Rahel von Adrian Doyle & Timothy Stahl
Sieben Prophezeiungen, die das Millenium bestimmen sollen, den Wechsel in ein n...
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Rahel von Adrian Doyle & Timothy Stahl
Sieben Prophezeiungen, die das Millenium bestimmen sollen, den Wechsel in ein neues Jahrtausend. Und den Wechsel zu einer neuen Macht auf Erden! Sechs der Zeichen haben sich bereits erfüllt. Nun kündet ein weltumspannendes Unwetter das letzte an. Drei Personen stehen im Zentrum des Geschehens: Landru, einst der mächtigste Vampir, gestorben und von den Toten auferstanden. Rahel, die Begründerin eines neuen, grausamen Volkes. Und Lilith Eden, die Halbvampirin. Sie könnte das Unvorstellbare als einzige verhindern. Wäre Rahels Tod nicht auch ihr eigener …
Was bisher geschah … Als Lilith Eden im Zoo von Sydney auf Chimären stößt, weiß sie noch nicht, daß sie einem besonderen »Zeichen« auf die Spur gekommen ist. Sie erfährt mehr, als sie einen Mann kennenlernt, der für die Chimären verantwortlich zeichnet: den Multimillionär Max Baederstadt. Er möchte Lilith für seine Ziele gewinnen. Als sie sich weigert, will er sie töten; sie aber kann entkommen. Das Geheimnis um Baederstadt erfährt vorerst nur der Leser: die Geschichte der »dritten Weissagung« nämlich, die eine Vampirin namens Irina 1978 aus dem Vatikan raubte. Es handelt sich um das unter Verschluß gehaltene dritte Geheimnis von Fatima, das für den Jahrtausendwechsel Schreckliches prophezeit. Die Erfüllung hängt von sieben Zeichen ab. Das erste war die Zerstörung Jerusalems, das Auftauchen der Chimären bereits das vierte: Irina dient der Weissagung, die sich in einem Pergament manifestiert hat und jeden übernimmt, der das Blatt berührt. Durch diese Übernahme verändert, ist Irina der Vernichtung ihrer vampirischen Rasse entgangen. Als sie nun von einer weiteren überlebenden Vampirin erfährt, will sie ihrer habhaft werden. Sie scheint am Ziel, als Baederstadt Lilith in seine Gewalt bringt und Irina informiert. Doch das nicht nur, um ihr einen Gefallen zu tun: Baederstadt ist besessen vom Geist des Vampirs Ilja, der einst Irinas Sippenführer war und jetzt ihren Körper zu übernehmen trachtet. Dafür muß allerdings Baederstadt sterben. Ungünstige Bedingungen verhindern, daß der Geist wie geplant in Irinas Körper wechseln kann, sondern sich einen anderen Wirt suchen muß. Das geschieht von Irina unbemerkt, während sie Lilith betäubt, Darren hypnotisiert und beide mit sich nimmt. In einem Industriekomplex Baederstadts im australischen Outback, der lediglich dem Zweck dient, gemäß einem der Zeichen die Ozonschicht der Erde zu zerstören, läßt sie die beiden zurück. Sie erfüllt derweil das sechste Zeichen: den Vatikan in
Flammen aufgehen zu lassen und den amtierenden Papst zu töten! Als Lilith versucht, Irinas Bann über Darren zu brechen, zerstört sie fast dessen Geist. Ihr bleibt keine Wahl, als auf Irinas Rückkehr zu warten. Als die Vampirin zurückkommt, geschieht Unfaßbares: Lilith wird von ihrem eigenen Symbionten, den sie wie ein Kleidungsstück trägt, umgebracht! Der Geist Iljas war auf ihn übergewechselt – und fährt nun in Irina! Das siebte und letzte Zeichen steht kurz vor der Vollendung – oder vielmehr: Geburt. Denn die Reporterin Seven van Kees trägt, von einem lebenden Toten geschwängert, ein Kind in ihrem Bauch, das zum Millenium geboren werden soll. Zwei Vampire kümmern sich um sie: Rahel, die die Fähigkeit besitzt, Tote zu Vampiren zu machen, und Landru, einst der Mächtigste der Alten Rasse, der ebenfalls von Rahel erweckt wurde. Bald werden die Wege, die zum siebten Zeichen führen, sich treffen …
Gott im Himmel, laß sie bitte nicht sterben! dachte der Mann – obgleich die Frau, neben der er am Boden kniete, zu diesem Zeitpunkt bereits tot war. Dann brüllte er: »Warum hast du das getan, du verdammtes Ungeheuer?« Lilith Edens Mörder schwieg. Lackschwarz, als wäre er mit ihrer Haut verschmolzen, umgab er den Leichnam. Nur das Gesicht war von der Substanz des Symbionten ausgespart. So wirkten die Züge der Ermordeten vergleichsweise friedlich, während hinter Darren Secadas Stirn überaus wilde, blutrünstige Gedanken durcheinanderstoben. Wie besessen suchte er nach einem Weg, den Symbionten hier und jetzt für seine Wahnsinnstat zur Rechenschaft zu ziehen …
Wie war alles gekommen? Wenn die fremde Vampirin – Irina – an Liliths Tod schuld gewesen wäre, hätte Darren es wenigstens verstanden. Aber der Symbiont … Lilith hatte vollstes Vertrauen in ihn gehegt. Und genau das war ihr zum Verhängnis geworden! Ein heiserer Seufzer löste sich aus Darrens Kehle, während seine Hand sacht über die fast milchweiße Haut der Frau strich, die mehr für ihn gewesen war als eine Geliebte, viel, viel mehr! Schon die Umstände, unter denen sie sich begegnet waren, lagen außerhalb jeder Norm. Im Haus 333, Paddington Street, dem Haus, in dem Darrens Vater vor mehr als vier Jahren den Verstand und seine Zukunft verloren hatte, hatte er sie gefunden. Später hatte er von ihr erfahren, daß sie zwei Jahre darin geschlafen und geträumt, sich regeneriert hatte von einem beispiellosen Kampf, den die Mächte von Licht und Dunkel gegeneinander ausgefochten hatten. Alles in allem hatte Lilith aber nicht nur zwei Jahre in dem von Magie erfüllten Haus geschlafen, sondern – mit einer Unterbre-
chung – hundert! Ein ganzes Jahrhundert geträumt und auf den Tag des Erwachens gewartet … Darren schüttelte den Kopf. Das wahre Alter war Lilith Eden nicht anzusehen. Biologisch schien ihre Uhr bei etwa fünfundzwanzig Jahren stehengeblieben zu sein. Eine schwarze Haarmähne umrahmte Gesichtszüge voller Anmut mit hoch angesetzten Wangenknochen, die slawische Einflüsse vermuten ließen. Und jadegrüne Augen, wie das seichte Wasser einer romantischen Meeresbucht, verbargen sich unter den Lidern, die sich geschlossen hatten. Für immer. Darren merkte erst, daß er weinte, als ihm die erste Tränen heiß in den Mundwinkel rannen. Der Geschmack erinnerte ihn an Liliths Küsse, und er war von sich selbst entsetzt, als der Wunsch in ihm erwachte, sie noch einmal zu küssen, ein letztes Mal. Eine Tote. Schaudernd zog er die Hand, die sie gestreichelt hatte, zurück. Zum ersten Mal wurde ihm bewußt, daß der Symbiont auch ihn attackieren konnte. Daß, wenn dieses Wesen urplötzlich von Tollwut oder Wahnsinn befallen war, sich niemand vor ihm sicher wähnen konnte! Darren überlegte, ob dem Symbionten mit Feuer beizukommen wäre. Er dachte nicht an ein kleines Feuer. Und er wußte, daß er damit auch Liliths Leichnam einäschern würde. Aber das schien ihm akzeptabel. Bevor Kollegen von mir sie aufschneiden und ihr Geheimnis entdecken! Man würde sie herumreichen wie eine Außerirdische! Darren schüttelte den Kopf, weil ihm plötzlich bewußt wurde, wie sehr er sich bereits von seinem Leben vor Lilith entfernt hatte. Früher war er in seinem Beruf aufgegangen, hatte kaum Zeit für flüchtige Liaisons gefunden und lieber die Gesellschaft der Toten gesucht, die ihm in die Rechtsmedizin des Sydney Police Departments geliefert worden waren.
Doch zu jenen Toten hatte er auch keine persönliche Beziehung besessen – jedenfalls keine solche! Keine Liebe … Immer noch kniend, grub er sein Gesicht in beide Hände und ließ den Tränen minutenlang freien Lauf. Als er sich die Augen schließlich mit dem Hemdsärmel trocken wischte, war das Bild unverändert. Fast hatte es den Anschein, als sei der Killer unmittelbar nach seinem Opfer gestorben. Wie tot, als wäre er tatsächlich nur irgendein Textil, kleidete der Symbiont den Leichnam. »Stell dich ruhig tot«, preßte Darren hervor. »Mich führst du nicht hinters Licht. So kommst du mir nicht davon …« Lilith wirkte plötzlich so zerbrechlich, daß er sie nicht mehr zu berühren wagte. Er ließ es bei einer Geste als Gruß bewenden, erhob sich vom Boden und ging, ohne sich ein einziges Mal umzublicken, aus dem Raum. Den Weg, den er anschließend zurücklegte, war er schon einmal gegangen, als er noch unter Irinas hypnotischem Bann gestanden hatte. Warum er sich noch daran erinnerte, wußte er nicht. Aber er hinterfragte es auch nicht. Je weiter er sich von der Zelle entfernte, in der er Lilith zurückgelassen hatte, desto mehr beschleunigte Darren seine Schritte. Bald rannte er. Mit schlafwandlerischer Sicherheit fand er an Maschinensälen vorbei zu der kugelförmigen Kommandozentrale der Anlage, die von Max Baederstadt erbaut worden war, um die ohnehin schon stark angegriffene Ozonschicht der Erde noch rascher zu zerstören. Auch jetzt, in diesem Moment, spien die getarnten Schlote des unterirdisch angelegten Komplexes Unmengen unsichtbarer, aggressiver Gase aus, die den Schutzmantel der Erde irreparabel schädigten und – Darren stockte im Vorwärtstaumeln. Er war über Metallstiegen zu
dem sich selbsttätig öffnenden, gläsernen Schott der Zentrale gelangt und las nun, da er die Schwelle passiert hatte, was in riesigen Lettern an der gegenüberliegenden Wand prangte: DIE SONNE WERDE DES MENSCHEN FEIND! Der Satz verursachte ihm eine Gänsehaut, die über simples Unbehagen weit hinausging. Baederstadt mußte ein Menschenhasser ersten Grades gewesen sein. Aber daß ihn bei seinen Wahnsinnstaten sogar der eigene Sohn unterstützt hatte, war Darren unbegreiflich. Ich werde nie erfahren, was die wirkliche Motivation der Baederstadts war, dachte er. Warum sie mit einer Vampirin kooperierten, die ständig von sieben Zeichen faselt, die sich erfüllen müssen zum Millenium … Auch Irinas Geschichte, die zweifellos noch interessanter als die der Baederstadts gewesen wäre, würde nun unerzählt bleiben. Das möglicherweise letzte noch lebende Kelchkind hatte gerade zum Sprechen angesetzt, als die Sache mit Lilith passiert war. Die Sache … Kopfschüttelnd wandte sich Darren dem Sammelsurium unbekannter Verfahrenstechnik zu, dem Herz der im australischen Outback versteckten Anlage. Obwohl Darren Medizin studiert und sich später auf das Fachgebiet Pathologie spezialisiert hatte, war er zeitlebens beinahe intuitiv mit jeder Form von neuen Technologien umgegangen. Und hier … … wird auch nur mit Wasser gekocht, ermutigte er sich selbst zu dem Vorhaben, zu dem er sich vielleicht erst auf dem Weg hierher wirklich und unwiderruflich entschlossen hatte. Langsam ging er auf den Drehsessel vor einem hufeisenförmigen Kommandopult zu. In der leicht geneigten Arbeitsfläche war ein Radarschirm eingelassen. Er war aktiviert. Über schwarzem Grund drehte sich, wie der schnellaufende Zeiger einer Uhr, ein Balken, der
grünes Licht über den Monitor wischte und Objekte im Luftraum über der Outback-Basis mit einem leisen Piepton und einer blinkenden Signatur markierte. Zur Zeit bewegte sich nur ein einzelner Punkt über die Mattscheibe, und Darren war sicher, daß dieses Echo mit Irina zu tun hatte. Sie war mit einem Hubschrauber gekommen und entfernte sich nun offenbar auch wieder mit eben diesem. Instinktiv drückte Darren auf einen Knopf mit der Aufschrift Details, rechts neben der Schirmumrandung. Sofort veränderte sich der schwarze Grundton. Eine Landkarte wurde eingeblendet. Das Radarecho wanderte langsam als kleines rotes Pfeilsymbol darüber. Baederstadts Basis war mit einem münzgroßen blauen Symbol markiert. Auch die Städte und Ortschaften der Umgebung waren eingezeichnet, sogar namentlich. Erstmals erhielt Darren einen Anhaltspunkt, wie weit sie von Sydney weg verschleppt worden waren. Tief ins Landesinnere! Er las unbekanntere Namen wie Birdsville, Marree, Oodnadatta und geläufigere wie Alice Springs oder Coober Pedy. Baederstadts unterirdische Höllenmaschine befand sich irgendwo zwischen dem Dorado der Opalschürfer und Oodnadatta. Der rote Pfeil bewegte sich nordwestlich davon weg. Geradewegs auf den Mount Olga zu, dachte Darren. Ob der Berg das tatsächliche Ziel der Vampirin war oder ob sie darüber hinaus ins nördliche oder westliche Territorium fliegen wollte, hätte Darren nur herausfinden können, wenn er geduldig vor dem Radar sitzengeblieben wäre. Doch echtes Interesse an Irina war längst in ihm erloschen. Liliths Tod hatte nur Leere in ihm hinterlassen. Er schluckte. Doch seine Finger huschten weiter über die Kontrollen. Immer radikaler griff er in die automatisierten Abläufe der »Fabrik« ein. Ohne Sinn und Verstand. Und entsprechend folgenschwer.
Als der erste dumpfe Klang einer Explosion an seine Ohren drang, fühlte er sich davon angespornt. Er stürzte sämtliche Verfahrensabläufe ins Chaos, verursachte Systemabsturz um Systemabsturz. Die heftiger werdenden Erschütterungen, die den Komplex durchliefen, sprengten erste Scheiben. Monitore implodierten rauchend. Darren grinste zu alledem beinahe teuflisch. Das Risiko, mit Baederstadts geheimer Anlage unterzugehen, war ihm bewußt und hatte er längst akzeptiert. Wozu noch weiterleben? Im Gegensatz zu ihm ahnte die Welt nicht einmal, in welches Unglück sie unaufhaltsam schlidderte. Und wer sollte nach Liliths Tod noch die Initiative aufbringen, etwas dagegen zu unternehmen? Niemand, dachte Darren bedrückt. Als er meinte, den Untergang genügend angekurbelt zu haben, erhob er sich von seinem Sitz und verließ auf schwankendem Boden das Herz der Anlage. Er wollte bei Lilith sein, wenn das entfesselte Inferno ihn einholte. Wollte auch den Symbiont sterben sehen. Der ohrenbetäubende Lärm näherkommender Explosionen begleitete seinen Rückweg. Brandgeruch und beißender Qualm trieben durch das Labyrinth der Gänge. Hustend und mit tränenverschleierten Augen erreichte Darren schließlich den Raum, in dem er sich aufhalten wollte, wenn der Tod auch bei ihm anklopfte. Als er ihn jedoch betrat, war es, als würde ihm jemand mit brutaler Gewalt das stumpfe Ende eines Baseballschlägers in den Magen stoßen. Mit wachsender Verzweiflung suchten seine Augen nach Liliths Leichnam. Vergeblich. Sie war spurlos verschwunden. Als hätte der Symbiont sich nicht damit begnügt, sie heimtückisch zu ermorden, sondern sie anschließend auch noch mit Haut und Haar vertilgt …!
* Zur gleichen Zeit Mutter Natur schien den Verstand verloren zu haben! Ein Unwetter, wie es zumindest dieser Teil der Welt noch nicht erlebt hatte, tobte über dem Outback. Und es schien seinen Zenit noch lange nicht erreicht zu haben. Schwarze Wolken blähten sich wie finstere Gebirge am Himmel. Dazwischen, in fortwährendem Wandel begriffen, glotzten dämonische Fratzen, deren Mäuler Orkane atmeten und Blitze spien. Solchen Gedankenspielen hing Ilja nach, derweil er in der engen Kanzel saß und den Piloten anwies, wohin er den Hubschrauber zu steuern hatte. Die Maschine, ohnedies von kleinerer Bauart, schien in Anbetracht der wütenden Mächte geradezu winzig, ein Insekt, das versuchte, sich im Sturm zu behaupten. Noch gelang es ihm … Und Ilja übte sich in Zuversicht, daß der Helikopter sein Ziel erreichen würde. Ein Ziel, das inmitten dieses Unwetters lag. Buchstäblich im Auge des Sturmes! Dorthin wollte Ilja. Dorthin mußte er! Weil dort, wo sich das Chaos konzentrierte, die Welt nur scheinbar untergehen, tatsächlich aber neu erstehen würde! Eine Welt, die anders sein würde als die bisherige. Eine Welt unter neuer und doch uralter Herrschaft. Eine Welt, wie Ilja sie sich dereinst erträumt hatte. Damals, am Anfang dieses Jahrhunderts, hatte er in seiner Eigenschaft als Oberhaupt der Vampirsippe zu Sankt Petersburg Gelüste entwickelt, seine Macht auszuweiten – den Einfluß der Alten Rasse zu mehren, dem vampirischen Volk endlich das zu geben, was es verdiente und wozu es geschaffen war: die vollkommene, die globale Herrschaft. Es war anders gekommen.
Ilja hatte seine Träume teuer bezahlt. Nicht nur mit dem Leben, sondern, schlimmer noch, mit ewiger Gefangenschaft. Landru – von dem Ilja mittlerweile wußte, daß er auch der Hüter des Lilienkelches gewesen war – hatte Iljas Plan durchkreuzt, seinen Leib zerstört und Geist und Seele eingekerkert in dessen eigenen Schädel, den er mittels eines magischen Tuchs geschrumpft und in ein totes Ding verwandelt hatte.* Doch erst danach hatte Iljas wahrer Leidensweg begonnen. Er hatte Anteil haben können an dem, was um ihn herum vorging, elend lange Jahre ohne jede Möglichkeit, selbst Einfluß darauf zu nehmen. Doch der Geist des Vampirs war nicht müde geworden, über Wege nachzusinnen, wie er sein perverses Gefängnis verlassen oder zumindest jenseits dessen Grenzen wirken konnte. Zu Lebzeiten schon mit Magie experimentierend, hatte Ilja sich letztlich diese dunklen Gesetze der Natur zunutze machen können und in dem Großindustriellen Max Baederstadt einen Wirt gefunden, dessen mediale Veranlagung ihm die zeitweilige Flucht aus seinem Käfig erlaubte. Zwar mußte er zur Regeneration regelmäßig in den Schrumpfschädel zurückkehren, aber Ilja hatte den Anfang geschafft. Und dann war alles weitere überraschend schnell vonstatten gegangen. Und überraschend einfach. Max Baederstadts Tod hatte es ihm ermöglicht, dessen Körper zu verlassen und in einen anderen einzufahren – in ein seltsames Ding, kein wirkliches Lebewesen, eher eine lebendige Haut, die selbst in Symbiose mit einem Wirt existierte. Mit Lilith Eden, einer Halbvampirin. Auch sie war inzwischen tot. Gestorben durch Iljas Wirken. Er hatte den Symbionten dahingehend beeinflußt, daß er seine Wirtin tötete. So war Ilja erneut freigekommen – und hatte wieder den Wirt gewechselt. *siehe VAMPIRA T55: »Die dritte Weissagung«
Nun besaß er einen neuen Körper! Irina hatte kaum eine Chance gehabt, sich gegen die Übernahme zu wehren. Irina, die vor Jahrzehnten zu Iljas Sippschaft in Sankt Petersburg gezählt hatte. Irina, die zur Killerin geworden war, nachdem ihre Sippe von Landru ausgelöscht wurde. Und dann, nachdem sie im Jahre 1978 Papst Johannes Paul I. im Auftrag von Mißgünstlingen ermordet gehabt hatte, nahm ihr Leben eine neuerliche, noch drastischere Wende. Irina erhielt die dritte Fatima-Prophezeiung, die bis dahin im Geheimarchiv des Vatikans gelegen hatte, und die Berührung des mysteriösen Pergaments veränderte ihr Wesen. Fortan setzte Irina alles daran, daß diese dritte Weissagung, deren Inhalt der Öffentlichkeit nie bekanntgegeben worden war, sich erfüllte. Und der Tag, an dem sie die Früchte ihres jahrelangen Wirkens ernten sollte, war nun gekommen! Nur war Irina nicht mehr in der Lage, diese Ernte einzubringen. Weil sie nicht länger Herrin über ihren Körper war. Ilja hatte ihn besetzt, kontrollierte ihn. Irina war nur noch eine Gefangene darin. Und über all ihr Wissen konnte nun auch Ilja verfügen. Es ergänzte jenes, das er selbst gesammelt hatte im Laufe langer Zeit. Und so würden sie letztlich doch gemeinsam ihr Ziel erreichen … Iljas magisch geschärfte Sinne hatten in all den Jahren die Zeichen empfangen. Jene Zeichen, die gesetzt worden waren, um das große Ereignis, die Erfüllung der Prophezeiung vorzubereiten. Jetzt hatte das letzte, das siebte Zeichen begonnen. Irina aber hatte den Ort nicht gekannt. Ilja indes vermochte ihn aufzuspüren. Und so dirigierte er den Hubschrauberpiloten, einen treuen, weil hypnotisch beeinflußten Vasallen Irinas, in jene Richtung, aus der er die Witterung empfing. Immer tiefer hinein in den apokalyptischen Sturm.
Riesenfäuste schienen auf die Maschine einzuschlagen, droschen sie hin und her. Ringsum entließen die Wolken blendend helles Licht aus klaffenden Wunden, und dröhnender Donner vibrierte in jeder Naht im Metall des Helikopters. Die Angst fraß sichtlich hinter den starren Zügen des Piloten. Es war, als trage er eine Maske über seinem Gesicht, die zwar unbeweglich, aber dünn genug war, um seine tieferen Gefühle vage zum Vorschein kommen zu lassen. Doch Ilja reagierte nicht darauf. Aus Irinas Augen sah er durch die verglaste Front des Hubschraubers, witterte mit Sinnen, die menschlichen nicht vergleichbar waren, und wies den Mann an, den Kurs um eine Spur zu korrigieren. Eine mörderische Sturmbö ließ die Maschine sich aufbäumen. Sekundenlang zog und zerrte der Pilot an der Steuerung. Schweiß lief ihm in dicken Bächen über das Gesicht, mußte ihm in den Augen brennen. Aber die Hypnose erlaubte ihm kaum, auch nur zu blinzeln. Dann endlich lag der Hubschrauber wieder halbwegs ruhig in der kochenden Luft, flog zumindest einigermaßen geradeaus. »Geh tiefer«, sagte Ilja mit Irinas Stimme, ohne den Piloten dabei anzusehen. Er setzte darauf, daß die Gewalt des Unwetters in Bodennähe weniger brutal war. Eine trügerische Hoffnung. Der Helikopter tanzte dort unten kaum weniger wild auf den unsichtbaren Wogen eines ebenso imaginären Ozeans. Nicht mehr lange, dachte Ilja. Ich kann es spüren. Wir sind schon ganz nahe. Solange muß diese Flugmaschine noch durchhalten … Und im nächsten Augenblick wußte er, wo das Ziel lag. Weil er es sah. Es war, als würde eine geheime Macht den Ort des Geschehens speziell für Ilja in Szene setzen, in ebenso beeindruckender wie erschreckender Manier.
Gigantische Krieger, die sich hinter den tiefhängenden Wolken verbergen mochten, stießen wie aus dem Nichts weißglühende Speere durch das Sturmgrau, und die Spitzen trafen etwas wie ein gewaltiges Ungeheuer, das schon im Sterben lag. Als riesiger Buckel, Hunderte von Metern hoch, erhob es sich aus der Wüstenei, und die Blitze ließen seine von Natur aus kupferrote Färbung wie flackerndes Feuer wirken. Uluru. So nannten die Aborigines den heiligen Ort. Die Europäer, die dereinst nach Australien gekommen waren, hatten ihn weniger respektvoll, geradezu profan nach einem der ihren benannt – Ayers Rock.
* Darren Secada starrte immer noch auf die verwaiste Stelle, wo lediglich noch getrocknete Reste von Liliths Blut auf dem glatten Bodenbelag daran erinnerten, daß es hier zu einer unerklärlichen Gewalttat gekommen war. War von Lilith wenigstens noch das verlorene Blut geblieben, so fehlte von dem Symbionten jegliche Spur! Bei der Vorstellung, das Ungeheuer aus amorpher Masse könnte sich rechtzeitig genug aus dem Staub gemacht haben, um der Vernichtung dieser Basis doch noch zu entkommen, krampfte sich Darren der Magen zusammen. Fast in derselben Sekunde hörte er ein Geräusch. Einen Laut, der verblüffenderweise sein Gehör erreichte, obwohl er viel leiser war als der Lärm der um sich greifenden Zerstörungen. Langsam drehte er den Kopf. Suchend glitten seine Blicke über den Boden. Und hielten inne. Wie Darrens Herzschlag für ein, zwei Takte innehielt.
Eine Gestalt kauerte in der entlegensten Ecke des Raumes. Eine Gestalt, deren Augen und Mund weit aufgerissen waren. Die zu Darren herüberstarrte, von einem Entsetzen gelähmt, das selbst Darrens Verzweiflung überragte. »Li-?« Er war nicht in der Lage, den Namen auszusprechen. Rauch, vom Gang hereinquellend, füllte allmählich den Raum, erschwerte die Sicht, erschwerte das Atemholen. Darren krümmte sich unter einem Hustenanfall, ohne es überhaupt zu bemerken. Die Frau in der Ecke hustete nicht. Sie saß nur da. Totenblaß. Und als sie endlich, wie nach einer Ewigkeit, den Mund bewegte und mit der tauben Zunge Worte bildete, überkam Darren ein Gefühl, wie er es sonst nur erlebte, wenn er sich über einen Tisch beugte, auf dem ein Toter aufgebahrt lag. Ein Toter, dessen Sprache er zuerst lernen mußte, bevor er der verborgenen Ursache seines Todes nachspüren konnte. Auch die Frau in der Ecke, bei der es sich um niemand anderen als Lilith Eden handelte, redete zu Darren in … der Sprache der Toten. Zumindest erschien ihm das Kauderwelsch so, das jedes seiner Nackenhärchen steil aufrichtete!
* »Lilith?« Mühsam kam ihr Name nun doch über seine Lippen. Seine Hand fuhr zum Hals. Zu der vernarbten Stelle, wo sie seine Schlagader geöffnet und sich an ihm sattgetrunken hatte in den Tagen gemeinsamer Gefangenschaft. Es hatte ihm nichts ausgemacht. Sie aber jetzt vor sich zu sehen, scheinbar lebendig und wiederauferstanden von den Toten – das er-
trug er nicht. Ihm wurde kalt bis in die Knochen. Gerade als er sich abwenden und aus dem Raum fliehen wollte, verwandelte sich ihr Gestammel doch noch in verständliche Worte. Der Ton jedoch blieb fremd. Unsagbar fremd. »Darren, geh weg. Ich will nicht, daß du … mich so in Erinnerung behältst …« Darren hielt inne. Duckte sich, weil ihn eine Explosion in unmittelbarer Nähe fürchten ließ, die Decke käme herab, um sie endgültig lebendig zu begraben. Lebendig? In diesem Moment erst wurde ihm bewußt, daß der Symbiont immer noch an Lilith klebte, wenngleich er seine Struktur verändert hatte. Wie ein enger Maschendraht umspannte er Liliths – auch jetzt noch – begehrlich schönen Körper! Eine Mischung aus Scham und Entsetzen drohte Darren den Boden unter den Füßen wegzuziehen. Die Faszination, die Anziehung, die Lilith nach wie vor auf ihn ausübte, erschien ihm selbst nekrophil. Abartig. Sie war tot! Oder hatte er sich getäuscht? Hatte Lilith selbst sie alle getäuscht, Irina eingeschlossen, um sich mit einer Finte aus der ausweglosen Situation, in der sie sich befunden hatten, zu befreien …? Darren schüttelte zu den eigenen, unausgesprochenen Gedanken den Kopf. Nach einer Finte sah Lilith nicht aus. Sie wirkte nicht nur völlig verstört, sondern wie eine andere Person! ABER SIE WAR NICHT MEHR TOT! Gehetzt wechselte Darrens Blick von ihr nach draußen auf den Gang, von wo immer dichtere Rauchschwaden hereindrangen. Hustend wischte er sich die Tränen aus den Augen. Ihm wurde klar, was er angerichtet hatte. Der Schweiß brach ihm aus allen Poren. Wie lange würde es noch dauern, bis hier alles
hochging? Minuten – oder nur noch Sekunden? Lilith betrachtete ihn, ohne auch nur zu blinzeln. Ihre Lider schlossen sich in Minuten nicht ein einziges Mal! »So geh doch!« krächzte sie. Ich kann dich nicht hier zurücklassen. Aber genauso wenig konnte sich nach dieser unerwarteten Wendung einfach hinsetzen und mit ihr sterben! So wie es geplant hatte. Das Herz wurde ihm eng. Es schmerzte wie in einem Krampf. Darren zögerte noch drei, vier Sekunden, dann hatte er seinen alten Entschluß umgeworfen und einen neuen gefaßt, von dem er noch nicht wußte, ob er sich lohnen würde. »Nein!« Er hörte nicht länger auf sie. Und überwand die Scheu (den Haß!), den er gegen den Symbionten auf ihrer Haut empfand. Als er sie vom Boden hochzerrte, waren ihm ihre Augen ganz nah. Grüne und doch abseitig schimmernde Augen, die ihn beschworen, es nicht zu tun! Das Leid, das darin wogte, nicht zu verlängern … Er erhörte sie nicht.
* Der riesige Fels, der inmitten des Outbacks wie von Götterhand achtlos hingeworfen wirkte, lag direkt im Auge des Sturms. Auf den Ayers Rock konzentrierte sich die tobende Gewalt, die nicht mehr natürlichen Ursprungs schien, sondern Verstärkung fand durch etwas ganz und gar Widernatürliches. Über dem heiligen Ort der Aborigines ballten sich die dunklen Wolken in solchem Maße, daß sie pechschwarz waren, wie ein Schatten, den ein Ungeheuer aus dem Jenseits in diese Welt warf. Ein rotierendes, schlauchartiges Gebilde reichte von dort droben herab bis auf den Ayers Rock, einem gigantischen Rüssel gleich, der an der Oberfläche des roten Felsens sog, hierhin und dorthin raste
und unablässig wuchernde Auswüchse gebar, die körperlosen Tentakeln gleich umherpeitschten. Sand und dürres Gestrüpp wurde von der Sturmgewalt hochgewirbelt, erfüllte die Luft wie bizarrer Nebel. Und der Hubschrauber hatte den tobenden Mächten kaum mehr entgegenzusetzen als der Staub und das entwurzelte Pflanzenwerk! Der Sturm brüllte so laut, daß das Geräusch der Rotoren darin unterging. Fast konnte man glauben, sie hätten ihren Dienst schon versagt, denn der Helikopter trieb geradezu haltlos in der Luft, trudelte auf und ab, hin und her, als würde kein Versuch, ihn mechanisch zu steuern, mehr greifen. Als habe die Maschine einen gewaltigen Tritt ins Heck erhalten, so schnell schoß sie plötzlich nach vorne, auf den Ayers Rock zu. Der Fels schien binnen weniger Sekunden zu wachsen, so rasch kam er näher. Dann, als sei der Hubschrauber gegen eine unsichtbare Wand geprallt, stoppte der rasende Flug, und einen endlosen Moment lang hing er wie schwerelos in der Luft – bis er wie ein Stein nach unten sackte! »Tu was!« schrie Ilja mit Irinas Stimme, auf deren Klang er keinen Einfluß hatte. Der Pilot tat sein Bestes, zweifelsohne, aber was konnten Mensch und Maschine ausrichten gegen Gewalten, die der Natur selbst hohnsprachen? Der rote Fels, von grellen Blitzen stroboskopartig aus dem kochenden Staubnebel gerissen, schien dem Helikopter förmlich entgegenzuspringen. Nur noch Sekunden konnte es dauern, bis die Maschine aufschlug, bis Glas splitterte, Metall funkensprühend zerriß und der Tank zerbarst – Vermutlich wußte der Pilot selbst nicht, wie er es geschafft hatte; vielleicht hatte er auch gar nichts getan und der Zufall an seiner Stelle das Steuer der Maschine übernommen – jedenfalls schoß der Hubschrauber, kaum noch zwanzig Meter über dem Fels,
urplötzlich in die Höhe, wie von einem Seil gezogen, das über eine rasende Winde lief. Ilja schrie triumphierend und erleichtert in einem auf. Doch der Laut erstarb noch im Moment auf den vollen Lippen der Vampirin. Ihr Mund formte sich zu einem stummen Rund, als ihr bewußt wurde, was geschah – Der Hubschrauber war offenbar in den Sog des Hurrikans geraten, wurde von der rotierenden Säule regelrecht hochgerissen. Aus dem Nichts brach Hagel hervor. Tennisballgroße Eisklumpen prasselten wie MG-Salven gegen die Kanzel, ließen das Glas zerspringen. Von einer Sekunde zur nächsten schien die Frontscheibe aus unzähligen winzigen Kristallen zu bestehen, dicht aneinander gefügt und absolut undurchsichtig. Blindflug. Im wahrsten Sinne des Wortes. Ilja spürte nur noch, wie die Sturmgewalt mit dem Hubschrauber spielte, wie sie ihn hin und her wirbelte, daran rüttelte wie mit Titanenfäusten. Der Gurt des Piloten löste sich. Haltlos schlug der Mann erst gegen den verriegelten Ausstieg, so hart und unglücklich, daß seine Schläfe aufplatzte. Blut spritzte gegen das Glas der Tür. Ein weiterer Ruck riß den Mann nach vorne, stieß ihn mit der Stirn gegen die brüchige Kanzelverglasung – und von draußen sog ihn etwas wie ein gieriger Moloch zu sich hinaus! Der Mann schrie nicht. Nicht einmal im Sterben vermochte sich sein eigenes, von Irina unterdrücktes Ich mehr Bahn zu brechen. Durch das Loch, das in der Scheibe entstanden war, konnte Ilja hinaussehen. Und was er sah, ließ selbst ihn panisch aufbrüllen! Der Ayers Rock war – nahe. Ganz nahe. Der rote Fels füllte Iljas gesamtes Blickfeld. Und im nächsten Augenblick wurde die Farbe zu flammendem, feurigen Glutrot! Als der Hubschrauber mit irrsinniger Wucht gegen den Ayers Rock prallte –
– und explodierte!
* Ilja glaubte zu fliegen. Er schwebte. Schwamm schwerelos, ganz ohne eigene Kraft, auf den glutroten Wogen eines Ozeans puren Feuers, in einem Meer, das weder Anfang noch Ende zu haben schien. Aber er verspürte keinen Schmerz. Den Schmerz überließ er allein Irina. Im Moment der Explosion hatte das einstige Sippenoberhaupt von Sankt Petersburg die Vernetzung seines Geistes mit Irinas Körper gelockert, auf das Notwendigste minimiert. Sich ganz zurückzuziehen, das wagte er nicht; zu leicht hätte es Irina fallen können, ihn zu bezwingen, ihn der Herrschaft über ihren Leib zu berauben – aller Höllenqual zum Trotz. Denn Irina brüllte vor Qual! Die Gluthitze der Feuerwolke, in der der Hubschrauber zerbarst, schälte ihr förmlich die Haut vom Fleisch. Die Gewalt der Explosion katapultierte Irinas Körper fort vom Ort des Absturzes. Und irgendwann, nach einer Weile, die der Schmerz zur Endlosigkeit dehnte, spie der Flammenpilz die Vampirin aus, hinaus in den flirrenden Staubnebel, in die wirbelnden Fänge des Sturms. Zu tragen vermochte er sie jedoch nicht. Irina stürzte. Aus unbestimmbarer Höhe zwar, aber Ilja ahnte, daß die Gewalt des Aufpralls auf felsigem Untergrund auf jeden Fall genügen würde, um jeden Knochen in Irinas ohnedies schon geschundenem Körper zu zertrümmern. Das durfte er nicht zulassen! Er brauchte diesen Körper! Jetzt, da er fast am Ziel war, durfte es nicht daran scheitern, daß ihm kein funktionstüchtiger Wirt mehr zur Verfügung stand!
Flieg! brüllte Ilja direkt in Irinas Hirn hinein. Verwandle dich! Sofort! Aber die Vampirin verweigerte sich dem Befehl ihres einstigen Blutvaters. Verdammt, wir werden beide sterben! schrie Ilja mit aller Macht. »Ja, wir werden beide sterben …« Der Wind riß der Vampirin die Worte von den verbrannten Lippen. NEIN! Ilja explodierte förmlich in Irina. Griff mit tausend imaginären Fühlern um sich, riß alles an sich, festigte die gelockerten Verbindungen, schnürte Irinas eigenem Ich gewissermaßen die Luft ab und kontrollierte den Körper wieder in alleiniger Regie. Der Impuls! Er mußte den Impuls auslösen, der die Vampirin in ihre Fledermausgestalt verwandelte. Jetzt, sofort! Mochte der Körper auch verletzt sein, selbst auf lädierten Schwingen würde eine halbwegs sanfte Landung möglich sein, dem Sturm zum Trotz. Es war, als suche Ilja nach einem Knopf, nach dem Schalter in Irinas Bewußtsein, der die Transformation einleitete. Aber er fand ihn nicht! Die Panik, die Ilja zur Unbeherrschtheit und Hektik zwang, mochte das ihre dazu beitragen, daß es ihm nicht gelang. Ihm blieb nur noch eines, und er tat es, ohne zu überlegen, ohne die Konsequenzen in Betracht zu ziehen. Instinkt steuerte ihn, der blanke Überlebenswille kontrollierte sein Handeln. Ilja löste seinen eigenen Impuls aus! Sein Geist verwandelte sich. Und sein Wirtskörper mußte darauf reagieren. Das Ergebnis war – – entsetzlich.
* Ben Cobar griff mit einer Hand in den speckigen Tabaksbeutel und
rollte sich routiniert eine Zigarette, die er wenig später anzündete und in genußvollen Zügen paffte. Während sich oben die Welt weiter verdunkelte, als begänne die Sonne langsam zu erlöschen. Immer wieder verfing sich Sturmgeheul in den Ritzen der Bretterabdeckung, die Cobar über den Eingang seines Erdlochs genagelt hatte. Es klang furchterregend, selbst für einen harten Burschen wie ihn, der einiges erlebt hatte in seinen wechselhaften sechzig Jahren. Nicht, daß er in dieser Zeit reich geworden wäre. Das Glück mied den alternden Opalsucher wie der Teufel die Kirche! »Damned!« grunzte Ben Cobar zwischen zwei Zügen und schielte dabei auf die Glutspitze seines Sargnagels. »Was zur Hölle geht da oben vor?« Obwohl es erst Mittag war, schluckten die jagenden Wolkenberge jeden Sonnenstrahl, so daß bleifarbenes Zwielicht ein Weltuntergangsszenario beschwor! Unwillkürlich mußte Ben Cobar an die Ammenmärchen denken, die ihn schon seit seiner Kindheit begleiteten. »Zum Jahrtausendende kommt das Jüngste Gericht!« hatten seine Eltern, die einfache Leute gewesen waren, gewußt. Er hielt es auch jetzt noch für übertriebenen Aberglauben, aber für das Wetterphänomen, das nun schon den dritten Tag über die rote Sandwüste des Outbacks hinwegfegte, hatte auch er keine Erklärung. Die letzten beiden Nächte hatte er ohne seine geliebten Sterne auskommen müssen, was ihm fast schwerer gefallen war, als die finsteren Tage zu ertragen. Sein Funkgerät war seit Beginn des Sturms unbrauchbar. Außer Störungen, die an das häßliche Ticken eines Geigerzählers erinnerten, war nichts zu empfangen; wenig Besseres kam aus dem Radio, das ihm sonst seine Schufterei mit Folklore versüßte. Im Gegenteil; die Nachrichten verkündeten, daß dieses Unwetter nicht nur über Australien tobte, sondern fast die ganze Welt umspannte. Cobar starrte an der Karbidlampe vorbei auf die opalhaltige Ge-
steinsschicht, die den Boden des Lochs bildete. Vor einer Woche hatte er begonnen, sich daran entlangzuarbeiten, in der Hoffnung, auch einmal soviel Dusel wie andere zu haben und ein anständiges Stück Opal zu finden, nicht nur winzige Splitter, deren Erlös gerade mal reichte, um sein spartanisches Leben und die Ausrüstung zu finanzieren. Ein Schwarzer Opal, dachte er am unaufhörlich tobenden Sturm vorbei. Das wäre es. Aber er hätte sich auch schon mit einem Felsopal begnügt, der nicht ganz so wertvoll wie die raren Black Opals war, deren intensives Farbenspiel aus einem dunkelgrauen bis schwarzen Grund hervorschimmerte. Am einfachsten waren die Weißen Opale zu finden. Davon hatte selbst Ben Cobar schon – Seine Gedanken stockten. Dumpf und gefährlich drang das Grollen durch die Erdmassen in sein Loch. Gleichzeitig schien der Boden, auf dem er stand, verhalten zu vibrieren. Ein Erdbeben? Cobar hatte noch keines erlebt. Dieser Kontinent galt tektonisch als so gut wie tot. Er legte den Kopf schief und lauschte konzentrierter. Eine Weile herrschte, vom Sturmgeräusch abgesehen, Ruhe. Doch übergangslos pflanzten sich erneut Erschütterungen und Donner durch die Erdrinde! Ben Cobar legte den Pickel aus den verschwitzten Händen. Es war stickig warm im Loch. Aber daran war er gewöhnt. Im Moment irritierte ihn das Außergewöhnliche. Er wäre wahrscheinlich nicht so alt geworden, wenn er sich in Ausnahmesituationen nicht stets auf seinen Instinkt hätte verlassen können. Und der schlug augenblicklich Alarm! Cobar wischte sich die Hände an seinen Hosenbeinen ab und stieg die im Schacht verankerte Metalleiter nach oben.
Zehn Meter tief war das Loch, ehe es in einen kurzen, waagerechten Stollen überging. Bevor Cobar das Ende der Leiter erreichte, kam ein neuerliches Grollen, lauter und unheilverkündender als alle davor. Ein vager Verdacht keimte in ihm. Wuchtig hob er den aus Holzlatten gezimmerten Deckel an und streckte den Kopf nach draußen. Böiger Wind peitschte ihm Sand ins Gesicht. Er kniff die Augen zusammen und spähte zum Himmel. Der Ausblick nach oben hatte sich noch einmal verschlimmert. Einem Mahlstrom aus unterschiedlich dunkler Schwärze gleich gebar der Himmel unaufhörlich neue Muster von immer bedrohlicherem Charakter. Die Sonne war unsichtbar hinter der treibenden Schicht aus … Ja, woraus eigentlich? Ben Cobar hatte viele Arten von Wolken gesehen, aber das, was dort oben wie der Sud in einem Hexenkessel brodelte, sah nicht einmal mehr entfernt wie Wolken aus! Allmählich bekam er es nun doch mit der Angst zu tun, und unschlüssig blieb sein Blick an dem mit einer Plane überzogenen Jeep hängen, den er einen Steinwurf entfernt unter einem verkrüppelten, flaschenförmigen Baobab-Baum abgestellt hatte, dessen dürre Äste sich im Sturm bogen. Auch Cobars schütteres Haar wurde zerzaust. Er fluchte, als eine neue Welle seinen Standort erreichte. Erschütterungen und neuerliches Grollen aus dem Bauch der Erde … Gefahr! signalisierte sein Instinkt nun immer vehementer, so daß er vollends aus dem Schacht kletterte und sich dem unberechenbaren Sturm anvertraute. Gegen den Wind gestemmt, stapfte er zum Jeep und befreite ihn von seiner Abdeckung. Im Grunde wußte er selbst nicht, was er vorhatte. Er hatte einen Verdacht, woher die Beben und das Rumoren kamen, aber er war sich nicht sicher, ob er überhaupt wollte, daß er sich die Bestätigung seiner Vermutung holte. Ins Loch zurück wollte er jedoch auch nicht. Wenn es so weiter-
ging, würde ihn ein Erdrutsch verschütten. Dann war es aus und vorbei mit seinen Plänen. Aus mit dem letzten Fünkchen Hoffnung, auf seine alten Tage vielleicht doch noch das große Los zu ziehen und ein wohlhabender Mann zu werden! Der Schlüssel steckte im Zündschloß. Aber der Wagen war seit Tagen nicht mehr bewegt worden; entsprechend viele Anläufe brauchte es, bis der Motor endlich wummernd ansprang. Ben Cobar spähte durch die verdreckte Windschutzscheibe in die Ferne, wo sich eine gigantische Windhose aus rotierender Schwärze wie ein Pfeiler zwischen Himmel und Erde spannte. Es sah aus, als trüge diese Säule das mittägliche Firmament. Cobar gab Gas und lenkte den Jeep genau auf die Erscheinung zu, denn in derselben Richtung lag auch der Ort, den der Opalsucher im Verdacht hatte, Ausgangspunkt der alarmierenden Beben zu sein, die ihn aus seiner einsiedlerischen Plackerei gerissen hatten. Nach knapp halbstündiger Fahrt, in der die Böen mitunter so heftig an dem offenen Fahrzeug rüttelten, daß es ein paarmal umzukippen drohte, stoppte der alte Digger den Jeep in respektvollem Abstand zu dem endlos in seiner Länge erscheinenden Zaun, der das unschuldig wirkende Outback in häßlicher Weise spaltete. Hüben war freies, für jedermann zugängliches Land. Drüben Sperrgebiet. BAEDERSTADT LABORATORIES, prangten Schilder entlang der Umzäunung. Dazu die Warnung: UNBEFUGTEN IST DER ZUTRITT STRENGSTENS VERBOTEN – VORSICHT, SELBSTSCHUSSANLAGEN Allein dieser doppelt mannshohe Zaun, der ein Gebiet von mehreren Hektar umgrenzte, hatte sicher mehr Geld verschlungen, als Ben Cobar in seinem ganzen Leben erwirtschaftet hatte. Der Opalschürfer stammte aus Queenland und hatte sein Revier erst vor ein paar Monaten von Quilpie nach hier verlegt. Nachdem seine Frau, mit der er fast vierzig Jahre lang verheiratet gewesen war, überraschend
an einem allergischen Schock nach einem Spinnenstich gestorben war, hatte er alle Brücken hinter sich abgebrochen, um das Glück in neuer Umgebung noch einmal herausfordern. An dem Zaun war er immer wieder einmal vorbeigekommen und hatte sich über die Verrücktheit mokiert, inmitten unberührter Natur ein »Laboratorium« zu unterhalten. Zu sehen war davon kaum etwas. Aber verschiedene Aufbauten legten die Vermutung nahe, daß sich die eigentliche Anlage unter der Erdoberfläche erstreckte. Ab und zu hatte Cobar Hubschraubergeräusche gehört. Zu Gesicht bekommen hatte er nie auch nur eine Menschenseele. Das war nun anders. Weil alles anders war. Das gesamte Gelände hatte sich verändert. Es bot ein Bild purer Verwüstung. Rauch und Flammen stiegen zum Himmel. Hie und da hatten sich Klüfte im Boden gebildet, aus denen wabernder Schein ins Mittagsdunkel kroch. Noch während Cobar gebannt auf die weiter um sich greifenden Zerstörungen starrte, dämmerte es ihm, daß es vielleicht doch keine so gute Idee gewesen war, hierher zu kommen. Laboratorien horteten im allgemeinen Unmengen von gefährlichen Chemikalien, und wenn diese in Brand gerieten, war damit nicht zu spaßen! Noch während der Gedanke Fuß in ihm zu fassen begann, wunderte sich Cobar, daß nirgends Maßnahmen zur Eindämmung der Katastrophe ergriffen wurden. Auch jetzt ließ sich keine Menschenseele blicken. Dafür gab es mehrere Erklärungen, unter anderem die, daß die Betreiber des Labors in dem Inferno umgekommen waren. Das wahre Ausmaß der Vernichtung entzog sich Cobars Blicken. Die verheerendsten Kräfte tobten unter der Oberfläche. Mechanisch versuchte er sein CB-Radio in Gang zu setzen. Daß es nicht funktionierte, wurde ihm erst wieder bewußt, als die prasselnden Störgeräusche aus dem Äther dröhnten.
Er legte den Gang ein und wollte den Jeep wenden, um sich aus dem Staub zu machen, bevor ihn eine der treibenden Gaswolken zufällig erreichte. Doch im Losfahren sah er etwas, was ihn zögern ließ. Eine Gestalt. Oder … zwei. Ein Mann auf der Flucht, auf den Armen eine Frau! Cobar riß das Steuer spontan in die entgegengesetzte Richtung und hielt auf den Zaun zu, hinter dessen Maschen die Flüchtenden aufgetaucht waren. Beide mit Blessuren übersät. Haltet aus, dachte Cobar. Ich bin gleich bei euch. Als er den Zaun erreichte, bremste er nicht, sondern fuhr mit Vollgas dagegen. Der Aufprall riß die Umzäunung in Fetzen, aber der Jeep schaffte es nicht, durchzuschlüpfen. Der Motor wurde abgewürgt. Cobar startete neu, setzte den Rückwärtsgang und hielt zwei Schritte von der gewaltsam geschaffenen Öffnung. Geschmeidiger, als man es einem Mann seines Alters zugetraut hätte, sprang er aus dem Sitz und eilte dem Mann entgegen, der längst begriffen hatte, daß Hilfe nahte. Seine Augen flimmerten. Er schien unter Schock zu stehen. Aber das war nichts im Vergleich zum Ausdruck, den die Frau in seinen Armen im Gesicht trug. Cobar blieb stehen, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Der Blick der Frau fing ihn ein. In Cobars Schädel schien ein noch furchtbareres Brausen zu erwachen als das in Flammen aufgehende Laboratorium es erzeugte. Er sah noch, wie die Frau von dem Mann auf die eigenen Beine gestellt wurde und auf Cobar zuglitt. Der Mann wollte sie zurückhalten, aber sie ließ sich nicht bremsen. Ben Cobar sackte alles Blut in die Beine, als sich ihre Hände um seine Arme schlossen. Eiskalte Hände.
Die Welt begann sich zu drehen. Dann kippte die Landschaft wie Kulissen nach allen Seiten hin weg. Eine Ohnmacht entführte Cobars Geist. Das letzte, was er in den Abgrund mitnahm, war der Schmerz. Von tausend Zähnen …
* Obwohl die Absturzstelle kaum mehr als einen Steinwurf von dem Höhlenzugang entfernt lag, brauchte Landru eine Weile, um sie zu erreichen. An der steilen Flanke des Ayers Rock fand er nur mühsam Halt; jeder Schritt wurde zum Risiko. Roter Fels bröckelte unter seinen Füßen weg, einige Male rutschte er und fing sich nur mit Not wieder. Der Sturm unternahm, so schien es jedenfalls, jede Anstrengung, um Landru aufzuhalten. Der tosende Wind riß an seinem dunklen Mantel, zerrte ihn hin und her, pflückte ihm den Hut vom Kopf und zerzauste Landrus filziges Haar, stach wie mit eisigen Nadeln in sein bärtiges Gesicht, kam aber doch nicht an gegen dessen Taubheit. Die Kälte unter Landrus Haut war anders als jede Temperatur natürlichen Ursprungs. Je näher Landru dem Ort des Absturzes kam, desto gangbarer wurde der »Weg«. Die Explosion hatte den Fels an vielen Stellen förmlich aufplatzen lassen, wodurch Stufen und Tritte entstanden waren. Dazu hatten sich glühende Trümmer in den Berg gegraben, an denen Landru zusätzlichen Halt fand. Die Hitze der Teile vermochte ihm nichts anzuhaben. Er spürte sie nicht einmal, roch nur den schwachen Geruch verschmorter Haut, der von seinen Händen aufstieg; seine vampirische Selbstheilungskraft versorgte diese Brandwunden indes im Nu. Trotzdem die Explosion gewissermaßen ganze Arbeit geleistet hatte, fiel es Landru nicht sehr schwer, herauszufinden, was hier gegen
den Ayers Rock geprallt und in Flammen aufgegangen war. Das noch immer glühende Metallgerüst, das er vorfand, war aller Zerstörung zum Trotz noch als Überrest eines Hubschraubers zu erkennen. Es verformte sich in der eigenen Hitze, knisternd und knackend, leise kreischend, so daß es schien, als lebe es – wie das entfleischte Skelett eines bizarren Tieres … Landru vertrieb den Gedanken und konzentrierte sich auf das Wesentliche. Die Frage war: Wer war mit dem Hubschrauber hierher gekommen – und vor allem, warum? Andererseits – waren die Antworten darauf noch von Belang? Wer immer in dem Hubschrauber gesessen hatte, er oder sie konnte den Absturz unmöglich überlebt haben. Oder? Der Sturm wütete um Landru her mit unverminderter Gewalt. Die Natur selbst schien schauderhaft zu heulen ob ihrer Entartung. Daß nicht nur der Sturm heulte, wurde Landru erst in dem Moment bewußt, da er sich unversehens nicht mehr alleine fühlte. Im selben Augenblick mengte sich ein weiteres Geräusch in das Tosen des Unwetters: ein Knirschen und Rascheln, mit dem gelockerte Steine über die Flanke des Ayers Rock rollten, von oben herab. Landru wurde darauf aufmerksam, als einige der kleinen Felsteile gegen seine Stiefel kullerten. Er wandte sich um, ging zugleich instinktiv in eine leicht geduckte Haltung – und erstarrte! Weil der Anblick ihn wie ein Hammerschlag traf. Weil selbst Landru tiefe, lähmende Verwunderung verspürte, als er sah, was ihm da gegenüberstand!
* Die Welt glitt wie in einem Traum an ihr vorbei. Und Rahel genoß das Gefühl, diesen Traum zu steuern. Sich nach
Belieben und beliebig schnell darin zu bewegen. Sie war unterwegs. Denn es hatte – endlich – begonnen. Sie konnte jedes Zeichen lesen, das am Himmel stand. In Jerusalem – dem totenstillen Jerusalem – hatte sie zum ersten Mal gefühlt, welche Bestimmung sie hatte. Welche Macht in ihr schlummerte und nur darauf wartete, erweckt zu werden! Sie lächelte bizarr. Sie war nicht mehr das Kind, das sie noch vor zwei Jahren gewesen war, nicht mehr im geringsten … kindlich. Ein Kelchkind reift rasend schnell, dachte sie, auch in Erinnerung der Schmerzen, die mit diesem Wachstum verbunden gewesen waren. Aber in der Erinnerung war der Schmerz erträglich. Sie hatte sich dem Prozeß gefügt, den der Lilienkelch mit Lilith Edens Blut in ihr in Gang gesetzt hatte – was wäre ihr auch anderes übriggeblieben? Um sie herum waren Farben, war eine Art … Gesang. Niemand schien wirklich gerade jetzt, in diesen Augenblicken, zu singen; vielmehr hörte es sich an wie ein nie ersterbendes Echo von Stimmen, die vor Ewigkeiten erklungen waren. Draußen. In der realen Welt. Rahel hatte nicht vor, den ehrfurchteinflößenden Tönen nachzugehen, um ihren Ursprung, ihre Quelle aufzuspüren. Zumindest noch nicht. Wichtigeres wartete auf sie. Dringlicheres. Die Krönung all ihres. Wirkens in den vergangenen beiden Jahren! Ich habe Tote wachgeküßt, dachte sie, ohne ihre Wanderung auf der songline zu unterbrechen. Ich habe ihnen befristetes Leben und befristete Fruchtbarkeit eingehaucht. Sie sollten befruchten oder befruchtet werden. Um der Zukunft willen! Nun ist die Zeit reif für die nächste Generation … Rahel hatte von Anfang an gewußt, daß die Erweckten nur das Zwischenglied bildeten. Ihre Kinder würden wie ganz normale Menschenkinder das Licht der Welt erblicken, wenngleich sie von ihren leiblichen Müttern sehr viel weniger als neun Monate ausgetragen werden mußten.
Denn wirklich normal war nichts an der kommenden Brut, den kommenden Herren dieser Welt. Ihre Gedanken wurden gebremst, als sie urplötzlich in einen Abschnitt der gerade bereisten songline geriet, das sich anders anfühlte, anders klang als sämtliche davor. Verblüfft stoppte Rahel ihren Vorwärtsdrang. Hielt inne. Lauschte und beobachtete, streckte die Fühler ihrer Sinne aus. ZEIG DICH! rief sie auf geistiger Ebene. Und: WER BIST DU? Du phantasierst, tadelte sie sich selbst, als keine Reaktion auf ihre Rufe erfolgte. Gleichzeitig verdichtete sich jedoch das unangenehme Gefühl, beobachtet, durchleuchtet zu werden bis auf den geheimsten Grund ihrer Seele! IST DA WER? Zum ersten Mal fiel ihr auf, daß diese songline dunkler als die anderen war, die sie sonst bereiste. Sie hatte auch Farben, aber diese Farben sahen aus, als lägen Schatten darüber. Die Düsternis klang auch aus den Tönen der Zwischenwelt. Rahel setzte vorsichtig ihre Reise fort, strebte einer anderen songline zu, als plötzlich eine Wand vor ihr auftauchte. Und sie begriff, daß sie in eine Sackgasse geraten war! Bis zu diesem Moment hatte sie nicht gewußt, daß die Pfade der Traumzeit auch endlich sein konnten, auch einmal ins Nichts oder Nirgendwo führten … Verwirrt glitt sie den Weg zurück, den sie gekommen war. Passierte erneut die Stelle, in der sie geschworen hätte, taxiert zu werden. Gewogen und – NEIN! Sie erstickte ihren Instinkt. Wollte ihm nicht länger Glauben schenken. Die songlines gehörten ihr. Sie waren Mittel zum Zweck, mehr nicht! Und falls hier doch etwas lauerte oder nistete – oder sich auch nur
ängstlich vor ihr versteckte –, würde sie es eines Tages aufspüren! Den Rest ihrer Reise wurde Rahel nicht mehr behelligt. Und so gelangte sie zu dem Ort, an dem das Erstgeborene das Licht der Welt – oder vielmehr die Düsternis des NESTS – erblicken sollte, das der Sammler ihm bereitet hatte. Landru … Weder Wärme noch Zuneigung begleiteten Rahels Gedanken an den ehemaligen Hüter des Kelchs. Einen von zwanzig ganz besonderen Vampiren mit ganz besonderen Gaben … … denen die der neuen Vampire in nichts nachstehen würden! Intuitiv wechselte Rahel an einem Kreuzpunkt die songline. Einen von unzähligen verborgenen Traumzeitpfaden, die ihr diesen Kontinent zu Füßen legten. Vorerst nur diesen.
* Ein Monstrum! Eine … Kreatur. Etwas, das Landru nie zuvor, in Hunderten von Jahren nicht, gesehen hatte. So gräßlich. So widerwärtig, ekelhaft. So … mitleiderregend? Zumindest dieser letzte Eindruck verflog so rasch, wie er Landru gekommen war. Das … Ding hielt sich mühsam auf zwei Beinen; zwei behaarte, verkrüppelt wirkende Gliedmaßen mit unförmigen Pfoten, annähernd denen eines Wolfes ähnelnd. Der kaum weniger gestalte Körper des Wesens war stellenweise mit dichtem Fell bedeckt, dazwischen jedoch war rohes Fleisch zu sehen, dessen Brandgeruch Landru entgegenwehte. Der Schädel der Kreatur sah aus wie – fast weigerte sich Landru, den Vergleich zu ziehen – eine Mischung aus der Physiognomie eines Wolfes und dem Kopf einer Fledermaus.
Und aus dem krummen Rücken der Gestalt wuchsen … Flügel? Unfertig zwar, wie gebrochen und auf unmögliche Weise wieder zusammengewachsen, aber unzweifelhaft sollte es sich dabei um Schwingen handeln! Sekunden vergingen, in denen nichts geschah, während der die so ungleichen Kontrahenten einander nur musterten, schweigend und starr. Das Ungeheuer rührte sich zuerst. Das asymmetrische Maul in dem wie verbeult wirkenden Schädel klaffte auf, und hinter dolchspitzen Zähnen bewegte sich lahm eine Zunge im Versuch, ein Wort zu formen. »Duuuuu …?« Landru schmälte die Augen. »Was soll das heißen?« fragte er lauernd. »Kennst du mich?« Die chimärenhafte Kreatur bewegte sich unruhig. Fast wirkte es, als wolle sie sich zum Sprung ducken, doch der unförmige Leib schien die gedanklichen Befehle nicht recht umsetzen zu können. Es sah … erbärmlich aus. Allerdings schien mit jeder Sekunde, die verstrich, der Körper geschmeidiger zu werden. Als lerne der Geist darin, damit umzugehen. Automatisch wich Landru einen halben Schritt zurück. Seine rechte Hand verschwand auf Hüfthöhe unter dem knöchellangen Mantel. Die Annahme, daß er diesem Wesen schon einmal gegenübergestanden hätte, war absurd. Daran hätte er sich ganz gewiß erinnert. So einen Anblick vergaß man nicht, in tausend Jahren nicht. Dann geschah etwas Unheimliches. Die Fratze des Monsters … veränderte sich. Für allenfalls eine Sekunde nur, und vielleicht verformte sie sich nicht einmal wirklich. Es ging zu schnell, als daß Landru es klar hätte beurteilen können. Das Ergebnis indes blieb sich gleich. Landru erhaschte flüchtige
Blicke … in zwei Gesichter! Sie entstanden und vergingen binnen eines Lidschlages. Und doch wußte Landru, daß er keiner Täuschung aufsaß. Er sah das Gesicht einer Frau. Und das eines Mannes. Und beide kannte er! Ihre Begegnung jedoch lag weit zurück, annähernd hundert Jahre schon. Es war in Sankt Petersburg gewesen. Wo Landru seinerzeit den Machtrausch des Führers der dortigen Sippe, Ilja mit Namen, grausam geahndet hatte. Bei dem zweiten Gesicht hatte es sich um das einer Vampirin aus Iljas Sippe gehandelt, die als einzige Landrus Massaker überlebt hatte. War ihr Name nicht Irina gewesen? Ja, so hatte sie geheißen. »Verdammt, was geht hier vor?« grollte Landru. Seine Mundwinkel bebten, Zeichen des Aufruhrs, der in seinem totenkalten Innern herrschte. Das nächste Wort des Monstrums war klar und deutlich zu verstehen. »Mörder!« Und noch während der brüllende Ruf in der Luft lag, sprang die mutierte Kreatur mit vorgestreckten Pranken und ungelenk schlagenden Schwingen auf Landru zu!
* Ein Schuß krachte, lauter als der Donner des Sturms. Blut spritzte; Blut, das der Wind in sprühenden Regen verwandelte, der nicht nur den Fels ringsum traf, sondern auch Landru. Er hatte die Pumpgun, die er an der Hüfte trug, hochgerissen und abgedrückt. Die Kugel hatte die Kreatur an der Hüfte getroffen und eine faustgroße Wunde gerissen. Das Monster brüllte auf. Seinen Angriff jedoch vermochte der Schuß nicht zu stoppen.
Die Pranken trafen Landru vor die Brust, trieben ihn nach hinten. Er stolperte, stürzte. Der Angreifer schlug mit vollem Gewicht auf ihn, nagelte ihn förmlich am Boden fest. Halbfingerlange Zähne schnappten nach Landrus Gesicht. Reflexhaft wich er aus. Den abschüssigen Boden nutzend, schaffte er es, die Beine anzuziehen und das Ungeheuer über sich hinweg zu katapultieren. Noch bevor die Bestie den Fels berührte, befand sich Landru in einer halbsitzenden Position. Er kreiselte herum und richtete für einen endlosen Moment die Mündung der Pumpgun auf das Monstrum. Das Wesen erstarrte. Die Zeit selbst schien stehenzubleiben. Der Sturm schlug einen Bogen um den Schauplatz des Kampfes. Jede Regung fror ein. »Ich hätte dich töten sollen, damals«, sagte Landru schließlich rauh. »Ich wäre dir dankbar gewesen, hättest du es getan.« Die Worte des chimärenhaften Wesens waren noch immer schwer verständlich. Sie schienen irgendwo tief in seiner Kehle zu erstehen. »So?« meinte Landru. Die Kreatur nickte. »Jetzt aber, da ich endlich am Ziel bin, wirst auch du mich nicht mehr aufhalten.« »Von welchem Ziel sprichst du?« Mißtrauen und Beunruhigung klangen in Landrus Stimme mit. Unwillkürlich warf er einen raschen Blick in Richtung des Höhlenzugangs. Was wußte dieser mutierte Bastard über die Dinge, die hier geschehen sollten? Er mußte etwas darüber wissen, anders waren seine Worte nicht zu deuten. »Die neue Zeit«, stieg es aus dem Rachen des Wesens auf, gurgelnd wie Schlamm, der zäh in einen Abfluß rann. »Deine Zeit ist abgelaufen«, erklärte Landru hart. »Endgültig!« Der Lauf seiner Waffe stieß um eine Spur nach vorne. Die Mündung glotzte wie eine leere Augenhöhle auf den Schädel der Krea-
tur. Die Kugel würde ihn zertrümmern. Auch ein Vampir – oder etwas, das einmal ein Vampir gewesen war – würde sich von einem solchen Treffer nicht erholen. Landrus Finger krümmte sich am Abzug. Und erstarrte. Weil sie ihn stoppte. Rahel fror Landrus Finger am Drücker buchstäblich ein.
* Wie Rahel das geschafft hatte, wußte Landru nicht. Es konnte nicht – oder nicht nur – ihre Stimme gewesen sein, mit der sie ihn angerufen hatte. Ihr schlichtes »Nein!« hatte nicht einmal scharf oder gar befehlend geklungen. Wie auch immer, Landrus rechter Zeigefinger war erstarrt, wie zu Eis oder Stein geworden. Um keinen Millimeter konnte er ihn beugen, geschweige denn den Stecher seiner Pumpgun damit durchziehen. Die Tatsache, daß Rahel dazu fähig war, beunruhigte Landru weit mehr als die Lähmung seines Fingers. Weil daraus die Frage resultierte: Wozu war sie darüber hinaus noch imstande? Der Nebel des Mysteriums, der das Mädchen umgab, war – wieder – ein Stück dichter, undurchsichtiger geworden. Auch dadurch, daß sie wie aus dem Nichts aufgetaucht war. Zumindest hatte Landru sie nicht kommen hören. Das allerdings mochte auch am Toben des Sturmes gelegen haben. Jedenfalls versuchte Landru sich diese Möglichkeit als wahrscheinlich einzureden. Rahel trat an seine Seite. Er sah zu ihr auf. Mehr denn je zuvor schien ihm ihre noch immer mädchenhafte Mimik maskenhaft. Ihr Körper war längst der einer jungen Frau geworden, betörend schön und für jeden Mann begehrenswert; nicht allerdings für Landru. Er
sah Rahel als wunderschön an – aber er wollte sie nicht nehmen. Nicht einmal der Gedanke daran keimte in ihm. Vielleicht lag es an ihrem Gesicht. Es war bezaubernd, sicher, von unschuldigem, fast noch kindlichem Charme. Aber Landru las etwas darin. Etwas, das er nicht wirklich verstand, was ihn jedoch beunruhigte. Und auf ganz eigenartige Weise abstieß. Trotzdem war er Rahel verbunden. Nicht nur, weil sie ihn vom Tod erweckt hatte. Zwischen ihnen bestand ein Band von besonderer Art; eines, das Landru sich nicht einmal selbst erklären konnte. Er wußte um die Existenz dieser Verknüpfung – und daß sie unlösbar war. Mehr darüber hatte Rahel ihm nie verraten wollen. Nichtsdestotrotz, er war nicht willens, sich ihr vollkommen zu unterwerfen. Er würde nicht nach ihrer Pfeife tanzen. Und wenn sie eine Machtprobe wollte – dann sollte Rahel sie bekommen. Krack! Der Knochen in Landrus Zeigefinger brach. Der Vampir spürte den Schmerz, gab es jedoch nicht mit der geringsten Regung zu erkennen. Mit wahrhaft übermenschlicher Willenskraft hatte er die Lähmung überwunden, die magische Starre gebrochen. Der geborstene Knochen begann noch in dem Moment zu heilen, da Landru sich erhob und Rahel ungerührten Blickes maß. »Jedem sind Grenzen gesetzt«, sagte er rauh. »Und niemand sollte seine Grenzen überschreiten, ehe er weiß, was jenseits davon liegt.« Er drohte ihr, kaum verhohlen. Und Rahel verriet mit keiner noch so winzigen Geste, wie sie Landrus Worte aufnahm. Nur seinem Blick hielt sie stoisch stand. Ein erstes, stummes Duell fand statt, dessen Ausgang ungewiß blieb. »Warum verlangst du von mir, das Leben dieser Kreatur zu schonen?« fragte Landru schließlich, derweil er die Waffe wieder im Gürtel verstaute, ohne dabei Rahel aus seinem Blick zu entlassen. »Was immer diese Chimäre auch zu dem gemacht hat, was sie ist«,
erwiderte Rahel; »dieses Wesen ist von unserer Art. Und es wird kein Morden mehr geben unter unseresgleichen. Nicht heute, nicht morgen – niemals mehr.« Landru hob spöttisch die Brauen. »Oh, ich verstehe. Der Kodex hat wieder Gültigkeit, wie?« »Nicht alles war schlecht in der Vergangenheit unseres Volkes – es gab nur Schlechte darunter. Gesetzesbrecher. Und Versager.« Die Spitze in Rahels Worten saß. Landru verstand sehr wohl, worauf sie anspielte. Woher auch immer sie ihr Wissen beziehen mochte, sie wußte, daß er einst der Hüter des Kelches gewesen war und den Gral der Alten Rasse schließlich verloren hatte – was in ferner Konsequenz zum Untergang der Vampire geführt hatte. Aber Landru gestattete sich nicht, auf Rahels schlecht verborgenen Vorwurf zu reagieren. Statt dessen sah er in Richtung der Mutation. Die Kreatur kauerte wie abwartend ein paar Schritte entfernt. In ihren Augen glänzte etwas wie ein Hoffnungsschimmer. Und noch etwas … Vorfreude? Oder gar Triumph? Landru glaubte nicht, daß er sich irrte. Seine Beunruhigung darüber behielt er indes für sich. Rahel hatte ihn daran gehindert, die Chimäre zu töten – mochte sie nun damit fertigwerden und die Verantwortung für mögliche Folgen tragen. »Was soll geschehen mit diesem … Ding?« fragte er verächtlich. »Es soll uns begleiten«, sagte Rahel und wandte sich schon um. »Uluru erwartet uns.« Sie benutzte den Namen, den die Ureinwohner dem heiligen Felsen gegeben hatten. Landru registrierte diese Kleinigkeit sehr wohl. »Du warst angewiesen, dort auf mich zu warten«, erinnerte Rahel, derweil sie auf den nächstgelegenen Eingang zuschritt. Wieder schoß sie eine jener kleinen Spitzen auf Landru ab, die ihn zweifellos daran gemahnen sollten, wem er seine Existenz zu verdanken hatte. Aber Dankbarkeit war ein Wort, das Landru schon zu Lebzeiten nie geführt hatte. Warum also sollte es ihn im Tode kümmern?
Schweigend folgte er Rahel zurück in die Höhle. Hinter sich hörte er die schleifenden Schritte der Chimäre, und er spürte ihren fauligen Atem in seinem Nacken.
* Richtig zur Besinnung kam Ilja erst, als die Situation sich vollends beruhigt hatte. Nachdem die Bedrohung durch Landru – vorerst jedenfalls – gebannt war, konnte er reflektieren, was eigentlich geschehen war. Was er sich beziehungsweise seinem Wirtskörper angetan hatte mit der in Panik erzwungenen Verwandlung. Er hatte sich in ein Zwitterwesen transformiert, teils Wolf, teils Fledermaus. Und die Regenerationskräfte des Körpers schienen dadurch zudem noch gehandicapt. Die Brandverletzungen wollten kaum heilen. Schlimmer noch war aber, daß die Verwandlung nicht rückgängig zu machen war. Nicht sofort und schnell jedenfalls. Der Impuls hatte gewissermaßen das System kollabieren lassen. Um die Schäden zu beheben, dazu hätte Ilja Zeit gebraucht. Zeit, die ihm nicht zur Verfügung stand. Weil er nichts von dem, was nun geschah, versäumen wollte. Zu lange hatten sie – er wie auch Irina – darauf gewartet. Darauf, daß ein neues Zeitaltar begann. Eine Zeit, in der Ilja eine wichtige Rolle spielen wollte. Und während er seiner rätselhaften Retterin sowie Landru, dem verhaßten und auf eigentümliche Weise veränderten Feind, folgte, kam Ilja ein Gedanke, der zur Idee reifte. Plötzlich wußte er, wie er sein Ziel erreichen konnte. Wie es ihm möglich sein würde, die angestrebte Position in dieser neuen Weltordnung einzunehmen. Die Chance dazu war im geradezu wörtlichen Sinne zum Greifen nahe. Aus Irinas Augen starrte Ilja auf Landrus Rücken.
Brennenden, verlangenden Blickes. Gierig nach Rache – und Hüterblut …
* »Hör sofort auf damit!« Die Stimme brachte sie nicht zur Räson. Erst die Hände, die sich auf ihre Schultern legten und sie herumrissen. Der alte Mann entglitt Liliths Fängen. Sie quittierte es mit einem wütenden Fauchen – wie ein Raubtier, dem jemand das erlegte Wild streitig zu machen versuchte. »Tu das nie wieder!« knurrte sie, den Impuls unterdrückend, der Darren das Leben gekostet hätte. Er starrte sie schockiert an. Vielleicht ahnte er in diesem Augenblick, daß er das Opfer geworden wäre, wenn sich kein anderer angeboten hätte. Sein Blick wechselte zu dem Mann, der röchelnd an seinem eigenen Blut erstickte. Jede Hilfe kam für ihn zu spät, und schon im nächsten Moment erlahmten selbst die letzten Körperreflexe. Seine Augen brachen. »Du hast ihn umgebracht!« Lilith antwortete nicht. Obwohl sie nicht entsetzt über ihre Tat war, wußte sie, daß sie etwas schwer Verzeihliches nicht nur in Darrens Augen begangen hatte. Auch in ihren. Sie wußte es – nur das Gefühl dafür war ihr irgendwie … abhanden gekommen. »Bleib stehen!« Sie war bereits auf dem Weg zum Jeep, dessen Motor im Leerlauf tuckerte, als sie innehielt und sich zu ihm umdrehte. »Du hast ihn umgebracht!« Darrens Stimme überschlug sich vor Aufregung. Er zitterte am ganzen Leib. Er verstand immer noch nicht.
»Was willst du?« »Eine Erklärung! Eine verdammte Erklärung – dafür …!« Er wies auf den Toten. »Ich brauchte Blut.« Er nickte, als wäre ihr Bedürfnis, das er kannte, nicht das Problem, vor dem sein Verstand und seine Gefühle kapitulierten. »Und seit wann gehst du dafür über Leichen?« Sie schwieg. Hilflos ballte er die Fäuste. »Du bist eine Gefahr … für jeden.« Er wich zunächst einen Schritt zurück, dann wankte er zu dem Toten und beugte sich über ihn. Sie schloß kurz die Augen. Es war, als würde sie wieder sterben. Die Finsternis und Kälte, die sie hinter den geschlossenen Lidern fand, ängstigte sie mehr als die Tat, die Darren aus der Fassung gebracht hatte. »Ich konnte nichts dagegen tun«, sagte sie, ihn wieder anschauend. »Aber jetzt … ist es gut.« »Gut?« Darren hatte das Hemd des Toten aufgeknöpft und entblößte dessen stark behaarte Brust. Lilith wußte, was er finden würde. Sie wartete, bis er sich erhob und mit dem Zeigefinger auf ihre netzartige Kleidung wies. Unglaube verfärbte seine Stimme, zugleich aber auch ein Hauch von Erleichterung, als er stammelte: »Nicht du hast ihn umgebracht – er … er war es! Dein Symbiont!« »So ist es«, sagte sie lapidar. »Und das hast du zugelassen?« Ich hatte keine Wahl – so wie in dem Moment, als er mich umbrachte , dachte sie. Laut erwiderte sie: »Wäre dir lieber, wenn ich dort drin verbrannt wäre?« Sie wies zu den immer noch himmelwärts schlagenden Flammen der Fabrikanlage. »Wenn ich die Augen nicht mehr geöffnet hätte?«
Er schien ernsthaft darüber nachzudenken. »Natürlich nicht«, sagte er schließlich, die Stimme rauh. »Aber das eine hat mit dem anderen nichts zu tun! Du hast dich vor Irina verstellt, das habe ich nun kapiert. Irgendwie hast du uns alle glauben gemacht, du wärest von diesem Ding da getötet worden. Aber –« »Ich wurde von ›diesem Ding da‹ getötet.« Sie sagte es in einer Seelenruhe, die Darren aufstöhnen ließ. »Der Symbiont hat mir das Leben genommen. Ich war tot. Tot! Begreif das endlich! Aber ich verdanke ihm auch, daß ich … wieder lebe …« »Du müßtest dich reden hören! Du klingst wie eine Wahnsinnige.« »Dann will ich es dir so erklären, daß auch du es verstehen kannst.« »Fang an.« »Der Symbiont war von etwas besessen, das ihn zwang, mich zu töten. Dieses Etwas steckt jetzt in Irina. Und als es fort war, hat der Symbiont sofort versucht, meine Lebensfunktionen wieder in Gang zu setzen. Es ist ihm gelungen, wie du siehst. Zumindest fast …« Darren schluckte. Er musterte sie von Kopf bis Fuß, blieb dann mit seinem Blick wieder an ihrem Gesicht hängen, räusperte sich und fragte: »Was meinst du mit ›fast‹?« »Er hat sein Möglichstes getan, aber es hat wohl nicht ganz gereicht.« »Aber … du lebst doch!« »Mein Körper funktioniert wieder, ja. Aber das ist auch alles. Ich fühle mich wie eine andere Person. Als … stünde ich neben mir. Ich beobachte mich bei dem, was ich tue. Ich höre mir zu, was sich sage – auch jetzt, in diesem Moment.« »Das hört sich immer noch ziemlich verrückt hat.« »Ja.« »Aber es ist noch nicht die ganze Wahrheit, oder?« »Es reicht dir noch nicht als Erklärung dafür, daß der Symbiont einen Unschuldigen umgebracht hat?«
»Es kann mir nicht reichen.« Darren vergrub seine Hände in den Hosentaschen und nickte zu dem alten Mann hinüber. »Es ist keine hinreichende Entschuldigung dafür.« »Ich sagte nicht, daß es zu entschuldigen ist. Aber es war notwendig. Zumindest für den Symbionten …« Lilith fuhr mit den Innenflächen ihrer Hände über das Riemengeflecht, das ihren Körper wie ein sonderbares Korsett aus Maschendraht stützte. Sie sprach nicht aus, was sie dabei dachte. Daß sie davon an Felidae erinnert wurde. Felidae … Wie lange war es her, daß die Kelchdiebin von ihrem Bruder und Widersacher Landru in einem Kampf zweier Titanen so tödlich verletzt worden war, daß nur ihr Symbiont sie hatte am Leben erhalten können?* Nun wußte Lilith, wie Felidae sich gefühlt haben mußte – ahnte es zumindest, denn wenn sie ehrlich sich selbst gegenüber blieb, war sie davon überzeugt, ein noch grausameres Schicksal erlitten zu haben. Felidae war von ihrem Symbionten übernommen worden, bevor sie sterben konnte. Bei ihr selbst war dieser Fall erst nach dem Tod eingetreten. Der Symbiont hatte sie reanimiert, zurückgeholt ins Leben. »Warum war es notwendig für ihn?« Darrens Stimme holte sie aus dumpfer Gedankenabwesenheit zurück. »Weil er Kraft braucht – enorme Kraft, um …« Sie zögerte. Er wird mich als Monster betrachten. Von dem Moment an, da er es begreift, wird er mich nie mehr berühren, nie mehr mit mir reden, wie er es früher getan hat. »Um?« »Um mein Leben zu erhalten«, sagte sie. Darrens Augen wurden groß. Wie Wachs schimmerte die Haut, die seine Züge umspannte. »Heißt das …?« »Es heißt, daß er wie ein Herzschrittmacher arbeitet, unablässig. *siehe VAMPIRA H24: »Duell der Wächter«
Würde er seine Anstrengungen beenden, würde ich augenblicklich sterben. Seine Wurzeln reichen bis in meine Organe. Er ist mit mir verschmolzen, um mich künstlich am Leben zu halten. Begreifst du endlich?« Darren nickte wie in Zeitlupe. »Im Grunde … bist noch immer tot. Es ist ein gestohlenes Leben, das du lebst.« Seine Hand deutete auf den Toten. »Auf Kosten anderer Menschen. Der Symbiont hat sein Blut getrunken, um dich …« Seine Stimme stockte. »Und soll das jetzt so weitergehen? Wann immer seine Kräfte schwinden, wird der nächste dran glauben müssen?« Lilith schüttelte den Kopf. »Ich werde ich versuchen, ihn zu zügeln.« Darren trat auf sie zu und schüttelte sie, bis er mit tränenüberströmtem Gesicht innehielt. »Scheiße, Lilith, sag mir, daß es Hoffnung gibt! Sag es! Es muß doch einen Ausweg geben!« »Ich weiß es nicht. Und ich will darüber jetzt auch gar nicht nachdenken. Es gibt Dinge, gegen die mein Schicksal unwichtig ist.« Als Darren sie verständnislos anblickte, hob sie den Arm und zeigte an ihm vorbei in die Richtung, in der sich eine rotierende Säule von der Erde in den finsteren Himmel erstreckte. »Woran erinnert dich das?« »An Sydney … Die Nacht, als das Unwetter über dem Zoo tobte. Und an –« Lilith nickte. »An die Zeichen, von denen Irina sprach. Ich bin sicher, daß wir sie dort wiederfinden werden. Daß wir sie dort wiederfinden müssen, wenn wir verhindern wollen, daß etwas Schreckliches für die ganze Menschheit geschieht!« Kopfschüttelnd erwiderte er: »Du fühlst dich immer noch verantwortlich für andere.« »Es ist meine Bestimmung, verstehst du das nicht? Das Zeichen in Maitland, das Zeichen im Taronga-Zoo, diese ozonvernichtende Fabrik hier im Outback … Es fügt sich Steinchen für Steinchen in ein
unheilvolles Puzzle.« »Was weißt du noch darüber?« »Nichts. Aber ich fühle die Gefahr.« Wieder zeigte sie zu dem Wirbel, mächtiger als jeder Taifun. »Es wird dort geschehen. Komm!« »Was wird geschehen?« »Ich wünschte«, antwortete sie, »wir könnten es verhindern, ohne es jemals zu erfahren …«
Zwischenspiel Im Kloster zu Coimbra, Portugal »Bald ist es soweit – und fast möchte ich sagen: endlich …« Die Stimme, leise knisternd, als fahre ein Windstoß durch das Strohgerippe einer Vogelscheuche, kam aus dem Mund der greisen Lucia dos Santos, die sich in regelmäßigen Abständen im Bett aufbäumte, nun schon zum siebten Mal binnen zweier Jahre schwanger. Scheinschwanger zumindest. Eine Dreiundneunzigjährige! Am Kopfende des einfachen Bettes saß die Äbtissin des Klosters, in welches sich das letzte der noch lebenden Seherkinder von Fatima bereits vor vielen Jahren zurückgezogen hatte, auf einem lehnenlosen Holzstuhl. Die Äbtissin war Lucia in all der Zeit zu einer Freundin und zur vielleicht einzigen Vertrauten geworden. Durch das abgeschiedene Leben in strenger Klausur hatte die einfache Hirtentochter Lucia versucht, sich der Welt und ihren Fragen zu entziehen, auf die sie keine Antworten hatte. Nicht mehr, seit sie alles niedergeschrieben hatte, was ihr im Jahre des Herrn 1917 in der Nähe des kleinen portugiesischen Dorfes Fatima durch die Mutter Gottes unter freiem Himmel mitgeteilt worden war. Es ist, dachte Lucia, den besorgten Blick der Äbtissin erwidernd, als hätte sich beim Niederschreiben der Botschaft auf das Pergament mein Gedächtnis vollständig geleert. Als sei jedes Wissen über die drohenden Ereignisse in die Tinte des Federkiels geflossen. Nur Ahnungen und mancherlei Splitter einer Erinnerung sind mir geblieben. Genug, daß es mir angst und bange um die Menschen wird. Nicht um mich. Ich bin alt. Ich freue mich auf das Sterben. Falls ich sterben darf. Falls ich nicht über das letzte Zeichen hinaus für mein Versagen büßen soll … 1946 erst, viele Jahre nach der tatsächlichen Vision, hatte Lucia sich
in einer einzigen rauschhaften Nacht hingesetzt und sich die letzte, die schwerwiegendste von drei Weissagungen buchstäblich von der Seele geschrieben! Das Pergament hatte sie in einem versiegelten Umschlag von einem Kurier ihres Vertrauens an das Heilige Offizium zu Rom, dem Vatikan also, zugestellt. Mit dem Hinweis, daß der Inhalt der Schrift auf ausdrücklichen Wunsch der Muttergottes im Jahre 1960 vom amtierenden Papst der Welt mitgeteilt werden müsse! Das war nie geschehen. Und nie hatte Lucia eine Antwort aus der Vatikanstadt erhalten, so daß sie nicht einmal sicher sein konnte, ob ihre Botschaft überhaupt in die rechten Hände gelangt war. Nun war ohnehin alles zu spät. Nun hätte nicht einmal mehr das Verlesen der Botschaft den Schrecken verhindern können, der der Menschheit drohte! Tagtäglich berichteten die Medien vom Attentat auf den Heiligen Stuhl, dem nicht nur der Papst, sondern noch etliche andere hohe Würdenträger zum Opfer gefallen waren. Die Brände, die unersetzliche Kirchenschätze – vielleicht auch Lucias Pergament – vernichtet hatten, waren immer noch nicht unter Kontrolle, griffen weiter um sich. Unlöschbar, als hätte die Hölle selbst Glut aus dem Fegefeuer über dem Vatikan ausgestreut.* Bis zur Stunde war es den wenigen überlebenden Angehörigen des Offiziums nicht gelungen, einen neuen Papst aus ihren Reihen zu bestimmen – und draußen in der Welt zweifelten immer mehr Gläubige, daß dies überhaupt je wieder gelingen würde. Die Weltuntergangspropheten hatten Hochkonjunktur. Der brennende Vatikan war Wasser auf ihre Mühlen. Sekten sprossen wie Unkraut aus dem Boden. Lucia hatte all dies kommen sehen – auch ohne sich des genauen Wortlauts der Prophezeiung erinnern zu können. *siehe VAMPIRA T59: »Die Zeit des Sammlers«
Helle Flammen werden aus den Gemächern des Vatikans schlagen! Damit war das sechste von sieben Zeichen, die das Eintreten des Fatima-Menetekels vorbereiteten, erfüllt. Und das siebte … war bereits im Entstehen begriffen, wie Lucia am eigenen Leib unschwer ersehen konnte! Ich bin die Uhr, die den Stand der Dinge anzeigt, dachte sie frierend. Ich wurde stigmatisiert, weil ich versagte, als es darum ging, die Welt rechtzeitig zu warnen und die Menschen zur Umkehr zu bewegen, solange dazu noch Zeit war … Nach Jahrzehnten, in denen ihre seherische Kraft geschwiegen hatte, war ihr vor knapp zwei Jahren die Muttergottes erstmals wieder erschienen, kurz nach der ebenso grauenvollen wie unerklärlichen Katastrophe, der die Heilige Stadt Jerusalem zum Opfer gefallen war. Seither erlebte Lucia auf beispiellose Weise jedes der nach und nach eintretenden Zeichen, die vom Ende der Alten Zeit kündeten, mit … Lucia hielt kurz inne in ihren fiebrigen Gedanken. Sie hielt die Hände auf ihren aufgeblähten Bauch gepreßt, der jeder Hochschwangeren zur Ehre gereicht hätte, aber leer war, wie der klösterliche Arzt, der anfänglich hinzugezogen worden war, immer wieder bestätigt hatte. Lucia litt an ausgeprägten Scheinschwangerschaften, wie sie in dieser Form kein medizinisches Fachbuch beschrieb. Sie schürzte die rauhen Lippen. An jedes der vergessenen Zeichen hatte sie sich erst wieder erinnert, als es eingetreten war. Auch das siebte erschloß sich ihr noch nicht, was bedeutete, daß es noch nicht ganz vollendet war. Die Äbtissin saß bei ihr, weil Lucia ihr versprochen hatte, sie als erste einzuweihen, sobald das Vergessen wich und dem gefürchteten Wissen Platz machte. Das siebte Zeichen.
Danach würde nichts mehr sein, wie es einmal war. Aber wie würde es sein? Was kam auf die Menschheit zu? Auf wessen Befehl war die Muttergottes Lucia, Francisco und Jacinta erschienen? In Gottes Auftrag? War der Schöpfer, wie schon einmal, als er die Sintflut gesandt hatte, der mißratenen Menschheit überdrüssig? Oder – Lucia hatte diese Möglichkeit in all den Jahren immer wieder in Gedanken durchgespielt – hatten sie und ihre damaligen Spielgefährten sich nur eingebildet, der Muttergottes begegnet zu sein? Sie hatten eine Lichtgestalt geschaut und sie wie selbstverständlich mit der Mutter Maria gleichgesetzt. Aber hätte sie nicht auch von anderer Stelle gesandt worden sein – vom Ewigen Widersacher …? Aber wie, dachte Lucia, hätten wir dann jene unendliche Güte spüren können, mit der sie zu uns sprach? Sie wußte nicht mehr, was sie glauben sollte. Realistisch betrachtet, entzogen sich die Ereignisse jeglicher Erklärung. Sie schrie auf. Die Äbtissin erhob sich von ihrem Stuhl und faßte die gischtkranke Hand, die Lucia neben ihrer Herzseite auf dem Laken abgelegt hatte. »Es geht los?« Lucia nickte nur mit verbissener Miene. Die Wehen setzten ein. Was bedeutete, daß auch das letzte Zeichen sich erfüllte. Irgendwo auf der Welt. »Soll ich den Arzt rufen?« »Nei-« Ihr Gebrüll riß die Antwort in Stücke. Ein Blick auf Lucias Bauch zeigte der Äbtissin, daß diese siebte Scheinschwangerschaft anders verlaufen würde als die sechs vorherigen. »Ich werde nach ihm schicken. Er muß kommen …« Sie löste ihre warme Hand aus der kühlen der Greisin. Lucia schien sie schon nicht mehr zu hören. Ihr Blick war vernebelt. Und ihr Bauch …
Die Äbtissin rannte zur Tür, riß sie auf und befahl der draußen wartenden Ordonanz, sofort den Doktor zu holen. Die Ordensschwester eilte mit fliegenden Kuttenschößen davon. Als die Äbtissin sich wieder Lucia zuwandte, krampfte sich das Herz in ihrer Brust zusammen. Nach Luft ringend, wankte sie auf das Bett zu, in dem Lucias Kopf nicht mehr zu sehen war, weil der Bauch alles verdeckte. Er hatte seinen Umfang in nur einer Minute verdoppelt … Und er wuchs weiter! »Allmächtiger …« Die Äbtissin taumelte auf den Platz zurück, den sie nur kurz verlassen hatte. Als sie das Gesicht der greisen Seherin endlich wieder sehen konnte, war es blutüberströmt! Wie Schweiß perlten Blutstropfen auf der Stirn der Alten. »Lucia!« Schritte auf dem Gang. Der Äbtissin wurde schlecht. »Lucia, mein Kleines …« Röchelnd brach sie neben dem Bett zusammen. Das Herz in ihrer Brust hörte abrupt auf, wehzutun. Und zu schlagen. Noch bevor die Ordonanz mit dem Arzt in der Tür auftauchte, folgte ihr Lucia. Und die Stille nach den Schreien schien das Leben im Kloster einzufrieren. Für immer und ewig.
* Australien, Ayers Rock Sie stiegen die Felsstufen hinab in das gewaltige Rund der Höhle im Ayers Rock. Noch fiel flackerndes Licht von draußen herein, Wider-
schein der Blitze, die nach wie vor den dunklen Himmel zerrissen. Donner rollte draußen wie die Brandung eines aufgewühlten Meeres. In der Hölle indes war es merkwürdig still. Landru sah sich im Hinabgehen aus geschmälten Augen um, durchforstete das flirrende Zwielicht und fand – nichts. Unvermittelt blieb er stehen, knurrte wölfisch, die Lippen bebend gefletscht. Seine Finger schlossen sich knirschend zu Fäusten. Rahel, ein paar Stufen tiefer, verhielt ebenfalls und wandte sich nach Landru um. »Was?« fragte sie, hörbar beunruhigt. »Sie ist fort!« zischte Landru. »Das Weib ist geflohen!« »Das … das ist unmöglich!« behauptete Rahel. »Sie kann sich ihrer Aufgabe nicht entziehen. Sie –« Ohne ein weiteres Wort stürmte Landru an ihr vorüber, stieß Rahel dabei fast noch um und rannte die restlichen Stufen hinunter. Dann eilte er durch die Höhle, dorthin, wo er die Schwangere zurückgelassen hatte. In der Tat war das Lager, das Landru ihr auf einem altarartigen Felsblock zurechtgemacht hatte, verlassen. Sein Blick irrte umher, derweil Rahel zu ihm aufschloß. Das chimärenhafte Wesen hielt sich zurück, kam nur langsam näher, sah sich um, als begutachte es jedes einzelne Detail in der Höhle. Beinahe machte die Kreatur den Eindruck eines Pilgers, der zum ersten Mal im Leben den bedeutendsten Wallfahrtsort seiner Religion aufsuchte, beeindruckt, hingerissen, voller Ehrfurcht. »Du hättest sie nicht ohne Aufsicht lassen dürfen!« Rahels Ton war sanft wie immer; dennoch schnitten ihre Worte wie ein Peitschenhieb durch die Luft. Landru ignorierte die Rüge, schenkte nicht einmal Rahel selbst wirkliche Beachtung. Wie ein witterndes Tier stand er da, angespannt, wie sprungbereit.
Sein feines Gehör versuchte die Geräusche, die der Sturm gebar, auszugrenzen. Und es gelang ihm. Schließlich hörte Landru nur noch den eigenen trägen Atem und Herzschlag sowie die Laute, die Rahel und die Chimäre verursachten – – und das klagende Wimmern und Heulen, gänzlich anders als die Töne des Unwetters. Sie drangen aus einem menschlichen Mund. Landru ortete die Richtung. Und hetzte los.
* Wie sie es geschafft hatte, die scheinbar endlose Felsentreppe emporzuklettern, wußte Seven van Kees selbst kaum zu sagen. Fakt war, daß sie es geschafft hatte. Daß sie die Höhle verlassen hatte – und nunmehr am Abgrund stand! Die Tiefe war verführerisch, lockte sie mit unhörbaren Stimmen. Versprach den Tod. Verhieß das Ende aller Qual. Der Sturm zerrte an Seven. Dennoch war es, als seien ihre nackten Füße mit dem Fels des Vorsprungs verwachsen, der über die steil abfallende Flanke des Ayers Rock hinausragte. Wie lange sie schon hier stand? Sie wußte es nicht. Vielleicht Minuten, vielleicht schon ewig. Der quälende Schmerz, der Leib und Seele gleichermaßen peinigte, hatte jegliches Zeitgefühl in Seven van Kees abgetötet. Längst schon. Sie wußte nicht einmal mehr, wie lange sie in dieser Sydneyer Nervenklinik festgehalten worden war, in die man sie gebracht hatte, nachdem sie ihren ersten Selbstmordversuch unternommen hatte. Es mußte Wochen her sein. Wochen, in denen das … Ding in ihrem Bauch herangewachsen war. Ungleich schneller als jedes normale Kind. Aber was in Seven van Kees steckte, war auch kein normales Kind.
Wie auch? Wo doch sein Vater … ein Toter war! Seven schrie auf. Ja, ja! Sie hatte es mit einem Toten getrieben, Ryder Maguire, der vor Monaten gestorben war und doch wieder gelebt hatte. Nachdem er mit Seven geschlafen hatte, war er verschwunden. Sie war ihm gefolgt und hatte ihn sterbend gefunden – auf einem Friedhof, neben seinem eigenen Grab! »Wahnsinn«, flüsterte sie, »alles Wahnsinn. Ich … und die ganze Welt. Tot möchte ich sein. Bitte, lieber Gott, bitte, bitte, laß mich sterben, bevor …« Sie wollte springen. Und sie hätte es wohl auch geschafft, hätte sie nicht in diesem Moment eine Sturmbö getroffen, gewaltig wie ein Hieb, der sie einen Schritt zurücktrieb. Aber Seven wollte nicht aufgeben. Nicht jetzt, da sie endlich so weit gekommen war. Bislang hatte der Balg in ihrem Leib jeden Selbstmordversuch vereitelt, die Gedanken daran erstickt, auf unheimliche Weise Einfluß genommen auf seine Mutter. Vorhin aber hatte Seven es – aus Gründen, die ihr verschlossen blieben – endlich geschafft, ihren eigenen destruktiven Willen zu behaupten. Als sie gespürt hatte, daß sie allein in der Höhle zurückgelassen worden war, hatte sie ihre Lagerstatt verlassen und war unter unendlicher Mühsal hier heraufgekommen, wo der Fluchtweg zwar endete – aber ein Ausweg aus ihrem unsagbaren Dilemma lag. Die Tiefe. Der Abgrund. Spring! schrie ihre eigene Stimme tief in Seven, gellend laut, so machtvoll, daß ihr Körper unter dem Klang erbebte. Seven stemmte sich gegen den Sturm. Drang vor bis zur Kante des Felsvorsprungs. Ihre Zehen schoben sich darüber hinweg. Sie breitete die Arme aus. Und ließ sich fallen. Einen Moment lang fühlte sich Seven van Kees völlig schwerelos.
Dann spürte sie, wie die Schwerkraft nach ihr griff, um sie hinabzuziehen. Im gleichen Augenblick kam der Schmerz! Schmerz, der ihren Schädel in Feuer badete. Weil eine Hand sich in ihr Haar gewühlt hatte und Seven festhielt, sie brutal zurück auf den Felsvorsprung riß. Seven schrie, heulte, tobte. Und hörte die gnadenlose, frostkalte Stimme desjenigen, der sie aus der Klinik in Sydney gleichermaßen befreit und entführt hatte. »So nicht, Püppchen! Mir entkommst du nicht. So wahr ich der Sammler bin!«
* Landru schleifte seine Gefangene rücksichtslos die Felsstiege hinab und zurück in die Höhle. Daß die scharfen Kanten der Stufen ihre Haut aufrissen, kümmerte ihn nicht. Ihre Hülle mußte nicht unversehrt sein, damit die Frau ihren Zweck erfüllen konnte. Sie brauchte nur dieses Kind zu gebären – nichts sonst! Endlich langten sie vor dem Lager an, das Landru ihr gerichtet hatte, und er warf sie unsanft hinauf. »Rühr dich noch einmal vom Fleck, und –!« drohte Landru. Seven sah zu ihm auf, die Augen glasig vor Tränen, das Gesicht zerschunden und verquollen. Dennoch drückte ihre Miene Trotz aus. »Und was?« schnappte sie. »Bringst du mich dann um? Bitte, tu’s doch – nichts anderes will ich!« Eine schemenhafte Gestalt rückte in ihr Blickfeld. Eine junge Frau mit mädchenhaften Zügen. Seven spürte, daß von ihr etwas Drohendes, Dunkles ausging, etwas so Gefährliches, daß ihr das eigene Wohl und Wehe plötzlich nichtig vorkam. Hier ging es nicht um sie, nicht nur um ihr eigenes Schicksal – Se-
ven wußte plötzlich, daß hier andere Dinge auf dem Spiel standen, so große Dinge, daß ihr Verstand nicht ausreichte, sie zu erfassen. »Alles zu seiner Zeit«, sagte die Fremde, ruhig, fast mütterlich. »Erst wirst du tun, was wir von dir erwarten – danach sehen wir weiter. Wenn du dir den Tod dann noch wünschst …« Den Rest ließ sie unausgesprochen. Rahel wandte sich an Landru. »Sorge dafür, daß sie keine Dummheiten mehr macht«, trug sie ihm auf. Dabei sah sie ihm fest in die Augen, und Landru nickte, weil er bildlich vor sich sah, was Rahel von ihm verlangte, als habe sie ihm die Szene ins Hirn projiziert. Ein abseitiges Lächeln schmiegte sich um seine grauen Lippen. Dann beugte er sich vor, packte Seven von neuem und zerrte sie von ihrem Lager hoch. Erbarmungslos zog er sie zur Höhlenwand hinüber und schleuderte sie mit Wucht gegen den Fels – der unter dem Aufprall knirschte und sprang! Schmale Risse bildeten sich, aus denen fahles Leuchten drang. Der Stein wurde nachgiebig, weich wie heißer Teer – und er nahm Seven van Kees in sich auf! Noch ehe sie begriff, was geschah, war sie halb darin versunken, die Arme vom Körper gespreizt, die Beine leicht vorgestreckt und angewinkelt. »Perfekt«, nickte Rahel. Dann wurde der Fels wieder zu Fels. Hart. Unnachgiebig. Und Seven van Kees war darin gefangen. Zur Reglosigkeit verdammt. Ihre Tränen rührten niemanden.
* Ilja konnte kaum glauben, was Irinas Augen ihm zeigten. Hier also würde sich die Prophezeiung erfüllen, an diesem wunderbaren, entweihten Ort.
Und dieses Mädchen, Rahel – ihr hatte Irina letztlich gedient in all den Jahren, seit sie die Weissagung erfahren und das Pergament berührt hatte. All diese Gedanken jedoch verdrängte Ilja zunächst, schob sie zurück. Etwas anderes schien ihm jetzt von größerer Bedeutung – und der Zeitpunkt würde vielleicht nie günstiger sein. Landru war abgelenkt. Ilja bewegte sich vorsichtig auf ihn zu. Streckte die verkrüppelte Hand vor. Berührte den einstigen Hüter. Als die Klaue der Chimäre sich um Landrus Hals legte, reagierte der einstige Hüter instinktiv. Er wirbelte herum, erkannte den Gegner – und ging zum Gegenangriff über. Seine Hand durchbrach wie ein Schmiedehammer die morschen Rippen des Geschöpfes und erreichten dessen Herz. Umfaßten es und drückten es zusammen! Wie hätte er ahnen können, daß es genau dies war, was das Wesen geplant hatte: den Tod des Wirtskörpers. Ilja konzentrierte, sammelte seinen Geist – – und fuhr aus Irinas entstelltem, sterbenden Körper. Wechselte hinüber in Landru! Der Sammler bäumte sich auf …
* Ein Fehler! Iljas Geist brüllte unhörbar, als er merkte, daß er einen Fehler begangen hatte, den verhängnisvollsten, der ihm überhaupt hatte unterlaufen können. Aber wie hätte er ihn vorhersehen können? Wie hätte er wissen können, daß Landru … tot war? Und somit als Wirtskörper nicht taugte. Iljas Geist konnte sich in Landru nicht manifestieren. Er fand kei-
nen Halt darin. Es war, als versuche man, einen Haken in eine morsche, bröckelnde Mauer zu schlagen. Es war unmöglich. Zumal Landru sich wehrte. Er bediente sich der Totenkälte, die in seiner Seele nistete, erfaßte Ilja damit, fing ihn ein und lähmte ihn. Dann tat er, was er in ähnlicher Weise schon einmal getan hatte, vor fast hundert Jahren in Sankt Petersburg. Damals hatte er eines von El Nabhals Tüchern um Iljas Schädel gelegt, ihm den Kopf geschrumpft und schließlich von den Schultern gepflückt. So verfuhr Landru auch jetzt. Nur nutzte er diesmal die jenseitige Kälte dazu. Er fror Iljas Bewußtsein ein und begann es dann zu zermalmen. Nicht jedoch ohne ihn dabei mit Gedanken zu foltern. Ihn zu verhöhnen und zu verfluchen. Wie konntest du glauben, es mit MIR aufnehmen zu können, du Wurm? dröhnte Landrus Geist. Deine Zeit war schon damals abgelaufen. Du hättest es akzeptieren sollen. Laß … mich! Irgendwie brachte Ilja die Antwort zustande. Wir können … gemeinsam herrschen. Ich kann dir von Nutzen sein. Dieses neue Reich ist groß genug … für uns alle! Dieses Reich, erwiderte Landru leidenschaftslos, wird nicht geschaffen für DEINE Art. Und damit vernichtete er Ilja. Den Letzten der Alten Rasse.
* Landru erwachte wie aus tiefer Trance. Der Kampf in seinem Innern hatte seine Sinne blind und taub gemacht für alles, was um ihn herum war. Und er hatte ihn erschöpft. Sein kaltes Herz schlug heftiger, blähte sich fast schmerzhaft in seiner Brust.
Sekunden vergingen, in denen er sich allmählich wieder beruhigte und seine Kräfte sich regenerierten. Wie auch die Kälte. Indem er Ilja damit vernichtet hatte, schien sich der Frost in Landru aufgezehrt zu haben, und etwas wie ein warmer Hauch war an seine Stelle getreten. Doch kaum erstarkte der einstige Hüter wieder, baute sich auch die Kälte wieder auf und war ihm Seele wie zuvor. »Was ist geschehen?« Rahels Stimme war ein Hauch, der ihm in den Nacken wehte. »Der Bastard wollte sich in meinem Leib einnisten«, erklärte Landru und berichtete von seiner ersten Begegnung mit Ilja und Irina in Sankt Petersburg vor langer Zeit. Als er darauf zu sprechen kam, wie er die Sippe ausgelöscht und deren Oberhaupt bestraft hatte, empfand Landru tiefe Genugtuung. Nicht nur, weil die Erinnerung sie ihm verschaffte, sondern auch, weil er Rahels Entsetzen genoß. Ihre Augen waren ganz die eines Kindes, als sie Landrus Erzählung lauschte; eines Kindes, dem eine Geschichte voller Greuel aufgetischt wurde, so grausam, daß der kindliche Verstand sie kaum zu fassen vermochte. Daß der Vergleich nicht weit hergeholt war, machten Rahels Worte offenbar, nachdem Landru geendet hatte. »Wie konntest du das tun?« fragte sie tonlos. »Wie konntest du deinesgleichen töten und gegen das eherne Gesetz deines Volkes verstoßen?« Landru verzog die Lippen. »Ich tat, was ich tun mußte, um die Alte Rasse zu schützen. In Fällen wie diesem eben auch vor sich selbst.« »So also entschuldigst du dich dir gegenüber? Indem du dir einredest, deine Verfehlungen zum Wohle der Allgemeinheit begangen zu haben?« »Ich habe nie den Anspruch erhoben, unfehlbar zu sein«, lenkte
Landru ein. Rahel trat näher. »Und hast du je versucht, deine Fehler wieder gutzumachen?« Landru nickte. »O ja, das habe ich.« Und er dachte an die jahrhundertelange Suche nach dem Lilienkelch, der durch seine Schuld einst verlorenging für die Alte Rasse. Landru hatte sich kasteit für den Verlust und nichts unversucht gelassen, das Unheiligtum der Vampire wiederzufinden. Ohne Erfolg – schlimmer noch: mit ärgstem Mißerfolg! Denn letztlich hatte er durch all seine Anstrengungen den endgültigen Niedergang des vampirischen Volkes erst heraufbeschworen. Wenn man es genau bedachte, mochte selbst die jetzige Situation eine Spätfolge des Kelchverlustes sein. Rahel nickte bedächtig, gerade so, als habe sie Landrus Gedanken gelesen. Und ihre nächsten Worte legten diesen Verdacht noch näher. »Alles ist Bestimmung. Alles geschieht, wie es geschehen muß. Es bedarf nur lenkender Hände auf Erden, um die Weichen so zu stellen, wie es der vorgesehene Lauf der Dinge verlangt.« Landru sah Rahel fest an, aus schmalen Augen, mit verkniffenen Lippen. Nach einer ganzen Weile erst sagte er: »Wer bist du? Gib endlich dein Geheimnis preis, Rahel, und verrate mir, was du bist.« Sie lächelte still. »Die lenkende Hand. Jene, die dafür Sorge zu tragen hat, daß alles geschieht, wie es geschehen soll.« Sie ging in die Knie, und einen Moment lang glaubte Landru tatsächlich, sie würde vor ihm niederknien, um ihm – aus welchem Grunde auch immer – ihre Demut zu erweisen. Aber diesen Irrtum erkannte er in dem Augenblick, da er selbst den Kopf senkte. Rahel war neben dem Leichnam der Chimäre zu Boden gesunken. Neben der Chimäre, die keine Kreatur mehr war! Sondern … Irina? Was immer ihren Körper entstellt hatte, es hatte im Tod seine
Macht verloren. Lautlos hatte er sich verändert, war wieder zu dem einer verrucht schönen Frau geworden, zu dem jener Vampirin, die Landru vor annähernd hundert Jahren in Rußland kennengelernt hatte. Nur eines war geblieben wie zuvor: Sie war tot. In ihrer Brust klaffte ein Loch, und ihr Herz lag zermalmt neben ihr auf dem Boden. Es sah aus, als schaue sie zu Landru empor, die Augen starr wie aus Glas, kaum noch glänzend, weil die Feuchte darauf fast getrocknet war. Im nächsten Moment verschwand Irinas Antlitz aus Landrus Blickfeld, weil Rahels Kopf sich dazwischenschob. Er konnte jedoch sehen, daß sie das Herz in beide Hände nahm und sich damit Irinas Leichnam zuwandte. Der Vampir hörte einen leisen, feuchten Laut, der von den Höhlenwänden widerzuhallen schien. Unmöglich! mahnte sich Landru dazu, seine Phantasie im Zaum zu halten. So unmöglich wie das, was im folgenden geschah …
* Ein unangenehmes Knirschen erklang. Es hörte sich an, als würde ein geborstener Ast an der Bruchstelle gedreht. Rahel zog sich zurück, stand auf. Und Irina … bewegte sich! Noch immer klaffte die furchtbare Wunde, doch die Rippen hatten sich wieder geschlossen – vor dem pumpenden Muskel in ihrer Brust! Ungelenk erst und ungeschickt versuchte Irina sich mit beiden Händen aufzustützen. Zwei, drei Anläufe brauchte sie, um sich auf Hände und Knie aufzurichten. Und dann vergingen noch einmal Sekunden, bis das zurückkehrende Leben ihr genug Kraft verliehen hatte, die es ihr erlaubte, sich vollends zu erheben. Schließlich stand Irina zwischen Landru und Rahel.
Ihn sah sie zuerst an, und Landru konnte beobachten, wie der Glanz in ihre Augen zurückkehrte. Der Anblick weckte in Landru Erinnerungen an seine eigene Auferstehung in Jerusalem. Zwar war er anders gestorben – er hatte sich unter dem Einfluß teuflischer Mächte die Pulsadern geöffnet –, aber das Gefühl, das Wissen, tot gewesen zu sein, mußte für Irina dasselbe sein. Dieses Wissen und jenes, daß das geschenkte Leben ein anderes war als das verlorene … Irina wandte sich Rahel zu. Sie wollte etwas sagen, aber ihre Erweckerin kam ihr zuvor. »Willkommen!« sagte Rahel und lächelte. »Sei mir willkommen – die du uns die Zeichen gesetzt hast!«
* Stille herrschte, sekundenlang. Irina hatte noch mit den Nachwirkungen des Todes zu kämpfen, mit ihrer Erweckung ebenso, und zudem noch mit dem Gefühl, Ilja losgeworden zu sein. Er hatte sie benutzt, ihren Körper gleichsam vergewaltigt, und fast bedauerte sie es, daß sie ihn nicht selbst dafür hatte bestrafen können. Aber zumindest dieses Gefühl schwand, rasch wie Eis in sengender Sonne. Was mit Ilja zu tun hatte, war Vergangenheit, nicht mehr von Belang, vollkommen unwichtig. Wichtig war … die Erweckerin. In jeder Hinsicht. »Rahel«, stellte die Kindfrau sich vor, wiederum so, als sei sie imstande, Gedanken zu lesen. Irina nickte. »Du bist also jene, von der die Weissagung sprach.« »Wir sind jene, die die Prophezeiung erfüllen werden«, stellte Rahel richtig. »Wir alle hatten und haben unseren Anteil daran.« Irina schwieg. Verfolgte eigene Gedanken. Bedeuteten Rahels Worte, daß sie selbst, Irina, ebenso Teil der drit-
ten, der letzten Weissagung war wie alles andere? Ja, nur so waren sie zu deuten, nur so ergab alles Sinn! Jedes noch so winzige Detail im Geschehen der Vergangenheit schien von Bedeutung. Nichts war geschehen, was nicht letztlich ein entscheidendes Teil des Ganzen gewesen wäre. Alles schien … vorherbestimmt. Nur – wer hatte diesen gewaltigen, facettenreichen Plan ersonnen? Und zu welchem Zweck? Rahel lächelte. Wissend. Und Irina fröstelte. Nicht nur der Totenkälte wegen, die ihr die Brust füllte. »Worauf warten wir?« Landru meldete sich wieder zu Wort. Rahel antwortete, ohne ihn anzusehen. »Auf die Zeit«, sagte sie. »Bis dahin – laßt mich diesen heiligen Ort zur Zelle einer neuen Ordnung machen.« Und Rahel begann. Sie nutzte die uralten Kräfte des Uluru, des heiligen Berges. Zwang sie unter ihre Macht. Versiegelte diesen Ort, um vor der Welt draußen zu schützen, was sich darin anbahnte – – um es dann in die Welt draußen zu entlassen. In eine Welt, die ohne Schutz und ahnungslos war.
* Die Auswirkungen der gigantischen Sturmsäule (ein besserer Ausdruck fiel Darren Secada nicht ein, um das kochende, rotierende Ding zu beschreiben) bekamen sie bereits zu spüren, als der Jeep noch Meilen davon entfernt war. Wind prügelte auf den Wagen ein, als würden unsichtbare Keulen gegen das Blech gedroschen. Das Fahrzeug ruckte hin und her, vollführte abenteuerliche Bocksprünge, und Darren lief der Schweiß in Bächen über das Gesicht, während er mit beiden Fäusten das Lenkrad umklammerte, bemüht, den Jeep zumindest halbwegs auf Kurs
zu halten. Was schon unter normalen Unterständen schwierig gewesen wäre; der Untergrund, über den sie fuhren, war rissig, Spalten und Löcher klafften darin, und obwohl er von fern völlig eben wirkte, war er von teils kniehohen Bodenwellen durchzogen, die sich unter kargem Steppengras und dürrem Gesträuch verbargen. Der Anblick, der sich ihnen weit jenseits der Windschutzscheibe des Jeeps bot, ließ Darren jedoch all dies vergessen. Er spürte nicht einmal den stechenden Schmerz, als er, ohne das Tempo zu vermindern, die nächste Unebenheit des Bodens nahm und sein Kopf wegen des Rucks hart gegen den Türholm schlug. »Mein Gott!« entfuhr es ihm. »Was ist das?« »Ayers Rock«, meinte Lilith lapidar. »Ach was!« schnappte Darren. »Das seh’ ich auch – aber was geschieht dort?« Daß Ayers Rock unmittelbar im Zentrum des apokalyptischen Sturmes lag, hatten sie längst schon bemerkt. Aber der Fels selbst hatte sich … verändert. Darren war zwar selbst noch nie hier gewesen, kannte den Uluru jedoch wie die allermeisten Menschen von Bildern her. Aber auf keinem Foto hatte der Berg im Outback so ausgesehen wie jetzt. Es schien, als sei der Ayers Rock zu einer Art Vulkan geworden. In seinem Innern glühte etwas, als wäre er mit Lava gefüllt, die allerdings nicht durch eine oben gelegene Öffnung ausfloß, sondern aus den Flanken drang. Ohne jedoch abzufließen. »Ich pack’s nicht!« stöhnte Darren. »Was immer es auch ist«, meinte Lilith, »wir werden es nicht von hier aus herausfinden. Gib Gas.« »Das sagst du so«, murrte Darren, senkte aber den Fuß um eine Spur. Der Motor des Jeeps röhrte auf – und das Fahrzeug sprang förmlich über die nächste Bodenwelle. Das Blechgewand des Wagens knirschte protestierend, als sie wieder »landete«.
Darren kippte fluchend zur Seite – und schrie fast auf, als er Lilith berührte … beziehungsweise deren Korsett, das der Symbiont nicht nur um ihren Körper gewoben hatte. Mit jedem Organ verbunden …, fiel Darren unweigerlich ein, was Lilith ihm über das Wirken des Symbionten gesagt hatte. Und abseitige Visionen drängten vor sein geistiges Auge. Er sah schwarze Tentakel, die Liliths Adern ersetzt hatte, monströse Klauen wie aus breiigem Teer, die ihr Herz massierten und es am Schlagen hielten – »Großer Gott«, keuchte er entsetzt, »steh mir bei …!« »Darauf würde ich mich nicht verlassen«, sagte Lilith, so leise, daß Darren es kaum hören konnte.
* Eine halbe Meile vor dem Ziel war die Fahrt zu Ende. Darren hatte den – ohnehin nur imaginären – Weg völlig außer acht gelassen, hatte sich nur noch auf das bizarre Bild konzentriert, das der Ayers Rock bot, und es war gekommen, wie es hatte kommen müssen: Der Jeep war über einen Hügel gerumpelt, war dann zwei, drei Meter in bedrohlicher Seitenlage auf zwei Rädern weitergefahren und schließlich in einer mannsbreiten Bodenspalte steckengeblieben. Darren versuchte das Fahrzeug freizusetzen, erreichte aber nur, daß sich die Räder immer tiefer in den lockeren Grund wühlten. »Bist du gut zu Fuß?« Die Sorge in Darrens Stimme war nicht aufgesetzt. In Liliths Zustand schien es ihm tatsächlich fraglich, ob sie eine längere Strecke zu Fuß würde bewältigen können. »Werden wir sehen«, gab sie knapp zurück und kletterte auch schon aus dem Jeep. Darren folgte ihr. Die Entfernung zum Ayers Rock schien nicht schrumpfen zu wollen. Vielleicht lag der Eindruck auch daran, daß Darren keine son-
derliche Eile an den Tag legte; zum einen, weil er Lilith (beziehungsweise ihr bizarres »Lebenserhaltungssystem«) nicht über Gebühr strapazieren wollte, und zum anderen, weil er immer wieder versucht war, stehenzubleiben, um den beeindruckenden Anblick voll in sich aufzunehmen. Der Eindruck, daß der steinerne Leib des Ayers Rock mit Lava gefüllt war, bestätigte sich aus der Nähe nicht. Was immer das gespenstische Leuchten verursachte, es schien nichts Stoffliches zu sein. Es war … waberndes Licht, dachte Darren in Ermangelung eines treffenderen Begriffs. Und unweigerlich fühlte er sich an eine Vielzahl von Science Fiction-Filmen erinnert, in denen irgendwelche universellen Energien durch Special Effects »sichtbar« gemacht wurden. Das Leuchten hier konzentrierte sich auf verschiedene Punkte im fast 350 Meter hohen Fels. Einen zeitlosen Moment lang versuchte Darren so etwas wie ein Muster zu erkennen, das die glosenden Stellen in ihrer Gesamtheit ergeben mochten. Und tatsächlich glaubte er ein solches zu sehen … Darren dachte an eine Sternenkonstellation, und wie von selbst drängte sich ein weiterer Gedanke zu dieser Überlegung: Millenium … Vielleicht spiegeln die Punkte im Fels das Sternbild der letzten Nacht dieses Jahrtausends nach …? »Irre!« entfuhr es ihm, und er kam sich geradezu lächerlich vor. »Hast du Wurzeln geschlagen?« Liliths Zuruf erlöste ihn von seinen absurden Gedanken. Sie war ein ganzes Stück voraus, und Darren beeilte sich, um zu ihr aufzuschließen. Das Laufen wurde immer mühsamer, je näher sie dem Ayers Rock kamen. Die Ausläufer des Sturms stellten sich ihnen wie unsichtbare Hürden in den Weg; jeder Schritt geriet zum Kraftakt. Darren vermied es, allzu oft in Liliths Richtung zu sehen. Trotzdem entging ihm nicht, daß ihre Kraft schneller schwand als die seine. Aber er weigerte sich, die Konsequenz daraus auch nur anzudenken.
Wenn der Symbiont seine Energie verloren hatte, würde er sich neue besorgen. Rücksichtslos. Aus der nächstbesten Quelle – und Darren war die einzige Quelle weit und breit. Sie langten am Fuß des Uluru an. »Und jetzt?« fragte Darren. Sein Atem ging schwer. Sein Herz hämmerte vor Anstrengung. »Hinein …« Liliths Antwort war kaum zu verstehen. Ihre Stimme war schwach. »Was meinst du damit – hinan?« hakte Darren nach. Unwillkürlich sah er zu Lilith hin – und fröstelte. Liliths Äußeres spiegelte wider, was sie war – tot nämlich. Die Haut, die durch das Riemengeflecht des Symbionten schimmerte, war wächsern und leichenbleich, ihre Augen lagen in dunklen Ringen, die Wangen wirkten hohl, wie ausgezehrt. Matt hob Lilith den Arm – oder vielmehr: Der Symbiont bewegte sich so, daß er Liliths Arm in die Höhe hievte. Ihr Zeigefinger wies auf den Ayers Rock. »Wir müssen … da rein«, schnaufte sie. »Wie stellst du dir das vor?« »Es muß Eingänge geben«, meinte Lilith. »Höhlen vielleicht …« Darren nickte. »Die gibt es.« Er hatte einiges über den Ayers Rock gelesen, hatte diesen Ort schon immer einmal besuchen wollen – unter anderen Umständen, versteht sich, als ganz normaler Tourist. Nicht als Teilnehmer eines verdammten Himmelfahrtskommandos. Er schaute sich um, versuchte sich die Fotografien in Erinnerung zu rufen, die er sich in Büchern angesehen hatte. »Wir befinden uns an der Südseite des Rocks«, stellte er schließlich fest. »Hier liegt Lagari.« »Lagari?« echote Lilith. »Ja. Die lachende Höhle. So nennen die Aborigines sie.« Er ging los. Liliths müde Schritte folgten ihm. Nach etwa dreihundert Metern erreichten sie eine Spalte, die tiefer
in den Fels hineinführte. Darren folgte ihrem Verlauf und blieb vor einem kleinen Teich stehen. Dahinter klaffte schemenhaft eine dunkle Öffnung im roten Gestein – Lagari, die lachende Höhle. So genannt, weil sie in den Augen der Aborigines den Mund eines Kuniya-Kriegers symbolisierte. Jetzt allerdings war davon nicht viel zu erkennen. Denn das glosende Leuchten hatte sich über den Höhleneingang gebreitet wie lebende Gaze, verschloß ihn einem Vorhang gleich, den Darren nicht wagen würde zu durchschreiten. Lilith ging an ihm vorüber. Schleppte sich durch das knietiefe Wasser und blieb schließlich vor dem Licht stehen, fast in Griffweite. Ohne daß es ihm recht bewußt wurde, war Darren ihr allen Vorbehalten zum Trotz nachgegangen und langte neben ihr an – – gerade noch rechtzeitig, um Lilith auffangen zu können, als sie mit einem gequälten Seufzen zusammenbrach! Schwer lag sie in Darrens Armen, sah zu ihm auf aus Augen, die hinter flatternden Lidern ihren Glanz zu verlieren begannen. »Schwach …«, murmelte sie. »So müde … Kann nicht me-« »Lilith!« schrie Darren. »Du darfst nicht … Bitte, reiß dich zusammen!« Er ging selbst in die Knie, bettete Lilith zu Boden, ihr Kopf in seinem Schoß. Was konnte er mehr tun? Natürlich wußte Darren, was er hätte tun können, um Lilith zu retten. Was er anzubieten hatte … Aber ging ihre Freundschaft so weit? War sie diesen Preis wert? Über die Antwort mußte Darren nicht nachdenken. Sie wurde ihm abgenommen. Der Symbiont … reagierte! Fadendünnes Geflecht stieß in die Höhe, unkontrolliert wuchernd, zuckend wie schwarzes Pflanzenwerk, ölig schimmernd. Darren schrie auf!
* In der Traumzeit Der Beobachter hatte vieles mitangesehen. Das meiste, was seit der Vernichtung dessen, was allgemein das Böse genannt wurde – weil niemand treffendere Worte dafür hatte – auf der Welt geschehen war. Als Satan starb, hatte er ein Machtvakuum hinterlassen, das die empfindliche Balance zwischen den Kräften des Chaos und der Ordnung ins Ungleichgewicht zu kippen drohte. Der Beobachter war in Sorge gewesen. Dann war jene Frau erschienen, die – auf ihre Art – begann, die Balance wiederherzustellen. Sie schien ein unerschöpflicher Quell jener dunklen Kraft zu sein, die anderenorts versiegt war. Der Beobachter erkannte bald, daß sie ein sehr besonderes Kelchkind war. Das belegte schon der Begleiter, der ihr wie ein Schatten folgte – und den der Beobachter kannte. Und so verfolgte er Rahels Weg, ihre Taten. Und die Vorbereitungen, die sie traf. Er zögerte lange, bis er sich entschloß, ihr zu helfen. Aber als er es tat, tat er es mit aller Konsequenz. Wissend, was auf die Menschen zukommen würde. Aber eine Welt ohne das Böse war eine Fata Morgana. Sie hätte nicht funktioniert, wäre auf ihre Weise entartet. Der Beobachter hatte den Rat jener eingeholt, mit denen er immer verbunden gewesen war. Und sie hatten ihn bestärkt in seinem Entschluß, den Kontakt zu suchen. Wesen vom Anfang der Zeit. Vom Anfang der Schöpfung. Australien hatte immer eine Sonderstellung eingenommen. Dieses Land besaß seine ureigene Magie. Und manch schlummerndes Geheimnis.
Der Beobachter hatte auch Lilith Edens Rückkehr in das Haus in der Paddington Street bemerkt. Und sie dort, im Schlaf, besucht. Sie hatte es nicht bemerkt. Und wenn doch, mochte sie ihn als Teil ihrer Träume betrachtet haben. Und nun blickte der Beobachter auf ebendiese Lilith Eden und ihren Begleiter, die vor dem Siegel standen, mit dem der Heilige Berg verschlossen worden war. Ein Siegel aus Magie. Aus Kraft … … die dem Ding an Liliths Körper ersetzen konnte, was es sonst nur aus dem Blut von Menschen herausziehen konnte. Es mußte nur darauf hingewiesen werden. Und das tat der Beobachter. Heimlich und lautlos. Unbemerkt …
* Fasziniert beobachtete Darren Secada, was geschah. Und konnte kaum glauben, daß der Symbiont ihn verschont hatte! Die unzähligen, teils haarfeinen Tentakel hatten nicht ihn zum Ziel gehabt. Sie hatten sich davongeschlängelt, auf die »lachende Höhle« zu. Und sie waren eingetaucht in den steinernen Mund – und mithin auch in das glosende Licht. Das daraufhin an Kraft verlor. Mittlerweile war es nur mehr ein mattes Leuchten, das vor dem Höhleneingang hing, dünn wie Nebel, den die Sonne auflöste. Schließlich verschwand es ganz. Und Lilith war wieder auf den Beinen. Darren atmete auf; nicht nur, weil Lilith gerettet war. Nicht weniger erleichtert war er darüber, daß der Symbiont eine bessere Kraftquelle gefunden hatte als sein, Darrens, Blut. Lange durfte er sich an diesem Glück jedoch nicht erfreuen. Lilith drängte zum Aufbruch – indem sie Darren einfach stehenließ und
durch den Höhleneingang verschwand. »Verdammt, warte!« stieß Darren hervor und eilte ihr nach. Ganz kurz blitzte der Gedanke in ihm auf, daß er das nicht tun mußte. Er hätte einfach umkehren und seines Weges gehen können. Aber er tat es nicht. Natürlich nicht. Immerhin so tief war seine Freundschaft zu Lilith. So tief, daß er sie nicht allein ins Unglück rennen ließ … Die lachende Höhle war ein schlauchförmiger Hohlraum im Fels, der sich am jenseitigen Ende zu einem Gang verengte, gerade breit genug, um einer Person Platz zu bieten. Der Felskorridor führte weiter hinein in den Ayers Rock. Sie folgten seinem Verlauf, der kaum merklich, aber stetig bergan führte. Und dann hörten sie – Geräusche. Stimmen. Und plötzlich glaubte, nein fürchtete Lilith, eine ganz bestimmte Stimme wiederzuerkennen. Sie liefen schneller. Und gelangten zum Eingang einer weiteren, riesengroßen Höhle, wo sie stehenblieben, als seien sie von etwas Unsichtbarem gestoppt worden. Das Grauen lähmte nicht nur Darren Secada. Lilith entfuhr ein gehauchtes »Mein Gott …«, als sie sah, was in dieser Höhle geschah – – und wer daran beteiligt war.
* Seven wußte, daß der Tod das Beste war, was ihr noch passieren konnte, denn ihr Leben war zu einer nicht mehr enden wollenden, sadistischen Folter, einer schier endlosen Aneinanderreihung immer neuer Alptraumsequenzen verkommen! Sequenzen … Der Begriff erinnerte sie vage an das Leben, das sie vor ihrer Be-
gegnung mit Ryder Maguire geführt hatte, als Reporterin des Sydney Morning Herald. Als engagierte und talentierte Reporterin! Vorbei! Vergangen! Ihre jetzige Lage hatte nichts mehr mit der Normalität von früher zu tun. Überhaupt nichts. Gefangen zu sein in einem Fels …! Sie konnte atmen, und der weiche Stein ließ sogar zu, daß die Gliedmaßen des Ungeborenen den Bauch von innen ausbeulten, aber damit war die Flexibilität ihres Kerkers auch schon erschöpft. Seven wußte längst, daß sie das Opfer von Gewalten geworden war, deren Existenz sie vor Monaten noch rundweg geleugnet hätte. Erst die Vorgänge in der Paddington Street – wo es vor Jahren schon einmal zu unerklärlichen Phänomenen gekommen war – hatten ihre Sinne für das Paranormale geschärft. Nicht genug, um mir das hier zu ersparen! dachte sie. Ihre Gedanken schweiften zu Darren Secada, von dem sie sich Hilfe und Rettung erhofft hatte. Er hatte sich als einziger Mensch aus ihrem Umfeld überhaupt bemüht, etwas für sie zu tun, aber auch nicht verhindern können, daß sie in einer Psychiatrischen Klinik weggeschlossen worden war. Nun hatte sie ihn – und er mich! – endgültig aus den Augen verloren. Es gab niemanden mehr, der ihr das Los ersparen konnte, zu dem das Schicksal sie ausgesucht hatte. Ausgerechnet sie! Oft in den zurückliegenden Wochen hatte sie sich gefragt, ob sie Ryder Maguires einziges Opfer gewesen war. Oder ob er noch andere geschwängert hatte. Ihn selbst konnte sie nicht mehr befragen, denn er war unmittelbar nach der Zeugung des Kindes wieder verstorben. Wieder – zum zweiten Mal … Was für ein Irrsinn! »Du quälst dich völlig unnötig. Würdest du es einfach geschehen
lassen, müßtest du nicht leiden – nicht so jedenfalls. Du bist eine Auserwählte. Du kannst dich glücklich schätzen, ein solches Kind austragen zu dürfen.« Die Stimme drang durch den Fels. Eine klare, wohltönende Stimme voller Verständnis. Der Sprecherin schien es ehrlich leid zu tun, was Seven durchmachte – auch wenn sie selbst befohlen hatte, sie in dieses Gefängnis zu bannen. Sevens offene Augen nahmen die Gestalt, die zu ihr getreten war, wahr, als würde sie durch eine dicke Schickt aus Bernstein hindurchblicken. Der transparente Fels verzerrte die Konturen, aber es gelang ihm nicht, die Frau so zu verfälschen, daß sie unkenntlich geworden wäre. Wer bist du? formulierten Sevens Lippen. Der Fels ließ es zu, wenngleich kein Ton aus ihrem Munde kam. Es schien nicht nötig. Die Frau jenseits des Steins verstand auch das Unausgesprochene. »Ich bin die Mutter deines Kindes.« Die … Mutter? Du? Sevens Lippen bebten. »Ich kann meine Kinder nicht selbst austragen. Es sind zu viele. Aber ich habe die Gabe, etwas von mir in Tote zu verpflanzen und diese zu befähigen, es mit einem lebendigen Partner zu einem Kind zu reifen zu lassen. Hört es sich, wenn ich davon spreche, immer noch so entsetzlich an, wie du es die ganze Zeit empfandest?« Es klingt – dämonisch! Die Frau, die nicht in Stein gekettet war, lachte. Glockenhell. »Du weißt, was für einen Tag, was für eine Stunde wir schreiben?« Ich habe den Überblick verloren. »Das dachte ich mir. Es ist der letzte Tag des alten Jahres – der letzte Tag der Alten Zeit!« Ich … verstehe nicht. »Und die letzte Stunde. Es geht auf Mitternacht zu. Du müßtest es langsam fühlen. Spüren, wie es aus dir herausdrängt …«
Das – Kind? »Natürlich das Kind! Spürst du etwas?« Nein. Nicht mehr als zuvor. Vielleicht ist es – Gott im Himmel, ich flehe dich an, erfüll mir diesen Wunsch – tot! Der Donnerschlag ließ Seven fast taub werden. Erst nach einer Weile begriff sie, was ihn ausgelöst hatte. Die Faust der Frau ruhte noch auf dem Fels über Sevens Gesicht. »Versündige dich nie wieder!« Versündigen? ICH? Eine zweite Gestalt trat in Sevens Blickfeld. Sie erkannte sofort ihren Peiniger, der sie aus der Psychiatrie entführt und dort ein Blutbad unter dem Personal angerichtet hatte. Der Mann, der sich der Sammler nannte. Sein Äußeres erlaubte es, ihn auf den ersten Blick als gewalttätig einzustufen. Aber als sie die beiden nebeneinander stehen sah, erkannte sie in der Frau die eigentliche Gefahr. Sie war die Drahtzieherin. Die wahrhaft Unheimliche hinter scheinheiliger Maske! Was wird geschehen, wenn es … aus mir heraus ist? Was wird dann aus mir? Nimmst du »dein« Kind dann in deine Obhut? Die Frau schwieg und zog sich aus Sevens Gesichtsfeld zurück. Der Sammler beugte sich zu ihr herab. Seine Stimme schien durch den Fels hindurch zu ihr zu schaben. »Das Kind«, sagte er, »wird hungrig sein, wenn es auf die Welt kommt. Sehr, sehr hungrig und … durstig.« Weiterer Erklärung bedurfte es nicht. Der Fels hinderte Seven, die Augen zu schließen. Und der Fels knebelte ihren Mund. Kein Schrei erreichte die Außenwelt, als die Wehen einsetzten. Die Schmerzen begannen ohne Vorwarnung und waren brutal. Vater unser im Himmel … suchte Seven Zuflucht in einem Gebet. »Mein Vater ist bestimmt nicht im Himmel. Er modert in seinem
Grab.« Das Stimmchen, das sie sich vielleicht nur einbildete, schnitt wie eine schartige Klinge durch ihren Leib und erreichte auf den Flügeln fast unerträglicher Qual Sevens Hirn. Wo es hinzufügte: »Laß mich endlich raus!«
* »Und aus dem Tod wird Leben geboren. Die Hand der lebenden Toten wird es berühren und bestimmen zum neuen Herrscher über den Erdkreis … Dies wird das siebente Zeichen sein.« Beinahe ehrfürchtig hallte die Stimme der Erweckten durch den Felsendom. Rahel blickte hinüber zum jüngsten ihrer Werke, das einen ähnlichen Sonderstatus einnahm wie Landru als ehemaliger Kelchhüter. Auch Irina war keine normale Tote gewesen, wie sie sich zuhauf auf den Friedhöfen der Städte und Dörfer dieses weiten Kontinents finden ließen. Sie war die Zeichensetzerin, dachte Rahel. Die Verwahrerin der Prophezeiung, von der ich so oft träumte, wenn ich schlief. Sie gehört an meine Seite. Wie er. Ihr Blick wechselte hinüber zu Landru. Zu dritt würden sie den neuen Herrschern über den Erdkreis den Weg ebnen, ihnen Widernisse aus dem Weg räumen, solange sie noch nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte waren, und ihnen die Aufgabe mitteilen, die auf sie wartete. Das immense Stück Arbeit, dessen Lohn sie in Blut aufgewogen bekommen würden. »Und in Macht«, murmelte Rahel. Vor ihr teilte sich der von Magie durchtränkte Fels, in dem die Gebärende eingeschlossen blieb. Nur über ihrem Becken hatte sich der
Kerker aufgetan. »Wird der Erstling ein Junge oder ein Mädchen werden?« fragte Landru von der anderen Seite des Felsens herüber. Darüber hatte sich Rahel keine Gedanken gemacht. Wohl aber hatte sie Vorsorge getroffen, daß sich Jungen und Mädchen in etwa die Waage halten würden. Denn diese Kinder sollten eines Tages in der Lage sein, eigene Kinder, gleichgeartet wie sie selbst, mit ihresgleichen zu zeugen. »Er wird ein Gestalter – egal welchen Geschlechts!« »Gestalter?« fragte Irina. »Gestalter der Zukunft«, erklärte Rahel, die Augen nicht mehr vom Schoß der in Stein Geschlagenen wendend. »Eine neue Zeit bricht an, ein neues Zeitalter.« Der Kopf des Kindes wurde von Preßwehen aus Sevens Leib getrieben. Fasziniert starrte Rahel auf das erhebende Schauspiel, das Saiten in ihr zum Klingen brachte, deren Existenz sie bis zu diesem Augenblick nicht einmal geahnt hatte. Es war tatsächlich ein wenig so, als würde sie das Kind gebären. Auf ihr Zeichen hin kniete Landru vor Seven van Kees nieder. Hob die Hände. Nahm, stellvertretend für Rahel, das Neugeborene in Empfang, das nun regelrecht zwischen den gespreizten Beinen herausschlüpfte. Stumm. Kein Schrei begrüßte das Zwielicht der magischen Höhle. Besorgt wandte sich Rahel an Landru. »Ist etwas nicht in Ordnung?« Der Sammler drehte sich mit dem nackten, naßglänzenden, von Blutschlieren gemusterten Knaben im Aufstehen zu der Vampirin um, und sein Achselzucken hatte etwas beinahe Rührendes, denn es demonstrierte völlige Ratlosigkeit. »Ja«, sagte der Vieltausendjährige, der sich in seine neue Rolle eingefunden hatte, »es ist … tot!«
Und als bedürfte es des Beweises, hielt er Rahel das stille, stumme Bündel entgegen.
* Rahel war wie vom Donner gerührt. Alle Bedingungen sind erfüllt, dachte sie und wankte, als stünde sie nicht länger auf hartem Stein, sondern auf den unsicheren Planken eines Bootes. Warum sollte es totgeboren sein? Harsch winkte sie Irina herbei. »Steht nicht geschrieben, daß den Grundstein der neuen Rasse zu legen dann gelingt, wenn alle Zeichen erfüllt sind? Heißt es nicht zum letzten noch fehlenden Zeichen: Die Hand der lebenden Toten wird es berühren und bestimmen zum neuen Herrscher über den Erdkreis …!« »So heißt es«, bestätigte Irina. Sie wirkte nicht minder verunsichert. »Und ist Landru nicht einer dieser lebenden Toten?« fragte Rahel, mehr an sich selbst gewandt. Sie erhielt keine Antwort darauf. Das Unwetter, das außerhalb der Höhle wütete, hatte sich in seiner Stärke nicht verändert. Es schien seinen Höhepunkt noch nicht erreicht zu haben. Was kann ich tun? dachte Rahel. Wie kann ich so nah am Ziel verhindern, daß ich doch noch scheitere? Sie hatte geglaubt, jeder ihrer lebenden Toten könne den Spruch der Vorsehung erfüllen. Aber vielleicht war Landru ja zu außergewöhnlich dafür …? »Bring es mir!« herrschte sie den Sammler an. »Schnell!« Natürlich, warum war sie nicht gleich darauf gekommen? Sie hatte die Macht, Tote zu erwecken – ihre Hand war gemeint, vielleicht nur im übertragenen Sinne! Denn auch sie hatte bei der Kelchtaufe erst sterben müssen, bevor sie als Vampirin wieder hatte erwachen dürfen.
Landru beeilte sich, als könnte er es nicht erwarten, den Leichnam loszuwerden. Beinahe entglitt ihm das tote Neugeborene, als er es in Rahels Hände legte. Aber weder erwachten »Muttergefühle« in ihr, noch das tote Kind. Nicht von der bloßen Berührung. Du mußt es küssen, drängte sie sich selbst. Der Säugling kam ihr vor wie ein aus seinem Nest herausgefallenes Vogelküken. Er entsprach nicht ihren Erwartungen. Sie war versucht, die Hände zu öffnen und ihre Bemühungen aufzugeben. Aber natürlich tat sie es nicht. Sie hob die Arme und neigte gleichzeitig den Kopf nach unten. Der Funke, mit dem sie alles Tote zu erwecken vermochte, sprang wie gewohnt über – – aber sonst tat sich nichts. Der Funke zündete nicht. Es war das erste Mal, daß sie versagte. Das Resultat war ein Gefühlsausbruch von nie erlebter Stärke. Ihr Schrei schien das Felsendach der Höhle sprengen zu wollen. Schaurig und verzweifelt zugleich hallte es von den Wänden wider. »Waruuummm?« Unstet irrte ihr Blick durch die Höhle, zuckte hin zu der Frau, die das Tote geboren hatte und die mit der letzten Wehe in Ohnmacht gefallen war. Einen Moment überlegte Rahel, ob sie ihren Zorn an ihr auslassen sollte. Letztlich erschien es ihr zu billig. Immer noch hielt sie den Leichnam in Händen. Und noch während sie überlegte, was sie damit tun sollte – ob sie noch etwas tun konnte –, klang plötzlich Landrus Stimme auf, die sie so überrascht seit seiner Erweckung noch nicht gehört hatte: »Vorsicht!« rief er. Und nicht nur Rahel, auch Irina folgte seinem ausgestreckten Arm. Sah die Frau, die zwischen den Felsen herauskletterte und hölzern
auf sie zukam. Eine Frau, die auch Rahel sofort wiedererkannte. Obwohl sie nur noch ein Schatten ihrer selbst war … »Du …?«
* Lilith glaubte sich in einen Alptraum versetzt. Fast hoffte sie es. Denn was sie sah, wollte sie nicht als Wahrheit akzeptieren. Ihr Erzfeind war nicht tot, wie sie all die Zeit über angenommen hatte. Landru lebte! Doch seine Gegenwart war nicht alles, was sie zutiefst erschütterte. Das gesamte Szenario, das sich in der riesigen Höhle präsentierte, schockierte Lilith. Sie sah neben Landru auch Irina, die Vampirin, und Seven van Kees, die Reporterin, die von einem Toten geschwängert worden war, wie Darren ihr berichtet hatte. Und Lilith sah … Rahel! Jenes Mädchen, das von ihrem, Liliths Blut getrunken hatte, nachdem es in den Lilienkelch geflossen war. Jenes Mädchen, das kelchgetauft vom Tode auferstanden war, als … Liliths Bluttochter! Was tat sie hier? Was hatte Rahel mit Landru zu schaffen? Natürlich, Rahel hatte sich verändert in der Zeit, die seither vergangen war. Die ganze Welt hatte sich gewandelt in diesen Jahren. Aus dem Mädchen war eine junge Frau geworden, wunderschön, aber immer noch von unschuldiger Kindlichkeit. Was also tat sie an der Seite eines Ungeheuers wie Landru? Und warum hielt sie ein Kind in ihren Armen, auf dem Rahels Blick fassungslos ruhte? Etwas geschah. Tief in Lilith rührte sich etwas. Schloß sich eine
Verbindung. Lilith spürte … Wärme. Anders als alles, was sie je zuvor empfunden hatte. Fremd, und doch vertraut; ein Gefühl, von dem Lilith sich wünschte, es bewahren zu dürfen. Ihr Herz, vom Symbionten in pulsierender Bewegung gehalten, schmerzte, vage nur, und es war ein süßer Schmerz. Als sehne sich Lilith nach etwas zurück, das ihr genommen worden war. Das Kind … Das Kind in Rahels Armen! Was war mit ihm? Warum konnte Lilith sich auf nichts anderes mehr konzentrieren, warum hing ihr Blick wie gebannt daran? Das Kind … schrie. Nicht wirklich; nur in Liliths Gedanken. Ein Schrei, der sie wie ein Stich ins Herz traf! Daß sie den Schutz des Verstecks verließ, wurde Lilith kaum bewußt. Daß Darren Secada den Arm nach ihr ausstreckte, um sie zurückzuhalten, merkte sie nicht einmal. Sie mußte zu diesem Kind. Unbedingt! Weil dieses Kind nach Lilith rief. Als sei sie seine … Mutter?
* Die Zeit schien stehenzubleiben. Oder einen weiten Bogen um den Ayers Rock zu schlagen, den heiligen Berg nicht länger zu berühren, und auch nicht das, was in seiner Tiefe geschah. Landru selbst fühlte sich wie herausgelöst aus der Wirklichkeit. Er wußte nicht, was er erwartet hatte, nachdem das Kind geboren war. Aber er wußte, daß er es erkannt hätte, wäre alles so geschehen, wie es geschehen sollte. Es hätte Rahels fassungslosen Gesichtsausdrucks nicht bedurft, um ihm zu verraten, daß etwas ganz und gar nicht in ihrem Sinne lief.
Dieses Kind … Was war mit ihm? Landru wollte sich in Bewegung setzen, auf Rahel zugehen, als eine fremde Bewegung, die er aus den Augenwinkeln wahrnahm, ihn ablenkte. Automatisch wandte er sich in diese Richtung – – und brüllte auf, ganz der zürnende Gott, der er einmal gewesen war. Weil er jemanden sah, den er nie und nimmer hier erwartet hätte. Jemanden, dem all der Haß, dessen er fähig war, galt. »Hurenbalg!« gellte sein Schrei durch die Höhle. Und schon stürzte er auf Lilith Eden zu. Willens, ihr endlich zu bescheren, was sie von Anfang an verdient hatte. Den Tod.
* Landrus Schrei alarmierte Irina. Sie wirbelte herum – und sah. Sah ungleich mehr als das, was ihre Augen ihr zeigten. Irina schaute … die Wahrheit. Sie sah den tiefen Sinn der Prophezeiung, wußte, als würde es ihr eingeflüstert, was Lilith Edens plötzliches Auftauchen zu bedeuten hatte. Und sie erkannte, daß Landru im Begriff stand, alles zu verderben, wenn er Lilith Eden erreichte und seinen Zorn auf sie entlud! Ich darf es nicht zulassen! schrie es in Irina. Ich muß ihn stoppen, und wenn es mein eigenes Leben kostet! Sie sprang. Warf sich Landru in den Weg. Stellte sich schützend zwischen Landru und Lilith, die sich völlig unbeeindruckt zeigte, als würde sie nichts angehen, was um sie herum passierte. Mehr noch, als bekäme sie es nicht einmal wirklich mit. »Aus dem Weg!« knurrte Landru. »Laß sie!« rief Irina. »Du darfst ihr nichts tun. Sie ist –!«
Weiter kam sie nicht. Landru packte sie, hob sie an und schleuderte sie förmlich beiseite. Seine Kräfte waren immens. Irina wurde bis zur Wand getragen, prallte dagegen und rutschte zu Boden. Landru hatte Lilith fast erreicht. Irina mußte erkennen, daß sie ihn nicht mehr aufhalten konnte. Zu spät! gellte es in ihr. Du hast versagt! Alles ist verloren! »Nein!« schrie sie. Und dann: »Rahel! Halt ihn auf! Du mußt ihn stoppen!« Rahel schien wie aus einer Trance zu erwachen. Träge hob sie den Kopf, sah in Irinas Richtung, dann dorthin, wo Landru jeden Moment Lilith Eden erreichen mußte. »Hilf ihr!« rief Irina. »Sie ist jene, von der die Prophezeiung spricht!« Und Rahel reagierte.
* Landru schrie auf – aber der Schrei verließ seine Lippen nicht! Er erstarrte ihm im Halse – weil sein ganzer Körper plötzlich starr war. Rahel hatte ihm einmal mehr ihre Macht zu spüren gegeben. Hatte sie draußen, als er die Chimäre hatte töten wollen, lediglich Landrus Finger am Abzug gelähmt, so hatte sie nun seinen ganzen Leib gleichsam eingefroren. Warum? Um Lilith Eden zu retten? War Rahel denn verrückt geworden? Wußte sie nicht, mit wem sie es zu tun hatte? Das Hurenbalg würde den Plan gefährden, durch seine bloße Präsenz! Oder … nicht? Zur Bewegungslosigkeit verdammt, konnte Landru mitverfolgen, wie Lilith weiter auf Rahel zuging. Vor ihr blieb sie stehen. Streckte verlangend die Arme aus – und Rahel legte das Kind hinein …
* Lilith meinte auf einem heimlichen Pfad zu gehen, der parallel zur Wirklichkeit verlief. Sie hatte weder Auge noch Ohr für das, was um sie herum vorging. Ihr ganzes Streben, alle Aufmerksamkeit galt diesem Kind. Diesem Kind, das so jammervoll schrie – und dessen Schreie doch niemanden außer ihr anzurühren schienen. Vor Rahel blieb Lilith stehen, widmete ihr nur einen flüchtigen Blick. Weiterhin sah sie einzig dieses Kind an, das mit geschlossenen Lippen schrie … Verlangend streckte Lilith die Arme vor, und Rahel reichte ihr das Kind, dessen Haut so kalt war wie der Stein ringsum. Das Kind, das … tot war? »Nein«, flüsterte Lilith ergriffen. »Nein! Du darfst nicht … du mußt leben!« Und das Kind öffnete den winzigen Mund, entließ einen einzelnen, markerschütternden Schrei – – um dann wieder dem Tod anheimzufallen.
* Rahel zweifelte nicht daran, daß Irina die Wahrheit kannte und sprach. Deshalb hatte sie auch nicht gezögert, Lilith das Kind zu geben. Um so größer war ihre Enttäuschung, als das Kind nur kurz zum Leben erwachte, um gleich von neuem zu sterben. Dennoch, das Flämmchen der Hoffnung rührte sich wieder, tief in ihr und schwach nur, aber es brannte wieder. Rahel löste ihren Blick von dem toten Kind und sah Lilith an. Es dauerte eine Weile, bis auch die Halbvampirin, deren Blut Rahel ihr
Dasein verdankte, den Blick endlich hob und ihrer Kelchtochter ins Gesicht schaute. »Erkläre es mir«, verlangte Lilith. »Sage mir, was hier geschieht – und warum dieses Kind nicht leben darf.« Rahel lächelte traurig. »Weil du es nicht willst. Weil du nicht bereit bist, ihm sein Leben zu gewähren. Weil du … die Folgen fürchtest!« Die Folgen? Lilith schüttelte den Kopf. Sie konnte mit Rahels Worten nichts anfangen. Aber sie fühlte den magischen Moment. Die Gefahr, das persönliche Risiko, dem sie sich ausgeliefert hatte, als sie das Versteck verließ, stand nicht mehr im Vordergrund. Hier ging es um mehr; sehr viel mehr. Sie dachte an Darren – zum ersten Mal, seit sie Landrus verwahrloste Gestalt erkannt hatte. Hoffentlich hielt wenigstens er sich zurück. Und hoffentlich spürte keiner der hier anwesenden Vampire seine Gegenwart … »Du redest dummes Zeug«, sagte sie rauh. »Was habt ihr diesem Kind angetan? Und woher habt ihr es?« Heiseres Lachen lenkte Liliths Blick nach links, wo Landru stand. Hinter ihm rappelte sich die Vampirin auf, vor deren Augen Lilith in der Outback-Basis gestorben war. Landru ignorierte das zornige Fauchen Irinas. Zu Lilith hin knurrte er: »Woher wir es haben? Ich zeige es dir. Weil es dir verrät, was aus dir wird. Denn dieses Mal entkommst du mir nicht! Hier und heute wirst du für alles bezahlen, was du meinen Nachkommen angetan hast!« »Deinen Nachkommen?« Lilith spürte bereits am Ton, wie sehr sich dieser Landru von dem Landru unterschied, den sie zu kennen meinte. »Du hast die Kelchvampire als deine Nachkommen betrachtet?« »In jedem war ein Stück von mir …« Sie erinnerte sich. Er hatte einmal angedeutet, daß der Kelchhüter
bei der Bluttaufe ein winziges Segment seiner Seele mit einbrachte und an die Täuflinge weitergab. Sie wollte Landru gerade ihre Verachtung entgegenschleudern, als Rahel sich erneut an sie wandte und sagte: »So wie in jedem meiner Kinder auch ein Stück von dir ist!« »Von mir?« Lilith konnte nichts gegen den Impuls tun, der sie drängte, das Kind anzuschauen, das sie umklammert hielt, als müßte sie ihre Wärme darauf übertragen. Aber was für eine Wärme? War sie nicht selbst … tot? Mit einem Kopfschütteln löste sie sich aus dem Bann des zarten Totengesichts. Landru war inzwischen zu einer anderen Stelle der Höhle gegangen und lenkte Liliths Aufmerksamkeit nun durch einen knappen Ruf auf sich. Lilith drehte den Kopf. Und erkannte, was ihr bis dahin verborgen geblieben war. Nun sah sie, woher das Kind gekommen war. Und mit ihr erkannte es der Mann, der im Versteck geblieben war. Jedenfalls bis zu diesem Moment. »Seven? – Oh, ihr verdammten, abartigen Schweine …!« Die Stimme und das Geräusch knirschender Steine, die unter Stiefelsohlen wegrutschten, verriet genug. Lilith brauchte sich nicht umzudrehen – sie wäre in diesem Moment auch nicht dazu in der Lage gewesen –, um zu wissen, daß auch Darren sein Versteck verlassen hatte. Wie fest verankert hing Liliths Blick an dem Felsklotz, in den sich Landrus Hände gerade, von lautlosen Blitzen umtanzt, hineinsenkten. Sprünge bildeten sich darin. Dann stoben die Trümmer nach allen Seiten und gaben das frei, was sich bereits zuvor vage darin abgezeichnet hatte. Eine Frau. Seven van Kees!
»Sie ist – tot!« Die Unmenschlichkeit, die Seven widerfahren war, ließ Darren auch noch den letzten Rest von Vorsicht beiseite wischen. Er warf sich auf Landru. Daß er keine Chance gegen ihn hatte, war ihm in diesem Moment völlig gleichgültig! »Nein!« schrie Lilith. Sie hatte ein Gefühl, als würden sich die »Wurzelfäden« des Symbionten noch tiefer in sie bohren. »Sag ihm«, wandte sie sich an Rahel, »daß er nicht wagen soll, ihm etwas zu tun!« Sie nickte zu Darren hinüber, der sich völlig verausgabte, um Landru heimzuzahlen, was dieser getan hatte. Er machte ihn, wahrscheinlich zurecht, verantwortlich für Sevens Tod. Die Reporterin lag da, als wäre sie immer noch mit dem Fels verwachsen. Ihre Augen standen offen. »Er wird aufhören.« Rahel tat nichts Sichtbares. Aber Landru, der Darren spielerisch auf Distanz gehalten hatte wie einen kleinen, bissigen Kläffer, hielt plötzlich inne und sah zu ihr herüber. »Warum sollte ich ihn schonen?« fragte er. »Weil ich es sage.« Rahels Stimme klang, als wäre es für sie längst zur Routine geworden, Widerstände zu brechen. »Bring ihn zum Schweigen, aber verletze ihn nicht.« Landru verzog mißmutig das Gesicht, doch er folgte der Weisung. Seine Faust krachte gegen Darrens Schläfe. Der Pathologe sank bewußtlos zu Boden. »Nun zu uns«, fuhr Rahel, an Lilith gewandt, fort. »Wie ich sehe, bist du in Schwierigkeiten.« »Unverkennbar«, spottete Lilith, obwohl ihr keineswegs der Sinn nach Wortklaubereien stand. Rahel lächelte sonderbar. »Das meine ich nicht. Ich spreche von den Schwierigkeiten, die du schon mitgebracht hast. Denn eigentlich … bist du tot. Nur das Geschöpf, das an dir hängt, hält dich künst-
lich am Leben. Dachtest du, das bliebe mir verborgen?« Seltsamerweise hatte Lilith diesen Fakt tatsächlich verdrängt gehabt – zumindest war das Wissen um ihren Zustand im Strudel der jüngsten Ereignisse in den Hintergrund gerückt. »Wenn du so viel siehst und weißt, brauche ich dir nicht zu sagen, wie ich in diese … ›Schwierigkeit‹ geraten bin.« Rahel schüttelte den Kopf. »Es spielt keine Rolle. Aber ich werde dir ein Angebot machen.« »Ich werde keinen Handel mit dir abschließen. Schon einmal habe ich mich auf einen Pakt mit einem Teufel eingelassen. Ein zweites Mal wird mir das nicht passieren.« »Käme es nicht auf … das Angebot an?« »Nein!« »Das glaube ich nicht. Denn …«, in Rahels braunen Augen wogte plötzlich eine Schwärze auf, die genauso aussah wie der Himmel über dem Ayers Rock, »… ich biete dir ein neues Leben an! Ohne dieses Korsett, das deine Körperfunktionen aufrecht erhalten muß. Ich kann dir dein altes Leben wiedergeben. Wenn …« Lilith hatte wie paralysiert zugehört, erkennend, daß die Tragweite des Angebots sie schwankend machte. »Wenn?« »… du ihm und seinen Brüdern und Schwestern das Leben schenkst.« Rahels Blick ruhte auf dem Kind in Liliths Armen. Der stummen Ikone des Bösen.
* Lilith legte das Kind sacht auf dem Boden ab. Es sah nicht aus wie ein Monster. Aber dieser Schein mochte trügen. Gleichzeitig war da ein Band zwischen ihr und dem Kind. Immer noch. Eine unerklärliche Verbindung, die es zumindest denkbar erscheinen ließ, daß Rahel recht hatte, wenn sie der Auffassung war,
Lilith könne das Kind ins Leben holen, wenn sie es nur stark genug wollte. Und was hatte Irina vorhin geschrien? Es wurde Lilith erst jetzt richtig bewußt: Hilf ihr! Sie ist jene, von der die Prophezeiung spricht! »Du lehnst ab?« fragte Rahel, als Lilith sich wieder aufrichtete, das Totgeborene vor ihren Füßen. »Ich traue dir nicht.« »Aber …«, Rahel schürzte die Lippen, und für einen Moment wirkte sie wie ein in seiner Ehre gekränktes Mädchen, »… ich bin deine Tochter! Gabst du mir nicht dein Blut, um mir mein Leben als ganz normales Menschenkind zu rauben?« Groß starrten die Augen des Mädchens Rahel Lilith an. So wie sie damals in Jerusalem geblickt hatten, als Anum ihm den Trunk an die Lippen gesetzt und eingeflößt hatte. Es war daran gestorben. Und Lilith hatte es nicht verhindert. Eine meiner Sünden, dachte sie. Ich habe oft versagt. Sie fürchtete sich, erneut einen Fehler zu begehen, dessen Folgen sie nicht in der Lage war zu überblicken. »Es ist wahr. Ich habe mich schuldig gemacht an dir«, antwortete sie. »Dann solltest du auch endlich akzeptieren, daß unser beider Schicksal miteinander verflochten ist! Ich habe es auch erst mit Irinas Hilfe durchschaut. Sie ist die Zeichensetzerin. Sie ist durchströmt von der Kraft der Prophezeiung, die den heutigen Tag voraussagte!« Liliths Blick wechselte zu Irina, die in devoter Haltung – unterwürfiger als Landru – in der Nähe stand und Rahels Worte in sich aufsog, als seien sie das Evangelium. Das neue Evangelium, von dem die Welt draußen erst noch erfahren mußte. »Ich habe einige der ›Zeichen‹ gesehen, die sie mit der Hilfe ande-
rer Wahnsinniger setzte«, sagte Lilith. »Aber niemand kann mir weismachen, daß das, was hier geschieht, höhere Fügung ist. Etwas, das vorausbestimmt war. Dir ebenso wie mir oder Irina. Oder … ihm.« Wieder fand ihr Blick Landru, der schrecklich aussah. »Hast du«, wandte sie sich an Rahel, »ihn auch erweckt?« »Das habe ich.« Liliths Mundwinkel sanken voller Bitterkeit nach unten. »Dann brauche ich keinen Gedanken über dein Angebot zu verschwenden. So möchte ich nicht werden. Niemals. Dagegen ist meine jetzige Verfassung geradezu paradiesisch!« Rahel schüttelte den Kopf. »Du würdest nicht werden wie Landru. Und auch nicht wie die anderen Toten, die ich erweckte. Denn du warst nicht tot wie sie. Dein Symbiont hat dich vor dem Verfall gerettet.« »Ich glaube dir nicht.« »Und wenn ich es dir beweise?« »Wie?« »Indem ich meine Leistung erbringe, bevor du die deine erbringst.« Lilith schloß die Augen. Ihr schwindelte. Der Einsatz des Symbionten war spürbar. Von Stunde zu Stunde mehr, so als würde es ihm immer größere Anstrengung bereiten, ihren Organismus in Gang zu halten. Vielleicht brauchte er auch schon wieder eine Stärkung … Lilith stieg über das Totgeborene hinweg und überbrückte die Distanz zu Rahel. Insgeheim stiftete sie den Symbionten an, sich an Rahel schadlos zu halten. Aber er reagierte nicht. Vielleicht, weil Rahels Blut schwarz war und er vampirisches Blut verpönte … »Was ist?« fragte Rahel. »Bist du einverstanden?« »Vorhin sagtest du: seine Brüder und Schwestern. Wie viele Leben hast du zerstört? Wie viele außer Seven tragen noch deine Brut
aus?« »Viele. Insgesamt sind es hundert Kinder.« Lilith nickte. »Das dachte ich mir. Und ihnen allen soll ich ebenfalls ins Leben helfen?« Rahel sah sie mit beinahe unschuldigem Blick an. »Ist das ein zu großes Opfer für dein Leben?« Verbittert erkannte Lilith, daß sie recht hatte. Wenn sie selbst nicht für alle Zeiten wie ein Zombie umherirren wollte; wenn sie ihren eigenen Körper wieder fühlen und nicht ständig auf den Symbionten angewiesen sein wollte, blieb ihr gar keine Wahl. Dies war die einzige Chance, die sie hatte. Rahel nickte. »Ich sehe, du hast dich entschieden.« Und Lilith nickte stumm. Als sie sich umdrehte, sah sie, daß Irina hingegangen war und das Kind aufgehoben hatte. Sie wiegte es im Arm wie die täuschend echt nachgebildete Puppe eines Säuglings. Das Bild war kaum zu ertragen. Lilith wies zu Darren, der das Bewußtsein noch nicht zurückerlangt hatte. »Ich stelle weitere Bedingungen«, forderte sie. »Er interessiert mich nicht«, sagte Rahel. »Er gehört dir. Behalte dein Spielzeug.« Vielleicht waren es diese Worte, die Lilith endgültig begreifen ließen, nicht mehr Rahel Chaim vor sich zu haben, sondern nur noch ein von Kelchmagie verseuchtes, in völlig anderen Mustern denkendes Geschöpf. Das Gnade nur dann kannte und walten ließ, wenn ein Gegenwert dafür heraussprang. »Draußen, am Fuß des Ayers Rock, steht ein Wagen«, fuhr sie fort. »Ich werde Darren wecken und ihm befehlen, von hier zu verschwinden. Wenn er eine Stunde Vorsprung hat, können wir beginnen.« »Eine Stunde?« fauchte Landru.
Rahel brachte ihn zur Räson. »Du hast gehört, was sie verlangt. Weck ihn auf.« »Aber –« »Für den Tod ist eine Stunde ohne Belang«, sagte Rahel. »Mein Sohn wird darunter nicht leiden.« Ihr Sohn, dachte Lilith. Es rieselte ihr kalt über den Rücken, denn die Ahnung, daß sie im Begriff war, zu den Fehlern der Vergangenheit einen weiteren hinzuzufügen, legte sich immer erstickender auf ihre Brust. Aber sie revidierte ihren Entschluß nicht. Ihre Hilfe gegen Darrens Leben – und das eigene noch dazu – erschien ihr ein vertretbarer Preis. Doch das Unbehagen blieb. Sie sah zu, wie Landru Darren wachschüttelte. Verwirrt kam er zu sich. Lilith ging zu ihm und verabschiedete sich mit einem kurzen Kuß von ihm. »Schsch!« machte sie, als er etwas sagen wollte. »Mir bleibt keine Zeit für Erklärungen. Bitte hör auf mich: Verlasse die Höhle, steig in den Jeep und fahr davon, so schnell es geht. Wenn du bleibst oder zögerst, wirst du sterben.« »Was ist mit dir?« begehrte Darren auf. Lilith schüttelte den Kopf. »Ich bleibe hier, aber mir wird nichts geschehen. Und nun geh!« Als er aufstand und zum Höhlenausgang lief, hatte sie zusätzlich den hypnotischen Befehl in ihm verankert, so schnell wie möglich in die nächste Stadt zu fahren und sich dort vierundzwanzig Stunden versteckt zu halten, bevor er versuchen sollte, in sein altes Leben nach Sydney zurückzukehren. Während Darrens Schritte verhallten, ging Lilith zu Seven van Kees. Ohne Rahel anzusehen, fragte sie: »Was kannst du für sie tun?« »Ich kann sie erwecken. Aber dann ist sie eine Vampirin. Willst du
das?« »Eine andere Möglichkeit gibt es nicht?« »Nein. Nur menschliches Blut erhält das Leben, das ich zu schenken vermag. An deinen schlechten Gewohnheiten ändert sich also nichts.« Lilith überlegte, ob die letzte Bemerkung ein Anflug von Schwarzem Humor war. Aber sie ging nicht darauf ein. Sie setzte sich neben Sevens Leichnam und lauschte dem Heulen des Sturms, der draußen unverändert tobte. Sie hoffte, daß Darren es schaffte, und rechnete damit, ihn niemals mehr wiederzusehen. So verrann die Frist, die sie Rahel gesetzt hatte. Und der Moment der Entscheidung kam.
* Darren Secada fuhr, als säße ihm der Teufel im Genick. Ich will nicht, dachte er. Und trat das Gaspedal des Jeeps noch tiefer durch. Staub wirbelte auf, roter Staub, der von den stürmischen Winden sofort davongepeitscht wurde. Der Himmel glühte in jenseitigen Farben. Im Rückspiegel wurde der Ayers Rock kleiner. Aber die Säule, die ihn mit dem brodelnden Himmel verband, schwoll immer gigantischer an. Sie hatte beinahe den Durchmesser des roten Felsens erreicht … In die nächste Stadt … Verstecken … Dann heim … Immer wieder, unaufhörlich, soufflierte eine Stimme Darren, was er zu tun hatte. Es war Liliths Stimme. Sie steckte in seinem Kopf. Beschwor ihn, seine Chance zu nutzen. Und sie? Auf welchen Handel hatte sie sich eingelassen, damit man ihn entkommen ließ?
Im Fahren drehte Darren den Kopf. Aber zu wenden und zu Lilith zurückzufahren, war er nicht fähig. Er war auf der Flucht, feige auf der Flucht! Ich werde sie niemals wiedersehen, dachte er. Allmächtiger Gott, was geht dort im Felsen vor? Warum mußte Seven sterben? Und warum – Seine Gedanken gerannen, als hinter ihm die Säule explodierte. Als der Himmel – aufriß! Geblendet schloß Darren die Augen. Fuhr blind weiter. Wie lange war es her, daß er die Sonne gesehen hatte? Die Sonne an einem klaren Himmel, von keinem Mahlstrom aus düsteren Wolken versteckt? Fassungslos sog er die Idylle in sich auf. Die Welt sah aus wie blankgeputzt, wie befreit von dem unheimlichen Würgegriff, der sie seit Tagen umklammert gehalten hatte. Als er das nächste Mal hinter sich blickte, ruhte der Ayers Rock in der hitzeflimmernden Ödnis des Outbacks, wie ihn die Aborigines schon vor Jahrtausenden gesehen haben mochten. Imposant. Geheimnisvoll. Aber nicht mehr wie ein Zentrum unermeßlicher Gefahr … Was ist passiert? Die Stille gab ihm keine Antwort, selbst auf die quälendsten Fragen nicht. Aber etwas war geschehen. Wie damals im Taronga-Zoo, als die Chimären zum Leben erwachten … Darren steuerte den Jeep unbeirrbar weiter. Er konnte nicht anders. Weil er der Programmierung gehorchen mußte, die Lilith in ihm verankert hatte. Um ihn zu schützen und zu retten. Wenigstens ihn …
* Lilith stieß Rahel angeekelt von sich. Daß ihr Kuß so sein würde,
hatte sie nicht erwartet. Er ging ihr durch und durch. Wie kriechender, marternder Strom. Doch dann – »Wie fühlst du dich?« »Beschmutzt!« Es war eine Lüge, und Rahel wußte es. »Und wie fühlst du dich wirklich?« fragte sie. Rahel mußte sehr von sich und ihren Fähigkeiten überzeugt sein. Völlig zu Recht … Ein neuer, anderer Schmerz durchpulste Lilith. Schmerz, der Hoffnung machte: Der Symbiont zog sich aus ihr zurück! Lilith verfolgte das Geschehen in sich, solange es dauerte. Ihre Augen ließ sie geschlossen. Sie wollte Rahel keinen Einblick auf das gewähren, was in ihrem tiefsten Innern vorging. Gleichzeitig hegte sie jedoch den Verdacht, daß sie es der Vampirin gar nicht vorenthalten konnte. Als sie die Augen wieder öffnete, war es, als kehre sie nach einem langen Aufenthalt in tiefster Finsternis ins Licht zurück. Das Empfinden, eine lebende Tote zu sein, war von ihr gewichen. Ihre Lungen pumpten Sauerstoff durch ihren Organismus. Ihr Herz schlug, ganz ohne Hilfe des Symbionten. Sie lebte! Wirklich und wahrhaftig! Doch das Glücksgefühl, das Lilith überkam, währte keine Sekunde. Die Wirklichkeit holte sie allzu schnell ein. Landru reichte ihr das Kind. »Nun bist du an der Reihe. Erweise dich meines Atems würdig«, sagte Rahel. Lilith zögerte. Sie fühlte sich nicht nur von einem bösen Trauma befreit, sondern insgesamt stark. Durchaus in der Lage – »Daran solltest du nicht einmal denken«, zischte Landru. »Was?« Lilith gab sich ahnungslos. »Es mit uns aufnehmen zu können.« Rahel pflichtete ihm bei. »Glaub ihm. Auch zu fliehen hat keinen Sinn. Du würdest nicht einmal aus dem Berg herauskommen. Du
mußt bleiben und deine Schuld begleichen.« Ungeduldig präsentierte Landru ihr das Kind zum zweiten Mal. Lilith hob die Arme, so daß er es hineinbetten konnte. »Ich weiß nicht, wie ich tun soll, was ihr von mir erwartet …« »Du kannst es!« »Wie?« »Berühre es mit deiner Hand und deinem Herzen. Gönne ihm sein Leben!« Lilith war immer noch immer nicht sicher, ob sie genau dies konnte. Dennoch ertappte sie sich dabei, daß das tote Kind sie rührte. Und während ihr Tränen in ihre Augen stiegen, wurde ihr klar, wie gut sie sich in den kleinen Leichnam hineinversetzen konnte. Im selben Moment glaubte sie das Kind wimmern zu hören. Erst leise, dann aber lauter und lauter werdend, bis … … auch die anderen es hörten. Der Mund des Kindes öffnete sich, die Züge verzerrten, und dann vibrierten die Wände der Höhle unter dem Geschrei, das – – so abrupt wieder verstummte, wie es begonnen hatte. Die Plötzlichkeit ließ Lilith befürchten, daß es zu mehr als diesem Schrei erneut nicht gereicht hatte. Aber die Bewegung in ihren Händen belehrte sie eines Besseren. Das Kind strampelte. Und biß zu! Völlig unerwartet gruben sich seine Zähne in Liliths Arm. Zähne – ein Neugeborenes! Gewaltsam schaffte sie es, sich zu befreien. Die Wunde an ihrem Arm schloß sich. Und als sie in das Gesicht des Kindes blickte, hätte sie geschworen, nie einen glückseligeren Ausdruck an einem Säugling bemerkt zu haben. Während es mit der Zunge nach den Spuren des guten Blutes außerhalb seines Mundes forschte …
*
Draußen war es still geworden. Unnatürlich still. »Es ist vollbracht«, sagte Rahel. Der Satz brannte wie Feuer in Liliths Hirn. »Wohin … bringt er es?« Sie blickte Landru nach, der mit dem Kind durch einen Stollen aus der Höhle verschwand. »Es braucht Nahrung«, antwortete Rahel. »Es ist hungrig. Das hast du gerade zu spüren bekommen.« »Aber –« »Landru hat vorgesorgt. Er hat die Aufgabe, sich um die Kinder zu kümmern, von mir schon unmittelbar nach unserer Ankunft auf diesem Kontinent erhalten. Er hat auch Vorsorge getroffen, daß genug Nahrung vorhanden ist.« Eisig kalt lief es Lilith den Rücken herab. »Was heißt das?« »Er hat Vorräte angelegt, in einem anderen Bereich des Berges. Lebende Vorräte.« »Menschen?« »Natürlich! Meine Kinder begnügen sich nicht mit … Vieh.« Die Schwerkraft unter Liliths Füßen schien sich von einer Sekunde auf die nächste zu verdoppeln. Sie fühlte sich außerstande, einen Schritt zu tun. Wohin auch? »Und nun? Wie wird es weitergehen?« »Du wirst deine Pflicht erfüllen. Und danach wieder frei sein.« »Du willst mich wirklich laufen lassen?« »Warum sollte ich meine Mutter betrügen?« »Weil deine Mutter dich jagen wird. Überall auf der Welt. Dich und deine schrecklichen Kinder, von denen ich gar nicht wissen will, wie schrecklich sie sein werden!« »Vielleicht ist es unklug, mir zu drohen …«, sagte Rahel leise. Dann schwieg sie. Es wurde totenstill in der Höhle.
»Das Unwetter hat sich verzogen«, wechselte sie unvermittelt das Thema. »Für die Welt wird es aussehen, als sei sie noch einmal davongekommen.« Lilith starrte sie an. Davongekommen, echote es in ihr. Ich wünschte, das wäre ich auch …
* Das Kind stellte sich anfangs noch ungeschickt an. Es tötete sein Opfer. »Das nächste Mal wird es besser«, versprach Landru. Er wies zu einer anderen Frau, die sich ängstlich in die Ecke des Kerkers verkroch. Es würde ihr nichts nützen. Das Kind löste schmatzend den Mund von der erkalteten Quelle. Landru nickte und sagte: »Ich werde dich Anum nennen. Ich kannte einmal jemanden, der so hieß. Es ist ein guter Name.« Der Junge sah ihn nachdenklich an. Dann nickte er. Er war sehr verständig und groß. Viel größer als vor ein paar Minuten …
* Nein. Lilith Eden fror innerlich. Und es hatte nichts mit der Kälte zu tun, die im Ayers Rock herrschte. Nein! Sie durfte es nicht zulassen. Sie mußte etwas tun, etwas unternehmen gegen … ihre Tochter. »Nein.« Rahel wandte den Kopf und sah in Liliths Richtung. »Was meinst du?« fragte sie.
»Du bist nicht meine Tochter, nicht wirklich«, sagte Lilith. Es klang weniger nach einer Feststellung als vielmehr wie ein Wunsch. »Natürlich bin ich das«, behauptete Rahel. »Ich bin von deinem Blute.« »Der Kelch hat mein Blut verändert«, meinte Lilith. Unauffällig ging sie näher an Rahel heran. »Es hatte nichts mehr mit dem zu tun, das in meinen Adern floß. Und außerdem war ich zur Zeit deiner Kelchtaufe nicht ich selbst. Wäre ich Herrin meiner Sinne gewesen, würde ich dieses Unglück nie zugelassen haben.« »Es war kein Unglück. Es war … Bestimmung, wenn du so willst. Ganz gleich, in welcher Verfassung du gewesen wärst, du hättest nichts dagegen tun können. – Akzeptiere endlich die Wahrheit … und die Rolle, die du darin spielst, Mutter.« »Nenn mich nicht so, du …!« »Ja?« »Vergiß es.« Lilith winkte ab, tat so, als wollte sie sich resignierend umwenden – – und dann, schon halb herum, wirbelte sie doch wieder in Rahels Richtung! Griff blitzschnell zu, wollte Rahels Kopf packen, ihr den verdammten Schädel auf den Rücken drehen und – Es blieb beim Wollen. Obwohl Rahel nichts zu ihrer Rettung unternahm, keinen Versuch mehr starten konnte, Liliths Angriff auszuweichen. Denn sie wurde gerettet. Jemand öffnete ihr eine »Tür« und holte sie zu sich. Zerrte sie aus dieser Wirklichkeit hinaus auf einen Pfad, der durch eine Zeit führte, die ewig war und immer ist. Und jenseits menschlichen Vorstellungsvermögens liegt. Die Traumzeit. Lilith wußte es in dem Moment, da sie sah, wer Rahel beistand – und sie hatte das absurde Gefühl, daß Rahel es selbst nicht begriff;
daß sie meinen könnte, es aus eigener Kraft zu schaffen. Nur ein flüchtiger Blick war ihr vergönnt in das Gesicht desjenigen, der Rahel half, als sei er ihr Freund. Aber das war er nicht. Konnte er nicht sein, war er doch, so wie Lilith ihn kennengelernt hatte … … niemandes Freund.
* Rahel blieb verschwunden. Und Lilith begann sich bald zu fragen, was Esben Storm tatsächlich im Schilde führte. Hatte er Rahel Chaim gerettet oder Lilith nur die Arbeit abgenommen? Und was waren seine Beweggründe – im einen wie im anderen Fall? Lilith konnte darüber nur spekulieren. Eine Antwort erhielt sie nie. Die Zeit, wie sie draußen galt, schien im Ayers Rock ohne Bedeutung. Für Lilith war es, als würden endlose Tage und Nächte vergehen. Aber die Zeit als solche kümmerte sie nicht. Nur das, was sie zu tun hatte. Und derjenige, der ihre einzige Gesellschaft war in dieser Zeit. Glücklicherweise kam und ging Landru nur, ohne lange zu bleiben. Er brachte Lilith die totgeborenen Kinder, ließ sie vom Tode erwecken und schaffte sie wieder fort. Ins Nest, wie er sagte. Ob das Nest im Berg lag oder sonstwo, erfuhr Lilith nie. Sie wollte es auch gar nicht wissen. Noch nicht. Obwohl sie wußte, daß sie jedes der Kinder eines nicht mehr allzu fernen Tages wiedersehen wollte. Und mußte. Um die Welt von ihnen zu befreien …
Epilog Nahe Birdsville, Australien 1. Januar 2001 Aus dem hageren Gesicht sproß ein brustlanger Bart, von Silbersträhnen durchwoben. Die Augen lagen weit zurückgesetzt in den Höhlen und glommen angsteinflößend. »Mum!« Benji Dodger rutschte unbehaglich auf seinem Lieblingsplatz hin und her und konnte den Blick nicht von dem Gesicht lassen, das ihm von der Wand des Wohnzimmers entgegenstarrte. Und dabei sprach. Eindringlich. Und sonderbar … Benji saß schon seit einer geschlagenen Stunde vor dem Multimediaprojektor und surfte abwechselnd auf den Kanälen der TV-Sender und den Seiten des Internet. Als seine Mutter seinem Ruf folgte und aus der Küche kam, wo sie das Mittagessen für die Familie bereitete, bemerkte sie zunächst, daß Benjis Hand mit der Fernbedienung zitterte. »Was schaust du dir wieder –?« Sie verstummte, als sie den Mann bewußt ansah, der ihren sechsjährigen Sohn ganz unverkennbar das Fürchten lehrte – und das, obwohl Benji nicht unbedingt zu den zartbesaitetsten Kindern gehörte. Lindsay Dodger war routiniert genug, um sofort zu begreifen, daß Benji sich einer Talkshow zugeschaltet hatte. Und der Mann, der immer noch in Großaufnahme gezeigt wurde, schien nicht der Talkmaster zu sein, sondern ganz offenkundig ein Gast. Ein wortgewaltiger Gast, der dem Moderator mühelos die Schau stahl. Sich in den Vordergrund spielte.
Seine Stimme hatte Feuer, und was er sagte, schockte selbst Lindsay, die vom Wust täglicher Schreckensmeldungen noch viel abgestumpfter war als ihr Sohn. »… werden wir nachts in unseren Betten liegen und nicht wissen, ob wir die nächsten sind, die sie holen!« sagte er gerade, den Blick bohrend in die Kamera gerichtet, als könnte er jedem einzelnen, der seinen Auftritt verfolgte, persönlich ins Gewissen reden. An dieser Stelle erschien eine Einblendung unter seinem Konterfei, in der er für die Zuschauer vorgestellt wurde, die erst später eingeschaltet hatten: Glaubt, stand dort in fetten Buchstaben, der wiedergeborene Rasputin zu sein. Rasputin … Lindsay Dodger schüttelte unwillig den Kopf. Daß die Verrückten nie ausstarben! Trotzdem verfolgte sie noch eine Weile, wie der falsche Prophet die Leute verdummte – sie eingeschlossen. Er war so einnehmend in seinem Auftreten, daß sie sogar ihren kleinen Sohn vergaß. »Rasputin« sprach von einer düsteren Zukunft, die den Menschen des neuen Jahrtausends drohte – allen Menschen –, weil blutsaugende Monster die Herrschaft an sich reißen und sogar die Kirche vernichten würden … An dieser Stelle mußte Lindsay, die eine überzeugte Katholikin war, unweigerlich an die Tragödie denken, von der die Kirche vor wenigen Tagen tatsächlich heimgesucht worden war. Der VatikanBrand, der Sturz des Papstes … Man muß ein verdammter Bastard sein, wenn man gerade jetzt mit den Ängsten der Gläubigen Schindluder treibt, dachte sie erbost. Sie beugte sich vor und riß Benji die Fernbedienung aus der Hand. Mitten im Wort verschwand »Rasputin«. »Mum!« Es dauerte Sekunden, bis sie merkte, warum Benji sie so anstarrte: Sie zitterte noch stärker als er, wie Espenlaub.
Benji stand auf und schmiegte sich eng an sie. »Mum, ist es wahr, was der Mann sagte? Müssen wir … Angst haben, daß sie uns holen?« »Sie?« »Die Monster!« Lindsay verkrampfte. »Es gibt keine Monster! Vergiß, was du gehört hast. Der Mann war ein … ein Idiot! Ein …« Das Wort Bastard sprach sie nur für sich selbst aus. Ihr Blick wanderte an der erloschenen Projektionsfläche vorbei zum Fenster. Seit der unerklärliche Sturm in der Neujahrsnacht aufgehört hatte, drückte wieder die Hitze auf das Land. Schon vormittags war es so heiß, daß sie Benji nicht mehr nach draußen ließ, um zu spielen. Auch wenn er in den Pausen, die er nicht vor dem Fernlehrer verbrachte, zuviel fernsah. »Mum …!« Diesmal war es die Stimme von Benjis älterer Schwester Kimberley, die rief. Von oben aus ihrem Zimmer. Sie mußte liegen; der Arzt hatte es ihr verordnet. Ihre Schwangerschaft verlief nicht ganz komplikationslos. Der Flying Doctor, der sie hier draußen auf der abgelegenen Outback-Farm betreute, befürchtete eine Fehlgeburt. Langsam befreite sich Lindsay von der Umarmung ihres Sohnes, tätschelte ihm noch einmal aufmunternd den Kopf und wandte sich dann der Treppe zu, um hinaufzugehen. Dank Kimberley hatte sie bereits wieder verdrängt, was sie gerade gesehen und gehört hatte. Ich wünschte, dachte sie, während sie die Stufen erklomm, sie würde es endlich sagen. Wir würden ihr bestimmt nicht den Kopf abreißen. Es kann eigentlich nur Joe sein, unser Vorarbeiter, der ihr das Kind angehängt hat. Bill ist viel zu alt, und sonst kommt doch so gut wie keiner hier vorbei … Auch Kimberley besuchte keine normale Schule, sondern wurde via Fernkolleg unterrichtet. Die Kontakte, besonders zum anderen Geschlecht, waren entsprechend begrenzt. »Mum, mir ist übel«, sagte Kimberley, als ihre Mutter das Zimmer
betrat. »Und so heiß. Kannst du die Klimaanlage etwas höher drehen?« »Natürlich, Kleines.« Mit Sorge bemerkte Lindsay, wie blaß ihre Tochter war. Und daß ihr Bauch schon wieder ein Stückchen dicker geworden war. »Naschst du auch wirklich nicht heimlich?« fragte sie. »Ich schwöre es, Mum.« Kimberley hob drei Finger zum Schwur. »Mum …?« »Ja?« »Es macht mir Angst.« Lindsay fühlte sich an die Worte ihres Sohnes erinnert. Angst, dachte sie. Verdammt. Es gibt keinen Grund, sich zu fürchten! Unten schlug eine Tür. Archer kam heute früher heim als sonst … »Muuuummm!« Lindsay schrak aus ihren Gedanken und sah, daß Kimberley Schaum vor dem Mund hatte. Stoßweise atmete. Und immer wieder aufbrüllte, als bekäme sie ein Messer in den Leib gerammt. »Mum, ruf den Doc! Er muß –« Ihre Stimme versiegte. Weil sie sich aufbäumte und keine Luft mehr zum Reden hatte. Lindsay stand wie vom Donner gerührt. Benjis kurzer Angstschrei, der viel zu plötzlich verstummte, drang kaum in ihr Bewußtsein. Sie fand erst wieder in die Realität zurück, als eine Stimme hinter ihr sagte: »Kann ich helfen?« Eine fremde Stimme. Erschreckender als die des falschen Rasputin. Lindsay wirbelte herum. So traf der Schuß sie in die Brust, nicht in den Rücken. ENDE
Selbstmord eines Vampirs Leserstory von Marko Tesch Kelly sitzt auf einer Bank im Park, neben ihr Jack, ihr Freund. Von weitem könnte man denken, da kuscheln zwei Liebende, doch Jack ist tot. Seine Kopf ruht auf ihrer Schulter. In wenigen Minuten wird die Sonne aufgehen, und dies wird auch ihr Tod sein. Dann sind sie wieder zusammen. Kelly ist ein Wesen der Nacht, das sich vom Blut der Menschen ernährt. Sie ist gestorben, um wiedergeboren zu werden – geboren in ein Leben der Dunkelheit. Sie hat ihn geliebt. Menschen sind so unwissend. Sie sind der Meinung, Vampire wären nicht fähig zu irgendwelchen Emotionen. Doch sie liebt ihn, war seinetwegen sogar bereit, sich von den Ihrigen zu trennen. Aber ihre Familie ließ dies nicht zu. Gestern Abend zeigte Kelly ihm ihr wahres Gesicht – und Jack blieb trotzdem bei ihr. »Die Macht der Liebe«, so sagte er, »hebt alle anderen Emotionen auf.« Noch in derselben Nacht beschlossen sie, dieser Stadt den Rücken zu kehren … Sie erhoben sich von dem großen Bett, in dem sie sich geliebt hatten, als Kelly mit einemmal zusammenzuckte. »Schnell, zieh dich an!« Jack sah verdutzt in ihr verängstigtes Gesicht. »Beeile dich, du bist in Gefahr!« Sie schrie jetzt fast. Er tat, was sie ihm gesagt hatte. Seine Beine fuhren in die Hose, der Pullover war auch schnell übergezogen.
Kelly stand schon angezogen an der Tür. Er schaute sie fragend an, doch sie winkte nur ab und riß die Tür auf. Beide rannten die Treppe hinunter und erreichen den Ausgang des Hauses. Scheiben klirrten. »Sie sind schon da«, sagte sie leise. Die Straßen waren hell erleuchtet. Kelly zog Jack mit sich, und er stolperte hinter ihr her. »Sie wissen es, sie wissen es«, stammelte sie immer wieder. »Was wissen sie, und wer sind die?« fragte Jack. »Daß ich mit dir zusammen bin. Sie sind meine Familie. Ich meine, sie waren es. Jetzt bist du meine Familie.« Sie gab ihm einen flüchtigen Kuß, und schon ging die Flucht weiter. Kelly spürte die Gegenwart der Vampire: Die Geschöpfe der Nacht beobachteten sie! Und dann hasteten sie um eine Ecke und fanden sich in einer dunklen Gasse wieder. Abrupt blieb das Pärchen stehen. Erst jetzt fiel ihnen auf, daß es angefangen hatte zu regnen. In der Schwärze der Gasse glitzerten Pfützen wie kleine Lichtblitze. Tropfen schlugen hart auf die Oberfläche der Pfützen. Kelly erstarrte, drehte sich um, wollte wieder zurück, doch jemand versperrte ihnen den Rückweg. »Nein! Laßt uns doch in Ruhe.« Verängstigt und voller Wut wich Kelly zurück. »Du weißt, daß wir das nicht können«, kam die Antwort aus der Dunkelheit der Gasse. »Du hast das Gesetz gebrochen!« Kelly wußte genau, wer diesen Satz ausgesprochen hatte. Kerius, das Oberhaupt der hier ansässigen Sippe, stand mit verschränkten Armen da, umringt von drei seiner Söhne. Jack sah zu Kelly. Er wunderte sich nicht darüber, daß sie zielgerichtet in die Dunkelheit starrte, die für ihn selbst undurchdringlich war. Sie hatte ihm von den Fähigkeiten der Vampire erzählt. Er wunderte sich aber, warum sie so verängstigt war. Schließlich ist sie doch unsterblich, dachte er. Dann begriff er: Es ging
um ihn! Jack starrte in die Finsternis, konnte aber noch immer nichts erkennen. Trotzdem erhob er seine Stimme. »Warum wollt ihr mich töten? Ich liebe Kelly und würde ihr keinen Schaden zufügen.« »Wir lassen nicht zu, daß ein Vampir eine Verbindung mit einem Menschen eingeht«, kam die Antwort aus dem Dunkeln. »Das haben wir bereits getan!« begehrte Kelly auf. »Und das war sein Todesurteil«, bekam sie zur Antwort. Ein Wink vom Kerius, und die Blutsauger stürzten sich auf das Pärchen. Sie wurden voneinander getrennt. Kelly versuchte sich loszureißen, doch vier kräftige Pranken hielten sie. Ihr gegenüber wurde Jack von zwei weiteren Vampiren festgehalten. Deren Gesichter waren zu Fratzen verzerrt. »Ich gebe dir die Gelegenheit, deinen Fehler selbst zu bereinigen.« Kerius packte Jack grob am Kopf, neigte ihn so, daß sein ungeschützter Hals in Kellys Richtung wies. Das Blut in Jacks Ader schien schneller und immer schneller zu pulsieren. »Nein, niemals! Ich liebe ihn doch!« Jack hätte es sich nicht träumen lassen, daß ein Vampir weinen konnte, aber über Kellys Wangen rollten tatsächlich zwei Tränen. Sogar Kerius stutzte, als er es bemerkte. »Die Macht der Liebe ist stark«, sagte das Oberhaupt der Vampirfamilie mit einem fast weichen Unterton in der Stimme. Dann jedoch fügte er hinzu: »Aber nicht stark genug!« Dies sollten die letzen Worte sein, die Jack in seinem Leben hörte. Jemand riß ihm mit spitzen Zähnen die Schulter auf. Er spürte, wie das Blut aus ihm heraussprudelte. Rauhe Lippen umschlossen die Wunde, und ein Sog unterstützte das Blut, seinen Körper zu verlassen. »Ich liebe dich, Kelly«, kam es noch gequält über seine Lippen, dann stürzte er in die Schwärze einer Ohnmacht. »Neiiiin!« Kelly brach in die Knie, den Mund vor Schmerz verzerrt.
Kerius schaute auf, seine Lippen verschmiert mit rotem, warmem Blut, das noch leicht dampfte in der Kühle der Nacht. Dann drehte er Jacks Kopf auf den Rücken, und das Brechen des Halses hallte in der Gasse wieder. Wie ein Stück Fleisch klatschte der leblose Körper hart auf den Boden der Gasse. Kellys Blicke blieben starr auf Jack gerichtet. »Die Sonne geht gleich auf; ziehen wir uns zurück«, hallte Kerius’ Stimme zwischen den Mauern wider. Flügelschläge entfernten sich, doch Kelly hatte einen Entschluß gefaßt. Ihr würde niemand mehr Schmerzen zufügen. Nie mehr! Sie trat zu Jack, nahm ihn auf ihre Arme, dann wandte sie sich in Richtung Stadtpark … »Ich habe nicht mehr gewußt, wie wunderschön das Morgenrot ist. Gleich sind wir beide wieder zusammen.« Die ersten Sonnenstrahlen berühren Kelly. Ein Schmerz durchzuckt ihren Körper. Dampfwolken, die nach verbrannten Fleisch riechen, umhüllen sie. Wieder quellen Tränen aus ihren Augen, doch sie vergehen zischend, als sie das brennende Fleisch der Wangen erreichen. Ein markerschütternder Schrei geht durch den Park. »ICH LIEBE DICH!« ENDE © Marko Tesch, Dorfstraße 37, 19386 Broock
Kinder des Millenium von Adrian Doyle und Timothy Stahl Damit endet die Saga um Lilith Eden – zumindest im Taschenheft. Doch VAMPIRA lebt weiter! Schon in wenigen Wochen erscheint beim Zaubermond-Verlag das erste Hardcover! Die Schuld, die auf Lilith Eden lastet, ist erdrückend. Ihr großer Gegenspieler Landru ist aus dem Reich der Toten zurückgekehrt und schickt sich an, die neue Vampirrasse zu etablieren, eine Bedrohung allen Lebens. Und welche Rolle spielt Rahel in Zukunft? Will sie die Herrschaft über die Erde antreten, oder verfolgt sie gänzlich andere Pläne?