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Für alle, von denen in diesen Geschichten die Rede ist
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Margret Rettich
Wirklich wahre Weihnachtsgeschichten
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Für alle, von denen in diesen Geschichten die Rede ist
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Margret Rettich
Wirklich wahre Weihnachtsgeschichten
Illustrationen von Rolf Rettich
UEBERREUTER
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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einhieitsaufnahme Rettich, Margret:
Wirklich wahre Weihnachtsgeschichten / Margret Rettich. Neuausg. - Wien : Ueberreuter, 2001 ISBN 3-8000-2809-3
J 2581/1 Alle Urheberrechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung, Verbreitung und öffentlichen Wiedergabe in jeder Form, einschließlich einer Verwertung in elektronischen Medien, der reprografischen Vervielfältigung, einer digitalen Verbreitung und der Aufnahme in Datenbanken, ausdrücklich vorbehalten. Umschlag- und Innenillustrationen von Rolf Rettich Umschlaggestaltung von Zembsch’ Werkstatt, München Copyright © 1986 und 2001 by Verlag Carl Ueberreuter, Wien Printed in Austria by Druckerei Theiss 5764 Ueherreuter im Internet: www.ueberreuter.de
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Inhalt Die Geschichte vom Weihnachtsbraten Die Geschichte vom Vogelhaus Die Geschichte vom Lamettabaum Die Landstraßengeschichte Die Geschichte von Traudchens Onkel Die Silbergeschichte Die Geschichte von der Koschale Die Fernsehgeschichte Die Reisegeschichte Die neugierige Geschichte Die Kirchengeschichte Die Schlüsselgeschichte Die Geschichte vom Wunschzettel Die Puppengeschichte Die vertauschte Geschichte Die Geschichte von Elsie Die Briefgeschichte Die Engelsgeschichte Die Geschichte vom Natron Die Geschichte vom artigen Kind Die Kurzschlussgeschichte Vom Maulwurffangen Eine Nikolausgeschichte Weihnachten im Schnee Karpfenzauber Hansis Geschichte
07 11 15 19 23 29 33 37 41 44 51 55 59 66 71 75 80 84 88 93 95 98 103 107 112 117
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Das Familienerbstück Kaiserweihnachten Nannis Baum Der richtige Weihnachtsmann Als Weihnachten ausfiel Eine Ausreißergeschichte Post für den alten Mann Die Geschichte vom Eisbaum Plumpudding Eine alte Geschichte Marzipan Traumgeschichte Das Puppenhaus Der Weihnachtsgeburtstag Ein Märchen
123 126 131 136 140 145 149 152 155 160 163 167 172 178 181
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Die Geschichte vom Weihnachtsbraten
Einmal fand ein Mann am Strand eine Gans. Tags zuvor hatte der Novembersturm getobt. Sicher war sie zu weit hinausgeschwommen, dann abgetrieben und von den Wellen wieder an Land geworfen worden. In der Nähe hatte niemand Gänse. Es war eine richtige weiße Hausgans. Der Mann steckte sie unter seine Jacke und brachte sie seiner Frau: »Hier ist unser Weihnachtsbraten.« Beide hatten noch niemals ein Tier gehabt, darum hatten sie auch keinen Stall. Der Mann baute aus Pfosten, Brettern und Dachpappe einen Verschlag an der Hauswand. Die Frau legte Säcke hinein und darüber einen alten Pullover. In die. Ecke stellte sie einen Topf mit Wasser. »Weißt du, was Gänse fressen?«, fragte sie. »Keine Ahnung«, sagte der Mann. Sie probierten es mit Kartoffeln und mit Brot, aber die Gans rührte nichts an. Sie mochte auch keinen Reis und nicht den Rest vom Sonntagsnapfkuchen. »Sie hat Heimweh nach anderen Gänsen«, sagte die Frau. Die Gans wehrte sich nicht, als sie in die Küche getragen wurde. Sie saß still unter dem Tisch. Der Mann und die Frau hockten vor ihr um sie aufzumuntern.
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»Wir sind eben keine Gänse«, sagte der Mann. Er setzte sich auf seinen Stuhl und suchte im Radio nach Blasmusik. Die Frau saß neben ihm am Tisch und klapperte mit den Stricknadeln. Es war sehr gemütlich. Plötzlich fraß die Gans Haferflocken und ein wenig vom Napfkuchen. »Er lebt sich ein, der liebe Weihnachtsbraten«, sagte der Mann. Bereits am anderen Morgen watschelte die Gans überall herum. Sie steckte den Hals durch offene Türen, knabberte an der Gardine und machte einen Klecks auf den Fußabstreifer. Es war ein einfaches Haus, in dem der Mann und die Frau wohnten. Es gab keine Wasserleitung, sondern nur eine Pumpe. Als der Mann einen Eimer voll Wasser pumpte, wie er es jeden Morgen tat, ehe er zur Arbeit ging, kam die Gans, kletterte in den Eimer und badete. Das Wasser schwappte über und der Mann musste noch einmal pumpen. Im Garten stand ein kleines Holzhäuschen, das war die Toilette. Als die Frau dorthin ging, lief die Gans hinterher und drängte sich mit hinein. Später ging sie mit der Frau zusammen zum Bäcker und in den Milchladen. Als der Mann am Nachmittag auf seinem Rad von der Arbeit kam, standen die Frau und die Gans an der Gartenpforte. »Jetzt mag sie auch Kartoffeln«, erzählte die Frau. »Brav«, sagte der Mann und streichelte der Gans über den Kopf, »dann wird sie bis Weihnachten rund und fett.« Der Verschlag wurde nie benutzt, denn die Gans blieb jede Nacht in der warmen Küche. Sie fraß und fraß. Manchmal setzte die Frau sie auf die Waage und jedes Mal war sie schwerer. Wenn der Mann und die Frau am Abend mit der Gans zusammen saßen, malten sich beide die herrlichsten Weihnachtsessen aus. »Gänsebraten und Rotkohl, das passt gut«, meinte die Frau und kraulte die Gans auf ihrem Schoß. Der Mann hätte zwar statt Rotkohl lieber Sauerkraut gehabt, aber die Hauptsache waren für ihn die Klöße. »Sie müssen so groß sein wie mein Kopf und alle genau gleich«, sagte er. »Und aus rohen Kartoffeln«, ergänzte die Frau. »Nein, aus gekochten«, behauptete der Mann. Dann einigten sie sich auf Klöße halb aus rohen und halb aus gekochten Kartoffeln. Wenn sie ins Bett gingen, lag die Gans am Fußende und wärmte sie. Mit einem Mal war Weihnachten da. Die Frau schmückte einen kleinen Baum.
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Der Mann radelte zum Kaufmann und holte alles, was sie für den großen Festschmaus brauchten. Außerdem brachte er ein Kilo extrafeine Haferflocken. »Wenn es auch ihre letzten sind«, seufzte er, »soll sie doch wissen, dass Weihnachten ist.« »Was ich sagen wollte«, meinte die Frau, »wie, denkst du, sollten wir ... ich meine ... wir müssten doch nun ...« Aber weiter kam sie nicht. Der Mann sagte eine Weile nichts. Und dann: »Ich kann es nicht.« »Ich auch nicht«, sagte die Frau. »Ja, wenn es eine x-Belie-bige wäre. Aber nicht diese hier. Nein, ich kann es auf gar keinen Fall.« Der Mann packte die Gans und klemmte sie in den Gepäckträger. Dann fuhr er auf dem Rad zum Nachbarn. Die Frau kochte inzwischen den Rotkohl und machte die Klöße, einen genauso groß wie den anderen. Der Nachbar wohnte zwar ziemlich weit weg, aber doch nicht so weit, dass es eine Tagereise hätte werden müssen. Trotzdem kam der Mann erst am Abend wieder. Die Gans saß friedlich hinter ihm. »Ich habe den Nachbarn nicht angetroffen, da sind wir etwas herumgeradelt«, sagte er verlegen. »Macht gar nichts«, rief die Frau munter, »als du fort warst, habe ich mir überlegt, dass es den feinen Geschmack des Rotkohls und der Klöße nur stört, wenn man noch etwas anderes auftischt.« Die Frau hatte Recht und sie hatten ein gutes Essen. Die Gans verspeiste zu ihren Füßen die extrafeinen Haferflocken. Später saßen sie alle drei nebeneinander auf dem Sofa in der guten Stube und sahen in das Kerzenlicht. Übrigens kochte die Frau im nächsten Jahr zu den Klößen zur Abwechslung Sauerkraut. Im Jahr darauf gab es zum Sauerkraut breite Bandnudeln. Das sind so gute Sachen, dass man nichts anderes dazu essen sollte. Inzwischen ist viel Zeit vergangen. Gänse werden sehr alt.
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Die Geschichte vom Vogelhaus Als Mama morgens das Fenster aufmachte um Kai zu wecken, fiel vom Fensterbrett eine Ladung Schnee auf den Teppich: es hatte über Nacht geschneit. Draußen saßen die Spatzen auf den Zweigen und schimpften. »Er hat immer noch kein Vogelhaus gebaut«, sagte Kai vorwurfsvoll. »Heute bringen wir ihn dazu«, antwortete Mama. Papa saß zufrieden am Frühstückstisch. Es war Sonntag und er wollte so richtig faul sein. Er wartete, dass Mama ihm die Brötchen strich. Nicht, dass er das nicht selbst gekonnt hätte. Aber Papa mochte es, wenn ihm Mama alles abnahm, und ließ sich hin und wieder gern bedienen. Doch jetzt hatte sie keine Lust dazu. Manchmal machte es ihr Spaß, dass sie geschickter war als Papa, und sie zeigte gern, wie gut ihr alles von der Hand ging. Aber sie mochte nicht, dass er sich allzu sehr darauf verließ. »Kai und ich würden gern sehen, wenn du endlich das Vogelhaus baust. Es ist Winter, es hat geschneit und die armen Vögel hungern«, sagte sie. »Ich kann dir helfen«, sagte Kai. Papa rührte sich nicht. Er saß da und wartete, dass Mama ihm ein Brötchen strich. Doch sie tat es nicht. »Sonntag ist Ruhetag«, sagte Papa, »warum muss ich ausgerechnet am Sonntag ein Vogelhaus bauen?« »Alle Väter machen das«, rief Kai. »Vogelhäuser sind Männersache«, sagte Mama. Freilich, sie hätte es auch gekonnt. Sie konnte sägen, hämmern, Nägel einschlagen, Kurzschlüsse reparieren und verstand eine ganze Menge von Autos. Aber sie sah nicht ein, dass sie ein Vogelhaus bauen sollte, während Papa neben ihr stand und zusah. Vielleicht hätte es auch Kai schon geschafft. Aber Mama war nicht ganz sicher, ob er sich nicht dabei wehtat. Sie fand jedoch, dass er Papa zur Hand gehen könnte. Papa kam gegen Mama und Kai nicht an. Also strich er sich das Brötchen selbst, erhob sich widerwillig und schlurfte in den Keller. Kai sprang hinterher. Mama hörte, wie Papa zu Kai sagte: »Bauen wir doch einen Schneemann, das kann ich gut.« Und wie Kai antwortete: »Wir bauen das Vogelhaus, sonst nichts.« Mama war zufrieden. Kai erklärte genau, wie das Vogelhaus aussehen sollte. Er wusste, was man dazu brauchte und wo alles war. Papa kannte sich im Keller nicht so aus, das war Mamas Sache. Sie hatte Obstkisten gesammelt, die konnten sie nun nehmen. In einer Ecke verwahrte sie Plastikfolie und an einem Haken hing eine Rolle Draht. Irgendwo standen 11
Pfosten, womit sie im Frühjahr den Zaun flicken wollte. Kai trug alles zusammen. Papa stand herum. Er wusste nicht, wo der Hammer war, er fand keine Säge, Nägel waren auch nicht da und er hoffte sehr, dass er ohne all das gar kein Vogelhaus bauen konnte.
Doch Kai lief schon nach oben. Mama hatte das Werkzeug im Küchenschrank und die Nägel in der Speisekammer, denn sie wollte alles ständig zur Hand haben. Kai schleppte es nach unten und brachte es Papa. Er sagte genau, was Papa machen musste, und Papa machte jeden Handgriff so, wie Kai es erklärte. Erst sägte er aus den Obstkisten kleine Brettchen, daraus sollte der Boden werden. Dabei erwischte er seinen linken Daumen. Mama verband ihn und sagte: »Das ist kein Grund, sich gleich ins Bett zu legen. Geh nur wieder in den Keller und mach weiter!« Kai hatte inzwischen die Brettchen mit Leisten zu einer Platte verbunden. Er zeigte jetzt, wie Papa darauf die Pfähle für das Dach befestigen sollte. Erst nagelte Papa seinen Daumenverband am Holz fest, dann schlug er sich auf den Zeigefinger. Nachdem er diesen im Bad eine halbe Stunde gekühlt hatte, scheuchte ihn Mama wieder in den Keller. Kai hatte bereits ein Dach auf die Pfähle gesetzt und deckte es gerade mit Plastik. Papa sollte alles nur noch mit Draht rundherum befestigen. Er nahm die Zange und kniff sich damit in den Handballen. Mama ertappte ihn dabei, wie er sich ein Handtuch knotete, um den Arm in die Schlinge zu legen. »Es wird dich hindern, das Vogelhaus fertig zu machen«, sagte sie und legte das Handtuch wieder in den Schrank. 12
Papa schlich in den Keller, um das Vogelhaus zu vernichten, aber Kai hatte es fertig. Es war zwar schief und wackelte, es war auch etwas klein geraten, aber man konnte erkennen, was es sein sollte. Papa und Kai gruben einen von Mamas Pfosten im Vorgarten ein und befestigten das Vogelhaus darauf. Dann streute Mama die zerkrümelten Weihnachtsplatzchen vom vergangenen Jahr hinein und schon nahten die ersten Spatzen. Papa und Kai saßen hinter dem Fenster und sahen zu, wie sie sich balgten und mit den besten Brocken im Gebüsch verschwanden. Papa war mächtig stolz, was er geschafft hatte, und Mama lobte ihn. Es wurde ein schöner Sonntag. Am anderen Morgen sah Kai nach dem Vogelhaus. Da saß eine fette schwarze Katze drin. Kai riss das Fenster auf und schrie: »He, du, scher dich weg!« Die Katze versuchte es, aber sie konnte nicht, sie steckte fest. Vorn sahen Kopf und Pfoten heraus, hinten wedelte ein aufgeregter Schwanz. Kai und Mama liefen hinaus. Mama rief, Kai solle Acht geben, Katzen hätten scharfe Krallen. Sie schob hinten und Kai lockte vorn: »Na komm schon, spring!« Die Katze wurde wild und schlug um sich. Das Vogelhaus schwankte auf dem Pfosten und sein Dach hob sich ein wenig. »Solange sie so fett ist, schafft sie das nicht«, sagte Mama. »Vielleicht wenn sie hungert und abnimmt ...« Die Katze miaute. Plötzlich tat sie Kai und Mama Leid. Sie holten Ölsardinen und die Katze fraß brav aus der Dose, die Kai ihr vorhielt. Ringsumher saßen die Spatzen auf den Zweigen und schimpften. »Also gut, füttern wir die auch noch«, sagte Mama. Sie streuten ihnen Krümel auf das Fensterbrett und sahen dann von drinnen zu, wie sie pickten. Die Katze schlief im Vogelhaus ein. Ihre Pfoten hingen vorn schlaff nach unten und hinten baumelte lang der Schwanz. Die Spatzen hatten schnell heraus, dass sie ihnen nichts antun konnte. Sie wurden immer frecher. Einige tobten auf dem Dach herum, andere flogen ihr haarscharf an der Nase vorbei. Als sich ein Spatz im Katzenschwanz verkrallte, war es zu viel. Die Katze fuhr auf, machte einen krummen Rücken, stemmte sich gegen die Brettchen, die Leisten und den Draht und das ganze Vogelhaus brach auseinander. Die Katze machte einen Satz und verschwand. Was blieb Mama übrig, als mit Kai ein neues Vogelhaus zu bauen, fest und stabil? Sie konnte es Papa mit seinen verbundenen Händen wirklich nicht zumuten. Er stand zufrieden daneben und sah zu.
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Die Geschichte vom Lamettabaum
Jedes Jahr war die ganze Verwandtschaft am ersten Feiertag bei Tante Trude eingeladen. Tante Trude war viel feiner als die Verwandtschaft. Sie hatte eine große Wohnung mit vielen Räumen, die lagen voller Teppiche, hingen voller Bilder und standen voller Polstermöbel. Tante Trude hörte es gern, wenn man ihr sagte, wie besonders vornehm und elegant alles bei ihr war. Aber zu Weihnachten sollte noch etwas anderes bewundert werden. Wenn die Verwandtschaft kam, stand sie an der Tür und rief: »Seht euch zuerst meinen Baum an!« Alle gingen hinein und staunten: »Wie ist er wieder herrlich! Wunderschön, fantastisch, sagenhaft, enorm und ohnegleichen! Man kann den Blick nicht von ihm wenden!« Der Baum reichte bis zur Decke, und Tante Trudes Wohnung hatte hohe Decken. Er steckte voll unzähliger Kerzen und von jedem Zweig hingen ganz ordentlich, einzeln, im gleichen Abstand und in derselben Länge, dicht an dicht, Lamettafäden. Fünf ganze Tage hatte Onkel Otto auch dieses Mal wieder gebraucht, um es Tante Trude recht zu machen und den Lamettabaum zu schmücken. »Und es ist der größte, den es in der ganzen Stadt zu kaufen gab«, sagte sie, »nur vor dem Rathaus steht ein größerer, aber der ist schief!« »Dieser hier ist ganz gerade«, sagte ein alter Onkel und alle stimmten ihm zu.
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Sie nahmen in den Sesseln Platz. Onkel Otto stieg auf eine Trittleiter. Er brauchte lange, bis alle Kerzen brannten. Ein unverheirateter Vetter setzte sich ans Klavier. Eine Kusine blätterte die Noten um. Tante Trude stimmte Weihnachtslieder an, die alle mitsangen. Die Kinder hatten zu Hause pauken müssen. Sie traten nacheinander vor und sagten ein Gedicht auf. Wehe, wenn sie stecken blieben! Am Schluss machten sie einen Knicks oder eine Verbeugung und bekamen von Tante Trude einen Kuss. Und alle sagten: »Wie niedlich«, saßen da und starrten wieder den Baum an. Es war langweilig. Endlich erhob sich Tante Trude und alle sprangen schnell auf. Onkel Otto löschte die Kerzen und zog hinter dem Baum eine Schiebetür auseinander. Gleich dahinter stand im Nebenzimmer die lange Kaffeetafel. Die Verwandtschaft drängte hinüber und Tante Trude erklärte, wo jeder sitzen sollte. Es gab den berühmten Streuselkuchen, den nur sie backen konnte. Das sagten alle, weil Tante Trude immer wieder fragte, ob sie je woanders solchen Streuselkuchen bekommen hätten. »Nirgends«, sagte der alte Onkel, »diesen Streuselkuchen bekommen wir nur bei dir, niemand backt ihn so wie du.« Alle sagten auch, dass der Kaffee ganz einzigartig sei, dass sie noch niemals eine so geschmackvolle Tischdecke gesehen hätten und dass sie Tante Trude um die schönen Kaffeetassen beneideten. »Na, und mein Kleid?«, fragte sie. Da konnten alle nur die Augen verdrehen, denn sie fanden keine Worte mehr. Sie langweilten sich schrecklich. Nur zwei Kinder langweilten sich nicht, die hießen Lottchen und Martin. Sie waren heimlich unter den Tisch gekrochen. Dort spielten sie zuerst, dass sie in einer Höhle wohnten. Sie saßen ganz still unter der Tischdecke, die bis auf den Teppich reichte. Später spielten sie, dass sie Spatzen seien, und pickten die Streuselkrümel auf, die besonders zahlreich bei Onkel Otto unter dem Stuhl lagen. Danach spielten sie Pferdestall, denn die vielen Füße scharrten hin und her und stampften manchmal wie Pferde. Sie mussten flink sein, um nicht getreten zu werden. Großmama hatte die Schuhe ausgezogen, die versteckten sie bei dem unverheirateten Vetter. Martin bekam von der Kusine, die für alle noch einmal Kaffee einschenkte, einen Tritt an den Kopf. Darüber musste Lottchen lachen. Sie krochen überall herum und gelangten schließlich unter den 16
Baum. Das Lametta hing so tief herunter, dass niemand sie sehen konnte. Der Baum war in einen Eisenfuß geschraubt. Martin und Lottchen staunten, wie dick der Stamm war. »Den wirft niemand um«, sagte Lottchen und rüttelte ganz unten, aber der Baum stand fest. »Wenn er nun umfällt, was wäre dann?«, sagte Martin. »Den wirft niemand um«, wiederholte Lottchen. Martin richtete sich etwas auf und drückte weiter oben gegen den Stamm. Er wunderte sich, wie leicht es war, den großen Baum zu kippen.
Tante Trude reichte gerade süßen Likör, den alle lobten. Dann senkte sich der Baum ganz langsam und fiel der Länge nach auf die Kaffeetafel. Seine Spitze reichte genau bis zu Tante Trude. Die Zweige bedeckten Tassen und Teller, Streuselkuchen und Likör. Nur die Köpfe der Verwandtschaft ragten aus dem Geäst und alle hatten glänzende Haare aus Lamettafäden. Es sah wunderhübsch aus, aber das sagte diesmal niemand. Alle sprangen auf, befreiten sich gegenseitig und versuchten den Baum wieder aufzurichten. Das war viel schwerer als ihn umzukippen. Aber es war jetzt nicht mehr langweilig. Alle hatten zu tun. Sie mussten das Geschirr zusammenräumen, die Tannennadeln aus dem Streuselkuchen sammeln und sich das Lametta aus dem Haar kämmen. Tante Trude lief umher und jammerte: »Es ist ein Rätsel, wie das passieren konnte, und es ist eine Tragödie, wie es hier aussieht.« Dann erwischte sie 17
Onkel Otto und rief: »Seit Jahren möchte ich, dass du den Baum fester aufstellst. Nun hast du die Bescherung.« Onkel Otto schlug Nägel in den Türrahmen und band den Baum mit Stricken fest. Aber das war Tante Trude auch nicht recht. Die ganze Verwandtschaft tröstete sie. Alle sagten aus ganzem Herzen, so gut hätte es ihnen noch nie bei ihr gefallen. Großmama hatte endlich ihre Schuhe gefunden und drängte nach Hause: »Seht nur, wie blass Lottchen und Martin vor Schreck geworden sind. Dabei waren sie so brav, dass wir den ganzen Nachmittag nichts von ihnen gemerkt haben.«
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Die Landstraßengeschichte
Dass sie Weihnachten im Auto verbringen mussten, hatte ihnen Papa eingebrockt. Er wird manchmal sehr wütend und macht dann unmögliche Sachen. Später tut es ihm Leid, denn eigentlich ist er gut und friedlich. Dieses Mal war er wütend über Oma, das ist die Mutter von Mama. Papa und Mama sind zu ihr in das Haus gezogen, damit sie nicht allein wohnt. Es war damals nach dem Tod von Opa und ist nun schon lange her. Inzwischen sagen Papa und Mama: »Die Oma wohnt bei uns.« Aber Oma sagt immer noch: »Ihr wohnt bei mir!« Papa kann es nicht leiden, wenn sie das sagt. Mama lacht darüber und meint: »Lass sie reden und ärgere dich nicht.« Warum musste Oma aber ausgerechnet am Weihnachtsvormittag wieder damit anfangen? Papa stand im Wohnzimmer auf der Leiter und schmückte den Baum. Er steckte gerade die Silberspitze auf, als Oma hereinkam und fragte: »Warum steht der Baum hinter der Tür?« »Wo sollte er sonst stehen?«, entgegnete Papa. »Bei mir pflegte er links vom Fenster zu stehen.« »Und jetzt steht er hinter der Tür«, gab Papa von der Leiter herab zurück. »Solange ihr bei mir wohnt, solltet ihr auf mich hören«, erwiderte Oma. Und dann gerieten sie in Streit. Sie sagten dies und das, und als Mama aus der Küche kam um sich einzumischen, redeten alle durcheinander. Papa war sehr wütend. 19
Er riss den Schmuck wieder vom Baum und warf ihn in die Kartons zurück. »Was tust du?«, rief Mama. »Pack die Geschenke, Süßigkeiten, Betten und Zahnbürsten ein. Wir feiern Weihnachten woanders. Irgendwo werden wir willkommen sein und unseren Baum da aufstellen dürfen, wo wir es wollen.« Er nahm den Baum, rannte damit nach draußen und schnallte ihn auf das Autodach. Auf dem Hof spielte Nickel mit seinem Freund. »Was machst du?«, fragte er Papa. »Wir verreisen. Und weil wir unterwegs Weihnachten feiern werden, brauchen wir unseren Baum!«, rief Papa und war schon wieder im Haus. »Toll«, sagte Nickels Freund. Und Nickel war sehr stolz auf Papa, der manchmal so unmögliche Sachen machte. Oma lief hinter Papa her und jammerte: »So war es doch nicht gemeint!« Aber er schob sie bloß beiseite. Mama rief: »Ist das wirklich dein Ernst?« Aber Papa hatte schon die Betten in eine Wolldecke geschnürt und verstaute sie im Kofferraum. Da kramte Mama alle Geschenke zusammen und packte etwas Wäsche und Kleidung ein. Sie holte aus der Küche die Kuchen und Oma brachte eine Thermosflasche mit heißem Tee. Dann zog Mama den Maxel warm an und setzte ihn auf sein Stühlchen hinter sich ins Auto. Nickel gab Oma einen Kuss, winkte - und schon ging die Fahrt los. Papa war immer noch wütend und fuhr sehr schnell. Er drehte das Lenkrad, dass ihre Köpfe hin und her flogen. Er bremste, dass alle nach vorn kippten. Er hupte, wenn ihm andere Autos keinen Platz machten. Das gefiel Nickel und der Maxel kreischte vor Vergnügen. Aber Mama sagte: »Bitte fahr vorsichtig oder ich steige aus.« Da wurde Papa ruhiger. Später fragte Mama: »Wohin fahren wir eigentlich?« Papa antwortete: »Zu meiner Tante Luise. Du wirst sehen, dass es uns dort besser geht als bei deiner Mutter.« Es war Mama peinlich, einfach so zu Tante Luise zu fahren. Immerhin waren sie vier Personen, es war Weihnachten und Tante Luise hatte keine Ahnung, dass sie kamen. Jedoch mit Papa war nicht zu reden. Nach einer Stunde erreichten sie die Stadt, in der Tante Luise wohnte. Sie fuhren vor das Haus und Papa stieg aus um zu klingeln. Er klingelte noch mal und noch mal, aber es machte niemand auf. Im Nebenhaus rief eine Frau aus dem Fenster: »Da ist niemand zu Hause«, und sie erzählte Papa, dass Tante Luise verreist sei, weil sie Weihnachten 20
nicht allein sein wollte. Ja, wenn sie gewusst hätte, dass Besuch kommt, wäre sie sicher geblieben und hätte sich gefreut. »Schon gut«, sagte Papa, »besten Dank und frohes Fest.« Er startete wieder. »Wohin fahren wir jetzt?«, fragte Mama. Papa entsann sich, dass er in dieser Stadt einen alten Schulfreund hatte. Papa meinte, der würde sich bestimmt freuen, wenn sie so unvermutet auftauchten, denn er sei früher ein lustiges Haus gewesen. Mama war nicht so sicher, aber sie sagte nichts. Nickel rief: »Fein, wir fahren in ein lustiges Haus!« Und der Maxel kreischte vor Wonne. Papas Freund war zu Hause, doch besonders lustig war er nicht. Er erinnerte sich nicht einmal an Papa und musste eine Weile grübeln. Erst als er Nickel sah, wusste er es, denn Nickel sah genauso aus wie Papa früher. Er bat sie in seine Wohnung, und weil es Mittag geworden war, brachte seine Frau für jeden einen Teller Kartoffelsuppe. Mama durfte im Nebenzimmer den Maxel trockenlegen und Nickel durfte mal aufs Klo. Dann sagte Papas Freund: »Sicher habt ihr noch eine weite Fahrt vor euch. Wir wollen euch nicht aufhalten. Heute hat jeder noch viel zu tun. Es war nett, dass ihr uns mal kurz besucht habt.« Papa traute sich nicht etwas zu sagen. So kletterten alle wieder in das Auto und fuhren weiter. Der Freund und seine Frau standen vor ihrem Auto und winkten. Nicht weit von hier hatte Papa einen Vetter. Der hatte eine Frau und drei Kinder und einen Bauernhof mit viel Platz. Dort waren sie früher oft gewesen, aber weil der Vetter so ähnlich wie Papa war und leicht wütend wurde, waren sie es einmal zur gleichen Zeit und hatten sich verkracht. »Wir sollten zu deinem Vetter fahren«, sagte Mama jetzt.
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Das war für Papa sehr unangenehm, aber er sah ein, dass Mama einen guten Vorschlag gemacht hatte. Vor dem Bauernhof blieb er im Auto sitzen und schickte Mama ins Haus. Nickel wollte gleich mit, aber Papa hielt ihn fest. Als Mama wiederkam, setzte sie sich und sagte zu Papa: »Fahr nur gleich weiter.« »Ist er mir noch böse?«, fragte Papa. »Das nicht«, erwiderte Mama, »aber er und die drei Kinder liegen im Bett und haben Ziegenpeter. Den haben Nickel und Maxel noch nicht gehabt.« Papa war sehr schweigsam. Mama ließ ihn von jetzt an bei jedem Gasthaus halten und nach Zimmern fragen. Doch sie hatten kein Glück. Entweder war geschlossen oder alle Zimmer waren belegt. Nickel und Maxel hatten Hunger und Mama gab ihnen Lebkuchen. Einmal hielt Papa an und alle vertraten sich die Füße. Als sie wieder fuhren, fragte Nickel, wann endlich Bescherung sei. Er wollte nun gerne seine Geschenke haben. »Wenn wir da sind«, sagte Mama. »Wann sind wir da?«, fragte Nickel. Mama sagte zu Papa: »Bitte, lass uns umkehren.« Und wirklich, Papa drehte um. Sie fuhren nun fast allein auf der Straße. Es war dunkel. Der Maxel schlief. Mama und Nickel sangen Weihnachtslieder. Dann schlief Nickel auch. Später hielten sie noch einmal an und Mama schenkte Papa den heißen Tee ein. »Gut, dass du daran gedacht hast«, sagte er. »Daran hat Oma gedacht«, sagte Mama. Als sie zu Hause ankamen, brannte nirgends mehr Licht. Mama trug den Maxel ins Bett und Papa schleppte Nickel. Die merkten nichts. Als am anderen Morgen noch alle schliefen, holte Papa den Baum vom Autodach, stellte ihn ins Wohnzimmer hinter die Tür und fing an, ihn zu schmücken. Als er halb fertig war, nahm er ihn und stellte ihn links vom Fenster auf. Mama kam und brachte die Geschenke. Sie trug Maxel ins Zimmer und Nickel sprang hinter ihr her. Papa zündete die Kerzen an. »Jetzt feiern wir endlich Weihnachten!«, rief Nickel.
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Aber Papa sagte: »Warte einen Augenblick.« Er holte Oma, die noch nicht zum Vorschein gekommen war. Er drückte sie an sich, gab ihr einen Kuss und rief: »Frohe Weihnachten!« Papa ist meist der friedlichste und beste Mensch. »Was bin ich froh, dass ihr wieder da seid!«, sagte Oma. »Ich wohne so gern bei euch. Aber«, setzte sie hinzu, »ist es nicht wirklich besser, wenn der Baum links vom Fenster steht statt hinter der Tür?« »Oma!«, rief Mama. Aber Papa lachte.
Die Geschichte von Traudchens Onkel Mia hat niemandem etwas von Traudchen erzählt. Nicht zu Hause und nicht den anderen Kindern, mit denen sie sonst spielt. Die anderen Kinder wohnen alle wie Mia in den großen neuen Wohnblocks. Fredi in Block A, zweite Treppe, Anders und Birgit in Block D, Parterre, und Jochen in Block C, einen Stock unter Mia. Alle spielen miteinander auf dem kleinen Spielplatz. Nur Traudchen nicht, denn sie wohnt auf der anderen Straßenseite. Sie hat lange Zeit drüben an der Bordsteinkante gestanden und herübergeschaut. Einmal ist sie einfach losgelaufen. Die Autos, die in vier Reihen auf der Straße fahren, haben gebremst und gehupt, manche Fahrer haben die Scheibe heruntergekurbelt und geschimpft. »Ist die doof!«, haben Anders und Jochen gerufen. Traudchen hat dagestanden und sie angelächelt, aber sie durfte nicht mitspielen. Da ist sie wieder davongelaufen. Mia hat gesehen, dass sie einen Handschuh verloren hat, und hat ihn aufgehoben. Sie hat Traudchen gerade noch erwischt, ehe Traudchen wieder über die Straße rennen konnte. »Du musst durch den Tunnel gehen!«, hat Mia gerufen. »Kommst du dann mit?«, hat Traudchen gefragt und Mia ist mitgegangen. Die Häuser auf der anderen Straßenseite sind alt. Sie haben Toreinfahrten, durch die man auf einen Hof kommt. Auch dort stehen Häuser und dahinter sind wieder Höfe und wieder Häuser. Traudchen wohnt ganz hinten im obersten Stockwerk. Es ist niemand in der Wohnung. Im Flur
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steht hinter einem Kleiderschrank ein Kinderwagen. In der Küche stehen ein Bett und der Fernseher. Im Zimmer sind noch einmal zwei Betten. Auf dem einen liegt eine gehäkelte' Decke und darauf sitzt in einem Seidenkleid eine Puppe mit langen schwarzen Locken. »Ist die schön«, flüstert Mia. »Die ist nur zum Schmuck und nicht zum Spielen«, sagt Traudchen, »aber du darfst sie mal halten.« Sie klettert auf einen Hocker und holt vom Schrank ein Glas. In der Küche löffelt sie eingeweckte Pflaumen. »Die wachsen bei meinem Onkel im Garten«, sagt Traudchen. Zu Hause will Mia gleich von Traudchen erzählen. Aber Mama hat keine Zeit, sie muss einkaufen und Mia soll mitgehen. Im Supermarkt gibt es Puppen, die fast so schön sind wie die bei Traudchen. Auch sie haben Locken und weite Seidenkleider. »Eine solche Puppe wünsche ich mir zu Weihnachten«, sagt Mia. »Aber das ist doch Kitsch«, sagt Mama. Da erzählt Mia nichts von Traudchen. Wenn Traudchen jetzt auf der anderen Straßenseite steht und winkt, läuft Mia die Straße entlang zum Fußgängertunnel. Das merken die anderen Kinder gar nicht. So weiß niemand, dass Mia bei Traudchen ist. Am Vormittag vom Heiligen Abend fragt Traudchen: »Kommst du mit zu meinem Onkel? Der schenkt uns was, wenn wir kommen!« Mia hat auch einen Onkel, der ihr immer etwas schenkt. Er ist Mamas jüngster Bruder. Wenn er da ist, tobt er mit Mia herum oder er geht mit ihr, wohin Mia gern will. Über die Geschichten, die er erzählt, kann sich Mia kranklachen. Mia möchte gern wissen, was für einen Onkel Traudchen hat. Sie gehen die alte Straße entlang bis an das Ende. Dann kommen sie über mehrere Bauplätze. Ein Hund jagt hinter einem Drahtzaun neben ihnen her und Traudchen neckt ihn mit einem Stock. Mia hat Angst, der Hund könnte mit einem Satz über den Zaun springen, aber Traudchen lacht sie aus. Später gehen sie auf einem Pfad an einem Kanal entlang und biegen in einen Heckenweg, der durch Kleingärten führt. Ganz am Ende steht eine Laube, die ist fast schon ein Haus. Da wohnt Traudchens Onkel. Die Fensterläden sind geschlossen und aus dem Rohr, das aus der Wand kommt, steigt kein Rauch. »Vielleicht ist er nicht da«, sagt Mia. Aber Traudchen trommelt schon gegen die Fensterläden und trampelt an die Tür. Sie ruft und pfeift. »Heij«, sagt innen eine Stimme, »was soll der Krach?« »Ich bin's«, sagt Traudchen. 24
Der Onkel macht auf. Er muss sich bücken, denn er ist sehr groß. Er ist unrasiert und hat eine schmutzige Hose an. Dazu hat er schlechte Laune. »Was wollt ihr hier?«, brummt er. »Wir wünschen frohe Weihnachten«, sagt Traudchen und macht einen Knicks. »Rede keinen Quatsch«, sagt der Onkel. Er will nicht glauben, dass wirklich Weihnachten ist. Das findet Mia sehr merkwürdig. Der Onkel sagt, sie sollen mit in den Schuppen kommen. Traudchen muss pumpen, während er seinen Kopf unter den Wasserhahn hält. Dabei stöhnt und jammert er. Dann stapft er vor ihnen ins Haus und fischt eine Zeitung unter dem Tisch hervor. Er sucht das Datum und brüllt: »Du meinst, ich falle auf deinen Schwindel herein! Hier, heute ist der Zweiundzwanzigste!« »Deine Zeitung ist von vorgestern!«, sagt Traudchen. Der Onkel versucht, mit Pappresten und Reisig ein Feuer im Herd zu machen, aber es geht immer wieder aus. Traudchen nimmt einen Besen und fegt die vielen Flaschen und Dosen, die überall herumliegen, unter das Bett. Dort liegt schon so viel, dass sie einen Teil unter den Schrank schiebt. Dann fragt sie: »Was schenkst du mir zu Weihnachten?« Der Onkel sagt: »Erst muss ich wissen, ob das kein fauler Trick von dir ist.« Er pustet noch einmal in den Herd, dann rappelt er sich auf, zieht eine Jacke über und schimpft, weil Traudchen seine Stiefel mit unter das Bett gefegt hat. Er setzt eine Pelzmütze auf, haut die Tür hinter Traudchen, Mia und sich zu und ruft: »Auf, wir gehen zu Mieze!« Sie gehen den Weg durch die Laubenkolonie zurück, dann über ein Feld und ein Fabrikgelände, überqueren eine Straße und kommen schließlich zu einer Baracke. Mia liest: »Das gute Pilsner. Eigentümerin Mieze Giese Ww.« Der Gastraum ist verqualmt und voller Menschen, die alle den Onkel kennen. Er schiebt Traudchen und Mia vor sich her und ruft: »Diese beiden wollen mir weismachen, dass heute Weihnachten ist. Wetten, dass sie schwindeln?«
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Ein paar Männer rufen: »Wette gilt!« Und sie beweisen dem Onkel, dass es wirklich so ist, und weil alle es sagen, glaubt er es endlich. Er hat seine Wette verloren und muss eine Runde Bier bestellen. Traudchen und Mia bekommen Geld für den Automaten und die Musikbox. Traudchen kennt das alles, aber für Mia ist es ganz neu. Nebenan entdecken sie ein Tischtennisspiel. Und zwischendurch bringt ihnen Mieze eine Schüssel Erbsensuppe. Später kommt sie noch einmal und fragt: »Müsst ihr nicht nach Haus?« Da merken Traudchen und Mia, dass es draußen schon dunkel ist. Sie eilen in die Gaststube und Traudchen sagt zum Onkel: »Wir gehen jetzt. Bekomme ich kein Weihnachtsgeschenk?« Sie bekommt einen Zehnmarkschein und der Onkel gibt Mia ein Fünfmarkstück. Sie müssen ihm beide einen Kuss geben, das ist stachelig und riecht nicht besonders gut. Mia ist froh, als sie draußen an der Luft sind. Traudchen meint, sie müssten nun nach rechts gehen. Mia glaubt, links wäre richtig, aber sie geht mit. Hier ist niemand auf der Straße und es brennen nur wenige Lampen. Traudchen geht nun doch links, aber bald merken sie, dass beides falsch war. Traudchen sagt: »Gehen wir zurück und fangen wir noch einmal von vorn an.« Aber sie finden die Baracke nicht mehr. Sie versuchen es mit dieser und jener Richtung und bald merken sie, dass sie sich verlaufen haben. Traudchen sagt: »Verdammt!«, und noch viel schlimmere Worte. Mia findet, dass sie Recht hat. Einmal treffen sie drei Männer, die wohl von der Nachtschicht kommen. Denen erklären sie, wo sie wohnen, und fragen, wie man dahin kommt. Aber die Männer wissen auch nicht Bescheid und wollen schnell nach Hause. An einer Ecke steht eine Telefonzelle. Mias Eltern haben Telefon und Mia weiß auch die Nummer, aber sie haben kein Kleingeld. Traudchen hat den Zehnmarkschein. Mia hat das Fünfmarkstück. Gegenüber steht ein Haus. Traudchen und Mia laufen hin. Sie klingeln und jemand fragt: »Wer ist denn da?« Dann hören sie eine Weile gar nichts. Endlich macht ein großer Junge auf. »Kannst du wechseln? Wir wollen telefonieren«, sagt Mia und hält ihm das Fünfmarkstück hin. »Warte mal«, sagt der Junge, nimmt das Geld und macht die Tür zu. Sie warten sehr lange. 27
Als niemand aufmacht, klingeln sie noch ein paar Mal. Da reißt eine Frau die Tür auf und schreit: »Hat man nicht mal Weihnachten seine Ruhe?« Sie dreht sich um und ruft: »Ich denke, du hast sie weggejagt?« »Hab ich auch«, sagt der Junge. Traudchen sagt schnell: »Er hat unser Geld genommen!« »Lüge«, ruft der Junge. »Unverschämtheit«, sagt die Frau und wirft die Tür zu. Traudchen und Mia rennen davon, so schnell sie können. Sie rennen, bis Mia Seitenstechen hat. Jetzt sind sie in einer Straße, wo Autos fahren. Traudchen stellt sich an die Bordsteinkante und hebt den Daumen. »Was machst du?«, fragt Mia. »Autostopp«, sagt Traudchen. Neben ihnen hält ein Wagen und Mia sieht, dass es eine Taxe ist. »War das Spaß oder wollt ihr mitfahren?«, sagt der Fahrer. »Natürlich wollen wir mit«, sagt Traudchen und klettert schon hinten ins Auto. Der Fahrer fragt noch einmal: »Könnt ihr denn auch bezahlen, meine ich?« Da wedelt Traudchen mit dem Zehnmarkschein vor seiner Nase. Dann steigt auch Mia ein und sagt ihre Adresse. Sie sind ganz schnell bei den neuen Wohnblocks und es macht genau neun Mark und dreißig. »Stimmt so«, sagt Traudchen und gibt den Schein hin. Dann rennen sie schnell über die Straße, auf der zum Glück jetzt keine Autos fahren. Doch die Taxe hat gewendet und muss hupen und bremsen. Der Fahrer schimpft. Auch Mia rennt nach Hause. Ist das eine Aufregung dort. Papa war fort, um Mia zu suchen, und kommt gerade zurück. Mama hat die Polizei gerufen und ein Polizist hat alle Kinder gefragt, wo Mia sein könnte. Aber die haben ja keine Ahnung, dass Mia immer bei Traudchen war, und haben sich Sorgen gemacht. Aber das ist nun vorbei und sie können Weihnachten feiern. Später erzählt Mia alles. Papa sieht Mama an und Mama sieht Papa an. Mia hat Angst, dass sie ihr verbieten könnten, mit Traudchen zu spielen. Aber Mama sagt: »Ich möchte Traudchen gern kennen lernen.«
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Die Silbergeschichte Als Frau Muschler auf dem Dachboden ihre Wäsche aufhing, kam die alte Nachbarin, die in ihrem Verschlag gekramt hatte. »Ich habe etwas für Julchen zu Weihnachten«, sagte sie. »Wie nett von Ihnen«, sagte Frau Muschler, »da wird sich Julchen gewiss freuen.« Die alte Nachbarin schleppte etwas an, was nur so knarrte und quietschte. Es war ein altmodischer Puppenwagen. Er war verbogen und hatte nur drei Räder. Das vierte lag mit dem Verdeck zusammen in dem Korb, in den eigentlich die Puppen gehörten. Frau Muschler bekam einen Schreck, als sie das alte Gerumpel sah. Aber weil sie sich nicht traute, das Geschenk abzulehnen, bedankte sie sich und schleppte den Puppenwagen in ihre Wohnung. Als Julchen am Abend im Bett war, schob sie ihn ins Zimmer. »Sieh dir das Ding hier an«, sagte sie zu ihrem Mann, der vor dem Fenster saß, »das hat die alte Nachbarin für Julchen gebracht. Damit lachen die anderen Kinder sie ja aus! Aber was sollte ich machen, die Nachbarin meinte es gut.« Herr Muschler sah nicht nur fern, sondern las außerdem noch die Zeitung. Er brummte nur: »Hm, so, so, ja, ja, hm.« »Du findest ihn also auch so scheußlich wie ich«, fuhr Frau Muschler fort. »Meinst du, es würde sich lohnen, ihn noch einmal zu retten? Wenn ich nur wüsste, wie Julchen darüber denkt.« Herr Muschler sah nicht nur fern und las dabei die Zeitung, sondern steckte sich auch noch eine Zigarette an. Er murmelte: »Ja, ja, so, so, fffft«, und blies das Streichholz aus. Frau Muschler drehte den Puppenwagen hin und her. Das Gestänge war verbogen und voller Rost. Das Strohgeflecht löste sich auf. Die Gardinen am Verdeck waren nur noch Lumpen. »Armes Julchen«, seufzte sie, »in solch einem Monstrum soll sie ihre schönen Puppen spazieren fahren. Aber sicher fragt mich die alte Nachbarin eines Tages, was Julchen gesagt hat, und was mache ich dann?« Herr Muschler sah nicht nur fern, las dabei die Zeitung und rauchte, sondern schenkte sich zur gleichen Zeit ein Glas Bier ein. »Hm, hm, hm«, sagte er. Frau Muschler begann am Gestänge des Puppenwagens zu zerren, bis es einigermaßen gerade war. Es gelang ihr, das Rad festzumachen. Auch das Verdeck brachte sie wieder an die Stelle, wo es hingehörte. Als sie das
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Strohgeflecht mit Bindfaden flickte, zerstach sie sich die Finger. In der Küche
scheuerte sie den ganzen Puppenwagen mit einer Bürste und heißem Seifenwasser. Sie kramte aus ihrem Schrank einen alten Unterrock hervor, den sie schon lange nicht getragen hatte. Damit fütterte sie das Verdeck. Die Spitze vom Saum gah eine Rüsche rundherum. Das Fernsehen war zu Ende und Herr Muschler fand in der Zeitung nichts Neues mehr. Er trank sein Bier aus, drückte die Zigarette aus und kam in die Küche. »Zeit zum Schlafen«, sagte er. Dann sah er den i Puppenwagen. »Nanu, das ist ja ein tolles Fahrzeug. Woher stammt denn das?« »Ich hahe es dir schon ein paar Mal erklärt«, sagte Frau Muschler, »aber du hörst mir ja nicht zu.« Herr Muschler fand den Puppenwagen ganz manierlich, nur etwas farblos. Er überlegte und begann dann, in seinem Werkzeugschrank, auf dem Regal und schließlich in der Speisekammer zu kramen. Im Besenschrank fand er, was er suchte. Es war eine große Dose Silberbronze, die er für sein Auto gekauft hatte. Er schob Frau Muschler zur Seite und begann das Gestell zu versilbern. »Die Räder auch«, verlangte Frau Muschler. Sie hielt ihm die Farbe und er strich nach den Rädern auch noch den Griff an. Dann standen beide da und sahen den Puppenwagen mit schiefem Kopf an. »Er könnte Julchen vielleicht doch gefallen«, sagte Frau Muschler. Herrn Muschler tropfte etwas Silberbronze auf das Verdeck.
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»Pass auf«, rief Frau Muschler und versuchte, es mit ihrer Schürze wegzureiben. Der Klecks blieb. Da strich Herr Muschler auch das Verdeck silbern. Als es fertig war, rann an mehreren Stellen die Silberbronze in das Strohgeflecht. Nach kurzer Zeit war es gestrichen und Herr Muschler stellte die Farbdose auf das Frühstückstablett. Der Puppenwagen war jetzt wirklich prachtvoll. Dafür hatte das Tablett einen Ring. Es blieb nichts anderes übrig, als es zu streichen. Dabei kleckste Herr Muschler den Herd voll. 31
Schon immer hatte sich Frau Muschler eine versilberte Herdplatte gewünscht. Sie brachte schnell noch einiges, was Herr Muschler anstreichen sollte: den Lampenfuß, den Spiegelrahmen, den alten Mülleimer und die Küchenwaage. Herr Muschler strich außerdem noch das Ofenrohr, die Gardinenstange, die Türgriffe und den Wasserkessel. »Du hast keine Angst, dass es etwas überladen wirken könnte?« fragte er zwischendurch. Aber Frau Muschler konnte nicht genug Silber sehen. Er musste außerdem noch alles streichen, was Farbspritzer abbekommen hatte. »Zum Beispiel deine Nase«, sagte er und kam mit dem Pinsel auf Frau Muschlers Gesicht zu. »Lieber deine Schuhe«, rief sie quietschend. Herrn Muschlers Schuhe waren voller Silberflecke. Weil es die alten waren, kam es nicht darauf an. Er zog sie aus und schon waren sie silbern. Sie waren nicht wieder zu erkennen. Aber die Farbe war auch alle. Herr und Frau Muschler kamen vor Lachen außer Atem und mussten sich hinsetzen. »Was macht ihr für einen Lärm?«, fragte Julchen und tappte in die Küche. Sie sah überall Silber. Mitten im Raum stand der schönste Puppenwagen, den sie je gesehen hatte. »Für wen ist der?«, fragte sie. »Der ist für dich«, sagte Frau Muschler. »Und wem gehören die Silberschuhe?«, fragte sie. »Die gehören mir«, sagte Herr Muschler. Aber das konnte er Julchen nicht weismachen. Irgendjemand war gekommen und hatte den Puppenwagen gebracht. Alles, was er angefasst hatte, war zu Silber geworden. Er hatte seine Schuhe ausgezogen, um niemanden zu stören, und hatte sie dann vergessen. »Na, meinetwegen, so könnte es auch gewesen sein«, sagte Frau Muschler. Sie schickte Julchen am anderen Morgen zur Nachbarin: »Erzähl ihr deine Geschichte, sie freut sich darüber!« Julchen nahm zum Beweis die Silberschuhe mit.
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Geschichte von der Koschale
»Einmal«, erzählte Ella, die bei uns sauber macht, »einmal wären meine drei Brüder und ich um die Weihnachtszeit fast Waisenkinder geworden, ohne Vater und Mutter allein auf der Welt. Das ist lang her und es kam so: Bei uns auf dem Dorf in Niedersachsen wurde früher Koschale gemacht, das war das Weihnachtsessen. Eine Woche vorher backte man dazu große Mengen Pfefferkuchen auf dem Blech. Die eine Hälfte wurde in Rechtecke geschnitten, bekam Zuckerguss und wurde für uns Kinder zurückgelegt. Die andere Hälfte brockte man in große Steintöpfe, wie man sie auch für Gurken oder Sauerkraut nahm. Darüber goss man Branntwein, bis der Topf voll war. Er wurde zugedeckt und irgendwo hingestellt, wo es kühl war. Weihnachten kam er auf den Tisch. Mit der Kelle wurde die Koschale in tiefe Teller gefüllt und mit Löffeln gegessen. Dazu gab es Brot und Knackwurst. Das war natürlich nur für die Großen, aber wir Kinder durften kosten. Alle bekamen beim Essen rote Gesichter und wurden laut und fröhlich. Also - Mutter hatte wieder einmal den Steintopf gefüllt und zugedeckt. Unser Haus war klein und hatte keinen Keller. Mutter wusste nicht recht, wohin mit der Koschale, und stellte sie schließlich in der Schlafkammer auf das Spind, so haben wir damals den schmalen Kleiderschrank genannt. 33
In der Nacht wachte unser Vater auf, weil der Hund bellte. Vielleicht hatte der eine wildernde Katze gejagt oder eine Eule war ihm vor der Nase entlanggestrichen. Er wollte sich nicht beruhigen, und als er endlich still war, konnte Vater nicht wieder einschlafen. Er kam ins Grübeln, dachte daran, was vor dem Weihnachtsfest noch alles zu erledigen war, und freute sich auf die gute Koschale. Da fiel ihm ein, dass der Steintopf ganz in der Nähe war. Er meinte, es könne nicht schaden, einmal zu probieren, ob Mutter die richtige Mischung angesetzt hatte. Zu viel Pfefferkuchen war nämlich nicht gut, zu viel Branntwein dagegen schadete nichts. Um Mutter nicht zu wecken, stieg Vater vorsichtig aus dem Bett, rückte den Schemel an das Spind, packte seine Jacke und seine Hose vom Schemel auf das Fensterbrett und kletterte hoch. Er angelte nach dem Deckel, lüftete ihn und fuhr mit der anderen Hand in die Koschale, denn einen Löffel hatte er nicht. Er schlürfte aus der hohlen Hand und fand, dass Mutter ihre Sache gut gemacht hatte. Er stieg wieder vom Schemel und legte sich behutsam hin. Wir schliefen damals auf Säcken, die mit Stroh gefüllt waren und bei der kleinsten Bewegung raschelten. Doch Vater war so leise, dass Mutter nur einmal aufschnaufte, aber fest weiterschlief. Es war ihm angenehm warm um den Magen herum geworden und er schlummerte ein. Kurz darauf bellte der Hund wieder. Diesmal nur kurz, wie Hunde es tun, wenn sie träumen. Aber Vater schreckte hoch und lag wieder wach. Er grübelte und dachte: Es soll wohl so sein. Oder vielleicht dachte er auch nichts. Jedenfalls kletterte er erneut auf den Schemel und fasste in die Koschale. Mutter reckte sich, aber sie wachte nicht auf. Vater hatte nun zu seinem warmen Bauch auch noch ein heißes Gesicht bekommen. Er war zwar müde, meinte jedoch, es sei besser, gleich noch einmal an die Koschale zu gehen, denn wenn er erst einmal schlief, kam er nicht mehr dazu. Auch war es gut, mehrmals zu schlürfen, damit er danach seine Ruhe hatte. Als er sich wieder hingelegt hatte, war ihm so, als wenn das Bett schaukelte, und manchmal, als wenn es flöge und über Kopf landete. Aus Erfahrung kannte Vater dagegen ein gutes Mittel. Er stellte einen Fuß fest auf den Boden: sofort stand das Bett still. Aber nun wurde Vaters Fuß langsam kalt. Draußen war Frost und der zog mächtig durch die Fensterritzen. Mutter legte abends immer einen Feldstein in die Ofenröhre. Wenn der heiß war, wickelte sie ihn in ihre Schürze und legte ihn ins Bett an das Fußende. Vater lachte sie sonst aus, denn er hatte niemals kalte Füße. Jetzt wäre er gern mit unter Mutters Decke geschlüpft. Doch er traute sich nicht, denn gewöhnlich hatte Mutter einen leichten Schlaf und wachte sofort auf. Fr sagte 34
sich: Die Koschale hat mir den Magen und das Gesicht erwärmt, nun soll sie auch etwas für meinen kalten Fuß tun. Es fiel ihm nicht mehr so leicht wie vorher, auf den Schemel zu klettern, denn der wackelte genauso wie das Bett. Vater stützte sich mit dem anderen Fuß auf dem Fensterbrett ab, bis sich der Schemel beruhigt hatte. Er musste mit beiden Händen suchen, ehe er den Koschaletopf fand. Als er ihn endlich erwischt hatte, polterte der Deckel nach unten, das machte ziemlichen Lärm. Mutter schreckte hoch und rief: »Was ist denn«? Vater fuhr zusammen, rutschte mit dem einen Fuß vom Fensterbrett, mit dem anderen vom Schemel und stürzte auf die Bettkante. Dabei stieß er sich den Rücken und bekam viele blaue Flecken. Er riss den Koschaletopf mit sich und der landete haargenau neben Mutters Kopf auf dem Strohsack.
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»Ja, so war das«, sagte Ella. »Es ging noch alles gut aus. Schließlich konnte sich Vater den Hals brechen und um ein Haar hätte der Steintopf unsere Mutter erschlagen. Dann wären wir Waisenkinder gewesen. So war es nur ein Unglück, dass Vater zu Weihnachten keine Koschale bekam, denn die war in den Strohsack gelaufen. Mutter hat alles draußen auf den Mist gebracht und sich einen neuen Sack in der Scheune gestopft. Unsere Hühner und Gänse torkelten tagelang auf dem Hof umher. Mutter sprach bis Neujahr kein Wort mit Vater. Der humpelte durch das Dorf und erzählte allen, er hätte schweres Rheuma. Im Jahre darauf stellte Mutter den Steintopf mit der Koschale bis Weihnachten zur Nachbarin in den Keller.«
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Die Fernsehgeschichte
Am Nachmittag hatte es Mama satt. Frühmorgens war sie in der Stadt gewesen. Sie hatte sich mit vielen Menschen durch die weihnachtlich geschmückten Kaufhäuser gedrängt und Geschenke erstanden. Später, im Bus, war ihr der Einkaufsbeutel gerissen, und bis sie zu Hause war, waren ihre Arme lahm von den Paketen. Gegen Mittag hatte sie beim Fensterputzen eiskalte Finger bekommen. Als danach die Weihnachtsplätzchen in der Backröhre waren, hatte das Telefon geklingelt, da waren alle Plätzchen verbrannt. Dann ließ Mama beim Abwaschen den Deckel von der Kaffeekanne fallen, nun konnte sie die Kanne nicht mehr benutzen und hatte es satt: sie wollte eine Weile Ruhe haben. Nebenan begann gerade die Kinderstunde im Fernsehen. Mama hörte, wie es quakte und quietschte und wie Peter und Melanie vor Vergnügen laut lachten. »Bitte geht ein bisschen nach draußen, ihr wart heute noch nicht an der frischen Luft«, rief Mama und blieb unerbittlich, sosehr sich Peter und Melanie auch sträubten. Sie schob beide aus der Tür, drehte den Fernseher ab und legte sich hin. Peter und Melanie standen auf dem Hof. Es war kalt und nass. Vor ein paar Tagen hatte es geschneit. Der Hauswart hatte den Schnee zu großen Haufen geschippt, die waren inzwischen grau und schmutzig. Da stand noch seine Schaufel. Verdrossen rammte Peter mit ihrem Stiel Löcher in den Schnee, eins neben dem anderen. »Ich habe eine riesengroße Wut!«, schrie er. »Aber ich erst«, rief Melanie und trat gegen die Schneehaufen. »Was macht euch denn so wütend?«, fragte der Hauswart. 37
»Mama hat uns den Fernseher abgestellt und uns weggeschickt, nur weil sie ihre Ruhe haben will«, riefen Peter und Melanie. »Wenn ihr immer so brüllt, kann man das verstehen«, sagte der Hauswart. »Deshalb macht ihr auch nun wohl selbst Fernsehen?« Und er zeigte auf die Löcher. »Wieso?«, fragten Peter und Melanie. »Na, wenn man will, kann man ganz tief unten in jedem Loch ein anderes Programm sehen. Es ist natürlich nicht deutlich wie in einem richtigen Gerät, aber wenn ihr euch Mühe gebt, erkennt ihr es.« »Das glaube ich nicht«, sagte Peter. Der Hauswart beugte sich tief über ein Schneeloch: »Also . in diesem hier läuft eben ein Cowboyfilm, ganz toll! Sie jagen mit den Pferden, dass man Angst bekommen kann -da, hab ich mir doch gedacht, dass der kleine Dicke runterfällt, er hat sich fast den Hals gebrochen!« Melanie saß neben ihm: »Aber ich seh gar nichts!« Der Hauswart stand auf und schob Melanie fast mit der Nase in das Loch hinein: »Sieh nur genau hin! Es ist ganz tief unten und ziemlich winzig, aber ist gut zu erkennen.« »Stimmt das?«, fragte Peter. »Ich weiß nicht«, sagte Melanie, »ich glaube schon.« »Aber Melanie«, sagte der Hauswart, »du siehst doch, wie die Cowboys absteigen und ein Lagerfeuer machen. Und da auf dem Hügel links taucht ein Indianer auf.« »Ich sehe ihn, ich sehe ihn!«, schrie Melanie. »Lass mich mal«, rief Peter und schubste Melanie weg. »Komm her«, sagte der Hauswart. Er zog Peter am Kragen vor ein anderes Loch: »Du bekommst das zweite Programm. Geh ganz dich heran und gib genau Acht. Es dauert eine Weile, bis du etwas erkennst. Das ist genau wie bei anderen Fernsehern. Na, ist das Bild schon da?« »Noch nicht«, sagte Peter enttäuscht. »Gib dir mal ein bisschen Mühe, du bist doch nicht dümmer als Melanie. Soviel ich weiß, gibt es gerade einen Zeichentrickfilm von einer Ente, die nicht schwimmen kann. Sie versucht es immer wieder, aber sie geht unter wie ein Stein.« Oben riss Mama das Fenster auf und rief: »Peter, Melanie, steht sofort auf, ihr seid ganz nass! Kommt herauf, ehe ihr euch erkältet!« Sie mussten warme Hausschuhe anziehen und Mama sagte: »Wenn ihr wollt, könnt ihr weiter fernsehen.« Aber sie mochten nicht mehr. Sie sahen aus dem Fenster. Unten stand der Hauswart, beugte sich über eins der Löcher, sah lange hinein, schüttelte dann den Kopf und ging weg. »Was mag er gesehen haben?«, fragte Melanie. 38
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»Siehst du das?«, fragte Melanie. »Klar«, behauptete Peter, »die Ente ist so blöd, dass sie auch mit dem Fliegen nicht zurechtkommt und immer wieder auf den Schnabel fällt. Ein Glück - sie kann wenigstens laufen!« »Bitte, bitte, lass mich die Ente sehen!«, rief Melanie. Aber Peter ließ sie nicht. Da hockte sich Melanie vor ein neues Schneeloch und sagte: »Dann darfst du auch nicht gucken, wie wir in den Ferien die Autopanne hatten, wie ihr alle geschoben habt und ich lenken durfte!« »Na wenn schon«, rief Peter, »dafür hab ich ein Loch mit der Mondlandung. Und wer setzt wohl seinen Fuß als Erster dort auf? Darauf kommst du nie! Ich bin es, ich!« »Ist mir doch egal«, gab Melanie zurück, denn sie sah sich einen tollen Film an, in dem sie selbst die Hauptrolle spielte. Peter und Melanie stießen mit dem Schaufelstiel immer neue Löcher in den Schneehaufen und steckten ihre Nasen hinein.
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Die Reisegeschichte
Einmal feierte ein Junge Weihnachten erst im Mai. Der Junge hieß Georg. Georgs Eltern hatten sich so lange gezankt, bis sie nicht mehr miteinander leben konnten. Sie hatten nun zwei Wohnungen. Beide wollten Georg bei sich haben, aber Georg war ebenso gerne bei Papa wie bei Mama. Also war er abwechselnd einige Wochen da und einige Wochen dort. Seinen Geburtstag hatte er in diesem Jahr bei Mama gefeiert. Nun sollte er Weihnachten bei Papa verbringen. Zwei Wochen vorher packte Mama seine Sachen. Sie gab ihm ihre Geschenke und er durfte alles gleich auspacken. Dann bestellte sie ein Taxi, sagte dem Fahrer Papas Adresse und lief ins Haus zurück, ehe Georg winken konnte. Mama war jetzt oft recht merkwürdig. Papa sagte zu Georg: »Was sollen wir beide hier allein sitzen und Weihnachten feiern. Ich habe mir etwas anderes ausgedacht: wir verreisen!« Das fand Georg prima. Im Reisebüro buchte Papa eine Reise für zwei Personen nach Afrika. Vom Flughafen aus rief Georg noch einmal bei Mama an. Er sagte auf Wiedersehen und fragte, ob Mama Weihnachten an ihn denken würde. Ja, das 41
wollte sie und sie versprach, ganz bestimmt einen Gruß zu schicken: »Du hörst von mir.« Georg flog mit Papa nach Afrika. Sie bekamen ein schönes Hotelzimmer. Aus einem Fenster sah man das Meer, aus dem anderen konnte man Palmen sehen. Es war ganz warm, und sie badeten gleich im Schwimmbad. Dann gingen sie zum Hafen, schlenderten durch die Gassen, kletterten über Felsen und liefen zum Strand. Sie kauften Sandalen und Strohhüte. Am Abend durfte Georg so lange aufbleiben wie Papa. Sie saßen an einem kleinen Tisch, der am Straßenrand stand, und beobachteten die vielen fremden Menschen. »Gefällt es dir?«, fragte Papa. Es gefiel Georg. Nach einigen Tagen sagte Papa: »Heute Abend ist Weihnachten.« Daran hatte Georg nicht mehr gedacht. Es war hier wie im Sommer und nichts hatte ihn an Weihnachten erinnert. Vor allen Dingen gab es hier keine Weihnachtsbäume. Papa hatte nicht einmal einen Zweig aufgetrieben. Sie saßen im Hotelzimmer. Georg bekam von Papa ein buntes Hemd und schenkte ihm eine große Muschel, die er am Strand gefunden hatte. Papa konnte sie als Aschenschale nehmen. Georg dachte sehr an Mama. Sie hatte einen Gruß versprochen, aber sie hatte noch nichts von sich hören lassen. Vielleicht hatte sie angerufen. Georg wollte unten fragen, doch er konnte die fremde Sprache nicht. Papa meinte: »Wir wollten spazieren gehen.« Auf den Straßen war großes Gedränge. Es war wie jeden Abend, nicht anders. Georg und Papa aßen etwas, dann gingen sie zum Hafen. Dort fuhr ein Schiff ab. Es war hell erleuchtet und hatte an allen Masten bunte Lichterketten. Georg wollte wieder ins Hotel. Aber Mama hatte sich noch immer nicht gemeldet. Es kam auch nichts von ihr am nächsten und nicht am übernächsten Tag. Georg war enttäuscht. Er wurde böse: »Das war kein richtiges Weihnachtsfest. Ich mag Mama nicht mehr, sie hat mich vergessen.« Papa sagte nichts dazu. Als sie wieder zu Hause waren, blieb Georg bei Papa. Der erklärte es Mama am Telefon und sagte, es sei nicht seine Schuld. Mama wollte Georg sprechen, aber der weigerte sich. Da legte sie auf. Im Mai brachte der Postbote ein Paket für Georg. Es hatte Beulen und das Papier war zerrissen. Dreierlei Schnüre hielten es zusammen. Auf der Vorderseite waren viele Marken und Stempel und überall stand etwas in einer Schrift, die man nicht entziffern konnte. Das Paket war ganz leicht. 42
Georg schüttelte es und hörte, wie es innen knisterte und raschelte. »Vielleicht sind Mäuse drin«, sagte er. Papa sah sich die Anschrift genau an und sagte: »Mach es auf.« Georg zerschnitt die Schnüre und warf das Papier weg. Eine Schachtel kam zum Vorschein, die mit einer Schleife zugebunden war. Georg zog sie auf und hob den Deckel hoch. Darunter war buntes Seidenpapier. Er klappte es auseinander und fand nichts als trockenes, dürres Reisig. Und in einer Ecke ein Häufchen Tannennadeln. Aber da war noch ein Brief: »lieber Georg, hier hast du einen Weihnachtsbaum, weil es sicher in Afrika keinen gibt. Grüße Papa. Denkt an mich, ich denke an euch. Mama« Papa sagte zu Georg: »Mama hatte dich Weihnachten nicht vergessen. Die Post war so langsam, dass wir schon weg waren, als das Paket in Afrika ankam. Seitdem reist es hinter uns her und hat sich ein paar Mal verirrt.« Georg rief sofort Mama an, um ihr alles zu erzählen. Dann hatten Papa und Mama ein langes Gespräch. Am Nachmittag kam sie. Auf dem Tisch stand der struppige Tannenbaum, der keine einzige Nadel mehr hatte. Georg rief: »Jetzt feiern wir richtig Weihnachten!« Papa und Mama zankten sich überhaupt nicht. Am Abend zog Georg wieder mit zu Mama, für die nächsten Wochen. Aber Papa kommt bald zu Besuch. Vielleicht ziehen sie auch wieder zusammen.
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Die neugierige Geschichte
Ein Mann, der selbst sehr neugierig war, hatte eine neugierige Frau. Das war nicht weiter schlimm, nur in der Weihnachtszeit fielen sie sich damit gegenseitig auf die Nerven. Sie hatten eine kleine Wohnung: ein Zimmer, die Küche, die Dusche und dazu eine winzige Diele; da war nicht viel Platz, um voreinander Weihnachtsgeschenke zu verstecken. Jeder wusste vom anderen, dass er vor Neugierde fast platzte und schon vorher versuchte, das Geschenk zu finden. Einmal, als der Mann von der Arbeit kam, ertappte er seine Frau, wie sie alle seine Anzüge aus dem Schrank geräumt und seine Hemden aus der Schublade gezogen hatte. »Ach«, sagte sie und bekam ein rotes Gesicht, »ich wollte nur etwas Ordnung schaffen«, und sie stopfte alles wieder in den Schrank und die Schublade. Aber der Mann wusste, dass sie sein Weihnachtsgeschenk gesucht hatte. Als die Frau vom Einkaufen nach Hause kam, fand sie ihren Mann unter den Betten. »Ich wollte ein wenig sauber machen«, sagte er und bekam rote Ohren. »Mit den Händen?«, fragte die Frau. Sie wusste, dass er nur gesucht hatte, wo sie ihr Geschenk versteckt hatte. Sie führten keine anderen Gespräche mehr als: »Was schenkst du mir? Bitte, verrate es, ich platze fast!« »Was kriege ich von dir? Sag es mir, oder ich komme um!«
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So gern sie gewusst hätten, was sie geschenkt bekamen, so wenig verrieten sie, was sie schenkten, und so große Mühe gaben sie sich, in der kleinen Wohnung ein Versteck zu finden, das der andere nicht vorzeitig entdeckte. Als der Heilige Abend endlich gekommen war, konnten sie es schon am frühen Morgen nicht mehr aushalten. Die Frau sagte, sie sollten doch jetzt schon bescheren, schließlich sei den ganzen Tag Weihnachten. Das war dem Mann nur ; recht, auch er sah nicht ein, warum sie bis zum Abend warten sollten. Sie stand also auf, um die Geschenke zu holen. Der Mann ging ins Zimmer, die Frau lief in die Küche. In der Diele rannten sie sich fast um, denn die Frau wollte ins Zimmer und der Mann in die Dusche. Dann stießen sie gegeneinander, weil der Mann in die Küche lief und die Frau auch. Sie liefen hin und her und riefen sich nur manchmal zu: »Gleich ist es so weit!« Aber es dauerte sehr lange: sie hatten die Geschenke so gut versteckt, dass sie sie nun selbst nicht mehr fanden. Der Mann rückte den Schrank von der Wand ab, die Frau hob die Matratzen aus dem Bettgestell. Er schraubte die Lampe ab; sie rollte den Teppich auf. Er montierte die Rückwand vom Radio ab; sie sah oben auf der Gardinenleiste nach. »Ich finde es nicht mehr«, rief sie endlich. »Such weiter, ich bin so neugierig darauf«, sagte der Mann und steckte seinen Kopf in die Backröhre. »Wie ich auf deines«, antwortete die Frau. »Wo hast du es?« »Wenn du nicht immer danach gesucht hättest, hätte ich es nicht so gut versteckt«, rief der Mann, »du bist schuld!« »Und du bist schuld, dass ich mein Geschenk nicht mehr finde!«, entgegnete sie. Aber weil Weihnachten war, wollten sie sich nicht zanken. Sie suchten lieber gemeinsam weiter. Schließlich waren die Schränke ausgeräumt, alle Kannen und Töpfe umgestülpt, in den Mänteln die Taschen nach außen gewendet und die Bilder von der Wand genommen. Sie hatten überall dreimal nachgesehen und sie hatten nichts gefunden. »Dann sag mir wenigstens, was es ist«, meinte die Frau. Aber das wollte der Mann nicht: »Es ist dann keine Überraschung mehr.« »Sag mir, wie es aussieht!«, drängelte sie. »Klein, groß, spitz oder rund?« »Klein«, sagte der Mann. »Und dein Geschenk?« »Spitz«, sagte die Frau. Es wurde Abend. Die Wohnung war vollkommen durcheinander. Sie wollten Licht machen, da waren die Birnen herausgeschraubt. Sie wollten Essen machen und fanden die Teller nicht mehr. Sie wollten schlafen gehen und mussten die Kissen suchen. 45
»Ich kann nicht mehr«, rief der Mann und ließ sich in den Sessel fallen. Aber weil der mit den Beinen nach oben stand, fuhr er sogleich wieder hoch. Er drehte ihn herum und zer stach sich dabei die Hand, denn er fasste an etwas Spitzes, das in der Polsterung steckte. »Au«, rief er und zog das Taschentuch aus der Hosentasche, um es sich um den Finger zu wickeln. Dabei rollte etwas ganz Kleines auf den Boden. Ob sie die Geschenke noch gefunden haben? Wer weiß! Und was es war? Das geht nur die beiden an - wer wird denn so neugierig sein! Die Geschichte vom Strolch Der Vater von Anne ist Vertreter, er ist mit dem Auto unterwegs und kommt erst zum Wochenende nach Hause. Wenn er dann da ist, nimmt er sich Zeit für Anne und spielt und tollt mit ihr. Beide sind traurig, dass er am Montag früh wieder wegmuss. Anne hat einen Kalender und Papa hat ein Notizbuch. Beide machen sie Kreuze und zählen die Tage bis Weihnachten. Dann wollen sie die Feiertage und eine ganze Woche Ferien dazu richtig genießen. Aber einige Zeit vorher sagt Papa, dass daraus nichts wird; er hat so viel zu tun, dass alle seine Abrechnungen liegen bleiben. Die wird er nun zu Weihnachten aufarbeiten müssen und gleich danach muss er wieder wegfahren. Anne hört zu, wie er das mit Mama bespricht. »So fällt wieder mal alles ins Wasser«, sagt er. »Mach es einfach nicht und bleib bei uns«, ruft Anne. Aber Mama hat einen besseren Vorschlag. Sie will mit Papa zusammen eine Woche fortfahren; gemeinsam werden sie es schon schaffen, dass Papa zu Weihnachten einige Tage frei hat. »Aber wer bleibt bei Anne?«, fragt Papa. »Wir können sie hier nicht ganz allein im Haus lassen.« Mama meint: »Ich werde Tante Erni darum bitten.« Anne zieht ein Gesicht, aber sie sieht ein, dass Mama Recht hat. Mama ruft gleich Tante Erni an. Ja, sagt sie, es sei natürlich eine Ausnahme und Tante Erni habe vollkommen Recht, dass eine Frau ins Haus und nicht ins Auto gehöre, wenn ein Kind schon einen Vater habe, der nie da sei, sicherlich, das sehe sie ein, was Tante Erni sage, ein Kind brauche seine Mutter, aber es habe eben Glück, wenn es wenigstens eine Tante habe, ganz recht und: »Vielen Dank, dass du kommen willst«, sagt Mama, dann legt sie den Hörer auf. Tante Erni ist ein wenig altmodisch, aber Papa und Mama sind froh, dass man sie anrufen und um etwas bitten kann. Sie sagen, Anne soll lieb und brav und folgsam sein. Am anderen Morgen kommt Tante Erni, dann fahren Papa und Mama weg. 46
Anne und Tante Erni vertragen sich gut, wenn die Tante auch findet, dass Annes Haare ins Essen hängen, und sie ihr deshalb Zöpfe flicht. Anne darf Tante Erni bei Kreuzworträtsel helfen und Tante Erni sieht mit Anne zusammen das Kinderfernsehen an. Es wird früh dunkel um die Weihnachtszeit. Tante Erni lässt alle Rollläden herunter, schließt die Haustür ab und legt die Kette vor. Sie stellt unter die Klinke der Balkontür einen Stuhl. Sie schiebt im Keller vor die Außentür eine Kartoffelkiste. »Bei Dunkelheit wollen wir keinen Besuch mehr haben«, sagt sie, »um diese Zeit kommt niemand mehr, ohne sich vorher anzumelden. Höchstens Einbrecher.« »Oder Räuber«, sagt Anne. »Das ist fast das Gleiche«, sagt Tante Erni. »Mörder auch?«, fragt Anne. »Male den Teufel nicht an die Wand!«, ruft Tante Erni. Sie rennt durch das ganze Haus, bückt sich unter alle Betten, sieht in alle Schränke und hinter alle Türen, ja, sie zieht sogar die Schubladen der Kommode auf, in die wirklich bloß Zwergeneinbrecher passen würden. Anne läuft hinter ihr her, sie sieht in den Kühlschrank und unter den Teppich. Dann sitzt Tante Erni da und horcht. Sie sagt, Anne soll nicht so laut reden, man könne nicht hören, ob jemand um das Haus schleicht. Plötzlich klingelt das Telefon.
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»Mein Herz!«, ruft Tante Erni. Aber Anne weiß, dass es Papa und Mama sind, denn sie haben versprochen, am Abend anzurufen. Sie nimmt den Hörer ab und fragt, wie es ihnen geht. Mama sagt, sie hätten viel geschafft und es sei gut, dass sie mitgefahren ist. Anne sagt, ihnen ginge es auch gut. Nun hat sich Tante Erni gefasst, kann an das Telefon kommen und sagt: »Es ist bisher alles in Ordnung!« »Warum auch nicht«, sagte Mama, »macht's gut bis Samstag, wir melden uns nicht noch einmal.« Am nächsten Abend geschieht nichts. Als Tante Erni jedoch am folgenden Abend wieder alles abgeschlossen und verriegelt hat und gerade im ganzen Haus in alle Ecken und unter alle Möbel schaut, klingelt es. Tante Erni packt Anne am Arm und zieht sie hinter den Küchenherd. »Sei ganz still. Wir sind nicht zu Hause«, raunt sie.
»Aber wir sind doch da«, flüsterte Anne, »wenn du dich nicht traust, kann ich aufmachen!« »Untersteh dich!'«, zischt Tante Erni. Da klingelt es schon wieder. Anne schreit: »Au«, so fest kneift Tante Erni in ihren Arm. 48
Es klingelt noch einmal und noch einmal. Dann schlägt etwas gegen die Tür. »Sie brechen ein!«, jammert Tante Erni. »Ich rufe die Polizei!« Sie schleicht gebückt durch die Diele an das Telefon. Anne huscht hinter ihr her. In der Haustür ist ein kleines verglastes Guckloch. Anne stellt sich auf die Zehenspitzen, aber sie kann nichts erkennen. Doch - seitlich sieht sie was Rotes schimmern, nur ein Stück Nase und ein wenig Bart. Sie dreht sich zu Tante Erni um und flüstert: »Ich glaube, .. es ist ein Nikolaus.« ' Tante Erni blättert hastig im Telefonbuch und erwidert leise: »Glaub das nicht! Er will uns reinlegen. Lass die Hände von der Türklinke«, denn Anne will aufschließen. Tante Erni kommt schnell und hält Anne fest. Draußen sagt eine Stimme: »Nun macht schon auf, ich weiß ja, dass ihr da seid. Ihr werdet doch keine Angst haben, wenn der Nikolaus kommt!« Anne weiß, dass ein Nikolaus weder ein Einbrecher noch ein Räuber ist. Der vom letzten Jahr war der Vater von Annes Freundin und der im Jahr davor war ein Nachbar. Tante Erni ruft: »Scheren Sie sich sofort weg oder ich rufe die Polizei!« »Aber Tante Erni«, sagt draußen der Nikolaus, »warum so streng mit mir. Ich komme durch Schnee und Eis ...« »Ha«, ruft Tante Erni, »schon gelogen. Kein Schnee, kein Eis. Es ist warm und regnet.« »Hatschi«, niest der Nikolaus. »Gesundheit!«, ruft Anne. »Du bist wenigstens nett zu mir«, sagt der Besuch vor der Tür, »lass du mich rein, Anne, ich will dir etwas schenken.« »Nein, das wird sie nicht tun!«, ruft Tante Erni. »Diesen Trick kenne ich aus der Zeitung: Man verkleidet sich und überwältigt wehrlose Frauen und Kinder! Darauf fallen wir nicht herein.« Anne glaubt, dass der Nikolaus lacht, aber vielleicht hat sie sich verhört. Jedenfalls sagt er jetzt: »Ich schlage euch etwas vor. Ihr lasst die Kette dran, aber ihr macht die Tür einen kleinen Spalt weit auf, dass ich euch meine Geschenke durchreichen kann.« »Nicht einmal das«, sagt Tante Erni. »Dann nicht, es ist euer eigenes Pech«, sagt er. Anne und Tante Erni hören, wie er davonstapft. Tante Erni schimpft hinter ihm her, aber Anne ist bockig, sie hätte gern dem Nikolaus aufgemacht. Doch dann denkt sie daran, dass sie Mama und Papa versprochen hat, folgsam zu sein. Als Anne am anderen Morgen für Tante Erni die Zeitung hereinholt, findet sie zwei Päckchen auf der Türschwelle. Die sind nass und aufgeweicht 49
vom Regen. Anne legt sie Tante Erni auf den Frühstückstisch. Auf dem einen steht: »Für Anne«, auf dem anderen: »Für Tante Erni.« »Die hat der Nikolaus dagelassen«, sagt Anne. »Nicht anfassen!«, ruft Tante Erni. »Das kenne ich aus der Zeitung. Sie legen harmlose Päckchen vor die Tür, und dann sind es Bomben!« Sie holt die Müllschaufel, legt beide Päckchen vorsichtig darauf und trägt sie in den Garten. Dort wirft sie alles unter ein Gebüsch. »So«, sagt sie zufrieden, »hier können sie meinetwegen in die Luft fliegen.« Aber dann rennt sie in das Haus, so schnell sie kann. Später schleicht sich Anne heimlich hin und bringt die Päckchen in ihr Zimmer. In dem einen, auf dem ihr Name steht, sind klebrige Bonbons und eine Stoffkatze mit einem aufgeweichten Hinterteil. In dem anderen, das für Tante Erni sein soll, ist ein hübsches Taschentuch mit einer Spitzenkante. Das trocknet Anne auf der Heizung und gibt es ; Tante Erni beim Mittagessen. »Wie nett und aufmerksam von dir«, sagt Tante Erni. Sie fragt nicht, woher Anne das Tuch hat. Zum Wochenende kommen Papa und Mama nach Hause. Mama ist sehr stolz, wie tüchtig sie beide waren. Wenn sie noch eine Woche mit Papa mitfährt, können sie richtig lange Weihnachtsferien machen. Es kommt natürlich darauf an, ob Tante Erni noch so lange dableibt. Tante Erni sagt ja, wenn nicht allzu oft solche aufregenden Dinge passieren wie an jenem Abend, als der Nikolaus zu ihnen hineinwollte. Und dann erzählt sie alles ganz genau. »Es war ein Strolch mit riesengroßen Pranken, einem Stoppelbart und stechenden Augen«, sagt sie. Anne wundert sich, dass Tante Erni ihn so genau beschreibt, denn sie hat ihn niemals durch das Guckloch angeschaut. Papa und Mama lachen. Später liegt Anne im Bett und hört, wie Papa mit einem Kollegen telefoniert. Er bespricht allerlei Geschäftliches und ; dann sagt er: »Sie findet, du siehst aus wie ein Strolch.«
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Die Kirchengeschichte An Weihnachten ist unsere Kirche hier im Dorf immer knüppeldicke voll. Da gehen auch die hinein, die sich sonst das ganze Jahr hindurch nicht sehen lassen. Manche schicken bereits eine Stunde vorher ihre Kinder, die müssen gute Plätze freihalten. Früher saßen die Männer auf der Empore und die Frauen unten im Kirchenschiff. Jetzt darf man sich hinsetzen, wo man will. Man muss nur aufpassen, dass man nicht hinter die Säulen zu sitzen kommt, denn dort sieht man nicht gut. Alles ist feierlich und eindrucksvoll. Neben dem Altar steht ein hoher Tannenbaum mit vielen elektrischen Kerzen. Oben an der Balustrade stellt sich der Posaunenchor auf und bläst zur Einleitung. Es klingt etwas falsch, sie sagen, das kommt von der Kälte, aber im Sommer ist es nicht anders. Dann singt der Männergesangverein und die Orgel spielt fast die ganze Zeit. Unser neuer Pastor will alles noch eindrucksvoller und feierlicher haben. Darum sagt er nach der Predigt: »Und nun hört alle gut zu, liebe Gemeinde, Männer, Frauen und Kinder, wir singen jetzt gemeinsam das Lied >Vom Himmel hochVom Himmel hoch< singen, machst du das Licht über dem Eingang aus, bei der zweiten Strophe das Licht im rechten Seitenschiff, bei der dritten das im linken. Dann kommen die beiden Seiten der Empore an die Reihe und schließlich nacheinander die drei
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großen Leuchter im Mittelschiff. Die letzte Strophe singen wir nur im Schein der Kerzen am Christbaum. Ist das klar?« Der Pastor hat sich alles gut ausgedacht, und wenn es geklappt hätte, wären wir sicher sehr beeindruckt gewesen. Leider war Fritz Wille vordem noch nie in der Sakristei. Nachdem der Pastor weg ist, sieht er sich erst einmal um. Den Schalterkasten findet er schnell, aber da sind so viele Hebel und Knöpfe, dass er nicht weiß, welcher davon für welches Licht ist. Er kann auch nicht von der Sakristei aus in die Kirche sehen oder vorher alles probieren, nur hören kann er. Er hört den Posaunenchor, den Männergesangverein, die Predigt und die Orgel. Dann hört er, wie wir zu singen anfangen. Er überlegt, dass der Knopf für das Licht über dem Eingang irgendwo in der Mitte sitzen müsste, und drückt auf den unteren mittleren Schalter. Das war die Lampe in der Sakristei und Fritz sitzt erst einmal im Dunkeln. Nachdem er sich etwas beruhigt hat und es ihm geglückt ist, das Licht wieder einzuschalten, hört er, dass wir schon bei der zweiten Strophe angelangt sind. Schnell drückt er einen etwas höher gelegenen Schalter - da geht das Licht auf der rechten Seite der Empore aus. August Lütge brüllt laut: »Liiiicht an«, dann schlägt er sich erschrocken auf den Mund; er hat vergessen, dass er in der Kirche und nicht auf der Kegelbahn ist. Doch Fritz Wille hat den Ruf gehört und das Licht der Empore geht wieder an. Unsere Strophe ist fertig gesungen, nun setzt die Orgel ein. Wir haben uns noch nichts dabei gedacht, als das Licht auf der Empore einmal kurz aus und schnell wieder an war. Wie jetzt aber plötzlich die drei großen Leuchter im Mittelschiff ausgehen, starren wir alle nach oben, der Pastor auch. Mit erhobenem Gesicht singen wir die dritte Strophe. Wir sind noch dabei, als die Leuchter wieder angehen, dafür sind die Lampen in beiden Seitenschiffen aus. Im linken Seitenschiff sitzt ganz am Ende einer Reihe unser Elektrikermeister, Johann Bosse. Mit Besorgnis hat er die wechselnde Beleuchtung beobachtet, denn niemand weiß so gut wie er, dass einige Reparaturen in der nächsten Zeit unumgänglich sind. Bei dem feierlichen Orgelspiel, das nach unserem Gesang wieder an der Reihe ist, steht er auf und drängt sich durch die Reihe. Dadurch entsteht einige Unruhe, jedoch nicht mehr als auf der Empore, die jetzt im Dunklen liegt. Allerdings sind die Seitenschiffe wieder erleuchtet. Wir singen und sehen Johann Bosse nach, wie er durch den Mittelgang eilt. Er wird den Fehler schon finden, denken wir. Eine Sekunden lang ist das Licht ganz weg und nur vorn der Christbaum erstrahlt, danach leuchten alle Lampen wieder auf, die irgend leuchten können. 52
Der Pastor ist die Treppe von der Kanzel hinuntergeklettert und eilt hinter dem Elektrikermeister her. Sie verschwinden hinter der Tür zur Sakristei. Der Pastor fehlt uns sehr. Wenn er nicht vorneweg singt, müssen wir die Gesangsbücher aufschlagen. Wir geraten mit dem Text durcheinander, einige singen die vierte, andere schon die fünfte und sechste Strophe. Doch wir schaffen auch das und die Orgel kann uns wieder ablösen. Kurz hintereinander flackern jetzt die Kerzen am Christbaum dreimal aus und an, danach verlöschen sie. Gleich darauf liegt die ganze Kirche im Dunkeln. Die Orgel verklingt mit einem immer tiefer werdenden Pfeifton, wir sind stolz, dass sie seit dem letzten Sommer elektrische Blasebälge hat. In der Sakristei hat Fritz Wille, unterstützt vom Elektrikermeister und vom Pastor, einen Kurzschluss gemacht.
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Zum Glück kennt Johann Bosse die Schalttafel auch im Dunkeln ganz genau. Es ist nicht das erste Mal, dass er hier steht. Er findet die Sicherungen und das Licht geht überall wieder an. Die Orgel pfeift wie eine Lokomotive, ehe sie mit einem neuen Zwischenspiel einsetzt. Der Pfarrer steht wieder auf der Kanzel und wir holen Luft, um die letzte Strophe zu singen. Da erdröhnen die Glocken. Fritz Wille hat sich in der Sakristei abgestützt und den Hebel für das Geläut erwischt. Es ist für uns das Zeichen, dass der Gottesdienst vorüber ist, und wir drängen aufgeregt zum Ausgang. Wir sehen nicht mehr, dass der Elektrikermeister nun in der richtigen Reihenfolge die Lampen verlöschen lässt, bis allein der Christbaum strahlt. Wir gehen nach Hause, als kämen wir aus einem Kino.
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Die Schlüsselgeschichte
Üben wohnen seit einiger Zeit Hannes und Jonas mit ihren Eltern. Unten wohnt Herr Grasmann ganz allein und ihm gehört das Haus. Er ist schon ziemlich alt. Seine Frau ist gestorben und seine Kinder sind fortgezogen. Menschen mag er nicht besonders gern. Er mag nur einen Hund und der Hund mag ihn. Herr Grasmann beschwert sich regelmäßig, wenn Hannes und Jonas über ihm toben. Dann schimpft Mama mit ihnen und sie sagen Herrn Grasmann eine Weile nicht guten Tag. Aber auch Mama macht er Vorwürfe. Sie lässt immer die Gartenpforte offen, wenn sie vom Einkaufen kommt. Herr Grasmann beschwört sie, es nicht zu tun, jedoch sie vergisst es immer wieder. Selbst Papa hatte mit Herrn Grasmann schon einmal Krach. Er hatte sein Auto vor dem Haus geparkt und Herr Grasmann verlangte, Papa solle es ein Stück weiter weg abstellen, dies hier sei sein Autoplatz und schließlich gehöre ihm das Haus. Papa meinte, die Straße könne jeder benutzen, das hätte nichts mit dem Haus zu tun. Daraufhin stellte Herr Grasmann eine Mülltonne auf die Stelle, als er fortfuhr. Er bekam einen Strafzettel von der Polizei und Papa war froh, dass sein Auto um die Ecke stand. Es ist nicht ganz einfach mit Herrn Grasmann. Aber viel schlimmer ist sein Hund, der alle anknurrt. Um den machen sie einen weiten Bogen. »Trotzdem«, sagt Mama, »tut mir Herr Grasmann Leid. Schließlich ist er den ganzen Tag allein. Wo mag er zu Weihnachten sein? Ob er zu seinen Kindern fährt?« Papa antwortet: »Darüber würde ich mir keine Gedanken machen.« »Ich überlege nur«, erwidert Mama, »ob wir ihn einladen sollten.« »Nein«, ruft Hannes, »das sollten wir nicht!« »Nein«, ruft Jonas, »er soll mit seinem Hund feiern.« »Ihr seid garstig«, sagt Mama. Aber Papa meint, sie seien nicht verpflichtet, sich um Herrn Grasmann zu kümmern. Am Weihnachtsvormittag putzen Hannes und Jonas mit Papa den Baum. Mama will nach dem Mittagessen, dass alle noch eine Stunde ruhen. Aber Hannes und Jonas kribbelt es, sie sind viel zu gespannt, was heute noch alles geschieht. Mama macht schnell einen Tee, dann schickt sie die beiden vor die Tür; sie will mit Papa die Bescherung vorbereiten. Hannes und Jonas hören, wie es drinnen huscht, klappt, scharrt und raschelt. 55
Sie stehen im Treppenhaus am Fenster. Durch das Geäst der Bäume können sie in andere Häuser sehen. Fast überall brennen jetzt Kerzen. Von hier aus erkennen sie nicht viel, aber von der Straße aus können sie besser in die Wohnungen sehen. Sie brauchen nur auf Zäune zu klettern oder sich an Fensterbrüstungen hochzuziehen. Zu Hause macht Mama die Tür auf und ruft: »Hallo, es kann losgehen!« Aber Hannes und Jonas sind nicht da. Sie sucht überall, doch sie mag nicht so laut durch das Treppenhaus rufen, das könnte Herrn Grasmann stören und Arger geben. Sie läuft lieber nach unten und sieht dort nach. Natürlich lässt sie wieder die Gartenpforte offen. Fünf oder sechs Häuser weiter findet sie Hannes und Jonas. Sie stehen auf einer Mülltonne und sehen in ein fremdes Fenster. Mama will schimpfen, aber sie besinnt sich, dass Weihnachten ist. Sie zieht die beiden herunter und alle drei rennen nach Hause. Unterwegs kommt ihnen Papa entgegen. »Wo steckt ihr?«, fragt er. »Wir kommen schon«, rufen sie atemlos. Sie springen die Treppe hoch und da ist die Tür zugeschlagen. »Macht schnell auf!«, ruft Hannes. »Wir können es nicht erwarten!«, ruft Jonas. »Schließ auf«, sagt Mama zu Papa. »Schließ du auf«, sagt Papa zu Mama. Jetzt merken sie, dass niemand einen Schlüssel mitgenommen hat. Sie können nicht in die Wohnung, sie sind ausgesperrt. Papa rüttelt an der Klinke. Dann geht er einige Schritte zurück. »Macht Platz!«, ruft er. Er will die Tür einrennen. Aber Mama hält ihn fest, sie will nicht, dass es vielleicht Herr Grasmann hört. Nun sitzen sie auf den Stufen und wissen nicht, was sie tun sollen. Außerdem ist es kalt. Von Zeit zu Zeit steht einer auf und drückt den Knopf vom Treppenlicht, das immer wieder ausgeht. Unten klappt eine Tür. Das ist Herr Grasmann, der seinen Hund ausführen will. Der Hund wittert sie und beginnt zu knurren. »Ist dort jemand?«, ruft Herr Grasmann nach oben. »Ja, wir«, sagt Mama kläglich. »Na, na«, sagt Herr Grasmann, »feiert man neuerdings Weihnachten im Treppenhaus?« Er kommt die Treppe hoch. Papa berichtet, was geschehen ist. »So was«, sagt Herr Grasmann, »dagegen werden wir gleich etwas unternehmen.« Er geht nach unten in seine Wohnung. 56
Papa, Mama, Hannes und Jonas sitzen auf der Treppe, vor ihnen hockt der große Hund und knurrt sie an. Sie warten. Zum Glück kommt Herr Grasmann bald wieder. Er bringt einen großen Ring mit vielen Schlüsseln. 57
»Einer von denen passt bestimmt«, sagt er. »Das hat keinen Zweck«, sagt Papa, »unser Schlüssel steckt nämlich innen!« Herr Grasmann kratzt sich am Kopf. »Das macht die Sache schwieriger«, meint er, »jedoch keinesfalls aussichtslos.« Wieder geht er nach unten, sie hören, dass er diesmal in den Keller steigt. Sein Hund bleibt zurück. Herr Grasmann kommt und bringt ein Stück festen Draht. »Passt genau auf, was ich jetzt mache«, sagt er zu Hannes und Jonas, »wer das kann, wird jederzeit ein tüchtiger Einbrecher!« »Aber Herr Grasmann«, sagt Mama und er lacht. Sie haben noch nie gesehen, dass Herr Grasmann lachen kann. Er biegt den Draht zu einem Haken, steckt ihn in das Schlüsselloch, dreht und wendet ihn darin, stochert etwas und nach kurzer Zeit poltert innen etwas auf den Boden. Nun versucht er nacheinander alle Schlüssel, die an dem großen Ring hängen. Der dreiunddreißigste passt: Herr Grasman schließt die Tür auf. »Wie sollen wir Ihnen danken«, sagt Papa. »Machen Sie uns die Freude und feiern Sie mit uns Weihnachten«, sagt Mama. Hannes und Jonas rufen: »Ja, bitte!« Herr Grasmann antwortet: »Von mir aus gern, aber mein Hund mag nun mal nicht unter Menschen. Ich muss mich leider nach ihm richten.« Und er geht mit seinem Hund auf die Straße. Hannes sagt: »Der Hund ist gar nicht so, ich habe ihn die ganze Zeit gestreichelt.«
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Die Geschichte vom Wunschzettel Wolfgang und Susanne schrieben auf ihren Wunschzettel dies und das, aber einen Wunsch unterstrichen sie dick mit dem roten Filzstift: »Wir möchten einmal so lange aufbleiben, wie wir wollen.« »Warum nicht«, meinten Papa und Mama. Sie feierten miteinander das Weihnachtsfest, es gab viele Geschenke, sie hatten etwas Gutes zu essen, und als es Zeit war, sagten Papa und Mama: »Wir sind nun müde und gehen zu Bett. Gute Nacht.« »Das ist recht«, sagte Susanne, »und vergesst nicht, euch die Zähne zu putzen.« »Und lest nicht noch!«, rief Wolfgang hinterher. »Dazu sind wir viel zu müde«, meinte Mama und gähnte. Als Wolfgang und Susanne allein waren, hopsten sie in die Sessel und streckten die Beine aus. Dann aßen sie viel Marzipan. Susanne fand, sie sollten die Eltern noch zudecken und ihnen einen Gutenachtkuss geben. Das taten sie und Mama und Papa ließen es sich gern gefallen. Dann gingen Wolfgang und Susanne wieder in das Wohnzimmer zurück und stellten den Fernseher an. Ein Chor sang endlose Weihnachtslieder, das war langweilig. Im anderen Programm kamen Nachrichten und die Wetterlage. »Warum gibt es keine Kinderstunde?«, fragte Susanne. »Na, überleg mal«, sagte Wolfgang, »weil alle Kinder jetzt im Bett liegen.« Das befriedigte sie sehr. Sie schalteten den Fernseher wieder aus und gingen in die Küche. Im Kühlschrank waren eine Menge guter Sachen, aber sie hatten keinen Hunger. Sie tranken nur etwas Sprudel, dann gingen sie ins Zimmer zurück. Sie saßen wieder in den Sesseln. »Klasse, wenn man so lange aufbleiben kann«, sagte Wolfgang. Susanne nickte und gähnte. Sie hatten Bücher bekommen, die lasen sie jetzt und aßen noch mehr Marzipan. Susanne holte den Sprudel aus der Küche, und weil sie die Gläser vergessen hatte, tranken sie gleich aus der Flasche. Wolfgang lief der Sprudel in den Pullover, das war kalt und klebrig. Er zog sich aus und probierte Papas neuen Schlafanzug an. Das fand Susanne komisch. Mama hatte einen Unterrock bekommen, den zog sie über. »Huch, wir sind Gespenster«, flüsterten sie. Sie steckten die Köpfe durch die Schlafzimmertür, aber Papa und Mama schliefen fest, da zogen Wolfgang und Susanne wieder ab. 59
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Sie versuchten es noch einmal mit dem Fernseher. Auf allen Programmen rauschte und flimmerte es. »Der ist kaputt«, sagte Susanne. »Ach was, die Sendungen sind aus«, antwortete Wolfgang. »Jetzt sind die Erwachsenen auch alle im Bett, für wen sollen sie da noch spielen?« »Zum Beispiel für uns!«, entgegnete Susanne. Sie saß kerzengerade im Sessel. Wolfgang schaltete wieder aus. Es war ganz still. Einmal knackte der Schrank. Das Licht war sehr hell. »Wie lange wollen wir eigentlich noch aufbleiben?«, fragte Susanne. »Bis zum Morgen«, sagte Wolfgang. Ihre Augen brannten so merkwürdig, darum knipste er die Lampe aus. Er trat gegen die Sprudelflasche und taumelte gegen Susannes Sessel. Sie zog ihn an den Haaren und das tat ihm weh. Da kniff er sie in den Arm. Susanne rannte vor Wolfgang davon und versteckte sich in ihrem Bett. Wolfgang war schnell unter seine Decke gekrochen, dass Susanne ihn nicht finden konnte. Sie schliefen bis zum nächsten Nachmittag. Als sie aufwachten, war es draußen schon wieder dunkel. Papa und Mama waren längst aufgestanden. Sie hatten gefrühstückt, waren spazieren gegangen, hatten Besuch gehabt, etwas ferngesehen und gefaulenzt. Der erste Weihnachtstag war vorbei.
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Es gibt Puppen, die können sitzen und laufen, lachen, weinen und sprechen, sie haben Schlafaugen und Haare zum Kämmen und man kann sie sogar füttern. Solch eine Puppe wünschte sich Jens zu Weihnachten. Abgesehen davon, dass Großmama es merkwürdig fand, wenn ein Junge mit einer Puppe spielen wollte - abgesehen davon also meinte sie, diese Puppen seien viel zu teuer und eine einfache täte es ebenso gut. Jens bekam eine Puppe von ihr, die zwar nicht laufen, lachen, weinen oder sprechen konnte. Die auch keine Schlafaugen und keine Haare zum Kämmen hatte, die aber recht groß war und niedlich aussah. Sie hatte im Mund ein kleines Loch, in das man einen Puppenschnuller stecken konnte, und sie war weich und leicht. Jens war zufrieden und nannte die Puppe Manuela. Er baute ihr aus Schachteln ein Haus, machte ihr aus Kissen ein Bett, setzte sie neben sich an den Mittagstisch und ließ sie in der Badewanne schwimmen, denn Manuela war aus Plastik. Am zweiten Feiertag kamen Tante Helga und Kathi zu Besuch. Kathi brachte ihre neue Puppe mit, die hieß Olivia. Vielmehr, heute hieß sie Olivia, gestern hatte sie Annaluise geheißen und morgen würde sie wieder einen anderen Namen haben. Kathi konnte sich noch nicht endgültig entscheiden, jedoch der Name Manuela gefiel ihr auch. So konnte Olivia vielleicht nächste Woche heißen. 62
Kathis Puppe konnte sitzen und laufen, weinen und lachen, auf dem Rücken hatte sie eine Klappe, in die man winzige Kassetten stecken musste, dann sagte sie: »Mutti, hab mich lieb, ich habe Hunger, ich bin müde.« Kathi konnte Olivia auch füttern, dazu hatte sie eine kleine Milchflasche, aus der trank Olivia. Nach einer Weile wickelte ihr Kathi die Windeln auseinander, denn Olivia hatte sich nass gemacht, das kam von der Milch. Kathi wischte sie mit Zellstoff ab, legte sie trocken und wickelte sie neu. Dann kämmte sie ihr eine andere Frisur und Olivia klappte mit den Augendeckeln. Inzwischen lief in ihrem Rücken eine Kassette, auf der sie vor Vergnügen krähte und lachte. Kathi gab mit Olivia ziemlich an und Jens fand sein Puppe plötzlich langweilig. »Natürlich kommt sie gegen Olivia nicht auf«, sagte Kathi großzügig, »aber man kann mit Manuela mehr anfangen, als du denkst. Wenn sie zum Beispiel keinen Schnuller im Mund hätte, könnte sie aus Olivias Flasche trinken.« Sie liefen in der Küche an den Kühlschrank und füllten die Flasche neu mit Milch. Manuela konnte beträchtlich mehr trinken als Olivia. Sie schluckte und schluckte, dass Jens staunte, wie viel sie brauchten. Endlich kam die Milch oben aus dem kleinen Loch im Mund wieder heraus, wenn Kathi der Puppe noch mehr geben wollte. Als Jens auf den Plastikbauch drückte, spuckte Manuela sogar. Kathi gab zu, dass selbst Olivia nicht spucken konnte. Jens war stolz auf seine Puppe. Er trug sie in ihr Schachtelhaus und legte sie schlafen. Manuela war sehr schwer geworden und sicher auch sehr müde. Nach einigen Tagen" behauptete Großmama, in der Wohnung sei ein merkwürdig säuerlicher Geruch. Sie hatte schon immer eine empfindsame Nase gehabt. Als es nicht besser wurde, suchte sie im Zimmer von Jens nach alten Broten. Er aß manchmal bei Tisch nicht auf, nahm sich etwas in sein Zimmer mit und vergaß es dann. Letzthin hatte es Käsebrote gegeben. Doch Großmama fand nichts. Der Geruch wurde schlimmer. Großmama trug einen dicken Schal, weil sie oft das Fenster aufriss um zu lüften. Der Postbote, der gern witzig sein wollte, steckte seinen Kopf durch die Tür und fragte: »Halten Sie hier eine Kuh?« Das war Großmama peinlich, denn sie war stets sauber und ordentlich und hatte es gern, wenn die Leute das merkten. Sie ließ jetzt ständig die Fenster offen und alle Gardinen wehten im Wind. Jens musste zum Essen seinen Anorak anbehalten, denn Großmama wollte nicht, dass er sich erkältete. Drei Tage später bekam Großmama nachmittags Kaffeebesuch von zwei alten Freundinnen. Natürlich machte sie jetzt die Fenster zu, aber sie stellte unter die Möbel und hinter die Vorhänge Schüsseln mit Wasser, in das sie 63
Zitronenscheiben legte. Trotzdem beobachtete sie, wie sich die Freundinnen ansahen und dabei schnüffelten. »Komm her, Jens«, rief sie, um die Freundinnen abzulenken, »komm und zeig uns deine neue Puppe!« »Ein Junge, der mit Puppen spielt?«, rief die eine Freundin belustigt. »Und warum bitte nicht?«, fragte Großmama erbost. Die andere Freundin nahm Jens die Puppe ab und setzte sie sich auf den Schoß. »Wie schwer die Puppen heutzutage sind, man kann sie kaum tragen«, sagte sie. »Sie sind leichter als zu unserer Zeit«, sagte Großmama, »diese hier wiegt kaum etwas, sie ist aus Plastik, ich habe sie selbst ausgesucht.« Die Freundin erwiderte: »Dieses Plastikzeug stinkt fürchterlich. Es muss eine neuartige Mischung sein, die so schwer wie ein Stein ist.« Großmama bekam eine laute Stimme, als sie sagte: »Seit vierzig Jahren weißt du alles besser.« Sie nahm ihr die Puppe vom Schoß - und ließ sie fast fallen. »Warum ist sie so schwer?«, rief sie. »Sie hat so viel getrunken«, sagte Jens. »Und warum stinkt sie so?«, fragte sie weiter. »Sie stinkt nicht«, sagte Jens. »Schaff sie weg, darüber sprechen wir später!«, rief Großmama. Und sie fragte die Freundinnen, ob noch jemand Kaffee wollte. Die Freundinnen behaupteten, von der Luft hier seien sie etwas benommen und müssten nun gehen. Das war Großmama ganz recht, denn sie wollte sich Manuela genau ansehen. Jens fand, dass sie sich anstellte, als sie dabei ihre Nase zuhielt. Er sagte, Manuela habe Milch aus Kathis Flasche bekommen und nun ginge sie beim Schwimmen immer unter. »Mir geht ein Licht auf«, stöhnte Großmama, »sie ist voll Milch gepumpt, an die keine Luft kommt. Die Milch ist sauer geworden, dann zu Quark und jetzt zu Käse. In diesem Plastikbauch riecht alles ganz besonders scheußlich.« Sie trug Manuela nach draußen. Jens rannte hinterher und fragte: »Was machst du mit ihr?« »Ich werfe sie unten in die Mülltonne«, sagte Großmama. Jens brüllte und klammerte sich an sie, dass sie nicht die Treppe hinunterkam. Im Haus klappten Türen. »Mach hier keinen Skandal«, sagte Großmama. Sie ging mit Manuela in die Wohnung zurück. Jens sprang an ihr hoch und wollte ihr die Puppe wegreißen. 64
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»Lass das«, wehrte sich Großmama, »es ist nichts mehr mit ihr zu machen, sie muss weg. Und hör bitte mit diesem Gebrüll auf. Du bekommst eine neue Puppe. Meinetwegen eine, die singen und hopsen kann.« Aber Jens wollte nur Manuela. Er war so unglücklich. Das sah Großmama endlich ein: »Dann werden wir sie operieren. Hoffentlich übersteht sie es!« Sie machte das Fenster weit auf und legte eine Wachstuchdecke auf den Küchentisch. Darauf kam Manuela. Großmama schnitt ihr erst mit dem Kartoffelmesser und dann mit der Küchenschere den Bauch auf. Nun fand auch Jens, dass sie nicht besonders gut roch. Großmama lehnte sich eine Weile aus dem Fenster. Dann hielt sie Manuela wie einen Fisch unter die Wasserleitung und spülte alles aus dem Bauch in den Ausguss. Sie brauchte viel heißes Seifenwasser, um sie wieder und wieder gründlich auszuwaschen. Zwischendurch schnupperte sie an ihr und schüttelte den Kopf. Manuela roch immer noch. »Sie muss noch einige Tage lüften«, entschied Großmama. Sie band um den einen Fuß der Puppe einen Bindfaden und hing sie draußen an das Fensterkreuz. Es sah traurig aus, wie Manuela, federleicht und mit offenem Bauch, im Wind schaukelte. Großmama sagte: »Später bekommt sie einen Verband aus Klebestreifen. Wenn sie etwas anhat, sieht man gar nichts.« Jens war froh und dachte, dass Olivia mit den Lockenhaaren und der Kassette im Rücken das alles nicht überstanden hätte. Er lief nach unten auf den Hof zu den anderen Kindern. Dieter hatte gerade entdeckt, was da am Fensterkreuz hing. Er hüpfte herum und schrie: »Jens hat endlich genug von der Puppe, er hat sie geschlachtet, es gibt Puppenbraten.« Manchmal verstand Jens keinen Spaß. Dieter zog heulend ab. Die Geschichte vom neuen Haus Hiin Haus zu bauen dauert lange und kostet Nerven. Immer noch fehlt etwas, geht etwas schief, wird etwas nicht fertig. Frau Winkelmeier sagt zu ihrem Mann: »Du musst die Handwerker antreiben, dass sie schneller arbeiten. Weihnachten wollen wir im neuen Haus wohnen, länger machen wir das nicht mehr mit.« Herr Winkelmeier geht auf den Bau und sagt zu den Handwerkern: »Meine Frau möchte Weihnachten unbedingt im neuen Haus wohnen, länger kann sie das auf keinen Fall mitmachen.« Er spendiert einen Kasten Bier, die Handwerker bedanken sich, und tatsächlich, drei Tage vor Weihnachten sind sie fertig und ziehen ab.
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Handwerker hinterlassen Schmutz an allen Ecken. Das Haus muss geputzt, geschrubbt und gefegt werden. Aber wenn alle helfen, ist das in einem Tag getan. Zwei Tage vor Weihnachten kommt der Möbelwagen und Winkelmeiers ziehen ein. Es gibt ein riesengroßes Durcheinander. In der Küche stehen die Betten, im Keller die Blattpflanzen, unterm Dach die neue Waschmaschine und draußen im Regen stehen die Polstermöbel. Frau Winkelmeier verzweifelt nicht. Sie ordnet an, wohin alles gerückt werden soll, und bald steht jedes Stück da, wo es hingehört. Frau Winkelmeier packt die Körbe, Säcke und Kisten aus. Zu den Kindern sagt sie: »Werft Papier und Pappe draußen auf einen Haufen.« Auch Herr Winkelmeier räumt und wirft weg. Auf dem Grundstück entsteht ein hoher Berg aus Holzwolle, Schachteln, Brettern und anderen Abfällen. Alles, was im neuen Haus nicht mehr schön genug ist, kommt dorthin. Am Abend wirft Herr Winkelmeier ein Streichholz hinein, das gibt ein riesiges Feuer, in dem die Kinder noch lange mit Ästen stochern. Einen Tag vor Weihnachten sind alle Schränke und Schubladen eingeräumt, sogar die Gardinen hängen. »Auch ich bin fix und fertig!«, sagt Frau Winkelmeier. Am Weihnachtstag schlafen alle lange aus. Sie frühstücken fast bis Mittag. »Wie ich das genieße!«, sagt Frau Winkelmeier. Die Kinder rufen. »Haben wir schon einen Weihnachtsbaum?« Daran hat niemand gedacht. Alle stürzen zum Auto. Es dauert ziemlich lange, bis sie in der Stadt sind, denn das neue Haus liegt abseits auf dem Lande. Herr Winkelmeier findet keinen Parkplatz und muss das Auto weit entfernt in einer Gasse abstellen. Inzwischen haben die Läden geschlossen. Der Stand mit den Weihnachtsbäumen ist leer und verlassen. Sie machen dumme Gesichter. Die Kinder maulen: »Ohne Baum ist das kein richtiges Weihnachten.« Betreten kehren sie um und fahren zurück. Als sie aussteigen, sehen sie an der Haustür eine kleine Tanne stehen. Daran hängt ein Zettel: »Viel Glück im neuen Haus, statt Blumentopf von den Nachbarn. Die Kinder hüpfen, Herr Winkelmeier trägt das Bäumchen ins Haus und Frau Winkelmeier ruft: »Ich suche gleich den Christbaumschmuck.« Sie läuft nach oben. Herr Winkelmeier stellt den Baum auf. Dann warten sie. Frau Winkelmeier kommt nicht wieder. 67
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Sie rufen, aber Frau Winkelmeier antwortet nicht. Herr Winkelmeier und die Kinder laufen die Treppe hinauf, Frau Winkelmeier sitzt auf dem Teppich. Alle Schubladen sind zerwühlt, alle Schränke stehen offen, es ist eine große Unordnung. »Wenn das eine Unglück vorbei ist, kommt sogleich das nächste«, sagt sie. »Wir haben aus Versehen die Schachtel mit dem Christbaumschmuck verbrannt.« Sie sagt, ihre Nerven brauchen jetzt eine Weile Ruhe. Herr Winkelmeier ist ganz still, denn das ist für seine Nerven stets das Beste. Die Kinder wispern in der Ecke, dann sagen sie, die Eltern sollen etwas schlafen, sie machen das schon. Sie laufen nach unten und Herr und Frau Winkelmeier können hören, wie sie hin und her flitzen. Nachdem Herr und Frau Winkelmeier ausgeruht haben, finden sie unten den hübschesten Baum, den sie je hatten. Er hat Ketten aus Büroklammern und Sicherheitsnadeln. In seinen Zweigen hängen der Schmuck von Frau Winkelmeier und alle Kaffeelöffel. An seiner Spitze blinkt der neue Hausschlüssel.
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Die vertauschte Geschichte Vor einigen Jahren hat bei Herrn und Frau Schmidt ein Student gewohnt, der hatte es gut bei ihnen wie ein Sohn. Eigene Kinder hatten sie nicht, obwohl sie gern welche gehabt hätten. Das kleine Zimmer sollte das Kinderzimmer sein. Doch sie waren allein alt geworden und im kleinen Zimmer hatte der Student gewohnt. Er hatte morgens mit Frau Schmidt gefrühstückt und sich abends mit Herrn Schmidt unterhalten. Frau Schmidt hatte seine Schuhe besohlt, und weil er nie genug Geld hatte, drückten Herr und Frau Schmidt bei der Miete ein Auge zu. Später, nachdem er fertig studiert hatte, war er fortgezogen, aber vorher hatte er noch geheiratet. Er hatte nun eine gute Stellung weit entfernt von hier. Herr und Frau Schmidt sind jetzt ein wenig einsam. Sie sprechen oft von der schönen Zeit mit ihrem Studenten und warten jeden Tag auf eine Nachricht von ihm. Er kommt wenig zum Schreiben. Hin und wieder schickt er eine Ansichtskarte, wenn er beruflich unterwegs ist. Und natürlich teilt er mit, wenn ein neues Baby angekommen ist. Aber lange Briefe schreibt er nicht und gerade darüber würden sich Herr und Frau Schmidt besonders freuen. Etwas jedoch trifft regelmäßig und pünktlich ein: das ist das große Weihnachtspaket. Herr Schmidt holt es persönlich drei Tage vor Weihnachten von der Post ab. Es wird nicht vor dem Heiligen Abend aufgemacht. Frau Schmidt stellt eine Kerze in das Küchenfenster und Herr Schmidt nimmt die große Schere. Frau Schmidt schiebt ihn beiseite, denn sie mag das Band nicht zerschneiden, sondern knotet es sorgfältig auf. Herr Schmidt sitzt daneben und platzt vor Ungeduld. In dem Paket ist jedes Jahr etwas zum Anziehen für Herrn Schmidt und etwas für Frau Schmidt. Außerdem sind die guten Zigarren eingepackt, die Herr Schmidt an Feiertagen raucht, und die besonderen Pralinen, für die Frau Schmidt schwärmt. Sie probieren die neuen Sachen an und freuen sich, dass alles gut passt. Herr Schmidt steckt sich eine der Zigarren an und Frau Schmidt nascht einige Pralinen. Sie verbringen den Abend zufrieden und voller Erinnerungen. So war es bisher. In diesem Jahr ist alles ganz anders. Sie wundern sich über einen Pullover, der für Herrn Schmidt sein soll; er ist klein und eng und vergeblich versucht Herr Schmidt, ihn über seinen Kopf zu zerren. Sein Bauch passt nie und nimmer in diesen Pullover.
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»Wir wollen nicht undankbar sein«, sagt Frau Schmidt, »aber ein wenig hätte er bei der Farbwahl an dein Alter denken müssen. Du kannst doch diese gelben und roten Streifen nicht tragen!« Die gefallen Herrn Schmidt eigentlich ganz gut, jedenfalls besser als die grauen und braunen Töne, in denen ihn Frau Schmidt sehen möchte. Die hat inzwischen ein Nachthemd ausgepackt, das zart, dünn und duftig ist. Herr Schmidt schnalzt, aber sie sagt: »Völlig unmöglich! Es geht nicht einmal bis zum Knie, und das bei meinem Rheuma. Wenn mich der Arzt so sieht, werde ich rot.« Im Paket sind auch nicht die Lieblingszigarren, sondern eine große Schachtel Zigaretten, und Frau Schmidt findet nicht ihre Pralinen, dafür entdeckt sie Kaugummi. Der Weihnachtsabend ist lange nicht so schön wie sonst. Zwar hat Herr Schmidt noch einige seiner Alltagsstumpen, von denen er sich einen ansteckt, und Frau Schmidt findet ein paar Bonbons, die sie lutscht, aber sie grübeln beide vor sich hin. »Höchst seltsam«, sagt Herr Schmidt, »er beginnt uns zu vergessen. Das heiß, er vergisst uns nicht ganz, sonst hätte er nicht das Paket geschickt. Aber er vergisst, wie alt wir sind, wie wir aussehen und was wir gern haben. Das macht mich traurig.« Ganz so einfach sieht Frau Schmidt die Sache nicht. Sie überlegt, aber sie kommt nicht dahinter, was ihr an diesem Paket merkwürdig erscheint. Sonst liest sie im Bett Kriminalromane, aber jetzt muss sie weiter überlegen. Nichts stimmt an diesem Paket. Es ist wie für andere Leute gepackt. Ja, vielleicht ist es gar nicht für sie. Aber für wen dann? Und wenn sie nun das falsche Paket - das heißt, wenn sie ein Paket haben, das für jemand anderen ist, hat derjenige vielleicht das bekommen, welches für sie bestimmt war. Und irgendjemand steckt sich vielleicht in dieser Minute die köstlichen Pralinen in den Mund! Frau Schmidt rüttelt Herrn Schmidt wach, sie muss jetzt und sofort darüber reden. Aber er will weiterschlafen und nicht mitten in der Nacht über etwas nachdenken, was er nicht weiß. »Typisch«, sagt Frau Schmidt und geht in die Küche. Sie setzt ihre Brille auf, denn ohne Brille kann sie nicht lesen, und sieht auf dem Packpapier, dass die Adresse stimmt. Klar, sonst hätten sie das Paket ja auf der Post nicht bekommen. Sie durchsucht den Karton, aber außer buntem Einwickelpapier findet sie nichts. Dann dreht und wendet sie ihn und entdeckt an einer Seite einen Namen und eine Straße, hier in dieser Stadt. Fast hätte sich Frau Schmidt den Mantel über das Nachthemd geworfen, um sofort dorthin zu eilen. Aber sie besinnt sich, dass es drei Uhr nachts ist, und legt sich bis sechs neben Herrn Schmidt ins Bett. Sie wartet mit offenen Augen 71
drei Stunden, dann steht sie auf, macht Kaffee und weckt Herrn Schmidt. Um ein Haar hätte es Streit gegeben, denn er schläft gern aus, besonders an den Feiertagen. Jetzt kommt er nicht einmal dazu, in Ruhe seinen Kaffee zu trinken. Atemlos erzählt ihm Frau Schmidt, was sie in der Nacht entdeckt hat.
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Sie hat das Paket wieder gepackt, gut verschnürt und steht in Hut und Mantel neben ihm. Sie möchte verzweifeln, so langsam zieht sich Herr Schmidt die Stiefel an. Sie möchte ihn schieben, so gemächlich geht er die Treppe hinunter. Sie möchte ihn ziehen, so schleicht er die Straße entlang. Um diese Zeit kommt die Straßenbahn nur alle halben Stunden. Sie müssen lange warten. Dann sind sie die einzigen Fahrgäste und fahren von einer Endhaltestelle durch die ganze Stadt bis zu der anderen. Die Straßenbahn hält überall, obwohl niemand einsteigen will. Frau Schmidt rutscht auf ihrem Sitz hin und her, Herr Schmidt sitzt ganz still mit dem Paket auf den Knien. Sie haben noch ein ganzes Stück zu laufen. Zweimal wissen sie die Richtung nicht mehr und müssen Kinder fragen, die auf der Straße spielen. Endlich stehen sie vor dem richtigen Haus und Frau Schmidt klingelt. Eine junge Frau Öffnet, ein kleiner Junge springt herbei. »Es ist so«, sagt Frau Schmidt, »wir haben hier ein Paket bekommen, das vermutlich Ihnen gehören soll, und wir nehmen an, dass Sie eines haben, welches für uns bestimmt ist. Wir möchten das gern austauschen, damit jeder das bekommt, was ihm zusteht.« Herr Schmidt findet, dass Frau Schmidt etwas streng gesprochen hat, und fragt den Jungen freundlich: »Wie heißt du?« »Robert«, sagt der Junge, »und Sie?« »Schmidt«, sagt Herr Schmidt. Die junge Frau meint, sie sollten erst einmal hereinkommen, sich ausruhen und eine Tasse Tee trinken. Auch sie habe ein merkwürdiges Paket. Darin sei ein Pullover, der dem Robert bis auf die Schuhe reicht, dunkelgrün, und für sie eine schwarzweiße Kittelschürze, in die ginge sie dreimal hinein. »Zweimal«, sagt Frau Schmidt. Ja, und dann seien noch Zigarren in dem Paket, doch sie rauche nur Zigaretten. Ob Herr Schmidt eine davon haben wolle? »Moment, nichts anrühren«, sagt Frau Schmidt, »erst wollen wir alles aufklären!« »Meine Frau liest immer Kriminalromane«, sagt Herr Schmidt zu der jungen Frau. Und sie antwortet: »Ich auch!« Nun stellt sich heraus, dass sie das Paket von ihrer Schwester hat. Die heißt genauso wie der Student, der bei Herrn und Frau Schmidt gewohnt hat, denn es ist dessen Frau. Der Student war schon immer schusslig, sicher hat er alles beim Einpacken verwechselt. Die junge Frau bekommt das duftige Nachthemd und die Zigaretten, Frau Schmidt die Kittelschürze samt Pralinen. Für Robert der rot und gelb gestreifte Pullover und der Kaugummi. Jetzt stimmt alles. 73
Sie trinken miteinander Tee und schreiben einen langen Brief, in dem sie alles genau berichten, der geht an den ehemaligen Studenten und an seine Frau. Robert malt dazu eine Bildergeschichte. Er verschluckt sich am Kaugummi. Frau Schmidt reicht die Pralinen herum und die beiden anderen rauchen. Robert und die junge Frau begleiten Herrn und Frau Schmidt zur Straßenbahn, alle winken, bis sie sich nicht mehr sehen. Herr und Frau Schmidt werden bald Besuch bekommen. So wie Robert hat sich Herr Schmidt immer einen Enkel vorgestellt.
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Die Geschichte von Elsie
Nur ein einziges Mal versuchte Elsie, genauso Pipi zu machen wie ihre fünf Brüder, und gleich ging das schief. Am Weihnachtsnachmittag hatte Mutter den alten Badeofen angeheizt. Sie hatte angeordnet, dass zuerst Jörg und Uli, die beiden Großen, baden sollten, danach Tin, Veit und Stefan zusammen, schließlich Elsie allein. Tin hatte gewettet, dass alle sechs in die Badewanne passen. Veit hatte gesagt, das ginge nicht. Sie hatten es probiert und es ging, wenn sie kreuz und quer übereinander lagen und die Beine über den Rand hingen. Es platschte mächtig, fast alles Wasser aus der Wanne schwamm auf dem Fußboden, aber es machte tollen Spaß. Mutter hämmerte gegen die Tür und rief, sie sollten sich beeilen, Vater hätte Durst auf Tee. Und dann wollten sie bald mit der Bescherung anfangen, denn die dauert bei sechs Kindern immer recht lange. Sie entknoteten und entwirrten sich, trockneten sich ab, und dann rannten alle schnell den Gang entlang noch einmal auf das Klo. Jörg stellte sich auf den Brillenrand und das machten ihm alle nach. Alle, nur Elsie nicht. »Du bist eben ein Weib«, sagte Tin. »Sie hat Angst, dass sie umkippt«, rief Stefan. »Du traust dich nicht«, rief Veit. Ein Mädchen, das fünf Brüder hat, traut sich allerlei. Elsie kletterte nackt und nass auf den Rand und stellte sich genauso hin wie die Buben. 75
»Guckt weg, sonst geht es nicht«, sagte sie und alle mussten lachen. Da rutschte Elsie aus und fuhr mit beiden Beinen in die Kloschüssel. Erst mussten sie noch mehr lachen, aber weil Elsie etwas jammerte, griffen sie zu und wollten ihr heraushelfen. Nun war das kein gewöhliches Klo, alles in diesem Haus war uralt. Die Kloschüssel war wie ein Trichter, der an der Hausmauer draußen in ein Rohr überging. Das endete unten über einer Grube. Es gab auch keine Wasserspülung, sondern nur eine Kanne, aus der man das Wasser kippen musste. Elsie steckte bis zu den Hüften in diesem Trichter. Jörg, der schon groß und kräftig war, griff Elsie unter die Schultern und zog. Aber sie steckte so fest, dass er sie nicht einen Zentimeter hochbekam. Stefan, der Kleinste, lief durch das Haus und brüllte: »Die Elsie ist ins Klo gerutscht!« Mutter kam aus dem warmen Zimmer auf den Gang und fuhr ihn an: »Du bist immer noch nicht angezogen, beeil dich gefälligst.« »Die anderen sind auch noch nicht fertig, Elsie schon gar nicht«, verteidigte sich Stefan. Mutter rannte, um alle zu suchen. Und da sah sie Elsie. »Das darf doch nicht wahr sein!«, rief sie. Sie wollte Elsie an den Händen herausziehen. Elsie rührte sich nicht, sie begann nur zu schreien. »Die muss immer da drin bleiben«, sagte Stefan. Mutter bestimmte, Uli und Jörg sollten Pullover oder sonst was Warmes holen, Elsie hatte ja nichts an. Dann sollten sie sich schleunigst anziehen, denn gleich sei Bescherung. Vater saß seit einiger Zeit am gedeckten Tisch und wartete. Als es ihm zu dumm wurde, stand er auf und suchte in allen Räumen und Gängen: »Hallo, wo steckt ihr?« »Elsie steckt im Klo«, sagte Stefan, der an ihm vorbeilief und seine Schuhe suchte. Vater fand Mutter, wie sie Elsie einen dicken Schal um den Hals wickelte und ihr über den zweiten noch einen dritten Pullover zog. Elsie wimmerte: »Mir ist kalt, ich friere.« »Dann komm raus da«, sagte Vater. »Sie kann nicht«, erwiderte Mutter. Sie setzte Elsie eine Wollmütze auf. »Reißt euch zusammen, wir wollen Tee trinken«, sagte Vater. Zu Elsie sagte er: »Mach dich ganz dünn«, dann packte er sie, um sie mit einem kräftigen Ruck nach oben zu ziehen. Doch Elsie steckte fest. Jetzt waren alle ratlos. Elsie tat ihnen Leid. Sie klapperte mit den Zähnen und manchmal winselte sie ganz leise. Mutter deckte eine Wolldecke über sie, jetzt sah man sie kaum noch. »Oben ist mir viel zu warm, aber unten ist es kalt. Meine Beine sind aus Eis!« 76
»Meine Güte«, rief Mutter. Das Rohr an dem Trichter, in dem Elsie steckte, war unten offen. Draußen war scharfer Frost. »Unternimm etwas«, beschwor sie Vater. Vater versuchte den Klempner und dann den Autoschlosser zu erreichen, aber bei beiden meldete sich niemand. Sie hatten das Telefon in der Werkstatt und waren längst nach Hause gegangen. Vater sagte zu Jörg: »Du gehst und holst den Klempner.« Und zu Uli: »Und du holst den Autoschlosser.« Elsie schrie immer lauter. Vater sagte zu Mutter: »Gib ihr einen Schnaps, es ist eine Ausnahme«, aber das wollte Mutter nicht. Sie lief und brachte heiße Milch, an der sich Elsie die Zunge verbrannte. Nun heulte sie auch noch. Vater suchte nach dem Werkzeug. Er wollte die großen Schrauben abnehmen, die den Trichter am Rohr festhielten. Stefan tröstete Elsie: »Vater schraubt die ab, und wir tragen dich im Klo ins Zimmer. Dann können wir wenigstens endlich Weihnachten feiern.« Das beruhigte Elsie keinesfalls und Mutter fuhr Stefan an: »Rede keinen Blödsinn!« Plötzlich zappelte Elsie, so gut sie das konnte, und rief: »Au, mir ist so heiß von unten, ich glaube, ich verbrenne!« »Jetzt fantasiert sie schon«, rief Mutter. Aber das tat Elsie nicht. Tin und Veit waren in den Garten gelaufen. Sie wollten Elsie helfen. Sie hatten ein Blech auf die Grube gelegt, über der das Rohr endete. Auf dem Blech hatten sie ein Reisigfeuer entzündet und der heiße Qualm zog durch das Rohr hoch. Vater hatte gerade den richtigen Schraubenschlüssel gefunden, als er den Feuerschein sah. »Seid ihr von Sinnen!«, rief er durch das Fenster. Er rannte nach unten, trampelte das Feuer aus und zerrte das Blech von der Grube. Fast wäre Tin, der am Rand stand, hineingestürzt. Vater erwischte ihn, dafür versank der Schraubenschlüssel. Oben jammerten Mutter und Elsie: »Macht schnell, bitte, bitte, macht schnell.« Vater suchte noch einmal in seinem Werkzeug und ergriff den größten Hammer, den er hatte. »Platz«, rief er und holte aus. Doch Mutter hing sich an seine Arme, weil sie Angst um Elsie hatte. So schlug Vater nur ganz sacht auf das Becken und es bekam nicht einmal einen Sprung. Er versuchte es noch ein paar Mal, aber weil ihm Mutter immer im Wege war, gab er es auf. 77
»Wo bleiben Jörg und Uli mit den Fachleuten?«, rief er und lief ungeduldig an das Telefon. Mutter lief hinterher und sagte: »Du weißt genau, dass es keinen Zweck hat.« Inzwischen nahm Stefan den Hammer und fragte Elsie: »Soll ich mal?«
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Elsie kniff die Augen zu und flüsterte: »Es ist alles egal, schlag zu.« Stefan war zwar der Kleinste, aber er hatte Kraft. Das Becken zersprang und Elsie kletterte heraus wie das Küken aus der Eierschale. Alle waren mächtig stolz auf Stefan. Das Wasser im Badeofen war noch heiß und Elsie wurde wieder in die Wanne gesteckt. Sie jammerte etwas, weil die Füße kabbelten, aber als alle endlich um den Tisch saßen, war das bald vergessen. Mutter kam mit der Teekanne und schnitt Kuchen auf. Um diese Zeit erschien Uli mit dem Autoschlosser, der hatte seinen Abschleppkran an den Kombi gehängt. Er wies darauf und sagte: »Wie ich die Lage verstanden habe, hilft nur noch Gewalt!« Fast gleichzeitg erreichte Jörg mit dem Klempner das Haus. Sie schleppten zwei Werkzeugkisten, Schläuche und eine Pressluftflasche. Der Klempner schnaufte: »Es hilft nichts, das Rohr muss ganz von unten her aufgeschweißt werden.« Es war Vater und Mutter sehr unangenehm, dass Stefan alles schon erledigt hatte, denn auch Handwerker möchten in Ruhe Weihnachten feiern und nicht umsonst geholt werden. Natürlich, in einem Notfall kommen sie schnell. Sonst aber brauchen sie viel länger. Der Klempner brachte die neue Kloschüssel erst Ende März.
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Die Briefgeschichte
Am Samstag ist Mama froh, dass Papa und Andreas fortgehen. Sie stören nur, wenn Mama den Haushalt macht und das Baby versorgt. Aber bitte, zum Mittagessen sollen sie pünktlich wieder da sein. Denn danach muss Andreas endlich den Weihnachtsbrief an die Großeltern schreiben. »Ja, ja!«, ruft Andreas zurück. Er hat keine Lust dazu. Papa und Andreas fahren tanken; dann holen sie Mamas Mantel von der Reinigung ab und schlendern über den Markt. Schließlich will Andreas noch zum Trödler. Es macht ihm Spaß, dort mit Papa in dem alten Gerumpel herumzustöbern. Viele Dinge muss ihm Papa erklären; die meisten sind so alt, dass man sie nicht mehr braucht, weil man dafür etwas anderes hat. Zum Beispiel benutzt niemand mehr eine Öllampe, seit es das elektrische Licht gibt. Man rührt auch keine Butter mehr in einem Holzfass, sondern kauft fertig abgepackte Stücke, die aus der Molkerei kommen. Wer mahlt noch den Kaffee mit der Hand, in so einer altmodischen Kaffeemühle? Jetzt steckt man einfach den Stecker in die Wand - und schon ist der Kaffee gemahlen. Andreas findet es spannend, wenn ihm Papa erzählt, wie es früher war. Manchmal kaufen sie auch etwas beim Trödler. Einmal haben sie eine Blechkanne mit nach Hause gebracht, in der man Wasser holte, als noch nicht in jeder Wohnung eine Wasserleitung war. Ein anderes Mal hat Papa einen seidenen Sonnenschirm gekauft, wie ihn früher die Damen trugen, um nicht von der Sonne verbrannt zu werden. Mama ruft zwar immer: »Wenn ihr beim Trödler wart, wascht euch bitte gründlich die Hände«,
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aber sie freut sich über alles. In die Kanne hat sie Gräser gesteckt. Und aus dem Schirm, sagt sie, macht sie vielleicht eine Lampe. Papa und Andreas gehen durch eine Toreinfahrt auf einen Hof, wo mehrere Schuppen stehen. An den Schuppenwänden lehnt altes Gerumpel: Stühle mit drei Beinen, Tische ohne Platte, eiserne Bettgestelle, Rodelschlitten mit verrosteten Kufen, Mistgabeln, Wagenräder und wer weiß was noch. In den Schuppen hängen alte Kleider und Bilderrahmen, da stehen verschimmelte Stiefel, zerschlagenes Geschirr, irdene Töpfe und Uhren, die nie mehr gehen. In einer Ecke liegen Pelze auf einem Haufen. Papa und Andreas kramen überall herum. Endlich kauft Papa einen kleinen, fleckigen Spiegel an einem Metallgestell. »Das ist ein Spion«, erklärt er Andreas, »das haben die alten Frauen früher am Fensterrahmen gehabt, da konnten sie im Zimmer sitzen und heimlich alles beobachten, was auf der Gasse vor sich ging.« »Er ist wie ein Autospiegel«, sagt Andreas. »Ja, genauso«, sagt Papa. »Wir können den Spion an die Tür zum Kinderzimmer schrauben. Dann kann Mama nach dem Baby sehen, ohne extra aufzustehen.« Auf der Straße sagt Andreas: »Ich habe auch etwas.« »Einen Brief!«, ruft Papa. »Woher hast du ihn?« Andreas hat den Brief in einer alten Kommode entdeckt. Er hat sogar den Trödler gefragt, ob er ihn haben darf, und der hat es erlaubt. Aber Andreas kann den Brief nicht lesen. Papa sagt, so hätte man früher geschrieben, ein wenig könne er die Schrift noch und gemeinsam mit Mama würde er ihn entziffern können. »Ich bin gespannt, was drinsteht!«, ruft Andreas. Nach dem Mittagessen will Mama zwar, dass Andreas zuerst an die Großeltern schreibt. Aber Andreas bittet und drängelt so lange, bis sich Papa und Mama hinsetzen und den alten Brief entziffern:
Münster den 25. December 1842 Liebe guthe Emilie, der Herr Vater hat gesagt, wir sollten uns sogleich für das hübsche Geschenk bedanken, das der Postbothe uns von Dir gebracht hat. Die feinen Zimmetsterne haben guth gemundet und über die Kittelchen, welche Du uns genähth hast, haben wir uns gefreut, sie passen vorzüglich. Du fragst, wie es uns geht. Es geht uns guth. Wir lernen fleißig beim Herrn Moritz, der immer noch sein lahmes Bein hat und am Stock humpelt; das ist unser Schade, denn dieser gleitet oftmahls auf unserem Rücken aus. Der Herr Vater meint jedoch, wir hätten es auch wohl verdient. Liebe Emilie, 81
wieviel schöner war es, als Du uns unterrichtet hast. Wir wollten, Du kämst wieder und müßtest nicht die vielen Kinder Deiner kranken Schwester hüten. Das Fräulein Lucca, welches uns auf dem Claviere fortbildet, sagt, wir machten guthe Fortschritte. Paulinchen und ich können bereits eine Sonate zu vier Händen.
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Liebe guthe Emilie, mein Wunschzettel enthielt dieses Jahr ein Paar Holländer Schlittschuhe, eine Fibel und Zuckerzeug. Dies alles erhielt ich zu meiner Freude. Paulinchen schrieb auf, dass sie sich einen Pelzumhang aus Fehhaar an erster Stelle und von ganzem Herzen wünsche, sodann aber auch noch glacelederne Handschuhe, eine Puppe mit Wachskopf, ein Album für gepreßte Blüthen, winziges Puppengeschirr aus Zinn und rosa Haarschleifen. Sie bekam jedoch nur den Pelzumhang, weil dies der Herzenswunsch war. Der Herr Vater meinte, jedes Kind bekäme für den gleichen Werth, und ihr Geschenk koste soviel wie meine Schlittschuhe, Fibel und Zuckerzeug zusammen. Liebe Emilie, du kennst Paulinchen und ihre Unvernunfth! Sie weinte, weil sie nur ein Geschenk hätte und ich deren drei. So sah sie es an. Sie war schon immer dumm, die kleine Schwester, und es ist schwer, ihr etwas recht zu machen. Ich werde sie hie und da auf meinen Schlittschuhen laufen lassen, ihr aus der Fibel vorlesen und vom Zuckerzeug abgeben. Wir gedenken alle Deiner sehr herzlich und vermissen Dich. Der Herr Vater und die Frau Mutter lassen grüßen. Erinnere Du Dich bisweilen Deiner Schüler Paulincben und Eugenchen, der diesen Brief geschrieben hat Mama sagt: »Das ist aber ein sehr alter Brief.« »Sind Paulinchen und Eugenchen jetzt schon groß?«, fragt Andreas. Papa meint: »Sie sind längst gestorben, so lange ist das alles her. Vielleicht ist nichts mehr von ihnen da als dieser Weihnachtsbrief.« Andreas sagt: »Wenn ich jetzt an die Großeltern schreibe, findet vielleicht einmal ein Kind meinen Brief beim Trödler.« Und er gibt sich damit besonders große Mühe.
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Die Engelsgeschichte Mariechen war sechzig Jahre lang ein Engel. Als sie noch ein Kind war, lernte sie schwer in der Schule. Darum sollte sie auch keine Rolle in dem Krippenspiel bekommen, das jedes Jahr zu Weihnachten von den Kindern der letzten Schulkasse aufgeführt wurde. Es war ein altes Spiel mit langen, schwierigen Versen. Die Hauptrollen konnten sich nur sehr gescheite Schüler merken. Doch eine kleine Rolle bekam fast jeder, sei es als Hirte, Bauer, Soldat, Ochs oder Esel. Alle hatten einige Worte herzusagen. Nur Mariechen durfte nicht mitmachen, denn sie konnte beim besten Willen nichts behalten. Darüber war sie sehr unglücklich.
Endlich war es so weit, dass die Kostüme anprobiert wurden, die so alt wie das Krippenspiel waren. Sie wurden jedes Jahr, wenn es nötig war, geflickt und enger, weiter, länger oder kürzer gemacht. Die Hirten steckten in groben Kitteln, Maria hatte einen schönen Umhang und Joseph einen Schlapphut. Die Tiere trugen Köpfe aus Pappmaschee und hüllten sich in richtiges Fell. Aber das Eindrucksvollste waren die Flügel, die der Engel bekam. Sie waren aus Gänsefedern und reichten vom Boden, den sie mit den Spitzen streiften, bis hoch über den Kopf hinaus. Sie wurden mit ledernen Riemen kreuzweise über der Brust festgeschnallt und waren sehr schwer. 84
In diesem Jahr spielte ein Kind den Engel, das genauso aussah, wie man sich einen Engel vorstellt: schmal und lang und mit wunderschönen blonden Haaren. Als es einen ganzen Nachmittag mit den Flügeln geprobt hatte, brach es in Tränen aus und sagte, es könnte mit diesen Dingern auf dem Rücken nicht so lang herumstehen, die Flügel seien ihm viel zu schwer. Es blieb nichts anderes übrig, als die schweren Federflügel in die Ecke zu stellen und statt ihrer dem Engel leichte Flügel aus Goldpapier zu kleben. Als alle Kinder wieder auf der Bühne standen, schnallte sich Mariechen, die für ihr Alter groß und kräftig war, die verschmähten Flügel um. Ihr waren sie nicht zu schwer. Sie ging auf die Bühne, stellte sich hinter den Goldpapierengel und lächelte glücklich, mit einem feuerroten Gesicht. Und niemand brachte es übers Herz, Mariechen zu vertreiben. So traten in dem Krippenspiel diesmal zwei Engel auf: einer, der die vielen Verse hersagte, und ein anderer, der stumm und stolz daneben stand. Im Frühjahr gingen alle Kinder, die mitgespielt hatten, von der Schule ab. Nur Mariechen blieb sitzen. Darum war sie noch einmal dabei, als das Krippenspiel aufgeführt wurde, und war wieder der stumme Engel. Ganz selbstverständlich nahm sie danach die großen Flügel mit nach Hause und steckte sie hinter ihre Kleider in den Schrank. Weil Rechnen, Lesen und alles, was man sonst noch lernen musste, Mariechen auch weiterhin schwer fiel, blieb sie ein zweites Mal sitzen. Manche munkelten, dass es Mariechen darauf angelegt hätte, um wieder den Engel zu spielen, aber das war sicher nicht so. Denn auch in den folgenden Jahren, als sie in der Lehre war, erschien Mariechen mit ihren Flügeln, wenn die Proben für das Krippenspiel begannen. Jetzt wurde sie bereits überall das Engelmariechen genannt. Das gefiel ihr und sie mochte es, wenn die Leute zu ihr sagten: Du bist wirklich ein Engel! Sie sagten das oft zu ihr, weil Mariechen anpackte und half, wo sie konnte. Und Mariechen tat alles, damit sie es recht oft sagten. Sie schichtete Holz, sie passte auf die kleinen Kinder auf, brachte Pakete zur Post, grub Gemüsebeete um, hing Wäsche auf, rührte stundenlang Pflaumenmus, schaufelte Schnee, putzte Silber und war überall zur Stelle, wo sie gebraucht wurde. Einmal wurde sie sogar gebeten, anstelle des Weihnachtsmannes zu bescheren. Vor dem Weihnachtsmann hatten die Kinder Angst, doch vor Mariechen nicht. Darauf war sie sehr stolz. Pünktlich stand sie mit ihren Flügeln zur ausgemachten Zeit vor der Tür. Sie ließ sich von den Kindern Gedichte aufsagen, sang mit ihnen und kippte dann den Sack aus, in den die Eltern vorher Geschenke gesteckt hatten. 85
Und mit der Zeit wollten immer mehr Leute das Engelchen zum Bescheren haben. Um niemanden zu vergessen und um nichts durcheinander zu bringen, mussten sich alle bei ihr in ein kleines Buch eintragen. Diese Voran86
meldungen nahm Mariechen vom ersten Advent an entgegen. Nur die Zeit für die Proben zum Krippenspiel wurde ausgespart, denn Mariechen legte großen Wert darauf, nicht eine einzige zu versäumen. Sonst aber eilte sie vor Weihnachten in jeder freien Stunde durch die Straßen. Sie trug hohe Schnürstiefel und hatte die Flügel über ihren Wintermantel geschnallt. Wenn es schneite, schützte sie die Federn mit einem Regenumhang, der weit gebauscht hinter ihr herwehte. Stets hüpften und sprangen einige Kinder um sie herum. Es war nicht leicht, einen Termin bei Mariechen zu bekommen, denn sie war fast immer ausgebucht. Und nach wie vor stand Mariechen beim Krippenspiel als stummer Engel auf der Bühne. Sie war mit der Zeit recht rundlich geworden. Ihre Haare wurden erst grau und dann weiß. Nur Fremde, die zufällig das Spiel sahen, wunderten sich über den alten Engel zwischen all den Kindern. Und nur Leute, die neu zuzogen, lachten, wenn sie das Engelmariechen zum ersten Mal zur Weihnachtszeit auf der Straße sahen. Im Jahr darauf lachten sie schon nicht mehr, denn da hatten sie bereits herausgefunden, dass Mariechen ein Engel war. Sie hat nie geheiratet, das fand sie nicht angemessen. Von verheirateten Engeln hatte sie nie gehört. Als sie nicht mehr gut zu Fuß war, kam sie ins Altersheim. Die Flügel schienen von Jahr zu Jahr schwerer zu werden. Doch nie wäre Mariechen eingefallen, sich welche aus Goldpapier über den Rücken zu hängen. Immer noch lief sie in der Weihnachtszeit mit den mächtigen Flügeln herum, bescherte die Kinder und war beim Krippenspiel dabei. Mariechen war sechzig Jahre lang ein Engel. Im letzten Frühjahr ist sie gestorben. Da hat man die Flügel unten in den Sarg gelegt und das Mariechen darauf. So ist sie begraben
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Die Geschichte vom Natron
Manchmal kommt vormittags Frau Voß. Sie sagt, sie will irgendwas von Mama borgen oder sie um einen Gefallen bitten. Das ist sicher nur ein Vorwand, denn sie setzen sich an den Küchentisch, rauchen Zigaretten und reden miteinander. Papa sagt, Frau Voß hielte Mama von der Arbeit ab; wenn sie da sei, gäbe es nie rechtzeitig Mittagessen, und überhaupt bliebe alles liegen. Ihm ist Frau Voß ein Dorn im Auge. Mama sagt, sie kann sich in ihrer Gesellschaft entspannen. Da knallt Papa die Türen zu und geht nach unten, um das Auto zu waschen. »Hat er was gegen mich?«, fragt Frau Voß. »Aber ich bitte Sie«, sagt Mama. »Ja«, sagt Frau Voß, »jetzt vor Weihnachten häuft sich alles: Waschen, Putzen, Vorbereiten. Man weiß nicht, wo einem der Kopf steht!« Mama nickt. »Und«, sagt sie, »wenn man nicht dauernd hinterher ist, bleibt alles liegen. Wer macht es denn, wenn nicht wir!« Frau Voß nickt. »Früher«, sagt sie, »da hat man noch Zeit gehabt. Jetzt kommt man zu gar nichts mehr.« Mama nickt. Papa kommt herein und sucht den großen Schwamm. Er wirft ein: »Wer herumsitzt, kommt am allerwenigsten zu etwas!« Hinter ihm kracht die Tür zu. »P«, sagt Mama. »Wenn ich denke«, sagt Frau Voß, »was wir früher alles gebacken haben. Erinnern Sie sich an gepuderte Nelkensterne?« Und Mama nickt. Barbara und Stefanie, die eben aus der Schule kommen, rufen: 88
»Schmecken die gut?« »Hervorragend«, sagt Frau Voß, »kein Vergleich zu dem Zeug, das man heute fertig kauft!« »Warum backt ihr keine?«, fragt Stefanie. »Sie machen zu viel Arbeit«, sagt Mama. »Schade, es ist höchste Zeit, dass ich gehe«, sagt Frau Voß. »Soweit ich mich erinnere, brauchte man Eischnee, Puderzucker und etwas Mehl.« »Und natürlich Nelken«, sagt Mama. Sie stellt schon die Zutaten auf den Tisch. »Aber diese viele Arbeit, die man niemandem zumuten kann«, sagt sie. »So schlimm ist es gar nicht. Nur der Teig muss eine Stunde geknetet werden«, sagt Frau Voß und schlägt die Eier in die Schüssel. »Wir möchten gern helfen«, rufen Barbara und Stefanie. »Ihr könnt dann den Teig ausrollen und die Sterne ausstechen«, sagt Mama; sie steht da und möchte auch etwas tun. »Kennen Sie krosse Mandelkringel?«, fragt sie. Frau Voß kann sich nicht entsinnen; wie Mama sie schildert, müssen sie jedoch vorzüglich sein. Die Zutaten reichen noch und Mama rührt schnell den Teig an. Barbara und Stefanie stechen die Nelkensterne aus. Jetzt hat Frau Voß nichts mehr zu tun. Sie will auf jeden Fall abwarten, wie die gepuderten Nelkensterne gelingen. Darum sagt sie, dass sie schnell einmal die runden Luftkuchen macht, die sie von ihrer Großmutter kennt. Sie braucht dazu nur zwölf Eier, etwas Mehl und Zucker. Doch so viel Eier hat Mama nicht mehr. In diesem Augenblick klingelt Herr Voß. Er hat Hunger und möchte wissen, wann es Mittagessen gibt. »Dreh gleich um, lauf zum Kaufmann und hol uns zwanzig Eier, ein paar mehr können nicht schaden, wer weiß, wozu wir sie noch brauchen!«, sagt Frau Voß und schiebt ihn zur Tür hinaus. Sie hat alle zehn Finger voll Mehl, das ist jetzt auf seinem Rücken. »Und ein Tütchen Hirschhornsalz!«, ruft sie hinter ihm her. »Wohin so eilig?«, fragt Papa. Er taucht hinter dem nassen Auto auf. »Hirschhornsalz und Eier kaufen«, ruft Herr Voß und eilt davon. Papa weiß, was man alles aus Eiern macht, aber wozu man Hirschhornsalz braucht, weiß er nicht. Hoffentlich hat es Frau Voß Mama nicht gegen Kopfschmerzen eingeredet oder um seine Stiefel wasserfest zu machen. Frau Voß ist Papa ein Dorn im Auge. Er meint, jetzt endlich nach dem Rechten und nach dem Mittagessen sehen zu müssen. Aber Mama lässt ihn nicht in die Wohnung. An der Tür ruft sie ihm zu: »Mach schnell und bring Zimt, Honig und drei Kilo Zucker!« Auch Papa bekommt zehn mehlige Fingerabdrücke auf den Rücken. Während die ge89
puderten Nelkensterne abkühlen, die krossen Mandelkringel in der Röhre duften und Frau Voß darauf wartet, runde Luftkuchen zu backen, hat sich Mama gefüllter Honighörnchen entsonnen.
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»Hm, die müssen gut sein«, meinen Barbara und Stefanie. Sie lecken alle Schüsseln aus und stecken sich heimlich heiße Nelkensterne in den Mund. Papa springt die Treppe hinunter, wo ihm atemlos Herr Voß mit einem schweren Einkaufsbeutel entgegenkommt. Aber auch er muss sofort wieder umkehren und aus der Drogerie Sukkade, Kardamom und Natron bringen. Er holt Papa und fragt, ob der weiß, wozu das gut ist. »Keine Ahnung«, sagt Papa und geht mit in die Drogerie. »Hoffentlich ist niemand krank«, sagt der Drogist. »Warum?«, fragen Papa und Herr Voß. »Nun«, sagt der Drogist, »Natron nimmt man gewöhnlich gegen Magenweh. Allerdings auch zum Kuchenbacken, doch das ist aus der Mode.« Papa erfährt nicht, ob jemand krank ist. Ehe er zu Hause fragen kann, hat Mama ihm die Tasche abgenommen und ihn wieder zum Kaufmann geschickt. Diesmal muss er Butter, Rohzucker und Rum holen, dazu schon wieder Mehl und Eier. Nicht anders ergeht es Herrn Voß. Sie jagen treppauf, treppab, zum Kaufmann, zum Drogisten und wieder zurück. Und nie gelangen sie bis in die Küche. Nachdem die Läden geschlossen sind, verlangen Mama und Frau Voß, dass die Männer beim Kaufmann an die Rollläden pochen und beim Drogisten nebenan klingeln. Insgesamt laufen sie achtundzwanzigmal hin und her. »Bald haben Sie meinen ganzen Laden ausgekauft. Was ist los bei Ihnen?«, fragt der Kaufmann. »Wir wissen es nicht«, sagen Papa und Herr Voß erschöpft. »Es könnte krankhaft sein!«, ruft der Drogist über die Straße. »Sollen wir mitkommen und nachsehen?« Das ist Papa und Herrn Voß nur recht. Alle zusammen steigen sie die Treppe hoch und klingeln. Barbara macht auf. Sie ist ganz blass, und Papa fragt: »Was ist mit dir?« »Mir ist so schlecht«, sagt sie. »Stefanie auch, sie liegt schon im Bett.« »Ich habe es geahnt!«, ruft der Drogist. »Es handelt sich um eine ansteckende Erkrankung!« Papa reißt die Küchentür auf. Da sitzen Mama und Frau Voß am Tisch und erzählen. »Kommt rein, wir sind fertig«, rufen sie. Die Küche duftet nach Zimt, Rum und Nelken. Überall türmen sich Berge von Plätzchen und Weihnachtsgebäck. Die Türen zu den anderen Räumen stehen offen und alles liegt voller Backwerk. »Wer will probieren?«, fragt Mama. »Na so was«, sagt Papa. Er ist sprachlos. Nie wieder will er behaupten, dass Frau Voß Mama von der Arbeit abhält. 91
Herr Voß, der Kaufmann, der Drogist und Papa essen, so viel sie können. Mama und Frau Voß mögen nicht, sie haben so oft ihre süßen Finger abgeschleckt, dass sie jetzt Appetit auf eine saure Gurke haben. »Was ist mit Barbara und Stefanie?«, fragt Papa. »Sie haben sich den Magen verdorben, aber das ist bis Weihnachten wieder gut«, sagt Mama. »Dagegen hilft eine Messerspitze Natron in Wasser«, sagt der Drogist.
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Die Geschichte vom artigen Kind Einmal wollte ein Junge, der hieß Lutz, seiner Mama etwas zu Weihnachten schenken. Er wollte ihr entweder etwas basteln oder malen oder etwas von seinem Taschengeld kaufen. Jedenfalls wollte er ihr eine Freude machen. »Was wünschst du dir?« fragte er und stand ihr im Weg. Sie rannte in der Wohnung umher, machte sauber, achtete gleichzeitig darauf, dass auf dem Herd nichts überkochte, musste schnell einmal telefonieren und sah auf die Uhr. »Mama, wünsch dir was von mir«, sagte er. Sie schob ihn beiseite, suchte das Putzmittel, öffnete dem Briefträger, machte das Fenster zu und rührte in der Suppe. Lutz stand immer da, wo Mama gerade hinwollte. Sie schob ihn von der Schranktür, nahm ihm den Stuhl weg, bat ihn, aus dem Weg zu gehen, und rief: »Bitte stör mich nicht.« »Aber ich will doch nur wissen, was du dir wünschst«, sagte Lutz. Er hielt sie an der Schürze fest. »Ich wünsche mir nichts anderes als ein artiges Kind«, sagte Mama und machte sich frei. Lutz ging in sein Zimmer, setzte sich auf das Bett und überlegte, wie er Mama so etwas beschaffen konnte. Es zu basteln oder zu malen war sinnlos. Aber wo konnte man es kaufen? Und wie teuer würde es sein? Mama rief: »Sitz nicht rum, steh auf, mach schnell, wir müssen einkaufen gehen!« Lutz ging neben Mama zum Supermarkt. Der war riesengroß und man konnte dort fast alles bekommen. Lutz wusste gut Bescheid. Er kannte den Gang, wo es Milch und Käse gab, und die Ecke mit den Obstkonserven. Ein Stück weiter gab es Brot und Kuchen und am anderen Ende die kleinen Spielzeugautos, die er sammelte. Lutz wusste, wo das Seifenpulver stand und wo immer Sonderangebote waren. Kinder hatte es im Supermarkt noch nie gegeben, jedenfalls nicht zu kaufen. Am Gemüsestand geriet Lutz mit dem Fuß in Mamas Wagen. Bei den Konserven warf er einige davon um. Bei der Wurst trödelte er, dass Mama ihn antreiben musste. »Geh am besten schon nach draußen und warte dort auf mich, bis ich fertig bin und bezahlt habe«, sagte sie. Lutz stellte sich auf die Straße vor dem Supermarkt. Ein kleines Mädchen hing am Türgriff und schwang mit der Tür hin und her. Die Frau an der Kasse drohte und das Mädchen streckte die Zunge 93
raus. Lutz dachte: »Das ist kein artiges Kind, über das sich Mama freuen würde.« Daneben stand ein Kinderwagen. Eine Frau mit vielen Taschen kam vorbei, beugte sich darüber und sagte zu Lutz: »Sieh mal, wie niedlich. Das ist ein artiges Kind.« Lutz wartete, bis die Frau nicht mehr zu sehen war. Dann schob er den Wagen rasch um die Ecke. Er rannte damit, so schnell er konnte, nach Hause. Das artige Kind jauchzte vor Vergnügen. Die Wohnungstür war abgeschlossen, denn Mama war noch im Supermarkt. Lutz stellte den Kinderwagen hinter die Kellertür, wo man ihn nicht sehen konnte. Es sollte ja eine Weihnachtsüberraschung sein. Er setzte sich auf die Eingangsstufen und wartete. Plötzlich fiel ihm ein, dass dieses artige Kind irgendjemandem gehören musste. Ach was, dachte er, denen werde ich es abkaufen. Allzu teuer kann es nicht sein. Es ist nicht ganz neu, sondern schon gebraucht. Das wird billiger. Lutz kannte das von Papas Auto. Mama kam mit ihren Einkaufsbeuteln um die Ecke gerannt. »Da bist du ja, zum Glück heil und gesund!«, rief sie und weinte ein bisschen. Sie drückte Lutz so fest, dass es wehtat. »Diese arme Frau und das arme, unschuldige Würmchen! Was für eine Aufregung«, sagte sie weiter, »und du warst auch nicht da, sodass ich ebenfalls das Schlimmste befürchtet habe. Aber nun habe ich dich wieder ...« Lutz war ganz verstört. Aber auch das artige Kind war bei Mamas Reden aufgewacht und begann zu schreien. »Was ist das?«, fragte Mama und wollte nachsehen. Lutz hielt sie fest und sagte: »Bitte nicht, Mama, es ist dein Weihnachtsgeschenk.« Mama starrte Lutz an und da fuhr er fort: »Es ist das artige Kind, das du dir gewünscht hast.« »O Lutz!«, sagte Mama. Sie packte den Kinderwagen, drehte ihn und rannte damit zum Supermarkt zurück. Das artige Kind brüllte immer lauter. Lutz lief nebenher und dachte: »Das hier ist nicht das richtige Kind. Es wird schwer sein, eins aufzutreiben. Warum musste sich Mama ausgerechnet so etwas wünschen, warum nicht etwas anderes.« Lutz wollte Mama danach fragen, aber sie hörte nicht. Vor dem Supermarkt standen ein Polizist und viele aufgeregte Leute. Alle drängten sich um eine Frau, die weinte. Mama schob sie beiseite und erzählte ihr etwas und niemand kümmerte sich um Lutz. Am Nachmittag bastelte er für Mama einen Kalender, den wünschte sie sich. 94
Die Kurzschlussgeschichte An ein besonderes Weihnachten, sagt Herr Probst, könne er sich nicht erinnern. Aber, sagt er, wie seiner Meinung nach Weihnachten einmal ganz besonders sein könnte, das wüsste er. Herr Probst kommt von den Stadtwerken. Er liest vom Zähler den Stromverbrauch ab, dann rechnet er aus, wie viel man bezahlen muss. Er ist den ganzen Tag auf den Beinen, die tun ihm vom vielen Treppensteigen weh, denn er ist nicht mehr der Jüngste. Vielleicht ist er deshalb nicht besonders freundlich, aber er meint es nicht so. Er sagt, die schlechte Laune steige ihm langsam aus den Stiefeln nach oben und gegen Abend würde es schlimmer, dann ärgere ihn einfach alles. Wenn sein Dienst zu Ende ist, geht Herr Probst durch die großen Geschäftsstraßen nach Hause. Er sieht die vielen Lichterketten, die bereits im November eingeschaltet werden, obwohl das noch vier Wochen bis Weihnachten Zeit hätte. »Denen möchte ich mal eine saftige Stromrechnung schicken«, sagt er und ärgert sich. Alle Schaufenster sind festlich dekoriert, denn alles, was es dort zu kaufen gibt, sollen sich die Leute gegenseitig zu Weihnachten schenken, seien es Waschmaschinen, Kleider, Reisewecker, Kaffeetassen, Gummistiefel, Parfüm, Winterreifen oder Badehauben. »Sie stecken sich mit dem Kaufen und Schenken an wie mit Schnupfen«, sagt Herr Probst und ärgert sich. Über den Eingängen der Läden und Kaufhäuser sind Lautsprecher, daraus erklingen Weihnachtslieder; sie kommen von Schallplatten und Tonbändern. Meist kann man zur gleichen Zeit mehrere Lieder hören, sie überschneiden und vermischen sich. Niemand achtet darauf. »Es ist nicht besser als Katzenmusik«, sagt Herr Probst und ärgert sich. An den Ecken stehen verkleidete Weihnachtsmänner, die warten, dass Leute mit kleinen Kindern kommen. Sobald sie eines sehen, springen sie herbei, um das Kind auf den Arm zu nehmen. Ein Fotograf macht Bilder zur Erinnerung, die sollen die Eltern kaufen. Weil sich oft mehrere Weihnachtsmänner um ein einziges Kind balgen, beginnt es zu brüllen und niemand kauft dem Fotografen diese Bilder ab. »Geschieht ihnen recht«, sagt Herr Probst und ärgert sich. Alles, was er in dieser Zeit kauft, wird sorgfältig in schönes, buntes Papier gewickelt, mit Klebeband verschlossen und mit einer glänzenden Schleife verziert. Sei es Nähgarn, Waschpulver oder Katzenfutter, Herr Probst muss 95
warten, bis ihm die Verkäuferin das Päckchen mit einem netten Lächeln überreicht. Dabei tun ihm die Beine weh. »So ein Blödsinn. Nächstens verpacken sie die Brötchen einzeln als Geschenk«, sagt er und ärgert sich, weil er zu Hause alles mühselig wieder auswickeln muss. Er ärgert sich, dass in den Vorgärten Tag und Nacht auf den Tannen die elektrischen Kerzen brennen und dass seine Schwiegertochter einen Plastikweihnachtsbaum kauft, den man auf- und zuklappen kann wie einen Regenschirm. Sie findet ihn so praktisch, weil er nicht nadelt. Er ärgert sich, dass er einen Stapel Weihnachtsgrüße bekommt und auch welche schreiben müsste. Er ärgert sich über das Fernsehen und die Zeitungen, über all den Trubel und die vielen Vorbereitungen und möchte seine Ruhe haben. Alle müssten ihre Ruhe haben. Es müsste still und behaglich sein. Darum denkt sich Herr Probst ein besonderes Weihnachtsfest aus. Eines Tages wird er zu seinem höchsten Direktor gehen und sagen: »Es macht mir nichts aus, freiwillig am Heiligen Abend in den Stadtwerken Dienst zu tun. Alle anderen können nach Hause gehen.« Der Direktor wird ihm auf die Schulter klopfen und sagen: »Wir wissen, dass es ein Opfer ist, aber wir danken Ihnen, mein Freund.« Die Kollegen werden winken und ihm ein frohes Fest wünschen. Er wird ganz allein zurückbleiben. Er wird herumwandern und kontrollieren, ob die Turbinen richtig arbeiten, ob die Kontrolluhren in Ordnung sind und ob die richtige Spannung im Netz vorhanden ist. Ganz genau weiß er natürlich nicht Bescheid, denn er ist nur ein Kassierer, aber es wird schon gehen. Er wird sich etwas umsehen und endlich den gewissen Hebel finden, den er betätigen muss, um den Strom abzustellen. Die ganze Stadt wird ohne Licht sein. Alle Laternen sind aus, die Straßenbahnen bleiben stehen, nicht einmal die Ampeln leuchten. In den Wohnungen ist es stockfinster. Die elektrischen Kerzen an den Bäumen brennen nicht mehr, die Lampen sind dunkel. Es ist auch ganz still, kein Fernsehen, kein Radio, kein Plattenspieler, kein Tonband läuft mehr. Erst werden alle Leute erschrocken sein. Sie werden auch hin und wieder mal stolpern oder etwas umwerfen, wenn sie nun nach dem Feuerzeug oder nach Streichhölzern suchen. Sicher fummeln viele an den Sicherungen herum, bis sie aus dem Fenster sehen und merken, dass auch bei den anderen alles im Dunklen liegt. 96
Sie werden herumkramen und irgendwo eine Kerze finden, die sie anstecken. Bei ihrem Schein werden sie um den Tisch sitzen. Manche werden sich langweilen und nicht wissen, was sie anfangen sollen. Die Kinder werden drängeln, denn sie wollen weiter Weihnachten feiern. Musik ist keine mehr da, fernsehen können sie auch nicht. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als selbst zu singen, das sind sie nicht mehr gewohnt. Die Melodien müssten sie im Ohr haben, denn die sind seit Wochen überall erklungen. Sie haben nicht zugehört, wenn der Text gesungen wurde. Vielleicht weiß der eine oder andere noch eine Strophe, sonst müssen sie eben selbst dichten.
Vielleicht werden die Kinder ihre Eltern dazu bringen, mit ihnen zu spielen. Es gibt vieles, was man ohne Licht spielen kann. Vielleicht werden auch alle einmal in das Treppenhaus gehen, um dort jemanden zu finden, der weiß, was eigentlich los ist. Sie werden ihre Nachbarn treffen, die sie ewig lange nicht gesehen haben. Vielleicht wird man sich überhaupt erst kennen lernen, obwohl man schon jahrelang Tür an Tür wohnt. Bei manchem wird die Kerze abgebrannt sein und er wird nebenan klopfen, wo noch ein Lichtschein ist. Sie werden zusammen sitzen. Es wird still und behaglich sein. Irgendwann später wird natürlich Herr Probst den gewissen Hebel wieder hoch drücken. Es wird wieder hell und laut. 97
Wahrscheinlich wird es einen Riesenkrach geben und der allerhöchste Direktor wird ihn anbrüllen: »Sie haben versagt, Sie Kassierer!« Aber das wird Herrn Probst egal sein. Vorläufig denkt er sich alles nur aus, aber einmal wird er es tun. Ein einziges Mal.
Vom Maulwurffangen
Um die Winterzeit wird es bekanntlich früh dunkel. Weil Oma jeden Nachmittag das Rathaus putzte und die Praxis von Frau Doktor Finke säuberte, sah sie immer erst am anderen Morgen, was ihr Feind wieder angerichtet hatte. Sie hielt ihren Kaffeebecher in zitternden Händen und stöhnte: »Eines Tages werde ich ihn erschlagen!« Dann holte sie den Spaten aus dem Schuppen, stapfte hinaus und beseitigte die hässlichen Erdhaufen, die sich auf ihrem Rasen türmten. Wenn sie wieder in der Küche saß und sich einen zweiten Becher Kaffee eingoss, hielt ihr Opa seinen Vortrag über die Nützlichkeit des Maulwurfes. Oma unterbrach ihn meist bereits nach den ersten Worten und setzte ihrerseits zum Vortrag über die totale Zerstörung eines Gartens an. Opa wagte nichts dagegen einzuwenden, denn Oma war furchtbar in ihrem Zorn. 98
Als er sich eines Tages mit Stefan beriet, worüber sich Oma wohl zu Weihnachten am meisten freuen würde, sagte Stefan folgerichtig: »Über den Maulwurf.« »Dann müssten wir ihn vorher fangen«, meinte Opa. Stefan nickte. Das ging Opa mächtig gegen den Strich. Doch nachdem er eine weitere Woche Omas Gift- und Galle-Anfälle beim Frühstück ertragen hatte, war er zu allem bereit. Er sagte nur: »Du musst aber mitmachen«, und Stefan nickte wieder. Opa schlug in allen Gartenbüchern nach, dann sagte er: »Wir brauchen eine Falle.« Im Gartengeschäft gab es mehrere Sorten. Opa wählte lange und entschied sich für eine kräftige, solide Ausführung. Der Fachmann erklärte ihm genau, wie die Falle aufgestellt werden musste, und sagte: »Es kann gar nichts schief gehen.« Als Oma am Nachmittag im Rathaus und bei Frau Doktor Finke war, gingen Opa und Stefan in den Garten. Kurz vorher hatte der Maulwurf auf dem Rasen einen frischen Haufen aufgeworfen. Opa steckte die Falle mitten in die weiche schwarze Erde. Dann wollte er sie spannen, wie es ihnen der Fachmann im Gartengeschäft gezeigt hatte. Was dabei mit Opas Daumen geschah, war ein Vorgeschmack für den Maulwurf. Während Opa schimpfend auf dem Rasen herumhüpfte, brachte Stefan die Falle richtig gespannt im Maulwurfshügel unter. In dieser Jahreszeit wird es früh dunkel. Oma sah erst am nächsten Morgen, wie viele Hügel der Maulwurf rings um den gefährlichen Haufen aufgetürmt hatte. Sie stellte den Kaffeebecher hart auf die Tischplatte und sagte entschlossen: »Eines Tages werde ich ihn mit meinen eigenen Händen erwürgen!« Dann stiefelte sie mit dem Spaten nach draußen und schleuderte die Erde von sämtlichen Haufen unter die Fliederbüsche. Beim letzten Haufen erwischte sie auch die Falle, die genau auf dem Spaten zuschnappte und haarscharf an ihrem Kopf vorbeiflog, ehe sie auf dem Kompost landete. »Fallen sind zu gefährlich«, sagte Opa zu Stefan und rief seinen alten Freund Emil an. Emil war Vorstand vom Kleingartenverein, er kannte das Problem. Nach seinen Erfahrungen waren Patronen am besten geeignet, um den Maulwurf ein für alle Mal auszuräuchern. Opa begab sich mit Stefan erneut ins Gartengeschäft. Auch von Patronen gab es mehrere Sorten. Der Fachmann empfahl Opa eine Patronenart, die sogar Kaninchen und Füchse vertrieb. Dann erklärte er genau, wie die Patrone an einem Ende angesteckt werden musste, um zu schwelen und zu räuchern. »Es kann gar nichts schief gehen«, sagte er. 99
Opa und Stefan warteten, bis Oma am Nachmittag weg war. Der Maulwurf hatte schon wieder mehrere frische Haufen aufgeworfen. Opa brauchte die Patrone nur mitten in einen der Haufen zu stecken. Stefan wollte sie anstecken, doch er kam mit Opas Feuerzeug nicht zurecht. Also übernahm Opa diese Aufgabe selbst. Prompt versengte er sich den anderen Daumen dabei. Während er noch fluchte, gab es einen dumpfen Knall. Opa hatte das falsche Ende von der Patrone erwischt. Im Rasen war ein Loch in der Große einer Badewanne. Es war wirklich ein Glück, dass es in dieser Jahreszeit so früh dunkel wurde. Der Kaffeebecher rutschte Oma fast aus den Händen, als sie am anderen Morgen aus dem Fenster sah. Sie rief: »Oh, dieser gemeine Kerl! Wie er mich quält!« Opa und Stefan mussten mit in den Garten kommen und drei Karren voll Erde aus dem Gemüsegarten holen. Damit schippte Oma das Loch im Rasen notdürftig wieder zu. Als der Briefträger die ersten Weihnachtsgrüße brachte, fragte er: »Wohl einen Schatz vergraben?« »Schön wär's«, antwortete Opa und erzählte dann im Vertrauen, was geschehen war. Der Briefträger hatte selbst einen Garten und war schon oft von Maulwürfen heimgesucht worden. Er meinte: »Da helfen nur Lappen, die mit Petroleum getränkt sind. Man muss sie tief in den Gang hineinstopfen. Es kann gar nichts schief gehen!« Opa und Stefan waren für jeden Rat dankbar. Als Oma am Nachmittag auf dem Weg zum Rathaus und zur Praxis von Frau Doktor Finke war, weichte Opa eine alte Unterhose in einer Schüssel voll Petroleum ein. Stefan legte draußen einen Maulwurfsgang frei. Das war gar nicht so einfach, weil er ihn nicht gleich fand. Er musste lange wühlen und häufte dabei so viel Erde an, dass sein Haufen dreimal so hoch und so breit wie ein Maulwurfshaufen wurde. Opas Unterhose ging nur bis zur Hälfte in den Gang hinein, aber das war sicher ausreichend. Da es um diese Jahreszeit früh dunkel wurde, konnte Oma nicht erkennen, woher der Geruch nach Petroleum kam. Er drang bis in den Keller. Weil Petroleum fast wie Heizöl riecht, ließ sie noch am selben Abend den Installateur kommen. Er hatte ihr erst kürzlich nach einer Reparatur eine saftige Rechnung geschickt und Oma ließ nicht mit Und plötzlich begann Oma zu schluchzen. Opa und Stefan guckten sich hilflos an. Dann umarmte Stefan sie und Opa tätschelte ihren Rücken. Er brummte: »Beruhige dich. Es war ja gar nicht der Maulwurf, das waren wir.« 100
Stefan sagte: »Du sollst nämlich den Maulwurf von uns zu Weihnachten bekommen. Wir müssen ihn nur noch fangen.« Oma hörte mit dem Schluchzen auf. Sie sagte: »Ihr seid schlimmer als dieses Tier!« Dann räumte sie draußen im Garten auf. Am Nachmittag, als sie fort war, saßen Opa und Stefan hilflos herum und wussten nicht weiter. Opa sagte: »Vielleicht freut sich Oma ja auch über einen hübschen bunten Schal.« Draußen begann es zu schneien. Erst bekam der Garten einen hellen Schimmer. Als es dann früh dunkel wurde, lag der Schnee schon ein paar Zentimeter hoch. Und am anderen Morgen hatte der Garten eine dicke, saubere Schneedecke, unter der sich kein einziger Maulwurfshügel wölbte. Oma trank ihren Kaffee und sagte befriedigt: »Er hat von sich aus aufgegeben. Er hat eingesehen, dass er mich nicht kleinkriegt!« Dann schickte sie Stefan nach draußen, er sollte ein paar Zweige von den Blautannen für ein Gesteck holen. Sie rief hinter ihm her: »Geh durch den Keller, dann bringst du uns keinen Schnee rein!« Stefan brachte etwas anderes. Als er die Kellertür aufmachte, saß auf der untersten Stufe in einem dunklen Winkel der Maulwurf. Stefan trug ihn auf der Müllschippe nach oben und setzte ihn zwischen die Butter und die Marmelade auf den Tisch. »Da, Oma, dein Weihnachtsgeschenk«, sagte er. Der Maulwurf saß ganz still, er zitterte nur ein wenig. Einmal kam kurz eine rosa Schaufelpfote zum Vorschein und verschwand gleich wieder. Endlich fand Oma Worte. »Wie klein dieser Schuft ist, und was für ein zartes Fell er hat«, sagte sie. Opa fragte: »Wo hast du ihn gefangen?«
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»Er ist von allein gekommen«, sagte Stefan und erzählte, wie er den Maulwurf gefunden hatte. Opa meinte: »Vielleicht hat er sich unter der Schneedecke verirrt und ist an der Kellertreppe abgestürzt.« »Armes Kerlchen«, sagte Oma. Sie versuchte, den Maulwurf mit Käse zu füttern. Als er nichts nahm, polsterte sie ihren Einkaufskorb mit einem Handtuch aus, setzte den Maulwurf hinein und deckte ihn zu. Dann zog sie ihren Mantel an und Opa und Stefan merkten, was sie vorhatte.
Zu dritt stapften sie den Weg entlang, bis alle Häuser hinter ihnen lagen und es ringsumher nur noch Wiesen und Felder gab. Unter dem Schnee waren unzählige Buckel, einer dicht neben dem anderen. »Hier kann er sich meinetwegen eine Frau suchen und eine Familie gründen«, sagte Oma und scharrte den Schnee beiseite. Sie suchte mit den Fingern nach dem Gang und setzte den Maulwurf hinein. Von nun an blieb der Rasen unter dem Schnee glatt und unversehrt. Oma feierte zufrieden mit Opa und Stefan das Weihnachtsfest. Aber irgendwann im Februar schwappte frühmorgens der Kaffee aus Omas Becher. Mitten im Rasen prangten mehrere frische schwarze Erdhaufen. Omas Quälgeist war wieder da und seine neue Familie hatte er gleich mitgebracht.
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Eine Nikolausgeschichte
Weil alle Leute im Dezember viel öfter und viel mehr einkaufen als sonst, hilft Mama im Schuhgeschäft aus, wo sie früher gearbeitet hat, als Nina und Amelie noch nicht auf der Welt waren. Inzwischen bleiben die beiden bei den Großeltern. »Hoffentlich wird euch das nicht zu anstrengend«, sagt Mama. Oma drückt Nina links und Amelie rechts an sich und sagt: »Aber nein! Wir sind doch froh, dass wir sie mal ganz für uns haben.« Darüber ist nun Mama wieder froh. Sie verspricht Opa und Oma zu Weihnachten ein Paar Schuhe, ganz nach Wahl. Die bekommt sie nämlich preiswert im Schuhgeschäft. Oma wünscht sich gleich warme Pantoffeln, ihre sind schon sehr abgetragen. Und für Opa möchte sie neue Stiefel, seine alten sind ganz schief und krumm. »Aber sie sind bequem und neue Stiefel drücken«, brummt Opa. Er stapft in den geschmähten Stiefeln hinaus in den Garten und Nina und Amelie rennen in gefütterten Gummistiefeln hinterher. Sie schaufeln erst Schnee, dann bauen sie zu dritt einen Schneemann. Der wird so groß, dass Nina aus der Küche einen Schemel holen muss, um den Kopf draufzusetzen. Amelie kommt ins Haus und will einen Eimer als Hut. Und Opa sucht im Keller nach einer Mohrrübe als Nase. Jedes Mal wischt Oma hinter ihnen den Boden wieder sauber und schimpft: »Rein und raus! Was ihr für Schmutz ins Haus tragt! Schämt euch!« Doch als sie den Schneemann sieht, muss sie lachen. Sie hängt ihm sogar einen alten Schirm über den Arm.
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Draußen am Zaun kommt der Nachbar vorbei, der mit seinem Hund spazieren geht. Er bleibt stehen, staunt und sagt: »Das ist ja ein toller Bursche!« Gleich darauf ruft er: »He, Bello, kusch!« Bello hört nicht. Er hat Ninas Gummistiefel abgeschleckt, nun spuckt er aus. Der Nachbar meint: »Bello frisst zwar alles, aber aus Gummi macht er sich gar nichts.« Inzwischen setzt Bello um den Schneemann einen gelben Rand, dann rast er weg. »He, Bello, kusch!«, ruft der Nachbar wieder und rennt hinterher. Oma sagt missbilligend: »Dieser Hund ist vollkommen unerzogen, er macht, was er will.« Und ehe sie ins Haus geht, sagt sie noch: »Es wird dunkel. Wenn ihr reinkommt, zieht gefälligst vorher die Stiefel aus. Ich musste schon dreimal hinter euch herwischen.« »Ist sie uns böse?«, fragt Nina, aber Opa winkt ab. Oma ist überhaupt nicht böse. Sie hat Kakao gekocht und Waffeln gebacken und eine Kerze auf den Tisch gestellt und es macht ihr gar nichts aus, dass sie später beim Quartett dauernd verliert. Erst als sie in die Diele kommt, schimpft sie wieder. Dort steht jeder Stiefel in einer Pfütze von geschmolzenem Schnee und ist bis obenhin voll Schmutz. Oma ruft erbost: »Was? Diese dreckigen Dinger wollt ihr ihm anbieten? Da kehrt er auf der Stelle um!« »Wer?«, fragen Nina und Amelie, dann fällt ihnen ein, dass morgen ja Nikolaustag ist. Sie hüpfen ausgelassen herum, bis sich Oma links Nina und rechts Amelie schnappt und sagt: »Eure Stiefel könnt ihr unten in der Waschküche putzen.« »Welch ein Glück, dass der Nikolaus nicht zu den Großen kommt«, brummt Opa, aber Oma meint: »Das kann man nie wissen«, und schickt ihn mit seinen schiefen, krummen Stiefeln gleich hinterher. Dann wischt sie zum vierten Mal auf. Nachdem Nina und Amelie ihre sauberen Gummistiefel ordentlich in die Diele gestellt haben, ist Oma zufrieden. Sie bringt die beiden ins Bett, deckt sie zu und knipst das Licht aus. Als sie die Haustür abgeschlossen und verriegelt hat, stolpert sie über Opas Stiefel, die ebenfalls in der Diele stehen. Nina fährt hoch und fragt: »War das der Nikolaus?« »Das war Oma«, sagt Amelie. Es ist jetzt ganz still im Haus. Nach einer Weile flüstert Nina: »Ich will nicht einschlafen. Ich will hören, wenn er kommt.« Das will Amelie auch. Sie liegt wach und denkt nach und meint: »Unsere Stiefel und die Stiefel von Opa findet der Nikolaus. Aber Oma kriegt nichts.« 104
Nina und Amelie müssen sofort etwas unternehmen. Sie schleichen ins Schlafzimmer, wo Oma leise und Opa laut schnarcht. Omas Pantoffeln stehen neben ihrem Bett und Nina und Amelie bringen sie nach draußen in die Diele. Dann liegen sie wieder da, bleiben wach und warten. »Warum kommt er nicht endlich?«, flüstert Amelie. Nina klettert aus dem Bett und tappt zur Tür. »Wo willst du hin?«, fragt Amelie. Nina sagt: »Er kann ja gar nicht kommen. Die Tür ist doch zu. Wir müssen ihm aufmachen.« Das leuchtet Amelie ein. Sie kommt mit und in der Diele klettern beide vorsichtig über Stiefel und Pantoffeln hinweg, schieben den Riegel zurück und drehen den Schlüssel herum. Dann machen sie die Tür einen Spaltbreit auf. Gleich darauf liegen Nina und Amelie wieder im Bett. Sie wollen wach bleiben, aber sie schlafen ein. Sie schlafen so tief und so fest, dass sie nicht hören, wie es gegen Morgen in der Diele heftig poltert. Aber Oma hört es. Sie fährt hoch und lauscht. 105
Es klappert und es kratzt, und dann wieder hört es sich an, als würde etwas herumgeschleift. Gleich darauf poltert es wieder. Oma rüttelt Opa wach und raunt: »Ich glaube, bei uns ist ein Einbrecher!« Opa will sofort nachsehen, doch Oma hält ihn fest und meint: »Ruf lieber erst die Polizei an!« Das ist leicht gesagt. Das Telefon steht nämlich in der Diele und dort kann Opa nicht hin, solange ihn Oma am Kragen hat. Beide hören, wie draußen auf der Straße jemand pfeift und ruft. Aufgeregt flüstert Oma: »Es sind mehrere! Wenn sie nur den armen Kindern nichts antun!« Da hält es Opa nicht länger. Er reißt sich von Oma los, springt aus dem Bett, läuft hinaus und brüllt: »Halt! Wer da?« Ein Hund bellt. Eine Tür klappt. Danach ist alles still. Oma wickelt sich in ihren Morgenrock. Sie angelt vergeblich nach ihren Pantoffeln. Dann kommt sie auf Strümpfen in die Diele und guckt sich um. Sie jammert: »O je, o je, o jemine«, denn es sieht schlimm dort aus. Die Stiefel und Gummistiefel und Pantoffeln liegen wild durcheinander. Ein Stiefel von Opa hat keine Kappe und keinen Absatz mehr. Der andere besteht aus drei kaputten Teilen, die am Schnürband hängen. Von einem Pantoffel fehlt die Sohle, der andere ist zerrissen und zerfetzt. Nur die Gummistiefel sind heil geblieben. Opa sagt: »Das war Bello. Ich habe noch gesehen, wie er rausgerannt ist.« »Aber wie ist er reingekommen?«, ruft Oma. »Ich habe die Tür verriegelt und abgeschlossen.« Jetzt steht die Tür weit auf. Der Wind hat einen Haufen Schnee über die Schwelle geweht. »Vielleicht hat jemand für den Nikolaus aufgemacht«, meint Opa. Darüber müssen Oma und Opa lachen. Sie ziehen Holzpantinen an und machen Ordnung. Opa bringt die Reste von den Stiefeln und Pantoffeln in die Mülltonne und Oma wischt zum fünften Mal auf. Dabei fällt ihr etwas ein. Sie sagt: »Ein Glück, dass es Weihnachten neue Stiefel und Pantoffeln gibt.« Opa brummt: »Ein Glück, dass sich Bello nichts aus Gummi macht!« Als sie in der Küche beim Frühstück sitzen, hören sie, wie Nina und Amelie draußen in der Diele jubeln, denn die Gummistiefel sind bis obenhin voll mit Süßigkeiten.
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Weihnachten im Schnee
Wenn es schneit, bekommt Mama Sehnsucht. Dann möchte sie mit Papa und Steffi durch die weiße Winterlandschaft stapfen und tief die klare, gesunde Luft einatmen. Leider wohnen sie in einer großen Stadt. Wenn es dort schneit, wird der Schnee gleich grauer Matsch, den die Autos hochschleudern, der schmutzig von den Dächern tropft und sich auf den Straßen zu Pfützen ansammelt, in denen man sich nasse Füße holt und anschließend Schnupfen bekommt. »Freu dich mal«, sagt Papa. Er hat eine Überraschung für Mama. Im Reisebüro hat er eine Ferienwohnung gebucht, die mitten in den Bergen liegt. »Hurra, dann feiern wir Weihnachten im Schnee!«, ruft Mama und freut sich mächtig. Steffi weiß nicht recht, ob sie sich ebenfalls freuen soll. Erstens war sie nie in den Bergen und zweitens kommen ihre Freunde Micha und Iris nicht mit. »Bestimmt findest du dort neue Freunde«, meint Mama und macht sich gleich ans Kofferpacken. Wintersachen brauchen viel Platz. Steffi darf weder ihre Puppen noch ihre Stofftiere mitnehmen, nur das Puzzlespiel. Sie freut sich lieber erst mal nicht. Mama freut sich umso mehr und Papa freut sich, weil sich Mama so freut. Es ist eine weite Reise. Sie fahren den ganzen Tag mit der Bahn und das letzte Stück mit dem Bus. Als sie endlich da sind, ist Steffi eingeschlafen. Papa trägt sie den Berg hoch und Mama schleppt den Koffer hinterher. Am anderen Morgen wacht Steffi auf, weil draußen ein Hund bellt. Sie liegt unter einem dicken Federbett in einem kleinen Zimmer, das eine nied107
rige Holzdecke und vier kleine Fenster hat. Aus dem einen Fenster guckt Steffi hinaus. Alles ist tief verschneit - die Berge, der Wald und unten das Dorf. Der Himmel ist strahlend blau. Vor dem Haus scharren ein paar Hühner. Aus dem Stall kommt eine Frau mit einer Milchkanne. Knapp vor ihr saust ein Schlitten mit einem kleinen Mädchen vorbei. Es ist ungefähr so alt wie Steffi. Seine langen Zöpfe wehen hinter ihm her. Ein struppiger Hund springt übermütig um den Schlitten herum. Vielleicht, denkt Steffi, vielleicht freu ich mich doch ein bisschen. Im Nebenzimmer schlafen Papa und Mama noch ganz fest. Steffi zieht sich leise an. Die Stiefel findet sie nicht. Da geht sie einfach in Socken die Treppe hinunter. Unten steht die Tür zur Küche offen, drinnen hantiert die Frau. Sie sieht sich um und sagt: »Guten Morgen! Hast du gut geschlafen?« Steffi nickt und fragt: »Wer ist das Mädchen?« »Das ist Maria«, sagt die Frau. »Ihr müsst euch bald anfreunden.« Dann bekommt Steffi warme Milch und ein Butterbrot. Inzwischen sind Papa und Mama endlich wach. Nach dem Frühstück stapfen sie gleich durch den Schnee und alles ist genauso, wie es sich Mama immer vorgestellt hat. Sie sagt dauernd zu Papa und Steffi: »Atmet bitte die gesunde, klare Luft ein!« Das tun Papa und Steffi und Papa atmet so tief, dass er sich verschluckt und husten muss. Auf dem Weg hinunter ins Dorf kommt ihnen Maria entgegen. Auf ihrem Schlitten steht ein voller Einkaufskorb. »Hallo, du!«, sagt Steffi. »Bäh!«, macht Maria und streckt Steffi die Zunge raus. Dann rennt sie schnell weiter. Im Dorf kauft sich Mama eine schicke Sonnenbrille und eine Flasche Hautöl. Papa stöbert am Kiosk, dort sind leider alle Zeitungen von vorgestern. Im Gasthaus darf Steffi aussuchen, was sie gern essen möchte. Auf dem Heimweg atmen alle drei wieder die gesunde, klare Luft ein, und als sie endlich oben beim Haus ankommen, haben sie schwere, müde Füße. Steffi steigt hinter Papa und Mama die Treppe hoch. Plötzlich fliegt ihr etwas von hinten an den Kopf und gleich darauf noch etwas. Steffi dreht sich um. Maria steht in der Küchentür, sie hat mit ihren Filzpantoffeln nach Steffi geworfen. Jetzt macht sie wieder: »Bäh!«, streckt die Zunge raus und knallt die Tür hinter sich zu. Die wird nie meine Freundin, denkt Steffi und freut sich überhaupt nicht mehr.
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Am Morgen darauf wacht Steffi auf, weil ein Schneeball gegen das Fenster prallt. Sie springt aus dem Bett und reißt das Fenster auf. Auf dem Fensterbrett liegt Schnee genug. Bevor Maria den zweiten Schneeball werfen kann, kriegt sie von Steffi einen Ball ans Ohr. Aber dann wirft sie. Steffi duckt sich, und der Schneeball landet genau auf Papas nacktem Fuß. »Lasst den Unsinn«, sagt Papa. Er macht das Fenster zu und schickt Steffi nach unten. Die Frau hat ihnen zum Frühstück frische Milch versprochen. »Gleich«, sagt die Frau. »Maria bringt die Milch hoch.« Dann geht sie mit der Kanne in den Stall. Ein bisschen später poltert Maria gegen die Tür. Sie stellt den Milchtopf wortlos auf den Tisch, obwohl Mama freundlich »Guten Morgen« zu ihr sagt. Als sie hinausgeht, tritt sie Steffi blitzschnell gegen das Schienbein. Das tut scheußlich weh. Steffi erwischt Maria auf der Treppe. Sie hauen und kratzen sich, bis Papa Steffi packt und die Frau Maria an den Zöpfen in die Küche zerrt. Der Himmel ist ganz dunkel geworden. Die Berge und der Wald sind verschwunden. Die Häuser unten im Dorf sind nur noch als Schatten zu erkennen. Dann schneit es so dicht, dass draußen überhaupt nichts mehr zu sehen ist. Papa und Mama legen sich nach dem Frühstück wieder ins Bett. Sie wollen mal richtig faulenzen und schlafen dabei ein. Vorher hat Mama noch das Puzzlespiel aus dem Koffer geholt. Steffi puzzelt lustlos eine Weile und fühlt sich ganz mies. Sie hat Heimweh. 109
Schließlich geht sie in die Küche hinunter. Maria ist nicht zu sehen. Die Frau ist zum Glück allein. Steffi guckt zu, wie sie Knödel rollt und in einen Topf mit kochendem Wasser wirft. »Langweilst du dich?«, fragt die Frau. Steffi nickt. Da ruft die Frau laut: »Maria! Komm her!« Gleich darauf springt der struppige Hund von draußen herein und schüttelt sich den Schnee aus dem Fell. Dann kommt Maria. Sie tritt die Stiefel an der Türschwelle ab, guckt Steffi an und fragt: »Was ist?« Die Frau sagt: »Spielt miteinander. Ihr sollt doch Freunde werden.« »Nein«, sagt Maria und ihr Mund zuckt dabei. Sie dreht sich um und läuft wieder nach draußen. Hinter ihr schlägt die Tür zu. Der struppige Hund bleibt da. Er hockt neben Steffi und schlägt mit dem Schwanz auf den Boden. Steffi streichelt ihn vorsichtig. Da leckt er ihre Hand. Die Frau rührt die Knödel um und meint: »Nimm es Maria nicht übel. Sie hat Kummer.« Langsam geht Steffi nach oben und guckt aus dem Fenster ins Schneetreiben. Ich hab auch Kummer, genau wie Maria, denkt sie, und ich kann es niemandem sagen; vor allem nicht Papa und Mama, die finden hier alles wunderschön und kriegen gar nicht mit, dass irgendwas nicht stimmt. Unten im Hof tobt der struppige Hund durch den Schnee. Er bellt zu Steffi hinauf, dann verschwindet er im Stall. Steffi läuft die Treppe runter. Im Stall war sie noch nie. Es ist ganz warm und riecht eigenartig. Die Kühe stehen in einer Reihe und mampfen Heu. Eine Kuh streckt den Kopf vor, als Steffi vorbeikommt. Hinten auf einer Futterkiste hockt Maria. Der struppige Hund liegt neben ihr. Als Steffi näher kommt, steht er auf und läuft ihr entgegen. Dabei wedelt er mit dem Schwanz und Steffi streichelt ihn. »Hau ab«, sagt Maria, und Steffi kann sehen, dass sie geweint hat. Sie sagt leise: »Du hast Kummer, ich auch. Mir gefällt es hier überhaupt nicht. Ich hab Heimweh und kann es niemandem sagen. Ich möchte nach Hause.« Maria fährt herum und ruft: »Dann fahrt doch! Fahrt endlich! Warum seid ihr hergekommen? Wegen euch musste mein Opa ausziehen und runter ins Dorf. Du wohnst in dem Zimmer, wo wir sonst schlafen. Und ich musste wegen dir in die kalte Kammer hinterm Stall, wo nachts die Mäuse kommen. Weihnachten feiern wir in der Küche, weil ihr oben unsere Wohnung habt. So ist das nämlich. Das ist mein Kummer und darum kann ich dich nicht leiden.« Steffi ist erschrocken. Eine Weile sagt sie gar nichts. Dann sagt sie: »Ich kann nichts dafür. Wir sind Mama zuliebe hier. Sie wollte so gern in den 110
Schnee. Bei uns in der Stadt ist es so hässlich und so schmutzig. Und hier bei euch ist es so schön.« Darauf sagt Maria nur: »Hm.« Sie überlegt. Schließlich guckt sie Steffi an und meint ruhig: »Wir brauchen das Geld für einen neuen Weidezaun und für die Wasserpumpe. Und ich bin ziemlich dumm.« »Gar nicht«, sagt Steffi, dann schweigen sie miteinander. Nach einer Weile meint Steffi: »Wir beide können eigentlich nichts dafür.« »Eigentlich nicht«, sagt Maria und lacht zum ersten Mal Steffi an. Am Nachmittag hört es auf zu schneien. Ehe es dunkel wird, wollen Papa und Mama mit Steffi durch den Schnee stapfen, aber sie müssen allein gehen. Steffi sitzt mit Maria in der Küche. Das Puzzlespiel haben sie schon fertig. Nun hat die Frau einen süßen braunen Teig geknetet und sie stechen Sterne aus. Dabei beraten sie, wie sie alle miteinander Weihnachten feiern werden.
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Karpfenzauber
Sarahs Papa hatte einen Freund und Papas Freund hatte außerhalb der Stadt einen Fischteich. Einmal, im Sommer, war Papa mit Sarah dorthin geradelt. Damals hatte die Sonne geschienen und die Vögel hatten gezwitschert. Sarah durfte sogar angeln, aber sie hatte keinen Fisch gefangen. Im Winter, kurz vor Weihnachten, polterte es nachmittags draußen gegen die Haustür. »Der Weihnachtsmann kommt!«, rief Sarah. »Der kommt erst nächste Woche«, sagte Mama und machte auf. Draußen stand Papas Freund. Er hatte es eilig und wollte nicht reinkommen. Er stellte nur einen Eimer auf die Schwelle, sagte: »Frohes Fest! Guten Appetit!« und verschwand wieder. Im Eimer schwamm ein Karpfen. Er war so groß, dass er kaum Platz hatte. Mal schnappte sein rundes Maul über und mal unter dem Wasser. »Ach du meine Güte, das arme Tier!«, rief Mama. Sie lief ins Bad und ließ Wasser in die Wanne laufen. Dann holte sie den Eimer und kippte den Karpfen hinein. Als Papa heimkam, saß Sarah auf dem Klodeckel. Sie drehte sich um und sagte: »Guck mal, der heißt Thomas.« Papa guckte in die Wanne und stellte fest: »Thomas heißt der Junge von nebenan. Dies hier ist ein Fisch, der Karpfen heißt.« Aber Sarah fand, dass der Karpfen genauso aussah wie der Junge von nebenan. Darum nannte sie ihn Thomas. »Von mir aus«, meinte Papa. »Wir werden ihn Heiligabend essen.«
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Mama antwortete: »Für Heiligabend habe ich Kartoffelsalat vorgesehen und bereits Würstchen besorgt. Am ersten Feiertag brate ich eine Pute und am zweiten Feiertag soll es eigentlich Rouladen geben.« Gegen Mamas Küchenpläne durfte Papa nie etwas einwenden. Der Karpfen blieb einstweilen ungeschoren in der Badewanne und Sarah fütterte ihn mit Haferflocken, Brotkrumen und zerpflückten Salatblättern. Der Karpfen schien sich wohl zu fühlen. Er schwamm in der Wanne auf und ab und hin und her. Papa fühlte sich dagegen weniger wohl. Um richtig wach zu werden, pflegte er jeden Morgen kalt zu duschen. Das konnte er nun nicht, weil ihm der Karpfen im Weg war. Am ersten und am zweiten Morgen schimpfte er beim Frühstück darüber. Am dritten Morgen hatte er es satt. Er stellte sich neben den Karpfen in die Wanne und drehte die Dusche auf. Sofort kam Mama aus der Küche und rief: »Lass das sein! Thomas ist sensibel.« »Woher weißt du das? Ich bin auch sensibel«, knurrte Papa, aber das nahm ihm Mama nicht ab. Am nächsten Morgen packte Papa einfach den Karpfen und steckte ihn in den Eimer. Er wollte gerade in die Wanne klettern, da erwischte ihn Sarah. Sie rief: »Mama, komm!«, und Papa musste wieder auf seine Dusche verzichten. Missmutig saß er am Frühstückstisch und versteckte sich hinter der Zeitung. Inzwischen erzählte Sarah, was sie von Thomas geträumt hatte. Mama wollte es ganz genau wissen. Also: Sarah war mit Thomas in einem wunderschönen Teich herumgeschwommen. Da hatte ihr Thomas die Stelle gezeigt, wo ihn ein Kaninchen aus einem Frosch in einen Karpfen verzaubert hatte. Papa kam hinter der Zeitung hervor und stellte fest: »Quatsch! Kaninchen können nicht zaubern. Und ein Karpfen ist noch nie ein Frosch gewesen. Es wird Zeit, dass er in den Topf wandert.« »Du hast weder Fantasie noch Gefühl«, sagte Mama und strich Sarah über den Kopf. Von nun an musste ihr Sarah jeden Morgen ein bisschen mehr von Thomas erzählen, denn Sarah träumte jede Nacht von ihm. Das sagte sie jedenfalls, obwohl Papa ihr nicht glaubte und hinter seiner Zeitung laut stöhnte. Mama hörte immer aufmerksam zu. Thomas war vor vielen Jahren in Indien geboren worden, als reicher Prinz. Leider hatten ihn Seeräuber entführt. Und diesen Seeräubern wurde er später von Indianern geraubt. Die Indianer verkauften ihn an einen bösen Zauberer. 113
Und der machte erst ein Kamel, dann einen Regenwurm und schließlich eine Maus aus ihm. Der Zauberer hatte eine Katze, die ihm das Zaubern abgeguckt hatte. Sie zauberte aus der Maus, die eigentlich ein indischer Prinz war, einen Karpfen und warf ihn Papas Freund in den Fischteich. An dieser Stelle tauchte Papa hinter seiner Zeitung auf und sagte: »Ich denke, irgendein Kaninchen hat diesen dummen Karpfen mal aus einer Kröte gehext.« »Nein, aus einem Frosch«, sagte Mama. »Kümmere dich lieber um Politik.« Und dann war das Weih nachts fest mit Mamas Küchenkünsten vorbei. Der Karpfen schwamm immer noch in der Wanne. Und Papa hatte seit zehn Tagen nicht mehr geduscht. Zum Mittagessen hätte er jetzt gern mal ein gutes Fischgericht gehabt, doch darüber war mit Mama und Sarah nicht zu reden. Beide sprachen unentwegt über den Karpfen Thomas, dessen Schicksal immer bunter wurde. Eines Tages hatte Papa genug. Er warf die Zeitung auf den Frühstückstisch, dass die Tassen klirrten, und rief: »Schluss jetzt mit dem Karpfenzauber!« Dann sprang er auf und kramte in der Schublade nach einem langen, spitzen Messer. Damit wollte er ins Bad, doch Mama war schneller. Mit ausgebreiteten Armen stand sie vor der Tür, sah Papa starr an und sagte: »Das wirst du nicht wagen!«
»Tu's nicht, tu's nicht!«, schrie Sarah und zerrte Papa von hinten fast den Pullover vom Hals.
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»Ich bin in einem Tollhaus«, sagte Papa, aber er legte das Messer zurück. Dafür zog er seine Joppe über, und ehe er die Haustür hinter sich zuknallte, rief er: »Na gut, wie ihr wollt! Dann suche ich eben einen Abnehmer für ihn!« Aber Papa fand keinen Abnehmer. Die Nachbarn nebenan wehrten erschrocken ab. Ein Großonkel von ihnen war vor Jahren fast an einer Gräte erstickt. Seither aßen sie allenfalls Fischstäbchen, bei denen man seines Lebens sicher war. Die Nachbarn auf der anderen Seite waren verreist. Auch ihr Sohn Thomas, der dem Karpfen so ähnlich sah, war nicht da. Papa konnte sich sein Angebot ersparen. Nur die alte Dame, die gegenüber wohnte, zeigte Interesse. Sie kam gleich mit, um sich den Karpfen anzusehen, und meinte anerkennend: »Ein prachtvolles Tier!« Sarah saß auf dem Klodeckel, streute Haferflocken in die Wanne und sagte: »Er heißt Thomas.« »Sieh mal an«, sagte die alte Dame. Dann wandte sie sich an Papa und erklärte: »Ein Karpfen sollte stets zu Neujahr gegessen werden. Dann bringt er nämlich Glück. Man muss eine Schuppe von ihm aufbewahren, wenn man reich werden will.« Papa drängte: »Gut! Nehmen Sie ihn gleich mit!« Die alte Dame winkte ab: »Er ist ja viel zu groß für mich allein. Sie sind zu dritt. Essen Sie ihn auf!« Und dann ging sie. Sarah raunte dem Karpfen zu: »Hast du gehört? Du bringst uns Glück! Du machst uns reich!« »Ja, wenn wir dich kochen«, sagte Papa und sah zu, wie Sarah dem Karpfen mit spitzen Fingern ein wenig Salat hinhielt. Der Karpfen aß ihr aus der Hand. »Thomas küsst mich«, sagte Sarah. »Eines Tages willst du ihn vielleicht noch heiraten«, sagte Papa und raufte sich das Haar. Sarah nickte ganz ernsthaft und erwiderte: »Ja, aber erst, wenn ich groß bin. Und so lange bleibt Thomas in unserer Badewanne.« Da fasste Papa einen Entschluss. Am anderen Morgen ließ er die Zeitung liegen, sah Mama und Sarah an und sagte: »Heute Nacht habe ich auch von Thomas geträumt. Ich habe geträumt, wie der arme Kerl wieder erlöst werden kann.« Mama sagte misstrauisch: »Führst du etwas im Schilde?« Aber Sarah fragte: »Wie?« 115
Da sagte Papa: »Die alte Dame hat es mir im Traum verraten. Sarah hat gehört, dass sie den Zauber vom Glück und vom Reichtum wusste. Darum kennt sie auch den Karpfenzauber. Sie hat zu mir gesagt, wir sollen Thomas zurück in seinen Fischteich bringen. Es muss noch heute sein, ehe das alte Jahr zu Ende geht. Denn nur in der Neujahrsnacht kann er erlöst werden. Dann fliegt er zurück nach Indien und wird dort wieder ein Prinz. Was sagt ihr dazu?« Selbst Mama konnte dazu nichts sagen. Gleich nach dem Frühstück steuerte Papa das Auto vorsichtig hinaus zum Fischteich. Mama und Sarah saßen auf dem Rücksitz. Zwischen sich hielten sie den Eimer fest, in dem der Karpfen steckte. Sie redeten ihm in jeder Kurve gut zu. Papas Freund war nicht da und darüber war Papa sehr erleichtert. Er schlug mit einem Knüppel ein Loch in die dünne Eisdecke. Dann kippte er den Eimer aus und gleich darauf war der Karpfen verschwunden. Mama und Sarah winkten und sahen ganz traurig drein. Um Mitternacht guckten Papa, Mama und Sarah aus dem Fenster. Draußen stiegen leuchtend bunt die Raketen zum Himmel. Sarah sagte: »Wenn Thomas jetzt nach Indien fliegt, hat er es ganz hell.« Am anderen Morgen konnte Papa endlich wieder duschen. Auf dem Boden der Wanne fand er eine glänzende Fischschuppe. Er steckte sie in seine Brieftasche. Man kann ja nie wissen.
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Hansis Geschichte
»Oo gut wie Hansi möchten wir's auch mal haben«, sagten die anderen Kinder im Dorf manchmal. Hansi guckte nämlich oft bis Mitternacht fern. Und hatte die Taschen voll Kleingeld. Und aß nur, wann er wollte, und das, worauf er Lust hatte. Und zog irgendwelche Klamotten an, egal, ob sie zerrissen oder voll Flecken waren. Schularbeiten machte er so gut wie nie. Und kam meist zu spät zur Schule. Und machte überhaupt den ganzen Tag lang, was ihm gerade in den Sinn kam, und niemand schalt ihn deswegen. »Ihr könnt ja mal mit mir tauschen«, meinte Hansi, der es gern wie die anderen Kinder gehabt hätte, aber das ging nun mal nicht. Stine und Hinrich, seine Eltern, hatten kaum Zeit für ihren Hansi. Sie hatten den Laden und die Poststelle und dazwischen auch noch zu allem Überfluss die Gaststube. Bereits früh um sieben musste Stine hinter dem Tresen stehen. Dann verlangten die ersten Leute ihre Brot chen und dazu eine Zeitung. Später kamen Lieferanten mit Milch und Wurst und frischem Gemüse. Und Frauen, die sich Zeit ließen beim Einkaufen, weil sie eine Weile schwatzen wollten. Meist kauften sie allerlei Kleinkram, den sie im Supermarkt nicht bekamen. Die Alten kauften auch alles andere bei Stine, sie hatten ja kein Auto, um zum Supermarkt zu fahren. Jedenfalls war der Laden voll bis zum Abend. Und wenn Stine endlich Schluss machen konnte, musste sie noch die Bücher führen, Bestellungen aufgeben und Steuern ausrechnen. Sie konnte sich nur mal zwischendurch um Hansi kümmern und ihn fragen: »Ist alles in Ordnung?« Dann nickte Hansi und Stine steckte ihm etwas Süßes zu, das sie aus einem Regal angelte. 117
Hinrich saß vormittags hinter dem Postschalter. Er stempelte Briefe, wog Päckchen, verkaufte Briefmarken, ordnete die Post, zahlte Renten aus und übermittelte Telegramme. Auch er hatte kaum Zeit für Hansi. Wenn er ihn traf, sagte er: »Kopf hoch, Hansi«, und gab ihm eine Hand voll Kleingeld. Zwischen dem Laden und der Post war da auch noch die Gaststube. Dort hockten meist schon vormittags die Männer, weil immer etwas Wichtiges zu bereden war. Durch die offene Ladentür gab Stine Acht, dass niemand auf dem Trockenen saß. Bei Bedarf mussten ihre Kunden einen Moment warten und sie zapfte Bier und schenkte Korn ein. Nachmittags, wenn die Post geschlossen hatte, übernahm das Hinrich bis spät in die Nacht hinein. Danach war er so müde, dass er gleich ins Bett kroch und schnarchte. Nur manchmal, am Sonntagmorgen, wenn der Laden geschlossen war und die Leute in der Kirche saßen, hatten Stine und Hinrich ein paar Augenblicke Zeit für Hansi. Da fragte Hansi einmal: »Warum habt ihr mich eigentlich?« Hinrich, der Biergläser polierte, guckte zu Stine hinüber und fragte: »Kannst du mir sagen, warum wir den Knirps haben?« Stine, die gerade die Tische abwischte, drehte sich um und sagte: »Weil wir dich sehr, sehr lieb haben, Hansi.« Das war ja gut und schön, aber Hansi konnte nicht viel damit anfangen. Er hätte es gern mal so gehabt wie alle anderen Kinder, aber er wusste auch, dass es nicht möglich war. Um die Weihnachtszeit hatten Stine und Hinrich überhaupt keine Zeit mehr. Bereits seit Wochen kauften die Leute in Stines Laden wie verrückt ein. Sie kauften Dominosteine und Spritzkuchen und Spekulatius und rote Kerzen und alle Delikatessen, die Stine jetzt im Sonderangebot hatte. Stine wusste manchmal nicht mehr, wo ihr der Kopf stand. Auch bei Hinrich in der Post war Hochbetrieb. Die Pakete und Päckchen stapelten sich hinter ihm zu Bergen und er musste Unmengen von Weihnachtskarten abfertigen und andere Unmengen stempeln. Um Hansi konnten sie sich gar nicht mehr kümmern. Als Stine einmal todmüde neben Hinrich im Bett lag, sagte sie: »Hansi tut mir so Leid. Immer ist er allein. Wir müssen ihm ein besonders schönes Weihnachtsfest ausrichten. Meinst du nicht auch?« Hinrich brummte: »Das ist doch klar«, drehte sich um und schlief ein. Dafür lag Stine noch eine Weile wach und grübelte. Sie wäre gern mal an einem Nachmittag mit dem Bus in die Stadt gefahren und hätte Geschenke gekauft. Sie hätte gern auch irgendwas gebastelt oder gestrickt, aber woher sollte sie die Zeit dazu nehmen? Sie kam ja nicht einmal dazu, einen Baum zu besorgen. Und zum Fest sollte es ja auch et118
was Gutes zu essen geben. Aber was? Und wann sollte sie das alles machen? Mitten in diesen Gedanken fielen Stine die Augen zu. Am Heiligen Abend überschlug sich alles vom frühen Morgen an. Der Laden war ständig knallvoll. Die Leute kauften ein, als ob es nie wieder was gäbe. Sie kamen zweimal und dreimal zurück, weil sie immer wieder etwas vergessen hatten. Bald wusste Stine nicht mehr, wo hinten und vorne war. Die Maschine sauste, wenn sie Wurst und Schinken schnitt, die Waage hüpfte auf und ab, wenn sie Käse und Fleischsalat wog. Stine fischte Geflügel aus der Gefriertruhe, angelte Konserven vom Regal, kletterte die Leiter auf und ab, um Flaschen zu holen, und tippte in Windeseile die Kassenstreifen. In der Poststelle bei Hinrich sah es nicht besser aus. Da wurden noch Berge von Paketen geliefert, er musste Gespräche ins Ausland vermitteln und überdies kamen immer wieder Leute mit Sparbüchern, denen bei Stine das Geld ausgegangen war und die nun bei Hinrich Nachschub holten. Aber erst in der Gaststube! Dort ging es an diesem Tag ganz schlimm zu. Viele Männer hatten sich beizeiten von zu Hause verdrückt, weil sie bei den Festvorbereitungen ja nur im Weg waren. Andere wollten auf ein frohes Fest miteinander anstoßen. Jedenfalls war kein einziger Platz frei und immer wieder wurde nach Stine gerufen, die nachschenken sollte. Hansi saß im kalten Treppenhaus auf den Stufen und war ganz allein. Hinten, wo der Gang zu Ende war, befand sich das Klo. Die Männer aus der Gaststube mussten dauernd dorthin. Die meisten sagten zu Hansi nur: »Na du?« Aber der alte Jensen blieb stehen. Er fragte: »Ist euer Baum schon geschmückt?« »Wir haben keinen«, sagte Hansi. »Was denn? Keinen Baum?«, fragte der alte Jensen und konnte es nicht fassen. Das gab's doch gar nicht. Nachdem er auf dem Klo gewesen war, nahm er Hansi mit in seinen Kombi und brauste mit ihm in den Wald. Dort durfte sich Hansi einen Baum aussuchen und Hansi wollte einen ganz großen. Oben in der Stube musste der alte Jensen einen Meter vom Stamm absägen, ehe der Baum hineinpasste, und dann reichte er vom Boden bis zur Decke. »Nun muss Schmuck dran«, sagte der alte Jensen, aber Hansi wusste nicht, wo der Weihnachtsschmuck aufbewahrt wurde. Da stapfte der alte Jensen zu Stine in den Laden hinunter und kaufte bunte Kugeln, Lametta, Engelshaar, Zuckerkringel und garantiert nicht tropfende Kerzen. Er kaufte von allen Artikeln so große Mengen, dass Stine ausverkauft war.
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Sie bediente gerade Tante Behrens, die von einer langen Liste ablas, was sie noch alles für die Feiertage brauchte. Fast hätte sie den Magenbitter vergessen. »Dabei ist das ein Geschenk für unsern Opa«, sagte sie und fragte dann: »Was gibt es denn bei euch für Geschenke?« Stine war natürlich nicht dazu gekommen, irgendwas in der Stadt zu besorgen. Weil sie an Hansi dachte und weil Hansi ihr dabei Leid tat, bekam sie nasse Augen und eine rote Nase. »Gar keine«, sagte sie. »Was denn? Keine Geschenke?«, fragte Tante Behrens. Das wollte ihr nicht in den Kopf. Nachdem sie ihre Einkäufe daheim verstaut hatte, kramte sie in Truhen, Schränken und Schubladen. Sie fand allerlei, was sie nett verpackte und verschnürte. Diesmal ging sie nicht zu Stine in den Laden, sondern durch die Haustür und kletterte die Treppe hoch. Oben in der Stube schmückten der alte Jensen und Hansi den großen Baum. Tante Behrens legte ihre Geschenke gleich daneben auf den Teppich. »Wehe, wenn du sie schon aufmachst!«, sagte sie zu Hansi. »Ganz bestimmt nicht«, versprach Hansi. Unten hatte Hinrich die Poststelle gerade dichtgemacht, als er den alten Jensen, Tante Behrens und dazu Oma Hinze traf, die bei Stine Streichhölzer gekauft hatte. Weil Weihnachten war, lud er alle auf einen Kirschlikör ein. Die Männer, die noch immer in der Gaststube saßen, riefen: »Wohl bekomm's!« »Wohl bekomm's!«, antwortete Oma Hinze, dann erkundigte sie sich bei Hinrich: »Was wird euch heute Abend wohl bekommen? Was gibt es Gutes?« Hinrich kippte einen Doppelten und sagte: »Nichts.« Oma Hinze ließ fast das Likörglas fallen. Nichts? Aber am Heiligen Abend musste es doch was besonders Gutes geben! Nichts? Das gab's doch gar nicht. »Naja, du weißt doch - Stine«, meinte Hinrich verlegen. Oma Hinze wusste gut, wie viel Stine um die Ohren hatte. Aber dann fiel ihr Hansi ein. Sie trank hastig ihren Likör aus und eilte nach Hause. Dort saßen alle Hinzes um den Tisch und vertilgten gerade den Christstollen. In der Küche auf dem Fensterbrett standen Schüsseln voll Sellerie- und Heringssalat, voll Zitronenkrem und Roter Grütze. In der Röhre schmorte neben einer Gans noch ein Schweinebraten, auf dem Herd dampfte Kraut, und Klöße kugelten im Topf herum. Von allem war genug da und niemand hatte etwas dagegen, dass Oma Hinze einen Teil in Näpfe und Töpfe füllte. 120
Als sie damit durch das Dorf lief, war es schon dunkel. Hansi hockte wieder auf der Treppe und wartete. Oma Hinze strich ihm über den Kopf, dann brachte sie Fleisch, Kraut und Klöße in Stines kalte, leere Küche. Hansi musste ihr beim Tischdecken helfen und durfte schon mal die Krem kosten.
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Unten im Laden bediente Stine jetzt die letzten Kunden. Sie machte ganz langsam, denn das Herz war ihr schwer. Sie musste immerzu an Hansi denken. Was sollte sie ihm nur sagen? Dass kein Baum da war? Dass es keine Geschenke gab? Nicht mal was Gutes zu essen? Am liebsten hätte sie sich verkrochen und geheult. Nebenan schob Hinrich die letzten Gäste auf die Straße hinaus und sperrte die Gaststube zu. Dann kam er zu Stine. »Ja, also dann«, sagte er verlegen, »dann müssen wir mal sehen, wie wir nun Weihnachten feiern.« Plötzlich heulte Stine los. Sie ließ sich auf eine Apfelsinenkiste fallen und schluchzte: »So kann es nicht weitergehen mit uns. Das ist doch kein Leben.« Hinrich hockte sich neben sie und streichelte ihren Arm. Er sagte: »Ich denk schon die ganze Zeit darüber nach. Und ich versprech dir - es wird anders!« Draußen auf dem Gang polterte es, dann ging die Tür auf und ein Zwerg erschien. Er steckte in einem Zuckersack und trug einen Bart aus Watte. In der Hand hielt er eine Rute und drohte damit. »Guten Abend, Zwerg«, sagten Stine und Hinrich. »Ach was, ich bin doch der Weihnachtsmann«, sagte der Zwerg und fragte dann: »Seid ihr immer brav gewesen? Sonst kriegt ihr nämlich die Rute!« Stine traten wieder Tränen in die Augen, als sie sagte: »Wir sind gar nicht brav gewesen, vor allem haben wir uns nicht genug um unseren kleinen Hansi gekümmert.« »Aber wir wollen uns bessern, das versprechen wir«, sagte Hinrich und drückte Stine ganz fest. »Na, Hauptsache ist, ihr habt euern Hansi lieb«, sagte der Weihnachtsmann, legte die Rute zwischen die Konservendosen und schubste Stine und Hinrich aus dem Laden raus und die Treppe hoch.
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Das Familienerbstück
Hans hatte eine Patentante. Tante Erna. Als Hans und Jule heirateten, bekamen sie von Tante Erna ein Geschenk, und Tante Erna sagte: »Haltet es in Ehren, es ist ein Familienerbstück.« Das Geschenk war eine Figur auf einem Pferd, das sich aufbäumte, wobei die Figur fast abstürzte. Alles war aus Keramik und sehr bunt. Jule weinte und rief: »Dieses Ding darf nicht in unsere schöne neue Wohnung!« Hans erwiderte: »Aber wenn Tante Erna kommt, was dann?« Sie hatten ihren ersten Krach, und das Geschenk verschwand im tiefsten Fach der Schrankwand. Kurz darauf hatte ein Onkel von Jule Geburtstag. Weil Hans diesen Onkel Fritz nicht besonders mochte, meinte er, die Figur von Tante Erna sei genau das Richtige für ihn. Sie hatten wieder einen Krach und Onkel Fritz bekam sein Geschenk. Am anderen Tag sagte seine Frau: »Schade, dass Hans und Jule so einen gewöhnlichen Geschmack haben.« Dann brachte sie die Figur auf den Dachboden. Nach einer Weile feierte der Chef von Onkel Fritz ein Jubiläum. Weil Onkel Fritz bald in den Ruhestand ging, war er einverstanden, als seine Frau die Figur vom Boden holte. Onkel Fritz überreichte sie seinem Chef mit einigen passenden Worten und der Chef verzog keine Miene. Das Geschenk wurde im Keller unter altem Gerumpel versteckt. Der Chef hatte einen Sohn, der seit einiger Zeit bei einem Mädchen wohnte. Sie waren mit irdischen Reichtümern nicht gerade gesegnet und durften sich das alte Gerumpel aus dem Keller nehmen. Das Mädchen stellte die Figur oben auf einen wackligen Schrank.
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Dann verkrachten sich die beiden und das Mädchen konnte nichts mehr sehen, was aus der gemeinsamen Zeit stammte. Es packte alles zusammen und setzte sich damit auf den Flohmarkt. Ein Mann gab für die Figur ein paar Mark und stellte sie in seinen Antiquitätenladen zwischen Porzellan und Silberzeug. Kurz vor Weihnachten beschlossen Hans und Jule, sich selber etwas besonders Schönes zu schenken. Als Jule die Figur entdeckte, rief sie: »Fast die gleiche haben wir von deiner Tante Erna zur Hochzeit bekommen.« »Aber die hier ist noch scheußlicher«, sagte Hans. Der Antiquitätenhändler hielt ihnen einen Vortrag über die wunderbar ausgewogenen Proportionen und die herrlich leuchtenden Farben. Er sagte: »Es ist ein ganz seltenes Stück.« Danach sahen Hans und Jule die Figur mit anderen Augen und sie bekam einen Ehrenplatz bei ihnen auf der Fensterbank, umrahmt von Blattpflanzen.
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Am ersten Weihnachtsfeiertag kam Tante Erna. Natürlich sah sie die Figur sofort und rief entzückt: »Oh, da ist ja mein Geschenk! Ich dachte schon, ihr mögt es nicht! Denn ehrlich, ich habe dieses Ding nie leiden können, seit ich es von meiner Großmutter bekommen habe. Sie mochte es auch nicht, aber sie hatte es von einem guten Freund, der es bei irgendeinem Wettbewerb gewonnen hatte. Was war es doch noch mal?« Tante Erna hob die Figur hoch. Jule rief: »Tante Erna, du irrst dich! Es ist ...« Weiter kam sie nicht. Voller Triumph sagte Tante Erna: »Hier, auf der Unterseite, steht es: für die Meisterschaft im Entenfangen!« »Ach herrje!«, sagten Hans und Jule. Ein Krach lohnte sich nicht. Sie lachten lieber.
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Kaiserweihnachten
Ach Kinder, ihr löchert ja eure alte Oma! Was soll ich euch noch alles erzählen? Mir fällt schon nichts Neues mehr ein. Etwa von damals, als eure Mama ein kleines Mädchen war? Oder als ich so alt war wie ihr? Das kennt ihr doch schon alles und nun wollt ihr sogar noch wissen, was ich von meiner Mutter weiß. Meine Güte, das ist eure Urgroßmutter! Wie lange ist es her, als sie jung war! Halt! Ich erinnere mich, dass sie uns manchmal von Kaiserweihnachten erzählt hat. Hoffentlich bekomme ich die alte Geschichte zusammen. Also, eure Urgroßmutter hieß Lenchen und war zu ihrer Zeit recht fortschrittlich, denn sie hatte einen Beruf. Sonst lernte ein Mädchen damals allenfalls kochen und schneidern, dann sah es zu, dass es schnell einen Mann bekam. Lenchens jüngere Schwester war längst verheiratet, doch sie selbst war wählerisch. Ihre Mutter meinte: »Du wirst eine alte Jungfer, es ist ein Trost, dass du wenigstens einen Beruf hast.« Da war Lenchen gerade zwanzig. Ja, und nun wollt ihr wissen, welchen Beruf Lenchen hatte. Sie war ein Fräulein vom Amt, vom Telefonamt. In der einen Woche hatte sie zehn Stunden Tagdienst, in der anderen Woche zehn Stunden Nachtdienst. Während des Dienstes saß sie an einem so genannten Klappenschrank und musste stöpseln. Stellt euch vor, die Telefone hatten in dieser Zeit noch 126
keine Nummernscheibe, auf der man selbst wählen konnte. Jedes Gespräch musste vorher vermittelt werden und das ging so vor sich: Im Telefonamt standen in langen Reihen nebeneinander die Klappenschränke und an jedem saß ein Fräulein vom Amt. So eines wie Lenchen. Der Klappenschrank bestand aus einer Unzahl von Löchern und Stöpseln an Drähten. Zu jedem Stöpsel gehörte ein Telefonanschluss. Wenn jemand ein Gespräch wünschte, drehte er an einer Kurbel an seinem Apparat. Dann ertönte im Amt an einem Klappenschrank ein Klingelzeichen. Nehmt mal an, es hatte bei unserm Lenchen geklingelt. Sie fragte in die Sprechmuschel hinein: »Wen möchten Sie sprechen?« Die Sprechmuschel war unten am Kopfhörer dran, den Lenchen trug, um vom Stimmengewirr im Saal nicht gestört zu werden. Der Anrufer sagte ihr seine Nummer und gab ihr die Nummer desjenigen an, den er sprechen wollte. Dann zog Lenchen den Stöpsel mit seiner Nummer heraus und stöpselte ihn in das Loch mit. der gewünschten Nummer. Sie sagte: »Bitte sprechen Sie!«, und damit war die Verbindung hergestellt. Während sie inzwischen unermüdlich andere Teilnehmer miteinander verstöpselte, fragte sie von Zeit zu Zeit nach: »Hallo, sprechen Sie noch?« Denn sobald das Gespräch zu Ende war, musste sie den Stöpsel wieder aus dem Loch herausziehen, danach war die Leitung frei für ein neues Gespräch. Schwieriger wurde es allerdings, wenn jemand eine Verbindung in eine andere Stadt oder sogar in ein anderes Land wollte. Doch, auch das war schon möglich! Überall mussten Leitungen frei gehalten werden und die Verbindung wurde von Amt zu Amt wie eine Brücke gestöpselt, das dauerte manchmal stundenlang. Wenn endlich gesprochen werden konnte, rauschte, dröhnte und pfiff es so in den Drähten, dass man kaum ein Wort verstand. Kurz und gut, es war eine anstrengende Arbeit, die Lenchen zehn Stunden hintereinander tun musste. Nie durfte sie sich ablenken lassen, stets musste sie ganz bei der Sache sein. Im Saal wanderte unentwegt die Aufsicht herum und passte auf, dass alles klappte. Meist war es eine ältere Beamtin, die sehr streng guckte und zu der Lenchens Mutter bestimmt »alte Jungfer« gesagt hätte. Manchmal war es auch der Herr Kling, der Lenchen nervös machte, weil er besonders lange hinter ihrem Platz stehen blieb und sich dabei ständig räusperte. Habt ihr verstanden, wie es damals im Telefonamt zuging? Sonst kapiert ihr nämlich die Geschichte von Kaiserweihnachten nicht. Ihr wisst ja sicher, dass es zu jener Zeit einen Kaiser gab, der das Land mehr oder weniger gut regierte. Alle Kinder lernten in der Schule, dass er klug und gut und so hoch gestellt war, dass man den Kopf in den Nacken legen musste, um zu ihm aufzuschauen. Heute kann man sich gar nicht mehr vorstellen, wie weit weg von den einfachen Leuten so ein Kaiser schwebte. 127
An jenem Heiligen Abend hatte Lenchen Nachtdienst. Das war ihr gar nicht recht, sie hätte lieber daheim mit den Eltern und Geschwistern gefeiert. Nun saß sie am Klappenschrank. Vor ihr brannte eine Kerze, über ihr flackerte das Gaslicht und hinter ihr ging Herr Kling auf und ab, beaufsichtigte alles und räusperte sich. Überall wurde emsig gestöpselt. Damals wie heute telefonierten alle Leute miteinander, um sich ein frohes Fest zu wünschen. Plötzlich sprang eines der Telefonfräulein auf, eilte zu Herrn Kling und teilte ihm aufgeregt mit, dass die Hauptstadt in der Leitung war, weil das Kaiserschloss eine Verbindung wünschte. Der Aufsichtsbeamte übernahm die weitere Vermittlung selbst. Dabei dienerte er und rief immer wieder in die Sprechmuschel: »Jawohl! Sofort! Tue mein Möglichstes!« Nach und nach hatten alle mitbekommen, was vor sich ging. Die Kopfhörer, in denen empörte Stimmen wisperten und schnarrten, lagen achtlos herum und alle lauschten, um sich nichts entgehen zu lassen. Jetzt rief Herr Kling: »Sofort sämtliche Leitungen frei machen!« Alle Stöpsel wurden herausgezogen und damit waren alle anderen Gespräche einfach unterbrochen. Nur noch ein gleichmäßiges Rauschen und Knacken war zu vernehmen. Herr Kling stand auf, klatschte in die Hände und rief: »Meine Damen! Ausnahmsweise - und nur, weil Weihnachten ist dürfen Sie zuhören, wenn jetzt der Kaiser sprechen wird. Doch ich erbitte mir darüber strenges Stillschweigen!« Das war ja nun wirklich nett von Herrn Kling, meint ihr nicht auch? Alle hatten die Kopfhörer wieder auf und lauschten gespannt. Herr Kling als Aufsichtsbeamter besaß keinen eigenen Kopfhörer, doch er wollte ja auch den Kaiser hören. Er räusperte sich, sagte: »Gestatten Sie bitte!« und beugte sich über Lenchen. Die eine Hälfte ihres Kopfhörers hielt er sich ans Ohr, mit der anderen hörte Lenchen zu. Eure Urgroßmutter hat uns oft geschildert, was nun kam. Erst waren durch das Rauschen hindurch nur ein paar Morsezeichen zu vernehmen. Das Rauschen wurde stärker und es folgten undeutlich einige Worte in englischer Sprache. Einen Augenblick war es still, dann ertönte eine helle Stimme, die abgehackt und forsch einer lieben, verehrten Kusine ein frohes Weihnachtsfest wünschte, danach knackte es ganz erbärmlich in der Leitung und Lenchen war froh, dass sie es nur mit einem Ohr anhören musste.
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Dazwischen rief die helle Stimme: »Hallo! Hallo! Total unfähig, verdammt noch mal!« Weit weg kam wieder die englische Stimme, darauf erkundigte sich die helle Stimme nach allen möglichen Verwandten und sagte schließlich: »Unberufen! Die Kaiserliche Gemahlin ist wohlauf!« Lenchen sagte, dass ihr erst jetzt aufging, dass sie bereits die ganze Zeit über dem Kaiser gelauscht hatte und ihre Knie begannen zu zittern. Herr Kling neben ihr musste sich unentwegt räuspern. Es knackte und rauschte wieder in der Leitung und von fern kamen die Morsezeichen. Plötzlich war der Kaiser wieder da. Er rief in die Leitung: »Meinen Dank allen, die geholfen haben, dieses Gespräch zu vermitteln! Und gleichzeitig mein Gruß denen, die mir von sämtlichen Ämtern aus zuhörten! Gesegnetes Fest, meine Damen!« Zu ihren zittrigen Knien bekam Lenchen auch noch einen roten Kopf. Es war ihr, als hätte der Kaiser gesehen, wie sie da alle im Saal mit ihren Kopfhörern saßen und sich keins seiner Worte entgehen ließen. Herr Kling lief wieder auf und ab.
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Und Lenchen stöpselte eifrig, bis ihr Dienst vorbei war. Viele Leute hatten ja auf eine Verbindung warten müssen, weil der Kaiser sprach. Wenn Lenchen sich später an diese Kaiserweihnachten erinnerte, sagte sie zuletzt immer: »Wisst ihr, Kinder, eigentlich war der Kaiser auch nur ein Mensch.« Und damit war ihre Geschichte zu Ende. Aber eine andere Geschichte fing gleichzeitig an. Herr Kling räusperte sich nämlich wieder und fragte Lenchen, ob sie seine Erau werden wollte. Lenchen war zwar wählerisch, doch schließlich war Herr Kling als Aufsichtsbeamter nicht irgendwer. Darum sagte sie ja.
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Nannis Baum
Ais Nanni und Papa am Samstag miteinander frühstückten, fuhrwerkte Mama hinter ihnen herum und zählte auf, was sie heute alles erledigen musste. Sie musste die Wohnung putzen. Und Plätzchen backen. Und ein Paket von der Post abholen. Und auf dem Markt eine Gans kaufen. Und endlich Weihnachtskarten schreiben. Und Oma anrufen. Und den Christbaumständer reparieren. »Und zu alledem«, rief sie, »haben wir immer noch keinen Baum. Auch darum muss ich mich kümmern.« »Musst du nicht, darum kümmern sich Nanni und ich«, sagte Papa, der gerade in der Zeitung ein Inserat entdeckt hatte. Er las vor: »FRISCH ZUM FEST: der Weihnachtsbaum direkt aus dem Wald. Selber aussuchen, selber absägen, selber transportieren, heute, am Samstag, zwischen zehn und sechzehn Uhr.« Mama sagte: »Ihr bringt mir bestimmt einen Baum, der schief und krumm ist. Ich komme lieber mit!« Es war ziemlich weit. Nachdem sie ein ganzes Ende gefahren waren, bogen sie von der Straße ab. Über einen rumpligen Waldweg kamen sie auf eine Lichtung, wo schon viele andere Autos waren. Papa fand erst einen" Parkplatz, als vor ihnen ein Transporter wegfuhr, der auf seinem Dach einen ganzen Berg von verschnürten Nadelbäumen hatte.
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Überall streiften Leute mit Kindern und Hunden durch den Wald. Die meisten hatten Sägen und Äxte bei sich. Manche zerrten einen Baum hinter sich her zum Auto. Sie mussten bei einem Bauern vorbei, der vor seinem Traktor auf dem Waldweg stand. Er hielt eine Messlatte an jeden Baum und kassierte. In einer Holzbude nebenan verkaufte die Bäuerin Schmalzbrote und heißen Tee. Mama wartete nicht, bis Papa aus dem Kofferraum die Säge geholt hatte. Sie stürzte gleich in den Wald hinein. Wahrscheinlich hatte sie Angst, dass ihr jemand den schönsten Baum vor der Nase wegschnappte. Papa und Nanni stapften hinterher. Nanni konnte nicht so schnell, denn das welke, abgestorbene Gras war sehr hoch und dicht. Mama war ihnen schon weit voraus und begutachtete jeden Baum. Einer war ihr zu hoch, einer zu niedrig, einer zu struppig, einer hatte stachlige Nadeln, einer war unten kahl, keiner war ihr recht. Endlich drehte sich Mama um. Sie zeigte auf einen Baum und rief: »Den hier nehmen wir!« Gerade, als sie das rief, schoss vor ihrer Nase ein schöner bunter Vogel aus den Zweigen und flog laut rufend davon. »Das war ein Eichelhäher«, sagte Papa und legte die Säge unten an den Stamm.
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»Lass sofort den Baum stehen!«, rief Nanni. »Da drin wohnt doch der Vogel!« «Lass ihn meinetwegen stehen«, sagte Mama, die um den Baum herumgestiefelt war. Sie hatte festgestellt, dass er hinten ganz flach war. Nun sah sie sich um und rief: »Nanni, lauf nicht weg!« Nannis roter Anorak leuchtete durch die Bäume. Atemlos kam sie angerannt und schrie: »Ein Reh! Ich habe ein richtiges Reh gesehen!« Schon rannte sie wieder fort. Papa und Mama rannten hinterher. Am Waldrand hockte Nanni unter einem Baum und sagte: »Es ist hier hineingekrochen.« »Jetzt rennt es da hinten«, sagte Papa und zeigte hinaus auf das Feld. Das Reh war kaum noch zu erkennen. Mama hatte sich inzwischen den Baum angeguckt und meinte: »Wir nehmen diesen hier.« Papa wollte die Säge anlegen, da fuhr Nanni dazwischen. Empört rief sie: »Lass den Baum stehen! Da drin wohnt doch das Reh!« »Hör mal, Nanni«, sagte Mama. »Wie sollen wir zu einen Baum kommen, wenn immer jemand drinnen wohnt?« Das wusste Nanni nicht. Mama suchte weiter und fand auch einige Bäume, die ihr zusagten. Aber im ersten Baum wohnte eine Maus, die genau vor Nannis Augen weghuschte. Im nächsten Baum war ein leeres Nest, in dem bestimmt im Sommer jemand wohnte. Und unter dem dritten Baum war ein Loch. Dort wohnte entweder ein Dachs oder sogar ein Fuchs. Immer, wenn Papa mit der Säge kam, rief Nanni: »Lass den Baum stehen!« Mama jammerte: »Warum bin ich mitgekommen, wo ich daheim so viel zu tun habe.« Und als sie wieder auf der Lichtung beim Auto standen, fragte Papa: »Was nun?« »Nun lassen wir alle Bäume im Wald stehen«, beschloss Nanni. »Dann müssen wir ja Weihnachten ohne Baum feiern«, sagten Papa und Mama und bestellten an der Holzbude heißen Tee. »Ohne Weihnachtsbaum, das ist aber traurig«, sagte die Bäuerin, die zugehört hatte. »Nanni hat es beschlossen«, sagte Papa und Nanni nickte. Die Bäuerin sah Nanni an und überlegte. Dann fragte sie: »Wenn nun der Baum zurück in den Wald darf, würdest du ihn dann mitnehmen?« »Das geht doch nicht«, sagte Nanni. »Das geht, komm mal mit«, sagte die Bäuerin. Sie holte
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einen Spaten vom Traktor und Nanni lief hinter ihr her. Gleich neben der Lichtung war eine Schonung. Dort standen viele kleine Bäume in langen Reihen.
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»Such dir einen aus«, sagte die Bäuerin. Nanni zeigte auf einen Baum mit dichten blau-grünen Nadeln. Die Bäuerin stach den Spaten in den Boden und kippte ihn. Dann hob sie Nannis Baum mit allen Wurzeln aus der Erde. Sie band ihn unten in einen Sack ein. »Halt ihn gut feucht«, sagte sie. »Und nach dem Fest bringst du ihn gleich wieder hierher. Du triffst uns bestimmt. Wir arbeiten im Winter hier im Wald.« Der kleine Baum sah wunderhübsch aus, als Mama und Nanni ihn geputzt hatten. Er stand in einem Eimer mitten auf der Kommode und Nanni gab ihm jeden Tag ein bisschen frisches Wasser. Gleich nach dem Fest musste Papa mit ihr in den Wald fahren. Nanni saß hinten im Auto und hielt den kleinen Baum auf dem Schoß. Neben ihr lagen eine Tüte voll Plätzchen und eine Flasche Wein. Das hatte ihnen Mama für die nette Bäuerin mitgegeben. Nanni merkte sich genau die Stelle, wo ihr Baum wieder eingepflanzt wurde. Aber sie hätte ihn auch so erkannt, als sie im Sommer mit Papa und Mama dort spazieren ging. Zwischen seinen Zweigen wehten nämlich ein paar Fäden Lametta. Doch er war kerngesund und hatte von oben bis unten frische grüne Spitzen
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Der richtige Weihnachtsmann
Als Daniel in diesem Jahr in die Schule kam, glaubte er, dass der Storch die Kinder, der Osterhase die Eier und der Weihnachtsmann die Geschenke bringt. Dann wurde Britta seine Freundin und Britta sagte, dass sich die Erwachsenen das alles nur ausdenken. Nicht der Storch bringt die Kinder, sondern die wachsen im Bauch der Mutter. Kein normaler Hase kann Eier legen. Und Geschenke kriegt man von den Eltern und Großeltern und sonst irgendwem. Also ist das mit dem Storch und dem Osterhasen und dem Weihnachtsmann ziemlicher Quatsch. Daniel leuchtete ein, was Britta sagte. Aber als er im Dezember aus der Schule kam, sah er den Weihnachtsmann. In schwarzen Stiefeln, einem roten Wollmantel und mit einem langen weißen Bart stand er vor dem Kaufhaus und verteilte Bonbons. Daniel rannte heim und rief Britta an. Und Britta lachte ihn aus. Am nächsten Tag machte sie einen Umweg und ließ sich von Daniel den Weihnachtsmann zeigen. Er stand am selben Fleck wie am Tag zuvor. Britta zerrte Daniel eine Ecke weiter. Vor einem Fotogeschäft stand noch ein Weihnachtsmann und vor dem Supermarkt stand ein dritter. »Alle falsch!«, sagte Britta. »Aber vielleicht ist einer richtig«, meinte Daniel. Britta fragte: »Wieso stehen dann drei hier herum?«, und darüber dachte Daniel lange nach. Zu Hause fragte er Mama und Papa und Opa und beide Omas und alle sagten: »Selbstverständlich gibt es den Weihnachtsmann!« Daniel wusste nicht, wem er glauben sollte. 136
Nach der Schule strich er um die drei Weihnachtsmänner herum und belauerte sie. Vielleicht, dachte er, ist wenigstens einer von ihnen echt. Eines Tages stellte er fest, dass der Weihnachtsmann vor dem Supermarkt falsch war. Dieser Weihnachtsmann stand vor dem Kiosk und wartete auf eine Bratwurst. Daran war nichts Ungewöhnliches, warum sollte er keinen Hunger haben? Doch ehe er in die Bratwurst biss, zog er den langen weißen Vollbart an einem Gummiband hinunter auf die Brust. Daniel dachte: Wenn der Bart falsch ist, ist auch der Weihnachtsmann nicht echt. Er hätte es gern Britta erzählt, aber Britta war nicht mehr seine Freundin. Sie hatte der Klasse verraten, dass Daniel an den Weihnachtsmann glaubte, und alle Kinder hatten ihn ausgelacht.
Bald darauf erkannte Daniel, dass auch mit dem Weihnachtsmann vom Kaufhaus etwas nicht stimmte. Er sah, wie dieser Weihnachtsmann über den Parkplatz zum Klohäuschen ging. Daran war nichts Ungewöhnliches, warum sollte er nicht mal müssen? Doch er ging durch die Tür, an der »D« stand. Daniel dachte: Hin Weihnachtsmann, der dort verschwindet, ist falsch. Nun blieb nur noch der Weihnachtsmann vor dem Fotogeschäft übrig. Wenn auch der nicht echt ist, glaub ich an keinen Weihnachtsmann der Welt mehr, beschloss Daniel. Da konnten Mama, Papa, Opa und beide Omas sagen, was sie wollten, das war dann ihre Sache.
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Es traf sich gut, dass Mama eines Nachmittags einkaufen ging und Daniel mit durfte. Es traf sich noch besser, dass sie genau gegenüber vom Fotogeschäft sagte: »Jetzt hab ich eine wichtige Verabredung. Bleib hier stehen und rühr dich nicht vom Fleck!« Dann verschwand sie ein Stück weiter im Spielwarenladen. Von dieser Stelle aus konnte Daniel den Weihnachtsmann genau beobachten. Er kam sich vor wie ein Kriminalkommissar, dem keine Bewegung entging. Er sah, wie sich der Weihnachtsmann schnauzte. Er sah, wie der Weihnachtsmann ein kleines Kind hochhielt und sich fotografieren ließ. Er sah, wie der Weihnachtsmann hin und her trampelte, sicher hatte er kalte Füße. Und dann sah er, wie der Weihnachtsmann aus dem Fotogeschäft einen Einkaufsbeutel holte und fort ging. Daniel vergaß, was Mama ihm eingeschärft hatte. Er rannte hinter dem Weihnachtsmann her. Er hatte Glück. Der Weihnachtsmann stieg weder in die Straßenbahn noch in den Bus. Er ging ein paar Straßen entlang und merkte nicht, dass Daniel ihm folgte. Dann bog er in eine Einfahrt, überquerte einen dunklen Hof und verschwand ganz hinten in einem Haustor. Gleich darauf ging hinter einem Fenster das Licht an. Daniel kletterte auf eine Mülltonne, die unter dem Fenster stand. Er sah in eine Küche. An der Tür hing der rote Mantel. Der Weihnachtsmann saß in einer Strickjacke auf einem Stuhl und zog sich die Stiefel aus. Dann holte er aus dem Einkaufsbeutel ein Stück Käse, Brot und eine Flasche Bier. Er saß am Tisch und sein langer weißer Vollbart lag auf der Tischplatte. Gleich wird er ihn am Gummiband nach unten ziehen, dachte Daniel. Aber der Weihnachtsmann teilte den Bart und legte ihn nach links und nach rechts über die Schultern, ehe er aß und trank. Dieser Bart war echt! Daniel sprang von der Mülltonne und rannte zurück, so schnell er konnte. Als Mama mit einer Menge Pakete auftauchte, stand er längst wieder am selben Fleck. Atemlos rief sie: »Armer Daniel! Du hast so lange warten müssen! Aber stell dir vor, ich hatte eine Verabredung mit dem Weihnachtsmann!« Während Daniel hinter ihr her nach Hause ging, dachte er nach. Er dachte: Wenn der Weihnachtsmann vom Fotogeschäft echt ist, hat Mama mit einem falschen Weihnachtsmann eine Verabredung gehabt. Aber wenn ihr Weihnachtsmann echt war, dann ist der Weihnachtsmann vom Fotogeschäft genauso falsch wie der vom Supermarkt und der vom Kaufhaus. 138
Als er abends im Bett lag, dachte er immer noch nach. Jetzt dachte er: Wahrscheinlich hat Britta Recht und die Erwachsenen denken sich alles aus. Er beschloss, sich gleich morgen wieder mit Britta zu vertragen, denn mit ihr konnte er am allerbesten darüber reden.
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Als Weihnachten ausfiel
-1Nicht jetzt - irgendwann, wahrscheinlich in ein paar Jahren, hatten es Herr und Frau Schmidt gründlich satt, Weihnachten zu feiern. »Der Trubel fängt immer früher an«, sagte Frau Schmidt, als im August die ersten Lebkuchen im Schaufenster lagen. Herr Schmidt brummte: »Es ist alles nur ein Geschäft geworden.« Frau Schmidt war derselben Meinung, darum sagte sie: »Das machen wir nicht mehr mit. Niemand kann uns dazu zwingen. Ich finde, wir lassen Weihnachten einfach mal ausfallen.« Herr Schmidt war einverstanden. Sie beschlossen, sich um nichts zu kümmern, was mit Weihnachten zusammenhing. Keine Vorbereitungen, keine Anstrengungen, keine Aufregungen. Weihnachten sollte für Herrn und Frau Schmidt ein Tag wie jeder andere sein. -2Während in den nächsten Wochen alle Leute mit Tüten, Einkaufsbeuteln, Taschen, Päckchen und Paketen durch die Straßen von Kaufhaus zu Kaufhaus und von Geschäft zu Geschäft hetzten, gingen Herr und Frau Schmidt
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gemütlich im Park spazieren und fütterten am Teich die Enten. Es war ganz ruhig dort und sie waren fast allein. Wenn sie heimkamen, fanden sie manchmal im Briefkasten eine bunte Karte von Bekannten, die ihnen »FROHE WEIHNACHTEN« wünschten. Sie warfen die Karte gleich weg und sagten: »Weihnachten fällt für uns aus.« Allerdings träumte Herr Schmidt in dieser Zeit öfter, dass er ein Kind war, das auf den Weihnachtsmann wartet. Aber diesen Traum erzählte er lieber nicht. Frau Schmidt summte manchmal ein Weihnachtslied, doch nur, wenn Herr Schmidt nicht in der Nähe war. Sobald sie beisammen waren, sagten sie immer wieder: »Es war eine gute Idee, dass Weihnachten für uns ausfällt.« -3Schließlich war der Heilige Abend da. Nach dem Frühstück meinte Frau Schmidt: »Also, ich werde heute mal Wäsche waschen.« »Ja, tu das«, sagte Herr Schmidt. »Ich repariere heute endlich unseren Kleiderschrank.« Dazu brauchte er allerdings Dübel und Schrauben und Frau Schmidt hatte nicht genug Waschpulver. Sie mussten also einkaufen gehen. An diesem Tag schienen noch mal alle Leute unterwegs zu sein. Herr und Frau Schmidt kamen im Gedränge kaum voran. Sie wurden geschubst, gestoßen und getreten, ehe sie endlich vor dem Kaufhaus standen. Außer Atem sagte Frau Schmidt: »Das ist ja grässlich! Schnell wieder weg von hier! Am besten wird es sein, wenn wir uns beim Einkaufen trennen, das geht schneller.« Herr Schmidt wurde bereits von der Menge weitergeschoben. Er rief noch: »Wir treffen uns nachher hinter dem Kaufhaus!« Dann war er weg. -4Waschpulver gab es unten in der Lebensmittelabteilung. Frau Schmidt kam kaum an das Regal heran. Immer wieder keuchten Leute mit hochbepackten Wagen vorbei und drängten sie beiseite. Endlich hatte sie ihr Waschpulver ergattert. Doch nun musste sie in einer langen Schlange vor der Kasse warten. Die Kassiererin tippte zwar so schnell, als hätte sie fünfzig Finger, trotzdem war Frau Schmidt erst nach einer halben Stunde an der Reihe. Sie bezahlte und steckte ihr Waschpulver in einen Hinkaufsbeutel. Dann zwängte sie sich als Letzte in einen überfüllten Fahrstuhl. 141
Alle anderen Leute hielten vier oder fünf Einkaufsbeutel umklammert, die sie sich beim Aussteigen gegenseitig wegrissen. Frau Schmidt erwischte ihren Beutel gerade noch, ehe der Fahrstuhl wieder losfuhr. -5Herrn Schmidt erging es nicht besser. Dübel und Schrauben gab es oben im vierten Stock. Aber dort gab es auch Kerzen, Kugeln und Lametta. Das kauften die Leute in großen Mengen. Niemand außer Herrn Schmidt verlangte heute Dübel und Schrauben. Fs dauerte eine ganze Weile, ehe er bezahlen konnte. Dann dauerte es noch einmal so lange, bis er einen Platz auf der vollen Rolltreppe fand. Erst verlor er fast das Gleichgewicht, dann verlor er fast seinen Einkaufsbeutel, den ihm jemand aus Versehen aus der Hand zerrte. Endlich langte er unten an. Fr ruderte schnell durch die Menschenmenge nach draußen und rannte hinter das Kaufhaus. -6Fast gleichzeitig kam Frau Schmidt an. Beide mussten eine Weile verschnaufen. In der Nähe hatte ein Mann Weihnachtsbäume verkauft. Er rief ihnen zu: »Wie wär's, 142
Herrschaften? Hier habe ich den letzten Weihnachtsbaum! Ein Sonderangebot zum halben Preis! Greifen Sie zu, denn ab sofort stelle ich den Verkauf für ein Jahr ein!« Herr und Frau Schmidt guckten den kleinen, krummen Baum an, den ihnen der Mann entgegenhielt. Frau Schmidt schüttelte den Kopf und meinte: »Man hätte ihn lieber im Wald lassen sollen.« Herr Schmidt erklärte dem Mann: »Danke für Ihr Angebot, aber wir sind dagegen. Wir lassen Weihnachten nämlich ausfallen.« »Wieder so eine neue Masche«, brummte der Mann. Er stopfte den kleinen, krummen Baum in eine Mülltonne und brauste in seinem Lastwagen davon. -7Zu Hause tranken Herr und Frau Schmidt am Nachmittag gemütlich Tee, genau wie alle Tage. Dann saßen sie da und sagten nichts. Sonst hatten sie sich immer etwas zu erzählen. Jetzt dachte Herr Schmidt an seinen Traum. Frau Schmidt dachte an die Weihnachtslieder. Fast hätte sie gesungen, doch sie sagte lieber: »Also, ich werde nun Wäsche waschen.« »Gut, dann repariere ich den Kleiderschrank«, meinte Herr Schmidt. Sie standen auf und gingen in die Küche.
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Auf dem Küchentisch lagen die beiden Einkaufsbeutel. Weil sie aus demselben Kaufhaus stammten, glichen sie einander aufs Haar. Herr Schmidt nahm den einen Beutel in die Hand. Dann schnupperte er. Im Beutel roch es merkwürdig gut. So richtig nach Weihnachten. Als Herr Schmidt hineingriff, brachte er Lebkuchen, Äpfel und Zuckerzeug zum Vorschein. Er freute sich zwar, aber er sagte zu Frau Schmidt: »Was hast du für ein merkwürdiges Waschpulver gekauft!« »Kein anderes als sonst«, erwiderte Frau Schmidt. Dann sah auch sie, was in dem Beutel war, und rief: »Das habe ich nicht gekauft! Das ist dein Beutel! Ich habe geahnt, dass du dich nicht an unsere Abmachung hältst!« Herr Schmidt war etwas eingeschnappt. Er rief: »Du irrst dich! Ich habe dies hier gekauft!« Er drehte den anderen Einkaufsbeutel um. Über den Küchentisch rollten Kerzen und Kugeln. Herr und Frau Schmidt guckten sich an und dachten dasselbe. Endlich sagte Herr Schmidt: »Ich habe ganz bestimmt nur Dübel und Schrauben gekauft.« »Und ich nur Waschpulver«, sagte Frau Schmidt. Sie guckten sich wieder an und dachten nach. »Ja, dann müssen die Beutel im Gedränge vertauscht worden sein«, meinte Frau Schmidt schließlich. Herr Schmidt sagte: »Wer mag wohl jetzt mit Dübeln, Schrauben und Waschpulver Weihnachten feiern?« Und darüber mussten sie lachen. -8Herr und Frau Schmidt saßen am Küchentisch. Die Lebkuchen dufteten. Die Kerzen leuchteten. In den blanken Kugeln spiegelte sich alles ringsumher. Draußen läuteten die Glocken. Gleichzeitig sagten beide: »FROHE WEIHNACHTEN!«, und gaben sich die Hand. Dann sprangen sie auf und zogen die Mäntel an. Sie liefen durch die leeren Straßen bis hinter das Kaufhaus. Dort zogen sie den kleinen, krummen Baum aus der Mülltonne.
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Eine Ausreißergeschichte
Was scheren sich zwei Rindviecher schon um das Weihnachtsfest. Wenn Liesel und Trudel genug zu futtern hatten und wenn es im Stall gemütlich warm war, dann war jeder Tag für sie ein Fest. Sie mampften und muhten behaglich und nichts störte sie. Nicht die Katze auf dem Balken und nicht die Hühner im Stroh. Doch dann kam Dörte, der das Weihnachtsfest in allen Knochen steckte. Sie schrubbte und putzte, sie wischte und fegte, sie bürstete und bohnerte das Haus von oben bis unten blitzblank. Dann fiel sie über die Scheune und den Schuppen her, machte den Hof sauber und erschien schließlich mit Mistgabel und Reisigbesen im Stall. Die Katze huschte erschrocken nach draußen und die Hühner stoben gackernd davon. Dörte schickte ihnen einen Strahl aus dem Wasserschlauch hinterher, dann legte sie los. Sie räumte das Stroh auf den Misthaufen. Sie kippte die Futtertröge um. Sie fegte die Spinnennetze von den Wänden. Sie schubste Liesel nach links und Trudel nach rechts. Mal gab sie Liesel einen Klaps, mal bekam Trudel einen Knuff. Und dabei schimpfte Dörte unentwegt vor sich hin. Doch das Schlimmste war, dass sie die ganze Zeit über die Stalltür offen ließ. Die eisige Winterluft strömte herein und im Stall wurde es ganz ungemütlich kalt. Zwei Rindviecher kümmert es nicht, dass das Weihnachtsfest an allem schuld ist. 145
Liesel und Trudel wollten es warm und gemütlich haben. Sie wollten ihre Ruhe, sonst nichts. Nun standen sie in der Zugluft und zitterten und bibberten und wussten nicht, wie ihnen geschah. Und als Dörte frisches Stroh aus der Scheune holte, drehten sie sich um und trabten fort. Liesel und Trudel wollten sich irgendwo anders ein warmes, gemütliches Plätzchen suchen. Doch draußen auf der Weide, wo sie im Sommer oft gegrast hatten, war es genauso ungemütlich. Der Schnee lag so hoch, dass er ihnen fast bis zum Bauch reichte, und der Wind pfiff ihnen nur so über den Rücken. Sie standen da und glotzten dumm, bis Dörte mit der Mistgabel aufkreuzte und schrie: »He, ihr verflixten Rindviecher, kommt sofort zurück!« Erschrocken machten Liesel und Trudel einen Satz, trabten um die Weide herum und hinauf auf eine Schneewehe. Von dort sprangen sie über das Gatter und liefen den Feldweg entlang. Dörte rannte hinterher. Sie schimpfte dabei ganz fürchterlich und fuchtelte gefährlich mit der Mistgabel herum. Einmal kam sie so nahe, dass sie Trudel fast ins Hinterteil stach. Zum Glück rutschte sie kurz vorher auf einer vereisten Pfütze aus und segelte der Länge nach hin. Danach konnte sie nur noch humpeln und musste die Verfolgung aufgeben. Liesel und Trudel guckten sich nicht nach ihr um. Sie trotteten unbeirrt weiter, geradewegs auf das Dorf zu. Schon von weitem hörten sie andere Kühe in den Ställen stampfen und muhen. Irgendwo gab es dort sicher auch ein warmes, gemütliches Plätzchen für sie. Doch beim ersten Stall war die Tür zu und Liesel und Trudel bekamen sie auch nicht auf, obwohl sie erst mit den Flanken und dann mit den Hörnern dagegenstießen. Und beim nächsten Stall schoss plötzlich ein garstiger Köter um die Ecke, der sie wütend ankläffte. Da trollten sich Liesel und Trudel schnell. Der Köter verfolgte sie und verdrückte sich erst, als ihm Trudel einen Tritt auf die Nase gab. Aus der Ferne kläffte er, bis er so heiser war, dass er nur noch winseln konnte. Liesel und Trudel rannten eine Weile immer geradeaus, dann mussten sie verschnaufen. Sie standen mitten auf einem Feld. Die Furchen waren unter dem Schnee steinhart gefroren. Als Liesel und Trudel weiterliefen, rutschten sie bei jedem Schritt aus. Zum Glück kamen sie kurz darauf in den Wald, dort lief es sich besser. Allerdings mussten sie nun über geschlagene Baumstämme hüpfen, die kreuz und quer herumlagen. Auf einer Lichtung machten Waldarbeiter gerade Mittagspause. Sie hockten auf Baumstümpfen um ein Feuerchen und löffelten Suppe aus dem Blechnapf. Liesel und Trudel drängten sich zwischen sie und ließen sich behäbig nieder. Dicht am Feuer war es fast so gemütlich warm wie im Stall. 146
»Holla, wen haben wir da?«, sagten die Waldarbeiter erstaunt. Dann stubsten sie Liesel und Trudel mit Ästen und riefen: »Schert euch dahin, wo ihr hergekommen seid, ihr Rindviecher!« Es wurde Liesel und Trudel so ungemütlich wie daheim bei Dörte und sie machten sich wieder auf den Weg. Als sie aus dem Wald herauskamen, liefen sie nebeneinander mitten auf der Landstraße dahin. Bald hupte hinter ihnen der Postbus, der nicht vorbei konnte. Dann hupte hinter dem Postbus das Molkereiauto. Und dahinter der Lieferwagen vom Fleischer. Dann ein Traktor. Und ein Sportflitzer. Und die Hebamme auf dem Moped. Das Gehupe würde immer lauter und machte Liesel und Trudel ganz nervös. Beim nächsten Feldweg bogen sie links ab und hatten wieder ihre Ruhe. Vor ihnen lag ein heruntergekommenes Gehöft, in dem ein Lumpenhändler hauste. Rund ums Haus lag allerlei Gerumpel. Liesel trat mit beiden Vorderbeinen in alte Autoreifen. Trudel verhedderte sich in zerfetzten Plastikplanen. Dann warfen beide einen Stapel Bierkisten um und waren auf dem Hof. Die Tür stand offen. Im Windfang blieben sie fast stecken, weil beide zugleich in die Küche wollten. Im Herd war Glut und es war warm und gemütlich. Der Lumpenhändler lag unter dem Tisch und schlief seinen Rausch aus. Liesel und Trudel streckten links und rechts von ihm alle viere von sich. Der Weg hierher war recht anstrengend gewesen, nun waren sie rechtschaffen müde. Bald schnauften sie im Schlaf so laut wie der Lumpenhändler und machten im Traum leise »Muh«.
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Aber dann schreckten sie hoch. Der Lumpenhändler tanzte auf dem Tisch herum und brüllte: »Hinweg! Hinweg mit euch, ihr Teufelsbraten! Mich kriegt ihr nicht, o nein! Eher fahrt ihr vor mir in die Hölle!« Entsetzt rappelten sich Liesel und Trudel auf und zwängten sich durch den Windfang nach draußen. Der Lumpenhändler kam ihnen nach und knallte mit der Schrotflinte in die Luft. Dabei schrie er: »Fort! Fort! Otterngezücht und Satansbrut!« Liesel und Trudel rannten so schnell, wie sie noch nie gerannt waren. Sie japsten und keuchten und stolperten. Dann waren sie endlich im nächsten Dorf. Mitten im Dorf war die Kirche und daneben stand das Gemeindehaus. Dort saßen gerade fast alle Dorfbewohner beisammen und warteten auf das Krippenspiel, das der Lehrer mit den Dorfkindern einstudiert hatte. Und die Dorfkinder marschierten als Engel und Hirten verkleidet von draußen herein, mitten durch den Saal zur Bühne. Da marschierten Liesel und Trudel einfach hinterher. Alle Zuschauer klatschten begeistert und Liesel und Trudel wären bei dem Krach am liebsten wieder hinausgerannt. Zum Glück hörte das Klatschen auf und das Krippenspiel begann. Es war so langweilig, dass sich Liesel und Trudel mitten auf die Bühne neben den Stall von Bethlehem legten und einschliefen. Sie wachten erst auf, als das Spiel aus war und die Klatscherei wieder begann. Da sprangen sie hoch und standen auf der Bühne herum, bis der Saal leer war. Nur der Lehrer, der Pastor und der Küster waren noch da. Der Pastor fragte: »Wem gehören die Rindviecher? Sie müssen weg, damit wir abschließen können!« Und nun stellte sich heraus, dass niemand wusste, wo Liesel und Trudel hergekommen waren und wohin sie gehörten. Der Küster brachte ihnen einen Eimer voll Wasser. Liesel machte »Muh« und Trudel machte einen ziemlich großen Klecks. Dann ging alles sehr schnell und das kam so: Nachdem sich Dörte von der vereisten Pfütze hochgerappelt hatte, war sie ins Haus ans Telefon gehumpelt und hatte die Feuerwehr alarmiert. Zehn tüchtige Feuerwehrmänner und ihr Hauptmann hatten sofort die Verfolgung aufgenommen. Die erste Spur im Schnee führte zu den Kuhställen, wo der garstige Köter kläffte. Dann ging es auf die Lichtung zu den Waldarbeitern. Dann ein Stück die Landstraße entlang, wo ihnen die Hebamme auf dem Moped begegnete und ihnen zeigte, wo die beiden Rindviecher abgebogen waren. Der Lumpenhändler schickte eine Ladung Schrot hinter ihnen her und sie machten, dass sie ins nächste Dorf kamen. Doch hier trafen sie niemanden auf der Straße an. Kein Wunder, im Gemeindehaus fand ja gerade das 148
Krippenspiel statt. Nur der Gastwirt stand noch hinter der Theke und machte ihnen Grog zur Stärkung. Aber dann erschienen nach und nach eine Menge Leute, die alle mächtig aufgekratzt waren und von zwei Kühen erzählten, durch die das Krippenspiel der Schulkinder erst so richtig echt geworden war. Der Feuerwehrhauptmann sagte feierlich: »Männer, wir haben sie!« Keine Stunde später standen Liesel und Trudel wieder daheim in ihrem Stall am Futtertrog. Es war warm und gemütlich und nichts störte sie. Nicht Dörte, die mit ihrem lahmen Kreuz kein Unheil mehr anrichten konnte, nicht die Katze auf dem Balken und nicht die Hühner im Stroh. Und später dann nicht einmal das Weihnachtsfest. Denn, wie gesagt, darum scheren sich Rindviecher nun wirklich nicht.
Post für den alten Mann
Ganz oben im Haus, im vierten Stock, wohnte ein alter, armer Mann. Dass er alt war, konnte jeder sehen. Er hatte weiße Haare, einen runden Buckel und schlurfte beim Gehen. Das Treppensteigen fiel ihm schwer und er brauchte seine Zeit, bis er oben war. Doch arm war der alte Mann eigentlich nicht. Er hatte ein gutes Auskommen mit seiner Rente und ein volles Sparbuch hatte er obendrein. Dass er arm war, meinten nur die Leute, denen er im Treppenhaus begegnete und die er freundlich grüßte. 149
»So ein armer alter Mann«, sagten sie hinter seinem Rücken. Sie meinten damit, dass er arm war, weil er ganz allein lebte. Der alte Mann hörte es manchmal und schüttelte darüber den Kopf. Er hatte viele Bücher, die er immer wieder las. Er hatte eine Menge Schallplatten, die er sich anhörte. Und er hatte einen Kasten voller Fotos, Briefe und Erinnerungen, in dem er dauernd kramte. Dabei summte er vergnügt vor sich hin und lachte auch manchmal. Es waren nämlich lauter schöne Erinnerungen an ein langes, glückliches Leben, das er gehabt hatte. Jeden Tag kochte er sich ein anderes Leibgericht. Hin und wieder schlummerte er in seinem Lieblingssessel ein. Und manchmal ging er ein Stück spazieren. Er machte überhaupt stets nur, wozu er gerade Lust hatte, und freute sich, dass es ihm so gut ging. Darum hatten die Leute im Treppenhaus auch nicht Recht, wenn sie ihn arm nannten. Der alte Mann überhörte gewöhnlich, was sie sagten. In der Weihnachtszeit wurde es allerdings schlimm für ihn. Sie tuschelten so hinter ihm her, dass er gar nicht mehr gern ausging. Er hörte, wie sie sagten: »Ach, der arme, arme Mann! Immer allein!« Und: »Er kann einem richtig Leid tun!« Und dann wieder: »Gibt es denn niemanden, der sich um ihn kümmert?« Aber es wurde noch schlimmer. Als der alte Mann nach einem Spaziergang oben vor seiner Wohnungstür verschnaufte, musste er anhören, wie die Postbotin sagte: »Der Arme! Nie kriegt er Post! Nicht einmal zur Weihnachtszeit!« Jemand antwortete: »Wie hält er das nur aus!« c Darauf sagte eine andere Stimme: »Gerade jetzt sollten sich Menschen gegenseitig viel Freude machen.« »So ist es«, meinte die Postbotin. »Das sollte sich manch einer hinter die Ohren schreiben.« Der alte Mann schloss seine Wohnung auf, ging hinein und setzte sich in den bequemen Lieblingssessel. Dort überlegte er eine Weile, ehe er entschlummerte Als er aufwachte, beschloss er, den Leuten im Treppenhaus eine Freude zu machen, weil sich das offenbar in der Weihnachtszeit so gehörte. Er hatte viel Arbeit damit und es brauchte seine Zeit, bis er alles geschafft hatte. Zwei Tage später kam die Postbotin. .
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Der alte Mann beugte sich oben über das Geländer und lauschte. Er hörte, wie sie unten im Treppenhaus verkündete: »Heute kriegt der arme, alte Mann ein Päckchen!« Jemand rief: »Ach, das ist aber eine Überraschung!« Jemand anders meinte: »Das freut mich richtig für ihn.« Der alte Mann nickte zufrieden. Am nächsten Tag brachte ihm die Postbotin gleich drei Päckchen auf einmal. Danach erklärte sie im Treppenhaus: »Vielleicht ist der alte Mann gar nicht so arm dran, wie wir immer dachten.« Sie bekam zur Antwort: »Das wäre ja ein Glück!« Und wieder nickte der alte Mann. Am Tag darauf kam die Postbotin kaum die Treppen hoch, so schwer war das große Paket, das sie für den alten Mann schleppen musste. Unterwegs machte sie eine Pause und sagte: »Warum haben wir uns so viel Gedanken gemacht: Der alte Mann hat ja Menschen genug, die zu Weihnachten an ihn denken.« »Dann ist er auch nicht allein«, sagte irgendjemand. Und danach klappten die Türen. Wenn der alte Mann jetzt im Treppenhaus den Leuten begegnete, erwiderten sie zwar freundlich seinen Gruß, aber sie steckten nicht mehr hinter seinem Rücken die Köpft zusammen und nannten ihn arm. Es machte ihnen nichts mehr aus, dass er ganz allein lebte. Am Heiligen Abend packte der alte Mann aus, was ihn die Postbotin gebracht hatte. 151
Im ersten Päckchen waren ein paar von seinen Schall platten. In den drei anderen Päckchen waren einige seiner Bücher Er war froh, dass das große Paket gut angekommen war denn darin war der Kasten voller Fotos, Briefe und Erinnerungen. Der alte Mann hatte darum Angst gehabt, als er damit zum Postamt gegangen war. Im Weihnachtstrubel gehen manchmal Pakete verloren. Dann wäre er tatsächlich arm dran gewesen. Jetzt war wieder alles da, woran sein Herz hing. Der alte Mann summte vergnügt vor sich hin.
Die Geschichte vom Eisbaum
Hinten im Garten stehen Tannenbäume. In jedem Frühjahr wird ein winzig kleiner Baum dazugepflanzt und jedes Jahr zu Weihnachten wird der größte Baum gefällt. Er ist an der Reihe, Christbaum zu werden. »Warte lieber noch damit«, sagt Mieke Bollmann. »Je später wir ihn hereinholen, desto länger bleibt er frisch. Schließlich darf er nicht nadeln, wenn Oma Geburtstag hat.« Das leuchtet Heiner Bollmann ein. Jedes Jahr ist es nämlich Omas Geburtstagswunsch, dass am Christbaum noch einmal die Lichter brennen. Und Oma hat am zehnten März Geburtstag. 152
In der Woche vor Weihnachten regnet es in Strömen. In der Nacht vor Heiligabend wird es bitterkalt. Alle Nässe gefriert zu Eis. Am Morgen scheint die Sonne. Das Dorf liegt unter dickem Raureif. Heiner Bollmann nimmt die Axt und stiefelt durch den Garten zu den Tannen. Er hackt den größten Baum um und will ihn ins Haus tragen. Der Baum ist zentnerschwer. Jeder Ast, jeder Zweig, jede Nadel - alles hat eine Eisschicht. Mühsam zerrt Heiner Bollmann den Baum bis vor die Haustür. Dort steht Mieke und ruft: »Nicht ins Haus damit! Denk an den neuen Teppichboden!« Heiner Bollmann verschnauft eine Weile, dann schleift er den Baum über den Hof in den Schuppen. Da kann er erst mal abtauen. Als Heiner und Mieke in der Küche sitzen und frühstücken, erscheint Oma und fragt: »Wann holst du den Baum? Es ist bald Mittag!« »Mach dir darum keine Sorgen«, sagt Heiner. Nach zwei Stunden ist der Baum noch immer voll Eis. »Lass dir was einfallen«, sagt Mieke. »Um eins kommen die Kinder aus der Schule. Dann muss der Christbaum fertig geschmückt sein, damit wir die gute Stube abschließen können. Sie sollen ihn ja vorher nicht sehen.« Heiner Bollmann kratzt sich am Kopf und überlegt. Dann schleppt er Holzkloben in die Waschküche und macht Feuer unterm Kessel. Den lässt er bis obenhin voll Wasser laufen. Es kommt eiskalt aus der Leitung und Heiner muss mächtig feuern, dass es warm wird. Inzwischen kommen die Kinder aus der Schule. Sie hüpfen über den Hof und schreien: »Wir freuen uns, wir freuen uns auf Weihnachten!« Mieke Bollmann hat die gute Stube abgeschlossen und die Vorhänge zugezogen. Die Kinder sollen nicht merken, dass dort noch kein geputzter Christbaum steht. Sie sind neugierig und fragen: »Ist es diesmal ein besonderer Baum?« »Das kann man wohl sagen«, antwortet Mieke und füllt Suppe in die Teller. Heiner Bollmann hat keine Zeit zum Essen. Gerade wuchtet er den schweren Eisbaum in den Kessel. Das Wasser reicht nur bis zur Mitte des Stammes, bis dorthin ist das Eis bald abgetaut. Heiner legt noch mal Holz nach. Dann zerrt er den Baum aus dem Kessel und dreht ihn um. Nun ragt der Stamm in die Höhe und die Spitze steckt im Wasser. Heiner hält den Baum an den Zweigen fest, damit die Spitze nicht abbricht. Das Wasser summt und siedet. Der Baum beginnt zu duften. Heiner schwitzt in der warmen Waschküche, ein bisschen schwitzt er auch vor Angst, denn er überlegt, ob Tannennadeln womöglich abgehen, wenn sie gekocht werden. Vielleicht werden sie nur weich, er weiß es nicht. Er 153
kennt niemanden, der seinen Christbaum am Heiligen Abend gekocht hat. Das muss ausgerechnet ihm passieren. Er zieht den Baum aus dem Kessel. Das Eis ist überall abgetaut, dafür sind sämtliche Zweige triefend nass. Ebenso nass wird Heiner Bollmann, als er den Baum über den Hof zum Haus schleift. Dort steht wieder Mieke und lässt ihn nicht herein. Sie ruft: »Willst du etwa mit diesem nassen Ding auf den neuen Teppichboden? Das kann nicht dein Ernst sein!« Heiner weiß nicht wohin mit dem Baum.
Wieder in den Schuppen? Zurück in den Garten? Überall ist es kalt und der Baum wird bald wieder voller Eis sein wie vorher. Mieke ruft: »Verschwinde, damit Oma und die Kinder dich nicht sehen!« Heiner zieht den Baum in die Waschküche. Dort kann er vor Wasserdampf nichts sehen und denkt: Nie und nimmer wird der Baum hier trocken. Er schleift den Baum nebenan in den Schweinestall. Hier ist es schön warm. 154
Der Baum lehnt am Koben. Von einer Seite drängen die Schweine, von der anderen die Ferkel und knabbern an den Nadeln. »He, wollt ihr das wohl sein lassen!«, sagt Heiner und stellt den Baum so, dass sie ihn nicht erreichen können. Dann geht er ins Haus, weil er sich umziehen will. Das Wasser ist ihm aus den Zweigen in den Halskragen, in die Ärmel und in die Stiefel gelaufen. Er ist nass bis aufs Hemd und friert und hat die ganze Geschichte satt. In der Diele stehen fein gemacht Mieke, Oma und die Kinder. »Mach mal schnell«, sagt Mieke. »Gleich fängt die Kirche an.« »Ohne mich«, brummt Heiner Bollmann. »Was sind denn das für neue Moden?« erbost sich Oma. Doch so, wie Heiner aussieht, will sie nicht neben ihm in der Kirche sitzen. Was sollen die Leute denken! Und bis er sich gewaschen und umgezogen hat, ist die Kirche aus. Also gehen Mieke und Oma mit den Kindern allein los, obwohl ihnen das gar nicht recht ist. Zu Weihnachten dauert die Kirche immer recht lange. Heiner Bollmann hat Zeit. Er kann sich umziehen. Und Suppe essen. Und eine Weile auf dem Sofa liegen. Doch dann muss er sich ranhalten. Als Mieke, Oma und die Kinder um die Ecke biegen und über den Hof kommen, strahlen ihnen durch die Fenster der guten Stube die brennenden Kerzen entgegen. Die Kinder rennen ins Haus, so schnell sie können. Dann stehen sie auf der Schwelle und staunen. Auf dem neuen Teppichboden steht der geschmückte Christbaum, grün und ganz frisch. Er wird bestimmt noch nicht nadeln, wenn Oma am zehnten März Geburtstag hat.
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Plumpudding
Tante Tilla ist Mamas beste Freundin. Am dritten Adventsonntag lädt sie Mama und Papa, Ole und die Zwillinge zum Essen ein. Papa hat immer Angst, wenn er bei Tante Tilla essen muss. Da Tante Tilla keine Familie hat, muss sie nicht wie Mama jeden Tag kochen. Sie isst in der Kantine - dort, wo sie arbeitet. Papa meint, weil sie so selten kocht, kann sie es nicht sehr gut. Dabei gibt sich Tante Tilla immer so große Mühe. Immer macht sie etwas Besonderes und das ist meist etwas Ausländisches. Wenn sie im Urlaub in einem fremden Land war, kocht sie sofort so, wie sie es dort kennen gelernt hat. Sie war schon in Griechenland. Und in Ägypten. Und in Mexiko. Und in Tunesien. Und in Russland. Und sogar in China. Als sie von dort zurückkam, mussten Papa, Mama, Ole und die Zwillinge mit Stäbchen essen. Es dauerte schrecklich lange und alle kleckerten überall hin. Doch nicht einmal die Zwillinge durften einen Löffel nehmen. Am anderen Tag war die Waschmaschine bis obenhin voll und sogar Papas Anzug musste in die Reinigung. 156
»Was hat sie diesmal mit uns vor? War sie wieder verreist?«, fragt Papa, als sie sich auf den Weg machen. Mama hat keine Ahnung, obwohl sie fast jeden Tag mit Tante Tilla telefoniert. Tante Tilla hat nur angedeutet, dass es eine große Überraschung geben wird. »Ich bin auf alles gefasst«, sagt Papa und klingelt. Aber als Tante Tilla aufmacht, ist er nicht darauf gefasst, dass sie ihn bei den Ohren packt und abküsst. Gleich darauf hat sie Ole beim Wickel und küsst ihn. Dann drückt sie die Zwillinge und beide kriegen einen Kuss. Zuletzt ist auch noch Mama an der Reihe. »Was soll denn das?«, fragt Papa. Tante Tilla sagt: »Heute feiern wir englisch«, und zeigt nach oben. Im Türrahmen hängt ein struppiger Zweig mit kleinen harten Blättern und weißen glasigen Beeren. »Ein Mistelzweig«, erklärt Tante Tilla. »Wer darunter steht, darf abgeküsst werden. Das ist englischer Weihnachtsbrauch.« »Englisch ist lustig!«, ruft Ole und küsst die Zwillinge so lange, bis sie plärren und Mama ihm unter dem Mistelzweig wegzieht. Papa hat inzwischen im Zimmer den hübsch gedeckten Tisch gesehen und fragt misstrauisch: »Hast du englisch gekocht?« »Nur keine Bange, ihr werdet staunen!«, sagt Tante Tilla. Als alle um den Tisch sitzen, erklärt sie: »Wir müssen noch ein wenig warten.« Sie sieht immer wieder auf die Wanduhr und auf ihre Armbanduhr und aus dem Fenster. Papa sieht Mama fragend an und Mama zuckt mit den Schultern. Ole und die Zwillinge spielen inzwischen unter dem Tisch. Ole behauptet, dass dort eine Schatzhöhle ist. Papas Beine sind zwei Säcke voll Gold, die wollen die Zwillinge nun rauben. Mama kann gerade noch die Tischdecke festhalten, um ein Haar wäre Tante Tillas bestes Geschirr heruntergefallen. »Wir fangen lieber an«, sagt Tante Tilla und geht in die Küche. Auf dem Herd steht ein großer Topf, in dem Wasser brodelt. Im Wasser schaukelt ein kleinerer Topf. »Was ist das?«, fragt Ole, der mitgegangen ist. »Echt englischer Plumpudding«, sagt Tante Tilla. Sie runzelt die Stirn und studiert einen Zettel, auf dem etwas geschrieben steht. Ole läuft ins Zimmer und verkündet: »Es gibt echt englischen Plumpudding.« Erschrocken fragt Papa: »Hat Tante Tilla den etwa selbst gemacht?« Dann kommt er mit Ole in die Küche. Dort steht immer noch Tante Tilla mit dem Zettel und sagt: »Ich hab den Pudding geschenkt bekommen. Irgendwas muss jetzt mit ihm geschehen, aber ich verstehe nicht ganz, was.« 157
»Man muss ihn vielleicht essen«, sagt Ole. Papa liest den Zettel durch und sagt: »Wenn der Pudding heiß ist, wird er mit Rum übergössen und angezündet.« Tante Tilla guckt dreimal auf ihre Armbanduhr und aus dem Fenster und sagt: »Kannst du das?« »Klar, das ist Männersache für Ole und mich«, sagt Papa und schiebt sie aus der Küche. Dann fischt er den Puddingtopf aus dem Wasserbad und schimpft, weil er sich die Finger verbrennt, als er den Pudding auf einen Teller kippt. Inzwischen muss Ole Streichhölzer suchen. Papa macht die Rumflasche auf und probiert einen Schluck. Schließlich könnte auch Essig oder sonst was in der Flasche sein - bei Tante Tilla ist Papa grundsätzlich misstrauisch. Aber es ist Rum, wie es auf dem Etikett steht. Während Papa nun Rum über den Pudding gießt, sagt er: »Licht aus.« Er hat allerdings nicht das Küchenlicht gemeint. Im Dunkeln kann er nicht erkennen, wie viel Rum schon aus der Flasche gekommen ist. Als Ole das Licht wieder angemacht hat, sieht Papa, dass der Pudding auf dem Teller schwimmt. Papa hat gemeint, dass Ole im Zimmer nebenan das Licht ausmachen soll. Dort haben Tante Tilla und Mama jede einen Zwilling auf dem Schoß und stecken die Köpfe zusammen. Tante Tilla hat Mama gerade ein Geheimnis anvertraut und Mama hat gerade gesagt: »Ach, wie ich mich für dich freue.« Nun sitzen sie im Dunkeln. Und sie hören, dass Papa hereinkommt und zu Ole sagt: »Zünde den Pudding an!« Gleich darauf gibt es eine mächtige blaue Stichflamme, die fast zur Decke reicht. Um ein Haar gerät die Hängelampe in Brand, doch Papa kann den brennenden Pudding daran vorbei mit einem Schwung mitten auf den Tisch setzen. Dort steht er nun und Mama versucht ihn auszupusten. Ausgerechnet in diesem Augenblick läutet es draußen an der Tür. Tante Tilla springt hoch und ruft: »Kommt mit! Die Überraschung ist da!« Papa und Mama schnappen sich die Zwillinge und rennen hinter Ole her. In der Haustür unter dem Mistelzweig steht Tante Tilla und küsst einen Mann. Sie küsst ihn reichlich lange, aber das ist sicher englischer Brauch. Mama sagt: »Es ist Onkel John, er wird bald Tante Tillas Mann.« Onkel John küsst Ole und die Zwillinge und Mama. Er gibt Papa die Hand und beide klopfen sich gegenseitig auf die Schulter. 158
Tante Tilla strahlt. Sie sagt: »John ist aus England. Er hat den Plumpudding gemacht, seinetwegen feiern wir heute englisch.« »So eine Überraschung!«, ruft Papa. Er meint aber den Tisch, den Tante Tilla so schön gedeckt hatte. Jetzt steht dort ein zerborstener Teller auf einer verbrannten Decke, die ein großes Loch hat. Die Tischplatte darunter ist angeschmort und dort liegt etwas Schwarzes. Es sieht aus wie ein Stück Kohle. »Das war der Plumpudding«, sagt Ole. »Macht nichts, muss ja nicht englisch sein!«, ruft Onkel John. Er macht in der Küche einen großen Teller voll Butterbrote. Und Papa schmeckt es endlich mal wie zu Hause.
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Eine alte Geschichte
Dies ist eine alte Geschichte und sie ist lange her. Sofie, der sie passierte, ist inzwischen selbst alt und lahm und krumm dazu. Damals, als sie am Weihnachtsabend eine Mark bekam, war sie ein kleines Mädchen. Sofie sagt, eine Mark war in jener Zeit viel Geld. Ungefähr so viel wie zwanzig Mark heute. Sofies Familie war bettelarm. So arme Leute gibt es jetzt gar nicht mehr, meint Sofie. Eltern, Großeltern und vier Kinder lebten in einer schiefen Kate hinter dem Dorf. Sofies Vater arbeitete im Steinbruch und die Mutter half in der Baumschule. Dafür bekam sie Brennholz und zu Weihnachten einen kleinen Tannenbaum. Großvater schmückte ihn mit Äpfeln und Nüssen und stellte eine Kerze davor. Dann ermahnte er die Kinder: »Hüpft und springt jetzt nicht herum.« Die Dielen waren nämlich so wackelig, dass bei jedem Schritt die Teller im Schrank klirrten. Wenn die Kerze umfiel, konnte die Kate abbrennen. Dann hatten sie kein Dach mehr über dem Kopf wie Krischan, der Landstreicher. Der war noch ärmer. An jenem Abend holte Vater den Holzzuber herein und füllte ihn mit warmem Wasser. Die Kinder wurden abgeschrubbt, bekamen frisch gewaschene Kleider und Mutter zog ihnen schnurgerade Scheitel. Alle wickelten sich in Wolltücher und zogen Stiefel an. Großvater pustete sorgsam die Kerze aus und Mutter machte den Herd fest zu. Dann marschierten sie ins Dorf zur Kirche. Sofie humpelte etwas. Die Stiefel, die sie im letzten Jahr
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von ihrem Bruder übernommen hatte, waren nun auch ihr zu klein und taten bei jedem Schritt weh. In der Kirche setzten sie sich hinten auf die letzte Bank. Auf den vorderen Bänken saßen die wohlhabenden Bauern, das war so Sitte. Neben Mutter hockte Krischan, der Landstreicher. Er roch nach Fusel und Mutter hielt sich das Wolltuch vor die Nase. Sonst war es sehr feierlich mit den vielen Kerzen und dem Orgelspiel. Der Pastor predigte so erbaulich, dass viele Leute sich schnauzten oder die Augen wischten. Nach dem gemeinsamen Gesang kam der Küster den Gang herunter. An einer langen Stange reichte er den Klingelbeutel herum. Die Bauern warfen klimpernd Geldstücke hinein. Sogar Sofies Vater trennte sich von seinem letzten Groschen. Sofie sah, wie Krischan einen Knopf von seiner zerlumpten Jacke abdrehte und in den Klingelbeutel steckte. Dabei guckte er fromm in die Luft. Mutter hatte es ebenfalls beobachtet und sagte auf dem Heimweg: »So was tut man nicht. Dafür wird der liebe Gott den Krischan bestrafen.« Daheim zündete Großvater die Kerze wieder an. Zur Feier des Tages gab es Pökelfleisch mit Bohnen und hinter her Lebkuchen. Als die Kerze heruntergebrannt war, war auch das Weihnachtsfest vorbei. Weil Sofie noch mal die engen Stiefel anzog, fragte Mutter: »Wo willst du denn hin?« »Nur mal ins Dorf gucken gehen«, sagte Sofie. Die Dorfstraße war menschenleer. In den Bauernhäusern leuchteten hinter den Fenstern die Kerzen am Weihnachtsbaum. Sofie blieb überall stehen und sah zu ihnen hoch. Manchmal hörte sie fröhliche Stimmen. Sie hörte auch, wie in den Ställen die Kühe muhten und an den Ketten rasselten. Einmal kläffte ein Hund hinter ihr her. In der Kirche war Licht, der Küster hatte noch zu tun. Ein Stück weiter stand eine Scheune am Straßenrand. Das Tor war ein wenig offen, dahinter leuchtete und flackerte es. Vielleicht steht auch dort ein Weihnachtsbaum, dachte Sofie und guckte durch das Tor. Da erschrak sie. Ganz hinten brannte Stroh. Daneben lag eine Kerze, die umgefallen war. An der Seite schnarchte Krischan, er hatte eine leere Flasche in der Hand. Sofie wusste sofort, dass er auf seine Art Weihnachten gefeiert hatte - er hatte sich einen Rausch angetrunken. Ihr fiel der Jackenknopf ein, den er in den Klingelbeutel gesteckt hatte, und was Mutter gesagt hatte. Sofie flüsterte: »Lieber Gott, straf ihn nicht!« Dann rief sie: »He, Krischan, wach auf! Es brennt!« Krischan hörte nicht. Da sprang Sofie zu ihm hin und schlug mit den Fäusten auf ihn ein. Dabei schrie sie: »Aufwachen! Aufwachen! Es brennt!« Endlich fuhr Krischan hoch. Er riss die Augen auf und 161
drehte den Kopf hin und her. Dann kapierte er. Er taumelte hoch und griff nach seinem Beutel. Sofie hielt ihn an der Jacke fest. »Bleib da und hilf mir!«, rief sie und trampelte auf dem brennenden Stroh herum. Krischan brummte irgendwas, machte sich frei und stolperte nach draußen. »Hilf mir doch!«, rief Sofie hinter ihm her. Wenn sie das Feuer an einer Stelle ausgetreten hatte, flammte es woanders wieder auf. Noch brannte das Stroh nur dort, wo es lose verstreut auf dem Lehmboden lag. Doch ringsumher waren Strohballen bis unter das Dach geschichtet.
Sofie bekam Angst. Sie musste husten und nach Luft schnappen, denn der Qualm wurde dichter. Schließlich rannte sie auf die Straße hinaus und schrie: »Hilfe! Es brennt! Hilfe, Hilfe!« Niemand hörte sie. Nur die Hofhunde bellten. Sofie rannte zur Kirche und stürzte am Küster vorbei in den Vorraum zum Glockenseil. Sie packte es mit beiden Händen und zog es nach unten. Das ging sehr schwer, aber Sofie schaffte es. Gleich darauf schwang das Seil wieder hoch. Sofie wurde mitgerissen, dass ihre Beine in der Luft baumelten. Schon ging es wieder nach unten und wieder hoch und wieder runter. Erst leise, dann immer lauter ertönte die Glocke. »Was soll das? Hör auf damit!«, rief der Küster und wollte Sofie wegzerren. Sie schrie: »Es brennt doch! Es brennt!«, und ließ das Seil nicht los. 162
Gleich daraufwaren die ersten Leute da und merkten, was los war. Die Männer von der Freiwilligen Feuerwehr setzten die Lederhelme auf, spannten Pferde vor den Spritzenwagen und ratterten zur Scheune. Dort hatten Männer und Frauen bereits eine Eimerkette vom Löschteich zum Feuer gebildet. Nach einer Stunde hatten sie es geschafft, die Scheune war gerettet. Der Bauer, dem die Scheune gehörte, spendierte heißen Grog. Und Sofie bekam von ihm eine Mark. Wenn Sofie diese alte Geschichte wieder mal erzählt hat, fragen manche, was sie mit der Mark gemacht hat. Sofie verrät es nicht, sie meint, dass sie sonst ausgelacht wird. Weil nämlich der liebe Gott großzügig Krischans Jackenknopf übersehen hat und ihn nicht dafür bestrafte, hat sie die Mark voller Dankbarkeit am Neujahrsmorgen in den Klingelbeutel gesteckt.
Marzipan
Was sich Alexander zu Weihnachten wünschte? Der Wunsch war ganz unerfüllbar! Alexander wünschte sich, noch einmal vielleicht eine Stunde lang, vielleicht auch nur fünf Minuten - wie früher Papas und Mamas einziger kleiner, guter Junge zu sein. Denn jetzt war er immer der große vernünftige Alexander. Jetzt, seit sie die süße kleine Leona hatten. Es war nicht so, dass Alexander die süße kleine Leona nicht mochte. Er hatte sie sogar sehr, sehr lieb. Er umarmte und drückte und küsste sie, wenn er sie erwischte. Aber dann war er wieder wütend auf sie, wenn sie 163
ihn störte. Sie störte ihn beim Lesen, sie störte ihn beim Spielen und sie störte ihn bei den Schularbeiten. Mama sagte nur: »Sie ist eben noch so klein.« Aber sie war nicht zu klein, um stets die Hauptrolle zu spielen. Wenn Papa am Abend nach Hause kam, erzählte ihm Mama Wort für Wort, was die süße kleine Leona den Tag über geplappert hatte. Nie erwähnte sie, was Alexander gesagt hatte, dabei war das viel gescheiter. Wenn Papa dann im Sessel saß, kletterte die süße kleine Leona auf seinen Schoß, zauste seinen Bart und rupfte ihm die Brille runter. Das hätte Alexander mal versuchen sollen, er wäre ganz schön auf dem Teppich gelandet! Heulen konnte die süße kleine Leona wie eine Sirene. Wahrscheinlich hatte sie eine Tränendrüse, die gleich funktionierte, wenn sie die Augen zusammenkniff. Die Tränen spritzten dann nur so. Papa und Mama ertrugen es nicht, dass sie unglücklich war, und trösteten sie liebevoll. Darum heulte sie auch bei jeder Gelegenheit. Sie heulte, wenn sie hinfiel, wenn sie sich ein bisschen wehtat, wenn sie was haben wollte oder wenn ihr was nicht passte. Es war zum Auswachsen! Wenn Alexander mal eine Träne vergoss, sagten Papa oder Mama gleich: »Aber du bist doch so groß und so vernünftig.« Darum versuchte es Alexander lieber mit einem Wutanfall. Der Höhepunkt mit der süßen kleinen Leona passierte dann zu Weihnachten. Alexander hatte mit Mama wunderschöne Plätzchen gebacken. Die süße kleine Leona hatte dabei so sehr gestört, dass es selbst Mama zu viel wurde. Kurz entschlossen hatte sie die süße kleine Leona ins Bett gesteckt. Bei dem Geheul, das daraufhin einsetzte, hatte Mama die Nerven verloren. Eine ganze Menge von den Plätzchen waren schief und krumm geworden und einige verbrannten sogar in der Backröhre. Aber die meisten wurden wunderschön. Dann schickte Großmama ein Paket mit Leckereien und Papa besorgte allerlei Süßigkeiten dazu. Zuletzt hatten sie eine große Blechschachtel voll und Mama machte für jeden einen bunten Teller zurecht. Die süße kleine Leona grapschte dazwischen und stopfte sich einen Lebkuchen in den Mund. Dabei verschluckte sie sich, und Mama musste sie auf den Kopf stellen, damit sie nicht erstickte. Alexander naschte inzwischen eine Marzipankartoffel. Marzipan mochte Alexander nämlich von allen süßen Sachen am liebsten. Er hätte gern recht viel davon auf seinem Teller gehabt, doch Mama sagte: »Alle bekommen gleich viel von allem.« Sie zählte dabei, was auf jeden bunten Teller kam. Und als nichts mehr draufpasste, behielt sie den Rest als Reserve in der Blechschachtel. Nun war es so, dass sich Alexander immer das bis zuletzt aufhob, was er am liebsten mochte. 164
Gab es Torte, aß er alles rundherum weg, bis nur der Klecks Krem mit der Kirsche übrig war. Mittags aß er erst die Kartoffeln und das Gemüse auf, ehe er sich mit Genuss an den Fleischklops machte. Käse und Wurst legte er beiseite und aß vorher das trockene Brot. Mama sagte manchmal: »Eigentlich gehört sich so was nicht. Wir können mit dir nie bei fremden Leuten essen.« Aber darauf legte Alexander auch gar keinen Wert. Am Weihnachtsabend naschte Alexander also von allen anderen Süßigkeiten, nur kein einziges Stück von seinem Marzipan. Weil Mama wusste, wie gern er das mochte, tauschte sie bei ihm ihr Marzipan gegen alle möglichen Plätzchen ein. Auch Papa ließ mit sich reden, er rückte sein Marzipan gegen Lebkuchen heraus. Nur die süße kleine Leona sagte: »Nein, ich will nicht!« Der bunte Teller von Alexander war also mehr und mehr mit Marzipan angefüllt, und Mama sagte: »Verdirb dir nicht den Magen daran.«
Alexander war unbesorgt. Vorläufig aß er ja noch nichts davon, er hatte immer noch einige Spekulatius, Butterplätzchen und Nugatbissen zu vertilgen. Das Beste ließ er sich bis zuletzt. Das dachte er jedenfalls. Sein bunter Teller blieb unter dem Weihnachtsbaum stehen, als alle nach nebenan liefen, weil das Telefon klingelte. Großmama rief an und wollte ihnen ein frohes Fest wünschen. Zuerst hing sich die süße kleine Leona an die Strippe und plapperte drauflos. Dann kam Mama an die Reihe und dann Papa. Zuletzt wollte Großmama von Alexander ganz genau wissen, was zu Weihnachten alles passiert war. »Ach, nichts Besonderes«, sagte Alexander. Das hätte er lieber nicht sagen sollen. 165
Als er nämlich zurückkam, War sein bunter Teller so gut wie leer. Nur einige Spekulatius, zwei Butterplätzchen und ein halber Nugatbissen waren noch da. Sämtliches Marzipan war weg. Im Bad hielt Mama die süße kleine Leona über das Klo, wo sie sich übergab. Papa rannte herum und suchte Handtücher und Wischlappen. Leider hatte Alexander keine Tränendrüse, sonst hätte er die Augen zusammengekniffen, dass die Tränen spritzten. Aber er bekam auch keinen Wutanfall. Er wurde nur schrecklich traurig. Er legte sich still unter den Weihnachtsbaum neben den Teller, auf dem nichts mehr war, worauf er sich freute. Von nun an würde er sich überhaupt nie mehr freuen können. Über ihm hing eine silberne Kugel, in der sich ein kleiner, armseliger Alexander spiegelte. Papa und Mama war es unheimlich, dass er nicht tobte und wütete. Dann hätte Papa erleichtert zurückgeschimpft. Und Mama hätte ihm vielleicht sogar ganz sanft eine geklebt, ehe sie ihn an sich gedrückt hätte. Aber so? So wussten sie nicht, was sie machen sollten. Doch, sie wussten es! Zum ersten Mal schimpfte Papa so richtig mit der süßen kleinen Leona. Und Mama gab ihr sogar einen Klaps. Da bekam die süße kleine Leona einen derartigen Wutanfall, wie ihn Papa und Mama noch nie erlebt hatten. Die Wutanfälle von Alexander waren dagegen von Pappe. Sie schrie und spuckte und trat und trampelte und verspritzte dabei ganze Pfützen von Tränen. Mama packte sie und steckte sie ins Bett. Und Papa hob Alexander auf. Er nahm ihn auf den Schoß und legte fest seine Arme um ihn. Dann wiegte er ihn hin und her und brummte: »Du bist unser guter Junge.« Mama brachte die Blechschachtel und suchte alles Marzipan zusammen, das noch da war. Nun war Weihnachten zuletzt doch so, wie es sich Alexander gewünscht hatte.
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Traumgeschichte
Janni fragte immer: »Warum?«, wenn Jan mal wieder etwas Merkwürdiges behauptete, und Jan antwortete: »Darum! Du kapierst das noch nicht.« Dabei war Janni nur lumpige vier Jahre jünger als Jan. Als ihnen zum Beispiel auf dem Schulweg eine schwarze Katze von links nach rechts über den Weg lief, behauptete Jan: »Das gibt ein Unheil.« Tatsächlich, gleich in der ersten Stunde machte Janni im Diktat so viele Fehler, dass sie eine Fünf bekam. Als sie auf dem Heimweg unter der Eisenbahnbrücke durchgingen, blieb Jan stehen, bis ein Zug über sie weg donnerte. Dann sagte er: »Nun können wir uns was wünschen.« Mama schimpfte zwar, weil das Essen inzwischen kalt geworden war, aber es gab den Milchreis, den sich Janni gewünscht hatte. Als Jan einen Schornsteinfeger sah, zerrte er Janni zu ihm hin und sagte: »Fass ihn an, das bringt Glück!« Janni bekam allerdings nur Ruß an die Finger, der sich zum Glück wieder abwaschen ließ. Nach Jans Meinung waren der Freitag und der Dreizehnte ganz schlimme Tage. Als einmal Freitag zugleich der Dreizehnte war, blieb er lieber morgens im Bett liegen und stöhnte: »Mir ist schlecht.« Von nun an wurde wirklich alles ganz schlimm, denn als Mama das Fieberthermometer suchte, stolperte sie über den Teppich und fegte die Thermoskanne vom Tisch. Der heiße Tee lief über Jannis Füße, und sie konnte nicht beim Sportfest mitmachen, auf das sie sich so gefreut hatte.
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Ja, irgendetwas musste an all diesen merkwürdigen, geheimnisvollen Zusammenhängen dran sein, selbst wenn Janni das noch nicht kapierte. Bestimmt war auch was dran an der Geschichte von den Zwölfnächten, von der Jan jetzt immer sprach. Bisher war es stets um Wünsche und um Glück oder Unglück gegangen. Nun sollte es um die Zukunft gehen. Janni fragte dumm: »Um wessen Zukunft?« Jan fasste sich an den Kopf. Geduldig fing er zum dritten Mal von vorne an: »Also, das ist so. Du musst dir von heute an merken, was du geträumt hast, dann weißt du nämlich, was im nächsten Jahr passieren wird. Jede Nacht ist ein Monat, in dem der Traum in Erfüllung geht. Hast du es jetzt kapiert? Von heute bis Neujahr, das sind die heiligen Zwölfnächte.« Janni nickte und fragte wieder: »Aber warum?« Jan überhörte diese dumme Frage. Er holte zwei Hefte und schrieb auf das eine JAN und auf das andere JANNI, dann nummerierte er darin die Seiten von eins bis zwölf und schrieb darunter die Monate von Januar bis Dezember. Zufrieden sagte er: »So! Wenn wir jeden Morgen auf schreiben, was wir geträumt haben, kann gar nichts schief gehen. Wir wissen immer schon vorher, was passiert. Die Hauptsache ist nur, dass wir keinen Traum vergessen. Also, pass gut auf, während du schläfst!« Janni gab sich große Mühe. Aber als sie am nächsten Morgen aufwachte, wusste sie nichts mehr. Betreten sagte sie: »Im Januar ist bei mir nichts.« »Das kommt vor«, sagte Jan. Er schrieb in sein Heft etwas von einem mittleren Weltuntergang, bei dem etwas Schweres vom Himmel fiel, den Jan aber zu seinem Glück lebend überstand. »Und Mama, Papa und ich?«, fragte Janni. »Was wird aus uns?« Jan sagte: »Keine Ahnung. Es ist ja mein Weltuntergang.« Auch am Morgen darauf konnte sich Janni nicht daran erinnern, was sie geträumt hatte. Dafür notierte Jan, dass ihn Außerirdische entführten, um bei der Regierung ein Lösegeld zu erpressen. Als das nicht klappte, schössen sie ihn ins Weltall, haarscharf an einem Satelliten vorbei, der ihn fast gerammt hätte. »Das hast du tatsächlich geträumt?«, fragte Janni. Jan sagte: »Klar, darauf muss ich mich im Februar gefasst machen.« Da schämte sich Janni, weil die Seiten in ihrem Heft noch alle leer waren. Sie schlief in der folgenden Nacht sehr unruhig um nichts zu verpassen. Ein paar Mal wachte sie sogar auf und lag wach. Gegen Morgen träumte sie endlich, dass Jan in eine Pfütze fiel und dass sie lachen musste, weil es so komisch aussah, wie er darin herumruderte. Als sie Jan diesen Traum erzählte, sagte er kühl: »Das ist kaum möglich. Im März leite ich nämlich eine Expedition in die Wüste um Löwen zu fangen. Dort gibt es bekanntlich keine Pfützen.« 168
Janni musste sich also geirrt haben. Sie war ganz froh, als sie in der kommenden Nacht wieder nichts träumte. Doch auch bei Jan klaffte ein Loch in der Zukunft. Wahrscheinlich lag es daran, dass heute der Weihnachtsabend war, da hatten beide vor lauter Vorfreude unruhig geschlafen. Jan gab sich damit nicht zufrieden. Er sagte zu Janni: »Am besten ist es, wenn wir nach dem Mittagessen noch mal schlafen. Was wir da träumen, gilt für den April, und das schreiben wir auf.« Er warf sich auf sein Bett, machte die Augen zu und war kurz darauf eingeschlafen. Er schnarchte sogar ein bisschen. Janni lag da und hörte, wie Papa nebenan den Baum schmückte und wie Mama mit den Kaffeetassen klapperte. Dann sagte Papa: »Heute sind unsere Kinder besonders brav.« Und Mama erwiderte: »Stimmt, aber es ist nicht normal.« Am ersten Weihnachtstag und am zweiten Weihnachtstag schrieb Jan ellenlange Traumgeschichten in sein Heft. Das Heft von Janni blieb leer. Sie erfuhr weder, was der Mai noch was der Juni mit ihr vorhatte. Auch der Juli und der August blieben ihr verborgen. Verzweifelt sagte sie endlich: »Vielleicht kann ich nicht träumen.« »Jeder Mensch kann träumen«, sagte Jan. »Wenn es nicht anders geht, helfen wir nach.« Er blätterte im Lexikon, in Mamas Heilkräuterbuch und im Band BIOLOGIE DER UNTERSTUFE.
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Dabei machte er ein wichtiges Gesicht, während ihn Janni gespannt anstarrte. Endlich klappte Jan alle Bücher zu und sagte: »Mohn! Wer Mohn isst, kann gut träumen. Los, komm mit!« Er kaufte von Jannis Taschengeld in drei Bäckerläden sämtliche Mohnbrötchen auf und Janni musste sich damit voll stopfen. Wahrscheinlich lag es am Magendrücken, dass auch über den September nichts bekannt wurde. »Es geht nicht«, sagte Janni am nächsten Morgen. Da rief Jan bei Bob an. Bob ging jetzt in Jans Klasse, nachdem er einige Male sitzen geblieben war. In Mathe und ähnlichen Wissenschaften war er keine Leuchte, doch sonst hatte er bereits Erfahrungen, für die alle anderen noch zu grün waren. Er wieherte vor Lachen, als er das mit den Mohnbrötchen hörte. Und als Jan ihn fragte, wie er denn sonst Janni zum Träumen bringen könnte, sagte er: »Lass sie an irgendwas Exotischem schnuppern. Du sollst mal sehen, wie sie dann abhebt.« »Was ist?«, fragte Janni, nachdem Jan aufgelegt hatte. Sie bekam keine Antwort, denn Jan war bereits in der Küche und half Mama ungebeten beim Abtrocknen. Dabei fragte er: »Mama, hast du was Exotisches?« »Wie kommst du denn darauf?«, fragte Mama, dann erklärte sie: »Exotisch ist Pfeffer und Zimt und Kardamom. Und eigentlich auch Kaffee und Tee und Kakao. Musst du etwa einen Aufsatz schreiben, jetzt in den Weihnachtsferien?« »Nein, nur so«, sagte Jan und wartete, bis Mama endlich mit dem Abwasch fertig war und neben Papa vor dem Fernseher saß. Dann mischte er aus all dem exotischen Zeug, das sie ihm aufgezählt hatte, einen Eierbecher voll zusammen. Als Janni im Bett lag, streute er ihr mehrere Prisen davon über die Nase. Janni nieste und hustete und keuchte und schnappte nach Luft. Papa und Mama eilten besorgt herbei und Janni bekam einen feuchten Wickel um den Hals. Nach einer Tablette Aspirin in heißem Zitronenwasser schlief sie so tief und so fest, dass am anderen Morgen alles weg war, was sie vom Oktober geträumt hatte. »Aber es war etwas ganz Aufregendes«, sagte sie zu Jan. »Was nützt denn das, wenn du es vergisst!«, rief Jan erbost. Er hatte weiterhin lange, ausführliche Träume in sein Heft geschrieben. Das Schicksal hatte Monat für Monat Großes mit ihm vor, und es war ein Jammer, dass Janni nicht auf das geringste Ereignis für sich hoffen durfte. Die Nacht, die den November anzeigte, verging allerdings auch für ihn ohne Traum. Nun blieb nur noch die Silvesternacht. Jan und Janni durften aufbleiben und sich um Mitternacht das Feuerwerk ansehen. Janni fielen dabei fast die Augen zu, und sie schlief gleich ein, als 170
sie im Bett lag. Papa und Mama zogen die Mäntel über. Sie wollten noch mit den Nachbarn auf das neue Jahr anstoßen. »Wir kommen bald wieder. Bleib nicht so lange auf«, sagten sie zu Jan. Er lag quer im Sessel, ließ die Beine baumeln und guckte sich den Jubel und Trubel im Fernsehen an. Dabei schnupperte er. Es roch gut in der ganzen Wohnung. Mama hatte zum ersten Mal das neue teure Parfüm benutzt, das sie Weihnachten bekommen hatte. Wie hieß es gleich? Jan überlegte, dann fiel es ihm ein. Mit einem Satz sprang er aus dem Sessel und mit drei Sätzen war er im Bad. Die kleine Flasche EXOTISCHER TRAUM stand auf der Konsole unter dem Spiegel. Jan schraubte sie auf. Im Kinderzimmer war es stockfinster. Als Jan nach Jannis Gesicht tastete und ihre Nase suchte, fuhr sie hoch und stammelte: »Nein, Mama, lass den fremden Mann nicht rein! Er nimmt mir meinen Traum weg!« Dabei schlug sie um sich und die kleine Flasche flog im hohen Bogen auf den Bettvorleger. Dort lief sie aus. Nie hatte jemals etwas so stark gerochen. Nicht das Rotkraut, das anbrannte, während Mama telefonierte. Nicht der vergammelte Käse, den Papa in seiner Aktentasche vergessen hatte. Und auch nicht die Mülltonne in der Sommersonne. Und es roch auch gar nicht mehr gut. Janni hockte im Bett, hielt sich die Nase zu und stieß hervor: »Endlich hab ich was geträumt und nun weiß ich es nicht mehr.« Jan hatte das Fenster aufgerissen und hielt den Bettvorleger an die Luft. Es war Pech, dass gerade Papa und Mama nach Hause kamen, hinaufguckten und riefen: »Was machst du da?« Der Bettvorleger rutschte Jan aus den Händen. Es war sicher etwas dran an dieser Geschichte von den heiligen Zwölfnächten, deren Träume angeblich in Erfüllung gingen. Im Heft von Jan stand jedenfalls etwas von einem mittleren Weltuntergang, bei dem etwas Schweres vom Himmel fiel. Der Bettvorleger war ziemlich schwer. Und für das andere sorgten Papa und Mama.
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Das Puppenhaus
Großmama pflegte zu sagen: »Wenn ich den Kerl sehe, juckt mein kleiner Finger, das bedeutet nichts Gutes. Durch den kriegen wir noch mal mit der Polizei zu tun.« Der Kerl, von dem sie sprach, war Ludwig. Er war Tischler und dagegen konnte Großmama nichts einwenden. Was sie störte, waren seine wilden Haare, sein Vollbart und die grässlichen Klamotten, die er trug. Ludwig war Mamas neuer Freund und sie waren sehr verliebt ineinander. Eines Tages, falls Großmama das nicht rechtzeitig verhütete, sollte er sogar Majas Papa werden. Einstweilen hatte sie verhütet, dass er mit ihnen zusammen Weihnachten feierte. Wenn er kam, und Mama war noch im Büro, hatte sie ihm vorgebetet, wie teuer heutzutage ein Hausstand ist und dass es Mama und Maja doch bestimmt ein bisschen hübsch bei ihm haben sollten. Ludwig hatte sich Großmamas Worte so zu Herzen genommen, dass er jetzt irgendwo jenseits der Grenze auf einer Montage war, die so eilig und so wichtig war, dass nicht einmal während der Feiertage eine Pause eingelegt wurde. Doch entsprechend viel verdiente er dabei. Mama, die nicht ahnte, warum Ludwig fort war, nahm ihm übel, dass er einfach verschwand. Zum Trost musste er sie jeden Abend anrufen. Dann war ihre miese Laune fort und sie gurrte mit ihm wie sonst. In der Küche ärgerte sich Großmama und sagte zu Maja: »Der Kerl verschwendet sein gutes Geld an die Post. Aus ihm wird nie was werden.« Eines Tages rief Mama: »Maja, komm! Du wirst verlangt!«
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Am Telefon wollte Ludwig wissen, was Maja sich zu Weihnachten wünschte. Maja sagte: »Ein Puppenhaus, ein riesengroßes.« »Aber Maja«, sagte Mama, doch Ludwig rief fröhlich: »Wird gemacht!« Von nun an rief er nur noch jeden zweiten Abend an und die Gespräche dauerten nicht mehr so lange wie sonst. Jetzt saß er nämlich in jeder freien Stunde an der Werkbank und baute ein Puppenhaus für Maja. Seine Kollegen hockten und standen um ihn herum und gaben gute Ratschläge. Einige waren Tischler wie er, die halfen fleißig mit. Das Puppenhaus wurde prachtvoll. Es bekam Türen mit Rundbogen, Fenster mit Sprossen, eine Wendeltreppe, Parkettfußboden und sogar einen Balkon. Weihnachten rückte näher, aber es war noch lange nicht fertig. »Wenn es rechtzeitig ankommen soll, musst du es bald auf die Post tragen«, meinten seine Kollegen, die ihre Geschenke längst abgeschickt hatten. Doch Ludwig ersann ständig etwas Neues, was im Puppenhaus dringend notwendig war. Er bastelte winzige Möbel, einen Kamin und Gardinenstangen. Für die Küche formte er aus Ton kleine Töpfe und Pfannen und für das Schlafzimmer nähte er mühsam Bettdecken. Eine Woche vor Weihnachten sagten die Kollegen: »Jetzt ist es zu spät für die Post.« Ludwig erwiderte: »Macht nichts, ich schicke es EMS.« Aber dann fiel ihm mitten in der Nacht ein, dass im Puppenhaus auch Licht brennen musste. Er rannte überall herum und besorgte sich, was er brauchte: dünnen Draht, Batterien, einen winzigen Motor und ein paar billige Armbanduhren. Weil er ein Tischler und kein Elektriker war, ging ihm diese Arbeit nicht so schnell von der Hand wie sonst. Mama wartete seit Tagen vergeblich auf einen Anruf und hatte ganz miese Laune. Großmama saß in der Küche und bearbeitete die Weihnachtsgans. Sie sagte zu Maja: »Mein kleiner Finger juckt seit Tagen. Ich sage dir, der Kerl hat eine andere.« Maja hockte auf dem Fensterbrett und guckte hinunter auf die Straße, wo die Leute sich mit Paketen, Beuteln und Taschen abschleppten und dazu noch einen Baum transportierten. Sie war traurig und dachte, dass es mit einem Papa nie etwas werden würde. Dabei hatte sie sich so auf Ludwig verlassen. Aber dann klingelte das Telefon plötzlich zu einer ganz ungewohnten Zeit, nämlich am Vormittag des Heiligen Abends. Mama war im Büro und Maja holte gerade aus dem Supermarkt ein Glas Rotkraut zum Gänsebraten. Nur Großmama war da. Es war Ludwig, der anrief, und er gab so krauses Zeug von sich, dass Großmama lieber einen Bleistift suchte und alles gleich aufschrieb, sie hätte es bestimmt durcheinander gebracht. 173
Mama kam heute schon mittags nach Hause. Nach dem Essen rückte Großmama den Zettel heraus, und Maja las laut vor: »Fernzug fünf Uhr drei, kleiner Herr in Grau, Hut, Brille, Reisetasche, letzter Wagen, mittleres Abteil, große Überraschung.« »Was soll das bedeuten?«, fragte Mama. Großmama räumte den Tisch ab und antwortete: »Bestimmt nichts Gutes, das sagt mir mein kleiner Finger.« Dann ging sie ins Zimmer und schmückte den Tannenbaum, der in einem Topf auf der Kommode stand. Als sich Mama und Maja gegen halb fünf die Mäntel anzogen, fragte sie: »Geht ihr in die Kirche?« Mama sagte: »Wir gehen zum Bahnhof. Irgendwas muss es mit dem kleinen grauen Herrn auf sich haben.« »Ich komme mit«, sagte Großmama entschlossen. »Falls euch etwas zustößt, bin ich bei euch.«
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Dann standen alle drei auf dem Bahnsteig und warteten. Pünktlich um fünf Uhr drei rollte der Fernzug in die Halle. Und tatsächlich kletterte aus dem letzten Wagen ein kleiner Herr in einem grauen Mantel, mit einem grauen Hut, mit einer Brille und einer Reisetasche. Er sah sich suchend um. Dann holte er einen Kofferkuli und wuchtete aus dem Zug ein riesiges Paket. Damit kam er den Bahnsteig entlang auf Großmama, Mama und Maja zu. »Das ist er!«, rief Großmama und eilte ihm heftig winkend entgegen. In diesem Augenblick legte sich eine schwere Hand auf ihre Schulter und hielt sie so fest, dass sie keinen Schritt weiterkam. Eine Stimme sagte: »Bahnpolizei! Kommen Sie bitte mit!« Großmama drehte sich empört um und sagte: »Was fällt Ihnen ein! Heute ist doch Weihnachten!« Es half nichts. Hinter ihr standen noch weitere Polizeibeamte. Einer führte Mama ab, einer hielt Maja an der Hand, ein anderer schob den kleinen Herrn vor sich her und einer mühte sich mit dem Kofferkuli und dem riesigen Paket ab. Sie mussten ins Büro der Bahnpolizei. Eine Dame im Pelzmantel ließ sich nicht abweisen und kam hinterher. Sie jammerte immerzu: »O Leo, was hast du nur angestellt?« Der kleine Herr schüttelte hilflos den Kopf. Er war ganz blass und die Brille saß schief auf seiner Nase. Erst mussten Großmama, Mama und der kleine Herr angeben, wie sie hießen und wo sie wohnten. Dann wurde der kleine Herr befragt, woher er das Paket habe. Er sagte, dass der Fernzug irgendwo, jenseits der Grenze noch, an einer Station kurz gehalten habe. Ein Mann mit wilden Haaren, einem Vollbart und verrückten Klamotten sei den Bahnsteig entlanggelaufen und habe ihn angesprochen. Er habe gefragt, wohin er fahre. Dann habe er ihn gebeten, ein Weihnachtspaket mitzunehmen. Es mit der Post oder der Bahn zu schicken, sei nämlich zu spät. Der kleine Herr habe sich erweichen lassen und habe Ja gesagt. Darauf hätten einige andere Kerle dieses Riesending hier ins Abteil geschoben. Der erste Kerl habe noch gerufen: »Es wird abgeholt!«, und schon sei der Zug weitergefahren. »Das war alles«, sagte der kleine graue Herr und sah sich nach der Dame im Pelzmantel um. »Soso, jaja«, sagte der Beamte. »Etwa genauso wurde es uns per Funk gemeldet. Die Bahnpolizei auf der besagten Station hat von fern den Vorgang beobachtet und uns Meldung gemacht. Nun stehen Sie unter dem Verdacht der Schmuggelei und der Zollhinterziehung.« »Aber ich habe nichts damit zu tun!«, rief der kleine Herr verzweifelt, und die Dame im Pelz sagte: »Leo ist viel zu gut dafür.« 175
»Das sagen sie alle«, sagte der Polizeibeamte. »Erst müssen wir feststellen, ob Sie mit jenen Kerlen nicht unter einer Decke stecken. Dazu müssen wir das Paket öffnen und den Inhalt feststellen. Wer bekennt sich als rechtmäßiger Eigentümer?« Die Dame rief: »Wir nicht!« »Wir auch nicht!«, rief Großmama. Da machte sich der Polizeibeamte selber ans Werk. Er knotete den Strick auf und dann fuhr er hoch. Er rief: »Es tickt!« Ein anderer Beamter begann sofort aufgeregt zu telefonieren. Dann mussten alle den Raum verlassen und im Treppenhaus warten. Nach einer Weile erschien ein Mann, der aussah wie ein Astronaut, der gerade von einem Mondurlaub kommt. Er trug einen unförmigen weißen, gepolsterten Plastikanzug, eine durchsichtige Helmkugel und Handschuhe aus Metallgliedern, mit denen er das Paket behutsam und ganz vorsichtig nach draußen trug. Inzwischen durften alle wieder ins Büro und sich aufwärmen. Im Treppenhaus hatte es mächtig gezogen. Sie warteten und schwiegen. Dann ging die Tür auf. Der Mondmann erschien. Er hatte seinen Helm abgenommen und fragte: »Wer ist hier Maja?« »Ich«, sagte Maja. »Dann komm mal mit«, sagte der Mondmann und setzte hinzu: »Oder besser, alle kommen mit.«
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Mitten auf dem Hof, wo sonst die Autos parkten, stand das Puppenhaus. Es sah wunderhübsch aus, denn es war hell erleuchtet. Kleine Uhren tickten, und ein Lift fuhr hoch und runter. Über dem Eingang, der von Säulen getragen wurde, stand: »VILLA MAJA«. Der Mondmann lachte und sagte zu den Polizeibeamten: »Das war die Bombe, die uns Angst eingejagt hat.« Dann gab er Maja einen Zettel, den er im Puppenhaus gefunden hatte. Darauf stand: Frohe Weibnachten! Leider ist das Puppenhaus zu spät fertig geworden. Damit es pünktlich bei dir ankommt, werde ich es jemandem im Zug mitgeben und euch anrufen, während der Zug unterwegs ist. Bitte, liebe Maja, bedanke dich bei unserem unbekannten Helfer. Maja musste sich beeilen, denn der kleine graue Herr setzte sich gerade neben die Dame ins Auto. Dann wurden Großmama, Mama und Maja mit dem Puppenhaus im Streifenwagen nach Hause gebracht, und dort sagte Großmama: »Dass wir mal mit der Polizei zu tun kriegen, hat mir mein kleiner Finger zugejuckt. Es wird Zeit, dass ein Mann ins Haus kommt, der uns beschützt.«
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Der Weihnachtsgeburtstag
Genau einen Tag vor Weihnachten hatte Josel Geburtstag. Das war ein sehr unpassender Tag, denn alle Leute waren mit Festvorbereitungen beschäftigt und wollten jetzt nicht Geburtstag feiern. Papa und Mama hatten es seinerzeit leider nicht anders einrichten können. Eine Weile ging auch alles gut. Sie ließen den Geburtstag einfach ausfallen. Josel war ja noch klein und merkte es nicht. Aber dann wurde Josel älter. Bereits im Kindergarten bekam sie mit, dass manchmal ein Kind Geburtstag hatte. Als sie dann in die Schule kam, fragte die Lehrerin gleich am ersten Tag: »Wer kann mir denn schon seinen Geburtstag sagen?« Josel konnte es nicht. Daheim fragte sie Mama und Papa und nun kam es heraus. Mama war etwas betreten und meinte: »Wir haben eigentlich das Weihnachtsfest als Geburtstag gefeiert oder vielmehr den Geburtstag als Weihnachtsfest. Das ist doch was Besonderes, meinst du nicht?« Josel war sich nicht sicher. Jedenfalls hatte im Herbst ein Kind aus der Schulklasse Geburtstag. Mit vielen anderen Kindern wurde auch Josel eingeladen. Es gab eine bunte Zuckertorte und später viele kleine Geschenke und es war sehr, sehr lustig. Ein paar Wochen später feierte ein anderes Kind und wieder war Josel dabei. Es war wieder sehr lustig. 178
Nach und nach machte Josel mehrere Kindergeburtstage mit. Und kurz vor Weihnachten sagte sie: »Ich möchte auch Geburtstag feiern.« »Das paßt jetzt gar nicht«, sagte Mama, die um diese Zeit nie wusste, wo ihr der Kopf stand. Josel dachte nach und meinte: »Wir könnten doch Weihnachten verschieben.« »Weihnachten ist Weihnachten«, sagte Mama. »Das kann man nicht verschieben.« Josel dachte noch mal nach und meinte dann: »Vielleicht können wir den Geburtstag verschieben.« »Das ist eine gute Idee«, sagte Mama erleichtert. »Such dir einen schönen Tag aus.« Diesmal musste Josel sehr scharf nachdenken und ließ sich dazu Zeit. Allzulange wollte sie nicht warten, doch jetzt war Winter. Da konnte man nicht im Garten spielen. Ein Wintertag kam nicht infrage. Danach war Fastnacht, die sollte in der Schule gefeiert werden, die Lehrerin hatte es schon verraten. Das war auch nicht das Rechte. Und danach kam Ostern. Ein Geburtstag zu Ostern war fast so schlimm wie einer zu Weihnachten. Im Mai hatte Josels Freundin Micki Geburtstag. Womöglieh liefen alle Kinder dorthin und niemand kam zu Josel. Also lieber nicht im Mai. Doch dann war Sommer. Ein Sommergeburtstag war bestimmt wunderschön. Beim Abendbrot sagte Josel: »Ich möchte gern im Sommer Geburtstag haben.« »Das passt«, sagte Papa. »Wann denn genau?« Auf gut Glück sagte Josel: »Am zwanzigsten Juli.« Papa trug den neuen Geburtstag gleich in sein Notizbuch ein, und Mama vermerkte ihn dick und fett mit rotem Filzstift auf dem neuen Kalender, der in der Küche hing. Der Tag vor Weihnachten, der eigentlich Josels Geburtstag war, ging vorbei wie jeder andere Tag. Alle hatten ja noch viel zu tun. Josel machte sich nichts draus. Gleich nach Neujahr hatte wieder ein Kind aus Josels Klasse Geburtstag. Die Kerzen wurden noch einmal angezündet, dann durfte der Baum geplündert werden. Es war ein sehr lustiger Geburtstag. »Aber mein Geburtstag wird noch viel lustiger!«, sagte Josel. In der Fastnachtzeit hatte wieder ein Kind Geburtstag. Alle Kinder verkleideten sich und waren sehr ausgelassen. »Wartet nur, wenn ich erst Geburtstag habe!« rief Josel.
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Genau zu Ostern hatte ein Junge aus Josels Klasse Geburtstag. Weil es regnete, durften die Kinder überall in der Wohnung Ostereier suchen. Es war ein mächtiger Spaß. »Nicht so spaßig wie mein Geburtstag sein wird«, meinte Josel. Josels Freundin Micki feierte im Mai Geburtstag. Es gab ein Kasperletheater und alle Kinder waren begeistert. »Das ist noch gar nichts gegen meinen Geburtstag«, behauptete Josel. Endlich war es so weit. Drei Tage vor dem neuen Geburtstag lud Josel sämtliche Kinder aus der Klasse ein. Aber sie hatte nicht bedacht, dass an diesem Tag bereits Ferien waren. Alle waren verreist. Josel saß ganz allein da. Erst ließ sie den Kopf hängen. Dann wurde sie wütend. Und dann sehr, sehr traurig. Sie tat Papa und Mama so Leid. Mama nahm sie in den Arm und sagte: »Weine doch nicht. Es ist ja gar nicht der richtige Geburtstag. Es ist ja nur ein ausgedachter. Den richtigen Geburtstag werden wir von nun an ganz toll feiern - auch wenn Weihnachten ist.« »Versprecht ihr es mir?«, fragte Josel. »Wir versprechen es«, sagten Papa und Mama. Und am nächsten Tag gingen Papa, Mama und Josel auch auf Reisen.
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Ein Märchen
Als der große Krieg zu Ende war, wohnten die Menschen in den zerstörten Städten unter Trümmern in Kellern und Erdlöchern. Sie sorgten sich nur noch darum, dass sie jeden Tag etwas zu essen hatten und dass das Feuer nicht ausging, an dem sie sich wärmten. Manchmal dachten sie an die Zeiten, als sie satt wurden und in schönen behaglichen Wohnungen lebten. Als die Weihnachtszeit nahte, erinnerten sie sich besonders oft daran. Damals war es ihnen gut gegangen. Sie hatten gegessen, getrunken, gefeiert und einander Geschenke gemacht. Alle sehnten sich danach, dass es nur ein wenig wieder so wurde wie damals. Da setzte es sich eine Frau in den Kopf, einen richtigen Weihnachtskuchen zu backen. Denn, dachte sie, schaffe ich das, können diese schrecklichen Zeiten nicht ganz und gar aussichtslos sein, und ich werde es als Zeichen nehmen, dass es uns allen irgendwann wieder besser gehen wird. Sie machte sich auf und kletterte über die Trümmerberge. Wenn sie Rauch aufsteigen sah, suchte sie den Eingang zu der Behausung, steckte den Kopf hinein und fragte: »Kann mir hier jemand ein paar Eier, etwas Fett, Mehl und Zucker geben? Ich möchte einen Weihnachtskuchen backen und will gern ein Stück davon abgeben.« Die meisten Leute lachten die Frau einfach aus. Doch einmal bekam sie zur Antwort: »Na ja, Eier könnten wir beschaffen. Wir haben noch ein Huhn, aber kein Futter mehr. Das Tier ist so schwach, dass wir es eigentlich zu Weihnachten schlachten wollen. Wenn es vorher 181
noch ein paar Körner bekäme, würde es wohl auch noch ein paar Eier legen. Wir würden Eier gegen Körner geben.« Die Frau lief weiter. Von nun an fragte sie: »Wer kann mir ein paar Körner geben für ein Huhn, das mir dafür Eier legt, die ich zusammen mit Fett und Mehl und Zucker zu einem Weihnachtskuchen verrühren will. Ich will gern ein Stück davon abgeben.« Wieder lachten sie die meisten Leute aus. Nur zwei alte Frauen sagten: »Ein paar Körner könnten wir dir geben, wir haben den ganzen Sommer auf den Feldern gesucht, was aus den Ähren gefallen war. Noch heute tut uns der Buckel davon weh. Aber weil wir seit Wochen nur Brei aus zerstoßenen Körnern essen, möchten wir dafür ein Stück Fleisch, das wir uns braten können.« Jetzt lachten die Leute noch viel mehr, denn die Frau fragte: »Wer kann mir Fleisch für einen Braten geben, für den ich Körner bekomme, die ein Huhn haben soll, das mir dafür Eier legt, die ich mit Fett und Mehl und Zucker für einen Weihnachtskuchen brauche, von dem ich gern ein Stück abgeben will?« Die Frau wusste selber, dass sie nach ganz unerreichbaren Dingen fragte, aber sie wollte einfach nicht aufgeben. Sie stieg immer weiter über Berge von Schutt und kam schließlich an die Stelle, wo früher ein Park gewesen war. Von den Bäumen waren nur verbrannte Stümpfe übrig, die scharrten die Leute samt den Wurzeln aus dem Boden, um Brennholz zu haben. Die Frau fragte auch hier und wurde auch hier ausgelacht. Nur ein Junge sagte: »Ich weiß einen Mann, der Vögel fängt, die man braten kann. Wenn ich ein Stück von deinem Kuchen bekomme, zeige ich dir, wo der Mann wohnt. Ich habe nämlich noch nie Kuchen gegessen.« Er führte die Frau an den Rand eines großen Trichters, den eine Bombe gerissen hatte. Darin stand eine Hütte aus einem verrosteten Autowrack. Vor der Hütte saß ein Mann. Er briet an einem Stecken einen winzigen Vogelkörper über einem Feuerchen. Die Frau sagte zu ihm: »Ich brauche einen Vogel für zwei alte Frauen, d ie mir dafür Körner geben.« Der Mann sah nicht auf. Er brummte: »Das ist der letzte Vogel, den ich fangen konnte. Von nun an weiß ich auch nicht mehr, was ich essen soll. Andere Vögel kann ich nicht fangen, denn meine Schleuder ist kaputt. Das Gummiband ist gerissen, als ich es spannte, es war ausgeleiert. Ja, wenn ich einen neuen Gummiriemen für meine Schleuder bekäme, könnten wir über einen Vogel einig werden.« Jetzt wusste die Frau nicht weiter. Woher sollte sie, die selber nichts besaß, Gummi für eine Schleuder nehmen? In ihrem Keller hatte sie nur einen Topf zum Kochen, einen Löffel zum Essen und ein altes Feldbett zum 182
Schlafen. Da fiel ihr ein, dass dieses Feldbett Riemen hatte, und diese Riemen waren aus Gummi. So schnell sie konnte, rannte sie heim und schnitt einen Riemen aus dem Feldbett heraus. Es war ohnehin hart und schief und konnte ihretwegen ruhig noch härter und schiefer werden. Der Mann war sehr zufrieden. Er probierte die Schleuder mit dem neuen Gummiriemen gleich aus und erlegte eine magere Krähe, die er rupfte und der Frau gab. »Sie ist im Geschmack von einer Taube kaum zu unterscheiden«, meinte er. Die Frau lief mit dem Vogel zu den beiden Alten und sagte: »Hier bringe ich euch ein Täubchen, das ihr euch braten könnt.« Die Alten freuten sich darüber so sehr, dass sie der Frau eine ganze Papiertüte voll Körner schenkten. Die Tüte stammte aus besseren Zeiten und hatte ein Loch. Die Frau hielt sie mit beiden Händen, um kein einziges Korn zu verlieren. Daheim in ihrem Keller merkte sie erst, wie viele Körner es waren. Sie dachte: viel zu viele für das Huhn, und sie zermahlte die meisten zwischen zwei Steinen. Als sie Schalen und Spelten herausgesammelt hatte, summte sie aufgeregt vor sich hin: »Ich habe Mehl, ich schaffe es! Ich habe Mehl, ich schaffe es!«
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Mit dem Rest der Körner lief sie zu den Leuten, die das Huhn besaßen. Die sagten: »Nur so wenig? Davon wird es kaum zu Kräften kommen. Es ist so schwach geworden, dass wir schon das Schlimmste befürchtet haben. Erst in ein paar Tagen wird sich herausstellen, ob es noch mal Eier legen kann.« Die Frau ließ sich nicht entmutigen, sie hatte ja noch viel vor sich. Zum Weihnachtskuchen fehlten immer noch Fett und Zucker. Wieder kletterte sie über Trümmerberge, wieder fragte sie herum und wieder lachten alle Leute sie aus. Diesmal geriet sie bis an den Rand der Stadt, wo die Steinhaufen flacher wurden. Dahinter war früher der Wald gewesen. Jetzt wuchsen nur ein paar Bäume vereinzelt zwischen den Bombenlöchern. Dazwischen standen Wachen und passten auf, dass niemand die Bäume fällte und als Brennholz wegschleppte. Die Frau wagte nicht, die Wachen anzusprechen und zu fragen. Doch einen kleinen krummen Mann sprach sie an. Er kroch unter den Bäumen herum und klaubte irgendetwas auf. Die Frau sagte: »Ich will einen Weihnachtskuchen backen. Mehl habe ich und Eier vielleicht auch. Nun fehlen mir nur Fett und Zucker. Dafür will ich gern ein Stück Kuchen abgeben.« Der kleine krumme Mann sagte: »Hilf mir, Bucheckern zu sammeln. Dann kriegst du was von dem Öl ab, das ich daraus presse.« Die Frau zog ihre Jacke aus, knöpfte sie zu und verknotete die Ärmel. So hatte sie eine Art Sack, in dem sie die Früchte sammeln konnte. Es war mühsam. Vorher hatten schon viele andere Leute nach Bucheckern gesucht. Nun waren kaum noch welche zu finden. Der kleine krumme Mann zeigte ihr, wie sie Laub und Erde zurückscharren musste um danach zu suchen. Es dauerte tagelang, bis die Jacke gefüllt war. In seiner Behausung hatte der kleine krumme Mann aus einem Panzerrohr und anderen Teilen, die er unter Trümmern gefunden hatte, eine Art Presse gebaut. Die Bucheckern aus der Jacke ergaben genau eine henkellose Tasse voll Öl. Die Frau war glücklich und trug das Öl behutsam in ihren Keller. Dann machte sie sich wieder auf, um sich nach den Eiern zu erkundigen, die ihr das Huhn legen sollte, dem sie Körner gebracht hatte. »Es ist fast an der Anstrengung eingegangen«, sagten die Leute und gaben der Frau ein winziges Ei mit einer dünnen grauen Schale. Allmählich drängte die Zeit. In fünf Tagen war Weihnachten und noch immer fehlte der Zucker. Wenn die Frau danach fragte, lachten die Leute nicht mehr, sondern wurden böse. »Zucker!«, riefen sie. »Wir erinnern uns nicht einmal mehr, wie Zucker schmeckt! Woher soll unsereins Zucker haben? Zucker hat nur einer!« 184
»Wer?«, fragte die Frau. Die Leute sagten: »Der Mann, der ALLES hat. Du musst ihn suchen.« Die Frau irrte umher. Sie war hungrig. Sie war schwach und müde. Sie hatte wunde Füße. Wenn sie nachts auf dem harten, schiefen Feldbett lag und nicht schlafen konnte, musste sie alle Kraft zusammennehmen, um nicht das Wenige aufzuessen, das sie schon für ihren Weihnachtskuchen zusammengetragen hatte. Einen Tag vor Weihnachten stieß sie irgendwo in der Stadt auf ein Haus, das fast heil geblieben war. Das Dach hatte Ziegel und einige Fenster hatten noch Glas. Die anderen waren sauber mit Brettern vernagelt. Aus dem Schornstein stieg dicker Rauch. Die Frau wusste sofort, dass hier jemand wohnte, der ALLES hatte. Sie klopfte an die Tür. Der Mann, der aufmachte, hatte einen richtigen Anzug an. Er rauchte eine richtige Zigarre und trug richtige heile Schuhe. Neben ihm stand ein richtiger Hund, der ebenso dick war wie der Mann. Aus dem Haus strömte so viel; Hitze, dass der Frau draußen warm davon wurde. »Was ist?«, fragte der Mann und der Hund knurrte. »Ich brauche Zucker«, sagte die Frau. Der Mann, der ALLES hatte, lachte nicht wie die anderen Leute, und er wurde auch nicht böse. Er fragte nur: »Was kriege ich dafür?«
»Ein Stück von dem Weihnachtskuchen, den ich backen will«, sagte die Frau. »Sonst habe ich ja nichts.« 185
»Doch, den Ring da«, sagte der Mann. Die Frau erschrak. Der Ring an ihrer Hand war von ihrem Mann, der vielleicht nie wiederkam. Dann dachte sie an die Leute, die ihr bereits geholfen hatten und die dafür ein Stück Kuchen bekommen sollten. Sie zog den Ring ab und bekam dafür eine Hand voll Zucker. Nun hatte die Frau alles beisammen, was sie brauchte. Sie knetete aus dem Körnermehl, dem Bucheckernöl, dem Ei und dem Zucker einen Teig. Mit ihrem letzten Holz machte sie Feuer und backte einen kleinen harten Kuchen. Den teilte sie in viele Stücke. Am Heiligen Abend machte sie sich auf den Weg. Sie brachte den beiden alten Frauen ein Stück Kuchen, und die schenkten ihr noch mal eine Tüte voll Körner. Sie brachte dem Jungen im Park ein Stück, und der schenkte ihr Holz. Sie brachte dem Vogelfänger ein Stück, und der schenkte ihr einen lahmen Spatzen, den er mit seiner Schleuder verfehlt hatte. Sie brachte den Leuten mit dem Huhn ein Stück, und die schenkten ihr noch ein Ei. Sie brachte dem kleinen krummen Mann ein Stück, und der schenkte ihr eine Scherbe voll Öl, in der ein Docht schwamm. Nun hatte die Frau noch zwei Stücke von ihrem Kuchen. Es ist Weihnachten, dachte sie und klopfte auch noch bei dem Mann, der ALLES hatte. Er nahm das Stück, sagte: »Mach happ!«, und der Hund hatte den Kuchen schon geschnappt. Dann ging die Frau nach Hause. Sie fachte die Öllampe an, machte mit dem Holz Feuer, kochte aus den Körnern und dem Ei einen Brei und gab dem lahmen Spatzen die Hälfte von ihrem Kuchenrest. Sie wollte schon in die andere Hälfte beißen, doch sie legte das kleine harte Kuchenstück vor sich hin, denn sie war satt. Meine Güte, ich bin ja satt, dachte die Frau, ich habe es hell, und mir ist warm, und ich bin nicht allein. Ich habe Geschenke bekommen und habe Freude gehabt, weil ich es geschafft habe, in dieser schweren Zeit einen Kuchen zu backen. Was für ein Weihnachtsfest! Und die Frau war fast glücklich.
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