese Kontexte stellen die Formen der Dimensionalisierung her: Es wird sich abgegrenzt, eingefügt oder parallelisiert. Aus diesen Verortungen resultieren Defizit- und Kompetenzzuschreibungen, die den unterschiedlichen Ebenen von Deutungskontexten beigeordnet werden. Diese Zuschreibungen können sehr plural angelegt sein und befördern, behindern oder bedingen das weitere Handeln. Als Ergebnis des Handelns in verschiedenen Kontexten und Mustern resultieren zum Teil über die Zeit hinweg changierende Prozesse der Normalisierung, Stabilisierung oder Destabilisierung, wenn sie zu einer Veränderung des Zustandes führen. Sie können aber auch in der Weise bestritten werden, dass kein Effekt durch das Handeln erzielt wird. Auf dieses Modell wirken Aneignungs- und Vermittlungsprozesse auf unterschiedlichen Ebenen ein. Sie sind als Resultat von Defizit- und Kompetenzzuschreibungen zu werten, die sich aber aus den unterschiedlichen Deutungs- und Handlungskontexten speisen.
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Einordnung weiterer Teilnehmer
Abbildung 34: Zuschreibungen von Defiziten und Kompetenzen
Defizit- und Kompetenzzuschreibungen
Aneignungs- und Vermittlungsprozesse
Vernetzungen von Zuschreibungen von Defiziten und Kompetenzen finden auf allen analysierten Ebenen statt. Defizit- und Kompetenzzuschreibungen verlaufen entweder selbstbestimmt, durch die eigene Person, oder fremdbestimmt, durch die Zuweisung von Fähigkeiten oder Inkompetenzen durch Dritte. Dies ist die erste Unterscheidung. Die zweite verortet diese Zuschreibungen. Sie sind zu finden auf der Ebene der Biographie, des Alltags, im Sozialen und mit Bezug auf Heilung und Therapie. Sie entstehen als Folge von Veränderungswünschen, Sozialkontakten oder Angebotsnutzung. Sie sind omnipräsent. Dementsprechend bilden sie nicht unbedingt ein trennscharfes Kriterium für die Hinwendung zu Angeboten oder der Bestimmung von Lernprozessen. Sie interagieren immer mit anderen Bereichen. Bedeutsam ist erneut darauf zu verweisen, dass nicht nur Defizitzuschreibungen (wie gemeinhin von der Altenbildung angenommen) zu Aneignungs- und Vermittlungsprozessen führen können, wie dies die Beispiele Kirchhoff und Nohlen gezeigt haben. In beiden Fällen hat gerade Kompetenz zur Annahme des Angebotes geführt. Im Falle Kirchhoffs war dies die Bestätigung durch die Kursleiterin, dass im Umgang mit der Sehbehinderung alles richtig gemacht wurde, und bei Nohlen lag die Selbstzuschreibung von Kompetenz im Wissen um den Nutzen sozialer Netzwerke und die biographische Dimension des Managers geprägt. Die Defizitzuschreibungen der Betroffenen fallen sehr vielfältig aus. Sie sind häufig auf das medizinische System der Therapie bezogen. Andernorts werden sie dagegen als allgemeine Defizite des Alterns betrachtet.
Teil IV Die soziale Welt der Sehbehinderung und ihre pädagogischen Formen
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Die soziale Welt der Sehbehinderung
Teil IV als letzter empirischer Teil thematisiert die relationalen Zusammenhänge der beiden Akteursperspektiven. Dafür bedarf es der Einführung komplexerer Unterscheidungen und neuer Ordnungen bei gleichzeitiger Aufnahme der elementaren Kategorien der vorangegangenen empirischen Teile. Das zu Beginn der Arbeit eingeführte Konzept der sozialen Welt der Sehbehinderung wird hier aufgegriffen und die Erkenntnisse der vorherigen empirischen Teile integriert (1). Dieses Konzept stellt die Basis dar, um beide Perspektiven weiter zu integrieren. Denn mit ihm steht die Sehbehinderung im Zentrum. Die unterschiedlichen Perspektiven aller beobachteten Fälle können auf dieses Phänomen bezogen werden. Ordnet man die Akteursperspektiven in ihren Bezug zur sozialen Welt der Sehbehinderung ein, sind sie erstens als jeweils bestimmter Ausschnitt der sozialen Welt zu betrachten: Im Vordergrund steht dann die Unterschiedlichkeit der aufeinander bezogenen Perspektiven. Zweitens sind die Akteursperspektiven gleichzeitig Teil des Ganzen der sozialen Welt: Bei dieser Betrachtungsebene stehen die Gemeinsamkeiten der Perspektiven im Vordergrund. Damit geht es im folgenden einerseits um die Relationierung der Teile der sozialen Welt, die sich in der Konfrontation der Akteursperspektiven widerspiegelt, andererseits um die Relationierung des Ganzen der sozialen Welt der Sehbehinderung, bei der die Perspektiven als Teil des Ganzen betrachtet werden. Einen weiteren Aspekt der Relationierung der Akteursperspektiven stellt der Aufgriff der pädagogischen Formen (2) dar. Denn wie in den vorangegangenen empirischen Teilen ersichtlich wurde, ist die soziale Welt der Sehbehinderung in hohem Maße pädagogisch strukturiert. Sie ist aber nicht nur pädagogisch strukturiert, sondern diese Formen konkurrieren mit anderen Sinnformen, die aber gleichsam von pädagogischen Formen durchzogen sind. Schließlich endet die Relationierung mit der Vorstellung eines Modells (3) über die soziale Welt der Sehbehinderung, das alle wesentlichen Kategorien und ihre Verflechtung in einem Netzwerk kenntlich zu machen sucht.
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Die Einführung sozialer Welten erlaubt nicht nur das Betreuungsfeld älterer Sehbehinderter weiter zu strukturieren. Vielmehr ermöglicht die Verwendung dieses Konzeptes, den Blick über das Material hinaus zu heben und die Themen und Perspektiven besser einzuordnen und abzugrenzen. Folgt man der Strausschen Definition (1998, S. 293) sozialer Welten sind folgende Aspekte auf den Untersuchungsgegenstand zu übertragen:
nicht unbedingt große oder in sich geschlossene Gemeinschaft beschäftigt sich mindestens mit einer elementaren Sache hat Örtlichkeiten, wo ihre Aktivitäten stattfinden hat eine Technologie, um Aktivitäten durchzuführen unterhält Organisationen
Alle fünf Aspekte werden nachfolgend für die Sehbehindertenwelt beschrieben und ausdifferenziert. Die Formation einer Gemeinschaft berührt die Frage, in welchem Maße sie geschlossen oder offen ist. Einerseits besteht eine berufliche Gemeinschaft, die sich aus unterschiedlichen Professionen zusammensetzt, unterschiedliche Formen von Angeboten anbietet und in differenten Graden miteinander vernetzt ist. Ein zweiter konstitutiver Typ von Gemeinschaft ist als Gemeinschaft im Umgang mit der Sehbehinderung zu benennen. Dieser Typ steht für eine jeweils bestimmende Form der Umgangsformen mit Sehbehinderung. Die Beziehungen in diesem Typ sind doppelt asymmetrisch oder symmetrisch aufgebaut. Es ist sowohl eine asymmetrische Konstellation bezüglich der Interaktion Anbieter/Klient aber auch Betroffener/Betroffener oder aber Anbieter/Anbieter vorstellbar. In den analysierten Daten sind alle drei Formen auffindbar: Beispielsweise stellt der Bezug Trainer/Klient im Falle des LPF und O&M – Trainings eine derartige Konstellation dar. Dabei ist der Betroffene immer verwiesen auf die Rolle des Lernenden und der Trainer tritt auf als derjenige, der über die richtigen Methoden im Umgang mit der Sehbehinderung verfügt. Auch unter den Betroffenen selbst finden sich asymmetrische Konstellationen. Hier spielen die Dauer der Erkrankung und die Arten des Umgangs eine Rolle. Während Herr Nohlen sich zum Zeitpunkt des Interviews bereits als Vermittler in der Beratungsgruppe be-
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trachtet, der vorrangig an der Gruppe teilnimmt, um andere von seinem Wissen profitieren zu lassen, ist Frau Müller mit relativ kurzer Betroffenheit immer wieder auf die Verweise zum Umgang aus der Gruppe angewiesen, um Ratschläge für ihren eigenen Alltag zu erhalten. Auch in der Kommunikation unter den Anbietern lässt sich Asymmetrisches rekonstruieren: So ist besonders auffällig, wie die Anbieter sämtlicher nicht-medizinischer Angebote permanent um ihre Anerkennung durch Mediziner kämpfen. In der symmetrischen Konstellation sind die Mitglieder hinsichtlich des Umgangs mit der Sehbehinderung gleichgestellt. Die Gleichstellung der Mitglieder ist sichtbar daran, wie die Rollen innerhalb von Gruppen, zwischen den Anbietern und auch zwischen Anbieter und Klient verteilt sind. In der Beratungsgruppe findet sich beispielsweise eine symmetrische Konstellation Anbieter/Klient: auf der Ebene der Informationsweitergabe sind Anbieterin und Klienten insofern gleichgesetzt, als beide in bestimmten Bereichen als Wissensvermittler auftreten. Die Betroffenen in Bezug auf ihr Alltagswissen und die Hilfsmittelversorgung, die Leiterin in Bezug auf ophthalmologisches Wissen und Hilfsmittelvorstellung. Der symmetrische Umgang zwischen Klienten findet sich im Austausch innerhalb der Gruppe. Auf der Ebene Anbieter/Anbieter spielt die Kooperation unter den Anbietern insofern eine Rolle, dass beispielsweise der befragte Optiker mit Trainern in LPF und O&M kooperiert, die Leiterin der Beratungsgruppe mit Optikern, etc. In beiden Gemeinschaftsformen der Sehbehindertenwelt lassen sich differente Formen von Offenheit und Geschlossenheit identifizieren. Es ist der Unterschied von Gruppen- zu Einzelangeboten zu erwähnen wie auch Formen des Eintritts- oder Austritts aus der sozialen Welt (Darstellbar mittels der ausgearbeiteten Kategorie des Verlaufs der Sehbehinderung und der Phasenhaftigkeit von Angeboten). Der Aspekt der Beschäftigung mit einer elementaren Sache ist in diesem Fall die Beschäftigung mit Sehbehinderung im Alter. Diese kann sich aus unterschiedlichen Quellen speisen und hinsichtlich verschiedener Dimensionen behandelt werden. Sie bezieht sich nicht nur auf Angebote selbst. Denn auch der Umgang der Betroffenen mit der Erkrankung (dies kann reichen von Diagnoseerleben über Verarbeitungsprozesse und Therapiebemühungen bis hin zur Teilnahme an Angeboten oder deren Ablehnung), ebenso der Umgang der Experten mit der Sehbehinderung kann im Vordergrund stehen. Diese Beschäftigung kann somit inhaltlich vom individuellen Umgang mit der eigenen Betroffenheit, über politische Arbeit bis hin zur Arbeit der Experten in Richtung Professionalisierung und Ausdifferenzierung ihrer Angebote reichen. Abstrahiert man von der Sehbehinderung, ist also allen Akteuren die Beschäftigung mit der Limitierung von Handlungsfähigkeit gemein.
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In Bezug auf die Örtlichkeiten der sozialen Welt der Sehbehinderung gibt es ebenso mehrere Dimensionen zu beachten, wenn man die Perspektive der Betroffenen einerseits und der Experten andererseits in einem Bild oder Netzwerk denkt: So reichen die Örtlichkeiten von den eigenen vier Wänden, sprich der eigenen Lebenswelt, hin zu offenen und geschlossenen Kursräumen. In Bezug auf die Technologie der sozialen Welt ist die entscheidende Frage, welche Prozesse die Entwicklung dieser Welt vorantreiben und sie am Leben erhalten: Nach den Analysen ist davon auszugehen, dass es sich bei diesen Prozessen um die Zuschreibung von Defiziten und Kompetenzen handelt. Dieser Selbsterhalt der sozialen Welt kann in Anschluss an den Luhmannschen Begriff von Reformen27 gedacht werden. Dementsprechend bietet Zuschreibung von Defiziten und Kompetenzen immer wieder die Möglichkeit der Erzeugung eines Bedarfs. Diese Prozesse lassen sich nicht einzig und allein innerhalb der sozialen Welt der Sehbehinderung nachweisen. Sie greifen darüber hinaus und berühren andere soziale Welten. Dabei bestimmen differente Defizit- und Kompetenzzuschreibungen der Betroffenen ihr Handeln. Der Bezugspunkt sind die Phasen, die zur Verortung der Sehbehinderung führen. In diesen Phasen entstehen unterschiedliche Defizit- und Kompetenzzuschreibungen, die entweder als selbstbestimmt oder fremdbestimmt erlebt werden. Dabei stehen diese Zuschreibungen nicht allein im Zusammenhang mit der Sehbehinderung. Sie können sich aus unterschiedlichen Quellen speisen, die sich mitunter auch wechselseitig beeinflussen. Die Experten beziehen sich überwiegend auf die Defizite der Teilnehmer. So können sie ihr Angebot und ihr Handeln sinnvoll darstellen: Aufbauend auf das Defizit beantworten sie Fragen, warum jemand nicht ihr Kunde wird und ein Training ablehnt. Die Sehbehinderten selbst sind vereint auf der Ebene des Umgangs mit eingeschränkter Handlungsfähigkeit. Dies kann als Prozesshandeln gedeutet werden, das zwischen Kompetenz und Defizit verortet ist. Auch nach dem letzten Kriterium entspricht die Sehbehindertenwelt der Definition der sozialen Welt nach Strauss, da sie Organisationen unterhält: In diesem Feld befinden sich die Organisationen gegenwärtig in der Ausdifferenzierungsphase. Dennoch findet sich bereits ein beachtliches Spektrum an unterschiedlichen Foki und somit Arbeitszusammenhängen, die wiederum auf andere Dimensionen der sozialen Welt Einfluss haben. Auch wenn durch eine Ausdifferenzierung von Angebotsformen beispielsweise die individuelle Versorgung der Betroffenen verbessert werden kann, hat dennoch die zunehmende Aktivität der Betroffenen und deren Organisation in Selbsthilfe- oder Lobbygruppen ebenso Einfluss auf die Ausdifferenzierung der Angebote. 27
„Beobachtet man das jeweils reformierte System, hat man den Eindruck, daß das Hauptresultat von Reformen die Erzeugung eines Bedarfs für weitere Reformen ist. Reformen wären danach sich selbst generierende Programme für die Veränderung der Strukturen des Systems.“ (Luhmann, 2002, S. 166)
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Um die soziale Welt der Sehbehinderten näher zu charakterisieren müssen auch zeitliche Gesichtspunkte einbezogen werden. Dabei interessiert besonders, wie die Zeit innerhalb und außerhalb der sozialen Welt strukturiert wird. Denn die Sehbehindertenwelt mit dem Fokus auf Blinde besteht bereits länger als die beschriebene, noch im Entstehen begriffene Sehbehindertenwelt mit dem Fokus auf Ältere. Zudem spielt Zeit in der Bewältigungsleistung der Betroffenen eine Rolle, beeinflusst die Ausdifferenzierung und fördert und behindert Aushandlungsprozesse. Mit diesen sechs Elementen sei die Welt der Sehbehinderten zunächst kurz umrissen. Darauf aufbauend geht es nun darum, den Ertrag der Analyse detaillierter in diesen Kontext einzuordnen.
1.1 Das institutionelle Arrangement aus Sicht der Akteursperspektiven Um letztendlich eine übergeordnete Sicht auf die soziale Welt der Sehbehinderung im Ganzen beschreiben zu können, werden zunächst die beiden Akteursperspektiven hinsichtlich des Umgangs mit dem institutionellen Arrangement einander gegenüber gestellt. Ziel ist, die prägnantesten Unterschiede mit Bezug auf das institutionelle Gefüge zu kennzeichnen. Diese werden anhand der personalen, organisationalen und inhaltlichen Differenzierungen Individuum vs. Fall, Betroffenheit vs. Organisation und Hilfebedarf vs. Ausgestaltung von Programmen dargestellt. Diese Unterscheidungen resultieren aus einer neuartigen Verknüpfung der entwickelten Kategorien in den vorangegangenen empirischen Einzelperspektiven (Teile II und III). 1.1.1 Individuum versus Fall Die Unterscheidung Individuum vs. Fall geht den Fragen nach, inwiefern im institutionellen Arrangement auf personale Aspekte Bezog genommen wird und welche Bedeutung sie erlangen. Aus diesem Grund wurden für diese Relationierung diejenigen Kategorien ausgewählt, die sich auf personale Aspekte beziehen. Für die Akteursperspektive der Experten sind dies die Kategorien
Umgang mit der Sehbehinderung: Enstehungshintergründe, Institutionalisierungsschub, Operationalisierung der Sehbehinderung: Schaffung einer Arbeitsbasis, Wissensbekenntnisse.
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Diese sind mit den Kategorien der Betroffenen zu relationeren, die dort den relevantesten individuellen Bezug besitzen. Es sind dies die eigene Lebensführung und die Deutungskontexte. Dieser Aspekt der Kontrastierung der Akteursperspektiven setzt an unterschiedliche Haltungen zur Sehbehinderung an. Während die Teilnehmer ihre Individualität in den Vordergrund stellen, sind für die Experten die Teilnehmer Fälle von Sehbehinderten. Aufbauend auf Teil II und III sind es die ‚Deutungskontexte’ der Betroffenen und der ‚Umgang mit der Sehbehinderung’ der Experten, die am stärksten das betroffene Individuum bzw. die Expertensicht der Sehbehinderung hervortreten lassen. Die Deutungskontexte der Sehbehinderung wurden gegliedert nach den Dimensionen der Kontextualisierung der Erkrankung (medizinisch, biographisch, familiär, gesellschaftlich) und den Dimensionen der Deutung (Kontinuität, Diskontinuität, Kontinuität im Wandel). Der Umgang der Experten mit der Sehbehinderung kennzeichnete sich in einer Suchstrategie der Experten Angebote zu gestalten, Wissen anzueignen und Geschäftsgrundlagen für die eigene Tätigkeit zu etablieren: Besonders bedeutsam sind die Aspekte des Institutionalisierungsschubs, die Operationalisierung der Sehbehinderung als Schaffung einer Arbeitsbasis und des Zustandekommens differenter Beratungskonzepte. Die Deutung der Erkrankung auf Seiten der Sehbehinderten muss sich nicht zugleich im Rekurs auf ein Angebot spiegeln. Zunächst können hier auch individuelle Kontexte bearbeitet werden, das Angebot wird erst später relevant. In Bezug auf die Kontextualisierung der Erkrankung reicht das Spektrum von dem Erleben der Erkrankung als Schicksalsschlag bis hin zum Erleben der Erkrankung als Kampfansage gegen das Altern. Das Erleben der Erkrankung hat weit reichende Konsequenzen für die Handlungen. Das Krankheitserleben kann das Handeln befördern oder behindern, zudem ist das Erleben der Erkrankung nicht stabil über die Zeit und nicht unabhängig von der sozialen Einbettung. Fast alle Betroffenen kennzeichnen unterschiedliche Phasen der Erkrankung, die sich typischerweise von einer Art Unglauben, über ein erstes Reagieren durch Informationssuche und Therapiesuchen niederschlagen und von da an unterschiedliche Verläufe nehmen. Die Experten hingegen betrachten die Sehbehinderung nur selten derartig umfassend und komplex (es würde wahrscheinlich ihre Arbeit verhindern) Anstelle der Individualität der Betroffenen steht der zu betreuende Fall im Zentrum der Aufmerksamkeit. Damit hängt die Unterscheidung Individuum/Fall davon ab, inwiefern sich die Experten auf Teilbereiche der Problematik der Betroffenen beschränken, die in Relation zum angebotenen Programm stehen (optische Hilfsmittel, Alltagsgestaltung) oder den Interessen der Experten (Verkauf, Lobbyarbeit) selbst entsprechen. In den Fallporträts schlagen sich dadurch entste-
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hende Probleme oder Irritationen in den Kategorien des Adressatenwissens und des aneignungsfördernden Methodenwissens nieder. Dennoch wird in manchen der untersuchten Angebote (Augenärztin, Training in Lebenspraktischen Fertigkeiten, Beratungsgruppe) diese Individualität intern oder extern bearbeitet. Im Fall der Augenärztin und des Trainings findet sich die interne Bearbeitung direkt in den Aspekten der Beratungsgespräche, in denen geklärt wird, ob sich der Patient für das Training eignet und welche individuellen Ziele mit dem Training verfolgt werden. Im Angebot der Beratungsgruppe hingegen wird die Individualität von der Leiterin auf die Gruppe externalisiert. Im Sinne einer Rollenverteilung werden diejenigen Aspekte, die sich ausschließlich auf die Bearbeitung individueller Umgangsweisen und der Probleme der Betroffenen beziehen, weitestgehend in den Austausch unter den Betroffenen verlagert. In den Angeboten des Optikers und der Selbsthilfegruppe wird hingegen die Individualität bewusst aus der Interaktion ausgegrenzt. Die Prozesse der Verarbeitung der Erkrankung spielen im Austausch kaum eine Rolle, vielmehr liegt der Fokus auf der Vorstellung und Erprobung von Hilfsmitteln oder der Weitergabe von Information.
1.1.2 Betroffenheit versus Organisation Mit Blick auf den organisationellen Bezugspunkt wird erneut auf vorab entwickelte Kategorien der Teile II und III zurückgegriffen. Von der Teilnehmerseite sind die Diagnoseschilderungen von besonderer Relevanz, da sie den Eintritt in die soziale Welt der Sehbehinderung darstellen. Das Erleben der Diagnose und die anschließende Auseinandersetzung mit der Erkrankung führen zur Suche im institutionellen Arrangement: Die leitenden Fragen sind: Was wird angeboten? Was kann mir helfen? Wie geht es weiter? Für die Experten liegt der Bezug auf das organisationelle Gesamtarrangement der Betreuung älterer Sehbehinderter eher darin, dass sie die Ausbildung von Netzwerken anstreben bzw. ablehnen. Damit geht es um die Gestaltung von Beziehungen oder Abgrenzungen zu anderen Systemen und Professionalisierung. Hinsichtlich der Frage, wie der Umgang mit eingeschränkter Handlungsfähigkeit organisiert wird, liegt das Hauptaugemerk der Experten auf der Ausgestaltung und Ausdifferenzierung des institutionellen Netzwerkes. Aus diesem Blickwinkel sind die Betroffenen kaum von Interesse. Vielmehr werden Beziehungen zu anderen Professionellen aufgebaut, Trainingsmaßnahmen akkreditiert oder aber das eigene Angebotsprofil geschärft (vgl. dazu die Meinungen aus der Selbsthilfegruppe, des LPF-Trainers und der Augenärztin zu Selbsthilfegruppen
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Sehbehinderter). Es geht den Experten also um eine Legitimierung ihres eigenen Handelns. Der Bezug der Erkrankten auf die Organisation hingegen dient einzig dem Umgang mit der eigenen Betroffenheit. Nur wenige der Betroffenen zeigen Interesse an der Organisation oder dem Aufbau eines Netzwerks. Dennoch gibt es Fälle (dies wird besonders deutlich in den Passagen derjenigen Teilnehmer, die von Umzügen berichten), die die Sehbehinderung mehr in den Fokus ihrer Lebensgestaltung stellen und aufgrund der Sehbehinderung bereit sind, den Lebensmittelpunkt zu verlagern und dafür die Organisation der sozialen Welt der Sehbehinderung zu nutzen. Dies war bei drei Teilnehmern der Fall, die explizit aufgrund der Sehbehinderung in ein Betreutes Wohnen für Sehbehinderte und Blinde gezogen sind. Bei zwei weiteren Teilnehmerinnen (Frau Friedrich, Frau Janosch) folgte auf die Verschlechterung des Augenlichtes der Umzug in eine Altenwohnanlage. Diese Betroffenen wenden sich fokussiert auf ihr Problem der Sehbehinderung an die Organisation, andere Bereiche ihres Lebens werden dort nicht integriert. Eine solch umfassende Bedeutung der Sehbehinderung ist nur bei der Expertin der Beratungsgruppe nachzuweisen. Die anderen Experten beschränken sich ganz und gar auf ihr Beratungsgebiet und konzentrieren sich ganz auf Hilfsmittelberatung oder Trainingsmaßnahmen: Eindrücklich wird dies von Trainer Jakob berichtet. Er biete, so führt er mit Nachdruck aus, schließlich keine Kochkurse an, nur weil er den richtigen Umgang für Sehbehinderte mit den Gefahren des Herdes und des Kochens einübe.
1.1.3 Hilfebedarf versus Ausgestaltung von Programmen In diesem Aspekt der Gegenüberstellung der Akteursperspektiven geht es um die inhaltliche Auseinandersetzung mit den dargebotenen Programmen. Aufbauend auf den entwickelten Kategorien, wird das pädagogische Wissen der Experten mit den Teilnehmerkategorien zum Umgang mit dem institutionellen Arrangement in Beziehung gesetzt. Die Hinwendung zu den Angeboten wird von den Teilnehmern meist als zufällig beschrieben: Entweder haben sie Bekannte auf ein Angebot aufmerksam gemacht, oder sie sind zu einer Informationsveranstaltung über die Erkrankung gegangen. Das Angebot trifft sie also zumeist in ihrer Suchbewegung nach einer Therapiemöglichkeit. So ist die Auswahl an den teilgenommenen Angeboten nur wenig selektiv, da sie in erster Linie Hilfe suchen. Dies entspricht nicht der Suchbewegung der Experten nach Klienten. Sie halten in den Fällen der Trainings oder des Optikers spezialisierte Angebote parat, oder zumindest Angebote, die nicht auf Heilung fokussieren, wie im Falle der Beratungsgruppe oder der
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Augenärztin. Die Experten müssen demnach, bevor sie ihre Angebote beginnen, zunächst Aufklärungsarbeit leisten. Dies ist in der Beratungsgruppe und der Beratung der Augenärztin ein wesentlicher Bestandteil des Angebotes. Da die Erwartung der Teilnehmer häufig ungeklärt ist, ist die Interaktion immer wieder gestört. Weniger dramatisch formuliert, müssen immer wieder Wege gefunden werden, die Möglichkeiten der Angebote auszuhandeln. Auf Expertenseite schlagen sich diese Störungen auf der Ebene des analysierten Adressatenwissens nieder: Am einen Ende des Extrems von Zielgruppenwissens durch Defizitzuschreibungen an die Adressaten, die sich zumeist auf das Alter und damit einhergehend vermutete Einschränkungen beziehen: Ältere wollen sich nicht mehr verändern, können sich nicht mehr verändern, verstehen die Handhabung von Hilfsmitteln nicht, sie sind nicht interessiert an der politischen Arbeit im Umgang mit einer Sehbehinderung, sie interessieren sich nicht für die inhaltliche Ausgestaltung von Angeboten, sondern nur für die angebotene Geselligkeit. Oder die Defizitzuschreibungen beziehen sich auf die noch nicht geleistete Bewältigung der Unheilbarkeit der Erkrankung: In diesem Falle steht die Hoffnung auf Heilung der inhaltlichen Ausgestaltung des Programms im Wege. Auf der anderen Seite des Zielgruppenwissens stünden dann eher Formen, wie sie im Falle der Beratungsgruppe und des Trainings zur Sprache kommen und die die inhaltliche Ausgestaltung der Programme beeinflussen: Dabei wären die Möglichkeiten der Herstellung von Kommunikationsmöglichkeiten, zum einen mit dem Trainer, der Leiterin und zum anderen mit den Betroffenen selbst zu nennen. In der Gesamtschau finden sich in der Gegenüberstellung der beiden Akteursperspektiven zwei unterschiedliche Wege. Die Betroffenen setzen am Kontext der eigenen Erkrankung an. Dieser führt zu spezifischen Deutungen der Erkrankung. Die Deutungen führen wieder zu bestimmten Umgangsformen, die durch die Institutionen weiter ausgebaut, verändert oder abgelehnt werden. Dahingegen starten die Experten am anderen Ende. Ihr Ausgangspunkt ist die Organisation zur Etablierung ihres Angebotes im institutionellen Zusammenhang. Aus diesen wiederum werden verschiedene Umgangsformen mit der Erkrankung abgeleitet. Nicht in allen Fällen werden dabei die Deutung der Erkrankung für das betroffene Individuum und dessen Kontext berücksichtigt. Es spricht vieles dafür, dass die konsequente Weiterverfolgung dieses Weges in Richtung Deutung und Kontext die Angebote weiter verbessern könnte.
Strukturen der sozialen Welt der Sehbehinderung
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Abbildung 35: Wege der Betroffenen versus Wege der Experten Betroffene Kontext
Deutung
Handlung
Organisation
Institution Experten
1.2 Strukturen der sozialen Welt der Sehbehinderung Durch die Relationierung der beiden Akteursperspektiven in ihrem Bezug auf die Sehbehinderung als zwei Teile eines Ganzen lassen sich zwei Strukturen der sozialen Welt der Sehbehinderung beschreiben. Einerseits interne Strukturen (1.2.1-1.2.3) und externe Bezüge (1.2.4). Die Vermittlung zwischen diesen Strukturen über die Zeit lässt sich durch die Relationierung der Prozesshaftigkeit (1.2.5) fassen. Die beiden Akteursperspektiven sind als zwei kontrastierende Pole der sozialen Welt zu verstehen hinsichtlich des institutionellen Arrangements. Um nun einen relationalen Fokus mit der Sehbehinderung im Zentrum zu erlangen, bilden die in den Teilen II und III entwickelten Kategorien die Grundlage, auch wenn sie neu verbunden werden müssen. Denn die Integration beider Akteursperspektiven in eine institutionell geformte soziale Welt der Sehbehinderung ist komplexer und führt zu neuen Differenzierungen. Durch die Auflösung der strikten Perspektive einzelner Akteure kann gezeigt werden, welche Tendenzen für beide Seiten gelten. Darum geht es im Folgenden nicht mehr um die Kontrastierung der Akteure, sondern vielmehr um die Betrachtung der sozialen Welt der Sehbehinderung als Ganzes aus einem übergeordneten Blickwinkel.
1.2.1 Inhaltliche interne Strukturierung Unter der inhaltlichen Strukturierung lassen sich diejenigen Aspekte fassen, die sich in weitestem Sinne auf die Thematisierung der Sehbehinderung beziehen. Aus dem Material heraus sind sechs Bezüge zu kennzeichnen, nämlich die Sehbehinderung als
Erkrankung, Behinderung, Altersphänomen, Lerngegenstand,
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Die soziale Welt der Sehbehinderung Vermittlungsgegenstand und als Krise.
Im Sinne der Erkrankung wird die Sehbehinderung einerseits als chronische und andererseits als vorübergehende Erkrankung thematisiert. Für die Betrachtung von Sehbehinderung als Behinderung ist vor allem der professionelle Zugriff auf den Sehverlust bedeutsam. Die Älteren selbst meiden den Begriff der Behinderung, sie machen sich nur zögerlich durch Blindenabzeichen kenntlich. Dies ist auch ein Indikator dafür, dass in den meisten Fällen die Erkrankung eher als Alterserkrankung, denn als Behinderung gesehen wird. Im Fokus der inhaltlichen Auseinandersetzung wird die Makuladegeneration zudem als Altersphänomen bedeutsam. Auch dieser Aspekt kann weiter differenziert werden:
als unnatürlicher Prozess des Alterns als natürlicher Teil des Alterungsprozesses als demographischer Faktor
Von beiden Akteursperspektiven wird die Erkrankung als Altersphänomen im Sinne eines natürlichen und unnatürlichen Teils des Alterungsprozesses gekennzeichnet. Die Sehbehinderung wird in der vorliegenden Arbeit häufig als Lerngegenstand thematisiert, da das Interesse auf dem Umgang mit der eingeschränkten Handlungsfähigkeit liegt. Dabei handelt es sich aber nicht nur bei den Teilnehmern um die Definition eines Lerngegenstandes. Auch die Experten selbst müssen sich immer wieder über die weiteren Entwicklungen der Sehbehinderung informieren und Zertifikate in Kursen erwerben. Neben dem Lerngegenstand zeigte der empirische Teil ebenso die Relevanz der Sehbehinderung als Vermittlungsgegenstand. Auch hier beziehen sich die Betroffenen genauso auf dieses Konzept wie die Experten. Während für letztere sicherlich das Angebot mit entsprechendem Vermittlungsziel im Mittelpunkt steht, ist für die Betroffenen gerade in Gruppenzusammenhängen die Sehbehinderung oder der Umgang mit der Sehbehinderung als Vermittlungsgegenstand von Bedeutung. In den Fällen Nohlen, Ebeling, Schuchmann zeigt sich die Bewältigung der Erkrankung gerade darin, dass sie eben nicht mehr die Rolle haben, Dinge neu lernen zu müssen. Stattdessen können sie ihr erworbenes Wissen an später Betroffene weitergeben. Als Krise wird die Sehbehinderung ebenfalls aus beiden Perspektiven heraus gedeutet: Die Formen der Krise können dabei unterschiedlicher Natur sein: Am nächsten liegt selbstverständlich der Bezugspunkt der Krise in der eigenen Lebensführung. Dies erscheint besonders für die Betroffenen relevant, bei denen
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die Sehbehinderung als Krise eines Übergangs beschrieben wird. Einerseits kann sich die Krise des Übergangs auf das Alter beziehen, wenn die Sehbehinderung als ein Aspekt des Altersphänomens gedeutet wird. Genauso kann die Krise des Übergangs einen Übergang zur befürchteten Abhängigkeit meinen. Der Umgang mit dieser Krise zeigt sich in angedachten oder umgesetzten Umzügen der Betroffenen in Pflegeheime oder Betreutes Wohnen. Eine weitere Form einer Übergangskrise ist die Konfrontation mit dem (machtlosen) medizinischen System. Als vierte Form der Krise tauchen familiäre oder Krisen im Freundeskreis auf, wenn die Glaubwürdigkeit der Betroffenen angezweifelt wird. Aufgrund des komplexen Sehens bei AMD kann zwar teilweise ein kleinster Fussel entdeckt werden, ohne dass notwendigerweise noch Gesichter zugeordnet werden können. Deswegen geraten die Betroffenen leicht in eine Situation, in der ihnen nicht geglaubt wird oder sie gar bezichtigt werden, zu simulieren. Plötzlich steht der Betroffene immer häufiger in einem Rechtfertigungszwang. Die Krisenformen in Bezug auf die Experten beziehen sich auch auf soziale Aspekte. Sie sind mit der Differenz von Objektivität und Subjektivität der Sehbehinderung konfrontiert, da ein guter Visus dennoch in einem unbefriedigenden Umgang resultieren kann. So können sie ebenso in eine Krise wie die Betroffenen selbst geraten. Dies schlägt sich auf ihrer Seite jedoch eher als Unsicherheit im Umgang mit den Betroffenen nieder, die sie durch hohe Sensibilität ausgleichen müssen.
1.2.2 Interne soziale Bezüge In der Betrachtung des gesamten institutionellen Arrangements spielen auch die sozialen Bezüge auf die soziale Welt der Sehbehinderung eine Rolle. Die Verknüpfungen stellen sich durch Partizipation des sozialen Umfelds (Partner, Familie, Freundeskreis) an den Angeboten dar. Das ist bei Trainer Jakob und (wenn auch ungewollt) in der Selbsthilfegruppe der Fall. So bietet Trainer Jakob im Rahmen seines Trainings, wenn die Angehörigen vor Ort sind, eine Einheit an, in der die Angehörigen mithilfe von speziellen Brillen die Sehbehinderung simulieren. Neben partizipativen Aspekten spielen die sozialen Verknüpfungen im Zugang zu den Angeboten eine Rolle. Dabei dienen Angehörige und Freunde häufig als Mittler für die Auswahl von Angeboten. Sie weisen auf die Möglichkeit von Interventionen hin, sammeln Informationen für die Betroffenen und stellen Begleiter dar.
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Die soziale Welt der Sehbehinderung
1.2.3 Temporäre Relationen im Innen der sozialen Welt der Sehbehinderung Aus der zeitlichen Perspektive gesehen, können die Bezüge auf die soziale Welt der Sehbehinderung kurz-, mittel- oder aber langfristig angelegt sein. Dabei kann eine Ausdehnung des Bezugs auf das institutionelle Arrangement auch eine dauerhafte umfassende Bindung darstellen. Gerade bei der Betrachtung der zeitlichen Dimension im institutionellen Arrangement täuschen die formalen Angaben zur Dauer der Angebote. Die Analyse des Materials zeigt, dass die zeitlichen Bezüge wesentlich komplexer sind. Die Betrachtung der kurzfristigen Angebote lässt sofort an das Angebot des Optikers mit einer Beratungsdauer von drei Terminen denken. Aber in seinem Falle dient die Beratung der längerfristigen Bindung des Klienten. Ausschließlich die Beratung in Bezug auf die konkrete Situation der Makuladegeneration umfasst drei Sitzungen. Zusätzlich deutet der Verweis auf die Schulung weiterer Angestellter zur spezifischen Low-Vision-Beratung darauf hin, dass es sich in seinem Falle um eine eher langfristige Perspektive, eine Geschäftsstrategie, in Bezug auf die Makuladegeneration handelt. Mittelfristige Bezüge sind in Relation zum Training zu konstatieren. Hier ist die Dauer des Trainings begrenzt und in der Regel wird die Verbindung Trainer/Klient nicht weiter fortgesetzt. Der Betroffene, will er weiter im institutionellen Gefüge partizipieren, muss dann auf andere Formen der Betreuung übergehen. Am Ende eines Trainings finden sich so mehrere Optionen. Während Frau Metzger und Frau Wolf neben und nach dem Training an Selbsthilfegruppen partizipieren, entscheidet sich Frau Janosch nach dem Training für einen Seniorenkreis außerhalb der Sehbehindertenwelt. Langfristige Bezüge finden sich zunächst in den Gruppenangeboten, da hier die Dauer unbegrenzt ist. Aber wie schon die Gestaltung von Phasen im Falle der Expertin Jansen verdeutlichte, werden diese langfristigen Bindungen zuweilen durch Selektionsprozesse verkürzt. Von langfristigen Bezügen mit Unterbrechungen kann auch beim Angebotsspektrum der Augenärztin gesprochen werden. Zwar sind die einzelnen Beratungen immer isoliert betrachtbar und müssen nicht auf Dauer weiterverfolgt werden, doch die Bindung an die Augenärztin lässt die Betroffenen auch bei abgeschlossener Beratung im Falle einer auftretenden Krise oder Verschlechterung wieder zum Angebot der Augenärztin zurückkehren.
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1.2.4 Interaktionen mit anderen sozialen Welten Im Sinne der Interaktionen interessieren vor allem die Kommunikationszusammenhänge mit anderen sozialen Welten, die sich auf der Ebene von Sinnwelten auswirken. Eine soziale Welt kann nicht gänzlich geschlossen gedacht werden, da ihr Radius die Beschäftigung mit einer elementaren Sache darstellt. Vielmehr berührt sie immer zahlreiche andere soziale Welten. Diese Verknüpfungen können auch individuell verschieden verlaufen (vgl. Clarke, 2007). In dieser Arbeit können einzig Verweise auf diese sozialen Welten beschrieben werden, denn die Komplexität anderer sozialer Welten lag nicht im Fokus dieser Arbeit und ist somit durch die Empirie nicht gänzlich abzudecken. Was aber dargestellt werden kann, sind die „Andockstellen“ an andere soziale Welten. Dabei wird die Komplexität der sozialen Welt weiter verdichtet, denn die Akteure müssen mit diesen Interaktionen, die nicht unbedingt folgenlos sind, umgehen. Als Anschlussstellen finden sich Dimensionen des Lebens im Alter, Dimension der Professionalisierung und des Lebens in Familie, Freundeskreis und Ehe. Es stellt sich die Frage, wie an anderen Welten partizipiert wird und wie damit im Hinblick auf die Sehbehinderung umgegangen werden kann. Verdeutlicht sei dies am Beispiel der sich berührenden sozialen Welt des Lebens im Alter und der Sehbehindertenwelt: Sie ist mit der Unterscheidung sehbehinderter Älterer versus älterer Sehbehinderter zu kennzeichnen. Für das betroffene Individuum kann und muss von einem kritischen Lebensereignis gesprochen werden. Pläne für das ‚Leben im Alter’ sind in der vorgestellten Art und Weise nicht mehr umsetzbar. Neben den durchkreuzten Plänen, treten häufig plötzlich der Körper und seine Erkrankung in den Vordergrund. Es geht nicht mehr um die Realisierung von Ruhestandsprojekten, im Sinne von Reisen oder Leseprojekten. Wie dargestellt, erfolgt in den meisten Fällen eine ausgiebige Auseinandersetzung mit dem medizinischen System als Ort der Heilung, Behandlung und Therapie. Hinzu kommt in fortgeschrittenen Stadien der AMD das Zurückgeworfensein auf den Alltag und dessen Bewältigung, da zumeist die gewohnten und routinisierten Fertigkeiten des Alltags zum Teil außer Kraft geraten oder zumindest gefährdet sind. Eine Verortung in der sozialen Welt der Sehbehinderung oder des Lebens im Alter unterscheidet sich meines Erachtens folgendermaßen:
Soziale Welt: Sehbehindertenwelt Orientierung an institutioneller Struktur Orientierung an früh Sehbehinderten und Blinden Bedeutung der institutionellen Ausdifferenzierung
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Die soziale Welt der Sehbehinderung Soziale Welt: Leben im Alter Sehbehinderung als different bewerteter Zustand/Prozess im Alter Konflikte mit anderen Einbußen Biographisch entwickelte Interessen sind relevant
1.2.5 Relationierung der Prozesshaftigkeit der sozialen Welt Um auf der Ebene der sozialen Welt der Sehbehinderung die Perspektiven vollständig miteinander in Bezug zu setzen, steht noch die Betrachtung der Prozessebene aus. Sowohl bei Teilnehmern als auch bei Experten konnten verschiedene Phasen identifiziert werden. Bei den Teilnehmern beginnen unterschiedliche Phasen auf der Handlungsebene mit dem Zeitpunkt der Diagnose. Die Experten hingegen beschreiben Prozesse auf zwei Ebenen: Einerseits handelt es sich um ihr dargestelltes Wissen über die Teilnehmer, das für die Integration oder den Ausschluss der Teilnehmer zu Rate gezogen wird. Andererseits, beschrieben unter der Phasenhaftigkeit der Angebote, stellt sich ein den Angeboten immanenter phasenhafter Verlauf der Angebote dar. Die Bezugspunkte der Akteure der Sehbehindertenwelt zeigen in der Relationierung weit reichende Erkenntnisse auf. So obliegt den Experten die Selektionsmacht über ihre Angebote. Nicht jeder, der an dem Angebot teilnehmen will, kann dies auch28. Damit stellt sich aus der relationalen Perspektive die Frage des Übergangs in und aus der sozialen Welt der Sehbehinderung. Dies bedeutet, dass der individuell plurale Zugang zu den Angeboten vollzogen werden muss. Wie kommt man also aus der einen sozialen Welt (beispielsweise Berufsleben, Ehe, etc.), die bisher das Leben geprägt hat, in die soziale Welt der Sehbehinderung oder aus ihr heraus? Zum Weg in die soziale Welt: Als ‚Eintrittsbillet’ fungiert für beide Seiten die Diagnose der Erkrankung. Von hier an kann eine Annäherung an die Sehbehindertenwelt geschaffen werden. Die Sehbehinderung rückt als Topos in den Vordergrund und verschiebt andere Topoi wie das familiäre Leben oder das Berufsleben. Dieser Weg wird beschritten als Überrumpelung (Frau Wolf), als schrittweises Einfügen in die soziale Welt (Frau Ebeling) oder als stufenförmiger Prozess (Herr Nohlen). In gleicher Weise gilt dies für die Experten. Das zunehmende Auftreten von Personen mit der Diagnose der altersbedingten Makulade28 An dieser Stelle ist nochmals darauf hinzuweisen, dass aufgrund der Rekrutierungsstrategie über die Experten und dem Fokus auf Teilnahme an Angeboten, diejenigen Personen kaum in den Blick genommen werden konnten, die gerade diesem Selektionsmechanismus unterlegen sind und als Depressive oder (noch) zu belastete nicht an den Angeboten teilnehmen konnten.
Strukturen der sozialen Welt der Sehbehinderung
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generation ermöglicht erst die spezifische Beschäftigung mit der Klientel. Eindrücklich ist dies in den Fällen des Optikers, der Selbsthilfegruppe und des Trainers in Lebenspraktischen Fertigkeiten und Orientierung & Mobilität. Alle müssen erst Wissen aneignen, um mit der neuen Klientel arbeiten zu können: Optiker Franz durch eine Weiterbildung als Low-Vision-Spezialist, die Leiterin der Selbsthilfegruppe durch eigenständige Aneignung von Informationen. Trainer Jakob arbeitet in Arbeitskreisen an der spezifischen inhaltlichen Gestaltung der Trainings für ältere Sehbehinderte. Aber auch der Versuch der Desintegration, die Abgrenzung zu dieser Welt, wird thematisiert, wie im Falle Kirchhoff geschehen. Sie befindet sich in einem Zwischenreich der ersten Annahme von Angeboten aus dem institutionellen Bereich bei gleichzeitiger Abgrenzung zur Sehbehinderung. Den extremsten Fall in dieser Hinsicht stellt Frau Nohlen dar, die die soziale Welt der Sehbehinderung gänzlich ausgrenzt und vollends auf die soziale Welt der Ehe und Familie fokussiert. Die Familie wird als Gegenprojekt geschildert, indem immer wieder der Eigencharakter der Familie betont wird. Der Weg aus der sozialen Welt der Sehbehinderung findet sich in Übergängen des Abbruchs von Angeboten, der Vermeidung von Angeboten im Sinne eines Noch-Nicht oder des Rollenwechsels. Im Fall Herr Nohlen sind Ansätze all dieser drei Übergänge vorhanden. Die Sehbehindertenwelt steht nun nicht mehr im Fokus, da das Nötigste für den eigenen Umgang angeeignet wurde. Er ist nun weniger Teil der sozialen Welt als in früheren Zeiten. Im Vordergrund steht jetzt die Gestaltung der Freizeit, in dem Sinne, dass verloren geglaubte künstlerische Aktivitäten wieder aufgenommen wurden. Durch den Abbruch von Freizeitaktivitäten mit dem Blindenbund (an Stammtischveranstaltungen wird nicht mehr teilgenommen), durch das Aufschieben von Trainings, die noch nicht benötigt werden und durch den Rollenwechsel vom Lerner zum Vermittler. Er ist nun nicht mehr nur auf der Seite der hilfebedürftigen Betroffenen zu verorten, sondern vielmehr auf der Seite des hilfegebenden Experten.
2 Pädagogische Formen
Die soziale Welt der Sehbehinderung als Integration des gesamten institutionellen Arrangements und seiner Akteure ist ausgeprägt pädagogisch strukturiert. Die pädagogischen Formen stellen allerdings nur einen Umgang mit auf unterschiedlichen Ebenen gelagerten Defizit- und Kompetenzzuschreibungen dar. In den Analysen des Teils II und III konnte eine große Bandbreite an Formen pädagogischen Umgangs rekonstruiert werden. Ausstehend ist die Relationierung der Perspektiven beider Akteure auf die pädagogischen Formen, wie auch die Einordnung der im Theorieteil zusätzlich eingeführten Theorieansätze zu Formenbildungen des Pädagogischen im Anschluss an die Universalisierungsthese. Aufgezeigt werden zudem diejenigen Beziehungen zu Kommunikationsformaten, die über die soziale Welt hinauszeigen.
2.1 Relationierung pädagogischer Formen der Akteure der Sozialen Welt In diesem Abschnitt wird das pädagogische Sinnsystem der sozialen Welt dahingehend in den Fokus genommen, dass die analysierten Einzelformen aufgenommen werden und in ihrer Vernetzung dargestellt werden. Damit wird der Gesamtzusammenhang des Pädagogischen für die soziale Welt der Sehbehinderung in der Relation Individuum/Institution dargestellt. Obwohl in dieser Studie kein klassisches Feld der Altenbildung betrachtet wurde, ließ sich sowohl individuell wie institutionell eine Vielfalt von pädagogischen Formen auf der Operationsebene rekonstruieren. Auf der Seite der Experten konnte von einem intensiven Adressatenwissen in den Dimensionen von kontextbezogenem Zielgruppenwissen, adressatenspezifischen Diagnosewissen, personenbezogenem Potenzialisierungswissen und bündnisbezogenem Kooperationswissen berichtet werden. Ebenso liegen Formen des Vermittlungswissens in Aspekten von Gestaltungswissen, aneignungsförderndem Methodenwissen wie vermittlungsbezogenem Aneignungswissen vor. Die Betroffenen hingegen kennzeichnen sich ebenfalls durch plurale Aneignungsformen, die teilweise auf die pädagogischen Formen der Experten reagieren, teilweise diese ablehnen. Insbesondere in denjenigen Angebotsformen, in denen ein Möglichkeitsraum an Handlungsoptionen in Form von Moderation und Beratung bereitgestellt wurde,
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Pädagogische Formen
konnten die Betroffenen mit ihren individuellen Aneignungsneigungen besonders gut anknüpfen. Entscheidend in der Relationierung von pädagogischen Formen ist die Betonung eines Kontinuums anstatt dem eindeutigen Verweis auf Defizite und Kompetenzen. Denn Defizit- und Kompetenzzuschreibungen verschieben sich über die Zeit und produzieren dementsprechend unterschiedliche Bedarfe bei den Betroffenen. In Anbetracht eines pädagogischen Handlungsfeldes in Anlehnung an Dewe (2005), Manhart & Rustemeyer (2004) und Schäffter (1997) stellt sich damit die soziale Welt der Sehbehinderung als ein Feld im pädagogischen Sinne dar, dass die komplette Spanne von „Bildung-Hilfe“ (Manhart & Rustemeyer (2004), von Helfen bis Lehre (Schäffter, 1997) und von Erwachsenenbildung bis Therapie (Dewe 2005) abbildet. Diese unterschiedlichen Dimensionen bilden sich angebotsintern wie angebotsübergreifend dar. Je nach individuellem Bedarf greift der Adressat auf die unterschiedlichen Kommunikationsformate zurück. Die Unmöglichkeit der eindeutigen Bestimmung ist dabei in diesem Feld mit dem permanenten Verschieben und Aufschieben von Grenzen zu erklären. Je nachdem, an welche Grenze der Teilnehmer stößt, wird auf differente Kommunikationsformate zugegriffen. Ein Grund für die Verschiebbarkeit der Grenzen wiederum stellt die Progredienz dieser Erkrankung dar. Bereits Erlerntes kann hinfällig werden, wenn die Erkrankung voranschreitet. So kann es der Fall sein, dass mehrfach neue Aneignungsprozesse stattfinden müssen, um hinzutretende Beeinträchtigungen zu bewältigen. Dies wird in den unterschiedenen Programmen unterschiedlich gelöst, ohne dass dabei eine absolute Grenze, mehrfach genannt im Zusammenhang von Depressivität, außer Acht gelassen wird. Entweder es besteht die Möglichkeit angebotsintern auf unterschiedliche Kommunikationsformate zurückzugreifen (wie im Falle der Beratungsgruppe) oder es finden Verweise auf andere Kommunikationsformate statt, die den individuellen Bedürfnissen der Betroffenen mehr entsprechen. Durch das Phänomen der Grenze findet sich auch ein Argument, dass die Ergebnisse der zum Teil unbefriedigenden Nachhaltigkeit von Interventionsformen über die Zeit (vgl. Kämmerer et al., 2006) erklären könnte. Die Untersuchten könnten im Verlauf der Befragungen an eine neue Beeinträchtigungsgrenze gestoßen sein, für die die Strategien aus dem jeweiligen Training nicht mehr effektiv sind. Es müsste ein neuer Anlauf gewagt werden, der das neu aufgetretene Problem in anderer Weise bearbeitet.
Bezug auf Sinnwelten neben den pädagogischen Formen
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2.2 Bezug auf Sinnwelten neben den pädagogischen Formen Die soziale Welt der Sehbehinderung ist neben ihrer pädagogischen Strukturierung ökonomisch, politisch und medizinisch strukturiert. Es handelt sich also beim Feld der sozialen Welt der Sehbehinderung um ein sehr facettenreiches Feld. Die unterschiedlichen Sinnwelten neben den pädagogischen Formen sind in den Analysen immer wieder am Rande aufgetaucht und werden hier nochmals verdichtet zusammengefasst. Nach näherer Betrachtung der pädagogischen Formen, die in dieser Arbeit rekonstruiert wurden, fällt auf, dass der Bezug und die Relevanz von pädagogischen Formen nur eine Möglichkeit der Einordnung der Limitierung von Handlungsfähigkeit darstellen. Permanent wird man auf die Bedeutung und die Relevanz anderer Sinnwelten (Berger & Luckmann, 1969; Grathoff & Waldenfels, 1983) gestoßen. Diese können aufgrund der Verfasstheit des Materials in dieser Arbeit nicht in den Mittelpunkt gestellt werden. Dennoch erscheint es sinnvoll, zumindest auf die aufscheinenden Sinnwelten zu verweisen, um einerseits den Horizont dieser Arbeit weiter zu öffnen und andererseits um nicht der Verlockung der einseitigen Darstellung zu unterliegen und die Bedeutung von pädagogischen Formen überzubewerten. Es geht somit an dieser Stelle darum, die weiteren Sinnaspekte aufzuzeigen, aber auch mit Anschlussfragen auszustatten, die in dieser Arbeit nicht mehr behandelt werden können. Die Sinnwelt des Ökonomischen kennzeichnet sich durch den Marktaspekt der Sehbehinderung im individuell-institutionellen Gefüge. Sowohl für Betroffene wie für die Experten spielen diese Aspekte eine Rolle, da sie mit der Marktförmigkeit, die der Umgang mit der Sehbehinderung gewonnen hat, umgehen müssen. Relevant wird dies in der Beschaffung und dem Absatz von Hilfsmitteln, aber auch von Dienstleistungen. Diese sind nicht nur bezüglich ihrer Anwendbarkeit zu betrachten, sondern im ökonomischen Sinne. Dies führt auf der Seite der Betroffenen nicht selten zu ambivalenten Gefühlen gegenüber Dienstleistungen und Hilfsmitteln. Auf Seiten der Experten müssen immer wieder Argumente für die Entstehung und Aufrechterhaltung des Marktes gefunden werden. Die Sinnwelt des Politischen hingegen stellt sich dar in der Politisierung der Erkrankung durch die Gründung von Gremien, Initiativen und Arbeitskreisen auf individueller wie auf professioneller Ebene. Auf beiden Seiten sind Entwicklungen nachzuzeichnen, die sich einer verstärkten Politisierung der Erkrankung widmen: Dabei geht es einerseits um das Herausheben der Bedeutsamkeit medizinischer Forschung in Richtung Heilung und Therapie, aber auch um leistungsrechtliche Bemühungen in Bezug auf Hilfsmittel und finanzielle Unterstützung.
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Pädagogische Formen
Auf Seiten der Professionellen bezieht sich diese Sinnwelt eher auf Formen der Professionalisierung. Interdisziplinäre Arbeitskreise und professionsspezifische Weiterbildung dienen der Verbesserung der Versorgungsstruktur und der Ausdifferenzierung von Angeboten. Die Sinnwelt des Medizinischen kennzeichnet sich am permanenten Verweis sowohl der Professionellen wie auch der Betroffenen auf den Aspekt von Heilung und Therapien. Das Medizinische ist im individuell-institutionellen Kontext die bedeutendste Sinnwelt, welche die soziale Welt der Sehbehinderung berührt. Sie ist ambivalent, zugleich aber auch Hoffnungsträger, Informationsquelle, übergeordnetes Wissenssystem, aber auch ein Pol zur Abgrenzung. Diese Abgrenzung vom Medizinischen ist aber nicht selbst gewählt, sie resultiert eher aus desintegrativen Effekten des Medizinischen selbst. Auch wenn die Sinnwelten hier analytisch zu trennen sind, und als Sinnwelten eigenen Regeln folgen, ist insbesondere mit Verweis auf die Ergebnisse auf ihre Verflechtung und gegenseitige Beeinflussung zu verweisen.
3 Das Netzwerk der sozialen Welt der Sehbehinderung
Mit der Einführung des Schlüsselkonzeptes der sozialen Welt der Sehbehinderung lässt sich durch den Aufweis zahlreicher Parameter der Differenzierung und Gleichsetzung die Defizit-Kompetenz-Spannung überwinden. Durch den Fokus auf die soziale Welt der Sehbehinderung als integrativer und ausdifferenzierter Modus wird deutlich mehr sichtbar als rein dichotome Unterscheidungen beispielsweise nach Defizit und Kompetenz, Abhängigkeit und Unabhängigkeit. Die soziale Welt der Sehbehinderung befindet sich in einem Prozess der Ausdifferenzierung, der auf der internen Strukturierung ausgehandelt wird, aber auch mit der Interaktion mit anderen sozialen Welten in Beziehung steht. Diese Aushandlungsprozesse werden von Betroffenen wie Experten gleichermaßen bestimmt. Sie stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander. Wenn sie auch zuweilen different aufeinander bezogen sind (Ausgestaltung von Programmen versus Hilfebedarf, Individuum versus Fall oder Betroffenheit versus Organisation) müssen doch beide Elemente vorhanden sein, um die Ausdifferenzierung weiter voranzutreiben. Das eingeführte Ablaufmodell aus Teil I (vgl. Abb. 13) muss dementsprechend ersetzt werden durch das Bild eines Netzwerks der sozialen Welt der Sehbehinderung (vgl. Abb. 36). Denn die lineare Vorstellung einer Verdichtung pädagogischer Formen (vom Augenarztbesuch bis hin zum Training) konnte ebenso wenig nachgewiesen werden wie die Ausrichtung der Adressaten entlang der Akzeptanz ihrer Erkrankung, welche sie vermehrt von Angeboten der Kuration und Information zum Erlernen von Kompetenzen führt. Dahingegen vermag die Beschreibung der Betreuungslandschaft älterer Sehbehinderter als Netzwerk der sozialen Welt der Sehbehinderung, mit den in den vorherigen Abschnitten vorgestellten Elementen, vielmehr eine „cultural area“ Strübing (2005) zu beschreiben, die ineinander verwoben und die einzelnen – hier analytisch getrennten Elemente – zueinander permanent in Beziehung und Austausch stehen. Die pädagogischen Formen sind hier nur ein Baustein in diesem sozialen Raum. Sie sind somit in sozialen Formen institutionalisiert, die in engem Zusammenhang mit Formen des Nicht-Pädagogischen stehen, eben beispielsweise dem Leben im Alter.
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Das Netzwerk der sozialen Welt der Sehbehinderung
Abbildung 36: Das Netzwerk der sozialen Welt der Sehbehinderung Beschäftigung mit einer elementaren Sache Formation einer Gemeinschaft Professionelle Gemeinschaft Gemeinschaft des Umgangs
symmetrisch asymmetrisch
Beschäftigung mit der Limitierung von Handlungsfähigkeit
Technologie zur Durchführung von Aktivitäten
Beschäftigung mit Sehbehinderung Örtlichkeiten Umgang der Betroffenen mit der Erkrankung
Orientierung an Defiziten
eigene Lebenswelt geschlossene Kursräume
Umgang der Experten mit der Erkrankung
Unterhaltung von Organisationen Ausdifferenzierung Organisation von Angeboten
Orientierung an Kompetenzen
offene Kursräume
Selbstorganisation der Teilnehmer
Balancierung
Bedingungen zur Konstitution einer sozialen Welt
Das Netzwerk der Sozialen Welt der Sehbehinderung Interne Strukturierung inhaltlich sozial temporär
Interaktionen mit anderen sozialen Welten Alter Familie Professionalisierung
Prozesse
Pädagogische Formen
Bezug zu anderen Sinnwelten
Wege in
Aneignung
Ökonomie
Wege aus sozialer Welt
Vermittlung
Politik Medizin
Wenn nun das Lernen im Alter unter der Bedingung eingeschränkter Handlungsfähigkeit nach seiner empirischen Rekonstruktion ausschließlich netzwerkartig darzustellen ist, muss konsequenterweise am Ende dieser Arbeit die eingangs gestellte Frage der Dichotomisierung wieder aufgegriffen werden: Gilt, was für einen spezifisches Feld limitierter Handlungsfähigkeit nachgewiesen wurde für die praktische Altenbildung allgemein?
Teil V
Altenbildung in sozialen Welten – Empirische und theoretische Perspektiven
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Altenbildung in sozialen Welten
Die Erweiterung des pädagogischen Feldes der Kindererziehung, Jugendbildung und Erwachsenenbildung um die Altenbildung bleibt für das Verständnis des an Vorstellungen von Pädagogik und Bildung als ihren Leitbegriffen orientierten Ganzen und in deren Gefolge auch für die Institutionalisierung des Erziehungssystems nicht ohne Konsequenzen. Insbesondere handelt es sich dabei um die Folgen, die die Erfahrungen von Endlichkeit, Gebrechlichkeit und Krankheit im Prozess des Alterns und die sich in diesem Zusammenhang wandelnden Zeitvorstellungen, d.h. des Verhältnisses von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, für ein Bildungsverständnis haben, das im Kern bisher immer auf individuelle Entwicklung, Steigerung und Vollendung setzt und defizitäre Seiten des Menschen damit prinzipiell als pädagogisch überwindbare Phänomene behandelt. Die Beschäftigung mit der Thematik des Alter(n)s im theoretischen Horizont eines doppelseitigen Bildungsbegriffs, der auf das sich bildende Subjekt und seine Lebensführung einerseits fokussiert, andererseits aber auch auf die mit diesen Aneignungsprozessen einhergehende Konstitution sozialer Welten die Aufmerksamkeit richtet, trägt in Zeiten des demographischen Wandels in einem zentralen Bereich wesentlich zur praktisch höchst relevanten Analyse der Bedingungen bei, unter denen ältere Menschen leben und lernen. Dass die soziale Realität von Bildung im Alter nur in ihrer Verwobenheit, ihrer Netzwerkartigkeit zu beschreiben ist, hat die vorangegangene Studie am Beispiel von Bildungs- und Lernprozessen unter den Bedingungen eingeschränkter Handlungsfähigkeit aufgezeigt. Pädagogische Formen waren zahlreich aufdeckbar, aber nur angemessen in ihrer Verbindung mit räumlichen, sozialen, zeitlichen und biographischen Aspekten beschreibbar. Welche Konzequenzen dies für die weitere empirische und theoretische Beschäftigung mit Bildungsprozessen älterer Menschen hat, wird in diesen letzten Überlegungen aufgezeigt. In der Verbindung von Altern und Entwicklung bzw. Bildung stellt sich die Lebensphase Altern als Zeit der Übergänge dar, auch jenseits (bereits bestehender) eingeschränkter Handlungsfähigkeit. In einem auf Entwicklung hin stilisierten Alternsmodell skizziert Baltes (1989) eine Idealsicht, das sogennante optimale Altern. Dieser Entwicklungsverlauf in späteren Lebensjahren rückt die individuellen Stärken des Individuums ins Zentrum (Selektion von Stärken), die zudem besonders gepflegt werden sollen (Optimierung), so dass aufkommende Schwächen dadurch ausgeglichen werden (Kompensation). So gut sich dieses Modell des optimalen Alterns für jene Älteren eignet, die glücklicherweise auch im Alter in guter psychischer und physischer Verfassung sind, so wird es doch nicht allen älteren Menschen gerecht: Denn die Vielfalt von Verläufen des Alterns ist ein spezifisches Charakteristikum der Entwicklung in späteren Lebensjahren. Insbesondere beim Vorlie-
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gen von ungünstigen Alternsverläufen, dem pathologischen Altern also, beispielsweise einer Demenz vom Alzheimer Typ, kann diesem Modell des optimalen Alterns nicht gefolgt werden; zu schnell und dramatisch büßen pathologisch Alternde ihre Stärken und Ressourcen ein. Ein Modell optimalen Alterns scheint auch wenig für höhere Lebensaltersabschnitte sowie die letzten Lebensjahre und –monate vor dem Tod geeignet, in denen individuelle Stärken und Handlungswie Entwicklungsmöglichkeiten sich immer mehr erschöpfen. Neben eintretenden Erkrankungen gilt zu berücksichtigen, dass das Alter zudem (im Vergleich zu anderen Lebensaltern) durch besonders viele Verluste und kritische Lebensereignisse charakterisiert ist, selbst wenn der individuelle Alternsverlauf günstig ist: Verluste von wichtigen Personen, von Handlungsoptionen, von Einsichten und Übersichten. Alter ist zudem ein Lebensabschnitt erhöhter Unsicherheit. Jederzeit können schwerwiegende Ereignisse eintreten (Krankheiten, Unfälle, schwere Einschränkungen, z.B. Makuladegeneration, Multimorbidität). Nicht nur deren Eintreten, gar schon deren Erwartung kann bereits lähmen und belasten. Ein Lebensaltersabschnitt auch, in dem man die eigenen Möglichkeiten/Grenzen eventuell gar nicht besonders gut einschätzen kann (z.B. Führerschein abgeben oder nicht; eine Reise noch antreten, oder nicht mehr; eine Operation vornehmen lassen, oder nicht). Eine Vielzahl von Optionen muss dabei vermehrt überlegt werden: Was aufgeben? Was in Anspruch nehmen? Dies alles bei der Frage: Überschaue ich die Situation noch korrekt, bin ich orientiert, oder mache ich bei den Entscheidungen Fehler, wäre es besser für mich, anders zu entscheiden? All dieses vor dem Hintergrund schwindender Kräfte. Und dennoch läuft neben all dem das Leben, wie es über Jahrzehnte geführt wurde, weiter. Es wird daher aus pädagogischer, aber auch sozialer Sicht, mehr und mehr notwendig diese Grenzen, Limitierungen und Übergänge zu bearbeiten. Diese Problembereiche verdeutlichen zugleich, dass die Trennung zwischen drittem und viertem Lebensalter im Allgemeinen nicht sehr trennscharf sein kann und sie erwies sich nicht einzig für den Untersuchungsbereich dieser Studie als nicht tragfähig. Gerade an dem Fall altersbedingter Sehbeeinträchtigung war daher idealtypisch das Altern mit all seinen Risiken prägnant zu beschreiben. Wenn man die strikte Trennung eines dritten und vierten Lebensalters aufgibt, erweist sich die eindeutige Zuschreibung von Defizit und Kompetenz als weitgehend unmöglich. Die Lebensphase Alter stellt eine Herausforderung auf der Ebene von Entscheidungen, Umbrüchen und Übergängen dar, die mit individuell-differenten Bildungsprozessen verbunden ist, die sich nur unzulänglich im Lichte der Dichtomie Kompetenz vs. Defizit beschreiben lassen. Dies bedeutet aber schließlich, dass man diese Übergangssituationen und Bildungsprozesse nur angemessen beschreiben kann, wenn man einerseits jenseits von Euphorisierung,
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Altenbildung in sozialen Welten
im Sinne einer permanenten Steigerung argumentiert und andererseits sozialinstitutionelle Prozesse im Blick behält. In welchen Zwiespalt eine Euphorisierung des Alters führen kann, verdeutlicht Lessenich (2008) in seiner Kritik an der gesellschaftspolitischen Figur der Aktivgesellschaft. Die Produktivität und eingeforderte Vorsorge der Älteren (Riesterrente, etc.), gefeiert als Anerkennung des Alters und Umdeutung von Altersstereotypen, ist nicht folgenlos. Vielmehr hat sie sich im Umbau des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft hin zu einer doppelseitigen Abhängigkeit von kontrollierendem Staat einerseits und am Gemeinwesen orientierten Individuum andererseits zu einer in hohem Maße verpflichtenden Erwartung an das Alter verwandelt. Unter dieser Prämisse gerät das nicht-mehr aktivierbare Alter in Legitimitätsnot. In ähnlicher Weise sind die einzig auf Kompetenz hin fokussierten Konzepte von Altenbildung zu bewerten. Diese Konzepte widersprechen einem (nicht unerheblichen) Anteil der Bildung im Alter. Zudem ist Bildung mehr als reine Kompensation von Einbußen, wie dies häufig von Seiten der Gerontologie thematisiert wird. Empirisch, mit einem Weitwinkelobjektiv jenseits dichotomer Begrifflichkeiten, zeigt sich, dass Bildungsprozesse im Alter in ihrer Ambivalenz nur zu verstehen sind, wenn sowohl ihre Vielfältigkeit, im Sinne einer Richtungsoffenheit, wie auch ihre Einbettung in alltägliche Lebenszusammenhänge beachtet werden. Wenn man den sozialen Rahmen individueller Prozesse des Alterns in die Betrachtung miteinbezieht, erscheint Bildung als prinzipiell relational zu sozialen Welten. Das Konzept der sozialen Welt ist ein integrierender Beobachtungsmodus von Institution, Individuum und darin jeweils eingelagerte Sinnwelten/Lebenswelten. Changierende Übergänge, die Notwendigkeit der Balancierung im Alternsprozess sind – so hat diese Studie im Detail aufgewiesen – mithilfe dieses Konzepts rekonstruierbar. Es werden weniger „soziokulturelle Identifikationsmerkmale“ (vgl. Strübing, 2005, S. 178), wie Alter, Geschlecht oder eben die Dichotomie von Defizit und Kompetenz ins Zentrum gerückt, sondern die zentralen Aktivitäten der sozialen Welt dienen als empirischer Ausgangspunkt. Die Bindung an Kernaktivitäten (Kommunikationsprozesse) der sozialen Welt ist zentrales Definitionskriterium. Es ist nicht dichotomisierend sondern prozessural definiert und schließt die Interaktionen mit anderen sozialen Welten mit ein (vgl. ebd.). In diesem Theorierahmen ließen sich in dieser Studie Prozesse unterscheiden, die einerseits in die soziale Welt der Sehbehinderung eingelagert sind (pädagogische, ökonomische, medizinische und poltische Formen), aber auch Prozesse, die diese soziale Welt erst konturieren, wie insbesondere die Formation einer professionellen Gemeinschaft und einer Gemeinschaft des Umgangs, die Beschäftigung mit der elementaren Sache der Sehbehinderung, den Örtlichkei-
Altenbildung in sozialen Welten
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ten, die von der eigenen Lebenswelt bis hin zu geschlossenen Kursräumen reichen, die Technologie der Kompetenz- und Defizitzuschreibung sowie deren Ausbalancierung sowie die Gründung und Unterhaltung von Organisationen. Diese internen Prozesse der sozialen Welt greifen dabei über die spezifische soziale Welt der Sehbehinderung hinaus. Sie nehmen Einfluss auf andere soziale Welten, wie die Familie, das Alter(n) im Allgemeinen oder die Professionalisierung der Experten. Der Umgang mit einer altersbedingten eingeschränkten Handlungsfähigkeit ist somit nicht alleinig aus der individuellen Perspektive heraus zu erklären und zu bearbeiten, wie es bisherige Konzeptionen von Altenbildung nahelegen. Dieser Umgang ist vielmehr eingelagert in und erzeugt spezifische Kontexte, in der Studie beschrieben als Netzwerk der sozialen Welt der Sehbehinderung, die gleichwohl im engen Verhältnis zur Biographie stehen. Mit dem Netzwerk der sozialen Welt konnten also empirisch sowohl die individuelle und institutionelle Seite des Umgangs mit Altern wie auch dessen soziale Seite offengelegt werden. Das theoretische Konzept der sozialen Welt bot einen tragfähigen Rahmen zur umfassenden Beschreibung von Bildungsprozessen einerseits und deren sozialinstitutioneller Einbettung andererseits. Erziehungswissenschaftlich anschlussfähig wird das Konzept der sozialen Welt vor dem Hintergrund eines sozial ausgelegten Bildungsbegriffs29. In Anlehnung an Überlegungen von Alheit & Dausien (2002) zur Differenzierung des Lebenslangen Lernens nach ‚lifelong’ und ‚lifewide’ sowie an Überlegungen von Kade, Hof & Peterhoff (2008) zur Relationalität von individueller Lebensführung, Lehr-Lern-Arrangements und gesellschaftlichen Verhältnissen, lassen sich soziale Welten als ein spezifischer Kontext von Bildungsprozessen beschreiben. In dieser Arbeit wurde dies am Fall von älteren Sehbehinderten erschlossen. Die Tragfähigkeit dieses Konzepts reicht aber über das Feld eingeschränkter Handlungsfähigkeit hinaus, sie lässt sich im Anschluß an die eingangs erwähnten Besonderheiten der Alternsphase generell auf den Umgang mit Altern übertragen. In dem Fokus Bildung in sozialen Welten ist rekonstruierbar, wie Aneignungs- und Vermittlungsverhalten von älteren Erwachsenen sozial eingebettet ist. In Fallporträts von Betroffenen wurde dies etwa an einer Beratungsgruppe, mithin einem Teil der sozialen Welt der Sehbehinderung, analysiert. Dabei war das Ziel und das Ergebnis einerseits die Integration der Klientel in diese Sehbehindertenwelt (Geselligkeit, Informationen, Aneignung von Bildung und Kultur) sowie andererseits die Desintegration im Sinne der Nutzung allein zur Informationsbeschaffung zum Zwecke der Heilung. Bildung richtete sich hier auf die 29 Zur doppelten Strukturiertheit als Modus des Verwobenseins von Struktur und Handlung ohne Überordnung vgl. Giddens, 1988. Die Struktur ist damit „chronisch in das Handeln selbst eingebettet“ (Kießling, 1988, S. 290).
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Aneignung von ‚Welt’ explizit außerhalb der sozialen Welt der Sehbehinderung. Bildungsprozesse im Alter lassen sich also nicht über einen Kamm scheren. Sie organisieren sich um lebensweltliche Kerne, die individuell jeweils mit unterschiedlichen Kontexten der eigenen Lebensführung verwoben sind. Bildungsprozesse sind in unterschiedliche soziale Welten eingebettet. Darüber hinaus verwies dieser Fall darauf, dass trotz, aber auch parallel zur Einschränkung andere Kontexte der Lebensführung, wie beispielsweise Geselligkeit zur Vermeidung von Einsamkeit, für Bildungsprozesse relevant werden. Bildungsprozesse sind indes nicht nur in soziale Welten eingebettet, sozusagen ihre Voraussetzung, Bildung erzeugt gleichermaßen soziale Welten. Dementsprechend ist von einer Konstitution sozialer Welten durch Bildung zu sprechen. In dieser Figur findet eine Ablösung von der Person, des sich Bildenden statt. Die Vielfalt individueller Bildungsprozesse trägt dazu bei soziale Welten (erst) zu konstruieren und zu konturieren. In dieser Arbeit zeigte sich dies darin, dass einerseits die spezifische soziale Welt der Sehbehinderung noch in Entwicklung befindlich ist. Beispielsweise trugen die unterschiedlichen Vernetzungsleistungen und der Ausbau von Versorgungsstrukturen von Experten zum weiteren Aufbau der sozialen Welt der Sehbehinderten mit bei. Der Aufbau geschieht so etwa nicht unabhängig von älteren Sehbehinderten, da gerade sie beispielsweise Angebote einfordern oder aber die soziale Welt der Sehbehinderung an andere soziale Welten anschließen als die, die von den Lehr-Lern-Situationen jeweils vorgegeben werden. Auch positionieren sich ältere sehbehinderte Personen durch ihre Wege in und aus ihrer Sehbehindertenwelt und sie formen zugleich andere soziale Welten – wie die der Familie oder des Alterns generell – durch Bildungsprozesse um. Über diese doppelte Strukturierung von Bildung wird aus der Empirie rekonstruierbar und theoretisch differenzierbar in welcher Vielschichtigkeit Lernen im Alter stattfindet. Es ist als ein verzweigtes Geflecht zwischen Grenzen (aufgrund zunehmender Beeinträchtigung) und Entwicklungsoffenheit der Biographie zu kennzeichnen. Dabei handelt es sich um (changierende) Übergänge, die durch Bildung sowohl eher in Richtung Fortschritt und Fortsetzung (vgl. S. Kade 2007) wie auch eher in Richtung (endgültiger) Abbau (vgl. Bubolz-Lutz, 2000) aufgelöst werden können. Die gleichzeitige Einbettung in und Erzeugung von unterschiedlichen sozialen Welten verdeutlicht dabei, dass diese Bildungsprozesse auch individuell nicht linear verlaufen (müssen). Sie sind vielmehr stetem Wandel (durch unterschiedliche Kontexte und Sinnwelten) unterworfen. Dieser Wandel begleitet nicht nur den Übergang in das Leben im Ruhestand, er bleibt omnipräsent, und zwar bis an das Lebensende. Das in dieser Studie aus der Empirie entwickelte Konzept Bildungsprozesse Älterer in sozialen Welten ist anschlußfähig an ein Konzept Lebenslangen Ler-
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nens, welches vermeidet, Bildung durch ein Konzept des Lernens zu ersetzen und damit die individuellen Erlebens- und Handlungszusammenhänge auszublenden. „Unter den Bedingungen des lebenslangen Lernens als einer unhintergehbaren Realität moderner Gesellschaften […] lässt sich Bildung weder als bloß individuelles Ereignis noch als bloß institutionelles Geschehen angemessen beschreiben. Die Bildung des individuellen Subjekts in Form der Aneignung von Welt verläuft vielmehr immer in der Verschränkung von individueller Lebensführung, Lehr-Lern-Arrangements, und (historisch spezifischen) gesellschaftlichen Verhältnissen.“ (Kade, Hof & Peterhoff, 2008, S. 11) Insofern greift das Konzept von Altenbildung in sozialen Welten klassische – im Humboldtschen Sinne zu verstehende – Konzepte von Bildung auf, die eine „weitest mögliche ‚Aneignung’ von Welt durch das Subjekt“ (Humboldt, 1969) zum Ziel hat. Und zwar dies unter der Berücksichtigung (der Herstellung) von Kontinuität. Nicht einzig mit Blick auf Zukunft und der Entstehung von neuem, sondern in ihrer engen Verwobenheit mit der individuellen Biographie. Dieses Konzept von Bildungsprozessen älterer Menschen in sozialen Welten nimmt ein wesentliches Motiv aus dem Spätwerk von Paul Baltes auf; nämlich den „Balanceakt“ des Alterns zwischen Fortschritt und Würde im Blick auf das gesamte Spektrum von Bildungs-, Erlebens- und Handlungspraktiken abzubilden, über die ältere Menschen (noch) verfügen. Und dies jenseits von zu stark vereinfachenden Dichotomisierungen wie der zwischen drittem und viertem Lebensalter oder zwischen Defizit und Kompetenz. Damit ist der Rahmen einer sozialwissenschaftlich aufgeklärten und gerontologisch informierten Altenbildung umrissen. In dieser Perspektive bleibt der Blick offen für die vielfältigen gerontologischen Bezüge, in denen Bildungsprozesse älterer Menschen stehen. Zu komplex sind die sozialen Welten älterer Menschen, als dass Bildungsprozesse im Rahmen allein einer wissenschaftlichen Disziplin, der Gerontologie, der Geriatrie und Gerontopsychiatrie oder aber auch der allgemeinen Erziehungswissenschaft und der praktischen Altenbildung, ausreichend komplex beschrieben werden könnten. Eine empirisch gehaltvolle, praktisch relevante Theorie über Bildungsprozesse im Alter ist daher auf interdisziplinäre Kooperation angewiesen: Zu lange liefen die Diskurse der Gerontologie, der allgemeinen Erziehungswissenschaft und die praktische Altenbildung (vgl. Teil I) nebenher, waren polemisch gegeneinander aufgeladen oder haben sich schlicht und ergreifend ignoriert. Es muss darum gehen, den Blick für das „Dazwischen“, die Übergänge und Verbindungen von Defizit- und Kompetenzerfahrungen theoretisch und empirisch offen zu halten.
Literatur
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