ZU DEN STERNEN Die offizielle Autobiographie von
GEORGE TAKEI Star Trek’s Mr. Sulu
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ZU DEN STERNEN Die offizielle Autobiographie von
GEORGE TAKEI Star Trek’s Mr. Sulu
HEEL
HEEL Verlag GmbH Wintermühlenhof 53639 Königswinter Tel.:(02223)9230-0 Fax:(02223)923026
©1997 HEEL AG Rämpferstr. 2 CH-8834 Schindellegi Amerikanische Originalausgabe © 1994 by Pocket Books 1230 Avenue of the Americas New York, NY 10020 USA Englischer Originaltitel: To the Stars – The Autobiography of George Takei Star Trek’s Mr. Sulu © 1994 by George Takei © 1994 by Paramount Pictures Übersetzung: Yvonne Angkawidjaja, Königstein Ralph Sander, Köln Druck: Ebner Ulm – Alle Rechte vorbehalten – ISBN 3-89365-581-6
George Takei ist den Zuschauern bestens als Mr. Sulu, Steuermann der Enterprise und Captain der Excelsior, bekannt. Als Teil der Besatzung der Enterprise erforschte er Fremde Welten und neue Zivilisationen und entführte Woche für Woche Millionen von Zuschauern in die Welt von Star Trek. Star Trek entstand in den wechselhaften sechziger Jahren und starb nur drei Jahre später. Es Folgte eine Wiedergeburt, die Star Trek aus den Herzen und Gedanken der Fans bis auf die große Leinwand brachte. Acht Filme und drei Serien weiter steht Star Trek immer noch als einzigartiges Phänomen da und als nicht wegzudenkender Teil der Kulturgeschichte unseres Jahrhunderts. Die Geschichte von Star Trek besteht aus unendlicher Hoffnung und erschütternden Enttäuschungen, harten Machtkämpfen und unglaublichen Leistungen. Diese Geschichte ist aber auch Teil des Lebens der Schauspieler, die ursprünglich in einer einzigartigen, aber schlecht laufenden Fernsehserie mitspielten und heute, dreißig Jahre später, für uns alle zur Familie gehören. Für George Takei ist das Abenteuer Star Trek mit einer persönlichen Odyssee verbunden, die während des zweiten Weltkriegs begann. Damals war George vier Jahre alt und wurde zusammen mit seinen Eltern von der US-Regierung gezwungen, in ein Internierungslager zu gehen. Star Trek bedeutet George Takei wesentlich mehr als eine außergewöhnliche Karriere, die mittlerweile dreißig Jahre umspannt. Für einen Amerikaner, dessen Ideale einem so schweren Test unterzogen wurden, steht Star Trek auch für den Traum von Freiheit und Gleichheit in einer gerechten Welt.
Für meinen Vater
Danke! Die Idee für dieses Buch entstand bei einem gemeinsamen Essen mit Tom Kagy, dem Herausgeber des „Transpacific Magazine“. Wir saßen auf der Terrasse eines Restaurants in Santa Monica und blickten aufs Meer, als er mir vorschlug, meine Geschichte als asiatisch-amerikanischer Schauspieler und Aktivist in einer Chronik zu veröffentlichen. Nur eine Woche später hatte mein Agent Steve Stevens den Einfall, meine 30 Jahre mit dem „Star Trek“-Phänomen in einer Autobiographie zusammenzutragen. Ich hatte diese Vorschläge bis dahin immer abgelehnt, weil ich mich viel zu jung fühlte, um über mein Leben zu schreiben. Doch da zwei Menschen, deren Meinung ich sehr schätze, mit nur einer Woche Verzögerung die gleiche Idee hatten, konnte ich mich nicht länger auf meine „Jugend“ berufen – meine Zeit schien gekommen zu sein. Doch als ich mich mit der Vorstellung anfreundete, mein Leben zu Papier zu bringen, wurde mir die Komplexität meiner Erlebnisse erschreckend bewußt. Meine Erinnerungen an meine Zeit in amerikanischen Internierungslagern waren nah und lebendig, aber ich fühlte die Notwendigkeit, meine Kindheitserfahrungen in einen größeren historischen Kontext einzufügen. Für die Hilfe, diese Jahre hinter Stacheldraht wieder zum Leben zu erwecken, bin ich vielen Menschen von Herzen dankbar: Vom „Japanese American National Museum“ – Kurator Dr. Kaoru Oguri, Clement Hanami, der die Mikrofilme verwaltet, und Che-ster Hashizume von der Rechtsabteilung; Carol Saito von der „Japanese American Citizens League“ und Kango und Katsumi Kunitsugu vom „Japanese American Cultural Community Center“. Ich möchte außerdem Dr. John Kashiwabara und Ken Wakabayashi dafür
danken, daß sie mir dabei geholfen haben, meine persönlichen Familienerlebnisse aufzuzeichnen. Ich schulde den „Star Trek“-Experten Richard Arnold und Phil Burril großen Dank, die mir dabei geholfen haben, meine Erinnerungen aus 30 Jahren „Star Trek“ zusammenzutragen. Vielen Dank auch an Ana Martinez-Holler, Leiterin der Presseabteilung der „Hollywood Chamber of Commerce“, die mich bei meinen Recherchen über die Geschichte der Traumfabrik unterstützte. Meinen ganz besonderen Dank an den Journalisten Brad Altman, der mir unermüdlich mit Rat zur Seite stand. Ohne seine Unterstützung wäre die Arbeit an diesem Buch nicht so erfüllend gewesen.
Prolog Das 25jährige Jubiläum Ein Vierteljahrhundert – zweieinhalb Jahrzehnte. Wer hätte das jemals zu wünschen gewagt? „Star Trek“ wurde 25 Jahre alt. Im September 1966 ging die Serie zum ersten Mal auf Sendung, und nun war es 1991, die Zeit schien mir wie im Fluge vergangen zu sein. Seit 25 Jahren hatten wir alle Höhen und Tiefen erlebt – von der Absetzung zum Neubeginn, vom Kinohit zum Flop, von erfundenen Weltraumschlachten zu Trek-Kriegen im wirklichen Leben. Wir hatten eine Zeit erlebt, die niemand von uns erhofft hatte. Nicht einmal in unseren kühnsten Träumen hätten wir uns ausmalen können, was zur Realität wurde – und nun hatten wir einen seltenen Meilenstein erreicht: 1991 feierte „Star Trek“ sein glanzvolles Silbernes Jubiläum. Im Mittelpunkt stand die Kinopremiere von „Star Trek VI: Das unentdeckte Land“. Doch einen Tag vor dem Start, am 5. Dezember 1991, sollten wir sieben – Bill Shatner, Leonard Nimoy, DeForest Kelley, Nichelle Nichols, Jimmy Doohan, Walter Koenig und ich – uns für eine wunderbare Ehrung im berühmten „Chinese Theater“ auf dem Hollywood Boulevard zusammenfinden. Das „Chinese Theater“ war das prunkvollste Kino der Stadt. 1927 wurde es in einem „chinesischen“ Stil erbaut, der nicht in der eigentlichen chinesischen Architektur verwurzelt ist. Es handelt sich um den einmaligen orientalischen Stil, den Hollywood geschaffen hat. Im Vorhof des Kinos sind die
Autogramme und Handabdrücke von den ganz Großen der Filmgeschichte in Zement verewigt. Es ist das Kino, in das mich meine Eltern als Kind zu besonderen Anlässen mitnahmen. Ich erinnere mich daran, wie ich meine Hand in die riesigen Abdrücke von Gary Cooper, Gene Kelly und Clark Gable gelegt hatte und Gänsehaut bei dem Gedanken bekam, daß ich nun die gleiche Stelle berührte wie die magischen Leinwandhelden es zuvor getan hatten. Nun sollten wir, die „Star Trek“-Crew, uns in dem selben Vorhof versammeln, um uns in diese außergewöhnliche Ahnentafel einzureihen. Wir gehörten zu den Legenden der Filmgeschichte! Vor der eigentlichen Zeremonie wurden wir im Kino in einer inoffiziellen Besprechung gebeten, nur unsere Autogramme in den feuchten Zement zu schreiben – und nicht mehr. Der Platz für sieben Unterschriften war begrenzt. Mehrmals wurden wir darauf hingewiesen, nur unsere Namen zu schreiben. Dann verließen wir das Gebäude durch einen Hinterausgang, um in Cabriolets vorzufahren. Der große Moment war gekommen: Die Menge jubelte, die Musikgruppen spielten, die offiziellen Reden wurden gehalten – es war eine Feier, wie sie nur Hollywood auf die Beine stellen konnte. Bill war der erste, der den roten Teppich hinunterschritt und sich hinkniete. Er griff nach dem Stift und schrieb mit gesenktem Kopf sorgfältig seinen Namen in den Zement – so, wie abgesprochen. Danach folgte Leonard. De war der nächste. Er schien ein bißchen nervös zu sein. Ich machte ihm keinen Vorwurf, dieser Moment war ehrfurchtgebietend. Er ging auf die Knie, schrieb seinen Namen und erhob sich. Irgend jemand flüsterte: „Er hat seinen Namen falsch geschrieben.“ Bill hörte die Bemerkung und schrie: „De! Du hast dich verschrieben!“ Wir schauten auf seine Unterschrift. Dort stand es verewigt im Zement: D-e-F-o-
r-e-t Kelly. De hatte das s in seinem Namen vergessen. Das Blitzlichtgewitter begann. Des öffentlicher Auftritt machte den Rest von uns sehr vorsichtig. Als ich an der Reihe war, schrieb ich meinen Namen vorsichtig auf die zähflüssige Oberfläche, machte den Strich vom T und bereitete mich auf das letzte i vor. Doch plötzlich überkam mich ein schrecklicher Anflug von Verantwortungsbewußtsein. Mir wurde klar, daß ich der einzige aus unserer Gruppe war, der in Los Angeles geboren wurde. Leonard kam aus Boston, De aus Georgia, Nichelle aus Chicago und Walter aus New York. Bill und Jimmy waren noch nicht einmal Amerikaner – sie stammten aus Kanada. Von keinem konnte man erwarten, daß sie die Geschichte und die Tradition des „Chinese Theater“ kannten. Aber ich bin damit aufgewachsen. Als einzig echter Angeleno trug ich eine Verantwortung. Doch dann erinnerte ich mich daran, daß wir deutlich darauf hingewiesen wurden, nur unsere Namen zu schreiben. Aber, so dachte ich bei mir, was könnten sie tun? Sie würden es nicht wagen, den Abdruck zu entfernen! Ich machte den Punkt über das i, legte den Stift beiseite, und mit dem Gedanken an die Tradition, die ich in mir trug, öffnete ich meine Hand und grub sie fest in den Zement. Um mich herum herrschte entsetzte Stille. Sie wurde von Bills gehauchten Worten: „George hat seine Hand hineingelegt“ unterbrochen. Mir war die anklagende Stille bewußt, aber ich drückte weiter meine Hand in den Zement. Dann schrie Bill erneut: „Ich will auch einen Abdruck machen!“ Er rannte den roten Teppich herunter, und mit einem lauten Klatsch landete seine Hand direkt unter seinem Namen. Der Bann war gebrochen. Alle anderen rannten zu ihren Namen und drückten ihre Hände in den fast schon trockenen Zement. Doch Leonard, der immer
ganz bewußt in seiner Rolle lebte, legte seine Hand vorsichtig in den Zement und formte den Vulkaniergruß. „Star Trek VI: Das unentdeckte Land“ wurde zu einem Triumph. Die Kritiker schwärmten, die Kinokassen klingelten, und unser Vorzeigestück zum Silbernen Jubiläum war ein weiterer Meilenstein in der 25jährigen Trekgeschichte. Zwei Monate nach dem Kinostart kamen Majel Barrett und der Rest der Besetzung an der entgegengesetzten Küste wieder an einem berühmten Ort zusammen, dem „National Air and Space Museum“ in Washington D.C. Es war eine weitere Premiere, aber diesmal von einer ganz anderen Art. Es war die Eröffnungsveranstaltung der „Star Trek-Ausstellung zum 25jährigen Jubiläum“. Es war eine weitere unerwartete Auszeichnung. Wir fanden uns zur Pressekonferenz auf der Bühne vor den eigentlichen Eröffnungsfeierlichkeiten ein. Es war ein großer Saal, der an eine Flugzeughalle erinnerte, und in ihm saßen Vertreter der Medien. Ein Reporter stand auf und stellte der Kuratorin des Museums, Mary Henderson, folgende Frage: „Dieses Museum zeigt eindrucksvoll, was unserer Zivilisation in der Flugzeug- und Weltraumtechnik bereits erreicht hat. Wir haben die echte ‘Spirit of St. Luis’, mit der Charles Lindbergh zum ersten Mal allein den Atlantik überquerte. Wir besitzen den Raumanzug von Neil Armstrong, den er auf dem Mond getragen hat. Ein anderes Ausstellungsstück hier im Smithsonian ist ein großer Gesteinsbrocken vom Mond. Warum muß eine Fernseh- bzw. Kinoserie neben diesen echten Meilensteinen unserer Weltraumgeschichte hier in diesem Museum geehrt werden?“ „Ja“, antwortete Mary Henderson. „Wir besitzen die Ausstellungsstücke, die sie aufgezählt haben. Aber in diesem Museum sollten nicht nur Artefakte aus unserer Geschichte zu
sehen sein. Unsere Sammlung hat das Ziel, junge Leute über unsere Entwicklung aufzuklären. Sie soll den Geist anregen, ihre Neugierde für das Universum wecken. ‘Star Trek’ ist sehr wichtig für dieses Museum, weil die Serie in den letzten 25 Jahren die Vorstellungskraft, nicht nur von Jugendlichen, sondern von vielen Menschen angeregt hat. ‘Star Trek’ hat viele dazu bewogen, in ihrem Leben zu forschen und nachzufragen. Lehrer, Ingenieure – sogar Astronauten – wurden von den Idealen der Serie berührt. ‘Star Trek’ hat in seiner 25jährigen Geschichte ein lebendiges Interesse an der Weltraumforschung geschaffen. Die ‘Star Trek’-Ausstellung gehört hierher, genau in die Hauptstadt unseres Landes, eben weil ‘Star Trek’ mit seinen Ideen eine große Anziehungskraft für das Abenteuer Universum geschaffen hat.“ Mary Henderson konnte überzeugen. Ihre Worte erfüllten mich mit Stolz. Die Ausstellung sollte drei Monate lang zu sehen sein. Doch die Verantwortlichen des Museums hatten keine Vorstellung von der Zahl unserer Fans. Vom ersten Tag an bildete sich eine endlose Menschenschlange rund um das Gebäude, die geduldig auf den Einlaß warteten. Die Ausstellung wurde mehrmals verlängert. Die Menschen kamen aus allen Teilen der Welt. Die „Star Trek“-Ausstellung lief rekordverdächtige elf Monate lang und mußte schließlich beendet werden, weil eine andere Ausstellung nicht länger zurückgehalten werden konnte. Das Smithsonian-Museum hatte niemals zuvor einen solchen Zuschaueransturm erlebt. Für „Star Trek“ war es eine weitere Auszeichnung. Die Jubiläumsconvention in Los Angeles war die größte, die jemals organisiert wurde. Das riesige Shrine-Auditorium war bis auf den letzten Platz gefüllt. „Star Trek“ war zu einem weltweiten Phänomen geworden, und die Fans flogen aus allen
Teilen der Welt nach Los Angeles – Europa, Amerika, Asien und Australien. Die Metapher des Raumschiffs Erde war Wirklichkeit geworden, und der Raum war gefüllt von einem Murmeln aus unterschiedlichen Akzenten und Sprachen. Die Convention war ein Tribut an Gene Roddenberry, den Schöpfer von „Star Trek“. Das gesamte Programm war Gene gewidmet, als Ausdruck der Dankbarkeit für einen Künstler und Visionär, der so viele Menschen auf unterschiedlichen Wegen berührt hatte. Alle Schauspieler waren wieder zusammengekommen, um den Mann zu ehren, der es geschafft hatte, so viele Menschen unterschiedlicher Nationen zusammenzubringen. Wir, die das Glück hatten, Gene als Freund zu kennen, sprachen von der großen Bühne zu den Zuschauern. Schöne Erinnerungen wurden geteilt, amüsante Anekdoten erzählt. Unsere Beziehung zu Gene war erfüllt von Zuneigung und Liebe. Doch in unseren Reden ließ sich die Melancholie nicht verbergen. Gene war schon seit langer Zeit erkrankt. Während des vergangenen Jahres mußten wir erleben, wie er von mehren Schlaganfällen geschwächt wurde. Seine Aussprache war undeutlich geworden. Dann erlitt der Riese von einem Mann, der früher als Polizist gearbeitet hatte, einen weiteren Schlaganfall, der ihn seines sicheren Schrittes beraubte. Seither ging er zitternd auf einen Stock gestützt. Zur Zeit der großen Convention saß er bereits im Rollstuhl. Doch das verschmitzte Lächeln und der Glanz in seinen Augen konnten ihm nicht geraubt werden. Gene war der Letzte, der vorgestellt wurde. Er hatte im Schatten des Bühnenvorhangs gewartet und lächelte uns, die wir im Rampenlicht saßen, bei den Auszeichnungen zu. „Sehr geehrte Damen und Herren! Der Mann der Stunde, der Mann für alle Zeiten – Gene Roddenberry.“ Die Stimme des Ansagers hallte durch das gesamte Auditorium. Genes
Rollstuhl, geschoben von seinem Sohn Rod, rollte über die Bühne. Die Lichter im ganzen Saal gingen an. Wir standen in einer Reihe vor dem dunklen Vorhang. Wie eine Einheit war das ganze Auditorium von tosendem Applaus erfüllt. Die Lautstärke nahm immer weiter zu, als Rod seinen Vater zur Mitte der Bühne schob. Die Begeisterung wollte nicht enden. Ich betrachtete Genes gekrümmte Haltung in dem Rollstuhl. Und plötzlich durchfuhr mich blitzartig ein großer Schrecken! Genes Arme, die auf den Lehnen des Rollstuhls ruhten, begannen schrecklich zu zittern. Ich schaute Rod fragend an. Warum tat er nichts? Dann bemerkte ich, daß Gene Rods Sorge durch ein Kopfnicken zerstreuen wollte. Gene wollte keine Hilfe. Er richtete sich mit der Kraft seiner Armmuskeln auf. Seine Beine schienen ihn nicht länger tragen zu können, aber er war fest entschlossen, sich aus eigener Kraft zu erheben. Der Anblick ließ mein Herz fast aufhören zu schlagen. Genes Arme zitterten gefährlich. Doch aus reiner Willenskraft schaffte er es, sich der nie aufhörenden Dankbarkeit und Liebe, die ihm entgegenströmte, stehend entgegenzustellen. Mit der Willenskraft, die sein Leben auszeichnete, forderte er von sich auch die letzten Quellen seiner Kraft heraus. Ganz langsam, mit großen Schmerzen, erhob er sich – und lächelte. Als er voller Stolz stand, flüsterte er die Worte: „Herzlichen Dank“. Diese Jubiläumsconvention im Shrine-Auditorium wird mir als eines der glänzenden Höhepunkte eines außergewöhnlichen Jahres mit Lobeshymnen, Auszeichnungen und Erinnerungen an nie erwartete 25 Jahre in Erinnerung bleiben. Daß dieses Vierteljahrhundert „Star Trek“ zu einem Teil meines Lebens geworden ist, ist ein unglaubliches Wunder. Ich, der ich nun mit Reisen in den Weltraum in Verbindung gebracht werde, hätte das vor mehr als 50 Jahren als kleiner Junge aus Los Angeles, der mit großen Augen die Sterne
betrachtete, nicht im Traum geglaubt. Damals waren dieser japanisch-amerikanische Junge und seine Familie auf einer ganz anderen Reise. Ihre Welt, die sie sich aufgebaut hatten, drohte in einem völligen Chaos zu versinken. Ich war ein kleiner Junge. Und meine persönliche Reise begann in den Wirren des Zweiten Weltkrieges.
EIN AMERIKANISCHER ANFANG
1 Die Reise nach Arkansas Ein Windstoß fegte heißen Staub gegen das Fenster und ebenso schnell wieder hinweg. Der Zug fuhr mit Höchstgeschwindigkeit, aber in der leeren Weite der Wüstenlandschaft vermittelten nur hin und wieder ein paar Staubwogen und einsame Saguaro-Kakteen, die vorüberflogen, einen Eindruck von Bewegung. Dazu kam das stetige, eintönige Rütteln des Zuges. Doch die Szene draußen blieb die gleiche. Stunde um Stunde, Tag um Tag. Ich war vier Jahre alt und sensibel genug, um die Spannung zu fühlen. Ein seltsamer Ernst lag auf den ledernen Gesichtern der alten Leute, die sich im Takt hin- und herwiegten. Einige der Frauen hatten geweint, als wir Los Angeles verließen, doch jetzt starrten sie nur noch hinaus in die schweigende Leere, schaukelten leidenschaftslos hin und her, und ihre angetrockneten Tränen hinterließen filigrane Muster auf ihren Wangen. Wir alle trugen numerierte Identifikationsschilder, die mit biegsamem Draht fest an unserer Kleidung angeheftet worden waren. Ich war Nr. 12832-C. Von Zeit zu Zeit stampften die Militärpolizisten, die sonst wie Statuen an beiden Enden des Waggons standen, mit ihren Gewehren auf den Boden, um sich ihre Langeweile zu vertreiben. Unser Vater hatte uns – meinem jüngeren Bruder Henry, meiner Schwester Nancy Reiko, die damals noch ein Baby war, und mir – erzählt, daß wir „für einen sehr langen Urlaub aufs Land fahren würden.“ Ich glaubte ihm. Ich dachte, daß es ein wunderbares Abenteuer werden würde. Ich nahm an, daß
dieses genau die Art war, wie Leute für längere Zeit aufs Land fuhren. Ich fragte mich nur, warum die kranke Dame am anderen Ende unseres Wagens, die unter einem schlimmen Reizhusten litt, mit uns in diese Ferien kommen mußte. Unser Vater erzählte uns, daß wir in ein Lager namens Rohwer gehen würden, an einem fernen Ort, genannt Arkansas. Als ich ihn fragte, wie es da wohl sein würde, meinte er nur, daß er nicht sicher sei und sagte dann nichts mehr. Die Reise schien endlos. Es war der zweite Tag, und Camp Rohwer fühlte sich kein bißchen näher an. Das Wiegen und das Schaukeln schien endlos, die harten, aufrechten hölzernen Sitze waren eine Tortur und die brütende Hitze unerbittlich. Jedermann wurde von einer dumpfen Lethargie betäubt. Doch plötzlich wurde die Langeweile unterbrochen. Ohne erkennbaren Grund hielt der Zug mit einem ohrenbetäubenden Rumpeln, Rattern und Quietschen mitten in der Wüste an. Jeder wurde sofort aufmerksam. Was passierte nun? Meine Mutter faßte mich an der Schulter und zog mich zu sich heran, während sie meine kleine Schwester fest im Arm hielt. Sie blickte meinen Vater an, der die MPs beobachtete. In den Augen aller stand blanke Angst. „Alles in Ordnung. Alle raus zum Bewegen. Ab nach draußen. Raus.“ Beide MPs fuchtelten herum, um uns zum Verlassen des Waggons zu bewegen. „Nach draußen?“ „Hier?“ Es gab ein heilloses Durcheinander. „Warum halten wir mitten im Nirgendwo?“ „Raus. Raus zum Bewegen“, schrie der MP. Die jüngeren Leute begannen, den verwirrten älteren die Situation auf Japanisch zu erklären. Einige junge Männer kamen schwankend von ihren Sitzen hoch, und zunächst noch träge begann dann der Trubel beim Verlassen des Zuges. Müde, zerknitterte Leute, die zwei Tage und eine Nacht auf
einem Platz gesessen hatten, fingen an, sich wieder zurechtzumachen. Meine Mutter setzte sich eilig ihren neuen Strohhut von Sears Roebuck auf und reichte meinem Vater seinen Panamahut. Wir drei Kinder bekamen weiße Baumwollmützen auf unsere Köpfe. Die hohen Trittbretter der Waggons erschienen mir wie kleine Klippen. Mein Vater hielt meine Hand, und ich wurde hinuntergereicht. Henry hing an der anderen Hand meines Vaters. Es war ein großartiges Gefühl, da draußen zu sein. Sobald ich festen Boden unter den Füßen hatte, schnappte ich eine Handvoll warmen Sand und bewarf damit meinen Bruder. Er jaulte auf und rannte auf mich zu. Ich schnappte eine andere Handvoll und lief davon. In dem Moment spürte ich, wie eine feste Hand nach meinem Arm griff. Es war der ruhige Mann, der uns gegenüber auf der anderen Seite des Ganges gesessen hatte. Er stoppte Henry mit einem sanften Druck seines Zeigefingers. „Sie haben lebhafte Jungen, Takei-san“, sagte er lächelnd, als er mich zu meinem Vater hinüberreichte. „Danke.“ Mein Vater wirkte seltsam bedrückt, als er unsere Hände nahm. Er blickte auf uns herab, und einen Augenblick lang erwartete ich ein mißbilligendes Stirnrunzeln. Aber statt dessen sah ich Traurigkeit in seinen Augen. Sein Blick schien sich an uns festzuheften. Er wiederholte sanft: „Lebhafte Jungen.“ Dann starrte er hinaus in die Einöde der Wüste. Als wollte er den leeren Horizont fragen, murmelte er: „Und wo bringe ich sie hin?“ Nachdem alle, die ihre Beine strecken wollten, aus dem Waggon heraus waren, pflanzten sich die MPs demonstrativ auf das unterste der Trittbretter. Derjenige, der mir am nächst saß, sang die Melodie: „Shoo fly, don’t bother me. Shoo fly, don’t bother me.“ Die meisten von uns, die ausgestiegen waren, blieben dicht bei den Waggongs, aber es gab auch ein paar junge Männer, die weiter in den heißen Sand hinaus
wanderten. Andere beugten sich hinab, um die Unterseite des Zuges zu inspizieren. Ein junger Mann duckte sich zwischen den Waggons und urinierte auf die Räder des Zuges. Es dampfte und brutzelte, als die Flüssigkeit auf den heißen Stahl spritzte. Ich dachte, daß mein Vater ihn auch sah, doch er gab vor, ihn nicht zu bemerken. Henry und ich blickten einander an und kicherten. „Alles in Ordnung, alle zurück in den Zug. Alles zurück!“ Die MPs gingen herum und riefen: „Die Pause ist vorbei! Zurück in den Zug!“ Der Tumult und das Chaos beim Einsteigen waren schlimmer als beim Aussteigen. Einige alte Leute mußten die steilen Trittbretter hinaufgetragen werden. Unser „Shoo fly“-MP stellte sich neben die Treppe und reichte jedem die Hand, der sie brauchte. Wir standen neben ihm und warteten, bis wir an der Reihe waren. Sein Gewehr hatte er locker über die Schulter geschwungen. Ich streckte die Hand aus und berührt es. Das Geschützmetall war heiß von der Hitze der Wüstensonne. Ich heulte auf, mehr vor Überraschung als vor Schmerz. Der MP lächelte zu mir hinunter. „Das machste aber nich nochmal, ja?“ Er bückte sich zu mir hinunter, nahm mich hoch und setzte mich auf der obersten Stufe ab. „Ab mit dir, Kleiner.“ Mein Vater kämpfte sich hinauf, mit Henry an der Hand. Meine Mutter war mit Nancy Reiko im Arm schon oben im Wagen. Unsere kurze Fahrtunterbrechung mitten in der Wüste war vorüber. Die lange Reise unserer Familie, die uns zusammen mit Hunderten anderer japanischer Amerikaner quer durch das Land zu einem stachel-drahtumzäunten Lager in Arkansas führte, sollte noch eine Nacht und einen weiteren Tag dauern. Und für einen wißbegierigen und energischen vierjährigen Jungen war dies der Anfang eines großen Abenteuers. Das Gedächtnis ist ein listiger Bewahrer der Vergangenheit, für gewöhnlich treu und wahr, manchmal schwer zu fassen,
und gelegentlich täuscht es uns auch. Kindheitserinnerungen sind besonders unzuverlässig. Wunderschön, und so voller Freude, können sie doch ein völlig verdrehtes Bild der Wahrheit liefern ebenso wie die angenehme Erinnerung an den Geschmack eines Bonbons auf einer Beerdigung. Ganz aus dem Zusammenhang gerissen, und vollkommen subjektiv, wird die Süße für ein Kind ewig wirklich bleiben. Ich weiß, daß mich die äußeren Umstände meiner Kindheit, eine Realität, an die ich mich vage erinnern kann, lebenslänglich verfolgen werden. Ich erinnere mich an die Melancholie meines Vaters und die zwanghafte Sorge meiner Mutter, sich um unser tägliches Wohlergehen kümmern zu können. Aber dies sind staubige, weit entfernte Erinnerungen. Die hellen, klaren Bilder in meinem Gedächtnis sind die einer freudigen Zeit mit Spielen, Spaß und Entdeckungen. Ich erinnere mich daran, daß meine Mutter jedem von uns Kindern für die Reise eine eigene Wasserflasche bei Sears gekauft hatte. Wir fanden das großartig. In Wirklichkeit hatte sie die Flaschen gekauft, weil sie sich über die Wasserversorgung auf dieser langen Reise Sorgen machte. Gleichgültig wie groß die Besorgnis meiner Mutter war, mir ist der Spaß lebhaft in Erinnerung, den wir dabei hatten, immer wieder in kleinen Schlückchen das lauwarme Wasser aus unseren eigenen Wasserflaschen zu trinken. Für meinen Vater Takekuma Norman Takei war diese heiße Reise durch die südwestliche Wüste mehr als nur das Ende von allem, was er sich in seinem Leben aufgebaut hatte. Es war eine Reise in die völlige Ungewißheit – mit einer Frau und drei kleinen Kindern. Als die Einöde der Wüste an seinem Fenster vorüberflog, müssen ihm zahllose Gedanken durch den Kopf gegangen sein. Erinnerungen an seine Ankunft in Amerika als dreizehnjähriger japanischer Junge, zusammen mit seinem
älteren Bruder und ihrem verwitweten Vater, alle drei so voller Hoffnungen und Träume. An seine Jugend im vibrierenden Japantown, der japanischen Gemeinde von San Francisco. Als die trockene Landschaft an ihm vorüberfegte, müssen seine Gedanken zurückgewandert sein zu den Erinnerungen an die kühle Gegend der San Francisco Bay, wo er als Mitglied der Japantown Seals Baseballmannschaft viel herumgereist war. Erinnerungen über Erinnerungen. Wie schmerzlich es für ihn gewesen sein muß, an all die schwungvollen Pläne zu denken, die er für die Zukunft gemacht hatte, als er den Abschluß des Hills Business College in San Francisco in der Tasche hatte. Als er gen Süden gezogen war, um in der blühenden jungen Stadt Los Angeles sein Glück zu machen, und sich beim Wilshire Boulevard ein gutgehendes Reinigungsgeschäft aufgebaut hatte. Dort hatte er auch Fumiko Emily Nakamura aus Sacramento kennengelernt und sie 1935 im siebenundzwanzigsten Stockwerk des Rathauses von Los Angeles geheiratet. Und dann hat er sich bestimmt an den Schmerz des Verlustes ihres erstgeborenen Kindes im Alter von drei Monaten erinnert. Aber die Freude kam wieder bei der Geburt eines gesunden Jungen am 20. April 1937. Dieses Baby, so kostbar nach dem Verlust ihres Erstgeborenen, wurde zum Zentrum ihres Lebens, zum Mittelpunkt ihrer Welt. Der Junge brauchte einen passenden Namen. Für sie bedeutete dieses Baby ebensoviel wie ein Premierminister, sogar ein König. Als ein anglophiler Mensch, ein Bewunderer alles Englischen, hatte mein Vater deshalb seine Auswahl zwischen Neville und George zu treffen. Er und Fumiko Emily – die er von da ab „Mama“, und die ihn „Daddy“ genannt hat – einigten sich auf die königliche Wahl. Das Baby wurde George genannt, zu Ehren von König Georg VI. von England. Sie wählten Hosato, das heißt auf Japanisch „Dorf der reichen Ernte“, als seinen japanischen
Mittelnamen. Ein Jahr später wurde ein weiterer Junge geboren, ein gesundes, pausbäckiges Baby – und so dick wie König Henry VIII. Natürlich nannten sie ihn Henry. Zwei Jahre später kam noch ein Baby, diesmal ein Mädchen. Sie wurde Nancy genannt, nach einer bemerkenswert schönen Frau, die sie kannten, und Reiko, was auf Japanisch „gütiges Kind“ heißt. Dann brach ein fürchterlicher Krieg aus, und die ganze Welt meines Vaters wurde hinweggeweht. In Amerika wurden alle Menschen japanischer Abstammung sofort in Internierungslager gesteckt, und sie mußten alles zurücklassen, was sie besaßen. So vieles war für immer verloren. Das Geschäft – aufgegeben. Das gemietete Haus in der Garnet Street – eilig geräumt. Der Wagen – für das beste Angebot verkauft: fünf Dollar – immer noch besser, als ihn zurückzulassen. Aber für den neuen Kühlschrank gab es kein Angebot. Es brachte Mama fast um, ihn den Geiern überlassen zu müssen. Alles, außer den paar Habseligkeiten, die man uns mitzunehmen erlaubt hatte, war verloren. Nur noch Erinnerung. Alles so flüchtig wie der Sand, der am Fenster vorbeigeweht wurde. Alles weg. Die Erinnerungen meines Vaters an diese Bahnfahrt sind so anders als meine. Wie sehr wünschte ich, daß ich seine Qualen hätte teilen können. Wie sehr grämt es mich jetzt im nachhinein, daß ich nichts habe tun können, um seinen Schmerz irgendwie zu mindern. Aber die Zeit und eine Generation trennten uns auf dieser Wüstenreise – unserer gemeinsamen und doch so unterschiedlichen Fahrt in ein Lager namens Rohwer. Die Herkunft meiner Mutter ist das transpazifische Gegenstück zu der meines Vaters. Er wurde in Yamanashi, Japan, im Schatten des Fujiama geboren. Sie kam in den Vereinigten Staaten, auf dem Bauernhof meines Großvaters
Nakamura, in einer Stadt namens Florin bei Sacramento in Kalifornien zur Welt. Mein Vater kam als Teenager nach Amerika und ging hier zur Schule. Meine Mutter wurde zur Erziehung nach Japan geschickt. Sie vertauschten in ihrer Jugend die Länder und die Erfahrungen, aber das Schicksal brachte sie in der Stadt der Engel zusammen, in Los Angeles. Mein Großvater Nakamura baute erfolgreich Hopfen, Erdbeeren und Weintrauben auf einem Stück Land an, das er von einem Mann namens Cransarge gepachtet hatte. Mein Großvater war einer der ersten, die in Florin einen Ford Modell T besaßen. Als meine Mutter fünf Jahre alt war, kaufte er für sie ein großartiges Klavier, und sie begann, darauf zu üben. Er konnte es sich leisten, seine Kinder nicht der minderwertigen Ausbildung in den Landschulen des abgelegenen Sacramentodeltas der damaligen Zeit zu überlassen. Alle seine sieben Kinder wurden in Japan ausgebildet. Meine Mutter war das dritte Kind und die erste Tochter. Als sie sieben war, wurde sie nach Japan verfrachtet, um dort eine richtige japanische Dame aus ihr zu machen. So kommt es, daß meine Mutter, obwohl sie in Amerika geboren wurde, doch immer eine ganz traditionelle Japanerin war und ist. Aber sie war es vor allem immer auf ihre ganz eigene, einzigartige Weise. Als der Zug wieder weiterrumpelte, war Mama beständig beschäftigt. Das Baby mußte gefüttert werden. Henry wurde reisekrank, und sein Erbrochenes mußte beseitigt werden. George mußte zur Toilette, und man mußte sich in die immer sehr lange Warteschlange am Ende des Wagens einreihen. Wir alle standen einer unbekannten Zukunft gegenüber, aber zunächst einmal mußten wir mit den unmittelbaren Gegebenheiten um uns herum fertig werden. Mama hatte nicht vor, sich der Angst vor unseren Lebensumständen zu überlassen. Sie war entschlossen, sich in unserer kollektiven Ungewißheit ihre ganz eigene Sicherheit zu schaffen. So sicher
wie die in Seetang eingewickelten Reisbällchen, die sie in ihrem Handgepäck hatte, um die kalten Verpflegungsrationen im Zug zu ergänzen. Sie hatte nicht vor, sich mit der Eintönigkeit abzufinden, die andere als unvermeidlich hinnahmen. Sie hatte das begrenzte Volumen ihres Gepäcks mit besonderen Leckereien für uns Kinder vollgestopft; einige Lutscher, Kekse, und „Cracker Jack“-Schachteln, mit kleinen Überraschungsspielzeugen darin. Sie hatte Märchenbücher eingepackt, aus denen Daddy uns vorlesen konnte. Die Langeweile war ein Feind, und sie war entschlossen, ihn zu bekämpfen. Sie wollte es nichts und niemandem, nicht einmal der Regierung der Vereinigten Staaten erlauben, das Wohlergehen ihrer Familie zu beeinträchtigen. Sie hatte ein wirkungsvolles Arsenal in ihrem Handgepäck an Bord des Zuges geschleppt. Ich kann die Erinnerung an ihre gewaltige, unförmige und wunderbare Reisetasche mit ihr teilen. Ich habe glühende Erinnerungen an diese Tasche voller Köstlichkeiten, die diese Reise zu einer unvergeßlichen Bahnfahrt machte. Aber sogar diese gemeinsame Erinnerung ist eine Erinnerung an zwei sehr unterschiedliche Reisen – die eine ein Abenteuer der Entdeckungen, die andere ein angsterfüllter Weg ins Unbekannte. Am dritten Tag kamen wir endlich aus der Wüste heraus. Wir konnten Bäume und gelegentlich eine Reklametafel sehen. Als wir uns einer kleinen, ländlichen Stadt im Osten von Texas näherten, befahlen uns die MPs, die Rollos herabzuziehen, so wie wir das an jeder noch so kleinen und altersschwachen Station tun mußten, durch die wir hindurchgefahren waren. Die Bevölkerung sollte nicht wissen, daß japanische Amerikaner im Zug transportiert wurden. Wir rumpelten langsam hinein. Allmählich kam der Zug zischend und hustend zum Stehen. Uns wurde befohlen, ruhig zu sein und stillzusitzen in dem
trüben olivfarbenen Licht, das durch die Vorhänge schimmerte. Ich konnte die Geräusche hören, die vom Be- und Entladen irgendwelcher Sachen draußen zeugten. Ich konnte laute Rufe hören, die zwischen den Männern der Arbeitsmannschaft hin und her gingen. Ich konnte klingende, rollende und tiefe, kratzende Töne hören. Ich konnte Leute lachen hören. Es waren die Geräusche des vollen Lebens unmittelbar da draußen, jenseits dieser quälenden, dichtgezogenen Leinwandschranke. Die Versuchung war unerträglich. Ich hob den Saum des Vorhangs ein winziges bißchen und guckte hinaus. Direkt vor mir, im vollen, hellen Sonnenlicht, das mich blinzeln ließ, sah ich etwas, das ich noch nie zuvor gesehen hatte. Auf einer langen, abgesplitterten Holzbank saß eine Reihe alter, schwarzer Männer. Ich hatte schon vorher in Los Angeles schwarze Leute bemerkt, aber ich hatte noch nie Menschen mit einer so tiefen und reinen schwarzen Farbe gesehen. Diese verwitterten alten Männer, die aussahen, als ob die texanische Sonne sie verkohlt hätte, saßen da in ihren ausgebeulten, formlosen Sachen, aufgereiht, als ob sie ewig dort gewartet hätten. In ihren Augen sah ich gelangweilte, stoische Geduld. Es war faszinierend. Ich glaubte, etwas wiederzuerkennen. Da war etwas in den Augen dieser schwarzen alten Männer, dieser Menschen, die so anders aussahen als wir. Es war der gleiche leere und entrückte Blick, den ich auch in den Augen der alten Leute in unserem Zugwagen sehen konnte. Henry bemerkte durch den hellen Sonnenstrahl, daß ich hinausguckte, und er versuchte, sein Gesicht neben meines zu drängeln. Plötzlich wurde meine enge, kleine Sicht nach draußen dunkel. Mama hatte uns auch bemerkt, und zog schnell den Vorhang zu, bevor die MPs uns erwischen konnten.
Ein tiefes Grollen, der Schrei müden Stahls auf abgenutzten Schienen, ein ärgerliches, angestrengtes Stampfen der Lokomotive vorn am Zug, und wir bewegten uns wieder. Langsam und mühsam begannen wir den letzten Teil unserer Reise nach Rohwer in Arkansas.
2 Erinnerungen an Rohwer „Rohwer!“ Das Geschrei der MPs hatte unsere Energien wiederbelebt. „Alles bereit machen zum Aussteigen. Rohwer!“ Ihre durchdringenden Stimmen klangen wie „Rroarrr!“, als ob ein paar gereizte Löwen brüllten. Wir konnten sie durch alle anderen Waggons schreien hören, es war wie ein Echo, das zurückprallt, und sich dann in der Ferne verliert. „Rroarrr!“ „Rroarrr!“ Der Zug hielt direkt neben dem Stacheldrahtzaun. Das Lager war entlang der Westseite des Schienenwegs der Missouri Pacific Railroad gebaut worden. Auf der anderen, der östlichen Seite, verlief parallel zu den Gleisen eine mit Kies bedeckte, schmutzige, schmale Landstraße mit dem hochtrabenden offiziellen Namen „Arkansas State Highway No. 1“. Camp Rohwer – oder Rohwer Relocation Center (Umsiedlungszentrum), so der formelle Euphemismus – war das östlichste der zehn Internierungslager, die von der War Relocation Authority (Amerikanische Behörde für Zwangsumsiedlungsmaßnahmen im Zweiten Weltkrieg) eilig aus dem Boden gestampft worden war, um dem von Präsident Franklin D. Roosevelt erlassenen Gesetzesauftrag Nr. 9102 gerecht zu werden. Eine frühere Order des Präsidenten, Erlaß Nr. 9066, genehmigte die Internierung selbst. Milton Eisenhower, der Bruder des zukünftigen Präsidenten, war der oberste Direktor der War Relocation Authority.
Rohwer lag in der südöstlichen Ecke von Arkansas, ungefähr sieben Meilen westlich des Mississippi und ungefähr vierzig Meilen nördlich der Grenze zu Louisiana. Einer der Internierten, Eiichi Kamiya, gab später eine lebhafte Beschreibung des Lagers als „sowohl weit genug südlich, um jeden Wirbelsturm der Golfküste einzufangen, als auch weit genug nördlich für jeden Orkan aus dem Mittelwesten; nahe genug am Fluß für jede Überschwemmung des Mississippi, und mit genügend Vegetation, um ein idealer Hafen für jedes eklige Krabbeltier und verfluchte Insekt dieser Welt zu sein.“ Für mich jedoch sollte es ein großes paradiesisches Abenteuerland werden. „Rohwer!“ Die MPs brüllten weiter. Wir rollten langsam am Stacheldrahtzaun entlang – so langsam, daß es schien, als ob der Zug uns gewaltsam mit jedem Detail des Ortes beeindrucken wollte, an den er uns gebracht hatte. In der hellen Sonne konnten wir auch noch den kleinsten dieser Widerhaken glänzen und blitzen sehen, die wie scharfe, tödliche Edelsteine auf dem neuen Drahtzaun aufgereiht waren. Wir fuhren an großen Wachtürmen vorüber, von denen bewaffnete Soldaten auf uns hinunterstarrten. In einiger Entfernung jenseits des Zaunes konnten wir ein paar Internierte sehen, die früher angekommen waren und uns verloren zuwinkten. Jenseits von ihnen standen endlose Reihen von Armeekasernen, mit schwarzer Teerpappe verkleidet und mit militärischer Präzision, wie auf einem Truppenübungsplatz, ausgerichtet. Mama erkannte einen Freund unter den Leuten, die uns grüßten, und brachte ein bleiches Lächeln und ein zaghaftes Winken zustande. Daddy starrte nur aus dem Fenster und schwieg beharrlich. Mit einem letzten Ruck hielt der Zug an. Unsere zermürbenden drei Tage und zwei Nächte waren endlich vorüber.
Ich sprang von unserer harten, hölzernen Sitzbank auf. Ich konnte es nicht erwarten, aus dem Wagen zu stürmen. Aber Daddy schnappte mich, setzte mich wieder hin, und sagte, wir müßten warten, bis wir an die Reihe kämen. Mit der größtmöglichen Ruhe und Ordnung, die erschöpfte, ungewaschene, nervöse und beunruhigte Menschen aufbringen können, sammelten wir unser Gepäck aus den Ablagen über uns, kramten den Rest unter den Sitzen hervor und stiegen schweigend aus. Nur die lauten Befehle der Wachen übertönten das gewaltige Schlurfen des Massenexodus. Wir warteten eine ganze Weile neben unserem Waggon in der brennenden Sonne von Arkansas, bis wir schließlich jemanden schreien hörten: „Takei, Familie mit Fünfen.“ Eine Wache mit einem Klemmbrett rief unseren Namen auf. „Takekuma Takei und Familie.“ „Hier sind wir“, rief Daddy zurück. Die Wache schritt herüber und begann, uns allen Schilder anzuheften, auf denen 6-2-F stand. Man sagte uns, daß wir auch die anderen Identifikationsschilder weiterhin tragen müßten, die man am Anfang der Reise an unserer Kleidung angebracht hatte. Daddy erstarrte, als er etikettiert wurde. „Was ist das?“ fragte er. Es war mehr eine Forderung als eine Frage. „Das ist, wo der Fahrer Sie hinbringen wird“, antwortete der Wächter mit dem Klemmbrett 6-2-F. Es war die Adresse des einen Raumes, der unser neues Heim werden sollte. Block 6, Baracke 2, Einheit F. Alle Leute für Block 6 wurden mitsamt ihrem Gepäck auf einen offenen Lastwagen geladen, und nach einem weiteren schnellen Check durch die Wachen am Tor wurden wir durch den Lagereingang und an der Gruppe der früher Angekommenen vorbei hineingefahren. Mama winkte und nickte höflich einem Gesicht zu, das sie erkannte. „Es ist Imai-
san“, flüsterte sie. Daddy sagte nichts. „Frau Imai. Aus NordHollywood“, betonte sie. Doch Daddy blieb teilnahmslos. Das Lager hatte eine gewaltige Ausdehnung und war weitläufig angeordnet. Wir fuhren lauter gleichförmige Blocks ab, vorbei an unzähligen schwarzen Teerpappe-Kasernen, bis ganz zum südlichen Rand des Camps. Jeder Block sah genau gleich aus. Jede Baracke enthielt sechs Räume, zwölf Baracken bildeten einen Block. Ein Block hatte auf beiden Seiten sechs Baracken; das Waschhaus mit den Toiletten und der Speisesaal waren im Zentrum aufgestellt. Ein Feldweg und ein Abflußgraben umgaben jeden Block. Ein Block war konzipiert, um ungefähr 250 Leute unterzubringen. Rohwer hatte insgesamt 33 Blöcke und in der Spitzenzeit fast 8.500 Insassen. Der Fahrer lud uns beim Speisesaal von Block 6 ab und fuhr zurück, um weitere Neuankömmlinge abzuholen. Unser Block lag an der südlichen Grenze des Lagers, gleich neben dem Stacheldrahtzaun. Wir konnten einen Wachturm sehen, und die Wachen konnten uns sehen. Daddy ließ Mama und uns Kinder beim Gepäck zurück und ging los, um 6-2-F zu finden. Während Mama mit unserer Schwester auf dem Arm ein Schwätzchen mit den anderen Damen hielt, saßen Henry und ich auf dem Gepäck und warteten. Jenseits des Zauns konnten wir einen Wald mit großen Bäumen und dichtem, strauchartigem Unterholz sehen. Er war dicht und voller dunkler Schatten. Aus den fernen Tiefen des Waldes hörten wir geisterhaft krächzende Töne. Dieser Ort jenseits des Stacheldrahtzauns sah nicht nur erschreckend aus, er hörte sich auch so an. „Weißt du, was das für ein komisches Geräusch ist?“ fragte eine Stimme. Ich schaute mich um. Ein großer, ungefähr acht Jahre alter Junge saß in der Nähe auf einem Haufen Gepäck und wartete darauf, daß sein Vater zurückkam.
„Nein. Was ist das?“ fragte ich. „Da draußen ist ein Dinosaurier“, flüsterte er uns vertrauensvoll zu. Henry und ich blickten einander an. Wir hatten von so einem Ding noch nie gehört. „Ein Dino-was?“ fragte ich. „Ein Dinosaurier, Dummkopf“, antwortete er. „Ihr wißt nicht, was ein Dinosaurier ist?“ Wir schüttelten beide unsere Köpfe. „Das sind riesengroße Ungeheuer, die vor Millionen von Jahren gelebt haben, und dann sind sie ausgestorben.“ „Sie sind ausgestorben?“ Das ist seltsam, dachte ich. „Wie kommt es dann, daß wir sie da draußen hören können?“ „Nun“, sagte er nach einer langen, unheilverkündenden Pause, „der einzige Ort, an dem sie nicht ausgestorben sind, ist hier in Arkansas. Deshalb haben sie diesen Zaun aufgestellt. Um sie einzusperren.“ „Oh“, sagte ich. Es war tröstlich zu erfahren, daß jene scharfen Widerhaken auf dem Zaun die krächzenden Ungeheuer von einem Angriff auf uns abhalten würden. „Okay. Ich habe 6-2-F gefunden.“ Daddy war zurück, und bei ihm waren zwei junge Männer, die sich angeboten hatten, uns zu helfen. Sie schnappten all unser Gepäck, groß und klein, und klemmten sich die kleineren Stücke unter die Arme. Einer der jungen Männer versuchte sogar, Mamas große Tasche voller Köstlichkeiten zu nehmen, aber sie bestand darauf, sie selbst zu tragen. „Sie ist schwer, Frau Takei“, beharrte er. Aber sie ließ dieses voluminöse Füllhorn niemals von jemand anderem tragen – nicht einmal von Daddy. Mama hatte sie alleine den ganzen Weg von Los Angeles nach Arkansas geschleppt, und sie war entschlossen, sie auch noch ohne Hilfe in unser neues Heim zu bringen. Ich fragte mich, welche anderen Überraschungen sie noch für uns auf Lager hatte. Wir trotteten dieser verwahrlosten Gruppe mit Daddy an der Spitze hinterher. Es war heiß und staubig, und jeder Schritt
wirbelte eine feine Wolke goldfarbenen Arkansas-Staubes auf. Statt die Hitze zu absorbieren, schien die schwarze Teerpappe flimmernde Hitzewellen auszustrahlen. Dankenswerter Weise war Baracke 2 nicht allzu weit entfernt, und Einheit F lag am Ende des Gebäudes. Daddy stampfte die drei rohen Holzstufen vor 6-2-F hinauf und öffnete die Tür. Die Hitze, die ihm entgegenschlug, warf ihn fast um. Wenn es draußen schon heiß war, dann war es drinnen wie in einem bullernden Ofen. Daddy bat die jungen Männer, unser Gepäck draußen abzustellen, und bedankte sich für ihre Hilfe. Dann stürzte er sich in den backofenheißen Raum, um die Fenster zu öffnen. Er kam wankend, keuchend und schweißgebadet zurück. Halb gekocht und rot angelaufen von der Zerreißprobe keuchte er: „Lassen wir erst einmal eine Weile frische Luft rein, bevor wir hineingehen.“ Aus ihrer Überraschungstasche zauberte Mama ein großes, weißes Baumwolltaschentuch und wischte über Daddys Augenbrauen. Als wir schließlich hineingingen, war die Luft immer noch drückend und warm. Der Raum war ein nacktes Rechteck von knapp fünf mal sechs Metern, mit rohen Bretterwänden, drei Fenstern und einem Fußboden aus Holzplanken. Und in der Ecke, welch Ironie, ein einziges, einsames Möbelstück – ein schwarzer, dickbäuchiger Ofen. „Faßt ihn nicht an“, warnte Daddy uns Kinder, „er könnte noch heiß sein.“ Mama stand schweigend neben der Tür und sah den Raum abschätzend an. Sie trug noch immer ihre Tasche. „Wo wir schlafen?“ fragte sie. „Sie verteilen Feldbetten am anderen Ende des Blocks“, sagte Daddy. „Ich werde ein paar Leute suchen, die mir helfen, sie hierher zu bringen.“ In dem Moment hörten wir Stimmen, Stampfen und Rumpeln von der anderen Seite der Bretterwand. Unsere nächsten Nachbarn zogen ein.
„Heiliger Jesus, ist das heiß hier drinnen“, sagte eine Männerstimme. Man konnte ein lautes Rumpeln hören: „Vielen Dank.“ „Jederzeit. Gern geschehen“, antwortete eine andere Männerstimme. „Rufen Sie uns, wenn Sie Hilfe brauchen“, sagte die erste Stimme. „Wir alles hören durch Wand“, flüsterte Mama und wölbte betrübt die Augenbrauen. „Wir nicht haben Privatsphäre.“ „Shikata ga nai. Es ist nicht zu ändern“, flüsterte Daddy zurück. „Ich nehme an, wir müssen uns damit abfinden.“ Er ging hinaus, um unser Gepäck hereinzuholen. Ich konnte nicht verstehen, warum sie mit so großer Besorgnis in ihren Stimmen flüsterten. Ich fand, daß es Spaß machte, wenn man die Nachbarn belauschen konnte. Als Daddy all unser Gepäck hereingeschafft hatte, setzte Mama schließlich ihre überdimensionale Tasche ganz oben auf den vielen Koffern ab. Ich hatte das Gefühl, daß nun der große Augenblick gekommen war. Mama blickte lächelnd auf uns alle und kündigte an: „Ich zeig euch etwas.“ Sie langte hinein und hob einen schweren rechteckigen Gegenstand heraus, der in ihren beigen Pullover mit den hübschen Blumenmustern in Garnstickerei eingewickelt war. Ich bemerkte, daß der Gegenstand ein ziemliches Gewicht hatte, also war es wahrscheinlich nichts zu essen. Es mußte etwas zum Spielen sein. Sie wickelte das geheimnisvolle Ding sorgfältig aus ihrem Pullover aus. Es hatte jedoch noch eine weitere Verpackungsschicht – die rosa Babydecke meiner Schwester. Es war das schwerste und größte Ding in Mamas Tasche. Also wußte ich, das hier mußte der Grund sein, warum sie sich nie beim Tragen hatte helfen lassen. Es mußte die beste aller Überraschungen sein, die sie aus dieser abgenutzten Tasche zauberte. Sie zog eine Ecke der Babydecke herab, um
etwas Metallisches zu enthüllen. Es muß ein Spielzeug für uns sein, dachte ich. Das rosa Tuch enthüllte beim Herabstreifen eine rechteckige, mahagonifarbene Metallbox mit einer dunkelblauen Fläche oben drauf und einem Schlitz darin. Sie faßte mit ihren Fingern in den Schlitz und zog. Und heraus kam etwas, das ich nie erwartet hätte. Es war Mamas transportable Nähmaschine! Wir waren sprachlos. Wir standen da und schauten uns bestürzt an. „Die hast du mitgebracht!“ ächzte Daddy verblüfft. „Ich nicht wollte sie zurücklassen“, sagte sie einfach. „Und Kinder brauchen neue Kleider.“ Es gab ein langes Schweigen. Schließlich sagte Daddy leise flüsternd: „Du hast gewußt, daß es verboten war.“ „Ich weiß“, antwortete sie. „Aber Kinder brauchen neue Kleider.“ Daddy starrte die Schmuggelware an, die wir da vor uns hatten. Dann plötzlich geschah etwas Erstaunliches: Daddy brach in Gelächter aus. Er lachte schallend. Das Geräusch kam tief aus seinem Bauch heraus, stieg in ihm auf und schüttelte seinen ganzen Körper. Es schüttelte ihn so sehr, daß es aussah, als ob er versuchte, ein unsichtbares Ding hinauszuwerfen, das sich lange in seinem Körper festgesetzt hatte. Er zeigte auf die Nähmaschine und lachte und lachte. Tränen liefen ihm über die Wangen, als er halb erstickt zu Mama sagte: „Und du wußtest, daß es verboten war.“ Mama hielt sich höflich die Hand vor den Mund und lachte mit. Wir kicherten auch, weil sie so komisch aussahen. Seit langer Zeit hatten wir nicht mehr so zusammen gelacht. Ich verstand damals nicht die volle Bedeutung des Gelächters, das den kleinen, nackten Raum am ersten Tag unserer Ankunft in Rohwer füllte. Aber ich erinnere mich sehr wohl daran, daß Mamas Nähmaschine eine der größten und
niederschmetterndsten Enttäuschungen war, die sie je aus ihrer alten, abgenutzten Tasche herausgezogen hat. Unser neues Leben in Rohwer einzurichten, wurde sowohl für Daddy als auch für Mama schon bald zu einer Ganztagsbeschäftigung. Mama begann mit der immensen Arbeit, aus dieser einen, rohen Bretterbude ein Heim für uns zu schaffen. Mit ihrer transportablen Nähmaschine begann sie, aus Armeestoffen Gardinen zu nähen. Aus Streifen von Lumpen flocht sie farbenprächtige Fußmatten, die sie vor die stählernen Feldbetten legte, die man uns zugeteilt hatte. Sie brachte interessante Baumzweige und große Unkrauthalme herein und arrangierte sie kunstvoll in angemalten Kaffeedosen. Und natürlich gab es die Sisyphusarbeit des Waschens und Flickens und hundert andere notwendige Arbeiten, die bei drei kleinen Kindern anfielen. Weil die Mahlzeiten im Speisesaal ausgeteilt wurden, war Kochen das einzige, was sie nicht für uns tat. Für Mama war dieses jedoch keine Erleichterung, sondern nur ein weiteres Aufgeben einer kostbaren persönlichen Verantwortung – eine geliebte Tätigkeit für ihre Familie, die man ihr wegnahm. Ein weiterer Verlust. Als ob es galt, dies wettzumachen, ging sie mit wilder Entschlossenheit daran, sich neue Aufgaben zu schaffen. Ich erinnere mich daran, daß Mama immer mit irgend etwas beschäftigt war. Sicherlich waren die Vorhänge, Fußmatten und die einfachen Pflanzenarrangements ein Ausdruck ihrer Liebe zu ihrer Familie. Aber ich frage mich heute, ob es nicht, ebenso wie ihre Nähmaschine, auch ihre ganz eigene Form des Protestes gegen unsere Lebensumstände war. Die Regierung mochte ihr Heim weggenommen und ihre Familie in dieses rohe Einzelzimmer in einer Teerpappe-Baracke gebracht haben, sie mochte ihr die Freiheit genommen und uns in diesen Stacheldrahtkäfig gesteckt haben. Aber sie konnten ihr weder
ihre Familie wegnehmen, noch ihre Fähigkeit, für uns zu sorgen. Nicht, solange sie nähen und flechten oder gefallenen Zweigen und getrocknetem Laub Schönheit abgewinnen konnte. Auch Daddy sah sich mit den Herausforderungen unseres neuen Lebens konfrontiert. Er suchte den Lagerplatz nach Holzstücken und losen Nägeln ab, die von den Bauarbeitern zurückgelassen worden waren, und machte daraus Regale und kleine Hocker, auf denen wir Kinder sitzen konnten. Aber wichtiger noch war, daß Daddy, der auf unserer Reise nach Rohwer unter den Folterqualen seiner eigenen Ängste und der Sorge um die Ungewisse Zukunft seiner Familie gelitten hatte, hier im Lager nun mit der unmittelbaren Gewißheit und der Notwendigkeit zurechtkam, seine Existenz mit einer großen Zahl von Leuten zu teilen, die alle mit den gleichen Schwierigkeiten konfrontiert waren. Von Anfang an war er dabei, anderen Familien beim Einzug zu helfen, Gepäck zu tragen, Betten zu verteilen, und sich bei der Organisation aller möglicher Dinge anzubieten. Bei seiner Arbeit, anderen Leuten zu helfen, wurde er mehr und mehr mit den verschiedenen Bedürfnissen und persönlichen Geschichten der einzelnen Leute vertraut, die im Block 6 zusammengewürfelt waren. Da war die kleine, streichholzdünne Frau Takahashi mit ihren vier Kindern, deren Mann das FBI nur deswegen verhaftet und abgeführt hatte, weil er ein buddhistischer Geistlicher war. Da war Frau Yasuda mit zwei Kindern und einer ältlichen Mutter, deren Mann von den Bundesbeamten verhaftet wurde, weil er ein japanischer Sprachenlehrer war. Beide waren von ihren Männern getrennt, die ohne Verhör oder gar formelle Anklage im Gefängnis saßen – und deren einziges Verbrechen es war, daß sie in der japanischen Gemeinschaft hoch angesehene Positionen bekleideten.
Dann waren da noch Herr und Frau Mamiya in der Baracke gegenüber. Sie war eine große, weißhaarige Dame europäischer Abstammung, wegen der Herr Mamiya sich stets arge Sorgen machte, denn sie war so kränklich. Er sagte, daß sie sich aus lauter Angst, und weil sie die einzige weiße Person in unserem Block sei, selbst ganz krank mache. Und da war ein ältliches Paar aus Lodi, Kalifornien, deren einziger Sohn sich der Internierung widersetzen wollte, indem er seine verfassungsmäßigen Rechte zitierte, und den man deshalb verhaftet und weggebracht hatte. Es waren Leute da aus allen japanischen Gemeinden aus ganz Kalifornien und auch ein paar aus Hawaii. Da waren Bauern aus Fresno und Fischer aus San Pedro, Akademiker aus Los Angeles und Geschäftsleute aus Stockton. Es gab alte Einwanderer und alte Nisei, in Amerika geborene Nachkommen japanischer Einwanderer. Es gab junge Einwanderer und viele junge Nisei und sogar Sansei, Amerikaner in der dritten Generation. Wir waren alle so verschieden, und doch waren wir auch gleich. Wir waren alle japanische Amerikaner, und wir waren alle in Block 6 in Rohwer. Das war unser gemeinsamer Nenner. Daddy fühlte die zwingende Notwendigkeit, daß diese uneinheitliche Gruppe irgendwie zum Zusammenleben befähigt werden mußte. Wir mußten eine Gemeinde formen. Aber Probleme und Klagen waren unvermeidlich, und sie kamen sofort auf. Die Frauen beschwerten sich über den Mangel an Privatsphäre in ihrer Toilettenanlage. Es war eine lange, offene Reihe von Toilettensitzen und weiter nichts. Es mußten Trennwände her, um wenigstens ein klein wenig Intimsphäre sicherzustellen. Bei einer der ersten Mahlzeiten im Speisesaal hatte es Rinderhirn gegeben. Dies war eine unbekannte, und für die meisten japanischen Geschmäcker unangenehme Delikatesse. Die Lagerverwaltung mußte darum
ersucht werden, Essen zur Verfügung zu stellen, das sich für den japanischen Gaumen eignete. Die Notwendigkeit, daß jemand sich mit diesen Problemen befaßte und die Leute als Repräsentant bei der Lagerverwaltung vertrat, war offensichtlich. Daddy wurde als Blockleiter vorgeschlagen, und er wurde gewählt. Obwohl Daddy sich keine großen Gedanken über seine Position als Anführer machte, so war er doch unter den gegebenen Umständen geradezu prädestiniert für eine derartige Aufgabe. Er sprach fließend japanisch und englisch und war somit fähig, sowohl mit der japanisch sprechenden Einwanderergruppe als auch mit der englischsprachigen, in Amerika geborenen Generation zu kommunizieren. Auch vom Alter lag er genau in der Mitte. Daddy war neununddreißig. Er war alt genug, um bei den Ältesten mit ihren fünfzig oder sechzig Jahren eine gewisse Glaubwürdigkeit zu haben, und doch auch jung genug für die in Amerika geborene NiseiGruppe, die zumeist aus Teenagern und Leuten anfang zwanzig bestand. Vor allem fühlte er die dringenden Bedürfnisse jener, mit denen er die gemeinsamen Umstände teilte. Er nahm die Notwendigkeit, ihnen zu dienen, bereitwillig an. Als Blockleiter wurde seine Rolle eine Kombination aus Bürgermeister des Blocks, Verbindungsmann zur Lagerverwaltung, Schiedsrichter von Streitigkeiten innerhalb des Blocks und – in einigen Fällen sogar Eheberater. Während Daddy und Mama mit dem Neuanfang unseres Lebens im Lager vollauf beschäftigt waren, hatten Henry und ich eine nagelneue Welt zu erforschen. Das Lager selbst war langweilig in seiner geometrischen Symmetrie und starren Einheitlichkeit. Aber das Gebiet nahe am Stacheldrahtzaun wurde ein Ort endloser Entdeckungen. Wir waren Stadtkinder, und, obwohl es auch in Los Angeles Schmetterlinge gab, hatten wir noch nie so große und
farbenprächtige Exemplare gesehen wie die, die da am Zaun entlangflatterten. Aber es waren dumme Schmetterlinge. Wenn ich mich leise einem näherte, der sich gerade auf dem Draht ausruhte, und dann schnell zulangte, konnte ich ihn mit zwei Fingern schnappen, bevor er wußte was geschah. Sie waren schön, aber dumm. Es war viel zu leicht, sie zu fangen. Ich warf sie wieder in die Luft, und als sie dankbar davonflatterten, fand ich schöne Pulvermuster, die sie auf meinen Fingern zurückließen. Die interessanteren der fliegenden Exoten waren die Libellen. Diese karminroten oder leuchtend blauen lebenden Torpedos, die sich summend auf den Zaun stürzten, hielten kurz auf dem Draht an, als ob sie einen durch das Vorführen der ganzen Pracht ihrer hell glänzenden Schwänze necken wollten. Und sie spreizten ihre Flügel, die gar nicht unsichtbar waren, sondern nur sehr durchsichtige Propeller, die in wechselnden irisierenden Farben schimmerten. Ich mußte diese Geschöpfe fangen. Aber noch bevor ich nahe genug heran war, um eine von ihnen an ihren stillstehenden Flügeln zu schnappen, stürmten sie davon und verspotteten mich triumphierend mit ihren phantastischen Zickzack-Flugkünsten. Eines Tages, als Henry und ich am Zaun spielten, kamen zwei große Jungs zu uns herüber. Es waren Brüder, die auf der andere Seite des Speisesaals wohnten, und ich wußte, daß der ältere der beiden ungefähr dreizehn war und Ford hieß, und sein jüngerer Bruder Chevy. Ich hatte Daddy zugehört, wie er Mama während des Mittagessens im Saal auf die beiden aufmerksam gemacht und ihr erzählt hatte, daß der Vater der beiden sie nach den Autos benannt habe, die er sich jeweils in den Jahren gekauft hatte, als die beiden geboren wurden. Daddy meinte, daß ihr Vater wohl sehr stolz auf seine Autos gewesen sein mußte.
„Hey, Kids, wollt ihr ein magisches Wort lernen?“ Es war Ford, der mich ansprach. „Was für eine Magie?“ fragte ich. „Damit könnt ihr Macht über die Wachen im Turm haben.“ „Macht über die Soldaten mit den Gewehren? Tatsächlich?“ Es klang ziemlich beeindruckend. „Okay“, sagte ich etwas zögernd. Eine Entscheidung wie diese sollte nicht tollkühn überstürzt werden. „Was ist das magische Wort?“ Ford fing an zu erklären. Sein Bruder Chevy – der mit dem runden, dümmlichen Gesicht – lehnte sich nach hinten und kicherte aus unbekanntem Grund. „Mit diesem magischen Wort“, begann Ford, „könnt ihr die Soldaten dazu kriegen, euch alles zu geben, was ihr euch wünscht. Zuerst müßt ihr ihnen all das zurufen, was ihr haben wollt. Dann schreit ihr die magische Formel ganz laut heraus. Und wenn ihr das Wort richtig gesagt habt, dann werden sie euch alles geben, was ihr euch gewünscht habt.“ Das klang ja reichlich einfach, dachte ich. Aber ich wurde noch einer anderen Sache gewahr: Fords kleiner Bruder war offenbar wahnsinnig. Während Ford mir von dem magischen Wort erzählte, hielt sich Chevy wie verrückt seinen Mund zu, bei dem dummen Versuch, sein Gekicher zu unterdrücken. „Gut, und was ist das magische Wort?“ fragte ich. „Denk daran, daß du es richtig sagen mußt, oder es wird nicht funktionieren“, betonte Ford. „Okay, ich werde es richtig sagen. Wie heißt es?“ forderte ich. „In Ordnung, hier ist es“, sagte Ford. Er begann, die Worte sehr langsam und bedächtig auszusprechen. „Sakana beach.“ „Sakana beach?“ Ich war verwirrt. ‘Was ist so magisch an Sakana beach?’ dachte ich bei mir. Sakana bedeutet „Fisch“ – also Fischstrand. Was ist magisch daran? „Denk daran, du mußt es richtig aussprechen“, sagte Ford.
„Gut, und wie sage ich ‘Sakana beach’ richtig?“ fragte ich. „Du mußt es ganz schnell sagen und ganz laut. Es ist wirklich wichtig, daß du es schnell sagst.“ Inzwischen zuckte Chevy unkontrollierbar, seine Arme dicht um seinen zitternden Körper geschlungen, um in seinem schweigenden Kampf nicht vor Kichern zu platzen. Dieser Dummkopf von einem Bruder ging mir langsam auf die Nerven. „Okay, also, ich rufe der Wache alle Dinge zu, die ich haben will, und schreie ganz schnell ‘Sakana beach’, richtig?“ Es klang so leicht. Ich befahl Henry zu bleiben wo er war und ging zum Wachtturm hinüber. „Hol Kaugummi“, rief Henry mir nach. „Erinnere dich“, betonte Ford noch einmal, „wenn du es nicht richtig sagst, dann werden die Wachen richtig böse und fangen vielleicht an zu schießen. Also, falls du es nicht richtig sagst, dann renn weg wie der Teufel.“ Sie könnten anfangen zu schießen? Warum sagte er mir das erst, nachdem ich schon losgelaufen war? Die Sache sah plötzlich ganz anders aus. Aber es war zu spät. Ich war schon auf dem Weg. Ich war kein Feigling. Ich ging weiter zum Turm. Dort war gerade Wachablösung, und der, der oben im Turm gestanden hatte, war heruntergekommen. Beide Wachen standen unten und schwatzten. Ich näherte mich ihnen und hielt dann knapp fünfzig Meter entfernt an. Ich brüllte: „Kaugummi!“ Das war für Henry. Die Wachen, die aufgeschreckt zu mir herüber schauten, fingen an zu lächeln. Ich machte ein paar Schritte vorwärts und schrie: „Popsicle!“ [Wassereis am Stiel] Das war etwas, an das ich mich von Los Angeles erinnerte und das wir im Lager nicht hatten. Die Wachen lächelten und zuckten nur mit den Schultern. Noch ein paar Schritte mehr und ich schrie: „Dreirad!“ Nichts. Sie
ignorierten mich jetzt. Ich dachte, daß ich besser daran tat, nicht zu gierig zu werden. Ich machte noch ein paar Schritte mehr auf die schwatzenden Wachen zu, holte dann tief Luft, und brüllte dann mit allem, was meine Stimme hergab und so schnell wie ich konnte: „Sakana beach!“ Sie drehten sich erstaunt zu mir um. Ich wartete. Ich wunderte mich, wie sie dort wohl Kaugummi, Eis und ein Dreirad herstellen wollten. Aber sie standen einfach nur da und starrten mich an. Vielleicht hatte ich es nicht ganz richtig gesagt. Ich holte noch mal Luft und schrie noch lauter und schneller als vorher: „Sakana beach!“ „Wart nur du kleiner Schurke“, grollte einer der Soldaten. Und er fing an, sich zu bücken und einen Kiesel aufzuheben. Es funktionierte nicht. Ich hatte das magische Wort nicht richtig ausgesprochen. Vielleicht konnte ich den Fehler wiedergutmachen, wenn ich es ein bißchen langsamer sagte. Aber, als ich gerade mein drittes – und wie sich herausstellte, letztes – „Sakana beach“ hervorbrachte, schleuderte die Wache einen Kieselstein nach mir. Ich drehte mich um und rannte so schnell mich meine Füße trugen. Hinter mir konnte ich die andere Wache rufen hören: „Du kleiner Rotzlöffel!“ Ein weiterer Kieselstein flog an mir vorbei. Sie waren tatsächlich böse! Das war eine Katastrophe. Als nächstes fingen sie womöglich noch an, mit ihren Gewehren auf mich zu schießen. Ich schnappte Henrys Hand, und wir rannten so schnell wie wir konnten. Aus dem Augenwinkel sah ich Ford und Chevy, die sich hinter einer Baracke versteckt hatten, und sich jetzt in hysterischen Lachkrämpfen am Boden rollten. Zu Hause fragte ich Mama, was so magisch an „Sakana beach“ war, aber sie konnte nicht herausfinden, wovon ich redete. „‘Sakana’ heißt Fisch“, sagte sie „Und ‘beach’ bedeutet
‘kaigan’. Keine Magie. Nur Japanisch und Englisch miteinander vermischt.“ Wir wußten das. Sie war keine Hilfe. Am Abend erzählten wir Daddy die ganze Geschichte und fragten ihn, ob er das Rätsel von „Sakana beach“ lösen könnte. Er saß da und wiederholte es immer wieder mit anderer Geschwindigkeit. Sakana beach schnell, Sakana beach mittel und Sakana beach langsam. Schließlich hielt er inne und fing an zu lächeln. „Sakana beach“, betonte er nochmals. Sakana beach, erzählte er mir, klinge wie ein paar sehr schlechte englische Wörter, von denen er nicht wollte, daß wir sie benutzten, und ganz bestimmt nicht, daß wir die Wachen damit anbrüllten. Er sagte, Ford und Chevy Nakayama seien schlechte Jungs, weil sie uns diese Worte beigebracht hätten, und er wollte, daß wir nicht mehr mit ihnen spielten. Das ist gut, dachte ich. Ich mochte diese verrückten Brüder sowieso nicht. Aber die Macht der Worte „Sakana beach“ blieb mir weiterhin ein Rätsel. Erst als ich viel älter war, wurde mir klar, daß sakana beach, wenn man es richtig ausspricht, klingt wie „Son of a bitch“ (Hundesohn, Scheißkerl). Ich war nicht ständig in der Klemme, so wie andere Kinder. Aber an die Fälle, als ich in Nöten war, erinnere ich mich gut. Bei einer solchen Erfahrung hätte ich ernste Schwierigkeiten bekommen können, aber am Ende ist alles noch mal gutgegangen. Henry und ich freundeten uns mit dem Jungen an, der uns an unserem ersten Tag im Lager auf die Dinosaurier im Wald aufmerksam gemacht hatte. Sein Name war Paul, und er wohnte zwei Baracken weiter. Eines Tages trafen wir ihn, als wir auf dem Feldweg am Abflußgraben entlanggingen. Er füllte eine Kaffeedose mit dem gelblichen Wasser aus dem Graben. „Seht ihr, was ich da gefangen habe?“ sagte Paul aufschneiderisch. Er ließ uns in seine Dose schauen. Dort
schwammen ein paar winzige, schwarze, fischähnliche Dinge herum. „Was ist das?“ fragte ich. „Kaulquappen“, meinte er stolz. „Sie verwandeln sich in kleine Frösche.“ Natürlich war Paul älter als ich, aber er benahm sich wie ein altkluger Besserwisser. Ich blickte ihn mißtrauisch an. Ich wußte, was Frösche waren und wie sie aussahen, und diese winzigen Fische sahen überhaupt nicht wie kleine Babyfrösche aus. „Du lügst“, forderte ich ihn heraus. „Ja. Du lügst“, echote Henry, und stärkte mir als guter kleiner Bruder den Rücken. „Ihr glaubt mir nicht? Gut, dann schaut euch diesen an“, sagte er und wies auf einen, der still am Boden der Dose lag. „Seht ihr? Könnt ihr die winzigen Beine sehen, die an der Seite herauswachsen?“ Es war schon eine erstaunliche Sache, einen Fisch zu betrachten, dem zwei Miniatur-Froschschenkel aus seiner Seite herausragten. „Na ja“, fuhr Paul fort, „die Beine werden größer, und der Schwanz wird kleiner, und schließlich verschwindet er. Bis dahin bekommt es auch zwei Vorderbeine, und dann wird er ein Frosch und steigt aus dem Wasser.“ Mit ein wenig Phantasie konnte ich die dicke, runde Form eines Frosches in der Kaulquappe mit den Beinen erkennen. Wenn es stimmte, was Paul da sagte, dann war es eine faszinierende Sache, dieses Ereignis so richtig mit eigenen Augen zu beobachten. „Kann ich ein paar haben?“ fragte ich. „Geht und fangt euch selber welche“, meinte er mit einem stolzen Grinsen. „Wir wissen nicht, wo man sie fängt. Wirst du es uns zeigen?“ bettelte ich.
„Gut, okay“, ließ er sich mit übertriebenem Widerwillen erweichen. Und schon waren wir auf unserer großen Kaulquappen-Expedition. Am späten Vormittag, kurz vor dem Aufruf zum Mittagessen, kamen Henry und ich zurück, jeder mit unserer eigenen Kaffeedose voll frisch gefangener quirliger Kaulquappen und erfüllt von der Aussicht auf diesen ganzen aufregenden, magischen Vorgang, der sich nun vor unseren Augen entfalten sollte. Aber noch bevor wir die Geschichte unseres Abenteuers beenden konnten, brach Mama in Panik aus. „Was! Ihr habt gespielt an Abflußgraben neben Zaun? Oh, abunai.“ Sie fing an, immer wieder unkontrollierbar „abunai“ zu wiederholen. „Abunai. Es ist so gefährlich. Abunai, ihr hättet euch verletzen können.“ Wir dachten, daß es überhaupt nicht abunai war. Warum machen Mütter immer soviel Aufhebens wegen allem, woran man Spaß hat? Gerade in dem Moment kam Daddy aus dem Büro des Blockleiters nach Hause, um mit uns zu Mittag zu essen. Mama überschüttete unseren armen, aufgeschreckten Daddy sofort mit einem Redeschwall – mit noch großzügigerer Betonung auf abunai. Beim Mittagessen im lauten Speisesaal erzählte uns Daddy nüchtern von den verschiedenen Arten giftiger Schlangen, wie z.B. Wasser-Mokassins, die sich als schwimmende Stöcke tarnten, um kleine Jungs durch ihren Biß zu vergiften. Und in den Wäldern, erzählte er uns, lebten andere Schlangen, gefährlich schön, mit kupferroten Körpern, namens Copperheads, und solche, die an den Spitzen ihrer Schwänze Rasseln trügen, mit deren Geräusch sie kleine Jungs warnten, bevor sie sie auffraßen. Ich wollte nicht gefressen werden, aber es klang faszinierend – erschreckend und fesselnd zugleich. Schlangen, die wie Stöcke auf dem Wasser schwammen und Schlangen mit Rasseln als Essensglocken. Das Unbekannte, verborgen im Dunkel der Wälder, schlug mich mit seiner
Exotik in den Bann und schien verlockender zu sein als alles andere. „Daddy, nimmst du uns mit in den Wald, so daß wir es uns ohne Gefahr ansehen können?“ fragte ich. Mama begann sofort mit einer neuen Runde abunai. Aber Daddy erwog es für einen Moment und sagte dann: „Ich werde sehen, was sich machen läßt.“ Am selben Abend, nach den Ankündigungen, die er als Blockleiter im Speisesaal zu machen hatte, setzte Daddy sich mit uns hin. Dann erzählte er uns von einem besonderen Vergnügen, das er für uns arrangiert hatte. Es war ihm gelungen, einen Jeep von der Fahrbereitschaft zu borgen und uns „Erlaubnisscheine“ zu besorgen, mit denen wir morgen Nachmittag für einige Stunden nach draußen gehen konnten. Daddy würde uns aus unserem Stacheldrahtzaun herausbringen! Es war großartig, einen Daddy zu haben, der solche Wünsche erfüllen konnte. Es schien ewig zu dauern, bis es endlich „morgen Nachmittag“ war. Ich erzählte es allen Kindern, die Henry und ich kannten, einschließlich Paul. Sie alle sagten, daß wir Glück hätten, aber ich wußte, daß es daran lag, daß unser Daddy der Blockleiter war. Nach dem Mittagessen saßen Henry und ich auf unserer Vordertreppe und warteten. Bei uns waren Paul, Eddy – der Sohn des buddhistischen Priesters – und ein anderer Junge namens Tadao mit seinem kleinen Bruder Akira. In einer Wolke gelben Staubes, mit Gummireifen, die knirschend Kies und Schmutz hochwarfen, kam Daddy plötzlich auf der Straße hinter dem Speisesaal angefahren. Es sah großartig aus, wie er den Jeep fuhr. Es waren immer nur uniformierte Wachen gewesen, die wir in Jeeps hatten fahren sehen – niemals Japaner. Aber dieses Mal war Daddy der Fahrer. Er trug sein weißes kurzärmeliges Hemd und den Panamahut und fuhr, als ob der Jeep ihm gehöre. In einer enormen Staubwoge kam der
Jeep mit einem Knirschen zum Stehen. Daddy hupte zweimal, stand dann auf und winkte zu uns herüber. „Mama! Mama! Daddy ist hier. Beeile dich“, riefen wir und rannten zu ihm hinüber. Henry und ich kletterten auf den Rücksitz und begannen zu singen: „Mama, Mama, beeile dich. Mama, Mama, beeile dich.“ Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis sich die Tür der Baracke öffnete und Mama mit Reiko an der Hand heraustrat. Mama hatte wie gewöhnlich eine weiße Baumwollbluse an, aber sie trug einen neuen Rock, den sie aus einem hellbraunen Armeestoff genäht hatte. Dazu einen Schal aus dem gleichen Material, den sie unter ihrem Kinn zusammengebunden hatte. Und auch Reiko war mit einem passenden Schal und einem Overall aus dem gleichen Material ausgestattet. Mutter und Tochter im ArmyPartnerlook. Das war es also, was sie gestern abend und heute morgen in einer solch fieberhaften Eile genäht hat, dachte ich. Ich glaube, auch für Mama war dies ein besonderer Anlaß. „Beeile dich, Mama. Beeile dich“, riefen Henry und ich im Chor und verloren unsere Geduld. Wir baten Daddy, noch einmal zu hupen. Da kamen sie herbeigelaufen und kletterten auf den Sitz neben Daddy. Wir winkten den neidischen Gesichtern von Paul, Eddy, Tadao und Akira zum Abschied zu und fuhren durch das Lager zum Haupttor. Daddy hielt an, reichte der Wache ein Formular, das er vorher ausgefüllt hatte, unterschrieb mit seinem Namen auf einem Klemmbrett – und dann waren wir draußen. Zum ersten Mal seit unserer Ankunft vor vielen Monaten lagen Wachtürme und Stacheldrahtzaun hinter uns. Sobald Daddy anfing, auf dem Arkansas State Highway No. 1 zu beschleunigen, blieb der Staub hinter uns, und es war nur reiner, frischer Wind, der unsere Gesichter liebkoste. Der Luftstrom zwang Daddy, seinen Panamahut abzunehmen. Sein Haar fing an, dünn zu werden, und Mama wollte ihn nicht
barhäuptig der Sonne von Arkansas überlassen. Sie war mit seiner alten Baseballmütze bewaffnet, die sie ihm nun aufsetzte – mit dem Schild nach hinten wie bei einem Fänger. Daddy fuhr durch offene Felder und über holperige Brücken, die dunkle Sümpfe überspannten. Er fuhr durch üppige, beschattete Wälder und an ruhigen Tümpeln entlang. Und er brachte uns zu einer kleinen Farm, die mitten im tiefen Wald lag. Dort sah ich etwas, das ich nie vergessen werde. Damals dachte ich, es müsse der Dinosaurier aus dem Wald sein, von dem uns Paul erzählt hatte. Es war kolossal in seiner Größe und erschreckend häßlich in seiner Erscheinung – mehr als zwanzig mal so groß wie Henry und ich zusammen. Aber die Töne, die es machte, waren nicht das seltsame Krächzen, das wir am ersten Tag gehört hatten. Dieses massive Geschöpf produzierte ein obszönes Grunzen und Schnaufen und gelegentlich ein beängstigend lautes Gebrüll. Und es lief auch nicht frei im Wald herum, sondern war in dem dreckigsten, übelriechendsten und fauligsten Pferch eingesperrt, der mir je untergekommen war. Dies war ohne jeden Zweifel die erschreckendste Monströsität der Welt. Ich glaubte fest, daß dies das Geschöpf sein mußte, von dem Paul behauptet hatte, es sei ein Dinosaurier. Aber Daddy und der Bauer nannten es ein Schwein, und Daddy erzählte, daß das Spam [ähnlich Corned beef, aber aus Schweinefleisch], das es manchmal zum Abendessen im Speisesaal gab, aus diesem gewaltigen Tier gemacht wurde. Wenn Daddy das sagte, dann mußte es stimmen, dachte ich, aber ganz bestimmt gehörte es zu einer Rasse von Monstern. Mama und Reiko wollten im Jeep bleiben, also wanderten Daddy, Henry und ich mit dem Bauern über seinen Hof. Wir sahen jede Menge Hühner, manche in Käfigen und andere, die frei herumstolzierten. Es gab überall Tiere – schlafende Hunde
und Katzen, die um sie herumschlichen. Ich hatte nicht gewußt, daß es Leute gab, die so lebten, umgeben von so vielen wunderbaren Tieren. Ich beneidete den Bauern. Auf unserer Rückfahrt zeigte uns Daddy Stellen, wo möglicherweise Schlangen lebten. Sonnige, offene Gebiete wie Schlammpfützen und warme Felsen, ideal für Klapperschlangen und Copperheads; stille, ruhige Tümpel für Wasser-Mokassins. Daddy wollte, daß wir etwas über Schlangen lernten, so daß wir wußten, wie wir es vermeiden konnten, von ihnen gebissen zu werden. Aber wir bekamen keine Wasser-Mokassins, keine Copperheads und keine Klapperschlangen zu sehen – ich war nur dem ungeheuerlichsten Geschöpf meines Lebens begegnet. Und anstatt von ihm verschlungen zu werden, hatte ich erfahren, daß wir es aßen. Die Sonne ging langsam unter. Aus irgendeinem Grund fuhr Daddy sehr langsam – so langsam, daß der erschöpfte Henry auf dem Rücksitz einschlief. Mama sah nach hinten und bemerkte es. Sie berührte Daddy an der Schulter und zeigte auf meinen schlafenden Bruder. Sie lächelten, sahen mich an und legten einen Finger auf ihre Lippen. Dann wiesen sie auf Reiko auf Mamas Schoß, die auch schon eingeschlafen war. Daddy und Mama sahen so glücklich aus. Dieses eine Mal hatte der weiche Abendwind die dauernde Sorge auf ihren Gesichtern weggeweht. Auch ich wurde schläfrig, aber ich wollte nichts von dieser wunderbaren Reise versäumen. Ich war entschlossen, während der ganzen Rückfahrt wach zu bleiben. Ich bin froh, daß ich es tat, denn als wir nach Hause kamen, verfärbte sich der westliche Abendhimmel in ein feuriges Orange. Die Wolken schienen mit einem leuchtend gelben Heiligenschein zu glühen. Als unser Jeep näher kam, ragten die Wachtürme wie kleine schwarze Scherenschnitte hinein in das spektakuläre Lodern dieses Sonnenuntergangs in Arkansas.
Ich schlief schließlich ein, als Daddy uns bei den Torwachen wieder eincheckte. Kindheitserinnerungen sind reich an sinnlichen Wahrnehmungen – Düfte, Töne, Farben und besonders Temperaturen. Die angenehmen und liebevollen Erinnerungen strahlen glühende Wärme aus. Auf diese Weise erinnere ich mich an jenen goldenen Nachmittag, an dem Daddy die Familie auf diese wunderbare Jeepfahrt mitnahm. Sogar Erinnerungen, die eigentlich in Frost erstarrt sein müßten, glühen mit der gleichen Wärme. So das Andenken an einen kalten Morgen im darauffolgenden Winter, als wir aufwachten und entdeckten, daß alles mit einer weißen Schicht bedeckt war. Von den Dächern der Teerpappe-Baracken hingen reihenweise glasige Eiszapfen. Über Nacht hatte sich die Landschaft in ein Wunderland aus unberührtem Weiß und Teerpappenschwarz verwandelt. Mama zog uns für unsere Morgenwanderung zum Speisesaal unsere wärmsten Sachen an, während Daddy das Feuer in dem großen, schwarzen Kanonenofen schürte. Sobald wir fertig verschnürt waren, stürzten Henry und ich hinaus in das weiche, weiße Pulver. Es wehte vor uns auf, leicht und schwerelos wie Staub. Aber dieser Staub war kalt. Er hatte keinen Geschmack, nur das Gefühl der Kälte. Er konnte zu einem Ball geformt werden und ließ unsere Hände prickeln. Jetzt hatte er Gewicht, und man konnte damit nach jemandem werfen. Aber ohne zu verletzen, hinterließ er nur einen scharfen, eisigen Stich. Das Gefühl von Kälte – etwas, daß wir bisher nur in der Luft gefühlt hatten – war über Nacht greifbar geworden in Form dieser weißen, alles bedeckenden Staubschicht. Wir hatten ein solches kaltes Wunder vorher nie erfahren. Es war magisch. Henry und ich waren schon mit Schneeballresten bedeckt, als Daddy, Mama und Reiko nach draußen kamen. Ich traf Daddy
mit meinem Schneeball, und Henry traf Mama mit seinem, und wir rannten wild durcheinander, unter lautem Geschrei und Gelächter zum Speisesaal. Gerade als ich dachte, daß wir es geschafft hatten, uns in die Sicherheit und Wärme des großen Gebäudes zu retten, fühlte ich, wie Daddys großer Schneeball mich auf meinem Rücken traf. Sein Baseball-Wurfarm war noch immer stark und präzise. Nach dem Frühstück zeigte Daddy uns, wie unsere kleinen Schneebälle im Schnee gerollt werden konnten, um daraus große Schneekugeln zu machen. Diese wurden dann in einer Reihe aufgestellt, um eine Wand zu bauen. Dann wurden mittelgroße darüber gestapelt, und mit jeder Schicht wurde das Gebäude höher. Mit jeder neuen Reihe wurden die Schneebälle kleiner, bis wir eine große Schneefestung mit einer starken, festen Basis gebaut hatten, die bis über unsere Köpfe hinausragte – ein solides Gebäude ganz aus Schnee gemacht. Es war erstaunlich, was wir mit diesem kalten Staub anfangen konnten. Es war ein großartiges Gefühl der Befriedigung. Wir konnten unsere aufgeregten, erschöpften Atemwolken sehen, weiß und frostig, wann immer wir ausatmeten. Daddy und Henry hatten rosa Wangen und rosige Nasenspitzen. Wir waren äußerlich kalt und müde, aber innerlich erfüllte uns eine glückliche, warme Glut. Unser erstes Weihnachten im Lager kam nicht allzu lang nach dem Schneefall. Mama stellte selbstgemachte Dekorationen in unserem Zimmer auf. Im Speisesaal reihten Freiwillige lange Papierschlangen auf. Darauf standen in großen roten und grünen Buchstaben die Worte „Fröhliche Weihnachten“. Die Banner hingen von einem Balken quer durch den Saal bis zum nächsten auf der anderen Seite.
Der Höhepunkt des Weihnachtsfestes sollte der Besuch von Santa Claus, dem Weihnachtsmann, sein. Jeder erzählte uns, daß er auch in unseren Speisesaal käme, aber niemand wußte wann. Gut, ich kannte die Person, die alles wußte, und das war mein Daddy, der Blockleiter. Ich fragte ihn. Er antwortete: „Wir wissen nicht, ob er schon zum Heiligabend-Essen oder erst am Weihnachtsmorgen zum Frühstück kommen wird.“ Ich fragte ihn, warum der Weihnachtsmann so langsam war, wenn er doch seinen Schlitten hatte und Rentiere und all diesen guten glatten Schnee. Daddy antwortete, daß der Weihnachtsmann die Kinder in allen dreiunddreißig Blöcken von Rohwer und nicht bloß die in Block 2 besuchen wollte. „Warum kann er nicht alle Kinder am Heiligabend besuchen?“ fragte ich. Daddy antwortete, daß der Weihnachtsmann gern etwas Zeit mit jedem Jungen und Mädchen verbrachte. Für mich war das eine unbefriedigende Antwort. Endlich kam das Heiligabend-Essen. Es gab ein besonderes Menü: Brathähnchen, süße Kartoffeln, Reis und Schokoladenkuchen. Die Familien mit kleinen Kindern wurden nahe an die Tür gesetzt. Ich hatte tief in mir das Gefühl, daß Santa Claus an diesem Abend noch nach Block 2 kommen könnte. Wir waren mit dem Essen fertig, aber es kam kein Weihnachtsmann. Wir saßen da und warteten. Einige Leute vertrieben sich die Zeit mit einer zweiten Portion Schokolandekuchen. Dann stand eine Gruppe Erwachsener auf und sang Weihnachtslieder. Ich konnte nicht verstehen, warum sie sangen: „Ich träume von einer weißen Weihnacht“, wenn alles draußen schon völlig weiß und voller Schnee war. All diese Zeit wurde verschwendet, wo doch Santa Claus schon längst hier bei uns hätte sein können. Ich hatte die Hoffnung auf seine Heiligabend-Vorstellung schon fast aufgegeben, als plötzlich ohne Vorwarnung die Türen des Speisesaals aufflogen und ein kalter Windstoß hereingewirbelt kam. Wir
hörten das Klingeln von Glöckchen, ein lautes „Ho, ho, ho“, und hereingewatschelt kam ein kleiner, übermäßig lustiger Santa Claus in einem ausgestopften, zerknitterten roten Anzug. Henry und Reiko saßen da und machten vor lauter Überraschung große Augen. Dieser Weihnachtsmann ho-hoho-te schrecklich viel, ging dann von einem Kind zum anderen und fragte jedes, ob es brav oder ungezogen gewesen war. Einige waren sprachlos. Jene, die etwas aufsagten, behaupteten, sie wären brav gewesen. Niemand bekannte sich zu etwas Schlechtem. Nicht einmal Ford und Chevy Nakayama. Die meisten Kinder erstarrten in Ehrfurcht oder Bestürzung, aber sie bekamen trotzdem ihre Geschenke aus dem riesigen Sack, den er bei sich trug. Einige brachen in Tränen aus, und so wurden ihre Geschenke an die verlegenen Mütter gereicht. Henry und Reiko starrten Santa unverwandt an, nickten, als er sie fragte, ob sie brav gewesen seien, und bekamen ihre Geschenke. Aber als er mich fragte, nickte ich und rief laut: „Ja!“ Und dabei schaute ich mir sein Gesicht gründlich und genau an. Gleichzeitig preßte ich meine Hand fest auf seinen Bauch. Genau wie ich es mir gedacht hatte! Der Verdacht, den ich seit seinem stürmischen Eintreten gehabt hatte, bestätigte sich. Ich fühlte das Knittern von Zeitungen unter dem roten Anzug, dort, wo sein Bauch sein sollte. Und sein Bart sah aus wie zerzauste Baumwollfäden, die man aus einer Steppdecke entnommen hatte. Aber der eindeutige, unwiderlegbare Beweis war das Gesicht dieses Santa Claus. Er war ein Japaner! Dieser Weihnachtsmann war eine Fälschung. Ich wußte, wie der Weihnachtsmann aussah. Mama hatte mich voriges Weihnachten mitgenommen, um ihn mir im Kaufhaus der May Company in Downtown Los Angeles zu zeigen. Ich hatte ihn kennengelernt. Ich hatte auf seinem Schoß gesessen. Ich hatte mit ihm geredet. Und er war kein Japaner! Dieser ho-ho-ho-
ende Weihnachtsmann vor mir war ein Betrüger! Aber um der Höflichkeit willen nahm ich mein Geschenk von ihm trotzdem entgegen. Ich sah, daß Henry und Reiko an ihn glaubten, und Mama und Daddy benahmen sich auch so, als ob er sie erfolgreich hinters Licht geführt hätte. In der Tat schien jeder seinem übermäßig lustigem „ho, ho, ho“ auf den Leim zu gehen, und ich hatte nicht das Herz, das ihre zu brechen. Ich vermutete, daß der echte Weihnachtsmann wahrscheinlich nicht durch den Stacheldrahtzaun kommen konnte. Also putzte sich jemand hier im Lager als diese Fälschung des Weihnachtsmanns heraus, um jedermanns Weihnachten ein bißchen fröhlicher zu machen. Sie alle schienen so glücklich. Ich entschied mich, meine Entdeckung als mein eigenes Privatgeheimnis für mich zu behalten. Dies sind die Erinnerungen, die in meinem Herzen glühen. Sogar über die Jahre hinweg strahlen sie eine angenehme Wärme aus. Aber ich habe auch Erinnerungen an Rohwer, die scharf sind – und eiskalt bis ins Mark. Und ich erinnere mich an sie mit einem Zittern. Die erschreckendste Lagererinnerung, die ich habe, ist die an ein Frühjahrsgewitter in Arkansas. Es war nach dem Essen, und wir waren in unseren Raum in der Baracke zurückgekehrt, außer Daddy, der draußen bei einer seiner Blocksitzungen war. Mama war leise und eifrig bei ihren Flickarbeiten, und wir beschäftigten uns mit unseren Spielzeugen. Plötzlich gab es einen hellen, lautlosen Blitz, und alles im Raum erstrahlte in hellem Weiß: die Wände, der Boden, das Bett, alles. Sogar Mamas aufgeschrecktes Gesicht leuchtete in gespenstischem Weiß. Dann war es vorüber. Es dauerte gerade lange genug, um uns zu erschrecken, und dann war es vorbei. Aber noch bevor wir fragen konnten: „Was war das?“, begann der Terror. Mit einem kolossalen Schlag fing der Himmel an auseinanderzubrechen. Der Raum vibrierte, die Betten
klapperten und mein kleiner Spielzeuglastwagen rollte zitternd davon. Reiko kreischte vor Schreck, und Henry schrie, als ob er den heißen Kanonenofen berührt hätte. Gerade als Mama herübergelaufen kam, riß eine noch schlimmere Explosion den Himmel entzwei. Mamas zinnernes Nähkästchen fiel aus dem Regal hoch oben krachend herunter und verstreute Schere, Fingerhüte, Bandmaß und Garnrollen über den Boden. Sie brachte uns alle in Daddys Bett im Zentrum unseres Raumes und beugte sich schützend über uns. Aber die Donnerschläge kamen unerbittlich, einer nach dem andern. Gerade wenn einer sich mit einem tiefen, rollenden Grollen zu beruhigen schien, zerriß auch schon der nächste riesige Schlag den Himmel in einer fürchterlichen Explosion. Es war, als ob die Welt untergehen würde. Und Daddy war nicht bei uns. Da fing ich an zu weinen. Unsere Familie war in jeder Krise immer zusammen gewesen. Daddy und Mama sagten, daß uns nichts jemals auseinanderbringen könnte. Und jetzt war die Welt am Ende, und Daddy war irgendwo da draußen in dieser dunklen, höllischen Nacht. Ich konnte nicht aufhören zu weinen. Selbst als die Donnerschläge aufhörten und der Regen begann, konnte ich mich nicht beruhigen. Mama streichelte uns zärtlich, aber ich konnte die Furcht auch in ihr fühlen. Wir würden Daddy nie wieder sehen. Es regnete lang in dieser Nacht. Dann hörte ich ein Stampfen auf der Vordertreppe. Die Tür klapperte, und mit einem aufgeweichten Life-Magazin über seinem Kopf kam ein gründlich durchnäßter Daddy herein. Den Schock, die Freude, die Erleichterung und Liebe, die ich bei seinem Anblick fühlte, werde ich nie vergessen. Er zog seine nasse Jacke aus und gab uns allen eine warme, feuchte Umarmung. Der Himmel bedrohte uns noch immer mit seinem unheilverkündenden Grollen, aber mir war nicht mehr bange.
Daddy war bei uns, und die ganze Familie lag sich vereint in den Armen. Erinnerungen sind unsere kostbarsten Besitztümer. Sie sind die ultimativen Bindeglieder zu unserer Vergangenheit. Mein Andenken an Rohwer mag nur die fragmentarische Erinnerung eines Kindes an einzelne Geschichten sein, unvollständig, zusammenhanglos und allzu emotional. Aber mir ist jedes Stückchen wertvoll, jede Scherbe, jeder kleine und unvollständige Gedächtnisfetzen, den ich habe. Besonders an jene seltsame und unwirkliche Nacht, als mich etwas aufweckte – ein Ton, ein Unbehagen oder vielleicht auch eine Eingebung. Ich weiß nicht was. Etwas holte mich aus dem Schlaf. Ich erwachte und sah ein leichtes, trübes Glühen von der anderen Seite unseres Raumes herüberscheinen. Es war die Kerosinlampe, die auf dem niedrigen Stuhl stand, den Daddy für Reiko gebaut hatte. Daddy und Mama saßen da und flüsterten miteinander. Seine Stimme war leise, nachdenklich, nüchtern. Mama saß aufrecht, als hätte sie einen Stock verschluckt. Es lag etwas Starkes und Entschiedenes in ihrer Haltung. Ihr Gesicht war ausdruckslos, aber das Licht spiegelte sich in zwei glänzenden nassen Streifen auf ihren Wangen. Sie sah aus, als ob ihr Tränen herabliefen. Es gab eine lange, schweigende Pause, dann flüsterte Mama etwas, langsam und bedächtig. Sie redete nicht, als ob sie weinte. Aber wenn sie einatmete, machten die Tränen in ihrer Nase einen weichen schnüffelnden Ton. Es war seltsam. Mama klang, als ob sie weinte, aber sie verhielt sich nicht so. „Mama, nicht weinen“, murmelte ich schläfrig. Die beiden sahen zu mir herüber und erschraken. „Nicht weinen, Mama“, wiederholte ich. Sie trippelten auf Socken herüber, und Mama wischte sich schnell die Tränen vom Gesicht.
„Alles in Ordnung. Schlaf wieder ein. Mama und ich reden über Erwachsenen-Sachen“, flüsterte Daddy mir zu. „Schhhh“, sagte Mama sanft. „Weck Henry und Reiko nicht auf. Alles ist gut.“ Und sie deckte mich wieder zu. Solchermaßen beruhigt, muß ich wieder eingeschlafen sein. Das ist alles, woran ich mich bei diesem kurzen Erwachen erinnern kann. Doch es war kein Traum. Es geschah tatsächlich. Über die Jahre hinweg habe ich diesen Moment des Bewußtseins zu schätzen gelernt, der mir hier gewährt wurde. Deswegen kann ich behaupten, Zeuge einer Diskussion über ein verheerendes Ereignis zu sein, das die internierten japanischen Amerikaner erneut in Angst, Schrecken und Wut versetzte. Diese schlafumnebelte Erinnerung ist mein einziges Bindeglied zu einer einschneidenden Entscheidung, die Daddy und Mama zu treffen hatten. Ihre Entscheidung sollte für uns bedeuten, packen zu müssen und zurück nach Kalifornien in ein anderes Lager zu kommen. Es trug den poetischen Namen Tule Lake. Anfang 1943 wurde das politische Klima in Amerika durch die rassistische Rhetorik opportunistischer Politiker wie Earl Warren, Justizminister von Kalifornien, belastet. Er wurde dank einer Angstkampagne über potentielle japanische Sabotageakte zum Gouverneur des Staates gewählt. Das durch den Krieg sowieso schon angespannte Klima wurde durch Warrens Ideen einer möglichen Spionage von japanischen Amerikanern – er nannte das „die Wühlarbeit einer fünften Kolonne“ – zusätzlich angeheizt. Tatsächlich gab es jedoch nicht einen einzigen Fall von Verrat durch einen Amerikaner mit japanischen Vorfahren. Die einzigen amerikanischen Bürger, die während des ganzen Krieges wegen Spionage gegen die Vereinigten Staaten
verhaftet wurden, waren zwei Leute europäischer Herkunft. Doch man ignorierte die Tatsachen und war blind gegenüber dem Schmerz, den Verletzungen und den Qualen, die den sowieso schon internierten Menschen immer wieder zugefügt wurden – und die mitleidslosen Schreibtischtäter in Washington reagierten nun mit aller Macht. Sie erdachten ein Programm von bestürzender Grausamkeit. Der Plan sollte die Loyalität der japanischen Amerikaner prüfen, die man hinter Stacheldraht gefangenhielt. Um den ultimativen Beweis ihrer Treue zu den Vereinigten Staaten zu erhalten, wurden alle Internierten, die siebzehn und älter waren, egal ob männlich oder weiblich, ohne Rücksicht auf ihre Staatsangehörigkeit, dazu aufgefordert, einen Loyalitäts-Fragebogen auszufüllen. Der Fragebogen enthielt Dutzende von Fragen. Die beiden entscheidendsten waren die Fragen Nr. 27 und Nr. 28: Nr. 27: „Sind Sie bereit, in den Streitkräften der Vereinigten Staaten im Fronteinsatz zu dienen, wo auch immer sie hinbefohlen werden?“ Nr. 28: „Werden Sie den Vereinigten Staaten von Amerika uneingeschränkt die Treue schwören und die Vereinigten Staaten getreulich gegen jeglichen Angriff fremder oder einheimischer Mächte verteidigen, und werden Sie jedweder Form der Treue oder des Gehorsams gegenüber dem japanischen Kaiser, irgendwelchen anderen fremden Regierungen, Strömungen oder Organisationen abschwören?“ Nach der Bombardierung von Pearl Harbor im Dezember 1941 waren viele junge japanische Amerikaner ebenso in die Rekrutierungsbüros gerannt, um sich für den Kriegsdienst zu melden wie die meisten anderen amerikanischen Männer ihres Alters auch. Dieser Akt echter Loyalität wurde mit einem
Schlag ins Gesicht beantwortet. Die Männer wurden als 4C klassifiziert, die gleiche Kategorie wie feindliche Ausländer, und pauschal zurückgewiesen. Jene, die zur Zeit von Pearl Harbor schon beim Militär waren – und es gab ungefähr fünftausend junge japanische Amerikaner in Uniform beim Ausbruch des Krieges –, litten unter der Demütigung, daß man ihnen ihre Waffen abnahm. Einige mußten sogar Beschimpfungen hinnehmen und wurden wie gemeine Verbrecher in den Bunker geworfen. Die Fieberwelle der antijapanischen Hysterie wurde von General John L. DeWitt, dem kommandierenden General an der Westfront, verkörpert. DeWitt sagte: „Ein Japs ist ein Japs… Es macht keinen Unterschied, ob er ein Amerikaner ist oder nicht. Theoretisch bleibt er immer ein Japaner, und man kann ihn nicht ändern.“ Aber im Verlauf des Krieges, der eine Menge Arbeitspotential verschlang, machte Präsident Roosevelt eine 180-Grad-Kehrtwendung in seiner Politik. Er deklarierte im Februar 1943: „Keinem loyalen Bürger der Vereinigten Staaten soll das demokratische Recht verwehrt werden, die Verantwortung seiner Staatsangehörigkeit ohne Rücksicht auf seine Vorfahren wahrzunehmen.“ Und damit durften japanische Amerikaner ab sofort im Militär dienen. Die Grundrechte der amerikanischen Staatsbürgerschaft – allen voran Freiheit und Gerechtigkeit – wurden uns weggenommen, aber jetzt sollten wir die „Verantwortung“ der Staatsangehörigkeit nicht leugnen dürfen. Japanische Amerikaner hatten das Recht, für ein Land getötet zu werden, das sie gedemütigt hatte, sie ihres Eigentums und ihrer Würde beraubt und das sie hinter Stacheldraht gesteckt hatte. Das war der Kernpunkt von Frage Nr. 27. Frage Nr. 28 war so scharfsinnig hinterhältig, wie Frage Nr. 27 plump war. Der Trick dieser Frage war es, in einem einzigen Satz zu fragen: „Schwören Sie den Vereinigten
Staaten uneingeschränkte Treue?“ und im gleichen Atemzug: „Schwören Sie dem japanischen Kaiser die Treue ab?“ Antwortete man nun mit „Ja“, in der Absicht, den ersten Teil der Frage zu bejahen, dann sagte man auch Ja zum Abschwören, was eine bestehende Loyalität zum Kaiser von Japan vermuten ließ. Falls man mit „Nein“ antworten wollte, um jedwede solche Loyalität zu leugnen, dann erteilte man auch der Treue zu den Vereinigten Staaten eine Absage. Es wurde von vielen als eine Fangfrage empfunden. Die zwei Fragen wurden zu einer brisanten Mischung, die zum Ausbruch von Tumulten in allen zehn Internierungslagern führte, von Manzanar in Kalifornien bis hin zu Rohwer in Arkansas. Als der Staub sich schließlich wieder legte, waren es bemerkenswert viele Internierte, die die beiden Fragen mit „Ja – Ja“ beantworteten. Dies bereitete den Weg für die Rekrutierungsbeamten, junge Männern für den Wehrdienst zu verpflichten. Die große Zahl von Männern, die sich mustern ließen, ist ein Tribut ihrer außergewöhnlichen Entschlossenheit, die Ideale der Fahne zu verwirklichen, der sie täglich in ihren Klassenzimmern und sogar in den Lagern die Treue geschworen hatten. Für meine Eltern war der Kampf, den Loyalitäts-Fragebogen zu beantworten, eine Tortur. Mein Vater war in Amerika aufgewachsen und zur Schule gegangen. Er hatte dieses Land als seine Heimat gewählt. Bis zum Kriegsausbruch war es sein Plan für sich und seine Familie gewesen, uns hier eine Zukunft aufzubauen. Aber er war in Japan geboren worden, und das U.S.-Gesetz verweigerte asiatischen Einwanderern die Einbürgerung, obwohl ihre Kinder, die in den USA geboren wurden, amerikanische Staatsbürger sein würden. Nr. 27 fragte ihn, ob er Willens wäre, für die Vereinigten Staaten in den Kampf zu ziehen, für ein Land, das ihm nicht nur die
Staatsangehörigkeit verweigerte, sondern ihn wegen seiner Rassenzugehörigkeit eingesperrt hatte. Er war fast vierzig Jahre alt, hatte eine Frau und drei Kinder, die alle von dieser Regierung in ein Internierungslager gesteckt worden waren, und jetzt fragte man ihn, ob er einem solchen Land im Fronteinsatz dienen wollte. Nr. 28 wollte ihn im Grunde zu einem Mann ohne Heimat machen. Mein Vater fühlte keine besondere Treue zum Kaiser, aber Japan war das Land, in dem er geboren war. Es war der Ort, wo er noch Verwandte und Erinnerungen hatte. Diese Frage forderte ihn dazu auf, all das abzulegen und einem Land die Treue zu schwören, das ihn nicht haben wollte. Für meinen Vater war dies schließlich der Punkt, wo er sagen mußte: „Genug – es reicht!“ Es ging jetzt nicht länger um die Frage irgendwelcher Staatsangehörigkeiten, sondern einfach um seine Würde. Er antwortete „Nein – nein.“ Für meine Mutter war Frage Nr. 27 fast lächerlich in ihrer Absurdheit, wäre das Ganze nicht so eine Qual gewesen. Sie antwortete mit nein. Die schlimmste Frage war für sie Nr. 28. Sie war amerikanische Staatsbürgerin, geboren in Florin, Kalifornien. Ihre Kinder waren alle Amerikaner und kannten nur dieses Land. Aber sie war mit einem Mann verheiratet, dem dieses Land die Einbürgerung verweigert hatte, und den es jetzt als feindlichen Ausländer betrachtete. Ihr Geburtsland entwurzelte ihre Familie und brachte uns alle hier in dieses eine rohe Zimmer in einer Baracke in Arkansas. Und jetzt noch diese Inquisition, diese Beleidigung als Krönung ihrer Verletzung. Frage Nr. 28 forderte sie auf, zwischen ihrem Land und ihrem Mann, ihrem Geburtsort oder ihrer Familie zu wählen, sich für das eine oder das andere zu entscheiden. Das war die Szene gewesen, deren Zeuge ich bei meinem kurzen Erwachen im trüben Schein der Kerosinlampe in jener Nacht geworden war. Ich hatte den Augenblick gesehen, als
Mama die Entscheidung fällte, auf ihrem LoyalitätsFragebogen mit „Nein – nein“ zu antworten. Es war ein Akt, aufgrund dessen man sie als „treulos“ gegenüber der Regierung der USA einstufen und der schließlich zum Verlust ihrer amerikanischen Staatsangehörigkeit führen sollte. Meine letzte Erinnerung an Rohwer ist wie meine erste, acht Monate zuvor, von einem Zugfenster eingerahmt. Beim morgendlichen Frühstück im Speisesaal verabschiedete ich mich von Paul, Eddy, Tadao und Akira. Ich sagte Ford und Chevy Nakayama nicht Lebewohl, weil sie im Zug mit uns fuhren. Die Damen schnieften, als sie sich beim Abschied voreinander verbeugten. Einige der jungen Mädchen umarmten sich und weinten dabei laut. Beim Zug am Haupttor schüttelte Daddy mit ernster Miene jedem die Hand, der gekommen war, um uns noch einmal zu sehen. Dann stiegen wir ein. Alles, was ich aus dem Fenster des Zuges heraus sehen konnte, war ein Meer von traurigen Gesichtern – Gesichter von Leuten, die unsere Freunde geworden waren. Paul, Tadao und Akira, Mamas Freundinnen Frau Imai und Frau Yasui, unsere Nachbarn – die Mamiyas, die Yasudas und die Takahashis. Mama sagte, daß wir sie nie wieder sehen würden. Die schwarzen Baracken, die bei unserer Ankunft noch so uniform erschienen waren, hatten jetzt Identitäten. Sie waren das Zuhause von Freunden. Die Türme waren keine unheilverkündenden Wächter mehr, sondern nur ein Teil der Landschaft. Und sogar der Stacheldrahtzaun war einfach die vertraute Begrenzung meines Spielplatzes geworden. Alles das verließen wir jetzt für immer. Als der Zug anfing, sich zu bewegen, brach er damit die emotionale Beherrschung aller. Der Kummer war unerträglich. Einige Damen weinten, als ob es für ihren Gram keine Grenzen mehr gäbe.
Der Zug beschleunigte schnell. Ich blickte zurück auf die Menschenmenge, die kleiner und kleiner wurde. Schon bald waren unsere Freunde, die neben den Schienen standen, nur noch ein paar Farbtupfer. Die tiefergelegene Kaserne war nichts als eine dunkle Linie am Horizont. Die großen Wachtürme waren die einzigen Strukturen, die ich noch ausmachen konnte. Als sie kleiner wurden, schien auch das laute Weinen langsam zu einem weichen Schniefen abzuebben. Ich schaute weiter hinaus, bis eine Fliege, die auf dem Fensterglas summte, größer war, als die Türme, die ich noch sehen konnte. Dann fuhr der Zug in eine Kurve, und die Wachtürme verschwanden. Sie waren weg. Rohwer war jetzt nur noch eine Sammlung von Erinnerungen.
3 Kalter Wind am Tule Lake Der Tule Lake war – (und ist) – ein kalter, windgepeitschter, ausgetrockneter See nahe der nördlichen Grenze Kaliforniens zu Oregon. Er war das ödeste Gegenteil von Rohwer. Im südlichen Arkansas war die Luft im Sommer drückend und schwül, im Winter trocken und erfrischend gewesen, dagegen war sie hier im zwölfhundert Meter hoch gelegenen Tule Lake scharf und beißend, und im Winter konnte einem die Kälte bis ins Mark kriechen. Statt des weichen Staubes von Rohwer gab es hier sandigen Kies mit scharfkantigen kleinen Einschlüssen von Fossilien und Felsen. Vom saftig grünen Rohwer waren wir in eine unfruchtbare Landschaft ohne jede Vegetation gekommen, abgesehen von den dornigen Steppenläufern, die ziellos in dem völlig flachen Gelände umherrollten. Das einzige Wahrzeichen war Castle Rock, ein großer brauner Berg, ähnlich einer Abalone-Schale, der öde, einsam und drohend im Osten aufragte. Das Lager Tule Lake war ein Internierungslager, das man in ein Hochsicherheits-Sonderlager für „Abtrünnige“ umgewandelt hatte. Hier wurden alle diejenigen zusammengelegt, die auf die Schlüsselfragen im LoyalitätsFragebogen mit ‘nein-nein’ geantwortet, die um ihre Ausbürgerung und Rückführung nach Japan gebeten hatten, und jene, deren Loyalität „der Meinung des Projektleiters nach“ fragwürdig erschien. Auch hier gab es Stacheldrahtzaun und Wachtürme, aber anders als in Rohwer bestand der Zaun aus schwerem Maschendraht und war „ausbruchssicher“, und
die Wachtürme waren mit Maschinengewehren ausgestattet. Um das Lager herum patrouillierten Dutzende von Panzern und bewaffneten Jeeps. Die Wachen waren kampfbereite Truppen in voller Bataillonsstärke. Dieses ganze waffenstrotzende Aufgebot diente dazu, Leute einzusperren, die von den Beschimpfungen einer durch Hysterie verblendeten Regierung in die Wut getrieben worden waren. Die Hälfte der 18.000 Internierten im Lager Tule Lake waren Kinder wie ich. Ich mochte unsere Baracke in unserem neuen Block 80. Sie lag genau gegenüber der Speisebaracke. Für einen ewig hungrigen Sechsjährigen war es großartig, bei der Kälte draußen nur einen kleinen Sprung von der lärmenden und angenehmen Wärme und dem Essen entfernt zu sein. Aber Mama haßte es. Sie mochte das laute Scheppern und Klappern aus der Küche nicht, das schon am frühen Morgen mit den Vorbereitungen für’s Frühstück begann und bis zum letzten Spülen und Putzen nach dem Abendessen andauerte. Sie mochte die Vorstellung nicht, daß die Leute draußen unmittelbar vor unseren Fenstern dreimal täglich Schlange standen. Aber am allermeisten beklagte sie sich über die Gerüche, die von der gegenüberliegenden Küche herüberwehten – das aufdringliche Aroma einer Großküche, kombiniert mit Reinigungsmitteln und anderen Chemikalien vom Abwasch und dem säuerlichen Geruch von Desinfektionsmitteln, mit denen der Boden nach dem Essen abgespritzt wurde. „Stinkt fürchterlich“, war Mamas einfache Summierung des Problems. Daddy war philosophisch. Er meinte, dies sei eben der Kompromiß. Hier in Tule Lake hatten wir zwei Räume. Jedes Zimmer für sich war kleiner als das in Rohwer, aber zusammengerechnet hatten wir jetzt mehr Platz. Wir hatten
jetzt etwas, das wir ein Schlafzimmer und ein Wohnzimmer nennen konnten. „Welcher Kompromiß?“ beharrte Mama. „Jetzt ist die Toilette so weit weg. Kinder können in der Kälte nicht so weit gehen.“ Sie hatte recht damit. Manchmal war es eine schiere Folter, sich mit steifen Muskeln durch den kalten Wind bis zur Latrine durchzukämpfen. Manchmal dachte ich, daß ich es nicht mehr rechtzeitig schaffen würde. Ich kam immer gerade noch hin, mit einem wilden Blick, nervös vor Anspannung und kurz vorm Bersten. Glücklicherweise passierte mir im Gegensatz zu Henry nie ein Mißgeschick. Ab da sammelte Mama große leere Kaffeedosen, die sie für uns Kinder im Schlafzimmer bereithielt. Es gab noch einen Grund, warum ich gerne gegenüber der Speisebaracke wohnte. Das Leben im Lager war für gewöhnlich langweilig und eintönig. Aber die Speisebaracke war der soziale Brennpunkt und das Kulturzentrum des Blocks. Wir waren nahe dran und hatten besseren Zugang zu allen großen Sonderveranstaltungen. Manchmal wurden nach dem Abendessen im Speisesaal Filme gezeigt. Dazu wurde am einen Ende des Saales ein großes weißes Laken aufgehängt und am anderen Ende ein unförmiger, schwarzer Projektor aufgestellt. Weil wir den kürzesten Weg hatten, bekamen wir immer die besten Sitzplätze. Ich sah Paul Muni in „Scarface“, Bette Davis in einem Film, in dem sie sehr viel leiden mußte, und die „Gangbusters“-Serie. Aber vor allem erinnere ich mich höchst lebhaft an Charles Laughton als das tragische Ungeheuer in „Der Glöckner von Notre Dame“. Der Film war ein Schlüsselerlebnis. Ich empfand Mitleid mit diesem nach Liebe hungernden, deformierten Krüppel, den die Leute verachteten und beleidigten. Ich entdeckte die faszinierende Welt des alten Paris durch seine kläglich verunstalteten Augen. Es tat mir
weh, wenn er schmachten mußte. Es verletzte mich, wenn er gequält wurde. Und wie er sich zum Schluß unter dem dröhnenden Klang der Glocken von Notre Dame vom Turm hinunterstürzte, wird mir in schrecklicher Erinnerung bleiben. Ich entdeckte die bewußtseins- und horizonterweiternde, rührselige Welt des Films im Speisesaal gegenüber unserer Teerpappe-Baracke. Bei anderen Gelegenheiten sahen wir alte japanische Filme über Samurais und Ninjas und tränenreiche zeitgenössische Geschichten über die langen Leiden von Müttern und Witwen. Anscheinend war bei einigen dieser japanischen Filme die Tonspur abhanden gekommen. In solchen Fällen kam ein Mann aus einem anderen Block, der sich auf diese Dinge spezialisiert hatte, zu uns herüber und setzte sich vor dem Leinentuch auf den Boden. Er hatte ein schwach beleuchtetes Manuskript vor sich und erzählte auf japanisch, was wir auf der Leinwand sahen. Und er war nicht nur ein Erzähler, sondern er spielte auch alle gesprochenen Rollen. Er machte die tiefe Stimme des schroffen Samurai nach, das kristallklare Stimmchen der Prinzessin ebenso wie das Gackern des alten Weibes – alles synchron zu dem schnellen dramatischen Geschehen auf der Leinwand. Für die Höhepunkte des Films, wie z.B. Schwertkampfszenen, hatte er Bambusklöppel, die er rhythmisch gegeneinanderschlug, während sein Assistent mit kleinen Becken Krach machte. Die Becken verstärkten das dramatische Geschehen mit ihren „chang“-Tönen, und die Klöppel machten einen rieselnden „bara-bara“-Ton, mit dem sie, passend zur Szene, das Spiel der Schwerter auf der Leinwand anfeuerten. Die alten Leute nannten alle diese Epen mit Samurais und Schwertkämpfen chambara-Filme, und ich konnte sehen, warum: Jedesmal, wenn die Schwerter anfingen
zu tanzen, wurde der Speisesaal von lauten „chang“- und „bara-bara“-Tönen erfüllt. Ich fand die Vorstellung des Erzählers absolut faszinierend. Nur mit seiner Stimme allein wurde er zu so vielen anderen Leuten; er litt Qualen, erfuhr Freude, provozierte Furcht und rührte so viele Emotionen auf – wunderbar. Nach dem Film fragte ich Daddy, wie ein einziger Mann zu so vielen Leuten werden und so viele Erfahrungen sammeln konnte. Er erzählte mir, daß man diese Leute Benshi nannte. In den alten Zeiten in Japan, als die Filme noch keinen Ton hatten, waren diese Benshi für die Geräuschuntermalung der Stummfilme zuständig. Er sagte mir auch, daß ein guter Benshi in jenen Tagen ebenso als Künstler angesehen war wie ein Schauspieler. Ich sagte: „Ich glaube, daß der Mann, den wir heute abend gesehen haben, so ein Künstler ist.“ Daddy stimmte mir zu. Daddy wurde wieder zum Blockleiter unseres neuen Blocks 80 in Tule Lake gewählt. Und wieder verloren wir ihn an wichtige Besprechungen und Krisen. Und Mama machte sich ans Werk, uns ein neues Heim zu schaffen, diesmal in zwei Räumen. Die Wohnzimmerfenster bekamen natürlich neue Vorhänge, und jetzt hatten wir sogar ein Extrabett im Wohnzimmer, für das Mama gleich passende Decken und Kissen machte. Es wurde unser Sofa. Und sie entdeckte sogar die Schönheit in den Steppenläufern, die draußen herumrollten. Mama brachte sie herein und machte daraus schlichte und elegante Arrangements. Kalter Wind blies durch die offenen Spalten im Bretterboden und die Astlöcher in den Wänden. Daddy verschloß die Astlöcher mit den Deckeln von leeren Blechdosen. Den einzigen Luxus des Wohnzimmers verdankten wir den Spalten im Fußboden. Um sie zu bedecken, gingen Daddy und Mama
zur Lagerverwaltung, die vier Blöcke weiter weg war, und kauften ein Stück blaues Linoleum mit weißen Sternen darauf. Es war so glänzend und glatt. Henry und ich liebten es, auf Socken darauf herumzuschlittern, und Reiko kreischte vor Freude, wenn Daddy sie über den glatten Linoleumboden zog. In der Begrenztheit des anderen Raumes, der unser Schlafzimmer wurde, gab es keine Möglichkeit für eine ästhetische Anordnung. Er war mit fünf dicht aneinander gestellten Betten vollgestopft. Aber eines stellte Mama absolut sicher. Keines der Betten war kita makura – nach Norden gebettet. Denn das bedeutete Pech. Sie erzählte uns, daß man in Japan die Toten mit dem Kopf nach Norden legte. All unsere Kissen lagen gen Süden. Daddy lag am weitesten entfernt, dann kam Mama, dann war ein kleines Stück frei für die Tür zum Wohnzimmer, dann kamen in umgekehrter Geburtsreihenfolge Reiko, Henry und ich. Da ich der Älteste war, lag ich am weitesten von Daddy und Mama entfernt. Und ich hatte das Fenster über mir. Ich konnte von meinem Bett aus auf die Rückseite der nächsten Baracke sehen. Der Vorhang vor Daddys Fenster auf der gegenüberliegenden Seite blieb stets dicht geschlossen. Das war die Seite gegenüber der Speisebaracke. Eines Nachmittags nach unserem Schläfchen spielten Henry und ich hinter der Rückseite der Küche. Hinter einem Stapel leerer Gemüsekisten kam ein struppiger, schwarzer Hund hervor, mit braunen Pfoten und braunen Streifen auf der Seite, die wie verschmierte Erdnußbutter aussahen. Über seinen traurig aussehenden Augen hatte er zwei kleine, hellbraune Augenbrauen. Wir streichelten seinen Kopf, und er winselte erbärmlich. „Er muß hungrig sein“, sagte ich. „Wir holen etwas für ihn“, schlug Henry vor. Wir gingen an die Hintertür der Küche und baten Herrn Kikutani, einen der Arbeiter in der
Speisebaracke, uns etwas zu geben, womit wir den Hund füttern konnten. Er gab uns ein halbes Würstchen von dem Hauptgericht, das er fürs Abendessen vorbereitete. Der Hund schlang es gierig hinunter. Wir gingen zurück, um noch eines zu holen, aber diesmal wollte uns Herr Kikutani keines mehr geben. „Hey, ihr wißt, daß ich hier Leute füttern muß, keine streunenden Hunde“, sagte er. Aber während ich mit Herr Kikutani diskutierte, langte Henry hinter ihn, nahm ein weiteres halbes Würstchen heraus und schlüpfte leise hinaus. Ich bedankte mich für alle Fälle bei Herrn Kikutani und verließ die Küche. Als ich draußen ankam, war der Hund schon eifrig dabei, den kleinen Wurstzipfel in seiner Kehle verschwinden zu lassen. Er leckte seine Lefzen und schaute mich mit einem großen Hundelächeln und wedelndem Schwanz an. Er war einfach zu niedlich, um ihn hungrig zurückzulassen. Vielleicht hatte Mama ja noch etwas zu Essen für diesen Hund. Wir rannten heim und riefen: „Mama, Mama.“ Der Hund lief mit neuerweckter, würstchengestärkter Energie selig hinter uns her. Ich öffnete die Tür und hielt sie für den Hund auf. „Mama, Mama“, rannte Henry laut rufend hinein, und hinter ihm her der Hund. Dann hörte ich Mama kreischen, wie ich sie noch nie zuvor gehört hatte. Es klang, als ob jemand versuchte, sie umzubringen. Bei einem Blick nach drinnen sah ich den Hund in panischer Hilflosigkeit schlittern und rutschen. Er versuchte verzweifelt, auf dem glatten Linoleumboden sein Gleichgewicht zurückzugewinnen. Die Krallen seiner Pfoten waren auf der hochglanzpolierten Oberfläche völlig nutzlos, als er sich verzweifelt bis an den Rand des Linoleums vorkämpfte. Mit vor Schreck geweiteten Augen floh der zu Tode geängstigte Hund schließlich zurück zur Tür, und Mamas Kreischen hörte auf. Ich ging hinein, um eine ebenso
angsterfüllte Mama zu finden, die Henry so fest gegen ihre Brust drückte, daß er fast erstickte. „Nicht verletzt?“ fragte sie, und ihre Stimme zitterte vor Furcht. Sie ging schnell zur Tür, um sie zu schließen. „Oh, abunai Hund.“ Sie ließ Henry los, der hustete und nach Luft rang. „Mama, das ist ein hungriger Hund“, informierte ich sie. „Ich weiß. Der Hund hat Henry gejagt. Oh, abunai.“ „Nein Mama, das ist ein netter hungriger Hund“, beharrte ich. „Ja, Mama, es ist ein netter Hund“, keuchte Henry, bei dem Versuch, wieder Luft zu kriegen. Wir erklärten ihr, daß wir den armen hungrigen Hund hinter der Küche gefunden hatten. „Mama, haben wir etwas da, womit wir ihn füttern können?“ fragten wir. Beruhigt und ein wenig beschämt dachte Mama nach. „Ich habe Kekse“, bot sie an. Das waren die kleinen Imbisse, die sie für uns behielt. „Aber Hunde mögen keine Kekse“, meinte sie skeptisch. „Wir werden sehen“, riefen wir im Chor. „Können wir bitte einen Keks haben?“ Als wir herauskamen, stand der Hund in sicherer Entfernung vor unserer Tür. Aber als er Henry und mich sah, kam er mit wedelndem Schwanz herbei und wackelte mit seinem ganzen Körper vor Glück. Als er Mama hinter uns herauskommen sah, machte er eine Vollbremsung und kauerte sich mit gemischten Gefühlen auf den Boden. „Er glaubt, daß du eine furchtbare Dame bist“, sagte Henry zu Mama. Sie lächelte und brach den Keks in ihrer Hand in drei Stücke, reichte eines davon zu mir, eines zu Henry und behielt das letzte selbst. Ich bot ihm mein Stück zuerst an und fragte mich, ob er es wohl essen würde. Er kam heran, schnupperte, schleckte es mir aus der Hand und zerbiß es mit Genuß. Auch Henrys Stück nahm er sofort an. Jetzt war die furchtbare Dame an der Reihe. Mama hielt ihr Stück hin. Er wollte es nehmen, das konnte man sehen. Aber er
hielt sich zurück. Er hatte Angst vor dem schrecklichen Geräusch, das sie am Anfang gemacht hatte. Ich konnte den Konflikt in den armen, traurigen Hundeaugen sehen. Aber der Hunger gewann schließlich die Oberhand. Er sah vorsichtig zu Mama hoch und versuchte es mit einem Schwanzwedeln. Sie machte diesmal nicht dieses schreckliche Geräusch. Bedächtig kam er zu ihr heran, nahm ihr schnell das Keksstück aus den Fingern und verschluckte es mit einem einzigen Bissen. Und so wurde Blackie in Tule Lake zu einem Teil unserer Familie. Wir bauten ihm einen Schuppen hinter unserer Baracke, direkt unter meinem Schlafzimmerfenster. Wir bekamen immer ein bißchen mehr Lebensmittel, als wir zu jeder Mahlzeit essen konnten, so daß wir die Reste für Blackie mit nach Hause nehmen konnten. Blackie wurde unser Spielkamerad und ständiger Begleiter, wo auch immer wir hingingen, überall – außer in unserem Wohnzimmer. Er hatte Angst vor dem Raum mit dem verräterisch glänzenden Boden. Blackie weigerte sich strikt, sich dort hinein zu wagen, selbst wenn wir ihn hineinschoben. Daddy meinte, er sei ein kluger Hund. „Er lernt schnell. Kein lebendes Wesen hat es gern, wenn seine Welt plötzlich unbeständig wird“, sagte er. „Wir wollen ihm ein gutes Heim geben.“ Und Blackie mußte keine Angst haben, daß seine Welt plötzlich unbeständig wurde. Zumindest nicht, solange wir in Tule Lake waren. Für uns jedenfalls unterschied sich Tule Lake sehr von allem, was wir vorher erfahren hatten. Ich wachte bei Tagesanbruch von dem entfernten Lärm des Frühsports einer großen Zahl junger Männer auf. „Wah shoi, wah shoi, wah shoi, wah shoi.“ Ich lag da und hörte zu, wie der Ton näher und näher kam und dann wieder in der Entfernung verklang. „Wah shoi, wah shoi, wah shoi.“ Diese jungen Männer zählten im Chor, während sie in militärischer Ordnung in der kalten Morgenluft um die
Blöcke joggten. Sie alle trugen hachimaki um ihre Köpfe, weiße Stirnbänder, einige mit der aufgehenden Sonne darauf gemalt – die militärischen Insignien von Japan. Dies waren die jungen Männer, die durch ihre Desillusionierung und das Gefühl, von Amerika verraten worden zu sein, zu Radikalen geworden waren. Wenn sie von Amerika schon wie Feinde behandelt wurden, dann wollten sie Amerika eine Antwort geben, die es würde ernst nehmen müssen. Sie wollten Feinde werden und Amerika dazu zwingen, mit ihnen zu rechnen. Sie wollten ihre Muskeln ebenso stählen wie ihren Geist. Sie wollten vorbereitet sein auf den Tag, an den sie inbrünstig glaubten, an dem japanische Streitkräfte an Amerikas Westküste landen würden und wollten sich dann erheben und sich diesen anschließen. Tule Lake war ein Lager, in dem es vor politischen Spannungen brodelte. Obwohl die Lagerbevölkerung vorwiegend aus jenen bestand, die man als allgemein „treulos“ kategorisiert hatte, gab es innerhalb dieser Gruppe das volle Spektrum des religiösen Glaubens und der politischen Überzeugungen – von jenen, die auf dem LoyalitätsFragebogen mit „nein-nein“ geantwortet hatten, um mit diesem Protest ihre Würde zu bewahren, bis hin zu echten Radikalen, die neuerdings scharf darauf waren, Japan zu einem Sieg zu verhelfen. Zu dieser Gruppe gehörte Joe Kurihara, ein ehemaliger pro-amerikanischer Patriot und Veteran aus dem Ersten Weltkrieg. In seiner Bitterkeit darüber, von dem Amerika verraten worden zu sein, dem er vertraut hatte, schwor er offen, „ein hundertprozentiger Japs zu werden“. Die Lagerkommandanten betrachteten jedenfalls alle Internierten als Gegner und verschlimmerte die brenzlige Situation nur noch mehr mit den plumpen Versuchen, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Es gab mitternächtliche Überfälle der Wachen auf jene, die im Verdacht standen, die Anführer
der Radikalen zu sein, und oft wurden die Falschen verhaftet. Als radikal geltende Gruppen wurden aus bestimmten Arbeitsmannschaften entfernt, was die Unterbrechung wichtiger Aufgaben, wie zum Beispiel der Lieferung von Nahrungsmitteln und Brennmaterial bewirkte. Diese Maßnahmen wiederum wiegelten erneut zu Protesten und Demonstrationen auf. In diesem turbulenten Klima gedieh natürlich eine Atmosphäre des gegenseitigen Mißtrauens bestens. Jene, die auf bestimmten Arbeitsposten eingesetzt wurden, von denen andere abgezogen worden waren, standen bei den anderen Internierten im Verdacht, sich die Gunst der Lagerverwaltung verschafft zu haben. Die solchermaßen Verdächtigten wurden angeprangert, sie seien Denunzianten oder inu, das japanische Wort für „Hund“. Es gab gewaltsame Auseinandersetzungen, sogar Prügeleien, die nur noch mehr Restriktionen seitens der Kommandantur einbrachten. Es wurden Sperrstunden eingeführt, die Gegenwart von noch mehr schwer bewaffneten Wachen nötig machte. Die Internierten rächten sich mit Hungerstreiks und sogar mit Aufruhr. Keto! Das ist das Wort, an das ich mich bei all dem Geschrei am besten erinnern kann. „Keto, keto!“ Über all dem Chaos. „Gottverdammte keto!“ „Keto fahr zur Hölle!“ schrie man den Wachen zu, die mit ihren röhrenden Jeeps die wogende Menge einkreisten. Die Leute liefen nach allen Richtungen davon. Die Wachen in den Jeeps zielten mit ihren Waffen auf die Flüchtenden, verfolgten sie und wirbelten große Staubwolken auf, als sie in gefährlich engen Kurven und Kreisen hinter ihnen herrumpelten. Daddy und ich waren weit weg von jenen Jeeps, aber er hielt meine Hand fest, und wir rannten so schnell wir konnten. Wir rannten viele Blöcke weit, bevor wir nach Hause zurückkamen.
Ich erinnere mich nicht daran, warum wir so weit von zu Hause weg gewesen waren. Tatsächlich kann ich mich nicht einmal erinnern, warum wir überhaupt ein Teil von all dem Chaos waren. Aber das Geschrei, das Durcheinander und der Terror waren unvergeßlich. Diese eine Kindheitserinnerung hat sich in meinen Verstand eingebrannt wie ein Spritzer aus einem heißen Kochtopf auf der Haut. Sie hat mich versengt, aber mit der Zeit blieb nur noch eine kaum merkliche Narbe zurück. Ich kann mich noch erinnern, wie schrecklich dieser Tag war. Ich kann mir das Chaos und Durcheinander noch ins Gedächtnis rufen. Aber ich kann mich nicht erinnern, an was ich da teilgenommen hatte. Ich kann mich an die Ursache für diesen unvergeßlichen Terror nicht erinnern. Erst sehr viel später, als ich älter war, fragte ich Daddy über diese irgendwie zusammenhanglose Erinnerung aus. Er erzählte mir, daß wir gegen die willkürliche Inhaftierung von jemandem protestiert hatten, der verdächtigt wurde, ein Radikaler zu sein. Das war es, was er viele Jahre später einem Erwachsenen erzählte. Aber die Essenz der Erfahrung war hinweggeweht wie der Staub, den die wild kreisenden Jeeps aufgewirbelt hatten. Was sich in meinem Gedächtnis festgesetzt hat, war die Antwort, die Daddy mir auf meine Frage gab, nachdem wir heil zu unserer Baracke zurückgekehrt waren. „Was bedeutet keto, Daddy?“ fragte ich. Er erzählte mir, es sei ein wütendes Wort, mit dem man weiße Leute beschimpfte. „Aber warum?“ „Es ist ein schlechtes Wort, das benutzt wird, um Leute zu verletzen.“ „Aber die Wachen sahen nicht verletzt aus“, sagte ich. „Weil sie es nicht verstanden haben.“ „Aber was heißt es denn dann?“ „Es bedeutet ‘haarige Brut’“, antwortete mein Vater.
„Nun, weiße Leute sehen behaart aus. Schau nur die Arme der Wachen an.“ „Das mag sein. Aber es ist ein Wort, mit dem man beleidigen und verletzen will. Ich will euch niemals dieses Wort benutzen hören.“ „Auch nicht bei den Wachen?“ „Bei niemandem. Niemals. Es ist ein schlechtes Wort“, sagte Daddy in einem Tonfall der Endgültigkeit. Ich vermutete, daß keto ein weiteres jener geheimnisvollen Worte wie Sakana beach sein mußte. Mitte 1944 war Tule Lake eine durch Zorn, Verdächtigungen und Chaos zerbrochene Gemeinde. Die Gerüchte nahmen Überhand. Nachbarn verdächtigten Nachbarn. Die einfachste Meinungsverschiedenheit konnte in eine wütende Konfrontation ausarten, und oftmals brach Gewalt aus. In diese kritische Situation warf der Kongreß eine weitere Brandbombe. Es ging um den sogenannten „DenaturalisationsErlaß“. Diese Bestimmung, bekannt unter der Bezeichnung „Public Law 405“, besagte, daß ein amerikanischer Bürger auf amerikanischem Boden im Falle eines Krieges auf seine oder ihre Staatsangehörigkeit verzichten kann. Die unerbittlichen Wellen der anti-japanischen Hysterie hatten neuen Sprengstoff und ein weiteres verfassungsmäßig unhaltbares Gesetz produziert. Im Angesicht des von Tag zu Tag wahrscheinlicher werdenden Ende des Krieges fingen die Politiker der Westküste an, gegen die mögliche Rückkehr japanischer Amerikaner in ihre früheren Heime zu agitieren. Der Kongreßabgeordnete Clair Engle von Kalifornien, der später in den Senat der Vereinigten Staaten gewählt werden sollte, deklarierte: „Wir in Kalifornien wollen diese Japse nicht zurückhaben. Je mehr wir loswerden können, desto besser.“
Das Szenario, das man sich in Washington vorstellte, schien es erforderlich zu machen, daß man amerikanische Bürger mit japanischen Vorfahren dazu brachte, unter dem unerträglichen Druck in den Lagern auf ihre Staatsangehörigkeit zu verzichten, um so einen legalen Weg für ihre „Deportation“ als feindliche „Ausländer“ nach Japan zu eröffnen. Dies sollte ein besonders nützliches Werkzeug sein, um das Land von jenen unliebsamen radikalen Aktivisten von Tule Lake zu befreien. Das Ergebnis war eine neue überschwappende Welle von Qual und Tumult, in der sich nicht nur die Radikalen erhoben, sondern alle Internierten im Lager Tule Lake. Die Aktivisten wollten so viele wie möglich dazu bewegen, mit ihnen zusammen auf die Staatsangehörigkeit zu verzichten, und sie starteten einen aggressiven Missionierungs-Feldzug. Sie veranstalteten wilde und aufrührerische Zusammenkünfte. Die Lagerverwaltung reagierte mit noch mehr mitternächtlichen Überfällen, und wieder wurden meist die falschen Leute verhaftet. Es gab Wut und Zwietracht. Tule Lake verwandelte sich in einen kochendheißen Kessel widerstreitender Leidenschaften. Mama wurde von diesen inbrünstig pro-japanischen Kämpfern als eine aussichtsreiche Kandidatin für einen Staatsbürgerschaftsverzicht angesprochen. Sie hatte auf dem Loyalitäts-Fragebogen mit „nein-nein“ geantwortet und war mit einem in Amerika aufgewachsenen japanischen Einwanderer verheiratet. „Amerika behandelt euch wie Abfall“, argumentierten die Kämpfer. „Warum nehmt ihr diese rassistischen Beschimpfungen hin? Seid endlich stolz auf euer eigenes rassisches Erbe.“ Alles scheinbar überzeugende Argumente. Aber Mama nahm den Radikalen ihren militanten Druck übel, und sie reagierte gereizt, als einige von ihnen versuchten, ihre Entscheidung durch Daddy zu beeinflussen. Dies war ihre
Entscheidung, die sie ganz privat mit Daddy für sich und ihre Familie treffen mußte. Sie hatte nicht vor, sich von Fanatikern zwingen zu lassen. „Hito wa hito. Uchi wa uchi“, höre ich sie in meiner Erinnerung immer sagen: „Andere Leute sind andere Leute. Unser Haus ist unser Haus.“ Dann tat man in Washington voller Schwerfälligkeit und mit erstaunlicher Grausamkeit etwas, das den Fanatikern erst recht in die Hände spielte: Im Dezember 1944 kündigten die Beamten ohne jede Vorwarnung plötzlich die Schließung des Lagers an. In sechs Monaten bis maximal einem Jahr sollte das Hochsicherheitslager Tule Lake geschlossen werden. Dies war für die Internierten eine bestürzende Neuentwicklung. Terror fegte durch das Lager wie eine elektrische Entladung. Wir sollten „rausgeworfen“ werden als Fraß für die Wölfe. Es wurden noch immer weiße Jungs im Krieg von Japanern getötet. Der Feuersturm der Paranoia gegen japanische Amerikaner wütete an der Westküste mit voller Wucht. Radikale nationalistische Organisationen intensivierten ihren „Rottet die Japs aus“-Feldzug. Der Stacheldrahtzaun, der uns einsperrte, war ironischerweise auch unser Schutz. Und jetzt sollte er weg sein. Die Aktivisten nahmen dieses Geschenk aus Washington genüßlich an. „Da rausgehen und abgeknallt werden? Zur Hölle nein, nicht mit mir!“ Sie argumentierten, daß man die Regierung dazu zwingen könnte, das Lager Tule Lake weiter offen zu halten, wenn nur genügend Leute auf ihre Staatsangehörigkeit verzichteten. Der psychologische Druck war unerträglich. Mamas alleinige Sorge war es jetzt, ihre Familie sicher zusammenzuhalten. Es war nicht der Druck der Radikalen. Es hatte nichts mehr mit irgendeiner Doktrin zu tun. Mama hatte große Angst um die Sicherheit und das Wohlergehen ihrer Familie. Sie entschied sich dafür, Washington zu zwingen,
Tule Lake als einen sicheren Hafen für uns zu behalten. Sie verzichtete auf ihre amerikanische Staatsangehörigkeit. Mama wurde ein „denaturalisierter Bürger“. Während alle diese Dinge, die ein siebenjähriger Junge kaum verstehen konnte, um mich herumwirbelten, fanden eine halbe Welt weit weg Ereignisse statt, die für mich sogar noch unverständlicher gewesen wären. Diese mir damals unbekannten Entwicklungen in weiter Ferne sollten von tiefer und historischer Bedeutung für meine Zukunft sein. Im fernen Europa trugen die Brüder und Vettern der jungen Männer, die hier die aufgehende Sonne auf ihr hachi maki malten, die gleichen Uniformen wie die Soldaten, die uns aus den Waffentürmen heraus bewachten. Tatsächlich kämpften sie auf der gleichen Seite wie jene Wachen, die hinter den auf uns gerichteten Maschinengewehren standen. Diese jungen Männer, in deren Antlitz Amerika das des Feindes erkannte, vergossen ihr Blut, während sie Sterne und Streifen trugen. Es waren junge japanische Amerikaner, sich verpflichtet hatten, um ihrem Land trotz der befremdlichen Umstände zu dienen. GIs, so sagt ein Sprichwort, kämpfen um „Moms Apple Pie“ zu verteidigen. Aber junge japanisch-amerikanische GIs kämpften buchstäblich darum, ihre Moms aus amerikanischen Stacheldrahtzäunen herauszubekommen. Sie zogen in den Kampf, um unter den empörendsten Umständen ihren Glauben an die grundlegenden Ideale eines Landes zu beweisen, das eben jene Ideale selbst verraten hatte. In ihrer Entschlossenheit, von manchen auch blindes Vertrauen genannt, rüttelten sie Amerika zu einer Neubewertung ihrer Staatsangehörigkeit und der Kenntnisnahme ihrer Auffassung von Patriotismus auf. Und mit der Kühnheit und dem außergewöhnlichen Mut, den sie auf den Schlachtfeldern in Italien, Frankreich und Deutschland demonstrierten,
begründeten sie nicht nur ihren Ruf als gute Kämpfernaturen, sondern erhoben auch ihre Zugehörigkeit zu Amerika über jeden Zweifel. Der Heroismus dieser japanisch-amerikanischen GIs belebte die Ideale dieses Landes wieder und brachte eine neue Dimension in die Definition der amerikanischen Staatsangehörigkeit. Aber für welch einen furchtbaren Preis. Der durch und durch japanisch-amerikanische 442. Kampfverband verlor bei seinem ersten Einsatz an der italienischen Front am Arno bei Rom etwa ein Viertel seiner gesamten Truppenstärke. Um 40 Meilen gutzumachen, nahm man 1.272 Opfer in Kauf. Im Rheinland-Feldzug in Frankreich, bei der heroischen Rettung des „verlorenen TexasBataillons“, des hinter den Feindlinien gefangenen Ersten Bataillons des 141. Regimentes, wurden 800 Männer geopfert, um 211 zu retten. Bei Kriegsende hatte der 442. Kampfverband einen außerordentlichen Rekord an Einsätzen aufzuweisen und erwies sich als die höchstdekorierte Einheit des Zweiten Weltkrieges. Er hatte aber auch die größte Opferrate eines Verbandes seiner Größenordnung aufzuweisen. Im Juli 1946 empfing Präsident Harry Truman die japanischamerikanischen Soldaten auf dem Rasen vor dem Weißen Haus und sagte: „Sie kämpften nicht nur gegen den Feind, sondern sie kämpften auch gegen Vorurteile – und sie haben gewonnen.“ Und es gab noch andere Ereignisse an weit entfernten Orten, die uns in Tule Lake beeinflußten. Ich stand neben dem Waschhaus, als ich von einem dieser Ereignisse hörte. Eine Gruppe Männer stand herum und redete mit ernsten Gesichtern. Ich schlenderte hinüber und hörte den Mann mit der Glatze sagen: „Er ist nicht wirklich tot. Es ist ein Trick. Verlassen Sie sich darauf, es ist ihnen zuzutrauen, daß sie so etwas versuchen.“
Aber Herr Takeda, unser Nachbar, beharrte: „Nein, es muß wahr sein. Ich war heute morgen im Büro der Lagerkommandantur, und sie hatten die Fahne auf Halbmast.“ Ein schlanker junger Mann fragte: „Kein Scherz? Tatsächlich? Dann muß Roosevelt tatsächlich tot sein. Naja, wer weiß.“ Aber der kahlköpfige Mann blieb stur: „Es ist ein Trick. Ich sage Ihnen, es ist ein Trick.“ Ich rannte nach Hause, um Mama zu erzählen, daß ein Mann namens Roosevelt gestorben war und daß sie Angst hätten, es könnte nur ein Trick sein und daß man deswegen die Flagge auf Halbmast gesetzt habe. Beim Abendessen gab Daddy dann offiziell bekannt, daß Präsident Roosevelt verschieden war. Die weitaus verheerendere Nachricht für die Internierten kam ein Jahr später an einem Sommertag im August. Eine neue Bombe, zerstörerischer als alles, was die Menschheit je zuvor erfunden hatte, war auf Japan abgeworfen worden. Die Nachricht kam knisternd über hereingeschmuggelte Kurzwellen-Rundfunkempfänger. Niemand wußte, wer die Nachricht zuerst gehört hatte, aber alle redeten darüber. Diese fürchterliche Waffe, man nannte sie eine Atombombe, war auf die im Süden Japans gelegene Stadt Hiroshima geworfen worden. Die Zerstörungen, die diese Bombe anrichtete, waren schon grausig, aber der nachfolgende Feuersturm war erst recht katastrophal – Zehntausende von Menschen waren in der Feuersbrunst getötet worden. Dann, drei Tage später, wurde noch eine Atombombe geworfen – diesmal auf die Stadt Nagasaki. Die Leute von Tule Lake waren wie betäubt. Die schnelle Folge der Ereignisse hatte sie überwältigt. Die zwei Bombenabwürfe, so grausig sie waren, stellten für viele auch tiefgehende persönliche Tragödien dar. Eine beträchtliche Zahl
der Internierten hatten Familien und nahe Verwandte, die in den beiden Städten lebten. Unsere Familie war eine davon. Unsere Großeltern, Mamas Vater und Mutter, waren vor Kriegsausbruch nach Japan zurückgekehrt. Sie waren nach Hiroshima gegangen. Mama war außer sich vor Sorgen. Jeder Fetzen von Nachrichten über das Bombardement wurde verzweifelt gesucht. Jedes Stückchen Information, das aus einem Kurzwellenradio kam, wurde begierig aufgenommen. Sogar die Gerüchte wurden bis zu ihrem wirkungslosen, bedrückenden Ende verfolgt. Aber nichts Zuverlässiges stand zur Verfügung. Die grausige Gewißheit, so furchtbar sie auch immer sein mochte, wäre erträglicher gewesen, als die Folter dieser Ungewißheit. Mama wurde verrückt vor Angst. Daddy sagte schließlich zu ihr: „Es war ein verheerendes Bombardement. Eine unglaubliche Zahl von Leuten ist getötet worden. Aber du mußt weiterleben. Du mußt dir selbst Frieden geben. Um deinetwillen, für dein eigenes Wohlergehen laß uns annehmen, daß deine Eltern umgekommen sind.“ Erst viel später, lange, nachdem wir aus dem Lager gekommen waren, erfuhren wir, daß unsere Großeltern wie durch ein Wunder den Atombombenabwurf auf Hiroshima überlebt hatten. Aber eine von Mamas jüngeren Schwestern, unsere Tante Ayako, war mit ihrem Baby in diesem Holocaust gestorben. Der Krieg war vorüber, und Japan hatte sich ergeben. „Es war unvermeidlich“, sagte Daddy. „Ich wußte, daß es dazu kommen würde. Aber es gibt einige, die es einfach nicht verwinden können.“ Als Daddy beim Mittagessen in der Speisebaracke diese schwerwiegende Nachricht bekanntgab, stand eine Gruppe älterer Männer schweigend auf und ging, ohne zu Mittag zu
essen. Als ich später zur Latrine ging, stand der kahlköpfige Mann alleine da und brüllte jeden an, der vorüberging: „Es ist eine Lüge. Glaubt es nicht. Es ist ein weiterer Trick.“ Aber er war nur eine einzelne Stimme. Es gab keine Hysterie. Eine seltsame Stille senkte sich auf einmal über das turbulente Tule Lake. Jetzt standen wir einer neuen Sorge gegenüber, den unbekannten Gefahren eines Lebens außerhalb der Stacheldrahtumzäunung, ohne jeden Schutz. Es gab nur eine Gewißheit: Das Lager Tule Lake sollte geschlossen werden. Im Februar 1946 sollte es endgültig soweit sein. Wir hatten jetzt sechs Monate Zeit, um Pläne zu machen – für ein neues Heim draußen in einem feindlichen Amerika. Dann schlug ein neuer Blitz ein. Es wurde angekündigt, daß diejenigen, die die amerikanische Staatsangehörigkeit abgelegt hatten, nach Japan „deportiert“ werden sollten. Der 15. November 1945 war das Datum, an dem das erste Schiff abfahren sollte. Und Mama stand auf der Passagierliste. Ihr waghalsiges Opfer für unsere Sicherheit war fürchterlich schiefgegangen. Daddy und Mama wurden von dieser neuen Drohung sehr mitgenommen. Ich erinnere mich an Nächte, in denen mich etwas aufwachen ließ. Ich lag im Dunkeln und hörte Daddy und Mama bei ihren intensiven, geflüsterten Unterhaltungen zu. Henry und Reiko schliefen. Ich tat nur so, als ob. Am Tage gingen sie auf lange Spaziergänge weit weg von unserer Baracke, um ein bißchen Privatsphäre zu bekommen. Mama kam oft völlig aufgewühlt zurück und tupfte sich ihre stark geröteten Augen mit ihrem Taschentuch ab. Mama und all die anderen in der gleichen Situation brauchten rechtlichen Beistand. Eine fürchterliche Kettenreaktion war ausgelöst worden, von einem Akt der Verzweiflung in höchster Not. Aber wer würde sie vertreten? Warum sollte jemand einen
solch unpopulären Fall übernehmen? Mama und die anderen „Abtrünnigen“ waren Ausgestoßene. Sie wurden sogar noch mehr verachtet als die japanischen Amerikaner, hatten sie doch auf die amerikanische Staatsangehörigkeit verzichtet. Und sie waren der ganzen Macht der Regierung der Vereinigten Staaten hilflos ausgeliefert. Es war eine unmögliche Situation. Manchmal frage ich mich nach den Wendepunkten eines Lebens. Gewöhnlich sind es bedeutende historische Zeitpunkte wie beispielsweise Krieg und Frieden, der große unvermeidliche Fluß der Ereignisse, die ein Schicksal entscheiden. Aber wie ein kleiner Kiesel manchmal die Richtung eines ganzen Flusses ändert, kann in stürmischen Zeiten auch ein einzelnes Individuum den Kurs des Lebens eines anderen Menschen verändern. Ich frage mich, wie wohl mein Leben verlaufen wäre, und wer ich wohl heute wäre, wenn es zu diesem entscheidenden und scheinbar hoffnungslosen Zeitpunkt in unserem Leben nicht einen tapferen Mann gegeben hätte, der mutig für uns eintrat. Wayne Collins, ein glänzender Rechtsanwalt aus San Francisco und leidenschaftlicher Kämpfer für die grundlegenden Garantien der Verfassung, übernahm den schwierigen Fall japanischer Amerikaner, die ihre Staatsangehörigkeit aufgegeben hatten. Er sagte: „Sie können die Staatsangehörigkeit im Kriegsfall ebensowenig zurückgeben, wie die Zugehörigkeit zur menschlichen Rasse.“ Vor Gericht argumentierte er, daß dieser Verzicht nicht das Produkt des freien Willens war, sondern durch die rechtswidrige Haft und die Zustände erzwungen wurde, die im Lager Tule Lake vorherrschten, und für die einzig und allein die Regierung verantwortlich war. Der 15. November, der Tag der Deportation kam. Das Schiff, auf dem Mama und wir hatten mitfahren sollen, legte mit einer vollen Passagierliste ab. Aber wir waren noch in Tule Lake.
Wayne Collins hatte Mama eine Anhörung mit aufschiebender Wirkung verschafft, wenige Tage vor der Abfahrt des Schiffes. Er hatte uns buchstäblich in letzter Sekunde gerettet. Es sollte viele sorgenvolle Jahre dauern, in denen Wayne Collins unermüdlich für Mama tätig war, um ihre amerikanische Staatsangehörigkeit wiederherstellen zu lassen. Aber bis dahin erwirkte er zumindest eine Aufenthaltsgenehmigung für sie. Und damit sorgte Wayne Collins dafür, daß Mama auf amerikanischem Boden bleiben konnte. Damit nahm er auch entscheidenden Einfluß auf mein Schicksal. Daddy und Mama hatten jetzt eine weitere wichtige Entscheidung für unser Leben zu treffen: Wohin sollten wir ziehen? Einer meiner Onkel, Daddys älterer Bruder, hatte sich für Salt Lake City in Utah entschieden. Er berichtete, daß die dort ansässigen Mormonen ein gastliches Klima für japanische Amerikaner boten. Zwei von Mamas Vettern waren in Chicago, einer studierte Medizin an der Universität von Chicago. Es sei eine große Stadt mit vielen Arbeitsmöglichkeiten, schrieben sie. Einige ihrer Freunde waren ins weit entfernte Seabrook (New Jersey) gezogen, wo es Arbeitsplätze in der Gemüse-Tiefkühlindustrie gab. Jede Möglichkeit schien in gewisser Weise attraktiv für eine neue Heimat zu sein, und jede hatte ihre Nachteile. Los Angeles war immer noch in ihren Köpfen. Es war die Stadt, aus der sie kamen, die sie kannten und liebten. Aber die Westküste war noch immer erfüllt mit antijapanischer Leidenschaft. Um die Rückkehr der Internierten zu erleichtern, war die Regierung jetzt sehr bemüht, die heroischen Taten der japanisch-amerikanischen GIs des 442. Kampfverbandes öffentlich groß herauszustellen. Aber Daddy wußte von Berichten, aus denen hervorging, daß heimgekehrte
kriegsversehrte Nisei-Veteranen nicht nur beleidigt, sondern tatsächlich aus Restaurants und Friseurgeschäften hinausgeworfen worden waren. Oberbürgermeister Fletcher Bowron von Los Angeles, einer der leidenschaftlichsten Anführer derjenigen, die schon zu Beginn des Krieges die Rückführung japanischer Amerikaner gefordert hatten, war noch immer im Amt. Und doch liebten meine Eltern Los Angeles. Trotz allem zog es sie dorthin. Ich habe den Verdacht, daß es zum Teil auch die Herausforderung war, etwas von dem zurückzubekommen, was ihnen früher gehört hatte. Darum zu kämpfen, etwas Wertvolles wiederzuerlangen. Es ging ihnen um ihre Erinnerungen und ihre Würde. Ich erinnere mich an Daddys abschließende, entscheidende Worte: „Laßt uns in Los Angeles neu anfangen.“ Wir hatten also vor, in die Stadt zurückzukehren, aus der wir einst gekommen waren. Sie wollten jedoch nicht die Sicherheit von uns Kindern riskieren. Die Verhältnisse dort waren einfach noch zu ungewiß. Daddy sollte uns zunächst verlassen, um das Klima im Nachkriegs-Los Angeles zu testen. Dies sollte das erste Mal sein, daß unsere Familie nicht zusammen sein würde. Aber es mußte getan werden. Daddy verließ das Lager Tule Lake am 22. Dezember 1945 – gerade mal drei Tage vor Weihnachten. Ich habe liebevolle Erinnerungen an alle meine Weihnachtsfeste in den Lagern. Aber aus irgendeinem seltsamen Grund kann ich mich an das Weihnachten von 1945 nicht mehr erinnern. Mama sagte, daß sie einen Steppenläufer mit Früchten und Süßigkeiten geschmückt hätte. Sie sagte, daß wir am Weihnachtsmorgen Geschenke ausgepackt hätten und sie heiße Schokolade für uns gemacht habe. Ich erinnere mich an nichts davon. Ich erinnere mich nicht einmal an die Tatsache, daß wir ein Weihnachten ohne Daddy hatten.
Irgendwie ist Weihnachten 1945 völlig aus meinem Gedächtnis verschwunden. Es war am Abend des 6. März 1946, und unsere letzten paar Stunden in Tule Lake waren angebrochen. Das Datum vom Februar, in dem das Lager Tule Lake geschlossen werden sollte, war auf den 20. März 1946 verschoben worden. Wir waren fast die letzten, die in Block 80 noch übrig waren. Der Wagen würde bald kommen, um uns nach Klamath Falls in Oregon zur Bahnstation zu bringen, von wo aus wir einen Zug nach Los Angeles nehmen sollten. Mama hatte uns alle warm eingekleidet, und wir waren bereit für die lange Reise. Während sie noch mit dem Packen der letzten Dinge beschäftigt war und sich über Henry und Reiko aufregte, schlenderte ich den Weg hinüber zu unserer alten Speisehalle. Sie war in den letzten drei Wochen nicht mehr benutzt und geschlossen worden. Lagerbeamte hatten uns in die Speisehalle von Block 79 verlegt, weil so viele Leute Block 80 schon verlassen hatten. Einige der Internierten waren auf einem zweiten Schiff nach Japan deportiert worden, andere hatten das Lager verlassen, um sich draußen anzusiedeln. Ich berührte die alte verwitterte Tür, auf die wir jeden Tag hinübergesehen hatten. Sie schien so abgetragen, müde, aufgebraucht. Ich zog daran, und sie öffnete sich knarrend. Die Speisebaracke war völlig leer. Alles war weg – Tische, Bänke, sogar die Theke. Alles. Nur eine weite Leere blieb. Dieser gewaltige Saal, der immer so erfüllt gewesen war mit dem Lärm von unzähligen Tabletts, Geräten, Töpfen und Pfannen, dem Geplapper und Gelächter schreiender Kinder und scheltender Eltern, dieser Raum, stets so voller Töne des Lebens, war jetzt nur noch gespenstisch still. Der große Saal, der immer so sehr nach den angenehmen Düften von Lebensmitteln oder dem säuerlichen Stich der Reinigungs- und Desinfektionsmitteln roch, war jetzt frei von jedem Aroma.
Nur ein geruchloses Nichts war geblieben. Nichts außer kalter, leerer Luft. Ich starrte hinein in diesen weiten Raum, in dem mich einst die Abenteuer von Samurais und Ninjas und die Qualen des armen Buckligen von Notre Dame aufgewühlt hatten. Jetzt war es nur noch eine schweigende, leblose Leere. Die Ankündigungen, die Daddy hier bei den Mahlzeiten gemacht hatte, schöne Nachrichten ebenso wie ernste Mitteilungen, waren jetzt einzig Echos von Erinnerungen. Sogar Daddy war weg. Ich stand lange allein in der ungeheuren Leere. Dann hörte ich Blackie draußen bellen. Ich warf noch einen abschließenden Blick in die Runde, dann schritt ich hinaus und schloß die Tür zum letzten Mal von außen. Blackie wartete auf mich mit seinem großen Hundelächeln. Er wußte nicht, daß man uns verboten hatte, ihn mit uns nach Los Angeles zu nehmen. Er wedelte mit seinem Schwanz und wußte nicht, daß wir niemanden hatten finden können, der sich um ihn kümmern würde. Er sah zu mir auf mit jenen großen vertrauensvollen Augen und hatte keine Ahnung, daß seine Welt ganz plötzlich wieder sehr unsicher werden sollte. Ich umarmte ihn fest. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, daß wir ihn hier zurücklassen mußten. Aber es gab nichts, was wir hätten tun können. Ich blieb bei ihm in der kalten Abendluft, bis die Wachen schließlich kamen, um uns einzuladen. Und nicht einmal im Auto, als wir schon weit weg von Block 80 und Blackys rasendem Bellen waren, konnte ich aufhören zu weinen.
4 Wieder Daheim Der Zug rüttelte und wiegte uns, teils schlafend, teils wach die ganze Nacht hindurch. Aber bei Tagesanbruch schien niemand müde zu sein. Der ganze Wagen befand sich in ruheloser Anspannung. Wir näherten uns Los Angeles. Ken Wakabayashi, ein Freund der Familie und auch aus Block 80, den Daddy, als er das Lager verließ, gebeten hatte, sich um Mama und uns Kinder zu kümmern, saß neben mir. Mit seiner weichen, höflichen Stimme erzählte Ken mir alles von diesem wunderbaren Ort namens Los Angeles. Dort sei es immer warm und sonnig, sagte er. Wir würden die schwere Kleidung von Tule Lake nicht mehr länger brauchen. Autos und Straßenbahnen würden uns hinbringen, wo auch immer wir hinwollten. Keine Sperrstunden, keine Wachen, keine Zäune. Nichts, was uns davon abhielt, hinzugehen, wo auch immer es uns gefiel. Es gab große, große Gebäude und nette kleine Häuser mit grünem Rasen. Ken erzählte mir alles von diesem Paradies. Aber für mich war die wichtigste Sache an Los Angeles, daß dort Daddy auf uns wartete. Als wir uns einem großen, grünen Berg näherten, fuhr unser Zug langsamer. Es gab jetzt viele Gleise um uns herum, und überall waren Züge. Ich hatte noch nie so viele gesehen – manche standen einfach da, andere fuhren hin und her, als ob sie sich nicht entscheiden konnten, wohin sie wollten. Unser Zug fuhr langsam durch sie hindurch und schaffte es irgendwie, nicht mit anderen zusammenzustoßen. Der große, grüne Berg war schließlich zu Ende. Die Gleise folgten
anscheinend der Kurve am Fuß des Berges. Es schien, als ob der Berg ein Vorhang sei, der zurückgezogen wurde, um das Schauspiel dahinter zu enthüllen. Langsam aber sicher hatten wir den Bogen vollendet. Direkt vor unseren Augen sah ich große, prachtvolle Gebäude, die bis in den Himmel reichten, genauso, wie Ken es mir erzählt hatte – einige waren oben reich verziert mit steinernen Ornamenten, auf anderen waren riesige Buchstaben auf spinnwebartigen Halterungen montiert, die so groß waren wie die Gebäude selbst. Und alles überragend thronte weit über ihnen ein glatter schneeweißer Turm strahlend im späten Morgensonnenschein. „Das ist das Rathaus von Los Angeles“, erzählte mir Ken. „Es ist das größte Gebäude in der Stadt. Nichts Größeres kann je gebaut werden.“ Ich war völlig ergriffen. Es war das schönste Gebäude, das ich je gesehen hatte. Mama stieß mich an und sagte: „Dort haben Daddy und Mama geheiratet.“ So, wir selbst hatten also eine Beziehung zu dieser majestätischen Struktur, dachte ich. Das machte es noch eindrucksvoller. Mama wies auf eine der oberen Etagen. „Sehen Stockwerk oben?“ Ich konnte wirklich nicht sagen, auf welches sie deutete, aber ich nickte einfach und sagte: „Ja.“ „Oh, ich habe so nette Erinnerungen. So nett.“ Ich merkte damals, daß dies der Ort war, an dem Mama ihre Erinnerungen zurückgelassen hatte. Sie kehrte nun nach Hause zurück, zu einem Leben, das sie vor mir gehabt hatte. Dann war dieser wunderbare, aufregende, neue Ort also auch ein Teil meiner Vergangenheit. Diese Stadt, in der ich vor acht Jahren geboren worden war, und in der nun Daddy auf uns wartete, dieser Ort meiner Träume, lag nun unmittelbar vor mir. Ich konnte es kaum erwarten, bis der Zug endlich anhielt.
Daddy stand da auf dem Bahnsteig und lächelte und winkte. Er sah genauso aus, wie ich ihn in Erinnerung hatte. Sogar die zehn langen Wochen, in denen wir ihn nicht gesehen hatten, hatten ihn kein bißchen verändert. Er trug den gleichen grauen Anzug und hatte denselben abgenutzten Panamahut auf dem Kopf, wie an dem Tag, an dem er uns verlassen hatte. Er stand da, strahlend und mit ausgestreckten Armen. Wir alle rannten zu ihm hin und umarmten ihn von allen Seiten. Wir stießen ihm seinen Hut herunter, aber er lachte immer nur weiter. Wir waren so glücklich, daß wir nicht sprechen konnten. Wir konnten einfach nur weiter lachen. Dann bemerkten wir Reiko, die sich schüchtern hinter Mamas Rockzipfel versteckte. Die zehn Wochen hatten ihren Tribut gefordert. Daddy war für Sie nur noch eine vage Bekanntschaft geworden. Daddy lachte und bot ihr sehr formell seine Hand an. Nur nach energischem Anfeuern durch uns alle schüttelte sie schließlich schüchtern, fast nur versuchsweise seine Hand. Jetzt waren wir wieder eine vollständige Familie. Wir gingen durch einen langen Tunnel, in dem das Echo von unzähligen eiligen Schritten polterte. Ich schleppte einen Handkoffer; Henry kämpfte mit einem anderen. Daddy trag drei Koffer, den kleinsten unter den Arm geklemmt. Mama hielt Reiko an der einen Hand und trug in der anderen die große Tasche mit ihrer transportablen Nähmaschine darin. Sie hatte die Maschine wieder den ganzen Weg mit zurück nach Los Angeles gebracht. Plötzlich kamen wir auf einen riesigen Platz, dessen schiere Größe mich in meinem Schritt innehalten ließ. Die Wände waren mit schönen spanischen Kacheln geschmückt. „Dieses ist der Warteraum der Union-Station“, verkündete Daddy. Er war hundertmal größer als alle Speisesäle in unserem Lager zusammengenommen. Mama stupste mich, damit ich weiterging. Voll Verwunderung stolperte ich vorwärts, gaffte
in die großen, eleganten, sich drehenden Schaufenster und starrte zu den großen geschmückten Balken hoch oben an der Decke hinauf. Ich hatte noch nie einen so monumental großen Raum erlebt. Und zu denken, daß dies von Menschen erbaut worden war… Das war eine wunderbare Leistung. Mir war schwindelig vor Ehrfurcht. Und überall waren Leute, die diesen prachtvollen Raum einfach ignorierten. So viele Leute in solch großer Vielfalt. So viele Gesichter, die nicht japanisch waren. So viele waren hübsch angezogen. Und alle hatten es furchtbar eilig, in die eine oder andere Richtung zu gehen. Und die Soldaten in Los Angeles trugen keine Gewehre. Sie waren einfach nur ein Teil des großen Menschenstromes, der sich in aller Eile irgendwohin bewegte. Schwarze Leute in unterschiedlichen Uniformen trugen eilig das Gepäck anderer Leute. Es war zu viel, um alles auf einmal aufzunehmen. Als wir in den hellen Sonnenschein hinaustraten, sahen wir wieder, diesmal noch weißer und herrlicher als zuvor, das Rathaus von Los Angeles. Daddy führte uns zur Straße. Und als ob sie auf uns gewartet hätte, stand da etwas, das Daddy eine Straßenbahn nannte – eine gelb und grün angemalte, stromlinienförmige kleinere Ausgabe eines Eisenbahnwagens. Wir kletterten hinein, und mit einem lauten „ding-ding“ fuhren wir los. Von meinem Fenster hatte ich einen unglaublichen Ausblick nach dem anderen. Die Straße war voll mit Autos in einer erstaunlichen Vielfalt von Stilen und Farben. Aber es gab keine Jeeps. Ich sah Plakatwände mit riesigen Bildern von bemerkenswert schönen weißen Männern und Frauen, die Zigaretten rauchten und Limonade oder Alkohol aus eleganten Gläsern tranken. Plötzlich sauste ein großer roter Lastwagen vorbei, laut und durchdringend hupend und mit einem erschreckenden Sirenengeheul. Das lärmende „Rat-tat-tat“ der
Bauarbeiter, die mit mächtigen Geräten den Straßenbelag aufrissen, klang fast angenehm, nachdem der rote Laster weg war. Die Straßenbahn bog an der Ecke First Street und Alameda ab. Daddy flüsterte: „Jetzt werden wir durch das alte Little Tokyo fahren.“ Daddy und Mama hatten mir so viel von diesem japanischen Stadtteil von Los Angeles erzählt, daß ich gespannt war zu sehen, wie er wirklich aussah. Ich sah zu Mama hinauf, um sie zu beobachten, wie sie einen weiteren Teil ihrer Erinnerungen zurückgewann. Aber statt der glücklichen Erwartung, mit der ich gerechnet hatte, sah sie schockiert aus. Ich hörte, wie sie zu Daddy flüsterte: „So viele schwarze Leute jetzt hier.“ Wir fuhren durch eine Gegend mit alten Ziegelgebäuden mit Geschäften und Restaurants, und genau wie Mama bemerkt hatte, standen eine Menge schwarzer Leute herum. Daddy flüsterte zu Mama: „Sie nannten Little Tokio während des Krieges Bronzeville. Aber die Japaner kommen jetzt zurück. Schau, Nisei Sugar Bowl ist schon zurück. Dort gibt es immer noch den besten Kaffee und Apfelkuchen der ganzen Stadt. Und sieh, dort drüben ist Kyodo Drug Store. Wir kommen zurück.“ Bevor wir es merkten, rollten wir schon an einen neuen Block heran, mit einer eindrucksvollen Gebäudefassade und einem üppigen grünen Park davor. Daddy stieß mich an. „Das ist das Rathaus.“ Wir waren jetzt tatsächlich vor dem größten Gebäude in Los Angeles. Ich verrenkte meinen Hals, um den Gipfel des hoch aufragenden Turmes zu sehen, aber das Straßenbahnfenster war nicht groß genug, die volle Höhe dieses eindrucksvollen Wolkenkratzers darin unterzubringen. So, das Rathaus ist also ganz in der Nähe von Little Tokio, dachte ich.
Dann bogen wir um eine weitere Ecke, und sofort war die ganze Straße ein Meer glänzender Farben und blendender Lichter. Das war der Broadway, Los Angeles’ feinste Straße mit all den Filmpalästen und großen Kaufhäusern. Im hellen Tageslicht blitzten von riesigen Vordächern Neonschriften, farbige Lichter und große weiße Glühbirnen. Jedes Vordach präsentierte eitel seine aktuelle Vorführung und wetteiferte damit um die Aufmerksamkeit des Betrachters. Zwischen den Theatern mit Namen wie Million Dollar, Roxy, Palace, Los Angeles, Lowe’s State und Orpheum gab es zauberhafte Schaufenster von Geschäften mit Namen wie Bullock’s, Desmonds, May Co. – und ganz passend – Broadway. Während die Vordächer in einer unaufhörlichen Bewegung aus Farben und Licht flackerten und tanzten, waren die Schaufenster die Quintessenz gefrorener Anmut und Heiterkeit. Und auf der Straße waren so viele Leute, überall Leute. Und alle hatten es eilig, irgendwohin zu gehen. Im Jahr 1946 war Los Angeles ein erstaunlicher Ort – eine elektrisierende Stadt und eine überwältigende neue Erfahrung. Im Gegensatz zu der mit Stacheldraht eingezäunten Eintönigkeit und dem Durcheinander der Internierungslager war diese explosive Aktivität und verwirrende Vielfalt eine Offenbarung. Ich mochte hier geboren worden sein, aber ich hatte keinerlei Erinnerung daran. Es war alles so neu. Ich fühlte mich in meiner Heimatstadt wie ein Fremder. Wir stiegen an der Kreuzung Broadway und Fifth Street aus und gingen die Fünfte in östlicher Richtung entlang. Einen Block weiter veränderte sich der Charakter der Straße. Wir überquerten eine baumbeschattete Straße mit großen und eindrucksvollen Bürogebäuden mit Granitfassaden. Hier waren viele modisch gekleidete Männer und nur wenige Frauen. Daddy erzählte uns: „Das ist Spring Street, das FinanzZentrum von Los Angeles. Hier machen die Männer das große
Geld, und am Broadway geben die Frauen das große Geld wieder aus.“ Ein neuer Block, und wieder eine Veränderung. Hier waren die Männer lässiger angezogen, und die Frauen trugen Kleider, die enger waren, als alles, was ich je zuvor gesehen hatte. Sie hatten Schuhe mit hohen Absätzen an, die durch dicke Plateausohlen noch höher gemacht waren. Es gab eine Menge Soldaten in allen möglichen Uniformen – Armee, Marine und Marineinfanteristen. Aber diese Soldaten waren nicht wie die Wachen im Lager. Dies waren glückliche, lachende, entspannte Soldaten. Tatsächlich waren einige von ihnen regelrecht ausgelassen. Sie taumelten von einer Seite auf die andere. Diese Straße war ein einziger vibrierender Nachtclub. Aus den offenen Türen hörte ich den Klang von Musikboxen herauswehen, zusammen mit einem reichlich starken Geruch nach alkoholischen Getränken. Auch auf dieser Straße gab es Vordächer mit flackernden Neonreklamen, aber vor diesen Theatern hingen Plakate mit lebensgroßen Bildern stattlicher Frauen, die nichts auf dem Leib trugen, außer ein paar spärlichen Schmuckstücken an drei strategischen Punkten ihres Körpers. Mama drängte uns schnell an diesen Theatern vorbei. „Hayaku, hayaku, beeilt euch, beeilt euch“, drängelte sie. Einen Block weiter gab es noch mehr Veränderungen. Ich war entsetzt, Leute zu sehen, die auf dem Pflaster lagen und nach Alkohol stanken. Noch ein paar Blocks weiter bogen wir in eine heruntergekommene, enge Straße mit dem Namen Wall Street ein. Zerzauste Männer mit trüben Augen standen herum und lehnten an den Hauswänden. Ich hatte noch nie zuvor Leute wie diese gesehen. Sie waren mir unheimlich – bemitleidenswert und erschreckend zugleich. Wir eilten an langen Reihen von Mülltonnen vorbei, von denen einige auf den Bürgersteig überquollen. Es stank nach verfaulten
Lebensmitteln, und der Geruch von Urin stach aus den dunklen engen Winkeln zwischen den Gebäuden hervor. „Hayaku, hayaku.“ Mamas geflüsterte Ermahnungen erschien jetzt fast gehetzt. Aber ihr Gesicht blieb ausdruckslos. Wir kamen zu einem schmutzigen, dreistöckigen Ziegelgebäude, mit einer dunkelorangfarbenen Lichtreklame, die brutzelte und flackerte. Zu lesen stand: „Alta Hotel.“ „Das ist es“, kündigte Daddy an. „Wir sind da. Es gibt hier eine Menge anderer Familien aus dem Lager“, sagte er beruhigend. Mama hielt für einen ganz kurzen Augenblick inne und starrte das Gebäude an, ausdruckslos, völlig ruhig. Dann folgte sie Daddy hinein. Wir wankten ihm nach, einen dunklen Korridor entlang. Dann ging Daddy eine Treppe hinauf. Ein lautes Stampfen betonte jeden seiner Schritte. Wir Kinder waren erschrocken. Wir waren vorher noch nie in einem zweistöckigen Gebäude gewesen. Wir waren noch nie in unserem Leben Treppen hinaufgegangen. Erwartete man von mir etwa, daß ich ganz allein in die erschreckende Höhe dieser Treppe hinaufstieg? Und auch noch diesen Koffer da hinaufschleppte? Henry und Reiko weigerten sich einfach hinaufzugehen. Also blieb Mama mit uns am Fuß der Treppe. Wir hielten unseren Atem an, während wir beobachteten, wie Daddy die Treppen hinauf und herab stampfte und jedesmal ein paar Gepäckstücke mit auf die Reise nahm. Nachdem er sie alle nach oben befördert hatte, kam er herunter, und wir hielten uns alle an den Händen. Aber Reiko weigerte sich absolut, mit uns hinaufzugehen. Sie mag schon fünf Jahre alt gewesen sein, aber sie beharrte darauf, von Mama getragen zu werden. Erst nachdem Mama auf Erschöpfung plädierte, war Reiko damit einverstanden, sich von Daddy die Treppen hinauftragen zu lassen. Daddy nahm also unsere Schwester auf den Arm und hielt meine Hand. Mit meiner anderen hielt ich Henrys Hand
fest. Mama hielt seine andere, und so gingen wir hinauf. Vorsichtig nahmen wir eine Stufe nach der anderen. Ich klebte mit meinen Augen förmlich an jedem Tritt fest, während Mamas Blick nach oben gerichtet war. Sie schien eher über das beunruhigt zu sein, was uns oben erwartete. Daddy sagte immer wieder: „Vorsichtig jetzt. Immer nur eine Stufe nach der anderen. Und jetzt gehen wir schön hinauf.“ Eine furchtsame, aber wiedervereinigte Familie erarbeitete sich ihren Weg in ihr neues Heim in einem heruntergekommenen, lauten Hotel. Für Mama waren wieder der Lärm und die Gerüche das Schlimmste – wie in Tule Lake. Aber hier stank es furchtbarer, und es war auch lauter – und zwar dauernd, nicht nur zu den Essenszeiten. Nicht einmal ich mochte es. Daddy hatte für uns in dem heruntergewirtschafteten Alta Hotel zwei miteinander verbundene Räume gefunden, mit einer Kochplatte für kleine Mahlzeiten. Die braunen Flecken an den Wänden waren schon so alt, daß sie anfingen, in einem flaumigen Beige zu verblassen. Das Linoleum auf dem Boden war gebrochen und gerissen. Alles in diesen Räumen war verbraucht und verschlissen. „Es ist nicht das Biltmore“, scherzte Daddy, „aber denkt immer daran, es ist nur vorübergehend. Ich verspreche es.“ „Nur vorübergehend“, wiederholte Mama. Und ich wußte, daß sie fest daran glaubte, denn während der ganzen Zeit, die wir im Alta Hotel verbrachten, machte sie nie irgendwelche Anstalten, ihre Nähmaschine auszupacken. Das Schlimmste für uns Kinder waren es nicht so sehr die schmutzigen Räume, der Lärm oder der Uringestank, der von der Gasse unter uns bis zu unserem Fenster heraufdrang, sondern die Treppen. Jeder Weg jene Treppen hinauf und hinab wurde zu einer gefürchteten Reise. Hinunter zu gehen
erfüllte mich mit noch größerer Angst als das Hinaufklettern. Ich umarmte das Geländer als meinen Lebensretter bei dem Versuch, den nächsten unsicheren Tritt mit dem Fuß zu ertasten. Meine Augen waren fest geschlossen, um mich vor dem Anblick der erschreckenden Höhe zu bewahren. Wenn ich eine feste Basis spürte, verlagerte ich mein Gewicht hinunter, ließ dabei aber nie das Geländer los, dann erfühlte ich die nächste feste Basis weiter unten. Ich erinnere mich noch an das Gefühl großer Befriedigung und Erleichterung am Ende jedes derartigen Abstieges. Reiko überquerte die Treppen nie auf eigenen Füßen. Sie beharrte darauf, getragen zu werden. Aber sogar bei diesem so königlichen Transport hielt sie die Augen fest geschlossen. Als Daddy aus Tule Lake nach Los Angeles zurückkehrte, sollte es zu seiner größten Herausforderung werden, eine Arbeit zu finden. Es war die unmittelbare Nachkriegsperiode, und die Arbeitslosigkeit begann, sich überall im Land einzuschleichen. Es war nahezu unmöglich, in Los Angeles einen Job zu finden. Und außerdem waren die Feindseligkeiten gegen die japanischen Amerikaner immer noch auf dem Siedepunkt. Der einzige Ort, wo Daddy und seine Freunde Arbeit finden konnten, war in Chinatown. Daddy hatte Weihnachten 1945 und das darauffolgende Silvester in der Küche eines Chop-Suey-Restaurants in Chinatown beim Tellerwaschen verbracht. Und dafür mußt er sich sogar glücklich schätzen. Er hatte eine Arbeit. Es gab andere, die völlig mittellos dastanden. Viele konnten kein Englisch. Andere hatten Angst um ihre Sicherheit und waren durch die Zeit der Inhaftierung wie gelähmt. Diese Leute baten ihren alten Blockleiter um Hilfe. Und so verbrachte Daddy all die Zeit, die ihm neben seinem Tellerwäscher-Job noch verblieb, damit, für andere, die aus den Internierungslagern zurückkamen, Arbeit zu finden. Für
die Männer fand er Arbeit als Gärtner, Schwerstarbeiter oder Hausmeister. Er vermittelte die Frauen als Haushaltshilfen, Küchenhilfen und Arbeiterinnen in der Bekleidungsindustrie. Alles nur fürs Überleben. Als wir zu ihm nach Los Angeles kamen, hatte Daddy bereits seinen Tellerwäscher-Job in Chinatown aufgegeben und hatte einen kleines Arbeitsvermittlungsbüro in der East First Street in Little Tokyo eröffnet. Ich erinnere mich daran, daß Mama mit uns Kindern den ganzen Weg vom Alta Hotel in der Wall Street bis zu Daddys kleinem Büro hinüber ging, um mitzuhelfen. Während Mama für Daddy Papiere abstaubte, reinigte und arrangierte, breiteten wir uns auf dem Boden aus und malten Bilder auf die Rückseiten benutzter ArbeitsFragebögen. Daddy hing immer irgendwie am Telefon, sprach entweder englisch oder japanisch und reichte nebenher Zettel mit Arbeitsangeboten an die Leute weiter, die in seinem Büro saßen oder draußen im Korridor warteten. Ich erinnere mich, daß ich mich wunderte, warum die Leute ihm so überschwenglich dankten. Sie verbeugten sich vor ihm tiefer und länger, als jede japanische Etikette dies erforderte. Andere nahmen seine Hand mit beiden Händen, fester und auch länger als ein normaler Händedruck. Einige hatten sogar Tränen in ihren Augen. Mama erzählte uns, daß diese Leute dankbar waren, weil Daddy so viel opferte, um ihnen zu helfen. Aber sie selbst klang nicht allzu dankbar für Daddys Opfer. Eines Tages erzählte sie uns, daß er zu viel und zu lange geopfert hätte. Er würde dieses Geschäft beenden müssen. Erst viel später erfuhren wir, daß Mama ihn dazu gebracht hatte, das Geschäft zu schließen, weil er es einfach nicht fertigbrachte, den Leuten für seine Dienste eine Provision abzuverlangen. Er verstand die bedrückenden Lebensumstände der Menschen, denen er
half, nur allzu gut. Er brachte es einfach nicht über sich, diese verzweifelten armen Leute aus den Lagern wegen seiner Gebühren zu mahnen. Mama verstand das auch. Doch sie konnte es über sich bringen, von Daddy zu fordern, er möge sich lieber für seine eigene Familie opfern. Die meisten der zurückgekehrten Internierten hatten unterdessen irgendeine Art von vorläufiger Beschäftigung gefunden, beharrte sie. Irgendwie konnten sie essen. Jetzt, sagte sie zu Daddy, war es Zeit, um an etwas zu arbeiten, damit auch wir genug zu essen hätten. Mama bestand darauf, daß er Geld verdiente. Und das sollte er mit einer chemischen Reinigung tun, einem Geschäft, in dem Daddy sich aus der Zeit vor dem Krieg auskannte. Er borgte etwas Geld von seinem älteren Bruder und einigen Freunden und brachte das notwendige Kapital zusammen. Mama sagte, daß sie mit ihrer Näherei noch Zusätzliches beitragen könnte. Daddy fand ein gut eingeführtes Reinigungsgeschäft in der North Soto Street im Osten von Los Angeles, zu dem noch eine kleine Ein-Zimmer-Wohnung gehörte. Wir konnten in der Wohnung leben; Daddy und Mama sparten überdies Zeit und Fahrgeld, und die Familie würde zusammen sein. Es war ein ideales Arrangement. Und so, nach sechs Wochen im SlumViertel, zogen wir wieder um – diesmal in das größte mexikanisch-amerikanische Ausländerviertel in den Vereinigten Staaten.
EINE KINDHEIT UNTER FREMDEN
5 Tacos und Mariachis Von dem Lärm, dem Gestank und den schrecklichen Treppen des Alta Hotels zogen wir in eine anscheinend grenzenlose Umgebung im Osten von Los Angeles, in unser bescheidenes neues Heim in der North Soto Street Nr. 1400. Im dem wild zugewucherten Hof an der Seite stand eine großblättrige Bananenstaude, mit Früchten behangene Kumquatbäume und ein großer, alter, knorriger Aprikosenbaum, in den Henry und ich uns ein geheimes Baumhaus bauten. Ein breites Beet mit Eiskraut reichte die Seitenböschung vom Hof bis zum Fußweg hinunter. Auf der anderen Seite der Straße lag ein weitläufiger grüner Stadtpark mit dem Namen Hazzard Park, das war nicht als Warnung gedacht für das, was sich dort abspielte, sondern als Erinnerung an einen längst vergessenen Stadtvater, einem Ratsherrn namens John Hazzard. Wir hatten jetzt wieder genug Platz, um Haustiere zu halten. Unsere erste Hündin war eine ausgelassene, kurzhaarige, erdnußbutterfarbene Streunerin. Wir nannten sie Skippy, nach dem Markennamen unseres Lieblingsessens. Aber wir verloren sie plötzlich wieder bei einem Autounfall auf der verkehrsreichen North Soto Street. Doch wie das Schicksal so spielt, kam schon bald ein andere Hündin in unser Leben – eine Hündin, die wir einfach nicht abweisen konnten. Sie war ein Mischling, wirkte aber wie eine Rassehündin. Sie hatte das langhaarige Fell und den Körperbau eines Irischen Setters, war aber schwarz mit braunen Flecken auf der Seite. Und über
ihren treuen Augen hatte sie zwei erdnußbutterfarbene Flecken. Sie war das Ebenbild von Blackie, unserem Hund im Lager! Obwohl Henry schon sieben Jahre alt war und es besser hätte wissen müssen, glaubte er tatsächlich, daß diese Hündin Blackie sei und uns allen den ganzen Weg von Tule Lake hierher gefolgt sei. Aber Daddy, Mama und ich konnten sehen, daß diese Hündin etwas jünger und kleiner als unser altes geliebtes Haustier war. Wir alle versuchten, uns einen Namen für diesen neuen Familienzuwachs auszudenken, aber trotz intensiver Bemühungen ertappten wir uns immer wieder dabei, daß wir sie Blackie nannten. Wir entschieden uns schließlich, das Schicksal anzunehmen: Sie wurde unsere neue Blackie. Als ob sie uns für die Jahre, in denen wir keine Haustiere gehabt hatten entschädigen wollten, ließen Daddy und Mama es zu, daß wir unseren Tierpark noch weiter vergrößerten. Zu Ostern kauften sie uns ein Paar Kaninchen. Ein Nachbar gab uns eine riesige Landschildkröte. Unser Onkel, der vom Lager aus zunächst nach Salt Lake City gezogen, anschließend aber wieder nach Los Angeles zurückgekehrt war, schenkte uns ein paar Entenküken. Es kamen sogar noch zwei Sperlingsküken dazu, die Daddy rettete, als ihr Nest bei einem Sturm heruntergefallen war. Wir Kinder legten uns mächtig ins Zeug, um den Appetit der gefräßigen Kleinen zu stillen. Kurz bevor wir die kleinen Sperlinge bekamen, waren wir im Clyde Beatty Zirkus gewesen, also nannten wir die beiden Clyde und Beatty. Unseren kleinen Tierpark hätte man zwar nicht als einen Zirkus, dafür aber ganz gut als den Takei-Familien-Zoo bezeichnen können. Daddy und Mama versuchten, für uns eine Umgebung zu schaffen, die so normal wie möglich war. Aber „Normalität“ war für uns Kinder eine ununterbrochene Folge neuer
Entdeckungen. Als man Reiko eine schöne, gelbe Banane gab und ihr erzählte, daß es eine Köstlichkeit sei, biß sie in die ganze ungeschälte Frucht und entschied, daß sie das nicht mochte. Cheerios Frühstücksgetreide, „geformt wie kleine O’s“, wie es in der Fernsehwerbung hieß, waren ebenso geeignet zum Spielen wie zum Essen. Henry und ich klebten sie auf einige unserer Schulaufgabenhefte, und Reiko machte eßbare Armbänder und Ketten aus ihnen. Für die Arbeit, mit Hilfe rötlich-orangefarbener Flüssigkeit aus winzigen Zellophanpaketen weiße Margarine in gelbe Butter zu verwandeln, meldeten wir uns alle freiwillig. Und das Wunderbarste all dieser „normalen“ Wunder war, daß direkt vor unserer Haustür von Verkäufern in Lastwagen – manche spielten sogar Musik dabei – alle möglichen Köstlichkeiten verkauft wurden. Ich erinnere mich, wie sehnsüchtig wir auf den Klang der Musik des Good-Humor-Eiswagens warteten und auf das lustige Pfeifen des Wagens von der Helm’s-Bäckerei, der so wundervolle Dinge wie Schokoladenkuchen und Himbeertörtchen dabei hatte. Der Eismann kam stampfend in die Küche und balancierte dabei einen riesigen Eisblock auf dem Rücken, den er mit einer stählernen Klammer festhielt. Er schien immer genau zu wissen, wann der alte Eisblock im Eisschrank fast geschmolzen war. Eine ganz besonders vergnügliche „Normalität“ war der Sonntagmorgen. Das war dann, wenn Daddy und Mama nicht früh aufstehen mußten. Sie blieben im Bett, und wir krochen zu ihnen unter die Decke. Daddy las uns die lustigen Seiten im „Los Angeles Examiner“ vor. Und dann, während Mama das Frühstück machte, liefen Henry und Reiko auf Daddys Rücken herum. Henry war klein für sein Alter, sogar kleiner als Reiko, und so durfte er zusammen mit ihr auf Daddys Rücken steigen. Ich machte nicht mit, weil Daddy meinte, daß ich zu groß und
zu schwer sei. Daddy lag auf dem Bauch und grunzte und stöhnte vor Wohlbehagen bei jedem wackeligen Schritt, den sie auf seinem Rücken machten. Nach dem Ritual des „Spaziergangs auf Daddy“ gab es als Sonntagsfrühstück Pfannkuchen mit Sirup aus einem Blechbehälter, der wie ein kleines Blockhaus geformt war. Ich erinnere mich gut an diese liebevollen Sonntagsfrühstücke. Ich weiß, daß sie ein Teil von Daddys und Mamas Anstrengungen waren, unser Leben wieder in normale Bahnen zu lenken, aber für mich waren sie etwas ganz Besonderes. Aber so sehr sie auch versuchten, für uns eine „normale“ Umgebung zu schaffen, so sehr wußten wir auch, daß wir anders waren. Als wir in die Merchandise Street School kamen, waren wir die Ältesten in unseren Klassen. Alle drei hinkten wir wegen dem Lager in der Schule hinterher – ich war schon fast neun und erst in der zweiten Klasse. Wir waren die einzige japanische – tatsächlich sogar die einzige asiatische – Familie in einer rein mexikanischen Nachbarschaft. Mein Freund, der ein Stückchen die Straße hinunter auf der anderen Seite wohnte, hieß Onorato. In dem Haus gegenüber dem freien Platz lebten die drei Brüder Chi Chi, Lata und Pelon. Die Familie Gonzales wohnte direkt neben uns. Wir kauften in einem Lebensmittelladen namens „Venegas“ in der Nähe ein. Rundherum wurde nur Spanisch gesprochen. Um in unserer Umgebung normal zu sein, hätten wir Mexikaner sein müssen. Ich liebte dieses ‘normale’ Leben mit der Nachbarschaft in unserem neuen Viertel. Jede Erfahrung war eine beständige Abfolge neuer Empfindungen und wunderbarer Entdeckungen. Eines Tages, als ich mit Onorato zusammen von der Schule nach Hause ging, lud er mich zu sich nach Hause ein, um mir seine Sammlung mit Hundekarten zu zeigen. Das waren Sammelkarten mit den Abbildungen von Rassehunden, die
damals in jedem Päckchen Langendorf-Brot zu finden waren. „Ich habe eine, die aussieht wie eure Blackie“, sagte er. „Willst du sie sehen?“ Onoratos Haus war nur einen halben Block weg von unserem, aber ich hatte es noch nie betreten. Ich folgte ihm zur Rückseite des Hauses, und er öffnete mir die Tür des Hintereingangs. Er geleitete mich in eine warme Küche, in der es verlockend duftete. Eine kleine, rundliche Frau begrüßte uns auf spanisch. Ich wußte, daß sie seine Mutter sein mußte, denn er nannte sie Mama – genauso, wie wir unsere Mutter nannten. Aber anders als wir betonte er bei „Mama“ das zweite „ma“. Dann wies er auf mich und sagte etwas auf spanisch, das mit „George“ endete. Ich vermutete, daß er mich vorgestellt hatte, streckte also meine Hand aus und sagte: „Guten Tag, Frau Moreno.“ Sie wischte sich die Hand an ihrer Schürze ab, lachte und sagte etwas, das glücklich und nach einem herzlichen Willkommen klang, und schüttelte meine Hand. Die Küche war erfüllt von dem Duft nach frisch gekochtem Essen, etwas aus Mais und noch etwas anderes Leckeres, das ich nicht kannte. Onorato brachte seine Karten herbei und breitete sie auf dem roten Resopaltisch aus. „Hier“, sagte er und wies auf eine Karte. „Sieht der nicht aus wie eure Blackie?“ Das stimmte, aber es war die falsche Farbe. Es war das Bild eines langhaarigen Hundes wie Blackie, aber dieser war ganz rotbraun und nicht schwarz. „Er ist nicht schwarz wie Blackie, aber er sieht ihm schon ein bißchen ähnlich“, stimmte ich zu. „Auf der Karte steht ‘Irish Setter’“, las er. „Das heißt also, Blackie ist zum Teil ein Setter. “ „Eee ho“, rief Onorato und sprach es ganz andächtig, fast schon lyrisch aus. Eee ho war ein Ausdruck, den ich häufig unter meinen neuen Freunden hörte. Aus der Art und Weise, wie sie ihn gebrauchten, schloß ich, daß er für etwas
Beeindruckendes oder Bewundernswertes benutzt wurde. Und Eee ho wale war, wie ich bald lernte, die Steigerung davon. Dann sagte seine Mutter etwas, das ich nicht verstehen konnte. Die Art, wie sie sprach, klang so melodisch. Die Worte rollten von ihrer Zunge, gerade so, als ob sie sang. Frau Moreno stellte uns einen Teller mit einem einzigen großen Pfannkuchen hin. Aber dieser war anders als die Pfannkuchen, die uns Mama am Sonntagmorgen machte. Er war dampfend heiß und duftete nach Mais. Das mußte es sein, was ich gerochen hatte, als wir hereingekommen waren. „Tortilla“, informierte mich Onorato. Dann tauchte seine Mutter einen großen Löffel in eine Schüssel mit einer dicken, bräunlichen Paste darin. „Frijoles“, verkündete Onorato. Ich bemerkte, daß er das für mich wiederholte, was seine Mutter zuvor in ihrem musikalischen, akzentuierten Spanisch gesagt hatte. Sie nahm einen Löffel voll von der bräunlichen Paste und verteilte sie auf dem gelblichen Pfannkuchen. Dann kam noch ein Klacks einer roten Flüssigkeit darauf. „Salsa roja“, wiederholte Onorato. Diesmal waren es zwei spanische Wörter. Dieser rote, flüssige Chili, dieses Salsa roja, roch scharf und würzig. Frau Moreno rollte den Pfannkuchen zusammen und schnitt ihn in der Mitte quer durch. An beiden Enden quoll ein bißchen von der braunen Paste heraus. Mit einem liebenswürdigen Lächeln hielt sie mir den Teller mit ihrer exotischen Schöpfung hin. Ich nahm ein Stück und wartete, damit ich Onorato beobachten konnte, was er damit machte. Er biß mit Genuß hinein und leckte geschickt mit seiner Zunge den Tropfen ab, der am anderen Ende heraussickerte. Ich war nicht so schnell, und die Soße tröpfelte auf meine Finger. Es schmeckte fantastisch! Das leicht erdige Aroma der frijoles paßte herrlich zu der süßlich-scharfen Salsa roja, alles
eingewickelt in den warmen Maisgeschmack dieses wunderbaren Pfannkuchens namens tortilla. Onorato erzählte mir, daß man diese köstliche Mischung Burrito nannte. Ich mochte es sehr und konnte es gar nicht erwarten, zu Hause davon zu erzählen. Besser noch, ich mußte meine Mutter dazu bringen, so wie Onoratos Mama zu kochen. Und es sollte auch nicht lange dauern, bis unsere Küche die gleichen wunderbaren Düfte verströmte, die ich zum ersten mal bei Onoratos Mutter kennengelernt hatte. Und Mama wurde eine wunderbare Köchin der verschiedensten mexikanischen Gerichte. Ihre Tacos wurden unsere Lieblingsspeise. Henry, Reiko und ich wetteiferten darum, wer von uns die meisten von Mamas Tacos essen konnte. Ich gewann meistens mit einem Vorsprung von vier Stück. Die Entdeckung der Speisen unserer neuen Gemeinde war leicht und vergnüglich. Das melodische Geheimnis der Sprache, die uns umgab, war da schon eine größere Herausforderung. Wir drei Kinder ahmten die Töne so nach, wie wir sie hörten. Pilino parano, piúno parano war die übermütige Redewendung, die wir benutzten, wenn wir so taten, als ob wir Spanisch miteinander sprachen. Daddy jedoch war uns weit voraus. Er lernte die echten spanischen Wörter. Wenn seine Kunden kamen, um ihre Sachen in die chemische Reinigung zu geben, benutzte er Wörter wie pantalón für Hosen, camisa für Hemden und abrigo für Mäntel. Ich entschloß mich, über das pilino parano hinauszugehen und die richtigen spanischen Wörter zu lernen. Hier war eine reiche, faszinierende Welt um mich, in der ich alles sehen, hören, riechen und schmecken konnte. Und doch gab es die unsichtbare Sprachbarriere, die mich davon abhielt, wirklich daran teilzuhaben. Daddy hatte schon angefangen, diese Barriere zu überwinden, und ich wollte das auch. Aber Spanisch zu lernen war ganz schön anstrengend.
Die Freude, an mexikanischer Musik teilzuhaben, erforderte dagegen überhaupt keine Anstrengungen. Ein Freund namens Danny Sandoval, der ein Stück die Straße hinunter wohnte, hatte einen älteren Bruder, der Anfang zwanzig war und Cesar hieß. Ich fand Cesar ein klein wenig seltsam. Er sprach nur wenig. Er hatte einen enormen schwarzen Schnurrbart und trug sein glänzendes schwarzes Haar so lang, daß es ihm fast bis auf die Schultern reichte. Danny sagte, daß Cesars Haar so lang sei, weil er ein Musiker sei. Cesar lebte allein in der Garage der Sandovals, die in der Gasse hinter ihrem Haus stand. Danny nahm Onorato und mich manchmal mit, um Cesar in seiner winzigen umgebauten Garagenwohnung zu besuchen. Das waren besondere Erfahrungen und für mich geradezu exotische Offenbarungen. Ich erinnere mich noch lebhaft an unseren ersten Besuch dort. Die Wände von Cesars Garagenzimmer waren von oben bis unten mit Vorhängen in bunten Farben drapiert. Ein dicker orangefarbener Teppichboden bedeckte den darunterliegenden Beton. Auf dem einzigen Bett im Raum lagen eine rot und schwarz gemusterte Decke und ein halbes Dutzend Kissen aus dem gleichen Stoff. Überall im Raum standen kleine rote Glasbehälter mit brennenden Kerzen. Riesengroße und leuchtend bunte Kissen lagen über den Teppichboden verstreut. Cesar sagte nicht viel. Er nickte kaum, als wir hinter Danny hereinkamen, und er begrüßte uns mit einem gedämpften Grunzen. Wir setzten uns auf die Kissen am Boden, während Cesar, der auf seinem Bett saß, seine Gitarre nahm und eine Zeitlang unschlüssig die Saiten betastete. Als er bereit war, schlug er plötzlich einen vollen, klingenden Akkord an und fing dann an zu singen. Ich hatte noch nie zuvor eine solche Stimme gehört – so voll, tief und lyrisch. Ich verstand keines seiner Worte, aber ich fühlte seine Emotionen mit ganzem
Herzen. Die melancholischen Lieder klangen furchtbar traurig. Wenn er ein Klagelied anstimmte, dann war seine Stimme dünn, kristallklar und unglaublich hoch, und er schien die Töne ewig zu halten. Ich wagte kaum zu atmen, bis sein Klagelied beendet war. Ich war sicher, daß Cesar in seinem Leben schon unerträgliches Leid erfahren haben mußte, um so dramatisch zu singen. Dann schlug er plötzlich einen anderen Akkord an, seine Finger flogen nur so über die Gitarrensaiten, und er begann mit einer lebhaften, munteren und fröhlichen Nummer. Auf einmal schien sein ganzer Körper zum Leben zu erwachen. Er wiegte die Schultern, stampfte mit dem Fuß und nickte mit dem Kopf im Takt dazu. Die spanischen Worte schnellten und trillerten und rollten nur so von seinen Lippen zum Rhythmus seines Gitarrenspiels. Cesar hatte mich musikalisch von einem emotionalen Extrem ins andere katapultiert. Dann hörte er genauso abrupt auf, wie er begonnen hatte, zündete sich eine Zigarette an, zog tief daran und saß dann schweigend und rauchend da. Danny langte hinüber und nahm die Schachtel Zigaretten, steckte sich eine in seinen Mund und hielt sie dann jedem von uns mit einem freundlichen „auch eine?“ hin. Onorato nahm eine. Ich war unsicher. Ich hatte gehört, daß Rauchen das Wachstum hemmen könnte. Aber dieses erste Mal, und nur der Höflichkeit wegen, nahm ich eine. Danny zündete seine an und hielt Onorato das Streichholz hin. Ich war überrascht, daß Onorato paffte wie ein erfahrener Raucher. Dann hielt Danny das Streichholz an meine zitternde Zigarette, die ich wacklig im Mund hielt. Ich zog genauso tief daran wie Onorato. Eine beißendes, brennendes Gefühl würgte mich in Mund und Nase. Es war als ob ich die Abgase eines Autos einatmete. Ich zerbarst fast in einem keuchenden Hustenanfall und blies Dannys Streichholz aus. Es war schrecklich. Ich tat das nie wieder.
Aber wann immer Danny mich einlud zu kommen, ging ich hin, um seinen Bruder Cesar spielen zu hören. Cesars wunderbare Kunst war mein erster Zugang zu dem ganzen Reichtum mexikanischer Musik und Kultur. Eines Tages erzählte mir Danny, daß Cesar mit einer MariachiGruppe auf einer Fiesta namens Cinco de Mayo spielen würde. Ich hatte noch nie von Mariachis oder Cinco de Mayo Fiesta gehört. Aber ich kannte und bewunderte Cesars Musik. Ich wollte hingehen. Die Fiesta sollte in einem Neubauviertel namens Ramona Gardens abgehalten werden, das sich direkt hinter Venegas’ Lebensmittelladen befand. Ich kannte Ramona Gardens, weil dort eine Menge meiner Schulfreunde lebten. Daddy und Mama wußten, daß es nicht allzu weit entfernt war, und sie wußten, wie sehr ich Cesars Musik liebte. Sie erlaubten mir also, nach der Schule zusammen mit Danny und Onorato zu der Cinco de Mayo Fiesta zu gehen. Aber ich mußte versprechen, daß ich um spätestens fünf Uhr wieder daheim sein würde. Als wir ankamen, drängten sich die Leute in den parkähnlichen Grünanlagen des Neubauviertels Ramona Gardens. Banner, Fahnen und Kreppapierschlangen flatterten kräftig in der starken Frühjahrsbrise. Überall verteilt standen Verkäufer und boten von Tischen, Karren und großen, breiten Bauchläden aus ihre Waren an. „Churros!“ rief einer, der lange, gezuckerte Teigstückchen verkaufte. „Dulces!“ tönte ein weiterer, in dessen Bauchladen süße, klebrige Zuckersachen lagen. „Taquitos, Taquitos“, lockte noch einer, dessen Karren mit einem weißen Tuch bedeckt war, von dem ich wußte, daß sich darunter Berge von Tortilla-Röllchen mit Fleischfüllung befanden.
Daddy hatte mir fünfzig Cent als Taschengeld gegeben. Es war genug, aber ich mußte sorgfältig planen, weil er mir gesagt hatte, daß ich meinen Freunden das gleiche kaufen sollte, wie mir selbst. Ich entschied mich also für die Fünf-Cent-Churros und die Acht-Cent-Limonade. Das ließ mir noch elf Cent übrig. Im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit stand, auf einer provisorischen Bühne mitten auf den grünen Rasen, ein dicker, verschwitzter Mann in einem weißen, bestickten mexikanischen Hemd. Über den Lautsprecher hörte man seinen spanischen Redeschwall fast wie eine Salve aus einem Maschinengewehr. Gelegentlich mischte er ein paar englische Brocken hinein, ich verstand „verrückt“, „Filmstar“ und „das Beste im Westen“. Als er fertig war, gab es Applaus, und dann begann laute Musik aus dem Lautsprecher zu schmettern. Wie ein Paar übermütige Fohlen kamen ein Junge und ein Mädchen, in helle mexikanische Trachten gekleidet, mit den Füßen stampfend, auf die Bühne stolziert. Sie sahen aus, als ob sie etwa mein Alter hätten -zehn Jahre. Der Junge trug einen riesengroßen mexikanischen Hut, einen weißen Baumwollanzug und einen farbenprächtigen Serape über der Schulter. Er hatte seine Hände auf dem Rücken und stampfte mit den Füßen im Takt. Das Mädchen bewegte ihr Füße im Gleichklang mit ihm, aber sie war viel spektakulärer. Mit dem voluminösen und wunderschön bestickten Rock, den sie trug, stürmte und wirbelte sie im Takt der Musik herum. Der Junge nahm seinen riesigen Hut ab und warf ihn auf die Bühne. Der Hut wurde nun zum Brennpunkt der tänzerischen Energien. Sie umkreisten ihn, stampfend und trampelnd. Das Tempo der Musik nahm zu. Die Tänzer änderten ihre Richtung, ihre Füße paßten sich dem veränderten Rhythmus an. Die Musik wurde schneller, und das Getrampel hielt mit. Das Mädchen wirbelte um den Hut herum, und der Junge sprang darüber hinweg. Das
Tempo wurde sogar noch schneller, und die Füße der Tänzer schlugen jetzt mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf. Gerade als es unmöglich schien, irgendwie noch schneller zu werden, trampelten sie ein atemberaubendes Durcheinander, und mit einem lauten, dramatischen letzten Donnern war es vorüber. Ich war schon allein vom Zusehen erschöpft. Aber die Tänzer lachten und strahlten, als sie sich verbeugten und die Bühne verließen. „Ziemlich gut, was?“ fragte Onorato und lächelte mir zu. Ich war sprachlos. Ich konnte nur versuchen, mit mindestens soviel Energie zu applaudieren, wie die beiden Tänzer auf der Bühne getanzt hatten. Und sie waren nur gerade mal so alt wie wir! „Na, das war noch gar nichts“, meinte Danny, unsere kulturelle Autorität. „Deshalb waren sie auch am Anfang. Wartet nur, da kommen noch bessere Tänzer.“ Ich staunte. Noch besser als das, was wir gerade zu sehen bekommen hatten? „Wart’s ab“, versicherte mir Danny. Im weiteren Verlauf des Nachmittags entdeckte ich, wie recht er hatte. Als die anderen Tänzer kamen, die alle erwachsen waren, stellte ich fest, daß ihre Kunst nicht nur in diesem Getrampel lag. Es waren auch ihre Körper, der kühne Schwung ihrer Schultern und ihre ganze stolze Haltung, während sie mit ihren stampfenden Füßen förmlich dahinglitten. Wir alle stimmten überein, daß das beste Paar noch ein anderes Element mit einbrachte – Sexappeal. Ihre Körper wogen im Einklang, schien sich zu liebkosen, aber sie berührten sich nie. Ihre Blicke, mit denen sie sich zunächst spielerisch neckten, wurden glühend, hungrig, brennend. Als das Dröhnen der Füße zunahm, loderten ihre Augen vor Leidenschaft, die sich bis zum Aufblitzen ekstatischen Entzückens steigerte. Ihr Stampfen wurde nicht nur lauter und schneller, sondern sensibel und nuanciert. Plötzlich schien das
Dröhnen ihrer Füße aufzuhören, aber wir merkten, daß das nicht stimmte. Ihre Füße bewegten sich durchaus noch, fast unmerklich vibrierend, wurden allmählich wieder hörbar, und erneut schwoll das Dröhnen in einem Stakkato des Stampfens zu einem sinnlichen explosiven Höhepunkt an. Die Tänzer brachten Klang und Bewegung in elegante Kontrolle und waren wild und hingebungsvoll in völligem Einklang. Sie waren fantastisch! „Sexy, was?“ Danny lächelte. Er war endlich auch beeindruckt. Er klatschte mit der gleichen Begeisterung wie der Rest von uns. Wir hatten eine großartige Zeit, aber ich wurde unruhig. Es war schon nach halb fünf, und Cesar war noch nicht aufgetreten. „Wann ist dein Bruder dran, Danny?“ fragte ich. „Ich muß um fünf zu Hause sein.“ „ßee ho, sei nicht so kribblig“, sagte Danny. „Nur ruhig Blut.“ Das war ein etwas anderer Gebrauch von Eee ho, dachte ich. Ich erriet, daß es auch so etwas wie „bleib cool“ oder „ruhig“ bedeuten mußte oder vielleicht sogar „Halt’s Maul.“ Danny schien ein wenig gereizt, aber nichtsdestotrotz wußte ich, daß ich bald würde gehen müssen. Genau in dem Moment schnitt das helle, laute Schmettern von Trompeten durch das Stimmengewirr der Menge. Drei Trompetenspieler kamen von links auf die Bühne. Sie sahen wunderschön aus, wie sie da in ihren schwarz und silbern funkelnden Kostümen die Treppen hinaufstiegen und dabei eine feurig-lebhafte Melodie spielten. Ihre prunkvollen Hosen, waren an den Hüften hauteng und unten weit ausgestellt. Sie trugen pechschwarze kurze Jacken. An den Seiten der Arme und Beine und quer über die Vorderseiten der Jacken hatten sie silberne Pailletten, die im Sonnenschein strahlten und funkelten.
Dann wurde der klare Ton der Trompeten mit dem süßen lyrischen Klang von Geigen verbunden. Von der rechten Seite kamen drei Geigenspieler heran, die genauso gekleidet waren wie die Trompeter. Sie erklommen die Treppen zur Bühne, während sie den Refrain zu der lebhaften Melodie spielten. Die Geigen und Trompeten klangen harmonisch zusammen. Dann kam eine dramatische Pause, und im nächsten Augenblick hörten wir den vibrierenden Ton von Gitarren. Drei Gitarrenspieler in den gleichen prächtigen Kostümen und ein vierter Musiker, der ein volltönendes riesiges Instrument spielte, das wie eine große, schwangere Gitarre aussah, stiegen von hinten auf die Bühne hinauf. Ihr Spielen gab dem gleichen Thema eine Fülle und eine tieftönende Solidität. Cesar war der Gitarrist ganz links. „Da ist Cesar“, flüsterte Danny und stieß uns alle aufgeregt an. Mit dramatischer Genauigkeit fielen die Trompeten und Geigen ein – volltönend und aufwühlend. Noch nie zuvor hatte ich Musik wie diese gehört. Ich war wie verzaubert. Nein, es war mehr als das, ich war völlig weg. Aber es war jetzt fast fünf Uhr. Ich wußte, daß ich zu spät nach Hause kommen würde. Ich flüsterte meinen Freunden leise zu: „Ich muß jetzt gehen.“ „Jee ho“, war alles, was Danny sagte. Onorato flüsterte zurück: „Ich komme mit dir.“ Während die lebhafte Mariachi-Musik weiterspielte, manövrierten Onorato und ich uns durch die Menge hindurch und fingen an, nach Hause zu trotten. Ich war noch ganz berauscht von dieser Cinco de Mayo Fiesta – dem Tanz, der Musik, der überschäumenden Fröhlichkeit. Ich konnte es gar nicht erwarten, meiner Familie alles von diesem wunderbaren Nachmittag zu erzählen. Wir leben in einer phantastischen Gemeinde, dachte ich. Ich war glücklich, Freunde wie Danny zu haben, die mir all diesen
Glanz näher brachten. Es war großartig, einen Freund wie Onorato zu haben, der mich zu sich in sein Haus einlud und mich an den Gaumenfreuden, den Klängen und den Vertraulichkeiten der Leute teilhaben ließ, die unsere neuen Nachbarn waren. „Weißt du, Onorato“, sagte ich, als wir nach Hause eilten, „ich mag das Leben in unserem Viertel.“ „Ja? Wieso?“ „Nun, weil es so besonders ist“, schwärmte ich. „Warum?“ wiederholte er. „Naja, die Cinco de Mayo Fiesta. Das ist phantastisch!“ „Oh ja. Ich weiß“, sagte er ziemlich nüchtern. „Die haben wir jedes Jahr, weißt du.“ Ich blieb stehen. „Du veräppelst mich! Wirklich?“ Ich konnte einfach nicht glauben, daß sich so etwas Spektakuläres jedes Jahr wiederholen sollte. Nicht einmal Weihnachten war so toll, wie das, was ich gerade kennengelernt hatte. „Ja“, sagte Onorato mit einem vergnügten Lächeln. „Tatsächlich!“ meinte ich, noch immer skeptisch. Das Leben hier würde wunderbar werden. Als wir wieder anfingen zu laufen, fragte Onorato: „Wo habt ihr denn früher gelebt?“ Ich rannte weiter, aber die Frage sandte mir einen kalten Schauer über den Rücken. Aus irgendeinem Grund schlich sich ein vages Schamgefühl bei mir ein. „Oh, wir lebten weit weg von hier“, antwortete ich gleichgültig. „Und wo?“ beharrte er. Das wurde langsam unbequem. „Oh, an einem weit entfernten Ort namens Arkansas“, sagte ich in der Hoffnung, daß er mit der Fragerei aufhören würde. Wir trotteten eine Zeitlang schweigend dahin. Dann fing er wieder an.
„Und wie war es dort so?“ fragte er. Wir waren jetzt fast zu Hause. Onoratos Haus war auf der anderen Straßenseite und meines einen halben Block weiter. Ohne Onorato anzublicken, sagte ich: „Hab’ ich vergessen.“ Ich wurde schneller und rannte ihm voraus. „Ich sehe dich morgen!“ rief ich und rannte heim, so schnell ich nur konnte. Als ich schnaufend und keuchend in die Reinigung kam, sah Daddy von seiner Dampfpresse auf und stellte mit einem beruhigenden Lächeln das Offensichtliche fest: „Du kommst ein bißchen zu spät.“ „Es tut mir leid, Daddy“, bat ich um Entschuldigung. „Ich bin den ganzen Weg zurück mit Onorato zusammen gerannt.“ „Paß besser auf die Zeit auf“, maßregelte mich Mama von ihrer großen neuen Nähmaschine aus. „Das muß ja eine Menge Spaß gemacht haben“, sagte Daddy erwartungsvoll. „Ja, es war nett“, antwortete ich, und ging schnell nach hinten in unsere Wohnung. Das war alles, was ich Daddy und Mama von einem der denkwürdigsten Nachmittage in meinem Leben erzählen konnte. Wir waren anders. Und es gab immer etwas, das mich an diese Tatsache erinnerte. Ich erinnere mich an die Bedrängnis, die ich fühlte, als Mrs. Lewis, die ich in der zweiten Klasse als Lehrerin hatte, mir am ersten Tag des neuen Schuljahres ihre Aufmerksamkeit widmete. Sie hatte ein sichtliches Vergnügen daran, jeden Namen korrekt zu nennen – und legte großen Wert auf die richtige Aussprache. „Bobby Corral“, las sie vor, und rollte das r. „Martha Gonzales“, rief sie, und sprach das z mit einem weichen s aus – es schien ein sehr geläufiger mexikanischer Name zu sein. „Ofelia Gutierrez“, rollte es nur so von ihrer Zunge. Sie las die
Liste in alphabetischer Reihenfolge vor. Nachdem sie „Mario Silvera“ ausgerufen hatte, hielt sie inne und starrte schweigend in ihr Klassenbuch. Ich wußte, daß mein Name an der Reihe war, „George, wie spricht man deinen Mittelnamen aus?“ fragte sie, nachdem sie H-0-S-A-T-O buchstabiert hatte. Jeden anderen Namen konnte sie so leicht aussprechen, dachte ich. Mein Name wurde genau wie im Spanischen ausgesprochen. Er war so einfach. Warum mußte sie von meinem so ein Aufhebens machen? „George Hosato Takei“, trug ich vor. Ich nannte ihr meinen vollständigen Namen, damit sie nicht als nächstes nach der Aussprache meines Nachnamens fragen würde. „Hosato“, wiederholte sie langsam. „Das klingt so poetisch. Es ist ein lieblicher Name“, beglückwünschte sie mich. Ich antwortete: „Danke“, aber ich wünschte, sie hätte sich jeglichen Kommentar gespart. In der Pause kamen ein paar Kinder zu mir und sagten: „Du hast so einen lieblichen Namen.“ „Er ist so poetisch.“ „Wie spricht man ihn aus?“ Ich hätte sie am liebsten verhauen. Mrs. Lewis schien alles an mir zu mögen. Sie mochte meine Zeichnungen; sie sagte, daß ich künstlerisch begabt sei. Sie mochte die Art, wie ich unsere Schul-Hymne „Oh, Murchison, lieber Murchison“ sang. Und sie mochte es, wie ich die Gedichte vortrug, die wir auswendig lernen mußten. Und sie war es auch, die mich für meine erste Schauspielrolle besetzte. Was Lampenfieber bedeutet, habe ich in unserer Parodie gelernt, die wir am Erntedanktag aufführten. Ich hatte die Hauptrolle, den Part des Anführers der Pilgerväter. Ich hatte mehr Worte als sonst irgend jemand, sogar mehr als Bobby Corral, der den Häuptling der Indianer spielte.
Am meisten Angst hatte ich vor einem Satz, den ich in einer Indianersprache sagen mußte, um den Häuptling zu begrüßen. Zusätzlich zu all meinem Dialog mußte ich ihn mir auch noch auf Indianisch merken! Bobby hatte es leichter, weil er den gleichen Begrüßungssatz wiederholte, nachdem ich ihn gesagt hatte. Je mehr ich übte und probte, desto nervöser wurde ich. Ich hatte alles im Kopf, aber die Angst davor, auf der Bühne alles zu vergessen, lähmte mich förmlich. Die Aufführung war auf den letzten Nachmittag vor den regulären Herbstferien angesetzt. Ich war ein Wrack. Ich konnte nur noch an diesen einen indianischen Satz denken. Als der Vorhang sich hob, führte ein kleiner trotteliger Pilger-Führer in einem schwarzen Kreppapier-Kostüm seine Leute hinaus auf die Bühne. Meine Stimme schwankte, meine Hände zitterten, und mein Pilger-Gewehr fiel mir herunter. Ein Pilger-Mädchen vergaß ihr Stichwort, um aufzustehen, so daß ich aus Versehen auf ihren grauen Kreppapier-Rock trat und ihn ihr abriß. Aber als Bobby Corral seinen Auftritt hatte – prachtvoll gekleidet mit seinem Kreppapier-HäuptlingsFederschmuck gekleidet –, brachte ich wie durch ein Wunder meinen Begrüßungssatz auf Indianisch ohne Schwierigkeiten ganz heraus. Bobby stotterte, als er die Begrüßung nach mir wiederholte. „Gott sei Dank ist das nicht mir passiert“, dachte ich. Der gefürchtete Augenblick war vorbei. Dann war mein Verstand plötzlich leer. Ich konnte mich nicht mehr an meinen nächsten Satz erinnern. Ich stand da wie eingefroren, und die schiere Panik erfaßte mich. Ich konnte fühlen, wie mich alle Augen anstarrten. Mrs. Lewis kam vor die Bühne herausgeschossen, vornübergebeugt wie eine Bucklige. Dachte sie etwa, daß niemand sie sehen konnte? Sie gestikulierte krampfhaft und versuchte hysterisch, mir etwas zuzuflüstern. Ich konnte nichts
hören. Sie fuhr immer weiter fort mit ihrer schweigenden, panischen Pantomime. Plötzlich kamen die vergessenen Zeilen zu mir zurück, und auch meine Stimme war wieder da. Irgendwie kam der geprobte Ablauf der Dinge wieder in Gang. Und bevor ich es merkte, war unsere Parodie vorüber. Ich war schweißgebadet, und mein nasses Kreppapier-Kostüm hatte auf mein T-Shirt abgefärbt. Zu meiner Überraschung erschien Mrs. Lewis voll des Lobes hinter den Kulissen. Sie meinte, daß unsere Parodie die beste Vorstellung von allen Klassen gewesen sei. Und sie lobte mich ganz besonders. Sie wies die anderen kleinen Schauspieler auf meine coole und kontrollierte Art hin, mit der ich die Fassung behalten hatte, als mein Text weg war. Sie bemerkte, daß ich, statt zusammenzubrechen, meine ruhige und natürliche Glaubwürdigkeit aufrecht erhalten hatte, bis ich mich wieder an meine Worte erinnern und weitermachen konnte. Sie überschüttete mich mit Lob. Ich war wie betäubt. Hatte sie denn nicht gesehen, daß ich viel zu gelähmt war, um zusammenzubrechen? Zu traumatisiert, um glaubhaft etwas anderes zu sein, als ein Junge, der einen nassen Finger in eine Lampenfassung gesteckt hatte? Aber Mrs. Lewis’ Schwärmereien gingen weiter. Mein Bühnendebüt wurde als ein großer Erfolg verbucht. Nur mein T-Shirt mit den schwarzen Streifen und ich kannten die Wahrheit. Die schwarzen Flecken waren nach ein paar Wäschen verschwunden. Aber bis heute kann ich mich noch an jenen absolut unvergeßlichen indianischen Satz erinnern. Ich glaube, er ist mir für immer in mein Gehirn gemeißelt. „Yo hay yo hay, mee tah koo jah nah huin poh, om neechi ni chopi.“ Ich habe nicht die geringste Ahnung, was das bedeutet. Mrs. Lewis dachte, daß ich in allem hervorragend war. Sie gab mir in allem eine Eins und ließ mich das nächste Jahr überspringen. Ich kam von ihrer zweiten Klasse direkt in Mrs.
Rugens vierte Klasse. Ich wechselte von einer Lehrerin, die alles an mir mochte, zu einer Lehrerin, die ich schon bald hassen sollte. Mrs. Rugen war eine kleine, stämmige Dame mit rosigen Wangen, die ihr stahlgraues Haar in einem runden Dutt oben auf ihrem Kopf trug. Die rötliche Farbe ihrer Wangen kam nicht von einem gesunden Erröten; es war ein feines Gewebe roter Äderchen, das ihrem Gesicht dieses frische Aussehen gab. Es war ein Gesicht, das nie lächelte. Sie hatte etwas Sachliches und Hartes an sich. Ihre Ausstrahlung war ebenso kalt, wie die von Mrs. Lewis warm war. Jedesmal wenn sie eine Frage stellte und ich meine Hand hob, um zu antworten, nahm sie jemand anderen dran. Wenn ich der Einzige war, der seine Hand hob, dann wartete sie lange, ob sich nicht doch noch ein anderer meldete, und übersah mich geflissentlich. Nur wenn sich wirklich kein anderer meldete, kam sie sehr widerwillig auf mich zurück. Ich hörte bald auf, meine Hand zu heben. Zusätzlich zum Unterricht in der vierten Klasse hatte Mrs. Rugen nachmittags die Aufsicht auf dem Schulhof. Sie hatte die Aufgabe, über die spielenden Kinder zu wachen. Ihr Verhalten im Schulhof war das glatte Gegenteil von dem im Klassenzimmer, wo sie versuchte, mich zu übergehen. Anstatt mich zu ignorieren, beobachtete sie mich hier wie ein Habicht. Wenn wir Prellball spielten und ich in der Hitze des Gefechts die Linie des Kreises ein klein wenig zu oft überquerte, schnappte sie mich plötzlich brutal am Arm und zog mich mit einem Verweis zurück. Wenn ich beim Federball zu laut schrie, pfiff sie mich laut und schrill zurück, und ich bekam einen Verweis wegen zu großen Lärms. Den anderen Kindern schenkte sie niemals soviel Aufmerksamkeit und ich wußte, daß sie mich aus irgendeinem Grund haßte.
Eines nachmittags, während einer Pause, stand Mrs. Rugen da und schwatzte mit einer anderen Lehrerin. Ich spielte nahe genug, um sie reden zu hören, aber ich hörte nicht tatsächlich zu. Dann sagte Mrs. Rugen etwas, das mich wie eine Gewehrkugel traf. Sie nannte mich den „kleinen Japs-Jungen.“ Ich fühlte Schock, Schmerz, Wut und Scham, alles zur gleichen Zeit. Jene Worte trafen mich tiefer, als alles andere, was sie mir angetan hatte. Aber ich schaffte es, in die andere Richtung zu schauen, und so zu tun, als ob ich es nicht gehört hätte. Ich behielt dieses heiße Gefühl tief in mir. Bis heute ärgert es mich, daß ich weggesehen habe. Daß ich nichts gesagt habe. Daß ich meinen Schmerz hinuntergeschluckt habe. Selbst als wir ins Klassenzimmer zurückkehrten, fühlte ich noch den inneren Aufruhr. Sie mochte meine Lehrerin sein, aber ich konnte nicht vermeiden, sie böse anzublicken, wenn sie da vorne am Lehrerpult saß. Ich haßte sie. Aber als sie mit dem unschuldigen „Was-glotzt-du-mich-so-an?“-Blick zurückstarrte, vermied ich es wieder, ihr in die Augen zu sehen. Irgendwie war meine Scham größer als mein Zorn. Ich hatte das ekelerregende Gefühl, daß es etwas mit unserer Vergangenheit im Lager zu tun hatte, wenn sie mich „Jap“ nannte. Und ein Lager war – ich war inzwischen alt genug, um das zu wissen – so etwas Ähnliches wie ein Gefängnis. Es war ein Ort, wo Leute hingeschickt wurden, die schlechte Dinge getan hatten. Ich hatte lange Zeit ein nagendes Schuldgefühl wegen unserer Zeit im Lager. Ich konnte nicht ganz verstehen, wie es dazu gekommen war, daß man uns bestraft hatte. Aber vielleicht verdienten wir es ja, daß man uns so schmerzhaft „Japse“ nannte. Japs ist schließlich nur eine Abkürzung des Wortes Japaner – ein Ausschnitt, der eher zu sparsam klingt. Doch diese einfache Silbe hat im vergangenen Jahrhundert eine seltsame
Sprengkraft erhalten. Die Geschichte schmiedete ein neutrales Wort – doch gehämmert vom stumpfen Haß der Rassisten, angefeuert durch die Hysterie politischer und ökonomischer Opportunisten hatte es schließlich durch die sengende Glut des Krieges einen rasiermesserscharfen Rand bekommen. Es kann noch immer verletzen und alte Wunden wieder öffnen. Es kann degradieren und entmenschlichen. Für einen japanischen Amerikaner ist „Japs“ ein unheilvoller Laut, ein klangvolles Schimpfwort mit einem vibrierenden, drohenden Unterton. Nur ein Laut, ein abgekürztes Wort. Doch der Schmerz und die Verletzungen, die es zufügen kann, liegen in der Kraft, die die Geschichte hineingehämmert hat. „Japs“ ist mehr als ein Wort geworden. „Japs“ ist eine Angriffswaffe. Damals verstand ich, was Daddy mir über Worte erzählt hatte, die verletzen können – Worte wie keto und diejenigen, die so ähnlich klangen wie Sakana beach. Es verletzte mich, wie Mrs. Rugen mich genannt hatte. Es tat viel zu sehr weh, als daß der Schmerz bis zum Ende des Tages wieder hätte verblassen können. Sogar als ich mit Onorato zusammen auf dem Heimweg von der Schule war, schmerzte es noch, aber ich erzählte es ihm nicht. Es hielt auch noch an, als ich in unsere Reinigung ging. Ich erzählte Daddy und Mama nicht, wie Mrs. Rugen mich genannt hatte. Ich begann zu verstehen, daß es auch für sie unangenehm war, über unsere Jahre im Lager zu reden, und „Japs“ war ein Wort, das unwiderruflich mit jenen Jahren verbunden war. Daddy und Mama litten ihre ganz eigenen Qualen. Etwas, an das ich mich aus der ganzen Zeit im Lager her überhaupt nicht erinnern konnte, geschah: Daddy und Mama fingen an zu streiten. Heimlich, still und leise hatte sich eine kalte Spannung zwischen ihnen aufgebaut. Ihre Gespräche wurden gereizt.
Manchmal redeten sie lange Zeit überhaupt nicht miteinander. Aber ihr Schweigen war emotionsgeladen. Eines Nachmittags, nachdem wir von der Schule nach Hause gekommen waren, kam der erste Ausbruch. Ich saß im Wohnzimmer und las, Henry hörte Radio, und Reiko spielte im Schlafzimmer. Daddy und Mama waren vorne im Laden. Wir hörten den stetigen Rhythmus von Daddys Dampfpresse, wie sie herunterklappte, dann ein paar Sekunden zischte und wieder hochklappte. Mama saß vermutlich an ihrer Nähmaschine. Plötzlich stoppte das Stampfen und Zischen von der Dampfpresse, und wir hörten, daß beide laut miteinander sprachen. Ich legte das Buch beiseite, und Henry schaute von seinem Radio hoch. Reiko erschien schweigend und mit großen Augen in der Schlafzimmertür. Daddy schrie herum, und Mama kam, ganz kalt vor Wut, in die Wohnung gelaufen. Die Dampfpresse startete, diesmal in einem schnelleren Tempo. Mama blieb hinten, versteinert und unfähig, irgend etwas zu tun. Dann ging sie in die Küche und murmelte vor sich hin. Wir hörten sie mit den Tellern klappern und das Geschirr aufeinanderstapeln, während sie beständig und kaum hörbar vor sich hinsprach. Das Geräusch der Dampfpresse verstummte. „Was hast du gesagt?“ brüllte Daddy vorne im Laden. Mama wurde still, aber die Luft knisterte vor Spannung. Ich war vor Angst wie gelähmt. Als das Geräusch der Dampfpresse wieder zu vernehmen war, konnte man unsere Erleichterung förmlich spüren. Mama fing wieder an, in der Küche herumzuklappern. Und Daddys Dampfpresse antwortete mit heißem Zischen. Es schien ein Gefecht zwischen Zischen und Klappern, Klappern und Zischen zu werden. Und dann kam wieder Mamas herausforderndes Gemurmel mit in die Runde.
„Mama, bitte tu das nicht“, wollte ich zu ihr sagen. Aber ich war zu versteinert, um offen zu reden. Gott sei Dank ging das lebhafte Stampfen und Zischen der Dampfpresse weiter. Dann sagte Mama etwas in Japanisch und so laut, daß wir es alle hören konnten: „Wenn er nur wenigstens ein bißchen Rückgrat hätte.“ Der Dampfbügler verstummte. Ich war vor Angst erstarrt. Es herrschte ein qualvolles Schweigen. „Was!“ bellte Daddy. Schweigen. Er stampfte durch die Wohnung direkt in die Küche. „Was hast du gesagt?“ brüllte Daddy. Mama schwieg sich aus und begann nur wieder zaghaft mit ihrem Tellergeklapper. „Glaubst du vielleicht, daß ich das nicht gehört habe?“ brüllte Daddy. Das Klappern ging weiter. „Glaubst du vielleicht, du bist die einzige, die mit dem Geschirr klappern kann?“ hörte ich Daddy schreien. Mama schnappte nach Luft, und dann hörte ich, wie ein Teller auf den Boden krachte. „Du zerbrichst die Teller“, schrie Mama und kam ins Eßzimmer gerannt. „Und ich kann noch mehr zerbrechen!“ schrie Daddy, als er ihr mit einer großen Platte in der Hand nachrannte. Mama lief ins Badezimmer, aber noch bevor sie ihm die Tür vor der Nase zuknallte, schrie sie: „Rückgratloser Mann!“ Die große Platte flog gegen die Tür und zerbrach. Reiko kreischte und fing an zu schreien. Daddy hämmerte mit der Faust auf die Badezimmertür ein und verlangte, daß sie öffnete. Wir alle rannten zu ihm und bettelten: „Bitte, Daddy, bitte, bitte, bitte, hör auf.“ Sein Gehämmere und unser Weinen hielt einige Zeit an. Schließlich hielt Daddy inne, umarmte uns und sagte: „Ist ja gut. Ist ja gut. Hört auf zu weinen.“ Dann schloß er das Geschäft und ging fort. Es gab noch mehr Konfrontationen zwischen unseren Eltern. Um die Wahrheit zu sagen, es gab zu viele davon. Die
Atmosphäre zu Hause wurde immer angespannter und unerträglicher. Immer öfter blieb ich nach der Schule bei Onorato oder Danny. Die Häuser meiner Freunde waren erfüllt von Glück und Freundlichkeit. Ich haßte es, nach Hause zu kommen, allein wegen unserer säuerlichen, spannungsgeladenen Stimmung beim Essen. Henry fing an einzunässen. Es passierte immer öfter. Mama zwang ihn dazu, sein Laken mit den gelben kreisförmigen Flecken auf die Wäscheleine zu hängen. Sie dachte wohl, daß sie mit diese Demütigung einen achtjährigen Bettnässer heilen würde. Es klappte nicht. Henrys Bettlaken bekamen immer mehr gelbe Flecken. Mama mußte es schließlich bleichen, und Henry fing mit einem weißen Laken wieder von vorne an. Reiko war die einzige von uns, die offenbar von Daddys und Mamas Schuldgefühlen, die sie wegen ihrer Kämpfe hatten, zu profitieren schien. Sie überschütteten sie mit – wie Henry und ich meinten – übermäßig viel Liebe und Aufmerksamkeit. Wenn irgendeine Leckerei zwischen uns aufgeteilt wurde, bekam Reiko immer den Löwenanteil. Und wenn es nur ein Stück gab, gaben sie es ihr. Sie wurde zur Prinzessin einer schuld- und furchtbeladenen Familie. Eine stetige Atmosphäre des Unwohlseins durchdrang unser Haus. Es machte mich nervös, wenn Daddy und Mama eine Zeitlang schwiegen. Aber das Ende des Schweigens haßte ich noch mehr. Jedesmal, wenn ich vorne im Laden ein lautes Geräusch hörte, wenn eine Schere mit Gewalt vom Ladentisch gefegt wurde oder eine Garnspule von Mamas Nähmaschine herunterfiel, zuckte ich zusammen. Sollte dies der Anfang eines weiteren traumatischen Streites sein? Glücklicherweise war es meist falscher Alarm. Der einzige beruhigende Ton, den ich von vorne zu hören bekam, war der stetige Rhythmus von Daddys Dampfpresse.
Ich glaubte damals, es könnte nichts Fürchterlicheres geben als die Streitereien zwischen unseren Eltern. An einem Samstagabend mußte ich jedoch erfahren, daß es noch einen viel schlimmeren Schrecken gab. Das Geschäft hatte noch bis in den späten Abend geöffnet, und wir drei Kinder waren hinten im Wohnzimmer. Während ich las, konnte ich den tröstlichen Rhythmus von Daddys Pressen und Zischen hören. Plötzlich glaubte ich von Mama ein ersticktes Keuchen zu hören. Die Presse verstummte. Eisige Kälte kroch meinen Rücken hinauf. Ich hörte laute Stimmen und dann den Ton von schweren Schritten, die zu uns herüberkamen. Mama kam in die Wohnung gewankt, von Daddy beschützt, der von einem jungen Mexikaner geschoben wurde. Dann sah ich den Glanz eines Revolvers, den er Daddy an die Schläfe hielt. Ich erstarrte. „Bitte, ich habe meine Kinder hier“, flehte Daddy. „Wo habt ihr das große Geld?“ grollte der Mann. „Mama, gib es ihm“, befahl Daddy eindringlich. Mama rannte zurück ins Schlafzimmer. Mit seinen dunklen Augen schaute sich der Mann blitzartig in unserer Wohnung um. Daddys Augen waren auf den Revolver fixiert. „Was macht sie denn?“ knurrte der Räuber. „Mama!“ schrie Daddy. Sie kam mit einer zerknüllten braunen Papiertüte aus dem Schlafzimmer zurück. Als sie an mir vorüberging, sah ich, wie sie ein Bündel Geldscheine, das sie verstohlen in ihrer rechten Hand trug, heimlich unter ein Sofakissen steckte. Dann eilte sie zu dem Mann hinüber und streckte ihm die Papiertüte hin. „Nehmen Sie alles Geld“, sagte sie. Er starrte auf die ziemlich leere braune Tüte. „Ist das alles?“ „Das ist alles“, antwortete sie. „Bitte, das ist alles“, bestätigte Daddy.
Der Mann starrte Mama mißtrauisch an, schnappte sich die Tasche und verschwand. Wie ein schneller, schrecklicher Alptraum war alles vorüber. Es blieb nur beängstigendes Schweigen. Dann fing Reiko an zu weinen. Daddy und Mama rannten zurück in den Laden. „Sei vorsichtig, sei vorsichtig“, flüsterte Mama. Ich guckte von der Tür aus in den Laden. Daddy war draußen und schaute die Straße hinunter. „Sie sind in Richtung Norden weggefahren“, sagte Daddy. Als er ins Geschäft zurückkam, meinte er: „Sie waren zu zweit. Einer hat draußen im Wagen gewartet.“ Daddy sperrte zu und rief sofort die Polizei an. Als die beiden in die Wohnung zurückkamen, ging Mama geradewegs zum Sofa und holte das Bündel Geldscheine heraus, das sie versteckt hatte. „Was ist das?“ fragte Daddy. „Ich habe Geld aus Tasche genommen und versteckt“, antwortete sie und hielt ihm das Bündel Geldscheine hin. „Was! Soll das etwa heißen, du hast ihm gar nicht alles gegeben?“ Daddy konnte es nicht fassen. „Du hast das diesem Burschen vorenthalten?“ „Wir schwer arbeiten. Das hart verdientes Geld.“ Mit diesen Worten legte Mama das Geld auf den Tisch. Meine Mutter ist eine starke Frau. Ich verstand so langsam wie stark. Ihre Stärke besteht aus einer Mischung aus schnellem Denken und einfachem Geschäftssinn; aus Mut kombiniert mit einer guten Portion Waghalsigkeit. Dank Mamas schnellem Handeln konnte der Räuber nur weniger als die Hälfte des Geldes aus der Tüte erbeuten. Er hatte mehrere kleine Scheine und die Münzen aus der Kasse mit dem Wechselgeld unter dem vorderen Ladentisch bekommen und etwa dreihundert Dollar, die Mama ihm in der braunen Papiertüte übergeben hatte. Später zählten Daddy und Mama
das Bündel Geld, das Mama vor dem Räuber versteckt hatte. Es waren fast fünfhundert Dollar. Etwa ein halbes Jahr nach dem Raubüberfall waren Daddy und Mama im Krankenhaus, um dort einen kranken Freund zu besuchen. Als sie gingen, hörte Mama eine Stimme, von der sie glaubte, sie zu erkennen. Es war ein tiefes, betrunkenes Grollen. Sie blickte den Gang herab und sah von hinten einen Mann, der jemanden in einem Rollstuhl vor sich herschob. Sofort erkannte sie die grobschlächtige Gestalt des Mannes, der den Rollstuhl schob. Es war der Räuber. „Daddy, das ist er“, flüsterte sie. Er blickte schnell hinüber und stimmte ihr zu. „Schnell, laß uns zum Auto gehen“, sagte er. Sie fuhren um den Block, um sich noch einmal zu vergewissern, was sie gesehen hatten und gingen dann geradewegs zur Polizeiwache. Der Mann wurde sofort verhaftet. Mamas Geiz hatte den Räuber fast ohne Beute zurückgelassen, als er das Verbrechen beging, und ihre scharfen Ohren schickten ihn für seine Tat ins Gefängnis. Mama war bei vielen Dingen sehr aufmerksam. Sie war besonders empfindlich, wie meine Freunde sich kleideten und welche Frisuren sie trugen. Sie mochte Danny Sandovals lange Mähne nicht. Sie mochte so etwas prinzipiell nicht. Sie konnte die an den Knöcheln weit ausgestellten Hosen, die er trug, nicht leiden. Und sie verabscheute seine dicksohligen Schuhe mit den lauten Hufeisen-Beschlägen an den Absätzen. „Danny ist erst zehn. Warum ist er angezogen wie ein kleiner Pachuco?“ beklagte sie sich bei mir. Ich war überrascht, daß Mama wußte, was ein Pachuco war. Ich hatte geglaubt, daß der Tag bald kommen würde, an dem ich ihr erklären mußte, daß die Pachucos die älteren Jungen aus den höheren Klassen
waren, die draußen herumhingen und immer nach dem allerneuesten Modetrend gekleidet waren. Sie wußte das sehr wohl, und darüber hinaus glaubte sie, daß das alles Gangster waren. Ich versuchte ihr zu erklären, daß Danny sich so anzog, weil er die Sachen von seinen älteren Brüdern auftragen mußte. Sie schien dieses Argument widerwillig hinzunehmen. Mama fühlte sich alarmiert, als Onorato damit anfing, sein Haar in einer gut geschmierten Schmalztolle zu tragen. Als sie Onoratos neuen Haarschnitt sah, verzog sie mürrisch das Gesicht. Ohne jeden Kommentar ihm oder mir gegenüber ging sie geradewegs zu Daddy und begann eine mißbilligende, geflüsterte Konversation während der sie immer wieder auf Onoratos glänzenden Brillantine-Kopf schielte. Ich war verlegen. Onoratos Eltern machten nie irgendwelche Bemerkungen darüber, wie ich angezogen war. Ich nahm es Daddy und Mama übel, daß sie sich meinem Freund gegenüber so verhielten. Abgesehen von ihren langen Auseinandersetzungen begann ich noch andere, subtilere Veränderungen bei meinen Eltern wahrzunehmen. Ihr großes Bemühen um Normalität in unserem Leben begann sich mehr und mehr zu verschieben – zugunsten einer Definition der Unterschiede zwischen uns und der Gemeinde, in der wir lebten. Es ging nicht nur um die Sachen und die Frisuren, die wir trugen. Es lag mehr in den Gedanken, die sie sich um unsere Bildung und unser Gefühl für die eigene Kultur machten, und was sie sich für unsere Zukunft erhofften. Sie wollten nicht, daß wir das Japanisch, was wir zu Hause sprachen, verlernten, im Gegenteil, sie wollten, daß wir unsere Kenntnisse verbesserten. Sie schickten uns samstags in Japanisch-Kurse. Wenn wir protestierten, daß wir fünf Tage in der Woche zur Schule gingen und unsere Freunde samstags schließlich auch Zeit zum spielen hatten, bekamen wir nur
Mamas alte Maxime zu hören: „Hito wa hito, uchi wa uchi“ – „Andere Leute sind andere Leute, unser Haus ist unser Haus.“ Wenn wir bemerkten, daß es teuer sei und wir das Geld lieber sparen sollten, antworteten Mama und Daddy, daß wir später im Leben dankbar sein würden, daß sie dieses Geld jetzt ausgaben. Wir murrten, daß wir jetzt jedenfalls keinerlei Dankbarkeit empfanden. Sogar in der Schule drängten uns unsere Eltern zu besseren Leistungen. Sowie sie es sich gerade eben leisten konnten, kauften sie uns einen Satz der umfangreichen BrittanicaEnzyklopädie. An vielen Abenden saß Daddy mit uns auf dem Wohnzimmersofa und las uns daraus vor. Es war lustig, etwas über das Kunterbunt der Welt zu lernen, und das nur unter dem Vorzeichen eines gemeinsamen Anfangsbuchstabens. Eines Abends las er uns aus dem Band zum Buchstaben S vor. Es war das erste Mal, daß ich von William Shakespeare hörte. Drei Monate nach der Cinco de Mayo Fiesta, nahmen uns unsere Eltern mit zum Nisei-Wochen-Festival in Little Tokio in Downtown Los Angeles. Es war ein Fest für japanischamerikanische Kunst und Kultur, das jedes Jahr im August gefeiert wurde. Es war eine farbenprächtige Kombination aus traditioneller japanischer Kunst, Handwerk und Kriegskunst, angereichert mit solch typisch amerikanischen Bestandteilen wie Talentshows, Kleinkinder-Wettbewerben, einem Straßenkarneval und einem Festzug mit einer Schönheitskönigin. Das Glanzlicht dieser einwöchigen Feier war die Ondo-Tanzparade am Abschlußabend. Die Straßen von Little Tokio waren voll mit volkstümlichen Tänzern, Männer und Frauen, von den alten Leuten bis zu kleinen Kindern, jedem, der Spaß daran hatte, mitzumachen. Alle waren sie in ihre kühlen Sommerkimonos gekleidet, die man Yukata nennt. Die Tänzer aus den traditionellen Tanzschulen waren in einheitliche seidene Kimonos gekleidet. Es war ein
wunderschöner Anblick – ein Meer von Tänzern, die sich beim Einherschreiten zu der beschwingten Melodie des Samisen einer Art japanischer Gitarre – hin und her wiegten. Doch keiner der ausgebildeten Tänzer – so geschmeidig sie auch tanzten – war so beeindruckend wie der riesige schwarze Mann, ein langjähriger Einwohner von Little Tokio, von dem Daddy uns erzählte, daß man ihn liebevoll „Little Joe“ nannte. Er trug ein hachi maki, das weiße Baumwollstirnband um seinen glänzenden, rasierten Kopf und einen knisternden, weißen Sommer-Yukata aus Baumwolle, in den er seinen gewaltigen Körper eingewickelt hatte. Seine enorme Größe von über einem Meter achtzig und sein massiver Körperbau ließen alle anderen Tänzer um ihn herum winzig erscheinen. Aber seine große Gestalt gab der überraschenden Anmut und Leichtigkeit seiner Bewegungen eine Besonderheit, die ihn zu einem Publikumsliebling machte. Wenn er sich näherte, konnte man aufgeregte Rufe hören wie: „Hier kommt er“, und „Hey, Little Joe kommt.“ „Seit Little Joe zurück ist, ist es fast wie vor dem Krieg“, hörte ich einen Mann wehmütig zu seiner Frau sagen. „Obwohl, sieh mal, er ist ganz schön alt geworden“, bemerkte die Frau. Und als Little Joe anmutig vorbeigeglitten war, hörte ich den Mann zu ihr sagen: „Ja, aber schau dich an. Du hast dich überhaupt nicht verändert.“ Sie gab ihm freundschaftlich einen Schlag auf die Schulter. Daddy und Mama begannen an den Sonntagnachmittagen mit einer neuen Aktivität – Familienausflüge mit dem Auto, um nach Häusern Ausschau zu halten, die zum Verkauf standen. Sie betonten, daß wir uns nur umschauen, aber nicht tatsächlich etwas kaufen würden. Wir müßten noch viel mehr Geld sparen, erzählten sie uns. Es machte viel Spaß, aber ich fragte mich, warum wir uns nur zum Spaß Gebiete wie
Crenshaw oder Culver City oder das San Fernando Valley ansahen. Es war doch viel interessanter, durch so schöne Gegenden wie Beverly Hills und Bel Air zu fahren, wo die Häuser groß und schön waren. Wenn sie schon wollten, daß wir in der Schule unser Bestes gaben, dann sollten wir auch auf unseren Sonntagsfahrten nur durch die besten Gegenden fahren, beharrte ich. Also begann Daddy damit, uns überall durch Los Angeles zu kutschieren. Er fuhr mit uns die großen Boulevards der Stadt entlang; Wilshire-Boulevard, der im Mac Arthur Park einen schimmernden See durchquert; Sunset-Boulevard, mit seinen ausgedehnten Strecken üppiger, palastartiger Herrenhäuser; und Ocean-Boulevard in Santa Monica, mit seinem Panoramablick auf den Pazifischen Ozean. Daddy legte ganz besonderen Wert darauf, mit uns über das Gelände der beiden großen Universitäten in Süd-Kalifornien zu fahren: UCLA und USC. „Diese sind zwei der besonderen Orte in Amerika“, erzählte er uns. Er wies auf die Studenten, die lesend im Schatten alter Bäume saßen, und er meinte mit bedeutungsvoller Stimme: „Seht ihr, wie hart sie lernen? Sie müssen wirklich hart ran im College.“ Wir verstanden, was er meinte. Aber nichtsdestotrotz schienen diese Kommentare zu seiner automatischen Reaktion zu werden, wann immer ein College-Student in Sicht kam, der im Freien saß und lernte. „Seht ihr, wie hart sie im College studieren?“ wiederholte er dann. Solche schwerwiegenden Beobachtungen hörten erst auf, wenn Henry und ich zum Gegenangriff übergingen. „Schau, Henry“, sagte ich nüchtern und deutete auf einen Studenten, der im Schatten eines Baumes auf dem Unigelände schlummerte. „Glaubst du, daß du so werden könntest wie er?“
„Ich weiß nicht“, reagierte er mit scheinheiliger Ehrfurcht, „ich bin nur ein Kind. Ich werde daheim noch viel härter an meinem Schlaf trainieren müssen.“ Es war auf einer dieser Sonntagsfahrten, als ich meine ganz eigene Entdeckung machte, die für mich zu einem der Schätze von Los Angeles wurde; – die phantastische Welt der Filmstudios. Als wir die Melrose Avenue entlangfuhren, sah ich in die Bronson Avenue hinein und erhaschte den Blick auf die schmiedeeisernen Tore der Paramount Studios. „Daddy, Daddy, fahr zurück. Ich habe gerade ein Filmstudio gesehen.“ Er drehte um und fuhr uns bis zur Marathon Street und hielt direkt vor dem Studiotor an. Hier, unmittelbar vor uns, war dieses Tor, das ich in so vielen Filmmagazinen gesehen hatte – dieses berühmte Tor, durch das jeden Tag Koryphäen wie Alan Ladd, Lizabeth Scott, Gary Cooper und Barbara Stanwyck auf ihrem Weg zu irgendeinem zauberhaften Filmset gingen. „Daddy, Daddy. Bitte stell den Wagen ab. Ich möchte aussteigen und mir das anschauen.“ Am Sonntag gab es an der Straße jede Menge Parkplätze. Ich spähte durch das verschnörkelte Tor hindurch auf die verlassene Straße zwischen den Hallen. Ein einsamer Sicherheitswächter döste in der Bude gleich hinter dem Tor, aber ich ließ meiner Phantasie freien Lauf und sah im Geiste Cowboys, vollbusige Haremsdamen und Fremdenlegionäre auf der anderen Seite der leeren Straße stehen. Wir gingen entlang der hohen Studiomauer die MarathonStreet hinunter. Jenseits der Mauer konnten wir eine Wand mit einem riesigen Stück hellblauen Himmel sehen, der auf einem turmhohen Gestell montiert das ganze hintere Gelände überragte. Er sah viel schöner aus als der richtige Himmel. Ich glaubte diesen Himmel von so vielen Paramount-Filmen her wiederzuerkennen. Jenseits dieser Wand wurde der Zauber
erschaffen. Es war schwer zu glauben, daß dieser wunderbare Ort, diese Fabrik, in der Träume entstanden, die so wunderbar weit über die Wirklichkeit hinausgingen, hier in dieser Stadt lag, in der wir lebten – und daß Hollywood so nahe war. Von diesem Sonntag an begann Daddy jedesmal, wenn wir in einer entsprechenden Gegend waren, eine Fahrt zu einem der großen Filmstudios in unsere Ausflüge einzubeziehen: das Republic-Studio im San Fernando Valley, 20th Century-Fox im Westen von Los Angeles und MGM, wenn wir in Culver City waren. Leere Filmstudios, bar jeden Lebens am Sonntagnachmittag – und doch wurden sie in meiner Phantasie zu magischen Orten mit zauberhafter Betriebsamkeit und Geschäftigkeit – und meinen ersten zaghaften Hoffnungen. Hollywood lag gerade mal auf der anderen Seite des Zaunes. Diese Sonntagsfahrten voller Hoffnungen, Entdeckungen – und für mich auch voller Träume – brachten uns nach vielen Jahren ans angekündigte Ziel. Daddy und Mama kauften ein Haus. Wir fanden ein zu-gewuchertes, weißes, stuckverziertes Gebäude im Wilshire District, in dem alten Viertel, wo wir vor dem Krieg gelebt hatten. Es war ein ruhiges, gemischtes Wohnviertel mit hauptsächlich weißen und schwarzen Akademikern. Wir würden die ersten Asiaten in der Straße sein. Und wieder mußten wir umziehen. Aber diesmal konnten wir es kaum erwarten. Wir zogen in ein hübsches, großes Haus mit einem Garten, in dem Orangen- und Pfirsichbäume voller Früchte standen. Wir Kinder waren ganz aufgeregt wegen der Eisdiele, die nur zwei Blocks entfernt lag und dem schönen Uptown-Kino. Unsere Eltern waren begeistert von den Schulen, die wir besuchen würden. Für mich sollte es die Mt. Vernon Junior High sein und für Henry und Reiko die Wilton Place Grammar School. Aber noch wichtiger und von allergrößter Bedeutung war dieser Umzug für Daddy und
Mama. Sie hatten diese Entscheidung selbst getroffen. Sie allein hatten sich entschlossen, dieses Haus zu kaufen. Es war kein Regierungsauftrag, der uns mit vorgehaltener Waffe an einen unbekannten Ort verschlug. Es war ein Schritt zurück und ein Aufstieg. Sie gewannen etwas wieder, was sie verloren hatten – die Kontrolle über ihr Leben. Wir verließen den Osten von Los Angeles im Sommer 1950. Unsere vier Jahre im mexikanischen Viertel waren zu Ende. Ich war jetzt ein dreizehn Jahre alter Teenager. Wir zogen ein in unser neues Heim und in ein neues Leben. Aber ich mußte auch Abschied nehmen von Menschen und Dingen, die ich liebgewonnen hatte. Onorato und Danny, Cesars Musik und die farbenfrohen Cinco de Mayos, Mrs. Morenos Kochkünste und der Geschmack eines guten, fettigen Burritos aus Ost-L.A. Ich mag dieses Viertel verlassen haben, aber meine Jahre dort hatten mir Vorlieben und Werte beschert, die ein Teil von mir wurden. Und ich bin in weit größerem Maße ein Kind des OstViertels von L.A. als mir damals bewußt war.
6 Die Tage in Mt. Vernon Die Mt. Vernon Junior High School befand sich auf der anderen Seite der Stadt und Welten von der Murchison Street School im Osten von Los Angeles entfernt. Ein üppiger grüner Rasen führte zu einer Reihe eleganter Säulen hinauf, die vor der Vorderfront eines dreistöckigen Gebäudes standen. Die Fassade gab die Architektur des Hauses des ersten amerikanischen Präsidenten wieder – daher der Name „Mt. Vernon“. Hier waren die Schüler im Vergleich zu meiner alten Schule genauso verschieden wie die Architektur – vor allem wegen der vielfältigen Herkunftsländer der Schüler, die in europäischen Ländern wie England, Rußland, Deutschland und der Tschechoslowakei geboren worden waren. Es gab wenige Asiaten, die meisten davon Japaner, und praktisch keine Mexikaner. Ich mußte mich einer neuen Umgebung anpassen. Doch wollte ich den Bezug zu der Art des Lebens, das ich gerade hinter mir gelassen hatte, nicht verlieren. In der Junior High School hatten wir die Entscheidung zu treffen, welche Fremdsprache wir lernen wollten. Ich wählte Spanisch. Unsere Lehrerin Mrs. Woods war trotz ihres Nachnamens Mexikanerin und eine passionierte Verfechterin von Fremdsprachenstudien als wesentlichem Bestandteil des Lebens. Sie hatte eine wundervolle Art, beim Unterrichten das Spanische lebendig werden zu lassen; sie sprach uns alle mit den spanischen Übersetzungen unserer Namen an. Ich war Jorge. Das Mädchen auf der anderen Seite des Durchgangs zwischen unseren Bankreihen, Nancy, wurde zu Anita, doch
erklärte uns Mrs. Woods, daß die verniedlichende Form des Namens Anitita wäre, und eine noch liebevollere Form bestünde nur aus den letzten beiden Silben von Anitita, dem verspielt-herzlichen „Tita“. Ich mochte diesen Namen. Der englische Name meiner Schwester war Nancy, also entdeckte ich eine Möglichkeit, das Spanische in unsere Familie einfließen zu lassen. Reiko blieb seitdem für mich Tita. Eine Clique von Jungs in der Klasse nannte sich „The Oddballs“ (Die Exzentriker). Doch für Mrs. Woods und uns wurden sie zu „Las Pelolas Curiosas“, was eine witzige wörtliche Übersetzung von „Oddballs“ war, einen Namen, den sie selbst annahmen. Sie bat uns, bekannte Örtlichkeiten in der näheren Umgebung zu nennen, die spanische Namen hatten, wie beispielsweise „La Brea Tar Pits“ oder „San Gabriel Mission“ oder Straßennamen wie „Pico Boulevard“ und „Figueroa Street“ oder die Namen umliegender Städte wie El Monte, Santa Monica oder sogar unser Los Angeles. Mrs. Woods brachte uns bei, daß diese Bezeichnungen nicht nur aus exotischen Geräuschen bestand, an die sich unsere Ohren gewöhnt hatten. Sie hatten alle eine Bedeutung und eine ereignisreiche, faszinierende Geschichte. Das südliche Kalifornien war zum großen Teil mexikanisch. Von Mrs. Woods lernte ich, daß das Spanische mir nicht nur Zugangsmöglichkeiten zu vielen Leuten um mich herum eröffnete, sondern auch Aufschluß über die Geschichte der mich umgebenden Welt gab. Daddy und Mama beließen es nicht bei dem Selbstvervollkommnungsprogramm, das sie mit uns begonnen hatten. Tatsächlich erweiterten sie es. Natürlich gingen unsere samstäglichen japanischen Sprachkurse weiter. Sie schrieben uns an der Jefferson Gakuen
Language School im Crenshaw-Distrikt ein, nicht allzu weit von unserem neuen Zuhause entfernt. Sie kauften uns ein großes Klavier für das Musikzimmer. Wir fanden es lustig, darauf herumzuhämmern, doch wurde es uns nicht klar, daß sie vorhatten, uns ernsthaft darauf spielen zu lassen. Jeden Dienstag, wenn die Schule aus war, erschien Miss Kawakami mit der Regelmäßigkeit eines Metronoms an unserer Tür und einem ebensolchen in der Hand. Während es seine Tickgeräusche von sich gab und sie rhythmisch mit ihrem Finger in unsere Richtung wedelte, hämmerten wir unsere Fingerübungen herunter. Wir glaubten, wenn wir die Tasten nur laut genug anschlugen, würde diese permanente Tortur von Mamas Nerven sie irgendwann dazu veranlassen, die Klavierstunden zu beenden. Es wurde uns nicht klar, wie hoch Mamas Toleranzschwelle hinsichtlich unserer Lärmproduktion war, die sich Klavierunterricht nannte. Die Stunden gingen weiter, und irgendwann hörte sich das alles nicht mehr allzu schrecklich an. Beim jährlichen Vorspielen erhielten wir herzlichen, wenn auch vielleicht nicht ganz unvoreingenommenen Beifall. Unsere Eltern machten uns zu Mitgliedern der Pfadfindertruppe 379 am buddhistischen Koyasan-Tempel in Little Tokyo. Dort wurden unsere Klavierspielerfinger durchs Binden von Lassos, Laufknoten und anderen Knoten jeder erdenklichen Art geübt. Doch sogar bei den Pfadfindern entkamen wir der Musik nicht. Die Truppe 379 war bereits vor der Kriegszeit für ihre Trommler- und Hörnerkorps bekannt. Sie war 1932 gegründet worden und hatte ihren guten Ruf seit der Rückkehr der japanischstämmigen amerikanischen Gemeinde nach Los Angeles wiederhergestellt. Die Mitgliedschaft bei der Pfadfindertruppe bedeutete, Teil des Trommler- und Hörnerkorps zu werden. Henry bekam ein Signalhorn, und mir wurde ein Baßhorn zugeteilt, ein größeres
Instrument, das eine tiefere Tonlage hatte. Und so hatten wir an den Donnerstagabenden und an den Wochenenden auch noch Unterricht im Hornblasen. Doch unsere Gruppenaktivitäten fand im Bewußtsein einer gemeinsamen Zielsetzung statt – sie machten Spaß. Wir wurden im Laufe der Zeit zu akzeptablen Hornbläsern. Das Korps wurde eingeladen, bei Paraden und Festivals in ganz Südkalifornien teilzunehmen, einschließlich der am Neujahrsmorgen stattfindenden „Tournament of Roses Parade“ in Pasadena. Die jubelnden Massen, die aufspielende Musik und die alles umfassende Festivalatmosphäre waren allesamt Elemente, die meine heute längst nicht mehr nur schlummernden theatralischen Sehnsüchte anstachelten. Während wir uns änderten, tat dies auch die Welt um uns herum. Und weit entfernt spiegelte sich dies auch in Washington D.C. wider. Die Regierung, die eine solch bösartige Feindseligkeit gegenüber japanischstämmigen Amerikanern entwickelt hatte, ließ ein Gesetz passieren – als Akt der Wiedergutmachung und des schlechten Gewissens –, das ein Meilenstein der diesbezüglichen Legislative war, nämlich den „Immigration and Naturalization Act“ von 1952. Von dem Kongreßabgeordneten Francis Walter aus Pennsylvania und Senator Pat McCarran aus Nevada als Vorlage eingebracht, eröffnete das Gesetz allen Rassen die Möglichkeit, amerikanischer Staatsbürger zu werden. Die Annahme des Gesetzes durch den Kongreß war jedoch kein uneingeschränkter Sieg. Die immer noch vorhandenen Vorbehalte uns gegenüber unterstreichend, legte Präsident Harry Truman sein Veto dagegen ein. Doch sowohl der Kongreß als auch der Senat konnten dieses Veto zu Fall bringen, und die Vorlage wurde zum Gesetz. Daddy konnte nun eingebürgert werden.
Daddy hatte seinen Reinigungsbetrieb in East Los Angeles verkauft und einen Gemischtwarenladen an der Western Avenue gekauft, nicht weit von unserem neuen Haus entfernt. Den Laden zu betreiben, bedeutete viele Stunden harter Arbeit, doch Daddy war irgendwie von neuer Kraft erfüllt, als das Gesetz, das ihm seine Staatsbürgerschaft zu guter Letzt verschaffen würde, in Kraft getreten war. Wenn er nach Einbruch der Dunkelheit von der Arbeit zurückkam, nahm er ein schnelles Abendessen ein und vergrub sich dann bis tief in die Nacht in seinen Büchern. Ich erinnere mich daran, wie ich ihm zusah, wenn er im Schein dieser einen Lampe an seinem Schreibtisch in seine Studien vertieft dasaß und über dieses seltsame Ding namens Staatsbürgerschaft grübelte. Dieses unsichtbare Etwas, über das ich nie nachgedacht hatte – etwas, mit dem ich geboren worden war und das ich bisher immer für selbstverständlich erachtet hatte, dem Daddy jedoch einen sehr großen Wert beimaß, und das Mama mit solcher Leidenschaft vor Jahren zurückgewiesen hatte. Welche Macht besaß dieses abstrakte Ding, daß es solche Entschlossenheit bei Daddy und solche Wut bei Mama bewirkte? Ich hatte nicht die Absicht, ihn zu unterbrechen, doch Daddy bemerkte, wie ich ihm zusah. Er lächelte, nahm seine Brille ab und massierte die Druckstellen auf seinem Nasenrücken. Er winkte mich in einen Stuhl, und ich setzte mich. „Du siehst aus, als würdest du dir irgendwelche Gedanken machen“, sagte er. Ich wußte, daß es spät war und er müde sein mußte, doch mußte ich ihn über die Bedeutung der Staatsbürgerschaft befragen, und er antwortete. Daddy erklärte, die Staatsbürgerschaft zu besitzen bedeutete, Mitglied eines Landes, einer Stadt oder einer Gemeinde zu sein, doch darüber hinaus, bedeutete es, daß man sich zu einer Reihe von Werten bekennen müsse. Als ich ihn fragte, warum
er ein Mitglied dieses Landes werden wollte, obwohl er dies doch nicht mußte, antwortete er: „Die Staatsbürgerschaft ist eine Wahl. Manche Leute werden damit geboren, tun aber nichts damit. Das ist keine wirkliche Staatsbürgerschaft. Das ist nur ein Status auf dem Papier. Du mußt eine bewußte Entscheidung treffen, wenn du sie mit einer Bedeutung versehen willst. Deine Mama hat so starke Empfindungen bezüglich ihrer Staatsbürgerschaft und deren Bedeutung, daß sie handeln mußte, als diese verletzt wurde. Sie sorgte dafür, daß die Bedeutung sichtbar wurde und nahm kraftvoll dazu Stellung. Und weil sie sie würdigt, kämpfte sie sehr darum, ihre Staatsbürgerschaft zurückzubekommen. Für mich war es sehr schwer, meine Einbürgerung Wirklichkeit werden zu lassen, und ich brauchte dazu die Hilfe von Menschen, die wollten, daß ich diese Wahl treffen konnte, von Menschen, die an Amerikas beste Ideale glaubten. Amerika ist der Ort, an dem ich die meiste Zeit meines Lebens verbrachte. Ihr Kinder seid Amerikaner. Meine Zukunft befindet sich hier in diesem Land. Jetzt, wo ich eine Wahl treffen kann, besteht meine Entscheidung darin, amerikanischer Bürger zu werden.“ „Aber Amerika hat uns so schlecht behandelt“, wandte ich ein. „In diesem Land gibt es keine Gerechtigkeit. Was hat dich dazu veranlaßt, Bürger eines solchen Landes werden zu wollen?“ Daddy klappte sein Buch zu und dachte nach. „Amerika ist ein seltsames Land“, fing er an. „Trotz allem ist es immer noch eine Nation der Ideale. Richtig, die Justiz hierzulande ist weder unparteiisch noch gerecht. Sie spiegelt nur die Gesellschaft wider. Doch ist dies eine offene Gesellschaft, an der die Leute teilhaben können, wenn sie nur wollen. Das System hier nennt sich partizipierende Demokratie, an der das Wichtigste die Teilnahme daran ist. Wenn Leute wie ich nicht dazu bereit sind, ihre Chance zu nutzen und zu partizipieren, wird Amerika weit von seinen
Idealen entfernt stehenbleiben. Meine Wahl besteht darin, mich mit guten Leuten wie Wayne Collins zu verbünden, dem Anwalt, der Mama bei ihrem Rechtsstreit geholfen hat. Meine Wahl besteht darin, Amerika dabei zu helfen, das zu werden, was es von sich behauptet.“ In dieser Nacht, als ich Daddys müder und doch resoluter Stimme lauschte, wurde mein Verständnis der Bedeutung amerikanischer Staatsbürgerschaft so fest zusammengefügt wie das Buch, das auf seinem Schreibtisch lag. Im Licht der Lampe, das auf dieses schon häufig benutzte Buch über amerikanische Geschichte fiel, wurden mir Amerika und seine Ideale auf eloquente Art von einem Immigranten erläutert, einem „feindlichen Fremden“ der Kriegszeit, einem Internierten eines Konzentrationslagers, dem Ehemann einer Frau, die ihre amerikanische Staatsbürgerschaft ablehnte – meinem Vater. Ich war schon längst Teenager, als ich die Zeitungen entdeckte. Die „L.A. Times“ wurde uns schon immer nach Hause geliefert, aber wie bei so vielen Dingen, die Kinder für selbstverständlich halten, waren es nur Teile, nämlich die Comics und die Kinoanzeigen, die für mich bislang von Interesse gewesen waren. Andere Abschnitte hatte ich nur durchgeblättert. Doch brachte Daddy häufig irgendwelche Tagesereignisse am Eßtisch zur Diskussion, und ich fand rasch heraus, daß die „Times“ mit Fotos illustrierte, was er erzählte. Dann erst kam die Erkenntnis, daß der Text mehr Details lieferte und sogar gegenteilige Meinungen darin zu Wort kamen. Daraus entwickelte sich echtes Interesse für die Neuigkeiten. Ich fing an, die Zeitung von der ersten bis zur letzten Seite zu verschlingen. Der Krieg in Korea landete fast immer auf der Titelseite. Eines Morgens war mitten auf der ersten Seite ein großes Foto eines Feldes mit verrotteten Erdbeeren abgebildet. Es war
ein schockierendes Bild. Ich liebte Erdbeeren. Es war so eine Verschwendung, gute, reife Früchte in der prallen Sonne verderben zu lassen. Der Begleitartikel sprach von einer „Operation Wetback“, der Rücksendung mexikanischer Arbeiter. Er besagte, daß Braceros, Farmarbeiter aus Mexiko, die von Farm zu Farm gingen, um pflanzliche Produkte zu ernten, wenn sie reif waren, davon abgehalten werden müßten, das Land zu betreten. Solange keine amerikanischen Erntearbeiter rekrutiert werden konnten, um diese Braceros zu ersetzen, führte der Mangel an Arbeitskräften dazu, daß die Erdbeerernte ausfiel und ein großer Teil der kalifornischen Landwirtschaft Schaden nahm. Der Artikel besagte, daß die Preise für Erdbeeren nun senkrecht in die Höhe schießen würden. Ich entschloß mich, etwas aus der Situation zu machen. Es war Ferienzeit. Viele meiner Freunde hatten Zeit. Wir lagen in der Regel faul am Strand herum. Wir konnten doch statt dessen auf die Farmen gehen und Teile der Erdbeerernte retten. Je länger ich über die Idee nachdachte, um so stärker wurde mein jugendlicher Idealismus angestachelt. Hier gab es etwas, für das es sich lohnte, Energie zu investieren, und vielleicht gab es ja auch die Möglichkeit, sich den Bauch mit Erdbeeren vollzuschlagen. Daddy befürwortete die Idee herzlich. Ich griff zum Telefon und fing an, meine Freunde anzurufen. Ihre Antworten waren ernüchternd. Ken hatte zu tun. Fred mußte noch irgend etwas erledigen. Billy ging aus. Als Arbeit angesagt war, gab es niemanden, der beschäftigter war als Teenager im Urlaub. Nur Earl Gravely, mein schwarzer Freund, wollte mitmachen. Am Morgen, an dem wir uns an der Arbeitsstelle melden sollten, standen wir mitten in der Nacht auf, und Daddy fuhr Earl und mich zur „East Los Angeles Farm Labour Station“. Es war immer noch dunkel, als wir dort ankamen. Eine Flotte
großer Lastwagen stand bereit, um die noch schlaftrunkenen freiwilligen Pflücker zu mehreren Erdbeerfarmen zu fahren. Wir schlossen uns einer Horde von Leuten an, von denen die meisten Mexikaner waren. Viele waren erfahrene Farmarbeiter, doch einige waren Hispanoamerikaner, die wie wir Anfänger waren. Sie waren einfach deswegen da, um die Ernte zu retten und sich ein paar Dollar dazuzuverdienen. Für mich war es auch eine willkommene Gelegenheit, meine wachsenden Spanischkenntnisse anzuwenden. Sobald Earl und ich den uns zugewiesenen Lastwagen bestiegen hatten, hockte ich mich hin und verwickelte den mir nächsten Mexikaner in ein Gespräch. Während der ganzen Zeit unserer Unterhaltung bemerkte ich, daß er mich kritisch musterte. Schließlich stellte er mir die Frage, die ihn offensichtlich die ganze Zeit beschäftigt hatte. Er fragte mich auf Spanisch: „Welchem Stamm gehörst du an?“ Ich war verwirrt. Was meinte er mit „Stamm“? Er wiederholte die Frage. Schließlich dämmerte mir, daß er wohl dachte, ich sei ein Angehöriger irgendeines spanischsprechenden südwestlichen Indianerstammes. Ich war als Teenager ein echter Sonnenanbeter. Fast jedes Wochenende befand ich mich am „Will Rogers State Beach“ und wurde so braun wie die sprichwörtliche Kaffeebohne. Mein kupferner Teint und mein Spanisch hatten den Mann neben mir dazu gebracht, mich für einen Indianer zu halten! Als ich meine japanische Abstammung offenbarte, schaute er mich voller Unglauben an und bedeckte verlegen seinen Mund mit der Hand. Dann stieß er einen anderen Mann an und rief aus: „Este japones como indio habla espanol.“ „Dieser Japaner, der wie ein Indianer aussieht, spricht Spanisch.“ Das führte zu größerem Aufsehen, viel Gelächter, und so mancher zeigte auf mich. Ich wurde auf dem Lastwagen zur Hauptattraktion.
Man brachte uns zu einer Erdbeerfarm in Orange County, südöstlich von Los Angeles. Ein weites Feld, das mit einem endlosen Teppich aus Reihen niedrig wachsender Erdbeerpflanzen bedeckt war, jede schwer von großen roten Beeren, erstreckte sich bis zum Horizont. Wir sprangen vom Lastwagen herunter und erhielten unsere Ernteanweisungen von mehreren japanischstämmigen Amerikanern. Offensichtlich gehörte ihnen die Ranch, oder sie betrieben sie. Der Job des Pflückers bestand darin, mit hölzernen Behältern aufs Feld hinauszugehen, in dem bereits einzeln dastehende leere Kartons verteilt standen, und diese dann mit den reifen Beeren aufzufüllen. Unsere Vorarbeiter betonten ernst, daß wir nur die reifen Früchte pflücken sollten. Es gäbe dann noch eine spätere Ernte, sobald die anderen Beeren reif geworden waren. Einfach genug, dachte ich mir. Wozu das ganze Gerede? Natürlich würde ich nur die reifen Erdbeeren pflücken. Nach ungefähr einer Stunde wurde ich mir einiger Wahrheiten des Erdbeerpflückens und des Lebens bewußt. Meine erste Entdeckung bestand darin, daß der menschliche Körper sich bemerkenswerterweise fast jeder Aufgabenstellung anpassen kann. Die erfahrenen mexikanischen Farmarbeiter bewegten sich mit verblüffender Geschwindigkeit vorwärts, spreizten die Pflanzenreihen auseinander und pflückten flink nur die größten Früchte. In dieser unbequemen vorgebeugten Stellung schafften sie es, Grazie, Sparsamkeit der Bewegungen und bemerkenswerte Produktivität zu vereinen. Sie waren mir bereits nach der ersten Stunde mindestens um fast 500 Meter voraus. Das zweite, was mir auffiel, war, daß wir den Begriff „Rückenschmerzen“ allzu leichtfertig gebrauchen. Ich habe nie solche Schmerzen verspürt wie diese gnadenlosen Stiche, die meinen Rücken zu traktieren begannen. Der Schmerz wurde langsam schlimmer, je länger sich der Tag hinzog. Ich
empfand schon beinahe Lähmungserscheinungen. Niemand kann behaupten, die wirkliche Bedeutung des Wortes „Rückenschmerzen“ zu kennen, solange er noch keinen Tag damit zugebracht hat, Erdbeeren zu pflücken. Am Nachmittag kroch ich auf allen Vieren die schlammige Reihe der Erdbeerpflanzen entlang, zu erschöpft, um noch auf jede einzelne Beere achten zu können, die ich vielleicht unter meinen Knien zerquetschte, ob sie jetzt reif war oder nicht. Am Ende des Tages kam ich zu der quälenden Erkenntnis, daß die Trennungslinie zwischen Idealismus und Wahnsinn hauchdünn sein kann. Meine Vision, die kalifornische Erdbeerindustrie zu retten, hatte meinen Rücken vollständig zerstört. Doch war mein romantischer Idealismus immer noch ein wenig intakt. Der wurde jedoch schnell zum nächsten Opfer. Erschöpft, ausgelaugt und vornübergebeugt reihten wir uns in die Schlange vor der Zahlstelle ein. Ich jammerte und beschwerte mich bei meinen Arbeitskollegen auf Spanisch über meine Schmerzen und Wehwehchen. Zwei japanischstämmige Amerikaner saßen hinter dem Fenster der Zahlstelle und errechneten die Menge, die jeder Pflücker geerntet hatte. Die besten Verdiener waren natürlich die erfahrenen mexikanischen Farmarbeiter, von denen viele kaum Englisch sprachen. Wenn sie bezahlt wurden, bemerkte ich etwas Seltsames. Die Zahlmeister sprachen sie in gutem – tatsächlich burschikosem – Englisch an. Doch wechselten sie regelmäßig zwischendurch untereinander ins Japanische. Sie unterhielten sich ganz offen auf Japanisch miteinander und hielten mich augenscheinlich für einen sonnenverbrannten, spanischsprechenden Nicht-Japaner unklarer Herkunft, wie es ja schon mein Arbeitskollege auf dem Lastwagen getan hatte. Sie beachteten mich überhaupt nicht. Ich hörte genau zu, wenn sie Japanisch sprachen, wobei sie meinten, von niemandem sonst verstanden zu werden.
Was ich hörte, versetzte mich in kochende Wut. Sie kürzten den Lohn der nicht englischsprechenden Arbeiter! Ich drängelte mich durch die wartende Schlange und erklärte ihnen wutentbrannt auf Japanisch, daß ich über das, was sie taten, Bescheid wußte. Die Zahlmeister waren baß erstaunt und völlig sprachlos. Ich drohte, wenn sie den in betrügerischer Absicht einbehaltenen Lohn nicht zurückerstatten würden, würde ich mich an die zuständigen Behörden wenden. Der erstaunte Blick in ihren Gesichtern machte rasch dem Ausdruck von Wut Platz, und sie fingen an, ihre Papiere lebhaft zu durchwühlen. Kurz danach wurde eine Durchsage gemacht, daß es da ein paar Fehlberechnungen des auszuzahlenden Lohns gegeben habe und daß die Sache berichtigt werden würde. Das wurde rasch von einem der hispano-amerikanischen Arbeiter ins Spanische übersetzt. An diesem Tag auf der Farm rettete ich zwar weder die kalifornische Erdbeerernte noch meinen geschundenen Rücken, und mein Idealismus blieb auch nicht unbeschädigt. An ihrer Stelle gewann ich jedoch einige Einblicke in die reale Welt. Ich lernte traurigerweise, daß Leute, die selbst einmal ausgebeutet worden waren, sogar japanischstämmige Amerikaner, mit denen ich eine gemeinsame Geschichte teilte, nicht dagegen immun waren, andere auszubeuten. Am Wichtigsten aber war meine Erkenntnis, daß auch ein Einzelner etwas bewirken kann. Ich wußte jetzt, wie anstrengend Erdbeerpflücken war. Ich sah, wie hart die mexikanischen Arbeiter schufteten. Weil ich mich für sie eingesetzt hatte, schaffte ich es, daß der Unterschied zwischen dem Betrag, der ihnen ausbezahlt worden war, und demjenigen, der ihnen aufgrund ihrer harten Arbeit zustand, ausgeglichen wurde. Mein Rücken tat mir weh,
meine Unschuld hatte Risse bekommen, doch tief in meinem Inneren fühlte ich mich wohl. Trotz der Blamage meines Idealismus an diesem Tag auf dem Erdbeerfeld reagierte ich immer noch auf die Fotos jeder neuen Katastrophe auf der Titelseite der Zeitung. Vielleicht lag es daran, daß ich mich an meinen Daddy im Lager erinnerte, der sich aktiv in die Arbeit für die Gemeinschaft gestürzt hatte. Vielleicht war es aufgrund des warmen, guten Gefühls, das mich überkam, wenn ich dabei half, die Dinge zum Besseren zu wenden. Vielleicht machte es auch einfach Spaß, mit seelenverwandten Menschen zusammenzuarbeiten. Was auch immer der Grund war, gemeinnützige Arbeit wurde zu einem Teil meines Lebens. Ich fing mit einer Menge Arbeit fürs Jugend-Rot-Kreuz an. Jeder Bericht über eine Flutkatastrophe, einen Tornado oder eine Feuersbrunst bewirkte, daß ich zum Hauptquartier des Roten Kreuzes eilte, das an der Vermont Avenue nicht weit von zu Hause entfernt lag, wo ich dann Informationsbroschüren, Erste-Hilfe-Koffer und Notrationen verpackte. Sie waren 1952 der neueste Schrei, in der Schule trug sie jeder: Socken in leuchtendem Chartreuse oder hellem fluoreszierendem Pink. Das war die „coole“ Art, sich zu kleiden. Sie verwandelten die Fußknöchel in bewegte neonfarbene Blickfänger. Ich mußte natürlich ebenfalls „dabei“ sein. Die Hälfte meiner Sockenkollektion hatte diese neuen fluoreszierenden Farben. Mama beklagte sich darüber, daß sie beim Wäschewaschen jedesmal fast erblindete. Für einen Teenager ist das Gefühl dazuzugehören und akzeptiert zu werden, Mitglied einer „In“-Gruppe zu sein, das Allerwichtigste in seinem Leben. Und „cool“ auszusehen, war überlebenswichtig. Ich hatte meine fluoreszierenden Socken. Ich hatte meine blauen Wildlederschuhe wie Elvis. Und dazu
hatte ich meinen anthrazitfarbenen Anzug mit einem pinkfarbenen Hemd. Wenn ich eine bekommen konnte, fügte ich sogar noch eine rosa Nelke hinzu. Für mich als Teenager, der ich mit der stillen Erinnerung an die Lager und später mit dem Bewußtsein, ein ausgesprochener Außenseiter in der erregenden Umgebung des Barrio zu sein, aufgewachsen war, bedeutete „In“-Sein eine absolutes „Muß“. Beim Jugend-Rot-Kreuz zu arbeiten, sowohl im Hauptquartier als auch in der Schule, spornte meinen Idealismus an und erfüllte mich mit dem Bedürfnis, Teil von etwas Größerem zu werden. Es nährte auch einen anderen Hunger – die Aussicht auf Popularität. Als ich an der Mt. Vernon Junior High zum Präsidenten der Rot-KreuzJugendorganisation gewählt worden war, beinhaltete dieses Ereignis die Hoffnung, auf weitere Aufstiegschancen. Es würde eine gute Basis für ein Amt im Schülerbeirat sein. Als ich diese Idee zu Hause beim Essen erwähnte, fand Daddy meinen Plan, ein höheres Schüleramt anzustreben, großartig. Er schlug allerdings vor, daß ich anderen dabei helfen sollte, in Ämter gewählt zu werden, bevor ich selbst Freunden gegenüber irgend etwas von meinen Zielen erwähnte. Also unterstützte ich meinen Freund Everett Van Vlear bei seiner Kampagne, Jugendbeauftragter für Sport zu werden. Daddy kaufte einen Plakatständer, und ich malte ein kunstvolles Wahlplakat für Everett. Ich schnappte mir jeden und bedrängte ihn, Everett zu wählen. Bei der Versammlung, in der die Kandidaten ihre Reden hielten, machte sich Everett gut. Er sprach bedacht und überzeugend. Doch als sein Gegenkandidat, ein angenehmer Junge, mit seiner Ansprache begann, fing dieser an, mit „Musiklöffeln“ zu spielen, Utensilien, die er zwischen seinen Fingern hielt und rhythmisch gegen seine Handgelenke, Ellenbogen und sogar gegen seinen Kopf schlug. Er ging damit sehr geschickt um,
und die Zuhörerschaft jauchzte begeistert. Gegen diese synkopischen Löffel hatte Everett keine Chance. Er erlebte eine erdrutschartige Niederlage. Im nächsten Semester kandidierte ich für das Amt des Gesundheitsbeauftragten und verteilte Rot-Kreuz-Buttons. Da mein Gegner keine Wahlgeschenke verteilte, erlebte ich einen erdrutschartigen Sieg. Es war ein seltsames und wundervolles Gefühl, nach der Wahl die Glückwünsche entgegenzunehmen. Seltsam, weil die Kampagne ein Spaß gewesen war. Ich war immer der Ansicht gewesen, daß Gratulationen nur dann angebracht waren, wenn der Kampf hart, schweißtreibend und belastend gewesen, wenn irgendein Widerstand überwunden worden war. Meine Kampagne war von Gelächter und Gaudi mit vielen Freunden erfüllt gewesen. Am Seltsamsten fand ich es, dafür beglückwünscht zu werden, die Tätigkeit ausüben zu dürfen, die ich ja auch ausüben wollte. Doch gleichzeitig machte ich an mir selbst eine überraschende Entdeckung. Ich wurde süchtig nach diesen Gratulationswellen, die sich einer erfolgreichen Wahl anschlossen. Es fühlte sich großartig an. Und ich wollte es wieder erleben. Als Gesundheitsbeauftragter war ich nun Mitglied des Schülerbeirates. Jedes andere Amt wäre nur einer Seitwärtsbewegung gleichgekommen. Das einzige Amt, das eine höhere Position bedeutete, war das des Präsidenten des Schülerbeirates. Als das Ende des Semesters nahte und die Zeit für die Kandidaten für Ämter des Schülerbeirates näherkam, sich aufstellen zu lassen, sah es so aus, als ob die einzige andere Person, die sich für das Amt des Präsidenten des Schülerbeirates bewerben würde, mein Freund und der derzeitige Vizepräsident der Jungen Lee Young war. Ich zog ihn des öfteren damit auf, daß ich ihn „meinen chinesischen Freund“ nannte, wegen seines Namens. Tatsächlich war er
schwarz, und sein voller Name lautete Leonidas Young Jr. Lee. Er hatte eine umgängliche, ansprechende Persönlichkeit, und er war sehr populär, was ihn zu einem harten Konkurrenten machte. Am Tag, als die Kandidaturen festgeschrieben wurden, erklärte Lee seine Absicht, Präsident des Schülerbeirates zu werden. Warum mußte es ein guter Freund sein? Warum nicht jemand als Gegenkandidat, den ich nicht mochte? Es würde alles so sehr vereinfachen, dachte ich mir, als ich meine eigene Kandidatur einreichte. Nichtsdestotrotz gaben Lee und ich uns die Hände, als ein Schüler aus der Journalismusklasse Schnappschüsse von uns machte, und ich sagte mit einem breiten Lächeln: „Lee ist ein guter Freund von mir. Doch schafft die Politik seltsame Bettgenossen.“ Die Journalistikstudenten kritzelten sofort meine unoriginelle Bemerkung auf Notizzetteln nieder. Lee, ganz der aalglatte Politiker, konterte geschickt mit „Was auch immer Georges Position sein mag, ich werde mit niemandem ins Bett gehen.“ Die Journalistikstudenten notierten sich auch diesen Ausspruch eifrig. Die Kampagne hatte begonnen. Lee besaß Witz und war ein großer Geschichtenerzähler. Ich bemerkte, daß er seine Persönlichkeit zum Wahlkampfthema machte. Allerdings hatte ich auch meine Geheimwaffe. Natürlich konnte ich nicht wieder meine Rot-Kreuz-Buttons benutzen. Doch konnte Daddy mir kleine süße Leckereien im Großhandel besorgen. Also entdeckten die Schüler, daß, wenn sie mir während meiner Kampagne die Hand gaben, anschließend immer irgendwelche kleinen Süßigkeiten in ihrer Hand zurückblieben. Der wirkliche Showdown fand in der Vollversammlung statt. Ich schrieb meine Rede immer wieder um. Ich fragte mich, was Lee mit seiner Rede machte. Sicherlich würde er nicht auch damit anfangen, irgendwelche musikalischen Scherze zu
treiben. Da traf mich schlagartig die Erkenntnis. Lees Vater war ein Musiker in der Duke-Ellington-Band! Und ich wußte nicht einmal, ob er selbst ein Instrument spielte. Oder, wenn er eins spielte, würde er dann auch hier damit auftreten? Sicher würde ich nicht während meiner Rede auf dem Klavier oder dem Hörn spielen. Ich würde nicht so tief herabsinken. Doch hatte Lee irgendein geheimes Instrument? Das erfüllte mich mit großer Sorge. Als Daddy mich fragte: „Wie geht’s deiner Wahlrede?“, war meine Antwort: „Ich weiß nicht, was für ein Spielchen Lee treiben wird.“ Daddy setzte sich hin und meinte: „Mach dir wegen Lee keine Sorgen. Er ist ein guter Junge, und du bist es auch. Was ihr machen müßt, ist den anderen Schülern zu erzählen, wer ihr seid, wofür ihr steht und warum ihr Präsident des Schülerbeirates werden wollt. Und sag ihnen, daß du es so gut wie möglich machen willst. Das ist alles. Dann laß die Schüler entscheiden.“ Ich wußte, daß er recht hatte. Ich würde seinen Ratschlag befolgen. Ich würde mir keine Sorgen mehr um irgendwelche Geheimwaffen Lees machen. Am Tag der Vollversammlung war das Auditorium voller Geräusche angeregter Erwartung. Es gab eine lange Liste von Ämtern und eine noch längere, auf der die Kandidaten standen, die sich für die verschiedenen Ämter bewarben. Die einzigen beiden Kandidaten für das Amt des Präsidenten der studentischen Körperschaft waren die letzten Redner. Weil die Reden nach alphabetischer Reihenfolge geordnet waren, sprach ich zuerst. Ich sprach kurz, ehrlich und vielleicht etwas dramatisch. Dann setzte ich mich. Ich dachte, daß ich mich wacker geschlagen hatte. Der Applaus war enthusiastisch. Dann sprach Lee. Die Anspannung, die ich unterdrückt hatte, kam nun wieder zurück. Würde er ein Musikinstrument
spielen? Vielleicht sogar singen? Vielleicht tanzen? Oder mit musikalischen Löffeln spielen? Lee erzählte zunächst einen Witz. Es gab leichtes Gelächter. Wann würde er mit seinem geheimen Saxophon zu spielen anfangen? Ich machte mir Sorgen. Dann erzählte er eine lustige Geschichte. Mehr Gelächter. Er würde gleich anfangen zu singen, dachte ich mir. Dann erzählte er einen weiteren Witz. Nun wird er wahrscheinlich gleich anfangen zu tanzen, dachte ich. Er erzählte eine andere Geschichte. Er muß Duke Ellington höchstpersönlich unter den Zuschauern haben, und er würde ihn auf die Bühne bitten, befürchtete ich. Da beendete er seine Ansprache und setzte sich. Das war’s. Ich fühlte mich fast veräppelt. Alles, was Lee getan hatte, war, lustige Geschichten zu erzählen. Und die Zuhörer liebten das. Das war also das As in seinem Ärmel, und nun waren die Wähler an der Reihe. Als die Stimmen ausgezählt waren, wurde uns gesagt, daß es ein sehr knappes Ergebnis werden würde. Knapp, doch ich hatte gewonnen. Ich war zum Präsidenten des Schülerbeirates an der Mt. Vernon Junior High School gewählt worden. Mein letztes Semester, wie alle Höchstsemester, stieg mir zu Kopf, war denkwürdig und viel zu schnell vorbei. Ich kann mich daran erinnern, wie ich den Schülerbeirat repräsentierte und Tänze mit Mädchen erlebte, die üppige Haarteile, bauschige Blusen mit steifen Petticoats darunter trugen, an Sänger wie Johnny Ray und seinen Hit „The Little White Cloud That Cried“ und Joni James und ihr „Teach Me Tonight.“ Bevor wir uns versahen, war es Zeit für die Graduierung. Als Nächstes wartete die High School auf uns. Die Krönung dieser drei Jahre in Mt. Vernon war die Abschlußversammlung. Ich wurde für akademische und dienstliche Leistungen mit dem begehrten „American Legion
Award“ ausgezeichnet. So geehrt, wie ich mich fühlte, merkte ich damals nicht, was diese Auszeichnung für Daddy und Mama bedeutete. Nur vor etwas mehr als einer Dekade hatte die „American Legion“ ihre Stimme besonders lautstark erhoben, um japanischstämmige Amerikaner von der Westküste auszusiedeln. Nun stand ich auf einer Bühne als scheidender Präsident des Schülerbeirates und erhielt die höchste Auszeichnung, die einem Mitglied einer Graduiertenklasse übergeben werden konnte – von genau derselben Organisation, der „American Legion“.
7 Sein oder Nichtsein Die Los Angeles High School hatte einen stark ausgeprägten Sinn für Geschichte und Tradition. 1873 gegründet, war sie die älteste High School der Stadt und konnte auf eine vornehme ehemalige Schülerschaft zurückblicken, die prominente Geschäftsleute sowie bürgerliche und kulturelle Führungskräfte hervorgebracht hatte. Die imposante, im englischen Tudor-Stil gehaltene Architektur des Gebäudes war ein Symbol für Gediegenheit und hohen gesellschaftlichen Status. Eine stattliche Turmuhr gab stündlich ein melodiöses Läuten von sich. Der allgemeine Eindruck war eher der eines der Ivy League zugehörigen Universitätscampus’ als derjenige einer High School. Die Schule war einer der Hauptgründe dafür, daß Daddy und Mama so viel geopfert hatten, um unser Haus kaufen zu können. Sie verwirklichten damit einen weiteren Traum. Ihr Sohn war nun ein Student an der L.A. High. Mich erregten die Aussichten ebenfalls, doch brachten sie mich auch ein wenig aus der Fassung. Ich war jetzt sechzehn Jahre alt. Der Wechsel von der Mt. Vernon zur L.A. High symbolisierte den Übergang zum Erwachsenenstatus. Es gab Entscheidungen, die getroffen werden mußten. Ich mußte mich für die Studienrichtung, die ich einschlagen wollte, entscheiden. Mir waren die Träume meiner Eltern schmerzhaft bewußt – ihre Hoffnungen, die Zukunft ihrer Kinder betreffend. Doch hatte ich auch den Eindruck, daß Daddys und Mamas
Hoffnungen sich zunehmend in Erwartungen verwandelten. Sie erwarteten, daß wir auf eine Universität gehen würden – möglichst eine vornehme, um dann eine berufliche Laufbahn einzuschlagen, und nach Möglichkeit darin erfolgreich zu sein. Sehr typisch, wirklich. Doch ich spürte das Gewicht ihrer allzu typischen Sehnsüchte. Ich war ihr ältester Sohn. An der Mt. Vernon hatte ich einige ihrer Träume verwirklicht, doch das erhöhte nur ihre Erwartungen – und bestärkte sie in ihrem aufopfernden Verhalten. Für die finanziellen Investitionen in uns Kinder war ich dankbar. Mir war schmerzhaft bewußt, wie hart sie arbeiteten und wieviel sie für uns aufgaben. Doch dieses Bewußtsein verstärkte nur meinen inneren Konflikt. Ich hatte meine eigenen, heimlichen Bestrebungen im Auge. Ich wollte Schauspieler werden. Worin besteht diese Faszination der Schauspielerei, die in der Kindheit anfängt und sich dann stetig immer mehr in Leidenschaft wandelt? Henry und ich waren nur ein Jahr auseinander und wuchsen in derselben Familie mit denselben uns formenden Einflüssen auf. Doch waren wir so verschieden. Henry war eine sportliche Niete, dafür begeisterten ihn technische Dinge. Doch er hatte kein Interesse für Kunst, Literatur oder Theater, während ich wenig Interesse für irgendeine seiner Aktivitäten aufbrachte. Für mich bedeutete das Theater Leben, und seine Künstler waren die Chronisten menschlicher Geschichte. Während meiner mittleren Teenagerjahre hatte ich mir bereits eine stattliche Anzahl der bekannten Monologe aus den Stücken Shakespeares ins Gedächtnis eingeprägt. Doch immer dann, wenn ich „Sein oder Nichtsein“ in Reikos Gegenwart zu rezitieren begann, beschuldigte mich die so Undankbare und der Sache nicht würdige Zuhörerin, sie zu langweilen. „Mama“, rief sie dann immer, „er fängt schon wieder damit an,
mich mit diesem ‘Sein oder Nichtsein’ zu belästigen. Sorg dafür, daß er damit aufhört!“ Perlen vor die Säue. Ich sah mir Broadway-Gastspiele an, indem ich im alten Biltmore-Theater in der Innenstadt als Platzanweiser jobbte. Ich sparte, damit ich so oft wie möglich in Kinofilme gehen konnte. Schauspieler waren für mich die Personifizierung dessen, was Theater, Filmkunst und diese neue Sucht, das Fernsehen, ausmachten. Sie waren Halbgötter – glamourös, voller Macht, Witz und Heldentum. Es war verrückt von mir, auch nur daran zu denken, einer von Ihnen sein zu wollen. So eine wilde, ausufernde Phantasie. Doch ich konnte mich von dieser Vorstellung nicht lösen – ohne unter der inneren Stimme meiner heimlichen Sehnsüchte zu leiden. Daddy kannte meine Liebe zum Theater und meine Begeisterung für die Schauspieler, und er stimmte mir zu. „Jeder sollte Kultur in sein Leben einbeziehen“, meinte er. „Es bereichert.“ Aber ich wußte, daß er nicht an Kultur im Sinne des Fundaments einer Karriere dachte. Er betrachtete sie als Hobby. Mein Lebenswerk sah er in einer „ernsthaften“ beruflichen Laufbahn, einer, die eine Universitätsausbildung erforderte. Ich wußte das. Und ich wollte Daddy und Mama nicht enttäuschen. Trotz meiner heimlichen Träume, trotz meines inneren Konflikts entschied ich mich für einen Studienvorbereitungskurs für die Universität an der L.A. High. Daddy verkaufte seinen Gemischtwarenladen an der Western Avenue und fing an, mit Immobilien zu handeln. Japanischstämmige Amerikaner erholten sich jetzt von den Jahren der Internierung und kauften Häuser und Geschäftsbetriebe. Manche machten sogar Investitionen. Es war für Daddys geschäftliche Aktivitäten eine Zeit vieler guter Gelegenheiten.
Mit dem Verkauf des Gemischtwarenladens verloren Henry und ich unsere Jobs als Lageraushilfen im Laden, die wir immer nach der Schule ausübten. In diesem Job war Henry der bessere Arbeiter. Ich verbrachte eine Menge Zeit hinten im Lager und las Zeitungen und Magazine – doch wenn der Chef dein Vater ist, gelten für dich in der Arbeit etwas lockerere Regeln. Jetzt mußten wir uns einen richtigen Job suchen. Ich fand einen Job als Teilzeit-Lagergehilfe bei Orbach’s. Das war ein stilvolles neues Warenhaus an der „Miracle Mile“, einem Abschnitt des Wilshire Boulevard mit Einzelhandelsgeschäften, der von glatten, stromlinienförmigen, im Art-Deco-Stil gehaltenen Gebäuden gesäumt war. Es war nur eine mit dem Fahrrad leicht zu bewältigende Strecke von wenigen Meilen von der L.A. High entfernt. Ich hatte nun einen richtigen Job, der richtiges Geld brachte und richtige Arbeit erforderte. Doch fand ich unbezahltes gemeinnütziges Engagement viel befriedigender. Meine Tätigkeit beim Jugend-Rot-Kreuz ging an der L.A. High weiter. Wir organisierten Fahrten, um gebrauchte Kleidung und Konserven für die Opfer von Katastrophen zu sammeln. Wir warben Freiwillige an, die uns beim Verpacken und Verstauen des Sammelguts im Hauptquartier an der Vermont Avenue halfen. Aber am intensivsten erinnere ich mich daran, daß wir viel Spaß und Zusammengehörigkeit bei diesen Tätigkeiten erlebten. Ich wurde zum Präsidenten der Jugend-Rot-Kreuz-Ortsgruppe an der L.A. High gewählt und danach zum Vorsitzenden des „Western Regional Council“, einem Verband aller Jugend-RotKreuz-Ortsgruppen im westlichen Los Angeles. Dieser Dienst beim Jugend-Rot-Kreuz verschaffte mir ein unvergeßliches Erlebnis – meine erste Flugreise nach Colorado Springs in Colorado, um dort am Jugend-Rot-Kreuz-Trainingscamp für Führungskräfte teilzunehmen.
Unbewußt klammerte ich mich an die Armlehne meines Sitzes, als ob ich dadurch dem erzitternden Flugzeug hätte helfen können, von der Startbahn abzuheben. Ich lugte aus dem bullaugenartigen Fenster hinaus und sah, wie die rasch an mir vorbeiziehende Szenerie scheinbar unter mir wegtauchte. Es war ein berauschendes Erlebnis, das auch ein wenig mit Furcht verknüpft war. Innerhalb von Sekunden verwandelte sich das Gefühl des Dahinrasens in die Empfindung, zu schweben. Die Illusion zu fallen machte einer gut spürbaren Aufwärtsbewegung Platz, und der Ausblick durchs Fenster zeigte eine rasch kleiner werdende Landschaft, die sich weit unter mir erstreckte. Die riesigen Gastanks in der Küstenstadt von El Segundo wirkten jetzt wie kleine Bolzen, die die Küste an ihrem Platz hielten. Ich flog! Zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich die Oberfläche des Planeten Erde verlassen. Versuchsweise trat ich mit dem Fuß auf den Boden. Er wirkte stabil. Er wirkte sicher. Doch klang er hohl. Tausende Meter leerer Luft erstreckten sich unter diesem dünnen, leichten Bodenblech. Meine schweißbedeckten Hände klammerten sich fest an die Armlehnen. „Ihr erster Flug?“ Ein stattlicher Geschäftsmann, der neben mir saß, lächelte mich an. „Ja. Ich kann mir vorstellen, daß man mir das ansieht“, antwortete ich. „Allerdings muß ich sagen, daß es mir gefällt. Ich finde es großartig.“ „Ist es nicht erstaunlich“, gluckste er. „Ich flog während des Krieges einen Bomber im pazifischen Raum, und jetzt bin ich hier und fliege immer noch. Diesmal auf Geschäftsreise. Der Fortschritt im Bereich der Luftfahrt ist erstaunlich.“ Dann, ohne daß ich ihm irgendein Zeichen des Interesses vermittelt hätte, machte er damit weiter, mir zu erklären, wie erstaunlich er diesen Fortschritt fand.
Der Mann war ein schwatzhafter Schwadronierer, der mit endlosen Erzählungen über seinen fest am Sitz angeschnallten Zuhörer herfiel. Ich behielt ein gezwungenes, jedoch nervöses Lächeln auf meinem Gesicht bei. Bald entdeckte ich, daß sein Lieblingsthema seine Heldentaten als Flieger im Krieg waren. Mein Lächeln gefror auf der Stelle und verschwand dann langsam. Er hörte nicht auf, in seinen Abenteuern zu schwelgen. Allein das erste Mal zu fliegen, war eine nervliche Strapaze. Und warum mußte ausgerechnet ich auf diesem vollbesetzten Flug an einen Sitznachbarn geraten, der ein ExBomberpilot war, dem es Vergnügen bereitete, davon zu erzählen, wie er Japaner bombardiert hatte? Dann, ohne ersichtlichen Grund, wechselte er das Thema: „Ich nehme an, daß Sie während des Krieges in einem dieser Camps für Japaner gewesen sind.“ Ich klammerte mich an die Armlehne und packte sie mit hartem Griff, um meine aufwallenden Gefühle unter Kontrolle zu halten. Für ihn bin ich wahrscheinlich immer noch einer dieser Feinde, gegen die er im Krieg gekämpft hat, dachte ich mir. Ich hatte schon beinahe die Absicht, ihn zu ignorieren und blickte zum Fenster hinaus. Sofort schoß mir die Erinnerung an Mrs. Rugen ins Gedächtnis, meine Lehrerin in der vierten Klasse, die mich „Japs“ genannt hatte. Nein, ich würde diesmal nicht wegschauen. Ich würde ihm entgegentreten. Beherrscht lächelnd wendete ich mich ihm zu. So kühl und beherrscht ich es konnte, antwortete ich: „Ja, ich wuchs in einem Internierungslager in Arkansas auf. Doch es war tatsächlich ein amerikanisches Lager für amerikanische Bürger, deren Vorfahren Japaner gewesen waren.“ Es war draußen. Es fühlte sich gut an. Er seufzte und senkte seinen Blick, mit dem Kopf schüttelnd. „Eine furchtbare Sache. Eine furchtbare Sache“, sagte er und
saß da, zum erstenmal schweigend und schüttelte nur mit dem Kopf. Ich war verwirrt. Was empfand er als so furchtbar? „Es war eine furchtbare Sache, die man da gemacht hat“, fing er langsam an. „Wissen sie, in Kriegszeiten tun die Leute verrückte Dinge. Einer meiner Nachbarn in Denver ist ein Nisei – Jack Ishihara. Der netteste Mensch, den man sich vorstellen kann. Kriegsveteran in Europa. Kämpfte für Onkel Sam, während seine Familie hinter Stacheldraht hauste. Furchtbare Sache. Furchtbar.“ Er saß da und schüttelte wortlos mit dem Kopf. Er kannte sich aus. Er verstand. Er war nicht so, wie ich befürchtet hatte. Auf einmal, nachdem sich meine Muskeln entspannt hatten, brach in mir eine Flut von Gefühlen los. Ich entschuldigte mich, daß ich kurz zur Toilette mußte. Ich verschloß die Tür, und die Selbstbeherrschung verließ mich. Unkontrollierbar fingen die Tränen an herabzufließen. Es gab also Leute, die von uns wußten. Es gab Leute, die verstanden. Ich brauchte eine Zeitlang, um mich wieder in die Gewalt zu bekommen. Dann wusch ich mein Gesicht und kehrte zu meinem Platz zurück. Die Nerven hatten sich entspannt. Ich fühlte mich viel wohler. Sogar der Flug schien sanfter zu verlaufen. Mein Sitznachbar, der Kampfpilot, war auch zu seinem Redefluß zurückgekehrt. „Wußten Sie, daß die kritischsten Phasen beim Fliegen der Start und die Landung sind?“ fragte er. Bevor ich seine Frage beantworten konnte, sagte er: „Tatsächlich ist die Landung die schwierigere Angelegenheit.“ Automatisch schlossen sich meine Finger wieder um die Armlehnen. Ich war wieder ein Nervenbündel. Wir verloren jetzt an Höhe. Er redete und redete über die vielfältigen Gefahren, die mit dem Landevorgang zu tun hatten – Windstöße, Aufwinde, Abwinde, atmosphärische Instabilitäten
und anderer ominös klingender Pilotenjargon – und mein Griff wurde noch verschwitzter. Das Flugzeug neigte sich. Und plötzlich rüttelte und erzitterte es heftig. „Whoops“, rief der Mann aus, und mein Magen schien mir bis in den Hals zu springen. Doch ihm schienen die Turbulenzen nicht viel auszumachen. Ich war ein einziges Nervenbündel, als uns die Ausläufer von Denvers StapletonFlughafen entgegenrasten. Wir konnten die Schwingungen hören und fühlen, die von den Fahrgestellen ausgingen, die ausgefahren worden waren und sich dem Boden entgegenstreckten. Ein harter Stoß, einen Moment lang hatten die Räder den festen Boden berührt, dann wieder, und wieder. Dann rollten wir die Landebahn entlang. Sämtliche Passagiere brachen in entspannten Beifall aus. Ich grinste meinen redseligen Sitznachbarn an, als wir uns dem Applaus anschlossen. Doch galt mein Beifall nicht nur dem Piloten dieses Flugzeugs. Ich würdigte damit auch die Lehre, die mir mein Sitznachbar, der Kampfpilot, unwissentlich erteilt hatte. Erstaunliche Fortschritte mochten in der Luftfahrt verwirklicht worden sein, aber auch die Menschen konnten sich bemerkenswert weiterentwickeln. Colorado Springs war ein prächtiger Rahmen für eine Gruppe junger Studentenführer, um zusammenzukommen und sich auszutauschen, miteinander und mit der Natur. Die Luft war frisch und wirkte stimulierend, uralte Zedern reckten sich dem Himmel entgegen. Der Ideenaustausch war lebhaft, und der Optimismus der Teilnehmer beflügelnd. Unsere Hymne, von der schwarzen Liedermacherin Evelyn Burwell geschrieben, drückte das alles aus: In Herzen zu jung für jede Feindschaft liegt der Weg, der die Menschen freimacht.
Mit Kinderfreundschaften überall auf der Welt werden neue Zeitalter erklärt. Laßt Kinder in Liebe zueinanderfinden, und der Krieg wird endlich schwinden. Wir bereiteten uns darauf vor, die Welt zu verändern. Die ältere Generation hatte alles mit ihren Kriegen, ihrer Verschmutzung und ihrer Gier verdorben. Wir waren diejenigen mit den Ideen, der Energie, und, was das Wichtigste war, dem Willen, die Dinge zum Besseren zu wenden. Ich kehrte voller Elan nach Los Angeles zurück. Idealismus kann eine üble Kehrseite haben. Besonders jugendlicher Idealismus ist dafür anfällig. Sein Glanz wird von Arroganz und heimtückischer Selbstgerechtigkeit getrübt. Bis heute bereue ich eine Unterhaltung mit meinem Vater aufs Tiefste, die ich mit ihm nach meiner Rückkehr aus Colorado Springs führte. Ich wünschte, ich könnte sie ungeschehen machen. Es war nach dem Abendessen, und alle anderen hatten den Tisch bereits verlassen. Nur Daddy und ich saßen noch da und schlürften Tee. Er wollte alles über mein Erlebnis in Colorado erfahren. Ich konnte seinen Stolz spüren, als ich ihm meine Sommererlebnisse überschwenglich wiedergab. Sein Sohn erfüllte eine seiner vielen Erwartungen. Ich berichtete ihm von unseren Diskussionsrunden, den Gesängen nachts am Lagerfeuer, der Schönheit der Umgebung, der Lebendigkeit der Stadt Denver, und außerdem erzählte ich ihm vom Entsetzen und der Begeisterung über meine erste Flugreise. Dann teilte ich ihm die Einsichten mit, die ich aus dem Gespräch mit meinem Sitznachbarn, dem Kampfpiloten, gewonnen hatte. Ich sagte ihm: „Die Menschen ändern sich, Daddy. Dieser Mann hat während des Krieges Japaner bombardiert, und jetzt lebt er in unmittelbarer Nachbarschaft
eines japanischstämmigen Amerikaners. Er versteht den Unterschied, und er weiß, daß das, was man uns angetan hat, falsch gewesen ist.“ Und dann fragte ich spitz: „Daddy, warum sind wir ins Lager gegangen? Warum hast du dich einer Sache gefügt, die so fundamental falsch war? Warum hast du uns mit in diese Camps genommen?“ Einen Augenblick lang dachte er über seine Antwort schweigend nach. Dann sagte er: „Du mußt wissen, wie es damals war. Alle Kräfte waren gegen uns. Ich hatte euch Kinder und mußte das berücksichtigen.“ „Aber es war verkehrt, Daddy“, unterbrach ich ihn. „Indem du hingegangen bist, hast du zu diesem Fehler ja gesagt. Du hast dich passiv damit einverstanden erklärt.“ Er betrachtete seine Teetasse und nippte daran. „Was hätte ich deiner Meinung nach sonst tun sollen?“ fragte er mich ruhig. „Ich hätte protestiert. Es war falsch – punktum! Und die anständigen Amerikaner haben es gewußt. Wenn man an das Gewissen der guten Leute appelliert hätte, weiß ich, daß man die Sache hätte stoppen können.“ Dann fügte ich vehement hinzu: „Das Problem mit Japanern ist, daß wir zu passiv sind. Wir sprechen nicht offen. Wir erheben unsere Stimme nicht. Ich hätte jedenfalls protestiert!“ Daddy saß da und lauschte meinem leidenschaftlichen Gefühlsausbruch. Als ich fertig war, blieb er still. Dann, in einem geduldigen Tonfall, der mich sogar noch mehr ärgerte, sagte er: „Die Umstände waren damals anders. Es war eine ganz andere Zeit. Du wirst das eines Tages verstehen.“ „Wenn ich erwachsen werde? Ist es das, was du meinst?“ entgegnete ich hitzköpfig. „Na gut, ich bin jetzt erwachsen. Und ich verstehe einen Haufen. Ich verstehe, daß du uns wie
Vieh zur Schlachtbank in ein stacheldrahtumsäumtes Gefängnis geführt hast!“ Daddy blieb lange Zeit still. Er starrte seine Teetasse an und nippte daran. Dann sagte er auf ruhige, melancholische Weise: „Vielleicht hast du recht.“ Daraufhin stand er auf und ging in sein Schlafzimmer. Ich war ein junger, japanischstämmiger Amerikaner, der ohne Einschränkungen reden konnte. Ich konnte auf rechtschaffene Art frei reden – und auf dumme Art. Es erzeugt noch heute in mir ein schmerzhaftes Gefühl, an diese, von einem ungestümen Jungen ausgesprochenen Grobheiten zu denken. Meine Arroganz, die meinem Vater einen Hieb versetzte, wo doch dieser die Furcht jener düsteren Internierungsjahre so viel besser kannte, als ich es als Junge jemals verstehen konnte, war eine zweite Folter. Mein Vater erduldete schweigend die selbstgerechte Verurteilung durch den Sohn, auf den er so stolz war – in den er so viel Hoffnung setzte. Für beide von uns waren Rohwer und Tule Lake noch nicht Geschichte. L.A. High hatte viele Vereine: den Theater-Verein, den Gesangverein, den Briefmarkensammlerverein, den Schachverein und eine Unzahl anderer. Es waren Vereine, die sich mit Hobbys beschäftigten, und jeder Interessierte konnte beitreten. Ich war Mitglied des Theater-Vereins und des Gesangvereins. Dann gab es da noch die Elitevereine – die Barons, Nobles und Cardinais. Die populärsten Jungs, die hellsten Köpfe und die besten Athleten gehörten ihnen an. Nur aufgrund der Mitgliedschaft in ihrem Verein wurden sie zu beneideten Angehörigen der Schickeria an der L.A. High. Manche meiner Freunde waren Mitglieder dieser Vereine. Aber es war ein Geheimnis für mich, wie man eine Mitgliedschaft erlangte. Wenn ich irgend jemanden fragte,
erhielt ich nur ausweichende Antworten: „Du mußt eingeladen werden.“ Wie die Einladung auszusehen hatte oder durch wen sie überbracht werden sollte, wurde nie erklärt. Es wurde mit Geheimnistuerei verschleiert. Doch es dauerte nicht lange, bis ich begriff, warum mir niemals eine Einladung zukommen würde. Diese Vereine hatten nur Mitglieder weißer Hautfarbe. Außerdem wurde mir klar, daß die Cardinais nur jüdische Mitglieder hatten und die Barons und die Nobles sich nur aus angelsächsischen Protestanten zusammensetzten – man kennt ja diese ins Auge stechenden vier Buchstaben: WASP. Obwohl ich mich in starkem Maße als Teil der L.A. High betrachtete, wurden mir die subtilen Unterschiede bewußt, die in manchen Bereichen des Schullebens existierten. Ich sang im Gesangverein und trat mit ihm bei Studentenversammlungen auf. Doch als Lerners und Loewes „Brigadoon“ als die große Musicalproduktion des Schuljahres angesagt wurde, wurde ich überdeutlich darauf aufmerksam gemacht, daß das Stück schottischen Lokalkolorit besaß. Es wurde betont, daß beim Casting auf eine authentische Atmosphäre geachtet werden würde. Ich wußte zwar, daß ich das Zeug dazu gehabt hätte, aber mir war klar, daß ich nicht wie ein Schotte aussah. Ich nahm an keinem Vorsingen teil. „Brigadoon“ war eine strahlende Produktion, und die beiden Jungs, die die Hauptrollen spielten, Jerry Cottone und Dennis Daily, waren überwältigend. Sie sangen betörend und tanzten prächtig. Sie und die ganze Tanzgruppe versetzten mich ins neblige, mystische schottische Hochlanddorf Brigadoon. Sie waren Freunde und Klassenkameraden, und doch waren sie noch dazu fähig, ihre Magie auf mich wirken zu lassen. Und sie machten noch etwas: Sie ließen meine unterdrückten theaterbezogenen Sehnsüchte wieder aufleben. Es mußte wundervoll sein, schauspielern zu können, der Schöpfer dieser
ganzen Magie zu sein. Dieser Traum nagte an meinem Innersten. Doch ich war Schüler des mathematischnaturwissenschaftlichen Zweiges und bekam gute Noten. Ich war in den Frühjahrssemestern im Leichtathletikteam und lief im Herbst Querfeldeinrennen. Ich beschäftigte mich mit Dienstleistungstätigkeiten für Studenten und ignorierte meine wachsende Wahrnehmung der unsichtbaren, jedoch nichtsdestotrotz klar vorhandenen Trennungslinien, die um mich herum existierten. Ich hielt meine persönlichen Sehnsüchte in Schach und verschrieb mich der Erfüllung von Daddys und Mamas Erwartungen, die sie an mich stellten. Ich studierte fleißig, um von einer großen Universität akzeptiert zu werden. Es gibt gewisse Momente in einem Film, die im direkten Bezug zum eigenen Leben zu stehen scheinen. Marion Brando in „Die Faust im Nacken“ beeindruckte mich tief. Ich wußte nichts vom Dasein eines Hafenarbeiters. Die Küste New Jerseys war ein anderes Land für mich, und das Drama der Machtkämpfe innerhalb der Gewerkschaften eine völlig neuartige Enthüllung. Doch der Film war eine erschütternde persönliche Erfahrung. Die von Brando dargestellte Figur, Terry Malloy, war einst ein vielversprechender Preisboxer gewesen. Er wußte, daß er gut war. Sein Traum war, den Titel zu erlangen. Doch wegen der Verbindungen zwischen Charlies Bruder und der vom Mob kontrollierten Gewerkschaftsorganisation, weil er seinen Bruder liebte und weil dieser ihn darum bat, kompromittierte Terry Malloy sich selbst und ließ sich besiegen. Er gab einen Kampf zugunsten seines Gegners auf, obwohl ihm klar war, daß er hätte gewinnen können. Und dieses eine Erlebnis wurde zum Dreh- und Angelpunkt, der ihn in seinem späteren Leben nicht mehr zur Ruhe kommen ließ. Er hatte jetzt innerhalb der
Gewerkschaft eine sichere Position. Sein Bruder wurde auf einen mächtigen Posten gesetzt. Das Leben war schön. Trotzdem wirkte es irgendwie inhaltsleer. Brandos berühmte Szene mit seinem Bruder Charlie auf dem Rücksitz des Autos war erschütternd. Sich immer noch an das Ereignis, das nun schon so lange zurücklag, erinnernd, sagte Terry: „Ich hab’s für dich getan, Charlie. Ich tat es für dich.“ Er hatte seinen Traum für seinen Bruder aufgegeben, und das Leben war seitdem auf sanfte Art unbeschwert weitergelaufen. Dann die verheerende Klage, ich hätte ein großer Kämpfer werden können. Ich hätte jemand sein können. Das war eine machtvolle Szene, die in mir direkt auf Resonanz stieß. „Ich hätte ein großer Kämpfer werden können. Ich hätte jemand sein können.“ Diese Sätze spukten noch lange in mir herum, nachdem der Film zu Ende war. Der honigsüße Klang der Turmuhr markierte die Stunden, die Tage und, bevor es uns richtig bewußt wurde, die Jahre an der L.A. High. Schon bald zählte das Glockenspiel die schwindenden Tage unseres Abschlußjahres. Tommy Wolver, ein Star unter den Basketballspielern, war Präsident der studentischen Körperschaft. Ich war der Präsident des „Senior Board“. In diesem Herbst konnte sich das L.A.-High-Basketballteam für die Championatsspiele qualifizieren, und Tommy war der führende Spieler unserer Mannschaft. Unser Querfeldein-Team war in unserer Liga Tabellenletzter, und das Beste, was man über mich als Läufer sagen konnte, war, daß ich Zähigkeit zeigte. Ich gab nie auf. Manche Leute mochten Parallelen zwischen Tommy Wolfers und meinen athletischen Leistungen erkennen, aufgrund unserer Ämter in der Studentenvertretung. Ich ziehe es vor, zu denken, Tommy hat das Amt des Präsidenten der studentischen Körperschaft angestrebt und die Wahl gewonnen. Ich bewarb
mich für das Amt des Präsidenten des „Senior Board“ und siegte. Die große Spannung, die dringlichste Angelegenheit der Abschlußklasse bestand darin, ob uns die Universitäten unserer Wahl auch aufnehmen würden. Es spukte jedem im Kopf herum. Die Angst war spürbar. Ich hatte beschlossen, Architektur zu studieren. Es war mein persönliches Interesse, das von meinen Eltern akzeptiert wurde. Eine der großen Architekturschulen gehörte zur Universität von Kalifornien in Berkeley. Daddy war begeistert und drängte mich, meine Bewerbung dort hinzuschicken. Die Erwartungen konzentrierten sich nun auf dieses eine Ziel. Wie sich herausstellte, hatte sich Tommy auch bei der UCB beworben, Zu guter Letzt hatten wir nun doch etwas gemeinsam – unsere Angst, ob wir wohl angenommen werden würden. Als ich eines nachmittags von der Schule heimkam, stand Mama bereits erwartungsvoll da. Ein Brief von der Zulassungsbehörde der Universität von Kalifornien gekommen. Ich wollte den Umschlag gleich öffnen. Doch Mama schlug vor, damit zu warten, bis Daddy nach Hause kam. „Wir öffnen den Umschlag gemeinsam“, sagte sie. „Aber“, protestierte ich besorgt, „wir wissen doch gar nicht, was drin steht. Was ist, wenn es eine Ablehnung ist?“ „Wir öffnen den Umschlag gemeinsam“, wiederholte sie. Mama wußte, wie man Spannung bis hin zur Schmerzgrenze erhöhen konnte, grausamer als bei Alfred Hitchcock. Es schien eine Ewigkeit zu dauern, bis Daddys großer, grüner Buick endlich die Auffahrt hochfuhr. Ich öffnete die Eingangstür und wedelte mit dem Umschlag. „Der Brief aus Berkeley ist da!“ schrie ich.
„Und? Bist du aufgenommen worden?“ rief er vom Auto zurück. „Ich weiß es nicht. Wir haben den Umschlag noch nicht geöffnet. Beeil dich, damit wir’s machen können.“ In der Sekunde, als Daddy die Türschwelle überschritt, riß ich den Umschlag auf. Ich war drin! Man hatte mich akzeptiert. Das war eine unbeschreibliche Freude und eine große Erleichterung! Ich würde im Frühlingssemester 1956 in Berkeley anfangen. Am nächsten Tag ging Mama in die Innenstadt nach Little Tokyo und kaufte ein großes Stück frischen Thunfisch, weiße Radieschen, Gurken und all die anderen Zutaten für ein Sashimi-Essen – eine meiner Lieblingsspeisen. „Universitätskantine nicht serviert Sashimi. Wohnheim nicht serviert Sashimi. Iß viel Sashimi bevor du gehst nach Berkeley“, sagte Mama. Sie redete über Berkeley, als ob es sich dabei um ein fremdes Land handeln würde, das nie von japanischen Restaurants gehört hatte. Ich mußte allerdings zugeben, daß Mamas festliches SashimiEssen wundervoll war – der heiße, dampfende weiße Reis zusammen mit dem kühlen, roten, rohen Thunfischfleisch, mit etwas Wasabi gewürzt, dem scharfen grünen Senf Japans. Es war köstlich und etwas ganz Besonderes. Mama schickte ihren ersten Sohn auf die ihr eigene Weise als Architekturstudent auf eine große Universität. Ihr Sohn würde Gebäude entwerfen, die in schwindelerregende Höhen aufragen würden. Sie mußte ihr Kind jetzt gehen lassen. Ihr Junge, nun nicht mehr klein, verließ sie, um sich an eine berühmte, akademische Institution zu begeben – ein Ziel, für das sie und Daddy so hart und so lange gearbeitet hatten. Das war ihr Traum. Ihre Erwartungen und Sehnsüchte standen kurz vor ihrer Verwirklichung.
Ich konnte diesen Traum und ihre Liebe aus der warmen, dampfenden Reisschale herausschmecken. Und ich erkannte sie auch im stechenden Geschmack des grünen Wasabis. Ich war im Begriff, mich neuen, höheren Erwartungen zu stellen.
8 Andere Träume Hoch ragte er auf über das bewaldete und hügelige Universitätsgelände der University of California in Berkeley, dieser schlanke und strenge Obelisk des Lernens, der schon fast bedrohlich wirkende Turm der Hochschule. Diese klassische Säule aus grauem Marmor war das Bauwerk, das architektonisch über eine eklektische Sammlung von anderen Gebäuden dominierte – angefangen von der mit Wein bewachsenen viktorianischen North Hall direkt im Schatten darunter, über die neoklassizistische, pompöse Wheeler Hall im Süden, bis hin zu dem finsteren, alten und baufälligen Holzgebäude der Wurster Hall auf der weit entfernten nördlichen Seite des Universitätsgeländes. Diese wahllose Zusammenstellung stand in krassem Gegensatz zu dem langweiligen Rest der Campus-Architektur und wirkte als Heimstatt für eine Schule der Architektur ziemlich deplaziert. Von allen Gebäuden auf dem Universitätsgelände beeindruckte das Gebäude, das die Architekturklassen beherbergte, am wenigsten. Seine tiefliegende Rahmenstruktur lag inmitten eines dichten Fichtenwaldes und wurde von den umgebenden Bäumen fast verborgen. Der ausgetretene Holzboden seiner Korridore knarrte jedesmal, wenn die Studenten mit ihren Zeichenwerkzeugen und anderen Ausrüstungsgegenständen, die sie wie Anglerzeug in Schachteln mit sich herumtrugen, von den Vortragssälen in die Zeichenräume eilten. Die Oberfläche der Korridorwände war übersät mit den Pockennarben einer langen Geschichte von
Ausstellungen diverser Studentenprojekte, von Plakaten, „Mitbewohner gesucht“-Notizen und allem möglichen anderen „Gemischtem“. Aber es war auch das Gebäude auf dem Campus, in dem es am entspanntesten zuging – so bequem und beliebt wie ein vielbenutzter Aufenthaltsraum in einem Studentenwohnheim. Die ersten paar Tage waren schwindelerregend hektisch: Der Einzug in mein Wohnheim in der Collegian Hall. Das Einschreiben für die Vorlesungen. Der Einkauf von Büchern und Zeichengeräten. Außerdem ein Bankkonto eröffnen. Gelegentlich traf ich auf Freunde von der L.A. High, wie beispielsweise Tommy Wolver. Ja, Tommy hatte es auch bis hierher geschafft. Es tat gut, in der turbulenten neuen Umgebung vertraute Gesichter zu sehen, aber sie wurden von dem Wirbel neuer Leute, die in mein Leben kamen, schnell verschlungen. In der Collegian Hall gewann ich als meine neuen Freunde Joe Avakoff aus dem weit entfernten Alaska, der auch durch seine Zugehörigkeit zu den Top Ten der Akademiker einzigartig war; Richard Clarke, ein Veteran des Koreakrieges, der bereits über eine volle Lebenserfahrung verfügte und als G.I. auf Kosten des Militärs studierte; und George Romero aus Santa Rosa, der sich in der Küche des Studentenwohnheimes seinen Lebensunterhalt verdienen mußte. Larry McCoy, der mit mir zusammen die ArchitekturDesign-Klasse besuchte, erzählte mir, daß er den „Fußstapfen seines Vaters und Großvaters folgte“, also bereits der dritten Generation seiner Familie angehöre, die in Berkeley studierte. Diese Leute waren jeder auf seine Art eindrucksvoll. Ich wußte, daß der Wettbewerb hier sehr hart werden würde. Und ich war entschlossen, mich der Herausforderung zu stellen. Doch jedesmal, wenn ich allein war, ob beim Studieren im großen Lesesaal der Doe Library oder wenn ich, vom Unterricht kommend, durch die kühle Lichtung am Strawberry
Creek entlang zurückging, schlich sich eine stechende Melancholie in meinen Verstand, ein bittersüßes Gefühl des Verebbens, ein stummes Gefühl des Verlustes. So schnell wie es kam, verschwand dieses Gefühl auch wieder. Die geringste Störung – das volltönende Geräusch eines Stuhls, den jemand im allgemeinen Schweigen der Bibliothek zurückstieß, der muntere Gruß eines Freundes, der im Schatten vorübereilte – verjagte es wie eine scheue Katze. Aber es kam zurück, um sich immer wieder leise und beharrlich einzuschleichen. Ich konnte im Radio Pat Boone „Love Letters in the Sand“ singen hören und war von einer süßen Melancholie erfüllt. Ich konnte an einem Plakat vorübergehen, das eine Produktion von Shakespeares „Der Sturm“ auf dem Universitätsgelände ankündigte, und wurde von einem sehnsüchtigen Verlangen erfaßt. Gleichgültig wie sehr ich es auch versuchte, ich konnte dieses Verlangen nach einem verblassenden Traum einfach nicht unterdrücken – meinen stummen Wunsch, ein Schauspieler zu werden. In den ersten Sommerferien in Berkeley bekam ich einen Job, bei dem ich für eine kleine Firma in West Los Angeles, die einem jungen Unternehmerpaar namens George und Betty Filey gehörte, Jalousien einbaute. Ich war ihr einziger Arbeitnehmer. Eine Garage am Ende einer Gasse war die Produktionsfabrik, und ihr Wohnzimmer diente ihnen als Büro. Aber ihre Kunden kamen von den üppigen Geschäftshäusern entlang des Wilshire Boulevard oder von den schönen Wohnhäusern in Santa Monica, Brentwood und Beverly Hills. Und sogar während meines Ferienjobs gab es Zufallsereignisse, die als Funken dienten, um meine Sehnsucht neu zu beleben. Ich erinnere mich deutlich daran, wie ich die Aufträge bekam, Jalousien in den Häusern von Schauspielern
einzubauen – und es waren nicht einfach nur Schauspieler, sondern Filmstars, wie Eva Marie Saint, Jeanette MacDonald und Gene Raymond. Ich konnte es kaum glauben. Ich wurde tatsächlich ausgeschickt, um in den privaten Heiligtümern dieser Traumgestalten zu arbeiten. Als ich die Blenden einsetzte, schienen sogar die Fensterrahmen eine spezielle, fühlbare Verzauberung auszustrahlen. Ich träumte vor mich hin, daß Eva Marie Saint durch diese Jalousien ebenso sehnsüchtig hindurchblicken würde, wie sie es in „Die Faust im Nacken“ getan hatte. Und ich stellte mir vor, wie Jeannette MacDonald vielleicht „Indian Love Call“ singen würde, während sie anmutig meine Sonnenblenden hochzog – ich begann mich ganz lächerlich zu fühlen. Ich beschloß, daß ich diese jetzt lästig gewordene Vernarrtheit ein für alle Mal aus meinem Kopf kriegen mußte. Ich fand die Lösung darin, daß ich während der Sommerferien an einer Schauspielklasse in Berkeleys Schwesteruniversität UCLA (University of California, Los Angeles) teilnehmen würde. Durch diesen Irrsinn geläutert, wollt ich dann im Herbst nach Berkeley zurückkehren. Eines Abends setzte ich mich zum Essen hin und gab Daddy und Mama meine Entscheidung bekannt. Mit dieser Klasse, versprach ich ihnen, würde ich mit meiner jugendlichen Faszination für die Schauspielerei Schluß machen. Dies sollte mein Abschiedsgeschenk an meine Teenagerjahre sein, danach könnte ich ernsthaft erwachsen werden und mich der Architektur widmen. Nachdem ich diese, wie ich dachte, folgenschwere Ankündigung gemacht hatte, war alles, was Daddy sagte: „Das ist in Ordnung. Aber behalte deinen Tagesjob bei. Es gibt bestimmt auch Abendkurse an der UCLA.“ Es gab keine lange, gedankenschwere Diskussion. Keinen Widerstand. Keine Opposition. Ich war überrascht. Ich hatte ein totales Veto
erwartet. Aber Daddy hatte keinerlei Einwände gegen mein Schauspielstudium! Ganz schnell, und bevor er es sich noch einmal anders überlegen konnte, handelte ich. Ich behielt meinen Jalousienmontagejob und schrieb mich für meinen ersten richtigen Schauspielunterricht im Sommer-Abendkurs an der UCLA ein. Am Ende eines Tages, angefüllt mit dem Schleppen von unzähligen Jalousien, Bohren, Schrauben und Aufhängen derselben, war ich physisch erschöpft. Aber irgendwie fand ich stets neue Energie für meinen Unterricht an der UCLA an drei Abenden in der Woche. Ein schnelles Essen auf dem Weg dorthin, und die Aussicht auf die Herausforderungen der Schauspielklasse wischten die Erschöpfung hinweg, und ich war wieder voller Schwung. Ich stürzte mich kopfüber in den Unterricht – studierte die gequälten Psychen von Eugene O’Neill und Tennessee Williams und offenbarte sie dann in muskulösen Verzerrungen, qualvollen Zuckungen und einem guten, schallenden, kathartischen Geheul. Die Klasse schwelgte in Rührung. Es war wunderbar. Ich feierte diesen Abschluß meiner Jugendzeit. Ich wußte nicht, daß dieser Sommer für mich ein noch viel größeres Überraschungsgeschenk bereithalten sollte – eine echte, bezahlte Arbeit in einem Film. Eines Nachts kam ich vom Unterricht nach Hause, ausgelaugt aber fröhlich. Es war ein weiterer erfüllter Tag und Abend gewesen. Daddy war im Wohnzimmer und las das japanische Gemeindeblatt, das Rafu Shimpo. Er sah hoch und sagte zu mir: „Ich habe hier eine Anzeige im Rafu eingekreist, die dich interessieren könnte. Hier, wirf mal einen Blick darauf.“
Er zog ein Blatt des englischen Teils heraus und reichte es zu mir herüber. Dort, fast am Ende der Seite, war ein großer Bleistiftkreis um eine Anzeige, die so begann: „Casting für Stimmen für die Synchronisation eines Filmes.“ Es gab keine Details, außer einem Namen und einer Telefonnummer, bei der man anrufen konnte. Aber das war auch alles, was ich brauchte. Ich riß die Anzeige heraus und steckte sie in meine Brieftasche. „Danke Daddy“, sagte ich. „Das wird das erste sein, um was ich mich morgen früh kümmere.“ Ich fand heraus, daß eine unabhängige Filmgesellschaft in Hollywood namens King Brothers Productions einen japanischen Film importiert hatte, der nun fürs amerikanische Publikum synchronisiert werden sollte. Es war ein ScienceFiction über ein riesiges, prähistorisches fliegendes Ungeheuer, das von der heutigen radioaktiven Strahlung nach einigen Jahrtausenden Winterschlaf zu neuem Leben erweckt worden war und jetzt die Menschen in Tokio terrorisierte. Der Name und gleichzeitig der Titel dieses ganzen unsinnigen Machwerks war Rodan. Aber noch viel unglaublicher war es, daß man mich nach meinem Vorsprechen engagierte! Der Film war ein so richtig übel an den Haaren herbeigezogener Science-Fiction, aber mein kurzes Abenteuer als englische Stimme in diesem Phantasie-Epos sollte fast ebenso bizarr sein. Ich verdiente mehr Geld mit dem Einbau meiner Jalousien als mit der Synchronisation von Rodan. Ich wußte auch, daß ich George Fileys Geschäft während seiner arbeitsreichsten Sommer-Periode beeinträchtigen würde. Trotzdem bat ich George, mich für die drei Tage gehen zu lassen, die für die Filmarbeit erforderlich waren. Ich versprach ihm ewige Dankbarkeit, falls er es tun würde. Er fragte nicht nach meinem Verstand. Er nörgelte auch nicht wegen der Umstände
mit seinem Geschäft. Ich glaube, er verstand einfach, wer ich war. Er gab mir diese drei freien Tage ohne jede Diskussion, und bis zum heutigen Tag bin ich noch dankbar für George Fileys Nachsicht mit dem verrückten Streben eines Schauspielers. Daddy seinerseits bemerkte trocken, daß ich abends an der UCLA Szenen von O’Neill, Williams und Arthur Müller spielte. „Warum willst du einen gutbezahlten Tagesjob und die große Theaterlitertur an den Abenden an einer der feinsten Universitäten in Amerika vorübergehend sausen lassen – für irgendwelches leere, schwülstige Geschwätz in einem Monsterfilm?“ Er verstand seinen Sohn immer noch nicht. Wußte er denn nicht, daß ich tatsächlich dafür bezahlt wurde, einen echten Film auf einem echten Hollywood-Set zu machen? Die Tonbühne war auf dem Gelände des legendären MetroGoldwyn-Mayer Studios in Culver City – eines der Studios, in die ich als Jugendlicher auf den lange zurückliegenden sonntäglichen Nachmittagsfahrten immer so sehnsüchtig hineingespäht hatte. Jetzt meldete ich mich bei der Torwache an, der tatsächlich meinen Namen auf der Liste auf seinem Klemmbrett fand, und wurde durchgewunken, als ob das etwas ganz Normales wäre. Was ganz unnormal, in der Tat völlig unwirklich war, waren die drei Tage, die ich im Studio verbrachte. Es stellte sich heraus, daß die zwei Brüder von der unabhängigen King Brothers Produktionsgesellschaft, die Produzenten dieses Epos waren, zwei eindrucksvolle Fleischberge von Männern. Beide Brüder waren kolossal, unglaublich fett und saßen fast immer nur herum. Aber wenn sie aufstanden und sich bewegten, klang das tiefe, angestrengte Schnaufen, das sie von sich gaben, mehr nach tierischen Geräuschen als nach einem menschlichen Keuchen.
Sie schwitzten überreichlich. Wenn sie sich mit ihren feuchten Taschentüchern, die sie immer in ihren Händen hielten, über die Augenbrauen wischten, grunzten sie wie gereizte Tiere. Sie vollendeten das Bild mit gigantischen schwarzen Zigarren, die aus jedem ihrer Münder wie Phallussymbole herausragten. Sie sprachen sehr wenig. Sie saßen nur schnaufend und grunzend in der Düsterkeit im Hintergrund des verdunkelten Aufnahmestudios. Vier Schauspieler waren wegen ihrer unterschiedlichen stimmlichen Qualitäten engagiert worden – drei Männer, reif, mittelalt und jugendlich, und eine Frau. Wir mußten jeder acht oder neun verschiedene Charaktere sprechen. Mit überdimensionalen Kopfhörern, die uns selbst wie ScienceFiction-Figuren aussehen ließen, starrten wir hoch auf eine riesige Leinwand, über die schweigende Bilder zogen: das prähistorische Ungeheuer Rodan, das sich lautlos hinunterstürzte auf in Panik geratene Menschenmengen, die geräuschlos flohen; Nahaufnahmen von Gesichtern mit weit aufgerissenen Augen und zu stummen Schreien der Angst geöffneten Mündern; Bilder von sachlich aussehenden Beamten, die bedenklich ihre wortlosen Lippen bewegten. Wir achteten auf ein dreimaliges Klicken in unseren Kopfhörern, das mit einer Textzeile koordiniert war, die flackernd über die Leinwand tanzte. Das dritte Klicken ertönte genau dann, wenn die flackernde Zeile die rechte Seite der Leinwand erreichte, und das war unser Signal, nun den Text zu sprechen – wenn die Lippen anfingen, sich zu bewegen, oder sich der Brustkorb für einen Atemzug hob. Die Töne, die wir von uns gaben, mußten genau mit den Vorgängen auf der Leinwand übereinstimmen, sonst würden sich die Lippen schweigend weiterbewegen oder unser Dialog würde bei einem Gesicht mit bereits geschlossenem Mund noch andauern.
Der Regisseur war ebenfalls ein großer Mann, aber im Gegensatz zu den King-Brüdern wirkte er nur stark. Er kaute auch auf einer Zigarre herum, die aber, wiederum im Vergleich zu denen seiner Chefs, nicht überdimensional, sondern nur groß wirkte. Im Gegensatz zu den King-Brüdern war der Regisseur immer in Bewegung. Er schoß immer wieder von seinem Stuhl hoch, als ob er auf Sprungfedern säße, veränderte hier ein Wort oder schrieb dort eine Dialogzeile um, die nicht zu passen schien. Er kaute ständig auf seiner Zigarre, auf der Suche nach Inspiration. Aber am häufigsten sprang er auf, um zu dem transportablen Telefon zu laufen, das auf einer Seite der Aufzeichnungsanlage installiert war. Von dort telefonierte er mit seinem Buchmacher. Er hing fast alle fünfzehn Minuten am Telefon. Oft legte er auf, und seine Faust zitterte in wütender Frustration, aber manchmal grinste er auch breit, und seine Zigarre tanzte zwischen den zusammengebissenen Zähnen auf und ab. Meine Freude in dieser ungewöhnlichen Personengruppe bestand im Zusammentreffen und der Arbeit mit Keye Luke, einem vornehmen chinesisch-amerikanischen Schauspieler, den ich schon als Kind in Filmen wie „Die gute Erde“ und „Schlüssel zum Himmelreich“ bewundert hatte – und natürlich als Charlie Chans gehorsamen ältesten Sohn. Keye war die Verkörperung von Professionalismus, Würde und guter Laune. Seine Lippesynchronisation war klar und präzise – und er schaffte es, für jeden Charakter, den er sprach, eine eigene Stimme zu finden. Während der Pausen war er herzlich und freundlich. Er war mein Anker für die Normalität, die stabilisierende Persönlichkeit in einer fremden Umgebung, die auf mich als Novizen wie eine verrückte Karikatur von Hollywood wirkte. Ich beobachtete Keye bei der Arbeit und lernte von ihm, meine Charaktere zu individualisieren. Als das Bild des
intelligenten jungen Wissenschaftlers auf der Leinwand seine Lippen schweigend bewegte, studierte ich die Bewegungen genau, ebenso wie Keye dies tat; und ich gab ihm eine scharfsinnige, analytische Stimme. Als der junge Flitterwöchner seiner Braut offenbar süßen Unsinn ins Ohr zu flüstern schien, gab ich ihm hörbare Leidenschaft und gleichzeitig eine schwere Atmung. Als das Bild des Mannes erschien, der von dem wütenden Monster attackiert wurde, und er stumm seinen Mund öffnete, gab ich ihm eine Serie von Schreien, die einem das Blut gerinnen ließen, genau passend zu jedem Zittern seiner Mandeln. Mit den aufgesetzten Kopfhörern und intensiv auf die schweigenden Bilder konzentriert, stotterte, schrie, dozierte und kreischte ich. Nein, dies war kein Irrenhaus. Es war die moderne Form des Berufes der Benshi – der Männer, die die Erzähler in den japanischen Filmen waren, an die ich mich aus meiner Kindheit in den Internierungslagern erinnerte. Ich dachte daran, daß ich Daddy unbedingt von dieser Verbindung erzählen mußte. An dem Ende des dritten und letzten Tages der Synchronisationsarbeit gab mir Keye einen kräftigen beglückwünschenden Händedruck und einen Klaps auf den Rücken. „Gute Arbeit, George. Sie machen mich stolz“, sagte er und lächelte breit. Ich war heiser von all meiner Schreierei, aber irgendwie war ich noch fähig, herauszuquaken: „Mr. Luke, es war wirklich ein Vergnügen, mit Ihnen zu arbeiten. Vielen Dank.“ Der Regisseur drückte mich in einer engen BärenUmarmung, die nach seiner großen, schwarzen Zigarre stank. Dann hielt er mich auf Armeslänge Abstand an den Schultern und strahlte mich an, während seine Zigarre auf- und abwackelte. Ich nahm an, daß diese schweigende Auszeichnung von einem Mann, der die letzten drei Tage damit verbracht hatte, für jede Szene das perfekte Wort zu
suchen, eben seine Art war Beifall auszudrücken – ein Lob ohne Worte. Ich eilte zum Ausgang, bevor ich mitbekommen konnte, in welcher Form die King-Brüder sich bei mir für meine Arbeit erkenntlich zeigen würden. Ich war erleichtert, als ich sah, daß sie keine Anstalten machten aufzustehen. Von ihren königlich herablassenden Positionen winkten sie gemeinsam mit ihren riesigen Zigarren und grollten heraus: „Gute Arbeit, Junge. Danke.“ Mein wunderschöner Sommer war viel zu schnell vorbei. Meine Träume waren über alle meine Erwartungen hinaus erfüllt worden. Ich hatte Schauspielunterricht an der UCLA genommen. Ich war durch einen glücklichen Zufall in den Genuß der Arbeit an einem wirklichen Film in einem Aufnahmestudio im berühmten MGM-Studio gekommen und war obendrein noch dafür bezahlt worden. Man hatte meiner jugendlichen Leidenschaft nachgegeben. Daddy und Mama glaubten, daß ich mir die Schauspielerei jetzt endgültig aus dem Kopf geschlagen hatte. Jetzt mußte ich mein Versprechen, mein Ehrenwort halten. Ich kehrte mit dem festen Vorsatz, ein großer Architekt zu werden, nach Berkeley zurück. Je länger ich jedoch Architektur studierte, desto größer wurde mein Respekt. Vielleicht, weil von allen Künsten die Arbeit eines Architekten die größten, gewichtigsten und dauerhaftesten Folgen hat. Ein Gebäude ist ein dominierender Teil der Gesellschaft, der die Lebensqualität steigern oder aber senken kann. Ich fühlte deutlich die ungeheure Tragweite dieser Verantwortung. Ich war mir der unverantwortlichen Architektur, die uns umgab und herabwürdigte, nur allzu bewußt. Und ich lernte, wieviel erstklassige Architektur zur Bereicherung und Gesundheit der Menschen beitragen konnte.
Mein architektonischer Held ist Frank Lloyd Wright. Seine Philosophie der organischen Architektur basiert auf dem Begriff der Harmonie – dem Gleichgewicht zwischen Mensch, Gebäude und Natur. Die Aufgabe des Architekten ist es, diesem Gleichgewicht zu dienen. Wright offenbarte seine Philosophie in einer erstaunlich breiten Vielfalt von Umgebungen, von der städtischen Anlage in Los Angeles mit dem Hollyhock House, über die trockene Wüste von Arizona mit Taliesen West, bis hin zum reißenden Fluß und üppigen Wald von Pennsylvania mit Fallingwater. Die scheinbar einzige Verletzung von Wrights Begriff der Harmonie mit der Umgebung ist die wahrscheinlich meistbesuchte seiner Arbeiten, das Guggenheim-Museum in New York. Dieser anmutig spiralförmige, weiße Bau ist der elegante Individualist in der grauen Reihe von Langweilern, die die Fifth Avenue säumen. Er ist das Wahrzeichen von Wrights Genius. Ein Meister weiß eben, wann und wie er die Regeln brechen muß. Es wäre höflich gewesen, sich harmonisch in die Mittelmäßigkeiten entlang der Fifth Avenue einzureihen, aber auch, wie viele höfliche Leute, tödlich stumpfsinnig. Das Guggenheim-Museum ist das genaue Gegenteil. Es ist ein herrliches Kunstwerk, das stolz und selbständig, wie ein von einem Bildhauer geschaffenes kleines Gebirge eines städtischen Felsens, der hoch aufragend über die große Grünfläche des Central Park hinwegschaut. Es ist ein außergewöhnlicher Bau, der das Land – ebenso wie seinen meisterlichen Erbauer – definiert und adelt. Ich traf Frank Lloyd Wright in dem Semester, in dem ich nach Berkeley zurückkehrte. Er sollte der Gastredner bei einem besonderen Abendvortrag sein. Die Erwartungen wegen des Besuches dieses großen Mannes waren sehr hoch. Am Abend seines Auftrittes war der ansehnlich große Vortragssaal völlig überfüllt. Ich war früh genug da und hatte
angenehmerweise einen guten Platz in der Mitte des Saales bekommen. Architekturstudenten sollten Priorität bei den Sitzplätzen haben, aber viele, die später angekommen waren, fanden gar keinen freien Stuhl mehr. Es gab ein großes Durcheinander mit viel Gedränge und Geschiebe. Die Leute versuchten noch, sich in die Gänge zu drücken, als der Vortrag bereits angefangen hatte. Plötzlich und ohne jede Ankündigung flog die Tür zur Sprecherbühne auf, und hereingefegt kam eine ganz in Schwarz gekleidete Gestalt – ein schwarzer, breitkrempiger Hut, ein großer schwarzer Mantel, wie ein Cape über die Schulter geschwungen, und ein weiter, altmodischer schwarzer Anzug. Er hatte einen Gehstock dabei, aber seine lebhaften Schritte signalisierten sofort, daß dieser unnötig war und nur eine Art dramatischen Zubehörs. Unter seinem schwarzen Hut quoll eine volle Mähne schneeweißen Haares hervor, die bis zu seinen Schultern hinunterfloß. Frank Lloyd Wright war angekommen. Es war einer der spektakulärsten theatralischen Auftritte, die ich je gesehen hatte. Wright war schon gut in den Achtzigern, aber ein kraftvoller, leidenschaftlicher und absolut faszinierender Sprecher. Er trug beredsam seine Vorstellungen von organischer Architektur vor. Er schimpfte auf die Mittelmäßigkeit, gegen die er ankämpfen mußte. Und er trat leidenschaftlich dafür ein, daß es einem Architekten ein Bedürfnis sein müsse, sich einem Projekt voll und ganz zu widmen. Nach seinem Vortrag reagierte er ziemlich herrisch auf einige Fragen aus dem Publikum, und dann fegte er, so abrupt wie er eingetreten war, wieder hinaus. Ohne jede Zeremonie. Frank Lloyd Wright war einen Augenblick lang da gewesen, und dann war er wieder weg. Es gab ein betäubtes Schweigen, bevor die Versammlung vor einer leeren Bühne in polternden, stürmischen Beifall ausbrach. Er hatte einen mächtigen Eindruck hinterlassen.
Ebenso wie Wright als Architekt das Land mit seiner Arbeit geziert hatte, verkörperte er als Mann auf einzigartige Weise all das, was einen großen Architekten ausmachte. Frank Lloyd Wright hatte mich zutiefst begeistert. Er gab mir ein neues Verständnis für die Wichtigkeit der Architektur. Ich war von seiner Stärke und seiner leidenschaftlichen Hingabe an seine Vision von der Welt beeindruckt. Und ich war sehr beunruhigt von seiner Forderung nach einer totalen Hingabe an die Architektur. Frank Lloyd Wrights Worte suchten mich für den Rest des Jahres heim. Ich hörte das Echo von Wright in den Reden der Professoren. „Ein Architekt entwirft für Individuen, aber der Entwurf eines Architekten ist auch ein Zeugnis seiner Zeit“, erinnere ich mich gehört zu haben, und ich dachte an die Verantwortung, die ein Architekt trägt. Ich durchstreifte die Hügel von Berkeley und fand die Gebäude des großen Bernard Maybeck. Sein komplexes handwerkliches Können, die komplizierten Details in seiner Arbeit und die stille Freude, die sie wachriefen, erinnerten mich immer nur an das unbeschränkte Engagement, das eine solche Kunstfertigkeit erforderte. Je mehr ich mich mit den großen Errungenschaften der Architektur auseinandersetzte, desto mehr wurde ich mir des Zwiespalts in meinen Neigungen bewußt. Ich konnte mir vorstellen, wie ich als Architekt in zehn Jahren arbeitete – und ständig eine an mir nagende Sehnsucht unterdrückte. Es war mir einfach nicht möglich, mich voll und ganz der Architektur zu widmen. Es war während der Osterferien 1957, ich war wieder zu Hause in Los Angeles. Auf meiner Tagesordnung für diesen kurzen Urlaub zu Hause stand ein ernstes Gespräch mit Daddy. Aber ich fühlte mich ganz krank. Ich konnte weder die richtigen Worte, noch die richtige Gelegenheit finden, um zu sagen, was
ich wollte. Ich konnte es nicht beim Abendessen. Zu viele Leute. Ich konnte es nicht, wenn Daddy sich nach einem harten Tag im Büro beim Zeitunglesen entspannte. Er hatte neuerdings in Hotels und Wohnungen investiert, und der Streß, den er damit hatte, war beträchtlich; er verdiente es abzuspannen. Die kurze Ferienwoche würde bald vorüber sein, und ich würde wieder nach Berkeley gehen müssen. Ich fühlte mit Besorgnis, wie mir die Zeit davonlief. Würde es mir gelingen, mein Gespräch mit Daddy zu führen, bevor ich zurück mußte? Eine Entspannung, die Daddy genoß, war es, in der abendlichen Stille den hinteren Rasen zu gießen. Er saß auf den Stufen der Veranda und starrte in den Abendhimmel hinauf, während er den Schlauch hielt, der den weichen Wassernebel über den Rasen spritzte. Eines Abends erspähte ich durchs Küchenfenster, daß er alleine dasaß. Ich beobachtete diese einsame Gestalt lange. Diesen Mann, der in so vielen Berufen so hart für seine Kinder gearbeitet hatte, diesen Vater, der uns so viel gab, und der so viel von uns wollte. Als ich ihn dabei beobachtete, wie er zu den Sternen hinaufsah, glaubte ich ganz genau zu wissen, wovon er geträumt haben mochte. Und es schmerzte mich, worüber ich mit ihm reden mußte. Ich schlich aus dem Haus und setzte mich neben ihn. Die Frühjahrsnachtluft war sanft und weich. „Daddy, ich habe mir eine Menge Gedanken über meine Zukunft gemacht“, begann ich versuchsweise, „und ich möchte dir einige davon mitteilen.“ Ich erzählte ihm nicht nur von meiner Liebe zur Architektur, sondern auch von meiner Qual meiner geteilten Gefühle. Ich erzählte ihm, daß ich nicht mein ganzes Leben mit einem Gefühl des Versäumnisses leben wollte. Schließlich sagte ich ihm, daß ich mein eigenes Leben leben müsse, und obwohl ich tief dankbar für alles war, was er
und Mama für mich getan hatten, mußte ich mir selbst treu sein. Und dann sagte ich in einem Atemzug etwas, das ich noch nie zuvor geäußert hatte. „Daddy, ich möchte nach New York gehen und im Actors Studio Schauspiel studieren.“ Nur das weiche Zischen der Düse, die den Wassernebel verspritzte, war zu hören. „Das ist da, wo Marion Brando und James Dean studiert haben“, erklärte ich ernsthaft. Mein Vater starrte geradeaus, still und schweigend. „Daddy, ich will Schauspieler werden.“ Mein Vater blickte nachdenklich auf den Rasen hinunter und setzte schweigend seine Gießaktion fort. Alles, was ich hören konnte, war der weiche Ton des Wassers. Ein stiller Kummer bedrückte mich. Ich wußte, welchen Schmerz ich ihm verursachte. Dann sprach Daddy, und ich war überrascht. Er sagte nachdenklich: „Ich wußte, daß diese Diskussion irgendwann kommen würde.“ Er hatte es erwartet! Damit hatte ich nicht gerechnet. Er erzählte mir mit seinen Worten, daß er meine Not gespürt hatte, und daß er deswegen beunruhigt war. Er sagte, das, was er und Mama für ihre Kinder wollten, war, daß sie glücklich sein sollten. Dann sagte er die Worte, für die ich mich gewappnet hatte. „Du liebst die Schauspielerei, und du glaubst, daß es dich glücklich machen wird, ein Schauspieler zu werden. Alles, was du kennst, ist der Glamour den du auf der Bühne und der Leinwand siehst. Aber die wirklichen Schwierigkeiten, die man hat, wenn man seinen Lebensunterhalt als Schauspieler verdienen will, die kennst du nicht. Es gibt keine Sicherheit. Es gibt keine Beständigkeit. Und als Japaner wird die Anzahl der Rollen, die für dich in Frage kommen, stets beschränkt sein. Die Wahrheit ist, daß es in dieser Art zu leben keine Würde gibt. Wir wollen, daß du glücklich bist. Aber wir glauben nicht, daß du mit einem Leben als Schauspieler glücklich wirst.“
Ich sagte zu Daddy, daß ich mir bewußt wäre, daß es für einen Schauspieler keine Garantien gibt. Aber ich erwähnte auch, daß ich als Architekt, egal, wie erfolgreich, garantiert mit dem lebenslänglich an mir nagenden Gefühl der verpaßten Chance würde leben müssen. Mit leidenschaftlichen Worten sagte ich zu meinem Vater, daß ich diesen Weg sehr aufmerksam und vorsichtig gehen würde, stets eingedenk seiner Vorbehalte, aber daß ich auch stark und fest entschlossen wäre und ihn bestimmt nicht enttäuschen würde. Ich bat ihn, in meine Entscheidung, Schauspieler zu werden, das gleiche Vertrauen zu haben, wie er es zu mir als Architekturstudent gehabt hatte. Daddy drehte die Düse zu und das feine Zischen verstummte. Er drehte sich um und sah mich direkt an. „Du bist fest entschlossen, ja?“ fragte er. „Ja“, antwortete ich. „Dann tu es“, sagte er. „Tu das, wofür du dich entschieden hast. Und mach das Beste aus dir. Wir wollen, daß du glücklich bist.“ Ich war wie betäubt. Doch noch bevor ich reagieren konnte, fuhr er fort: „Aber es gibt eine Alternative, von der ich will, daß du sie in Betracht ziehst. Das Actors Studio ist eine feine Schauspielschule. Aber wenn du sie beendet hast, wirst du keinen akademischen Grad haben. Die UCLA hat, wie du weißt, eine sehr vornehme Theaterschule. Studiere dort Theater und Schauspiel, und wenn du fertig bist, bekommst du einen regulären Hochschulabschluß. Das wird deine Zukunft ein kleines bißchen sicherer machen. Deine Mutter und ich möchten, daß du so etwas hast.“ Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Ich war darauf vorbereitet gewesen, mein Anliegen durchzusetzen, so gut ich nur konnte. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, daß Daddy den Spieß umdrehen könnte, indem er meinen Standpunkt
akzeptierte, noch bevor ich ihn überhaupt verteidigen mußte. Kein Wunder, daß er in seinem Beruf als Grundstücksmakler erfolgreich war. Er fuhr fort: „Du solltest wissen, daß New York ein hartes Pflaster ist, eine erbarmungslose Stadt und obendrein sehr teuer. Wenn du nach New York gehen willst“, sagte er, „dann solltest du dich darauf vorbereiten, dies auf eigenes Risiko zu tun. Auf der anderen Seite, wenn du dich dazu entschließt, Schauspielerei an der UCLA zu studieren, so wie deine Mutter und ich das begrüßen würden, dann wären wir glücklich, für dein Auskommen zu sorgen.“ Da war er. Der Deal. Entweder New York ohne fremde Hilfe im Actors Studio oder die UCLA mit Subvention. Es war das klassische Angebot, das man einfach nicht abschlagen kann. Ich stand einem professionellen Geschäftsmann gegenüber. Daddy wußte, daß ich ein praktisch denkendes Kind war. Er wußte, daß ich nicht fähig sein würde, der Unterstützung zu widerstehen. Wie Daddy es genannt haben würde: Es war ein „Win-Win“-Deal, einer, bei dem man nicht verlieren konnte. Ich ging nach Berkeley zurück und begann mit den Vorbereitungen, meine paar Habseligkeiten, die ich als Architekturstudent hatte, einzupacken. Außerdem besorgte ich mir die Transfer-Papiere für meine Übersiedelung an die UCLA. Und ich machte mich innerlich bereit, ein Schauspieler zu werden.
MEIN LEBEN ALS SCHAUSPIELER
9 Anfängerglück Manchmal führt eine zufällige Wahl zu unwahrscheinlichen Ergebnissen. Wenn mein Entschluß, eine Schauspielerkarriere einzuschlagen, in diesem Sommer des Jahres 1957 schon recht unrealistisch wirkte, muß man sagen, daß das, was noch vor meiner Einschreibung an der Universität von Kalifornien in Los Angeles (UCLA) passierte, alle Ähnlichkeit mit dem Versuch aufwies, ein Kamel durch ein Nadelöhr zu bugsieren. Ich bekam eine Spitzenrolle im hochangesehenen LiveFernsehdrama „Playhouse 90“. Es fing alles damit an, daß ich bei einem Agenten vorbeischaute, den ich vorher auf dem MGM-Studiogelände getroffen hatte, als ich im vorangegangenen Sommer „Rodan“ synchronisierte. Er war Amerikaner japanischer Abstammung und hieß Fred Ishimoto. Er hatte mir seine Visitenkarte gegeben, die ich zwischen den Erinnerungsstücken meiner Theaterträume versteckt hatte. Ich hatte nie geglaubt, daß ich sie tatsächlich eines Tages benutzen würde. Jetzt war ich allerdings entschlossen, eine Schauspielerkarriere einzuschlagen, und dazu benötigte ich einen Agenten. Immerhin befand ich mich ja jetzt in einer Schauspielerausbildung in Hollywood. Fred begrüßte mich sehr herzlich in seinem Büro am Sunset Boulevard. Er überraschte mich mit seiner Enthüllung, daß er meinen Vater noch aus der Zeit kannte, als dieser Gemischtwarenhändler war – Fred war damals Bierhändler.
Fred erzählte mir freundlich, daß er von dem, was er von meinen Fähigkeiten beim Synchronisieren mitbekommen hatte, durchaus beeindruckt gewesen war. Schließlich bat ich ihn, mich im „Business“ zu vertreten, worauf er jedoch entgegnete: „George, geh zur Schule und mach dort erst mal deinen Abschluß. Wenn sich irgend etwas in der Zwischenzeit ereignet, das für dich von Interesse ist, werde ich mich freuen, es dich wissen zu lassen.“ Er hörte sich an wie mein Vater; seine Worte hatten etwas Unterstützendes, doch klang in ihnen keine richtige Begeisterung mit. Wenigstens sagte er mir, daß er mich anrufen würde, wenn sich irgend etwas anbieten würde, das für mich geeignet wäre. Ich zog daraus den Schluß, daß es wohl noch nicht an der Zeit war, einen Agenten zu engagieren, und kehrte zu meinem alten Sommerjob mit George Filey und seinem Jalousien-Geschäft zurück. Es verging jedoch nur ungefähr ein Monat, bis Fred mich anrief. „George, etwas Interessantes bietet sich an, und du möchtest dir die Sache vielleicht genauer ansehen“, sagte er mir, „es ist Playhouse 90.“ Er muß wohl am Telefon gehört haben, wie ich nach Luft schnappte. „Playhouse 90“ war eine Fernsehserie, die von Kritikern in den höchsten Tönen gelobt wurde, eine dramatische Anthologie – und eine Show, die ich Donnerstagabends nie versäumte. „Na, mach dir jetzt mal keine zu großen Hoffnungen“, ermahnte er mich. „Da wird es eine Menge Konkurrenz geben, was diese Sache betrifft. Ich habe mir allerdings gedacht, daß der Ablauf des Vorstellungsgespräches eine nützliche Erfahrung für dich sein wird.“ War das der Mann, von dem ich gewollt hatte, daß er mich vertritt? Ein Vorstellungstermin, nur um dadurch Erfahrung zu
sammeln? War das alles an Vertrauen, das er in mich setzen konnte? Ich war etwas irritiert, doch versuchte ich, es zu verbergen. Er war schließlich der einzige, der mir diese Tür zu „Playhouse 90“ öffnete. „Sagen Sie mir wo, und ich werde dort sein“, antwortete ich. Doch heimlich dachte ich mir: „Ich werd’s dir zeigen, wie ich dieses Vorstellungsgespräch hinkriege. Ich werde da hingehen und diese Rolle bekommen. Ich werd’s dir wirklich zeigen.“ Der Ort war der neue moderne Gebäudekomplex, der sich Ecke Fairfax und Beverly ausgebreitet hatte und von CBS hochtrabend „Television City“ benannt worden war. Gewaltige, massiv wirkende weiße Gebäude mit schwarzen Paneelen beinhalteten die Studioräume, die sich über mehrere Stockwerke erstreckten. Auf kunstvolle Weise hoch oben auf einer Kante des größten weißen Blocks plaziert befand sich das wohlbekannte Logo der CBS. Ein gläserner Block am östlichen Ende des Komplexes enthielt die Verwaltungsräume. Dort fanden die Interviews statt. Zunächst sprach ich bei dem Castingdirektor vor. Fred rief mich einen Tag später an und teilte mir mit, daß man eine weitere Vorsprechrolle von mir haben wollte. Ein Rückruf und der Termin stand fest. Mich amüsierte der leicht unterwürfige Tonfall, der jetzt in seiner Stimme mitschwang. Dieses Mal sollte ich dem Regisseur Herbert Hirschmann vorsprechen – ein Name, an den ich mich im Zusammenhang mit Kritikerlob für „Playhouse 90“ erinnerte. „Gib dein Bestes“, drängte mich Fred. „Selbst wenn du diese Rolle nicht bekommst, so ist er doch auch für die Auswahl von Darstellern für andere Projekte zuständig. Es wird gut sein, ihn wissen zu lassen, was du kannst.“ Fred glaubte immer noch nicht daran, daß ich tatsächlich die Rolle bekommen könnte. Das spornte mich allerdings erst recht an. Ich würde es ihm zeigen.
CBS hatte mir die Abschrift einer Szene aus dem Skript ausgehändigt, die ich mir durchlesen sollte, um mich damit auf das Vorsprechen vorzubereiten. Meine Rolle war die eines jungen japanischen Soldaten, der in ein zerstörtes NachkriegsJapan zurückgekehrt war und dort entdecken mußte, daß seine Verlobte sich in einen amerikanischen G.I. verliebt hatte. Als sie während eines Streits mit dem G.I. tödlich verunglückt – sie stürzt von einer Brücke –, wird der verbitterte japanische Soldat zum Hauptverdächtigen. In der Testszene spielte ich die von mir verkörperte Figur im Gespräch mit dem Verteidiger in einer düsteren Gefängniszelle. Es handelte sich um eine starke, dramatische Szene – genau von der Art, wie ich sie gerne in meinem Schauspieler-Workshop gespielt hatte. Doch nun sollte ich sie vor einem angesehenen Regisseur der „Playhouse 90“-Serie spielen – allein der Gedanke daran hatte etwas Überwältigendes. Ich wollte die Rolle unbedingt haben, allerdings war mein glühender Enthusiasmus durchaus nicht frei von Angst. Ich war nur noch ein Nervenbündel, als man mich in einen kompakt wirkenden, sonnendurchfluteten Konferenzraum brachte, damit ich dort für Herbert Hirschmann spielte. Der Raum war voller Leute, die ausnahmslos wie Assistenten aussahen. Keiner schien der mächtige Regisseur von „Playhouse 90“ zu sein. Am Kopfende des Konferenztisches saß ein lächelnder, zierlich wirkender Herr, dessen Brille auf seiner Nasenspitze balancierte, und dessen von grauen Haaren durchsetzte Frisur weit hinten an seinem Schädel ansetzte. Er war in Hemdsärmeln und hatte seine Krawatte gelockert. Er sah wie die joviale rechte Hand eines hochrangigen Produzenten aus. Erst als ein studentenhaft wirkender junger Mann ihn mit „Mr. Hirschmann“ titulierte, begriff ich, daß dies der Regisseur war.
Wir unterhielten uns kurz, und dann kündigte er an, daß der studentenhafte Assistent bei der Probe die Rolle des Strafverteidigers übernehmen würde. Der junge Assistent begann in einem flachen, monotonen Tonfall mit dem Rezitieren der Worte, die ich zu Hause so oft geübt hatte, daß sie mir inzwischen so vertraut vorkamen wie irgendwelche Monologe von Eugene O’Neill oder Tennessee Williams. Doch ich verabscheute sein gefühlloses Sprechen. Und diese Ablehnung trug ihren Teil dazu bei, daß die in mir bereits vorhandene Anspannung weiter wuchs. Mein Text fiel bitter, ironisch und gehässig aus. Da er nicht damit aufhörte, in seinem eintönigen Tonfall weiterzulesen, ergriff unkontrollierbare, hilflose Wut Besitz von mir. Das führte dazu, daß ich meinen eigenen Text mit zunehmend feindseligem und verdrossenem Tonfall vortrug. Ich konnte einfach nichts daran ändern, daß der farblose Vortragsstil des Assistenten mir die wichtigste Prüfung meines Lebens ruinierte. Da fühlte ich plötzlich, wie völlig unerwartet heiße Tränen der Enttäuschung in meine Augen stiegen. Als ich meine letzten, in ätzendem Tonfall vorgetragenen Zeilen hinter mich brachte, strömten mir schließlich die Tränen die Wangen hinab. Eine lange, unheimliche Stille senkte sich über die Anwesenden, als ich geendet hatte. Schließlich sagte Mr. Hirschman mit sanfter Stimme zu mir: „Das war sehr schön, George, danke.“ Und während ich mir mein nasses Gesicht trockenwischte, verließ ich mit raschen Schritten den Raum. Als Fred mich nach ein paar bangen Tagen des Wartens anrief, sagte er mir, daß ich meine „Playhouse 90“-Rolle hatte. „Na ja, junger Mann, es sieht so aus, als hätten wir einen guten Start. Ich bin wirklich sehr stolz auf dich, George“, beglückwünschte er mich. Seine Stimme klang so, als hätte er von Anfang an gewußt, daß ich die Rolle bekommen würde. Ich hätte ihn am liebsten daran erinnert, wie klein sein
Vertrauen in meine Fähigkeiten vorher gewesen war, besann mich dann aber, lieber doch meinen Mund zu halten. Er erzählte mir, daß die Episode, in der ich mitspielen sollte, den Namen „Made in Japan“ trug. Das Drehbuch stammte von Joseph Stefano, und in den Hauptrollen spielten Dean Stockwell, E. G. Marshall, Harry Guardino, Robert Vaughn, Dick York und die liebliche Newcomerin Nobu McCarthy, die Fred ebenfalls vertrat. Es handelte sich um eine beeindruckende Besetzung, und ich konnte mir wirklich etwas darauf einbilden, in dieser Folge mitzuspielen. „Playhouse 90“ bestand aus anderthalb Stunden bestem LiveOriginaldrama im Fernsehen. Die Drehbücher stammten von einigen der talentiertesten jungen Dramaturgen Amerikas, zu denen Autoren wie Rod Serling, Paddy Chayefsky und Reginald Rose zählten. Beeindruckende junge Schauspieler wie Paul Newman, Joanne Woodward, Jack Palance und Geraldine Page brillierten in den Rollen der Serie. Und außerdem vermittelte die Show das, was in einem Drama niemals fehlen darf – das Gefühl eminenter Gefahr. Mit anderen Worten: Live-Fernsehen. Das bedeutete, daß die Show tatsächlich live ausgestrahlt und nicht vorher auf Film oder Band aufgezeichnet wurde. Sie besaß das Gespür für die Dramatik des Augenblicks, dem Theater vergleichbar, ohne die Notwendigkeit, dies auch einem Publikum auf den schlechteren Plätzen vermitteln zu müssen. Selbstverständlich gab es auch keine Möglichkeit, Szenen zu wiederholen wie beim Film sonst üblich. Allerdings konnten im Gegensatz zu Theateraufführungen Szenen, bei denen es darauf ankam, durch extreme Nahaufnahmen an Aussagekraft gewinnen. Live-Fernsehen bestand aus einer Kombination der besten und schlechtesten Eigenschaften von Film und Theater: Das enorme Potential der Fernsehzuschauer konnte sich der Spannung eines live aufgeführten Dramas hingeben, doch es
bestand immer die Gefahr, daß das Millionenpublikum auch Zeuge irgendwelcher Katastrophen wurde. Für den einzelnen Schauspieler konnte dies beides bedeuten – große Befriedigung ebenso wie blanke Angst. Ich erlebte diese beiden Extreme in der „Playhouse 90“-Produktion „Made in Japan“. Beim Live-Fernsehen hatte ein Schauspieler den großen Vorteil, zwei Wochen Zeit zum Einüben der Rolle zur Verfügung zu haben; etwas, das bei Filmproduktionen nicht möglich ist. Außerdem waren diese zwei Wochen für einen jungen, aufstrebenden Darsteller die beste Ausbildungszeit, die ihm gewährt werden konnte: Jeden Tag in den großzügig gehaltenen Räumlichkeiten der „CBS Television City“ zusammen mit einer angesehenen Schauspielertruppe für die Fernsehsendung proben zu können. Dean Stockwell war ein Kinderfilmstar, der auf einer Broadwaybühne zu einem guten Schauspieler herangereift war. E. G. Marshall war ein allseits respektierter Veteran, sowohl auf der Theaterbühne als auch im Film und Live-Fernsehen. Nobu McCarthy hingegen war ein Fotomodell aus Japan, deren einziger sonstiger Verdienst darin bestand, in einer JerryLewis-Komödie mitgewirkt zu haben. Sie sprach Englisch auf eine charmante, zögernde Weise, allerdings bemerkte ich ihr Engagement und ihre ausgeprägte Disziplin. Robert Vaughn war ein selbstsicherer Mensch mit charismatischer Persönlichkeit, während Dick York ein entspannt wirkender und eher zurückhaltend arbeitender Filmschauspieler war. Harry Guardino erhielt die Rolle des passionierten Strafverteidigers, mit dem zusammen alle meine Szenen spielten. Er war, wie man mir sagte, das, was man hier in Hollywood als „New Yorker Schauspieler“ bezeichnete. Die Bezeichnung stand für einen Darstellertypus, der sich durch
Ernsthaftigkeit, Leidenschaft und eine stärkere Neigung zum Theater als zum Film auszeichnete. „Oh nein, glaub das nicht“, sagte er mir in einer Pause zwischen den Proben. „Diese Stadt neigt dazu, Leute in Schubladen zu stecken. Ich kann dir jederzeit einen guten Film liefern. Schlechtes Theater erlebe ich andauernd wieder. George, alles hängt von der Qualität des Materials ab.“ Er zerstörte einen Teil des Mythos und verstärkte andere. Ich sah, daß Harry tatsächlich ein Schauspieler war, der ein ernsthaftes und leidenschaftliches Verhältnis zu seiner Kunst hatte. Außerdem bemerkte ich in der Zeit der Proben noch etwas anderes an Harry. Er hatte Schwierigkeiten damit, sich an der Stelle, an der sich das Drama seinem Höhepunkt näherte, seinen Text zu merken; es handelte sich um eine lange, umständliche Verteidigungsrede in einem Gerichtssaal. Sein Problem hatte offenbar nichts mit irgendeiner bestimmten Stelle seines Vortrags zu tun. Manchmal schaffte er problemlos einen Abschnitt, bei dem er in der vorangegangenen Probe ins Stocken geraten war, nur um dann in einem anderen Teil hängenzubleiben oder seinen Text zu vergessen. Oder es gelang ihm, die ganze Rede ohne Schwierigkeiten zu halten, nur um dann im nächsten Durchgang plötzlich in einem Abschnitt ins Stocken zu geraten, mit dem er bis dahin keinerlei Probleme gehabt hatte. Nichts war vorhersehbar. Als wir dem Sendetermin immer näher kamen, wandelte sich unsere Sorge um Harry langsam in Angst, die Show könnte mißlingen. Da hörte ich zufällig, wie E. G. Marshall Harry einen alten Schauspielertrick zuflüsterte. „Warum trägst du nicht einfach die Seiten mit deinem Text für die Szene mit dir herum wie irgendwelche Anwaltsnotizen, so daß du da etwas ablesen kannst, wenn du ins Stocken kommst?“ schlug er ihm vor.
Herbie, wie jeder unseren Regisseur nannte, ließ Harry gegenüber auch durchblicken, daß er nichts dagegen hätte, den in Frage kommenden Abschnitt des Skripts in Form von „Spickzetteln“ am Drehort zu verstecken, so daß Harry seinen Text dort ablesen konnte, wenn er im Gerichtssaal herumwanderte und die Worte seiner Verteidigungsrede vergessen sollte. Harrys Antwort auf all diese Vorschläge war: „Ach, macht euch keine Sorgen. Diese Tricks werden höchstens meine Konzentration stören. Sollte ich irgendwo hängenbleiben, dann weiß ich, was ich tun kann.“ Doch sagte er nicht, was er damit meinte. Zwei Tage vor dem Sendetermin zogen wir vom Probenraum in die eigentlichen Sets um. All die vielen verschiedenen Kulissen waren auf einer riesigen Bühne errichtet worden. Es war ehrfurchtgebietend. Da hatte man über die volle Länge der Bühne eine ganze japanische Dorfstraße aufgebaut. Und dort sah man die hohe, graziös geschwungene Brücke, von der Nobu während des Streits mit Dean herunterfallen sollte. In einer Ecke der gewaltigen Bühne hatte man den kleinsten der vielen Drehorte untergebracht, meine Gefängniszelle. Den Angelpunkt bildete schließlich der Ort des Höhepunkts des Dramas, wo Harry seine leidenschaftliche, und nun auch für uns arg spannungsgeladene Verteidigungsrede halten sollte – der Militärgerichtssaal. Als dann während der Generalprobe die Statisten mit ins Bühnenbild kamen, wurde es lebendig auf den Sets. Die Straße füllte sich mit Radfahrern, Nudelverkäufern, Händlern und sonstigen Passanten. Im Gerichtssaal drängelten sich Zuschauer, Adjutanten und ernst dreinblickende Richter. Die Bewegungen der Statistenmenge an den einzelnen Drehorten mußten schnell und leise ablaufen, wenn die Live-Übertragung stattfand, und das mußte richtig koordiniert werden. Das
Drama fand nicht nur vor der Kamera statt, sondern auch im Hintergrund, wo lautlose, hektische Aktivität herrschte. Die Spannung wurde immer spürbarer – ebenso wie meine vor Lampenfieber schlotternden Knie. Ich schaute auf dem Monitor in meiner Umkleidekabine zu, wie Harry seine Verteidigungsrede im Gerichtssaal zum letzten Mal probte. Der alte Profi schaffte in dieser Generalprobe souverän seinen Text, ohne auch nur andeutungsweise ins Stocken zu geraten. Das war ein sehr gutes Omen, wie mir schien. Doch E. G. erzählte mir dann draußen auf dem Korridor vor den Umkleideräumen, daß man im Theater eine gut gelungene Generalprobe für den Vorboten des genauen Gegenteils hielt: Eine schlechte Generalprobe war ein gutes Omen, und eine geglückte Generalprobe war ein bedenkliches Vorzeichen. Ich hielt das Ganze für verrückten Aberglauben und entschied mich dafür, mich nicht weiter damit zu beschäftigen. Wenn es Harry gut hinkriegt, werde ich es auch gut hinkriegen, und die Show wird wundervoll werden, wiederholte ich unablässig in meinem Geist wie ein Mantra. Doch dann dachte ich an das sprichwörtliche „nachts pfeifend über den Friedhof gehen“, ein eisiger Schauer überlief mich, und meine Nervosität kehrte schlagartig zurück. Mir wurde daraufhin klar, daß in der unsicheren Welt des Showbusiness, in der unvorhersehbare Ereignisse an der Tagesordnung waren, der Aberglaube leicht zu einer bequemen Zuflucht werden konnte; ein irrationales, jedoch beruhigendes Mittel gegen schwache Nerven. Jedenfalls etwas, woran man sich festhalten konnte. Besonders beim Live-Fernsehen. Der Beginn der Live-Übertragung wurde durch ein blinkendes rotes Licht angezeigt. Millionen Fernsehzuschauer überall in Amerika hörten nun die üppige Ouvertüre der Sendung, während der Titel von „Playhouse 90“ auf den
Bildschirmen erschien. Ich hatte dieser gleichen Melodie jede Woche zu Hause vor meinem Fernseher im Wohnzimmer zugehört, die mir jetzt vom kleinen Monitor übertragen wurde, auf dem ich in meinem hellerleuchteten Umkleideraum die Sendung mitverfolgen konnte. Ich sah zu, während ich darauf wartete, daß man mich zur gewaltigen Bühnenanlage hinüberrufen würde. Es würde mein Debüt als professioneller Schauspieler werden. Eine unglaublich spannende Angelegenheit. Die Szenenwechsel fanden mit atemberaubender Geschwindigkeit statt. Bevor ich mich versah, klopfte der Assistent des Bühnenmeisters an meine Tür und rief mich zu meinem ersten Auftritt. Ich ging zum Drehort hinüber. Dort herrschte geschäftiges Treiben: Kameramänner, Techniker und Schauspieler gehorchten einer in völliger Stille ablaufenden Choreographie. Jede auftretende Panne würde augenblicklich von Millionen Fernsehzuschauern verfolgt werden können. Ich begab mich rasch zu meiner „Gefängniszelle“ und wartete. Bereits nach kurzer Zeit näherten sich mir zwei dunkle Kameras wie gefräßige mechanische Ungeheuer. Einen Augenblick später leuchtete das Zyklopenauge auf einer der Kameras blutrot auf, und Harry betrat meine Zelle. Er war der bedächtig kalkulierende Anwalt: Es verletzte mich, daß er mich verdächtigte – ich fühlte mich beschmutzt. Ich war erfüllt von widersprüchlichen Gefühlen. Die Schande der Niederlage, nicht nur im Krieg, sondern auch in Liebesdingen. Die Ungerechtigkeiten seitens der siegreichen Amerikaner. Die Verzweiflung über meine aussichtslose Situation. Nichts von alledem ging diese neugierige ausländische Amtsperson auch nur das Geringste an. Kalte Wut stieg in mir auf. Die Mitleidstour dieses Anwalts kam mir zunehmend entwürdigend und gönnerhaft vor. Meine wachsende Wut bewirkte schließlich, daß mir heiße Tränen aus den Augen
schossen. Sie liefen mir übers Gesicht, und voller Trotz spie ich vor ihm aus. Daraufhin endete die Szene. Die Kameras wandten sich von uns ab und rollten zum nächsten Drehort. Ich lief rasch zum Umkleideraum zurück. Da ein lebhafter Verkehrsstrom aufrechterhalten werden mußte, damit alles klappte, waren Schauspieler unerwünscht, wenn ihre Szenen abgedreht worden waren; sie hätten nur im Weg herumgestanden. Auf meinem Monitor flog das Drama nur so dahin; eine Szene folgte der anderen mit atemberaubender Geschwindigkeit. Und plötzlich war es wieder soweit, daß ich für die nächste Szene zu meiner Zelle zurückkehren mußte. Die Kameras richteten sich kurz auf mich, um dann genau zu verfolgen, wie Harry und ich unsere Rollen spielten. Dann verließen sie uns wieder und eilten zum nächsten Drehort. Wieder im Umkleideraum, sah ich zu, wie wir uns rasch der Schlußszene im Gerichtssaal näherten – und Harrys großer Ansprache. Ich klebte am Monitor und drückte die Daumen. Als die Szene kam, schien sich Harry in bester Verfassung zu befinden. Er baute die Verteidigung langsam und methodisch auf. Dann legte er eine Pause ein, und ich hielt die Luft an. Harry machte jedoch weiter; die Pause hatte nur dramatische Bedeutung. Kraft und Leidenschaft schwangen zunehmend in seiner Rede mit. Doch plötzlich wurde der Monitor still, obwohl sich Harrys Lippen stumm weiterbewegten. Ich stürmte hinaus, um den Vorgang mit eigenen Augen auf der Bühne sehen zu können. Im Korridor traf ich auf andere Schauspieler, die ihre Köpfe aus den Türen ihrer Umkleideräume steckten und miteinander tuschelten: „Irgend etwas stimmt mit dem Ton meines Monitors nicht. Ist das bei dir auch so?“ Ich erreichte den Drehort gerade noch rechtzeitig, um Harrys so geheimnisvoll angekündigtes Hilfsmittel für den Notfall in Aktion sehen zu können. Mit ernsthaftem, Leidenschaft
ausstrahlendem Gesichtsausdruck hielt Harry seine Verteidigungsrede vorm Militärgerichtshof – in reiner Pantomime! Nicht ein Laut kam ihm über die Lippen. Doch genauso plötzlich, wie er die Stimme verloren hatte, sprach Harry wieder. Nicht nur seine Stimme, sondern etwas viel Wichtigeres, sein Gedächtnis, war zurückgekehrt. Harry hatte die Tatsache, seinen Text vergessen zu haben, einfach dadurch getarnt, daß er eine technische Panne simulierte. Doch sein Auftritt war auch ohne Ton brillant. Weder Konzentration noch Selbstsicherheit hatten bei ihm nachgelassen, und er hatte sein Publikum nach wie vor fest unter Kontrolle. „Und wir sind nicht mehr auf Sendung. Danke, meine Damen und Herren, für eine wundervolle Show“, tönte Herbie Hirschmans Stimme über Lautsprecher von hoch oben über der Bühne. Sofort strömten die Leute um Harry zusammen, um ihn zu umarmen und ihm begeistert für seinen rettenden Einfall zu gratulieren. E. G. schlug ihm schon voller Enthusiasmus auf den Rücken. Während ich diesem verrückten und fröhlichen Durcheinander zusah, konnte ich nicht anders und mußte denken: „Ich liebe dies alles. Ich liebe es, Schauspieler zu sein. Ich liebe es, ein Teil hiervon zu sein.“ Und damit wurde mir klar, daß ich die richtige Entscheidung getroffen hatte. Sie war verrückt, aber sie war die einzig richtige. Nach „Playhouse 90“ hatte der Rest des Sommers etwas eher Ernüchterndes an sich. Jalousien zu montieren wurde zum Auftakt des nächsten Kapitels, nämlich mit dem Studium der Theaterwissenschaften an der großen Universität zu beginnen, die meine Eltern auserkoren hatten. Bei jeder Jalousie, die ich befestigte, stellte ich mir vor, daß es sich um einen Buchstaben des Schriftzugs über dem Eingang eines Kinos handelte, der
die nächste Attraktion ankündigte. Dort stand zu lesen: U.C.L.A. Obwohl Berkeley und UCLA zum Gesamtkomplex der Universitäten Kaliforniens gehören, unterscheiden sie sich doch grundlegend voneinander. Während die Grundstimmung in Berkeley zu Selbstbeherrschung und Verkrampfung tendiert, ist die Atmosphäre an der UCLA fast immer warmherzig und freundlich. Mitte der Fünfziger wurde der Campusstil in Berkeley von weißen Wildlederschuhen und Khakihosen geprägt, während die Kunststudenten an der UCLA meistens im vergammelt wirkenden Schwarz der frühen Beatnik-Ära herumliefen. Und meine Entscheidung für den südlichen Campus hatte einen unsicheren Architekturstudenten in einen resoluten und auf seine Karriere fixierten jungen Schauspieler verwandelt. Ich war inzwischen schon ein Veteran des Live-Fernsehens und der Science-Fiction-Synchronisation, mehr als bereit, mich den Herausforderungen des akademischen Theaters zu stellen. Die UCLA bedeutete eine Rückkehr zu Hörsälen und Bibliotheken, Seminaren und schriftlichen Arbeiten. Doch was sich hier auffallend abhob, das waren die Zuweisungen zu Projekten. Jeder Student in der theaterwissenschaftlichen Fakultät mußte ein Praktikum in der Crew einer Produktion ableisten. Während meines ersten Semesters wurde ich der Bühnencrew der Royce-Hall-Hauptbühnenproduktion zugeteilt, die Edmond Rostands romantischen Klassiker „Cyrano de Bergerac“ herausbrachte. Das war so, als würde man bei einem Festessen mit einer großen Portion kalorienreicher Süßspeise beginnen – verschwenderisch köstlich. Bill Wintersole, der alle anderen Schauspielstudenten auf dem Campus übertrumpfte, beeindruckte als degenschwingender und herzzerreißend heldenhafter Cyrano.
Das aufwendige Bühnenbild – ob es sich um ein Rokokotheater, ein verwüstetes Schlachtfeld oder ein ruhiges Nonnenkloster handelte, das ich im Halbdunkel als Kulissenschieber herumbewegte, schien in der Luft zu schweben, als würden magische Kräfte es dort halten. Ich stand in den abgedunkelten Kulissen und verfolgte wie versteinert das Geklirre und den Qualm der Schlachtfeldszenen. Das Allerbeste jedoch war etwas, über das ich bisher nur gelegentlich gelesen hatte und das ich nun zum ersten Mal erlebte: donnernder Applaus. Es ist wirklich erstaunlich, wie etwas Liebliches so laut erklingen kann. Mir war durchaus klar, daß er nicht mir zugedacht war. Ich hatte ja nur die Kulissen geschoben. Und doch fühlte ich, daß auch ich meinen Teil dazu beigetragen hatte, daß das Publikum mit der Theateraufführung so zufrieden war. Der Applaus galt teilweise mir. Und er fand statt, um entgegengenommen zu werden. Eingezwängt in eine dunkle Spalte der Klostermauer stand ich da, während die lächelnden Schauspieler in ihren Kostümen mit den federgeschmückten Hüten an mir vorbeizogen, um immer wieder vor den Vorhang zu treten und sich im begeisterten Beifall zu baden, und heimlich sonnte ich mich ebenfalls in der wundervollen Wärme dieses Geräuschs. Man konnte den Applaus wirklich nur „donnernd“ nennen. Und er war wirklich lieblich anzuhören. Ich fühlte mich ins Rampenlicht versetzt, stellte mir vor, wie ich mich lächelnd mit den Schauspielern verbeugte. Dort in der Dunkelheit, verborgen hinter der Klostermauer, lächelte ich selig vor mich hin. Es war herrlich. Doch am Morgen, der dem Applaus, dem Ruhm und der Herrlichkeit folgte, mußten wir auf unsere Stühle im Hörsaal zurückkehren, um die Neun-Uhr-Vorlesung über die Geschichte des Theaters 101 anzuhören. Bill Wintersole ohne
Nase, Chevaliers ohne Degen und meine Wenigkeit, gähnend und völlig übermüdet. Es hatte etwas sehr Gleichmacherisches an sich. Das war es, was sich Daddy für mich gewünscht hatte. Im Theater zu arbeiten, jedoch auch etwas über seine Geschichte, seinen Platz in den Zivilisationen und die Ideen, die es formten, zu lernen. Und ich fand heraus, daß mich dieser Aspekt des Theaters durchaus interessierte. Neue Türen öffneten sich, und neue Begriffe stachelten meine Neugier an. Ich mußte Daddy also doch recht geben. Ich war dankbar für seine gute Führung. Tatsächlich wurde es mir zunehmend klar, was für ein besonderer Mensch mein Vater war. Seine Ratschläge hörten sich so vollkommen anders an als die strengen Vorschriften der aus Japan stammenden amerikanischen Väter meiner Freunde. Ich konnte mir nicht vorstellen, daß irgendeiner von ihnen den Wunsch ihrer Söhne unterstützen würde, sich in eine zweifelhafte Karriere zu stürzen, ganz egal, in welche. Doch mein Vater verstand und förderte die individuellen Neigungen und Fähigkeiten seiner Kinder. Seine Führung war voller Wohlwollen, und seine Haltung zeigte Aufgeklärtheit. Er gab uns eher Freiraum, als daß er von uns Einschränkungen verlangt hätte; er erweiterte unseren Horizont auch dadurch, daß er uns Denkanstöße gab, anstatt uns Forderungen aufzuerlegen. Er finanzierte meine Wahl, anstatt mich den Wölfen zum Fraß vorzuwerfen. Nichtsdestotrotz war ich dankbar, daß ich einen Bruder und eine Schwester hatte, die etwas „respektablere“ Laufbahnen eingeschlagen hatten. Das nahm mir ein bißchen Gewicht von den Schultern. Henry hatte ein Studium der Zahntechnik an der University of Southern California angetreten, und meine Schwester Tita wollte in Kürze an der UCLA mit einem Pädagogikstudium beginnen. Ich war das schwarze Schaf der Familie. Ich wußte es, Daddy wußte es. Doch wollte er, daß
ich auf der Weide da draußen gefälligst das beste schwarze Schaf weit und breit werden sollte. Und ich fühlte deutlich, was für eine Verantwortung da auf mir lastete. Aber es war eine andere Art der Belastung als die, welche ich in Berkeley verspürt hatte. Diese hier trug dazu bei, von meinem Entschluß nicht abzuweichen, sondern alles zu tun, um ihn nicht zu enttäuschen. Ich arbeitete hart. Ein Theaterstudent an der UCLA zu sein, mochte ja mit viel Spaß verbunden sein und einen Großteil der Zeit in Anspruch nehmen, doch ich arbeitete sehr hart. Ich erkannte auch, daß ich Glück gehabt hatte. Als ich an der UCLA anfing, war ich der einzige asiatische Student an der theaterwissenschaftlichen Fakultät, und ich hatte wirkliches Glück, was die guten Rollen betraf, die mir angeboten wurden. Allerdings hatte ich auch Glück hinsichtlich der Wertschätzung seitens der für mich zuständigen Aufsichtspersonen. 1959 erhielt ich für meine Darstellung eines amerikanischen Indianers in einem Stück von James Hatch, „Tallest Baby on the River“, den Titel „Best Supporting Actor of the Year at UCLA“ (bester Nebenrollen-Darsteller des Jahres an der UCLA). Im darauffolgenden Jahr gewann ich den gleichen Titel für meine Rolle als Mr. Shu Fu in Bertholt Brechts Klassiker „Die gute Frau von Sezuan“. Wenn ich auf meine Jahre an der UCLA zurückblicke, so sehe ich sie als eine friedliche Zeit seltener Gelegenheiten und interessanter Herausforderungen, vom Glück gesegnet. Jedoch glaube ich nicht, daß Glück irgendein ungreifbares ätherisches Etwas ist, das umhersaust und den einen berührt, während es einen anderen vollständig ignoriert. Glück ist etwas, das man machen kann. Harte Arbeit und stets darauf vorbereitet zu sein, seine Chancen zu ergreifen, schaffen die Grundlage, auf der das Glück einem dann sachte weiterhelfen kann. Ich habe
herausgefunden, daß ich um so glücklicher zu werden schien, je härter ich arbeitete. Dieses Glück schien mir jedoch nicht treu zu bleiben, als ich von der Theaterbühne in die Arena der Politik überwechselte. Meine Pechsträhne im politischen Bereich fing damit an, daß ich mich freiwillig meldete, um Adlai Stevensons Präsidentschaftskandidatur 1960 zu unterstützen. Daddy war ein großer Bewunderer Adlai Stevensons, dem vorherigen Gouverneur des US-Bundesstaates Illinois. Er hatte die erste Stimme, die er als erst kürzlich eingebürgerter USEinwohner abgeben durfte, bei den Präsidentschaftswahlen 1956 für Stevenson abgegeben. Stevenson gewann die Wahlen nicht, war als eloquenter Wahlkämpfer 1960 jedoch wieder Kandidat. Die Nominierungsversammlung der Demokratischen Partei sollte diesmal in unserer Heimatstadt Los Angeles abgehalten werden. Es war eine zufällige Gelegenheit, das amerikanische Wahlverfahren einmal aus erster Hand kennenzulernen. Daddy und ich gingen eines Samstagmorgens ins Hauptgeschäftsviertel zum alten Paramount-Theatergebäude gegenüber dem Pershing Square. Hier befand sich das Hauptquartier von Stevensons Wahlkampfleitung. Dort herrschte lebhaftes Treiben. Ernsthaft wirkende junge Koordinatoren bemühten sich um die Zuteilung der freiwilligen Wahlhelfer zu den einzelnen Einsatzgruppen. Hektisch liefen Kuriere umher. Telefone klingelten, und aus allen Richtungen hörte man Schreibmaschinengeklapper. Dem Besucher drängte sich die von Dringlichkeit und Zweckmäßigkeit erfüllte Atmosphäre auf. Die nationale Versammlung der Demokraten und der Kampf um die Nominierung des Präsidentschaftskandidaten sollten am 12. Juli beginnen.
Daddy konnte nur bis Mittag mithelfen, und deshalb wurde uns die Aufgabe zugeteilt, Wahlbroschüren in Briefumschläge zu verpacken. Das war eine wichtige Tätigkeit, wie uns gesagt wurde; Stevensons Grundsatzerklärungen sollten bekanntgemacht werden, um Anhänger zu gewinnen. Wir steckten uns unsere Namensschildchen an und begaben uns zu einer Gruppe von Leuten, die an einem langen Tisch Platz genommen hatten, auf dem sich Stapel von Wahlkampfliteratur türmten. Die anderen Freiwilligen begrüßten uns überschwenglich, als wir uns hinsetzten, um rasch zu einem Teil ihrer effizienten Fließbandproduktion zu werden. Als wir uns schließlich an unsere Aufgabe gewöhnt hatten, waren wir in der Lage, miteinander zu reden. Was uns am meisten beeindruckte, war die Vielfalt unterschiedlicher Menschentypen, die sich bei den Wahlhelfern zeigte, und die Hingabe, mit der sie für die Idee arbeiteten, die von Mr. Stevenson personifiziert wurde. Es fand sich unter ihnen ein grauhaariger Hochschullehrer mit Anzug und Krawatte, der die von Stevenson propagierten Ausbildungsreformen mochte. Da gab es auch eine schwarze Anwaltssekretärin, die der Meinung war, daß Stevenson der beste Mann für Verbesserungen im Bereich des Zivilrechts war. Eine Hausfrau aus Glendale mit zwei Söhnen im Teenageralter war von Stevensons rhetorischen Fähigkeiten begeistert. Und die meisten am Tisch waren Studenten wie ich. Da gab es Politologen, Studenten der Außenpolitik, Journalistikstudenten. Außerdem gab es ja noch mich – einen Studenten der Theaterwissenschaften. Als ich diese Tatsache erwähnte, wurde das Arbeitstempo am Tisch spürbar langsamer. „Oh, tatsächlich?“ meinten einige, deren übertriebene Freundlichkeit nur schlecht ihre Neugier verbergen konnte. Ich kam mir schon wieder wie ein Exot vor.
Die Arbeit ging weiter, doch konnte ich spüren, wie ihnen die nächste Frage auf den Lippen brannte. Wenige Augenblicke höflich gemeinten Wartens vergingen, bevor ein besonders neugieriger Mitarbeiter meinte: „Und was werden Sie tun, um sich Ihren Lebensunterhalt zu verdienen?“ „Na ja, ich möchte Schauspieler werden“, antwortete ich. „Oh… das ist aber eine gute Sache“, und die Papierschieberei ging weiter. Trotzdem konnte man unschwer bemerken, was für eine unzähmbare Neugier in der Gruppe erwacht war. „Und in welchen Filmen würden Sie gerne mitspielen?“ Das Papiergeraschel begann wieder, doch warteten alle auf meine Antwort. „Naja“, meinte ich nachdenklich, „Ich habe vor, sehr wählerisch vorzugehen, was die Filme betrifft, in denen ich mitspielen werde. Ich werde besonders darauf achten, daß die Drehbücher das Potential für den Academy Award besitzen.“ Daraufhin brachen alle in nachsichtiges Gelächter aus. Ich wußte genau, was sie dachten: „Der arme Kerl.“ Daraufhin verkündete Daddy: „Tatsächlich sehe ich in ihm gute pädagogische Fähigkeiten im dramatischen Bereich.“ Woraufhin alle im Chor meinten: „Ah, natürlich.“ „Ja, ein Lehrer, wirklich.“ „Ich bin sicher, daß er ein guter Schauspiellehrer werden wird.“ Der alte Rhythmus wurde wieder aufgenommen. Alles ergab jetzt einen Sinn. Sie mußten kein Mitgefühl für das pathetische Gelöbnis eines netten jungen Mannes aufbringen, der zu einem Leben als Schauspieler verdammt worden war. Die Fließbandarbeit konnte weitergehen. Daddy sagte dann irgendwann, daß er leider gehen müßte, doch ich entschloß mich dazu, den ganzen Tag zu bleiben. Mir tat es leid, daß er nicht auch geblieben war, denn am Spätnachmittag passierte etwas Ungewöhnliches. Es war wie
ein elektrischer Stromstoß, der durch das große Büro jagte; Erregung breitete sich aus. „Sie kommt“, flüsterte man. „Man glaubt, daß sie auf dem Weg hierher ist.“ Auf: „Sie wird in zehn Minuten da sein“ folgte nach kurzer Zeit: „Fünf Minuten. Sie wird in fünf Minuten hier sein.“ Ich blickte auf und sah hart dreinblickende Männer in dunklen Anzügen in den vorderen Eingang hereinströmen. Und unter vereinzelt beginnendem und rasch zunehmenden Beifall betrat die legendäre Lady den Raum. Sie hatte einen dunklen Strohhut auf, der ihre offenen grauen Haare krönte: Eleanor Roosevelt trat ein und schenkte uns ihr berühmtes, strahlendes Lächeln. Sie winkte jedem im Raum zu, drehte sich dann um und schüttelte die Hand jedes Freiwilligen, die sich ihr entgegenstreckte, während sie sich graziös den Weg durch den gewaltigen Raum bahnte. Ich stand gemeinsam mit den anderen an meinem Tisch und wartete. Als sie meine Hand nahm, blickte sie mir geradewegs mit ihren blitzenden Augen in die meinen. „Danke, George, für alles, was Sie für Adlai tun. Ich schätze Ihre Arbeit so sehr.“ Diese renommierte Frau, diese legendäre frühere First Lady bedankte sich persönlich bei mir! Ich konnte es nicht glauben. Und sie sprach mich mit meinem Namen an. Sie war erstaunlich. Ich war viel zu euphorisch, um mich noch daran zu erinnern, daß ich ja ein Namensschild trug. Ich sah ihr zu, wie sie von einem Freiwilligen zum nächsten ging und jedem die Hand gab, jeden mit der Aura ihres Charmes und dem Ausdruck ihrer Wertschätzung berührte, und auf diese Weise der Kampagne für Adlai Stevenson neuen Antrieb verlieh. Das ist amerikanische Politik, dachte ich. Menschen, die sich mit anderen Menschen aller Gesellschaftsschichten verbinden, um ein gemeinsames Ziel zu verwirklichen. Eleanor Roosevelt half sicherlich, unsere Unterstützung für Adlai Stevenson an diesem Nachmittag aufrechtzuerhalten, doch in einem weiteren
Sinne stärkte sie auch meine Bindung an unseren demokratischen Prozeß. Beim Abendessen zu Hause teilte ich meine Begeisterung, Eleanor Roosevelt getroffen zu haben mit Daddy. Ich erzählte meinem Vater, daß es wirklich zu schade war, daß er nicht noch ein paar Stunden länger dort hatte bleiben können, und er sagte daraufhin nur immer wieder, er sei zu beschäftigt gewesen. Doch bereits kurz nach der Kampagne fand ich heraus, daß Daddy gewußt hatte, daß Mrs. Roosevelt an diesem Nachmittag kommen würde. Er hatte sich offensichtlich dazu entschlossen, ihr nicht zu begegnen. Er war gekommen, um Adlai Stevensons Präsidentschaftskampagne zu unterstützen, nicht jedoch, um Mrs. Roosevelt zu treffen. Da fiel mir wieder ein, was der Name Roosevelt für ihn vor so vielen Jahren bedeutet hatte. Ich fuhr damit fort, mich zum Stevenson-Hauptquartier zu begeben, und wurde so zu einem dauerhaften Wahlkampfhelfer in der Kampagne. Man gab mir den Job eines Koordinators für die „spontanen“ Kundgebungen. Ich organisierte die Demonstrationen für Stevenson beim Biltmore-Hotel, wo die Leitung der Demokratischen Partei untergebracht war, und in der Sportarena von Los Angeles, wo der Parteikonvent stattfand. Wieder ins Hauptquartier zurückgekehrt, sahen wir in der Nacht der Nominierungen beeindruckt zu, wie im Fernsehen Senator Eugene McCarthys leidenschaftliche Rede gezeigt wurde, in der er für Adlai Stevensons Namen kämpfte. Unsere Arbeit als Freiwillige war nun vorüber. Der Rest befand sich in den Händen der Delegierten. Während der turbulenten Zeit des Wahlfeldzugs erlebte ich neben Unordnung und Chaos viel schweißtreibende Arbeit bis hin zur Erschöpfung, doch was viel wichtiger war: die inbrünstige Hingabe der Leute, die an den Wahlvorbereitungen beteiligt waren. Ich war umgeben von eingeweihten und der
Sache verschriebenen Idealisten. Und ich sah, daß der Motor unseres demokratischen Prozesses sehr amerikanische Züge trägt: Er wird durch Ideen, Geist, Kartoffelchips und Limonade angetrieben. Ich fühlte mich zwar erschöpft, doch stolz darauf, ein Teil der edlen Bemühungen gewesen zu sein, Adlai Stevenson zu unserem Präsidenten zu machen. Leider war das Glück nicht auf unserer Seite. John Fitzgerald Kennedy wurde 1960 zum Präsidentschaftskandidaten der Demokratischen Partei nominiert.
10 Burton und Guinness Es gibt für einen Schauspieler und seine Karriere eine entscheidende Bezugsperson, die so unentbehrlich ist wie der Besitz eines Schlüssels zum Öffnen einer versperrten Tür: der Agent. Mit Fred Ishimoto hatte ich ja nun einen, der mir zugesagt hatte, nach Projekten, die für mich in Frage kommen könnten, die Augen offenzuhalten, während ich an der UCLA studierte. Auf seinem Weg durch die labyrinthähnlichen Korridore Hollywoods trifft man allerdings auf viele verschlossene Türen, und ein Schauspieler kommt oft in die Situation, mehr als nur einen einzigen Freund zu benötigen, der sie einem aufschließt. Ein anderer solcher Freund war jetzt Herbie Hirschmann, mein „Playhouse 90“-Regisseur. Herbie schätzte meine Fähigkeiten, die ich in seiner Show unter Beweis gestellt hatte, und als er anfing, an seinem nächsten Projekt zu arbeiten, fragte er nach Nobu McCarthy und mir. Die betreffende Produktion war die populäre Fernsehserie „Perry Mason“ mit Raymond Burr in der Hauptrolle. Wieder einmal sollten Nobu und ich ein vom Unglück verfolgtes Liebespaar spielen. Diesmal hatte die Story mit dem Diebstahl einer seltenen rosa Perle zu tun – und einem Mordfall. Eine weniger makabre Produktion machte mich mit einem anderen Schlüsselinhaber bekannt, der mir in der Folge half, auf meiner Reise durch den Irrgarten Hollywoods viele Türen zu öffnen. Diese Person war ein Besetzungschef, der mich im UCLA-Sommertheater sah, als ich bei einer amerikanischen
Theaterretrospektive mit dem Titel „Portraits in Greasepaint“ mitspielte. Die Vorstellung war eine umfassende Saga, die aus kurzen Darstellungen repräsentativer Szenen aus Theaterstücken quer durch unsere Geschichte zusammengesetzt war. Ich spielte darin mehrere Rollen, beispielsweise Onkel Tom in „Onkel Toms Hütte“ oder den Kapitän der H.M.S. Pinafore aus dem Klassiker „Gilbert und Sullivan“. Der scharfäugige Besetzungsleiter im Publikum war Hoyt Bowers vom Warner Brothers Studio. Er war der Schrankenwärter, der mir zu vielen kritischen Zeitpunkten meiner Karriere wichtige Türen öffnen sollte, von denen die wichtigste die Gelegenheit war, eine Rolle in einem größeren Spielfilm zu bekommen. Einen Tag, nachdem er „Portraits in Greasepaint“ gesehen hatte, hinterließ Hoyt Bowers eine Nachricht für mich im Büro der Theaterwissenschaftlichen Fakultät mit der Bitte, ihn im Studio anzurufen. Es schien, daß die halbe Fakultät bereits von dem Anruf wußte, bevor ich die Nachricht erhielt. Die Vorlesung über Bühnenausstattungsdesign hatte gerade geendet, und die Studenten waren bereits im Aufbruch begriffen, als eine Freundin mir erzählte, daß sie Leuten im Büro dabei zugehört hätte, wie sie sich über einen Anruf eines Filmstudios für mich unterhalten hätten. Ich lief gerade über den Campus in Richtung Verwaltung, als mir ein anderer Kommilitone zurief: „He, George, ich habe gehört, daß du Warner Brothers anrufen sollst. Es ist dringend!“ Ich bin davon überzeugt, andere in Hörweite dachten, daß es sich nur wieder um einen neuen dummen Scherz der Theaterstudenten handelte. Als ich völlig außer Atem beim hölzernen Bungalow ankam, der als Geschäftsstelle der Theaterwissenschaftlichen Fakultät diente, empfing mich ein weiterer Stimmenchor mit der gleichen dringenden Information: „Sofort Warner Brothers anrufen!“
Ich fühlte, wie mir ungefähr ein Dutzend Augen über die Schulter blickten, als mir der Notizzettel mit der Rückrufnummer ausgehändigt wurde. Ich las sie und fragte dann die Sekretärin, ob ich ihr Telefon benutzen dürfte, um meinen Agenten anzurufen. Ich spürte, wie diese Augen sich hinter meinem Rücken gegenseitig anblickten und die stumme Frage im Raum stand: „Er hat einen Agenten?“ Fred hatte mir immer den Rat erteilt, die Studios über ihn zu kontaktieren. „Fred, hier ist George. Ich habe eine Nachricht von einem gewissen Hoyt Bowers von Warner Brothers erhalten. Könnten Sie mal überprüfen, worum es da geht?“ Und ich gab ihm die Nummer, die auf dem Zettel stand. „Danke fürs Telefonieren“, sagte ich zu der Sekretärin, als ich auflegte. Ich verließ das Büro in möglichst lässiger Haltung, wohl wissend, daß mir eine Schar ungläubiger Gesichter nachstarrte. Doch innerlich war ich völlig aus dem Häuschen. Worum konnte es sich hier bloß handeln? Ich erfuhr, daß Hoyt Bowers sich um die Rollenbesetzung von „Titanen“ kümmerte, einer Verfilmung von Edna Ferbers epischer Novelle, die sich über drei Generationen erstreckte und von einer mächtigen Dynastie in Alaska handelte. Er hatte mich angerufen, um mich für die Rolle eines jungen Arbeiters in einer Konservenfabrik namens Wang vorsprechen zu lassen, dessen Leben zwischen achtzehn und achtzig dargestellt wurde. Die meisten der Szenen, in denen dieser Charakter vorkam, spielten in seiner Jugend, also suchte Bowers einen jungen asiatischen Darsteller, der auch glaubhaft die späteren Szenen spielen konnte. „Hier ist also der Schauspieler, der es geschafft hat, mich davon zu überzeugen, er sei zuerst Onkel Tom und im nächsten Moment bereits der Kapitän der ‘Pinafore’“, begrüßte er mich erfreut in seinem bescheidenen Büro bei Warners. „Ich hoffe, Sie können mir beweisen, daß Sie auch ein
achtzigjähriger Chinese sein können.“ Mit dieser kleinen Herausforderung überreichte er mir ein paar Seiten des Drehbuchs. Ich las eine Szene aus der Jugend des Charakters und eine andere als der alte Mann Wang. „Nicht schlecht… wenn ich die Augen schließe“, sagte er lächelnd. „Doch sie sehen so verdammt jung aus. Mal sehen, was Mr. Sherman denkt.“ Gemeint war Vincent Sherman, der Regisseur des Films. Wir gingen von Bowers Büro durch einen begrünten Hof zu einem Bungalow, in dem ein geräumiger Büroraum untergebracht war. Mr. Sherman war ein höflicher, gnädig wirkender Gentleman mit einer tiefen, kräftigen Stimme. Nachdem ich dieselben Szenen erneut vorgelesen hatte, verwendete er die gleichen Worte wie vorher Hoyt Bowers. „Junger Mann, Sie sind ein guter Schauspieler. Doch mache ich mir ein bißchen Sorgen über Ihr Make-up als alter Mann. Dürften wir Sie darum bitten, eine Probeaufnahme mit Ihnen zu machen?“ Ich hoffte, daß man nicht allzusehr bemerkte, wie mir der Unterkiefer herabfiel. Er bat mich um Probeaufnahmen? Ich konnte es nicht glauben – ich hätte für so eine Gelegenheit einen Mord begangen. Ich muß wohl sehr sprachlos gewesen sein, denn Hoyt Bowers unterbrach das Schweigen mit der Bemerkung, daß er die Angelegenheit mit meinem Agenten klären würde. Als wir Mr. Shermans Büro verließen, sagte Bowers: „Ich denke, daß ich dies alles sehr schnell mit Fred ausmachen muß. Ich befürchte nämlich, daß Sie einer dieser schwierigen Schauspieler sind, für die Probeaufnahmen unter ihrer Würde sind.“ Und dann blinzelte er mir zu. Bei diesem Vorstellungsgespräch erfuhr ich, daß die Hauptrollen mit Richard Burton und Robert Ryan besetzt worden waren, zwei Schauspielern, die ich sehr bewunderte. Die Kombination der beiden war etwas eigenartig: Ein klassischer britischer Schauspieler zusammen mit einem
rauhbeinigen amerikanischen Ideal. Der Kontrast und Konflikt würde in scharfer und intensiver Form zutage treten. Was für begeisternde Aussichten, mit diesem Team zusammenarbeiten zu können! Ich mußte einfach in diesem Film mitspielen. Ich mußte sie davon überzeugen, einen Achtzigjährigen gut darstellen zu können. Am Morgen der Probeaufnahmen wurde mir gesagt, ich solle mich direkt auf dem Set melden, bevor ich mich in die Maske begab. Ich wunderte mich darüber, worum es jetzt wieder ging. Als ich auf dem Set eintraf, begrüßte mich Mr. Sherman freundlich. „Guten Morgen, George. Es ist sehr nett von Ihnen, daß Sie vorbeischauen, bevor Sie sich schminken lassen. Wir wollten Sie nämlich zunächst ohne Maske aufnehmen. Bitte, stellen Sie sich vor die Kamera, und entspannen Sie sich.“ Daraufhin führte man mich zu einer einsam im Scheinwerferlicht stehenden Sitzgruppe. Mr. Sherman setzte sich in einen Stuhl direkt neben der Kamera und flüsterte dem Kameramann etwas zu. Der Apparat fing leise an zu sirren. Die Atmosphäre wirkte lässig und entspannt, doch wußte ich, daß die Probeaufnahmen jetzt begonnen hatten. „Nun, George“, begann er lächelnd, „erzählen Sie mir etwas über sich.“ Mr. Sherman stellte mir eine Reihe Fragen zu meinen Gefühlen bezüglich Studium und Filmen und über meine Hoffnungen für die Zukunft. Ich antwortete so aufrichtig wie möglich, und versuchte so interessiert zu wirken, wie ich konnte. Mr. Sherman schmunzelte, wenn ich mich bemühte, witzig zu wirken, und legte seine Stirn in Falten, wenn es um ernste Themen ging. „Danke, George. Ich denke, daß jetzt die Maske auf Sie wartet.“ Das leise Sirren hörte auf. Mr. Sherman stand auf und gab mir die Hand, und damit war dieser Teil der
Probeaufnahmen überstanden. Der wirkliche Test sollte erst noch kommen. George Bau war ein kahlköpfiger, runder Mann, der aus einer Familie kam, die bei Warner Brothers praktisch seit den Anfängen in der Maske gearbeitet hatte. Dieser Spezialist hatte wirklich Übung darin, Schauspieler so zu schminken, daß sie alt aussahen. Er studierte mein Gesicht mit ernstem und konzentriertem Blick. Er kniff meine Haut zusammen und runzelte die Stirn. Er rieb die meinige und blickte mich dabei finster an. Er prüfte schweigend mein Gesicht, als wäre es irgendein empfindungsloses Stück Fleisch, und schien mich überhaupt nicht als denkendes und fühlendes menschliches Wesen wahrzunehmen. Dabei fand zwischen uns nicht die geringste Unterhaltung statt. Nur die wortlose Überprüfung dieser jugendlichen Herausforderung, die da vor ihm im Stuhl saß. Dann fing er damit an, sein Arbeitsmaterial zu ordnen – flüssiges Latex, Puder, verschiedene Grundtönungen und Schminkstifte. Er schnitt sich ein kleines Viereck aus Schaumgummi zurecht und begann damit, das flüssige Latex auf meinem Gesicht zu verteilen. Plötzlich hörte er damit auf, als wäre ihm schlagartig eine Eingebung gekommen. „Al!“ schrie er in den Korridor. „Al Greenway! Kannst du mal schnell herkommen und mir helfen?“ Ein großer Mann mit sehr kurzen, gekräuselten, stahlgrauen Haaren und einem freundlichen Lächeln kam herein. „Kannst du mir hier die Haut mal kräftig spannen, während ich sie mit Latex behandle?“ fragte er und zeigte mit dem Schaumstoffstückchen in der Hand dabei auf meine Stirn. „Ich möchte, daß du sie wirklich kräftig spannst“, betonte er. „Mit Vergnügen“, antwortete der Mann. Al ergriff mit seinen kräftigen Fingern die Haut auf meiner Stirn und zog sie auseinander, bis sie sich anfühlte, als würde sie jeden
Augenblick reißen. Mein Kopf bog sich zurück und mein Körper verkrampfte sich. Es war qualvoll. George Bau betupfte meine so gepeinigte Haut mit dem flüssigen Latex. Jeder Tupfer fühlte sich so schmerzhaft an, als würde er einen Sonnenbrand mit einem Eiswürfel berühren. „Tut mir leid, junger Mann. Ich weiß, daß das eine unangenehme Prozedur ist“, meinte Al. Es unangenehm zu nennen, war wohl kaum die angemessene Formulierung, dachte ich mir. Wenigstens wußte Al, daß er es mit einem lebenden und leidenden Wesen zu tun hatte. Doch George Bau fuhr nur damit fort, mich schweigend zu betupfen. Als er mit meiner Stirn fertig war, drehte er sich um und griff nach etwas. Dann hörte ich plötzlich das Dröhnen eines Föns. Daraufhin wehte mir ein kräftiger Strom kalter Luft ins Gesicht. Als das Latex zu trocknen begann, fühlte ich, wie sich meine sowieso schon mißhandelte Haut noch weiter spannte. Al bemühte sich, seinen festen Griff aufrechtzuerhalten. Und genauso schlagartig, wie er angefangen hatte, endete der kalte Luftstrom wieder. Dann nahm George Bau eine Puderquaste, mit der er meine immer noch straff gespannte Stirn sanft einpuderte. Diese behutsame Behandlung wurde zum qualvollsten Teil der ganzen Feuerprobe. Ich konnte jede einzelne Pore auf meiner Stirn dabei fühlen, wie sie sich runzelte und zusammenzog. „OK, Al, du kannst loslassen“, erklärte George. Sofort schnellte die Haut auf meiner Stirn wie eine ruckartig hochgerissene Jalousie zusammen und bildete eine faltige, geschrumpfte Masse. Es war furchtbar schmerzhaft. Mir kamen die Tränen. Doch die zwei Schminkspezialisten schauten glücklich auf mich herab und schlugen sich gegenseitig auf den Rücken. „Wundervoll, George. Einfach schön.“ Al strahlte übers ganze Gesicht. Er sagte das zu seinem Kollegen – nicht zu mir.
„Danke, danke.“ George Bau lächelte zurück. „Sei jetzt so nett, Al, und halt mir die Haut in Augennähe fest – wegen der Krähenfüße…“, und sie machten in kleinen, schmerzhaften Abschnitten weiter und wiederholten die Prozedur über die ganze Fläche meines Gesichts. Als sie endlich fertig waren, fühlte sich meine Stirn wie betäubt an, meine Schläfen prickelten, meine Wangen schmerzten heftig, mein ganzes Gesicht tat weh, und ich fühlte mich wirklich, als wäre ich achtzig Jahre alt geworden. Als ich in den Spiegel blickte, war ich wie vom Donner gerührt. Ich sah das Gesicht eines bemitleidenswerten, vergreisten alten Mannes auf einem jugendlichen Körper. Meine noch feuchten Augen starrten dieses Spiegelbild verblüfft an, während über mir Al damit fortfuhr, George Bau mit überschwenglichen Komplimenten zu überhäufen. Ich kehrte kostümiert und mit meinem neuen schmerzhaften Make-up versehen zum Set zurück, um mit den Probeaufnahmen weiterzumachen. George Bau folgte mir mit seinem Schminkkoffer. Als ich ins Scheinwerferlicht vor der Kamera trat, fing die ganze Crew an, spontan zu applaudieren. Ich begann, mühsam und schmerzerfüllt zu lächeln, um den Beifall entgegenzunehmen, doch schlagartig erstarrte ich. Die Augen der klatschenden Leute waren nicht auf mich gerichtet. Der Applaus galt George Bau, der selbstgefällig grinste und den Leuten im Halbdunkel hinter der Kamera zunickte. Nur Mr. Sherman schien mir für meinen schmerzerfüllten Beitrag zur Kunst ein wenig Achtung zu zollen. „Sie sehen fabelhaft aus, George. Gut gemacht“, sagte er und lächelte anerkennend. Dann fügte er hinzu: „Versuchen Sie jetzt nicht, das Alter vorzuspielen. Sie sind bereits alt. Spielen Sie nur einfach die Szene durch.“ Und nach dieser Einweisung flüsterte er: „Action!“ Die Kamera fing wieder an zu sirren, und ich spielte die Szene, die ich so gut kannte. Die vom
Make-up verursachten Schmerzen führten dazu, daß ich viel langsamer sprach und handelte als gewöhnlich. Ich hatte das Gefühl, an Gesichtsarthritis erkrankt zu sein. Als die Szene abgedreht war und Mr. Sherman „Schnitt!“ gerufen hatte, trat lastende Stille ein. Es gab kein hörbares Anzeichen irgendeines Urteils. Doch ich bemerkte einige lächelnde Gesichter. Ich sah auch Hoyt Bowers lächeln, wie er mit der Crew dort im Halbdunkel stand. Dasselbe galt für Mr. Sherman. Ich hörte, wie er George Bau zuflüsterte: „Das war meisterhaft, George. Die feuchten Augen sind ein Geniestreich. Ein wunderbarer Touch.“ „Danke. Danke“, wiederholte Letzterer fast roboterhaft. Meine schmerzbedingten Tränen sollten George Baus Verdienst sein, für das er auch noch Lob erhielt? Das alles schien eher ein Test für ihn als für mich gewesen zu sein. Und offensichtlich hatte er ihn mit Bravour bestanden. Ich war nur ein Modell, das seine faltige, schmerzhafte Schöpfung vorführte. Ich kam jedoch nicht umhin und mußte eine weitere Woche angespannten Wartens verbringen. Als ich endlich einen Anruf von Fred erhielt, erklärte er mir, ich solle sofort meine Koffer packen; es ginge für zwei Wochen nach Petersburg in Alaska, und anschließend seien zwei weitere Monate an Dreharbeiten in den Warner Brothers Studios nötig. Somit war klar: Ich hatte meine Rolle in „Titanen“, neben Richard Burton und Robert Ryan. Die Aussicht aus dem Fenster der kleinen zweimotorigen Maschine, die uns von Vancouver in British Columbia zum Drehort bei Petersburg im schmalen südlichen Landstreifen Alaskas flog, war genauso atemberaubend wie die Luftturbulenzen, denen wir während des Fluges ausgesetzt waren. Die ehrfurchtgebietende Würde der teils schneebedeckten Gebirgsketten bewirkte, daß ich mich nur
noch fester an die Armlehnen meines Sitzes klammerte. Die Üppigkeit der schwarzgrünen Urwälder raubte mir ebenso den Atem wie die plötzlichen Luftlöcher, in die der kleine Flieger fiel. Und das fast surrealistisch wirkende Blau der Flüsse, die sich durch die unberührte Landschaft wanden, wirkte auf meine überstrapazierten Augen wie Teile des Himmels, die durch Risse in der wundervollen Landschaft hindurchschimmerten. Dies war mein zweiter Flug seit der mehrere Jahre zurückliegenden Reise nach Colorado Springs, doch war es mein allererster in einer winzigen zweimotorigen Propellermaschine. Nur eine dünne, vibrierende Metallwand trennte mich von der Erhabenheit Alaskas, die mir wahrhaftig die Haare zu Berge stehen ließ. Ich war wirklich dankbar, als wir schließlich auf dem wasserten, was die Einwohner Alaskas „Die Meerenge“ nennen, obwohl wir auf etwas herumdümpelten, das mir wie der breiteste Fluß vorkam, den ich je gesehen hatte. Das andere Ufer war kaum erkennbar, als der kleine Flieger am Pier anlegte. Meine Reisebegleiter waren zwei Stuntmänner, die Burton und Ryan doublen sollten. Ich bin mir sicher, daß der Fahrer, der uns abholte, meine Worte auf die Schönheit der Landschaft bezog, als ich nicht damit aufhören konnte, zu wiederholen: „Es ist so gut, am Leben zu sein.“ Als ich meine Sachen im Hotel auspackte, dachte ich mir, ein kleiner Rundgang durchs Dorf könnte anschließend das Richtige sein. Es wehte eine milde und erfrischende mittsommerliche Brise, und die Luft war kristallklar. Petersburg war ein putziges, kleines Fischerdorf aus hölzernen Fachwerkhäusern, die sich an einen steilen, waldbewachsenen Hang schmiegten. Die Hauptstraße, auf der sich das Hotel, ein Gemischtwarengeschäft, ein Cafe, ein Friseurladen und ein paar Kneipen befanden, lag parallel zur Meerenge. Es sah hier
fast wie in einer Pionierstadt in irgendeinem Western aus, einmal abgesehen vom gewaltigen Gewässer, das sich entlang des Dorfes hinzog, und der riesigen Konservenfabrik, die auf Pfählen im Wasser stand, und von der sich mehrere Hafendämme in die Meerenge erstreckten. Diese große, vom Wetter gegerbte Struktur, von Fischgeruch durchtränkt, war der größte Arbeitgeber und die einzige Industrie am Ort. Ich betrat den langen Pier neben der Konservenfabrik. Am äußersten Ende konnte ich einen einsamen Mann erkennen, der auf die Meerenge hinausblickte. Als ich weiter hinauslief, verwandelte sich die sanfte Brise in einen schärferen und kälteren Wind, ein Sturm, der mir die Haare lebhaft ins Gesicht wehte. Beim Weitergehen mußte ich mich kraftvoller dem Wind entgegenstemmen. Da erkannte ich plötzlich, wer der Mann am Ende des Piers war: Es war Robert Ryan. Ich näherte mich der mageren, knochigen Gestalt, die dort vor mir im Wind aufragte, mit der Absicht, mich ihm vorzustellen. Ich glaube, daß er mein Näherkommen spürte. Er entfernte sich ein Stück, drehte mir den Rücken zu und richtete seinen Blick aufs Meer hinaus. Ich blieb stehen. Er wollte wohl nicht von einem Fan belästigt werden. Ich stand einfach nur in seiner Nähe und blickte über die große Wasserfläche auf die gewaltige bewaldete Gebirgskette am anderen Ufer. Nebeneinander standen wir in stummer Zwiesprache mit der weiten Pracht Alaskas. Dann hörte ich diese berühmte, rauhe Stimme, die fragte: „Was fangen sie hier?“ Ich war mir nicht sicher, ob er zu mir sprach. Doch war sonst niemand in der Nähe. „Verzeihung?“ antwortete ich zögernd. „Was für eine Art Fisch fangen sie hier“, sagte er wieder in seiner gedehnten Sprechweise. „Oh, ich… nun ja…äh“, stammelte ich. „Ich bin Schauspieler. Ich komme gerade aus Los Angeles, und ich
fürchte, daß ich Ihnen nicht das Geringste über die Fischerei in dieser Gegend sagen kann.“ Er sah mich mit diesen faltenumringten Augen an. Er studierte schweigend mein Gesicht und fing dann an, langsam, doch immer stärker zu lachen. „Natürlich. Sie spielen Wang, richtig?“ sagte er. „Ich hielt Sie für einen der Einheimischen hier. Tut mir leid.“ Ich stellte mich vor und fing dann damit an, ihm zu sagen, wie sehr ich seine Arbeit bewunderte. Kurz vorher hatte ich ihn in einer professionellen Inszenierung von Eugene O’Neills „Der Eismann kommt“ an der UCLA gesehen. „Ja, O’Neill. Großer Schauspieldichter.“ Er nickte. Dann drehte er lächelnd sein Gesicht wieder in Richtung Meerenge. „Schönes Land“ meinte er und fixierte seinen Blick auf irgendein entferntes Objekt. „Herrlich“, stimmte ich ihm zu und schloß mich seiner stillen Träumerei an. Er wollte seine Karriere offensichtlich nicht mit einem schwärmerischen Schauspielernovizen besprechen. Dort stand ich mit ihm, am Ende dieses Piers, und gab vor, das ganze Panorama zu betrachten, und in Wirklichkeit warf ich andauernd verstohlene Blicke aus den Augenwinkeln in seine Richtung. Er wirkte kräftig und rauhbeinig, seine Augen blickten geheimnisvoll… War das nun ein Lächeln oder der helle, klare Sonnenschein? Der Wind ließ seinen Kragen gegen seinen sehnigen Hals schlagen. Ich stand mit ihm lange Zeit da, während wir uns mit unserer neuen Umgebung in stummer Zwiesprache befanden. Schließlich wandte er sich mir zu und sagte: „Na gut, wir sehen uns dann bei den Dreharbeiten.“ Mit dieser Bemerkung verließ er mich. Ich betrachtete seine schmächtige alte Gestalt, wie sie sich auf diesem langen Pier von mir entfernte, bis sie dessen Ende erreicht hatte und sich seitwärts wandte, woraufhin ein Gebäude der Konservenfabrik mir die Sicht auf
sie nahm. Robert Ryan ähnelte sehr den Charakteren, die er spielte: der starke, stille Typ. Und ich spürte, daß er es nicht mochte, über seine Schauspielerkarriere zu sprechen. Der Friseurladen des Ortes wurde von Warner Brothers zur Maske für die Schauspieler umfunktioniert. Ich fand mich dort um sieben Uhr morgens ein. Es war hell, obwohl man sagen muß, daß ein Mittsommermorgen in Alaska kaum heller sein dürfte als die dortige Nacht. Die Sonne schien im Sommer täglich praktisch vierundzwanzig Stunden lang und machte dann während der Wintermonate dem Mond Platz. Ich hatte in der Nacht unbefriedigend geschlafen, während die ganze Zeit unwirkliches goldenes Licht durch die Fenstervorhänge hindurchgesickert war. Die zwei Stuntmänner, Sol und Eddy, waren bereits im Friseurladen eingetroffen und standen mit dampfenden Kaffeetassen herum. „Guten Morgen, George“, sagte der Assistent zu mir. „Sie sind beim ersten Drehtermin dabei, also müssen wir Sie gleich fertigmachen.“ Daraufhin wurde ich sofort in den nächsten bereitstehenden Stuhl gedrängt. Gott sei Dank mußte ich diese schmerzhafte Altersmaske während der nächsten sechs Wochen nicht erdulden. Als ich fertig war, wurde ich rasch zur Konservenfabrik hinübergeschickt, wo die Szene schon vorbereitet wurde, wie der Assistent mir sagte. Obwohl ich den Weg in drei Minuten hätte zurücklegen können, wartete ein Auto vor der Tür auf mich. Ich fand das zwar etwas absurd, aber ich akzeptierte dann doch die kurze Fahrt im Wagen. Sie müssen es wirklich furchtbar eilig haben, dachte ich mir. Ich mußte mich eines Besseren belehren lassen. Ich wurde hergerichtet, in meine Konservenfabrikarbeiterkluft mit hohen Gummistiefeln gesteckt, und anschließend lief ich auf dem Pier auf und ab und
übte meinen Text. Doch die Zeit verging, und es kam einfach kein Aufruf für mich, in das laute, stinkende Fabrikgebäude zu kommen und mich vor die Kamera zu begeben. Irgendwie schafften sie es immer wieder, einen durch die Warterei noch nervöser zu machen, als man es sowieso schon war. Ich sollte einen erschöpften Wang spielen, der am Fließband der lautstarken Maschine arbeitete, die den Fisch in Konservendosen abfüllte – und ich sollte vor Erschöpfung mein schweres Messer in die schnell laufende Maschine fallen lassen, woraufhin der ganze Arbeitsablauf ins Stocken geraten würde. Neben mir sollte sich Zeb Kennedy abrackern, ein Arbeitskollege, der mir zu Hilfe kommen sollte, sobald der Vorarbeiter wegen meines Fehlers auf mich einschlagen würde. Zeb war die Hauptfigur des Films – seine Rolle wurde von Richard Burton gespielt. Doch wo war Burton? Er war nirgendwo in Sicht. Sol, der Stuntman, war als Vorarbeiter verkleidet. Eddie stand herum und sollte seinen Gehilfen spielen. Ein Haufen asiatischer Statisten, die als chinesische Konservenfabrikarbeiter verkleidet waren, lungerten im klaren, hellen Sonnenlicht auf dem Pier herum… und mir ging es genauso. Wir waren alle fertig und warteten. Der halbe Vormittag war schon vorüber. Doch der Star kam nicht. „Ist es nicht so, daß ich in dieser Szene mit Burton zusammen spielen soll?“ fragte ich einen der Assistenten. „Doch, aber wir haben da einige Probleme mit der Koordinierung der Kameraführung wegen der Bewegung der Fische auf dem Fließband, also haben wir ihm gesagt, er soll im Hotel bleiben und warten“, erklärte er mir. „Mach dir keine Sorgen. Wir stehen über Funk mit ihm in Verbindung.“ In diesem Augenblick bemerkte ich plötzliche Aufregung auf der dem Festland zugewandten Seite des Piers. Eine Menge einheimischer Zuschauer, die dort zurückgehalten wurden,
brach in Gejohle und Beifall aus, als eine Gestalt in einem gelben Sweater sich durch sie hindurchdrängelte. „Oh mein Gott, er kommt!“ rief der Assistent und lief sofort in Richtung der sich nähernden Gestalt. „Nun denn, Jungs. Was hält denn hier die Feierlichkeiten auf?“ Die unverkennbare, gewaltige Stimme schlug uns über die ganze Länge des Piers entgegen. Es war Richard Burton! Der Assistent und ein paar andere Leute liefen ihm entgegen und erklärten ihm aufgeregt die Situation. Doch er ging geradewegs an ihnen vorbei, lächelte und fuhr mit seinem Monolog fort: „Ich habe die Zeitungen gelesen, das Kreuzworträtsel gelöst, und nun langweile ich mich zu Tode. Also, meine Herren, können wir vielleicht mit der Arbeit anfangen?“ Er wandte sich dem großen, offenstehenden Eingang der Konservenfabrik zu und verschwand darin. Ich folgte ihm. Vincent Sherman näherte sich ihm mit einem breiten Lächeln und erklärte ihm die Koordinationsschwierigkeiten der Kamera mit der komplizierten Transportroute der Fische durch die Maschinerie. Burton lief durch die behelfsmäßig wirkende Apparatur und hörte Mr. Sherman zu, als dieser die einzelnen Probleme erklärte. „Vincent, das Wesentliche der Szene besteht doch darin, zu zeigen, daß Wang so erschöpft ist, daß er den zügigen Arbeitsablauf stört?“ Burton unterhielt sich mit Mr. Sherman, doch sogar seine gewöhnliche Sprechweise hatte etwas derart theatralisches an sich, daß es allen Schauspielern und auch der Crew so erschien, als würde er auch jetzt schauspielern. „Es scheint mir“, fuhr er in seinem durchdringenden Ton fort, „daß dies hier auf andere Weise gelöst werden kann, ohne sich die ganze Zeit mit der Choreographie eines Balletts mit diesem lautstarken Ungeheuer zu beschäftigen. Können wir nicht Wangs Müdigkeit dadurch darstellen, daß er einfach einen
Stapel bereits mit Fisch gefüllter Konservendosen umwirft?“ Ich liebte es, ihm zuzuhören, der blitzsauberen Klarheit seiner Vortragskunst, der lyrischen Art, mit der er die englische Sprache ausgestaltete. Ich hatte das Gefühl, mich in einem Londoner Theater zu befinden, anstatt in einer großen, stinkenden Fischkonservenfabrik. Burton hatte natürlich recht. Also wurde die Vorgehensweise abgeändert. Man versuchte nicht mehr, dem Fisch auf seinem Weg über das Förderband der problematischen Maschine zu folgen, sondern uns beide dabei zu zeigen, wie wir Paletten mit Konservendosen zu einem sauberen, hohen Stapel zusammenfügten, bis der hundemüde Wang diesen schließlich umwarf. Das klappte viel besser. Optisch war es sicherlich erheblich interessanter, die ganzen Fischkonserven dabei zu zeigen, wie sie überall auf dem Fabrikboden herumrollten. Und die Szene wurde in der halben Zeit aufgebaut und abgedreht. Am Ende dieses wirklich anstrengenden Tages, als wir beide über den Pier zum Dorf zurückwanderten, konnte ich den Fan in mir nicht mehr bremsen. „Mr. Burton“, begann ich. Doch er hinderte mich sofort daran, weiterzusprechen, indem er eine Hand hob. „Ich heiße Richard“, erklärte er. „Nenn mich Richard, und ich werde dich George nennen. Wenn du mich unbedingt ‘Mr. Burton’ nennen willst, dann werde ich dich ‘Mr. Wang’ nennen.“ Und er kicherte kurz und überhaupt nicht verlegen über seinen lahmen Witz. Ein Wagen wartete am Ende des Piers. Ein Assistent lief herbei, um ihm die Tür zu öffnen. Richard schaute ihm verdutzt zu. „Und wohin sollte mich dieser Wagen Ihrer Meinung nach bringen?“ fragte er. „Zu Ihrem Hotel, Sir“, antwortete der Mann.
„Mein Hotel liegt genau dort“, sagte Burton und zeigte auf das Gebäude, das sich nur einen kurzen Block entfernt befand. „Ich kann es von hier aus buchstäblich anspucken. Ist das Ganze nicht etwas verrückt?“ „Es ist der Wagen, der Ihnen von der Filmgesellschaft zur Verfügung gestellt wurde, Sir“, antwortete der Fahrer etwas einfältig. „Sie sind sehr freundlich. Danke, aber ich würde es vorziehen zu laufen. Was meinst du, George?“ Ich sagte, daß ich ihn begleiten würde, und wir begannen, die Hauptstraße entlangzuwandern. Doch wir hatten erst wenige Meter zurückgelegt, als wir an einem Saloon vorbeikamen. Zwei blonde Frauen, die sich mit ihren schönsten Kleidern zurechtgemacht hatten, wie ich denke, um den Filmleuten im Ort aufzufallen, kamen herausgelaufen. „Richard, Richard“, schrien sie. „Ah, Julie und… wie war noch mal dein Name, meine Liebe?“ Richards funkelnde Augen gewannen gleich noch ein bißchen mehr Glanz. „Nova“, schmollte die andere. „Ich hab dir erzählt, daß ich Nova heiße.“ „Natürlich, Nova! Verzeih mir, meine Liebe. Ich hatte einen wirklich schlimmen Tag da draußen in der Konservenfabrik. Du wirst es mir doch verzeihen, oder Nova?“ Woraufhin er sich zu mir umdrehte und sagte: „Mach’s gut, George. Ich sehe dich dann morgen.“ Richard verschwand im Saloon, in jedem Arm eine dralle Blonde. Die Brise, die die Straße entlang wehte, war kräftig, doch war es die Erheiterung, die meine Schritte auf dem Weg zum Hotel beschleunigte. Ich arbeitete mit einem Mann zusammen, der ein klassischer Theaterschauspieler und ein blendender neuer Filmstar war. Er wirkte elegant und gleichzeitig leidenschaftlich. Sein Lebenshunger wirkte ansteckend. Anmut
und kultiviertes Verhalten kombinierte er mit volkstümlicher Herzlichkeit. Er war eine Legende und wollte, daß ich ihn Richard nenne! Ich hatte das Gefühl, daß dies eine großartige Erfahrung werden würde. Jeder andere als Richard hätte mich wahrscheinlich für eine Plage gehalten. In den Tagen und Wochen, die folgten, überhäufte ich ihn mit Fragen über seine Erfahrungen im Theater, sowohl in England als auch am Broadway. „Wie war es, Hamlet im ‘Old Vic’ zu spielen?“ „Wie waren Helen Hayes und Susan Strasberg in der JeanAnouilh-Aufführung am Broadway?“ „Welche amerikanischen Schauspieldichter schätzt du?“ Doch anstatt sich von mir belästigt zu fühlen, schien Richard den Enthusiasmus und die Wißbegierde eines jungen Schauspielers zu genießen, der in den Bann der Bühne geraten war. Es zeigte sich, daß Richard der Typ des poéte raconteur war. Es war während eines dieser Gespräche, als Richard eine erstaunliche Enthüllung machte. Wir saßen auf dem Pier in unseren Stühlen im hellen Sonnenschein Alaskas, während die Crew alles für die nächsten Aufnahmen vorbereitete. Ich stellte ihm eine Frage, von der ich glaubte, daß sie ihm eine neue wertvolle und witzig erzählte Geschichte entlocken würde. „Wie lehrten sie Shakespeare in England, als du dort aufgewachsen bist?“ Schlagartig schienen seine Augen vor scheinbarer Wut zu erglühen. „England! Aufgewachsen in England! Hältst du mich etwa für einen Engländer?“ Es mag sein, daß er mir nur etwas vorspielte, doch war die Intensität des angeblichen Ärgers so unerwartet, daß ich momentan wie gelähmt war. Was hatte ich gesagt, das ihn beleidigt hatte?
„Ich muß es ja wohl wissen, ich wurde in… geboren.“ Er äußerte einen seltsamen, langen, fremdartig klingenden Namen, den ich nicht ganz erfassen konnte. War er ein Immigrant aus irgendeinem europäischen Land, der nach England gekommen war? Der Name klang irgendwie osteuropäisch. Er sah sicherlich nicht nordeuropäisch oder mediterran aus, dachte ich. „Pontrhydyfen“, wiederholte er langsam, fast liebevoll. Seine Augen bekamen einen sanften und sehnsüchtigen Ausdruck. „Ich wurde in Pontrhydyfen geboren.“ „Du meinst, Richard, daß du nicht in England aufgewachsen bist?“ Es schien undenkbar, daß dieser quintessentielle Exponent der englischen Sprache kein Engländer sein sollte. „George, ich wuchs im Herzen von Wales auf, in Pontrhydyfen“, erklärte er. „Und ich wuchs in dem Land auf, in dem die Sprache den honigsüßen Klängen Gottes gleichkommt – dem Walisischen.“ „Du bist nicht englischsprachig aufgewachsen?“ fragte ich verblüfft. Richard gab mir sogleich eine Kostprobe dieser honigsüßen Sprache. Er begann, irgend etwas Walisisches zu rezitieren. Es waren tatsächlich die süßesten, die lyrischsten, die transzendentalsten Laute, die ich je gehört hatte. Er saß dort auf dem Pier, das Wasser der Meerenge umspülte die rauhe Würde Alaskas um uns herum, und Richard sang weiter und weiter. Und ich saß lauschend da und war durch die Entdeckung einer völlig unerwarteten Dimension dieses unglaublich faszinierenden Mannes wie verzaubert. Das war also Richard Burtons Heimatsprache. Englisch war für ihn eine Zweitsprache! Der große Kenner Shakespeares war mit den seltsamen und schönen Lauten der Sprache aufgewachsen, von der er mir jetzt eine entzückende, geschmackvolle und von Stolz erfüllte Kostprobe gab. Ich, der zweisprachig mit
Japanisch und Englisch aufgewachsen war, saß wie hypnotisiert da und gab mich seinen wunderbaren sprachlichen Fähigkeiten hin. Und ich fühlte eine Art Gemeinsamkeit mit diesem charismatischen Mann. „Mr. Burton, George, wir sind nun bereit für Sie“, unterbrach uns der Assistent. Das ungeheuerliche Konzert war vorüber. Als wir aufstanden, sagte Richard zu mir: „Was du eben gehört hast, war Dylan Thomas im Original.“ Nach den Dreharbeiten in Alaska kehrten wir zu den Warner Brothers Studios in Hollywood zurück. Die anderen an der Produktion mitwirkenden Schauspieler – Carolyn Jones, Martha Hyer, Jim Backus, Shirley Knight, Ray Danton und Diane McBain – gesellten sich zu uns. An den Tagen, an denen ich nicht für Filmaufnahmen benötigt wurde, kehrte ich in meine Vorlesungen an der UCLA zurück. Die Zeit schien an mir vorbeizufliegen, wenn ich vom Campus ins Studio, vom Studio zum Campus fuhr. Viel zu schnell kamen die von mir angstvoll erwarteten letzten zwei Wochen, in denen ich den alten Wang spielen sollte. Sie waren die reinste Folter, die ich jeden Morgen fürchtete, wenn ich mich der schmerzhaften Alterungsprozedur zu unterziehen hatte. Doch viel zu rasch waren die Filmaufnahmen für „Titanen“ abgeschlossen, und ich wurde wieder zum Vollzeitstudenten. Nun wurde ich auf dem Campus zum Objekt der Neugier, aber auch des Neides. Ich fand es interessant, wie manche Leute sorgfältig vermieden, mich auf meine Erlebnisse im Sommer anzusprechen, während andere mich mit Fragen überhäuften: „Wie ging das mit dem Casting?“ „Wie war’s in Alaska?“
„Wie ist das, wenn man in einem Spielfilm mitwirkt?“ Und die eine Frage, die ich wirklich gerne beantwortete, war: „Wie war es, mit Richard Burton zusammenzuarbeiten?“ Normalerweise leitete ich meine Antwort mit dem Wort „herrlich“ ein, um dann in üppige Schwärmerei zu verfallen. Meine Darstellung schwelgte in den schillerndsten und leuchtendsten Farben. Schließlich hatte ich ja meine Ausbildung beim richtigen Lehrmeister gerade absolviert. Und wie ich es den Leuten heutzutage gerne sage, war dies zu Richard Burtons prä-elisabethanische Zeiten – vor der Taylor, um es konkret zu sagen. Obwohl „Titanen“ an den Kinokassen zum Flop wurde, mochte Warner Brothers meine Arbeit. Genau genommen war es Hoyt Bowers, der meine Arbeit mochte. Er öffnete mir die Tür zu einer ganzen Reihe von Fernsehserien, die Warner damals auf die Beine stellte. Ich wurde praktisch zum Dauermitglied des Schauspielerpools in der Serie „Hawaiian Eye“. In einer Woche spielte ich beispielsweise einen tibetanischen Mönch, in einer anderen einen Abkömmling einer großen Samurai-Familie und in einer weiteren einen Straßenjungen in Hongkong, während ich jedoch ansonsten an der UCLA weiterstudierte. Ich war vermutlich der einzige Schauspieler unter meinen Studiokollegen, der in den Drehpausen sein Lehrbuch über Theater-Weltgeschichte studierte, anstatt sich der Lektüre der Daily Variety zu widmen. Die Schauspielerei brachte jetzt auch endlich Geld ein. Der Wagen, den ich benutzte, um auf dem Sunset Boulevard zwischen der UCLA und den Warner-Brothers-Studios hinund herzupendeln, war ein alter 54er Chevy-Coupe, den ich noch mit dem durchs Jalousienmontieren verdienten Geld gekauft hatte. Jetzt hätte ich mir den sportlichen M.G. leisten
können, den ich mir immer gewünscht hatte. Das sollte jedoch leider nicht Wirklichkeit werden. Mein Vater kam mir, wie an so vielen Angelpunkten meines Lebens, wieder einmal mit seinem guten Rat zu Hilfe. Er tat dies vor allen Dingen damit, daß er einen alten Leitspruch des Showbusiness zitierte. „Ich weiß, daß es im Schauspielergewerbe ein altes Sprichwort gibt: ‘Es gibt fette und es gibt magere Zeiten’. Du scheinst gerade die fetten zu genießen“, bemerkte er. „Daddy, was meine Schauspielerkarriere betrifft, habe ich wirklich ein gutes Gefühl. Ich baue sie Schritt für Schritt auf. Ich glaube nicht, daß meine Karriere einer Berg- und Talfahrt gleichkommen wird. Ich glaube, daß jetzt ein M.G. Sportcoupe eine gute Investition darstellt.“ „Ein Auto ist keine Investition. Es ist eine Form beweglicher Wertminderung“, entgegnete er mir. „Doch stimme ich zu, daß eine Investition eine gute Idee ist. Mit einer Investition heute wirst du zwar noch nicht ausgesorgt haben, doch wird sie in Zukunft verhindern, daß aus den mageren Zeiten eine Hungersnot wird. Und glaube mir, eine solche Zukunft wird kommen. Wenn du Schauspieler wirst, möchte ich, daß du es dir auch leisten kannst, einer zu sein.“ Gesagt, getan: Er legte meine Filmeinnahmen in Form von Grundbesitz an. Es war nicht sehr viel Geld, also kaufte er damit kleine Landparzellen, von denen er sagte, sie würden „stetige, sichere Einnahmen bringen, nicht so wie das Showbusiness“. Mein Vater legte meine ersten richtigen Filmeinnahmen in Hypotheken auf Friedhofsparzellen an. Ich protestierte damals bitterlich dagegen. Ich hatte mich so auf den M.G. gefreut. Doch als die Zeit verging, mußte ich mir wohl oder übel eingestehen, daß es ein guter und weiser Rat war, den mir mein Vater gab. Die Ironie, daß mein Überleben
als Schauspieler ursprünglich durch eine Reihe von Friedhofsparzellen abgesichert war, ist mir durchaus bewußt. Die Vorahnung einer kommenden Hungersnot, die mein Vater hatte, sollte noch Wirklichkeit werden. Ich machte bei einem weiteren Spielfilm mit, in dessen Hauptrolle der junge aufstrebende Star Jeffrey Hunter agierte. Er trug den Titel „Aus der Hölle zur Ewigkeit“. Dieser erinnerte ziemlich stark an „Verdammt in alle Ewigkeit“, was den Leuten suggerierte, es würde sich um einen billigen Abklatsch des anderen hochgelobten Films handeln. Ebenso wie der Oscargewinner spielte unser Film im Zweiten Weltkrieg. Jedoch im Unterschied zum anderen Film war unser Drehbuch hauptsächlich ein actiongeladenes Drama, und es enthielt eine einzigartige historische Komponente – tatsächlich einen Präzedenzfall in der Filmgeschichte. „Aus der Hölle zur Ewigkeit“ war der erste Hollywoodfilm, der von der Internierung japanischstämmiger Amerikaner handelte. Jeffrey Hunter spielte eine Figur, die eine reale Person, Guy Gabaldon, zur Vorlage hatte, einem mexikanischamerikanischen Waisenknaben in East L.A. der von einer japanischstämmigen amerikanischen Familie adoptiert wurde. Er wuchs zweisprachig mit Japanisch und Englisch in einer warmherzigen, liebevollen Familie auf, die auch seinen Adoptivbruder umfaßte, dessen Rolle ich spielte. Als der Krieg ausbrach, wurde Gabaldons Familie interniert, und er ging hinaus, um zu kämpfen – und wurde ein Kriegsheld. Unsere Mutter wurde von einer wundervollen Schauspielerin aus den Tagen des Stummfilms dargestellt, Tsuru Aoki, die mit Sessue Hayakawa verheiratet war, einem Kinostar aus den alten Zeiten. Meine Freundin wurde von Miiko Taka gespielt, die Marion Brandos weiblicher Gegenpart in der Filmversion von James Micheners „Sayonara“ gewesen war. Das Geplauder hinter der Bühne würde sich wohl sehr um uns
beide drehen, stellte ich mir vor, und mein Pulsschlag beschleunigte sich, als mir klar wurde, daß in „Aus der Hölle zur Ewigkeit“ sowohl meine persönliche Vergangenheit, die Darstellung der Geschichte der japanischen Immigranten in den USA. durch Hollywood-Filme als auch mein persönlicher Werdegang im Filmgeschäft zusammenflossen. Was ich damals nicht wußte, war, daß Jeffrey Hunter auch in Zukunft für mich von Bedeutung sein sollte. Die Dreharbeiten entsprachen voll und ganz meinen Erwartungen. Die Schauspielerinnen waren wundervoll. Mrs. Hayakawa, wie wir Tsuru Aoki nannten, war eine nette, gesprächige Frau. Sie liebte es, Erinnerungsgeschichten über die Parties zum besten zu geben, die sie und ihr Mann in dem palastartigen Anwesen veranstaltet hatten, das dort erbaut worden war, wo heute der Hollywood Freeway am Hollywood Bowl vorbeiführt. Miiko erging sich in schwärmerischen Geschichten über Brando und insbesondere über ihre Promotiontour für „Sayonara“, die sie in alle großen Hauptstädte dieser Welt geführt hatte. Ich fand es jedoch aufschlußreich, daß immer dann, wenn Jeff das Thema auf die Internierungscamps brachte, Miiko die Unterhaltung fröhlich auf ein anderes Thema lenkte, und Mrs. Hayakawa dazu nur sagte, zu jener Zeit in Japan gewesen zu sein und wenig darüber zu wissen. Trotz des Filmthemas, an dem wir arbeiteten, waren die Lager immer noch ein unangenehmer Gesprächspunkt. „Aus der Hölle zur Ewigkeit“ war nur ein mittelmäßiger Erfolg an den Kinokassen, doch der Film war eine solide Sprosse in der Leiter meiner Hollywood-Karriere. Daddys Hungersnot schien nach wie vor nur sprichwörtlicher Natur zu sein. Mein Festbankett setzte sich weiter fort. Hoyt Bowers saß dort lächelnd bei Warner und winkte mit einem brandneuen
Auftrag. Die Broadwaykomödie „1000 Meilen bis Yokohama“, ein Kassenschlager, sollte verfilmt werden; in der Hauptrolle stellte Rosalind Russell die jüdische Hausfrau aus Brooklyn dar, der von einem reichen japanischen Geschäftsmann der Hof gemacht wird, dessen Rolle vom britischen Schauspieler und Oscar-Preisträger Alec Guinness übernommen werden sollte. Regie führte der Veteran Mervyn LeRoy. Ich wurde ausgewählt, um den Majordomo – den Oberbutler – zu spielen, der im Haushalt des japanischen Geschäftsmannes diente. Es war wirklich eine Dienerrolle. Doch mangelte es diesem Charakter nicht an Bildung. Dieser Diener personifizierte die zurückhaltende, förmliche Tradition japanischer Dienstleistung. Was mich wirklich daran begeisterte, bei „1000 Meilen bis Yokohama“ mitzumachen, war die Möglichkeit, mit einem weiteren legendären britischen Schauspieler zusammenzuarbeiten. Der berühmte Film „Die Brücke am Kwai“ und der Charakter Colonel Nicholsons, den Alec Guinness darin geschaffen hatte, hatten mich tief beeindruckt. Der Genius des Schauspielers hatte einen eigentümlich idiosynkratischen Charakter nicht nur verständlich gemacht, sondern das Tragische an ihm aufgezeigt. Welche chamäleonhafte Zauberei mochte diesen begabten englischen Schauspieler in die Lage versetzen, einen japanischen Geschäftsmann zu spielen? Es war eine außergewöhnliche Gelegenheit, ihn auf der Bühne zu erleben und ihm dabei zuzusehen, wie er mit dieser Herausforderung umgehen würde. Ich genoß diese Aussichten. Ebenso verlockend erschienen mir meine Vorstellungen von Gesprächen mit ihm hinter den Kulissen. Ich erinnerte mich voller Begeisterung an diese wunderbaren Reisen durch Richard Burtons Erinnerungen, auf die er mich während der
Dreharbeiten zu „Titanen“ mitgenommen hatte. Jeder Schauspieler mit Guinness’ Erfahrung mußte einen phantastischen Schatz an Erzählungen gehortet haben. Er gehörte einer älteren Generation von Schauspielern an als Burton und war bestimmt fähig, mir eine ganz andere Welt zu schildern. Ich wartete voller Ungeduld auf die großartigen Gespräche, die wir führen würden. Es war mein erster Drehtag. Ich wurde in meinem KimonoKostüm zurechtgemacht. Gedreht wurde in Mr. Asanos elegantem, in japanischem Stil gehaltenen Heim. Rosalind Russell war als die schlampige, teils grauhaarige Matrone namens Mrs. Jacoby verkleidet, doch verhielt sie sich so, als würde sie immer noch den heißblütigen Charakter namens Auntie Mame spielen, mit dem sie am Broadway geglänzt hatte. „Mervyn, Liebling. Du siehst wundervoll aus.“ Sie begrüßte unseren Regisseur auf ihre verschwenderisch aufdringliche Art. „Du bist seit damals nicht einen Tag älter geworden. Wie schaffst du das?“ „Na ja, meine Liebe“, antwortete der höfliche Mr. LeRoy, „ich weiß, daß sich unter diesem Make-up eine blendend schöne Schauspielerin verbirgt. Mit dir zu arbeiten hält meinen Geist jung.“ „Das war’s, was ich hören wollte, Baby“, sagte sie und verfiel dabei in ein tiefes Brummen, das an Vaudeville erinnerte. „Halt dich an mich, Kindchen, und ich werde mehr als nur deinen Geist jung halten.“ Und sie gab ein heiseres Lachen von sich. Mr. Guinness, so wurde mir gesagt, würde etwas später kommen, da er noch in der Maske geschminkt wurde und das Make-up sehr kompliziert war. Ich dachte mir daraufhin, es wäre keine schlechte Idee, mal in das betreffende Gebäude hinüberzuschauen und zuzusehen, wie sein japanisches Make-
up angelegt wurde. Ich hoffte für ihn, daß die Angelegenheit nicht so schmerzhaft ausfallen würde wie das Make-up, das man mir für meine Rolle als alter Mann in „Titanen“ aufgetragen hatte. Ich war gerade aus der Finsternis der Bühnenanlage in die helle Sonne Kaliforniens hinausgetreten. Als ich blinzelnd dastand, fuhr ein großer, schwarzer Wagen vor. Die hintere Tür öffnete sich, und ein schlanker Mann mittleren Alters mit ausgeprägter Adlernase entstieg dem Fahrzeug. Um seinen Hals trug er einen Kranz aus Papiertüchern, die in seinen Kragen gesteckt worden waren, um diesen vor der frischen Schminke zu schützen. Es war Alec Guinness. Ich trat einen Schritt zurück und wuchtete die schwere Türe für ihn auf, damit er durch sie die Bühnenanlage betreten konnte. „Guten Morgen, Mr. Guinness“, begrüßte ich ihn. „Guten Morgen. Und vielen herzlichen Dank“, sagte er, nickte mir auf eine übertriebene japanisch anmutende Weise zu, als er an mir vorbeiging. Er versuchte bereits, sich in seine Rolle einzufühlen, dachte ich mir. Jedoch sah ich etwas, was mich schockierte. Man hatte fein säuberlich dünne Latexmembranen über seine Augen geklebt. Es war gute Arbeit. Es war perfekt angebracht worden. Doch bewirkte es, daß seine Augen kalt, düster und fast reptilhaft wirkten. Es war auf groteske Weise anstößig, und er sollte doch der sympathische „Held“ dieser Komödie sein. Ich ging zum Regieassistenten, um ihn zu fragen, ob man wegen der sogenannten japanischen Verkleidung von Mr. Guinness irgend etwas machen könnte. Man sagte mir, daß einige Szenen mit diesem Make-up bereits abgedreht worden waren und es deshalb unmöglich wäre, noch etwas daran zu ändern. Außerdem wurde mir etwas barsch erklärt, daß es mich sowieso nichts anginge. Ich glaubte zwar, daß es mich als Japaner sehr wohl etwas anginge, doch biß ich mir lieber auf
die Zunge. Alec Guinness’ schauspielerische Macht würde dieses unglückselige Makeup zur Nebensächlichkeit werden lassen, hoffte ich. Trotzdem würde ich etwas enttäuscht sein. Guinness hatte mit einem japanischen Coach namens Bob Okazaki gearbeitet, um sowohl den für die Dialoge notwendigen Akzent als auch die wenigen japanischen Sätze, die er zu sprechen hatte, einzuüben. Doch der verschliffene, seltsam gebrochene britische Akzent, zu dem er als Mr. Asano neigte, war nichts, was ich jemals zuvor gehört hatte. Seine japanischen Sätze waren noch schlimmer. Sie waren unverständliches Kauderwelsch. Als ich neben der Bühne stand und all dies vor meinen Augen passierte, war ich entsetzt. Ich fragte Bob Okazaki, ob man irgend etwas gegen diese peinlichen Geräusche tun könnte, die angeblich Guinness’ Japanisch sein sollten. Doch konnte der glücklose Coach nichts anderes tun, als zu Boden zu sehen und hoffnungslos mit dem Kopf zu schütteln. „Ich kann ihm nichts beibringen“, stöhnte er. „Er wird das tun, was er tun will.“ Das wundervolle Erlebnis, das ich erwartet hatte, war auf schmerzhafte Weise zerstört worden. Selbst wenn ich noch das Bedürfnis nach Kulissengesprächen mit Alec Guinness hatte, so fanden diese doch nicht statt. Er zog sich in seinen Umkleideraum zurück, sobald die Szenen abgedreht worden waren. Er blieb für sich allein und war äußerst distanziert. Einige Leute versuchten, mir sein Wesen zu erklären, indem sie sagten, daß er sehr „eigen“ wäre, oder daß er „schüchtern“ sei. Ich fand ihn jedoch nur farblos, verschlossen und enttäuschend banal. Ich wunderte mich darüber, wie er so unzweifelhaft effizient in so vielen seiner Rollen sein konnte, und so katastrophal in „1000 Meilen bis Yokohama“. Diese Erfahrung stimmte mich nachdenklich hinsichtlich der
Verwendung von Schauspielern für Rollen, in denen sie Angehörige anderer ethnischer Gruppen darstellen sollten. Ich habe offensichtlich selbst ein starkes persönliches Interesse daran, daß ethnische Zugehörigkeit keine Einschränkung für die Rollenbesetzung ist. An der UCLA habe ich jede Rasse von schwarz bis weiß und alles dazwischen gespielt. Ich hatte Preise für meine Rollen als amerikanischer Indianer und als Brechtscher Chinese gewonnen. Doch in der akademischen Welt streben wir nach Idealen – die klassische Vorstellung der Rollenbesetzung ausschließlich auf der Grundlage des Talents. Wenn die Fähigkeiten eines Schauspielers eine theatralische Wirklichkeit auf der Bühne erzeugen können, dann sollten sie auch die Konsistenz mit der ethnischen Zugehörigkeit des Charakters ersetzen. Wenn ein „magerer und hungriger“ japanischer Schauspieler die Zuschauer davon überzeugen kann, daß er ein römischer Senator ist, dann hat er als Cassius Erfolg gehabt. Umgekehrt sollte ein schwarzer Schauspieler jambische Pentameter überzeugend rezitieren können, sonst nimmt ihm trotz seiner Hautfarbe keiner den Othello ab. Und darin liegt des Pudels Kern; die Rollenbesetzung über rassische und kulturelle Grenzen hinweg muß immer unter scharfer Berücksichtigung der größeren Verantwortung des Schauspielers geschehen. Um theatralische Wirklichkeit trotz rassischer Inauthentizität erzeugen zu können, trägt er die Verantwortung dafür, den Charakter so realitätsnah wie möglich in seiner Art zu sprechen, seiner Gestik und seinem ganzen Wesen darzustellen. Schminke allein bewirkt nichts. Die wesentlichen Faktoren sind das Talent des Schauspielers und, viel wichtiger noch, seine Integrität. Letzteres war es, was Alec Guinness fehlte, als er versuchte, einen aristokratischen japanischen Gentleman darzustellen.
Doch muß dieses Ideal der talentabhängigen Rollenbesetzung, wenn es ein Bestandteil des amerikanischen Theaters sein soll, mit Überlegung und wohlgewichtet realisiert werden. Es muß einer Straße entsprechen, die wirklich in beiden Richtungen befahren werden kann. Ich befinde mich auf dieser Straße, weil ich glaube, daß ein freier Talentverkehr uns in eine reichere, lebendigere amerikanische Kultur führen wird. Tag der Abschlußprüfung, der 9. Juni 1960. Es war ein heller, sonniger Tag ohne eine einzige Wolke am Himmel. Vesperdienst für Studenten und deren Familien am Morgen. Daddy lud uns mittags zum Essen in ein Restaurant in Westwood ein. Danach fand die Abschlußzeremonie auf dem Rasen des UCLA-Sportplatzes statt. Es war eher ungemütlich, dort mit schwarzem Hut und Talar in der Sonne sitzen zu müssen. Ich erinnere mich sehr gut an alles, aber woran ich mich am besten erinnere, was diesen erheiternden und anstrengenden Tag betrifft, geschah nach der Zeremonie. Daddy und Mama kamen, um mir zu gratulieren. Sie strahlten übers ganze Gesicht. Auf diesem Campus hatten sie ihre Kinder mehr als zwölf Jahre früher herumgefahren. Dies war der Tag, von dem sie nochmals viele Jahre davor geträumt hatten. Heute trug ihr Sohn den akademischen Hut und Talar und hielt ein gerolltes Dokument in der Hand, das mit einem blauen Band zusammengehalten wurde. Ich überreichte es Daddy, damit er es sich ansehen konnte, und Mama umarmte mich. „Du hast es geschafft. Ich bin stolz auf dich.“ Daddy strahlte. „Wir haben es geschafft“, sagte ich, als wir uns die Hand gaben. „Dies gehört auch dir und Mama.“ „So glücklich.“ Mama lächelte. „Du richtiger graduierter Student jetzt.“ Wir standen nur lächelnd da und betrachteten
uns gegenseitig. Da waren Gruppen stolzer Eltern um uns herum, die ihren neuen Graduierten Päckchen in Geschenkpapier überreichten. „Wir haben kein Päckchen, das wir dir überreichen könnten“, meinte Daddy. „Oh, Daddy, du und Mama habt mir schon so viel gegeben“, protestierte ich. „Das hier ist euer schönstes Geschenk“, sagte ich, und hielt das gerollte Diplom hoch. Ich meinte das wirklich so. „Oh, wir haben ein Geschenk für dich“, lachte Daddy. „Wir können es dir bloß nicht überreichen.“ Ich war verwirrt. Worüber mochten sie bloß reden? „Du hattest dich entschlossen, nach New York zu gehen, doch du bist hier zur UCLA gegangen, weil wir wollten, daß du einen Abschluß machst“, sagte er. „Na ja, du hast es geschafft. Du bist jetzt Bachelor of Arts. Nun möchten wir, daß du noch ein bißchen länger studierst. Wir möchten, daß du auf die Sommerschule am Shakespeare Institut in Stratford upon Avon in England gehst. Begib dich dorthin und studiere, um der beste Schauspieler im Rahmen deiner Möglichkeiten zu werden.“ Ich war wie betäubt. Stratford upon Avon war Shakespeares Geburtsort. In England! Ich war sprachlos. Sie schickten mich an einen Ort, von dem ich seit Jahren geträumt und phantasiert hatte. Als der Schock nachließ, begann ich die tiefere Bedeutung dieses außergewöhnlichen Gradu-ierungsgeschenks zu erfassen. Es war jetzt klar, daß sie voll hinter mir standen. Sie glaubten wirklich, daß ich es schaffen würde. Daddy und Mama glaubten an mich! Ich spürte, wie Freude, Dankbarkeit und überwältigende Liebe in mir aufwallten. Ich konnte sie nicht kräftig genug umarmen.
11 Fly, Blackbird! 1960 genoß ich einen überaus herrlichen Sommer. Das Shakespeare-Institut war für sich allein gesehen schon ein außerordentliches Erlebnis, und die Schule war vom Shakespeare Memorial Theatre, dem Sitz der legendären Royal Shakespeare Company, nur wenige Schritte entfernt. Doch beschäftigte ich mich mit mehr als nur Shakespeare und Stratford upon Avon. Während und insbesondere nach meinen sommerlichen Studien bereiste ich ganz Großbritannien. Ich fuhr in das von einer mittelalterlichen Stadtmauer umsäumte York, um dem uralten Festival der Mysterienspiele beizuwohnen, dann in die schottische Hauptstadt Edinburgh, um am großen internationalen Festival der darstellenden Künste teilzunehmen. Von Großbritannien flog ich nach Madrid und erforschte Spanien. Das mexikanische Spanisch, das ich sprach, unterschied sich merklich vom Kastellanischen, der Sprache der Spanier, genauso, wie sich mein amerikanisches Englisch vom britischen Englisch unterscheidet, doch verstand man mich trotzdem. Dann fuhr ich mit dem Zug nach Italien, wo ich mit einem Freund von der UCLA zusammentraf, Michael Colefax, der in Rom lebte. Wir reisten mit einem Freund von ihm namens Gugliamo Biraghi, einem Filmkritiker, nach Venedig zum berühmten Filmfestival, wo dieser als Mitglied einer Jury arbeiten sollte. Die zweitägige Fahrt durch Italien mit einem literaturkundigen Italiener, der eifrig bemüht war,
die Begeisterung für sein Land mit uns zu teilen, empfand ich als unvergeßliche Vorzugsbehandlung. Und dann das krönende Juwel dieser blendenden drei Monate: Paris! Diese in der zivilisierten Welt urbanste und zugleich mit Schätzen angefüllte Metropole erwies sich als ein durch und durch fesselndes Erlebnis. Ich entdeckte die einem zu Kopf steigende Grandeur der klassischen Architektur und die Herrlichkeit visionärer Stadtplanung, und was mich völlig bezauberte, war die entzückende europäische Tradition, Weingenuß mit Mahlzeiten zu kombinieren. Die schier überwältigende Opulenz französischer Zivilisation war für mich, ebenso wie für viele andere, die die Lichterstadt zum ersten Mal besucht, etwas völlig Unfaßbares. Ich sog die Kultur wie ein Schwamm in mich auf. Paris, diese überschäumende Stadt, wirkte manchmal wie eine köstlich berauschende Droge. Meine Rückkehr nach Amerika erlebte ich wie das morgendliche Erwachen nach einer Zecherei. Plötzlich wurde ich wieder mit der kalten, harten Realität konfrontiert. Nun, was sollte ich jetzt aus meinem Leben machen? Eine am Anfang stehende und ungleichmäßig verlaufende Schauspielerkarriere wartete auf mich. Einer regelmäßigen Beschäftigung nachzugehen bedeutete möglicherweise, einem Konflikt zwischen Karriere und der Gleichförmigkeit des betreffenden Jobs ausgesetzt zu sein, egal, um was es sich dabei handelte. Da jedoch mein Vater für mich Investitionen in Grundbesitz getätigt hatte, besaß ich die wirtschaftlichen Voraussetzungen, nach anderen Optionen Ausschau zu halten. Als ich noch für meinen Abschluß als Bachelor of Arts an der UCLA studierte, hatte ich herausgefunden, daß mich die akademische Seite des Theaters sehr interessierte, insbesondere die Geschichte des amerikanischen Theaters. Das
Theater wurde von den Kräften und Ereignissen in der Geschichte unseres Landes geformt und reflektierte sie. Ich entschied mich dafür, weiterzustudieren und einen Abschluß in Theatergeschichte an meiner Alma Mater anzustreben. Daddy bestärkte mich in dieser Entscheidung von ganzem Herzen. Die UCLA schien ein Ort zu sein, an dem man immer wieder auf mich aufmerksam wurde. Dort hatte Hoyt Bowers vom Warner Brothers Studio mich in „Portraits in Greasepaint“ entdeckt, was zu meiner ersten Spielfilmrolle und zur Zusammenarbeit mit Richard Burton führte. Meine Entscheidung, an der UCLA zu studieren, hatte bewirkt, daß man eine Rolle in meiner ersten Fernsehproduktion mit mir besetzte, der anspruchsvollen „Playhouse 90“-Serie, und meine Zusammenarbeit mit dem Regisseur Herbie Hirschmann ermöglicht. Und es war dort an der UCLA, wo sich meine Wege mit denen der beiden Leute kreuzten, die miteinander an einem anregenden Musical arbeiteten, das mich schließlich nach New York führte. Dr. James Hatch, den ich später Jim nannte, war Professor für Bühnenschriftstellerei an der UCLA. Er hatte „Tallest Baby on the River“ geschrieben, das Stück, das mir meine preisgekrönte Indianerrolle einbrachte. C. Bernard Jackson, den ich später Jack nannte, war Mitarbeiter der Fakultät für Tanz an der UCLA und Musikregisseur von „Portraits in Greasepaint“. Jim war Weißer, Jack war schwarz, und sie arbeiteten gemeinsam an einem Musical mit dem Titel „Fly, Blackbird!“, das die Bürgerrechtsbewegung zum Inhalt hatte, das Streben nach Gerechtigkeit für alle Rassen in Amerika. Ihre Zusammenarbeit geschah in direkter Anlehnung an die damaligen Schlagzeilen der Tageszeitungen. Das Amerika der frühen 60er Jahre bemühte sich, der Lähmung im Bereich sozialer Belange zu entkommen, die noch ein Relikt der Eisenhower-Ära war. Unter der Oberfläche
selbstzufriedener Beschaulichkeit floß eine starke aktivistische Strömung, eine Bewegung, die der Überzeugung war, daß das Land den von der Rassentrennung bewirkten sozialen Zerfall in den Griff bekommen müßte. Sie trat kraftvoll an die Oberfläche, zum Beispiel durch „Sit-ins“ an Kantinentresen mit Rassentrennung, „Freedom Rides“ – Buskonvois von Studenten in Südstaaten mit rassendiskriminierenden Gesetzen, und, auf sehr dramatische Weise, durch gewaltlose Demonstrationen, die von dem charismatischen Geistlichen Dr. Martin Luther King jr. angeführt wurden. „Fly Blackbird!“ entstand auf diesem politischen und sozialen Nährboden. Jackson und Hatch hatten mit ihrer Zusammenarbeit auf dem Campus der UCLA begonnen, jedoch führte starke Unterstützung durch ihre Kollegen dazu, daß sich das abenteuerlustige Duo dazu entschloß, ihre Produktion von der Universität fortzuverlegen und in einem kommerziellen Haus aufzuführen, dem Metro Theater auf dem Washington Boulevard. Außer ihnen brachten vom Thema begeisterte junge Studenten ihre Energie, Leidenschaft und Ideale ein. Hier ergab sich endlich eine Gelegenheit, Fähigkeiten und Glaubenseinstellung in dynamischem sozialen Handeln zu vereinen. Eine nennenswerte Anzahl der Rollen wurde von UCLA-Absolventen besetzt, und man erhielt außerdem noch administrative, technische und geschäftliche Unterstützung direkt vom Campus. Unter ihnen war ein junger Filmemacher mit buschigem Bart, mit dem ich Studentenfilme gedreht hatte. Er lebte buchstäblich in den staubigen Winkeln des Theaters und erarbeitete die komplizierte technische Seite der Produktion. Und er hatte sich furchtbar in die Geschäftsführerin im vorderen Büro verliebt. Armer Francis, dachte ich mir damals, dauernd lauert er in der Finsternis der Kulissen, und zwischen ihm und seiner großen Liebe liegt ein riesiges Theater, das die
beiden trennt, und in dem wir anderen alle unten auf der Bühne tanzen und singen. Nur wenige konnten damals erahnen, daß sein Name – und zwar vollständig – Jahre später von den Anzeigetafeln der Kinos in der ganzen Welt herableuchten würde: Francis Ford Coppola. „Fly Blackbird!“ schildert durch Gesang und Tanz die unterhaltsamen Abenteuer einer Truppe idealistischer Studenten, einige davon schwarz, einige weiß, und einer – der nicht ganz zufällig George hieß – asiatischer Abstammung, und wie sie darum kämpfen, alte Ungerechtigkeiten zu beseitigen. Mir wurde natürlich die Rolle des asiatischen Studenten, meines Namensvetters George, zugedacht. Es gab darin ein großes Musical-Stück mit dem Titel „The Gong Song“, eine Satire auf alle überstrapazierten orientalischen Klischeevorstellungen Hollywoods. Warum, so fragte es, werden wir in jedem Film, der irgend etwas mit der orientalischen Thematik zu tun hat, als Zuschauer immer wieder Gong-Geräuschen und Fünftonleitermelodien ausgesetzt? Das war „meine“ Nummer, obwohl ich dabei Teil eines Trios war, an dem auch Big Betty beteiligt war; eine sich knallhart gebende Studentenanführerin, sowie Tag, einer schüchternen, ernsten Anhängerin der Bewegung. Big Betty wurde von Thelma Oliver dargestellt, einer vielseitig talentierten Sängerin, Tänzerin und Schauspielerin, die ebenfalls die Mt. Vernon High School absolviert hatte, allerdings etwas später als ich. Tag wurde von Josie Dotson gespielt, die ich aus einigen Theaterklassen an der UCLA kannte. Obwohl ich sie als ruhige und reservierte Studentin kannte, war ich schon am ersten Tag auf Josie aufmerksam geworden, weil sie – mir als dem damals einzigem Asiaten an der theaterwissenschaftlichen Fakultät vergleichbar – dort die einzige schwarze Studentin war. Doch aus welchen Gründen auch immer sah ich sie nie bei irgendwelchen
Universitätsproduktionen mitmachen. Also war es für mich bei der Wiederbegegnung in den Proben zu „Fly, Blackbird!“ eine erfreuliche Überraschung, zu entdecken, daß diese ruhige, bescheidene Kommilitonin eine lebhafte und fesselnde Performerin sein konnte. Tatsächlich war ich von der Art äußerst bezaubert, mit der sie ihre großen, traurigen Rehaugen benutzte. Doch hinter diesen Engelsaugen befand sich ein vorsichtiger und umstürzlerisch schöpferischer Geist, wie ich noch herausfinden sollte. Ich dachte, daß meine Hauptkonkurrentin Thelma war; ich glaubte, sie würde mir bei dieser Szene die Show stehlen. Sie gab Big Betty, der Figur, die sie darstellte, etwas Kesses und Elegantes, das ‘rüberkommen’, das Publikum packen konnte und dann nicht mehr losließ. Als ob das nicht genug war, um einen anderen Schauspieler auf derselben Bühne zu beunruhigen, bemerkte ich zu allem Überfluß, daß sie eine Methode hatte, sich allmählich Stück für Stück aus der ursprünglich für sie vorgesehenen Position in Richtung Zuschauerraum zu bewegen. Bei jeder Probe rückte sie in subtiler Weise ein wenig mehr auf die den Zuschauern zugewandte Seite der Bühne zu und bewirkte damit, daß ihre neue Position als die für sie vorgesehene akzeptiert wurde. Doch sollten wir eigentlich ein Trio bilden. Ich hatte nicht vor, zuzulassen, daß Thelma sich auf der Bühne in den Vordergrund drängte. Ich hielt ein wachsames Auge auf sie gerichtet und rückte immer dann ein wenig auf den Zuschauerraum zu, wenn sie es tat. Bei der Generalprobe waren wir schließlich beide so weit, daß wir praktisch an der Bühnenbegrenzung tanzten und, darüber gelehnt, in den Orchestergraben hineinsangen. Arme zurückhaltende Josie, dachte ich. Sie war da irgendwo hinter uns und hielt sich gehorsam an ihre ursprünglich geplante Position. Thelma lachte sich vermutlich ins Fäustchen, während ich wenigstens
soviel Menschlichkeit besaß, Josie zu bemitleiden. Rasch kam die Eröffnung, und der Regisseur legte die neuen Positionen, die Thelma und ich uns zugelegt hatten, als die endgültigen fest. „Fly Blackbird!“ wurde sofort mit donnerndem Applaus und sehr positiver Resonanz seitens der Zeitungen bedacht. Auch Kritiker aus weit entfernten Städten wurden darauf aufmerksam, so beispielsweise Nathan Cohen von der „Toronto Star News.“ Die Schauspieler in den Hauptrollen wurden gefeiert, doch unsere Nummer, der „Gong Song“, war der absolute Hit. Das Publikum brüllte vor Lachen. Es lag allerdings nicht am energischen Singen und Tanzen von Thelma und mir. Das Gelächter brach los, als wir beide den Höhepunkt an Präzision erreicht hatten. Nur lag die Ursache für die Heiterkeit des Publikums woanders. Hinter uns, immer nur ein bißchen aus dem Takt, zeigte sich Josie in einem drolligen Verwirrungszustand. In ihren großen, seelenvollen Augen zeigte sich Verlegenheit. Ihre Wimpern zitterten, sie kniff die Lippen zusammen. Sie hatte ihre Fäuste in einer übertrieben wirkenden Geste hysterischer Selbstbeherrschung geballt. Josie parodierte Thelma und mich, während wir uns gegenseitig in immer größere Präzision hineinsteigerten und da unten am Rande der Bühne unsere hohen Kabuki-Schritte und unsere disziplinierten, hinduistisch angehauchten Kopfbewegungen vollführten. Der Gnadenstoß in Josies exquisiter Orchestrierung ihrer Qual war die Art, wie sie am Schluß einen unglaublich komisch wirkenden Fehltritt einfügte. Josies Darbietung war die vollkommene Quintessenz des einzigen schwarzen Menschen auf der Welt, dem jedes Rhythmusgefühl abgeht. Auf schamlose Weise stahl sie den „Gong Song“ von Thelma und mir und vernichtete unseren Mangel an Originalität mit einem einzigen fröhlichen Hieb.
„Fly Blackbird!“ lief in Los Angeles fast ein Jahr lang mit sehr großem Erfolg. Die Produktion fing die Energie und den Optimismus der damaligen Zeit ein. Sie wurde in musikalischer Hinsicht von dem Gedanken getragen, daß Amerika ein noch nicht abgeschlossenes soziales Experiment war und daß gesellschaftliche Änderungen immer noch stattfanden. Die große Zuschauerschaft rekrutierte sich aus dem gesamten ethnischen Spektrum der Stadt. Während das Stück lief, beeinflußte „Fly, Blackbird!“ das Denken einer gewaltigen Anzahl von Leuten. Ich war einer von ihnen. Ich lernte neue Freunde kennen und gewann Einblicke, die bei mir ein tieferes Verständnis für dieses einer fortwährenden Veränderung unterworfene, sich dauernd weiterentwickelnde neuzeitliche Volk der Amerikaner brachte. Als Volk hatten wir wohl verschiedene, parallele geschichtliche Entwicklungen, die auf historische Ausgangspunkte wie die Mayflower oder Sklavenschiffe, lattenzaunumschlossene Viehpferche oder stacheldrahtumsäumte Lager zurückzuführen waren. Doch hatten wir immer ein untrennbares gemeinsames Schicksal, gleichgültig, auf welche noch so bewegten und widersprüchlichen geschichtlichen Grundlagen wir uns beriefen. Wir haben eine gemeinsame Zukunft. Unsere Herausforderung liegt darin, nicht unsere Vergangenheit wie Bleigewichte mit uns herumzutragen, sondern zusammenzuarbeiten, um diese erstrebenswerte gemeinsame Welt aufzubauen. Mit „Fly, Blackbird!“ war uns ein sehr guter Beitrag dazu gelungen. Während das Stück aufgeführt wurde, traf ich viele Leute, die die von uns propagierten Ideale mit uns teilten, die wir so gerne singend und tanzend den Zuschauern von der Bühne des alten Metro-Theaters aus vermitteln wollten. Unter den vielen, die hinter die Bühne kamen, um uns zu gratulieren, war auch
eine zukünftige langjährige Kollegin namens Nichelle Nichols. Es war eine Begegnung, an die ich mich auch dann erinnern würde, wenn wir uns in der Folge nie wieder begegnet wären. Sie hinterließ bei mir sofort einen bleibenden Eindruck. Zu einer Zeit, als schwarze Frauen sich bemühten, ihre Haare zu glätten, fiel Michelle durch ihren echten und erstaunlich gut zu ihr passenden „Afro-Look“ auf. Sie wirkte zugleich natürlich und kultiviert, ehrlich und radikal. Von Anfang an war ich mit der echten Michelle konfrontiert. Ich betrachte eine Begegnung aus der Aufführungszeit von „Fly, Blackbird!“ als ein wirkliches Geschenk, das einen sehr tiefen Eindruck auf mich gemacht hat. Man bat uns oft, Musicalstücke der Produktion bei verschiedenen Massenversammlungen und Wohltätigkeitsveranstaltungen aufzuführen. Das größte und wichtigste derartige Ereignis war eine riesige Massenversammlung in der Los Angeles Sports Arena mit dem Geistlichen Dr. Martin Luther King jr. Die gewaltige Halle war gerammelt voll. Dr. King war gewissermaßen die Personifizierung der Bürgerrechtsbewegung, und außerdem der beste Redner seiner Zeit. Die Leute waren aus dem gesamten Südwesten zu dieser Veranstaltung angereist. Wir empfanden es als besondere Ehre, dort auftreten zu dürfen. Unsere „Fly, Blackbird!“-Truppe saß in einem speziellen, ihr zugewiesenen Abschnitt der Zuschauertribüne, gegenüber dem Podium, auf dem Dr. King auftreten würde, um seine Rede zu halten. Wir sangen den Titelsong „Fly, Blackbird!“ und das bewegende Abschlußlied der Show, „Wake Up, the Dawn Is Breaking“. Daraufhin betrat Dr. King die Halle. Von unserem Standpunkt aus gesehen war er nur eine winzige, sich bewegende Gestalt. Doch erhob sich die gesamte Zuschauermenge wie ein einziger, massiver Organismus, der plötzlich zum Leben erwachte, und brach in gewaltigen,
donnernden Beifall aus. Dieser ging weiter und weiter – ein ungeheurer Ausdruck von Liebe, Dankbarkeit, Inspiration und Hoffnung. Lange Zeit verging, bis Dr. King mit seiner Ansprache beginnen konnte. Doch als er dann anfing, verstummte die Menge sofort. Es herrschte völlige Stille. Nur seine tragende, sonore Stimme erfüllte die Runde. Er fing damit an, in seinem angenehm entspannten Tonfall von seinen Reisen quer durchs Land zu erzählen. Er sprach von den großen Städten, den weiten Ebenen, von der Savanne und den Sümpfen des Südens, wo er geboren worden war. Er sprach von der Wirklichkeit, die er dort erlebt hatte, und vom Kampf, den Amerika um seine Ideale, die es so hochhält, auszufechten hatte. Und als er so sprach, fanden seine Worte in mir als japanischstämmigem Amerikaner direkte Resonanz. Dann blickte er hinaus in die gewaltige Versammlung vor ihm und breitete seine Arme aus. Seine Stimme verfiel in eine rollende Kadenz, als er von seinen Hoffnungen für unser Land sprach. Das gute Volk der Amerikaner, sagte er, bestehend aus Leuten wie denen, die er jetzt vor sich sah, eine Mischung aller Hautfarben, aller Glaubensrichtungen, und alle durch eine Gemeinsamkeit miteinander verbunden, nämlich den Idealen dieses Landes verschrieben zu sein, wäre die Hoffnung für die Zukunft unserer Nation, ja sogar für das Schicksal der ganzen menschlichen Rasse. Seine Stimme schwoll an, ihr Rhythmus baute sich zum Crescendo auf, und die Größe seiner Vision wurde übermächtig, als seine ergreifende Rede unsere Seelen wie auf Schwingen zur Decke emportrug. Die dichtgedrängte Ansammlung von Menschen in der LosAngeles-Sports-Arena verwandelte sich in eine einzige dynamische Wesenheit. Wir schaukelten gemeinsam in den Rängen hin und her, wir klatschten im Takt, wie schrien wie aus einer Kehle. Dr. King besaß diese seltene Gabe, die
Menschen zu erreichen und sehr viele persönlich zu berühren, um sie dann zusammenzuschweißen und zur außergewöhnlichsten Form politischen Handelns zu veranlassen – dem gewaltlosen Widerstand. Ich war wie gebannt. Als die Zuschauer um mich herum in Beifall ausbrachen, verstand ich zum ersten Mal die kolossale Macht des gesprochenen Wortes, wenn es von der Großartigkeit bedeutsamer Ideen erfüllt ist. Dies hier war Theater in reinster Form. Und es war Theater in seiner höchsten Vollendung, wobei Dr. Martin Luther King der ultimative Theaterkünstler war. Er war der Megastar unter den amerikanischen Idealen. Nach der Veranstaltung wurde die „Fly, Blackbird!“Schauspielertruppe in den Backstage-Bereich gerufen, um Dr. King vorgestellt zu werden. Es schien, als ob jetzt jeder in der Arena hinter die Bühne drängelte, um ihn zu berühren. Wir mußten geraume Zeit in einer langen Warteschlange stehen, um ihn dann nur kurz treffen zu können. Dr. King muß sehr erschöpft gewesen sein, doch er hatte auch bei unserem kurzen Händedruck warmherzige, gütige Worte für mich übrig. „Herzlichen Dank für Ihren Beitrag am heutigen Nachmittag“, sagte er mir. „Sie waren wunderbar. Vielen herzlichen Dank.“ Es waren nur wenige, einfache Worte, doch waren es Worte, die ich nie mehr vergessen werde. Sein Händedruck war leicht und freundlich. Er dauerte nur einen kurzen, flüchtigen Augenblick lang, doch werde ich mich immer mit Freude an diese Berührung erinnern. Nach zehn Monaten wurden die „Fly, Blackbird!“Aufführungen eingestellt. Das wilde Musical hätte noch viel länger in Los Angeles laufen können. Doch Jackson und Hatch hatten die Rechte für eine New Yorker Produktion an eine Produzentin aus Manhattan namens Helen Jacobson veräußert.
„Fly Blackbird!“ schwang sich jetzt quer durchs Land zu neuen Höhenflügen auf. Es sollte im „Big Apple“ aufgeführt werden. Die New Yorker Produktion sollte unter einem anderen Regisseur, Jerome Eskow, vollkommen neu inszeniert werden. Uns Schauspielern aus Los Angeles wurde gesagt, daß wir gerne nach New York kommen könnten, um zu sehen, ob wir für unsere Rollen in der neuen Produktion in Frage kämen. Doch hätten wir für die Reisekosten selbst aufzukommen und könnten uns auch nicht darauf verlassen, die Rollen zu bekommen. New York würde genauso hart werden, wie man uns vorhergesagt hatte. Ich dachte mir aber, daß das im Grunde ein weiterer Glücksfall war. Ich wußte, daß ich, auf welche Weise auch immer, bei Gelegenheit nach New York gehen würde. Die Stadt war der Brennpunkt all meiner Phantasien. Doch hatte ich mir nie träumen lassen, daß ich durch eine für mich maßgeschneiderte Gelegenheit dort hinkommen würde! Viele der Figuren in „Fly, Blackbird!“ waren für und durch die sie darstellenden Schauspieler geschaffen worden. Einige trugen sogar dieselben Namen wie die betreffenden Schauspieler… wie beispielsweise George. Ich war tatsächlich George. Ich entschloß mich dazu, meine Ersparnisse anzuzapfen und der Show nach New York zu folgen. Ich hatte meine Abmachung mit meinem Vater erfüllt. Ich hatte meine Graduierung. Und das Allerbeste war, daß ich meinen Eltern versichern konnte, daß ich in der großen, üblen Stadt bereits einen Job hatte. Ich konnte ihnen sagen, daß ich nach New York gehen würde, um dort weiterhin George zu spielen. Einige der Kollegen aus der Los-Angeles-Produktion entschlossen sich ebenfalls, das Risiko einzugehen und sich nach New York zu begeben. Josie, Thelma, Palmer Whitted,
Jack Crowder, Josies Stiefschwester Camille Billops und ein paar andere. Wir sollten die „L.A. Blackbirds“ werden. Es war zwei Wochen vor Heiligabend 1961. Ich kam während einer dunklen, kalten Nacht am internationalen Flughafen von New York an. Josie und Camille, die vor mir aus Los Angeles abgereist waren, standen da, um mich abzuholen. Sie hatten sich wie Eskimos gekleidet. Camille starrte mit ärgerlichem Blick und zusammengekniffenen Augen die kalte Nacht an und stieß ihren dampfenden Atem wütend aus, als ob sie die Kälte damit verscheuchen könnte. Im Gegensatz dazu sah Josie verwundbar aus. Sie hatte sich einen schweren wollenen Schal um ihren Kopf und über ihr Gesicht gebunden, und nur ihre großen braunen Augen blickten erwartungsvoll in die Welt hinaus. Doch ganz egal, ob die Blicke ärgerlich oder erwartungsvoll ausfielen, es war schön, vertraute Gesichter zu sehen, die auf mich warteten, um mich zu begrüßen. Wir rumpelten mit der U-Bahn nach Manhattan zu meiner ersten Adresse in New York City, dem Sloan House, dessen Name in meinen Ohren sehr geschmackvoll klang. Ich erzählte jedem in Los Angeles, daß es der Name meines „Hotels“ wäre. Ich erzählte ihnen nicht, daß es sich tatsächlich um das Heim des CVJM in der 34. Straße handelte. Meine Erregung wurde von der kalten New Yorker Morgenluft nur verschärft. Endlich, nach so langer Zeit, hatte ich mein Mekka erreicht – die Hauptstadt des amerikanischen Theaters! Ich mußte anschließend den „Great White Way“ unbedingt auskundschaften. Als ich die 34. Straße entlangschlenderte und mein Atem vor mir in der eiskalten Luft kondensierte, betrachtete ich meine Umgebung ungeniert. Am Broadway angekommen, bog ich ab und begann, die Hauptstraße meiner Träume entlangzugehen. Rasch fing ich an, mich zu wundern.
Der vielgerühmte Boulevard entsprach nicht meinen Erwartungen. Es herrschte unbeschreibliche Hektik. Das hatte ich erwartet. Dichter Verkehr quälte sich dahin, sowohl auf der Fahrbahn als auch auf den Gehwegen. Die Kakophonie hupender Autos, quietschender Reifen und schreiender Stimmen machte einen fast taub. Theater sah ich allerdings keine. Ich kam der legendären 42. Straße immer näher. An diesem Ort hatte George M. Cohan den wartenden Jungs entgegengesungen, daß er „bald dort sein“ würde. Ich beschleunigte meine Schritte. Was ich sah, als ich die Kreuzung 42. und Broadway erreichte, ließ mich entgeistert stehenbleiben. Da standen sicherlich „Jungs“ herum, allerdings warteten sie offensichtlich nicht auf George M. Cohan. Und diese Wracks hatten sicher schon vor langer Zeit aufgehört, auf irgend etwas zu warten. Es gab Theater an der 42. Straße, doch wirkte deren Anblick herzzerreißend. Breite Anzeigetafeln, die in der großen Zeit vielleicht einmal Namen wie Al Jolsen oder Lillian Russell angekündigt hatten, zeigten jetzt nur noch Sex und Gewalt. Mein Wissen über das amerikanische Theater hatte ich mir aus Geschichtsbüchern zusammengetragen, doch hatte sich das lebendige Theater inzwischen in einen anderen Abschnitt des Broadways verlagert. Beim Astor-Hotel an der 44. Straße machte ich einen Umweg zum legendären „Sardi’s Restaurant“ und ging dann durch die Shubert Alley. Endlich! Hier befand sich der Theaterdistrikt, den ich gesucht hatte. Hier lag das „Shubert“, das „Helen Hayes“ und das „Booth“, benannt nach Edwin Booth, dem großen Shakespearedarsteller und Bruder des Mörders von Präsident Lincoln. Sie befanden sich alle hier, ebenso das „Plymouth Theater“, wo der große Impresario Arthur Hopkins die Barrymore-Geschwister, Ethel, Lionel und John, in seinen Shakespeare-Aufführungen präsentiert hatte, und das
„Morosco Theater“, in dem amerikanische Klassiker wie Arthur Millers „Tod eines Handlungsreisenden“ und Tennessee Williams „Endstation Sehnsucht“ ihre Premiere erlebt hatten. Ich befand mich zum ersten Mal hier, und trotzdem hatte ich ein deutliches „Déjà-vu“-Erlebnis; ich fand, daß alles um mich etwas Vertrautes hatte – die Anzeigetafeln, die Straßen und besonders die Theater. Ich lief tatsächlich an dem Ort herum, an den mich vorher meine Träume versetzt hatten. Ich befand mich wirklich auf dem Broadway! Ich ging auf der 51. Straße weiter, und schließlich blieb ich beim „Mark Hellinger Theater“ stehen. Dies war auch ein historischer Ort. Doch plötzlich wurde ich jäh aus meinen romantischen Träumereien gerissen. Die Realität starrte mir ins Gesicht. Dieses Theater war der Grund unserer Reise nach New York. Das „Mark Hellinger“ war der Ort, an dem ich in einer Woche für die New Yorker Produktion von „Fly, Blackbird!“ geprüft werden würde! Dies war der Ort, an dem meine Zukunft darauf wartete, verwirklicht zu werden. Ich schaute durch die verschlossene Glastür in eine vordere Lobby, und ein Angstschauer durchfuhr mich. Mein Atem hinterließ zwei gefrorene Flecken auf der kalten gläsernen Eingangstür. New York ist eine Stadt, die es nicht zuläßt, sich auf irgend etwas zu konzentrieren, ohne abgelenkt zu werden. Meine sorgenerfüllten Vorbereitungen aufs Vorsingen wurden jäh dadurch unterbrochen, daß mich das Personal vom Sloan House – trotz seines eleganten Namens – auf aggressive Weise daran erinnerte, daß die maximale Aufenthaltsdauer dort eine Woche wäre. Wegen ihrer langen Warteliste hätten sie es allerdings gern gesehen, wenn ich bereits vorher ausgezogen wäre. So begann ich mit der entmutigenden Suche nach einem Appartement in Manhattan. Ich war schockiert wegen der
astronomisch hohen Mieten selbst für die einfachsten Unterkünfte – meine Ersparnisse würden in einem Monat oder zwei vollkommen verbraucht sein. Palmer Whitted und Jack Crowder suchten gemeinsam nach einer Wohnung, und sie fragten mich, ob ich mich vielleicht mit ihnen zusammentun wollte. Eine Miete durch drei zu teilen senkte schließlich die Kosten für jeden einzelnen von uns. Gute Idee, dachte ich mir, und erklärte mich damit einverstanden, mit ihnen zusammenzuziehen. Wir fanden eine Wohnung auf der westlichen 39. Straße zwischen der Fünften und Sechsten Avenue. Es war ein Ort, der all unsere Sinne aufs Ärgste überlastete. Die Neununddreißigste war die nördliche Grenze des Textilienund Bekleidungsdistrikts, also wurden wir vom frühen Morgen bis zum späten Nachmittag einem Rockkonzert dröhnender Lastkraftwagen, zuschlagender Fahrzeugtüren, zu Boden knallender Transportbehälter und durcheinander schreiender Stimmen von Fahrern und Ladearbeitern ausgesetzt. Da gab es ein Delikatessengeschäft im Erdgeschoß, das uns ein durchdringend riechendes Gemisch unzähliger verschiedener seltsamer Essensausdünstungen in den vierten Stock schickte. Im zweiten Stock lag eine kleine Hutfabrik, die die Luft, die wir atmeten, so mit feinem Filzstaub erfüllte, daß sie es hinsichtlich ihrer Dichte mit der Uratmosphäre aufnehmen konnte. Und von unserem Fenster aus hatten wir einen stumpfsinnigen Ausblick auf eine Ziegelwand, die derart von eiszeitlich wirkenden unebenen Mustern bedeckt war, daß sie an die von Gletschern bearbeiteten Felsen Alaskas gemahnte. Weil das Gebäude keinen Fahrstuhl hatte, mußten wir das primitive Trampelritual über drei Treppenfluchten veranstalten, um zu unserer Wohnung zu gelangen. Doch die Miete war günstig. Und außerdem teilten wir sie ja durch drei.
Beim Einzug gestand uns Jack verlegen, daß er etwas knapp bei Kasse war. Er fragte mich etwas einfältig, ob ich ihm mit der Miete für einen Monat aushelfen könnte. Er würde im darauffolgenden Monat zwei Drittel der Gesamtmiete bezahlen. Da ich davon ausging, daß wir dann bereits arbeiten würden, stimmte ich zu. Ich hätte es besser wissen müssen, denn ich hatte bereits in der High School Polonius’ Rede aus Hamlet, „Verleih kein Geld und mach auch keine Schulden“, auswendig gelernt. Jack Crowder zeigte eine machtvolle Bühnenpräsenz. Er war groß, schlank und düster. Seine Stimme war ein volltönender Bariton. Beim Vorsingen trug er das Lied „Old Man River“ beeindruckend vor. Ich dachte mir, daß die Wahl des Liedes einen eher ironischen Kontrast zu einem Musical bildete, in dem es um die Bürgerrechtsbewegung ging. Doch war es fraglos ein fürs Theater geeignetes Stück, um die eindrucksvolle Spannweite von Jacks Stimme vorzuführen. Als es dann für mich so weit war, mich auf die Bühne des „Mark Hellinger“-Theaters zu begeben, fiel mir sofort die Größe des Raums auf. Das stellte eine Herausforderung dar, war aber auch etwas erschreckend. Ich mußte diese ganze leere Luft irgendwie ausfüllen. Ich begann, „Goodnight, Irene“ zu singen, eine populäre Ballade, die ich mir für diesen Test ausgesucht hatte. Ich war schockiert. Ich konnte meine Stimme nicht hören. Sie schien meinen Mund zu verlassen, in dieses höhlenartige Theater hinauszuschweben und in der Finsternis zu entschwinden. Unter der Dusche war ich daran gewöhnt, daß ich meine Stimme in der dampferfüllten Luft in voller Lautstärke hörte. Ich versuchte nun, mich an die Geräumigkeit anzupassen. Meine Bewegungen wurden ausholender. Ich betonte die Nuancen des Liedes stärker, und meine Stimme wurde lauter. Als ich fertig war, fühlte ich mich wie ein
Opernsänger, der gerade mit voller Kraft die Nationalhymne gesungen hatte. „Danke sehr, Mr. Takei.“ Es war die altehrwürdige, körperlose Stimme aus der Finsternis. „Wir sind nun für Miss Dotson bereit.“ Ich spähte in die schwarze Leere hinaus und sagte: „Vielen Dank. Ich hoffe, demnächst mit Ihnen zusammenarbeiten zu können.“ Ich wußte, daß eine solche Aussage den Eindruck von Zuversicht vermitteln würde. Josie sah nervös aus, als sie mir auf meinem Weg von der Bühne entgegenkam. Ich hob ihr meinen aufgerichteten Daumen als Geste der Ermutigung entgegen. In dieser Nacht versammelten sich alle L.A-Blackbirds in unserer Mietwohnung in der 39. Straße. Es war eine Bottleparty, und Palmer und ich spendierten die Chips. Was das Vorsingen betraf, so hatten wir alle ein gutes Gefühl. Die letzte Entscheidung über die Rollenbesetzung würde erst nach Weihnachten fallen, doch wir sahen voller Ungeduld dem Beginn der Proben nach Neujahr entgegen. Alle waren da, sogar Jim Hatch, der Produzent, Regisseur und Schauspielautor der Produktion in Los Angeles. Alle, außer Josie. Ich blickte immer wieder aus unserem Fenster zur Straße hinunter. Sie hatte gesagt, daß sie womöglich später kommen würde, doch wußte ich, daß sie sich nicht allzu wohl fühlte, was ihr Vorsingen betraf. Vielleicht würde sie nicht kommen. Es wäre jedoch sicher besser für sie, mit uns heute nacht zusammen zu sein, dachte ich mir. Draußen war es ruhig. Da war niemand mehr auf der Straße, die nur wenige Stunden vorher ein lärmendes Durcheinander aus Verkehrsgewühl und nahkampfartigem Wettbewerb gewesen war. Als ich wegen Josie hinunterschaute, sah ich plötzlich kleine Fetzen vor unserem Fenster herabfallen, die aussahen, als wären es Stückchen zerrissener
Papiertaschentücher. Ich blickte nach oben, um zu sehen, wer mir da einen Streich spielte. Die weißen Fetzchen kamen überall von oben herab – es waren Schneeflocken. „He Leute, seht mal her! Es schneit“, verkündete ich. Alle stürmten zum Fenster, um hinauszuschauen. Wir kamen alle aus Südkalifornien. Viele von uns hatten vorher noch nie Schnee gesehen. Doch die Neuigkeit verlor alsbald an Reiz, und schon kurz darauf saßen wir wieder in unserem Stammeskreis zusammen und phantasierten bierselig vor uns hin. „Wo werde ich mich in zehn Jahren befinden?“ wurde zu unserem nicht ganz ernstzunehmenden Gesprächsthema. Wir stellten uns vor, bis dahin alle zu Stars geworden zu sein. Manche träumten sogar davon, sie hätten dann bereits Oscars und Tony Awards gewonnen. „Doch selbst in zehn Jahren werden wir immer noch so zusammensitzen, wo auch immer das sein mag“, sagte ich voraus. Camille, die hinsichtlich ihrer Theatertätigkeit zur Aufschneiderei neigte, erklärte großspurig: „Liebling, ich werde bei meinem Projekt in Afrika so viel zu tun haben, daß ich kaum Zeit haben werde, Partys zu feiern. Allerdings ist es schon so, daß ich mich vielleicht dazu hinreißen lassen könnte, zu kommen, wenn all meine Lieben gemeinsam ins gleiche Horn blasen würden. Es kann durchaus sein, daß ich so was machen werde.“ „Ja, ich werde auch kommen“, mischte sich Jack Crowder ein. „Wenn George und Palmer uns mit Fressalien so vollstopfen, dann komm ich immer.“ Wir L.A.-Blackbirds waren schon so ein Verein von Traumtänzern. Ich wanderte wieder zum Fenster hinüber, um zu sehen, ob Josie vielleicht kommen würde. Der Schnee hatte sich wie ein dünnes flockiges Tuch über die ganze 39. Straße gelegt. Die
Stunden vorher noch lärmerfüllte Straße hatte sich wie durch Zauberei in eine weiße Oase der Ruhe verwandelt. Nur die Straßenlaterne an der Ecke beschien ihre Umgebung mit ihrem kühlen und ruhigen Licht. Und plötzlich trat eine kleine menschliche Gestalt in ihren friedlichen Lichtkreis. Als dieses dick vermummte Wesen durch das jungfräuliche Weiß wanderte, hinterließ es kleine dunkle Schuhabdrücke im frisch gefallenen Schnee. Die Gestalt hatte einen schweren wollenen Schal um ihren Kopf gewickelt, doch ich erkannte sie sofort an ihrer Gangart. Es war Josie! Ich schnappte mir meinen Mantel und polterte die drei Treppenfluchten hinab. Sie steuerte bereits auf die Haustür zu, als ich sie aufriß. Ich lief hinaus und umarmte das schneebedeckte Kleidungsbündel. Selbst mit dem wollenen Schal und ihrem dicken, schweren Mantel sah Josie so hilflos aus. Ihre traurigen Augen und ihr leichtes Zittern ließen mein Herz dahinschmelzen. Dann hörte ich, wie hinter mir die Tür ins Schloß fiel. Ich hatte vergessen, den Schlüsselbund mitzunehmen! Es war nicht ganz einfach, uns durch Klingeln wieder Zutritt zum Haus zu verschaffen. Als wir das Treppenhaus hinaufgingen, schallte uns ein Chor betrunkener Stimmen aus dem vierten Stock entgegen, der Stücke aus „Fly, Blackbird!“ eher schlecht als recht zum besten gab. Ich bin mir sicher, daß unseren Nachbarn spätestens jetzt klar wurde, daß Schauspieler ins Gebäude eingezogen waren. Es traf mich wie ein Schlag ins Gesicht. Ich fühlte mich wie betäubt. Die Worte, die ich hörte, konnten doch nicht wahr sein! Obwohl Jack Jackson mit leiser Stimme sprach, war das von ihm Gesagte unmißverständlich. „Es tut mir sehr leid, George. Sehr schade, daß es nicht so geklappt hat, wie wir uns das vorgestellt hatten“, erklärte er. „Doch die New Yorker Leute haben ihr eigenes Konzept, und
daran können wir nichts ändern. Sie haben sich dafür entschieden, für die Rolle des George einen anderen Schauspieler zu nehmen.“ Ich war wie vor den Kopf gestoßen. George war meine Rolle. Ich hatte den Charakter erfunden. Ich war George! Wie konnten sie die Rolle nur mit jemandem anderen besetzen? Ich brauchte lange, um mich daran zu gewöhnen, an der New Yorker Produktion von „Fly, Blackbird!“ nicht beteiligt zu sein. Ich war jetzt nur ein weiterer arbeitsloser Schauspieler in dieser großen, kalten Stadt. Palmer und Camille hatte man auch nicht genommen. Und Josie, die so wenig Selbstvertrauen gezeigt hatte, ihre Rolle jedoch so verzweifelt wiederbekommen wollte, war ebenfalls draußen. Jack Crowder hatte man genommen – und Palmers Rolle mit ihm besetzt! Es schmerzte uns alle innerlich sehr, doch überging Palmer den Tiefschlag gekonnt mit einem künstlichen Lächeln und bitterem Humor. Zur bekannten Melodie sang er: „Es gibt kein Business im Showbusiness, und für mich gibt’s keine Show.“ Wir hatten keine Show, doch unmittelbare und dringende Bedürfnisse. Wir alle brauchten einen Job – irgendeinen. Josie hatte Fähigkeiten, mit denen sie Geld machen konnte. Sie hatte sich ihr Studium an der UCLA dadurch mitfinanziert, daß sie Sekretariatsarbeit geleistet hatte, also konnte sie rasch einen einigermaßen gutbezahlten Bürojob in der Third Avenue finden. Doch Palmer wollte sich tagsüber die Zeit für eventuelle Vorsing-Termine freihalten, also nahm er eine Nachtarbeit an. „Na ja, George. Es sieht so aus, als ob ich ‘ne Menge Knete machen würde“, erklärte er mir, als er ein paar Tage später in der Wohnung einlief. „Und ich werde sie nachts machen.“ Doch es war nicht so gemeint, wie es klang. Palmer hatte Arbeit in der Nachtschicht einer Harlemer Bäckerei gefunden.
Dieser Job war Schuld daran, daß ich zunächst süßen Kartoffelkuchen lieben lernte, nur um ihn dann später zu hassen. Als kleine Nebenvergünstigung konnte Palmer die nach zwei Tagen noch nicht verkauften Kuchen mit nach Hause nehmen. Dies waren immer süße Kartoffelkuchen, eine für mich zunächst wohlschmeckende kulinarische Neuentdeckung. Doch sogar hungrige junge Schauspieler können sich nicht tagein, tagaus zu jeder Mahlzeit von süßen Kartoffelkuchen ernähren. Gelegentlich schuf ich ein wenig Abwechslung in meiner Diät durch den Kauf eines neunzehn Cent teuren Hot-Dogs an einem Imbißstand in der 42. Straße. Unsere grundlegende Nahrungsquelle während der ersten Wochen nach unserer Ablehnung für die New Yorker „Fly, Blackbird!“-Produktion blieben jedoch diese süßen, braunen Kohlehydratfladen, die Palmer nach jeder Nachtschicht mit nach Hause brachte. Ich schlug mich mit einem Kurzzeitjob nach dem anderen durchs Leben. Während der Vorweihnachtszeit verkaufte ich Krawatten in B. Altmans Warenhaus, und als das vorbei war, belud ich Lastkraftwagen in Long Island City. Durch Josies Beziehungen bekam ich einen Job: Ich beschriftete Adressenaufkleber in einem Verlag an der Dritten Avenue. Wir taten alles, was Geld einbrachte – und unsere Hoffnungen steigen ließ. Immer dann, wenn unser Selbstvertrauen ins Wanken geriet, kamen diese kleinen Schauspielerjobs daher, um unseren Träumen neue Nahrung zu geben. Ich arbeitete als Fotomodell für eine Versicherungsgesellschaft, verkleidet als Geschäftsmann mit Aktenkoffer. Ich spielte eine Gastrolle in einer Episode einer Serie, einer Live-Fernseh-Anthologie namens „U.S. Steel Hour“, und stellte einen japanischstämmigen amerikanischen Soldaten mit Südstaatenakzent dar. Gelegentlich bekam ich Fernsehrollen,
jedoch nie eine fürs Theater – dem Hauptgrund meines Aufenthalts in New York. Das Theater war jedoch immer noch wichtiger Teil meines Lebens. Wenn ich schon nicht im Rampenlicht stehen durfte, so konnte ich immer noch außerhalb dabeisein – im Zuschauerraum. Ich sah mir jede Show an, die ich mir leisten konnte. In der Regel gab es günstige Sitzplätze bei Matineen auf den Balkons oder Stehplätze in den großen Shows. Unter den Matineen, die ich mir ansah, war „A Shot in the Dark“ mit Julie Harris, Walter Matthau und einem jungen kanadischen Schauspieler namens William Shatner in den Hauptrollen. Ich beneidete Jack. Während der Zeit der Proben zu „Fly, Blackbird!“ kam er, vom Tanzen völlig erschöpft, nach Hause zurück. Ich beneidete ihn um diese Erschöpfung. Ich sah, wie er auf seinem Bett zusammensank, und fühlte Eifersucht in mir aufsteigen. Jack spürte das und war rücksichtsvoll genug, nicht mit Palmer oder mir über die Show zu reden. Doch gleichzeitig konnte ich meine Neugier kaum zügeln. Nach der Premiere der Show konnte ich mich nicht mehr beherrschen und befragte Jack darüber, wie sie lief, welche Änderungen man vorgenommen hatte, ob irgend jemand Bedeutendes die Show bereits gesehen hätte. Doch ich fragte ihn nie nach George. Ich denke, daß ich mich einfach vor der Antwort fürchtete. Eines Tages hatte Jack einen Tip erhalten, daß ein Darsteller für eine Rolle gesucht wurde. Er hatte gehört, daß man einen Schauspieler für eine „orientalische“ Rolle in einer neuen Komödie suchte. Warum sollte man der Sache nicht nachgehen? Ich kam vormittags beim betreffenden Theater an und fand eine lange Schlange asiatischer Schauspieler jeden Alters und Typs vor. Ein Assistent verteilte Auszüge des Drehbuchs, die vorgelesen werden sollten. Ich stellte fest, daß es sich um die
Rolle eines wichtigtuerischen, komischen Dieners mit einem seltsamen Akzent und hohem, schrillem Gelächter handelte. Es war der klassische Stereotyp. Ich hatte ja schon einige Dienerrollen gespielt, jedoch noch nie etwas wie das hier. Ich hatte nicht den ganzen langen Weg nach New York zurückgelegt, Lastkraftwagen beladen und Adressenaufkleber beschriftet, um bei dieser Farce mitzumachen. Andererseits war es Arbeit, die ich nicht hatte. Es war Arbeit am Theater. Und außerdem rückte der Termin immer näher, an dem die Miete für die Wohnung fällig war. Ich mußte eine Entscheidung fällen. Dann dachte ich an Daddy. Ich ging zum Assistenten zurück. „Entschuldigung, aber ich glaube nicht, daß das hier etwas für mich ist“, sagte ich, und gab ihm den Drehbuchauszug zurück. Er schaute mich an, als wollte er sagen: „Was glaubst du, wer du bist?“, doch ich drehte mich um und ging weg, ohne irgend etwas zu sagen. Als ich die Reihe der asiatischen Schauspieler entlangschritt, schauten sie mich fragend an. Ich blickte geradewegs zurück und fragte mich, was sie wohl denken mochten. Doch empfand ich kein Gefühl der Rechtschaffenheit. Ich wußte, daß einer von ihnen ausgewählt werden würde. Einer würde die Rolle bekommen. Ohne weiteren Augenkontakt ging ich in die Kälte hinaus. Doch an diesem Abend wartete ein anderer Job auf mich. Jack Crowder hatte eine Tante, die ein Catering-Unternehmen für exklusive Parties betrieb. Sie heuerte Jack, Palmer und mich oft an, um als Bedienungen und Kellner auszuhelfen. Heute Abend fand eine Party im schicken Sutton Place auf der East Side statt. Jack war unabkömmlich, da er im Theater zu tun hatte. Also fand ich mich an diesem Abend in einer weißen Jacke und Fliege wieder und servierte gemeinsam mit Palmer freundlich lächelnd Kanapees und Cocktails. Anschließend
trugen wir das Abendessen auf, und schließlich räumten wir auf und machten sauber. Da war ich nun wirklich ein Diener! Ich hatte mir allerdings verstandesmäßig alles klar zurechtgelegt. Dies war nicht meine „wirkliche“ Arbeit. Ich war nicht „wirklich“ ein Diener. Mein „wirklicher“ Job war die Schauspielerei. Und am selben Morgen war ich aus dem Theater gegangen und hatte mich somit der Möglichkeit entzogen, in meinem wirklichen Job die Rolle eines Dieners zu spielen. Darin fand sich Integrität. Ich „tat heute Abend nur so“, als wäre ich ein Diener. O ja, in meinem Geiste war alles völlig klar. Doch die Ironie, die sich in meinem mühsamen Rationalisierungsversuch fand, amüsierte Palmer ohne Ende. Als wir beide die Essensreste von der Party in unsere Wohnung schafften, hallte sein zynisches Gelächter in den verlassenen Straßen wider. Es war empörend, was Jack von mir verlangte. Ich hatte seinen Mietanteil im vorangegangenen Monat mitbezahlt. Er sollte mir diesen Monat meine Miete zahlen. Wie konnte er so unverschämt sein, mich noch einmal um finanzielle Hilfe zu bitten? Er war schließlich derjenige, der ein regelmäßiges Einkommen bezog. Wenn man Jack Hilfe verweigerte, hatte er eine Art, in tiefes, verletztes Schweigen zu verfallen. Sein Gesicht zeigte den Ausdruck tiefer Einsamkeit, das Aussehen eines gebrochenen Mannes. „Denkst du vielleicht, ich würde fragen, wenn ich nicht wirklich verzweifelt wäre?“ unterbrach er sein Schweigen. „Ich will dir ja alles zurückzahlen, Mann. Doch ich hatte ein paar finanzielle Rückschläge.“ Mir war aufgefallen, daß er in letzter Zeit des öfteren nachts nicht in unserer Wohnung geschlafen hatte. Ich wußte auch, daß er Frauengeschichten
hatte und glaubte durchaus zu wissen, welcher Art seine finanziellen Rückschläge waren. „Jack, was auch immer diese Rückschläge sind, du weißt, daß du mir gegenüber noch offene Verbindlichkeiten hast.“ Ich war aschfahl. „Du kannst mich nicht noch einmal um die Bezahlung deiner Miete bitten, weil ich das Geld nicht habe. So einfach ist das.“ Ich sagte das, doch er wußte, daß ich ein Sparkonto bei der Dime Savings Bank an der Sechsten Avenue eröffnet hatte. „Na ja, das hier ist alles, was ich habe. Nimm es“, sagte er kläglich. Er hielt mir einen Zwanzig-Dollar-Schein hin. Das reichte bei weitem nicht für eine Monatsmiete, erst recht nicht für zwei. Doch ich nahm es. Und ich stand für den Rest seiner Miete wieder gerade. Palmer konnte mit seinem Bäckereiverdienst nicht mehr Geld beisteuern. Jack schlief immer seltener in der Wohnung. Ich erfuhr, daß er einen anderen Job bekommen hatte und jetzt in einem kleinen Club in der West 46th Straße sang, wenn er mit seinem Auftritt in „Fly, Blackbird!“ fertig war. Jack verdiente jetzt sein Geld an zwei verschiedenen Stellen! Und dennoch, in den Nächten, in denen er sich in unserer Wohnung aufhielt, machte er nicht die geringsten Anstalten, etwas von seinen Schulden zurückzuzahlen. Ich kochte innerlich, doch sprach ich ihn nicht darauf an. Er sollte gefälligst selbst auf mich zukommen. Ich würde ihn zu ehrenhaftem Verhalten zwingen. Aber jedes Mal, wenn ich durch die Haustür trat, von einem weiteren frustrierenden Tag fruchtloser Bemühungen völlig erschöpft, und die drei langen Treppenfluchten, die zur Wohnung führten, hinaufstarrte, verfluchte ich Jack. Er hatte Arbeit. Zwei Jobs! Und ich hatte keinen. Jeder erschöpfte Schritt die Treppenstufen hinauf wurde zu einem Tritt auf Jack Crowder. Ich war fuchsteufelswütend, wenn ich schließlich die Tür der Wohnung erreichte, für die Crowder nicht zahlte.
Josie bildete den großen Ausgleich. Es war so schön, mit ihr in unserem gewohnten Treffpunkt zusammenzukommen, im „Horn and Hardarf“-Automatenrestaurant in der Sixth Avenue. Über Kaffee und Apfelstrudel drückte sie mir ihr Mitgefühl aus. Sie schaffte es immer, meine Wut und meine Frustration wegschmelzen zu lassen – zumindest für die Zeit, in der wir zusammen waren. Josie war der Ansicht, ich sollte mit Jack offen reden. Er sollte seine Schulden bezahlen oder das Problem auf andere Weise lösen. Es war ungesund für mich, Tag für Tag innerlich so vor Wut zu kochen. „Geh das Problem an und mach dann mit deinem Leben weiter.“ Natürlich hatte sie recht. Sehr spät ging ich eines Abends in den Club, kurz bevor dieser schloß. Der Raum war fast leer. „Ich möchte gerne mit Jack Crowder sprechen“, sagte ich zum Türsteher. „Ich bin sein Mitbewohner.“ Er führte mich in ein kleines, mit einem Vorhang verhängtes Kämmerchen im rückwärtigen Teil des Lokals hinter der Küche. Es war Jacks Umkleidekabine, und er schminkte sich nach seiner letzten Show gerade ab. „Oh, George!“ Jack wirkte durch mein plötzliches Erscheinen erschreckt, doch setzte er rasch ein breites Lächeln auf. „Du hättest nicht hierher kommen müssen, weißt du. Ich hatte vor, dir morgen dein Geld zurückzuzahlen. Den ganzen Betrag. Ich bin heute Nacht gerade bezahlt worden.“ „Ich weiß“, sagte ich kurz angebunden. „Deswegen bin ich hier. Ich hätte das Geld gerne jetzt sofort.“ Jack beendete das Abschminken auf sehr methodische Weise und arrangierte sein Make-up mit übermäßiger Genauigkeit auf der kleinen Ablage, die als sein Tisch fungierte. Er wirkte unbeholfen, während ich schweigend dastand und wartete. Dann stand er lächelnd auf und sagte: „Entschuldige mich für einen Augenblick, ich muß die Kohle beim Manager holen.“ Er verließ das Kämmerchen
so rasch, daß ich seine letzten Worte noch nicht ganz registrieren konnte. Ich dachte, daß er gesagt hatte, er sei bereits bezahlt worden. Dann sah ich, daß sein Mantel immer noch am Kleiderhaken hing. Daraus folgerte ich, daß er sein Geld vielleicht beim Manager des Clubs aus Sicherheitsgründen hinterlegt hatte. Plötzlich kehrte Jack zurück. „Entschuldige“, sagte er lächelnd und nahm seinen Mantel, „ich komme gleich zurück.“ Dann entschwand er wieder. Ich stand eine Sekunde lang verdattert da. Daraufhin rannte ich in den leeren Club, nur um zu sehen, wie er aus der Eingangstür hinaushetzte. „Jack!“ schrie ich ihm nach und folgte ihm. Als ich zur Tür hinausstürmte, war er bereits einen halben Block entfernt. „Jack, komm wieder her!“ Ich wurde wütend, als ich losrannte. Jack lief um die Ecke und eilte mit seinen langen, ausholenden Schritten die 8. Avenue entlang. Ich setzte ihm nach und brüllte aus Leibeskräften: „Jack, komm zurück! Komm sofort her! Jack!“ Sein Mantel flatterte wild hinter seiner schmächtigen Gestalt wie ein großes, langes Cape, während ich ihm eine wilde Jagd lieferte. „Jack! Komm zurück!“ Der frühmorgendliche Anblick eines großen schwarzen Mannes, der überstürzt entlang einer menschenleeren Achten Avenue vor einem erbosten Asiaten flüchtete, war sicherlich etwas, das irgendeinen zufällig des Weges kommenden Betrunkenen schlagartig ernüchtert hätte, so unplausibel wirkte die ganze Szene. Ich erwischte Jack nie. Er hatte einfach die längeren Beine. Und er kehrte nie zur Wohnung zurück. Sein Wandschrank war mit seiner Kleidung prall gefüllt, er hatte diesbezüglich einen edlen, teuren Geschmack. Ich war so wütend, daß ich die Sachen zum Pfandleiher trug. Dieser maß den Sachen jedoch
keinen allzu hohen Wert bei. Trotzdem schickte ich Jack die Pfandscheine an seine neue Adresse. Palmer und ich hatten nun ein anderes Problem. Wir würden die Miete zu zweit nicht mehr auf Dauer bezahlen können. Meine Ersparnisse waren bereits deutlich zusammengeschmolzen. Ich hatte gerade noch genug, um mir den Rückflug nach Los Angeles leisten zu können, und diesen Teil wollte ich nicht anrühren. Wir benötigten eine billigere Wohnung. Über Kaffee und Apfelstrudel bei „Horn and Hardart“ schlug mir Josie vor, mit ihr zusammenzuziehen. Ich legte meine Hand sanft auf die ihre. Nach dem Ärger, dem Trauma und der Bitterkeit der letzten paar Tage konnte ich es plötzlich nicht mehr verhindern, daß mir Tränen in die Augen stiegen. Die liebe Josie, meine kluge Gesangs- und Tanzpartnerin, die zarte Besänftigerin meiner Wut und meiner Seele – meine süße, verletzliche Josie, die ich vor dieser harten, kalten Stadt beschützen wollte, – bot mir nun statt dessen an, mein Schutzengel zu werden. Und da, mitten im Automatenrestaurant, zog ich sie an mich und küßte sie. Jack Jackson rief an. Seine Stimme hatte einen diplomatischen, wenn auch etwas nervösen Tonfall. „George, wir haben hier mit der Show ein kleines Problem“, fing er an. Ich wunderte mich darüber, warum er mir eine solche Information zukommen ließ. „Fly, Blackbird!“ lief immerhin schon seit mindestens drei Monaten. Was sollte irgendein Problem mit der Show jetzt noch mit mir zu tun haben? Dann, auf sehr langsame, sehr schonende Weise, fing Jack an, mir zu erklären, was der Grund für seinen Anruf war. Der Schauspieler, der bis dahin George dargestellt hatte, verließ die Show. Er hatte in einer anderen Produktion eine Rolle erhalten.
Und ich kannte die zugrundeliegende Rolle, wenn auch nicht in der Inszenierung der New Yorker Produktion. Und das war der große Vorteil, den die Produzenten brauchten. „Glaub mir, ich weiß, wie du dich jetzt fühlst. Doch sie baten mich, dich zu fragen, ob du bereit wärst einzuspringen.“ Ärger, gemischt mit dem Gefühl der Demütigung, durchflutete mich, den Empfindungen vergleichbar, die ich hatte, als man mir erzählte, ich würde die Rolle nicht bekommen. Nur gab es jetzt kein Gefühl des Schocks mehr. Statt dessen stieg in mir ein gewisser Unwille auf, eine andere Art Schmerz. Ich blieb lange Zeit still. „Ich verstehe, was du jetzt fühlst.“ Jack unterbrach das Schweigen. „Wirklich, George, ich kann es nachempfinden. Ich würde es verstehen, wenn du es nicht machen willst.“ Ich antwortete nicht. Ich konnte nicht. In mir tobten widerstreitende Gefühle. Schließlich sagte ich: „Laß mich darüber nachdenken, Jack. Ich rufe dich in einer Stunde zurück.“ Während dieser Stunde lief ich in den Straßen der Stadt umher. Ich lief im Gleichschritt mit der wimmelnden Masse auf den Gehwegen. Tausende Leute, jeder in seiner kleinen Welt gefangen, mit seinen eigenen Problemen, seinen eigenen privaten Ängsten. Ich passierte etliche Blocks. Ich erreichte den Central Park. Die Zweige der Bäume, verwittert und grau von den kalten Winterstürmen, fingen jetzt doch damit an, zarte grüne Triebe sprießen zu lassen. Die Vögel begannen, zwischen den Zweigen zu singen und herumzuflattern. Schließlich ging ich zu einer Telefonzelle und rief Jack an. Ich schluckte meinen Stolz hinunter, ich mußte sehr mühsam schlucken, und ich sagte ihm: „Jack, ich mach’s. Ich spiele George. Wann soll ich mit den Proben anfangen?“ Die New Yorker Produktion von „Fly, Blackbird!“ lief nur noch einige Wochen lang. Ich spielte George bis zum Schluß.
12 Rückkehr nach Hollywood Ich feierte meinen fünfundzwanzigsten Geburtstag in New York City. Ein Vierteljahrhundert. Ich hielt mich jetzt schon fast ein Jahr lang in Manhattan auf, hatte diesbezüglich allerdings wenig vorzuweisen. Nichts tat sich mit meiner Karriere. Zwei Gastauftritte im Fernsehen und ein paar Fototermine, bei denen ich als Modell agierte. Meine einzige Theatertätigkeit in New York bestand aus wenigen Wochen als Schauspieler in „Fly, Blackbird!“. Vorher in Los Angeles hatte es wenigstens eine stetige Aufwärtsentwicklung meiner Karriere im Film- und Fernsehbereich gegeben- außerdem litt ich unter Heimweh nach meiner Familie und meiner Stadt. Josie hatte auch Eltern, die in Los Angeles wohnten, und ihr fehlten die geräumigen Verhältnisse und der Sonnenschein. Wir entschieden uns beide, dorthin zurückzukehren, bevor es wieder kalt werden würde. Ich löste mein Sparkonto bei der Dime Savings Bank auf und kaufte mir das Rückflugticket nach Los Angeles. Das erste, was wir taten, als wir zurückkehrten, war eine Fahrt entlang der Küste mit dem großen Buick meines Vaters – den Pacific Coast Highway hinauf bis nach Santa Barbara. Es hatte etwas Befreiendes. Nach diesem erdrückenden Menschengewimmel, der Hetze und dem Gedränge zwischen Wolkenkratzern war der blaue Himmel, der Ozean, der Sonnenschein, die Brise und die offene Weite etwas unglaublich Angenehmes.
Wir waren Kalifornien Wir brauchten die Freiheit, mit dem Wind über die welligen Hügel Malibus und an den Yachthäfen von Ventura entlangzufahren. Die Möwen kreisten und segelten am Himmel, ganz ohne erkennbares Ziel. Wir waren wieder an unseren Ausgangspunkt zurückgekehrt, nach Kalifornien. Aber in der Zwischenzeit hatten wir uns verändert. Wir hatten in Manhattan das Zwanzigste Jahrhundert in seiner reinsten Ausprägung erlebt. Wir wußten nun, mit welchem Gewimmel, welchem Konkurrenzdruck und welchen Zufälligkeiten man konfrontiert wurde, wenn man überleben wollte. Doch wir waren uns sicher, daß wir uns bewährt hatten. Überhaupt konnte man nur sagen, daß die Zeit in New York unseren Eifer angestachelt, unsere Entschlossenheit gestärkt und uns dem machtvollen Potential des Theaters gegenüber wieder wachgerüttelt hatte. Wir brauchten jetzt nur eine Zeit der Entspannung, eine Atempause, dann würden wir bereit sein, uns wieder ins Berufsleben zu stürzen. Als wir am Strand bei Santa Barbara unsere Füße in den kalten Pazifik steckten, sprachen wir über unsere nächsten Vorhaben. Josie wußte, daß das Theater eine einflußreiche Macht darstellte, um ein neues Amerika aufzubauen. Es sprach eine Sprache, die Herz und Verstand miteinander verband, und damit mußte der Dialog fortgesetzt werden, um gesellschaftliche Änderungen zu bewirken. Sie hatte mit Jack Jackson über ein multikulturelles Theater gesprochen, in dem nicht nur die Darsteller auf der Bühne, sondern auch die Entscheidungsträger, die Künstler und, weitaus wichtiger, die Zuschauer das gesamte ethnische Spektrum einer Gesellschaft widerspiegeln würden. Das wäre dann wirklich ein Theater, das die „Vielfalt Amerikas“ repräsentieren würde. Josie sprach davon, ein neues amerikanisches Theater zu gründen, das die
Energie unserer Produktion von „Fly, Blackbird!“ in Los Angeles auf eine höhere Ebene überspringen lassen würde. Auf diesem Strand in Santa Barbara schwangen sich unsere Pläne, wie die am Himmel kreisenden Möwen, zu kühnen Höhenflügen empor. Wir waren ja schließlich wieder in Kalifornien, wo Träume scheinbar immer noch verwirklicht werden konnten. Fred Ishimoto begrüßte mich enthusiastisch, als wir uns wiedertrafen. Ich hätte in der Zwischenzeit eine Menge an Aktivität verpaßt, erzählte er mir, und er begann damit, mir eine ellenlange Liste von Film- und Fernsehprojekten vorzulesen, von denen er überzeugt war, daß ich dort Rollen erhalten hätte – wäre ich in Los Angeles geblieben. Ich haßte diese spekulative Betrachtungsweise der Vergangenheit mit ihrem ganzen Wenn und Aber. „Fred, ich sehe es nicht ein, über vergossene Milch zu jammern“, hielt ich ihm entgegen. „Doch ich glaube, daß man sich vergewissern kann, ob die neue Milch viel Rahm enthält. Und das ist dein Job – mir die Sahne zu besorgen.“ „Junge, Junge“, rief er aus. „Schick den Knaben nach New York, und er kommt zurück und diktiert dir Befehle. Also gut: Ja, Sir!“ und er unterstrich seinen Ausruf, indem er zackig salutierte. Innerhalb eines Monats hatte Fred mich in einer Gastrolle einer neuen Arzt-Serie mit Wendell Corey in der Hauptrolle untergebracht, „11th Hour,“ in der ich einen jungen Psychologen spielte. Sporadisch folgten andere Jobs beim Fernsehen, zum Beispiel in „My Three Sons“, „The Gallant Men“, und „Mister Roberts“, wobei der bemerkenswerteste Auftritt bei einer „Twilight Zone“-Episode war, in der ich zusammen mit Neville Brand spielte. Ich machte auch an der UCLA weiter, wo ich aufgehört hatte. Ich hatte beinahe alle Voraussetzungen für den
Magisterabschluß beisammen. Die letzte Hürde war die Dissertation. Ich entschied mich, darin über Arthur Hopkins zu schreiben, den großen Produzenten und Regisseur, der am Plymouth-Theater in New York von 1917 bis 1926 das Sagen hatte. Also schleppte ich meine Bücher zu den Dreharbeiten mit. „Sie sind ein so fleißig studierender junger Mann, George. Studieren, studieren, studieren.“ So kommentierte Cary Grant die Bücher, die sich in der Tasche meines Stuhles am Drehort befanden, als ich mit ihm in „Nicht so schnell, mein Junge“ zusammenarbeitete, einer Komödie, in der auch Jim Hutton und Samantha Eggar in den Hauptrollen zu sehen waren. „Warum wollen Sie ein gebildeter Schauspieler sein, wenn es völlig ausreicht, gut auszusehen und sich dumm zu stellen, so wie ich?“ „Na ja, da ich nicht so gut aussehe wie Sie“, antwortete ich, „dachte ich mir, meine Chancen zu verbessern, indem ich mein Wissen ein wenig aufpoliere.“ „Gute Idee. Sich bilden. Sie werden so klug sein, daß Sie Produzent werden. Und wenn Sie ein wirklich gewiefter Produzent sind, werden Sie mir Millionen und Abermillionen Dollar dafür zahlen, daß ich in Ihren Filmen mitspiele. Studieren Sie weiter, rate ich ihnen.“ Cary mußte einfach immer das letzte Wort haben. Ich erhielt meinen Magisterabschluß von der UCLA 1964, doch entgegen Cary Grants Prophezeiung wurde ich nicht Produzent. Statt dessen machte ich meinen ersten Versuch, in Daddys Fußstapfen zu treten. Ich legte selbständig Geld in Immobilien an. Natürlich erhielt ich Ratschläge von Daddy, doch führte ich meine eigene Suche nach einem geeigneten Objekt durch, machte meine eigenen Analysen und verhandelte auch selbst. Daddy fungierte dabei nur als Berater im Hintergrund. Ich legte die Gewinne aus meinem Geschäft mit
Friedhofsparzellen in einem bescheidenen Appartementhaus für acht Mietparteien in der Nähe eines Krankenhauses an. Ich dachte mir, daß sich aus den Mitarbeitern des Krankenhauses gute Mieter finden lassen müßten. Dieses neue Unternehmen erforderte allerdings, im Gegensatz zu Friedhofsparzellen auch Instandhaltungsarbeiten. Also führte ich zwischen den Drehterminen einige Malerarbeiten aus oder brachte den Garten in Ordnung. Glücklicherweise kamen und gingen meine Schauspielerjobs in einigermaßen regelmäßigen, wenn auch unvorhersehbaren Abständen. Unstetigkeit kennzeichnete zu diesem Zeitpunkt eher meine Karriere als regelmäßige Engagements. Ganz sicher hatte ich es nicht erwartet, mit so vielen HollywoodGrößen zusammenzuarbeiten. Bei meinem nächsten Job arbeitete ich unter dem legendären Regisseur Howard Hawks. Er war neunundsechzig Jahre alt, dünn wie eine Bohnenstange und hatte einen kahlen, von einer Strähne schneeweißen Haares gekrönten Kopf, aber seine Augen waren zielstrebig und scharf. Für seinen neuen Film, in dem es um Rennen mit Serienwagen ging, und der den Titel „Rote Linie 7000“ trug, hatte er die Rollen nur mit jungen, unbekannten Schauspielern besetzt. Ich spielte darin einen Mechaniker, der, wie er mir erzählte, ursprünglich hätte Kelley heißen sollen, der wegen mir aber in Kato umbenannt worden war. Hawks war dafür bekannt, ein scharfes Auge für talentierte und junge unbekannte Schauspieler zu haben, die später zu Stars wurden, wie beispielsweise Lauren Bacall. Schon wieder machte er die gewagte Vorhersage, daß alle sieben jungen Darsteller seines Films Karrieren als Filmstars vor sich hätten. Doch aus der Gruppe gelang es nur James Canaan, diese Prophezeiung zu erfüllen. Die Vorstellung, ein Star werden zu können, ist trügerisch. Sie kann die Sicht und die Urteilsfähigkeit einschränken, und
sie kann das Gleichgewicht der eigenen Wertvorstellungen stören. Man wird von einem Feuer in Besitz genommen. Ich selbst konnte mich in diesen frühen Jahren auch nicht immer dagegen wehren. Wie sehr ich manchmal die Folgesymptome in den von Selbstmitleid erfüllten Stunden der Nacht verspürte, im kalten blauen Licht der späten Wiederholungen alter Spielfilme! Es passierte immer dann, wenn eine der beiden Jerry-LewisKomödien, bei denen ich mitspielte, über die Mattscheibe flimmerte: „Ein Froschmann an der Angel“ oder „Wo bitte gehts zur Front“. Ich lag still im Bett, während mir Schauer über den Rücken liefen. Dann packte mich ein Krampf, und ich richtete mich auf. Manchmal hatte ich vor Ekel meinen Kopf im Kissen vergraben. Doch jedesmal starrte ich von Entsetzen gepackt den Bildschirm an, und sah mir selbst zu, wie ich schablonenhafte „orientalische“ Typen spielte, ausländische, gesichtslose Verrückte! Fred, der ja eigentlich mein Agent sein sollte, der gute Wächter meiner Karriere, hatte mich dazu überredet, das zu tun. „Jerry Lewis ist der an den Kinokassen erfolgreichste Star Hollywoods“, sagte er enthusiastisch zu mir. „Es wird dir nicht wehtun, in einem großen, viel Geld einspielenden Film mitzumachen. Jeder, der bei seinen Produktionen dabei ist, verdient eine Riesenkohle, und du wirst dann dazugehören.“ Und dann bekam seine Stimme einen verführerischen Tonfall. „George, es wird dir dabei helfen, ein Star zu werden!“ Und wenn einem die Vorstellung, ein Star werden zu können, zu Kopf steigt, entspricht dies einem Virus, der geistige Unzurechnungsfähigkeit bewirkt. Die Agenten sind üblicherweise die Überträger. Diese hochansteckende Krankheit wütete geradezu in dieser Kleinstadt namens Hollywood.
Jerry Lewis selbst war eine angenehme Überraschung. Seine Filmstimme hatte den bekannten nasalen Tonfall, doch unerwarteterweise hatte seine normale Stimme einen angenehmen Klang und wirkte ruhig. Außerhalb der Kamera war die manische Energie verschwunden, und er strahlte Selbstbeherrschung und Autorität aus. Er führte in den Filmen Regie, und am Drehort wußte jeder, wer das Sagen hatte. Ich fand auch, daß er zu den innovativsten Filmemachern gehörte. Ich hatte noch nie eine Fernseh-Playback-Maschine an einem Drehort gesehen, bevor ich mit Jerry Lewis zusammenarbeitete. Anstatt vierundzwanzig Stunden zu warten und sich die Arbeit des vorherigen Tages in sogenannten „Dailies“ anzusehen, konnte sich Jerry Lewis mit Hilfe der Playback-Maschine unmittelbar nach dem „Schnitt!“Schrei die letzte Szene anschauen. Dies verkürzte die kostspielige Zeit und verminderte den Arbeitsaufwand. Mußte die Szene wiederholt werden, konnte dies sofort an Ort und Stelle geschehen. Heutzutage hat sich dieses Verfahren längst allgemein durchgesetzt, doch in den Sechzigern war Jerry Lewis ein Pionier, was die Einführung dieser neuen Technologie in die Filmemacherei betraf. Film und Fernsehen erhielten meine Karriere als Schauspieler aufrecht, doch das Theater war immer noch etwas, das sich meinem Zugriff quälend entzog. Los Angeles hatte eine lebendige Theaterszene. In Hollywood gab es bruchbudenhafte und abenteuerlich wirkende kleine Theater, und in der Akropolis der Kultur im südlichen Kalifornien, dem Los Angeles Music Center in der Innenstadt, lagen die großen Institutionen: Die „Center Theater Group“, an der UCLA durch den großen John Houseman ins Leben gerufen, inszenierte bedeutende Werke im „Mark Taper Forum“, und das Ahmanson-Theater präsentierte berühmte Künstler wie
Ingrid Bergman in O’Neills „More Stately Mansions“ oder Richard Chamberlain in „Cyrano de Bergerac“. Doch erging es mir hier nicht anders als in New York; ich war nur als Zuschauer Teil dieser elektrisierendenTheaterszene. Eines nachts gingen Josie und ich in ein kleines Theater am Santa Monica Boulevard in Hollywood, um eine Produktion von Jean Genet zu sehen, sein Gefängnisdrama „Die Totenwache“. Es fand in einer Klaustrophobie verursachenden, kleinen Gefängniszelle statt, in der drei Gefangene saßen: Ein scharfsinniger und sich einschmeichelnder Homosexueller, dann das muskelbepackte, gutaussehende Objekt seiner Begierde, und ein sich abkapselnder und still vor sich hin brütender Zellengenossen. Die Schauspieler, die die drei Rollen spielten, waren hervorragend. Paul Mazurski wirkte als Homosexueller elektrisierend, Michael Forrest höhnisch und charismatisch als das Objekt der Aufmerksamkeit. Ein Schauspieler namens Leonard Nimoy wirkte auch in der am wenigsten auffallenden Rolle des Trios immer noch überzeugend. Wir verließen das Theater nach der Vorstellung und waren beeindruckt, doch wir sagten nur Paul Mazurski und Michael Forrest vielversprechende, brillante Karrieren voraus. Der dritte Schauspieler, Nimoy, machte auf uns zwar auch einen guten Eindruck – doch er schien uns zu intellektuell, zu cool zu sein und keine Starqualitäten zu besitzen. Es war eine ungewöhnlich schwüle Augustnacht, einer dieser Sommerabende in Los Angeles, an denen nicht einmal die Dunkelheit Erleichterung bringt. Die Leute fuhren herum, nur um sich die schwere Luft ins Gesicht wehen zu lassen. Es war sinnlos. Man konnte dieser Hitze nicht entkommen. Ich kann mich nicht daran erinnern, warum ich bei Jack Jackson vorbeischaute. Er war von New York nach Los Angeles zurückgekehrt und lebte im Echo-Park-Distrikt. Ich
fuhr bei ihm oft nur vorbei, um mit ihm zu reden. Wahrscheinlich war ich diesmal zu ihm gekommen, um die Idee eines neuen amerikanischen Theaters mit ihm zu diskutieren, über die Josie und ich bereits gesprochen hatten. Ich weiß es nicht mehr genau. Doch kann ich diese Nacht vom 12. August 1965 niemals vergessen. Das Bild im Fernseher wackelte. Es taumelte und torkelte von einer chaotischen Szene zur nächsten Feuersbrunst. Man hörte Schreie und Rufe. Polizeisirenen jaulten ununterbrochen. Die Stimme des Reporters wirkte atemlos und angespannt. Ein Aufstand war in Watts ausgebrochen und bahnte sich seinen Weg in andere Stadtteile. Riesige Flammensäulen standen am Nachthimmel. Einige Leute waren erschossen worden. Jack und ich sahen wie gelähmt zu. Vor unseren Augen spielte sich das schmerzhafte Schauspiel ab, wie unsere Stadt im Aufstand versank; blutbesudelte Leute, die wütend ihre Fäuste der Kamera entgegenstreckten, verzerrt dreinblickende Gesichter, von den Flammen brennender Gebäude erhellt. Wir spürten, wie blinde Wut uns aus dem Bildschirm entgegenschlug. Doch wurden wir mit einem noch größeren Alptraum konfrontiert – wir mußten zusehen, wie eine große amerikanische Illusion zerstört wurde. Die Illusion, daß Trennung und Gleichheit mit ausgehöhlten Symbolen aufrechterhalten werden können, daß Hoffnung durch künstlich errichtete Ideale gestützt werden und die Ordnung mit Hilfe von Versprechungen erhalten werden kann. Wir beobachteten das furchtbare Versagen von Versprechen, die zu lange nicht eingelöst worden waren; die Verzweiflung konnte nicht länger unterdrückt werden. Das ganze vernichtende Gewicht dieser Geschichte führte vor unseren Augen zur Explosion und wurde von Flammen verzehrt.
Ich sah zu Jack hinüber. Das bläuliche Licht des Bildschirms flackerte über sein versteinertes Gesicht. Er blickte starr auf das Chaos. Und ich sah, wie Tränen seine Wangen hinabliefen. Eine lähmende Angst ergriff von mir Besitz. Mein Freund litt Schmerzen, war einer stillen, fürchterlichen Qual ausgesetzt, und ich konnte nichts tun. Alles, wofür wir gekämpft hatten, ging in Flammen auf. Jack litt, und alles, was ich machen konnte, war, zusammen mit ihm dazusitzen. Ich beugte mich zu ihm hinüber und umarmte ihn sanft, als unsere Welt vom Feuer des Chaos zerstört wurde. Und Jack brach zusammen. „Ich bin wütend, George“, schluchzte er. „Ich bin so wütend, daß ich da draußen mit ihnen zusammen sein könnte. Ich bin so wütend, daß ich einen Ziegelstein nehmen und ihn gegen irgend etwas werfen könnte.“ Jack zitterte, so sehr packte ihn unkontrollierbare Verzweiflung. Dies war ein Mann des Erfolgs, ein Mann, der sich mit Leichtigkeit unter Akademikern und der Machtelite New Yorks bewegen konnte. Und doch spürte ich in seinem tiefsten Inneren die Wut des schwarzen Mannes in Amerika. Ich fühlte, wie Jacks Qual auf mich übersprang, die aufgestauten Emotionen, bewirkt von lebenslangen, subtilen und doch verletzenden Angriffen, von taubgestellten Ohren, die sich von geflüsterten Affronts abwandten, von Demütigungen, die aus keinem erkennbaren Grund stattfanden, außer dem der Hautfarbe. Jacks Wut ließ sich nicht länger zurückhalten, ebensowenig wie die Massen auf den Straßen. Ich spürte, wie sie auch von mir Besitz ergriff. Ich weinte. Während der ganzen Nacht wurde Los Angeles von den Krawallen, von Gewalt und Feuersbrünsten erschüttert. Meine geliebte Heimatstadt ging in Flammen auf. Und mit ihr die Unschuld Amerikas, die geglaubt hatte, sie hätte irgend etwas mit moralischen Überredungskünsten bewirken können.
Das Land ging aus einer Zeit der Demonstrationen und Proteste in eine Periode des Radikalismus und Nihilismus hinüber. Desillusionierte Idealisten verwandelten sich über Nacht in tobende Chaoten. Meine schwache Erinnerung an die militanten pro-japanischen Radikalen des Internierungslagers von Tule Lake nahm konkretere Formen an, als ich das Auftreten der Schwarzen Panther, der Weathermen und der Simbionese Liberation Army beobachtete. Das bemerkenswerteste Phänomen, das ich sah, spielte sich allerdings bei meinen engsten Freunden ab. Josie und Jack rafften sich auf und machten sich an die Arbeit, die Idee eines Theaters des Volkes zu verwirklichen. Sie hielten in einer Zeit des furchtbarsten Extremismus mit Entführungen, Bombenattentaten und radikalem rassistischen Nationalismus ihre ursprüngliche Vision aufrecht. Sie intensivierten ihre Bemühungen, ein Ideal in die Realität umzusetzen, ein wirkliches multikulturelles amerikanisches Theater zu gründen. Sie wurden dabei von zwei amerikanischen Frauen asiatischer Herkunft unterstützt, Elaine Kashiki und Jeanne Joe. Sie nannten ihr Projekt das „Inner City Cultural Center“ (innerstädtisches Kulturzentrum). Ich wollte mich selbst dieser Herausforderung stellen. Ich teilte ihre Visionen und ihr Ziel. Die Idee einer amerikanischen Kultur, durch ihre Vielfalt gestärkt, anstatt von ihr zerbrochen zu werden, sollte nicht einfach wieder ein weiteres Experiment werden, das ausprobiert und dann irgendwann als mißglückt abgetan werden würde. Ich war überzeugt, daß die Einheit in der Vielfalt der eigentliche Wesenskern von Amerikas Zukunft sein mußte. Der Kampf für ein multikulturelles Theater würde hart werden, doch nichts von Wert wird kampflos erreicht. Wir mußten unsere Anstrengungen verdoppeln. Dies war die Fortsetzung unseres „Fly, Blackbird!“-Traumes.
Doch trat an diesem Punkt ein anderer Traum in mein Leben. Es war auch eine Vision der pluralistischen Welt, doch war deren Ort ein Raumschiff, unterwegs zu den Sternen. Dieser phantastische Traum gelangte durch einen Telefonanruf in mein Leben und schickte mich hinaus in die Galaxis.
WIE STAR TREK BEGANN
13 Mein Treffen mit Mr. Rosenbury Es gibt ein allgemein bekanntes, alltägliches Geräusch, so gewöhnlich wie das Klingeln an der Tür oder ein pfeifender Wasserkessel. Aber dieses einfache Geräusch scheint so viele Varianten zu haben wie die Stimme eines Bauchredners. Es kann eine Trompete oder ein schriller Alarm werden. Es kann einem dabei kalt vor Furcht oder heiß vor Aufregung den Rücken hinunterlaufen. Derselbe Ton kann ein Ende oder einen Neubeginn signalisieren. Die Wendepunkte in meinem Leben wurden von diesem Geräusch angekündigt. Es ist der Ton eines klingelnden Telefons. „Star Trek“ begann für mich mit diesem undefinierbaren Geräusch. Tatsächlich hätte ich es sogar beinahe verpaßt. Ein anderes Geräusch hat mich gestört. Ich kam soeben von meinem morgendlichen Lauf durch die Nachbarschaft im Wilshire District nach Hause und stand unter der Dusche. Die Resonanz der Duschkabine und der warmen Wasserstrahlen veranlaßten mich unweigerlich dazu, Schnulzen zu singen, zum Beispiel von Sinatra. Glücklicherweise bewahrte mich das Rauschen des Wassers davor, daß ich mich selbst so richtig hörte. Aber an diesem Morgen hielt es mich auch davon ab, das Telefonklingeln wahrzunehmen. Es mußte schon seit geraumer Zeit geläutet haben, als ich glaubte, ein entferntes Geräusch zu hören. Ich lauschte. Natürlich klang es wie das Telefon. Ich drehte das Wasser ab. Ja, das war’s.
Triefend naß und ein klein wenig genervt nahm ich den Hörer ab. Es war mein Agent Fred Ishimoto. „Oh, du bist doch da“, begrüßte er mich mit überraschter Stimme. Natürlich bin ich hier, dachte ich bei mir. Warum sonst würde er wohl mit mir reden können. Ein ärgerlicher Weg, eine Unterhaltung zu beginnen. „George, ich habe einen Vorstellungstermin für dich bekommen können, morgen früh im Desilu-Studio. Schaffst du das?“ Fred war immer direkt und sehr sachlich. „Erzähl mir etwas darüber“, bat ich ihn. Die Tropfen, die meinen Körper hinunterrannen, wurden langsam kalt. Es sei ein Pilotfilm für eine Serie geplant, erklärte er. Ein Raumfahrtgeschichte, irgend etwas, das in der Zukunft spielte. Meine Rolle sollte großartig sein. Ich sollte den Schöpfer und Produzenten, einen gewissen Gene Roddenberry treffen. Ich kritzelte die Information auf einen Notizblock, der sofort naß und verschmiert war. „Geht das in Ordnung, George?“ wiederholte er. Ich sagte ihm, daß ich hingehen würde. „Gut, gut, gut. Und, wie geht es sonst so?“ fügte er hinzu. Es klang eher oberflächlich als besorgt. Ich erklärte ihm, daß ich naß und nackt war und mich langsam unwohl fühlte. „Oh, deswegen hat es so lange gedauert, bis du am Telefon warst“, kicherte er. „Gut, dann schnell zurück in dein Schönheitsbad.“ Ich dankte ihm, legte auf und schlich zurück unter die Dusche. Der warme Wasserstrahl tat gut. Und dann fiel es mir erst auf. Ich hatte völlig vergessen, Fred nach dem Namen der Serie zu fragen. Die Desilu-Studios waren nichts anderes als die ehemaligen RKO-Studios. Jene Buchstaben R, K und O standen für RadioKeith-Orpheum, eine Gesellschaft, die seinerzeit mit dem
Betrieb einer ganzen Kette von Varietes begonnen hatte. In einer Stadt, die nicht gerade für Stabilität bekannt war, hatte dieses Filmgelände schon mehr gute und schlechte Zeiten gesehen, als irgendein anderes Studio in Hollywood. Es schien seine besten Zeiten gesehen zu haben, als Howard Hughes, der legendäre Milliardär, es im Jahre 1948 für etwas weniger als neun Millionen Dollar kaufte. Er baute es neu auf, schuf Stars wie Jane Russell, und, wenn die Legende wahr ist, verkaufte er es einige Jahre später an die General Tire and Rubber Corporation für fünfundzwanzig Millionen Dollar. Unter diesem neuen Management, das sich mit dem Showgeschäft nicht gut auskannte, begann der Glücksstern des Studios weiter zu sinken. Erst als Lucille Ball und Desi Arnaz mit ihrer spektakulären und äußerst beliebten Comedy-Serie „I Love Lucy“ einen großen Hit landeten, fand diese mißbrauchte und häufig enteignete Filmfabrik zu einer glücklicheren Existenz. Lucy und Desi hatten sich dazu entschlossen, den Betrieb des Studios selbst in die Hand zu nehmen, und hatten damit dem alten Gelände zu neuem Glanz verholfen. Sie hatten es für ganze fünf Millionen Dollar erstanden. Fünfzehn Soundstages und vierzehn Morgen erstklassiger Grundbesitz mitten in Hollywood. Dies war das Studio, in dem Lucille Ball damals in den dreißiger Jahren einmal für ganze fünfzig Dollar die Woche unter Vertrag stand, und in dem man Desi Arnaz nur als einen von vielen lateinamerikanischen Sängern und Musikern angesehen hatte, für die man lediglich in Musikszenen Verwendung fand. Es war das Studio, wo sie sich als kleine Angestellte abgeplagt hatten. Jetzt gehörten ihnen eine eigene Filmgesellschaft, eine Legende, ein staubiges Gelände mit allem, was dazugehörte. Eins der ersten Dinge, die sie veranlaßten, war es, die großen Studiomauern, die das Gelände umgaben, komplett neu streichen zu lassen; und ganz oben, nahe der Kreuzung
Melrose Avenue und Gower Street, ließen sie in hellen, fetten Buchstaben das Wort „Desilu“ auftragen, ein aus ihren beiden Namen gebildetes Akronym. Ich sah zu diesem Wort hinauf, als ich in Richtung des Bungalows ging, in dem sich das Büro des Mannes befand, den ich treffen sollte. So etwas gibt es tatsächlich in diesem unberechenbaren Geschäft. Ein rothaariges Chormädchen aus Jamestown, New York, und ein eingewanderter kubanischer Konga-Trommel-Spieler können heutzutage zu Film-Mogulen aufsteigen, die einem Studio ihren eigenen Namen geben. Es ist ein verrücktes Geschäft, dachte ich, wo sich Träume noch erfüllen können. Ich fragte mich, was dieser Vorstellungstermin bei diesem Produzenten für meine Karriere bedeuten konnte. Fred hatte gesagt, daß es um einen Pilotfilm ging. Das hieß, wenn er verkauft würde, wäre es eine regelmäßige Arbeit. Und ich sollte nun den Mann treffen, der mich zu einem solide arbeitenden Schauspieler machen konnte. Wie war sein Name? Ich zog den vom Wasser zerknitterten Zettel heraus, den ich vom Notizblock am Telefon abgerissen hatte. Es steckte zerknüllt in meiner Tasche, die Handschrift darauf war, vorsichtig ausgedrückt, ziemlich unleserlich, und die WasserSchmierflecken darauf halfen auch nicht viel weiter. Ich konnte einfach nicht mehr genau feststellen, was ich aufgeschrieben hatte. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wie der Name während meiner Unterhaltung mit Fred am vergangenen Morgen am Telefon geklungen hatte. Es schien, als könne ich mich an den Klang wesentlich besser erinnern, als dieses traurig aussehende Gekritzel zu entziffern, das ich notiert hatte. Und schon hatte ich den Bungalow des Produzenten erreicht. Die Zahl auf der Tür bestätigte, daß ich hier richtig war, aber es stand kein Name darauf, der mir hätte
weiterhelfen können. Mit oder ohne Namen ging ich in das Büro der Sekretärin hinein. Eine Dame mit einem sanften Willkommens-Lächeln saß hinter einem Schreibtisch mit einem Schildchen, auf dem „D.C. Fontana“ stand. „Morgen“, sagte ich. „George Takei, ich bin hier, um Mr. Rosenbury zu treffen.“ Sie lächelte höflich und berichtigte: „Er heißt Gene Roddenberry“, sie sprach seinen Nachnamen sorgfältig aus. „Nehmen Sie bitte Platz.“ Oh, großartig, dachte ich, diesmal fange ich es ja wirklich toll an. Ich verunstalte den Namen des Produzenten, schon bevor ich den Mann auch nur getroffen habe. Und das hier könnte ein Serienengagement bedeuten. In dem Augenblick bemerkte ich, wie nervös ich war. Ich blätterte durch einige Exemplare der „Daily Variety“ und des „Hollywood Reporter“, die auf dem Couchtisch lagen. Aber ich konnte nicht ein Wort lesen. Die Aussicht auf eine regelmäßige Beschäftigung in einer Serie quälte mich zunehmend. Gastrollen in einzelnen Episoden von Serien waren eine feine Sache, aber die langen, frustrierenden Strecken der Arbeitslosigkeit dazwischen waren mörderisch. Eine dauerhafte Rolle in einer Serie – das war das Nirwana in Hollywood! Je mehr meine Phantasie mich neckte, desto schlimmer wurde meine Nervosität. Ich blätterte schnell eine Seite um, ein unruhiger Versuch, gleichgültig zu erscheinen. Ich sah zu der Sekretärin hoch und lächelte. Sie lächelte zurück. Sofort war ich überzeugt, daß sie mich durchschaute. Ich wußte, daß sie es wußte. Warum sonst würde ihr Lächeln wohl so ungemein beruhigend und so außergewöhnlich ermutigend ausfallen. Bleib cool, sagte ich zu mir selbst. Bleib cool! Ich versuchte, ihr zuzuzwinkern. Sie lächelte gleichermaßen höflich zurück. Diesmal schien es mit tiefer
Besorgnis erfüllt zu sein. Dachte sie vielleicht, daß ich ein nervöses Zucken hatte? Ich sollte wohl besser beim Lächeln bleiben. Ich lächelte ihr zu. „Es wird wohl nicht allzu lange dauern“, meinte sie beruhigend. Ihr Lächeln wurde noch sonniger und doppelt entnervend. Es dauerte noch einige Zeit, bevor die Gegensprechanlage schließlich gnädig summte. Was für ein schöner Ton. Welch eine Erleichterung! Sie wies auf die große Tür. „Mr. Roddenberry kann Sie jetzt empfangen.“ Sie lächelte wieder jenes Lächeln. „Hallo, ich bin Gene Roddenberry.“ Die Stimme hatte die Herzlichkeit eines Gastgebers, der einen Freund zum Dinner begrüßt. Der große, liebenswürdige Mann, der hinter dem Schreibtisch aufstand und nach vorne kam, um mich zu begrüßen, hatte die Leutseligkeit eines Landjunkers. „Warum setzen wir uns nicht da drüben hin“, sagte er und deutete auf ein bequemes Sofa in der Ecke des Büros. „Tut mir leid, daß Sie warten mußten. Ich hoffe, daß es nicht allzu lange war.“ „Oh, nein, überhaupt nicht“, log ich. „So hatte ich mal wieder Zeit, die Branchenblätter zu lesen.“ Meine Handflächen waren feucht. „Oh gut, dann bin ich froh. Übrigens, George, wie spricht man eigentlich ihren Nachnamen aus? Sagt man Takai?“ Er sprach es „Tah-kah-i.“ Das ist die Art, wie mein Name sehr häufig falsch ausgesprochen wird. „Nein, er wird Takei ausgesprochen“, berichtigte ich. „Es reimt sich mit okay.“ „Oh, okay. Takei wie in okay. Takei ist okay“, lachte er. „Ich möchte Ihnen noch sagen“, fügte ich hinzu, „daß Takai, so wie Sie es ausgesprochen haben, ein japanisches Wort ist.“ „Oh, tatsächlich? Was bedeutet es?“ fragte er. „Nun, es bedeutet soviel wie ‘teuer’.“
„Oh mein Gott!“ lachte er laut. „Ich werde lieber sichergehen, Sie stets mit Takei anzusprechen. Takei ist zweifellos okay.“ Ich mochte diesen Mann sofort. Er war anders als jeder andere Produzent, den ich bisher getroffen hatte – spontan und unvoreingenommen. Er war sehr nett. Ich hatte es eigentlich nicht vorgehabt, erzählte ihm dann aber trotzdem von den Schwierigkeiten, die ich mit seinem Namen gehabt hatte. „Rosenbury!“ lachte er. „Ich hatte schon so ein Gefühl, daß mir das in diesem Geschäft früher oder später mal passieren würde, aber ich habe nie erwartet, daß mich ein Japaner einmal zu einem Juden machen würde. Nennen Sie mich bitte Gene“, sagte er und unterstrich damit seine volkstümliche Art, die er bei geschäftlichen Treffen hatte. Dann begann er, mir das Konzept der geplanten Serie zu skizzieren. Zeit: Das dreiundzwanzigste Jahrhundert. Ort: Ein gewaltiges Raumschiff – größer als der größte Ozeandampfer, bevölkert mit Personal, das all die vielen Rassen auf diesem Planeten repräsentiert. Ein Art „Raumschiff Erde“. Thema: Das Abenteuer von Erforschung und Entdeckung, die letzten Grenzen der Menschheit in die Milchstraße hineinprojiziert. Die Geschichte würde nicht nur aus Treffen und Konfrontationen mit fremden Wesen und Zivilisationen bestehen, sondern auch die Auseinandersetzung mit uns selbst und unserer eigenen Zivilisationen beinhalten. Sie würde das Vertraute aus neuen Perspektiven prüfen und das Ungewöhnliche erforschen, aber nicht mit Furcht oder territorialen Ansprüchen, sondern mit offener Neugier und Interesse an neuem Wissen. Mit seiner entwaffnend liebenswürdigen Art hatte er mich überwältigt. Ich war hin und weg, nicht nur von den Schilderungen, sondern auch von seinen hochgesteckten Idealen.
Dann begann er mit dem Charakter, für den ich in Betracht kam. Sein Name war Sulu, ein intelligentes, junges Mitglied der Brückenmannschaft an Bord dieses Schiffes. Er sollte eine gemischte asiatische Abstammung haben und damit diesen großen Teil der Welt repräsentieren. Es gab eine Profil-Skizze dieses Charakters, aber er war noch nicht völlig definiert. „Sicher ist, daß er ein starker, klarer und sympathischer Charakter sein wird“, fügte Gene schnell hinzu. Er schien sich fast zu entschuldigen. „Glauben Sie mir“, versicherte er mir, „er wird ein Offizier sein, der seine Verantwortung auf diesem Schiff trägt“. Ich war bestürzt. Dachte er etwa, daß ich irgendwie enttäuscht war, daß der Charakter noch nicht detailliert ausgearbeitet war? Wie schon angedeutet war dieser Charakter eine Möglichkeit für einen asiatischen Amerikaner, den Durchbruch zu erzielen. Hollywood, und besonders das Fernsehen, hatten eine lange Geschichte stereotyper Darstellungen asiatischer Männer als Possenreißer, Diener oder Bösewichter. Ich, der ich mich damit herumgequält hatte, einige Rollen zu übernehmen, und der auch Jobs verloren hatte, weil ich einfach gewisse Rollen nicht spielen wollte, konnte fast nicht glauben, was ich da hörte. Dieser Produzent war so einfältig, um Entschuldigung zu bitten für die beste Gelegenheit, die mir je geboten wurde. Dann fügte er hinzu: „Der Schauspieler, der Sulu spielt, wird bestimmt dabei helfen, den Charakter auszufüllen.“ Dieser bescheidene Mann lud den Schauspieler tatsächlich zur Teilnahme an seinem Projekt ein. Ich konnte meine Aufregung kaum unter Kontrolle halten. Dann konzentrierte er die Unterhaltung auf Bücher, die wir gelesen hatten, Tagesereignisse und neue Filme, die wir gesehen hatten. Als wir noch mehr redeten, versuchte ich, meine Aufregung so elegant wie möglich hinter einer Fassade von Professionalismus zu verbergen. Ich teilte ihm mein
Interesse an seinem Projekt mit und meine Hoffnung, daß ich mit an Bord sein könnte; ich wünschte ihm alles Gute, schüttelte seine Hand und ging. Es war unglaublich. Dieses Projekt war allem, was es im Fernsehen gab, um einen Quantensprung voraus, und die Rolle war einfach bahnbrechend. Und das passierte ausgerechnet mir! Sollte ich mit 27 Jahren tatsächlich meine Chance zum ganz großen Durchbruch bekommen? Ich war leicht benommen. Als ich fast durch die Kulissen dieses Studios tanzte, das einmal Howard Hughes gehört hatte und das jetzt Eigentum der Schauspieler war, die sich hier einst als Angestellte abgeplagt hatten, durchströmte mich unkontrollierbar prickelnd die elektrisierende Wirkung meiner Aufregung. So etwas konnte tatsächlich passieren in diesem verrückten Geschäft. Ich konnte die Rolle bekommen. Als ich das Studiogelände durchquert und fast schon wieder beim Desilu-Schriftzug angelangt war, schoß es mir durch den Kopf: Ich hatte vergessen, Gene nach dem Titel des Projektes zu fragen. Ich wußte immer noch nicht, wie die Serie heißen würde. „Fred, wie heißt jetzt eigentlich dieser Science-FictionPilotfilm?“ fragte ich meinen Agenten beim Mittagessen. Ich war vom Studio direkt hinüber in Freds Büro geeilt, gerade noch rechtzeitig, damit er mich einladen konnte. Ein arbeitsloser Schauspieler entwickelt einen untrüglichen Sinn für richtiges Timing. Das Beverly Hills Hamburger Hamlet lag von seinem Büro aus nur einen kurzen Spaziergang den Sunset Boulevard hinunter entfernt. Es war ein neues Lokal, das Fred derzeit sowohl für seine Entspannung als auch für geschäftliche Dinge bevorzugte. Um die Mittagszeit war das Restaurant überfüllt mit Leuten, die von Tisch zu Tisch gingen oder sich zuwinkten, so daß es nur rätselhaft war, wie hier
irgend jemand etwas zustande bringen, geschweige denn sich entspannen konnte. Aber sie servierten hier eine großartige Hummercremesuppe. Während ich diese wohlschmeckenden Suppe aß, erfuhr ich, daß die Serie „Star Trek“ genannt wurde. „Es ist ein guter Titel“, äußerte Fred. „Star Trek. Er ist kurz, klingt gut, und vor allem ist er leicht zu merken.“ Ich stimmte ihm zu und versuchte, eine Aura berufsmäßiger Coolness aufrechtzuerhalten. Mit all der Spannung, die in mir aufstieg, als ich schließlich den Titel erfuhr, meinte ich zu ihm, daß er mir immer in Erinnerung bleiben würde. „Gut, laß mich dir sagen, daß die Spannung noch nicht vorüber ist“, warnte mich Fred. „Das war eigentlich erst der Anfang. Zuerst mußt du die Rolle bekommen. Und das ist immer noch fraglich.“ Fred war nicht absichtlich taktlos. Er war eben von Natur aus sehr direkt. Er glaubte einfach nicht daran, daß es etwas brachte, eine unangenehme Wahrheit zu beschönigen. „Und dann muß der Pilotfilm verkauft werden. Das ist sowieso noch eine harte Nuß“, fuhr er fort. „Aber für so etwas Ungewöhnliches wie diese Raumfahrtgeschichte mag das Spiel doch ein bißchen leichter sein. Also können sie ihn vielleicht verkaufen. Und dann wird es erst richtig spannend.“ Er bemerkte, daß mich dieser Teil der Unterhaltung nicht gerade aufgebaut hatte. Schnell fügte er hinzu: „Aber du hast Glück, George. Mach dir keine Sorgen. Ich habe ein gutes Gefühl bei dieser Sache.“ Ich wußte, daß er es gut meinte. Aber ich erinnerte mich daran, daß er auch beim letzten Pilotfilm, in dem ich mitgespielt hatte, so ein gutes Gefühl hatte. Es handelte sich um ein Projekt namens „House on K Street“, in dem Oscargewinner Dean Jogger einen Meisterdetektiv darstellte. Ich spielte gemäß dem Manuskript seinen „brillanten und
zuverlässigen jungen Assistenten“. Fred hatte ein sehr gutes Gefühl dabei. Es wurde nie verkauft. „Wer sind die anderen Schauspieler, die außer mir noch für „Star Trek“ zum Vorsprechen gehen?“ fragte ich. „Ich weiß es nicht. Aber ich würde sagen, daß du eine sehr gute Chance dabei hast“, versuchte Fred mich zu ermutigen. Es klang zu glatt und gleichzeitig auch wie ein Hinweis. Ich wußte, daß er es wußte, und ich wußte, daß er mir nicht mehr erzählen würde. Es ist schon eine einzigartige menschliche Beziehung zwischen einem Schauspieler und seinem Agenten. Es ist eine Partnerschaft zwischen zwei extremen Gegensätzen – der eine ist stets im Vordergrund, während der andere anonym bleibt. Der eine ist der Empfänger von Lob oder Schande, der andere ist namenlos und hat nur ungenannterweise am Erfolg oder versteckt an Mißerfolgen teil. Doch diese zwei Gegensätze sind zum Zweck des Überlebens unzertrennlich miteinander verbunden. Die Stärke dieser Verbindung wird ständig auf die Probe gestellt: Der Agent muß an das Talent seines Schützlings glauben, trotz brutaler Bewertungen des Schauspielers hinsichtlich seines Alters, seiner Größe, seines Gewichtes oder seiner Stimme und Entscheidungen von Regisseuren. Die Beziehung wird getestet, wenn der Schauspieler versuchen muß. maßvoll zu bleiben, wenn seine Leistungen von einer launischen Industrie gelobt und mit Applaus bedacht werden. Sie wird bei jedem Kompliment und jeder Heuchelei, jeder Ablehnung und jedem falschen Lob getestet. Sie wird auf eine teuflische Art auf die Probe gestellt, die nur die schillernde, unsichere und subversive Arbeitswelt von Hollywood heraufbeschwören kann. Schließlich liegt die Stärke dieser Verbindung in der Solidität eines Vertrauensverhältnisses. Aus der Notwendigkeit heraus mag es den einen oder anderen
Kunstgriff geben, den man im Zusammenspiel der unterschiedlichen Gegenpole verwenden kann, aber grundsätzlich ist das wesentliche Element in der Choreographie der Egos zwischen Schauspieler und Agent das Vertrauen. Bei Fred und mir gab es noch etwas anderes Verbindendes in unserer Beziehung: Wir waren beide japanische Amerikaner. Obwohl wir verschiedenen Generationen angehörten, hatten wir eine gemeinsame Geschichte. Während ich ein Junge war, der hinter Stacheldrähten aufwuchs, trug Fred die gleiche Uniform wie die Soldaten, die als Wachposten die Aufsicht über uns hatten. Er hatte sich vom Internierungslager in Gila, Arizona, aus verpflichtet, ein Angehöriger des Medizinischen Corps der Dritten Armee der Vereinigten Staaten in Deutschland zu werden. Er bewies unseren Patriotismus auf den Schlachtfeldern von Europa und arbeitete jetzt als der einzige japanisch-amerikanische Theateragent in Hollywood daran, unser Ansehen in Filmen zu verbessern. Obwohl es zwischen uns unausgesprochen blieb, wußten wir, daß wir über unsere individuellen Karrieren hinaus eine gemeinsame Aufgabe hatten. Unser Schlachtfeld des Filmgeschäfts erforderte jetzt andere Manöver, andere Taktiken und ein spezielles Vertrauen. Fred, der erfahrene Europa-Veteran, hatte auch in diesem Aktionsbereich seine Erlebnisse. Deshalb war er mein Agent. Ich vertraute ihm. Während wir in den nachmittäglichen Sonnenschein auf dem Sunset Boulevard hinaustraten, tat ich etwas, das ich noch nie zuvor gewagt hatte. Ich ließ die schützende professionelle Fassade fallen und gestand ganz offen: „Fred, ich muß diese Rolle haben. Ich will diese Rolle unter allen Umständen.“ Er legte beruhigend und wie ein großer Bruder einen Arm um meine Schulter und wiederholte: „Mach dir keine Sorgen, George, die Zeichen stehen gut für dich.“ Ich erinnerte mich an
seine Prognose von „House on K Street“. Bei Gelegenheiten wie diesen wird das Vertrauen zwischen Schauspieler und Agent sehr gründlich geprüft. Ich schlief sehr schlecht in dieser Nacht. Wenn ich unter Streß stehe, laufe ich. Am folgenden Morgen lief ich – lange und hart. Ich fuhr hinauf bis zum Bronson Canyon in den Hollywood Hills, parkte in einem schattigen Tal, zog mich bis auf meine Sportkleidung aus und begann zu joggen. Es gab einen sanft ansteigenden Hang an einem Reitpfad entlang, der zum Gipfel hin steiler wurde, und dann in einem langen, sanft hügeligen Pfad auslief. Von dort hatte man einen Blick auf Los Angeles auf der einen, und auf das San Fernando Valley auf der anderen Seite. Die Buchstaben des Schriftzuges von Hollywood schienen sich auf dem Hang zu sonnen. Nach einiger Zeit erreichte ich die Felsgruppe, die meine Markierung für die halbe Wegstrecke zum Rand des Gipfels war; der Schweiß floß in Strömen an meinem Körper herunter. Meine Muskeln schmerzten, und meine Lungen brannten. „Ich will die Rolle. Ich will die Rolle. Ich will die Rolle.“ Das war der einzige Satz in meinen Gedanken. Ich trieb mich selbst noch härter an. Je größer das Verlangen nach dieser Rolle in mir wurde, desto schneller rannte ich. „Ich will die Rolle. Ich will die Rolle. Ich will die Rolle.“ Es wurde eine rhythmische Kadenz. Ich sprintete fast, und mein Herz pochte heftig. Das brennende Gefühl wurde beinahe unerträglich. Es fühlte sich an, als ob meine Brust bei jedem Keuchen und jedem weiteren Schritt explodieren könnte. Das einzige, was ich jetzt noch hörte, war mein verzweifeltes Ringen nach Luft. Das einzige, was jetzt noch zählte, war der nächste tiefe Atemzug. Dann wurde plötzlich mein Verstand wieder klar; das beharrliche Dröhnen verschwand, und, ebenso plötzlich, bekam ich meinen zweiten Schub. Meine Beine bewegten sich
rhythmisch, und mein Herz pumpte stetig. Alles harmonisierte sich mit meinem regelmäßigen, angepaßten Laufschritt. Ich erreichte den Gipfel. Die Aussicht auf die Stadt und das Tal war atemberaubend. Es war ein klarer, funkelnder Morgen, und die Luft war belebend. Ich fühlte mich frei. Ich verlangsamte zu einem leichten Trab. Der Streß war weg, und ich fühlte mich im Einklang mit der Welt. Ich fing an, den Hügel hinunter zurück zu meinem Wagen zu trotten. Aber ich wollte diese Rolle immer noch – unter allen Umständen. Das Telefon läutete oft in den nächsten Tagen. Jedes Mal löste es bei mir Reaktionen aus. Erst Erwartung, dann Furcht. Bekam ich die Rolle? Verlor ich sie? Wenn ich bis jetzt noch nichts gehört hatte, bedeutete es dann, daß ich sie bereits verloren hatte? Aber jedesmal, wenn das Telefon klingelte, war jemand anderes am anderen Ende der Leitung. Kein Anruf von Fred. Ich hatte mir geschworen, daß ich ihn nicht anrufen würde, nur einfach um zu reden, so wie das viele Schauspieler taten. Das ist zwecklos und nur frustrierend sowohl für den Schauspieler als auch für den Agenten. Ich würde das nicht tun. Dies war eins meiner selbstauferlegten Gelübde. Es ist nicht das einzige. Ich nehme an, daß man sagen könnte, ich sei abergläubisch geworden. Ein weiteres meiner Gelübde lautet, über eine in Aussicht stehende Rolle so lange nicht zu sprechen, bis sie fest vereinbart ist. Auch als mich mein Bruder Henry aus dem fernen Milwaukee, Wisconsin, wo er die Marquette University besuchte, anrief, schwieg ich. Es fiel mir schwer. Ich hatte mit ihm und meiner Schwägerin June schon monatelang nicht mehr geredet. Und dies war wirklich wichtig für mich, im Gespräch zu sein für eine Rolle als Seriendarsteller. Ich hätte es ihnen gerne mitgeteilt. Aber ich hatte mir selbst etwas geschworen. Deshalb blieb ich standhaft. Wie ein Mann, der vor einer Ikone kniet, die die unerklärlichen
Gewalten kontrolliert, denen er ausgeliefert ist, seine Abstinenzgelübde ablegt, so saß ich da mit meinem Telefon, rief meinen Agenten nicht an und verschwieg meinem Bruder die Neuigkeiten. Getreu meinem Aberglauben wartete ich meine Zeit ab und hielt meine Nachtwache vor diesem Apparat, dieser modernen heidnischen Gottheit, aufrecht. Da stand es, aus glänzendem Plastik, und es schwieg. Es schwieg beharrlich, die Wählscheibe schien mich spöttisch anzugrinsen. Kleines, arrogantes Ding; eine Maschine, ein einfaches Gerät, und doch, da stand es und versuchte, die Herrschaft über eine große und verschlossene Weisheit zu übernehmen, indem es mir dieses begehrte Stückchen Wissen vorenthielt. Ein Buddha! Ein fetter, lächelnder, schweigender Buddha! Und der konnte es nicht ertragen, ignoriert zu werden. Jedesmal, wenn ich mich endlich entschloß, wegzugehen und wieder eine Runde zu laufen, erwachte dieses Ding plötzlich zum Leben – schrill und fordernd. Du willst also dieses Spielchen noch weiter mit mir treiben, ja? Na gut, jetzt lasse ich dich erstmal eine Weile klingeln und schau mir an, ob du die Spannung aushältst. Ich ließ es weiter um meine Aufmerksamkeit ringen. Schließlich hob ich ab. „Hallo George.“ Es war Fred! „Warum hat es so lange gedauert? Warst du wieder unter der Dusche?“ „Oh, tut mir leid, Fred.“ Plötzlich fühlte ich die Kälte – sowohl der Erwartung als auch der Besorgnis. Ich wartete auf Freds Richterspruch. War ich drin, oder war ich draußen? „Nun, und wie geht’s so?“ Ich versuchte, eine unverbindliche Freundlichkeit vorzutäuschen. Klang das beiläufig genug, oder war es unter diesen Umständen etwas zu desinteressiert? „Nun, George, ich habe soeben den Anruf bekommen. Ich dachte, du würdest es vielleicht gerne wissen.“ Und ob ich es
wissen wollte! Ich konnte es nicht mehr aushalten. Die Folter wurde unerträglich. „Rede schon, rede!“ wollte ich am liebsten schreien. Dann sagte er schlicht: „Du spielst im „Star Trek“Pilotfilm mit.“ Ich kann mich an kein weiteres Wort der nachfolgenden Unterhaltung mehr erinnern. Ich weiß, daß wir noch lange miteinander sprachen. Aber alles, woran ich mich erinnere, ist Freds schlichte und sachliche Aussage: „Du spielst im „Star Trek“-Pilotfilm mit.“ Ich spielte im „Star Trek“Pilotfilm mit! Ich mußte unbedingt noch eine Runde laufen.
14 Wo ich noch niemals zuvor gewesen bin Der Pilotfilm von „Star Trek“ hatten den englischen Titel: „Where no man has gone before“. Schon allein dieser Titel verhieß Abenteuer, etwas Einzigartiges. Der Pilotfilm wurde nicht in den Hauptstudios von Desilu in Hollywood aufgenommen, sondern in den kleineren Studioanlagen in Culver City. Das erschien mir ein wenig eigenartig. Ich hatte über die Gerüchteküche von einem extrem knappen Budget gehört. Man hatte mir aber auch gesagt, daß es sich um den zweiten Anlauf für das „Star Trek“-Konzept handelte. Ein früherer Pilotfilm mit dem Titel „The Cage“ war im vorigen Jahr produziert worden. Jeffrey Hunter, mein „Adoptivbruder“ aus „Hell to Eternity“, hatte als Captain mitgespielt. Der Film war nicht erfolgreich. Also streifte diese Produktion im gewissen Sinne wirklich den Bereich „wo noch nie ein Mensch zuvor gewesen war.“ Das war der „Alles oder Nichts“Pilotfilm. Unsere Aufgabe war es, das Kind zum Fliegen zu bringen. Obwohl ich nichts mit dem ersten Film zu tun gehabt hatte, spürte ich natürlich den Druck dieser Vergangenheit. Wir wollten es richtig machen. Aber als ich in die DesiluStudios in Culver City gerufen wurde, war jeder auf am Set aufgekratzt und optimistisch. Man konnte das erregende Kribbeln eines neu anstehenden Projekts förmlich spüren. Ich wurde von einem jungen Mann mit Bürstenhaarschnitt und einer eulenartigen, dunkelrandigen Brille begrüßt. Er stellte sich als Morris Chapnik vor und war Gene Roddenberrys Assistent. Er zeigte mir meine Garderobe – eine quadratische
Holzkiste auf Rädern –, die mit einer Couch, einem riesigen Spiegel, Teppichen und gerade genug Platz für einen kleinen Wandschrank ausgestattet war. Ich lugte durch die offene Türe und war überrascht, jemanden auf der Couch liegen zu sehen. Er schoß blitzartig hoch, als er uns bemerkte. „Das ist James Doohan, der den Chefingenieur Mr. Scott spielen wird. Er ist Ihr Garderobenpartner.“ Morris sprach über Fakten! „Was? Was? Was soll das heißen?“ Der aufgescheuchte Schauspieler erwachte plötzlich zum Leben. „Was soll das heißen – ein Garderobenpartner?“ „Das tut uns wirklich leid“, erklärte Morris verlegen, „aber uns steht nur eine begrenzte Anzahl von Garderoben zur Verfügung, so daß wir die Schauspieler bitten müssen, sie miteinander zu teilen.“ Der Schauspieler starrte Morris an und wollte gerade anfangen zu protestieren, doch ich ging mit ausgestreckter Hand auf ihn zu. „Nett Sie kennenzulernen, James. Ich bin George Takei. Ich spiele Sulu, den Biophysiker.“ Dann fuhr ich mit einem Lächeln fort: „Ich denke, wenn wir nur einen Pilotfilm machen, können wir damit leben. Es ist mir eine Ehre, diese kleine Schachtel mit ihnen zu teilen.“ Er sah auf meine ausgestreckte Hand und ergriff sie schließlich. „Das sind vielleicht Umstände“, brummte er, noch immer ein wenig verärgert, „so ein winziger Raum – und sie erwarten auch noch, daß man ihn teilt. Aber ich glaube, Sie haben recht. Ich habe gehört, daß ihnen wirklich nur ein ganz schmales Budget für das Projekt zur Verfügung steht.“ Er schüttelte mir die Hand und fügte mit einem entwaffnenden Grinsen hinzu: „Übrigens, sag Jimmy zu mir.“ „Okay, Jimmy“, grinste ich. Während wir über die Garderobenteilung diskutierten, hatte Morris sich still und leise zurückgezogen, um sich anderen Aufgaben zu widmen. Jimmy wurde sofort freundlicher. „Weißt du“, wisperte er verschwörerisch, „es macht mir nichts aus, die Garderobe mit
dir zu teilen. Früher in New York habe ich noch kleinere Wandschränke, die sich Garderoben nannten, mit anderen Schauspielern geteilt. Und ich meine wirkliche Löcher!“ „Wir haben diese Zeiten alle mitgemacht – oder etwa nicht?“ erwiderte ich und begann, meine eigenen New Yorker Erfahrungen mit ihm zu teilen. „Aber wir dürfen es ihnen nicht durchgehen lassen“, unterbrach er mich mit blitzenden Augen, „ich meine, wenn der Pilotfilm erst verkauft ist, sollte jeder von uns seine eigene Garderobe haben. Das ist eine Tatsache!“ „Natürlich“, dachte ich, aber noch bevor ich ein Wort herausbrachte, fuhr er fort: „Was denkst du? Glaubst du, der Pilot hat eine Chance? Hm?“ Da war Besorgnis in seiner Stimme. Aber diesmal wartete er auf meine Antwort. Ungeachtet unseres plötzlichen Zusammentreffens fühlte ich mich zu diesem liebenswürdig ehrlichen Mann hingezogen. Er stand auf eine so erfrischende Art mit beiden Beinen auf der Erde. Es würde Spaß machen, zusammen mit ihm zu arbeiten, dachte ich und hoffte darauf, daß sich der Pilot verkaufen würde. „Nun, Jimmy“, antwortete ich, „diese Produktion riecht gut!“ „Was? Was? Was meinst Du?“ fragte er mich nachdrücklich. „Ich rieche Qualität“, erklärte ich ihm. „Ich rieche sie im Drehbuch. Ich rieche sie in der Besetzung der Rollen.“ Und ich erzählte ihm dann, daß ich sowohl Shatner als auch Nimoy auf der Bühne gesehen hatte. „Und – vor allem anderen – ich rieche die Qualität im Entwurf. Es ist nicht einfach ein weiterer Abklatsch von Erfolgen aus der letzten Season, sondern erfrischend neu. Ich rieche die Qualität in diesem ganzen Projekt.“ „Gut. Sehr gut. So geht es mir auch“, stimmte er mit breitem Lächeln zu. „Es ist wirklich ein gutes Projekt.“ „Aber das bedeutet, daß wir hier in Schwierigkeiten sind“, behauptete ich trocken. „Was meinst du damit?“ Jimmys
Gesichtsausdruck zeigte Verwirrung. „Das Fernsehen respektiert Qualität nicht“, erklärte ich. „Echte Qualität ist wie ein Todesstoß. Jede Show, die ich wirklich mochte, wurde blitzartig abgesetzt. Wenn sich Star Trek verkauft“, sagte ich voraus, „wird es bestenfalls zwei Staffeln lang laufen, und dann sind wir weg vom Fenster.“ Wie um dieser düsteren Unterhaltung ein Ende zu setzen, steckte Morris seinen Kopf wieder zur Tür herein und forderte uns auf, in unsere Kostüme zu schlüpfen. Sie wollten uns zu einer Probe auf der Bühne sehen. Als Jimmy und ich uns auf dem Set meldeten, brodelte es dort schon vor Aktivität. Obwohl wir nicht zu spät waren, schien die zwanglose Probe schon begonnen zu haben. Ich spürte die Ungeduld, es war ein erwartungsvolles Prickeln, endlich mit der Arbeit zu beginnen. Die dominierende Stimme in dem Chaos war die des Regisseurs James Goldstone. Sein dröhnender Bariton war gut über all den Aufrufen, Anweisungen und Pfiffen zu hören. Aber unser aller Augen wurden immer wieder von einer Art Gravitationskraft zum hell ausgeleuchteten Mittelpunkt des Sets gezogen, zu der unwiderstehlichen Präsenz dort, dem unverkennbaren Star der Produktion – William Shatner. Alles schien sich um ihn zu drehen. Die langsamen Runden, die der Regisseur drehte, seine alles im Blick behaltenden Augen, die volle Intensität seiner Konzentration, das alles war auf Shatner ausgerichtet. Die Kameraleute, die Beleuchter, das Ton-Team – alles lief bei Shatner zusammen. Im kreisrunden Aufbau des Sets stand sein Stuhl im Mittelpunkt, und Shatner füllte ihn voll aus. Er regierte alle Aktivitäten auf dem Set. Er strahlte Energie und unendliches Vergnügen über seine Arbeitssituation aus. Er rief dem Regisseur seine Meinungen zu; sprang auf, um seine Ideen zu demonstrieren, er lachte und witzelte und erprobte seinen Charme an der Crew. Und auch die lauteste, tiefste Freude über seine Witzeleien kam von Shatner selbst – ein
helles, trillerndes, überraschend hohes Kichern. Er strahlte einfach eine ansteckende, unglaublich freudige Lebenskraft aus. Verborgen in den dunkleren Randgebieten entdeckte ich ein anderes Gesicht, das ich schon aus der kleinen Theaterproduktion „Deathwatch“ kannte. Ich bemerkte die wachsamen Augen, die Adlernase und das hagere Gesicht – es war der Schauspieler Leonard Nimoy. Aber im Halbdunkel des Sets erschien sein Gesicht seltsam gelblich, und seine Augenbrauen schienen sich wie die Dachkanten asiatischer Pagoden nach oben zu biegen. Sein Gesicht sah exotisch, irgendwie leicht orientalisch aus. Nimoy stand ganz still da in seinem Samtkostüm und betrachtete alles aufmerksam, mit seinem bedächtigen Blick schien er alles in sich aufzunehmen. Dann plötzlich – als ob er entschieden hätte, genug gesehen zu haben – drehte er sich um und verschwand in der Dunkelheit – schnell und lautlos wie eine Katze. Die anderen Schauspieler trafen ein. Zwei weitere Kollegen kamen zu Jimmy und mir herüber, beide in diesen anschmiegsamen Velourpullovern, die sogenannten „StarfleetUniformen“, wie uns erklärt worden war. Der ältere von ihnen war stämmig, hatte graue Haare und einen entschlossenen Gesichtsausdruck. Es handelte sich um Paul Fix, der den medizinischen Offizier des Schiffes, Dr. Mark Piper, spielte. Neben ihm stand ein gutaussehender junger Schwarzer. Ich wußte, daß auch seine Rolle als Mr. Alden, Kommunikationsoffizier des Schiffes, aufgrund der Hautfarbe eine Fernsehpremiere war. Als er mich bemerkte, lächelte er und kam auf mich zu. „Hallo, ich bin Lloyd Haynes“, flüsterte er und bot mir seine Hand an. „Habe ich Sie nicht in „Fly Blackbird!“ gesehen? Sie waren großartig!“
„Vielen Dank“, flüsterte ich zurück. „Ja, ich flog damals als „Blackbird“ und jetzt stehen wir alle kurz davor, auf einem Raumschiff in die Zukunft zu starten. Aus dem 20. Jahrhundert direkt ins 23. Jahrhundert. Ist es nicht eine kleine Welt?“ lachte ich. „Ist es nicht… ein kleines Universum?“ korrigierte mich Lloyd mit einem Lächeln. „Nein, absolut nicht“, unterbrach uns Jimmy. „Das sind nur drei Jahrhunderte – kein Universum.“ Jimmy beherrschte den Charakter des peinlich genauen, präzisen schottischen Ingenieurs schon ganz gut. Gary Lockwood und Sally Kellerman, die Gaststars der Pilotfolge, gesellten sich zu der versammelten Gruppe der Schauspieler. „Also, meine Damen und Herren, darf ich um Ihre Aufmerksamkeit bitten, wir wollen mit der Probe beginnen!“ Die kraftvolle Stimme des Regieassistenten machte dem allgegenwärtigen Rufen, Gestampfe, Gehetze und Treiben ein Ende. In der wiedererlangten Ordnung und der seinen Worten folgenden Stille übergab der Assistent das Set an den Regisseur James Goldstone. „Alles klar! Dies ist die Brücke des Raumschiffs Enterprise“, erklärte uns Goldstones tiefe und kräftige Stimme. „Das hier ist die Schaltzentrale, das Gehirn eines großartigen technologischen Organismus.“ Er blickte auf die versammelten Schauspieler, reckte seinen Hals über unsere Köpfe, suchte und fragte schließlich seinen Assistenten: „Ist Leonard bereit, zu uns zu kommen?“ „Ich bin hier“ – eine Stimme drang aus der Dunkelheit. Und ins Licht trat kein Schauspieler, sondern ein surreales Wesen. Zwar war er mit der gleichen Art von Starfleet-Pullovern aus Velour bekleidet wie alle anderen, doch er war für die Rolle eines Außerirdischen besetzt worden. Er sah zwar menschenähnlich aus, humanoid mit einem Kopf, zwei Armen
und zwei Beinen wie wir anderen auch, wirkte aber trotzdem auf spektakuläre Weise fremdartig. Seine Hautfarbe erinnerte an frisch geschlagene Sahne. Seine Augenbrauen hoben sich an den Enden. Aber das Interessanteste an seiner äußerlichen Erscheinung waren diese erstaunlichen Ohren. Sie sahen ganz normal aus, bis auf einen Unterschied. Sie liefen nach oben hin spitz zu, so daß sie an die Ohren einer wachsamen Katze erinnerten. So bizarr sie damit auch aussahen, machten sie dennoch einen ansprechenden Eindruck, sie besaßen Anmut und eine Art körperliche Balance. Sie sahen unglaublich echt aus. Die Person, die sich da vor unseren Augen präsentierte, machte einen distanzierten und ein wenig überlegenen Eindruck, verströmte eine Art von wachsamer Reserviertheit. Es umgab ihn etwas Zuverlässiges. Anstatt nur „außerirdisch“ zu erscheinen, bewegte er sich wie ein stolzer, dabei aber auch wachsamer Fremder auf der Brücke, den man in eine Gruppe von Andersartigen gesteckt hatte. Ich verstand dieses Gefühl sehr gut, hatte ich es doch selbst in meiner Vergangenheit erfahren. So fremdartig er auch erschien, war da doch diese unheimlich reale Sphäre um ihn herum. Was für ein sensationeller Auftritt, dachte ich bei mir. Zum ersten Mal ein Set zu betreten und schon völlig mit seinem Charakter vertraut zu sein. Und was für eine herausragende Rolle er spielte! An diesem ersten Tag traf ich keinen Schauspieler, sondern machte meine erste Bekanntschaft mit Mr. Spock. Mit den Jahren entdeckte ich dann, welch eine originelle, phantastische Kreation dieser Mr. Spock wirklich war. So erstaunlich, so komplex, so geradlinig entwickelte sich dieser Charakter, daß ich des öfteren Schwierigkeiten damit hatte, zu unterscheiden, wo die Grenze zwischen dem Schauspieler und der Rolle verlief – wo die Grenzlinien lagen, die letztendlich Mr. Spock von dem vielseitigen Mann trennten, der ihn darstellte. Es war
qualvoll. Ich wollte unbedingt den Schauspieler kennenlernen, den ich bereits am ersten Tag als fremdartigen, aber gleichzeitig beeindruckend realen Charakter erlebt hatte. Ich wollte Leonard Nimoy selbst näher kommen. Jetzt gab es noch einen weiteren Grund dafür, darauf zu hoffen, daß sich der Pilotfilm verkaufen würde. Meine drei kurzen Tage Filmarbeit für die Pilotfolge flogen schnell dahin. Der Drehplan lief in atemberaubender Geschwindigkeit ab. Alles war im Entwicklungszustand. Wir kreierten eine ganz neue Welt, einzig aus der Vorstellung von Gene Roddenberry heraus, und die spontanen Einfälle der Schauspieler und der technischen Zauberer auf dem Set trugen das ihre dazu bei. Gott hatte sieben Tage Zeit dazu, die Erde zu erschaffen. Wir hatten acht Tage – nicht nur, um ein ganz neues Universum zu erschaffen, sondern dies auch noch auf Film festzuhalten. Und wir schafften es in acht Tagen. Ich selbst war nach drei Tagen „geschafft.“ Die einzigen Schauspieler, mit denen ich einige Zeit in diesen hektischen drei Tagen verbrachte, waren mein Garderobenpartner Jimmy Doohan und Lloyd Haynes. Wir sprachen über die Herausforderungen einer Serie wie „Star Trek“. Wir dachten über die Aussichten für eine so bahnbrechende Serie nach. Und wir alle hofften auf die Möglichkeit eines Dauerengagements. Wir waren Teil eines außerordentlichen menschlichen Schauspiels, an dem wir einfach durch unser Schicksal teilnehmen konnten. Wir standen vor dem Studio und unterhielten uns. Neben dem gegenüberliegenden Eingang stand ein junger Asiate, der wie ein Chauffeur gekleidet war. Er hatte seine Mütze und sein Jackett abgelegt und schien einige Muskellockerungsübungen zu machen, langsame, ballettartige Bewegungen. Plötzlich explodierte er in einem Ausbruch von Tritten, Sprüngen und Drehungen. Unsere Konversation endete, wir standen einfach
überwältigt da. Dann wiederholte er die ballettartigen Übungen. Seine Bewegungen waren voller Anmut, sein Körper zeigte kontrollierte Eleganz. Wir waren fasziniert. Dann erstaunte uns die blitzartige Entladung von Energie und Bewegung ein zweites Mal. In diesem Moment steckte ein Assistent seinen Kopf aus dem Studio und rief: „Wir sind auf dem Set nun bereit für dich, Bruce.“ Während wir noch mit offenen Mündern dastanden, schlüpfte er ruhig hinein. Es war eine verblüffende Demonstration dessen, zu welchen unvorstellbaren Leistungen der menschliche Körper in der Lage ist. Und wir wurden nur zufällig Zeugen dieses außergewöhnlichen Schauspiels. Wir erfuhren später, daß dieser Kampfsportler ein junger Schauspieler namens Bruce Lee war und an einer neuen Fernsehserie arbeitete, die sich gerade „verkauft“ hatte und „Green Hornet“ hieß. Einige Monate nachdem wir die „Star Trek“-Pilotfolge abgedreht hatten, bekam ich eine großartige Rolle in einer angesehenen Serie namens „Chrysler Theater“. Mit meiner Karriere schien es aufwärts zu gehen. Die Episode hieß „Wind Fever“, und ich spielte einen in Oxford ausgebildeten Rechtsanwalt mit englischem Akzent in einer ehemaligen britischen Kolonie im tropischen Südost-Asien. Ich konnte nun den britischen Akzent nutzen, den ich während meines Sommers am Shakespeare Institut erlernt hatte. Aber das Beste am Job war, daß die Rolle des Angeklagten, den ich zu verteidigen hatte – ein hingebungsvoller Dr. Schweitzer-artiger Urwaldmissionsdoktor, der wegen eines Kunstfehlers vor Gericht stand – von niemand anderem als William Shatner gespielt wurde. Ich war darüber sehr erfreut, vielleicht wußte er ja einige Neuigkeiten darüber, wie sich der „Star Trek“Pilotfilm machte. Vielleicht würde ich ihn bei dieser Produktion ein wenig besser kennenlernen. Vielleicht war „Wind Fever“ eine Art Omen dafür, daß wir noch einige
Staffeln lang miteinander arbeiten würden. Alle möglichen wilden Vorstellungen entstanden in meiner Einbildung. „Bill, was haben Sie denn so gemacht“, rief ich ihm zu, sobald ich ihn auf dem Set sah. Er trug zerknitterte Tropenkleidung, und ich erstrahlte in meiner vollen, fließenden schwarzen Rechtsanwaltsrobe mit der kleinen, weißen Anwaltsperücke auf dem Kopf. Er drehte sich lächelnd zu mir um, als ich auf ihn zustürzte. „Nun, haben Sie bisher irgend etwas darüber gehört?“ Ich konnte mich nicht zurückhalten – träumte ich doch Nacht für Nacht von der Pilotfolge. Aber in letzter Zeit verwandelten sich diese Träume in Alpträume. Ich hoffte, er hätte einige gute Neuigkeiten oder wenigstens irgend etwas, auf das ich hoffen konnte. Er ergriff lächelnd meine ausgestreckte Hand. Bills Lächeln war breit und strahlend. Er schüttelte meine Hand und lächelte weiter, als er in mein Gesicht blickte. Aber der Blick in seinen strahlenden Augen erschien suchend, fragend. In diesem Moment wurde mir klar, daß er mich nicht erkannte! „George Takei“, entgegnete ich augenblicklich. „Ich drehte den „Star Trek“-Pilotfilm mit Ihnen – Sulu!“ platzte ich heraus. „Hallo, George“, sagte er ohne zu stocken. Bills Stimme war weich und übertrieben herzlich, sein Lächeln unverändert freundlich, seine Augen voller Liebenswürdigkeit. „Wie geht es Ihnen? Schön, wieder mit Ihnen zusammenzuarbeiten.“ Es klang, als ob wir während der Arbeit am Pilotfilm Busenfreunde geworden wären. „Wir setzen uns später zusammen. Wir müssen uns unterhalten. Aber jetzt muß ich mich auf diese Szene konzentrieren. Entschuldigen Sie mich.“ Er drückte meinen Arm fest und herzlich, wie um seine Aufrichtigkeit zu unterstreichen, und verschwand dann in Richtung Garderobe. Ich stand verwirrt da und sah zu, wie er ging. Seine aggressive Form von Liebenswürdigkeit war etwas befremdlich. Dann wurde mir klar, daß ich die weiße Perücke
des Rechtsanwaltes trug, wahrscheinlich hatte er mich so nicht erkannt. War er irritiert durch meine Erscheinung? Das mußte die Erklärung sein: Er überkompensierte seine Irritation mit exzessiver Freundlichkeit. Ich entschied mich, nachsichtig mit Bill zu sein. Von einem Assistenten wußte ich, daß Keye Luke – mein alter Kollege von „Rodan“ – ebenfalls bei dieser Produktion mitspielte. Das Ganze wurde immer mehr zu einer Art Wiedersehen mit der Vergangenheit. Aber als ich ihn sah, erschrak ich darüber, wie sehr er inzwischen gealtert war. Sein Gesicht war mittlerweile mit einem Netz feiner Fältchen durchzogen und seine einst kräftige Stimme hörte sich erschöpft und dünn an. Er ging langsam, gestützt auf einen Spazierstock. Anfänglich hielt ich den Stock für einen Teil seiner Rolle, aber er erzählte mir, er sei am Fuß operiert worden und verbinde diesen Umstand nun mit den Anforderungen seiner Figur. Er spielte einen älteren Stadtvater. Mir wurde klar, daß schon fast 10 Jahre vergangen waren, seit wir zusammen an „Rodan“ gearbeitet hatten. Alle meine Szenen in „Wind Fever“ spielte ich mit Bill und einem anderen Gaststar, John Cassavetes. Es war eine aufregende Sache, zusammen mit zwei erstklassigen Schauspielern zu arbeiten. Cassavetes glühte vor konzentrierter Energie als gegnerischer Ankläger. Bill bot die faszinierende Darstellung eines Idealisten mit einer versteckten dunklen Seite. Es war wunderbar und äußerst lehrreich, mit solchen Kollegen zusammenzukommen. Und wie schon früher brach Bill in den Drehpausen die Spannung mit seinen Scherzen und fröhlichen Streichen. Sein verrücktes Kichern ertönte in regelmäßigen Abständen. Aber ich fühlte mich verwirrt, ich wollte mit ihm über den Pilotfilm reden, den wir zusammen gedreht hatten. Ich ging davon aus, daß es auch Bill wichtig war, sich mit mir über „Star Trek“ zu unterhalten. Aber er
schien kein besonderes Interesse daran zu haben. Er hatte mir früher angedeutet, daß er später mit mir darüber reden wollte. Ich wartete. Aber dieses „Später“ kam nie. Meine Arbeit an „Wind Fever“ war fast beendet. Aber Bill redete nie über diesen Pilotfilm, was mich letztendlich auf einem Nadelkissen der Besorgnis zurückließ. Ich erfuhr von Bill nichts über die Fortschritte von „Star Trek“. Vielleicht war er abergläubisch, vermutete ich. Oder er wußte auch nicht mehr. Jedenfalls sagte er nichts. So wartete ich, bis im Januar 1966 der Telefonanruf von Fred kam. „NBC übernimmt Star Trek“, rief er in den Hörer. „Es geht los!“ Die lange Zeit der Anspannung war vorüber, jetzt sollte das Vergnügen beginnen. Dachte ich zumindest.
15 Der Stapellauf Der Raum war hoffnungslos überfüllt. Zusätzliche Stühle waren hereingebracht worden – trotzdem standen noch einige Leute an der Wand. Warum hatten sie keinen größeren Konferenzraum genommen? Aber vielleicht war das ja der größte, dachte ich. Doch das Gedränge schien die Erregung nur noch zu intensivieren. Die Elektrizität in der Luft war spürbar – denn die Schauspieler blätterten nervös durch Textbücher, Leute in dunklen Anzügen lächelten angespannt, und Assistenten schwebten herum und boten Bleistifte oder gefüllte Kaffeetassen an. Ich schlängelte mich um den Tisch herum zu Jimmy Doohan, und er registrierte das mit einem erhobenen Daumen. Leonard konzentrierte sich auf sein Textbuch und kritzelte Notizen an den Rand. Bill steckte in einer lebhaften Unterhaltung mit einem Produzenten. Ich sah mich um und fragte mich, warum Paul Fix und Lloyd Haynes noch fehlten. Sie gehörten doch auch zur Stammbesetzung. Ein erwartungsvolles Stimmengewirr erfüllte den Raum. Nur Gene Roddenberry schien den Augenblick völlig zu genießen. Ich beobachtete ihn einen Moment lang, und er kam mir vor wie ein Fürst, der am Kopfende eines riesigen, aufgetragenen Banketts saß. Sein breites, alles erfüllendes Grinsen sagte mir, daß die Geschichte weitergehen würde. Wie wunderbar mußte dieser Augenblick für ihn sein. Die Reise, „Star Trek“ bis zu diesem Punkt zu bringen, war mühsam gewesen. Da war der gescheiterte erste Pilotfilm, und danach das Jahr voller Kämpfe, um einen zweiten machen zu können, schließlich der
lange, nervenaufreibende Kampf um die Entscheidung, daß NBC diesen schließlich einkauft. Nun, zu guter Letzt, waren wir hier, versammelt für den Stapellauf der Serie selbst und die erste Textprobe mit der gesamten Besetzung. Unser Publikum waren die Studiobosse und die Leiter der Abteilungen. Mit einem leichten Räuspern begann Gene: „Tja, Leute, wir starten heute in ein Abenteuer. Laßt uns auf dem Weg möglichst viel Spaß haben.“ Und mit diesen Worten begann er, die endgültige Besetzung bekanntzugeben. Zuerst Bill Shatner und Leonard Nimoy. Dann nannte er DeForest Kelley. Er sollte den Part des Schiffsarztes übernehmen und sein neuer Name sollte Dr. Leonard McCoy sein. Damit war Paul Fix’ Abwesenheit erklärt. Gene stellte Majel Barrett als Schwester Chapel vor. Dann kündigte er eine Veränderung an, die mit Sulu, dem Biophysiker vorgenommen wurde. Gene hatte es mir zwar gesagt, aber nichtsdestotrotz konnte ich einen kleinen Anflug von Angst nicht unterdrücken. Sulu, so sagte er, wurde als Steuermann auf die Brücke versetzt, aber weiterhin von mir gespielt. Ich wußte, daß ich mir wirklich keine Sorgen zu machen brauchte, aber es war eine Erleichterung, diese Chance offiziell zu bekommen. Die Network-Leute hatten großes Interesse an Sulu und wollten ihn öfter sehen. So entschieden sie, ihn als Steuermann auf die Brücke zu setzen, erklärte Gene. Dann fuhr er fort, daß Jimmy Doohan weiter den guten Ingenieur Scott spielen würde. Schließlich stellte er eine Frau vor, die ganz am Ende des Tisches saß, wie ich bereits verwundert festgestellt hatte. Es war Nichelle Nichols, und sie sollte den Kommunikationsoffizier mit Namen Uhura spielen. Das war also der Grund, warum auch Lloyd nicht bei uns saß. Später erfuhr ich, daß Nichelle besetzt worden war, weil Lloyd eine Hauptrolle in der neuen Serie „Room 222“ bekommen und darum gebeten hatte, aus dem „Star Trek“-Vertrag entlassen zu werden. So sind die Zufälle und launischen Wege
Hollywoods – hätte Lloyd kein Glück gehabt, wäre die Enterprise vielleicht nicht von der wunderbaren Uhura, die Grußfrequenzen öffnete und Sulus Herzschlag erhöhte, bezaubert worden. Zu guter Letzt wurde Grace Lee Whitney, eine muntere Blondine, als Verwaltungs-Unteroffizier Joyce Rand vorgestellt. Mit einer weit ausholenden Armbewegung sagte Gene: „Und hier haben wir die komplette ‘Star Trek’Familie.“ Es folgte der rituelle Höflichkeitsapplaus. Schließlich wurden die Abteilungsleiter vorgestellt – es waren so viele, daß es unmöglich war, sich alle Namen zu merken. So entschied ich mich, mir nur diejenigen einzuprägen, mit denen ich oft zu tun haben würde – Fred Phillips, Make-up; Bill Theiss, Kostüme, und Bob Justman, Ausführender Produzent. Dann stellte Gene noch eine Person vor, dessen Namen ich mir besser hätte merken sollen. „Dies ist der Mann, der unser großer Studioboß und das Bindeglied zum Network sein wird – Herb Solow.“ Lebhafter Applaus mit einem Hauch Unterwürfigkeit folgte. Einer der dunklen Anzüge erhob sich. Er war ein schmächtiger Mann, aber als er zu reden anfing, wußte ich sofort, warum er sein Büro hatte. Seine Sprache kombinierte Enthusiasmus mit Charme, es war ein optimistischer Ruf zu den Waffen. Er sprach über das frische und herausfordernde Projekt, das wir vor uns hatten. Er beschrieb die Aussichten des heutigen Fernsehens und die Pionierarbeit, die wir als Team gerade beginnen würden. Und er versprach die Unterstützung der Desilu-Studios für das Projekt. Es war eine mitreißende, erhebende Rede. Er motivierte uns, und wir begannen uns auf den Start vorzubereiten. Gene drückte dann den Startknopf, indem er Joe Sargent, den Regisseur der ersten Episode „Pokerspiele“ vorstellte. Dies war ein weiteres gutes Omen, dachte ich, denn ich hatte viel von Joe gelernt, als er vor ein paar Jahren einen Desilu-Workshop leitete. Mein früherer
Schauspiellehrer würde mich durch die Einführungsepisode und meine Jungfernfahrt in die unbekannte Wildnis des Serienfernsehens lotsen. Nun konnte ich vertrauensvoll – und tapfer – dahin gehen, wo ich noch niemals zuvor gewesen war… hinein in meine allererste Fernsehserie. Ich war in der Obhut von vielen guten Händen, Joe würde uns führen. Genes Vision beflügelte und elektrisierte uns. Und wir wurden angetrieben von Herb Solows Versprechen der vollen Rückendeckung von Desilu. Es war ein phantastischer Start an einem wunderschönen Frühlingsmorgen. Die folgenden Monate waren die hektischsten, erschöpfendsten und erheiterndsten Arbeitserfahrungen, die ich jemals gemacht hatte. Jede neue Folge war eine neue Herausforderung. Ich war kein Science-Fiction-Fan – obwohl ich einige Bücher von Ray Bradbury kannte und wirklich mochte –, also war dieses Genre eine augenöffnende und horizonterweiternde Erfahrung. Für die strahlende neue Welt, die wir erschufen, wurden starke Metaphern der Science-Fiction benutzt, wir bekamen Drehbücher, die kraftvolle menschliche Dramen über Vorurteile und Großzügigkeit, über Krieg und den Kampf um Frieden enthielten. Diese Geschichten wurden durchzogen von komischen Anekdoten, die immer neue Beziehungen der Charaktere enthüllten. Als Schauspieler fühlte ich zum ersten Mal, wie es ist, Mitglied eines lebendigen Teams zu sein. Manchmal erlaubte uns das Science-Fiction-Genre sogar – obwohl immer noch in Körper und Geist der Person, die wir spielten – die enggesteckten Grenzen dieser Starfleet-Offiziere zu verlassen. Wir hatten die Möglichkeit, was im Fernsehgeschäft sehr selten ist, unsere „dramatischen Muskeln“ zu trainieren. Ich hatte zudem reichlich Gelegenheit, meine Laufmuskeln zu dehnen. Herb Solow machte sein Versprechen wahr, genügend
Budget für Außenaufnahmen bereitzustellen. So hatte ich immer, wenn wir in der zerklüfteten Mondlandschaft der Vasquez Rocks oder eines Safariparks namens Afrika, USA, drehten, meine Laufschuhe für die Pausen dabei. Ob im Studio oder bei Außenaufnahmen – Leonards Anwesenheit auf dem Set brachte auf jeden Fall immer eine ganz eigene Dimension in die Arbeit. Er kreierte einen wirklich eigenen Charakter. Es gab einfach kein Vorbild für Spock. Leonards Vorstellungskraft, Talent und Willensstärke waren die einzigen für ihn verfügbaren Ressourcen. Und aus ihnen erschuf er einen anziehenden und bemerkenswerten Charakter. Seit dem Tag, an dem ich Leonard auf dem Set für den Pilotfilm zum ersten Mal gesehen hatte, war seine Bindung an diese Herausforderung hundertprozentig. Seine völlige Hingabe, diesen Charakter zu erschaffen, erstaunte jedermann, und er bereicherte und belebte die Arbeitsatmosphäre auf dem Set. Die Türglocke klingelte durchdringend. Es war fast neun Uhr abends, aber es kam nicht unerwartet. Ich hatte nervös auf die Lieferung des Drehbuchs gewartet, von dem mir Produzent und Autor John Black erzählt hatte. Vor zwei Wochen war er auf dem Set aufgekreuzt, während der Arbeiten zu „Die Frauen des Mister Mudd“. Diese Episode, in der es um eine Fracht von spärlich bekleideten hübschen Frauen ging, schien eine außergewöhnliche Anzahl von Besuchern anzuziehen, die im Produktionsbüro herumhingen und ein Auge auf die Studioarbeit werfen wollten. Als wir zusammensaßen, ließ John ein qualvoll kleines Stück Information über ein Drehbuch heraus, an dem er gerade arbeitete. „Wie gut kannst du fechten, George?“ fragte er mich, obwohl seine Augen an einem ehemaligen Playmate des Monats hingen, die gerade ihre Szene probte. Er hätte wissen müssen, daß jeder Schauspieler,
dem so eine Frage gestellt wurde, niemals die Wahrheit sagen würde. Denn wenn die Möglichkeit bestand, seinen Part auszubauen, wurde jeder Schauspieler automatisch in allem ein Experte – und wenn man den Part hatte, ging man hin und versuchte einer zu werden. „Woher kennst du eine meiner Lieblingssportarten?“ antwortete ich. „Warum?“ „Nur eine Frage. Beherrschst du Samurai-Schwertfechten?“ bohrte er weiter. „Natürlich kann ich das. Ich wuchs mit Samuraifilmen auf, warum?“ beharrte ich. „Ich arbeite gerade an einem Skript, wo du von einem Virus infiziert wirst, das alle Hemmungen beseitigt, und du mit einem Schwert Amok läufst. Ich versuche zu entscheiden, welchen Weg ich gehe.“ Das machte mir den Mund wässrig. Nach so vielen Episoden, die ich nur hinter der Steuerkonsole verbracht und die Warp-Geschwindigkeit angesagt hatte, hörte sich das absolut köstlich an. „Das soll also heißen, es geht ums Fechten“, stellte ich fest. „Samurai-Schwertkampf ist zu offensichtlich. Es ist zu tief verwurzelt. Sulu ist ein vielfältig interessierter Mann des 23. Jahrhunderts und sein Sinn für die Vergangenheit sollte mehr als nur den ethnischen Hintergrund ausfüllen. Sein Sinn für Kultur sollte ein größeres menschliches Erbgut umfassen. Ich bin ein japanischer Amerikaner des 20. Jahrhunderts, und obwohl ich als Kind Samurai-Filme gesehen habe, bin ich eigentlich mehr mit Western und Abenteuerfilmen aufgewachsen. Ich denke, es wäre interessanter, ein Florett in Sulus Hand zu sehen.“ „Gekauft“, antwortete John, und wir besiegelten es mit einem Handschlag. Er ging – nicht ohne noch einen weiteren Blick auf die Action auf dem Set zu werfen – und verließ das Studio mit einer Kursempfehlung für sein Drehbuch im Gedächtnis.
Und auf dieses Skript hatte ich sehnsüchtig gewartet, als es klingelte. Ich öffnete die Türe, und draußen stand ein grinsender Studiobote. „Ihr Drehbuch für die nächste Folge, Mr. Takei“, sagte er und händigte mir den vertrauten grauen Umschlag mit dem Desilu-Logo aus. „Danke, aber warum kommt es so spät?“ fragte ich ihn. Natürlich war es nicht unüblich spät. Die Drehbücher wurden gewöhnlich am Abend verteilt, doch meine Vorfreude auf dieses ließ die Lieferung spät erscheinen. „Nun, sie haben an dieser endgültigen Version den ganzen Tag gearbeitet. Ich habe es gerade frisch aus der Druckpresse gezogen“, erklärte der Bote. Ich riß den Umschlag auf und holte ein Drehbuch mit dem Titel „Implosion in der Spirale“ heraus. Ich begann, sofort zu lesen. Als ich es später weglegte, war ich noch völlig von der Geschichte in ihren Bann gezogen. John Black hatte wirklich ein temporeiches und spannendes Stück geschrieben. Das Virus, das die Enterprise in Gefahr brachte, enthüllte auch neue Seiten der Hauptfiguren: Kirks verzweifelten Kampf um sein Schiff, sein Kapitänspatent und seine Seele; Spocks Abstammung, die ihn in einen geistigen Kampf mit seinen beiden Kulturen verwickelte; die kühle, zuverlässige Christine Chapel enthüllte ihre verborgene Leidenschaft für Spock; und Sulus Befreiung von der Steuerkonsole als romantischer Säbelschwinger. Befreit von den Ketten der Konsole war er so schneidig wie Errol Flynn. Wir waren immer noch mit der Episode „Das Letzte seiner Art“ beschäftigt, aber mein Denken kreiste immer wieder um dieses Skript. Am folgenden Tag hatte ich laut Drehplan frei, und so konnte ich in den Falcon-Studios am Hollywood Boulevard eine Fecht-Trainingsstunde besuchen. Ich hatte damit am ersten Wochenende nach dem Gespräch mit John Black angefangen. Ich träumte die ganze Nacht von Angriffen und Verteidigungen. Mr. Faulkner, mein Fechtlehrer in den Falcon Studios, war ein Mann Ende sechzig, aber immer noch
bei bester Kondition. Sein dunkelblaues Polohemd konnte seine Kraft, die breiten Schultern und seine starken Muskeln nicht verbergen. Während unserer Übungen – als ich bereits schweißgebadet und atemlos war – demonstrierte er fortgesetzt eine Serie von akrobatischen Angriffen. „Können wir eine kurze Verschnaufpause einlegen?“ bat ich ihn. Er akzeptierte mit unverhohlenem Amüsement. „Ist Fechten für einen Läufer so anstrengend?“ neckte er mich. „Bei Errol Flynn sah es so einfach und leicht aus“, keuchte ich. „Ich tat so, als wäre ich Robin Hood, nachdem ich ihn und Basil Rathbones Schwertkampf im Film gesehen hatte. Aber ich hätte nie gedacht, daß man so viele Muskeln dazu braucht.“ „Flynn war gut. Er war ein echter Kämpfer“, erklärte Herr Faulkner nachdrücklich. „Aber Rathbone war ein verrückter Kerl. Flynn vertraute ihm überhaupt nicht.“ „Kannten Sie ihn denn?“ fragte ich. „Ich habe die Kampfchoreographie für ‘Robin Hood, König der Vagabunden’ gemacht.“ „Sie waren das?“ Ich war völlig überwältigt von dieser phänomenalen Neuigkeit. „Robin Hood“ war einer der Lieblingsfilme meiner Kinderzeit im Osten von L.A. gewesen. Ich war fasziniert vom Duell zwischen Errol Flynn und Basil Rathbone. Nach dem Film bat ich meine Mutter, mir ein Robin-Hood-Kostüm zu nähen, und unser Garten verwandelte sich in den Sherwood Forest. „Oh ja“, lächelte Mr. Faulkner. „Tatsache ist, daß ich Rathbone in diesen Kampfszenen gedoubled habe. Flynn hatte Angst vor ihm.“ „Sie meinen, das war Ihr Rücken, den ich sah, als Errol Flynn mit Basil Rathbone die Schwerter kreuzte?“ „Alles mit Ausnahme von Rathbones Gesicht.“ Er grinste stolz. Ich war platt – der Mann, der mir Fechtunterricht erteilte, den ich einfach aus dem Telefonbuch herausgepickt hatte, weil
die Schule für mich gut erreichbar war, erwies sich tatsächlich als jener Mann, der mich mit seiner atemberaubenden Kampfkunst als Junge mächtig beeindruckt hatte. Was für ein unglaublicher Zufall! „Okay, wir können weitermachen“, kündigte ich an. Mit neuer Energie und Kraft stürzte ich mich wieder auf Angriff und Verteidigung. Es war jetzt nicht mehr schwer, mir vorzustellen, ich sei Errol Flynn. Ich kreuzte schließlich die Klinge mit seinem Gegner. Wir schlugen aufeinander ein, bis meine Trainingsstunde vorbei und meine Energie völlig verbraucht war. Endlich! Es war der erste Drehtag für „Implosion in der Spirale“. Ich stand in der Morgendämmerung auf und quälte mich durch meine Fechtlektion, statt meinen üblichen Morgenlauf zu absolvieren. Nach dem Duschen fuhr ich ins Studio. Nichelle, Leonard und der Schauspieler, der diese Woche den Navigator spielte – Bruce Hyde, saßen bereits in ihren Schminksesseln. Bill bekam den ersten Teil seines Makeups in seiner Garderobe. Ich murmelte mein „Guten Morgen“ an alle, stellte mich Bruce vor und orderte mein Frühstück – Müsli mit entrahmter Milch, ein Kleiebrötchen und ein Stück Melone – bei Greg Peters, dem Assistenten des Regisseurs, und ließ mich in meinem Schminksessel nieder. Marc Daniels, der Regisseur der Folge, streifte durch den Raum, um ein paar freundliche Worte auszutauschen und dann wieder zu verschwinden. Das Hämmern und das Geschrei vom Set nahm langsam an Tempo und Lautstärke zu. Fertig geschminkt holte ich mir bei der Kaffeemaschine einen vollen Becher und ging hinüber zum Schwarzen Brett. Ich wollte feststellen, ob ich vor meiner Fechtszene noch einen Tag frei hatte, damit ich mit Mr. Faulkner üben konnte. Wie immer sollten die Arbeiten an dieser Folge mit den Brückenszenen beginnen – alle nacheinander: die Einführung, die im Drehbuch verteilten
Szenen und das Ende der Episode. Wir hatten eine Menge Brückenszenen in dieser Folge, inklusive einer meiner Fechtszenen, so daß wir die Hälfte der gesamten Drehzeit von sechs Tagen auf der Brücke verbringen würden. Kein Glück – die Korridorszene, in der meine andere Fechtszene stattfinden sollte, kam direkt im Anschluß nach den drei Drehtagen auf der Brücke. Der knapp dreiwöchige Fecht-Schnellkurs mußte wohl dafür genügen. Mit diesen Gedanken verließ ich die laute Atmosphäre und das Geschrei der Crew auf dem Set für einen Moment des Friedens in meiner Garderobe, wo auch schon mein Frühstück auf mich wartete. – Als ich gerade mit dem Müsli beschäftigt war, klopfte es an die Garderobentür. „Ja, bitte“, murmelte ich und wischte schnell etwas Milch von meinen Lippen. Es war Marc Daniels. Er hatte auch schon bei der letzten Episode „Das Letzte seiner Art“ Regie geführt und sollte es auch bei dieser tun. Er hatte ein feines Gespür für Details und eine gute Hand für die Arbeit an dieser Serie. „George, ich habe eine Idee. Kannst du bitte mal das Hemd für mich ausziehen?“ fragte er mich ohne jede Erklärung. Aber plötzlich wußte ich, was er vorhatte. „Sicher“, antwortete ich, schluckte mein Frühstück hinunter und zog das T-Shirt aus, nicht ohne vorher diskret meinen Bauch einzuziehen. Marc betrachtete meinen nackten Oberkörper, als würde er eine Lammkeule einkaufen. „In Ordnung“, sagte er lässig, „laß uns deine Fechtszene ohne Hemd drehen.“ Er schloß die Tür und war verschwunden. Sekunden später lag ich auf dem Boden, die Füße auf der Couch, und begann Liegestützen zu machen, um einen fotogenen Oberkörper aufzubauen. Während der folgenden Tage wunderten sich Leute, die an meiner Garderobe vorbeigingen, bestimmt über die Art von Aktivitäten, die darin stattfanden und die transportablen Pappfelsen zum Beben brachten. Welche verrückten Vorstellungen sie auch immer
haben mochten, die Wahrheit war, daß ich meine Brustmuskeln für meine Oben-Ohne-Fechtszene mit rigorosem Training gewissenhaft aufpumpte. Eine andere Geschichte aus dieser Episode wurde durch das Gerede beinahe zur Tatsache erklärt, obwohl ich zugeben muß, daß sie sich sehr seltsam anhört. Viele glauben, daß man mir nicht trauen kann, wenn ich ein Schwert in der Hand habe. Diese Geschichte wurde in „The Making of Star Trek“ von Stephen E. Whitfield veröffentlicht und erzählt, daß ich im Studio herumrannte und meine Kollegen mit dem Degen in der Hand bedrohte, wie Sulu es in dieser Episode tat. Das ist aber eine sehr einseitige und unvollkommene Darstellung davon, wie es wirklich war. In einem Filmstudio ist es nicht ungewöhnlich, daß man auf einen Schauspieler trifft, der in einer dunklen Ecke herumläuft und Selbstgespräche führt. Er ist keineswegs verrückt. Er bereitet sich lediglich auf die nächste Szene vor, die gefilmt wird, und wiederholt seinen Text. In dieser Episode beinhalteten meine Szenen nicht nur Dialog, sondern auch Kampfdarstellung. So fand ich einen Platz in einer unbenutzten Ecke des Studios und begann, meine Übungen zu proben. Ich denke, ich habe wahrscheinlich auch einige seltsame Geräusche produziert – Pusten, Keuchen, Stampfen und gelegentliches Grunzen. Nun, Jimmy Doohan ist ein Mensch mit unersättlicher Neugier. Nichts Ungewöhnliches wird ihm je entgehen. Passend zu seinem Charakter wurde sein scharfer Verstand von den Lauten, die ich produzierte, gereizt. So tauchte er plötzlich hinter mir in der Ecke auf und schnüffelte herum, auf der Suche nach dem Urheber der eigenartigen Laute. Eine weitere Eigenschaft von Jimmy ist sein unglaublicher Sinn für Timing, ein sehr nützliches Merkmal für einen Schauspieler. Sein Timing war so gut, daß er genau dann in meiner Ecke aufkreuzte, als ich mit dem Florett zustieß. Ich
schnitt durch die Luft, verfehlte Jimmys Nase nur um Zentimeter. Seine Augen wurden groß vor Überraschung. Ich versuchte, mich rasch zu entschuldigen, doch bevor ich das konnte, war er auf und davon. Eine dritte Qualität von Jimmy ist die Tatsache, daß er eine wunderbare irische Gabe für Dramen besitzt – eine Fundgrube für jeden Schauspieler. Aber bei Jimmy äußert sich das öfters in flammender und ungeheuer starker Redekunst. Innerhalb von Minuten wurde auf dem Set verbreitet, daß George Jimmy „angegriffen“ hatte. Einige Versionen behaupteten sogar, es wäre Blut geflossen! Greg Peters, der Regieassistent, notierte dies in seinem Tagesreport für das Produktionsbüro. Diese Halbwahrheit wurde vom Autor Whitfield aufgeschnappt und dann in „The Making of Star Trek“ veröffentlicht. Doch die ganze Wahrheit ist die, daß ein vernünftiger Schauspieler, der seine eigenen Dinge im Kopf hatte und sich auf seine Szene vorbereiten wollte, den anderen aus dem Weg ging und von einem neugierigen „Kollegen“ zwar unabsichtlich, aber nachhaltig gestört wurde. Am vierten Tage der Dreharbeiten zu „Implosion in der Spirale“ arbeiteten wir in den Korridor-Sets. Meine Fechtszene war abgedreht, und Leonards großer Zusammenbruch stand als nächstes auf dem Drehplan. Jedem war die Tragweite dieser Szene bewußt. Ich war sehr gespannt, wie er damit umgehen würde. Leonard hatte eine komplexe, hochgradig logische und rigoros selbstkontrollierte Figur eingeführt. Außerirdisch, jetzt noch nicht ganz nachvollziehbar, aber seltsam sympathisch. In dieser Episode sollte er zum ersten Mal seine verborgenen menschlichen Emotionen, die er immer unter Kontrolle hielt, offenbaren – ein vernichtender Bruch seiner strengen vulkanischen Erscheinung. Das gewalttätige mysteriöse Virus, das die Crew der U.S.S. Enterprise infiziert hatte, zerstörte letztendlich auch Spocks stählerne Widerstandskräfte. Leonard
bei den Vorbereitungen zu Spocks Zusammenbruch zu beobachten, war eine rare Lektion echter Schauspielkunst. Nach einer leisen Diskussion mit Marc Daniels suchte er im Raumschiffset nach einem passenden Ort und fand einen abgeschiedenen, geschlossenen Raum für seinen Zusammenbruch. Leonard erklärte, daß Spock niemals einen derartig brisanten, privaten Augenblick mit anderen teilen würde – ganz besonders nicht mit Schwester Chapel, die in ihn verliebt war. Dann fragte er, ob er ein wenig Zeit haben könnte, sich fertigzumachen. Es war keine Frage von „sich gehen lassen“, wie es Stars oft praktizieren. Nur pure, intensivste Konzentration. Als er fertig war, trat er leise vor die Kameras. Dann hieß es „Film ab“, und Marc Daniels flüsterte: „Action.“ Spock taumelte unsicher durch den Korridor, völlig desorientiert, und schlüpfte leise in den Raum. Die Türe schloß sich zischend. Dann herrschte Schweigen… ein lautloses Zittern voll Spannung. Irgend etwas stimmte nicht mit Spock. Langsam, mit jedem Muskel um Kontrolle ringend, setzte er sich hin. Nahezu unbemerkt lief ein Zittern über seine Lippen. Sein ganzer Körper rang heftig um Kontrolle. Dann – als ob ein großer, solider Damm brechen würde – begann sein Körper zu zittern. Die Qual, so immens, so stark und so lange unterdrückt, war jetzt auch nicht mehr von diesem kraftvollen Vulkanier beherrschbar. Und er brach zusammen. Der Schmerz äußerte sich in krampfhaften Zuckungen, unerträglich, zerreißend und verwirrend. Wir fühlten uns wie ordinäre Eindringlinge angesichts dieses grauenhaften, privaten Leidens. Aber wir sahen trotzdem gebannt zu. „Gestorben.“ Marcs Stimme war kaum hörbar, nahezu entschuldigend. Für einen Moment herrschte beschämtes Schweigen, dann brachen alle Anwesenden in spontanen, heftigen Applaus aus. Leonard war brillant. Reine, vollendete Schauspielkunst in den
strengen Drehplänen eines Fernsehstudios. Leonard setzte hohe Standards auf unserem Set; wir alle wollten sein Vorbild erreichen. Das Schwarze Brett, das unsere Zeit in DrehbuchViertelseiten einteilte und uns geschäftig von Set zu Set eilen ließ, war gelegentlich auch der Spender unwillkommener Pausen. Wir ärgerten uns über Zeitdruck und knappe Pausen, waren aber auch nicht begeistert, wenn wir bei Szenen auf dem Set nicht dabei waren. Ich hatte zu viele davon, und mir wäre es lieber gewesen, wenn das Studio mich überfordert hätte. Und am einzigen freien Tag während der Dreharbeiten zu „Implosion in der Spirale“ verpaßte ich auch noch etwas. Es gab da eine Stelle in dieser Episode, von der ich wünschte, ich wäre auf dem Set gewesen. Es war der Tag, an dem Bills große Szene gefilmt wurde. Als ich die Szene schließlich bei der Ausstrahlung der Folge im Fernsehen sah, ärgerte ich mich wirklich, daß ich an dem Tag nicht am Set gewesen war – Bill war einfach brillant. Kirk hatte sich letztendlich auch mit dem tödlichen Virus infiziert, bei ihm hatte es allerdings noch schlimmere Auswirkungen als bei allen anderen – er war nicht in der Lage, seine Selbstkontrolle wiederzuerlangen. Er kämpfte mit dieser schrecklichen Krankheit in sich um seinen Job, sein Schiff und um seinen Verstand. Es gab verschiedene Stufen der Verwirrung, die Bill mit unglaublicher Intensität spielte. Unter den Zwängen des Fernsehens zog Bill in dieser Szene alle Register seines Könnens. Als der Abspann über das Bild eines schweißnassen Sulus gelaufen war, wurde mir wieder einmal bewußt, welche besondere Gruppe von Schauspielern mich bei „Star Trek“ umgab. Und wie außergewöhnlich „Implosion in der Spirale“ war.
Wir hatten monatelang unter intensivem Druck gearbeitet und die Mitte der Staffel erreicht. Die Zeit rückte näher, wo wir die ersten Früchte unserer Mühen ernten sollten. Die Erstausstrahlung von „Star Trek“ stand kurz bevor. Desilu bat mich, nach Chicago zu reisen, um dieses glückliche Ereignis zu promoten, und ich war sehr erfreut darüber. Chicago ist nicht weit von Milwaukee entfernt, wo mein Bruder Henry lebt. Er hatte gerade seine Abschlußprüfung in medizinischer Zahntechnik an der Marquette University bestanden, und seine Frau June hatte gerade ihr erstes Kind namens Scott bekommen. Es war eine wunderbare Gelegenheit, zwei Erstlinge zu feiern: die Erstausstrahlung unserer neuen Serie und die Geburt meines ersten Neffens. Ich war ein glücklicher und erwartungsvoller SchauspielerOnkel, der in Chicago Interviews im Radio und Fernsehen gab, mit Reportern zum Essen ging und gespannt auf die Premierennacht im September 1966 wartete. An diesem Morgen – als meine Promotiontour abgeschlossen war -fuhren Henry, June und Baby Scott nach Chicago, um mich abzuholen. Mein erster Kontakt mit Scott war ein voller Erfolg. Kein Protestgeschrei ertönte, als ich das kleine, dicke Bündel von June in den Arm gelegt bekam. Ich wiegte ihn die halbe Strecke nach Milwaukee ohne Probleme. Ich denke, ich hatte den „Onkel-Test“ bestanden. Die nächste Probe als Serienschauspieler im Fernsehen sollte ein paar Stunden später erfolgen. An diesem Abend saß ich wie auf einem Nagelbrett vor dem Fernseher in Henrys und Junes Wohnzimmer. Der leise brabbelnde Scotty lag auf meinem Schoß. Henry schaute erwartungsvoll, während June in der Küche noch Kaffee und Kekse herrichtete. „June, beeil dich! Es fängt jetzt an!“ rief ich, als die Titelmelodie – die so schnell vertraut werden sollte – ertönte.
Sie kam im gleichen Moment mit einem Tablett herein, als die U.S.S. Enterprise zum ersten Mal auf dem Bildschirm zu sehen war. Dann erschien in strahlenden, großgeschriebenen Buchstaben der Titel „Star Trek“. Es war die Episode „Das Letzte seiner Art“. Unsere Reise hatte begonnen! Ich fragte mich, wie sich Gene Roddenberry in Los Angeles jetzt wohl fühlte. Und die nächste Stunde verging wirklich in WarpGeschwindigkeit. Die ersten kritischen Kommentare kamen in der Mitte der Episode, als Scotty in meinem Schoß einschlief. Als der Abspann lief, sagte June: „Es war… interessant. Aber ich bin eigentlich kein Science-Fiction-Fan, also kann ich nicht viel dazu sagen. Aber du warst sehr… interessant.“ Henry wartete, bis die Werbung anfing. Dann fragte er: „Die haben dich doch dafür bezahlt, oder?“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „Das ist gut.“ Ich denke, er meinte, es war gut, daß ich dafür bezahlt worden war. Aber ganz sicher war ich mir nicht. Die ersten Kritiken waren mäßig, was uns aber nicht überraschte. Pionierarbeit trifft selten den Geschmack der Masse. „Star Trek“ eroberte sich völlig neue und unbekannte Fernsehräume. Und eine ganz eigene Gruppe von Zuschauern entdeckte uns und ließ uns wissen, daß sie uns unterstützten. Es kamen Briefe, erst in kleinen Mengen, dann Berge von enthusiastischer Fanpost. Viele waren begeistert von dem Ideenreichtum der Science-Fiction, andere waren angetan von der spektakulären Technologie – und sie alle schienen die Figuren zu lieben, ganz besonders den Außerirdischen Mr. Spock. Obwohl ich vom Schauspieler Leonard Nimoy beeindruckt war, hätte ich nie diese massive Reaktion auf einen so kühlen, leidenschaftslosen und seltsam aussehenden Charakter erwartet. Seine physischen Qualitäten schienen nicht das Zeug
für öffentliches Interesse zu haben… nicht im üblichen Sinne. Eine trockene Stimme, hagere Figur und ein unergründliches Gesicht, nun… einfach außerirdisch, das alles würde normalerweise keine solche Erregung erzeugen. Von da an begann ich, Spock im Fernsehen näher zu beobachten. Er verströmte über den Bildschirm etwas, das mich auf dem Set schon beeindruckt hatte, und gleichermaßen Hirn und Herz der Zuschauer ansprach. Durch die Intensität seiner Darstellung verkörperte Leonard geheimnisvolle Intelligenz gepaart mit erotischer Anziehungskraft. Damit wurde er zum Liebling der Zuschauer. Spocks aufblühende Popularität schuf unvorhersehbare Probleme im Studio. Die traditionelle Rolle des Lieblings und großmäuligen Helden war mit Bill Shatner besetzt. Aber die Säcke mit Fanpost für Leonard waren größer als seine. Viel größer – und das ließ heftige Spannung im Studio aufkommen. Wie heftig, fanden wir an einem unvergeßlich langen und nervenaufreibenden Morgen heraus. Das „Life“-Magazin machte eine Fotostory über Leonard Nimoy, wie er in Mr. Spock verwandelt wurde. Wegen der Zeit, die die sorgfältige Arbeit des Maskenbildners in Anspruch nahm, war Leonard frühmorgens immer der Erste im Schminkraum. Normalerweise gefolgt von Nichelle und Grace Lee Whitney. Danach stolperte der Rest von uns verschlafen herein. Doch an diesem Morgen, als Leonards Make-up zur Hälfte fertig war und der Fotograf gerade begann, seinen Rhythmus zu finden, kam Bill herein. Als er sah, was vorging, erstarrte er förmlich. Dann drehte er sich um und verschwand augenblicklich. Kurze Zeit später stürmte ein Assistent in den Schminkraum und forderte den Fotograf zum Gehen auf. Leonards Schminke und die Fotostory waren aber erst zur Hälfte fertig. Auch auf nachdrückliche Fragen konnte der
Assistent keine vernünftigen Gründe für den Rausschmiß geben, bestand aber darauf, daß der Fotograf sofort verschwinden sollte. Es wäre eine Anweisung aus dem Studiobüro, wiederholte er immer wieder. Widerstrebend packte der Fotograf seine Kameras ein und ging, ohne seinen Job beenden zu können. Leonard war verständlicherweise fuchsteufelswild. Er stand auf und erklärte, sich erst dann fertigschminken zu lassen, wenn dem Fotografen erlaubt würde, zurückzukommen. Bis dahin, kündigte er an, würde er mit halbfertigem Make-up in seiner Garderobe warten. Und mit diesen Worten verschwand er. Der Rest von uns saß schweigend da und verfolgte das Drama, das sich vor unseren Augen abspielte, während unsere Schminke aufgetragen wurde. Dann versammelten wir uns an der Kaffeemaschine, um unseren üblichen Morgentratsch auszutauschen. Doch an diesem Morgen war unsere Unterhaltung leise – nahezu verschwörerisch. Es wurde geflüstert, daß Bill in seinem Vertrag eine Klausel hätte, die ihm ein Mitspracherecht über die Anwesenheit von Fotografen im Studio einräumte. Plötzlich kam eine Gruppe „schwarzer Anzüge“ herein. Sie begaben sich direkt zu Leonards Garderobe. Wir schlichen mit unseren Kaffeetassen hinüber zum Set und setzten uns in den Kreis unserer Studioklappstühle. Die Kulisse war still und dunkel. Als wir unsere leise Unterhaltung fortsetzten, kam die Gruppe wieder aus Leonards Garderobe heraus und flatterte hinüber zu Bills. Wir warteten geduldig neben dem unbeleuchteten, geisterhaften Set und nippten an unserem Kaffee. Einige holten sich frischen, als die Tassen leer waren, oder verschwanden kurz nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen – währenddessen lief die Gruppe zwischen den beiden Garderoben hin und her. Stunden vergingen, und der Kaffee
machte uns langsam nervös. Aus dem Morgen war fast schon Mittag geworden. Greg Peters, der Chefassistent, kam zu unserer Runde und sagte uns, wir könnten früher in die Mittagspause gehen. Als wir von einem gemütlichen Essen zurückkamen, waren wir überrascht, das Set hell erleuchtet und voller vor Aktivität vorzufinden. Leonard saß an seiner Station, die Schminke perfekt bis an die äußerste Ecke seiner spitzen Ohren. Und Bill saß lachend im Kommandosessel und machte die üblichen Witzchen mit der Crew. Wir waren wirklich bereit, mit der Arbeit anzufangen. Wie Vollprofis nahmen wir alle unsere Positionen ein, die Kameras liefen und wir machten mit dem Tagesplan weiter, als wäre nichts gewesen. Ein paar Monate später bemerkte ich, daß das „Life“Magazin die komplette Fotostory über Mr. Spock und wie er zu seinem bizarren Make-up kam, veröffentlichte. Aber es war nicht einmal die Hälfte der ganzen bizarren Geschichte. Die erste Season der Dreharbeiten zu „Star Trek“ war sehr turbulent. Es gab Höhepunkte, aber die Stunden waren lang und anstrengend, die Stimmung war oft wie eine Stahlsaite gespannt und der Druck, den Zeitplan einzuhalten, sehr intensiv. Wir dachten, wir würden die ganze Zeit im Studio verbringen müssen, aber am Ende gingen wir doch nach Hause in unsere eigenen Betten. Draußen im Produktionsbüro schlief Gene manchmal auf der Couch während der Drehbuchüberarbeitung ein. Tatsächlich hatten wir zwei Genes, die uns als Produzenten beschützten – Gene Roddenberry und Gene Coon. Unter dem hohen Druck, jede Woche eine fertige Episode zu produzieren, lieferten die beiden Genes den Zuschauern eine der kreativsten Serien, die das Fernsehen jemals gesehen hatte. Ich war stolz, ein Teil davon zu sein. Doch ich wollte mehr; ich wollte, daß Sulu mehr zu tun bekam. Mein Schiff würde
sich vielleicht ständig mit Warp 3 fortbewegen, doch ich wollte mehr Aufgaben haben, als immer nur diese Tatsache anzusagen. Ich sah, daß Leonard ständig mit den Regisseuren arbeitete und den Produzenten seine Ideen mitteilte. So begann ich, Sulu zu unterstützen. Ich bombardierte Gene Roddenberry mit Ideen für die Entwicklung des Charakters, mit persönlichen Hintergründen, möglichen Geschichten für Drehbücher – allem, was Sulu helfen könnte. Gene war empfänglich und sagte, er würde gerne mehr aus meinem Charakter machen. Doch die Staffel war fast abgedreht, und das Potential würde wohl in der nächsten Staffel verwirklicht werden. Die Kluft zwischen uns wurde immer größer. Es war wie ein Hinweis, als wüßte der großer Hüter des Zeitplanes bereits, daß ich bald einer jener Schauspieler „zwischen zwei Engagements“ sein würde. Ich erhielt ein Angebot von Batjac Produktions für eine Rolle in der Kinofilm-Version des Bestsellers „Die grünen Teufel“. Batjac war, wie ich wußte, die Produktionsgesellschaft von Filmstar John Wayne, der in diesem Film die Hauptrolle spielen würde. Mein Glückskelch floß über. So kurz nach der ersten Staffel von „Star Trek“ folgte ein Kinofilm mit einer Legende! Ich war überglücklich. Aber in die Vorfreude mischte sich auch Besorgnis. Dieser Film handelte vom Vietnam-Krieg, und ich wußte, daß John Wayne ein ausgesprochener Befürworter dafür war, daß unsere Jungs dort kämpften. Ich auf der anderen Seite hatte mich öffentlich und privat dagegen ausgesprochen. Doch ich wollte unbedingt einen Film mit diesem legendären Schauspieler drehen. Meine Überzeugung und meine Karrierepläne kollidierten miteinander, und ich fühlte, daß ich zu John Wayne ehrlich sein mußte. Als ich ihn in seinem Büro in den Warner Studios traf, legte ich die Karten auf den Tisch. Er hörte intensiv zu, seine Augen
sahen mich direkt mit diesem typischen John-Wayne-Zwinkern an, das ich so gut aus Nahaufnahmen von ihm kannte. Es war ein eigenartiges Gefühl, zu wissen, daß er mich mit seinem Blick meinte und nicht Ward Bond oder Lee Marvin. Er schüttelte den Kopf auf diese Weise, wie es nur John Wayne konnte und sagte gedehnt: „Ich respektiere Ihre Einstellung, George. Ich weiß, eine Menge Leute denken dasselbe. David Janssen und Jim Hutton, die in diesem Film auch mitwirken, fühlen wie Sie.“ Das hatte ich nicht gewußt. Er hatte einen verwundbaren Ausdruck in den Augen, als er fortfuhr: „Aber ich brauche euch Jungs in diesem Film, denn ihr seid die besten Schauspieler für diesen Job. Ich brauche eure Hilfe. Ich brauche eure Ideen, damit das ein guter Film wird. Und ich werde alles tun, was ich kann, um einen guten Film zu machen.“ Er war aufrichtig, überzeugend und charmant. Er war schließlich der John Wayne. Aber ich sah auch John Waynes Courage und Kraft in seinem Einsatz für diesen Film. Der Krieg in Vietnam war für Amerika wie eine schmerzhafte Brandwunde. Er verwüstete eine kleine asiatische Nation und raste über unser eigenes Land. Auch Hollywood wollte diesen Konflikt nicht einmal mit einer zehn Meter langen Stange berühren. Er war zu kontrovers. Nur John Wayne hatte den Mut und die Kraft für dieses wichtige Thema und drehte den ersten Hollywood-Film, der sich mit Vietnam beschäftigte. Das mußte ich respektieren und entschied mich, bei „Die grünen Teufel“ einzusteigen, und hoffte auf das Beste. Die Produktion sollte nicht im Studio gedreht werden – Gott sei Dank aber auch nicht am Originalschauplatz –, sondern in Fort Benning, nahe Columbus, Georgia. In Fort Benning würden die Explosionen von einem Spezialeffekte-Team durchgeführt werden.
Als ich mich darauf vorbereitete, um nach Georgia abzureisen, gab mir Gene Roddenberry ein „Viel Glück“Geschenk mit auf den Weg. Ein wunderbares, erregendes Geschenk, das mir einen Adrenalinschub versetzte. Gene gab mir eine Reihe von Drehbüchern, die für die nächste Staffel von „Star Trek“ geschrieben worden waren. „Hier ist etwas, um deinen Appetit zu wecken, während du in Georgia bist.“ Er grinste, als er meine Hand schüttelte. Ich blätterte sie schnell durch. Wie versprochen, war für Sulu wesentlich mehr Text enthalten. Unter den Drehbüchern waren die Folgen „Kennen Sie Tribbles?“, „Meister der Sklaven“ und „Brot und Spiele“. Ich flog nach Georgia, und schon während der Arbeit an „Die grünen Teufel“ fieberte ich bereits der nächsten Staffel von „Star Trek“ entgegen. „Die grünen Teufel“ war ein absoluter John-Wayne-Film. Er spielte die Hauptrolle und führte gleichzeitig Regie, obwohl Warner Brothers meinen alten Regisseur aus „1000 Meilen bis Yokohama“, Mervyn Leroy, zur Unterstützung geschickt hatte. Und obwohl wir ein Drehbuch von Clare Huffaker hatten und der Autor des Buches, auf dem der Film basierte, Robin Moore, auf dem Set anwesend war, hatte John Wayne es umgeschrieben. Der Ausführende Produzent war Michael Wayne, sein Sohn. „Die grünen Teufel“ war nicht nur ein John-Wayne-Film – es war ein John-Wayne-Kriegsfilm. Die guten Jungs gegen die bösen Jungs: „Wir“ gegen „die anderen.“ Sein Regiestil war auch typisch John Wayne – groß, ausschweifend und mit dem Blick nach vorne. Du triffst dein Ziel und sagst dann deinen Text. Alle Rollen waren sehr optisch besetzt. Welche Nuance oder Farbe der Charakter auch
immer bekommen sollte, der Schauspieler mußte es selbst einbringen. Ich war als Captain Nim, der „gute Vietnamese“, besetzt worden – so wie Wayne ihn sich vorstellte. Nim war ein disziplinierter, hingebungsvoller und hochgradig bestimmender Mann. Ich entschied mich, ein wenig mehr Spaß mit diesem Charakter zu haben, und steuerte meine eigene Sichtweise zu einem John-Wayne-Statement bei. Ich nahm mir vor, Captain Nim als skrupellosen, halsabschneidenden Militaristen, der eigentlich nicht länger weiß, wofür er kämpft, zu spielen. Nur, daß er kämpft – und über die Feinde siegen mußte, egal was es kostete. Wayne mochte diese Interpretation. Ich wollte einige Dialoge in Vietnamesisch sprechen, so bat ich das Studio, mir einen Dialogtrainer zu besorgen. Er war ein freundlicher, kleiner Mann namens Mr. Phuc aus der Vietnamesischen Sprachenschule von Fort Bragg, North Carolina. Ich arbeitete lange Nächte mit ihm im Camillia Motel, wo wir einquartiert waren, um den richtigen Akzent, für die harte, kantige Betonung, die ich für Captain Nim wollte, zu finden. Doch Mr. Phucs weiche, sanfte Stimme die Texte dieses brutalen Militaristen vorlesen zu hören, macht das sehr schwierig. Es war, als versuchte ein Zwergpinscher zu bellen wie ein wütender Dobermann. Es war aber nicht halb so schwierig, wie die ganze Crew und die Schauspieler davon abzuhalten, in brüllendes Gelächter auszubrechen, wann immer ich seine Hilfe auf dem Set benötigte. Einer der Assistenten brüllte mit seinem transportablen Lautsprecher über das Schlachtfeld nach meinen Dialogtrainer. Es war nicht so sehr der Anblick, wie dieser kleine, sanfte Mann über Sandsackbarrikaden und Stacheldraht kletterte, es war eher die typisch amerikanische Fehlinterpretation, den der Assistent seinem vietnamesischen
Namen gab. Als Mr. Phuc über die kampfvernarbte Landschaft zum Set kam, brüllten alle vor Lachen, als die Lautsprecherstimme bellte: „George braucht Fuc! Bringt Fuc zum Set! Mr. Fuc zum Set, bitte.“ Um Vietnam in Georgia herzustellen, bevölkerte Wayne die Kulisse mit Horden von „Vietnamesen“ – Statisten in Bauernkostümen oder VietKong-Rebellen in schwarzen „Schlafanzügen“. Während einer Pause hörte ich ein paar der strohbehüteten Dorffrauen im Schatten der Sandsäcke reden. Es klang wie Japanisch. Vietnamesische Frauen sprechen Japanisch? Ich stoppte und unterhielt mich mit ihnen. Ich entdeckte, daß die meisten dieser Statistinnen Japanerinnen waren. Sie hatten nach dem Krieg amerikanische Soldaten geheiratet und lebten nun nahe der Kasernen, wo ihre Ehemänner stationiert waren. Unter den Strohhüten und vietnamesischen Kleidern steckten charmante japanische Damen. Ehe ich mich versah, bekam ich von einer von ihnen, Yoko Collins, eine Einladung zum Essen bei ihr zu Hause. Sie und ihr Ehemann Calvin, der ehrenhaft aus der Armee ausgeschieden war und jetzt eine örtliche Tankstelle betrieb, hatten eine liebenswerte Familie: den gutaussehenden Sohn Wayne, der, wie sich herausstellte, tatsächlich nach John Wayne benannt war, und zwei hübsche Töchter, Nova und Shani. Yoko hatte auch einige ihrer Freundinnen eingeladen, und alle Namen erzählten die Geschichten ihres Lebens – Namen wie Yuriko Gustafson und Midori Jones. Das Dinner war eine geschmackvolle Kombination aus japanischer und Südstaaten-Küche: Huhn teriyaki mit Weizenbrot. Nach dem Essen holten Yoko und ihre Freundin ihre Shamisen – ein dreisaitiges japanisches Instrument – und sangen japanische Volkslieder. Dann packte Calvin seine Gitarre aus und unterhielt uns mit Country-Musik. Yoko sang
von Zeit zu Zeit mit und unterstützte ihren Mann mit ihrem japanisch gefärbtem Gesang. Die Nachwirkungen eines Weltkrieges hatte die Menschen in Columbus, Georgia, verändert. Einst verfeindete Kulturen versuchten, musikalische Harmonie und wunderbare Kinder hervorzubringen. Amerika veränderte sich wieder. Ich fragte mich, wie dieses Land wohl eine Generation nach dem Krieg aussehen würde, den wir gerade im Film darstellten. Diese Abende, die ich im Haus der Collins verbringen durfte, waren eine wunderbare Erholung von Captain Nim. Es waren die Vorzeichen für den dunklen, gestapoartigen Sulu aus dem Spiegeluniversum der Episode „Ein Parallel-Universum“ aus der kommenden „Star Trek“-Staffel. Auch wenn ich gerade auf den vietnamesischen Schlachtfeldern in Fort Benning, Georgia, war – ein Teil meines Geistes war bereits in der neuen „Star Trek“-Staffel, die bald in Hollywood beginnen sollte. Die Drehbücher, die Gene mir gegeben hatte, waren voller Eselsohren vom begeisterten Lesen und Wiederlesen. Doch als der Sommer in den Herbst überging und unsere Dreharbeiten nur langsam vorangingen, machte sich meine Angst wieder bemerkbar. „Die grünen Teufel“ fielen im Drehplan zurück. Ich sollte nach Los Angeles zurück, um mit meiner Arbeit an der neuen Staffel von „Star Trek“ zu beginnen. Ich fragte Wayne, ob es eine Möglichkeit gäbe, meine Szenen früher zu drehen, damit ich abreisen konnte. Er war sehr verständnisvoll und verlegte meine Auftritte nach vorne. Doch dann machte mir der Regen einen Strich durch die Rechnung: es begann zu regnen und hörte nicht auf – Tag für Tag öffnete der Himmel seine Schleusen. Zwar nicht gerade vierzig Tage und Nächte, aber mir kam es trotzdem unendlich vor. Und als das Wasser weiterfloß, saß ich hinter dem Fenster meines Motelzimmers. Mit jedem regendurchtränkten Tag versickerten meine Hoffnungen in den schlammigen Gullies
von Georgia, die sich direkt in die aufgewühlten Fluten des Chattahoochee Rivers ergossen. Der Regen hörte nicht auf und machte alle meine Chancen, die ich hatte, pünktlich zum Beginn der Dreharbeiten zur zweiten Staffel nach Hollywood zurückzukommen, zunichte.
16 Zurück in die Zukunft Ich kehrte verzweifelt und aufgebracht nach Los Angeles zurück. Die Drehbücher, die ich mit nach Georgia genommen hatte, waren alle verfilmt worden, außer „Ein ParallelUniversum“. Die Textzeilen, die ich so sorgfältig auswendig gelernt hatte, waren schon von einem anderen gesprochen worden; die lebhaften Fürsprachen, die ich gehalten hatte, um Sulus Rolle auszubauen, waren alle umsonst gewesen. Ich hatte nichts gewonnen, außer einem neuen Konkurrenten – die Person, an die ich all meine Sätze verloren hatte, ein Schauspieler namens Walter Koenig. Ich nahm mir vor, diesen Eindringling, diesen Dieb meiner Anstrengungen, nicht zu mögen. In Ordnung, ich gebe es zu – ich haßte ihn! Ich hatte ihn noch nicht einmal gesehen, aber ich hätte ihm Gift geben können! Eifersucht ist keine schöne Gefühlsregung. Ich wußte das. Ich wollte eigentlich glauben, daß ich besser war als jene, die anderen ihren Erfolg neideten. Aber das hier gehörte mir. Ich war derjenige, der dafür gearbeitet hatte. Ich war derjenige, der eine ganze Staffel lang jede Chance genutzt hatte. Und nun kam, auf den Flügeln des Schicksals, einfach dieser Walter in unsere zweite Staffel hereingesegelt, trug diese lächerliche Prince-Valiant-Perücke und erntete die Früchte, die rechtmäßig mir gehörten. Es war ungerecht. Die Episode, zu der ich zurückkehrte, hieß „Geist sucht Körper“. Es war, als ob man an den Eßtisch zurückkehrt, nachdem man sich nur kurz entschuldigt hat, und sein Mahl
kalt und zur Hälfte von jemand anderem vertilgt vorfindet. Zumindest die Leute von der Produktion zeigten einigen Anstand und Beachtung für meine Gefühle, indem sie Walter in diesem Drehbuch nicht vorkommen ließen. Oder war es das gleiche launische Schicksal, welches ihn jetzt zu ärgern versuchte? Was auch immer die Umstände waren, ich weidete mich daran. Ich war so kleinlich, wie ich nur sein konnte. In der nächsten Episode, „Kirks Traum“, spielte Walter mit, Sulu jedoch nicht! Das war alarmierend. Versuchten sie, uns auseinanderzuhalten? Sollten wir in den Episoden jeweils abwechselnd spielen? Meine Sorgen vermehrten meine zunehmende Abneigung gegenüber Walter. Die nächste Episode, „Der Computer M5“, war eine Moralgeschichte über Maschinen, die der Mensch erfunden hat, und wie sehr sie sowohl die Stärken als auch die Schwächen ihres Erfinders verkörpern. Wenn ich zu diesem Zeitpunkt eine Maschine hätte konstruieren müssen, dann wäre sie in ihrem Innern mit grün kochender Eifersucht gefüllt gewesen, geschmiert mit dem schwarzen Fett der Bosheit und außen gespickt voller tödlicher Angriffswaffen. Ich wußte nicht, welche Art von Maschine Walter gebaut hätte. Wahrscheinlich ein glattes, schlüpfriges, hochtechnologisches Einbruchswerkzeug. Sowohl Walter als auch ich standen beide im Drehbuch. Übertragen auf die Struktur eines Dramas hätte man dies die obligatorische Konfrontation, den Showdown nennen müssen. Ich ging am Morgen in meine Umkleidekabine und war überrascht. Da hingen zwei komplette Uniformen am Schrank. Und es standen zwei Paar Stiefel bei der Couch. Warum hatten die Garderobenleute für mich gleich zwei Kostüme in meine Umkleidekabine gebracht? Greg Peters, der Regieassistent, stürmte herein. Ich fragte ihn nach dem doppelten Kostüm.
„Oh, tut mir leid, daß wir Ihnen das nicht gesagt haben“, bat er um Entschuldigung. „Wir sind knapp an Umkleidekabinen, also möchten wir, daß Sie und Walter sich nur für heute eine teilen. Ich werde es Walter wissen lassen. Er ist schon in der Maske.“ Und mit dieser kurzen Erklärung war er auch schon wieder verschwunden. Erst die Verletzung und jetzt auch noch diese Beleidigung! Die Adern in meiner Kopfhaut begannen anzuschwellen. Versuchten sie jetzt ganz offen, den Haß anzufachen, der sowieso schon in meiner nur allzu menschlichen Seele brannte? Wollten sie mich etwa zu einem tätlichen Angriff treiben? Mein Blut kochte, als ich ein sanftes Gemurmel außerhalb meiner Tür hörte. „Ich hasse es. Ich hasse es!“ murmelte jemand. Die Tür öffnete sich, und da stand Walter Koenig, die Lippen verzogen vor Abneigung, die Augen ganz starr vor Abneigung. Als er mich sah, wiederholte er es noch einmal und sah mir dabei direkt in die Augen: „Ich hasse das!“ „Nun, ich kann das auch nicht leiden!“ schoß ich zurück und funkelte ihn an. Er schien aufgeschreckt durch die Intensität meiner Antwort. „Sie auch nicht?“ fragte er, und seine Augen blickten plötzlich groß und unschuldig. Er schien verwirrt. „Natürlich nicht. Ich mag das kein bißchen mehr als Sie“, wiederholte ich scharf. Er sah verlegen aus und lächelte einfältig. „Naja, wenigstens müssen Sie das nicht tragen“, sagte er. Dann fügte er mit erneuter Intensität hinzu: „Ich fühle mich so lächerlich, wenn ich dieses Ding trage!“ Jetzt klang er wild, und ich war verwirrt. Von was redete er? „Tragen? Was tragen Sie?“ fragte ich. Die Unterhaltung wurde bizarr.
„Diese dumme Perücke! Ich dachte, Sie sagten, daß Sie das Ding auch hassen.“ Ich schaute auf den großen, struppigen Mop auf seinem Kopf, der dieses kindliche Gesicht mit einer Pagenkopf-Frisur abschloß. Er sah damit so jugendlich aus, so ekelhaft künstlich, und wirkte zutiefst beschämt. Ich konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. „Ich hasse das!“ jammerte er. „Ich komme mir vor wie ein wandelnder Clown!“ Trotz meines Hasses kam ich nicht umhin, Walter ein bißchen zu bemitleiden. Er sah so kläglich aus. All die Wut, die mich innerlich aufwühlte, begann sich aufzulösen beim Anblick des anderen Schauspielers, der jedesmal, wenn er vor die Kamera trat, erniedrigt und öffentlich gedemütigt wurde. Es war eine traurige und bemitleidenswerte Situation. Ich erfuhr, daß Walter der Köder für die Zuschauergruppe der weiblichen Teenager sein sollte. Der Charakter des jungen Ensign Pavel Chekov war extra dafür geschaffen worden. In Wirklichkeit war Chekov die Kopie einer Kopie. Die Popgruppe „The Beatles“ waren eine einzigartige Ausnahmeerscheinung im Showgeschäft und damals auf dem Gipfel ihrer Berühmtheit. Ihr Erfolg wurde fürs Fernsehen von einer anderen Musikgruppe mit Pilzköpfen reproduziert, die sich „The Monkeys“ nannten. Der Teenybopper-Schwarm dieser Band war ein talentierter junger Engländer namens Davy Jones. Ensign Chekov sollte die futuristische, auf russisch getrimmte Version dieses Davy Jones sein, der selbst wiederum bis unter die Haarwurzeln seines strohgedeckten Kopfes eine Kopie der Beatles war. Als Walter mir seine Notlage schilderte, erkannte ich, daß der Mann unter dieser albernen Perücke durch sein eigenes Feingefühl und seine Intelligenz zum Leiden verdammt war. Wäre er stumpf und dickhäutig gewesen, hätte er es wahrscheinlich leicht genommen. Aber leider hatte er das Urteilsvermögen und den Geschmack, um zu wissen, daß er
völlig absurd aussah. Als er weiterredete, entdeckte ich, daß er sich auch sehr gut artikulieren konnte. Er fuhr fort damit, seine Perücke mit einem struppigen Helm, einem Staubwedel, einer Stoffpuppen-Perücke, einem Vogelnest, einem Shih-TzuSchoßhund, den man auf seinen Kopf gesetzt hatte und vielem mehr zu vergleichen. Ich merkte, daß dieser Mann die Gabe hatte, sich selbst auf die Schippe zu nehmen. Walter war die Quintessenz eines poetischen Clowns. Als ich ihm zuhörte, wie er sich beklagte, erfuhr ich, daß auch er an der UCLA eingeschrieben war und einen Bruder hatte, der dort Medizin studierte; wir hatten einiges gemein, und ich sah, daß auch er ein ehrgeiziger junger Schauspieler war, der von der Möglichkeit, Teil einer qualitativ hochwertigen Fernsehserie zu sein, ebenso begeistert war wie ich. Der Haß, der sich zunächst zu Mitleid, dann zu Toleranz abgeschwächt hatte, milderte sich nun weiter durch die Erkenntnis, wie ähnlich unsere Lebenssituation war, und wie viele Ambitionen wir teilten. Wir steckten jetzt beide in dieser Sache. Walter gehörte zur Mannschaft. Es war eine Tatsache mit der ich leben mußte, ob ich wollte oder nicht. Ich entschied mich, die Wirklichkeit anzunehmen. Außerdem schien er ein interessanter Bursche zu sein. Er würde sich wahrscheinlich lange und eindringlich genug beklagen – und schließlich die dumme Perücke von seinem Kopf herunterkriegen. Sicherlich würde es nicht allzu lange dauern, bis sein eigener dichter Haarschopf die Länge für Ensign Pavel Chekov hatte. Wir waren alle ehrgeizige Schauspieler, jeder von uns. Jeder behauptete seinen Platz auf dem Set und im Drehbuch. Walter mochte Sulus Text durch eine Fügung des Schicksals bekommen haben, aber seine Perücke wurde er durch seinen eigenen Humor los. Leonard erfand beständig neue Aspekte von Spock, wie den Nackengriff und den vulkanischen Gruß. Jimmy wartete für seinen Charakter Scott mit Ideen und
Texten auf. Nichelle erinnerte mich an Thelma Oliver von „Fly Black-bird!“, wenn sie sich immer ein wenig über die Kreidemarkierung hinweg in Richtung Kamera lehnte. De war offenbar der einzige von uns, der nicht mit übermäßigem Ehrgeiz belastet schien. Er war der alte Profi, der hereinkam, seine Arbeit machte und wieder zu seiner Frau ins San Fernando Valley heimfuhr. Aber für den Rest von uns war der Wettbewerb immer lebhaft und gesund. Das war es, was uns auf Trab hielt und das Leben auf dem Set interessant machte. Außer einem Reizthema – einem Problem, das mit jeder neuen Episode wuchs, gegen das wir jedoch völlig machtlos waren. Dorothy Fontana, die nette Dame, die ich als Genes Sekretärin getroffen hatte, als ich zu meinem ersten Vorstellungsgespräch ging, war befördert worden und überwachte jetzt die eingehenden Drehbücher. Sie erlaubte uns manchmal recht früh einen Einblick in eines der Drehbücher, wenn dieses eine wunderbare Szenen für unsere jeweiligen Charaktere oder sogar ein oder zwei lustige Dialogzeilen enthielt. Wir träumten dann ganz im Stillen vor uns hin, während der Entwurf vollends entwickelt wurde. Aber wenn das fertige Drehbuch geliefert wurde, lagen die heißbegehrten Szenen samt der Worte im Munde eines anderen, und es war immer und unweigerlich Bill. Er war der Star. Es gab immer eine vernünftige Rechtfertigung für die Änderungen. Und man konnte vernünftige Argumente dagegenhalten. Aber Bill war und blieb der Star. Und gegen diese Tatsache gab es keine Argumente. Auch wenn eine Idee ursprünglich von uns gekommen war, wenn Bill sie haben wollte, bekam er sie. Selbst wenn ich nur ein absolut passendes „Aye, Sir“ auf einen Befehl entgegnen wollte, war seine Reaktion ein Nein, und er behauptete, dies würde den Rhythmus der Szene stören. Und dies trotz der Tatsache, daß
einige von uns in so vielen Drehbüchern lächerlich wenig zu tun hatten. Aber Bill schien völlig immun zu sein gegenüber den Empfindungen und Anstrengungen derjenigen, mit denen er zusammenarbeitete. Und was äußerst unangenehm war, er schaffte es stets, dieses Lächeln, diese charmante Fassade aufrechtzuhalten; als ob nichts Besonderes geschehe, scherzte er, kicherte und riß seine Witze. Immer dieses sonnige, nichtssagende Lächeln, so hell, so hart und so unerbittlich wie die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Wagens. Man mußte ihm nur einfach aus dem Weg gehen. Hollywood befindet sich in einer geologisch instabilen Region. Die Erde bewegt sich periodisch. Der großen seismischen Erschütterung folgt eine Serie kleinerer, die man Nachbeben nennt, die die Lage instabil und die Leute nervös machen. Hollywood ist auch ein Ort großer geschäftlicher Instabilität, die an den Nerven der Menschen zehrt. Während unserer zweiten Staffel machten die Desilu Studios ein derartiges geschäftliches Erdbeben durch. Das Studio, seinerzeit als RKO Radio Pictures gegründet, von Howard Hughes gekauft und wieder verkauft, dann von Lucille Ball und Desi Arnaz als Desilu gekauft und aufgebaut, wechselte erneut den Besitzer – diesmal war es ein riesiges Konglomerat namens Gulf and Western, geleitet von dem Geldgeber Charles Bluhdom. Das Studio namens Paramount, gleich nebenan auf der Melrose Avenue, wurde zur gleichen Zeit auch von Gulf and Western erworben; nur eine einzige hohe Wand trennte die beiden Filmfabriken. Ein Nachbeben dieser geschäftlichen Erschütterung brachte diese Wand in einer gewaltigen Staubwolke zum Einsturz, und als sich die Luft wieder klärte, blieb ein riesiges Studiogelände zurück. Diese kombinierte
Anlage wurde jetzt in Paramount Studios umbenannt. Der Name Desilu gehörte der Vergangenheit Hollywoods an. Die große Wohltat für uns auf der ehemaligen Desilu-Seite war, daß wir dank der abgerissenen Wand jetzt fürs Mittagessen Zugang zum legendären Restaurant von Paramount hatten. Mit unseren blauen Frotteemänteln über unseren Starfleet-Uniformen marschierten Nichelle, Jimmy, Walter und ich hinüber, um unsere neue Errungenschaft zu genießen. Der Art-Deco-Raum mit der hohen Decke war erfüllt von der glamourösen Geschichte des Studios. Und das Essen war wesentlich besser als in der alten schmierigen Desilu-Kantine. Wir konnten uns sogar Gloria Swanson beim Essen in einem Raum von solch auserlesener Eleganz vorstellen. Eine Personifizierung von Hollywood, die regelmäßig dort zum Essen war, mußten wir uns nicht in unserer Phantasie vorstellen: den einundneunzig Jahre alten Adolphe Zukor, den Gründer von Paramount. Dünn, kahlköpfig und zerbrechlich wie er war, drehten sich die Köpfe immer noch nach ihm um, und man flüsterte seinen Namen, wenn er den Raum betrat. Der Gründer des alten Hollywood wachte noch immer über seine Fabrik und seine Schäflein. Aber ein Jahr, nachdem wir Zugang zum Restaurant von Paramount bekommen hatten, brachte ein weiteres geschäftliches Nachbeben auch dieses elegante Gebäude zum Einsturz. Auch das Restaurant war jetzt nur noch eine Erinnerung. Eines Nachmittags nach dem Mittagessen spazierten Nichelle und ich zurück zum Set. Trotz der einfachen, blauen Frotteemäntel, die wir trugen, konnte man erkennen, daß wir eine ungewöhnliche Episode filmten. Ich trug eine wild gezackte Narbe über meiner rechten Augenbraue, und sie war so streng geschminkt, daß ihre sanfte Schönheit einen barbarischen Ausdruck bekam. Wir filmten die Szenen im
Parallel-Universum aus der Episode „Ein Parallel-Universum“. Aber unsere äußere Erscheinung war ein Trugschluß. Unsere Unterhaltung triefte förmlich vor Nostalgie. Wir entdeckten, daß es in unserem Leben entfernte Parallelen gab. Sie erzählte mir von ihren frühen Tagen als Sängerin mit Duke Ellington, und ich teilte ihr die Tatsache mit, daß der Vater meines Gegners bei der Wahl zum Schülersprecher in der Mittelstufe ein Musiker in Duke Ellingtons Band war. Sie erzählte mir, daß sie die Zweitbesetzung für Diahann Carroll in dem Musical „No Strings“ gewesen war, und ich erzählte ihr, daß Josie und ich Stehplatzkarten gekauft hatten, um das Musical in New York zu sehen, aber leider nicht bei einer ihrer Vorstellungen waren. Wir quälten uns selbst mit den poetischen „Wenns und Abers“ des Lebens. Und während wir so von der Mittagspause zurückgingen, durchzuckte mich eine Idee. Ich hatte im Biltmore Hotel ein Wohltätigkeitsessen für die japanische Gemeinde organisiert und suchte noch nach einem Künstler, der bei diesem Ereignis als Hauptattraktion auftrat. Hier war Nichelle, ein Freundin und Kollegin, die Sängerin bei Duke Ellington gewesen war, und die ich fast in einem Broadway-Musical gesehen hatte! Welch großartiger Zufall! Ich fragte sie, und sie sagte freundlicherweise zu. Während dieses Essens im Biltmore sollte ich sogar noch mehr persönliche Verbindungen zu Nichelle entdecken. Daddy und Mama sollten an meinem Tisch sitzen ebenso wie Nichelle und ihr Mann und musikalischer Begleiter, Duke Munday. Ich war der Zeremonienmeister des Essens und wußte, daß ich sehr viel zu tun haben würde und mir nur wenig Zeit blieb, um die Konversation in Gang zu halten. Ich machte mir Sorgen, daß es peinliche Pausen geben könnte. Meine Mutter repräsentierte nach außen die perfekte japanischen Dame. Sie verbeugte sich, wenn sie jemanden traf,
und betonte ihre Unterhaltungen mit einem kleinen, feinen Nicken. Eine höfliche japanische Unterhaltung ist selten direkt. Alles liegt in der Nuance. Nichelle ist eine großartige und zauberhafte Dame, die geradezu überschäumt vor Zuneigung für die Menschen, die ihr nahestehen. Sie bezaubert mit ihrer offenherzigen Liebe und unverhohlenen Emotionen. Sie kann sehr direkt sein und gelegentlich auch übertreiben. Für mich war die Kombination von Nichelle und meiner Mutter beunruhigend. Ich liebte sie beide, aber der Gedanke, die beiden miteinander allein zu lassen, machte mir Sorgen. Am Veranstaltungsabend wartete ich im Foyer und begrüßte zusammen mit meinen Eltern die eintreffenden Gäste. Plötzlich gab es ein aufgeregtes Durcheinander und es wurde geflüstert: „Das ist sie.“ „Sie ist hier.“ „Das ist Uhura von „Star Trek“.“ Ich blickte in die Richtung des Aufruhrs, als sich gerade die Menge teilte und den Blick auf Nichelle und ihren Mann freigab, die zu uns herüberkamen. Sie sah prachtvoll aus in ihrem mitternachtsblauen Samtkleid mit den glitzernden Pailletten, das zum Teil von einem langen Nerzmantel verhüllt wurde, den sie um ihre Schultern drapiert hatte – ganz der Inbegriff eines glamourösen Filmstars. „Nichelle. Danke fürs Kommen“, begrüßte ich sie. „Nichelle und Duke, ich möchte euch gerne meine Eltern vorstellen.“ Mein Vater schüttelte Duke die Hand, und Mama verbeugte sich. Völlig unerwartet verbeugte Nichelle sich ebenfalls. „Ich bin sehr erfreut, Sie kennenzulernen, Mrs. Takei“, murmelte Nichelle zartfühlend. Dann reichte Mama ihr die Hand! Als Nichelle sie nahm, ergriff Mama diese auch noch mit ihrer anderen und hielt Nichelle mit beiden Händen fest, während sie sich noch einmal verbeugte. Dann sah sie zu ihr
hoch und sagte: „Sie sind so hübsch! Ihr Gesicht ist so hübsch!“ Dann ließ Mama los und verbarg höflich ihr Lächeln hinter vorgehaltener Hand. „Oh, Mrs. Takei, Sie sind ja so lieb!“ Nichelle errötete bescheiden. Dann beugte sie sich hinüber und küßte meine Mutter höflich auf die Wange. Dann traute ich meinen Augen nicht, als ich sah, daß meine Mutter Nichelle in die Arme nahm – Wange an Wange! Mama und Nichelle! Ich konnte es nicht glauben. Wie wenig wissen wir doch von den Menschen, die wir lieben. Und wie wenig vertrauen wir denjenigen, die wir zu lieben glauben. Mama nahm Nichelle an die Hand und führte uns alle hinüber zu unserem Tisch. Während des Essens inspizierte Mama den Schnitt von Nichelles Kleid, und Nichelle erklärte, wie kompliziert es war, sich hineinzuzwängen. Mama und Nichelle benahmen sich wie Seelenschwestern. Als Nichelle auf die Bühne ging und jeden mit ihrer Kunst in den Bann schlug, führte Mama den Beifall eines wild ekstatischen Publikums an. Am Ende des Abends nannten sie sich beim Vornamen. Mama nannte sie „Nishalu“, und Nichelle sagte „Mama“ zu ihr. Alles war fein. Leise, fast unbewußt war Daddys Sinn für finanzielle Umsicht in mich eingesickert. Ich war mitten in einer stetigen, geregelten Karriere, den „fetten Jahren“, aber meine Gedanken beschäftigten sich mit den „mageren Jahren“, die möglicherweise folgen konnten. Ich hatte meinen Kampf in New York durchlebt und kannte die Situation. Jetzt, wo ich durch „Star Trek“ eine stetige Einkommensquelle hatte, war es an der Zeit, sich auf diese Eventualität vorzubereiten. Mein Wohnhaus in der Nähe des Krankenhauses war im Wert gestiegen, zumindest auf dem Papier. Jetzt war vielleicht die beste Zeit, es gegen einen größeren Besitz einzutauschen. Ich begann damit, nach der nächsten Investitionsmöglichkeit zu suchen. Ich fand sie in der Nähe des bekannten Brown Derby
Restaurants auf dem Wilshire Boulevard. Es war ein Appartementhaus mit einundzwanzig luxuriösen Wohneinheiten. Was mit der Investition in ein paar Friedhofsparzellen angefangen hatte, wurde dank der kräftigen Unterstützung durch „Star Trek“ zu einem stabilen Schutz gegen magere Zeiten, die mich während meiner Karriere noch beuteln konnten. Leben ist Unbeständigkeit, haben Philosophen gesagt. Aber Hollywood ist Unbeständigkeit in vierundzwanzig Bildern pro Sekunde. Und das Set von „Star Trek“ war Hollywood mit Warp-Geschwindigkeit. Wir fühlten uns höchst unbeständig. Die Unsicherheit steigerte sich rapide. Mein Vertrag garantierte mir sieben Episoden von insgesamt dreizehn, kaum mehr als die Hälfte. In der vergangenen Staffel hatte ich in achtzehn von sechsundzwanzig gedrehten Folgen mitgespielt, das war besser als mir garantiert worden war, aber ich hatte doch acht Episoden versäumt. Es war auch kein Trost für mich, daß ich zwei Folgen mehr hatte als Jimmy. Nichelle hatte fünf Episoden mehr als ich. Und in dieser Staffel war Walter noch mit dabei und machte die Situation noch schlimmer. Aufgrund der Dreharbeiten zu „Die grünen Teufel“ hatte ich fünf Episoden an ihn verloren. Aber für uns alle gab es eine noch viel größere Unsicherheit, die uns verband. Die Nervosität, die wir spürten, stammte nicht aus den firmeninternen Vorgängen in den New Yorker Büros von Gulf and Western. Sie kam direkt aus dem Hauptquartier der NBC im Rockefeller Center. Die Einschaltquoten von „Star Trek“ erfüllten nicht die Erwartungen der Programmgestalter. Unsere Zukunft war in Gefahr. Auf dem Set kursierten Gerüchte, daß wir bald abgesetzt würden. Meine Voraussage von zwei Staffeln schien sich zu erfüllen.
Aber ich entdeckte, daß Gene Roddenberry nicht nur ein Künstler und Visionär war. Er war auch ein Kämpfer. Als ehemaliger Polizeibeamter von Los Angeles konnte er so wild werden wie ein gereizter Löwe, der seine Jungen verteidigt, so listig und schlau wie ein Fuchs, der plant, ein Rudel bellender Jagdhunde zu überlisten. Er mußte die Chefetage davon überzeugen, daß diese Einschaltquoten nicht wirklich repräsentativ für die Anzahl der Zuschauer waren. Er entschloß sich dazu, ganz diskret einen Plan ins Leben zu rufen, um „Star Trek“ mit Hilfe einer Briefkampagne zu retten. In Frage dafür kam ein junges Ehepaar aus Oakland, Kalifornien, beide glühende Fans der Serie – es waren John und Bjo Trimble. Gene hatte sich mit ihnen angefreundet und sie regelmäßig zu Besuchen auf dem Set eingeladen. Ich traf Bjo und John das erste Mal während einer ihrer regelmäßigen Besuche mitten in der Hektik während eines Szenenumbaus. Sie war lebhaft, begeistert und voller Neugier. Er war ruhig und hatte die Ausstrahlung eines Wissenschaftlers. Sie erinnerten mich an die Binsenwahrheit, daß Gegensätze sich anziehen. Ich merkte damals noch nicht, welch dynamische Kombination dieses gegensätzliche Paar verkörperte. Gene vertraute ihnen an, welchen Bedrohungen „Star Trek“ ausgesetzt war. Aber um den offensichtlichen Interessenkonflikt zu vermeiden, konnte er sich nicht selbst an die Spitze einer Bewegung stellen, die versuchte, eine Briefkampagne ins Leben zu rufen. Doch der Gedanke der Dringlichkeit reichte aus, um in Fahrt zu kommen. Sie waren alarmiert. Die Trimbles zogen nach Los Angeles und kauften sich ein Haus, was nicht allzu weit vom Studio entfernt lag. Mit der heimlichen Unterstützung, die Bjo von Gene bekam, legte sie Adressenlisten an, kontaktierte Science-FictionOrganisationen, stellte ein Telefon-Netzwerk auf die Beine,
um die Nachricht zu verbreiten, und wurde buchstäblich zur nationalen Wahlkampfleiterin des „Rettet Star Trek“Feldzuges. Wenn sie sich so in der Politik engagiert hätte, bin ich sicher, wäre ihr Kandidat Präsident geworden. Das Ergebnis war erstaunlich. Es kam unverzüglich, und es war massiv. Die Posträume der NBC an beiden Küsten wurden überschwemmt. Die Briefe waren leidenschaftlich; sie zeigten ein hohes Bildungsniveau, einige waren wütend. Aber alle Briefe ließen erkennen, daß „Star Trek“ eine außergewöhnliche Oase der engagierten, intelligenten Science Fiction im Fernsehen war. Wir entdeckten, daß die Fans von „Star Trek“ nicht zu den Leuten gehörten, die sich zurücklehnten und konsumierten. Sie waren Aktivisten, die das, was aus den Fernseh-Sets kam, als Anregung für weitere Aktionen nahmen. Und als sie durch diese Drohung alarmiert wurden, handelten sie. Die unterschiedlichsten Menschen schrieben, angefangen von Ingenieuren, Architekten, Universitäts-Professoren und Studenten, bis hin zu Hausfrauen. Die Resonanz war gewaltig – und der Strom von Briefen riß nicht ab. Unter ihnen war auch ein Brief meines Vaters. Daddy war ehrlich bezüglich seines persönlichen Interesses daran, daß die Serie verlängert wurde. Er schrieb auch von seinem elterlichen Stolz, seinen Sohn auf dem Bildschirm zu sehen. In einer Zeit, so schrieb er, in der die Menschen sich mit kleineren sozialen Einheiten, mit Volkstum, mit Klasse und mit Geschlechtszugehörigkeit identifizierten, da die Gesellschaft in eine neue Art von Stammesdenken zusammenzubrechen drohte, sei es mehr als nur elterlicher Stolz, diese viel größere menschliche Familie als ein so leuchtendes Vorbild dargestellt zu sehen. Seiner Meinung nach leistet das Fernsehen mit „Star Trek“ einen lebenswichtigen kulturellen Beitrag. Er drängte NBC, dieses positive Bild weiterhin zu senden.
NBC erhielt sehr viele solcher Briefe. Schon allein die Zahlen, ungeachtet der Inhalte, überzeugten. NBC kapitulierte. Die Verantwortlichen entschlossen sich, „Star Trek“ in eine dritte Staffel zu schicken. Aber die Briefe strömten weiter herein; die Fans waren unerbittlich. Schließlich sah sich NBC gezwungen, die Verlängerung von „Star Trek“ während des Abspanns der Episoden bekanntzugeben, um endlich dieser Briefflut Einhalt zu gebieten. „Star Trek“ brach kühn in die nächste, die dritte Staffel auf. Glücklicherweise hatte sich meine Vorhersage als falsch erwiesen. Und die Sendezeit war großartig! Montagabend um 19:30 Uhr. Eine ideale Zeit für Studenten, unsere größte Zuschauergruppe. Alle Vorzeichen für die Zukunft unserer Serie standen gut. Und auch ich war entschlossen, die beiden zu einer guten Staffel für Sulu zu machen.
17 Mission: Impossible So hatten wir uns das nicht vorgestellt. Der Sendeplatz für „Star Trek“ sollte am Montag um 19:30 Uhr sein und nicht Freitag nachts um 22:00 Uhr. Es war das absolute Quotenloch! Alle College-Kids würden ausgehen. Kaum jemand würde vor dem Fernseher sitzen. Gene Roddenberry schlug sich mit den Verantwortlichen von NBC herum, um den versprochenen Sendeplatz zurückzugewinnen. Er war der Ausführende Produzent, aber er hatte angeboten, künftig auch wieder als Produktionsleiter tätig zu werden, wenn es bei dem Montagstermin bliebe. Mit Gene in dieser Position hätten wir wieder die Magie der ersten Staffel erreichen können. Doch sie weigerten sich. Dieser Verrat von NBC brachte bei Gene das Faß zum Überlaufen. Den idealen Sendeplatz zu verlieren, um ihn durch den schlechtestmöglichen ersetzt zu bekommen, war ein Betrug, den er nicht hinnehmen konnte, ohne mit einem dramatischen Schritt zu antworten. Er kündigte an, daß er zwar den Titel des Ausführenden Produzenten beibehalten, „Star Trek“ ansonsten aber verlassen würde. Er siedelte um in ein anderes Büro bei MGM, um an einem Spielfilm mit Rock Hudson in der Hauptrolle zu arbeiten. Er würde uns nur sporadisch zur Verfügung stehen, sagte er. Und auch Dorothy Fontana, unsere Studio-Redakteurin, verließ uns. Der Weggang der beiden war ein ernstzunehmender Verlust für die Serie, und ich empfand ihn sogar als bedrohlich. Gene und Dorothy waren die beiden, die das größte Verständnis für
meine Vorstellungen und Bestrebungen für Sulu hatten. Ich hatte gehofft, daß Sulu bei der neuen Staffel etwas mehr ins Rampenlicht rücken könnte. Und wieder war all die Arbeit, die ich geleistet hatte, um die Figur zu entwickeln und meine Rolle zu vertiefen, wie weggewischt. Ich würde mit unserem neuen Produzenten, Fred Freiberger, wieder ganz von vorne anfangen müssen. Was mir immer wieder neue Kraft gab, war die Professionalität meiner Kollegen. Trotz unseres Rückschlags, dem armseligen Sendeplatz und der niedrigen Einschaltquoten, die anfingen, unsere schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen, stürzten wir uns alle mit derselben Hingabe wie zuvor auf jedes neue Skript. Die Drehbücher mochten nicht mehr das sein, was sie noch zwei Staffeln zuvor gewesen waren, aber die Integrität der Darstellung war trotz des Stresses unverändert. Im Gegenteil, unter diesen erschwerten Bedingungen arbeiteten wir eher noch härter als zuvor. Ich war stolz, ein Teil dieser Gruppe zu sein. Obwohl wir schwer arbeiteten, gelang es uns doch, auch Spaß in den engen Drehplan zu bringen. Eines Abends, nach einem ganz besonders langen Tag, gingen Jimmy und ich zu unseren Autos zurück. „Was gibt’s bei dir zum Abendessen?“ fragte er. „Ich hatte eigentlich nichts Besonderes im Sinn“, antwortete ich – zu erschöpft, um mich tatsächlich hungrig zu fühlen. „Hast du Lust auf Sushi? Das ist was Leichtes.“ „Was? Was ist leicht? Was ist das… su-su…? Wie heißt das?“ „Sushi. Es ist eine japanische Delikatesse, die man in einer Bar ißt. Wenn man will, kann man natürlich auch ein richtiges Essen daraus machen.“
„Okay, laß uns dieses… su-su… versuchen. Wie war das noch mal?“ Jimmy schien einen begeisterungsfähigen Appetit zu haben, was auch immer es sein mochte. „Sushi“, wiederholte ich, als ich mich ins Auto setzte. „Fahr mir einfach den Hollywood-Freeway in Richtung Little Tokyo hinterher.“ Als ich losfuhr und immer wieder in den Rückspiegel schaute, um sicher zu sein, daß Jimmy mir auch folgen konnte, dämmerte mir langsam, daß Sushi nicht gerade ein bekanntes japanisches Essen war so wie Teriyaki. Vielleicht hätte ich es ihm etwas besser beschreiben sollen, dachte ich. Ich hatte Jimmy nicht gesagt, daß man Sushi aus rohen Fisches bereitet. Es war wahrscheinlich die Vorstellung, an einer Bar zu essen, die Jimmys Neugier geweckt hatte. Ich fragte mich, ob Jimmy heute abend sein Essen wohl mehr in flüssiger, statt in fester Form zu sich nehmen würde. Als wir in das kleine Restaurant eintraten, wurden wir sofort von einem Chor lauter Rufe begrüßt. „Irashaimase! Irashaimase!“ Jimmy schien erschreckt durch die lauten Rufe, aber als ich ihm erzählte, daß dies die traditionelle Art sei, wie man in einem japanischen Restaurant begrüßt werde, entspannte er sich wieder. Sofort lächelte und strahlte er, als ob wir in seiner Lieblingskneipe in seiner Nachbarschaft gewesen wären. Es duftete nämlich nach dem Aroma eines guten Whiskys. „Was ist das für eine Dekoration in dem Glaskasten?“ fragte Jimmy, als wir unsere Sitze an der Sushi-Bar einnahmen. „Nun, Jimmy“, begann ich vorsichtig zu bekennen, „Das ist keine Dekoration. Sondern unsere Speisekarte. Das ist roher Fisch.“ Ich war darauf vorbereitet, daß Jimmys Augen sich vor Schreck weiten würden. „Okay, dann laß uns mal probieren“, sagte er eifrig und gluckste vor Lachen. „Du bestellst für mich.“ Jetzt war ich der
Schockierte; ich wußte nicht, daß Jimmy einen unerschrockenen Gaumen hatte. Zuerst bestellte ich für ihn das am wenigsten exotische Sushi, die gemischten kalifornischen Röllchen. Sicherlich würden Avocado und gekochte Krabben auf Reisbällchen seinen Geschmack nicht allzu sehr herausfordern. Er verschlang die zwei Häppchen auf einmal. Ich bestellte als nächstes rohen Thunfisch. Und Jimmy mochte ihn! Mein Staunen wuchs mit jedem neuem Bissen, den ich für ihn bestellte: Roher Yellowtail, Saure Makrele. Seeaal, Lachsrogen. Er schlang alles hinunter! Jimmys Appetit schien mehr als nur Hunger zu sein. Er hatte den Eifer eines Kenners, war bereit, Neues kennenzulernen, und sein Gaumen war ebenso wagemutig und neugierig wie sein Forschergeist. Jimmy aß sich praktisch quer durch den ganzen Glaskasten roher Köstlichkeiten. Am nächsten Morgen war Jimmy während der Kaffeepause nicht zu bremsen. Er schwärmte in einem fort von den exotischen Genüssen des Sushi und durchlebte noch einmal all seine köstlichen Entdeckungen des vergangenen Abends. Jimmy fuhr mit seinen sinnlichen Beschreibungen fort, so daß Majel und Nichelle und einige der Burschen von der Crew es auch probieren wollten. Am Freitag abend fuhr eine ganze Karawane von Autos den Hollywood-Freeway nach Little Tokyo hinunter. Die Paramount-Bande übernahm die ganze Sushi-Bar, und als wir gingen, hatte das Restaurant keinen Fisch mehr. Am Ende waren Nichelle und Majel Sushi-Fans. Am darauffolgenden Freitag abend war die Karawane von Paramount nach Little Tokyo noch länger. Diesmal kamen Walter und seine Frau Judy und eine Mitschülerin von mir aus UCLA-Zeiten mit auf unsere Sushi-Safari. Walter war neugierig, zu erfahren, wovon inzwischen jeder auf dem Set so schwärmte. Aber er war auch ein bißchen beunruhigt. Ich sagte
ihm: „Stell dir einfach Lachs auf Reis vor.“ Das gab ihm zwar einen gewissen Bezug, aber anscheinend nicht viel Trost. Doch schließlich war seine Neugier größer, und er kam mit. Irashaimase! Irashaimase! Die Begrüßung war so heftig wie immer. Jetzt erklärte es Jimmy, der Experte, den erschreckten neuen Mitgliedern unserer Sushi-Gruppe: „Das bedeutet ‘Willkommen’ auf Japanisch.“ Er setzte sich an das andere Ende der langen Bar, so daß er für einige Neulinge in unserer Gruppe bestellen konnte. Jimmy war ein wacher Student und kannte sein Sushi jetzt schon wie ein Fachmann. Majel und Nichelle waren auch schon langsam sicher genug um, auf ein glänzendes Stück orangefarbenen Fisches zu deuten und zu fragen: „Lachs?“ Walter und Judy blieben sehr nah bei mir. Von allem Sushi ist mir Thunfisch am liebsten, und ich glaube, daß er auch für Anfänger der schmackhafteste Fisch ist. Wie eine Scheibe mageren Rindfleischs ist er mild und leicht verdaulich. Ich entschied, daß dies für Walters erstes Sushi die beste Einführung wäre. „Maguro wo kono kata ni onegai shimasu“, bestellte ich, und gab ein bißchen an dabei. Walter musterte mich skeptisch. „Was hast du zu ihm gesagt?“ „Du wirst mögen, was ich für dich und Judy bestellt habe. Aber ich will, daß du selbst entdeckst, wie toll es schmeckt. Ich werde dir nicht sagen, was du da ißt. Du sollst deinen Verstand offen und deine Geschmacksnerven aufnahmebereit halten“, schlug ich ihm vor. „Ich werde gar nichts essen, wenn du mir nicht vorher sagst, was es ist.“ Er verschränkte stur die Arme und schaute mißtrauisch auf die beiden delikat, aber fremd aussehenden Häppchen, die man ihm servierte. Mir wurde etwas ähnlich Köstliches gebracht. Ich pickte mir eines davon mit meinen Stäbchen heraus und roch daran, tauchte es leicht in die kleine Schale mit Sojasauce und biß dann vorsichtig hinein. Ich
schloß meine Augen in übertriebener sinnlicher Seligkeit. Walter studierte mich und jeden Moment meines Hochgenusses aus dem Augenwinkel. Dann nahm ich ein Schlückchen von meiner winzigen Tasse mit heißem Sake und ließ einen euphorischen Seufzer heraus. Sogar Walters eigenwillige Unnachgiebigkeit konnte diesem abschließenden Seufzer nicht widerstehen. Er nahm seine Stäbchen und berührte vorsichtig sein Sushi. Ich schlug vor, daß es für ihn als Anfänger durchaus nicht unpassend sei, wenn er die Finger dazu nähme. Mit ängstlicher Besorgnis nahm er sein Sushi in die Finger und biß hinein. Sein Mund blieb geschlossen und unbeweglich. Seine Augen nahmen einen abwesenden Ausdruck an. Sein Gesicht blieb lange Zeit unbeweglich, wie eingefroren in einer Momentaufnahme. Dann fing er an zu kauen, sehr vorsichtig und bedächtig. Plötzlich hielt er inne. Seine Augen weiteten sich vor Schreck; abrupt und von Panik getrieben, hielt er sich die Serviette vor den Mund. Mit einem gehetzten Blick griff er nach seinem Wasserglas und schüttete es in sich hinein. Ich wußte sofort, was geschehen war. Ich hatte vergessen, ihn vor dem feurig scharfen, grünen japanischen Senf namens wasabi zu warnen, der sich unter dem Thunfisch befand. Er rang nach Luft und hustete. Seine Augen tränten und seine Nase lief. Er blickte benommen und desorientiert drein. Der arme Walter zitterte für den Rest des Abends unkontrollierbar. Und er kam nie wieder mit auf eine unserer nun regelmäßig am Freitagabend stattfindenden Sushi-Karawanen nach Little Tokyo. Noch heute lastet die Schuld an Walters Sushi-Phobie schwer auf meinem Gewissen. DeForest Kelley hat uns auf unseren Feierabend-Ausflügen nie begleitet. Er ging vom Studio immer geradewegs nach Hause zu Carolyn, seiner Frau und besten Freundin. Sie waren sehr
häuslich und genossen das Leben mit ihrem Hund und einer hundertjährigen Schildkröte. Irgendwie schien mir eine gemächliche, stetige und gewissenhafte Schildkröte das perfekte Haustier für De zu sein. Er war der dienstälteste Veteran von uns allen und der Routinier bei Paramount. De war in der guten alten Zeit Vertragsschauspieler bei Paramount gewesen. Daher kannte er die Überlieferung und die Geschichte des Geländes. Ich liebte es, während einiger der langen Pausen zwischen den Szenen mit ihm zusammen auf dem Studiogelände herumzustreifen und mir von ihm die alten Wahrzeichen zeigen zu lassen, z.B. die Gebäude mit den Umkleidekabinen des Chors und die ehemaligen Garderoben der Stars. Sie alle waren jetzt in Büroräume umgewandelt worden. „Das war damals in den alten Tagen ein wirklicher lebhafter Ort“, sagte er wehmütig. „Wir haben damals wirklich massenhaft Filme gedreht.“ „Nun, und heute machen wir das bei ‘Star Trek’, nicht wahr? Alle sechs Tage eine Episode“, erinnerte ich ihn. „Jaa, aber damals war es anders“, beharrte er. „Wir sagten Worte, die wir verstanden. Nichts von diesem HightechFachchinesisch. Es war anders. So verschieden wie Orangen und Kiwis.“ Was für ein interessanter Vergleich, dachte ich. Kiwifrüchte, das neue exotische Obst der Avantgarde. Meine Vettern in der Landwirtschaft in Sacramento hatten sie angepflanzt und versuchten, sie den Leuten schmackhaft zu machen. „Für einen Burschen, der sonst nur sehnsüchtig seinen Erinnerungen nachhängt, bist du aber beim neuesten Obsttrend ganz gut auf dem laufenden“, bemerkte ich. „Was? Kiwifrüchte? Carolyn und ich lieben sie“, klärte er mich auf.
„Tatsächlich?“ antwortete ich und machte mir eine gedankliche Notiz. „Dann sind wir also die Kiwifrüchte, und deine alten Filme sind die Orangen, hmm? Gesunde, unendliche Vielfalt in unendlichen…“ Ich mußte die Redewendung nicht beenden. De kicherte fröhlich, als er seine Erzählung fortsetzte. Als mein Vetter mir bald nach der Ernte eine Kiste voll frisch gepflückter Kiwifrüchte zuschickte, nahm ich eine Tasche voll davon für De und seine Frau mit ins Studio. Ich legte ein Kärtchen hinein mit den Worten: „Unendlichen Dank für die Orangentour.“ Die Orangentouren setzten sich fort. Und der Kiwi-Dank ging jedesmal an De, wenn ich eine Kiste aus Sacramento erhielt. In der angrenzenden Halle war die Produktion einer Hit-Serie beheimatet, in der es um internationale Spionage ging: „Mission: Impossible“. Martin Landau, Barbara Bain und Greg Morris – die Stars der Serie – kamen gelegentlich auf einen Sprung auf unser Set herüber, und wir besuchten sie. In einem Filmstudio erscheint die Mischung von futuristisch anmutenden Starfleet-Uniformen mit anderen Schauspielern in zeitgenössischen Anzügen und Kleidern weder unvereinbar, noch ist sie etwas Besonderes. Wir waren einfach gute Nachbarn. Diese Besuche führten für mich eines Tages zu der Einladung, eine Gastrolle in einer ihrer Episoden mit dem Titel „The Plague“ zu spielen. Es war die Rolle eines Bakteriologen, der zum M:I-Team stößt, um die Verschwörungspläne einer internationalen Terroristengruppe für eine entsetzliche bakterielle Kriegsführung zu durchkreuzen. Für mich war das eine tolle Erfahrung. Ich wechselte zwischen der Zukunft und der Gegenwart. Ich hatte das Beste von morgen und heute.
Aber das „Heute“ hatte für unsere „Star Trek“-Truppe die nervenaufreibende Anspannung einer unmöglichen Mission. Die Einschaltquoten blieben weiterhin niedrig, und der Sender vergrößerte unsere Schwierigkeiten noch zusätzlich, indem er unser sowieso schon knappes Budget weiter reduzierte. Sogar ein Besuch meines Bruders Henry und seiner Frau June auf dem Set, die mit Baby Scotty aus Milwaukee nach Los Angeles zurückgekommen waren, machte mich in der Zeit unserer großen Not nicht gerade glücklich. Ich hatte sie zum Mittagessen ins Studiorestaurant eingeladen, und wir schlenderten zurück zur Halle, weil ich ihnen die U.S.S. Enterprise zeigen wollte. Wir betraten die Halle, die leer war, weil alle anderen noch beim Mittagessen saßen. Ich führte sie durch das Korridor-Set und zeigte ihnen viele Details. Henry war noch nie zuvor auf einem Filmset gewesen und schien ziemlich verblüfft zu sein über das komplizierte Durcheinander von Kabeln, die überall auf dem Boden lagen, dem Wald von Stützstreben an den Rückseiten der Wände und der völligen Abwesenheit einer strahlenden futuristischen Welt, die er zu sehen erwartet hatte. Er klopfte mit den Knöcheln auf die Korridor-Wände. Sie gaben den trockenen, hohlen Ton von angemaltem Sperrholz von sich. „Hmm! Sperrholz. Ist das alles?“ schniefte er. Ich demonstrierte die Art, wie die Türen, die bei Annäherung automatisch aufzischten, in Wirklichkeit geöffnet wurden. Tatsächlich wurden die Türen von Bühnenarbeitern, die hinter den Wänden verborgen waren, manuell geöffnet, sobald ein kleines rotes Licht aufleuchtete. Henry schob die bemalten hölzernen Türen vorwärts und zurück, und sie rumpelten laut auf ihren Rollen. „Hmm! Und das ist alles?“ höhnte er vor Enttäuschung.
Ich führte sie auf das Brückenset der „Enterprise“ und dachte, daß dies meinen skeptischen Bruder eigentlich beeindrucken sollte. „Henry, hier hatten wir Berater von dieser Denkfabrik namens Rand Corporation, die uns bei dem Design des Sets unterstützt haben“, erzählte ich ihm und glaubte, daß diese Art von technischem Hintergrund seinen wissenschaftlichdisziplinierten Verstand beeindrucken würde. Er drückte mißtrauisch auf einen der Knöpfe auf meiner Konsole. Sie waren einfach nur da, lautlos, unbeleuchtet und inaktiv. „Hmm! Ist das alles? Sie sehen aus wie Plastik-Gummibälle.“ „Henry“, rief ich aus, mehr als nur ein bißchen verärgert. „Wenn du das noch mal sagst, werde ich dich keinem meiner Kollegen vorstellen. Ich möchte nicht, daß du sie von oben bis unten anschaust und dann sagst: ‘Hmm. Ist das alles?’ Ich werde das nicht zulassen!“ Genau in dem Moment kam Nichelle von ihrem Mittagessen zuück. Als sie mich mit meinen Besuchern sah, kam sie lächelnd herüber. Mit großer Besorgnis stellte ich Nichelle meinem zynischen Bruder und seiner Frau vor. „Oh, Sie sind also Georges Bruder.“ Nichelle verströmte echte Freude darüber, ihn kennenzulernen. „Ich habe schon Ihre Mutter getroffen, und jetzt lerne ich noch ein nettes Mitglied der Familie kennen. Das ist ja wundervoll.“ Ich schaute Henry an und fühlte, wie sich meine Spannung verflüchtigte. Er lächelte einfältig. Nichelle bearbeitete ihn mit dem ihr eigenen, patentreifen Charme. In dem Moment sah ich aus dem Augenwinkel, wie Bill hereinkam. Nichelle tat das auch. Mit gütiger Nonchalance nahm sie Henry und June am Arm und zog sie von Bill weg. „Darf ich ihnen meine Konsole zeigen und wie ich daran arbeite?“ Sie zog sie einfach weg und konzentrierte die Aufmerksamkeit der beiden auf ihre Arbeitsstation, als Bill
über die Bühne zu seiner Umkleidekabine schritt. Nichelle führte hin auf der Brücke herum und erklärte Henry und June sogar, wie der Sessel des Captains funktionierte. Henry strahlte. De kam herein, und ich stellte ihm die beiden vor. Seine einfache Freundlichkeit bezauberte sie. Dann trafen sie Jimmy und Walter. Henry und June strahlten auch ohne Hilfe von Scottys Transporter. Leonard kam herein und begrüßte sie höflich. Als ich Henry und June hinausbegleitete, sagte er zu mir in einem vertraulichen Ton: „Das Set ist nur eine Attrappe. Aber du arbeitest mit ein paar wirklich netten Leuten zusammen.“ Ich stimmte ihm herzlich zu und hörte danach nie wieder ein „Hmm“ von Henry. Bjo Trimble arbeitete wie eine Besessene an ihrem „Rettet ‘Star Trek’“-Feldzug. Sie hatte es einmal geschafft und war entschlossen, nach der dritten Staffel eine weitere Verlängerung für uns zu erreichen. Ihr Ziel war es, uns die angekündigte „Fünf-Jahres-Mission“ vollenden zu lassen. Dafür brauchten wir eine vierte Staffel. Bjo schrieb, telefonierte, organisierte und plante. Ihr Feldzug, um Unterstützung für die Verlängerung von „Star Trek“ zu bekommen, war geradezu heroisch. Für uns auf dem Set bestand das Leben aus blanker Angst. Wir waren schon einmal den Drohungen der Absetzung entkommen, also gab es immer noch Hoffnung, die schon fast lächerliche Erwartung, daß irgend etwas uns helfen möge. Aber wir waren uns auch über die Realität absolut im klaren. Die Einschaltquoten blieben Woche für Woche schlecht. Gene war nicht mehr bei uns. Seine sporadischen Besuche wurden weniger, dann blieben sie fast aus. Sogar Bob Justman, unser Co-Produzent, der während der drei Staffeln bei uns gewesen war, hatte die Belastung nicht mehr verkraften können. Auch er hatte die Serie verlassen.
Eines Nachmittags war ich zufällig in der Nähe des Telefons, als ein Anruf für den Assistenten Greg Peters kam. Ich spürte eine unerklärliche Vorahnung. Ich beobachtete Gregs Gesicht, als er zuhörte, stoisch und schweigend. Dann sagte er sanft: „Ich verstehe“, und er legte den Hörer langsam auf. Er blickte mich an, und ich konnte die Kälte in seinen Augen fühlen. Sehr leise sagte er: „Jetzt ist es endgültig. Wir sind draußen.“ Greg erzählte es niemandem sonst auf dem Set. Ich verstand das, weil wir noch zu arbeiten hatten. Er wartete bis zum Ende des Tages und machte dann die Ankündigung. „Sehr geehrte Damen und Herren, danke für einen guten Arbeitstag, aber ich habe eine traurige Nachricht. Wir sind abgesetzt.“ Es kam nicht unerwartet, und trotzdem verschlug es uns den Atem. „Gefährlicher Tausch“ war die letzte Episode, die gefilmt wurde. Nachdem der Ruf „Gestorben!“ verkündete, daß die letzte Szene der allerletzten „Star Trek“-Episode abgedreht war, feierten wir. Wir aßen zuviel. Wir tranken zuviel. Und wir küßten und umarmten uns. Während der letzten drei Jahre hatten wir die Freude und den Streß und all die Höhen und Tiefen der gemeinsamen Arbeit an einem außergewöhnlichen Projekt geteilt. Von den frühmorgendlichen Make-up-Sitzungen bis zu späten Nachtaufnahmen hatten wir ein einzigartiges Abenteuer miteinander erlebt. Wir mochten vorzeitig abgesetzt worden sein, aber wir hatten allen Grund, auf das, was wir erreicht hatten, stolz zu sein. Unsere gemeinsam verbrachten Jahre hatten aus uns mehr als nur Berufskollegen gemacht. Wir hatten zusammen gegen große Widrigkeiten und unzählige Gegner gekämpft – und gelegentlich kämpften wir sogar gegeneinander. Und doch waren wir durch Dick und Dünn gegangen, wir waren Vertraute geworden, und unsere Leben waren tief miteinander verflochten. Durch Glück und Unglück hindurch war unsere
Bewunderung für die Talente, die jeder besaß, gewachsen. Wir waren gute Freunde geworden und mochten uns sehr, jeden einzelnen mit seiner eigenen Individualität und seinen ganz persönlichen Eigenarten. Als ich so dastand bei unserer Abschiedsparty und durch das Klingeln vom Eis in meinem Glas hindurch dem Lachen und Weinen meiner Freunde in diesen letzten Stunden zuhörte, bemerkte ich Bill, wie üblich im Zentrum von allem und wie gewöhnlich lachend, scherzend und schulterklopfend. Von allen war Bill der Fröhlichste, der am angestrengtesten Überschwengliche. Und ich konnte nicht umhin, ihn ein wenig zu bemitleiden. Ich fragte mich, ob er in seiner polternden Heiterkeit überhaupt einen echten Sinn für Verlust hatte. Die letzten drei Jahre hatten mir ein wunderbares Geschenk geteilter Erfahrungen und reicher Beziehungen gegeben. Kollegen waren zu Freunden geworden. Aber Bill mit seinem ehrgeizigen Streben nach persönlichem Erfolg hatte sich selbst die Achtung vor den menschlichen Reichtümern um ihn herum verwehrt. Mit seinem leuchtenden Panzer aus Charme und Witz hatte er nur genommen und nicht gegeben. Seine unerbittliche Entschlossenheit, das, was er einmal erreicht hatte, zu bewahren, hatte ihn nur isoliert und ärmer gemacht. Als Schauspieler mit nicht unerheblichem Talent würde er wahrscheinlich direkt in der nächsten Serie oder dem nächsten Film weitermachen. Er würde weiterhin „erfolgreich“ sein. Und doch konnte ich nicht anders, als eine ganz leise Melancholie in seiner rauhen Fröhlichkeit und lauten Lustigkeit zu hören.
DAS LEBEN NACH DEM ENDE
18 Die Bestie Politik Ich fuhr hinunter zum Strand von Santa Monica. Es war ein kühler Wochentag im Frühling, der Strand war fast völlig verlassen. Nur die hartnäckigsten Sonnenanbeter lagen einsam im Sand. Es war ein perfekter Morgen, um am Strand zu laufen. Ich lief so schnell ich konnte über den nassen Sand, während sich die Wellen zurückzogen. Das kühle Naß unter den Füßen fühlte sich gut an. Ich rannte schnell den Strand entlang bis hinauf zu den Palisaden, um dann langsam in eine Jogging-Geschwindigkeit überzugehen. Schließlich blieb ich stehen und sah mich am verlassenen Strand um. Ich hatte eine lange Spur aus Fußabdrücken im nassen Sand hinterlassen. Eine zaghafte Welle breitete sich über ihnen aus, zog sich dann langsam zurück, um eine Reihe winziger Strudel zu hinterlassen, wo eben noch meine Abdrücke zu sehen gewesen waren. Mit der nächsten Welle waren sie dann fast völlig verschwunden. Lediglich kleine, kaum noch wahrnehmbare Kuhlen blieben im weichen, nassen Sand zurück. Die letzten drei Jahre waren mir wie ein Traum vorgekommen. Sie waren meine Berufsjahre, die mir am besten in Erinnerung bleiben würden. Ich hatte Kollegen kennengelernt, die zu geschätzten Freunden wurden. „Star Trek“ war ein ungewöhnlicher Beitrag fürs Fernsehen gewesen, und ich war stolz auf meine Rolle darin. Rückblickend erhielten diese Jahre bereits einen goldenen Glanz.
Aber auch wenn sie persönlich erinnerungswürdig waren, würden diese drei Jahre wahrscheinlich nur vergängliche kleine Augenblicke im Kurzzeitgedächtnis des Fernsehens darstellen. Die nächste Staffel würde mit neuen Serien so unausweichlich und beständig die Erinnerung fortspülen, wie es die Wellen am Strand von Santa Monica mit meinen Fußabdrücken gemacht hatten. Aber 1969 brachte andere, unauslöschliche Fußabdrücke, die in die Annalen eingingen. Der US-Astronaut Neil Armstrong hatte seine Abdrücke auf der Mondoberfläche hinterlassen, die ersten jenseits unseres kleinen Planeten. Zugleich hinterließ Amerika auf der anderen Seite der Erde in einer kleinen asiatischen Nation die schmutzigen Abdrücke eines häßlichen Krieges in einer gequälten Landschaft. Dieser Krieg in einem fernen Land stellte zur gleichen Zeit unser eigenes Land auf eine Zerreißprobe und hinterließ quer durch die USA blutige Spuren. Heftige Kämpfe wurden geführt, Tauben gegen Falken, Amerikaner gegen Amerikaner, in Vietnam und hier zu Hause. „Star Trek“ war Teil dieses Kampfes gewesen. Eine Episode, „Krieg der Computer“, sprach in deutlichen Bildern gegen den Vietnamkrieg. Aber wie so oft bei unseren Drehbüchern blieben die Bezüge auf kontroverse zeitgenössische Themen bei den kurzsichtigen NBC-Bossen unbemerkt. In „Krieg der Computer“ befanden sich zwei benachbarte Zivilisationen seit Jahrhunderten miteinander im Krieg. Dennoch besaßen sie beide große Städte, die von den Zerstörungen des Krieges unberührt waren. Dieser Krieg war ein „sauberer“ Konflikt, ausgetragen mit Computern, die „Opfer“ waren Stellvertreter, die losgeschickt wurden, um in Desintegrationskammern zu verschwinden. Die physische Struktur der Städte blieb erhalten, nur die Bewohner wurden geopfert. Die Geschichte stellte eine SF-Parallele auf den
Vietnamkrieg dar: Zwei große Zivilisationen, die Kommunisten und der Westen, befanden sich im Kalten Krieg. Mit der Rolle des Sulu konnte „Star Trek“ dagegen das Image der Asiaten in Amerika umkehren. Überall in unserer Theatergeschichte waren Asiaten auf amerikanischen Bühnen zu sehen, seit die Asiaten vor 150 Jahren nach Amerika eingewandert waren. In Zeiten des Aufschwungs war die Darstellung der Asiaten positiv gewesen – üblicherweise als auf wunderliche Weise entzückend oder auf romantische Weise exotisch. In Zeiten des Drucks – wirtschaftlich harte Zeiten oder gesellschaftliche Spannungen – wurden die Asiaten und andere Minderheiten zu den Sündenböcken. Die Bilder wurden düsterer, verkommen, gefährlich. Jedes Chinatown wurde von einem Quartier fesselnder Exotik zu einem ominösen Platz weißer Abhängigkeit, gefüllt mit dem Rauch der Opiumhöhlen. Ruhige, unterwürfige Japaner wurden unergründlich und verschlagen. In Zeiten des Krieges mit Japan, Korea oder China wurden Asiaten zu todbringenden, übermächtigen Feinden – zum personifizierten Bösen. Ihr Image wurde reduziert auf politisch aufgewiegelte, von den Medien manipulierte Stereotypen. Wieder befanden wir uns in einem hitzigen Krieg in Asien. Vietnam tobte. Jeden Abend in den Sechs-Uhr-Nachrichten sahen wir den Feind -tödliche, in Schwarz gekleidete Gefahren im Dschungel. Töten oder getötet werden, war die Devise. Diese gerissenen Gegner mußten getötet werden. Mit Bomben, mit Feuer, mit Napalm! Sie mußten ausgelöscht werden. Diese Feinde… sahen so aus wie ich! Aber jeden Abend, kurz nach den Nachrichten, wurde „Star Trek“ wiederholt. Auf der Brücke des Raumschiffs Enterprise sahen wir unsere Helden, die Guten. Und an der Steuerkonsole sahen wir Lieutenant Sulu, einen absoluten Profi, einen verwegenen Kerl, einen von den Guten – einen von uns. Und
er war Asiate. Sein Gesicht sah so aus wie das des Feindes in den Nachrichten wenige Minuten zuvor. Zum ersten Mal in der Geschichte der amerikanischen Medien gab es während eines Asienkrieges regelmäßig ein visuelles Gegengewicht zu dem vorherrschenden Feindbild. Dieses Gegengewicht unterstrich den komplexen Charakter dieses Konflikts. Sulu war auf „unserer Seite“, er war einer unserer Helden. Und er trug mein Gesicht. Als „Star Trek“ geboren wurde, war ich mit meinen eigenen Karriereanstrengungen beschäftigt. Ich suchte nicht nach einem symbolischen Image. Das Schicksal und Gene Roddenberry hatten sich verschworen, um mich zu dem symbolischen Gesicht zu machen. Aber ich war stolz, diese Rolle spielen zu dürfen. Ich kannte die Verantwortung, die mit meiner Karriereentscheidung auf mich zukam. Ich war mir immer der Tatsache bewußt, daß ich auf der Bühne oder auf der Leinwand mehr repräsentierte als nur mich selbst. Ich mußte mich aber zu den Geschehnissen in unserem Land äußern. Um das zu tun, konnte ich nicht hinter der Maske meines fiktiven Charakters verborgen bleiben. Ich mußte aus dem Rampenlicht treten und mich politisch engagieren. Die Erinnerungen an meinen Vater von vor fast dreißig Jahren waren immer ein Teil von mir. Er hatte in den frühen vierziger Jahren versucht, seine eigenen Ziele zu erreichen, aber als die Zustände und die Machtverhältnisse sich veränderten, widmete er sich ganz der Arbeit für die japanische Gemeinde. Ich mußte mich den Herausforderungen meiner Zeit stellen. Es existierte eine locker organisierte Gruppe von Antikriegsaktivisten in Hollywood, die „Entertainment Industry for Peace and Justice“, kurz EIPJ, der ich angehörte. Jane Fonda und Donald Sutherland zählten zu den aktivsten Mitgliedern der Organisation.
In der asiatisch-amerikanischen Gemeinde hatte ich mit vielen Freunden über den Vietnamkrieg gesprochen und wußte, wie sie fühlten. Aber die Stimmen, die aus der Gemeinde zu hören waren, kamen in erster Linie von der Jugend. Bei den anderen herrschte unbehagliches Schweigen, das nicht ihre ausgeprägten Gefühle gegen diesen Krieg repräsentierte. Es gab Gründe für diese Zurückhaltung. Im Geiste spürten sie noch die Trümmerstücke der Geschichte, seelische Narben durch frühere Verfolgungen, die stechend und scharf waren. Diese Leute zögerten aus nachvollziehbaren Gründen, sich öffentlich zu ihrer Ablehnung zu bekennen. Das machte mir Sorgen. Eine Lektion meines Vaters kam mir in Erinnerung: „Eine Demokratie hängt von der Mitwirkung ab. Ohne sie versagt die Demokratie.“ Wir mußten einen praktikablen Weg finden, die schweigenden asiatischen Amerikaner in die Lage zu versetzen, sich zu äußern und an dem Prozeß teilzuhaben. Ich begann mit drei Freunden – dem Kunsthändler Marj Shinno, dem Beamten Toshiko Yoshida und dem Jurastudenten Mike Murase –, Veranstaltungen zusammenzustellen, die die asiatische Gemeinde nicht unnötig in Aufregung setzte, aber Teil der Bemühungen waren, den Krieg zu beenden. Wir organisierten Theaterabende mit Stücken, die sich mit der Antikriegsbewegung befaßten, aber in einem etablierten Kulturzentrum des Mark Taper Forum stattfanden. Diese Veranstaltungen waren ein großer Erfolg. Aber wir hatten das Gefühl, daß die Präsentation der asiatischen Amerikaner in einem großen Theater, vermischt mit anderen, ein wenig verwässert wurde. Wir wollten nun eine rein asiatisch-amerikanische Stellungnahme realisieren, wir wollten es groß machen – eine laute und deutliche Stimme für unsere Gemeinde. Doch diese Leute wollten nicht zu Demonstrationen oder Märschen gehen. Unsere
Herausforderung bestand darin, etwas zu organisieren, mit der der größte Teil der asiatischamerikanische Gemeinde einverstanden sein würde. Nach langen Diskussionen einigten wir uns auf eine Versammlung, die im vornehmen Biltmore Bowl, dem größten Saal des altehrwürdigen Biltmore Hotels, stattfinden sollte. Wir wollten asiatische Schauspielerinnen wie France Nuyen, die in „Star Trek“ als Elaan von Troyius zu sehen gewesen war, zu einem Leseabend einladen. Wir wollten, daß asiatische Professoren über unsere Rolle in dem Krieg sprachen. Wir gaben dem Ereignis einen sanften, aufbauenden Namen, „Peace Sunday“. Und wir beschlossen, keinen Eintritt zu nehmen, da wir nicht wollten, daß Geld dem Frieden im Weg stehen könnte. Nun war es an uns, dieses große, kostspielige Ereignis zu finanzieren. Wir waren alle bereit, für die Sache etwas beizusteuern, aber das würde nicht ausreichen, um die Produktionskosten zu decken. Ich bat Jane Fonda um Hilfe. Ich erklärte ihr die Bedeutung einer großen Stellungnahme gegen den Krieg in Asien aus den Reihen der asiatischen Gemeinde. Ich erklärte ihr auch die Geschichte und die besondere Sensibilität der asiatischen Amerikaner. Ich mußte jedoch feststellen, daß Jane keine Erklärungen benötigte. Sie verstand sofort und stellte umgehend einen sehr großzügigen Scheck aus, der die Finanzierung des „Peace Sunday“ sicherstellte. Wir verwenden den Begriff „außergewöhnlich“ zu leichtfertig. Besonders in Hollywood. Daß Jane Fonda eine außergewöhnliche Schauspielerin ist, hatte sie reichlich bewiesen. Aber viel zu oft hatte ich feststellen müssen, daß außergewöhnliche Akteure recht normale, uninteressante Menschen sind. Jane Fonda ist eine Ausnahme. Oberflächlich liest sich ihre Biographie wie ein Märchen über eine Prinzessin, die vom Zauberstab Hollywoods berührt worden
ist. Tochter eines legendären Superstars, gesegnet mit Reichtum, Talent, Schönheit und Chancen, schien es so, als besitze sie alles, was man sich vom Leben wünschen kann. Und doch betrachte ich sie als Selfmade-Frau. Statt der geschützten Existenz, litt Jane in ihrer Kindheit unter Liebesentzug. Die Mutter war von emotionalen Problemen geplagt, der Vater selten zu Hause. Als Person des öffentlichen Lebens äußerte sie sich mit Mut und Integrität, die ihr Applaus und Denunziationen einbrachten. Von keinem der beiden eingeschüchtert bleibt sie immer auf der Suche. Jane Fonda ist eine Frau, die Not erlebt hat, aber sie bewahrte sich einen unersättlichen Appetit auf das Leben und wurde geschickter und beweglicher, stärker und empfindsamer. Jane ist auch eine verwandte Seele. Ich arbeitete weiter mit ihr bei verschiedenen politischen Themen zusammen, wie zum Beispiel Farmarbeitern und Umwelt. Als sie mich später anrief, um mir mitzuteilen, daß ihr damaliger Ehemann Tom Hayden seine Kandidatur für die Legislative in Kalifornien erklärt hatte, stürzte ich mich in die Kampagne, die mit seiner Wahl zum kalifornischen Abgeordneten erfolgreich endete. Jane ist eine Frau von außergewöhnlicher Qualität. Daß sie eine begnadete Künstlerin ist, steht außer Frage. Wie außergewöhnlich sie aber als Mensch ist, versetzt mich immer noch in Erstaunen. Tom Bradley war der erste Schwarze gewesen, der in einem überwiegend weißen Bezirk zum Mitglied des Stadtrats gewählt wurde. Jetzt war er der erste schwarze Politiker, der sich um den Posten des Bürgermeisters der City of Los Angeles bewarb. Nach dem Schmerz der Watts-Unruhen, die unsere Stadt erschüttert hatten, würde Tom Bradley eine versöhnende Kraft sein, jemand, der die Wunden unserer Stadt heilen konnte. Er würde für unsere Stadt von großer
Wichtigkeit sein. Ich leitete das Komitee der japanischen Amerikaner, das Tom Bradley unterstützte. Marj Shinno und Toshiko Yoshida vom Projekt „Peace Sunday“ standen mir auch diesmal zur Seite. Während der Kampagne wurde hart gekämpft, aber auch schmutzige Wäsche gewaschen. Selbst 1969 war Rassismus noch ein Faktor, Tom Bradley verlor äußerst knapp. Unerschrocken stürzte ich mich in eine größere politische Arena, dem landesweiten Rennen um den Sitz des Senators. Der Kongreßabgeordnete George Brown aus Kalifornien war das erste Kongreßmitglied, das gegen die Bereitstellung von Geldern für den Vietnamkrieg stimmte. Jetzt stieg er für die Nominierung der Demokraten für einen Platz im Senat in den Ring. Ich wollte ihm auf seinem Kreuzzug helfen. Während der Arbeit im Wahlkampfhauptquartier traf ich ein vertrautes Gesicht, Leslie Parrish, die Gast in der „Star Trek“-Episode „Der Tempel des Apoll“ gewesen war. Ich wurde der Vorsitzende des Komitees „Asiatische Amerikaner für George Brown“. Browns Gegenkandidat war John Tunney, der Sohn des Schwergewichtschampions Gene Tunney. Er war von jugendlicher Erscheinung und besaß das gute Aussehen eines Filmstars. Außerdem war er ein Freund von Senator Teddy Kennedy. Es war eine hervorragende Kombination. Als die letzte Stimme ausgezählt war, nahm Tunney die Nominierung der Demokraten an. Dann wurde er als Vertreter Kaliforniens in den Senat gewählt. Jeder Kandidat, den ich unterstützt hatte – von Adlai Stevenson als Präsident im Jahre 1960 bis zu George Brown im jüngsten Wahlkampf –, verlor. Ich hatte allmählich das Gefühl, einen Fluch auf jeden politischen Kandidaten zu legen, der das Pech hatte, von mir unterstützt zu werden. Vielleicht sollte ich für den jeweiligen Gegenkandidaten arbeiten, um meinen eigentlichen Kandidaten zu helfen.
Anstatt aber zum Gegner überzulaufen, kehrte ich zu alten Freunden zurück. Josie Dotson, Jack Jackson, Elaine Kashiki und Jeanne Joe hatten etwas aufgebaut, während ich Wahlen verlor. Das Inner City Cultural Center präsentierte auf der Bühne eines wiederaufgebauten Kinopalastes auf dem West Washington Boulevard nicht nur eine Produktion nach der anderen, sondern bot in einem nahegelegenen Gebäude auch Kurse in allen Bereichen des Schauspiels an. Ihr Traum eines multikulturellen Zentrums der darstellenden Künste war Wirklichkeit geworden. Aber um es am Leben zu halten, um den unstillbaren Hunger nach Geld zu mildern, mußte konstant versucht werden, Geld aufzutreiben. Ich wollte dieses Projekt unterstützen, aber nicht nur finanziell. An zwei Tagen in der Woche stellte ich mich dem Zentrum unentgeltlich als Lehrer zur Verfügung. In gewisser Weise erfüllte ich damit die Hoffnung meines Vaters, daß ich irgendwann einmal unterrichten würde. Wieder stellte ich fest, wie sich seine Träume und meine Entscheidungen schließlich doch noch trafen. Ich empfand das Unterrichten als ausgesprochen befriedigend. Ich unterrichtete amerikanische Theatergeschichte aus der Sicht einer Minderheit. Meine Studenten waren Schwarze, Hispano-Amerikaner, Asiaten und Weiße. Ihre grundsätzliche Einstellung zur Geschichte war die, daß es sich um etwas Vergangenes handelte – weit weg und bedeutungslos. Sie wollten nur Mr. Sulu über „Star Trek“ reden hören. Ich benutzte das als eine wunderbare Einleitung – vom pluralistischen Universum in Gene Roddenberrys Zukunftsvision zurück zu den Geheimnissen unserer eigenen multikulturellen Vergangenheit. Ich gestaltete die Erforschung unserer Geschichte so, als würde eine Sonde in die unbekannte Dunkelheit des Alls geschickt. Wußten sie, daß es im neunzehnten Jahrhundert einen großartigen schwarzen
Shakespeare-Schauspieler namens Ira Aldredge gegeben hatte? Das war für sie eine fantastische Entdeckung, die ihnen bis dahin ungeahnte Möglichkeiten eröffnete. Ich erweiterte ihre Horizonte und ihre Möglichkeiten, aber meine Aufgabe war es zugleich, sie auf die Herausforderungen hinzuweisen, denen sie sich stellten. Der große Ira Aldredge hatte nach England gehen müssen, um seine größte Anerkennung zu erlangen. Ein anderer schwarzer Schauspieler, Paul Robeson, mußte noch in unserem Jahrhundert, ebenfalls nach Europa gehen, um als Othello zu brillieren. Aber auch in der Zukunftsgesellschaft von „Star Trek“ mußten wir uns mit Wesen auseinandersetzen, die nicht unter die Oberfläche zu blicken vermochten und denen daher geistiger Reichtum versagt blieb. Unsere Herausforderung war zu handeln, etwas zu tun, um die Dinge zu verändern, damit wir in unserer eigenen Zeit etwas zur Schaffung einer besseren Welt beitragen konnten. Das war unser großes Abenteuer. Die Kinder liebten es. Die „Star Trek“-Metapher funktionierte praktisch immer. Die Hauptaufgabe der „Inner City Cultural Center“ bestand in Bühnenproduktionen. Ich hatte eine Rolle in dem Thriller „Monkey’s Paw“, spielte einen alten Seemann und übernahm in Shakespeares „Macbeth“ die Rolle des Ross, der nur im ersten Akt auftritt. Nach dem Ruhm, mit meinem schweren, wallenden Cape auf die Bühne zu stürmen und meine Szene zu spielen, folgte die lange Wartezeit bis zum letzten Vorhang. Aber ich liebte es. Es war meine erste Gelegenheit gewesen, Shakespeare vor einem zahlenden Publikum zu spielen. Ich spähte durch eine Ritze in dem schweren Samtvorhang ins Publikum, um den Saal zu beobachten. Es sah gut aus. Wir zogen das vielschichtige Publikum an, von dem Josie so wehmütig gesprochen hatte. Jetzt war es Realität geworden.
An einem Abend entdeckte ich Henry und June im Publikum. Ich vermutete, daß Scotty von seinen vernarrten Großeltern beaufsichtigt wurde. Aber ich war überrascht, June zu sehen. Sie war hochschwanger mit ihrem zweiten Kind. Heute behauptet sie, daß die Geburt ihres zweiten Kindes (und zugleich der ersten Tochter) von dem grauenhaften Gekreische der drei Hexen ausgelöst worden war, als sie dem König ihre düsteren Weissagungen machten. Meine Nichte Akemi wurde zwei Tage nach Junes Besuch von „Macbeth“ geboren. Das Blut der Bestie Vietnam bedeckte alles – nicht nur die brennenden Dschungel und die Felder jenes asiatischen Landes, sondern auch die Colleges von Kent State bis Berkeley, die Straßen von Boston bis Los Angeles. Aus den weitentlegenen Gebieten von South Dakota kam ein überraschender Bannerträger für die Kriegsgegner, der freimütig redende Senator George McGovern. Er bewarb sich für die Präsidentschaft, und das politische Tier in mir erwachte erneut. Anstatt aber wieder als freiwilliger Helfer zu arbeiten, ging ich einen Schritt weiter, um George McGoverns Präsidentschaftskandidatur zu unterstützen. Ich entschloß mich, mich für einen Platz in der kalifornischen Delegation der demokratischen Nationalversammlung aufstellen zu lassen. Ich würde als Delegierter antreten, eingeschworen auf Senator McGovern. Im Auditorium der Junior High School wurde die Wahl der Bezirksvertreter abgehalten. Von allen Seiten wurde man angelächelt, Hände voller Eifer geschüttelt. Wenn Babies hätten geküßt werden können, hätten wir das auch getan. Wir taten, was wir nur konnten, nur eines war verboten: Wir durften keine Flugblätter verteilen. Nur die grundlegenden biographischen Informationen, die von der Wahlkommission gedruckt wurden, waren zugelassen. Meine politischen
Leistungen lasen sich wie folgt: vier Jahre lang Mitglied des Democratic State Central Committee; 1960 – Freiwilliger während Stevensons Präsidentschaftswahlkampf; 1969 – Vorsitzender der japanisch-amerikanischen Komitees während der Bürgermeisterkandidatur von Tom Bradley; 1970Vorsitzender des asiatisch-amerikanischen Komitees während der Senatorenkandidatur von George Brown. Der wichtigste Teil war jedoch die Rede, die jeder Kandidat halten durfte. Wir hatten fünf Minuten Zeit, um zu erklären, warum wir am besten den Bezirk und den Kandidaten vertreten konnten, den wir unterstützten. Es sollte ein langer Tag werden, auf sechs Sitze kamen mindestens zwei Dutzend Kandidaten. Nach den Reden und dem Applaus, der Stimmabgabe und der langen, von Ängsten erfüllten Wartezeit, wurde das Ergebnis bekanntgegeben. Unter den sechs Delegierten befand sich ein Schauspieler. Ich war als offizieller Vertreter gewählt worden und würde eine Rolle bei der Auswahl eines Präsidentschaftskandidaten spielen. Ich war nicht der einzige Schauspieler im großen Kongreßsaal in Miami Beach, Florida. Shirley MacLaine war dort, die voller Eifer für die Frauenrechte eintrat. Ihr kleiner Bruder Warren Beatty war ebenfalls da, der in die Abläufe hinter den Kulissen verwickelt war. Er schien sich unablässig mit Gary Hart zu besprechen, McGoverns Wahlkampfmanager. Es war eine historische Versammlung. Nie zuvor hatte es mehr Frauen, Minderheiten, junge Menschen und Nichtpolitiker als Delegierte für eine Kandidatennominierung gegeben. Der demokratische Prozeß setzte sich langsam, aber sicher in Bewegung. Für mich als erstmaliger Mitwirkender war es eine berauschende Erfahrung. Schulter an Schulter neben Senator Ted Kennedy zu stehen, um wenig später seine durchdringende
Stimme zu hören, während er an seinen ermordeten Bruder erinnerte; Dan Inouye, dem Senator von Hawaii und damit dem ersten Japan-Amerikaner, der in den Senat gewählt worden war, die Hand schütteln zu können – die linke Hand, weil er seinen rechten Arm als amerikanischer Soldat im Zweiten Weltkrieg auf dem Schlachtfeld in Europa verloren hatte; selbst die Hand heben zu dürfen, um für George McGovern meine Stimme abzugeben und mich dabei daran zu erinnern, daß ich drei Jahrzehnte zuvor als kleiner Junge in einem Zug gesessen hatte, der mich in ein Lager in den Sümpfen von Arkansas brachte. Erfahrungen und Erlebnisse überstürzten sich in einem Kaleidoskop der Gefühle. Am letzten Abend der Versammlung nahm George McGovern die Nominierung an. Ich sah mich um zu den begeisterten Gesichtern, die mich umgaben. Ich sah die Gesichter eines Amerikas der unendlichen Vielfältigkeit in unendlichen Kombinationen, die alle voller Hoffnung zu einem Senator aus South Dakota aufblickten. Ich fühlte unbeschreiblichen Stolz. Ich kehrte nach Los Angeles zurück, beseelt und fest entschlossen, unseren nächsten Präsidenten zu wählen. Ich organisierte ein asiatisch-amerikanisches Komitee für George McGovern. Wir eröffneten ein McGovernHauptquartier in Little Tokyo, Walter Koenig half uns bei der Galaeröffnung. Ich sorgte dafür, daß meine Nichte Akemi Mrs. Eleanor McGovern im Hauptquartier in einem bunten Kimono empfing. Wir organisierten ein großes Abendessen in Chinatown, um Spenden zu sammeln. Wir hielten Schwätzchen bei den Leuten zu Hause. Wir arbeiteten fieberhaft für unsere Demokratie. Es war ein erfrischender und zugleich erschöpfender Wahlkampf. Aber im November 1972 gelang Richard Nixon ein erdrutschartiger Sieg – der Fluch des George Takei hatte wieder zugeschlagen.
Über die Jahre hinweg war das Stadtratsmitglied Tom Bradley zu einem guten Freund geworden. Unsere Wege kreuzten sich oft auf politischer Ebene, wir arbeiteten bei vielen Themen zusammen, und ich hatte gelernt, seine Talente zu bewundern. Eines Tages erzählte er mir, daß er mit dem Gedanken spielte, sich noch einmal für den Posten des Bürgermeisters von Los Angeles aufstellen zu lassen. Ob ich ihm helfen würde? Sicher, sagte ich spontan. 1969 war er nur knapp gescheitert. In den letzten vier Jahren hatte er sich viel Wohlwollen und Respekt verdient. Es war ein gutes Timing. Aber ich war ehrlich zu ihm, was meine traurigen politischen Leistungen und den Fluch anging, den ich mit mir umhertrug. Wollte er wirklich in meinen nicht so exklusiven Club eintreten, in dem schon Adlai Stevenson, George Brown und nun auch George McGovern Mitglied waren? Tom lachte und erwiderte: „George, ich werde dir einen Gefallen tun. Du kämpfst für mich, und ich befreie dich von dem Fluch.“ Wir reichten uns die Hände und besiegelten den Pakt. Und wieder stürzte ich mich voller Eifer in einen weiteren Wahlkampf. Es war die Wahlnacht 1973, Bradleys Anhänger versammelten sich alle im Los Angeles Hilton Hotel. Der Hauptsaal war brechend voll mit erwartungsvollen Wahlhelfern und politischen Junkies. Sie bevölkerten die Bars, Lounges und Korridore des Hotels. Ich war mit Tom und seinen Leuten in seiner Suite in der obersten Etage. Die Zahlen sahen gut aus. Aber kleine, nadelspitze Erinnerungen an die Wahlnacht 1969 piesackten mich hartnäckig. Wir hatten einen starken, energischen Wahlkampf auf die Beine gestellt. Wir hatten die Themen klar und nachdrücklich angesprochen. Am wichtigsten war aber,
daß die Menschen von Los Angeles Tom Bradley kennengelernt hatten. Und doch war ich nervös. Ich konnte diese Schuldgefühle einfach nicht abschütteln. Trotz meines Paktes mit Tom hatte ich nicht das Gefühl, diesmal meinen Fluch loszuwerden. Vielmehr lastete er wie ein Stein auf mir. Würde er auch diesmal wieder zuschlagen? Ein Bezirk nach dem anderen meldete die Zahlen, das Ergebnis wurde immer besser. Mit jedem neuen Bezirk verbesserte sich das Ergebnis. Jemand rief Tom an. Er nahm das Gespräch an, alle Augen waren nun auf ihn gerichtet. Er hörte zu, dann begann er, glücklich zu lächeln. Nachdem er aufgelegt hatte, sagte er: „Er hat sich gerade geschlagen gegeben! Auf nach unten!“ Von wildem Applaus begleitet führte er unsere Gruppe zum Aufzug, dann durch den Lärm einer ekstatisch jubelnden Menge, die im Saal auf ihn wartete. Der 29. Mai 1973 war ein Tag, an dem Geschichte geschrieben wurde. Tom Bradley wurde der erste schwarze Bürgermeister einer amerikanischen Großstadt. Und George Takei hatte endlich einen Sieger vorzuweisen! Endlich war der Bann gebrochen, ich war von meiner Last befreit. Es heißt, daß sich Wunder immer in Dreiergruppen ereignen. Die ersten beiden waren eingetroffen, und ich fragte mich, ob es ein drittes geben würde. Nachdem „Star Trek“ aus dem Programm genommen worden war, mußte ich mich wieder mit dem Kleinkrieg der Gastauftritte in Fernsehserien befassen. Einen Monat nach den Dreharbeiten an der letzten „Star Trek“-Episode stand ich als Studiofotograf und Hippie in einer Episode einer neuen Serien mit Namen „Bracken’s World“ vor der Kamera. „Star Trek“ lag hinter mir, dachte ich. Die Serie würde sich einige Jahre lang als Wiederholung halten, um dann in Würde zu verschwinden – so wie jede eingestellte Serie. Aber diesmal
geschah etwas Seltsames. Die Quoten der Wiederholungen waren im Verhältnis besser als bei der Erstausstrahlung, und sie stiegen immer weiter. Ein Anruf von Walter Koenig war Vorbote für kommende Dinge. „Rat mal, was ich gehört habe!“ Walters Stimme klang verschwörerisch. „Du wirst es nicht glauben, aber…“ „Wenn ich es nicht glauben werden, warum erzählst du es mir dann?“ zog ich ihn auf. „Wenn du nicht wissen willst, was mit „Star Trek“ geschieht, werde ich es dir nicht sagen“, erwiderte er. Er wußte genau, daß ich nicht widerstehen konnte. „Na gut“, gab ich nach. „Sag mir schon, was ich nicht glauben werde.“ Es gab Gerüchte, erklärte er, daß man „Star Trek“ wegen der guten Quoten wiederbeleben wollte. Das klang zwar interessant, aber äußerst unwahrscheinlich. Ich sagte Walter, ich würde es dann glauben, wenn ich es mit eigenen Augen sehen würde. So sprach ich, aber in meinem Hinterkopf rührte sich der Gedanke, der sich mit den zwei Wundern befaßt hatte. Könnte es vielleicht doch sein? Aber diese Gerüchte waren wie Frühlingsblumen. Sie blühten verführerisch, um dann in der Hitze des Sommers zu vergehen. Wenn die Jahreszeit wiederkehrte, begannen sie erneut zu blühen. Ich begann, die Auferstehungsgerüchte zynisch zu betrachten. Als „Star Trek“ zum ersten Mal ausgestrahlt wurde, waren wir einem dauernden Streß ausgesetzt, weil hinter jeder Ecke eine Gefahr lauern konnte, die über das Schicksal der Serie entscheiden würde. Ich weigerte mich, das noch einmal durchzumachen. Aber Walter versorgte mich fortwährend mit aufregenden Neuigkeiten über jede neue Hoffnung und natürlich auch über jede neue Enttäuschung.
„Rat mal. Es ist definitiv!“ Diesmal war Walter uneingeschränkt aufgeregt. „Sie machen wirklich eine Neuauflage der Serie! Es ist entschieden!“ Mein Zynismus konnte sich seiner Begeisterung nicht länger entziehen, ich war Feuer und Flamme. „Das ist fantastisch! Weißt du, ich habe wirklich damit gerechnet, daß irgendein Wunder geschieht. Und das ist es!“ Ich erzählte ihm von dem dritten Wunder, mit dem ich gerechnet hatte. Dies ereignete sich zwar nicht in der Politik, aber es war trotzdem ein Wunder. „Und rat mal“, fuhr Walter fort. „Wir kommen als Zeichentrickserie zurück!“ Im gleichen Augenblick erkannte ich, daß ich ihm auf den Leim gegangen war. Walter liebt es, mich aufzuziehen und meine Leichtgläubigkeit auszunutzen, aber normalerweise falle ich darauf nicht herein. Aber diesmal hatte mein heimlicher Wunsch mich nach dem Köder schnappen lassen. Ich war entsetzt, daß ich ihm von meiner Hoffnung auf ein drittes Wunder erzählt hatte. Ich erwartete sein spöttisches, hohes Lachen, während er sein gutgläubiges Opfer verhöhnte. Aber es kam nicht. „Ich halte das für einen interessanten Ansatz“, sagte Walter todernst. „Zeichentrick wird es Star Trek ermöglichen, jede Art von SF-Konzept zu verwirklichen, ohne ein astronomisch hohes Effektebudget zu benötigen.“ Ich weigerte mich stumm, weiter in das ganze hineingezogen zu werden. Ich reagierte nicht. „Also, was hältst du davon, George?“ fragte er schließlich. „Walter, ich finde das nicht lustig. Ich habe dir wirklich geglaubt“, sagte ich finster. „Nein, es ist wirklich wahr“, beharrte er ernsthaft. „‘Star Trek’ kommt von Filmation als Zeichentrickserie zurück!“ Seine Beharrlichkeit schien glaubwürdig, aber er hatte mich
einmal zu oft reingelegt. Ich sagte ihm, ich würde seine Worte nachprüfen. Nach ein paar Telefonaten mußte ich feststellen, daß Walter tatsächlich die Wahrheit sprach. Wir würden als Zeichentrickserie für ein Kinderpublikum am Samstagmorgen zurückkehren. Dann rief mich Walter erneut an. „Rat mal“, sagte er mit am Boden zerstörter Stimme. „Was ist es diesmal?“ fragte ich. Ich hatte ihn noch nie so niedergeschlagen gehört. „Wir sind nicht mit dabei. Sie machen es nur mit Bill, Leonard, De, Jimmy und Majel. Sie haben ein knappes Budget, wir werden nicht unsere Figuren sprechen.“ Es waren schockierende Neuigkeiten. Aber sie waren auch typisch. Unsere Gefühle wurden in die Höhe getrieben, um dann wie auf einer Achterbahn talwärts zu rasen. Und nun startete „Star Trek“ von neuem mit einem anderen Aussehen, aber wir würden daran nicht teilhaben können. Ich erfuhr, daß Jimmy Sulu sprechen würde, während Majel Uhura ihre Stimme lieh. Ich begann mich nun endgültig damit abzufinden, daß „Star Trek“ wirklich der Vergangenheit angehörte. Das dritte Wunder sollte sich aber noch ereignen. Leonard Nimoy machte etwas, wozu nur wenige Schauspieler bereit waren. Zunächst einmal bezog er grundsätzlich Stellung, dann stellte er sich hinter andere Schauspieler, für die er erstaunlicherweise sogar seine eigene Arbeit aufs Spiel setzte. Leonard hatte erfahren, daß wir bei der Wiederaufnahme der Serie nicht berücksichtigt wurden, woraufhin er in Aktion trat. „Star Trek“, so argumentierte er bei Filmation, sei grundsätzlich eine positive Vision unserer Zukunft. Diese Vision basierte auf der Idee, aus unserer Vielfältigkeit Stärke zu beziehen. Nichelle und George waren die Personifizierungen dieser Aussage. Wenn Filmation das nicht
erkannte, wäre er nicht daran interessiert, an diesem Projekt mitzuwirken. Sie würden ohne ihn weitermachen müssen. Es war eine mutige Haltung, die ein Schauspieler nicht annehmen mußte. Er hätte Spocks Stimme mit dem Argument liefern können, er sei nur damit beauftragt worden. Aber Leonard war mehr als ein Schauspieler, erst recht mehr als ein Auftragsschauspieler. Ein Schauspieler im wahrsten Sinne ist ein Künstler, der die Werte und Ideale seiner Kultur in sich trägt. Leonard Nimoy ist solch ein Künstler. Ich werde ihm immer dankbar sein, daß er Nichelle und mich mit „Star Trek“ verbunden hielt, und ich bin stolz auf meine Freundschaft zu ihm. Leider war Walter nicht auf der endgültigen Sprecherliste. Aber er setzte seine Verbindung zu „Star Trek“ auf andere Weise fort, indem er das Drehbuch für die Zeichentrickepisode „The Infinite Vulcan“ schrieb.
19 Der Wahlkampf Tom Bradley, vormals Mitglied des Stadtrats, war der neue Bürgermeister von Los Angeles. Sein Platz im Stadtrat war damit freigeworden, woraufhin meine Freunde in der politischen Arena etwas vorschlugen, das ich nie in Erwägung gezogen hätte. Ich war wegen bestimmter Themen politisch aktiv und wegen des Prinzips, an dem Gesamtprozeß teilzuhaben. Ich wußte, ich würde stets daran beteiligt sein, einen guten Kandidaten zu unterstützen oder an einer wichtigen Sache mitzuarbeiten. Aber ich hatte nie daran gedacht, selbst für ein öffentliches Amt zu kandidieren. Aber jetzt waren da Freunde und Menschen, mit denen ich in den politischen Wahlkämpfen zusammengearbeitet hatte, die mich ermutigten, selbst zu kandidieren. Es sei eine einmalige Gelegenheit, sagten sie. Es gab bereits gut ein Dutzend potentieller Kandidaten, die den Wunsch geäußert hatten, sich aufstellen zu lassen. Aber ich liebte die Schauspielerei. Der Sitz im Stadtrat war ein Vollzeitjob, der von mir verlangen würde, auf diese Karriere zu verzichten. Die politische Arena war eine Berufung, die bedeutete, private Interessen für ausschließlich öffentliche Verpflichtungen aufzugeben. Ich zögerte, alles zu verlieren, was ich mir in meinem Leben bis dahin erarbeitet hatte. Aber, so meine Freunde, es war noch nie ein Asiate im Stadtrat gewesen. Das war eine einzigartige Gelegenheit, Vielfältigkeit in diese Institution zu bringen. Soweit ich wußte,
hatte es im Los Angeles City Council auch noch nie einen Schauspieler gegeben. Beides seien Gruppen, die repräsentiert werden sollten, argumentierten meine Freunde. Und außerdem, fügte ein Politiker mit Durchblick an, hätte ich durch „Star Trek“ ein strahlendes Image. Ich war offensichtlich wählbar. Es gibt Momente im Leben, da verlangen einzigartige Umstände einsame Entscheidungen. Dies war eine solche Gelegenheit, auf eine bis dahin ungeahnte Weise in einer unerwarteten Arena etwas zu leisten. Mir gefiel die Beschäftigung mit den Themen unserer Zeit. Ich glaubte an das System der Bürgerbeteiligung an der Regierung. Und ich war der Ansicht, daß professionelle Politiker an den Problemen unseres Systems beteiligt waren, da sie ohne Verbindung zum Volk waren. Ich hatte das Gefühl, diesen Kontakt leisten zu können. So wie Tom Bradley, allerdings als asiatischer Amerikaner, konnte ich ebenfalls Koalitionen bilden. Aber so verlockend die Gelegenheit auch war, wußte ich doch, daß sie einen hohen Preis fordern würde – doch es war auch eine enorme Möglichkeit. Schließlich erklärte ich mich zum Kandidaten für den Platz des 10th District im Los Angeles City Council bereit. Ich stellte ein erstklassiges Wahlkampfteam zusammen. Marj Shinno war mein Wahlkampfmanager, Jerry Zanelli, ein harter Politikprofi, wurde mein Berater. Mike Yamaki, ein dynamischer junger Jurastudent, wurde Wahlkampfkoordinator. Al Green und Bill Collier, beides Freunde aus dem Democratic State Central Committee, waren meine Ratgeber und Wahlhelfer. Les Hamasaki, ein Städteplaner und alter Freund, war ein enger Vertrauter. Außerdem griff ich auf Freunde aus „Star Trek“-Zeiten zurück: die Autoren Dorothy Fontana und David Gerrold. Letzterer hatte die köstliche Episode „Kennen Sie Tribbles?“ geschrieben, die ich wegen der Dreharbeiten zu „Die grünen
Teufel“ an Walter Koenig verloren hatte. Zu meiner Gruppe gehörten auch Bjo und John Trimble, Aktivisten der Extraklasse, zusammen mit ihren beiden kleinen Töchtern, außerdem Fans aus ganz Südkalifornien. Sie machten Briefe versandfertig, bauten ein Telefonnetz aus Helfern auf und verteilten im gesamten Viertel Flugblätter. Ein Wahlkampf geht durch den Magen, also sorgte meine Mutter für das leibliche Wohl der Freiwilligen. David Gerrold erklärte, er sei nicht meinetwegen Freiwilliger, sondern wegen des Sushis meiner Mutter. Ich war nicht sicher, ob er scherzte. Mir fiel jedenfalls auf, daß er an den Tagen fehlte, an denen es Hot Dogs gab. Mein Vater sprang ein, wo er gerade gebraucht wurde. Er telefonierte, er machte Briefe versandfertig, er ging durchs Viertel, er machte sogar das Hauptquartier sauber, als alle anderen gegangen waren. Er konnte einfach nicht genug tun. Ich machte mir Sorgen, daß er sich übernehmen würde, aber er wischte alle Bedenken mit einem Lächeln beiseite und sagte: „Bis zum Wahltag gibt es noch viel zu tun.“ Meinen Vater zu beobachten, wie er sich einsetzte – das allein war die Kandidatur wert. Walter setzte sich unermüdlich für mich ein, Nichelle Nichols gab auf Wunsch ein Ständchen zum besten. Ein Brief von Leonard Nimoy half, die wichtige Unterstützung durch das Democratic County Committee zu initiieren. Bei meinem ersten Dinner, das Spenden für den Wahlkampf einbringen sollte, waren Gene Roddenberry und Majel Barrett die Ehrengäste, sie waren gerade von ihrer ShintoHochzeitszeremonie in Tokio zurückgekommen. Genes Eröffnungsrede war warmherzig, freundlich und typisch für ihn. Sie war nicht hurra-patriotisch, nicht politisch mitreißend, sie strahlte vor Edelmut, sie war von Liebe durchflutet. Es war genau die richtige Art von Rede für meine Kandidatur.
Ich liebte Wahlkämpfe. Die alten Profis sagten mir, daß eine der wichtigsten Regeln bei einer Kandidatur darin besteht, die Menschen nicht sehen zu lassen, daß man schwitzt. Ich verstieß massiv gegen diese Regel. In der brennenden Sommersonne ging ich durch die Viertel, ging von Tür zu Tür und unterhielt mich mit den Wählern bei ihnen zu Hause. Es war erschöpfend, aber unglaublich erfüllend. Mit den Nachbarn über die Sorgen und Nöte zu reden, ist die Basis unserer Demokratie. Die Kandidatenabende in der Nachbarschaft, bei denen alle Bewerber für ein Amt den Wählern in einer Frage-undAntwort-Runde zur Verfügung standen, wirkten sehr stimulierend. Diese alte Form der Versammlung war das, was die Demokratie eigentlich ausmachte. Aber diese Treffen mußten dem Stil, der in Los Angeles herrschte, angepaßt werden. Auf einer dieser Veranstaltungen im östlichen Teil des Bezirks, wo die Bewohner vorwiegend Hispanos waren, konnte ich mich von den anderen Kandidaten ein Stück absetzen. Eine Frage wurde auf Spanisch gestellt. Als ich anfing, sie auf Spanisch zu beantworten, noch bevor sie übersetzt worden war, amüsierte ich mich köstlich über den überraschten Gesichtsausdruck meiner Konkurrenten. Ich war der einzige Kandidat, der Spanisch sprach. Ich lebte die Grundlagen dessen, was ich auf der High School gelernt hatte. Und immer war da das strahlende Gesicht meines Vaters, ob im Hintergrund bei den Versammlungen, ob beim Verteilen von Flugblättern an einer Straßenecke oder im Hauptquartier, wo er geschäftig die Briefe versandfertig machte. Ironischerweise wurde „Star Trek“ zu einem großen Problem. Die paritätische Redezeitregelung der Federal Communications Commission erwies sich überraschend als immenses Hindernis. Diese Regel forderte im wesentlichen,
daß das Medium, in dem einer der Kandidaten auftrat, jedem anderen Kandidaten die gleiche Zeit oder den gleichen Platz einräumen mußte. „Star Trek“ lief jeden Abend auf einem lokalen Sender, ich war also Abend für Abend im Fernsehen zu sehen. Aber natürlich nicht als Kandidat, sondern als Schauspieler, der Mr. Sulu auf der U.S.S. Enterprise spielte. Dennoch beriefen sich alle Mitbewerber auf die Regelung und rechneten die Zeit vor, die ich erhalten hatte: als fiktive Figur in einer fiktiven Situation, die einen fiktiven Text spricht. So waren sie in der Lage, für sich selbst zu werben und über Themen zu sprechen, die für die Wahl von Bedeutung waren: über die Kriminalität, über die Erziehung, über die Steuern. Es war die denkbar ungerechteste Auslegung des Gedankens der Parität, die man sich vorstellen konnte. Und der „schuldige“ Sender mußte jedem einzelnen der 28 anderen Kandidaten kostenlos soviel Sendezeit zur Verfügung stellen, wie Mr. Sulu zu sehen gewesen war. Ob es nun ein aussichtsreicher Kandidat war oder jemand, der gerade einmal ein Dutzend Stimmen für sich gewinnen konnte, jeder durfte aufgrund der Paritätsregelung reden. Der Verlust für den Sender war beträchtlich. Nachdem man einen ganzen, nicht enden wollenden Abend für meine Gegner zur Verfügung hatte stellen müssen, begann der Sender vorsichtig, nur noch die Episoden zu senden, in denen Sulu nicht mitspielte. Um diese bizarren Ereignisse noch zu verstärken, war die „Star Trek“-Zeichentrickserie im Begriff, landesweit am Samstagmorgen ausgestrahlt zu werden. Nur nicht in Los Angeles. Hier hatte man sie für die Dauer des Wahlkampfes aus dem Programm genommen, weil ich meiner Zeichentrickfigur meine Stimme lieh. Es war verrückt, aber wir konnten nichts daran ändern. Es schien mehr Intelligenz in
den Zeichentrickfiguren zu stecken als in den beschränkten Geistern der Bürokraten in Washington. Geistige Erschöpfung – das war mein Gefühl am Wahlabend, dem 18. September 1973. Alle Reden waren bis zur Heiserkeit gehalten worden, die Bezirke so lange besucht worden, bis die Muskeln in meinen Beinen schmerzten wie das Lächeln auf meinem von der Sonne verbrannten Gesicht. Und doch fühlte ich einen Hunger auf das Unbekannte, das uns erwartete. Ich verspürte einen Appetit, der scheinbar noch von der Müdigkeit genährt wurde, so wie der zweite Schub, den Langstreckenläufer nach einer gewissen Zeit erleben. Wir versammelten uns im hinteren Teil eines Cafés in der Nähe unseres Hauptquartiers. Freiwillige, Stab, Wahlberater – wir hatten angestrengt und leidenschaftlich zusammengearbeitet, jetzt wollten wir Zusammensein, wenn die Ergebnisse eintrafen. Die Umfragen waren ermutigend. Es hieß, dies sei ein Rennen zwischen David Cunningham – einem politischen Berater, der sich auf dem Stimmzettel als „Geschäftsmann“ bezeichnete – und mir. Als die ersten Stimmen ausgezählt wurden, lagen wir vorne. Je mehr Ergebnisse eintrafen, um so mehr begann sich das Rennen einzupendeln. Wir wechselten uns in der Führung ab. Mal war er vorne, dann wieder ich. So ging es bis halb zehn. Dann drehte der Wind. Er begann, kontinuierlich mit einer knappen Mehrheit zu führen. Um elf Uhr war es klar, daß ich nicht im Stadtrat den 10th. Distrikt würde vertreten können. Ich räumte die Niederlage ein. Ich hatte das Rennen verloren, sein Vorsprung betrug nur 1647 Stimmen. Der Fluch des George Takei hatte wieder zugeschlagen, und diesmal hatte er mich getroffen! Für ein Amt zu kandidieren war anstrengend, zeitweise sogar enorm kräfteraubend. Ich erlebte Bestechlichkeit, Bosheiten,
Manipulationen. Aber das war ein Teil der Gesellschaft, und in einem hart ausgetragenen Rennen kommen diese Dinge unvermeidbar an die Oberfläche. Aber ich erlebte bei den vielen Freiwilligen auch die Hingabe für die Ideale dieses Systems, die soviel Zeit, Energie und Geld investierten. Ich erlebte den amerikanischen Wahlvorgang so hautnah mit, wie nur irgend möglich. Meine Erfahrungen während der Kandidatur für ein öffentliches Amt waren zutiefst befriedigend. Mit dem Wahlkampf, den wir auf die Beine gestellt hatten, konnten wir beweisen, daß ein hartes Rennen auf Themen beruhen und breitgefächert sein kann, obwohl es sich dennoch auf gemeinsame Ideale konzentriert. Wir errichteten eine Koalition, die die Vielfältigkeit unseres Bezirks und die Reichhaltigkeit unserer Ideen widerspiegelte. Wir zeigten, daß Prinzipien nicht aufgrund politischer Vorteile aufgegeben werden müssen. Ich war auf den Wahlkampf stolz, auch wenn wir das Rennen verloren hatten. Persönlich gewann ich in zweierlei Hinsicht. Zum einen gewann ich politische Glaubwürdigkeit. Ich stellte unter Beweis, daß ich zahlreiche Stimmen auf mich vereinigen und eine Koalition errichten konnte. Und auf einer noch persönlicheren Basis gewann ich die Karriere zurück, die ich schätzte. Die „Star Trek“-Wiederholungen wurden fortgesetzt, die Zeichentrickserie wurde in Los Angeles ausgestrahlt. Und kurz nach der Wahl befand ich mich wieder im Studio von Filmation, um für diese Serie weitere Texte aufzunehmen. Einige Jahre später wurde ich erneut angesprochen, um mich für ein Amt zu bewerben – diesmal für einen Platz in der Legislative. Der amtierende Abgeordnete aus meinem Bezirk, Mike Roos, war in einen Kampf um die Mehrheit verwickelt. Seine Basis war gespalten, und die Leute, die mich bedrängten,
gegen ihn anzutreten, waren der Ansicht, ich könnte ihn hinauswerfen. Wieder stand ich vor eine Gabelung auf meinem Weg. Ich benötigte Zeit, um diesen Vorschlag zu überdenken. Irgendwie gelangten Gerüchte über meine mögliche Kandidatur zum Abgeordneten Roos. Er rief mich an und bat mich um ein Gespräch. Ich kam seiner Bitte gerne nach. Der Abgeordnete begrüßte mich in seinem Büro. Als wir uns die Hand reichten, war auf seinem Gesicht nur ein flüchtiges Lächeln zu sehen. Waren die Gerüchte wahr? Ich erwiderte, daß man mich tatsächlich angesprochen, ich aber noch keine Entscheidung getroffen habe. Ich sei noch unentschlossen. Er deutete an, daß ich neben vielen anderen Dingen auch an die Paritätsregel denken sollte. Wieder war da diese Vergewaltigung der Bedeutung des Wortes „Parität“! Welcher Affront gegen die Vernunft! Ich verließ Roos’ Büro voller Wut allein bei dem Gedanken daran, daß dieser absurde bürokratische Unsinn erneut zu einem Faktor in einer Wahl werden würde. Diese Regel ist ein Diskriminierungsgesetz gegen jeden Bürger, der in Film und/oder Fernsehen arbeitet. Ich wurde nicht Schauspieler, um sichtbar zu werden, damit ich für ein öffentliches Amt kandidieren konnte. Mit der Schauspielerei hatte ich mir seit mehr als fünfzehn Jahren meinen Lebensunterhalt verdient. Sich selbst als Kandidat für ein öffentliches Amt aufstellen zu lassen, ist für jeden Bürger ein Recht und mit Verantwortung verbunden. Jeder Kandidat wird von seinen Wählern für sein Arbeit anerkannt. Ein Geschäftsmann, dessen Name in Verbindung mit seinen Geschäftsaktivitäten steht, muß nicht seinen Namen verstecken, wenn er sich für ein Amt aufstellen läßt. Seine geschäftliche Identität ist Teil seines Leumunds für seine Kandidatur. Nur diejenigen, die in Film und Fernsehen
arbeiten, werden für ihre Arbeit und ihre Präsenz durch dieses Gesetz bestraft. In Los Angeles stellen diejenigen, die in dieser Branche arbeiten, einen erheblichen Teil der Bevölkerung. Sie sind ein Teil der Gemeinschaft, die ihnen eine Stimme in der Regierungsbildung garantiert. Als Mitglied dieser Gemeinschaft war ich der Ansicht, daß ich ihre Interesse so gut vertreten konnte wie jeder andere. Um mich für ein öffentliches Amt zu bewerben, nehme ich als Individuum in Kauf, auf meine Gagen zu verzichten, wenn Sendungen aufgrund der Paritätsregel nicht gezeigt werden. Wenn aber dadurch auch meine Kollegen – Schauspieler, Autoren, Regisseure – auf ihre Gagen verzichten sollten, die für einige von ihnen einen wesentlichen Bestandteil ihres Jahreseinkommens darstellten, dann konnte ich keine sehr glaubhafte Stimme für ihre Interessen sein. Ein Kandidat aus der Film- und Fernsehbranche würde genau die bestrafen, die er repräsentiert. Ich entschied mich dagegen. Ich wollte den Abgeordneten Mike Roos nicht dazu verleiten, den Wahnsinn mit Namen „Parität“ wieder ins Spiel zu bringen.
20 Schnellverkehr Bürgermeister Tom Bradley rief mich an, weil er meine Hilfe benötigte. „Tom, du weißt, daß ich dir zur Verfügung stehe. Ich würde mich freuen, wenn ich dir auf irgendeine Weise helfen kann.“ Ich nahm an, er brauchte mich, um als Conferencier bei einer Veranstaltung einzuspringen. „George, ich möchte dich bitten, mich beim Verwaltungsrat des RTD zu repräsentieren“, sagte er. Ich glaubte, nicht richtig zu hören. Der RTD war die Regierangsvertretung, die sich mit dem öffentlichen Transport im südlichen Kalifornien beschäftigte. Sie leitete den komplexen Busverkehr für den gesamten Stadtbereich. Während seiner Bürgermeisterkandidatur war Tom nachdrücklich dafür eingetreten, die Notwendigkeit für einen verbesserten öffentlichen Transport und den Bau einer U-Bahn für Los Angeles als eine der höchsten Prioritäten zu betrachten. All dies fiel in die Zuständigkeit des RTD, der mit vollem Namen Southern California Rapid Transit District hieß. Was könnte er nur damit gemeint haben, als er mich bat, ihn zu repräsentieren? Ich war Schauspieler. Ich mußte mich verhört haben. „Soll ich dich bei irgendeinem Dinner des RTD repräsentieren?“ fragte ich. „George, ich bitte dich, mein Ernannter für einen Platz im Verwaltungsrat des RTD zu sein“, erklärte er, während er leise über meine Verwirrung lachte. Ich hatte richtig gehört.
„Aber Tom, ich bin ein Schauspieler. Ich habe keine Erfahrung…“, begann ich einzuwenden. „Wenn ich mich richtig an deinen Lebenslauf erinnere, George, bist du ein Schauspieler, der Architektur und Städteplanung studiert hat. Und wenn ich dich richtig einschätze, dann bist du ein Aktivist, der gut und schnell lernt. Du hast politisches Verständnis und du kannst dich ausdrücken. Du bist genauso qualifiziert wie die Geschäftsleute, Richter und die anderen Politiker, die in dem Rat sitzen. Und du dürftest mehr Hintergrundwissen besitzen als einige der anderen Anwesenden. Ich werde dir Material zukommen lassen, mit dem du dich beschäftigen kannst. Dann läßt du mich deine Entscheidung wissen.“ Das war ein erstaunliches und völlig unerwartetes Angebot. Und es war verlockend. Ich bezeichne mich selbst als Stadtkind. Ich liebe Städte. Ich liebe es, Städte zu besuchen, um ihre urbanen Annehmlichkeiten kennenzulernen und auch die einzigartigen Qualitäten zu studieren, die jeder einzelnen Stadt ihren individuellen Charakter verleihen. Was machte eine Stadt anziehender als eine andere? Was macht eine Stadt verlockender als eine andere? Ich finde sogar fehlgeschlagene Städte interessant. Das Verständnis für die Gründe eines städtischen Katastrophengebietes ist genauso eine Notwendigkeit, um eine erfolgreiche Stadt zu bauen, wie das Wissen um die manifestierten Annehmlichkeiten großer Städte. Einer der Grundaspekte für die Errichtung einer gesunden Stadt ist ein funktionierender Kreislauf von Menschen und Gütern – es ist die städtische Arterie, die die Energie in den Körper der Stadt trägt. Notwendig für einen gesunden Kreislauf ist ein funktionierendes, bezahlbares öffentliches Transportsystem. Öffentlicher Transport, ob per Bus,
Straßenbahn, U-Bahn oder Fähre, ist lebensnotwendig für eine pulsierende Stadt. Er ermöglicht Mobilität und Zugang zu den verschiedenen Bereichen eines städtischen Gebietes – und eine lebendige Stadt ist unvorstellbar ohne Fußgänger. Bürgermeister Bradley bot mir die Gelegenheit, ein Gestalter in diesem wichtigen Bereich der Städteplanung zu werden. Meine Stadt Los Angeles war trotz unserer Geschichte eines guten Straßenbahnnetzes besser bekannt für den Individualverkehr. Es war eine fesselnde Herausforderung, der ich nicht widerstehen konnte. Ich rief den Bürgermeister an und nahm an. Die Medien machten sich anfangs über Bradleys Entscheidung lustig, einen Schauspieler zu engagieren. Aber er gab ihnen zu verstehen, daß er es ernst meinte, und die scherzhaften Bemerkungen ließen nach. Jetzt mußte ich mich selbst beweisen, die Hausaufgaben warteten bereits auf mich. Der Bürgermeister hatte es in seinem Wahlkampf zu einer der obersten Prioritäten gemacht, ein modernes U-Bahn-System zu bauen. Ich stimmte ihm von ganzem Herzen zu. Es war nicht nur wichtig, Los Angeles zu einem starken Stadtzentrum auszubauen, auch Themen wie Luftverschmutzung und Verkehrsinfarkt sprach er an. Die wirkliche Herausforderung aber bestand darin, den politischen Konsens zu schaffen, eine Steuer zu unterstützen, die die finanzielle Grundlage sein würde. Wir wußten, daß eine weitere Annäherung an den Verkehrsinfarkt sich nachteilig auf die lokale Wirtschaft, auf das Stellenwachstum und die Lebensqualität auswirken würde. Wir kämpften lange und hart, schließlich hatten wir 1980 Erfolg mit der Verabschiedung der „Proposition A“, einer zweckgebundenen Umsatzsteuer von einem halben Cent. Wir hatten die Hälfte des Weges zurückgelegt.
Jetzt mußten wir uns den staatlichen Anteil sichern. Um das zu erreichen, war es zweckmäßig, am Nahverkehr auf nationaler Ebene mitzuwirken. Wir mußten Bündnisse schaffen mit anderen Städten, die ebenfalls Projekte des öffentlichen Nahverkehrs planten, damit wir uns gegenseitig unterstützen konnten. 1980 wurde ein Kalifornier zum Präsidenten gewählt: Ronald Reagan, der frühere Schauspieler; der frühere Präsident meiner Gewerkschaft, der Schauspielergewerkschaft; der frühere Gouverneur unseres Staates. Er war auf dem Weg ins Weiße Haus. Wir waren voller Optimismus, daß wir nun einen aus unseren eigenen Reihen hatten, der in Washington saß und das Projekt vorantreiben würde. Ich besuchte sogar die Verabschiedungsparty im Biltmore, bezahlt von der Handelskammer von Los Angeles, voller Hoffnung, der gewählte Präsident werde unser U-Bahn-Projekt unterstützen. Doch wir sollten schwer enttäuscht werden. Unter Reagan wollte die Regierung den staatlichen Anteil an unserem Projekt nach unten drücken. Erst nach strapaziösen Verhandlung konnten wir 1983 verkünden, daß die finanzielle Seite des Metro-Rail-System für Los Angeles gesichert war. Es war ein fast übermenschliche Anstrengung, die die Mitwirkung von Hunderten von Menschen erforderte. Bei diesem Prozeß erkannte ich die Bedeutung der Führungsrolle in einem Projekt von dieser Größenordnung. Die Metro Rail hätte ohne den Weitblick, die politischen Fertigkeiten und das Drängen von Bürgermeister Tom Bradley und des Abgeordneten Glenn Anderson nie das Licht der Welt erblickt. Sie waren das dynamische politische Duo hinter diesem Projekt. Es war eine riesige Aufgabe, die erfolgreich abgeschlossen wurde.
Aber noch war kein Spatenstich getan worden an diesem größten öffentlichen Projekt im südlichen Kalifornien. Das System selbst zu errichten, war die nächste Herausforderung. Während der Zeit im Verwaltungsrat, hatte ich mich entschlossen, meine Bindung an den Rapid Transit District zu einem hohen Ziel zu machen, wodurch ich viele Gastauftritte im Fernsehen verpaßte – nur einen nicht. 1974 nahm ich mir die Zeit von meinen Pflichten für ein Angebot, das ich mir nicht entgehen lassen konnte. Es war ein Theaterstück mit dem Titel „Year of the Dragon“, geschrieben von einem außergewöhnlichen Talent: Frank Chin. Ich hatte das Stück Monate zuvor gesehen, als ich mich auf einer Konferenz in New York aufgehalten hatte. Nach einem anstrengenden Tag hatte ich in der Zeitung im Veranstaltungskalender ein Stück gefunden, das einen interessanten, asiatisch klingenden Titel hatte und von der angesehenen Theatergesellschaft American Place Theater aufgeführt wurde. Ich sah mir „Year of the Dragon“ an, und an dem Abend sprach mich zum ersten Mal in meinen Jahren als hartnäckiger Theaterbesucher ein Schauspiel als asiatischer Amerikaner an. Es war die Geschichte eines chinesischen Amerikaners, Fred Eng, der in Chinatown in San Francisco lebte. Er war im mittleren Alter, alleinstehend, lebte immer noch im Haus seines Vaters und arbeitete als Touristenführer im Geschäft seines Vaters. Von den Kräften seiner Kultur geformt, durch die Werte der amerikanischen Gesellschaft in Konflikt geraten, und mit dem Gefühl, daß er sein Leben geopfert hatte für die Anforderungen der Familie, war Fred ein wütender Mann am Rande des Zusammenbruchs. Die Rolle des Fred wurde brillant von dem Schauspieler Randall Kim gespielt.
Ich ging nach der Vorstellung hinter die Bühne und wurde Frank Chin vorgestellt. Wir gingen zusammen etwas trinken. Bei dieser nach-theaterlichen Begegnung lernte ich einen Künstler kennen, voller Ideen, ein Mann mit explosiven Gefühlen und einer glühenden Persönlichkeit. Als ich ins Hotel zurückkehrte, fühlte ich mich erfrischt, nicht nur durch eines der kraftvollsten und gleichzeitig persönlichsten Dramen, das ich je gesehen hatte, sondern auch durch meine Begegnung mit Frank Chin, einem unglaublich begabten Dramatiker, der die Erfahrung, ein Asiate in Amerika zu sein, so umfassend verstand. Als dann das Angebot kam, den Fred Eng in einer TVVerfilmung für das Theater in America zu spielen, mußte ich nicht lange überlegen. Ich vereinbarte mit dem Rapid Transit District, sechs Wochen lang beurlaubt zu werden. Die Zeit, die ich in New York mit den Proben und den Dreharbeiten von „Year of the Dragon“ zusammen mit Pat Suzuki, Tina Chen, Conrad Yama und Lilah Kan verbrachte, waren eine Erfüllung. Zum ersten Mal in meinem Berufsleben hatte ich mich in ein fleischiges Stück verbeißen können, doch das diente nur dem Zweck, mich an die mageren Zeiten meiner Schauspielerkarriere zu erinnern. Den Unterschied bewirkten die Autoren – die Köche, die ein solch reichhaltiges Mahl zubereiten können, solch gute Nahrung für die Seele. Als wir die Arbeit beendeten, war ich nicht befriedigt, sondern hungrig nach mehr. Ich war überzeugt, daß wir gute Autoren ermutigen mußten, die die besonderen Erfahrungen der Asiaten in Amerika verstanden. Ich kehrte nach Los Angeles zurück und fühlte mich als Schauspieler zu neuem Leben erweckt, und ich war bereit, meine Arbeit fortzusetzen, andere Menschen zu bewegen,
diesmal aber nicht emotional, sondern von einem Platz zum anderen. Das Projekt Metro Rail war noch lange nicht am Ziel.
21 Unternehmungsgeist „Hey, George, willst du ein wenig Geld verdienen?“ Es war Jimmy Doohan, der mir am Telefon ein Geschäft vorschlug. „Im L.A. Hilton findet ein Seminar statt. Wir treffen uns da, dann werde ich dir etwas Fantastisches erzählen. Du wirst mir für den Rest deines Lebens dankbar sein.“ Nach dieser begeisterten, aber doch rätselhaften Einladung legte er auf. Ich besuchte das Seminar und stellte fest, daß es eine Verkaufsveranstaltung für Frauenkosmetika nach dem Pyramidenprinzip war, das so funktionierte: Jimmy kaufte von seinem Lieferanten einen Vorrat an Kosmetika, dann mußte er damit andere Leute beliefern, die ihrerseits wieder Abnehmer finden mußten usw. usw. Wenn jeder neue Kunden finden konnte, um sie zu beliefern, dann würde die Person an der Spitze der Pyramide „unglaublich reich“ werden, wie Jimmy es formulierte. Der Trick bestand darin, die Pyramide unter uns entstehen zu lassen. Ich sollte der erste unter ihm sein. Jimmy war vorbehaltlos optimistisch. Kalifornische Frauen seien schönheitsbewußt, begeisterte er sich. Wir führen die Trends an, denen der Rest des Landes folgt. Diese Kosmetika sollten die nächste große Sache in einer landesweiten Hysterie sein. Sie waren vollständig organisch, hergestellt aus Obst und Gemüse. Wir betraten soeben das Erdgeschoß eines neuen Imperiums aus organischen Schönheitsprodukten. Ich biß an. Ich „investierte“ einige hundert Dollar in Jimmys Kosmetikabestand.
Aber ich stellte fest, daß es schwierig war, Leute zu finden, die den gleichen Unternehmergeist hatten wie wir. Sie waren mit anderen Dingen beschäftigt, sie hatten keine Zeit oder kein Geld, oder sie waren nicht interessiert. Etwa ein Jahr später begann ich, meinen Vorrat an Kosmetika an Josie, an meine Mutter und meine Schwester zu verschenken, anstatt sie an andere zu verkaufen und meine Gewinne zu zählen. Ich fragte mich, was Jimmy wohl mit ihnen gemacht hatte. Aber ich brachte es nicht übers Herz, ihn zu fragen. Das Raumschiff, das uns durch die Galaxien geflogen hatte, hieß Enterprise. Der Name suggerierte Wagemut, die Bereitschaft, sich dem Ungewissen zu stellen, die Initiative zu ergreifen. Das Wort bedeutet zugleich eine Unternehmung mit dem Ziel, Gewinn zu machen; eine ernsthafte Anstrengung, Geld zu verdienen; ein reines Geschäftsunternehmen. „Star Trek“ brachte tatsächlich ein ganzes Universum unternehmerisch wagemutiger Geister hervor. Zum ersten Mal bekam ich diese Ahnung ein Jahr, nachdem die Serie aus dem Programm genommen wurde. Das Telefon klingelte. Eine junge Frau lud mich ein, in ein Hotel in der Stadt zu kommen, wo sich „Star Trek“-Fans trafen. Ob ich mich mit ihnen bei einer Tasse Tee über „Star Trek“ unterhalten wollte? Wie nett, dachte ich. Die Serie war tot und ruhte in Frieden, aber diese netten Leute trafen sich noch immer, um Erinnerungen auszutauschen. Ich sagte zu. Es war wirklich ein kleines Treffen – höchstens drei Dutzend Leute, überwiegend Frauen –, sie wollten mit mir über „Star Trek“ reden und mir einige Fragen über die Arbeit an der Serie stellen. Sie boten auch eine Sammlung kopierter, selbstverfaßter Essays, Gedichte und Kurzgeschichten zum
Kauf an. Ich fand sie recht kostspielig, aber sie verkauften sich gut. Die Gewinnspanne mußte bemerkenswert sein, und ich bin sicher, daß sie an dem Nachmittag gut verdienten. Das war mein erster Kontakt mit der großen Flotte der FanUnternehmer. Aber es war nur eine leichte Aufwärmübung für das, was kommen sollte. „Star Trek“-Conventions waren die Grundlage für diese mutigen Unternehmer. Ein wesentlicher Bestandteil jeder „Star Trek“-Convention war der Händlerraum, üblicherweise ein großer Saal des Hotels, in dem von T-Shirts bis hin zu blinkenden Tricordern alles zum Kauf angeboten wurde. Mein Neffe Scotty entdeckte auf einer Convention, zu der ich ihn mitgenommen hatte, einen Phaser. „Onkel George, den möchte ich haben“, verkündete er. Es war eine gelungene Nachbildung eines Phasers. Er wirkte in jeder Hinsicht realistischer als die bemalten Holzrequisiten, die wir bei den Dreharbeiten benutzt hatten. Er sollte unglaubliche 500 Dollar kosten! Aber Scotty wollte ihn haben. Und Onkel George, für gewöhnlich ein dickköpfiger Sonderangebotseinkäufer, wurde weich. Scotty war der erste und einzige Junge in der Nachbarschaft, der einen Phaser hatte. Auf diese Weise kam die Unternehmerflotte in Bewegung. Es sollte nicht lange dauern, bis diese Flotte Warpgeschwindigkeit erreicht hatte. Im Fahrwasser der Unternehmerschar gab es aber mehr als ein Opfer dieser explosionsartigen Entwicklung. Mehr durch Fanfieber als durch den Verstand angetrieben, vergaßen manche die erste Regel des Unternehmertums, die besagt, daß man erst in See stechen sollte, wenn man den Markt beobachtet hat. Manche Fans versuchten, Conventions zu veranstalten, und gaben ihre gesamten Ersparnisse dafür aus oder belasteten ihr Haus mit Hypotheken. Las Vegas hätte vielleicht bessere Gewinnchancen bieten können. Es gibt
einige wirklich tragische Geschichten, aber die Erfolgsgeschichten sind so bemerkenswert wie das Phänomen „Star Trek“ selbst. Die beiden im Teenageralter befindlichen Fans Adam Malin und Gary Berman in New York bewiesen Geschäftssinn. Adam als Promoter und Gary als Finanzgenie kombinierten ihr Talent und begannen, Conventions zu veranstalten. Zuerst im Gebiet von New York, dann in anderen Großstädten. Es dauerte nicht lange, da veranstalteten sie an jedem Wochenende irgendwo im Land eine Convention. Ihre Gesellschaft, Crea-tion Convention, bauten sie zu einem gigantischen Unternehmen auf, das heutzutage lizensierte „Star Trek“-Produkte und andere Merchandisingartikel umfaßt. Sie schufen auch einen einträglichen Nebenverdienst für die „Star Trek“-Schauspieler als Redner auf den Conventions und ermöglichten es mir im Gegenzug, Städte zu besuchen, die ich sonst wahrscheinlich niemals gesehen hätte. So wie die meisten Unternehmer wurde auch Adam und Gary vorgeworfen, sie würden ihre inzwischen durchtrainierten finanziellen Muskeln auf unfaire Weise spielen lassen, um ihre Vorherrschaft auf dem Händlersektor zu bewahren. Aber ehrgeizige Menschen, die Risiken eingehen, drängen permanent ins Rampenlicht, um den Wettbewerb am Leben zu halten. Und das Convention-Phänomen erfaßt noch immer das ganze Land. Der Mann, der diese ganzen Aktivitäten ausgelöst hatte – Gene Roddenberry –, war selbst ein Mensch, der die geschäftliche Seite im Namen des Raumschiffs, das er erfunden hatte, nicht übersah. Er nannte das Unternehmen, das er gemeinsam mit seiner Frau Majel betrieb, Lincoln Enterprises und baute es anfangs mit der Hilfe von Bjo und John Trimble zu einem maßgeblichen Lieferanten von „Star Trek“-Memorabilia auf.
Unternehmertum ist der Motor der Zivilisation. Es schafft etwas aus dem Nichts. Eine Idee, die in Taten umgesetzt wird, kann Produkte, Arbeitsplätze und ganze Industriezweige hervorbringen. Sie kann mit einer gesellschaftlichen Vision verbunden werden und so die Welt verändern. Aber Unternehmertum kann ohne zwei lebenswichtige Elemente nicht wachsen und gedeihen. Sie kann ohne Freiheit nicht überleben – die Freiheit, ursprüngliche Gedanken zu denken, zu experimentieren, zu erneuern, Risiken auf sich zu nehmen, etwas zu machen, was nie zuvor gedacht oder getan worden ist. Freiheit ist der Hauch des Lebens für das Unternehmertum. Aber Freiheit selbst kann ohne ein Element nicht aufblühen: Moral. Freiheit ohne eine allgemeine Anerkennung moralischer Werte ist Chaos. Unvermeidlich wird es die Kontrolle nach sich ziehen, die diese Energie hemmt. Um das freie Unternehmertum zu schützen und zu stärken, sind solide moralische Rahmenbedingungen unabdingbar. Gene demonstrierte beides. Er veränderte die Menschen mit seinen Ideen, mit einem optimistischen Bild der Zukunft, das Vertrauen in unsere Gegenwart weckte. Ich hatte meine eigenen Unternehmungen verfolgt, lange bevor „Star Trek“ in mein Leben trat. Von den Friedhofsparzellen, in die mein Vater meine Gage für „Titanen“ zuerst investiert hatte, war ich übergegangen zu kleinen Wohnhäusern und dann zu einer Anzahl großer Wohnkomplexe. Ich baute meine kleinen Flächen für die Toten in einen wachsenden Grundbesitz für die Lebenden aus. Ich war schon vor „Star Trek“ unternehmerisch tätig gewesen, aber es waren die Einnahmen aus dieser Serie, die mich mit den finanziellen Möglichkeiten versahen, durch die ich wirklich kühn sein konnte. Mein „Star Trek“-Geld
ermöglichte es mir, auf den Aktienmarkt zu wechseln. Es verlieh mir sogar manchmal den Wagemut, mit dem Herzen zu investieren anstatt mit dem Kopf. Es heißt, daß Leute aus dem Showbusiness dort nicht investieren sollten. Ich verstieß gegen diese Regel, mehr aus Freundschaft als aus purem Geschäftssinn – und bezahlte meine Strafe. Michelles damaliger Ehemann überredete mich, in seine kleine Theaterproduktion zu investieren. Duke war ein netter und ehrgeiziger Mann voller Ideen, Energie und Enthusiasmus. Es handelte sich um eine Musical-Komödie und machte den Eindruck einer guten Sache. Leider erblickte die Produktion niemals das Licht der Welt. Einige der Reisen, auf die meine Investitionen mich mitgenommen haben, waren so atemberaubend wie der Flug mit der Enterprise in einer beliebigen Episode. Die meisten verliefen gut, einige nicht. Andere begleiten mich immer noch. Ich habe einige Dinge gelernt – vor allem: keine Kosmetika und keine kleinen Theaterproduktionen –, und ich habe ein paar Fehler wiederholt. Aber stets habe ich versucht, mich an moralischen Werten zu orientieren. Die Reise war aufregend, hat Spaß gemacht und war insgesamt erfolgreich. So weit, so gut. Es war noch dunkel, als ich aufstand. Der Sonnenaufgang war noch Stunden entfernt, aber ich konnte nicht schlafen. Ich hatte eine lange Fahrt vor mir in die Wüste von Palmdale zur Einrichtung der Raumfahrtabteilung der Rockwell International Corporation. Wir hatten eine Verabredung mit der Geschichte. Es war der 17. September 1976, Gene Roddenberry und die Besetzung von „Star Trek“ waren Gäste bei der Präsentation des ersten Space Shuttles.
Ich erreichte Rockwell International, um ein Menschengewühl vorzufinden. Ein Mitarbeiter der National Air and Space Administration begrüßte mich und geleitete mich durch die begeisterte Menge, hinter einen Sicherheitszaun zu einem kleinen Bungalow, aus dem mir das einladende Aroma von Doughnuts und heißem Kaffee entgegenschlug. Gene war bereits da. Er lächelte, hielt einen Becher kochendheißen Kaffee in der Hand, redete mit den NASA-Leuten. Dann stolperte De herein, er sah zerzaust aus und entsetzt von dem Spießrutenlaufen vor dem Sicherheitszaun. Nichelle kam ebenfalls herein, ihren breitkrempigen Hut schief auf dem Kopf, dennoch lächelte und winkte sie den Leuten draußen noch immer zu. Walter kam herein und beklagte sich: „Der Verkehr ist unglaublich! Und dann dieses Gedränge hier!“ Die Doughnuts gingen rasch weg, also nahm ich einen für Jimmy heraus. Er würde hungrig sein, wenn er ankam. Genes Kaffee dampfte nicht länger, aber sein Becher war immer noch voll. Die NASA-Leute ließen ihn die ganze Zeit nur reden, aber nicht an seinem Kaffee nippen. Wo waren Jimmy, Bill und Leonard? Die Feier würde jeden Moment beginnen. Hastig wurde telefoniert, wir erfuhren, daß Leonard bereits angekommen, aber in einen anderen Bungalow gebracht worden war. Kein Wort von Jimmy oder Bill. Wir mußten gehen, es war soweit. Ich legte Jimmys Doughnut zurück und ging mit den anderen nach draußen, begleitet von den NASA-Platzanweisern. Auf der weitläufigen Rollbahn war ein See aus Klappstühlen aufgestellt worden, der bis zum Horizont zu reichen schien. Sie waren alle auf eine Behelfsbühne mit einem Podium und einer Stuhlreihe für die Redner gerichtet. Die Kontrolle und der Anstand auf dieser Seite des Sicherheitszauns bildeten einen krassen Gegensatz zu dem Tollhaus dahinter. Wir wurden zu
einer Sitzreihe geführt, die für die „Star Trek“-Leute vorgesehen war. Die Redner begannen, sich auf der Bühne zu versammeln. Der prominenteste in der Gruppe war der Eröffnungsredner, Senator Barry Goldwater. Dann wurde Jimmy zu uns gebracht, mit rotem Gesicht und außer Atem. Er stolperte über unsere Knie zu seinem Platz und murmelte etwas von schrecklichem Verkehr. Nun gab es in unserer Reihe nur noch einen freien Platz. Wo war Bill? Leute aus allen sozialen Schichten hatten sich hier auf einer Rollbahn in der Wüste von Palmdale eingefunden: Politiker, Schauspieler, Ingenieure, Lehrer und Weltraumspezialisten, die alle die gleiche Vision unserer Zukunft teilten. Leute mit Überzeugungen, Kenntnissen und Träumen, die ein breites Spektrum abdeckten, waren zusammengekommen durch ein gemeinsames Verständnis der Bedeutung dieses Morgens. Eine neue Ära zeichnete sich ab. Der Eröffnungsredner wurde vorgestellt. Senator Goldwater, der unverblümt redende, ehemalige Präsidentschaftskandidat aus Arizona und Wortführer des Raumfahrtprogramms im Kongreß, war ein Politiker, gegen den ich bei der letzten Präsidentschaftswahl gekämpft hatte, so wie Leonard auch. Und doch befanden wir uns bei einigen grundlegenden Prinzipien auf der gleichen Seite. Er war ein Mann, der für die Ideale der Freiheit und den Respekt vor den Rechten anderer eintrat. Auch ich hielt diese Werte hoch. Wir glaubten beide an freies Unternehmertum. Wir teilten die gleiche Vision, daß das Weltall die große Herausforderung unserer Zeit war. Barry Goldwater und die Leute, die sich auf der Rollbahn versammelt hatten, repräsentierten die Bandbreite und Vielschichtigkeit der Unterstützung, die dieses Projekt benötigte: Politiker, Techniker, Unternehmer und Künstler mußten zusammenarbeiten; gemeinsam verkörperten wir die
Einheit, die für den Erfolg lebensnotwendig war. Senator Goldwater war zweifellos ein passender Redner. Er sprach von dem historischen Augenblick, den dieser Anlaß darstellte. An diesem Morgen war die Menschheit im Begriff, ins All vorzustoßen. Mit dem Raumfahrzeug, das uns vorgestellt werden würde, waren wir im Begriff, eine Transportverbindung zu dem Abenteuer „da draußen“ zu schaffen. Wir hatten viel in die Frage investiert: „Was werden wir da draußen finden?“ Eine noch wichtigere Frage war: „Können wir dieses Unternehmen zu einem Nutzen führen?“ Wir hatten den Geist und den Willen, die Antworten zu suchen. Wir waren bereit, die Herausforderung der Innovationen, Erfindungen und Schöpfungen anzunehmen, die vor uns lagen. Unsere große Unternehmung begann soeben. Goldwaters Stimme wurde kraftvoll durch die klare Morgenluft getragen. Dann begann die Air Force Band zu spielen, die an dem Podium gewartet hatte. Wir erkannten sofort die Melodie. Es war Alexander Coura-ges „Star Trek“-Thema. Während die Melodie diesen wunderbaren Septembermorgen erfüllte, kam aus dem riesigen Hangar ein gigantisches, glitzerndweißes Etwas: das allererste von der NASA gebaute Space Shuttle. Auf dem Rumpf war der Name zu lesen – Enterprise. Es war ein zutiefst bewegender Augenblick. Heerscharen von Fans waren zur Tat geschritten. Sie hatten sich dafür eingesetzt, dieses historische Raumfahrzeug nach dem Raumschiff aus ihrer Lieblingsserie zu benennen. Aber der Name verkörperte auch den Geist der Initiative, mutig vorzustoßen, das Unbekannte herauszufordern und einen Nutzen daraus zu ziehen. Die Initiative der Fans war einfallsreich gewesen. Und deswegen hatten wir Fernsehschauspieler das Privileg erhalten, Teil dieses Ereignisses in der Menschheitsgeschichte zu sein. Ich empfand
den Menschen gegenüber, die das für uns möglich gemacht hatten, tiefe Dankbarkeit.
STAR TREK LEBT
22 Der erste Film Während der „Star Trek“-Zeit im Fernsehen machten wir seltsame und wunderbare Erfahrungen dank der Phantasie begabter Autoren. Aber keiner von ihnen – ganz gleich wie einfallsreich – hätte sich die phantastische Realität ausmalen können, die uns fast ein Jahrzehnt später einholen sollte. Seit dem unerwarteten Zuschauererfolg der Serie als Wiederholung tauchten immer wieder Gerüchte über eine Wiederbelebung von „Star Trek“ auf. Walter Koenig rief mich regelmäßig an und berichtete von der neuesten Version, die die Runde machte. „Rat mal. Wir kommen als wöchentliche Serie ins Fernsehen zurück.“ Das kam völlig unerwartet. Meine Laune stieg. Dann ein weiterer Anruf von Walter. „Das Serienprojekt ist aus dem Rennen.“ Meine Laune sank. Wieder Walter: „Wir werden statt dessen eine monatliche Reihe mit Zweistundenfilmen machen.“ Das war noch besser. Die Hoffnung lebte wieder auf. „Vergiß es. Es wird nichts.“ Und wieder abwärts. „Großartige Neuigkeiten! Wir werden das Flaggschiff für ein viertes Fernsehnetwork, das Paramount starten will.“ Das war unglaublich! „Schlechte Nachrichten. Es sieht so aus, daß Leonard nicht mitmachen wird.“ Das war ernüchternd.
„Es ist entschieden! Paramount hat einen neuen Schauspieler als Vulkanier unter Vertrag genommen, David Gautreaux. Leonard ist raus!“ Walters sonst so enthusiastische Stimme klang am Boden zerstört. „Die ganze Sache ist gestorben! Paramount hat die Idee des vierten Networks aufgegeben.“ Walter hielt mich auf dem laufenden über jede Einzelheit der Drehungen und Wendungen des zukünftigen Kurses von „Star Trek“. Ich war so gut informiert, daß ich nach einigen Jahren immun geworden war gegen die Begeisterung, die jede neue Information in mir hatte aufsteigen lassen. Tatsächlich war es so, daß ich regelrecht verärgert war über Störungen, die diese Gerüchte für die Ordnung bedeuteten, die ich in meinem Leben zu wahren versuchte. Eine Fernsehserie würde ein Chaos für meine RTD-Termine bedeuten. Und ich würde erneut mit einer schwierigen Karriereentscheidung konfrontiert werden. Als dann mein Agent Fred eines Morgens im Jahr 1978 anrief und mich davon in Kenntnis setzte, daß Paramount die Verhandlungen für einen „Star Trek“-Kinofilm aufnehmen wolle, war das so erschütternd wie die Mitteilung eines RTDMitarbeiters, ein Klingone warte in einer Schlange geduldig darauf, in einen RTD-Bus einzusteigen. Es erschien mir unwirklich. Ich hatte die Gedanken an eine erneute Begegnung mit diesen Wesen längst verworfen, ausgenommen als Phantasieprodukte, die nur in den von Walter berichteten Gerüchten auftauchten. „Das wird eine große Produktion werden“, teilte mir Fred mit. „Es ist eines der größten Budgets in der ParamountPlanung, der Film hat einen der besten Regisseure in der ganzen Stadt bekommen, Robert Wise.“ Das war erstaunlich! Robert Wise war nicht nur der Regisseur solcher Erfolge wie „West Side Story“, „Meine Lieder, meine Träume“ und „Kanonenboot am Yangtse-
Kiang“, er war auch am Schnitt von Orson Welles’ Klassiker „Citizen Kane“ beteiligt. Was für eine außergewöhnliche Gelegenheit, mit einem legendären Regisseur zusammenarbeiten zu können und mit Freunden zusammenzusein, mit denen man eine schöne Vergangenheit verbracht hatte. Und das alles in einem einzigen Projekt – in „Star Trek“! Es war wie ein Traum, der Realität wurde. Selbst die Gerüchte waren nicht so fantastisch gewesen. Nach neun langen Jahren voller Hoffnungen und Enttäuschungen, Klatsch, Absagen und falschen Erwartungen kehrte „Star Trek“ zurück. Nicht als Fernsehserie, sondern als teurer Kinofilm, der unter einem überlebensgroßen Regisseur entstehen würde! „Fred, ich werde mit dem RTD jede nur mögliche Vereinbarung treffen, um diesen Film zu drehen“, sagte ich entschieden. „Und du machst alles, was in deiner Zuständigkeit liegt.“ Es war wunderbar, wieder in den Paramount Studios auf der Brücke der Enterprise zu stehen. Aber gab es auffallende Unterschiede. Das Bühnenbild hatte die gleiche kreisförmige Anordnung wie zuvor, aber alles war schlanker, stromlinienförmiger, und strahlte in einem metallischen Glanz. Und es war viel, viel größer. Unsere Uniformen wurden komplett geändert. Bob Foster hatte Einteiler entworfen, die so stromlinienförmig waren wie die Umgebung. Sogar die Schuhe waren mit dieser Uniform verbunden. Die hatte ein italienischer Schuhmacher nach Maß angefertigt und zu einem Teil der Uniform gemacht. Es sah nicht nur teuer aus, es war auch teuer. Alles bei dieser Produktion war größer und teurer. Der Zeitplan war überraschend großzügig. Wir hatten uns mit dem halsbrecherischen Tempo der Fernsehserie abgeplagt, versucht, an jedem Tag so viele Szenen wie möglich zu filmen. Jetzt waren wir entgeistert, als wir sahen, daß eine ganze Woche
darauf verwendet wurde, nur um ein paar vereinzelte Szenen zu drehen. Das war praktisch der gleiche Zeitraum, den wir benötigt hatten, um die Arbeiten an einer ganzen Fernsehepisode abzuschließen. Was sich nicht geändert hatte, waren meine Freunde. Walter war nicht erfolgreich bei seinen Versuchen, seine Freude zu verbergen, als er sagte, daß die neue Hochglanzkonsole für seine neue Position als Waffenoffizier an den Rand der Brücke gedrängt worden war. Ich sah aber den Schauer der Begeisterung, als er feststellte, daß die Schalter an seiner Station wirklich funktionierten. Jimmy war unerschrocken gutgelaunt. „Ich wußte es. Ich wußte es vom ersten Tag an“, prahlte er. „‘Star Trek’ hatte etwas Magisches! Das ist es! Ich wußte, daß wir zurückkehren würden. Habe ich es dir nicht gesagt, George?“ Ich täuschte Zustimmung vor. Aber ich erinnerte mich, daß er mir zugestimmt hatte, als ich bei den Dreharbeiten zum Pilotfilm voraussagte: „Ich rieche Qualitätsarbeit bei dieser Serie. Und Qualität überlebt im Fernsehen nicht lange. Ich gebe dieser Serie höchsten zwei Jahre.“ Jimmy hatte diese Ansicht mit mir geteilt. Aber meine Voraussage hatte sich als falsch erwiesen. Jimmys veränderte Erinnerung was fröhlicher, verheißungsvoller, und ich teilte diese Fröhlichkeit mit ihm. Ich war insgeheim mit seiner Neuschreibung der Geschichte einverstanden. Nichelle war völlig aus dem Häuschen. Sie küßte und umarmte jeden. Selbst die Crewmitglieder, die völlig neu waren, wurden von ihr umarmt und mit den Worten begrüßt: „Es ist herrlich, wieder mit euch zusammenzuarbeiten!“ Es machte ihnen nichts aus. Und als Nichelle sie zum dritten Mal geknutscht hatte, glaubten sie wohl selbst daran, daß sie mit ihr schon früher zusammengearbeitet hatten.
Es war schön, De wiederzusehen. Von allen Kollegen war er derjenige, den ich seit der Absetzung der Serie am seltensten gesehen hatte. Wir hatten uns auf ein paar Conventions getroffen, aber das war auch schon alles gewesen. Wir müssen uns wieder besser kennenlernen, dachte ich. Ich beobachtete ihn, während er so dasaß, ruhig seine Zigarette rauchte, so wie früher ganz der entspannte und selbstsichere Profi, der darauf wartet, vor die Kamera gerufen zu werden. Sonderbarerweise schien Leonard derjenige zu sein, der am stärksten gealtert war. Seine Haut sah verwitterter aus als zuvor, seine Falten wirkten tiefer. Vulkanier sollten eigentlich langsamer altern, erinnerte ich mich. Aber auf der anderen Seite lebten sie auch länger, und Spocks Alter wurde nie genannt. So war es vielleicht Spock, der viel älter als jeder andere von uns war, was nun sichtbar wurde. Was sich aber nicht verändert hatte, war seine Profitum. Leonard war noch immer der konzentrierte, auf Details achtende Perfektionist. Er war intensiv mit seiner neuen Arbeitsstation beschäftigt. Und Bill stand im Mittelpunkt – so wie früher. Er machte Witze, lachte, kicherte und genoß die Freude, ein Projekt zu beginnen, das sich keiner von uns hätte träumen lassen. Wie Nichelle immer wieder sagte: Es war wunderbar, wieder beisammen zu sein. Es war großartig, wieder auf der kreisförmigen Brücke zu stehen, zusammen mit guten Kollegen, umgeben vom Lärm und Wirrwarr der Helfer und Techniker, während diese die erste Aufnahme des ersten Drehtags von „Star Trek: Der Film“ vorbereiteten. Bob Wise saß am Rande des Sets auf seinem hohen Regiestuhl, mit seinen weißen Haaren und seinen scharfblickenden Augen, die von einer Brille verdeckt wurden. Er sah aus wie eine alte Eule, die ihr Territorium überblickt, jedes Detail aufnimmt. Wir waren alle restlos fröhlich.
Es gab viele auffallende Veränderungen. Farbe – oder ihr Fehlen – gehörte dazu. Unsere neue Umgebung hatte eine monochromatische Färbung angenommen, die Schatten waren gedämpft. Während wir tiefes Schwarz und leuchtendes Orange als Farben für die Brücke gehabt hatten, schimmerte nun alles in einem gedämpften metallischen Glanz. Während unsere Uniformen von blaßgrün über blau bis hin zu sattem rot gereicht hatten, trugen wir nun weichere Farbtöne: beige, grau und creme-weiß. Aber alle diese Einschränkungen konnten nicht die Anwesenheit einer beeindruckenden neuen Schauspielerin unterdrücken, die zu uns auf die Enterprise gestoßen war – Persis Khambatta. Die ehemalige Miss India war nach London gezogen, wo sie in der Modebranche ein erfolgreiches Model wurde, jetzt debütierte sie in Hollywood als Navigatorin Ilia. Sie war unglaublich hübsch. Sie besaß den feinen Knochenbau eines Topmodels, Haut wie Alabaster und die Eleganz einer Ballettänzerin. Was ihre Schönheit aber so überweltlich – so äußerst exotisch – machte, war ihr Kopf. Er war so perfekt geformt wie ihre Wangenknochen, und er war völlig kahl. Unsere Vorstellung von Schönheit ist so klischeebeladen. Die Bestandteile und ihr Verhältnis, die in unsere üblichen Vorstellungen von Schönheit eingehen, basieren mehr auf Tradition als auf echter Erfahrung. Als ich Persis zum ersten Mal sah, war ich irritiert von ihrer Kahlheit. Das war alles, was ich zunächst sah – eine glatzköpfige Frau. Als der Schock nachließ, erkannte ich ihre Schönheit. Schließlich konnte ich sie als Ganzes betrachten – ihre Kahlheit als einen Teil ihrer Lieblichkeit. Sie hatte einen phantastisch geformten Kopf. Irgendwie trug ihr kahler Kopf dazu bei, ihre Schönheit noch perfekter zu machen. Ich erkannte, daß Gene auf seine kunstvoll gerissene Art abermals überkommene Vorstellungen herausforderte: das
Haar als die „krönende Schönheit“. Schönheit kann in unendlich vielen Formen und unter unvorhersehbaren Umständen daherkommen, wenn man für Entdeckungen offen ist. Ich schrieb es Genes Credo der unendlichen Vielfältigkeit in unendlichen Kombinationen zu. Und der gerissene Hund stellte das mit einer bezaubernden fremdländischen Frau unter Beweis. Ilias Kopf zog zahlreiche verstohlene Scherze im Studio über Hauptdarsteller nach sich, die nicht so auftraten, wie Persis es tat. Persis war voller Eifer, ihre indische Abstammung mit uns zu teilen. Sie lud Michelle, Walter, Jimmy und mich zu köstlichem indischen Kuchen und Tee nach der Arbeit in ihr Appartement in der Nähe des Studios ein. Sie gab ein üppiges Tandoori-Dinner für uns in einem indischen Restaurant in West Los Angeles. Im Studio versuchte sie, mir einige wichtige Sätze in ihrer Sprache, Parsi, beizubringen. Da aber Persis der einzige Mensch war, der Parsi sprach, konnte ich nicht einen der Sätze behalten, die sie mir so geduldig vorsagte. Es gab so viele Dinge, die an der Rückkehr zu „Star Trek“ anders und wunderbar waren. Manche Dinge hatten sich aber nicht verändert. Mit jedem Tag, der verging, kehrten blitzartig mehr und mehr Erinnerungen an die Spannungen aus jener Zeit zurück. Es war so, als käme man nach einem Jahr auf dem College nach Hause zurück. Hatte man sich zunächst noch durch eine von Nostalgie verklärte Erwartung auf die Rückkehr gefreut, wurde einem kurz nach der Ankunft bewußt, daß Daddy und Mama ständig meckerten. Wir erinnerten uns nur an die guten Dinge; die Zeit hatte die schlechten Dinge verblassen lassen. Und nun erfüllten sich diese ausgebleichten Erinnerungen mit einem Mal wieder mit Leben. Walter kam mit einer Idee für Chekov in einer Szene. Ich sah, wie sich Bill mit Bob Wise beriet. Es folgte ein heftiger,
geflüsterter Wortwechsel. Kurz danach wurde die Position der Kamera geändert. Walter war nicht mehr in der Szene. Nichelle mußte ihre Nahaufnahmen filmen. Obwohl sie gewissenhaft ihre Off-Texte während der Nahaufnahmen von Bill gesprochen hatte, war der nicht für ihre Szenen verfügbar. Statt dessen spulte der Dreh-buchüberwacher die Sätze leblos ab. Überarbeitungen wurden auf farbigem Papier geliefert, und wir stellten fest, daß unsere Texte gekürzt worden waren – üblicherweise zugunsten von Bill. Vielleicht hatte Bill mit diesen Änderungen nichts zu tun, aber unsere Erfahrung gab uns Grund genug zu einem entsprechenden Verdacht. Bills fast schon eingefleischtes Verhalten störte und wunderte mich. Er war der Star des Films. Warum war er so unsicher, daß einer von uns nur einen kurzen Augenblick erhalten könnte, um zu glänzen? Niemand von uns war für seine Position eine Bedrohung. Ein selbstbewußter Schauspieler würde es genießen, von einem ganzen Ensemble umgeben zu sein, das auf seine Darstellung reagieren konnte. Bill erinnerte mich daran, daß die Rückkehr zu „Star Trek“ auch eine Rückkehr zu altem Ärger bedeutete. Aber noch andere Spannungen strapazierten während der Produktion unsere Nerven. Die Spezialeffekte waren ausladender als alles, was wir im Fernsehen gemacht hatten. Sie waren auch viel komplexer und zeitraubender. Die „Blue Screen“-Szenen erforderten stundenlanges Warten, während die Techniker alles vorbereiteten, damit wir eine einzige einfache Szene spielen konnten, die endlos oft wiederholt wurde. Es war monoton und anstrengend. Wesentlich anstrengender als monoton war die „Wurmloch“Szene. Die Enterprise wurde in eine Art schwarzes Loch gezogen, und mit einem Mal verwandelte sich unser gesamtes Schiff in eine zitternde, vibrierende Umgebung. Die
Beleuchtung flackerte, unsere Körper zitterten. Unsere Stimmen heulten zu den Vibrationen. Von dem Moment an, da Bob Wise „Action“ rief, mußten wir anfangen zu zittern und unseren Dialog abgehackt und stammelnd sprechen. Für die gesamte Sequenz benötigten wir mehr als eine Woche Drehzeit. Tag für Tag begannen wir, uns auf das Kommando „Action“ in einen lebenden Wackelpudding zu verwandeln. Am Ende des Drehtages waren wir nicht mehr als eine Horde durchgeschüttelter, schielender und völlig ausgelaugter Roboter. Selbst als wir diese Szenen längst hinter uns hatten, waren wir so daran gewöhnt, auf Befehl zu zittern, daß wir bei jedem „Action“ wie Pawlowsche Hunde reagierten und den Impuls fühlten, uns sofort zu schütteln. Fast unsichtbar für uns, begannen Leute aus der Chefetage in den dunklen Randbereichen des Sets umherzuschwirren. Die Spezialeffekte nahmen mehr Zeit in Anspruch als geplant. Finster dreinblickende Gesichter flüsterten in Bob Wises Ohr. Wir waren in Schwierigkeiten. Aber Bob bewahrte seine Gelassenheit. Die Anspannung im Studio wurde fühlbar, aber Bob ließ es nicht zu, daß sie sich auf die Dreharbeiten auswirkte. Er hielt für die Besetzung und die Crew eine ruhige, kreative Atmosphäre aufrecht. Als der Film fertig war, feierten wir. Gene, Bob, Bill und Leonard gaben eine Party auf dem Set. Was wir uns ursprünglich niemals hätten vorstellen wollen, war nun wirklich Realität geworden. Und dann war es zu Ende. So wie ein sehnlichst erwarteter Urlaub voller Aktivitäten, der plötzlich vorüber ist. „Star Trek: Der Film“ war abgedreht. Aber die Angst wich nicht. Die komplizierten Spezialeffekte hatte außer den Leuten bei Robert Abel and Associates noch niemand gesehen. Sie waren von Paramount ausgewählt worden, um Wunder zu produzieren. Doch Abel wollte sie nicht zeigen und behauptete, sie seien noch nicht ganz fertig.
Walter wurde wieder zu meinem Informant in dem sich entwickelnden Drama der Nachbearbeitung. Seine regelmäßigen Anrufen hielten mich in Atem. „Robert Abel wird die Sachen endlich zeigen.“ „Sie haben abgesagt!“ „Paramount zwingt Abel, die Effekte zu zeigen.“ „Abel hat die Effekte endlich gezeigt, sie sind eine Katastrophe! Wir können sie nicht gebrauchen.“ „Mein Gott, Paramount hat Robert Abel gefeuert! Unser Film kann nicht gezeigt werden!“ „Rat mal! Doug Trumbull ist geholt worden, um die Lage zu retten. Er fängt ganz von vorne an!“ „Du wirst es nicht glauben! Paramount ist fest entschlossen, die Effekte von Trumbull in neun Monaten zu bekommen! Das ist unmöglich!“ „Sie sind verrückt! Paramount will den Film im Dezember herausbringen!“ Während Walter mich über das Drama bei Paramount auf dem laufenden hielt, kehrte ich zu meiner Arbeit bei der Rapid Transit District zurück. Aber zur gleichen Zeit entwickelte sich für mich ein weiteres Drama, diesmal persönlicher Natur. Mein Vater war schwer erkrankt. Daddy war fast ein Jahr lang krank gewesen. Er war immer wieder mit einem Leiden ins Krankenhaus gekommen, das die Ärzte nicht diagnostizieren konnten. Meine Eltern waren in den letzten Jahre viel gereist. Sie liebten entlegene Ziele und besuchten Rußland, Südafrika, Iran, Afrika, Indien und den Südpazifik. Die Ärzte vermuteten, daß mein Vater sich möglicherweise auf einer dieser Reisen ein seltenes Virus eingefangen hatte. Daddys Zustand verschlechterte sich schlagartig. Er wurde ins Krankenhaus gebracht, wo er sich auf wundersame Weise erholte und nach Hause zurückkehren
konnte. Diese massiven Schwankungen seiner Beschwerden zehrten an ihm. Für uns war es schmerzhaft, wir mußten hilflos danebenstehen und zusehen, wie es ihm zunehmend schlechter ging. Im September fand ein wichtiges Treffen der American Public Transport Association in New York statt. Ich war der Vizepräsident, es gab Sitzungen, die ich leiten sollte. Daddy befand sich wieder mitten im Auf und Ab seiner Krankheit. Aber er wußte von meinem bevorstehenden jährlichen Treffen. „Geh nach New York“, drängte er mich mit seiner schwachen, kaum wahrnehmbaren Stimme. Es war typisch für ihn. Sein ganzes Leben lang stellte er um seiner Kinder willen sein eigenes Leiden hinten an. Selbst wenn er unter seiner Qualifikation arbeiten mußte, tat er das gutgelaunt, unermüdlich und schluckte die bittersten Pillen, damit seine Kinder in der Würde leben konnten, die die Umstände ihm versagt hatten. Ich fragte mich, wieviel Schmerz er überspielte, als er mich drängte, nach New York zu reisen. Aber ich wußte auch, daß sein Wunsch, ich solle das Treffen leiten, größer war als jegliche Beschwerden durch seine Krankheit. Es war das, was er am meisten von mir wollte, ganz gleich, wie sehr er litt. Ich hielt seine schwache Hand, eine Hand, die mich als Kind so zärtlich geführt hatte, mich durch die Zeit des Erwachsenwerdens geleitet hatte, die für mich auf so vielfältige Weise gearbeitet hatte, ob beim Tellerwaschen in Chinatown oder beim Bügeln der Kleidung anderer Leute; die Hand, die so stolz war, meine Wahlkampfbriefe in Umschläge zu stecken. Ich hielt seine Hand lange Zeit und fühlte eine unstillbare Liebe. „Na gut, Daddy. Ich werde nach New York reisen.“ Dann verabschiedete ich mich: „Auf Wiedersehen.“ Als ich von einer Sitzung während der Konferenz in mein Hotelzimmer kam, blinkte das rote Licht an meinem Telefon. Eine Nachricht war für mich hinterlassen worden. Sie kam von
June, meiner Schwägerin. „Ruf bitte zu Hause an.“ Ich rief Mama an, aber niemand meldete sich. Ich rief Henry und June an, aber dort war niemand zu Hause. Schließlich wählte ich die Nummer des Krankenhauses und erfuhr, daß Daddy gestorben war. Der fünfstündige Überlandflug war die längste, düsterste und einsamste Reise, die ich jemals unternommen hatte. Die schwarze Leere am Himmel und die Endlosigkeit der Nacht paßten fast zu der Einsamkeit, die ich empfand. Weit unter mir lag irgendwo in der Dunkelheit Arkansas. Ich dachte an diesen wunderbaren Nachmittag, als er uns aus dem mit Stacheldraht umgebenen Lager holte und mit uns in einem Jeep durch die Sümpfe fuhr. Er liebte es, mit uns irgendwohin zu fahren, uns neue Dinge zu zeigen und uns die Augen zu öffnen. Ich erinnerte mich an die Fahrten durch Los Angeles, als er uns die großen Universitäten UCLA und USC zeigte. Er mochte es, uns die Richtung zu weisen. Auch als ich mich entschieden hatte, Schauspieler zu werden, zeigte er mir den Weg. Er schickte mich nach England und zum Shakespeare Institute. Ganz gleich, was wir machten, er drängte uns, nach dem höchsten Stern zu greifen. Dieser Mann wurde nicht nur mein größter „Star Trek“-Fan, er wurde auch ein hartnäckiger RTDBusbenutzer. Er liebte es, mit dem Bus in die Stadt zu fahren, um sich mit mir zum Mittagessen zu treffen. Selbst als er es etwas ruhiger angehen ließ, drängte er mich, weiterzumachen, nach New York zu reisen. Immer teilzunehmen, etwas beizutragen. Und nun war er von uns gegangen, und ich flog durch diese Finsternis, auf dem Weg zu einem letzten Lebewohl. „Star Trek: Der Film“ hatte wie geplant am 7. Dezember 1979 in Washington D.C. Premiere. Douglas Trumbull hatte es geschafft. Seine Leute schufen die Spezialeffekte, indem sie Tag und Nacht wie wild arbeiteten und im Motel gegenüber
dem Studio schliefen. Was sie ablieferten, war visuell prächtig. Aber auf der anderen Seite war ich der Ansicht, daß die Effekte sich sehr glichen und ermüdend wirkten. Das Wettrennen mit der Zeit, das Trumbulls Team veranstaltete, um die Effekte fertigzustellen, schien dramatischer gewesen zu sein als das Ergebnis. Der Film schien erfolgreich den vulkanischen Zustand des Kolinahr erreicht zu haben, das Ablegen aller Emotionen, nach dem Spock zu Beginn des Films ebenfalls strebte. „Star Trek: Der Film“ wirkte kalt, distanziert, leidenschaftslos. Trotz der beeindruckenden Macht, der sich die Enterprise in Form von V’ger stellte, fiel die sonderbare Abwesenheit eines Gefühls der Gefahr auf. Als der Nachspann lief, drehte ich mich zu Walter um, der neben mir saß. Sein Gesichtsausdruck war so verblüfft wie meiner. So viel künstlerische und technische Energie war aufgewendet, soviel Geld investiert worden – was war passiert? Die Erschaffung eines Dramas war nach wie vor eine mysteriöse Zusammenkunft von Talent und Glück. Die Premiere war eine Gala mit Politikern, Leuten aus der Raumfahrt und Fans in rauhen Mengen. Die Nachpremierenparty im National Air and Space Museum im Smithsonian war eine seltene Kombination von Hollywoodschem Glamour und Washingtoner Prunk. Wir feierten und wanderten zwischen den Artefakten der echten Weltraumabenteuer umher: ein Stück Mondgestein, die echte Raumkapsel, der Anzug, den Astronauten auf dem Mond getragen hatten. Wir prosteten dem ersten Modell des Raumschiffs Enterprise zu, das nun fester Bestandteil der Sammlung des Smithsonian war. Den ganzen festlichen Abend hindurch konnte ich jedoch einen heimlichen Wunsch nicht unterdrücken, ein Wunsch, der immer dann aufzuleben scheint, wenn ich am glücklichsten
bin. Ich wünschte, mein Vater hätte mit mir zusammen in Washington D.C. sein können. Ich wünschte, er hätte „Star Trek: Der Film“ sehen können. Ich wünschte, ich hätte irgendwie dieses Glücksgefühl mit ihm teilen können.
23 Der Zorn des Khan und andere Dämonen „Star Trek: Der Film“ war ein riesiger Überraschungserfolg. Noch während die Einnahmen immer weiter anstiegen, machten die ersten Gerüchte über eine Fortsetzung die Runde. Wieder war es Walter, der die Telefonleitungen überlastete. „Rat mal. Es sieht gut aus für ‘Star Trek’, aber nicht zu gut für Roddenberry. Paramount möchte eine Fortsetzung drehen. Aber wegen der Budgetüberschreitungen bei ‘Star Trek: Der Film’ sieht es so aus, als würde man ihm die Fortsetzung wegnehmen.“ Der Film hatte von Gene in vieler Hinsicht seinen Tribut gefordert. Der Streß um diesen Film hatte ihn wie einen Ballon aufgehen lassen. Ich begann, auf meinem morgendlichen Lauf bei den Paramount Studios vorbeizuschauen, um Gene zum Mitlaufen einzuladen. Ich hatte nur einige Male Erfolg, ihn dazu zu bewegen, gemütlich auf dem Studiogelände zu joggen. Auf diesen kurzen und viel zu seltenen Läufen sagte er mir auch, daß er versuche, seine Diät in den Griff zu bekommen. Aber ich konnte sehen, daß er damit zu kämpfen hatte. Ich spürte auch die Schwierigkeiten, die er mit Paramount hatte. ‘Star Trek’ war nun einmal sein Baby, und er kämpfte darum, es zu behalten. Ich hoffte, daß er Erfolg haben würde. Aber genauso wollte ich, daß er ein wenig an überflüssigem Gewicht verlor. Irgendwie schien er es nie zu schaffen, das abzunehmen, was er zugenommen hatte.
„Rat mal. Wir kehren ins Fernsehen zurück. ‘Star Trek’ wird eine Miniserie werden.“ Aber einige Wochen später rief Walter wieder an. „Kurswechsel. Wir werden wieder einen Kinofilm machen. Aber er wird von der Fernsehabteilung bei Paramount produziert werden, nicht von der Kinofilmabteilung.“ „Es ist alles entschieden. Sie haben einen Ausführenden Produzenten unter Vertrag genommen, einen Typ namens Harve Bennett. Er hat den Ruf, knappe Budgets verwalten zu können. Gene ist nur Berater!“ Harve Bennett war ein Name, den ich wiedererkannte. Ich hatte ein paar Jahre zuvor für ihn gearbeitet, als ich einen Gastauftritt in der Serie „Der sechs Millionen Dollar Mann“ hatte. Ich spielte einen tibetanischen Sherpa, der Lee Majors durch den Himalaya führt. Als ich die Rolle erhielt, sagte ich ihm, daß ich Läufer war und auch ein wenig Erfahrung im Bergsteigen besaß. Er war erfreut, daß ich ein wenig Realismus in die Kletterszenen bringen würde. Ganz der umsichtige Produzent verlegte er aber meine Bergsteigerszenen an das Ende der Dreharbeiten. Ich konnte abstürzen und außer Gefecht gesetzt werden, aber das würde die Produktion nicht gefährden. Alle meine Szenen waren da schon sicher im Kasten. Und ganz der kostenbewußte Produzent sparte er die Kosten für einen Stuntman, als wir die Kletterszene drehten. Kein anderer Schauspieler außer mir war verwegen – oder dumm – genug, sich an eine Felswand zu hängen. Harve Bennett war ein neuer Entscheidungsträger, der zu uns an Bord kam, aber wir hatten bereits zusammengearbeitet. Hier bot sich mir die Gelegenheit, meine Situation bei „Star Trek“ zu verbessern. Ich kam zu der Überzeugung, daß eine frühzeitige Kampagne für die Aufwertung von Sulus Rolle Früchte tragen könnte. Ich rief ihn an und lud ihn in ein
elegantes japanisches Restaurant im New Otani Hotel in Little Tokyo ein. Es war ein wunderbarer Tag, als wir uns trafen. Von unserem Tisch überblickten wir einen ruhigen japanischen Garten mit einem weitläufigen Wasserfall, der in einen flachen Teich mündete. Als wir unsere Unterhaltung aufnahmen, fühlte ich, daß Harve einen eigenen Schlachtplan hatte. Er wirkte bestrebt, alle möglichen Unstimmigkeiten auszuräumen, die angesichts eines neuen Produzenten bestehen könnten, der Genes Baby an sich nahm. „Ich habe großen Respekt vor Gene Roddenberry und vor dem, was er geschaffen hat“, erklärte er. „Ich betrachte ihn als den Vater von ‘Star Trek’. Er hat wundervolle Arbeit geleistet, als er sein Baby großzog. Aber ein Kind wächst und erreicht einen Punkt, an dem es eine andere Art von Pflege benötigt. Ich sehe mich als den Lehrer, der das Kind von seinem Vater übernimmt und es in die nächste Wachstumsphase begleitet. Ich liebe ‘Star Trek’ genauso sehr, und ich kann zu seiner Weiterentwicklung mindestens genauso viel beitragen, aber auf eine andere Art. Ich hoffe, du hilfst mir dabei.“ Harve war redegewandt, charmant und äußerst überzeugend. Ich hatte das Gefühl, daß ich mich mit ihm bestens unterhalten konnte. „Du kannst auf mich zählen“, bestätigte ich. „Du hast recht, was ‘Star Trek’ angeht, Harve. Ich stimme mit dir überein, daß ein Punkt erreicht ist, an dem eine erkennbare Entwicklung angebracht ist. Du weißt, daß die Offiziere auf der Brücke als herausragende Profis betrachtet werden, einige von ihnen als die besten der Starfleet. In ihren Karrieren hat sich diese Tatsache aber bislang nicht gezeigt.“ Ich brachte die Unterhaltung auf den Punkt, auf den ich Harve festnageln wollte. „Sulu soll die Akademie als einer der besten abgeschlossen haben. Er ist äußerst fähig und ambitioniert. Aber er steckt seit 15 Jahren an der Steuerkonsole fest. Wenn
Starfleet eine wahre Leistungsgesellschaft wäre, dann hätte Sulu schon längst ein eigenes Kommando erhalten. Das hat er offenkundig verdient. Wenn man ihn auf diesen Captainsposten befördern würde, würde es Bände für Starfleet sprechen.“ Harve lächelte zustimmend, während die klare Brühe in einer klassischen schwarzen Terrine serviert wurde. Drei lavendelfarbene Chrysanthemenblätter trieben darauf in kunstvoller Schlichtheit. Der folgende Sushi war ein Leckerbissen für die Augen und den Gaumen. Wir verbrachten einen angenehmen Nachmittag. „Rat mal.“ Ich wußte, daß dies nicht wirklich eine Aufforderung zum Raten war, es war Walters übliche Formulierung, die jeder aufregenden neuen Entwicklung vorausging. „Wir haben einen Regisseur für ‘Star Trek II’. Es ist der Typ, der bei ‘Flucht in die Zukunft’ Regie führte. Erinnerst du dich an ihn? Er heißt Nicholas Meyer.“ Jetzt hatte ich die andere Person, bei der ich vorsprechen wollte. Aber ich hatte Meyers Nummer nicht. Also rief ich Harve an und lud ihn und Meyer zu einem weiteren Mittagessen ein. Eine Woche verging, Harve rief nicht zurück. Also rief ich nochmals bei ihm an. „George, es tut mir leid, daß ich mich nicht gemeldet habe“, entschuldigte er sich. „Nick befindet sich mitten in den Vorbereitungen und glaubt nicht, daß er Zeit für ein Treffen finden kann.“ „Kannst du vielleicht ein Treffen mit ihm für mich arrangieren, das in seinen Zeitplan paßt? Ich bin mit jedem Termin einverstanden.“ Der Regisseur war die wichtigste Figur in meiner Kampagne. Ich war entschlossen, Himmel und Erde in Bewegung zu versetzen, um mit Nick Meyer in den frühen
Phasen der Vorbereitung zusammenzutreffen. Am nächsten Tag rief Harve zurück. „Nick ist wirklich unter Druck, George“, begann er. Ich nahm meinen Mut zusammen. Ich war fest entschlossen, ein Nein nicht zu akzeptieren. „Aber ich habe ein Treffen mit ihm hier in meinem Büro um halb elf morgen früh. Wenn du das einrichten kannst, George, dann bin ich bereit, eine halbe Stunde meiner Zeit für dich zu opfern.“ „Ich werde da sein“, sagte ich sofort. „Vielen Dank, Harve. Ich weiß das sehr zu schätzen. Bis morgen früh.“ Als ich zur verabredeten Zeit in sein Büro eintrat, stand Harve auf und machte mich mit Nick Meyer bekannt. Ich blickte auf den Mann, der in einem großen Ledersessel hing. Er war überraschend jung. Ich hatte jemanden erwartet, der etwas reifer war. Und er war überraschend klein. Die Größe des Sessels schien seine schmächtige Statur noch zu unterstreichen. Aber seine schwelende Stärke war spürbar. Seine dunkle Augen waren durchdringend, sondierend, fast feindselig. Ich ging auf ihn zu und streckte ihm meine Hand entgegen, er ergriff sie mechanisch… und blieb sitzen. Vielleicht will er nicht aufstehen, damit ich nicht sehe, wie groß er wirklich ist, dachte ich. Nach Harves einleitenden Scherzen begann ich unerschrocken mein Spiel. Starfleet war eine Leistungsgesellschaft, Sulu war dafür ein Musterbeispiel. Eine Captainsposition für Sulu würde den Stern von Starfleet und auch den von Sulu noch heller strahlen lassen. Nick betrachtete mich einfach nur mit einem distanzierten, analytischen Blick, als würde er eine Darbietung studieren. Harve hatte ihm wahrscheinlich schon von der Absicht meines Vortrags erzählt. Seine Augen durchbohrten mich, aber gleichzeitig konnte ich fast fühlen, daß er rechnete, nachdachte, das, was er gehört hatte, in ein großes Gesamtbild einarbeitete. Auf eine überraschende Weise hatte ich das
Gefühl, daß ich zu ihm durchdrang. Ich spürte, daß Nick, der jegliche Form der Höflichkeit und jegliche vorgetäuschte Hollywood-Herzlichkeit ignorierte, direkt zum geschäftlichen Kern kam, während er meinem Vortrag zuhörte, neue Informationen aufnahm und bewertete, plante und schließlich seine Schlüsse zog. Alles das preßte er in die kurze Zeit, die uns bewilligt worden war. Nachdem meine halbe Stunde um war, verließ ich Harves Büro mit dem hoffnungsvollen Gefühl, daß ich ihn und Nick zu dem Entschluß überredet hatte, den ich haben wollte. Zumindest hatte ich eine gerechte Gelegenheit erhalten, mein Anliegen vorzutragen. „Rat mal.“ Ich mußte nicht raten. Mein Chronist hatte neue aufregende Informationen für mich. „Khan kommt zurück! Harve hat sich entschlossen, die Geschichte von ‘Der schlafende Tiger’ für „Star Trek II“ fortzusetzen. Und er bringt Ricardo Montalban zurück.“ Das waren wirklich aufregende Neuigkeiten. „Der schlafende Tiger“ war eine unserer schönsten Episoden, und Ricardo hatte aus Khan einen anziehenden Antagonisten gemacht. Aber Walters gute Nachrichten wurden regelmäßig von schlechten Neuigkeiten überschattet. Darauf stellte ich mich für seinen nächsten Anruf ein. Der kam schließlich auch. „Schlechte Neuigkeiten! Leonard will nicht Spock spielen. Er besteht darauf, daß seine Figur im Film ums Leben kommt. Kannst du dir das vorstellen?“ Als Schauspielerkollege verstand ich Leonards Dilemma. Die Figur, die er spielte, war äußert populär geworden. Sein Gesicht wurde mit Logik und laserscharfer Vernunft in Verbindung gebracht. Diese gesamte Anerkennung war ein Tribut an seine schauspielerischen Fähigkeiten. Leonard war als Spock unübersehbar erfolgreich.
Die Kehrseite dieses Ruhms bestand aber darin, daß Spock allgegenwärtig geworden war. Der Schauspieler wurde von der Rolle aufgezehrt, die er gespielt hatte. Sie machte ihm Gelegenheiten zunichte, sein Handwerk wahrhaftig auszuüben. Diese Popularität beraubte ihn seines wichtigsten Arbeitsmittels – seines Gesichts. Der Schauspieler Leonard Nimoy, sein Gesicht und der Mann selbst wurden zu einer lebendigen Version seiner Rolle. Ich nahm an, daß er die schwere Entscheidung, seine Schöpfung zu vernichten, traf, um sein eigenes Gesicht und sein Leben zurückzuerlangen. „Rat mal. Gene will nicht, daß Spock stirbt. Er widersetzt sich der Idee. Aber weißt du was? Leonard besteht jetzt darauf, daß sein Filmtod in seinen Vertrag aufgenommen wird! Er meint es wirklich ernst.“ Das ganze wurde zu einem Kampf auf Leben und Tod, aber auf die seltsamste Weise. Einer der Kämpfer rang um seinen eigenen Tod, während der andere sein Gegenüber am Leben erhalten wollte. Ich verstand auch Genes Position. Dies alles war ein weiteres Künstlerdilemma. Als Autor hatte Gene ein großes, praktisch väterliches Interesse an seinen Schöpfungen. Spock war ein einzigartiger Charakter. Natürlich wollte der Vater nicht, daß sein Kind stirbt. Aber im Drama, einer Kunst, die aus der Zusammenarbeit entsteht, kommen manchmal Myriaden gegensätzlicher Interessen ins Spiel. Ich fragte mich, wessen Interessen in diesem Drama überleben würden. Die Antwort kam zusammen mit dem Drehbuch. Ich las es sofort und war hingerissen. Es war kraftvoll. Das Drama bestand aus der klassischen Konfrontation zweier starker Kräfte, die unaufhaltsam einem mitreißenden Ende entgegengetrieben wurden. Und es gab eine treffende unterschwellige Botschaft, das Bewußtsein, etwas zu verlieren – durch Veränderung, durch das Älterwerden und durch die
ultimative Form, den Tod. Spock starb schließlich doch. Was für Gene einen Verlust darstellte, war für Leonard ein Gewinn. Trotz meines entschlossenen Einsatzes hatte ich herzlich wenig erreicht. Sulu war nach wie vor nur wenig mehr als ein lebender Teil der Brückentechnologie. Mein einziger Trost war eine kurze Szene, in der Sulu das Ziel erreichte, für das ich mich so sehr eingesetzt hatte. Sulu erhielt seine Beförderung! In einem Shuttle zusammen mit McCoy und Uhura berichtet Kirk Sulu von dessen Aufstieg in den Rang des Captains, der die U.S.S. Excelsior befehligen soll. Es war eine kurze Szene, aber es war das, wofür ich mich so unablässig eingesetzt hatte. Sulus Aufstieg war Teil eines Generationswechsels, er war ein Teil der Botschaft im Film – ein Verlust für den einen ist zugleich ein Gewinn für den anderen. Ich hatte verloren, wenn es darum ging, eine größere Beteiligung zu erlangen, aber ich hatte den Captainsrang gewonnen. Das würde ein strategischer Vorteil sein, wenn es für „Star Trek II“ einen Nachfolger geben sollte. Ich freute mich schon auf den Beginn der Dreharbeiten. Ricardo Montalban war – wie man in Hollywood zu sagen pflegt – überlebensgroß. Die frühen Morgenstunden in der Maske stellen normalerweise einen ruhigen und gedämpften Tagesanfang dar. Wir schleppten uns schweigsam in den Raum, viele von uns rieben sich noch den Schlaf aus den Augen. Ricardo dagegen kam aus einer anderen HollywoodÄra… aus den goldenen Tagen der Schauspieler, die bei Metro-Goldwyn-Mayer unter Vertrag standen. Sie schlurften nicht schweigsam herein. Sie waren MGM-Stars. Wohin sie auch gingen, sie veranstalten „Auftritte“ – auch in der Maske. „Guten Morgen, alle zusammen“, dröhnte seine Stimme mit dem ihm eigenen mexikanischen Akzent. Er trat forsch und mit wachen Augen ein, bereit für sein Make-up. „Guten Morgen,
Walter. Hast du gut geschlafen?“ Dann wandte er sich an den nächsten Platz: „Michelle, Darling. Wie schaffst du das nur um diese Uhrzeit? Du sieht umwerfend aus!“ Dann, ein wenig sachlicher: „Tja, Leonard, das wird heute eine harte Szene werden. Aber wir schaffen das schon.“ Seine Gewißheit unterstrich er mit einem leichten Schlag auf die Schultern. „Buenas dias, Jorge. Que tal?“ begrüßte er mich auf Spanisch und nickte mir höflich zu. Nachdem er jeden im Raum mit seiner von Herzen kommenden Begrüßung bedacht hatte, durfte niemand vortäuschen, er würde schlafen, wenn er nicht Gefahr laufen wollte, von Ricardo erneut roh aufgeweckt zu werden. Er brachte eine „Starpräsenz“ in einen Raum, sobald er eingetreten war. Ricardo hatte eine dieser sagenumwobenenen HollywoodKarrieren erlebt. Mit Beginn der Blütezeit der spritzigen MGM-Musicals mit Frauen wie Esther Williams in der Hauptrolle wurde er der führende Latin Lover für eine ganze Generation von Kinogängern. Sein Stern hatte nicht an Glanz verloren, und er erfreute sich wiedererwachender Popularität bei einer neuen Generation als Hauptdarsteller der erfolgreichen TV-Serie „Fantasy Island“. Er konnte auf eine besonders lange Karriere zurückblicken. Legenden mit dieser strahlenden Vergangenheit tendieren oft dazu, sich wie eine Primadonna zu benehmen. Sie sind es gewöhnt, daß alles nach ihren Vorstellungen verläuft. Ricardo war sogar in dieser Hinsicht etwas ganz Besonderes. „Star Trek II“ wurde in der Fernsehabteilung von Paramount produziert, nicht in der Kinoabteilung, wodurch das Budget viel knapper angesetzt war als bei „Star Trek: Der Film“. Es waren lange und arbeitsreiche Drehtage, aber Ricardo beklagte sich nicht einmal. Tatsächlich war es sogar so, daß er derjenige war, der alle aufmunterte, wenn die Stimmung angespannt war – mal mit einer interessanten Anekdote, mal mit einem
herzhaften Lacher über einen nicht so guten Witz. Er war ein disziplinierter, professioneller und lebhafter Star. Das Auffallendste aber war seine wunderbare Größe als Schauspieler. Ricardo war der Ansicht, daß er hier war, um dem Drehbuch zu dienen. Wenn eine Einstellung aus gutem Grund einen anderen Schauspieler bevorzugte, fügte er sich diesem Umstand. Wenn eine Szene kürzer sein mußte und sein Text verlangsamte die Handlung, dann schlug er vor, seine Textzeile zu streichen. Schauspieler argumentieren üblicherweise, daß ihr Text nicht geschnitten werden sollte. Ricardo bezeichnete seine Einstellung als seinen „Beitrag“ zum reibungslosen Ablauf einer Szene. Walter, der viele Szenen zusammen mit ihm hatte, verließ das Studio oft völlig verwundert. „Ich kann es nicht glauben! Dieser legendäre Star Ricardo Montalban ist so großzügig! Er ist unglaublich!“ Ricardo war in jeder Hinsicht ein großer Star. Seine Präsenz strahlte Ehrfurcht aus, in seiner Art zu sprechen lag etwas Bombastisches, und er besaß geistige Größe. Meine ungeduldig erwartete, schwerverdiente Beförderungsszene stand bevor. Wie oft hatte ich im Schlaf meinen Text für diese Szene gemurmelt? Wie oft hatte mich während schlafloser Stunden das Bild des Captain Sulu verfolgt? Die Bekanntgabe von Sulus Aufstieg war ein kurzer Moment in einer größeren Szene, aber für mich war es der Augenblick für Sulu. Das war der Moment, den ich mir mit hartem Einsatz verdient hatte. Ich mußte diesen Moment mit Leben erfüllen. Wir begannen mit den Proben, und augenblicklich fühlte ich, daß etwas nicht stimmte. Bill rasselte seinen Text herunter und erzählte mir von meiner neuen Position, als sei es nur eine nebensächliche Angelegenheit. Ich wollte ihn fragen: „So wirst
du das aber nicht spielen, oder?“ Aber ich biß mir auf die Zunge, immerhin waren das nur Proben. Während der zweiten Probe spielte er noch uninspirierter. Bill sah mich nicht einmal an. Ich konnte meine Freude, meine Hochstimmung, mein Gefühl, etwas geschafft zu haben, nicht ins Leere spielen. „Bill, das ist ein wichtiger Augenblick für Sulu. Könnten wir einen Blickkontakt haben?“ fragte ich ihn. Er sah mich voller Unschuld an. „Sicher, George“, antwortete er dann in einem Ton, der zu unterstellen schien, ich hätte ihn um etwas ohnehin Selbstverständliches gebeten. Beim dritten Durchlauf warf er mir einen kurzen, oberflächlichen Blick zu. Fast mit Mißgunst. Den Text sprach er nach wie vor nachlässig. Ich ging zu Nick und erklärte ihm leise meine Bedenken. „Mach dir keine Gedanken, das bekomme ich schon hin“, versicherte er mir. Dann sollte die Aufnahme stattfinden. Als wir die Szene drehten, spielte Bill sie so wie bei den Proben, desinteressiert, während er etwas Unwichtiges über meine Beförderung murmelte und ins Nichts starrte. Kein Blickkontakt, keine Emotionen, keine Beziehung. Nichts. Die Szene wurde mehrmals wiederholt, er spielte immer gleich. Dann machte sich Nick an die nächste Szene. Ich wußte nicht, was stärker war – mein schmerzendes Herz oder der Zorn, der sich in meinem Bauch aufstaute. Bills Gekichere und Gescherze mit der Crew nach der Szene verstärkte die Wut um so mehr, genauso wie das Gefühl der Machtlosigkeit. Nick sagte, er würde das „hinbekommen“. Aber ich wußte auch, daß er nicht zaubern konnte. Ich wußte, was man tun konnte und was nicht. Ich hatte eine unangenehme Vorahnung. Die Szene, für die ich so lange und so zäh gekämpft hatte, würde wohl nicht zu gebrauchen sein.
Es überraschte mich nicht, als ich später erfuhr, daß die Szene geschnitten worden war. Die Arbeit mit Nick Meyer an sich war allerdings großartig und machte Spaß. Er war ein regelrechtes Energiebündel. Der Nick, den ich zuerst kennengelernt hatte, entpuppte sich als nur eine von vielen Persönlichkeiten, die in seinem Körper lebten. Die offensichtlichste Persönlichkeit war der begabte Regisseur. Aber ein Regisseur ist in Wirklichkeit ein Meister in allen Klassen. Er muß ein guter Geschichtenerzähler sein, was Nick ohne jeden Zweifel war. Und er muß ein guter Autor sein. Nick hatte zwei erfolgreiche Bücher veröffentlicht, „The Seven Percent Solution“ und „The West End Horror“. Ein Regisseur muß auch ein wenig Schauspieler sein. Nick war ein energiegeladener und vielseitiger Darsteller. Er konnte in die Rolle von Groucho Marx schlüpfen, um im nächsten Moment Hamlet zuerst in Laurence Oliviers Stil und dann in John Gielguds Manier zu rezitieren. Als wir Spocks Beerdigung filmten, erklärte er mir, der Ausspruch „das unentdeckte Land“ aus Hamlets berühmter „Sein oder Nichtsein“-Rede sollte der Titel für diesen Film sein. Ich dachte darüber nach, während Jimmy „Amazing Grace“ auf dem Dudelsack spielte. Der Tod, „das unentdeckte Land, von dessen Gebiet kein Reisender zurückkehrt…“. Wie treffend und wie kunstvoll, dachte ich. Aber der Titel zog im Kampf mit der Marketingabteilung von Paramount den kürzeren. Doch ich stellte fest, daß Nick ein hartnäckiger Mann war, der nicht aufgeben wollte. Er sagte, er würde schon einen anderen Film für diesen Titel finden. Ich gelangte zu der Einstellung, nicht weniger entschlossen zu sein. Ich gab mein Drängen für Sulus Beförderung nicht auf.
„Star Trek II“ wurde mit dem Untertitel „Der Zorn des Khan“ in die Kinos gebracht. Nachdem „Das unentdeckte Land“ abgelehnt worden war, hatte Paramount sich für den Titel „Die Rache des Khan“ entschieden. Aber die dritte Star WarsEpisode aus dem Haus 20th Century-Fox sollte den Titel „Die Rache der Jedi-Ritter“ tragen. Die Titel, die beide ein ähnliches Publikum ansprechen sollten, klangen zu gleich. Also änderte Paramount unseren Titel in „Der Zorn des Khan“, der der endgültige bleiben sollte. Zu der Zeit hatte 20th Century-Fox natürlich auch den eigenen Titel in „Die Rückkehr der Jedi-Ritter“ geändert. So sind nun einmal die sonderbaren Wege des Schicksals in Hollywood. „Star Trek II: Der Zorn des Khan“ schlug an den Kinokassen wie eine Bombe ein. Es wurde ein Megahit. Und die sich türmenden Einnahmen machten unsere Rückkehr mit einem weiteren „Star Trek“-Film zu einer Zwangsläufigkeit. Es sah ganz danach aus, daß ich noch länger mit der Serie verbunden sein würde. Diese Verbindung sollte recht unerwartet und in einer für mich neuen Form auftreten. Im April 1983 wurde ich eingeladen, um an der Willkommensfeier für den Flugzeugträger Enterprise teilzunehmen. Der kehrte in seinen Heimathafen, der Alameda Naval Air Station in der Bucht von San Francisco, zurück, nachdem er acht Monate lang im Indischen Ozean und im Südpazifik eingesetzt worden war. Die Verbindung zwischen mir und dieser Enterprise war offensichtlich. Ich wurde dorthin geflogen, um über Nacht auf der Naval Air Station zu bleiben und am nächsten Morgen mit einem Helikopter zur Enterprise gebracht zu werden, die dann noch immer viele Meilen von der Küste entfernt sein würde. Der Anblick dieses riesigen schwimmenden Flughafens war
beeindruckend, als wir uns ihm aus der Luft näherten. Nach der Landung wurde ich sofort durch das atombetriebene Schiff geführt. Es war einfach gigantisch. Der Hangar unter uns war so groß wie jeder normale Hangar an Land. Eine 5000 Mann starke Crew befand sich an Bord. Meine Führung endete – selbstverständlich – auf der Brücke. Aus der Sicht eines Schauspielers, der die Brücke eines Raumschiffs gewohnt war, sah diese hier richtiggehend antik aus. Ich blickte aus dem Fenster, konnte aber außer den wirbelnden Schwaden des Frühnebels nichts sehen. Natürlich warteten bereits Fotografen auf mich, um Fotos von mir am Ruder unseres Gegenstücks aus dem 20. Jahrhundert zu machen. Während wir dieses obligatorische Ritual absolvierten, tauchte ohne Vorwarnung die Golden Gate Bridge aus dem Nebel auf. Es war ein spektakulärer Anblick. Während wir unter der Brücke durchfuhren, teilte sich wie auf ein Kommando der Nebel, San Francisco begrüßte uns. Die Enterprise war fast zu Hause. Ich befand mich bei der Brückencrew, als Gast aus dem 23. Jahrhundert auf dieser Enterprise, und blickte aus dem Fenster hinüber zur Alameda Naval Air Station. Ich konnte Fahnen und Ballons sehen, eine Band und mehr als zweitausend Menschen – Ehefrauen, Kinder und Freunde. Ein fröhliches Willkommen erwartete die Enterprise. Wir befanden uns in der Nähe der Wellenbrecher, etwa eine dreiviertel Meile vom Pier entfernt, als wir eine langsame, häßliche Dünung verspürten. Dann bekam das Schiff Schlagseite. Der riesige Flugzeugträger steckte mitten in der Bucht von San Francisco im Schlamm fest. Die große Menschenmenge und die Medien, die gekommen waren, um uns zu begrüßen, wurden Zeugen, wie die Enterprise auf Grund lief. Ich wurde mit den anderen Gästen ins Quartier des Captains gebracht, wo wir die Rettungsbemühungen abwarten sollten.
Navy- und zivile Schlepper wurden ausgeschickt, um den gestrandeten Koloß zu schieben und zu ziehen, aber ohne Ergebnis. Er wollte sich nicht von der Stelle bewegen. NavyOffiziere der Öffentlichkeitsarbeit kamen an Bord und erklärten uns, daß wir unglücklicherweise Golden Gate während der Ebbe erreicht hatten. Auf dem Boden der Bucht hatten sich Sand, Schlamm und andere Materialien angesammelt, die von den ungewöhnlich schweren Regenfälle des letzten Winters in die Bucht gespült worden waren. Wir warteten weiter, aber das Schiff konnte nicht von der Stelle bewegt werden. Die Bar wurde geöffnet, Getränke wurden serviert. Wir warteten über fünf Stunden, ehe die Flut einsetzte und wir uns wieder bewegen konnten. Als wir endlich am Pier der Alameda Naval Air Station anlegten, hatten sich die Medien mit einem Heißhunger nach Informationen zusammengerottet. Ich kam die Gangway runter, durch die Öffentlichkeitsmitarbeiter der Navy gut vorbereitet auf eine Erklärung für den peinlichen Unfall und bereit, mich der Presse zu stellen. Augenblicklich war ich von einem Rudel schreiender und drängender Journalisten umgeben. Ich reagierte mit Fakten, Daten und Hintergrundinformationen – so wie man es mir empfohlen hatte. Ich glaube, ich erledigte das ganze recht selbstsicher. Bis ein Reporter mir eine fatale Frage stellte. Er brüllte: „Was haben Sie gemacht, als Sie darauf gewartet haben, wieder loszukommen?“ Spontaneität gepaart mit einem kräftigen Schluck aus Schottland kann eine katastrophale Kombination darstellen. Von allen Informationen, die ich von mir gab, war die forsche Antwort auf diese letzte Frage die einzige Aussage, die sie übernahmen. „Wir haben die Zeit damit verbracht, einen Drink zu genießen, den wir erfunden haben: ‘Enterprise on the Rocks’.“ Dieser peinliche Kommentar wurde bis in alle Ewigkeit im
Radio gesendet und verfolgt mich noch heute bei den unmöglichsten Gelegenheiten. Eine andere Sache begleitete mich ebenfalls mein Leben lang. Ferne Echos aus einer vierzig Jahre zurückliegenden Zeit begannen allmählich, deutlicher zu werden. Je mehr Zeit verging, um so lauter und beharrlicher wurden die Geräusche, die zunächst so weit entfernt gewesen waren. Japanische Amerikaner, die zu jung gewesen waren, um die Erfahrung der Internierungslager erfassen zu können, und diejenigen, die erst zur Welt kamen, als diese Lager geschlossen worden waren, reihten sich in den amerikanischen Alltag ein. Mit dem erwachenden Verständnis für das Martyrium, das unsere Eltern und Großeltern erduldet hatten, wurde unser Zorn größer. Das Schweigen der älteren Generation war die Stille der Verletzten. Aber wir würden keine Opfer sein. Wir waren amerikanische Bürger. Der Stacheldraht, der unsere Internierungserfahrung umgeben hatte, war nicht nur eine Verletzung der Würde unserer Eltern, sondern auch ein Frevel an unseren amerikanischen Idealen. Eine Bewegung erhob sich, um die Regierung zu einer förmlichen Anerkennung dieses Schandflecks in der amerikanischen Geschichte zu zwingen und um die Opfer für das zu entschädigen, was ihnen angetan worden war. Sie stand in der besten Tradition unseres Landes – die Bürger setzten sich für Gerechtigkeit ein. Die Bewegung begann ganz unten. Informationen wurden verbreitet, Unterstützungsgelder wurden gesammelt. Die nationale Bürgerrechtsorganisation Japanese American Citizen League schloß sich an. Als die Bewegung zu wachsen begann, wurde sie von Kongreßabgeordneten japanischer Abstammung angeführt, die Personifizierung unserer Reife im politischen Prozeß. Die beiden US-Senatoren von Hawaii, Daniel Inouye
und Spark Matsunaga, der Vertreter von Hawaii Patsy Takemoto Mink und die kalifornischen Vertreter Norman Mineta und Robert Matsui bauten den legislativen Rückhalt auf. 1980 bildete der Kongreß die Commission on Wartime Relocation und Internment of Civilians, um die Aufzeichungen zu untersuchen, Anhörungen abzuhalten und Empfehlungen auszusprechen. Am 5. August 1981 sagte ich bei einer Anhörung vor dieser Kommission aus. Während ich in dem weitläufigen Anhörungsraum saß und darauf wartete, befragt zu werden, sah ich mich um. In einer Reihe auf einem Podium sitzend fanden sich die erhabenen Kommissionsmitglieder. Unter diesem Podium befand sich ein Tisch, auf dem die Mikrophone für diejenigen aufgereiht standen, die aussagen sollten. Die Leute gingen langsam in Fünfergruppen zum Tisch. Die meisten waren alt, sie stützten sich auf einen Stock oder wurden den Gang entlanggeführt. Als sie zu sprechen begannen, waren ihre Stimmen dünn und ausgedörrt. Einige sprachen in dem typischen abgehackten Tonfall der alten japanischen Provinzen. Andere wieder hörten sich an, als stammten sie aus Kansas. Während sie sprachen, hörte ich mir die angsterfüllten Erinnerungen an, denen es Jahrzehnte lang nicht möglich gewesen war, die Stimme zu erheben. Ich hörte den Staub der Wüste in trockenen Stimmen, die nicht vergessen konnten. Ich hörte die Müdigkeit in den langsamen, stockenden Stimmen, die zu lange hatten schweigen müssen. Aber ich hörte auch das Unverwüstliche in den Stimmen, die vier Dekaden lang geschwiegen hatten, die sich an ein Leben hinter Stacheldraht in Wyoming, Utah, Idaho, Arizona, Kalifornien und Arkansas erinnerten. Zum ersten Mal lauschte ich dem Hintergrund meines Lebens. Die Stimmen der Verwundeten wurden nach
vierzig Jahren endlich gehört, nicht nur von japanischen Amerikanern wie mir, sondern nun auch von einer Kommission des Kongresses. Dann folgte eine andere Gruppe älterer Menschen mit weißem Haar, die ebenfalls unsicher auf den Beinen waren. Aber diesmal waren es Weiße. Und als sie zu sprechen begannen, erzählten sie von Pearl Harbor, von ihren Brüdern und Ehemännern, die dort von den Japanern im Pazifikkrieg getötet worden waren. Mein Blut begann zu kochen, während sie aussagten. Sie verstanden noch immer nicht! Wir waren Amerikaner. Wir kämpften und starben Seite an Seite mit den Brüdern und Ehemänner, an die sie sich erinnerten. „Notwendigkeit des Krieges“, erklärten sie. „Eine Frage der Loyalität“, behaupteten sie. Aber Amerika befand sich auch im Krieg mit Deutschland und Italien. Wußten diese Leute nicht, daß deutsche und italienische Amerikaner nicht interniert wurden? Die Anhörungen der Kommission holten auch diese älteren Menschen in den Vordergrund, die nicht vergessen konnten. Auch sie waren ein Teil meiner Geschichte. Als ich aussagte, brodelte mein Blut zugegebenermaßen von den vorangegangenen Erklärungen. Ich war tief bewegt von den schmerzhaften Aussagen der älteren Internierten. Ich kochte angesichts der Erinnerungen an jene Mentalität, die uns in die Lager gebracht hatte. Meine Aussage war die eines Amerikaners, der mit einem besonderen Hintergrund und einem gewissen Bezug zu seinen Bürgerrechten aufgewachsen war. Dadurch erhielt ich ein Verständnis für die Zerbrechlichkeit unserer Demokratie. Ich wuchs auf und war mir der völligen Abhängigkeit der Demokratie von ihren Idealen bewußt. Aber diese Ideale, wie strahlend und nobel sie auch sein mögen, sind nur so gut, so wahr und so real wie die Menschen, die an dem Prozeß teilhaben. Und so sagte ich aus
und steuerte meine Kindheitserinnerungen Aufzeichnungen der Kommission bei.
für
die
Eine andere persönliche Tragödie beendete eine lange Freundschaft und geschäftliche Partnerschaft. Mein Agent Fred Ishimoto starb nach kurzer Krankheit. Es war mehr als eine Geschäftsbeziehung, Fred war ein Vertrauter und ein geschätzter Berater gewesen. Er vertrat mich durch die guten und die schlechten Zeiten, durch dick und dünn. Wir waren durch gemeinsame Widrigkeiten verbunden, durch eine gemeinsame Geschichte und beiderseitige Bestrebungen. Und nun war auch Fred nicht mehr da. Nach und nach verabschiedeten sich meine Quellen, aus denen ich Kraft schöpfen konnte.
24 Nenn mich nicht Zwerg Ich mußte einen neuen Agenten finden, wußte aber nicht wie. Ich hatte fast 25 Jahre mit Fred verbracht. Es war eine geschäftliche Ehe gewesen, ich war jetzt Witwer. Ich rief verschiedene Agenturen an und vereinbarte Termine, um mit einer Vielzahl von Agenten zu sprechen. Es war ein erneuter Blindflug. Sie waren alle interessiert, aber ich vermutete, daß ihr Interesse auf „Star Trek“ beruhte, weil Suhl mich zu einer leicht an Paramount zu verkaufenden Ware gemacht hatte. Mein Interesse bestand aber darin, meine Schauspielerkarriere zu erweitern. Ja, ich wollte den nächsten „Star Trek“-Film machen. Aber ich wollte auch mein Handwerk ausüben, was bedeutete, auch andere Rollen zu spielen. Ich wollte einen Agenten haben, der das erkennen konnte und der bereit war, auf aggressive Weise solche Möglichkeiten für mich ausfindig zu machen. Eines Nachmittags begegnete ich auf dem ParamountGelände Jimmy Doohan. Wir unterhielten uns eine Weile, dann schlug er vor, bei Oblath’s auf der anderen Straßenseite ein Bier zu trinken. Während eines kalten Biers erzählte ich Jimmy von meiner frustrierenden Suche. Er verstand auf Anhieb meine Schwierigkeiten. „Ich kenne genau den richtigen Mann“, erklärte er. „Ich habe einen großartigen Agenten. Du solltest mit ihm reden.“ Auf Jimmys Empfehlung hin traf ich mich mit seinem Agenten Steve Stevens. Sein Büro befand sich im Valley, weit draußen in North Hollywood, in der zweiten Etage eines
rustikalen Fachwerkhauses. Ich trampelte die ausgetretenen Stufen nach oben, öffnete die Holztür und traf einen Mann, der sich von Fred so unterschied wie die Nacht vom Tag. Während Fred groß und schwer war, war dieser Mann, der hinter einem vollgepackten Schreibtisch saß, klein und gedrungen. Während Fred dezent und konservativ gekleidet war, war der Mann, der aufstand und um den Schreibtisch herumkam, um mich zu begrüßen, ein hastig redender, gestikulierender, rauh aussehender Cowboy. An der Rückenlehne seines Stuhls thronte ein riesiger Cowboyhut, an den Wänden hingen Rodeoposter und handsignierte Fotos von Cowboy-Schauspielern wie Chuck Connors, Slim Pickins und Dale Robertson. Er trug ein Westernhemd mit einer riesigen Gürtelschnalle auf engen, ausgewaschenen Jeans. Seine Füße steckten in einem Paar kunstvoll verzierter Cowboystiefel. „Hi, ich bin Steve. Ich weiß, wer Sie sind.“ Er hieß mich mit ausgestreckter Hand willkommen. „Setzen Sie doch hierhin.“ Er deutete auf eine Couch. Ich kam mir vor, als würde ich für ein Rodeo vorsprechen. Als er sich aber ebenfalls setzte und wir zu reden begannen, wußte ich, daß Jimmy recht hatte. Hier war ein Mann, der sich in unsere Situation hineinversetzen konnte. Sofort verstand er meine Verärgerung über die begrenzte Rolle von Sulu in „Star Trek“, da er selbst Schauspieler gewesen war. Steve begann Strategien zu entwerfen. Während der Verhandlungen mit Paramount könnten wir deren Bedarf Sulu als Druckmittel für Auftritte in anderen Paramount-Filmen verwenden. Bei anderen Produktionsgesellschaften könnten wir meine Popularität als Sulu auf andere Weise nutzen. Steve sprudelte über vor Ideen und Taktiken. Ich erkannte, daß dieser Mann, den Jimmy mir empfohlen hatte, ein heller und listiger Karriereplaner war, der sich unerwartet als
Cowboy verkleidete. Ich wußte, daß ich meinen Agenten gefunden hatte. Die erste Hälfte seiner Versprechen löste Steve bei seinem ersten Vertragsabschluß ein. Der Vertrag, den er für „Star Trek III“ ausgehandelt hatte, enthielt eine Option auf „Star Trek IV“. Damit war meine Beschäftigung zwar gesichert, aber immer noch auf Sulu beschränkt. Ich hatte Sulu noch immer nicht so sehr hinter mir gelassen, wie ich es mir als Schauspieler wünschte. Aber ich erfuhr von einer beeindruckenden Vereinbarung, die Leonard ausgehandelt hatte und von der ich glaubte, sie könne lehrreich sein. Paramount wußte, daß Spock für einen anhaltenden Erfolg von „Star Trek“ von größter Bedeutung war. Er war die Versicherung, die die kolossalen Einspielergebnisse garantierte, und man wollte ihn auf jeden Fall wieder mit dabei haben. Leonard befand sich in einer guten Verhandlungsposition, also nutzte er sie für eine interessante Verbesserung und streckte seine Hand nach einer neuen Herausforderung als Künstler aus. Damit Spock zurückkehren konnte, rang Leonard Paramount die Zusage ab, daß er bei „Star Trek III“ Regie führen durfte. Leonard war als Manager seiner Karriere so kreativ, wie er als Schauspieler erfindungsreich war. Kollegen wie Leonard spornten mich immer wieder dazu an, mich für Sulu einzusetzen. Wieder begann ich, Harve mit Ideen für Sulu im nächsten Film zu bombardieren. Was wäre mit einem Fechtkampf in einer schwerelosen Umgebung? Wäre das nicht aufregend? Und so typisch für Sulu? Wie wäre es mit einem erneuten Anlauf zum Captain – diesmal als Beförderung durch einen Admiral oder jemanden dieser Größenordnung von Starfleet Command? Harve hatte für
meine Vorschläge ein offenes Ohr, blieb aber auf rätselhafte Weise unverbindlich. Eines Tages rief er mich an, um mir unklare Andeutungen über das neue Drehbuch zu machen, die meine Neugier anstachelten. Ich könnte die Begeisterung in seiner Stimme hören. „George, das Drehbuch ist in Kürze auf dem Weg zu dir. Aber ich wollte dich schon anrufen, um dir sagen, daß es eine Szene darin gibt, die du lieben wirst. Ich kann es nicht erwarten, deine Reaktion zu erfahren.“ Ich war gespannt. Als das Drehbuch eintraf, las ich es nicht erst in der richtigen Reihenfolge, sondern blätterte es durch, um Sulus Dialoge mit einem Rotstift zu markieren. Aber wieder einmal hatte ich nicht viel Text. Ich stellte aber fest, daß ich das ganze Drehbuch hindurch anwesend sein würde. Dann begann ich, nur die gekennzeichneten Szenen zu lesen, bis ich zu einer Stelle kam, an der Sulu sich einer großen, stämmigen Wache stellt und sie mit einem einzigen, übermenschlichen Judowurf ausschaltet. Sie war unglaublich heroisch. Aber etwas anderes stach mir ins Auge. Es gab eine bestürzende Bemerkung, die Sulu betraf. Sofort griff ich nach dem Telefon und rief Harve an, der bereits auf meine Reaktion wartete. „Nun, George, ist das nicht reizend? Liebst du es nicht auch?“ „Also die Szene, in der Sulu die Wache zu Boden wirft, gibt mir zwar etwas zu tun, aber es gibt ein ernstes Problem.“ „Oh? Ein Problem? Ich dachte, die Szene würde dir gefallen.“ Er klang ratlos. „Es ist eine gute Szene, aber es gibt einen Fehler darin. Die Taktlosigkeit ist der Verweis auf Sulu als ‘Zwerg’. Harve, er ist kein Zwerg. Wir müssen das rausnehmen.“ Ich war fest entschlossen.
„Aber George“, protestierte er nach einem Augenblick der Verwirrung. „Diese Wache, die George durch die Luft wirft, ist ein Riese von einem Mann. Aus dem Blickpunkt der Wache ist Sulu klein.“ Dann korrigierte er sich rasch. „Ich meine, Sulu wirkt kleiner.“ Aber ich blieb entschlossen. „Harve, das mag ja sein. Aber Sulu ist in den Augen unserer Fans ein Held. Wir können das nicht zerstören, indem wir spöttisch sagen, daß er klein ist. Das können wir einfach nicht machen!“ „George, ich bin völlig fassungslos. Das ist eine wunderbare Szene. Sie kommt wunderbar rüber durch den großen Kontrast zwischen den beiden. Das ist für Sulu überhaupt keine Herabsetzung. Tatsächlich macht sie ihn zu einem viel bewundernswerteren Helden.“ „Harve, ich respektiere deinen Stolz als Autor. Das tue ich wirklich. Aber ich muß dich bitten, mir zu vertrauen. Ich besuche die Conventions. Ich kenne die Fans. Wir können ihnen das nicht antun. Sie betrachten Sulu als einen Held. Wir müssen diesen Verweis auf Sulu als ‘Zwerg’ herausnehmen. Vertrau mir bitte.“ Es ging hin und her. Wir waren einer Meinung, daß die Szene gut ankommen würde. Wir stimmten auch beim Größenunterschied überein. Das einzige unlösbare Problem war dieses verächtliche Attribut ‘Zwerg’. Keiner konnte den anderen überzeugen. Wir einigten uns schließlich auf einen Kompromiß. Wir würden die Szene so filmen, wie sie geschrieben worden war, danach würden wir darüber urteilen, wie sie auf der Leinwand wirkte. Ich haßte die Aussicht, Harve auf diese Art demütigen zu müssen, aber es schien der einzige Weg zu sein, das Problem zu lösen. Viele Monate später aber, als wir bei Paramount im Vorführraum saßen und die Szene gezeigt wurde, fühlte sich niemand gedemütigt. Vielleicht war ich ein wenig verlegen,
aber das wurde durch meine völlig überraschende Erkenntnis mehr als überspielt, daß ohne diese Bemerkung die Szene Sulu nicht einmal halb so heldenhaft hätte dastehen lassen. Meine Rücken schmerzte von all den beglückwünschenden Schlägen, die ich erhielt. Und Harve war gnädig genug, einfach nur großmütig zu lächeln und nie den telefonischen Kompromiß zu erwähnen. Leonards Arbeit als Regisseur war beeindruckend – sicher, diszipliniert und unermüdlich. Er war auch in geringem Umfang als Schauspieler aktiv, so daß die Energie, die von ihm für beide Rollen gefordert wurde, mörderisch war. Woher er die Kraft nahm, mitten in der Nacht für seinen Make-upTermin aufzustehen, den ganzen Tag über auf dem Set so lebendig und ideenreich zu bleiben, und dabei immer noch in der Lage war, nach Hause zu gehen und spät in der Nacht seine Hausaufgaben zu machen, war für mich ein Wunder. Aber er war immer vorbereitet und gründlich organisiert – so wie Spock. Aber er war das völlige Gegenteil von Spock, wenn es um die ansteckende gute Laune ging, die er in seine Regiearbeit einbrachte. Ich hatte Leonard nie zuvor mehr lächeln und lachen gesehen. Die Arbeit schien ihm Energie zu verleihen. Er benutzte seine über Jahre hinweg gewachsene Beziehung zu jedem der Schauspieler als besonderes Regieplus. Er verständigte sich in zeitsparender „Stenosprache“, die nur aus jahrelanger Erfahrung entsteht. Als ich eine Probe damit begann, indem ich auf die Brücke rannte und mein Ledercape mit dem Schwung eines Musketiers abwarf, sagte er nur sonderbar „George?“ und hob eine Augenbraue leicht an. Mehr mußte er nicht machen. Beim nächsten Versuch ging ich flink auf die Brücke, streifte mein Cape ab und ließ mich auf meinen Platz an der Konsole gleiten. Leonard lächelte und nickte. Wenn ich jetzt darüber
nachdenke, könnte es vielleicht doch sein, daß etwas Spocksches seinen Regiestil ausmachte: minimaler Energieaufwand, maximales Ergebnis. Er schien seine Doppelfunktion so zu genießen, daß man kaum glauben mochte, daß er sich einmal so vehement dagegen gewehrt hatte, weiterhin Spock zu spielen. „Leonard, ich bin einer Meinung mit dir, was deine Beharrlichkeit angeht, Spock sterben zu lassen“, sagte ich zu ihm während einer Pause. „Aber ich muß auch sagen, daß diese Beerdigung dich als Schauspieler wirklich wiederbelebt hat.“ Leonards Erwiderung auf meine beiläufige Beobachtung brachte einige Mythen über ihn zum Einsturz. Einer dieser Mythen hatte ihn fast daran gehindert, diesen Regisseursposten zu bekommen. „Ich war nicht gegen Spocks Tod eingestellt“, erklärte er kategorisch. „Aber ich hatte etwas dagegen, als ich davon in einer frühen Drehbuchfassung las. Harve war derjenige, der mir zuerst vom Tod der Rolle erzählte. Die Idee stammte möglicherweise von Nick. Der Tod ereignete sich früh in der Handlung, was ich aus dramatischer Sicht für falsch hielt. Damit war ich auf keinen Fall einverstanden. Aber so, wie die Szene schließlich geschrieben wurde, hielt ich sie für bewegend.“ Also hatten Walters Klatschkontakte danebengelegen. Als Leonard aber die Geschichte von Spocks Ende beschrieb, wurde sie noch fesselnder. Der Erfolg von „Star Trek II“ hatte Paramount veranlaßt, die Aussichten einer weiteren Fortsetzung zu ermitteln. Leonard war für dieses Projekt von größter Wichtigkeit. Als Gary Nardino – der Mann bei Paramount, der damit beauftragt war, die Arbeit zu überwachen – ihn auf eine Rückkehr von Spock ansprach, schnitt Leonard die Idee an, bei diesem nächsten Film Regie zu führen. Das führte zu einem Treffen mit dem
Studiopräsidenten Michael Eisner. Wieder schlug Leonard vor, beim dritten „Star Trek“-Film Regie zu führen. Eisner war unverbindlich. Dem Gespräch folgten einige Wochen beunruhigender Stille. Leonards Agent rief an, wurde aber nicht zurückgerufen, so daß Leonard schließlich selbst zum Hörer griff. Anscheinend hatte Eisner Probleme damit, daß ein Schauspieler bei einem Film Regie führen sollte, in dem ihm seine eigene Rolle nicht gefiel. Leonard versuchte ihm zu versichern, dies sei nicht der Fall. Eisner konterte mit der Frage: „Aber Sie selbst haben darauf bestanden, daß Spocks Tod in Ihren Vertrag aufgenommen wird, nicht wahr?“ Sogar der Präsident des Studios hatte den Mythos für bare Münze genommen. Leonard drängte ihn, die Rechtsabteilung solle ihm eine Vertragskopie zusenden, die er auf eine solche Abrede durchsuchen könne. Die Klausel existierte einfach nicht. Daraufhin stimmte Eisner Leonards Regieauftrag für „Star Trek III“ zu, womit er die Zukunft der Serie und das Aufblühen eines großen Talents für „Star Trek“ sicherte. Da ich mit der Szene, die gerade gedreht wurde, nichts zu tun hatte, war ich zu einem langen Spaziergang über das Studiogelände aufgebrochen. Ich kam gerade zurück, als plötzlich die Tür explosionsartig aufgerissen wurde. Jimmy Doohan kam wutentbrannt heraus. „Dieser Bastard! Das wird er mit mir nie wieder machen! Niemals!“ Er war fuchsteufelswild. „Was ist los? Was ist passiert, Jimmy?“ „Dieser Bastard“, sprudelte es aus ihm hervor. „Ich werde ihm das nie wieder durchgehen lassen! Das meine ich ernst!“ Er stürmte in seine Garderobe. Ich konnte mir denken, was geschehen war. Ich ging hinein und traf auf Bill, der sich im Mittelpunkt des Sets aalte – als
Objekt der ungeteilten Aufmerksamkeit von Leonard und der gesamten Crew. Die Kamera war direkt auf ihn gerichtet, der Drehbuchüberwacher las Jimmys Off-Text. Was sich abgespielt hatte, war nicht schwer zu erraten. Ich erfuhr, daß Jimmy im Bild hätte sein sollen. Nachdem aber Bill eine Unterhaltung im Flüsterton geführt hatte, wurde die Kameraeinstellung geändert, um Captain Kirk in den Mittelpunkt zu stellen. Scott befand sich damit nicht mehr im Bild. Ich wußte nur zu gut, wie Jimmy sich fühlte. Ich kannte diese Wut, nun hatte es Jimmy getroffen. Wenigstens machte Bills Ego keine Unterscheidung darin, wer ihm zum Opfer fiel. Für mich war es aber weniger das Ego, es wirkte auf mich wie eine tiefverwurzelte Unsicherheit, die Bill dazu trieb, der „Star“ sein zu müssen. Wir befanden uns mitten in einer Aufnahme, als plötzlich jemand auf das Set stürmte und alle Anwesenden in Richtung Ausgang rannten. „Was ist los?“ fragte ich. „In der New York Street soll es angeblich brennen“, erwiderte einer aus der Crew, während wir uns der Massenflucht anschlossen. Wir schoben uns durch die kleine Ausgangstür in den Weg zwischen den Bühnen und blickten in den Himmel. Dicke schwarze Rauchwolken stiegen aus der Richtung des alten Filmgeländes auf. „Oh, mein Gott! Ein Feuer! Das Studio brennt!“ Der Friseur keuchte vor Entsetzen. Alle waren in Aufregung. „Alles in Ordnung, Leute“, rief der Regieassistent. „Die Feuerwehr ist benachrichtigt, das Feuer wird bald unter Kontrolle sein. Bleibt bitte alle ruhig und geht zurück an die Arbeit.“ Seine Stimme klang beruhigend, wir waren erleichtert, daß sich der Brand am anderen Ende des Studiogeländes
befand. Wir hingen noch einige Zeit herum und blickten zu den häßlichen Rauchwolken. Als der Regieassistent aber seine Stimme erneut erhob, begab sich die Menge zurück ins Studio. Ich liebte dieses alte Gelände. Es war nicht mehr als eine Fassade einer typischen New Yorker Straße, aber für mich stellte sie einen wunderbaren Teil unseres Filmerbes dar. Soviel Geschichte hatte sich auf diesen Straßen abgespielt, so viele gemeinsame Erinnerungen verbanden uns damit – auch eine Star-Trek-Episode: „Epigonen“ spielte dort. Billy Wilders Klassiker „Boulevard der Dämmerung“ wurde dort gedreht. Unzählige Paramount-Erinnerungen waren in der Straße auf Zelluloid gebannt worden. Dieses Studiogelände war für unsere Hollywood-Vergangenheit ein wichtiger Teil. Und nun ging alles in Rauch auf. Nach einem letzten Blick kehrte ich zum Set zurück. Die Crew und die Techniker begannen damit, dem Set wieder Leben einzuhauchen, die Regieassistenten versuchten, den Anschein von Ordnung wiederherzustellen. Dann geschah etwas Außergewöhnliches und zugleich Typisches. Die Türen zur Bühne wurden aufgerissen, ein paar Leute aus der Presseabteilung stürmten herein, rannten aufgeregt zu Bill, dann zu Leonard und steckten eilig die Köpfe zusammen. Die Situation wurde schnell geklärt, die Presseleute rannten mit Bill im Schlepptau nach draußen. Leonard erklärte, er werde eine andere Szene proben lassen, während Bill für kurze Zeit abwesend sein würde. Ich hatte mit dieser Szene nichts zu tun, also wollte ich schnell hinüberlaufen, um zu sehen, ob die Feuerwehr den Brand unter Kontrolle bekam. Ich ging nach draußen und sah in den Himmel. Die Rauchwolken waren immer noch düster, aber sie wirkten längst nicht mehr so bedrohlich. Gott sei Dank! Die Feuerwehr mußte eingetroffen sein. Ich lief so wie einige andere Leute hinüber zum Gelände. Der Rauch war dünner geworden. Als
ich näherkam, konnte ich orangefarbene Flammen auflodern sehen. Verrußte Gerüste ragten aus der Feuersbrunst auf, während Wasser in den Qualm gepumpt wurde. Während ich mich dem Brandherd näherte, bemerkte ich eine ausgelassene Horde Fotografen. Anstatt sich auf das Feuer zu konzentrieren, schienen sie ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes zu richten. Ich blickte genauer hin, um zu sehen, was los war – und wen sah ich im Mittelpunkt der Reporterschar? Unseren eigenen Feuerwehrmann Bill Shatner, mit einem Wasserschlauch in heldenhafter Höhe. „Zeig mit dem Finger auf das Feuer, Bill“, rief ein begeisterter Fotograf. Die Kiefer aufeinandergepreßt, die Brust raus, den Schlauch in der einen Hand, zeigte Bill mutig mit der anderen Hand. Die Kameras klickten eifrig. „Sieh hierhin, Bill“, rief ein anderer. Bill wandte sich wagemutig diesem Fotografen zu, seine Augen erfüllt von fester Entschlossenheit. Klick, klick, klick. „Bill, geh näher ans Feuer“, brüllte ein anderer. Bill bewegte sich ein kleines bißchen nach vorne. Aber die echten Feuerwehrleute erlaubten es einem Schauspieler nicht, einen gewissen Sicherheitsbereich zu verlassen. Unerschrocken posierte Bill weiter, während hinter ihm der Qualm aufstieg. Klick, klick, klick. Nach ein paar Minuten brachten die Presseleute ihn zurück in einen Wagen, mit dem sie ihn hergefahren hatten, und kehrten mit ihm zum Studio zurück. Ich hielt es für besser, selbst auch zurückzugehen. Das Feuer schien nun unter Kontrolle zu sein. Am Abend, als ich vom Studio nach Hause fuhr, berichteten die Nachrichten im Radio von einem großen Feuer auf dem Gelände der Paramount Studios. Zum Glück war Captain Kirk aus „Star Trek“ zur Hilfe geeilt, direkt von den Dekorationen des Raumschiffs Enterprise, um die Bekämpfung des Feuers zu leiten. Ich konnte mir bereits die Fotos vorstellen, die diese
Geschichte am nächsten Morgen in den Tageszeitungen illustrieren würden. Ohne Captain Kirk, so der Radiosprecher atemlos, wäre das legendäre Studio möglicherweise verloren gewesen. „Star Trek III: Auf der Suche nach Mr. Spock“ war gigantisch. Leonard hatte einen Film von epischem Ausmaß abgeliefert. Zum ersten Mal konnten wir die volle Bandbreite der vulkanischen Zivilisation sehen. Die geliebte Enterprise, der wahre Star der Serie, erlebte ihr heldenhaftes und feuriges Ende. Aber in Erfüllung des Titels fanden wir Spock. Unser Freund, um den wir im letzten Film getrauert hatten, war auf übernatürliche Weise zu uns zurückgekehrt. Die „Familie“ war wieder komplett. Es war ein fröhliches Ende, verbunden mit dem verlockenden Versprechen, daß mehr folgen würde. Zum Abschluß der Dreharbeiten wollten wir – Leonards Kollegen seit fast zwei Jahrzehnten – etwas machen, um seine Leistungen bei seiner ersten Kinoregiearbeit zu honorieren. Wir entschlossen uns, auf dem Set für ihn und die Crew ein Essen zu spendieren. Das würde eine festliche Art sein, das Produktionsende zu feiern und Leonard zu ehren. Wir waren alle einverstanden, die Kosten zu teilen – Nichelle, De, Jimmy, Walter und ich… nur nicht Bill. Er hielt sich zurück und sagte, er würde etwas Eigenes machen. Wir waren alle erstaunt, sahen es aber als für Bill typisch an. Das El Cholo Mexican Restaurant, eines der ältesten dieser Art in Los Angeles, lieferte das Essen. Wir luden alle ein, auch Gary Nardino, der die Produktion überwacht hatte. Er war ein kräftig gebauter Mann, dem man ansehen konnte, daß er Essen und Menschen liebte. Gary sprang von Tisch zu Tisch und präsentierte ein breites Lächeln, das seine Zufriedenheit sowohl mit dem mexikanischen Essen als auch mit dem Verlauf der Dreharbeiten zeigte. Er näherte sich Bill. Da er
annahm, der sei einer der Gastgeber dieser Party für Leonard, sagte er höflich: „Wunderbares Essen, Bill. Vielen Dank.“ Bill lächelte freundlich zurück und antwortete: „Nichts zu danken.“ Dann lächelte er weiter. 1984 war ein gutes Jahr für Los Angeles. Es war das Jahr der 23. Olympischen Spiele, die Stadt strahlte. Das futuristische neue Terminal des Tom Bradley International Airport öffnete einladend der Welt seine Türen. Selbst die oft beklagte Luft von Los Angeles feierte mit, indem sie sich für diesen Anlaß in eine kristallklare Atmosphäre verwandelte. Die Reise des Olympischen Feuers von Athen nach Los Angeles war der Auftakt für die Eröffnung der Spiele. Das Feuer wurde von Läufern quer durchs ganze Land bis zu seinem Endziel getragen, dem großen Feuer im Los Angeles Coliseum. Für eine Gebühr von eintausend Dollar erhielt ein Läufer das Privileg, das Feuer einen Kilometer weit tragen zu dürfen. Es würde ein einmaliges Erlebnis sein, das Olympische Feuer in meine Heimatstadt zu den Spielen zu bringen. Ich wollte es unbedingt tun. Zufällig erwähnte ich diesen Wunsch im Gespräch mit Harve Bennett. Er wußte, daß ich Läufer war, und sofort begann sein Geist zu rotieren. Was Harve zu einem so guten Produzenten und Showman macht, ist seine Begabung, aus einer einfachen Idee etwas Großartiges zu machen. Ein paar Tage später rief er mich an, um mir das Geschenk meines Lebens zu machen. „George, wie würde es dir gefallen, das Olympische Feuer zu tragen?“ Natürlich wußte er meine Antwort schon längst. „Wie würde es dir gefallen, es in fünf Städten zu tragen?“ „Es würde mir fünfmal mehr gefallen, ich wäre zehnmal glücklicher und fünfzigmal aufgeregter. Warum fragt du das?“ „Dann bereite dich schon mal darauf vor. Paramount ist damit einverstanden, dir fünf Kilometer in fünf verschiedenen Städten in den Vereinigten Staaten zu kaufen.“ Ich war
sprachlos. Harve schaffte etwas, was nur wenigen Menschen jemals gelungen war: Ich wußte nicht, was ich sagen sollte. Harve war ein einfallsreicher Produzent. „Star Trek III: Die Suche nach Mr. Spock“ würde bald in die Kinos kommen. Meine fünf Kilometer würden eine Publicity für den Film mit sich bringen, die ein Vielfaches mehr wert war als die 5000 Dollar, die Paramount bezahlte. Außerdem bekam Harve so einen über alle Maßen glücklichen Schauspieler. Zu meiner Enttäuschung besagten die Regeln des Olympischen Komitees von Los Angeles, daß niemand mehr als einen Kilometer laufen durfte. So wollten sie mehr Interessenten eine Chance geben. Ich schlug Harve vor, die anderen vier Kilometer an Läufer zu vergeben, die „Star Trek“-Fans waren. Während meiner Conventions war ich mit vielen von ihnen gelaufen. Harve gefiel die Idee, also wählte ich Fans in Washington D.C. St. Louis, Chicago und Denver aus. Natürlich behielt ich Los Angeles für mich. Meine Strecke war ein Traum für jeden Angeleno. Mir wurde das Feuer an der Old Plaza überreicht, der Geburtsstätte von Los Angeles, von dort aus ging es die Los Angeles Street hinunter, über den Hollywood Freeway, am Rathaus vorbei, wo Bürgermeister Bradley mir von den Stufen zuwinkte. Schließlich überreichte ich das Feuer an den nächsten Läufer am Eingang nach Little Tokyo, meiner ethnischen Gemeinde. Es war nur ein kurzer Lauf, aber ein symbolträchtiger Kilometer. Er umfaßte die Geschichte meiner Stadt, schloß die ethnische Vielfältigkeit meiner Heimatstadt mit ein und reflektierte meine politischen Aktivitäten. Und ich lief mit einer Flamme, die quer durch das ganze Land getragen worden war von Vertretern der besonderen Vielschichtigkeit Amerikas; von Jung zu Alt, Mächtig zu Arm, Behindert zu Athletisch war die Flamme nun an mich übergeben worden. Es erfüllte mein verzücktes Herz mit tausend Gefühlen
gleichzeitig, während ich an den jubelnden Massen entlanglief. Ich werde dieses Ereignis niemals vergessen. Ich hatte seit über zehn Jahren mit dem Rapid Transit District zusammengearbeitet. Wir hatten die finanzielle Basis und den Streckenverlauf sichergestellt. Wir hatten die Bauunternehmen unter Vertrag genommen, die Techniker für das System, die Architekten für die Stationen. Wir hatten sogar Vorkehrungen für Kunstwerke in den Stationen getroffen. Diese Kunstwerke sollten nicht nur die Stationen beleben, ihr Stil sollte auch den Charakter der Nachbarschaft widerspiegeln, in der sich die Station befand. Wir wollten, daß die Gemeinden ein Gefühl des Eigentums an den Stationen bekamen, daß sie diese öffentlichen Einrichtungen als Erweiterung ihrer Nachbarschaft betrachteten. Endlich stand der Baubeginn kurz bevor. So ungeduldig der Beginn dieses Arbeiten auch erwartet wurde, gab es für mich eine irritierende Kehrseite. Die Straßen mußten aufgerissen, Umleitungen eingerichtet werden. Lärm, Schmutz und Durcheinander würden entstehen. Die kurzzeitige Störung würde von großer Bedeutung sein. Aber das war auch ein Preis, der für eine drastische Verbesserung der öffentlichen Infrastruktur bezahlt werden mußte. Ich wußte aber auch, das die Geduld der Öffentlichkeit nicht endlos währte. Es würde Verwirrung, Proteste, Demonstrationen und wütend in die Luft gestreckte Fäuste geben. Die Schuld würde unausweichlich den Politikern und anderen Verantwortlichen zugeschrieben werden, also Leuten meines Typs. Aber ich war auch immer noch ein Schauspieler. Meine Karriere hing von der Akzeptanz durch die Öffentlichkeit ab, zumindest von einer minimalen öffentlichen Unterstützung. Ich war der Ansicht, daß die Vernunft und der Fortbestand
meiner Karriere es verlangten, nach elf Jahren den RTDVorstand zu verlassen. Die grundlegende Arbeit des Transit District würde weitergehen, aber mit neuen Leuten, die neuen Herausforderungen begegnen würden. Mit Bedauern – aber mit einem Gefühl, etwas abgeschlossen zu haben – und nicht ohne ein gewisses Gefühl der Erleichterung überreichte ich Bürgermeister Bradley meinen Rücktritt. Ich beendete meine hektische, aber sehr aufregende Amtszeit beim Southern California Rapid Transit District. Es war eine wunderbare Auszeichnung für einen respektierten Kollegen. Leonard erhielt einen Stern auf dem Hollywood Walk of Fame. Es war eine angemessene Ehrung für ein Multitalent, das sich als schöpferischer Schauspieler und als guter Filmregisseur bewiesen hatte. Die Fans bevölkerten den Hollywood Boulevard. Vertreter der Handelskammer von Hollywood waren anwesend. Wir alle kamen zusammen, um Leonard zu loben und zu applaudieren: Gene und Majel, De, Nichelle, Jimmy, Walter und ich. Aber… wo war Bill? Acht Monate später wurde auch Gene mit einem Stern geehrt. 1985 war wahrhaftig ein Erfolgsjahr für die Mitglieder der „Star Trek“-Familie. Aber seiner üblichen Pionierart gemäß stieß Gene auch diesmal mutig dorthin vor, wo noch niemand vor ihm gewesen war. Auch wenn die Sterne auf dem Walk of Fame für eine ganze Galaxis reichten, war er der erste Autor – ein entscheidender Durchbruch. Als die sternenförmige Abdeckung um Punkt zwölf Uhr weggezogen wurde, um den Blick auf einen Stern mit dem Namen „Gene Roddenberry“ freizugeben, war die gesamte „Star Trek“-Truppe anwesend, um diese Gelegenheit zu feiern… bis auf einen. Wo war Bill? Wieder glänzte er durch Abwesenheit. Er schickte nur eine Nachricht, in der er dem Mann gratulierte, der ihm geholfen hatte, ein Star zu werden.
25 Trek Wars Ich hatte Sulu nun fast zwei Jahrzehnte lang gespielt. Während der Fernsehserie und der Kinoabenteuer hatte ich unablässig darum gekämpft, das Ausmaß und die Bedeutung meiner Figur zu vergrößern. Ich wollte ihm mehr Tiefe geben, seinen Charakter lebendiger gestalten, ihn zu einem aktiveren Teilnehmer an der Handlung machen. Ich hatte wirklich alles versucht, aber immer ohne erkennbaren Erfolg. „George, in dieser Stadt verschafft man sich durch Geld Respekt. Es ist einfach so, daß Geld gleich Kraft ist.“ Steve Stevens erläuterte mir die Machtstrukturen in Hollywood. „Konzentriere dich auf das Geld. Du bist für sie wertvoll. Nutze das als Basis, um das Geld zu bekommen, dann werden sie deinen Bemühungen um Sulu mehr Gewicht einräumen.“ Ich wußte, daß ich für „Star Trek“ mehr wert war, als man mir gegenwärtig bezahlte. Paramount war mit den vielen „Star Trek“-Versionen auf eine Goldmine gestoßen. Die Fernsehserie lief nach wie vor überall auf der Welt und brachte dem Studio Geld ein; die ersten beiden Kinofilmen glichen einem Goldschatz; und nun hatte sich „Star Trek III: Die Suche nach Spock“ als äußerst erfolgreich erwiesen. Mir kam es so vor, daß das damit verbundene Merchandising gute Einnahmen bescherte. Bill und Leonard kassierten siebenstellige Beteiligungen, das waren sie auch wert. Aber ich erhielt nur eine bescheidene fünfstellige Gage, dachte aber, ich sei mehr wert.
„Das bist du auch, George. Du hast mehr getan, um für die Serie zu werben, als die beiden zusammen.“ Steve hatte recht. „Das ist wahr. Ich glaube, ich war auf mehr Conventions als sonst jemand, vielleicht Jimmy ausgenommen“, stimmte ich ihm zu. „Aber haben wir nicht eine Optionsklausel aus dem letzten Vertrag?“ „Die ist nur da, um dich an den nächsten Film zu binden. Aber die Bezahlung ist nicht gerecht. Sie entspricht nicht deinem Wert. Stell sie auf die Probe, George, und finde heraus, wie sehr sie dich schätzen.“ Je länger ich Steve zuhörte, um so mehr geriet mein Blut in Wallung. Ich hatte immer nur versucht, den Umfang meiner Rolle zu verbessern. Vielleicht sollte ich wirklich meine Taktik ändern, um die Höhe meiner Vergütung zu verbessern. Vielleicht würde ich dann mein Ziel leichter erreichen können. Ich traf eine Entscheidung. „Na gut, Steve. Wir konzentrieren uns bei „Star Trek IV“ aufs Geld.“ „George, ich kann nicht glauben, daß du das bist.“ Harve war am Telefon. „Wir hatten immer ein so gutes Verhältnis. Ich kann nicht glauben, daß du das bist, der da versucht, uns aufzuhalten. Sprich bitte mit deinem Agenten.“ „Harve, ich versuche nicht, irgend jemanden aufzuhalten. Ich glaube, daß ich etwas verlange, was nur gerecht ist. Ich verlange vom Studio, mich gerecht zu bezahlen. Wenn das Studio nicht glaubt, daß ich das wert bin, dann bin ich bereit, abzuspringen.“ Ich blieb hart. Als ich Steve von dem Gespräch mit Harve erzählte, war er außer sich. „Er hat dich während der Verhandlungen zu Hause angerufen“, wütete er. „Das ist das Unmoralischste, was ich je gehört habe. Kein Produzent sollte mit dem Schauspieler
sprechen und dabei versuchen, den Agenten zu umgehen! Ich möchte nicht, daß er das noch einmal macht. Leg einfach auf!“ Jetzt war auch mein Agent wütend auf mich. Ich erfuhr aber schon bald, daß Steves Wut und Harves Charme ein und dieselbe Sache waren. Beides waren Werkzeuge im Spiel der Verhandlungen in Hollywood. Als nächstes schaltete Harve auf Drohungen um. Mein Telefon klingelte. Ich nahm den Hörer ab und hörte wieder Harves Stimme. Ich wußte, was Steve mir gesagt hatte, aber ich konnte nicht einfach auflegen. „Harve, ich sollte während der Verhandlungen nicht mit dir sprechen. Ich würde es sehr schätzen, wenn du mit meinem Agenten sprichst.“ „Ich möchte dich nur wissen lassen, George, daß das Ganze rechtliche Konsequenzen hat.“ Harves Stimme war ernst und hatte etwas Düsteres. „Eine Karriere kann durch eine Klage beendet werden. Ich warne dich als Freund.“ Ich dankte ihm für die Warnung und legte auf. Ich fragte mich, ob Freundschaft in dieser Branche auch nur ein Werkzeug war. Wenn die Anrufe, die ich erhielt, schon sonderbar waren, so sah sich Steve – der an vorderster Front kämpfte – einem massiven Sperrfeuer unheilvollster anonymer Anrufe ausgesetzt. Sein Telefon bei ihm zu Hause klingelte mitten in der Nacht. Die Stimme am anderen Ende gab kurze, rätselhafte Andeutungen von sich, dann wurde aufgelegt. Eine dieser Botschaften lautete: „Eine rauchende Waffe kann in beide Richtungen schießen.“ Seine arme Frau wurde dadurch zum seelischen Wrack. Die Verhandlungen waren für Steve und seine Familie mit unglaublichem Streß und Angst verbunden. Aber er blieb hart, und letztlich hatten wir Erfolg. Wir erhielten den Vertrag, meine Gage war auf sechs Stellen
gewachsen. Ich fragte mich, ob ich nun Sulus Rolle würde verbessern können. „Mein lieber George, ich bin froh, daß wir alles geklärt haben.“ Harve war wieder ein völlig anderer Mensch. Wir waren immer noch „Freunde“. „Ich wußte, daß wir ohne Sulu an Bord nicht abheben konnten“, schwärmte er. Ich griff mein Stichwort auf. „Danke, Harve. Übrigens, was Sulu angeht…“ Und wieder begann ich mit meiner alten Kampagne. „Star Trek IV: Zurück in die Gegenwart“ sollte eine Zeitreisegeschichte werden. Leonard hatte die Idee mit Harve entwickelt, als er in Frankreich für eine Fernsehfassung von Ernest Hemingways „Verloren und Verdammt“ vor der Kamera stand. Wir wurden ins San Francisco der Gegenwart zurückgeschleudert. Das hielt ich für eine wunderbare Gelegenheit, um etwas über Sulus Herkunft zu machen. San Francisco war die alte Heimat meines Vaters und eine meiner Lieblingsstädte. Ich begann, Harve Ideen zuzuwerfen. Warum machen wir nicht San Francisco zu Sulus Geburtsstadt? Wie wäre es, wenn wir ein Artefakt aus seiner Familiengeschichte entdecken würden? Ich überschwemmte Harve mit Ideen. Walter Koenig schloß sich an und steuerte ebenfalls Ideen für Sulu bei. Er war es auch, der vorschlug, Sulu sollte bei einer zufälligen Begegnung eine Familienverbindung entdecken. Einige Ideen kamen durch. San Francisco wurde Sulus Geburtsstadt. Harve übernahm Walters Idee und schrieb eine köstliche Szene, in der Sulu einem kleinen asiatischen Jungen begegnet und dabei entdeckt, daß es sich um seinen Ururgroßvater in kindlichem Alter handelt. Es war eine grandiose Szene. Ich konnte es nicht erwarten, mit den Dreharbeiten zu beginnen.
San Francisco ist in Liedern und Geschichten als ein Ort beschrieben worden, an dem die Menschen ihr Herz verlieren. Aber als ich mich im schlimmsten Verkehr an einen Wagen der Cable Car klammerte, fragte ich mich, ob nicht auch andere Körperteile wie Arme und Beine dort zurückbleiben könnten. Während unserer Außenaufnahmen für „Star Trek IV: Zurück in die Gegenwart“ hatten Tausende von Touristen eine weitere Attraktion – uns. Wo wir auch hingingen, die „Star Trek“Truppe erwies sich überall als Magnet für die Massen. An einem der Drehorte wurde ich mit einer ganz besonderen Attraktion bekannt gemacht. Wir filmten vor einem historischen Saloon, der am längsten ohne Unterbrechung betriebenen Kneipe in San Francisco. Am Fuß des steil aufsteigenden Hügels auf der Grant Avenue gelegen, war der Saloon ein fröhlich bemaltes Relikt aus der viktorianischen Ära der Stadt. Scotty, McCoy und Sulu waren gerade ins San Francisco des 20. Jahrhunderts gekommen. Alles war für sie exotisch, alles war für sie eine neue Entdeckung. Sie waren sprachlos angesichts der lebenden Antiquität, von der sie umgeben waren. Während wir die Straße entlanggingen, entschloß ich mich, durch das Schaufenster in den Saloon zu blicken. Für Sulu war das eine faszinierende Kuriosität. Man hatte mir gesagt, daß die Menschenmenge im Saloon keine bezahlten Statisten waren, sondern echte Gäste. Wir sollten nicht auf sie reagieren, da sie sonst möglicherweise versuchen würden, eine Bezahlung als Statisten zu verlangen. Am Fenster, am vorderen Ende der langen Theke, saß eine vollbusige, dralle Blondine. Während der Proben legte ich jedesmal die Hände an die Augen, um durch die Glasscheibe zu blicken. Und jedesmal versuchte die Frau, mich zu einer Reaktion zu
bewegen, indem sie angetrunken lächelte und mir zuwinkte oder mir einen verführerischen Kuß zuhauchte. Ich ignorierte alle ihre Versuche, mich zu einer Reaktion zu verleiten. Immerhin bin ich auf mein Profitum sehr stolz. Wir waren schon bald bereit für die Aufnahme. Leonard rief „Action“, und wir drei begannen, talwärts zu gehen. Jimmy lächelte den Kindern zu, die auf der Straße spielten; De betrachtete die seltsamen Gebäude des 20. Jahrhunderts. Als wir den Saloon erreichten, legte ich meine Hände an die Augen, so wie wir es geprobt hatten. Die nette Blondine war immer noch da, und sie war immer noch fest entschlossen, mir diesmal eine Reaktion zu entlocken. Sie faßte den Saum ihrer zerknitterten Bluse und zog sie über ihr Gesicht! Ich starrte verblüfft auf zwei spektakuläre, fleischige Monumente. Sie erinnerten mich an die Lobpreisung der großen Twin Peaks von San Francisco in den Touristenbroschüren. Meine angetrunkene Blondine hatte es geschafft. Ich brach in unkontrollierbares Gelächter aus. „Schnitt! Schnitt!“ rief ein wütender Leonard. „George, die Aufnahme war großartig. Warum hast du das getan? Du hast sie ruiniert!“ Mit liefen die Tränen übers Gesicht, als ich in den Saloon zeigte und unter Anstrengungen hervorbrachte: „Diese Blondine mit ihren zwei gigantischen Bazookas hat sich gerade vor mir ausgezogen!“ Assistenten stürmten in den Saloon, aber die Frau hatte es irgendwie geschafft, durch die Hintertür zu entwischen. Bis heute weiß ich nicht, ob Leonard mir glaubte. Aber es war wirklich geschehen. Würde ich für eine derart phantastische Geschichte meinen Ruf als Profi aufs Spiel setzen? Könnte ich mir in meinen wildesten Träumen zwei derart gewaltige Argumente ausdenken, um Leonard eine Szene zu ruinieren?
Die Szene mit meinem Ururgroßvater stand kurz bevor. Aus Hunderten kleiner asiatischer Jungen, die interviewt, gefilmt und von Leonard begutachtet wurden, wurde ein sechs Jahre alter, knopfäugiger japanischer Junge ausgesucht. Man sagte mir, daß der Videotest hervorragend ausgefallen war. Und als ich ihn am Morgen des Drehs auf der Columbus Avenue traf, fand ich ihn bewundernswert. Aber er wirkte auch ein wenig schüchtern, vielleicht, weil das unser erstes Treffen war. Ich verbrachte meine gesamte freie Zeit mit ihm, bis unsere Szene auf dem Plan stand. Ich spielte mit ihm, ich teilte mit ihm einen Doughnut, ich ließ ihn mein Ledercape tragen. Ich erklärte ihm die Details einer Filmproduktion. Als wir beim Mittagessen zusammensaßen, nannte er mich „Onkel Sulu“. Die ganze Zeit über umschwirrte uns seine Mutter in übertriebener Fürsorge. Als ich vor die Kamera gerufen wurde, sah ich, daß sie sofort das Drehbuch hervorholte und mit ihm den Text durchging. Als die Zeit gekommen war, die Szene mit meinem Ururgroßvater zu drehen, war ich besorgt. Der Junge begann, ein wenig zu schmollen. Er wollte mein Cape nicht mehr tragen. Er wollte keinen Orangensaft mehr trinken. Und er wollte nicht in das grelle Scheinwerferlicht vor der Kamera treten. Auf keinen Fall. Leonard, der Spocks weiße Robe auch trug, wenn er Regieanweisungen gab, hockte sich zu dem kleinen Jungen, um ihn beschwatzen. Für die Zuschauer war es der widersinnigste Anblick. Der ernste Mr. Spock kauerte vor einem kleinen Jungen, lächelte ihn an, redete ihm gut zu, flehte ihn fast an. „Macht es dir keinen Spaß, vor all diesen Leuten zu spielen?“ Der Junge schürzte einfach seine Lippen und schüttelte den Kopf.
„Na gut, ich werde die meisten fortschicken. Willst du zusehen, wie ich sie fortjage?“ Wieder schüttelte er stumm den Kopf. Jede Frage, die Leonard ihm stellte, wurde mit einem Schmollen und einem wortlosen Kopfschütteln beantwortet. Wirklich verletzend wurde es, als Leonard ihn fragte: „Aber du möchtest mit deinem ‘Onkel Sulu’ spielen, nicht wahr?“ Er schüttelte eisern schweigend seinen Kopf. Es war die einzige Antwort, die wir von ihm erhielten. Er hatte beschlossen, nicht vor der Kamera zu agieren. Während wir das stur vor sich hinschmollende Kind anflehten, setzte die Sonne unaufhaltsam ihren Weg fort. Die Schatten der Bürotürme wurden allmählich länger. Auf den Straßen wurde es dunkler. Und als die Sonne langsam hinter Nob Hill verschwand, ging auch ein Großteil von Sulu unter. Von San Francisco zogen wir weiter nach Monterey für die Aquariumszenen. Nichelle, Walter, Jimmy, De und ich waren vor Bill und Leonard fertig, also nahmen wir ein früheres Flugzeug zurück nach Los Angeles. Der Flug hatte in San Francisco einen Zwischenstopp und wie immer gab es auf diesem Flughafen ein Problem. Die Luftfahrtgesellschaft behauptete, es werde rasch behoben, und bat die Passagiere, an Bord zu bleiben. Aber die „kurze“ Wartezeit begann sich hinzuziehen. Nichelle, meine Platznachbarin auf dem Flug, wurde allmählich ungeduldig. „George, das ist lächerlich. Warum steigen wir nicht aus und gehen etwas trinken?“ „Aber Nichelle“, erinnerte ich sie. „Sie haben uns gebeten, hierzubleiben.“ „Darling“, hauchte sie mit heiserer Stimme, lehnte sich zu mir und faßte sich mit einer schwachen Hand an ihren Hals. „Ich trockne aus. Ich muß etwas trinken. Komm bitte mit.“ Ich
war zu alt, um zu schmollen und meinen Kopf zu schütteln, also stand ich auf, um sie zu begleiten. Während Nichelle ihre Fuchsstola um sich legte, schimpfte Jimmy aus der Reihe hinter uns: „Sie haben gesagt, daß sie bald fertig sein werden.“ Nichelle warf ihm nur einen kühlen Blick über die Schulter zu und entschwebte. Ich zuckte mit den Schultern und folgte ihr nach draußen. Ich konnte hinter mir Jimmy hören, wie er zu Walter sagte: „Diese Nichelle – sie geht davon aus, daß wir alle auf sie warten. Ich kenne diese Frau, ich kenne sie nur zu gut!“ Aufzustehen und die Beine zu vertreten war herrlich. In der Nähe gab es eine bequeme Cocktaillounge, wo wir es uns bequem machten und unsere Drinks bestellten. Ich schüttete mein Bier hinunter, aber Nichelle nippte immer nur ein wenig an ihrem Gin Tonic, als wäre dies ein entspannter Aufenthalt. „Nichelle, ich glaube, wir sollten zurückgehen“, deutete ich an. „Hast du dein Bier schon ausgetrunken?“ keuchte sie. „Du mußt Durst haben. Du brauchst noch eins.“ Sofort hob sie ihren Arm, und klapperte mit ihren Armbändern, um den Kellner auf sich aufmerksam zu machen. „Kellner, Kellner!“ „Nein, nein, Nichelle. Wir haben keine Zeit. Wir müssen jetzt wirklich zurückgehen.“ „Noch ein Bier“, sagte sie zum Kellner und deutete auf mich. „Und noch einen hiervon.“ Sie hielt ihr Glas Gin Tonic hoch. Sie war unnachgiebig. Ich muß zugeben: Als ich Nichelle schließlich zum Gehen hatte bewegen können, empfand ich selbst nicht mehr dieses Gefühl der Eile, so schnell wie möglich zurückzugehen. Wir gingen gemütlich zurück zu unserem Flugsteig, Nichelle hatte sich bei mir untergehakt. Als wir an den Geschäften vorbeigegangen waren und die Glasfassade uns einen freien Blick auf das Rollfeld erlaubte, sagte sie träge: „Guck mal,
sieht das Flugzeug, das da vom Flugsteig zurückrollt, nicht genauso aus wie unsere Maschine?“ „Weißt du“, erwiderte ich müßig. „Sie verläßt sogar den gleichen Bereich, in dem sich unser Flugsteig befindet.“ „Ist das nicht witzig?“ kicherte Nichelle. „Oh, mein Gott“, rief ich. „Das ist unser Flugzeug!“ Ich rannte wie ein Verrückter zu unserem Flugsteig, während Nichelle hinter mir her durch den Gang wankte. Aber es war zwecklos. Die Tür war geschlossen. Die Gangway war zurückgezogen worden, das Flugzeug befand sich auf der Rollbahn und beschleunigte. Wir waren zurückgelassen worden. Aber Nichelle ist eine ganz besonders entschlossene Lady. Sie torkelte hinüber zum Schalter und wandte sich an einen Mitarbeiter der Fluggesellschaft. „Oh, es ist schrecklich! Sie müssen die Maschine anhalten. Mein Gepäck und meine Freunde fliegen ohne mich ab.“ Als er aber zögerte, wechselte ihre Stimme von flehend zu einen völlig anderen Tonfall. „In dem Flugzeug sitzt das ‘Star Trek’-Ensemble“, erklärte sie. „Sie müssen es sofort umkehren lassen.“ Er weigerte sich beharrlich, das Flugzeug kehrte allen Anstrengungen zum Trotz nicht um. Zum Glück verkehren stündlich Maschinen zwischen San Francisco und Los Angeles, so daß wir nur eine Stunde später ankamen. Aber unsere Freunde, die wochenlang nicht zu Hause gewesen waren, waren bereits gegangen. Als Nichelle und ich unser Gepäck abholten, hörte ich sie zu sich selbst reden: „Das ist nur Jimmy schuld. Ich weiß, daß er den Piloten angestachelt hat. Dieser Jimmy ist der ungeduldigste Mann auf der ganzen Welt.“ „Star Trek“ hatte mich mit Freunden und Fans auf der ganzen Welt gesegnet. Ihre Liebe und ihre Unterstützung öffneten mir
Türen, die ich mir nicht hätte träumen lassen, und ihre Großzügigkeit hatte mich mit Geschenke überhäuft. Eines der wertvollsten ist eines, das ich tagtäglich mit unzähligen Menschen teilen kann: meine eigener Stern auf dem Hollywood Walk of Fame. Ich rückte in eine Reihe mit Gene, Leonard und Bill auf. Karen Lewis, ein australischer Fan und Organisatorin einer Convention in Sydney, hatte ihn ins Leben gerufen. Die Kampagne für meinen Stern auf dem Walk of Fame hatte in Australien begonnen und wurde dann von der Präsidentin meines Fanclubs im englischen Staffordshire, Ena Glogowska, aufgegriffen. Koordiniert wurde das ganze schließlich von einem Energiebündel einer Frau, Lynn Choy Uyeda in Los Angeles. Am Morgen des 30. Oktober 1986, einen Monat vor der Premiere von „Star Trek IV: Zurück in die Gegenwart“, wurde der Hollywood Boulevard für eine Enthüllungszeremonie abgesperrt. Ein roter Teppich war ausgerollt, eine Rednertribüne und ein Podium waren errichtet worden. Eine japanische Taiko-Trommlergruppe schlug einen herzergreifenden Rhythmus. Freunde und Fans hatten sich auf dem Boulevard versammelt. Karen Lewis führte eine Gruppe aus Australien an. Aus England kamen Ena Glogowska und Amy Stevenson. „Star Trek“-Fans aus der ganzen Welt und aus Little Tokyo waren zahlreich vertreten. Lynn Choy Uyeda hatte das festliche Ereignis organisiert, arbeitete unter Hochdruck und kümmerte sich um die letzten Kleinigkeiten. Nichelle fuhr mit mir und meiner Mutter vor. Gene war dort und begrüßte mich mit einer herzlichen Umarmung. Harve war da, er strahlte. Leonard, De, Walter und Jimmy waren alle gekommen, um an diesem schönen Tag mit mir zusammen zu sein. Als jemand aus der Menge rief „Wo ist Bill?“, konnte ich nur antworten: „Er ist nicht hier.“ Er war eingeladen worden.
In meiner Ansprache machte ich die Feststellung, daß Hollywood alles auf eine ganz eigene Weise macht, sogar in der Art, wie Leute anerkannt werden. „In den meisten anderen Gemeinden wird der Name des Geehrten in Stein gemeißelt und so hoch aufgestellt, daß jeder ihn sehen kann. Nur in dieser Stadt packen wir den Namen in einen Stern und betten ihn in den Fußweg ein, damit die ganze Welt den guten Namen mit Füßen treten kann. Um die Parade derjenigen zu eröffnen, die das mit meinem Namen machen werden, möchte ich die Frau den ersten Schritt machen lassen, die mir half, meinen ersten Schritt zu machen – meine Mutter.“ Bei diesen Worten wurde die vertraute sternenförmige Abdeckung von dem Stein entfernt, ein Stern mit dem Namen George Takei enthüllt. Mein Stern war nur wenig von Gene Roddenberrys Stern entfernt. Leonards Stern befand sich im gleichen Block an der nächsten Ecke. Wir waren noch immer zusammen. Meine Mutter verließ den roten Teppich und plazierte ihren Fuß mitten auf den Stern ihres Sohns auf dem Hollywood Boulevard. Anschließend feierten wir ihn mit einem großen Bankett im Hollywood Roosevelt Hotel. Es war ein rauschender Nachmittag. Einen Monat später hatte „Star Trek IV: Zurück in die Gegenwart“ Premiere, er erhielt grandiose Kritiken und war an den Kinokassen überraschend erfolgreich. Leonard hatte einen riesigen Triumph auf die Beine gestellt. Und „Star Trek V“ war unvermeidlich geworden. Es gab beunruhigende Gerüchte, „Star Trek“ solle als Fernsehserie wiederbelebt werden, diesmal aber mit neuen Gesichtern. Eines dieser Gerüchte besagte, daß die Serie auf der Enterprise spielen sollte, aber – so widersinnig wie nur möglich – mit einer neuen Generation von Starfleet-Offizieren.
„Das ist verrückt“, schnaubte Jimmy. „Die Menschen sind es, die „Star Trek“ ausmachen. Es ist das Zusammenwirken dieser Menschen. Wir sind diejenigen. Wenn sie diesen Unsinn mit einer ‘nächsten Generation’ durchziehen, werden sie es töten! Das ist es! Sie werden es töten.“ „Rat mal.“ Walters Stimme war aufgeladen von den aufregenden Neuigkeiten, die noch ganz frisch waren. „Sie haben eine Besetzung für den neuen Captain! Es ist ein glatzköpfiger Engländer! Kannst du dir das vorstellen? Aber es ja eigentlich nichts Neues. Wir hatten schon vorher glatzköpfige Captains.“ Um ganz ehrlich zu sein, wir waren verstimmt. Wir nahmen es ihnen übel – vor allem, daß man uns nicht gebeten hatte, die Fernsehauferstehung der Serie zu vollziehen, auf die wir sehr stolz waren. Wir hatten das Gefühl, daß „Star Trek“ uns gehörte, und ohne uns würde jede Reinkarnation dem Untergang geweiht sein. Wir waren „Star Trek“ und würden es immer sein! Unsere Überheblichkeit sollte sich aber schon bald in erfreute Bescheidenheit verwandeln.
26 Vom River Kwai nach Edinburgh Wonach ich so hartnäckig gestrebt hatte, begann sich allmählich zu verwirklichen. „Star Trek“ öffnete mir die Tür zu anderen Schauspielengagements. Doch die Anfrage, die ich im Frühjahr 1986 erhielt, kam nicht von einem HollywoodProduzenten. Sie kam aus London und betraf eine internationale Filmproduktion. Kurt Unger, ein in Deutschland geborener und in London lebender Israeli, war an mir für seinen Film „Zurück vom River Kwai“ interessiert. Es war ein Projekt von epischen Ausmaßen, das auf den Aufzeichnungen der Evakuierung der japanischen Armee aus Thailand zum Ende des Zweiten Weltkriegs basierte. Natürlich hatte David Leans Klassiker „Die Brücke am Kwai“ dem Projekt die Aussicht auf Erfolg verliehen. Aber in diesem neuen Film ging es um die Geschehnisse, die denen in Leans mit Oscar-Ehren bedachten Ereignissen folgten. Es war die Geschichte des Rückzugs der Japaner aus Südostasien. Unger hatte mich für die Rolle des Kommandanten eines Kriegsgefangenenlagers am River Kwai vorgesehen. Es war eine lukrative Gelegenheit. Jedoch erklärte er mir auch, daß er eine internationale Schauspielertruppe aus England, den USA und Japan versammelte. Diese Aussage gab mir zu denken. In Japan gab es viele gute Schauspieler, aber er behauptete, er sei an mir – einem japanisch-amerikanischen Schauspieler – für die wichtigste japanische Rolle in dem Film interessiert. Ich hätte umsichtiger sein sollen, aber meine Neugierde hielt mich
nicht davon ab, eine gewagte Frage zu stellen: „Warum mich, einen Amerikaner?“ „Nun“, antwortete er mit seinem breiten deutschen Akzent, „zum einen sprichst du Englisch. Das ist nicht weiter problematisch. Aber ich brauche zudem einen Schauspieler, der international an den Kinokassen erfolgversprechend ist. Du bist eigentlich der einzige japanische Schauspieler, auf den das zutrifft. Ich bleibe mit deinem Agenten in Verbindung.“ Mir wurde klar, daß in den unverblümten Worten des Londoner Produzenten mehr als nur ein Körnchen einer schmeichelnden Wahrheit steckte. Die großen japanischen Schauspieler waren außer in den Kreisen der Liebhaber künstlerisch anspruchsvoller Filme unbekannt. Ich hatte ein Jahr zuvor in London im Musical „Aladdin“ die Rolle des Genie gespielt, aber ich wußte sehr wohl, daß die Entscheidung zu meinen Gunsten wohl auf der großen Beliebtheit von „Star Trek“ in England beruhte. Die Serie, von der viele meiner Kollegen befürchtet hatte, sie würde sie auf ihre Charaktere festlegen, öffnete mir die Tür zu diesen internationalen Produktionen. Die weltweite Popularität von „Star Trek“ griff nun auch auf meine beruflichen Möglichkeiten über. „Zurück vom River Kwai“ dauerte fast so lange wie der Zweite Weltkrieg, bevor der Film in Gang kam. Er sollte auf den Philippinen gedreht werden, aber ein Problem nach dem anderen stellte sich in den Weg. Zunächst wurde die Regierung gestürzt. Die Revolution gegen den korrupten Diktator Ferdinand Marcos brach aus und verhinderte die Aufnahme der Produktion. Der Sieg des Volkes und der Aufstieg von Corazon Aquino, der Witwe des Oppositionsführers, zur Präsidentin brachte einen unsicheren Frieden mit sich. Dann begann die Konstruktion der Sets. Als sie gerade fertiggestellt waren, zog ein verheerender Hurrikan über die Philippinen und
zerstörte die Sets vollständig. Unerschrocken baute die Crew sie wieder auf. Dann schließlich folgten fast monatlich Anschläge auf die neue Präsidentin. Trotz Revolution, Hurrikan, Staatsstreiche und Myriaden anderer entmutigender Katastrophen machte der Produzent Unger unerschrocken weiter. Ich wußte, daß ein Produzent unzählige Talente besitzen muß. Aber nachdem ich Kurt Ungers Strapazen miterlebt hatte, wurde mir klar, daß es eine ganz wesentliche Eigenschaft gab. Er mußte die Ausdauer einer Bulldogge besitzen. Durch die Verzögerungen verlor er wichtige Schauspieler, seine Finanzierung geriet regelmäßig in Gefahr. Seine Probleme mit den Versicherungen waren immens. Und doch machte Kurt verbissen weiter. Ich blieb bei ihm. Im März 1988, zwei Jahre nach dem ersten Kontakt, landete ich auf dem Benigno Aquino Airport in Manila. Schließlich und endlich sollten die Dreharbeiten zu „Zurück vom River Kwai“ beginnen. Aus England kamen Edward Fox und Denholm Eliott, aus Australien Nick Tate, aus Amerika Timothy Bottoms, Christopher Penn und ich. Und aus Japan kam schließlich Tatsuya Nakadai, ein hervorragender Schauspieler, der aus vielen Filmen von Akira Kurosawa bekannt war. Es war eine beeindruckende Besetzung. Aber unsere Probleme waren noch lange nicht gelöst. Die brennende Hitze auf den Philippinen ließ uns austrocknen. Wir mußten uns ständig vor Sonnenstich und Austrocknung in acht nehmen. Jedem von uns war ein Junge zur Seite gestellt worden, der Wasserflaschen tragen mußte. Dann konnten wir in Manila nicht genügend magere Weiße finden, die in meinem Gefangenenlager die Statisten sein sollten. Wir benötigten Hunderte. Durch Zufall kam ein guter Freund aus Los Angeles vorbei, um mich zu besuchen. Er war ein Geschenk des Himmels. Brad Altman, ein Finanzjournalist,
war wie ich ein Läufer, mit ihm hatte ich für Marathonläufe trainiert. Er besaß den spindeldürren Körperbau eines hervorragenden Sportlers. Brad wurde rasch rekrutiert und verwandelte sich zu einem meiner ausgemergelten und mißhandelten Gefängnisinsassen. Tatsuya Nakadai war ein wunderbarer Mann. Aber dieser Schauspieler, den ich in so vielen japanischen Filmen bewundert hatte, entwickelte sich zu einem folgenschweren Problem. Er hatte viel englischen Text zu sprechen, insbesondere einen mit einer großen Rede. Das Problem bestand darin, daß er nicht ein Wort Englisch konnte! Ich war der einzige im Team, der sowohl Englisch als auch Japanisch sprach, also wurde es zu meiner Aufgabe, Nakadaisan bei seinen englischen Dialogen zu helfen. Ich setzte mich mit ihm beim Abendessen zusammen. Am Tag saß ich zwischen zwei Aufnahmen ihm gegenüber, spitzte den Mund und verdrehte meine Zunge, um Töne zu produzieren, die sein japanischer Mund offenbar nicht bewältigen konnte. Wenn er an der Reihe war, stand ich neben der Kamera, wo ich stumm aber mit erheblicher Übertreibung die Worte seines Textes für ihn formte. Nakadai-san litt vor der Kamera, ich litt dahinter. Selbst an den Tagen, an denen ich im klimatisierten Hotel hätte bleiben können, weil ich keine Szenen zu spielen hatte, machte ich mich auf den weiten und beschwerlichen Weg zum Drehort, wenn Nakadai-san vor der Kamera stehen mußte. Die Widerwärtigkeiten, die mit der Entstehung von „Zurück vom River Kwai“ verbunden waren, wurden aufgewogen durch das Vergnügen, mit wunderbaren Schauspielern zusammenarbeiten zu dürfen. Selbst unter den schwierigsten Bedingungen waren sie völlig professionell. Gentleman Edward Fox behielt stets seinen tadellos freundlichen Tonfall und seine Sorge um das Befinden der anderen bei. „Geht es dir gut?“ lautete seine höfliche
Begrüßung für jeden. Ganz der korrekte Gentleman zog er – anders als alle anderen – nie sein Hemd aus, wenn der Regisseur „Schnitt“ rief. Wenn er in die Sonne mußte, formte er ein riesiges tropisches Blatt zu einem Sonnenschirm und ging unerschütterlich von Schatten zu Schatten. Der Engländer schien unter Druck noch mehr zum Engländer zu werden. Denholm Elliot war noch unter Schmerzen höflich. Während der Proben zu seiner Sterbeszene im Dschungel mußte er auf dem Boden liegen, als ihm ein Statist unabsichtlich auf die Hand trat. Er ließ seinen Fuß auf Denholms Hand ruhen und hielt es wohl für eine Unebenheit im Boden. Denholm, der unerträgliche Schmerzen ertrug, blickte seinen ahnungslosen Folterer an und bat ihn sehr höflich: „Ich wäre sehr dankbar, wenn Sie Ihren Fuß von meiner Hand nehmen würden.“ Einige Jahre nach der Premiere dieses Films las ich in den Nachrufen der Zeitung, daß dieser Gentleman verstorben war. Der kräftige blonde Australier Nick Tate war durch die Sonne bereits rosa gefärbt, aber sobald die Crew noch eine kräftige Hand benötigte, um einen schweren Ausrüstungsgegenstand zu bewegen, sprang er sofort in die brennende Hitze und half mit. Während ich es vorzog, mit Nakadai-san im Schatten die Bildung englischer Worte zu üben, befand sich Tim Bottoms mitten im Geschehen und repräsentierte den amerikanischen Geist der Hilfsbereitschaft. Es war eine wunderbare Schauspielertruppe, und ich bedauerte es fast, daß die Dreharbeiten abgeschlossen wurden. Fast, aber nicht völlig. Ich wollte zurück in die zivilisierte Bequemlichkeit meines Heims. Außerdem wartete ein weiteres aufregendes Drehbuch auf mich. Die American Festival Theater Company hatte mich für die Hauptrolle in ihrer Produktion von Shimon Wincelbergs
„Undertow“ eingeladen, die während des gerühmten Edinburgh International Arts Festival in diesem Sommer in Schottland gezeigt werden sollte. Es war ein Stück mit zwei Personen, einem japanischen Soldaten und einem amerikanischen G.I. die kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs auf einer Insel im Pazifik festsaßen. Es schien für mich das Jahr zu sein, diesen blutigen Konflikt zu durchleben. Die beiden Charaktere waren vollkommen gegensätzlich. Der eine sprach nur Englisch, der andere nur Japanisch. Der eine war ein junger Grünschnabel, der andere ein reifer Mann. Und sie waren feindliche Soldaten. Aber zum tragischen Ende des Stücks erkannten sie ihre gegenseitige Abhängigkeit, was ihr Überleben und letztlich auch ihre Menschlichkeit anging. Es war ein verdammt gutes Drama, das schauspielerisch alles forderte. Der amerikanische Soldat wurde von einem begabten jungen Schauspieler verkörpert, Andy McCutcheon, der ebenfalls Läufer war. Früh an jedem Morgen verließen wir unsere elegante Residenz in Edinburgh, liefen über die Gründe des königlichen Hollywood Palace, dann die vom Wind gepeitschten Hügel hinauf zu Arthur’s Seat, so benannt wegen der schroffen Konturen des Gebirges, die an König Artus’ Sattel erinnerten. Wir spielten Undertow in einem restaurierten Saal des alten Netherbow Theater im mittelalterlichen Teil von Edinburgh. Für einen Künstler war es die Erfüllung eines Traums, verbunden mit einem herrlichen Urlaub. Um den Sommer noch unvergeßlicher zu machen, wurde die Produktion mit dem begehrten Scotsman Fringe First Award ausgezeichnet. Die erstaunliche Hingabe der Fans machte die Präsenz von Star Trek sogar in dieser schottischen Stadt im hohen Norden spürbar. Ena Glogowska und ihre Tochter Anna reisten von Staffordshire an, um während der Premiere im Publikum zu
sitzen, sie kehrten in der Mitte der Laufzeit und zur letzten Aufführung zurück. Colin und Freda Boydell aus Cornwall reisten aus dem südlichsten Zipfel Großbritanniens in einem Nachtzug an, besuchten eine Matinee, kamen zu mir hinter die Bühne, um dann zum Bahnhof Waverly zu eilen, von wo aus sie mit dem nächsten Nachtzug zurück nach Hause fuhren. Ihre inbrünstige Loyalität und ihre unglaubliche Unterstützung berührten mich zutiefst. Die Freunde von Star Trek sind ein ganz besonderer Schlag. Ein Teil der amerikanischen Geschichte verfolgte mich bis nach Schottland, um mich aus heiterem Himmel zu überraschen. Der Publizist der Produktion hatte mich regelmäßig losgeschickt, um der Presse Interviews zu geben und so das Stück bekanntzumachen. Als pflichtbewußter Schauspieler ging ich also eines Nachmittags in einen Pub, um mich wie verabredet mit einem Zeitungsreporter zu treffen. „Nun, Mr. Takei“, begrüßte er mich, als ich mit einem Glas Bier Platz genommen hatte. „Was werden Sie mit den 20000 Dollar machen?“ Ich war irritiert. Eine seltsame Art, ein Interview zu beginnen, dachte ich. „Es tut mir leid, aber Sie müssen sich irren“, berichtigte ich ihn. „Ich fürchte, daß ich nicht soviel Geld für meine Arbeit erhalte. Aber ich muß auch sagen, daß meine künstlerische Seele mit jeder Vorstellung gut bezahlt wird.“ Ich versuchte, die Unterhaltung auf den Inhalt des Stücks zu lenken, nicht aber auf die finanziellen Absprachen. „Ich kann Ihnen sagen, daß Ihre finanziellen Interessen auch angemessen bezahlt werden“, antwortete der Reporter in seinem schweren schottischen Tonfall. „Ihr Präsident hat soeben das Gesetz unterzeichnet, nach dem alle japanischen
Amerikaner 20000 Dollar erhalten, die in den amerikanischen Lagern interniert waren. Ich habe es gerade erfahren.“ „Was? Sie wollen mir erzählen, daß er das Entschädigungsgesetz endlich unterzeichnet hat?“ Ich war schockiert und begeistert. Schockiert, weil ich nicht erwartet hatte, daß Präsident Ronald Reagan dieses Gesetz unterzeichnen würde. Es war so lange her, daß ich vor der Commission on Wartime Relocation und Internment of Civilians ausgesagt hatte. Die Kommission hatte ihre Anhörungen 1983 abgeschlossen und dem Kongreß eine finanzielle Entschädigung und eine förmliche Entschuldigung der Regierung für die Internierung empfohlen. Der Kongreß hatte daraufhin das Gesetz H.R. 422 verabschiedet, so bezeichnet in Ehren einer der höchstausgezeichneten Militäreinheit, die aus dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen waren, das nur aus japanischen Amerikanern bestehende 442nd Regimental Combat Team. Das Gesetz sah eine Entschuldigung und eine symbolische Entschädigung in Höhe von 20000 Dollar für jeden einzelnen vor. Die finanzielle Entschädigung war für Präsident Reagan der Haken gewesen. Er war mit der Entschuldigung einverstanden, nicht aber mit dem finanziellen Aspekt. Der Präsident hatte sich beharrlich geweigert, das Gesetz zu unterzeichnen. Aber die Neuigkeiten von Zuhause, die der Reporter mir übermittelt hatte, besagten, daß Präsident Reagan sich nicht länger dem Gewissen anständiger Amerikaner hatte widersetzen können, so daß er schließlich unterzeichnete. Ich war begeistert. Endlich näherte sich dieses düstere Kapitel der amerikanischen Geschichte seinem Ende. Es war der 10. August 1988. Dreiundvierzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Fast sieben Jahre, nachdem ich vor der Kommission ausgesagt hatte. Und neun Jahre nach dem Tod meines Vaters. Es war eine stark verspätete Entschuldigung.
Ich verbrachte diesen Nachmittag damit, dem Reporter meine Geschichte als Amerikaner zu erzählen. Indem ich ihm den komplizierten Prozeß beschrieb, der einer Entschädigung in unserem System vorausgeht, erklärte ich ihm zugleich die Wirkungsweise unserer Demokratie. Ich erklärte, unser Ideal sei eine Regierung durch das Volk. Die Menschen sind natürlich nicht immer so perfekt, wie wir es gerne hätten, aber wir streben immer nach diesem Ziel. Ich ertappte mich dabei, wie ich unbewußt die Worte wiederholte, die Daddy vor so langer Zeit zu mir gesprochen hatte. Ich erklärte ihm, daß die Nachricht aus Amerika ein Beweis für die Lebendigkeit dieses Ideals war. Und ich sagte ihm auch, daß ich diese 20000 Dollar der Einrichtung spenden würde, der ich mich wirklich zugehörig fühlte – dem Japanese American National Museum in Los Angeles. Ich ließ mich auf meinem British-Airways-Platz mit genügend Lesestoff für den elfstündigen Flug von London nach Los Angeles nieder. Nach den Edinburgher Aufführungen von „Undertow“ hatte ich mir eine Woche lang Theaterbesuche in London gegönnt. Wenn ich nicht im Rampenlicht stehe, bin ich meistens auf der anderen Seite im Publikum zu finden. Die 747 fuhr auf die Rollbahn, und wie immer wurde ich ein wenig melancholisch, weil ich London verließ. Das Personal der British Airways half dabei, die nachklingenden Erinnerungen ein wenig länger wachzuhalten. Nach einer guten Flugstunde mußte ich mir die Beine vertreten. Als ich aufstand, warf ich einen Blick auf meinen Platznachbarn, der in ein Buch vertieft war. Es war ein bemerkenswert aussehender Gentleman mit einer leicht gebogenen Nase und einem kleinen Haarkranz, der eine Glatze umgab. Das Profil schien mir vertraut. Aber dieser Zufall
schien mir doch zu unwahrscheinlich. Nein, das kann nicht sein, dachte ich und stand auf. Als ich zu meinem Platz zurückkehrte, sah ich mir den Mann auf dem Platz neben mir noch einmal genau an. Es war wirklich eine verblüffende Ähnlichkeit, dachte ich, setzte mich aber wieder hin und vertiefte mich in meine London Times. Ich versuchte zu lesen, aber meine Neugierde begann, an mir zu nagen. Ich verdrehte heimlich meine Augen in seine Richtung für eine nochmalige Bestätigung meines Verdachts. Es war wirklich unheimlich. Dann bemerkte ich, daß er Dickens las. Ich legte meine Hand auf seinen Arm und begann zu fragen: „Entschuldigen Sie, aber sind Sie nicht…“ Der Mann drehte sich zu mir um, irritiert von der unverhofften Störung. Dann sah ich in seinen Augen, daß er mich erkannte. „Aber sind Sie nicht…“, platzte er hervor. Da wußte ich mit absoluter Sicherheit, daß er der war, für den ich ihn gehalten hatte – Patrick Stewart, der neue Captain einer anderen „Star Trek“-Generation. „Aber sind Sie nicht… George… Sulu!“ stammelte er. „George Takei“, berichtigte ich ihn. „Es freut mich, Sie zu treffen, Patrick.“ Das war unsere erste Begegnung, in gut 11000 Meter Höhe irgendwo über dem Nordatlantik. „Was für ein außergewöhnlicher Zufall“, bemerkte Patrick. Ich hatte über zwei Jahrzehnte „Star Trek“-Erfahrung hinter mir und vermutete, daß das vielleicht kein so großer Zufall war. „Wissen Sie, Patrick, unsere Fans sitzen an den überraschendsten Stellen. Ich habe das Gefühl, daß es irgendwo bei British Airways einen Trekker gibt, der Zugang zur Passagierliste hat und der uns ganz gezielt diese Plätze gegeben hat.“
Patrick Stewart war ein freundlicher Mann und ein angenehmer Platznachbar. Er erzählte, daß er nach Los Angeles zurückkehrte, um mit Dreharbeiten für die zweite Staffel von „The Next Generation“ zu beginnen. Ich befand mich auf dem Weg, um mit den Verhandlungen für den nächsten Film zu beginnen. Wir unterhielten uns bestens über allgemeine Dinge. Das Thema „Next Generation“ vermied ich dabei allerdings. Ich wollte nicht, daß Patrick sich unbehaglich fühlte. „Unsere“ Generation war zuerst verstimmt gewesen bei der Vorstellung, eine andere Generation würde uns ersetzen. Aber trotz unserer Ablehnung zwang uns unsere Neugierde, diese Eindringlinge zu beaufsichtigen. Was wir in der ersten Staffel gesehen hatten, hatte uns tatsächlich so manches unerwartete Vergnügen bereitet. Nicht etwa, weil wir die Episoden für gut hielten, ganz im Gegenteil. Wir empfanden eine boshafte Genugtuung, weil die ersten Episoden so enttäuschend, so erfreulich enttäuschend waren. Insbesondere die dritte ausgestrahlte Episode erfüllte mich mit Schadenfreude. Sie hieß „Gedankengift“, und allein der Titel verriet die unverhohlene Nachahmung. Die Episode war eine exakte Neuverfilmung einer unserer erfolgreichsten Episoden (und zugleich meine Lieblingsepisode) – „Implosion in der Spirale“. Der Kontrast war gnadenlos offensichtlich. „Gedankengift“ war so uninspiriert, eine unausgewogene Neuverfilmung, es war so, als würden Kinder in die Kleidung ihrer Eltern schlüpfen und vorgeben, erwachsen zu sein. Diese blasse Kopie sollte das Vermächtnis weiterleben lassen? Die Zukunft dieser Serie sah alles andere als gut aus. Während ich die Serie weiterhin mitverfolgte, begann mich an „The Next Generation“ etwas anderes zu stören. Es gab eine sehr auffallende Lücke. Unsere Enterprise war eine gelungene Metapher für die Vielfältigkeit des Raumschiffs Erde gewesen.
Unsere Crew personifizierte den Pluralismus der Menschen auf diesem Planeten. Auf der Brücke ihrer Enterprise gab es zwar nun einen Klingonen als Symbol einer galaktischen Koexistenz, aber mindestens ein Drittel der heutigen Erdbevölkerung – und gewiß auch der des 24. Jahrhunderts – zeichnete sich durch Abwesenheit aus. Es gab keine Asiaten auf der Brücke. Zwar waren im Hintergrund oder in Gastrollen gelegentlich Asiaten zu sehen, aber keiner von ihnen hatte – anders als manche Außerirdischen – eine wiederkehrende Rolle. Ich machte Gene Roddenberry während einer Party in seinem Haus darauf aufmerksam. „Gene, ich finde keine Asiaten in der endlichen Vielfältigkeit der „Next Generation“. Wie kommt das?“ „Du weißt ja, daß du damit recht hast. Wir werden daran arbeiten“, sagte er. Vielleicht war dieses Gespräch die Geburtsstunde jener zauberhaften Kombination aus den Namen Keiko und O’Brien. Aber auch wenn sie zauberhaft war, schien sie immer noch eine Kombination der traditionellen asiatischen Wissenschaftlerin und der traditionellen Asiatin zu sein. Und auf der Brücke klaffte noch immer ein Loch in dieser schönen neuen Zukunft. All das besprach ich nicht mit Patrick, als wir gen Westen unseren verschiedenen Missionen entgegenflogen. Der Steuermann der Enterprise des 23. Jahrhunderts befand sich auf dem gleichen Flug wie der neue Captain der Enterprise des 24. Jahrhunderts. Beide kehrten sie für verschiedene Aspekte des gleichen Unternehmens nach Hollywood zurück – „Star Trek“.
27 Trek Wars, die Fortsetzung „Rate mal.“ Noch nie hatte ich in Walters Stimme so deutlich ein schlechtes Omen heraushören können. „Bill wird bei „Star Trek V“ Regie führen!“ „Oh, mein Gott“, stimmte ich ein. „Was sollen wir machen?“ „Ich glaube nicht, daß Jimmy mitmachen wird. Nicht für alles Geld der Welt wird er unter Bill als Regisseur arbeiten.“ „Was wirst du machen?“ fragte ich. „Ich weiß nicht. Ich bin bereit, nach allen Seiten offen zu bleiben… aber dafür müssen sie mich wirklich gut bezahlen.“ Wir alle fürchteten die Aussicht, mit Bill als Regisseur zusammenzuarbeiten. Es war schwierig genug, mit ihm vor der Kamera zu stehen, aber allein die Vorstellung, daß er als Regisseur die totale Kontrolle über unsere künstlerische Leistung haben könnte, war äußerst entmutigend. In seiner Version würden wir wahrscheinlich auf noch geringere Bedeutung reduziert werden. Ich stellte mir die Eröffnungsszene vor, in der wir alle an unserem angestammten Platz auf der Brücke sitzen. Die Enterprise bewegt sich durch ein seltsames Energiefeld, das uns alle verschwinden läßt – bis auf Bill. Dann kehren wir alle zurück, aber die Figuren sehen alle so aus wie Bill! „Warp Drei, Mr. Sulu“, befiehlt Captain Kirk. Eine Gestalt, die exakt so aussieht wie Bill, bestätigt: „Aye, Sir. Warp Drei.“ Kirk ruft den Maschinenraum: „Wir brauchen mehr Energie, Scotty!“
Über die Anlage kommt Bills Stimme mit einem breiten schottischen Akzent und erklärt, das gehe nicht. Jede Rolle wird von Bill gespielt! Er würde sich im siebten Himmel befinden, wenn man ihn bei diesem „Star Trek“-Film Regie führen lassen sollte. Für uns würde es der grauenhafteste Alptraum werden. Würden wir nach unserem jahrelangen Kampf so tief sinken müssen? Hatten wir Star Trek wirklich so nötig? Anscheinend erhielt Jimmy alles Geld der Welt, das er brauchte, um mit Bill zu arbeiten, denn er unterschrieb seinen Vertrag für „Star Trek V“. Auch Walter unterschrieb. Nichelle ebenfalls. Und auch De und Leonard. Ich war der einzige, der noch nicht unterschrieben hatte. Ich hatte mich entschlossen, auch zu unterschreiben, um wieder mit meinen Freunden und Kollegen zusammenarbeiten zu können – aber nur, wenn Paramount soviel zahlen würde, wie ich für „Zurück vom River Kwai“ erhalten hatte. Kurt Unger hatte mich so bezahlt, wie er mich einschätzte – mit seinen Worten „ein Schauspieler mit Chancen an den internationalen Kinokassen“. Mein Agent Steve und ich kamen überein, daß Unger ein Gagenniveau festgelegt hatte. Paramount sollte diese Gage zahlen. Und so begann die Fortsetzung meines Trek-Krieges vom letzten Film. Eine gute Fortsetzung sollte alle vertrauten Elemente des Vorgängers besitzen, aber genügend neue Drehungen und Wendungen enthalten, um erneut zu überraschen und zu entsetzen. In diesem Sinne waren die Verhandlungen für „Star Trek V“ und später „Star Trek VI“ verdammt gute Fortsetzungen. Steve Stevens legte Paramount unseren Vorschlag vor, die Gage, die ich bei „Zurück vom River Kwai“ erhalten hatte. Steve informierte das Studio von unserer Position, und wir
warteten. Vom Studio kam eisiges Schweigen. Wir warteten weiter. Über Wochen hörten wir nichts. Ich hatte mich gerade damit abgefunden, bei „Star Trek V“ nicht mitzuwirken, als Harve anrief. Seine Stimme klang freundlich, fast schon liebevoll. „Mein lieber George, ich würde mich gerne in der nächsten Woche mit dir bei Le St. Germain zum Mittagessen treffen. Ich möchte einige Überlegungen mit dir durchsprechen. Können wir uns treffen?“ Ich antwortete so freundlich, wie ich nur konnte. Ich kannte auch die Spielregeln. „Natürlich, Harve. Sehr gerne. Aber Mittwoch ist der einzige Tag in der nächsten Woche, an dem ich mittags Zeit habe. Paßt dir das?“ Es paßte ihm. Tatsächlich hätte ich an jedem Tag der Woche Zeit gehabt. Le St. Germain war eines der vornehmsten – und teuersten – französischen Restaurants in Los Angeles. Es befand sich auf der Melrose Avenue, nicht weit von Paramount entfernt. Als ich das noble Foyer des Restaurants am vereinbarten Tag betrat, saß Harve bereits an der Bar. „Da ist ja mein Schatz“, rief er und stand auf. „Ich habe einen Tisch für uns reserviert.“ Wir wurden zu einem sonnigen Patio geführt, die Luft schien mit Parfüm erfüllt. „George, ich bin sehr besorgt“, sagte er, nachdem uns EvianWasser eingeschenkt worden war. „Ich möchte dich bei „Star Trek“ haben. Es wäre nicht dasselbe ohne Sulu an Bord. Können wir uns nicht einigen?“ „Mir geht es auch so, Harve. Mein Herz ist bei all meinen Freunden. Sie drehen den Film, und ich sitze hier. Es bricht mir das Herz, daß Paramount mich nicht so einschätzt wie mein letzter Produzent. Es geht mir nur darum, das Niveau zu halten, das ich erreicht habe. Das verstehst du doch, oder?“ Harves Gesicht wurde ernst.
„Du weißt, daß wir ein knappes Budget haben. Was ich jetzt höre, macht mich traurig. Wirklich, George. „Star Trek“ wird ohne dich weitergehen müssen. Ich sage dir das als Freund. Du wirst nicht im nächsten Film sein.“ „Darauf habe ich mich eingestellt, Harve. Ich finde es traurig, daß ein großes Studio wie Paramount mit einem Kassenmagneten wie „Star Trek“ nicht in der Lage ist, mir eine Gage zu zahlen, die ein unabhängiger britischer Produzent aufbringen konnte. Aber wenn das so ist, dann kann ich damit leben. Mein Leben wird weitergehen, zwar mit einer gewissen Leere, aber es wird weitergehen.“ Wir hielten während unseres gemütlichen Mittagessens eine freundliche Atmosphäre aufrecht. In dem üppigen Ambiente des Le St. Germain war unsere Unterhaltung so zuckersüß wie das Gebäck, das auf einem silbernen Wagen angeboten wurde. Unsere Positionen waren dagegen so fest wie der antike Eichentisch, an dem wir saßen. Als sich unsere Wege trennten, geschah das in einer freundschaftlichen, aber endgültigen Stimmung. Ich verabschiedete mich von Harve und hatte das Gefühl, daß „Star Trek“ nun hinter mir lag. „Paramount hat wieder angerufen“, teilte mir Steve am Telefon mit. „Sie wollen immer noch verhandeln. Sie haben ein wenig draufgelegt, aber sie haben unsere Vorstellung noch immer nicht erreicht.“ Ich hatte mich wirklich mit dem Gedanken abgefunden, nie wieder bei „Star Trek!“ mitzuspielen. Und jetzt wurde ich wieder in einen Kreislauf aus Erwartungen, Ängsten und Frust zurückgeworfen. Steve antwortete. Paramount reagierte. Steve blieb hart. Paramount feilschte. Das Pokern ging hin und her. Ich betrachtete Filmverhandlungen als ein Spiel zwischen ungleichen Partnern. Der Produzent hatte die Macht und das Geld, wir, die Schauspieler, besaßen nur unser Talent und den
Bedarf des Produzenten an eben diesem Talent. Fairness spielte in diesem Spiel keine Rolle, und doch war sie die Grundlage für unsere Position. Aber ich hatte noch ein weiteres As im Ärmel. Ich war bereit, einfach zu gehen. Drei Staffeln als Fernsehserie und vier äußerst erfolgreiche Filme lang waren meine Bemühungen, meine Rolle zu verbessern, vergeblich gewesen. Mit den meisten Mitgliedern der Besetzung arbeitete ich gerne zusammen, aber das sollte das einzige sein, was ich vermissen würde, da andere Projekte mir als Schauspieler mehr Erfüllung gegeben hatten. Wenn Harve Bennett nicht bereit war, das anzuerkennen, was ich beruflich abseits von Star Trek geschafft hatte, würde ich das nicht aufgeben, nur um ein weiteres Mal in einer überzähligen Rolle in einem weiteren „Star Trek“-Film aufzutreten. Und dann auch noch unter der Regie von Bill! Ich war fest entschlossen, mein eigenes Leben zu leben. Mein Telefon im ersten Stock klingelte. Nur wenige Leute kennen diese Nummer, also stürmte ich nach oben und bekam den Hörer beim letzten Klingeln zu fassen, bevor der Anrufbeantworter anspringen konnte. Es war Nichelle. „Baby, wir sind alle hier, nur du nicht. Wir vermissen dich.“ Ihre Stimme klang ernst und besorgt. Ich wußte von Walter, daß sie sich alle an diesem Morgen bei Bill zu Hause für einen ersten Blick auf das Drehbuch trafen. „Nichelle, ich kann dir gar nicht sagen, wie leer ich mich fühle, wenn ich weiß, daß ihr alle zusammensitzt und das nächste „Star Trek“-Drehbuch lest. Aber ich hoffe, du verstehst mich.“ „Bleib dran, Honey, ich gebe dich weiter.“ Dann reichte Nichelle den Hörer weiter.
„Georgie“, gurrte die Stimme süßlich. Es war Bill. „Warum bist du nicht hier bei uns?“ fragte er unschuldig. „Bill, ich bin sicher, daß du mit Harve über mich gesprochen hast. Ich würde es zu schätzen wissen, wenn die Verhandlungen ernsthaft angegangen würden.“ „Aber Georgie“, schmachtete er. „Wir brauchen dich hier. Ich brauche dich. Was kann ich tun, um dich umzustimmen?“ Ich wollte sagen, er solle aufhören, mich Georgie zu nennen. Niemand nennt mich Georgie, nicht einmal meine Mutter. Nur Bill. Aber ich riß mich zusammen. „Bill, ich meine das wirklich ernst. Wenn du etwas tun kannst, dann ist es, Harve klarzumachen, wie ernst ich das meine. Ich bin wirklich bereit, es an mir vorbeigehen zu lassen.“ Wir redeten noch eine Weile, dann legten wir auf. Ich war nicht im geringsten über den Anruf verärgert. Glaubte Bill, ein „Georgie“-Anruf würde mich umstimmen? Aber ich wußte es besser. Ich wußte, daß er die Rolle des Regisseurs spielte, der vor der versammelten Besetzung eine letzte heroische Geste macht – der letzte Versuch, den Streuner zurück in die Herde zu holen. Steve erwies sich als der Agent, den ich in ihm bei unserem ersten Treffen gesehen hatte. Er kann die wildesten Verhandlungen führen, handeln und schließlich einen ausgereizten Kompromiß erzielen. Er arbeitete schließlich mit Harve Bennett einen komplizierten Vertrag aus, der in gewisser Weise die Forderung erreichte – aber mit diffizilen Bedingungen. 50000 Dollar Gage war eine „Zahl oder spiel“Abmachung. Mit anderen Worten, die Gage hatte für jedes andere Paramount-Projekt Gültigkeit, das sie mit mir besetzen konnten – ob Fernseh- oder Kinofilm. Damit hatten sie zwar nicht die Gage von „Zurück vom River Kwai“ erreicht, aber Steve hatte zusätzlich eine Option auf „Star Trek VI“
ausgehandelt, mit einer Gage, die deutlich über „Zurück vom River Kwai“ lag. Auf diese Weise hatte er für den nächsten Film einen neuen Preis für mich festsetzen können. Ich dachte über dieses Angebot nach. Auch wenn es nicht der „River Kwai“-Gage entsprach, war das Versprechen attraktiv, einen Teil des Geldes von „Star Trek“ zu einem anderen Projekt zu verschieben. Selbst wenn meine Rolle als Sulu minimal ausfallen sollte, hatte ich durch diese Regelung zumindest meine Aussichten als Schauspieler auf ein anderes Projekt verbessert. Ich nahm an. Die Anspannung war vorüber. Ich rief sofort Walter an und eröffnete unser Gespräch mit den Worten: „Rat mal.“ „Star Trek V: Am Rande des Universums“ war in vieler Hinsicht eine unerwartet angenehme Überraschung. Es begann großartig. Die Außenaufnahmen im Yosemite Nationalpark waren eigentlich eine Woche Urlaub, unterbrochen von wenigen Stunden leichter Arbeit. Meine frühmorgendlichen Läufe in der belebenden Frische des Waldes waren eine tägliches Eintauchen in die Herrlichkeit der Natur. Ich kehrte – mit glänzenden Schweißperlen übersät – in das rustikale Ahwanee Hotel zurück, weckte Walter auf und ging dann unter die Dusche. Wenn ich in den Speisesaal kam, saß Walter bereits dort an einem Tisch in der Nähe des riesigen Fensters, das einen atemberaubenden Blick auf das YosemiteTal gewährte. Nach dem Frühstück begaben wir uns auf gemütliche Wanderungen durch das Tal. Nach einem kleinen Nickerchen war es dann schon Zeit für das Mittagessen. Die wirklich unerwartete Überraschung war Bill. Es war keine unangenehme Erfahrung, ihn als Regisseur zu haben. Eigentlich war er sogar recht gut darin, eine positive Stimmung auf dem Set zu schaffen. Er ordnete seinen beträchtlichen Vorrat an Charme, lud damit seine Waffe und stellte sie auf
„Verzaubern“. Wir waren angenehm überrascht. Sogar Jimmy bemerkte: „Der Mann ist nicht halb so schlimm, wie ich erwartet habe.“ Ich vermutete dennoch, daß mehr dahintersteckte. Bill war ein kluger Schauspieler, kein wirklicher Regisseur. Um in dieser Rolle erfolgreich zu sein, benötigte er unsere Unterstützung. Und wenn es jemanden gibt, der von persönlichem Erfolg angespornt wird, dann ist es Bill. Er packte all sein schauspielerisches Können in seine Bemühungen, als Regisseur zu triumphieren. Er war unterstützend, aufbauend, fürsorglich und entgegenkommend. Aber ich wußte, daß er immer noch Bill war. Wir hatten eine gemeinsame Vergangenheit. Zeigte er sich im Studio immer lebhaft und gesellig. Sein Charme war beabsichtigt, aber immer nur, um seinen eigenen Stern strahlen zu lassen. Ich wußte, daß ich nur eine weitere schauspielerische Darbietung erlebte. Diesmal verkörperte er den gutgelaunten und hilfreichen Regisseur. „Star Trek V: Am Rande des Universums“ kam im Sommer 1989 in die Kinos. Er wurde nicht freundlich aufgenommen. „Am Rande des Universums“ erwies sich fast als prophetischer Titel, er wurde der einzige Film der Reihe, der an den Kinokassen enttäuschte. Aber in gewisser Weise überraschte es mich nicht. Das Drehbuch schien recht verworren zu sein. Es wirkte so, als habe man drei für sich alleingenommen interessante Handlungen zu einer einzigen zusammengezwungen. Vielleicht hätte das Geheimnis von Nimbus III, einem einst paradiesischen Planeten, jetzt reduziert auf einen unfruchtbaren Ort für ausgemergelte, armselige Leute, die nach einem Messias verlangten, zu einem fesselnden Film verarbeitet werden können. Vielleicht wäre die Beziehung zwischen Spock und seinem Halbbruder Sybok ein
faszinierendes Drama geworden. Selbst die an „Das zauberhafte Land“ erinnernde Suche nach Gott hätte eine schrullige Variation von „Star Trek IV“ werden können. Aber alles zusammengeworfen ergaben sie zwei verwirrende und letztlich ermüdende Kinostunden. Der Humor war nicht locker und ausgelassen, sondern wirkte nur bösartig. Die Lacher erfolgten scheinbar auf Kosten der Eigenschaften, die unsere Helden auszeichneten. Chekov und Sulu waren in ihrer Funktion angeblich die besten in der Starfleet. Der erste Witz bestand darin, sie im Wald zu zeigen, wie sie sich hoffnungslos verlaufen haben. Für einen Lacher wurde Uhuras Schönheit für eine Horde Barbaren in der Wüste auf die eines Sexobjekts reduziert. Scott war dafür bekannt, jeden Zentimeter der Enterprise „wie seine Westentasche“ zu kennen. Aber kaum hat er diesen Satz ausgesprochen, läuft er gegen einen nicht zu übersehenden Träger und schlägt sich so selbst k.o. Das ist lustig? Kein Wunder, daß die Fans das nicht akzeptierten. Paramount mußte erfahren, daß es nicht reicht, einem Film einfach die Worte „Star Trek“ aufzudrücken, um die Fans in Scharen ins Kino laufen zu lassen. „Star Trek V“ war kein weiterer Megahit. Ich kehrte von einer Convention in St. Louis zurück und spielte die gesammelten Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter ab. Ich konnte mich an Zeiten erinnern, in den alten Tagen, als „Star Trek“ gerade anlief, als wir solche Geräte noch nicht besaßen. Uns blieb das Ritual erspart, das wir nun nach jeder Phase der Abwesenheit vollziehen müssen. Der technische Fortschritt machte das Leben nicht notwendigerweise leichter, in diesem Fall hatte er uns die Last aufgebürdet, die angesammelten Anrufe des Wochenendes zu beantworten. Mindestens vier Anrufe kamen von Mama. Ich werde nie verstehen, warum sie das Gefühl hat, einen Anruf
nach dem anderen zu hinterlassen, wenn sie weiß, daß ich nicht in der Stadt bin. Ich notierte die Nachrichten auf einem Notizblock, als plötzlich eine Stimme ertönte, die ich so gut nie auf meinem Anrufbeantworter gehört hatte. „George, alter Kumpel, wie geht’s dir?“ Dieser Tonfall war unverkennbar. Es war DeForest Kelley. Aber in seiner Stimme schien Angst mitzuschwingen. Er habe ein Problem, sagte er, und vielleicht könnte ich ihm helfen. Das war alles. Nichts weiter. Ich machte mir Sorgen. Ich hielt das Band an und wählte sofort seine Nummer. Es klingelte einige Male, dann meldete sich seine Frau Carolyn. Es war der gottverdammte Anrufbeantworter! Sie waren nicht zu Hause. Manchmal kann der „Fortschritt“ sehr frustrierend sein. Ich hinterließ meine Nachricht. In den folgenden Tagen kamen sich unsere Anrufbeantworter näher als wir es taten. Was machte De Probleme? Ich war besorgt, meine Angst nahm zu. Aber als ich Carolyns Stimme hörte, kehrten auch angenehme Erinnerungen zurück an die Fünf-Städte-Tour, die wir gemeinsam für die Promotion des ersten „Star Trek“-Films vor fast zehn Jahren unternommen hatten. Sie waren das netteste Ehepaar und einnehmende Reisebegleiter. Carolyn war eine Schauspielerin gewesen, die ihre Karriere aufgegeben hatte, um Mrs. Kelley zu werden. Sie zogen als junges Ehepaar ins Valley, wo sie seitdem in dem gleichen Haus wohnten. Gemeinsam stellten sie etwas auf die Beine, was in Hollywood eine Seltenheit ist: eine dauerhafte Ehe. Meine Besorgnis über das, was De Probleme bereiten mochte, wurde mit jedem Tag größer. Wieder rief ich ihn an, es klingelte, wieder meldete sich Carolyn. Aber diesmal war sie es selbst. „Carolyn! Ich bin so froh, deine Stimme zu hören. Ich mache mir Sorgen um euch, seit De am letzten Wochenende eine Nachricht hinterlassen hat. Was ist euer Problem?“
„Danke für deinen Rückruf, George. Warte, ich gebe dich weiter an ihn.“ Ich hörte gedämpfte Stimmen und andere Hintergrundgeräusche, dann erklang die vertraute, langsame Stimme. „George, ich freue mich, daß du zurückrufst“, sagte er und begann sofort mit der Darstellung eines bürokratischen Alptraums, in den sie geraten waren. Ihre unmittelbaren Nachbarn hatten den gleichen Nachnamen, schrieben sich aber „Kelly“, während De sich „Kelley“ schreibt. Wegen dieser Ähnlichkeit waren ihre Grundsteuerbescheide in der Verwaltung irgendwie durcheinandergeraten. Zinsen und Zuschläge hatten daraufhin begonnen, sich mit alarmierender Geschwindigkeit auf ihrem computererstellten „Steuervergehen“ anzusammeln. Sie hatten angerufen, waren aber nur in ein weiteres verwickeltes Netz aus verwirrender Bürokratie geraten. Sie waren mit den Nerven am Ende und befürchteten, ihr Heim könne in Gefahr geraten. „Du weißt, wie die Verwaltung arbeitet“, sagte De. „Kannst du uns helfen?“ Während ich zuhörte, wie De seine Notlage beschrieb, begann mein Blut zu kochen. Ich wußte, wie verwirrend das Labyrinth der Bürokratie sogar für die sein konnte, die damit vertraut sind. Ich wußte, wie kalt und unpersönlich einige Regierungsangestellte denen gegenüber sein konnten, denen sie eigentlich zu dienen hatten. Wir entfernten uns mehr und mehr von dem eigentlichen Zweck der Regierung, nämlich dem Volk zu dienen. Meine Freunde, die sich Sorgen um ihr Haus machten, wurden mit der schlimmsten Form distanzierter, gefühlloser Verwaltung konfrontiert. „De, das macht mich wütend. Ich werde ein paar Telefonate führen.“ Dann legte ich auf und machte mich an die Arbeit. Ich rief den Abgeordneten an, den ich kannte, und erklärte ihm die Situation. Ich unterstrich die Tatsache, daß diese Leute alles
mitgemacht hatten und noch besorgter und verwirrter herausgekommen waren als zuvor. Die Verwaltung hatte ihren eigenen Fehler noch verschlimmert und ließ nur unnötige Unruhe entstehen. Er sagte, er werde sich darum kümmern. Einige Tage später rief mich De an, um mir zu sagen, daß das Büro angerufen hatte und die Angelegenheit wohl erledigt sei. Dann fügte er an: „Wenn du noch mal kandidierst, laß es mich wissen. Unsere Stimmen sind dir sicher.“ Ich erhielt mehr als die Zusicherung der Stimmen von De und Carolyn als Dank für meinen Anruf bei einem Abgeordneten. Einige Tage später brachte ein Bote einen riesigen Obstkorb, unter deg Bergen exotischer Früchte befanden sich auch Kiwis. Sie waren köstlich, aber viel besser war es zu wissen, daß ich die Gelegenheit hatte, alten Freunden zu helfen. Mit „Star Trek: Das nächste Jahrhundert“ geschah etwas Sonderbares. Die Serie wurde zunehmend beliebter. Die Serie, die uns zunächst als Idee verärgert, dann während der ersten Episoden mit einem heimlichen Gefühl der Bestätigung unserer Befürchtungen erfüllt hatte, schien flügge zu werden. Die Quoten der Serie waren recht gut. Auf den Conventions wurden uns herausfordernde Fragen gestellt, was uns an der Serie nicht gefalle. Ich sah sie mir wieder an. Und ich war überrascht. Die Charaktere waren markanter und stärker geworden. Die Drehbücher waren phantasievoll und provozierend. Themen wie Euthanasie, die Verantwortung einer Gesellschaft für ihre Soldaten und die unendliche Vielfältigkeit der Sexualität wurden erfindungsreich erforscht. „The Next Generation“ hatte die Fackel übernommen und lief recht unabhängig und recht stark. Die Charaktere dieser Ablegerserie waren keine Kopien unserer Charaktere. Vielmehr hatte jeder seine eigene Identität. Picard war kein Abbild von Kirk, Riker war definitiv nicht
Spock. Der Chefarzt war eine Frau, und Worf entstammte unserer unversöhnlichen gegnerischen Rasse, den Klingonen. Auch wenn es eine völlig eigenständige Gruppe war, so war beiden Generationen im Kern eine Sache gemeinsam, das Ideal, sich der Zukunft zu stellen, mit dem Vertrauen auf unsere Fähigkeit, Probleme zu lösen, und auf unsere Kreativität. Der Mangel an Vielfältigkeit auf der Brücke störte mich noch immer, aber die Serie hatte sich spürbar verbessert. Aus unserer anfänglichen Schadenfreude wurde nun väterlicher Stolz. Wir hatten eine weitere Erweiterung des „Star Trek“Phänomens zur Welt gebracht. Denn den Erfolg eines Nachfahren nehmen viele Eltern für sich in Anspruch. Wir fragten uns, ob es „Star Trek VI“ geben würde. Die allgemeine Verärgerung über den letzten Film hatte die Aussichten auf einen weiteren Film einen schweren Dämpfer versetzt. Dennoch gab es in der nahen Zukunft einen kleinen Hoffnungsschimmer. 1991 würde den 25. Geburtstag von „Star Trek“ mit sich bringen. Das Silberjubiläum war nur noch zwei Jahre entfernt. Welch eine wunderbare und zugleich seltene Leistung für eine Fernsehserie, die 1966 recht unglücklich debütierte. Angesichts des nahenden Geburtstags mußte Paramount unter erheblichen Druck geraten sein, sowohl aus der hausinternen Lizenz- und Merchandisingabteilung als auch aus der Öffentlichkeit. „Star Trek VI“ begann schon bald als Möglichkeit zu kursieren. Harve Bennett sollte erneut eine Idee entwickeln. Diesmal würde man mehr Kreativität in das Projekt investieren müssen, um das Schicksal des letzten Films zu vermeiden. Statt dessen aber kam Harve mit einer unglaublichen Idee an.
„Du glaubst nicht, was ich gehört habe!“ Walters Stimme zitterte vor Ungläubigkeit. „Harve will wieder eine FlashbackGeschichte schreiben.“ „Und?“ erwiderte ich. „Wenn es gut gemacht wird, kann das funktionieren.“ „Ja, aber es ist eine Rückblende in unsere Zeit an der Starfleet Academy. Harve will neue junge Schauspieler finden, die uns ähneln, und alle Rolle neu besetzen. Harve will uns ersetzen!“ „Das ist verrückt“, sagte ich. „Der Film soll unseren 25. Geburtstag markieren. Wie soll man den mit Leuten feiern, die nie dabei waren? Das ergibt keinen Sinn!“ Als ich den Hörer aufgelegt hatte, begann sich mein Unglaube über diese unfaßbare Entwicklung allmählich in Zorn zu verwandeln. Ich fühlte mich von Harve hintergangen. Eine seiner Schmeicheleien, die mich dazu veranlaßt hatten, den Vertrag für „Star Trek V“ zu unterschreiben, war die deutlich höhere Gage für „Star Trek VI“ – wenn man die Option wahrnehmen wollte. Ich war rasend vor Wut. Mir war klar, daß Paramount sich an diese Option nicht halten mußte, wenn die Rolle in einer Rückblende neu besetzt wurde. Der „Spiel oder bezahl“-Teil meines Vertrags war auch nicht in die Tat umgesetzt worden. Somit hatte das Studio mir entsprechend das gezahlt, was ich für „River Kwai“ erhalten hatte. Mein wahres Interesse bei der Unterzeichnung hatte darin bestanden, in „Star Trek VI“ die Rolle in eine andere Richtung zu bringen. Auch diese Aussicht war nun zerschmettert worden. Ich war nicht nur auf Harve wütend, sondern auch auf mich, weil ich mich zum Narren hatte halten lassen. Meine Stimmung war nicht sehr festlich, als Weihnachten 1989 näherkam. Ich wurde um so grantiger, je mehr sich das Jahresende näherte. Je mehr ich über diesen Verrat nachdachte,
um so mehr nagte mein Zorn an mir. Das machte es für alle um mich herum unangenehm. Es war ein Zorn, der nur mich selbst verletzte. Ich beschloß, etwas zu tun, anstatt durch ihn die Weihnachtszeit zu ruinieren. Ich betrachtete Harve nicht als meinen Chef. Er war Angestellter von Paramount. Aber ich betrachtete auch Paramount nicht als meinen Chef. Ich arbeitete in deren Auftrag bei „Star Trek“ mit, die den Erfolg der Serie bewahrt hatten. Meine wahren Chefs waren die „Star Trek“-Fans. Ich beschloß, ihnen von Harves Vorschlag zu erzählen. Sie sollten die Richter sein. Vom ersten Wochenende des Jahres 1990 an nahm ich nacheinander an zwölf Conventions teil. Drei Monate lang, jedes Wochenende, war ich in einer anderen Stadt und erklärte meinen „Chefs“, was ihr Angestellter für ihren nächsten „Star Trek“-Film vorgeschlagen hatte. Sie hielten den Atem an, als ich die Nachricht zum ersten Mal verkündete. Informationen verbreiten sich im Fandom sehr schnell, und schon recht bald waren die meisten Trekker informiert. Bereits während der Februar-Conventions machten sie ihrem Unmut Luft. Wenig später erhielt ich einen Anruf. „Hier ist Harve“, sagte die Stimme am anderen Ende der Leitung. Er mußte das nicht sagen, ich erkannte seine Stimme sofort. Aber diesmal klang sie ungewöhnlich ernst. „Ich weiß, was du vorhast, George. Du spielst ein gefährliches Spiel. Ich sage dir das im guten.“ „Dann sag mir, Harve“, erwiderte ich. „Erzähle ich nicht die Wahrheit? Ist das, was ich auf den Conventions erzähle, nicht das, was du machst?“ „George!“ bemerkte er scharf. „Du begehst da eine Dummheit, und ich empfehle dir, damit aufzuhören.“ Ich konnte in seiner Stimme die unterdrückte Anspannung spüren.
„Ich höre auf, Harve, wenn es nicht stimmt. Sag mir, ob es nicht stimmt.“ „Ich sage dir nur das, George. Und ich sage es dir, damit du verstehst, daß du etwas Gefährliches machst.“ Nach dieser ominösen Warnung legte er auf. Es war ein sonderbares Gefühl, derjenige zu sein, der einen solchen Anruf erhält. Die nächsten Wochen waren unheimlich. Jedesmal, wenn ich angerufen und zu einer weiteren Convention eingeladen wurde, dachte ich zweimal darüber nach. Aber ich ging weiter hin. Ich wußte, daß ich die Wahrheit berichtete. „Rat mal.“ Walter! Gott sei Dank! Er trug zwar zu meiner Angst bei, aber er hatte auch eine eigene Art, mit neuen Informationen herauszurücken. Ich hoffte auf positive Neuigkeiten. „Harve ist draußen! Paramount hat seine Starfleet Academy-Idee gestrichen. Harve ist nicht mehr in seinem Büro und auch nicht mehr auf dem Studiogelände.“ Die Macht der Fans hatte ein weiteres Mal zugeschlagen.
28 Captain Sulu! Endlich! Es gab keine Gerüchte, keine Vorabinformationen, einfach nichts. Das Drehbuch für „Star Trek VI: Das unentdeckte Land“ wurde zugeschickt. Und da lag es nun. Gleich auf der ersten Seite, in der ersten Szene hieß es: „Captain Sulu trinkt eine Tasse Tee.“ Ich konnte nicht glauben, was ich dort las. Ich hatte die Idee so lange vorgetragen, so hartnäckig und zugleich ergebnislos, daß meine Bemühungen bereits zu einem automatischen Reflex für mich geworden waren. Tief in meinem Inneren hatte ich mich schon fast damit abgefunden, niemals Sulus Beförderung zu erleben. Ich las die Szene noch einmal. Kein Wort von Bill in dieser Szene. Gut. Während ich weiterlas, spürte ich, wie die Begeisterung in mir entfacht wurde und zu prickeln begann. Das war ein fesselnder Plot! Je mehr ich las, um so stärker wurde das Prickeln. Die Handlung war stürmisch, unbarmherzig, elektrisierend. Sulu war ein beeindruckender Captain! Auch wenn er einmal nicht in einer Szene war, spürte ich seine Präsenz. Captain Sulu eilte zur Rettung eines mißhandelten und heimgesuchten Raumschiffs Enterprise. „Dann soll es sie eben zerreißen“, befahl er, um den entsetzten Steuermann seines Schiffs, der Excelsior, anzutreiben. „Zielen Sie auf diese Explosion und feuern Sie!“ befahl er und ließ den bösartigen klingonischen General in das dunkle Nichts des Weltalls schießen. „Schön, Sie wieder in Aktion zu sehen, Captain Kirk“, sagte er zu seinem alten
Vorgesetzten am Ende der Schlacht. Captain Sulu war unerschrocken, heldenhaft – ein würdevoller Mann. Er war ein klassischer Held. Das war endlich Captain Sulu! Endlich! Ich mußte raus und ein wenig laufen. Ich hätte vor Begeisterung platzen können. Ich konnte mich nicht unter Kontrolle halten. Ich wollte joggen, aber meine Füße entwickelten ein Eigenleben. Das war kein Lauf, sondern mehr ein wahnsinniger Spurt. Ich bin sicher, daß sich meine Nachbarn fragen, was mich dazu brachte, wie ein Besessener meine übliche Route zu rennen. Ich rannte, bis ich völlig erschöpft war. Aber ich fühlte mich großartig. Endlich – Captain Sulu! „Star Trek VI“ begann seine Existenz mit dem Wunsch des neuen Chefs der Paramount Studios, Frank Mancuso, „eine weiteren Star Trek-Film zu drehen“. Er lud Leonard zum Mittagessen ein und besprach mit ihm das Projekt. Leonard schlug eine Idee für die Handlung vor und Nick Meyer als Regisseur. Mancuso war einverstanden, Leonard begab sich nach Provincetown, Massachusetts, wo Nick Urlaub machte. Während langer Spaziergänge am Strand besprachen sie das Projekt und entwickelten gemeinsam eine Handlung, die aus den Schlagzeilen der Tagespresse entstand. Die Berliner Mauer – eine geographische und ideologische Barriere -war gefallen. Der Nuklearanfall im sowjetischen Tschernobyl hatte auch den Zerfall dessen beschleunigt, was Präsident Reagan einmal als „das Reich des Bösen“ bezeichnet hatte. Die alte Weltordnung zerfiel in Chaos und Unsicherheit, in ein „unentdecktes Land“ – aha, da war wieder der hartnäckige Nick mit seinem Shakespeare-Titel. Es gab keine neue Regierung, die die alte ersetzen konnte. Der scheußliche Gestank des Fanatismus stieg aus Quellen auf, wo man ihn am wenigsten vermutet hätte, und unheilvolle Allianzen wurden geschlossen. Aus Ereignissen, die so jung waren wie die
Nachrichten um acht Uhr und so endlos wie der Rosenkrieg, schrieben Nick und Leonard eine tolle Space Opera. Ralph Winter war der Produzent von „Star Trek VI“. Er war bei „Star Trek III“ Beteiligter Produzent gewesen, bei „Star Trek IV“ und „V“ Ausführender Produzent. Dieser Titel klingt beeindruckend, rangiert aber unter dem des Produzenten und wird manchmal spöttisch als der Neffe des Produzenten bezeichnet. Aber bei Ralph entsprach der Titel dem gesamten Umfang seiner Arbeit. Er war für die Koordination aller Aspekte der Produktion zuständig gewesen, das Drehbuch ausgenommen. Produzent Harve Bennett, der auch ein meisterlicher Drehbuchautor war, hatte für die Dramaturgie verantwortlich gezeichnet. Bei Star Trek VI war Harve nicht mehr mit an Bord, Ralph war nun der Produzent. Harve – der sich als Ralphs Mentor fühlte – wollte, daß der zusammen mit ihm Paramount verläßt. Als er aber an Harves Stelle in die Position des Produzenten aufrückte, beklagte sich Harve bitterlich über die mangelnde „Loyalität“. Ralph hatte dagegen das Gefühl, das seine Loyalität zunächst einmal seiner Frau und seinen Kindern galt. Wie sich herausstellte, wirkte sich diese familiäre Loyalität auch für uns positiv aus. Bei diesem Film hatte ich praktisch nichts getan, um für den Captainsrang für Sulu zu werben. Und doch war er hier. Sogar Sulus Vorname wurde zum ersten Mal den Kinogängern genannt. „Hikaru“ war ein Name, auf den Gene Roddenberry in dem klassischen japanischen Roman „The Tales of Genji“ von Lady Murasaki gestoßen war, einem Roman über einen epischen Krieg zwischen zwei verfeindeten Clans. Einer der Helden war ein Poet und Krieger namens Hikaru, der letztlich einen dauerhaften Frieden durchsetzen kann. Gene war von diesem Charakter beeindruckt und gab
Sulu diesen Namen. Und nun war Sulu Captain geworden und hatte im gleichen Zug einen Vornamen erhalten. Ich kam nicht umhin, darüber nachzudenken, wie Sulus Beförderung zustande gekommen sein mochte. Die ganzen Jahre über hatte Leonard von meinen Bemühungen gewußt, bei den Produzenten und den Fans. Aber ich hatte den Verdacht, daß es tatsächlich mit dem ersten Treffen mit Nick zu tun hatte, als der Regisseur von „Star Trek II“ wurde. Damals hatte ich in Harves Büro voller Eifer für Sulu und für den Gedanken einer vertikalen Aufstiegsmöglichkeit in Starfleet eingesetzt. Der Samen, den ich so regelmäßig ausgesät hatte, war durch die Kombination von Leonard und Nick endlich aufgegangen. Sulus Beförderung auf den Kommandosessel hatte Auswirkungen, die größer waren als nur die Weiterentwicklung meiner Figur. Für mich war es ein Zeichen, daß „Star Trek“ wieder die gesellschaftlichen Mißstände aufgriff und auf fiktive Weise die Richtung zeigte. Tüchtige amerikanische Asiaten, genaugenommen Minderheiten und Frauen im allgemeinen mußten feststellen, daß die Leiter zum Erfolg nur bis zu einer bestimmten Höhe, einer „gläserne Decke“, reichte, die sie an einer weiteren Aufwärtsbewegung hinderte. Sie waren in jeder Hinsicht hinreichend qualifiziert, aber sie hatten den Minderheitenstatus. Ich hatte gegen diese Barriere in der Realität und in der Fiktion angekämpft. Mit „Star Trek VI: Das unentdeckte Land“ zeigte die Fiktion einmal mehr die Richtung für unsere eigene Gesellschaft der Gegenwart. In Starfleet gab es keine „gläserne Decke“, Sulus Aufstieg in den Rang eines Captains stellte überzeugend eine echte Leistungsgesellschaft dar. Jeder wollte bei „Star Trek“ mitmachen. Beim ersten Film hatte Gene Roddenberry eine Einladung an die Fans ausgesprochen, um eine von hundert Statistenrollen zu besetzen. Wir stellten fest, daß die Bewerber, die eine
Starfleet-Uniform tragen wollten, sich nicht einmal von der Kürze ihres Auftritts im Film abschrecken ließen. Aus allen Ecken des Landes schrieben die Fans, die für einen kurzen Augenblick im Film zu sehen sein wollten. Christian Slater, ein guter Schauspieler und beliebter Star, war nicht anders. Er kämpfte voller Eifer darum, in „Star Trek VI“ mitzuspielen. Jede Rolle, ganz gleich, wie groß. Er wollte dabeisein. Es war für ihn von Nutzen, daß seine Mutter Besetzungsleiterin war. Schließlich erhielt Christian eine kleine Rolle als besorgter junger Ensign, der Captain Sulu mitten in der Nacht aufwecken muß. Auf dem Set der U.S.S. Excelsior trug er dann die Uniform, die er schon seit langem hatte anziehen wollen. Er war wie aufgeregter „Star Trek“-Fan. „Mein Herz macht Sprünge wie ein Kaninchen.“ Er grinste. Für mich sah er mehr aus wie ein übermütiges Hündchen, er sprang förmlich vor Freude auf dem Set. Christian Slater war ein liebenswerter junger Fan, der zufällig selbst ein gefeierter Star war. Nur eine Sache vermißte ich als Captain Sulu der Excelsior. Niemand von der Enterprise-Gang war bei mir. Ich verlangte nach ihrer Gesellschaft, mir fehlte der Klatsch und Tratsch, die Nörgeleien, die Kameradschaft. Alle meine Szenen spielten auf der Excelsior, ausgenommen die im Camp Khitomer. Das war die einzige Szene, in der wir alle vereint sein würden. Ich freute mich auf die vier Tage Dreharbeiten für die Friedenskonferenz im Camp Khitomer. Es war eine ausgefeilte Sequenz, die als Außenaufnahme in Simi Valley gedreht wurde, zusammen mit etwa hundert Statisten, vielen von ihnen in komplexen Masken und Kostümen. Die Wucht der Produktion verstärkte die festliche Stimmung des Wiedersehens mit meinen Freunden. Es war gut, wieder mit ihnen zusammenarbeiten zu können.
Jimmy zeigte mir die Pläne für sein neues Haus, das er und seine Frau Wende bauten. Jimmy zeigte sie mir voller Stolz , während Nichelle aus ihrem Trailer mit einer Zeichnung für ein Kostüm aus ihrer kommenden Ein-Frau-Cabaret-Show kam. „Sieh dir die Kleider an, die ich für mich entworfen habe“, schwärmte sie begeistert. „Dieses hier ist wirklich sensationell.“ „Willst du wohl warten, Nichelle“, rief Jimmy. „Siehst du nicht, daß ich George diese Pläne zeige?“ „Oh, Jimmy, du kannst so ungeduldig sein“, erwiderte Nichelle schnippisch. „Du zeigst deine alten Pläne schon die ganze Woche herum.“ „Ja, aber George hat sie noch nicht gesehen. Würde es dir also etwas ausmachen?“ Jimmy und Nichelle nörgelten aneinander herum wie ein altes Ehepaar. Walter war an allen Fronten mit Schreibprojekten beschäftigt. Wir alle hatten nach diesem Auftritt neue Verpflichtungen. Wir waren alle geschäftig, geschäftig, geschäftig. Ich liebte diese gesellige Angabe meiner Schauspielerkollegen. Nur De machte nicht mit – De, der sich selbst zum „faulsten Schauspieler der Stadt“ erklärt hatte. Er genoß das ruhige Leben mit seiner lieben Frau Carolyn. Dann traf mich die düstere Erinnerung eines anderen Aspekts, der mit Star Trek verbunden war. Hundert Statisten in außerirdischen Kostümen standen bereit, als die Produktion zu einem abrupten Halt kam. Bill wollte eine Szene nicht so spielen, wie Nick sie filmen wollte. Die Reaktion der Kanzlerin Azetbur war der Mittelpunkt der Szene, Nick hatte die Kameraeinstellungen und die Bewegungen der Schauspieler um diese Reaktion herum angeordnet. Bill war anderer Ansicht, und er war fest entschlossen, daß die Szene
seinen Vorstellungen entsprechend gefilmt wurde – oder gar nicht. Wir standen da und warteten, während sich die müden Statisten hinhockten, ohne ihre exotischen Kostüme zu beschmutzen, Techniker ließen gelangweilt und ungeduldig ihre Augen rollen. Und die Leute von Budget standen entsetzt und händeringend da. Bill war völlig unbeeindruckt. Seine Entschlossenheit schien ihn blind alles zu machen, was um ihn herum geschah. Trotz meiner Verärgerung fühlte ich nur Trauer für ihn. Bill hatte sich über die Jahre verändert. Er hatte Menschen verletzt, aber er schien diesen Schmerz nicht zu erkennen, den er anderen zugefügt hatte. Er hatte seine Kollegen verunglimpft und vergnügt darüber gekichert. Er hatte immer nur genommen. Und auf diese Weise hatte er sich selbst herabgesetzt. Da, wo er von jahrzehntelangen Beziehungen hätte profitieren können, hatte er nur eine dicke Haut entwickelt. Er hätte von der Gesellschaft talentierter und engagierter Menschen profitieren können, die ihn über die Jahre umgeben hatten. Aber er war der isolierte „Star“ geworden, der nicht einmal wahrnahm, daß er für alle, die ihm umgaben, zur Zielscheibe ihres Spotts geworden war. Bill hatte sich verändert. Der energiegeladene junge Schauspieler, der Stern, der so kraftvoll gestrahlt hatte, als ich ihm 1965 begegnete, hatte sich selbst reduziert auf eine traurige, sture, ignorante Zielscheibe für höhnische Witze. Aber Bill war der einzige grobe Stoff in einem seltenen und vielleicht nie wiederkehrenden Teppich der Erfahrungen. Ich genoß jede Minute der Dreharbeiten zu meinem liebsten „Star Trek“-Film.
LEBE LANGE UND IN FRIEDEN
29 Gene Das Telefon klingelte. Es war Nichelle am anderen Ende, sie war in Tränen aufgelöst. „Oh, Gene… George, oh, Gene…“ Ihre Gefühle überwältigen sie. Ihre Worte wurden von Weinkrämpfen erschüttert. Ich konnte sie nicht wirklich verstehen, aber ich wußte, was geschehen war. Ich rief Ralph Winter in seinem Büro in den ParamountStudios an und erfuhr durch ihn von Genes Tod. Es war der 24. Oktober 1991. In dem Jahr, in dem seine Schöpfung Star Trek ihren 25. Geburtstag feierte, verstarb Gene. Der Tod ist schmerzhaft. Der Verlust eines guten Freundes ist immer eine Qual. Aber wenn es der Tod eines großen Mannes ist, der so vielen Menschen soviel gegeben hat, der unserer Welt soviel gegeben hat, dann ist das Gefühl des Verlusts immens. Gene war mein Chef, mein Mentor, mein Verbündeter, mein Kumpel. Er war ein Führer durch das Leben, der mir die Tür zu unzähligen Erfahrungen öffnete. Er war ein sanftmütiger Philosoph, der mein Leben auf so vielfältige Weise formte, ein Mann, dessen Geist mich so sehr inspiriert hatte, wie er in seinem Herzen großzügig zu mir gewesen war. Er war ein Freund, dessen gutgelauntes Glucksen mich ebenfalls fröhlich stimmte. Der Schmerz über den Verlust war überwältigend. Meine Trauer war untragbar.
Aber an jenem Wochenende stand eine „Star Trek“Convention in Oklahoma City auf dem Plan. Ich rief Adam Malin von Creation Conventions an, um abzusagen, weil ich der Ansicht war, daß ich nicht teilnehmen konnte. Adam verstand mich und fühlte mit mir, dennoch ermutigte er mich, nicht abzusagen. „George, überall in Amerika trauern die Leute um Gene Roddenberry“, sagte er sanft. „Einige von denen sind in Oklahoma City. Du könntest sie trösten, indem du deine persönlichen Erinnerungen an Gene mit ihnen teilst. Wenn du absagst, wird das ihr Verlustgefühl nur noch verstärken. Wenn du hingehst, kannst du ihnen helfen, ihren Schmerz zu lindern. Bedenk das bitte.“ Ich entschied mich, nicht abzusagen, und flog an dem Wochenende nach Oklahoma City. Ich nahm mir vor, diese Zusammenkunft von „Star Trek“-Fans zu meinem Gedenkfeier für Gene zu machen. Ich eröffnete die Convention, indem ich erzählte, wie ich diesen Mann 1965 zum ersten Mal traf. Ich war ein junger Schauspieler, der auf eine feste Rolle in einer Serie hoffte. Damals hatte ich ihn fälschlich „Mr. Rosenbury“ genannt. Ich erzählte ihnen von dem Spaß, den wir damals hatten. Von meinen Versuchen, ihn dazu zu bewegen, mit mir zu joggen. Von dem gemeinsamen Spaß auf den Parties, die er veranstaltete. Von seiner Hilfe, als ich mich um ein öffentliches Amt bewarb. Ich erklärte ihnen, wie sehr seine Ideen und seine Philosophie mich geformt hatten. Ich sagte ihnen, daß ich ihn sehr vermißte, aber auch, daß er uns ein großes, wunderbares Vermächtnis hinterlassen hatte. Dann rief ich die Fans auf, ihre Gedanken über Gene mit uns allen zu teilen. Einer nach dem anderen kam nach vorne. Ein junger Mann im Rollstuhl erzählte von der Inspiration, sich mit
Computerprogrammierung zu befassen, eine Inspiration, die „Star Trek“ ihm gegeben hatte. Eine junge Frau, die von ihrem gewalttätigen Vater mißhandelt worden war, hatte den Mut zum Handeln durch „Star Trek“ gewonnen. Ein anderer junger Mann strebte danach, Astrophysiker zu werden. Einer nach dem anderen kamen sie nach vorne, jeder eine Personifizierung von Genes Menschlichkeit und Stärke. Während ich zuhörte, spürte ich bei jeder Aussage, daß Gene dort unter uns war. Gene war gestorben, aber in diesen Menschen war er noch sehr lebendig. Sie alle waren Teil von Genes Vermächtnis. Solche Vielfältigkeit in so vielen Kombinationen, solche Stärke und solch strahlender Optimismus… weit weg in Oklahoma City. Ich blieb dort bis zum frühen Abend, um ihnen zuzuhören. Ich war froh, daß ich diese Convention nicht abgesagt hatte. Mein Honorar für die Convention spendete ich im Gedenken an Gene für einen wohltätigen Zweck. Der Gedenkgottesdienst für Gene wurde am 1. November auf dem Friedhof Forest Lawn in Hollywood abgehalten. Es wimmelte vor Leuten, die von Gene berührt worden waren. Einige waren sogar in Starfleet-Uniformen erschienen. Patrick Stewart sprach gewandt und bewegend. Whoopi Goldberg war urig und ergreifend. Michelle sang großartig. Jeder, den Gene berührt hatte, war dort. Wir waren gekommen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Wir wollten dort sein, um unsere Trauer zu teilen. Wir waren dort, weil wir das Privileg besaßen, einen ganz besonderen Mann kennengelernt zu haben. Wir waren dort, weil wir ihn liebten. Gene war ein Mann der Ideen und der Ideale. In einer zynischen Zeit, in der Idealismus als etwas Unechtes verlacht wird, als Scheinheiligkeit, griff Gene nach einer optimistischen, entschieden positiven Vision der menschlichen
Zukunft. Unsere Vergangenheit ist ganz sicher nicht immer nur gut gewesen, und das galt auch für die Geschichte seiner Kreation „Star Trek“. Aber er besaß den Mut, sich in ein Medium – das Fernsehen – zu begeben, das für seine Mittelmäßigkeit berühmt ist, und es ohne jede Chance auf Erfolg allein mit seinem Idealismus zu verbessern. Mit den gleichen brillanten Idealen gelang ihm das auch in einem Medium, in dem nur Dollarbeträge und verkaufte Eintrittskarten zählen – dem Kino. Er sprach die Massen an mit der Idee, daß die Kombination unvollkommener Kreaturen in einer unvollkommenen Welt, die nach den Sternen greift, sich durchsetzen kann. Er glaubte, daß jedes menschliche Wesen etwas Besonderes besitzt, das zusammen mit der Einzigartigkeit der anderen wunderbare Ergebnisse erzielen kann. Unendliche Vielfältigkeit in unendlich vielen Kombinationen, nannte er es. Purer Idealismus! Alle, die von Gene berührt worden waren, waren anwesend. Aber wo war Bill? Wir sahen uns um, er fehlte als einziger. So wie immer. Aber dennoch war auch er Teil dieser Welt, die Gene berührt hatte – dieser Welt der unendlichen Vielfältigkeit in unendlich vielen Kombinationen. Einer Welt voller Menschen mit offensichtlichen Talenten und verborgenen Schwächen, Menschen mit scheinbaren Gebrechen, die überraschende Gaben besitzen, Menschen mit unterschiedlicher Vergangenheit und unterschiedlichen Ansichten. Gene hatte uns zu unserer eigenen besonderen Kombination zusammengebracht – Bill Shatner, Leonard Nimoy, DeForest Kelley, Nichelle Nichols, Jimmy Doohan, Walter Koenig und mich.