W. K. Giesa & Volker Krämer
Wolfsgesang Professor Zamorra Hardcover Band 11
ZAUBERMOND VERLAG
Ein Flugzeug explodiert in der Luft. Zunächst glaubt man an einen Terroranchlag. Doch in der Maschine sind Professor Zamorra und seine Gefährtin Nicole Duval unterwegs! Sie werden von einem Unbekannten gejagt, ohne zu wissen warum. Schon bald wird ihnen klar, daß es sich um einen Agenten des rätselhaften »Imperiums der Wölfe« handelt. Er will sie töten, um Zamorras Zeitring in seinen Besitz zu bringen und die Vergangenheit zu ändern! Eine Hetzjagd beginnt, an deren Ende eines feststeht: Der Agent des Wolfsimperiums wird Zamorra töten – oder selber sterben …
Vorwort »Dreißig Jahre Professor Zamorra, zehn Bücher – wie wär's da mit einem Doppelband?«, wurde ich seitens des Zaubermond-Verlags gefragt. Ich überlegte nicht lange, sondern sagte zu. Erstens war das ein Novum in der Geschichte der Zaubermond-Bücher, einen direkten Zweiteiler zu produzieren, dessen beide Teile gleichzeitig zur Auslieferung kommen sollten, und zweitens war es Frühjahr und die Zeit bis zum Abgabetermin der beiden Manuskripte noch lang. Ich begann auch sofort zu schreiben, in einer Form, wie ich sie sonst nicht mache: ich schrieb an beiden Bänden zugleich. Denn meiner Planung zufolge sollten die Handlungen zwar möglichst in sich abgeschlossen, aber dennoch eng miteinander verflochten sein, mit Szenen, in denen sich die Realität des einen Buches mit der Albtraumwelt des anderen verknüpften und umgekehrt. Ich schrieb immer, wie ich gerade Zeit hatte. Und die spielte mir einen ihrer bösen Streiche. Denn es kam immer wieder irgendetwas dazwischen, das dringender war. Und plötzlich stand der Abgabetermin für die beiden Bücher vor der Tür, ohne dass die Skripte fertig waren! Mein Freund und Kollege Volker Krämer erhörte meinen Hilfeschrei und sprang ein, auch wenn er dafür wiederum einen seiner Aufträge schieben musste. Er setzte das von mir begonnene Thema des Buches 2 fort, und ich verfeinerte das Exposé entsprechend, um über den bisherigen Exposétext hinaus Dinge Erwähnung finden zu lassen, die zwar in meinem Kopf gespeichert waren, an die Volker sich aber erst noch heranarbeiten musste. Teilweise wurde das Exposé dabei auch noch etwas erweitert und verfeinert, logischer gemacht und so weiter. Und so schrieben wir parallel an den beiden Büchern. Das Ergebnis halten Sie nun in Ihren Händen – den zweiten Teil des Doppelbandes. Zwar kann man beide Romane unabhängig von-
einander lesen, aber das fällt beim ersten Teil leichter als beim zweiten, der doch stark auf den ersten Roman aufbaut. Schreiben Sie uns, wie Ihnen die Idee eines Zweiteilers an sich und die beiden Romane speziell gefallen haben. Die Leserbriefadresse des Verlags finden Sie in der aktuellen Mystery Press-Ausgabe, oder Sie schreiben einfach eine E-Mail an
[email protected]. Nur durch positive oder negative Kritik können wir uns weiter verbessern. Tschüss bis demnächst – Ihr und euer Werner K. Giesa Altenstadt, im November 2004
1 Attentat: Der Tod am Himmel »Man kann das Rad der Geschichte nicht zurückdrehen, es sei denn, man rollt es über die eigenen Füße.« (Graf zu Eulenburg) Clic Ein Schalter wird aktiviert. 7:00 Nicole Duval legte ihren Kopf an Professor Zamorras Schulter. Der Parapsychologe und Dämonenjäger lächelte. Während er nach der Hand seiner Lebensgefährtin, Sekretärin und Mitstreiterin im Kampf gegen die Dunkelmächte tastete – alle drei Funktionen erfüllt sie bravourös, dachte er –, sah er durch das Fenster nach draußen. Wenn er sich etwas vorbeugte und nach hinten blickte, konnte er die Tragflächen sehen. »Cheri«, sagte Nicole leise. »Weißt du, was ich jetzt am liebsten tun würde?« Countdown: 6:30 Ihre andere Hand glitt unter sein Hemd, berührte seine Haut und das Amulett, das er am silbernen Halskettchen vor der Brust trug. Merlins Stern, die handtellergroße Silberscheibe mit dem DrudenFuß in der Mitte, dem fünfzackigen Stern. Umgeben wurde er von den zwölf Tierkreiszeichen, und schließlich umschlossen von einem Band mit erhaben gestalteten hieroglyphenartigen Schriftzeichen, die sich bislang jedem Entzifferungsversuch widersetzt hatten. Das einzige, was Zamorra wusste, war, dass er einige bestimmte Funktionen des Amuletts mit Hilfe dieser Zeichen auslösen konnte, die sich dazu erstaunlich einfach verschieben ließen. Anschließend glitten sie von selbst wieder an ihre angestammten Positionen zurück und erwiesen sich als durchaus fest. Eines von vielen Rätseln. Countdown: 5:49
Ein anderes, von ganz anderer Art, ging ihm durch den Kopf. Der Albtraum, den er in der letzten Nacht erlebt hatte. Oder war es kein Albtraum, sondern der Blick in eine andere Realität? Ein Albtraum, in welchem Pater Aurelian, sein alter Studienfreund, noch lebte, nicht beim ›Unternehmen Höllensturm‹ umgekommen war – das es nie gegeben hatte! Und Aurelian war jetzt sein Feind, der ihn in eine Falle lockte, in eine Kirche, die keinen ans Kreuz genagelten Jesus Christus zeigte, sondern einen gütig dreinschauenden Wolfskopf … Countdown: 4:21 »Woran denkst du?«, wollte Nicole wissen. »An nichts«, wich er aus und bekam fast ein schlechtes Gewissen. Sie waren immer offen zueinander. Ein Albtraum, der ihn so beschäftigte, war eigentlich etwas, worüber sie reden sollten. Wenn Zamorras Zaubertricks oder seine Konzentration auf bestimmte magische Dinge beeinträchtigt wurden, konnte das böse Auswirkungen bei der nächsten Dämonenjagd mit sich bringen. Countdown: 4:01 Nicole hinterfragte seine Antwort nicht; zumindest nicht so, wie Zamorra befürchtet hatte. Sie tat entrüstet. »Da gibt man sich Mühe, dieses Stück Mann auf Volldampf zu bringen, und was tut er? Er denkt an nichts!«, empörte sie sich laut genug, dass es die Mitpassagiere der First Class hören konnten. Sofern sie denn des Französischen kundig waren, das Nicole verwendete. Zwei arabische Sheiks, ein bajuwarischer Juwelier, ein japanischer Banker mit seiner Sekretärin und ein israelischer Geschäftsmann. Und Zamorra und Nicole. »An nichts!«, wiederholte sie. »An nichts denkt er! Ist das zu fassen?« Countdown: 3:08 Er stellte fest, dass ihre Hand inzwischen auf dem Reißverschluss seiner Hose gelandet war. »Bist du wahnsinnig?«, zischte er. Nicole zeigte ihm ein prachtvolles Lachen. Die Stewardess tauchte in der First Class-Kabine auf. »Wem darf ich etwas bringen?« »Austern für den müden Krieger hier«, grinste Nicole mit funkeln-
den Augen und wies auf Zamorra. Erfreulicherweise gab es keine Austern an Bord. Zamorra hielt ohnehin nichts von Mahlzeiten während Flügen, zumindest nicht bei relativen Kurzstrecken wie dieser von München nach Lyon. Angereist waren sie über Paris. Dorthin waren sie von Lyon aus mit dem TGV gefahren. Zwischen Zamorras Wohnsitz, dem Château Montagne, und dem Stadtpark von Lyon gab es Regenbogenblumen. Also hatten sie nur ein Taxi nehmen und zum Bahnhof fahren müssen. Der Hochgeschwindigkeitszug TGV hatte sie in die Hauptstadt gebracht, wo der Professor an der psychologischen Fakultät eine Gastvorlesung hielt. Gleich im Anschluss war es per Flugzeug nach München weitergegangen, zur nächsten Gastvorlesung. Diese Flugreise sowie Übernachtung und den Heimflug hatte die Fakultät der Münchener Universität finanziert – allerdings für die Economy Class. Zamorra hatte aus der privaten Schatulle draufgelegt, und so hatten sie Plätze in der First Class bekommen. Countdown: 1:18 Als sie in Paris die erste Übernachtung hatten, kam dieser Albtraum. Er trat kein zweites Mal auf und konnte deshalb keine besondere Bedeutung haben. Dennoch beschäftigte er Zamorra ausgerechnet jetzt. Wieso? »Ich habe Lust auf dich«, hauchte Nicole ihm zu. Die goldenen Tüpfelchen in ihren Pupillen, die ihren Erregungszustand signalisierten, waren größer geworden. »Du wirst noch warten müssen«, mahnte Zamorra. »Bis wir im Château sind.« »Vielleicht kommt das Flugzeug ja nicht an«, sagte sie. »Was meinst du damit? Eine Entführung?« »Aber nein … schau mal, da sind zwei Araber und ein Israeli an Bord. Für den israelischen MOSSAD vielleicht die Gelegenheit, hochrangige Araber zu liquidieren – oder für die Palästinenser, den Israeli zu ermorden.« Countdown: 0:55 Zamorra war aufgefallen, dass das Flugzeug vor dem Start noch einmal sorgfältig überprüft worden war. Wie auch immer – die beiden Sheiks und der Geschäftsmann aus Tel Aviv waren in ein Ge-
spräch vertieft, lachten gemeinsam und sahen hin und wieder zu Zamorra und seiner attraktiven Gefährtin herüber. Hier war von Feindschaft nichts zu spüren und zeigte, dass Brücken gebaut werden konnten über die Abgründe von Glaubenslehren und Fanatismus. Zudem gab es einen oder mehrere getarnte Flugbegleiter an Bord, die für Sicherheit sorgten. Nicole winkte der Stewardess. »Bringen Sie uns doch die Handschellen.« »Bitte? Ich verstehe nicht«, sagte die Blondine in Borduniform. »Ihre Security hat doch irgendwo Handschellen an Bord«, sagte Nicole. »Erzählen Sie mir nichts vom Pferd – ich weiß es!« Countdown: 0:05 »Nicole!«, entfuhr es dem Dämonenjäger. »Hör jetzt auf, ja? Wir werden noch genug Zeit gemeinsam verbringen können.« Oder nur noch diese eine, diese allerletzte Sekunde … Countdown: zero denn der Tod war da. C R A S H ! Es krachte und dröhnte; das Flugzeug wurde erschüttert. Die Stewardess taumelte und versuchte sich irgendwo festzuhalten. Zamorra hörte ein wildes Dröhnen und Fauchen, er hörte Menschen verzweifelt schreien. Instinktiv zog er Nicole mit festem Griff zu sich und beugte sich schützend über sie. Er sah durch das Fenster. Sah die abgebrochenen Tragflächen flammenlodernd abwärts gleiten. Er entsann sich: Bei einem Flugzeug befanden sich die Tanks in den Tragflächen. Jetzt waren sie aufgerissen und in Brand geraten;
der Druck des abfackelnden Kerosins beschleunigte die abstürzenden Tragflächen zusätzlich. Zamorra sah auch Menschen durch die Luft wirbeln. Einige von ihnen als brennende Fackeln. Die Insassen der First Class-Kabine sprangen auf. Die Stewardess, deren Aufgabe es eigentlich war, zu beruhigen, zeigte selbst Panik. Sie riss an dem Fach, hinter dem die Rettungswesten und das aufblasbare Schlauchboot bereit lagen. Aber sie bekam die Klappe nicht auf. Zamorra sah die Cockpit-Crew. Die beiden Piloten sprangen mit ihren Fallschirmen ab. Aber sie verhedderten sich ineinander, von Luftwirbeln gezerrt, und stürzten dann wie Steine in die Tiefe. Gleichzeitig brannte ein Feuersturm in die Kabine herein, erfasste die Menschen. Zamorra und Nicole, die auf ihren Sitzen geblieben waren, wurden nur von Ausläufern der Höllenhitze gestreift. Die Flammen konnten sich an ihnen nicht festsetzen. Aber im nächsten Moment brachen weitere Teile des Flugzeugs auseinander. Neben und unter Zamorra entstand ein Riss, wurde breiter. Die in Sandwichbauweise konstruierte Hülle wurde regelrecht umgekrempelt. Plötzlich befand Zamorra sich frei in der Luft. Ein Orkan schien an ihm zu zerren, riss ihn aus dem Wrack ins Freie hinaus. Wie aus weiter Ferne hörte er Nicole schreien, die sich irgendwo festzuhalten versuchte. Da wurde er schon von ihr getrennt. Ihr Schrei erstarb, aber sie lebte noch. Sie bekam nur nicht mehr genug Luft zum Schreien, die Höhenluft hier gut 3000 Meter über den Alpen war zu dünn, und der schneidende Wind trieb ihnen beiden die Luft aus den Lungen. Sie stürzten, wirbelten
in die Tiefe, die wie ein gieriger, nach Opfern leckender riesiger Höllenschlund ihrer harrte.
Rund zehn Meter pro Sekunde, durchfuhr es Zamorra. Ihm fehlte die Ruhe, mit der Präzision der Mathematik die exakte Fallgeschwindigkeit zu errechnen. Dreitausend Meter … stimmte die Höhe tatsächlich, die er geschätzt hatte? Dreihundert Sekunden … fünf Minuten etwa bis zum Aufschlag. Fünf Minuten, so lang wie die Ewigkeit und doch so kurz wie ein ganzes Leben. Hoffentlich schafft wenigstens Nici es irgendwie zu überleben – vielleicht gibt es ein Wunder, hämmerte es hinter seiner Stirn. Im gleichen Atemzug wurde ihm bewusst, wie unsinnig diese Hoffnung doch war. Dreitausend Meter … niemand konnte einen solchen Fall überleben. Seine Magie nützte ihm hier nichts. Mit dem Amulett konnte er den Sturz in die Tiefe nicht bremsen. Eine Bombe, dachte er. Es musste eine Bombe gewesen sein, die explodierte und das Flugzeug auf dem höchsten Punkt seiner Reise zerfetzte. Nicole hatte Recht behalten. Gerade so, als habe sie eine Vorahnung gehabt. Eine Bombe. Wem galt sie? Den Arabern? Dem Israeli? Es spielte jetzt keine Rolle mehr. Sie hatte gezündet, das Flugzeug in großer Höhe zerstört und alle Insassen in den Tod gerissen. War es ein erneuter Terroranschlag von Osama bin Ladens Al-Quaídah, die immer noch existierte, die unbesiegbar schien wie die Hydra, der zwei Köpfe nachwuchsen, wo man einen abschlug? Alle Kriegsanstrengungen der USA und des United Kingdoms hatten die Terrororganisation nicht wirklich geschwächt, nur dem Fanatismus immer neue Nahrung gegeben. Es war doch alles so sinnlos. Seltsam, welche Dinge einem Menschen durch den Kopf gehen, wenn er weiß, dass er gleich stirbt und seine letzten Sekunden unaufhaltsam verrinnen wie die Sandkörner im Stundenglas. Woran mochte Nicole in diesem Moment denken? Wo war sie jetzt? Zamorra versuchte sie zu entdecken.
In der Ferne schlugen irgendwo die brennenden und ausglühenden Reste des Flugzeugs auf, legten eine Feuerspur über die Berge. Plötzlich sah er Nicole über sich. Musste sie nicht noch weiter von ihm entfernt sein? Es hatte ihn doch früher vom berstenden Wrack fortgerissen als sie. Der Abstand zwischen ihnen war einfach unüberbrückbar groß. Wie viel Zeit blieb ihnen noch? Wann kam der Aufschlag? Die schneebedeckten Felsgipfel waren näher gerückt. Plötzlich hatte Zamorra das unwiderstehliche Verlangen, Nicole noch einmal in die Arme zu schließen, sie zu küssen und so gemeinsam mit ihr aufzuschlagen. Wenn schon Sterben angesagt war, ging es zu zweit leichter. Aber sie war zu weit entfernt. Der Boden kam immer näher. Und damit der mörderische Aufschlag, der dem Leben ein Ende setzte. Tief unter sich sah er die weiße Haube, die über den Alpen lag. Beißend kalte Luft riss ihm den Atem von den Lippen. Wie ein Fisch an Land schnappte er nach Luft … und spürte das wohlig weiche Gefühl, das seinen Körper umschmeichelte. Schwerelos dahintreiben – wie wunderbar! Instinktiv breitete er seine Arme aus. Gleiten … auf mächtigen Schwingen, die den rasenden Fall abbremsten. Im tiefen Gefühl des Glücks sog er gierig die würdige Luft ein … Zamorra riss die Augen weit auf. Explosionsartig entwich die aufgestaute Atemluft seinen Lungen. Atemnot, Kälte, die an ihm zerrende Macht des Windes – alles war schlagartig wieder da. Und unter ihm kamen die Berge nun schon gefährlich nahe. Wie lange war er nicht bei Sinnen gewesen? Vor allem jedoch: was hatte ihm sein Bewusstsein da vorgegaukelt? Nur eine Halluzination, die sein Gehirn durch das Ausbleiben von Sauerstoff erzeugt hatte? Oder mehr? Die Zeit zum Analysieren hatte er jetzt nicht. Er würde sie mit Sicherheit auch nie wieder bekommen, wenn er nicht schnell handelte. Der Tod war die Realität, die ihm bevorstand – alles weitere konnte nur reine Spekulation sein. Es war nichts weiter als der Griff nach dem allerletzten Strohhalm, der ihn vielleicht noch mit dem Leben verband. Nicht mehr, doch das war allemal besser als nichts.
Ein Schlag gegen seine Füße schreckte Zamorra aus den planenden Gedanken. Es war unfassbar! Nicole! Ihre weit aufgerissenen Augen sprachen von Angst und Todesahnung, doch sie hatte es geschafft, in seine Nähe zu gelangen. Oder lag es daran, dass sein Sturz tatsächlich verlangsamt worden war? Zamorra griff zu, bekam seine Gefährtin an den Schultern zu fassen. In der nächsten Sekunde klammerten sie sich aneinander wie zwei hilflose Tiere, die ihrem Schicksal schutzlos ausgeliefert waren. Zamorra riss sich zusammen. Mit all seiner verbliebenen Kraft und Körperbeherrschung drehte er sich so, dass Nicole über ihm war. Sollte seine vage Ahnung von Rettung real werden, konnte es entscheidend sein, dass sein Körper Nicoles Aufprall dämpfte. Nie zuvor in seinem langen Leben war ihm so deutlich bewusst gewesen, dass die winzige Hoffnung auf ein Überleben in einer Wahrscheinlichkeitsrechnung glatt gegen Null tendieren musste. Er klammerte sich an eine Phantasie, an einen Märchenfetzen, den ihm sein Verstand in diesen Momenten der Todesangst angeboten hatte – und er hatte dieses Angebot nur zu gerne akzeptiert. Und doch steckte in jedem Märchen ein Körnchen der Wahrheit … Fest umklammerte Zamorra seine Gefährtin. Das strahlende Weiß des unberührten Schnees schmerzte in seinen Augen. Es würde sie wie ein Leichentuch bedecken, wenn er sich geirrt hatte. Der Parapsychologe schloss die Augenlider und öffnete seinen Mund. Hart riss er die frostig kalte Luft in seine Lungen hinein. Nur zu gerne klinkte sich sein Bewusstsein aus und machte Platz für das wundervolle Märchen …
Wie schön! Und dabei war es so einfach. Auf dem Rücken des mächtigen Adlers zu sitzen, in weiten Kreisen langsam dem Boden entgegen zu schweben, das war unbeschreiblich schön. Die Frau an seiner Seite lachte und klatschte voll Begeisterung in die Hände. »Oh, Liebling, das könnte ewig so weitergehen. Ich bin so glücklich.« Doch der Adler verlor immer mehr an Höhe. Er war müde, denn so viele Stunden hatte er die zwei getragen. Nun wollte er sich ausruhen. Immer
enger wurden seine Kreise, immer näher schob sich die gezuckerte Kuppe des Berges an den Vogel und seine Reiter heran. »Schau doch – dort hinten!« Die Frau wies mit ausgestrecktem Arm auf den Horizont. »Eine Sternschnuppe. Es bringt Glück, wenn man sie fallen sieht. Du musst dir etwas wünschen.« Die Sternschnuppe … ja, er sah sie jetzt auch. Das rechte Triebwerk des Flugzeugs raste, einen weiten Bogen beschreibend, brennend in die Tiefe. Der feurige Schweif, den es hinter sich her zog, illuminierte die Luft, brannte eine Todesschneise in den Himmel hinein. Ein Meer aus Funken bohrte sich in den Schnee und zeichnete surreale Muster in das Weiß. Triebwerk? Das war falsch, denn es gehörte nicht in dieses Märchen. Was hatte er sich nur dabei gedacht? Fort mit diesen Gedanken! Der Adler setzte zur Landung an. »Schade, nun ist der Flug vorüber.« Er hörte seine eigene Stimme, in der Enttäuschung und ein wenig Traurigkeit mitklangen. Das Tier spreizte die Krallen ganz weit auseinander. Gleich würden sie den Boden berühren. Den Boden … den Boden? Nein, nicht! Sie waren noch zu schnell, viel zu schnell. Mit einer Hand versuchte er seinen Kopf zu schützen. Sein rechter Arm blieb fest und unverrückbar um Nicoles Körper gekrallt. Er durfte sie nicht loslassen. Auf keinen Fall! Dann kam der Aufprall. Was auch immer den Sturz verlangsamt hatte, es verlor in diesem Augenblick gänzlich seine Wirkung. Alles geschah im gleichen Moment: Zamorra fühlte den gnadenlosen Schlag, der durch seinen Rücken jagte. Plötzlich war Nicoles Gewicht von ihm verschwunden. Er riss die Augen auf, doch da war nur der undurchdringliche Nebel aus Schnee. Fein wie Puderzucker nahm er dem Professor nicht nur die Sicht, sondern auch die Atemluft. Dann kam das knirschende Geräusch … und es steigerte seine Lautstärke bis an den Rand der Schmerzgrenze. Ein Ruck ging durch Zamorras Körper, und er ahnte, dass sich der Boden unter ihm soeben um mindestens einen Meter gesenkt hatte. Eine Lawine … wir haben eine Lawine ausgelöst, jetzt ist alles vorbei …
Dass er sich irrte, wurde ihm schlagartig bewusst, als sich das Schneebrett unter ihm regelrecht in Nichts auflöste. Wieder kam der freie Fall, der Sturz ohne Hoffnung auf ein gutes Ende. Die Landung folgte kaum einen Herzschlag später, und sie fiel nicht so hart wie befürchtet aus. Zamorra versuchte erst gar nicht, sich aufzurichten. Er wusste, dass sein Körper ihm jeden Dienst verweigert hätte. Mit Mühe öffnete er die Augen und blickte auf das an den Rändern zerklüftete Loch in der Decke über ihm. Nach dem ersten Aufschlag musste der Boden unter seinem Gewicht nachgegeben haben – drei, vielleicht vier Meter war er weiter in die Tiefe gerutscht. Und die Schneemenge unter ihm hatte ihn relativ sanft abgebremst. Völlig erschöpft schloss er erneut die Augen. Wo war Nicole? War es ihr wie ihm ergangen? Zamorra hatte nicht mehr die Kraft, nach ihr zu rufen. Es schien alles umsonst gewesen zu sein. Er lebte zwar, doch die Kälte war ein unbarmherziger Gegner. Schon jetzt fühlte er, wie sie leise und sanft nach seinem Körper griff. Ihm war bewusst, dass man Nicole und ihn wohl nicht mehr rechtzeitig finden konnte. Das wäre sicher ein Wunder zuviel für einen einzigen Tag gewesen. Ich schlafe jetzt ein … Noch einmal startete er einen Versuch, sich mental dagegen zu wehren. Nein, er war ganz einfach zu schwach, zu ausgelaugt. Nur noch schlafen … Nicole … Er träumte von einem riesigen Adler, der direkt vor ihm landete. Doch dann zersprang er in Millionen winziger Splitter, ehe Zamorra auf seinen Rücken steigen konnte. Millionen Splitter aus glasklarem Eis …
»… Augenzeugen berichten, dass die Maschine durch eine Explosion förmlich zerrissen wurde. Die Behörden gehen nach inoffiziellen Meldungen von einem Terroranschlag aus. Doch das sind natürlich zunächst einmal Spekulationen.« Das Bild wechselte und zeigte den Anchorman von FRANCE 2, dem staatlichen Sender. Die Bestürzung im Blick des graumelierten
Mannes schien echt zu sein. »Pierre, was können Sie uns über mögliche Hintergründe sagen? Gibt es schon Einblick in die Passagierlisten? Vor allem interessiert natürlich, ob noch eine Chance auf mögliche Überlebende besteht.« Der Reporter vor Ort wiegte bedächtig mit dem Kopf, ehe er zu einer Antwort ansetzte. Seine Atemluft bildete in der kalten Luft kleine Nebelfetzen, die um das Mikrophon vor seinem Mund tanzten. »Die Tatsache, dass die Maschine über den Alpen unweit von Val d'Isère explodiert ist, macht die Sachlage natürlich noch komplizierter. Die Trümmer haben sich über ein großes Gebiet verteilt, das Frankreich, Italien und die Schweiz einschließt. Die Behörden aller drei Länder sind somit involviert, was die Sache für uns Medienvertreter schwierig macht. Niemand fühlt sich wirklich zu einer konkreten Aussage verpflichtet. Doch eines kann man mit ziemlicher Sicherheit sagen: von Überlebenden kann und darf man ganz einfach nicht ausgehen …« Der Mann, der am Tisch direkt neben der Tür saß, wandte seinen Blick vom TV-Gerät. Das Bistro war bis auf den letzten Platz gefüllt und unter den Gästen brandeten nun die aufgeregten Diskussionen um die Flugzeugkatastrophe wieder auf. In Val d'Isère war um diese Jahreszeit nahezu jedes Hotelbett belegt. Touristen aus aller Herren Länder nutzten die großartigen Möglichkeiten, die in den französischen Alpen für Skisportler vorhanden waren. Der Mann schüttete eine zusätzliche Portion Zucker in seine Kaffeetasse. Mehr Informationen brauchte er nicht. Sein Plan war gelungen. Nun musste er nur noch abwarten, bis sich die ganze Aufregung gelegt hatte. Wie lange konnte das dauern? Ein paar Tage, sicher nicht länger. Auch wenn er sein Vorhaben am liebsten sofort in die Tat umgesetzt hätte, so musste er doch vorsichtig sein. Die vergangene Zeit, die Wahrheit und Realität, in die er sich so brennend heiß zurück sehnte, sie konnte ihm nicht davonlaufen. Sie würde auf ihn warten … bis er kam und sie neu formte. Er musste es ganz einfach schaffen, damit diese Zukunft, in die es ihn verschlagen hatte, nicht zu einer unumstößlichen Endgültigkeit werden konnte. Wie war er nur in diese Zeit geraten? Der große Plan … die Machtergreifung der Wölfischen, die zur
Gründung des Imperiums der Wölfe führen sollte, war gescheitert. Die bis in das kleinste Detail geplante Aktion hatte ganz einfach nicht stattgefunden. Das Mordkomplott an Papst Gregor, dessen Ziel die Einsetzung von Lupus I., dem Wolfspapst war, wurde verhindert durch das Eingreifen von drei Menschen. Menschen – diese minderen Wesen, die doch zu nichts Weiterem taugten, als Nahrung für die Wölfe zu sein! Der große Plan hatte endgültig klären sollen, welche Rasse zum Herrschen bestimmt war. Für ihn war das überhaupt keine Frage, denn es konnten nur die Wölfe sein. Intelligenz, Kraft, Wille. In allem waren sie den Menschen weit überlegen. Doch es waren Menschen, die diese logische Entwicklung verhindert hatten. Zwei Männer und eine Frau, die in den entscheidenden Moment einer Zeit eingriffen, die nicht die ihre war. Wesen aus der Zukunft. In seinem Weltbild hatte es keinen Platz für so etwas gegeben. Doch dann war er eines Besseren belehrt worden. Der eine der Männer trug einen Ring, der ihm die Reise durch die Zeit ermöglichte. Magie gehörte in die Welt der Wölfischen ganz selbstverständlich hinein, doch dies war eine Art der Zauberei, die ihnen vollkommen fremd war. Der Mann schob die Tasse von sich. Das Getränk war inzwischen nur noch lauwarm und ungenießbar geworden. Die Erinnerung an die Geschehnisse in seiner eigenen Zeit ließ ihn nicht los. Was hier um ihn herum passierte, nahm er nur am Rande wahr. Es stand ihm alles noch klar vor Augen: Die Garde von Papst Gregor hatte die Verschwörergruppe gestellt und sie niedergemetzelt. Sie alle hatten keine Chance gehabt, ausnahmslos alle. Fast ausnahmslos jedenfalls, denn er war entkommen. Kr, der Centurio Oktavianus Lupomanus. Als sich dann vor seinen Augen der zweite der Männer aus der Zukunft in Nichts auflöste, da hatte Oktavianus die dabei freiwerdende Magie gespürt. Zeitmagie – mächtig und frei fließend. Offen in alle Richtungen, doch zugleich unbeeinflussbar in ihrem Ziel. Warum er es getan hatte, war Oktavianus jetzt selber nicht mehr völlig klar, doch welche andere Möglichkeit hätte er schon noch ge-
habt? Die Papstgarde war hinter ihm her und eines war sicher: Sie würden ihn schnappen und gnadenlos töten. Er musste ganz einfach von hier verschwinden. Bereitwillig hatte Oktavianus die Zeitmagie in sich aufgesogen, und als dieser Zamorra und sein Weib mit Hilfe eines Ringes aus Lupomanus' Gegenwart verschwanden, hatte er instinktiv reagiert. Ohne bemerkt zu werden, war er ihnen gefolgt, hatte sich in ihren Zauber eingeklinkt und die Magie genutzt, die noch immer in ihm ruhte. Und so hatte der Centurio sich in den Strom der Sekunden, Minuten, der Tage und Jahre geworfen. Hilflos ausgeliefert, wie ein Nichtschwimmer, den die reißenden Fluten in die Tiefe zogen. Zudem hatte sich die Idee einer Chance in seinem Denken manifestiert. Die Idee, doch noch alles zum Guten für das Imperium der Wölfe zu wenden. Er musste sich des Zeitrings bemächtigen! Also musste er den Besitzer des Ringes in dessen Gegenwart suchen. Was sollte ihn dann noch daran hindern, sich in seine Zeit zurück zu begeben – und zwar in genau den Augenblick, in dem die drei Fremden dort ankamen? Er würde sie töten, noch ehe sie wussten, wie ihnen geschah. Dann stand dem Wolfsimperium nichts mehr im Weg. Der große Plan würde durchgeführt und vollendet werden. Zwar verlor er die Menschen aus der Zukunft bei dem Zeitsprung, doch er würde sie finden, wo sie sich auch immer verkriechen mochten. Das alles klang logisch und einfach, doch in seinem Leben hatte er lernen müssen, dass es den Weg ohne Fallen und Hindernisse nun einmal nicht gab. Wie Recht er damit hatte, war ihm schon bald nach seiner Ankunft in dieser für ihn fremden Gegenwart klar geworden. Der Schock, aus einer fernen Vergangenheit in das Jahr 2004 geworfen zu werden, lähmte den Centurio. Ein Kulturschock von unglaublicher Intensität brach über ihn herein. Über ihn, den treuen Gefolgsmann und Soldaten aus den dunklen Zeiten des Mittelalters, ergossen sich die Errungenschaften des 21. Jahrhunderts. Sein Verstand beschränkte sich in seinem Bemühen um Klarheit auf die Suche nach dem, was Oktavianus kannte. Es war nicht viel, was er zu finden vermochte. Beinahe wie in Trance entdeckte der
Centurio eine Welt, die vom Verkehrswesen auf Boden, Luft und Wasser beherrscht war und vom Wahnsinn der immer und überall präsenten Medien regiert wurde. Nichts schien mehr berechenbar zu verlaufen – niemand plante offenbar mehr auf einen langen Zeitraum hinaus. Was man heute als Wahrheit pries, wurde bereits am nächsten Tag ad absurdum geführt … überholt, alt, falsch, ausgelöscht und schnell wieder vergessen. Werte verschob man nach Belieben. Prinzipien waren austauschbar und nicht unbedingt erwünscht. Kraftfahrzeuge, Computer, Flugzeuge, TV, die gesamte mediale und digitalisierte Welt – sie hätte unweigerlich bei Oktavianus Lupomanus zu einem Kollaps führen müssen. Der Verstand eines Wesens aus ferner Vergangenheit musste all dem hilflos gegenüberstehen. Es musste dem Wahnsinn verfallen, sofern es nicht vorher bereits bei einem Verkehrsunfall sein Leben verlor, was wahrscheinlich war. Doch all das geschah Oktavianus nicht. Tief in seinem Ich war etwas, das ihn unbeschadet überleben ließ. Er war in einer Art Trance, ja, aber alles, was er sah und entdeckte, formte sich zu einem logischen Sinn. Irgendwo tief in seinem Bewusstsein gab es einen Pool, aus dessen Wissen er schöpfen konnte. Es war verwirrend, doch Oktavianus war bereit, sich den neuen Umständen schnell anzupassen. Er wusste, wozu all diese Dinge existierten … und es bereitete ihm keine sonderlich großen Mühen, mit ihnen umzugehen. Er war nicht perfekt, das sicher nicht, doch da gab es eine kindliche Neugier in ihm, die ungemein hilfreich war. Oktavianus Lupomanus integrierte sich von Stunde zu Stunde mehr in die Zeit, die nun seine war. Schnell gab er es auf, sich darüber Gedanken zu machen, woher dieses Basiswissen stammte. Es war da – mehr musste er nicht wissen. Andere Dinge waren wichtiger. Und diese Dinge waren es dann, die den Wolfsmann nahe an den Wahnsinn führten! Menschen beherrschten die Welt. Das Imperium der Wölfe war nie existent geworden. Sein erster Weg führte ihn in eine der zahllosen Kirchen. Kraftlos war er auf einer Sitzbank zusammengesunken, als er sah, was das
alles dominierende Symbol hinter dem Altar darstellte. Ein Kreuz an das ein geschundener Menschenkörper geschlagen war. Was war aus dem Wolfskult geworden? Er schrak zusammen, als eine Hand seine Schulter sanft berührte. »Kann ich Ihnen vielleicht helfen?« Eine Menschenfrau stand neben ihm, von Kopf bis Fuß in schwarzes Tuch gekleidet. In ihrem Gesicht lag soviel Güte und Freundlichkeit, dass es Oktavianus schwer fiel, sie direkt anzusehen. Dennoch nutzte er die Gelegenheit. »Vielleicht können Sie das wirklich. Gehören Sie zu dieser Kirche?« Ihre Antwort wirkte erstaunt, beinahe belustigt. »Natürlich. Ich bin Schwester lgnatia. Wie kann ich Ihnen denn helfen?« Der Centurio wandte seinen Blick wieder zu dem gut drei Mann großen Kreuz. »Erzählen Sie mir von dieser Kirche … von Ihrem Glauben.« Er bemerkte das verbluffte Zögern der Kirchenfrau. »Erzählen Sie, als wäre ich ein Kind, das von dem da noch nicht wissen kann.« Seine Hand wies auf das Kreuz mit dem Gequälten. Die Bitte war etwas ungewöhnlich, doch im Grunde war Ignatia ja genau aus diesem Grund in ein Kloster gegangen – sie wollte den Menschen von Gott erzählen. Also begann sie. Es vergingen beinahe zwei Stunden, ehe der seltsame Mann die Kirche wieder verließ. Er hatte sie auch nach den anderen Religionen der Erde befragt und sie hatte bereitwillig Auskunft erteilt. Oktavianus Lupomanus verließ die Kirche mit neuem Wissen. Und er wusste nun, dass es nur einen Weg gab, um diese Zukunft zu verhindern. Er würde ihn gehen … mit all seinen Konsequenzen.
»Palästinenser, ist doch klar, Mann! Die bomben doch wie die Irren in der Gegend her …« Die hysterische Stimme des aufgeregten Mannes wurde von einem Bassbariton übertönt, der dem Wirt des Bistros gehörte. »Nun komm mal wieder auf den Teppich. Vielleicht war das nur ein stin-
knormaler Unfall. Soll ja schließlich auch schon vorgekommen sein.« Oktavianus bemühte sich redlich, die Diskutierenden zu überhören, doch es wollte ihm nicht ganz gelingen. Der Kreischer ließ sich jedenfalls weder beruhigen noch belehren. »Al-Quaidah, oder wie der Quatsch heißt … die waren das! Kannst du mir ruhig glauben, Mann. Ich kenn das doch. Irgendwelche Jets bomben die doch ständig zusammen.« Mehr fiel ihm offensichtlich aber jetzt dazu nicht mehr ein, denn er widmete sich seinem Pernod-Glas, das leider so gut wie leer war. Es war bereits sein drittes. So langsam machte er sich Gedanken um die Ebbe in seinem Geldbeutel. Der Wirt zuckte mit den Schultern. »Wie auch immer. Der Fernsehheini hat jedenfalls gesagt, dass die Behörden von einem Terroranschlag ausgehen. Wird wohl nur heiße Luft bei herauskommen, aber für die nächsten Wochen haben wir sie dann wohl alle auf dem Hals.« An den Fingern begann er abzuzählen. »Polizei, Geheimdienste, Militär – und das alles mal drei, denn die Italiener und Schweizer wollen sicher auch mitspielen. Ach ja: vergessen wir nicht die Medien. Die haben sicher auch ihren Spaß an der Sache. Aber ist mir nur recht. Bringt Euros in meine Kasse. Die haben schließlich auch Durst und Hunger.« Oktavianus horchte auf. Wochen? Wenn der Mann richtig lag, dann warf das seine Pläne durcheinander. Er hatte nicht damit gerechnet, dass das Interesse an Wrackteilen länger als ein paar Tage andauern konnte. Niemand hatte diese Explosion überleben können – was hoffte man denn zu finden? Wieder einmal musste der Wolfsmann feststellen, dass sein Wissen über diese Zeit nur lückenhaft war. Erst im weiteren Gespräch der Gäste hörte er langsam heraus, um was es dabei eigentlich ging. Für ihn klang es wie die endgültige Bestätigung dafür, dass er die Geschehnisse der Vergangenheit ändern musste. Die Konflikte, über die die Besucher des Bistros sprachen, hatten ihre Ursprünge alle in den jetzt herrschenden Weltreligionen. Der heilige Krieg – der Begriff war aussagekräftig genug. Sicher spielten noch ganz andere Dinge in diese offenen Auseinandersetzungen hinein, doch das interessier-
te Oktavianus nicht. Das Imperium der Wölfe hätte solche Dinge niemals geduldet. Sie wären erst überhaupt nicht entstanden. Er musste dafür sorgen, dass der wahre Glaube an die Macht kam. Sein Glaube! Doch dazu benötigte er den Zeitring. Als der Centurio bemerkt hatte, dass er einige Tage vor Zamorra und der Frau in dieser Zeit gelandet war, da konnte er nur ahnen, wieso dem so war. Wahrscheinlich hatte die Magie in ihm seine Reise beschleunigt. Es war nur eine Vermutung, mehr nicht. Doch diese Tatsache geriet zu seinem Vorteil. Sie gab ihm die Zeit, sich über diesen Professor Zamorra zu informieren. Dass sein in ihm schlummerndes Wissen dazu nicht immer ausreichte, hinderte ihn nicht daran, sich diese Informationen dennoch zu beschaffen. Es war leicht, einen Menschen unter den Willen der Wolfsmagie zu zwingen. Wo er Hilfe benötigte, da bekam er sie auch. Als Nebeneffekt konnte er seinen Hunger an den Opfern stillen, doch das war zweitrangig. Im Gegenteil – es befriedigte Lupomanus nicht wirklich. Ihm fehlte die Jagd auf seine Nahrung. Doch die nächtliche Hatz, das Erlegen eines menschlichen Wildes, war ihm jetzt noch zu riskant. Dazu würde er schon bald wieder ausreichend Zeit haben. Solange musste er sich begnügen. Zamorras Flugbuchung, die magische Bombe an Bord des Jets: alles ging beinahe zu einfach. Nach dem Absturz der Maschine musste es dann eine Leichtigkeit sein, den Ring aufzuspüren. Es gab nichts, das vor der Wolfsmagie lange verborgen bleiben konnte. Doch jetzt sah alles anders aus. Oktavianus hatte nicht vor, sich noch für Wochen still zu verhalten. Die Lage hatte sich also geändert. Er würde sein Vorgehen entsprechend anpassen müssen. Polizei, Geheimdienste, Militär. Nein, das Risiko, sich als Mitglied einer dieser Behörden zu tarnen, war zu unüberschaubar. Aber es gab ja Alternativen. Ein Blick auf den Fernsehschirm bestätigte seine Idee. Die Aufnahmen zeigten die Umgebung der Stelle, an der die meisten der Flugzeugtrümmer niedergegangen waren. Ein beiläufiger Schwenk des Kameramanns erhaschte mindestens zwei Dutzend weitere Übertra-
gungswagen der verschiedensten TV-Sender. Und es machte den Eindruck, dass es von Minute zu Minute mehr wurden. Oktavianus zahlte den kaum angerührten Kaffee und verließ das Bistro. Vor dem Hotel auf der anderen Straßenseite parkte gerade ein Kleintransporter ein. In großen Buchstaben war auf seinen Schiebetüren RAI zu lesen. Der TV-Sender aus Italien hatte also auch bereits reagiert und schickte seine Leute ins Gefecht um die besten Bilder und provokantesten Interviews. Ohne jede Hast steuerte der Centurio auf das Fahrzeug zu.
Es war schier unglaublich, wie schnell die Medien das Absturzgebiet besetzt hatten. Es gab nichts, wovor sie zurückscheuten. Hindernisse existierten nicht, und wenn doch, dann wurden sie beseitigt. So hielt auch das äußerst schwierige Gelände rund um die Absturzstelle keinen der Aufnahmewagen lange auf. Sie alle waren mit Allradantrieb und Schneeketten ausgerüstet. Ihre Fahrer hockten vermummt wie Eskimos hinter den Lenkrädern, während die Kameramänner und Toningenieure bibbernd vor Kälte ihre Hightech-Geräte in die besten Positionen zu bringen versuchten. Nur die Männer und Frauen vor den Kameras schienen wetterresistent zu sein. Sie ließen sich auch von Eis und Schnee nicht davon abbringen, in perfekter Optik vor die Linsen zu treten. Niemand fiel es auf, dass in einem der RAI-Fahrzeuge nur zwei Personen saßen, die sich anscheinend mit der Beobachtung der Szenerie begnügten. Der Fahrer hatte einen seltsam glasigen Blick, der darauf schließen ließ, dass der Mann ein Drogenabhängiger sein musste. Niemand wäre auf die Idee gekommen, dass ihm ein anderer seinen freien Willen genommen hatte. Und dieser andere saß neben ihm auf dem Beifahrersitz. Centurio Oktavianus Lupomanus spürte die beißende Kälte nicht, als er die Fensterscheibe neben sich ganz nach unten kurbelte. Das heiße Blut der Wölfe floss in ihm. Seine Augen waren denen der Menschen weit überlegen, doch
auch für sie war die Entfernung bis zum abgesperrten Gebiet zu groß. Es wimmelte dort von Beamten, Rettungssanitätern und den Leuten der Bergungsteams, die mit ihrem schweren Gerät vor Ort waren. Für die Medienvertreter jedoch gab es nicht einmal ein Loch in dem Sperrriegel, das groß genug gewesen wäre, um auch nur eine Maus hindurch schlüpfen zu lassen. Die Behörden verhielten sich klug. Es war ihnen klar, dass es ein großer Fehler war, wenn man alle Informationen zurück hielt. Das hatte dann zur Folge, dass die Medien mit den wildesten Geschichten hausieren gingen, die nur noch mehr Unruhe in der Bevölkerung nach sich zogen. Also gab man die Neuigkeiten in kleinen Dosierungen weiter. »Eines ist inzwischen klar. An Bord der Maschine ist eine Bombe explodiert. Wie die jedoch beschaffen war, ist uns noch rätselhaft. Aber durch den Zustand der bisher gefundenen Trümmerstücke kann ausgeschlossen werden, dass es sich um technisches oder menschliches Versagen gehandelt hat. Mehr können wir zum jetzigen Zeitpunkt jedoch nicht sagen …« Die letzte offizielle Mitteilung an die Pressevertreter hatte allerdings nur offene Fragen hinterlassen. Hier waren die Spitzenkräfte aus drei Ländern vor Ort, doch niemand war in der Lage, Details zu dem benutzten Sprengkörper zu liefern? Das war mehr als ungewöhnlich. Oktavianus war klar, dass es nicht anders sein konnte. Die Bombe – seine Bombe – war rein magischer Natur. Wie hätten diese unwissenden Menschen dieses Rätsel wohl lösen sollen? Doch er hatte ganz andere Probleme, die er schnell zu lösen gedachte. Konzentriert schickte er seine Sinne über das Areal. Irgendwo dort musste der Ring sein, der ihn in seine angestammte Zeit zurückbringen sollte. Eine grobe Orientierung hatte er sich bereits verschaffen können. Irgendwo dort vorne, innerhalb von Lupomanus Blickfeld, musste Zamorras Leiche im Schnee liegen. Besser gesagt: was noch von dem Körper des Mannes übrig war. Gut möglich, dass ihn die Explosion völlig zerrissen hatte. Der Ring jedoch hatte die Katastrophe unbeschadet überstanden. Oktavianus konnte ihn fühlen …
Wie er ihn jedoch in seinen Besitz bringen sollte, war ihm noch nicht ganz klar. Notfalls musste er mit Gewalt in die gesicherte Zone eindringen. Keiner dieser Menschen würde ihn aufhalten können, auch nicht durch die Gewalt ihrer Waffen. Zunächst jedoch war es wichtig, die exakte Stelle festzustellen, an der er fündig werden konnte. »Näher heran. Los, fahr zu.« Der Fahrer reagierte wie eine Marionette. Langsam ließ er den Wagen bis kurz vor die Absperrung rollen. Ein paar Kameramänner und deren Helfer machten dem Fahrzeug nur unwillig Platz. Oktavianus hörte, wie einer hinter ihnen her rief. »Typisch RAI!, Könnt ihr Idioten euch nicht benehmen? Man sollte denen …« Mehr verstand der Centurio nicht. Es spielte für ihn auch keine Rolle, wenn ein Nichts aufheulte. Mehrere Bewaffnete setzten sich in Bewegung, als der RAI-Wagen kurz vor dem provisorisch aufgerichteten Zaun zum Stehen kam. Der Centurio konnte die Zahl der Wachsoldaten nur grob schätzen. Wie viele auch immer, es waren jedenfalls zu viele! Oktavianus entschied sich. Nicht jetzt, nicht am helllichten Tag. Die Wirkung von gut gezielten Kugeln aus modernen Waffen auf seinen Körper konnte er nur schlecht einschätzen. Die Heilkräfte, die in den Körpern der Wolfsmänner ruhten, waren beispiellos. Mit einfachen Messern oder Speeren war ihnen normalerweise nicht beizukommen. Doch wie mochte das bei Stahlmantelgeschossen sein? Der Wissenspool in Lupomanus' Bewusstsein gab darüber natürlich keinerlei Auskunft. Warum sollte er ein unnötiges Risiko eingehen? In der Nacht würde es hier ruhiger zugehen. Oktavianus wollte sich zunächst zurückziehen. Ein paar Stunden länger – was sollte das schon ausmachen? Tonlos gab er dem Fahrer den entsprechenden Befehl. Doch schon in der nächsten Sekunde änderte sich alles. Unruhe kam innerhalb der Absperrung auf, Befehle wurde gerufen, alles rannte unkoordiniert in eine bestimmte Richtung. Um den Centurio herum flammten unzählige Lichtquellen auf, die die gesamte Szene in ein unwirkliches Licht tauchten. Die natürliche Helligkeit des Tages wurde von den kalten Scheinwerfern über-
tüncht. Oktavianus sah zum Himmel, als dort mit dröhnenden Motoren zwei der drei ständig über dem Absturzgebiet kreisenden Helikopter zur Landung ansetzten. Unübersehbar prangten die roten Kreuze auf ihnen. Dann war das Gerücht über den Grenzzaun geschwappt. Kameras begannen zu arbeiten, überall stellten sich die Reporter vor ihnen in Positur. Das Sprachengewirr war unglaublich, dennoch war es nicht schwer, die entscheidenden Worte aufzuschnappen: »Auch wenn wir hier vor Ort es kaum glauben können, so ist es dennoch Realität geworden: zwei Passagiere aus dem explodierten Flugzeug sind lebend geborgen worden. Ich wiederhole – lebend! Und wenn die Informationen stimmen, die wir bekommen haben, dann sind sie wie durch ein noch größeres Wunder beinahe unverletzt geblieben. Sie haben schwere Unterkühlungen, doch gravierende Verletzungen konnte man bisher nicht feststellen. Hier herrscht eine unglaubliche Aufgeregtheit um mich herum. Niemand hatte noch mit der Möglichkeit gerechnet …« Centurio Oktavianus Lupomanus starrte wie versteinert auf den einen der Hubschrauber, der in diesem Augenblick zwei Tragen in sich aufnahm. Er konnte die Gesichter der beiden Menschen auf den Bahren nicht sehen. Die Entfernung war zu groß. Zudem waren unzählige Helfer um die Tragen herum, versorgten die Verunglückten mit Decken und versuchten sie vor zu neugierigen Blicken abzuschirmen. Er musste die Gesichter auch nicht sehen. Oktavianus Lupomanus wusste, wer die Überlebenden waren, die nun in ein Unfallkrankenhaus geflogen wurden. Es waren Professor Zamorra und die Frau, die Nicole Duval genannt wurde. Und der Zeitring, den der Centurio so heiß begehrte, flog mit ihnen …
DIE BESTIE – KLAUEN, ZÄHNE … ÜBERALL … UND BLUT … DER WUNDERSCHÖNE KÖRPER DER FRAU … ÜBER UND ÜBER MIT WUNDEN BEDECKT … FELLBEHAARTE PFOTE, DIE MIT EINEM EINZIGEN STREICH DIE KEHLE DER SCHÖNEN
ZERFETZT … UND DABEI FAST IHREN KOPF VOM KÖRPER ABTRENNT … HELLROTER LEBENSSAFT … ÜBERALL! dann der unbegreifbare schmerz – ein scharfes geräusch … hässlich und dissonant … der klang der Schlachtbank, mit dem sich sein körper öffnete … aufgeschlitzes fleisch … Organe … Darmmasse. ein gezielter hieb zerstörte sein gesicht, riss die oberlippe und die linke wange fort. Er starb … und er sehnte den tod nun herbei, wollte diese schmerzen nicht länger ertragen müssen. das graue tier riss an seinem rechten arm, führte sich die hand seines Opfers zum maul – kraftlos öffnete sich die faust, bot alle fünf finger an. der letzte schmerz blieb aus. sein körper, sein geist … sie ignorierten ganz einfach, was ihnen nun noch angetan wurde, die kreatur ließ ihr gebiss zuschnappen; ein knacken signalisierte, dass der Fingerknochen glatt durchbissen war. WIE UNBETEILIGT SAH DAS OPFER, WIE SEIN EIGENER RINGFINGER AUS DEM MAUL DES WOLFMONSTRUMS HERVORSCHAUTE – UND DER RING, ER STECKTE NOCH IMMER AN SEINEM PLATZ. DANN GEFROR DIE GANZE SZENE ZU EIS …
… Eis und Schnee. Zamorra zitterte am ganzen Körper. Den Übergang zwischen Ohnmacht und Erwachen hatte er überhaupt nicht registriert. Er fror, doch dazu gab es überhaupt keinen Grund mehr. Ihm wurde im nächsten Moment schon bewusst, dass er sich in einem Raum aufhielt, der außerordentlich gut geheizt war. Ein Raum? Vorsichtig öffnete er die Augen. Seine letzte Erinnerung war die, dass er hilflos auf dem Rücken liegend auf eine Öffnung über sich gestarrt hatte. Ein Loch, durch das er unsanft in die Tiefe gestürzt war. Die Tiefe – sofort war die Erinnerung an den freien Fall wieder da. Ich darf im Grunde nicht mehr leben! Niemand übersteht einen solchen Sturz … Doch er hatte in vielen Jahren lernen müssen, dass man mit Tatsa-
chen leben musste, die oftmals nicht einmal mit den wildesten Fiktionen zu erklären waren. Meist hatte es dann irgendwann eine Erklärung dafür gegeben, die einigermaßen akzeptabel schien. Meistens … doch längst nicht immer. Musste man ein Wundergläubiger sein, um zu akzeptieren, dass man eines erlebt hatte? Der Parapsychologe hatte Menschen erlebt, die an diesem Problem beinahe zerbrochen wären. Und andere, die auch noch Jahre später nach der einen und endgültigen logischen Erklärung für das Erlebte suchten. Sie verschwendeten ihre Zeit. Zamorra hatte eine leise Ahnung, wie er sich sein Überleben vielleicht erklären konnte, doch das war jetzt nicht wichtig. Jemand hatte sich die größte Mühe gegeben, um das Leben des Parapsychologen gewaltsam zu beenden. Die Explosion war so unmittelbar gewesen, dass er in diesem Sekundenbruchteil Details nicht hatte wahrnehmen können, doch jetzt … ja, jetzt war er ganz sicher: Das war nicht das Werk einer Terrororganisation gewesen. Ganz deutlich war die dunkle Magie zu spüren gewesen, die in der Detonation mitgeschwungen war. Und dann dieser Traum, der keiner war. Zu intensiv und plastisch waren die Bilder der Bestie auf ihn eingedrungen, die zwei Menschen hingemetzelt hatte. Zwei Menschen – ihn und Nicole Duval. Nicole … Wenn Zamorra das Drama im Schneeloch überlebt hatte, dann musste man doch auch sie gefunden haben. Auch gerettet? Er versuchte sich aufzusetzen, doch bei diesem misslungenen Versuch einer Bewegung bemerkte er erst, dass er dieses Bett aus eigener Kraft wohl kaum würde verlassen können. Von den Zehen bis zum Hals hatte man Zamorra wie ein Postpaket verschnürt, besser gesagt wie eine Mumie. Er war fest in ein Material eingewickelt, das ihn an Aluminiumfolie erinnerte. Wahrscheinlich versuchten die Ärzte so seinen Körper wieder auf eine normale Temperatur zu bringen. So weit es ihm möglich war, verschaffte er sich einen Eindruck von dem Raum. Warum nur glichen sich alle Krankenhauszimmer wie eineiige Zwillinge? Sicher gab es den Trend, Decken und Wände nicht mehr ausschließlich in Keimfrei-Weiß zu streichen, doch bis zu
diesem Sanatorium hatte sich das offensichtlich noch nicht herumgesprochen. Zamorra schloss die Augen. Von einer schneeweißen Umgebung hatte er für die nächsten Monate erst einmal die Nase gestrichen voll. Er war froh, als sich nur kurz darauf die Tür öffnete. Eine mehr als ansehnliche Krankenschwester schaute in das Zimmer. Als sie bemerkte, dass ihr Patient aufgewacht war, verschwand sie ohne ein Wort wieder. Zwei Minuten später kam sie in Begleitung einer Frau zurück, deren Auftreten sofort jedem verdeutlichen musste, dass sie mehr als eine Schwester war. Nach einem kurzen Blick auf den Monitor, der hinter Zamorra an der Wand installiert war und die Vitalfunktionen des Patienten anzeigte, setzte sie sich lächelnd auf die Bettkante. Sie mochte gut und gerne das Ende ihres vierten Lebensjahrzehnts erreicht haben, doch Zamorra kam nicht umhin, sie bewundernd zu taxieren. Eine attraktive Frau, die sich ihrer Wirkung auch durchaus bewusst war. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, lieber Professor. Sie haben dem Tod ein Schnippchen geschlagen. Hätte man Sie auch nur eine Stunde später gefunden, wäre der Sensenmann Sieger geblieben.« Zamorra wollte die für ihn entscheidende Frage stellen, doch die Ärztin kam ihm zuvor. »Mein Name ist Dr. Girard. Und ja – die Frau, die man bei Ihnen fand, ist so fit wie Sie. Sie liegt zwei Zimmer weiter. Wenn wir Sie hier ausgewickelt haben, bringen wir Sie zu ihr. Allerdings in einem Rollstuhl. Ich möchte nicht, dass Sie sich in den nächsten 24 Stunden zu sehr anstrengen.« Sie beugte sich über Zamorra und kontrollierte kurz einen Kratzer, den er sich an der Stirn zugezogen hatte. Der Blick in ihr tiefes Dekollete verscheuchte den Rest seiner Müdigkeit. Lächelnd stand sie auf. »So, alles weitere wird Ihnen sicher Ihre Partnerin berichten wollen – oder die Herren von Polizei und Geheimdienst. Mein Job wäre getan. Ines wird Sie jetzt aus Ihrem Dasein als Rollbraten befreien.« Bei der Tür blieb sie noch einmal stehen und wandte sich zu Zamorra um. »Glückwunsch übrigens zu Ihrem Handy. Wer Ihnen das verkauft hat, verdient einen Orden.« Zamorra verstand den Sinn der Worte nicht, doch er war sicher,
die Erklärung würde bald erfolgen. Zunächst einmal ließ er es bereitwillig über sich ergehen, dass die hübsche Ines ihn Lage um Lage auspackte. Es gab Schlimmeres …
Zamorra bedauerte sehr, dass man ihm und Nicole hier so etwas wie Privatsphäre verweigerte. Im Rollstuhl hatte Ines ihn den kurzen Weg bis zu Nicoles Zimmer gefahren, und auf diesen wenigen Metern hatte er mehr unauffälligauffällige Sicherheitsbeamte gesehen, als so mancher hochrangige Politiker um sich zu scharen vermochte. Überlebende eines Terroranschlages waren natürlich hochgradig gefährdete Personen. Außerdem … warum hatten gerade sie überlebt? Steckten diese Menschen eventuell sogar mit den Terroristen unter einer Decke? Das waren die Fragen, die sich die Behörden natürlich stellten. Die Zimmertür musste geöffnet bleiben. Zwei der Bodyguards postierten sich sogar im Inneren des Raumes. So hatten der Parapsychologe und seine Lebensgefährtin es dann bei einer innigen Umarmung belassen. Mehr hätte die armen Burschen sicher heftiger aus der Ruhe gebracht als ein Attentatsversuch. »Wir haben unverschämtes Glück gehabt, dass man uns aus diesem Schneeloch geholt hat. Wie haben die uns gefunden?« Zamorra versuchte die Menge an Fragen und Problemen, die ihm auf der Seele brannten, der Reihe nach aufzuarbeiten. Nicole grinste ihn spitzbübisch an. »Wenn ich dir das erzähle, wirst du ab sofort nie wieder schimpfen, wenn dich das Klingeln eines Handys nervt.« Handy? Zamorra erinnerte sich an die Bemerkung der aufregenden Dr. Girard. Aber er unterbrach Nicole nicht. Und dass er Frau Doktor mehr als anziehend fand, musste er ja nun auch nicht unbedingt erwähnen. »Unser lieber Artimus hat mir in einer stillen Stunde einige der Zusatzspielereien verraten, die in dem Handy schlummern, das dir von Tendyke Industries überlassen wurde.« Sie gab Zamorra einen
schnellen Kuss, denn der hatte beim Begriff stille Stunde einen entrüsteten Gesichtsausdruck aufgelegt, auch wenn er ganz genau wusste, wie Nicole das meinte. Artimus van Zant war ein genialer Tüftler in Sachen Elektronik. Und ein sehr guter Freund der beiden war er inzwischen auch längst geworden. Er hatte maßgeblich an der Entwicklung des Handytyps mitgewirkt und rückte nach und nach mit den kleinen Wundern heraus, die er eingebaut hatte. Seine Genialität auf diesem Gebiet endete nicht bei dem, was es auf diesem Erdenball an Basteleien und Erfindungen gab, denn auch bei außerirdischer Technik war van Zant kaum zu schlagen. Intuitiv hatte er sich den Zugang zu der Technologie der Meeghs erarbeitet, der nicht mehr existenten Rasse von humanoiden Spinnenwesen; ohne van Zant wäre das letzte in Menschenhand befindliche Raumschiff der Meeghs heute sicher nicht mehr einsatzbereit gewesen. Dass Artimus nebenher Sicherheitschef bei Robert Tendykes Konzern war, hielt ihn offenbar nicht davon ab, sich auch noch um die Entwicklungsdetails von Handys zu kümmern. Oft hatte Zamorra sich gefragt, wann der Mann eigentlich schlief, denn den größten Teil seiner knapp bemessenen Freizeit verbrachte er mit dem Vertilgen von mächtigen Schlachtplatten, Grilltellern und anderen Fleischspezialitäten. Er war der T-Rex der US-amerikanischen Südstaaten, daran hegte niemand einen Zweifel, der ihn hatte essen sehen. Nicole fuhr fort. »Unter anderem gibt es dort einen Sender, wie er zur Rettung von Lawinenopfern benutzt wird. Keine Ahnung warum, aber das Ding ist mir bei Artimus' Erklärungen am besten im Gedächtnis haften geblieben. Ich weiß sogar noch, dass die Sendefrequenz 457 kHz beträgt – das ist die internationale Frequenz für Lawinen-Rettungsgeräte. Egal, jedenfalls habe ich den Sender aktiviert.« Zamorra war mehr als verblüfft. »Ich wusste nicht einmal, dass du das Handy bei dir hattest. Aktiviert … während wir fielen?« Nicole nickte. »Donnerwetter, das nenne ich Instinkt!« Seine Gefährtin überraschte ihn immer wieder. Auch noch nach so vielen Jahren. Nicole rückte so nah wie möglich an Zamorra heran. »Dass man
uns orten konnte, ist dennoch ein Wunder.« Sie warf einen Blick zu den Sicherheitsmännern, die jedoch nicht den Eindruck machten, dass sie bemüht waren, das Gespräch zu belauschen. »Ein größeres Wunder musst du mir aber noch erklären. Wir hätten den Aufprall niemals überleben dürfen. Irgendetwas hat unseren Sturz gebremst. Du?« In Zamorras Augen konnte sie lesen, dass er keine wirkliche Antwort auf diese Frage kannte. Im Flüsterton erzählte er ihr, wie er während des Sturzes kurz die Besinnung verloren hatte. »Das Gefühl, nur noch zu schweben, war überwältigend stark. Und dass es kein Trugbild war, konnte ich sehen, als ich wieder klar wurde. Du warst plötzlich dicht über mir. Also war ich langsamer geworden. Und der zweite Anlauf hat ja dann tatsächlich funktioniert. Es war unkalkulierbar, aber eine andere Chance sah ich nicht mehr.« Nicole sah ihn fragend an. »Vielleicht hat dein Wunsch sich unterbewusst in eine Art Instinkt-Zauber verwandelt. Unter Umständen noch verstärkt durch Merlins Stern, denn wenn die Bombe tatsächlich schwarzmagischen Ursprungs war, hatte das Amulett einen Grund, auf einen Angriff zu reagieren.« Die Sache wurde zu theoretisch. Was auch immer geschehen war, es hatte ihnen das Leben gerettet. Zudem hatte Zamorra jetzt ganz andere Sorgen und Befürchtungen, die er Nicole mitteilen musste. Leise berichtete er ihr von der Vision, die ihn vor seinem Aufwachen im Krankenbett heimgesucht hatte. »Das klingt übel. Hast du den Angreifer erkannt?« Zamorra wusste sehr wohl zwischen einem Traum und einer Vision zu unterscheiden. Nicole Duval war sicher, dass die Gefahr, die er ihr geschildert hatte, tatsächlich existierte. Genau so gut wusste sie aber auch, dass nicht jede Vision unabänderlich war und so ablaufen musste, wie man sie erlebt hatte. Oft waren es Warnungen, Hinweise, die aufrütteln und zum Handeln aufrufen sollten. Andere hingegen trafen exakt ein … und ließen dem Betroffenen keine Chance, seinem Schicksal zu entgehen. Zamorras Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. Er konnte selber nicht glauben, was er Nicole zur Antwort geben musste. »Ich
habe ihn erkannt. Und ich kann mir darauf keinen Reim machen. Es war der Wolfsmann – es war Centurio Oktavianus Lupomanus.« Nicole blickte ihn ungläubig an. »Du musst dich irren. Das kann doch …« Sie vollendete den Satz nicht. Der Zeitsprung in die Vergangenheit, zu dem Pater Aurelian Zamorra und sie überredet hatte – Aurelian, der doch während des ›Unternehmen Höllensturm‹ in der Spiegelwelt umgekommen war! Doch in der Realität der Wolfswelt lebte er noch. Aber diese Welt war irgendwie falsch gewesen, mit ihrem Wolfspapst, den Menschenjagden und dem Wolfskult, der die christliche Religion vollständig ersetzte. Vor allem – es war doch vorbei gewesen! Sie waren in ihre Zeit und Welt zurückgekehrt. Absolut unmöglich, dass Oktavianus Lupomanus sich jetzt in dieser Zeitebene, dieser Realwelt befand. Zamorra nickte. Es war ganz so, als habe er Nicoles Gedanken lesen können. »Ja, unmöglich, nicht wahr? Aber glaube mir, ich irre mich nicht. Es war Oktavianus, der uns angriff und tötete. Und bevor ich starb, biss er mir den Ringfinger ab, mitsamt dem Zeitring. Das kann natürlich eine Metapher sein. Oder eben auch nicht. Und … wie soll Oktavianus hierher gekommen sein? Das alles sind mir ein paar Fragen zuviel, weißt du?« Zamorra wurde sich in diesen Sekunden nicht darüber klar, dass sie beide plötzlich in Details von etwas redeten, was für ihn noch vor wenigen Stunden ein Albtraum war, über den er nicht sprechen wollte, den er glaubte, Nicole verschweigen zu müssen. Zamorra fuhr sich mit der Hand über die Stirn. Er war müde. Man stürzte nicht mal eben so aus einem explodierenden Flugzeug, landete in einer unterirdischen Kammer unter tief verschneiter Oberfläche und wurde dann praktisch in letzter Sekunde doch noch gerettet – verschrammt, verbeult und vollkommen unterkühlt. Selbst bei ihm blieb so etwas nicht in den Kleidern hängen. Doch Zeit zum Regenerieren blieb weder ihm noch Nicole. Wann hätten sie die je gehabt? Irgendwann hatte Zamorra einmal aus Spaß gesagt, er fordere einen offiziellen Ruhetag für Geisterjäger und Dämonenkiller. Aber in diesem Spaß steckte eine Wahrheit, die nur bunt verpackt war.
Es war der Körper, der sein Recht auf Ruhe forderte, doch da war auch noch der Kopf, der sich immer wieder nach einer gewissen Normalität sehnte. Zamorra drängte diese Gedanken zur Seite, als Nicole ihn ansprach. »Konntest du erkennen, wo sich deine Vision abgespielt hat?« Zamorra grübelte schon eine ganze Weile darüber nach. Die Frage, wo Oktavianus sie angriff, war von größter Bedeutung. Doch da war nichts, was auch nur den kleinsten Hinweis darauf versprach. Zu sehr hatte die Vision sich auf Angreifer und Opfer bezogen. Als er nur mit den Schultern zuckte, statt eine Antwort zu geben, traf Nicole eine Entscheidung. »Dann müssen wir jeder Zeit und überall damit rechnen. Ich denke, dass wir gerade hier wie auf dem Präsentierteller sitzen. Diese lebenden Kleiderschränke werden uns kaum eine große Hilfe sein.« Nicoles Blick ging kurz zu den Wachmännern, doch die standen nur regungslos wie Schaufensterpuppen an ihren Plätzen. »Wenn der Anschlag auch Oktavianus' Werk war, dann weiß er in der Zwischenzeit sicher, dass wir noch leben. Ich könnte mich ohrfeigen, dass ich meinen Dhyarra nicht mitgenommen habe. Wir sollten schnellstens zum Château zurück, denn wenn ich mich schon mit einem Wesen herumschlagen soll, das sich entgegen jeder Logik in unserer Zeit und unserer Realität befindet, dann doch bitte entsprechend bewaffnet. Und der Heimvorteil kann auch entscheidend sein.« Zu jeder anderen Gelegenheit hätte der Parapsychologe Nicole Recht gegeben, doch hier lagen nach seiner Einschätzung die Dinge ganz anders. »Wenn die Vision realistisch war, dann können wir uns das sparen. In ihr hattest du deinen Dhyarra nicht zur Verfügung. Und Merlins Stern reagierte ebensowenig. Wir hatten ihm nichts entgegenzusetzen. Gar nichts …« »Wie auch immer.« Nicole wollte Mutlosigkeit überhaupt nicht aufkommen lassen. »Die Möglichkeit, aus einem Krankenhaus einen Kampfplatz zu machen, gefällt mir überhaupt nicht. Der Wolfmann wird sicher keine Rücksicht auf Unbeteiligte nehmen, wenn er uns angreift. Außerdem brauchen wir Zeit. Wir müssen in Ruhe überle-
gen, was zu tun ist. Und schließlich haben wir Freunde, die uns helfen können, oder? Also lass uns von hier so schnell wie nur möglich verschwinden.« Zamorra schüttelte mit Macht die Müdigkeit aus sich heraus. Nicole hatte natürlich Recht. Hier wollte er dem Centurio ganz sicher nicht begegnen. Also hieß es handeln. »So ganz freiwillig werden uns die Behörden aber nicht ziehen lassen.« Er senkte die Stimme noch einmal in der Lautstärke ab, damit wirklich nur Nicole seine Worte verstehen konnte. »In zwei Stunden treffen wir uns in der Lobby dieses Hospitals. Okay?« Nicole nickte kaum wahrnehmbar. Ein paar Wachmänner auszutricksen war eine ihrer einfachsten Übungen. Mit einem flüchtigen Kuss trennten sich die beiden, und Schwester Ines übernahm den im Rollstuhl sitzenden Parapsychologe an der Tür. Ihr Blick auf Nicole war eindeutig. Es gefielt ihr überhaupt nicht, dass dieser attraktive Patient eine so überaus schöne Frau an seiner Seite hatte. Sie schob den Rollstuhl gemächlich über den breiten Gang. Es konnte aber dennoch nicht schaden, sich eingehender mit dem Mann zu beschäftigen. Ein Versuch würde ja wohl noch erlaubt sein …
Professor Zamorra verfügte über viele außerordentliche Fähigkeiten. Eine davon hatte ihn vor vielen Jahren ein tibetischer Mönch gelehrt. Sie basierte nicht auf jener Magie, die der Parapsychologe einzusetzen vermochte. Sie bezog sich einzig und allein auf die Befähigung, in sich zu ruhen, denn nur dann war man in der Lage, die ureigene Aura, über die jedes Lebewesen verfügte, zu beherrschen und zu kontrollieren. Zamorra hatte diesen Trick lange nicht mehr angewandt, doch in dieser Situation erschien er ihm sinnvoll. Die zwei Stunden nach seinem Besuch bei Nicole waren beinahe um. Es wurde Zeit, sich hier zu verabschieden. Der Professor hatte nicht vor, sich mit einem großen Budenzauber aus dem Staub zu machen. Je stiller und unbemerkter, desto besser. Er war sicher, Nicole würde es nicht anders
handhaben. Es hatte ihn einige Mühe und ein reichlich resolutes Auftreten gekostet, sich die kleine Ines vom Hals zu halten. Ihre Avancen waren recht eindeutig ausgefallen. Zamorra dachte amüsiert an eine Geschmacklosigkeit aus dem vergangenen Jahrhundert – billigst gedrehte Kinofilme, deren Inhalt sich immer und immer wieder peinlich wiederholte und in denen es sich stets um sexbesessene Krankenschwestern gehandelt hatte. Mit Recht war diese Berufsgruppe damals auf die Barrikaden gegangen, denn man stellte sie als dümmliche und stets lüsterne Objekte dar, denen es um nichts anderes ging, als ihre Patienten zu verführen. Es hatte lange gedauert, bis dieses dummdreiste Image aus den Köpfen der Menschen – vor allem der Männerwelt – wieder verschwunden war. Ines war viel zu jung, um diese Filme kennen zu können. Und ihr freundliches Angebot an den Professor fiel auch nicht ganz so plump aus, doch es ging durchaus in die gleiche Richtung. Sie war gut darin, ihr eh schon unverschämt kurzes Röckchen nach oben rutschen zu lassen. Zamorra verwickelte sie in ein unverfängliches Gespräch, bei dem er immerhin erfuhr, wohin man Nicole und ihn gebracht hatte. Gefunden hatte man die beiden nicht weit entfernt von Val d'Isère und hatte sie per Hubschrauber nach Tignes gebracht – in diese noble Privatklinik, die noch kein Kassenpatient von innen gesehen hatte. Ines lobte das Hospital in höchsten Tönen und versicherte, dass man hier beim Personal die allerhöchsten Ansprüche stellte. Davon war Zamorra überzeugt. Ob es dabei jedoch in erster Linie um die Qualifikation ging, wollte er dahingestellt lassen. Dr. Girard hatte bei ihm jedenfalls den Eindruck hinterlassen, eher zur Chefin einer Modellagentur als zur Chefärztin zu taugen. Als Ines direkter wurde, ließ Zamorra sie dann abblitzen. »Sie sind ein schönes Mädchen, Ines, aber Sie haben ja meine Lebensgefährtin gesehen, nicht wahr? Hatten Sie den Eindruck, dass ich auf eine Abwechslung angewiesen wäre?« Ein wenig beleidigt ließ sie ihn allein. Und Zamorra war froh, sich nun endlich konzentrieren zu können. Er hoffte, nicht zu sehr aus
der Übung zu sein, denn was er vorhatte, stellte gewisse Anforderungen an Körper und Seele. Nur kurze Zeit später verließ er das Zimmer. Seine Kleidung hatte man ihm freundlicherweise gereinigt und ordentlich in den Schrank gehängt. Wirklich ein Hospital der Spitzenklasse … oder doch nur ein Hotel für superreiche Hypochonder? Ihm sollte es gleich sein. Die Wachmänner vor seiner Tür registrierten ihn nicht, als er an ihnen vorbei in Richtung Treppenhaus ging. Zamorra lächelte. Es klappte also nach wie vor ausgezeichnet. Er hatte sich in eine Art Trance versetzt, die ihm erlaubte, seine Aura in seinem Inneren einzuschließen. Sie drang nun nicht mehr an die Außenwelt. Das Resultat war immer wieder verblüffend, denn in diesem Zustand konnte er durch ein vollbesetztes Fußballstadion gehen, ohne auch nur von einem der vielen Tausend Zuschauer bemerkt zu werden. Zamorra stieg die breite Treppe hinunter. Den Aufzug zu benutzen hatte er sich und den Wachmännern erspart, denn die wären nur unnötig aufmerksam geworden, wenn der Lift sich öffnete und wieder schloss, obwohl niemand eingestiegen war. Mit ein wenig Glück würde es eine ganze Weile dauern, bis man sein Verschwinden bemerkte. Er hoffte, gemeinsam mit Nicole dann schon eine gewisse Distanz zwischen sich und das Hospital gebracht zu haben. Nicole wartete bereits im Außenbereich des Gebäudes auf ihn. Erst als er sie berührte, registrierte sie ihn, obwohl er bereits dicht neben ihr gestanden hatte. Sie grinste ihn wissend an. »Den tibetischen Mönchen sei Dank, richtig? Lass uns so schnell wie möglich verschwinden, denn ich weiß nicht, wie lange der Trick hält, mit denen ich meine Gorillas getäuscht habe.« Zamorra fragte nicht nach. Er war sicher, dass Nicole etwas eingefallen war, das die Beamten für den Rest ihres Lebens nicht vergessen würden. Er legte einen Arm um Nicoles Schultern und sie setzten sich in Bewegung. Langsam, beinahe schlendernd gingen sie die breite Zufahrt hinunter, an die sich ein großzügig angelegter Park anschloss. Die Insassen der beiden Polizeiwagen, die hier offensichtlich Wache
schieben mussten, nahmen keine große Notiz von dem Pärchen, das wohl einen Spaziergang machte. Das Wetter lud heute aber auch wirklich dazu ein …
Centurio Oktavianus Lupomanus wartete geduldig. Drei Tage war es nun her, dass man Zamorra und Nicole Duval lebend gerettet hatte. Er hatte den Schock darüber schnell verwunden und gehandelt. So, wie auch all die Medienleute, hatte er sich in Richtung Tignes bewegt, denn hierher wollte man die Verletzten bringen. So etwas ließ sich nicht lange geheim halten. Wie ein mittelalterliches Heer hatten die unzähligen Übertragungswagen das Hospital in einen Belagerungszustand versetzt. Zwei Tage und zwei Nächte hielt dieser Zustand an – dann verschwand der Spuk so schnell, wie er gekommen war. Wenn Lupomanus in dieser Welt etwas begriffen hatte, dann das: In dieser Zeit zählte nur das Neue, das Aufregende. Und dessen Reiz verflog zumeist unglaublich schnell. Als erster packte ein Privatsender aus Frankreich seine Anlagen zusammen und verließ das Gelände. Es war wie ein geheimes Zeichen, auf das die anderen nur gewartet hatten. Zwei Stunden später war nur noch der unauffällige RAI-Wagen vor Ort, in dem Oktavianus mit dem willenlosen Fahrer saß. Es waren ganz einfach keine aufregenden Neuigkeiten mehr zu erwarten. Dem geborgenen Pärchen ging es den Umständen entsprechend gut. Dass sie überlebt haben, war ein Wunder, doch eines von der Sorte, das man nicht reißerisch genug verkaufen konnte. Es gab nichts mehr auszuschlachten – also ging man. Oktavianus entledigte sich des Wagens und seines Fahrers. Er konnte schlecht als einziger hier präsent bleiben, denn das würde garantiert das Interesse der Polizei und Geheimdienste wecken. Zudem würde der italienische Sender in der Zwischenzeit bereits nach dem Fahrzeug suchen. Und nach seinen Angestellten nicht minder. Man würde den Wagen finden – den Fahrer, den Kameramann und die junge Reporterin sicher nicht. Der Centurio war gründlich vor-
gegangen … Ihm war klar, dass ein Eindringen in das Krankenhaus unkalkulierbare Risiken für ihn barg. Zamorra und die Frau wurden bewacht. Er musste erneut geduldig sein und warten. Es konnte nicht ewig dauern, bis sie das Haus wieder verlassen durften. Genau diesen Augenblick sehnte er sich herbei. Wie ein grauer Schatten lauerte er versteckt zwischen Bäumen und Büschen, die der Parkanlage vor dem Hospital einen leicht verwilderten Charakter bescherten. Geduld war stets eine seiner ganz großen Stärken gewesen, die ihn nach oben gebracht hatten. Geduld und Willensstärke – und die Bereitschaft, seine Gefühle in Taten umzusetzen. Er hatte nie lange gefackelt, wenn es darum gegangen war, ein Ziel zu erreichen. Geduld … genau sie schien nun sein größter Feind zu werden. In Lupomanus breitete sich eine Unruhe aus, die er nie gekannt hatte. Er fühlte sich schwach, kraftlos. Immer öfter war da das Gefühl, als sauge etwas seine Energien aus, presse ihn zusammen wie einen alten Schwamm. Oktavianus wartete auf einen Schmerz, der ihm den Weg zu seinem Problem weisen konnte. Doch er kam nicht. Körperlich schien alles wie immer zu sein. Also musste es einen anderen Grund geben. War es die Tatsache, dass er sich weit in die Zukunft vorgewagt hatte? Daran wollte er nicht glauben, denn dieser Zamorra hatte mit seinem Zeitring solche Reisen sicherlich schon oft durchgeführt und unbeschadet überstanden. Nein, die Gefahr für den Centurio kam aus einer anderen Richtung. Konnte es nicht vielmehr die Zeitmagie sein, die noch immer in ihm war? Die Energie gepaart mit dem Wissen eines anderen Wesens. Wissen, über das er niemals hätte verfügen dürfen. War es das? Er hatte keine Ahnung, wie sein Körper und sein Verstand mit dieser magischen Energie umzugehen vermochten. Fraß sie sich vielleicht langsam, aber unbeirrbar durch sein Bewusstsein hindurch? Die Zeit wurde dann zu seinem größten Feind, denn wenn dem so war, durfte er keine Sekunde länger als unbedingt nötig hier verweilen. Er musste dringend dahin zurück, wo er hingehörte.
In seine Zeit – in seine Welt – zum Imperium der Wölfe, das nur dann existieren konnte, wenn seine Mission erfolgreich abgeschlossen war. Der Jagdtrieb in ihm wurde von Minute zu Minute stärker. Bald würde er sich wieder ein Opfer holen müssen. Es gefiel ihm nicht, seinen Beobachtungsplatz auch nur für kurze Zeit zu verlassen, aber es ließ sich in diesem Fall kaum umgehen. Und da war noch ein anderer Trieb, der ihm mittlerweile zu schaffen machte. Vielleicht konnte er das eine mit dem anderen verbinden. Er empfand diese Vorstellung nicht als pervers oder grausam, denn das gehörte ganz einfach zu seinem Leben. Da war sie wieder … diese Schwäche. Oktavianus schloss die Augen und hoffte, dass der Anfall schnell vorbei ging. Doch es dauerte länger als gewöhnlich. Und es war anders – irgendetwas war hinzugekommen. Sein rechter Arm brannte wie Feuer. Falsch – nicht der ganze Arm, sondern nur der Bereich um den Ellbogen herum. Lupomanus biss die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuheulen. Dann war es ganz plötzlich wieder vorbei. Mit hastigen Bewegungen ötfnete der Centurio sein Hemd. Was er sah, ließ ihn erstarren! Fell … Rund um seinen Ellbogen hatte sich dichtes Fell gebildet. Ungläubig strich er mit den Fingern über die Stelle. Es gab überhaupt keinen Zweifel. Sein Wolfsfell drängte sich mit Macht an die Oberfläche. Noch war es nur ein winziger Teil seiner Haut, der so bedeckt war, doch was, wenn dieser Prozess weiter und weiter ging? Er durfte sich in dieser Zeit nicht unwiderruflich in einen Wolf verwandeln. Mit ganzer Konzentration versuchte er die Haare wieder verschwinden zu lassen. Es wollte nicht gelingen. Nun waren auch die letzten Zweifel in ihm ausgeräumt. Die Zeitmagie tobte durch seinen Körper … sie gehörte dort nicht hin … die Metamorphose war eingeleitet. Leise Schritte drangen an sein sensibles Gehör. Mit einem Schlag waren alle Gedanken und Befürchtungen vergessen. Dort vor ihm tauchte die Lösung all seiner Probleme auf.
Keine zehn Schritte von seinem Versteck entfernt sah er Zamorra und die Frau auf sich zukommen. Und sie schienen ahnungslos zu sein – und unvorsichtig, wie kleine Kinder …
Nicole Duval beendete den Versuch, eine Verbindung über das Handy zu bekommen. Noch immer befanden sie sich in der weitläufigen Parkanlage, doch Nicoles Ungeduld ließ es nicht länger zu, mit einem Kontaktversuch zu warten, bis sie sich in relativer Sicherheit befanden. Die Rufnummer des Château Montagne war in der Kurzwahl als Nummer 1 gespeichert. Verdutzt sah sie Zamorra an, schaute dann wieder ungläubig auf das Handydisplay. Die Nummer stimmte, doch es kam keine Verbindung zustande. »Nichts. Nicht einmal eine dieser ätzenden Ansagen wie: die von Ihnen gewählte Rufnummer ist leider nicht vergeben – einfach nur ein Summton. Das gibt es doch nicht.« Zamorra legte seine Stirn in Falten. Irgendwo ganz tief in ihm begannen sich winzige Puzzleteile zusammenzufügen. Sie ergaben noch kein erkennbares Bild, doch sie wiesen sein Denken in eine Richtung, die ihm überhaupt nicht gefallen wollte. In den letzten Tagen waren Dinge geschehen, die irgendwie nicht passten. Sie waren ganz einfach falsch, so wie die Welt des Wolfskultes falsch gewesen war. Die magische Bombe, die Vision von Oktavianus Lupomanus … dazu kam die Tatsache, dass Nicole und er drei Tage in diesem Hospital gelegen hatten, ohne irgendeine Reaktion von ihren Freunden zu erhalten. Sicherlich, man hatte ihnen keine Telefonate erlaubt – und erst bei ihrem nicht genehmigten Auszug hatte Nicole durch Zufall Zamorras Handy entdeckt, das merkwürdigerweise einfach so auf dem Schreibtisch im Schwesternzimmer gelegen hatte. Es war ungewöhnlich, dass sich Leute wie Robert Tendyke oder Freunde aus Zamorras Dorf so überhaupt nicht bei ihnen gemeldet
hatten. Sie alle mussten von dem Flugzeugabsturz wissen – die einzig logische Erklärung war die, dass Polizei und Behörden jede Kontaktaufnahme verhindert hatten. Andererseits … seit wann ließ sich zum Beispiel ein Robert Tendyke von so etwas beeindrucken? »Ruf Tendyke Industries an. Ganz egal zu welcher Uhrzeit – dort erreichst du immer jemanden. Und dann verlang Robert persönlich. Ihm wird es ein Vergnügen sein, uns hier abholen zu lassen.« Nicole tippte die Kurzwahltaste an. Das Ergebnis war identisch mit dem ersten Versuch. »Vielleicht haben diese Geheimdienstheinis an dem Handy manipuliert? Und wenn, dann könnte ich mir vorstellen, dass Artimus da so etwas in der Art einer Sicherheitsschaltung eingebaut hat. Und nun streikt es, bis man einen bestimmten Code eingibt … oder so …« Nicole wusste, dass sie sich das Problem schön zu reden versuchte. Wenn sie ehrlich war, dann wusste sie, dass ganz andere Dinge dahinter stecken mussten. Dennoch startete sie einen dritten Versuch und wählte die Dienstnummer von Pierre Robin, dem Chefinspektor der Mordkommission von Lyon. Mit ihm waren Zamorra und sie seit vielen Jahren gut befreundet. Er würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um sie irgendwie von Tignes abzuholen. Seine Wohnung wäre der perfekte Ruhepunkt gewesen, den sie jetzt zum Nachdenken und Planen benötigten. Sie war nicht sonderlich überrascht, als es auch jetzt in der Leitung nur leise summte – mehr geschah nicht. Mit einem Tastendruck schaltete Nicole das Handy aus. Es war nutzlos geworden. Zamorras Stimme klang besorgt, als er Nicole seine Ahnung mitteilte. »Weißt du was? Ich befürchte, wenn wir direkt zum nächsten Geldautomaten gehen würden, wäre das Ergebnis dort ganz ähnlich. Ich denke, auch meine Scheckkarten dürfte die gleiche Seuche wie das Handy befallen haben.« Nicole schüttelte unwillig den Kopf. »Aber was ist geschehen? Das hier ist doch unsere Zeit … unsere Welt. Und wir haben uns doch nicht verändert. Ich kann den Zusammenhang nicht erkennen.« Zamorra hakte sich erneut bei ihr unter. »Wir müssen uns Sicher-
heit verschaffen. Komm, irgendwo wird schon eine Bank in der Nähe sein.« Das Rascheln in den dichten Büschen vor sich hätte er beinahe überhaupt nicht registriert. Einen Herzschlag später verfluchte er sich für seine Unvorsichtigkeit, die sie nun das Leben kosten konnte. Die graue Gestalt mochte nicht viel größer als sechs Fuß sein, doch sie wirkte in ihrer Massigkeit wie ein Turm, der sich nur wenige Meter vor ihnen aufbaute. Das wilde Fell des Monstrums machte einen elektrisierten Eindruck – als hätte man den Wolfsmann unter Strom gesetzt, stand es wirr von seinem Körper ab. Aus dem weit geöffneten Maul starrten sie die mörderischen Reißzähne des Werwolfs an, zwischen denen sich dünne Geiferfäden entlang zogen. Dieses Gebiss war das perfekte Mordwerkzeug, das virtuose Produkt einer Evolution, die darauf zielte, nahezu widerstandslos durch Knochen, Sehnen und Fleisch schlagen zu können. Nichts von alledem konnte diesen Zähnen widerstehen. Und das dumpfe Brüllen, das sich aus dem Hals des Grauen hervorquälte, war das Kampflied seiner Mordgier … Zamorra reagierte instinktiv, denn in diesem Fall war er es, der seine Schocksekunde schneller überwand. Vielleicht weil er diesen Augenblick bereits in seiner Vision vorausgeahnt hatte; für Nicole waren das nur abstrakte Erzählungen von ihm gewesen, die sie jetzt als entsetzlich wahr erleben musste. Zamorra stieß seine Lebens- und Kampfgefährtin heftig zur Seite, denn er wollte sie aus der Angriffslinie des Wolfes haben. Wenn sie überhaupt eine reelle Chance bekommen wollten, dann nur, wenn sie den Lykanthropen von zwei Seiten her angreifen konnten. Im nächsten Augenblick griff der Wolfsmann an, und Zamorra sah deutlich die Stelle über seiner Nasenwurzel, an der kein Fell wuchs. Es war Centurio Oktavianus Lupomanus. Wenn es überhaupt noch einen Zweifel gegeben hatte, dann war der jetzt ausgeräumt. Lupomanus hatte in seiner Menschengestalt vertikal über seiner Nasenwurzel eine gut fünf Zentimeter lange Narbe gehabt … Der Parapsychologe ließ sich fallen und rollte nach hinten ab. Seine Hand riss Merlins Stern von der Halskette. Das Amulett war aktiv … doch es reagierte nicht auf den Angriff! Nein, das stimmte nicht
ganz. Es reagierte sehr wohl, aber mehr als ein schwaches Leuchten konnte oder wollte es nicht erzeugen. Der rettende Blitzschlag aus magisch geformter Energie blieb aus. Zamorra wusste, dass er verloren war. Ohne das Amulett, ohne den Dhyarra-Kristall oder zumindest einen Blaster, hatte er der unbändigen Kraft des Wesens vor ihm kaum etwas entgegen zu setzen. Die Vision … sie würde sich erfüllen. Doch in ihr hatte der Professor die verstümmelte Leiche der nackten Nicole neben sich liegen sehen. Das Bild, das sich hier bot, passte nicht dazu, denn der Wolfsmann kümmerte sich nicht um Nicole. Seine gesamte Angriffsenergie richtete sich gegen Zamorra. Dreimal konnte der Franzose geschickt ausweichen, wegpendeln und sich den Angriffsschwung des Werwolfs zu nutze machen. Doch die Karate-Schläge, die er austeilte, verpufften an dem Körper des Lykanthropen vollkommen wirkungslos. Es schien, als würde er sie nicht einmal wahrnehmen. Dann traf ein heftiger Schlag Zamorras linke Schulter. Völlig gefühllos hing sein Arm am Körper herab – keine Chance, dem zweiten Treffer noch irgendwie auszuweichen. Zamorra ging halb betäubt zu Boden. Er sah, wie Nicole mit den Beinen voran einem Geschoss gleich den Werwolf rammte. Doch der wischte sie nur achtlos beiseite. Irgendwo zwischen den Bäumen blieb sie benommen liegen. Aus und vorbei … gleich wird er dich aufschlitzen … Die Details der Vision stimmten nicht, doch am Ergebnis konnte das nichts mehr ändern. Zamorra sah die riesige Pranke des Werwolfs, deren Krallen wie Skalpelle ausgefahren waren. Und er sah den Triumph in den Augen des Tiermenschen. Seinen linken Arm spürte er nicht, doch der rechte entwickelte plötzlich ein Eigenleben. Ohne Zamorras Einfluss streckte sein Arm sich dem Centurio entgegen. Es wurde kein Schlag daraus, denn dazu fehlte ihm jegliche Kraft, doch die Berührung von Zamorras rechter Hand mit dem Wolfskörper rief dennoch eine heftige und unbegreifliche Reaktion hervor. Der Wolfsmann erstarrte. Seine Augen fixierten den Zeitring, der
an Zamorras Ringfinger steckte. Die zum tödlichen Schlag erhobene Pranke hing wie festgefroren mitten in der Luft. Und beide fühlten es zur gleichen Zeit – etwas pulsierte zwischen ihren Körpern hin und her! In beiden Köpfen formte sich eine Imagination, die so real wirkte, dass man sie riechen, hören, ja, beinahe sogar berühren konnte: WIEDER BLUT … KRALLEN, DIE KÖRPER ZERFETZEN … ZÄHNE, DIE TIEF IN DAS FLEISCH EINDRANGEN … UND WIEDER DER FINGER MIT DEM RING, DER AUS DEM MAUL DES WOLFES RAGTE! DOCH DAS ALLES WAR UMGEBEN VON FRÖHLICHKEIT, LACHENDEN KINDERN, DIE IHRE KLEINEN GESICHTER ZU DEM BUNTEN HIMMEL WANDTEN – ZUM HIMMEL, DER WIE EIN WABENDES DACH ÜBER IHNEN AUFGESPANNT WAR. UND GANZ WEIT OBEN SCHWEBTE EIN KLEINES MÄDCHEN, WIE EIN ENGEL … DANN TÖNTE ÜBER DAS LACHEN DER HELLE KLANG EINER FANFARE! UND IHR TON LÖSCHTE ALLES AUS … Wie fortgeweht erlosch das Pulsieren zwischen dem Tierwesen und seinem Opfer. Geblendet schloss der Professor die Augen, als die Wolfsgestalt in einen Kokon aus Licht gehüllt wurde. Zamorras Arm fiel kraftlos neben ihm auf den Boden. Für einen Augenblick war ihm, als würde auch der Zeitring aufleuchten, doch das konnte eine Täuschung gewesen sein. Mehr ohnmächtig als bei klarem Verstand sah er, wie der Centurio sich auflöste – einfach so, als wäre er nur eine böse Fiktion gewesen, ein dunkles Hologramm, das seine Kraft verlor. Immer blasser wurden seine Konturen, bis er schließlich mitsamt der Lichthülle verschwunden war. Es ist noch nicht vorbei … wir sehen ihn bald wieder … Zamorra wusste, dass dies kein Sieg, sondern nur ein Aufschub auf Zeit war. Der gequälte Schrei, der aus der Wolfkehle drang, war der letzte Eindruck, den Zamorra in sich aufnahm. Dann floh sein Bewusstsein in eine Phase der Ohnmacht hinein.
2 Misfits – außerhalb jeder Norm … Es ist nur verständlich, dass die Wölfe die Abrüstung der Schafe verlangen, denn deren Wolle setzt dem Biss einen gewissen Widerstand entgegen. (Gilbert Keith Chesterton, britischer Schriftsteller; 1874 – 1936) Brinja lief um ihr Leben. Wieder einmal … Vor ihr war nur die Finsternis, die selbst ihre Augen nicht durchdringen konnten. Das flackernde Licht der Fackeln und Lampen, die ihre Verfolger mit sich trugen, war zu weit hinter ihr, um die Umgebung zumindest ein wenig zu erhellen. Zum Glück war es weit hinter ihr … Brinja hatte kein Interesse, diesen verblödeten und wahrscheinlich vollkommen betrunkenen Typen in die Hände zu fallen. Einzelheiten hatte sie zwar nicht erkennen können, doch sie wusste aus Erfahrung, dass die selbsternannten Jäger bei solchen Gelegenheiten gerne ihre Baseballschläger und sicher auch ein paar hübsche Klappmesser bei sich hatten. Und Mistgabeln natürlich … – denn zum einen hatten die eindeutig zu viele alte und schlechte Horrorfilme gesehen, in denen man Dracula oder Frankenstein immer drohend die Forken entgegenreckte, zum anderen waren die meisten von ihnen sicher Bauern. Und was dem Rocker sein Schlagring, das war dem Bauern seine geliebte Mistgabel! Man sollte diesen Idioten damit einmal ihre eigenen Hinterteile perforieren. Ja, diese Idee gefiel ihr nicht schlecht. Reiß dich zusammen, Brinja, sonst lässt du dich noch auf deren Niveau hinab. Das galt es natürlich zu vermeiden …
Links neben sich hörte sie Irving durch die Dunkelheit stolpern. Wo Bobo abgeblieben war, konnte sie nun wirklich nur ahnen, doch irgendwie machte sie sich um ihn auch die wenigsten Sorgen. Der wusste sich notfalls zu wehren. Irgendwo waren sie an dieser Situation ja selbst mitschuldig, denn die Langeweile hatte sie aus der sicheren Villa getrieben, die Brinja für die Truppe angemietet hatte. Nestor und Irving hatten sie so lange genervt, bis sie eingewilligt hatte, gemeinsam mit ihnen einen kurzen Abstecher in das Dorf zu machen. Die beiden waren ja auch ziemlich unauffällig – und Brinja selbst wusste sich so gut zurecht zu machen, dass es eigentlich keinen Ärger geben konnte – doch sie hätten Bobo unter keinen Umständen mitnehmen dürfen. Bobo fiel auf! Sofort – und jedermann! Das Dorf hatte nur die eine einzige Kneipe, in der sich so ziemlich alles versammelt hatte, was diese abgelegene Gegend so an Männern aufzubieten hatte. Wenn Brinja ehrlich war, dann konnte sie das, was dort an Theke und Tischen hockte, nur als unterste Klasse bezeichnen. Aber mit etwas anderem hatte sie hier auch wirklich nicht gerechnet. Es hatte keine zehn Minuten gedauert, bis der erste dumme Spruch an ihre Ohren drang. Wie hatte sie auch hoffen können, dass es ausgerechnet hier anders sein könnte? Brinja verfluchte die Idee, sich mit der Truppe für das große Musikfest in Bastia angemeldet zu haben. Diese verflixte Insel konnte doch nur Ärger bringen! Andererseits … so viele Gelegenheiten gab es für Künstler und Artisten ihrer Art heute nicht mehr, sich das notwendige Geld zu verdienen. Das Musikfest war weit über die Grenzen Korsikas hinaus bekannt. Aus Frankreich, Italien und den benachbarten Ländern strömten die Menschen hierher. Eine ganze Woche lang traten die Vertreter der unterschiedlichsten Musikgattungen auf – und als Krönung kam dann der Auftritt der korsischen Gruppe I, die sich in der Tradition überlieferter Hirtengesänge der Insel sah – was sie jedoch nicht davon abhielt, zeitgemäße Elemente in ihre Musik einfließen zu lassen. Nicht nur auf
Korsika wurden sie als Stars gefeiert. Und im Umfeld dieser Auftritte fand ein riesiges Spektakel statt. Eine Mischung aus Kirmes, Zirkus und Variete. Alles war vertreten – von der kleinen Bude, die Zuckerwatte anbot, bis hin zum Riesenrad. Und auch für die ganz spezielle Truppe, der Brinja vorstand, gab es hier einen Platz. Das war nicht überall so. Einige Meter rechts neben Brinja wurde Nestors Japsen laut. Der arme Kerl schleppte einiges an Mehrgewicht als sein Bruder Irving mit sich herum. Doch die drohenden Spitzen der Mistgabeln machten ihm offensichtlich schnelle Beine. »Wie weit noch?« Für eine längere Frage reichte seine Luft wohl nicht mehr. Brinja sparte sich die Antwort, denn in einigen hundert Metern konnte sie nun schon die Lichter sehen, die der Rest der Truppe angezündet hatte. Wahrscheinlich saßen sie alle in dem riesigen Wohnraum und spielten Monopoly oder einen ähnlichen Unsinn. Es war schon beinahe Tradition, dass sie sich alle gemeinsam die langweiligen Abende mit Gesellschaftsspielen vertrieben. Sollten sie nur – für Brinja selbst war das nichts, denn sie war absolut keine Spielernatur. Brinja setzte zum Endspurt an, immer bedacht, so kurz vor dem Ziel nicht noch über eine Baumwurzel oder ähnliches zu stolpern. Es war keine schöne Vorstellung, die schmutzigen Finger der Korsen hinter ihr auf ihren Kleidern zu spüren … oder darunter … Auch das hatte sie bereits erleben müssen. Der Gedanke daran ließ Ekel in ihr aufsteigen. Das Pack hinter ihr holte auf. Die aggressiven Stimmen der Männer wurden von Sekunde zu Sekunde lauter. Das war auch nur logisch, denn sie hatten ausreichend Licht vor sich und kannten die Gegend wahrscheinlich besser, als ihre eigenen Wohnstuben. Ganz kurz stellte sich Brinja vor, wie es sein musste, mit einem dieser Typen verheiratet zu sein. Die Frauen taten ihr Leid. Plötzlich mischten sich andere Geräusche in das Grölen hinein. Da war ein Stampfen, als würde ein Berggorilla sein tägliches Jogging absolvieren. Ein schiefes Grinsen schlich sich auf Brinjas Gesicht.
Verblüffte Schmerzensschreie wurden laut, gefolgt von wilden Flüchen. Brinja wandte nicht einmal den Kopf, als der Gorilla sie locker überholte. »Bobo macht schon mal die Tür auf …« Brinja schüttelte lachend den Kopf. »Mach das, Bobo. Guter Junge.« Wahrscheinlich hatte Bobo sich in der Dunkelheit verirrt, war dann wieder hinter dem Bauernpack aufgetaucht und hatte sich seinen Weg durch sie hindurch gebahnt … sozusagen. Wenn ihm der eine oder andere dabei im Weg gewesen war, dann hatte Bobo das sicher kaum bemerkt. Man hielt ihn nun einmal nicht so leicht auf, wenn er in Fahrt war. Hinter den hell erleuchteten Fenstern, die nun schnell näher kamen, tauchten zwei kleine Gesichter auf. Von der Größe her mussten das Kinder sein, doch wenn man genauer hinsah, dann erkannte man dichte Bärte und runzelige Haut. Die Fenster öffneten sich und dann sah man, wie in den Händen der alten Kinder irgendetwas blitzschnell in der Luft herumgewirbelt wurde. Etwas surrte über Brinjas Kopf hinweg durch die Nacht und schlug mit absoluter Präzision ein. Zwei Schreie erklangen, gefolgt von dem Geräusch dumpf aufschlagender Körper. Als sich das Ganze wiederholte, wurde die Verfolgerschar hinter ihr zusehends kleiner. Bobo … die Steinschleudern von Illia und Lew – es war nun nur noch ein kleiner Haufen wilder Burschen, die einfach nicht aufgeben wollten. Irving und Nestor erreichten die geöffnete Tür vor Brinja. Zwei der Männer waren nun bis auf wenige Schritte an sie heran gekommen. Als Brinja sah, wie sich ein dunkler Schatten von der Tür löste, da wusste sie, dass das Rennen für heute gelaufen war. Jetzt konnte ihr nichts mehr passieren. Der Schatten war schnell wie der Wind, und als er Brinja passierte, strich er wie zufällig zärtlich an ihrer Schenkelaußenseite vorbei. Noch gute zehn Meter von der Tür entfernt stoppte sie ihren Lauf und wandte sich zu den Verfolgern um. Die waren so verblüfft darüber, dass sie ebenfalls stehen blieben. Im Schein ihrer Fackeln konnten sie die Frau vor sich nicht beson-
ders deutlich sehen, doch ihr Anblick hatte sie im Gasthaus bereits völlig verwirrt. Nun stand sie wenige Meter vor ihnen und rührte sich nicht von der Stelle. Aus dem Haus war auch kein Laut zu hören – die anderen Typen hatten sich wohl dort verkrochen. Die zwei waren also völlig allein mit der außergewöhnlichsten Frau, der sie je begegnet waren. »So, der Spaß ist nun beendet. An eurer Stelle würde ich nun ganz brav und still umdrehen und zu meiner Frau nach Hause schleichen.« Woher nahm sie nur die Selbstsicherheit? Die Männer grinsten breit. »Falsch, der Spaß beginnt jetzt erst. Aber nur für uns, Süße. Also zier dich nicht länger, Kätzchen.« Langsam rückten die beiden näher an Brinja heran. »Kätzchen? Aber ja, das könnt ihr natürlich gerne haben. Wenn ihr euch umdreht, dann kann ich euch meinen liebsten Freund vorstellen. Er hört auf den Namen Rilke, aber bemüht euch nicht, ihr müsst euch ihm nicht persönlich vorstellen. Noch könnt ihr euch ungeschoren davon machen.« Der ältere der beiden lachte auf. »Auf den uralten Trick fällt doch niemand mehr herein, Süße. Also los, komm schon zu Papa.« Er begann tatsächlich an seinem Hosengürtel herum zu nesteln. Verärgert stieß er die Hand seines Kumpels von sich, der ihm aufgeregt auf die Schulter tippte. »Dreh … dreh dich mal um, Jo. Was … was ist denn das da hinter uns?« Es lag wohl etwas in seiner Stimme, das den anderen überzeugte. Zunächst konnte der jedoch nichts entdecken und wollte seinen Freund schon zurechtstutzen, doch dann sah er die beiden roten Punkte, die in der Dunkelheit leuchteten. Zwei Punkte … kreisrund … und sie bewegten sich. Vorsichtig senkte er die Hand, in der er die brennende Fackel hielt. Ihm wurde plötzlich kalt, als er in ihrem Schein erkannte, was dort langsam und geschmeidig auf ihn zu kam. Der Panther war pechschwarz und er schien nur aus Muskeln und Zähnen zu bestehen, die er den beiden Männern nun bereitwillig zeigte. Es war zwar unmöglich, aber irgendwie sah es ganz so aus,
als würde er sie siegessicher angrinsen. Das leise Lachen der Frau in ihrem Rücken ließ die beiden endgültig zu Salzsäulen erstarren. »Seht ihr, Rilke ist so schnell, dass ihr überhaupt nicht bemerkt habt, wie er an euch vorbei gelaufen ist.« Sie machte eine kurze Pause, als horche sie intensiv auf das leise Fauchen des Raubtiers. »Was meinst du, Rilke? Du möchtest ein wenig mit unseren Freunden hier spielen? Und … ein wenig Hunger hast du also auch? Na gut, dann darfst du dir jetzt deine Ration Hackfleisch holen. Aber übertreib nicht … so für drei Euro dürfte reichen. Los, Rilke!« Bei den letzten Worten schnellte das Raubtier wie von der Sehne geschossen nach vorne. Die Wucht des Aufpralls riss den älteren der beiden hilflos von den Beinen und warf ihn rücklings zu Boden. Der andere warf schreiend seine Fackel von sich und rannte um sein nacktes Leben. Weit kam er nicht, denn in seiner Panik stolperte er über einen der Bewusstlosen, dem ein Steingeschoss eine wunderschöne Beule auf die Stirn gezaubert hatte. Er würde sicher noch eine ganze Weile schlafen, bis er wieder bei Bewusstsein war. In der Finsternis rappelte der Fliehende sich wieder auf und verschwand – nur sein Angstschrei hallte weiter durch den Wald. Brinja beugte sich über den Kerl, der schlotternd vor Angst auf dem Boden lag und in das aufgerissene Maul der Großkatze starrte. »Hast du einen besonderen Wunsch, aus welchem Körperteil sich Rilke bei dir bedienen soll? Ich meine … wir lassen dir da die freie Wahl. Oder sollte er sich doch am besten um den Bereich unter deinem Hosenbund kümmern, du Schwein?« Brinja rümpfte die Nase, als ein markanter Geruch zu ihr hochstieg. Das Großmaul hatte sich in die Hosen gemacht. Sie tätschelte den Kopf des Panthers. »Lass gut sein, mein Freund. An so einem verdirbst du dir nur den Magen. Komm, wir gehen zu unseren Freunden.« Das Tier folgte ihr bereitwillig. An der Tür wandte sie sich noch einmal zu dem Mann, der noch immer kreidebleich und eingenässt auf dem Boden lag. »Verschwinde, und lass dich nie wieder hier blicken. Solltest du mir je wieder unter die Augen kommen, dann geht das nicht so glimpflich ab, das schwöre ich dir. Und wenn du in drei Sekunden nicht fort bist, dann
besuche ich morgen deine Frau. Die wird es sicher sehr interessieren, was du so alles mit mir vorhattest. Lauf, Tölpel, lauf!« Mit reichlich breitem Gang verschwand der Gedemütigte in der Finsternis. Sicher wusste er nicht, wie nahe er dem Tod wirklich gewesen war. Es hatte Brinja große Mühe gekostet, Rilke nicht den Befehl zum Töten zu geben. Sie hätte es nur sagen müssen, dann hätte der Panther die Kehle des Mannes zerfetzt. Rilke tat seiner Herrin gerne jeden Gefallen …
Die Villa als möbliert zu vermieten, das war schon eine gewaltige Frechheit. Denn außer ein paar Betten, einigen Tischen nebst Stühlen und einem uralten, dafür aber mächtig großen Sofa, gab es hier nichts, was man als Möbelstück bezeichnen konnte. In der Küche standen Kühlschrank und Herd – mehr nicht. Das geräumige Bad verfügte zwar über eine eingemauerte Badewanne aus dem vorletzten Jahrhundert und eine ständig verstopfende Toilette, aber auch das konnte man heute kaum noch als Minimalstandart betrachten. Der Mietpreis für zwei Wochen war der blanke Wucher! Als Ausgleich dazu stellte der Vermieter keine Fragen. Für Brinja und die Ihren war das natürlich entscheidend. Allerdings war es beinahe normal, auf Korsika keine überflüssigen Fragen zu stellen. Die Geschichte der Insel hatte ihre Bevölkerung geprägt – man sagte ihnen Stolz und den unbedingten Drang nach Freiheit nach. Kein Wunder, wenn man betrachtete, wie vielen Invasoren sie sich hatten erwehren müssen: Iberier, Ligurianer oder Phönizier, Phokäer, Etrusker, Syrier, Römer und Vandalen, Menschen aus Pisa und die Genuesen – sie alle hatten ihre Hände nach diesem Stück Land im Meer ausgestreckt. Und was den unbeugsamen Stolz anging, so erzählte man sich sagenumwobene Geschichten von den Banditen aus Ehre, die in ihren blutigen Vendettas ganze Familien ausrotteten und dennoch als Hel-
den gepriesen wurden. Die Blutrache und Korsika waren untrennbar miteinander verbunden. Die Menschen hier liebten das Geheimnisvolle, das Ungewöhnliche. Vielleicht war das ein Grund, warum Brinja und ihre Truppe hier schon mehr als einmal erfolgreiche Gastspiele gegeben hatten. In vielen Ländern hatte sich der harte Realismus tief in die Seelen der Menschen gegraben. So viele von ihnen hatten das Träumen verlernt und einen dicken Panzer um ihr Herz gelegt. Märchen, Wunder … sie prallten davon ganz einfach ab. Glaube an das Unglaubliche – denke das Undenkbare – komm, sieh und staune! Dieses Motto hatte früher über vielen Varietes auf der ganzen Welt geprangt. Doch es schien, als hätte es heute seine magische Anziehungskraft verloren. Brinja ahnte, dass sie vielleicht eine der letzten Prinzipalinnen war, die mit einer solchen »Wundertruppe« durch die Welt zog. Rilke strich ihr um die Beine herum. Der Panther wusste genau, wann seine Herrin eine Aufmunterung brauchte. Also spielte es das kleine Kätzchen und warf sich vor ihr auf den Rücken. Brinja lachte und streichelte den Bauch des geliebten Tieres. »Ja, mein Guter – ich liebe dich ja auch. Wenn ich dich nicht hätte, hm? Aber jetzt sehen wir erst einmal, wie die anderen die neckische Treibjagd überstanden haben. Komm.« Gemeinsam betraten sie den weitläufigen Wohnraum, dessen Blickfang eindeutig in dem uralten Kamin bestand. Es war nachts schon nicht mehr so angenehm warm, also hatten die Artisten ein prasselndes Feuer entzündet. Rilke steuerte unbeirrt darauf zu und ließ sich mit einem wohligen Schnurren direkt vor der Feuerstelle nieder. Brinja konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Da waren sie alle friedlich beieinander versammelt: »MADAM BRINJAS WELT DER WUNDERWESEN« Der Name der Truppe war eindeutig auch ihr Programm. Irving und Nestor saßen, immer noch reichlich außer Atem, auf dem Fußboden vor dem Sofa, auf dem für sie kein Platz mehr war. Die Brüder hatte Brinja in Paris gefunden und unter Vertrag genom-
men, weil sie einerseits eine gute Show ablieferten, ihr Talent dort andererseits in einer Weise unter Beweis stellen mussten, die sie als geschmacklos und pervers ansah. Das Bruderpaar hatte Perfektion darin erlangt, sich als Siamesisches Zwillingspaar zu präsentieren – was sie jedoch nicht waren. So etwas nannte man in Fachkreisen einen Freak-Fake. Brinja kannte unzählige Artisten, die versuchten, ihren Lebensunterhalt damit zu verdienen, dass sie sich etwa in ein antikes Monster verwandelten. Ihr waren alleine drei Medusa-Darstellerinnen bekannt, die sich mit schlecht gemachten Gummischlangen auf dem Kopf und dicker Theaterschminke im Gesicht auf Jahrmärkten und in Gruselkabinetten herumtrieben. Irving und Nestor waren Perfektionisten auf ihrem Gebiet. Wenn sie auftraten, dann zweifelten nicht einmal Ärzte im Publikum daran, dass sie zusammengewachsen waren. Brinja hatte nie herausgefunden, wie sie diesen Trick ausführten – jeder Artist brauchte sein Geheimnis. Es kam jedoch vor, dass die zwei sich einen Spaß daraus machten, an einem Abend an den Hüften, am folgenden jedoch am Rücken miteinander verbunden zu sein. Das hatte mehr als nur einmal böses Blut im Publikum gegeben. In Paris hatte Brinja sie in einem miesen Pornoschuppen entdeckt, in dem sie die Sensation waren, denn wer hätte je von einem Zwillingspaar gehört, das an seinen Penissen zusammen gewachsen war? Mit ein wenig Überredungskunst hatte sie die Brüder dort loseisen können. Zu allem Übel hatte man sie im diesem Loch auch noch mies bezahlt. Brinja ging zu Bobo, der sich dicht neben Rilke vor dem Kamin auf den Holzboden gehockt hatte. Der Panther liebte Bobo – und Bobo den Panther. Die Großkatze spürte wohl die reine und friedliche Seele, die in dem ungeschlachten Riesen wohnte, Brinja strich Bobo über seine schütteren Haare. »Hattest du viel Angst, mein Großer?« Bobo erinnerte mit seinen 210 Zentimetern Größe eher an einen Berg, als an einen Menschen. Sein zahnloser Mund lächelte Brinja kindlich an. »Bobo hat sich verlaufen. War alles dunkel überall … böse Männer … aber Bobo findet immer zurück.« … und wenn ihm dabei ein paar Leute im Weg stehen, dann werden die
halt in Grund und Boden gerannt … vollendete Brinja den Satz im Geiste. »Das hast du wieder einmal gut gemacht, lieber Bobo.« Gedankenverloren streichelte der Riese den Panther und lächelte zufrieden. Es gab viele Menschen auf der Welt, die Bobo noch an Körpergröße übertrafen, trotzdem war er einzigartig. Es war sein Gesicht, denn am ehesten konnte man es mit dem einer Wasserleiche vergleichen, die eine lange Zeit am Grund irgendeines Sees gelegen hatte. Wenn Brinja ihn als Bobo – der häßlichste Riese seit Menschengedenken ankündigte, dann war davon kein Wort gelogen. Bobo machte das nichts aus, im Gegenteil: endlich war er wer! Er genoss es, wenn Menschen ihn sehen wollten, wenn sie dafür sogar Eintritt bezahlten. Zum ersten Mal in seinem Leben war er wichtig! Seine Eltern hatten Bobo wie ein Stück Vieh gehalten. Auf ihrem Bauernhof irgendwo in den Vogesen, hatte er mit seiner unglaublichen Körperkraft alle schweren Arbeiten ganz alleine verrichten müssen. Nachts dann musste er bei den Tieren in der Scheune schlafen und mit ihnen seine Mahlzeiten einnehmen. Im Haus wollten Vater und Mutter ihn nicht haben. Sie schämten sich seiner … Brinja hatte ihn seinen Eltern abgekauft – so wie man einen Ochsen ersteht. Diese Menschen hatten sie angewidert. Illia und Lew – die Liliputaner aus Kasachstan –, die mit ihren Steinschleudern mächtig unter den Bauern vor dem Haus aufgeräumt hatten, dösten vor sich hin. Beide waren weit in ihrem sechsten Lebensjahrzehnt. Als Clowns hatten sie früher im Staatszirkus der UdSSR hohes Ansehen genossen. Heute waren sie froh und glücklich, hier eine Arbeit gefunden zu haben. Catriono schlief zusammengerollt auf dem Sofa. Die ausgeprägten Beulen und Verformungen unter der haarlosen Haut seines Kopfes bewegten sich unstet hin und her. Brinja wusste den lateinischen Namen der Knochenkrankheit nicht auswendig, doch sie zerstörte sein noch junges Leben auf furchtbare Art und Weise. Der Junge hatte sich zu Brinjas Truppe geflüchtet, nachdem er wieder einmal aus einem Heim geflohen war. Man wollte ihn dort nicht, wollte ihn nirgendwo. Elefantenmensch war wohl der geläufige Ausdruck für sein Leiden. Der Wuchs der
Knochenpartien an seinem Kopf stoppte nicht, wie er es bei anderen Menschen tat. Die Verformungen waren einem ständigen Prozess unterlegen, der nicht steuerbar war. Schulrnedizin und Heilkundeverfahren versagten in diesem Fall vollkommen. Catriono war erst achtzehn Jahre jung – mehr als zwei weitere Jahre gaben die Ärzte ihm nicht. Und die wollte er lieber hier unter Leidensgenossen verbringen, als in einer Welt von kaltherzigen Menschen, die ihn anspuckten und vertrieben. Der Tod konnte ihn aber auch schon früher überraschen, und so lebte er im Vorzimmer des Knochenmannes – so drückte er es selber immer aus. Es sollte eine witzige Bemerkung sein, doch niemand hier konnte darüber lachen. Grietje und Irving verließen Hand in Hand das Zimmer. Ob sie nun in ihre eigenen Räume, in ihre eigenen Betten gingen, oder in ein gemeinsames, das spielte für Brinja keine Rolle. Die beiden waren sich nähergekommen. Alle fanden das gut, auch wenn es die eine oder andere Stichelei gab. Illia und Lew grinsten dem Pärchen hinterher. »Hey, du musst mir morgen unbedingt erzählen, wie es ist, wenn man es mit einer Frau ohne Unterleib treibt, Irving!« Leises Lachen klang auf. Grietje drehte sich an der Tür um und streckte den Liliputanern die Zunge raus – mit dem Mittelfinger ihrer rechten Hand winkte sie den beiden fröhlich zu. Grietje war die Dame ohne Unterleib – der zweite Fake, den Brinja sich in der Truppe leistete. Mit Spiegeln und ein paar anderen Tricks wurde die Illusion erzeugt, die das Publikum immer wieder in Erstaunen versetzte. Grietje sprach nicht. Brinja war sicher, dass sie zumindest Töne erzeugen konnte, doch die kleine Holländerin weigerte sich strikt dagegen. Sie war ein echtes Kind des Zirkus. Aufgewachsen in einer Artistenfamilie und schon als Kind jeden Abend im Rampenlicht. Mit fünfzehn Jahren hatte sie einen Berufsunfall, stürzte vom Hochseil, doch die Sache ging glimpflich für sie aus. Dennoch mussten die Ärzte im Krankenhaus sie für ein paar Tage in ein künstliches Koma versetzen. Ernährt wurde sie durch einen Schlauch, der direkt in den Magen führte. Man hatte weder ihr noch ihrer Familie später erklärt, was genau passiert war, doch aus irgendeinem Grund
war dabei ihr Gaumensegel verletzt worden. Grietje konnte nicht mehr sprechen. Viel mehr hatte Brinja über die junge Frau nicht in Erfahrung bringen können. Sie wusste nur, dass Grietje nie mehr als Artistin gearbeitet hatte. Irgendwie war sie dann hier gelandet, denn in diesem Job musste sie auf keinem Seil balancieren. Alles andere schien ihr gleichgültig zu sein. Jetzt sah es so aus, als hätte sie in Irving jemanden gefunden, der sie aus dem Kokon ihrer Depressionen holen konnte. Brinja wünschte ihm viel Glück dabei, denn sie mochte Grietje sehr. Eine Person fehlte, doch das war um diese Uhrzeit ganz normal. Das letzte Mitglied des Ensembles hieß Danice – Danice, die geheimnisvolle, die unfassbare Fischfrau, die schon in den Liedern der Freibeuter aller sieben Meere besungen wurde! Danice ging immer früh zu Bett, weil sie ihren Schönheitsschlaf einfach brauchte – sagte sie. Zudem hielt sie nicht viel von diesen gemeinsamen Abenden. Sie war eher die Einzelgängerin und tatsächlich reichlich geheimnisvoll. Wenn eine Shownummer vom Publikum für einen Trick gehalten wurde, dann war es Danices. Doch alles an ihr war echt. Ihre Haut besaß diesen grünlichen Schimmer … und die Kiemen an ihrem Hals waren ebenso real, wie die Fischhäute zwischen ihren Fingern. Brinja kannte Danices Vergangenheit nicht. Die Fischfrau sprach nicht darüber und niemand wurde hier bedrängt, wenn er etwas für sich behalten wollte. Rilke rappelte sich von seinem Platz auf. Sein fragender Blick war für Brinja das Zeichen zum Aufbruch. Es wurde Zeit – sie alle brauchten ihren Schlaf, nicht nur Danice. »Los, Kinder, ab in die Betten. Übermorgen geht es los, und eine Woche Musikfest in Bastia bedeutet harte Arbeit. Nun, das muss ich euch ja nicht erst erzählen. Schließlich sind wir alle lange genug im Geschäft. Ich wünsche euch allen eine gute Nacht. Vor den Bewohnern da draußen haben wir sicher keine Störungen mehr zu erwarten. Ich denke, denen reicht es vorläufig. Schlaft alle gut!« Mit Rilke an ihrer Seite stieg sie die breite Treppe hinauf, die zu den Zimmern in der ersten Etage führte. In ihrem Zimmer wartete sie still ab, bis die Geräusche der anderen verklungen waren.
Nur mit einem Bademantel bekleidet verließ sie den Raum in Richtung Bad. Jetzt hatte sie endlich ein wenig Zeit für sich. Ein ausgedehntes Bad würde ihr mit Sicherheit gut tun. Im Badezimmer herrschte eine wohltuende Wärme. Durch ein ausgeklügeltes Rohrsystem wurde hier die Restwärme des aufgeheizten Kamins eingeleitet. Es schien so, als wäre diese Wärme-Zweitverwertung so alt wie das ganze Gebäude – und das waren sicher an die 150 Jahre, wenn nicht sogar mehr. Sorgfältig verriegelte Brinja die Tür. Das war die einzige Zeit des Tages, in der sie ganz alleine war. Selbst Rilke wollte sie bei diesem Ritual nicht bei sich haben und der Panther wusste das auch genau. Er hatte nur kurz den Kopf erhoben, als sie vorhin aus dem Zimmer gegangen war. Brinja wusste genau, dass er jetzt nicht eine Sekunde lang schlafen würde. Erst dann, wenn sie zurück war, würde er beruhigt sein. Sie war für ihn nicht nur seine Besitzerin, sondern weitaus mehr. Sie war seine Familie, ein Mitglied seiner Rasse und Art. Und so weit hergeholt war das ja auch nicht … Das Badewasser war rasch eingelassen. Vor dem großen Spiegel öffnete Brinja den Bademantel und ließ ihn langsam zu Boden gleiten. Je älter sie wurde, je dichter und makelloser wurde das silbrig schimmernde Fell, das ihren ganzen Körper bedeckte. Früher hatte es immer kahle oder zumindest ausgedünnte Stellen gegeben. Das war schon lange vorbei. Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu. Es gab Zeiten, da hatte sie diesen Anblick gehasst. Durchaus verständlich, denn er hatte ihr ein Leben, wie es Millionen anderer führten, unmöglich gemacht … … nach der Geburt hatte die Frau verstört auf das blutige Kind gestarrt, das ihr die Hebamme auf den Bauch legte. Vorsichtig hatte sie das windige Köpfchen gestreichelt, das sich unruhig hin und her bewegte. »Es schreit nicht. Warum schreit die Kleine denn nicht?« Die Geräusche, die sie zu hören glaubte, waren gänzlich anderer Natur. Die Hebamme winkte nur unwillig ab. Ihr Job war getan, aber immer wieder nervten die frischgebackenen Mütter sie mit unnötigen Fragen und Zweifeln über die Gesundheit ihrer Babys. »Warten Sie mal ab. Die wird noch mehr schreien, als es Ihnen lieb sein kann. Glauben Sie mir. Geben
Sie her, ich werde die Kleine erst mal baden.« Als sie Minuten später mit dem Kind zuirück kam, hatten ihre Augen einen mehr als seltsamen Ausdruck angenommen. Wortlos reichte sie der Frau das Baby. An der Tür hielt sie noch einmal kurz inne. »Ich … ich komme dann morgen wieder.« Sie hatte etwas ganz anderes sagen wollen, doch die Worte waren einfach nicht über ihre Lippen gekommen. Als die Frau die Wohnungstür hinter sich zu zog, hörte sie den Schrei der jungen Mutter … … den Schrei, der Brinja noch heute in ihren Träumen verfolgte! Er hatte in den empfindlichen Ohren des Neugeborenen Kindes ein erstes Trauma ausgelöst. Mutter sang nicht, flüsterte ihr keine lieben Worte in die winzigen Ohren … sie schrie! Oft hatte Brinja sich die eigentlich vollkommen unerhebliche Frage gestellt, was diesen Schrei ausgelöst hatte. War es das feine Silberfell, das sich über den Körper ihrer Tochter erstreckte? Die hauchfeinen Schnurrhärchen, die neben der winzigen Stupsnase wuchsen? Oder hatte Brinja ihre Augen geöffnet? Waren es die schockgrünen Katzenaugen, die Mutter an den Rand des Wahnsinns getrieben hatten? Vielleicht doch eher das leise Schnurren, das aus dem Babymund drang … Niemand konnte ihr diese Frage beantworten. Am nächsten Morgen fuhr die junge Frau an die Seine. Das winzige Bündel auf ihren Armen hatte sie rundherum in Decken gehüllt. Mitten auf einer Brücke bat sie den Taxifahrer zu stoppen. Sie stieg aus und wartete, bis der Wagen endlich in der Ferne verschwunden war. Dann warf sie ihre Tochter in die dunklen Fluten des breiten Flusses. Dass der alte Clochard nur unweit der Brücke ein zappelndes Bündel aus der Seine fischte, hatte sie sicher niemals erfahren. Brinjas Mutter verschwand schnell und für alle Zeiten aus dem Leben ihrer Tochter. Der Alte stank nach billigstem Fusel, auch daran hatte Brinja noch eine Erinnerung. Man hatte ihr immer wieder versichert, dass es nicht möglich war,
dass sich ein nicht einmal einen Tag altes Kind irgendwelche Details aus dieser Zeit einprägen konnte, doch es war ganz einfach eine Tatsache. Der Clochard wickelte aus, was sich in den Decken versteckt hatte. Er war zwar reichlich betrunken, doch die kalte Morgenluft gepaart mit dem Anblick, der sich ihm bot, machten seinen Kopf klar. Vorsichtig hob er das spuckende und schnurrende Ding in die Höhe, denn er war ganz und gar nicht sicher, ob es ein Tier oder ein winziger Mensch war, den er da dicht vor sein Gesicht hielt. Relativ eindeutig erkannte er aber, dass es sich um ein Mädchen handelte … oder um ein kleines Kätzchen? Wie auch immer – das Etwas pisste ihm jedenfalls voll ins Gesicht und verscheuchte den Schnapsnebel um sein Gehirn dadurch endgültig. Kurz schwankte der Alte zwischen Wut und einem Lachanfall. Dann entschied er sich für die zweite Variante und trocknete das Strampelding mit einem alten Lumpen ab, wickelte es hinein und machte sich auf den Weg zur nächsten Polizeistation. Die Strecke kannte er im Schlaf, doch nur selten war er sie freiwillig gegangen.
Brinja genoss das heiße Wasser und den sündhaft teuren Badeschaum, den sie sich geleistet hatte. Ihre nächtlichen Badeorgien waren oft zum Stoff von kleinen Sticheleien der anderen gegen sie geworden, doch sie gönnte jedem den Spaß, sich an ihrer Marotte zu reiben. Es gefiel der Truppe, dass auch ihre große Chefin kleine Schwächen besaß. Mit diesem Wissen konnte man die eigenen doch viel besser ertragen. Alles, was zur guten Laune in der Truppe beitrug, war ihr nur recht. Es war schon etwas Wahres an der Volksweisheit, dass Katzen das Wasser scheuten. In ihrem Fall traf das jedoch nun wirklich nicht zu. Ihre erste intensive Berührung mit diesem Element konnte sie nie vergessen. Das Wasser der Seine hatte ihr Leben beenden sollen, doch ein Mensch, der von den sogenannten normalen Bürgern wie die Pest gemieden wurde, hatte das verhindert. Der Einstieg in ihr Leben war Brinja nicht leicht gemacht worden.
Doch sie erwies sich auch in der Folgezeit als zäh. Die Beamten der Polizeistation hatten nicht schlecht gestaunt, als sie das Baby in näheren Augenschein nahmen. Dann hatten sie das für sie einzig Mögliche getan: sie übergaben die Kleine dem Jugendamt. Was dann folgte, war eine Heimkarriere der besonderen Art. Es war nicht Brinja, die sich sehnlichst wünschte, der Obhut der teils kirchlichen, teils staatlichen Institutionen zu entkommen. Es waren die Heime, die sie nicht wollten! Es waren die Nonnen, die sie als Teufelsfrucht ablehnten; es waren die anderen Kinder, die sie verprügelten, wegjagten und vollkommen aus ihrer Zwangsgemeinschaft ausschlossen; es waren selbst die Erzieherinnen und Sozialpädagogen, die sich strikt weigerten, dieses Kind zu betreuen. Nur wenige von ihnen nahmen sich Brinjas wirklich an, doch auch von denen wurde sie getrennt. Man schob sie von einem Heim in das nächste – und immer so weiter. Mit knapp fünfzehn Jahren machte sie sich daran, ihre eigenen Wege zu gehen. Eine Handvoll ihrer Fluchtversuche endeten darin, dass man sie spätestens nach drei Tagen wieder einfing. Doch dann klappte es endlich. Sie schaffte es über die italienische Grenze und von da aus nach Österreich. Tagsüber verkroch sie sich in irgendwelchen leerstehenden Scheunen oder im Wald, denn ihr Äußeres war ganz einfach zu auffällig. Aus den gescheiterten Ausbruchversuchen hatte sie ihre Lehren gezogen. Dann kam sie nach Wien … und landete in einer Welt, die anders mit dem Außergewöhnlichen, dem Skurrilen umging. Die Künstlerszene Wiens hatte auch auf das Rotlichtmilieu ihren Einfluss ausgeübt. In den entsprechenden Etablissements wimmelte es von Typen, die in keiner Weise der Normvorstellung eines Durchschnittsbürgers entsprachen. Brinjas Körper hatte eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht – mit knapp fünfzehn Jahren entsprach er dem einer erwachsenen Frau. Und sie begriff sehr schnell, dass dies, gepaart mit dem seidigen Fell auf ihrer Haut, den schrägstehenden Augen und den anderen Attributen der Gattung Felidae, eine Art Garantie für einen immer gefüllten Magen sein konnte.
Sie hatte diesen Körper immer gehasst und verflucht, doch nun wurde er zu ihrem Kapital. Drei Jahre lang wurde sie die Hauptattraktion eines der ungezählten Varietes der österreichischen Hauptstadt, denn hier lebte noch die Tradition der Kuriositätenschau. Drei Jahre – die bislang besten ihres Lebens. Sie endeten in dem Moment, als der Besitzer des Theaters während einer Probe sich an sein Herz fasste und tot zu Boden sank. Es gab keine Partner, keine Kinder – niemanden, der das alles fortführen wollte. Am Tag nach seiner Beerdigung auf dem Zentralfriedhof Wiens wurde das kleine Theater geschlossen. Brinja musste sich um ihren Lebensunterhalt dennoch keine Sorgen machen, denn man engagierte sie vom Fleck weg. Die Branche war jedoch eine andere. Sie fand sich am folgenden Abend auf der Bühne eines Clubs wieder, der große Ähnlichkeiten mit dem hatte, in dem sie Jahre später in Paris Irving und Nestor entdeckten sollte. Was man heute vornehm Tabledance-Club nannte, hieß damals noch profan und den Tatsachen entsprechend Porno-Bar. Brinja stellte ihren nackten Körper zur Schau. Jeden Abend in drei Vorstellungen … und die geilen Männer im Publikum konnten sich vor Begeisterung gar nicht mehr einkriegen. Was für eine Frau – was für ein Wesen, das sich dort in vollkommener Nacktheit für sie auf der winzigen Bühne räkelte. Brinja ließ heißes Wasser zulaufen. Ihr war noch nicht danach, das Badevergnügen zu beenden. Die Erinnerungen an die vergangene Zeit waren alles andere als ein reines Vergnügen. Sie hatte die harte Schule durchlebt, hatte sie überlebt, was nicht unbedingt die Norm gewesen war. Viele ihrer ständig wechselnden Kolleginnen waren an diesem Job zerbrochen. Alkohol und jede Menge Drogen hatten ihre Körper vor der Zeit altern lassen, ihre Gehirne vernebelt und sie schließlich getötet. Das Aufjuchzen einer weiblichen Stimme schreckte Brinja aus ihren Gedanken. Die Wände in dieser uralten Villa waren erstaunlich dünn. Sie überlegte kurz – das Zimmer neben dem Bad bewohnte Grietje. Also musste das Geräusch doch wohl von ihr stammen. Erstaunlich für eine Frau, die sich als Stumme ausgab. Andererseits … Brinja war fast sicher, wie dieser unerwartete Ausbruch zustande
gekommen war. Wenn Irving es schaffte, die kleine Grietje aus der Reserve zu locken, dann war ihr das natürlich nur recht. Sie schmunzelte, denn das hätte sie Irving so überhaupt nicht zugetraut. Wie man sich täuschen konnte. Getäuscht hatte Brinja sich damals auch, als ihr einer der sogenannten Herren, die sich in besagten Clubs herumtrieben, ganz offen einen Heiratsantrag gemacht hatte. Er hieß Jon vanBriest und zählte zu der Gattung Männer, die nicht versuchten, sie ständig zu begrapschen. Das allein machte ihn natürlich bereits sympathisch, doch er war bereits gut und gerne über fünfzig Jahre alt. Für ein junges Ding, das Brinja damals war, grenzte das bereits an das Dasein eines Greises. Sie ließ ihn mehr als einmal abblitzen. Das änderte sich an einem Abend im Oktober. Während ihres Auftritts sprang ein reichlich verwirrt aussehender Mann auf und sprang auf die Bühne, ehe ihn jemand daran hindern konnte. Im nächsten Augenblick fühlte Brinja, wie sich eine stinkende Flüssigkeit über ihren Körper ergoss – Benzin! Instinktiv floh sie hinter die Bühne, denn sie ahnte, was der Wahnsinnige vorhatte. Als er mit einem brennenden Feuerzeug in der Hand hinter ihr her stürzen wollte, bekam ihn Hank, der Barmann zu fassen. Hank war früher Profiboxer gewesen und fackelte nicht lange. Am kommenden Tag erschien ein Polizeibeamter bei Brinja. In seinem Blick erkannte sie Verständnis – nicht für sie, die nur knapp der Katastrophe entkommen war, sondern für den Attentäter. Die Worte des Beamten brannten sich für immer in ihr Bewusstsein ein: »Er wollte Sie töten, weil er Sie für eine Kreatur der Hölle hält. Jemand wie Sie dürfte nicht leben, hat er gesagt.« Kurz stockte der Polizist, dann sprach er weiter. »An Ihrer Stelle würde ich mich nicht so in der Öffentlichkeit zeigen. Wir können Sie vor solchen Typen nicht schützen.« Und in Gedanken hatte er sicher hinzugefügt: und wir wollen es auch überhaupt nicht, du Missgeburt! An diesem Abend trat Brinja nicht auf. Auch an den folgenden nicht. Als Jon vanBriest von der Sache erfuhr, kam er sofort nach Wien. Brinja war froh, mit jemandem über alles reden zu können. Jon war
der geborene Zuhörer. Einen Monat später wurde sie Frau Brinja vanBriest und zog mit ihrem Mann in die Niederlande, wo er Chef einer großen Spedition war, die weltweit agierte. Einige kurze Jahre verbrachte Brinja wie in einem rosaroten Traum – wie in einem Kitschroman, der von dem Aschenputtel und ihrem Prinzen handelte, die glücklich miteinander lebten. Es war ein Leben in einem goldenen Käfig, denn Jon wusste, dass er seine Frau nicht mit der Welt teilen durfte. Und Brinja dachte genauso – mehr noch: sie liebte es, nur mit Jon zu leben. Es war seltsam, aber in keiner Sekunde vermisste sie die Welt da draußen vor der Haustür. Um Jon nicht zu belasten, verlor sie kein Wort über die Vorahnungen, die sie jeden Tag quälten. Es konnte nicht gut gehen – irgendetwas würde geschehen, das diese Idylle auf Zeit zerstörte. Am Tag vor ihrem 24. Geburtstag machte ein LKW aus Belgien Brinja zur Witwe. Der Fahrer hatte die Kontrolle über seinen Lastzug verloren und war auf die Gegenfahrbahn geschleudert. Jon vanBriests schwere Limousine wurde regelrecht niedergewalzt. Es dauerte mehrere Stunden, ehe die Feuerwehr vanBriest aus den Überresten des Wagens geschnitten hatte. Brinja schlug die Augen auf. War sie tatsächlich im warmen Wasser eingeschlafen? Wenn, dann konnten es nur einige wenige Sekunden gewesen sein. Mit einem Seufzer erhob sie sich. Das große Badehandtuch nahm ihren Körper in sich auf. Wieder fiel ihr Blick in den Spiegel. Langsam öftnete Brinja das Badetuch und betrachtete sich erneut. Jon hatte sie geliebt. Alles an ihr – natürlich wohl in erster Linie ihren Körper. Heute war sie fünfunddreißig Jahre alt, doch davon verriet zumindest dieser Körper nichts, der sich den Jahren ganz einfach nicht zu beugen schien. Brinja lächelte. Irving und Grietje genossen offensichtlich nebenan noch immer das, was ihr nun seit einigen Jahren schon fehlte: Körperlichkeit, das unglaubliche Gefühl, von einem Partner begehrt und geliebt zu werden. Doch nach Jons Tod hatte sie das nur noch ganz selten ausgelebt. Vier oder fünf kurze Abenteuer – one night
Stands – mehr nicht. Ihre Karriere als Chefin einer Kuriositäten-Show hatte begonnen, als der Notar ihr mitgeteilt hatte, dass ihre Erbschaft zwar nicht unerheblich, aber auch nicht so gewaltig groß war, dass sie sich ihren Lebensunterhalt auf Dauer nicht wieder selber verdienen musste. Es gab nichts, was sie wirklich gelernt hatte. Zurück auf eine Porno-Bühne war die Variante, die sie absolut ausschloss. Zunächst mietete sie in Amsterdam ein leerstehendes Theater an, in dem die erste Show ihre Uraufführung feierte. »MADAM BRINJAS WELT DER WUNDERWESEN« war geboren. Der Rest war Geschichte. Auf Dauer konnte sie in Amsterdam an einem festen Standort nicht genug Geld verdienen, um sich und ihre Artisten über Wasser zu halten. Und so wurde aus ihrem Unternehmen ein weltweit zu buchendes Wandertheater der ganz besonderen Art. Brinja zog den Bademantel über. Nebenan hörte sie Irving leise lachen. Was für ein verrücktes Pärchen … – doch selbst wenn diese Liaison nur kurze Zeit dauern würde, so gab sie beiden ganz sicher etwas von der Normalität, die sie alle hier so oft vermissen mussten. Als Brinja die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, hob Rilke den Kopf. Sie kraulte ihn kurz im Nacken. Das liebte er ganz besonders. Sekunden später war er zufrieden schnurrend eingeschlafen. Brinja tat es ihm nach. Morgen würde es organisatorische Dinge geben, die sie zu erledigen hatte. Die anderen würden sich auf ihre Shownummern vorbereiten. Das Musikfest konnte kommen.
Feuchter Boden unter ihm. Und schwerer Duft um ihn herum – Lavendel, Thymian, Wacholder und mehr. Dumpfe Schritte näherten sich, stampfend und bleischwer. Dann nichts … nur ein dumpfes Schnaufen über ihm, ein fragendes Brummen. Starke Klauen fassten ihn, hoben ihn in die Höhe. Fahler Atem vor seinem Gesicht.
Der Aufprall war weich, gebremst und abgefedert von Lavendel, Thymian … vielleicht. Man hatte ihn ganz einfach wieder fallen lassen, wie einen nassen Sack! In die Wohlgerüche hinein drängte sich etwas anderes – die Ausdünstung eines Lebewesens. Und seine Nackenhaare stellten sich steil auf! So gerne wäre er jetzt aufgesprungen, doch es ging ganz einfach noch nicht. Sein Körper war noch immer nicht mehr als unbeweglicher Ballast seines Bewusstseins. Er musste ertragen, was um ihn herum, was mit ihm geschah. Etwas Warmes, Feuchtes … rau an seiner Oberfläche, fuhr ihm quer über sein Gesicht. Hin und her … hin und her … Es hörte nicht mehr auf! Entnervt wehrte er sich nicht länger gegen die Schwäche, die sein Denken zurück ins Dunkel senden wollte. Er ließ es ganz einfach zu.
Brinja war stets darauf bedacht, dass die Truppe auf Tour immer so etwas wie ein halbwegs normales Familienleben führte. Familie, das war sicher ein wenig übertrieben, denn zum einen waren sie natürlich nicht miteinander verwandt, zum anderen handelte es sich doch um ziemlich unterschiedliche Charaktere, die oft nur schwer unter einen Hut zu bringen waren. Dennoch bestand die Chefin auf zumindest eine gemeinsam eingenommene Mahlzeit. Zumeist war das ein ausgiebiges Frühstück – so auch heute wieder. Die Gespräche bei Tisch kreisten um zwei Themen. Natürlich in erster Linie um die bevorstehende Woche, die mit Auftritten nur so gespickt war. Einige der derzeitigen Mitglieder der Truppe waren im vorigen Jahr noch nicht mit auf Korsika gewesen. Grund genug, um ihnen einige ganz spezielle Eigenheiten und Marotten der Inselbewohner zu erklären. Auf die üble Geschichte vom gestrigen Abend ging niemand auch nur mit einem Wort ein. Sie hatten es sich zum Prinzip gemacht, eventuell aufkommende Probleme mit ihren Mitmenschen nicht endlos zu debattieren. Es brachte nichts. Man würde die Menschheit
kaum dadurch ändern, wenn man sich lautstark über sie erregte. Das zweite Frühstücksthema waren logischerweise Grietje und Irving, die mit leicht geröteten Wangen und einem Dauergrinsen die Bemerkungen und außerordentlich schlüpfrigen Sticheleien der anderen über sich ergehen ließen. Brinja beteiligte sich nicht an dieser Thematik. »Hat irgendwer eine Ahnung, wo Bobo und Rilke abgeblieben sind?« Danice antwortete in ihrer gewohnt kühlen und distanzierten Art. »Ich denke, sie streifen gemeinsam durch die Gegend. Das ist doch so ihre Art, nicht wahr?« Brinja verdeckte mit den Händen ihre Mundpartie, damit Danice ihre Heiterkeit nicht bemerkte. Danices Ausdrucksweise erinnerte Brinja manchmal an die einer viktorianischen Hofdame. Sie wollte so gar nicht zu ihrem Äußeren passen. Einer der Liliputaner-Zwillinge brachte es auf den Punkt. »Gut so, dann kann Rilke Bobo wieder nach Hause führen.« Noch ehe jemand darüber lachen konnte, kam von der Tür her die Antwort. »Bobo findet doch immer nach Hause. Jetzt auch.« Der Riese schlurfte schnurstracks zum Tisch und begann sich einen tiefen Teller mit Brot, Brötchen und Cornflakes zu füllen. Dann schüttete er über diese eigenwillige Zusammenstellung so viel Milch, dass eine Überschwemmung zu befürchten war. »Bobo, wo ist Rilke?« In Brinjas Hinterkopf steckte noch deutlich die Erinnerung an die wildgewordenen Bauernflegel. Sie alle sollten aufeinander Acht geben, bis sich alle Gemüter beruhigt hatten. Bobo schluckte ein Brötchen ohne zu kauen hinunter. Dann überlegte er einen Moment intensiv. »Bei dem seltsamen Mann?« Brinja sprang auf. Irving, Nestor und die Zwillinge aus Kasachstan taten es ihr gleich. »Was für ein Mann, Bobo? Denk nach! Wo hast du ihn gesehen?« »Bobo bringt euch hin.« Wortlos stampfte er los. In Brinjas Kopf läuteten alle Alarmglocken. Was, wenn die Burschen aus dem Dorf sich rächen wollten? Und wenn sie sich Rilke als Opfer ausgesucht hatten? Die kleine Gruppe folgte Bobo, der schnurstracks zum
Waldrand hinter der Villa ging. Ein schmaler Pfad führte von der Hintertür dort hinauf. Brinja sah, dass Illia und Lew ihre Steinschleudern in den Händen trugen. Sie schienen keinen Schritt ohne diese Waffen zu machen. Hinter ihnen hörte sie, wie auch die anderen nun folgten. Selbst Catriono und Danice hatten sich angeschlossen. Brinja hielt nichts mehr. Sie überholte Bobo und rief laut nach dem Panther. Ein freudiges Fauchen antwortete ihr aus einem Gebüsch links neben dem Waldrand. Rilke hockte direkt neben einer regungslosen Gestalt, deren nackter Körper mitten in einem kleinen Lavendelfeld lag. »Ist das der seltsame Mann?« Brinja blickte Bobo an, der begonnen hatte, dem Panther das Nackenfell zu kraulen. Der Riese nickte mit abgehackt wirkenden Bewegungen. »Und warum hast du ihn dann nicht direkt ins Haus gebracht?« Brinja wusste, dass sie sich diese Frage hätte sparen können, doch zu ihrem Erstaunen bekam sie eine Antwort. »Bobo hat ihn hochgehoben. Er ist sehr schwer …« Damit war der Fall dann für ihn erledigt gewesen. Alle standen um den Nackten herum und betrachteten ihn mit sichtbarem Staunen. Danice beugte sich tief zu ihm hinunter. Dann schaute sie in die Runde. »Es mag wohl seltsam klingen, aus einem unserer Münder. Dennoch finde ich, er sieht enorm merkwürdig aus, nicht wahr?« Brinja musste der gestelzten Bemerkung allerdings Recht geben. »Nestor und Irving. Tragt ihn bitte ins Haus. Wir müssen ihn erst einmal zu Bewusstsein bringen.« Brinja bildete mit Rilke das Ende der kleinen Prozession, die wieder in Richtung der Villa steuerte. Irgendetwas in ihr meldete starke Bedenken an. Er wird uns allen nur Ärger bringen … und Gefahr. Doch da war noch ein zweites Gefühl, das sie nicht unter Kontrolle bringen konnte. Es war ein elektrisierendes Kribbeln, das über ihren gesamten Körper zu fließen schien. Als hätte jemand einen Stromschalter umgelegt …
… ZUM HIMMEL, DER WIE HIN WABERNDES DACH ÜBER IHNEN AUFGESPANNT WAR. UND GANZ WEIT OBEN SCHWEBTE EIN KLEINES MÄDCHEN, WIE EIN ENGEL … DANN TÖNTE DER HELLE KLANG EINER FANFARE! UND IHR TON LÖSCHTE ALLES AUS … ALLES WAR VORÜBER … Der letzte Teil der pulsierenden Vision versperrte seinem Bewusstsein den Weg ins Leben zurück. Ins Leben … welches Leben? Welche Zeit und welche Realität erwartete ihn? Centurio Oktavianus Lupomanus versuchte sich an den Zeichen zu orientieren, die seine Wahrnehmungssinne ihm signalisierten. Die Wohlgerüche nach Thymian und Lavendel hatten anderen Duftnoten Platz gemacht. Er roch Kerzenwachs, sauberes Leinen und das flüchtige, würzige Aroma des Getränks, das die Menschen Kaffee nannten. Er hatte dieses Genussmittel probiert, doch die anregende Wirkung, die man ihm wohl nachsagte, war bei ihm nicht eingetreten. Das Leinen, das er roch, bedeckte seinen Körper, der nicht mehr auf feuchtem Boden lag. Zufrieden registrierte Oktavianus, dass das feuchte Gefühl aus seinem Gesicht ebenfalls verschwunden war. Er konnte sich nach wie vor keinen Reim darauf machen, was das gewesen sein mochte. Vorsichtig öffnete er die Augen. Der Raum, in dem er lag, war abgedunkelt. Er sah das große Fenster, das durch einen Vorhang verschlossen war. Auf einem kleinen Tisch, der in seiner Reichweite stand, schimmerte das Licht einer Kerze. Daneben stand eine Tasse dicht bei einem aufgeschlagenen Buch. Er war allein in diesem Zimmer, doch das mochte vor kurzem noch anders gewesen sein. Mit den Fingerspitzen berührte er die Tasse – das Getränk darin war noch warm. Es sah ganz so aus, als hätte jemand hier neben seinem Bett gesessen und sich die Zeit mit Lesen vertrieben. Oktavianus' Gedanken machten einen Sprung zurück. Er war so nahe an Zamorra heran gewesen … so nahe am Ziel! Es
wäre ein leichtes gewesen, dem Mann den Ring zu entwenden und endlich dorthin zurück zu kehren, wo seine Anwesenheit so wichtig war. Er musste die Geschehnisse korrigieren, die zum Scheitern der Verschwörung geführt hatten. Diese Realität … diese Zukunft, sie durfte nicht von Dauer sein! Sie konnte ganz einfach keine Endgültigkeit besitzen, denn sonst war alles, woran er je geglaubt, wofür er gelebt und gekämpft hatte, verloren. Verloren für immer … Er hatte Zamorra überwältigt. Alles war so abgelaufen, wie er es geplant hatte. Doch dann hatten sich Zamorras Zeitring und die Zeitmagie, die in ihm, Oktavianus, steckte, gegenseitig abgestoßen. Genauso musste es gewesen sein. Und in diesen Vorgang hinein manifestierte sich die Vision. Sie hatte nicht nur ihn erreicht, da war der Centurio absolut sicher. Zamorra hatte sie ebenfalls gesehen, diese Bilder, auf die sich Lupomanus keinen Reim machen konnte. Zumindest jetzt noch nicht. Wenn er es schaffte, erneut an Zamorra heran zu kommen, was würde dann passieren? Die Zeitmagie in ihm musste dann doch erneut mit dem Ring kollidieren. Oder? Das leise Knarren der Tür brachte seine Aufmerksamkeit zurück. Ein schmaler Lichtschein fiel in das Zimmer. Oktavianus sah eine schlanke Gestalt, die sich lautlos durch den Türspalt zwängte und dann auf dem Stuhl neben dem Tisch Platz nahm. Der Kerzenschein reichte nicht aus, um das Gesicht der Person auszuleuchten. Ihre Augen jedoch schienen die flackernde Flamme regelrecht aufzusaugen. Große Augen, die grün schimmerten und eine ganz bestimmte, arteigene Schrägstellung aufwiesen. Oktavianus Lupomanus' Nackenhaare richteten sich erneut hoch auf. Ein Kribbeln zog sich von seinem Hals bis hinunter zu den Lenden. Die Stimme der Person klang sanft, einschmeichelnd. Doch er hörte noch mehr aus ihr heraus – Selbstsicherheit und eine Portion gesunder Dominanz. »Ganz ruhig. Hier bist du in Sicherheit und unter Gleichgesinnten.« Langsam richtete der Centurio seinen Oberkörper auf. »Woher willst du meine Gesinnung kennen? Vor allem aber sag mir, wo ich
bin und wer du bist.« Statt ihm eine Antwort zu geben, erhob sich der Schatten vom Stuhl, ging zum Fenster und zog mit einer gleitenden Bewegung den Vorhang zur Seite. Die Helligkeit blendete den Wolfsmann für Sekunden. Dann konnte er endlich erkennen, mit wem er es zu tun hatte. Die Frau trug einen hautengen Overall aus rotem Leder, der ihre Körperformen überdeutlich hervor hob. Und sie konnte sich durchaus auch leisten, ein so gewagtes Kleidungsstück anzuziehen. Oktavianus hätte seine bewundernden Blicke gerne länger auf ihren langen Beinen und den perfekten Brüsten ruhen lassen, doch seine Aufmerksamkeit wurde schnell abgelenkt. Ihre Hände, der Hals, der Brustansatz, den der ziemlich weit geöffnete Reißverschluss des Overalls aufreizend sehen ließ … und ihr Gesicht … alles war bedeckt mit einem feinen, silbrigen Fell. Neben ihrer äußerst kleinen und flach anliegenden Nase wuchsen links und rechts feine Haare hervor, die durch ihre dunklere Färbung sofort auffielen – Scknurrhaare! Und dann diese Augen … Ein leises Lächeln lag um ihren schmalen Mund. Offenbar genoss sie seine Verwirrung sehr. Centurio Lupomanus fand schließlich seine Sprache wieder. »Du bist … Felidae!« Nicht in seiner Zeit und nicht in dieser hatte er von der Existenz solcher Wesen gehört. Der Wissenspool in ihm schwieg dazu. Oder befand er sich nicht mehr in der Zeit, in die er sich gerettet hatte, nachdem der Versuch, das Imperium der Wölfe zu etablieren, gescheitert war? Ein kratzendes Geräusch kam von der geschlossenen Tür und gleich darauf wurde die Klinke heftig niedergedrückt. Oktavianus sah ein großes Tier, das sich in das Zimmer schob und direkt neben der Katzenfrau stehen blieb. Eine Raubkatze! Ein pechschwarzer Panther, dessen rotleuchtende Augen nichts Gutes für ihn verhießen. Instinktiv nahm der Centurio eine geduckte Körperhaltung an. Seine Wolfsnatur drängte mit Macht an die Oberfläche. »Ruhig bleiben.« Die Frau streichelte den Kopf des Panthers, der sich tatsächlich nicht feindselig verhielt. Im Gegenteil – Oktavianus
hatte den Eindruck, dass ihn das Tier neugierig und beinahe freundlich begutachtete. »Das ist Rilke, mein treuer Freund. Wir wollen doch nicht sofort in das alte Klischee verfallen, oder?« Der Wolfsmann sah sie fragend an, denn er konnte sich auf ihre Bemerkung keinen Reim machen – sowenig, wie auf diese ganze Situation hier. Die Frau bemerkte sein Nichtverstehen. »Hund und Katze müssen sich ja nicht in allen Fällen feindlich gegenüber stehen, oder?« Hund und Katze … wie konnte sie wissen, mit welcher Art Wesen sie es zu tun hatte? Entsetzt fiel Oktavianus ein, wie sich das Fell unkontrolliert an seinem Arm gebildet hatte. Sein Blick fiel auf seine Hände. Erschrocken schloss er die Augen. Es war wieder geschehen … oder geschah es immer noch? Immer weiter und mehr? »Ein Spiegel … wo …?« Die Frau öffnete die Zimmertür und winkte ihm zu. Kurz darauf stand der Centurio vor dem großen Spiegel im Badezimmer des Hauses. Er wollte nicht glauben, was er sehen musste. Annähernd die Hälfte seines Körpers war mit dichtem Pelz besetzt. Arme, Beine, sein gesamter Brustkorb … in seinem Gesicht wucherten wilde Büschel grauer Haare. Einen intensiven Versuch hatte er noch nicht gestartet, doch er war sich sicher, dass er den Umwandlungsprozess nicht selbst rückgängig machen konnte. Die Zeitmagie ließ seinen Körper nach und nach zu dem werden, was er hier nicht sein durfte – zu einem Werwolf! Nur wenn er Zamorra den Zeitring abnahm, wollte er die Metamorphose zum Wolf durchführen, so, wie er es bei seinem ersten erfolglosen Versuch getan hatte. Denn dann benötigte er die animalische Kraft, die in diesem Körper ruhte. »Du bist verwirrt.« Die Frau war dicht hinter ihn getreten und ihre Ausstrahlung, die Aura der Felidae, die sie durchdrang und umgab, verunsicherte Oktavianus stark. Sie legte eine Hand auf seinen Oberarm und er zuckte heftig zurück. »Komm mit, ich stelle dich den anderen vor. Du wirst sehen, hier gibt es niemanden, der dich nicht verstehen wird.«
Ohne seine Zustimmung abzuwarten, ging sie vor. Was blieb ihm jetzt schon anderes übrig als ihr zu folgen? Er benötigte Informationen. Vielleicht konnte er sie so am einfachsten erhalten.
Man schrieb den 18. des Monats. Fünf ganze Tage war er in die Zukunft versetzt worden. Geworfen war der passendere Ausdruck. Oktavianus hatte in seiner eigenen Zeit und Welt die Möglichkeit einer Reise durch die Zeit niemals auch nur in Betracht gezogen. Es mochte hier und da verrückte Spinner gegeben haben, die in ihren Wahnträumen an so etwas glaubten, doch die nahm man natürlich nicht ernst. Damit konfrontiert zu werden, dass so etwas tatsächlich möglich war, es sogar selbst zu erleben, kratzte nicht nur gewaltig an seinem fest verankerten Weltbild, sondern auch an den Grenzen dessen, was er für sich verarbeiten konnte. Er war in die Zukunft gereist – wollte zurück in seine eigene Gegenwart, die hier Vergangenheit war – und wurde erneut fünf Tage in die für ihn so falsche Richtung geschickt. Oktavianus war nicht dumm. Ihm war durchaus bewusst, welche Gefahren solche Zeitsprünge beherbergen konnten. Wenn er nicht in die Zukunft, sondern – aus welchen Gründen auch immer – um nur eine Stunde in die Vergangenheit gesprungen wäre … hätte er sich dann selber zwischen den Bäumen hockend auf Zamorra und die Frau wartend gesehen? War es möglich, dass man doppelt existieren konnte? War es wirklich nur die Zeit, die er durchreist hatte? Es fiel ihm nicht leicht, diese Gedanken zu verdrängen, doch sie verwirrten ihn ganz einfach zu sehr. Er musste sich auf das konzentrieren, was jetzt wichtig für ihn war. Und das zu verarbeiten, war bereits schwierig genug. Die Menschen, die ihm die Katzenfrau Brinja vorgestellt hatte, trugen nicht unbedingt dazu bei, dass der Centurio seinen Blick auf das Wesentliche richten konnte. Auch in seiner Ära hatte es natürlich Missbildungen bei den Menschen gegeben, doch darüber schwieg
man gewöhnlich. Es war üblich, dass man dafür sorgte, dass solche Neugeborenen nicht überlebten. Niemand wollte sich mit ihnen belasten. Der Wolfskult selbst hatte sich mit diesen Dingen niemals beschäftigt. Das überließ man den minderwertigen Geschöpfen – den Menschen. Brinja gab zu jedem der Anwesenden eine kurze Erklärung ab. Oktavianus wurde klar, dass in dieser möglichen Zukunft zwar die Menschen die Oberhand errungen hatten, geändert hatten sie sich in ihrer Primitivität jedoch nicht. Alles war wie gehabt, denn jeder der Anomalen, die sich hier um den großen Tisch versammelt hatten, wusste genau, dass es mehr oder weniger Zufall war, dass er oder sie noch am Leben war. Wenn es nach ihren Eltern, ihren Verwandten und ihrer Umwelt gegangen wäre, dann hätte man sich ihrer entledigt, hätte sie sozusagen entsorgt und schnell vergessen. Und im Laufe der nächsten halben Stunde wurde Oktavianus klar, dass sie ihn für einen der Ihren hielten. Für einen Freak, der sich zu ihnen geflüchtet hatte. Für sie war er ein Lykanthrop, der Anschluss an eine Truppe suchte, die ihm Schutz und ein relativ sicheres Leben bieten konnte. Oktavianus Lupomanus ergriff den Strohhalm, den man ihm bereitwillig entgegenstreckte. Er war erstaunt, wie selbstverständlich und erfreut man ihn in die Truppe aufnahm. Brinja begann sofort konkrete Planungen mit ihm zu erstellen. »Wir können dich jetzt nicht mehr so kurzfristig in das aktuelle Programm einbauen. Aber wenn die Woche in Bastia vorbei ist, dann integrieren wird dich ganz schnell.« Ihre grünen Augen strahlten ihn an. »Oktavianus, der Wolfsmensch – das klingt doch hervorragend, nicht wahr?« Bei der Gelegenheit hatte der Centurio dann erfahren, dass er auch einen Ortswechsel hinter sich hatte. Korsika – die Insel war ihm aus der eigenen Zeit ein Begriff, doch er hatte sie nie besucht. Warum nur war er ausgerechnet hier gestrandet? Vielleicht gab es dafür einen Grund, den er nur nicht erkennen konnte. Hatte die Vision auf Korsika gedeutet? Nichts in ihr sprach dafür, nichts dagegen. Sollte es nicht Korsika sein, dann würde er Zamorra woanders fin-
den. Nach einer Woche auf dieser Insel würde sein Weg zurück nach Frankreich führen. Er musste geduldig sein. Oktavianus – der Wolfsmensch! Möglich, dass es sogar Zamorra war, der ihn fand. Der Mensch wusste so gut wie Lupomanus, dass sich die Vision erfüllen würde. Fortlaufen machte auf Dauer keinen Sinn. Den Rest des Tages verbrachte der Centurio im Haus. Als die Nacht hereinbrach, da begann es: Lupomanus spürte das grimmige Verlangen in seinem Leib. Es wurde Zeit für die Jagd. Er wusste, dass er sich schlau verhalten musste. Es machte keinen Sinn, wenn er den Zorn der Bevölkerung auf Brinjas Truppe lenkte. Also durfte er sein Opfer nicht in der Nähe suchen. Mühelos verließ er ungesehen die alte Villa, die oberhalb eines kleinen Dorfes lag. Die Witterung nach Menschenfleisch dort unten war verführerisch, doch er durfte ihr nicht erliegen. Stundenlang hetzte der Werwolf durch die Nacht, die ihm mit ihrem wolkenverhangenen Himmel den Blick auf den Mond versperrte. Doch auch ohne den Anblick der silbernen Himmelsscheibe hetzte sein Mordtrieb ihn voran. An der Ausfallstraße einer größeren Ortschaft stoppte er seinen wilden Lauf. Neben einem klapprigen Auto sah er den jungen Mann stehen, der sich die Haare zu raufen schien. Die Motorhaube des PKW war geöffnet, und im Licht einer Neonwerbung konnte man deutlich den Rauch aufsteigen sehen. Der Wasserdampf des kochenden Kühlerwassers verflüchtigte sich in der kühlen Nachtluft. Der Bursche kramte in seinen Jackentaschen. Irgendwo musste das Handy doch stecken. Oder hatte er es wieder einmal zu Hause bei seinen Eltern liegen lassen? Der Fußmarsch in den Ort hinein würde ihm kaum erspart bleiben. Als er das Wesen sah, das aus dem Schatten hinter dem Wagen in das dürftige Licht trat, erlosch jegliches Denken in seinem Kopf. Da war kein Fluchtimpuls, kein Wille zu schreien oder um Gnade zu betteln. Nichts davon. Was seine Augen sahen, das war so falsch, so weit von jeder Logik entfernt, dass er es ganz einfach als Unsinn empfand. So etwas konnte ja nicht existieren. Also existierte es für ihn auch nicht.
Die zerfetzten Überreste seines Körpers verschwanden im Inneren des Wagens, als der Werwolf seine Gier gestillt hatte. Schwer atmend barg Lupomanus den gefüllten Reservekanister aus dem Kofferraum des Fahrzeuges. Er hielt sich nicht mit dem Sicherheitsverschluss auf, sondern stach mit seinen Klauen in den Behälter hinein. Sekunden später brannte der PKW wie ein Fanal und erhellte die Finsternis. Als Feuerwehr und Polizei eintrafen, war Oktavianus längst auf dem Rückweg. Er hoffte, dass er sein Werk zumindest so gut vertuscht hatte, dass man nicht auf die Aktivität eines Lykanthropen schließen konnte. Doch soweit würde die Phantasie der Menschen sicher nicht reichen. Er erreichte die Villa in den frühen Morgenstunden. Nirgendwo brannte Licht, also hatte man sein Verschwinden nicht bemerkt. Als er die Treppe hinaufschlich, hörte er das leise Knurren, das ihn oben erwartete. Zwei rote Augen leuchteten ihm entgegen. Der Panther schnupperte. Seine empfindliche Nase reagierte auf das Blut in Oktavianus Fell, doch auch jetzt zeigte die Raubkatze ihm gegenüber keine Aggressivität. Sie begleitete den Centurio ins Bad und beobachtete interessiert, wie der sein Fell reinigte und trocknete. Lupomanus betrachtete sein Spiegelbild. Die Metamorphose vom Wolf zum Menschen war gründlich misslungen. Ihm kam es so vor, als hätte das Fell neue Stellen seines Körpers endgültig erobert. Der Auslöser konnte nur diese Energie sein, die er bei dem Transfer in diese Zeit mit sich genommen hatte. Was, wenn die Verwandlung abgeschlossen sein würde? Er ahnte die Antwort bereits, doch er weigerte sich, sie zu akzeptieren. Komm schon, du weißt es doch ganz genau. Du weißt, dass du dann in der Falle sitzt. War dem so? Wenn sein Körper endgültig zu dem des Wolfes wurde, wenn er seine Dualität verlor, dann war ihm der Weg zurück in seine eigene Welt für immer versperrt. War dem denn tatsächlich so? Wenn ja, dann musste sein nächstes Aufeinandertreffen mit Zamorra den Erfolg bringen. Seine Zeit brauchte ihn – das Impe-
rium der Wölfe brauchte ihn! Geräuschlos schloss er die Tür zu seinem Zimmer hinter sich. Draußen würde schon bald die Sonne aufgehen. Er brauchte nicht viel Schlaf. Zwei, vielleicht drei Stunden würden ausreichen. »War deine Jagd erfolgreich, Oktavianus?« Der Centurio wirbelte herum. Die Stimme klang direkt hinter ihm auf. Selbst seine hochsensiblen Augen konnten die Dunkelheit des Raumes nicht durchdringen, sowenig, wie seine dem Menschen weit überlegenen Ohren auch nur das leiseste Geräusch vernommen hatten. Ein Streichholz wurde angerissen, dann flackerte das Licht einer Kerze auf. »Eine Katze kann so leise sein, dass nicht einmal der Wolf sie hört.« Brinja stand lächelnd vor ihm. Oktavianus' Misstrauen keimte auf. »Jagd? Ich weiß nicht so genau, was du damit sagen willst?« Als Brinja nahe an ihn heran trat, war da wieder dieses Knistern, das er schon zuvor verspürt hatte. Was wusste sie? Er glaubte nicht, dass sie zu einer Gefahr für ihn und seine Pläne werden konnte, doch er wollte kein Risiko eingehen. Oder war es einfach so, dass er fürchtete, diese mehr als außergewöhnliche Frau zu nahe an sich heran zu lassen? »Du warst heute Nacht auf der Jagd. Und du hast ein Opfer gerissen. Du musst das nicht bestätigen. Ich weiß es.« Ehe er etwas sagen konnte, öffnete Brinja den Bademantel, den sie nur mit einem Gürtel lose zusammen hielt. »Wenn der Wolf satt ist, sind seine Sinne vielleicht für etwas anderes offen.« Oktavianus trat einen Schritt zurück. Nicht um Abstand zu Brinja zu bekommen, sondern weil er den Anblick ganz einfach genießen wollte, den sie ihm anbot. Der rote Overall hatte bereits viel verraten, zumindest Ahnungen geweckt. Doch nun konnte er die ganze Schönheit des Katzenwesens vor sich sehen. Wie viele Frauen Oktavianus in seinem Leben so gesehen hatte, wusste er nicht zu sagen, doch keine von ihnen kam auch nur annähernd an die Perfektion heran, die Brinjas Körper zu bieten hatte.
Fast andächtig begann er ihr silbriges Fell mit den Fingerspitzen zu streicheln. Als seine Hände Brinjas Brüste erreichten, spürte er ihre Hand an seinem Geschlecht. Als die Sonne am Himmel stand, hatten weder Brinja noch Oktavianus in dieser Nacht ein Auge zugemacht. Schlaf war wichtig, wenn man einen Tag voller Entscheidungen und Vorbereitungen für eine große Show vor sich hatte. Doch das war beiden in diesem Fall vollkommen gleichgültig.
3 Das Fell des Wolfes Der Wolf verliert seine Haare, aber nicht seine Natur. (Jiddisches Sprichwort) Jean-Jacques machte seine letzte Runde immer kurz vor Sonnenaufgang. Im Hafengebiet herrschte zwar nie völlige Stille, doch zumindest hatten sich um diese Uhrzeit die Betrunkenen, die Randalierer und die Damen und Herren von der Polizei größtenteils zurückgezogen. Jean-Jacques war ein Junkie, dessen Talent zu Raub und Taschendiebstahl nur außerordentlich schwach existierte. Und zum Bettler taugte er noch viel weniger, denn er war nicht nur ein Junkie, er sah auch genau so aus. Das minderte die Spendenbereitschaft der Touristen in Nizza gewaltig. Es blieb ihm also nicht viel mehr übrig, als dem unschönen Job des Fledderers nachzugehen. Wer auch immer, wo auch immer etwas verloren oder weggeworfen hatte, das noch von irgendeinem Wert war, der konnte sicher sein, dass Jean-Jacques es fand … und zu Geld machte, das schlussendlich in Stoff umgewandelt mittels Nadel und Spritze in seinen Venen landete. Jean-Jacques machte seine Runden in Nizzas Hafen seit vielen Jahren. Genau seit dem Tag, an dem er feststellen musste, dass seine Karriere als Strichjunge aus Altersgründen wohl beendet war. Er hatte diesen Job gehasst. Die anderen hatten ihm immer wieder versichert, dass man abstumpfte. Irgendwann war es einem gleichgültig, solange das Geld stimmte. Er hatte darauf gewartet, dass diese Lethargie auch ihn befiel, doch das war nicht geschehen. Selbst nach seinem allerletzten Freier
hatte er sich würgend übergeben müssen. Seltsam … so wie er heute vor sich hin vegetierte, sehnte er sich manchmal selbst nach den kalten und schmierigen Händen der Männer zurück, die ihn benutzt hatten. Hunger hatte er in dieser Zeit zumindest nicht gekannt. Und um den nächsten Schuss musste er sich damals auch nur selten Sorgen machen. In dieser Nacht hatte Jean-Jacques nur magere Beute gemacht. Was er bei seinem Dealer dafür bekommen würde, reichte ganz sicher nicht für einen glücklichen Tag. An Schlaf war also noch nicht zu denken. Rechts von ihm öffnete sich eine finstere Gasse zwischen zwei Nobelrestaurants. Vorne hui – hinten pfui. Das galt auch für diese Fressmeile, die sich entlang den Kais zog. Die stinkreichen Touristen, die sich in Nizza herumtrieben, schienen mit Scheuklappen ausgestattet zu sein. Elend wurde ganz einfach ignoriert. Am Ende der Gasse stapelten sich die Mülltonnen, die zu den Restaurants gehörten. Er hatte keine Ahnung ob da etwas zu holen war, das man zu Geld machen konnte. Doch Essensreste würde er mit Sicherheit finden. Der Fledderer zuckte zusammen, als sich zwischen den Metallbehältern etwas bewegte, das eindeutig zu groß für eine Ratte, selbst für einen streunenden Hund war. Dann sah er den Mann, der wohl seinen Rausch an diesem unangebrachten Ort ausschlief. Oder hatte man ihn niedergeschlagen? Jean-Jacques begann die Taschen des Mannes zu durchwühlen. Ausweispapiere – eine Brieftasche mit nicht einmal 200 lächerlichen Euro und die obligatorischen Kreditkarten. Doch die mied der Junkie wie die leibhaftige Pest, seit man ihn für sechs Monate eingebunkert hatte, weil er mit so einem gestohlenen Stück Plastik Geld hatte abheben wollen. Bei anderen funktionierte so etwas immer, doch er war zu solchen Betrügereien ganz einfach zu blöde. Enttäuscht steckte er das Bargeld ein. Immerhin würde das die größte Not des Abhängigen ein wenig abmildern können. Eine armselige Neonröhre flackerte die ganze Zeit über ihm an der Hauswand, und als die endlich einmal für zehn Sekunden Dauerlicht abgab, da sah Jean-Jacques das blitzende Ding, das der Kerl um den Hals trug. Groß wie ein Handteller … und, so wie es schien, aus rei-
nem Silber. Nun, der Mann sah zwar nicht unbedingt wie ein überdrehter Millionär aus, aber einen armen Eindruck machte er ganz und gar nicht. Das Medaillon mochte einen ordentlichen bis ausgezeichneten Preis bei einem entsprechenden Hehler bringen. Jean-Jacques sah sich für die kommenden Tage an der Sonne! Mit einem Ruck riss er an der Silberscheibe, die sich bereitwillig von der Kette löste, an der sie befestigt war. Grinsend steckte der Junkie seinen Schatz in die Jackentasche. Und nun weg von hier, ehe Monsieur aufwachte … Als er sich umdrehte, prallte er beinahe gegen die wohl aufregendste Frau, die er je gesehen hatte. Die Blonde hatte eine Figur, die einem herrlichen Drogentraum entsprungen sein musste. In Nizza liefen das ganze Jahr über Prominente und vor Geld stinkende Bosse herum, die sich mit unglaublich aufgebrezelten Frauen schmückten, doch so ein Exemplar sah man auch hier nur an ganz wenigen Glückstagen. Jean-Jacques störte nur der Gesichtsausdruck, den die Schöne aufgesetzt hatte. Wenn er in all den Jahren, die er zwischen Abschaum und Verbrechen verbracht hatte, eine Sache gelernt hatte, dann die: schau deinem Gegenüber in die Augen – die können nicht lügen! Und in den Augen dieser Frau stand unverkennbar das Wort Ärger geschrieben – Ärger für ihn. Sie gehörte wohl nicht zu den Frauen, die lange Reden hielten, ehe sie endlich handelten. Jean-Jacques sah die offene Handfläche, die sie ihm entgegenstreckte. Die Geste bedurfte keiner Erklärung, doch er dachte nicht im Traum daran, seine Beute wieder abzugeben. Im nächsten Moment zuckte ihre Hand vor, direkt auf sein Gesicht zu. Der Kopf des Junkies war nicht schnell genug, um noch auszuweichen. Ihr Zeige- und Ringfinger fanden traumhaft sicher ihre Ziele und rammten sich in die Nasenlöcher des Fledderers. Und dann glaubte er, der Schmerz würde seinen Schädel sprengen, denn die Blonde begann gnadenlos ihre Hand zu drehen! Jean-Jacques konnte gar nicht anders, als ihrer Bewegung zu folgen. Als sein Kopf sich ganz einfach nicht mehr weiter in eine Richtung drehen ließ, begann der Junkie hektisch seine Taschen auszuleeren. »Das ist alles …« Seine Stimme klang wie die einer Comicfi-
gur, denn durch die Nase konnte er schließlich keine Luft holen. »Bitte … aufhören … bitte.« Langsam kam die Schöne ein Stück näher zu ihm heran. »Renn um dein Leben. Los! Und wenn ich dich noch einmal zu Gesicht bekomme, dann kannst du anschließend mit deinen Nasenlöchern den Regen sammeln. Lauf!« Jean-Jacques lief um sein Leben und wagte es nicht einmal, sich umzusehen, bis er das Hafengebiet weit hinter sich gelassen hatte. In seinen Lungen brannte die kalte Morgenluft, und der Schmerz in seinem Bauch zeigte ihm an, dass er den nächsten Schuss nun bald brauchte. Doch ohne Beute, ohne Euros sah es damit schlecht aus. Irgendwie würde er den Tag schon überstehen. Alles war besser, als in der Nähe dieser blonden Furie zu sein.
Nicole und Zamorra hatten die ungastliche Gasse längst wieder verlassen. Als der Junkie sein Heil in wilder Flucht gesucht hatte, waren Zamorras Lebensgeister zurückgekehrt. »Stell dir vor, ich hätte den Knaben nicht erwischt und er wäre mit Merlins Stern bei einem Hehler gelandet …« Zamorra beendete den Satz, denn er wusste, woran Nicole dachte. »… und ich hätte das Amulett zu mir gerufen. Das Ergebnis wären sicher zwei dumme Gesichter gewesen. Und ein verprügelter Junkie, denn der Hehler hätte sicher geglaubt, er habe ihn linken wollen.« Sie saßen in einem Café, das um diese frühe Stunde bereits geöffnet hatte. Beide fühlten sich zerschlagen, müde und – zumindest drückte Nicole es so aus – wie aus dem Hals gezogen. Ungewaschen, kein Bad, keine Dusche … nicht einmal eine Zahnbürste war in Reichweite. Zumindest wollten sie auf ein kleines Frühstück nicht verzichten. Zamorra zählte ihre Barschaft. Die Bankschalter reagierten nicht auf seine Kreditkarten, ebensowenig, wie das Handy die gewählten Verbindungen zustande bringen wollte. »260 Euro … das ist mehr, als ich überhaupt bei mir hatte. Wie
geht das?« Nicole zuckte mit den Schultern und goss sich Kaffee nach. »Unser kleiner Dieb von vorhin hat bereitwillig alles aus seinen Taschen geholt. Der Überschuss stammt dann wohl von ihm.« Der Parapsychologe stutzte. »Aber das sind dann ja nicht unsere Euros. Wir können doch nicht …« Seine Lebensgefährtin legte ihre Hand auf seinen Arm. »Cheri, denk doch mal nach. Sein Geld ist das ganz sicher auch nicht. Wem gehört es also? Du kannst es natürlich auch wegwerfen.« Ungerührt machte sie sich über ein Croissant her. Natürlich hatte sie Recht. Und dennoch wunderte Zamorra sich über die knallharte Denkweise seiner Partnerin. Sie schaffte es, ihn immer wieder zu überraschen – und das auf vielen Gebieten. Nicole wechselte das Thema und kam zu wirklich wichtigen Dingen zurück. »Was sollen wir jetzt tun? Wir sind in unserer Zeit – und doch werde ich das Gefühl nicht los, dass es uns hier nicht gibt.« »Es gab uns zumindest bis zu dem Augenblick, in dem die Bombe im Flugzeug explodierte.« Zamorra konzentrierte sich. Was war vorher geschehen? Sein Albtraum, die fremde Realitätsebene, in der Aurelian noch lebte – der Wolfkult und der gescheiterte Versuch einer Verschwörung auf höchster Ebene. Doch dann waren er und Nicole in München zu Zamorras Gastvorlesung gereist – man hatte sie dort mit offenen Armen empfangen. Alles war vollkommen normal verlaufen. Und den Aufpreis für die Flugzeugtickets hatte er anschließend ganz selbstverständlich mit Kreditkarte beglichen. »Ja, exakt bis zu diesem Moment.« Zamorra stellte die Kaffeetasse ab. »Was für eine Art Bombe war das? Wie konnte der Wolfsmann in unsere Zeit gelangen? Vor allem: wo wird sich die zweite Vision erfüllen, die er und ich gemeinsam hatten?« Längst hatten sie herausgefunden, dass sie, nachdem sich Oktavianus regelrecht in Luft aufgelöst hatte, um fünf Tage in die Zukunft versetzt worden waren. Und nicht nur das. Zur Besinnung waren sie nicht in den französischen Alpen, in Tignes, sondern im Hafengelän-
de von Nizza gekommen. War auch der Centurio hier wieder zu sich gekommen? Es gab jedenfalls keinerlei Spur von ihm. Und wenn es nach Zamorra ging, dann konnte das auch so bleiben. Allerdings würden sie dann aus dieser eigenartigen Falle nicht mehr heraus kommen, in die sie geraten waren. Musste sich die Vision erst erfüllen, damit die Normalität wieder hergestellt werden konnte? Allerdings war das Ende der Vision eindeutig – Nicole und Zamorra wurden getötet. Es musste einen anderen Weg geben. Es hatte immer einen gegeben! Zamorra hatte Nicole die imaginären Bilder sicher mehr als ein halbes Dutzend Mal beschrieben, die Oktavianus und er gesehen hatten. »Mir will da einfach keine Idee kommen.« Nicole hatte den Kopf gedankenverloren in Richtung des kleinen Fernsehapparates gewandt, den der Wirt des Cafés eingeschaltet hatte. Es lief eine Art Info-Show, die aktuelle Nachrichten und belanglose Dinge aus Mode oder der Welt der VIPs brachte. »Der bunte Himmel, den du geschildert hast, der schwebende Engel und eine Fanfare. Also wenn mir das ein anderer erzählt hätte, würde ich ihn zu einem Psychiater schicken. Das passt …« Sie unterbrach den Satz und starrte wie gebannt zum TV-Gerät hin. Nun wurde auch Zamorra aufmerksam, denn es war eindeutig, worüber dort geredet wurde. Über sie! Die dunkelhaarige Moderatorin der Sendung führte ein Interview mit einem Studiogast, dessen Gesicht Zamorra sofort erkannte. Den Mann hatte er im Hospital von Tignes gesehen. Er gehörte zu den Beamten, die ihn befragt hatten. Als Bilder von der Absturzstelle eingespielt wurden, bat Nicole den Ladeninhaber, den Ton lauter zu drehen. »… können unsere Experten auch sechs Tage nach dem Unglück noch keine Auskunft über die Beschaffenheit der Sprengladung geben. Noch weniger ist geklärt, wo die beiden Überlebenden der Katastrophe geblieben sind. Auch da tappen wir leider immer noch im Dunkeln.« Die Moderatorin konnte sich ein ironisches Lächeln nicht verbei-
ßen. »Das kann doch nicht sein, Kommissar Bernot, dass sich zwei Personen so einfach in Luft auflösen. Wissen Sie denn inzwischen, um wen es sich genau gehandelt hat?« Zamorra und Nicole wechselten einen raschen Blick. Sie hatten beide ihre Personalien angegeben. Der Kommissar machte ein reichlich unglückliches Gesicht, denn er wusste, dass seine Antwort ihn und seine Leute endgültig zu Deppen stempeln musste. »Bisher konnten wir nichts über die beiden in Erfahrung bringen. Es ist verrückt, ich weiß, aber die Papiere des Mannes und der Frau schienen echt, doch beide existieren tatsächlich nicht. Wir gehen inzwischen davon aus, dass es sich bei den beiden um die Terroristen handelt. Es ist undenkbar, dass ohne Hilfsmittel jemand einen solchen Absturz überleben kann. Sie müssen Fallschirme getragen haben, aber da stehen die Ermittlungsergebnisse noch aus. Wir können doch sicher jetzt die Phantomzeichnungen einblenden, oder?« Den Gefallen tat man ihm gerne. Zamorra verfluchte die Person, die für die Fahndungszeichnungen verantwortlich war. Nicole brachte es trocken auf den Punkt, als sie Zamorra zuflüsterte: »Auf diesen Bildern erkennen normalerweise nicht mal die eigenen Mütter ihre gesuchten Söhne. Warum haben die gerade für uns Michelangelo aus seinem Grab geholt? Ich glaube es nicht.« Sie blickte sich im Café um, doch außer ihnen schien sich niemand für die Sendung zu interessieren. Andernfalls hätte man sie sicher sofort erkannt. Das Bild wechselte wieder. Mit einem süffisanten Lächeln verabschiedete die Moderatorin den Beamten, der sichtlich froh war, diese Peinlichkeit überstanden zu haben. Zamorra rückte näher zu Nicole heran. »Es kann nicht lange dauern, bis wir hier die halbe Polizei Nizzas auf den Fersen haben. Wir müssen unser Äußeres verändern. Sie halten uns für die Bombenleger. Was sollen sie auch anderes denken? Wir überleben einen absolut mörderischen Sturz, dann verschwinden wir aus dem Krankenhaus und scheinen überhaupt nicht zu existieren … ich würde die Sachlange nicht anders beurteilen.« Er wollte es nicht laut aussprechen, doch beinahe wünschte Zamorra sich, dass der Centurio Oktavianus Lupomanus schnell wie-
der auf der Bildfläche erschien. Die Sache musste zu einem Ende gebracht werden. So oder so. Noch einmal wiederholte er für sich seinen Gedanken von vorhin: Es hatte immer einen Weg gegeben – wie aussichtslos die Lage auch war. Das würde auch hier nicht anders sein. Doch so recht wollte er der Zuversicht nicht trauen, die er sich selbst vorgaukelte … So unauffällig wie es nur ging, beglich er die Rechnung an der Theke. Der Gastwirt lächelte Zamorra freundlich, aber vollkommen uninteressiert zu und bedankte sich für den Besuch. Nicole hatte das Café bereits verlassen und wartete nun vor der Tür auf ihn. »Besuchen Sie uns bald wieder, Monsieur.« Diesen Satz hatte der Mann sicher so oft gesagt, dass er ihn wohl auch in seinen Träumen verfolgte. Zamorra antwortete mit einer Floskel, die er als Gast nicht minder monoton abrufen konnte. Dann schloss sich die Tür hinter ihm. Dass der Wirt blitzschnell zum Hörer des Telefons griff, konnte der Parapsychologe durch die Milchglasscheibe hindurch natürlich nicht mehr sehen. Er hatte das Café und seinen Besitzer bereits wieder aus seiner Erinnerung gestrichen.
Zamorra und Nicole fühlten sich hilflos wie selten zuvor. Noch immer hielten sie sich im Hafengebiet auf. Port Lympia, wie der Hafen Nizzas genannt wurde, bestand aus vier großen Becken, von denen aus die Fährschiffe ausliefen. Die Kais waren durchaus sehenswert, doch das alles konnte die beiden natürlich nicht begeistern. »Es muss einen Grund geben, warum wir hier her versetzt wurden. Ich frage mich nur, welcher das sein kann. Und wie und wann wir ihn finden.« Zamorra war ziemlich ratlos. »Wir können doch nicht ewig hier auf und ab marschieren.«
Nicole sparte sich eine Antwort, denn die hätte weder Zamorra noch sie einen Schritt weiter gebracht. Gerade lief eine Fähre in das zweite Becken ein. Am Anlegeplatz hatten geschäftstüchtige Menschen die Kaimauer mit riesigen Plakaten beklebt, die auf irgendeine Veranstaltung hinwiesen. Nur flüchtig überflog Zamorra die Großbuchstaben, die ganz einfach nicht zu übersehen waren. Die farbliche Gestaltung der Plakate hatten ihren eigenen Reiz, denn es war verschwenderisch mit den Farben des Regenbogens umgegangen worden. Nur Sekunden später hatte er das Interesse daran schon wieder verloren und wandte seinen Blick in eine andere Richtung. Irgendetwas ließ ihn noch einmal innehalten. Was hatte er da gleich noch gelesen? Nicole sah verwundert zu, wie der Parapsychologe langsam auf die Kaimauer zu ging. Was gab es denn dort so Interessantes zu sehen? Dann las auch sie die plakative Aufforderung: wunderschönes korsika DIE INSEL DER DÜFTE LÄDT EIN: MUSIKFEST IN BASTIA 1 woche gesang und tanz KIRMES, ZIKRUS, VARIETE MIT DEM MOTTO: »Musik der welt UNTER EINEM HIMMEL VOLLER FARBEN« Zamorra stand wie erstarrt vor dem überformatigen Plakat. Nicole trat dicht neben ihn. »Das kann doch eigentlich kein Zufall sein, oder? Was meinen die mit Himmel voller Farben?«. Der Professor löste seine Augen von der Schrift. »Feuerwerk? Illuminationen? Was weiß ich? Ich bin jedenfalls sicher, dass wir dort den bunten Himmel finden werden, den ich in der Vision gesehen habe. Korsika also …« Nicole hörte hinter sich die quietschenden Reifen eines mit Gewalt
abgebremsten Fahrzeugs. Mit einem Blick konnte sie erkennen, dass sich der Kai hinter ihnen plötzlich mit Menschen füllte, die überhaupt nicht wie Touristen aussahen. Zamorra erfasste die Situation, als er den Mann sah, dessen Gesicht ihm irgendwie bekannt war. Es dauerte einen Moment, bis er den Besitzer des kleinen Cafés erkannte, in dem sie heute gefrühstückt hatten. Mit aufgeregter Geste wies er auf Zamorra und Nicole. Der Parapsychologe reagierte intuitiv. Er griff nach Nicoles Hand und riss seine Gefährtin mit sich. »Da hinein!« Die Gasse, in die sie sprinteten, hatte Ähnlichkeit mit der, in der Zamorra erst vor wenigen Stunden aufgewacht war. Auch sie trennte zwei große Restaurants voneinander. Nur war jetzt helllichter Tag und die Türen, die links und rechts in die Gebäude hinein führten, standen weit offen. Zamorra entschied sich für die linke Seite. Gemeinsam hetzten sie durch einen langen Gang, begleitet von den lautstarken Schreien und Kommandos der verfolgenden Polizeibeamten. Zamorra hoffte nur, dass man in Nizza eher den Typ Operettenpolizist bevorzugte, der sich charmant und weltgewandt um die Problemchen und Fragen der Touristen kümmern konnte. Die wirklich scharfen Hunde der französischen Polizei mussten ja nicht unbedingt hier stationiert sein. Im Laufen sprachen sie sich ab. »Trennen?« Zamorras Antwort war ein kurzes Nicken und eine Anweisung im Telegrammstil. »Treffpunkt – Fähre am letzten Becken. Spätestens in 15 Minuten.« Ohne ein weiteres Wort ließ er Nicoles Hand los. Seine Gefährtin verschwand sofort in einer der zahlreichen Türen des Ganges. Zamorra hörte Klirren und Scheppern – wo Nicole auch immer gelandet war, da räumte sie offenbar mächtig auf. Und er wollte da nicht nachstehen. Die Verfolger waren ihm ziemlich dicht auf den Fersen. Es wurde Zeit, ein wenig Verwirrung zu stiften. Die große Tür am Ende des Ganges war ebenfalls geöffnet, und Zamorra sah mitten hinein in die Großküche des Restaurants. Die
Einrichtung der Küche war hochmodern ausgefallen. Überall blitzender Edelstahl. Unzählige Pfannen, Siebe und Töpfe hingen von der Decke herunter. Seine Situation war alles andere als lustig, doch der Professor konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen, als er den Raum wie ein Pirat enterte. Mit einem Satz war er auf die lange Zeile mit den Arbeitsplatten gesprungen und rannte rücksichtslos ohne zu bremsen weiter. Nach allen Seiten hin spritzen Teller, Schalen und Terrinen in den Raum hinein, als Zamorra sie wie ein Flügelstürmer beim Fußball aus dem Weg kickte. Die kulinarischen Köstlichkeiten, die man darauf angerichtet hatte, wurden zu profanen Flugkörpern umfunktioniert. Nicht alle von ihnen trafen, doch ein Teil landete auf den schneeweißen Jacken der Köche oder den Fräcken der Kellner. Ein Steak fegte einem der Küchenchefs glatt die hohe Mütze vom Kopf. Dann waren die Beamten heran! Und Zamorra wob einen harmlosen Zauber, der erstaunliche Auswirkungen hatte. Wie von Geisterhand bewegt, verselbstständigten sich die Pfannen und Töpfe aus der Deckenaufhängung und sausten im wilden Flug durch die Luft. Gerne hätte er sich die Sache in aller Ruhe betrachtet, doch dazu fehlte ihm leider die Zeit. Die Geräuschkulisse hinter ihm war jedoch eindeutig. Die Köche und ihre Helfer schienen aus aller Herren Länder zu stammen, denn was da an wildem Kauderwelsch losbrach, war unbeschreiblich. Irgendeiner der übereifrigen Beamten jagte Zamorra eine Kugel hinterher, doch die krachte gegen ein Sieb und raste als Querschläger in die Decke. Die Beamten hatten nicht den Hauch einer Chance, sich durch das Fluggeschwader zu kämpfen, das ihnen um die Ohren brauste. Zamorra hetzte weiter … und fand sich im vorderen Bereich des Restaurants wieder. Nahezu alle Tische waren um diese Uhrzeit bereits von hungrigen Touristen besetzt, die ihr Geld in einem sicher vollkommen überteuerten Mittagessen anlegen wollten. Unzählige Köpfe ruckten herum und starrten in Zamorras Richtung. Das Tohuwabohu hinter ihm nahm nun eine bedenkliche Lautstärke an. Das konnte nur bedeuten, dass die Polizisten sich nun wieder auf die Verfolgung konzentrierten – sie kamen bedroh-
lich nahe. Zamorra startete durch wie ein Sprinter bei einem 100-Meter-Finale. Was genau auf seinem Lauf durch den Saal alles zu Bruch ging, konnte er nur ahnen. Doch egal – was ihm auch den Weg versperrte, das wurde beseitigt! Zweimal musste er dabei die Abkürzung über einen Tisch nehmen, dann endlich war er bei der großen Drehtür angekommen. Ein halbes Dutzend Beamte stürmten bereits heran, als er endlich wieder unter freiem Himmel war. Zamorras rechte Hand malte imaginäre Zeichen in die Luft … und die Polizisten holten sich blutige Köpfe. Als sie ungebremst durch die gläsernen Flügel der Drehtür rennen wollten, gab es einen Ruck, und der Drehmechanismus blockierte. Beinahe hätte Zamorra so etwas wie Mitleid für die Männer empfunden, die keine Chance mehr hatten, ihre heftige Kollision mit Metall und Glas zu verhindern. Andererseits hatte das auch etwas von einer Slapstick-Einlage aus Stummfilmzeiten, was der Sache doch gehörig ihren Ernst nahm. Für Mitleid blieb ihm zudem nicht die Zeit. Dass man ihn tatsächlich für einen gefährlichen Terroristen hielt, wurde dem Professor im nächsten Moment klar. Von beiden Seiten stürmten die vermummten Gestalten einer Spezialeinheit in seine Richtung. Er sah die feuerbereiten Schnellschusswaffen, die ganz sicher nicht nur zur Einschüchterung dienten. Zamorra war mit den magischen Möglichkeiten, die er sich in jahrelangen Studien und dem niemals endenden Kampf gegen die dunklen Mächte angeeignet hatte, stets zurückhaltend umgegangen. Es wäre nur von Nachteil gewesen, wenn man Menschen damit verunsicherte, Menschen, die keine aktive Rolle in der Konfrontation zwischen den beiden Seiten der Magie spielten. Das hätte keinen Sinn gemacht, außer dem, sich selbst zu profilieren. Zamorra lag das fern. Doch jetzt war eine Situation eingetreten, in der er jede Rücksicht ganz einfach ablegen musste. Nicole und er befanden sich in einer Situation, die unklarer und verworrener kaum noch werden konnte. Jetzt war nicht der Augenblick, auf das Seelenheil von Polizisten und Passanten zu achten.
Zamorra wurde auch der Meister des Übersinnlichen genannt – und nun machte er dieser Bezeichnung alle Ehre! Die beiden Sturmtrupps sahen, wie ihr Zielobjekt, das auf dem Bürgersteig vor dem Restaurant stand, seine Arme ausbreitete. Im Laufen brachten die geschulten Männer ihre Waffen in Anschlag. Eine unachtsame Bewegung des mutmaßlichen Terroristen … und es würde seine letzte gewesen sein. Mit seinen Fingern machte der Mann irgendwelche seltsamen Bewegungen, beinahe so, als wolle er ein virtuelles Orchester dirigieren. Dabei murmelte er unzusammenhängendes Zeug vor sich hin. Die Männer waren im Zusammenhang mit Terrorismusbekämpfung intensiv geschult worden – man hatte ihnen immer wieder eingeschärft, dass sie auf Provokationen, wie diese wohl eine sein sollte, nicht zu reagieren hatten. Wie sehr sie sich täuschten, wurde eine Sekunde später klar. Die Männer bremsten ihren Lauf voll ab, denn sonst wären sie unweigerlich in die Flammenwände gelaufen, die plötzlich links und rechts von dem Mann existierten. Befehle wurden gerufen, jeder nutzte die bestmögliche Deckung die er finden konnte, doch das nutzte ihnen nichts gegen die hohen Wellen, die der Asphalt unter ihren Füßen schlug. Wie Bowlingkegel wurden sie von den Füßen geworfen. Irgendwer eröffnete das Feuer, das von der anderen Seite her erwidert wurde. »Aufhören, ihr Idioten! Wollt ihr die Kollegen erschießen?« Der für den Einsatz verantwortliche Polizeioffizier hatte sich als erster gefangen und stürmte von hinten auf die Stelle zu, an der sich der Terrorist befinden musste. Doch der war spurlos verschwunden. »Verdammt, wie hat der das gemacht?« Der Offizier hatte von Massenhypnose gehört, doch auch er hatte die Hitze der Flammen gespürt – das war real gewesen, keine Frage. »Wo, zum Teufel, ist der geblieben? Los, ausschwärmen. Weit ist der noch nicht.« Als der infernalische Lärm losbrach, zweifelte der Mann an seinem Verstand. Alle Einsatzfahrzeuge ließen plötzlich ihre Hupen und Hörner hören … obwohl sich niemand in ihnen befand.
Und dann starteten sie wie von Geisterhand ihre Motoren. Ein unbeschreibliches Chaos folgte. Führerlos rasten die Transporter und PKW davon. Zwei stießen schon nach wenigen Metern zusammen, ein Jeep knallte in die Schaufensterscheibe eines Juwelierladens, als wolle der Polizeiwagen sich dort bedienen. Die spektakulärste Aktion jedoch vollbrachte die schwere Limousine des Polizeioffiziers: Mit Vollgas schoss sie auf das vor wenigen Minuten eingelaufene Fährschiff zu und machte dessen heruntergelassene Reling zu ihrer Sprungschanze. Links und rechts retteten sich die Passagiere des Schiffes mit Sprüngen in das Hafenbecken, als das wütend hupende Fahrzeug auf sie zukam. Mit Schwung setzte der Wagen auf dem Oberdeck der Fähre auf und blieb wie angewurzelt stehen. Das schien ein Zeichen gewesen zu sein, denn mit einem Schlag endete der ganze Spuk. Passanten, Touristen und Polizeibeamte sahen einander ungläubig an. Der Offizier jedoch begrub sein Gesicht in den Händen. Wie sollte er das seinen Vorgesetzten erklären? Irgendwo am entgegengesetzten Ende der Hafenanlage legte gerade ein Fährschiff ab. Es wurde von niemandem beachtet. Sein Ziel war die Insel Korsika … und es hatte zwei blinde Passagiere mit an Bord.
»Ich würde mich jetzt zu gerne wieder bewegen. Ginge das?« Nicoles rechtes Bein kribbelte, als würde eine Ameisenarmee darüber laufen. Gut zwei Stunden zwängte sich sie nun schon mit Zamorra in dieser winzigen Kammer, die mit Besen, Eimern und Putzlappen gefüllt war. Für zwei erwachsene Personen war hier nun wirklich kein freier Platz vorgesehen. »Mir gefällt das auch nicht, aber wir müssen vermeiden, dass man uns hier schon wieder erkennt. Die Aktion im Hafen hat mir eigentlich erst einmal gereicht.« Zamorra war auch alles andere als begeistert von den Umständen ihrer kleinen Seereise, doch das mussten sie
wohl in Kauf nehmen. Nicole lachte leise auf. Auch mit den Geräuschen mussten sie vorsichtig sein, denn alle Nase lang ging draußen irgendwer den Gang vor ihrer Kammer entlang. Notdürftig hatten sie von innen zwar die Tür blockiert, doch das war nur mit der heißen Nadel gestrickt. »Ich muss wirklich sagen, deine Magie hat meine Erwartungen bei weitem übertroffen. Du bist gut, richtig gut sogar. Die Szenen waren absolut filmreif.« Nachdem sie sich in dem Restaurant getrennt hatten, hatte Nicole sich ihre Verfolger mit Geschick und schlagkräftigen Argumenten vom Leib gehalten. Als sie sich dann in Richtung des verabredeten Treffpunkts bewegt hatte, konnte sie die ganze Szenerie beobachten, in deren Mittelpunkt Zamorra gestanden hatte. »Danke für den Applaus, aber zum Verbeugen fehlt mir leider die Bewegungsfreiheit.« Zamorra wusste, dass es sich nun ausgezahlt hatte, dass er sich in der letzten Zeit wieder intensiver mit der Magie an sich beschäftigt hatte. Zu lange hatte er diese Dinge schleifen lassen, weil die Attacken der Höllenmächte oder die wütenden Versuche der DYNASTIE DER EWIGEN, die Erde in ihr Reich zu integrieren, ihm keine Zeit gelassen hatten. Zudem war es ja viel komfortabler, sich auf Merlins Stern oder die Dhyarra-Kristalle zu verlassen. Doch immer wieder gab es Situationen wie die, in der sie nun steckten. Die Kristalle trugen sie nicht bei sich, und das Amulett hatte seine Unzuverlässigkeit in letzter Zeit zu oft unter Beweis gestellt. Zamorra war sicher, dass es in diesem speziellen Fall überhaupt nichts bewirkt hätte. Das Problem war nur, dass er mit magischen Tricks bei dem Wolfsmann nichts erreichen konnte. Merlins Stern hatte auf den Angriff von Lupomanus nicht reagiert oder doch zumindest nicht in ernstzunehmender Form. Die Silberscheibe war blockiert, so wie der Kontakt zu den Freunden blockiert war, der Zugang zu Zamorras Konten … ihre gesamte Identität! Zamorra senkte seine Stimme zu einem Flüstern, das Nicole nur wahrnahm, weil sein Mund sich direkt neben ihrem linken Ohr befand. Eine Nähe, die ihnen unter anderen – besseren! – Umständen sehr gefallen hätte. Hier sah das ein wenig anders aus.
»Ich habe mal gehört, wie sich zwei Musiker unterhielten. Der eine beschrieb dem anderen ein Empfinden, das er beim Hören eines Stückes gehabt hat. Er sagte, dass darin Töne waren, die wie schräg von der Seite gespielt klangen. Ich habe ihn nicht verstanden, doch sein Freund wusste, was er meinte. Töne, die sich zwar richtig anhören, die es aber definitiv nicht sind. Ich glaube, so in etwa können wir die Situation sehen, in der wir uns befinden.« Nicole wandte den Kopf ein wenig, doch sie schaffte es nicht, einen Augenkontakt zu Zamorra herzustellen. »Wie meinst du das? Ich glaube, ich verstehe jetzt nur Bahnhof.« Der Parapsychologe versuchte seinen Verdacht in Worte zu kleiden. »Ganz einfach eigentlich: unsere Zeit, unsere Welt, aber nicht unser Leben. Es scheint alles richtig zu sein, ist es aber nicht. Wir existieren hier schräg, so wie die Töne. Oder ist alles um uns herum schräg, und nur wir sind klangrein, um das mal so in die Musiksprache zu übernehmen? Alles war normal, bis diese Bombe gezündet wurde. Vor der Explosion war die Welt, aus der Oktavianus Lupomanus stammt, für mich ein schlechter Traum, den ich vernachlässigen, am besten gleich wieder vergessen wollte. Nach dem großen Knall am Himmel wurde sie für mich zu einem realen Teil meiner Vergangenheit – und für dich doch auch. Wir waren in Oktavianus' Welt. Und das, was uns hier blockiert, muss mit ihm im direkten Zusammenhang stehen.« Nicole stimmte Zamorra zu. »Okay, das bedeutet dann ja wohl, dass wir unsere Probleme beseitigen können, wenn wir Oktavianus vernichten. Darauf wird es ja auf jeden Fall hinauslaufen, denn er wird kaum die Friedenspfeife mit uns rauchen wollen. Ganz gleich, was wir ihm auch sagen würden. Kannst du dir ungefähr vorstellen, wie er fühlen muss? Irgendwie ist er in diese Zeit gestolpert. Das alles hier muss ihn doch wahnsinnig machen. Die Entwicklungen von mehreren Jahrhunderten in einer Sekunde zu überspringen … kann das ein Verstand ertragen?« »Ich denke, wir sind noch nicht nahe genug an der Wahrheit. Irgendetwas übersehen wir noch. Allerdings macht der Wolfsmann nicht den Eindruck eines Neandertalers, den man in eine SATURNRakete gesetzt hat. Wenn die Bombe sein Werk war, dann ist er tech-
nologisch auf dem neuesten Stand. Magie alleine reicht nicht aus, um so eine Sprengladung an Bord eines Jets zu bringen. Jedenfalls denke ich, dass wir die Ursache für unsere Blockierung nur entschlüsseln können, wenn wir ihn finden. Und ich habe nicht vor, mich wie ein Lamm von ihm zur Schlachtbank führen zu lassen. Ich will agieren – nicht nur reagieren.« Als endlich die Geräusche der Schiffsschrauben verrieten, dass die Fähre sich ihrem Ziel näherte, schlüpften die beiden aus ihrem viel zu engen Versteck. Es war ein Genuss, sich auf Deck den Wind um die Nase wehen zu lassen. Die Hafeneinfahrt von Bastia war schon fast erreicht. Zamorra legte beide Hände auf das Schiffsgeländer. »Korsika also. Gut, dann wollen wir mal sehen, ob wir das Fell des Wolfes erringen können.« Nicole betrachtete die Kais, auf denen ein reges Treiben herrschte. Sie hatte das letzte Wort. »Oder er das Unsrige …«
4 Freak-Show Es ist besser, als ein Wolf zu sterben, denn als Hund zu leben. (Herbert Wehner) In dieser Nacht war Catriono gestorben. Oktavianus war aufgewacht, weil er die aufgeregten Stimmen von Irving und Nestor auf dem Flur gehört hatte. Er kannte die einzelnen Mitglieder der Truppe nicht einmal einen Tag lang, doch in der Art, wie die Brüder draußen miteinander redeten, lag etwas, das den Centurio unruhig werden ließ. Irgendetwas war geschehen, das die Routine im Haus störte. Nur kurz ging er ins Bad. Der Blick in den mannshohen Spiegel zeigte ihm brutal die Realität. Immer mehr Stellen an seinem Körper bedeckten sich mit wucherndem Fell. Und das war noch nicht alles, was er an dramatischen Veränderungen ausmachen konnte. Erst wenige Stunden war es her, dass er eine erfolgreiche Jagd hinter sich gebracht hatte – dann die Stunden mit der aufregendsten Frau, der er je begegnet war, Stunden, die ihm körperliche Befriedigung gebracht hatten, wie er sie vorher nicht kennen gelernt hatte. Sein Körper und sein Geist hätten vor Energie und Wohlbefinden geradezu bersten müssen. Doch er fühlte sich ausgelaugt; Schwächewellen pulsten durch seine Arme und Beine, und sein Magen krampfte sich zusammen. Es dauerte eine ganze Weile, bis Oktavianus Besserung verspürte. Erst jetzt fühlte er sich in der Lage, in die unteren Räume zu gehen. Du hast aus deiner Welt etwas hierher gebracht, das dir auf Dauer zum Verhängnis werden wird! Er dachte an Brinja. Er durfte sich nicht von seinem Ziel ablenken
lassen. Sein Streben konnte nur eine Zielrichtung haben, und die steckte an Zamorras Ringfinger. Doch in der Gegenwart Brinjas fiel es ihm schwer, an etwas anderes als sie zu denken. In der Küche hielt sich nur Bobo auf. Der Riese war auch in Oktavianus' Augen eine äußerst imposante Erscheinung. Natürlich hatte er ein abstoßendes Äußeres, doch das war für den Centurio nicht entscheidend. In diesem Menschen steckte eine Kraft, die selbst ihm unter Umständen gefährlich werden konnte. Allerdings war Bobo ganz sicher nicht der Mensch, der seine Aggressivitäten gegen andere richtete. Oktavianus bezweifelte sogar, dass er solche Gefühle überhaupt kannte. Bobo saß am Tisch. Vor ihm stand eines der Geräte, mit denen die Menschen ihr großes Bedürfnis nach Musik befriedigen konnten. Oktavianus schöpfte das entsprechende Wissen dazu aus dem Pool, der in ihm verankert war. Noch immer konnte er sich auf diese Tatsache keinen Reim machen. Dennoch nutzte er sie immer wieder. Das Wissen um die silbernen Scheiben – CDs genannt – war ihm bislang eigentlich nicht wichtig erschienen. Wortlos setzte er sich dem Riesen gegenüber. Bobo spielte eine ganz bestimmte Musikpassage immer und immer wieder. Mit erstaunlich geschickten Fingern ließ er den Abtastlaser zum Anfang der Passage zurück springen und hörte erneut intensiv zu. Oktavianus versuchte sich auf die Stimme des Mannes zu konzentrieren, der mit nasaler Stimme sang: »IT'S BETTER TO BURN OUT – than to fade away – MY, MY, HEY, HEY …« … und genau da stoppte Bobo und schnippte die Musik um ein paar Sekunden zurück. Oktavianus verstand den Sinn der Worte nicht wirklich. Bobo blickte den Wolfsmann mit seinen traurigen Augen an. »Das hat er immer gehört. Immer dieses Lied, jetzt kann er es nicht mehr hören.«
Das Brinja in den Raum getreten war, hatte Oktavianus nicht bemerkt. »Woher willst du das so genau wissen, Bobo?« Sie lächelte dem Centurio warm zu und stellte sich hinter Bobos Stuhl. Mit beiden Armen umfasste sie seine Schultern. »Vielleicht darf er das Lied nun ohne Pause hören. Immer und immer wieder. Ich bin beinahe sicher, dass es so ist.« Oktavianus' fragender Blick traf die Katzenfrau. »Von wem redet ihr?« »Catriono ist heute nicht mehr aufgewacht. Wir haben schon den Notarzt verständigt. Er muss gleich eintreffen.« Als Centurio hatte Oktavianus mit Tod und Härte gelebt. Es war bei seinen Untergebenen und Freunden als Realist bekannt, der Tatsachen akzeptierte – und dazu gehörte nun einmal auch das Sterben. Warum erschütterte ihn diese Nachricht dann so? Er hatte Catriono nur kurz kennen gelernt, hatte kaum zwei Sätze mit dem jungen Mann gesprochen. Vielleicht war es die Tatsache, dass ein so junges Leben sang- und klanglos geendet hatte. Oder diese Zeit, diese Welt mit ihren Menschen, die sein Bewusstsein veränderte! Er musste auf der Hut sein. Sein Körper befand sich in einem gefährlichen Prozess der Umwandlung … und vielleicht geschahen ähnliche Dinge mit seinem Bewusstsein. Brinja startete den Song erneut. »Der Text bedeutet, dass es besser ist, sich völlig zu verausgaben, als langsam zu vergehen, ohne eine Marke hinterlassen zu haben. Das Lied hat Neil Young geschrieben. Catriono hat Young sehr geliebt. Und der Junge wollte lieber so sterben, wie er es jetzt getan hat. Die Ärzte hätten sein Leben unter Umständen noch ein oder zwei Jahre erhalten können, doch die hätte Catriono dann im Hospital verbringen müssen. Nein, so war es ihm lieber. Wir sollten also nicht zu traurig sein, Bobo. Unser Freund ist jetzt sicher besser dran.« Sie strich dem Riesen durch seine Haare. Dann gab die Katzenfrau Oktavianus einen Wink. Gemeinsam verließen sie die Küche. »Es klingt zwar jetzt vielleicht nicht gerade sensibel, doch durch Catrionos Tod fehlt der Show nun ein wichtiges Element. Könntest du dir vorstellen, eine improvisierte Nummer bei unseren Auftritten
zu übernehmen? Ich hätte da vielleicht eine Idee, wie wir das aufziehen können.« Ehe Oktavianus antworten konnte, traf der Arzt ein. An seinem Gesichtsausdruck konnte man überdeutlich erkennen, wie unwohl er sich hier zwischen diesen mehr als eigenartigen Wesen fühlte. Doch er musste schließlich seinen Job machen. Brinja übergab dem Mann einen Aktenordner. »Sie finden darin die Krankheitsgeschichte des Verstorbenen und die Bestätigung seiner Ärzte, dass er jegliche Behandlung aus freien Stücken abgebrochen hat. Zudem ist Catrionos Vertrag als Mitglied meiner Theatertruppe enthalten und ein notariell bestätigtes Schreiben des Künstlers. Darin bestätigt er, dass er sich der Risiken für seine Gesundheit bewusst war, wenn er ohne medizinische Kontrolle mit uns auf Tournee ging.« Brinja und der Wolfsmann verließen das Zimmer, damit der Doktor seine obligatorischen Routineuntersuchungen vornehmen konnte. Die Katzenfrau wirkte bedrückt. »Catriono wollte, dass wir aus jeder Verantwortung heraus waren. Was heute Nacht geschehen ist, war für ihn schon lange abzusehen. Er war ein so feiner Junge …« Später, als der Leichenwagen abfuhr, standen alle Artisten vor dem Haus und sahen dem schwarzen Wagen nach. Brinja wandte sich an die Truppe, von denen jeder seinen ganz eigenen Gedanken nachzuhängen schien. »Catriono wird in dem Institut obduziert, in dem man ihn viele Jahre behandelt hat. Das war etwas, das er mit den Ärzten dort so abgesprochen hatte. Später wird man seine Leiche einäschern.« Sie sah in die Runde und setzte mit verändertem Tonfall fort. »Das Leben geht für uns jetzt weiter. Wir müssen uns auf die kommende Woche vorbereiten. Also los, jeder weiß, was er zu tun hat. Genug Zeit vertan, an die Arbeit!« Lupomanus konnte jedem einzelnen ansehen, wie froh er war, jetzt eine unaufschiebbare Aufgabe zu haben. Sie konnten sich so von dem ablenken, was geschehen war. Brinja sah er die nächsten zwei Stunden nicht, denn sie hatte sich in ihrem Zimmer eingeschlossen. Vor der Tür saß Rilke, denn selbst den Panther wollte sie für eine
gewisse Zeit lang nicht um sich haben.
Das Festgelände hatte beeindruckende Ausmaße. Da man der Truppe in diesem Jahr nicht den gleichen Platz zugewiesen hatte, dauerte es eine ganze Weile, bis sie endlich das Schild sahen: »MADAM BRINJAS WELT DER WUNDERWESEN« Es prangte unübersehbar über einem der dicht an dicht stehenden Gebäude, von denen jedes für eine ganz spezielle Attraktion reserviert war. Oktavianus machte sich erst gar nicht die Mühe, sie zu zählen. Es waren einfach zu viele. Zusammen bildeten sie in Kreisform die Peripherie des Geländes, in dessen Mitte eine riesige Bühne aufgebaut war. Hier würden in lockerer Form die Musikdarbietungen aus der ganzen Welt stattfinden. Die angrenzenden modernen Fahrgeschäfte, einschließlich einem historischen Riesenrad und einem ausgewachsenen Zirkus, rundeten das Gesamtbild ab. Das alles machte einen sehr professionellen Eindruck. Die Organisation wurde vom Kultusministerium Korsikas geleitet, wo offenbar ein paar Leute das Sagen hatten, die ihren Job durchaus verstanden. Brinja begrüßte auf ihrer Suche hier und da Leute, die wie sie schon oft hier gewesen waren. Man kannte einander gut. Und wieder schienen alle mit dem zufrieden zu sein, was sie hier vorgefunden hatten. Oktavianus betrachte ihr Haus mit skeptischen Blicken. Das sogenannte Theathergebäude war eine Mischung aus Bretterbude und Zelt. Doch das schien niemandem etwas auszumachen. Die unteren 150 Zentimeter bestanden aus vorgefertigten Holzteilen, die mit Stecksystemen rasch miteinander zu verbinden waren. Darüber folgte dann das Gestänge, auf dem die Zeltplanen gespannt wurden. Es wirkte recht stabil … doch von einem festen Gebäude war es für Oktavianus weit entfernt. Innen betrat man einen kleinen Vorraum, der durch Planen von dem eigentlichen Zuschauerraum abgetrennt war. Dessen Einrichtung bestand logischerweise aus Stuhlreihen und einer Holzempore,
der Bühne. Dahinter befanden sich vier durch Stellwände getrennte Minikammern, die großspurig Künstlergarderoben genannt wurden. Eine davon benötigte die Truppe alleine schon für die Utensilien, die man für die Dame ohne Unterleib-Nurnmer brauchte. Oktavianus schwieg beharrlich, als er der ersten Probe zu Grietjes Auftritt beiwohnte. Offensichtlich war das Betrug, was hier ablief. Aus den launigen Bemerkungen der anderen, die ihre Späße während der doch oft langatmigen Proben machten, hörte er jedoch heraus, dass dies vom Publikum nicht nur akzeptiert, sondern oft geradezu erwartet wurde. Je besser man solche Dinge vorführte, um so größer war die Begeisterung der Menschen. Sie wollten betrogen werden? Wenn das stimmte, dann gehörte dies ganz sicher zu den seltsamsten Erfahrungen, die der Centurio in dieser Welt gemacht hatte. Nicht anders verhielt es sich auch bei den angeblich zusammengewachsenen Brüdern Irving und Nestor. Der Wolfsmann war über ihren Trick verblüfft, denn er konnte wirklich nicht erkennen, wie sie ihn durchführten. Man trug sie auf einer breiten Bahre auf die Bühne – vorne mühten sich die zwergenhaften Illia und Lew, während am hinteren Ende Bobo folgte, der mächtig in die Knie gehen musste, damit Irving und Nestor durch die entstandene Schräglage nicht zu Boden rutschten. Bis auf ihre Hosen waren sie nackt. Sie wandten einander gezwungenermaßen ihre Rücken zu, denn an ihren Schulterblättern hingen sie sichtbar zusammen. Oktavianus musste jemanden aus dem Publikum spielen und wurde zur Bestätigung auf die Bühne gebeten. Es war ihm tatsächlich nicht möglich, einen Betrug zu entdecken. Ein paar Minuten später, als Bobo bereits seine stärkster Mensch der Welt-Nummer probte, sah er die Brüder dann vor dem Zelt. Irving sprach leise mit Grietje, während sein Bruder Geschichten mit dem Inhaber des Nebengebäudes austauschte. Oktavianus zuckte die Schultern. Wenn diese Scheinwelt wirklich gewollt war, dann sollten die Menschen doch damit glücklich werden. Das größte Desaster bahnte sich an, als er an der Reihe war. In aller Eile hatte sich Brinja eine kurze Nummer ausgedacht, in der er, der Werwolf, sie – das hilflose Kätzchen – attackierte. Im entschei-
denden Moment jedoch sprang Rilke fauchend zwischen die beiden und verjagte den großen, bösen Wolf. Sie probten bis in die Abendstunden hinein, doch außer den Lachanfällen seiner Kollegen konnte Oktavianus keinerlei Erfolg sehen. Manchmal hatte er das Gefühl, dass sich selbst der Panther über ihn amüsierte. Brinja tröstete den untalentiertesten Schauspieler aller Zeiten so gut sie konnte. Auf der Fahrt zurück in die Villa war es still in dem klapprigen Bus, der von Nestor gefahren wurde. Morgen war der Eröffnungstag des Festes und alle waren darüber froh. Es sollte nun endlich losgehen. Die Wartezeit vor solchen Events war oft zermürbend. Der Tod Catrionos war ein weiteres Element, das alle verunsichert hatte. Zu der Trauer um ihn kam der Aberglaube, der tief in Artisten verwurzelt lag. Die einzigen, die es offen aussprachen, waren die Liliputaner. »Böses Omen.« Iliia strich mit der Hand durch seinen Bart. Sein Bruder nickte nur. Meist war es Illia, der für beide das Reden übernahm. »Irgendetwas wird geschehen. Ganz schlimme Dinge … ihr werdet es sehen.« Dann herrschte wieder Schweigen. Brinja hatte ihren Kopf an Oktavianus' Schulter gelehnt. »Vielleicht meint er dich damit.« Der Wolfsmann versteifte sich in seinem Sitz. »Ich verstehe nicht …« Die Katzenfrau legte eine Hand beruhigend auf seinen Arm. »Schlimme Dinge werden geschehen. Du wirst sie tun. Ich weiß das, Oktavianus.« Ihre Hand krallte sich in sein Fell, als er einen Versuch starten wollte, ihr diese Dinge auszureden. Sie ließ ihm keine Chance dazu. »Ich weiß es einfach. Du suchst einen ganz bestimmten Menschen. Du bist nicht zu uns gekommen, um dich meiner Show anzuschließen. Es war nur Zufall, dass du bei uns gelandet bist. Der Mensch, den du suchst … du wirst ihn töten. Und dann wird etwas geschehen. Etwas Schreckliches wird geschehen.« Sie suchte seinen Blick. »In der letzten Nacht, ehe du zu mir gekommen bist, hast du einen Unschuldigen gejagt und getötet. Du bist kein Freak wie wir ande-
ren, du bist ein Wolf – ein Werwolf oder sogar noch weitaus mehr. Ich glaube, dass du nicht hierher gehörst. Sag mir, ob die Person zu dem Musikfest kommen wird?« »Ich weiß es nicht. Ich hoffe, dass es so sein wird. Brinja, ich …« Ihre Hand legte sich sanft auf Oktavianus' Mund. »Ich will nicht mehr wissen. Jetzt zumindest noch nicht. Ich will die Nacht genießen, ohne vor Sorgen durchzudrehen. Warte nachher auf mich.« Den Rest des Weges sprachen sie kein Wort mehr. In der Nacht dann liebten sie sich schweigend und so intensiv, als wäre der Abschied voneinander bereits eine unumstößliche Tatsache. Und genau das war er wohl auch.
Die Eröffnungsfeier des Musikfestes hatte pünktlich um 12 Uhr begonnen. Wie in jedem Jahr hatten Veranstalter, Politiker und eine handvoll Prominente ihre Reden vorbereitet, die sie nun bereits seit mehr als zwei Stunden abspulten. Das schönste Fest beginnt immer mit einer überflüssigen Rede – das war wohl auf der ganzen Welt das gleiche Lied. Schlimm war nur, dass hier kein Ende abzusehen war. Das Festgelände hatte sich bereits gut gefüllt. Die Zuschauer warteten ungeduldig auf die erste musikalische Darbietung, die Kinder wohl eher auf das Startzeichen für Autoskooter, Riesenrad und Würstchenbude. Alle Aussteller, alle Künstler und Artisten hatten sich laut Veranstalter bereits um 11 Uhr einzufinden und sich für den offiziellen Beginn bereitzuhalten. Wer länger in diesem Geschäft war, der hätte auf solche Anweisungen gut und gerne verzichten können, denn die Profis wussten, dass ein Gelände, wenn es erst einmal vom Publikum erobert war, jeden Aussteller und Artisten an seinen Arbeitsplatz bannte. Wer glaubte, erst kurz vor dem Startschuss seinen Arbeitsplatz einnehmen zu können, der würde sich seinen Weg durch die unge-
duldige und meist unfreundlich reagierende Menschenmenge bahnen müssen, oder gar auf verstopften Straßen den Auftakt glatt verpassen. Brinja und ihre Truppe waren bereits wenige Minuten nach 10 Uhr eingetroffen. Alles war bereit. Jeder wartete darauf, dass das Publikum die Redner in die Wüste schicken würde, doch das geschah leider auch hier nicht. Man vertrieb sich also die Zeit. Brinja war an solchen Tagen immer ein Vorbild für ihre Leute. Konzentriert und gelassen verbrachte sie solche Wartezeiten und beruhigte ihre vor Premieren oft hypernervösen Leute. Jeder spürte, dass heute alles anders war, denn die Augen der Katzenfrau irrten unruhig hin und her. Sie schien irgendein Ereignis zu erwarten, irgendeine Katastrophe, die sie nicht zu verhindern wusste. Immer wieder ging ihr Blick zu dem neuen Teammitglied, dem Wolfsmann, der das vorbeiziehende Publikum beobachtete. Ab und zu hob er seinen Kopf ein wenig an, als hätte seine Nase einen Geruch, eine Witterung aufgenommen. Doch jedes Mal entspannte er sich auch wieder. Danice, die Fischfrau, wie sie in der Show genannt wurde, hatte mit den ganzen Routinevorbereitungen nichts zu tun gehabt. Es war einer ihrer Grundsätze, dass sie sich mit solchen Dingen nicht belastete. Das galt übrigens auch für diese lästigen Proben. So etwas hatte sie nicht nötig. Sie brauchte viel Schlaf und ihre Ruhe, mehr nicht. Was sollte sie auch schon großartig proben? Ihr Auftritt fand in einer ziemlich geräumigen gläsernen Badewanne statt, in der sie sich zum Vergnügen der männlichen Zuschauer hin und her räkelte. Die zweite Hälfte ihrer Darbietung verbrachte sie stehend … und mit schwingenden Hüften. Jede Frau musste sie um ihr Aussehen beneiden. Und das taten sie ja auch. Danice konnte es Abend für Abend in den Augen der Zuschauerinnen erkennen. Am Ende ihrer Show konnten einige Zuschauer sich dann von der Echtheit ihrer Fischattribute überzeugen. Die Schwimmhäute, die Kiemen – alles war absolut echt. Dass ihr ihre maßlose Überheblichkeit eine ordentliche Portion Hohn und Spott bei ihren Kollegen einbrachte, überhörte sie geflis-
sentlich. Die waren eh nur minderwertige Lebewesen. Keiner von denen kannte die wahre Danice. Am meisten verachtete sie jedoch Brinja. Brinja, die schöne Katzenfrau – Danice sah das ein wenig anders. Für sie spielte diese Felidae-Imitation nur mächtig auf, weil ihr der Laden zufällig gehörte. Danice wollte noch für einige Monate bei dieser unterbelichteten Truppe verbringen, sich dann endlich ein Engagement suchen, das ihrer zumindest einigermaßen würdig war. Wenn es ein solches Ensemble überhaupt gab. Danice stand abseits der anderen. Niemand machte sich darüber auch nur einen Gedanken, denn es war ganz normal, dass die Fischfrau sich absonderte. Sie war schlau genug, ihre innere Abneigung, ja, ihren Abscheu gegenüber Kreaturen wie Bobo, den hässlichen Liliputanern oder dem gestorbenen Catriono nicht deutlich zu zeigen. Sie hielt sich nur von ihnen fern. Da waren ihr selbst die Betrüger Irving und Nestor noch lieber oder sogar die unterbelichtete Grietje. Heute hatte es jedoch einen besonderen Grund, warum Danice langsam und unauffällig immer weiter in das Innere des Zelthauses verschwand. Sie würde sich an diesem Tag aus »MADAM BRINJAS WELT DER WUNDERWESEN« ausklinken. Vielleicht würde sie ja morgen wieder in der alten Villa oder hier auf dem Gelände auftauchen und den anderen irgendeine wilde Geschichte auftischen – vielleicht war sie von einem Geschäftsmann für eine wilde Nacht entführt worden? Oder ein international bekannter und berühmter Künstleragent wollte sie mit Macht abwerben und hatte in einer Nacht voll Luxus und Glamour um sie gekämpft? – irgendetwas in dieser Richtung fiel ihr da sicher ein. Die Naivlinge würden das eventuell sogar glauben. Und wenn nicht, dann interessierte das Danice auch nicht. Vielleicht aber gab es hier morgen auch keine »MADAM BRINJAS WELT DER WUNDERWESEN« mehr, zu der sie zurückkehren konnte! Sie konnte es nicht rationell begründen, doch als sie den Wolfsmann zum ersten Mal gesehen hatte, waren in ihrem Bewusstsein alle Alarmglocken losgegangen. Er war keine menschliche Mutation, kein Misfit, Freak oder wie sie sich auch immer nannten. Oktavianus war ein Werwolf!
Und in allerkürzester Zeit – noch heute, an diesem Eröffnungstag also – würde durch ihn ein Unglück ausgelöst werden. Ob es Brinjas gesamte Truppe betraf, vielleicht sogar das komplette Fest oder nur den Wolf selbst, das war ihr nicht klar, jedenfalls gab es für Danice keine Frage: Sie musste in diesem unbestimmten Augenblick so weit wie möglich von hier entfernt sein. Und genau das setzte sie nun in die Tat um. Sie hatte nicht den Hauch von einem schlechten Gewissen, als sie durch die kleine Hintertür das Haus verließ. Zudem wusste sie genau, dass ihr hier niemand geglaubt hätte. Also sollten die Freaks die Suppe gefälligst alleine auslöffeln. Zweifel an ihrer Vorahnung kamen Danice natürlich nicht. Sie hatte solche Ahnungen schon immer gehabt. Schon vor so vielen Jahren … Es hatte Gründe, warum sie niemals über ihre Vergangenheit sprach. Schwerwiegende Gründe. Was hätte Danice Brinja und den anderen denn berichten sollen? Vielleicht, dass sie seit mehr als 400 Jahren lebte? Wie hätten ihre Zuhörer wohl auf die Eröffnung reagiert, dass sie dämonischer Herkunft war? Sie konnte sich die Reaktionen sehr gut vorstellen. Sie musste das nicht in die Tat umsetzen. Nein, danke. Danice wusste selber nicht präzise, wie viele Jahre sie nun schon auf dieser Welt lebte. Noch viel weniger war ihr bewusst, was sie hierher verschlagen hatte. Sie wusste nur, dass es so war. Sie alterte nicht, Krankheiten konnten ihr nichts anhaben. Dämonische Kräfte jedoch, die sie sich oft gewünscht hätte, besaß sie nicht. Oder sie waren ihr irgendwann einmal verloren gegangen. Es waren viele Jahre vergangen, ehe sie sich mit ihrem Schicksal abgefunden hatte. Ihr gesamtes Kapital war ihr Äußeres. Es hatte neben all den tumben Menschen, die andersartige Wesen als Gefahr sahen, immer Personen gegeben, die jemanden wie Danice als wunderschöne Kuriosität betrachteten. Man musste diese Menschen nur finden – oder sich finden lassen. Auch in der heutigen Zeit war das nicht anders. Danice hatte nicht vor, sich lange in so einer Freak-Show zur Schau zu stellen. Ihr fehl-
te der absolute Luxus. Sie hatte ihn einmal besessen, doch das war nun auch schon lange her. Ein stinkreicher Araber hatte sie in einem Wanderzirkus gesehen, wo sie ihre übliche Schau dargeboten hatte. Vom Fleck weg hatte er Danice mit in seine Heimat genommen. Als seine Kurtisane, Nobelprostituierte oder auch Geliebte. Ganz so, wie man es nennen wollte. Sie hätte ein Prachtleben bei ihm führen können, doch die Fischfrau hatte ihre Laster, die Männer nun einmal abschreckten. Sie betrog ihn mit seinen Dienern. Und sie bestahl ihren Mäzen und Liebhaber. Sie konnte so gut wie alles von ihm haben, doch sie wollte auch das, was er ihr verweigerte. Etwa den Schmuck seiner angetrauten Frau. Danice besorgte ihn sich dennoch. Er peitschte sie dafür eigenhändig aus und jagte sie nackt in die Wildnis seiner Heimat hinaus. Sie hatte auch das überlebt. Und sie wollte diesen Tag hier ebenfalls lebend überstehen. Danice trug über ihrem winzigen Kostüm einen fast bodenlangen Mantel, der sie ein wenig wie ein Überbleibsel aus den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts aussehen ließ. Auf den Kopf hatte sie sich einen reichlich verwegenen Schlapphut gesetzt, der ihr Gesicht vor zu neugierigen Blicken schützte. So recht wusste sie jetzt nicht, wohin sie gehen sollte. Die sicherste Variante wäre wohl die, das Gelände komplett hinter sich zu lassen. Doch die Neugier der Fischfrau hinderte sie vorerst daran. Die unzähligen Besucher füllten nun bereits fast das ganze Areal. Hier und da standen Straßenmusikanten, die mit akustischen Gitarren, Schellenkränzen oder Geigen ihre eigenen Songs zu Gehör brachten. Das war ein wahrhaftig farbenfrohes Bild, das sich Danice bot. Ihre Aufmerksamkeit konzentrierte sich jedoch auf etwas ganz anderes. Das Publikum war nicht nur in Bezug auf sein Aussehen bunt gemischt. Die Mischung ging quer durch alle sozialen Schichten hindurch. Junge Leute, deren Kapital ihre gute Laune und der Spaß an der Musik waren, Touristen, die ihren Korsika-Urlaub genossen und auf diese Veranstaltung natürlich nicht verzichten wollten, aber auch der Geldadel – alle waren vertreten. Und die Damen und Herren der letzten Kategorie fand Danice besonders anziehend. Speziell die feinen Sachen, die von ihnen hier
zur Schau gestellt wurden. Es ging ihr um Schmuck, den sie über alles liebte. Brillanten, Diamanten … Türkis, Rubin, Smaragd, Onyx oder Granat. Sie liebte alle und in allen Formen ihrer Verarbeitung. Stundenlang konnte sie ihre Schätze betrachten. Doch die Realität sah dann oft genug so aus, dass Danice sich von ihren Kleinoden wieder trennen musste. Nicht immer hatte sie ein festes Engagement. Es gab nicht mehr viele Shows, die mit dem Außergewöhnlichen, dem Einzigartigen ihrer Mitglieder spielten. Das Publikum hatte sich gewandelt. Die Jugendlichen gaben heute keinen Cent mehr für Freaks oder Misfits aus, denn die virtuellen Kreaturen ihrer Computerspiele fanden sie viel cooler. Es gab also immer wieder Zeiten, in denen die Fischfrau schlicht an das eigene Überleben denken musste, nicht an ihren geliebten Luxus. Schmuck ließ sich immer problemlos in Bargeld umwandeln … Es gab schließlich immer wieder Möglichkeiten, sich neue Herrlichkeiten zu besorgen. Echte Galane und Kavaliere, die eine Schönheit wie sie mit Schmuck überhäuften, waren längst ausgestorben. Also stahl sie sich die glitzernden Träume, die sie immer wieder glücklich machten. Gelöst und unauffällig wand sich Danice durch die Menschenmassen. Dass sie dabei mit der einen oder anderen Frau, dem einen oder anderen Herrn zusammenstieß, ließ sich nun einmal nicht vermeiden. »Entschuldigung!« »Macht ja nichts …« »Tut mir wirklich Leid, aber es ist hier heute auch voll …« Danice war nicht nur eine geschickte Diebin – sie war eine Meisterin ihres Faches. Sie hatten den besten aller Lehrer gehabt: Ein Engländer, mit dem sie bei einem Zirkus auf Tournee durch die USA gegangen war. Er trat als Meisterdieb auf, und das war er allemal! Während der Vorstellung lief er durch die Zuschauerreihen und lenkte die Menschen mit witzigen Stories ab. Niemand hatte je bemerkt, wenn er Brieftaschen, Uhren, Schlipse, ja, sogar BHs entwendete. Am Ende seines Auftritts kam dann die Rückgabeaktion, bei denen die Leute sich ihr Eigentum mit meist hochrotem Kopf bei
ihm in der Arena abholen konnten. Er war genial. Und er teilte sein Bett mit Danice, der er zum Spaß einige seiner Tricks verriet. Die Tournee lief über ein Jahr. Irgendwann jedoch verschwand er spurlos. Erst später hörte Danice, dass er bei dem Versuch eines Bankraubes von der Polizei erschossen worden war. Er hätte bei dem bleiben sollen, was er so perfekt beherrscht hatte. Doch durch ihn war die Fischfrau zur Taschendiebin geworden. Ihre schlanken und ungewöhnlich langen Finger waren dabei sehr hilfreich. Die Schwimmhäute störten nicht, im Gegenteil – sie sensibilisierten ihre Geschicklichkeit noch. Sie war noch nie erwischt worden. Und dabei sollte es auch bleiben. Danices Beute klimperte aufreizend in ihrer Manteltasche. Besonders wählerisch war sie heute nicht gewesen, denn dazu hatte ihr einfach die notwendige Zeit gefehlt. Ein paar Ohrringe und Halsketten, einige Ringe und eine zumindest auf den ersten Blick mit Brillanten besetzte Damenuhr. Nichts Besonderes also. Vielleicht musste sie ihre neu erworbenen Schätze ja schon bald zu Euros machen, denn wenn ihre Vorahnung sich als richtig erwies, dann konnte es sein, dass ihr Festengagement bei MADAM BRINJA mit dem heutigen Datum endete. Langsam schlenderte sie in Richtung Ausgang des Festgeländes. Ein heftiges Kribbeln durchlief sie, und für Sekunden wich die blassgrüne Farbe aus ihrem Gesicht. Polizei! Sicher gab es bei solchen Veranstaltungen immer einige Beamte, die im Vorfeld für Ordnung und Ruhe sorgen sollten. Doch was Danice erkennen konnte, war weitaus mehr als das. Natürlich liefen die Polizisten nicht alle in ihren Uniformen herum, doch auch die Beamten in Zivil erkannte sie sofort. Für so etwas hatte sie eine Nase. Danice sah sich um. Niemand verfolgte sie. Es konnte also doch nicht sein, dass dieser Massenauftritt der Behörde ihr galt. Oder etwa doch? Geschickt löste sie sich aus dem Menschenstrom, blieb seitlich neben einer auf alt getrimmten Wurfbude stehen. Rechts von ihr dröhnte ein Nickelodeon die typischen Zirkus- und Kirmesmelodien.
Danice stand unter Starkstrom. Wie sollte sie sich verhalten? Die Hand in ihrer Manteltasche umklammerte die Beute. Am besten, sie würde alles irgendwo verschwinden lassen. Direkt hier zwischen den Ständen. Wenn man sie verhaftete, dann besser nicht mit dem Schmuck in der Tasche. Andererseits … sie hielt sich selbst und ihre kleinen Beutezüge kaum für so wichtig, dass man direkt eine Großfahndung einleitete. Nein, da musste es doch um andere Dinge gehen. Danice beschloss, es mit Frechheit zu versuchen. Erneut schmiegte sie sich in den Menschenfluss ein und ging direkt zwischen den Beamten hindurch, die zielstrebig auf das Gelände drängten. Die Beute in der Tasche brannte heiß … doch keiner der Männer und Frauen beachtete sie auch nur mit einem einzigen Blick. Direkt an das Gelände schlossen sich die kommerziell geleitete Kirmes und der international bekannte Zirkus an, die als Nebenveranstaltungen zum Musikfest liefen. Auch hier drängten sich die Schaulustigen dicht an dicht durch die Gänge. Danices Blick fiel auf einen großen Verkaufsstand, der billige Elektronikwaren anbot. Es war in dieser Zeit nichts Besonderes mehr, wenn die traditionellen Waren immer mehr durch aktuelle Angebote verdrängt wurden. Kirmes oder Flohmarkt? Die Grenzen verschwammen zusehends. Begeistert war Danice von dieser Entwicklung nicht, doch sie würde ganz sicher nichts daran ändern können. Ein gutes Dutzend TV-Geräte waren eingeschaltet, um die potentiellen Käufer anzulocken. Alle waren auf den gleichen Sender eingestellt, bei dem eine Nachrichtensendung lief. Danice stutzte. Das Bild war in der Vertikalen geteilt – links sah man die Phantomzeichnung eines Mannes, rechts die einer Frau. Danice verstand den Sinn des Textes nicht so ganz, den der Nachrichtensprecher aus dem Off dazu sprach, doch es kamen einige Schlüsselworte darin vor, die ihre ganze Aufmerksamkeit fesselten. »… mutmaßliche Terroristen, die zunächst für Überlebende des Flugzeugabsturzes gehalten wurden. In einer spektakulären Aktion konnten sie sich der Festnahme im Hafengelände Nizzas den Behörden entziehen. Die Bevölkerung wird daher dringend gebeten …«
Worum man die Bevölkerung in Frankreich bat – denn es lief der Sender FRANCE 2 – interessierte Danice nicht. In ihrem Kopf rotierte es. Die Gesichter der beiden hatte sie gesehen. Aber wo und wann? Als es ihr einfiel, wandte sie sich zum Festgelände und lief los. Es war das schöne Gesicht der blonden Frau, das sich ihr eingeprägt hatte … vorhin, bei ihrem kleinen Beutezug hatte Danice sie gesehen. Zumindest der eine Teil dieser gesuchten Terroristen befand sich hier, irgendwo mitten auf dem Gelände. Danice beschleunigte immer mehr. Ohne Rücksicht drängte sie sich durch die Massen hindurch. Vielleicht hatte sie sich ja geirrt? Vielleicht war es überhaupt nicht der Wolfsmann, von dem Unglück drohte. Sie verstand sich selber nicht mehr, doch sie fühlte einen Zwang in sich, die Truppe um Brinja zu warnen. Vielleicht hätte sie das ja schon von Anfang an tun sollen. Hoffentlich war es jetzt noch nicht zu spät! Überall entdeckte sie jetzt die Beamten, deren Anwesenheit ihr nun verständlich war. Das Terror-Pärchen musste sich irgendwie nach Korsika abgesetzt haben. Doch wie wollte die Polizei die beiden aus einem Menschenmeer wie diesem herauspflücken? Ganz sicher würde das nicht unblutig ablaufen. Vielleicht planten die beiden ja hier einen neuen Anschlag. Ja, so musste es sein. Über die Köpfe der Menge vor sich konnte Danice das Schild erkennen, auf dem Brinjas Truppe angekündigt wurde. Und die Fischfrau schwamm durch das Meer aus Menschenleibern auf ihr Ziel zu …
Nicole hielt sich dicht neben Zamorra. Es war eine Kunst, sich zwischen all diesen Menschen nicht zu verlieren. Als sie das große Zirkuszelt passierten, versuchte sie sich zu erinnern, wann sie das letzte Mal in so einer Vorstellung gewesen war. Es fiel ihr beim besten Willen nicht ein. Das musste viele Jahre her sein. Ein weiterer Beweis dafür, wie sehr sie ihr jetziges Leben vereinnahmte.
Zirkus – in ihrer Kindheit hatte sie diese Welt geliebt. Diese Mischung aus Artisten, wilden Tieren und dem reinen Spaß war in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr in den Hintergrund der Unterhaltungswelt gerückt. Doch es hatte immer clevere Zirkusmenschen gegeben, die das Publikum mit dem Reiz des Ausgefallenen gelockt hatten. Der Zirkus hatte sich verändert, an die Bedürfnisse, Wünsche und Träume seines Publikums angepasst. Er hatte überlebt! Wenn es anderen Sparten der klassischen Unterhaltung nach wie vor nicht besonders gut ging – wenn etwa alteingesessene Varietes reihenweise schließen mussten – dann bildete die Zirkuswelt eine positive Ausnahme. Die Clowns machten wieder ihre Späße – Löwen und Tiger fochten ihr spektakuläres Kräftemessen mit den Dompteuren in der Manege aus – Hochseilakrobaten tanzten ihren Reigen in schwindelnden Höhen. Nicole riss sich von den Bildern ihrer Erinnerung los. Sie drängten sich auf das eigentliche Gelände zu, auf dem die zahllosen Konzerte stattfinden würden. Es schien, als wären sie genau in dem Moment angekommen, als sich die Eröffnungsfeier ihrem Ende neigte. Zamorras Blicke suchten das Gelände ab. Nicole wusste, dass er verzweifelt nach einem Anhaltspunkt Ausschau hielt, der auf irgendeine Art und Weise auf die Vision deutete. Der bunte Himmel, ein schwebender Engel … die Fanfare … Fanfaren würde es in den kommenden Stunden und Tagen mehr als eine geben – in den verschiedensten Klängen aus den unterschiedlichsten Instrumenten. Die Folk-Gruppen, Jazz- und Rockbands aus der ganzen Welt gaben sich hier gegenseitig die Mikrophone in die Hand. Wer da nicht etwas für seinen Geschmack fand, dem konnte man sicher nicht mehr helfen. Mit Engeln und farbigen Himmeln sah das schon anders aus. Auf der großen Bühne im Mittelpunkt des Geländes begannen nun die Umbauarbeiten. Man hatte die Politiker und Honoratioren Korsikas ja schlecht zwischen Marshall-Verstärkertürmen, Schlagzeug und Keyboards ihre Reden abhalten lassen können. Vielleicht hätte den Herren das ja sogar gut gestanden, doch zu solchen Expe-
rimenten fühlte sich hier niemand berufen. Roadies enterten den Bühnenboden und kletterten geschickt auf die Lichtbrücke, die in schwindelnder Höhe quer über die Bühne gespannt war. Das Publikum deutete diese Zeichen ganz richtig: es würde sicher weit mehr als eine Stunde dauern, bis alles bereit für die erste Musikgruppe war. Zeit genug also, sich den Attraktionen zu widmen, die sich an der Peripherie des großen Kreisgeländes befanden. Und dort starteten in diesen Minuten auch schon die ersten Shows. Nicole führte ihren Mund ganz nah an Zamorras rechtes Ohr, damit er bei dem herrschenden Lärm überhaupt eine Chance hatte, seine Partnerin akustisch zu verstehen. »Wir sollten uns vielleicht näher bei diesen Theaterzelten umsehen.« Aus der Entfernung sahen diese extra errichteten Gebäude wie aufgeblasene Jurten aus, ähnlich den Hütten, die früher von Mongolenstämmen bevorzugt wurden. Zamorra nickte nur. Er versuchte erst gar nicht gegen den Lärm anzureden, der jetzt auch noch durch Musikeinspielungen aus den Verstärkertürmen gesteigert wurde. Auf dem Weg zu den bunt verkleideten Zelt-Haus-Mischungen wurde die Sorge in Nicole erneut hellwach. Was konnten sie tun, wenn der in diese Zeit verschlagene Wolfsmann sie angriff? Das Überraschungsmoment, das er bei der ersten Attacke auf seiner Seite gehabt hatte, existierte nun nicht mehr. Doch das war auch das einzig Positive, das ihr einfiel. Ansonsten war die Habenseite bei ihnen recht verwaist. Ohne voll funktionstüchtiges Amulett, ohne die Dhyarras, die Nicole nun besonders schmerzlich vermisste, blieb ihnen nichts außer Zamorras Magie. Doch er selbst glaubte nicht, dass sie der Wolfsmagie auch nur ebenbürtig sein konnte. Einen Sieg würde er mit ihr wohl in keinem Fall erringen können. Ohne wirkliches Ziel gingen sie an den Attraktionen entlang, die mit ihren bunten Plakaten die Aufmerksamkeit des Publikums bannten. Vor vielen der Gebäude standen in den wildesten Verkleidungen herausgeputzte Animateure, die über Mikrophone oder per
Megaphon für ihre Show warben. Unter anderen Umständen wäre Nicole begeistert gewesen, denn das hier war eine wirklich gelungene Mischung. »ERLEBEN SIE DIE ZEIT DER SAURIER – SEHEN SIE UNSERE SHOW! ABER ACHTUNG: NICHTS FÜR SCHWACHE NERVEN!« »HEREIN, HEREIN – 1.000 WILDE MUSTANGS – 1.000 INDIANER AUF DEM KRIEGSPFAD! ALLES FÜR LÄPPISCHE 5 EURO!« Nicole fragte sich, wie man in diese Hütte wohl mehr als ein Pferd und allerhöchstens ein halbes Dutzend Operetten-Indianer bekommen wollte. »VERPASSEN SIE NICHT DIE GRÖSSTE SENSATION! ERLEBEN SIE HIER, WAS DIE REGIERUNGEN DER WELT IMMER WIEDER ALS HIRNGESPINSTE BEZEICHNET HABEN! DIE ALIENS! WIR HABEN SIE – KOMMEN SIE UND NEHMEN SIE KONTAKT AUF ZU DEN BRÜDERN ALS DEM ALL!« Je verrückter, je besser. Doch dazwischen gab es auch die seriös erscheinenden Varietes, mit ihren Zauberkünstlern und Schlangenmenschen, die sich auf den Plakaten in unmöglich verrenkten Körperhaltungen darboten. Nicole sah ein 3D-Kino, dessen Aufführung auf Schockmomente zielte, direkt daneben den »Palast der Musik«, in dem man sich von ein paar geschniegelten Sängern die alten Schlager aus längst vergangenen Zeiten vorsingen lassen konnte. Das Publikum hatte offenbar seinen Spaß an dieser Mischung. Es fehlte natürlich auch nicht die groß angekündigte »HORROR SHOW«, die ein als Teufel verkleideter Ausrufer den Vorbeigehenden schmackhaft zu machen versuchte. Nicole dachte kurz an Asmodis. Der hätte es sicher nicht witzig gefunden, wie sich sein Double hier benahm. Einige Häuser weiter konnte Nicole ein auffällig großes Schild erkennen, das unübersehbar über einem Eingang hing. »MADAM BRINJAS WELT DER WUNDERWESEN« Das alleine hätte sie bei all den hier angekündigten »Wundenwlten« und »größten Shows aller Zeiten« sicher nicht besonders interessant gefunden, doch links und rechts neben dem Schild waren auf großflächigen Plakaten die besagten Wunderwesen abgebildet, die man
dort bewundern konnte. Es gab nichts, was man bei so einer Freak-Show vermissen würde: Eine Katzenfrau, eine Nixe, die unumgängliche Dame ohne Unterleib und siamesische Zwillinge. Wer von denen nun wirklich echt war, das musste das Publikum für sich entscheiden, doch das unterste Plakat schien noch ganz neu zu sein. Es zeigte eine wilde Bestie, umringt von einem Pulk aus schwer bewaffneten Männern, die es zur Strecke bringen wollten. Doch die Bestie riss angriffslustig den Rachen weit auf. Dem Betrachter war klar, dass sich der Graue dort nicht so einfach fangen lassen würde. Denn der Graue war ein Werwolf. Nicoles Blick fiel auf Zamorra, der das Bild schon ausgemacht hatte. »Sieh mal einer an. Kein übles Versteck. Ich bin beeindruckt von unserem Centurio. Doch jetzt haben wir die Überraschung auf unserer Seite …« Was er noch sagen wollte, würde für immer sein Geheimnis bleiben, denn in diesem Augenblick bellte die befehlsgewohnte Stimme hinter ihnen auf. »Auf den Boden – Kopf nach unten und Beine auseinander. Keine falsche Bewegung!« Zamorra und Nicole blickten direkt in die Mündungen unzähliger Automatikgewehre, deren Träger unschwer als Mitglieder einer Spezialeinheit zu erkennen waren. Vermummt wie Astronauten standen sie stumm und bedrohlich in einem weiten Kreis um den Professor und seine Partnerin. »Diese Art der Überraschung hatte ich allerdings nicht gemeint …« Langsam erhob der Parapsychologe die Arme, denn das Blatt hatte sich nun eindeutig gegen sie gewendet.
»Die Damen, die Herren – wir fühlen uns geehrt, Sie alle bei uns begrüßen zu dürfen …« Nestor war von Brinja ausgesucht worden, bei dieser ersten Show die Rolle des Conferenciers zu übernehmen. Sie selbst fühlte sich dazu nicht in der Lage. Die Vorahnung der nahenden Katastrophe ließ sie einfach nicht mehr los.
Wen Oktavianus suchte, das wusste sie nicht. Doch er – oder sie – würde kommen, das stand für Brinja fest. Nicht morgen, nicht in drei Tagen, sondern heute! Doch selbst dieser Gedanke konnte nichts daran ändern, dass das Musikfest begonnen hatte. Die Show begann pünktlich. Rilke saß regungslos neben Brinja, die den Start des Programms hinter dem Vorhang beobachtete. Nestor machte das heute nicht zum ersten Mal. Er war gut. »In den tiefen Wäldern der Taiga lebte einst das Volk der Zwerge …« Er übernahm Brinjas Text wortwörtlich. Doch seine tiefe, leicht hohl klingende Stimme gab der Legende von Illia und Lew einen ganz besonderen Touch. Nach langer und dramatischer Geschichte kam er zum Ende: »… und doch überlebten zwei ihrer bitter verfeindeten Fürsten, deren Herzen vor Kummer weinen, wenn sie an die große Zeit ihres Volkes zurückdenken. Meine Damen und Herren – Brinjas Welt der Wunder ist stolz, Ihnen präsentieren zu dürfen: Lew und Illia – die Fürsten der Eiszwerge!« In alte Felle gehüllt betraten die Liliputaner die Bühne. Gram und Kummer war ihnen in die kleinen Gesichter gemeißelt, als die Punktstrahler sie aus der Dunkelheit herausschälten. Doch dann starteten sie ihre ganz spezielle Show. Im Russischen Staatszirkus hatten die beiden ihr Handwerk von der Pieke auf gelernt. Sie begannen mit einem Schaukampf, der artistische Höchstleistungen erforderte. Brinja fragte sich oft, wie die zwei sich in ihrem Alter noch so fit präsentieren konnten. Wenn das Publikum sich schließlich gebannt auf den Kampf der Zwerge konzentrierte, kam die Überraschung, die für gewöhnlich den ersten Schockmoment der gesamten Show einleitete. Lew hebelte lllia geschickt aus … und warf ihn im hohen Bogen mitten in die Zuschauerreihen hinein. Natürlich kam dabei nie einer der Leute zu Schaden, denn Illia landete perfekt zwischen den Reihen, doch bis das auch dem letzten der Anwesenden klar wurde, vergingen immer einige Sekunden voller Angstschreie und lautstarken Protesten. Lew folgte seinem Bruder mit einem Kampfschrei – und schon tobten sie über Stühle und die Schöße der Zuschauer hinweg. Die eine oder andere hübsche Frau musste sich dabei durchaus mit ei-
nem dicken Kuss oder einer anzüglichen Bemerkung der Zwergenfürsten abfinden. Am Schluss des Auftritts standen sie sich dann wieder auf der Bühne gegenüber … und wieder liefen Kummer und Trauer über ihre Gesichter. Das Licht dämmte langsam ab … tosender Applaus! Als die Liliputaner verschwitzt und schwer atmend hinter die Bühne kamen, tauchte Irving neben Brinja auf. »Ich kann Danice nirgendwo finden. Sie kommt doch direkt nach Grietjes Auftritt an die Reihe. Verdammt, muss die denn hier immer aus der Reihe tanzen?« Die Katzenfrau verstand Irvings Wut, der sich um den ordentlichen Ablauf zwischen den einzelnen Showelementen kümmerte. Doch mit Vorhaltungen kam man bei Danice nicht weit, diese Erfahrung hatte Brinja schon mehrfach machen müssen. Die Fischfrau war nie in die Truppe integriert worden. Sie wollte das einfach nicht. »Sie wird schon rechtzeitig auftauchen, Irving. Notfalls ziehen wir meinen Auftritt vor.« Brinja konnte sich selbst auf diese wichtigen Dinge nicht richtig konzentrieren. Immer wieder ging ihr Blick zu Oktavianus, der mit gesenktem Kopf hinter der Bühne stand. Worauf wartete er? Ein Geräusch vielleicht? Einen bestimmten Geruch, den seine feine Nase wahrnehmen konnte? Oder darauf, dass sich die Tür zum Publikumsraum öffnete, dass die eine bestimmte Person den Saal betrat? Sie fragte ihn nicht danach, denn er würde ihr sicher keine Antwort geben wollen … oder können. Nestor hatte, gekleidet in Frack und Zylinder, die Bühne erneut betreten. Ein ferner Donner erklang aus den Lautsprechern. Unheilverkündend schien er immer näher zu kommen. Dann explodierte Nestors Stimme. »Boooooooboooooo! In den Dörfern Mexikos wird dieser Name nur im Flüsterton genannt – denn sie alle erinnern sich an ihn … den aus Lehm geformten, den grässlichen und gnadenlosen Riesen aus grauer Vorzeit …« Die Legende, die sie sich für Bobo ausgedacht hatte, lief auf eine Shownummer hinaus, die natürlich nicht den Verve besaß, den die Liliputaner auf die Bretter zaubern konnten. Das war mit Bobo einfach nicht zu machen. Bei ihm ging es ausschließlich um die Kraft,
die in seinen mächtigen Armen ruhte. Bobo stemmte Gewichte, verbog Eisenstangen oder zerriss dicke Bücher. Am Schluss seiner Nummer stemmte er die schwersten Männer aus dem Publikum in die Höhe – einen auf seinem linken, den anderen auf dem rechten Arm sitzend. Das war's. Dennoch liebte ihn das Publikum immer ganz besonders. Es war seine Hässlichkeit, gepaart mit dem unschuldigen und gutmütigen Blick seiner Kinderaugen, denen offenbar niemand auf Dauer widerstand. Hier wurde kein Supermann präsentiert, kein muskelbepackter Schönling, dem sich die Menschen unterlegen fühlen mussten. Im Gegenteil. Man bekam einen enorm starken, jedoch unsagbar hässlichen und dummen Burschen geboten, dem sich jeder überlegen fühlen konnte. Was für Muskeln … aber schau dir mal dieses Gesicht an … Sie schlossen Bobo in ihre Herzen – so einfach war das. Brinja wusste genau, wie sehr Bobo das Gefühl genoss, das ihm aus dem Publikum entgegenschlug. Er lebte für diese kurzen Momente. Grietjes Auftritt bedurfte einiger technischer Umbauten, während dessen Nestor die Menschen auf ihren harten Stühlen mit einigen kleinen Freak-Geschichten unterhielt und ablenkte. Während Grietjes Auftritt – der im Grunde einer Besichtigung gleich kam, denn was sollte die Dame ohne Unterleib schon groß vorführen? – begann Brinja mit den letzten Vorbereitungen ihrer SoloShow. Danice war noch nicht aufgetaucht, also ging es nicht anders: der Ablauf musste geändert werden. Das hautenge Kostüm, das nicht mehr als das wirklich Notwendigste von Brinjas Körper bedeckte, war rasch angelegt. Sie ging in die Hocke und nahm Rilkes Kopf in beide Hände. »Alles klar, mein Schatz? Heute sind wir etwas eher an der Reihe. Aber du wirst das schon machen.« Die lange Raubtierzunge schleckte zärtlich über ihr Gesicht. Das Tier spürte Brinjas Unruhe deutlicher, als ein Mensch das gekonnt hätte. Gerade deshalb würde der Panther heute besonders aufmerksam agieren. Sie wusste, dass sie sich da keine Sorgen machen musste. Brinja erschien hinter der Bühne genau in dem Augenblick, als Danice durch die winzige Hintertür schlüpfte. Brinja hielt den wüten-
den Irving davon ab, der Fischfrau gehörig seine Meinung zu posaunen, denn sie konnte in dem Gesicht mit dem grünen Teint erkennen, dass etwas geschehen war. Danices Augen suchten die des Wolfsmannes, doch dann schüttelte sie den Kopf, als habe sie dort nicht das gefunden, was sie vermutete. »Auf dem Gelände ist überall Polizei. Es scheint sich dabei um einen Großeinsatz zu handeln.« Ihre gekünstelte Art zu sprechen ähnelte eher einer sachlichen Berichterstattung. Brinja registrierte die angespannte Reaktion Oktavianus'. Er sog Danices Worte geradezu in sich auf. Die Katzenfrau reagierte nervös. »Weiter. Was haben wir damit zu tun? Lass dir doch nicht jedes einzelne Wort aus der Nase ziehen. Rede schon.« Danice beschwerte sich erstaunlicherweise nicht über die recht scharfe Art, in der Brinja sie angesprochen hatte. Die Fischfrau schien zerfahren und beunruhigt zu sein. »Genau weiß ich das auch nicht. Aber es handelt sich wohl um zwei Terroristen, die man hier sucht. Und ich denke, ich habe sie da draußen gesehen. Brinja, etwas Schreckliches wird geschehen. Mit uns … wir sollten schnell gehen.« Echte Verzweiflung hatte da mitgeklungen. Und reale Angst. So kannte Danice hier niemand. Nestor kam hinter die Bühne, während Irving Grietje in Empfang nahm, die ihren Auftritt nun hinter sich hatte. »Was geht da draußen vor? Die Leute verlassen das Theater. Irgendwer hat etwas von einem Terroranschlag erzählt, und nun laufen alle in Panik auf das Gelände.« Von weit oben näherte sich ein dröhnendes Geräusch. Nestor sah in die Runde. »Hubschrauber? Hey, kann mir mal jemand sagen, was da los ist?« »Wir warten erst einmal ab.« Brinja musste beruhigend auf ihre Leute einwirken. Als sie einen Blick hinter sich warf, vergaß sie alle guten Vorsätze, die eine Theaterchefin in solch einer Situation wohl haben sollte. Der Platz, an dem Oktavianus noch vor wenigen Sekunden gestanden hatte … war leer.
»Auf den Boden – Gesicht nach unten! Ich sag's nicht noch einmal!« Nach wie vor streckte Zamorra die Arme in die Höhe. Langsam knickte er in den Knien ein und kam so unsanft auf dem harten Boden auf. Nicole konnte er von seiner Position aus nicht sehen, doch er war überzeugt, dass sie sich ganz ähnlich verhielt. Widerstand war anscheinend unmöglich. Zu viele schwarze Läufe, in die er direkt hinein sehen konnte. Wie dumm hatten sie sich nur verhalten. Hatten sie denn tatsächlich geglaubt, niemand in Nizza wäre auf den Gedanken gekommen, dass Nicole und er sich auf einem der Fährschitte abgesetzt hatten? Der Gedanke an den Centurio und die Todesvision hatte Zamorra blind und taub für alles andere gemacht. Das rächte sich nun bitterlich. Er war sicher, dass der Wolfsmann ganz in ihrer Nähe war. Vielleicht stand er irgendwo hinter den Beamten der Anti-Terror-Einheit und beobachtete die ganze Szene. Wenn dem so war, dann konnte ihm das, was er da sah, auch nicht gefallen, denn es würde Zamorra und ihn räumlich trennen. Das war die Konsequenz des Zugriffs. Zamorra wunderte sich, in welchem Umfeld man hier so eine Aktion startete. Mutmaßliche Terroristen, die sich mitten unter Tausenden von Unbeteiligten bewegten so offen anzugehen – er bezweifelte, dass man in Frankreich und anderen Ländern Europas so etwas gewagt hätte. Doch das hier war Korsika. Die Insel befand sich zwar unter der Regierungsgewalt Frankreichs, doch der Parapsychologe glaubte sicher, dass er hier einheimischen Einheiten gegenüber stand. Und die fackelten nicht lange. Die ganze Historie Korsikas bewies, dass die Uhren hier immer ein wenig anders getickt hatten. »Wenn du in einer Sekunde nicht auf dem Bauch liegst, bist du tot, Mann. Spreche ich so undeutlich?« Die Stimme war nicht nur schneidend kalt, sondern durchaus glaubhaft in ihren Aussagen. Doch Zamorra hatte ganz bewusst in dieser Stellung ausgeharrt.
Es hatte ihm einige Sekunden wertvoller Zeit gebracht. Und das zahlte sich einen Wimpernschlag später aus. Die ganze Zeit über hatte in gebührender Höhe direkt über ihm der Helikopter in der Luft stehend verharrt. Und Zamorras hoch erhobene Hände hatten eine Art magischen Leitstrahl zu ihm entstehen lassen. Dem Professor stand der Schweiß auf der Stirn, denn die Anstrengung, die er in diese gewagte Aktion legen musste, führte ihn beinahe über die Grenzen dessen hinaus, was er zu leisten fähig war. Hitze … intensive Hitze aus magischer Energie, deren Fluss für alle Umstehenden unsichtbar blieb. Wie an einem dünnen Astralband wanderte sie von Zamorras Händen hoch zu den Doppeltanks des Hubschraubers. Und dann war der Moment erreicht, in dem der Inhalt des rechten Tanks in einer gleißend hellen Lichtkaskade explodierte! Schreie wurden laut – Schüsse lösten sich, und Zamorra spürte den heißen Todeshauch einer Kugel, die sein Gesicht um wenige Millimeter verfehlte. Der Pilot des Helikopters reagierte mit der Geistesgegenwart, die Zamorra von ihm erhofft hatte. Der Mann riss die Maschine hoch und steuerte sie auf das offene Meer zu. Bastias Hafen war nur knapp zwei Kilometer von hier entfernt. Er schaffte es, die Maschine in einer gekonnten Bruchlandung in eines der Hafenbecken zu setzen. Doch das alles konnte und durfte Zamorra und Nicole in diesem entscheidenden Augenblick nicht interessieren. Sie reagierten wie eine Person, nicht wie zwei Individuen, die sich in einer absoluten Stresssituation von Panik oder Angst zu unüberlegtem Handeln verleiten ließen. Zu viele Jahre hatten sie als Team gelebt und gekämpft; sie funktionierten wie ein miteinander verlinktes Bewusstsein, dessen einziges Ziel das Überleben war. Zamorras Netzhäute waren von der Helligkeit völlig überreizt, doch er hatte sich die Umgebung so intensiv eingeprägt, dass er die Sekunden der Blindheit dennoch nutzen konnte. Er stürmte auf das Zelt-Gebäude zu, das rechts von ihm lag. Der Ring, den die Polizisten um Nicole und ihn gezogen hatten,
war eng, doch nicht eng genug. Geschickt schlüpfte er durch die Lücke zwischen zwei Bewaffneten hindurch. Hinter ihm blafften weitere Schüsse auf, die ein Echo in Schmerzesschreien fanden. Irgendein wildgewordener Polizist ballerte offenbar blindlings in die Menge. Zamorra hoffte, dass niemand ernsthaft verletzt wurde – andererseits verschaffte ihm und Nicole das weitere Luft, denn nun würde das Einsatzkommando sicher besonders vorsichtig vorgehen. Eine Panik unter den unzähligen Besuchern konnten sie kaum brauchen. Ein Schatten direkt neben ihm verriet dem Professor, dass Nicole an seiner Seite war. Im Haus herrschte nur gedämpftes Licht. Zamorra und Nicole sahen sich kurz um. Es konnte nicht lange dauern, bis die Bewaffneten draußen ihre Schrecksekunden überwunden hatten. Dann würden sie die Zelte stürmen, jedoch mit etwas mehr Überlegung und Vorsicht als bisher. Mit kurzen Sätzen stimmten sie sich ab. »Was ist das hier?« Zamorra hoffte, dass Nicole sich Einzelheiten gemerkt hatte. »HORROR SHOW – stand zumindest außen angeschlagen.« »Na, passt ja. Ab durch die Mitte.« Sie hatten den Innenraum kaum erreicht, als direkt vor ihnen zwei Gestalten aus dem Nichts auftauchten. In Gold und Silber gekleidete Teufel … mit goldenen Hörnern auf der Stirnpartie, deren Spitzen wie Smaragde funkelten. Zamorra und Nicole rannten mitten durch die Hologramme hindurch. »Wenn die das Horror nennen …« Nicole wunderte sich, für welchen Schrott die Menschen ihr Geld ausgaben. An den Wänden hatte man nicht nur zeitgenössische Höllenvisionen abgebildet, sondern auch die einiger großer Künstler – Dali und Hieronymus Bosch konnte Zamorra ausmachen, Visionen von Frida Kahlo und natürlich den »Schrei« von Munch, das Bild, dessen diverse Versionen sich bei Kunstdieben in aller Welt offenbar besonderer Beliebtheit erfreuten. HORROR SHOW war hier wohl eher im avantgardistischen Sinne
gemeint. Zumindest hatte man auf riesige Gummispinnen verzichtet, die von der Decke hingen, und ähnlichem Firlefanz. Nicole entdeckte den als Teufel verkleideten Burschen zuerst. Es war der Mann, der vor dem Eingang mit seinem Megaphon die Zuschauer zu einem Besuch in der Show zu animieren versuchte. Mit einem Satz war die Französin bei ihm. »Du legst dich jetzt still und stumm auf den Boden. Kein Sterbenswort will ich von dir hören – okay? Sonst schicke ich dir dein Original vorbei. Und der kann recht unfreundlich werden. Alles verstanden?« Der Mann nickte heftig und warf sich flach auf seinen Bauch. Von ihm war keine Störung zu befürchten. Auch dann nicht, wenn er Nicoles Drohung mit einem Besuch von Asmodis nicht verstanden hatte. Der Ausdruck in ihrem Gesicht hatte voll und ganz ausgereicht, um ihm zu beweisen, dass diese Frau nicht spaßte. Außer dem Karnevals-Teufel befand sich niemand innerhalb des Gebäudes. Wahrscheinlich waren alle Mitglieder nach draußen gelaufen, als dort der Polizeieinsatz begonnen hatte. Zamorra öffnete die kleine Hintertür des Gebäudes. Er hatte freien Blick auf die Kirmes, die außerhalb des Geländes lag. Er sah Verkaufsbuden, einen Skooter und ein historisches Kinderkarussell – doch nicht einen einzigen der Bewaffneten. Waren die wirklich so sträflich leichtsinnig vorgegangen, das Gelände nicht auch von außen her zu sichern? Kaum zu glauben, doch es sprach alles dafür. Nicole berührte seine Schulter. »In deiner Vision ging es diesem verrückten Centurio doch offensichtlich um den Zeitring, richtig?« Sie wartete seine Bestätigung nicht ab. »Was wäre, wenn du ihm den Ring überlässt? Er will in seine Zeit zurück … also lassen wir ihn doch.« »Glaubst du, in diese Richtung hätte ich nicht auch schon gedacht?« Zamorra sondierte ohne Unterlass das Gelände. »Nein, so geht das nicht, Nicole. Oktavianus will zurück, um unseren Eingriff ungeschehen zu machen – er will dafür sorgen, dass ein Wolf auf den Heiligen Stuhl kommt. Und ich denke, er ist der festen Überzeugung, dass er dich und mich hier töten muss, damit das geschehen kann. Unser Tod und seine Rückkehr in die Vergangenheit sind für
ihn eins. Ich weiß nicht, wie diese andere Zeitebene überhaupt existieren konnte …« Zamorra suchte nach Worten für etwas, das er nicht begriff. »Sie widerspricht jeder Geschichtsschreibung … ich …« »Mir geht es nicht anders.« Nicole hörte weit hinter sich eindeutige Geräusche. Sie mussten hier verschwinden. Man war ihnen nun schon dicht auf den Fersen. »Aber mir will keine Möglichkeit einfallen, wie wir dieser Vision entgehen können. Wir haben nichts, was wir dem Wolfsmann entgegensetzen können.« »Wir werden jedenfalls nicht hilflos wie Lämmer vor der Schlachtbank sein. Und nun komm. Lauf!« Mit weiten Sätzen sprinteten sie auf den ihnen am nächsten liegenden Gang zu, der von gutgelaunten Menschen nur so überquoll. Mitten im bunten Treiben tauchten sie unter und wurden zu einem Teil der Menschenmasse.
Brinja hastete vorwärts. Dass Danice, Irving, Grietje und Bobo dicht hinter ihr waren, registrierte die Katzenfrau kaum. Sie hatte Mühe, Rilke einigermaßen zu folgen. Wenn der Panther nicht ab und zu stehen geblieben wäre, um sich nach seiner Herrin umzusehen, hätte sie ihn sicher längst verloren. In dem Augenblick, als sie Oktavianus' Verschwinden bemerkt hatte, wusste sie genau, was geschehen war. Danice hatte diese angeblichen Terroristen draußen in der Menge ausgemacht. Und genau diese Menschen waren es, auf die der Wolfsmann die ganze Zeit gewartet hatte. Jede einzelne Sekunde, die sie ihn kannte … selbst in den Nächten, wenn sie zusammen waren. Ja, selbst dann hatte er seine Gedanken nicht davon lösen können. Lange Momente hatte sie hilflos verstreichen lassen. Was konnte sie tun? Oktavianus in der Menge da draußen zu finden, war beinahe unmöglich. Außerdem waren seine Zeichen recht deutlich gewesen – er wollte ganz sicher nicht von ihr gefunden werden. Seine Zeit bei »MADAM BRINJAS WELT DER WUNDERWESEN« war
vorbei. Doch Brinja wollte das nicht so einfach akzeptieren. Die Schnauze Rilkes hatte immer wieder gegen ihre Hand gestoßen. Die Augen des Panthers schienen mit ihr zu sprechen: Folge mir – ich finde ihn! Der Spürsinn der Raubkatze war unglaublich. Rilke machte einen großen Bogen um die Bewaffneten, die das Innere des Geländes besetzt hatten. Die ungezählten Menschen hier starrten allesamt wie gebannt auf das Geschehen, das sich dort abspielte. Als der Tank des Helikopters explodierte, brach ansatzweise Panik aus, doch die Beamten bekamen das erstaunlich schnell in den Griff. Die Leute beruhigten sich, als sie den rasch abdrehenden Hubschrauber entschwinden sahen. Was genau geschehen war, blieb unklar, doch die Sensationsgier hielt jeden an seinem Platz. Vielleicht geschah ja noch etwas … Viele bemerkten so den schwarzen Panther überhaupt nicht, als er sich seinen Weg bahnte. Und wenn doch, dann machten man ihm bereitwillig Platz. Sogar die seltsam anmutenden Wesen, die ihm nachfolgten, schienen nicht so interessant zu sein, wie das Anti-Terror-Kommando. Kurz vor den ersten Sehenswürdigkeiten der Kirmes stoppte der Panther. Die intensiven Gerüche, die ihm aus den Gängen entgegenströmten, verwirrten seinen Witterungssinn. Er hatte die Spur des Wolfsmannes verloren. Mit hängendem Kopf blieb er neben Brinja sitzen, die seinen Kopf streichelte. »Schon gut, mein Freund. Bei all diesen Gerüchen kann man den einen nicht vom anderen unterscheiden. Du hast es gut gemacht.« »Und nun?« Irving hielt Grietjes Hand, die sichtbar außer Atem war. »Kannst du uns vielleicht einmal verraten, was hier überhaupt gespielt wird? Wir laufen hinter dir her wie die Lemminge, aber den Grund dafür kennen wir leider noch immer nicht. Was ist mit Oktavianus? Wird er eine Dummheit begehen?« Brinja zuckte mit den schmalen Schultern. Was hätte sie antworten sollen? »Heb mich hoch.« Alle sahen mit Verwunderung zu Danice, die sich neben Bobo aufgebaut hatte und dem Riesen ungeduldig gegen
seinen Arm schlug. »Na los. Worauf wartest du denn noch? Du sollst mich auf deine Schultern heben.« Bobo wusste nicht, wie er sich jetzt verhalten sollte. »Bobo soll Danice … anfassen? Du hast Bobo verboten …« Die Fischfrau stampfte ungeduldig mit einem Fuß auf. »Begriffsstutziger Riesenochse – nun heb mich schon hoch! Aber vorsichtig mit deinen schmierigen Pfoten, ja? Zerdrück mich bloß nicht.« Als wäre Danice ein rohes Ei mit hauchdünner Schale, umfasste der Riese die schmalen Hüften der Frau und hob sie wie eine Feder auf seine breiten Schultern. Viel war Danice von ihrer dämonischen Herkunft nicht geblieben. Sie alterte nicht, doch selbst das konnte sicher nur auf eine besonders ausgeprägte Langlebigkeit hinweisen. Für unsterblich hatte sie sich nie ernsthaft gehalten. Doch ihre Augen waren denen der Menschen um ein Vielfaches überlegen. Einen echten Vorteil hatte sie darin eigentlich nie finden können. Hier jedoch mochte diese Fähigkeit sich einmal als nützlich erweisen. Bobo besaß die Standfestigkeit eines Felsens. Problemlos konnte Danice sich auf seine Schultern stellen. Der Riese schwankte nicht einen Millimeter. Minutenlang suchte sie die überfüllten Gänge nach dem Wolfsmann ab. Wenn er sich tatsächlich dort aufhielt, dann fiel er unter den Passanten kaum auf. Niemand würde auch nur auf die Idee kommen, einem Werwolf gegenüber zu stehen. Es war wahrscheinlicher, dass man ihn für einen fellbesetzten Werbegag irgendeines Ausstellers hielt. Den Wolfsmann fand Danice nicht – doch ganz hinten, dort wo die Kirmes endete, erkannte sie jemand anderen. »Hol mich hier wieder herunter, du Kraftkloß.« Ihre rechte Hand schlug heftig auf Bobos Schädeldecke ein. Mit einem Brummen hebelte der Riese seine zerbrechliche Reiterin beinahe zärtlich wieder zu Boden. Die Fischfrau legte ihren Kopf in den Nacken und sah nach oben, direkt in Bobos kleine Augen hinein. »Na also. Ging doch. Bist ja vielleicht doch gar kein so ungehobelter Klotz. Danke!« Sie kümmerte sich nicht weiter um den Riesen, der nach Worten
rang … sie aber nicht fand. Sie wandte sich direkt an Brinja, die noch immer mit offenem Mund da stand, weil sie nicht glauben konnte, in welchem lockeren Ton Danice gesprochen hatte. So hatte sie die undurchsichtige Frau noch nie erlebt. Und den anderen erging es ähnlich. »Den Wolf kann ich nicht ausmachen.« Plötzlich schien die Fischfrau zu bemerken, dass sie den Schutzschild, den sie jahrelang um sich herum aufgebaut hatte, ziemlich weit offen hielt. Doch das war ihr nun auch schon gleichgültig. »Ich habe den Mann gesehen, diesen angeblichen Terroristen, hinter dem alle her sind. Los, wo der ist, da wird sich auch Oktavianus einfinden. Hoffe ich zumindest.« So gut sie es konnten, umgingen Brinja und die anderen die Hauptgänge. Danice gab die Richtung vor. Dieses Mal war es Bobo, der wie ein Eisbrecher den Weg frei machte. Ganz nebenbei achtete er genau darauf, dass Danice niemand zu nahe trat. Er sah sie auf einmal mit ganz anderen Augen. Sie war so zerbrechlich. Er musste dringend auf sie aufpassen. Als sie endlich den letzten der breiten Hauptwege hinter sich gebracht hatten, sahen sie, wohin Danice sie führte. Direkt auf das größte aller Zelte zu, das es auf dem ganzen Gelände gab. Das mächtige und von unzähligen farbigen Glühbirnen erleuchtete Zirkuszelt …
Die Einsatztruppe hatte offensichtlich den Befehl zur Deeskalierung erhalten. Anders konnten Zamorra und Nicole es sich kaum erklären, dass sie sich nach wie vor unbehelligt zwischen den Menschen bewegen konnten. Der Professor war überzeugt, dass die Zentrale in Paris die übereifrigen Polizeibeamten hier zurückgepfiffen hatte. Es war unkontrolliert geschossen worden. So etwas durfte Profis nicht passieren, denn die Sicherheit der Bevölkerung stand bei allem Erfolgsdruck der Verantwortlichen doch immer an erster Stelle. Zamorra entsann sich der Schmerzensschreie – wahrscheinlich hatte es
Verletzte oder gar Tote gegeben. Solange sie sich zwischen vielen Menschen bewegten, waren sie also in relativer Sicherheit. Einen schnellen Zugriff würde es nur noch bei absoluter Erfolgssicherheit geben. Die großen Fahrgeschäfte, die Raupen, Loopings und wie sie alle hießen, befanden sich im Zentrum der Kirmes. Zamorra und Nicole bewegten sich nun immer mehr dem Ende des Geländes zu. Hier sah man nur noch die altmodischen Losbuden, Blumenstände und Eiswagen, die nicht unbedingt die große Anziehungskraft auf das heutige Publikum besaßen. Dazwischen entdeckten sie immer wieder Kinder und Jugendliche, die auf mitgebrachten Decken ihre Habseligkeiten zum Kauf anboten. Die Veranstalter ließen sie gewähren, solange dadurch aus dem Ganzen nicht ein besserer Flohmarkt wurde. Am hinteren Ende der Kirmes schloss sich dann die letzte große Attraktion des Musikfestes an: Ein ausgewachsener Zirkus mit allem, was dazu gehörte. Das Zelt war von beeindruckenden Ausmaßen. Dazu kamen drei kleine Nebenzelte, in denen die verschiedensten Events abgehalten wurden. Eines der Zelte war ein Zirkusshop, in dem die Besucher alles käuflich erstehen konnten, was mit der Zirkuswelt zusammenhing. Von der roten Clownsnase bis zu Jonglierbällen – vom Luftballon bis hin zu Zauberstab und Zylinder. Das zweite Zelt beherbergte einen kleinen Streichelzoo, in dem Ziegen, Ponys und ein Baby-Elefant zu besichtigen waren. Die Kinder hatten ihre helle Freude daran … und nicht nur sie. Zelt Nummer drei war dem Fastfood vorbehalten, mit dessen Einnahmen der Zirkus einen Großteil seiner Kosten abdecken konnte. Clown-Teller, Zauber-Burger, Tiger-Brunch – alles normale Gerichte, die zu stark überhöhten Preisen an die Kundschaft gebracht wurden. Das Einzige, was etwa am Tiger-Brunch den Kick der Gefahr brachte, war das relativ hohe Risiko, sich daran den Magen zu verderben. Die Zeiten hatten sich geändert. Auch für das fahrende Volk, das während Tourneen und Gastspielen nicht mehr länger in klapprigen
Zirkuswagen auf rostigen Achsen und unter löchrigen Dächern leben musste, sondern in hochmodernen Wohncontainern, die wie aufgeblasene Schuhkartons aussahen. Modern, ohne Atmosphäre und beliebig austauschbar. So war die Welt … und genau so wollten die Menschen sie ja wohl auch haben. Da wirkte das Zirkuszelt beinahe wie ein schlafender Saurier aus Urzeiten, denn ihm hatten auch die Jahrhunderte keine großartigen Veränderungen antun können. Und auch der Glanz in den Kinderaugen war der gleiche geblieben. Das alles konnte Zamorra und Nicole Duval kaum erreichen, denn sie waren Gejagte im doppelten Sinn. Die Alternative, sich vorläufig den Behörden zu stellen, war dem Parapsychologen längst durch den Kopf gegangen. Kurzfristig hätte sie das vielleicht gerettet, doch irgendwann hätte sie die Vision eingeholt. Zudem gefiel der Gedanke, als mutmaßlicher Terrorist ohne wirkliche Chance auf Aufklärung der Sache im Gefängnis zu landen, dem Professor in keiner Weise. Die Zeitmagie, die den Wolfsmann umgab, hatte Zamorra und Nicole zu Fremden in ihrer eigenen Welt gemacht. Zu Namenlosen, zu Wesen ohne Vergangenheit – ohne Freunde und ohne Hoffnung. Es musste eine Lösung geben. Die war aber ganz sicher nicht in einem Hochsicherheitstrakt zu suchen, sondern hier und jetzt! Der Klang eines echten Zirkusorchesters drang aus dem Zelt. Die Vorstellung war wohl im vollen Gange. Zamorra und Nicole reihten sich in den Fluss derer ein, die sich an der Kasse ein Ticket für die nächste Vorstellung sichern wollten. Heute war der erste Tag des Gastspiels, da würden die Ränge rasch ausverkauft sein. Nicole sicherte mit Blicken ständig nach allen Seiten hin ab. Der Gedanke, ein zweites Mal so kalt von dem Wolfsmann überrascht zu werden, war ihr zuwider. Sie scheute den Kampf mit ihm nicht, doch der sollte so fair wie nur möglich ablaufen. Hinterhalte fand Nicole abscheulich. Zamorras Gedanken gingen immer wieder zu der Wolfrealität zurück. Wenn der Wolfsmann so scharf auf den Zeitring war, dann musste er wissen, wie dieser funktionierte. Woher hatte er dieses Wissen? Woher nahm er all das Wissen über die Gegenwart? Ge-
dankenverloren strich Zamorra mit der linken Hand über den Ringfinger seiner rechten. Entsetzt starrte er auf die Stelle, an der sich der Zeitring immer befand. Deutlich war noch der Abdruck des Reifens zu sehen, der sich dort auf Zamorras Haut befand. Der Ring … Nicole hatte sich zu ihm umgedreht und verstand sofort. »Das kann doch jetzt nicht sein, oder?« Zamorra war nicht fähig, ihr zu antworten. »Verloren wirst du ihn kaum haben. Das wäre doch jetzt ein makaberer Zufall. Also gestohlen. Aber von wem?« So sehr sie sich auch auf den Verlust des Ringes konzentriert hatte, so wenig entging ihr aus den Augenwinkeln der Aufmarsch eines Dutzend betont unauffällig agierender Männer, die sich von drei Seiten her näherten. Nur noch wenige Meter, dann waren sie bei dem Pulk der Schlangesteher, in dem sie ihre Zielpersonen ausgemacht hatten. »Achtung!« Dieses Mal war es Nicole, die Zamorra an der Hand fasste und ihn mit sich riss. Lautstarke Proteste begleiteten die beiden, die sich zwischen den wartenden Menschen hindurch drängten. Nicole wählte bewusst den Weg, der sie zum Haupteingang des großen Zeltes führte. Ein Blick über die Schulter zeigte der Französin, dass sich ihre Verfolger zurück hielten. Hier waren zu viele Unbeteiligte, die bei einem Zugriff gefährdet wären. Am hell beleuchteten Eingang stellte sich ihnen ein prächtig gekleideter Weißclown in den Weg. »Liebe Leute – hier könnt ihr aber nicht durch. Die Vorstellung läuft bereits.« Selbst in seiner Funktion als Rausschmeißer spielte er die Rolle des traurigen Weißclowns perfekt. Die dicke Träne – die seinen Weltschmerz symbolisierte – glänzte täuschend echt unter seinem linken Auge. Nicole tat, was sie tun musste. Mit einem Fußhebel brachte sie den kräftigen Burschen von den Beinen. »Entschuldige, Bajazzo, geht leider nicht anders.« Niemand versuchte sie mehr aufzuhalten, als sie gemeinsam in die Zuschauerränge stürmten. Gleißende Helligkeit empfing sie, lauter Applaus und der Tusch der Kapelle. Das alles galt wohl eher den Artisten in der riesigen Manege, doch Zamorra empfand es, als habe mit diesem Tusch der letzte Akt begonnen.
Die Manege war frei … für den Tod …
Brinja, Bobo und Danice hatten sich durch einen Seiteneingang in das große Zelt geschlichen. Die Angestellten des Zirkusunternehmens hatten bei einer ersten Galavorstellung zu viel zu tun, um überall gleichzeitig sein zu können. Zudem … wenn man selber aussah, als würde man zur großen Zirkusfamilie gehören, fragte kaum jemand nach einer Eintrittskarte. Irving und Grietje hatte Brinja zurück geschickt. Jemand musste auf das Theater achten, und Nestor war allein mit den Liliputanern vielleicht überfordert. Die drei mischten sich unter das Publikum. Niemand wunderte sich über ihr Aussehen – schließlich war man ja im Zirkus, um genau so etwas zu sehen. Nur der schwarze Panther wurde äußerst argwöhnisch beäugt. Rilke hielt sich dicht bei Brinja. Verzweifelt suchte die Katzenfrau mit den Augen die Ränge ab. Vielleicht war Oktavianus überhaupt nicht hier. Vielleicht hatte er Vernunft angenommen … vielleicht … Brinja wusste, dass sie sich mit solchen Hoffnungen nur selbst belog. Er war hier! Denn die Personen, auf deren Auftauchen er so sehnlichst gewartet hatte, befanden sich mitten im Publikum. Danices Augen hatten nicht lange benötigt, um sie auszumachen. Die kurzen Aufräumarbeiten zwischen zwei Auftritten in der Manege waren beendet. Die Kapelle setzte zu einem kurzen Marsch an, der in einem sich dreimal wiederholenden Tusch endete. In der Arena flammte ein Spot auf, in dessen Mittelpunkt der Zirkusdirektor in seinem dunkelroten Kostüm stand – auf dem Kopf einen hohen Zylinder, glänzende Reitstiefel an den Füßen und eine lange Peitsche in der rechten Hand. »Hochgeschätztes Publikum. Die Attraktionen nehmen kein Ende. Wir bieten Ihnen Schlag auf Schlag eine Sensation nach der anderen – und wir lassen Ihnen nicht einmal die Zeit zum Luftholen! Geschätztes Publikum – träumt nicht ein jeder Mensch einmal den
Traum vom Fliegen? Davon, durch die Luft zu gehen, einfach so? Manche von uns belassen es nicht bei diesem Traum.« Mit dramatischer Geste riss er die Peitsche in Richtung Zeltdach. »Schauen Sie nach oben. Was sehen Sie dort?« Unzählige Köpfe flogen regelrecht in die Nacken. »Sehen Sie … ein Netz? Sehen Sie … eine Sicherheitsleine? Nein! Das alles werden Sie dort nicht finden, denn die Artistin, die uns nun beehren wird, lehnt all diese Dinge kategorisch ab. Sie will frei sein … frei und ungebunden, auch in der Gefahr. Damen und Herren – begrüßen Sie mit mir: Aus den Tiefen der Mongolei, die Seiltanzsensation des Jahrhunderts … die Elfe des Himmels, der kleine Engel des Zirkuszelts – Junita!« Ein weiterer Spot flammte auf, der ein offenbar noch sehr junges Mädchen illuminierte, die in einer Art Ballerina-Kostüm steckte. Mit kindlicher Anmut lief sie zu einem der beiden Masten, zwischen die in schwindelerregender Höhe das Stahlseil gespannt war. Ein Helfer wartete dort auf sie und hielt ihr die Strickleiter, an der sie geschickt wie ein junges Äffchen in die Höhe kletterte. Auf einer winzigen Plattform angekommen, breitete die Kleine ihre Arme aus und begann ihren todesmutigen Tanz unter Kuppel, bei dem sie auf Hilfsmittel wie Balancierstangen verzichtete. Danice ließ einen abschätziges »pah« hören. »Viel Tamtam um eine uralte Nummer. Habe ich vor hundert Jahren schon besser gesehen.« Brinja war viel zu angespannt, um zu registrieren, was die Fischfrau unbewusst von sich verraten hatte. Noch immer suchte sie die Zuschauerränge nach einem Anzeichen von Oktavianus ab. Ein entsetzter Aufschrei des Publikums riss Brinja aus ihrer konzentrierten Suche. Ihr Blick ging nach oben zu der Seiltänzerin, doch die zog nach wie vor seelenruhig ihre Nummer durch. Dann sah Brinja den Grund für das Entsetzen der Zuschauer: Etwas Rundes rollte durch den feinen Sand der Manege. Kaum größer als ein Fußball. Und aus dem Ball schoss hellrotes Blut heraus! Dann blieb er ruhig liegen … und zwei tote Augen glotzten das Publikum an. Mitten in der Arena lag der Kopf des jungen Mannes, der noch vor Minuten die Strickleiter für die Artistin gehalten hatte.
Als ein ohrenbetäubendes Heulen das Zelt erfüllte, wusste Brinja, dass sie Oktavianus gefunden hatte …
Zamorra und Nicole sprangen entsetzt von ihren Plätzen hoch. Der abgerissene Kopf löste auch bei ihnen einen Schockmoment aus, der trotz all ihrer Erfahrungen im Kampf gegen das Böse nicht weniger heftig war, als der bei den restlichen Zuschauern. Mit zwei weiten Sätzen brachte sich der Wolfsmann in die Mitte der Manege. Sein Heulen war entsetzlich und klang nach reiner Mordgier. Blitzartig bückte sich die massige Gestalt, um den Kopf zu fassen. Mit einer heftigen Bewegung schleuderte sie das entsetzliche Wurfgeschoss mitten in die Menge der Zuschauer hinein. Die Entsetzensschreie der Menschen wurden noch lauter und hysterischer. Zamorra hörte weinende Kinder. Zwei Reihen vor ihm fing ein Mann eine alte Frau auf, die ohnmächtig zu Boden sank. Dennoch schaffte es niemand, sich der Faszination des Grauens zu entziehen. Wie gelähmt saßen oder standen die Menschen einfach nur da und sogen etwas in sich ein, das sie nicht verstehen, nicht begreifen konnten. Die Stimme des Centurios übertönte scheinbar spielerisch leicht die Schreie auf den Rängen. »Zamorra! Ich weiß, du bist hier. Dies ist der Ort, an dem sich unsere gemeinsame Vision erfüllen wird. Hast du es schon erkannt? Komm her – bringen wir es hinter uns. Du weißt, es gibt für dich kein Entrinnen. Komm zu mir, dann verschone ich die Menschen hier.« Die unausgesprochene Drohung war deutlich genug gewesen. Verzweifelt umklammerte Zamorra den Ringfinger seiner rechten Hand. Oktavianus würde glauben, dass Zamorra einen Trick plante. Es war ja auch zu unglaubwürdig, dass der Ring gerade jetzt verschwunden sein sollte. Der Parapsychologe wusste, dass er nur noch Zeit schinden konnte. Viel mehr an Möglichkeiten hatte er einfach nicht. Langsam be-
wegte er sich durch die Reihen von Menschen, die wie paralysiert auf das Wesen in der Arena starrten. Sie alle wussten, dass es das, was sie da vor sich sahen, nicht gab … nicht geben durfte! Und doch wurden sie hier alle bedroht von einem Fabelwesen, das doch nur in alten Märchen vorkam. Bei Rotkäppchen oder den sieben Geißlein … da kam dann immer rechtzeitig der gute Jäger. Doch der Mann, der sonst ein Jäger war, hatte hier die Rolle des Gejagten. Langsam überstieg Zamorra die hölzerne Begrenzung der Manege. Nicole war schon lange nicht mehr hinter ihm. Er hatte es registriert, es jedoch mit keinerlei Regung verraten. Er konnte sich immer auf seine Partnerin verlassen. Vielleicht brachte sie es fertig, den Wolf in Bedrängnis zu bringen. Merlins Stern jedenfalls konnte er als Hilfe ausschließen. Je näher er dem Centurio kam, je schwächer wurden die schon zuvor kaum wahrnehmbaren Reaktionen der Silberscheibe. Die Zeitmagie des Wolfmannes legte das Amulett nahezu vollständig lahm. Zamorra fühlte die Angst, die heftig in ihm aufstieg. Die Vision hatte von seinem und Nicoles Tod gehandelt – von den ungezählten Menschenleben, die hier in diesem Zelt in Gefahr waren, hatte es darin keine Anzeichen gegeben. Er wusste, dass er hier mit einiger Sicherheit sterben musste. Auch davor hatte er natürlich Angst, doch es war sinnlos, dass hier ein Massaker geschah! So wollte er nicht abtreten. »Centurio Oktavianus. Sieh meine Hand.« Zamorra war noch gut sechs Meter von dem Wolfsmann entfernt. Er streckte die rechte Hand in die Höhe. »Ich habe den Ring nicht mehr. Und ich kann dir auch nicht sagen, wo er sich jetzt befindet. Ich weiß es wirklich nicht. Lass die Menschen gehen, dann tragen wir die Sache unter uns aus. Du brauchst keine Geiseln. Ich fliehe nicht.« In diesen kurzen Sätzen hatte er klar und deutlich alles hineingelegt, was die ganze Situation ausmachte. Der Wolfsmann stieß ein dumpfes Knurren aus. »Warum versuchst du diesen billigen Trick, Zamorra? Glaubst du vielleicht, du kannst mich hinhalten? Ich spaße nicht. Gib mir den Ring, sonst werde ich meiner Wolfsnatur freien Lauf lassen. Du weißt, dass mich niemand stoppen kann.«
»Kein Trick, Oktavianus. Es ist, wie ich es gesagt habe.« »Dann trägst du die Schuld an dem, was nun geschehen wird.« Ein Brüllen erfüllte das Zelt, als die Bestie mit einem Satz auf die Balustrade sprang, die sie von den Zuschauern trennte. Zamorra, der sich gegen den Wolf geworfen hatte, wurde wie eine Puppe durch die halbe Manege geschleudert. Das Tier war bereit, sein Blutfest zu beginnen.
Brinja wusste nicht, um was es zwischen den Männern ging. Ihren Dialog konnte sie in keinerlei logischen Zusammenhang bringen, doch das war ihr gleichgültig. Sie musste Oktavianus stoppen, bevor er das tat, was er angedroht hatte. Der Panther huschte neben ihr her, als sie sich rücksichtslos durch die Reihen nach unten kämpfte. Sie hatte keine Idee, wie sie den Wolfsmann beruhigen wollte, doch er musste gestoppt werden! Weit hinter Brinja – inmitten versteinert wirkender Menschen, die diesen Wahnsinn einfach nicht verstanden, die nicht begreifen konnten, dass sie in einem realen Albtraum gelandet waren – schloss Danice die Augen. Konnte es vielleicht möglich sein, dass sie …? Ihre linke Hand tauchte in die Tiefen ihrer Manteltasche und umschloss die Beute, die sie vor wenigen Stunden draußen auf dem Festgelände gemacht hatte. War das vielleicht der Grund, warum sie diesen Mann da unten, der nun wie leblos mitten in der Manege lag, sofort auf den Phantomzeichnungen erkannt hatte? Ja, sie war ihm für einen winzigen Moment sehr nahe gewesen. Sie hatte ihn sogar berührt, auch wenn er das nicht bemerkt hatte. Danice stieß Bobo mit dem Arm an. Der Riese senkte gutmütig seinen Kopf, damit er sie hören konnte. »Bobo, bring mich da hinunter.« Sie wies mit dem ausgestreckten Arm auf die Manege. Jede Sekunde konnte die rasende Wolfsbestie sich in die Menge stürzen. Danice hatte keinen Atemzug mehr zu verschwenden. »Gut, Bobo trägt Danice.« Seine plumpen Finger schlossen sich um
die Hüfte der Fischfrau, doch die stieß Bobo von sich. »Nein, zu langsam. Bobo, wirf mich! Schau mich nicht so an. Los, wirf mich da hinunter in den Sand.« Bobo verstand nicht, was die Frau damit bezweckte. Er verstand nicht den Sinn dessen, worum sie ihn bat. Aber sie bat ihn … Danice bat ihn heute bereits zum zweiten Mal um etwas. War das kein ausreichender Grund, ihr diesen Gefallen zu tun? Sonst hatte sie ihn immer nur wie ein Stück Fleisch angesehen. Oder wie einen Stein. Jetzt sprach sie mit ihm. Sie nannte ihn sogar bei seinem Vornamen. Sanft hob der Riese die schmächtige Frau hoch über seinen Kopf … und warf sie in einem weiten Bogen über die Menschen hinweg. Im Flug noch entsann sich Danice der Zeit, in der sie nicht ausschließlich als unheimliches Fischweib, sondern auch als anerkannte Akrobatin gearbeitet hatte. Es war lange her, sehr lange sogar, doch alles konnte sie schließlich nicht verlernt haben. Sie rollte sich zu einer Kugel zusammen und erwartete den Aufprall. Als der kam, war sie über die Treffsicherheit Bobos erstaunt, denn sie landete keine fünf Meter hinter dem Woltsmann im Manegensand. Geschickt rollte sie sich ab und kam auf die Knie. Den Schmerz in ihrer Hüfte ignorierte sie. Wahrscheinlich war sie nun nicht in der Lage, auf die Füße zu kommen, doch was zu tun war, das konnte sie auch im Knien erledigen. »Oktavianus! Hör mir zu!« Verwirrt drehte sich die Bestie, in deren Augen jede Vernunft erloschen war, zu der Frau mit der grünen Haut um. Sie war über ihn hinweg geflogen. Wie war das möglich? Doch die unsägliche Wut und der Zustand des Blutrausches, die den Wolf befallen hatten, ließen kein analytisches Denken mehr zu. Die Grüne öffnete ihre Hand, die sie vorher zur Faust geballt hatte. »Der Mann dort hat nicht gelogen.« Sie wies auf Zamorra, der sich mühsam in ihre Richtung schleppte. Der Wolfsmann hatte ihn schwerer verletzt, als er es angenommen hatte. »Siehst du das hier?« Sie streckte dem Centurio die offene Hand entgegen, auf der sich einige Schmuckstücke befanden. Ohrringe, eine Halskette, mehrere Fingerringe, die im Schein der künstlichen
Beleuchtung glitzerten. »Sein Ring ist auch darunter. Ich habe ihn ihm vorhin gestohlen. Er hat das nicht bemerkt, denn ich bin geschickt. Also – nimm den verdammten Ring und dann verschwinde. Lass die Menschen hier in Frieden. Gehe so, wie du gekommen bist, Oktavianus. Und lass Brinja und die Truppe wieder ihre Arbeit tun. Wir haben ruhiger gelebt, bevor du gekommen bist. Geh!« Sekundenlang schien jede Bewegung im Sand der Manege eingefroren zu sein. Danices Hand zitterte nicht, auch wenn sich der Blick der Bestie in sie zu bohren schien. Dann blitzte Triumph in den Augen des Wolfsmannes auf. Er war am Ziel seiner Suche! Mit einem Sprung war er bei der Fischfrau. Er musste den richtigen Ring nur herausfinden, ihn an seinen Finger stecken … vielleicht war es die zurückzuckende Bewegung der Grünhäutigen, die ihm Befehle erteilen wollte, oder war es der Rausch, der sich seiner schon zu sehr bemächtigt hatte? Er konnte nur noch mit Gewalt reagieren! Oktavianus holte weit mit seiner Pranke aus, um das lästige Leben zu beenden, das dort vor ihm kniete. Ein wilder Schrei ließ ihn um eine Spur zögern. Diese Stimme. Brinja? Dann huschte ein schwarzer Schatten zwischen ihn und sein wehrloses Opfer. Oktavianus konnte seine Vorwärtsbewegung nicht mehr stoppen, doch sein tödlicher Hieb ging ins Leere. Der Schatten hatte die Grüne nach hinten gestoßen und hockte nun, in wilder Entschlossenheit, die Frau auch weiterhin zu verteidigen, fauchend direkt vor ihr. Rilke würde jeden verteidigen, der Brinja oder ein Mitglied der Truppe angriff! Und Oktavianus war für ihn in diesem Zustand kein Freund mehr. Wie in Zeitlupe flogen die Schmuckstücke nach allen Seiten davon! Wild versuchte der Centurio sie aus der Luft zu pflücken, doch er konnte sie nicht alle fangen. Zwei Ringe entgingen seinen ungeschickten Versuchen. Einer fiel wenige Meter entfernt in den feinen Sand. Der andere landete direkt in der ausgestreckten Hand von Professor Zamorra! Er glitt beinahe von allein an den Ringfinger des Parapsychologen,
der sich kaum auf den Beinen halten konnte. Der wütende Schlag, den der Centurio gegen ihn geführt hatte, hatte ihm mindestens ein paar Rippen gebrochen. Doch selbst wenn dem nicht so gewesen wäre, hätte Zamorra in einem offenen Kampf keine Chance gegen die unbändige Kraft dieses Wesens gehabt. Zamorra sah, wie Oktavianus die Zähne fletschte. »Endlich ist es soweit. Endlich!« Den Panther und die seltsame Frau, die Zamorra zuvor nie gesehen hatte, ignorierte er einfach. Seltsamerweise wandte er sich an ein anderes Wesen, dessen Gesicht dem einer Katze gleich kam. Die Katzenfrau hatte sich schweigend neben die andere gestellt, die noch immer auf dem Boden lag. »Brinja, geht jetzt. Diese Zeit und Welt sind falsch für mich – sie verändern mich. Das darf nicht sein. Geht, schnell. Ich muss zurück in mein Leben.« Er drehte sich zu Zamorra. »Du ahnst, was mich zu verändert versucht, nicht wahr?« Und dann griff er ansatzlos an. Zamorra versuchte den Schlag auszupendeln, doch seine Beine versagten, knickten hilflos unter seinem Körper weg. Vorbei … Nicole? Tu es nicht! Aus den Augenwinkeln heraus hatte er die fließende Bewegung gesehen, die wie aus dem Nichts heraus entstand. Nicole flog heran, wie eine menschliche Kampfmaschine! Ihr Tritt erwischte den Wolf in Hüfthöhe und warf ihn nieder. Doch seine Bewegungen waren so unglaublich schnell, dass ihr die Chance zu einem zweiten Schlag einfach nicht gegeben wurde. Oktavianus' Pranke schnappte zu und umklammerte Nicoles Fuß. Wie einen Sack schleuderte er sie etliche Meter von sich weg. Mühelos, als wäre sie ein lästiges Insekt, das man von sich abstreift. Und der Wolf ließ ihr nicht einmal die Zeit, um erneut auf die Beine zu kommen. Sein Sprung kam aus dem Stand heraus, und er begrub den Körper der schönen Französin vollkommen unter sich. Zamorra schloss entsetzt die Augen. Nicoles Todesschrei löschte mit einem Schlag jeden Lebenswillen in ihm aus. Mit zerfetzter Kehle und gebrochenem Genick lag seine Gefährtin im Sand der Manege.
Ohne sie war auch sein Leben bereits beendet. Der Rest war nur noch die reine Verrichtung der Tat. Er würde es über sich ergehen lassen. Zamorra merkte, wie jegliche Kraft aus seinem Körper floss. Er war schwer verwundet, doch allein daran konnte es nicht liegen. Es war die Nähe zu Oktavianus, der von der Zeitmagie durchdrungen war. Doch die hatte sich verändert – und sie hatte begonnen, Oktavianus zu verändern. Zamorra ahnte, was der Centurio mit seiner Bemerkung gemeint hatte. Der unglaubliche Schmerz riss ihn noch einmal aus der Lethargie heraus. Mit einer einzigen Bewegung hatte der Wolfsmann ihm den Bauch aufgeschlitzt. Der Parapsychologe sah, wie sein Darm hervorquoll. Ein zweiter Schlag traf Zamorras Gesicht, riss ihm die halbe Oberlippe heraus. Dann spürte er den relativ unbedeutenden Schmerz, als der Centurio ihm den Ringfinger abbiss. Die Vision erfüllt sich. Während das Leben aus ihm heraus pulsierte, wurden seine Sinne plötzlich scharf wie nie zuvor. Alles war genau so eingetreten, wie die zweite Vision es vorherbestimmt hatte. Der bunte Himmel, der sich aus den farbigen Planen des Zeltes zusammenfügte … und hoch oben unter der Kuppel schwebte die kleine Seiltänzerin, ganz wie ein Engel, der vor lauter Angst den Abstieg noch nicht gewagt hatte … Unendlich langsam drehte Zamorra den Kopf zu Oktavianus. Er sah, wie der Wolfsmann den Zeitring um seinen Finger herum drehte und hörte die geflüsterte Formel: »Anal'h natrac'h – ut vas bethat – doc'h nyell yenn vvé.« Er hatte Zamorra also beim Zeittransfer nicht nur beobachtet, sondern auch sehr gut zugehört – sonst hätte er diese Formel nicht kennen können. Dann wurden die Umrisse des Centurios blass, schwächten sich ab, bis er schließlich ganz verschwand. Nur noch ein Hauch seiner Aura stand im Raum. Zamorra schloss seine Augen. Weit entfernt hörte er das aufgeregte Trompeten der Zirkuselefanten. Das also war die letzte Fanfare, die in der Vision vorkam. Der letzte Tusch. Danach konnte nur noch der letzte
Vorhang fallen … Nicole … Und im Sand der Zirkusarena auf der Insel Korsika starb Professor Zamorra …
5 Wolf unter Wölfen Frage! Wem ist zu vergeben: Dem Wolf, der einen Bischof fraß? Dem Bischof, der sich wie ein Wolf verhält? Eine Frage des Gewissens … … oder eher der Macht? (C. Norden) In der Dunkelheit war das Licht der einen Fackel bei weitem nicht ausreichend hell genug. Ein unterdrückter Schrei drang nach hinten an das Ohr des Mannes, der auf dem hölzernen Bock des Karrens saß. Die Männer vor seinem von zwei kräftigen Maultieren gezogenen Gefährt blieben stehen. Unwillig zog er an den Zügeln. »Was ist da vorne los? Warum geht es nicht weiter?« Seine Stimme klang dumpf durch die Nebelschwaden der Herbstnacht. Er musste sich sehr beherrschen, um seine Wut über diese Verzögerung nicht in Lautstärke umzuwandeln. Doch gerade das durfte nicht sein – Aufmerksamkeit von Seiten Dritter konnte er nicht brauchen. Sie konnte alles zum Scheitern bringen. Und es durfte nicht scheitern! Einer der Arbeiter kam zum Wagen. »Herr, es geht sofort weiter. Zwei Männer sind im Finstern gestolpert. Das Licht, es …« Er ließ den Burschen nicht ausreden. »Mehr als eine Fackel wird nicht entzündet. Geh wieder nach vorne. Vorwärts – wir haben keine Zeit zu verschenken.« Der Mann duckte sich unter der schneidenden Stimme. Ehe er dem Befehl gehorchte, blickte er noch einmal zu dem Mann hoch, der ihn und seine Kameraden für diese Nacht als Arbeitskräfte
verdingt hatte. Die Neugier nagte kräftig an ihm, doch selbst wenn es hell gewesen wäre, hätte sie keine Befriedigung erhalten. Sein Herr für diese Nacht trug den Schlapphut tief ins Gesicht gezogen und der hohe Kragen seines Umhangs verdeckte weit mehr als nur die Mundpartie. Mehr als seine Augen waren nicht zu sehen. Stechende Augen, deren Blicken niemand lange stand hielt. Der kleine Zug setzte sich wieder in Bewegung. Eine grobe Richtung hatte der Herr den Männern vorgegeben. Es ging südlich aus Rom hinaus. Mehr wusste keiner von ihnen. Als sie die Stadtmauern hinter sich gelassen hatten, ging der Marsch noch gute zwei Stunden weiter. Es war still geworden. Die Männer wagten nicht miteinander zu reden. Das alles wurde mit jedem Augenblick unheimlicher. Sie alle waren Christen, doch der Aberglaube saß tief in ihnen verwurzelt. Was hatte der Mann mit ihnen vor? Als sie an der Ruine einer Kirche ankamen, stoppte der Wagen hinter ihnen. Der Vorarbeiter ging zu seinem Arbeitgeber, dem Mann, der ihn und seine Kumpanen ganz sicher nicht für eine Wanderung bezahlte. Und er bezahlte gut. Sie alle waren Tagelöhner – stark wie junge Ochsen, dümmer als das Lamm, das freudig zur Schlachtbank lief. Sie lungerten in den Straßen und Tavernen Roms herum, immer bereit, auch die niedrigsten Arbeiten zu erledigen. Worum es dabei im Einzelnen ging, das war ihnen gleichgültig. Wenn es sein musste, wenn der Lohn stimmte …. dann scheuten sie auch vor einem gedungenen Mord nicht zurück. »Herr, sind wir am Ziel?« Der Mann auf dem Kutschbock nickte. »Kennst du diesen Ort?« Der Vorarbeiter zögerte. »Ja, die meisten von uns waren schon hier. Manche haben sogar am Bau der Kirche gearbeitet. Als der Papst die Arbeiten dann einstellen ließ …« Er wurde rüde unterbrochen. »Gut, dann gehe mit deinen Leuten in die Ruine. Ihr findet im Kirchenschiff auf dem Boden eine markierte Stelle. Ich habe sie dort angebracht. Dort grabt ihr. Keine Fragen jetzt. Tut, was ich sage.« Der Bau dieser Kirche war vor drei Jahren ganz plötzlich eingestellt worden. Niemand konnte sich das erklären, ebensowenig wie
die Tatsache, warum hier außerhalb der Ewigen Stadt überhaupt so ein mächtiges Gotteshaus entstehen sollte. Der Mann nickte und ging zu den anderen, die sich mit Werkzeug eindeckten, das unter einer Plane auf dem Wagen lag. Minuten später hallten die Schläge der Hacken und Schaufeln aus der Bauruine. Es war noch vor Mitternacht. Wenn er richtig schätzte, dann würden die Männer sicher zwei Stunden oder länger benötigen, bis sie fündig wurden. Weit und breit war hier keine Menschenseele zu sehen. Die Gefahr, dass irgendwer die eigenartigen Tätigkeiten hier entdecken könnte, war verschwindend gering. Er hatte also Zeit … … Zeit … sie war zum größten Feind in seinem Leben geworden. … Zeit … er hatte sie durchreist. Verzweifelt war er auf ihren nie verharrenden Zug gesprungen, hatte sich in eine ferne Zukunft reißen lassen. Gefunden hatte er eine Welt, die nie die Seine werden konnte. Seine Ideale, sein Lebensziel – sein Glaube! Es hatte sie dort nicht gegeben. … Zeit … in dieser Zukunft hatte sie begonnen, ihn zu verändern, anzupassen. Äußerlich war er in einen Prozess geraten, der seine animalische Seite mit Macht an die Oberfläche spülte. Der Wolf in ihm hatte von seinem Körper Besitz ergreifen wollen. Und innerlich? Sein Wesen, sein Wille, sein Ego, hatte immer mehr der menschlichen Linie zugestrebt. Und noch etwas hatte er in dieser Welt gefunden. Doch die Erinnerung daran versuchte er mit Macht zu unterdrücken. Es war etwas, das ihn dort hätte binden können. Er hätte es nur zulassen müssen. … Zeit … ein letztes Mal hatte sie ihn betrogen, in die tiefsten Qualen geschleudert, die ein Wesen zu ertragen fähig war. Ein dumpfes Lachen drang aus seiner Kehle. Anal'h natrac'h – ut vas bethat – doc'h nyell yenn vvé – er erinnerte sich an jede Silbe. Die Worte hatten sich tief in sein Denken eingebrannt, waren unlöschbar in ihm verwurzelt. Er hielt die rechte Hand vor seine Augen. Das Mondlicht drang kaum durch die Nebelfetzen der Nacht hindurch, doch es reichte
aus, um den Ring in seiner ganzen Schlichtheit sichtbar zu machen. Er trug ihn noch immer am Finger. Der Gedanke ihn abzustreifen, schien unerträglich, denn immer wieder gab es in seinem Bewusstsein das Vielleicht … eines Tages. Die monotonen Geräusche, die seine Arbeiter produzierten, verfehlten ihre Wirkung bei ihm nicht. Er hatte seit mehreren Tagen kein Auge mehr zu gemacht. Jetzt übermannte ihn die Müdigkeit mit einer heftigen Welle. Er zuckte zusammen, als ihn etwas am Arm berührte. Der Mann sprang unwillkürlich einige Schritte zurück, denn das Knurren, das sein Arbeitgeber von sich gab, hatte nichts Menschliches an sich. »Was willst du?« Die Worte klangen wie wütendes Bellen. »Herr, wir sind auf drei große Kisten gestoßen. Willst du, dass wir sie bergen?« »Ja. Bringt sie auf den Wagen.« Der Mann beeilte sich, wieder in die Ruine zu kommen. Jetzt war auch ihm die ganze Sache nicht mehr geheuer. Seine Männer hatten ihn mit ihren Spinnereien von Teufeln und Widergängern angesteckt. Er würde sich erst wieder sicher fühlen, wenn er die Mauern Roms passiert hatte. Jede der drei Kisten entpuppte sich als ungeahnt schwere Last. Zu viert hievten die Tagelöhner die mit Eisen beschlagenen Behältnisse auf den Wagen, dessen Achsen unter der Last nach unten sanken. Der Boden war trocken, denn es hatte in den vergangenen Wochen kaum geregnet. Wäre das anders gewesen, hätten sich die Räder unter diesem Gewicht sicher tief ins Erdreich gedrückt. Der Mann stieg von seinem Bock und trat neben die Ladefläche. Mit einer lässigen Bewegung warf er den Umhang von sich und entledigte sich des Hutes. Das spärliche Licht reichte noch immer nicht aus, um sein Gesicht zu erkennen. »Seid ihr neugierig? Natürlich seid ihr das.« Er blickte jeden einzelnen der Tagelöhner an, die in einem Halbkreis um den Wagen standen. »Ihr fragt euch schon die ganze Zeit, was sich in diesen schweren Kisten befinden mag. Und ihr habt euch sicher auch schon überlegt, wie ihr mich am besten töten könnt, denn … ihr findet, dieser Schatz steht eigentlich euch zu, nicht wahr?«
Das Schweigen um ihn herum war Antwort genug. »Brecht die Schlösser ruhig auf. Na los, worauf wartet ihr?« Zwei Mann enterten die Ladefläche und schwangen die Spitzhacken. Sekunden später brachen die Schlösser unter der rohen Gewalt. Der Deckel der ersten Kiste flog auf. Laute Schreie brandeten auf, als der Inhalt sichtbar wurde. Der Fackelschein traf auf Weinkelche, Ketten, Kerzenständer, Ringe und Münzen – die Kiste war bis an ihren oberen Rand damit angefüllt. Und jedes einzelne Stück bestand aus reinem Gold! Als sich die Männer darauf stürzen wollten, hielt sie ihr Vormann zurück. »Wartet. Noch nicht.« Er wandte sich dem Mann zu, der mit unergründlichem Lächeln der Szene beiwohnte. »Ihr seid wahnsinnig, uns das hier zu zeigen. Das ist Euer Todesurteil, Mann.« Der Angesprochene schüttelte den Kopf. »Nein, das siehst du falsch. Ihr seid die Wahnsinnigen, denn habt ihr wirklich geglaubt, ich würde auch nur einen von euch am Leben lassen?« Erstaunt sahen die Männer, wie ihr Gegenüber sich seines Hemdes entledigte und aus den Hosen schlüpfte. Dann erleuchtete die Fackel die Verwandlung, die mit seinem Körper geschah. Dichtes Fell bedeckte plötzlich seine nackte Haut … und sein Kopf schien sich aufzublähen. Die Kiefer wucherten in die Breite und dann riss er sein Maul auf, in dem die mörderischen Zähne nach Menschenfleisch gierten. Keiner der Tagelöhner war schnell genug, sich auch nur weiter als einige Meter von dem Wagen zu flüchten. Die Fackel fiel zu Boden und erlosch, als der Torso des Vormanns sie unter sich begrub. Die Schreie der Männer vergingen im Nebel, als der Werwolf sein blutiges Werk verrichtete.
Kurz vor den Stadtmauern hielt er den Wagen an. Ein paar Minuten Ruhe wollte er den Maultieren gönnen, denn sie hatten die schwere Last über Stunden klaglos gezogen. Doch es war weniger die Sorge um das Wohlergehen der Tiere, sondern die um den äußeren Anschein: Sollte ihn jemand bei seiner Fahrt durch Roms Straßen sehen, dann musste dieser Jemand nicht sofort erkennen, dass die Tiere
eine so harte Fahrt hinter sich hatten. Besser, sie würden relativ ausgeruht erscheinen. Mit einer Hand griff er unter den Wagen und zog den Topf mit dem Achsenfett hervor, der dort eingehängt war. Gründlich schmierte er alle vier Räder ab, denn das Quetschen von Eisen auf Eisen war nicht minder verräterisch. Er hatte in den vergangenen vier Jahren gelernt, auf jede Kleinigkeit zu achten. Sie konnte entscheidend sein. Lebensentscheidend. In einem kleinen Rinnsal am Straßenrand füllte er den Wassereimer auf und ließ die Tiere trinken. Sie sollten sich noch etwas erholen. Auf einige Minuten kam es jetzt nicht an. Wieder hatte er Zeit für sich und seine Gedanken. … Zeit … ja, sie hatte ihn ein weiteres Mal betrogen. Dieses Mal hatte sich die Vision erfüllt. Die Zeitmagie, die ihn bei seinem ersten Anlauf vom Ring abgestoßen hatte, reagierte jetzt nicht mehr negativ. Entweder war sie schwächer geworden, oder sie hatte sich geändert, gleichgeschaltet. Er sah den sterbenden Zamorra vor sich im Sand liegen. Er sah den Panther, die Fischfrau … sah Brinja. Er sah, wie er sich den verfluchten Ring auf seinen Finger schob und das Ritual vollführte. »Anal'h natrac'h – ut vas bethat – doc'h nyell yenn vvé.« Er hörte sich die Worte sprechen. Der Fluss der Zeit nahm ihn erneut in sich auf, schwappte über sein Ich hinweg – und spuckte ihn wieder aus. Direkt auf den harten Boden einer finsteren Gasse. Stimmen waren hinter ihm erklungen, und als er sich zu orientieren versuchte, traf ihn der Tritt eines Stiefels genau in die Kniekehlen hinein. Hilflos war er hingefallen … und sie waren über ihn gekommen, wie eine wilde Horde Irrsinniger. Vielleicht hatten sie ihn ausrauben wollen, vielleicht machte es ihnen auch nur Freude, einen Wehrlosen zu schlagen. Wer sie waren, hatte er nie erfahren. Als sie schließlich von ihm abließen, schleppte er sich in das nächste Gebäude, das er finden konnte. Dass er eine Kirche gewählt hatte, konnte nur Zufall gewesen sein. Er kam schließlich wieder zu sich. Unter sich spürte er die harte
Kirchenbank und stellte fest, dass draußen gerade ein neuer Tag anbrach. Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch das hohe Kirchenfenster, dessen Mandala in den Farben des Regenbogens schimmerte. Das Licht fiel auf den Altar … und auf das mannshohe Holzkreuz, an dem der Gekreuzigte hing. Seine toten Augen starrten direkt auf Oktavianus, als wolle er ihn in dieser Zeit willkommen heißen. In der Zeit des 16. Jahrhunderts – und im Christentum! Wenn je der Irrsinn nach seinem Verstand gegriffen hatte, dann war das in diesem Moment geschehen. Laut schreiend war er aus der Kirche gerannt. Und er war erst wieder stehen geblieben, als ihm die Beine den Dienst verweigerten. Eine freundliche Stimme hatte ihn aus seiner Lethargie zurück geholt. Ein schwergewichtiger Mann in brauner Kutte kniete direkt neben ihm. »Was ist mit dir, mein Sohn? Sag mir, wie ich dir helfen kann.« Oktavianus antwortete ihm so leise, dass der Kirchenmann Mühe hatte, die Worte zu verstehen. »Sag mir, welches Jahr schreiben wir?« Das gütige Gesicht des Dicken nahm einen bedauernden Ausdruck an. Er hatte Mitleid mit diesem wohl geistig verwirrten Menschen. »Das will ich dir gerne sagen. Wir schreiben das Jahr des Herrn 1572. Doch nun komm mit mir. Ich denke, du könntest eine warme Mahlzeit vertragen. Und ein gemeinsames Gebet wird dir sicher auch nicht schaden.« 1572 – die Zeit hatte ihn wahrlich erneut betrogen. Der Mönch sah dem Mann noch lange nach, der schwankend die Straße hinunter lief. Er hatte sein ernstgemeintes Angebot weder angenommen noch ausgeschlagen. Er schien ihn vielmehr einfach nicht mehr wahr zu nehmen. Oktavianus sah nach den Maultieren. Sie hatten getrunken, und der Schweiß auf ihrem Fell war einigermaßen abgetrocknet. Er würde nun seine Fahrt fortsetzen können. Mit einem Wolllappen strich er den Tieren über das Fell. Sie würden nun jedem, der ihnen begegnete, erscheinen, als hätten sie nur eine kurze, leichte Fahrt hinter sich. Er schwang sich auf den Kutschbock, der nur aus einem rohen Brett bestand. Langsam rollten sie der Stadt entgegen.
Seine Gedanken gingen erneut zu dem Tag seiner Ankunft in dieser Welt zurück. Einige Stunden fehlten ihm da ganz. Wahrscheinlich war er ziellos durch die Straßen gelaufen. Er wusste es wirklich nicht. Das nächste, was ihm klar und überdeutlich in Erinnerung geblieben war, hing mit dem Zeitring zusammen. Natürlich hatte er versucht, diesen Fehlsprung noch am gleichen Tag zu korrigieren. Es war bei dem Versuch geblieben. Der Ring zeigte keinerlei Reaktion. Irgendwann hatte der Centurio versucht, den Vorgang mit seiner Wolfsmagie in Gang zu bekommen. Der Schock lähmte ihn endgültig, denn die Magie existierte nicht mehr. Den Grund für diese Katastrophen sollte er erst später erfahren. In der folgenden Nacht ging er auf die Jagd. Und dabei entdeckte er eine Brutalität, einen Anflug des Wahns an sich, der ihm fremd war und erschrak. Was er tat, hatte nichts mit dem zu tun, was seine Wolfsnatur von ihm verlangte. Es war ein nächtlicher Rachezug, der eine breite Blutspur hinter sich her zog. Er begann sich vor sich selbst zu fürchten. Oktavianus schaffte es, sich in den kommenden Tagen soweit in der Gewalt zu haben, dass er Nachforschungen anstellen konnte. Natürlich war er zehn Jahre zu früh an diesen Ort gekommen, doch das musste ja nicht unweigerlich bedeuten, dass alles für das künftige Imperium der Wölfe verloren war. Er musste Kontakte knüpfen. Das Fehlen seiner magischen Möglichkeiten hinderte ihn dabei enorm. Dennoch hatte er einige Tage später Gewissheit: Die Bruderschaft der Wölfe existierte, doch sie verlor sich in absoluter Bedeutungslosigkeit. Ihre Mitglieder hatten hochtrabende Pläne – doch sie waren bar jeder Macht! Keiner von ihnen schien die geistigen Fähigkeiten zu besitzen, daran etwas zu ändern. Das Christentum beherrschte einen großen Teil der Welt. Seine Macht – gebündelt im Pontifex Maximus – war gefestigt. Es gab Abweichler, Neuerer, doch über all denen stand fest die Römisch-Katholische Kirche. Und … Lupus, der Wolfsmensch, der in Oktavianus' Welt schließ-
lich den Heiligen Stuhl besetzen sollte, der erste Wolfspapst – er war in dieser Welt absolut niemandem bekannt. Er existierte hier ganz einfach nicht … Das waren die Ergebnisse, die Oktavianus' Recherchen erbrachten. Nüchterne Fakten, doch sie stürzten ihn für volle acht Monate in den dumpfen Rachen des Wahnsinns hinein. Acht unendlich lange Monate, an die er im Grunde nur fragmenthafte Erinnerungen besaß. In der Stadt selber hatte er sich in dieser Zeit kaum aufgehalten. Er ertrug die ständige Präsenz des Christentums einfach nicht. Außerhalb der Stadtmauern, in den unbewohnten Niederungen des Tibers, gab es natürliche Höhlen, die vielen Unterschlupf auf Zeit gewährten, die ihre Probleme mit dem Moloch Rom und seinen Institutionen hatten. Er hielt sich abseits dieser Menschen, blieb für sich allein. Die Nächte gehörten der Jagd, doch es war nur eine Frage der Zeit, bis ihm auch dazu die Kraft ausgehen musste. Die Erniedrigungen, die ihm sein verwirrter Verstand auferlegte, gingen soweit, dass er an manchen Tagen bettelnd neben den Portalen der Kirchen Roms saß. Keiner der anderen Bettler wagte es, ihm diese Plätze streitig zu machen. Sein Körper war geschwächt und ausgemergelt, doch das Feuer in Oktavianus' Augen brannte noch so heiß, dass es Konkurrenten abschreckte. An einem dieser Tage war es geschehen. Gegen den Anblick christlicher Symbolik war er abgestumpft. Daher machte es ihm nichts aus, sich ab und zu bei schlechtem Wetter auch in das Innere einer Kirche zu begeben, um dort um Almosen zu bitten. Sein Blick fiel auf einen mit Gold und Brokat durchwebten Wandteppich, der als Motiv eine Szene aus der Genesis zeigte. Doch diese abgebildete Szene interessierte Oktavianus Lupomanus nicht. Er wusste in der gleichen Sekunde, was sich hinter dem Teppich befand. Dort war eine massive Bronzeplatte in die Wand eingelassen, die eine kleine Kammer verschloss, ähnlich einem Wandtresor. Und in dieser Kammer … Oktavianus stolperte zurück auf die Straße. Sein Nebel, der sich um seinen Verstand gelegt hatte, versuchte mit Macht seinen Platz
zu verteidigen, doch da war ein Wissen, das mit Macht an die Oberfläche drängte. Das Wissen, das ihm nach seiner Reise in die Zukunft ein dortiges Überleben erst wirklich möglich gemacht hatte – es war nach wie vor vorhanden. Der Pool, randvoll mit Informationen, Daten und Erfahrungen, war in ihm. Und er wurde schlagartig wieder aktiv. Oktavianus hatte nie auch nur eine Vorstellung davon gehabt, wessen Wissen er nutzte. Es musste das eines Mannes sein, der in der Kirchenhistorie außerordentliche Kenntnisse besaß. Der Moment der vereitelten Verschwörung gegen Papst Gregor kam Oktavianus wieder in den Sinn und er sah vor seinem geistigen Auge, wie der Begleiter von Zamorra und dessen Frau sich in Nichts auflöste. Er sah sich selbst, wie er die bei diesem Vorgang entstandene Magie in sich aufnahm – die Zeitmagie … und war dieser Mann nicht wie ein Priester gekleidet gewesen? War es sein Wissen, über das Oktavianus seither verfügen konnte? Er verwarf diesen Gedanken, denn er war zu verwirrend. Wichtig war nur, dass er von den Goldmünzen wusste, die sich hinter dem Teppich in der Kirche befanden! Die Information ging sogar noch um einiges weiter, denn er wusste, dass dieser verborgene Schatz im Jahr 2001 bei Arbeiten in der Kirche entdeckt wurde. Darin lag ein Widerspruch, denn wenn er die Münzen an sich nahm, wie konnten sie dann so viele Jahre später dort gefunden werden? Die Erklärung war ihm gleichgültig, denn die Zeit hatte ihn bestohlen – warum sollte er nun sie nicht gleichermaßen berauben? Nichts würde ihn davon abhalten. In der folgenden Nacht drang er in die Kirche ein. Die Bronzeplatte hatte seiner Wolfskraft nicht lange widerstanden. Nichts ließ auf einen Einbruch, auf einen gelungenen Diebeszug schließen, als er den Ort wieder verließ. Er war sicher, dass nie ein Wort davon bekannt würde, denn wer das nicht eben geringe Vermögen dort versteckt hatte, der konnte es sich sicher nicht erlauben, von dem Verlust zu reden. Ein hübscher Notgroschen, den sich ein sicher hoher Kirchenmann dort auf die Seite gebracht hatte. So also war es um Moral und Glaubenstreue
bestellt. Dass es sich um Kirchenvermögen handelte, stand für Oktavianus außer Frage. Oktavianus Lupomanus begann wieder zu leben. An diesem Tag war ihm klar geworden, was er zu tun hatte. Er hatte erkannt, dass diese Welt immer gleich funktionierte – Gold war gleich Macht. Und Macht, die wirklich große Macht … sie war ein Kind des Goldes. Das war in dieser Zeit nicht anders als in der Zukunft, die er gesehen hatte. Die Torwache hob grüßend die Hand, als der Wagen passierte. Oktavianus war hier kein Unbekannter. So genau wusste zwar niemand, womit dieser seltsame Kauz sein Vermögen gemacht hatte, doch er war innerhalb ganz kurzer Zeit ein angesehener Bürger Roms geworden. Nur auf dem gesellschaftlichen Parkett schien es ihn nicht zu geben. Er lehnte Einladungen kategorisch ab. Selbst die wenigen Bediensteten, die er sich erlaubte, konnten nicht viel über ihn berichten. Man sah ihn als Händler. Womit er seinen Handel betrieb, nun, das blieb schließlich immer noch seine eigene Sache. Über die rückseitige Einfahrt seines Anwesens steuerte Oktavianus den Karren dicht an sein Haus heran. Zwei junge Männer eilten dienstbeflissen zu ihm. »Die Kisten in den hinteren Keller.« Die Anweisung war kurz und knapp gehalten, und das hatte auch seinen Sinn. Er hatte diese beiden nach ihrer Körperkraft und dem Fehlen jeglichen kreativen Denkens ausgesucht. In beidem waren sie die besten Kandidaten gewesen. Sie hätten ihm nie eine Frage gestellt, denn es wäre ihnen niemals eine eingefallen. Sie waren dumm und stark. Einfach perfekte Helfer für sein Tun. Oktavianus betrat das Haus. Er würde es bald für immer verlassen, denn sein Wohnsitz sollte sich in eine ganz andere Gegend verlegen. Den Grundstein dazu verstauten seine Helfer gerade in den Kellergewölben. Oktavianus war kein Händler. Er hatte in den vergangenen vier Jahren nichts weiter getan, als ein Vermögen zu stehlen. Das Wort jedoch hätte er nie verwandt. Er nahm sich, was andere vor den Augen und dem Wissen der Welt in Sicherheit gebracht hatten. Korruption, Verbrechen? Sicher gab es noch andere Ursachen, die den
Machthabern ungeheure Werte in die Hände spielten. Doch das Ergebnis blieb oft gleich: sie hofften, diese Schätze später einmal für einen komfortablen Lebensstil nutzen zu können. Kaiser und Papst waren doch reich genug! Sie würden es nicht spüren, wenn ihnen ein so kleiner Teil vorenthalten wurde. Oktavianus verachtete diese Einstellung. Doch ohne sie wäre alles anders für ihn gekommen. Nun war die Zeit gekommen, seinen Plan in die Tat umzusetzen. Heute hatte er zum letzten Mal das Wissen aus dem Pool genutzt, um seinen Reichtum zu mehren. Nicht alle Informationen hatten gestimmt. Die angeblichen Wertgegenstände, Schmuck oder Gold, sie waren nicht an dem bezeichneten Ort gewesen. Lange hatte Oktavianus darüber gerätselt. War da mehr, als nur ein vor und zurück? Gab es unendlich viele Möglichkeiten, mit denen sein Feind, die Zeit, spielte? Dieser letzte Beutezug war jedoch gigantisch gewesen. Und er hatte eine unglaubliche Vorgeschichte. Denn es war wohl niemand anders als der amtierende Papst selber, der die mit Gold gefüllten Kisten in den Schutz der Erde hatte versenken lassen. Sein Plan war zugegebenermaßen genial, denn er hatte genau an dieser Stelle mit dem Bau einer Kirche beginnen lassen. Der Baustopp hinterließ ein halbfertiges Gebäude. Eine Ruine, in der ganz sicher niemand nach versteckten Reichtümern suchen würde. Es sei denn, man besaß das Wissen des beginnenden 21. Jahrhunderts. Denn in diese Zeit fiel der sensationelle Fund des Schatzes. Oktavianus war müde, nur noch müde. Er hatte seine Bediensteten angewiesen, ihn nicht vor dem Nachmittag zu wecken. Es war wichtig, dass er geistig und körperlich fit war, wenn er den wichtigen Schritt tat, der die erste Stufe für ein gewaltiges Vorhaben darstellte. Das Imperium der Wölfe … es würde entstehen. Und auch wenn die Zeit sein Feind war, konnte sie ihn nicht authalten. Am Ende würde er doch siegen.
Der alte Mann blinzelte unentwegt mit den Augenlidern. Er konnte sich an diese ungewohnte Helligkeit nicht gewöhnen, die von den Kerzen ausging, die überall in dem Raum verteilt waren. Zulange hatte er in der Dunkelheit gelebt. Auch sein Geist begann erst nach und nach, sich aus dem Dämmerzustand zu lösen, in den er sich geflüchtet hatte. Sie hatten ihn abgeholt. Wer? Und warum? Er hatte damit gerechnet, in dem Verlies zu sterben. Die Wachen ließen ihn gewöhnlich in Ruhe. Nur einer war darunter, ein ganz junger Kerl noch, der sich gelegentlich seinen Spaß daraus machte, die Gefangenen ein wenig zu quälen. Der Alte hatte sich damit abgefunden, sich arrangiert mit seinem Schicksal, das ihn mit einem heftigen Tritt von ganz oben in die tiefsten Tiefen befördert hatte. Vom reichen Machtmenschen zu einem Stück Dreck, das hier vermodern sollte. Wer konnte denn ein Interesse an ihm haben? Sie hatten ihn jedenfalls ordentlich behandelt, hatten ihn gebadet, in saubere Kleidung gesteckt; ein Kerl mit reichlich groben Händen hatte ihm die Haare geschnitten und ihn einigermaßen gründlich rasiert. Wer machte denn so etwas? Freunde? Er hatte keine mehr – die hatte man in seinen Kreisen nur, solange man mit Gold um sich werfen konnte. Vielleicht ein barmherziger Priester? Auch diesen Gedanken verwarf er sofort wieder. Er kannte die Kirche und ihre Bediensteten zu gut, um an so etwas glauben zu können. Er zuckte zusammen, als sich die Tür öffnete. Es waren nicht die beiden Männer, die ihn hierher geholt und sich mit ihm beschäftigt hatten. Der Mann, der den Raum betrat, war ihm unbekannt. Er wirkte düster, bedrohlich. Und im flackernden Kerzenlicht glaubte der alte Mann tierische Züge im Antlitz seines Gegenübers erahnen zu können. Der Dunkle kam sofort zur Sache. »Marcus Metellus, das Geschlecht der Metelli, denen du vorstehst, reicht weit in die Vergangenheit dieser Stadt hinein. Deine Vorfahren haben unter den Cäsaren gedient, haben unglaubliche Verdienste errungen und wurden reich entlohnt. Die Metelli waren einst auch eine der reichsten Familien des Römischen Reichs. Und nun habe ich dich aus dem Schuldenverlies freikaufen müssen.«
Seine Stimme duldete keine Unterbrechung, doch der alte Mann hätte auch nicht gewusst, was er auf diese Aufzählung und Anklage erwidern konnte. Es war ja alles richtig so. »Marcus Metellus. Ich kann dich jederzeit wieder in deine Zelle bringen lassen. Das Recht steht mir zu. Aber ich will dir einen Weg zeigen, der dich wieder zu dem macht, was du einmal warst. Ich habe deine Familienvilla am Marsfeld gekauft. Ich habe auch die anderen Güter erworben, die dir gehörten. Ich habe all deine Schulden beglichen. Du bist ein freier Mann, Marcus Metellus. Du wirst wieder dein altes Leben führen können, dafür sorge ich. Doch es gibt eine Bedingung, die ich an dich stelle. Es ist nur fair, dir zu sagen, dass, wenn du nicht auf sie eingehst, ich dich hier in diesem Raum töten werde. Aber was ich dir anbiete, dürfte dich überzeugen.« Der Alte fühlte ein Kribbeln, das mit Macht durch seinen Körper raste. Wenn das kein Traum war, dann bot dieser Mensch ihm gerade ein zweites Leben an. Welche Bedingung mochte es wohl geben, die Marcus dafür nicht erfüllt hätte? Dennoch gab er sich skeptisch. »Nenn mir deinen Namen. Dann nenne deine Bedingung.« Irgendwie hatte er das Gefühl, sein Gesicht wahren zu müssen. Ein letzter Rest von dem Mann, der er früher war, steckte doch noch in diesem geschundenen Körper. Sein Gastgeber blickte ihn mit stechendem Blick an. »Mein Name ist nicht von Bedeutung. Und die Bedingung, die ich stelle, wird ihn für immer auslöschen. Höre zu: du wirst deine alte Stellung in der Gesellschaft rasch wieder eingenommen haben. Und du wirst mich dort als deinen Sohn einführen, als Lupus Metellus, der nach Jahren der Abwesenheit zurückgekehrt ist, und seine Familienehre wiederhergestellt hat.« Für Sekunden lag tiefe Stille über dem Raum. Dann nickte Marcus Metellus. »Sprich weiter.« Der Mann zeigte ein breites Grinsen. Er wusste, dass er gewonnen hatte. »Es wird Gerede geben, weil niemand je von einem Sohn mit diesem Namen gehört hat. Aber sie werden auch wieder aufhören zu reden. Und dann wirst du deine alten Beziehungen zum Klerus ins
Spiel bringen. Du wirst mir die Tür zu einer kirchlichen Karriere aufstoßen. Das wird teuer, ich weiß. Wir werden die richtigen Leute bestechen müssen, aber das alles lass meine Sorge sein. Ich werde mich mit Personen umgeben, die mir bedingungslos ergeben sein werden. In diese Dinge wirst du dich mit keinem Wort einmischen. Du wirst dich überhaupt nirgendwo einmischen. Du wirst leben – sehr gut und luxuriös, wie es dir zusteht. Mehr musst du jetzt nicht wissen.« Er machte eine Pause, um seine Worte wirken zu lassen. Dann hielt er dem Alten seine kräftige Hand entgegen. »Nun? Wie lautet deine Antwort, Vater?« Metellus starrte für Sekunden auf die stark behaarte Hand, dann schlug er mit einer Kraft ein, die er sich selbst nicht zugetraut hätte. »Schön, dich endlich wieder zu sehen, mein Sohn …«
Die Räume des Palazzo Apostolico, des Papstpalastes, standen in ihrer düsteren Ausstrahlung seinem Äußeren in keiner Weise nach. Die hohen Hallen, die weitläufigen Gänge und ungezählten Räume strahlten allesamt tiefste Bedrückung aus. Schwarz und Braun dominierten als Farben, Marmor und Ebenholz als Materialien. Bischof Lupus ging mit gemessenem Schritt den breiten Hauptgang hinunter. Seine Blicke fielen auf Intarsien, die kunstvoll blutige Schlachtszenen darstellten. Am Kopfteil jeder einzelnen Säule, die er passierte, grinsten ihn Teufelsfratzen an. Ihr Gott ist ein strafender Gott, doch auch der Gotte der Liebe, der Vergebung. Warum umgaben sich seine weltlichen Führer dann ausschließlich mit einer so niederschmetternden Symbolik? In den vergangenen sechs Jahren hatte er das Christentum intensiv studiert. Die Notwendigkeit dazu hatte er erkennen müssen, denn sein Spiel mit Gold und Macht reichte alleine nicht aus, um das große Ziel zu erreichen. Sein Studium hatte er vollendet gemeistert, doch niemals würde er den wahren Hintergrund des christlichen Glaubens für sich verinnerlichen können. Das Ziel war nun nahe. Er konnte den Triumph bereits riechen, schmecken, erahnen. Oh ja, er hatte viel erreicht. Der Wolfskult war
zu annähernd voller Blüte erwacht. Die richtigen Brüder saßen an den richtigen Stellen. Die Lethargie, die er vor beinahe zehn Jahren vorgefunden hatte, war nicht mehr existent. Die Entstehung des Imperiums der Wölfe war nur noch eine Frage von wenigen Wochen – und von einigen kleinen Schritten, die noch gemacht werden mussten. Dazu gehörte der Gang, den er heute hier zu gehen hatte. Er sollte ihm endgültig beweisen, wie weit er bei ganz bestimmten Personen Vertrauen genoss – oder eben nicht. Dieses Wissen würde die nächsten Schritte des Bischofs entscheidend beeinflussen. Nur noch wenige Meter trennten Lupus von dem Raum, in dem er bereits erwartet wurde. Wer zum Papst ging, der musste die offiziellen Schritte einhalten, und dazu gehörte es, sich bei einem ganz bestimmten Würdenträger einzufinden. Bischof Lupus fühlte noch immer die Schweißperlen auf seiner Stirn. Beim Betreten des Palastes war es zu einer Begegnung gekommen, die er gerne vermieden hätte. Genau gesagt, vermied er sie seit vielen Jahren, wo es nur möglich war. Heute war es nicht anders gegangen, den der Centurio Oktavianus Lupomanus tat zur Zeit hier Dienst, ja … Oktavianus Lupomanus. Das erste Mal waren sie bei einem Treffen der Bruderschaft aufeinander getroffen. Der Centurio hatte Lupus/Oktavianus kaum registriert. Lupus hingegen hatte entsetzt den Raum verlassen. Er ist ich … ich bin … er? Es hatte eine Weile gedauert, bis er diesen Wahnsinn für sich akzeptieren konnte. Natürlich, damit hatte er doch rechnen müssen. Er kam aus der Zukunft hierher in eine Zeit, in der es ihn bereits gab. Von dem Tag an war er dem Soldaten aus dem Weg gegangen, wo es nur eben möglich war. Doch dieses Treffen hatte natürlich auch eine Erkenntnis nach sich gezogen: die verschwundene Wolfsmagie, der Zeitring, der nicht mehr funktionierte – das alles waren Auswirkungen seiner Doppelexistenz. Lupus beobachtete die Karriere seines Zweitegos aus der Ferne. Mehr konnte er nicht tun. Der Bischof betätigte den klobigen Türklopfer, der – wie sollte es hier anders sein? – die Form einer dämonische Fratze hatte. Das
Herein ließ eine Weile auf sich warten. Der Mann, der hinter dem dicken Türblatt auf ihn wartete, war ein Machtmensch. Und so benahm er sich auch allen gegenüber. Ganz gleich, welches Amt sein jeweiliger Gegenüber auch bekleiden mochte. Kardinal Jakobus war ein schmächtiger Mann, der hinter dem kantigen Schreibtisch kaum zu sehen war. Sein Kopf war absolut kahl, sein Mund hatte große Ähnlichkeit mit dem Schnabel eines Raubvogels. Lupus mochte Vögel nicht besonders … Der Weg zum Papst führt nur über Jakobus – das war kein Gerede, wie es im Vatikan oft entstand, sondern die nackte Wahrheit. Dieser Mann war der Dreh- und Angelpunkt des Machtgefüges, das sich hier manifestierte. Lupus schmunzelte. Das Wort Kardinal war abgeleitet vom lateinischen Cardo, dem Türzapfen, der Angel, um die sich alles drehte. Konnte das passender sein? Wohl kaum. Minutenlang saßen die beiden Männer sich gegenüber und schwiegen. Lupus/Oktavianus wusste um die Art, in der Kardinal Jakobus mit Gesprächspartnern umzugehen pflegte. Dieses unangenehme Taxieren des anderen gehörte zu seiner Strategie. Der Bischof ließ sich davon nicht aus seiner Ruhe bringen. »Seine Heiligkeit Papst Gregor bedauert, dich heute nicht empfangen zu können, Lupus Metellus.« Lupus hatte damit gerechnet. Seine Reaktion war geheuchelte Überraschung. »Ist der Papst erkrankt? Das wäre furchtbar.« Jakobus setzte ein schiefes Lächeln auf. »Ich will dir reinen Wein einschenken, Lupus.« In den du mit Vergnügen vorher Gift schütten möchtest … ergänzte Lupus/Oktavianus in Gedanken. »Dein ungeheurer Aufstieg in der Kirche …« Er machte eine unbestimmte Bewegung mit der Hand. »Nun, sagen wir: er hat Verwunderung und ein wenig Unwillen bei gewissen Leuten erregt. So auch beim Papst selbst. Er … wir denken, du solltest dich für ein paar Jahre in Demut auf dein Amt konzentrieren, ehe du hier in Rom weiter auf den Spros-
sen der Leiter empor kletterst. Ich glaube, du verstehst, was ich sagen will?« Deutlicher musste er nun wirklich nicht werden. Lupus'/Oktavianus' Aufstieg zum Bischof war tatsächlich ungeheuer rasch vonstatten gegangen. Doch er war nicht der erste Emporkömmling in der Kirchenhierarchie. Und auch die Methode, mit der er das geschafft hatte, war nicht wirklich neu in der Geschichte der katholischen Kirche. Natürlich kam noch persönliche Antipathie von Seiten des Kardinals Jakobus hinzu, der sich von jedem bedroht fühlte, der sich zu schnell dem Status eines Kardinalsamtes näherte. Denn aus den Reihen der Kardinale wurde für gewöhnlich der kommende Papst gewählt. In Jakobus' Denken konnte dieser, wenn es denn soweit sein würde, nur seinen Namen tragen. Doch Lupus ahnte, dass noch etwas anderes hinter der klaren Ansage steckte, die viel von einer Drohung gegen ihn in sich barg. »Kardinal Jakobus.« Lupus ging zur offiziellen Anrede über, die man untereinander meist nicht verwendete. »Ich verstehe Euer Ansinnen nicht. Habe ich mir etwas zu Schulden kommen lassen? Der Heilige Vater würde mir seine Gunst doch nur entziehen, wenn dem so wäre. Ich erwarte Eure Erklärung.« Sein Gegenüber erhob sich. »Nun gut, wenn du es so willst. Man hat mir zugetragen, dass du bei gewissen Treffen gesehen wurdest. Wie ich hörte, handelt es sich um Zusammenkünfte eines Geheimbundes. Seinen Namen habe ich wieder vergessen. Irgendetwas mit Wolfsbund. Zu absurd, als dass ich das wirklich glauben kann. Aber wenn ein Korn Wahrheit in dieser Information steckt, dann solltest du – in voller Demut und Dankbarkeit – meinen Rat annehmen, Lupus. Verhalte dich ruhig, bis man dich wieder in den inneren Kreis um seine Heiligkeit ruft. Komm nicht von dir aus hierher. Nie mehr, hörst du? Es wäre zu deinem Schaden.« Ohne ein weiteres Wort verließ Kardinal Jakobus den Raum durch eine Nebentür. Minutenlang blieb Bischof Lupus vor dem Schreibtisch sitzen. Kein Muskel rührte sich in seinem Körper. Er schien nicht einmal zu atmen. Dann endlich erhob er sich langsam und trat zurück auf den
Gang, der ihn aus dem Palazzo Apostolico führte. Draußen atmete er gierig die frische Luft ein, die in den Gewölben, die nun hinter ihm lagen, nicht zu existieren schien. Es hatte ihn große Kraft und Selbstbeherrschung gekostet, den Kardinal nicht mit seinen Klauen und Zähnen zu zerreißen. Das sollten besser andere tun. Langsam stieg er die Treppenstufen hinunter. Es war also soweit. Früher zwar, als ursprünglich geplant, aber es musste wohl so sein. Der Heilige Stuhl wartete auf ihn … auf Lupus I. Die Korrektur der Geschichte musste vollendet werden. Und dieses Mal würde die Zeit ihm seinen Sieg nicht streitig machen können.
Du bist Assaassin? Ja. Du tötest für Gold? Ich töte im Namen des Pontifex Maximus. Dann bist du der falsche Mann … Warte. Wie viel Gold? Sehr viel. Dann nenne den Namen. Du wirst ihn zur rechten Zeit erfahren. Und das Gold? Öffne deine Hand … Und blutig glänzendes Gold fiel in eine blutbefleckte Hand.
Die Ernennung eines neuen Kardinals war einzig und allein Sache des Papstes. Für gewöhnlich geschah dies in einer gewaltigen Zeremonie im Petersdom, die einiges an organisatorischen Dingen erforderte. Zu allen Zeiten sah man die Kardinale als das, was sie schließlich waren: die Kronprinzen des Heiligen Vaters. In ihren Reihen war im Normalfall der zu finden, der den kommenden Papst abgeben würde. Es gab immer Ausnahmen, doch dies war eindeutig die Regel.
Der Attentäter hing bereits seit zwei Wochen an der Stadtmauer. Erst am Tag der Neuernennung schnitt man seine Leiche ab, deren Augäpfel längst ein Opfer der Krähen geworden waren. Der Mord an Kardinal Jakobus hatte Bestürzung in Rom ausgelöst. Nicht, dass ihn irgendeiner der Bürger sonderlich verehrt hätte, nein, ganz sicher nicht, Jakobus war stets unbeliebt gewesen, denn seine herrische Art und die vielen Ideen, mit denen er den Menschen immer mehr ihrer knapp bemessenen Münzen aus den Taschen gezogen hatte, waren bereits zu seinen Lebzeiten Legende. Es war vielmehr die Art seines Todes und die Tatsache, dass man seinen Mörder tatsächlich gefasst hatte. Es wurde gemunkelt, dass der Mann zu der geheimnisumwitterten Gruppe gehörte, die im Namen der Kirche ihrem tödlichen Geschäft nachgingen. Offiziell gab es diese Meuchelmörder natürlich nicht, doch sie existierten und jeder wusste es. Dass man ihn überhaupt hatte dingfest machen können, musste mit Verrat zusammenhängen. Die Beweise hatten keinen langen Prozess erforderlich gemacht. Das Urteil wurde bereits wenige Tage nach der Tat vollstreckt. Marcus Metellus betrachtete den Mann, der nun seit sechs Jahren offiziell sein Sohn war. Lupus bewohnte nach wie vor das Gut am Marsfeld gemeinsam mit ihm. Als Bischof musste er natürlich an den Feierlichkeiten zur Ernennung teilnehmen. Ein Diener war darum bemüht, ihm beim Anlegen des Bischofsgewandes behilflich zu sein. Mit einer Handbewegung scheuchte Lupus den Mann schließlich aus dem Raum. »Warum beobachtest du mich so intensiv?« Marcus Metellus lachte. »Nur sechs Jahre hat es gebraucht – sieh dich an. Du hast doch erreicht, was du wolltest. Oder?« Als die Antwort ausblieb, setzte er nach. »Hattest du dir Hoffnung auf das Kardinalsamt gemacht?« Lupus wandte den Kopf zu ihm. »Nein, das sicher nicht. Du kennst die Hierarchie beinahe so gut wie ich.« Metellus setzte sich auf einen Hocker. »In all den Jahren habe ich Wort gehalten. Ich habe mich nie eingemischt, nicht wahr?«
»Dann fang heute auch nicht damit an, Vater.« Das letzte Wort kam Lupus/Oktavianus mit Ironie über die Lippen. Die beiden hatten ihr Spiel über die Jahre gemeinsam perfekt durchgehalten. »Heute geschieht mehr, als die Ernennung eines Kardinals.« Metellus fragte nicht, er stellte es fest. »Und du bist die Hauptfigur in einer Aufführung, deren Inhalt ich erahnen kann. Glaubst du nicht, dass ich in den Jahren mitbekommen habe, was du tust? Was du planst? Und … wohin du in manchen Nächten verschwindest?« Lupus stand auf. Er überragte den alten Mann um Haupteslänge. »Was heute auch geschieht: es wird für dich keine Auswirkungen haben. Verhalte dich ruhig und lebe dein Leben, solange es noch währt.« Es war keine Furcht in Metellus' Blick, als er den Bischof ansah. »Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich war nie ein überzeugter Christ. Aber ich werde ganz sicher nie einem Wolfskult angehören.« Lupus ließ den alten Mann stehen und ging aus dem Zimmer. Seine engsten Vertrauten und Anhänger warteten bereits auf ihn. Sie alle waren wie er, und ihre wölfische Natur befähigte sie, zu Anführern der neuen Zeit zu werden. Das Imperium der Wölfe würde noch an diesem Tag seine Herrschaft antreten. Lupus/Oktavianus zog einen der Männer zur Seite. »Geh in das Zimmer und töte meinen Vater, ehe er zu einer Gefahr für uns wird.« Der Mann nickte nur kurz, und Oktavianus konnte die Aura des Wolfes spüren, die in ihm hochstieg. Es war kein schöner Tod, der den alten Metellus erwartete. Lupus wandte sich an die Männer. »Jeder kennt seine Aufgabe. Ihr alle wisst, was auf dem Spiel steht. Unsere Leute stehen an den wichtigen Ausfallstraßen. Es wird wie besprochen geschehen, bevor Papst Gregor das Kirchenschiff betritt. Brüder, die Zeit der Wölfe hat begonnen!« Energisch führte er die kleine Gruppe an, die vom Marsfeld aus in Richtung Petersdom ging. »Lupus, dein Ring … ich hätte schwören können …« Oktavianus/Lupus starrte auf seine rechte Hand. Der Zeitring. Er war verschwunden, ganz einfach nicht mehr da.
Doch das durfte nun auch keine Rolle mehr spielen. In der Ferne tauchte die Kuppel des Domes auf. Es war soweit …
Die Stimmung auf den Straßen war eher bedrückt als heiter. Die Messe, in der die Ernennung stattfinden sollte, würde mit all dem Pathos ablaufen, der in dieser Zeit üblich war. Die einfachen Menschen erstarrten vor Ehrfurcht, als die kirchlichen Würdenträger in einem langen Zug das Kirchenschiff betraten. Nervös blickte sich Lupus/Oktavianus immer wieder um. Er wusste nicht, woher diese innere Unruhe plötzlich kam. Alles war perfekt geplant. Sechs lange Jahre der Vorbereitung … es konnte einfach nichts schief gehen. Die eigentlichen Verschwörer, die aktiv agieren würden, befanden sich nun sicher bereits auf ihren Posten. Oktavianus hatte alles versucht, um eine bestimmte Person an diesem Tag von diesem Ort und seinen schicksalhaften Geschehnissen fern zu halten. Sein zweites Ego, den Centurio Oktavianus Lupomanus. Doch genau das war ihm nicht gelungen. Der Centurio war nicht zu bremsen gewesen. Er gehörte nicht nur zu den Attentätern, er führte sie sogar an. Und seine Mitverschwörer richteten sich an seiner Energie regelrecht auf. Wie in weiter Ferne registrierte Oktavianus den Beginn der Messe. Seine Gedanken waren weit von hier entfernt. Die Jahre, die hier hinter ihm lagen, hatten eine Erkenntnis in ihm wachsen lassen: Er verstand viel zu wenig von den Dingen, die ihm geschehen waren – er hatte in die Zukunft geblickt und war zurück gekommen. Doch er war nicht an den Ort zurückgekehrt, von dem aus seine Reise gestartet war. In vielen Nächten hatte er nach der endgültigen Lösung dieses Rätsels gesucht, doch er war klug genug, um einzusehen, dass ihm das niemals wirklich gelingen konnte. Ganz gleich, wie viele Jahre er noch zu leben hatte. Dies war seine Zeit … doch bei genauer Betrachtung war es nicht seine Welt, auch wenn die Ähnlichkeiten groß schienen. Gab es denn nicht nur ein definitives Gestern, Heute und Morgen? Gab es da noch ein zweites Gestern, ein drittes Heute? Vielleicht sogar unendlich viele von ihnen? Wie existierten sie? Parallel zueinander?
Oder waren sie verschachtelt, untereinander verwoben, und nur eine unscheinbare Kleinigkeit konnte den Ausschlag geben, in welche Richtung sie sich schlussendlich entwickeln würden? Oktavianus hatte die Zukunft gesehen, ja, das hatte er. Zumindest eine der vielleicht möglichen Zukunftsversionen. Das Wissen dieser Zukunft lag noch immer in ihm, gespeichert in dem Pool, dessen Ursprung für ihn letztendlich im Dunkel blieb. Dennoch – er war ein Wesen des 16. Jahrhunderts. Die Dinge, über die er sich den Kopf zermarterte, waren ganz einfach mehr, als sein Verstand auf Dauer ertragen konnte. Er musste lernen, von nun an ausschließlich das Hier und Jetzt zu sehen. Er musste sich dazu zwingen. Und er würde es als der erste Wolfsmensch auf dem Heiligen Stuhl tun! Der liturgische Verlauf der Messe näherte sich dem Punkt, an dem die Ernennung des Kardinals vorgesehen war. Der Mann, den Oktavianus/Lupus für einen schlimmen Opportunisten hielt, dem das von der Bruderschaft der Wölfe gesteuerte Attentat auf Jakobus sehr gelegen gekommen war, kniete bereits vor dem Altar. Es gab in der Stadt bereits Gerüchte, dass er den Assassin angeheuert hatte, um in der Hierarchie nach oben rücken zu können. Sollten die Menschen doch denken, was sie wollten. Das alles würde in wenigen Minuten keine Rolle mehr spielen, denn die Hierarchie im Imperium der Wölfe war eine gänzlich andere. Die Menschen würden das zu spüren bekommen. Und sie mochten daran sicher keinen Gefällen finden. Die Tür, durch die Papst Gregor in das mächtige Kirchenschiff kommen sollte, wurde geöffnet. Jetzt wird es geschehen … Nervös massierte Oktavianus seine Hände. Der Ring. Der Verlust kam ihm nun wieder in den Sinn. Wo und wann hatte er ihn verloren? Abgelegt hatte er ihn ganz sicher nicht. Das tat er nie. Wie lange steckte er bereits nicht mehr an seinem Finger? Vielleicht schon seit Tagen. Ein schrecklicher Verdacht keimte plötzlich in seinem Kopf auf. Nein, das war nicht möglich. Konnte nicht sein … nicht sie! Sie durften es ganz einfach nicht sein.
Es war doch alles anders. Aber was bedeutete anders denn schon? Ein heller Lichtschein, wie von einem Blitz in tiefster Nacht. Dann Schreie. Tumulte an der seitlichen Pforte. Und Stimmen, die Oktavianus so bekannt waren. Im hinteren Teil des Domes brach Panik aus, weil irgendjemand einen Feuerschein gesehen haben wollte. Die Schreie überschlugen sich. Feuer! Rom hatte so viele Feuersbrünste über sich ergehen lassen, dass die Menschen hier auf die kleinste unkontrolliert brennende Flamme allergisch reagierten. Feuer! Niemand kam auch nur auf die Idee, diesen Alarmschrei zu hinterfragen. Feuer! Und alles rannte und tobte, trampelte einander nieder, wie das Vieh auf der Weide, dem der Wolf zu nahe gekommen war. Wie nahe der wahre Wolf ihnen in dieser Sekunde war, konnte niemand auch nur erahnen. Die Bischöfe rund um Oktavianus machten da keine Ausnahme. Er hatte Mühe, sich nicht von dem Mob nach hinten treiben zu lassen. Sein Blickfeld wurde immer wieder durch andere verstellt. Was er jedoch sah, ließ ihn erstarren. Dort vorne war Magie im Einsatz. Wolfsmagie … und die Magie eines Mannes, den er doch getötet hatte. In ferner Zukunft. Welcher Zukunft? Dennoch war er hier und setzte die Magie seines Amuletts gegen die Verschwörer ein. Oktavianus/Lupus sah, wie die päpstliche Garde sich schützend um das Oberhaupt der katholischen Kirche scharte. Die Wölfischen waren den Menschen an Kraft und Geschicklichkeit hoch überlegen, doch sie waren der Garde zahlenmäßig weit unterlegen. Zudem wurden sie von ihren Gegnern eingekesselt. Sie konnten ihre Kampfkraft auf diesem minimalen Aktionsradius überhaupt nicht zur Geltung bringen. Oktavianus/Lupus wusste, was nun folgen würde; er hatte das Ende einer ähnlichen Szenerie bereits miterlebt … hier-dort-irgendwo
… der kalte Schweiß brach auf der Stirn des Wolf-Bischofs aus. Er musste fort von hier, irgendwohin, an einen Ort, an dem er neu planen konnte, alles neu überdenken. Vielleicht konnte man ja einen zweiten Anlauf starten – nicht heute, nicht morgen, aber irgendwann? Er stoppte den Fluchtimpuls, der seinen Körper sinnlos zum Haupteingang drängen wollte. Irgendwann? Es würde dieses Irgendwann für ihn nicht geben. Nicht hier, in dieser Fuge der Zeit, in der er auf eine berechenbare Zukunft für sich gehofft hatte. Oktavianus'/Lupus' Körper entspannte sich. Wenige Meter von seinem Platz entfernt starben seine Wolfsbrüder unter den Hellebarden der Papstgardisten. Und mit ihrem Tod verging der Traum vom Imperium der Wölfe, das es hier niemals geben würde. Oktavianus/Lupus schloss seine Augen … … und Centurio Oktavianus öffnete die Augen, die er für einen Sekundenbruchteil geschlossen hatte. Verwirrt wandte er den Kopf in Richtung des Kirchenschiffs. Ihm war, als habe ihn etwas berührt, doch was er sah war Blut und Tod. Alle tot! Die Brüder – hingemetzelt von den Gardisten. Nur er hatte überlebt. Irgendwie. Und dann löste sich zu seinem Entsetzen nur wenige Schritte vor ihm dieser Priester in Nichts auf. Verschwand ganz einfach so. Oktavianus machte einen Satz nach vorne, wollte eingreifen, sich an diesem Zamorra und den Seinen rächen, die den ganz großen Plan der Bruderschaft zerstört hatten. Sie sollten sich nicht ungestraft davon stehlen. Irgendetwas umfing ihn – hüllte ihn ein – verschmolz mit seinem Geist … Magie, die nicht die Seine war. Als er wieder klar denken konnte, waren Zamorra und die Frau verschwunden. Er musste ihnen folgen. Egal, wohin sie auch gingen, Centurio Oktavianus würde mit ihnen gehen, bis er sie zur Strecke gebracht hatte. Das war er dem verlorenen Imperium schuldig.
6 Traum des Tieres – Beginn im Beginn Der Ring – Anal'h natrac'h – ut vas bethat – doc'h nyell yenn vvé – Anal'h natrac'h – ut vas bethat – doc'h nyell yenn vvé – Anal'h natrac'h – ut vas bethat – doc'h nyell yenn vvé … Vsion vom bunten Himmel, dem schwebenden Engel … der Duft nach Thymian, Lavendel, das silberne Fell auf wundervollen Brüsten … Heller Sand in der Arena – »Hereinspaziert, meine Damen und Herren, immer herein …« – grinsender Riese und grimmig blickende Zwerge. Pechfarbenes Fell des Panthers. DER FINGER IM MAUL DER BESTIE … STOPP! Beißender Schmerz in den Kniekehlen – das Kreuz … DAS KREUZ … wirrer Geist … Attentat … und Niederlage … und Niederlage … Niederlage – wiederundwiederundwieder … Der Ring – schwarzer Sand – graues Fell … grau? Tiara auf dem Kopf des Wolfes – Sieg, endlich der Sieg … Tod und Blut … wiederundwiederundwieder. Der Rang – weißes Fell und Silbersand. NEIN! NEIN! Es muss ein Ende geben … es muss!
7 Im Trüben fischen … Der Kahn machte nicht den Eindruck, als könne man ihn bedenkenlos zu Wasser lassen. Um so erstaunlicher war es, dass er problemlos auf dem kleinen See schwamm, der in einer gottverlassenen Gegend in Wales zu finden war. Besser gesagt: nicht zu finden. Denn wenn man sich das Ufer und die nähere Umgebung betrachtete, konnte schon der Eindruck entstehen, dass hier garantiert noch kein Tourist gewesen war. In dem kleinen Boot konnte man drei Personen ausmachen. Die auffälligste davon war ganz sicher der alte Mann, der immer wieder aufs Neue den Versuch startete, seine Angel erfolgreich auszuwerfen. Dass er darin alles andere als geschickt war, konnte man wirklich kaum übersehen. Mehrfach endeten die Anläufe darin, dass die Schnur sich im Schilf verhedderte, was ihm reichlich unmutige Brummtöne entlockte. Es mochten Flüche sein, doch die Sprache, in der er sich ausdrückte, war ein unverständliches Kauderwelsch, das sicher nur er selber verstehen konnte. Der Alte trug Ölzeug, als wolle er sich auf eine Hochseetour begeben – doch es gab nicht einmal die kleinste Welle, die hier die Oberfläche des kristallklaren Wassers kräuselte. Kniehohe Stiefel rundeten das Bild eines echten Seebären ab. Was er jedoch auf dem Kopf trug, war nicht so leicht zu identifizieren. Die Verwandtschaft zu einem Südwester mochte vorhanden sein, doch nur äußerst weitläufig. Das Ding lief nach oben hin spitz zusammen, hatte mehr als übertrieben breite Krempen, die seinem Träger tief ins Gesicht reichten, und schien mindestens um drei Hutgrößen zu weit auszufallen. Das alles schien den seltsamen Kauz jedoch nicht weiter zu interessieren. Er wollte angeln. Und so hatte seiner Ansicht nach ein
Angler auszusehen. Die zweite Person war ein Mann, der wie ein gut durchtrainierter Enddreißiger wirkte. Er mochte gut 185 Zentimeter messen und trug sein dunkelblondes Haar modisch geschnitten. So, wie er neben dem Alten im Boot hockte, machte er einen äußerst genervten Eindruck. Irgendwie musste man ihn sicher nicht fragen, was er von dieser Kahnpartie hielt. Seine Körpersprache sagte da bereits alles. Die dritte Person war eine junge Frau, die wohl jedem Mann ein Zungenschnalzen entlockt hätte. Ihre hellblonden Harre fielen weit über ihre schmalen Schultern. Ihre Figur, betont bis knapp über die Grenzen des Machbaren – konnte selbst den Alten nicht ruhig bleiben lassen. Ihre nackten Füße baumelten über der Reling und planschten aufreizend im Wasser. Im Gegensatz zu ihrem männlichen Pendant schien sie sich allerdings gut zu amüsieren. Das schelmische Grinsen auf ihren Lippen war kaum zu übersehen. Der Alte wandte brummelnd seinen Kopf zu ihr. »Nun sag schon, was dir die ganze Zeit über auf der Zunge brennt, Nicole. Ich will nicht daran die Schuld tragen, wenn du an deinen Gemeinheiten erstickst.« Die junge Frau musste sich beherrschen, um nicht laut loszulachen. »Oh, da gäbe es mehrere Dinge, die mir einfielen. Sag mal, Merlin, hattest du in deinem langen Leben je zuvor eine Angel in der Hand?« Der böse Blick des alten Mannes traf sie tief. »Ich meine ja nur so. Also zu deiner Information: das ist eine Angel, kein Wanderstab. Und so sollte man sie auch nicht handhaben.« »Dann mach es doch besser, wenn du das kannst.« Wütend drückte der Zauberer Nicole Duval die Angelrute in die Hand. »Bitte sehr – wenn du es möchtest. Dann pass mal auf.« Sie hielt die Angel völlig ruhig in der rechten Hand. Dann kam die kleine Ausholbewegung – kaum sichtbar und elegant – und im nächsten Augenblick surrte die Schnur zielsicher von der Rolle mitten in den See. »Recht so?« Merlin warf Zamorra einen fragenden Blick zu, den der schulterzuckend beantwortete. »Frag mich nicht, woher sie das nun schon wieder kann. Ich wundere mich schon lange nicht mehr.«
Nicoles überlegenes Lächeln ließ der bärtige Zauberer unkommentiert. Er bemerkte, dass Zamorra zum eigentlichen Thema zurückkehren wollte. Sie waren schließlich nicht hier, um den Angelschein zu erwerben. Zamorra hatte Merlin um ein Treffen gebeten, denn er war mit seinem Latein am Ende. Er brauchte den Rat des Alten dringend. Dass Merlin sie nach Wales kommen ließ, war nicht ungewöhnlich, denn schließlich lebte er dort auf seiner unsichtbaren Burg Caermardhin. Als der Alte sie dann hierher an diesen unwirklichen See mitgenommen hatte, weil er – zumindest hatte er sich so ausgedrückt – dringend zum Angeln wollte, war Zamorra schon ein wenig verwundert. Nicoles Reaktion darauf war eine drehende Bewegung ihres Zeigefingers, den sie nahe an ihrer Stirn hielt. Irgendwie hatte sie Merlin schon immer für reichlich durchgeknallt gehalten. Merlin ließ Nicole die Angel. Er wandte sich Zamorra zu. »Erzähle weiter. Wo warst du stehen geblieben?« »Nicht stehen, sondern liegen geblieben.« Zamorra versuchte sich zu konzentrieren. »Ich konnte Nicole sehen. Ihre Kehle war zerfetzt, das Genick gebrochen. Und ich sah meine Gedärme. Wir sind dort gestorben, Merlin, definitiv gestorben. Tot, aus und vorbei …« Es war nicht zu überhören, dass es dem Parapsychologen schwer fiel, darüber zu sprechen. »Und weiter?« Merlin wollte nicht, dass Zamorra zu lange in dieser Szene verharrte, die dem Franzosen offenbar intensiv vor Augen stand. »Weiter?« Das Boot wackelte bedenklich hin und her, als der Professor seine Sitzposition änderte. »Der Wolfsmensch benutzte den Zeitring, löste sich in exakt der gleichen Art und Weise vor meinen Augen auf, in der Aurelian das in der Wolfsrealität getan hatte.« Zamorra hielt kurz inne, um die richtige Formulierung für sich zu finden. »Nicole wird dir meine Worte so nicht bestätigen können, denn sie war bereits tot … aber ich habe es bei meinem letzten Atemzug ganz deutlich realisieren können – und irgendwie gab es bei diesem Vorgang auch einen visuellen Aspekt. Ich kann es nur so erklären: es war, als würde man von mehreren übereinander liegenden Dias das obere abheben. Und diese Dias sind alle gleich und
doch wieder nicht.« Nicole schaltete sich ein. »Wir fanden uns im Zirkus wieder. Allerdings nicht in der Arena, sondern mitten im Publikum. Ich kann dir das Gefühl nicht beschreiben, das ich hatte. Irgendwie, als hätte mich jemand hochgehoben und einfach wie eine Marionette ein paar Meter weiter wieder abgesetzt, allerdings in eine Marionettenaufführung, in der ein etwas anderes Stück gespielt wurde. Klingt blöde, nicht wahr?« Merlin schüttelte nachdenklich seinen Kopf. »Ganz und gar nicht. Was kam dann?« Zamorra übernahm wieder. »Wir sind aufgestanden und gegangen. Die Seiltänzerin bekam einen gewaltigen Applaus, weil ihre Show eben zu Ende war. Dann haben wir uns mit meiner Kreditkarte ein Ticket für die Fähre nach Nizza gekauft. Wir mussten nicht wieder Schwarzfahren – Plastikgeld und Handy funktionierten wieder einwandfrei. Alles war wieder richtig. Und nun kommst du.« Der alte Zauberer seufzte. »Eine patentierte Antwort werdet ihr von mir nicht bekommen. Das Sinnbild mit den Dias war wohl schon der Schlüssel zu allem, Zamorra. Vielleicht liegen unzählige Realitäten hauchdünnen Folien gleich übereinander, und es reicht eine unbedeutende Winzigkeit, um uns in die eine oder andere Wirklichkeit zu senden. Ist das hier die erste Welt, in der wir dieses Leben leben? Oder sind wir – ohne es zu ahnen – ständig solchen Wechseln unterworfen?« Für einige Minuten herrschte Schweigen an Bord des kleinen Bootes. Dann fuhr Merlin fort. »Ihr habt die Zeitmagie gespürt, die dieser Centurio mit sich in diese Welt gebracht hat. Sie hat euch blockiert, ganz klar. Als er wieder verschwand, ging auch die Magie mit ihm. Die manipulierte Wirklichkeit löste sich ab und verging. Aber es steckt mehr dahinter. Viel mehr. Durch die Zeitmagie wurde eine künstliche Realwelt erschaffen, die sich selbst zerstörte, als ihr auslösender Faktor verschwand. Ihre Wahrscheinlichkeit rutschte schlagartig in Richtung Null Prozent.« Zamorra schnippte mit den Fingern. »Ähnlich war es bei der Echsenwelt – die ursprünglich die gleiche Wahrscheinlichkeitschance wie die unsere hatte. Doch die Welt der Sauroiden tendierte schließ-
lich gegen Null, während unsere Erde in Richtung 100 % ging.« Merlin war nicht überzeugt von der Vergleichbarkeit dieser Fälle, doch er hielt sich damit zurück. »Es gibt etwas anderes, was du bedenken solltest, Zamorra.« Der Parapsychologe zog die Augenbrauen hoch. Wusste der alte Geheimniskrämer doch mehr, als er sagte? Das war bei Merlin ja an der Tagesordnung und hatte mehr als einmal zu heftigem Streit zwischen Zamorra und dem Zauberer geführt. »Ihr habt mir geschildert, wie Aurelian euch zu der Zeitreise in die Vergangenheit der Wolfswelt überredet hat. Dass der Wolfskult die Erde beherrscht, war da für euch eine unumstößliche Tatsache. Erst in der Vergangenheit dieser Realitätsebene kamen euch Zweifel, habt ihr begonnen, an die Möglichkeit einer anderen Wirklichkeit zu denken.« Nicole holte die Angelschnur ein. Sie hatte wirklich kein Interesse daran, einen Fisch zu fangen. »Ich verstehe nicht, worauf du hinaus willst, Merlin? Als die Verschwörung in der Wolfswelt durch unser Eingreifen verhindert wurde, war klar, dass diese Welt nicht die wirkliche war.« »Und wer sagt euch, dass das so stimmt?« Merlin ließ die Worte auf seine Gäste wirken. »Ich halte es für durchaus möglich, ja, für sogar einigermaßen wahrscheinlich, dass die Wolfswelt die eine Wirklichkeit gewesen ist. Bis zu dem Moment, in dem ihr dort erschienen seid.« Es war still in dem kleinen Boot, das kurz darauf zurück an das Seeufer gerudert wurde. Zamorra wusste nicht, wie er mit dem umzugehen hatte, was Merlin als Möglichkeit angeboten hatte. Kurz danach verabschiedeten sich Zamorra und Nicole von Merlin. Zu viel an Verpflichtungen und ungelösten Problemfällen warteten auf sie, als dass sie sich hier für ein paar Tage hätten ausruhen können. Der alte Mann trug noch immer seine mehr als eigentümlich anmutende Kluft, als er den beiden nachwinkte. Nicole blieb stehen und wandte sich noch einmal um. »Merlin?« Ein schiefes Grinsen flog über das runzelige Gesicht des Zauberers. »Ja, Nicole? Nun sag es doch schon endlich! Du kannst es doch
nicht für dich behalten.« Nicole grinste ihn wie eine freche Göre an. »Merlin – mit diesem Hut siehst du reichlich be … scheuert aus. Kauf dir einen anderen. Oder noch besser: kauf dir künftig Fischstäbchen, und lass das Angeln sein, okay?« Als sie wieder im Château Montagne waren, legte Nicole Zamorra einen Zeitungsartikel vor. Der Professor der Parapsychologie nickte. »Das lassen wir uns nicht entgehen. Morgen fahren wir los.« Dann hielt er nachdenklich inne. »Was hältst du von Merlins Theorie über die Wolfswelt?« Nicole hatte schon geahnt, dass Zamorra so schnell nicht von dem loskommen konnte, was der Zauberer angedeutet hatte. Oder waren es mehr als nur Andeutungen gewesen? »Hätte, wäre und wenn … na ja. Hätte er Recht, dann wären wir die Auslöser für unsere heutige Weltordnung, nicht wahr? Nicht so einfach, damit klar zu kommen, denke ich.« Zamorra nickte mit gesenktem Kopf. »Verdammt nicht einfach …« Der Rest des Abends gestaltete sich frei – zumindest frei von Kleidungsstücken und falschen Hemmungen.
8 Traum des Tieres – Traum im Traum Anal'h natrac'h – ut vas bethat – doc'b nyell yenn vvé – Anal'h natrac'h – ut vas bethat – doc'b nyell yenn vvé – Anal'h natrac'h – ut vas bethat – doc'b nyell yenn vvé … Es muss ein Ende geben. Irgendwann. Wie oft werde ich noch scheitern? Wie oft kann man überhaupt scheitern? Gibt es da eine Grenze? Wiederundwiederundwieder … Schwarz, Grau, Silber, hell, dunkel … anders und doch GLEICH? – – – Wiederundwiederundwieder … Wiederundwiederundwieder … – – – »Du träumst so schwer. Wach doch auf. Bitte.« »Was? Wer … ach, du bist es. Ich bin scbweißnass … und so müde.« »Dann schlaf wieder ein, Liebes. Ich bin ja bei dir. Wenn die Träume zu schwer werden, wecke ich dich, ja?« »Ja, ich danke dir.« »Wofür? Ich liebe dich doch.« »Für alles. Gibst du mir deine Hand? Ich schlafe so gerne ein, wenn ich sie halten kann.« »Dann schlaf jetzt.« »Ich liebe dich … Brinja.« – – – Wiederundwiederundwieder … Wiederundwiederundwieder …
Schwarz, Grau, Silber, hell, dunkeldas Fell des Geparden … war es nicht doch gesprenkelt? Gepard? Ich glaube, es wird jetzt alles besser werden. Ich … träume … nicht … mehr. NIE WIEDER – – –
9 Retrospektive Brinja war zufrieden. Der erste Auftritt auf dieser außergewöhnlichen Ausstellung schien ein richtiger Erfolg zu werden. Illia und Lew hatten ihre Zwergen-Kampfnummer wie immer professionell aufgeführt. So etwas wie Fehler gab es bei den beiden erst gar nicht. Sie bildeten tatsächlich das Grundgerüst von »MADAM BRINJAS WELT DER WUNDERWESEN«. Ohne die Liliputaner würde die Aufwärmnummer glatt ins Wasser fallen. Die Auftritte der anderen waren allesamt nicht so spektakulär und bezogen vor allem das Publikum nicht so mit ein. Brinja musste nur ein wenig auf Lew aufpassen, denn es war ein oder zwei Mal vorgekommen, dass er bei seinen Einlagen im Publikum zu … nun direkt geworden war. Es hatten sich Damen beschwert, denen er herzhaft in die Brüste gekniffen hatte – angeblich, denn Lew bestritt das natürlich heftig. An zweiter Stelle des Programms kam das neue Mitglied der Truppe. Sikaa – die Tochter der Meduse! Brinja war nicht so wirklich begeistert von der Nummer, denn viele Jahre hatte sie sich strikt geweigert, eine dieser Gummischlangenauf-dem-Kopf-Nummern vorzuführen. Und nichts anderes tat diese Sikaa. Und das dann noch nicht einmal besonders gut. Aber gute Leute waren in dieser Branche heute kaum noch aufzutreiben. Wirklich gute … Fehlanzeige! Und nachdem Brinja zwei Verluste zu beklagen hatte, war ihr nichts anderes übrig geblieben. Schlimm war jedoch, dass diese Sikaa eine echte Zicke zu sein schien. Ärger zwischen ihr und Danice war vorprogrammiert. Keine Frage. Brinja sah sich hinter der Bühne um. Auf die Performance dieser
Sikaa musste sie ihre Zeit nicht verschleudern, denn die Katzenfrau kannte diese Auftritte in- und auswendig. Ein wenig mit den Plastikschlangen gewackelt und ein böses Gesicht dazu – das war es meist schon. Also hatte sie Zeit, die Technik hinter dem Vorhang zu studieren und zu genießen. Es war eine wirkliche Auszeichnung für »MADAM BRINJAS WELT DER WUNDERWESEN«, dass die französische Regierung sie als festen Bestandteil in der großen Ausstellung gebucht hatte. »RETROSPEKTIVE – DER WANDERZIRKUS« Mitten in Paris – in einer festen Ausstellung. Ein Traum für jeden Artisten. Zirkusattraktionen aus der ganzen Welt wurden hier für ein ganzes Jahr lang dem Publikum geboten. Und zum Thema Wanderzirkus gehörte natürlich eine Freak-Show dazu. Dass man sie gewählt hatte, war wie ein Haupttreffer in der Lotterie. Ein Jahr lang ein gesichertes Einkommen für die ganze Truppe. Und nach diesem Jahr würden weitere Verpflichtungen kommen. Das hier war wie eine riesengroße Referenz – Anfragen für die Zeit danach gab es schon aus England und den USA. Lange Jahre voller Probleme und finanziellen Schwierigkeiten lagen hinter ihnen. Brinja glaubte fest, dass sie sich das hier verdient hatte. Rilke strich um ihre Beine, holte sich seine Streicheleinheiten ab. Brinja dachte an Catriono, den Elefantenmenschen. Der arme Junge war bei ihrem Gastspiel auf Korsika ganz plötzlich gestorben. Er hatte eine viel größere Lücke hinterlassen, als er es sich wohl selbst hätte vorstellen können. Und dann gab es noch den zweiten Ausfall, der allerdings einen viel positiveren Grund hatte. Grietje – die Dame ohne Unterleib – nun, sie war hochschwanger. Brinja konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Wie hätte man das dem geneigten Publikum wohl beibringen sollen? Irving war der stolze Vater, der sich rührend um die kleine Grietje kümmerte. Sikaa verließ unter dem Applaus des Publikums die Bühne und war geflissentlich bemüht, ihre Chefin nicht anzusehen. So einfach
wollte Brinja es der Meduse nicht machen. »Sikaa?« Die Artistin drehte sich zu der Katzenfrau um und sah sie mit fragendem Blick an. »Der dritte Gummiwurm von links ist ein wenig verrutscht. Sollte möglichst nicht vorkommen, ja?« Die Frau wurde kalkweiß und stapfte davon. Arroganz konnte Brinja in ihrer Truppe nicht brauchen. Bobo ging auf die Bühne und spulte sein Kraftprogramm ab. Auch mit ihm war eine Veränderung vor sich gegangen. Brinja konnte sich keinen Reim darauf machen, doch seit einigen Wochen sah sie den einfältigen Riesen oft mit Danice zusammen. Danice? Ausgerechnet die kühle, die abweisende und einsilbige Danice? Wie passte das zusammen? Doch wenn Brinja Bobos zufriedenen Ausdruck auf seinem Wasserleichen-Gesicht sah, dann war ihr das ehrlich gesagt egal. Na ja, und auch Danice war irgendwie aufgeschlossener als früher. Wenn sich Brinja nicht vollkommen irrte, dann hatte sie die Fischfrau doch gestern tatsächlich über einen von Nestors Witzen lachen hören. Nach Bobo war Danice an der Reihe, dann der Fake mit dem Auftritt der Siam-Zwillinge Nestor und Irving, die sich nun endlich auf die Stelle geeinigt hatten, an denen ihre Körper zusammengewachsen sein sollten. Auch da also alles bestens. Der letzte Akt – der Starauftritt – gehörte nach wie vor Brinja und Rilke. Mit traumwandlerischer Routine absolvierten die beiden ihr Programm. Alles in allem also eine gelungene Vorstellung. Die letzte für den heutigen Tag, denn das Museum, in dem sich die Retrospektive Ausstellung befand, schloss um 20 Uhr. Die Artisten waren müde. Früher hatten sie oft die halben Nächte zusammengesessen, hatten geredet, getrunken, Karten gespielt. Bei vier Vorstellungen pro Tag fehlte heute abends allen die Kraft dazu. Am Hinterausgang des Museums parkte der alte Bus. Das klapprige Gefährt hatte nun auch bald ausgedient. Festes Honorar für ein ganzes Jahr – da saß endlich ein fahrbarer Untersatz dran, den man als verkehrssicher bezeichnen konnte. Neben dem Bus standen zwei Personen, die Brinja hier noch nie gesehen hatte. Ein Mann und eine Frau. Beide elegant gekleidet. Er
äußerst gut aussehend, sie eine wahre Schönheit. Höflich stellten sie sich vor. »Mein Name ist Zamorra, Professor der Parapsychologie. Das ist meine Gefährtin Nicole Duval. Wir haben Ihre Vorstellung gesehen und sind begeistert.« Letzteres glaubte Brinja dem Mann zwar nicht so ganz, doch seine Art gefiel ihr. »Gefährtin – ein schönes Wort, um seine Partnerin zu bezeichnen. Das gefällt mir sehr, Herr Professor. Ich glaube, sie werden für ihr Fachgebiet bei uns allerdings keine neuen Erkenntnisse erwerben können.« »Da wäre ich nicht so sicher. Bei Ihnen etwa würde mich schon sehr interessieren, was Sie über Ihre Herkunft zu erzählen hätten, Madam Brinja. Aber wir wollten Ihnen wirklich nur zu Ihrem Erfolg gratulieren, mehr nicht.« Brinja war verwundert, als sie bemerkte, dass Rilke sich selbstständig gemacht hatte. Langsam war er auf den Professor zugegangen und stand schnüffelnd vor dem hochgewachsenen Mann. Der Parapsychologe ging langsam in die Hocke. Lange schaute er tief in die Augen der schönen Raubkatze. »Du kennst mich, nicht wahr?« Brinja wollte der Sache ein Ende machen, denn egal wie zahm und menschengewohnt Rilke auch war, so blieb er doch immer ein gefährliches Raubtier, dessen Reaktionen man nie vollkommen vorausahnen konnte. Als sie die entspannte Körperhaltung des Panthers bemerkte, hielt sie sich jedoch zurück. Irgendein seltsamer Dialog lief zwischen den beiden Wesen ab, die sich doch zuvor niemals gesehen hatten. Zumindest war Brinja dieser Zamorra noch nie über den Weg gelaufen. Rilke schnupperte nach wie vor sanft an dem Mann. Dann stupste seine Schnauze vorsichtig gegen Zamorras rechte Hand – immer wieder an den Ringfinger. Zamorra lächelte. »Du weißt alles. Ich trage den Ring nicht immer.« Er griff in seine rechte Jackentasche und holte einen unscheinbaren Fingerring hervor, schob ihn auf den Ringfinger.
Rilke ließ ein leises Maunzen hören, als würde er die Worte seines Gegenübers bestätigen wollen. Zamorra strich zärtlich über den Kopf der großen Raubkatze. »Danke für dein Eingreifen in der Arena. Du hast es zumindest versucht, das Blatt zu wenden. Pass gut auf deine Herrin auf. Und … Vorsicht vor Wölfen.« Der Panther schien dem Mann zuzunicken, doch das musste natürlich ein Zufall gewesen sein. Brinja fragte sich, was er mit Wölfen gemeint hatte? Höflich verabschiedete sie sich von den beiden Franzosen. Als der Bus langsam auf die Hauptstraße bog, sah sie die beiden, die noch immer dort standen. Rilke war ganz nach hinten getrabt und sah vom Sitz aus durch das rückwärtige Fenster zu dem Mann und seiner Gefährtin hin. Gefährtin – das Wort gefiel Brinja wirklich sehr gut. Die Nacht war kühl und regnerisch. Dennoch hatte Brinja das Fenster in ihrem Zimmer weit geöffnet. Sie brauchte ganz einfach die frische Luft, um am kommenden Morgen ausgeruht und frisch zu erwachen. Lange hatte sie an Schlaf nicht denken können. Dieser Zamorra und seine Partnerin gingen ihr nicht aus dem Kopf. Sie konnte Rilkes Verhalten nicht nachvollziehen. Der Panther hatte gegenüber Menschen noch niemals Aggressivität gezeigt. Dennoch war es nicht seine Art, auf diese Weise Kontakt zu Fremden aufzunehmen. Als hätten sie sich gekannt … Dieser Eindruck war haften geblieben. Irgendwann hatte Brinja dann doch Schlaf gefunden. Doch der dauerte nicht lange. Ein Geräusch riss sie aus ihrer ersten Schlafphase wieder hoch. Es war eine ruhige Gegend von Paris, in der ihr die Museumsleitung dieses Apartmenthaus für sie und ihre Truppe besorgt hatte. Für die Dauer des Engagements wohnten sie hier auf Mietbasis. Nichts Großartiges – nichts Luxuriöses oder gar Historisches, wie es die alte Villa auf Korsika gewesen war.
Doch es reichte voll und ganz für ihrer aller Bedürfnisse aus. Brinja erkannte die Silhouette des Panthers, der seine Vorderpfoten auf das Fenstersims gelegt hatte. Seit einigen Tagen war sie dieses nächtliche Bild bereits gewöhnt. Und auch auf Korsika hatte er dieses Verhalten gezeigt. In jeder Nacht … Brinja setzte sich im Bett auf. Die Ohren der Raubkatze waren hoch aufgestellt. Ein kaum wahrnehmbares Vibrieren schien seinen gesamten Körper zu durchlaufen. Und auch in Brinja setzte wieder dieses undefinierbare Kribbeln ein. Langsam stand sie auf, ging zum Fenster. Der Panther drehte sich nicht einmal nach ihr um, denn er wusste, dass seine Herrin kam. Brinja legte eine Hand auf die Flanke der Raubkatze und streichelte sanft durch ihr Fell. »Was ist da draußen, mein Freund?« Sie bekam ihre Antwort in Form eines leisen Fauchens; nicht aggressiv, nur leise erregt drang es aus der Kehle des Tieres. »Ist er es wieder? Es kann nicht wieder er sein. Das ist unmöglich, Rilke.« Brinja lauschte in die Stille der Nacht hinaus. Da – da war es. Nur ganz leise, weit entfernt noch. Doch es kam näher. Es kam immer näher und näher. Und irgendwann verharrte es dann an einem Ort, blieb dort oft über Stunden hinweg. Es klingt beinahe wie leiser Gesang. Zärtlicher Gesang, wie eine Liebeserklärung. Auf Korsika hatte sie diese Klänge ja noch nachvollziehen können. Doch hier, mitten in der gewaltigen Metropole Paris? Rilke wandte seinen Kopf zu Brinja. Die klugen Augen des Panthers sprachen zu ihr. Brinja wusste, was er ihr sagen wollte. Geräuschlos ließ das Tier sich wieder auf allen Vieren zu Boden. Er überließ Brinja das Fenster. Sie wusste, dass sie jetzt sehr lange hier stehen würde. Für sie war es die schönste Musik der Welt, die aus der Nacht zu ihr drang.
Denn sie verstand die Botschaft, die in ihr lag. Im Gesang des Wolfes …