Zauber einer Winternacht
Catherine Spencer
Julia Weihnachten 16 - 1/03
Gescannt von almutK Korrigiert von claudiaL
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Zauber einer Winternacht
Catherine Spencer
Julia Weihnachten 16 - 1/03
Gescannt von almutK Korrigiert von claudiaL
1. KAPITEL Ava fühlte sich entsetzlich, und so sah sie auch aus. Durchgefroren bis auf die Knochen, hing ihr das Haar wie erstarrte Rattenschwänze ins Gesicht. Dort, wo ihre Nase saß, spürte sie nichts mehr, so als hätte man ihr das gute Stück amputiert. Sie drückte sich tiefer in den Stall und sah zu, wie Leo in der schwarzen Nacht verschwand. „Warte hier", hatte er gesagt. „Ich gehe rüber zum Ranchhaus und hoffe, dass jemand Mitleid mit uns hat." Das unregelmäßige Stampfen und der warme Tiergeruch verrieten ihr, dass sich hinter ihr im Stall Pferde befanden. Irgendwo auf der anderen Seite des Korrals steckte Leos Ford mit der Nase voran und bis zur Hinterachse in einer tiefen Schneewehe. Und keine fünfzehn Meilen entfernt warteten ihre Eltern darauf, sie nach drei Jahren Abwesenheit Weihnachten endlich wieder einmal bei sich zu haben. Mit ihrem ehemaligen Idol Leo Ferrante in einem Stall zu hocken gehörte allerdings ebenso wenig zu ihren Plänen wie die Tatsache, dass er am Flughafen von Skellington auf sie gewartet hatte, als sie mit sechsstündiger Verspätung dort gelandet war. Eigentlich sollte er längst mit seiner Herzensdame beim Essen sitzen, anstatt mit ihrer besten Freundin in knietiefem Schnee zu stecken. Als sie ihn in der Empfangshalle inmitten der wenigen Wartenden gesehen hatte, die er fast alle überragte, hatte sie erwartet, dass er sie nicht erkennen würde. Ihr zweiter, drängender Wunsch war gewesen, dass er sie tatsächlich nicht erkannte. Schließlich waren sie beide sechzehn gewesen, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten. Damals war sie sich so ungelenk vorgekommen, mit ihrer zu dünnen, hoch aufgeschossenen Figur. Sie fand, in den letzten zwölf Jahren hatte sie sich zumindest in dieser Hinsicht eindeutig verbessert. Sicher würde er in der eleganten, kosmopolitischen Frau nicht das hausbackene Mädchen erkennen, nach dem er bestimmt Ausschau hielt. Kaum war sein Blick auf sie gefallen, zerstörte er jedoch all ihre Hoffnungen, indem er direkt auf sie zugeschossen kam und sie mit einem Lächeln festnagelte, das ihr geradewegs ins Herz fuhr. „Ava, dich hätte ich überall erkannt!" Oh, wie furchtbar! dachte sie, entsetzt von ihrer reichlich verspäteten und völlig unangebrachten Gefühlsaufwallung für den Schwärm ihrer Teenagerjahre. Sie vertrieb sie sogleich entschlossen. Er war Deenies Geliebter - schon bald ihr Verlobter, wie Deenie in ihrem letzten Brief mehr oder weniger angedeutet hatte -, und Ava war nach Haus gekommen, um Weihnachten mit ihrer Familie zu verbringen, nicht um sich lächerlich zu machen, indem sie sich nach einem Mann verzehrte, den sie nicht haben konnte. So hatte sie auf den dreißig Meilen Fahrt nach Owen's Lake viel gelächelt, höflich Smalltalk gemacht. Und sich selbst dazu gratuliert, die elegante, weltgewandte Frau zu spielen, die für ein paar Tage nach Haus flog, um sich ein wenig von ihrem abenteuerlichen Leben im Ausland zu erholen. Das allerdings nur, bis der Wagen mitten im Nirgendwo stecken blieb und sie sich mit den eleganten Lederschuhen, die inzwischen ihre Füße wie unnachgiebige Eisblöcke einschlössen, über eine windgepeitschte Weide ihren Weg suchen musste. Als er merkte, welche Mühe sie hatte, mit ihm Schritt zu halten, legte er ihr den Arm um die Schultern und versuchte sie vor dem unbarmherzig eisigen Wind so gut wie möglich zu schützen. Sein perfekter Körper unter der Schaffelljacke hatte sich schlichtweg wundervoll angefühlt. Bei jedem Schritt streifte sein Schenkel ihren und machte ihr zunehmend bewusst, wie köstlich männlich und stark er war: eine unwiderstehliche Mischung aus Weltklassesportler und Filmstar, angezogen wie ein Kleinstadtanwalt, der das Mädchen von nebenan umwarb. Er hatte Ava nie geküsst, niemals ihre Hand gehalten. Niemals auch nur durch ein Wort
oder eine Geste bedeutet, dass sie ihn interessierte Für ihn war sie nichts weiter gewesen als das Mädchen, das sechs Häuser entfernt am noblen Charles Owen Crescent wohnte und manchmal mit ihren Eltern zu ihnen kam, um am Swimmingpool zu grillen oder für einen Weihnachtsbesuch. Diejenige, die zusammen mit ihrer Freundin Deenie kicherte, rot anlief und hinter der Hand flüsterte, wann immer er in ihrer Nähe auftauchte. Als sie nun in diesem Stall hockte, fand sie es irgendwie ungerecht, dass er es schaffte, sie innerhalb einer Stunde wieder in ein unansehnliches Häuflein Elend zu verwandeln, besessen von sowieso vergeblichem Begehren. „Halt dich ja zurück, Ava!" ermahnte sie sich laut. „Leo Ferrante war niemals mehr außer Reichweite als jetzt." Ein Pferd steckte seinen Kopf aus der nächstgelegenen Box, wieherte ungnädig und sah sie vorwurfsvoll an, als wollte es sagen: Entschuldige, aber wir möchten schlafen! „Tut mir Leid, dass ich euch störe, mein Hübscher", meinte sie beruhigend, ging zu ihm und strich ihm über die samtweiche Schnauze. „Freu dich, wir sind bald wieder von hier verschwunden." „Versprich nichts, was du nicht halten kannst." Leo betrat den Stall und hatte ihre Worte offenbar mitbekommen. „Ich fürchte, wir hängen hier erst einmal fest." Das gefiel ihr absolut nicht. „Wie lange, schätzungsweise?" Er zuckte mit den Schultern. „Mindestens bis morgen früh." „Meinst du etwa exakt hier?" Sie sah sich ungläubig im Stall um. Für die Pferde mochte er zweifelsohne luxuriös sein, aber menschlichen Wesen bot er wenig Komfort. „War denn niemand drüben im Haus?" „Nur eine sehr nervöse junge Mutter mit einem Baby, das unter Koliken leidet. Ihr Mann scheint bei einem Nachbarn zu sein, um ihm bei einem kranken Tier zu helfen. Und selbst wenn sie bereit wäre, Fremde über die Türschwelle zu lassen, ihre Wachhunde haben entschieden etwas dagegen." „Ich bin sicher, wenn du ihr erklärst ..." „Das habe ich." Er zog die Handschuhe aus und berührte kurz ihre Wange, eine wirklich hübsche, leider zu kurze Geste. „Es ist nicht gerade die Heimkehr, die du dir vorgestellt hast, nicht wahr, Ava? Aber immerhin konnte ich die Frau überreden, bei deinen Eltern anzurufen und ihnen zu sagen, dass mit dir alles in Ordnung ist." Eigentlich hatte sie sich vorgestellt, ein Taxi zu nehmen und von Skellington zu dem großen alten Haus in Owen's Lake zu fahren, in dem sie geboren worden war. Und dort von ihren Eltern bei heißem Kakao freudig begrüßt und mit tausend Fragen überhäuft zu werden. Sie hatte sich den Garten ausgemalt, erleuchtet von Hunderten bunter Lichter zwischen den Bäumen und Büschen. Und die mit Tannenzweigen, roten Schleifen und silbernen Glocken geschmückte Veranda. Sie hatte sich auf den würzigen Duft des Kaminfeuers gefreut, auf die flackernden Flammen in dem kühlen weißen Marmorkamin im Wohnraum und auf den mächtigen Weihnachtsbaum am großen Erkerfenster. Sie hatte die glücklichen Gesichter ihrer Eltern vor sich gesehen, die nicht ahnen konnten, wie sehr sie sie um ihr Glück beneidete. Hatte sich ausgemalt, ihr schickes Lederoutfit aus Thailand zu tragen, das so weich und weiß war wie geschlagene Sahne. Oder in ihrem perlengeschmückten Seidenkleid, das sie in Hongkong gekauft hatte, ins Wohnzimmer zu schweben. Mit anderen Worten, sich und die Situation völlig im Griff zu haben und den Eindruck zu verbreiten, als könne es ihr nicht besser gehen, egal wie es in ihr aussehen mochte. Stattdessen würde sie die Nacht mit Leo verbringen müssen. In einem Stall. Und aussehen wie jemand, von dem nicht einmal ein Hund einen Knochen annehmen würde. Zumindest keiner mit auch nur etwas Stolz. Fast bedauerte sie es nun, nicht den Heiratsantrag eines dankbaren Stammesführers
angenommen zu haben, dessen Sohn sie während seiner Krankheit betreut hatte. Ihm war sie immerhin so viel wert gewesen wie sein preisgekrönter Wasserbüffel! Leo hingegen musterte sie, als hätte er die Dame mit Bart eines Wanderzirkus vor sich! „Du siehst nicht gerade gut aus", bemerkte er, als wüsste sie das nicht selbst. „Danke für die Blumen", erwiderte sie verschnupft. „Dein Kompliment hat mir zu meinem Glück gerade noch gefehlt!" „Ich meinte damit, du bist ja schon blau vor Kälte. Du steigst besser schleunigst aus deinen nassen Sachen." „Und dann?" Sie versuchte zu lachen, was gar nicht so einfach war, weil ihre Zähne klapperten wie wild gewordene Kastagnetten. „Unter eine Pferdedecke kriechen und auf Rettung hoffen?" Er verzog nicht einmal den Mund. „Am anderen Ende des Stalls ist ein Sattelraum, den wir benutzen dürfen. Und ja, Ava, Pferdedecken und Heu sind das Beste, was uns dieses Hotel bieten kann." „Und wo willst du den Rest der Nacht verbringen?" Er hob die Augenbrauen, als hätte sie eine absolut dumme Frage gestellt. „Bei dir natürlich. Wo denn sonst?" Eigentlich hätte ihr das Herz sinken müssen. Stattdessen fing es an zu rasen. Wenn sie alt und grau war und auf dem Sterbebett lag, würde sie damit angeben können, einmal, ein einziges Mal mit Leo Ferrante geschlafen zu haben! Das machte diese ganze ungemütliche Situation fast wieder wett. Fast. Gott sei Dank war der gesunde Menschenverstand ihr noch nicht abhanden gekommen. Oder ihr Anstand. „Wenn du glaubst, ich lege hier für dich einen Striptease hin, hast du dich geschnitten!" erklärte sie rundweg. „Du magst zwar in den letzten drei Jahren in Afrika gelebt haben, bist aber immer noch Krankenschwester, Ava. Und als solche wirst du um die Gefahren einer Unterkühlung wissen." Entschlossen steuerte er mit ihr auf eine Tür am fernen Ende des Stalls zu, stieß diese auf und schob Ava in den Raum, der mit Reitutensilien voll gestellt war. „Ich schlage ja nicht vor, dass du dich splitterfasernackt ausziehst, aber zumindest die nassen Schuhe und Strümpfe und den Mantel. Sie helfen sowieso im Moment nicht gegen die Kälte, und du wirst Deenie keine große Hilfe sein, wenn du mit einer Lungenentzündung im Bett liegst." „Wieso soll ich Deenie eine Hilfe sein? Sie ist der selbstständigste Mensch, den ich kenne." „Deenie ist im Moment völlig daneben", sagte er betont, „und jeder, wirklich jeder, baut darauf, dass du dich ihrer annimmst. Was auch immer ihr zu schaffen macht, sie ist nicht bereit, darüber zu sprechen." Leo hörte sich mehr wie ein verzweifelter Vater als wie ein besorgter Geliebter an. „Es ist durchaus möglich, dass es sich um Anpassungsschwierigkeiten handelt", meinte Ava nach kurzem Überlegen. „Die internationale Ballettwelt gegen ein Kleinstadtleben einzutauschen ist bestimmt nicht einfach für jemand, der geschworen hatte, sich niemals zu den ordinären häuslichen Tätigkeiten herabzulassen, wie sie unser Leben bestimmen." Na, großartig! Sie hörte sich eher an wie eine ältliche Tante, die vier Ehemänner unter die Erde gebracht hatte, als wie eine Achtundzwanzigjährige, die ihr Singledasein erst noch gegen das Eheleben eintauschen wollte. Aber weder das eine noch das andere machte ihm etwas aus. Er hatte anscheinend keine Lust, weiter über das Thema zu reden, zuckte mit den Schultern und ging zur Tür. „Wie auch immer ... Im Augenblick interessiert mich mehr, ein paar Stunden zu schlafen. Während ich Heu für eine Matratze besorge, kannst du dir ja die nassen Sachen ausziehen." Was war eigentlich mit ihm los, dass er sich auch noch beschwerte, ausgerechnet mit Ava Sorensen hier gelandet zu sein? Zwischen ihr und Deenie gab es keine Geheimnisse. Soweit
er es beurteilen konnte, waren die beiden praktisch von Geburt an unzertrennlich wie siamesische Zwillinge gewesen und hatten alles miteinander geteilt. Wirklich alles! Er wuchtete einen Ballen Heu hoch und verzog das Gesicht, als er die Anstrengung sofort im Rücken merkte. Mein Gott, dachte er, das Ding kann doch nicht mehr als fünfzehn Kilo wiegen, und vor einem halben Jahr noch habe ich fast einhundert Kilo drücken können, ohne ins Schwitzen zu geraten. Konnte fünf Meilen laufen und auch einen Golfschläger schwingen. Und nun musste er sich mit strammen Spaziergängen und Stärkungsübungen begnügen, weil ein Snowboarder ihn als Bremsklotz benutzt hatte. Und viel Zeit mit Deenie verbringen, die niedlich und amüsant war. Sie flirtete gern mit ihm, und doch war es zwischen ihnen trotz vieler Gelegenheiten noch nicht einmal zu Intimitäten gekommen. „Wir sind wirklich ein schönes Paar!" hatte er gesagt, als sie einmal meinte, sie hätte nichts gegen ein wenig Sex, um die Langeweile zu vertreiben. „Mit meinen Rückenschmerzen und deiner geprellten Schulter landen wir sehr wahrscheinlich gleich wieder beim Physiotherapeuten. Wir bleiben besser bei Romme und Cribbage." Er war erleichtert gewesen, dass sie die Idee ohne weiteres Drängen wieder fallen ließ. Sogar enorm erleichtert, wie er sich eingestand - und fragte sich, ob er sich vielleicht sogar mehr als nur das Rückgrat bei dem Unfall angeknackst hatte. Wenn mögliche andere Verletzungen gar nicht bemerkt worden waren? Wenn er für immer und ewig sein Interesse am Sex verloren hatte? Ihm war klar, er musste ein paar Dinge stoppen, und zwar schnell, sonst bekamen sie eine Eigendynamik und überrollten ihn, ohne dass er es wollte. Zum Beispiel diese seltsamen Gerüchte, Deenie und er wären das ideale Paar und sollten Nägel mit Köpfen machen, wie es seine Mutter unverblümt ausdrückte. Es gab keine längerfristigen Pläne für ihn und Deenie. Sie waren Freunde, das war alles. Er schulterte den Heuballen, trottete zurück zum Sattelraum und schlug mit der Faust an die Tür. „Bist du angezogen, Ava?" „Soweit es die Umstände erlauben, ja." Sie saß auf einem Hocker, die Beine bis zum Kinn angezogen, und ihre nackten Füße lugten unter dem Poncho hervor, den sie sich aus einer Pferdedecke gemacht hatte. Ihre Zehen waren gerade, mit perfekten Nägeln, lackiert in einem warmen Preiselbeerrot. Unwillkürlich kam ihm der Gedanke, wie viel schöner sie als Deenies vom jahrelangen Balletttanzen deformierte Zehen waren. „Du siehst schon wieder besser aus", meinte er, während er das Heu auf dem Boden ausbreitete und ein paar Decken darauf legte. „Willst du allein von deinem Thron hüpfen, oder soll ich dir helfen?" „Ich schaffe es auch allein", sagte sie schnell, und das war ihm nur recht. Denn wenn er schon Deenie mit ihren knapp über einen Meter sechzig nicht hochheben konnte, wie sollte er dann Ava tragen, die er auf einen Meter achtzig schätzte? Sie zog den provisorischen Poncho fester um sich, eilte über den kalten Betonfußboden und ließ sich auf die selbst fabrizierte Matratze sinken. Allerdings nicht schnell genug, dass er nicht noch einen raschen Blick auf ihre Beine werfen konnte. Lang und gebräunt, waren sie ebenso elegant wie ihre Füße, mit wohl gerundeten Waden und schlanken Fesseln. Fürs Ballett mochte sie zu groß sein, aber wie Deenie gesagt hatte, in Las Vegas würde sie als Revuetänzerin bestimmt Furore machen. „Warum ist Deenie nicht mitgekommen, um mich abzuholen?" Sie funkelte ihn an, als hätte er unter ihren Rock geschaut. „Das wollte sie ursprünglich, aber als sie hörte, dass dein Flieger so viel Verspätung hatte, hat sie es sich anders überlegt. Sie meinte, in der letzten Zeit sei sie so oft erst spät in Bett gekommen. Aber sie ruft dich morgen früh an. Ich glaube, sie will mit dir zu Mittag essen."
Er zog sich Jacke und Stiefel aus, woraufhin sie mit blitzendem Blick ans äußerste andere Ende der Matratze rutschte. Was dachte sie denn? Dass er sich nackt ausziehen und auf sie stürzen würde? „Entspann dich, Ava", meinte er und unterdrückte ein Lachen. „Mehr bekommst du nicht zu sehen. Sogar die Socken behalte ich an, damit sichergestellt ist, dass unsere Füße keinen zu intimen Kontakt bekommen." Sie biss sich auf die Lippen und wurde ein wenig rot, und er fragte sich, ob ihr wohl bewusst war, welchen Charme sie ausstrahlte. Es war nicht fair, Vergleiche anzustellen, aber er mochte sich nicht ausmalen, wie Deenie sich wohl nach einer achtzehnstündigen Reise, unverhofft konfrontiert mit einer Übernachtung im Stall, aufgeführt hätte. Aber vielleicht war das der Grund, warum die beiden seit langem eng miteinander befreundet waren: Gegensätze zogen sich an. „Du bist so völlig anders als Deenie, weißt du", sagte er und hockte sich neben sie. „Das habe ich schon immer gewusst, Leo", erwiderte sie kühl. „Und schon vor vielen Jahren habe ich aufgehört zu versuchen, so zu sein wie sie." „Gut." Er breitete eine weitere Decke über sie aus, nahm sich selbst ein paar und streckte sich aus. „Die Welt ist nicht groß genug für zwei von ihrer Art." „Sie ist etwas Besonderes. Das habe ich immer gewusst." Ihre Augen, groß und schön, grau wie sommerliche Gewitterwolken, hatten auf einmal einen solchen leeren Ausdruck, dass er ein verrücktes Verlangen verspürte, sie in die Arme zu ziehen und ihr zu versichern, sie wäre auch etwas Besonderes. Und dass seine Worte über Deenie nicht unbedingt als Kompliment gedacht waren. Er sprang auf, um das Licht auszuschalten - und um nicht etwas Dummes zu sagen oder zu tun -, und ertastete sich dann im Dunkeln seinen Weg zu ihrem Lager. Um ganz sicherzugehen, dass er sie nicht ungewollt bedrängte, stopfte er noch eine zusammengerollte Decke zwischen sie beide. „Ich glaube, jeder, der sie kennen lernt, weiß sogleich, dass sie anders ist und auch immer sein wird. Ihrer Mutter nach beschloss sie schon in den Windeln Primaballerina zu werden, und nicht einmal ist sie auch nur einen Schritt von ihrem ehrgeizigen Weg abgewichen. Und das ist durchaus schon etwas Besonderes." „Genau", erwiderte Ava, und ihre Stimme floss in der Dunkelheit über ihn hinweg wie süßer, schwerer Wein. „Verrat mir nur, Leo, wie kommt es dann, dass zwei Monate in deiner Nähe sie dazu gebracht haben, die Beifallsstürme ihres Publikums, ausverkaufte Aufführungen aufzugeben und sich im verschlafenen kleinen Owen's Lake niederzulassen?"
2. KAPITEL Der Schnee lag wie eine dicke weiße Schicht auf dem Fenster, und lastendes Schweigen breitete sich aus, während Leo eine Antwort suchte. „Ich vermute", begann er endlich, „es fing an, als wir beide auf Grund einer Verletzung plötzlich einen ganz anderen Tagesrhythmus hatten. Wir waren gegen unseren Willen ans Haus gefesselte ehemalige Nachbarn, die sich zufällig eines Morgens bei der Krankengymnastik begegneten. Mitgefühl für den anderen und Langeweile trieben uns zueinander, und ... eins führte zum anderen." „Das hört sich an, als wäre es sozusagen zwangsläufig gewesen", beschuldigte ihn Ava. „Versteh mich nicht falsch." Leo hätte sich gewünscht, sie wäre nicht ganz so aufmerksam. „Deenie ist eine liebenswerte, intelligente Frau, und ich wäre ohne sie verrückt geworden vor Langeweile. Aber zu behaupten, durch unsere Beziehung würde ich im siebten Himmel schweben, wäre glattweg eine Lüge. Für so etwas bin ich nicht programmiert. Ich kenne keinen Anwalt, der so ist." Das Heu raschelte leise, als sie sich etwas bequemer hinlegte. Oder war es seidene Unterwäsche, die über ihre Haut glitt? Bei diesem Gedanken überlief ihn ein heißes Prickeln, bis hinunter in Gegenden, die besser ungestört blieben. „Du magst nichts für Romantik übrig haben, Leo, aber Deenie schon, was mich wieder auf meine erste Frage zurückbringt. Warum hat sie beschlossen, in Owen's Lake zu bleiben?" Entschlossen unterdrückte er das lustvolle Begehren. „Ich glaube, ihre Verletzung machte ihr klar, dass ihre Karriere nicht ewig so weitergehen kann. Als du jung warst, hast du selbst getanzt, wenn auch als Amateurin, Ava. Du weißt, welche Quälerei das für den Körper bedeutet. Multiplizier das mit tausend, dann weißt du, was es für Deenie bedeutet, körperlich und seelisch. Ihr wird klar geworden sein, auch wenn sie diesmal wieder voll hergestellt ist, dass sie gezwungenermaßen viel früher als andere Frauen ihren Beruf aufgeben muss möglicherweise schon in den nächsten fünf Jahren. So versucht sie einen Kompromiss zu finden." „Das hört sich nicht nach der Deenie an, die ich kenne." „Was soll ich sagen? Menschen ändern sich. Vielleicht befriedigt es sie inzwischen nicht mehr, Ballerina zu sein. Vielleicht will sie sich etwas schaffen, das sie ausfüllt, wenn sie nicht mehr tanzen kann." „Und sie ist überzeugt, dieses Etwas findet sie bei dir?" Verdammt, ihre Fragen ließen eindeutig den Schluss zu, dass die Gerüchte, Deenie und er würden heiraten, inzwischen die Runde gemacht hatten! „So weit möchte ich auf keinen Fall gehen", erwiderte er in neutralem Ton. „Auch wenn ihre Familie zu glauben scheint, uns hätte der Himmel füreinander bestimmt." Ava wandte sich ihm zu. Er wusste es, denn er fühlte ihren sanften Atem auf seinem Gesicht, duftend wie von der Sonne gewärmte Pfirsiche. Er musste unwillkürlich an ihre vollen Lippen denken und fragte sich, ob sie wohl so süß schmeckten, wie sie dufteten. Schon als Teenager hatte sie Lippen gehabt, die förmlich um einen Kuss bettelten. Daran hatte sich nichts geändert. „Nach allem, was Deenie mir erzählt hat, scheint sie auch dieser Meinung zu sein." „Lies nicht zu viel in das hinein, was sie dir erzählt hat, Ava", erwiderte er, gereizt wegen seiner Reaktion auf ihre Nähe und ihre bohrenden Fragen. „Ich bin ein siebenunddreißigjähriger Rechtsanwalt, der genügend Scheidungsfälle hatte, um eines zu wissen: Wenn die Menschen realistischer wären, was Beziehungen betrifft, hätte ich kein so gut gepolstertes Bankkonto. Dafür aber weitaus mehr freie Zeit, die ich sinnvoll für andere Dinge verwenden könnte." Ava war entschlossen, sich nicht vom eigentlichen Thema abbringen zu lassen. „Mich interessieren deine finanziellen Verhältnisse nicht, Leo. Deenie und ich stehen uns nahe wie
Schwestern, und ich will nicht, dass sie verletzt wird. Ich will von dir eigentlich nur hören, dass du ihr nichts vormachst und dass dir auch klar ist, wie die Dinge wirklich zwischen euch sind. Kannst du mir diese Zusicherung geben?" Wieder verstärkte sich das ungute Gefühl, das er in der letzten Zeit des Öfteren verspürt hatte. Den leichten Verdacht, irgendwie die Kontrolle über sein Privatleben verloren zu haben. Was ihn frustrierte. „Also, Leo? Das ist doch sicherlich keine schwere Frage - wieso brauchst du so lange, sie zu beantworten?" „Eins will ich dir sagen", knurrte er und kam sich vor wie eine in die Enge getriebene Ratte, „ich bin es allmählich leid, dass alle Leute glauben, sie hätten das Recht, ihre Nase in meine Angelegenheiten zu stecken!" „Ich verstehe. Da du dir das nun von der Seele geredet hast, lass mich noch eins fragen: Was erwartest du von der unmittelbaren Zukunft, Leo?" „Endlich wieder voll arbeiten können. Wieder ganz normal leben, verstehst du!" „Schließt dieses normale Leben auch Deenie mit ein?" „Verdammt noch mal, Ava!" explodierte er. „Früher warst du nicht solch eine Nervensäge, warum also jetzt? Bist du eifersüchtig, weil sie jemanden hat, mit dem sie ausgehen kann, und du nicht?" Ihr Schweigen machte ihm klar, dass er ihr wehgetan hatte. Zu spät. „Gütiger Himmel", murmelte er. „Ava, es tut mir Leid. Ich hatte kein Recht, so etwas zu sagen." Ihr Atem wehte zu ihm herüber, stoßweise und flach. „Nein, das hattest du nicht." „Weinst du?" „Nein", sagte sie, aber ihre Stimme klang tränenerstickt. Verlegen griff er nach ihr, wollte ihr brüderlich die Schulter tätscheln. Aber er schätzte die Entfernung falsch ein und berührte stattdessen ihr Haar. Es wickelte sich um seine Finger und verfing sich im metallenen Armband seiner Uhr. „Oh, verdammt", fluchte er leise. „Jetzt nicht wegziehen, Ava. Wir sind miteinander verhakt." Es wäre nichts geschehen, wenn sie nicht seinen Rat ignoriert und versucht hätte, sich selbst zu befreien. Dabei drehte sie den Kopf versehentlich so, dass ihr Mund seinen berührte. Genau genommen küsste Leo sie nicht richtig. Er ließ aber seine Lippen auf ihren, während er mit der freien Hand versuchte, ihre Haare zu befreien. Sie schmeckte köstlich. Nach Pfirsichen. „Dein Parfüm macht mich noch wahnsinnig", sagte er an ihrem Mund. Ein Zittern überlief sie. Sie hob die Hand, wollte ihn fortstoßen. „Bitte, nicht ...", begann sie. „Nein", sagte er. Er tat es trotzdem. Leo küsste sie richtig. Mit beiden Händen umfasste er ihr Gesicht und nutzte ihre Verwirrung, mit der Zunge ihre seidigen Lippen zu streicheln. Und für einen winzigen Moment lang erwiderte sie diesen Kuss, drängte sich an ihn und hob den Kopf, damit er besser Zugang bekam. Ein großer Fehler! Er hätte später nicht sagen können, was er als Nächstes versucht hätte, wäre Ava nicht wieder zu Verstand gekommen. Als hätte sie sich verbrannt, zuckte sie zurück und fuhr ihm mit der Hand quer übers Gesicht, gleichzeitig riss sie ihre Haare von seinem Uhrarmband los. „Dazu hattest du kein Recht!" fauchte sie ihn an. „Ich weiß", gestand er zerknirscht ein, bereit, die Schuld allein auf sich zu nehmen. „Es tut mir Leid." Eigentlich war das gelogen. Er war wie benommen. In Hochstimmung. „Und warum hast du es dann getan?" Leo schüttelte den Kopf, weniger um ihre Frage abzuwehren, als seinen Kopf zu klären.
„Frag mich nicht. Vielleicht ein kurzzeitiger Anfall von Schwachsinn?" „Mach ruhig deine Witze, aber eins will ich dir sagen, ich finde dein Benehmen abscheulich!" zischte sie. „Vor einer Minute noch hatte ich einen anderen Eindruck", gab er zurück, weil ihre Scheinheiligkeit ihn ärgerte. „Ich hätte schwören können, dass es dir gefiel." „Träum weiter, Leo Ferrante! Wenn Deenie davon wüsste ..." „Wer wird es ihr erzählen? Du?" „Ich sollte es tun. Sie hat das Recht zu wissen ..." „Was? Dass ich dich geküsst habe und du es genossen hast?" Er ließ sich auf den Rücken fallen und seufzte müde, weil der gesunde Menschenverstand seine kurze Euphorie ersetzte. „Hör zu, Ava, ich habe einen Fehler gemacht, und du hast mich auch nicht gerade zurückgewiesen, aber es wird nicht wieder vorkommen. Lass uns nicht mehr daraus machen, als es ist." Er dachte schon, sie würde es dabei belassen, und war fast eingedöst, da sagte sie leise: „Ich schäme mich so. Ich weiß nicht, wie ich ihr jemals wieder ins Gesicht sehen soll, ohne rot zu werden. Nicht nur, weil wir uns geküsst haben, sondern auch wegen allem anderen. Dass du nicht wirklich in sie verliebt bist und all das. Du hättest so etwas niemals sagen sollen." „Wohl nicht. Aber während ich hier so neben dir liege, scheint mich irgendetwas dazu zu bringen, Dinge zu tun und zu sagen, ohne an die Folgen zu denken." „Das solltest du nun wirklich nicht sagen!" Er sollte sie auch nicht berühren, aber die Matratze war zu schmal, und sosehr er sich auch bemühte, er stieß immer wieder gegen Ava. So zu tun, als wäre das belanglos, hatte keinen Sinn. Seine Hormone spielten verrückt und waren ebenso schwer zu bändigen wie der Schneesturm draußen! Mit meiner Libido ist wohl doch alles in Ordnung, dachte Leo. Und was Ava betraf - sie konnte leugnen, so lange sie wollte, aber sie ließ die Situation genauso wenig kalt wie ihn. Ihre Atemzüge verrieten sie. „Wartet in Afrika irgendein Mann auf dich?" fragte er und hoffte inbrünstig, sie würde Ja sagen. „Nein." Das klang leicht verzweifelt. Wahrscheinlich hätte sie lieber Ja gesagt. „Warum nicht?" Sie zuckte mit den Schultern. „Ich habe bisher einfach nicht den Richtigen gefunden." „Woher willst du wissen, wer der Richtige ist?" „Ich werde es fühlen." Es kam gequält heraus. Er griff nach ihr. Der Himmel mochte ihm verzeihen, aber Leo konnte nicht anders. „Dies fühlt sich gut an, Ava", murmelte er und ließ eine Hand über ihr Kinn und den Hals gleiten. „Es muss also mehr als nur das sein." Sie erzitterte unter seiner Berührung. „Wie kannst du so etwas sagen? Wir beide wissen genau, dass es absolut unakzeptabel ist, was du tust und sagst!" Es war die moralisch korrekte Antwort, aber die Entrüstung verwandelte sich in einen hingebungsvollen Seufzer. Sachte tippte Leo mit dem Finger an ihre Schläfe. „Etwas zu wissen ist eine Sache. Die Wahrheit zu akzeptieren eine ganz andere ..." Er strich mit den Fingerspitzen über ihr Gesicht, ihren Hals, tiefer, bis seine Hand unter ihrer linken Brust lag. „Völlig anders. Zu wissen, dass ich dich nicht noch einmal küssen sollte, ändert nichts an meinem Verlangen, es zu tun." „Nicht, Leo", flehte sie - und streifte im nächsten Moment mit warmen Lippen seinen Mund. „Diese Nacht ist eigentlich völlig daneben." Er wusste, wenn er seine Hand nur ein wenig bewegte, würde er ihre Brust umfassen können. Und das erregte ihn ungemein. „Wir beide sind davon ausgegangen, dass wir die Nacht ganz woanders verbringen. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass wir hier nebeneinander liegen, niemand hier ist, der hört oder
sieht, was geschieht, und ich, könnte ich danach damit leben, mit dir schlafen würde." Ihr fiel auf die Schnelle keine richtige Antwort ein. So lag sie einfach stumm da, wie erstarrt. Draußen lag die Temperatur unter dem Nullpunkt, hier im Sattelraum schien sie gerade den Siedepunkt zu erreichen. Als er das Schweigen nicht länger aushielt, bewegte er seine Hand und legte sie geöffnet zwischen ihre zwei Körper. „Ava?" Er wusste, sehen konnte sie seine Geste nicht, aber sie spürte sie sicher. Begriff sie, was er damit erbat? Sekunden schlichen dahin, sein Herz hämmerte. Dann, als er schon alle Hoffnung aufgeben wollte, legte sie ihre zierliche Hand auf seine große, Handfläche auf Handfläche, Daumen auf Daumen, Finger auf Finger. Es war die erotischste Berührung, die er je erlebt hatte. Erotischer als ein Kuss. Erregender als das intime Verschmelzen von Mann und Frau. Und nicht annähernd genug, um sein heißes Verlangen zu befriedigen. Verdammter Anstand! Wenn sie es zuließe, würde er sie auf der Stelle nehmen. Aber er tat nichts dergleichen, denn als er sich aufrichtete und sich über sie beugte, sagte sie ganz leise und traurig: „Ich weiß. Und wir können nicht." Geschlagen ließ er sich wieder aufs Heu fallen, holte frustriert tief Luft. Sein Verlangen ließ sich nur mit Mühe seinen verspäteten Gewissensbissen unterordnen. „Nein", sagte er düster. „Wir können nicht. Aber wenn wir könnten, würde ich dich die ganze Nacht lang lieben. Und wenn dich das nächste Mal jemand fragt, ob es in deinem Leben einen besonderen Mann gibt, dann sag nicht, dass du noch auf ihn wartest, denn ..." „Leo, bitte! Ich bin so verwirrt ... so müde ..." „Ja, ich auch." Nochmals atmete er tief durch und fühlte, wie sich sein Atem als eisiger Hauch über sein Gesicht legte. Nun, wo die Hitze des Augenblicks vergangen war, war es plötzlich bitterkalt. Er legte den Arm über ihre Hüfte und zog sie dicht an sich, Schenkel gegen Schenkel, Hüfte an Hüfte, Brüste an Brust. Sie barg ihren Kopf an seiner Schulter und stöhnte leise auf. Aus Protest? Vor Kummer? Er wusste es nicht genau. Er wusste nur, es war so kalt im Raum, dass Pferdedecken und Heu allein nicht ausreichten, die herankriechende Kälte zu vertreiben. „Deine Tugendhaftigkeit ist nicht gefährdet", sagte er, „aber wenn wir unsere Körperwärme nicht halten können, sind wir noch vor dem Morgengrauen erfroren. Kuschle dich an mich, Sweetheart, und versuch etwas zu schlafen, sonst siehst du morgen zum Fürchten aus." Sie musste wohl eingeschlafen sein, denn ihre Anspannung löste sich, eine große Ruhe überkam sie, und als sie aufwachte, fiel kaltes, blasses Licht durchs Fenster an der anderen Wand. Als Nächstes fiel Ava auf, dass sie ihre Beine um Leos geschlungen hatte und er sie aus blauen Augen ausdruckslos musterte. Aber auch wenn ihr seine Gedanken verborgen blieben, ihren eigenen konnte sie nicht entfliehen. Verlegenheit und Scham packten sie. Wie hatte sie ihm nur gestatten können, sie zu küssen? Beinahe mit ihr zu schlafen? Und wie sollte sie Deenie jemals wieder offen ins Gesicht sehen können? „Es gibt keinen Grund, so schmerzerfüllt dreinzublicken, Ava", sagte Leo. „Keiner von uns hat seinen niederen Instinkten im Schlaf nachgegeben. Wenn irgendjemand fragt, kannst du offen behaupten, trotz aller Not deine Skrupel bewahrt zu haben." „Und was willst du antworten, falls dich jemand fragt?" entgegnete sie, verstimmt darüber, dass er so locker schien, während sie völlig durcheinander war, weil sein Bein über ihrer Hüfte lag und sich sein wundervoll warmer Körper an sie presste. „Dass du geschnarcht hast", erklärte er knapp.
„Ich habe bestimmt nicht geschnarcht!" „Woher weißt du das? Hast du den Mann gefragt, mit dem du zuletzt geschlafen hast?" „Das geht dich einen feuchten Kehricht an!" zischte sie, weit davon entfernt zuzugeben, dass sie zuletzt mit jemand geschlafen hatte, als sie achtzehn gewesen war. Die Szene hatte sich im Wagen ihrer Begleitung für den Schulabschlussball abgespielt, war eine elendige Fummelei gewesen, die damit endete, dass er peinlicherweise gekommen war, noch ehe er ihr den BH hatte öffnen können. Und dann hatte es noch ein paar lauwarme Dates mit einem Krankenwagenfahrer auf der Schwesternschule gegeben. „Nein", meinte Leo, „wohl nicht." Er hob die Decke an, und ein Schwall kalter Luft fegte die kuschelige Wärme zwischen ihren Körpern fort. „Und hier herumzuliegen und zu spekulieren, bringt meine Karre auch nicht wieder aus dem Graben." Er stand vorsichtig auf, reckte und streckte sich und griff nach seiner Schaffelljacke. „Hast du vor, den ganzen Tag dort unten zu verbringen, Ava?" erkundigte er sich, als sie nicht sofort aufsprang. „Nein." Sie warf einen sehnsüchtigen Blick auf ihre Strumpfhose, die über einem Sattelständer hing. „Ich warte darauf, dass du gehst, damit ich mich ohne Publikum anziehen kann." „Anziehen?" Zu ihrem Entsetzen griff er nach ihrer Strumpfhose und ließ sie an einem Finger baumeln, wie es wohl ein Ehemann getan hätte. Mit intimer Vertraulichkeit. „Wenn du davon redest, in dieses Ding steigen zu wollen, das kannst du vergessen. Sie ist immer noch pitschnass. Und deine Schuhe ..." Er warf einen Blick auf die bedauernswerten Gebilde, die wie zwei ertrunkene Ratten am Boden lagen. „ ... ebenfalls. Du wirst dich der Barmherzigkeit der Dame des Hauses anvertrauen müssen - immer vorausgesetzt, sie ist heute Morgen freundlicher und großzügiger als gestern Abend." Die Dame des Hauses erwies sich als sehr viel freundlicher und großzügiger, und ebenso ihr Ehemann. Er schickte ein paar Socken, zu große Stiefel und eine Einladung zum Frühstück und zog Leos Wagen mit seinem Traktor aus dem Graben. Gegen zehn Uhr saßen Ava und Leo im Wagen, gestärkt mit hausgemachtem Schinken und frischen Eiern. Von ihrem nächtlichen Abenteuer war nichts geblieben außer einem leichten Geruch nach Pferden an ihrer Kleidung. Das, und eine innere Unruhe, die sich nicht geben wollte.
3. KAPITEL „Es ist üblich, sich zu freuen, wenn man Urlaub hat und für die Weihnachtstage nach Haus kommt", bemerkte Leo spöttisch, als sie sich dem Randgebiet von Owen's Lake näherten. „Ich würde dir empfehlen, diese schreckliche Leidensmiene abzulegen und ein bisschen fröhlicher auszusehen, wenn du nicht darauf aus bist, vom Haushund bis zum Bürgermeister jeden misstrauisch zu machen." Ava warf ihm einen giftigen Blick zu. „Vergib mir, dass ich es nicht gewohnt bin, meine Sünden so einfach zu überspielen wie du!" „Welche Sünden, Ava? Hör auf, aus einer Mücke einen Elefanten zu machen, und konzentrier dich lieber auf den heutigen Tag. Wenn jemand für das Geschehen gestern Abend im Stall verantwortlich ist, dann ich. Also überlass es mir, damit fertig zu werden." Leo hat gut reden, dachte sie mürrisch. Er litt nicht unter einer heimlichen Leidenschaft für jemand, den er nicht haben konnte. Er war nicht derjenige, der beinahe skrupellos die beste Freundin betrogen hätte - für das zweifelhafte Vergnügen einer Nacht mit einer verbotenen Liebe. „Und wenn ich es nicht kann?" „Du wirst es können, wenn du dich auf das bevorstehende gute alte Weihnachtsfest konzentrierst, das du drei lange Jahre entbehrt hast." Es war einfach nicht fair, dass er trotz der Nacht auf einem Heulager eine solch männliche Attraktivität ausstrahlte. Ava bekam weiche Knie, wenn sie ihn nur anschaute. Also wandte sie den Kopf ab und starrte aus dem Fenster. In gewisser Weise hat er ja Recht, gestand sie sich ein. Owen's Lake hatte sich gewaltig herausgeputzt. Der Schneesturm war weitergezogen, und nun strahlte vom wolkenlosen blauen Himmel eine blasse Wintersonne herab. Sie unterschied sich von Afrikas brennender Glut wie ein Diamant von einem Rubin. Von den Dachvorsprüngen der viktorianischen Häuser von Owen Heights, dem exklusiven Wohngebiet, in dem Ava geboren worden war, hingen Eiszapfen. Große Stechpalmenkränze schmückten die schmiedeeisernen Tore. Illuminierte Rentiere mit Schlitten schmückten schneebedeckte Rasenflächen. Kleine Fichten zeigten stolz ihre blinkenden Lichterketten. Noch eine halbe Meile, dann bog Leo in den Charles Owen Crescent ein, und ein paar Minuten später fuhr er die lang gezogene Auffahrt zum Haus ihrer Eltern entlang. „Zeit, ein Lächeln aufzusetzen, Sweetheart", murmelte er. „Dort wartet die Familie, bereit, die nomadisierende Tochter gebührend zu empfangen." Es stimmte. Kaum hielt sein Geländewagen unter dem Vordach, schoss eine wilde Meute aus dem Haus. Ihr Vater riss die Beifahrertür auf, und Ava, die in ihren viel zu großen Stiefeln auf dem glatten Boden ausrutschte, fand sich in einer herzlichen Umarmung wieder, die ihr die Luft abdrückte. „Seit dem Morgengrauen macht deine Mutter mich verrückt mit ihrer Unruhe", sagte er, „und nun, wo du hier bist, weint sie sich die Augen aus. Eins muss ich dir sagen, Ava, ich werde die Frauen nie verstehen!" „Ach, tu doch nicht so", schluchzte ihre Mutter glücklich und zog Ava an sich. „Wer hielt es denn kaum mehr aus und wollte gestern Abend die Skier anschnallen und sie huckepack nach Haus holen, damit sie in ihrem eigenen Bett schlafen kann? Komm herein, Liebling, und gib deiner Mutter einen Kuss. Es ist wundervoll, dich wieder zu Haus zu haben." Ihre Mutter roch nach Braten, Zimt und Marzipan -herrliche, nostalgische Erinnerungen an vergangene Weihnachtsfeste verknüpften sich mit diesen Düften. Dass dieses überschattet war von Schuld und Geheimnissen, brachte Ava zum Weinen. „Dies sollte eigentlich ein glücklicher Moment sein", erinnerte Leo sie nachdrücklich. „Deswegen weinen die beiden ja." Ihr Vater, der von all den unterschwelligen Gefühlen und Spannungen nichts ahnte, haute Leo kräftig auf den Rücken, wie es Männer tun, wenn sie sich über Frauen amüsieren. „Sie weinen, wenn sie traurig, wenn sie glücklich und auch,
wenn sie wütend sind. Sogar dann, wenn sie heiraten - also gewöhn dich besser schnell daran, Leo. Nach dem, was ich gehört habe, wirst du schon bald deine eigenen Erfahrungen damit machen. Komm, ich helfe dir mit dem Gepäck, und dann trinkst du mit uns gemütlich eine gute Tasse Kaffee." Allein die Vorstellung, gemütlich mit Leo im Haus ihrer Eltern Kaffee zu trinken, stoppte Avas Tränenfluss augenblicklich. „Das kann er unmöglich!" „Warum denn nicht?" Ihr Vater sah sie erstaunt an. „Es ist doch wohl das Mindeste, was wir ihm anbieten können, nachdem er dich vom Flughafen abgeholt und sich letzte Nacht rührend um dich gekümmert hat." Du meine Güte, wenn er wüsste, wie rührend! dachte Ava bedrückt. „Danke", sagte Leo und fuhr sich mit der Hand übers Kinn. „Aber wenn das Angebot auch verlockend klingt, eine heiße Dusche und eine Rasur hören sich besser an." Er sieht aus, als wäre er ebenso begierig darauf, verschwinden zu können, wie ich ihn loswerden will, dachte Ava. Soll mir recht sein. „Dafür haben wir vollstes Verständnis", heuchelte sie. „Leb wohl und vielen Dank ... für alles." Er warf ihr einen ironischen Blick zu. „Freut mich, dass ich dir helfen konnte." Helfen? Sie wandte den Blick ab und beugte sich vor, um Jason, den Hund ihrer Eltern, zwischen den Ohren zu kraulen. Gütiger Himmel, sie hatten wirklich keinen guten Start miteinander gehabt. Und wie viel schlimmer es noch werden konnte, das würden nur Leo und sie wissen. Seinen traurigen Versuch, alles ins Lächerliche zu ziehen, fand sie reichlich albern. „Vielleicht ist es ganz gut, dass er nicht geblieben ist", meinte ihre Mutter, als sie Ava nach Leos Abfahrt ins Haus schob. „Deenie hat vor, dich heute zum Essen einzuladen. So bin ich froh, dich wenigstens ein bisschen für mich allein zu haben, bevor sie dich in all ihre Weihnachtspläne einbezieht. Wärm dich am Kamin in der Bibliothek auf, Liebling, während ich Kaffee mache und dein Vater das Gepäck nach oben in dein Zimmer bringt. Danach setzen wir uns alle zusammen und erzählen." Gestern noch hätte sich Ava nichts lieber gewünscht. Aber die Vorstellung, Deenie gegenübertreten müssen, bevor der Morgen vergangen war, trübte ihre Stimmung gewaltig. Deenie hatte ihr geschrieben, sie vermute, Leo würde ihr zu Weihnachten einen Heiratsantrag machen. Aber nichts, was Leo gesagt hatte, deutete darauf hin, dass er es auch tatsächlich tun würde. Wessen Version also war glaubwürdiger? „Ist alles in Ordnung, Ava?" erkundigte sich ihr Vater, als sie sich die geborgten Stiefel auszog. „Natürlich", erwiderte sie gespielt munter. „Warum denn nicht?" „Ich weiß nicht ... Ich finde nur, für jemand, der behauptet, er könne es gar nicht erwarten, nach Haus zu kommen, siehst du nicht sonderlich froh aus." „Oh, ich bin es aber!" rief sie, entsetzt, dass ihre Eltern denken könnten, sie wären der Grund, warum sie nicht vor Wiedersehensfreude überschäumte. „Mora und du, ihr habt mir immer gefehlt, aber ganz besonders zu dieser Jahreszeit." „Warum bist du dann so angespannt, Liebling? Hat es irgendwelche Unstimmigkeiten mit Leo gegeben?" Im Gegenteil! dachte sie reumütig. „Nein!" beeilte sie sich zu sagen und zuckte erschrocken zusammen, als das Telefon klingelte. „Das wird wahrscheinlich wieder Deenie sein", meinte ihr Vater und sah sie prüfend an. „Heute Morgen hat sie schon zweimal angerufen, und ich muss sagen, ihr zwei seid wirklich ein Paar ... Sie ist wahnsinnig nervös und du so schreckhaft wie ein scheues Reh. Was ist nur los mit euch beiden?" „Ich bin nicht schreckhaft", protestierte Ava. Aber es hatte wenig Sinn, es abzustreiten, denn sie fuhr wieder zusammen, als ihre Mutter aus der Küche rief: „Telefon für dich, Ava. Es ist Leo. Nimm in der Bibliothek ab, ja?"
Sie wartete damit, bis ihr Vater mit ihrem Gepäck die Treppe hinaufstampfte, und hörte, wie ihre Mutter in der Küche auflegte. Dann flüsterte sie in den Hörer: „Wieso rufst du mich denn hier an?" „Wo sollte ich dich sonst anrufen, wenn ich mit dir sprechen will?" Allein der Klang seiner Stimme sandte ihr einen lustvollen Schauer über den Rücken. „Du solltest mich überhaupt nicht anrufen!" fauchte sie, wütend auf sich selbst. „Was wäre, wenn meine Eltern jetzt zuhören könnten?" „Ja und? Ich glaube kaum, es könnte sie stören, wenn ich dir mitteile, dass ich deine Armbanduhr auf dem Boden meines Wagens gefunden habe." Sie glaubte ihm nicht, zog ihren Ärmel hoch und sah, dass ihre Uhr tatsächlich nicht da war. „Und wie kann ich sie verloren haben - was meinst du?" „Frag mich nicht. Vielleicht ist sie abgefallen, als du versucht hast, mich auf den Rücksitz zu drängen, um mit mir verruchte Dinge zu treiben." Sie kochte. „Was bin ich froh, dass wenigstens einer von uns die Situation amüsant findet!" „Eigentlich ist das nicht der Fall, aber immer noch besser als deine Reaktion." „Und wie ist die?" „Indem du dich in Sack und Asche kleidest, sinnbildlich gesprochen, und lamentierst, du seist ein gefallenes Mädchen." „Ich lamentiere nicht! Und ich bin kein gefallenes Mädchen, auch wenn das kaum dein Verdienst ist!" „Sweetheart", seine Geduld schien langsam erschöpft, „das nimmt dir niemand ab, solange du dich weiterhin aufführst, als hätte der Farmer uns nackt beim Sex auf dem Stallboden erwischt." „Ich bin nicht dein Sweetheart!" „Nein, du bist eine Nervensäge, aber da Weihnachten vor der Tür steht, versuche ich mein Bestes, gütig und menschenfreundlich zu sein." Er seufzte nicht direkt, denn er war nicht der Typ, der zum Seufzen neigte. „Hör zu, Ava, diese Uhr ist offenbar ziemlich teuer gewesen, und ich dachte, du würdest gern wissen, wo sie geblieben ist, das ist alles. Und da ich vorhatte, sie Deenie mitzugeben, wollte ich dich nur vorbereiten, weil ich dachte, das wäre dir lieber. Sonst könnte es geschehen, dass du überreagierst auf eine schlichtweg unschuldige Sache - was du im Übrigen gerade tust!" „Du hast wohl Recht", gab sie zu. „Und vielen Dank. Es ist wirklich eine teure Uhr." „Massiv Gold, so wie sie aussieht." „Ja." „Ein Souvenir von deinen exotischen Reisen?" „Ja." „Dann bin ich froh, dass sie nicht abgefallen ist, als wir durch den Schnee zogen. Sie wäre für immer und ewig verloren." „Ich bin auch froh darüber." „Viel Spaß beim Essen mit Deenie." „Danke. Ich werde mich bemühen." „Das solltest du besser, und wir beide wissen, warum. Sie kann es kaum erwarten, dich zu sehen." Ava hätte sich nie vorstellen können, dass es ihr jemals anders gehen könnte. Aber so war es, als Deenie zehn Minuten später anrief und sich mit ihr für halb eins verabredete. Gleichzeitig wurde sie das Gefühl nicht los, dass ihr ein Unheil drohte. „Du siehst wahnsinnig gut aus, weißt du das? So toll braun und gesund und blühend. Und deine Frisur - einfach fantastisch." Deenie hatte ununterbrochen geredet, seit sie Ava abgeholt hatte. Sie ließ sich auf den Stuhl im Speiseraum des Owen's Lake Country Clubs sinken. „Habe ich das schon gesagt? Oh, entschuldige. Ich bin einfach so froh, dich zu sehen, Ava."
Aber so sah sie gar nicht aus. Sie machte einen erschöpften Eindruck und war erbarmungswürdig dünn. Ihr Lächeln wirkte gezwungen, ihre Anspannung war deutlich spürbar. Sie war immer ein unruhiger Mensch gewesen, aber nun wirkte sie wie eine Marionette, an deren Fäden jemand hektisch zog. „Was wollen wir bestellen? Vielleicht zuerst Champagnercocktails? Um deine Heimkehr zu feiern." „Wie wäre es, wenn wir unsere gleichzeitige Heimkehr feiern?" schlug Ava vor. „Ach, das ..." Deenie tat es mit einer Handbewegung ab und starrte hinaus auf den See, der um diese Jahreszeit mit einer dicken Eisschicht bedeckt war. Schlittschuhläufer tummelten sich auf der glitzernden Fläche. „Das machen wir morgen." Sie hatte sich nicht schnell genug abgewandt. Ava sah noch den feuchten Schimmer in ihren Augen. „Was ist morgen?" Ava tat so, als hätte sie die Tränen nicht gesehen. Aber sie fragte sich, wieso ihre lebenslange Freundin sich mit ihr oberflächlich unterhielt wie mit einer flüchtigen Bekannten. Früher hatten sie sich die intimsten Dinge offenherzig anvertraut. Lag es an ihr selbst? Hatte ihr Verhalten in Deenie einen Verdacht keimen lassen, dass in der letzten Nacht irgendetwas geschehen war? „Hat deine Mutter es dir denn nicht erzählt?" Nun lächelte Deenie wieder, überwältigend und absolut gespielt. „Meine Eltern schmeißen die gewohnte Weihnachtsparty und verbinden sie mit einem Wiedersehen aller Verwandten und Freunde. Unser Haus platzt förmlich aus den Nähten. So viele Verwandte habe ich nicht mehr gesehen, seit ich in den Windeln lag. Und auch Leo erwartet jemand, aber seine Eltern verbringen den Winter in Florida und werden erst an den ersten Weihnachtstagen kommen. So wird vorerst nur eine schrullige Cousine von ihm kommen, die er die Herzogin nennt. Einer ihrer vielen Ehemänner war irgendein europäischer Aristokrat. Das behauptet sie jedenfalls. Muss eine ziemlich überdrehte Tante sein." Und du bist von diesem Gemütszustand nicht weit entfernt, dachte Ava bei sich. „Dann wird es wohl eine richtig große Party, nehme ich an?" „Ungefähr vierzig Leute. Groß genug." Deenie rückte ihr Besteck zurecht, schob das Wasserglas zwei Millimeter zur Seite und zupfte ein welkes Blatt vom Weihnachtsstern auf dem Tisch. „Sieht das Clubhaus nicht wunderschön aus? Ich finde den Wandschmuck und den Weihnachtsbaum in der Eingangshalle bezaubernd. Hast du ihn gesehen? Er ist bestimmt sechs Meter hoch und mit Tausenden von Lichtern versehen." „Mich interessiert der Weihnachtsbaum im Foyer im Moment überhaupt nicht, Deenie", sagte Ava und griff nach Deenies noch immer rastlosen Händen. „Du interessierst mich. Wie geht es dir wirklich?" „Wirklich?" Deenie lachte hysterisch auf. „Ich bin eine wandelnde Katastrophe, siehst du das nicht selbst? Meinem Ballettpartner habe ich einen Muskelriss in der Schulter und angerissene Sehnen im Fußgelenk zu verdanken. Von beidem erhole ich mich gerade mehr schlecht als recht. Ich muss wohl noch dankbar sein, dass er mich nur hat fallen lassen. Wenn er noch auf mir gelandet wäre, hätte ich das Zeitliche gesegnet!" „Es muss ihm schrecklich peinlich sein, oder?" „Oh, das würde ich nicht vermuten. Marcus ist nicht der Typ Mann, der seine Zeit mit Schuldgefühlen vergeudet." Deenies Gehässigkeit erstaunte Ava. „Aber es war doch ein Unfall, oder?" fragte sie ungewollt scharf. „Formulieren wir es so: Das nehmen alle an." „Was willst du damit sagen?" Verblüfft starrte Ava sie an. „Dass er dich absichtlich fallen ließ?" „Ich denke, er wollte, dass sein jüngster Schützling den Hauptpart in der Nussknackersuite tanzt. Meine Verletzungen kamen ihm zeitlich ausgesprochen gelegen." Der Abscheu, mit dem sie das Wort Schützling förmlich ausspuckte, sprach Bände. „Oh,
Deenie, hattest du vorher etwas mit Marcus?" fragte sie fassungslos. „Hat er dich der anderen wegen ... abgelegt?" Deenie blickte wütend auf, mit Tränen in den Augen. „Ja, sowohl als auch!" „Aber du hast immer gesagt, du würdest niemals ..." „Schön, ich habe meine eigenen Regeln gebrochen und mich in einen Kollegen verliebt. Tut mir Leid, wenn ich dich enttäusche, aber wir sind eben nicht alle moralisch so gefestigt wie du." Ava fuhr unwillkürlich zusammen, geschockt von der Bitterkeit ihrer Freundin - und ihrem eigenen Schamgefühl. „Ich bin der letzte Mensch, der dich verurteilten würde!" rief sie und fühlte sich, als hätte sie gerade einem unschuldigen Hündchen in den Bauch getreten. „Es tut mir so Leid, dass du so verletzt wurdest." „Das ist vorbei! Ich bin schon auf dem Weg zu Größerem. " „Und? Bist du glücklich?" Wieder spannte sich dieses viel zu strahlende Lächeln über Deenies Wangenknochen, bis sie fast wie ein Totenkopf aussah. „Wärst du es nicht, wenn Leo derjenige ist, welcher?" Um Himmels willen, welch eine Frage! „Wir sprechen nicht von mir, Deenie. Es geht darum, wie du dich fühlst." „Das habe ich dir bereits gesagt - glücklich. Was mich daran erinnert - willst du nicht mit mir einkaufen gehen? Ich brauche etwas für den Tanz am Heiligabend hier im Club. In der Stadt gibt es eine schicke kleine Boutique für ein Nest wie dies hier richtig modisch. Designerklamotten und alle möglichen hübschen Accessoires. Sag, dass du mitkommst!" „Sicher. Du weißt doch, ich gehe gern einkaufen." „Klasse. Morgen geht es allerdings nicht, weil ich Gäste aus der Stadt erwarte und sie vom Flughafen in Skellington abholen muss. Was hältst du von übermorgen?" „Schön." „Ach ja, bevor ich es vergesse, hier ist deine Uhr." Deenie griff in ihre Tasche und schob sie ihr über den Tisch zu. „Aber nun lass uns endlich feiern." Ein lässiges Fingerschnippen, und der Kellner kam herangeeilt. „Zwei Champagnercocktails, bitte", bestellte sie, korrigierte sich aber sofort. „Bringen Sie besser eine ganze Flasche, das ist einfacher - was Sie gerade auf Eis haben." Als der Mann davonschoss, sah sie Ava stirnrunzelnd an. „Was ziehst du für ein Gesicht? Ich dachte, du würdest dich freuen, deine Uhr wiederzuhaben." „Es geht nicht um meine Uhr, und ich mache auch kein säuerliches Gesicht. Ich bin es nur nicht gewohnt, zum Essen eine Flasche Champagner zu trinken. Und soweit ich bislang wusste, du auch nicht." „Ach, hör auf, so sauertöpfisch dreinzuschauen. Du bist meine Freundin, nicht meine Mutter, und außerdem ist Weihnachten! Was ist dabei, ein wenig auf den Putz zu hauen, wenn die Zukunft einer Frau so rosig aussieht?" Aber die Geschwindigkeit, mit der sie zwei Glas Champagner hinunterkippte, hatte eher etwas Verzweifeltes an sich. So, als wolle sie das Heute vergessen und an morgen lieber nicht denken. „Bist du sicher, die Sache mit Leo läuft in die richtige Richtung?" fragte Ava vorsichtig. „Ich weiß, in deiner letzten E-Mail hast du erwähnt, zwischen euch sei es ernst. Aber hat er wirklich gesagt, dass ihr heiraten werdet?" „Nicht in so vielen Worten vielleicht, aber er will es. Es ist nur eine Sache der Zeit." Deenie schluckte wieder kräftig und lächelte schlau. „Die Taten eines Mannes sagen oft mehr als alle Worte, wenn du mich verstehst!" Das war eindeutig! „Wenn das so ist, warum bist du dann so ... unruhig? Liegt es an der Vorstellung, bald zu heiraten?" „Nein, es ist eigentlich eher das, was danach kommt, das mir einige Sorgen macht." „Du meinst die Hochzeitsreise?"
Deenie lachte, schon leicht beschwipst. „Ich meine die Ehe an sich, mein Dummerchen! Ich meine damit, Leo jeden Morgen beim Frühstück gegenüberzusitzen, seine Hemden zu bügeln und die perfekte Gastgeberin zu spielen, wenn er seine Kollegen zum Essen einlädt." „Aber macht das nicht auch eine Ehe aus?" „Für Menschen wie dich vielleicht. Aber ich bin einfach nicht dazu geboren, Kleinstadthausmütterchen zu spielen." „Warum willst du dann einen Mann wie Leo heiraten?" „Weil ein Mädchen tut, was ein Mädchen eben tun muss." Deenie bekam einen Schluckauf und sah Ava mit leicht starrem Blick an. „Der Zweck heiligt die Mittel, stimmt's? Manchmal muss man ohne Skrupel in den Kampf ziehen, wenn man etwas haben will. Nun - ich werde kämpfen!" Die rätselhaften, fast gelallten Worte konnten eine eiserne Entschlossenheit in Deenies Stimme nicht verbergen. Ava musterte sie intensiv. „Du hast etwas vor, Deenie", drängte sie, „und ich würde gern wissen, was das ist." Deenie schüttelte heftig den Kopf, der aber eigentlich mehr hin und her schwankte, was ziemlich lächerlich aussah. „Nein. Zu spät für Geständnisse." „Es ist niemals zu spät, Deenie." „Doch, das ist es", erklärte Deenie übertrieben ernsthaft. „Komm, lass uns noch einen trinken." „Hör auf! Du brauchst etwas zu essen." Ava war sich nicht sicher, ob Deenie ihre Worte wirklich ernst meinte oder der Champagner für die beunruhigenden Eingeständnisse verantwortlich war. Zum jetzigen Zeitpunkt schien es wenig sinnvoll zu sein, ein vernünftiges Gespräch anzustreben. Wenn Deenie wieder nüchtern war, würde sie vielleicht ganz anders daherreden. Auf der anderen Seite ... im Wein lag die Wahrheit, sagte man nicht so? Sie winkte den Kellner heran und bestellte ein paar Sandwiches, dazu Pommes frites. Nicht gerade das gesündeste Essen auf der Speisekarte, aber immerhin würde es den Champagner aufsaugen. „Und bringen Sie uns noch eine Flasche Champagner", säuselte Deenie, und es hörte sich an, als hätte sie einen Knoten in der Zunge. „Nein, besser Kaffee", widersprach Ava. „Eine große Kanne, bitte." „Du hast so viel Zeit im Ausland mit den Unterprivilegierten und Armen dieser Welt verbracht, dass du vergessen hast, wie man Spaß hat." Deenie schmollte. „Du bist ein echter Spielverderber, Ava." „Nein, ich bin deine Freundin." Ava lauschte ihren spontanen Worten nach. Eine gute Freundin, eine echte Freundin würde beachten, was Deenie sozusagen zwischen den Zeilen angedeutet hatte, und ihr den uneigennützigen, unvoreingenommenen Rat geben, den sie bitter nötig hatte: Fang nichts mit einen Mann an, solange du noch einen anderen liebst. Benutz Leo nicht. Er verdient so etwas nicht. Das Dumme war nur, ihre eigenen Motive waren zu trübe, als dass sie so offen sprechen dürfte. Denn um die Wahrheit zu sagen, sie würde nichts lieber tun, als Sand ins Getriebe zu streuen und Leo damit in die Lage zu versetzen, eine Beziehung mit ihr, Ava, anzufangen. Aber was für eine Freundin wäre sie dann?
4. KAPITEL Leo und Ava mieden einander. Bis auf einen kurzen Begrüßungsblick, als sie das Haus der Manvilles betrat, benahm sie sich, als wäre er nur eins der teuren Möbelstücke, und er verzog sich schließlich ans andere Ende des Raums und bezog neben dem glitzernden Plastikweihnachtsbaum Stellung. „Wer ist die Hübsche mit den endlos langen Beinen?" Seine Cousine Ethel tauchte neben ihm auf. „Wen meinst du?" Er tat dumm, schaute sich im Zimmer um und gab sein Bestes, echt verwundert dreinzublicken. Aber er konnte die Herzogin nicht täuschen. Niemals. Sie war einfach zu smart, zu aufmerksam, zu offen. Und die Tatsache, dass sie gerade vierundachtzig geworden war eigentlich war sie auch nicht seine richtige Cousine, sondern die seines Vaters um hundert Ecken herum -schränkte ihre Fähigkeiten in keiner Weise ein. „Dies mag zwar mein dritter Martini sein, mein Junge, aber breit bin ich noch lange nicht", erklärte sie und kaute genüsslich auf einer Olive. „Du weißt genau, welche ich meine, falls sie der Grund ist, warum du hier stehst und durch diesen schrecklichen künstlichen Baum glotzt." „Ach, die meinst du!" Er zog sich ein Stück Silberlametta vom Kopf, das sich an sein linkes Ohr verirrt hatte. Dabei kam er sich so dumm vor, wie er zweifelsohne auch aussah. „Eine Nachbarstochter." Nicht zu sprechen davon, dass sie die aufregendste Kreatur der westlichen Hemisphäre war. In ihrem eng geschnittenen Kleid im Retro-Look sah sie aus wie jemand aus einem Drama der dreißiger Jahre. Elegant war das eine Wort, das ihm spontan einfiel, wobei allerdings andere, weniger vom Verstand gelenkte Teile seines Körpers sich mehr dafür interessierten, was unter dem schimmernden schwarzen Satin verborgen lag. „Dann ist sie eine Freundin der winzigen Deenie?" „Stimmt genau", brachte er heraus, während ihm der Atem stockte, weil Ava mit der Schulter zuckte und das Kerzenlicht in Wellen über ihren Körper lief. „Aha! Stell mich ihr vor." „Was?" Ethel leerte ihr Glas in einem Zug und sah ihn böse an. „Stimmt mit deinen Ohren etwas nicht, Leo, oder hat dein Advokatendasein dein Gehirn inzwischen so verdorben, dass du kein simples Englisch mehr verstehst?" Schwankend zwischen Belustigung und Verärgerung, hakte er sie bei sich ein und zog sie mit sich hinüber zu dem großen Piano, an dem Ava lehnte. Sie nippte gerade an einem Glas Champagner und unterhielt sich viel zu angeregt mit einem importierten Maßanzug, der zu viel Schmuck trug. „Hi", sagte er und gab sich Mühe, locker zu wirken. „Hier ist jemand, der dich kennen lernen möchte, Ava. Ethel Whitney, dies ist Ava Sorensen. Und ...?" „Bret Turner", erwiderte der Anzug und bleckte sein perfektes perlweißes Gebiss. „Es ist mir eine große Ehre, Ihre Bekanntschaft zu machen, Madam." Ethel nickte. „Zweifelsohne. Gehen Sie und amüsieren Sie sich mit jemand anders, junger Mann, und lassen Sie mich diese zauberhafte junge Frau besser kennen lernen. Nicht du, Leo", befahl sie und packte ihn beim Ellbogen, als er sich aus dem Staub machen wollte. „Seit wann siezen wir uns? Ich spreche mit Mr. Turner. Du bleibst hier und benimmst dich, wie es sich gehört." Obwohl sein Instinkt nach sofortiger Flucht rief, setzte sich seine gute Erziehung durch, und er blieb, wo er war. Ava streckte Ethel die Hand entgegen. „Wie geht es Ihnen, Mrs. Whitney? Ich freue mich, Sie kennen zu lernen." Ethel inspizierte Avas kurze, ovale Fingernägel, in dem gleichen vollen Rot lackiert, wie es
Leo an ihren Fußnägeln aufgefallen war, und die schlanken, festen Finger. „Gute Hände und gute Manieren", verkündete sie dann mit zufriedener Miene. „Auch gute Knochen. Sind Sie Model, mein Kind, oder nur das Kind eines Models?" Ava lachte, ein volles, warmes Lachen, das Ethel anscheinend noch mehr für sie einnahm. „Weder noch. Ich bin Krankenschwester auf der Intensivstation, und meine Mutter macht mich für ihre grauen Haare verantwortlich." „Eine Krankenschwester? Also, was Sie nicht sagen! War Leo Ihr Patient, als er sich am Rücken verletzte?" „Ich habe niemals auf der Intensivstation gelegen, Herzogin." Ihm brach schon der Schweiß aus bei der Vorstellung, Ava würde ihn im Bett waschen. Gleichzeitig sagte Ava: „Nein. Die letzten drei Jahre habe ich in Afrika gearbeitet. Aber nun bin ich nach Haus gekommen, um Weihnachten mit meiner Familie und meiner Freundin Deenie zu verbringen. Wir sehen uns so selten." Ethel musterte Ava mit zunehmender Anerkennung im Blick von oben bis unten. „Sie und Deenie stehen sich sehr nahe, nicht wahr?" „Sehr." Avas Lächeln verkrampfte sich ein wenig, und sie warf Leo einen trotzigen Blick zu, ehe sie antwortete. „Wir sind die besten Freundinnen, seit unsere Mütter uns mit vier Jahren gleichzeitig in derselben Ballettschule anmeldeten. Wir mögen keine leiblichen Geschwister sein, aber die Bindung zwischen uns ist so stark, als wären wir eineiige Zwillinge." „Doch im Gegensatz zu solchen haben Sie beruflich völlig unterschiedliche Wege gewählt." „Stimmt, obwohl es eine Zeit gab, wo ich davon träumte, ebenfalls Primaballerina zu werden. Aber selbst wenn ich das Talent gehabt hätte, was nicht der Fall ist, wurde ich rasch zu groß dafür. Mit einem Meter achtzig überragte ich meine männlichen Tanzpartner, sobald ich auf Zehenspitzen stand. Daher tauschte ich mein Ballettröckchen gegen eine Schwesterntracht, meine Ballettschuhe gegen weiße Schlappen und meldete mich an der Krankenpflegeschule in Vancouver an. Zur selben Zeit, als Deenie, die sowohl überragend begabt war als auch die richtige Größe besaß, nach England flog, um ihre Ausbildung an der Londoner ,Royal Ballet School' zu beginnen." Sie lächelte, und diesmal war es ein echtes Lächeln. „Madame Antonia, unsere Lehrerin, nannte sie immer ,Teenie Deenie', Klein Deenie." „Wie ungeheuer witzig!" schnaubte Ethel abfällig. „Und wie hat sie Sie genannt, meine Liebe?" „Ich habe es nicht bis zu einem Spitznamen gebracht." „Dem Himmel sei Dank! Aber nun lassen Sie uns über Sie und Leo reden." „Da gibt es nichts zu reden, Herzogin!" mischte er sich sofort ein. Wenn sie Wind von den Ereignissen bekam, würde sie ihn für den Rest ihrer Tage erpressen - und den seiner ebenfalls! „Im Gegenteil, mein Lieber", erwiderte Ethel und betrachtete ihn wie ein geliebtes, aber nerviges Kind. „Aber wenn du dich langweilst, kannst du gern gehen und deine komischen Geschichten woanders erzählen." Ava verschluckte sich an ihrem Champagner und versuchte es mit einem wohlerzogenen Hüsteln zu überspielen. Und er, der nicht mehr rot geworden war, seit er in den Windeln gelegen hatte, spürte, wie sich sein Gesicht erhitzte. „Wenn ich gewusst hätte, dass du Ava so in die Zange nimmst, hätte ich dich überhaupt nicht mit ihr bekannt gemacht", murmelte er trotzig. Ethel ignorierte seine Bemerkung und schaute Ava wohlwollend an. „Erzählen Sie mir, wie Sie Leo kennen gelernt haben." „Wir wohnten früher praktisch Tür an Tür. Ich kenne ihn ebenso lange wie Deenie." „Aha, ich verstehe. Und betrachten Sie ihn auch als einen engen Freund?"
Ungewollt verfing sich Avas Blick wieder mit Leos, und diesmal röteten sich ihre sonnengebräunten Wangen. „Nicht genau. Er war älter als ich, und so hatten wir nicht viel miteinander zu tun." „Das kann ich mir denken ..." meinte Ethel und setzte nach einer Kunstpause hinzu: „... damals zumindest nicht. Sosehr ich mich auch bemühe, ich kann mir Leo nicht in einer Strumpfhose vorstellen, als hätte er eine Börse voller Kleingeld vorn in seine Hose ge..." „Ethel!" brüllte Leo. Die anderen Gäste drehten neugierig die Köpfe. Alarmiert eilte Gail Manville, Deenies Mutter, heran. Ihre dreireihige Perlenkette schwang dabei wie ein Hula-Hoop-Reifen um ihren Schwanenhals. „Gibt es irgendein Problem, Leo?" Ja, verdammt noch mal! Die Situation wurde von Minute zu Minute prekärer. „Meine Cousine hört ein bisschen schlecht, besonders bei starken Hintergrundgeräuschen wie hier", improvisierte er und genoss es unendlich, dass Ethel empört auf keuchte. „In ihrem Alter ist das durchaus verständlich", setzte er noch einen drauf. „Sicher doch, meine Liebe." Gail bemerkte nicht, wie Ethel sie böse anfunkelte, und tätschelte ihr tröstend den Arm. „Ich kann das gut verstehen, Mrs. Whitney. Meine Mutter ist auch schon ziemlich betagt und leidet unter dem gleichen Problem. Aber wir werden uns schon bald zum Essen setzen, dann können Sie der Unterhaltung besser folgen. Ich habe es so eingerichtet, dass immer nur vier Personen an einem Tisch sitzen. Das ist für Sie viel weniger verwirrend." „Das ist doch die Höhe! Sie wird uns in Teams aufteilen und zum Flaschen drehen auffordern, noch ehe der Abend zu Ende ist!" zischte Ethel wütend und laut genug, dass Gail es hören musste. Doch falls dem so war, die Gastgeberin ließ sich nichts anmerken. Stattdessen zog sie Ava beiseite und sagte: „Deenie ist vor einer halben Stunde in ihrem Zimmer verschwunden, um zu telefonieren, und seitdem habe ich sie nicht mehr gesehen. Könntest du sie bitte herunterholen? Das Essen wird gleich serviert, aber wir können ohne sie nicht anfangen." „Ich schon", verkündete Ethel, als Ava sich auf den Weg zur Treppe machte und Gail dem Wink ihres Küchenchefs folgte. „Wenn ich nicht bald etwas in den Magen bekomme, falle ich um." „Und wenn du nicht bald anfängst, dich zu benehmen, werde ich dich nach Hause verfrachten", drohte Leo. „Willst du mich hier in Verlegenheit bringen?" „Dazu brauchst du mich gar nicht, du sorgst schon ganz allein dafür - mit Hilfe der liebenswerten Ava." Er wusste nicht, was sie mit dieser Bemerkung meinte, und er wollte es auch nicht wissen. Als Ava Deenie endlich im Bad fand, das an ihr Zimmer angrenzte, sah sie sofort, dass die Freundin geweint hatte. „Sprich mit mir", flehte Ava sie an, reichte ihr ein weiteres Taschentuch und warf das völlig durchnässte benutzte in den Papierkorb. „Du lieber Himmel, Deenie, du weißt doch, du kannst mir alles erzählen." Aber die alte Deenie, die ihr Herz jetzt schwallartig ausgeschüttet hätte, war durch eine Fremde ersetzt worden. „Es ist nichts", schniefte sie. „Ich fühle mich nur so ..." Ihre Stimme bebte kurz. „... ein wenig deprimiert. Jemand, von dem ich gehofft hatte, er würde heute Abend kommen, schafft es leider nicht." „Sicher ist das enttäuschend, aber unten wartet ein Haufen hungriger Gäste, um mit dem Essen zu beginnen, und deine Mutter bittet dich herunterzukommen. Es sieht nicht gut aus, wenn die einzige Berühmtheit der Familie durch Abwesenheit glänzt." „Hast du Leo gesehen?" „Oh ja!" erklärte Ava gefühlvoller als beabsichtigt. „Ich kann mir vorstellen, er wundert sich inzwischen auch, wo du so lange bleibst." „Mich würde es wundern, wenn es ihm überhaupt aufgefallen ist." Deenies Unterlippe zitterte verräterisch.
Ava, die den nächsten Tränenstrom befürchtete, sagte ermutigend: „Also gut, Deenie, Schluss jetzt mit dem Mitleid. Wenn du dir wegen deiner Beziehung zu Leo unsicher bist, dann sag es jetzt, verdammt noch mal, damit das Elend ein Ende hat." „Leo ist nicht das Problem, ich bin es." „Das hatte ich mir schon gedacht. Die Frage ist nur, warum?" „Ich bin übermüdet und erschöpft und ..." Deenie rollte mit den Schultern, bewegte ihr verletztes Gelenk und zuckte zusammen. „Habe Schmerzen." „Dann nimm ein Schmerzmittel und geh früh ins Bett. Du wirst überrascht sein, welch ein Wunder ausreichend Schlaf bewirken kann." „Hör mal, du bist hier nicht auf der Intensivstation, wo du deine Anordnungen geben kannst, Ava", erwiderte Deenie gereizt. „Und du tanzt hier nicht in einem tragischen Ballettstück, hör also mit den Starallüren auf. Du bist mit einem wundervollen Mann zusammen und nicht auf dem Weg zum Schafott!" Deenies Kopf sank nach vorn wie eine welke Blüte. „Zu Weihnachten in diesem gottverlassenen Nest zu hocken ist für mich wie die Todesstrafe. Ich bin nicht gerade verliebt in das Kleinstadtleben, falls dir das noch nicht aufgefallen ist. Mir fehlt der Glanz der Großstadt." Ava atmete frustriert durch und ging zur Tür. „Für all diese Offenbarungen bin ich die falsche Adresse, meine liebe alte Freundin. Warum gehst du nicht zu Leo und sagst ihm ins Gesicht, was du wirklich darüber denkst, dich mit ihm hier häuslich niederzulassen?" „Wag es ja nicht, auch nur ein Wort darüber zu verlieren!" „Warum nicht? Wenn du so sicher bist, dass er dir zu Weihnachten einen Verlobungsring schenkt, meinst du nicht, er hätte das Recht, deine Gefühle und Einstellungen zu kennen, bevor er sein schwer erarbeitetes Geld ausgibt?" „Nein." Deenie griff sich ein neues Papiertaschentuch, schnaubte kräftig aus und suchte im Apothekenschränkchen nach lindernden Augentropfen. „Einfach einmal Dampf abzulassen hat mir schon geholfen. Ich fühle mich gleich viel besser." Ava wünschte, sie könnte für sich das Gleiche sagen. Aber zum ersten Mal in ihrem Leben war sie zwischen ihrer Loyalität zu der liebsten Freundin und einem Mann hin- und hergerissen. Einem Mann, der eine Anziehungskraft auf sie ausübte, dass die Funken nur so sprühten, wenn er mit ihr im selben Raum war. Welch ein Dilemma! „Schau nicht so besorgt drein", sagte Deenie und warf einen letzten kritischen Blick in den Spiegel. „Du solltest mich gut genug kennen, um zu wissen, dass ich bestimmt keine Selbstmordgedanken hege, auch wenn es sich vielleicht so anhört. Leo ist ein lieber Kerl, und mir muss niemand sagen, dass ich die glücklichste Frau der Welt sein kann, weil ich ihm zufällig wieder über den Weg gelaufen bin." „Da gebe ich dir Recht", stimmte Ava düster zu. „Also, dann ist doch alles in Ordnung! Komm, lass uns nach unten zu den anderen gehen. Kennst du von den Leuten schon einige von früher?" „Nicht viele. Einen Investmentbanker namens Bret, der sehr aufmerksam ist, und dann diese Gäste von außerhalb, die gestern hergeflogen sind. Du hattest von ihnen erzählt." „Ach ja, Paul und Lynette Markov. Sie sind zwei weitere Prinzipale aus unserer Balletttruppe, haben aber meinetwegen einen kleinen Schlenker auf dem Weg nach Santiago de Chile gemacht, wo die Frühjahrstournee stattfindet." Sie blickte Ava an. „Hast du zufällig gesehen, ob sie sich mit Leo unterhalten haben?" „Nein. Ich hatte Besseres zu tun, als ihm nachzuspionieren", erwiderte Ava spitz. „Aber er hat mich mit der Herzogin bekannt gemacht." „Ach, du armes Ding! Ich habe dich gewarnt, die herzogliche Ethel ist wirklich eine Nervensäge - und ein echt erschreckender Anblick in ihrem Silberlamekleid, findest du nicht? Sie sieht aus, als hätte jemand versucht, sie in Aluminiumfolie zu wickeln!" „Das ist gemein, Deenie!" Trotzdem musste Ava lachen. Endlich kam die vertraute alte
Deenie wieder zum Vorschein. Verschwunden war das Häuflein Elend, das sie vor ein paar Minuten noch geboten hatte.
5. KAPITEL Der Wintergarten der Manvilles, ein begeisterndes Meisterwerk längst vergangener viktorianischer Glasbauarchitektur, war in ein Weihnachtswunderland verwandelt worden. Hunderte, vielleicht Tausende kleiner Lampen schimmerten im tropischen Ambiente. Unterwasserlampen bestrahlten die Felsspringbrunnen. Armdicke, hohe weiße Kerzen standen in Gruppen auf Bänken, arrangiert zu purpurroten und rosa Weihnachtssternen. Eine riesige Fichte, mit filigranen alten Glaskugeln geschmückt, erhob sich mitten im Atrium. Ihre Spitze berührte fast das pagodenförmige Dach. Obwohl die Manvilles für ihre Feste berühmt waren, übertrafen sie sich diesmal selbst. Altes englisches Silber, edles französisches Porzellan und österreichisches Kristallglas verliehen den waldgrünen Leinentischdecken einen festlichen Glanz. Barocke Gitarrenmusik erklang, als Salat Mimosa serviert wurde, gefolgt von einem Sherry-Consomme. Das alte amerikanische Weihnachtslied „Good King Wenceslas" leitete den nächsten Gang ein, Langusten in einer mit Pernod verfeinerten Sahnesauce. „The Twelve Days of Christmas", ein altes englisches Kirchenlied begleitete das mit Wildreis und gewürzten Wildäpfeln gefüllte Rebhuhn an die Tafel. Weitere traditionelle Lieder erklangen, als Zitronensorbet in zierlichen Kelchen gereicht wurde, die nicht größer waren als ein Fingerhut. Dann folgte ein flambierter Plumpudding und anschließend ein fürstliches Dessert- und Käsebüfett, dem niemand widerstehen konnte. Deenie flirtete unverschämt offen mit Leo und präsentierte ihn Paul und Lynette Markov bei jeder Gelegenheit wie eine Safari-Trophäe. Ava hielt sich tapfer, so gut es ihr angeschlagener seelischer Zustand erlaubte, aber sobald Kaffee und Likör gereicht wurden, ereilte sie einer ihrer seltenen Migräneanfälle. Damit war für sie der Abend gelaufen. Sie wartete, bis Deenies Vater die Gäste zum Weihnachtssingen ins Musikzimmer gebeten hatte, und setzte sich am entgegengesetzten Ende des Wintergartens auf eine Bank, die um den Stamm einer riesigen Palme herum gebaut worden war. „Das halte ich nicht länger aus", stöhnte sie leise und presste die Fingerspitzen gegen die geschlossenen Augen. Als plötzlich jemand die Hand auf ihre Schulter legte und sie drückte, bekam sie fast einen Herzinfarkt. „Ich auch nicht, Ava." Die Stimme kannte sie nur zu gut. Verwirrt sprang sie auf. „Wie hast du mich hier gefunden?" „Ich sah dich gehen", sagte Leo, „und bin dir gefolgt." Er musterte sie eingehend. „Du siehst nicht gut aus." „Ich habe Kopfschmerzen." Es war eine typische Frauenausrede, aber er akzeptierte sie ohne Kommentar. „Dann bringe ich dich nach Haus und schlage zwei Fliegen mit einer Klappe: diesem Rummel zu entfliehen und mit dir allein zu sein." Sie schaute sich verstohlen um, ehe sie ihn wieder anblickte. „Du solltest nicht hier sein!" flüsterte sie dann. „Wenn uns jemand zusammen sieht ... oder hört, was du gerade gesagt hast ..." Er ignorierte ihre Versuche, ihm auszuweichen, und begann ihre Schläfen mit den Daumen zu massieren, in kleinen, wohltuenden Kreisbewegungen. Wie durch ein Wunder wichen die Schmerzen, und Ava entspannte sich allmählich. „Es könnte Deenie etwas ausmachen ..." Sie versuchte sich der betörenden Wirkung seiner Berührungen zu entziehen. „Und ihrer und meiner Familie ganz gewiss!" Seine Finger glitten zu ihrem Nacken, warm, stark -und intim. „Die Frage ist doch, ob es dir etwas ausmacht, Sweetheart." „Bitte, nenn mich nicht so", flüsterte sie schwach. „Und stell mir keine solchen Fragen. Bring mich nicht dazu, dass ich etwas für dich empfinde. Es ist nicht richtig." „Ach, verdammt", murmelte er und zog sie in die Arme. „Die Wahrheit ist, du empfindest
schon etwas für mich, Ava. Vielleicht so viel, wie ich für dich zu empfinden beginne." Sie bebte nun am ganzen Körper, wusste nicht, was sie sagen oder tun sollte. Ihr Verstand riet ihr, Leo nicht weiterhin anzustarren, ihr Herz kostete den Blick aus. Wie wunderschön er war, mit diesen hohen, aristokratischen Wangenknochen und der glatten, sonnengebräunten Haut und dem pechschwarzen Haar, in dem ein paar weiße Strähnen wie zarter Raureif aufblitzten. Nach einem solchen Mann drehten sich die Frauen um, ein solcher Mann weckte Sehnsüchte in ihr, die sie nicht haben durfte. „Du solltest so etwas zu Deenie sagen", sagte sie mit bebender Stimme. „Mit ihr bist du zusammen." „Wir waren nie auf die Art zusammen, die du meinst." „Und welche Art ist das?" „Ernsthaft. So wie ich mit dir zusammen wäre, wenn du mir nur eine Chance geben würdest." „Komisch", sagte sie und stählte sich gegen die Versuchung, ihm zu glauben. „Das ist nicht genau der Eindruck, den du Deenie gegeben hast. Sie scheint zu denken, dass dir die Sache sehr ernst ist. Was sie betrifft." „Dann irrt sie sich." „Wirklich?" Sie lachte bitter auf, erinnerte sich an Deenies kokette Anspielung: Die Taten eines Mannes sagen oft mehr als alle Worte. „Da frage ich mich, wie das passieren konnte." Er unterdrückte einen Seufzer. „Manchmal führen manche Leute sich und andere in die Irre, und dann haben sie Schwierigkeiten, sich mit Anstand aus der Situation zu retten. Ich vermute, das ist im Augenblick bei Deenie der Fall. Aber nur weil sie sich selbst belügt, ist das für mich noch lange kein Grund, sie damit durchkommen zu lassen. Du kannst dich von mir abwenden, Ava", fuhr er fort, als sie das Gesicht zur Seite drehte, „aber nicht von den Tatsachen. Ich bin ebenso wenig der richtige Mann für Deenie, wie sie die richtige Frau für mich ist. Das Traurige ist nur, dass es einer Begegnung mit dir bedurfte, dass es mir klar wurde." „Willst du sagen ... dieser Schlamassel sei meine Schuld?" „Nein." Er strich ihr über den Rücken und ließ seine Hände dann wie selbstverständlich auf ihren Hüften liegen. „Wenn jemanden die Schuld trifft, dann mich, weil ich es zuließ, dass zu viele Leute die falschen Schlüsse zogen." „Das konnten sie doch nur, nachdem du ihnen einen bestimmten Eindruck vermittelt hast, oder?" Er fluchte leise vor sich hin. „Okay, ich gebe es zu. Für kurze Zeit, als wir uns gerade wieder getroffen hatten, ließ ich mich durch die Umstände dazu verleiten zu glauben, es könnte mehr aus uns werden. Vorher hatten wir beide immer nur eine oberflächliche Beziehung gehabt. Und wenn Deenie aufrichtig ist, dann wird sie mir zustimmen, denke ich. Die Ereignisse haben uns zusammengebracht, nicht Leidenschaft. Nun bringen uns die Ereignisse wieder auseinander, und es gibt keinen Zweifel, dass die Auswirkungen einige Leute aufregen werden." Er rückte ein Stück näher. „Und ich musste schon blind sein, um nicht zu wittern, was dich aufregt." Mitgefühl für ihre Freundin zerriss Ava, ließ ihren eigenen Kummer klein und unbedeutend im Vergleich erscheinen. Wie sollte eine Frau damit umgehen, vor aller Welt eingestehen zu müssen, dass nichts aus der Verlobung mit einem Mann würde, den sie wie einen Hauptgewinn behandelt hatte? Auch wenn sie wenig enthusiastisch wirkte, was ihre bevorstehende Verlobung betraf, so war das alles doch unglaublich demütigend. „Wie willst du es ihr beibringen?" Leo gab sie frei und trat zwei Schritte beiseite. Aber noch ehe er antworten konnte, klickten hochhackige Schuhe auf den Terrakottafliesen, und Mrs. Manville erschien. „Wir haben dich überall gesucht, Leo, und deine Cousine meinte, sie hätte dich in diese
Richtung gehen sehen." Ihr Blick glitt von Leos ausdruckslosem Gesicht zu Ava, der das Blut in die Wangen gestiegen war. „Warum drückst du dich hier draußen mit Ava herum? Gibt es ein Problem, von dem ich wissen sollte?" „Ja", übernahm Leo mit bewundernswerter Ruhe die Kontrolle über die Situation. „Ava fühlt sich nicht wohl, und ich versuche sie zu überreden, dass sie sich von mir nach Haus fahren lässt." „Das tut mir Leid." Aber Mrs. Manville hörte sich eher misstrauisch als mitfühlend an. „Was ist los, Liebes?" „Ach, es sind Kopfschmerzen." Das zumindest stimmte. Die Migräne kehrte mit Macht zurück. „Dann solltest du dich an mich wenden, nicht an Leo. Ich hätte dir eine Schmerztablette geben können." „Ich glaube, das hätte nicht ausgereicht", meinte Leo. „Sieh sie dir doch an, Gail. Sie kann kaum aus den Augen schauen, solche Schmerzen hat sie." „Ich fürchte, Leo hat Recht", meinte Ava matt. Übelkeit stieg in ihr auf, und sie fürchtete, sich übergeben zu müssen, wenn sie nicht bald etwas gegen den hämmernden Schmerz in ihrem Kopf unternahm. „Du bist ja richtig weiß im Gesicht", gestand ihr Gail Manville zu. „Vielleicht ist es wirklich das Beste, dass dich jemand nach Haus bringt. Warte hier, ich hole deine Eltern." „Nein, das ist nicht nötig!" Leos gebieterischer Ton bewirkte, dass Mrs. Manville erstaunt eine Augenbraue hochzog. „Und warum nicht, Leo?" Sie klang leicht verärgert. „Weil es die Party stören und der ganzen Stimmung einen Dämpfer verpassen würde. Und das wäre wirklich schade angesichts all des Aufwands, den du getrieben hast, damit sie zu einem Erfolg wird." Fröhliches Gelächter unterstützte seine Worte. Mrs. Manville tippte mit ihren langen manikürten Fingernägeln einige Male gegen ihre geschürzten Lippen. Offenbar war sie hinund hergerissen zwischen Misstrauen und dem Bedürfnis, dieses gesellschaftliche Ereignis nicht durch eine simple Migräne zu verderben. „Vielleicht hast du Recht. Nun ... da du ja bereits angeboten hast, den Chauffeur zu spielen, würde es dir etwas ausmachen ...?" „Überhaupt nicht." In Avas Ohren klang es viel zu enthusiastisch. „Ich bringe meinen Wagen zum' Hintereingang." „Nein." Ava winkte schwach ab. Mit ihm allein im Wagen zu sitzen würde in einer Katastrophe enden. „Unser Haus ist nur ein paar Schritte entfernt. Die frische Luft wird mir bestimmt gut tun." „Dann begleite ich dich, um sicherzustellen, dass du heil ankommst." Als sie protestieren wollte, drückte er sie mit sanfter Gewalt zurück auf die Bank. „Bleib, wo du bist, ich hole deinen Mantel." Als er fort war, erkundigte sich Mrs. Manville mit geheucheltem Mitgefühl: „Brauchst du vielleicht einen Arzt, Ava?" „Nein, ich habe zu Haus Medikamente, die helfen werden." „Du hast doch sonst nie Kopfschmerzen." Es klang wie eine Anschuldigung. „Hast du eine Ahnung, was sie ausgelöst haben könnte?" „Ich denke, es war die Mousse zum Nachtisch. Normalerweise rühre ich keine Schokolade an, aber heute Abend konnte ich nicht widerstehen. Machen Sie sich keine Sorgen, Mrs. Manville. Das Mittel wirkt sehr schnell." „Dann wünsche ich dir eine gute Nacht und hoffe, dass du dich morgen früh wieder besser fühlst." Sie wandte sich zum Gehen, blieb aber noch einmal stehen. „Ich hoffe, ich muss dich nicht daran erinnern, dass Deenie ein Recht auf Leos Aufmerksamkeit hat", sagte sie über die Schulter hinweg. „Bitte, nimm seine Zeit nicht mehr als unbedingt notwendig in Anspruch."
Ein Weihnachtslied schallte Leo aus dem Musikzimmer entgegen, als er nach Avas Mantel und den hohen Stiefeln suchte, die sie ihm beschrieben hatte. Die Gäste schmetterten mit Inbrunst den Refrain, so dass seine Schritte nicht zu hören waren, als er zum Wintergarten zurückkehrte. Daher bekam er Mrs. Manvilles letzte Worte an Ava mit, und ihm entging auch nicht die Kälte in ihrer Stimme. „Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, sie mag dich nicht", meinte er gleich darauf, kniete sich vor Ava hin und umfasste ihren schmalen Fuß, um ihr den Stiefel anzuziehen. „Angesichts der Tatsache, dass sie dich fast dein ganzes Leben kennt, ist ihr Mitgefühl reichlich mager." „Sie mag mich schon - solange ich Deenies Platz im Rampenlicht nicht bedrohe." „Und was soll das heißen?" Leo versuchte seine Erregung zu unterdrücken, als sie den Fuß anhob, um ihn in den Stiefel zu stecken. Aber ein Mann musste schon abgehärteter sein als er, um nichts zu empfinden, als ihr Satinkleid kühl über seine Hand glitt und einen schlanken, seidenbestrumpften Schenkel offenbarte. Ohne ihre Wirkung auf ihn zu bemerken, antwortete sie: „Sie war schon immer ausgesprochen ehrgeizig, was Deenie betrifft. Kaum hatten wir gemeinsam mit dem Ballettunterricht begonnen, betrachtete mich Mrs. Manville als Konkurrenz für ihre Tochter. Erst als ich wie nutzloses Unkraut in die Höhe schoss und somit niemals Primaballerina werden würde, zog sie sich zurück und ließ es zu, dass sich unsere Mädchenfreundschaft entwickelte." Nutzloses Unkraut! Er hatte kein Bild von Ava als kleinem Mädchen vor sich, noch hielt er viel von bildhaften Vergleichen. Aber nach allem, was er gerade gehört hatte, hätte er sich nicht gewundert, wenn Mrs. Manville die Eiskristalle förmlich aus dem Mund geflogen wären. Denn es bestand wohl kaum ein Zweifel, dass sich das „Unkraut" zu einer Frau ausgewachsen hatte, die exquisiter war als alle Blumen und Blüten im Wintergarten der Manvilles. „Angesichts dieser schlechten Vorbedingungen ist es sowieso erstaunlich, dass sich eure Freundschaft überhaupt entwickelte", sagte er. „Aber das erklärt eigentlich immer noch nicht, warum Gail gerade eben so überaus mitfühlend war", betonte er ironisch. „Sie ist eine Mutter, Leo, und sie ist kein Dummkopf. Sie spürt, dass zwischen uns mehr ist als sein sollte. Sie hat Angst um Deenie." „Das ist auch richtig. Aber nicht aus dem Grund, den du meinst. Deenie ist ziemlich daneben, und langsam glaube ich, es hat weder mit dir noch mit mir zu tun. Da steckt irgendetwas anderes dahinter, und ich hoffe wirklich, sie hat den Mut, damit herauszurücken, bevor ..." „Bevor was?" Ava schaute ihn mit ihren großen grauen Augen an. „Sie völlig ausdreht. Aber im Augenblick", fuhr er fort, half ihr in den Mantel und verließ mit ihr das Haus durch den Seiteneingang, „ist es mir wichtiger, dich nach Haus zu bringen. Du siehst aus, als würdest du gleich ohnmächtig werden." „Ehrlich gesagt geht es mir schon wieder ein wenig besser." Sie hatten den Weg erreicht, der am Seeufer entlangführte. „Die Kopfschmerzen sind einigermaßen erträglich geworden." „Was hat sie ausgelöst?" „Das hat Mrs. Manville mich auch gefragt. Ich habe ihr erzählt, die Mousse au chocolat sei schuld." „Und, stimmt das?" „Nein. Ich habe gar nichts davon gegessen." Sie zuckte mit den Schultern. „Ich nehme an, es sind Spannungskopfschmerzen. Aber eigentlich musst du doch gar nicht nach dem Grund fragen. Schließlich kennen wir beide ihn nur zu gut." „Hör auf, meine Probleme zu deinen zu machen." „Was bleibt mir anderes übrig?" Ihr Kopf ruckte herum, und dabei schwang ihr Haar mit, schimmerte im Mondlicht. „Ich bin Deenies beste Freundin, und doch wünsche ich mir ..." „Was?" fragte er, als sie nicht weitersprach.
„Dass sie mir nicht so viel bedeuten würde. Dann würde mir mein schlechtes Gewissen nicht so viel zu schaffen machen." Es klang aufrichtig und kläglich. „Komm, gib dir keine Schuld daran." Er nahm ihren Arm, schob ihn unter seinen und hielt ihre Hand fest. „Das bisschen Anziehung zwischen mir und Deenie war längst abgeflaut, noch bevor du auftauchtest. Du hast der Rose nicht die Blüte geraubt, wie man so schön sagt." Er wusste, dass es stimmte, aber sie kaufte es ihm nicht ab. „Oh doch", sagte sie, und ihre Stimme zitterte. „Wenn ich nicht gewesen wäre, hätte sie vielleicht erkannt, dass es mit euch nichts werden kann, und ihr hättet euch in Freundschaft voneinander getrennt. Aber wie es jetzt aussieht, benutzt du mich als Anlass, mit ihr zu brechen, und selbst wenn sie es mir verzeihen kann, werde ich mir selbst niemals vergeben. Oder dir, weil du mich in diese Situation gebracht hast." Sie hatten inzwischen den Garten ihres Hauses erreicht, waren aber durch eine Gruppe Fichten vor neugierigen Blicken abgeschirmt. Ava entzog sich seinem Arm und öffnete das schmiedeeiserne Gitter in der niedrigen Steinmauer, die das Grundstück umschloss. Die Nacht war klar, am samtschwarzen Himmel standen Millionen Sterne und ein kalter, blasser Mond. Der See lag still und durchscheinend unter einer dicken Eisschicht da. Wind war aufgekommen und zupfte an Avas Haar. Spontan hob Leo die Hand und nahm eine der Strähnen zwischen die Finger. „Drei weise Männer folgten einem Stern und fanden einen Erlöser", sagte er und zog sie zu sich heran, so dass sie ihm ins Gesicht sehen musste. „Glaubst du, ich könnte ebenso viel Glück haben?" „Das kommt darauf an." Ihre Stimme bebte leicht. „Von was möchtest du denn erlöst werden?" „Von mir. Und von dir." Ihre Augen blitzten auf. Er konnte darin die Sterne sehen, die sich spiegelten. „Oh, Leo, hör auf, mit mir zu spielen! Versuch nicht, mich das eine und Deenie etwas anderes glauben zu lassen. Es ist falsch." „Falsch?" Er zog sie an sich, schob seine Hände in ihren Mantel, umfasste ihre schlanke Taille. „Wie kann dies falsch sein?" murmelte er an ihrem Mund. „Sag es mir, Ava ..."
6. KAPITEL Avas Herz setzte einen Schlag aus. „Lass mich los", bat sie, während ihre Augen sich mit Tränen füllten. Aber er hörte es nicht. Oder er ignorierte ihre Bitte, weil sie halbherzig herauskam. Weil ihr Körper eine ganz andere Sprache sprach als ihr Mund. Weil er ihre Sehnsucht spürte. Allein schon mit der Art, wie sie sich an ihn schmiegte, erlaubte sie ihm, sie zu küssen. Was Leo auch tat. Und diesmal trafen sich ihre Lippen nicht zufällig wie im Pferdestall, sondern kosteten einander langsam und sinnlich. Ava hörte himmlische Klänge, obwohl sie wusste, dass es so etwas nicht gab. Und doch erschienen sie ihr angemessen für die gestohlenen Momente der Ekstase, in die Leo sie mit seinen Liebkosungen jetzt versetzte. Ihr Herz jubilierte, und der schwache Protest ihrer Vernunft erstarb völlig. Es war tatsächlich himmlisch! Unter ihrem schwarzen Samtmantel bewegte Leo die Hände und packte ihren Po, zog Ava dicht an sich. „Komm zu mir", flüsterte er heiser an ihren Lippen, und sie wusste, was er meinte. Sie wusste es, weil er seine Lenden gegen ihre drängte, sie seine Erregung nur zu deutlich spürte, eine wundervolle Hitze sich zwischen ihren Schenkeln ausbreitete. Ava vergaß alles um sich herum. Ein verzehrendes Verlangen bemächtigte sich ihrer. Hätte Leo ihr das Kleid hochgeschoben und den Slip heruntergezogen, sie hätte sich hier und jetzt von ihm nehmen lassen. Ohne sich daran zu stören, dass die Temperaturen mindestens zehn Grad unter dem Gefrierpunkt lagen oder ein Spaziergänger am See Zeuge ihres Tete-ä-Tete werden könnte. Oder dass der Verrat an ihrer besten Freundin von Sekunde zu Sekunde verabscheuungswürdiger wurde. Minutenlang war sie willenlos, wie besessen, fühlte nur und dachte nicht mehr. Hungrig erwiderte sie seine heißen Küsse, wollte ihm gehören, sein Herz besitzen, selbst wenn es nur in diesem Moment wäre. Sollte er morgen seine Meinung ändern, sie fallen lassen, wie er Deenie hatte fallen lassen. Es war ihr genauso egal wie die Scham, die sich später einstellen würde für das, was sie getan hatte. Leider - oder vielleicht auch nicht! - schien wenigstens sein Gewissen noch zu funktionieren. Wie jemand, der urplötzlich aus einem Albtraum erwachte, hob er den Kopf und stieß Ava so abrupt von sich, dass sie das Gleichgewicht verlor und im Schnee gelandet wäre, hätte das Gitter sie nicht aufgehalten. „Was zum Teufel tue ich hier eigentlich?" rief er mit heiserer Stimme und fuhr sich mit dem Handrücken über den Mund. „Ava, vergib mir!" „Es gibt nichts zu vergeben", wimmerte sie und hätte sich in ihrer Schwäche sofort in seine Arme geworfen, wenn er sie nicht mit beiden Händen abgewehrt hätte. „Oh doch, da gibt es etwas." Entsetzen schwang deutlich in seiner Stimme mit. „Leo...!" „Hör mir zu, Ava." Seine Stimme bebte leicht. „Ich begehre dich so sehr, wie ein Mann eine Frau nur begehren kann. Aber so will ich es nicht. Nicht wie ein hormongeschüttelter Teenager, der im Schutz der Dunkelheit herumfummelt. Und vor allem nicht vergeblich, denn wir haben nicht das Recht, einander zu begehren." Sie atmete tief durch, und die kühle Nachtluft ernüchterte sie schlagartig. Plötzlich schämte sie sich dafür, wie rasch sie sich hatten hinreißen lassen. Und noch mehr, dass Leo es war, dessen schlechtes Gewissen sie auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt hatte, und nicht ihres. „Ein besserer Grund, so etwas nicht zu tun, wäre wohl, dass eine andere Frau davon ausgeht, du würdest ihr einen Heiratsantrag machen." „Wenn Deenie dir das erzählt hat, macht sie sich etwas vor!" sagte er knapp. „Wirklich? Oder kommt es der Wahrheit näher zu sagen, du genießt es, auf beiden
Hochzeiten gleichzeitig zu tanzen?" „Wenn du das glaubst, dann kennst du mich überhaupt nicht." „Vielleicht nicht, aber eins weiß ich sicher: Ich fange keinen Krieg wegen eines Mannes an, und ganz bestimmt nicht wegen jemand, der mit Beziehungen so lässig umgeht wie du. Du hattest nichts dagegen, Deenie zu benutzen, als nichts Besseres zur Hand war, und nun scheinst du keine Skrupel zu haben, sie fallen zu lassen, weil du annimmst, du hättest jetzt mich." „Um alles in der Welt, Ava, ich habe Deenie nie gehabt!" Die Taten eines Mannes sagen oft mehr als alle Worte ... „Das sagst du!" „Ja, und ich meine es auch", betonte er. „Aber wenn mein Wort bei dir so wenig Gewicht hat, vergeude ich wohl meine Zeit, wenn ich versuche, dich zu überzeugen, dass ich weder mit ihren Gefühlen spiele noch dich anmache, weil ich Lust auf Abwechslung habe." Er schlug seinen Mantelkragen hoch und wandte sich ab. „Entschuldige, dass ich bei dir eine Grenze übertreten habe. Es wird nicht wieder vorkommen." „Ich hatte schon angefangen, mir Sorgen um dich zu machen", bemerkte ihre Mutter, als Ava morgens in die Küche kam. Es war bereits nach zehn Uhr. „Gail erwähnte, dass du gestern Abend früher gegangen bist, weil du so müde warst. Aber selbst wenn, passt es eigentlich nicht zu dir, so lange zu schlafen. Und nimm es mir nicht übel - aber du siehst immer noch ein wenig blass um die Nase aus." Ava hatte tatsächlich den größten Teil der Nacht wach gelegen, von ihren Zweifeln geplagt. War sie mit Leo zu schroff ins Gericht gegangen? Spielte vielleicht Deenie irgendein Spiel mit ihr, das sie nur nicht durchschaute? Konnte es wirklich sein, dass ihre lebenslange Freundin sie absichtlich täuschte? „Der Jetlag macht mir zu schaffen", wich sie aus. „Heute Abend werde ich bestimmt nichts mehr davon spüren. Ist noch Kaffee da?" „Genug. Ich habe gerade welchen frisch aufgebrüht." Ihre Mutter schenkte ihr eine Tasse ein. „Deenie hat angerufen, um dich daran zu erinnern, dass ihr heute einen Einkaufsbummel machen wollt." „Ach herrje ..." Düster stützte sich Ava mit dem Ellbogen auf dem Tisch ab und rührte ihren Kaffee um. „Das hätte ich beinahe verschwitzt." „Sie schlägt vor, dich hier um zwei abzuholen. Aber du hattest ja davon gesprochen, du wolltest noch ein paar Weihnachtsgeschenke holen. Und da ich ebenfalls einige Dinge zu erledigen habe, könnten wir beide doch gemeinsam in die Stadt fahren. Jeder kümmert sich um seine Angelegenheiten, und dann essen wir zusammen zu Mittag, bevor wir uns mit Deenie in der ,Soiree Boutique' treffen, wo sie sowieso einkaufen will." „Wunderbar." Ava versuchte etwas Enthusiasmus in ihre Stimme zu legen. Nicht dass sie mit ihrer Mutter nicht zusammen sein wollte, aber die Vorstellung, Deenie gegenüber ein fröhliches Gesicht machen zu müssen, hatte ihr die Stimmung verdorben. Ihre Mutter kam um den Tisch herum und drückte sie herzlich. „Gut, dann machen wir es so. Ich freue mich schon darauf." Es waren nur noch zwei Tage bis Weihnachten, und im Ortskern von Owen's Lake sah es wie immer wie auf einer Weihnachtspostkarte aus. Die Luft war kristallklar und kalt. In der Mitte des Platzes vor dem Gerichtsgebäude hatten irgendwelche Witzbolde die Statue von Charles Owen mit einem Kranz aus Fichtenzweigen gekrönt. Er hing schräg über einem Ohr und nahm dem Stadtgründer etwas von seiner steifen Würde. Nicht weit entfernt verkaufte Stuart Shultz, der bestimmt achtzig und dessen langer weißer Bart echt war, im Weihnachtsmannkostüm lautstark heißen Kakao und geröstete Maronen an seinem hübsch dekorierten Stand. Das tat er, solange Ava sich erinnern konnte. An der Ecke stand seine Frau Violet, als Mrs. Santa Claus verkleidet, in langem grünen Rock, spitzenbesetzter Bluse und karierter Schürze und bot selbst gebackene Lebkuchen an.
Am anderen Endes des Platzes übte der Jungenchor an der Saint Martha's Church „Stille Nacht, heilige Nacht" für den Gottesdienst am Heiligabend. So muss Weihnachten sein, dachte Ava und hatte plötzlich einen Kloß im Hals. Keine verstohlenen Küsse und heimliche Stelldicheins mit einem Mann, von dem sie nicht wusste, ob sie ihm trauen konnte. Sondern der klare Klang der Jungenstimmen und die Unschuld großer Kinderaugen beim Anblick eines netten alten Ehepaars, das den Mythos vom Weihnachtsmann lebhaft heraufbeschwor. Als Ava später den Speiseraum des „The White Horse Inn" betrat, in dem ihre Mutter bereits auf sie wartete, sah diese offenbar sofort, dass mit ihrer Tochter etwas nicht stimmte. Sie bestellte zwei Sherry, schob Ava ein Glas zu. „Das haben wir uns verdient", sagte sie und hob ihr Glas. „Und nun wirst du mir berichten, warum du aussiehst wie jemand, der gerade seine beste Freundin verloren hat. Und erzähl mir gar nicht erst, ich würde mir etwas einbilden, denn dazu kenne ich dich viel zu gut." „Ich kann nicht darüber reden", wehrte Ava zunächst ab, doch der Sherry löste ihre Zunge, und schon bald darauf schüttete sie ihrer Mutter das übervolle Herz aus. „Oh, Mom, ich habe vielleicht wirklich meine beste Freundin verloren, und alles nur wegen Leo." „Leo Ferrante?" Mrs. Sorensen stellte ihr Glas ab und sah sie überrascht an. „Mein Gott, was hat er denn getan?" „Es geht um das, was ich getan habe." Es hatte wirklich keinen Sinn, Leo die Schuld zuzuschieben. Er hätte nie etwas bei ihr versucht, wenn sie ihm von Anfang an die Grenzen gewiesen hätte, anstatt sich ihm an den Hals zu werfen. „Er hat dich doch gestern Abend nach Haus gebracht, nicht wahr? Hat es damit zu tun?" „Nein, eigentlich nicht. Es hat schon viel früher angefangen." Ava tupfte sich den Mund mit der Serviette ab und seufzte tief. „Als Deenie mir erzählte, dass sie daran dächte, ein geregeltes bürgerliches Leben zu führen, war ich ziemlich überrascht. Denn ich dachte immer, sie wäre mit dem Ballett verheiratet. Aber sie hat mich davon überzeugt, dass sie es gegen etwas Besseres eintauschen würde. Sie sei noch nie glücklicher gewesen und dass Leo sich nicht im Mindesten geändert hätte, seit wir beide als Teenager für ihn geschwärmt hätten. Und dass er genau der richtige Mann für sie sei." „Und - ich meine, hat er sich geändert?" „Nein." Ava starrte niedergeschlagen aus dem Fenster auf den im Sonnenlicht schimmernden gefrorenen See. „Ich leider auch nicht, Mom. Das ist das Problem." „Du meine Güte! Willst du sagen, du bist immer noch in ihn verknallt?" „So könnte man es wohl auch ausdrücken. Aber ich fürchte, meine Gefühle für ihn gehen tiefer." „Oh, Ava!" Ihre Mutter war sichtlich bestürzt. „Honey, du reagierst übertrieben. Denk doch nur daran, wie peinlich es für dich und Leo werden würde, wenn er eine Ahnung davon hätte und ..." „Er weiß es." „Du hast es ihm gesagt?" „Nicht mit so vielen Worten. Das war nicht nötig. Aber das ist noch nicht das Schlimmste. Er ..." Da begriff ihre Mutter. Sie starrte ihre Tochter fassungslos an. „Du lieber Himmel! Ava, willst du mir etwa sagen, er erwidert deine Gefühle?" „Er ... empfindet ebenso wie ich. Zumindest ähnlich. Und er hat mir sehr deutlich gemacht, dass er bei Deenie niemals ernsthafte Absichten gehabt hat." „Das kann nicht wahr sein! Gail Manville hat mir gegenüber angedeutet, dass Deenie und er sich zu Weihnachten verloben werden!" Sie schüttelte verwundert den Kopf. „Das passt gar nicht zu dir, Ava. Ich weiß, wie sehr du dir wünschst, eines Tages zu heiraten und Kinder zu haben. Aber du bist kein Teenager mehr. Du bist achtundzwanzig Jahre alt, weit in der Welt herumgekommen, mit einem großen beruflichen Erfahrungsschatz als Krankenschwester. " „All das verhindert leider nicht, dass ich mich wie ein Dummchen benehme, und entschuldigt auf keinen Fall, dass ich einer anderen Frau den Mann wegnehme. Du musst es
mir gar nicht erst noch deutlicher machen, Mom. Es würde nichts an meinen Gefühlen ändern." „Es ist reine Vernarrtheit. Eine Liebe, auf die eine Ehe aufbauen kann, trifft einen nicht wie der Blitz aus heiterem Himmel." „Aber so war es doch bei dir und Dad. Du hast es oft genug erzählt." „Stimmt ..." Die Schultern ihrer Mutter sanken herab. „Wenn Gail davon Wind bekommt, wird sie dich vierteilen! Erst gestern Abend hat sie mir anvertraut, sie hoffe, Deenie und Leo würden Ostern heiraten." „Ich mache mir mehr Sorgen, wie Deenie reagieren könnte. Du weißt, wie nahe wir einander immer gestanden haben, und es zerreißt mich innerlich. Wenn ich auch nur die geringste Ahnung gehabt hätte ..." Aber woher hätte sie wissen sollen, dass sie Leo wirklich liebte - nicht, wie Deenie dachte, auf schwesterliche Art, sondern mit aller Leidenschaft und dem Verlangen einer erwachsenen Frau, längst über die Verliebtheit ihrer Teenagerzeit hinausgewachsen. Wie hätte sie wissen können, dass ihr dies bewusst geworden war, als sie ihn am Flughafen wieder sah? Dass, obwohl sie insgeheim immer auf der Suche nach dem Richtigen gewesen war, dieser sozusagen vor ihrer Haustür auf sie gewartet hatte? Woher hätte sie wissen sollen, dass sie für ihn so empfänglich sein würde? „Ich wünschte, ich wäre gar nicht gekommen", sagte sie kläglich. „Ich wünschte, die beiden würden sich einfach in Luft auflösen. Zumindest wäre ich dann innerlich nicht so zerrissen." „Wenn er dir die Wahrheit gesagt und Deenie seine Absichten missverstanden hat - und Leo ist mir nie wie ein Mann vorgekommen, der lügt, erst recht nicht in einer solch ernsten Angelegenheit -, hilft Wünschen nicht weiter. Du musst mit den Tatsachen zurechtkommen." „Und wie soll ich das machen, Mom? Wenn er sich von Deenie trennt, wie kann ich mich da noch mit ihm einlassen? Was für eine Freundin bin ich dann?" „Nun ..." Ihre Mutter schaute an ihr vorbei in den Raum, und plötzlich blieb ihr Blick an etwas hinter Ava hängen. Sie runzelte bestürzt die Stirn, beugte sich vor und sagte halb laut: „Ach, du liebe Güte! Wir verschieben diese Unterhaltung besser. Lächle, mein Kind! Deenie kommt gerade mit zwei ihrer Ballettkollegen zur Tür herein, direkt auf uns zu. Ein Blick auf dein Gesicht, und sie wird wissen, dass Ärger in der Luft liegt. Und dies ist weder die Zeit noch der Ort, um damit herauszurücken." Sie selbst setzte ein strahlendes Lächeln auf, als das Trio an den Tisch trat. „Hallo! Wie schön, Sie zu sehen, Mr. und Mrs. Markov. Was für ein Zufall, dass wir uns ausgerechnet hier begegnen." „Eigentlich nicht. Ich rief bei Ihnen zu Haus an, und Mr. Sorensen verriet mir, dass Sie sich hier mit Ava zum Mittagessen verabredet hätten." Deenie legte Ava mit einem ebenso strahlenden Lächeln den Arm um die Schultern. „Hör mal, es gibt ein paar Änderungen im Zeitplan. Lynette und Paul fliegen heute Nachmittag um halb fünf von Skellington aus. Ich habe ihnen eine kleine Sightseeing-Tour auf dem See angeboten, bevor sie los müssen. Unser Wagen mit dem Fahrer steht draußen und ..." „Kein Problem", sagte Ava und hatte Mühe, sich ihre riesige Erleichterung nicht anmerken zu lassen. „Mach dir keine Sorgen wegen unseres Einkaufsbummels. Den können wir an einem anderen Tag nachholen." „Wer sagt denn, dass ich ihn absagen will?" flötete da Deenie. „Natürlich gehen wir einkaufen! Nur etwas später als geplant, weil ich auch noch eine Verabredung wegen eines Hauses habe, das ich mieten möchte. Ich brauche nämlich ein Haus mit einem Raum, den ich als Tanzstudio benutzen kann, versteht ihr", fügte sie dann noch seltsam verschämt hinzu, „und Leos Apartment ist dazu nicht groß genug." „Nein", murmelte Avas Mutter in der peinlichen Pause, die dieser Bemerkung folgte. „Das geht wohl wirklich nicht."
„Genau!" Deenie freute sich offensichtlich und lächelte Ava gewinnend an. „Könntest du mich vielleicht am Haus anstatt in der Boutique treffen?" Sie zog einen kleinen Zettel aus ihrer Handtasche. „Hier ist die Adresse. Es ist am Ende des Lakeshore Drive, und da es auf der Skellington zugewandten Seite der Stadt ist, beenden wir unsere Tour dort. Der Fahrer kann mich rauslassen, bevor er Lynette und Paul zum Flughafen fährt." Ava zögerte und wünschte, sie hätte einen guten Grund abzusagen. Sie wollte nicht mit Deenie allein sein. Und erst recht wollte sie keinen Blick auf das Haus werfen, in dem Deenie vorhatte mit Leo zu leben. Deenie, die ihr Zögern spürte, vertiefte ihr Lächeln. „Sagen wir in eineinhalb Stunden? Dann hättest du noch genügend Zeit, in aller Ruhe mit deiner Mom zu essen." Wie konnte Ava da ablehnen, ohne kleinlich zu wirken, oder noch schlimmer, ihr Misstrauen zu erwecken?
7. KAPITEL Ava brauchte länger als gedacht, um das Anwesen zu finden. Es lag in einer Sackgasse, durch eine dichte Hecke von der Straße abgeschirmt. Das Haus war um die Wende des letzten Jahrhunderts von einer der wohlhabenden Familien der Gegend erbaut worden. Auf der Auffahrt stand nur ein Wagen, der offenbar dem Hausmakler gehörte. Sehr wahrscheinlich sind die Markovs schon weggefahren, und Deenie ist im Haus und schaut sich um, überlegte Ava, als sie den altmodischen Klingelknopf drückte. Zu ihrer größten Verblüffung öffnete Leo die Haustür. Und seiner Miene nach zu urteilen war er ebenso wenig begeistert, sie zu sehen, wie sie ihn. „Was zum Teufel willst du denn hier, Ava?" „Deenie abholen." „Nun, sie ist nicht hier, und ich sollte es wissen. Ich hänge hier nämlich schon eine halbe Stunde herum und warte darauf, dass sie auftaucht." „Du?" fragte sie ungläubig. „Sie ist hier mit dem Hausmakler verabredet, der ihr das Haus zeigen will." „Quatsch!" fuhr er auf. „Sie hat mich gebeten, die Schlüssel zu holen, und wollte mich dann hier treffen, damit ich mir alles hier noch einmal ansehe, ehe sie den Vertrag unterzeichnet." Noch eins von Deenies Spielchen? fragte sich Ava und riss ihren Blick von Leo los, der in seinem grauen Geschäftsanzug und der dunklen Krawatte einfach verboten gut aussah. Er starrte gerade gedankenverloren auf die schneebedeckten Büsche im Garten. Oder war sie unfair? Wenn sie genau nachdachte, dann hatte Deenie niemals wörtlich gesagt, dass sie sich hier mit dem Makler treffen wollte, nur, dass sie einen Termin für die Hausbesichtigung hätte. „Nun?" fragte Leo, als das Schweigen zwischen ihnen sich hinzog. „Hast du deine Zunge verschluckt, Darling? Willst du nicht endlich loslegen und mich beschuldigen, dich hier an diesen einsamen Ort gelockt zu haben, damit ich mit dir Orgien feiern kann?" „Nein", fauchte sie und fühlte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. „Ich frage mich nur, warum du nicht deinen eigenen Wagen fährst." „Weil er in der Werkstatt steht. Diesen habe ich solange ausgeliehen bekommen. Noch irgendwelche Fragen, die deinem misstrauischen kleinen Gehirn einfallen?" „Nein", sagte sie und kam sich dabei immer dümmer vor. „Dann kannst du mir vielleicht erklären, warum Deenie wollte, dass du sie hier abholst, anstatt selbst herzufahren." „Sie hat mit ihren Freunden vom Ballett eine Sightseeing-Tour gemacht und wollte sich hier von ihnen auf dem Weg zum Flughafen absetzen lassen." Ava zuckte mit den Schultern. „Ich schätze, sie haben sich ein wenig verspätet." Er verzog das Gesicht, eindeutig nahm sein Unmut zu. „Und was jetzt?" „Hör mal, lass deinen Frust bitte nicht an mir aus!" beschwerte sie sich. „Ich erfülle nur die Wünsche der Diva, aber da du hier bist, kannst du sie ja in die Stadt zurückfahren! Und sag ihr, ich komme auch nicht mit zum Einkaufen, weil du ihr dabei zur Verfügung stehst!" Das zornige Funkeln in seinen blauen Augen milderte sich etwas. „Ach, zum Teufel! Wo du nun schon den ganzen Weg hierher gefahren bist, kannst du auch hereinkommen und dich einmal umsehen. Ich bin bislang nur in den unteren Räumen gewesen, aber das reicht mir schon, um zu sehen, dass es eine richtige Villa ist. Komm, Ava", lockte er, als sie den Kopf schüttelte, „wir wollen doch wenigstens versuchen, uns wie Erwachsene zu benehmen." Hätte sie so leicht nachgegeben, wenn ein anderer Mann sie darum gebeten hätte? Hätte ihr Herz ebenso hektisch geklopft, als er ihren Arm ergriff und mit reumütigem Lächeln sagte: „He, es tut mir Leid. Ich weiß, du kannst für all dies nichts." Natürlich nicht! Aber es war eben kein anderer Mann, es war Leo. Und deswegen schmolz
sie auch dahin wie Butter in der Wüstensonne. Geschlagen gestattete sie es ihm, sie ins Haus zu ziehen und ihr den schweren Mantel abzunehmen. Die Eingangshalle war überwältigend. Eine Treppe aus honigbrauner Eiche führte in den ersten Stock, und der Raum hätte auch gut als kleiner Ballsaal dienen können. Avas erster Gedanke war, dass Deenie in einer solchen Umgebung in ihrem Element als Gastgeberin sein würde. Aber Leos Gedanken liefen einen anderen Weg. „Ich wette, auf diesen beiden Handläufen sind bestimmt einige Kinder heruntergerutscht", bemerkte er. „Das Haus wurde für eine große Familie gebaut. Hast du jemals daran gedacht, Kinder zu haben, Ava?" „Äh ..." Sie schluckte, von seiner Frage total überrascht. Wie sollte sie sich ganz normal mit Leo Ferrante darüber unterhalten, ob sie Kinder wollte? Er schien ihre Verwirrung nicht zu bemerken, ergriff ihren Ellbogen und steuerte mit ihr auf eine Tür zur Rechten zu. „Dies ist das Esszimmer. Verstehst du, was ich meine? Um den Tisch könnten zwanzig Leute sitzen, und es ist immer noch Platz für weitere." „Wird das Haus möbliert vermietet?" plapperte sie drauflos, um schnellstens das Thema zu wechseln. „Es ist eine Option." Sie fuhr mit dem Zeigefinger über die polierte Oberfläche des Sideboards. „Das ist für Deenie sehr praktisch." „Das denke ich auch." Er zuckte mit den Schultern. „Aber ich begreife nicht, warum sie ein so großes Haus mieten will, außer sie hat vor, hier ihre eigene Tanzschule aufzumachen." „Sie hat mir tatsächlich von einem Raum erzählt, den sie als Studio benutzen könnte." Leo schaute in den Ordner, den er dabei hatte. „Das müssen die Räume über der Garage sein. Sie sind rund neun mal sechs Meter groß. Schauen wir sie uns doch einmal an - außer, du willst zuerst die Küche sehen? Sie wird als eine Küche bezeichnet, die höchsten Ansprüchen genügt, gerade mit den allerneuesten Geräten ausgestattet." „Nein, ich möchte die Küche nicht sehen." Wieder zuckte er mit den Schultern. „Warum denn nicht? Ist sie nicht das Herz eines jeden Hauses?" Rede nicht über Herzen! hätte sie am liebsten ausgerufen. Meins schmerzt schon genug. Wenn die Dinge anders lägen, würden du und ich uns vielleicht schon darauf freuen, hier zusammen zu leben, und planen, wo nächstes Jahr Weihnachten der Baum hinkäme und wo wir die Strümpfe mit den Geschenken aufhängen, sobald unsere Kinder da sind. Dann würde ich natürlich gern wissen, ob der Kühlschrank groß genug ist und ob die Arbeitsplatte ausreicht, um darauf Keksteig auszurollen, und auch, welches Zimmer als Kinderzimmer infrage käme ... Die verwirrenden Ereignisse der letzten Tage boten jedoch nur einen Grund, in die Küche zu gehen: um den Kopf in den Gasherd zu stecken! „Ich frage mich, wo Deenie bleibt", sagte sie und starrte durch die bleigefassten Scheiben neben der Eingangstür. „Wer weiß? Sie ist schon immer gern zu spät gekommen. Andererseits, wenn man ihre Launen der letzten Zeit berücksichtigt, kann es durchaus sein, dass sie das Haus nun doch nicht mehr mieten will und uns einfach nicht Bescheid gegeben hat." Er klappte den Ordner zusammen und warf ihn auf den Tisch. „Lass uns den Raum ansehen, und wenn du meinst, er käme für ihre Zwecke nicht infrage, schließen wir hinter uns ab und fahren los. Ich weiß nicht, wie es bei dir ist, aber ich habe Besseres zu tun, als den ganzen Nachmittag hier herumzuhängen." Er stieg im Eiltempo die Treppe hinauf, und sie hatte Mühe, ihm zu folgen. Als sie den oberen Treppenabsatz erreichte, drückte er gerade eine Tür zu seiner Linken auf. „Willst du mal ein richtiges Schlafzimmer sehen?" Er stieß einen leisen Pfiff aus. „Sieh du es dir an", erwiderte sie kurz. „Mich interessiert nur der Raum über der Garage."
Sichtlich erstaunt über ihre abweisende Antwort, deutete er auf das große Fenster mit dem weiten Blick auf die Landschaft. „Als Nächstes wirst du mir gleich erzählen, diese Aussicht würde dich nicht im Mindesten beeindrucken. Was ist los mit dir, Ava? Gefällt dir so ein Haus nicht?" Und wie es ihr gefiel! So sehr, dass es fast schmerzte! Die tief stehende Nachmittagssonne tauchte alles in ihr goldenes Licht und verwandelte den eisbedeckten See in eine überwältigende, wie Opalglas schimmernde Szenerie. Die hohen Decken, großzügig geschnittene Räume, die durch die offenen Türen den Gang entlang zu sehen waren, die kunstvollen Zierleisten und glatten Eichendielen - dies alles erweckte eine solche Sehnsucht in ihr, dass sie hätte weinen können. „Was ist los?" rief sie unbeherrscht. „Ich will doch nicht hier leben! Hör auf, mir ständig solche Fragen zu stellen, Leo. Meine Meinung ist doch völlig bedeutungslos." „Nicht für mich", erwiderte er ruhig und griff nach ihr. „Ich habe mir zwar auch versucht einzureden, deine Meinung sei unwichtig und ich müsse nicht unbedingt noch mehr Probleme in meinem Leben haben. Aber egal, was ich gestern Abend zum Abschied zu dir gesagt habe, es fällt mir schwer, mich daran zu halten." Das wunderschöne Haus schien erfüllt zu sein von den Geistern glücklicher Paare, die früher unter seinem Dach geliebt und gelebt hatten. Das Echo vergangenen Lachens, leidenschaftlicher Umarmungen, leiser tröstender Worte einer Mutter für ihr Kind, all dies lag in der Luft. Es zerrte an Ava, zog sie in Leos Arme, als wolle es ihr sagen, sie gehöre zu ihm und dieser Ort des Glücks sei für sie bestimmt. „Nicht", bat sie schwach und fühlte, wie sie sich in seinem dunklen Blick verlor. „Ich kann nicht anders!" Sein Mund glitt über ihre Augenbrauen, ihre Wangen und ihr Kinn, bis er endlich ihre Lippen fand. Keinem Mann sollte gestattet sein, so meisterhaft zu küssen - so dass eine Frau all ihren Selbstschutz vergaß und nur für den Rausch des Augenblicks lebte. Sie konnte nicht anders, sie stieß leise Lustlaute aus, obwohl sie doch eigentlich heftig protestieren sollte. Und er nahm sich unverzeihliche Freiheiten heraus. Überredete sie mit bedeutungsvollen Bewegungen seiner Hüften, mit ihm ins Schlafzimmer zu kommen und hinter ihnen die Tür zu schließen, so dass niemand sie überraschen konnte. Er drängte sie gegen die Wand, machte sie benommen vor Verlangen. Leo strich mit beiden Händen über ihren Hals, tiefer zu ihren Brüsten, so dass ihre Knospen sich aufrichteten und hart wurden. Am Pulloversaum hielt er kurz inne, dann zog er ihr mit verblüffender Unverfrorenheit das Satinmieder aus dem Rock. Er berührte ihre Hüfte, leicht, verlockend. Ihre nackte Haut begann zu prickeln. „Komm mit mir", bat er, und es hörte sich an wie ein unterdrücktes Stöhnen. „Lass mich dich irgendwohin bringen, wo es ruhig und ungestört ist... an einen Ort, wo wir endlich aufhören können, gegen das Unausweichliche zu kämpfen, Ava." Wie sehr sehnte sie sich danach einzuwilligen. Alles in ihr verlangte danach, stritt mit ihrem Gewissen. „Und was ist mit Deenie?" „Lass Deenie aus dem Spiel." Er umfasste ihre Hüften mit beiden Händen. „Meinst du wirklich, wenn du ihren Namen jetzt nennst, vergesse ich, wie es ist, dich in meinen Armen zu halten, dich zu küssen und deine Reaktion zu spüren? Vergisst du es denn?" „Nein. Aber sie glaubt ..." Er schüttelte sie, nicht rau, aber mit verzweifelter Ungeduld. „Hör mir zu, Ava! Es spielt keine Rolle, was sie glaubt. Mir ist es völlig egal, was sie glaubt!" „Wie kannst du so etwas sagen?" rief sie aus. „Liebst du sie denn überhaupt nicht?" „Nein." „Sie glaubt aber, dass sie dich liebt." Er schloss die Augen. „Das bezweifle ich. Aber selbst wenn dem so wäre, ich erwidere
diese Gefühle nicht. Es mag schroff und gefühllos klingen, aber du bist klug genug zu wissen, dass man Liebe nicht befehlen kann. Wir lieben, weil wir nicht anders können." „Hör auf, die Dinge zu verschleiern!" „Das tue ich nicht. Ich versuche sie direkt anzugehen." Er umfasste ihr Kinn, so dass sie ihn ansehen musste. „Du liebst deine Eltern, ich liebe meine, und wir beide lieben unsere Arbeit. Aber wir wissen auch, die Liebe, die wir füreinander empfinden, unterscheidet sich von der anderen, der sicheren, bequemen Liebe. Diese ist es nicht. Sie zeigt sich wild, gierig, überwältigend. Und sie vergeht nicht, indem man sie einfach ignoriert. So sag mir eines, Ava, was muss ich noch tun, bis du bereit bist, diese Tatsache zu akzeptieren?" Sie riss sich von ihm los und wich zur Tür zurück. „Es gibt nichts, was du tun kannst", sagte sie. „Der einzige Mensch, der für mich akzeptabel am Verlauf der Dinge etwas ändern kann, ist Deenie. Solange sie dich will, bist du für mich tabu. Ich möchte nicht, dass du mich anlächelst oder allein mit mir sprichst. Oder Augenkontakt herstellst. Und ich möchte erst recht nicht, dass du mich berührst. Es herrscht bereits genug Chaos."
8. KAPITEL Frustriert schaute Leo sich im Raum um. Der Möblierung nach musste es das Schlafzimmer der Besitzer sein. Schräg zum Fenster, so dass man einen freien Ausblick auf den See hatte, stand ein großes Doppelbett. Ein Bett von der Art, in der früher die Frauen ihre Kinder zur Welt brachten und stillten. Vor seinem geistigen Auge sah Leo Ava dort sitzen, sein Kind an ihrer prallen Brust, das wundervolle Gesicht gerötet und mit zärtlichem Blick auf das Baby gerichtet, während ihr das Haar seidig schimmernd über eine Schulter hing. Doch ein solcher Tagtraum machte seine Wünsche nicht zur Wirklichkeit. Erst musste er etwas dafür tun. Genau das hatte Ethel ihm heute, als sie zusammen aßen, unverblümt deutlich gemacht. „Wann unternimmst du eigentlich etwas wegen dieser entzückenden jungen Frau?" hatte sie wissen wollen. „Ich nehme an, du sprichst von Ava." Allein ihr Name weckte erotische Erinnerungen an den Abend der Party, ihr raschelndes schwarzes Satinkleid, das aufregende Formen barg. Am frühen Morgen hatte er davon geträumt, wie er es ihr auszog ... und war in erregtem Zustand aufgewacht. „Natürlich. Meinst du, ich verschwende meinen Atem wegen dieser Hüpfdohle? Der fehlt ein kräftiger Klaps aufs Hinterteil, aber ich bezweifle, ihr Vater hat den Mumm dazu. Und ehrlich gesagt, mein Junge, ich würde mir Gedanken auch um deinen Mumm machen, wenn du dem Thema weiterhin ausweichst. Du bist offensichtlich bis über beide Ohren in Ava verknallt. Warum packst du nicht den Stier bei den Hörnern und erklärst dieser Deenie, sie möge sich verdünnisieren, anstatt ihrem neurotischen Verlangen nachzugeben, stets und ständig im Mittelpunkt stehen zu müssen." „Deenie ist Künstlerin! Es liegt einfach in ihrer Natur, das Rampenlicht zu genießen. Außerdem befindet sie sich gerade in einem ziemlich labilen seelischen Zustand." „Labil - dass ich nicht lache! Sie ist egozentrisch, oberflächlich, und die Gefühle anderer Menschen sind ihr herzlich egal. Wäre dem nicht so, hätte sie längst mitbekommen, dass Ava und du zusammengehörten. Dann hätte sie alles getan, um euch zusammenzubringen, anstatt euch wie eine Giftspinne ständig zu beobachten." „Urteilst du nicht ein wenig hart?" „Das glaube ich kaum!" Ethel schnaubte abfällig und leerte ihr Martiniglas. „Denk zum Beispiel an diese Fahrt heute Nachmittag in dieses Haus, das du dir ansehen sollst, obwohl du im Büro selbst genug zu tun hast. Sie hätte ebenso gut allein dorthin fahren können. Sie führt etwas im Schilde, Leo, und wenn du das nicht siehst, bist du nicht der Mann, für den ich dich immer gehalten habe." „Egal, was du über meinen Testosteronspiegel denkst, Herzogin, ich weiß, wie und wann ich standhalten muss. Ich weiß auch, wann ich zurückweichen muss. Ava hat mir gestern Abend zu verstehen gegeben, dass meine Avancen unerwünscht sind." Und er hatte ihr auch noch versichert, das Signal sei angekommen. Alles vergessen. Von dem Moment an, seit er mit ihr allein in diesem Zimmer war. Ehrlich gesagt, wenn es nach ihm gegangen wäre, würde sie bereits auf dem Bett unter ihm liegen, und er würde sie mit aller Raffinesse lieben, egal, wer vielleicht gerade durch die Haustür kommen könnte! Deenies Stimme vom Treppenabsatz her, scharf und verdrießlich, riss ihn ruckartig aus seinen idyllischen Fantasien zurück in die harsche Wirklichkeit. „Was schleichst du denn hier oben herum, Ava - und wo ist Leo?" „Direkt hinter dir", sagte er und trat aus dem Schlafzimmer. Deenie und ihre Freunde standen zusammen am Treppenabsatz. „Gibt es irgendein Problem?" Ava, die einen bedrückten Anblick bot, befand sich ebenfalls am Absatz. Aber als Deenie Leo erblickte, strahlte sie plötzlich übers ganze Gesicht. „Hallo, Darling", schnurrte sie,
rannte auf ihn zu und umarmte ihn gefühlvoll. „Tut mir Leid, dass wir ein wenig zu spät kommen. Aber der Flieger nach Vancouver hat eine Stunde Verspätung, so haben wir noch einen kleinen Umweg genommen!" Trotz seiner unauffälligen Versuche, sie abzuschütteln, klebte sie an ihm wie eine Klette. Oh, verdammt! dachte er mit zunehmender Bestürzung. Sie scheint gerade wieder auf der Bühne zu stehen. Deswegen die „ Darling" -Arie! Auch Ava war Deenies überschäumender Enthusiasmus aufgefallen, nur interpretierte sie ihn anders. Er sah den Schmerz kurz in ihren Augen aufblitzen, sie konnte ihn nicht verbergen. Dann schaute sie fort. „Ich warte im Wagen auf dich", sagte sie zu Deenie und schritt erhobenen Kopfes die Treppe hinunter. „Gut." Deenie verabschiedete sie mit einer herablassenden Handbewegung, als wäre Ava lästige Mücke. „Leo, Darling, sag, was hältst du von dem Haus?" Leo riss den Blick von Ava los. „Es ist viel zu groß für das, was du ..." „Möglich. Aber würdest du die Miete zahlen, die sie verlangen?" „Ich bin nicht derjenige ..." Wieder unterbrach sie ihn. „Ich weiß, was du sagen willst. Die Entscheidung treffe natürlich ich allein, aber du übernimmst gern die Kosten." Sie schwebte hinüber zu ihren Freunden. „Ist er nicht ein Goldstück? Kennt ihr einen einzigen Mann, der so entgegenkommend ist? So einfühlsam, was meine Bedürfnisse betrifft?" Plötzlich reichte ihm ihre dick aufgetragene vermeintliche Intimität. „Ich möchte kurz unter vier Augen mit dir sprechen, Deenie", sagte er knapp. „Es gibt da ein paar Dinge, die geklärt werden müssen." Er musste reichlich grimmig aussehen - so wie er sich fühlte, denn sie wirbelte herum und schob die Markovs Richtung Treppe. „Du meine Güte, ich habe die Zeit ganz vergessen! Sag Lynette und Paul Auf Wiedersehen, Leo, Darling. Sie müssen schnellstens los." „Ja, richtig", sagte er und hätte den beiden die Hand gegeben, wenn es nur möglich gewesen wäre. „Gute Reise, Ihnen beiden, und viel Glück während der Tournee. Deenie, ich warte unten auf dich." Sie winkte ihm kurz zu und eilte mit den Markovs die Treppe hinunter. Er wartete, bis sich die Haustür hinter den dreien geschlossen hatte, dann warf er einen letzten, bedauernden Blick ins Schlafzimmer. Ja, er konnte sich wirklich vorstellen, hier mit Ava zu leben. Nun musste er sie nur noch davon überzeugen. Er hörte, wie eine Wagentür zugeschlagen wurde, dann sprang ein Motor an. Gleich danach fuhr ein weiterer Wagen davon. Dann hat sie also Ava weggeschickt, dachte er und ging nach unten. Auch gut! Wenn ich Miss Deenie erst einmal den Marsch geblasen habe, wird sie froh sein, niemandem unter die Augen treten zu müssen! Er kehrte ins Esszimmer zurück und nahm den Schlüssel, den er neben seinem Aktenkoffer liegen gelassen hatte. Er verstaute den Mietvertrag wieder im Koffer, und dann fiel ihm auf, dass Deenie ziemlich lange brauchte, um hereinzukommen und sich das Donnerwetter anzuhören. Er ging zur Tür, riss sie auf und schaute hinaus. Die Auffahrt war leer! Die kleine Hexe war zusammen mit Ava weggefahren! „Du hast dich an der Nase herumführen lassen, du blöder Kerl!" Er schlug sich wütend mit der flachen Hand gegen die Stirn, dass es klatschte. Eigentlich hätte er wissen müssen, dass sie ihre Spielchen mit ihm trieb! „Leo kam mir gerade eben ziemlich missmutig vor." Deenie lehnte sich im Beifahrersitz zurück. „Ist zwischen euch irgendetwas gewesen, bevor ich kam?" „Gewesen?" Ava fühlte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. „Was meinst du damit?" „Ich weiß nicht. Eine Meinungsverschiedenheit vielleicht? Hast du ihm gesagt, du fändest das Haus schrecklich oder so ähnlich?"
„Ich finde es toll", sagte Ava, froh, dass sie zumindest in dieser Hinsicht offen sein konnte. „Es ist hinreißend." „Oh, Ava!" Deenie lachte glucksend. „Trotz deiner weltläufigen Politur bist du im Grunde deines Herzens doch das Kleinstadtmädchen geblieben. Du würdest bestimmt gern dein restliches Leben hier in Owen's Lake verbringen, wenn sich dir nichts Besseres bietet, oder?" „Ich weiß nicht, warum dir das so komisch vorkommt, da du doch genau das vorhast." „Aber das stimmt nicht", erwiderte Deenie. „Nicht wirklich. Ich habe nur ein kleines Spielchen gespielt." „Zu wessen Nutzen?" „Na, was meinst du wohl? Natürlich zu meinem!" „Warum, Deenie?" Der tadelnde Unterton hätte die alte Deenie sofort in Harnisch gebracht. Die neue, rätselhafte Deenie sagte nur: „Aus Gründen, die du nicht einmal ansatzweise verstehen wirst und die ich nicht erklären kann und will." „Dann hat sich zwischen uns eine Menge verändert, weil wir früher nie Kommunikationsprobleme hatten. Meist wussten wir schon, was die andere dachte oder sagen wollte, ehe sie es ausgesprochen hatte. Aber jetzt ..." Ava packte das Steuer fester. Echtes Bedauern erfüllte sie. „Wir sind wie Fremde, Deenie. Irgendetwas zwischen uns hat einen Schlag bekommen, seit ich wieder zu Haus bin. Und das macht mich sehr traurig." „Vielleicht liegt das daran, dass ich nicht als Einzige Geheimnisse habe", erwiderte Deenie finster. „Du hast selbst einige, und glaub nicht, mir wäre es nicht aufgefallen." Überrascht stotterte Ava: „Ich weiß nicht, was dir aufgefallen sein könnte!" „Du hast Probleme mit einem Mann, Ava, und leugne es bitte nicht, denn ich kenne die Zeichen nur zu gut. Und doch hast du dich mir nicht anvertraut. Wenn dir Offenheit und Ehrlichkeit so wichtig sind, warum hältst du dann mit allem hintern Berg? Schämst du dich seiner?" Ohne nachzudenken, stieß Ava hervor: „Nein! Absolut nicht!" „Dann ist er verheiratet? Hast du eine Affäre mit einem Ehemann?" Ava fühlte, wie ihr der Schweiß ausbrach. „Nein", sagte sie wieder, aber diesmal mit weitaus weniger Überzeugung in der Stimme. „Dann muss es unerwiderte Liebe sein." Deenie tätschelte ihr mitfühlend das Knie. „Das kenne ich auch sehr gut, Kleines. Es ist wirklich kein Spaß, nicht wahr? Aber du kommst darüber hinweg, wenn du vor den Augen dieses Bastards etwas mit einem anderen anfängst. Bring ihn dazu, dass er bedauert, dich an einen anderen verloren zu haben." „Mit anderen Worten, ich soll einen Mann benutzen, um einen anderen zu bestrafen?" Ava erschauerte innerlich. „Seit wann bist du so zynisch und gefühllos, Deenie?" „Seit ich begriffen habe, dass niemand für mich sorgen wird, wenn ich es nicht selbst tue. Fahr dort in die Parklücke, ja? Die Boutique ist nur ein paar Schritte entfernt." „Wenn es dir nichts ausmacht, lasse ich den Einkaufsbummel ausfallen. Ich habe keine Lust mehr, irgendwelche schicken Kleider anzuprobieren. Es ist sogar gut möglich, dass ich Silvester nicht mit in den Club komme." „Du lieber Himmel, du bist ja wirklich total daneben, stimmt's? Aber egal. Setz mich einfach an der Boutique ab - ich komme auch allein zurecht - und dann treffen wir uns wieder ... warte mal, lass mich sehen." Sie wühlte in ihrer Handtasche, zog ihr Notizbuch heraus und blätterte darin herum. „Morgen ist Heiligabend, und da habe ich den ganzen Tag zu tun, am fünfundzwanzigsten kommen die Verwandten. So wird es wohl nichts vor dem sechsundzwanzigsten oder siebenundzwanzigsten. Vorher werden wir uns wohl auch die Geschenke nicht geben können." Ava lenkte den Wagen vor der Boutique an den Straßenrand, ließ ihre Mitfahrerin aussteigen und fuhr davon, ehe Deenie ihre Meinung wieder ändern konnte.
Eigentlich hätte sie enttäuscht sein sollen. Schließlich hatte sie sich so darauf gefreut, mit Deenie zusammen etwas zu unternehmen. Aber seitdem hatte sich einiges geändert, und Ava konnte jetzt immerzu nur eines denken: Zwei volle Tage, an denen ich nichts mit dir oder Leo zu tun habe? Besser geht's nicht! Vielleicht wird Weihnachten doch gar nicht solch ein Reinfall. Am späten Nachmittag des vierundzwanzigsten Dezember begann es wieder zu schneien. Ava half ihrer Mutter die traditionelle Bouillabaisse zu kochen, die Heiligabend bei den Sorensens serviert wurde. Weihnachtslieder drangen aus dem Radio und erfüllten die Küche mit stimmungsvollen Klängen. Daher überhörten sie die Hausklingel und waren völlig überrascht, als Avas Vater die Tür aufstieß und verkündete: „Besuch für dich, Kind. Es ist Leo. Soll ich ihn hierher bringen?" „Natürlich nicht", kam sogleich die Antwort ihrer Mutter, die ihr einen wissenden Blick zuwarf. „Mein Gott, Gary, begleite den Mann ins Wohnzimmer und biete ihm einen Drink an." „Was will er hier?" fragte Ava mit gesenkter Stimme, als ihr Vater wieder draußen war. „Es gibt nur einen Weg, es herauszufinden." Ihre Mutter schob sie zur Tür. „Marsch, hinaus, Liebes. Worum es auch geht, ich bin sicher, du wirst schon damit fertig werden." Hoffentlich! Aber gute Absichten und feste Entschlossenheit halfen ihr nicht gegen das plötzliche Hämmern des Herzens, als sie Leo tief in Gedanken vor dem Kaminfeuer stehen sah. Er hatte eine dunkelblaue Cordhose, ein Hemd und dazu einen naturweißen Pullover an eigentlich ganz normale, bequeme Kleidung, die an keinem anderen Mann sonderlich aufgefallen wäre. Aber er sah darin aus wie ... wie ... Sie schluckte, weil ihr die trockene Zunge am Gaumen klebte. Er sah umwerfend und unwiderstehlich aus. Selbst seine dicken grauen Socken waren sexy. „Hi", sagte er, und sein rauer Bariton übertönte die Weihnachtslieder aus den Lautsprechern unten am Weihnachtsbaum. „Danke, dass du Zeit für mich hast." „Lieber hätte ich sie nicht." „Ich weiß. Gestern hast du deine Gefühle für mich sehr deutlich gemacht." Sie blickte auf und sah, dass er sie musterte. Sein Gesicht war ernst, er lächelte nicht. „Und warum bist du dann hier?" „Weil du aus meinem Mund hören sollst, bevor weitere Missverständnisse entstehen oder Falsches angenommen wird, dass ich vorhabe, Deenie eindeutig klarzumachen, dass zwischen ihr und mir nur eine platonische Freundschaft bestehen kann. Sollten diese klaren Worte unsere Freundschaft beenden, so kann ich damit leben, und sie wird es auch tun müssen. Ich habe sehr viel Geduld mit ihrem unberechenbaren Verhalten gezeigt, aber genug ist genug." „Oh, arme Deenie!" rief Ava leise aus. „Welch eine Demütigung für sie nach allem, was sie herumerzählt hat." „Von wegen arme Deenie!" entgegnete er. „Viel zu lange hat sie absichtlich die Wahrheit verbogen und dadurch Ärger verursacht. Es muss endlich ein Ende haben." „Warum erzählst du das alles mir?" „Weil du wissen sollst, dass das alles nichts mit dir zu tun hat oder mit dem, was zwischen dir und mir hätte sein können. Du sollst dich weder schuldig noch verantwortlich fühlen." Mit anderen Worten, dachte sie, gib dich keinen Illusionen hin, dass ich dich in mein Leben hole, jetzt nachdem ich Deenie daraus vertrieben habe. „Warum erzählst du es mir dann überhaupt?" „Weil sie sich sehr wahrscheinlich an dich wenden wird, vor allen anderen Menschen. Und ich fand es nur fair, dich darauf vorzubereiten. Du weißt, wie sie ist. Ich will mir nicht schmeicheln, dass es ihr das Herz brechen wird, aber sie wird denken, sie müsse so tun als ob." Er lächelte reumütig. „Wir beide wissen, dass sie besonders die tragischen Figuren liebt."
„Auf der Bühne vielleicht", erwiderte Ava scharf, „aber du solltest nicht den Fehler begehen zu glauben, ihre Gefühle im wirklichen Leben wären ebenso oberflächlich." „Das tue ich nicht. Ich will nur sagen, was mich betrifft, gingen ihre Gefühle von Anfang nicht tief. Ich war für sie nur eine Zweitbesetzung: ein Notbehelf für ein Problem, das sie sich immer noch nicht eingestehen will, wie ich vermute. Wie auch immer, lass dich nicht von deinen Schuldgefühlen übermannen, wenn sie sich an deiner Schulter ausweint. Wie ich anfangs sagte, du hast nichts damit zu tun. Nicht im Geringsten! Sei ihr also reinen Gewissens die gute Freundin, die du immer gewesen bist." „Wann wirst du mit ihr sprechen?" „Heute Abend, hoffe ich." „Am Heiligabend? Konntest du keinen passenderen Zeitpunkt finden?" Sichtlich frustriert erwiderte er: „Sie hat es mir ziemlich schwer gemacht. Ich hatte sie gestern gebeten, noch einen Moment zu bleiben, aber sie ist einfach mit dir weggefahren. Gestern Abend habe ich versucht, sie zu sehen, aber sie gab vor, sich nicht zu fühlen. Und heute ist sie von der Bildfläche verschwunden. Ihre Eltern meinten, sie wüssten nicht, wo sie wäre, und hätten auch keine Ahnung, wann sie wiederkäme. Wenn es nicht im Widerspruch zu allem stünde, was sie in der letzten Zeit gesagt und getan hat, würde ich annehmen, sie meidet mich." Mit anderen Worten, wieder ein Beweis für Deenies unberechenbares Verhalten. „Nun, mir hat sie sich nicht anvertraut, falls du dich das fragst. Aber wenn sie sich meldet, werde ich sie wissen lassen, dass du nach ihr suchst." Sie blickte ihn erwartungsvoll an, wünschte, er würde gehen, und gleichzeitig, er würde bleiben. „Bist du nur deswegen gekommen?" „Deswegen, und um dir auf Wiedersehen zu sagen, falls ich dich bis zu deiner Abreise nicht mehr sehe. Wann fliegst du?" „Am vierten Januar." Er blickte sich im Raum um, schaute auf die Messingschale mit den Mistelzweigen und den mit Gewürznelken gespickten Apfelsinen auf dem Couchtisch, den mit einem Zedernkranz geschmückten Kaminsims, die Edeltanne, die hoch und stolz im Erkerfenster stand. Zögernd richtete er den Blick wieder auf Ava. „Und wie lange wirst du fortbleiben?" „Mein gegenwärtiger Vertrag läuft im März aus. Aber man hat mir eine Beförderung angeboten, dadurch würde ich zwei weitere Jahre bleiben." „Wirst du sie annehmen?" „Wahrscheinlich", sagte sie, ängstlich bemüht, nicht zu weinen. Die rührseligen Weihnachtslieder halfen ihr auch nicht besonders, die Fassung zu wahren. „Es gibt hier nichts, warum ich schnell wieder da sein sollte." „Deine Familie." „Oh, die werde ich besuchen. Oft." „Vielleicht laufen wir uns dann das nächste Mal zufällig über den Weg." „Durchaus möglich." „Ava ..." „Ich denke, du solltest gehen, Leo. Ich wüsste nicht, was wir uns noch zu sagen hätten." Noch war die Tortur nicht zu Ende. Er griff in die Tasche seiner Jacke, die er aufs Sofa geworfen hatte, und zog eine kleine Schachtel hervor, in Goldpapier gewickelt. „Ich habe etwas für dich." „Ich will es nicht." Ihre Stimme bebte leicht. „Bitte, Leo, geh einfach. Lass mich allein. Du hast genug getan." „Es ist nichts Großes, nur ein Zeichen unserer Freundschaft, mehr nicht. Etwas, das dich an Weihnachten zu Haus erinnert, wenn du im nächsten Jahr um diese Zeit unter tropischer Sonne brätst." Da war es wieder, das Wort Freundschaft, das alles bedeuten konnte - aber in diesem Fall
nicht genug. Er hielt ihr das Geschenk hin. Kam näher. Ava wich zurück. Mit einem Schulterzucken akzeptierte er ihre Zurückweisung und legte sein Geschenk zu den anderen unter den Weihnachtsbaum. „Nur für den Fall, dass du deine Meinung änderst", sagte er, drehte sich um und ging hinaus.
9. KAPITEL In ihrer gedrückten Stimmung wollte Ava nicht am Heiligabendgottesdienst teilnehmen. Die meisten Kirchenbesucher kannte sie, und Leo würde unter ihnen sein. Als ihre Eltern losgegangen waren, tauschte sie ihr Kleid gegen eine warme Hose und Pullover, borgte sich die Daunenjacke ihrer Mutter aus und nahm ihren Hund auf einen Spaziergang am See entlang mit. Der wolkenbedeckte Himmel hatte etwas aufgeklart, und nur noch ab und an taumelten vereinzelt Schneeflocken herab. Selbst der Mond ließ sich manchmal zwischen Wolkenlücken blicken. Die Luft war bitterkalt und roch nach Fichten. Dies war Owen's Lake, ihre Heimat, der Ort, an den sie gehörte, wie sie immer geglaubt hatte. Nach diesen Weihnachtstagen hatte sie sich gesehnt, wenn sie Tausende von Meilen entfernt in einem anderen Kulturkreis lebte. Und doch konnte sie es kaum erwarten, Owen's Lake den Rücken zu kehren! Ich hasse dich, Leo Ferrante, dachte sie böse, als sie an dem großen weißen Haus vorbeikam, wo er aufgewachsen war. Du hast alles kaputtgemacht, was mir wichtig war. Mein Zuhause, den Urlaub und meine Freundschaft zu Deenie. Eine leise Stimme mahnte sie, dass sie daran nicht unbeteiligt gewesen war. Das verschaffte ihr den größten Kummer. Sie war seine Komplizin gewesen, bei jedem seiner Schritte. Er hätte sich nicht in ihr Herz einschleichen können, wenn sie es nicht gewollt hätte. Ein paar Minuten später, gerade als sie das Haus der Manvilles erreichte, hörte sie ein Geräusch hinter sich. „Psst!" Erschrocken blickte sie auf, sah aber nur den Staketenzaun, der den Garten umschloss, im schwachen Mondlicht glänzen. Das Haus selbst lag im Dunkeln, abgesehen von den blinkenden Lichterketten an der Veranda und an einem Fenster im Obergeschoss. Sie musste sich etwas eingebildet haben. Ava zog an Jasons Leine und wollte gerade umkehren, als ein schwarzer Schatten sich aus der dichten Hecke neben ihr löste. „Ava!" „Deenie!" rief sie aus, als sie die Stimme erkannte. „Was um alles in der Welt machst du hier?" „Ich habe auf dich gewartet. Ich sah dich den Uferweg entlangkommen." „Und da dachtest du, versteck dich in den Büschen und erschrecke sie? Bist du für solche Spielchen nicht ein wenig zu alt?" „Es soll niemand erfahren, dass ich hier bin." Rasch zog sie Ava in den Schutz der Hecke. „Hör zu, es ist etwas geschehen, und du musst mir einen Riesengefallen tun. Aber ich habe keine Zeit, lange darüber zu reden." „Um was geht es denn?" erkundigte sich Ava vorsichtig. Hatte Leo die Bombe platzen lassen? Aber Deenie machte absolut nicht den Eindruck, als hätte man ihr einen gewaltigen Dämpfer versetzt. Im Gegenteil, sie schien vor rastloser Energie zu sprühen und richtig aufgeregt zu sein. Kurz spähte sie über die Schulter, dann zupfte sie wieder an Avas Jacke. „Können wir nicht zu euch gehen? Niemand wird dort nach mir suchen." Sie wartete Avas Antwort gar nicht erst ab, sondern zog Ava und Jason mit sich, während sie wie vom Teufel gehetzt über den schneebedeckten Weg aufs Haus der Sorensens zueilte. Erst als sie die Tür zu Avas Zimmer hinter sich geschlossen hatten und die Jalousien heruntergezogen waren, redete sie weiter. „Wappne dich, Freundin", begann sie und machte es sich auf dem Bett bequem, so wie sie es früher als Teenager immer getan hatte, wenn sie sich Geheimnisse anvertraut hatten. „Was ich dir jetzt erzähle, wird dich ein wenig umhauen. Ich werde heimlich heiraten." „Nein, das wirst du nicht", erwiderte Ava knapp. „Ich habe bereits mit Leo gesprochen. Ich weiß, dass er dich nicht liebt."
„Leo?" Deenies Augen wurden groß. „Was hat er denn damit zu tun?" „Nichts. Das ist es ja." „Aber ich habe doch gar nicht gesagt, dass ich ihn heirate, Dummerchen!" Deenie strahlte sie nun an, und es wirkte echt. „Oh, Ava, es ist ein richtiges Wunder geschehen! Marcus und ich sind wieder zusammen! Gestern Nachmittag rief er aus New York vom Flughafen aus an, um mir zu sagen, dass er den Nachtflug nach Denver nehmen würde. Und von dort aus nach Vancouver, und kurz vor zwölf würde er in Skellington landen." „Da bist du also gewesen!" „Was?" „Du bist einfach ohne ein Wort zu jemand verschwunden, Deenie. Deine Eltern haben sich Sorgen gemacht." „Sie hätten sich noch mehr gemacht, wenn sie gewusst hätten, was ich vorhatte! Meine Mutter wird an die Decke gehen, wenn sie erfährt, dass ich Marcus heirate. Sie findet, dass Balletttänzer nicht gerade die idealen Ehemänner sind." „Ich verstehe. Und welchen Riesengefallen soll ich dir in dieser Angelegenheit tun?" „Also, wir verschwinden heute Abend. Wir fliegen nach Las Vegas, heiraten dort und fliegen in der nächsten Woche zum Rest der Truppe nach Chile." Sie griff freudestrahlend nach Avas Hand. „Wir werden wieder Partner sein, in jeder Hinsicht. Sobald der Arzt mir sein Okay gegeben hat, werden wir wieder zusammen tanzen. Aber diesmal als Mann und Frau!" „Und?" „Und ich möchte, dass du meinen Eltern alles erklärst. Du kannst so etwas viel besser als ich." Ava lachte schrill auf. „Du machst Witze!" „Nein." Deenie klang verletzt. „Mir ist noch nie etwas ernster gewesen. Hör zu, Ava, dies ist keine Entscheidung, die ich spontan getroffen habe. Marcus und ich haben seit gut einer Woche ständig Kontakt. Erinnerst du dich noch an das Essen bei meinen Eltern, als du in meinem Zimmer nach mir suchtest? Da telefonierte ich gerade mit ihm." „Ich kann mich nur erinnern, dass du in Tränen aufgelöst warst." „Weil er mich fast jeden Tag anrief und mich anflehte, zu ihm zurückzukommen, mir aber kein einziges Mal die Art von Versprechen anbot, die ich wollte. Und ich fürchtete, er würde es niemals tun." „Dann hast du also Leo als Bauern in deinem Spiel benutzt?" Ava konnte ihren Abscheu nicht verbergen. „Nicht mehr, als er mich benutzt hat - vielleicht nicht als Bauern in einem Spiel, aber bestimmt als Ablenkung, weil er sich mit seinem kranken Rücken so langweilte." „Und die Markovs?" Deenie schnitt eine Grimasse. „Okay, die habe ich auch benutzt." „Und gehörte diese Sache mit dem Haus auch zu deinem Plan? Dass du Leo dorthin lockst, dann mit Leuten auftauchst, die Marcus brühwarm weitererzählen konnten, dass du kurz davor stehst, dich hier für immer und ewig niederzulassen?" „Was soll ich dir antworten? Dass ich es gewohnt bin, anderen überzeugend etwas vorzuspielen?" „Du bist ein Miststück, Deenie, und ich bin unglaublich wütend - auf mich, weil ich mich von dir so an der Nase habe herumführen lassen." „Nun, es hätte wohl wenig Sinn gehabt, allen etwas vorzumachen und gleichzeitig allen zu verkünden, was ich vorhätte, oder?" „Du magst dein Verhalten rationalisieren, wie du willst, meine Antwort bleibt dieselbe. Ich werde auf keinen Fall die Vermittlerin spielen. Du wirst deinen Eltern selbst die Wahrheit erzählen müssen." „Das kann ich nicht. Meine Mutter wird Krokodilstränen weinen und mein Vater mich anschauen, als hätte ich ihm einen Pfahl mitten durchs Herz gejagt. Aber du konntest schon
immer gut mit Menschen umgehen, Worte finden, die ihre Gefühle berücksichtigen, Ava. Deswegen bist du auch eine so hervorragende Krankenschwester." „Spar dir die Mühe, mir Honig ums Maul zu schmieren, Deenie. Ich werde es nicht tun, und du hast auch nicht das Recht, es von mir zu verlangen. Zum ersten Mal in deinem Leben wirst du dir selbst aus dem Schlamassel helfen müssen." „Vielleicht habe ich meine Situation noch nicht deutlich genug gemacht." Deenies Stimme wurde eisig. „Mein Liebhaber - meine wirkliche Liebe - wartet in der Abfluglounge am Flughafen von Skellington auf mich. Ich habe ihn schon einmal fast verloren. Und ich gehe nicht das Risiko ein, dass es nochmals passiert, indem ich das Flugzeug verpasse." „Wenn er auch nur halb der Mann ist, für den du ihn hältst, würde er nicht in der nächsten Stadt herumhängen und dich dies allein durchstehen lassen. Wenn er dich wirklich liebte ..." „So wie du Leo liebst, Ava?" Deenie starrte sie böse an. „Bitte, erspar mir diese großen, unschuldigen Augen! Denkst du, mir ist nicht aufgefallen, wie du dich in seiner Nähe benimmst, um ihn herumschleichst wie ein eingeschüchtertes Tier, das Angst hat, ihm zu nahe zu kommen. Und wie du jedes Mal errötest, wenn er dich auch nur ansieht?" „Du hattest schon immer eine ausgeprägte Fantasie, Deenie." Ava ärgerte sich, dass ihr das Blut verräterisch ins Gesicht stieg. „Und du warst schon immer eine verdammt schlechte Lügnerin. Aber ich verstehe nicht, warum du mir etwas vorflunkerst. Es kann ja sein, dass du ihn magst. Aber darum geht es eigentlich nicht, oder? Wir sind schon zu lange befreundet, als dass wir es zulassen dürften, dass etwas uns entzweit. Tu mir bitte also diesen einen Gefallen - danach werde ich dich nie wieder um einen bitten." „Nein." Deenie musterte sie stumm einen Moment lang, dann sagte sie: „Ich hasse es, wenn du diesen Ausdruck im Gesicht hast. Du lässt dich nicht umstimmen, richtig?" „Nein." „Nicht einmal, wenn ich sauer auf dich werde?" „Nein." „Ich hatte halb damit gerechnet, dass du dich so verhalten würdest." Sie seufzte und zog einen Umschlag aus ihrer Handtasche. „Wirst du ihnen wenigstens dies hier geben? Morgen, wenn ich fort bin?" „Nein." Ava war es leid, benutzt zu werden. „Es ist nur ein Brief, in dem steht..." „Das ist mir egal. Gib ihnen den Brief selbst. Sie sind deine Eltern, Herrgott noch mal! Bring wenigstens etwas Mitgefühl auf, zeig ihnen, dass sie dir etwas bedeuten." „Du meine Güte, wie konnte ich überhaupt nur daran denken, du würdest mir helfen?" Deenie sprang vom Bett herunter und stemmte die Fäuste in die Seiten. „Du hast dich verändert, Ava. Diese Wüstenluft hat dir dein nettes Wesen ausgetrocknet. Übrig geblieben ist eine traurige Backpflaume." „Tut mir Leid, wenn ich dich enttäusche", antwortete Ava traurig. „Tatsache ist, wir beide haben uns verändert. Unsere moralischen Werte sind recht unterschiedlich. Wir wünschen uns beide etwas anderes vom Leben." Deenie funkelte sie einen Moment feindselig an, dann brach sie in Tränen aus. „Ich weiß", schluchzte sie, warf sich Ava in die Arme und drückte sie fest, „und ich halte es nicht aus. Aber ich kann auch wiederum nichts dagegen tun. Ich finde, das Leben in dieser Stadt ist entsetzlich langweilig. Marcus und ich, wir sind gleich. Wir gehören zu einer anderen, weiteren Welt. Freu dich doch darüber, dass er und ich endlich wieder zueinander gefunden haben." „Wenn er der richtige Mann für dich ist, dann tue ich es auch", sagte Ava und drückte Deenie ebenfalls. Dann fragte sie: „Nur interessehalber - weiß Leo von der ganzen Sache?" „Oh ja!" Deenie verdrehte mit gespielter Bestürzung die Augen. „Nachdem er mich kurz
vor dem Abendessen abgefangen und mir die Leviten gelesen hat, dass ich die Leute habe glauben lassen, es sei mehr zwischen uns, erzählte ich ihm alles. Er spuckte große Töne, redete von moralischer Integrität und solchem Kram. Aber warum fragst du?" „Ach, ich wollte es nur wissen." Sie wollte wissen, ob er seine Entscheidung auch in die Tat umsetzte. Oder sich einfach seiner Verantwortung entzog, nachdem er wusste, dass Deenie sich einem anderen zugewandt hatte und er sich nun eigentlich den erhobenen Zeigefinger ersparen konnte. „Er ist viel mehr dein Typ als meiner, weißt du." „Möglich." Ava schob sie zur Tür. „Hör zu, Deenie, der Gottesdienst muss gerade zu Ende sein. Geh nach Haus, warte auf deine Eltern und tu das, was zu tun ist. Du hast noch genügend Zeit dazu, ehe du zum Flughafen fahren musst." „Du hast wohl Recht." Sie fuhr sich übers Gesicht und zupfte an ihrem Mantel. „Wir bleiben doch in Kontakt?" „Natürlich." Aber es war ein bittersüßer Abschied, auch wenn keine der beiden es aussprach. Im Grunde wussten sie, es würde zwischen ihnen niemals wieder so sein wie vorher. Der Weihnachtsfeiertag verging ruhig. Es sprach sich herum, dass Deenie mit ihrem Tanzpartner durchgebrannt war. So gab es in der Gegend einiges an Gesprächsstoff, würzte den Truthahn und den Plumpudding. Deenies Mutter bekam den erwarteten Wutanfall, und ihr Vater verzog sich zu seinen Orchideen in den Wintergarten. „Wärt ihr sehr enttäuscht, wenn ich ein paar Tage wegfahre?" fragte Ava ihre Eltern nach dem Abendessen. „Nein, kein bisschen", erwiderte ihre Mutter. Sie hatte Leos ungeöffnetes Weihnachtsgeschenk unter dem Baum bemerkt. „Das verstehen wir voll und ganz." „Deine Mutter vielleicht", erklärte ihr Vater. „Aber ich nicht. Wohin willst du denn?" „Ich würde gern hinauf zur Topaz-Valley-Ferienanlage zum Skifahren." „Allein? Das hört sich für mich nicht gerade reizvoll an - ich meine, Weihnachten mit Fremden zu verbringen." Für mich auch nicht, dachte Ava bedrückt. Aber immer noch besser, als ständig zu hoffen, dass Leo unerwartet vor der Tür steht, mir ewige Liebe schwört, mich über die Schulter wirft und davonschleppt - was das Schicksal einfach nicht für mich vorgesehen hat. Als könnte sie Avas Gedanken lesen, meinte ihre Mutter mitfühlend: „Es wird bestimmt nett. Du lernst neue Leute kennen, schließt vielleicht neue Freundschaften." „Du wirst bestimmt kein freies Zimmer mehr finden", murrte ihr Vater. „Um diese Zeit ist dort immer alles ausgebucht." „Ich habe bereits angerufen. Es ist zufällig eine Hütte frei geworden. Jemand hat abgesagt. Ich weiß, du hättest gern, dass ich hier bliebe, aber ich muss ein paar Tage für mich allein sein." Ihr Vater machte ein finsteres Gesicht. „Wirst du denn wenigstens Silvester nach Haus kommen?" Würden sechs Tage reichen, sich auszuheulen und wieder einigermaßen auf die Reihe zu kommen? Kaum! Aber die offene Enttäuschung ihres Vaters ging ihr zu Herzen. „Ja, Silvester bin ich wieder hier." Leo verbrachte Weihnachten mit seinen Eltern und Cousine Ethel. Unausweichlich wandte sich die Unterhaltung dem Tratsch zu, dass Deenie Manville mit einem Mann auf und davon war, der in Strumpfhosen herumlief. „Deenie war immer nur glücklich, wenn sie im Rampenlicht stand", bemerkte seine Mutter. „So völlig anders als Ava Sorensen. Die hat wirklich Klasse!" „Du hattest immer schon eine Schwäche für sie", sagte sein Vater lächelnd. „In deinen Augen ist zwar keine Frau wirklich gut genug für deinen Sohn, aber wenn Leo einmal
heiraten sollte, wäre sie die Einzige, die du ausgewählt hättest." „Ist das ein Wunder? Sie war durch und durch liebenswert." „Das ist sie noch immer", erwiderte Leo so gefühlvoll, dass sein Vater es bemerkte und sich aufrecht hinsetzte. „Ich behaupte sogar, sie hat sich in dieser Hinsicht mit den Jahren noch verbessert." Seine Mutter seufzte über ihrem Plumpudding. „Ich hoffe, wir bekommen sie noch einmal zu sehen, bis sie die Stadt wieder verlässt." Das hoffte Leo auch. Er hoffte von ganzem Herzen, dass sie die Stadt überhaupt nicht mehr verlassen würde! Und was Deenie betraf - ihr hatte er den Marsch geblasen, und das hatte ihm einige Last von der Seele genommen. Er hoffte, sie hatte bei Marcus wirklich das Glück ihres Lebens gefunden - und dass es für ihn selbst noch nicht zu spät dazu war.
10. KAPITEL Drei Tage hintereinander stand Ava mit der Sonne auf, und abgesehen von einer halbstündigen Mittagspause, jagte sie die Hänge hinunter, bis der Skilift am Abend seinen Betrieb einstellte. Erschöpft trottete sie dann in ihre kleine Hütte, machte Feuer im Kamin, legte eine CD ein, zog sich etwas Bequemes an und aß das, was sie sich vom Service hatte liefern lassen. Das Personal und andere Gäste versuchten sie in das Urlaubsprogramm mit einzubeziehen, luden sie am Abend zum Apres-Ski-Cocktail in der Haupthütte oder auch zum abendlichen Tanz ein. Aber nicht nur ihre schmerzenden Muskeln und Glieder hielten sie davon ab, sondern viel mehr noch ihr tief sitzender Schmerz. Eine Beziehung, die ihr ein Leben lang viel bedeutet hatte, war zerbrochen. Und als würde das nicht ausreichen, hatte sie sich auch noch in einen Mann verliebt, der sie wohl attraktiv fand, aber nicht an einer festen Beziehung interessiert war. Sie brachte einfach nicht die Energie auf, um vor den anderen fröhlich zu tun, bei Menschen, die sie vorher nie gesehen und nach ihrem Kurzurlaub auch nie wieder sehen würde. Als es am Abend des dreißigsten Dezembers an die Tür klopfte, nahm sie an, dass die Sandwiches und die Suppe kämen, die sie bestellt hatte. Aber nicht einer der Hotelangestellten stand vor der Tür, sondern Leo. Leo in blauer Jeans und einem dunkelroten Pullover, eine schwarze Reisetasche über der einen Schulter und Skier auf der anderen. Leo, der aussah wie aus einer Anzeige für eine europäische Wintersportferienanlage. Wie ein antiker Gott, der zu einem kurzen Besuch auf Erden weilte, um zu sehen, wie es den Sterblichen ging. Leo, so atemberaubend attraktiv, dass ihr die Knie weich wurden. Einen langen, angespannten Moment, ohne Lächeln, schaute er sie nur an. Wahrscheinlich, weil er seinen Augen nicht traut, dachte sie düster. Wahrscheinlich wird er lachen, sobald er den Mund aufmacht - und nicht mehr aufhören! Sie trug nämlich flauschige gelbe Puschen und ein langes, weites Flanellnachthemd, so brav, dass selbst ihre Vorfahren zur Zeit Königin Victorias es akzeptabel gefunden hätten. Ihre Haare hatte sie zu niedlichen Zöpfchen geflochten - großartig! Das Schicksal war einfach mies zu ihr. Endlich, als das Schweigen fast unerträglich wurde, fand sie den Mut zu fragen: „Was willst du?" „Dich." Seine Stimme war eine einzige Liebkosung. Bei solchen Dingen hören Herzen nicht einfach auf zu schlagen, hatte ihr einmal eine Freundin gesagt. Sie war einmal mit einem Mann, in den sie schrecklich verliebt war, allein im Fahrstuhl gewesen, und er hatte sie unerwartet geküsst. Sie hatte gedacht, sie würde einen Herzschlag bekommen. Avas Herz blieb in diesem Moment jedoch stehen - zumindest einen Schlag lang. „Darf ich hereinkommen, Liebling?" Wie in Trance öffnete sie die Tür weiter. Er trat über die Schwelle, stellte seine Tasche und die Skier ab und bückte sich, um seine Stiefel auszuziehen. Sein Duft, eine Mischung aus Bergluft und sauberer, kalter Haut mit einem Hauch After Shave, stieg ihr verlockend in die Nase. Sie sehnte sich danach, ihn anzufassen, die Finger in sein dichtes, welliges Haar zu schieben. Die Wärme und Kraft unter all der Winterkleidung zu spüren. Dann richtete er sich wieder auf, und plötzlich wurde es in dem winzigen Flur sehr eng. Leos Atem streifte über ihr Gesicht, seine athletische Gestalt blockierte jede Fluchtmöglichkeit. Aber sie suchte gar nicht danach. Sie hatte gedacht, sie würde ihn Jahre oder sogar niemals wieder sehen, und nun stand er vor ihr - ein Geschenk, das sie vielleicht einmal teuer bezahlen würde. Aber in diesem Augenblick konnte sie ihm einfach nicht wider-
stehen. Er war nahe genug, dass sie die langen, dunklen Wimpern über den blauen Augen sehen konnte. Dicht genug, um den winzigen Schnitt vom Rasieren erkennen konnte - und das feine Grübchen auf seinem Kinn. Dicht genug, dass sie sich auf die Zehenspitzen stellen und ihn hätte küssen können. „Bestimmt fragst du dich, wie ich dich hier gefunden habe", sagte er da und brach damit den Bann. „Ich nehme an, meine Eltern haben es dir gesagt. Schließlich sind sie die Einzigen, denen ich es erzählt habe." „Es war tatsächlich deine Mutter, aber es hat mich einige Überredungskunst gekostet. Und nur unter der Voraussetzung, dass ich dir nicht noch mehr Kummer mache." „Warum willst du mich sehen? Ich wüsste nicht, worüber wir noch zu sprechen hätten." Er zögerte und warf einen Blick über die Schulter in den Wohnraum. „Ich habe eine Menge zu sagen, und es wird eine ganze Weile dauern. Können wir uns nicht dort weiterunterhalten? Vielleicht ein Glas zusammen trinken?" Er nahm die Reisetasche hoch und lächelte zum ersten Mal. „Ich habe auch vorgesorgt. Hier drinnen befindet sich eine gute Flasche Bordeaux." Sie konnte zwar der Flasche Wein widerstehen, aber nicht seinem Lächeln. „Wenn du möchtest", japste sie förmlich. „Oh ja, ich möchte", erwiderte er und ließ seinen Blick an ihr auf und ab wandern, über das Nachthemd, Zöpfchen und alles andere. „Und wie!" „Aber offenbar nicht genug, um früher zu mir zu kommen", beschuldigte sie ihn und marschierte zurück ins Wohnzimmer. „Ich war drauf und dran, das zu tun", verteidigte er sich, „und hätte mir am Weihnachtstag fast den Weg zu deiner Tür freigekämpft, wenn ich sicher gewesen wäre, du hättest mich überhaupt reingelassen. Aber als wir uns das letzte Mal sahen, hast du förmlich gekocht, und da dachte ich, ich lass dir lieber etwas Zeit, Dampf abzulassen." „Und bist du dir sicher, das genügt, damit ich dir in die Arme falle?" „Nein." Leo wurde wieder ernst. „Ich weiß nur eins: Ich will dich nicht abreisen lassen, ohne noch einmal mein Glück bei dir zu versuchen." Er nahm ihre Hand und zog sie mit sich aufs Sofa neben dem Kamin. „Ava, mir ist klar, du hast dir deine Ankunft zu Hause anders vorgestellt. Deine Freundschaft zu Deenie wurde auf die Probe gestellt und ist gescheitert. Ich weiß auch, dass das Gefühl von Schuld und Loyalität dir deinen Urlaub verdorben hat. Und ich bin nicht so stumpf, um nicht zu begreifen, dass ich einen Teil der Schuld trage." „Da hast du Recht!" Er hielt noch immer ihre Hand, und sie versuchte, nicht zu viel hineinzulesen, auch wenn ihr Herz vor plötzlicher Hoffnung schneller schlug. „Ich würde sogar so weit gehen und behaupten, du trägst die größte Schuld!" „Wieso das denn?" „Das weißt du doch genau!" „Du meinst, indem ich allen Missverständnissen und Vermutungen über mich und Deenie ein Ende bereitete? Nun, mir blieb keine andere Wahl. Und selbst auf die Gefahr hin, als unsensibel betrachtet zu werden - ich hätte schon viel früher den Mund aufgemacht, wenn sie seelisch nicht so instabil gewesen wäre." „Das meinte ich nicht. Ich weiß, es war nicht dein Fehler. Sie war bei mir, bevor sie die Stadt verließ und zugab, dass sie dir absichtlich Avancen auf sie unterstellte - aus egoistischen Gründen." „Was meinst du dann? Weil ich mich in dich verliebt habe? Verdammt, das hatte ich weder geplant noch erwartet. Ich hatte es einfach nicht im Griff, und du kannst dir nicht vorstellen, wie schwer es mir fiel, mich von dir fern zu halten, dich nicht anzusehen, dich nicht zu küssen!" Wortlos starrte sie ihn an. Er hatte sich in sie verliebt? Durfte sie ihren Ohren trauen? Hatte
sie sich nicht verhört? „Sagtest du, du hast dich in mich verliebt?" „Ja. Ist das so schrecklich?" Es war wundervoll - so wundervoll, dass sie es kaum zu glauben wagte, auch wenn sie sich nichts sehnlicher wünschte. „Nein, überhaupt nicht schrecklich. Aber mir kommt es so ... so schnell vor. Wir kennen uns wohl schon viele Jahre, aber richtig gut eigentlich kaum." „Oh, da denke ich anders." Er schlang ihr den Arm um die Hüften und zog sie eng an sich. „Bestimmt bist du überrascht, wenn ich dir erzähle, wie viele Erinnerungen an den süßen Teenager von damals ich in meinem Kopf verstaut hatte. Sie tauchten alle wieder auf, als wir uns wieder sahen." „Also, das bezweifle ich aber. Ich kann mich nicht erinnern, dass du mich damals auch nur richtig angesehen hast." „Das stimmt nicht." Lachen tanzte nun in seinen Augen und seiner Stimme. „Ich erinnere mich an ein Mädchen mit langen, dünnen Beinen und großen, ernsten grauen Augen und einer fast schwarzen, wilden Mähne. Ich erinnere mich auch, wie es über Möbel stolperte, beim Tennisspielen über die eigenen Füße fiel. Und fluchte wie ein Kutscher, wenn es sich den großen Zeh am Schwimmbeckenrand stieß." „Genau ...", rief sie entsetzt. „Ich war so ganz anders als Deenie, die zierlich und perfekt war, in jedem Alter, und die von allen geliebt wurde." Er strich ihr mit dem Daumen über die Lippen. „Ich erinnere mich, wie ich damals dachte, Ava wird eines Tages eine richtige Schönheit werden - und ich habe Recht behalten. Als ich die erwachsene Version wieder traf, war ich zuerst einmal sprachlos. Und sie erweckte in mir den Wunsch, in jeder Hinsicht ein besserer Mann zu werden. Ein Mann, der einer solchen Frau das Wasser reichen konnte." Seine Worte klangen wie Musik und wärmten ihr Herz. Und doch blieb eine große Frage, und bis sie die Antwort nicht kannte, wollte sie dem aufkeimenden Glücksgefühl keinen Raum geben. „Und wie soll es nun mit uns weitergehen, Leo?" „Das hängt von dir ab. Ich weiß, was ich will, und zwar die Chance, dich besser kennen zu lernen und dann vielleicht eine Beziehung aufzubauen, die auf mehr als nur ein paar verbotenen Küssen beruht. Ich will innige Freundschaft und die Art Liebe, die bis ins hohe Alter trägt, gegenseitiges Vertrauen und alles mit dir teilen. Gemeinsam mit dir Pläne schmieden. Von dir lernen, dir geben, was du brauchst. Ein Leben aufbauen, in dem deine und meine Träume Platz haben." „Solche Dinge brauchen Zeit." „Stimmt, aber ich habe es nicht eilig." Aus dem Lautsprecher erklang Frank Sinatras zeitloses, magisches „The Christmas Waltz". Leo zog Ava vom Sofa hoch in die Arme. „Ich möchte mit dir ausgehen", sagte er, „mit dir Wange an Wange tanzen. Mit dir rührende Liebesfilme ansehen und dir mein Taschentuch leihen, wenn du weinst. Wenn du die Straße entlanggehst, möchte ich die Leute sagen hören: Dort geht Leo Ferrantes Mädchen. Ich möchte, dass sie bei meinem Anblick sagen: Was für ein Glückspilz. Ich möchte in meinen Wagen steigen und in einer Viertelstunde bei dir sein. Um dich spontan abzuholen und dann bei mir meine lausig schlechten Spaghetti zu essen." Er sprach nicht weiter, senkte den Kopf und berührte ihre Lippen in einem zärtlichen Kuss. „Und jetzt möchte ich wirklich gern mit dir ins Bett gehen." „Oh ...", seufzte Ava. Doch er schob sie sanft von sich und zog eine Flasche Wein aus der Reisetasche. „Aber ich werde es nicht tun, sondern dich stattdessen mit Alkohol abfüllen. Wenn du dann beschwipst bist, wirst du mit allem einverstanden sein, was ich vorschlage. Eingeschlossen, nicht nach Afrika zurückzugehen. Gibt es hier irgendwo einen Korkenzieher und zwei Gläser?" „Ja." Ava schlurfte zögernd in ihren Puschen in die Küchenecke. „Wenn du dir allerdings
einbildest, ich würde nach ein, zwei Gläsern Wein meine Afrikapläne über den Haufen werfen, hast du dich geirrt." „Das hatte ich mir gedacht." Leo sah ihr zu, wie sie den Korkenzieher und Gläser auf ein Tablett stellte. „Ich hätte eigentlich gleich von Anfang an offen sein sollen, was meine Absichten betrifft." „Absolut", sagte sie. „Bist du hungrig?" „Wie ein Bär. Ich bin den ganzen Nachmittag gefahren und habe keine einzige Pause gemacht." „Ich habe bereits Suppe und Sandwiches geordert, aber du kannst gern drüben anrufen und dir noch etwas bestellen. Die Speisekarte liegt auf dem Couchtisch." „Oder ich lade dich zum Essen im Restaurant ein. Auf dem Weg hierher bin ich daran vorbeigekommen. Es sah recht nett aus. Sicher willst du dich vorher umziehen", meinte er dann gedehnt, als er die Folie vom Flaschenhals löste. „Dein Outfit ist bezaubernd, aber ich möchte nicht, dass sich ein Fremder daran ergötzt!" Sie eilte schnell hinter den Frühstückstisch und versuchte rasch die Gummibänder zu lösen, die ihre Zöpfe zusammenhielten. „Ich hatte nicht mit Besuch gerechnet." „Gut. Es hätte mir gar nicht gefallen, wenn du in diesem Nachthemd einen fremden Mann empfangen wolltest." Sein Blick brachte ihre Haut zum Prickeln. Wärme breitete sich in ihrem Bauch aus. Mit weichen Knien ließ sie sich aufs Sofa sinken. Leo schenkte Wein ein und ließ ihre Gläser aneinander klingen. „Auf die Zukunft, Ava." Sie sah das Versprechen in seinen Augen, hörte es in seiner Stimme. Zum ersten Mal begann sie wirklich an eine Zukunft mit ihm zu glauben. „Glaubst du, Beziehungen über weite Entfernungen können funktionieren, Leo?" „Es kommt darauf an. Zwei seelenverwandte Menschen kann nichts trennen, nicht einmal der Tod. Meinst du, wir beide sind solche seelenverwandten Menschen?" Er griff nach ihrer Hand und küsste sie. „Ich würde sagen, ja." „Es wäre nur für eine kurze Zeit", meinte sie, plötzlich atemlos. „Mein Vertrag endet in ein paar Monaten." „Ich kann so lange warten." „Ich nicht." Das Blut rauschte ihr in den Ohren. „Ich brauche etwas Eindeutigeres als schlichte Worte." Leo nahm ihr das Weinglas ab und stellte es auf den Küchentisch. „Meinst du, dies hier reicht?" murmelte er und küsste sie. Sie begann zu zittern, klammerte sich an ihn, weil sie auf einmal Halt brauchte. „Nein", brachte sie gerade noch heraus, „das reicht wirklich nicht." Ernst musterte er sie. „Ich werde Geduld haben." „Ich nicht", stieß sie hervor. Eine deutlichere Einladung brauchte er nicht. Leo drückte Ava in die Kissen, schob die Hände in ihr Haar und küsste sie leidenschaftlich auf die Lippen, ihre Lider, ihren Hals. Ungeduldig machte er sich an den Knöpfen ihres altmodischen Nachthemds zu schaffen, löste einen nach dem anderen und ließ Zunge und Mund seinen Fingern folgen. Als sie bis zur Taille nackt war, verschlang er sie förmlich mit Blicken, in denen Verlangen und grenzenlose Liebe lagen. Vorsichtig berührte er ihre Brüste, umfasste sie dann und senkte den Kopf, um die harten Spitzen zu reizen. Ava entflammte wie ein Kanister Benzin, in den man ein Streichholz geworfen hatte. Hitze breitete sich zwischen ihren Schenkeln aus. Zu klaren Gedanken war sie nicht mehr fähig, erwiderte voller Begehren seine Liebkosungen. Irgendwann waren sie beide nackt, ihre Kleidungsstücke lagen verstreut auf dem Fußboden. Zeit und Raum waren unwichtig geworden, es zählten nur die heißen Berührungen, die Entdeckung des Geliebten.
Leo nahm sie mit sich auf eine Reise, die damals im Pferdestall ihren Anfang gefunden hatte. Er zeigte ihr das Paradies der Liebe und hingebungsvoller Lust. Und als sie schließlich matt und glücklich in seinen Armen lag, sprach sie die Worte aus, die ihr Herz schon so lange kannte. „Ich liebe dich, Leo." „Das trifft sich gut." Auch seine Stimme bebte noch nach dem ekstatischen Erlebnis. „Weil ich dich auch liebe, mehr, als ich je geglaubt hätte, jemanden lieben zu können. Mein Herz liegt in deinen Händen, Ava. Geh behutsam mit ihm um. Es hat nie zuvor so etwas erlebt." „Ich habe deinen Eltern versprochen, wir wären morgen Nachmittag wieder bei ihnen", sagte Leo sehr viel später, nachdem er dem jungen Mann an der Tür Champagner und Hummer abgenommen hatte. Delikatessen, die er zur Feier des Tages bestellt hatte. „Sie haben ein paar Leute eingeladen, um mit ihnen das neue Jahr zu begrüßen. Dazu gehören auch meine Eltern und die Herzogin. Ich hoffe, du überstehst ihre Bemerkungen, die sie sicher vom Stapel lässt, sobald sie uns zusammen sieht." „Das werde ich schon schaffen." „Aber morgens können wir noch Ski fahren, wenn du möchtest." „Oh ja, dazu hätte ich Lust." „Dann sollten wir früh ins Bett gehen. Leider sind in der Anlage keine Zimmer mehr frei. Hast du etwas dagegen, wenn ich auf dem Sofa schlafe?" „Und ob! Den Flur entlang gibt es ein richtig großes Bett. Viel zu groß für eine Person." „Das hört sich verlockend an. Du wirst bloß nicht viel Schlaf bekommen." Sie lachte und fühlte sich wundervoll. Wie lange hatte sie nicht mehr so befreit gelacht ... „Davon bin ich eigentlich ausgegangen, Leo. Also, enttäusch mich nicht." „Vorwärts, Puppe!" sagte er und warf ihr lüsterne Blicke zu. „Meinst du, du kannst dich noch einen Moment beherrschen? Es gibt ein paar Dinge, um die ich mich vorher kümmern möchte." „Ich werde es versuchen." Er griff wieder nach der schwarzen Reisetasche und zog die kleine Schachtel heraus, die er im Haus ihrer Eltern unter dem Weihnachtsbaum hatte liegen lassen. „Deine Mom hat es mir mitgegeben, als ich bei euch war. Vielleicht nimmst du es jetzt von mir an, wo meine Absichten klar sind." Ihre Finger bebten, als sie das Goldpapier löste und die kleine Schachtel öffnete. Dann hielt sie ein winziges viktorianisches Haus unter einer Kuppel aus Glas in der Hand, in der Hunderte von winzigen silbernen Schneeflocken herabsanken. „Um dich an zu Haus zu erinnern, während du weit fort bist", sagte Leo und zeichnete die Linien ihrer Handfläche mit den Fingerspitzen nach. „Und daran, dass ich hier auf dich warte, bis du wiederkommst." „Oh, danke, Leo!" hauchte sie. „Es ist wunderschön - und es erinnert mich so sehr an das schöne alte Haus, das wir uns angesehen haben." „Womit wir beim letzten Punkt angelangt sind." Er zog offiziell aussehende Papiere aus der Tasche und reichte sie ihr. „Was ist das ...?" „Ein Kaufvertrag. Für genau das Haus." „Hat jemand es gekauft?" „Ja, ich, Ava. Weil ich dir beweisen wollte, wie ernst ich es meine mit dir. Aber ich kann es auch wieder verkaufen, wenn du denkst, du könntest dort nicht glücklich werden. Oder wenn du lieber ..." „Ich kann überall glücklich sein, solange du bei mir bist, Leo." Sie lehnte sich an ihn. „Aber ich verspreche dir, dieses Haus würde ich gegen kein anderes in der Welt tauschen." „Gut. Ich hatte gehofft, dass du so denkst." Er steckte ihr den Vertrag in den Ausschnitt
ihres Morgenmantels. „Ein frohes Weihnachtsfest noch einmal, mein Engel, und auch ein glückliches neues Jahr." Sie baute darauf. Es würde das erste von vielen sein. Mit Leo zusammen. -ENDE -