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E. W. HEINE in Berlin geboren, lebte nach dem Studium der Literaturwissenschaft und Architektur ein Jahrzehnt als Architekt in Südafrika, wo er ein politisch-literarisches Kabarett gründete, arbeitete dann mehrere Jahre in arabischen Ländern und lebt heute in Stuttgart. Über den ersten Band mit Heines Geschichten für Musikfreunde Wer ermordete Mozart? Wer enthauptete Haydn? urteilte ein Kritiker: »Diese skurrilen Geschichten sind anspruchsvolle Unterhaltung im besten Sinne — wer einmal anfängt zu lesen, mag nicht mehr aufhören und dann ist es richtig traurig, wenn das Buch schon zu Ende ist.« Dem wird hiermit abgeholfen. In acht neuen Geschichten löst E. W. Heine bisher ungeklärte oder scheinbar geklärte Todesfälle aus der Musikgeschichte: Die Rolle Cosimas beim Tod Wagners; die Tragik des echten Musikers, der dann aufhört, wenn's am besten »schmeckt«: Rossini; des böhmischen Feldherrn Žižkas Kriegsführung mit Musik; und wußten Sie, daß Bach und Händel von dem gleichen königlichen Quacksalber geblendet und Glenn Miller gar nicht in einem Flugzeugunglück ums Leben kam? ISBN 3-257-01680-8
E.W. Heine
Wie starb Wagner? Was geschah mit Glenn Miller? Neue Geschichten für Musikfreunde
Diogenes
Vignetten und Umschlagillustration von E.W. Heine
Scan bernwardvesper Im Oktober 2008
Alle Rechte vorbehalten Copyright © 1985 by Diogenes Verlag AG Zürich 80/85/8/1 ISBN 3 257 01680 8
Inhalt
Vorwort 7 Wie starb Wagner? 9 Wer löst das Rätsel Rossini? 25 Wer kennt die Trommel des Teufels? 37 Wer blendete Bach und Händel? 49 Woran zerbrach Bizet? 63 Wer behexte die Xhosa? 75 Wer war Modest Mussorgskij ? 89 Was geschah mit Glenn Miller? 103
Vorwort Kennen Sie Žižka, den blinden Komponisten, der mit tausend Sturmtrommeln zum Totentanz aufspielte? Wußten Sie, daß Bach und Händel, die sich zu ihren Lebzeiten nie begegnet sind, beide von einem englischen Scharlatan auf grausigste Art geblendet wurden?
Ist Ihnen bekannt, daß es im Totenschein Richard Wagners einen Hinweis gibt, daß irgend jemand aus der Villa Vendramin den Tod verursacht hat? Können Sie sich vorstellen, Beethoven hätte mit achtundzwanzig Jahren sein Klavier verkauft, um ein Schlemmerlokal zu eröffnen, oder Wagner wäre mit fünfunddreißig ausgewandert, um für die zweite Hälfte seines Lebens nur noch Schweine zu züchten? Das gibt es nicht? Lernen Sie Rossini kennen. Wußten Sie, daß Georges Bizet von einer Frau in den Tod getrieben wurde? Kennen Sie die Rattenfängerin der Transkei, die mit ihrem Gesang zehntausende von Menschen tötete? Wer war Modest Mussorgski? Ein russischer Komponist? Sie werden sich wundern. Wußten Sie, daß Glenn Millers Todesnachricht eine Fälschung ist? Warum wurde sein Flugzeugabsturz vorgetäuscht? Acht Kurzgeschichten, unglaublich aber wahr, für die die Worte Alfred Polgars gelten: »Schöne Literatur mit geschwollenem Wanst ist ein Widerspruch im Beiwort.«
Wie starb Wagner? Wie ein Schwarm Zugvögel war Richard Wagner mit großem Gefolge 1883 in Venedig eingefallen, um hier zu überwintern. Denn so sehr ihn auch der germanische Norden beflügelte, so sehr deprimierte ihn der nordische Winter. Im altehrwürdigen Palazzo Vendramin waren alle achtzehn Zimmer des obersten Stockwerkes gemietet worden. Wagner
genoß den venezianischen Karneval als Voyeur, unternahm ausgedehnte Gondelfahrten, empfing Besucher, musizierte, komponierte, änderte und entwarf Schriften, die sich wie Manifeste lesen. Mit anderen Worten, er führte nicht das Leben eines Schwerkranken, sondern war aktiv wie zu seiner besten Schaffenszeit. Am 13. Februar aber war er tot, plötzlich und unerwartet. Wer ihn kannte - und wer kannte ihn nicht? - vermochte es nicht zu fassen. Wenn heute nachträglich alle möglichen Leiden als Erklärung für sein abruptes Ableben angeführt werden, so muß man darauf hinweisen, daß Wagner während seines ganzen Lebens kränkelte. Wir kennen die Krankenberichte seiner Ärzte sehr genau. Dort wird von Blähungen gesprochen, von Magenerweiterung, von einem Leistenbruch und Verdauungsbeschwerden, lauter Leiden, die nicht zum Tode führen. Wagner war 1883 alles andere als ein alter, siecher Mann. Er war ungewöhnlich aktiv und voller Pläne. Was war geschehen? Über den letzten Akt in Richard Wagners Leben gibt es viele widersprüchliche Berichte, liebevolle Legenden der Jünger. Die erzählende Kunst des 19. Jahrhunderts lebt von diesem Zierrat und Beiwerk seiner Märchen und Mythen.
Wie starb Wagner wirklich? Woran starb er? Wer oder was hat seinen Tod verursacht? Bevor wir näher auf die Tat eingehen, wollen wir uns jedoch wie ein Untersuchungsrichter zunächst mit der Person befassen. Wer war Richard Wagner? Wer war er wirklich? Hier trifft ein unparteiischer Fragesteller bereits auf unüberbrückbare Widersprüche. Wie kann etwas gleichzeitig so hell und so dunkel, so groß und so klein, so heilig und so atheistisch, so erhaben und so lächerlich sein? Obwohl über keinen Komponisten so viel geschrieben worden ist, gelingt es keinem kritischen Biographen, ein klares Bild von diesem Chamäleon zu zeichnen. Zwischen den Ikonen seiner Verehrer und den Karikaturen seiner Verabscheuer klafft nebulöses Niemandsland. Die bedeutendsten Komponisten seiner Zeit erstarrten in Ehrfurcht vor seinem musikalischen Werk. Selbst Verdi, der große stolze Verdi, der davon träumte, Wagner persönlich kennenzulernen, fand nicht den Mut, sich diesem Halbgott zu nähern. Nobelpreisbedachte Dichter wie Gerhart Hauptmann und Thomas Mann haben sich vor seinem dramatischen Werk verneigt. Päpste und gekrönte Häupter huldigten ihm. Selbst seine Feinde unterwarfen sich seiner geistigen Diktatur, so wie Nietzsche, der bei der Nachricht seines Todes
schrieb: »Es war hart, sechs Jahre lang Gegner dessen sein zu müssen, den man am meisten verehrt hat.« Welch ein Genie muß dieser Mann gewesen sein! Wenn Genie - wie allgemein angenommen wird ein angeborenes Phänomen ist, so war Wagner kein Genie. Vergeblich sucht man bei ihm nach frühen geniehaften Leistungen wie bei Mozart, Schubert oder Mendelssohn. Mit Erstaunen hat schon Thomas Mann festgestellt, daß die Jugendwerke Wagners »ausgesprochen dilettantische Züge« tragen. »Der schöpferische Gipfel«, wie Romain Rolland ihn nennt, ist zugleich auch der zerstörerischste Abgrund. Am 22. Oktober 1850 schrieb Wagner in einem Brief an einen Freund: »Mit völligster Besonnenheit und ohne allen Schwindel versichere ich dir, daß ich an keine andere Revolution mehr glaube, als an die, die mit der Niederbrennung von Paris beginnt.« Diese Sätze wurden niedergeschrieben während der Arbeit am ›Ring der Nibelungen‹. Der flammende Untergang von Walhall ist für ihn nicht bloß ein symbolischer Brand, sondern ein revolutionärer Akt zur Ausradierung der etablierten Gesellschaft, deren Macht auf Gold und Geld basiert. Der gleiche Wagner, der behauptete, Eigentum und Besitz seien die Gründe dafür, daß der Mensch sittlich und
rassisch unter die Stufe des Tieres gesunken sei, bedauerte immer wieder »das Fehlen eines ererbten Besitzes« als Polsterkissen für künstlerische Unabhängigkeit. An der Hand eines königlichen Gönners, der seine Schulden bezahlte und seinen privaten Luxus finanzierte, kämpfte er für eine klassenlose Gesellschaft, in der alle Menschen gleich seien bis auf das künstlerische Genie, zu dem er sich an erster Stelle zählte. Skrupellos machte er Schulden in Höhe von fünfstelligen Beträgen mit der selbstgefälligen Begründung, daß es ihm die Menschheit schuldig sei, seine Extravaganzen zu bezahlen. In venezianischen Palästen, in Villen von Großindustriellen und in königlichen Schlössern forderte er die Abschaffung des Besitzes. Er verherrlichte in seinen Werken die Gattentreue bis über den Tod hinaus und nahm für sich das Recht in Anspruch, alles mitzunehmen, was sich bot. Während der Niederschrift des ›Parzifals‹ - reine Innerlichkeit und reine Tat - machte er Judith Gautier, einer Freundin seiner Frau, das eindeutige Angebot: »Hilf mir! Hab mich lieb! Dafür wollen wir aber nicht den protestantischen Himmel abwarten, wo es sicher sehr langweilig sein wird.« Als am 15. Juni 1869 Cosima von Bülow ihren Gatten um Auflösung der Ehe bat, war sie von Wagner bereits dreimal zur Mutter gemacht wor-
den, das letztemal erst neun Tage zuvor. Der betrogene Ehemann war Wagners bester Freund, »dessen Dankbarkeit und Uneigennützigkeit keine Grenzen kennt.« Keiner seiner Zeitgenossen hat so männliche Opern verfaßt: den Revolutionär Rienzi, den mit dem Teufel um die Wette segelnden Fliegenden Holländer, Riesen, Drachen, Ritter und Helden. Selbst die lanzenschwingenden Walküren kämpfen wie ganze Kerle. Kaum zu glauben, daß der Komponist dieser Kampfspiele ein Vermögen für Plüschkissen, samtene Hausmäntel und seidene Leibwäsche ausgegeben hat. Er bezeichnete sich selbst als Atheist und schrieb so mythische Musik, daß selbst sein Siegfried zur christusartigen Mysterienfigur wird. Wenn es darum geht, deutsches Wesen zu definieren, so wird kein Künstler so häufig herangezogen wie Wagner. »Deutsch bis an die Grenze des Parodistischen«, nennt Joachim Fest ihn. Seine Tagebücher jedoch sind ein Sammelsurium von Schmähungen gegen die Deutschen, gegen »diese elende Nation, für die sich so schwer etwas Gutes vorbringen lasse.« Die Gegenwartsgeschichte behandelt Richard Wagner so, als wäre er eine Art geistiger Adolf Eichmann. Es ist wahr, daß er in den Juden die
Repräsentanten der Geldwirtschaft sah, die Hefe des völkischen Verfalls. Aber es ist ebenso wahr, daß so viele Juden zu seinem engsten Bayreuther Freundeskreis gehörten, daß er gelegentlich spottete: »Wir bekommen in Wahnfried eine neue Synagoge.« Sein vertrautester Berater war der jüdische Pianist Rubinstein. Und für die Uraufführung des Parzifal‹ hielt er keinen anderen Dirigenten würdig als Hermann Levi. »Denn«, so sagte er im Freundeskreis, »am Ende sind die Juden doch die allervornehmsten.« Trotzdem erleben wir das einmalige Kuriosum der Musikgeschichte, daß die Musik von Richard Wagner bis in die Gegenwart in Israel nicht gespielt werden darf. Kein Künstler hat solch einen Kult mit seiner eigenen Person getrieben. Sein Größenwahn scheint grenzenlos zu sein. In der Erbauung von Wahnfried, seines eigenen exklusiven Festspielhauses, sah er so etwas wie die Begründung einer Bayreuther Kirche als Weltzentrum der Wagner-Theologie. Der gleiche Messias, der sich von seiner Umgebung nur noch mit »Meister« anreden ließ, gestand seiner Frau: »Mendelssohn würde die Hände über dem Kopf zusammenschlagen, wenn er mich komponieren sähe. Was ich für ein Stümper bin, glaubt kein Mensch!«
Am 13. Februar ist das stümperhafte Genie tot, um alsbald unsterblich zu werden. Die Zeitungen berichteten in ihren Schlagzeilen von dem plötzlichen Ableben, so als handele es sich um eine kriminalistische Sensation: Der Tod von Venedig! Death in Venice! La morte di Venezia! Widersprüchlich wie das Opfer war auch der Tatort. »Traum der Erde«, »Rausch ohne Ende« nannte Lord Byron die Märcheninsel in der Lagune. Venedig ist keine Stadt des kühlen Verstandes, die Venezianer aber sind ein materialistischer Menschenschlag, der jahrhundertelang wegen seiner skrupellosen Geschäftsmethoden verachtet wurde. Die Brutalität ihrer Realpolitik war sprichwörtlich. Bis zum 12. Jahrhundert waren von achtundvierzig Dogen 19 getötet, verbannt und verstümmelt worden. Besonders beliebt war die Blendung über einem glühenden Kohlenbecken. »Wie ist es möglich?« fragt sich Mary McCarthy in ihrem venezianischen Portrait. »Ein kommerzielles Volk, das ausschließlich für den Gewinn lebt, wie konnte dies eine Traumstadt erschaffen, strahlend und schön wie ein Märchen?« Versucht man über Venedig nachzudenken, so lassen sich die historischen Tatsachen und die visuellen, die man greifbar vor Augen hat, nicht in Einklang bringen. Venedig ist so widersprüchlich wie Wagner. Die
Architektur ist reine Bühnenarchitektur. Der schöne Schein ist wichtiger als alle gestalterische Konzeption. Wie alle Kulissen wirken diese Bauten, von nahem betrachtet, enttäuschend. Sie benötigen optische Effekte, herbstlichen Nebel, Sonnenuntergänge, Fackellicht und Wasserspiegelung. Es ist kein Zufall, daß Venedig das Monopol der Spiegelherstellung für sich beanspruchte und es hierin zu solcher Meisterschaft brachte, daß zu Colberts Zeiten ein venezianischer Spiegel von der Größe eines halben Quadratmeters dreimal so hoch bewertet wurde wie ein Raffael. »Die größte Opernkulisse der Welt«, befand Napoleon über den Canale Grande, und wie recht er hatte, erkennt man besonders deutlich an der Marmorplastik des Dogen Vendramin, in dessen Palazzo Wagner die letzten Tage seines Lebens verbrachte. Der schlafende Doge Vendramin liegt auf seiner Gruft in San Giovanni und Paolo. Die Skulptur wurde wie eine Filmattrappe nur halbseitig ausgeführt. Die dem Publikum abgewandte Seite besteht aus unbearbeitetem leeren Stein. Diese Opernkulisse der Welt übte nicht nur von jeher magnetische Kräfte auf alle Künstler aus, sondern verlieh ihnen im wahrsten Sinne des Wortes fast so etwas wie Unsterblichkeit. Gentile Bellini und Giovanni Bellini wurden hier 78 und 86 Jahre
alt, Tintoretto 76, Tiepolo 80, Palma il Giovane 84, Pietro Longhi 83, Guardi 87. Tintoretto wurde im hundertsten Lebensjahr von der Pest hinweggerafft. Alessandro Vitoria folgte ihm mit dreiundachtzig und Sansovino mit 84. Die Reihe der musischen Methusalems ließe sich noch eine ganze Weile fortführen. In diesem märchenhaften Jungbrunnen für alternde Künstler hätte der neunundsechzigjährige Richard Wagner noch ein Vierteljahrhundert verbringen können. Aber widersprüchlich wie sein Leben war sein Tod. Am 12. Februar hatte Wagner eine längere Ausfahrt unternommen. Dabei sprach er über die Schrift, an der er zur Zeit arbeitete. Sie beschäftigte sich mit der Emanzipation des Weibes in der Liebe. Er vertrat die Ansicht, Vermählungen aus politischen oder wirtschaftlichen Standeserwägungen ohne gegenseitige Zuneigung seien für das menschliche Geschlecht verderblicher gewesen als alle Seuchen und Kriege. Der Verfall der Rassen sei auf den Mißbrauch der Ehe zurückzuführen, bei der die Vermehrung des Besitzes wichtiger sei als die Gefühle der Frau. Die Menschheit kann nur bei völliger Gleichberechtigung der Geschlechter ihren Idealzustand erreichen. Solange das weibliche Gestal-
tungsprinzip vom männlichen unterdrückt würde, so lange stünde der Mensch sittlich und moralisch unter der Stufe des Tieres. Am Abend sprach er über Gefängnisse. »Alles nur wegen des Eigentums«, sagte er. Schon im Bett, hörte Cosima ihn laut reden. Sie ging zu ihm. Er sprach jetzt über Wassergeister und Nixen. »Ich bin ihnen gut, diesen untergeordneten Wesen der Tiefe. Alle fünftausend Jahre glückt es, daß eine Undine durch eine unsterbliche Seele erlöst wird.« Diese Selbstgespräche mit den Geschöpfen seiner Mythen gehörten zum Alltag des Meisters. Ungewöhnliches ereignete sich jedoch am nächsten Morgen. Der dreizehnjährige Siegfried übte im Salon auf dem Klavier, als seine Mutter erschien und ihn bat aufzuhören. Cosima setzte sich an den Flügel und spielte Schuberts ›Lob der Tränen‹. Es war das erstemal, daß Siegfried seine Mutter spielen hörte. Sie weinte. Die Tränen fielen auf ihre blassen Hände. Gegen zwei Uhr ließ Wagner durch den Diener ausrichten, man möge ohne ihn essen. Auch das war ungewöhnlich. Cosima erklärte, man lasse ihn heute besser allein. Das Hausmädchen Betty Bürkel hörte ihn stöhnen. Als sie zu ihm eilte, saß er am Schreibtisch, vor sich ein Blatt Papier mit einem begonne-
nen Satz: »Gleichwohl geht der Prozeß der Emanzipation des Weibes nur unter ekstatischen Zuckungen vor sich. Liebe, Tragik...« Dann war die Feder seiner Hand entglitten. Betty rief weinend nach Cosima. Siegfried vergaß nie, wie seine Mutter zur Tür hinausstürmte: »Eine Gewalt leidenschaftlichen Schmerzes drückte sich darin aus, dabei stieß sie so stark an den halbgeöffneten Türflügel, daß dieser fast zerbrach.« Man legte den Toten aufs Bett. Cosima sank neben ihn nieder und umklammerte seine Knie, als wollte sie ihn um Verzeihung bitten. Zu spät! Kein Vermächtnis, kein letztes Wort, keine friedliche Erklärung. Wie ein Ermordeter lag er da, das Gesicht vom Schmerz zerrissen. Was war geschehen? Betrachten wir den Totenschein. Wagners Hausarzt in Venedig war Doktor Friedrich Keppler. Er kam in seinem Bericht über die Todesursache zu dem Schluß, der Tod sei durch extreme psychische Aufregung erfolgt. Dort schreibt er: »Daß die zahllosen psychischen Aufregungen, welchen Wagner durch seine eigentümliche Geistesanlage und Geistesrichtung, durch seine scharf prononcierte Stellung zu einer Reihe brennender Fragen in Kunst, Wissenschaft und Politik, durch seine merkwürdige gesellschaftliche Position täglich ausgesetzt war,
viel zur Beschleunigung des unglücklichen Endes beigetragen haben, ist selbstverständlich. Der Anfall selbst, der dem Leben des Meisters ein so jähes Ende setzte, muß eine ähnliche Veranlassung gehabt haben. Doch kann ich mich auf diesbezügliche Vermutungen nicht einlassen.« Warum hat Keppler das Wort »muß« unterstrichen? Es sieht so aus, als habe er vom Hauspersonal oder von den Kindern etwas erfahren, was dann alle wieder vergessen und verdrängen wollten. Nach Aussagen der Tochter Isolde kam es an jenem 13. Februar beim Morgenkaffee zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Wagner und Cosima, die erste und einzige, an die Isolde sich zu erinnern vermochte. Es ging um eine Einladung. Cosima vertrat energisch und unnachgiebig ihre eigene Meinung. Wagner widersprach, wurde laut, zog sich hoch erregt in sein Zimmer zurück. Den Rest kennen wir. Vierundzwanzig Stunden saß Cosima bei dem Toten. Dann mußte man sie mit Gewalt fortführen. Aus Wien kam ein Bronzesarg mit vier vergoldeten Löwenköpfen. Der teure Leichnam wurde einbalsamiert. Im Fackelschein auf Gondeln wurde er zum Sonderzug gerudert. Auf allen Stationen, die er passierte, wehten die Fahnen auf Halbmast. In Kufstein wurden Kränze und ein letzter Gruß von
König Ludwig überbracht. Kurz vor Mitternacht erreichte der Trauerzug Bayreuth. Am 18. 2. erfolgte hier die Beisetzung im Garten der Villa Wahnfried unter den Klängen des Trauermarsches aus der Götterdämmerung. Wer sich mit dem Leben Richard Wagners befaßt, wird sich nicht wundern, daß dieser Mann am Widerspruch seiner Frau starb, während er für die Emanzipation des Weibes in der Liebe eintrat. Trotzdem ist es ein grausamer Witz der Weltgeschichte, daß gerade Cosima, »das allerholdeste Weib«, die von jeher eine Gegnerin aller weiblichen Emanzipation war, die sich unterordnete bis zur Selbstaufgabe, daß ausgerechnet sie durch blasphemischen Widerspruch und eigene Meinung den Meister verriet und für immer verlor, so wie Elsa von Brabant, die es wagte, Lohengrin mit einer verbotenen Frage gegenüberzutreten. Cosima überlebte ihren Lebensinhalt um ein halbes Jahrhundert. Welche Rolle sie auch immer beim leiblichen Tod Wagners gespielt haben mag, über die Rolle nach seinem Tod gibt es keine Zweifel. Sie wurde für ihren Messias das, was der Apostel Paulus für den seinen wurde. Beim Tode des Propheten Mohammed trat Abu Bakr vor das verstörte Volk und sprach: »Wer an Mohammed geglaubt hat, der wisse, daß Moham-
med tot ist. Wer aber an seine Lehre glaubt, der wisse, daß sie leben wird für immer.« Das Gleiche gilt auch für den Propheten von Bayreuth. Und auch die römische Kirche verdankt ihre vollendetsten Kunstwerke und Baudenkmäler ihren moralisch zwielichtigsten Päpsten.
Wer löst das Rätsel Rossini? Stellen Sie sich vor, Beethoven hätte mit achtundzwanzig Jahren sein Klavier verkauft, um ein Schlemmerlokal zu eröffnen, oder Wagner wäre mit fünfunddreißig ausgewandert, um für die zweite Hälfte seines Lebens nur noch Schweine zu züchten. ›Tristan‹, ›Die Meistersinger von Nürnberg‹ ›Der Ring der Nibelungen‹ und ›Parzifal‹ wären nie
geschrieben worden. Beethoven hätte alle seine Orchesterwerke, einschließlich der Eroica und der Pastorale, nie komponiert, nicht ›Fidelio‹ und nicht die großen Klavierkonzerte. »Unmöglich«, werden Sie sagen, »ganz unmöglich. So etwas kann sich nur ein Schreiber makabrer Geschichten ausdenken. Musikalische Genies brauchen die Musik wie die Fische das Wasser. Beethoven als Berufsaussteiger, das ist so undenkbar wie die Vorstellung, Jesus hätte irgendwann in seinem Leben auf seine Sendung verzichtet, um den väterlichen Zimmermannsbetrieb in Nazareth zu übernehmen.« Die seltsame Metamorphose des Gioacchino Rossini wird Sie eines Besseren belehren. Rossini erblickte 1792 in Pesaro das Licht der Welt. Bereits mit einundzwanzig Jahren war er ein hochbezahlter, gefeierter Komponist. Mit genialer Leichtigkeit schrieb er Opern und musikalische Dramen. Den ›Barbier von Sevilla‹ vollendete er in dreizehn(!) Tagen. Er komponierte bis zu sechs musikalische Dramen und Lustspiele pro Jahr und versetzte die Welt in einen wahren Rossini-Rausch. 1822 verursachte seine Anwesenheit in Wien tumultartige Rasereien. Es kam zu Schlägereien vor den Theaterkassen. Die musikalisch verwöhnten Wiener feierten ihn wie einen Halbgott. In Paris bot man ihm den höchsten Posten des Musiklebens, die
Leitung der Italienischen Oper an. Man überschüttete ihn mit Auszeichnungen und Ehrentiteln. In England verdiente er in nur wenigen Wochen ein Vermögen. Rossini ist ohne Zweifel eine der genialsten Gestalten der europäischen Musikgeschichte. Er war nicht nur ein begabter Künstler, sondern auch ein ungewöhnlicher Lebenskünstler. Seine Selbstsicherheit und diplomatische Klugheit unterscheiden ihn von so vielen großen, aber lebensfremden Musikern. Er bezeichnete sich selbst als Epikureer, glaubte an das Glück und liebte den Genuß. Pannen ertrug er lächelnd und mit stoischem Gleichmut. Als 1816 die Uraufführung seines ›Barbier von Sevilla‹ ein Durchfall wurde, ließ sich Rossini nach der Premiere nicht mehr im Theater blicken. Es interessierte ihn nicht, wie das Publikum den zweiten Abend aufnahm. »Ich weiß, daß der Barbier zum Besten gehört, was ich geschrieben habe«, sagte er zu Freunden; und er fügte hinzu: »Sie werden auch noch dahinterkommen.« Mitten in der Nacht wurde er von Hochrufen und Jubelgeschrei unter seinem Fenster geweckt. Das begeisterte römische Publikum brachte dem erst vierundzwanzigjährigen Meister bei Fackelschein die verdiente Huldigung dar. »Ist das nicht phantastisch!« schwärmte ein
Freund. Rossini sah ihn verständnislos an: »Phantastisch? Sie korrigieren ihr Fehlurteil.« 1829, nach der triumphalen Uraufführung seines ›Wilhelm Tell faßte er plötzlich den einzigartigen Entschluß, sich von allen musikalischen Aktivitäten zurückzuziehen. Die Musikwelt erlebte diesen Rückzug eines ihrer Großen mit Recht als Sensation. Die wildesten Gerüchte entflammten. Der Tod einer jungen Sängerin aus Perugia wurde bedeutungsvoll erwähnt. Man sprach von Schuld, Sühne und Entsagung, von unheilbarem Leiden und Gedächtnisschwund, sogar vom Teufel. Was war geschehen? Rossini war 1829 siebenunddreißig Jahre alt. Er hatte gerade die Hälfte seines Lebens erreicht. Die restlichen siebenunddreißig Jahre sollte er vornehmlich mit dem Komponieren lukullischer Genüsse verbringen. In Bologna betätigte er sich als Schweinezüchter und Trüffelspezialist. In Paris eröffnete er eine private Feinschmeckertafel, einen Olymp für Gourmets. Meist kochte er persönlich für seine Gäste. Hier kreierte er jene kulinarischen Köstlichkeiten, die ihn in der Gastronomie so unsterblich gemacht haben wie in der Musik. Seine Tournedos Rossini sind der Nachwelt so unvergeßlich geblieben wie ›Der Barbier von Sevilla‹
Es ist uns nicht überliefert, welche Erklärung der Meister abgab, um seinen Verehrern in aller Welt begreiflich zu machen, warum er den Taktstock mit dem Kochlöffel vertauscht hatte, warum er seine Schweine mehr liebte als sein Publikum. Nach allem, was wir über Rossini wissen, hätte er aber vermutlich so gesprochen: »Alle Empfindungen und Ekstasen, alle Lüste und Leiden, Glauben, Glück und Gefühl - kurz, all das, wovon wahre Kunst zehrt - all das kommt aus dem Bauch und nicht aus dem Kopf. Wenn man sich ärgert, kriegt man keine Gehirntumore, sondern Magengeschwüre. Der Mensch macht vor Schreck in die Hosen und lacht, daß ihm das Zwerchfell weh tut. Ohne den Unterleib gäbe es keine Verdauung, keine Leidenschaft und Liebe, nicht einmal unschuldige Kindesliebe, denn wo sollten die Kinder dann wohl herkommen? Und geht nicht selbst bei den Alten, Prüden und Heiligen die Liebe durch den Magen? Musik erlebt man nicht mit dem Großhirn, sondern mit den Eingeweiden. Musik, Essen und Beischlaf sind miteinander verwandt. Eine Oper oder ein Liebesabenteuer ohne Vorspiel wäre so unvollkommen wie ein Menü ohne Horsd'oeuvre. Musiker, Liebhaber und Köche werden ausschließlich an dem Raffinement gemessen, mit dem sie es verstehen, Genüsse zu
vermitteln, vom Appetitmachen bis zur wohligen Sättigung. Händels ›Hallelujah‹: Welch befreiender Furz! Oder Mozarts duftige Scherzandos: Welch verführerisches Parfüm auf der Haut der Geliebten, nur zu vergleichen mit dem betörenden Bouquet eines Beaujolais ›Saint-Amour‹! Warum spricht man von leichter Musik und von schwerer? Haben Töne ein Gewicht? Ich will es Ihnen sagen: Musik geht durch den Magen. Und wie beim Tafeln gibt es auch hier Leichtbekömmliches und Schwerverdauliches, Genüsse, die auf der Zunge zergehen und dilettantische Schweinereien, die Durchfall verursachen, Geschmackloses und Gepfeffertes, Frisches und Aufgewärmtes zum Schlemmen und zum Kotzen. Ein Koch, ich meine ein guter Koch, versteht mehr vom Komponieren als ein Musiker.« Richard Wagner, der ein großer Verehrer Rossinis war, besuchte den italienischen Meister in seinem Haus. Wagner suchte ein Gespräch über die zukünftigen Aufgaben des dramatischen Musiktheaters. Rossini hielt ihm einen Vortrag über Schweinezucht: »Schweine werden nicht nur gezüchtet, um verspeist zu werden. Sie dienen vor allem der Jagd, der Jagd nach den schwarzen Diamanten der Küche. Die rosa Schnäuzchen der jungen Suchsäue erschnuppern den heraufströmenden Duft der Trüffelknollen, die nur knöcheltief in den Eichenwäl-
dern ihrer Entdeckung entgegenharren. Die besten Qualitäten kommen in Italien aus der Region von Alba und Norcia. Kennen Sie den betörenden Duft der weißen Trüffeln, die nur in Piemont gefunden werden und beim Aufschneiden die Farbe von Milchkaffee haben? Ich habe nur zweimal in meinem Leben geweint: Das erstemal, als ich Paganini spielen hörte, und das zweitemal, als bei einer Kahnpartie eine mit piemonteser Trüffeln gefüllte Pute über Bord fiel. Können Sie das verstehen?« Wagner verstand ihn nicht. Als das Gespräch zwischen den beiden Großen sich endlich um die Themen drehte, die Wagner am Herzen lagen, entschuldigte sich Rossini immer dann, wenn es gerade interessant zu werden begann. Er verschwand in der Küche, kam nach wenigen Minuten zurück und fragte: »Wo waren wir stehen geblieben?« Als das einigemale so gegangen war, fragte Wagner völlig verwirrt, was ihn denn dazu veranlasse, ständig nach draußen zu laufen. »Pardon, Monsieur«, klärte ihn Rossini auf. »Ich habe einen Rehrücken über dem Feuer, der ständig begossen werden muß.« Obwohl auch Wagner ein gutes Essen zu schätzen wußte, vermochte er es nicht zu fassen. Noch Jahre später sinnierte er: »Wie konnte ein derartig genialer
Musiker sich ins Kochen verlieren?« Es gab keine Brücke der Verständigung zwischen dem Komponisten der Meistersänger und dem Komponisten der Meisterköche. Die Kluft zwischen Tristan und Trüffeln war zu groß. Aber bleiben wir bei Wagners Frage: Wie konnte ein derartig genialer Musiker sich ins Kochen verlieren? Die Antwort finden wir bei Hector Berlioz, der in einem Brief schrieb: »Musik ist für die Italiener ein sinnliches Vergnügen und nichts anderes. Für die adlige Ausdrucksform menschlichen Geistes haben sie kaum mehr Respekt als für die Kochkunst. Sie wünschen sich eine Partitur, die wie ein Makkaronigericht unverzüglich vereinnahmt werden kann ohne darüber nachdenken zu müssen.« Man nennt die Opern von Rossini, Donizetti und Bellini sehr treffend »Rezept-Opern«. Die Partituren waren wie Speisekarten, nein sie waren nicht einmal das, denn sie wurden nicht gedruckt. Handschriftlich schnell niedergeschrieben wurden sie an die Köche, das heißt an die Musiker und Sänger, weitergereicht, die sich nur äußerst grob an die Noten hielten und frei drauflos improvisierten. Die Sänger waren in diesen »opere di belcanto« Stars und Mittelpunkte. Sie wurden verhätschelt und machten, was sie wollten. Die Komponisten waren ihre Zulieferer und Souffleure. Die beim Publikum
sehr beliebte Sängerin Adelina Patti veränderte die Arien im Barbier so gründlich, daß Rossini ihr mit den Worten gratulierte: »Großartig, Madame, einfach großartig. Und wer war der Komponist?« Vielleicht war es Rossini leid, daß seine geschmackvollen Kompositionen ständig von anderen verwässert und versalzen wurden, nach dem Motto: ›Zuviele Köche verderben den Brei‹. Vielleicht wandte er sich deshalb dem eigenen Herd zu? Wohl kaum, denn die Komponisten seiner Zeit hatten ein dickes Fell und waren derartige Opernpraktiken gewöhnt. Vielleicht - so könnten Sie jetzt einwenden - war Rossini gar kein wirklicher Musiker im Sinne Beethovens oder Bachs, vielleicht war er mehr ein Schlagerstar oder ein Liedermacher, der sich wie die Beatles aus dem Show-Geschäft zurückgezogen hat? Dagegen spricht sein von allen zeitgenössischen Musikern anerkanntes und bewundertes Genie. Beethoven, der sich mit Händel, Bach, Gluck, Mozart und Haydn auf eine Stufe stellte, wähnte sich 1822 durch Rossini überflügelt. »Rossini ist«, so schrieb er, »neben Cherubini der wohl bedeutendste Komponist meiner Zeit.« Und Wagner sagte von Rossinis Oper ›Wilhelm Tell‹, daß sich ohne seine Musik kein Mensch mehr für Schillers Drama interessieren würde.
Nein, Rossini war ohne Zweifel einer der ganz Großen seines Jahrhunderts, und seine Werke haben ihn zu recht überlebt. Als nach dem Zweiten Weltkrieg die »opera di belcanto« durch so hervorragende Sängerinnen wie Maria Callas und Joan Sutherland eine Art Wiedergeburt erfuhr, da stellte man beschämt fest, daß wir Heutigen zu beschränkt sind, um den hohen Anforderungen der Komponisten gerecht zu werden. Es gibt keine Sänger mehr mit Stimmen wie der des Tenors Rubini oder der des Bassisten Lablache, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Triumphe feierten; von Kastraten wie Baldassare Terri ganz zu schweigen, der verehrt wurde wie eine Gottheit. Er konnte in einem Atemzug minutenlange Triller über zwei Oktaven auf und ab singen. Rossini, Donizetti und Bellini schreiben nicht nur Arien für Koloratursoprane, sondern für Koloratur-Tenöre und Koloratur-Baritone. Vermutlich wären sie - wie die Callas einmal sagte - entsetzt, wenn sie unsere pausbackenen Aufführungen erleben müßten. Ich glaube, der Schlüssel zu Rossinis rätselhaftem Rückzug aus der Musik ist in dem Umstand zu suchen, daß er diesen Schritt so konsequent und endgültig vollzogen hat. Dank seiner finanziellen Unabhängigkeit und seiner schnellen Art zu komponieren, hätte er leicht beiden Leidenschaften frö-
nen können, dem Kochen und dem Komponieren. Der Rückzug auf der Höhe seines Ruhmes verfolgte eine ganz bestimmte Absicht. Rossini hatte sehr richtig erkannt, daß die Aera der »opera di belcanto« vorbei war. Die Zukunft gehörte den psychologischen Opern Verdis und den Musikdramen Wagners. Als alter Theaterfuchs wußte er, daß ein Held immer so gut ist wie sein Abgang von der Bühne. Lange vor Greta Garbo hatte er erkannt, daß ein Ausstieg im Zenit des Erfolgs zu Ruhm und Unsterblichkeit führt. Wer spräche noch von Marilyn Monroe oder John F. Kennedy, wenn sie in einem Altersheim verwelkt wären? In dieser Hinsicht war Rossini - wen wundert es bei seinem leicht errungenen Erfolg - ein echter Star oder zumindest ein Gourmet, der da bekanntlich aufhört, wenn es am besten schmeckt.
Wer kennt die Trommel des Teufels? Bis in die Gegenwart halten ihn die Militärstrategen für ein Genie. Seine kriegerischen Schachzüge wurden oft kopiert, sowohl von Florian Geyer während der Bauernaufstände, als auch von Wallenstein im Dreißigjährigen Krieg. Lützow übernahm sie erfolgreich gegen Napoleon. Die Generalstäbler Carl von Clausewitz und Graf von Moltke machten sie
zum strategischen Fundament ihres Kriegshandwerkes. Friedrich der Große bewunderte ihn. Seine Zeitgenossen aber fürchteten ihn wie den Teufel. ›Des Teufels Trommel‹ nannten sie ihn. Obwohl dieser Mensch zu den blutrünstigsten Monstern der europäischen Geschichte gehört, ist er der heutigen Nachwelt so gut wie unbekannt. Oder kennen Sie Johann von Trocznowa, geboren und erzogen in einer böhmischen Burg an der Moldau? Es heißt, er habe 1370 das Licht der Welt erblickt. Vermutlich wußte er es selber nicht genau. Über die ersten Jahre seines Lebens wissen wir nichts. Er war fast fünfzig Jahre alt, als er wie ein Meeresungeheuer aus dem Dunkel der Anonymität auftauchte. Nur vier Jahre lang dauerte sein Auftritt. In dieser kurzen Zeitspanne veränderte er die Welt. Die blutige Geschichte begann an einem schönen Sommertag in Konstanz am Bodensee. Aus allen bekannten Ländern waren die Menschen herbeigeströmt. Die Kirchenkonzile erfreuten sich eines internationalen Zulaufs wie heute die Olympischen Spiele. Das Konzil von Konstanz von 1414-18 war ein Weltereignis. Da gab es neben allen mitteleuropäischen Völkern Armenier, Russen, Albaner, Ungarn und sogar Mohammedaner und Mohren. Jeder erhoffte sich neben der großen Schau ein Geschäft, die großen Herren wie die kleinen Huren, die
ehrlichen Geldhändler wie die unehrlichen Taschenspieler. Das Bankgeschäft - damals noch eine Novität - blühte und regierte. Ein Bankier war unantastbarer als ein Kardinal oder ein Diplomat. Tagesgespräch war der Sensationsprozeß, den man noch kurz vor dem Konzil gegen den Heiligen Vater angestrengt hatte. Es war jener unglückliche »Johannes XXIII.«, den man aus der Geschichte der Päpste getilgt hat. Die Anklageschrift der Kardinale las sich wie ein pornographischer Roman. Dort hieß es allen Ernstes, der Papst habe seine Verwandtschaft geschlachtet, er habe Sodomie mit Eseln und Säuen getrieben, mit Hexen gehurt und Chorknaben vergewaltigt. Man kann sich beim Lesen der Anklageschrift nur wundern über die detaillierten Kenntnisse der Kardinale. Der Reformator Hus, Professor und Rektor der Universität Prag, einer Einladung des Königs folgend, fand hier auf dem Konzil eigentlich nur bestätigt, was er längst wußte und unermüdlich predigte: Die römische Kirche war ein ausmistungsbedürftiger Schweinestall. Wen wundert es bei dem moralischen Tiefstand der Zeit, daß Hus trotz seines königlichen Schutzbriefes ergriffen und zum Tode verurteilt wurde. Die Hinrichtung vor großem Publikum war ein Spektakel ersten Ranges. Tausende von Schaulusti-
gen hatten sich eingefunden, um die Ketzer-Corrida mit eigenen Augen zu sehen. Trommler und Pfeifer spielten auf. Schmalzgebäck und Schweinswürste wurden feilgeboten. Quacksalber zogen Zähne, und Priester spendeten Segen. Der Henker und seine Gehilfen wußten, was die weitgereisten Herrschaften von ihnen erwarteten. Sie packten demonstrativ hart zu, stießen ihr Opfer mit Faustschlägen und Fußtritten vor sich her zur Richtstätte und banden den Professor mit nassen Hanfstricken an einen scharfkantigen Pflock. Wenn das Wasser durch die Körpertemperatur verdunstete, so schnitten die Fesseln dem Opfer ins Fleisch. Damit nicht genug, trug der Unglückliche eine zentnerschwere rostige Eisenkette um den nackten Hals, die wie ein Reibeisen seine Haut zerraspelte. Kurz bevor Feuer an den Scheiterhaufen gelegt wurde, beschwerten sich ein paar Schaulustige, daß es nicht anginge, einen Ketzer mit dem Gesicht gegen Sonnenaufgang zu richten. Hus wurde wieder losgebunden und mit dem Gesicht nach Westen angepflockt. Wahrscheinlich sahen die, die sich beschwert hatten, ihn nun besser. Die Holzscheite wurden bis zur Kinnhöhe aufgeschichtet. Hus sang mit lauter Stimme: »Christus, erbarme dich meiner.« Die Flamme wurde absichtlich klein gehalten. Hus sang, bis ihm der
Rauch die Stimme raubte. Die Asche wurde in den Rhein geworfen. Hus war nun tot. Aber seine Lehre erwachte zu Leben. Unterirdisch schwelte die Glut, breitete sich aus, sammelte Kräfte. Und dann, urplötzlich wie ein Feuersturm, loderten die Flammen zum Himmel. In Prag brach der Hussiten-Aufstand los. Man schrieb das Jahr 1419. Äußerer Anlaß war der Tod von Wenzel, der dem Namen nach König von Böhmen war. König Sigismund, der Mörder von Hus, wollte sein Nachfolger werden. Um das zu verhindern taten die Böhmen das, womit sie zweihundert Jahre später den Dreißigjährigen Krieg entfachen sollten: Sie boten reihum in Europa die böhmische Königskrone an, fanden aber keinen Fürsten, der dumm genug war, sich auf dieses Abenteuer einzulassen. Denn ein fremder König auf dem Thron von Prag wäre für König Sigismund eine Herausforderung, die er nicht tatenlos hinnehmen konnte. Die Böhmen wußten, daß ein Krieg unvermeidbar war und eröffneten die Offensive nach dem Motto »Angriff ist die beste Verteidigung!« Der Prager Burghauptmann Johann von Trocznowa übernahm die Führung des Heeres. Zum erstenmal brandete die slawische Sturmflut gegen Mitteleuropa. In einer der zahllosen Gefechte hatte Johann von Trocznowa sein rechtes Auge verlo-
ren. Man nannte ihn von nun ab nur noch Žižka, das heißt: Der Einäugige. Žižka war Führer der Taboriten, einer radikalen Gruppe der Hussiten, die sich nach dem Berg Tabor nannten. Auf jenem Berg hatte Žižka in einem befestigten Lager ein Heer von einhunderttausend Mann zusammengetrommelt. Die große Feldtrommel war sein Lieblingsinstrument. Zum Takt von tausend Trommeln sollen die Taboriten gegen Sigismund in die Schlacht gezogen sein. Ihr schauriger Schlag versetzte Mensch und Tier in Panik. Noch eine Tagesreise von Tabor entfernt hörte man den Trommelschlag des Teufels. Der bis in die Gegenwart lebendige Begriff »jemand eine Standpauke halten« stammt von den Taboriten. Die Taboriten lehnten die Hierarchie der römischen Kirche und ihren pompösen Kult ab. Zum Zeichen, daß der Priester nicht über der Gemeinde steht, forderten sie das Abendmahl in beiderlei Gestalt. Nicht nur der Priester, alle sollten aus dem heiligen Kelch trinken. Ursprünglich waren die Taboriten wie die ersten Christen Urkommunisten. Alles gehörte allen. Jeder, der sich bei der Plünderung der Feindeslager persönlich bereicherte, verlor sein Leben. Das änderte sich später aber schnell. Die Taboriten waren nicht nur religiöse Fanatiker, sondern auch und vor allem nationale. Unter
Žižka wurde Prag tschechisch. Die Deutschen mußten fliehen. Die Wohlhabenden wurden erschlagen. Das Proletariat regierte, Žižka hatte durchaus nicht die Absicht, soziale Mißstände abzuschaffen. Er sah seine Aufgabe vor allem darin, seine armen Gefolgsleute zu belohnen und sei es mit den Lastern der Reichen, Žižka hielt sich wie Mohammed für das Schwert Gottes, ausgestattet mit dem heiligen Auftrag, die Feinde Gottes gnadenlos auszurotten. An der Spitze seines Heerhaufens zog er wie ein apokalyptischer Reiter mordend und plündernd durch die deutschen Lande, eine schauerliche Blutspur hinter sich herziehend. Keine Macht der Erde - so schien es - vermochte die Trommeln des Teufels zum Schweigen zu bringen. Die Bauern sagten: »Was sind schon die Posaunen des Jüngsten Gerichtes gegen die Trommeln von Tabor.« Žižka war auch auf dem Gebiet der psychologischen Kriegsführung ein Genie. Am 1. März des Jahres 1420 rief Papst Martin V. gegen den Böhmischen Teufel zum Kreuzzug auf. Seines Sieges sicher ließ sich Sigismund zum König der Böhmen krönen. Am 1. November 1420 kam es zur Schlacht. Die vereinigten Kreuzritterheere und Kaiser Maximilian mit einer deutschen Armee von 150000 Kämpfern wurden von den Taboriten in die Flucht geschlagen. Aber das war erst der Anfang.
Nach einer ganzen Reihe von Niederlagen mußte es sich Sigismund gefallen lassen, von den Böhmen wieder abgesetzt zu werden wie ein entlassener Lakai. Žižka hatte eine neue Kriegsführung entwickelt. Aus Bauern und Handwerkern formte er eine Infanterie, die er mit gepanzerten Heerwagen umgab. Wie moderne Panzerwaffen warf er sie in die Schlacht. Seine Lieblingswaffe war der Morgenstern, eine dornige, mehrere Pfund schwere Eisenkugel an einer Kette, mit denen sich selbst behelmte Schädel zertrümmern ließen wie Hühnereier. Die von Pferden gezogenen Kampffahrzeuge überrannten den Feind, während die Panzerbesatzung von oben herab mit ihren Morgensternen zuschlug. Niemand vermochte dem tödlichen Hagel zu widerstehen. Als Žižka in einem jener Gemetzel auch sein anderes Auge verlor, ließ er sich vor jeder Schlacht von seinen Soldaten in den Kampfwagen heben und schlug noch als Blinder auf seine Gegner ein. »Meine Feinde finde ich auch im Dunkeln«, pflegte er zu sagen. »Die Trommeln zeigen mir den Weg.« Er vermochte die Sturmtrommeln der einzelnen Heeresabteilungen an ihrem Klang zu unterscheiden. Und so wie ein Dirigent mit den Instrumenten seines Orchesters arbeitet, so setzte Žižka seine dröhnenden Streitkräfte ein, jedes Instrument zu
seiner Zeit, im richtigen Tempo und im harmonisch aufeinander abgestimmten Kräftespiel. Kein Fehler entging seinem feinen Ohr. Als Taktstock benutzte er seine Eisenkeule. Sie wurde noch jahrhundertelang in der Pfarrkirche von Czaslau bei Königgrätz aufbewahrt. Žižka arbeitete nicht nur als Dirigent, sondern vor allem als Komponist. Immer wieder erfand er neue schlagkräftige Totentänze für seine Feinde. Er war ein schöpferisches Genie der Zerstörung. Žižka war nicht nur der erste, der Panzerwagen einsetzte, er gilt auch als der geistige Vater der Artillerie und der Granatwerfer. Zwar gab es schon vor seiner Zeit Kanonen. Aber diese tonnenschweren Ungeheuer hatten ihren festen Platz auf Festungsbasteien oder auf Kriegsschiffen. Wenn man sie transportieren mußte, was gelegentlich bei Stadtbelagerungen geschah, so benötigte man riesige Pferdegespanne. Sultan Mehmed II. Fatih, der Eroberer von Byzanz, brauchte für den Transport einer großen Kanone 180 Zugochsen. Žižka ließ kleine Geschütze, sogenannte Haubitzen, gießen, die so mobil waren, daß sie sich von zwei Männern bewegen und bedienen ließen. Die Haubitzen schleuderten gehacktes Blei gegen ihre Feinde. Die alles treffende Streuwirkung war verheerend und läßt sich nur mit schwerem Maschinengewehrfeuer
vergleichen. 1423 wandte sich Žižka an alle Länder der Erde. Er teilte ihnen mit, daß der Gott des Alten Testaments ihn dazu berufen habe, der Menschheit den wahren Glauben zu bringen, friedlich oder mit dem Schwert, die Entscheidung läge bei ihnen, Žižka war von mohammedanischem Sendungsbewußtsein erfüllt. Sein Triumph war — und wann wäre das in Wahrheit je anders gewesen — der Triumph einer fanatischen Idee. Žižka war der erste Armeeführer der neueren Geschichte, der allein durch seine Persönlichkeit die Soldaten zu höchstem Einsatz beflügelte und den Feind in die Flucht schlug. Er besaß einen mächtigen, athletischen Körper und ein bewunderungswürdiges Gedächtnis. Noch als Blinder soll er alle Soldaten an ihren Stimmen erkannt und mit ihrem Namen angesprochen haben. Er verwarf alle Standesunterschiede und beförderte seine Mitstreiter nach ihrer Leistung. Dieser Mann besaß die Tugenden eines Indianerhäuptlings und handelte nach dem Grundsatz: ›Wer nicht für mich ist, ist gegen mich.‹ Für seine eigenen Leute ließ er sich die Augen zerhacken. Alle anderen aber waren schon durch die Tatsache, daß sie nicht zu ihm gehörten, nichts weiter als Ungeziefer, das er mitleidlos zertrat. Dabei berief er sich auf das Alte Testament. »Gott ist grausam, aber gerecht«, pfleg-
te er zu sagen, »und wir sind sein auserwähltes Volk.« Menschenleben waren für ihn nur Pflastersteine auf dem Weg der Vorsehung. Massaker hielt er für notwendige Übel der Kriegsführung. Er ordnete sie ausdrücklich an, um Panik zu verbreiten und damit jeden Widerstand im Keim zu ersticken. Unter der deutschen Bevölkerung von Deutschbrod und Prachatitz hausten die Taboriten mit solcher Brutalität, daß sich die Erschlagenen auf dem Leichenfeld nicht mehr identifizieren ließen. Žižka hatte die Order ausgegeben, allen Besiegten, den lebendigen und den toten, mit dem Morgenstern die Gesichter zu zerschlagen. Mit Vorliebe zerstörte er Klöster und Kirchen als Brutstätten des päpstlichen Aberglaubens. Priester und Mönche ließ er als lebendige Pechfackeln brennen, als Vergeltung für Hus. Nonnen wurden von seinen geilen Horden zu Tode geschändet. Dabei band man sie mit Vorliebe auf die großen Sturmtrommeln. Wenn sich überhaupt etwas zur Entschuldigung für die Freveltaten dieses Raubtieres anführen läßt, so nur dieses, daß er das Pech hatte, in eine Zeit hineingeboren zu werden, in der Mord und Totschlag zum politischen Alltag gehörten. Sein Gegenspieler, König Sigismund, machte da keine Ausnahme. Nach der Eroberung einer zu Venedig gehörenden Burg, ließ er der ganzen Besatzung die
rechte Hand abhacken, die er dann ohne Kommentar an den Dogen von Venedig schickte. In diesem Zweikampf der Ungeheuer unterlag Sigismund. Er unterwarf sich den Forderungen der Taboriten. Er gestattete ihnen den Laienkelch. Als Gegenleistung erhielt er die Krone von Böhmen. Žižka hatte gesiegt. Er hatte mit einem Meer von Blut einen Kelch voll Wein errungen. »Alle Lebewesen fürchten den Tod«, sagten die Menschen, »aber der Tod fürchtete Žižka.« 1424 starb der Vater der Kriegskunst, wie Moltke ihn nannte, an der Pest. Sein letzter Befehl lautete: »Zieht mir nach meinem Tod die Haut vom Körper und überspannt damit eine große Sturmtrommel. Schlagt sie zur Erinnerung an meine Siege und tragt sie in allen zukünftigen Schlachten den Kämpfern voraus! Mit mir werdet ihr siegen.« Wie immer wurde sein Befehl ausgeführt. Die Trommel kam als historisches Kriegssymbol auf die Festung Glatz. Friedrich der Große ließ das von Pocken, Pest und Kriegswunden vernarbte Trommelfell als soldatische Reliquie nach Potsdam bringen. Da hängt die Haut noch heute als makabrer Beweis dafür, daß es nichts gibt, wozu Menschen nicht fähig sind.
Wer blendete Händel und Bach? Gibt es einen größeren Gegensatz als das Leben von Bach und Händel, die im Abstand von weniger als einem Monat im gleichen Lande geboren wurden? In der Familie Bach gab es nur Musiker, bei Händel überhaupt keine. Händel mußte erst den väterlichen Widerstand niederkämpfen, um sein Berufsziel zu erreichen. Beide Musiker gingen nach
Lübeck, um sich an der Musik Buxtehudes zu begeistern. Buxtehude bot Bach und Händel mit der Hand seiner Tochter seine Nachfolge als Organist der Marienkirche an. Händel lehnte ab. Im Gegensatz zu Bach interessierte er sich weder für Frauen noch fürs Familienleben. Bach sehnte sich nach Seßhaftigkeit; Händel fürchtete sie. Es zog ihn hinaus in die Welt. Er reiste nach Venedig, Florenz, Rom und Neapel. Nach dreijährigem Studium der italienischen Oper kehrte er nach Deutschland zurück, wurde vorübergehend Kapellmeister in Hannover, zog weiter nach England, das er sich zur zweiten Heimat wählte. Bach lebte während dieser Zeit in Mühlhausen, wo er 1707 seine Cousine heiratete, die ihm zwei Töchter und fünf Söhne gebar. Er benötigte keine Inspirationen von außen. Seine Schaffenskraft war wie ein stetig fließender Strom. Händeis schöpferische Tätigkeit erinnerte an Vulkanausbrüche. In fast drei Wochen schrieb er den ›Messias‹. Während Bach in Leipzig vergeblich ein Gesuch an den Stadtrat richtete, man möge ihm erlauben, Chor und Orchester von vierzehn auf sechzehn Mann zu verstärken, verfügte Händel über Hunderte von disziplinierten Chorsängern. Händel wurde am Ende seines Lebens gefeiert wie ein Halbgott. Das hatte es noch nie gegeben, daß sich ein englischer Monarch vor Ergriffenheit er-
hob, um das Werk eines Künstlers stehend zu ehren. Bis auf den heutigen Tag ist es in England Brauch, sich beim »Hallelujah« in Händeis ›Messias‹ zu erheben. In der Westminsterabtei wurde Händel neben Shakespeare beigesetzt. Bach dagegen war in Deutschland nur wenigen Musikfreunden bekannt. Bewunderer wie Friedrich der Große waren die Ausnahme. Die Matthäuspassion wurde nach einer einzigen erfolglosen Aufführung am Karfreitag des Jahres 1729 so gründlich vergessen, daß über hundert Jahre vergehen mußten, bevor sie wiederentdeckt wurde. Bachs Witwe starb als »Almosenfrau«. Überhaupt ist es eigenartig, wie sehr diese Zeit ihre großen Söhne verkannte. Im Jahre 1745 - Händel hatte den Messias bereits geschrieben und Bach die Matthäuspassion - veröffentlichte eine deutsche Gazette eine Liste mit den zehn bedeutendsten deutschen zeitgenössischen Komponisten. Händel wurde auf Platz fünf geführt und Bach auf Platz sieben. Die Namen der anderen sind alle der Vergessenheit anheimgefallen. Gemeinsam war diesen beiden so unterschiedlichen Männern die Liebe zur Orgel und die grausame Tragödie ihrer Blendung durch den gleichen Scharlatan. Im Frühjahr 1747 reiste Johann Sebastian Bach auf persönliche Einladung Friedrichs des Großen nach
Potsdam. Als dem König die Ankunft der Kutsche gemeldet wurde, unterbrach er das Gespräch mit seinen Ministern und sagte sichtlich erregt: »Der alte Bach ist gekommen.« Mit staubigen und zerknitterten Kleidern wurde der große alte Mann vor den König geführt, unrasiert und ungewaschen. Bach entschuldigte sich für sein ungepflegtes Aussehen und bat darum, sich umkleiden zu dürfen. Mit einer Handbewegung wischte der König alle Einwände beiseite. »Unwichtig«, brummte er. Bach wurde zum nächsten Klavier geführt. Ein Stuhl wurde ihm untergeschoben. Er improvisierte. Der König war verblüfft. Welche Meisterschaft! Ein anderes Klavier wurde ausprobiert. Der König war begeistert. Er gab dem Meister ein Thema und forderte ihn auf, es im Stil einer Fuge zu bearbeiten. Obwohl das Thema für eine Fuge denkbar ungeeignet war, improvisierte Bach dennoch ohne zu zögern eine dreistimmige Fuge daraus. Nun verlangte der König von Bach das Unmögliche: »Kann er auch eine sechsstimmige Fuge zu meinem Thema spielen?« fragte er. Bach antwortete lächelnd: »Improvisieren läßt sich das nicht. Aber ich werde das Thema bei meiner Heimkehr bearbeiten.« Es wurde das bekannte Musikalische Opfer‹, eine der kompliziertesten und prächtigsten Fugen der Welt.
Im gleichen Jahr erlebte auch Händel seinen größten Erfolg. Auch er war wie Bach 62 Jahre alt. Am 1. April wurde im Covent Garden in London der ›Judas Makkabäus‹ uraufgeführt. Das Werk verherrlichte den Sieg über die Feinde Israels. Und die Engländer identifizierten sich mit dem auserwählten Volk der Bibel, denn soeben war mit der Schlacht von Culloden der letzte große Aufstand der Stuartpartei niedergeschlagen worden. Der ›Judas Makkabäus‹ wurde zu einer großen Nationalfeier. Die Musik war stark und volkstümlich. Das »See the conquering hero comes« gilt bis in die Gegenwart als Händeis beliebteste und bekannteste Melodie. Händel wurde wie ein Held gefeiert. Kurz nach seiner Rückkehr von Potsdam verschlechterte sich der Zustand von Bachs Augen, sodaß er nur noch mit großer Mühe lesen und schreiben konnte. Mit geschlossenen Augen diktierte er seinem Schüler Altnikol die Noten für ›Die Kunst der Fuge‹. Seine Schaffenskraft, sein Wille und seine geistige Übersicht waren ungebrochen. 1749 muß Bach nahezu blind gewesen sein. Unter einem Empfehlungsschreiben für seinen Sohn Johann Christoph vom 27.12.1749 finden wir die Unterschrift seiner Frau. Bach war nicht mehr in der Lage, seine Unterschrift zu Papier zu bringen.
Wie uns die Porträts verraten, litt Bach sein ganzes Leben lang unter hohem Blutdruck und an starker Kurzsichtigkeit. Die Augenschwäche scheint in der Familie erblich gewesen zu sein. Auch seine Vettern Johann Gottfried und Johann Ernst Bach erblindeten im Alter. Ob er tatsächlich einen Schlaganfall hatte, wie einige seiner Biographen behaupten, läßt sich nicht mehr nachprüfen; eindeutig dagegen spricht, daß der von Emanuel Bach verfaßte Nekrolog den Schlaganfall abstreitet. Während Bach mit der aufkommenden Finsternis rang, besaß der Rat der Stadt Leipzig die Taktlosigkeit, nach einem Nachfolger für Bach zu suchen. Man berief einen gewissen Harrer, einen Kapellmeister aus Dresden. Voller Bitternis schmetterte ihnen der alte Löwe sein »Ich lebe noch« entgegen. Mit mächtigen Prankenhieben verteidigte er sein Reich. Tag und Nacht arbeitete er jetzt an der ›Kunst der Fuges die er vor seinem Tod vollenden wollte. Er kämpfte mit dem Ingrimm eines verwundeten Tieres. Ein grausames Mißgeschick wollte es, daß im März 1750 der englische Oculist Ritter von Taylor nach Leipzig kam. Dieser Chevalier Taylor, der sich »patentierter päpstlicher, kaiserlicher und königlicher Augendoctor«, »Professor der Optik« und vieles andere nannte, war in Wirklichkeit ein Scharlatan. Sein Landsmann Samuel Johnson sagte von
ihm, Taylor sei ein beredtes Beispiel dafür, wie Unverschämtheit über Unfähigkeit zu triumphieren vermag (»how far impudence will carry ignorance«). Taylor durchzog die Lande mit großer Dienerschaft in einem Zug von Kutschen und Zigeunerwagen, die zu Werbezwecken mit riesigen, schreiendbunten Augen bemalt waren. Mit diesem Wanderzirkus reiste er von Jahrmarkt zu Jahrmarkt und von Hof zu Hof, wo er Titel sammelte wie Schmetterlinge. Als er im April 1750 nach Potsdam kam, um von Friedrich dem Großen den Titel eines königlichpreußischen Augenarztes zu erbitten, gab ihm der König das gewünschte Diplom mit den Worten: »Nun haben wir alle seine Wünsche erfüllt. Er ist mein Augenarzt. Aber er möge zu Kenntnis nehmen, daß meine Augen keiner Hülfe bedürfen. Und sollte er sich unterstehen an das Auge eines meiner Untertanen zu rühren, so lasse ich ihn aufhängen, denn ich liebe meine Untertanen wie mich selbst.« Danach wurde der Chevalier Taylor gut bewacht und auf kürzestem Wege zur Grenze geleitet, wo man ihn nach Sachsen abschob. Der Alte Fritz, der ein großer Menschenkenner war, wird schon gewußt haben, was er tat. Ohne Zweifel hat er mit dieser Ausweisung seinen Untertanen einen landesväterlichen Dienst erwiesen.
Ein durch Taylor geblendeter Sachse warnte seine Mitmenschen mit folgendem Gedicht: Viel wüßt ich eben nicht zu nennen, die Blinde sehen machen können. Doch Sehende, die hat schon mancher blind gemacht. Auch mich hat solch ein Schuft um das Gesicht gebracht. An diesen Scharlatan wandte sich Bach in seiner auswegslosen Not. Die erste Operation erfolgte am 28. März. Taylor berichtete darüber in der Leipziger Zeitung: »Am verwichenen Sonnabend hat der Herr Ritter von Taylor auf dem Conzertsaale in Gegenwart einer anschlichen Gesellschaft von Gelehrten und anderen Personen von Stande öffentliche Vorlesung gehalten. Es ist ein erstaunlicher Zulauf von Leuten bey ihm, welch seine Hülfe suchen. Unter anderem hat er den Capellmeister Bach, welcher durch den häufigen Gebrauch der Augen sich dessen beynahe ganz beraubt hatte, operiret und zwar mit dem erwünschtesten Erfolge, sodaß er die völlige Sehkraft seines Gesichtes wiedergewonnen hat, welches unschätzbare Glück diesen weltberühmten Compo-
nisten viel tausend Menschen von Herzen gönnen und dem Herrn Taylor nicht genug verdanken werden.« Diese Operation im Konzertsaal, umgeben von Neugierigen, ohne Narkose, muß die Hölle gewesen sein. Die übliche Methode des Starstechens ging im achtzehnten Jahrhundert so vor sich, daß man dem auf einem Stuhl gefesselten Opfer ein stricknadelartiges Instrument ins Auge stieß. Man schob die Nadel durch die Pupille, um die darunterliegende getrübte Linse nach hinten ins Auge zu stoßen. Die Qualen müssen höllisch gewesen sein. Meistens glitten die Linsen ein paar Tage später unter großen Schmerzen durch die Pupille in die Vorderkammer des Auges. Dabei stieg der Augeninnendruck bis um das Vierfache. Das malträtierte Sehorgan entzündete sich und wurde völlig unbrauchbar. Häufig wurde dabei sogar das gesunde Auge in Mitleidenschaft gezogen. Meistens wurden auch Taschenspielertricks angewendet. Der Operateur holte vor den Augen seiner Zuschauer einen Wurm oder eine Spinne aus der Wunde hervor, als sichtbaren Urheber des Leidens. Zwischen dem 1. und dem 7. April fand eine zweite Operation statt, ob als Korrektur auf dem schon operierten oder an dem anderen Auge, ist
nicht überliefert. Fest steht, daß der sehr schlecht Sehende bei dieser mörderischen Prozedur völlig geblendet wurde. Im Nachruf heißt es, daß »schädliche Medicamente« die Gesundheit untergraben hätten. Obwohl wir nicht mehr im Detail wissen, was der Chevalier Taylor verordnete, so kennen wir doch aus seinen Lehrschriften die von ihm mit Vorliebe angewandten Behandlungsmethoden. Unter den Starstechern, Bruchschneidern und Zahnbrechern erfreute sich bis ins neunzehnte Jahrhundert eine Medizin mit dem Namen Theriak großer Beliebtheit. Sie wurde aus Kröten und Schlangenfleisch gemacht. Von einem anderen »Medikament« mit dem Namen Mumien-Latwerge heißt es wörtlich: »Man soll den toten Körper eines rohen, ganzen, frischen und gesunden jungen Menschen, so entweder am Galgen erdrosselt oder mit dem Rad justiziert, bei hellem Wetter dazu erwählen, in Stücke zerschneiden, mit pulverisierter Mumia und ein wenig Aloe bestreuen, nochmals einige Tage in gebranntem Wein einweichen, aufhängen in der Luft und trocken werden lassen, bis es die Gestalt eines geräucherten Fleisches bekommt und allen Gestank verliert.« Hieraus wurde mit Hilfe von Branntwein oder Wacholdergeist eine Tinktur gewonnen, die nach dem Starstechen, nach Kastra-
tionen und bei Glüheisen-Operationen von Hämorrhoiden verordnet wurde. Neben diesen Ekelhaftigkeiten, bei denen auch Kot und Harn eine bevorzugte Rolle spielten, wurde der Kranke vor allem zur Ader gelassen und mit Durchfall- und Brechmitteln purgiert. An der letzteren Tortur ist Bach aller Wahrscheinlichkeit nach gestorben. Der Magister Abraham Kriegel notierte in seinen Leipziger Annalen: »Eine übel ausgeschlagene Augen-Cur raubte diesen Mann der Welt.« Es spricht für die Zähigkeit der menschlichen Rasse, daß es dennoch bisweilen Menschen gegeben hat, die diese Torturen überlebten. Für solche Roßkuren benötigte man wohl die Konstitution eines Händel, der sich 1737 - teilweise gelähmt - zu den heißen Quellen nach Aachen bringen ließ und dort so lange im Schwitzbad blieb, bis er sich wieder zu bewegen vermochte. »Sein Schweiß war übermäßiger, als sich jemand einbilden kann«, heißt es in dem entsprechenden Bericht, in dem auch vermerkt wird, der Meister Händel habe bei einem Bad zwölf Pfund Gewicht verloren. Wenn es stimmt, so muß dieser Mann das Herz eines Ackergaules gehabt haben. Wahr ist, daß er die Augen eines Maulwurfs hatte.
Die ersten Anzeichen der Erblindung zeigten sich bei der Niederschrift seines letzten Oratoriums. Die sonst so großzügige sichere Handschrift wird im zweiten Akt immer krackeliger und unleserlicher. Es ist der Schlußchor: »Wie hart, wie dunkel, Herr, ist dein Beschluß.« Händel vermerkte auf dem Manuskript: »Bis hierher gekommen den 13. Februar 1751, verhindert worden wegen Relaxation des Gesichtes meines linken Auges.« Zehn Tage später notierte er erleichtert: »Den 23., Sonnabend, wieder etwas besser geworden.« Er arbeitete an dem Larghetto »So wie die Nacht dem Tag folgt«. Die Nacht ließ sich nicht mehr aufhalten. Die Dämmerung brach über Händel herein. Doktor Samuel Sharp, eine international anerkannte Autorität vom Guy's Hospital, untersuchte Händel, stellte »gutta serena« fest und hielt den Fall für hoffnungslos. Ein anderer Arzt wurde hinzugezogen. William Bromfield war der Hofchirurg des Prinzen von Wales. Er operierte im November 1752. Der Erfolg blieb aus. In dieser auswegslosen Situation wandte sich Händel an Taylor, der ihm die Augen völlig verpfuschte. Im Gegensatz zu Bach überlebte der blinde Riese die Operation um nahezu acht Jahre. Die letzten Monate verbrachte er in blindester Finsternis. Der deutsche Bär, wie man ihn nannte, aß
nicht mehr. Zusammengesunken und lethargisch sehnte er den Tod herbei. Ist es Zufall oder grausame Schicksalsfügung, daß die beiden bedeutendsten Musiker des Barock, die sich zu Lebzeiten niemals begegnet sind, dem gleichen Scharlatan in die Hände fielen? In seinen dreibändigen Memoiren prahlte Taylor mit seinen amourösen Abenteuern, seinen erlauchten Bekanntschaften, Titeln und erfolgreichen Operationen: »Ich habe eine Unmenge von kuriosen Tieren gesehen, als wie Dromedare, Kamele, Giraffen etc., und besonders in Leipsick, wo ein berühmter Meister der Musik, der bereits sein 88. Jahr erreicht hatte (Bach war 65) von meiner Hand sein Augenlicht wieder erhielt. (Das Gegenteil war richtig.) Dieser Mann war es, mit dem zusammen der berühmte Händel erzogen wurde. (Die beiden sind sich nie begegnet.) Ich glaubte mit ihm den gleichen Erfolg zu haben, da alle Umstände günstig erschienen, wie Bewegung der Pupille, Licht etc., aber beim Aufziehen des Vorhangs fanden wir den Augengrund zerstört durch eine paralytische Erkrankung.« Da dieser romanhafte Klatsch in jedem Satz eine Unwahrheit beherbergt, wird wohl auch die paralytische Erkrankung erlogen sein. Der Leydener Professor Hermann Boerhaave, ein Zeitgenosse Taylors und einer der berühmtesten
Ärzte des 18. Jahrhunderts, schrieb: »Wenn man das Gute, welches ein halb Dutzend wahre Söhne des Äsculap seit der Entstehung der Heilkunst auf der Erde gestiftet haben, mit dem Übel vergleicht, welches die unermäßliche Menge der Doctoren unter dem Menschengeschlechte angerichtet hat, so wird man ohne Zweifel zugeben, daß es weit vorteilhafter wäre, wenn es nie Ärzte in der Welt gegeben hätte.« Im Namen von Bach und Händel geben wir ihm recht.
Woran zerbrach Bizet? In allen Völkern gibt es die Legende von dem Sterblichen, der sich selbst zum Schöpfer aufschwingt und dann von seinem Homunculus vernichtet wird. Es ist das zeitlose Zauberlehrlingsthema vom Golem, von Frankenstein und vom Aufstand der Roboter. Wie zeitlos dieses Thema ist, beweist die folgende Geschichte.
Georges Bizet wurde am 25. Oktober 1838 in Paris geboren. Bereits mit neun Jahren besuchte er das Konservatorium. Er besaß das absolute Gehör und erlernte die Notenschrift, bevor er Buchstaben schreiben konnte. 1857 gewann er mit spielerischer Leichtigkeit den Prix de Rome, der jährlich bei einem internationalen Wettbewerb vergeben wurde. Seine erste Oper jedoch wurde ein Reinfall. Und ›Das schöne Mädchen von Perth‹ wurde bei der Uraufführung im Jahre 1866 von der Kritik so vernichtend zerrissen, daß Bizet danach nur noch Opernskizzen komponierte, zaghafte Entwürfe, die sich nicht aufführen ließen. 1866 heiratete er. Im französisch-preußischen Krieg kämpfte er als Freiwilliger. Nichts deutete in dieser Phase seines Lebens darauf hin, daß er einmal zu den bedeutendsten Musikern seines Landes zählen würde. Das Schicksal verweigerte dem so überaus Begabten den Erfolg, den er so dringend benötigte. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich mehr schlecht als recht mit Klavierstunden und mit der Vertonung von Gedichten. Und dann - ganz unverhofft - begegnete er der Frau, die sein ganzes Leben verändern sollte. Sie hieß Carmen und war die Tochter von Prosper Mérimée. Mérimée war nicht ihr leiblicher Vater, sondern ihr geistiger. Trotzdem - oder gerade des-
halb - war sie nicht weniger lebendig. Kein geringerer als Nietzsche hat einmal geschrieben: »Lebendiger als alles Leben ist die Kunst. Schöner als das Leben ist der schöpferische Schein.« Prosper Mérimée, Mitglied der Académie Française, war ein sehr gewissenhafter Dichter. Er verachtete die oberflächliche Art, in der andere Autoren fremde Länder und Menschen beschrieben. Als Inspekteur der Denkmalpflege unternahm er beruflich ausgedehnte Reisen durch alle Provinzen Spaniens. Er verkehrte mit Angehörigen des spanischen Adels. Carmens Geliebter Don José stammt aus diesen Kreisen. Er lebte unter Schmugglern, Stierkämpfern und Zigeunern, nahm an Corridas teil und besuchte sogar die Tabakmanufaktur in Sevilla, wo sich Carmen als Arbeiterin ihr Geld verdiente. Er überließ nichts dem blinden Zufall, nicht einmal den Namen seiner Titelheldin, der im Lateinischen sowohl Lied, Gedicht als auch Wahrsagung bedeutet. Carmen, das ist die Verkörperung aller Zigeunerweisen und -tänze, ein Gedicht von Leidenschaft, Liebe und Tod, erfüllt von orakelhafter Schicksalsbestimmung. Bizet stieß auf Mérimées Novelle, während er ›L' Arlésienne‹ schrieb, eine Oper, die 1872 uraufgeführt wurde. Es war Liebe auf den ersten Blick. Von nun an beherrschte ihn nur noch ein Gedanke: Carmen. Ihr Zauber war so stark, daß sie bereits
›L' Arlésienne‹ beeinflußte. Mit Recht weist die Musikkritik darauf hin, daß sich hier bereits ›Carmen‹ ankündigt. Bizet ging es von Anfang an nicht um die Echtheit des spanischen Lokalkolorits, sondern allein um das Feuer der Liebe, welches - von Carmen entfacht alle Beteiligten verschlingt. Der Soldat Don José wird zum Schmuggler und ersticht am Ende seine Carmen. Carmen erleidet aus Leidenschaft zu Escamillo lieber den Tod, als daß sie ihr Herz zu einer Lüge zwingt. Wie besessen arbeitete Bizet, Tag und Nacht. Er spürte, das hier wird mein Lebenswerk. Zwei Jahre lang vergaß er die Welt um sich herum. Es erging ihm wie Don José. Er war diesem Zigeunermädchen auf Tod und Leben verfallen. Es ging um alles oder nichts, um höchstes Glück, Erfolg und Unsterblichkeit oder um tiefste Verzweiflung und Untergang. Nachts erschien sie ihm im Traum, so wie Mérimée sie erschaffen hat: Ihre glatte Haut glänzt kupferfarben; die Augen schräg gestellt und schön geschnitten; hinter fein geschwungenen, aber etwas zu vollen Lippen Zähne weiß wie frisch geschälte Mandeln. Das üppige, ungekämmte Haar schimmert tiefschwarz und blau wie das Gefieder von Raben; eine befremdende wilde Schönheit, verblüffend und unvergeßlich. Vor allem die Augen! Was
für Augen! Wollüstig und grausam zugleich: Zigeuneraugen, Wolfsaugen! Manche Passagen schrieb er bis zu vierzehnmal neu, wie die berühmte Habanera, das Lied, mit dem Carmen Don José betört. Diese heißblütige Melodie, mit dem immer nach acht Takten wiederkehrenden Ausruf des den Chor vorausnehmenden Orchesters: »Nimm dich in acht!« hat viel zu dem späteren Erfolg der Oper beigetragen. Noch bei den Proben veränderte er den Text. Dabei entstanden die wohl bekanntesten Zeilen des Werkes: »Die Liebe von Zigeunern stammt, fragt nach Rechten nicht, Gesetz und Macht, liebst du mich nicht, bin ich entflammet, und wenn ich lieb, nimm dich in acht!« Der Komponist war bei allen Proben dabei und nahm Einfluß auf jedes Detail der Inszenierung. Dabei löste er sich von dem üblichen Opernklischee und ging völlig neue Wege. Die Titelrolle vertraute er der unvergleichlichen Celestine Galli-Marie an, weil sie seinem inneren Bild von Carmen entsprach, obwohl sie mehr Schauspielerin als Sängerin war. Bizet wollte eine Vollblutfrau, und er bekam sie. Sie spielte und tanzte mit solcher Leidenschaft und riß alle anderen so mit, daß Don José so sehr dem hypnotischen Bann ihrer Darstellungskraft erlag, daß er sie während einer Vorstellung mit dem
Messer verletzte. Der Direktor der Oper beklagte sich in einem Brief, daß die Proben einem Tollhaus glichen und ihn an den Sturm auf die Bastille erinnerten. Wo hatte es so etwas schon einmal gegeben: Eine Oper, die in einer Zigarettenfabrik spielte? Um von dem steif dastehenden Chor wegzukommen, verlangte Bizet, die Arbeiterinnen sollten singend in lockeren Gruppen auf der Bühne umherschlendern. Die Choristinnen gerieten ständig aus dem Takt und drohten mit Streik. Bestürzt über die ungewöhnlichen Vorgänge bedrängte der Direktor Bizet mit Änderungen. Vergeblich. Als der Innenminister für die Premiere eine Loge bestellen wollte, teilte ihm der Direktor mit, es wäre wohl besser, wenn der Herr Minister erst allein der Generalprobe beiwohnen würde, um dann zu entscheiden, ob er mit seinen Damen die Vorstellung überhaupt besuchen könne. Diese unglaubliche Ungeschicklichkeit wurde sofort von der Presse aufgegriffen, die das Stück wegen seiner Unmoralität und Kriminalität bereits vor der Aufführung zerriß. Am Mittwoch, den 13. März 1875 fand in der Opéra Comique die erste Vorstellung statt. Sie war ein Ereignis, und alles, was in Paris Rang und Namen hatte, drängte sich im ausverkauften Haus. Um so schlimmer war für alle Beteiligten die Ent-
täuschung. Die Zuschauer, die eine Grande Opéra erwartet hatten, eine Revue mit schillernden Kostümen, sahen stattdessen zerlumpte, geflickte Arbeiter, Schmuggler, Zigeuner und Soldaten. Die Oper wurde in ihren ersten Anfängen noch realistischer aufgeführt als heute. Der Zweikampf zwischen den beiden Rivalen Don José und Escamillo wurde mit abschreckender Brutalität ausgeführt. Man wälzte sich minutenlang auf dem Boden, riß sich an den Haaren und verteilte Fußtritte. Während einer sehr lyrischen Passage in Carmens Lied ereignete sich während der Premiere ein Malheur. Der Paukist fiel mit heftigem Schlag auf sein Instrument. Das Publikum lachte. Die Couplets des Torero Escamillo fanden Beifall. Der Rest war eisiges Schweigen. Der Widerstand richtete sich vor allem gegen Carmen. Was hatte diese selbstbewußte unverschämte Arbeiterin auf einer Opernbühne zu suchen und zu singen: »Frei will ich sein, ja frei selbst noch im Tod.« Die Zeitung ›Le Siècle‹ schrieb am anderen Tag: »Um der bewährten gesellschaftlichen Ordnung willen sollte man dieser kühnen jungen Frau den Mund stopfen und sie daran hindern, mit den Hüften zu wackeln.« Nicht daß man etwas gegen das Hüftewackeln hatte, aber man empfand sehr richtig, das hier war keine der üblichen lüsternen Sopranistinnen, kein
Spielzeug, sondern eine Frau von Fleisch und Blut, die sich leidenschaftlich gegen jede Bevormundung wehrte, ein weiblicher Don Giovanni: Leben, lieben, frei sein und lieber tot als unaufrichtig gegen sich selbst! »Sie ist die ehrlichste Frau, die ich gespielt habe«, lobte die Sängerin Rosalind Elias. »Wenn sie liebt, liebt sie, und wenn es zu Ende ist, dann ist es zu Ende.« Die Kritik verstieg sich zur Behauptung: »Diese Handlung läßt sich bestenfalls in einem Bordell aufführen.« Theodore de Banville, einer der wenigen wohlgesonnenen Kritiker, schrieb in ›Le National: »Hier wurden keine Porzellanpüppchen vorgeführt, wie sie unsere Väter entzückten, sondern lebendige Menschen, geblendet und gequält von ihrer Leidenschaft.« Trotzdem ist Carmen keine emanzipierte Frau, sondern ein schönes, wildes Tier, unmoralisch und dem Instinkt unterworfen. Mérimée beschreibt sie als »so bitter wie Galle« und »nur angenehm ins Bett und auf dem Totenbett«. Bizet sollte es am eigenen Leibe erfahren. Als im Opernhaus alle Lichter erloschen waren, irrte Bizet am Arm seines Freundes Guiraud durch die verlassenen Straßen. Als sich über den regennas-
sen Dächern von Paris ein neuer grauer Märzmorgen ankündigte, war die Welt um ein unsterbliches Kunstwerk reicher. Das Herz seines Schöpfers aber war gebrochen. Er hatte es an Carmen verloren. Bis zum Schluß der Theatersaison fanden noch ein paar mäßig besuchte Aufführungen statt. Der Versuch, die Oper im Herbstprogramm noch einmal aufzunehmen, ging daneben. Bizet wurde krank. Bei Mißerfolgen bekam er alle Arten von psychopathischen Beschwerden. Er verschlang Unmengen von Gebäck, knabberte ständig Nüsse, Kuchen und Fingernägel. Er stürzte sich erneut in die Arbeit. Ein skizzenhaftes Manuskript für eine spanische Oper ›Don Rodrigo‹ entstand. Einzelne Passagen wurden bereits Freunden vorgespielt. Da brannte die Opera Comique ab, und alle Hoffnungen wurden zunichte. In der Nacht vom 2. zum 3. Juni 1875 starb Bizet genau in der Stunde, in der sich in Paris der Vorhang über den letzten Aufzug von Carmen senkte. Zwei Tage später wurde er in die Erde gelegt, siebenunddreißig Jahre alt. Seine letzten Worte waren: »Carmen… Warum?« Vom nachgelassenen Werk wurde nichts mehr aufgefunden. Kurz vor seinem Tod hatte er alle Entwürfe dem Feuer anvertraut. Bizet starb, ohne den Triumph seines Werkes
erlebt zu haben. Der einzige Lichtstrahl, der ihn noch kurz vor seinem Tod erreichte, war die Nachricht, die kaiserliche Hofoper in Wien habe ›Carmen‹ angenommen. Und nun begann der Siegeszug, von einer europäischen Hauptstadt zur nächsten. Erst als ›Carmen‹ sich die ganze Welt erobert hatte, wurde sie am 21. April 1883 - acht Jahre nach Bizets Tod - unter unbeschreiblichem Applaus in Paris aufgeführt. Jetzt verglich man Bizet mit Wagner. Nietzsche schrieb: »Diese Musik ist vollkommen. Sie schwitzt nicht, ist unaffektiert und aufrichtig.« Brahms und Strawinsky waren der Meinung, daß Bizet der größte französische Musiker sei. Gustav Mahler sah in der Carmen-Partitur die absolute Vollkommenheit. Die weitsichtigste Diagnose aber hat Tschaikowsky gestellt, der an eine Freundin schrieb: »Ich finde, dies ist in jeder Hinsicht ein Meisterwerk, das heißt, eins von jenen seltenen Werken, die erkoren sind, die musikalischen Bestrebungen eines ganzen Zeitalters widerzuspiegeln. Ich bin überzeugt, daß es in zehn Jahren die beliebteste Oper der Welt sein wird.« Er sollte recht behalten. Keine Oper ist so oft verfilmt worden. Von keiner werden bis in die Gegenwart so viele Schallplatten verkauft. Sie wurde und wird in fast allen Sprachen der Welt aufgeführt. 1982 sogar auf Chinesisch in Peking.
Wie ist das möglich? Waren Bizets Zeitgenossen blind? Haben sich die Menschen so verändert? Die Aufführungen hatten sich geändert. Von der alten Inszenierung war nichts mehr geblieben. Aus der Dreigroschenoper war eine spanische Ausstattungsrevue geworden. Carmen war nun keine Vollblutschauspielerin mehr, sondern eine dicke Sängerin mit vollkommener Stimme. Aus Bizets unvollkommener Leidenschaft war eine vollkommene Oper geworden. Er hatte seiner Carmen alles geopfert, sogar die Musik und damit den Erfolg. Es erging ihm wie dem jungen Adligen in Prousts ›Eine Liebe von Swann‹. Er zerbrach an der unheilvollen Verbindung mit einer nicht standesgemäßen jungen Frau. Hatte er ihr nicht selbst in den Mund gelegt: »Liebst du mich nicht, bin ich entflammet, und wenn ich lieb, nimm dich in acht!«
Wer behexte die Xhosa? Wer mit dem Wagen durch Südafrika fährt, durchquert auf seiner Reise von Durban nach Kapstadt die Transkei, ein Gebiet so groß wie die Schweiz. Auch äußerlich lassen sich beide Landschaften durchaus miteinander vergleichen. Berge und Schluchten, Hochebenen und Täler wechseln einander ab. Ein dicker dunkelgrüner Grasteppich bedeckt das
fruchtbare Land. Über eine Million Menschen vom Stamm der Xhosa leben heute hier. Nichts deutet darauf hin, daß sich in dieser idyllischen Landschaft der größte Massenselbstmord aller Zeiten ereignet hat. Im Jahr nach der Schlacht von Waterloo bestieg im benachbarten Zululand der berühmt-berüchtigte Häuptling Chaka seinen Thron. Obwohl dieser schwarze Dschingis Khan nur zwölf Jahre regierte, wurde während seiner Schreckensherrschaft das südliche Afrika buchstäblich entvölkert. Ganze Volksstämme wurden systematisch ausgelöscht. Die Zahl der während seiner Regierungszeit abgeschlachteten Menschen wird auf drei Millionen geschätzt. Als Chaka 1828 ermordet wurde, übernahm sein Halbbruder Dingan die Führung der Stämme. Es war zu der Zeit, in der die Buren vom Kap her kommend ins Landesinnere vorstießen. Es kam zu unzähligen Gefechten, die in der Schlacht am Blutfluß gipfelten, bei der die Zulus entscheidend geschlagen wurden. Alle Afrikaner, die gehofft hatten, daß mit der Niederlage der Zulus die alten friedlichen Zeiten wiederhergestellt worden seien, wurden schon bald enttäuscht. Der Landhunger der Weißen und ihr politischer Führungsanspruch bedrohten die le-
bensnotwendige Freiheit der Stämme. Viele von ihnen wurden zum Spielball im Machtkampf zwischen Buren und Engländern, die zur Sicherung ihrer Indienroute die Kapprovinz kurzerhand okkupierten. Leidtragende dieses permanenten Kleinkrieges waren vor allem die Xhosas. Die britische Kapkolonie erweiterte ständig ihre Grenze. Der Druck auf die Transkei wuchs, als der englische Gouverneur Sir George Grey dem Stamm der Mfengu Land und Vieh im Xhosaland schenkte, zur Belohnung dafür, daß die Mfengu im Krieg 1834-35 auf englischer Seite gekämpft hatten. Das alles geschah nach dem bewährten Konzept Roms: Teile und herrsche! Nach dem uralten ungeschriebenen Gesetz der Ehre hätten die Xhosa nun nach den Waffen greifen müssen, um das heilige Land ihrer Ahnen zu verteidigen. Aber ausgeblutet und am Ende ihrer Kräfte erkannten sie richtig, daß sie diesen Krieg gegen die Engländer nicht gewinnen konnten. Nur aus dieser ohnmächtigen Situation eines wehrlosen, aber in seinem Stolz ungebrochenen Volkes wird das folgende Geschehen verständlich - wenn sich solche Ereignisse überhaupt mit dem Verstand erfassen lassen. Im Januar 1857 erfaßte die Menschen in den Tälern der Transkei eine seltsame Unruhe. In den
riedgedeckten Rundhütten der Kraale rumorte es wie in Bienenkörben kurz vor dem Ausschwärmen. Es mehrten sich die Gerüchte, daß die Toten wiederauferstanden seien. Bei Vollmond hörte man in den Bergen den Trommelschlag der alten Kriegstänze. Die Ahnengeister waren erwacht. Lanzenschwingend galoppierten ihre Schatten durch die Nacht. Unheil lag in der Luft. Mensch und Tier spürten die Gefahr und fürchteten sich. Noch nie hatte es so viele Schlangen gegeben wie in diesem Jahr. Die Medizinmänner beschworen die Dämonen mit Blutopfern und Zauberformeln. Und dann geschah etwas Ungeheures. Eine junge Ziegenhirtin wurde vom göttlichen Blitz der Erkenntnis getroffen. Sie erhob ihre Stimme und begann zu singen, wie man es noch niemals gehört hatte. Nackt trat sie in den Kreis der Männer und sang vom Sieg. Fast noch ein Kind, zerbrechlich wie eine Yakarandablüte, hatte sie die Kraft einer Löwin. Wer sie hörte, erlag ihrem Zauber. Es war wie 1429 vor Orleans, als Jeanne d'Arc ihrem Volk als rettender Engel gegen die Engländer erschien. Die Krieger trugen die junge Hirtin auf ihren Schilden von Kraal zu Kraal. Die Götter sprachen aus ihren prophetischen Heldengesängen. Diese Inyanga war eine Trommel, in deren Schlägen sich das Schicksal offenbarte.
Inyanga heißt in der Sprache der Bantus so viel wie Prophetin, Heilige, Hexe. Eine Inyanga verfügt über magische Kräfte und hat Zugang zum Reich der Toten. Bis in die Gegenwart gibt es in Nordtransvaal eine Regenkönigin, die Macht über das Wetter ausübt. Alle Schwarzen beschwören, daß es regnet, wenn es die Inyanga so will. Die jungfräuliche Regenkönigin darf nicht krank werden. Wenn sie von einer Krankheit befallen wird, so verliert sie ihre magischen Kräfte und muß sich eigenhändig das Leben nehmen, damit eine neue Auserwählte ihren Platz einnehmen kann. Die Inyanga der Xhosas sang, bis sie völlig entkräftet zusammenbrach und man sie in Decken gehüllt davontrug. Ihre prophetischen Gesänge verbreiteten sich im Land wie ein Steppenbrand. Man sprach von nichts anderem mehr. Die große XhosaNation würde kämpfen und siegen. Der Glanz der alten Tage würde wieder erstrahlen. Im Herbst desselben Jahres verkündeten die Götter, wie der Sieg über die Weißen errungen werden sollte. »Nicht die Speere sollen sprechen. Nicht mit Waffen sollt ihr siegen«, so sang die Inyanga, »sondern durch ein Opfer ohne Beispiel. Vernichtet die Frucht der Felder und alle Vorräte! Verbrennt Saatgut und Samen! Vernichtet alles Vieh! Zeigt den Unsterblichen, zu welchen Opfern ihre Kinder fähig
sind, und sie werden die weißen Ratten ins Meer treiben, woher sie kamen und wohin sie gehören!« In allen Kraalen brannte das Korn. Die Rauchsäulen der Maisfelder standen über dem Land wie Fanale zum Aufbruch in eine neue Epoche. Das Blut der Ziegen und Rinder versickerte im Sand. Selbst die Pferde wurden erschlagen. Die Menschen verhungerten zu Hunderttausenden. Die Überlebenden flohen in die englische Kolonie. Ausgemergelte Elendsgestalten, die ihre Feinde um eine Handvoll Hirse anbettelten und jede noch so schlecht bezahlte Arbeit annahmen, nur um zu überleben. Was die Speere der Zulus und die Gewehre der Engländer und Buren nicht vermocht hatten, vollbrachte der Gesang eines einfachen Hirtenmädchens. Der stolzen Xhosanation wurde das Rückgrat gebrochen. Wenn sie auch heute wieder zu den volkreichen Stämmen des Landes zählen, der alte Glanz ist für immer dahin. Die Überlebenden nahmen das Christentum an und wurden zum billigen ArbeitskräfteReservoir für die Goldminen von Johannesburg. Manchmal bei Vollmond in den Bergen hört man noch den Trommelschlag der alten Tänze und das Lied der Inyanga. Dann bekreuzigen sich die alten Frauen. Und die Männer sagen: »Singe, Inyanga, singe vom Sieg der Xhosa!«
Wer viele Jahre in Afrika gelebt hat und sich intensiv mit dem Selbstmord der Xhosa befaßt, dem fallen bei dieser ungeheuren Begebenheit eine Reihe von Widersprüchen auf. Credo Mutwa, einer der bekanntesten schwarzen Medizinmänner Südafrikas, behauptet, daß das historische Ereignis von einer Generation zur anderen wahrheitsgetreu weitergegeben worden sei. Er schildert den Beginn des Unheils folgendermaßen: Während eines Abendspazierganges mit ihren fünf Schwestern vernahm die Inyanga eine Stimme, die rief: Mankazana, mankazana, izani apa! »Mädchen, Mädchen, kommt her!« »Was war das?« rieten die Mädchen. »Eine Stimme ruft uns«, sagte die Inyanga, die von ihren Schwestern Nongquawuse gerufen wurde. »Wer ruft uns?« fragte Nongquawuse. »Kommt her!« rief die Stimme, die aus einem Gehölz kam. »Kommt her!« »Ich werde gehen und nachsehen«, sagte Nongquawuse zu ihren Schwestern. Der Jüngsten befahl sie: »Nonteto, lauf nachhause und hol den Vater und die Brüder! Ihr anderen bleibt hier und wartet auf mich. Wenn ich getötet werde, so lauft davon, so schnell euch die Füße tragen!« Dann ging Nongquawuse in das Gehölz.
»Nongquawuse, komm!« rief die Stimme laut. »Wer seid ihr? Woher kennt ihr meinen Namen?« »Wir sind deine Ahnen, Nongquawuse, und wir haben eine Botschaft für dich und deinen Stamm.« »Aber ihr sprecht wie gewöhnliche Lebende. Die Geister unserer Väter sprechen zu uns in den Träumen und im Wind.« »Fürchte dich nicht! Komm näher!« rief die Stimme. Die Schwestern fürchteten sich und hofften, daß der Vater und die Brüder bald kämen, um sie vor den Geistern zu beschützen. »Knie nieder, Nongquawuse«, befahl die Stimme, »und schließe deine Augen!« Die Inyanga gehorchte. Als sie ihre Augen wieder öffnete, standen drei Männer vor ihr. Sie waren von Kopf bis Fuß in langhaarige weiße Ziegenfelle gehüllt. Sogar ihre Augen waren hinter dem Vorhang der zotteligen Haare versteckt. Niemals hatte die Inyanga solche Geschöpfe gesehen. »Höre!« sagten sie. »Wir kommen aus dem Reich der Toten. Und so lautet unsere Botschaft: Am vierzehnten Tag des folgenden Monats werden sich in diesem Land hier große Wunder ereignen, Wunder zum Segen und zum Ruhm der großen Xhosanation. An diesem Tag wird die Sonne im Westen aufgehen und im Osten untergehen. Die Gräber der alten Häuptlinge werden sich öffnen, und die Gro-
ßen deines Stammes werden sich erheben und auferstehen. Ihre Weisheit und Stärke wird euch führen. Die Erde wird sich öffnen wie ein trächtiger Leib und fette Viehherden gebären. Es wird keinen Reichen und keinen Armen mehr geben. Alle Menschen werden satt, frei und glücklich sein. Ein Sturm wird sich erheben und die weißen Ratten ins Meer schleudern. Ewiger Friede wird in allen Kraalen herrschen, und Freudengesänge werden die Täler erfüllen. Aber bevor das alles geschieht, müßt ihr euch reinigen. Die Kraft eures Glaubens wird auf die Probe gestellt werden. Verbrennt die Früchte eurer Felder und Vorratshäuser! Tötet alles Vieh in den Kraalen und fastet bis zum Tag des großen Wunders! Wir haben zu dir gesprochen, Nongquawuse. Geh und verkünde den Stämmen der Xhosa die heilige Botschaft! Und sage ihnen, daß wir Gehorsam erwarten. Wir müssen jetzt in das Land der Toten zurückkehren. Erhebe dich und geh! Schau dich nicht um, oder du wirst erblinden!« »Ich werde tun, wie ihr befehlt.« Als Mhlakaza, der Vater der Inyanga, mit seinen Söhnen herbeigeeilt kam, fand er seine Töchter verängstigt und zitternd auf dem Boden liegen, wie junge Vögel, die aus dem Nest gefallen sind. So schildert Credo Mutwa das Geschehen. Und auch ihm als schwarzem Medizinmann fallen meh-
rere Ungereimtheiten auf. In allen Bantu-Mythologien Afrikas gibt es keine Prophezeiungen und Voraussagen, daß sich ein Wunder zu einem bestimmten Zeitpunkt ereignen würde. Es gibt kein Jüngstes Gericht und keinen Weltuntergang. Im Glauben der Schwarzen spielt die Zukunft eine untergeordnete Rolle. Nach ihren Vorstellungen produziert die Gegenwart ununterbrochen Vergangenheit. Nur die Vergangenheit ist wichtig. In ihr wirken die Ahnen des Stammes. Die Zukunft ist nur ein leerer Raum, der mit fortschreitender Zeit von der Vergangenheit ausgefüllt wird. Das ist auch einer der Gründe, weshalb die schwarzen Stämme Afrikas niemals einen Kalender entwickelt haben. Die Prophezeiung der Inyanga ist völlig unafrikanisch und einzig in ihrer Art. Biblische Berichte drängen sich auf. »Dreh dich nicht um, oder du wirst erblinden!« Dieser Befehl des Überirdischen war auch an Lots Weib ergangen, die das Gebot brach und zur Salzsäule erstarrte. Leibhaftige Auferstehung der Toten aus den Gräbern ist den afrikanischen Naturreligionen so wesensfremd wie die Vorstellung, daß sich der Lauf der Sonne für einen Tag verändern könnte, so wie im Alten Testament, wo die Sonne still stand im Tale Gideon. »Wie seltsam ist das alles«, wundert sich Credo Mutwa. Betrachten wir seine Überlieferung als Zeugenaus-
sage, so sind die drei Todesboten von sechs Mädchen deutlich gesehen, gehört und beschrieben worden, und zwar nicht als nebulöse Geister, sondern als lebendige Menschen aus Fleisch und Blut. Wer waren diese apokalyptischen Reiter? Die Kernfrage einer jeden kriminalistischen Mord-Untersuchung muß lauten: Wer hatte ein Motiv? oder: Wem nützte der Tod der Ermordeten? Die britische Geschichtsschreibung vermerkt ausdrücklich, daß der »Selbstmord der Xhosa« eine ganze Reihe von höchst brisanten Problemen mit einem Schlag beseitigte. Gouverneur Sir George Grey hatte ein VierPunkte-Programm für seine Bantupolitik am Kap der Guten Hoffnung aufgestellt, 1. Beseitigung des Aberglaubens und Abschaffung der Vormacht der Medizinmänner, 2. Erziehung der schwarzen Wilden zu zivilisierten Menschen. 3. Umwandlung der alten Stämme in nützliche Arbeitskräfte und die Beseitigung ihrer Kampfeslust. 4. Entmachtung der Häuptlinge. Mit dem »Selbstmord der Xhosa« wurden alle diese Punkte mit einem Schlag erledigt. Die Entvölkerung der Transkei gab Sir George Grey die Gelegenheit, zweitausend weiße Farmer im Xhosaland anzusiedeln. Die Häute der ermordeten Viehbestände ließ er für Pfennigbeträge aufkaufen und
nach England exportieren, im Austausch für Gewehre und Munition. Er verwandelte den rätselhaften Selbstmord seiner Feinde in eine militärische Niederlage und ließ sich als Sieger feiern, was er ohne Zweifel auch war, ohne einen einzigen Schuß abgefeuert zu haben. Was für ein Mensch war dieser »Glückspilz«? Sein Porträt aus dem Jahre 1858 zeigt uns einen Mann mit kalten tiefliegenden Augen, willensstark und intelligent, ein Herrenmensch, der es gewohnt ist, daß seine Befehle befolgt werden, ein Tatmensch, der nichts dem Zufall überläßt. Geboren in Lissabon und nach einem Studium in Sandhurst wurde er 1841 britischer Gouverneur von Süd-Australien. Er unternahm hier mehrere Expeditionen ins Landesinnere, um die religiösen Gebräuche der Eingeborenen zu studieren. Er schrieb sogar zwei Bücher zu diesem Thema. Vor allem die Praktiken der Medizinmänner hatten es ihm angetan. 1846 wurde er als Experte auf diesem Gebiet nach Neuseeland versetzt, um einen Maori-Aufstand niederzuwerfen. 1854 wurde er Gouverneur der Kapprovinz. Ein Jahr nach dem »Selbstmord der Xhosa« wurde er nach England zurückberufen, so wie jemand, der seinen Auftrag mit Erfolg erledigt hat. 1861 wurde dieser Spezialist für psychologische
Kriegsführung noch einmal nach Neuseeland geschickt, um einen von den Medizinmännern angezettelten Aufstand niederzuwerfen. Es wäre interessant zu erfahren, ob bei diesem Sieg die auferstandenen Ahnengeister der Maori eine entscheidende Rolle gespielt haben?
Wer war Modest Mussorgskij? Die Welt kennt ihn als den Schöpfer des ›Boris Godunow‹, dabei ist der ›Boris Godunow‹ gar nicht von ihm, sondern von Puschkin. »Mussorgskij«, so könnten Sie jetzt einwenden, »war ja auch kein Dichter, sondern ein Musiker. Er hat den Text eines anderen vertont und daraus die Oper gemacht, die wie keine andere alles das verkörpert, was als ty-
pisch russisch gilt.« Auch das ist falsch. Mussorgskij hat nicht einmal die Musik zum ›Boris Godunow‹ komponiert, und trotzdem gilt die Oper als sein Lebenswerk. Es gibt in der Kriminalgeschichte eine ganze Reihe von Menschen, die verurteilt worden sind für Taten, die sie nicht begangen haben, aber es gibt nur wenige, die für etwas, das sie nicht gemacht haben, so unsterblich geworden sind wie Mussorgskij. Am ersten Frühlingstag des Jahres 1839 erblickte Modest Mussorgskij in einem hölzernen Gutshaus in der Nähe von Karewo das Licht der Welt. Auf den Feldern schmolz die Sonne den letzten schmutzigen Schnee. Die Weidenkätzchen spiegelten sich in den dunkeln Pfützen, und die Nächte waren erfüllt von dem heiseren Schrei der Wildgänse. »Märzhasen sind die besten«, lachte Doktor Newski, als er den Jungen der Mutter zeigte. Die Mussorgskij gehörten zum russischen Hochadel. Sie leiteten ihre Herkunft direkt von den Ruriks ab. Der kleine Modest Petrovic wuchs auf dem Lande heran. Die Kinder der väterlichen Leibeigenen waren seine Spielgefährten. Er verfügte über eine russische Kinderfrau, die ihm die alten Märchen und Sagen seines Volkes erzählte. Eine deutsche Gouvernante überwachte seine Erziehung. Mit ihr sprach er fließend Deutsch. Vergeb-
lieh jedoch versuchte sie ihm das Klavierspielen beizubringen. Immerhin war er mit neun Jahren in der Lage, ein paar Volks- und Weihnachtslieder herunterzuklimpern. In Sankt Petersburg, wohin er zehnjährig mit Mutter und Bruder zog, wurde der Klavierunterricht zwar fortgesetzt, weil das zur standesgemäßen Erziehung gehörte. Aber Musiker werden? Undenkbar. Das lag ganz und gar nicht in seinem Interesse und entsprach auch nicht der Karriere eines russischen Aristokraten. Dafür hielt man sich Italiener oder leibeigene Musikanten. Auf dem deutschen Gymnasium bekam er den nötigen gesellschaftlichen Schliff als Vorbereitung für die Gardejunker-Akademie. Als Siebzehnjähriger war er Fähnrich im Regiment Preobrazenski. Sein Freund Alexander Borodin beschrieb ihn folgendermaßen: »Er war sehr elegant, ein Gardeleutnant wie aus einem Bilderbogen... die spiegelblanken Schuhe wie beim Ballett hübsch auswärts gestellt, die Haare sorgfältig pomadisiert. Seine gepflegten Hände waren die Hände eines adligen Grandseigneurs.« Gelegentlich setzte sich der Herr Gardeleutnant in irgendeinem Salon an den Flügel und gab für die anwesenden Damen etwas zum Besten. Wenn die Schönen ihn »délicieux« fanden, so lag das bestimmt nicht an seinem Spiel. Nichts, aber auch wirklich nichts wies darauf hin, daß dieser Dandy einmal zu
einem Dostojewskij der russischen Musikgeschichte avancieren sollte. 1860 - Mussorgskij war einundzwanzig Jahre alt stieß er auf eine kleine Gruppe von russischen Nationalisten, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, als Gegengewicht zur deutschen und französischen Kunst eine eigene russische Nationalkunst zu schaffen. Ein ungeheurer Nationalstolz war in Rußland erwacht. Hatten sie nicht Napoleon, den unbesiegbaren Bezwinger Europas, ganz allein und aus eigener Kraft vernichtend geschlagen und Europa vom Joch der Tyrannei befreit? Mussorgskij und seine Freunde schwärmten von einer russischen Nationalmusik. Die Konservatorien in Moskau und Petersburg wurden von den Klassikern beherrscht, von Haydn, Schubert, Mendelssohn und Beethoven. In der zaristischen Oper gaben die italienischen Primadonnen den Ton an. Sollte es nicht möglich sein, auf dem Gebiet der Musik die gleichen Leistungen zu vollbringen wie in der Dichtung und Literatur. Puschkin, Gogol, Turgenjew, Tolstoi, Dostojewskij und all die anderen, hatten sie nicht gezeigt, zu welcher Eigenleistung und Größe die russische Seele fähig war! Das Dumme war nur, daß man keine Ahnung von Musik und schon gar nicht vom Komponieren hatte. Die Gruppe von Männern, die sich regelmäßig in Privatwoh-
nungen traf, bestand aus Nationalisten, Idealisten, Schwärmern und Kunstliebhabern, aber sie waren keine Musiker. Allen gemeinsam war eine unbändige Liebe zu Mütterchen Rußland mit seinen Liedern und Tänzen. Balakirew war der einzige, der sich als Musiker sein Geld verdiente. Er hatte sich als Autodidakt vom Laienmusiker zum Pianisten emporgearbeitet. Cui war Festungsbauingenieur, Mussorgskij Gardeleutnant, Borodin Professor der Chemie, Rimskij-Korsakow Marineoffizier. Sie nannten sich Moguckaja Kucka, zu deutsch: Das »mächtige Häuflein«, wobei das »mächtige« wohl ein Witz war. Zunächst einmal war das »mächtige Häuflein« gegen alles Bestehende. Wagner fanden sie »zum Kotzen«, Haydn »dekadent«, Schubert »bürgerlich sentimental«. Beethoven lehnten sie als »unrussisch« ab, den Rest fanden sie langweilig. Sie waren zornige junge Männer, voller Verachtung für alle tonangebenden etablierten Autoritäten. So wie Wagner eine typisch deutsch-germanische Musik geschaffen hatte, so träumten sie von einer panslawistisch-russischen. Aber können Sie sich vorstellen, ein Gardeleutnant oder Militärtechniker namens Richard Wagner hätte sich zur Verwirklichung seiner politischen Weltanschauung ein Klavier gekauft, um mit dem Studium der Musik zu beginnen und
hätte dann am Ende den ›Ring des Nibelungen‹ komponiert? Überhaupt muß das »mächtige Häuflein« ein seltsamer Verein gewesen sein. Alexander Borodin war ein erfolgreicher, vielbeschäftigter Wissenschaftler und nahm seine Chemieprofessur an der Petersburger Universität sehr ernst. »Musik ist für mich Entspannung und unterhaltsamer Spaß. Mein Herz gehört der Chemie«, pflegte er zu sagen. Er arbeitete sieben Jahre an einer Oper ›Fürst Igor‹, ein laienhaftes Machwerk, das er nie zu Ende brachte. Rimskij-Korsakow hat von ihm berichtet: »Sein Laboratorium lag direkt neben seiner Wohnung. Wenn wir uns dort trafen, um zu musizieren, so sprang er alle paar Minuten auf und lief nach nebenan um nachzuschauen, ob auch nichts überkochte oder anbrannte.« Naturgemäß genoß Balakirew als einziger Musiker die größte Autorität, obwohl er aus heutiger Sicht der künstlerisch Schwächste der Freunde war. Mussorgskij versuchte von ihm zu lernen und nahm Stunden, die sich darauf beschränkten, bestehende Symphonien großer Musiker gemeinsam durchzugehen und sie so lange zu zerreißen, bis nicht mehr viel von ihnen übrig blieb. Instrumentation, Harmonielehre oder Kontrapunkt hat Mussorgskij weder bei Balakirew noch bei sonst irgendjemand jemals gelernt. Über-
haupt galt die Meinung des blutjungen Fähnrichs Mussorgskij in dem »mächtigen Häuflein« nicht viel. Er galt als der Unbegabteste. Um zu sich selbst zu finden, mußte dieser Dandy erst eine ganze Reihe von schweren Krisen überstehen. Während seiner ersten Reise nach Moskau im Jahre 1859 erkrankte er an schwerem Nervenfieber. Die Kirchen, der Kreml, die altehrwürdigen Zeugen der Vergangenheit bewegten ihn tief. Die Krankheit steigerte seine Erlebnisfähigkeit. Er erlebte Moskau wie einen phantastischen Fiebertraum. »Ich wurde als Kosmopolit geboren«, schrieb er nach Petersburg, »aber hier wurde ich zum Russen. Meine ganze Liebe gehört nur noch meinem Land.« Nur mit Mühe überlebte er. Ein Jahr später bekannte er: »Mein Gehirn hat sich gekräftigt. Das jugendliche Feuer ist erloschen. Eine neue Periode meines Lebens hat begonnen. Vorwärts, zu neuen Ufern!« Er gab seine militärische Karriere auf und beschloß, sich nur noch der Musik zu widmen. Vorerst aber wurde diese Absicht vom Zaren selbst durchkreuzt. 1861 hob er die Leibeigenschaft auf. Mussorgskij und seine revolutionären Gesinnungsgenossen, die dieses Ereignis wie einen persönlichen Sieg feierten, wurden als erste davon betroffen. Die väterlichen Landgüter, von deren Einnahmen die jungen Herren in Petersburg nicht schlechtlebten,
wurden durch die Entlassung der Leibeigenen unrentabel und verfielen dem Ruin. Zum erstenmal in seinem Leben sah sich Mussorgskij gezwungen, nach einem Broterwerb zu suchen. Siebzehn Jahre, bis kurz vor seinem Tod, stöhnte er unter dem Joch des schlechtbezahlten subalternen Beamten. Er verfluchte den verhaßten Dienst, der ihm die Zeit für schöpferische Arbeit stahl. »Ich bin schlimmer dran als ein Leibeigener«, beklagte er sich, »denn da ist keine Hoffnung auf Befreiung, weil ich den mageren Lohn brauche, um leben zu können.« Von nun an war Mussorgskij so arm, daß er sich nie mehr eine eigene Wohnung leisten konnte. Für den Rest seines Lebens teilte er dürftig möblierte Mansardenzimmer mit anderen armen Teufeln, zeitweilig auch mit Rimskij-Korsakow. Sein Leben war so eintönig und düster wie die Schreibbüros, in denen er zehn Stunden am Tag Akten bearbeitete. Er kam niemals über die Grenzen Rußlands hinaus und kannte auch sein vielgeliebtes Vaterland nur aus der Phantasie. Als eingefleischter Junggeselle verliebte er sich nie. Nach dem Tod der Mutter, die die Versteigerung des väterlichen Gutes nicht überlebt hatte, verlor er den letzten Halt. Mehr und mehr flüchtete er sich in den Alkohol und in die Arbeit. Aber seinem unprofessionellen Schaffen fehlte jede Aussicht auf Erfolg.
Was für eine Musik schreibt ein Mensch, dem fast alles handwerkliche Rüstzeug des Komponierens fehlt? Mussorgskij arbeitete wie ein Filmregisseur, für den die Handlung, die Bilder und der gesprochene Dialog das Wichtigste sind. Mit Musik unterlegt wird das Ganze erst am Schluß. Mussorgskijs Kompositionen sind ausnahmslos vom Bild und vom Text her inspiriert. Hier findet man sozialkritische Anklagen, derbe Volksschwänke, psychologische Studien, Königsmord, Klamauk und Kinderspiele. In einem seiner frühen Lieder läßt er eine Bäuerin Pilze suchen, um damit ihren Alten zu vergiften. Ein Idiot besingt die Schönheit der Liebe. Eine in Lumpen gehüllte Magd gaukelt ihrem unehelichen Kind eine phantastische Zukunft vor. Ein Bettler verhöhnt ein gutmütiges altes Mütterchen, das ihn beschenkt hat: Kabarettistische Satire, bei der einem das Lachen im Halse stecken bleibt, nicht mehr und nicht weniger. Alle Versuche, das Gebiet der Kleinkunst zu verlassen und sich an Größerem zu versuchen, scheiterten oder blieben Stückwerk. Eine Salambo-Oper, zu der ihn Flauberts Roman angeregt hatte, erlitt das gleiche Schicksal wie die Vertonung von Gogols ›Heirat‹. Mussorgskij war ein Töpfer, der nur Scherben produzierte. Seinen bescheidenen Kenntnissen entsprechend träumte er
von einer Dialog-Oper, bei der die Musik gewissermaßen als Geräuschkulisse für das gesprochene Wort wirken sollte. Mit der Selbstsicherheit eines Kleinkindes machte er aus der Schwäche seine Stärke. Er erklärte sein kompositorisches Unvermögen zum Hauptaxiom einer neuen Ästhetik: ›Wahrheit vor Schönheit.‹ Wenn man daraus eine besondere Wahrheitsliebe ableitet, wie es in den meisten Musikgeschichten geschieht, so ist das absurd. Kunst kommt von Können. Das Erschaffen von Schönheit setzt die Fähigkeit voraus, gestalten zu können, eine Fähigkeit, die einem Dilettanten wie Mussorgskij nicht gegeben war. ›Wahrheit vor Schönheit‹ ist hier weder Tugend noch neue Ästhetik, sondern das Eingeständnis eigener Unfähigkeit, nicht anders zu bewerten als die frömmelnde Forderung eines Analphabeten: ›Beten vor Lesen!‹ »Die Kompositionen von Mussorgskij schicke ich von ganzem Herzen zum Teufel«, schrieb Tschaikowskij über seinen fast gleichaltrigen Landsmann. »Sie sind eine gemeine und dilettantische Parodie auf die Musik. Ihr Komponist, und mag er vielleicht auch begabt sein, ist eine primitive Natur, die sich aus dem Groben, Stümperhaften und Häßlichen nicht zu erheben vermag.« Sechs Jahre arbeitete Mussorgskij am ›Boris Go-
dunow‹. Diese Zeit von 1868 bis 1874 war die glücklichste Zeit seines Lebens, behaupten die Biographen. Die Arbeit erfüllte ihn mit tiefer Befriedigung. Die erste Fassung fand nicht einmal den Beifall des »mächtigen Häufleins«. Das Prüfungskomitee des zaristischen Theaters lehnte die eingereichte Partitur ab. Mussorgskij überarbeitete sein Werk, strich ganze Akte, fügte neue hinzu. Dann endlich, vier Jahre später, wurden drei Szenen - also nur Bruchstücke! — am zaristischen Theater aufgeführt. Die komplette Uraufführung des ganzen Werkes nun in dritter Fassung - wurde von der Kritik total zerrissen. Am deprimierendsten für Mussorgskij war die Rezension seines Gesinnungsgenossen Cui vom »mächtigen Häuflein«. Erst 1896 - Mussorgskij war bereits fünfzehn Jahre tot - veröffentlichte Rimskij-Korsakow eine neue stark gekürzte und völlig neu bearbeitete Fassung. 1908 ließ er eine endgültige, aufführbare Bühnenfassung folgen. Diese ist bis heute maßgebend für die Aufführungspraxis auf allen internationalen Opernbühnen. Aber was ist an diesem »Jahrhundertwerk« noch von Mussorgskij? Von 4225 Takten änderte Rimskij-Korsakow nicht weniger als 3580, also fünfundachtzig Prozent! Stellen Sie sich ein Ölgemälde
von der Größe eines Quadratmeters vor. Hiervon sei eine Fläche, nicht größer als Sie mit Ihren beiden Händen zu bedecken vermögen, von Rembrandt bemalt worden, würden Sie dieses Bild einen Rembrandt nennen? Rimskij-Korsakow, der sich einer strengen Schule unterwarf und sogar Lehrer am Konservatorium wurde, hat uneigennützig ein ganzes Jahrzehnt seines Lebens geopfert, um aus den Scherben seines Freundes ein Gefäß zusammenzukitten. Ähnlich erging es der symphonischen Dichtung ›Die Nacht auf dem kahlen Berge‹, die mehr von RimskijKorsakow ist als von Mussorgskij. Die ›Bilder einer Ausstellung‹ werden in der Orchesterfassung Maurice Ravels gespielt. ›Der Jahrmarkt von Sorocinzi‹, der nur in Form von Skizzen existierte, erhielt seine praktikable Bühnenfassung von Cui. Und dennoch gilt Mussorgskij als einer der bedeutendsten Musiker seines Landes, als der Schöpfer der russischen National-Oper. Wie ist das möglich? Mit Mussorgskij ist es wie mit der Höhlenmalerei der Eiszeit. Wären diese primitiven Wandbilder in der Antike, im Mittelalter oder im Barock entdeckt worden, so hätte ihnen kein Mensch Beachtung gezollt. Man hätte sie als das genommen, was sie ja in Wirklichkeit auch sind, nämlich als handwerklich
minderwertige Skizzen. Da diese Bilder jedoch zu einem Zeitpunkt gefunden wurden, in der sich unsere moderne experimentierfreudige Kunst gerade ihrer primitiven Quellen als vitalem Gegensatz zum technischen Perfektionismus entsann, so erhielt die Höhlenmalerei eine emotionale Aufwertung, wie sie ihr zu keiner anderen Zeit zuteil geworden ist. Mussorgskij ist das Produkt der proletarischen Revolution und ohne diese undenkbar. Zum erstenmal in der Operngeschichte spielt im ›Boris Godunow‹ das Volk nicht den Hintergrund, sondern die Hauptrolle. Volkslieder und Volkstänze beherrschen die Musik. Nur ein Laie wie Mussorgskij konnte so urrussische Musik komponieren und sammeln. Denn alle akademisch ausgebildeten Musiker waren durch die übergroßen Vorbilder aus Deutschland und Italien vorgeprägt und festgelegt. Mehr noch als sein Werk war Mussorgskij selbst die Verkörperung des alten und des neuen Rußlands : Ein Vertreter des Hochadels, der aus Liebe zu seinem Volk ins Elend des Proletariats hinabsteigt wie der Gottessohn zu den mühselig Beladenen. Und nur wenige sind für ihre Überzeugung so tief hinabgestiegen wie er. Noch nicht zweiundvierzig Jahre alt, hatten ihn Entbehrungen, Enttäuschung und Alkohol völlig verwüstet. Verwahrlost zog er nachts durch die
Kneipen der Altstadt, von epileptischen Anfällen und panischen Angstzuständen gehetzt. Schließlich wurde er bewußtlos in ein Lazarett eingeliefert. Sein Zustand war hoffnungslos: Leberzersetzung, Herzverfettung, zerstörte Nieren und Rückenmarkentzündung. Hinzu kam ein Schlaganfall, der den ausgemergelten Körper lähmte. Nur sein Geist war noch hellwach. Sein Bruder schickte ihm Geld ins Hospital. Ein Krankenhausdiener ließ sich bereden, zwei Flaschen Cognac herbeizuschaffen. Sie gaben dem Todgeweihten den Rest. Am 16. März 1881, seinem zweiundvierzigsten Geburtstag, starb er. Dieser Rasputin der Musik, den die einen für einen Stümper und die anderen für ein Genie halten, ist - wie immer man sich entscheiden mag - der Beweis dafür, daß die Kraft einer lebendigen Idee stärker ist als alle traditionellen Kräfte des Wissens und des Könnens.
Was geschah mit Glenn Miller? »Alles, was lebt, muß sterben. Der Mensch ist das einzige irdische Geschöpf, dem es bisweilen gelingt, Unsterblichkeit zu erlangen.« Dieser Ausspruch des römischen Kaisers Hadrian hat bis in die Gegenwart nichts von seiner Gültigkeit verloren. Die einen werden unsterblich durch große Werke, andere, indem sie ihr Leben opfern, und noch wieder andere,
indem sie nicht sterben, sondern sich auf rätselhafte Art und Weise in Luft auflösen oder gen Himmel fahren. Glenn Miller beschritt alle drei Wege und erlangte die Unsterblichkeit, von der er zeitlebens geträumt hatte. Er wurde zur amerikanischen Legende. Am 15. Dezember 1944 kletterte er auf einem englischen Militärflughafen in ein einmotoriges Flugzeug. Die Maschine hob ab, stieg in den Himmel und verschwand, ohne daß man jemals wieder etwas von ihr gehört oder gefunden hätte. Der Olymp hatte einen Halbgott zu sich genommen. Der erfolgreichste Bandleader aller Zeiten, der bekannteste und beliebteste Major der Air Force hatte bei der Ausübung seiner soldatischen Pflicht dem Vaterland das Höchste geopfert, das ein Mensch zu geben vermag, sein Leben. Es war die Geburtsstunde der Glenn-Miller-Story, mehrmals verfilmt und beschrieben, ein amerikanisches Heldenepos, das Märchen vom kleinen häßlichen Entlein, das nicht nur zum Schwan, sondern zum Adler wurde. Melodien wie ›In the Mood‹, ›Chatanooga Choo Choo‹, die ›Moonlight Serenade‹ oder die ›American Patrol‹ kennt heute jeder, auch wenn er nicht weiß, daß sie von Glenn Miller stammen. Dieser unscheinbare Mann mit der randlosen Brille genoß
eine Popularität wie nur wenige Musiker seiner Zeit. Selbst die älteren, konservativeren Jahrgänge, die dem Jazz als Negermusik ablehnend gegenüberstanden, schwärmten für Glenn Millers romantischen Swing, im Gegensatz zu den Fachleuten, die naserümpfend darauf hinwiesen, daß Glenn Miller eigentlich mehr ein geschäftstüchtiger Arrangeur als ernstzunehmender Komponist sei und an Benny Goodman, den König des Swing, bei weitem nicht heranreiche. Doch Miller war der Erfolgreichere. Er gehörte zu den gefeiertsten und bestverdienenden Musikern seiner Zeit. Dabei dauerte seine ganze Karriere nicht länger als acht Jahre; die ersten zwei waren schrecklich und die letzten sechs ein rauschender Triumphzug. Am 1. März 1904 wurde Glenn Miller in Clarinda, Iowa, geboren. In Nebraska, Oklahoma und Colorado wuchs er auf. Nichts wies darauf hin, daß dieser blasse, schwächliche Judenjunge einmal zum gefeierten Idol seines Kontinents aufrücken würde. 1921 begann er mit einem Studium an der Universität von Colorado, das er nach einem Jahr wieder abbrach, um Musiker zu werden. Als Klarinettist und Trompeter schlug er sich mehr schlecht als recht durch. Er wechselte die Bands wie andere ihre Freundinnen und träumte von einem Platz an der Sonne.
An seinem fünfunddreißigsten Geburtstag machte er sich selbständig und gründete seine erste eigene Band. 1940 war er bereits so populär, daß er nicht mehr in der Lage war, alle Rundfunk-, Konzert und Schallplattenangebote anzunehmen. Seine wirklich große Zeit aber begann erst mit dem Krieg. Da er bereits zu alt war, um eingezogen zu werden, meldete er sich freiwillig bei der Air Force. Nach der Grundausbildung in Atlantic-City erhielt er den Rang eines Technical Training Commanders. Aber schon bald begann er mit dem Aufbau der erfolgreichsten amerikanischen Military Band aller Zeiten. Unbedingt wollte er nach Europa an die Front, um für die kämpfenden Jungs zu spielen. 1944 ging er nach England. Am 14. August spielte er vor zehntausend Soldaten in Wharton, am nächsten Tag in Burtonwood waren es fast doppelt so viele. Sein Jahresrekord lag bei dreihundert Live-Auftritten und fünfhundert Radioaufnahmen. Seine in Europa vom BBC ausgestrahlten Swing Concerts waren die beliebtesten Sendungen der Alliierten Streitkräfte. Glenn Miller avancierte vom Commander zum Captain und vom Captain zum Major. Im Zenit seines Erfolges stieg er in den Himmel und verschwand. Wie es hieß, hatte er die Absicht, nach Paris zu fliegen, um die Auftritte seiner Band, die ein paar Tage später nachkommen sollte, vorzube-
reiten. Drei Personen befanden sich in der Maschine, der Pilot, Glenn Miller und ein Oberst der Air Force, dessen Mitflug jedoch später angezweifelt worden ist. In dem amerikanischen Nachschlagewerk zu diesem Thema, ›The Complete Encyclopedia of Popular Music and Jazz‹, heißt es: »Plane reported missing, never found. But Miller never forgotten!« (Das vermißte Flugzeug wurde niemals gefunden. Aber Miller wurde niemals vergessen.) Bereits wenige Tage nach dem rätselhaften Verschwinden wurden die ersten Zweifel wach, daß hier nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sei. Aber es ereigneten sich wichtigere Dinge. Der Krieg war in seine Endphase getreten. Die Nachrichten überschlugen sich. Länder wurden erobert, Städte zerstört. Überall starben Menschen, ohne daß Untersuchungen angestellt wurden. Warum sollte man bei Glenn Miller eine Ausnahme machen? Und so steht noch heute in allen Nachschlagewerken und Musikgeschichten, daß Glenn Miller am 15. Dezember 1944 während eines Fluges von England nach Frankreich verlorenging. Was ist an dieser Behauptung wahr? Lassen Sie uns dieser mysteriösen Angelegenheit gemeinsam auf den Grund gehen. Nur wenige Tage nach dem spurlosen Verschwinden wurde die Frage aufgeworfen, ob Glenn Miller
überhaupt nach Frankreich geflogen sei. Zu viele gewichtige Gründe sprachen gegen diese Annahme. Glenn Millers Freund und engster Vertrauter Don Haynes schrieb in sein Tagebuch: »Keine Spur von Glenn seit jenem nebligen Nachmittag, an dem ich als einziger ihren Abflug beobachtete.« (I alone saw them off.) Jeder, der ein wenig Ahnung vom Fliegen hat, weiß, daß man mit einem Flugzeug nicht einfach losfahren kann wie mit einem Auto. Start und Landung müssen beim Tower angemeldet werden und bedürfen der Freigabe durch den Fluglotsen. Die Maschine Glenn Millers jedoch flog oder flog nicht - ohne Abmeldung und Freigabe. Don Haynes war der einzige, der von dem Vorgang Kenntnis genommen haben will. Hat er die Wahrheit gesagt? Wie war es möglich, daß ein Flugzeug so unbemerkt starten und so spurlos verschwinden konnte? Selbst für das letzte Kriegsjahr war das höchst ungewöhnlich, denn die Alliierten hatten gerade den Luftraum über dem Kanal sehr genau unter Kontrolle. Ihre Abhörsysteme überwachten alle Bewegungen der deutschen Luftwaffe, die Ende 1944 bereits dünn gesät waren. Am 15. Dezember waren mit so großer Wahrscheinlichkeit keine deutschen Jäger in der Luft, daß man in der englisch-amerikanischen Presse Überle-
gungen anstellte, Glenn Millers Maschine sei nicht vom Feind, sondern von der eigenen Flak abgeschossen worden. Wörtlich heißt es: »There is even a chance that it may have been shot down not by the enemy but by our own ack-ack, because it took off informally on an unchartered flight, one that could quite conceivable have had clearance of any sort, under weatherconditions so atrocious that none of the AAF transport planes were flying.« Verzeihen Sie das englische Zitat, aber bei unseren Nachforschungen über das zurückliegende Geschehen in jener Nacht sind die Quellen so wichtig, daß wir die Originale nicht unberücksichtigt lassen können. Das Flugzeug — so heißt es hier - startete formwidrig mit einem unberechtigten (verbotenen) Flug, der begreiflicherweise nicht die geringste Aussicht auf eine Fluggenehmigung gehabt hätte, und das unter so gräßlichen Wetterbedingungen, daß keine Transportmaschinen der Air Force flogen. Wie ist das möglich? Kein Pilot würde bei solch einem Wetter fliegen, es sei denn, es läge ein außerordentlich wichtiger und unaufschiebbarer Grund vor. Das war aber nicht der Fall. Es ging um die Vorbereitung einer Tournee, die erst in einigen Tagen beginnen sollte. Man hätte den Flug leicht verschieben können, ohne in Zeitnot zu geraten.
Warum ließ sich der Pilot dennoch auf das selbstmörderische Unternehmen ein? Hinzu kommt noch, daß Glenn Miller eine panische Angst vor dem Fliegen hatte. Mit Recht fragten sich alle, die ihn kannten: Warum ist Glenn unter so ungünstigen Wetterbedingungen geflogen? Der tolldreiste Flug paßte nicht zu dem übervorsichtigen Verhalten dieses sensiblen Mannes, der nichts riskierte und nie etwas dem Zufall überließ. Alle, die unter ihm geprobt hatten, wußten ein Lied davon zu singen. Je mehr man sich mit dem rätselhaften Geschehen in jener Dezembernacht befaßt, desto eher gelangt man zu der Erkenntnis, daß Glenn Miller nicht abgeflogen ist. Er benutzte den Flug als Alibi. Der Nebel war wie gemacht dafür. Es gab nur wenige Eingeweihte. Don Haynes war einer von ihnen. Er war nicht nur Millers persönlicher Manager in den Tagen seiner zivilen Bandleaderzeit gewesen, er übernahm auch nach dem Verschwinden von Glenn Miller das kommerzielle Management der Band. Wo ist Glenn Miller geblieben? Miller hatte einen jüngeren Bruder Herb, der als Musiker bei weitem nicht so erfolgreich war. Herb stellte jahrzehntelang Nachforschungen über den Verbleib seines Bruders an. Er verbrachte viele Monate in England und sprach mit Dutzenden von
Zeugen. Durch diese Aussagen und aus geheimen Protokollen der Air Force fand er heraus, daß Glenn in dem englischen Militärhospital Milton Ernest an Lungenkrebs starb. Die Legende des Absturzes sollte dem bereits vom Tod Gezeichneten die verdiente Unsterblichkeit verleihen. Am 18. Dezember 1944 wurde Glenn Miller für tot erklärt. Die offizielle Todesnachricht lautete: »Major Glenn Miller ist in Erfüllung seiner soldatischen Pflicht gefallen.« Wie kein anderer hatte dieser Mann bereits zu Lebzeiten an seiner eigenen Legende, der GlennMiller-Story, gearbeitet. Er beauftragte einen Schriftsteller mit der Niederschrift seiner Biographie, und es ist mehr als wahrscheinlich, daß er noch seine eigene Todesanzeige las, bevor er starb, um unsterblich zu werden.