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Deb Ralstons persönlichster und verstörendster Fall um sexuellen Mißbrauch führt die Polizistin zurück in ihre eigene Kindheit. Ich rannte an dem uniformierten Kollegen vorbei, der noch immer in sein Funkgerät schrie, vorbei an einer gutgekleideten, aschfahlen Frau, die mit dem Rücken an der Wand lehnte und die Knöchel der linken Hand in den Mund preßte, vorbei an einem kleinen Mädchen in Pink, das allein in einem Flur stand, und drückte gegen die geschlossene Schlafzimmertür, mit einem Arm über den Kopf eines anderen Polizisten hinweg, der versuchte, das Schloß mit einer Nagelfeile zu knacken. »Machen Sie Platz«, sagte ich, und er tat es. Das Schloß war leicht zu öffnen. Ich konnte nur vermuten, daß dieser Streifenbeamte keine Kinder hatte, die sich auf der Toilette einschließen, wie das alle kleinen Kinder irgendwann mal machen. Sekunden später, als die Tür nach ein wenig Fummelei mit der Klinge meines Taschenmessers aufsprang, sah ich die hübschen, weiß bestickten Organdyvorhänge sacht in der Brise wehen, die durch das offene Fenster drang. Aber Dusty saß nicht mehr auf dem Sims.
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DuMonts Kriminal-Bibliothek
Lee Martin, eigentlich Anne Wingate, 1943 geboren, stammt aus Ost-Texas und studierte an der Texas Woman’s University in Denton. Sie arbeitete selbst viele Jahre lang als Polizistin in Georgia und Fort Worth, Texas, versteht sich aber nach eigener Aussage eher als Mutter. Ihre Kriminalromane spiegeln die Wirklichkeit der Polizeiarbeit ebenso wider wie die Spannungen, die zwangsläufig zwischen Beruf und Privatleben entstehen. Heute lebt sie mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Salt Lake City, Utah. Von Lee Martin sind in DuMonts Kriminal-Bibliothek bereits erschienen: »Ein zu normaler Mord« (Band 1053), »Das Komplott der Unbekannten« (Band 1055), »Tod einer Diva« (Band 1061), »Mörderisches Dreieck« (Band 1067), »Tödlicher Ausflug« (Band 1071), »Keine Milch für Cameron« (Band 1082), »Saubere Sachen« (Band 1088) und »Hacker« (Band 1099) sowie der Sonderband »Neun mörderische Monate« (Band 2001), der die ersten drei Krimis versammelt.
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Herausgegeben von Volker Neuhaus
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Lee Martin Der Tag, als Dusty starb Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann
DuMont
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Für Heather und Dich
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Lee Martin: Der Tag, als Dusty starb / Lee Martin. Ulrike Wasel, Klaus Timmermann (Übers.) Köln : DuMont, 2002 (DuMonts Kriminal-Bibliothek ; 1113) ISBN 3-8321-6702-1 Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann Die Originalausgabe erschien 1993 unter dem Titel The Day That Dusty Died bei St. Martin’s Press, New York © 1993 Lee Martin © 2002 für die deutsche Ausgabe: DuMont Literatur und Kunst Verlag, Köln Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten Umschlagmotiv von Pellegrino Ritter Umschlag- und Reihengestaltung: Groothuis, Lohfert, Consorten (Hamburg) Satz: Greiner & Reichel, Köln Druck und Verarbeitung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-8321-6702-1
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Prolog Dusty Miller starb im Frühling, an einem Tag, der nach Judasbaum und Hartriegel duftete, an dem späte Narzissen und frühe Taglilien blühten und der Himmel so zart und blau und unschuldig aussah wie die Augen eines Neugeborenen. Ich war nicht als Mitarbeiterin des Sonderdezernats da, sondern nur, weil ein Streifenpolizist mit vor Aufregung zittriger Stimme über Funk einen weiblichen Officer angefordert hatte – schnell. Ich war zwölf Querstraßen entfernt, und ich raste so schnell ich konnte hin. Ich hatte ein Blaulicht mit Magnet ans Armaturenbrett geheftet, die Autoscheinwerfer blinkten, und die Sirene heulte. Aber ich war nicht schnell genug. Als ich auf den Parkplatz fuhr, sah ich das Mädchen, von dem man mir später sagte, daß es Dusty Miller war, auf einem Fenstersims des Hochhauses kauern, ganz allein, aschblondes Haar flatterte ihr ums Gesicht. Aber sie konnte mich wohl kaum sehen, unten auf dem Boden, und sie konnte mich wahrscheinlich auch nicht hören, so laut ich auch schrie. Ich mußte in Ruhe mit ihr reden können, wenn sie auf mich hören sollte. Es dauerte eine Weile, bis ich mit dem Fahrstuhl oben und in der Wohnung war, und noch ehe ich die richtige Tür gefunden hatte, die offen stand und in die mit dickem Teppichboden ausgelegte Diele führte, hörte ich über Funk einen Streifenpolizisten verzweifelt nach einem Rettungswagen rufen, als ob das noch etwas nützen könnte. Ich rannte an dem uniformierten Kollegen vorbei, der noch immer in sein Funkgerät schrie, vorbei an einer gutgekleideten, aschfahlen Frau, die mit dem Rücken an der Wand lehnte und die Knöchel der linken Hand in den Mund preßte, vorbei an einem kleinen Mädchen in Pink, das allein in einem Flur stand, und drückte gegen die geschlossene 7
Schlafzimmertür, mit einem Arm über den Kopf eines anderen Polizisten hinweg, der versuchte, das Schloß mit einer Nagelfeile zu knacken. »Machen Sie Platz«, sagte ich, und er tat es. Das Schloß war leicht zu öffnen. Ich konnte nur vermuten, daß dieser Streifenbeamte keine Kinder hatte, die sich auf der Toilette einschließen, wie das alle kleinen Kinder irgendwann mal machen. Sekunden später, als die Tür nach ein wenig Fummelei mit der Klinge meines Taschenmessers aufsprang, sah ich die hübschen, weiß bestickten Organdyvorhänge sacht in der Brise wehen, die durch das offene Fenster drang. Aber Dusty saß nicht mehr auf dem Sims. Sie war aus dem Fenster gesprungen. Aus dem Fenster und vierzehn Stockwerke tief. Ihr blaßrosa Pullover und die blaßblaue Stonewashed-Jeans waren jetzt ein pastellfarbener Klecks, verdunkelt von Rot – Rot – Rot. Ihr nackter linker Arm war so verbogen, wie Arme sich normalerweise nicht biegen lassen, ihr Kopf war viel zu weit nach hinten geknickt und baumelte von der Motorhaube der polierten blauen Corvette, auf der sie lag. Schon drängten sich Menschen um sie herum, Beamte und Zivilisten, und Sanitäter liefen mit einer Trage zu ihr, um sie in den Rettungswagen zu schaffen, der sie, wie ich wußte, ins Leichenschauhaus bringen würde, nicht in die Notaufnahme. Ich wandte mich um und ging aus dem Schlafzimmer zurück ins Wohnzimmer, wo die weinende Mutter von dem Streifenbeamten getröstet wurde, der ins Funkgerät gebrüllt hatte. Andersen, stand auf seinem Namensschildchen. Der zweite, auf dessen Namensschildchen Woodall stand, schrieb etwas in sein Notizbuch, und eine große Traurigkeit lag in seinem Gesicht. In diesem Moment kam ein Mann, der wohl der Vater des Mädchens sein mußte, herein und schrie: »Wo ist dieses dämliche kleine Miststück? Der werd ich beibringen, was ich von solchen leeren Drohungen halte. Daß man die Polizei rufen 8
muß und –« Die Mutter sah ihn an. »Es war keine leere Drohung«, sagte sie dumpf. »Sie ist gesprungen. Sie ist tot, Seth. Dusty ist tot.« »Gottverdammt«, sagte der Mann. »Wieso hast du das zugelassen, Ellen?« Die einzige erkennbare Emotion in seiner Stimme war Wut. Das kleine Mädchen in Pink – ich schätzte sie auf ungefähr zehn Jahre – stand noch immer im Flur. Die Mutter ging zu ihr und nahm sie in die Arme, doch das Mädchen riß sich los und lief den Gang hinunter. Ich hörte eine Tür zufallen, hörte, wie abgeschlossen wurde. Der Vater setzte sich auf die Couch und sagte: »Verflucht.« Dann setzte sich auch die Mutter, auf einen Stuhl, so weit weg von ihm, wie sie nur konnte, ohne das Zimmer verlassen zu müssen. In diesen wenigen Sekunden hatte ich schon ein halbes Dutzend Gründe für Selbstmord gesehen. Aber welcher war die unmittelbare Ursache? Welcher war der Auslöser gewesen? Wie gefährdet war das kleine Mädchen in Pink? Der Fall Dusty Miller begann als meine ganz persönliche Vendetta; ich wollte herausfinden, was eine hübsche, talentierte Sechzehnjährige dazu gebracht haben mochte, sich für diesen tiefen Sprung zu entscheiden – ich wollte es herausfinden und verhindern, daß noch jemand zu Schaden kam. Doch bevor der Fall abgeschlossen war, hatte ich nicht nur das Sonderdezernat darin verwickelt, sondern noch eine ganze Reihe anderer Menschen.
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Kapitel 1 »Er ist abgeschlossen«, sagte Captain Millner zu mir. »Debbie, ich weiß beim besten Willen nicht, was Sie erreichen wollen. Es war Selbstmord. Das Mädchen ist aus dem Fenster gesprungen. Niemand hat sie gestoßen. Niemand hat ihr geholfen. Niemand hat sie dazu genötigt. Ein Streifenbeamter war in dem Apartment, als es passierte.« »Zwei Streifenbeamte«, sagte ich. »Ein Streifenbeamter, zwei Streifenbeamte, was macht denn das für einen Unterschied, zum Donnerwetter noch mal. Jedenfalls waren sie da. Ebenso wie die Mutter und die Schwester. Alle waren sie da, in dem Apartment.« »Wohnung. Nicht Apartment. Sogar Eigentumswohnung. Sie glauben doch nicht, daß Leute mit soviel Geld in einem kleinen, gemieteten Apartment wohnen, oder?« Ich wußte, daß ich mich völlig unvernünftig verhielt, daß ich mich an Belanglosigkeiten festhielt, weil ich hoffte, daß anhaltender Zorn die Trauer ein wenig eindämmen würde. Aber nichts davon war Captain Millners Schuld. »Wie Sie meinen«, sagte er. Ich kippte den Inhalt meiner mittleren Schreibtischschublade in einen Umzugskarton und hoffte, daß ich es weiterhin schaffen würde, nicht loszuheulen. Es zog mich noch mehr runter, daß ich ein System auseinandernahm, an dem ich jahrelang gebastelt hatte, bis es haargenau meinen Bedürfnissen entsprach, und ich hatte so eine Ahnung, daß ich nicht alles wieder genau so würde zusammensetzen können, wenn ich erst an Chandras Schreibtisch saß. »Und der Vater ist gleich danach reingekommen. Ich wünschte, Sie hätten ihn gesehen, dann wüßten Sie, was ich meine –« »Ich weiß sehr wohl, was Sie meinen, und nach dem, was 10
Sie mir erzählt haben, hätte ich, wenn ich dabeigewesen wäre, nicht übel Lust gehabt, ihm das Nasenbein zu brechen. Aber Tatsache ist, es ist vorbei. Das Mädchen ist tot. Sie hat sich umgebracht. Sie wissen das, ich weiß das. Also, was um alles in der Welt wollen Sie noch erreichen –« »Hören Sie auf, mich das zu fragen«, sagte ich. »Hören Sie auf, mich zu fragen, was ich noch erreichen will. Ich kann nichts mehr erreichen. Das weiß ich. Aber interessiert es Sie denn gar nicht, warum? Irgendwas stimmt da nicht, und ich –« »Natürlich stimmt da was nicht«, sagte Millner schroff. »Das hat dieser Idiot von Vater ja mehr als deutlich gemacht, und überhaupt, Menschen bringen sich nicht um, wenn alles stimmt. Und natürlich frage ich mich, warum. Bei so was fragt man sich immer, warum, erst recht bei einem so jungen Ding. Aber ich werde meiner Neugier nicht während der Dienstzeit nachgeben. Und Sie auch nicht. Sie sind da hingefahren, weil dieser Blödmann hysterisch nach einem Detective geschrien hat. Ein Detective ist für so was nicht zuständig. Das wäre allein Sache der uniformierten Kollegen gewesen. Und selbst wenn ein Detective zuständig wäre, dann noch lange keiner vom Sonderdezernat. Und selbst wenn einer vom Sonderdezernat zuständig wäre –« »Ich bin raus. Ich weiß.« Ich klappte die Kartonlaschen zu und fing an, den Inhalt einer anderen Schublade in einen anderen Karton zu kippen. »Und er hat nicht nach einem Detective geschrien, er hat nach einer Frau geschrien. Falls Sie es noch nicht bemerkt haben, ich bin eine –« »Hab ich bemerkt, hab ich bemerkt«, sagte er hastig. »Es sei denn, es ist sexistisch, es zu bemerken; in dem Fall hab ich es nicht bemerkt. Und Sie sind nicht wirklich raus aus dem Sonderdezernat, nur vorübergehend. Sie wissen –« »Sie wissen, daß ich das Vergewaltigungsdezernat hasse!« platzte ich heraus. »Ich hab mein Soll da erfüllt. Jetzt ist mal jemand anders dran!« 11
»Wir müssen eine Frau in der Abteilung für Sexualdelikte haben«, sagte Millner sachlich. »Und jetzt, wo Chandra in Mutterschaftsurlaub gegangen ist –« »Haben Sie denn schon wieder vergessen, daß ich demnächst krank geschrieben bin?« erkundigte ich mich, knallte die Schublade zu und machte die nächste auf. »Sie müssen nicht alles mitnehmen, was Sie besitzen«, sagte Millner. »Wahrscheinlich bleiben Sie keine drei Monate drüben.« »Ich weiß nicht, was ich in drei Monaten brauche. Und hören Sie auf, ständig das Thema zu wechseln.« »Wenn Sie irgendwas brauchen, können Sie einfach über den Flur spazieren und es sich holen. Niemand wird sich an Ihren Schreibtisch setzen. Hören Sie auf, Ihre ganzen irdischen Besitztümer einzupacken. Und ja, ich weiß, daß Sie übermorgen am Fuß operiert werden. Was meinen Sie denn, wie lange Sie danach außer Gefecht gesetzt sind, Herrgott noch mal? Ich meine, Sie haben mir doch schon erzählt, daß Sie nicht mal über Nacht im Krankenhaus bleiben müssen –« »Mein Arzt hat gesagt, daß es nach der Entfernung eines Fersensporns bis zur vollständigen Genesung länger dauert als nach einer Operation am offenen Herzen.« »Schwachsinn«, sagte Millner. »Das hab ich auch gesagt, jedenfalls so was in der Art. Und er hat gekontert: ›Auf Ihrem Herzen müssen Sie nicht laufen.‹« »Na gut, dann fallen Sie eben ein paar Tage aus, und dann gehen Sie an Krücken. Was macht das schon, wenn Sie nicht zum Tatort fahren können? Im Büro können Sie trotzdem arbeiten. Und genau da brauchen wir eine Frau. Deb, hören Sie jetzt endlich mal mit diesen verdammten Kartons auf? Sie müssen schließlich nicht nach Timbuktu.« »Ich packe ein, was mir paßt«, schrie ich. »Ich weiß ja, daß die eine Frau brauchen, aber wieso ausgerechnet mich! Ich bin schließlich nicht die einzige Frau im ganzen Detective Bureau.« 12
»Es gab mal eine Zeit, da waren Sie das«, stellte Millner klar. »Und es gab mal eine Zeit, da waren Sie froh darüber.« »Es hat nie eine Zeit gegeben«, sagte ich spitz und leicht boshaft, während ich akkurat den Pullover zusammenfaltete, den ich im Sommer immer über der Rückenlehne meines Schreibtischstuhls hängen habe, um ihn überzuziehen, wenn die Klimaanlage zu kalt eingestellt ist, »in der ich froh darüber war, die einzige Frau im Detective Bureau zu sein.« »Sie wissen schon, was ich meine«, sagte Millner. »Würden Sie mir bitte erklären, was Sie gegen die Abteilung für Sexualdelikte haben? Ich meine, Frauen sagen doch immer –« »Daß es im Vergewaltigungsdezernat Frauen geben sollte, ich weiß, aber –« »Nennen Sie es nicht dauernd Vergewaltigungsdezernat!« brüllte Millner mich an. »Es ist die Abteilung für Sexualdelikte!« »Schon gut, schon gut, es ist die Abteilung für Sexualdelikte! Es geht mir da einfach zu chaotisch zu, mehr nicht«, sagte ich nicht ganz wahrheitsgemäß. Das war nur einer der Gründe. Es waren sicher nicht alle Gründe. »Da arbeiten irgendwie alle gleichzeitig an allen Fällen. Nicht wie –« »Im Sonderdezernat«, beendete Millner in sarkastischem Ton den Satz für mich. »Wo man theoretisch pro Person einen Fall hat, nur daß in Wirklichkeit alle irgendwie gleichzeitig an allen Fällen arbeiten. Tja, Deb, wissen Sie was? In der Abteilung für Sexualdelikte arbeitet theoretisch auch jeder immer nur an einem Fall.« »Aber hier weiß ich, was ansteht. Da weiß ich das nicht.« Das war eine lahme Entschuldigung, und ich wußte es, und ich wußte nur allzugut, daß er das auch wußte. Aber ich wußte auch, daß ich niemals, nicht in einer Million Jahren, Captain Millner alle Gründe erläutern würde, warum ich so einen Widerwillen hatte, in der Abteilung für Sexualdelikte zu arbeiten. 13
»Ich werde dafür sorgen«, sagte Millner, »daß Sie ausreichend darüber informiert werden, was ansteht. Und Sie werden diese Dusty-Miller-Sache auf sich beruhen lassen.« »Ich werde keine Dienstzeit dafür verwenden«, sagte ich. Er funkelte mich an. Er weiß, ebenso wie meine Familie das weiß, daß ich, wenn mir etwas keine Ruhe läßt, genauso viel von meiner Freizeit darauf verwende wie von meiner Dienstzeit. Aber er konnte mir nicht vorschreiben, wie ich meine Freizeit zu verbringen hatte, zumindest nicht, solange ihm keine offizielle Beschwerde von einem Bürger oder einer Bürgerin vorlag, der oder die sich durch mich belästigt fühlte. Also beschloß er vermutlich klugerweise, das Thema zu wechseln. »Kennen Sie alle in der Abteilung?« »Ja«, sagte ich, und dann wurde mir klar, daß das inzwischen nicht mehr ganz der Wahrheit entsprach. Vor sieben Jahren, als ich selbst in der Abteilung arbeitete, kannte ich natürlich alle. Jetzt konnte ich bestenfalls behaupten, daß ich sie alle vom Sehen kannte. Chandra Kay Randall, die ich vorübergehend vertreten sollte, war eine Schwarze Anfang Dreißig, und ich war ein paarmal mittags mit ihr essen gegangen. Ich konnte sie gut leiden, aber das spielte keine Rolle, weil sie nicht da sein würde, solange ich da war. Alle anderen in der Abteilung waren Männer, was ich für idiotisch hielt; logischerweise sollte die Hälfte Frauen sein, fand ich. Wenn nicht mehr. Die meisten Täter waren männlich, zugegeben, aber die meisten Opfer waren weiblich. Zumindest die meisten Opfer, die aktenkundig wurden. Und bei denjenigen, die nicht aktenkundig wurden, konnten wir ohnehin nichts unternehmen. Leiter der Abteilung war Sergeant Rafe Permut. Ich kannte ihn nicht besonders gut, aber das wenige, was ich von ihm wußte, fand ich sympathisch. Er erinnerte mich an Captain Greco aus Mathnet, der Krimiserie für Kinder, die ich mir manchmal aus purer Langeweile (und weil sie wirklich ganz 14
lustig ist) anschaue, wenn ich zufällig gerade zu Hause bin. Roger Hales kannte ich zwar, mochte ihn aber nicht, vor allem, weil er einen etwas verschrobenen Humor hat. Und das will was heißen, weil so ziemlich alle Cops eine fürchterliche Vorstellung davon haben, was spaßig ist. Obwohl wir häufig Beschwerden kriegen, weil Polizisten an einem Mordtatort gelacht haben, zeugt das nicht von der Gefühllosigkeit der Beamten. Im Gegenteil; so etwas ist reine Selbsterhaltung. Roger Hales dagegen lachte sogar über Dinge, die die meisten Cops nicht komisch finden. Außerdem dürfte er meiner Meinung nach nicht mal in die Nähe irgendeines Menschen gelassen werden, der Opfer eines Verbrechens geworden ist, schon gar nicht Opfer eines Sexualdeliktes. Er glaubt erst dann an eine Vergewaltigung, wenn das Opfer übersät ist mit Blutergüssen und Prellungen und Stichwunden. Er glaubt an den Quatsch von der Colaflasche und dem Ast. Man kann den Ast nur dann in die Flasche stecken, wenn die Flasche stillhält; deshalb meint er, die Frau war einverstanden und hat es sich hinterher anders überlegt. Er kriegt es einfach nicht in den Kopf, daß keiner der Flasche ein Messer an den Hals oder eine Pistole an den Kopf gedrückt oder gesagt hat: »Ich bring deine Kinder um, wenn du nicht mitmachst.« Wayne Harris kannte ich wirklich nur vom Sehen, und ich wußte nicht, ob ihn überhaupt jemand besser kannte als nur vom Sehen. Er war erst wenige Monate zuvor ins Detective Bureau versetzt worden, und mein Eindruck war, daß er bei jedem denkbaren Thema immer demjenigen zustimmte, dessen Schreibtisch ihm am nächsten war. Vielleicht würde er sich ändern, wenn er sich in seinem neuen Job sicherer fühlte, vielleicht aber auch nicht. Er erinnerte mich an den Witz über die Stadt, die so eintönig war, daß kein da da war. Soweit ich das sagen konnte, war das einzige da an ihm ein Spiegelbild. Leider stand sein Schreibtisch dem von Roger Hales am 15
nächsten. Henry Tuckman kannte ich kaum. Auch er war ein relativ frischgebackener Detective, nicht länger als ein Jahr, und er war der einzige Schwarze in der Abteilung für Sexualdelikte. (Bis dahin hatte Chandras Anwesenheit gleich zwei Zwecke erfüllt: Sie war die einzige Schwarze und die einzige Frau.) So ziemlich das einzige, was ich über ihn gehört hatte, war, daß er sich immer gründlich Zeit zum Nachdenken nimmt, daß man aber, wenn er schließlich zu einem Ergebnis gekommen ist, fast hundertprozentig sicher sein kann, daß er recht hat. Manuel Rodriguez hatte etwa gleichzeitig mit Tuckman in der Abteilung angefangen, und in mancherlei Hinsicht war er genau das Gegenteil von ihm. Er hat manchmal unglaublich gute Eingebungen, rein intuitiv – darin ist er wie ich –, aber er kann damit ebensogut falsch- wie richtigliegen, was, wenn ich es mir recht überlege, auch genau wie bei mir ist. Mich mitgezählt, also ab morgen, insgesamt sechs Leute. Sechs Leute, um sämtliche Sexualdelikte zu bearbeiten, die in der Stadt Fort Worth, Texas, mit ihren fünfhunderttausend Einwohnern begangen werden. Statistisch gesehen, wird in Amerika mindestens eine von vier Frauen mindestens einmal in ihrem Leben Opfer eines Sexualdelikts, und mindestens einer von sechs oder sieben Männern, normalerweise in der Kindheit. Obwohl die Anzahl der Sexualstraftäterinnen steigt, handelt es sich doch noch immer um ein überwiegend von Männern begangenes Verbrechen, was bedeutet, daß die meisten weiblichen Opfer heterosexuellen Tätern und die meisten männlichen Opfer homosexuellen Tätern zum Opfer fallen. Pro Jahr werden in Fort Worth ungefähr vierhundertfünfzig brutale Vergewaltigungen gemeldet und bestätigt. Hinzu kommen all die Fälle von Kindesmißbrauch, Mißbrauch an Schutzbefohlenen (bei denen es sich oft genug um Vergewaltigungsfälle handelt, die jedoch aus mannigfachen Gründen nicht so eingestuft werden), sexuelle Übergriffe gegen 16
Männer und Jungen und so weiter. Das macht also für jeden Mitarbeiter der Abteilung rund fünfundsiebzig Vergewaltigungsfälle plus ein Sechstel all der anderen gemeldeten Sexualdelikte pro Jahr – etwa einhundert Fälle für jeden, zirka acht im Monat, knapp unter zwei pro Woche. Und wenn Sie wirklich glauben, daß sechs Leutchen das angemessen schaffen, dann würde ich Ihnen gerne ein hübsches Haus mit Meerblick in Arizona verkaufen. Darüber hinaus können Sie sicher sein, daß weniger als zehn Prozent aller Sexualdelikte jeder Kategorie überhaupt zur Anzeige gebracht werden, hier oder sonstwo auf der Welt. Deshalb gehen Mitarbeiter der Abteilung für Sexualdelikte ebenso wie Polizeibeamte, die für Öffentlichkeitsarbeit zuständig sind, in die Schulen und Kirchen und halten jede Menge Vorträge, um den Menschen zu vermitteln, daß Vergewaltigung etwas Reales ist, daß die Opfer tatsächlich leiden, daß nichts Komisches dabei ist und daß sie wirklich jedes Sexualdelikt, das sie mitbekommen, zur Anzeige bringen sollten. Aus eigener Erfahrung weiß ich, daß man, wenn man so einen Vortrag hält und in die erstarrten Gesichter im Saal blickt (übrigens meist weibliche Gesichter; ich denke, männliche Opfer finden Vorwände, sich selbst vor solchen Vorträgen zu drücken), ganz genau weiß, daß man Frauen sieht, die Opfer eines Sexualdeliktes geworden sind, das nie angezeigt wurde und auch nie angezeigt werden wird. Und wenn man in die selbstgefälligen, arroganten (meist männlichen) Gesichter blickt, erkennt man, wer ein potentieller Täter ist, oder zumindest ein Mann, der Frauen als seine rechtmäßige Beute betrachtet. Das soll natürlich nicht heißen, daß die meisten Täter oder potentiellen Täter auf diese Weise zu erkennen sind. Die meisten von ihnen sehen wie jedermann aus und verhalten sich auch so – was sie um so gefährlicher macht. Leider Gottes werden viel zu viele Sexualdelikte, die tatsächlich angezeigt 17
werden, letztlich als »unbegründet« eingestuft – das heißt, es gibt keine hinreichenden Beweise dafür, daß ein Verbrechen begangen wurde. Es kommt oft vor, daß man eine Ermittlung wider besseres Wissen als unbegründet einstellen muß, nur weil man weiß, daß man den Fall vor Gericht niemals beweisen könnte. Das ist selbst für einen Cop schwer zu verdauen. Aber noch schwerer ist es für das Opfer. Und man weiß, daß auf jeden verurteilten Sexualstraftäter mindestens zwanzig kommen, die ungeschoren bleiben. Von den meisten erfährt man nicht mal, weil die Opfer keine Anzeige erstatten. Man weiß auch, daß es erschreckend viele Menschen gibt (darunter auch, wie bereits erwähnt, mindestens eine Person in der Abteilung für Sexualdelikte), die immer noch nicht ganz glauben, daß es Vergewaltigung tatsächlich gibt, oder die glauben, es sei ein Verbrechen aus Leidenschaft. Das ist es nicht. Es ist ein Verbrechen aus Lust an Gewalt, aus Aggression, normalerweise aus Haß. Das Alter von Vergewaltigungsopfern, und das weiß ich schon allein aus den Fällen, die ich selbst bearbeitet habe oder die von mir bekannten Kollegen bearbeitet wurden, kann von zweiundneunzig bis hinunter zu sechs Wochen rangieren. Ja, ganz recht, Wochen, und ja, natürlich ist das Baby gestorben. Ich halte mich für eine ziemlich professionelle Polizistin, aber wie die meisten Menschen möchte ich das Gefühl haben, erfolgreich zu sein. Das heißt, daß ich lieber Fälle bearbeite, die ich auch aufklären kann. Ich habe lieber Situationen, in denen ich etwas Gutes bewirken kann. Und ich hatte nie – so gern ich mich auch vom Gegenteil überzeugen lassen würde – das Gefühl, in der Abteilung für Sexualdelikte irgend etwas Gutes zu bewirken. Captain Millner ist felsenfest überzeugt, daß ich dort etwas Gutes bewirken kann, eigentlich überall, wo man mich hinschickt. Im Grunde heißt das, daß er mir vertraut, und 18
normalerweise bin ich darüber froh. »Tut mir leid, daß ich so gereizt bin«, lenkte ich ein. Er zuckte die Achseln. »Selbstmorde gehen jedem an die Nieren«, sagte er. »Vor allem von Teenagern.« »Das kann man wohl sagen«, bestätigte ich. Ich ließ ihn in dem Glauben, das sei das Problem, weil ich nicht die Absicht hatte, ihm zu sagen, was das eigentliche Problem war. Das war einfach zu persönlich. »Lassen Sie die Kartons hier«, sagte er, da er es offenbar leid war, auf Dutchs Schreibtisch gestützt, mir beim Packen zuzusehen. »Ich laß sie von jemand anderem rüberbringen. Kommen Sie.« Ich folgte ihm über den Flur in die Abteilung für Sexualdelikte, wo mich drei interessierte Gesichter empfingen (die zwei anderen Männer waren irgendwo unterwegs) und die Erkenntnis ereilte, daß ich alle meine Sachen in einem Schreibtisch würde unterbringen müssen, den Chandra nicht ausgeräumt hatte, bevor sie ging. Verübeln konnte ich es ihr nicht. Im letzten Monat war sie kaum noch in der Lage gewesen, sich dahinterzuquetschen. »Erzählen Sie Deb, was anliegt«, sagte Millner. »Und dann hat sie den Rest des Nachmittags frei. Sie hat jede Menge Überstunden abzufeiern, da kann sie heute schon mal mit anfangen.« Und damit ging er zurück in sein eigenes Büro. »Willkommen«, sagte Rafe Permut, der ganz genau wußte, wie ungern ich hier war. Er sah noch immer aus wie Captain Greco in Mathnet. Das heißt, daß er für einen Cop ziemlich klein war – knapp 1,70 –, schmächtige Statur, dünner Schnurrbart, fast kahlköpfig, bis auf einen kleinen Kranz kurzer Haare um den Schädel herum. Er hatte sehr ausdrucksvolle Gesten und eine leicht sarkastische Art. »Und Sie wollen wissen, was derzeit anliegt.« »Das wäre hilfreich«, sagte ich und schämte mich ein bißchen, weil ich Captain Millner gegenüber so gereizt gewesen 19
war. Mal abgesehen von meinen persönlichen Gefühlen, diese Einheit hier brauchte mich. Sie macht so ziemlich die schlimmste Arbeit in der ganzen Stadt. Sehen Sie’s mal so: Ein Mordopfer ist schon tot, aber das Opfer eines Sexualdeliktes ist normalerweise am Leben und völlig verstört, und der Durchschnittsmann, auch wenn er ein Cop ist, reagiert gemeinhin selbst ein wenig verstört, wenn eine Frau einfach nicht aufhört zu weinen. Permut zuckte die Achseln und wedelte resigniert mit den Händen in der Luft. »Ein Bursche namens Morgan Powell«, sagte er. »Hatte fünfzehn Jahre seiner Haftstrafe von hundertzwanzig Jahren abgesessen. Dann wurde er auf gerichtliche Anordnung freigelassen. Er hat einen zwölfjährigen Jungen entführt und vergewaltigt. Hab ihn gerade wieder eingebuchtet. Roger erledigt den Papierkram. Er war sechs Tage lang draußen.« »Wie geht’s dem Jungen?« »Ihre Freundin Susan Braun kümmert sich um ihn.« Susan leitet eine psychiatrische Privatklinik. Ich konnte mir also ungefähr vorstellen, in welcher Verfassung der Junge war. »Was noch?« fragte ich. »Wir haben einen Sekundenkleber-Vergewaltiger.« Von dem hatte ich gehört; die Zeitungen hatten darüber berichtet. Dieses Muster taucht ab und an auf, wahrscheinlich häufiger, als es der Fall wäre, wenn die Sensationspresse es nicht so breittreten würde. »Er hat bereits siebenmal zugeschlagen, überall in der Stadt. Nach verübter Tat klebt er den Frauen Augen und Mund zu, und raten Sie mal, was noch.« »Scheiße«, sagte ich unwillkürlich. »Ganz Ihrer Meinung. Wayne und Manuel sind an dem Fall dran. Wir machen keine berauschenden Fortschritte. Wir haben DNA – ein Mißgeschick; er benutzt ein Kondom und nimmt es mit, aber bei dem einen Mal hat er es draußen verloren –, aber die DNA nützt uns nichts, solange wir keinen Verdächtigen 20
haben, um sie zu vergleichen. Keine Fingerabdrücke. Keine Täterbeschreibung. Keine Fahrzeugbeschreibung. Nichts, was uns irgendwie weiterbringen würde. Wir haben einen Vergewaltiger auf dem Campus der TCU. Lauert Studentinnen hinter Büschen auf. Das erste Mal hat er in der Nähe der Bibliothek zugeschlagen. Wir haben einen Mann vor der Bibliothek postiert. Also ist er rüber zum Gebäude der Studentenvertretung.« »Ich kann mich nicht erinnern, daß da irgendwelche Büsche sind«, sagte ich. Ich kenne den Campus der Texas Christian University ein bißchen; es gibt dort eine gute Campus-Polizei, aber gelegentlich brauchen sie trotzdem unsere Unterstützung. »Vielleicht hat er sich hinter einem Laternenpfahl versteckt, vielleicht ist er mit einer fliegenden Untertasse gelandet. Verdammt, ich weiß es nicht, das Opfer hat ausgesagt, er wäre aus dem Nichts aufgetaucht, aber wir sind ziemlich sicher, daß er von irgendwoher gekommen sein muß. Um den Fall kümmert sich Henry. Die Patrouillen auf dem Campus wurden verstärkt, und seit einer Woche ist nichts mehr passiert, kann also sein, daß er weg ist. Aber verlassen würde ich mich nicht drauf.« »Gibt’s von dem eine Beschreibung?« fragte ich. »Blue Jeans. Turnschuhe. Sweatshirt mit TCU-Aufdruck. Braunes Haar, mittellang. Braune Augen oder vielleicht blau. Zwei Hände, zwei Füße. Wieder DNA, aber auch in diesem Fall können wir noch nichts damit anfangen. Eines Tages gibt es bestimmt eine landesweite DNA-Kartei von vorbestraften Sexualtätern.« »Die arbeiten dran«, sagte ich. Tatsächlich rechnet das FBI damit, in spätestens vier oder fünf Jahren den Prototyp fertig zu haben. Aber das nutzte uns heute nichts, und außerdem würden nur vorbestrafte Täter darin geführt. Im Bereich Sexualstraftaten gibt es immer eine Menge Amateure, eine Menge Neulinge. 21
»Plus die übliche Anzahl Vergewaltigungen durch Bekannte, und davon sind einige echte Vergewaltigungen und andere eben nicht. Sie wissen ja, wie das läuft.« Ich weiß, wie das läuft, und inzwischen fand ich, daß ich ziemlich gut beurteilen konnte, ob die Frau die Wahrheit sagte. Ich erinnere mich an einen Fall, als ich das letzte Mal in diese Abteilung gesteckt worden war, da kam eine bekannte Prostituierte, um Anzeige wegen Vergewaltigung zu erstatten. Die Männer – selbst diejenigen, die normalerweise Mitgefühl mit den Opfern hatten – taten ihr gegenüber so, als würden sie die Sache ernst nehmen, aber hinter ihrem Rücken fanden sie es zum Schreien. »Das fällt wohl eher unter Diebstahl angebotener Dienstleistungen«, höhnte einer. Aber ich war es, die unter vier Augen mit ihr sprach, ich war es, der sie erzählte, wie sie ihren kleinen Bruder vor einem Kino abgesetzt hatte, einen Block weitergefahren war, ohne von innen die Autotüren zu verriegeln, wie ein Mann an der nächsten roten Ampel eingestiegen war. Und sie zitterte, ihre Stimme bebte, genau wie bei jeder anderen Frau in dieser Situation. Sie machte auch keinen Hehl aus ihrem Beruf. »Nur weil ich es verkaufe, hat er nicht das Recht, es sich zu nehmen«, sagte sie am nächsten Tag zu mir. Aber diese Tapferkeit war nur gespielt. Schon die Art, wie sie atmete, verriet Angst, und der Rock, den sie trug – und sehr häufig ist die Kleidung, die das Opfer am nächsten Tag trägt, ein völlig unbewußtes Signal dafür, wie tief die Furcht sitzt – ging ihr fast bis zu den Knöcheln. Dann war da die Frau, die schreiend, weinend hereinkam und aussah, als würde sie jeden Augenblick ohnmächtig werden und mit dem Kopf auf den nächstbesten Schreibtisch knallen. Die Männer – selbst diejenigen, die sonst bestenfalls skeptisch reagieren – überschlugen sich fast, brachten ihr Cola, Kleenex, Aspirin. Ich war es, die sich zu ihr setzte und sagte: »Bevor Sie Ihre Aussage unterschreiben, möchte ich Sie zunächst über die 22
in Texas auf Meineid stehenden Strafen informieren.« Sie entschied sich, die Aussage doch noch nicht sofort zu unterschreiben. Und als sie am nächsten Tag kam, trug sie Hot pants, oder wie auch immer die knappen Shorts damals hießen, und gestand verlegen, daß sie die ganze Geschichte erfunden hatte. Sie hatte sich mit ihrem Freund gestritten, war losgezogen und hatte die Nacht mit einem anderen Mann verbracht, und mit der angeblichen Vergewaltigung wollte sie sich vor möglichen Vorwürfen schützen, sie sei untreu gewesen, und gleichzeitig ihrem Freund ein schlechtes Gewissen machen. Und dann war da noch die Frau, die die Vergewaltigung erst zwei Wochen danach meldete. Sie hatte Streit mit ihrem Mann gehabt. Um sich zu beruhigen, war sie in den Trinity Park gegangen, wo sie eine Zeitlang am Flußufer sitzen und ungestört nachdenken wollte. Dort entdeckte sie ein Mann… Selbst zwei Wochen später, als sie Anzeige erstattete, waren die Spuren des Kampfes noch sichtbar: Blutergüsse an den Handgelenken, aufgeschlagene Knie. Ihr Mann sagte, er glaube ihr nicht. Er sagte, sie sei nicht vergewaltigt worden. Und selbst wenn, wäre es ihre eigene Schuld, weil sie so dumm gewesen war. Sie befand sich bereits wegen Depressionen in medizinischer Behandlung. Ihr Arzt war nicht in der Stadt, würde erst um sieben Uhr morgens am nächsten Tag mit dem Flugzeug zurückkommen, und sie lehnte es ab, sich in der Notaufnahme verarzten zu lassen. Sie wollte auf ihren eigenen Arzt warten. Damals gab es in Fort Worth noch kein Team zur Betreuung von Vergewaltigungsopfern. Nachdem ich an diesem Abend Dienstschluß hatte, fuhr ich zur Notaufnahme und setzte mich zu ihr in den winzigen Behandlungsraum. Ich saß da und hielt ihr die Hand und versuchte, sie zu beruhigen, und konnte förmlich sehen, wie sie allmählich wahnsinnig wurde. Als ihr Arzt endlich eintraf, zwölf Stunden nachdem sie Anzeige erstattet hatte, ließ er sie sofort in eine geschlossene 23
psychiatrische Abteilung verlegen. Sie hatte die Vergewaltigung so gut oder schlecht überstanden wie jede andere Frau auch, dachte ich damals, und das denke ich noch heute. Was sie in den Wahnsinn trieb, war die grausame Reaktion ihres Mannes. Und ab morgen würde ich mich für die nächsten drei Monate mindestens – und da ich Chandra kannte, hatte ich so das Gefühl, daß aus den drei Monaten leicht auch fünf oder sechs werden könnten; nicht daß ich ihr das verübelte, ich würde selbst auch gern mit einem Neugeborenen zu Hause bleiben, wenn ich die Möglichkeit dazu hätte – wieder mit solchen Fällen befassen müssen. Ich war zwar inzwischen um einiges älter als beim letzten Mal, aber ich wußte nicht, wie ich klarkommen würde. Wenn ich doch nur die Gewißheit hätte, helfen zu können… Doch die Prostituierte, mit der ich damals bei geschlossener Tür so lange in einem Vernehmungsraum gesprochen hatte, war mittlerweile tot, zwei Jahre später von einem betrunkenen Freier in einem Motelzimmer ermordet worden, und der Vergewaltigungsfall galt noch immer als ungeklärt. Die Frau, der ich in der Notaufnahme die Hand gehalten hatte, beging zwei Wochen nach ihrer Entlassung aus der Psychiatrie Selbstmord. Auch dieser Fall wurde nie aufgeklärt. Wir hatten zwar einen Verdächtigen gefunden, aber wir hatten nichts, um ihn festnageln zu können – weder Beweismittel noch die Aussage des Opfers –, und ich vermutete, daß er weiterhin Frauen an Flußufern vergewaltigte. Oh, ich erinnerte mich an ein paar kleine Triumphe – Opfer, denen man glaubte, Kriminelle, die für zwanzig Jahre hinter Gittern landeten –, aber diese Fälle hätte jeder gewinnen können. Ich fand nicht, daß ich dafür irgendwelche Anerkennung verdient hatte. Und zu allem Übel kam heute auch noch meine Mutter – nicht erst morgen, wie ich gehofft hatte –, um mir dabei zu helfen, mich auf die Operation vorzubereiten. Ich liebe meine 24
Mutter, aber ich besuche sie lieber bei sich zu Hause. Sie muß mir unentwegt helfen. Ich weiß, daß es bei mir zu Hause die meiste Zeit chaotisch aussieht, aber ich würde das Chaos lieber selbst beseitigen. Wenn sie irgendwelche Sachen wegräumt, brauche ich hundert Jahre, um sie wiederzufinden. Einmal mußte ich fünfzehn Dollar Säumnisgebühr in der Bibliothek zahlen, weil meine Mutter beim Aufräumen vier ausgeliehene Bücher in meinen Nähkasten gelegt hatte. Nicht in den Stopfkasten, den ich mehrmals im Monat aufmache, sondern in den Nähkasten, in den ich höchstens zwei-, dreimal im Jahr einen Blick werfe. Sie würde meinen Sohn Cameron mit zu sich nehmen, bis ich wieder auf dem Damm war. Das sah ich ein. Ich würde vorübergehend unfähig sein, einem bewegungsfreudigen Dreijährigen hinterherzujagen. Aber mir war schleierhaft, warum sie ihn schon am Mittwoch abholen mußte. Ich sollte erst Freitag operiert werden. Sie hätte ihn Donnerstag abend abholen können, hatte ich zu Harry gesagt. »Sie meint es doch nur gut«, erwiderte er. Und das stimmte natürlich. Sie wollte mir vor der Operation nur ein bißchen Ruhe gönnen, und um ganz ehrlich zu sein, etwas Ruhe konnte ich gut gebrauchen. Aber wenn meine Mutter anfing, das Haus zu putzen, während ich da war, würde ich keine Ruhe finden, weil ich ihr natürlich bei allem helfen mußte, ganz gleich, wie ich mich fühlte. Das ist meine Macke, nicht ihre; sie würde es kein bißchen stören, wenn ich mich hinlegen oder lesen würde; wahrscheinlich würde sie mir sogar Limonade bringen oder sonst etwas. Aber ich käme mir mies vor. Ach, was soll’s, dachte ich. Bloß weil ich früher Feierabend machen konnte, mußte ich noch lange nicht direkt nach Hause fahren. Meine Mutter ist hyperaktiv; außerdem hat sie in den letzten paar Jahren erstaunlicherweise ein paar Charakterzüge entwickelt, die an einen Schleifer beim Militär erinnern. Sie 25
würde dafür sorgen, daß das Haus sauber war, daß Harry seinen Computerkram sortierte und alle Disketten und Ausdrucke ordentlich wegräumte, sie würde unseren jugendlichen Sohn Hal unerbittlich zu anständigem Benehmen zwingen, sie würde Cameron unter Kontrolle und das Abendessen um halb fünf fertig haben, so daß wir essen könnten, sobald ich nach Hause kam (obwohl wir normalerweise nicht vor sieben Uhr essen), und wenn ich eintraf, würde sie mich rumkommandieren, als ob ich in Camerons Alter wäre. Also ging ich durch den Haupteingang des Polizeireviers nach draußen, stieg in mein Auto und fuhr los, um Matilda Greenwood zu besuchen. Ich weigere mich, sie mit ihrem angenommenen Namen Sister Eagle Feather anzusprechen. Wie üblich war sie in ihrer Wohnung über der von ihr geleiteten spiritistischen Kirche, der ganze Couchtisch lag voll mit Nachschlagewerken, und ihr Computer lief; sie schreibt Bücher, um den kargen Lebensunterhalt aufzubessern, den sie mit ihrer Kirche verdient (vielleicht ist es auch umgekehrt; ich weiß es nicht genau, ebensowenig weiß ich, warum sie nicht offiziell in ihrem erlernten Beruf als Psychologin arbeitet). Sie war dabei, Recherchen über Genealogie für einen neuen Kunden zu machen, der ein Buch schreiben wollte und keine Zeit hatte, es selbst zu schreiben. Sie warf mir einen Blick zu und sagte: »Du brauchst eine Tasse Ginseng-Tee.« »Wieso das?« fragte ich müde. Eigentlich trinke ich ganz gern mal einen Kräutertee, aber Matilda hat mir schon so manche wirklich eigenartige Sorte kredenzt. »Hilft bei PMS.« »Woher weißt du, daß ich PMS habe?« »Ich kenne dich, Deb, ich kenne dich. Wenn du reinkommst und aussiehst wie die kleine Schwester einer Gewitterwolke, dann hast du PMS.« Zumindest entlockte sie mir ein Lachen, und das war mehr, als mir irgendwer heute entlockt hatte, und ehe ich mich’s 26
versah, trank ich heißen, leicht nach Zimt schmeckenden Tee und erzählte Matilda von Dusty Miller, und hier, wo ich mich nicht mehr beherrschen mußte, fing ich dann doch an zu weinen. Anders als Captain Millner wurde sie nicht wütend auf mich, weil ich weinte. Anders als Harry wurde sie nicht panisch. Anders als Susan fing sie nicht an zu analysieren, warum ich jetzt weinte. Sie wies mich noch nicht mal darauf hin, wie extrem unlogisch es war, daß ich einerseits unbedingt nur Fälle bearbeiten wollte, bei denen ich das Gefühl hatte, etwas Gutes bewirken zu können, und andererseits unbedingt weiter an einem schon abgeschlossenen Selbstmord arbeiten wollte. Sie stimmte mir einfach zu, daß die ganze Situation total deprimierend war, und wenn ich fand, daß da etwas faul war, dann war da etwas faul, ich sollte ruhig weinen, und sie brachte mir Kleenex und noch mehr heißen Tee, bis ich mich schließlich gestärkt genug fühlte, aufzustehen und so zeitig nach Hause zu fahren, daß meine Familie nicht merkte, daß ich eine Zwischenstation eingelegt hatte. Mein Sohn Hal, inzwischen in der letzten Klasse der HighSchool, und seine Freundin Lori, die offiziell nicht bei uns wohnt, aber eigentlich ständig bei uns ist, putzten die Fenster zur Straße hin, und ich blieb staunend stehen. »Grandma hat drauf bestanden«, sagte Hal mürrisch. »Und Dad muß die Teppiche shampoonieren.« Pat, unser karamellbrauner Pitbull-Dobermann-Mischling, lag griesgrämig in einer Ecke des Gartens und stand nicht mal auf, um mich zu begrüßen. Inzwischen ist er dahintergekommen, daß er, wenn meine Mutter hier ist, nicht ins Haus darf, um Cameron zu küssen, doch damit nicht genug, Cameron darf auch nicht hinaus, um sich küssen zu lassen. Und noch schlimmer ist, daß meine Mutter, da wir sie ja ins Haus lassen, nicht mal angebellt werden darf, ganz gleich, für wie unerwünscht er sie hält. Beide Katzen – unsere alte, gescheckte 27
Margaret Scratcher und Rags, die neue, die aussieht wie die Miniaturausgabe einer Maine-Coon-Katze, Margaret Scratcher terrorisiert und zu einem gewaltigen Jäger vor dem Herrn geworden ist – waren oben im Mesquitbaum, wo Pat sie nicht hinaufverfolgen konnte. Selbst wenn er auf Bäume hätte klettern können, was er nicht kann, er hatte nicht vor, sich mit den Mesquitdornen anzulegen. Pat war kreuzunglücklich. Ich ging ins Haus. Der Duft von Bœuf Stroganoff wetteiferte mit den Gerüchen von Teppichreiniger und Möbelpolitur mit Zitronenaroma. Das Stroganoff war offensichtlich fertig, was wohl bedeutete, daß wir noch vor fünf essen würden. So früh zu essen bedeutete aber, daß wir alle schon wieder Hunger haben würden, bevor es Zeit war, ins Bett zu gehen. Ich war nicht gewillt, eine Nacht, in der ich meinen Schlaf wirklich brauchte, hungrig zu verbringen, aber um meiner Taille willen behagte mir der Gedanke an eine vierte Mahlzeit am Tag auch nicht gerade. Wahrscheinlich zum ersten Mal, solange ich zurückdenken konnte, war der Couchtisch absolut leer und sauber; das bedeutete, daß all meine unbezahlten Rechnungen, falls Harry sie nicht weggeräumt hatte, verschwunden waren und somit nicht bezahlt werden konnten, bevor uns die erste (oder zweite) Mahnung ins Haus flatterte. Auch Cameron war sauber, was kleine Jungs um die Tageszeit meist nicht sind; er trug einen kleinen Matrosenanzug, den ich, soweit ich wußte, nie zuvor gesehen hatte und der meines Erachtens völlig idiotisch für ein kleines Kind beim Abendessen war; und sogar er arbeitete – er wischte die Scheibe des Fernsehers mit einem von diesen Wegwerfrei-nigungstüchern, die das Putzmittel schon drin haben. Mom mußte es gekauft haben; ich hab so was nie im Haus. Nach einem Blick auf den Fernseher versicherte ich Cameron, daß der Bildschirm wunderbar aussah. Mom lächelte mich an und versicherte ihm dasselbe. Er sah natürlich nicht 28
wunderbar aus; er hatte fürchterliche Streifen, und sobald Mom sich mit Cameron verabschiedet hatte, würde ich ihn noch mal putzen müssen. Aber seine Bemühungen hatten ein Lob verdient. Ich ging in die Küche, oder zumindest soweit, wie ich reinkam; es ist nämlich eindeutig eine Einpersonenküche, wenn überhaupt. Manchmal denke ich, es ist eine Keinpersonenküche. »Wie geht’s dir?« fragte Mom. »Gut«, sagte ich. »Ich werde ja erst Freitag morgen operiert, und es wird mir auch bloß ein Fersensporn entfernt. Ich bin dir für deine Hilfe wirklich dankbar, aber ich begreife noch immer nicht, wieso du jetzt schon –« »Ach was, du mußt dich doch vorher schon ein bißchen ausruhen«, sagte sie, wie ich erwartet hatte, und kramte ein wenig übergeschäftig herum. Irgend etwas bedrückte sie, das merkte ich sofort, und da es sie nie bedrückte, in der Küche oder dem Haus eines anderen das Kommando zu übernehmen, konnte ich mir nicht vorstellen, was ihr auf der Seele lag. Ich fand es erst kurz nach dem Abendessen heraus, als Harry an seinem Computer saß und angeblich für die Abschlußarbeit seines Betriebswirtschaftsstudiums arbeitete, Cameron auf der Couch eingeschlafen war, Hal vermutlich Lori zurück zum Haus ihrer Tante brachte, wo sie offiziell wohnte, und ich Mom das Geschirr anreichte, damit sie es abspülen konnte, bevor sie es in die Spülmaschine räumte. Ich hatte ihr schon zweimal gesagt, daß unsere Spülmaschine ein eingebautes Abfallsieb hat, und ich hielt es für sinnlos, ihr das noch einmal zu sagen. »Rhonda zieht wieder bei mir ein«, sagte Mom unvermittelt. Harry war doch nicht so auf seinen Computer konzentriert, wie ich gedacht hatte. Er ließ das Buch fallen, das er auf dem Computertisch hatte, und schrie: »Warum zum Teufel erlaubst du ihr das?« Er kann meine einzige Schwester schon seit vielen Jahren nicht sonderlich leiden. Eigentlich keiner in unserer 29
Familie. Ihre Gewohnheiten, zu denen auch Diebstahl mit Verwandten als Opfer zählt, sind dafür Grund genug, und einmal hat sie einige von Harrys Gewehren und noch eine ganze Reihe anderer Wertgegenstände aus unserem Besitz geklaut, der damals, gelinde gesagt, etwas kärglich war. Das Geschrei machte Cameron halb wach. Er regte sich und wimmerte im Schlaf. »Sie muß doch irgendwohin«, sagte Mom. »Aber warum muß sie denn ausgerechnet bei dir einziehen?« wollte ich wissen. »Mom, was hat sie das letzte Mal geklaut, als du sie bei dir aufgenommen hast?« »Das spielt jetzt keine Rolle mehr«, sagte Mom. »Ich mußte sie nach Hause kommen lassen. Ich mußte einfach, Debra.« Ich wartete. Meine Mutter, die sonst nie unsicher ist, war unsicher; meine Mutter, die sonst immer absolut selbstbeherrscht wirkt, klang verängstigt. »Ich mußte einfach, Debra«, wiederholte sie. »Rhonda hat AIDS.«
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Kapitel 2 Es war kurz nach sechs Uhr. Meine Mutter hatte sich verabschiedet und Cameron mitgenommen – und natürlich nicht nur eine saubere Küche zurückgelassen, sondern auch leere Wäschekörbe, saubere Wäsche, ordentlich in aufgeräumten Schubladen gestapelt, geputzte Fenster und gebohnerte oder shampoogereinigte Fußböden. Ich hatte absolut nichts zu tun, außer meine verschwundenen Rechnungen zu suchen, die, wie sich glücklicherweise herausstellte, in der Krimskramsschublade in der Küche gelandet waren. Ich würde mir später Gedanken darum machen, wo der übliche Inhalt der Krimskramsschublade geblieben war; meine Vermutung war, daß die Schraubenzieher, die ich in der Küche aufbewahre, um lockere Pfannen- und Topfgriffe festzuschrauben, in Harrys Werkzeugkiste verstaut worden waren und daß die Drähte zum Zubinden von Mülltüten jetzt im Müll waren. Und die Coupons? Weiß der Geier, dachte ich. Wahrscheinlich auch im Müll. Ich brachte die Rechnungen zurück zum Couchtisch und dann, weil ich daran dachte, wie ich mich wahrscheinlich am Wochenende fühlen würde, stellte ich für alle Schecks aus, steckte sie in Umschläge, klebte Briefmarken darauf und trug sie zum Briefkasten vor dem Haus. Jetzt hatte ich wirklich nichts mehr zu tun. Das ist für mich kein natürlicher Zustand, und ich fand ihn einigermaßen befremdlich. Ich wanderte durchs Haus, auf der Suche nach irgendwelchen kleinen Aufgaben, um mir die Zeit zu vertreiben, um nicht an Rhonda denken zu müssen. Aber natürlich dachte ich trotzdem an Rhonda. Seit Jahren fragte ich mich, warum bei mir alles gut lief – na ja, so einigermaßen jedenfalls –, während Rhonda von jeher eine Chaotin ist. Denn 31
ehrlich gesagt, als wir Kinder waren, hatte Rhonda keinen Deut mehr Probleme als ich; eigentlich hatte sie sogar in gewisser Weise weniger. Weil sie die Jüngere war, mußte sie nicht dauernd babysitten, wie ich es als das älteste Kind und als das ältere Mädchen mußte. Weil sie so hübsch war, hatte sie schon vor mir einen Freund, obwohl sie fünf Jahre jünger war. Irgendwie schaffte sie es immer, sich um ihren Anteil an der Hausarbeit zu drücken, mit der Begründung, sie sei zu zart, obwohl sie nicht zu zart war, noch vor mir Judo zu lernen (und noch besser darin zu sein als ich). Jetzt jedoch war ich die im großen und ganzen glückliche, im großen und ganzen gesunde Mutter von vier Kindern (drei davon adoptiert, aber das ist gut so) und Großmutter von – ich mußte innehalten und nachrechnen. Vier, einschließlich Jeffrey, der eigentlich Oleads Bruder war, den aber Olead und meine Tochter Becky adoptiert hatten. Becky hatte dann noch zwei Kinder bekommen – Jim und Laura –, und zwar nachdem Vicky, meine älteste Tochter, Barry zur Welt gebracht hatte und bevor sie mit dem zweiten Kind schwanger wurde, das jetzt unterwegs war. Aber Becky und Olead konnten sich drei Kinder leisten, oder vier (ich hatte so das Gefühl, daß auch Becky wieder schwanger war, obwohl sie es mir noch nicht gesagt hatte) oder so viele, wie sie nur wollten. Olead studierte noch immer Medizin, aber er hatte schon als Teenager – als er in einer psychiatrischen Klinik wegen Schizophrenie behandelt wurde, die sich schließlich als Vitamin-B-Mangel herausstellte – das eigenartige Talent entwickelt, aus Geld immer noch mehr Geld zu machen. Mir war ein Rätsel, wie Vicky und Don mit noch einem Kind über die Runden kommen wollten. Olead würde ihnen zwar gern finanziell unter die Arme greifen, aber Don – der gerade versuchte, als selbständiger Anwalt Fuß zu fassen, anstatt in einer großen Kanzlei zu arbeiten – würde sich nicht gern finanziell unter die Arme greifen lassen. Wie dem auch sei, ich dachte noch immer vor allem an 32
Rhonda und daran, wie sehr sie im Leben gescheitert war. Anders als sie war ich im großen und ganzen glücklich mit meinem Job, den ich die überwiegende Zeit wirklich mochte (ich kann mir nicht vorstellen, daß es Menschen gibt, die ihren Job immer mögen), und ich war im großen und ganzen glücklich mit einem Mann verheiratet, den ich immer liebte und die überwiegende Zeit mochte. Wie jede andere verheiratete Frau kannte ich Augenblicke, in denen ich ihn mit größtem Vergnügen erwürgt hätte. Jetzt war so ein Augenblick. Harry hockte vor seinem Computer und schrieb immer noch an seiner Arbeit. Das war ja in Ordnung; er mußte sie fertig bekommen. Meine Erleichterung, wenn er endlich seinen Abschluß in Betriebswirtschaft in der Tasche hatte, auf den er, wie mir schien, nun schon seit hundert Jahren hinarbeitete, würde unbeschreiblich sein. Nein, mein Problem war, daß er einen Höllenlärm veranstaltete, Hefte auf den Tisch klatschte, Bücher zuknallte, als wäre er der einzige, dem Rhondas Situation etwas ausmachte. Ich wußte nicht, ob er zornig war, weil Rhonda überhaupt existierte, weil sie Dinge getan hatte, bei denen jeder halbwegs intelligente Mensch wußte, wie groß die Gefahr war, an AIDS zu erkranken, weil sie AIDS hatte oder weil sie – seien wir ehrlich – nach Hause gekommen war, um zu sterben. Er sagte natürlich, er wäre zornig wegen der Auswirkungen der Situation auf mich. Aber wenn das wirklich der Grund war, wieso machte er dann so einen Lärm und regte mich nur noch mehr auf? Die Haustür ging auf, und ich hörte das Klicken von Hundekrallen auf dem Vinylboden, als der Hund hereingefegt kam und überall nach Cameron suchte, um ihn abzuküssen. »Er ist nicht hier, Pat«, sagte ich. Pat glaubte mir ganz offensichtlich nicht. Er suchte weiter. Pat sollte eigentlich gar nicht im Haus sein, aber er ignorierte diese laxe Regel, wann immer es ging, und in diesem Moment 33
schien niemand dazu aufgelegt, ihn zu vertreiben. Mir sollte es recht sein. Es gibt Situationen, in denen ein freundlicher, warmer Hund trotz des Hundegeruchs irgendwie wohltuend ist, vor allem, wenn die Katzen auf dem Mesquitbaum hocken, der Kleine außer Haus ist, der Ehemann sich aufführt wie der nahe Verwandte eines Stinktiers und ich überhaupt keinen zum Umarmen habe. Harry und ich hatten sogar schon darüber nachgedacht, Pat zu erlauben, ein richtiger Haushund zu werden. Aber da wir beide keine Lust haben, mitten in der Nacht aufzustehen, um Türen zu öffnen, hätte das den Einbau einer Hundeklappe erfordert, und eine Hundeklappe, die groß genug für Pat ist, wäre auch groß genug für Cameron. Also haben wir statt dessen eine Katzenklappe eingebaut, und selbst das war, wie sich herausstellte, ein Fehler. »Komm her, Pat«, sagte ich und begann, ihm die Ohren zu kraulen. Er ließ es sich kurz gefallen, die Ohren gekrault zu bekommen, doch dann riß er sich los und suchte weiter nach Cameron. Ich hätte wissen müssen, daß diese halbwegs friedliche Phase nicht lange währen würde. Hal und Lori kamen gleich nach Pat herein, was ich mir hätte denken können, da der Hund sich die Haustür selbstverständlich nicht selbst aufmachen konnte. Wie sich herausstellte, war Lori doch noch nicht nach Hause gegangen, und natürlich waren sie es gewesen, die die Tür geöffnet hatten und dann in der Diele stehengeblieben waren, während der Hund sich an ihnen vorbeidrängte und ins Wohnzimmer fegte. »War sie schon immer so?« erkundigte sich Hal. Er mußte nicht erläutern, wen er mit »sie« meinte. »Früher war sie doch nicht so, oder?« »Nein«, sagte ich, »sie war nicht immer so.« Die Herrschsucht meiner Mutter hatte sich erst in den letzten zehn Jahren entwickelt, nach dem Tod meines Vaters, und ich war 34
noch immer nicht dahintergekommen, was die Ursache dafür war. »Also, mir wär’s jedenfalls lieber gewesen, sie wäre nicht gekommen oder hätte sich andere Leute zum Rumkommandieren gesucht.« Da mir das ebenfalls lieber gewesen wäre und ich mir deshalb treulos vorkam, sagte ich nichts. Hal griff nach der Fernbedienung des Fernsehers, schaltete ihn an, ohne darauf zu achten, auf welchen Sender er eingestellt war, sah mich schuldbewußt an und sagte: »Oh, Mist.« Ich wußte seit Wochen, daß er eine Möglichkeit gefunden hatte, die Sperre aufzuheben, die die Leute vom Kabelfernsehen eingebaut hatten, um den Empfang von MTV zu verhindern. Ich hatte beschlossen, die Situation zu ignorieren; wenn er hier nicht MTV guckte, dann woanders, und er ist jetzt einige Jährchen älter und hoffentlich auch ein bißchen verantwortungsvoller und weniger leicht zu beeinflussen als damals, als ich den Sender sperren ließ. Harry, der im selben Zimmer an seiner Arbeit schrieb, schien den Radau nicht zu hören. Manchmal glaube ich, er könnte auch bei einer Mischung aus Erdbeben und Luftangriff weiter voll konzentriert an seinem Computer oder CB-Funkgerät arbeiten. Aber ich war nicht gewillt, eine Kombination aus Heavy Metal und Kettensägenmord in mein Wohnzimmer dröhnen zu lassen, während ich daheim war. Ich nahm Hal die Fernbedienung aus der Hand, schaltete den Fernseher aus und sagte: »Es ist bedauerlich, daß deine Großmutter dich gezwungen hat, die Fenster zu putzen, aber das ändert nichts an der Tatsache, daß ich dir heute morgen gesagt habe, der Rasen müßte gemäht werden, und ich will jetzt auf keinen Fall von dir hören, daß du ihn irgendwann später mähst.« Wie oft schon habe ich – wie oft schon hat jede Mutter – dieses genervte Aufstöhnen hören müssen: »Och, Mom!« Ich steckte die Fernbedienung in meine Handtasche. »Die 35
bekommst du wieder«, sagte ich, »wenn der Rasen gemäht ist.« Ich weiß nicht, wie unterschiedliche Fabrikate von Fernbedienungen funktionieren. Aber ich weiß, wie unsere funktioniert. Der Fernseher wird zunächst mit den normalen Knöpfen am Gerät angemacht. Dann wird er auf irgendeine Weise, die ich nicht vorgebe zu verstehen, mit der Kabelbox verbunden. Dann wird er mit der Fernbedienung ein- und ausgeschaltet. Das bedeutet, daß man ihn im Notfall ausschalten kann, indem man den Netzstecker zieht, und die Sender lassen sich umschalten, indem man die Knöpfe oben auf der Kabelbox drückt, aber es gibt absolut keine Möglichkeit, ihn ohne die Fernbedienung einzuschalten. Ich hatte mir diesen Umstand schon öfter zunutze gemacht. Hal stapfte zur Tür hinaus, sagte halblaut etwas zu Lori, deren beruhigender Tonfall zu hören war, deren Worte aber zu leise waren, als daß ich sie hätte verstehen können. Eine Minute später hörte ich den Rasenmäher anspringen. Wir haben keinen großen Garten, und in einem Großteil davon wächst kein Rasen, weil der Mesquitbaum zuviel Schatten wirft. Hal brauchte ungefähr zwanzig Minuten, bis er alles gemäht hatte. Während dieser zwanzig Minuten veranstaltete Harry mit irgendwas einen Höllenlärm. Hal kam wieder herein, wie üblich gefolgt von Lori. Loris Vater war vor einigen Jahren gestorben; letztes Jahr hatte sie unter bizarren Umständen ihre Mutter verloren, und jetzt wohnt sie offiziell bei ihrer Tante, die, wie ich vermutete, nicht viel für Lori übrig hatte. Tatsächlich wohnte sie bei uns, nur daß sie nicht bei uns schlief. Sie war noch immer schrecklich unsicher. Sie ist zu vernünftig, als daß sie Hal dauernd umarmen würde, und sie ist ein bißchen zu schüchtern, um sich an mich zu klammern, also verbringt sie viel Zeit damit, mit Cameron zu schmusen. Jetzt, wo Cameron nicht da war, schien sie irgendwie hilflos. Als eine der Katzen hereingeschlendert kam – leider war es Margaret Scratcher, die kein ausgeprägtes 36
Schmusebedürfnis hat –, schnappte sie sich die Katze. Harry knallte noch immer Nachschlagewerke zu, raschelte mit Papier und hämmerte mit unnötiger Wucht in die Tasten eines Viertausend-Dollar-Computers. Rutscht mir doch den Buckel runter, dachte ich, und patschte über den noch nicht trockenen Schlafzimmerteppich ins Badezimmer, um ein schönes heißes Vollbad zu nehmen. Am Donnerstag morgen setzte ich darauf, daß Rafe Permut noch nicht darüber informiert worden war, was Captain Millner als meine allerschlimmste Angewohnheit betrachtet, rief auf dem Revier an und sagte, ich müßte noch ein paar Überstunden abfeiern. Wie ich gehofft hatte, sagte Rafe mir, ich sollte sie nehmen und dann zum Dienst kommen, wenn ich könnte. Ich nahm das Funkgerät, das ich in der Hoffnung auf ebendieses Ergebnis mit nach Hause genommen hatte, und machte mich auf den Weg zu den Millers. Natürlich war es durchaus möglich, daß sie nicht zu Hause waren; vielleicht waren sie bei einem Bestattungsunternehmen. Doch in derartigen Fällen ist eine Autopsie vorgeschrieben, und ich verließ mich darauf, daß der Leichnam noch nicht freigegeben worden war. Offensichtlich lag ich damit richtig. Seth Miller, den ich zwar schon kurz gesehen, dem ich mich aber nicht offiziell vorgestellt hatte, machte die Tür auf und ließ mich ein wenig widerwillig, aber offenkundig in der (von mir so beabsichtigten) Annahme, daß ein Besuch von der Polizei jetzt Routine war, in die Wohnung und setzte sich dann ganz ans Ende der Couch. Ellen Miller, die bei unserer ersten Begegnung an der Wand gelehnt hatte, eine Hand vor dem Mund, während ihre Tochter aus dem Fenster sprang, saß jetzt am anderen Ende der Couch, eine Hand vor dem Mund. Das Kind, das Pink getragen hatte – ein Mädchen, das ich auf etwa zehn Jahre schätzte, mit den gleichen blauen Augen und blonden Haaren, wie ich sie bei 37
Dusty bemerkt hatte – stand wieder in der Diele und blickte ins Wohnzimmer, als wollte es zwar wissen, was vor sich ging, aber nicht in Reichweite seiner Eltern gelangen. Ich setzte mich unaufgefordert in einen freien Sessel und sagte: »Es tut mir leid, daß ich Sie in dieser Situation behelligen muß, aber es sind da noch ein paar Fragen zu klären.« Mrs. Miller schniefte. Mr. Miller sagte keinen Ton. Und erneut stieg in mir das Gefühl auf, das ich schon am Vortag gehabt hatte – daß hier irgend etwas ganz und gar nicht stimmte und keiner darüber reden wollte. Einen kurzen Moment lang überlegte ich, woher dieses Gefühl rührte, doch schon ein zweiter Blick lieferte die Antwort: In einer Krise rücken Familienmitglieder normalerweise enger zusammen. Aber hier wollte niemand den anderen nahe sein. »Erzählen Sie mir von Ihrer Tochter«, sagte ich. »Warum?« fragte Seth Miller knapp. »Wir müssen wissen –« »Warum?« fragte er erneut und klang dabei eher gereizt und mürrisch als von Trauer überwältigt. »Sie ist tot. Keine Ihrer Fragen macht sie wieder lebendig.« »Seth –« setzte Mrs. Miller verschüchtert an. »Sie war immer schon eine Unruhestifterin«, fuhr er fort. »Genau wie ihre ältere Schwester. In der Öffentlichkeit hat sie sich benommen wie ein Engel, aber zu Hause sah die Sache ganz anders aus. Kein Respekt vor unserer Autorität, keine Dankbarkeit. Keine von den beiden hat je zu schätzen gewußt, was wir ihnen alles gegeben haben, was wir alles –« »Seth«, sagte Mrs. Miller ein wenig lauter. »Unsere Doreen wird nicht so werden, nicht wahr, Schätzchen?« Er ging hinüber zu der Kleinen und legte ihr eine Hand auf den Arm. Sie wich von ihm weg und durchquerte das Zimmer, so daß sie jetzt vor der Tür zu dem Raum stand, der Dustys Zimmer gewesen war. Das war eigenartig, dachte ich, als mir zum erstenmal der 38
Schnitt der Wohnung bewußt wurde. Ein separates Kinderzimmer, das vom Wohnzimmer abging; die anderen Schlafzimmer, wie viele es auch sein mochten, gingen weiter hinten irgendwo von der Diele ab. Wenn ein Schlafzimmer in so diskretem Abstand von den anderen liegt, ist es meistens als Elternschlafzimmer gedacht. Wieso also hatten die erwachsenen Millers eins (oder vielleicht auch zwei) von den anderen Zimmern genommen und das abgelegene Zimmer ihrer älteren Tochter überlassen? Ich hatte so eine Ahnung, daß ich die Antwort auf diese Frage kannte. Zugegeben, meine Ahnungen stimmen nicht immer. Aber wenn diese stimmte, dann verfolgte ich diesen Fall eher im Interesse der noch lebenden Tochter als für ihre tote Schwester weiter. Ich öffnete den Mund, um eine Frage zu stellen, und Seth Miller stand auf. »Ich werde nicht mit Ihnen reden«, erklärte er. »Sie können mich nicht dazu zwingen, und ich sehe keinen einleuchtenden Grund dafür.« Er warf seiner Frau einen Blick zu. »Wenn du das willst, meinetwegen.« Mir schien, daß in seinem Blick etwas Warnendes lag, aber vielleicht sah ich nur etwas, das gar nicht da war; vielleicht sah ich Gespenster, als er aus dem Zimmer und die Diele hinuntermarschierte, eine Tür öffnete, hindurchtrat und sie mit einem bösen, leisen Klicken schloß, das irgendwie bedrohlicher klang, als wenn er sie zugeknallt hätte. »Es tut mir leid«, sagte Mrs. Miller. »Er… er ist sehr aufgewühlt. Und er verkraftet es nicht gut.« »Das ist verständlich«, sagte ich. »Und wie gesagt, es tut mir wirklich leid, daß ich Ihnen jetzt Fragen stellen muß. Aber…« Es wäre sinnlos, den Rest des Gesprächs zu wiederholen. Dusty – ihr richtiger Name war Dorothy Marie – war sechzehn Jahre alt gewesen. Sie war eine ausgezeichnete Schülerin in Burroughs Hall, einer teuren, überkonfessionellen High-School gewesen, wo sie Cheerleader und im Förderprogramm für 39
Sonderbegabte gewesen war. Ihre Eltern hatten sie zur Burroughs geschickt, nachdem ihre ältere Schwester in der staatlichen Schule in dem Vorort, wo sie früher gewohnt hatten, schwere emotionale Schäden davongetragen hatte. Sie war sehr beliebt gewesen. Ihre ganze Familie hatte sie geliebt. Ihr Vater meinte es nicht so, wenn er schlecht über sie sprach, er war nur eben völlig außer sich, das verstand ich doch gewiß. Sie war zur St. Mark’s Episcopal Church gegangen. Sie hatte keine Drogen genommen. Sie hatte nicht geraucht. Sie hatte nicht getrunken. Der einzige Grund, warum ihr keine Engelsschwingen gewachsen waren, war der, daß die nicht in ihre edlen NeimanMarcus-Klamotten gepaßt hätten (na ja, ein paar waren von Dillard’s, aber das waren Ausnahmen). Sie hatte keinen Grund gehabt, Selbstmord zu begehen. Es mußte irgendein Fehler gewesen sein… Ich will nicht sagen, daß ich ihr kein Wort glaubte. Ich war sicher, daß Dusty Schülerin von Burroughs gewesen war, daß sie dort Cheerleader und im Förderprogramm für besonders begabte Schüler gewesen war, denn das ließ sich ja viel zu leicht nachprüfen, um deshalb zu lügen. Ich war einigermaßen sicher, daß sie in die St. Mark’s Episcopal Church gegangen war. Aber alles andere – nun ja, vielleicht war manches davon wahr. Vielleicht war alles wahr. Aber falls alles wahr war, dann stimmte irgend etwas anderes nicht. Denn ein Mensch, in dessen Leben alles zur vollsten Zufriedenheit verläuft, verübt normalerweise keinen Selbstmord, und selbst Dustys Mutter hatte von einem Fehler, nicht von Unfall gesprochen. Ich ließ mir Namen und Adressen einiger Freunde und Freundinnen geben, überwiegend Freundinnen, von denen die meisten auch Burroughs Hall oder St. Mark’s besuchten oder beides. In der ganzen Zeit, die ich da war, sagte Doreen genau einmal etwas. Sie sagte: »Meine Schwestern sind nicht böse. 40
Und es war nicht Dustys Schuld…« Dann fing sie wieder an zu weinen und hörte auf, als Mr. Miller zurück ins Wohnzimmer kam und ihr eine Kleenex-Packung reichte und sie anstarrte. Durchdringend. Ich fragte, ob ich mit ihr allein sprechen könnte, aber Mr. Miller sagte nein, und er hatte das Recht, nein zu sagen. Also verabschiedete ich mich, froh, daß ich die Namen von Dustys Freundinnen herausbekommen hatte, bevor er ins Wohnzimmer zurückkam. Dann fuhr ich nach Burroughs Hall, wo die Direktorin – eine gewisse Mary Margaret McDowell – für mich Tammy Wilson und Elaine Paden holen ließ. Tammy hatte dunkelbraunes Haar, schulterlang, Dauerwelle. Elaine hatte dunkelblondes Haar, schulterlang, Dauerwelle. Beide trugen genau die richtige Menge Make-up, so daß es aussah, als hätten sie einen perfekten Teint, strahlende Augen und überhaupt kein Make-up aufgelegt. Beide waren etwa sechzehn Jahre alt, gut genährt, gut gekleidet, gut gepflegt, und beide blickten mich mit dem friedlichen Ausdruck von Jugendlichen an, die sich bereits fest vorgenommen haben, daß sie diesen neugierigen Erwachsenen absolut nichts erzählen werden. Als ich meine erste Frage stellte, brach Tammy in Tränen aus, und Mrs. McDowell, der bei der ganzen Sache ohnehin schon unbehaglich zumute gewesen war, sagte: »Mrs. Ralston, ich habe allmählich das Gefühl, daß ich Sie nicht ohne Anwesenheit der Eltern mit den Mädchen reden lassen sollte.« Vermutlich hatte sie recht. »Sie sollen mir gar nichts erzählen, was sie nicht erzählen wollen«, sagte ich, »aber wenn eine von beiden auch nur eine leise Ahnung hat, was Dusty vielleicht bedrückt haben könnte –« »Nichts hat Dusty bedrückt!« platzte Elaine los. »Deshalb versteht es ja auch keiner. Es muß irgendwie ein Fehler gewesen sein.« Aber ihre Augen waren auf der Hut; trotz des offenen 41
Gefühlsausbruchs merkte ich, daß sie ihre Worte sehr genau wählte. Mrs. Miller hatte das auch gesagt. Irgendein Fehler. »Was für ein Fehler könnte das gewesen sein?« fragte ich. »Willst du damit sagen, daß jemand anders im Spiel war?« »Natürlich nicht«, sagte Tammy. Auch ihre Augen waren auf der Hut, ihre Worte sorgfältig gewählt. Und sie blickte hilfesuchend zu Elaine hinüber, als sie weiterredete: »Aber… sie muß gefallen sein. Sie wäre nicht wirklich… nicht wirklich… gesprungen.« Und daran hielten sich beide fest. Es war ein Fehler. Es war ein Unfall. Mit Dusty war alles in Ordnung gewesen, beteuerten beide Mädchen, bevor sie zurück in ihre Klassen gingen. Sie logen. Ich wußte, daß sie logen. Irgend etwas stimmte nicht, und zumindest eine von ihnen – Elaine – wußte auch, was. Tammy wußte es vielleicht nicht genau, aber sie wußte, daß Elaine es wußte. Doch keine von beiden würde es mir verraten. Dann fragte ich, ob ich mit einem ihrer Lehrer sprechen könnte, einem, der sie gut gekannt hatte. Mrs. McDowell seufzte. »Wahrscheinlich kannte ich sie mit am besten«, sagte sie. »Ich bin erst dieses Jahr zur Schulleiterin ernannt worden; davor war ich Vertrauenslehrerin. Und… ich muß Elaine und Tammy recht geben. Keiner versteht es.« »Sie haben also absolut keinen Anhaltspunkt? Könnte es nicht sein, daß sie Ihnen manches verschwiegen hat?« »Oh, natürlich hat sie mir manches verschwiegen«, sagte Mrs. McDowell. »Das ist ganz normal bei Heranwachsenden. Aber… ich hätte nicht gedacht, daß es irgendwas Ernstes war.« Mehr bekam ich von niemandem heraus. Ich ging aus der Schule und ließ den Wagen an und dachte so angestrengt nach, wie ich nur konnte. Falls sie schwanger war, würde das bei der Autopsie festgestellt werden – aber das war sie nicht; sie hatte ein eigenes Badezimmer neben ihrem Zimmer, und im 42
Mülleimer dort waren sechs benutzte Binden gewesen, die ich entdeckt hatte, als ich vergeblich nach irgendwelchen Hinweisen auf Drogen gesucht hatte, wahrscheinlich die häufigste Ursache, wenn Jugendliche sich umbringen. (Da fiel mir ein, die Binden hätten auch deshalb da sein können, weil sie gerade eine Abtreibung hinter sich hatte, was schon häufig genug bei jungen Mädchen suizidale Depressionen ausgelöst hat. Aber ich hatte nicht den geringsten Grund, das zu vermuten, und die Autopsie würde mir auch darauf eine klare Antwort liefern.) Falls sie einen festen Freund gehabt hatte, würde das niemand zugeben. Ich könnte versuchen, ihn zu finden. Aber solange alle Welt beteuerte, daß sie keinen hatte, wußte ich nicht, wo ich anfangen sollte, nach ihm zu suchen. Vielleicht hatte Captain Millner recht. Vielleicht drängte ich mich da in was rein, was mich nichts anging. Wenn ich doch bloß nicht dieses Gefühl gehabt hätte… Ich wollte noch einmal mit den Kollegen reden, die als erste am Tatort gewesen waren, mit dem, der eine Frau angefordert hatte, und dem, der in der Wohnung gerade versuchte, die Tür von Dustys Zimmer aufzubekommen, als ich eintraf. Wie hießen sie noch gleich? Andersen und Woodall? Ich kannte keinen von beiden. Aber sie hatten Tagschicht; wahrscheinlich konnte ich sie nacheinander zu mir bestellen, um kurz mit ihnen zu reden. Aber wie es aussah, würde ich das verschieben müssen. Denn als ich ins Department kam, um offiziell meinen Dienst anzutreten, in der Hoffnung, mir gleich zu Anfang den Bericht auf den Monitor holen zu können, wartete dort ein Fall auf mich. »Ihr Name ist Ruth Bonando«, teilte Rafe mir unter vier Augen mit. »Ich finde, sie klingt ein bißchen durchgedreht. Meint, sie müßte mit einer Beamtin sprechen. Ich hab nicht aus ihr rauskriegen können, was los ist. Sehen Sie mal, was Sie 43
machen können. Vielleicht ist es ein Windei, aber man kann ja nie wissen.« Das war völlig richtig. Menschen kommen mit großen Problemen, kleinen Problemen und gar keinen Problemen auf ein Polizeirevier; ich mußte daran denken, wie einmal innerhalb von drei Stunden alle Beteiligten eines Dreiecksverhältnisses auftauchten und jeder von ihnen behauptete, die beiden anderen planten, ihn oder sie zu ermorden. Aber das war lange her und nicht mehr mein Problem, falls es das überhaupt je gewesen war. Ich ging in den Vernehmungsraum, wo Ruth Bonando saß. Sie blickte hektisch auf, als ich eintrat, deshalb konnte ich ihr Gesicht gut sehen. Ein bißchen jünger als ich, dachte ich – etwa Mitte Dreißig. Dunkles Haar, dunkle Augen, heller Teint; ein verstörter, verschlossener und, wie ich fand, irgendwie wilder Ausdruck im Gesicht. »Ich bin Detective Ralston«, sagte ich, weil ich mich nach diesem ersten Blick entschieden hatte, das »Deb Ralston«, mit dem ich mich gewöhnlich vorstelle, durch eine förmlichere Version zu ersetzen. »Was kann ich für Sie tun, Ms. Bonando?« »Mrs.«, sagte sie. »Ich mag dieses ›Ms.‹ nicht besonders. Es lenkt irgendwie ab…« Sie hielt unvermittelt inne. »Das empfinden viele Leute so«, pflichtete ich ihr bei und überlegte, wovon es denn wohl ablenken mochte. »Aber andere sind wiederum gekränkt, wenn man sie anders anredet. Deshalb weiß man nie so recht, was man sagen soll. Das ist Ihnen doch bestimmt auch schon so ergangen.« Sie sagte überhaupt nichts. Das war wenig ermutigend. Ich versuchte es erneut. »Was kann ich denn nun für Sie tun?« »Ich habe da ein Problem«, sagte sie und stockte dann wieder. »Was für ein Problem?« »Mit diesen Leuten.« 44
»Aha.« Ich fragte mich allmählich, ob sie nicht eine Kandidatin für Susan Braun sein könnte. Mir jedenfalls erschien sie nicht gerade vernünftig. Aber dann sagte sie plötzlich sehr schnell: »Das sind Nachbarn von uns. Die Washingtons. David und Laura Washington. Und… die haben sich meiner Tochter… genähert.« »Wie genähert?« fragte ich. Sie wedelte unbestimmt mit den Händen. »Ach, Sie wissen schon. Eben… genähert.« »Tja, was wollten sie denn von ihr?« »Das wissen Sie doch am besten.« »Leider nein«, sagte ich höflich. »›Genähert‹ kann sehr viele Bedeutungen haben.« »Wollen Sie denn nichts unternehmen?« Ihre Stimme hob sich. »Mrs. Bonando, ich kann nichts unternehmen, ehe ich nicht weiß, was vorgefallen ist.« »Ich hab Ihnen doch gesagt, was vorgefallen ist! Die haben sich ihr genähert!« Ihre Stimme hob sich noch mehr und wurde schriller. »Wie alt ist Ihre Tochter?« »Sechzehn. Sie heißt Janine. Und die, na ja, nähern sich ihr immer wieder.« Sie drehte unablässig ihren Ehering am Finger. »Erzählen Sie mir mehr über die Washingtons«, schlug ich vor. Rafe könnte recht haben; vielleicht war dieser Fall ein Windei. Aber andererseits könnte es auch wirklich etwas Ernstzunehmendes sein, um das man sich kümmern mußte. Die Washingtons, wer auch immer diese Washingtons waren, könnten sich Janine »genähert« haben, um sie als Darstellerin für Pornofilme anzuwerben oder als Prostituierte oder als Babysitter für ihre Kinder. »Sie wohnen in unserem Viertel«, sagte Mrs. Bonando, ließ ihren Ehering abrupt los und begann statt dessen, mit ihrer 45
Halskette herumzuspielen. »Sie wohnen ein paar Straßen weiter, und sie gehen in unsere Kirche.« »Welche Kirche ist das?« »St. Barbara’s, eine katholische.« »Gut, wann – und wo – und wie – nähern sich die Washingtons Ihrer Tochter?« »In der Kirche. Also im Foyer. Und wenn sie von der Schule nach Hause kommt. Es geht meistens von ihm aus. Er sagt, na ja, gewisse Anzüglichkeiten.« »Was denn für Anzüglichkeiten?« »Eben… Anzüglichkeiten. Und es sind Schwarze. Ich finde nicht, daß Schwarze weißen Mädchen Anzüglichkeiten sagen sollten, Sie etwa?« »Ich finde, niemand sollte irgendwelche Anzüglichkeiten zu Mädchen sagen«, entgegnete ich. »Die Rasse spielt da keine Rolle. Aber ich finde auch, ich sollte mich mal mit Ihrer Tochter unterhalten. Ist sie jetzt zu Hause?« »Sie geht zur Schule, aber –« »Natürlich«, bestätigte ich, »aber ich dachte, wenn sie sehr aufgeregt ist, wäre sie vielleicht heute nicht zu Schule gegangen –« »Ach so, ja. Ich hab ihr tatsächlich gesagt, sie soll zu Hause bleiben, weil das sicherer wäre –« »Aber Sie haben sie nicht mit hierhergebracht.« »Ich finde, ein Polizeirevier ist kein schicklicher Ort für ein junges Mädchen, oder? Und ich hab nicht die normale Polizei angerufen, weil, na ja, ich wollte nicht, daß sie mit einem Mann drüber reden muß…« Ihr Tonfall deutete an, daß Männer fremdartige, unverständliche und vor allem beängstigende Wesen waren. Aber wenn ich mir vorstellte, wie Roger oder Wayne auf diese Art von Nichtanzeige reagiert hätten, mußte ich ihr zumindest teilweise recht geben. »Ich verstehe, was Sie meinen. Wenn Sie mir jetzt Ihre Adresse geben würden, dann fahre ich hinter 46
Ihnen her zu Ihnen nach Hause und unterhalte mich ein bißchen mit Ihrer Tochter.« Nach weiterem kurzen Zaudern sagte sie: »Nun ja, eigentlich wollte ich auf dem Nachhauseweg noch ein paar Lebensmittel einkaufen –« »Meinen Sie, einer von den Washingtons wäre um diese Zeit zu Hause?« fiel ich ihr ins Wort. »Ich denke… beide müßten da sein. Sie sind im Ruhestand, sie sind schon etwas älter.« Schließlich kamen wir überein, daß ich mit den Washingtons reden und mich dann anschließend mit Janine unterhalten würde; Mrs. Bonando wäre bis dahin wahrscheinlich auch schon zu Hause, denn die Lebensmittel, die sie einkaufen wollte, bestanden aus einer Packung Milch. Vor ein paar Jahren gab es im Fernsehen einen ganz witzigen Werbespot für irgendein Abführmittel; die Ehefrau wedelt ungeniert mit dem Fläschchen Abführmittel herum, während der Gatte vor Peinlichkeit im Boden versinken möchte und so Sachen sagt wie: »Aber wir kennen diese Leute doch gar nicht!« Normalerweise öden mich Werbespots an, aber den mochte ich, weil die Menschen so wirklichkeitsnah waren. Die Washingtons erinnerten mich an diesen Spot – was natürlich nicht heißen soll, daß sie irgendwelche Abführmittel mit sich herumtrugen. Aber sie wirkten einfach, natürlich, mit echter menschlicher Würde. Und sie waren beide äußerst empört über Mrs. Bonandos Anschuldigungen. Leider bedeutete das nicht zwingend, daß nichts vorgefallen war. Viele Sexualtäter wirken im normalen Leben wie einfache, natürliche, ehrenwerte Menschen, und viele von ihnen – die meisten – sind äußerst empört, wenn sie erwischt werden. »Ich weiß nicht mal, wer Janine Bonando ist«, sagte Mr. Washington. »Ich meine, viele junge Mädchen kommen in die Messe. Nicht mehr so viele, wie man es sich wünschen würde, 47
aber immer noch eine ganze Menge. Ich kenne sie vom Sehen, nicht mit Namen. Und diese jungen Dinger sind ja oft so unsicher. Und deshalb sage ich etwas Nettes zu ihnen, wie: ›Du hast heute aber ein richtig schönes Kleid an.‹ Oder: ›Die neue Frisur steht dir sehr gut.‹ Und auf dem Nachhauseweg? Die High-School ist doch bloß ein paar Querstraßen weiter. Wenn ich da zufällig auf der Veranda bin oder gerade im Garten arbeite und jemand kommt vorbei, da sage ich natürlich guten Tag oder so. Aber mich ihr genähert? Ich weiß nicht mal, was sie damit meint, genähert.« »Wenn Sie mich fragen, die Frau ist verrückt«, fügte Mrs. Washington entrüstet hinzu. »Mein David würde so was niemals tun. Wir lieben Kinder. Jetzt, wo wir beide im Ruhestand sind, haben wir uns als Pflegeeltern angeboten. Das Jugendamt nimmt uns zur Zeit unter die Lupe.« All das mochte durchaus der Wahrheit entsprechen. Wenn ich nach meinem ersten Eindruck von den Washingtons hätte urteilen sollen, hätte ich gesagt, daß es der Wahrheit entsprach. Aber viele Kinderschänder lieben Kinder. Leider Gottes bieten viele Kinderschänder an, Pflegekinder aufzunehmen, und leider Gottes bekommen sie sogar welche. Und viele Kinderschänder sind sehr überzeugend, wenn sie anfangen, alles abzustreiten, und viele Ehefrauen wollen es einfach nicht glauben. Die Washingtons wirkten sehr empört, aber auch Mrs. Bonando war sehr empört. Und Janine hatte ich noch gar nicht gesehen. Ich stand auf. »Danke, daß Sie sich Zeit für mich genommen haben«, sagte ich. »Ich werde mich jetzt mal mit Janine unterhalten, und ich melde mich, falls mir noch etwas einfällt, das ich Sie fragen müßte.« »Fragen Sie, was Sie möchten«, sagte Mrs. Washington, »wir haben nämlich nichts zu verbergen.« Janine hatte wie ihre Mutter dunkles Haar, dunkle Augen, sehr helle Haut, ein verschlossenes Gesicht. Sie hätten keltischer 48
oder sizilianischer Abstammung sein können, oder beides; ich konnte es beim besten Willen nicht sagen. »Deine Mutter hat mir erzählt, daß die Washingtons sich dir genähert haben«, sagte ich. »Was für Sachen haben sie denn so gesagt?« Sie warf den Kopf nach hinten, so daß ihr glattes, feines, schwarzes Haar wehte. »Es war weniger, was sie gesagt haben«, antwortete sie. »Sondern…« Sie blickte hilfesuchend zu ihrer Mutter hinüber. »Sondern die Art, wie sie es gesagt haben«, sagte Mrs. Bonando rasch. »Ich möchte jetzt gern hören, wie Janine das sieht«, stellte ich klar. »Es ist, wie Mom gesagt hat«, sagte Janine noch immer mit Blick auf ihre Mutter. »Zum Beispiel… hat er zu mir gesagt, ich hätte ein hübsches Kleid, und dann hat er mich so angeguckt, immer weiter angeguckt. Oder wenn ich von der Schule nach Hause gegangen bin und er gerade im Garten war und die Rosen beschnitten hat oder so, dann hat er mich angeguckt.« »Hat er dich mal angesprochen?« »Hab ich doch gerade gesagt! Er hat so Sachen gesagt wie, daß ich ein hübsches Kleid anhätte oder daß mein Haar nett aussieht. Es war nicht das, was er gesagt hat, es war die Art, wie er mich angeguckt hat.« »Hat er dich mal angefaßt?« »Nein!« rief Janine. »Meinen Sie etwa, ich würde mich von einem Nigger anfassen lassen?« Oje, dachte ich. Der reinste Sturm im Wasserglas, noch dazu ein rassistischer. Aber laut sagte ich: »Janine, könnte ich ein Foto von dir haben? Vielleicht ein Schulfoto von diesem Jahr?« »Wozu brauchen Sie das?« »Es könnte mir dabei helfen, dafür zu sorgen, daß sich dir niemand mehr nähert.« Sie sah wieder zu ihrer Mutter hinüber und ging dann ein Foto holen. Ich fuhr zurück zu den Washingtons und stieg mit 49
dem Foto aus dem Wagen. »Kennen Sie dieses Mädchen?« fragte ich, nachdem ich kurz geschildert hatte, was die Bonandos gesagt hatten. Mrs. Washington betrachtete das Bild und reichte es ihrem Mann. Dann sagte sie: »Ich kenne sie vom Sehen. Ist das Janine Bonando?« »Ja«, sagte ich. »Mr. Washington, kennen Sie sie?« »Vom Sehen«, bestätigte er. »Sie geht meistens in dieselbe Messe wie wir, und sie kommt auf dem Nachhauseweg von der Schule hier bei uns vorbei. Sie tut mir immer leid; all die anderen Mädchen gehen mit Freundinnen zusammen, und sie ist immer ganz allein.« Er hielt inne. »Sie sagt, ich gucke sie an. Wahrscheinlich tue ich das wirklich. Sie sieht immer so einsam aus. Und sie sieht immer so unglücklich aus – sogar in der Kirche. Die anderen Mädchen stehen in Grüppchen zusammen, lachen und unterhalten sich im Foyer, und sie… steht ganz für sich allein und wickelt sich eine Haarsträhne um den Finger. Und deshalb, ja, ich hab sie ein paarmal angesprochen. Ich wollte sie aufmuntern. Ich… wissen Sie, das ist wirklich verrückt. Es war gestern, da kam sie hier vorbei und blieb kurz stehen, als würde sie vielleicht auf jemanden warten, der noch nicht da war. Ich hab gerade die Rosen beschnitten, die welken Blüten entfernt, damit die frischen Knospen besser aufgehen, und ich wollte ihr eine Rose schenken. Ich meine, wir sind ja schließlich keine Fremden. Ich sehe sie jeden Sonntag bei der Messe. Und wissen Sie was, sie ist einfach weggerannt.« »Zu Ihrem eigenen Besten«, sagte ich, »rate ich Ihnen dringend, daß Sie in Zukunft nicht mehr versuchen, sie aufzumuntern.« »Es besteht die geringe Möglichkeit«, sagte ich zu Rafe, »daß da tatsächlich etwas faul ist. Aber ich denke eigentlich nicht.« »Hört sich für mich so an, als hätten Sie die Sache geregelt«, stimmte Rafe zu. 50
Und endlich hatte ich Zeit, nach Andersen und/oder Woodall zu suchen, bloß daß ich inzwischen fast vergessen hatte, was ich sie fragen wollte. Aber ich wußte, daß es mir wieder einfallen mußte, denn eines war klar, in den nächsten paar Tagen würde mir nicht mehr danach zumute sein, irgendwem irgendwelche Fragen zu stellen. Andersen kam als erster. Ich schätzte ihn auf etwa Mitte Dreißig. Die Tatsache, daß er noch immer bei der Streife war, hatte vielleicht nichts zu bedeuten – ich wußte ja nicht, in welchem Alter er Polizist geworden war, und außerdem ist unser Department ziemlich groß, und nicht jeder kann befördert werden –, aber andererseits hatte sie vielleicht doch etwas zu bedeuten. Er war es, der ganz in der Nähe der Tür gestanden und in sein Funkgerät gebrüllt hatte, als ich am Vortag zu dem Selbstmord gerufen worden war, und er wirkte trotzig. Anstatt sich hinzusetzen, blieb er hoch aufgerichtet vor mir stehen, beinahe drohend. »Sie glauben doch wohl nicht, daß an der Sache irgendwas verdächtig ist, oder?« wollte er wissen. »Eins kann ich Ihnen nämlich sagen, in dem Zimmer war außer dem Mädchen keine Menschenseele.« »Ich glaube nicht, daß an der Sache irgendwas verdächtig ist«, sagte ich, »aber ich will wissen, warum sie es getan hat.« »Was spielt das denn noch für eine Rolle?« fragte er schroff. »Sie ist tot.« »Andersen«, sagte ich, »wissen Sie, wie viele Teenager pro Jahr in diesem Land Selbstmord begehen?« »Nein«, sagte er. »Ich auch nicht, aber wenn es nicht die Haupttodesursache ist, dann fehlt jedenfalls nicht viel. Wenn wir bei ein paar davon herausfinden können, was der Grund war, können wir vielleicht ein paar andere verhindern.« »Stimmt«, sagte er und setzte sich. »Okay, was wollen Sie wissen?« »Waren Sie der erste Officer, der vor Ort eintraf?« 51
»Ich denke, ich und Woodall sind ungefähr gleichzeitig angekommen.« Als er Woodall erwähnte, lag etwas Undefinierbares in seiner Stimme; aber es war offensichtlich, daß er ihn nicht sonderlich leiden konnte. »Und Sie sind zusammen die Treppe hoch?« »Nein, ich hab den Fahrstuhl genommen und Woodall die Treppe. Ich meine, ich nehme bei so was sonst nicht den Fahrstuhl, ich nehme die Treppe, aber das waren immerhin vierzehn Stockwerke.« »Wer war zuerst oben?« fragte ich. »Woodall. Aber ich kam gleich nach ihm.« »Was haben Sie als erstes gesehen?« »Dieses kreischende Frauenzimmer. Sie hat gesagt… mal sehen, wie hat sie sich ausgedrückt? Sie hat gesagt: ›Dusty hat sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, und ich glaube, sie will springen.‹ Und ich habe gefragt, wer Dusty ist, und sie hat gesagt, es wäre ihre Tochter, und Woodall ist zur Tür gegangen und hat was gerufen, ich weiß nicht mehr was, und das Mädchen hat gesagt: ›Ich spreche mit keinem Mann.‹ Und dann hab ich eine Frau angefordert.« »Was ist dann passiert?« »Dann hab ich gehört, wie das Mädchen drinnen geschrien hat: ›Ich springe jetzt, ich springe jetzt!‹ Und ich hab Woodall gesagt, er soll die Tür aufbrechen, und die Frau hat geschrien: ›Nicht die Tür aufbrechen. Wenn Sie das tun, springt sie wirklich!‹ Aber ich hab mir gedacht, man kann so jemanden nicht am Springen hindern, wenn man es nicht schafft, so nahe an ihn ranzukommen, daß man ihn packen oder wenigstens mit ihm reden kann, und zwar nicht durch eine geschlossene Tür, und ich hab Woodall gesagt, er soll das Schloß knacken, sonst würd ich das machen. Und dann hat Woodall durch die Tür mit dem Mädchen geredet, und er hat gesagt: ›Dusty, keiner will dir was tun. Wir haben eine Frau angefordert, sie muß gleich hier sein. Ich möchte nur mit dir reden.‹ Und dann hab ich gesagt, 52
wenn er die Tür nicht aufkriegt, soll er aus dem Weg gehen, damit ich sie eintreten kann, und er hat gesagt: ›Mach das nicht!‹ Und dieses Dingsda, diese Nagelfeile, lag schon da rum, als hätte die Frau schon versucht, die Tür aufzukriegen, also hat Woodall die Nagelfeile genommen und angefangen, an dem Schloß rumzufummeln, und ich hab gesagt, wenn er die Tür nicht in einer Minute aufhätte, würde ich sie eintreten, und genau da sind Sie reingekommen. Wenn Woodall, dieser Trottel, Platz gemacht hätte, damit ich die Tür aufbrechen kann, hätten wir das Mädchen vielleicht retten können.« Es hätte nichts genutzt, Andersen zu sagen, daß er ein Dummkopf war, also tat ich es nicht. Ich dankte ihm nur, daß er gekommen war, ließ ihn wieder gehen und bat die Zentrale, Woodall zu verständigen, daß ich mit ihm reden wolle. Zwei Minuten später war Woodall da; es war gerade Schichtwechsel, und wahrscheinlich war er ohnehin schon auf dem Weg zum Revier gewesen. Er baute sich nicht wie Andersen drohend vor mir auf. Er setzte sich einfach, mit einer Miene, als erwartete er, daß ich ihn nicht mögen würde. Ich konnte mir nicht vorstellen, wieso; er hatte mir keinen Grund geliefert, ihn nicht zu mögen, aber diese Erwartungshaltung sieht man Menschen immer an. Ich schätzte ihn auf zirka sechsundzwanzig, und er war ein stiller Typ, während Andersen eher laut gewesen war. »Erzählen Sie mir, was gestern passiert ist, bei dem Selbstmord«, sagte ich. Er strich sich mit der Hand über den Mund. »Was passiert ist. Ich traf etwa gleichzeitig mit Andersen ein. Er nahm den Fahrstuhl, und ich lief über die Treppe nach oben. Als ich ankam, war die Frau – Mrs. Miller – ziemlich hysterisch, und als wir schließlich herausgefunden hatten, was los war, fing Andersen an, über Funk Hilfe anzufordern. Ich ging zur Tür und versuchte, mit dem Mädchen zu reden. Sie wollte nicht mit mir reden, sie wollte mit einer Frau reden. Also sagte ich 53
Andersen, er soll eine Frau herholen. Er war… er war selbst ein bißchen hysterisch. Er wollte die Tür sofort aufbrechen, und ich hatte Angst, daß sie springen würde, wenn wir die Tür eintreten würden. Ich hab versucht, ihm das klarzumachen, und er hat nur ständig gesagt, ich soll aus dem Weg gehen, wenn ich selbst zu feige dazu wäre, also fing ich an, an dem Schloß herumzufummeln, möglichst leise – das Mädchen da drinnen weinte, und ich hoffte, wenn ich ganz leise wäre, würde sie mich nicht hören – und dann brüllte er wieder, daß er jetzt die Tür eintreten würde, und dann… hörte ich sie springen. Ich hörte sie springen. Zuerst hörte ich sie weinen, und dann hörte ich dieses rutschende Geräusch, und dann hörte ich sie schreien, und irgendwie, na ja, der Schrei klang immer weiter weg. Ich weiß nicht, warum ich mich noch weiter an dem Schloß zu schaffen gemacht habe, aber… so hatte ich wenigstens was zu tun. Sie sind reingekommen, als der Schrei… leiser wurde.« Jetzt wußte ich also, was der letzte Auslöser gewesen war. Aber ich konnte Andersen keine große Mitschuld geben; es war möglich – sogar wahrscheinlich, eingedenk ihrer Verzweiflung –, daß sie so oder so gesprungen wäre. Aber der Auslöser war nicht der Grund. Und ich wollte den Grund herausfinden, und obwohl ich schon eine Ahnung hatte, was der Grund war, konnte ich ihn noch immer genausowenig beweisen wie zu dem Zeitpunkt, als es passierte. Woodall stand auf, um zu gehen. Dann drehte er sich mit seiner Uniformmütze in der Hand noch einmal um und fragte: »Hätte ich ihn die Tür aufbrechen lassen sollen?« »Was denken Sie?« »Ich denke noch immer, daß ich recht hatte. Ich denke, wenn er ihr keine Angst gemacht hätte, wenn er nicht rumgebrüllt hätte, daß er die Tür aufbrechen wollte, wäre sie vielleicht… vielleicht nicht gesprungen. Aber ich bin mir nicht sicher. Ich will Andersen nicht die Schuld in die Schuhe schieben.« 54
»Auch wenn er sie Ihnen in die Schuhe schiebt?« Woodalls Gesicht lief leicht rot an. »Daran bin ich gewöhnt.« Er erläuterte das nicht näher, und ich beschloß, ihn nicht danach zu fragen. Es war eine von diesen Fragen, die ich stellen und auch beantwortet bekommen könnte, aber die Antwort war vielleicht etwas, das ich nicht unbedingt hören wollte. »Tja, also dieses Mal tragen Sie keinerlei Schuld«, sagte ich. »Sie hatten recht. Nicht, daß sie nicht gesprungen wäre – das kann keiner von uns wissen –, aber daß sie vielleicht nicht gesprungen wäre. Aber daran ist nun nichts mehr zu ändern.« »Nein«, sagte Woodall ernst und ging. Verdammt, dachte ich und fuhr nach Hause. Hier herumzusitzen wäre albern; es war schon nach vier, und Harry mußte um fünf los, um rechtzeitig zu seinem Seminar zu kommen, was bedeutete, daß ich nach Hause und ihm was zu essen machen mußte. Ich würde ja so froh sein, wenn er mit diesem dämlichen Studium fertig war… Dann rief ich mir gewissenhaft in Erinnerung, daß das Studium dazu gedacht war, ihm wieder einen Job zu verschaffen, wovon die ganze Familie profitieren würde. Es war nicht seine Schuld, daß wir alle seit zwei Jahren davon in Mitleidenschaft gezogen wurden, und auch er würde erleichtert aufatmen, wenn es endlich vorbei war.
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Kapitel 3 Der Arzt wollte, daß ich vor der Operation richtig schön entspannt war, deshalb fingen wir mit den vor Operationen üblichen zehn Milligramm Valium beim Zubettgehen an. Ab Mitternacht durfte ich dann auch nichts mehr essen oder trinken. Wäre ich – wie das meistens der Fall ist, wenn man über Nacht im Krankenhaus bleibt – gleich am nächsten Morgen um sieben operiert worden, ohne vorher noch richtig wach zu werden, wäre das ja auch in Ordnung gewesen, aber so läuft das nun mal nicht bei OP-Patienten, die von außerhalb kommen. Das fängt schon damit an, daß Valium bei mir – und ich kann da wirklich nur von mir sprechen – seltsame Träume auslöst. Ich meine sehr seltsame Träume. Leider brachte es diesmal einen Angsttraum an die Oberfläche meines Unterbewußtseins, den ich in der Vergangenheit schon öfter gehabt hatte. In dem Traum sitzt Hal am Steuer und ich auf der Rückbank. Fragen Sie mich nicht, warum. Ich bin fast nie Beifahrerin bei Hal, und wenn doch, dann natürlich auf dem Beifahrersitz. Jedenfalls fällt mir plötzlich auf, daß Hal höchstens sechs Jahre alt und gar nicht in der Lage ist, einen Wagen zu fahren. Ich versuche, auf den Vordersitz zu kommen, um das Lenkrad zu übernehmen, aber jedesmal, wenn ich gerade halb über die Lehne geklettert bin, steuert der Wagen auf eine Klippe zu, und ich muß das Lenkrad packen und von der Rückbank aus lenken, und etwa zu diesem Zeitpunkt merke ich dann, daß es gar kein Wagen ist, sondern ein ganzer Bus, und ich muß mich so weit recken, daß ich das Lenkrad von der hintersten Bank des Busses aus erreichen kann. Ich hoffe, daß ich irgendwann, wenn ich diesen Traum habe, das Steuer und die Pedale erreiche, aber bis jetzt ist das noch nie passiert. Statt 56
dessen wachte ich auch diesmal auf – wie immer bei diesem Traum –, keuchend, schwitzend, und sehr durstig. Es war vier Uhr morgens, und ich durfte nichts trinken. Ich ging ins Bad, putzte mir die Zähne, spülte den Mund aus, wobei ich sehr gewissenhaft darauf achtete, kein Wasser zu schlucken, und legte mich wieder ins Bett. Das Valium wirkte erneut, und es kam mir vor, als wären nur ein paar Minuten vergangen, als Harry mich um halb sechs weckte, was ich lächerlich früh fand, weil ich ja erst um sieben Uhr im Krankenhaus sein mußte, aber das Krankenhaus liegt auf der anderen Seite der Stadt, und um diese Uhrzeit ist der Verkehr entsetzlich. Wir hatten ausführlich erörtert, was ich an diesem Morgen anziehen sollte. Ich war mit Harry einer Meinung, daß ich meine Pistole trotz der Vorschrift, sie ständig bei mir zu tragen, auch wenn ich dienstfrei hatte, heute nicht mitnehmen würde, und er hatte sie in seiner Waffentruhe eingeschlossen. Aber ich vertrat die Ansicht, daß ich mich nicht in Nachthemd und Bademantel ins Wartezimmer setzen würde, und er vertrat die Ansicht, wenn ich wie üblich eine Hose trug, würde ich ziemlich interessante Probleme überwinden müssen, um sie für die Fahrt nach Hause wieder anzuziehen. Wir schlossen einen Kompromiß. Ich trug Hose und Bluse, und ich nahm Nachthemd und Bademantel für den Nachhauseweg mit. Und so saß ich um sieben Uhr morgens in einem Wartezimmer, bekleidet mit Hose und Bluse, durstig und hungrig und noch immer vom Valium benebelt, und versuchte vergeblich, nicht den Kaffee, den Kakao und die Donuts zu riechen, die in einem kleinen Nebenraum für Angehörige von Patienten angeboten wurden. Endlich kam eine Krankenschwester, brachte mich in ein kleines, schwach erhelltes Kabuff, das etwa ein Viertel der Grundfläche meines Badezimmers hatte, und zwang mich, mir ein Papiernachthemd 57
und Papierschuhe anzuziehen. Dann ging sie wieder weg, nahm meine Kleidung mit und ließ mich auf einer Liege zurück in einem etwas zu kühlen Zimmer, in Papiernachthemd und Papierschuhen, ohne etwas zum Zudecken außer einem Bettlaken, und mit nichts zu tun, außer darüber nachzudenken, wie hungrig und durstig ich doch war. Eine Frau, ungefähr im Alter meiner Mutter, kam herein, erklärte mir, sie sei die Anästhesistin, und verbrachte ungefähr drei Minuten damit, mir zu erklären, was für eine Art von Narkotikum ich bekommen würde, mich zu fragen, ob ich irgendwelche Fragen hätte, die ich nicht hatte, und dann ging sie wieder. Natürlich mußte ich mittlerweile wohin, um zu pinkeln, aber ich wußte nicht, ob ich aufstehen und auf meinen Papierschuhen herumlaufen dürfte. Etwa zwanzig Minuten später kam eine andere Schwester herein, sagte ja, ich dürfte in meinen Papierschuhen herumlaufen, und verriet mir, wo eine Damentoilette war, die mich nicht dazu zwang, in meinem Papiernachthemd durch das Wartezimmer zu marschieren. Das war gut so, denn ich fühlte mich extrem schutzlos, sogar so schutzlos, daß ich mir das Bettlaken umwickelte, um zur Toilette zu gehen. Als ich, etliche Meter Baumwollstoff hinter mir herschleifend, zurückkam, stellte ich fest, daß sie mir die längst überfällige Decke gebracht hatte. Nachdem sie mich damit zugedeckt hatte (wie ein Kind), stach sie mir eine Kanüle für den Tropf in den rechten Handrücken, und etwa zwanzig Minuten später wurde ich tatsächlich in den OP gebracht. Gebracht ist nicht das richtige Wort; geführt wäre treffender. In meinem Papiernachthemd, das hinten offen war (diesmal ohne Bettlaken; das mußte ich in dem Kabuff zurücklassen), und in Papierschuhen spazierte ich den Gang hinunter zum OP, neben mir die Schwester mit dem Tropfbeutel. Das war interessant, weil ich das noch nie erlebt hatte. Normalerweise wird man, sobald man sich in ein Krankenhaus begibt, sofort zum 58
Invaliden erklärt und nur noch auf Rolltragen oder in Rollstühlen herumgefahren. Das Gute an einem Tropf ist ja, daß man, solange man einen hat, keine anderen Spritzen mehr bekommen muß. Die Spritzen werden einfach in die Tropfkanüle gegeben, durch die das Medikament dann in den Arm gelangt. Ich weiß noch, daß ich Dr. Brandon erzählt habe, daß ich meistens, wenn ich in einem OP oder in einem Kreißsaal bin, irgend etwas von Autopsien vor mich hinbrabbele, weil ich schon so viele gesehen habe und weil die Ähnlichkeit zwischen einem herkömmlichen OP und einem herkömmlichen Autopsieraum so auffällig ist. Er erinnerte mich daran, daß ich ihm das bereits erzählt hatte, und sagte, ich sollte mir keine Gedanken darum machen, niemand würde darauf achten, was Leute im OP sagen, und dann war ich auch schon wieder in dem kleinen Kabuff, in dem ich mich umgezogen hatte, und mir war irgendwie kalt und etwas übel, und ich hatte etwas weniger Durst, nur daß ich jetzt Kleistergeschmack im Mund hatte, und Becky und Vicky saßen bei mir und sahen so ängstlich aus, als läge ich im Sterben und hätte nicht bloß einen Fersensporn entfernt bekommen. Schließlich brachte ich eine von ihnen dazu, mir zu verraten, daß es gegen Mittag war und ich seit gut einer Stunde wieder in meinem kleinen Zimmerchen war. Kurz danach schaute Dr. Brandon lange genug herein, um mir zu erzählen, daß die Operation sehr gut verlaufen war, obwohl er eine bös entzündete Sehne von dem Fersensporn hatte lösen müssen. Die Operation hatte doppelt so lange gedauert wie geplant, weshalb mir soviel Narkotikum verabreicht worden war. Er versprach, später wiederzukommen und mir genauere Erläuterungen zu geben, aber erst müßte er einen Happen essen und zunächst einmal dürfte ich jetzt etwas trinken, wenn ich meinte, ich würde es bei mir behalten. Beide Töchter waren sich darin einig, daß die Cola, die die Krankenschwester mir geben wollte, nicht das richtige war – und damit hatten sie recht; selbst unter 59
idealen Bedingungen muß ich mich übergeben, sobald ich etwas trinke, das Kohlensäure und Zucker enthält, und Koffein nehme ich inzwischen so selten zu mir, daß ich total aufgedreht bin, wenn ich es mal tue –, und begannen, sich darum zu zanken, wer von ihnen mir eine koffeinfreie Cola light holen sollte. Ich wünschte mir, sie wären so angenehm und hilfsbereit gewesen, als sie noch Teenager waren und das Geschirr abwaschen sollten, und klärte die Frage, indem ich Becky, die weniger schwangere der beiden, losschickte, mir eine Sprite light zu holen – ich wollte keine Cola, weder light noch sonstwie –, und Vicky losschickte, um sich zu erkundigen, ob ich dieses Papiernachthemd, das nicht nur kalt war, sondern auch allzu freizügig, ausziehen und meine eigenen Sachen anziehen durfte. Eine Krankenschwester schaute in das kleine Kabuff und ermahnte mich, es ruhig angehen zu lassen; wenn ich jetzt versuchte, mich anzuziehen, müßte ich mich wahrscheinlich übergeben, und das wollten wir doch nicht, oder? Ich versuchte, mich aufzusetzen, und mußte sofort zugeben, daß sie recht hatte. Wenn ich versuchte, aufzustehen und mich anzuziehen, würde ich mich übergeben, und das wollten wir doch nicht, oder? Zumindest eine von uns würde das nicht wollen. Danach kam Dr. Brandon herein, um mir zu sagen, daß der chronisch leicht verstauchte Knöchel, über den ich seit einem Jahr geklagt hatte, kein verstauchter Knöchel gewesen war; es waren Sehnen gewesen, die unentwegt entzündet waren, weil der Fersensporn gegen sie drückte. »Ich mußte die Sehnen ein wenig aufspalten, um die Knochenfragmente herauszubekommen«, sagte er, »und Sie werden erheblich mehr Schmerzen haben als erwartet. Sie müssen den Fuß länger schonen, als ich ursprünglich gesagt habe, sonst kommt die Entzündung wieder und wird noch viel schlimmer.« Um drei Uhr fuhren wir endlich nach Hause, und die ganze Zeit 60
über hielt ich eine niedliche rosa Kotzschüssel in der Hand, für den Fall, daß mir im Auto schlecht werden würde. Nur mit Harrys und Beckys vereinten Kräften hatte ich es in den Wagen geschafft, weil ich festgestellt hatte, daß ich an Krücken die beunruhigende Tendenz habe, nach hinten zu kippen. Aber da mein linker Fuß in einem Gipsverband steckte, der ihn in einer sehr verdrehten Position fixierte, würde ich nirgendwo hinkommen, außer an Krücken oder auf allen vieren. Entgegen aller Beteuerungen meinerseits, ich könnte es alleine, half Harry mir aus dem Wagen und ins Haus; er bot an, mich zu tragen, aber ich bezweifelte seine Fähigkeit, knapp fünfundfünfzig Kilo plus das Gewicht des Gipsfußes schleppen zu können, zumal er seit seinem Hubschrauberabsturz vor drei Jahren noch immer stark humpelte und ich nicht wollte, daß wir beide gleichzeitig das Bett hüten mußten. Offensichtlich würde ich lernen müssen, an Krücken zu gehen, bevor ich wieder zur Arbeit konnte, aber ich war ziemlich sicher, daß in den nächsten zwei Tagen ohnehin nicht daran zu denken war. Zum Glück hat Harrys und mein Schlafzimmer ein eigenes Bad, was bedeutete, daß ich nicht alle paar Stunden durchs ganze Haus wanken mußte. Es war ziemlich klar, daß Harry und Hal vorläufig für Kochen, Putzen, Wäsche und so weiter zuständig sein würden. Harry war anscheinend nach Hause gefahren, während ich operiert wurde, denn ich wußte nicht, wann er sonst das alles gemacht haben sollte, seit wir heute morgen das Haus verlassen hatten. Umsichtigerweise hatte er den Nachttisch auf meiner Seite an die Wand geschoben, so daß ich ihn noch immer vom Bett aus erreichen konnte; darauf hatte er Telefon und Telefonbuch deponiert, Kräcker, Kartoffelchips und Nachos und einige Bücher, die er für mich aus der Bibliothek geholt hatte (ganz sicher hatte er Vicky, Becky und Hal bei der Auswahl um Rat gefragt, denn er selbst hätte dabei bestimmt keine so glückliche Hand gezeigt: Er hatte so ziemlich alles von 61
Jean Auel sowie eine bunte Mischung aus Krimis, Liebesromanen, Science-fiction und Fantasy ausgeliehen, für die ich um einiges länger brauchen würde, als ich das Bett hüten mußte). Direkt neben das Bett hatte er eine Kühlbox gestellt, mit Fruchteis, verschiedenen Limonaden, Käse, Obst und sonstigen Leckereien, nach denen mir im Augenblick eindeutig nicht der Sinn stand. Das Eis und die Limo fand ich himmlisch, aber mein Fuß brachte mich fast um. Der Arzt hatte mich gewarnt, daß Operationen am Knochen äußerst schmerzhaft sind, und ich hatte einige unterschiedliche Rezepte für Schmerzmittel bekommen, mit der Anweisung, sie dann zu nehmen, wenn ich sie brauchte. Der Arzt hatte erklärt, daß (a) Leute, die Schmerzmittel nur dann nehmen, wenn sie sie brauchen, tatsächlich weniger nehmen als die Leute, die sich genau an die Einnahmeempfehlungen halten, und daß man (b) wesentlich weniger Medikamente braucht, um Schmerzen vorzubeugen, als sie zu beenden, wenn sie erst mal richtig angefangen haben. Er hatte allerdings hinzugefügt, daß ich das Ibuprofen alle vier Stunden nehmen sollte, ob ich nun meinte, es zu brauchen, oder nicht, weil es sowohl entzündungs- als auch schmerzhemmend wirkte, und die anderen Schmerzmittel nur nehmen sollte, wenn ich meinte, sie zu brauchen. Außerdem sollte ich bei soviel Ibuprofen gut essen, hatte er nachdenklich gemeint, wenn ich mir kein Magengeschwür holen wollte. Ich hatte schon mal ein Magengeschwür gehabt. Ich wollte nicht wieder ein Magengeschwür kriegen. Ich war froh, daß Harry reichlich Eßbares für mich bereitgestellt hatte. Er hatte sogar, wie ich mit einer Mischung aus Erleichterung und schwachem Bedauern registrierte, mein häusliches Gartenbauexperiment entfernt. Ich hatte mir wirklich richtig Mühe gegeben: Nachdem mir im November sämtliche Tomatenpflanzen erfroren waren, hatte ich einen Kirschtomatensetzling in einen Fünf-Liter-Behälter gepflanzt, 62
der zuvor Speiseeis enthalten hatte, und auf meine Kommode gestellt. Ich hatte Löcher in den Boden des Behälters gebohrt, damit das Wasser abfließen konnte, hatte ihn mit Blumenerde gefüllt und ihn auf seinen eigenen, nun mit Kies bedeckten Deckel gestellt. Ich hätte das früher machen sollen, wenn ich schon im Winter ernten wollte, aber ich hatte nicht früher daran gedacht. Jedenfalls, sobald die ersten Knospen kamen, stellte ich die Pflanze unter eine Leuchtstoffschreibtischlampe und ließ das Licht acht Stunden am Tag an, und ich fütterte sie mit Tomatennährstoffen, wenn ich zufällig dran dachte. Sie wuchs. Und wuchs. Und wuchs. Wir mußten uns eine Möglichkeit überlegen, eine Tageslicht simulierende Leuchtstofflampe in die Deckenfassung zu schrauben. Ich band die Pflanze mit Plastikstreifen von zerschnittenen Einkaufstüten an zwei Haken fest, die noch von einem früheren Versuch, im Schlafzimmer einen Philodendron zu züchten, in der Decke steckten. Die Tomatenpflanze wuchs und wuchs und wuchs, und ich mußte sie jeden Tag gießen. Sie wurde riesig: Harry nannte sie Dreizack oder liebevoll Zacki. Und von November bis März brachte Zacki genau acht Kirschtomaten hervor. Nun war Zacki verschwunden, und meine Kommode – zur Zeit für mich unerreichbar – erschien mir so leer wie die Wüste Gobi. Aber das machte nichts, weil außer mir kein Mensch daran gedacht hätte, Zacki zu gießen, und ich war ganz sicher nicht dazu in der Lage. Ich wandte meine Aufmerksamkeit wieder dem Nachttisch zu. Soweit ich sah, blieb nur noch ein Problem zu lösen. Meine Medikamente waren nämlich noch nicht da. Ich wußte natürlich, wo sie war. Becky war nach Hause zurückgefahren, wo ein Babysitter sowohl ihre als auch Vickys Kinder hütete, und Vicky war mit den Rezepten unterwegs, um die 63
Medikamente zu holen, und noch nicht hier eingetroffen. Ich brauchte meine Medizin jetzt. Was auch immer sie mir im Krankenhaus gegeben hatten, die Wirkung war inzwischen gleich Null, und ich war alles andere als glücklich. Harry kramte die Schränke im Bad durch und fand schließlich ein paar Tylenol Extra Stark, die mit Kodein drin, die noch von seiner Rückenoperation übriggeblieben waren. Da ich auch ein Rezept für Tylenol hatte, fand ich, daß ich ruhig eine nehmen und mit einer Dose Ginger Ale hinunterspülen konnte. Dann legte ich mich wieder hin, und mir drehte sich alles. Allmählich kam es mir so vor, als würde ich mir einen Kinofilm oder eine Fernsehsendung ansehen, und dann wurde es realer, als ob ich wirklich da wäre, nur, daß ich nichts mit den Geschehnissen zu tun hatte. Ich war ein stiller, unsichtbarer Beobachter auf einer Halloween-Party, die ein paar Teenager in einer Blockhütte am See feierten. Es sah alles ganz fröhlich und nett aus, es wurde bloß viel getrunken, doch dann wurde mir klar – wie, weiß ich nicht –, daß diese adretten, ordentlichen, gesund aussehenden Teenager – sechs Mädchen, sechs Jungen – sich diesen Ort aus Gründen ausgesucht hatten, die ich als ungesund bezeichnen würde. Fünf Jahre zuvor hatte sich ein fünfzehnjähriges Mädchen in ebendieser Hütte am See aufgehängt, weil sie schwanger war. Sie wurde erst Wochen später gefunden, weil niemand daran gedacht hatte, in der Hütte nachzusehen, als die Suche nach dem vermißten Mädchen anlief. Das Wetter war so kühl gewesen, daß die Leiche noch nicht vollständig verwest war, aber… Die Teenager erzählten sich Gruselgeschichten und amüsierten sich köstlich. Ich fand das weniger köstlich. Diese Kinder hatten noch nie eine Leiche gesehen, die erst nach Wochen gefunden wurde. Ich schon. Die Trinkerei ging weiter, hauptsächlich unter den Jungs, und die ersten Knutschereien begannen. Bloß Knutschereien, 64
nicht mehr. Diese Party war nicht zeitgenössisch, erkannte ich plötzlich. Die Mädchen trugen weiße, gestärkte Blusen mit Knopfleiste, bunte Baumwollröcke mit enger Taille und mehrschichtigen Petticoats und flache pastellfarbene Schuhe, genau wie ich als Backfisch, und die Jungs trugen die Kordhosen, karierten Button-down-Hemden und weißen Ledersportschuhe der Prä-Hippie-Ära. Die Mädchen trugen die Haare entweder als Pagenfrisur oder oben auf dem Kopf aufgetürmt und ordentlich an den Ohren gelockt. Die Jungen hatten den typischen Bürstenschnitt der fünfziger Jahre, nicht die kahlrasierten Skinhead-Köpfe von heute. Und sie waren wohlerzogene Kinder, das sah man ihnen an. Natürlich war das kein Schutz vor Schwangerschaften im Teenageralter – in den fünfziger und sechziger Jahren waren junge Leute ebenso menschlich wie zu jeder anderen Zeit –, aber es bedeutete, daß Gruppensex ausgeschlossen war. Also beschränkte man sich auf ein bißchen Biertrinken, ein bißchen Knutschen und Petting, bis sich ganz plötzlich einer der Jungen, offensichtlich betrunkener als die übrigen, auf eines der Mädchen stürzte, und zwar mit der Absicht, sich zu befriedigen, ob sie nun wollte oder nicht. Es gab lautes Geschrei, als die anderen Mädchen und einige von den nicht ganz so betrunkenen Jungen die beiden auseinanderzogen, und alle Mädchen rannten mit wehenden Röcken und auf ihren zart aussehenden Halbschühchen davon, die ganze Gruppe floh unter einem weißen Vollmond einen trockenen, staubigen Weg hinauf zu einer anderen Hütte. Nein, sie hatten und brauchten keine Jacken; in diesem Teil von Texas ist es an Halloween meistens so warm, daß man in Hemdsärmeln gehen kann. Erst dann merkte ich, daß am See keine Autos standen; ihre Eltern hatten sie also am Halloween-Abend zu der Hütte gefahren und würden sie am nächsten Morgen wieder abholen. (Dumm von den Eltern, dachte ich, und dann erinnerte ich mich daran, daß das ja nur ein Traum war. Ja, es war die Art von 65
Traum, die man, wie Susan mir einmal gesagt hat, Wachtraum nennt. Während ich träumte, wußte ich, daß ich träumte.) Die Mädchen erreichten die andere Hütte und gingen hinein – vielleicht gehörte die Hütte der Familie von einem der Mädchen –, und erstaunlicherweise folgten die Jungen ihnen nicht. Die Mädchen unterhielten sich eine Weile, bis diejenige, die angegriffen worden war, sich beruhigt hatte und aufhörte zu weinen. Dann unterhielten sie sich noch ein bißchen länger. Sie saßen auf dem Boden oder gingen herum und zogen sich Röcke, Blusen und ihre Krinolinen aus, bis sie sich schließlich in dieser anderen Hütte in ihrer Unterwäsche und den glatten Nylonunterröcken schlafen legten, die sie immer unter den Schichten aus steifen Petticoats trugen. Sie zogen das Gummiband ihrer Unterröcke hoch bis unter die Achseln, so daß sie aussahen wie kurze Nachthemden. Die Jungen stritten sich noch ein bißchen, machten dem Übeltäter Vorhaltungen, erzählten derbe Witze, tranken die letzten Reste auf und legten sich dann auch schlafen. Am nächsten Morgen beschlossen die Mädchen, da die Jungen inzwischen nüchtern sein mußten, zu der anderen Hütte zurückzugehen, um zum Frühstück Pfannkuchen zu machen. Sie murrten, weil ihre Handtaschen mit Make-up und Haarbürsten in der anderen Hütte waren, aber keine war bereit, allein dort hinzugehen, um sie zu holen. Ich hatte die Mädchen gezählt. Sie waren zu sechst gewesen. Die ganze Nacht über waren es sechs gewesen, und sie waren sechs, als sie beschlossen, zu der anderen Hütte zurückzukehren. Jetzt jedoch, als sie den Feldweg entlangtrotteten und bei jedem Schritt Staub aufwirbelten, waren sie sieben, und die Schritte der siebten wirbelten keinen Staub auf. Das siebte Mädchen hatte langes, dunkelblondes Haar, das ihr locker über den Rücken fiel. Sie trug ein langes, weißes Organdykleid, und sie war ebenso blaß wie der Stoff. Ihr Hals war verquollen und blau, und fünf von den anderen Mädchen 66
flohen vor ihr, doch das sechste blieb da und versuchte, mit ihr zu reden. Sie konnte nicht sprechen, weil ihr Hals so verquollen war und weil sie tot war. Sie hatte sich in dieser Hütte erhängt. Oder nicht? Durch improvisierte Zeichensprache machte sie dem Mädchen, das bei ihr geblieben war, das sie wohl zu Lebzeiten gekannt hatte, verständlich, daß sie sich nicht erhängt hatte; sie war von ihrer Mutter ermordet worden, weil sie schwanger war und die Mutter die Schande nicht ertrug und gehofft hatte, daß niemand mehr in der Lage sein würde, die Schwangerschaft zu erkennen, wenn die Leiche nach langer Zeit gefunden wurde. Aus einem unerfindlichen Grund mußte ich in diesem Moment – noch immer im Traum – an ein Theaterstück denken, das ich einmal während meines abgebrochenen Semesters am College gesehen hatte, Bernarda Albas Haus, und zwar an die entsetzliche letzte Szene, in der die Leiche der jüngsten Tochter an einem Strick baumelt; die langen Röcke kleben ihr am Körper, und die Wölbung einer fortgeschrittenen Schwangerschaft ist deutlich zu erkennen, während der mütterliche Hausdrache die Fäuste schüttelt und kreischt: »Die Tochter von Bernarda Alba ist unberührt gestorben!« Dann verlagerte sich die Szene ins Innere der Hütte, wo die Jungen – jetzt nüchtern, verkatert und sehr unglücklich – mit beachtlicher Geschwindigkeit Milchpackungen leerten. Irgendwo hatte wohl einer von ihnen einen Ghettoblaster an, weil ich den gedämpften Lärm von Heavy-metal-Musik hören konnte (die gedämpft nur noch aus Drums und Bässen zu bestehen scheint), aber ich konnte den Ghettoblaster nicht sehen, und eigentlich gab es weder Ghettoblaster noch Heavy metal, als ich in dem Alter war. Einer der Jungen schrie einen anderen an, weil der den Fernseher zu laut gedreht hatte. Das war komisch; ich erinnerte mich nicht, daß in der Hütte ein Fernseher gewesen war… und dann begriff ich, daß Harry Hal anschrie. Er war von der Schule und von dort, wo auch immer 67
er direkt nach der Schule gewesen war, nach Hause gekommen und hatte MTV angestellt. Von MTV konnte ich nicht viel hören, jedenfalls nicht, bevor ich richtig wach war, aber Harry hörte ich überaus deutlich. »Hör auf, so einen Krach zu machen, wenn deine Mutter schlafen will!« schrie er. Sehr rücksichtsvoll, Harry, dachte ich, aber was ist mit dem Krach, den du veranstaltest? Verdammt, warum war ich jetzt wach geworden? Ich war sicher, daß der Traum irgend etwas mit dem Selbstmord von Dusty Miller zu tun hatte. Aber er konnte mir nicht verraten, was tatsächlich geschehen war, weil ich ja wußte, was tatsächlich geschehen war. Ganz gleich, was dem Mädchen in meinem Traum passiert war – und wo zum Teufel war der Traum hergekommen? –, Dusty Miller hatte sich wie die Tochter von Bernarda Alba zweifelsfrei das Leben genommen. Vielleicht wollte der Traum mir den Grund verraten? Aber ich würde noch eine Weile warten müssen, bis ich jemanden in der Gerichtsmedizin anrufen konnte. Zunächst mußte ich mich um etwas anderes kümmern, und das könnte sich ziemlich schwierig gestalten, denn ich würde ganz sicher nicht ’laut nach Harry rufen, damit er kam und mir zur Toilette half. Nicht, daß ich keine Hilfe gebraucht hätte; die brauchte ich offensichtlich. Und nicht, daß Harry nicht gern dazu bereit gewesen wäre; er hätte mir liebend gern geholfen. Nein, das Problem war grundsätzlicherer Natur: Harry humpelte, wie gesagt, noch immer stark, dadurch geriet er leicht aus dem Gleichgewicht. Ich fürchtete, wenn ich mich auf ihn stützte, würden wir beide übereinander auf dem Boden landen, und höchstwahrscheinlich würde er kurz darauf wieder im Krankenhaus liegen. Da das keinem von uns beiden irgend etwas nützen würde, mußte ich so tun, als brauchte ich – oder zumindest wollte ich – keine Hilfe. Das Problem war nun, wenn er mich in Schwierigkeiten sah, 68
würde er sich schäbig vorkommen, weil er mir nicht half, und ich würde kleinlich wirken, weil ich mir nicht helfen lassen wollte. Deshalb – und das würde sehr viel schwieriger werden – mußte ich gutgelaunt so tun, als brauchte ich keine Hilfe, die ich doch in Wahrheit eindeutig brauchte. Ich wußte nicht recht, wie ich dieses Problem lösen sollte. Wir hatten bereits festgestellt, daß ich nicht an Krücken balancieren konnte, ohne daß jemand vor mir und jemand hinter mir aufpaßte, für den Fall, daß ich umkippte, meistens nach hinten. Gehen war völlig ausgeschlossen. Damit blieb nur eine Möglichkeit, um zur Toilette zu gelangen: Ich würde kriechen müssen. Es ist, wie ich schnell herausfand, unmöglich, in einem Nachthemd zu kriechen, das bis über die Knie reicht. Gut und schön, ich mußte ja nicht durchs Wohnzimmer, um ins Bad zu kommen, und meine Schlafzimmertür war fest geschlossen. Niemand würde sie öffnen, weil ich theoretisch schlief und nicht gestört werden durfte. Mitten im Schlafzimmer zog ich das Nachthemd aus und kroch ins Bad. Das Schlafzimmer hat Teppichboden. Das Badezimmer ebenfalls. Wie um alles in der Welt machen Kleinkinder das? Meine Knie waren bereits wund, als ich zurück zum Bett kroch, unterwegs mein Nachthemd einsammelte und es wieder anzog, um mich wieder ins Bett zu legen. Dann kam mir eine bessere Idee, und ich kroch zur Kommode, die glücklicherweise ziemlich nah am Bett steht, und holte mein Palast-des-Himmlischen-Friedens-T-Shirt mit der Freiheitsgöttin heraus, einen weißen Baumwollschlüpfer und eine gelbe Strickshorts, die ich so gut wie nie trage, weil ich schon etwa drei Tage, nachdem ich sie gekauft hatte, zu dem Schluß kam, daß sie häßlich ist. Das würde vorläufig meine Schlafkleidung sein, selbst wenn es schwierig sein würde, die Shorts über den Gips zu bekommen. Ich schaffte es trotzdem, warf das Nachthemd auf Harrys Seite des Bettes, 69
damit er es zum Wäschekorb brachte, denn ich würde auf gar keinen Fall schon wieder ins Badezimmer kriechen. Jetzt war ich halbwegs anständig gekleidet, und ich würde mit einem kleinen – sehr kleinen – Mindestmaß an Würde kriechen, ganz gleich, wer nun gerade im Zimmer war. Mittlerweile war ich müde, durstig, verschwitzt, und vor lauter Schwitzen begann ich zu frösteln. Das ist idiotisch, dachte ich, deckte mich mit einer Decke zu und trank noch etwas Ginger Ale, wobei mir beim Griff nach dem Ginger Ale auffiel, daß etliche Tablettenpackungen ordentlich neben dem Telefon aufgereiht lagen. Das bedeutete vermutlich, daß Vicky gekommen und wieder gefahren war. Schließlich, als ich einsah, daß ich heute nicht mehr weniger müde werden würde, streckte ich mich riskant nach dem Telefon und rief das Büro der Gerichtsmedizin an. Das war eine Nummer, die ich nicht nachschlagen mußte. Aber es ging niemand ans Telefon. Verwundert sah ich auf die Uhr. Ja, es war schon nach fünf. Gut nach fünf. Und die Privatnummer von Dr. Habib wußte ich nicht. Natürlich stand sie in meinem Kalender, aber mein Kalender war in meiner Handtasche, die im Wohnzimmer war, und ich dachte gar nicht daran, Harry zu bitten, sie mir zu bringen, weil er mich dann – völlig berechtigterweise – ausschimpfen würde, weil ich an die Arbeit dachte. Außerdem wußte ich nicht mit Sicherheit, ob Andrew Habib die Autopsie vorgenommen hatte. Die Tatsache, daß er mein Lieblingspathologe war, bedeutete nicht immer, daß er auch der Pathologe war, den ich bekam. Und überhaupt, ich wußte ja nicht mal mit Sicherheit, ob eine Autopsie gemacht worden war. Theoretisch schreibt das Gesetz das in jedem Fall von plötzlichem oder gewaltsamem Tod vor, aber manchmal, wenn wirklich kein Zweifel an der Todesursache bestehen kann und kein Grund vorliegt, irgendwelche Fragen zu stellen, wie beispielsweise eine hohe 70
Versicherungssumme, wird das Gesetz einfach ignoriert. Ich rief die Zentrale an und bat denjenigen, mit dem ich sprach – ich kannte die Stimme nicht und fragte nicht nach dem Namen –, herauszufinden, wer die Autopsie vorgenommen hatte, und dafür zu sorgen, daß die betreffende Person mich anrief. Ich setzte darauf, daß ich schneller am Telefon sein konnte als Harry oder Hal. Natürlich lag ich damit falsch. Sekunden nachdem Harry gesagt hatte: »Sie schläft«, sagte ich: »Nein, tu ich nicht.« »Das solltest du aber«, sagte er vorwurfsvoll. »Sie hat mir bestellen lassen, daß ich sie anrufen soll«, sagte Habib langmütig. Er war schon öfter mal bei irgendwelchen Diskussionen zwischen Harry und mir – oder Zankereien, wie er sie gern nennt – unfreiwilliger Zeuge. »Genau, ich wollte Sie bloß fragen, ob Sie Dusty Miller obduziert haben«, sagte ich, sorgsam darauf bedacht, das Wort »Autopsie« zu vermeiden, das, wie Habib immer wieder – fälschlicherweise – behauptet, »Operation am eigenen Körper« bedeutet. »Allerdings, gegen neun Uhr heute morgen. Ich hab mich schon gefragt, wo Sie stecken, und hab angerufen, und Millner hat mir gesagt, daß Sie operiert werden.« Ich sehe nämlich sehr häufig den Autopsien zu, wenn sie zu meinem Fall gehören, obwohl die vom Erkennungsdienst meinen, es sei ihr Vorrecht, und manche Erkennungsdienstler sauer auf mich werden, weil ich die Nase in Dinge stecke, die mich nichts angehen. Immer wenn das passiert, weise ich sie darauf hin, daß ich selbst mal beim Erkennungsdienst war. Diesmal jedoch hätte es keinen offiziellen Grund für meine Anwesenheit gegeben, selbst wenn ich noch beim Erkennungsdienst gewesen wäre, weil der Fall offiziell abgeschlossen war. »Ich bin operiert worden«, bestätigte ich. »Und wieso zum Teufel rufen Sie mich dann um« – Pause, 71
wahrscheinlich, weil er einen Blick auf seine Uhr warf – »Viertel vor sieben abends an?« »Die Frage hab ich mir auch gerade gestellt«, sagte Harry, der noch immer mithörte. »Ich hab was geträumt«, sagte ich, »und dabei ist mir eine Frage gekommen.« »Schmerzstillende Medikamente können sehr eigenartige Träume auslösen«, sagte Habib höflich. »Genau. Wann haben Sie zum letzten Mal welche verschrieben?« »Das brauche ich nicht. All meine Patienten in den letzten zwölf Jahren waren tot. Aber vor kurzem hab ich selbst welche genommen.« Das stimmte. Er hatte einen impaktierten Weisheitszahn gezogen bekommen. »Okay, was wollten Sie wissen?« fragte er. »War sie schwanger? Oder hatte sie vielleicht gerade eine Abtreibung hinter sich?« »Fehlanzeige. Virgo intacta. Aber…« Er stockte. »Aber was?« »Sie hatte einige seltsame Blutergüsse im Bereich um Klitoris und Perineum.« »Seltsam in welcher Weise?« fragte ich. »Als hätte sie masturbiert?« »Unwahrscheinlich«, antwortete er. »Die Blutergüsse waren so stark, daß es schmerzhaft gewesen sein muß, egal, was es war. Und sie hatte eine schwere Hefepilzinfektion. Das allein muß noch nichts heißen. So etwas kann man sich tatsächlich von einer Klobrille holen. Keine herkömmlichen Geschlechtskrankheiten. Das hab ich überprüft, nachdem ich die Blutergüsse gesehen hatte. Und auf AIDS hab ich ohnehin getestet, weil so viele Leute mit ihrem Blut bespritzt worden waren.« »Könnte sie, sagen wir, mit einem Herrenfahrrad gefahren 72
und auf die Querstange geprallt sein?« fragte ich, weil ich überlegte, was so offensichtliche Blutergüsse im Genitalbereich verursachen könnte, und um nicht an meine Schwester Rhonda zu denken, die fünf Jahre jünger war als ich und nicht mehr lange leben würde. »Nein«, sagte Habib. »Die Stellen waren etwas zu… spezifisch, wenn Sie verstehen, was ich meine. In zwei Tagen erhalten Sie meinen offiziellen Bericht. Soll ich ihn zu Ihnen nach Hause schicken?« »Bis dahin bin ich wieder bei der Arbeit«, sagte ich und überhörte Harrys deutliches Knurren und das Klicken, als er auflegte und mich mit Habib allein am Telefon ließ. »Gut, dann schick ich ihn ins Büro«, sagte Habib. »Ach so, nur für den Fall, daß es Sie interessiert, sie ist an einem Schädelbruch gestorben. Sie hat mitgekriegt, daß sie fiel, aber nach dem Aufprall hat sie nichts mehr gespürt.« Das war wohl eine gute Nachricht. Wenn ich daran dachte, wie dieser Körper ausgesehen hatte, wollte ich mir nicht vorstellen, daß sie nach dem Aufprall noch irgend etwas gespürt hatte. Als ich auflegte, war Harry schon ins Schlafzimmer gekommen und sah mich aufgebracht an. Aber er beherrschte sich; anstatt mich zur Schnecke zu machen, fragte er: »Möchtest du was zum Abendessen?« »Was ist denn da?« fragte ich, und vor meinem geistigen Auge tanzten, na ja tanzen nicht gerade, Bilder von kalter Pizza und kalten Hamburgern. Wenn Harry oder Hal schon mal etwas kochen, dann nur auf dem Grill, und ich war mir ziemlich sicher, daß keiner von beiden heute nachmittag den Grill benutzt hatte. »Lasagne«, sagte Harry zu meiner Verblüffung. »Die hat eine Frau von deiner Kirche vorbeigebracht.« Er nennt sie meine Kirche, weil ich ziemlich häufig hingehe, obwohl Hal als einziger aus unserer Familie tatsächlich Mitglied ist. »Sie hat 73
gesagt, sie wäre fertig und müßte nur aufgewärmt werden, aber Hal und ich haben sie schon probiert, und sie schmeckt wirklich auch kalt ganz gut. Ich glaube, da sind vier verschiedene Sorten Käse drin und alle möglichen Gewürze und Zeugs. Soll ich dir ein Stück warm machen?« »Ich probier sie auch mal kalt«, sagte ich. »Aber wenn es dir nicht schmeckt, sag mir Bescheid, und ich mach sie dir warm.« »Prima«, sagte ich, froh, daß es uns gelungen war, irgend etwas zu finden, womit er sich nützlich machen konnte. Die Lasagne schmeckte auch kalt. Ebenso wie der knackige, pikante Salat mit selbstgemachtem Dressing, den es als Beilage gab, und die neuen Kartoffeln und die grünen Bohnen, die wie selbst eingemacht schmeckten (und jeder, der den Unterschied zwischen grünen Bohnen aus der Dose und selbst eingemachten grünen Bohnen nicht kennt, weiß nicht, wie grüne Bohnen schmecken sollten). Doch noch bevor ich damit fertig war, die paar Bissen zu essen, die ich herunterbrachte (es ist schon erstaunlich, wie sehr einen selbst eine so kleine Operation schwächen kann), rief mich meine Tochter Becky an. Und sie weinte. Das erschreckte mich. Becky ist wirklich keine Heulsuse. Als ich schließlich halbwegs verstehen konnte, was sie sagte, wurde mir klar, daß sie mich nach Dusty Miller fragte. »Hast du sie gekannt?« fragte ich verwundert. »Ein bißchen«, sagte Becky. »Erinnerst du dich nicht mehr an meine Freundin Sandy, die von der High-School?« An Sandy erinnerte ich mich, wenn auch nicht gern. Die meisten Mädchen in der High-School trinken hin und wieder Alkohol, und wenn nur aus Protest. Sandy trank regelmäßig und viel. Die meisten Mädchen in der High-School tragen Make-up. Sandy hätte sogar eine Versammlung von Marinefliegern schockiert. Sie trug außerdem Kleidung, die immer wenigstens eine Nummer zu klein und zehn Zentimeter zu kurz war, 74
rauchte (sowohl Zigaretten, was mich an sich noch nicht allzusehr gestört hätte, als auch Marihuana – natürlich nicht in meinem Haus, aber ich hatte es häufig an ihrer Kleidung gerochen, wenn sie zu uns kam), und ich war ziemlich sicher, daß sie auch andere Drogen nahm. Ich war, um ganz ehrlich zu sein, ziemlich erleichtert gewesen, als Sandy in der elften Klasse von der Schule abging, und danach hatte ich sie nie wieder gesehen. »Ich erinnere mich an Sandy«, sagte ich. »Du hast sie nie gemocht… aber Mom, sie war in einer beschissenen Situation und sie brauchte wirklich Freunde. Ich war das einzige brave Mädchen, das je nett zu ihr war.« »Ich kann mir vorstellen, daß sie Freunde gebraucht hat«, pflichtete ich ihr bei und fühlte mich ein wenig schuldig, daß ich selbst nicht gewillt – oder nicht fähig – gewesen war, Freundschaft mit ihr zu schließen, und erneut merkte ich, daß ich Gedanken an Rhonda in den hintersten Winkel meines Kopfes zurückdrängte. »Dusty Miller war ihre kleine Schwester. Du weißt doch, dieser… dieser Selbstmord gestern? Sandy hat gesagt, du bearbeitest ihn. Sie hat gesagt, sie hat dich im Fernsehen gesehen, wie du in der Nähe der Leiche mit jemandem gesprochen hast.« Und das, so mußte ich zugeben, war eine Überraschung – nicht, daß Sandy mich im Fernsehen gesehen hatte (irgendwie lande ich öfter im Fernsehen, als mir lieb ist), aber daß Sandy und Dusty Schwestern waren. Ich hätte Sandy für – um soziologische Termini zu benutzen, die ich vielleicht nicht so gut verstehe, wie ich mir das einbilde – höchstens obere Unterschicht gehalten, wenn überhaupt. Dustys Familie war dagegen mindestens obere Mittelschicht, womöglich sogar untere Oberschicht. »Bist du sicher?« fragte ich. »Ich meine, die Familie wohnt außerhalb von unserem Schulbezirk –« »Sie sind umgezogen«, sagte Becky. »Nachdem Sandy…« Sie stockte. »Mom, Sandy möchte mit dir sprechen. Sofort, 75
wenn möglich.« »Sofort ist keine gute Zeit«, sagte ich und versuchte, noch geschwächter zu klingen, als ich mich fühlte. »Wie wär’s mit morgen?« »Morgen kann sie nicht«, sagte Becky, und ihr Tonfall klang irgendwie ausweichend. »Da muß sie arbeiten.« Aber wieso klang Becky so ausweichend, fragte ich mich. Wenn Sandy morgen arbeiten mußte, dann mußte sie eben morgen arbeiten, obwohl, wenn ich es mir recht überlegte, war es ziemlich merkwürdig, daß sie am Tag der Beerdigung ihrer Schwester arbeiten mußte. »Worüber will sie mit mir sprechen?« fragte ich resigniert. »Sie ist nicht sicher, daß es wirklich Selbstmord war.« »Ich bin aber sicher«, sagte ich und fing an, ihr zu erklären, wieso ich so sicher war. Becky hörte gar nicht zu, weil sie noch immer mit mir sprach. »Mom, ich wünschte, du hättest den Fall erwähnt. Ich wußte gar nicht, was ich sagen soll. Ich wußte ja nicht mal, daß du den Fall bearbeitest.« »Es gab ja auch keinen besonderen Grund, warum ich es dir hätte sagen sollen«, entgegnete ich. »Ich wußte nicht, daß du das Mädchen gekannt hast, und außerdem hast du selbst schon genug um die Ohren –« »Mom, sie muß wirklich mit dir reden«, sagte Becky erneut, und natürlich gab ich nach. Lange bevor ich auflegte, war Harry ins Schlafzimmer gekommen und hatte meinen Teil des Gesprächs mitgehört, und jetzt setzte er sich auf die Bettkante und blickte mich vorwurfsvoll an. »Deb«, sagte er, »warum willst du weiter daran arbeiten? Ich meine, ich kann ja verstehen, daß es dir zu schaffen macht, aber was auch immer der Grund gewesen sein mag, es spielt jetzt keine Rolle mehr.« »Captain Millner hat so was Ähnliches gesagt«, erwiderte ich, »und auch aus seinem Munde hat es mir nicht gefallen. Wie 76
kann man sagen, daß es keine Rolle spielt?« Ich schob die Decke weg und zog sie gleich wieder hoch. Mit Decke war mir zu warm, aber ohne ließ mich der Schweiß von der Überhitzung (und wahrscheinlich vom Fieber, und hatte ich eigentlich ein Thermometer im Haus, und wenn ja, würde Harry es finden können?) sofort frösteln. Harry schüttelte den Kopf. »Vielleicht meinen wir etwas anderes mit ›keine Rolle spielen‹. Ich meine damit nicht, daß es unwichtig wäre. Ich meine damit nicht, daß es dir gleichgültig sein sollte. Verdammt, Deb, ich kenne dich jetzt seit über vierzig Jahren.« Das war vollkommen richtig. Bibelschule, bevor ich in die Schule kam. Die Katze des Predigers hatte eine Purpurschwalbe gefangen, und unsere Lehrerin rettete den Vogel und merkte dann, daß er einen Flügel gebrochen hatte. Sie bat uns alle, zu Hause Schmetterlinge und Motten zu fangen, um ihn damit zu füttern. Pflichtschuldigst ging ich also nach Sonnenuntergang hinaus und fing einige Motten, die ich am nächsten Tag in einem Mayonnaiseglas mit zur Bibelschule nahm. Harry brachte Schmetterlinge mit. Sehr viele Schmetterlinge. Die alle seinem älteren Bruder gehörten und alle ordentlich und grauenhaft auf die Rückseite von Pappe aus Hemdverpackungen gespießt waren. Ich warf nur einen Blick darauf und heulte los, zu Harrys unsäglicher Verblüffung. Meine Lehrerin wollte mich trösten und versicherte mir, die Schmetterlinge seien schon tot gewesen, bevor sie aufgespießt wurden. Das tröstete mich überhaupt nicht. Ich fand, Schmetterlinge sollten nicht tot sein. Ich muß schon acht gewesen sein, als ich Harry diese Schmetterlinge endlich verzeihen konnte. Und erst nachdem wir verheiratet waren, fand ich heraus, daß er noch viel länger brauchte, bis er sich selbst verzieh, mich derart zum Weinen gebracht zu haben. »Dir kann so etwas einfach nicht gleichgültig sein«, fuhr er 77
fort, »schließlich kannst du nicht aus deiner Haut heraus. Ich meine nur… mal angenommen, du verbringst sechs Monate damit herauszufinden, warum sie gesprungen ist. Was dann? Was würde dieses Wissen ändern? Überhaupt nichts; sie wäre immer noch tot, und ganz gleich, was der Auslöser war, es ist nun mal so gekommen. Und im Augenblick brauchst du all deine Kraft, um wieder gesund zu werden.« »Ich weiß«, sagte ich. »Ich denke nur immer, wenn ich herausfinden kann, was passiert ist, was der Grund war, vielleicht kann ich dann etwas dafür tun, daß nicht noch etwas anderes passiert.« Einen Wimpernschlag lang sah ich Doreen Miller vor meinem geistigen Auge, dann war sie wieder verschwunden. Er schüttelte den Kopf. »Ruh dich aus«, sagte er. »Wenn die Mädchen eintrudeln, reden sie dich tot.« Er nahm das Tablett mit meinem Abendessen und ging aus dem Zimmer. Und dann dachte ich, Becky und Olead stehen nicht im Telefonbuch. Wie hat Sandy also Becky gefunden? Sie müssen die ganze Zeit über in Kontakt geblieben sein, und ich wußte nichts davon. Tja, wie denn auch? Ich war nicht gerade sachlich gewesen, wenn es um Beckys Freundschaft mit Sandy ging.
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Kapitel 4 Harry führte die Mädchen herein. Das war völlig unnötig – Becky kannte den Weg ja nun wirklich –, aber ich vermutete, er wollte deutlich sein Mißfallen zum Ausdruck bringen, daß ich gestört wurde. Durch die offene Tür konnte ich Lori sehen, die emsig dabei war, das Wohnzimmer auf Vordermann zu bringen, und schmutziges Geschirr in die Küche trug. Sie müßte längst zu Hause sein, dachte ich und fragte mich vage, wie spät es eigentlich war. Ich hatte jedes Zeitgefühl verloren und stellte nach einem Blick auf die Uhr erstaunt fest, daß es erst halb neun war. Es war eine kleine Überraschung, Sandy nach so vielen Jahren wiederzusehen. Sie hatte sich verändert, und zumindest optisch zum Positiven. Ihre Kleidung war gepflegter und paßte ihr besser; sie hatte – vielleicht mir zuliebe, vielleicht weil es ihr besser gefiel – die zu kurzen, zu engen Röcke aufgegeben und trug eine locker sitzende, schön geschnittene braune Hose und eine Baumwollbluse mit Knöpfen. Die Schlichtheit des Ensembles ließ ahnen, daß es ungefähr so viel gekostet hatte, wie ich für meine gesamte Sommergarderobe ausgeben würde, und ihre Sandalen sahen nach italienischem Leder aus. Ihr Haar wirkte einigermaßen gepflegt, eingedenk des derzeitigen Trends zu Cockerspaniel-Locken, und ihr Make-up war dezenter und geschmackvoller, als ich es je an ihr gesehen hatte. »Hi, Sandy«, sagte ich. »Hallo, Mrs. Ralston«, erwiderte sie. Auch das hatte ich vergessen. Sie war so ziemlich die einzige unter all den Freunden meiner Kinder, die sich nie angewöhnt hatte, mich Deb zu nennen. Sie musterte mich einen Moment lang recht argwöhnisch (und auch das war neu; früher hatte sie Erwachsene gründlich 79
gemustert, aber trotzig, nicht argwöhnisch) und sah sich dann nach einer Sitzgelegenheit um. Becky ließ sich neben mich auf Harrys Seite des Bettes plumpsen und winkte Sandy zu einem Sessel, der meistens – wenn meine Mutter nicht gerade dagewesen war – voller Kleidungsstücke lag, die ich sortieren mußte (ich komme wesentlich häufiger dazu, Wäsche zu waschen als sie zu sortieren). Dann fragte sie: »Mom, wie geht’s dir?« »Frag lieber nicht«, entgegnete ich. Dann sah ich wieder Sandy an. »Es tut mir leid, ich wußte nicht, daß Dusty deine Schwester war.« Sie zuckte die Achseln. »Wie hätten Sie das wissen sollen? Ich bin Ihnen dankbar, daß ich herkommen durfte. Wahrscheinlich können Sie gar nichts tun, aber… Becky hat gesagt, Sie wären sicher, daß es Selbstmord war. Wie können Sie sich da so sicher sein?« Ich erläuterte es, und sie nickte. »Dann stimmt es wohl. Der alte Drecksack war es also nicht. Ich dachte, er wäre es vielleicht gewesen.« »Welcher alte Drecksack soll das sein?« fragte ich. »Der Alte. Mein Vater.« Sie stieß ein gezwungenes, rauhes Lachen aus. »Sie können sich gar nicht vorstellen, wovon ich rede, was? Wahrscheinlich war Ihr Vater zu allen lieb und nett.« Die Frage und der Kommentar erwischten mich unvorbereitet, und einen Moment lang sah ich meinen Vater deutlich vor mir, so wie er in Wirklichkeit gewesen war, nicht wie mein Kopf ihn in den Jahren nach seinem Tod idealisiert hatte – diese Jahre, in denen ich mir fast eingeredet hatte, daß meine Kindheit und Jugend tatsächlich so normal gewesen waren, wie sie von außen wirkten. Nicht, daß ich wirklich je etwas vergessen hatte; dabei wünschte ich mir oft, ich könnte. In dieser kurzen Erinnerung war sein Gesicht verzerrt und blaß vor Wut; er hielt einen doppelt gelegten Gürtel in der rechten 80
Hand und klatschte sich damit bedrohlich in die linke. Ich mußte schlucken, bevor ich antworten konnte: »Ähm, nein, eigentlich nicht.« »Aber er war doch meistens ganz lieb, nicht?« sagte Becky. »Hast du wenigstens gesagt.« »Das war er nicht.« Ich fand, meine Stimme klang tonlos, und ich fragte mich, ob Becky das auffiel. Nein, meine Kindheit war bei weitem nicht so idyllisch gewesen, wie ich sie meinen Kindern geschildert hatte, und meine Jugend war noch um einiges schlimmer. Doch selbst als Kind konnte ich sehen, daß ich im Vergleich zu einigen Freundinnen tatsächlich ein normales Leben hatte, zumindest vordergründig. Mein Vater war Milchmann, meine Mutter Hausfrau; wenn meine Freundinnen da waren, verhielt sich mein Vater einigermaßen normal, und ich sah keine Notwendigkeit, ihnen zu erzählen, was passierte, wenn sie nicht da waren. Einige von meinen Freundinnen – vor allem meine Freundin Fara, die bei ihrer Großmutter lebte und deren Mutter ein Filmstar und deren Vater tot war – beneideten mich. »Tja, zumindest hat er Sie nicht so behandelt, wie mein Alter mich behandelt hat.« Darauf antwortete ich nicht. Statt dessen sagte ich: »Sandy, ich möchte ja nicht unhöflich sein, aber ich bin heute morgen operiert worden, und ich fühle mich nicht gerade toll. Also erzähl mir doch bitte, warum du gekommen bist…« »Ich weiß nicht genau, wo ich anfangen soll«, antwortete Sandy. »Ich… Ehrlich, als ich das mit Dusty erfahren habe… Ich hab’s aus den Radionachrichten erfahren, wissen Sie.« »Meine Güte, wieso denn das… Soll das heißen, du bist nicht verständigt worden?« »Nein.« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Ich gehöre nicht mehr zur Familie. Ich bin das schwarze Schaf, bäh, bäh, bäh.« Ich muß wohl völlig verblüfft ausgesehen haben, denn sie lachte wieder, rauh, ein Klang, der eigentlich nichts mit einem 81
Lachen zu tun hatte. »Sehen Sie, Mrs. Ralston, ich bin diejenige, die den Beruf ergriffen hat, für den sie mich ausgebildet haben.« Sie stockte, musterte mich wieder, diesmal spöttisch. »Sie verstehen noch immer nicht, oder?« »Ich hab keine Ahnung, wovon du redest.« »Dann will ich Ihnen mal von einem Jagdausflug erzählen, zu dem mein Daddy mich mitgenommen hat.« Sie blickte zu Becky hinüber. »Das hab ich dir noch nicht erzählt, oder?« »Du hast mir nie was von irgendeinem Jagdausflug erzählt«, antwortete Becky. »Tja… ich wollte gerade sagen, vertritt dir ein bißchen die Beine, aber eigentlich kannst du es auch hören. Sehen Sie, Mrs. Ralston, mit zwölf Jahren war ich körperlich schon ziemlich entwickelt. Und schon davor kam mein netter, lieber, süßer Daddy oft ins Badezimmer, wenn ich gerade duschte, und wenn ich dann schrie und mir ein Handtuch schnappte, sagte er: ›Du hast nichts, was ich nicht schon gesehen hätte.‹ Und er kam oft zu mir ins Bett, nur um, na ja, nachzusehen, ob meine Brüste auch richtig wuchsen und so. Und dann wollte er dafür sorgen, daß ich auch lernte, wie ich meinem zukünftigen Ehemann Vergnügen bereiten konnte. Und er wollte dafür sorgen, daß ich für meinen zukünftigen Ehemann bereit war, wenn ich mal heiratete, damit mein Mann mir nicht erst alles beibringen mußte.« »Willst du damit sagen, daß er dich vergewaltigt hat?« »Oh nein, so unfein war er nicht«, sagte Sandy. »Jungfräulichkeit ist einiges wert, wenn man den richtigen Käufer findet. Mein Daddy hat schon immer gewußt, was die Dinge wert sind – in Dollars. Und übrigens auch was gesellschaftliches Ansehen betrifft. Ich glaube, ihm schwebte vor, daß er mich mit irgendeinem netten Anwalt oder Arzt aus altem Geldadel verheiraten würde, jemand, der meinem Daddy Zugang zum richtigen Country Club verschaffen würde, in den er sich nicht einfach einkaufen konnte. Das Ganze… tja, 82
eigentlich fing es an, als ich elf war, als sich bei mir die Brüste entwickelten. Vorher war ich für ihn bloß eine Art Sandsack. Sie wissen schon, man verliert zum Beispiel seine Entenpfeife, und dann überlegt man nicht, wo man sie verloren haben könnte, man schnappt sich einfach das Kind, das gerade in der Nähe ist, und verprügelt es nach Strich und Faden, weil es damit gespielt hat, und wenn man die Lockpfeife dann später in der Tasche der Jagdjacke findet, dann entschuldigt man sich nicht, nein, man übt die halbe Nacht lang, das Entenquaken nachzuahmen, egal, ob das Kind am nächsten Tag eine Mathearbeit schreiben muß, für die es, wenn es keine Eins wird, wieder eine Tracht Prügel bekommt. Die Küche ist nicht saubergemacht, und alle sind im Bett, dann macht man sie nicht selbst sauber oder wartet, bis jemand das am nächsten Morgen erledigt, nein, man brüllt und flucht, bis alle wach sind, und verprügelt die Kinder nach Strich und Faden. Oder wenn eine Schallplatte kaputt ist oder ein Brief verlorengeht, völlig egal, wer sie kaputt gemacht hat oder wer ihn verschlampt hat, man beschuldigt das Kind, das gerade in der Nähe ist, und verprügelt es nach Strich und Faden. Oder wenn man schlafen will und es ist Mittag und die Kinder machen irgendwelchen Lärm, dann schließt man nicht einfach die Tür und schaltet den Ventilator ein und bittet die Kinder, leiser zu sein, nein, man schnappt sich den Gürtel und geht auf die Kinder los. Oder wenn man nicht genug Geld hat, um die Rechnungen zu bezahlen, dann nimmt man sich nicht vor, keine zwei Packungen Zigaretten mehr am Tag zu rauchen, dann befiehlt man den Kindern, weniger Milch zu trinken und das Licht nicht anzulassen, und dann verprügelt man sie, damit sie es auch ganz bestimmt nicht vergessen. Von dem Zeitpunkt an, wo ich laufen konnte, bis zu dem Zeitpunkt, als ich ungefähr zwölf war, kann ich mich kaum erinnern, mal nicht beim Hinsetzen gespürt zu haben, daß mein Hintern grün und blau war. Aber dann, als ich elf war, da fing er an, zum Beispiel nachzusehen, ob meine Brüste sich gut entwickeln, und 83
als ich zwölf war, tja, da ungefähr hat er so gut wie aufgehört, mich zu schlagen, weil er seine Frustrationen auf andere Art an mir ablassen konnte. Verstehen Sie, was ich meine?« Und ob ich verstand. Ich wünschte, ich täte es nicht. Aber ich war nicht überrascht, nicht nach dem, was ich bei den Millers gesehen hatte. »Jedenfalls«, fuhr sie fort, »hat er mich für seine eigenen Bedürfnisse genutzt, bis ich ungefähr sechzehn war. Ich denke, er wollte mich weiter nur für sich haben, zumindest bis ich dem passenden jungen Arzt oder Anwalt über den Weg lief. Weil er, also nach dem, was er so sagte, war er absolut puritanisch, zum Beispiel, daß er mich immer ermahnt hat, mich vor den Jungs in acht zu nehmen, weil die nur das eine wollten. Verstehen Sie, er war anders, er wollte bloß dafür sorgen, daß ich sexuell gut vorbereitet war, weil er nicht wollte, daß ich wie meine Mutter wurde, weil die frigide war – was übrigens nicht stimmte. Die beiden wußten nicht, daß ich was hörte, aber mein Schlafzimmer war direkt neben ihrem, und ich hab Ohren, und sie war nicht frigide – aber er hat mich immer vor den Männern gewarnt. Und er wollte nicht, daß ich Make-up trage, er hat sogar meine Tasche durchsucht, ob ich irgendwas darin versteckt hatte, also mußte ich es in meinem Spind in der Schule verstecken oder es meinen Freundinnen geben, die es für mich aufbewahrten, und mich erst schminken, wenn ich zur Schule kam, und wenn ich wieder zu Hause war, mußte ich es schnell abwaschen, bevor er nach Hause kam und mich erwischte. Ein paarmal hat er mich doch erwischt, und jedesmal hat er mich grün und blau geprügelt, und das, obwohl er wollte, daß ich es ein oder zwei Stunden später mit ihm machte. Er hat auch viel über meine Kleidung geschimpft, aber Mom ist mit mir einkaufen gegangen. Sie mochte die Sachen auch nicht, aber sie war nicht so stur wie ich, und sie hat ihm eingeredet, daß alle Mädchen sich nun mal so anziehen würden.« Sie grinste. »Haben sie nicht, oder?« 84
»Nein, haben sie nicht«, bestätigte ich. »Ich weiß. Ich hab ausgesehen wie eine Schlampe. Tja, er hat mich zur Schlampe gemacht, und ich hab mir gedacht, dann kann ich mich auch wie eine anziehen. Aber es gefiel ihm nicht. Das war natürlich zum Teil der Grund dafür, warum ich es gemacht habe – weil es ihm nicht gefiel –, und das war wenigstens mal was, womit ich mich ihm gegenüber durchsetzen konnte, obwohl es ihm nicht gefiel. Und er wollte auch keine Jungs in meine Nähe lassen. Wenn ich eine Verabredung hatte, hat er den Jungen ins Kreuzverhör genommen, wissen Sie, wo geht ihr hin, was habt ihr da vor, wer ist sonst noch da, um zehn Uhr ist sie zu Hause, sonst komm ich sie holen, so Sachen.« Sie lachte bitter. »Ein paar von meinen Freundinnen haben mich sogar beneidet, weil ich einen Daddy hatte, der so um meine Sicherheit besorgt war! Wenn die gewußt hätten.« Ich sah zu Becky hinüber, die Sandy mit offenem Mund anstarrte. Es gab vieles, was ich Harry im Lauf der Jahre übelgenommen hatte. Aber er hatte seine Töchter niemals so behandelt, wie Sandys Vater sie behandelt hatte, und ich wußte nicht mal, ob Becky sich darüber im klaren war, daß derlei Probleme existierten. Sie hatte mir nur erzählt, daß Sandys Vater besitzergreifend und überfürsorglich war, und ich glaube, mehr wußte sie nicht, als die beiden noch zusammen zur Schule gingen. »Aber als ich sechzehn war«, erzählte Sandy weiter, »wollte er mit ein paar von seinen Kumpels auf einen Jagdausflug. Ich meine, es war ein längerer Ausflug, eine ganze Woche, für die sie eine große Jagdhütte gemietet hatten, und tagsüber wollten sie Hirsche – ich glaube, eigentlich waren es Wapiti – jagen und abends zusammensitzen und trinken und Karten spielen, und mein Daddy hatte die pfiffige Idee, daß es doch nett wäre, wenn jemand mitkäme, um die Betten zu machen und zu kochen und so. Also hat er mir gesagt, daß ich mitkomme. Nicht gefragt. 85
Einfach gesagt. Er hat nie – auch nicht, wenn er mal ein oder zwei Wochen eine Phase hatte, als ich noch ganz klein war, wo er sich für ein Weilchen erinnerte, daß ich ein Kind war – er hat nie gefragt, ob ich etwas tun wollte oder nicht. Er war der Boß. Er gab die Anordnungen.« »Okay«, sagte ich und erinnerte mich daran, daß auch mein Vater mich vor den Jungs gewarnt hatte, daß auch mein Vater Anordnungen gegeben hatte. »Und dann… nun ja, ich wußte, wie dieser Jagdausflug ablaufen würde. Zu Hause mußte er es ja schließlich heimlich machen, so daß Mom ihn nicht erwischte, zum Beispiel, wenn sie zum Bridgespielen gegangen war oder so oder wenn sie gerade ein Bad nahm oder Freundinnen besuchte. Aber bei diesem Jagdausflug würde er sich nicht allzusehr darum scheren, was seine Kumpels mitbekamen und was seine Kumpels dachten, weil sie nicht seine Kumpels geworden wären, wenn sie nicht so gedacht hätten wie er. Das waren so meine Gedanken im Vorfeld.« »Aber wieso hat denn deine Mutter nichts dagegen unternommen?« fiel Becky ihr ins Wort. »Was denn?« entgegnete Sandy. »Sie wußte ja nicht mal, was los war. Zumindest hat sie so getan. Heute bin ich mir nicht mehr sicher. Weil sie die Hand auf dem Geld hatte. Sie wollte nicht, daß ich mit auf den Jagdausflug kam. Ich weiß noch, daß sie sagte: ›Aber Seth, findest du das richtig, ein junges Mädchen unter lauter betrunkenen Männern?‹« »Aber sie hat dich trotzdem mitfahren lassen«, sagte Becky. »Ja. Sie hat mich mitfahren lassen.« Sandy holte tief Luft und redete dann weiter. »Aber als ich da ankam, stellte ich fest, daß diese Männer gar keine Kumpels von ihm waren. Sie waren… Da muß ich etwas weiter ausholen. Mein Dad… Wir waren früher nicht so, na ja, reich, wie sie’s heute sind. Wir… Er hat für eine Firma gearbeitet, und er war so was Ähnliches wie ein Ingenieur, ein Geo-Ingenieur, das hatte er eigentlich 86
gelernt, und er hat ganz gut verdient, aber nicht übermäßig. Und dann ist er zu einer anderen Firma gegangen und hat Ersatzteile für Ölbohrungen verkauft, und im Verkauf kann man ziemlich viel verdienen, wenn man gut ist, und das war er wohl. Und plötzlich hatten wir viel Geld, und Mom hat es richtig genossen – sie hat sich Sachen zum Anziehen gekauft und neue Möbel, und sie hat ein richtig schickes Auto bekommen und so weiter – , und dann brach der Markt auf einmal ein. Ich verstehe nicht viel von diesem ganzen Wirtschaftskram, aber auf einmal haben wir praktisch nur noch Öl aus dem Ausland gekauft, und der Preis ging immer höher und höher und höher, und man hätte meinen sollen, daß das dem inländischen Ölmarkt kräftig zugute gekommen wäre, aber ich weiß nicht, was passiert ist oder warum es passiert ist, aber der Markt brach ein, und plötzlich wurde nirgendwo in Texas oder Louisiana mehr gebohrt, und deshalb kaufte natürlich auch keiner in Texas mehr Teile für Ölbohrungen. Aber er hatte sich an das Geld gewöhnt und wollte es nicht verlieren, und er bemühte sich um den ausländischen Markt, und er lud alle möglichen Leute aus Schottland oder Südamerika ein oder die ganzen Wüstenscheichs oder was auch immer, und zeigte sich sehr spendabel. Und die Typen aus Schottland und die aus Südamerika, die haben nichts Großartiges erwartet, ein Dinner und ein paar Drinks reichten denen schon, aber die arabischen Typen, die wollten meistens nichts trinken, sondern erwarteten statt dessen solche großen Jagdausflüge. Und deshalb waren auf diesem Jagdausflug auch jede Menge Araber. Also jede Menge heißt eigentlich, sie waren zu sechst, plus mein Dad und ein anderer Typ von seiner Firma, und die Hütte, die mein Dad gemietet hatte, die nannten sie zwar Hütte, aber die hatte ungefähr zehn Schlafzimmer, lag in so was wie einem privaten Wildpark, ein riesiges Hirschgehege oder Wapitigehege oder so, deshalb konnte man da das ganze Jahr über jagen.« Sie hielt inne, um Luft zu schöpfen, und ich sagte: »Aha.« 87
»Und ich glaube nicht, daß diese Araber wußten, daß er mein Vater ist. Weil er mich nicht wie seine Tochter behandelte, wissen Sie. Ich meine, ich hab täglich acht Betten gemacht – meins ließ ich ungemacht – und die Wäsche – die waren immer ziemlich verdreckt nach der Jagd auf diese armen Bambis –, und ich hab gekocht für alle – und meistens hab ich mich nicht mal zu ihnen an den Tisch gesetzt, wollte ich gar nicht –, und ich hab den Abwasch erledigt und alles. Wie sich herausstellte, wollte er nicht, daß die anderen erfuhren, was vor sich ging, deshalb schlich er sich in mein Zimmer, wenn er meinte, alle anderen wären eingeschlafen. Und er trank viel, weil er das immer machte, wenn er zum Jagen oder Fischen war, das war für ihn eine Gelegenheit, die Sau rauszulassen, wie ein Junge auf der High-School, wenn Mommy es nicht mitbekam. Aber diese Araber tranken nicht, und man merkte ihnen an, daß sie ihn verachteten. Zumindest ich merkte das. Er vermutlich nicht, und er merkte auch nicht, daß die genau wußten, daß er sich nachts in mein Zimmer schlich, weil er ständig stinkbesoffen war, und manchmal bekam er ihn selbst mit meiner Hilfe nicht mehr hoch, und dann war das irgendwie meine Schuld und er hat mich verdroschen. Und dann, eines Tages… es war am frühen Morgen, und er und der andere Typ von seiner Firma und die meisten Araber waren unterwegs und jagten diese armen, wehrlosen Masthirsche und kamen sich richtig toll und machomäßig vor, und einer von den Arabern hatte gesagt, er wollte ausschlafen, und als alle weg waren, kam er in mein Zimmer – wenigstens hatte ich ein eigenes Zimmer, das sagte ich ja schon, und ich wünschte, ich hätte ein Schloß an der Tür gehabt, na ja, genaugenommen gab es sogar eins, ging wohl auch nicht anders, weil immer wieder andere Männer da wohnten, und manche von denen kannten sich nicht mal, deshalb gab es an jeder Schlafzimmertür ein Schloß, aber der Schlüssel paßte von beiden Seiten, ich meine, man konnte nicht einfach von innen einen Riegel vorschieben oder so, und mein 88
Daddy hatte den Schlüssel zu meinem Zimmer, deshalb konnte ich ihn nicht aussperren – und er, dieser Araber, meine ich, fragte: ›Bist du privates Jagdrevier?‹ Und in dem Moment dachte ich, Junge, das würde den Alten so richtig fertigmachen, und deshalb sagte ich nein, und der Araber…« Sie stockte, atmete tief durch. »Er war richtig verblüfft, als er merkte, daß ich noch Jungfrau war. Er sagte irgendwas richtig Poetisches, daß er nicht gewußt hatte, daß diese Perle noch nicht durchbohrt worden war, und dann nannte er mich houri, und er war richtig nett zu mir. Und er lachte und lachte und lachte, wissen Sie, nicht gehässig, sondern richtig zufrieden mit sich, als hätte er den ersten Preis beim Eberstechen gewonnen, und dann, Mannomann, ich war so verblüfft, daß ich gar nicht wußte, was ich machen sollte, gab er mir tausend Dollar! Einfach so, er zog einen dicken Packen Geld aus der Tasche und blätterte mir die Hunderter hin. Ich hatte noch nie im Leben mehr als zwanzig Dollar besessen. Und in dem Augenblick wurde mir klar, daß ich nicht zu Hause bleiben und mich von dem Alten fertigmachen lassen mußte, bis ich alt genug war, um aufs College zu gehen oder zu heiraten oder so, um von ihm wegzukommen. Ich konnte sofort gehen. Und das tat ich auch. Gleich nachdem ich von dem Jagdausflug wieder zu Hause war. Ich bat einen Bekannten, zu einem Zeitpunkt in unsere Wohnung zu kommen, an dem alle weg waren, und ich packte meine Sachen und ging. Die tausend Dollar reichten aus, um mir ein kleines möbliertes Apartment zu nehmen und eine Anzahlung für Telefon und Nebenkosten zu leisten. Und… ich hatte recht. Man geht dahin, wo viel Geld ist. Und sie – die meisten – wollen nicht, daß man wie ein Flittchen aussieht. Sie wollen, daß man wie eine College-Studentin aussieht. Ich hab mich immer gefragt, ob vielleicht einige von ihnen zu Hause auch ihre Töchter vögeln. Oder ob sie es wollen, aber nicht tun, und deshalb jemanden haben wollen, der im Alter ihrer Töchter ist. Bis auf die jüngeren Typen, bei denen weiß ich nicht, was 89
sie wollen, vielleicht eine nett aussehende junge Frau im Alter ihrer Angetrauten, die sie nicht auf ein Podest stellen müssen, aber ich wette, ich lerne mehr von diesen Ärzten und Anwälten kennen, als ich je kennengelernt hätte, wenn ich auf meinen Daddy gehört hätte. Und das mache ich nun schon all die Jahre.« »Fühlst du dich damit wohl?« fragte ich. Wieder dieses rauhe Lachen. Es konnte doch nicht das einzige Lachen sein, das sie hatte; ich versuchte, mir das melodiös klingende Lachen vorzustellen, mit dem sie ihre Kunden bei Laune hielt; aber vielleicht war es ihr einziges echtes Lachen. »Ich muß mich doch damit wohl fühlen, oder? Weil ich es mache. Aber es ist eine Art, sich den Lebensunterhalt zu verdienen, mehr nicht. Und erzählen Sie mir jetzt nicht irgendwelchen Quatsch, ich sei doch so eine kluge, junge Frau und ich könnte tun, was ich wollte. Ich tue, was ich will.« »Und das wäre?« fragte ich. »Ich verdiene sehr viel Geld. Und ich spare sehr viel Geld. Und ich werde meine kleine Schwester von diesem Drecksack wegholen, bevor das Jahr um ist. Ich weiß nicht wann, und ich weiß nicht, wie ich sie dazu überreden kann, aber ich werde es tun, und dann verschwinde ich mit ihr. Ich habe versucht, Dusty dazu zu bringen, daß sie mit mir geht, aber sie wollte nicht, sie hatte Angst, sie hat gesagt, wenn sie abhaut und Daddy sie findet, würde er sie umbringen. Und…« Sie hielt einen Moment inne und sprach dann weiter. »Sie hat mir oft gesagt, da wäre nichts. Sie hat gewußt, daß ich wußte, daß sie log, aber… ich weiß nicht, ob alle mißbrauchten Kinder so sind, aber es war, als… als hätte sie gelernt, ihrer eigenen Wahrnehmung nicht mehr zu trauen. Und da ist dann dein Hintern von der Hüfte bis zu den Knien grün und blau, und dein Daddy kommt jede Nacht in dein Zimmer, damit du ihm einen runterholst oder bläst, und du sitzt da und siehst traurig 90
aus, und deine Mom sagt: ›Was guckst du denn so mürrisch, das sind die schönsten Jahre deines Lebens‹, und du denkst, Gott, wenn das die schönsten Jahre meines Lebens sind, dann hab ich nicht mehr viel, worauf ich mich freuen kann. Oder dein Dad sagt, ›Ihr Kinder heutzutage seid viel zu verwöhnt, euch fällt doch alles in den Schoß‹, und du denkst, Oh Mann, was bin ich doch für ein undankbares Kind. Und sie sagen, ›Wir sind eine glückliche Familie‹, und du denkst, Tja, dann sind wir wohl wirklich eine glückliche Familie, ich merke bloß nichts davon. Und irgendwann schaffen sie es, daß du dir selbst nicht traust, sie schaffen es, daß du ihre Version glaubst und deine für falsch hältst, obwohl alles in dir sagt, daß deine Version wahr ist. Deshalb hab ich… als ich das im Autoradio gehört habe, ich war gerade auf dem Weg zur Arbeit in diesem Motel… da hab ich gedacht, er hat sie umgebracht, oder er ist bei ihr weiter gegangen als bei mir und hat sie geschwängert und dann umgebracht, damit sie keinem was sagt. Sind Sie sicher –« »Ich bin sicher, daß sie von niemandem getötet wurde«, sagte ich. »Ich hab dir doch schon gesagt, daß zwei Polizisten in der Wohnung waren, als sie gesprungen ist. Sie hatte die Tür zu ihrem Zimmer abgeschlossen, und ein Officer hat versucht, sie aufzubekommen. Und sie war definitiv nicht schwanger.« »Wahrscheinlich hat man sie, äh, aufgeschnitten, um das festzustellen«, sagte Sandy. »Stimmt.« Ich wechselte das Thema oder versuchte es zumindest. »Wenn du Doreen wirklich von ihrem Dad wegholen willst, wärst du dann vielleicht bereit, mit Sozialarbeitern zu sprechen oder, falls nötig, vor Gericht zu bezeugen, was er dir angetan hat?« Sie lehnte sich zurück, und ihr Lachen klang jetzt echter als das andere Lachen, das ich bisher von ihr gehört hatte. »Oh Mann!« sagte sie. »Das ist ein Witz. Ein guter Witz.« Sie setzte sich wieder aufrecht hin. »Wer würde mir denn schon glauben? Haben Sie sich mal mein Vorstrafenregister angesehen?« 91
»Nein«, sagte ich, »wieso sollte ich?« »Ja, wieso auch. Aber glauben Sie mir, ich hab eins. Und wenn ich vor Gericht bezeugen würde, daß er mich mißbraucht hat, was meinen Sie, wer würde mir da glauben? Und wenn Sie meinen, Sie könnten Doreen oder Mom dazu bringen, als Zeugen aufzutreten, dann denken Sie doch mal nach. Ich hab ja gesagt, daß Mom die dicke Kohle mag; das stimmt auch, aber darüber hinaus hat sie Angst vor ihm. Und Doreen auch. Aus gutem Grund. Nein, ich werde mich auf meine Art um Doreen kümmern.« »Sandy, das ist Entführung«, sagte ich, »und wenn du erwischt wirst –« »Werde ich nicht«, sagte sie. »Ich hab alles gut vorbereitet. Wenn ich verschwinde, verschwinde ich gründlich. Deshalb… kann ich es Ihnen ja auch erzählen, obwohl ich weiß, daß Sie ein Cop sind. Weil Sie mich nicht finden werden. Keiner wird das.« »Meinst du, Dusty hat Selbstmord begangen, weil er sie mißbraucht hat?« fragte ich. Sie schüttelte den Kopf. »Ich wüßte nicht, warum sie es erst jetzt getan hat, warum nicht schon früher. Sie ist… Sie war sechzehn. Und mit mir hat er angefangen, als ich elf war. Ich glaube nicht, daß er mit ihr angefangen hat, bevor ich abgehauen bin, aber selbst dann war das immerhin schon vor fünf Jahren. Warum also ausgerechnet jetzt? Wieso war es jetzt schlimmer als vor fünf Jahren? Es sei denn… es sei denn, Mom hat sie tatsächlich davon überzeugt, daß das die besten Jahre ihres Lebens sind. Denn eins kann ich Ihnen sagen, wenn das Leben als pubertierende Tochter meines Daddys das beste ist, was einen erwartet, dann ist man tot um einiges besser dran. Sie denken, daß ich jetzt einen miesen Job mache? Tja, ich will Ihnen mal was sagen. Denen kann ich jederzeit nein sagen, zu ihm konnte ich das nie sagen. Und zumindest werde ich jetzt dafür bezahlt.« 92
Darauf hatte ich keine Antwort. Und es gab noch eine andere Frage, auf die ich keine Antwort hatte. »Sandy«, sagte ich, »ich weiß noch immer nicht, warum du hergekommen bist. Natürlich verstehe ich, was du mir gesagt hast. Und ich werde dir jetzt keine Predigt halten, daß das, was du tust, gefährlich ist, weil du genau weißt, daß es gefährlich ist. Aber das Wissen darum, was passiert ist, kann Dusty nicht zurückholen, und es kann noch nicht mal Doreen schützen, wenn du nicht bereit bist, außer mit mir auch mit anderen zu sprechen. Vertrau mir, sie werden dir glauben. Vor allem die Sozialarbeiter. Die haben ständig –« »Ich wünschte, ich könnte Ihnen vertrauen«, fiel sie mir ins Wort. »Ich wünschte, ich könnte überhaupt einem Menschen vertrauen.« »Letztlich läuft es doch darauf hinaus, daß du mich bittest, dir und Doreen zu helfen, aber nicht willst, daß ich dir die Hilfe gebe, um die du bittest.« Nach langem Schweigen sagte sie: »Ja, so sieht es wohl aus. Ziemlich blöd, was?« »Nein«, sagte ich, »nicht blöd. Und ich werde weiter ermitteln. Aber wenn du nicht zuläßt, daß ich Doreen helfe, wieso bist du dann –« »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich weiß es nicht. Ich hab bloß… wahrscheinlich wollte ich von Ihnen hören, daß meine Schwester nicht ermordet worden ist. Und jetzt, wo Sie es mir gesagt haben, glaube ich es noch immer nicht. Vielleicht wollte ich im Grunde von Ihnen hören, daß sie ermordet worden ist. Jaja, ich weiß jetzt, daß sie allein aus dem Fenster gesprungen ist. Daran zweifle ich nicht. Aber warum? Wie hat der Alte das gemacht, wie hat er sie dazu gebracht? Weil ich nämlich das, was ich gesagt habe, daß sie geglaubt hat, es würde nie mehr besser werden, nicht wirklich glaube. Sie und ich, wir haben oft darüber gelacht. Ich hab ihr gesagt, daß es doch besser wird, und zwar sehr viel besser. Alles ist besser als das. Ich hab ihr 93
gesagt, wenn sie nicht zu mir kommen will, sollte sie einfach die Zähne zusammenbeißen, sie war in der vorletzten Klasse auf der High-School, noch ein Jahr mehr und sie hätte weggekonnt. Also, warum hat sie es getan? Und wie hat er sie dazu gebracht? Das will ich wissen. Denn, ob er es nun wollte oder nicht, er hat sie dazu gebracht. Und ich hab gedacht, vielleicht, wenn ich es Ihnen erzähle…« Sie atmete tief durch. »Mrs. Ralston, ich kann nicht vor Gericht aussagen, weil es nichts bringen würde. Aber wenn Sie vielleicht ein paar Freundinnen von Dusty zum Reden bringen könnten… weil sie es doch irgendwem erzählt haben muß…« »Wieso meinst du, daß sie es irgendwem erzählt haben muß?« fragte ich. »Wem hast du es denn erzählt?« Sie grinste, hob lässig eine manikürte Hand mit einem dünnen Goldkettchen ums Handgelenk und winkte ab. »Touché. Ihnen hab ich’s erzählt. Heute abend. Aber ich denke trotzdem, daß sie es jemandem erzählt hat. Hat sie vielleicht einen Abschiedsbrief hinterlassen?« »Wenn ja, weiß ich nicht, bei wem sie ihn hinterlassen hat«, sagte ich. »Jedenfalls nicht in ihrem Zimmer. Das weiß ich. Ich hab es gründlich durchsucht. Und Menschen, die Abschiedsbriefe hinterlassen, verstecken sie nicht; sie wollen, daß sie gefunden werden. Hör mal, es tut mir leid, und ich weiß, daß das alles sehr schlimm für dich ist, aber mein Fuß tut furchtbar weh, und ich muß jetzt meine Medikamente nehmen.« Becky sprang auf, schlagartig besorgt. »Mom, entschuldige, daran hätte ich denken müssen. Kann ich dir irgendwas holen?« »Ich habe alles, was ich brauche«, antwortete ich. Vor allem wollte ich mittlerweile, daß die beiden gingen, damit ich ins Badezimmer kriechen konnte, ohne mir Gedanken zu machen, wer mir beim Kriechen zusah, und dann wieder ins Bett steigen und meine Medizin nehmen konnte. Sandy warf Becky einen Blick zu, stand dann auch auf, wandte sich zu mir um und sagte: »Danke, daß Sie mir zugehört 94
haben.« »Ich weiß nicht, was ich tun kann«, erklärte ich, »aber ich werde sehen, was ich herausfinden kann. Falls es irgendeine Möglichkeit gibt, Doreen sicher da rauszuholen, ohne deine Freiheit zu riskieren und ohne daß Doreen wieder genau da landet –« »Mich wird keiner finden«, sagte Sandy mit einem schwachen Lächeln. »Aber wenn Sie sie rausholen könnten, wäre ich sehr dankbar.« Sie ging hinaus, und gleich darauf hörte ich, wie Hal sie fragte: »Kannst du singen?« »Ja, ich kann singen«, sagte sie und klang kühl amüsiert. »Dann würde ich gern mal was mit dir besprechen –« »Ich hab jetzt keine Zeit«, sagte sie, »aber ich geb dir meine Telefonnummer.« Na prima, dachte ich. Genau das hab ich mir gewünscht. Mein Sohn läßt sich die Telefonnummer einer Prostituierten geben. Aber natürlich wußte er nicht, was für einen Beruf sie hatte, rief ich mir gewissenhaft in Erinnerung, und dann vergaß ich die Frage gänzlich, weil ich nämlich unabsichtlich meinen Fuß bewegt hatte und mir nichts lieber wünschte, als es nicht getan zu haben. Wenn ich es mir recht überlegte, ich würde erst meine Medizin nehmen und dann ins Badezimmer kriechen, so daß das Medikament, wenn ich Glück hatte, schon anfing zu wirken, wenn ich wieder ins Bett kroch. Und dem war auch so. Aber noch im Einschlafen kamen die Erinnerungen… ein Angelausflug, mein Dad angelte… am Caddo Lake… mit ein paar anderen Männern… und er wollte, daß jemand mitkam und für sie kochte… und ich mußte… Ich war fast eingeschlafen, als ich wieder geweckt wurde, und zwar, Überraschung, Überraschung, durch einen erneuten Streit zwischen Harry und Hal. Diesmal war Hal der lautere von beiden: »Aber Dad, ich muß doch üben!« »Du wirst hier nicht so einen Radau machen, wenn deine 95
Mutter –« »Aber wir spielen nächste Woche beim –« Zwischendurch konnte ich gelegentlich Loris Stimme hören, aber nicht verstehen, was sie sagte. Das mußte ich auch nicht, um mitzubekommen, worum es ging. Hal und ein paar von seinen Freunden hatten vor kurzem beschlossen, eine Rockband zu gründen. Mittelpunkt war das Drum-Set, das ich Hal vor einigen Jahren in einem Anfall von völliger geistiger Umnachtung gekauft hatte und das seitdem die meiste Zeit unberührt in der Garage gelagert hatte, neben seiner gleichfalls unbenutzten Gewichthebebank. Sie hatten die Gruppe HörSchnupfen genannt, und irgendwie war es ihnen gelungen, ein Engagement für einen Abschlußball an einer sehr kleinen Schule zu bekommen. Lori war die Leadsängerin (genauer gesagt, die einzige Sängerin) der Band. Das warf ein nicht unerhebliches Problem auf, da ihre Stimme in letzter Zeit noch leiser geworden war als ohnehin schon und, ganz gleich, wie sehr sie verstärkt wurde, einfach nicht zu hören war bei dem Lärm von Hals Drums, Sammys Elektrogitarre, dem Baß von Dingsbums, Billy Cawdor, heißt er, glaub ich, und Joan Harpers Keyboard, das nur deshalb dabei war, weil Joan und Sammy miteinander gingen. Ich hielt das Ganze bestenfalls für eine Kakophonie – Hal hatte bei der Zusammensetzung seiner Gruppe offenbar nicht danach gefragt, wer Talent hatte, sondern wer welches Instrument besaß –, aber andererseits halte ich praktisch alles, was auf MTV läuft, für eine Kakophonie, also ist mein Urteil wohl mit Vorsicht zu genießen. »Laß sie ruhig üben«, rief ich resigniert. »Ich bin sowieso wach.« Wie sich herausstellte, war Lori die einzige, die üben wollte. Sie sang gegen ein Instrumentalstück an, das der Rest der Gruppe aufgenommen hatte, und ich erwog, Hal darauf hinzuweisen, daß es keine gute Idee war, die Lautstärke runterzudrehen, damit Lori besser zu hören war, da der Sound 96
ja nicht runtergedreht werden würde, wenn die Instrumente tatsächlich dabei waren. Aber ich entschied mich dagegen. Ich hörte viel lieber Lori als Drums, Gitarre, Baß und Keyboard. Ich hatte eindeutig nicht die Energie, irgendwas zu lesen. Außerdem hatte ich, so paradox das klingen mag, nicht die Energie, wieder einzuschlafen. Schließlich nahm ich mir die Krücken und begab mich langsam und unbeholfen auf den Weg ins Wohnzimmer – Harry bot an, mir zu helfen, aber ich lehnte aus bereits dargelegten Gründen ab –, wo ich mich auf die Couch legte, nach der Fernbedienung griff und anfing zu zappen. Auf einem Kanal lief die Wiederholung von dem OprahWinfrey-Special über Kindesmißbrauch. Es war eine hervorragende Sendung, und Oprah hätte dafür einen SpecialEmmy verdient (ich konnte mich in dem Moment nicht erinnern, ob sie nicht sogar tatsächlich einen bekommen hatte), aber ich hatte nicht die emotionale Energie, mir das Ganze noch einmal anzusehen, also schaltete ich weiter und blieb schließlich bei einer Sendung über Raubvögel hängen. Trotz des Krachs aus der Garage und den Geräuschen aus dem Fernseher nickte ich wieder ein, und als Harry mich sehr viel später weckte und fragte, ob ich zurück ins Bett wolle, sagte ich ernsthaft: »Große Vipern müssen überaus vorsichtig verschlungen werden.« Verzeihlicherweise sagte er: »Wa-a-s?« und legte mir eine Hand auf die Stirn. »Das war im Fernsehen«, sagte ich. »Ich hab kein Fieber. Na ja, eigentlich schon, aber das ist nicht der Grund. Ich hab das im Fernsehen gesehen. Ein Adlerjunges hat eine große, fette Schlange gefressen, Kopf zuerst, und der Sprecher hat gesagt: ›Große Vipern müssen überaus vorsichtig verschlungen werden.‹« »Ich werd’s mir merken«, sagte Harry, »falls ich je den Entschluß fassen sollte, eine Viper zu verschlingen. Was sind 97
Vipern eigentlich, außer Schlangen?« »Giftige Schlangen«, erklärte ich. »Wie die Grubenotter zum Beispiel. Das solltest du eigentlich wissen, wo du soviel zum Camping fährst, zumindest früher soviel zum Camping gefahren bist. Ich glaube, die von eben war eine Klapperschlange. Sie hat ausgesehen wie eine Diamantklapperschlange und hat sich wie verrückt geringelt und gewunden. Ich meine, sie war schon halb verschluckt, aber die Hälfte, die noch raushing, hat sich zu einem Knoten verschlungen, und das kleine Adlerjunge hat ziemlich verwirrt geguckt, und die Adlermama mußte kommen und den Knoten rausmachen.« »Verstehe«, sagte Harry und klang selbst ziemlich verwirrt. »Ich meine, was würdest du denn machen, wenn sich deine Spaghetti auf einmal verknoten würden und du hättest keine Möglichkeit, sie kleinzuschneiden? Also ist die Mama gekommen und hat den Knoten aus der Schlange gemacht. Na ja, jedenfalls haben sie gesagt, daß das Adlerjunge von Schlangen lebt, bis es alt genug ist, selbst Beute zu fangen, und daß die Adlermama und der Adlerpapa ihm eben Schlangen bringen. Und du mußt sie mit dem Kopf zuerst essen, damit sie keine Zeit mehr hat, dich zu beißen.« »Es sei denn, sie beißt dich in die Zunge.« »Ich weiß nicht, ob Vögel Zungen haben.« »Haben sie«, sagte Harry. »Ich hab Adler mit offenem Schnabel gesehen, und sie haben Zungen.« »Dann verschlingen sie die Viper vielleicht so schnell, daß sie keine Zeit mehr hat, den Mund aufzukriegen.« »Wie sind wir überhaupt auf dieses Thema gekommen?« »Ich weiß nicht«, sagte ich. Also half er mir ins Bett, soweit ich mich traute, mir von ihm helfen zu lassen, und er sagte, er würde auf der Couch schlafen, weil es mir nicht guttäte, wenn er sich die ganze Nacht neben mir herumwälzen würde. Ich träumte, daß ich versuchte, eine 98
Viper zu verschlingen. Aus irgendeinem Grund war die Viper in meinem Kopf eng mit der Zeit verbunden, als ich mit Daddy auf dem Angelausflug war, und die Viper spuckte mir Gift in den Mund, und ich würgte und würgte, und die Viper wollte, daß ich sie endlich ganz runterschluckte. Meine Stimmung besserte sich keineswegs, als ich um zwei Uhr nachts von Rags geweckt wurde, die durch die Katzenklappe hereingerannt kam, bei der ich mir aus ganzem Herzen wünschte, daß Harry und ich nie auf die Idee gekommen wären, sie einzubauen. Rags hatte eine Vipernatter im Maul, die sie umgehend im Schlafzimmer frei ließ, und dann begann sie jenes leise, rhythmische »Mraurr, mraurr, mraurr«, was soviel heißen soll wie »Bitte, steh sofort auf und hilf mir, mit meiner Beute zu spielen.« Ich rief Harry, der hereinkam, sich das Schlangenglas schnappte – Rags hat in letzter Zeit so viele Schlangen angeschleppt, daß wir im Schlafzimmer ein Schlangenglas haben –, die Schlange ins Glas bugsierte und den durchlöcherten Deckel aufschraubte. Am nächsten Tag würde er die Schlange ein paar Meilen weit wegbringen und dann freilassen, so daß Rags sie nicht wieder fangen konnte. Rags stolzierte eine Weile herum und sagte mit sehr enttäuschtem Unterton »Mraurr, mraurr, mraurr«, während ich noch eine Schmerztablette nahm, ins Bad kroch und wieder zurück ins Bett. Dann legte sie sich hin, den Kopf auf meiner Hand, was seit kurzem ihre Lieblingsposition ist, und fing an zu schnurren, was wohl heißen sollte, daß sie mir den Schlangendiebstahl vergeben hatte. Ich schlief wieder ein und fiel leider Gottes prompt zurück in eine andere Spielart desselben Traumes. Noch immer war ich auf dem Angel- und Campingausflug, und mein Daddy war da, aber er beschützte mich nicht vor der Schlange. Diesmal versuchte ich immer noch, die Schlange herunterzuschlucken, aber eigentlich wollte ich nicht, und sie spuckte mir Gift in die 99
Kehle, und das Gift war bitter, und Oprah Winfrey kam und versuchte, mir zu helfen, die Schlange loszuwerden, doch da begann die Schlange, uns beide zu beißen.
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Kapitel 5 Um zehn Uhr am Samstagmorgen war ich fast soweit, vollends durchzudrehen. Der Tag hatte einigermaßen freundlich damit begonnen, daß Lori und Hal mir das Frühstück ans Bett brachten (was auch gut war, denn ich war mir ziemlich sicher, daß ich keinesfalls dafür aufstehen würde), doch von da an ging es rasant bergab. Es fing damit an, daß die Katze – Rags, nicht Margaret Scratcher – hysterische Anfälle hatte. Sie sprang auf meine Kommode, wo sie gerne die Tomatenpflanze attackierte, und merkte dann, daß die Pflanze weg war. Sie heulte. Sie jaulte. Sie sprang von der Kommode zum Bett zur Kommode zum Bett zur Kommode und setzte sich dann hin und heulte noch ein bißchen mehr. Dann hörte sie schließlich auf zu heulen und saß einfach da, starrte auf die Stelle, wo die Pflanze gewesen war, die Augen so groß wie Vierteldollarstücke. Schließlich fragte ich Harry entnervt, ob er nicht wenigstens einen Teil von Zacki wieder auf die Kommode stellen konnte, damit die Katze sich beruhigte. »Ich hab sie weggeschmissen«, sagte er. »Vielleicht, wenn ich die Katze mit rausnehme und ihr eine andere Tomatenpflanze zeige…« Ein toller Erfolg war das. Rags wollte keine andere Tomatenpflanze, und die Katzen haben eine Katzenklappe. Sie kam schnurstracks wieder zurück und nahm ihre Mahnwache wieder auf, offenbar in der Hoffnung, wenn sie nur lange genug starrte, würde Zacki zurückkommen. Außer einer hysterischen Katze hatte ich obendrein auch noch einen überfürsorglichen Teenager am Hals. Lori wich nicht von meiner Seite. Sie wollte mich bemuttern. In meinem Alter – gut über Vierzig – kann ich es auf den Tod nicht ausstehen, bemuttert zu werden, und schon gar nicht von einem Teenager. Hal schaltete immer mal wieder den Fernseher an, 101
dann fiel ihm ein, daß ich nicht in der Verfassung war, MTV zu hören, also machte er ihn wieder aus, so daß ich nie genau wußte, wann ich von Drums und Gekreische aus meinem Halbschlaf gerissen werden würde, wobei der Lärm gleich wieder aufhörte, sobald ich zu einem Drittel wach war. Wenn ich es recht überlege, wollte Lori mich vielleicht gar nicht bemuttern. Vielleicht wollte sie meine Tochter sein. Ich wäre sehr überrascht, wenn sie nicht eines schönen Tages meine Schwiegertochter wird, und ihre Fürsorge war rührend, aber schließlich hatte ich nur eine Operation am Fuß hinter mir. Ich war weder neunzig Jahre alt noch von fortgeschrittener Altersschwäche befallen. Schließlich schaffte Harry es, sich lange genug von seinem Computer loszureißen, um zu registrieren, was los war. »Du treibst deine Mutter in den Wahnsinn«, sagte er zu Hal. »Du und Lori, sucht euch eine andere Beschäftigung.« »Was denn?« wollte Hal wissen. »Egal was. Geht in den Zoo. Oder in den Freizeitpark.« »Der hat noch nicht auf.« »Aber der Zoo. Herrje, geht von mir aus Mäuse fangen. Hauptsache ihr verschwindet und laßt deine Mutter ein paar Stunden in Frieden.« »Kann ich den Pkw haben?« fragte Hal bemüht beiläufig. »Du weißt ganz genau, daß du den nicht nehmen kannst«, entgegnete Harry. »Nimm den Pick-up. Wenn ich irgendwohin muß, nehme ich den Pkw.« Sobald sie weg waren, kam er herein und fragte, ob ich irgend etwas brauchte. »Nein«, sagte ich, »aber danke, daß du fragst.« »Wirklich nicht?« fragte er. »Weil ich nämlich jetzt auch ein Weilchen weg bin. Ich muß noch in die Bibliothek, was recherchieren, und ich weiß, du brauchst ein bißchen Ruhe und Frieden. Soll ich das Telefon aushängen?« »Nein, könnte sein, daß ich jemanden anrufen möchte.« 102
»Dann häng es aus, wenn du schlafen möchtest.« »Ich stell nur die Klingel ab«, sagte ich. »Die Telefongesellschaft hat es nicht gern, wenn Leute das Telefon aushängen. Soll nicht gut für das System sein.« »Nur wenn etwa ein Viertel aller Telefone auf einmal ausgehängt werden. Deb, versprichst du mir, daß du dich etwas ausruhst?« »Was sollte ich sonst machen«, entgegnete ich. Er zögerte unentschlossen. »Ich weiß nicht, ob ich die Haustür abschließen soll«, sagte er. »Wenn jemand kommt, den du sehen willst, kann er nicht rein, wenn sie abgeschlossen ist, es sei denn, du gehst zur Tür. Aber wenn jemand kommt, den du nicht sehen willst –« »Bring Pat vor die Haustür«, sagte ich. »Er kümmert sich dann schon drum.« »Die Post war noch nicht da.« Das könnte ein Problem darstellen, dachte ich. Pats Interesse an dem Postboten beschränkte sich früher darauf, sein Kommen anzukündigen, doch eines Tages hielt der Aushilfspostbote die Ankündigung für eine Drohung und verpaßte ihm eine Ladung Pfefferspray. Seitdem versucht Pat, nicht nur den Postboten zu fressen, sondern jeden Menschen in Uniform, und man hatte uns bereits angedroht, daß die Post nicht zugestellt wird, wenn Pat im Garten vor dem Haus zu sehen ist. Dann fiel mir eine Lösung ein. »Laß Pat ins Haus«, sagte ich. »Ach ja, und in die Kühlbox gehört neues Eis. Da schwimmt schon alles drin.« Harry ging mit der Kühlbox nach draußen, ließ das Wasser durch den Stöpsel ab, um die Limo nicht extra rausnehmen zu müssen, tat einen frischen Beutel zerstoßenes Eis aus dem Gefrierschrank hinein und stellte mir eine frische Platte mit Aufschnitt hin, bevor er den Hund holen ging. An der Hintertür, wo ich ihn noch so eben durch die Tür vom Schlafzimmer zum Wohnzimmer sehen konnte, blieb er stehen und drehte sich zu 103
mir um. »Und wenn er mal raus muß?« »Dann kann er warten. Oder zur Hintertür raus.« Harrys Miene verriet, daß er nach wie vor nicht begeistert war, aber er öffnete die Tür und rief: »Pat!« Ich hätte zu gern den Ausdruck in Pats Gesicht gesehen, schließlich darf er normalerweise nicht ins Haus, schon gar nicht auf Einladung. Jedenfalls hörte ich kurz drauf das Klickern von Hundekrallen auf dem harten Vinylfliesenboden, mit dem wir vor einigen Jahren den schäbigen braunen Teppichboden ersetzt hatten, der im Haus gewesen war, als wir es kauften. (Damals war er natürlich noch nicht schäbig gewesen.) Ich hörte das Klickern der Hundekrallen eine ganze Weile. Offenbar war der Hund auf der Suche nach Cameron. Cameron war nicht da. »Soll ich dir irgendwas mitbringen?« fragte Harry, bevor er losfuhr. »Ja«, sagte ich. »Bring mir eine Hängepflanze mit. Vielleicht geht’s der Katze dann besser.« »Irgendeine bestimmte?« »Eine Dreimasterblume«, sagte ich. »Eine große. Die machen nicht so viel Dreck, und angeblich sorgen sie dafür, daß die Luft sauberer wird.« Harry ging und ließ einen Suchhund zurück. Der Hund suchte an vielen Stellen. Bei den meisten davon suchte er mehr als einmal, bevor er schließlich ins Schlafzimmer kam, mich unsicher anblickte und winselte. »Ich weiß«, sagte ich zu ihm. »Ich hab Cameron nicht aus Versehen verlegt. Er ist jemanden besuchen gegangen. Wir holen ihn später nach Hause.« Da er mir offenbar nicht glaubte – Menschen belügen Hunde andauernd –, suchte Pat noch einige Minuten weiter, bis er es schließlich aufgab. Dann beschnüffelte er interessiert die Kühlbox (die unter anderem Schinken enthielt) und rollte sich 104
endlich auf dem Boden neben meinem Bett zusammen, nur etwa fünfzehn Zentimeter von Rags entfernt, die ihre Mahnwache vorübergehend aufgegeben hatte, um sich mit mir zusammen ein genüßliches Nickerchen zu gönnen. Rags setzte sich empört auf, fauchte und legte sich wieder hin; wie unsere alte Katze ist sie längst dahintergekommen, daß Pat für einen Hund ein leichter Gegner ist. Anders als im übrigen Haus haben wir im Schlafzimmer noch immer Teppichboden. Pat gefiel es offenkundig, auf Teppich schlafen zu können. Er streckte sich aus, bewegte die Beine, als würde er im Schlaf Kaninchen (oder Katzen) jagen, und entspannte sich dann, als würde er sich auf eine lange Nacht einrichten. Er roch nach Hund, und er schnarchte. Vielleicht war die Idee doch nicht so gut gewesen. Ich hatte so viel Schmerzmittel intus, daß mir nicht danach war, zu lesen oder fernzusehen oder in aufrechter Sitzhaltung Patiencen zu legen. Aber ich hatte das Gefühl, in den letzten anderthalb Tagen für sechs Monate im voraus geschlafen zu haben, und ich hatte keine große Lust, schon wieder zu schlafen. Ich lag auf dem Rücken und starrte eine Weile an die Decke, und dann rief ich in meinem neuen Büro an. Rafe meldete sich. »Was gibt’s Neues?« fragte ich. »Was gibt’s Neues«, wiederholte er. »Nichts Neues in der Bonando-Sache, sieht ganz so aus, als hätten Sie denen klargemacht, daß sie besser den Mund halten. Eine Anzeige wegen Vergewaltigung nach einer Verabredung, wahrscheinlich tatsächlich passiert, aber wir werden es nicht beweisen können.« »Wieso nicht?« »Die Frau hat geduscht und eine Spülung gemacht, bevor sie Anzeige erstattet hat. Aber ich weiß nicht, gut möglich, daß wir es sowieso nicht hätten beweisen können. Wir hätten beweisen können, daß Geschlechtsverkehr stattgefunden hat, aber nicht, daß er erzwungen war. Sie ist hysterisch, aber er hat nichts 105
getan, das bei ihr eine sichtbare Spur hinterlassen hat. Und der Scheißkerl stolziert herum wie ein Elchbulle – der hat so was schon mal gemacht, jede Wette, und er ist schon mal davongekommen, und er wird es wieder tun, bis jemand ihn stoppt. Und verdammt, ich denke, wenn wir die Staatsanwaltschaft überzeugen könnten, dann bestimmt auch eine Anklagejury und die Geschworenen im Prozeß. Sie ist kleiner als Sie – ich schätze, zirka 1,52, keine vierzig Kilo –, und er ist ein Schrank von einem Kerl, 1,88, Schultern, als würde er keine Schulterpolster brauchen, wenn er Football spielt. Blond. Typ gutaussehender Naturbursche.« »Raubtier«, sagte ich nachdenklich. »Was?« sagte Rafe, und dann schnaubte er kurz. »Genau. Raubtier. Auf der Jagd nach schutzloser Beute. Und diese Beute sieht weiß Gott schutzlos aus. Ich weiß nicht, vielleicht versuch ich doch noch, die Staatsanwaltschaft zu überzeugen.« »Sonst noch was?« »Nee«, sagte er. »Zumindest nichts Neues. Nichts, was uns weiterbrächte.« Was bedeutete, daß der Sekundenkleber-Vergewaltiger und der Campus-Vergewaltiger noch immer irgendwo da draußen waren und nur darauf warteten, wieder zuzuschlagen, dachte ich, als ich das Telefon wieder auf das Regalbrett stellte, wo es hingehörte. Oder es bedeutete, daß der SekundenkleberVergewaltiger und der Campus-Vergewaltiger schon wieder zugeschlagen hatten und das Opfer aus Angst – oder Scham – oder weil es eingeschüchtert war – keine Meldung gemacht hatte. Ich hatte noch immer nichts zu tun. So ruhig ist das Haus nur selten. Ich nahm eines der Bücher, die die Familie praktischerweise in greifbarer Nähe deponiert hatte, las etwa drei Seiten und merkte dann, daß ich mich nicht erinnern konnte, was ich gelesen hatte, was weiteres Lesen unsinnig machte. Das Haus war so ruhig, daß ich sogar den Kühlschrank 106
summen hörte. Samstag, zumindest an den Samstagen, an denen ich nicht arbeiten muß, ist normalerweise mein Einkaufstag. Sonntag ist Kirchen- und Familientag. Einen festen Nichtstuntag habe ich nicht. Jetzt einen zu haben brachte mich durcheinander. Ich griff nach dem Telefon, um meine Mutter anzurufen, und in dem Moment klingelte es. »Hallo?« sagte ich. »Kurze Aktualisierung«, sagte Rafe Permut mit aufgeregter Stimme. »Ich dachte, Sie wüßten bestimmt gern Bescheid, bevor ich mich auf den Weg mache. Der CampusVergewaltiger hat es am hellichten Tag probiert, in einem Gebüsch hinter einem Wohnheim für Studentinnen. Die Frau hatte eine Dose Pfefferspray.« Ich saß sofort senkrecht im Bett. Pfefferspray – auf der Basis des schärfsten Cayennepfeffers – wird von etlichen Herstellern angeboten, doch die Marke, die mir am bekanntesten ist, heißt Body-Guard. Im Gegensatz zur chemischen Keule und zu Tränengas ist der private Besitz – soweit ich weiß – in allen fünfzig Staaten der USA erlaubt. Im Gegensatz zur chemischen Keule und zu Tränengas ist bislang nicht bekannt, daß irgendwer, auch nicht der Empfindlichste, dauerhafte Schäden davongetragen hätte. Im Gegensatz zur chemischen Keule und zu Tränengas bezwingt es selbst den ausgeflipptesten Psychopathen und den zugedröhntesten Drogensüchtigen sowie angriffslustige Tiere, von denen viele auf andere Chemikalien nicht reagieren. Wird es aus einer Entfernung von anderthalb Metern oder noch näher gesprüht, greift es die Augen und die gesamte Atmung an, und eine Person ist bis zu zwanzig Minuten handlungsunfähig, da sie nur damit beschäftigt ist, sich die Hände auf die Augen zu pressen und nach Atem zu ringen. »Dann habt ihr ihn?« fragte ich. »Nein, leider Gottes. Sie hat ihm ins Gesicht gesprüht und ist zurück ins Wohnheim gerannt, während er auf dem Boden lag, sich die Augen rieb und lauthals fluchte. Aber als sie die Polizei 107
angerufen hat, hat sie nicht gesagt, daß sie ihn angesprüht hatte – bloß, daß ein Mann sie auf dem Parkplatz angefallen hat, und als der Kollege in der Zentrale um eine Beschreibung gebeten hat, war sie so durcheinander, daß sie die Kleidung und so weiter beschrieben hat, ohne zu erwähnen, daß er noch auf dem Parkplatz lag. Also haben Streifenwagen die Gegend nach ihm abgesucht, bevor sie zu ihr gefahren sind. Und da war er dann schon auf und davon.« »Wieviel Zeit war da seit dem Anruf der Frau vergangen?« »Höchstens fünfzehn Minuten«, sagte Rafe. »Zuzüglich zwei bis drei Minuten, die sie bis zum Telefon gebraucht hat –« »Und das ist großzügig gerechnet«, pflichtete Rafe bei. »Ich denke, sie war nach allerhöchstens zwei Minuten am Telefon.« »Allein kann er nicht sehr weit gekommen sein.« »Das sehe ich auch so«, sagte Rafe. »Das heißt, irgendwer hilft ihm.« »Ein Kumpel aus seiner studentischen Verbindung, meinen Sie?« fragte ich skeptisch. Angehörige einer Studentenverbindung lassen sich zuweilen die hanebüchensten Mutproben einfallen, aber das hier ging wohl für egal welche Studentenverbindung entschieden zu weit, vor allem für eine, die zu einer konfessionell gebundenen Uni gehörte. »Weiß man nicht«, erwiderte Rafe. »Aber ich habe die Zentrale angewiesen, die Notaufnahmen in allen Krankenhäusern zu verständigen. Wenn wir Glück haben, taucht er irgendwo auf. Muß jetzt los – könnte sein, daß sie mehr gesehen hat, als die Streifenpolizisten aus ihr rausgekriegt haben.« Wenn wir Glück haben, dachte ich und legte mich zurück in die Kissen, schon jetzt schwitzend und müde, wo ich doch nur so kurz aufrecht gesessen hatte. Letztlich scheint bei der Polizeiarbeit alles auf Glück hinauszulaufen. Da erledigt man den ganzen Routinekram, spricht mit allen Zeugen, und die 108
geben einem vielleicht Anhaltspunkte und bringen einen auf die Idee, mit welchen Leuten man noch sprechen könnte, und mit denen spricht man dann auch noch, sucht nach Fingerabdrücken und Reifenspuren und DNA und so weiter, aber am Ende läuft dann oft genug doch alles auf Glück hinaus: Entweder man hat es oder man hat es nicht, und wenn man es hat, sagt jemand das Richtige, das einen dann in die richtige Richtung lenkt, und wenn man es nicht hat, dreht man sich die ganze Zeit im Kreis, während der Täter immer wieder und wieder zuschlägt, bis man dann irgendwann doch noch Glück hat. Wenn die dumme Studentin – nur, so dumm war sie ja nicht, schließlich hatte sie das Pfefferspray bei sich, als sie durch die Hintertür des Wohnheims auf den Parkplatz ging – dem Kollegen in der Zentrale doch nur gesagt hätte, daß der Mann auf dem Parkplatz lag, fluchend, das Gesicht voll mit rotem Glibberzeug… Aber selbst dann wäre es womöglich zu spät gewesen. Falls er, wie Rafe und ich vermuteten, mindestens einen Komplizen gehabt hatte, dann war er vielleicht bereits in ein Auto verfrachtet und weggefahren worden, bevor das Opfer die Notrufnummer gewählt hatte. Verflucht, dachte ich. Und dann setzte ich mich wieder auf, griff nach dem Telefon und rief meine Mutter an. Rhonda meldete sich. Ich hätte nicht darauf gewettet, ob ich ihre Stimme wiedererkennen würde. Es war über zehn Jahre her, daß ich zuletzt mit ihr gesprochen hatte. Doch ich erkannte sie. »Hallo«, sagte ich, »gib mir mal Mom.« »Moment.« Und als Mom am Apparat war, sagte ich: »Bring bitte Cameron nach Hause.« »Debra«, sagte Mom mit dieser übertrieben vernünftigen Stimme, die mich immer auf die Palme bringt, »er ist hier absolut sicher. Man kann sich nicht mit AIDS anstecken durch die Klobrille oder –« 109
»Wer hat denn was von AIDS oder Klobrillen gesagt?« fiel ich ihr ins Wort. »Ich weiß, wie AIDS übertragen wird und wie nicht. Ich habe oft mit Leuten zu tun, die AIDS haben. Ich mach mir keine Sorgen, daß Cameron sich mit AIDS ansteckt; ich mach mir Sorgen um seine Sicherheit, wenn er mit dieser Frau zusammen ist. Rhonda ist nicht ganz dicht. Weißt du nicht mehr, wie Vicky in dem Alter war und Rhonda sie in einem Kissenbezug durch die Gegend getragen hat, um sie zu ärgern, und der Bezug zu alt war, um eine Dreijährige zu halten, und gerissen ist und Vicky mit dem Kopf auf den Boden geknallt ist und mit sechs Stichen genäht werden mußte? Weißt du nicht mehr, wie Rhonda und ihr Freund, der Typ mit dem Kabrio, mit Vicky herumkutschiert sind, und Vicky saß oben auf der Rückenlehne der Rückbank, und wenn sie über einen Hubbel oder zu schnell in die Kurve gefahren wären, wäre Vicky aus dem Wagen geschleudert worden, und die beiden fanden das auch noch lustig, daß sie da oben saß? Ich möchte nicht, daß noch eins von meinen Kindern –« »Du würdest sie nicht wiedererkennen«, sagte Mom. »Sie ist nicht mehr die alte, Debra. Sie hat keinerlei… Sie hat keinen Funken Freude mehr in sich.« »Bring Cameron trotzdem nach Hause«, sagte ich. »Na schön«, sagte Mom, »aber ich bring auch Rhonda mit.« Und sie legte auf, bevor ich etwas einwenden konnte. Ach du Scheiße, dachte ich und legte mich wieder zurück. Ich konnte förmlich hören, wie Harry reagieren würde, wenn er nach Hause kam und Rhonda da war oder wenn er nach Hause kam, bevor Mom eintraf, und Rhonda plötzlich hereinspaziert kam. Aber dagegen konnte ich wohl nichts machen. Ich öffnete eine Dose Ginger Ale. Ich hatte seit gut fünf Stunden keine Schmerztablette mehr genommen, und mein Fuß pochte. Vielleicht, wenn ich noch ein bißchen schlief, bevor sie kamen… Ich schlief. Aber ich wachte trotzdem auf, als sie 110
hereinkamen. Wer wäre das nicht, wenn ein dreijähriger Tornado hereingefegt kommt und »Mommy!« schreit und der Hund sich aufrichtet und mit dem Hinterteil wackelt, denn damit wackeln Hunde nun mal, wenn sie keinen Schwanz haben. Mom kam hinter Cameron, und Rhonda kam hinter Mom. Ich hätte sie nicht wiedererkannt. Sie war jünger als ich, und als ich sie das letzte Mal sah, war ihr Haar eine prachtvolle, lange, schwarze Mähne, und ihre Augen waren so blau, daß sie fast violett wirkten. Sie hatte damals ein knappes lila Stricktop an, ärmel- und taillenlos, eine hautenge, schwarze Lederhose und lila Sandalen mit Stilettoabsatz. Prostitution, so hatte ich damals ziemlich gehässig gedacht, war anscheinend recht einträglich. Jetzt hätte wohl jeder, der Mom, Rhonda und mich nebeneinander sah, auf die Bitte, die Älteste herauszupicken, auf Rhonda getippt. Ihr Körper, einst schlank, war jetzt knochig. Sie hatte sich Zähne ziehen lassen, ohne sie durch Brücken zu ersetzen, und ihre Wangen waren eingefallen. Ihre Augen waren jetzt einfach blau, und ihr nur mehr dünnes Haar war sichtbar schwarz gefärbt, so sichtbar, daß an den Haarwurzeln zwei Zentimeter Grau sichtbar war. Sie trug einen verwaschenen roten Pullover über einer verwaschenen Blue Jeans – nicht modisch verwaschen, einfach alt und weit schlotternd –, und sie hatte Gummilatschen an schmutzigen, krallenartigen Füßen. In Anbetracht von Moms Sauberkeitsfimmel mußte der Schmutz so tief sitzen, daß er sich nicht so ohne weiteres abwaschen ließ. Nichts, worauf ich eifersüchtig sein müßte, dachte ich und war im selben Augenblick entsetzt. Wann war ich je auf Rhonda eifersüchtig gewesen? Aber natürlich war ich auf Rhonda eifersüchtig gewesen. Sie war hübscher als ich. Sie konnte flirten – sie widersprach den Jungs und stritt mit ihnen und alberte mit ihnen herum, und sie umschwärmten sie wie 111
Bienen eine Blüte, und ich versuchte, die Jungs anständig zu behandeln, und sie behandelten mich wie eine Schwester – alle außer Harry, rief ich mir in Erinnerung, alle außer Harry. Sie überzeugte Mom meistens, daß sie zu zart war, um im Haushalt mitzuhelfen, also übernahm ich auch ihren Teil, doch an den Tagen, an denen sie fand, daß sie nicht zu zart war, schwebte sie förmlich durchs Wohnzimmer und ließ eine Spur der Ordnung hinter sich, wo sie doch sonst nur eine Spur der Unordnung hinterließ, so daß das Zimmer in fünfzehn Minuten besser aussah, als wenn ich zwei Stunden darin geschuftet hatte. Sie – Aber das war über zwanzig Jahre her. Und jetzt hatte ich einen guten Mann, eine gute Familie, Kinder und Enkel und Katzen und einen Hund und einen guten Job und Freunde und wohnte in einem Haus, das trotz seiner Unbequemlichkeiten zumindest mir gehörte, und Rhonda stand jetzt vor mir und sah aus, als könnte sie sich kaum noch aufrecht halten, und höchstwahrscheinlich besaß sie nicht viel mehr als das, was sie am Leibe trug. Ich blickte zu Cameron hinüber, der gerade versuchte, einen freudestrahlenden Hund zu erwürgen, und mir fiel ein, daß Rhonda, soweit ich wußte, sechsmal schwanger gewesen war. Ihr erstes und zweites Baby hatte sie zur Adoption freigegeben. Ihr zweites war mein zweites geworden, Becky. Das war, nachdem Rhonda ihre Absicht verkündet hatte, mit mindestens einem Angehörigen von jedem Stamm der amerikanischen Ureinwohner, den sie finden konnte, für jeweils sechs Monate etwas anzufangen, und obwohl der Vater, ein Komantsche, sehr wohl zugab, daß das Baby vermutlich von ihm war, sagte er, daß er es ganz bestimmt nicht wollte, und obwohl Rhonda das Baby insgeheim vielleicht gewollt hätte, wußte sie doch, daß sie nicht für ein Kind sorgen konnte. Zuerst führte sie sich auf wie eine Verrückte und legte das Kind in einen Müllcontainer hinter dem Mietshaus, wo sie selbst von ihrem Freund verlassen 112
worden war, doch zum Glück wurde das Baby gefunden, bevor der Müllwagen kam. Ich hatte bereits in Dallas angerufen – und zig-hundert andere Leute ebenfalls, wie ich erfuhr –, um das ausgesetzte Kind zu adoptieren, bevor Rhonda bei der Polizei anrief und unter Tränen alles zugab; und als Rhonda dann nur unter der Voraussetzung in die Adoption einwilligte, daß ich das Baby bekommen sollte, hatte ich keinerlei Probleme, es zu kriegen. Anfänglich hatte Rhonda gesagt, sie wolle in engem Kontakt zu dem Kind bleiben. Sie tat es nicht, zu unserer großen Erleichterung; ich wußte, ich hätte es nicht übers Herz gebracht, ihr einen Besuch abzuschlagen, aber der Gedanke, daß Rhonda betrunken oder high, weinend oder hysterisch in meinem Haus herumlief, war mir zuwider. Dennoch war ich wirklich überrascht, daß sie nach dem ersten Besuch, als Becky vier Monate alt war, nicht mehr wiederkam. Demzufolge wußte Becky zwar, daß Rhonda ihre leibliche Mutter war, aber sie schien eigentlich nie groß darüber nachzudenken. Rhondas drittes Baby, das sie behalten wollte (da sie vorübergehend – sehr vorübergehend, wie sich dann herausstellte – verheiratet war), kam mit Spina bifida zur Welt und starb zwei Tage später. Das vierte war eine Fehlgeburt, in der psychiatrischen Klinik, wo sie einen Drogenentzug begonnen hatte, als sie in der sechsten Woche schwanger war. Das fünfte war schwer geistig behindert, aber ihr damaliger Ehemann hatte es behalten. Das sechste war eine Totgeburt. Im Grunde genommen hatte ich alles, einschließlich Rhondas ExKind und die Enkelkinder, die eigentlich Rhondas gewesen wären, und Rhonda hatte nichts. Ich schämte mich dafür, daß ich so kleinlich war, überhaupt an die Vergangenheit zu denken. »Setzt euch«, forderte ich sie auf. »Tut mir leid, ich hab hier nur einen Sessel. Eine von euch kann sich aufs Bett setzen.« Nach einem kurzen Blick auf Mom setzte sich Rhonda in den Sessel. »Die Haustür war nicht abgeschlossen«, sagte Mom. 113
»Ich hab Harry gebeten, sie nicht abzuschließen«, erwiderte ich. »Da hätte ja jeder einfach reinspazieren können –« »Mit Pat im Haus?« fragte ich trocken. Darauf wußte nicht einmal Mom etwas zu sagen, zumindest vorübergehend. »Hast du schon was gegessen?« wollte sie als nächstes wissen, drohend vor mir aufragend. »Nein, aber –« »Aber wieso denn nicht? Es ist schon längst Nachmittag!« »Es ist erst ein Uhr«, erwiderte ich. »Und ich habe spät gefrühstückt –« »Na und? Du brauchst jetzt viel Protein.« Bevor ich ihr sagen konnte, daß ich Schinken in der Kühlbox hatte, war sie schon Richtung Küche verschwunden, um den Kühlschrank zu kontrollieren, den ich zuletzt zwei Tage zuvor kontrolliert hatte. »Der ist ja völlig leer«, rief sie, die Stimme leicht gedämpft. »Was haben denn diese Männer bloß gemacht?« Diese Männer, so vermutete ich, waren Harry und Hal. »Gegessen, sehr wahrscheinlich«, knurrte ich. »Was sagst du?« »Ich weiß nicht, was sie gemacht haben«, schrie ich. »Ich war die ganze Zeit im Bett.« »Na, dann gehe ich jetzt mal was einkaufen. Cameron, komm mit Omi.« »Bei Pat bleiben«, erwiderte Cameron. Soviel zum Thema Sohnestreue. Er wollte nicht bei Mommy bleiben, er wollte bei dem Hund bleiben. Na ja, ich küsse ihn ja auch nicht halb so viel wie der Hund. Oder halb so schlabberig. Nach einem kurzen Blick wandte ich die Augen ab. »Omi kauft dir auch ein Eis«, sagte Mom mit einem schmeichelnden Ton, den sie bei mir weiß Gott noch nie angeschlagen hat. Soviel zum Thema Treue, basta. Ich hörte Pats Kopf auf den 114
Boden plumpsen, als Cameron ihn fallenließ. Dann rappelte Pat sich auf und folgte Cameron, holte ihn im vorderen Badezimmer ein, wo Cameron gerade Hände und Gesicht gewaschen bekam, wurde dann aber nur zur Tür hinaus bugsiert und im Vorgarten zurückgelassen. Das machte ihn ganz bestimmt nicht glücklich. Da er nicht in den Vorgarten darf, solange die Post noch nicht da war, und weil wir es leid waren, ihn den ganzen Tag in die Garage zu sperren, haben wir die Gärten vor und hinter dem Haus inzwischen durch ein kompliziertes System von Zäunen und Toren voneinander getrennt, durch das nur Menschen und Katzen gelangen, aber keine Hunde, es sei denn, sie sind in Begleitung von Menschen. Nachts, wenn wir wollen, daß er in den Vorgarten geht, lassen wir die Gartentore offen, aber sie werden regelmäßig von der ersten Person, die morgens aufsteht, wieder geschlossen, und ich war ganz sicher, daß sie heute noch niemand wieder geöffnet hatte. Das bedeutete, daß Pat im Vorgarten war, sein Freß- und sein Wassernapf aber im Garten hinter dem Haus. Er würde sich eine Weile über das neuartige Erlebnis freuen, tagsüber im Vorgarten zu sein, doch irgendwann würde er anfangen zu heulen. Ich blickte Rhonda an, und zu meiner Verblüffung lachte sie leise. »Hast du dich schon mal gefragt«, sagte sie, »wie sich wohl der erste Pin beim Bowling fühlt, wenn du einen Strike wirfst?« »Nein. Das habe ich mich ehrlich gesagt noch nie gefragt.« »Wenn Mom bei einem ist, erübrigt sich das auch. Debra, wann ist sie so unangenehm geworden? So war sie doch nicht, als wir klein waren.« »Ich weiß nicht, und übrigens, außer Mom nennt mich schon seit zwanzig Jahren keiner mehr Debra.« »Wie möchtest du denn angesprochen werden?« »Deb.« 115
»Entschuldigung. Ich weiß, daß dir Deb früher lieber war, aber ich dachte, du wärst vielleicht mit den Jahren etwas förmlicher geworden. Zu mir sagt man noch immer Rhonda. Falls du dich gefragt hast.« »Ich hab’s mir gedacht.« Als das Thema beendet war, die Frage nach unseren gegenwärtigen Namen geklärt, hatten wir uns nichts mehr zu sagen. Rhonda saß da und schaute mich an. Ich lag im Bett und schaute Rhonda nicht an, das heißt, nur aus den Augenwinkeln, um nicht den Eindruck zu erwecken, ich würde starren. Nach einer Weile sah Rhonda zu Rags hinüber, die dort, wo Zacki gewesen war, wieder ihre Mahnwache aufgenommen hatte. »Was ist denn mit der Katze los?« »Harry hat ihr den Baum gestohlen.« »Ihr hattet einen Baum auf der Kommode?« »Eine Tomatenpflanze. Aber die Katze hat sie für einen Baum gehalten. Und Bäume stehen nicht auf und gehen weg. Der Baum ist also weg, und die Katze denkt, sie ist verrückt geworden.« »Du magst mich nicht besonders, was?« fragte Rhonda. »Ich habe nichts gegen dich.« »Aber du würdest mir nicht deinen Haustürschlüssel geben, oder?« »Ich gebe niemandem meinen Haustürschlüssel.« »Aber ich bin deine Schwester.« »Nicht mal Mom hat meinen Haustürschlüssel. Wieso solltest du einen haben?« »Aber ich wette, die Frau, die bei dir putzt, hat einen Schlüssel.« »Ich habe niemanden, der bei mir putzt«, entgegnete ich. »Na, aber früher doch.« »Als Becky und Vicky noch klein waren, hatte ich eine Frau, die in der Zeit hier war, wenn sie aus der Schule kamen, bis Harry oder ich von der Arbeit kamen«, gab ich zu, »und ja, die 116
hatte auch einen Schlüssel.« »Du gibst also einer Mexikanerin einen Schlüssel, aber deiner Schwester würdest du keinen geben.« »Carlota«, sagte ich spitz, »hat auch noch nie die Waffen von meinem Mann und meinen Schmuck geklaut.« »Ach, Deb«, sagte Rhonda, »das war ich nicht.« »Daß ich nicht lache!« »Jacky hat gesagt, er schlägt mich zusammen, wenn ich nicht –« »Ich will das gar nicht hören«, sagte ich. »Ich hab es schon zu oft gehört. Dein Zuhälter hat gesagt, er schlägt dich zusammen, wenn du ihm nicht genug Geld gibst, und du konntest nicht genug Männer auftreiben, also hast du Harrys Waffen und meinen Schmuck gestohlen. Ganz einfach.« »Zwanzig Dollar im Pfandleihhaus«, sagte Rhonda dumpf. »Für alles zusammen. Den Schmuck, meine ich. Die Waffen waren besser.« »Auch wenn der Schmuck nichts Besonderes war, er hat mir gehört«, erwiderte ich scharf, »einschließlich des mexikanischen Silberrings, den Harry mir in den Flitterwochen gekauft hat und den ich nie zurückbekommen habe.« »Der Stein war kein echter Saphir.« »Das ist mir durchaus klar. Aber deshalb hattest du noch lange kein Besitzrecht darauf.« Sie saß eine Weile da und sagte dann: »Also schön, es war mies von mir, und das wußte ich schon, als ich es getan habe. Und ich hab es auch nicht deshalb getan, weil Jacky mir gedroht hat, mich zusammenzuschlagen. Ich hatte genug Freier. Es war ein Parteitag in der Stadt; ich hatte so viele Freier, wie ich wollte. Ich war einfach wütend auf dich. Du hattest einen Ehemann, und ich hatte einen Zuhälter. Du hattest ein Haus, und ich hatte ein dreckiges Motelzimmer. Du hattest Kinder, und ich hatte nichts. Du hattest sogar meine Tochter.« »Du hast sie weggeworfen.« 117
»Ich weiß. Und ich wollte sie nicht. Wirklich nicht. Aber ich glaube, damals wollte ich auch nicht, daß du sie hast.« »Wieso?« »Weil du schon immer alles gehabt hast, auch als wir klein waren.« »Ja klar. Ich hab alles gehabt, genauer gesagt, alles am Hals gehabt. Ich mußte auf dich aufpassen. Und den Abwasch machen und das Haus putzen und die Wäsche machen und sie auf- und wieder abhängen und bügeln. Und ich mußte meine Arbeit und auch deine machen, weil du ja alle Hände voll damit zu tun hattest, niedlich zu sein, und meistens mußte ich auch noch Moms Arbeit machen, weil sie mit Kopfgrippe im Bett lag. Wenn ich Kopfgrippe habe, gehe ich trotzdem zur Arbeit. Ich weiß noch, wie ich einmal beim Wäscheaufhängen ohnmächtig in den Wäschekorb gefallen bin, weil ich zu krank war, um noch stehen zu können, und du warst mit deinem Freund unterwegs, und Mom lag im Bett mit Kopfgrippe und einem eigentlich rezeptpflichtigen Darvon, das Dad einem Apotheker abgeschwatzt hatte. Und obendrein konnte ich jeden Freitagabend zu Hause hocken und Nägel kauen, während du dich mit Jungs getroffen hast. Also erzähl mir nicht, ich hätte immer alles gehabt. Schmink dir das ab, Rhonda, ja?« Rhonda lachte los. »Wir hören uns an wie zwei Zehnjährige, was? Deb, es tut mir wirklich leid. Ich hatte Koks genommen und war vollkommen zugeknallt, sonst hätte ich das nie gemacht. Deine Sachen gestohlen, meine ich. Und ich hab wirklich versucht, den Ring wiederzubekommen, aber der Typ hatte ihn schon verkauft. Und ich bin wirklich froh, daß du Becky genommen hast. So wußte ich wenigstens, daß es ihr gutging. Deshalb hab ich den Kontakt auch nicht aufrechterhalten – ich hätte nur gestört.« »Aber ich hätte nichts dagegen gehabt –« setzte ich an, nicht ganz ehrlich. »Als du sie genommen hast, hast du gesagt, ich könnte 118
jederzeit kommen und sie sehen. Aber du hättest was dagegen gehabt, egal, was du gesagt hast. Überhaupt, ich hatte solche Schuldgefühle, wenn ich sie gesehen habe. Die Vorstellung, daß sie in dem Müllwagen zerquetscht worden wäre, wenn der Mann ihr Weinen nicht gehört hätte… Deb, ich bin froh, daß du sie genommen hast. Und es hat mir leid getan, daß ich mich so beschissen verhalten hab. Ich wollte nicht kommen und sie durcheinanderbringen.« »Es tut mir leid, daß wir nicht besser miteinander ausgekommen sind«, erwiderte ich. »Vielleicht, wenn wir bessere Freundinnen gewesen wären, als wir jung waren, hätten wir uns gegenseitig mehr helfen können.« »Ja. Vielleicht.« Sie versank wieder in Schweigen. »Wie fühlst du dich?« fragte ich schließlich. »Eigentlich gar nicht so schlecht, bisher, jedenfalls die meiste Zeit.« Nach einem Augenblick oder zwei oder drei fügte sie hinzu: »Weißt du, ich hab mich nicht auf die Weise angesteckt, wie du wahrscheinlich denkst.« »Nein?« »Ich hab die letzten sieben Jahre in einem Restaurant gearbeitet, so eine Raststätte für Trucker. Ich war zu alt für das Gewerbe, Deb. Du verdienst kein anständiges Geld mehr, wenn du aussiehst, als wärst du von einem Laster überrollt worden. Und als ich nicht mehr jeden Preis verlangen konnte, hat es auch keinen Spaß mehr gemacht. Das Geld war das einzige, was mir daran gefallen hat. Das Geld und zu sehen, was diese schnaufenden Typen doch für Idioten waren. Aber ich hab aufgehört, als ich mit Toby schwanger war, und ich hab nie wieder angefangen. Ich hab von der Sozialhilfe gelebt, ungefähr bis Toby sechs Monate alt war, und dann hab ich den Job in dem Restaurant gekriegt. Aber dann, vor fünf oder sechs Jahren, hatte ich einen Autounfall, und ich war schwer verletzt und brauchte eine Bluttransfusion. Der Arzt hat später vermutet, daß es dabei passiert ist.« 119
»Na ja, es tut mir leid, daß du dich überhaupt infiziert hast, egal wie.« Ich fragte mich vage, welches Kind Toby gewesen war. Ich hatte gedacht, keiner von ihren Jungen hätte so lange gelebt, daß er einen Namen bekommen hätte. »Mom hat gesagt, du willst nicht, daß Cameron in meiner Nähe ist. Keine Bange, ich tu Cameron schon nix, echt nich.« Außer ihm eine Sprache beibringen, mit der er in der Schule Schwierigkeiten bekommen würde, dachte ich und fragte mich, wo sie sich das angewöhnt hatte. Bei uns zu Hause wurde jedenfalls nicht so gesprochen. Vielleicht hatte Mom ja recht. Vielleicht mußte ich wirklich was essen, denn ich merkte, daß meine Gedanken abschweiften, während ich das Gespräch doch fortsetzen wollte, und unwillkürlich lauschte ich geistesabwesend auf die Geräusche um mich herum. Vor dem Haus winselte Pat ein wenig. Unsere alte Katze Margaret Scratcher, die vermutlich im Mesquitbaum saß, fauchte ihn an. Draußen auf der Straße fiel eine Autotür zu. Vermutlich beim Nachbarn, dachte ich, und ich war mir dessen sicher, als ich Schritte vor meinem Schlafzimmerfenster hörte, keine zwei Meter vom Küchenfenster des Nachbarn entfernt, mit dem keuschen Zaun zwischen uns. Ein Tor klapperte. Ich hatte noch immer nichts erwidert, und das wurde mir klar. »Ich meine ja nicht, daß du ihm absichtlich schaden würdest«, sagte ich. »Aber du warst eben ganz schön fahrlässig, als Vicky klein war.« »Wie lange ist das her, daß Vicky klein war?« erwiderte sie. »Ich trage kleine Kinder nicht mehr in Kissenbezügen durch die Gegend. Und sehe ich so aus, als hätte ich einen Freund mit Kabrio? Selbst wenn, mittlerweile benutze ich Sicherheitsgurte. Weißt du, mein letztes Kind, Toby, hab ich behalten.« »Ich wußte nicht –« »Ich weiß, daß du es nicht gewußt hast. Ich hab’s Mom nicht erzählt, und wehe, du erzählst es ihr. Na ja, Tobys Vater war schwarz, und Mom hätte einen Schock gekriegt, von dem sie 120
sich nicht mehr erholt hätte.« Das stimmte wahrscheinlich. Mom hatte sich mir gegenüber nie beklagt über meine drei Kinder mit Cherokee-, Komantschen- und Koreanerblut und hatte sie zumindest formell als Enkelkinder akzeptiert, aber ich wußte, daß sie ihren Freundinnen gegenüber kein Blatt vor den Mund nahm und immer wieder erklärte, daß ich natürlich nicht die richtige Mutter bin. Wenn Rhonda mit Toby aufgetaucht wäre und ihn ihr als Enkelkind präsentiert hätte, wäre es mit Mom rasch bergab gegangen. »Und der Vater von Toby hat mir ein bißchen Unterhalt gezahlt, und, na ja, wie gesagt, ich hab dann den Job in dem Restaurant gekriegt und mir ein Auto gekauft. Weiß Gott kein gutes Auto – ich hab zweihundert Dollar dafür bezahlt –, aber die meiste Zeit ist es gelaufen. Aber Toby mochte keine Sicherheitsgurte, also hab ich ihn nicht mehr angeschnallt. Und dann, in dem Winter, als er zwei war, hatten wir einen Eissturm, und ich mußte doch zur Arbeit, Eissturm hin oder her, und ich wollte Toby zum Babysitter bringen und bin mit dem Wagen ins Schleudern gekommen und gegen einen Telefonmast geknallt, und die Tür ist aufgeflogen, und Toby wurde rausgeschleudert und ist mit dem Kopf aufgekommen.« »War das der Autounfall, nach dem du die Bluttransfusion bekommen hast?« fragte ich. »Ja. Und erst eine Woche danach haben die mir gesagt, daß Toby tot ist.« »Rhonda, es tut mir so leid.« Sie zuckte die Achseln. »Ist wahrscheinlich besser für ihn als eine Mutter wie mich. Ich war eine ziemlich schlechte Mutter. Manchmal hab ich ihn abends, wenn ich ein Bier trinken gehen wollte, allein gelassen. Und dauernd hab ich ihn angebrüllt, und ich hab ihn geschlagen, wenn ich auf jemand anderen wütend war, und so Sachen. Als er tot war, hab ich mich richtig mies gefühlt deswegen. Sag Becky, sie kann froh sein – wo ist Becky 121
eigentlich?« Sie blickte sich um, als rechnete sie damit, sie zu sehen. »Sie ist verheiratet, Rhonda«, sagte ich. »Sie ist schon seit Jahren verheiratet. Sie hat drei Kinder und erwartet das nächste.« »Drei? In ihrem Alter? Und schon wieder eins im Anmarsch? Da ist sie ja genauso beschissen dran wie ich!« Rhonda klang schockiert. »Der Älteste ist adoptiert«, erklärte ich hastig. »Ursprünglich der Halbbruder ihres Mannes. Und glaub mir, die beiden können sich so viele leisten, wie sie wollen. Ihr Mann ist recht wohlhabend.« Das war eine Untertreibung. Aber irgendwie hatte ich das Gefühl, es wäre nicht so gut, wenn ich Rhonda verriet, daß die Tochter, die sie abgegeben hatte, mit einem steinreichen Mann verheiratet war. »Na ja, ich freu mich, daß bei ihr alles einigermaßen gut gelaufen ist«, sagte Rhonda und klang desinteressiert. »Kann ich von mir nicht behaupten.« »Und du persönlich kannst natürlich nichts dafür«, sagte ich scharf. Sie funkelte mich erbost an, erhob sich halb vom Stuhl. »Deb, wenn du das durchgemacht hättest, was ich als Kind durchgemacht habe –« »Du hast nichts durchgemacht, was ich nicht auch durchgemacht habe«, entgegnete ich heftig. »Red keinen Unsinn!« schrie sie. »Weißt du nicht, was der Scheißkerl, den wir Daddy genannt haben, mir angetan hat?« »Ich weiß es nicht«, sagte ich, »aber ich kann’s mir sehr wohl denken. Ich wette, dir ist erst dann was passiert, als ich geheiratet habe. An mich hat er sich rangemacht, als ich neun war. Ich hab mit neunzehn geheiratet. Zehn Jahre, Rhonda, zehn Jahre, die ich mit aller Kraft zu verdrängen versucht habe – ohne großen Erfolg. Aber deshalb mußte ich mich nicht selbst 122
auf den Abfall werfen. Und du mußtest das auch nicht. Es war deine Entscheidung.« »Ach, Scheiße.« Sie setzte sich wieder. »Er hat mir gesagt, er hat es auch mit dir gemacht, aber ich hab ihm nicht geglaubt. Er hat gesagt, dir hätte es nichts ausgemacht, also sollte es mir auch nichts ausmachen.« »Und ob es mir was ausgemacht hat«, sagte ich. »Und wie. Und das wußte er auch.« »Warum hast du ihn dann gelassen?« »Jetzt hör aber auf, Rhonda. Was hätte ich denn machen sollen? Ihn anzeigen? Ich war das älteste Kind. Da waren noch Jim und Andy und du und Mark und Skipper. Und Mom hatte damals noch nicht mal den Führerschein, von einer festen Anstellung ganz zu schweigen. Und ihre Eltern waren tot, und seine Eltern hätten uns unmöglich alle unterstützen können, selbst wenn sie gewollt hätten, was sie in einem solchen Fall wahrscheinlich nicht gewollt hätten. Hätte ich riskieren sollen, daß wir alle in einem Zelt hausen, um ihn vom Hals zu haben?« »So hab ich das nie gesehen«, murmelte Rhonda. »Aber hättest du nicht dafür sorgen können, daß er mich in Ruhe läßt?« »Ich hab’s versucht«, sagte ich. »Ich hab ihm gesagt, du hättest nicht die emotionale Reife wie ich. Ich hab ihm gesagt, du würdest das nicht verkraften. Er hat gesagt, er würde dich in Ruhe lassen.« »Tja, hat er aber nicht.« »Das tut mir leid«, sagte ich. »Wirklich, Rhonda. Und ich hab’s wirklich versucht. Wenn du es mir erzählt hättest, hätte ich eine Möglichkeit gefunden, dich zu uns zu holen. Harry hätte nichts dagegen gehabt.« »Mhm, das hab ich nicht gewußt.« »Ich hab dich tausendmal gefragt, ob irgendwas nicht in Ordnung ist. Ich hab dir gesagt, daß du dann bei uns leben könntest.« 123
»Ich wußte nicht, daß es dein Ernst war.« »Es war mein Ernst. Aber hör zu«, sagte ich weiter, »sprich bitte nicht darüber, wenn Harry dabei ist, ich hab’s ihm nämlich nie erzählt, und ich will nicht, daß er es weiß.« Sie zuckte die Achseln. »Von mir erfährt er kein Wort. Ich… wollte nur mal mit dir reden, mehr nicht. Wenn das nämlich nicht gewesen wäre, wäre ich einigermaßen in Ordnung.« »Rhonda«, sagte ich, »es gibt da unterschiedliche Schätzungen, aber höchstwahrscheinlich wird eine von vier Frauen in unserem Land Opfer irgendeines Sexualdelikts. Nicht alle so schlimm wie das, was uns angetan wurde, aber manche um einiges schlimmer. Und du kannst mir nicht erzählen, daß eine von vier Frauen die Entscheidungen trifft, wie du sie getroffen hast.« »Aber ich war schwach.« »Du hast dich dafür entschieden, schwach zu sein«, konterte ich. »Verdammt, Rhonda, du kannst besser Judo als ich, und ich bin Polizistin!« »Ich mußte lernen, mich selbst zu schützen! Und erzähl mir nicht, daß du nicht auch sehr darauf geachtet hast, dich selbst zu schützen.« Das ließ mich verstummen. Ich war einigermaßen sicher, daß Rhonda den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, daß ich ursprünglich aus diesem Grunde Cop geworden war. Denn als Cop konnte ich eine Waffe tragen, als Cop würde ich lernen, mich zu schützen. Ja, und auch meine Kinder, falls nötig. In der Stille hörte ich, wie der Wagen draußen wieder ansprang. Wer immer es gewesen war, er war nicht lange geblieben. Nicht, daß mich das in irgendeiner Weise interessierte. Ich blickte Rhonda erneut an und sah, daß ihr auch noch der letzte Hauch Farbe aus dem Gesicht wich. »Entschuldige, Deb«, sagte sie, »kann ich mich irgendwo hinlegen? Mir wird plötzlich so –« 124
»Ja, klar«, sagte ich. »Hal hat jetzt das vordere Zimmer. Oder Camerons Zimmer, das in der Mitte –« »Ich nehme einfach die Couch, wenn ich darf.« Ich mußte daran denken, wie Vicky sich mal auf die Couch gelegt hatte, bevor Barry geboren wurde; sie sagte: »Mom, du hast die bequemste Couch auf der Welt«, und Barry war jetzt fast fünf. »Ja, nimm die Couch«, sagte ich. Als Rhonda gegangen war, griff ich zu dem Regal, wo meine Schmerztabletten lagen, und zog dann die Hand zurück. Vom Gefühl her war es an der Zeit, wieder eine zu nehmen, von der Uhr her aber nicht. Und offenbar brauchte ich wirklich keine, denn jetzt, da Rhonda auf der Couch schlief, der Hund draußen war und die Katze sich schnurrend an mich schmiegte, schlief ich wieder ein, und als ich eine unbestimmte Zeit später aufwachte, hörte ich Mom sagen: »Ich hab den Hund hinten im Garten eingesperrt und dein Essen neben dich gestellt. Ich hab’s abgedeckt, damit keine Fliegen dran können, und es hält sich, bis du soweit bist. Rhonda und Cameron sind im Auto. Ich nehme ihn wieder mit; du kannst dich doch jetzt unmöglich um ihn kümmern. Debra, ich muß dich was fragen… Rhonda hat mir ganz fürchterliche Dinge über euren Dad erzählt. Das stimmt doch alles nicht, oder?« Ich setzte mich auf. Mit einer lauten, schneidenden Stimme, die ich kaum als meine eigene erkannte, sagte ich: »Vorbei ist vorbei.« Und eher prosaisch fügte ich hinzu: »Laß die Haustür offen. Ich komm schon klar. Pat ist ja im Garten.« Doch als sie gegangen war, leise, saß ich lange da und dachte nach – dachte nach und fühlte mich elend. Mir fiel ein, daß ich vor nicht mal vierundzwanzig Stunden, in ebendiesem Zimmer, Sandy Miller gefragt hatte: »Wem hast du es erzählt?«, als hätte sie es jemandem erzählen müssen. Aber wem hatte ich es erzählt? Meiner Schwester. Heute. 125
Sonst keiner einzigen Menschenseele, nie.
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Kapitel 6 Ein Adlerjunges saß in einem Nest aus Zweigen und Stöcken hoch oben auf einer unzugänglichen Klippe. Sein Flaum reichte noch nicht zum Fliegen, daher war es ganz und gar abhängig von der Nahrung, die ihm seine Eltern ins Nest brachten. Der Adlervater landete und brachte ihm eine Schlange – keine kleine Schlange, die ein Adlerjunges schlucken könnte, sondern eine ausgewachsene Schlange –, und das Junge hatte Angst. Es pickte zaghaft nach der Schlange, blickte dabei verstohlen den Adlervater an und sah, daß es die Schlange fressen mußte, weil es sonst keine andere Nahrung bekommen würde. Also versuchte es, die Schlange hinunterzuschlucken, mit dem Kopf voran, wie junge Adler es tun müssen, aber es mußte würgen, als die Schlange Gift spie. Dann merkte ich, daß es kein Adlerjunges war, sondern meine Schwester Rhonda, die aussah wie vierzehn und nackt in dem Adlernest hockte. »Schlucken«, befahl der Adler. »Schluck jetzt, sage ich.« Oprah Winfrey war da, und ich war da, auf den gegenüberliegenden Seiten des Nestes. Ich war die Frau im mittleren Alter, die ich jetzt bin, und Oprah war so kräftig und gepflegt, wie man sie kennt. Gemeinsam versuchten wir, die Schlange rauszuziehen, an der Rhonda würgte. Doch der Adlervater hackte wütend nach uns beiden, während die Adlermutter selbstgefällig da saß, den Kopf abgewandt, und so tat, als würde sie nichts sehen. »Kämpfe, Rhonda«, rief ich und packte erneut zu, um meiner Schwester die Schlange aus dem Mund zu ziehen, aber sie konnte vor lauter Angst nicht kämpfen. Aber ich konnte auch nicht kämpfen, da ich einen Fuß in Gips hatte, durch den ich so hilflos war wie mit vierzehn, und 127
der Adlervater war viel stärker als ich. Er näherte sich mir bedrohlich und brachte mir eine Schlange zum Essen, und ich war nicht mehr eine Frau im mittleren Alter, die Karate konnte, eine Polizistin, die eine Pistole und ein Schrotgewehr hatte und beides zu gebrauchen wußte, sondern eine verängstigte Zwölfjährige – war ich mit zwölf so klein, ich kann mich nicht erinnern, so klein gewesen zu sein –, und ich kauerte mich ins Nest neben meine Schwester, weil ich die Schlange nicht essen wollte und keine Fluchtmöglichkeit sah, und ich fing an zu schreien, aber konnte nur lautlos schreien, weil etwas Schreckliches passieren würde, wenn ich laut schreien würde, und da wußte ich, wenn ich diese Schlange essen würde und nicht weiter würgen würde, wie ich jetzt würgte, würde ich keine Schlangen mehr essen müssen und ich würde groß werden und aus dem einsamen Nest auf dem kahlen Felsen rauskommen, und dann wäre ich in Sicherheit, und ich versuchte, Rhonda zu sagen, wir kommen weg, wir kommen weg, aber Rhonda konnte mich nicht hören, und auf einmal schluckte Rhonda die Schlange runter und dann noch eine und noch eine, während der Adlervater vor Wut schrie und die Adlermutter sich gegen den Felsen kauerte. Und dann war ich älter, ich war einundzwanzig, und Rhonda war sechzehn, und sie war schlecht in der Schule, und ich fragte sie, ob sie bei mir und Harry leben wollte, aber sie konnte nicht antworten, weil ihr Mund voller Schlangen war, und ich sah die Schwänze, die sich vor ihrem Mund ringelten, als sie versuchte, zwei Schlangen, vier Schlangen, sieben Schlangen auf einmal zu schlucken, und Rhonda schluckte und schluckte, und immer mehr Schlangen eilten herbei, um sich essen zu lassen, bis die Welt voller Schlangen war, die Rhonda geschluckt hatte, und auf ihrer Haut bildeten sich große, lila Flecken von dem Gift, das die Schlangen in ihren Mund gespien hatten, und Oprah Winfrey und ich zogen uns von dem Schlangenangriff zurück, hechelten und keuchten von dem Gift, das die Schlangen auf uns 128
gespien hatten, die Haut an unseren Händen rauh und blutig, wo die Schlangen uns gebissen hatten, und Oprah sagte: »Wir haben dieses Kind verloren, aber wir werden andere retten.« »Aber meine Schwester«, rief ich, »müssen wir denn meine Schwester verlieren?« »Sie ist schon weg«, sagte Oprah. »Jetzt ist es Zeit, uns um die zu kümmern, die wir retten können.« »Ich gebe meine Schwester nicht auf«, rief ich und versuchte, durch die Wildnis, in der es von Schlangen wimmelte, zu Rhonda zurückzulaufen, aber jetzt waren Harry und meine Kinder und meine Enkelkinder und sogar Captain Millner und Sergeant Rafe Permut da und halfen Oprah, mich von den zischenden, speienden Schlangen zurückzuziehen. »Sie ist verloren«, sagten sie zu mir, »laß sie und rette die, die du noch retten kannst.« Als ich mich umblickte, sah ich, daß Rhonda praktisch unsichtbar war, begraben unter einer Masse von Schlangen, die sie gierig nacheinander aß, während der Adlervater und die Adlermutter herumflogen und vergeblich erst nach einer, dann nach einer anderen Schlange hackten. »Ich hab dir nur befohlen, eine zu essen«, rief der Adlervater. »Ich wollte nicht, daß du sie alle ißt.« Ich wollte nicht… ich wollte nicht… ich wollte nicht… Und unter der Masse Schlangen war Rhondas Haut lila, und die Haare fielen ihr aus. »Deb, Deb, was ist denn?« Ich setzte mich auf, bevor ich wußte, daß ich wach war, und sah Matilda Greenwood vor mir stehen, in Buckskin und mit Perlen, die Haare zu Zöpfen geflochten, die ihr über die Schultern fielen, im Abstand von etwa fünf Zentimeter um die Enden der Zöpfe ein Lederband gewickelt und in den rechten Zopf eine Adlerfeder gesteckt, wie eine indianische Häuptlingstochter. Ich legte die Hände vors Gesicht und versuchte, die Erinnerung an die Tausenden von sich 129
windenden Schlangen auszusperren, und Matilda sagte: »Schlecht geträumt?« Ich nickte, noch immer die Hände vor dem Gesicht, und spürte, daß ich in Schweiß gebadet war. »Ich wollte eben anklopfen, als ich dich schreien hörte, und die Haustür war nicht abgeschlossen, also bin ich einfach rein.« Sie kam näher an mein Bett und nahm meine Tabletten in die Hand, drehte das Fläschchen, um das Etikett zu lesen. »Kein Wunder, das Zeug hier ist ein Hammer.« »Es liegt nicht nur an dem Medikament«, sagte ich. »Möchtest du darüber reden?« »Erst muß ich ins Bad.« Ich weigere mich strikt, vor den Augen meines Mannes oder meiner Mutter auf allen vieren zu kriechen, und wenn ich ins Wohnzimmer gehe, benutze ich vor den Augen aller natürlich die Krücken, doch vor Matildas Augen auf allen vieren ins Bad zu kriechen war mir nicht im geringsten peinlich, und sie sagte bloß: »Klar, so kann man’s auch machen.« Nachdem ich die Spülung betätigt hatte, gelang es mir, mich vor dem langen Waschtisch hochzuhieven. Ich wusch mir das Gesicht und obendrein Arme und Achselhöhlen und fuhr mir sogar mehrmals mit einem Waschlappen übers Haar, spülte es mehrmals durch und war froh, daß ich letzte Woche dran gedacht hatte, zum Friseur zu gehen. Dann nahm ich einen Pappbecher und trank etliche Liter Wasser – na ja, höchstens einen, aber es kam mir wie etliche Liter vor –, und dann kroch ich zurück zum Bett. Die Laken waren klatschnaß. Ich mußte stärker geschwitzt haben, als mir bewußt gewesen war. »Sag mir, wo ich frische Bettwäsche finde«, bot Matilda an, die mein Problem bemerkte. »Oben im Schrank. Im Badezimmer vorne in der Ecke. Ich meine, in der vorderen Ecke im Badezimmer.« Unser Bad – Harrys und meins, nicht das der Kinder – hat einen sonderbaren Schnitt. Es ist ein breites Rechteck, nicht ganz quadratisch. Die 130
Tür vom Schlafzimmer ins Bad ist an der vorderen Ecke einer Längsseite. Entlang der Längsseite ist ein Waschtisch mit zwei Becken und sehr viel Stauraum, dann kommt, etwa ein Drittel so breit wie der gesamte Raum, eine Trennwand, hinter der sich die Toilette befindet, eingezwängt in eine Ecke mit einem kleinen Fenster in der Wand, und zwar in der Mitte zwischen Klo und der Tür von Harrys Schrank, der begehbar ist und quadratisch und eingelassen in die gegenüberliegende Längsseite. Dann kommt die Badewanne und daneben mein Schrank, ebenfalls begehbar und quadratisch und genauso groß wie Harrys Schrank, nur zur Schlafzimmertür hin zeigend statt zum Klo. Das Bad ist mit Teppichboden ausgelegt bis auf ein säuberliches halbes Oval aus einer Art Superlinoleum direkt neben der Wanne. An der kurzen Wand neben meinem Schrank ist ein Halter für Badetücher, und unter dem einzigen Fenster ist ein kleiner Halter für Handtücher. Über dem Waschtisch ist die halbe Wand gegenüber der Wanne vollständig verspiegelt, was zur Folge hatte, daß ich nach unserem Einzug sehr rasch gut dreizehn Kilo abnahm. Matilda ging die Bettwäsche holen. »Schaffst du das«, fragte sie, »oder soll ich dir helfen?« »Ich schaff das schon«, sagte ich, was vermutlich sehr töricht war. Es war sogar ungeheuer töricht, und ich überlegte es mir sofort wieder anders. Wer je versucht hat, die Laken eines Bettes zu wechseln, in dem er liegt, mit einem eingegipsten Fuß, der so weh tut, daß jeder Nerv Zeter und Mordio schreit, sobald man das Bein nur bewegt oder berührt, wird so etwas nie wieder versuchen. Nachdem sie das Bett mit mir drin frisch bezogen hatte, um einiges flinker, als es mir je gelungen ist, wenn eines meiner Kinder krank war, fragte Matilda: »Wo ist die Waschmaschine? Wenn du weiter so schwitzt, brauchst du die hier im Nu wieder zum Wechseln.« Ich sagte es ihr, und sie marschierte ganz selbstverständlich 131
los – eine Freundin, keine Mutter –, um die Laken in die Waschmaschine zu stecken, kam dann zurück und machte es sich in dem Sessel bequem, in dem Rhonda gesessen hatte. Erst da bemerkte ich ihr Outfit richtig. »Du siehst umwerfend aus«, sagte ich. »Dann hattest du heut abend wohl eine Sitzung.« »Nee«, erwiderte sie und reckte die Arme über den Kopf. »In Grand Prairie war heute ein Powwow von verschiedenen Stämmen. Ich fahr später wieder hin, aber ich wollte dir einen Besuch abstatten.« »Ach, Mann«, sagte ich enttäuscht, »dann hab ich den Powwow verpaßt.« In Grand Prairie – wobei es sich allerdings nicht um eine weite Prärie handelt (obwohl es auf einer riesigen Fläche Kalkstein liegt, die mit dem dicken, fruchtbaren Sumpfboden bedeckt ist, in den sich Kalkstein zersetzt, und von den Texanern Blackland Prairies genannt wird), sondern um einen verschlafenen Ort in der Nähe von Arlington, etwa auf halbem Wege zwischen Dallas und Fort Worth – gibt es einen Flohmarkt, der sich selbst rühmt, der größte der Welt zu sein. Das mag zutreffen oder nicht; zutreffend ist jedenfalls, daß ich dort zahlreiche interessante Funde gemacht habe – die meisten interessant aus persönlichen Gründen, einige aus offiziellen Gründen – und daß in dem großen Amphitheater immer mal wieder Rodeos, Versteigerungen und das Powwow verschiedener Stämme stattfinden, letzteres mehrmals im Jahr. Es ist wirklich ein bedeutendes Powwow, an dem Tänzer, Trommler (eine Gruppe Musiker, die nicht nur trommeln, sondern auch singen), Künstler, Kunsthandwerker und Händler aus ganz Nordamerika teilnehmen. Ich bin zwar keine nordamerikanische Ureinwohnerin, aber eine meiner beiden Töchter ist zu drei Vierteln Cherokee, die andere zur Hälfte Komantschin, und deshalb gehe ich regelmäßig zu dem Powwow, und als meine Töchter kleiner 132
waren, habe ich sie immer dorthin mitgenommen. Auf einem Powwow habe ich eine wunderbare Radierung von Archie Black Owl gekauft, für zweihundertfünfunddreißig Dollar – mein Mann würde mich wahrscheinlich umbringen, wenn er das wüßte –, und ich sehe mir immer an, was die Künstler, Kunsthandwerker und Händler anzubieten haben, und ich bestaune die wunderbaren Tanzvorführungen. Matilda, die Komantschin ist, tanzt sehr gut. Meine Tochter Becky, die Halbkomantschin ist, bewundert sie sehr und möchte tanzen lernen, falls sie mal lange genug nicht schwanger ist, was ich manchmal bezweifele. »Ich hab dir nicht gesagt, wann es stattfindet«, sagte Matilda. »Ich wußte ja, daß du nicht hinkannst, und ich wollte nicht, daß du dich ärgerst. Und was zum Teufel ist mit der Katze los? Sieht sie Gespenster?« Das Bettbeziehen hatte Rags verscheucht, und nach einem kleinen Happen, einem Schlückchen zu trinken und einem Besuch des Katzenklos war Rags wieder auf die Kommode zurückgekehrt und starrte jetzt eindringlich gar nichts an. »Falls sie Gespenster sieht, dann nur das Gespenst einer Tomatenpflanze«, erklärte ich, und Matilda lachte entzückt. »Schade, daß du es ihr nicht erklären kannst«, sagte sie, und ich pflichtete ihr leidenschaftlich bei. Wir kamen auf alles mögliche zu sprechen; sie fragte nicht wieder nach meinen Träumen, und ich erzählte auch nichts. Dann klingelte das Telefon, und ich beugte mich unbeholfen vor, um den Hörer abzunehmen. Es war Captain Millner. »Ich hab hin und her überlegt, ob ich Sie anrufen soll«, sagte er. »Dann hab ich gedacht, wenn Sie es zuerst aus den Nachrichten erfahren, rufen Sie mich an und machen mir die Hölle heiß, also rufe ich Sie besser an, aber ich sage Ihnen direkt, Sie werden sich da raushalten. Das Department ist an der Sache dran, und wir kommen ohne Sie klar.« »Na schön«, sagte ich kleinlaut. 133
»Ich traue Ihrem Tonfall nicht«, sagte er. »Bilden Sie sich selbst ein Urteil«, entgegnete ich. »Aber im Moment komme ich mit Müh und Not vom Bett ins Bad. Was ist passiert?« »Doreen Miller wird vermißt.« Er hatte meine volle Aufmerksamkeit. »Die Beerdigung war heute am frühen Morgen«, sagte er, »und nach der Beerdigung ist die Familie nach Hause gefahren und zu Hause geblieben. Ich schätze, alle haben steif herumgesessen, Sie wissen ja, wie das nach einer Beerdigung ist, keiner weiß so recht, was er machen soll. Nach einer Weile hat Doreen gefragt, ob sie zu einer Freundin gehen kann, weil der Besuch sie vielleicht aufmuntern würde. Ihr Vater war ins Büro gefahren, um nach der Post zu sehen, und ihre Mutter hat es ihr erlaubt, aber gesagt, sie soll in zwei Stunden zurück sein. Sie ist nicht wiedergekommen, und als ihr Vater nach Hause kam, hat er einen Mordskrach geschlagen und wollte wissen, wo Doreen ist, woraufhin die Mutter bei der Freundin angerufen hat.« »Und?« sagte ich. »Und Doreen war gar nicht dagewesen. Außerdem war sie gar nicht erwartet worden. Daraufhin hat Mrs. Miller die anderen Freundinnen von Doreen angerufen, und keine von ihnen hatte sie gesehen.« »Hat sie Kleidung mitgenommen?« »Ihre Mutter hat im Schrank nachgesehen und sagt nein. Hören Sie, Deb, wir haben nicht den geringsten Grund, von einer Entführung auszugehen. Sie ist freiwillig von zu Hause weggelaufen, obwohl sie keine Sachen mitgenommen hat. Ihre Mutter ist da ganz sicher – sie sagt, Doreen hätte von ihrem Taschengeld an die fünfzig Dollar gespart, um sich Sachen zum Anziehen zu kaufen, mit denen ihr Daddy nicht einverstanden sei, und das Geld ist weg, ebenso ihre Kosmetika und einige von ihren Lieblings-CDs. Das bedeutet, sie ist ausgerissen, und 134
sie hat nur soviel mitgenommen, wie sie glaubte, an ihrer Mutter vorbeischmuggeln zu können. Wir finden sie.« »Ganz bestimmt«, sagte ich. »Gute Besserung«, sagte er. »Ich melde mich später wieder.« »Alles klar.« Ich legte auf und lehnte mich zurück. »Probleme?« fragte Matilda. »Kann man wohl sagen.« Und ehe ich mich’s versah, erzählte ich ihr alles, was Sandy mir erzählt hatte. »Ich weiß nicht, warum sie es jetzt getan hat, direkt nachdem sie es mir erzählt hat«, schloß ich, »aber ich bin sicher, daß sie es war.« »Wirklich?« sagte Matilda. »Ich bin mir da nicht so sicher. Wie wär’s, wenn du sie anrufst und fragst?« »Ich hab ihre Telefonnummer nicht.« »Du hast gesagt, Hal hat sie.« »Aber Hal ist nicht da.« »Stimmt«, sagte Matilda, »aber ich wette, er hat Sandy Millers Telefonnummer nicht mitgenommen, als er mit seiner Freundin in den Zoo oder wohin auch immer gegangen ist.« Daran hatte ich nicht gedacht, und ich sagte Matilda, wo Hals Zimmer war. Außer daß ich wußte, wo das Zimmer lag, hatte ich nicht die geringste Ahnung, wo die Nummer sein könnte. Sie war nach knapp einer Minute wieder da, eine Rekordzeit für jemanden, der irgend etwas in Hals Zimmer suchte. »Auf der Kommode«, verkündete sie mit recht selbstzufriedener Miene und gab mir die Nummer. Ich weiß nicht, ob ich damit rechnete, daß Sandy dranging. Sie tat es nicht, aber ihr Anrufbeantworter tat es, mit koketter Stimme, aber einem einigermaßen sachlichen Text: »Hier ist Sandy, und ich kann im Moment nicht ans Telefon gehen. Wer seinen Namen und seine Telefonnummer nicht hinterlassen will, sollte es später noch mal versuchen. Bis dann.« »Sandy, hier spricht Deb Ralston. Es ist Samstag gegen« – ich sah auf die Uhr – »vier Uhr nachmittags. Bitte ruf mich 135
zurück, sobald du kannst. Es ist dringend.« Ich nannte meine Telefonnummer für den Fall, daß sie die vergessen hatte, obwohl sie sich nicht geändert hatte seit der Zeit, als sie Becky zwei- oder dreimal am Tag angerufen hatte, und legte wieder auf. »Sie ist nicht da, aber das muß nichts heißen«, sagte ich ernst zu Matilda. »Ich meine, wenn sie da wäre, könnte es sein, daß sie allein ist oder Doreen bei sich hat. Und da sie nicht da ist, zumindest nicht ans Telefon geht, kann es trotzdem sein, daß sie allein ist oder Doreen bei sich hat.« »Stimmt«, sagte Matilda, reckte sich wie eine Katze, musterte kritisch die Perlstickerei auf der Spitze eines Mokassins und sah dann auf ihre Uhr. »Ich muß zurück. Ich würde dir anbieten, daß ich die Geister wegen Doreen befrage«, fügte sie hinzu, »aber ich wette, du würdest das nicht wollen.« Das ist einer der Zankäpfel zwischen Matilda und mir. Matilda behauptet, sie ist ein Medium oder ein ChannellingMedium oder so was in der Art. Ich glaube nicht an Medien, Channelling-Medien und dergleichen. Matilda hat mich eingeladen, bei einer Sitzung zuzuschauen, die sie nicht Seance nennt. Ich möchte nicht bei einer Sitzung zuschauen, ob sie nun Seance heißt oder nicht. Ich möchte nicht sehen, wie eine Freundin irgendwas macht, das ich für idiotisch halte. »Wenigstens stimmen bei dir die Namen«, sagte ich. Matilda mußte schmunzeln; sie und ich hatten kürzlich eine Diskussion über sogenannte Medien, die angeblich Kontakt zu sogenannten Indianerführern hatten, die aber ihren Indianerführern Namen gegeben hatten, die kein amerikanischer Ureinwohnerstamm, von dem Matilda oder ich wußten, je benutzt hätte. »Okay«, sagte sie, »aber wenn ich was höre, sage ich es dir trotzdem.« »Ich wäre dir für jeden Tip dankbar«, bestätigte ich. »Egal aus welcher Quelle?« 136
»Egal aus welcher Quelle.« Sie ging und ließ die Tür unverschlossen. Ich hörte, wie sie draußen kurz mit Pat sprach, und ich fragte mich plötzlich, warum er noch immer nicht heulte, wo er doch nicht in den Garten hinterm Haus konnte, wo sein Fressen und sein Wasser waren. »Matilda«, rief ich in der Hoffnung, daß sie mich hörte. »Ja?« »Öffnest du bitte das Tor, damit Pat nach hinten in den Garten kann?« »Das Tor ist auf«, rief sie. »Ich bin weg.« Das war etwas mysteriös – wer hatte das Tor geöffnet und warum? Natürlich konnte es sein, daß Harry es heute morgen nicht geschlossen hatte, da er Pat ja zu mir ins Haus gelassen hatte. Nein, das konnte nicht sein, weil er die Tore bestimmt heute morgen geschlossen hatte für den Fall, daß der Postbote früher kam als sonst. Egal. Nicht mein Problem. Und inzwischen war es wirklich Zeit für eine weitere Schmerztablette. Ich nahm sie und inspizierte dann den abgedeckten Teller, den meine Mutter mir hingestellt hatte. Roastbeefsandwich mit Senf und Gürkchen. Selbst eingelegte Gürkchen. Sie mußte sie mitgebracht haben; ich hab in den letzten zwei Jahren keine mehr gemacht, weil ich alle Hände voll mit Cameron zu tun habe. Kartoffelsalat, ebenfalls selbstgemacht. Auch den mußte sie mitgebracht haben. Ich war überrascht, aber auch heilfroh, daß die Katze das Roastbeef nicht entdeckt hatte. Ich aß schnell, bevor die Schmerztabletten Zeit hatten zu wirken und mit den Schmerzen auch meinen Appetit betäubten. Ich war fertig und wollte gerade eindösen, als das Telefon klingelte. »Hier ist Sandy Miller.« Sie klang kühl und gefaßt. »Weißt du, wo Doreen ist?« fragte ich ohne Umschweife. »Doreen? Ich nehme an, zu Hause, warum?« 137
Sie war ein kleines bißchen zu kühl und gefaßt. »Ich denke, du weißt, warum«, erwiderte ich. »Wovon reden Sie?« Sie war jetzt ein wenig schärfer, doch in ihrer Stimme lag keinerlei Angst, keinerlei Sorge. Ich entschied mich, das Spielchen mitzuspielen. »Mein Chef hat mich angerufen«, sagte ich. »Doreen ist heute morgen zu einer Freundin gegangen. Sie ist nicht dort angekommen. Sie wurde dort auch gar nicht erwartet. Und sie ist nicht wieder nach Hause gekommen. Sandy, wenn du weißt, wo sie ist –« »Wenn ich wüßte, wo sie ist«, sagte Sandy, noch immer kühl, »würde ich es Ihnen bestimmt nicht sagen, weil Sie es dann Ihren Vorgesetzten sagen würden, und die würden sie holen und nach Hause zurückbringen. Die kleine Doreen war also so clever und ist abgehauen… Tja, ich bin stolz auf sie. Aber bei mir ist sie nicht.« »Sandy«, sagte ich, ein wenig beschämt wegen der Verzweiflung, die ich in meiner Stimme hörte, »auch wenn ich meinem Boß Captain Millner nichts von dir sage – und das werde ich nicht, weil er mir eingeschärft hat, mich aus der Sache rauszuhalten –, irgend jemand wird es, und irgend jemand wird mit einem Durchsuchungsbefehl bei dir auftauchen.« »Sie ist nicht bei mir«, sagte Sandy wieder. »Von mir aus können sie bei mir alles auf den Kopf stellen. Sie werden sie nicht finden, auch nicht ihre Sachen oder ihre Handtasche, nicht mal ihre Fingerabdrücke, nicht in meinem Apartment und nicht in meinem Wagen. Sie ist nicht bei mir. Ich habe sie seit Monaten nicht gesehen.« »Aber ich glaube, du weißt, wo sie ist.« »Wenn ja«, sagte Sandy wieder, »würde ich es Ihnen nicht sagen. Aber eins sage ich Ihnen. Machen Sie sich ihretwegen keine Sorgen.« Sie legte auf. Es würde mir leichter fallen, mir wegen Doreen keine Sorgen zu machen, dachte ich, als ich mich wieder hinlegte, 138
wenn ich eine vage Idee hätte, wo sie ist. Doch mittlerweile wirkten die Schmerztabletten, und meine Gedanken wurden wieder ein wenig diffus. Ich hatte keine Vorstellung, wie spät es war. Harry war offenbar im Wohnzimmer, weil CNN lief und Hal nie die Nachrichten guckt. Ich fragte mich, warum er nicht bei mir gewesen war, um mit mir zu sprechen, doch dann begriff ich, daß er natürlich dachte, ich würde noch schlafen. »Harry«, rief ich. Er hörte mich nicht, und ich hatte das Bett ohnehin satt. Aber ich würde nicht ins Wohnzimmer kriechen. Ich stand auf, griff nach den Krücken, mit denen ich umzugehen lernen mußte, wenn ich irgendwann im nächsten Monat wieder zur Arbeit wollte, und machte mich äußerst unbeholfen und wackelig auf den Weg ins Wohnzimmer. »Harry?« sagte ich. Er wandte den Kopf und blickte mich an. Er sah müde aus, bedrückt. »Alles in Ordnung?« fragte ich. »Das sollte ich dich lieber fragen.« »Daß ich mich elend fühle, ist doch wohl klar. Aber du hast keinen Grund –« »Mir geht’s gut.« Er blickte noch mal kurz auf den Bildschirm und schaltete dann den Apparat mit der Fernbedienung aus. »Hal hat vor einer Weile angerufen.« »Ich muß tief und fest geschlafen haben. Ich hab das Telefon nicht gehört.« »Du warst völlig weggetreten. Ich war bei dir im Zimmer und hab deine Dreimasterblume aufgehängt, und du hast dich nicht mal gerührt. Jedenfalls, Hal und Lori essen beim Bischof zu Hause zu Abend. Sie kommen später. Willst du was essen?« »Nein«, sagte ich ehrlich, »aber ich muß wohl, ob ich will oder nicht.« »Ich werd mal sehen, was ich zaubern kann.« Er ging in Richtung Küche, und ich starrte ihm nach. Wegen 139
irgend etwas war er aufgebracht, wegen irgendwas bedrückt, und es war unübersehbar, daß er nicht vorhatte, es mir zu sagen. Aber was es auch war, es ließ ihn älter aussehen. Das Grau an seinen Schläfen, das mir normalerweise nicht auffiel, trat deutlich hervor, und sein Gesicht war abgespannt und irgendwie hager, obwohl er seit dem Morgen unmöglich abgenommen haben konnte. Nein, natürlich ging ich nicht zum Gottesdienst. Obwohl ich inzwischen bei jeder sich bietenden Gelegenheit gehe, bin ich immer noch kein Mitglied. Niemand – nicht mal Hal – liegt mir deshalb in den Ohren. Ich denke, Hal würde gern, aber irgendwer muß ihm davon abgeraten haben. Dennoch kamen mich am Sonntag alle drei Mitglieder der Bischofschaft besuchen. Zur Erklärung sollte ich sagen, daß die Mormonenkirche keinen Pastor hat; ein Mitglied der Gemeinde – genannt »Zweig« – wird für solange zum Bischof gewählt, wie die Gemeinde es möchte (soviel ich weiß, dauert die normale Amtszeit fünf Jahre). Er predigt nicht jeden Sonntag, und er kümmert sich auch nicht die ganze Zeit um kirchliche Belange. Er behält seinen normalen Beruf, und zwei Berater, die beide ebenfalls weiter ihren normalen Beruf ausüben, stehen ihm zur Seite. Am Sonntagmorgen werden aus der Gemeinde für gewöhnlich zwei oder drei Redner gewählt (rechtzeitig, so daß sie Zeit haben, sich zu überlegen, was sie sagen wollen). Jeder Familie in der Kirche sind sogenannte Heimlehrer – zwei Männer – zugewiesen, und für weibliche Kirchenmitglieder gibt es außerdem sogenannte Besuchslehrerinnen – zwei Frauen. Obwohl ich kein Mitglied bin, kommen trotzdem Besuchslehrerinnen zu mir, und eigentlich finde ich es ganz nett, daß jemand mich besuchen kommt, wenn es mir dreckig geht, und einfach nur helfen will. Soviel ich weiß, ist es im Grunde so, daß alle Frauen in der Kirche reihum gehen und einander das gleiche lehren. Aber der 140
eigentliche Zweck der Heimlehrer und Besuchslehrerinnen besteht nicht in der Unterweisung; sie sollen sich untereinander die seelsorgerliche Arbeit teilen, die in einer normalen Kirche von einer oder zwei Personen geleistet wird. Wenn jemand leicht krank ist, kommen die Hauslehrer und Besuchslehrerinnen zu Besuch. Wenn eine Frau so krank ist, daß sie nicht kochen kann, und keine heranwachsende Tochter im Haus hat, die das Kochen übernehmen könnte, verständigen die Besuchslehrerinnen die Frauenhilfsvereinigung, wie sie genannt wird, und die sorgt dafür, daß täglich das Abendessen in die Familie gebracht wird, bis die Frau wieder auf den Beinen ist. Harry und ich haben das gemerkt, als knapp fünfzehn Minuten nachdem er am Samstag abend Pizza bestellt hatte, jemand bei uns auftauchte und ein köstliches Hühnerfrikassee brachte, mit vielen zarten Fleischstücken und dazu Nudeln und geriebene Möhren. Harry aß die Pizza trotzdem, aber ich machte mich über das Frikassee her. Sie versprachen, uns mindestens noch die ganze nächste Woche das Abendessen zu bringen, und falls nötig noch länger, und ich mußte versprechen anzurufen, falls ich sonst noch Hilfe brauchte. Ich dachte, das sei der einzige Besuch, den wir bekommen würden, da unsere Heimlehrer – auf Hals Bitte hin – vor der Operation dagewesen waren, um mich zu segnen. Doch offenbar bekommt jemand, der operiert worden ist, von der ganzen Bischofschaft Besuch. Und da war sie, die Bischofschaft, um drei Uhr am Sonntag nachmittag, als Harry in einer Khakihose mit Farbflecken und im T-Shirt im Wohnzimmer saß und ich in gelben Polyestershorts und in meinem alten Palast-des-HimmlischenFriedens-T-Shirt im Bett lag. Es hätte noch schlimmer sein können. Ich hätte in Unterhose und BH im Bett liegen können. Natürlich hätten sie in diesem Fall, bis ich mich angezogen hätte, im Wohnzimmer bei Harry 141
gewartet, der alles andere als erfreut über die Invasion war, das aber lieber für sich behielt, um nicht am Ende zum Kochen verdammt zu werden. Sie blieben nicht lange. Worüber ich einigermaßen froh war, weil ich mich wie ein ausgewrungener Spüllappen fühlte und es mir peinlich war, daß der Bischof – der zufällig ein Kollege von mir ist – und seine zwei Berater, einer von ihnen ein Auslieferer der Snacksfirma Frito-Lay, der andere ein Wirtschaftsprüfer, mich im Bett überraschten, obwohl die Tatsache, daß ich im Bett lag, ja gerade der Grund ihres Kommens war. Im Bett zu liegen, während andere Leute stehen, wirkt einfach immer irgendwie nachteilig. »Was hat denn die Katze?« fragte der Bischof, als er sich verabschieden wollte. Rags saß jetzt auf meiner Kommode und starrte gebannt auf die Dreimasterblume. »Sie rätselt darüber, wie sich eine Tomatenpflanze auf der Kommode in eine Dreimasterblume an der Decke verwandeln konnte«, sagte ich. »Ich glaube, das arme Tier hat einen Nervenzusammenbruch. Ich hab gedacht, die Dreimasterblume würde helfen, aber wie es aussieht, macht sie alles nur noch schlimmer.« »Sie kriegt sich schon wieder ein. So, rufen Sie uns an, wenn Sie irgend etwas brauchen, und das meine ich ernst.« »Das werde ich«, sagte ich. »Aber Harry ist ziemlich tüchtig.« Harry lächelte schwach und schüttelte allen drei Männern die Hand, feierlich, schön nacheinander. Sobald sie gegangen waren, setzte er sich wieder vor den Fernseher und guckte, was er gerade guckte, und ich versuchte, in Ruhe Ayla und der Clan des Bären zu lesen und die Disharmonien zu überhören, die aus der Garage drangen, wo Hal und Lori so laut übten, daß sie nicht mal mitbekommen hatten, daß die Bischofschaft zu Besuch gewesen war. 142
Das Telefon klingelte, als ich die letzten Bissen des Hühnerfrikassees mit Nudeln aß und die vage Hoffnung hegte, daß es morgen abend nicht wieder was mit Huhn geben würde. Ich ließ Harry rangehen, auch, wenn es nichts nützte. Er rief nämlich: »Für dich. Es ist Jim.« Und dann schloß er die Tür, damit er das Fernsehen besser hören konnte, weil Gespräche zwischen Jim und mir aus irgendeinem Grund manchmal ein bißchen lautstark werden. Jim ist mein Bruder. Er ist zwei Jahre jünger als ich, und er ist Anwalt in Houston. Anders als meine anderen Brüder, die die meiste Zeit ganz nett sind, ist er die meiste Zeit ein Trottel. Heute abend ganz bestimmt. »Was hast du gemacht, das Mom so aus der Fassung gebracht hat?« fragte er, sobald ich mich gemeldet hatte. »Ich hab gar nichts gemacht, was Mom aus der Fassung hätte bringen können«, entgegnete ich, »und ich habe keinen Schimmer, wovon du redest.« »Ich hab sie angerufen und sie hat nur geheult, sie hat gesagt, du und Rhonda hättet ihr alle möglichen schrecklichen Sachen über Dad erzählt.« »Ich hab ihr gar nichts über Dad erzählt«, sagte ich. »Sie hat mich gefragt, aber ich hab ihr nichts erzählt.« »Na, sie denkt jedenfalls, du und Rhonda behauptet, Dad hätte euch mißbraucht.« »Das hat Rhonda gesagt. Ich nicht. Wahrscheinlich hätte ich es sagen sollen, es stimmt nämlich.« »Schwachsinn!« brüllte er. »So was hätte Dad nie im Leben getan. Auf welchen fahrenden Zug springst du jetzt wieder auf? Ist das die neuste Mode? Oprah Winfrey sagt, sie ist mißbraucht worden, also sagt Roseanne Barr –« »Roseanne Arnold«, unterbrach ich ihn. »Roseanne Barr sagt, sie ist mißbraucht worden, also sagst du –« 143
»Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob Oprah Winfrey und Roseanne Arnold mißbraucht wurden«, sagte ich, »weil ich die Fälle nicht bearbeitet habe. Aber ich habe keinen Grund zu bezweifeln, daß sie die Wahrheit sagen. Und ich kann weiß Gott mit Sicherheit sagen, daß ich mißbraucht worden bin.« »Seitdem du auf den fahrenden Feministinnenzug aufgesprungen bist –« »Was soll das für ein Zug sein?« fragte ich. »Ich weiß nicht mal genau, was eine Feministin ist.« »Wenn ihr dämlichen Weiber einfach zu Hause bleiben würdet, wo ihr hingehört, und euch um eure Kinder kümmern würdet –« »Ich kümmere mich um meine Kinder, zumindest um die, die noch in dem Alter sind, daß sie mich brauchen. Mensch, gib mir nicht die Schuld daran, daß die wirtschaftliche Lage so mies ist, daß man nur mit zwei Einkommen –« »Meine Familie braucht keine zwei Einkommen –« »Na, prima. Kriminelle rauszuhauen zahlt sich aus, was?« sagte ich gehässig. »Ihr verdammten Cops seid doch alle gleich –« »Kann es sein, daß wir ziemlich weit vom ursprünglichen Thema abgekommen sind?« fragte ich. »Du hast angerufen, um mir vorzuwerfen, ich hätte Mom aus der Fassung gebracht. Nun, wenn ich sie aus der Fassung gebracht habe, dann war es vielleicht auch höchste Zeit, weil sie damals möglicherweise nicht gemerkt hat, was da gelaufen ist, aber falls sie es nicht gemerkt hat, dann deshalb, weil sie es nicht merken wollte. Wenn sie auch nur die geringsten Anstalten gemacht hätte, Rhonda und mich zu schützen –« »Du denkst auch immer nur an dich, deine Familie interessiert dich wohl gar nicht, was?« schrie Jim. »Welche Familie?« schrie ich zurück. »Ich habe einen Mann und vier Kinder. Das ist meine Familie.« »Ich rede von deiner Ursprungsfamilie. Die sollte auch 144
zählen!« »Stimmt, wenn sie für dich soviel zählt, wieso bist du dann nach Houston gezogen?« »Weil ich hier meinen Job –« »Stimmt«, sagte ich etwas leiser. »Weil du da deinen Job hast. Du denkst doch auch nur an dich, an dich und Marilyn. Ich hoffe wenigstens, Marilyn hat bei der Entscheidung, was passiert, ein Wörtchen mitzureden. Und stell dir vor, Harry und ich entscheiden gemeinsam, wie unsere Familie funktionieren soll. Meine Familie, das sind mein Mann und meine Kinder und meine Enkelkinder. Mein Job geht dich gar nichts an. Und was die Vergangenheit betrifft, ich sage dir, daß Dad mich bis etwa sechs Wochen vor meiner Heirat mit Harry mißbraucht hat, und danach hat er sich an Rhonda rangemacht. Ich bin halbwegs drüber weg, jedenfalls so weit, daß ich normal leben kann. Rhonda nicht. Und wenn du dich informieren würdest, würdest du feststellen, daß etwa einhundert Prozent der Frauen in Rhondas Gewerbe in ihrer Kindheit von irgendwem in der eigenen Familie mißbraucht wurden.« »Sie war doch bloß zu faul, einen richtigen Beruf zu lernen – « »Klar, jede Frau, die sich für fünf Dollar an einen Mann verkauft und jedesmal riskiert, ermordet zu werden oder sich AIDS zu holen, ist faul. Ist dir jemals der Gedanke gekommen, daß sie das vielleicht aus Verzweiflung tut? Vielleicht ist sie zu ungebildet, um was anderes zu machen. Vielleicht hält sie sich für den letzten Dreck, weil jeder Mann, den sie in ihrem Leben gekannt hat, einschließlich ihr Vater und ihre Brüder, sie wie ein Stück Fleisch behandeln, so daß sie denkt, sie wäre zu nichts anderem gut. Wenn ihr Dreckskerle, die ihr zu Prostituierten geht –« »Zähl mich nicht dazu –« »Red doch keinen Scheiß!« brüllte ich, weil ich ein wenig die Beherrschung verlor. »Erzähl mir nicht, du gehörst nicht 145
dazu. Ich war mal mit dir und Marilyn und den Kindern, euren und unseren, in Astroworld, und da bist du zufällig einem Freund von dir begegnet, und ihr habt euch unterhalten, und dann bist du mit ihm zu diesem richtig netten ›Haus‹ gegangen, das er kannte, und du hast Marilyn mit den beiden Kindern dagelassen, und noch dazu, wo sie im achten Monat schwanger war.« Ich hielt inne, um Luft zu schnappen, die Erinnerung lebhaft vor mir: wie die Kinder fragten, wer denn da wohnt, und wie die Männer lachten und sagten: »Bloß eine Lady.« Die Kinder, wie Kinder nun mal so sind, hatten gesagt, sie wollten mitkommen, und Marilyn hatte wütend geantwortet: »Die Lady ist nicht nett.« Mein Bruder hatte endlich seine Stimme wiedergefunden. »Ich hab Marilyn erklärt, daß ich ihn nur begleiten würde, daß ich nicht vorhatte –« »Und das glaube ich dir von ganzem Herzen, zumal du gegrinst hast wie ein Honigkuchenpferd, als du zurückkamst. Ich an ihrer Stelle hätte dich erschossen. Ich frage mich allmählich, wieso du Dad so leidenschaftlich verteidigst? Vielleicht sollte ich mal mit deinen Töchtern reden.« »Du Miststück, wenn du auch nur in die Nähe meiner Kinder kommst, kriegst du ’ne Schrotladung ab!« Er knallte den Hörer auf, und ich beschloß, meine Nichten anzurufen, sobald ich wußte, daß er außerhalb der Stadt einen Gerichtstermin hatte und nicht zu Hause war, um sie vom Telefon fernzuhalten. Nie zuvor hatte ich ihn verdächtigt, sie zu mißbrauchen; der Gedanke war mir bis dahin noch nie gekommen. Aber seine Reaktion auf Moms Anruf, sein Verhalten in unserem Gespräch, das hatte mich wirklich ins Grübeln gebracht. Ich wollte so etwas nicht glauben… aber meine Mutter wollte auch nicht glauben, daß mein Vater so etwas getan hatte. Wenn ich meine Nichten tatsächlich fragte, ob da irgendwas 146
im Gange war, würde ich leider Gottes die gleiche Antwort bekommen. Meine Nichten würden es abstreiten, genau wie ich es abgestritten hätte, als ich in ihrem Alter war.
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Kapitel 7 »Von wegen, du gehst nicht zur Arbeit!« rief Harry. Ich war erstaunt, daß er so sauer war: Ich hatte gedacht, ich verhielte mich völlig vernünftig. Doch inzwischen war ich selbst sauer, schließlich hatte ich erklärt – zweimal –, worum es mir ging. »Ich gehe lieber arbeiten, als hier rumzuhocken und Däumchen zu drehen«, entgegnete ich, »und wenn du mich nicht bringen willst, rufe ich im Department an und lasse mich abholen. Ich will ja nicht den ganzen Tag arbeiten. Ich weiß, daß ich das noch nicht kann. Aber du fährst doch in die Bibliothek, sobald sie aufmacht, um an deinem Referat zu arbeiten, und du kannst mich doch am Department absetzen…« Den Rest der Diskussion spare ich mir. Das Ende des Liedes war jedenfalls, daß Harry in einer Ladezone vor dem Polizeirevier parkte, um mir und meinen Krücken die Treppe hochzuhelfen, bevor er, erheblich angesäuert, zum Parkplatz der Bibliothek weiterfuhr. Captain Millner war auch nicht besser. Er erspähte mich, sobald ich aus dem Aufzug kam, und fragte mit süffisantem Unterton: »Und was, bitte schön, haben Sie vor?« »Ich arbeite hier«, sagte ich. »Stimmt auffallend«, sagte er. »Aber gehen Sie nach Hause, wenn Ihnen danach ist, was bald der Fall sein dürfte, so wie Sie aussehen.« Natürlich war ich ein wenig blaß und verschwitzt. Kein Wunder, schließlich hatte ich soeben auf diesen blöden Krücken den Bürgersteig, die Treppe und eine weitläufige Lobby bewältigen müssen, bevor ich überhaupt den Aufzug erreicht hatte. Aber mit ein bißchen Logik mußte jeder einsehen, daß es mich jetzt mehr Mühe kosten würde, zu gehen als zu bleiben. Das sagte ich, und Captain Millner schnaubte. »Sie sind das 148
dickköpfigste Weibsbild, das ich kenne«, sagte er. »Also schön, machen Sie, was Sie wollen, aber sagen Sie nicht, ich hätte verlangt, daß Sie bleiben.« »Das würde mir nicht im Traum einfallen. Übrigens, gibt es was Neues über Doreen Miller?« »Sie wird noch immer vermißt. Deb, halten Sie sich da raus, ja? Ich weiß, wie nahe der Fall Ihnen geht. Deshalb bitte ich Sie, sich da rauszuhalten. Sie ist ausgerissen, und ich bin hundertprozentig sicher, daß es ihr gutgeht. Also, bewegen Sie Ihren Hintern jetzt nach Hause?« »Nein, das tue ich nicht«, antwortete ich. »Ich kann es ohnehin nicht. Harry hat mich hergebracht, und er ist schon wieder weg.« Captain Millner zuckte die Achseln und ging Richtung Herrentoilette, und ich machte mich auf den Weg in mein Büro. Rafe Permut kennt mich nicht so gut, wie Captain Millner mich kennt; deshalb war er nicht ganz so grob. Er hob allerdings beide Augenbrauen und fragte: »Sind Sie sicher, daß Sie wissen, was Sie tun?« »Absolut«, sagte ich. »Schön, aber wenn Sie merken, daß Sie vom Stengel fallen, suchen Sie sich ein Plätzchen, wo Sie sich hinlegen können.« »Ich fall schon nicht vom Stengel«, sagte ich. »Wenn ich nur besser mit diesen verfluchten Krücken klarkäme…« Dann entdeckte ich etwas. »Wären Sie wohl so nett – den Stufenhocker da zu mir rüberzuschieben?« Der Stufenhocker – der normalerweise für die Kleineren unter uns gedacht ist, damit auch sie an Sachen rankommen, die irgendwo weiter oben verstaut sind – hat Rollen, so daß er sich in jede beliebige Richtung rollen läßt. Und der oberste Tritt des Stufenhockers ist ungefähr genauso hoch wie die Unterkante meines Knies. Mein Gedanke war: Wenn ich das Knie beugte und es auf den Hocker auflegte, könnte ich mein funktionsuntüchtiges Bein herumrollen und mich so 149
fortbewegen, statt an Krücken durch die Gegend zu wackeln. Es klappte ausnehmend gut, und ehrlich gesagt, es war einfach herrlich, in meiner normalen Kleidung – na ja, nicht ganz normal, ich hatte nämlich feststellen müssen, daß ich die Hose nicht über den Gips bekam, und trug folglich einen Faltenrock, den ich normalerweise nur zur Kirche anziehe – aufrecht zu sitzen, statt in Shorts und T-Shirt zu liegen, obwohl ich gezwungen war, meine Pistole in meiner Handtasche zu tragen. Ein Schulterhalfter verträgt sich nun mal nicht mit Krücken. Ich hatte das Gefühl, schon länger als drei Tage nicht mehr im Büro gewesen zu sein; drei Tage inklusive Narkose und Bettlägerigkeit mit Schmerztabletten und Auseinandersetzungen mit Mom und Rhonda sind wesentlich länger als drei Tage, in denen ich Dinge erledige oder irgendwas mit meiner Familie unternehme. Ich ging in meinem Eingangskorb weiter den Stapel durch, der in der Abteilung für Sexualdelikte nicht kleiner ist als im Sonderdezernat (einmal heißt es »Abteilung« und dann »Dezernat«, wunderte ich mich, fragte aber nicht warum) und strebte anschließend Richtung Toilette. Ich glitt im Flur an Captain Millner vorbei, der auf dem Weg zum Gericht war, und er rief mir nach: »He, Deb, hat Ihnen schon mal jemand gesagt, daß Sie aussehen wie Captain Ahab auf einem Rollschuh?« Natürlich überhörte ich ihn. Wer hätte das nicht? Abgesehen davon merkte ich bereits, daß mein Knie wund wurde. Die geriffelte Trittfläche des Stufenhockers war für beschuhte Füße gedacht, nicht für nackte Knie. Auf der Toilette faltete ich einige Papierhandtücher zusammen und legte sie als Unterlage für mein Knie auf den Hocker. Gegen Mittag stand Rafe auf und trat an meinen Schreibtisch, wo ich gerade sämtliche Berichte der Sekundenkleber-Vergewaltigungen las und nach einem Muster suchte. »Deb, ich weiß noch immer nicht recht, ob Sie überhaupt hier sein sollten«, sagte er. »Meinen Sie wirklich, Sie 150
können schon wieder arbeiten? Falls nicht, sagen Sie es mir jetzt, dann treibe ich irgendwo eine Kollegin auf.« »Wen denn?« fragte ich. »Margie Herrera, aus der Abteilung für Jugendkriminalität. Ich überlege schon, ob ich sie zu uns rüberhole, sobald bei uns wieder eine Stelle frei wird; es wäre also ganz sinnvoll, wenn sie einspringt, solange Sie noch nicht ganz auf dem Posten sind –« Wieso in Gottes Namen hatten er und Captain Millner sich das nicht früher überlegen können? Dann hätte ich gar nicht erst hier antreten müssen. Aber ich kannte den Grund, denn ich weiß, wie groß die Abteilung für Jugendkriminalität ist und was für eine Unmenge an Fällen sie dort bearbeiten müssen. »Das würde aber ein großes Loch in die Abteilung reißen, wo die so knapp an Personal sind.« Er zuckte die Achseln. »Das sind wir alle. Wie sieht’s aus?« »Ich kann Ihre Sorge verstehen«, sagte ich, »und wenn ich meine, daß ich nicht arbeiten kann, laß ich es Sie wissen. Aber im Augenblick –« »In Ordnung«, sagte er. »Ich gehe zum Lunch. Soll ich Ihnen was mitbringen?« »Einen Hamburger und einen Vanilleshake«, sagte ich und widmete mich weitere drei Minuten lang den Berichten, bevor das Telefon klingelte. »Deb?« sagte der Kollege in der Zentrale. »Ich war nicht sicher, ob Sie da sind. Ein Anruf für Sie. Moment. Sie können jetzt sprechen, Ma’am.« »Mrs. Ralston?« sagte eine Frauenstimme. »Am Apparat.« Die Stimme kam mir irgendwie bekannt vor, aber ich konnte kein Gesicht damit verbinden. »Laura Washington. Ich weiß nicht, ob Sie sich an mich erinnern –« »Natürlich erinnere ich mich.« Ich setzte mich aufrechter hin, griff nach einem Stift und einem Stück Papier. »Was kann ich für Sie tun?« 151
»Ich bin… Wissen Sie noch, daß ich Ihnen erzählt habe, daß ich Schulleiterin war, bevor ich mich zur Ruhe gesetzt habe. Also, ich bin heute in die Schule gegangen, um Vertretungsunterricht zu geben – wegen einer Konferenz von allen Schulen der Stadt fehlt die Hälfte der Lehrerschaft, und deshalb werden heute jede Menge Vertretungslehrer gebraucht –, und ich glaube, es wäre gut, wenn Sie herkommen.« »Ich hatte eine Operation am Fuß«, sagte ich, »und –« »Mrs. Ralston, ich bitte Sie sehr ungern, aber ich denke wirklich, Sie sollten trotzdem herkommen –« Sie klang äußerst aufgeregt, und nach meinem Eindruck von Laura Washington hätte ich sie nicht für einen Menschen gehalten, der sich leicht aufregt. »Wo liegt das Problem?« fragte ich. »Soll ich eine Streife schicken, um die Stellung zu halten, bis ich da bin?« »Nein, es ist… im Moment wird nichts passieren. Aber ich habe eine Sozialarbeiterin verständigt. Und die Mutter des Kindes. Und… vielleicht bringen Sie auch jemanden mit, der für Kinder- und Jugendkriminalität zuständig ist. Ich habe… Ich möchte nicht am Telefon drüber sprechen. Ich bin im Büro. Aber… vielleicht würde auch jemand anderes damit fertig, ich weiß nicht, aber nach dem Eindruck, den Sie auf mich gemacht haben, würde ich sagen, Sie sind die Richtige. Also…« Also ließ ich mir den Namen und die Adresse der Schule geben, und dann rief ich Margie Herrera an. Sie konnte fahren, und sie konnte mir in den Wagen helfen. Als ich das Schulsekretariat betrat, war die Sozialarbeiterin auch schon da. Sie saß auf einem türkisfarbenen Plastikstuhl vor der hüfthohen Schwingtür, die die Empfangstheke unterteilte. Ihr Name war Gayle Constantine, ich hatte schon öfters mit ihr zu tun gehabt und war nicht gerade hemmungslos begeistert von ihr. Sie war zirka 1,70 groß, schlank, hatte strähniges, blondes Haar (absichtlich strähnig, nicht zufällig strähnig, was auf sehr häufige, sehr teure Friseurbesuche 152
schließen ließ), und sie trug stets dunkle Kostüme, weiße Blusen und goldene Halsketten, als wäre sie Anwältin. Zumindest meiner Ansicht nach schien sie zwischen Selbstüberschätzung und der völligen Unfähigkeit, in einer Situation eine Entscheidung zu fällen, hin und her zu schwanken. »Was ist denn mit Ihnen passiert?« fragte sie, als sie mich sah. »Operation«, erwiderte ich und sah an ihr vorbei. Neben ihr saß eine dünne, nervös wirkende, dunkelhaarige Frau, etwa so groß wie ich, um die Dreißig, mit dunklen, fast schwarz wirkenden Augen, ziemlich hellhäutig und hübsch, leicht auffällig geschminkt und gekleidet, und sie sprang auf, als ich mich und Margie der Sekretärin vorstellte. »Würden Sie mir bitte sagen, was los ist?« sagte sie. »Ich bin Gloria Reddich, und meine Tochter Diane ist hier Schülerin, und jemand von der Schule hat mich auf der Arbeit angerufen und gesagt, ich soll sofort herkommen, und als ich dann hier war, hat man mir nur gesagt, sie sei wohlauf –« »Tut mir leid, aber ich weiß auch noch nichts«, antwortete ich. »Wissen Sie vielleicht…« Ich blickte die Sekretärin an, die den Kopf schüttelte. »Wer weiß denn dann irgendwas?« fragte die Frau, nicht unvernünftigerweise. »Ich rufe Mrs. Washington«, sagte die Sekretärin rasch und drückte den Knopf an der Sprechanlage. Als Mrs. Washington kam, war sie nicht allein. Mit ihr trat ein großer, blasser, dünner Mann ein, den ich auf ungefähr dreiundzwanzig geschätzt hätte. Er wurde auf diese unattraktive, fleckige Art rot, wie einige äußerst helle Menschen rot werden. »Das ist Mr. Daniels«, sagte sie. »Mr. Daniels, das ist Mrs. Ralston, die Polizistin, von der ich Ihnen erzählt habe.« Den Rest der Vorstellung überließ sie mir. Die ganze Gruppe – Margie Herrera und ich, Mrs. Washington 153
und Mr. Daniels, Gayle Constantine und Gloria Reddich – befand sich jetzt im Lehrerzimmer, und es war klar, daß Mrs. Washington, zumindest vorerst, die Konferenz leiten würde. Sie hatte, so mein Eindruck von ihrem Auftreten, schon einige Konferenzen geleitet. Sie blickte in die Runde und sagte: »Wir müssen über Diane Reddich reden.« »Was ist denn mit Diane?« sagte Mrs. Reddich rasch. »Niemand sagt mir was. Wo ist Diane? Was ist –« »Diane ist im Klassenzimmer«, sagte Mrs. Washington, »und jemand ist bei ihr, der sich um sie kümmert.« An die übrigen von uns gewandt, fuhr sie fort: »Diane ist sechs Jahre alt; sie ist in der ersten Klasse. Ihre Klasse hatte heute Vertretungsunterricht. Normalerweise wird sie von einer Frau unterrichtet, Mrs. White, aber heute von einem Mann, Elbert Daniels.« Jetzt blickten alle Elbert Daniels an, der offenbar nicht glücklich darüber war, angeblickt zu werden. »Sie machen viel zuviel Aufhebens um die Sache«, platzte er los. »Ich hab nur gesagt, daß –« »Ich weiß, was Sie gesagt haben«, fiel Mrs. Washington ihm ins Wort. An die übrigen von uns gewandt, sagte sie: »Mr. Daniels ist heute morgen in der Pause zu mir gekommen, um mit mir zu sprechen. Bevor ich im letzten Frühjahr pensioniert wurde, war ich hier die stellvertretende Schulleiterin, und Mr. Daniels hat in der Zeit einige Male Vertretungsunterricht erteilt. Er kennt mich. Und da die Schulleiterin und ihre Stellvertreterin nicht da sind, war ich diejenige, mit der er reden konnte, obwohl auch ich heute nur als Vertretungslehrerin hier bin. Er hat mir erzählt, er sei äußerst besorgt wegen Diane Reddich, weil sie sich, wie er es beschrieben hat, ihm gegenüber auf eine ›eindeutig sexuelle‹ Art und Weise verhalten hat.« »Was genau hat sie gemacht, Mr. Daniels?« fragte ich leise, während Mr. Daniels wieder rot anlief. Er schwieg einen Moment. Dann sagte er offensichtlich 154
widerwillig: »Sie hat sich immer wieder an mich gedrückt und sich den Rock hochgezogen und meine Hand genommen und zu ihrem Schritt hingezogen. Ich habe ihr gesagt, so was tut man nicht, und sie hat gesagt… sie hat gesagt: ›Doch. Mein Daddy hat mir das beigebracht.‹« »Nachdem er mir das erzählt hatte«, fuhr Mrs. Washington fort, »hab ich mir Diane selbst angesehen, und ich hab sie darauf angesprochen. Diane hat gesagt: ›So was macht man doch mit Daddys.‹« Sie holte tief Luft. »Der naheliegende Schluß… ist naheliegend.« »Für mich ist das nicht naheliegend!« entfuhr es Mrs. Reddich. »Ganz und gar nicht… Wenn Sie damit sagen wollen, daß Emil…« Mrs. Washington ging über ihre Einwände hinweg und sagte: »Normalerweise hätte ich mich an die Schulleiterin Mrs. Cohen gewandt und ihr von dem mutmaßlichen Kindesmißbrauch erzählt, aber –« »Warum haben Sie sich nicht an die Schulpsychologin gewandt?« warf Margie ein. »Es gibt keine. Nicht alle Schulen haben eine feste Schulpsychologin. In dieser Schule ist nur dienstags und donnerstags eine Psychologin. Ich… denke, die Angelegenheit sollte auf keinen Fall bis Dienstag warten. Dann habe ich Sie angerufen« – sie blickte Ms. Constantine und mich an – »und die Sekretärin gebeten, Mrs. Reddich anzurufen.« »So etwas kann unmöglich vorgefallen sein«, sagte Mrs. Reddich atemlos. »Sie… Sie, die Lehrer… müssen da was falsch verstanden haben. Außerdem… falls es stimmen würde… dann hätte doch schon früher jemand was gemerkt, Mrs. White oder eine andere Lehrerin –« »Mrs. White ist eine Frau«, sagte Mrs. Washington. »An dieser Schule unterrichten keine Männer. Es gibt zwei Hausmeister, aber von denen kommt keiner in engen Kontakt mit den Kindern. Mr. Daniels, haben Sie Mrs. White schon 155
vorher einmal vertreten?« »Nein«, brachte er heraus, noch immer peinlich berührt. »Das weiß ich«, sagte Mrs. Washington, »ich hab nämlich in den Unterlagen nachgesehen. Mrs. White ist heute das erste Mal in diesem Jahr nicht da. Ich habe noch andere Unterlagen überprüft. Dianes Erzieherin im Kindergarten war Miss Nichols. Miss Nichols hat das ganze letzte Jahr nicht ein einziges Mal gefehlt. Bis heute ist Diane weder im Kindergarten noch in der Schule mit einem erwachsenen Mann in Kontakt gekommen.« Mrs. Reddich, noch immer ganz fassungslos, sagte: »Aber das bedeutet doch nicht…« Sie hielt abrupt inne. »Was bedeutet es nicht?« fragte Margie Herrera. »Wenn Diane keinen sexuellen Kontakt mir ihrem Vater hatte, woher hat sie dann die Vorstellungen, die sie eindeutig hat?« »Ich weiß es nicht!« sagte Mrs. Reddich. »Ich weiß nur, daß Emil so etwas nicht tun würde.« »Es ist wohl am besten, wir sprechen mit Diane«, schlug ich vor und blickte Margie an. Das, so wußte ich, konnte ziemlich heikel sein. Normalerweise sprechen wir nicht mit Kindern ohne Zustimmung der Eltern, aber in diesem Fall war es möglich, daß das Kind Opfer einer Straftat war, die von einem Elternteil begangen wurde. Das bedeutete, wenn wir nicht die Zustimmung – die schriftliche Zustimmung – mindestens eines Elternteils bekamen, ungehindert mit dem Mädchen zu sprechen, würden wir uns eine richterliche Genehmigung besorgen müssen. Margie sagte nichts, und ich traf eine schnelle Entscheidung. »Gayle«, sagte ich, »Detective Herrera und ich fahren zurück zum Polizeirevier. Holen Sie bitte Diane und kommen Sie nach.« Mrs. Reddich zuvorkommend, die den Mund schon geöffnet hatte, um loszuschimpfen, fuhr ich fort: »Mrs. Reddich, Sie können uns ebenfalls aufs Revier folgen, und es steht Ihnen frei, einen Anwalt zu verständigen. Mrs. 156
Washington, Mr. Daniels, kommen Sie bitte unverzüglich nach der Arbeit aufs Revier. Wir brauchen von Ihnen beiden eine schriftliche Aussage, aber ich nehme an, Sie möchten die Kinder bis Schulschluß nicht allein lassen.« »Sie können mein Kind doch nicht einfach so mitnehmen«, setzte Mrs. Reddich an. »Wollen wir wetten?« sagte Margie leise, aber doch so laut, daß ich sie hören konnte. Dann sagte sie laut: »Wir bringen sie noch nicht in ein Heim oder zu Pflegeeltern.« »Was machen Sie statt dessen?« fragte sie mit lauter und schockierter Stimme. »Wir nehmen Ihre Tochter mit aufs Revier«, sagte ich. »Das ist das normale Verfahren, wenn der Verdacht besteht, daß ein Kind Opfer einer Straftat ist. Ob Sie Diane wieder mit nach Hause nehmen können, wird später entschieden. Mrs. Reddich, es tut mir leid, ich weiß, es ist ein fürchterlicher Schock für Sie, aber wenn Diane wirklich mißbraucht wird, dann ist es von größter Wichtigkeit, daß sie sicher untergebracht wird und entsprechende ärztliche und psychologische Betreuung erhält.« Schließlich gab ich ihr die Adresse vom Polizeirevier und versicherte ihr, dafür zu sorgen, daß Margie langsam genug fuhr, so daß sie uns problemlos würde folgen können. Diane Reddich sah ich nur ganz kurz, als Gayle Constantine mit ihr zum Haupteingang ging; ein kleines Kind, mit blonden Locken und schmächtig, das einen kurzen Rock und eine weiße Strumpfhose trug statt der Jeans, die bei Mädchen inzwischen fast schon als Standardschulkleidung gilt. Vor dem Revier winkte ich Mrs. Reddich auf den Besucherparkplatz, und dann fuhren Margie und ich in die Polizeitiefgarage. Als alle – Ms. Constantine und Diane und Mrs. Reddich – durch das Hauptbüro hindurch ins Detective Bureau kamen, waren Margie und ich bereits dort. Margie führte Ms. Constantine und Diane in die Abteilung für Sexualdelikte, und ich – erneut mit meinem Captain-Ahab157
Rollschuh – ging ins Vemehmungszimmer, um mit Mrs. Reddich zu sprechen. Sie blickte ziemlich perplex auf meinen rollenden Hocker. »Tut mir leid«, sagte ich. »Fußoperation, und damit komme ich erheblich leichter von der Stelle als mit Krücken.« »Oh ja, bestimmt«, sagte sie ausdruckslos und starrte mich weiter an. »Wie ich Ihnen bereits in der Schule gesagt habe, ich bin Detective Deb Ralston«, sagte ich. »Sie haben im Auto bestimmt ein wenig nachgedacht. Begreifen Sie, was hier passiert?« »Wie soll ich das denn begreifen?« entgegnete sie. »Das Ganze ist absolut lächerlich. Ich werde doch mein Kind nicht verlieren, oder? Ich meine, das Ganze ist absolut lächerlich. Diese Schwarze hat irgendwas von Kindesmißbrauch gesagt. Also, ich frage Sie, macht Diane auf Sie den Eindruck, daß sie mißbraucht oder vernachlässigt wird? Sie ist kerngesund; sie kriegt stets gesundes Essen, und auch medizinisch wird sie anständig betreut, und wir lassen sie niemals allein. Wir geben ihr nicht mal einen Klaps. Mein Mann und ich sind dagegen, daß Kinder geschlagen werden. Ich glaube, eine feste, aber liebevolle Erziehung ist sehr viel besser für sie, finden Sie nicht auch?« »Da bin ich ganz Ihrer Meinung«, sagte ich, »aber ich fürchte, hier geht es weder um körperliche Strafen noch um Vernachlässigung der elementaren Bedürfnisse eines Kindes. Als Mrs. Washington von Mißbrauch gesprochen hat, wollte sie lediglich mit einem etwas ungenauen Begriff ausdrücken, daß das Kind ihrer Meinung nach vom Vater sexuell mißbraucht wird.« »Das habe ich verstanden«, sagte Mrs. Reddich, das Gesicht weiß mit fast kreisrunden, leuchtend roten Flecken direkt unter den Wangenknochen. »Und ich sage Ihnen, es ist absolut lächerlich. So was würde Emil niemals tun.« 158
»Vielleicht haben Sie ja recht«, sagte ich, ohne meinen Worten auch nur eine Sekunde zu glauben. »Falls ja, müßten wir das Problem rasch aufklären können. Wir brauchen Ihre Zustimmung, damit wir uns ausführlich mit Diane unterhalten können.« »Ich… Soll ich diese Entscheidung treffen, ohne daß Emil hier ist?« »Das liegt ganz bei Ihnen«, erwiderte ich. »Ich muß Ihnen aber sagen, daß wir mit ihr reden werden, mit Ihrer Zustimmung oder mit einer richterlichen Genehmigung.« »Dann hab ich ja wohl kaum eine Wahl, was?« Sie klang jetzt eher wütend als ängstlich. »Doch, Sie haben eine Wahl. Sie können uns gestatten, jetzt mit ihr zu sprechen, und wenn die Schule irgend etwas Harmloses mißverstanden hat, dann können wir die Sache auf der Stelle klären. Oder Sie können es darauf ankommen lassen, daß wir keine richterliche Genehmigung erhalten. Wir denken, ja. Beantworten Sie mir bitte eine Frage. Ist Emil häufig mit Diane allein?« »Emil ist ein guter Mann«, sagte sie trotzig. »Warum sollte er nicht mit ihr allein sein? Er ist ihr Vater. Aber ja, wir finden es besser, abwechselnd auf sie aufzupassen, als sie einem Babysitter anzuvertrauen. Ich arbeite also tagsüber, und er nachts. Es klappt ausgesprochen gut. Ich muß morgens um sieben auf der Arbeit sein, und Diane ist… na ja, bis sie in die Schule kam, ist sie meistens erst um zehn aufgestanden. Und Emil kommt gegen halb drei Uhr morgens nach Hause, und dann ist er zu müde zum Schlafen und muß erst ein wenig abschalten, also geht er erst gegen drei ins Bett und wacht auch so gegen zehn auf. Ich komme um halb fünf nach Hause, und er muß erst um halb sechs los.« Sie hielt einen Moment lang inne, lange genug für mich, so daß ich mir im Geiste ein Bild machen konnte. Soviel ich weiß, sind viele Männer erregt, wenn sie aufwachen. Ein Mann wacht 159
also um zehn Uhr morgens auf und ist erregt, und es ist nur ein weibliches Wesen im Haus – für einen Mann, der eine niedrige Hemmschwelle und keinerlei Respekt vor Frauen hat, ein leichtes, sich Befriedigung zu verschaffen, wo Befriedigung zu finden ist. »Emil ist ein guter Mann«, wiederholte sie. »Er arbeitet hart, und er liebt Diane über alles… Ich weiß nicht, man hört von solchen Sachen, aber manchmal frage ich mich, ob sie überhaupt wirklich passieren oder ob die Medien das alles nicht bloß gewaltig aufbauschen –« »Oh, es passiert«, sagte ich. »Es passiert noch sehr viel öfter, als man davon hört.« »Tja, aber man begegnet nie jemandem, dem es passiert ist«, sagte sie. »Ich meine, man hört davon im Fernsehen, wie diese Sache mit Roseanne Barr, aber na ja, ihre Eltern haben gesagt, es ist nie was passiert, und man guckt die Geraldo Show und Oprah Winfrey, und da hört man so gut wie alles, fast so, wie wenn man in den Supermarkt geht und in allen Sensationsblättern die Schlagzeile liest, ›Das Gesicht von Elvis auf dem Mars entdeckt‹, und ich glaube wirklich, diese ganzen Berichte sind genauso. Es passiert immer den Leuten, die ganz weit weg sind, aber nie begegnet man jemandem, dem es passiert ist.« »Lady, so jemand sitzt gerade vor Ihnen«, sagte ich leise. Ihr Interesse war schlagartig geweckt. »Das ist nicht Ihr Ernst«, sagte sie. »Doch, das ist mein Ernst. Mein Vater war Milchmann. Nach außen hin war er ein netter Kerl, wie er im Buche steht. Er hatte sechs Kinder. Er war jahrelang im Vorstand unserer Kirche, und er war sogar mal gut sechs Monate Laienprediger, als unser Pastor einen Herzanfall hatte und es nicht mehr schaffte, jeden Sonntag eine Stunde auf der Kanzel zu stehen. Ich bin überzeugt, keiner von seinen Freunden hätte es geglaubt, wenn jemand schlecht über ihn geredet hätte. Aber trotzdem hat er meine Schwester und mich jahrelang 160
mißbraucht.« Ich hörte, daß meine Stimme bebte. Es war das allererste Mal in meinem Leben, daß ich das einem fremden Menschen erzählt hatte; Rhonda und ich hatten darüber gesprochen, waren uns einig darin, daß wir beide wußten, was passiert war, aber nicht einmal an dem Samstag, als wir zum erstenmal darüber sprachen, hatte eine von uns die Worte tatsächlich ausgesprochen, und ich war nicht mal sicher, ob ich es meinem Bruder klipp und klar gesagt hatte. Aber jetzt hatte ich die Worte ausgesprochen. Sie starrte mich an, als ich fortfuhr. »Meine Mutter hätte es niemals geglaubt, deshalb haben meine Schwester und ich auch nicht versucht, es ihr zu sagen. Deshalb hat es erst aufgehört, als wir von zu Hause wegkonnten, weil sie es nie geglaubt hätte, und er ist in seinem ganzen Leben nie mit der Wahrheit konfrontiert worden.« »Tja, das… das tut mir natürlich leid, aber… aber es ist ja nun nicht so, daß solche Dinge tagtäglich passieren. Er muß – Ihr Vater, meine ich – er muß… muß einen Gehirntumor gehabt haben oder so.« »Keinen Gehirntumor«, sagte ich. »Bloß die nicht ganz seltene Überzeugung, daß alle weiblichen Wesen in seiner Familie sein Privatbesitz waren und er sie nach Lust und Laune benutzen konnte. Und das ist der springende Punkt, Mrs. Reddich. Natürlich denken nicht alle Männer so; wahrscheinlich sehr wenige. Aber Tatsache ist und bleibt, daß ein gewisser Prozentsatz der Männer in unserem und vermutlich jedem anderen Land der Welt alle Frauen und Mädchen mißbrauchen, an die sie rankommen können, solange sie glauben, daß sie nichts zu befürchten haben. Solche Dinge passieren in der Tat tagtäglich. Sie sind bloß unter den Teppich gekehrt worden. Und jetzt, da sie unter dem Teppich hervorgeholt werden, will keiner hinschauen, weil Dinge, die unter dem Teppich versteckt werden, schmutzig und widerlich 161
sind. Doch solange wir uns weigern hinzuschauen, passieren sie immer wieder. Wir möchten glauben, daß Männer aufhören, ihre Töchter und Stieftöchter und Nichten und Cousinen zu mißbrauchen, weil es schrecklich ist und weil die Mädchen eine bessere Behandlung verdienen, aber es ist ziemlich offensichtlich, daß Männer nicht damit aufhören. Deshalb müssen sie daran gehindert werden, und zwar durch die Angst, daß sie eines Tages auffliegen und daß alle Freunde und Nachbarn es erfahren. Und leider Gottes ist das nicht möglich, ohne nicht auch ihre Familien bloßzustellen.« »Ms… Ralston, nicht?« Ich nickte, und sie beugte sich vor, die Arme auf dem Tisch. »Ich bin sicher, es stimmt, was Sie sagen, daß solche Dinge wirklich in einigen Familien passieren. Aber nicht in meiner Familie. Ich weiß, aufgrund Ihrer persönliehen Situation fällt es Ihnen schwer, das zu glauben, aber ich sage Ihnen die Wahrheit. Emil würde so etwas nicht tun.« Ziehen Sie den Kopf aus dem Sand, Lady, dachte ich, sagte es aber nicht. »Emil liebt seine Tochter«, sagte sie und blickte mich herausfordernd an, und ich fragte mich, ob sie es zu mir oder zu sich selbst sagte. »Mein Vater hat seine Kinder auch geliebt«, erwiderte ich. »Ich weiß noch, wie er in dem Jahr nach meiner Hochzeit beim Weihnachtsessen in Tränen ausgebrochen ist, als er den Segen sprach, weil ihm plötzlich klargeworden war, daß das wahrscheinlich das letzte Weihnachten mit allen seinen Kindern war. Die meisten Kinderschänder lieben ihre Kinder, Mrs. Reddich. Sie lieben sie nur nicht auf die richtige Art und Weise.« Sie holte tief Luft. »Ich hab gehört, daß Sozialarbeiter Kindern, mit denen sie reden, suggestive Fragen stellen und sie dazu bringen, alle möglichen Sachen zu sagen, die nicht stimmen –« 162
»Ich kann Ihnen nicht garantieren, daß so etwas nie passiert«, sagte ich. »Aber ich kann Ihnen garantieren, daß ich noch von keinem konkreten Fall gehört habe. Kinder haben das ungeheure Bedürfnis, ihre Familien zu schützen. Wenn man von Kindern hört, die sich von ihren Familien lösen wollen, dann handelt es sich in nahezu hundert Prozent der Fälle um Kinder, die von Pflegeeltern zu Pflegeeltern weitergereicht wurden und sich im Grunde von ihren eigenen Familien längst emotional gelöst haben. Kinder lügen weitaus eher, um ihre Familien zu schützen, als um sie in ernste Schwierigkeiten zu bringen. Außerdem sind Kinder im Alter von Diane außerstande, eine schlüssige Geschichte über sexuellen Mißbrauch zu erfinden, es sei denn, ihr Fernsehkonsum ist erheblich – sagen wir mal komplizierter – als der Fernsehkonsum bei den meisten Kindern.« »Wird man mir mein Kind wegnehmen?« »Das weiß ich nicht«, sagte ich. »Ich hoffe nicht. Wenn es zum Schutz der Kinder nicht unumgänglich ist, zieht das Jugendamt es vor, Kinder nicht aus dem Elternhaus zu nehmen.« »Ich glaube, ich unterschreibe lieber nichts, bis Emil hier ist«, sagte Mrs. Reddich entschlossen. »Wissen Sie, ob Emil auf dem Weg hierher ist?« »Ich habe ihn nicht angerufen. Wenn diese Frau ihn nicht –« »Ich frag mal nach.« Ich ging zurück in den Einsatzraum, wo Rafe und Ms. Constantine miteinander sprachen, und sagte: »Sie unterschreibt nichts, solange Emil nicht da ist.« »Ist Emil ihr Mann?« fragte Rafe. »Ja. Ist der Ehemann verständigt worden?« Rafe und Ms. Constantine blickten einander an. »Von mir nicht«, sagte Ms. Constantine. »Dann sorge ich dafür, daß sie ihn anruft und herholt.« Ich nahm das Telefon, das wir in der unteren Schublade 163
eines Aktenschrankes aufbewahren, und ging zurück in das Vernehmungszimmer, wo Mrs. Reddich noch fast genauso dasaß, wie ich sie verlassen hatte, und ausdruckslos auf nichts starrte, wie meine Katze die Stelle angestarrt hatte, wo die Tomatenpflanze gewesen war. »Mrs. Reddich?« sagte ich. Sie fuhr leicht zusammen und sah mich an. »Ihr Mann ist noch nicht verständigt worden. Wenn Sie bitte einfach den Stecker einstöpseln – ich komm da nicht dran. Möchten Sie, daß ich gehe, während Sie mit ihm sprechen?« »Ja. Danke… Ich möchte Emil sprechen. Hier ist Gloria«, hörte ich sie sagen, als ich ging. »Roger, besorg uns ein paar richterliche Verfügungen«, sagte Rafe zu Roger Hales. »Was brauchen wir, Genehmigung für ein Gespräch mit ihr und –?« »Am besten eine Genehmigung für eine ärztliche Untersuchung«, fuhr Ms. Constantine fort. »Ich möchte es zwar vermeiden, aber es könnte sein, daß wir sie irgendwo unterbringen müssen.« »Mir wäre sehr viel wohler dabei«, entgegnete Rafe. »Ich weiß, Sie möchten das nicht, aber wenn die Sicherheit des Kindes auf dem Spiel steht…« »Hat jemand ihren vollständigen Namen und ihr Geburtsdatum?« fragte Roger. Es stellte sich heraus, daß das nicht der Fall war. »Tja, wir können sie doch wohl wenigstens fragen, wie sie heißt und wie alt sie ist«, sagte Roger und ging in den kleinen Raum, wo das Kind noch immer mit der uniformierten Polizistin wartete. Kurz darauf kam er wieder heraus, mit einem leicht verwirrten Ausdruck im Gesicht: »Ich schieb dann mal los zum Gericht.« Knapp fünfzehn Minuten später kam Emil Reddich aufs Revier gestürmt. Ich war natürlich nicht unten, um ihn zu begrüßen; keiner von uns war unten, und ein Officer brachte ihn auf unsere Etage. »Was zum Teufel geht hier vor?« brüllte er, noch 164
bevor er ganz aus dem Fahrstuhl getreten war. »Sind Sie Emil Reddich?« fragte Rafe und sah ihn an. Ich glaube, ich erwähnte bereits, daß Rafe ein recht schmächtiger Mann von knapp 1,70 ist. Von der Statur her hätte Emil sein Zwillingsbruder sein können. Doch Rafe hat Autorität und Ausstrahlung, während Reddich trotz seines aufbrausenden Auftritts irgendwie belanglos wirkte. In einer Menschenmenge würde niemand Emil Reddich bemerken; selbst wenn er allein in einem Raum wäre, würde man ihn wahrscheinlich irgendwie übersehen. »Ja, verdammt. Ich bin Emil Reddich, wer soll ich denn wohl sonst sein?« »Tja, das kann ich nicht beantworten«, sagte Rafe. »Hier kommen viele Leute rein. Zu Ihrer Frage, was hier vorgeht, möchten Sie das gern hier im Flur diskutieren, wo es jeder mitbekommt, oder sollen wir uns ein ungestörtes Plätzchen suchen?« »Sie haben meine Tochter hier, und ich will sie auf der Stelle sehen.« »Das ist unmöglich«, hörte ich mich selbst sagen. Er blickte mich verächtlich an. »Wer sind Sie denn? Ich diskutiere nicht mit Sekretärinnen.« »Ich bin keine Sekretärin. Ich bin Detective in der Abteilung für Sexualverbrechen, und ich sage Ihnen, daß Sie Ihre Tochter nicht auf der Stelle sehen werden. Sie ist in Sicherheit, aber Sie werden nicht in ihre Nähe kommen.« »Wer sagt das?« Eine Tür öffnete sich, und Gloria Reddich, jetzt sichtlich verheult, kam aus der Tür des Raumes gefegt, in den man sie gebracht hatte. »Oh, Emil, die behaupten einfach schreckliche Sachen –« »Wieso hast du zugelassen, daß man sie hierherbringt?« tobte er. »Du hast keinen Funken Verstand –« »Ich hab es nicht zugelassen«, schluchzte sie. »Ich mußte 165
herkommen. Sie haben Diane mitgenommen und gesagt, ich könnte kommen, wenn ich wollte –« »Wieso hast du dann zugelassen, daß sie Diane mitnehmen?« Ich sah zu Rafe hinüber, und sein Blick stimmte mir zu. Wir würden sie im Flur stehen und streiten lassen, wenn sie es unbedingt wollten, und wir würden ihnen dabei zuhören. Leider durchschaute Reddich unseren Plan, und als Gloria sagte: »Sie haben mich zur Schule bestellt, und da war diese Frau schon da, und sie –« winkte er ab. »Halt den Mund«, sagte er zu ihr. »Die hören doch alles, was wir sagen.« Er blickte wieder Rafe an. »Wer erklärt mir jetzt mal, was hier vorgeht?« »Oh, ich denke, das macht Detective Ralston«, sagte Rafe kühl. Obwohl es durchaus den einen oder anderen rassistischen Officer gibt, ist Rassismus in den Departments der Polizei trotz der Vorwürfe, die man im Fernsehen hört, nicht gern gesehen, mit einigen bedauerlichen Ausnahmen. Das heißt, zumindest der Rassismus, der sich gegen Polizeibeamte richtet. Die meisten Officer mögen außerdem keinen Sexismus – wobei es hier mehr Ausnahmen gibt als beim Rassismus –, zumindest nicht, wenn er sich gegen Kolleginnen richtet. Das heißt, auch wenn sie persönlich vielleicht nicht so viel von Frauen bei der Polizei halten, setzen sie sich öffentlich genauso für eine Kollegin ein wie für jeden Kollegen. Ich erinnere mich an einen Fall, als ich im Raubdezernat war, bevor ich ins Sonderdezernat versetzt wurde. In einem Lagerhaus war eingebrochen worden, und der Besitzer war als einer der größten Reaktionäre von Tarrant County bekannt – seiner Meinung nach gehörten Schwarze auf die Baumwollfelder und Frauen an den Herd –, und bis ans Ende meiner Tage werde ich nie und nimmer glauben, daß es purer Zufall war, daß Will Brown – schwarz, 1,93 groß – und ich auf den Fall angesetzt wurden. 166
Der Lagerhausbesitzer warf einen einzigen Blick auf uns, die wir aussahen wie eine Mischung aus Salz und Pfeffer (falls jemand den Film mit Sammy Davis jr. kennt) und dem Comicstrip Mutt and Jeff, und weigerte sich, uns reinzulassen. Also fuhren wir natürlich weiter zu einem anderen Einsatz und dann zum nächsten und übernächsten, bevor wir aufs Revier zurückkehrten, wo unser Sergeant am Telefon war. Er warf uns grinsend einen Blick zu und sagte dann in den Hörer: »Tut mir leid, Sir, aber wir haben Ihnen zwei Detectives geschickt, und Sie wollten sie nicht. Wenn Sie Detectives wollen, kriegen Sie die oder keine.« Er brauchte einen Polizeibericht für seine Versicherung, und er würde keinen Polizeibericht ohne polizeiliche Untersuchung bekommen, also fuhren Will und ich wieder hin. Seitdem frage ich mich, ob seine Haltung durch die Tatsache, daß Will und ich die Einbrecher schon tags darauf am frühen Nachmittag geschnappt und ihm sein Hab und Gut zurückgebracht hatten, ein wenig abgemildert wurde. Rafe spielte jetzt das gleiche Spiel wie damals unser Sergeant. Emil Reddich wollte nicht mit einer Frau sprechen; ergo würde er mit einer Frau sprechen. Basta. Normalerweise genieße ich solche Spielchen genauso wie jeder andere. Heute wußte ich nicht recht, ob mir danach war. Dennoch öffnete ich die Tür des Raumes, aus dem Mrs. Reddich gekommen war, und sagte: »Hier herein bitte, Mr. Reddich.« Gloria wollte ihm folgen, und Rafe sagte: »Nein. Sie bleiben hier.« Emil Reddich wollte nicht mit mir reden. Er wollte nicht hier sein. Er wollte nicht, daß seine Frau hier war. Er wollte vor allem nicht, daß seine Tochter hier war. Und er war bereit, seinen Unmut an mir auszulassen. Also verlegte ich mich auf die energische Tour. »Mr. Reddich, wenn Sie auch nur den Hauch einer Chance haben wollen, Ihre Tochter zu behalten und nicht im Gefängnis zu 167
landen, schlage ich vor, daß Sie Ihre Wut im Zaum halten. Ich unterhalte mich gern mit Ihnen, aber ich habe keine Lust, mir Ihr Geschrei anzuhören. Also, um es vorweg zu sagen, wir haben Grund zu der Annahme, daß eine Straftat begangen wurde, und wir haben Grund zu der Annahme, daß Sie sie begangen haben.« »Das ist eine unverschämte Lüge –« »Es ist keine unverschämte Lüge, daß wir Grund zu der Annahme haben. Und jetzt hören Sie mir mal genau zu. Sie haben das Recht zu schweigen…« Ich klärte ihn über seine Rechte auf und fragte dann: »Möchten Sie auf diese Rechte verzichten?« »Und ob ich das will! Ich habe nichts zu verbergen!« Nicht ganz zufällig öffnete sich fast im selben Moment die Tür, und Rafe kam hereingeschlendert. »Brauchen Sie mich?« fragte er. »Mr. Reddich ist bereit, eine Rechtsverzichtserklärung zu unterschreiben«, sagte ich. »Möchten Sie das bezeugen?« Sobald diese vorgeschriebene Formalität erledigt war, ging Rafe wieder hinaus und in einen anderen Raum, wo er – wie ich wußte, Emil jedoch nicht – das Geschehen durch einen Einwegspiegel verfolgen würde. In diesem Raum war nur ein Spiegel zu sehen. In dem anderen Raum war, wenn man das Licht anschaltete, auch nur ein Spiegel zu sehen. Aber wenn das Licht in dem Raum aus war, konnte man durch den Spiegel wie durch eine Glasscheibe in diesen Raum blicken. »Ich sage Ihnen jetzt, was hier vorgeht«, sagte ich. »Es liegen Anhaltspunkte dafür vor, daß Sie Ihre Tochter Diane sexuell mißbraucht haben –« »Das ist eine unverschämte Lüge!« »Sie hören sich an wie eine Schallplatte mit Sprung. Möchten Sie nun hören, was hier vorgeht, oder nicht?« »Wer hat diese Unterstellungen gemacht?« »Diane«, sagte ich leise. 168
»Das ist eine… Ich meine, ich glaube das nicht. Sie würde so etwas nicht behaupten. Wem gegenüber hat sie – soll sie – so etwas behauptet haben? Und wer hat Sie überhaupt hinzugezogen?« »Sie hat mit ihrem Lehrer geredet. Da die Schulleiterin und die stellvertretende Schulleiterin nicht da waren, hat der Lehrer mit einer Kollegin gesprochen, die letztes Jahr stellvertretende Schulleiterin war. Sie wiederum hat eine Sozialarbeiterin und mich angerufen. Die Sozialarbeiterin, eine Kollegin von mir aus der Abteilung für Jugendkriminalität und ich sind zu der Schule gefahren, haben kurz mit dem Lehrer, seiner Kollegin und Ihrer Frau gesprochen und sind zu dem Schluß gekommen, daß eine polizeiliche Untersuchung angeraten ist.« »Ich werde diese unverschämten Weiber verklagen, daß ihnen Hören und Sehen vergeht… Schon gut, schon gut, ich schreie nicht. Da hat also wer behauptet, ich würde Diane mißbrauchen. Was zum Teufel soll das heißen? Sehe ich etwa aus wie ein Kinderschänder?« »Ja, Mr. Reddich, das tun Sie«, antwortete ich. Er starrte mich an. »Die Sache ist die, Mr. Reddich, Menschen, die Kinder mißbrauchen, erkennt man nicht allein an der Hautfarbe, der Körpergröße oder Statur, sie haben auch nicht einen bestimmten finanziellen oder ethnischen oder religiösen Hintergrund und nicht – unbedingt – ein bestimmtes Geschlecht. Aber eines haben sie alle gemeinsam. Sie verachten ihre Opfer. Wenn es – was auf die meisten Kinderschänder zutrifft – Männer sind, die Mädchen mißbrauchen, und das ist bei weitem die häufigste Form von Kindesmißbrauch, dann verachten sie Frauen. Heterosexuelle Frauen, die Kinder mißbrauchen, verachten Männer. Homosexuelle Kinderschänder – und davon gibt es relativ wenige – verachten ihr eigenes Geschlecht, ob sie nun männlich oder weiblich sind. So, jedes Wort, das Sie gesagt haben, jedes Detail Ihrer Körpersprache, seit Sie zur Tür 169
hereingekommen sind, hat es sozusagen laut und deutlich hinausgeschrien. Sie verachten Frauen. Für Sie sind Frauen an allem schuld. Egal, was passiert ist und wer die Polizei gerufen hat, Sie sind gleich davon ausgegangen, als Sie hereinkamen, daß Ihre Frau etwas Dummes getan hatte. Sie haben mich für eine Sekretärin gehalten, und Sie verachten Sekretärinnen, obwohl ich wette, daß Sie in Ihrem Job – was immer Sie auch machen – ohne Sekretärin aufgeschmissen wären. Deshalb, ja, Mr. Reddich, Sie sehen tatsächlich wie ein Kinderschänder aus.« »Und ich dachte immer, jeder gilt als unschuldig, solange seine Schuld nicht bewiesen ist. Was habt ihr mit diesem schönen Grundsatz angestellt?« »Nichts haben wir damit angestellt. Die Unschuldsvermutung gilt noch immer. Auch für Sie, egal, welchen Gerichtssaal Sie betreten werden. Dieser Fall wird gründlich bearbeitet werden, und Ihnen wird nichts geschehen, bis wir hinreichende Beweise für eine Anklage gegen Sie in der Hand haben, und das Gericht wird Sie nicht verurteilen, wenn die Beweise nicht stichhaltig genug sind, um Ihre Schuld zweifelsfrei zu belegen. Aber Sie haben mich gefragt, ob Sie für mich wie ein ›Kinderschänder‹ aussehen, und ich habe Ihnen geantwortet. So, können wir jetzt wieder zur Sache kommen?« »Ich sage Ihnen, was Sache ist. Irgendeine Lehrerin bildet sich ein, ich würde meine Tochter begrapschen, und ruft die Polizei, und jetzt macht ihr mir mein Leben kaputt.« »Was ist mit dem Leben Ihrer Tochter?« »Ich habe meiner Tochter nicht das geringste getan! Also, ich frage Sie jetzt noch mal, was zum Teufel geht hier vor?« »Würden Sie bitte versuchen, den Mund zu halten, und mich antworten lassen?« Es müßte, dachte ich, mittlerweile absolut klar sein, was hier vorging, aber wenn er sich dumm stellen wollte, von mir aus. »Ich sage Ihnen, was hier vorgeht. Es liegen Verdachtsmomente vor, daß Ihre Tochter sexuell 170
mißbraucht wurde. Verdachtsmomente – noch keine offizielle Anklage –, daß Sie eine Straftat begangen haben. Ein Detective ist unterwegs, um eine richterliche Verfügung für eine ärztliche Untersuchung des Kindes zu bekommen. Falls diese Untersuchung bestätigt, daß sexueller Mißbrauch stattgefunden hat, geht die Sache weiter ihren Gang. In den meisten Fällen sind jedoch keine körperlichen Anzeichen für einen Mißbrauch nachweisbar.« Ich hielt inne; er war sichtlich bleich geworden. »Haben Sie eine Frage?« »Ja, äh, ist schon lange her, als Diane etwa zwei war, da hatte sie eine, äh, komische Infektion, sie hatte sich einen Bauklotz in die Scheide geschoben. Wird euer Arzt den Unterschied erkennen können?« Ich wette, es war ein Bauklotz, dachte ich. »Sehr wahrscheinlich«, sagte ich, »die Ärztin wird feststellen können, ob es etwas so Kleines oder etwas viel Größeres war. Aber ganz sicher bin ich mir nicht.« »Na schön, ähm, sagen wir, die Ärztin kann es feststellen, was dann?« Er rutschte jetzt auf seinem Stuhl hin und her. »Wie ich schon sagte, oftmals lassen sich körperliche Anzeichen für einen Mißbrauch nicht nachweisen. Deshalb beantragen wir auch eine richterliche Genehmigung für ein Gespräch mit Diane.« »Ja, schön, sie wird sagen, daß alles in Ordnung ist. Diane ist ein braves Kind, wirklich.« »Das freut mich zu hören«, sagte ich. »Sollten die Ergebnisse des Gesprächs uns allerdings Anlaß zu der Vermutung geben, daß Diane mißbraucht wurde, geht die Sache weiter.« »Wie weiter? Ich will einfach meine Frau und meine Tochter nehmen und von hier verschwinden.« »Genau das werden wir Ihnen nicht gestatten. Es gibt dann zwei Möglichkeiten: Entweder Diane wird bei Pflegeeltern untergebracht, bis der Fall abgeschlossen ist, oder Sie erklären 171
sich bereit, auszuziehen und sich von Ihrer Tochter fernzuhalten, bis der Fall abgeschlossen ist.« Ich mußte nicht sagen, was mir lieber wäre. Ich würde es nicht erreichen; das hatte Gayle schon deutlich gemacht. Er starrte mich an, mit wildem Blick. »Ich kann nicht… Holen Sie meine Frau rein.« Im weiteren Verlauf des Gesprächs war Gloria abwechselnd mal mit im Raum und dann wieder draußen, je nach dem, was er zu sagen hatte. Irgendwann sagte er: »Hören Sie, ich sage nicht, daß ich was getan habe. Nehmen wir mal an… Hypothetisch, okay?« »Okay«, sagte ich. »Also, da ist ein Mann, nicht ich, bloß irgendein Mann.« »Okay.« »Und er arbeitet nachts, und er wacht morgens um zehn Uhr auf, aber er ist eben noch nicht ganz wach, er ist bloß ein bißchen wach, und er dreht sich um, und er ist erregt, und da ist dieser schöne, warme Körper im Bett neben ihm, na, wie soll er sich da erinnern, wer das ist, wenn er noch halb schläft? Oder praktisch ganz schläft?« »Die meisten Menschen«, antwortete ich, »würden es etwa dann merken, wenn das Kind anfängt zu schreien, auch wenn sie wirklich noch schlafen.« »Ja, aber mal angenommen, er hat es nicht gemerkt? Ich meine, das macht ihn doch noch nicht zu einem Verbrecher, oder?« »Na, was erwarten Sie jetzt von mir?« fragte ich. »Erwarten Sie, daß ich Ihnen die Erlaubnis gebe, Ihre Tochter zu vergewaltigen, vorausgesetzt, Sie sind zu dem Zeitpunkt im Halbschlaf?« »Ich habe meine Tochter nicht vergewaltigt!« schrie er. »Ich liebe meine Tochter… ich kümmere mich gut um sie… ich habe nichts…« Schließlich – inzwischen saß Rafe dabei und Emil Reddich 172
brüllte viel herum und Gloria Reddich weinte viel – kamen alle überein, daß Reddich auf der Stelle nach Hause fuhr und seine Sachen packte und zu seiner Mutter zog und keinen Kontakt zu seiner Tochter hatte, bis der Fall auf die eine oder andere Weise geklärt war. Und ich glaubte nicht einen Moment daran, daß er sich wirklich von ihr fernhalten würde, aber Gayle hatte es so beschlossen, Rafe hatte vorerst zugestimmt, und meine Argumente hatten nicht genug Gewicht, um irgend etwas zu ändern. Mrs. Reddich wollte auf dem Revier bleiben. Sie wollte ihre Tochter sehen. Wir ließen sie im Vernehmungszimmer und gingen in den Einsatzraum, um die Sache hinter geschlossenen Türen zu besprechen. Dann kam Roger Hales herein, mit den richterlichen Verfügungen, und sagte: »Die ganze Sache ist eine Farce.« »Was meinst du damit?« fragte ich. »Der arme Kerl hatte doch keine Chance gegen die kleine Hexe. Hör mal, als ich zu ihr gegangen bin, um sie nach ihrem Namen und Geburtsdatum zu fragen, hat sie versucht, mich zu verführen! Und sie hatte mich nie zuvor gesehen.« »Sie hat versucht, dich zu verführen? Wie denn?« fragte Rafe. »Sie hat mich angelächelt wie eine vierzigjährige Nutte. Sich an mich gedrückt. Und dann hat sie sogar versucht, mir zwischen die Beine zu fassen! Danach hat sie mich gefragt, ob sie nach Hause könnte.« »Roger«, sagte ich, »glaubst du ernsthaft, eine Sechsjährige käme von allein auf so was? Ist dir denn nicht klar, daß sie das von jemandem gelernt haben muß?« »Was zum Teufel soll das heißen?« fragte er. »Man kann jedem alles beibringen, er muß nur jung genug sein«, sagte ich geduldig. »Für Diane ist das hier eine fremde 173
Umgebung. Sie fühlt sich nicht wohl. Sie möchte nach Hause. Ihr Vater hat sich offenbar große Mühe gegeben, sie davon zu überzeugen, daß Männer die Regeln aufstellen. Sie sind ein Mann, das bedeutet, Sie sind es, der sie nach Hause gehen lassen kann. Wenn Daddy sie obendrein davon überzeugt hat, daß man die Bonbons kriegt, wenn man sexuelle Mittel anwendet, was macht sie dann also? Sie wendet sexuelle Mittel an, damit sie das Bonbon kriegt, nämlich die Fahrt nach Hause. Erlerntes Verhalten, Roger.« »Schwachsinn«, sagte Roger. »Du willst jedem Mann unter der Sonne ein schlechtes Gewissen einreden. Aber so läuft das nicht.« »Ich will niemandem ein schlechtes Gewissen einreden«, sagte ich. »Ich will dir bloß klarmachen, daß das Kind sich nicht wie ein normales Kind verhält. Du hast gesagt, Diane hätte dich angelächelt wie eine vierzigjährige Nutte. Na, eine junge Nutte denkt vielleicht noch, daß sie kriegt, was sie will. Eine vierzigjährige Nutte hat längst begriffen, daß sie nichts wert ist. Was haben alle vierzigjährigen Nutten gemeinsam? Sie sind verzweifelt, Roger. Verzweifelt. Und genau das ist auch ein kleines Mädchen, das erkannt hat, daß es für seinen Vater nichts anderes ist als ein Stück Fleisch. Diane ist verzweifelt. Sie ist nicht körperlich tot, und sie ist nicht hirntot, aber sie ist schon seelentot. Und dafür ist sie noch viel zu jung.« Roger grinste mich bloß höhnisch an. »Wir sind heute aber melodramatisch drauf, was? Du hast wohl deine Tage«, sagte er und ging zu seinem Schreibtisch. »Wer macht jetzt was mit diesen blöden richterlichen Verfügungen?« »Gib sie mir«, sagte Rafe. »Roger, schreib dir hinter die Ohren, was Deb gesagt hat, weil sie nämlich recht hat. Du bist hier ganz schön auf dem Holzweg. So, jetzt machst du dich besser auf den Weg und sprichst noch mal mit dieser Frau von der TCU. Wenn du wieder da bist, möchte ich, daß du einen Bericht darüber schreibst, was du gerade erzählt hast – ohne 174
deinen Kommentar. Das gehört jetzt zur Beweisaufnahme.« Nachdem Roger gegangen war, setzte Rafe sich auf die Ecke meines Schreibtisches und sagte: »Seit seiner Scheidung benimmt er sich manchmal ganz schön bescheuert.« »Ich hab schon gemerkt, daß er wegen irgendwas ausgerastet ist«, stimmte ich zu, »aber Rafe, mit dieser Einstellung dürfte er nicht mal in die Nähe eines Sexualopfers.« »Er macht seine Sache ganz gut, wenn eindeutig jemand zu Schaden gekommen ist«, sagte Rafe, »wie bei dem CampusVergewaltiger oder dem Sekundenkleber-Vergewaltiger. Aber bei einem Fall wie diesem, da haben Sie recht. Ich hab schon mal mit ihm darüber geredet, und ich versuche es heute noch mal, wenn er den Bericht geschrieben hat. Wenn er sich nicht bald wieder am Riemen reißt, ja, dann ist er raus. Freiwillig oder unfreiwillig.«
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Kapitel 8 Ich habe es versucht. Im Gespräch mit Harry an dem Abend, im Gespräch mit Freunden danach, sogar bei meiner Aussage im Zeugenstand habe ich nach besten Kräften versucht, die richtigen Worte zu finden, um zu schildern, was ich sah, als ich in das Vernehmungszimmer ging, wo das schweigsame kleine Mädchen und die schweigsame Polizistin in Uniform zusammen saßen. Aber manche Dinge sind einfach zu kraß, um sie in die passenden Worte zu kleiden. Gayle Constantine saß an meinem Schreibtisch und telefonierte herum, um eine Kinderärztin zu finden, die schon einmal für die Gerichtsmedizin gearbeitet hatte und Diane sofort untersuchen konnte, und da wir die richterliche Genehmigung hatten, die uns erlaubte, mit dem Mädchen zu sprechen, beschloß ich, schon mal einen kleinen Anfang zu machen. Diane saß sehr still da. Sie war hübsch, mit blonden Locken und großen braunen Augen, doch ihre Gesichtszüge, obwohl sie einen normal intelligenten Eindruck machte, waren beängstigend teilnahmslos. Ein willfähriges Kind, so vermutete ich, eines, das niemandem Schwierigkeiten machen würde. Sie würde keine Probleme bereiten; sie würde nicht ungehorsam sein. Sie würde höchstens mal Widerstand zeigen, indem sie leise in einer Ecke weinte. Sie würde nicht aus einem Fenster springen, wie Dusty. Sie würde sich nicht wild aufführen, wie meine Schwester, oder beschließen, es im Leben zu was zu bringen, wie ich. Sie würde – wenn es ihr gelang, erwachsen zu werden – wie ein stiller, angepaßter Roboter durchs Leben gehen. Sie blickte kurz hoch, als ich eintrat, und sah dann wieder auf ihre Hände, die sie unnatürlich reglos vor sich auf dem 176
Tisch gefaltet hatte. Auf mein Nicken hin verließ die Kollegin stumm den Raum und schloß die Tür hinter sich. Ich setzte mich. »Hi«, sagte ich. »Ich bin Deb Ralston. Ich hab mit deiner Mom und deinem Dad gesprochen.« Sie nickte und fragte nicht, was sie gesagt hatten oder was ich gefragt hatte. »Warum hast du das da unterm Bein?« fragte sie statt dessen, klang dabei nicht richtig neugierig, sondern wie jemand, der im Operationssaal Konversation machte. Als sie sprach, konnte ich die Lücke sehen, die ein fehlender Vorderzahn hinterlassen hatte. Damit hätte ich ihr ungefähres Alter erraten können, wenn ich es nicht gewußt hätte. Ich beeilte mich, ihr zu antworten. »Ich hatte eine Operation am Fuß, und jetzt kann ich nicht so gut laufen. Ich fall dauernd mit den Krücken hin.« »Ach so. Bist du Polizistin?« »Ja –« »Ich hab nichts Böses getan. Kann ich nach Hause?« »Niemand glaubt, daß du was Böses getan hast«, versicherte ich ihr, »aber wir glauben, jemand könnte dir was Böses getan haben.« »Ach so«, sagte sie. »Das hat die andere Frau auch gesagt. Nee. Niemand hat mir was Böses getan.« Hinter mir ging die Tür auf, und als ich mich umblickte, verärgert über die Störung, sah ich Rafe hereinkommen. Und dann schaute ich wieder Diane an. Und für das, was ich da sah, finde ich nur schwer die richtigen Worte. Ihr Gesicht, gebannt auf Rafe gerichtet, war leicht blaß geworden, und die gezwungene Heiterkeit ihres Lächelns unterschied sich in der Weise von einem echten Lächeln, wie sich die Röte im Gesicht eines an Kohlenmonoxidvergiftung gestorbenen Menschen von der strahlenden Röte einer Frischvermählten unterscheidet, wie sich der totenstarre Mund eines Blausäureopfers von dem fröhlichen 177
Grinsen eines Kindes unterscheidet, das zum erstenmal Mickymaus sieht. Es war das schauderhafte Lächeln eines Mädchens, das in einem Porno-Snuffvideo die Hauptrolle spielt und soeben begriffen hat, was da passiert, und noch immer hofft, daß sie, wenn sie hübsch genug ist und lieb genug und bezaubernd genug, ihr Leben kaufen kann. Als ich sah, wie sie auf Rafe zuging, wußte ich genau, was Roger gemeint hatte, als er sagte, sie habe wie eine vierzigjährige Hure gelächelt. Er hatte allerdings vergessen, mir zu sagen, daß diese vierzigjährige Hure unheilbar an TB erkrankt war und nicht das Geld hatte, sich einen Karton zu kaufen, in dem sie geschützt vor dem Schnee schlafen könnte. Rafes fassungslose Miene verriet mir, daß er dasselbe gesehen hatte wie ich. Und er hatte durch die Einwegscheibe zugeschaut, während ich mit Diane gesprochen hatte; er wußte jetzt, genau wie ich, daß sie im Beisein von Frauen ein halbwegs normales, wenn auch leicht teilnahmsloses Kind war. Erst wenn Männer dabei waren, verwandelte sie sich in Lilith, in einen Sukkubus, in eine gräßliche Parodie nicht nur eines Kindes, sondern eines Menschen. »Gayle ist dann soweit«, sagte er zu mir und verschwand schnell aus dem Raum, bevor Diane bei ihm war. »Ms. Constantine bringt dich jetzt zu einer Ärztin«, sagte ich zu ihr. »Bekomm ich da eine Spritze?« Es war der erste Anflug einer normalen kindlichen Reaktion, die ich bei ihr erlebt hatte. »Ich glaube nicht.« Ich hielt es nicht für ratsam, ihr schon jetzt zu erklären, daß die Ärztin eine Unterleibsuntersuchung vornehmen würde; ich hoffte, man würde ihr dafür eine ausreichende örtliche Betäubung, wenn nicht gar eine Vollnarkose geben, und es war unsinnig, sie jetzt noch mehr zu verängstigen, als sie ohnehin schon war. Nachdem Diane mit Gayle Constantine zu der Untersuchung gefahren war, nahm ich mir die Zeit, zum Automaten zu gehen 178
und mir eine Packung Käsekräcker und eine Tüte Kakao zu ziehen. Nicht weil ich hungrig war. Die Schmerzmittel scheinen den Hunger zu unterdrücken. Aber es war inzwischen nach ein Uhr, ich hatte seit neun nichts gegessen und wußte, daß ich um einiges schneller abbauen würde, wenn ich nichts zu mir nahm. Wem wollte ich was vormachen? Ich baute schon jetzt ab, und ich fragte mich, wann Harry in der Bibliothek fertig war und mich abholen würde. Aber ich wußte auch, daß ich mich, wenn er auf der Stelle kam, um mich nach Hause zu bringen, strikt weigern würde mitzufahren, und zwar mit der Begründung, daß ich noch hierblieben müsse, bis wir mit dem, was immer wir heute noch im Fall Reddich unternehmen würden, fertig waren. Manchmal bin ich mir selbst ein einziges Rätsel. Doch mein Fuß fühlte sich trotz der Medikamente, die ich um elf Uhr eingenommen hatte, noch immer heiß an und pochte. Ich traute mich nicht, jetzt noch mehr Tabletten zu nehmen, nicht, wenn ich wach bleiben wollte. Und allmählich beschlich mich das Gefühl, daß Harry und Captain Millner und Rafe Permut vielleicht, nur vielleicht, recht gehabt hatten – vielleicht hätte ich heute doch nicht zur Arbeit kommen sollen. Um ehrlich zu sein, da gab es kein »Vielleicht« mehr. In einem Teil meines Kopfes, dem Teil, auf den ich nicht gern höre, hatte ich gewußt, daß es nicht klug war, schon bevor ich aus dem Haus ging. Aber ich fühle mich äußerst ungern hilflos; ich bin äußerst ungern ans Bett gefesselt. Dann fühle ich mich nämlich wie ein Kind, und offen gestanden war ich nicht gerne Kind. Wahrscheinlich war ich als Kind nicht so unglücklich, wie Dusty es gewesen war und wie Diane es zu sein schien, aber meine Kindheit war schlimm genug. Wieder einmal fragte ich mich, was bei mir den Unterschied ausgemacht hatte – nur meine Großeltern? –, und auf einmal blitzte kurz eine klare Erinnerung vor meinem geistigen Auge 179
auf. Ich war fünf; mein Bruder Jim war drei, und wir waren auf der Geburtstagsparty meines zwölfjährigen Cousins gewesen, der sich aus einem mir bis heute unerfindlichen Grund gewünscht hatte, auf der Party Bingo zu spielen. Ich gewann nichts; mein Bruder – mit Hilfe meines Vaters, der dessen Zahlen im Auge behielt – gewann einen kleinen, roten Kamm. Ich weinte auf der ganzen Fahrt nach Hause. Mein Vater brüllte: »Ich kauf dir einen Kamm, zum Donnerwetter, jetzt hör endlich auf zu heulen!« Von der Rückbank, wo ich mit dem Kopf gegen die Tür gelehnt saß, schrie ich zurück: »Ich will keinen Kamm, ich will gewinnen!« In gewisser Weise faßt dieser eine Satz meine ganze Einstellung zum Leben zusammen. Es ist egal, was ich gewinne; ich will gewinnen, und dafür kämpfe ich, wenn’s sein muß, mit allen Mitteln. Hatte Dusty aufgegeben? Ich brauchte nicht zu fragen, ob Diane aufgegeben hatte; in ihrem sechs Jahre alten Gesicht war nichts zu lesen als verbittert müde Resignation. Aber vielleicht hatten sie ja doch den sichersten Weg gewählt. Es ist unsicher, sich etwas zu wünschen, was man niemals haben kann. Selbst wenn man verhungert, ob aus Mangel an Nahrung oder aus Mangel an Liebe oder einfach aus Mangel an Normalität, kann man vielleicht ein Magengeschwür vermeiden, wenn man aufgibt, anstatt sich weiter etwas zu wünschen. Vielleicht hatte ich etwas verloren, indem ich mein Leben lang gekämpft hatte. Vielleicht. Doch eines war klar: Dusty hatte ihr Leben verloren, Diane hatte alles verloren, was das Leben lebenswert macht, weil sie beide zu dem Schluß gelangt waren, irgendwo tief in ihrem Innern, daß das Leben niemals besser wird, als es im Augenblick ist. Mein Wille zu gewinnen hatte mich weit gebracht. Aber er brachte mich unbestreitbar manchmal in Schwierigkeiten, so 180
wie heute. Doch trotz meiner Empfindungen, sowohl emotionaler als auch physischer Natur, es war nicht daran zu rütteln, daß ich hier festsaß, bis Harry aus der Bibliothek kam und mich abholte, denn wenn ich mich von jemand anderem nach Hause bringen ließ und er mich dann hier vergeblich suchte, würden die Fetzen fliegen, wenn wir beide zu Hause waren. Und solange Gayle Constantine und Diane Reddich nicht vom Krankenhaus oder von der Arztpraxis, oder wo immer sie hingefahren waren, zurückkamen und wir nicht irgend etwas beschlossen, würde ich noch ein Weilchen länger hier festsitzen, zumal Rafe mich gebeten hatte, mich gar nicht erst auf den Fall einzulassen, wenn ich heute nicht wenigstens so lange an ihm dranbleiben könnte, wie es erforderlich war. Also ging ich mit den Käsekräckern und dem Kakao zurück an meinen Schreibtisch – ja, ich benutzte noch immer meinen Captain-Ahab-Rollschuh, sogar im Aufzug, was mich ein wenig schwindelig machte, weil ich jedesmal, wenn der Aufzug anhielt oder weiterfuhr, Angst hatte, der Hocker würde vom Boden abheben – und setzte mich hin, um zu essen, und dann diktierte ich auf Band meine Berichte über das, was ich bisher im Reddich-Fall unternommen hatte, und dann ging ich zum Sonderdezernat und nervte meine Kollegen mit Fragen, was im Fall Doreen Miller unternommen wurde. Ich hatte äußerst gemischte Gefühle, was diesen Fall betraf. Einerseits wollte ich wissen, daß es ihr gutging. Doch andererseits wollte ich Doreen aufgrund dessen, was Sandy mir erzählt hatte, weg von ihren Eltern haben – was bedeutete, daß ich ganz und gar nicht sicher war, ob ich Captain Millner erzählt hätte, wo Doreen war, vorausgesetzt, ich hätte es irgendwie erfahren und wäre sicher gewesen, daß sie in Sicherheit war. Es war kurz nach Viertel nach zwei, als Gayle Constantine und die uniformierte Polizistin, die sie begleitet hatte, mit Diane 181
zurückkamen. Es war noch eine Frau dabei, eine große und recht dünne Frau mit kerzengerader Haltung, die ich auf zirka fünfundsechzig schätzte. »Das ist Dr. Florence Pederson«, sagte Ms. Constantine. »Sie ist beratende Kinderärztin für die Jugend- und Familienhilfe.« »Ich habe meine Praxis aufgegeben«, fügte Dr. Pederson hinzu. »Jetzt bin ich nur noch beratend tätig, und außerdem schreibe ich ein wenig.« Ihre Stimme war ein wenig rauh, und ihr kurzgeschnittenes, stahlgraues Haar sah voll und kräftig aus. Tja, dachte ich, das erklärte, warum Diane so rasch untersucht werden konnte. »Ich würde gern ungestört mit den für den Fall zuständigen Beamten sprechen«, sagte Dr. Pederson mit einem ziemlich erbosten Blick auf Gayle. Erst als Gayle gegangen war und Margie, Rafe, Roger (leider Gottes, wie ich fand, aber Rafe meinte wohl, es würde ihn positiv beeinflussen, wenn er die Stellungnahme der Ärztin hörte), Manuel (weil er noch nie an einem solchen Fall gearbeitet hatte) und ich in einem Vernehmungszimmer Platz genommen hatten, erklärte sie: »Ich wollte das Kind zumindest über Nacht im Krankenhaus unterbringen, aber Ms. Constantine will es auf Teufel komm raus seiner Mutter zurückgeben.« Rafe stieß einen lauten Fluch aus, Margie sagte: »Wie bitte?«, und ich setzte mich aufrecht hin, obwohl wir das alle natürlich schon wußten. Wir hatten eben gehofft, die Ärztin könnte Gayle umstimmen. Dr. Pederson verzog das Gesicht. »Ms. Constantine«, sagte sie, »ist überzeugt, daß die Mutter jetzt, da sie Bescheid weiß, das Kind schützen wird. Die Statistiken… sagen etwas anderes. Ebenso die Fakten in diesem Fall. Als Ms. Constantine mir die Sachlage schilderte, war ich entsetzt. Als ich die Kleine untersuchte, war ich noch entsetzter. Ihre Vagina sah aus wie die einer Frau von mindestens über Dreißig, einer Frau, die darüber hinaus ein sexuell sehr aktives Leben gehabt hat.« 182
»Also kein Bauklotz«, murmelte ich. »Es sei denn einer von fünf Zentimeter Durchmesser«, erwiderte sie. »Hat der Vater das gesagt?« Als ich nickte, fügte sie hinzu: »Ein bißchen mehr Phantasie hätte er schon zeigen müssen. Bauklotz, nicht zu fassen! Ich… bevor ich mit Mrs. Reddich gesprochen habe, schlug ich vor, daß Diane ins Gewächshaus geht, wo mein Mann mit seinen Pflanzen beschäftigt war – er ist Botaniker, wissen Sie –, weil ich einige Zeit abwarten wollte, bis das Betäubungsmittel wirkt, das ich ihr für die Untersuchung gegeben hatte. Bevor ich aus dem Haus ging, um hier herzufahren, nahm mein Mann mich beiseite und erzählte mir, Diane habe einen… ziemlich eindeutigen Annäherungsversuch bei ihm gemacht. Das ist natürlich erlerntes Verhalten; ein Kind würde so was nicht von sich aus tun. Es erübrigt sich wohl zu sagen, daß ich mit Ms. Constantines Einschätzung der Situation nicht übereinstimme.« Sie hielt inne und fuhr dann niedergeschlagen fort: »Ms. Constantine glaubt offenbar, daß die Mutter ihr Kind nicht geschützt hat, weil sie keine Ahnung von dem Mißbrauch hatte. Ich kann dazu nur sagen, daß sie deshalb keine Ahnung hatte, weil sie es nicht wissen wollte. Mittlerweile sind zwar alle Verletzungen ausgeheilt und vernarbt, doch die Kleine muß zu einem früheren Zeitpunkt erhebliche Schmerzen gehabt haben, und es hat Blutungen und eine Infektion gegeben. Es ist unvorstellbar, daß die Mutter nichts davon mitbekommen hat. Wenn die Mutter schon eine Dreijährige nicht schützen konnte, die wiederholt vergewaltigt wurde – und der Mißbrauch hat spätestens in dem Alter angefangen, wenn nicht noch früher –, dann ist wahrhaftig nicht davon auszugehen, daß sie eine Sechsjährige schützen wird. Ich…« Sie verzog das Gesicht. »Als ich in der forensischen Pädiatrie anfing, habe ich mal einen Hausarzt kennengelernt, der von einer Mutter gerufen worden war, weil ihre Tochter aus der Scheide blutete und weinte. Der Arzt war überzeugt, daß 183
das Mädchen den Vater verführt hatte. Er sagte zu mir, die Kleine sei offensichtlich von Natur aus teuflisch veranlagt, was die Eltern, aus Ignoranz oder Gleichgültigkeit, ihr einfach nicht austreiben konnten. Ich weiß noch, daß er so was gesagt hat wie: ›Sicher, es ist schwer zu glauben, daß unschuldig wirkende Neugeborene in der Wiege den Satan im Leibe haben, aber wie die Bibel belegt, kommt das durchaus vor, und das Böse bleibt solange in ihnen, bis sie davon geläutert und durch Zucht und Ordnung zu anständigem Verhalten erzogen werden, und zwar mit so strengen Bestrafungen, wie es erforderlich ist.‹ Dann sagte er noch, daß er die Lehre Freuds zwar für falsch halte, daß sie aber in Fällen von angeborenem Bösen absolut richtig sei, und das gehe eindeutig aus der Bibel hervor. Ich muß hinzufügen, daß ich von diesem Arzt etwas über die hausärztliche Praxis lernen sollte. Ich wollte meinen Ohren nicht trauen.« »Der Mann hatte bestimmt nicht alle Tassen im Schrank«, sagte Margie. »Das habe ich auch gedacht«, stimmte Dr. Pederson zu. Ich sagte: »Aber heutzutage glaubt doch wohl kein renommierter Psychiater mehr an so einen Schwachsinn, nicht mal der glühendste Freudianer.« »Einige doch«, sagte Dr. Pederson. »Einige Freudianer und einige Leute, die sich für Christen halten. Wenn es Freudianer sind, sprechen sie vom Elektra-Komplex; sind es religiöse Fanatiker, sagen sie Sachen wie, des Menschen Herz ist böse von Jugend auf, was natürlich auch in der Bibel steht.« Ich warf den anderen einen Blick zu. Margie und Rafe hatten vermutlich den gleichen Ausdruck wie ich im Gesicht; Roger wirkte seltsam erfreut. »Können wir bitte das Thema wechseln?« fragte ich. »Das Problem ist jetzt, was wir mit Diane machen.« »Meinen Sie, das wäre das ganze Problem?« fragte Dr. Pederson. »Das ist das unmittelbare Problem. Aber Leute, die 184
glauben, Kinder sind von Natur aus böse, ob nun durch die Sünden von Adam und Eva oder durch den Ödipus- oder Elektra-Komplex, und die alles daransetzen, ihren Standpunkt zu beweisen, sind das größere Problem, vielleicht sogar ein ernsteres Problem als die Leute, die Kinder tatsächlich mißbrauchen.« »So was glaubt doch heute kein Mensch mehr«, sagte Margie trotz der Tatsache, daß Dr. Pederson die letzten fünf Minuten damit verbracht hatte, uns zu vermitteln, daß es Leute gab, die so etwas sehr wohl glaubten. »Meinen Sie?« sagte sie dann. »Ich habe etwas gelesen, was damit – dem biblischen Standpunkt, meine ich – praktisch identisch ist, und zwar in dem Handbuch einer Schule, die Unterricht zu Hause anbietet; ich habe mir das Handbuch, das gerade mal zwei Jahre alt war, angesehen, als meine Tochter überlegte, ihre Kinder zu Hause unterrichten zu lassen.« »Dann hat die Person, die das geschrieben hat, eine andere heilige Schrift als ich«, sagte ich und vergaß, daß ich eben erst gesagt hatte, wir müßten das Thema wechseln. »Seltsamerweise«, fügte sie hinzu, »ist nicht zu übersehen, daß die Frau, die das Buch geschrieben hat, ihre Kinder über alles liebt – weshalb ich mich frage, ob sie das wirklich glaubt, was sie zu glauben behauptet. Egal. Das tut jetzt nichts zur Sache; wie Sie schon sagten, jetzt geht es um die Frage, was wir mit Diane machen. Leider entscheidet ja niemand von uns, sondern die Sozialarbeiterin, ob das Kind bei Pflegeeltern untergebracht werden soll oder wieder nach Hause kommt. Ich wünschte, ich könnte im Moment mehr tun, aber leider beschränkt sich mein Beitrag auf die medizinischen Fakten. Sie kriegen morgen einen schriftlichen Bericht von mir, und natürlich stehe ich Ihnen als Sachverständige vor Gericht zur Verfügung. Kann ich jetzt gehen?« fragte sie dann. »Mein Mann hat eine angegriffene Gesundheit; ich lasse ihn nicht gern lange allein.« 185
»Ja. Danke, daß Sie gekommen sind«, sagte Rafe. Sie verließ das Vernehmungszimmer; wir übrigen blieben sitzen. Roger sagte: »Interessant, daß sie nicht mit dem Arzt einer Meinung ist, dem anderen, bei dem sie gelernt hat.« »Der Arzt war ein Idiot«, entgegnete ich, »und das hat sie deutlich gemacht.« »Du glaubst wohl immer, du weißt mehr als die Ärzte, was?« sagte Roger. »Roger, halt den Mund, ja?« sagte Margie, was mich vermuten ließ, daß sie ihn etwa genausogut kannte wie ich und ihn etwa genausogut leiden konnte. »Was meint er überhaupt damit?« fragte sie mich. »Das war eine Anspielung auf das letzte Mal, als ich in dieser Abteilung war«, sagte ich. »Er wollte damals abnehmen, und er kam rein und sagte, sein Arzt hätte ihm gesagt, er würde abnehmen, wenn er Sprite statt Cola trinken würde, weil in Sprite kein Zucker ist. Ich hab gesagt, und ich hatte absolut recht, daß das kein Unterschied wäre, wenn er abnehmen wollte, müßte er Sprite light trinken, weil in normaler Sprite wie in normaler Cola Zucker ist, nur eben kein Koffein und Farbstoff.« »Ich hab aber trotzdem abgenommen, oder nicht?« sagte Roger und blickte sich um, weil Henry Tuckman gerade hereinkam. »Ja, aber nur, weil du ins Fitneßstudio gegangen bist, und nicht, weil du eine Kalorienbombe gegen eine andere ausgetauscht hast.« »Du gibst auch nie auf«, sagte Roger. »Die Göre hat versucht, ihren Lehrer anzumachen. Sie hat versucht, mich anzumachen. Sie hat versucht, den Mann von der Ärztin anzumachen. Aber du bleibst felsenfest dabei, sie ist die gekränkte Unschuld und ihr Alter ist ein Monster.« »Roger, du bist ein Vollidiot«, sagte Margie. »Hast du denn keinen Funken Verstand, der dir sagt –« 186
»Die kleine Schlampe weiß genau, was sie will!« tobte Roger. »Das hat sie jedem Mann zu verstehen gegeben, der ihr unter die Augen kommt.« »Ja, aber, Roger«, sagte Manuel zögernd, mit seinem leichten Akzent, »kleine Mädchen sind klein, sie sind überall klein. Ich kann mir nicht vorstellen, daß jemand mit ihnen Geschlechtsverkehr hat, ohne sie halb umzubringen. Die Ärztin hat doch gesagt, daß sie geblutet und Schmerzen gehabt haben muß, und ich glaube ihr. Und Deb hat recht. Wenn ihre Vagina wie die einer dreißigjährigen Frau ausgesehen hat, dann muß das früh angefangen haben. Du redest davon, daß man Ärzten glauben muß – du hast doch gehört, wie die Ärztin gesagt hat, es hat spätestens angefangen, als die Kleine drei war –« »Ich sage dazu nur«, sagte Henry mit seiner tiefen Baritonstimme, »wenn einer das bei meinen Töchtern versuchen würde, den würde ich umbringen, das schwöre ich.« »Ich wette, deine Töchter versuchen auch nicht, alles anzubaggern, was Hosen trägt«, sagte Roger. »Deine doch auch nicht, oder?« Er blickte Wayne Harris an, und Wayne erwiderte: »Nein, aber ich hab’s ihnen auch nicht beigebracht.« »Ihr alle seid auf der Seite von dem kleinen Miststück«, sagte Roger. »Kann vielleicht auch mal einer was für ihr Opfer sagen?« Daraufhin fingen vier von uns gleichzeitig an, sich lauthals darüber zu äußern, wer hier wessen Opfer war, und Rafe brüllte: »Ruhe!« Als wieder Ruhe eingekehrt war, sagte er: »Roger, jetzt reicht’s. In deiner Freizeit kannst du so viel Verständnis für den Vater haben, wie die willst, aber egal, was du persönlich von der Moral des Kindes hältst – und ich empfehle dir, mehr über das Thema zu lesen, und zwar schnell, weil du dich hundertprozentig irrst –, Tatsache ist und bleibt, daß die Kleine minderjährig ist und der Vater gegen das Gesetz verstoßen hat. 187
Kindesmißbrauch, Vergewaltigung und Inzest sind illegal, und für mich sieht es so aus, daß er sich aller drei Verstöße schuldig gemacht hat. Leider muß ich jetzt nicht darüber nachdenken, was er getan hat, sondern wie ich eine Jury davon überzeugen kann, daß er es getan hat.« Wieder legten wir alle los, wobei Margie und ich tonangebend waren. »Bei ihrer körperlichen Verfassung –« sagte ich, und gleichzeitig rief Margie: »Bei allem, was er ihr angetan hat –« »Ihre körperliche Verfassung ist erschreckend«, stimmte Rafe prompt zu, »und wir alle, möglicherweise mit Ausnahme von Roger, sind uns offenbar einig, wer es getan hat und vermutlich warum. Bestimmt können wir ein Geschworenengericht davon überzeugen, daß sie vergewaltigt worden ist. Aber die Frage ist, können wir die Geschworenen auch davon überzeugen, daß der Vater es war? Das ist das Problem, denn dafür brauchen wir ihre Zeugenaussage, und würde irgend jemand von euch auch nur einen Pfifferling darauf wetten, daß sie ihre Geschichte nicht noch ändert?« Kurze Stille trat ein. Keiner von uns wollte darauf wetten. Es ist mitunter zum Verzweifeln, daß Kinder, und wenn sie noch so schlimm von ihren Eltern mißbraucht werden, diese Eltern trotzdem weiterhin schützen oder so tun, als wäre das alles normal und unabänderlich. »Ich rede mit dem Staatsanwalt, sobald ich einen Termin kriege«, fügte Rafe hinzu, »aber ich weiß jetzt schon, daß er mir sagen wird, noch keinen Haftbefehl zu beantragen, bis wir nicht einiges mehr aus der Kleinen rausgeholt haben.« »Ich denke, sie sollte wohl von zu Hause weg«, sagte Ms. Constantine, die kurz zuvor hereingekommen war, betrübt. »Aber ich reiße nicht gern eine Familie auseinander –« »Was denn für eine Familie?« fragte Rafe. »Sie können sich im Nu eine richterliche Verfügung besorgen. Und erzählen Sie mir nicht, Sie könnten sie bis dahin ohne richterliche Verfügung 188
nicht aus der Familie wegholen, weil ich weiß, daß Sie das können, und ich weiß auch genausogut wie Sie, daß die Gerichte allmählich ziemlich heftig reagieren, wenn Kinder in solchen Situationen nicht geschützt werden. Ich würde daher sagen, Sie müssen sie aus dem Haus holen, für Ihre eigene Sicherheit und für die des Kindes.« »Lassen Sie mich drüber nachdenken«, sagte sie. »Geben Sie mir eine Stunde.« Damit mußten wir uns vorerst begnügen. Wir trennten uns, jeder ging an seinen Schreibtisch, Ms. Constantine sprach mit Mrs. Reddich, die leise in einem Vernehmungszimmer vor sich hin weinte, und ich setzte mich an meinen Schreibtisch, bevor ich einen neuen Versuch starten wollte, mit Mr. Reddich zu sprechen. Die uniformierte Polizistin kam ins Büro und sagte: »Die Kleine hat noch nichts zu essen gehabt. Kann mir mal jemand sagen, wie lange das hier noch dauert?« »Nein«, sagte Rafe. »Dann muß ich mit ihr irgendwohin, wo sie was essen kann.« Rafe gab ihr zehn Dollar aus der Portokasse und sagte: »Sorgen Sie dafür, daß sie was Gutes kriegt.« Dann sagte er zu mir: »Könnte sein, daß ich hier vorläufig nicht rauskomme, also gehe ich auch einen Happen essen. Deb, wenn Sie gehen müssen, gehen Sie; Margie kann für Sie einspringen. Margie, Sie bleiben besser noch ein Weilchen hier, für alle Fälle.« Er sagte nicht, was für Fälle er meinte. Solche Dinge müssen eben nicht gesagt werden. Zehn Minuten später waren Margie und ich allein im Einsatzraum. »Ich hab noch gar nicht gefragt, was mit deinem Fuß ist«, sagte Margie. »Fersenspornoperation«, erwiderte ich. »Eigentlich eine Bagatelle. Aber mit Füßen… du weißt schon.« »Ich weiß«, sagte Margie. »Wunde Füße können einem den ganzen Tag versauen.« Sie zog einen Schuh aus und rieb sich 189
den bestrumpften Fuß. »Wenn Männer hochhackige Schuhe tragen müßten, hätten sie sie nie erfunden. Und egal, was alle sagen, niemand hat bisher hochhackige Schuhe hergestellt, in denen man Baseball spielen kann.« »Oder Basketball. Oder joggen«, pflichtete ich bei. »Egal was«, sagte Margie. Wir schwiegen kurz, und dann sagte Margie: »Ich wünschte, jemand würde Roger Hales erschießen. Es ist mies, so was über einen Kollegen zu sagen, aber ich tu’s trotzdem. Hab ich dir eigentlich schon erzählt, was er mir letztes Jahr angetan hat?« »Nein.« »Also, es ging um ein junges Mädchen. Ich will nicht behaupten, daß sie ein leuchtendes Bild der Tugend war, denn das war sie nicht. Sie war vierzehn, und sie saß in der Jugendstrafanstalt wegen Einbruch und Autodiebstahl. Jedenfalls, sie durfte für ein Wochenende nach Hause, weil ihre Mutter Geburtstag hatte, und als sie in die Anstalt zurückkam, rief die Leiterin mich an – das Mädchen war zwei-, dreimal mein Fall gewesen, daher wußte die Aufseherin, daß ich Arlene, so heißt das Mädchen, kannte –, und sie sagte, daß Arlene mit sehr schlimmen Prellungen zurückgekommen war. Die Leiterin – Jenna Rainwater, kennst du sie?« »Nein«, sagte ich. »Ich glaube aber, ich hab von ihr gehört. Ist das nicht die schwarze Frau, die bei der Drogenfahndung war, bevor sie in den Strafvollzug gegangen ist?« »Genau«, sagte Margie. »Also, Jenna hat Arlene gefragt, was passiert ist, und Arlene hat gesagt, ein Mann habe sie zusammengeschlagen und vergewaltigt. Jenna wollte wissen, warum sie nicht die Polizei gerufen hatte, und Arlene hat gesagt, die Polizei würde ihr nicht glauben. Dann hat Jenna mich angerufen. Ich bin hingefahren, und du kannst dir nicht vorstellen, wie sie aussah. Jemand hatte sie förmlich zu Brei geschlagen. Gesicht und Schultern und Brustkorb waren nur noch lila – er muß sie nicht nur geschlagen, sondern auch 190
getreten haben –, und außerdem hatte sie handförmige Blutergüsse am Hals, es war also ziemlich klar, daß jemand sie gewürgt hatte. Schließlich kriegte ich aus ihr raus, wer das getan hatte, und zwar Dack Gammon.« »Ach, du Schande«, sagte ich. »Aber es ist ungewöhnlich, daß er brutal zuschlägt. Normalerweise begnügt er sich doch mit Vergewaltigung, oder?« »Na, er war vorher schon mal gewalttätig geworden, aber wir haben die Opfer nicht dazu bringen können auszusagen. Und in einem Fall von Vergewaltigung ist er freigesprochen worden. Jedenfalls bin ich zu seinem Haus gefahren, das nur einen halben Block entfernt ist von dem Haus von Arlenes Mutter, und ich hab mich in der Nachbarschaft ein wenig umgehört, und ich hab fünf Zeugen gefunden, die mir erzählt haben, sie hätten an dem Samstag abend, nachdem Arlene Freitag nacht nach Hause gekommen war, gesehen, wie er ein nacktes Mädchen an den Haaren durch seinen Garten geschleift hat, ihr mit der Faust ins Gesicht geschlagen und auf sie eingetreten hat. Ich hab gefragt, warum sie nicht die Polizei gerufen hatten.« »Sie wollten nicht mit reingezogen werden«, sagte ich. »Bingo. Jedenfalls, ich wußte, daß ich eine Vergewaltigung nicht beweisen konnte, aber ich konnte auf alle Fälle schwere Körperverletzung beweisen. Als die Sache vor die Anklagejury kam, hatte ich gerade die Grippe, aber ich ging mit vierzig Grad Fieber hin und hab meine Aussage gemacht, und ich hab alle meine Zeugen aufmarschieren lassen, und dann bin ich nach Hause und hab mich ins Bett gelegt. Der Staatsanwalt hat mich später angerufen, um mir zu sagen, die Jury hätte die Anklage bewilligt. Doch zwei Stunden später rief er wieder an. Dack Gammon ist einer von Rogers Spitzeln. Und Roger ist vor die Anklagejury getreten und hat Dack aussagen lassen, das Mädchen hätte bei ihm Schmuck gestohlen und er hätte bloß versucht, ihn zurückzubekommen.« 191
»So machen wir’s doch alle, wir schleifen nackte Leute durch den Garten, schlagen sie mit den Fäusten ins Gesicht, um Schmuck wiederzubekommen«, sagte ich. »Genau. Er hat gesagt, sie hätte nicht verraten wollen, wo sie den Schmuck versteckt hatte. Als würde das Körperverletzung rechtfertigen. Jedenfalls, Roger konnte die Anklagejury überzeugen, ich wäre bloß ein boshaftes Weib, das einem Mann eins auswischen will. Nach dem Motto ›alle Frauen halten zusammen‹. Der Staatsanwalt meinte, die Jury wäre kurz davor, einen Rückzieher zu machen, und ich sollte noch einmal kommen. Deb, ich konnte nicht. Ich konnte absolut nicht. Ich hatte knapp über vierzig Fieber, und ich war wackelig auf den Beinen und hätte es nicht mal bis zum Auto geschafft, geschweige denn noch einmal in die Stadt fahren können. Also hat die Jury ihre Entscheidung rückgängig gemacht und die Anklage nicht zugelassen, und Dack war ein freier Mann, und als ich Roger das nächste Mal gesehen hab, hat er mich so hämisch angegrinst, wie nur er es kann. Am liebsten hätte ich ihm eine gescheuert.« »Das glaub ich dir«, sagte ich. »Und dann ist er mit einem Buch über Frauen, die Männer hassen, aufgetaucht und hat es Captain Millner gegeben und gesagt, er fände, ich sollte das mal lesen. Captain Millner hat ihm gesagt, er soll es zurück in die Bücherei bringen, aber Roger hat das vor den Kollegen gesagt, so daß alle es mitgekriegt haben. So hab ich dann auch davon erfahren – von zirka vier verschiedenen Leuten.« »Da hätte ich ihm dann aber garantiert eine gescheuert.« »Nein, hättest du nicht«, sagte Margie. »Und ich hab’s auch nicht getan. Aber eins sag ich dir, ich werde auf seiner Beerdigung einen Freudentanz veranstalten. Deb, kannst du eine gute halbe Stunde für mich übernehmen? Ich muß was essen. Soll ich dir was mitbringen?« »Nein, danke«, sagte ich. »Ich hab vor einer Weile gegessen. 192
Und ich bin eigentlich nicht richtig hungrig. Aber du kannst mir eine koffeinfreie Cola light mitbringen. Eine große mit ganz viel Eis. Ich glaube, ich hab wieder Fieber. Wahrscheinlich muß ich morgen zu Hause bleiben.« »Wann war denn die Operation?« »Freitag.« »Du hättest auch heute zu Hause bleiben sollen.« Darauf hatte ich keine Antwort, also versuchte ich gar nicht erst, mir eine einfallen zu lassen. Allein im Einsatzraum holte ich das Notizbuch hervor, wo ich mir ein paar Informationen über Dusty, Sandy und Doreen Miller aufgeschrieben hatte, und telefonierte weiter herum, um Doreen ausfindig zu machen. Ich war noch damit beschäftigt, als Captain Millner hereinkam, so leise, daß ich ihn erst bemerkte, als ich den letzten vergeblichen Anruf getätigt hatte, und er sagte: »Deb, ich hab Ihnen doch gesagt, Sie sollen die Finger davon lassen.« »Ich weiß«, erwiderte ich. Er setzte sich mir gegenüber. »Wenn Sie glauben, Sie wären die einzige, die wegen der Sache beunruhigt ist, dann täuschen Sie sich«, sagte er. »Wenn eine Familie zwei Kinder hat und binnen einer einzigen Woche begeht eins von beiden Selbstmord und das andere verschwindet spurlos, mit großer Wahrscheinlichkeit, weil es ausgerissen ist – ja, dann ist mir klar, daß es ein ernstes Problem gibt. Aber Sie sind nicht die einzige, die sich darum kümmern kann. Und wenn Sie vor lauter Sorge kopflos reagieren, dann bringt das nicht –« »Die Familie hatte drei Kinder«, sagte ich. »Die älteste Tochter ist in dem Alter von zu Hause weggelaufen, in dem die zweite sich umgebracht hat. Die Eltern wollen nichts mehr mit ihr zu tun haben. Sie arbeitet jetzt als Prostituierte.« »Woher wissen Sie das?« fragte er. »Davon stand in keinem Ihrer Berichte was.« »Ich kenne das Mädchen. Alexandra. Sie wird Sandy 193
genannt. Sie war eine Freundin von Becky – ist es wohl noch immer. Ich hab Freitag abend mit ihr gesprochen. Und bevor Sie fragen, nein, ich habe sie nicht angerufen. Sie hat mich angerufen und gefragt, ob sie vorbeikommen kann.« »Was hat sie Ihnen erzählt?« Ich zögerte. »Sie hat mir nicht erlaubt, Ihnen das zu sagen. Aber überlegen Sie doch mal. Sandy läuft von zu Hause weg, als sie sechzehn ist und… und fängt mit ihrem derzeitigen Beruf an. Dusty nimmt sich mit sechzehn das Leben. Dann läuft Doreen mit zehn oder elf, oder wie alt sie jetzt ist, von zu Hause weg. Sagt Ihnen das nichts?« »Sie ist elf. Vor zwei Monaten in die Pubertät gekommen, laut ihrer Mutter. Und ja, ich denke, das ist relevant – deshalb habe ich ja auch ihre Mutter danach gefragt.« Er stand auf. »Ja. Ja, ich glaube, es sagt mir etwas. Aber Deb – lassen Sie uns das jetzt machen. Wir tun unser Bestes, um Doreen zu schützen. Aber reden Sie sich nicht ein, daß Sie die ganze Last auf Ihren Schultern tragen. Es sind eine Menge Leute auf der Suche nach ihr. Ich möchte nicht, daß Sie auch noch nach ihr suchen. Ich möchte Sie aus einem sehr guten Grund aus dem Fall raushalten, und der lautet, Sie sind in der Sache emotional viel zu engagiert. Deb, Sie sind krank. Sie hätten heute gar nicht kommen dürfen, und das wissen Sie genauso gut wie ich. Sie gehören ins Bett. Unterstehen Sie sich, morgen zur Arbeit zu kommen. Und halten Sie sich aus diesem Fall raus, denn wenn Sie weiter dranbleiben, wird Sie das emotional fertigmachen, und ich brauche Sie gesund und munter. Verstanden?« Nach einem Augenblick sagte ich: »Mir ist nicht wohl dabei.« »Das weiß ich. Ich kann es Ihnen nicht verdenken. Aber ich erwarte, daß Sie sich an meine Anweisungen halten.« Ich antwortete nicht, und nach einem Augenblick sagte er: »Handeln Sie sich keinen Ärger ein«, und ging. Kurz darauf kam Gayle Constantine aus dem 194
Vernehmungszimmer, wo wir Emil Reddich untergebracht hatten. Ich war überrascht; zuletzt hatte ich sie in den Raum gehen sehen, in dem Gloria Reddich war, und ich hatte gedacht, Emil Reddich wäre schon gegangen. Sie blickte ziemlich triumphierend drein. »Der Vater hat sich gerade bereit erklärt, dem Haus fernzubleiben, bis die Ermittlung abgeschlossen ist, und seine Tochter nur unter Aufsicht zu sehen. Außerdem habe ich ihm gesagt, ich würde mir diesbezüglich eine richterliche Verfügung besorgen, und er war bereit, sich schon jetzt an die Auflagen zu halten, bevor ich die Verfügung habe. Somit haben wir wenigstens erreicht, daß Mutter und Tochter weiter zusammenbleiben können.« »Und Sie wissen, und ich weiß«, sagte Rafe später, als ich ihm von der Entscheidung erzählt hatte, »daß die Verfügung nicht das Papier wert ist, auf dem sie geschrieben steht, wenn die Mutter nicht die Polizei ruft, falls er auftaucht. Und das wird sie nicht. Gehen Sie doch nach Hause, Deb. Sie sehen fürchterlich aus.« »Ich denke, das mach ich auch«, sagte ich und griff zum Telefon, um in der Bibliothek anzurufen und eine Bibliothekarin zu bitten, Harry zu suchen und ihm zu sagen, er solle seine kranke Frau abholen und nach Hause bringen. »Was ist denn das?« fragte ich mit Blick auf das, was in dem weißen Umschlag war, den Harry mir soeben gereicht hatte. Eigentlich war offensichtlich, was es war: ein dünner Katalog aus Zellstoffpapier, der so gut wie sämtliche Supermarktprodukte aufführte, die einer Frau bekannt sind. Eigentlich wollte ich wissen, was ich damit anfangen sollte. »In der Stadt gibt’s eine Supermarktkette, die ins Haus liefert«, sagte Harry. »Früher haben sie zehn Dollar pro Bestellung berechnet, und das fand ich ein bißchen viel, aber jetzt haben sie die Kosten auf fünf Dollar pro Bestellung gesenkt, und das ist schon eher akzeptabel. Und ich hab mir 195
überlegt, du hast doch nie Zeit zum Einkaufen und es schlaucht dich immer ganz schön, bei allem, was du so am Hals hast, und jetzt bist du wirklich nicht dazu in der Lage, also hab ich den Katalog gleich bestellt, als ich davon gehört habe. Ich hab gedacht, du könntest ihn durchgehen und alles unterstreichen, was du so im Supermarkt kaufst, die richtige Marke und Größe und alles, dann geb ich es im Computer ein, und du mußt dich bloß an den Computer setzen – ich lade das Programm und rufe die Liste auf und so – und alles löschen, was du nicht möchtest, und dann fax ich die Bestellung zum Supermarkt, und die liefern es dann, und ich schreib einen Scheck aus oder du machst das, und überleg doch mal, was das für eine Zeitersparnis ist.« Offen gesagt, erweisen sich viele von Harrys Haushaltsideen als idiotisch. Aber diese fand ich toll. Vor allem jetzt, wo mir die Vorstellung, daß ich entweder durch den Supermarkt humpelte oder Harry oder Hal mit einer äußerst sorgfältig geschriebenen Liste einkaufen schickte, die sie natürlich falsch verstehen würden, ganz und gar nicht behagte. Natürlich würden sie, zumindest vorläufig, trotzdem die Einkäufe verstauen müssen, weil ich nicht mal dazu imstande war, aber das würden sie ja wohl noch hinkriegen. Nachdem ich allerlei Medikamente geschluckt hatte, versuchte ich, mich vor den Fernseher zu setzen, den Fuß auf den Couchtisch gelegt. Das war keine so gute Idee: Der Couchtisch ist sehr hart, und egal, wie ich meine Sitzposition veränderte, die empfindlichste Stelle an meiner Ferse drückte einfach immer gegen den Teil des Gipsverbandes, der auf dem Couchtisch auflag. Mit Hilfe von Lori, die um diese Zeit ohne Hal aufgetaucht war, der für ein Leichtathletikturnier trainierte, fand ich schließlich auf der Couch eine Position, bei der der Fuß auf mehreren Kissen lag und sich ein weiteres Kissen hinter meinem Kopf befand, so daß ich Fernsehen gucken und mich ausruhen konnte. 196
Nach dem Abendessen – diesmal Brathähnchen, das ein Kirchenmitglied lieferte, das ich nicht mal kannte, aber als Beilage gab es richtiges Kartoffelpüree mit Sahnesoße, gebratene Okraschoten und grüne Bohnen, die tiefgefroren gewesen sein mußten, weil sie absolut frisch schmeckten – schickte ich Harry los, noch ein paar Kissen, Kissenbezüge und einen Stufenhocker zu kaufen. »Daß wir Kissen brauchen, sehe ich ja noch ein«, sagte er, »schließlich benutzt du jedes Kissen im Haus und brauchst noch ein paar mehr, aber wieso einen Stufenhocker? Du hast in der Küche einen Hocker, um an die hohen Regale zu kommen –« »Wart’s ab«, sagte ich. »Aber kauf einen, der etwa so hoch ist« – ich zeigte, wie hoch – »und Rollen hat, damit er sich in alle Richtungen rollen läßt.« »Okay«, sagte er in dem resignierten Ton, der eigentlich bedeutet: »Ich weiß zwar nicht, was da in dich gefahren ist, aber wir werden nicht drüber diskutieren.« Nachdem er gegangen war, setzte ich mich ein wenig gerader auf und schickte Lori ein Lineal, einen roten Stift und die Schreibunterlage suchen, da der Supermarktkatalog zu dünn war, um ihn ohne Unterlage zu benutzen. Ich legte den Katalog auf die Unterlage und fing an, Sachen zu unterstreichen, wobei ich ab und zu auf dem Rand Produkte notierte, die ich normalerweise kaufe, die aber nicht aufgelistet waren. »Lori«, sagte ich einmal, »gehst du bitte in die Küche und siehst nach, wie das Zeug heißt, das ich auf die Hamburger tue?« Lori legte ihr Englischbuch mit der aufgeschlagenen Seite nach unten auf den Boden neben die Kaminplatte, auf der sie saß, ging in die Küche und kam gleich darauf mit einer Flasche Steaksoße zurück. »Meinst du das hier?« fragte sie. »Ja, danke«, sagte ich, schrieb den Markennamen auf den Rand und gab die Flasche zurück. Als sie wieder in die Küche gehen wollte, klingelte das Telefon. Lori ging dran und sagte: »Für dich. Jemand, der Jim 197
heißt.« »Okay«, sagte ich, nicht gerade außer mir vor Freude bei dem Gedanken, wieder mit meinem Bruder zu sprechen, schon gar nicht in Loris Beisein. Also sagte ich: »Lori, mir ist eben was eingefallen, ich hab ganz vergessen, Harry zu bitten, etwas Eiscreme zu kaufen, und ich hab große Lust darauf. Macht es dir was aus, zum Kiosk zu gehen? In meinem Portemonnaie sind fünf Dollar.« Sie holte das Geld mit einem Gesichtsausdruck, der mir verriet, daß ich ihr nichts vormachen konnte, und ging dann zur Tür hinaus, bevor ich mich zum Sessel manövrierte und den Hörer nahm. »Hallo«, sagte ich. »Deb, ich wollte dir nur sagen, daß es mir leid tut«, sagte Jim ohne Einleitung. »Wegen dem, was ich gestern gesagt habe… Na ja, es hat mich einfach völlig aus der Fassung gebracht, mehr nicht.« »Mensch, was für ein Zufall«, erwiderte ich. »Mich hat es auch aus der Fassung gebracht.« »Die Sache ist…« Ich konnte hören, wie er schluckte. »Die Sache ist die, ich hab gewußt, was los war. Daß Dad sich an dir vergriffen hat. Und ich hab nicht gewußt, was ich dagegen tun sollte. Ich hab die ganze Zeit gemerkt, wie schlecht es dir ging, aber ich wußte einfach nicht…« Das überraschte mich, obwohl es mich wohl nicht hätte überraschen sollen. »Jim«, sagte ich, »ich hab nie erwartet, daß du irgendwas dagegen tust, und es tut mir leid, wenn du gedacht hast, ich hätte das gemeint. Dagegen gab es nichts zu tun. Ich wußte damals nicht, was ich hätte tun können, und ich weiß noch immer nicht, was ich dagegen hätte tun können. Ich will bloß – und ich hab nicht mal drum gebeten, aber da du gestern abend am Telefon völlig ausgerastet bist –, ich will bloß, daß du zugibst, daß es passiert ist. Daß es keine Erfindung von mir ist.« »Also schön. Es ist passiert. Und wegen meiner Töchter – ich faß sie nicht an. Denk das bloß nicht. Damals in Astroworld, 198
das war total bescheuert von mir, das gebe ich zu, aber meine Töchter würde ich niemals anfassen. Ich will doch nur, daß du ihnen nicht erzählst, daß ihr Großvater… Sie hatten ihn nämlich gern, und er hat ihnen nichts getan.« »Ich hoffe, du hast recht«, sagte ich. »Ich hab Vicky und Becky nie mit ihm allein gelassen und war immer besorgt, wenn du nicht da warst, und er –« »Ich bin sicher, daß ich recht habe. Wirklich. Und… also, wenn ich dir irgendwie helfen kann –« »Nein«, sagte ich. »Ich verlange nur die Wahrheit.« »Verdammt, ich hab mich so hilflos gefühlt«, platzte es aus ihm heraus. »Ich weiß noch, einmal – Mom wollte mit ihm ins Kino, und er hat gesagt, sie könnten es sich nicht leisten, zu zweit zu gehen, und außerdem könnten sie die Kinder nicht so lange allein lassen, also hat er sie hingebracht und gesagt, er würde sie anschließend wieder abholen, und sobald er zu Hause war, hat er uns übrige im Wohnzimmer vor den Fernseher gesetzt und ist dann mit dir ins Schlafzimmer und hat die Tür abgeschlossen, und verdammt, ich war zwei Jahre jünger als du, ich war erst elf, als es anfing –« »Du warst sieben, als es anfing«, sagte ich. »Vielleicht warst du elf, als du gemerkt hast, was da lief, aber du warst sieben, als es anfing.« »Ich… Verdammt«, sagte er. »Ich hab gewußt, daß da was nicht stimmte, aber am Anfang wußte ich nicht, was. Und dann sind wir mal schwimmen gewesen im Fischteich, und er hat mit uns im Wasser gespielt, nur, dich hat er immer länger festgehalten, und du hast so unglücklich ausgesehen.« »Das war ich auch«, sagte ich. »Aber Jim, ich weiß, du hättest nichts dagegen tun können. Die einzige, auf die ich wütend bin, ist Mom, weil sie nichts getan hat, und ich weiß, daß sie was hätte tun können.« »Aber wenn sie nicht gewußt hat, was los war –« »Wenn sie es nicht gewußt hat, dann weil sie nichts wissen 199
wollte«, entgegnete ich. »Sie hätte es wissen können. Wenn er es sich leisten konnte, drei Dollar am Tag für Tabak auszugeben, dann wäre es weiß Gott drin gewesen, daß sie beide ins Kino gehen und nicht nur sie allein. Und wenn er mal was mit ihr unternehmen wollte, dann war es auch kein Problem, mich stundenlang auf euch aufpassen zu lassen.« »Das weiß ich alles. Ich sag doch nur –« »Daß du nichts dagegen tun konntest. Du mußt es nicht dauernd wiederholen, Jim. Ich glaube dir. Ich weiß, daß du nichts dagegen tun konntest. Ich sage nur, ich will, daß du die Wahrheit zugibst, und das hast du getan.« »Okay«, sagte Jim, und dann stockte er verlegen. »Hör zu, die Sache in Astroworld, ich möchte, daß du weißt, wie es wirklich war; ich hab meinen Boß gebeten, Marilyn anschließend alles zu erklären, aber ich hab es dir nie erzählt. Es war nämlich mein Boß, nicht bloß ein Kumpel, und er war sternhagelvoll.« »Das hab ich gemerkt«, sagte ich. »Na, da war er noch beschwipst, aber wenn er richtig betrunken ist, kann er ziemlich schnell fies werden. Ich hatte Angst, wenn ich nicht mitgehe, landet er im Knast, bevor es Abend wird. Aber ich schwöre, ich selbst hab nichts gemacht. Du denkst doch wohl nicht, ich geh das Risiko ein, mir den Tripper oder Schlimmeres einzufangen und Marilyn anzustecken. Und ich – es hat mich richtig sauer gemacht, du könntest meinen, ich hätte so was getan, vor allem, wo Marilyn doch im achten Monat war. Deshalb hab ich dich angebrüllt, als du gestern davon angefangen hast. Ich hätte es dir erklären sollen, aber du kennst mich ja.« Jim ist nur zwei Jahre jünger als ich, und ich kenne ihn weiß Gott, auch seine Wutausbrüche. Normalerweise merke ich, wenn er lügt. Diesmal war ich mir ziemlich sicher, daß er nicht log. »Okay«, sagte ich. »Aber du kannst verstehen, daß es für mich so ausgesehen hat.« 200
»Ja«, sagte er und fügte dann hinzu: »Kommst du klar?« »Wieso nicht?« Dann begriff ich, wie gereizt meine Stimme klang, und sagte: »Ja, Jim, ich komme klar. Wirklich.« »Du klingst seltsam.« »Ich klinge seltsam, weil ich am Freitag am Fuß operiert wurde und trotzdem heute zur Arbeit gegangen bin und Fieber bekommen habe und mich lausig fühle. Das ist alles. Aber ich muß mich jetzt was hinlegen. Also sei mir nicht böse –« »Schon gut«, sagte er. »Es tut mir leid, daß ich mich gestern wie ein Idiot aufgeführt habe. Ich melde mich wieder.« Als Lori mit der Eiscreme zurückkam, lag ich wieder auf der Couch und unterstrich emsig Lebensmittel. »Willst du jetzt was Eis?« fragte sie. »Ich muß erst mein Abendessen etwas sacken lassen«, sagte ich. »Und Lori, keine Sorge wegen des Anrufs vorhin. Das war nur mein Bruder, und er und ich hatten uns gestern gestritten, und ich wollte nicht, daß du es mitbekommst, falls wir wieder angefangen hätten. Aber wir haben uns nicht gestritten; er wollte sich bloß entschuldigen.« »Kein Problem«, sagte sie. »Daß du ungestört reden wolltest, meine ich. Schön, daß dein Bruder sich entschuldigt hat. Ich hab Schokoladeneis gekauft. Ich hoffe, du magst das.« »Für mein Leben gern«, sagte ich. »Und ich denke, ich könnte doch jetzt schon was vertragen.«
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Kapitel 9 Der Untersuchungsstuhl in der Praxis eines Fußchirurgen sieht aus wie der Behandlungsstuhl eines Zahnarztes, nur ohne das Tablett und all die kleinen Widerlichkeiten, die der Zahnarzt auf dem Tablett liegen hat, und daß er sich etwas weiter nach hinten kippen läßt. Ich lag ganz, ganz tief nach hinten, den Fuß aufgestützt, während Dr. Brandon die Teile meines Fußes untersuchte, die unter- und oberhalb des Gipsverbandes zu sehen waren. »Ich habe Ihnen gesagt«, sagte er, nachdem er sich aufgerichtet und die Hände gewaschen hatte, »daß Sie wesentlich mehr Bettruhe brauchen würden, als ich anfangs gedacht hatte, weil bei Ihnen mehr Sehnen betroffen waren, als ich vorausgeahnt hatte. Und ich hatte Ihnen gleich gesagt, Sie sollten im Bett oder auf einer Couch oder in einem Sessel bleiben und den Fuß auf zwei oder drei Kissen legen, und zwar mindestens eine Woche lang. Wenn wir die Woche verdoppeln – und eine Verdopplung ist das absolute Minimum, mit dem Sie auskommen –, ergibt das zwei Wochen, und auch das habe ich Ihnen gesagt. Also was haben Sie erwartet, als Sie nach nur drei Tagen zur Arbeit gegangen sind? Genauer gesagt, nach zweieinhalb Tagen, vom Ende der Operation an gerechnet. Sie haben sich jetzt eine schwere Tendinitis eingehandelt – eine Sehnenentzündung. Deb, der Fersensporn war an gut sechs Stellen mit der Sehne verflochten. Ich mußte die Sehne praktisch aufspleißen, um die Kalkablagerungen zu entfernen, und verletzte Sehnen heilen nicht über Nacht. Eine vernachlässigte Sehnenverletzung heilt überhaupt nicht mehr, was bedeutet, wenn Sie sich ab jetzt nicht die notwendige Ruhe gönnen, werden Sie für den Rest Ihres Lebens Probleme damit haben, und genau das sollte doch durch die Operation verhindert werden. Und obendrein sind Sie kurz davor, sich 202
eine Infektion an der Naht einzuhandeln, weil Sie Ihre Widerstandskraft so stark senken, indem Sie mehr tun, als Ihr Körper bereit ist zu tun. Ich habe Ihrem Mann ein anderes Penicillinrezept gegeben, das er einlösen wird, sobald er Sie da abgesetzt hat, wo sie hingehören. Also, ab mit Ihnen nach Hause und ins Bett, und bleiben Sie im Bett, wenn Sie nicht nur die nächsten zwei Wochen, sondern die nächsten zwei Monate nicht arbeitsunfähig sein wollen. Wenn Sie es aus irgendeinem Grund für absolut unumgänglich halten sollten, zur Arbeit zu gehen oder zur Kirche, nehmen Sie ein Kissen und einen extra Stuhl mit, damit Sie den Fuß hochlegen können. Wenn Sie zur Bücherei oder einkaufen müssen, schicken Sie jemand anderen.« Harry, der lässig an der Wand lehnte, hielt klugerweise den Mund, denn das einzige, was er zu sagen gehabt hätte, wäre etwas in der Art wie »Ich hab’s dir ja gesagt« gewesen, und er weiß, wie sehr ich den Satz liebe. Aber wenn ich drüber nachdenke, hatte er mir in den letzten zwei Tagen anscheinend ohnehin nicht viel zu sagen, und er war immer mürrischer geworden. Klar, meine Hilflosigkeit war ein Ärgernis, aber trotzdem… Ich beschloß, vermutlich richtigerweise, daß es mir nicht das geringste nützen würde, wenn ich dem Arzt sagte, ich wolle nicht sechshundert Milligramm Ibuprofen nehmen und wer weiß wieviel Milligramm von dem anderen Zeug, was immer es war, weil ich dann von Schlangen träumen würde, und sagte kleinlaut: »Okay. Danke, daß ich ohne Termin kommen durfte.« »Gern geschehen«, sagte er, »aber in Ihrem eigenen Interesse wäre es schön, wenn ich Sie erst zu Ihrem regulären Termin Wiedersehen müßte. Und das wird auch so sein, wenn Sie tun, was ich sage.« Nein, ich benutzte jetzt nicht meinen Captain-AhabRollschuh, sondern die Krücken, die ich außerhalb des Hauses und des Reviers benutzte. Ich schleppte mich zum Wagen, den 203
Harry auf einem »Nur-für-Patienten«-Parkplatz direkt vor dem Gebäude abgestellt hatte, warf die Krücken auf den Rücksitz, während ich mich an der Lehne des Beifahrersitzes festhielt, bugsierte mich mit einiger Mühe in den Wagen, setzte mich und schnallte mich an. Harry ließ den Wagen an, ohne großartig was zu sagen, wendete und fuhr los. Auf der Fahrt nach Hause sagte ich: »Harry, könnten wir wohl kurz beim Supermarkt halten…« Er sagte nichts. Aber er dachte sehr, sehr laut. »Ach nein, laß mal, ich mache besser eine Liste«, sagte ich rasch. »Du kannst die Sachen dann einkaufen, wenn du das Rezept abholen fährst.« »Gute Idee«, sagte er mit einem heiteren Ton, der etwas gezwungen klang. »Soll ich dir einen Hamburger und einen Milchshake mitbringen?« Na, vielleicht trug er sich ja doch noch nicht mit dem Gedanken, mich umzubringen. Auf den Hamburger konnte ich verzichten, aber ein Milchshake wäre wunderbar. Was ich jedoch wirklich wollte, war eine Avocado. Vielleicht zwei oder drei Avocados. Oder vier oder fünf. Schöne, weiche, extrareife Avocados. Gehackt in einem grünen Salat, mit Tomaten und Mayonnaise, oder zerdrückt mit gehackten Tomaten und Salsa, als Dip zu Tortilla-Chips. Ich lechzte förmlich nach Avocados. Angesichts der Tatsache, daß ich etwa dreimal im Jahr Lust auf Avocados habe und Avocados eine Vitamin-A-Bombe sind, wollte mein Körper mir vielleicht etwas sagen. Aber wenn er Vitamin A wollte, wieso konnte er dann nicht über Karotten oder Aprikosen sprechen, die nicht so viel Fett enthalten wie Avocados? Vielleicht wollte mein Körper ja gerade das spezielle Fett, das Avocados enthalten. Oder vielleicht war ich bloß ein kleines bißchen verrückter als sonst. Kaviar wäre auch schön, auf ganz knusprigen, dünnen 204
Scheiben Weißbrottoast… ich habe etwa einmal in drei Jahren Lust auf Kaviar. Ich mußte wirklich ein kleines bißchen verrückt sein. Doch sobald ich zu Hause war, konnte ich leider nicht lange genug wach bleiben, um den Milchshake oder die Avocados zu bekommen, und ich bat nicht mal um den Kaviar. Wieso soll ich Harry wissen lassen, daß ich heute verrückt bin? Jedenfalls, ich döste ein, während ich auf den Milchshake, die Avocados und das Penicillin wartete, und natürlich träumte ich von Schlangen. Diesmal war ich vierzehn, nicht so klein, wie ich mit zwölf gewesen war, aber noch immer so klein, daß ein heftiger Wind mich umstoßen konnte. Ich hatte vergessen, wie dünn ich damals war, obwohl ich genau wußte, wieviel Kilo ich auf die Waage gebracht hatte, weil ich sieben Jahre lang das Gewicht gehalten hatte. Aber mein Unterbewußtsein erinnerte sich. Knapp 1,58, knapp fünfzig Kilo ist für manche Körperstatur vielleicht nicht dünn, aber ich habe einen sehr schweren Knochenbau, und mit knapp fünfzig Kilo war ich praktisch unterernährt. Ich ging barfuß durch eine kahle Landschaft. Ich befand mich auf einer Klippe mit Blick aufs Meer – warum das Meer, weiß ich nicht, da ich das Meer gerade mal drei- oder viermal im Leben gesehen habe, und nie von einer Klippe aus. Ich glaube, ich muß auf den Hawaii-Inseln gewesen sein, oder vielleicht an der amerikanischen Pazifikküste. Ich stand da und sah zu, wie das Meer sich bei Ebbe immer weiter zurückzog. Väter schickten ihre Töchter mit Körben los, um die Schätze des Meeres einzusammeln, die das Wasser zurückließ – die Seesterne, die Seeanemonen, die Aale, die Aale, die Aale, und dann gingen die Väter zusammen, langsam, verstohlen, wieder den Strand hoch, blickten über die Schulter, um nachzusehen, ob die Kinder noch immer die Aale einsammelten, während die Väter weiter auf höhergelegenen Boden zugingen, in Sicherheit, und dann begriff ich, daß das nicht nur die normale Ebbe war, sondern noch etwas anderes, das Wasser zog sich zurück, bevor 205
ein Tsunami losbrauste, der häufig fälschlicherweise als Flutwelle bezeichnet wird. Ich schrie den Kindern zu, sie sollten die Aale fallenlassen und auf höheres Gelände zurückkommen, wo sie in Sicherheit wären, aber sie hörten mich nicht, und sie sammelten weiter die Aale ein, und dann kam das Wasser mit einem entsetzlichen Rauschen zurück, wie ein Zug, wie ein Tornado, viel höher als die normale Flut, und begrub die Kinder, als hätte es sie nie gegeben, und das Wasser stieg so hoch, daß es gegen die Klippe schmetterte, auf der ich stand, und ich war naß von der Gischt, und ich wich zurück und drehte mich um und lief los, immer weiter, auf eine einzelne Palme zu, die an der höchsten Stelle stand, und das Wasser verfolgte mich weiter. Als das Wasser schließlich zurückging, bis es wieder seinen normalen Pegelstand hatte, krochen riesige Schlangen aus dem Schlamm. Sie waren träge, am Anfang, und die erste kroch langsam auf mich zu, und ich wich zurück, und dann krochen immer mehr Schlangen auf mich zu, als würde der Schlamm selbst Schlangen gebären, und sie wurden alle fast zwei Meter lang und so dick wie das Handgelenk eines Mannes, und dann bewegten sie sich schneller und schneller, und es wurden immer mehr, und schließlich war die ganze Landschaft voller Schlangen, und sie verfolgten mich aus allen Richtungen. Hinter der Palme war eine Kirche – einfach irgendeine Kirche, vermutete ich, denn ich konnte nichts sehen, das mir verraten hätte, was für eine Kirche es war. Es war ein kleines, weißes Gebäude, nur eine Kapelle, mit höchstens zwei kleinen Räumen für die Sonntagsschule, und das ganze Gebäude bot maximal sechzig Menschen Platz. Die Außenwände waren mit Asbestplatten oder Brettern verkleidet, bis auf den Glockenturm, in dem keine Glocke hing und der auf allen vier Seiten offen war, und obendrauf hatte er nicht irgendein religiöses Symbol, sondern eine Wetterfahne mit einem Muster, das ich nicht erkennen konnte. 206
Die Schlangen können mir bestimmt nicht in die Kirche folgen, dachte ich und lief auf die überdachte Tür zu, die offen war, doch als ich hineinlief, sah ich, daß der Boden wie der schlimmste Alptraum von Indiana Jones aussah, über und über bedeckt mit kriechenden, sich windenden Schlangen, die sich übereinander schlängelten, über die Kanzel glitten, über das Klavier krochen (es gab keine Orgel), über und unter die Kirchenbänke schlüpften, so geschmeidig dahinflossen wie Wasser und so unaufhaltsam wie eine Lawine, und ich sah, daß ich nirgendwo hinkonnte, um ihnen zu entfliehen. Diesmal hatte ich keine Hilfe. Meine Schwester war nicht da; Oprah Winfrey war nicht in diesem Traum. Nur ich und die Schlangen. Ich wachte schweißgebadet auf, mit klopfendem Herzen, und setzte mich auf und griff nach dem Ginger Ale und dann nach dem Telefon, um Susan oder Matilda oder meine Mutter oder egal wen anzurufen, doch dann entschied ich mich gegen den Anruf und versuchte, mich zu beruhigen und nachzudenken. Die meisten Träume sind bloß Träume, vermute ich, doch wiederholte Träume sagen wahrscheinlich irgend etwas Wichtiges aus, auch wenn sie kompliziert verschlüsselt sind. Was also wollte dieser Traum mir sagen? Bei den früheren Träumen konnte kein Zweifel daran bestehen, was die Schlangen bedeuteten, war es doch die übliche freudianische Bedeutung von Schlangen, aber was hatte dieser spezielle Traum zu bedeuten – nicht nach irgendeinem allgemeinen Traumdeutungsschema, sondern nach meinem individuellen Traumcode? Seltsamerweise habe ich im richtigen Leben nie besonders Angst vor Schlangen, solange es sich um Schlangen handelt, denen ich ordentlich vorgestellt worden bin, damit ich weiß, ob sie ungiftig sind. Ich weiß noch, wie ich einmal zu einem Tatort auf dem Lande mußte; ein Hilfssheriff wollte mir zum Spaß mit einer Ringelnatter Angst einjagen und war sehr enttäuscht, als 207
ich sie ihm wegnahm und ihn wegen Schlangenmißhandlung zusammenstauchte. Es war ein wunderschönes Tier, oben grün und unten gelb, mit Augen wie Rubine mit Cabochonschliff, und ich trug sie um den Hals, bis wir an dem Tatort fertig waren, und ließ sie frei, sobald der betreffende Kollege weg war, damit er sie nicht wieder einfangen und noch einmal mißhandeln konnte. Die Panik vor Schlangen in meinem Traum mußte also Panik vor symbolischen Schlangen sein, nicht vor richtigen Schlangen. Aber das war mir ja bereits klar gewesen. Ich habe noch nie am Meer gelebt, aber meine ganze Kindheit hindurch wohnten wir in einem Haus auf einem kleinen Hügel mit Blick auf den Fischteich, wo die Kühe eines Milchfarmers zum Trinken hingingen, und es stand im Schatten einer Kiefer, wie die Kirche in meinen Träumen im Schatten einer Palme stand. Wenn wir in dem Teich schwammen, schob mein Vater die Hände in meinen Badeanzug, nahm meine Hand und schob sie in seine Badehose, während neben uns meine Geschwister planschten. Einmal glitten ein paar Mokassinschlangen in den Teich und blieben dort, bis meine Brüder sie mit Macheten töteten, und einmal legte sich eine große Mokassinschlange auf die Fensterbank vor meinem Zimmer in die Sonne, und mein Vater und meine Brüder lachten mich aus, weil ich Angst vor ihr hatte, und weigerten sich, sie zu entfernen; sie sagten, ich wäre feige, dabei bin ich noch nie feige gewesen. Da waren also das Wasser und die freudianischen Schlangen und Aale, und da war die Quelle meines Ekels und meiner Angst, die Angst, ich hätte es bis ans Lebensende mit der widerwärtigen Verstohlenheit meiner Teenagerjahre zu tun. Die Kinder sammelten die Aale ihrer Väter, bis sie ertränkt wurden, doch die Väter schauten ungefährdet zu. Nicht nur ungefährdet, sondern sorglos, als wäre ihnen gar nicht klar, daß die Kinder zu Schaden kommen könnten. Und die Erkennungsmelodie des mißbrauchenden Vaters ist die: Ich hab ihr nichts getan. 208
Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind davon die Zähne stumpf geworden. Die Sünden der Väter kommen über ihre Kinder. Nicht als göttliche Drohung, nicht als Strafe, geschickt von einem mißbrauchenden Supervater irgendwo in der Stratosphäre, sondern als unvermeidbare Folge dessen, was Menschen Menschen antun. Oh ja, sie haben mich in der Bibel unterwiesen, als ich ein Kind war. Am Samstag abend wurde ich mißbraucht, und am Sonntag nachmittag mußte ich die Bibel lesen. Aber ich mußte ganz allein hinter die Bedeutung kommen, denn die Bedeutung, die mein Vater mich von der Kanzel lehrte, war gar nicht die wahre Bedeutung. Barfuß durch eine kahle Landschaft zu gehen hatte eine ganz naheliegende Bedeutung. Als ich und meine Geschwister Kinder waren, trugen wir im Sommer nie Schuhe, solange wir in der Nähe des Hauses waren, denn wozu gutes Schuhleder und das Geld dafür verschwenden, nur damit die Kinder sich nicht die Füße verletzten, wenn man sich für das Geld, das ein Paar Schuhe kosten würden, Tabak für zwei oder drei Tage kaufen konnte, und das bei sechs Kindern? Nicht doch, dann hätte mein Vater ja womöglich einen ganzen Monat auf seine Zigaretten verzichten müssen, damit wir den Sommer über Schuhe hatten! Dort, wo wir lebten, gab es auch normale Siedlungen und sogar eine Grundschule, die leicht zu Fuß zu erreichen war, aber meine Familie wohnte auf einer Milchfarm, und die Milch, die mein Vater lieferte, war Rohmilch, von Kühen, die, wie offiziell bestätigt, frei von Krankheiten waren. Zweifellos nahrhaft und eine angenehme Vorstellung, wenn man nicht damit leben mußte. Aber wer schon einmal barfuß über eine Kuhweide gegangen ist… na ja, in der idyllischen Vorstellung, die sich die Stadtmenschen von lieblich duftenden Kühen auf einer lieblich duftenden Weide machen, ist kein Platz für Kuhfladen, und sie wissen auch nicht, daß die Kühe die 209
Feigenkakteen nicht fressen, solange denen niemand die Stacheln abbrennt. Über eine Kuhweide in Tarrant County oder fast überall in Texas zu gehen bedeutet, über ein Feld voller Scheiße und Kakteen zu gehen. Woanders sind es vermutlich Scheiße und Disteln. Kahl ist eine Untertreibung. Ich denke, eine typische Wüste riecht um einiges besser und hat erheblich weniger Krankheitserreger. In dem Jahr, als ich vierzehn war, hatte unser Pastor einen Herzinfarkt, und er konnte monatelang nicht predigen, nicht mal in die Kirche gehen, und mein Vater, als Vorsitzender des Kirchenvorstandes, stand jeden Sonntagmorgen, jeden Sonntagabend und jeden Mittwochabend auf der Kanzel und hat anderen Leuten gesagt, wie sie leben sollten. Er hielt eine Reihe von Predigten über die Propheten, wobei er sich drei Wochen lang auf das Buch Hosea konzentrierte und erklärte, daß Hoseas Ehe mit einer Dirne Israels Gier nach falschen Götzen symbolisieren sollte. Er war redegewandt; sogar Leute, die normalerweise nicht in die Kirche gingen, kamen, um ihm zuzuhören. Doch Hosea vergab wiederholt, und Gott vergibt, sooft die Menschen bereuen. Das ist die eigentliche Botschaft des Buches Hosea, die Botschaft, die mein Vater einfach wegließ. Die wahren Sünden sind die Sünden, die Menschen an Menschen begehen; Gott ist zu groß, um durch menschliche Sünde Schaden zu nehmen. »Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer.« Welcher Prophet hat das gelehrt? Mein Vater hätte das gewußt – die Worte und die Quelle, aber nicht die Bedeutung. Niemals die Bedeutung. Weil die Gesetze zum Wohle der Menschen gemacht wurden, und die Gesetze verbieten den Inzest. Ich erinnere mich auch, daß er während dieser sechs Monate, weil er sich nicht nur auf die Sonntagspredigt konzentrieren wollte, die Anmerkungen zum Katholizismus im Bibelkommentar von Halley als Grundlage für eine Reihe von Abendgesprächen über die Geschichte des Papsttums benutzte. 210
Er sprach ausschweifend über die furchtbaren Laster der mittelalterlichen Päpste, was ebenfalls viele Leute anlockte. Der Katholizismus ist in den Gegenden, die einmal der Alte Süden waren, noch immer nicht beliebt, und die meisten Leute hören sich schrecklich gern an, was diejenigen, die sie nicht leiden können, für Untaten begangen haben. Doch soviel mein Vater auch über die mittelalterlichen Päpste oder die Kümmernisse Hoseas wußte, er hörte trotzdem nicht auf, sich am Samstagabend an seiner eigenen Tochter zu vergehen, bevor er am Sonntagmorgen auf die Kanzel stieg. Deshalb hatten die Schlangen mich sogar bis in die Kirche verfolgt… Vage erinnerte ich mich an ein Kirchenlied, in dem eine Zeile »Wo ist meine Zuflucht?« oder so ähnlich lautete. Ich hatte keine gehabt. Auch nicht meine Schwester oder einer meiner Brüder. Die letzten zwölf Jahre seines Lebens setzte mein Vater keinen Fuß mehr in die Kirche, nachdem sich folgendes zugetragen hatte: Während eines Kirchenliedes, das er wie immer aus vollem Hals mitsang (mit seiner zugegebenermaßen wunderbaren Tenorstimme), hielt sich einer meiner Brüder, der Ohrenschmerzen hatte, die Ohren zu, um sich vor dem durchdringenden Klang zu schützen. Mein Vater packte meinen Bruder, zerrte ihn über den Mittelgang zur Tür hinaus und stellte ihn vor eine Säule, um ihm daraufhin vor den Augen eines Vorstandsmitgliedes und zweier Diakone drei Rippen zu brechen und zwei Vorderzähne auszuschlagen. Noch am selben Tag wurde mein Vater aus der Kirchengemeinde ausgeschlossen; meine Mutter ging weiterhin zum Gottesdienst und versuchte, die mitleidigen Blicke der anderen Frauen zu ignorieren, bis sich die allgemeine Aufmerksamkeit nach und nach auf andere Dinge richtete, und der Vorstand ließ sich schließlich soweit erweichen, daß mein Vater, meiner Mutter zuliebe, auf dem Gemeindefriedhof bestattet werden durfte. Doch während wir Kinder jung waren, hatte keines von uns 211
eine Zuflucht. Auch nicht Dusty oder Sandy, so wurde mir klar, als meine Gedanken von meinen vergangenen Problemen und denen meiner Geschwister abschweiften. Sandy hatte nie eine Zuflucht gehabt, und Dustys Zuflucht war verschwunden, als Sandy verschwand. Und falls Doreen überhaupt wußte, was sich abgespielt hatte, dann wußte sie auch, daß sie ihre Zuflucht verloren hatte. Aber Dusty war sechzehn gewesen, als sie starb. Nach dem, was Sandy mir erzählt hatte, war mit ziemlicher Sicherheit davon auszugehen, daß sie mindestens vier Jahre lang mißbraucht worden war. Was konnte dann der Auslöser gewesen sein, daß sie sich erst jetzt umgebracht hatte? Sie war nicht schwanger gewesen; das wußten wir. Soweit wir sagen konnten, war der Mißbrauch nicht eskaliert, da sie, zumindest im engen Wortsinn, noch immer Jungfrau gewesen war. Vielleicht hatte Sandy mich am Freitag ja gar nicht gefragt, so wie ich es verstanden hatte, warum Dusty gestorben war. Vielleicht hatte sie gefragt, warum Dusty gerade jetzt gestorben war und nicht zu einem anderen Zeitpunkt, und ich – aufgrund von Erschöpfung, Schmerzen oder Benommenheit von den Medikamenten – hatte es nicht verstanden. Aber wenn ich herausfinden wollte, warum Dusty jetzt gestorben war, würde ich einen Ausgangspunkt brauchen, und der Ausgangspunkt mußte, zumindest teilweise, von Sandy kommen. Ja, natürlich hatte Captain Millner mir eingeschärft, die Finger von der Sache zu lassen, da jede Menge Leute an dem Fall arbeiteten. Aber ich hatte Informationsquellen, die er nicht hatte; ich hatte Informationsquellen, die keiner von den Leuten hatte, die offiziell an dem Fall arbeiteten – das heißt, die nach Doreen suchten, da der Fall ansonsten ja abgeschlossen war. Ich hatte Sandy Miller, die bereit war, mit mir zu reden. Und ja, mir war durchaus klar, daß Harry und Captain Millner recht damit hatten, daß wir Dusty jetzt nicht mehr 212
helfen konnten. Aber wenn die Untersuchung von Dustys Tod Doreen helfen würde, dann war es die Mühe wert. Und ganz sicher würde niemand – einschließlich Dusty – das anders sehen. Die Tatsache mißachtend, daß ich ungefähr so erschöpft, ungefähr so groggy von den Medikamenten war und ungefähr so große Schmerzen hatte wie am Freitag, rief ich Sandy an, und natürlich hörte ich wieder den Anrufbeantworter. Nach dessen kecker Ansage sagte ich: »Hier ist Deb Ralston, und es ist kurz vor Mittag am Dienstag. Bitte ruf mich so bald wie möglich an.« Dann fuhr ich mit meinem rollenden Schemel weiter ins Wohnzimmer, wo Harry – etwas mißmutig, wie ich aus seiner Haltung schloß – am Computer saß. Er hatte einen Stapel Sekundärliteratur neben der Tastatur arrangiert und bemühte sich, eins von den Büchern mit einem anderen offen zu halten, während er etwas aus ihm abtippte. »Ich habe einen Kochbuchhalter, der das Buch für dich offen hält«, bot ich ihm an. »Wenn ich den wollte, würde ich ihn holen«, knurrte er. »Tschul-di-gung«, sagte ich und setzte mich auf die Couch. Mit Rücksicht auf seine demonstrative Konzentration schaltete ich den Fernseher nicht ein, um die Kanäle durchzuzappen. Ich saß einfach da. »Tschuldigung«, sagte er, etwas ruhiger. »Mir steht die Examensarbeit einfach bis hier. Und du hast mir deinen Kochbuchhalter schon mal angeboten, und jedesmal, wenn ich das Ding benutzt habe, ist es umgekippt und hat irgendwas vom Tisch gestoßen. Aber wenn mir diese Examensarbeit nicht bis hier stünde…« Seine Stimme verlor sich in Gemurmel. Ich konnte es mir gut vorstellen. Anders als die meisten Seminararbeiten für sein Betriebswirtschaftsstudium, die fünf bis sieben Seiten umfaßten und zur Hälfte in Teamarbeit erfolgten, sollte die Abschlußarbeit fünfzig bis siebzig Seiten 213
lang sein. Sie sollte detailliert ein reales Unternehmensproblem behandeln, aufzeigen, wie es gelöst wurde (oder nicht), und Vorschläge unterbreiten, wie man das Problem, als es anstand, vielleicht besser hätte lösen können, und sie sollte auf realen Situationen an Harrys Arbeitsplatz basieren. Demzufolge hatte Harry etliche Male zu Bell Helikopter fahren müssen, um mit den Entscheidungsträgern zu sprechen, die er selten traf und auch dann weiterhin selten treffen würde, wenn er das Studium abgeschlossen und den versprochenen Managerposten erhalten hatte. Bei dem Thema, das er ausgewählt hatte, ging es um den Verkauf von Hubschraubern der Marke Bell Long Ranger an Saudi-Arabien. Das Problem war sogar recht zügig gelöst worden, und um sich alternative, geschweige denn bessere Lösungen einfallen zu lassen, mußte Harry seine Phantasie bis aufs äußerste strapazieren. Ich hatte keine Ahnung, was das für ein Buch war, aus dem er Zitate in den Computer tippte, aber ich vermutete, es hatte irgend etwas mit Geschäftsgepflogenheiten in der arabischen Welt zu tun. Ich vermutete außerdem, daß er mit den Nerven am Ende war und von mir keine Vorschläge, hilfreiche oder sonstige, brauchte, bis er mit dem, was er da tat, fertig war und Zeit gehabt hatte, sich zu beruhigen. Das einzige Problem mit der Couch, so fand ich, als ich zum zehnten Mal innerhalb von gut zwei Minuten meine Position änderte, bestand darin, daß ich mich, solange Lori nicht da war, um mir Kissen zu bringen, nie und nimmer in eine bequeme Position bringen konnte, und angesichts von Harrys derzeitiger Laune schien es nicht ratsam, ihn zu bitten, mir Kissen zu holen. Auf meinem rollenden Schemel balancierend, fuhr ich in die Küche und nahm meinen Milchshake aus dem Kühlschrank; mit den Avocados würde ich auf Lori warten, damit sie mir half. Ich schnappte mir die Morgenzeitung, die ich noch nicht gelesen hatte, und ging wieder ins Schlafzimmer, wo ich nach einer Möglichkeit suchte, mit hochgelegtem Fuß die Zeitung zu 214
lesen. Es war, so stellte ich rasch fest, unmöglich, ohne die Zeitung in sehr kleine Päckchen zu falten. Ich hoffte inständig, daß Harry sie schon gelesen hatte, denn wenn nicht, würde er stinksauer auf mich werden, wenn er sie später zur Hand nahm. Ich hatte die Kolumne von Ann Landers durch und war fast mit den Comics fertig – natürlich lese ich sie vor der Titelseite, wer nicht? –, als das Telefon klingelte. Aufgrund der Schwierigkeit, die Zeitung hinzulegen, meinen Fuß von dem Berg Kissen zu heben und mich zum Telefon zu wälzen, sprach Harry bereits am anderen Apparat, als ich den Hörer abnahm. »Sie kann heute nicht zur Arbeit kommen«, sagte er mit absoluter Bestimmtheit. »Ich habe schon angerufen und Bescheid gesagt –« »Sie haben mir Bescheid gesagt«, erwiderte Rafe, »und ich möchte gar nicht, daß sie zur Arbeit kommt. Ich finde, sie hätte auch gestern nicht kommen sollen. Ich will sie bloß fragen, ob sie was dagegen hat, wenn ich ihre Nummer an Laura Washington weitergebe.« »Wer ist Laura Washington?« »Etwas, das ich am Telefon erledigen kann«, sagte ich, als es mir schließlich gelang, zu Wort zu kommen. Wenn Laura Washington so aufgewühlt war, daß sie meine Privatnummer haben wollte, obwohl sie wußte, daß ich krank war – und das hatte Rafe ihr bestimmt gesagt, falls sie es vergessen hatte –, dann würde ich sicherlich nicht lange auf ihren Anruf warten müssen. Und tatsächlich, keine drei Minuten später klingelte das Telefon schon wieder. »Danke, daß ich Sie anrufen darf«, sagte Mrs. Washington. »Ich weiß, es geht Ihnen nicht gut und wahrscheinlich haben Sie ohnehin die Nase voll von mir, aber ich weiß einfach nicht, was ich machen soll.« »Sagen Sie mir, was passiert ist«, sagte ich. »Geht’s um Diane? Oder wieder um die Bonandos?« »Wieder die Bonandos«, sagte Mrs. Washington mit einer 215
Stimme, die sowohl grimmig als auch leicht verängstigt klang. »Unser Pfarrer war gerade hier. Diese Bonando hat sich bei ihm beschwert, und er hat uns zu verstehen gegeben, daß er derlei Geschichten nicht mehr hören möchte. Aber er will uns nicht sagen, was sie gesagt hat, und seitdem Sie bei uns waren, haben weder mein Mann noch ich das Mädchen auch nur angeguckt. Ich meine, wenn sie die Straße herunterkommt, verläßt David den Garten und geht ins Haus, bis sie vorbei ist. Ich höre mich wahrscheinlich wie diese Mrs. Reddich an, aber ich kenne David, und er ist weiß Gott nicht wie Emil Reddich. Deb, ich muß Ihnen sagen, die Sache macht mir inzwischen angst. Es ist noch nicht so lange her, daß ein Schwarzer in dieser Stadt wegen so was gelyncht wurde, obwohl er nicht das geringste gemacht hat.« »Wir werden bestimmt nicht zulassen, daß Mr. Washington gelyncht wird, und ich werde mir was einfallen lassen, wie wir die Sache ein für allemal beenden können.« »Ich glaube nicht, daß das allein auf dem Mist von der Tochter gewachsen ist«, sagte Mrs. Washington. »Ich glaube, sie wäre ganz in Ordnung, wenn ihre Mutter sie bloß in Frieden lassen würde. Aber sie schürt die Sache immer wieder an –« »Das denke ich auch«, sagte ich. »Ich mache ein paar Anrufe und sehe, was ich tun kann. Sagen Sie mir, wie der Geistliche heißt, und geben Sie mir seine Telefonnummer.« Der Geistliche hieß Father Vincent, und ich brauchte etwa ein halbe Stunde, bis ich ihn am Apparat hatte; offenbar hatte er Besuche in der Gemeinde gemacht. »Ich bin Detective Deb Ralston«, sagte ich, »und ich bearbeite diese Geschichte zwischen den Bonandos und den Washingtons.« »Oh, ich wußte nicht, daß die Polizei schon eingeschaltet wurde«, sagte er. »Ich denke, ich hätte das auch gut alleine regeln können –« »Ich wurde vor Ihnen eingeschaltet«, teilte ich ihm mit. »Mrs. Bonando war letzte Woche bei mir, und ich habe dann 216
mit ihr und Janine sowie mit Mr. und Mrs. Washington gesprochen. Mrs. Washington hat mich heute angerufen, nachdem Sie mit den Washingtons gesprochen hatten. Die Anschuldigungen haben sie sehr mitgenommen, und ich muß sagen, ich kann sie verstehen. Mir ist klar, daß Sie mir nicht sagen können, was Ihnen im Vertrauen erzählt wurde, aber es wäre eine große Hilfe, wenn Sie mir einige Fragen beantworten könnten.« »Wenn ich kann.« Er klang recht jung und nicht sehr selbstsicher. »Kennen Sie die Washingtons und die Bonandos gut?« fragte ich. »Ja, und um ehrlich zu sein, ich war über die ganze Sache äußerst erstaunt«, sagte er. »Inwiefern?« »Na, daß Mr. Washington so etwas macht…« »Daß er was macht?« fragte ich, als er stockte. »Bisher haben meine Ermittlungen nämlich nicht ergeben, daß Mr. Washington überhaupt irgend etwas macht.« »Mrs. Bonando hat gesagt…« Er hielt wieder inne und fuhr dann fort. »Vielleicht sollten Sie das erfahren, schließlich wurde mir nichts unter dem Siegel der Verschwiegenheit gesagt, und es kommt mir, na ja, äußerst sonderbar vor. Mrs. Bonando hat gesagt, die Washingtons würden sich ihrer Tochter nähern, aber sie konnte einfach nicht genau sagen, was sie mit ›nähern‹ meint. Sie hat nur gesagt, Mr. Washington hätte öfters im Garten vor seinem Haus gestanden und zugeschaut, wie Janine vorbeigegangen ist, aber seit zwei Tagen läuft er jedesmal, wenn Janine auf dem Weg zur Schule bei den Washingtons vorbeikommt, ins Haus und beobachtet sie durch ein Fernglas.« »Hat sie das Fernglas genau gesehen?« fragte ich. »Sie sagt, er zieht die Vorhänge zu und späht hindurch, da kann sie das Fernglas natürlich nicht sehen.« 217
»Hat Janine Ihnen das erzählt oder Janines Mutter?« »Mrs. Bonando. Janines Mutter. Sie hat gesagt, Janine sei gestern ganz aufgelöst aus der Schule gekommen, und als Janine heute zur Schule gegangen ist, ist sie ihr mit dem Wagen gefolgt, um zu sehen, was passiert. Sie hat gesagt, Janine ist auf dem Bürgersteig gegangen und Mr. Washington war im Garten, und sobald er Janine kommen sah, ist er ins Haus geeilt. Sie hat gesehen, wie sich die Vorhänge bewegt haben. Sie hat gesagt, sie sei ganz sicher, daß er Janine durch ein Fernglas beobachtet hat, und dann hat er sie beobachtet, als sie vorbeifuhr.« »Selbst wenn er das getan hat, wäre das nicht gesetzwidrig«, stellte ich klar. »Und man kann wohl kaum jemandem einen Vorwurf machen, daß er sich in seinem eigenen Garten aufhält. Zur Zeit haben wir keinen Beweis dafür, daß er überhaupt ein Fernglas besitzt, geschweige denn, daß er es benutzt, um Janine Bonando nachzuspionieren. Hat sie – Mrs. Bonando, meine ich – Ihnen noch was erzählt?« »Nein, nichts.« »Nach dem Gottesdienst…« Ich zögerte. Meine Unkenntnis auf dem Gebiet des Katholizismus ist gewaltig, daher kannte ich mich nicht besonders gut mit den Gepflogenheiten einer Messe aus. Ich setzte erneut an. »Nach der Messe, gehen Sie da schon mal in die Eingangshalle?« »Ja, oft.« »Haben Sie da schon mal gesehen, daß Mr. Washington mit Teenagern spricht? Und wenn ja, nur mit Mädchen?« »Ja, er ist sehr freundlich«, sagte Father Vincent. »Er spricht mit Jungen und mit Mädchen.« »Was sagt er denn so zu ihnen?« »Er fragt sie nach der Schule. Manchmal sagt er den Mädchen, sie haben ein hübsches Kleid an, oder den Jungen, daß ihm ihre Krawatte gefällt. Manchmal fragt er sie, wann sie mit der Schule fertig sind und was sie studieren wollen. Wenn einer von ihnen mit dem Gedanken spielt, die Schule 218
abzubrechen, versucht er, denjenigen davon abzubringen, aber natürlich kommen diese Kinder meistens schon nicht mehr in die Kirche, bevor sie die Schule abbrechen. Er war selbst mal Lehrer an einer High-School, wissen Sie.« »Nein, das habe ich nicht gewußt. Ich wußte, daß er im Ruhestand ist, aber nicht, was er beruflich gemacht hat. Allerdings wußte ich, daß seine Frau Lehrerin war.« »Am Anfang war er an einer Schule für Schwarze, und als die Rassentrennung aufgehoben wurde, hat er sich sehr gut in eine gemischtrassige Schule integriert. Natürlich erzähle ich Ihnen da nur, was ich gehört habe; ich war zu der Zeit nicht hier, und wahrscheinlich bin ich sogar jünger als viele seiner damaligen Schüler. Er war Coach – leitender Coach in Leichtathletik und zweiter Coach für Basketball und Football. Natürlich alles Sportarten für Jungen. Und er hat Geographie und Staatsbürgerkunde unterrichtet.« »Und es hat nie Beschwerden über ihn gegeben, als er Lehrer war?« »Oh, nein, einmal ist er sogar zum Lehrer des Jahres ernannt worden, eine Auszeichnung, die die Stadt vergibt, und da war ich schon hier. Seine Schüler mochten ihn sehr. Wie ich gehört habe, war er die Sorte Lehrer, die ihre Schüler zum Nachdenken anregen. Er ist seit gut drei Jahren im Ruhestand, und ich glaube, er vermißt die Jungen und Mädchen sehr. Ich habe etliche ehemalige Schüler von ihm kennengelernt, die mir gesagt haben, wie sehr er ihnen geholfen hat, in persönlichen und schulischen Dingen.« »Dann halten Sie es also für denkbar, daß er ein junges Mädchen anspricht, das einen sehr einsamen und aufgelösten Eindruck auf ihn macht, und was Nettes zu ihm sagt?« »Ja, natürlich. Aber daß er bei einem Mädchen Annäherungsversuche macht – und ich vermute, daß Mrs. Bonando das mit ›nähern‹ gemeint hat –, also, das kann ich mir beim besten Willen nicht vorstellen. Aber auch Leute, bei denen 219
man es sich am wenigsten vorstellen kann, mißbrauchen Kinder, und ich halte die Augen offen, achte auf das Böse wie das Gute, so unangenehm das auch manchmal für einen Gemeindepfarrer sein kann.« »Auf das Böse zu achten ist in Ihrem Metier genauso wichtig wie in meinem. Aber wie gesagt, in diesem Fall sehe ich keinerlei Anzeichen dafür, daß Mißbrauch begangen wurde oder begangen wird. Mrs. Bonando war letzte Woche auf dem Polizeirevier und hat mit mir gesprochen. Sie hat mir das gleiche erzählt, was sie Ihnen erzählt hat, daß Mr. Washington sich ihrer Tochter ›genähert‹ hat, und sie konnte mir genauso wenig wie Ihnen erläutern, was sie mit ›nähern‹ meint. Und anschließend habe ich mit Janine gesprochen, und sie hat gesagt, Mr. Washington habe sie mehrmals nach der Messe in der Eingangshalle der Kirche angesprochen, obwohl sie sich anscheinend nicht erinnern konnte, was er gesagt hat, und daß er im Garten war, wenn sie auf dem Weg zur und von der Schule an seinem Haus vorbeigegangen ist. Father Vincent, haben Sie den Garten der Washingtons gesehen?« »Ja.« »Ich auch. Was würden Sie sagen, wie groß der ist?« Kurzes Schweigen. Dann sagte er: »Oh, ich schätze über neuntausend Quadratmeter. Sehr groß, vor allem für diesen Teil der Stadt.« »Und in welchem Zustand ist er?« »Sehr gepflegt. Seine Rosen sind eine Pracht.« »Wissen Sie, wer sich um den Garten kümmert?« »Er… Ich verstehe schon, was Sie sagen wollen. Klar, daß er, vor allem bei schönem Wetter, im Garten arbeitet, und das dürfte so um die Zeit sein, wenn die Kinder aus der Schule kommen, und häufig auch, wenn sie zur Schule gehen.« »Genau. Ich war bei den Washingtons und hab mit ihnen gesprochen. Mr. Washington hat zugegeben, daß er Janine ein paarmal nach der Messe angesprochen hat. Er hat gesagt, sie hat einen einsamen und unglücklichen Eindruck auf ihn gemacht 220
und er wollte sie aufheitern. Er hat gesagt, er hat sie auch angesprochen, wenn er im Garten war und sie vorbeigekommen ist, weil er sie von der Kirche her kannte und weil ihm wieder aufgefallen war, daß sie einsam wirkte. Er hat gesagt, sie ist fast immer allein gewesen, während die anderen Kinder meist zu mehreren unterwegs waren. Er hat gesagt, einmal war er gerade dabei, seine Rosen zu beschneiden, als sie vorbeikam, und er hat ihr ganz spontan eine Rose schenken wollen, und sie ist davongelaufen. Gleich am nächsten Tag ist Mrs. Bonando aufs Revier gekommen. Für mich stellt sich die Sache so dar, Father Vincent: Wir haben es hier nicht mit irgendwelchen Zudringlichkeiten von Mr. Washington gegenüber Janine Bonando zu tun, sondern vielmehr mit Schikanen von Mrs. Bonando gegenüber Mr. Washington, weil sie sich die Zudringlichkeiten gegenüber ihrer Tochter einbildet, die sie offenbar in einem permanenten Angstzustand hält. Ergibt dieses Szenario für Sie einen Sinn?« »Jedenfalls mehr als das andere Szenario«, sagte Father Vincent freundlich. »Die Washingtons sind vorbildliche Gemeindemitglieder, seit ich in der Gemeinde bin, aber Mrs. Bonando scheint ständig auf irgendwen einen Rochus zu haben, und meistens, weil sie Gespenster sieht. Möchten Sie, daß ich mit ihr rede?« »Wenn Sie meinen, daß sie Ihnen zuhört, können Sie es gern versuchen«, sagte ich, »aber ich werde mit jemandem reden, der psychologisch ausgebildet ist, und sehen, was ich vom Polizeirevier aus erreichen kann. Ob Sie nun mit den Bonandos sprechen oder nicht, es wäre nicht schlecht, wenn Sie den Washingtons sagen würden, daß Sie nicht automatisch alles glauben, was Mrs. Bonando sagt. Mrs. Washington hat wirklich große Angst.« »Das mache ich selbstverständlich«, sagte der Pfarrer. »Ich… Naja. Die Situation ist wirklich prekär.« Anschließend rief ich Mrs. Bonando an, hauptsächlich, um 221
ihr klar zu machen, daß ich noch involviert war, und sie sagte: »Na, ich hab Sie nicht angerufen.« »Das weiß ich«, sagte ich. »Ich möchte, daß Sie mir sagen, was genau Sie Father Vincent erzählt haben.« »Wieso sollte ich Ihnen das erzählen? Sie haben gesagt, Sie wollten der Sache ein Ende bereiten, und das haben Sie nicht getan.« »Was haben Sie ihm –« »Ich habe ihm erzählt, was passiert ist!« sagte sie laut. »Dann erzählen Sie’s jetzt mir.« »Also, nachdem Sie bei denen waren, hat er Janine nicht mehr angesprochen. Aber er hat sie weiter angeguckt. Sie hat mir erzählt, als sie an dem Haus vorbeigegangen ist, ist er rein ins Haus und hat dann durch die Vorhänge geguckt. Und dann bin ich hin, und sie hatte recht. Sie ist die Straße runtergekommen, und er ist ins Haus, und dann hat er mit einem Fernglas durch die Vorhänge beobachtet, wie sie vorbeigegangen ist.« »Haben Sie das Fernglas gesehen?« »Nein, aber er hatte eins.« »Woher wollen Sie das wissen?« »Ich muß das Fernglas nicht sehen, um zu wissen, daß er eins hatte!« sagte sie und fing dann an, trocken zu schluchzen. »Mrs. Bonando«, sagte ich. »Mr. Washington hat gegen keinerlei Gesetz verstoßen. Er hat sich Ihrer Tochter gegenüber in keiner Weise unanständig verhalten. Er hat mittlerweile allen Grund, Sie wegen übler Nachrede anzuzeigen, und wenn er mich nach meiner Meinung fragen würde, würde ich ihm ohne weiteres dazu raten.« »Alle stehen immer auf der Seite der Männer!« brüllte sie. »Ich hätte es mir denken können, Sie sind ein Cop, Sie sind genau wie die Männer. Niemand glaubt, was Frauen sagen, alle glauben immer nur den Männern, keine Frau ist sicher –« »Mrs. Bonando«, sagte ich scharf, »ich stehe weder auf der 222
Seite der Männer noch der Frauen. Ich stehe auf der Seite der Gerechtigkeit. Kindesmißbrauch ist weit verbreitet, einschließlich sexuellem Mißbrauch, und ich kämpfe dagegen mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln. Aber Ihre Tochter ist nicht mißbraucht worden, zumindest nicht von David Washington, und Ihre ungerechtfertigten Anschuldigungen gegen ihn sind auch eine Form von Mißbrauch, und zwar eine sehr grausame.« Sie legte auf. Ich seufzte und wählte die Nummer von Susan Brauns Klinik. Ich war jetzt so gut wie überzeugt davon, daß das eine Sache für die Psychiatrie war, nicht für die Polizei. Susan war auf einem auswärtigen Kongreß und würde erst Mittwoch abend zurückkommen. Mist, dachte ich und rief Matilda Greenwood an. Sie ist keine Psychiaterin, aber sie ist Psychologin, und vielleicht konnte sie diese verzwickte Geschichte ebenso erhellen wie Susan. Und anders als Susan war sie da und erreichbar. »Ich muß ein paar Termine verschieben«, sagte sie, »aber das dauert nicht lange. Ich bin dann in etwa einer Stunde bei dir.« Also nahm ich eine verspätete Penicillintablette, noch eine Ibuprofen und noch eine Schmerztablette, und natürlich schlief ich wieder ein. Doch zur Abwechslung träumte ich nicht von Schlangen. Ja, nach bestem Wissen, und soweit ich mich erinnern kann, träumte ich von gar nichts. Ich schlief einfach.
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Kapitel 10 Ich wurde halb wach, als Matilda gerade im Wohnzimmer zu Harry sagte, er sähe beschissen aus. »Ich fühl mich beschissen«, antwortete er. »Wie kommt’s?« »Ach, so manches.« Einen Moment lang Stille. Ich konnte mir Matildas hochgezogene Augenbrauen vorstellen, bevor Harry sagte: »Ich muß auf der Couch schlafen, weil Debs verdammter Gips das halbe Bett in Anspruch nimmt.« »Ooooch«, sagte Matilda neckend, und Harry lachte. »Schon gut«, sagte er, »ich bin kindisch. Es sind erst drei Tage. Und ich frage mich dauernd, wie lange wohl noch, weil der Arzt gesagt hat, sie muß den Gips mindestens sechs Wochen tragen, vielleicht sogar länger, und eigentlich schlaf ich gelegentlich ganz gern mit meiner Frau in einem Bett.« Wieder Schweigen, dann fügte er hinzu: »Sie hat nicht gesagt, ich soll auf der Couch schlafen. Aber ich weiß, es geht ihr elend, und ich schlafe unruhig. Vielleicht, wenn es ihr besser geht…« »Na siehst du, jetzt hörst du dich schon wieder eher nach dir an«, stellte Matilda fest. »Schläft Deb?« »Ja, soll ich sie wecken? Ich weiß, daß sie mit dir reden wollte, aber –« »Nee, laß sie schlafen. Ich hab heute sonst nichts mehr vor, zumindest nicht vor acht Uhr abends. Ich les einfach was, bis sie wieder wach wird.« Anscheinend befand mein Unterbewußtsein, daß ich ja dann wohl nicht ganz aufwachen mußte, denn ich nickte wieder ein und wachte erst auf, als Lori auf Zehenspitzen in mein Zimmer schlich, um irgendwelches Geschirr einzusammeln, das ich vielleicht benutzt haben könnte, seit sie mein Zimmer zuletzt 224
inspiziert hatte, nach dem Frühstück, was sie wie üblich bei uns eingenommen hatte. Ich setzte mich auf, und sie bot innerhalb einer knappen Minute an, meine Kissen aufzuschütteln, mein Bett zu machen, mir noch mehr Eis zu holen, mir ein Glas Milch zu holen und mir eine Schüssel Obstsalat zu machen. Ich muß wohl ziemlich ärgerlich dreingeblickt haben, denn sie sagte: »Ich wollte dich nicht nerven.« »Tust du nicht«, sagte ich. »Ich fühl mich bloß mies. Du bist eine große Hilfe.« Erst da sah ich sie genauer an und merkte, daß sie müde, besorgt und sehr niedergeschlagen aussah. Um sie aufzumuntern, sagte ich: »Wann tritt eure Band noch mal auf? Ich hab’s vergessen.« »Es ist Hals Band«, sagte sie. »Ich mag sie nicht.« Als sie weiterredete, verzog sich ihr Gesicht in dem offensichtlichen Bemühen, die Tränen zurückzuhalten. »Deb, ich kann nicht so laut singen, wie die es von mir wollen. Ich hab’s versucht und versucht und versucht, und ich kann es einfach nicht. Ich wünschte, er würde sich jemand anderen zum Singen besorgen. Er hat Angst, ich würde dann eifersüchtig, aber das würde ich nicht. Ich kann nun mal nicht etwas tun, was ich nicht kann, basta. Aber der Auftritt ist Freitag abend. Und es wird die totale Katastrophe werden. Hal meint noch immer, bis Freitag abend könnte ich laut singen.« »Das muß dich ziemlich fertigmachen«, sagte Matilda, die gerade ins Schlafzimmer kam. Lori drehte sich zu ihr um und sagte: »Hi, Sister Eagle Feather.« »Nicht, wenn ich dienstfrei habe, Liebes, nicht, wenn ich dienstfrei habe«, sagte Matilda. »Ehrlich gesagt, ich bin es ziemlich satt, Sister Eagle Feather zu sein, und würde den Namen gern loswerden. Aber die Geister lassen mich nicht, also kann ich auch gleich das volle Programm fahren. Was deine Band angeht…« »Stimmt. Daß es mich fertig macht, meine ich. Und Hal 225
fummelt andauernd an den Mikros rum und versucht, sie so einzustellen, daß ich lauter klinge, auch wenn ich nicht lauter singe.« Etwa in diesem Moment ertönte von Harry ein nicht ganz kohärentes Gebrüll mit dem ungefähren Inhalt: Wieso läßt du mein Werkzeug in der Garage liegen, und Hal schrie: »Weil ich es noch brauche!« Daraufhin begann Lori zu weinen, und erst da – als sie sich auf mein Bett warf und sich an mich schmiegte, um richtig loszuheulen – erst da dämmerte mir, daß meine Krankheit, mein Ruhiggestelltsein, sie an die entsetzlichen Tage nach dem Selbstmord ihrer Mutter erinnerte, als sie noch immer im Krankenhaus flachlag, ohne die geringste Vorstellung davon zu haben, was aus ihr werden sollte, wo sie leben sollte, und sich von niemandem außer Hal beruhigen lassen wollte. Natürlich hatte sie Angst, dachte ich, auch wenn sie nicht wußte, warum, denn obwohl sie sich rational natürlich darüber im klaren war, daß ich nur eine kleine Fußoperation gehabt hatte, vermittelte ihr Unterbewußtsein ihr ständig: Wenn ich auch diese Mutter verliere, was soll dann aus mir werden? Die Tante, bei der sie offiziell wohnte – sie übernachtete und an schulfreien Tagen frühstückte sie hin und wieder bei ihr, wenn Hal mit den Pfadfindern unterwegs war oder anderweitig zu tun hatte –, war nämlich kalt, lieblos und unfreundlich. Sie hatte deutlich gemacht, daß sie Lori nur aufgenommen hatte, weil es ihre Pflicht war, und je mehr Zeit Lori anderswo verbrachte, desto besser. Und wie ich schon oft gesagt habe, Gott stehe jedem Kind bei, das von jemandem aufgenommen wird, weil derjenige es für seine Pflicht hält. Und doch konnte ich Lori nicht anbieten, bei uns zu wohnen, so gern ich es getan hätte, denn Hal und Lori unter einem Dach zu haben wäre eine viel zu brisante Situation, wie wohlmeinend beide auch sind. Aber wieder einmal nahm ich mir fest vor, wenn Hal auf Mission ging – wie das theoretisch alle 226
männlichen Mitglieder der Mormonengemeinde im Alter von neunzehn Jahren tun, obwohl nur zwei Drittel von ihnen es dann wirklich tun –, daß ich also an dem Tag, an dem Hal zu der Missionarsschule in Provo, Utah, abreiste, Lori postwendend aus dem Haus ihrer Tante herausholen und für die kommenden zwei Jahre in Hals Zimmer unterbringen würde. Am Ende dieser zwei Jahre würde ich dann neu entscheiden, wie es weitergehen sollte. Während ich diese Vorsätze faßte, streichelte ich Lori die Schulter und versicherte ihr, daß sie ruhig sie selbst sein sollte. »Nein, soll ich nicht!« schluchzte sie. »Ich bin ein schlechter Mensch! Meine Mutter hat sich umgebracht, und Tante Jessie haßt mich, und –« »Deine Mutter war sehr verwirrt«, sagte ich, »aber du weißt, daß sie dich nicht gehaßt hat. Und was Tante Jessie betrifft, ich weiß nicht, was mit ihr los ist, weil ich weiß, daß du dein Bestes getan hast, damit ihr beide euch versteht, aber was auch immer ihr Problem ist, es ist ihres, nicht deins. Und ich hasse dich ganz bestimmt nicht. Ich wünsche mir nur, daß du die allerbeste Lori bist, die du überhaupt nur sein kannst, und da bist du auf dem besten Wege. Und mach dir nichts draus, daß du nicht laut singen kannst. Das ist nun wirklich nicht das Wichtigste im Leben!« »Für Hal im Moment aber doch!« schluchzte sie. »Wenn unser Auftritt ein Flop wird, weil ich nicht singen kann, wird er stinksauer auf mich sein und –« »Wenn er auf irgendwen sauer wird, dann am besten auf sich selbst, wenn er erwartet, daß du etwas tust, was du nicht kannst.« Hinter Matilda schoben sich sowohl Harry als auch Hal ins Zimmer. »Ich werd nicht sauer auf dich sein, Lori, versprochen!« widersprach Hal. »Ich weiß doch, daß du nicht laut singen kannst, und ich versuche wirklich, jemanden zu finden, der’s kann!« 227
Und Harry sagte: »Hör mal, Lori, ich hab nichts dagegen, wenn mein Werkzeug benutzt wird, und selbst wenn, dann wäre ich nicht böse auf dich. Ich hab bloß gedacht, Hal hätte es vergessen und wieder da draußen liegengelassen, wie letzte Woche.« Lori weinte weiter, und ich streichelte ihr weiter die Schulter. »Ich muß zu einer Arbeitsgruppe«, sagte Harry ziemlich verlegen. Das war ein weiterer Grund, warum ich froh war, daß sein Betriebswirtschaftsstudium bald zu Ende war; seit zwei Jahren mußte er nämlich ständig zu irgendwelchen Arbeitsgruppen, in denen über Strategien debattiert wurde, wie gestellte Aufgaben zu lösen waren. »Ich arbeite noch ein bißchen an dem Mikro«, sagte Hal. »Aber Lori, ehrlich, ich erwarte nicht von dir, daß du etwas tust, was du nicht kannst, also hör auf, dir Sorgen zu machen.« Als seine Schritte sich durchs Wohnzimmer entfernten, sagte Lori: »Und es stört dich auch nicht, daß ich morgens Krach mache?« »Du machst doch nie morgens Krach«, sagte ich verwundert. »Was um alles in der Welt meinst du damit?« »Tante Jessie hat gesagt, ihr ist es egal, weil sie sowieso schon auf ist, aber es wäre ungezogen von mir, euch zu einer so unchristlichen Zeit aufzuwecken.« Ich vermutete, daß die »unchristliche Zeit« sich auf den Umstand bezog, daß Lori jeden Morgen um halb sechs aufstand, um mit Hal in Harrys Pick-up zum Morgenseminar zu fahren, noch so ein interessanter Brauch, den wir kennenlernten, als Hal Mormone wurde. Sie kommen dann so gegen Viertel nach sieben wieder zurück, gerade rechtzeitig, um in Windeseile ihr Frühstück zu verputzen, was meistens aus Cornflakes besteht, es sei denn, ich hab mir richtig Mühe gegeben, und dann den Schulbus zu erwischen. »Falls du mich aufwecken würdest, was du nicht tust, wäre 228
ich sowieso schon wach, weil Hal hier herumpoltert«, stellte ich sachlich klar. »Und außerdem, wenn ihr zum Schulbus geht, muß ich gleich danach zur Arbeit, also muß ich dann ja wohl auf sein. Und wenn es mich stören würde, würde ich es dir sagen. Also hör auf, dir darüber den Kopf zu zerbrechen.« »Und Tante Jessie sagt, ich bin eine Blutsaugerin, die immer nur nimmt und nie etwas gibt.« »Du tust so viel hier im Haus«, sagte ich. »Du hast eine ganze Menge von den Aufgaben übernommen, die Becky und Vicky erledigt haben, als sie noch zu Hause wohnten. Und ich bin sicher, du würdest auch für Tante Jessie mehr tun, wenn sie dich nur ließe.« »Sie läßt mich gar nichts machen! Einmal war sie zu einem Clubtreffen, und ich hab gedacht, ich mach irgendwas, was sie nicht gern macht, und ich hab überlegt und überlegt und überlegt, was ich machen könnte, und schließlich hab ich gesehen, daß der Backofen lange nicht saubergemacht worden war, und ich hab den Backofen geputzt, und als sie nach Hause kam und es gesehen hat, hat sie gesagt, ich wollte ihr wohl unter die Nase reiben, was für eine schlechte Hausfrau sie ist, und dabei wollte ich das gar nicht, ich wollte bloß nett sein, und –« »Meinen Backofen kannst du gern jederzeit saubermachen, wenn dir danach ist«, sagte Matilda, worauf Lori unter Tränen lachen mußte. Matilda fügte hinzu: »Ich wette, Deb läßt dich ihren auch saubermachen. Überleg doch mal Deb, wen kennen wir noch, der von einem sauberen Backofen träumt?« »Tante Jessie ist das hintere Ende eines Pferdes«, sagte ich, »und ich wünschte, mir würde etwas einfallen, wie ich ihr Lori aus den Fängen reißen kann.« Nach einer Weile hörte Lori auf zu weinen, setzte sich auf, strich sich die Haare aus dem Gesicht und sagte: »Tja, da hat Lori sich mal wieder zum Narren gemacht.« »Wann denn das?« fragte Matilda mit echtem Interesse in 229
der Stimme. »Gerade eben. Habt ihr doch gesehen.« »Ich hab nichts dergleichen gesehen«, sagte Matilda. »Du etwa, Deb?« »Nein«, sagte ich. »Ich hab bloß eine ziemlich aufgelöste junge Lady gesehen, die mal Dampf abgelassen hat, und das brauchen wir alle ab und zu mal. Übrigens, Matilda, du kennst Jessie Futrell nicht.« »Die, wie ich vermute, Tante Jessie ist? Das ist das eine«, sagte Matilda. »Das andere ist, ich will Jessie Futrell gar nicht kennenlernen. Hör zu, Lori«, fuhr sie fort, während sie sich neben ihr aufs Bett setzte – wodurch es allmählich etwas eng wurde –, »Menschen, die nicht weinen oder mal schreien, wenn sie wütend sind, werden davon krank. Zugegeben, das werden auch Menschen, die zuviel weinen oder schreien, aber ich finde, du hast beim Weinen genau das richtige Maß.« »Woher wissen Sie das?« »Weil du jetzt aufgehört hast und lächelst.« Matilda setzte sich gerade hin und begann, ihre Hände im Abstand von etwa zwanzig Zentimetern behutsam um Loris Kopf zu bewegen. »Was machen Sie da?« wollte Lori wissen. »Deine Aura beruhigen. Fühlst du dich besser?« »Ich glaub schon«, sagte Lori leicht verunsichert. »Ich weiß nicht, wie ich mich fühlen soll.« Sie lachte ein bißchen und sagte dann: »Ich glaube, ich wasch mir jetzt mal das Gesicht und seh nach, ob ich Hal helfen kann.« Als sie gegangen war und rücksichtsvoll die Tür hinter sich zugezogen hatte, sagte Matilda, die jetzt am Fußende des Bettes halb saß, halb lag: »So. Jetzt erzähl mal, was los ist.« Ich erzählte ihr wahrscheinlich viel mehr, als ich gesagt hätte, wenn ich nicht so mit Medikamenten vollgestopft gewesen wäre. Ich erzählte ihr von Dusty. Von meiner Schwester. Von den Washingtons und den Reddichs und von allem anderen, was im Büro und zu Hause los war, und von 230
Harrys unerklärlicher Gereiztheit. »Ich hab schon versucht, aus ihm herauszukriegen, was er hat, aber entweder er ignoriert mich oder er schnauzt mich an«, sagte ich, »also werde ich wohl warten müssen, bis er geruht, es mir zu erzählen.« »Das mußt du wohl«, pflichtete Matilda mir bei. »Das hört sich an, als hättest du sehr viel mehr um die Ohren, als irgendwer einigermaßen bequem vom Bett aus bewältigen kann.« »Da hast du recht«, bestätigte ich. »Und im Augenblick muß ich dauernd daran denken, daß das kleine Mädchen von den Reddichs wahrscheinlich jetzt von der Schule nach Hause gekommen ist, und die Mutter ist wahrscheinlich wieder arbeiten gegangen, und ich frage mich, wenn ihr Daddy sich nach der Schule um sie gekümmert hat, ob ihre Mom eine andere Möglichkeit gefunden hat, wo die Kleine hin kann? Oder ist sie allein zu Hause? Oder ist ihr Dad wieder da?« Ich stockte. »Wenigstens das kann ich jetzt gleich feststellen.« »Bist du sicher, daß du das willst?« »Ich sag den Leuten immer, wenn sie mich rufen, weil sie etwas für ernst halten, und dann stellt sich heraus, daß es das nicht war, daß es mir verflixt noch mal viel lieber ist, wenn sie mich rufen, und es stellt sich heraus, daß es nicht nötig gewesen wäre, als daß sie mich nicht rufen, und es stellt sich heraus, daß es nötig gewesen wäre.« Beim Reden wählte ich schon die Nummer der Einsatzzentrale. »Schicken Sie einen Wagen an« – ich nannte die Adresse der Reddichs – »und stellen Sie fest, ob alles in Ordnung ist. Dort ist ein kleines Mädchen namens Diane Reddich. Der Officer soll darauf bestehen, sie sehen zu können. Im Auftrag von Detective Deb Ralston. Wir hatten die Kleine gestern auf dem Revier; wir glauben, der Vater mißbraucht sie. Es gibt eine richterliche Anordnung, daß er sich von dem Kind fernhalten muß, aber ich habe das Gefühl, daß er wieder bei ihr sein könnte. Rufen Sie mich an, wenn der Officer dort ist, oder sorgen Sie dafür, daß der Officer mich anruft.« 231
Als ich auflegte, inspizierte Matilda gerade meine Kühlbox. »Hast du irgendwas Süßes da?« fragte sie. »Heute morgen hat eine Klientin bei mir an die Tür gehämmert und wollte unbedingt, daß ich für sie die Geister befrage, und selbst nach einer so kurzen Sitzung ist mir meistens den halben Tag schwindelig, weil mein Blutzuckerspiegel absackt. Ich hab heute nur Snickers gegessen.« »Kein Wunder, daß dir dann schwindelig ist«, sagte ich. »Mein Arzt hat gesagt, wenn man niedrigen Blutzuckerspiegel hat, braucht man Proteine, nicht Zucker.« »Ich brauche Proteine und Zucker«, entgegnete sie. »Zucker sofort und Proteine langfristig.« »Im Kühlschrank ist Eiscreme«, sagte ich. »Ich würd’s dir ja holen, aber –« »›Aber‹ ist richtig«, unterbrach sie mich. »Ich hol es mir selbst. Soll ich dir auch was mitbringen?« »Ja, wenn es dir nichts ausmacht. Aber, Matilda, bitte, wenn dir schwindelig ist, fahr jetzt nicht gleich wieder. Ich hab nicht so viele Freundinnen, daß ich eine entbehren könnte.« Sie grinste mich an. »Typisch Deb, immer in Sorge um alle. Ich bin schon groß, Mommy. Ich denke gar nicht daran, mich weiter zu entfernen als bis zum Kühlschrank, um das Eis zu holen. Bin gleich wieder da.« Nachdem wir es uns beide mit unserem Schoko-Vanille-Eis gemütlich gemacht hatten, sagte Matilda: »Mir mißfällt diese Reddich-Geschichte genauso wie dir anscheinend. Diese richterliche Anordnung ist doch keinen Pfifferling wert. Wenn die Frau so unter seiner Fuchtel steht, wie ich den Eindruck habe, dann wird sie niemanden anrufen, falls er ins Haus spaziert. Was mich interessiert, ist, was hat die Mutter gemacht, während das alles gelaufen ist? War sie irgendwo unterwegs? Oder war sie im Haus? Zumindest am Anfang muß das Kind noch geschrien haben. Nach dem, was die Ärztin gesagt hat, schreit die Kleine jetzt vielleicht nicht mehr, aber am Anfang –« 232
»Ich weiß nicht«, sagte ich. »Sie arbeitete tagsüber; sie hat mir erzählt, daß sie das schon immer gemacht hat, weil sie meinte, Diane sei bei ihren Eltern besser aufgehoben als bei einem Babysitter.« »Und unter normalen Bedingungen hätte sie natürlich recht damit«, bestätigte Matilda. »Viele Leute machen das so, um sich selbst um die Kinder kümmern zu können und gleichzeitig das Geld für den Babysitter zu sparen, und meistens ist da auch nichts gegen einzuwenden, aber wenn jemand böse Absichten hat, ist das so, als ließe man das Scheunentor weit auf. Aber im Augenblick geht, mit durch den Kopf… ich bin froh, daß du den Wagen hingeschickt hast. Wenn das Kind nämlich jetzt aus der Schule gekommen ist und er noch nicht zur Arbeit mußte und die Mutter noch bei der Arbeit ist…« Sie verstummte. Sie mußte nicht weiterreden. »Falls er da ist, möchte ich wissen, was er dem Streifenpolizisten erzählt.« »Er könnte so tun, als wollte er nur seine Sachen abholen«, sagte Matilda. Ich griff erneut nach dem Hörer. »Was machst du?« fragte Matilda. »Ich will den Streifenwagen – Hallo? Hier spricht Detective Ralston. Haben Sie schon Meldung von – Verdammt, ich hab nicht gesagt, schicken Sie einen Wagen, wenn Sie dazu kommen, ich hab gesagt, schicken Sie sofort einen Wagen. Es ist mir egal, was für ein Einsatz gerade läuft, wenn Sie den Wagen nicht schicken können, dann schicken Sie eben einen anderen, aber auf der Stelle. Es könnte sein, daß da gerade ein Mißbrauch passiert – nein, ich kann nicht selbst hinfahren, ich liege frisch operiert im Bett. Schicken Sie jemanden hin. Und halten Sie mich auf dem laufenden.« Während wir auf den Rückruf warteten, plapperte ich drauflos – eine Kombination von Nervenanspannung und den Medikamenten, die meine Hemmschwelle gesenkt hatten, wie ich mir später überlegte. Ich erzählte Matilda, was der Arzt 233
gesagt hatte. Was die Washingtons gesagt hatten. Was die Bonandos gesagt hatten. Was der Pfarrer gesagt hatte. Sie hörte zu und sagte nichts. Obwohl ich ihre ruhige Unvoreingenommenheit sonst sehr schätze, war ich diesmal doch erleichtert, als das Telefon klingelte und ich den Hörer ans Ohr riß. »Detective Ralston?« hörte ich eine junge Männerstimme am anderen Ende. »Ich bin Officer Padgett. Ihr Informant hatte recht; der Vater ist hier. Zumindest, falls der Vater Emil Reddich ist. Er sagt, er will nur seine Sachen abholen, und es wäre ja sonst niemand da, um auf das Kind aufzupassen, bis die Mama von der Arbeit kommt. Ist er das?« Ich hatte nichts von einem Informanten gesagt, aber es war eine logische Annahme von Padgett. »Das ist er«, sagte ich. »Haben Sie das Mädchen gesehen?« »Ja, hab ich. Sie hat geweint, aber ich sehe keine offensichtliche Verletzung. Keiner von beiden – weder Vater noch Tochter – will mit mir reden. Was soll ich jetzt machen?« »Lassen Sie jemanden vom Jugenddezernat kommen, der auf das Kind aufpaßt, bis die Mutter nach Hause kommt, und dann nehmen Sie den Vater fest, wegen Mißachtung einer richterlichen Anordnung.« »Er sagt, er weiß nichts von irgendeiner Anordnung.« »Er lügt«, sagte ich. »Er ist hundertprozentig informiert worden. Das weiß ich genau.« »Wer hat Ausfertigungen der Anordnung?« »Er hat selbst eine, Richter Franklin hat das Original, und die andere Ausfertigung ist der Mutter übergeben worden, für den Fall, daß sie sie einem Officer zeigen muß.« »Sie haben sie gesehen, und Sie sind sicher, daß er informiert wurde?« »Absolut«, sagte ich. »Verstanden«, sagte Padgett. »Jemanden vom Jugenddezernat kommen lassen, der auf das Kind aufpaßt, bis 234
die Mutter nach Hause kommt, Vater wegen Mißachtung der richterlichen Anordnung festnehmen, alles auf Anordnung von Detective Ralston.« »Genau.« »Wird gemacht.« Er legte forsch auf, und ich wandte mich Matilda zu. Ich mußte nichts sagen. Sie sagte: »Er war da.« »Anscheinend.« »Weißt du, wie das jetzt weitergeht?« »Je nachdem, wie lange er braucht, um einen Bürgen für die Kaution zu finden, ist er irgendwann zwischen fünf Uhr heute nachmittag oder sieben Uhr morgen früh wieder draußen. Und höchstwahrscheinlich ist er dann sofort wieder bei ihnen, und diesmal doppelt so wütend wie vorher, weil er ein paar Stunden eingebuchtet war.« »Jemand sollte diese Sozialarbeiterin zur Vernunft bringen«, sagte Matilda. »Oder eine andere Sozialarbeiterin aussuchen. Man sollte doch meinen, daß sie so was weiß. Ist sie neu?« »Nein«, sagte ich. »Bloß blauäugig.« »Das sind viele. Manchmal wünschte ich, ich hätte mich nicht für die Rolle als Sister Eagle Feather entschieden, weil ich liebend gern mal ein Wörtchen mit dieser Sozialarbeiterin und dem jeweiligen Richter sprechen würde, der für diesen Fall zuständig ist, aber meine Glaubwürdigkeit würde sich in Luft auflösen, sobald jemand fragt, womit ich mein Geld verdiene.« »Sag doch, daß du Bücher schreibst«, schlug ich vor. »Priiima«, sagte sie. »Meine Gute, vom Bücherschreiben kann man nicht leben. Zumindest nicht, wenn du nicht gerade Janet Dailey heißt. Hör mal, kannst du nicht Susan Braun dazuholen?« »Sie steht erst ab Mittwoch abend zur Verfügung. Was bedeutet, daß wir sie frühestens Donnerstag mit der Sozialarbeiterin zusammenbringen können, und der Himmel allein weiß, was dem armen Kind bis dahin alles passieren 235
kann. Und überhaupt, wenn die Sozialarbeiterin nicht ihren eigenen Augen und Ohren traut, wieso meinst du, sie würde Susan trauen? Und ich weiß nicht, wer mit dem Fall betraut ist, solange ich nicht im Büro bin«, sagte ich verbittert. »Es gibt mindestens einen Detective in der Abteilung für Sexualdelikte, der auf der Seite des Vaters steht. Es macht mich wahnsinnig, daß ich hier zu Hause festsitze.« »Darüber denke ich schon die ganze Zeit nach, seit du es mir erzählt hast«, sagte Matilda, »und ich bin nicht sicher, ob der Arzt recht hat. Klar, du mußt deinen Fuß hochlegen, aber das kannst du überall tun, wo Platz genug dafür ist. Wenn du nur vielleicht einen halben Tag arbeiten würdest, dann könntest du die Sache weiter steuern und müßtest dich nicht hier halb verrückt machen.« »Das denke ich auch«, sagte ich, »aber ob Harry mich läßt?« Matilda zog wieder die Augenbrauen hoch. »Dich läßt!« »Ach, du weißt genau, wie ich das meine! Er wird nicht die Tür abschließen und davor Wache stehen, wie ein puritanischer Vater, aber Matilda, ich kann im Augenblick noch nicht mal Auto fahren.« »Tja, wenn er dich nicht fahren will, ruf mich an, und ich komm dich abholen«, sagte Matilda so leichthin, daß ich wußte, sie hielt das auch nicht gerade für eine Lösung. »Im Ernst, Harry kennt dich. Er wird genau wissen, daß du dich nur unnötig aufregst, wenn du dich nicht um die Sache kümmern kannst. Okay«, sagte sie plötzlich resolut, »du hast mich hergerufen, weil du mit mir über diese Geschichte mit den Washingtons und den Bonandos reden wolltest. Also reden wir drüber.« Ich erzählte ihr alles noch einmal, diesmal ausführlicher, und sie nickte. »Kannst du die Washingtons dazu bringen, hierherzukommen?« fragte sie. »Jetzt?« »Klar. Ich würde mich gerne mit ihnen unterhalten.« 236
»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich.« Während ich die Washingtons anrief, schlenderte Matilda hinaus zur Garage, wo die Probe noch im Gange war, und Augenblicke später konnte ich Hal und Lori hören, wie sie das Wohnzimmer aufräumten, zumindest soweit das möglich war, ohne Gefahr zu laufen, Harrys Kataloge, Studienbücher, Nachschlagewerke und so weiter zu verlegen. Natürlich hatte die Ordnung nach dem Frühlingsputz meiner Mutter stark nachgelassen. Ohne meine Oberaufsicht stießen selbst Loris gelegentliche Aufräumversuche schon mal an ihre Grenzen. Es war fast fünf, als David und Laura Washington eintrafen, und Matilda verfrachtete Mr. Washington umgehend ins Wohnzimmer, um dann mit Mrs. Washington in den Garten zu schlendern. Sie unterhielten sich wenigstens eine Stunde, bevor sie zurück ins Haus kamen und Matilda Mrs. Washington zu mir führte, um mich zu begrüßen. Dann fuhren die Washingtons wieder ab. Wie mir auffiel, sah Matilda ungemein selbstzufrieden aus. »Was hast du rausgefunden?« »Ich hab versprochen, nichts zu verraten«, sagte sie, »aber ich denke, ich weiß, was los ist. Wie kann ich deinen Sergeant erreichen?« Ich nannte ihr Rafes Namen und Telefonnummer, und dann sagte sie: »Hast du jemanden, der dir was zum Abendessen macht?« Ich erklärte ihr, wie das derzeit mit dem Abendessen lief, und sie nickte. »Dann fahr ich jetzt mal nach Hause.« Manuel Rodriguez rief ungefähr um sieben an. Harry war noch immer nicht wieder da, so daß ich nicht nein sagte, als Manuel mich fragte, ob ich nicht vielleicht doch morgen für zwei Stunden aufs Revier kommen könnte. Ich fragte, was los sei. »Der Sekundenkleber-Vergewaltiger hat wieder zugeschlagen«, sagte er. »Die Frau ist im Krankenhaus, aber sie soll morgen entlassen werden. Sie haben den Kleber noch nicht 237
von ihrem Mund abbekommen, aber sie schreibt Zettel. Sagt, daß sie morgen mit einer Polizistin sprechen möchte. Rafe hat gesagt, wenn dir nicht danach ist, würde er Margie herbeordern, aber es wäre ihm lieber, wenn es jemand wäre, der schon mal in unserer Abteilung gearbeitet hat, und ich hab schon Chandra angerufen und gefragt, aber sie meint, die Wehen haben gerade eingesetzt.« »Dann bleib ja wohl nur noch ich übrig, oder?« sagte ich. »In Ordnung, ich komme. Aber ich weiß nicht, um wieviel Uhr.« Eine Stunde später klingelte das Telefon wieder, und ich grabschte nach dem Hörer, weil ich hoffte, es wäre Harry, der mir erklären würde, wo er steckte, oder Sandy Miller, die auf meine Nachricht zurückrief. Es war Rhonda, und sie nuschelte ein bißchen. »Kann ich zu dir kommen?« fragte sie. »Allein?« »Na klar, allein, wen soll ich denn sonst mitbringen?« »Hat Mom gesagt, daß du ihren Wagen nehmen darfst?« »Meinste, ich will ihn klauen?« Eingedenk des Umstandes, daß sie das in der Vergangenheit exakt zweimal getan hatte, antwortete ich nicht, und Rhonda sagte: »Nein, ich bin mit einem Trucker befreundet, und der hat gesagt, er würde mich bei euch absetzen und später wieder abholen. Das macht dir doch nichts aus, oder? Er hat mich nämlich schon bis nach Fort Worth gebracht, und wir sind jetzt in White Settlement.« Von White Settlement bis zu mir braucht man mit dem Wagen ungefähr zehn Minuten. Ich wollte keine betrunkene Person, und vor allem nicht Rhonda, in meinem Haus haben, wo ich vor lauter Schmerzmitteln ganz benommen und Harry ohne Erklärung von der Bildfläche verschwunden war, aber da ich mich in dem Moment zutiefst schuldig fühlte, weil ich sie nicht beschützt hatte, als wir Kinder waren, sagte ich ja. Schon als sie zur Haustür hereinkam, merkte ich, daß sie 238
noch betrunkener war, als ich gedacht hatte. Sie stolperte über einen Stuhl, der nicht mal annähernd in der direkten Linie stand, die jemand auf dem Weg von der Haustür zu meinem Schlafzimmer gehen würde, und ich konnte sehen, wie Hal und Lori sie anstarrten, beide offensichtlich entsetzt und ziemlich verstört. Hal zeigte fragend zur Haustür, und ich nickte; Augenblicke später hörte ich meinen Wagen anspringen. Ich wußte nicht, wo sie hinwollten; aber es war auf jeden Fall besser, als hier im Haus zu sein, mit einer sternhagelvollen Rhonda. Rhonda fand schließlich in mein Zimmer und blieb lange genug in der offenen Tür stehen, daß ich sehen konnte, daß sie barfuß war und eine sehr kurz abgeschnittene Blue jeans trug, die im Schritt ausgefranst war, ungefähr da, wo der Saum gewesen wäre, wenn die Hose einen Saum gehabt hätte, und ein weißes, ärmelloses Top, ziemlich dreckig. Dann ließ sie sich schlaff in den Sessel fallen. »Die alte Kuh macht mich wahnsinnig«, sagte sie laut. »Von welcher alten Kuh sprichst du?« fragte ich verhalten. »Mom, was dachtest du denn? Mach dies, tu das, nimm ein Bad, räum deine Sachen weg, mach dein Bett, müßtest du denn jetzt nicht deine Medizin nehmen – als ob ich sechs Jahre alt wäre. Ich kann ein Bad nehmen, wenn ich es brauche, und ich weiß, wann ich meine Medizin nehmen muß, und wenn es mein Zimmer ist, dann räum ich meine Sachen weg und mach mein Bett, wenn ich Lust dazu hab. Ich hab nicht drum gebeten, bei ihr zu wohnen! Sie wollte es. Ich krieg Stütze, weil ich nich mehr arbeiten kann, und das hat nich für die Wohnung gereicht, die ich hatte, aber ich könnte mir irgen’wo ein Zimmer nehmen, aber nee, sie meint: ›Schätzchen, du bist doch krank, du mußt nach Hause kommen und bei mir wohnen‹, als ob ich da je zu Hause gewesen war!« Da hatte Rhonda nicht unrecht. Nach Dads Tod war Mom natürlich von der Molkerei weggezogen, für die er gearbeitet 239
und wo wir alle gewohnt hatten, und war in ein kleines Haus in der Stadt gezogen, das sie schließlich sogar kaufen konnte. Doch nur die jüngsten beiden Söhne hatten je dort mit ihr gelebt. Für uns andere war es nie ein Zuhause gewesen, nicht mal im weitesten Sinne des Wortes. »Ich meine«, redete Rhonda weiter, »als ich noch ein Kind war, war sie ein hoffnungsloser, hilfloser, schlaffer Feigling, und jetzt ist sie zum reinsten Hausdrachen geworden, und ich sag dir, das gefällt mir überhaupt nich.« Auch darin hatte sie nicht unrecht. Aber sie war offensichtlich extrem berauscht, und ich wollte nicht, daß sie mir auf den Teppich kotzte. Erbrochenes enthält Körperflüssigkeiten, und bei zwei Katzen im Haus hat jeder in der Familie ständig ein paar Kratzer an den Händen. »Was hast du getrunken?« fragte ich. »Hab nix getrunken.« »Aber irgendwas hast du doch genommen?« Sie lachte laut, heiser. »Daddys Modellflugzeugkleber. Ich hab geschnüffelt. Dachte, dann könnte ich vergessen, daß ich sterbe. Hat nich geklappt.« »Daddy ist tot.« »Aber sein Modellflugzeugkleber nich. Deb, das Zimmer, in das sie mich gesteckt hat, das is der reinste Altar für unseren armen, guten Daddy. Sie hat nichts von seinen Sachen weggeworfen, gar nichts. Seine Klamotten, seine Schuhe, seine Modellflugzeuge, sogar die, die er nicht fertiggekriegt hat, und den Kleber, mit denen er sie zusammengebaut hat. Das einzige, was sie tatsächlich weggeschmissen hat, waren seine schweinischen Fotos, die Illustrierten und die Filme. Aber alles andere ist noch da. Deb, ich sag dir, ich kann da nich schlafen, das Zimmer stinkt nach Camel-Zigaretten und diesem grauenhaften grünen Aftershave, das er immer genommen hat, ich weiß nich mehr, wie das heißt, aber jedesmal, wenn ich die Augen zumache, hab ich das Gefühl, der alte Sack steigt gleich 240
zu mir ins Bett. Ich hab gefragt, ob ich das Zeug nich wegschmeißen darf – ich glaub der Geruch steckt in den Klamotten –, aber sie wollte nix davon wissen. Deb, ich kann da einfach nich schlafen, ich kann nich!« »Das hab ich nicht gewußt«, sagte ich. »Ich bin nicht oft bei ihr, und ich glaube, in dem Zimmer nach hinten raus war ich noch nie. Das ist morbide –« »Morbide! Ich wünschte, es wäre nur das!« sagte Rhonda bitter. »Es ist, als ob er ’ne Art Heiliger gewesen wäre. Deb, ich muß da raus, ich such mir ’ne andere Bleibe. Und bevor du fragst, nein, ich bitte dich nich darum, ob ich hier wohnen kann.« Das war auch gut so, obwohl ich im Kopf schon angefangen hatte, Sachen umzuräumen und mir zu überlegen, wie ich Harry überreden könnte, die absolute Zerreißprobe auf sich zu nehmen, die ihre Anwesenheit bedeutet hätte. »Ich würde es ja versuchen«, sagte ich vorsichtig, »aber ehrlich gesagt, ich glaube nicht, daß es klappen würde.« »Ach Mensch, das weiß ich doch. Im besoffenen Kopf würd ich hier alles kaputtmachen, und getrunken hab ich sowieso. Ich hab diesen Kleber geschnüffelt, aber davon geht’s mir bloß schlechter, und dann hab ich Phil angerufen, und Phil ist es egal, daß ich AIDS hab, weil er auch infiziert ist, auch wenn er noch keine Symptome zeigt. Und nein, er hat’s sich nicht bei mir geholt, er sagt, er hat’s von ’ner schnellen Nummer in irgend so einem Truck-Stop, aber egal woher, er hat’s jedenfalls. Also haben wir uns Wodka besorgt und im Fahrerhaus von seinem Track rumgemacht, und dann hat er gesagt, er würd mich hier absetzen, damit ich mich von dir verabschieden kann, weil ich nich glaube, daß ich noch mal hier herkomme, und morgen früh holt er mich ab.« »Morgen früh«, sagte ich schwach. »Ja, er verbringt die Nacht in einem von diesen TruckerMotels, weißt du, da gibt’s bloß so kleine Kabuffs, und er hat 241
gesagt, ich könnte im Fahrerhaus von seinem Track in der Koje pennen, aber da drin ist es immer entweder zu heiß oder zu kalt, und überhaupt, ich hab mittlerweile Angst, allein zu schlafen. Aber ich hab ’ne Freundin in Denver, und er ist auf dem Weg nach Denver und hat gesagt, er nimmt mich mit. Bevor ich beschlossen hab, hierherzukommen, wollte er mich morgens bei Mom abholen, aber ich habe schon all meine Sachen und Klamotten bei ihm im Truck, und Deb, ich kann in dem einfach nich mehr schlafen, und es macht dir doch wohl nix aus, wenn du mich bei dir auf der Couch schlafen läßt, oder?« Offensichtlich würde es mir nichts nützen, wenn ich sagen würde, daß es mir doch was ausmachte, und außerdem war es mir lieber, wenn sie schlief, anstatt mir auf den Teppich zu kotzen. Also sagte ich statt dessen: »Rhonda, es gefällt mir gar nicht, wenn du nach Denver ziehst, du hast doch da überhaupt keine Verwandten. Wieso sprichst du nicht mit Mom, daß sie die Sachen aus dem Zimmer räumt?« »Vergiß es«, sagte sie, »ich werd auf keinen Fall mehr bei Mom wohnen. Ich hätt’s gar nich erst versuchen sollen, aber ich hab ja nich gewußt, daß sie sich in einen Hausdrachen verwandelt hat. Deb, ich kann da nich mehr wohnen. Und von meinen Brüdern spricht keiner mehr mit mir. Vor ein paar Tagen hab ich versucht, Jim anzurufen, und er hat einfach aufgelegt.« »Jim war wütend auf mich und hat’s an dir ausgelassen«, sagte ich. »Wahrscheinlich ist er jetzt drüber weg.« »Jim war wütend auf die Welt, und das war er schon immer«, entgegnete sie. »Als ob immer nur ihm übel mitgespielt worden wäre.« »Hör mal«, sagte ich, »warte doch noch ein paar Tage. Du solltest jetzt keine voreiligen Entscheidungen treffen –« »Es ist keine voreilige Entscheidung«, sagte sie und klang einen Moment lang halbwegs nüchtern. »Deb, ich mach dir keine Vorwürfe, überhaupt keine. Wenn ich du wär, würd ich 242
auch nich wollen, daß ich bei euch wohne. Du hast Kinder großzuziehen, und jeder wird verrückt, der mit mir unter einem Dach lebt. Ich schlaf von morgens bis abends und guck die ganze Nacht fern und räum nie was weg. Aber als ich noch meine Wohnung hatte, war es zumindest meine Wohnung, und mir hing nich dauernd Mom im Nacken, als wär ich noch keine acht. Darf ich auf der Couch schlafen?« »Klar, Rhonda«, sagte ich, »schlaf auf der Couch. Aber verabschiede dich noch von mir, bevor du morgen früh fährst.« »Okay«, sagte sie und torkelte Richtung Couch. Es war schon nach Mitternacht, als Harry nach Hause kam. Der Tropfen, der das Faß zum Überlaufen brachte, dachte ich – denn auch er hatte getrunken. Er war nicht richtig betrunken, aber er konnte von Glück sagen, daß er auf der Heimfahrt nicht kontrolliert worden war. Natürlich wußte ich, daß er in der Elks Lodge gewesen war und mit seinen Freunden getrunken hatte, nicht in einer Bar mit einer Frau, aber das machte mich auch nicht glücklicher. Er kam ins Schlafzimmer, weckte mich auf, indem er das Licht einschaltete, und sagte dumpf: »Wie ich sehe, ist die Couch belegt.« »Es tut mir leid, Harry. Sie reist morgen früh ab.« »Verstehe. Und wo soll ich deiner Meinung nach in der Zwischenzeit schlafen?« »Hier ist doch Platz –« »Prima. Als ob ich Lust hätte, um zwei Uhr nachts wach zu werden, weil ich deinen Gips ins Kreuz kriege, wenn du über mich hinweg kriechst, um aufs Klo zu gehen.« Ich sah ihn wütend an und sagte: »Wenn das so ist, würde ich das Bett in Camerons Zimmer vorschlagen. Er benutzt es offensichtlich zur Zeit nicht.« Harry fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht. »Ich bin wohl nicht mehr ganz klar im Kopf«, murmelte er. »Das Bett hab ich völlig vergessen. Aus irgendeinem Grund hab ich nur an das Kinderbett gedacht.« 243
Ich verkniff mir, ihn darauf hinzuweisen, daß wir die Gitterstangen von dem Kinderbett entfernt und durch einen herkömmlichen Rahmen ersetzt hatten, so daß das Kinderbett jetzt ein normales Bett war. Statt dessen sagte ich bittend: »Harry, erzähl mir doch, was mit dir los ist –« »Nichts ist mit mir los«, antwortete er. Mit einer halblauten und nicht ganz schlüssigen Entschuldigung dafür, daß er mich geweckt hatte, zog er von dannen Richtung Camerons Zimmer. Als ich um sieben Uhr aufwachte, war ich allein im Haus. Hal war natürlich zum Morgenseminar gefahren und hatte unterwegs Lori vom Haus ihrer Tante abgeholt, und Rhondas Trucker mußte sie abgeholt haben. Bevor sie ging, hatte sie die Couch sorgfältig glattgestrichen, ihre Decke zusammengefaltet und das Kissen oben draufgelegt. Auch Harry war weg; an seinem Computermonitor klebte ein Zettel: »Tut mir leid, daß ich mich letzte Nacht so aufgeführt habe. Ich hab den Pkw genommen, weil Hal den Pick-up hat. Frühstücke in der Stadt – hab da was zu erledigen. Weiß nicht, wann ich wieder zurück bin.« Verdammt, dachte ich, ich hab vergessen, ihm zu sagen, daß ich zur Arbeit muß. Das bedeutete natürlich, daß Hal mich mit dem Pick-up in die Stadt fahren mußte, und in meinem derzeitigen Zustand könnte sich das Ein- und Aussteigen ein bißchen schwierig gestalten, zumal er bestimmt auch Lori zur Schule bringen wollte, und wenn er, ich und Lori – zusammen mit meinem Gips – in das Führerhaus eines alten Ford Pick-up passen wollten, würden wir uns ganz schön zusammenquetschen müssen. Es bedeutete außerdem, daß ich pünktlich zum Dienst erscheinen würde, genau das, was ich gerade nicht wollte – ich hatte eher an zehn Uhr gedacht, ungefähr der Zeitpunkt, an dem die Frau, die dem Sekundenkleber-Vergewaltiger zum Opfer gefallen war, kommen und ihre Aussage machen sollte –, und 244
wenn ich erst mal da war, kam ich nicht mehr weg, es sei denn, ich fand jemanden, der mich nach Hause kutschierte. Ich hinterließ Harry eine Nachricht, für den Fall, daß er recht bald nach Hause kam, aber eigentlich rechnete ich nicht damit.
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Kapitel 11 Den Unterlagen auf meinem Schreibtisch entnahm ich, daß das Sekundenkleber-Opfer eine gewisse Michele Chaney war, von ihren Freunden »Michie« genannt. Es war Viertel nach acht; man hatte mich in den Pick-up hinein- und wieder herausgehoben, und diesmal war ich dankbar, einen Sohn zu haben, der erst bei 1,99 anscheinend endlich aufgehört hatte zu wachsen. (Da die meisten Koreaner relativ klein sind, mußten wir annehmen, daß die nichtkoreanische Seite in Hals Erbgut sehr, sehr groß gewesen sein mußte.) Nachdem ich Hal eine Entschuldigung für sein verspätetes Erscheinen zum Unterricht geschrieben hatte, denn er würde definitiv zu spät kommen – Lori hatte beschlossen, den Bus zu nehmen, weil eine von mir geschriebene Entschuldigung ihr nicht viel nützen würde –, begab ich mich aufs Polizeirevier, mein Kissen fest an mich gedrückt, und fuhr mit dem Aufzug in meine Etage, wo ich erfreut feststellte, daß alle anderen unterwegs waren. Das ließ mir Zeit, die Stühle so anzuordnen, daß ich den Fuß hochlegen konnte (glücklicherweise saß ich in einer Ecke dicht an der Tür, so daß niemand so leicht mit mir zusammenstoßen konnte), um mich dann auf mein Eingangskörbchen zu stürzen. Es kam mir unglaublich vor, daß sich innerhalb eines einzigen Tages soviel hatte ansammeln können. Ich hatte gerade damit angefangen, als Roger hereinkam. Aufgrund seiner Kleidung nahm ich an, daß er zum Gericht mußte; er kramte in seinem Schreibtisch herum, holte ein paar Unterlagen hervor und rauschte wieder von dannen. Abgesehen von dem übellaunigen Blick, den er mir zuwarf, ignorierte er mich die ganze Zeit. War mir nur recht. Ich ignorierte ihn zurück. 246
Dann kam Rafe, um sein Berichtskörbchen zu überprüfen und festzustellen, was passiert war, seit er es das letzte Mal überprüft hatte, und ich erkundigte mich nach dem ReddichFall. »Nichts Neues«, sagte er. »Wir haben mehrmals einen Wagen hingeschickt, und wie’s aussieht, bleibt der Vater jetzt weg, so wie er es soll. Aber ich trau dem Kerl nicht über den Weg, und wenn diese verdammte Sozialarbeiterin nicht auf Zack ist, such ich mir einen Richter, der uns eine einstweilige Verfügung ausstellt, daß wir das Kind abholen können. Aber es bringt mich auf die Palme. Ich hab mir noch nie in einer solchen Lage eine einstweilige Verfügung besorgen müssen. Normalerweise kümmern sich die Leute vom Jugendamt selbst darum.« »Die Lage ändert sich«, sagte ich, »und viele Zeitungen haben empört darüber berichtet, daß Kinder ihren Eltern ohne ordnungsgemäßes Verfahren weggenommen wurden. Ich hab nichts gegen ein ordnungsgemäßes Verfahren; ich bin nur dagegen, wenn das ordnungsgemäße Verfahren so lange dauert oder wenn eine Sozialarbeiterin so um die Rechte von Eltern besorgt ist, daß die Kinder bei dem ganzen Hin und Her draufzahlen. Vor ein paar Jahren hatten wir mal einen Fall –« »Jaja«, sagte er. Wir wußten beide, welchen Fall ich meinte. Ein geistig behindertes Kind war von seinen Eltern, die nicht wußten, wie man mit einer solchen Behinderung umgeht, und die das Kind haßten, weil es ihnen so viele Probleme bereitete, schwer vernachlässigt und mißhandelt worden. Die Familie zog ständig um, und die Jugendämter in drei Staaten waren aktiv geworden, aber nie soweit gekommen, den Eltern das Kind wegzunehmen. In Fort Worth war das Kind dann schließlich von ihnen getötet worden. »Ich muß zurück ins Gericht«, erklärte Rafe. »Heute morgen wird die Jackson-Vergewaltigung verhandelt, und ich müßte jetzt eigentlich schon im Zeugenraum sein. Ich denke zwar, daß ich frühestens in zwei Stunden drankomme, aber das kann man 247
nie wissen.« Wieder allein, widmete ich mich erneut der vordergründigen Durchsicht des Inhalts meines Eingangskörbchens. Ich habe das schon öfter gesagt, und ich sage es noch mal: Wenn die Stadt tatsächlich von uns erwartet, daß wir alles lesen, was täglich in unseren Eingangskörbchen landet, müßte sie zusätzlich Leute einstellen, die sich um die Polizeiarbeit kümmern, weil wir nämlich die ganze Zeit nur mit Lesen beschäftigt wären. Da ich neu in dieser Abteilung war, wußte ich nicht, aus wessen Körbchen Sachen in meinem gelandet waren und in wessen Körbchen ich Sachen aus meinem schmuggeln konnte, also sah ich nach, wer das meiste schon abgezeichnet hatte, und verfrachtete den ganzen Kram dann, nachdem ich ihn überflogen und zumindest das gelesen hatte, was mir wichtig erschien, komplett in das Eingangskörbchen desjenigen, der noch gar nichts abgezeichnet hatte. Und das war, wie ich mit Genugtuung erwähne, Roger Hales. Wenn sein Eingangskörbchen ihn in Anspruch nahm, würde er vielleicht ein Weilchen aufhören, andere Leute zu schikanieren. Aber ich konnte nicht aufhören, mir wegen Harry Gedanken zu machen. Nach Mitternacht nach Hause kommen, noch dazu angeheitert? Schon vor sieben wieder aus dem Haus gehen? Und in letzter Zeit war er so mürrisch und in sich gekehrt. Ich hatte ihn mehrfach gefragt, was denn los sei, und er beteuerte immer nur, es sei alles in Ordnung, was offenkundig unwahr war. Ich hätte Susan angerufen – als Psychologin, nicht nur als Freundin – und sie gefragt, was ich tun könnte, worauf ich noch nicht selbst gekommen war, aber sie würde erst später am Nachmittag wieder zurück sein. Also rief ich statt dessen Matilda an. Sie steckte bis über beide Ohren in genealogischen Recherchen und sagte bloß forsch: »Er weiß ganz bestimmt, was er tut.« »Aber ich weiß es nicht«, gab ich zu bedenken. Matilda seufzte. »Ich hab keine Ausbildung als 248
Eheberaterin«, sagte sie, »und ich war nie verheiratet. Wäre ich das, könnte ich diese Dinge vielleicht verstehen. Aber so kann ich nur sagen, ich bin sicher, daß er es dir erzählen wird, wenn er möchte, daß du es erfährst, aber das ist wahrscheinlich keine sonderlich befriedigende Antwort.« »Kann man nicht gerade sagen«, bestätigte ich. »Aber ich vermute, es ist die einzig richtige.« Mittlerweile war es fast zehn Uhr, und als jemand von unten anrief, um mir zu sagen, daß Michele Chaney da sei, um mit mir zu sprechen, konnte ich es kaum erwarten, daß sie hochgebracht wurde. Ein Streifenpolizist führte sie herein und sah sich dann um, anscheinend ratlos, wer sie hier in Empfang nehmen sollte. »Detective Ralston?« rief er. »Ich bin hier hinten«, sagte ich. »Hinter der Tür. Entschuldigen Sie meine Formlosigkeit, aber wie Sie sehen –« »Oh ja«, sagte sie. »Ich hab mir im letzten Winter beim Skilaufen den Fuß gebrochen, deshalb kenne ich das. Sie hätten mich auf dem Heimflug im Flugzeug sehen sollen.« Sie kam auf mich zu und setzte sich. Ihre volle, rotblonde Lockenpracht war mit einem Stirnband aus gelbem Frottee zusammengebunden und ihr Körper mit einem unscheinbaren, schwarzen Maxirock und einem weiten, matflila Pullover verhüllt. Ihr Mund sah verquollen und wund aus, ebenso wie der Bereich um die Augen herum. »Tja«, sagte sie, »ich weiß nicht recht, was ich Ihnen erzählen soll. Übrigens, nennen Sie mich doch bitte Michie.« »Gut«, sagte ich, »und Sie können mich gern Deb nennen. Das tun die meisten. Was Sie mir erzählen sollen, nun – später müssen wir mehr ins Detail gehen, aber vorläufig wäre es hilfreich, wenn Sie einfach drauflosreden, mir erzählen, was Ihnen gerade in den Sinn kommt, wenn Sie an die Sache denken. Insbesondere alles, was uns möglicherweise helfen könnte, den Täter zu identifizieren.« Ms. Chaney verzog das Gesicht. »Wissen Sie was?« sagte 249
sie. »Ich hab immer gedacht, wenn ich überhaupt daran gedacht habe, daß eine Vergewaltigung das Allerschrecklichste wäre, was mir passieren könnte, und alles andere, was damit zu tun hat, keinerlei Rolle spielen würde, aber jetzt bin ich mir nicht mehr sicher, ob die Vergewaltigung das Schlimmste dabei war. Wissen Sie, er hat sich hinten in meinem Wagen versteckt, und ich hab’s nicht gemerkt. Er ist in der Mall in meinen Wagen gestiegen –« »Welche Mall war das?« unterbrach ich sie. »Das Fort Worth Town Center«, sagte sie. »Am Seminary Drive. Ich hatte in der Mall was gegessen, weil ich einen absolut miesen Tag hinter mir hatte, und dann nach dem Essen war ich noch bei Dillard’s, um mir eine neue Bluse zu kaufen, und ich kann mir nur denken, daß er mein Auto irgendwie aufbekommen hat, und ich weiß nicht wie, weil ich immer abschließe, und ich habe so eine Verriegelung, die ganz in der Tür verschwindet und die man angeblich nicht so einfach mit einem Kleiderbügel oder so aufbekommt. Wissen Kriminelle, wie man die trotzdem aufkriegt?« »Profis schon«, sagte ich. »Amateure meistens nicht. Sind Sie ganz sicher, daß Sie nicht vielleicht doch vergessen haben abzuschließen?« »Absolut«, sagte sie. »Ich hab einen Wagen, einen Eagle, mit Zentralverriegelung, und ich schließe immer ab, wenn ich aussteige.« »Dann haben wir ja schon was, womit wir arbeiten können«, sagte sich. »Entweder er hat beruflich viel mit Autos zu tun, oder er ist kein Anfänger.« »Ich hab gedacht, so was passiert öfter«, sagte sie. »Ich meine, daß sich so ein Kerl im Auto einer Frau versteckt und so –« »Stimmt«, bestätigte ich. »Aber ein Vergewaltiger ist kein normaler Krimineller, und die meisten fangen als Amateure an und bleiben auch Amateure, in vielerlei Hinsicht. Nicht viele 250
von ihnen beschäftigen sich systematisch mit Verbrechen, wie das beispielsweise ein Geldfälscher tut. Aber es gibt auch welche, die das tun. Und nach dem, was Sie mir sagen, glaube ich, daß er vermutlich dazu zählt.« »Ich verstehe«, sagte sie. »Irgendwie hab ich wohl gedacht, die wären alle wie Ted Bundy, Sie wissen schon, der hat sich genau überlegt, wie er vorgehen muß, um nicht geschnappt zu werden.« »Seien wir froh, daß die nicht alle so sind«, sagte ich. »Ted Bundy war äußerst intelligent, und das machte ihn äußerst gefährlich. Die meisten von ihnen haben… keinen ungewöhnlich niedrigen IQ, aber eben auch keinen ungewöhnlich hohen. Und da können wir alle von Glück sagen.« »Und ob«, sagte sie. »Ich bin froh, daß ich noch lebe.« Sie hielt einen Moment inne, fröstelte und legte sich die Hände um Ellbogen und Unterarme, als säße sie im Januar im Schnee und nicht im März in einem mollig warmen Büro. Dann sprach sie weiter: »Zumindest glaube ich, daß ich froh bin. Im Augenblick eigentlich nicht. Aber wahrscheinlich morgen… Was red ich da, das wollen Sie alles gar nicht hören.« »Ich möchte alles hören, was Sie mir erzählen können«, sagte ich. »Ob das nun relevant ist oder nicht, wenn Sie es loswerden müssen. Und ich verspreche Ihnen, mit der Zeit wird es besser.« Nicht zu allen Vergewaltigungsopfern konnte ich das ehrlicherweise sagen; ein paar von ihnen verkrafteten es psychisch nicht. Aber diese Frau kam mir im großen und ganzen robust vor. Sie würde darüber hinwegkommen, mit der Zeit und mit der entsprechenden Hilfe. Nach kurzem Zögern begann sie: »Er ist den ganzen Weg nach Hause mitgefahren, ohne daß ich irgendwas gemerkt habe. Wahrscheinlich hat er auf dem Rücksitz gelegen oder unten im Fußraum. Ich hab einen automatischen Öffner für das Garagentor, und sobald das wieder zu ist, komme ich gar nicht 251
auf die Idee, daß noch etwas passieren könnte. Aber dann, als ich aus dem Wagen gestiegen war und gerade die Tür von der Garage in die Küche aufgeschlossen hatte, war er raus aus dem Wagen und stand mit einem Messer hinter mir, das er mir an den Hals drückte. Ich meine, ich hab nicht mal gesehen, wie er aus dem Wagen gestiegen ist, er war einfach da, aber es ist die einzige Möglichkeit, wie er genau in diesem Moment in die Garage gekommen sein kann, oder überhaupt, denke ich.« »Viele von diesen Toröffnern haben dieselbe Frequenz«, gab ich zu bedenken. »Manche Einbrecher fahren einfach die Straße entlang, drücken auf verschiedene Toröffner und gucken, welche Garagen aufgehen.« »Meiner hat aber zusätzlich zur Frequenz einen Code, den man eingeben muß«, sagte sie. »Er soll ziemlich sicher sein. Ich bin… ich war schon immer ziemlich ängstlich, was solche Dinge angeht, weil meine beste Freundin aus der Schule von einem Wildfremden vergewaltigt worden ist. Und selbst wenn er das mit den Toröffnern gemacht hätte, wie hätte er dann wissen sollen, in welchem Haus eine alleinstehende Frau lebt? Nein, er muß im Wagen gewesen sein. Ich weiß das, weil ich meine Fahrertür zugemacht hatte, und natürlich gab es keinen Grund, noch eine andere Tür zu öffnen, aber als ich den Wagen wieder gesehen habe, nachdem die Polizisten mir geholfen hatten, etwas von dem Sekundenkleber abzubekommen – Sie wissen doch, daß er mir Mund und Augen und alles zugeklebt hat?« Ich nickte und sie fuhr fort: »Also, als ich den Wagen angeguckt habe, nachdem ich soviel Kleber wie nur möglich abgemacht hatte, bevor sie mich zum Krankenhaus fuhren – es war nicht ganz so schlimm, wie er es gewollt hatte, weil ich die Augen so weit wie möglich aufgemacht hatte, nachdem der Kleber leicht angetrocknet war und nicht mehr in den Augen brannte, aber noch nicht richtig klebte, deshalb war ich also nicht völlig blind – ich sah also das Auto, und da ist mir 252
aufgefallen, daß die hintere Tür auf der Fahrerseite offenstand. So, zurück zu dem, was passiert ist – er hielt mir das Messer an die Kehle, und wir standen in der Garage vor der offenen Tür zur Küche, und er sagte, ich sollte reingehen, und ging dann mit mir rein.« Sie schlang sich die Hände um Oberarme und Torso. »Und jetzt… hab ich die ganze Zeit Angst. Mein Haus fühlt sich schmutzig an, und mein Auto fühlt sich schmutzig an, und es ist doch ein schönes Haus und ein schönes Auto.« Sie lachte kläglich. »Es ist, als könnte ich nirgendwo hin, wo ich mich sauber und sicher fühle. Und ich kann nicht mal ausziehen, weil ich das Haus gekauft habe und mir nicht Abzahlungen und Miete gleichzeitig leisten kann, aber ich komme mir so schmutzig darin vor, als ob das ganze Haus verseucht wäre. Klingt das verrückt? Ich meine, ich bin siebenundzwanzig, und seit ich neunzehn bin, lebe ich allein, und so was ist mir noch nie passiert, also ist das doch wohl eine Überreaktion, oder?« »Ich finde überhaupt nicht, daß Sie überreagieren«, entgegnete ich. »So ein traumatisches Erlebnis verursacht heftige emotionale Reaktionen, und es ist wichtig, sich frühzeitig mit ihnen auseinanderzusetzen, um zu verhindern, daß sie schlimmer werden.« »Ich verstehe nicht ganz, was Sie meinen.« »Nun ja – posttraumatische Reaktionen sind ganz normal. Bei manchen Menschen, ich weiß nicht mehr, wie hoch der Prozentsatz ist, können sie sich zu einem posttraumatischen Streßsyndrom auswachsen, was eine schwere psychische Störung ist. Doch die meisten Menschen, bei denen diese Entwicklung einsetzt, sind Menschen, die sich nicht unmittelbar nach dem traumatischen Erlebnis mit ihren Empfindungen auseinandersetzen, Menschen, die das Erlebte unter den Teppich kehren wollen, in der Hoffnung, daß es einfach verschwinden wird, wenn sie es ignorieren. Häufig eben Menschen, die sich einreden, daß sie überreagieren. Und Sie wurden gestern angegriffen. Sie haben die Nacht im 253
Krankenhaus verbracht. Wie lange waren Sie bei sich zu Hause, eine Stunde vielleicht?« »Nicht mal«, sagte sie. »Eine Freundin hat mich nach Hause gefahren, damit ich mir ein paar Sachen holen kann, und ich hab mich umgezogen und bin dann gleich hierhergefahren.« »Dann hatten Sie bisher kaum Zeit zu reagieren. Vielleicht wäre es besser, wenn Sie sich ein oder zwei Monate lang von einem Psychologen oder einer Psychiaterin helfen lassen, dieses Trauma zu bewältigen, anstatt es zu verdrängen.« Nette Predigt, dachte ich gequält. Susan und Matilda, mein Mann, meine Töchter und mein Schwiegersohn, der zukünftige Psychiater, redeten seit Jahren auf mich ein, daß ich Hilfe brauchte, um das Trauma zu bewältigen, daß ich einen Mann mit einer Schrotflinte erschossen hatte – natürlich nur, weil der Mann damals versucht hatte, mich mit einer Schrotflinte zu erschießen –, und ich hatte noch immer nicht auf Sie gehört. »Sie halten mich also nicht für albern?« sagte sie, die Arme noch immer um den Körper geschlungen. »Weil meine Freundin Janet, das ist diejenige, die mich aus dem Krankenhaus abgeholt und dann hierhergebracht hat, sie wartet unten in der Lobby, und ich wollte ihr immer und immer wieder erzählen, was passiert ist, und sie hat nur immer gesagt, ich sollte aufhören, darüber zu reden, und einfach nicht mehr dran denken.« »Das ist der schlechteste Rat, den man Ihnen geben kann«, sagte ich. »Und das ist mein voller Ernst. Ich habe zwei gute Freundinnen, die eine ist Psychiaterin und die andere Psychologin, und die beiden sprechen oft von ›abreagieren‹. Das heißt, wenn man ein traumatisches Erlebnis hat, ob das nun eine Vergewaltigung ist oder ein Raubüberfall oder ein Autounfall oder was auch immer, dann muß man soviel darüber reden, wie man das Bedürfnis danach hat, und vielleicht sogar noch ein bißchen mehr, als man das Bedürfnis danach hat. Denn jedesmal, wenn man darüber spricht, entschärft man das Erlebte 254
ein kleines bißchen mehr, wird man ein kleines bißchen mehr Streß los.« Sie sah mich skeptisch an. »Mir scheint, daß es den Streß noch erhöht, denn jedesmal, wenn ich drüber rede, fang ich wieder an zu weinen und zittere am ganzen Körper.« »Das ist gut so«, sagte ich, »denn wenn Sie nicht drüber reden würden, bliebe dieses Weinen und Zittern in Ihnen eingesperrt.« »Naja«, sagte sie. »Jetzt werde ich es ja wohl wieder erzählen. Ich hoffe, Sie haben reichlich Kleenex vorrätig.« »Die müßten reichen«, sagte ich, holte die Packung heraus, die ich immer in der oberen rechten Schreibtischschublade habe, und stellte sie auf den Tisch. Ich hatte meine eigene Packung mitbringen müssen; Chandras war leer. »Und bitte vergessen Sie nicht, daß ich wirklich nicht weiß, was passiert ist. Ich weiß nur, daß mich gestern abend einer der Kollegen angerufen hat, um mir zu sagen, daß der SekundenkleberVergewaltiger wieder zugeschlagen hat und daß das Opfer – Sie – mit einer Frau reden wollte.« »Ich hab gedacht, das wäre ein bißchen einfacher«, sagte sie. »Ich meine… nicht, daß ich alle Männer für Vergewaltiger halte oder so, aber manche von ihnen, Sie wissen schon, wenn man sich nicht heiser gebrüllt und sämtliche Fingernägel abgebrochen hat, als man sich gewehrt hat, und wenn man nicht halbtot geprügelt wurde, dann glauben die nicht, daß es wirklich eine Vergewaltigung war. Wobei diese Einstellung weiß Gott nicht auf Männer beschränkt ist«, sagte sie, wie zu sich selbst. »Manche Frauen…« Sie schüttelte sich vielsagend und sah mich an. »Im allgemeinen neigen Mitarbeiter in der Abteilung für Sexualdelikte nicht zu solchen Reaktionen«, sagte ich. »Aber ich verstehe Sie. Ich an Ihrer Stelle würde auch lieber mit einer Frau reden.« Sie holte tief Luft. »Also gut«, sagte sie, »er war also im 255
Haus. Die Fingerabdruckleute waren letzte Nacht da, um das Haus und das Auto und alles abzusuchen. Ich kann mein Auto wieder benutzen, sobald ich es von dem Fingerabdruckpulver gereinigt habe.« »Wissen Sie, ob sie irgendwelche Fingerabdrücke gefunden haben?« Sie schüttelte den Kopf. »Da war ich schon im Krankenhaus.« »Egal, ich werde das später überprüfen«, sagte ich. »Könnten Sie das nicht jetzt machen? Ich würde es auch gern wissen.« »Okay.« Ich drehte mich zu dem Computer, tippte die Fallnummer ein und überflog den Bericht vom Erkennungsdienst. »Jede Menge Abdrücke von ein und derselben Person, also vermutlich von Ihnen. Die Kollegen bitten Sie, bevor Sie gehen, sich unten beim Erkennungsdienst Ihre Fingerabdrücke abnehmen zu lassen, damit die eliminiert werden können. Ein einzelner anderer Abdruck, auf dem Kunststoff an der Innenseite der Wagentür hinter dem Fahrersitz.« »Ich erinnere mich, daß er rumgegangen ist und alles mögliche abgewischt hat, bevor er mir den Kleber auf die Augen getan hat«, sagte sie. »Er hat sich ein Geschirrtuch genommen und alles abgewischt, was ihm einfiel. Dann hat er mir die Augenlider zugeklebt, damit ich nichts sehen konnte, oder zumindest hat er gedacht, daß ich nichts sehen konnte, und er ist nach vorne ins Wohnzimmer gegangen, und es hat sich so angehört, als ob er auch da alles mögliche abgewischt hat.« »Wann ist zum letzten Mal jemand hinten in Ihrem Wagen mitgefahren?« »Bei mir ist noch keiner hinten im Wagen mitgefahren«, sagte sie. »Ich hab das Auto erst seit sechs Wochen, und auf der Rückbank hat noch keiner gesessen.« »Dann stammt der also entweder von dem 256
Reinigungspersonal beim Autohändler«, sagte ich, »oder von ihm. Und nur ein Abdruck… Könnte sein, daß er die Stelle übersehen hat, vergessen hat, daß er sie angefaßt hat.« »Was passiert jetzt? Mit dem Abdruck, meine ich.« »Bis vor gar nicht langer Zeit wäre nicht viel passiert«, sagte ich, »weil es in einem kleinen Department ja möglich sein mag, einen einzigen Abdruck in der Kartei zu suchen, aber wir haben hier hunderttausend Fingerabdruckkarten, und so eine Suche würde Jahre dauern. Heutzutage haben wir dagegen ein Computersystem, und das bedeutet, daß er innerhalb eines Tages identifiziert werden kann, falls er irgendwo hier in unserer Gegend aktenkundig ist.« »Und wenn nicht?« »Wenn nicht«, sagte ich, »dann können wir mit dem Fingerabdruck eigentlich nur eines machen, nämlich abwarten. Ab und an werden alte Abdrücke neu überprüft, für den Fall, daß die Fingerabdrücke der Straftäter seit der letzten Überprüfung irgendwo gefunden wurden. Aber in der Zwischenzeit gehen wir anderen Dingen nach, die nicht von Fingerabdrücken abhängen.« Ich mußte ihr ja nicht auf die Nase binden, daß all diese Überprüfungen schon wiederholt durchgeführt worden waren, jedesmal, nachdem dieser Vergewaltiger zugeschlagen hatte. »Okay, kommen wir zurück zum Ausgangspunkt, wir sind nämlich ein bißchen vom Thema abgekommen. Sie sind in der Garage, und er hält Ihnen ein Messer an die Kehle und sagt, Sie sollen ins Haus gehen. Was dann?« »Die Garagentür führt in die Küche«, sagte sie, »und wir sind also in die Küche gegangen. Dann hat er das Messer von meinem Hals genommen und gesagt: ›Keinen Mucks, ich kann das Ding hier nämlich schneller werfen, als du schreien kannst. Nick, wenn du mich verstanden hast.‹ Und ich hab genickt, und er –« »Hat er in der Küche irgendwas angefaßt?« unterbrach ich 257
sie. »Nein. Er hat gesagt, ich soll ihm ein Glas Wasser holen, aber dann hat er gesagt, ich soll ein Stück Küchenpapier um das Glas wickeln. Er hat das Wasser getrunken, und dann hat er das Küchenpapier eingesteckt.« Das war äußerst vorsichtig, dachte ich. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit hatte man ihm schon mal Fingerabdrücke abgenommen. Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit war er mal aufgrund von Fingerabdrücken geschnappt worden. Küchenpapier ist so rauh, daß die Aussichten, davon einen verwertbaren Fingerabdruck zu nehmen, gleich null sind, aber entweder war ihm diese Statistik nicht bekannt, oder er wollte absolut kein Risiko eingehen. »Danach«, fuhr sie fort, »hat er gesagt, ich soll ins Badezimmer gehen und ein Vollbad nehmen.« »Das ist eigenartig«, bemerkte ich. »Bevor dieser Kerl anfing, habe ich, glaube ich, noch nie von einem gehört, der das gemacht hat.« »Und er hat sich auf den Toilettendeckel gesetzt und zugeschaut.« »Haben Sie ihn in dem Moment gut sehen können?« »So gut es ging«, sagte sie. »Er hatte eine Skimaske auf.« »Was können Sie mir sagen? Die ungefähre Größe?« »Ach so, ja, ungefähr so groß wie ich.« »Zirka ein Meter siebzig?« Sie nickte. »Ziemlich schlank. Ich glaube kaum, daß er soviel wiegt wie ich. Wenn er das Messer nicht gehabt hätte, hätte ich ihn abwehren können, aber ich hatte Angst vor dem Messer. Und jetzt muß ich immerzu denken, ich hätte es versuchen sollen –« »Sie haben getan, was Ihnen in dem Augenblick als das Beste erschien«, sagte ich. »Fangen Sie nicht an, sich Selbstvorwürfe zu machen. Sie tun, was Sie können, alles andere spielt keine Rolle.« 258
»Das versuche ich mir ja auch immer zu sagen.« »Sagen Sie es sich weiter. Okay, er war etwa 1,70, schlank…« Ich wartete. »Er hatte eine Skimaske auf«, sagte sie, »aber ich konnte etwas von seinem Haar sehen, und das war hellbraun. Die Augen waren blau. Was noch… er hatte ein langärmeliges Hemd an, weiß, wissen Sie, ein Oberhemd, das ein Mann normalerweise mit Krawatte tragen würde, aber die Manschetten waren nicht zugeknöpft und ein paarmal umgeschlagen, so daß ich sehen konnte, daß seine Arme stark behaart waren, schwarze Haare.« »Ringe?« Sie schüttelte den Kopf. »Keine Ringe, keine Uhr, nichts dergleichen. Was noch, er trug eine dunkelblaue Nadelstreifenanzughose und schwarze Schuhe – Schnürschuhe, die aber nicht so aussehen wie normale Herrenschuhe. Ich meine… ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll.« Ich blieb still, und schließlich sprach sie weiter. »Also, die meisten Herrenschuhe haben irgendein Muster, so wie OxfordSchuhe, oder sie haben überhaupt keine sichtbare Naht vorne auf der Kappe. Aber seine hatten eine Naht ab der Stelle, wo die Zunge eingenäht war, und die ging über die Mitte der Kappe bis runter zur Sohlenspitze. Ergibt das Sinn?« »Für mich schon«, sagte ich. »Und die Schuhe waren schwarz, sagten Sie?« Sie nickte. »Ist Ihnen irgendein besonderer Geruch aufgefallen?« »Zum Beispiel?« »Irgendwas. Zum Beispiel ein Aftershave, Eau de Cologne, irgendein Fabrikgeruch, der darauf schließen lassen könnte, wo er arbeitet?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn er überhaupt nach irgendwas gerochen hat, dann nach Seife. Ich glaube, das war’s. Er hat tatsächlich nach Seife gerochen. Als ob er gebadet hätte, bevor er zu mir kam.« Sie lachte trocken, ein kurzes, 259
verkrampftes Lachen. »Wirklich was Besonderes, nicht? Sagten Sie doch vorhin schon. Ein sauberer Vergewaltiger? Vielleicht wollte er ja deshalb, daß ich frisch gebadet bin.« »Ich hab schon saubere Mörder erlebt«, bestätigte ich, »aber ein supersauberer Vergewaltiger ist mir neu. Aber der hier hat es jedesmal so gemacht. Okay, nach dem Bad…« »Er hat mir ein Handtuch gereicht und gesagt, ich soll ins Schlafzimmer gehen.« »Und die ganze Zeit über hielt er das Messer in der Hand?« »Ja, und… Können Sie sich vorstellen, wie verletzlich ich mich gefühlt habe, er voll angezogen und ich mit nichts als einem Handtuch um den Körper? Selbst wenn er kein Messer gehabt hätte –« »Ich kann’s mir ziemlich gut vorstellen«, sagte ich, ohne die Notwendigkeit zu sehen, genauer zu werden. »Dann… mhm… muß ich den Rest wirklich erzählen?« Bevor ich antworten konnte, sagte sie: »Ich glaube, ich muß, oder? Weil Sie ja alle Informationen brauchen, nicht bloß Bruchstücke, schon allein aus gesetzlichen Gründen. Okay, er… mhm… er hat mich aufgefordert, ihm die Hose auszuziehen…« »Ist Ihnen in dieser Situation irgend etwas Besonderes an ihm aufgefallen?« »Was denn? Seine Hose hatte oben einen Haken mit Öse und einen Reißverschluß, und ich konnte nicht sehen, was für eine Marke seine Unterwäsche war, und er war nicht beschnitten. Und dann hat er gesagt, ich soll sein Ding lutschen und ich sollte bloß nicht auf dumme Gedanken kommen und zubeißen, weil er mich dann umbringen würde, und er hat mir die ganze Zeit das Messer an den Hals gedrückt, und ich hab gedacht, daß ich vielleicht, wenn seine Aufmerksamkeit ein wenig abgelenkt würde, na ja, daß ich dann das Messer packen könnte, aber bevor er fertig war, hat er gesagt, ich soll aufhören, und dann hat er ein Kondom aus der Tasche gezogen und mir gesagt, ich 260
soll es ihm überziehen, er hat gesagt, er wüßte schließlich nicht, wo ich schon alles gewesen sei, und er wollte sich nichts bei mir holen, und dann hat er gesagt, ich soll mich hinlegen, und dann hat er, na ja, er hat es getan, und – Irischer Frühling!« »Wie bitte?« »Das ist die Seife, nach der er gerochen hat, Irischer Frühling. Ich war mal mit jemandem zusammen, der auch Irischer Frühling benutzt hat. Ich glaube, von jetzt an will ich nicht mal in die Nähe von jemandem kommen, der diese Seife benutzt.« Sie griff nach einem Kleenex. Ich hatte nicht genau mitgezählt, aber es war ungefähr ihr fünftes. »Werde ich jemals aufhören, an ihn zu denken, wenn ich diesen Duft rieche?« fragte sie, nachdem sie sich die Augen abgewischt und die Nase geputzt hatte. »Wahrscheinlich nicht«, sagte ich. »Ich verbinde damit auch ziemlich unangenehme Erinnerungen. Als ich noch beim Erkennungsdienst war, wurde ein Mann erschossen und in den Kofferraum seines Wagens gelegt – und nachdem sie die Leiche rausgeholt hatten, mußte ich den Wagen nach Fingerabdrücken absuchen und Beweismittel einsammeln und so weiter, und er hatte noch sein ganzes Gepäck im Kofferraum, unter anderem auch drei Stücke Irischer Frühling. Das ist jetzt bestimmt schon zehn, zwölf Jahre her, und ich kann den Geruch noch immer nicht vertragen. Vor ein paar Jahren hat mein Mann sich mal damit gewaschen, und ich hab gedacht, ich müßte mich übergeben.« »Das ist wirklich schade, nicht?« sagte sie. »Ich wünschte, er hätte irgendwas Widerliches benutzt. Irischer Frühling riecht so angenehm, daß man nicht so schlimme Assoziationen dabei haben sollte.« »Stimmt. Auch wenn’s nichts zur Sache tut.« »Und jetzt soll ich Ihnen wahrscheinlich weiter erzählen, was passiert ist.« »Das wäre hilfreich.« Es wäre sehr hilfreich, dachte ich. Ich 261
fühlte mich nämlich zunehmend erschöpft. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, daß es schon fast elf war, und ich hatte darauf gehofft, in der Mittagspause von irgendwem nach Hause gebracht werden zu können. »Gut, also, wie gesagt, nachdem er damit fertig war und nachdem er damit fertig war, Sachen abzuwischen, hat er sein Fläschchen Sekundenkleber rausgeholt und mir den Mund zugeklebt und dann meine Vagina und zuletzt die Augenlider, und dann hat er gesagt, ich soll eine halbe Stunde auf dem Bett liegenbleiben. Das war irgendwie unsinnig, daß er mir die Augenlider zuletzt zugeklebt hat, meine ich, weil ich ihn doch schon gesehen hatte –« »Es sei denn, er wollte nicht, daß Sie sehen, wie er das Haus verläßt«, sagte ich nachdenklich. »Hat er vielleicht Ihr Telefon benutzt, um jemanden anzurufen, der ihn abholen kommen sollte?« »Ja, das hat er, und… Moment mal«, sagte sie. »Moment mal. Ich hab gedacht, er hätte mich wahllos ausgesucht, aber das kann nicht sein, weil er, als er angerufen hat, bloß gesagt hat: ›Komm mich holen.‹ Er hat keine Adresse genannt. Er hat bloß gesagt: ›Komm mich holen.‹ Das heißt, er wußte, wer ich war. Er ist in der Mall in meinen Wagen gestiegen, da bin ich sicher, aber er hat ihn nicht willkürlich ausgesucht – er hat ihn ausgesucht, weil es mein Wagen war. Er weiß, wer ich bin.« Sie begann wieder zu weinen. »Was soll ich jetzt machen? Er kennt mein Auto, er kennt mein Haus…« »Falls es für Sie ein Trost ist, wenn auch vermutlich nur ein kleiner«, sagte ich, »er ist zu keinem der anderen Opfer zurückgekehrt.« »Wie viele Frauen hat er denn schon angegriffen?« Ich hatte mich mit den Unterlagen zu diesem Fall vertraut gemacht, während ich auf sie wartete, deshalb konnte ich die Frage beantworten, ohne nachsehen zu müssen. »Sieben«, sagte ich. 262
»In welchem Zeitraum?« »Knapp vier Monate. Er schlägt alle zwei Wochen zu.« »Genau alle zwei Wochen?« »Nicht ganz«, sagte ich, »aber fast. Einmal gab es eine Woche Abstand, einmal drei Wochen, einmal vier Wochen. Und immer dienstags.« »Und er ist noch nicht geschnappt worden.« »Es gab keine verwertbaren Spuren«, sagte ich. »Aber vielleicht haben wir diesmal Glück. Er hat noch nie einen Fingerabdruck hinterlassen. Wenn der tatsächlich von ihm stammt…« Wir unterhielten uns noch eine Weile. »Was machen Sie beruflich?« fragte ich. »Ich bin Wirtschaftsprüferin. Steuerberaterin.« »Arbeiten Sie für eine große Firma?« »Nein, nur für mich. Das ist noch so ein Problem. Als ich das Haus kaufte, hatte ich vor, mein Büro zu schließen und zu Hause zu arbeiten. In den letzten Wochen habe ich das ausprobiert, um festzustellen, ob es mir gefällt – hab meinen Computer und alles rübergeschafft. Aber jetzt… Ich weiß nicht, ob ich das jetzt noch durchhalte. Das war wirklich ein mieser Tag. Und das alles, nachdem ich mich den ganzen Tag mit dem Finanzamt rumgeschlagen habe –« »Dem Finanzamt?« fragte ich. »Ja, einer von meinen Mandanten hatte eine Steuerprüfung. Und er war den ganzen Tag bei mir zu Hause in meinem Büro, er und der Beamte vom Finanzamt, und die beiden haben sich angeschrien, und die Toilette war verstopft, und ich mußte den Klempner kommen lassen, wo ich doch die beiden noch da hatte, und dann wurde das Wasser für eine Stunde abgedreht, und mein Mandant wollte Cola holen gehen, und dann kam er mit Bier zurück und hat sich betrunken. Wieso hab ich mir nicht einen leichteren Job ausgesucht? Zum Beispiel Bomben entschärfen?« Sie weinte wieder, lachte jetzt aber unter Tränen. 263
Sie würde es überstehen, dachte ich. Viel mehr hatte sie nicht zu erzählen. Als sie schließlich ging, war Rafe wieder zurück, aber sonst niemand außer ihm, und ich fragte, ob er etwas von Doreen Miller gehört hatte, ob sie gefunden worden war. Er sagte nein und versicherte mir das gleiche, was alle anderen mir auch versicherten, daß sie ausgerissen war und daß es ihr bestimmt gutging. Was glaubte er eigentlich, mit wem er sprach, dachte ich. Erstens, es war nicht mal sein Fall, obwohl inzwischen alle DetectiveAbteilungen ein wenig in die Ermittlungen eingebunden waren, und zweitens konnte er doch überhaupt nicht wissen, warum Doreen ausgerissen war. Vielleicht würde diese Beruhigungstaktik beim Durchschnittsbürger funktionieren, aber selbst da hatte ich meine Zweifel. Bei mir funktionierte sie jedenfalls ganz und gar nicht. Das sagte ich ihm auch, und er erwiderte: »Tut mir leid. Aber, Deb, es nützt auch nichts, wenn Sie sich dermaßen darüber aufregen.« »Schon gut«, sagte ich resigniert und wechselte das Thema. »Gehen wir noch mal die Unterlagen zu dem SekundenkleberFall durch.« Wir wußten bereits, daß der Täter vermutlich in allen Fällen in Einkaufszentren in die Autos gestiegen war, aber es gab kein Einkaufszentrum, das er regelmäßig benutzte. Statt dessen hatte er so ziemlich in jeder größeren Mall von Fort Worth zugeschlagen, und ein Opfer – sein viertes – hatte er sich auf dem Parkplatz der Bibliothek im Stadtzentrum ausgesucht, und eines auf dem Parkplatz eines Supermarktes. In jedem Fall hatten die Opfer eine Garage, häufig, aber nicht immer mit automatischem Garagentoröffner, und in jedem Fall hatte der Vergewaltiger sich erst gezeigt, wenn der Wagen in der Garage, das Tor geschlossen und die Tür ins Haus geöffnet war. In jedem Fall hatte der Vergewaltiger dem Opfer befohlen, ein Bad zu nehmen. Und in jedem Fall war der Kleber erst zum Einsatz gekommen, nachdem das Opfer reichlich Gelegenheit hatte, den Täter zu sehen. In jedem Fall hatte der Vergewaltiger 264
jemand angerufen, der ihn abholen sollte – was seltsam war, denn meistens arbeiten Vergewaltiger allein. Und in jedem Fall beteuerten die Opfer, einschließlich Michele Chaney, daß er sauber und gut gekleidet war, eine absolut typische Stimme hatte und sie ihm noch nie zuvor begegnet waren – zumindest soweit sie das sagen konnten, ohne sein Gesicht gesehen zu haben. Die Opfer wohnten nicht in derselben Gegend, kauften nicht in denselben Geschäften, gingen nicht in dieselbe Kirche, hatten nicht dieselben Haus- oder Zahnärzte und tankten auch nicht an derselben Tankstelle. Zum ersten Mal, so stellte ich fest, hatte jetzt eine der Frauen ausgesagt, daß sie sicher war, vom Täter gezielt ausgesucht worden zu sein, und das kam mir eingedenk der Telefonate, die er nach begangener Tat getätigt hatte, ein bißchen eigenartig vor. Was also hatte er jeweils genau am Telefon gesagt? Hatte er in den anderen Fällen die Adresse genannt? Oder hatte er immer bloß gesagt: »Komm mich holen«? Denn falls letzteres zutraf, war jedes Opfer gezielt ausgewählt worden. Rafe stimmte mir darin zu, obwohl fraglich war, wie nützlich das sein würde, wenn wir nicht herausfanden, wie er die Opfer ausgesucht hatte. Wir kamen überein, sie alle noch einmal anzurufen. Rafe reichte mir eine Liste mit Namen und Telefonnummern und behielt eine andere für sich, und wir beide fingen an zu telefonieren. »Kathryn Purvis? Detective Deb Ralston am Apparat…« Dreizehn Telefonate später – manche Frauen erreichten wir erst, nachdem wir an verschiedenen Stellen angerufen hatten – konnten Rafe und ich mit Bestimmtheit sagen, daß fünf Frauen sicher waren, gezielt ausgesucht worden zu sein, und eine sicher war, willkürlich ausgesucht worden zu sein. Eine hatten wir immer noch nicht erreichen können. Diejenige, die sicher war, willkürlich ausgesucht worden zu sein, war das erste Opfer gewesen, und auch das war vielleicht aufschlußreich. 265
»Ich bring Sie jetzt nach Hause«, sagte Rafe. »Sie sind ja völlig fertig. Mir war nicht wohl dabei, daß Sie heute herkommen mußten, aber wir brauchten Sie wirklich. Mal ganz ehrlich, wenn wir anrufen, und Sie wirklich meinen, Sie können nicht kommen, dann sagen Sie nein. Wir finden immer einen Ersatz. Margie, vielleicht. Sie ist auch früher schon bei uns eingesprungen.« »Ich bin lieber hier, als zu Hause zu sitzen und Däumchen zu drehen«, sagte ich, »nur daß ich so schnell müde werde. Das ist frustrierend.« »Ich weiß, wenn man sonst immer so aktiv ist. Aber wir müssen nun mal alle in der Welt leben, wie sie ist, und manchmal ist sie ziemlich mies. Dieses Mädchen – Entschuldigung, diese Frau – würde das im Moment bestimmt auch sagen. Sie kam mir sehr viel ruhiger vor als die anderen Opfer.« »Das war Fassade«, sagte ich. »Sie war kurz davor zusammenzubrechen.« »Ich hol jetzt meinen Wagen«, sagte er, »und hol Sie dann unten vor dem Eingang ab.« Er ging zur Tür. Ich wollte gerade meine Krücken nehmen, die ich nur zum Kommen und Gehen benutze und sonst nie, als das Telefon wieder klingelte. Ich griff automatisch zum Hörer. »Hier ist Jean Bridger«, sagte eine unsichere Stimme. »Ich glaube, jemand namens Deb Ralston hat versucht, mich zu erreichen –« »Ich bin Deb Ralston«, sagte ich. »Moment bitte.« Ich rief Rafe zu, er solle noch einen Moment warten, ging dann dieselben Fragen durch, die ich den anderen Frauen gestellt hatte, und bekam auch ungefähr dieselben Antworten. Fast nur so nebenbei fügte sie noch hinzu: »Ich war zur Mall gefahren, um was zu essen. Ich hatte einen absolut miesen Tag hinter mir. Das Finanzamt hat eine Steuerprüfung bei mir gemacht –« 266
Ich sagte: »Oh ja, das kann ich mir vorstellen«, und dann traf es mich wie ein Blitz. »Das Finanzamt?« fragte ich. »Ja, dieser absolut unangenehme Steuerprüfer hat alles, aber auch alles angezweifelt, selbst wenn ich ihm Belege vorlegen konnte, und –« »Moment bitte«, sagte ich und rief: »Rafe, hören Sie mal mit. Vielleicht haben wir hier unsere Verbindung zwischen den Fällen.« »Okay«, sagte er, nachdem ich aufgelegt hatte, »in der Richtung machen wir weiter.« »Wer denn? Und wann?« wollte ich wissen. »Alle haben zu tun. Ich kann doch noch ein Weilchen hierbleiben und –« »Wir kümmern uns drum«, sagte er mit Nachdruck und blickte mich finster an. »Außerdem passiert sowieso nichts vor nächstem Dienstag.« »Da bin ich mir nicht sicher.« »Irgendwo haben wir hier ein Thermometer. Soll ich es suchen und Ihnen beweisen, daß Sie nach Hause gehören? Oder muß ich Sie offiziell von dem Fall abziehen? Und Sie werden nicht zu Hause weiter daran arbeiten, verstanden?« Er hielt inne, was mir Gelegenheit gab, darüber nachzudenken, daß er sich doch allmählich sehr wie Captain Millner anhörte. »Und ich gehe jetzt meinen Wagen holen und hole Sie dann am Eingang ab.« Ich nahm meine Krücken und begab mich nach unten. Aber bevor ich den Raum verließ, schrieb ich mir noch Namen und Telefonnummern von allen acht Opfern auf – Michele Chaney und die sieben, die ihr vorausgegangen waren. Käse. Kräcker. Obst. Ginger Ale. Antibiotika. Schmerztabletten. Allmählich fühlte ich mich wie eine Schallplatte mit Sprung. Und ich freute mich weiß Gott nicht auf einen weiteren Schlangentraum. Ich hatte keinen weiteren Schlangentraum. 267
Statt dessen hatte ich einen weiteren Flutwellentraum. Er begann so wie der erste: Ich stand auf der Klippe mit Blick über die Bucht, und das Wasser wich mehr und mehr zurück, und die Väter schickten ihre Töchter an den Strand, um Aale zu sammeln. Und während die Töchter gehorsam die großen, sich windenden Aale in die Körbe taten, zogen sich die Väter zurück, die Klippe hinauf, bis ich sie nicht mehr sehen und der Tsunami sie nicht mehr erreichen konnte, und dann kamen die Wassermassen angetost. Aber diesmal erhoben sich die Töchter über das Wasser, ohne Körbe, ohne Aale, und ritten auf den Wogen, schwammen gesund und munter und lachend, während die Wellen über ihren Köpfen brachen, und diesmal erwachte ich nicht schweißnaß und zitternd. Als ich aufwachte, fühlte ich mich gereinigt, als hätte ich wie die Kinder im warmen, hellen Wasser einer tropischen Bucht gebadet. Ich war im Wohnzimmer, als Harry hereingestürmt kam, besser gekleidet, als ich ihn in den letzten Monaten gesehen hatte, von einem Ohr zum anderen grinsend und eine Tüte mit Hamburgern, Pommes und Milchshakes in der Hand. Er blieb wie angewurzelt stehen. »Was um alles in der Welt machst du denn da?« fragte er. »Ich guck mir Oprah Winfrey an. Du siehst toll aus.« »Ich fühl mich auch toll. Aber du siehst doch sonst nie nachmittags fern.« »Wann bin ich denn schon mal zu Hause, um nachmittags fernsehen zu können?« »Und du bist angezogen?« »Ich mußte heute morgen zur Arbeit«, sagte ich. Er schimpfte nicht mit mir. Aber er sagte auch nichts mehr. Er holte einfach zwei Tabletts und fing an, die Hamburger und Milchshakes zu verteilen, ehe er schließlich sagte: »Deb, ich liebe dich, aber manchmal habe ich das Gefühl, wenn es darum 268
geht, auf dich selbst aufzupassen, hast du nicht mal soviel Hirn, wie Gott einem schwangeren Eber verliehen hat.« Ein Eber ist männlich. Ein Eber mit Nachwuchs wäre ein Vater, keine Mutter. Ein schwangerer Eber ist ein Ding der Unmöglichkeit. Ich verstand, was er meinte. Nach einer Weile sagte ich: »Harry, ich mußte wirklich hin. Sie haben mich gebraucht.« »Das glaub ich dir. Du nimmst die Bedürfnisse anderer immer wichtiger als deine eigenen. Ich wünschte nur, du würdest dich vielleicht nur ein einziges Mal in deinem Leben an die erste Stelle setzen.« Darüber müßte ich mal gründlich nachdenken. Aber nicht gerade jetzt.
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Kapitel 12 Gegen halb vier rief Sandy Miller an. »Ich war in Austin«, sagte sie, »und ich hab meinen Anrufbeantworter nicht abgehört, weil ich unterwegs war und sowieso auf keine Nachricht hätte reagieren können. Was war denn los? Wenn es nämlich um Doreen geht, die hab ich noch immer nicht.« »Es geht nicht um Doreen«, sagte ich resigniert. In Erinnerung daran, wie leidenschaftlich Sandy davon gesprochen hatte, ihre Schwester retten zu wollen, konnte ich nicht glauben, daß sie so entspannt, so gefaßt wäre, wenn sie nicht ganz genau wüßte, wo Doreen war – und überhaupt, natürlich hätte sie, da Doreen vermißt wurde, zwischendurch den Anrufbeantworter abgehört, wenn sie unterwegs war. Vielleicht hatten also alle diejenigen recht, die mich hatten beruhigen wollen; vielleicht war Doreen wirklich einfach nur ausgerissen. »Tja, später hab ich Termine, aber ich könnte jetzt sofort zu Ihnen kommen, wenn Sie wollen.« Offen gesagt, ich wollte nicht, aber ich würde wahrscheinlich trotzdem zustimmen müssen. Ich wußte, falls ich irgendwelche Informationen aus Sandy herausbekommen wollte, würde ich mich an ihre Regeln halten müssen. Mir war allerdings nicht klar, was für Informationen ich wollte und ob sie überhaupt irgendwelche Informationen hatte, die ich gebrauchen konnte. Zunächst mußte ich genau herausfinden, was sie mich eigentlich hatte fragen wollen, als sie zum erstenmal bei mir war. »Vielleicht können wir das auch telefonisch klären«, sagte ich. »Weißt du, als du neulich hier warst, war ich ziemlich benebelt, und im Nachhinein hab ich mir gedacht, daß ich vielleicht nicht so richtig mitbekommen habe, worauf du hinauswolltest. Ich hab dich so verstanden, daß du dich gefragt hast, warum Dusty gestorben ist, aber vielleicht 270
wolltest du in Wirklichkeit wissen, warum Dusty sich ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt entschieden hat zu sterben. Stimmt das oder vertue ich mich?« Langes Schweigen am anderen Ende. Dann sagte Sandy verhalten: »Ich denke, das habe ich gemeint, ja. Zuletzt jedenfalls. Zu Anfang hab ich gedacht, er hätte sie umgebracht, und dann hab ich gedacht, er hätte vielleicht irgendwas gemacht, sie zum Beispiel geschwängert, weswegen sie sterben wollte. Aber als Sie sagten, daß weder das eine noch das andere der Fall war, ja, da hab ich mich gefragt, warum gerade jetzt. Weil nämlich nichts von alledem, was da lief, neu für sie gewesen sein kann, es sei denn, er hatte neue abartige Vorlieben entwickelt, von denen ich nichts weiß.« »Wenn ja, meinst du, sie hätte es dir erzählt?« Wieder Schweigen. Dann – »Ich glaube nicht, daß sie das gemacht hätte«, sagte Sandy. »Ich glaube, sie hätte sich so geschämt, daß sie es nicht mal mir erzählt hätte.« »Dann komm her, und wir machen ein bißchen Brainstorming. Es sei denn, du möchtest das lieber telefonisch machen«, fügte ich hoffnungsvoll hinzu. »Ich würde das Telefon lieber frei halten«, sagte Sandy. »Und ich hab schon mehr gemacht als nur Brainstorming. Ich hab Fragen gestellt. Ich hab einigen Leuten einige Fragen gestellt.« »In Austin?« Ein kleines Lachen. »Nein, in Austin war ich aus anderen Gründen.« Sie wurde nicht deutlicher, und ich fragte nicht nach. »Okay«, redete sie weiter, »ich bin gerade erst angekommen und hab mich noch nicht mal umgezogen. Ich brauch ein Weilchen, um mich frisch zu machen. Wäre fünf Uhr in OrdInung?« Ich bejahte, und sie legte auf. Fünf Uhr bedeutete, daß sie hier eintreffen würde, nachdem Hal nach Hause gekommen war, aber da er in zwanzig Minuten dasein würde, ließ sich das wohl nicht vermeiden. Ich konnte nur hoffen, ohne 271
große Zuversicht, daß Hal, wenn er nach Hause kam, leise nach Hause kommen würde, da Harry sich, nachdem er die Hamburger verschlungen hatte, in Camerons Zimmer aufs Ohr gelegt hatte – verständlicherweise, wenn man seinen Zustand in der Nacht zuvor bedachte und die Uhrzeit, zu der er heute morgen aufgebrochen war. Ich beugte mich über die Kühlbox, um ein Stück Käse herauszufischen. Mir fiel auf, daß ich jemanden bitten mußte, die Box rauszutragen und das Wasser ablaufen zu lassen, weil inzwischen zwei Drittel von dem Eis geschmolzen waren. Aber dank des Tabletts obendrauf war nichts von dem, was trocken bleiben mußte, naß geworden, also war die Lage noch nicht kritisch. Sobald ich den Käse in der Hand hielt, hörte ich ein dumpfes Geräusch auf der Kommode und sah mich um. Rags schlich argwöhnisch um die Stelle, wo die Tomatenpflanze gestanden hatte, und schielte ängstlich zu der leeren Kommodenecke hinüber. Aber sie war inzwischen so weit, daß sie nicht mehr das Bedürfnis hatte, einfach nur dazusitzen und zu starren, vor allem dann nicht, wenn Käse zu haben war. Sie strich geschmeidig zum Bett herüber und landete wieder mit einem leisen Geräusch, diesmal genau neben meiner linken Hand. Ich saß aufrecht, gegen eins von diesen Formkissen gelehnt, die einem das Gefühl geben, man hätte einen Sessel im Bett, und Rags stieg leichtfüßig auf die linke Kissenlehne, wechselte hinter mir die Seite, spazierte die rechte Kissenlehne hinunter und trat dann wieder aufs Bett. Erst dann schien sie den Käse merklich wahrzunehmen. Ich konnte sie förmlich sagen hören: »Ach du liebes bißchen, das scheint mir doch tatsächlich Käse zu sein. Na, wo kommt der denn wohl so plötzlich her?« Zugegeben, ich bin ein leichtes Opfer. Ich hätte nicht so viele Tiere, wenn ich das nicht wäre. Bei mir muß ein herrenloser Hund oder eine streunende Katze nur an die Tür klopfen und sagen: »So, von nun an lebe ich bei euch«, und 272
schon bin ich überredet. Ich teilte den Käse mit ihr. Sie aß sehr vornehm, als ließe sie sich dazu herab, ein Angebot anzunehmen, doch wir beide wußten sehr wohl, daß sie, wenn ich ihr keinen Käse gegeben hätte, eine mordsmäßig beleidigte Katze gewesen wäre. Dann rollte sie sich zu einem ganz engen C zusammen, schloß die Augen, legte den Schwanz darüber und begann zu schnurren. Da Harry schlief, war ich praktisch allein im Haus. Ich hatte also Zeit für ein paar Telefonate. Michele Chaney als erste, um sie zu fragen, ob sie sich an den Namen des Steuerprüfers vom Finanzamt erinnerte, mit dem sie an dem Tag der Vergewaltigung zu tun hatte. »Und ob«, sagte sie zornerfüllt. »Den Namen von diesem gehässigen kleinen Fiesling vergeß ich nie.« Sie nannte ihn mir, und ich rief die nächste an. Und die nächste. Danach brauchte ich eigentlich nicht mehr alle sieben anzurufen, aber ich tat es trotzdem. Und dann lehnte ich mich zurück und überlegte. Ich war mir jetzt sicher, und ich hätte jeden Kollegen überzeugen können. Aber ich hatte nicht den Hauch eines Beweises, mit dem ich vor Gericht hätte gehen können, und ich war in meinem Schlafzimmer, unfähig, Auto zu fahren, und hatte sogar von Rafe Permut verboten bekommen, derzeit irgendwas in diesem Fall zu unternehmen. Was war also zu tun… Schließlich rief ich den Erkennungsdienst an und ließ mich mit Irene Loukas verbinden. Irene, die kürzlich zur Leiterin der Abteilung befördert worden war, hörte mir sehr interessiert zu. »Oh, ja«, sagte sie schließlich, »es gibt einige Leutchen, die mir noch einen Gefallen schulden. Das krieg ich hin, und außerdem wird’s mir Spaß machen.« Zufrieden öffnete ich die Kühlbox erneut. Nachdem ich noch etwas Ginger Ale getrunken und mich gefragt hatte, woher dieses plötzliche Verlangen nach Ginger Ale kam, wo ich doch jahrelang keines mehr getrunken hatte, ordnete ich meine Kissen und machte es mir für ein Nickerchen bequem, aus dem 273
ich erwachte, als Hal hereingestürmt kam und aus dem Wohnzimmer brüllte: »Hi, Mom!« »Selber hi«, antwortete ich und setzte mich auf. »Kommst du bitte und läßt das Wasser aus der Kühlbox und holst mir noch was Eis?« »In der Tiefkühltruhe ist kein Eis mehr«, sagte er. »Das hab ich neulich gesehen, als –« »Und wieso hast du mir das nicht gesagt?« »Weiß nicht. Soll ich den Pick-up nehmen und Eis holen?« »Bitte sei so nett.« »Soll ich das Wasser jetzt aus der Kühlbox lassen oder erst wenn ich zurückkomme?« »Wenn du zurückkommst«, antwortete ich matt, während ich zugleich Harry hörte, der aufgestanden war und sich leise schimpfend auf der anderen Seite der Wand bewegte, in Hals ehemaligem Zimmer, das jetzt Camerons Zimmer war, weil wir beschlossen hatten, daß es unklug war, ein Kleinkind in einem Zimmer mit Fenster nach vorne zur Straße hin schlafen zu lassen, und ihn im mittleren Zimmer untergebracht hatten, das zuvor Hals Zimmer gewesen war. Hal wiederum war in das vordere Zimmer gezogen, das seinen Schwestern gehört hatte, als beide noch zu Hause wohnten, da es etwas größer war als das mittlere Zimmer. Ganz zu Anfang war es Camerons Zimmer gewesen, weil es bequemer war, ein Kinderbett in einen unbewohnten Raum zu stellen, anstatt Hals Sachen ausräumen zu müssen. Ich habe schon manchmal den Geisteszustand des Architekten in Zweifel gezogen, der ein Haus mit zwei Bädern so angelegt hat, daß das Bad, das von den Kindern benutzt werden soll, zugleich auch das Bad ist, das von Gästen benutzt werden soll. Aber andererseits ziehe ich den Geisteszustand des Architekten, der dieses Haus entworfen hat, häufig in Frage, ein Haus mit einer Küche, die fast groß genug ist für eine einzige Person, falls diese Person sehr klein ist, und in der drei Türen – 274
die Kühlschranktür, die Tür zur Garage und die Tür zur (angeblichen) Vorratskammer, in die nicht mal Grundnahrungsmittel plus Einkäufe für eine Woche passen – sich gegeneinander öffnen. Die Küche kann nicht mal umgebaut und erweitert werden, weil sie zu dicht an der Grundstücksgrenze liegt. Ach, na ja. Es ist das Haus, in dem wir wohnen, und wir können es uns nun mal nicht leisten, es zu verkaufen und umzuziehen, nicht, wo die Häuserpreise in unserer Gegend so drastisch gefallen sind, daß das Haus mittlerweile etwas weniger wert ist als der Restbetrag, den wir noch abstottern müssen. Mittwoch nachmittag. Ich trug diesen Gips noch keine volle Woche, und doch kam es mir so vor, als würde ich schon Ewigkeiten damit leben. Mein Knie war unangenehm wund, weil es so oft auf dem Rollhocker lag, und das, obwohl ich den Hocker dick mit Handtüchern gepolstert hatte, und meine Unterarme waren wund von den Krücken, und das, obwohl ich sie nur verwendete, wenn ich nach draußen mußte. Ich war inzwischen ziemlich sachverständig in der Auswahl von Kleidung, die ich über den Gips bekam, und ich fühlte mich nicht mehr halbnackt, wenn ich das Haus verließ, ohne mein Schulterhalfter zu tragen, das ich natürlich nicht tragen konnte, wenn ich an Krücken ging. Dennoch hatte ich meine Pistole stets brav bei mir; letzte Woche hatte ich in weiser Voraussicht meine alte Uniformtasche dem Vergessen im obersten Schrankregal entrissen, wo ich sie verstaut hatte, als ich anfing, Schulterhalfter zu tragen. Eigentlich war also alles in Ordnung. Ich konnte zumindest einen Teil des Tages arbeiten, Lori verhinderte (mit Hals widerwilliger Hilfe), daß sich zuviel Hausarbeit anhäufte, und Leute aus der Kirche brachten uns jeden Abend Essen. Die Frau, die es heute abend bringen würde, hatte gestern angerufen und sich erkundigt, ob ich Hackbraten mit Naturreis mochte. 275
Ich hatte das noch nie gegessen, aber es hörte sich lecker an. Was auch immer Harry bedrückt hatte, es schien aus der Welt zu sein. Ich hatte keinen Grund, mir selbst leid zu tun. Aber Tatsache war, daß ich mir selbst sehr leid tat. Meine mangelnde Bewegungsfreiheit war nicht bloß deprimierend, sie war beängstigend. Und das war im Grunde völlig irrational. Zum Teil lag mein Unwohlgefühl daran, daß ich meinen Kleinen zurückhaben wollte. Ich hatte nicht vor, ihn die ganze Zeit, die ich an Krücken gehen mußte, bei meiner Mutter zu lassen, und ich hoffte, daß ich ihn ziemlich bald wieder würde versorgen können. Aber, das sah ich ein, noch nicht sofort. Ich schleppte mich ins Wohnzimmer und ließ mich auf die Couch fallen. »Soll ich dir ein bißchen Eis holen?« fragte Lori schüchtern. Das gab mir auch zu denken. Bis vor kurzem war Schüchternheit so ziemlich das letzte gewesen, was ich von Lori erwartet oder bei ihr erlebt hätte. Ich habe eine Knochenoperation hinter mir. Da brauche ich natürlich viel Kalzium. Eis hat viel Kalzium. Weiter so, Deb, rechtfertige deine Verfressenheit. »Gerne«, sagte ich, »was haben wir denn da?« Sie sah nach. »Schoko-Vanille und Vanille-Kirsch. Was möchtest du?« »Von beidem ein bißchen. Und du?« »Ich nehme auch von beidem was.« Sie reichte mir ein Schälchen mit Löffel und setzte sich zu mir auf die Couch. »Ich hab nachgedacht«, sagte sie und verstummte. »Über was denn?« fragte ich ermunternd. »Über die Leute von der Kirche, die Essen bringen, weil du im Augenblick nicht lange genug stehen kannst, um zu kochen.« »Und?« »Wenn du aufschreibst, was du haben willst, könnte ich 276
einkaufen gehen und das Kochen übernehmen. Oder wenn du dieses Computerprogramm verwendest, das Harry gemacht hat, könnte ich immer noch kochen. Oder sogar, wenn dir überhaupt nicht danach ist, könnte ich mir Mahlzeiten überlegen und die Lebensmittel bestellen und kochen. Ich bin wirklich eine gute Köchin. Früher hab ich oft gekocht, bevor Mom… du weißt schon. Und ich bin ja sowieso die meiste Zeit hier bei euch.« »Eine prima Idee«, sagte ich. »Findest du wirklich? Bevor du operiert wurdest, hab ich Tante Jessie von meiner Idee erzählt, und sie hat gesagt, das wäre anmaßend.« »Tante Jessie spinnt. Es ist nur dann anmaßend, jemandem zu helfen, wenn derjenige keine Hilfe will.« Plötzlich – aber nicht gänzlich unerwartet – stellte Lori ihr Eis auf den Tisch und brach in Tränen aus. »Deb, ich hasse es, bei Tante Jessie zu wohnen! Sie sagt mir andauernd, es ist meine Schuld, daß Mom sich erschossen hat, und daß eigentlich ich tot sein sollte, und sie sagt, ich bin eine Schlampe, weil ich soviel mit Hal zusammen bin, und sie glaubt mir nicht, wenn ich ihr sage, daß wir nichts tun, was wir nicht tun sollten, und sie sagt, daß die Unterstützung vom Sozialamt vorne und hinten nicht reicht, um die Unkosten für mich zu decken, und daß sie mich am liebsten vorgestern los wäre, aber daß es ein schlechtes Bild auf sie werfen würde, wenn ich auf der Straße lande, und Hal sagt, daß wir heiraten, sobald er die High-School hinter sich hat, aber ich will nicht heiraten, bevor er nicht auf Mission gegangen ist, aber er will nicht mal den Antrag dafür einreichen, weil er sagt, wenn ich weiter bei Tante Jessie wohne, werde ich noch krank davon, und –« »Tante Jessie ist ein Miststück. Hal ist neunzehn«, sagte ich. »Er wird ziemlich bald nach seinem High-School-Abschluß auf Mission gehen, und den macht er in zweieinhalb Monaten. Wir hatten uns schon überlegt, daß wir dann mit Tante Jessie reden, ob du bei uns wohnen kannst. Wenn du meinst, es macht dir 277
nichts aus, ein Zimmer mit Cameron zu teilen, und daß es nicht zu problematisch für dich und Hal wäre, kannst du herzlich gern sofort bei uns einziehen.« »Ich hab nicht gemeint –« »Ich weiß, daß du das nicht gemeint hast. Aber ich. Ich sage nur sehr selten etwas, was ich nicht auch so meine. Oder, Harry?« Harry, der während unseres Gesprächs ins Wohnzimmer gekommen war, sagte: »Nein, das tut sie nicht. Und ich auch nicht. Willkommen zu Hause, Kleines.« Sie umarmte mich noch immer, als Hal, der natürlich kein Wort von dem Gespräch mitbekommen hatte, den Pick-up in der Einfahrt parkte, kurz mit dem Hund sprach und dann mit drei Säcken Eis ins Haus kam. Ich konnte die Anspannung auf seinem Gesicht sehen, als er durch die Küche Richtung Garage ging, um zwei Säcke in die Tiefkühltruhe zu packen. Klar, Lori hatte ihm mit Sicherheit mehr über ihre Lage erzählt als mir. Und ich hätte merken müssen, daß ihn etwas viel Ernsteres belastete als bloß der Auftritt seiner Band am Freitag abend. »Wann kommt Tante Jessie von der Arbeit nach Hause?« erkundigte ich mich. Lori sah auf die Uhr. »Wahrscheinlich ist sie jetzt zu Hause. Sie arbeitet von sieben bis drei.« »Wähl die Nummer, und gib mir den Hörer«, sagte ich. Hal kam wieder aus der Garage und blieb im Wohnzimmer stehen, einen Sack Eis auf der Schulter, um mich anzustarren, als ich sagte: »Ich bin’s, Deb Ralston. Wie ich höre, gibt es gewisse Spannungen zwischen Lori und Ihnen. Mein Mann und ich würden uns freuen, wenn sie sofort bei uns einziehen könnte… Nein, wir finden nicht, daß es Ihre Pflicht ist. Da wir davon ausgehen, daß sie eines Tages unsere Schwiegertochter sein wird, ist es viel eher unsere Pflicht als Ihre… Aber nein, wir hatten ohnehin vorgehabt, das in den nächsten paar Monaten zu tun, und wir würden uns sehr freuen, wenn sie 278
schon früher zu uns kommen könnte… Wunderbar. Mein Mann wird wegen der Übertragung des Sorgerechts unseren Anwalt anrufen, und die Papiere müßten dann in ein paar Tagen unterschriftsfertig sein. Die Kinder könnten nachher zu Ihnen kommen, um Loris Kleidung und sonstige Sachen zu holen, und dann bringen sie auch gleich eine vorläufige Erklärung mit, die Sie unterschreiben könnten… Die Unterstützung vom Sozialamt, ja. Da weiß ich nicht, welche Formulare erforderlich sind. Unser Anwalt wird sich darum kümmern, und natürlich werden wir das Geld zurücklegen, um damit das College oder irgendeine andere Ausbildung zu bezahlen. Nein, ich bin sicher, daß wir das Geld nicht brauchen werden, um ihre Lebenshaltungskosten zu decken.« Irgendwann während des Telefonats ließ Hal das Eis fallen. »Im Ernst?« rief er. »Lori zieht bei uns ein?« »Leise, deine Mutter telefoniert«, sagte Harry. »Natürlich zieht sie bei uns ein.« Dann ging er zu Hal hinüber, hob den Eissack auf und drückte ihn Hal in die Arme, während ich den Hörer auflegte und sagte: »Dieses Miststück. Lori, hol mir einen Notizblock. Ich hab in meinem Leben schon genug Durchsuchungsbefehle und dergleichen geschrieben, da müßte ich auch in der Lage sein, ein Schriftstück aufzusetzen, das diese käufliche Hexe unterschreiben muß, damit wir uns um deine schulischen und ärztlichen Belange kümmern können.« Harry schaltete den Computer ein. »Ich lad schon mal die Textverarbeitung. Wir brauchen drei Ausfertigungen.« »Reicht das?« fragte ich. »Eine, die sie behalten kann, eine für die Schule, eine für uns. Reicht das, oder meinst du, wir sollten jeder ein Exemplar haben?« »Für uns beide müßte eines reichen«, sagte er. »Den formalen Kram kann Don nächste Woche erledigen.« Don ist unser erster Schwiegersohn, Vickys Ehemann, derjenige, der Anwalt ist. »Wir hätten das schon vor Monaten machen sollen«, 279
fügte Harry an Lori gewandt hinzu. »Wenn ich gewußt hätte, daß sie dir die Schuld dafür gibt, daß…« Er sprach den Satz nicht zu Ende. Mir war nicht klar gewesen, daß er ebenso wütend war wie ich, obwohl wir schon besprochen hatten, Lori so bald wie möglich anzubieten, daß sie bei uns leben sollte. »Hal«, sagte ich, »würdest du dich bitte um die Kühlbox kümmern. Ach übrigens, möchtest du auf Mission gehen?« »Ja, klar«, sagte er. »Wenn es Lori gutgeht –« »Dann ruf sofort den Bischof an. Lori hat mir gesagt, daß du den Antrag schon vor Wochen hättest einreichen müssen.« Hal sah noch immer ganz benommen aus, als er nach dem Gespräch mit dem Bischof den Hörer auflegte, seine Taschen nach dem Schlüssel für den Pick-up durchwühlte und zu Lori sagte: »Fahren wir.« »Es gibt viele Arten von Kindesmißbrauch«, erklärte ich Harry, als der Wagen rückwärts aus der Einfahrt setzte. »Vielleicht ist Tante Jessies Art die niederträchtigste.« »Sie sind alle am niederträchtigsten«, entgegnete er. »Ich hab mir nicht erklären können, was mit ihr los war. Ich wünschte, ich hätte es gemerkt oder sie hätte es uns früher erzählt. Ich frag mich, wie lange Lori wohl brauchen wird, um wieder die alte zu werden.« Vicky war die erste, und sie war über ein Jahr alt, als wir sie bekamen. Sie hatte zahllose Platzwunden und Prellungen und so ziemlich jede Art von Parasiten, die es gibt, und sie wog neun Pfund zuwenig, was für eine Einjährige viel ist. Sie konnte weder gehen noch sprechen, bis sie fast zwei war. Als sie drei war und ganz, knapp davor, daß man sie ganz normal nennen konnte – obwohl sie erst mit vier Jahren aufhörte, das Fläschchen zu nehmen –, bekamen wir Becky. Becky war erst vier Tage alt, aber dank Rhondas katastrophaler Lebensführung war sie bei ihrer Geburt drogensüchtig, und die ersten sechs Monate waren ziemlich schrecklich. Danach vergingen einige Jahre, ehe wir Hal bekamen. Er war sechs 280
Monate alt. Er hatte in einem Waisenhaus in Seoul gelebt, und sein körperlicher Zustand war gut, aber pro Schicht hatten sich immer wieder andere Personen um ihn gekümmert, und er brauchte Ewigkeiten, bis er sich wirklich emotional an uns binden konnte. Cameron war natürlich unser leiblicher Sohn, und er war das einzige unserer Kinder, das von Anfang an körperlich und psychisch ganz gesund war. Jetzt hatten wir wieder eine Versehrte Seele, um die wir uns kümmern würden. Das war in Ordnung. Einem Teenager Fürsorge zu geben ist etwas anderes, als einem Baby Fürsorge zu geben, aber wir kannten Lori inzwischen lange genug, um zu wissen, wie sie eigentlich sein sollte, und Lori wußte längst, daß wir sie liebhatten. »Sie wird sich wieder fangen«, sagte ich, und Harry nickte. Die beiden waren noch immer bei Tante Jessie, als der Bischof, ein Polizeikollege, um Viertel nach vier Hals Unterlagen vorbeibrachte. »Ich bin froh, daß ihr Lori nehmt«, sagte er. »Das arme Ding hat viel durchgemacht, und ich war schon kurz davor, die Vorsitzende unserer Frauenhilfsvereinigung zu bitten, nach einer Unterbringungsmöglichkeit für Lori zu suchen.« »Wir hätten es schon früher gemacht«, sagte ich schuldbewußt, »aber mir war unwohl bei der Vorstellung, sie und Hal unter einem Dach zu haben.« »Normalerweise wäre das auch völlig richtig«, sagte er. »Aber die beiden kommen schon zurecht. Hal und ich haben zu diesem Thema ein langes Gespräch geführt. Er hatte mir gesagt, daß er gerne auf Mission gehen würde, aber den Gedanken unerträglich fand, Lori in ihrer gegenwärtigen Situation allein zu lassen.« »Ich hätte ihm sagen sollen, daß wir sie aufnehmen wollten – « »So was hatte er sich auch schon gedacht. Aber er war vor 281
lauter Sorge schon fast krank. Ich bin froh, daß jetzt alles geregelt ist, aber die Tante tut mir leid. Sie hat in ihrem ganzen Leben noch niemanden gehabt, den sie lieben konnte oder der sie geliebt hätte, außer ihrer kleinen Schwester.« »Loris Mutter?« Er nickte. »Und als sie die Chance bekam – ein verletztes, gequältes Kind –, war sie lieber haßerfüllt als liebevoll. Lori war bereit, sie zu lieben. Aber sie war nicht bereit, geliebt zu werden. Und wißt ihr was? Hal ist sich dessen noch nicht bewußt, aber in den nächsten zwei Jahren wird er an die Türen vieler Menschen klopfen, die genau wie Tante Jessie sind. Und es wird ihm seltsam vorkommen, daß ihm die meisten zwar die Tür vor der Nase zuknallen werden, daß aber manche von ihnen – gerade weil er ein Fremder ist, den sie nie Wiedersehen müssen, wenn sie nicht wollen – ihn hereinbitten werden, sich ihm anvertrauen und dann sogar richtig zuhören. Äh… wenn wir diese Unterlagen einreichen, werde ich gleichzeitig eine Empfehlung mit einreichen. Wie fändet ihr das, wenn er ins Ausland geschickt würde? Häufig, nicht immer, aber häufig – beschließen sie, jemanden wie Hal in das Land seiner Herkunft zu schicken. Wärt ihr in der Lage, ihm den Flug nach Korea zu bezahlen, falls er dort hingeschickt wird? Die Kirche bezahlt den Rückflug, aber normalerweise bezahlt die Familie die Ausreise des Missionars, und die Lebenshaltungskosten im Ausland sind manchmal höher.« Wir wußten bereits, daß wir für seinen Unterhalt aufkommen mußten, aber an die Reisekosten hatte ich noch nicht gedacht. Ich hatte schon den Mund geöffnet, um zu antworten, als Harry hinter mir sagte: »Wir können das Geld aufbringen. Wenn wir es bis dahin selbst nicht haben – und ich glaube doch, daß wir es dann haben –, wird sein Schwager das liebend gern übernehmen.« Ich war einigermaßen verblüfft. Harry, der der Kirche zwar nicht mehr mit offener Ablehnung gegenüberstand, hatte 282
dennoch nie den Eindruck erweckt, sie wirklich zu mögen. Aber er und der Bischof plauderten noch ein Weilchen freundlich miteinander, bis Harry zu seinem Computer zurückkehrte. Der Bischof wollte schon gehen und wandte sich dann noch einmal um. »Äh… Loris Tante hat nie die Einwilligung gegeben, daß Lori sich taufen läßt, und Lori war darüber ziemlich verzweifelt. Wo ihr jetzt das Sorgerecht habt…« Er ließ die Frage offen, und ich sagte: »Offiziell bekommen wir das Sorgerecht erst in den nächsten ein, zwei Monaten. Dann unterschreibe ich die erforderlichen Unterlagen für euch. Das müßte auf jeden Fall noch vor Hals Abreise sein, wo auch immer er nun hingeschickt wird.« Ich hatte mit einem Hinweis darauf gerechnet, daß es für Hal ein wenig peinlich sein könnte, auf Mission zu gehen, wo doch seine Eltern beide keine Kirchenmitglieder waren. Aber er sagte nichts dergleichen. Er ging einfach nur pfeifend den Weg hinunter, blieb kurz stehen, um Pat hinter den Ohren zu kraulen, stieg in sein Auto und fuhr ab. Ich rief Vicky und Becky an, um sie auf den neusten Stand zu bringen. Vicky sagte: »Mom, das ist prima. Ich sag Don, daß er euch anrufen soll, sobald er nach Hause kommt.« Becky konnte selber nicht ans Telefon kommen. Statt ihrer meldete sich eine jugendliche Stimme – ein Babysitter, vermutete ich; Becky hatte häufig auch dann einen Babysitter da, wenn sie selbst zu Hause war –, die sagte, sie würde Becky ausrichten, daß sie mich zurückrufen sollte. Das tat sie auch kurze Zeit später. »Nein, kein Babysitter«, erklärte sie, »nur eine Freundin, die ein Weilchen bei uns wohnt.« Auch das war nichts Ungewöhnliches; in letzter Zeit schienen sie und ihr Mann Olead so häufig obdachlose Jugendliche bei sich aufzunehmen, daß ich schon fand, man sollte ihnen die Genehmigung erteilen, ein Heim für Ausreißer und Streuner aufzumachen. Meistens brachte Olead sie mit nach Hause, so wie ein Mann, der im Regen einen Parkplatz 283
überquert, ein ausgesetztes Kätzchen aufhebt und in die Tasche steckt, und manchmal war ich mir sicher, daß Becky herumfuhr und nach ihnen Ausschau hielt. Sie blieben nie lange; manchmal gingen sie wieder zurück nach Hause, und manchmal zogen sie einfach weiter, entweder zu Leuten, die ihnen empfohlen worden waren, oder einfach allein ins Blaue hinein. Jedenfalls kam es mir so vor, als wären immer ein paar Jugendliche bei ihnen, seit sie damit vor einigen Monaten angefangen hatten. Aber ich lernte sie nur selten kennen – ich mochte ja Beckys Mutter sein, aber für diese Ausreißer war ich trotzdem vor allem ein Cop. »Ich war gerade im Bad«, sagte Becky. »Mom, wieso muß ich Nachmittagsübelkeit haben? Morgenübelkeit ist bestimmt schlimm genug, aber die hab ich nie gehabt – immer bloß Nachmittagsübelkeit.« Ich hatte Mitleid mit ihr, aber keine Erklärung. »Jedenfalls bin ich froh, daß Lori bei euch einzieht«, fügte sie hinzu. »Die Ärmste war ein Wrack, als ich sie das letzte Mal gesehen habe.« Hal teilte uns mit, daß Tante Jessie die von uns aufgesetzte vorläufige Sorgerechtserklärung ohne ein Wort unterschrieben, eine Kopie für sich behalten, die beiden anderen Lori gereicht und gesagt hatte: »Ich wäre dir dankbar, wenn du den Schlüssel hier läßt, wenn du endlich gehst.« Sonst hatte sie nichts mehr gesagt, die beiden aber so unverwandt angestarrt, daß Hal fragte: »Möchten Sie aufpassen, daß wir nichts von Ihren Sachen mitnehmen?« Sie hatte nicht geantwortet. Sie hatte ihn einfach weiter haßerfüllt angestarrt. Es war den Kindern gelungen, Loris gesamte Habe, einschließlich Bett, Kommode, Schreibtisch und Schreibtischstuhl (wovon einiges vorläufig in unserer Garage eingelagert werden würde) auf dem Pick-up und im 284
Campinganhänger zu verstauen, wobei sie, nachdem ihnen die Kartons ausgegangen waren, die Kleidung und die Bücher in Mülltüten (meinen, natürlich; sie hatten sie mitgenommen, weil sie wußten, daß sie welche brauchen würden, und Tante Jessie um nichts bitten wollten) zum Wagen trugen. Es war auch gut so, daß sie alles in einer Fuhre schafften, da keiner von beiden noch einmal dahin zurück wollte. Auch so schon war Lori wegen Tante Jessies Miene in Tränen aufgelöst, als sie schließlich fertig waren. Hal saß am Küchentisch und füllte die Formulare aus, die der Bischof vorbeigebracht hatte – er hatte uns schon darauf aufmerksam gemacht, daß er sowohl eine allgemeinmedizinische als auch eine zahnärztliche Untersuchung brauchen würde –, und Lori sang mit hoher, angenehmer, aber sehr leiser Stimme vor sich hin, während sie Camerons Zimmer umräumte, um Platz für ihre und seine Habseligkeiten zu schaffen, als Sandy um fünf Uhr eintraf. Harry ging zur Tür, um sie hereinzulassen. Ich hatte vergessen, ihm zu sagen, daß sie kommen würde, und vielleicht würde er später das ein oder andere Wort darüber verlieren – obwohl er das eingedenk der jüngsten Entwicklungen wahrscheinlich doch nicht tun würde –, aber er ließ sich nichts anmerken. Er sagte bloß: »Deb möchte sich bestimmt im Schlafzimmer mit dir unterhalten, also warte doch bitte einen Moment, bis sie dort ist.« »Ich weiß, daß Sie mit ein paar von Dustys Freundinnen gesprochen haben«, sagte Sandy. Sie trug eine dunkle, kupferfarbene, maßgeschneiderte Hose, eine elfenbeinfarbene, maßgeschneiderte Bluse und Schnürstiefel aus rotbraunem Leder und sah aus wie eine College-Studentin aus reichem Hause. Sie saß sehr gerade, sehr adrett, in demselben Sessel, in dem Rhonda sich einige Male gerekelt hatte. »Ich hab auch mit ihnen gesprochen und mit einigen anderen, von denen Sie 285
wahrscheinlich nichts wußten. Alle haben behauptet, nichts zu wissen, aber alle hatten sie diesen gewissen Blick. Sie wissen schon.« »Ich weiß«, sagte ich. »Den hattest du früher auch immer.« Sie lachte leise, dieses klingende Lachen, von dem ich angenommen hatte, daß sie es bei Bedarf bewußt einsetzte. »Das kann gut sein. Ich hatte ja auch so meine Geheimnisse. Mrs. Ralston, da muß wirklich irgendwas Eigenartiges im Gang gewesen sein. Da bin ich mir sicher, auch wenn ich nicht weiß, was. Ein paar von Dads Freunden erkennen mich noch immer, wenn wir uns auf der Straße begegnen. Ich hab gedacht, wenn Sie nichts dagegen haben, könnte ich die mal anrufen und mit ihnen sprechen.« »Aber taktvoll, bitte. Und es wäre mir ehrlich lieber, du würdest mich Deb nennen. Das tut sonst jeder, und es macht mich nervös, wenn du es nicht tust.« Sie reckte sich katzenartig und nahm ihre ursprüngliche Position wieder ein. »Gut, Deb, ich bin ein Genie, wenn es darum geht, Männern etwas zu entlocken. Und nicht bloß so, wie Sie meinen. Wenn ich aus irgendwem was rauskriege, bitte ich denjenigen, daß er Sie direkt anruft, wenn Ihnen das recht ist.« »Ich hätte es wissen müssen«, sagte Harry resigniert. »Was kann dich dazu bringen, zu Hause im Bett zu bleiben, wie der Arzt gesagt hat?« »Ich bin früh wieder zu Hause, wenn du mich abholen kommst«, argumentierte ich, »aber Matilda wird heute da sein, und sie meint, sie kann diese Bonando-Geschichte regeln.« »Und Captain Millner hat nichts dagegen, wenn ein TranceMedium eure Räumlichkeiten benutzt.« Sein Tonfall verriet, daß er das im Leben nicht glaubte. »Ich hab Captain Millner nicht gefragt. Ich habe Rafe gefragt. Und sie ist nicht bloß ein Trance-Medium, sie ist auch 286
Psychologin.« »Deb, ich hab Matilda wirklich gern«, stellte Harry klar. »Ich mache mir bloß Gedanken wegen ihrer möglichen Wirkung auf Geschworene.« »Es gibt überhaupt keinen Grund dafür, daß dieser Fall je vor einem Geschworenengericht landet.« »Da ich nicht mal weiß, um was für einen Fall es sich handelt, muß ich dir wohl glauben«, entgegnete Harry. »Aber zuerst fahre ich mit dir irgendwo frühstücken, damit du den Tag endlich mal mit einer ordentlichen Mahlzeit anfängst.« Bis meine Gesundheit zumindest halbwegs wiederhergestellt war, erwartete niemand von mir, daß ich pünktlich im Revier eintraf oder bis Dienstschluß blieb. Hal und Lori waren noch ziemlich lange aufgeblieben und hatten Möbel hin und her geschoben, so daß sie fast zu spät zum Seminar gekommen wären, und sie hatten zum Frühstück Cheerios und Pop-Tarts gegessen, eine Kombination, die ich ein wenig unverträglich fand, aber ich bin ja auch kein Teenager. Ein Frühstück im Restaurant war eine wunderbare Idee, und sobald ich die Speisekarte sah, hätte ich am liebsten alles gegessen, was im Angebot war. Mein Appetit kehrte mit Macht zurück, was ich als gutes Zeichen deutete. Als ich im Büro eintraf, saß Matilda, in einem todschicken Kostüm und mit hochhackigen Schuhen, in einem Schreibtischsessel – dem von Henry Tuckman, wie ich bemerkte, und ich fragte mich, wo Henry wohl war –, und Rafe saß neben ihr auf der Ecke der Schreibtischplatte. Mrs. Bonando, die äußerst unglücklich dreinblickte, saß in einem Sessel neben dem Schreibtisch, und Rafe war mitten im Satz. »… ist Psychologin. Sie ist zwar nicht offiziell mit unserem Department verbunden, aber sie arbeitet häufig mit einer unserer Detectives zusammen.« »Mrs. Ralston?« fragte Mrs. Bonando. »Genau. Mrs. Ralston ist unter anderem auch deshalb eine so 287
herausragende Polizistin, weil sie die Fähigkeit besitzt, sich viele inoffizielle Hilfsquellen effizient zunutze zu machen, und Ms. Greenwood hat sich freundlicherweise als eine dieser Hilfsquellen zur Verfügung gestellt. Ich kann Sie natürlich nicht zwingen, mit ihr zu sprechen, aber sie hat sich gestern länger mit Mr. und Mrs. Washington unterhalten, und mir scheint, wenn Sie bereit sind, ebenso offen mit ihr zu reden, könnten wir das ganze Problem sehr schnell lösen. Also, während Ihres Gesprächs wird niemand aus dem Department anwesend sein, und Ms. Greenwood wird uns ohne Ihre Einwilligung nichts erzählen. Sie können daher so frei sprechen, wie Sie möchten.« Mrs. Bonando blickte sich unsicher um, wie ein gefangenes Tier. Dann sagte sie mit unsicherer Stimme: »Meinetwegen.« Nachdem sich die Tür zum Vernehmungszimmer hinter ihnen geschlossen hatte, stand Rafe auf, ging zur Tür und bemerkte mich jetzt erst. »Danke für die Lobeshymne«, sagte ich. »Wohlverdient«, erwiderte er rasch. »Mal sehen, alle sind entweder im Gericht oder wegen irgendwas unterwegs, außer Henry, und der ist unten beim Erkennungsdienst. Sie müssen also nur hier sitzenbleiben und die Stellung halten. Ich muß zurück ins Gericht.« Gut gedacht. Aber wie man weiß: Der Mensch denkt, und Gott lenkt. Etwa drei Minuten nachdem Rafe sich verabschiedet hatte, kam Henry Tuckman herein, sah sich um und sagte: »Außer dir keiner da?« »Nee.« »Dann mußt du eben mitkommen. Wir müssen jemanden festnehmen.« Es kostete mich einige Anstrengung, nicht zu lächeln. Ich war nämlich ziemlich sicher, wer da festgenommen werden sollte. Aber ich gab mir alle Mühe, Widerwillen zu demonstrieren. »Henry«, sagte ich, »ich gehe an Krücken. Ich würde fünf Minuten brauchen, um an meine Waffe zu kommen, 288
und ich könnte nicht mal einer Maus Handschellen anlegen.« »Der wird uns keinen Ärger machen«, entgegnete Henry, »und du sollst nur dabeisein, damit du bezeugen kannst, daß ich ihn nicht unnötig hart angefaßt habe.« »Tja, das krieg ich wohl noch gerade so hin.« »Ich warte mit dem Wagen am Eingang.« Im Auto fiel mir auf, daß Henry ungeniert vor sich hin grinste. »Was hast du?« fragte ich. »AFIS hat keinen Abdruck von dem SekundenkleberVergewaltiger gefunden.« »Und darüber freust du dich?« AFIS – das Automatische FingerabdruckIdentifikationssystem – ist eine der wichtigsten Neuerungen aller Zeiten für die Polizei. Schon beim allerersten Probelauf in San Francisco konnten innerhalb von sechs Monaten dreiundachtzig Morde aufgeklärt werden, die ansonsten vermutlich nie aufgeklärt worden wären, und seitdem wird es von Departments überall im Lande mit großem Erfolg genutzt. Der Computer nimmt die eigentliche Identifizierung nicht selbst vor, sondern er wirft bis zu zehn Möglichkeiten aus, die die Fingerabdruckexperten dann unter die Lupe nehmen. Falls das regionale Netz eines Departments keine Entsprechung liefert, werden die Abdrücke anschließend an das FBI gefaxt, das in einer einzigen Nacht etliche hundert Einzelabdrücke überprüfen kann. Somit ist das Ideal, die riesige Fingerabdruckkartei des FBI nach Einzelabdrücken zu durchsuchen, das früher bloß ein Traum war, zur alltäglichen Wirklichkeit geworden. »AFIS nicht«, sagte Henry, »aber Irene schon.« »Hä?« »Irgendwer hat Irene angerufen und ihr gesagt, daß mehrere Vergewaltigungsopfer am Tag der Tat eine Steuerprüfung hatten und daß es jedesmal derselbe Steuerprüfer war. Also hat Irene in Washington angerufen und sich eine Fingerabdruckkarte faxen lassen, und gerade eben haben wir 289
festgestellt, daß sie paßt.« »Wer ist es?« fragte ich und unterdrückte ein triumphierendes Grinsen. Niemand würde je offiziell erfahren, daß ich diesen Fall gelöst hatte, aber ich wußte es. Und falls ich Irene so gut kannte, wie ich meinte, sie zu kennen, würde sie es früher oder später einem unserer hohen Tiere unterjubeln, wenn genug Zeit verstrichen war, so daß sich keiner mehr großartig darum scheren würde, daß ich weiter an dem Fall gearbeitet hatte, obwohl ich die Anweisung hatte, die Finger davon zu lassen. »Ein gewisser Mitchell Kennedy«, sagte Henry. Sein Grinsen wurde noch breiter, falls das überhaupt möglich war. »Mitchell Kennedy ist Steuerprüfer beim Finanzamt.« »Was?« Ich hoffte, das klang hinreichend verblüfft. »Du hast richtig gehört«, sagte Henry. »Ich hab mir schon gedacht, daß diese Steuerprüfungen eine Spur waren.« Das konnte ich ruhig sagen, weil Rafe wußte, daß ich diese Spur entdeckt hatte. »Aber ich hätte nicht gedacht… weil Michie Chaney gesagt hat, daß sie die Stimme nicht erkannt hat…« Und das hatte mich wirklich verwirrt. »Viele Menschen benutzen in unterschiedlichen Situationen unterschiedliche Stimmen«, sagte Henry. »Unser Mann hier anscheinend auch. Nachdem Irene mir Bescheid gegeben hatte, hab ich alle Opfer angerufen, die ich erreichen konnte. Bis auf Michie Chaney hatten sie alle ausnahmslos eine Steuerprüfung, und sie selbst hatte natürlich gerade beruflich mit einer zu tun gehabt. Wie du herausgefunden hast. Vier von den sechs, die ich erreicht habe, einschließlich Michie Chaney, konnten sich an den Namen des Finanzbeamten erinnern, und rate mal, wie er hieß: Mitchell Kennedy. Komisch ist bloß, daß alle beteuerten, das hätten sie dir doch schon gesagt.« »Aua«, sagte ich. »Ich wußte nicht, daß du sie noch mal anrufen würdest.« Er sah mich fragend an. 290
»Rafe hatte gesagt, ich soll die Finger von dem Fall lassen«, sagte ich. »Aber ich konnte einfach nicht, Henry.« »Also warst du es, die Irene angerufen hat.« »Ja«, gestand ich, »aber ich hab ihr gesagt, sie soll es bloß keinem erzählen. Weil ich nicht will, daß Rafe schon wieder sauer auf mich wird.« »Ich glaube kaum, daß Rafe allzu sauer sein wird«, grinste Henry. »Und wie ging es weiter?« fragte ich. »Ich hab in seinem Büro angerufen, und die haben mir gesagt, wen er heute fertigmacht – Tschuldigung, wen er heute prüft. Und ich glaube – ich glaube wirklich –, daß jemand, der mitten in einer Steuerprüfung steckt, einen Mordsspaß haben könnte, wenn der Steuerprüfer vor seinen Augen festgenommen wird, meinst du nicht auch?« »Es entbehrt nicht einer gewissen ausgleichenden Gerechtigkeit«, pflichtete ich ihm bei, während Henry den Wagen vor einer kleinen Druckerei parkte. »Und ich finde wirklich, gerade du solltest bei der Festnahme dabeisein«, fügte Henry hinzu, als er mir und meinen Krücken die Tür aufhielt. Es war keine Empfangssekretärin zu sehen, und wir gingen recht vorsichtig durch einen unaufgeräumten Vorraum in ein Büro, wo auf einem Schreibtisch und einem Besprechungstisch Quittungen und Rechnungen ausgebreitet lagen und zwei Männer sich ernst unterhielten. Beide drehten sich um, sahen uns an, und dann wandte sich der jüngere von beiden wieder seinem Block zu, auf den er eifrig etwas notierte. »Was ist?« fragte der ältere Mann, der etwa sechzig Jahre alt sein mochte. Henry zeigte ihm seine Marke, die er schon bereithielt. »Polizei.« »Das hat mir gerade noch gefehlt«, sagte der Mann. »Die Steuerprüfung ist ja schon da.« Er funkelte mich an. »Und wer zum Teufel sind Sie?« 291
»Ich bin auch von der Polizei«, sagte ich. »Oh ja, toll, wir müssen ja sooo politisch korrekt sein«, sagte der Mann. »Ein Schwarzer und eine Frau. Und die auch noch auf Krücken. Die Steuerprüfung ist ja schon da. Aber die haben wenigstens nur einen geschickt.« »Das hab ich gehört«, sagte Henry. »Mitchell Kennedy?« Der jüngere Mann wandte sich erneut um. »Ich bin Mitchell Kennedy«, sagte er höflich. Er war ein gepflegter, gut gekleideter Mann, der nach Irischer Frühling roch. »Mitchell Kennedy, ich bin Henry Tuckman vom Fort Worth Police Department, und Sie sind festgenommen wegen des Verdachts auf mehrfache Vergewaltigung. Sie haben das Recht zu schweigen –« Kennedy sah ziemlich verblüfft aus. Dann fragte er: »Wie sind Sie auf mich gekommen?« »Ihre Gewohnheiten sind etwas zu regelmäßig geworden«, erklärte Tuckman. »Und beim letzten Mal haben Sie Fingerabdrücke hinterlassen.« »Das ist ausgeschlossen«, sagte Kennedy. »Ich wische meine Fingerabdrücke immer ab.« »Am Dienstag aber nicht, in Michele Chaneys Wagen.« Tuckman ließ sich nicht anmerken, daß die unaufgeforderte Aussage, die Kennedy gerade gemacht hatte, nach der Tatbestands-Regel vor Gericht zugelassen werden würde. »Möchten Sie auf Ihr Recht zu schweigen verzichten?« »Wird wohl«, sagte Kennedy, »sonst hätten Sie mich niemals gefunden. Das ist wirklich ärgerlich, ich kann mir gar nicht vorstellen, wieso ich da einen übersehen habe…« Er schnippte mit den Fingern. »Dieser Kunststoffstreifen an der hinteren Wagentür. Da war er, nicht? Ich hab gewußt, daß ich irgendwas vergessen hatte – aber ich muß diese Prüfung hier wirklich erst noch abschließen.« »Ich fürchte, jemand anders wird diese Prüfung hier abschließen müssen«, sagte Tuckman. 292
Der ältere Mann lehnte sich zurück. »Sie verhaften die Steuerprüfung?« fragte er. »Leider nur einen einzelnen Steuerprüfer«, sagte Tuckman. »Wahrscheinlich kommt demnächst jemand anders.« »Oh, da bin ich ganz sicher«, sagte Kennedy. »Eine Prüfung dieses Umfangs muß unbedingt abgeschlossen werden.« Er begann, Unterlagen in seine Aktentasche zu packen, und Henry ließ ihn gewähren, nicht ohne zuvor einen Blick in die Tasche geworfen zu haben, um sicherzugehen, daß sie keine Waffen enthielt. Dann nahm er die Aktentasche in Gewahrsam. »Fünfhundert Dollar«, sagte der Geschäftsmann. »Fünfhundert lausige Dollar will er eintreiben. Ich würde ihm das Geld sogar schenken, um ihn mir vom Hals zu schaffen, aber nein, er sagt, so geht das nicht.« »Es muß schließlich alles seine Richtigkeit haben«, sagte Kennedy spitz. »Diese Unterlagen hier müssen zurück –« »Bestimmt müssen sie das«, sagte Tuckman, »und ich werde sie gern demjenigen übergeben, der sie bei uns abholt. Wenn Sie bereit sind, mit uns zu reden, würden Sie dann wohl hier unterschreiben?« Normalerweise hätte er mich gebeten, die Unterschrift zu bezeugen, doch statt dessen fragte er den Geschäftsmann, der mit offensichtlicher Genugtuung »Dale Calder« an die für die Zeugenunterschrift vorgesehene Stelle kritzelte. Auf dem Weg zum Wagen fragte Henry: »Wieso haben Sie gerade diese Frauen ausgesucht?« »Weil sie meine Ermittlungen in einem überaus störenden Maß behindert haben«, sagte Kennedy. »Soll das heißen, daß Sie sie nicht zwingen konnten, noch mehr Geld auszuspucken?« »Das ist nun wirklich nicht meine Aufgabe«, sagte Kennedy. »Und um ganz ehrlich zu sein, ich vermute, meine Vorgesetzten werden keinerlei Verständnis für mein Vorgehen aufbringen. Ich bin lediglich dafür zuständig, die Richtigkeit ihrer 293
Steuererklärungen zu überprüfen. Aber in jedem dieser Fälle war ich mir ganz sicher, daß diese Frauen irgend etwas verbargen, das sie einfach nicht preisgeben wollten, und ich hielt es für notwendig, sie dafür zu bestrafen.« »Was hat denn Michie Chaney verborgen?« fragte ich. »Soweit ich weiß, nichts, was sie selbst betraf«, sagte er. »Obwohl ich mir ihre persönlichen Unterlagen noch nicht angesehen habe; ich habe sie nur kennengelernt, weil ich einen ihrer Mandanten geprüft habe. Es war bloß… ihr Name klingt so ähnlich wie meiner.« »Und warum dienstags?« fragte Tuckman. »Wie bitte?« »Wieso haben Sie immer bloß dienstags zugeschlagen?« »Oh, das stimmt natürlich nicht.« »Aber wir haben immer nur dienstags Fälle gemeldet bekommen«, sagte ich. Er sah mich an, als wäre ich schwer von Begriff. »Dienstag ist der Tag, an dem ich normalerweise nach Fort Worth komme«, erklärte er. »Heute war die Ausnahme.« »Und warum nur Frauen mit Garagen? Woher wußten Sie, daß sie Garagen hatten?« fragte ich. Sein Blick wurde immer mitleidiger. »Ich habe die Prüfungen bei ihnen zu Hause vorgenommen«, stellte er klar, »und natürlich habe ich mir nur Häuser mit Garagen ausgesucht, aus Gründen der Tarnung. Ich wußte, daß sie auswärts essen würden, nachdem ich mich verabschiedet hatte – Frauen machen das immer, ich weiß nicht, wieso sie sich nicht einfach was zu Hause kochen können, diese faulen, verlogenen Schlampen – und ich bin ihnen gefolgt, hab beobachtet, wo sie ihre Wagen abstellten, bin dann in das nächstgelegene Motel, habe gebadet, meine… meine Freundin informiert… daß die Prüfung noch bis zum Abend dauern würde, und bin dann zu ihren Autos. Ich habe so meine Methoden, sie aufzubekommen.« Er wirkte recht zufrieden mit sich. 294
»Und das haben Sie auch in anderen Städten so gemacht?« fragte Tuckman. »Wenn ich es für angemessen hielt.« Tuckman und ich wechselten einen Blick. Es lag auf der Hand, daß wir ziemlich viele benachbarte Departments kontaktieren mußten – von denen einige hoffentlich seine DNA haben würden, wenn nicht sogar seine Fingerabdrücke. »Ein Steuerprüfer?« schrie Michie Chaney am anderen Ende der Leitung. »Ein Steuerprüfer vom Finanzamt hat mich vergewaltigt? Mitchell Kennedy? Dieser dämliche Mistbock hat nicht mal seinen Steuerberater gemacht! Wenn ich gewußt hätte, daß er es ist, hätte ich ihm das Genick gebrochen! Wenn ich den je in die Finger kriege, kann er sich auf was gefaßt machen –!« Am anderen Ende des Raumes fragte Mitchell Kennedy gerade: »Was meinen Sie, wie schnell kann ich wohl gegen Kaution entlassen werden?«
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Kapitel 13 Als wir mit Mitchell Kennedy im Schlepptau wieder im Department eingetroffen waren, hatte ich die Washingtons gesehen, die nebeneinander in den, wie es schien, bequemsten Sesseln saßen, die man für sie hatte auftreiben können. Ein Geistlicher, um einiges älter, als ich aufgrund der Stimme geschätzt hatte, falls es sich um Father Vincent handelte, saß bei ihnen, und hinten im Raum sah ich Janine Bonando, die in ihrer üblichen krummen Haltung auf der Fensterbank hockte und nach draußen starrte. Sie übersah – so geflissentlich, wie das nur Jugendliche beherrschen – sowohl die Washingtons als auch Father Vincent. Weder Matilda noch Mrs. Bonando waren irgendwo in Sicht, und die Tür zum Vernehmungszimmer war nach wie vor geschlossen, wie zu dem Zeitpunkt, als ich gefahren war. Ich ging durch den Raum, um mit den Washingtons zu sprechen. Sie stellten mir Father Vincent vor, der kaum mehr sagte als »guten Morgen« und seiner Hoffnung Ausdruck gab, daß diese Angelegenheit bald bereinigt würde, da sie für alle Beteiligten überaus belastend sei. Ich begrüßte Janine, die mit einem ziemlich unverständlichen Brummen reagierte, das vermutlich eine Begrüßung sein sollte, vielleicht aber auch nicht. Ich hatte nicht viel Zeit, mit ihnen zu reden, weil ich Michie Chaney anrufen mußte, und gleich nachdem ich aufgelegt hatte, kam Captain Millner herein, und seine Miene verriet deutlich, mir zumindest, daß er stinksauer war. »Ich hatte gerade erst Gelegenheit, die Berichte im Fall Reddich zu lesen«, sagte er und setzte sich neben mich. »Was passiert da jetzt?« »Soweit ich weiß, nichts«, antwortete ich, ohne den Versuch zu machen, meinen Zorn zu verbergen. »Die Sozialarbeiterin 296
läßt nicht zu, daß wir was unternehmen. Das Kind ist noch immer zu Hause, es wurden keine richterlichen Anordnungen ausgestellt, und auch wenn der Vater sich theoretisch von zu Hause fernhalten soll, glaubt hier keiner von uns, daß er sich wirklich daran hält.« »Welche Sozialarbeiterin ist für den Fall zuständig? Constantine? Wie heißt sie mit vollem Namen?« »Gayle Constantine.« »Wie lange ist sie schon Sozialarbeiterin?« »Weiß ich nicht«, sagte ich. »Lange genug, um es besser wissen zu müssen, meiner Meinung nach. Ich hatte in den letzten Jahren öfter mit ihr zu tun. Sie hat mir erzählt, daß sie Sozialarbeit studiert hat und früher bei der Adoptionsstelle war. Ich glaube nicht, daß sie die Sache nicht ernst nimmt. Sie ist bloß fest davon überzeugt, daß man Vätern beibringen kann, ihre Töchter nicht zu mißbrauchen, und den Müttern, ihre Töchter zu schützen. Und das ist falsch. Wenn Vernachlässigung oder Mißbrauch auf Ignoranz beruhen, dann kann man das Problem vielleicht mit erzieherischen Maßnahmen lösen, zumindest manchmal. Aber nicht diese Art von Problem. Und das begreift sie einfach nicht. Ich verstehe ja, daß es besser ist, Familien zusammenzuhalten, wenn irgend möglich, aber manchmal ist das eben nicht möglich.« »Wo ist Rafe?« »Im Gericht.« »Wissen Sie, was er in der Sache vorhat?« »Er hat Gayle gesagt, wenn sie die Kleine nicht da rausholt, besorgt er sich eine einstweilige Verfügung und macht es selbst. Aber ich weiß nicht, wieviel Zeit er ihr dafür gegeben hat.« »Und Sie wissen auch nicht, ob sie mit ihren Vorgesetzten darüber gesprochen hat?« »Keine Ahnung.« »Geben Sie mir ihre Telefonnummer.« Das tat ich liebend gern. Captain Millner kann schon grob 297
klingen, wenn er ausgesprochen freundlich ist; Menschen, die hören, wie er mit mir redet, und die nicht wissen, daß wir eigentlich sehr gut miteinander auskommen, bezeichnen ihn gern als »Chauvinistenschwein«, was er nun wirklich nicht ist. Wenn er so richtig sauer ist – tja. Dann macht man am besten einen riesengroßen Bogen um ihn. »Gayle Constantine… ist mir egal, wie beschäftigt sie ist. Sagen Sie ihr, der Leiter des Detective Bureau im Fort Worth Police Department will sie sprechen, und zwar sofort… Ms. Constantine, hier spricht Captain Millner, und ich bin der… Gut. Freut mich, daß Sie wissen, wer ich bin. Sie wissen doch bestimmt, daß Sie keine richterliche Anordnung brauchen, um ein Kind aus dem Elternhaus zu entfernen, wenn hinlängliche Beweise dafür vorliegen, daß die Sicherheit und möglicherweise sogar das Leben des Kindes gefährdet sind. Zuerst holt man das Kind da raus, und dann besorgt man sich die richterliche Anordnung. Und jetzt hören Sie mir mal gut zu, denn ich werde das nur einmal sagen. Entweder Sie fahren jetzt zu der Schule und holen die kleine Reddich ab und bringen sie her, oder ich fahre jetzt zu der Schule und hol die kleine Reddich ab und bringe sie her, und wenn ich das mache, wird Ihre Vorgesetzte wesentlich mehr über diesen Fall zu hören bekommen, als sie hören will, und vor allem mehr, als Sie möchten, daß sie hört. Sobald sie hier ist, besorge ich jede richterliche Anordnung, die Sie Ihrer Meinung nach brauchen. Aber um richterliche Anordnungen werden wir uns erst dann kümmern, wenn das Mädchen sicher bei Pflegeeltern untergebracht ist… Zum Teufel damit, die Familie zusammenzuhalten! Was muß dieser Dreckskerl denn noch alles anstellen, damit Sie reagieren, das Mädchen zerstückeln? Ich hab den kinderärztlichen Bericht gelesen… Die Mutter wird benachrichtigt werden. Auch darum kümmere ich mich… Zum Teufel mit ihren Sachen, die holen wir später, oder der Staat kauft ihr ein paar neue Klamotten. Was ist Ihnen lieber, ein 298
Kind in Sicherheit, ohne viel anzuziehen, oder die bestgekleidete Leiche in ganz Tarrant County?« Ich weiß nicht, was Gayle Constantine sagte, aber als Captain Millner den Hörer auflegte, blickte er einigermaßen zufrieden drein. »Ich bleibe hier«, sagte er, »bis die Kleine hier ist.« In diesem Moment kam Matilda aus dem Vernehmungszimmer, sah mich und sagte: »Oh, gut, daß du wieder da bist. Kannst du mal kurz reinkommen?« »Klar«, sagte ich mit einem raschen Seitenblick zu Captain Millner, folgte ihr in den Raum und schloß die Tür hinter mir. Mrs. Bonando hatte geweint. Ihre Augen waren rot und verschwollen, ihre Nase lief, die kläglichen Überreste ihres Make-ups waren verschmiert, und etwa die Hälfte des Inhalts der Kleenex-Packung auf dem Tisch vor ihr befand sich jetzt in dem Mülleimer neben ihr. »Erklären Sie’s ihr«, sagte sie zu Matilda, die Stimme durch das Taschentuch gedämpft, das sie sich an die Lippen preßte. »Mrs. Bonando und ich haben uns lange unterhalten«, sagte Matilda, »und es gibt eine Erklärung für ihr irrationales Verhalten gegenüber Mr. Washington. Als sie neun Jahre alt war, hat ein freundlicher, väterlicher Nachbar, der in derselben Gemeinde war und zur selben Zeit wie sie zur Messe ging, angefangen, sie sexuell zu belästigen, und das ging so weiter, bis sie siebzehn war. Jedesmal, wenn sie darum bat, ihn nicht mehr besuchen zu müssen, warfen ihre Eltern ihr vor, sie sei herzlos zu diesem armen, einsamen, alten Mann, der keine Familie mehr hatte. Als ihr auffiel, daß Mr. Washington sich Janine gegenüber freundlich und väterlich verhielt, fürchtete sie, daß er damit dieselben Absichten verfolgen könnte wie der Nachbar damals ihr gegenüber.« Mrs. Bonando weinte erneut los und sagte: »Ich wollte nicht, daß ihr jemand was tut! Ich hatte Angst –« »Aber natürlich«, sagte ich. 299
»Er hat nicht wirklich was getan«, sagte Mrs. Bonando. »Ich meine, das war’s ja gerade. Ich wollte sichergehen, daß er auch keine Gelegenheit haben würde, was zu tun. Ich meine, wenn man nur danach gegangen wäre, wie er sich anderen Leuten gegenüber verhalten hat, dann war der Kerl, der mir das angetan hat, der netteste Mensch, den man sich nur vorstellen kann. Deshalb wollte ich sichergehen, daß Janine Mr. Washington niemals so nahe kam, daß er was hätte machen können. Und daß er sie angesehen hat… ich weiß nicht, ich glaube noch immer, daß er sie angesehen hat. Aber Miss Greenwood hat gesagt, er hätte sie angesehen, weil sie ihm leid getan hat. Ich… Miss Greenwood sagt, ich hab Janine so verängstigt, daß sie gar keine Freundinnen hat. Ich wollte ihr nicht schaden! Ich wollte bloß nicht, daß –« »Natürlich wollten Sie nicht, daß ihr jemand was tut«, sagte Matilda. »Aber Mädchen können auch lernen, auf sich selbst aufzupassen, ohne daß man das ganze Universum aussperren muß. Deb, Mrs. Bonando hat sich bereit erklärt, für sich und Janine eine Familienberatung in Anspruch zu nehmen.« »Aber nur, wenn Sie das machen«, sagte Mrs. Bonando mit freudloser Stimme. »Vor anderen hätte ich Angst.« »Ich habe aber keine Privatpraxis«, sagte Matilda, und ihr Tonfall ließ darauf schließen, daß sie das schon einige Male gesagt hatte. »Du sagst doch schon länger, daß du gern eine hättest«, wandte ich ein. »Und ich weiß, daß du die erforderlichen Zulassungen hast, weil ich sie mit eigenen Augen gesehen habe.« »Also gut«, sagte Matilda, »aber ich möchte die Sitzungen bei Ihnen zu Hause abhalten, nicht in meinem Büro.« Mrs. Bonando blickte etwas verwundert drein. »Ist das nicht ziemlich ungewöhnlich?« Matilda sah mich an. Ich weiß, daß wir beide in diesem Moment dasselbe Bild vor Augen hatten: Janine und Mrs. 300
Bonando, die die wackelige, hölzerne Außentreppe zu Matildas Wohnungs-Büro-Kombination (die Matilda schwülstig und selbstironisch als ihre Wirkungsstätte bezeichnete) über ihrer spiritualistischen »Kirche« hinaufstiegen, die in Wirklichkeit als psychische Beratungsstelle für ältere Menschen, hauptsächlich Frauen, diente, die sich unendlich gedemütigt gefühlt hätten, wenn sie zu einem Psychiater oder Psychologen gegangen wären. »Da Ms. Greenwood in letzter Zeit keine eigene Praxis hatte«, sagte ich, »arbeitet sie nicht in einem herkömmlichen Büro. Sie hat ganz recht. Es wäre am besten, wenn Sie sich bei Ihnen zu Hause treffen würden.« »Ich sollte mich wohl bei Mr. Washington entschuldigen, oder?« sagte Mrs. Bonando, und ihre dünne Stimme klang weiterhin freudlos und fast monoton. »Das müssen Sie nicht«, sagte Matilda, »aber es wäre nett.« »Aber zuerst muß ich mit Janine sprechen… Sagen Sie’s ihr.« Als Janine im Raum war, hielt Matilda den ganzen Vortrag noch einmal. Janine sank auf ihrem Stuhl in sich zusammen; das war, wie ich bereits beobachtet hatte, für sie keine ungewöhnliche Position. »Na ja«, sagte sie. »Na ja, alle Kinder in der Schule haben immer gesagt, daß Mr. Washington richtig nett ist, daß er schon vielen Leuten geholfen hat, wenn’s drauf ankam und so, aber Mom hat gesagt…« Sie blickte ihre Mutter vorwurfsvoll an. »Du hast gesagt, er wollte…« »Jetzt denke ich, daß ich mich geirrt habe«, sagte Mrs. Bonando. Sie schielte rasch zu Matilda hinüber. Matilda erwartete von ihr, daß sie das sagte, also sagte sie es. Aber in Wahrheit war sie sich noch nicht so ganz sicher. Es würde noch sehr viel Arbeit erfordern, von Mrs. Bonando ebenso wie von Matilda, ehe Mrs. Bonando in der Lage sein würde, in einer solchen Situation wahr und falsch unterscheiden zu können. »Dann will er also nicht!« fragte Janine nach. »Nein, er will nicht«, sagte ich. »Janine, Mr. Washington hat 301
sich Sorgen um dich gemacht, weil du ihm so einsam und unglücklich vorkamst. Er wollte sich mit dir anfreunden und dir helfen, so wie er sich in den letzten dreißig Jahren mit vielen Teenagern angefreundet hat, um ihnen zu helfen.« Matilda erläuterte das Ganze schließlich noch einmal, diesmal dem Pfarrer, und dann trotteten wir alle hinaus in das große Büro, wo die Washingtons saßen, begreiflicherweise recht angespannt. Henry Tuckman war weg, zusammen mit Mitchell Kennedy; vermutlich wurde der Steuerprüfer jetzt in Haft genommen, und er würde bald herausfinden, daß es nach der Serie von Vergewaltigungen, die er gestanden hatte, schwieriger sein würde, gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt zu werden, als er gedacht hatte. (Das gleiche galt für seinen Arbeitsplatz, vermutete ich. Er hatte zweifelsohne recht damit, daß seine Vorgesetzten kein Verständnis für ihn haben würden.) Die Entschuldigungen, die nun folgten, waren alles andere als herzlich, und die Washingtons schienen eher verwirrt als beruhigt. Mrs. Bonando weinte immer noch, zwirbelte ein Papiertaschentuch zwischen nervösen Fingern, riß das Taschentuch in Stücke, griff wieder und wieder nach einem neuen. Sie hatte noch immer große Angst, dachte ich, um sich selbst und um Janine, und Janine war von ihrer Mutter – absichtlich – zuviel Angst eingejagt worden, als daß sie sie so schnell würde abschütteln können. Doch Father Vincent, der wahrscheinlich zusammen mit den Washingtons gekommen war, fuhr mit den Bonandos nach Hause (und wenn ich es recht überlegte, hatte ich keine Ahnung, wann und wie Janine hergekommen war, da sie in meiner Abwesenheit eingetroffen war), und die Washingtons blieben sitzen, während Captain Millner zu uns trat, um sich zu erkundigen, was los war. »Jetzt, wo die Bonandos weg sind«, sagte Matilda zu Mr. Washington, »habe ich die Erlaubnis, Ihnen zu erklären, was der wahre Grund war.« 302
Und wieder erzählte sie die ganze Geschichte, und die Reaktion auf den Gesichtern der Washingtons war eindeutig. »Das arme Kind«, sagte Mrs. Washington, und es war nicht klar, ob sie Mutter oder Tochter meinte. Aber Mr. Washington sagte: »Diese armen Kinder. Natürlich hat sie ihrer Tochter eine Todesangst eingejagt. Sie ist ja selber noch ein verängstigtes Kind.« »Ich muß jetzt weg«, sagte Matilda und wandte sich zu mir. »Deb, in den nächsten paar Tagen hab ich ziemlich viel um die Ohren.« »Mach’s gut«, sagte ich. Die Washingtons blieben noch ein Weilchen, um mit mir zu reden, und als sie gerade aufstehen wollten, trat Gayle Constantine aus dem Aufzug, ging an Matilda vorbei, die gerade einstieg, und kam mit dem kleinen Mädchen herein. Gayle stockte und blickte verblüfft drein. »Oh, hallo, Mr. Washington, Mrs. Washington«, sagte sie. »Ich hab gerade versucht, Sie anzurufen. Wie um alles in der Welt haben Sie gewußt, daß ich hier sein würde? Ach so, die Detectives haben Ihnen Bescheid gegeben, nicht wahr?« »Wir haben nicht…« begann Mrs. Washington, die völlig konsterniert schien. Gayle Constantines Stimme strömte über sie hinweg wie ein Fluß bei Hochwasser. »Ihr Antrag, als Pflegeeltern angenommen zu werden, ist heute morgen genehmigt worden, genau im richtigen Augenblick. Wir sind so knapp an Pflegeeltern, und wir haben da dieses kleine Mädchen –« »Ich kenne Diane«, sagte Mrs. Washington. »Ich… hab vor ein paar Tagen mit ihr gesprochen. Wissen Sie nicht mehr?« Sie wandte sich ihrem Mann zu. »Du weißt doch, daß ich dir von dem kleinen Reddich-Mädchen erzählt habe, nicht?« Seiner Miene nach hätte ich vermutet, daß er es nicht mehr wußte, aber er lächelte liebenswürdig und sagte: »Natürlich weiß ich das noch.« 303
»Ich hab Sie letztes Jahr ganz oft gesehen«, sagte Diane, »auf dem Spielplatz, als ich im Kindergarten war. Sie haben unsere Leiterin vertreten, als sie ihr Baby bekommen hat.« »Ich erinnere mich«, sagte Mrs. Washington. »Das war mitten im Winter, und du hattest immer so kurze Röcke an. Jetzt fällt es mir wieder ein.« »Ich hab gesagt, daß ich gern bei Ihnen wohnen würde«, sagte Diane unglücklich, »und Sie haben gesagt, das geht nicht.« »Aber du hast mir nicht gesagt, warum«, sagte Mrs. Washington. »Wenn du mir gesagt hättest, warum –« »Einfach darum«, sagte Diane. »Aber ich glaube, daß du jetzt vielleicht bei uns wohnen kannst«, sagte Mrs. Washington. »Falls Mrs. Constantine…« Sie warf der Sozialarbeiterin einen fragenden Blick zu. »Ja, natürlich«, antwortete Ms. Constantine. »Ich dachte, ich hätte das deutlich gemacht.« Ich suchte nach Worten, die für Diane noch unverständlich waren, und sagte erklärend zu Mrs. Washington: »Die… ähm… direkten Anverwandten des Kindes werden vermutlich bald in Haft genommen – er definitiv, wegen eines besonders schweren Falles von gesetzwidrigem geschlechtlichen Umgang mit einer Minderjährigen, und sie wahrscheinlich auch, wegen wissentlicher Vertuschung einer Straftat. Sie hatten absolut recht damit, uns zu verständigen. Die… fragliche Minderjährige… wird eine langfristige Unterbringung bei Pflegeeltern benötigen. Ms. Constantine scheint der Meinung zu sein, daß Sie dafür in Frage kämen.« »Ein besonders schwerer Fall?« fragte Mr. Washington entsetzt, und mir fiel ein, daß wir Mrs. Washington nicht über den Fortgang der Ermittlungen auf dem laufenden gehalten hatten. »Extrem schwer«, sagte Ms. Constantine. Mrs. Washingtons Arme schlossen sich enger um das kleine 304
Mädchen. »Ich hatte nicht damit gerechnet, Sie hier zu treffen«, wiederholte Ms. Constantine, »aber ich hab versucht, Sie anzurufen. Ich wollte sie im Laufe des Nachmittags zu Ihnen bringen, falls Sie bereit sind, sie zu nehmen. Die Situation, von der Sie ja wissen, ist ziemlich schwierig, und nicht alle Pflegeeltern kämen in Frage. Aber wenn Sie meinen, daß Sie damit zurechtkommen –« »Aber natürlich kommen wir damit zurecht«, sagte Mrs. Washington entrüstet und sah ihren Mann an. »Wir wollen Diane mit nach Hause nehmen, nicht wahr?« »Deshalb wollten wir ja Pflegeeltern werden«, sagte er. »Es spielt keine Rolle, wie schwierig die Situation ist. Wir kommen damit zurecht.« Sein zuversichtlicher Ton machte Ms. Constantines nervösem Geplapper ein Ende. Mit unübersehbarer Erleichterung sagte sie: »In diesem Fall – wenn Sie möchten – könnten Sie sie eigentlich gleich jetzt mit nach Hause nehmen.« »Erfreulicherweise scheinen Sie ja doch zu wissen, daß Sie eine gewisse Entscheidungsbefugnis haben«, sagte Captain Millner. »Mrs. Washington?« sagte Diane. »Darf ich wirklich mit Ihnen mitkommen?« »Das darfst du.« Das verwunderte kleine Gesicht schaute auf und vergrub sich dann sofort wieder an Mrs. Washingtons Busen. »Tja«, sagte Mrs. Washington und schaute auf den Kinderkopf hinab, »da du ja nun bei uns wohnen wirst, solltest du mich lieber nicht mehr Mrs. Washington nennen. Wie wär’s mit Tante Laura? Und das da ist Onkel David.« Mr. Washington musterte die Kleidung des Mädchens mit deutlicher Mißbilligung und sagte: »Ich denke, wir kaufen dir zuerst mal eine Hose, in der du schön spielen kannst. Dieser Rock sieht nicht sehr, äh, bequem aus.« In Wirklichkeit sah der Rock ungehörig kurz aus, aber das 305
hatte Mr. Washington sich verkniffen. Diane sah ihn an und sagte: »Daddy läßt mich keine Hosen tragen. Wissen Sie noch, Mrs.… weißt du noch, Tante Laura. Das hab ich dir letztes Jahr schon erzählt.« »Wie denn?« fragte Mrs. Washington. »Das hast du mir nicht erzählt.« »Weil, wenn ich eine Hose trage, kommt er schlechter an meine Möse.« Mrs. Washington schloß kurz die Augen und sagte: »Oh Gott«, dann öffnete sie sie wieder und sagte resolut: »Dein Daddy hat dir ein paar schlimme Sachen beigebracht. ›Möse‹ ist kein schönes Wort. Kannst du Vagina sagen? Sprich mir nach, Vagina.« Diane wiederholte »Vagina« ziemlich laut und fand auch, daß es ein hübscheres Wort war, und dann sagte Mrs. Washington: »Und außerdem, solange du nicht groß und erwachsen bist, hat kein Mensch das Recht, deine Vagina zu berühren, außer er ist Arzt und du bist krank. Und wenn jemand versucht, deine Vagina zu berühren oder irgendeinen anderen Teil deines Körpers, der durch einen Badeanzug bedeckt wäre, dann kommst du schnell zu mir oder Onkel David, und wir machen der Sache ganz schnell ein Ende.« »Du meinst, ich muß nicht –« In Dianes Stimme lag freudige Verwunderung. »Tante Laura sagt immer die Wahrheit«, sagte Mr. Washington leise. »Vergiß das nicht. Und wenn du jetzt mit Tante Laura eine Hose kaufen gehst«, fügte er hinzu, »kannst du dir schon mal überlegen, ob du ein Kätzchen oder einen kleinen Hund oder vielleicht beides haben möchtest. Ich muß noch ein Weilchen hierbleiben und mich mit der Lady hier unterhalten. Tante Laura und du, ihr könnt mich dann später abholen kommen.« »David«, sagte Mrs. Washington, »wir können uns doch einfach an der Eislaufbahn treffen, wenn du hier fertig bist.« 306
»Okay«, sagte er und sah den beiden nach, wie sie den Raum verließen. Nachdem die Fahrstuhltüren sich hinter ihnen geschlossen hatten, blickte er mich an und sagte: »Sie ist doch noch so klein. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie jemand…« Er verstummte kopfschüttelnd. »Richtig«, sagte ich. »Sie ist noch so klein. Nur daß sie nie wirklich klein sein durfte. Soweit wir wissen, wurde sie wie eine Hure behandelt, seit sie zwei oder drei Jahre alt war.« »Und der Vater war es.« »Der Vater war es«, sagte Captain Millner. »Der Grund, warum wir auch gegen die Mutter ermitteln wollen« – dafür erntete er von mir einen anerkennenden Blick – »ist der, daß sie ihn gedeckt haben muß. Nach dem ärztlichen Bericht, den ich heute morgen gelesen habe, sind Dianes Genitalien inzwischen einigermaßen verheilt, obwohl sie nie wieder normal sein werden, aber zu Anfang muß es starke Blutungen und Entzündungen gegeben haben. Die Mutter kann es unmöglich nicht gewußt haben.« Wieder schüttelte David Washington den Kopf. »Ich begreife so was nicht. Unfaßbar. Wie kann ein menschliches Wesen ein Kind ansehen und so etwas überhaupt wollen oder gar tun… Und noch so klein. Hat es ihm gefallen, wenn sie weinte? Hat es ihm gefallen, ihr weh zu tun? Seiner eigenen Tochter? Oder auch anderen Kindern? Es wird nicht leicht sein, diese Kleine wieder zu dem Kind zu machen, das sie sein sollte. Es ist lange her, daß wir Kinder im Haus hatten. Aber wir werden es schaffen.« Er ging mit Ms. Constantine, und Captain Millner stand auf. »Na bitte, das hat doch gar nicht so lange gedauert. Jetzt werde ich ein paar Telefonate führen und einen Richter bearbeiten. Ich will den Mann hinter Gittern sehen.« Damit blieb ich allein im Büro, allein und mehr als nur bereit, nach Hause zu kommen, falls ich jemanden fand, der mich fuhr. Es war ein ereignisreicher Tag gewesen, und 307
vielleicht würde ich Freitag wirklich mal zu Hause bleiben und das tun, was der Arzt mir gesagt hatte. Schließlich hatten wir das Washington-Bonando-Problem zu aller Zufriedenheit gelöst, die kleine Diane Reddich war jetzt so gut versorgt wie nur möglich, obgleich es wahrscheinlich unmöglich sein würde, ihr ihre Kindheit zurückzugeben, und der SekundenkleberVergewaltiger war festgenommen worden – dank meiner genialen Inspiration. Zugegeben, ich wußte noch immer nicht, wo Doreen Miller war oder was zu Dusty Millers Selbstmord geführt hatte, aber ich beruhigte mich damit, daß Sandy bestimmt wußte, wo Doreen war, und ganz beruhigt schien, und solange Doreen außer Reichweite ihres Vaters war, drängte es zeitlich nicht herauszufinden, warum Dusty gestorben war. Ich griff nach dem Telefon, weil ich herausfinden wollte, wo Harry steckte, als es klingelte. Ich nahm den Hörer. »Abteilung für Sexualdelikte.« »Deb, bist du das?« »Ja, Mom, ich bin’s«, sagte ich ergeben. Sie klang, als hätte sie geweint. Falls ja, konnte ich mich auf eine lange Blockade des Telefons gefaßt machen. »Wußtest du, daß Rhonda weg ist?« »Ja«, antwortete ich. »Sie hat die Nacht bei mir verbracht, bevor sie nach Denver gefahren ist.« »Ich verstehe es einfach nicht«, schluchzte Mom. »Ich hab für sie getan, was ich konnte. Wenn ich nur wüßte, warum –« »Soll ich dir wirklich sagen, warum?« fragte ich. »Ich… Ja. Wenn du es weißt. Weil, falls sie kränker wird, kommt sie vielleicht zurück, und ich… ich möchte, daß sie… daß sie dann bleiben kann, bleiben möchte, beim nächsten Mal.« »Aus mehreren Gründen. Erstens, du hast sie nicht wie einen erwachsenen Menschen behandelt. Natürlich ist es dein Haus, du hast alles Recht der Welt zu bestimmen, wie die gemeinsamen Bereiche genutzt werden sollen, aber Rhondas 308
Zimmer ist Rhondas Zimmer, und wenn sie im Chaos leben will, ist das ihre Sache. Und du hast absolut kein Recht, ihr zu sagen, wann sie baden soll und wann sie ihre Medikamente nehmen soll. Mom, sie ist fast vierzig. Sie ist keine vierzehn mehr. Es stimmt, daß AIDS manchmal das Gehirn schädigt, aber du hattest keine Veranlassung zu der Annahme, daß ihr Gehirn schon geschädigt ist. Das war der kleinere Grund. Der entscheidende Grund war, daß du verlangt hast, sie soll in einem Zimmer schlafen, das voll mit Dads Sachen ist – seine Kleidung, seine Hobbys, sein Aftershave, sogar sein Zigarettengeruch –, und das fand sie unerträglich.« »Nun ja«, sagte Mom, die jetzt nicht mehr weinte. »Ich finde, es wäre sehr herzlos von mir gewesen, die Sachen meines verstorbenen Mannes einfach wegzuwerfen.« »Es gibt viele Obdachlose, die sehr dankbar für seine Kleidung wären«, konterte ich, »und es ist auf jeden Fall herzloser, von einem Vergewaltigungsopfer zu erwarten, daß es in einem Zimmer schläft, das im Grunde noch immer seinem Vergewaltiger gehört.« »Debra! Wie kannst du so etwas sagen!« »Weil es wahr ist und weil du verdammt gut weißt, daß es wahr ist. Und jammer jetzt nicht gleich wieder Jim was vor, damit er mich anruft, weil er weiß, daß ich die Wahrheit sage, und dafür werde ich mich nicht bei dir entschuldigen. Dad hätte vierzig Jahre Gefängnis kriegen müssen für das, was er Rhonda und mir angetan hat, und das mindeste, was wir beide erwarten können, ist doch wohl, daß wir nicht als Lügnerinnen bezeichnet werden, wenn wir die Wahrheit sagen.« »Debra, ich weigere mich einfach zu glauben, daß –« »Warum?« unterbrach ich sie. »Debra –« Sie stockte, setzte dann erneut an. »Nach dem, was Rhonda mir erzählt hat, behauptest du, es hätte angefangen, als du monatelang Mandelentzündung hattest, weißt du noch, als sie dir die Mandeln nicht rausnehmen wollten, ehe du nicht 309
zwei Wochen lang wieder gesund warst, und wir dich einfach nicht zwei Wochen lang hintereinander gesund bekamen? Weißt du noch, als du auf einmal keinen Haferschleim mehr essen wolltest?« »Ich hab Haferschleim noch nie gemocht«, sagte ich wesentlich barscher, als ich das getan hätte, wenn wir tatsächlich nur über Haferschleim gesprochen hätten. »Na ja, stimmt, hast du nicht, aber vorher hast du ihn wenigstens gegessen, und dann von einem Tag auf den anderen nicht mehr, und wenn wir dich zwingen wollten, hast du ihn ausgebrochen. Du erinnerst dich doch noch an diesen Winter. Du hattest so hohes Fieber, daß du dir so ziemlich alles hättest zusammenphantasieren können.« Ja, ich erinnerte mich an diesen Winter, als ich zwölf Jahre alt war, als ich mich von Januar bis Juni praktisch von Penicillin und Aspirin ernährte und schließlich nur noch achtzig Pfund wog, weil ich nichts mehr bei mir behalten konnte. Inzwischen war ich sicher, daß ich diese Mandelentzündung in Wahrheit deshalb so lange nicht los wurde, daß ich hätte operiert werden können, weil ich mich mehrmals am Tag übergeben mußte. Und ich wußte, daß ich meiner Mutter nie gesagt hatte, warum ich keinen Haferschleim mehr essen konnte, wie sich dieses schleimige grauweiße Zeugs anfühlte, das sich in Haferschleim bildet, wenn er mit nahezu Körpertemperatur hinten auf meinen Gaumen traf, und wieso sich mir demzufolge bei jeder Nahrung, außer bei sehr knusprigen Sachen, der Magen umdrehte. Die Mandeloperation im Juni war eine Erlösung. Mein Vater ließ mich bis September desselben Jahres in Frieden. »Mom«, sagte ich, »ich erinnere mich an diesen Winter. Ich erinnere mich an das Fieber und die Übelkeit. Aber das dauerte nicht von meinem neunten Lebensjahr bis zum neunzehnten. Und Rhonda hatte nie Mandelentzündung. Gib’s zu, Mom. Es ist passiert. Alles. Rhonda hat die Wahrheit gesagt – und 310
wahrscheinlich nicht mal die volle Wahrheit, nur genug, um dir zu vermitteln, wie es für uns war.« Man hätte meinen sollen, daß sie danach still wäre. Aber, bei Gott, sie versuchte es erneut. »Aber wenn euch beiden das gleiche passiert ist, und wenn das der Grund für Rhondas… Lebensführung… sein soll… danach, wieso bist du dann nicht auch so geworden? Dir geht’s doch gut.« In dieser Sekunde wurde mir klar, wieso ich es überstanden hatte und Rhonda daran zerbrochen war. »Weil«, sagte ich, »Granddad noch lebte, als ich Kind war. Und Granddad hat mich als Kind behandelt. Granddad ist mit mir vors Haus gegangen, um mir die Sterne zu zeigen, er hat mich mit in die Werkstatt genommen, wo ich mit diesen geringelten Holzspänen spielen durfte, in den Garten, um Erdbeeren zu pflücken. Er hat mich mitgenommen in den Futtermittelladen und den Eisenwarenladen und manchmal sogar zum Friseur. Als ich Kind war, gab es also einen Mann, mit dem ich eine Beziehung haben konnte, die nicht von Sexualität geprägt war oder Angst, selbst wenn es nur für kurze Zeit war, und ich hab seine Freunde kennengelernt, und auch die haben mich als Kind behandelt. Aber er ist gestorben, als ich sieben war. Da war Rhonda erst zwei. Ich konnte mich an ihn erinnern, ich konnte mich daran erinnern, wie er zu mir war, und das konnte Rhonda nicht. Deshalb habe ich nicht gelernt, zuerst und ausschließlich, daß ich für Männer sexy zu sein hatte. Ich habe zuerst gelernt, daß ich auch im Umgang mit Männern ich selbst sein konnte, und das hat Rhonda nie gelernt. Der einzige Mann, mit dem Rhonda zusammen war, bis sie in die High-School kam und die ersten männlichen Lehrer hatte, war Dad, und bis auf die wenigen Gelegenheiten, wenn er uns mal im Sommer zur Bücherei gefahren hat, weil es in unserer Gegend keine Busse gab, hatte er nur zwei Verhaltensweisen: Sex oder Prügel. Ich hatte Granddad, Rhonda nicht. Deshalb hab ich es überstanden. 311
Deshalb hat Rhonda das nicht gekonnt. Aber erzähl mir nicht, daß du es nicht glaubst, weil du es nämlich glaubst. Du weißt, daß ich die Wahrheit sage. Du willst sie nur nicht glauben. Aber das ist dein Problem. Nicht meins, und auch nicht Rhondas. Wenn du willst, daß Rhonda zurückkommt, dann akzeptier die Wahrheit und sieh zu, daß du das Zimmer ausmistest. Es war ohnehin verrückt, den ganzen Kram zu behalten. Für wen hältst du dich, Königin Victoria?« Mom knallte den Hörer auf. Ich seufzte und streckte den Arm aus, um auf den Knopf für eine Amtsleitung zu drücken, und das Telefon klingelte schon wieder. »Ich möchte bitte mit Detective Ralston sprechen.« Die Stimme war männlich, und ich schätzte den Anrufer auf um die Fünfzig. »Am Apparat«, sagte ich. »Mein Name ist Rodney Kilgore«, sagte er. »Ich… Kennen Sie Alexandra Miller?« »Ja, die kenne ich.« »Und Sie arbeiten an dieser Sache mit ihrer Schwester?« »Ich bin mit dem Fall betraut worden«, sagte ich, was absolut stimmte und die Tatsache unerwähnt ließ, daß ich auch wieder von dem Fall abgezogen worden war, weil die maßgeblichen Stellen beschlossen hatten, daß es gar keinen Fall gab. »Ich würde gerne, falls es Ihnen nichts ausmacht, morgen zu Ihnen aufs Revier kommen und mit Ihnen sprechen«, sagte er. »Wäre Ihnen zehn Uhr recht? Da habe ich nämlich noch etwas Zeit, und ich muß morgen ohnehin zum Mittagessen in die Stadt.« Ich stimmte zu und versuchte erneut, diesmal erfolgreich, eine Amtsleitung zu bekommen, auch wenn das nicht viel nützte. Harry war nicht zu Hause. Schließlich manövrierte ich mich über den Flur hinüber in Captain Millners Zimmer und fragte ihn, ob er mich nach Hause fahren würde. Was er auch tat. Und ich nutzte die Gelegenheit, daß er mir 312
nicht entfliehen konnte, um ihm zu erzählen, was Sandy mir erzählt hatte, und auch, daß Rodney Kilgore am Freitag herkommen würde, und er hörte zu, und dieses eine Mal schimpfte er mich nicht aus, weil ich versuchte, zuviel zu tun. »Klingt, als könnte da wirklich was bei rauskommen«, sagte er. »Haben Sie dieser Sandy gesagt, daß es nicht zu spät wäre, ihn zu verklagen?« »Hab ich, aber sie fürchtet, ihre Aussage könnte nicht glaubhaft sein, angesichts der späteren Entwicklungen.« »Ich denke, ich würde mich gerne mal mit Miss Alexandra Miller unterhalten. Versuchen Sie, ob Sie das für morgen einrichten können«, sagte der Captain und ließ mich vor meinem Haus aussteigen. Ich hatte gerade meine Arbeitskleidung ausgezogen, die Shorts und das ärmellose Top übergezogen, in denen ich derzeit schlief, und mir ein Ginger Ale eingegossen, als schon wieder das Telefon ging. Ich beugte mich hinüber, hob ab, und eine rauhe Stimme sagte: »Mein Name ist Phil. Phil Harkness. Sie kennen mich nicht, aber ich habe Ihre Schwester Rhonda in meinem Truck mitgenommen. Ich hab eine schlechte Nachricht für Sie.« »Heraus damit«, sagte ich, und vor meinem geistigen Auge sah ich Rhonda im Gefängnis, Rhonda, die so betrunken war, daß niemand ihrer Herr wurde, Rhonda mal wieder in irgendeiner von zahllosen idiotischen Situationen. »Rhonda ist tot«, eröffnete er mir. Ich setzte mich kerzengerade auf. »Was?« fragte ich zittrig. »Wieso? So krank war sie nicht –« »Nein, Ma’am, so krank war sie nicht, noch nicht, und vielleicht ist es besser, daß sie so gestorben ist, bevor sie zu krank wurde. Es war so, letzte Nacht, so gegen Mitternacht, bin ich auf einen großen Rastplatz bei Amarillo gefahren, um zu tanken und ’nen Happen zu essen, und Rhonda hat in der Kabine geschlafen, und sie ist aufgestanden, als ich schon auf 313
halbem Weg zu dem Restaurant war, und ich hab gehört, wie sie meinen Namen rief, und ich hab mich umgedreht und hab geguckt und sie gesehen. Ich seh sie jetzt noch vor mir, wie ein Bild im Kopf. Sie hatte diese ganz kurz abgeschnittenen Jeans an, die sie so gerne trägt… getragen hat, und ein weißes ärmelloses Top, und ihr Haar war ganz durcheinander vom Schlafen, und sie hatte ihre Turnschuhe in der Hand, als wollte sie warten und sie erst im Licht anziehen, ihre Turnschuhe und diese braune Tasche aus Kord und Leder, die kennen Sie bestimmt, und dann ist da dieser riesige Tanklastzug auf den Rastplatz gefahren, und sie stand genau auf der Straße, und die Scheinwerfer haben sie erfaßt wie ein Kaninchen, das vom Jäger angeleuchtet wird. Und sie ist einfach da stehengeblieben, wie ein Kaninchen, das vom Jäger angeleuchtet wird, und der Fahrer hat gehupt wie verrückt, aber den Laster hat er unmöglich auf diese Distanz zum Stehen kriegen können, obwohl er schon ziemlich langsam war, und ich hab noch versucht, zu ihr zu laufen und sie wegzustoßen, und ich hab genau gewußt, daß ich niemals rechtzeitig bei ihr sein würde. Ich glaube, ich werd nie erfahren, ob sie wirklich wie so ein Kaninchen war, zu verängstigt, um noch weglaufen zu können, oder ob sie einfach – in dieser Sekunde – beschlossen hat, daß sie schon zu weit gelaufen war und zu müde war und daß das die einfachste Möglichkeit war, es hinter sich zu bringen. Aber als die Polizei hier rausgefunden hat, daß sie keine Versicherung hat, die vielleicht Ärger machen könnte, da haben sie gesagt, sie würden es als Unfall bezeichnen. Und, Ma’am, ich hoffe, Sie sind mir nicht böse, aber ich hab gesagt, wir wären verheiratet, damit ich sie hier beerdigen lassen kann. Ist auch nicht ganz gelogen. Ich hätte sie jederzeit geheiratet, in den letzten zehn Jahren, aber sie wollte nichts davon hören und hat gesagt, sie würde jeden vergiften, den sie anfaßt.« »Also wird sie jetzt in Amarillo beerdigt, als Rhonda Harkness?« fragte ich schwach. 314
»Ma’am, sie ist schon beerdigt worden, heute nachmittag. Wir hatten nur einen Gottesdienst am Grab, und es war keiner da außer mir und dem Trucker, der sie überfahren hat, und Ma’am, der Mann tut mir leid, der hat geweint wie ein Kind, auch wenn er unmöglich hätte anhalten können. Aber ich hab beschlossen, daß ich Sie erst hinterher anrufe. Sie hat mir erzählt – nicht nach dem Unfall, die haben mir gesagt, sie war auf der Stelle tot und hat nichts mehr gespürt –, aber auf der Fahrt hat sie davon gesprochen, daß sie allein nach Colorado will, und da hat sie mir auch erzählt, daß Sie zur Zeit krank sind und daß sie sonst keinen aus ihrer Familie auf ihrer Beerdigung haben will. Sie hat gesagt, daß Sie lieb zu ihr waren, auch wenn sie mal was von Ihnen gestohlen hat, und daß es sonst allen egal wäre, ob sie lebt oder tot ist. Sie… vielleicht hätt’ sie das nicht machen sollen, aber sie hat mir erzählt, was ihr alter Herr mit Ihnen und ihr gemacht hat, und daß ihre Mom wollte, daß sie in dem Zimmer mit all seinen Klamotten und seinem Zeug schläft. Das war… also Ma’am, das war ziemlich grausam, wenn Sie mich fragen.« »Finde ich auch«, sagte ich. »Ich… Würden Sie mir wohl eine Kopie des Totenscheins schicken?« »Klar, Ma’am, hab mir schon gedacht, daß Sie das wollen, und ich hab einen, den ich Ihnen schicken kann, wenn Sie mir Ihre Anschrift geben. Ich… Da steht nichts von dem Virus drin. Nur, daß sie von einem Laster überfahren worden ist. Also, wenn Sie mir Ihre Adresse geben –« Ich gab sie ihm, und dann sagte ich: »Danke, daß Sie mich verständigt haben.« Sonst gab es nicht mehr viel zu sagen. »Gerne, Ma’am«, sagte er. »Ich werd dann jetzt mal weiterfahren. Muß noch jede Menge Stahlrohre nach Colorado bringen. Kommt mir jetzt ziemlich sinnlos vor, irgendwie, aber ich muß es ja trotzdem machen.« Ich legte den Hörer auf, wie betäubt, und rollte mich zusammen und zog mir zwei Kissen über den Kopf, und so lag 315
ich noch immer da, noch immer wach, als Harry hereinkam. Er konnte wohl an meiner Haltung ablesen, daß mich irgend etwas schwer getroffen hatte, denn er setzte sich aufs Bett, legte eine Hand auf meinen Arm und sagte: »Schatz, was hast du denn?« Ohne die Kissen wegzunehmen, sagte ich: »Rhonda ist tot.« »Was ist passiert?« Ich erzählte es ihm, und dann endlich konnte ich losweinen. »Hast du deine Mom schon angerufen?« »Nein«, sagte ich, »und ich will auch nicht. Ich hab sie heute nachmittag so richtig runtergeputzt –« »Hatte sie es verdient?« »Ja«, sagte ich und wollte es erklären, und dann stockte ich, weil ich an den Grund denken mußte, den ich kaum erklären konnte, ohne zu viele andere Dinge erklären zu müssen. Er atmete tief durch. »Deb, würde es dir helfen, wenn ich dir sage, daß ich zufällig gehört habe, wie du dich neulich mit Rhonda unterhalten hast? Ich… ich bin nach Hause gekommen und hab gesehen, daß Pat vorne im Garten eingesperrt war, also bin ich hin und wollte das Seitentörchen unterm Schlafzimmerfenster öffnen, damit er nach hinten kann, und da hab ich gehört, was du und Rhonda gesagt haben. Es… es hat mich total umgehauen.« Ich rollte herum, um ihn anzusehen, wobei ich die Kissen in alle Richtungen verstreute und die Katze aufschreckte, die, ohne daß ich es gemerkt hatte, neben mich gekrochen war. »Ich habe das Tor gehört. Ich hab mich noch gewundert, weil ich hingesehen habe, und es war keiner draußen. Deshalb hast du dich also so schrecklich benommen.« »Ja. Und es tut mir leid. Du hattest schon genug Sorgen, auch ohne daß ich mich aufführe wie ein Trottel. Aber ich… ich mußte darüber nachdenken. Ich wußte nicht, wie ich mich verhalten soll. Ich… verstehst du, ich kannte ihn schließlich.« »Natürlich kanntest du ihn; wir waren ja schon ein Jahr 316
verheiratet, als er starb.« »Stimmt. Na ja, ehrlich gesagt, ich konnte ihn nicht leiden. Ich konnte ihn nie leiden. Ich hab versucht, mit ihm auszukommen, um deinetwillen, aber gemocht hab ich ihn nie. Aber wenn ich irgendwas dieser Art geahnt hätte… Deb, vielleicht hätte ich ihn umgebracht.« »Das war einer der Gründe, warum ich es dir nie erzählt habe«, entgegnete ich. »Einer. Nur einer. Ich… Harry, wie hätte ich denn wissen sollen, wie du reagieren würdest. Es ist schon vorgekommen, daß Männer ihre Frauen wegen so was verlassen haben, oder sie ab dann behandelt haben wie Kellerasseln –« »Du hast nichts Falsches getan«, sagte er. »Und ich will nichts mehr darüber hören, es sei denn, du möchtest es mir erzählen.« »Möchte ich nicht.« »Also gut. Schluß, aus. Ich werde keine Fragen stellen. Aber ich hoffe, du verstehst, daß ich erst mal damit fertig werden mußte. Ich… Wahrscheinlich hast du es all die Jahre hindurch nicht vergessen. Ich weiß, daß manche Frauen es vergessen, bis irgendwas passiert, das die Erinnerung reaktiviert, aber du – du vergißt nicht. Du hast dich erinnert, nicht wahr?« »Ich hab versucht, es nicht zu tun«, sagte ich langsam. »Es hat Jahre gegeben, in denen ich nicht oft daran denken mußte, doch dann kam es wieder über mich wie eine finstere Wolke. Nein. Ich hab es nie vergessen. Ich hab’s immer gewußt.« »Du hast es gewußt«, wiederholte er, »und ich nicht. Ich mußte nachdenken.« »Und dich betrinken.« »Ich hatte gehofft, das hättest du nicht gemerkt«, sagte er kleinlaut. »Ich hab’s gemerkt.« »Hab ich aber nur ein einziges Mal gemacht. Aber… möchtest du mir jetzt erzählen, warum du deine Mom zusammengestaucht hast?« 317
Ich erzählte es ihm. Er schwieg lange, streichelte gedankenverloren meinen Arm, starrte mit leerem Blick auf das geschlossene Fenster mit den zugezogenen Vorhängen, das er, da war ich mir ziemlich sicher, gar nicht sah. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll«, sagte er schließlich. »Das macht einen fassungslos. Weißt du, als mein Vater starb, haben wir alle Sachen, für die keiner in der Familie Verwendung hatte, zusammengepackt und zur Heilsarmee gebracht. Ich hab gedacht, so würden das alle machen. Selbst wenn er der beste Ehemann und Vater gewesen wäre, den man sich vorstellen kann, es ist absurd, einen Schrein für ihn zu schaffen, und selbst wenn sie – bewußt oder unbewußt – nicht wußte, was da vor sich ging, sie hat auf jeden Fall gewußt, daß er alles andere als ein Bilderbuchmann war. Verdammt, ich bin kein Bilderbuchmann.« »Du bist schon ganz in Ordnung«, sagte ich. »Aber horte bloß nicht alle meine Sachen, wenn ich mal sterbe.« »Dito, falls ich zuerst sterbe. Aber, Harry, ich glaube, genau das ist der Grund.« »Der Grund wofür?« »Warum sie seine Sachen behält. Sie hat nicht viele schöne Erinnerungen, auf die sie zurückblicken und sich sagen kann, immerhin hatte ich so einen wunderbaren Mann, auch wenn er vor mir gestorben ist. Deshalb behält sie alle seine Sachen, damit sie den Kram betrachten und sich sagen kann, na, ich hatte wirklich einen Ehemann, so, da ist der Beweis.« »Das ist krank«, sagte Harry. »Soll ich sie anrufen?« »Möchtest du das?« »Nein, aber wenn du nicht willst, werde ich es tun müssen.« Letzten Endes brachten wir es nicht über uns. Keiner von uns rief sie an. Wir telefonierten mit ihrem Pastor, und der versprach, zu ihr zu gehen und ihr persönlich die Nachricht von Rhondas Tod zu überbringen. 318
Kapitel 14 Ich wollte Mom anrufen, nachdem wir dem Pastor genug Zeit gelassen hatten, zu ihr zu gehen, doch Harry fand es besser, noch etwas zu warten, damit sie Gelegenheit hatte, sich zu beruhigen. »Sie wird dich anrufen, wenn sie reden will«, sagte er. Er stellte auch fest, daß ich meine Schmerztabletten nicht genommen hatte, und diese Tatsache zeigte eindeutig Wirkung. Ich wollte nichts nehmen, weil ich wußte, daß ich direkt danach einschlafen würde – deshalb hatte ich sie auch nicht genommen, als ich im Büro war –, aber er hatte recht. Wenn ich sie nicht bald nahm, wäre ich nicht mehr in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen. Aber mir stand nicht der Sinn nach weiteren Schlangenträumen oder Flutwellenträumen. Also hatte ich natürlich beides. Nichts Neues – bloß die alte Leier, zumindest zu Anfang. Doch allmählich wurde der Traum ruhiger, bis ich nur noch Rhonda sehen konnte, so wie ich sie zuletzt gesehen hatte, bloß seltsam verändert, Rhonda, wie sie hätte sein können, wenn ihr nichts Böses widerfahren wäre, und sie war sauber, schwamm frei und fröhlich lachend weiter, während die Wellen über ihr zusammenschlugen. Ich erwachte jäh, verstört und in Schweiß gebadet – nicht zitternd und angstschlotternd, wie ich normalerweise aus Schlangenträumen erwachte, sondern nur deshalb in Schweiß gebadet, weil mein Fieber (das ich zuvor gar nicht registriert hatte) im Schlaf gefallen war. Ich sah auf die Uhr. Es war nach fünf; Harry war bestimmt schon ins Seminar gefahren, und die Kinder müßten zu Hause sein (und waren es auch; ich hörte sie in der Garage üben). Und Mom hätte ich schon längst anrufen sollen. Trotz Harrys Bemerkung war ich natürlich davon ausgegangen, daß sie mich anrufen würde, sobald der Pastor – 319
ein gewisser Brother Hitt, ein Mann Anfang Dreißig, der Brother Green ersetzt hatte, nachdem der sich nach fast sechzigjähriger Tätigkeit in derselben Gemeinde zur Ruhe gesetzt hatte – sich wieder verabschiedet hatte. Doch anscheinend tat sie das nicht. Das bedeutete, daß ich sie würde anrufen müssen, worauf ich mich, ehrlich gesagt, nicht unbedingt freute. Also nahm ich mir zunächst die Zeit, ins Badezimmer zu gehen und den Kopf unter die Handbrause zu halten, bevor ich sie anrief. Die Nadelstiche des heißen Wassers fühlten sich wunderbar an, und ich kniete mich neben die Wanne, in die ich wegen des Gipses nicht steigen konnte, zog mir die verschwitzten Sachen aus, duschte mich oben herum hab und verwendete für alles an mir, was ich nicht in die Wanne bekam, einen Waschlappen. Anschließend trocknete ich mich gründlich ab, puderte mich mit Körperpuder ein und zog frische, trockene Sachen an. Wahrscheinlich roch ich jetzt erheblich besser, dachte ich, als ich das nasse Handtuch abnahm, das ich mir um den Kopf gewickelt hatte, und es durch ein trockenes ersetzte. Auf jeden Fall fühlte ich mich besser. Ich kroch zurück ins Bett, holte mir das Telefon, machte es mir in dem Sesselformkissen bequem und wählte. Zunächst meldete Mom sich nicht, und als sie es tat, klang sie atemlos. »Wie geht es dir?« fragte ich vorsichtig. »So einigermaßen.« So klang sie allerdings nicht. Sie hatte geweint, und sie weinte immer noch. »Hör mal, Mom, es tut mir leid, daß ich dich heute nachmittag so angefahren habe –« »Es muß dir aber nicht leid tun«, entgegnete sie. »Du hattest vollkommen recht. Ich hab Brother Hitt alles erzählt, und er hat gesagt, es wäre Götzenanbetung, für die Toten einen Reliquienschrein zu errichten. Er hat gesagt, indem ich erwartet habe, daß Rhonda in dem Zimmer schläft, hätte ich im Grunde die Lebenden den Toten geopfert. Und ich hab ihm erzählt, was du und Rhonda gesagt haben, und er hat gesagt, wenn ich keine 320
sehr überzeugenden Beweise dafür hätte, daß es nicht stimmt, sollte ich euch beiden glauben, und er hat gesagt, solche Sachen kämen viel häufiger vor, als die meisten Leute meinen, und dann hat er mich gefragt, welche Beweise ich denn dafür hätte, daß es nicht stimmt, und ich hatte gar keine. Darüber hab ich vorher noch nie nachgedacht. Über nichts davon. Nicht über Götzendienst und nicht darüber, daß man der Wahrheit ins Auge sehen muß. Brother Green hat nie so mit mir gesprochen. Sogar als er Ed aus der Kirche ausgeschlossen hat, hat er zu mir gesagt, ich sollte meinen Mann ehren, ganz gleich, was er getan hat, und er hat den Kindern, die noch bei uns wohnten, gesagt, sie sollten ihren Vater ehren, ganz gleich, was er getan hat. Als ob es zwar richtig wäre, daß Gott ihm böse war, aber nicht, daß die Kinder oder ich auf ihn böse waren. Oder als ob wir nicht mal sagen durften, daß er einen Fehler begangen hatte.« Sie hielt inne, um Luft zu schöpfen, und ich dachte, ich kann mir gut vorstellen, daß Brother Green das gesagt hat. Aber der Fairneß halber rief ich mir in Erinnerung, daß er, als er sah, wie mein Vater meinen Bruder schlug, nur ein Übermaß an strenger Erziehung sah, und ich bin sicher, daß er sich selbst in seinen schlimmsten Alpträumen nicht vorstellen konnte, daß ein Mann – und ganz sicher nicht ein Mann, den er kannte – seine Töchter so behandeln konnte, wie unser Vater uns behandelt hat. »Möchtest du hören, was mein Bischof neulich bei einem Gespräch gesagt hat?« fragte ich. »Was denn?« Mom freut sich, daß ich überhaupt in eine Kirche gehe, aber sie sähe es lieber, wenn ich wieder in ihre zurückkehren würde. Ihre Stimme klang ziemlich seltsam. »Er hat gesagt, der beste Weg, einen Vater oder eine Mutter zu ehren, die es eigentlich nicht wert sind, ist der, genau der Mensch zu werden, der man geworden wäre, wenn die Eltern sich so verhalten hätten, wie sie sich hätten verhalten sollen. Aber man ehrt Eltern, die es eigentlich nicht wert sind, nicht 321
dadurch, daß man ihr Verhalten billigt oder nachahmt.« »Ach so«, sagte Mom ausdruckslos und sprach dann weiter. »Weißt du, was Brother Hitt zu mir gesagt hat?« »Nein, was denn?« »Er hat gesagt: ›Und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen.‹ Das steht in der Bibel.« »Ich weiß«, sagte ich. »Na ja, das weiß ich auch, aber ich hätte nicht gedacht, daß es auch auf so was zutrifft. Aber Brother Hitt sagt, daß es wohl zutrifft. Er hat gesagt, ich hab mich weiter zum Sklaven von Eds Tyrannei gemacht, indem ich mich geweigert habe, die Wahrheit zu erkennen, und ich hab versucht, auch meine Kinder weiter zu Sklaven von Eds Tyrannei zu machen. Er hat gesagt, ich muß mich entscheiden, die Wahrheit zu erkennen. Und er hat recht. Aber das hätte ich schon längst erkennen müssen. Weil es jetzt zu spät ist, ihr noch zu helfen –« Mit »ihr« war natürlich Rhonda gemeint. »Ich hab von Rhonda geträumt«, unterbrach ich sie. »Wann?« »Gerade eben. Ich hab Medikamente für meinen Fuß genommen und bin eingeschlafen, und da hatte ich so einen seltsamen Traum.« Ich erzählte ihn ihr und betonte besonders, wie Rhonda am Ende des Traumes ausgesehen hatte. »Das hat was zu bedeuten«, sagte sie. »Was denn?« fragte ich nach. »Ich weiß nicht«, sagte sie. »Aber irgendwas bedeutet es.« Schweigen am Telefon ist doppelt so unangenehm wie Schweigen in Anwesenheit eines anderen, weil beide ganz offensichtlich darauf warten, daß der andere etwas sagt. Schließlich sagte ich: »Ich meine –« Fast im selben Moment sagte Mom: »Ich meine –« »Du zuerst«, sagte ich. »Nein, du zuerst«, sagte Mom. »Ich hab nur über Rhonda nachgedacht«, sagte ich. »Was 322
passiert ist, ist passiert und nicht mehr zu ändern. Es hat also keinen Sinn, wenn wir uns zu Tode grämen. Und es war nicht nur Dads Schuld, weil er sie mißbraucht hat, oder unsere Schuld, weil wir sie nicht geschützt haben. Sie hat selbst auch einige sehr schlechte Entscheidungen getroffen. Aber es ist nun mal so, was vergangen ist, ist vergangen und jetzt nicht mehr zu ändern.« »Aber ich hätte es zugeben müssen«, sagte Mom. »Das hat Brother Hitt gesagt. Es war falsch von mir, es nicht zuzugeben, und ich weiß zwar nicht, wie ich es damals hätte merken sollen, aber später dann, als du und Rhonda es mir beide gesagt habt, da hätte ich es zugeben müssen. Und sie zu schützen wäre meine Aufgabe gewesen, nicht deine. Du warst selbst noch ein Kind. Und schon damals hab ich gewußt, daß er euch Kinder entsetzlich verprügelt hat, und mir ist nichts Besseres eingefallen, als zu weinen und zu sagen: ›Ed, nicht.‹ Und damals, als er aus der Kirche ausgeschlossen worden ist –« »Es ist passiert«, sagte ich. »Es ist passiert, und es ist Vergangenheit.« »Aber ich räume sein Zimmer trotzdem aus. Ich hab jede Menge Müllsäcke. Ich bringe Eds Sachen alle zur Wohlfahrt, also wenn einer von euch mal bei mir wohnen muß –« »Das bezweifle ich. Aber sein Zimmer auszuräumen –« »Und außerdem«, sagte sie, »ich hab Cameron in meinem Zimmer schlafen lassen, während Rhonda hier war, und jetzt, wo Rhonda fort ist, könnte er doch, wenn ich das Zimmer richtig sauber gemacht habe –« »Er macht manchmal ins Bett«, erinnerte ich sie. »Du hast Glück, daß er es bis jetzt nicht gemacht hat.« »Dann leg ich eben ein Plastiktuch drunter. Und ich glaube, es wird eine gute Therapie für mich sein, das Zimmer auszuräumen.« Sie weinte noch immer, hatte bei dem ganzen Gespräch geweint. Aber sie hatte recht: Es war eine gute Therapie, das 323
Zimmer auszuräumen, eine viel bessere Therapie, als mit mir zu reden. Also ließ ich sie tun, was sie für richtig hielt, und ging ins Wohnzimmer, um nachzusehen, was Hal und Lori so trieben. Wie ich es mir hätte denken können, selbst wenn ich es nicht vom Schlafzimmer aus gehört hätte, waren sie noch immer in der Garage, um für ihren großen Auftritt am nächsten Tag zu üben. Masern oder Windpocken oder wie auch immer ihre Band hieß; ich war so benebelt, daß es mir im Moment nicht einfiel. HörSchnupfen, genau, wirklich sehr beziehungsreich. Es hätte schlimmer sein können; sie hätten noch immer versuchen können, Heavy Metal zu spielen. Aber Lori würde, Gott sei Dank, nie eine gute Heavy-Metal-Sängerin abgeben, und sie hatten beschlossen, vermutlich zu Recht, daß der Markt für Country & Western in unserer Gegend sehr viel größer ist als der für Heavy Metal. Zumindest hörte sich Country-Music etwas weniger deprimierend an: Anstatt der Botschaft »Killt alle Cops und schlaft mit allen Mädchen« (zugegeben, ich habe die Heavy-Metal-Sprache ein wenig verharmlost), verkündet sie: »Ich hab einen miesen Job, und meine Frau/mein Mann liebt mich nicht mehr, und ich geh jetzt in eine Bar und ertränke meinen Kummer.« Wenn ich höre, was heutzutage so im Radio kommt, denke ich, daß ich allmählich alt werde. Das klingt alles so ordinär. Was ist denn an Tennessee Ernie Ford auszusetzen? »Sixteen Tons« und »Big Bad John« (wer auch immer das gesungen hat, ich glaube, Tennessee Ernie war es nicht), und »Purple PeopleEater« und »Ting Tang Walla Walla Bing Bang«, oder hieß es vielleicht »My Friend the Witch Doctor«? Na ja, wenn ich es mir genau überlege, dann war die Musik in meiner Jugend doch nicht so vernünftig, aber zumindest konnte man sich den Text anhören, ohne gleich das Bedürfnis zu verspüren, rauszugehen und sich oder irgend jemand anders zu erschießen. »Chantilly Lace« und »Teen Angel«, und ich kam mir wirklich alt vor. 324
»Itsy Bitsy Teeny Weeny Yellow Polka-Dot Bikini«. Und wie ging noch mal der Song mit dem Kleinwagen, der beim Rennen mit einem Cadillac mithalten konnte, ohne in den zweiten Gang zu schalten? Rhonda hatte mir die Schallplatte geklaut und nie zurückgegeben. Die und »Ebony Eyes«. »Ebony Eyes« war von den Everly Brothers, glaube ich. Und wie hieß noch mal die Platte, die ein Hit war, als ich nicht viel älter war als Cameron jetzt, irgendwas mit »Constantinople (Now It’s Istanbul)« – verrückte Idee, aber die Leute waren ganz wild darauf. Und »Wake Up, Little Susie«. Heutzutage will ich mir gar nicht erst vorstellen, woraus Little Susie wohl aufwachen würde. Ungefähr alle sechs Jahre erfaßt mich so eine Stimmung, und diesmal war ziemlich offensichtlich, wodurch sie ausgelöst worden war. »Cherry Pink and Apple Blossom White«. Das war eine von Rhondas Lieblingsscheiben unter meinen Schallplatten. Sie hat sie immer und immer und immer wieder gespielt, als sie noch ganz klein war. Ich glaube, sie ging noch nicht mal zur Schule. Und jetzt war Rhonda tot, und wenn ich noch Bier getrunken hätte, hätte ich ganz sicher in mein Glas geweint. So viele von diesen Songs stammten aus meiner Kinderzeit, manche hatte ich sogar schon gehört, bevor ich in die Schule kam. Wieso konnte ich mich an die Songs meiner Pubertät nicht so gut erinnern wie an die, die ich davor gehört hatte? Aber ich wußte doch warum… mein Gedächtnis hatte beschlossen, sich praktisch an nichts aus meiner Jugend zu erinnern, die Musik eingeschlossen. Lori versuchte gerade »Stand by Your Man« zu singen, aber ihre Stimme war zu dünn. Andere Country-and-Western-Songs haben unmißverständlich klargemacht, daß manche Männer es einfach nicht wert sind, daß man zu ihnen steht. Mein Vater war einer von ihnen. Genug jetzt, befahl ich mir streng, und ich zwang mich, mir Gedanken über das Abendessen zu machen. 325
Die Leiterin der Frauenhilfsvereinigung hatte nichts davon hören wollen, daß Lori oder sonstwer in der Familie einschließlich Harry und Hal in der ersten Woche nach meiner Operation für uns kochte, also brachte uns vorläufig noch jemand das Abendessen ins Haus. Das war vermutlich auch gut so, da Hal, obwohl er es nicht gern zugeben würde, wahrscheinlich gegen alles wäre, das Lori allzulang vom Üben abhielt. Harry würde heute abend irgendwo auf dem Weg ins Seminar essen, also waren nur Lori und Hal und ich zu verpflegen. Mir fiel auf, daß ich allmählich in einen bestimmten Rhythmus fiel. Wenn ich meine Schmerztabletten nahm, dauerte es zwischen fünfzehn und fünfundvierzig Minuten, bis sie wirkten, je nachdem, wann ich zuletzt gegessen hatte, und ich fiel in einen sehr tiefen, von Träumen erfüllten Schlaf, der etwa eine halbe Stunde dauerte. Anscheinend wirkten sich die Schmerzmittel auch auf das Fieber aus, denn wenn ich erwachte, war mein Haar so naß, als hätte ich geduscht. Doch wenn ich dann wach war, außer zu den Nachtzeiten, in denen ich normalerweise schlief, blieb ich die nächsten zwei oder drei Stunden auf, obwohl meine Gedanken dann ziemlich wild umherwanderten, wie jetzt auch. Das wäre gut – wach sein, meine ich, nicht die wilden Gedanken –, wenn ich irgendwas hätte tun können. Aber das Essen wurde gebracht, und selbst wenn es nicht gebracht würde, ich hätte nicht lange genug stehen können, um es zu kochen. Hal und Lori – nachdem Matilda ihnen neulich geholfen hatte – hielten das Haus einigermaßen sauber, und selbst wenn sie das nicht tun würden, ich hätte es nicht saubermachen können. Der Wäscheberg wurde allmählich größer, aber es wäre schon schwierig geworden, mich durch dieses Mauseloch von Küche zu quetschen, um nach vorn in die Garage zu gelangen, wo die Waschmaschine stand, mich selbst plus einen Haufen Wäsche war dagegen ausgeschlossen, also würde Harry (was vermutlich 326
bedeutete Hal, was vermutlich bedeutete Lori) das am Samstag erledigen müssen. Und Cameron war natürlich noch immer bei Mom. Es lief also darauf hinaus, daß ich wach war und nichts zu tun hatte. Das ist eine zutiefst ungewöhnliche Situation für mich, und ich stellte fest, daß sie nicht so recht nach meinem Geschmack war. Ich machte den Fernseher an, schaltete ein paar Minuten lang alle Sender rauf und runter, machte ihn wieder aus, holte meine lange vernachlässigte Häkelarbeit hervor und beschloß nach etwa zwei Minuten, daß ich keine Lust hatte zu häkeln, ging zurück ins Schlafzimmer und nahm das Buch, das ich gerade las, beschloß, daß ich keine Lust hatte zu lesen, ging den neusten Katalog des Lebensmittellieferservice durch, merkte, daß ich dazu auch keine Lust hatte, und ging wieder ins Bett. Ich wußte, was mein Problem war. Mein Problem war, daß ich mir noch ein einziges Gespräch mit Rhonda gewünscht hätte. Sie war betrunken gewesen, als ich sie das letzte Mal sah. Ich hatte sie gebeten, mich zu wecken, bevor sie ging, aber das hatte sie nicht getan. Und jetzt würde ich keine Gelegenheit mehr haben, mit ihr zu sprechen. (Sie ist tot und begraben, Lady, sie ist tot und begraben, mit einer Melodie dazu, einer dünnen, schrillen Melodie, die viel besser zu Loris Stimme gepaßt hätte als die Songs von Reba McEntire, die sie jetzt zu schmettern versuchte, und einen Moment lang suchte mein Gedächtnis nach der Quelle, und dann dachte ich an Hamlet in der Verfilmung mit Mel Gibson, aber wahrscheinlich hab ich es falsch in Erinnerung.) Zum Donnerwetter, was war bloß los mit mir? Hatte ich mein Schmerzmittel aus Vergeßlichkeit zweimal genommen? Doch das Pochen in meinem Fuß versicherte mir, daß dem nicht so war. (Doch irgendwo in meinem Herzen war Doreen für mich eine Schwester geworden. Und Dusty. Und Sandy. Und Diane. 327
Und Michie und jedes Mädchen und jede Frau, die irgendein widerwärtiger Mann mit Dreck beworfen hatte.) Ich wußte nicht, wann ich wieder begonnen hatte zu weinen, nur daß ich es irgendwann tat, lautlos, Tränen quollen zwischen den geschlossenen Lidern hervor, und mit geschlossenen Augen weinte ich mich in den Schlaf. Als Harry um Mitternacht nach Hause kam, stand mein Abendessen noch immer auf der Kühlbox, ordentlich mit Plastikfolie abgedeckt, wo Lori es wohl hingestellt hatte. Das Haus war ruhig und dunkel, also waren Hal und Lori wohl schon beide zeitig schlafen gegangen. »Wir haben noch ein bißchen gefeiert, nachdem der Kurs zu Ende war«, sagte Harry. »Ich wollte dich schon anrufen und Bescheid geben, daß es später wird, aber dann hab ich gedacht – na ja, gehofft –, daß du schläfst, und lieber doch nicht angerufen. Möchtest du was von der Pizza?« Ich konnte mir nichts vorstellen, wonach mir weniger war als einem kalten Stück Pizza, außer vielleicht den kalten NudelHähnchen-Auflauf neben meinem Bett, und das sagte ich ihm. »Soll ich noch mal losfahren und dir einen Hamburger holen? Oder vielleicht einen Milchshake?« »Harry, es ist Mitternacht«, erklärte ich. »Es gibt nichts, was ich so sehr brauche, daß du um diese Zeit noch mal raus mußt, um es zu holen. Du behandelst mich wie eine Invalidin.« »Du bist eine Invalidin«, erwiderte er trocken. »Du willst es bloß nicht zugeben. Möchtest du irgendwas!« »Ich bin nicht Invalidin genug, um dich um Mitternacht einkaufen zu schicken. Und ich weiß nicht, was ich möchte. Doch, weiß ich wohl. Ich möchte, daß du das Wasser aus der Kühlbox ablaufen läßt und mir noch einen Gemüsesaft holst.« »Haben wir denn noch Gemüsesaft da?« »Wie soll ich das wissen? Wann hab ich denn zum letzten Mal in die Vorratskammer geguckt?« »Du bist auf dem Weg der Besserung«, sagte er. »Wenn Leute anfangen, quengelig zu werden, geht’s ihnen besser.« 328
»Ich bin nicht quengelig. Ich bin bloß…« Ich stockte, und er sagte: »Mürrisch«, und wir lachten beide. »Na schön, ich bin quengelig«, stimmte ich zu. »Aber, Harry, so einen Tag wie heute will ich in meinem ganzen Leben nicht mehr durchmachen müssen.« »Willst du immer noch Gemüsesaft?« »Ja.« Schließlich fuhr er doch noch zum nächsten Laden und holte mir etliche Dosen Gemüsesaft. Ich trank eine und bekam prompt Sodbrennen, was ich nicht oft habe. Nach ein paar Rollaids und noch einer Schmerztablette und noch etwas Penicillin, das ich vorher vergessen hatte, schlief ich wieder ein und ließ Harry – der nicht mehr in Camerons Zimmer schlafen konnte, da es jetzt von Lori besetzt war – noch die Handtücher im Badezimmer wechseln und sich dann das Bett auf der Couch machen. Harry versuchte gar nicht erst, mich am Freitag morgen davon abzubringen, zur Arbeit zu fahren. Er erklärte nur, daß er, nachdem er mich abgesetzt hatte, wieder nach Hause fahren und die Wäsche machen würde und daß ich anrufen sollte, wenn er mich abholen sollte. »Aber«, so fügte er hinzu, »das muß vor Mittag sein, weil ich am Nachmittag einiges zu erledigen habe und nicht weiß, wie lange das dauert, also muß dich dann vielleicht jemand anders nach Hause bringen.« Das letzte Mal, als Harry Wäsche gewaschen hat, was vor ungefähr acht Jahren gewesen sein muß, hat er ungefähr das Zehnfache der richtigen Menge an Bleiche mit in die Maschine gekippt, und das Zeug hat sämtliche Nähte aus meinem neuen Unterrock geätzt. Aber jetzt fiel mir ein, daß keine Bleiche im Haus war, die er hätte verwenden können, weil ich sie beim letzten Einkauf nicht auf der Liste hatte. Also hatte ich das sichere Gefühl, ihm überschwenglich danken und ihn gewähren lassen zu können. Rodney Kilgore kam pünktlich, und ich war bereit. Rafe 329
wäre auch bereit gewesen – ich vermutete, daß er und Captain Millner am Morgen ein längeres Gespräch gehabt hatten –, aber er mußte erneut ins Gericht. Sein Fall, welcher auch immer, nahm vielleicht alles in allem nicht ungewöhnlich viel Zeit in Anspruch, aber er nahm eindeutig ungewöhnlich viel von Rafes Zeit in Anspruch. Also lief es darauf hinaus, daß Captain Millner – recht widerwillig, weil er das Gefühl hatte, Rafes unmittelbare Autorität über seine Abteilung zu untergraben – und ich mit Kilgore sprachen. »Ich weiß ja nicht, ob das Ganze hier überhaupt irgendwas nützen wird«, begann Kilgore. »Lassen Sie uns das entscheiden«, sagte Captain Millner. »Tja, also…« Kilgore sah uns beide an, unsicher, als wüßte er nicht recht, wen er nun ansprechen sollte. »Ich bin mit Seth Miller zusammen aufgewachsen, er wohnte ein Stück weiter die Straße runter, als wir Kinder waren, und ich hab seine Familie ziemlich gut gekannt, bis wir erwachsen und beide verheiratet waren. Wir haben öfter mit ihnen ein Picknick gemacht, sind Boot gefahren, so Sachen eben. Heute hab ich nicht mehr soviel mit ihnen zu tun wie früher, seit Seth die Nase so hoch trägt, aber ich hab sie wirklich gut gekannt. Vielleicht sollte ich Ihnen das erklären, ich weiß ja, daß ich aussehe wie einer, der auf den Ölfeldern arbeitet, und so hab ich auch angefangen, aber inzwischen hab ich meine eigene Firma. Ölbohrung. Klein, aber wir haben immerhin so ergiebige Quellen, daß wir die letzten zehn Jahre überstanden haben, und das ist mehr, als ein paar von den großen Firmen von sich behaupten können. Und verstehen Sie, ich hab Kinder, und ich glaube, daß ich von Kindern ein bißchen mehr verstehe, als Seth das je getan hat. Als Sandy damals abgehauen ist, na, wenn das meine Tochter gewesen wäre, dann wäre ich aufgebracht gewesen, klar, ich war sogar verdammt aufgebracht gewesen, aber ich hätte sie nicht verstoßen, so wie Seth das gemacht hat. Ich hätte alles versucht, um ihr eine Tür offenzulassen, damit sie 330
zurückkommen kann. Ich hab also versucht, weiter mit ihr befreundet zu sein, soweit das ging. Viel war’s nicht; ich hatte irgendwie das Gefühl, daß sie keinem Mann mehr über den Weg traute, aber hin und wieder hat sie sich bei mir gemeldet, zwei-, dreimal im Jahr. Jedenfalls, gestern hat Sandy mich angerufen und gefragt, ob ich irgendwas von Seth gehört hätte, was mir komisch vorgekommen wäre, entweder bevor oder nachdem Dusty… getan hat, was sie getan hat. Ich hab gefragt, was sie denn damit meint, und sie hat gesagt, ob Seth vielleicht gesagt hat, daß er einen Jagdausflug oder Angelausflug machen will und eine Frau mitbringt. Und zufällig hat er das.« »Was haben Sie denn gehört?« fragte ich. »Tja… also… Ich weiß ja nicht, ob es was zu bedeuten hat, aber er hatte jedenfalls einen Angelausflug geplant.« Er stockte, und ich sagte: »Okay.« »Ich und so etwa fünf andere Besitzer von kleinen Bohrfirmen. Seth hatte eine Hütte oben am Lake o’ the Pines gemietet, und wir sollten alle eine Woche dahin, zum Fischen, und in der Woche wollte Seth uns dann was über irgendwelche neuen Maschinen erzählen, die er reingekriegt hat. Er hat gesagt, er würde ein ›süßes junges Ding‹ mitbringen, das für uns kochen würde. Und daß die Hütte so groß wäre, daß jeder von uns ein eigenes Zimmer hätte, auch die Kleine. Na ja… wir haben uns zum Lunch getroffen, im Petroleum Club, und Seth hat das gesagt, und dann hat einer von diesen anderen Burschen gefragt, ob die Kleine für alle gedacht wäre. Ich… ich sag Ihnen, Ma’am, das ging mir ganz schön gegen den Strich, weil, wenn ich angeln gehe, dann will ich eben angeln und vielleicht auch mal ein, zwei Bier über den Durst trinken, ein bißchen Poker spielen, aber für solche Sachen bin ich nicht zu haben. Aber Seth, der hat sich in die Brust geworfen wie ein Pfau und hat gesagt, sie wär da zum Kochen und Putzen und sonst nix. Aber wie er das gesagt hat…« Kilgore hielt inne und sagte dann langsam: »Er hat das so 331
gesagt, als war sie eben nicht bloß zum Kochen und Putzen da. Er hat sich wie ein Schuljunge aufgeführt, der einen anderen übers Ohr haut. Und man nennt jemanden nicht ein süßes, junges Ding, es sei denn… Sie wissen schon. Ich muß ehrlich sagen, Ma’am, ich fand’s widerlich. Na, jedenfalls hab ich das Sandy erzählt, und Sandy hat gefragt, ob er gesagt hat, wer die Kleine war, und das hatte er nicht. Dann hat Sandy mich gefragt, ob ich herkommen und Ihnen das erzählen würde. Und das hab ich jetzt. Und ich hoffe, Sie werden daraus schlau, Ma’am, ich nämlich nicht.« »Was würden Sie sagen«, fragte ich, »wenn ich Ihnen erzählen würde, daß er vorhatte, Dusty mitzubringen?« »Dusty? Dusty Miller? Seine eigene Tochter? Ma’am, das hätte er nicht getan, niemals. Dusty, sie war doch erst sechzehn –« »Ich weiß«, sagte ich. »Seine eigene Tochter mitnehmen zu einem Haufen betrunkener Ölbohrarbeiter? Ma’am, das kann ich mir nicht vorstellen. So mies ist doch keiner.« Aber die ganze Zeit über starrte er nur auf seine großen, knorrigen Hände auf dem Tisch. Er sah weder Captain Millner an noch mich. Also warteten wir weiter, bis er schließlich sagte, mit fast unhörbarer Stimme, so leise war sie: »Ich lüge. Ich würde Seth so was Mieses zutrauen. Er hat Sandy mal mit auf einen Jagdausflug genommen, in eins von diesen Tierreservaten, wissen Sie, wo Wild gehalten wird, das es normalerweise in Texas nicht gibt, und deshalb kann man es das ganze Jahr hindurch jagen, und er hat Sandy mitgenommen, damit sie für ihn und einen Haufen Araber kocht. Und direkt danach ist Sandy dann abgehauen, und ich hab immer den Verdacht gehabt, daß einer von den Arabern es zum ersten Mal mit ihr gemacht hat. Aber ich hab mir gedacht, vielleicht war das ein Fehler, daß Seth sie überhaupt mitgenommen hat. Ich meine, vielleicht hat er gedacht, weil so Araber ja meistens 332
nicht trinken, daß sie gut bei denen aufgehoben war, aber er hätte Dusty doch bestimmt nicht mit einem Trupp osttexanischer Ölarbeiter mitgenommen. Aber vielleicht doch. Ich muß immer wieder daran denken…« »Woran müssen Sie immer wieder denken?« fragte ich, als er verstummte. Er hob den Blick und sah mich an. »Diese Sache, die vor ein paar Jahren in Daingerfield passiert ist. Wissen Sie noch?« Ich nickte, und Captain Millner sagte: »Vage. Was war da noch mal?« »Ein ehemaliger Lehrer ist in eine Baptistenkirche reinspaziert, während des Gottesdienstes, meine ich, und hat angefangen, um sich zu schießen. Hat einige Menschen getötet und noch mehr verletzt. Später hab ich gehört – ich weiß nicht, wieviel davon stimmt und wieviel sich irgendwer zusammengesponnen hat –, aber ich hab jedenfalls gehört, daß er das gemacht hat, weil er alle seine Kinder…mißbraucht hat und weil der Pastor oder sonstwer ihn anzeigen wollte. Manche haben gesagt, er wäre bloß wegen irgendwas überlastet gewesen, und andere haben gesagt, er hätte seine Kinder bloß verprügelt, aber wieder von anderen hab ich gehört, er hätte seine Töchter mit zum Fischen und Jagen genommen und sie benutzt wie Huren. Wie gesagt, hab ich alles nur gehört. Aber… ich muß da immer wieder dran denken. Seth könnte so was auch machen. Seth könnte so was auch machen.« »In einer vollbesetzten Kirche wild um sich zu schießen?« fragte Captain Millner einigermaßen überrascht. »Das auch. Aber eigentlich dachte ich eher, daß er… daß er alles machen würde, wo er nicht befürchten müßte, erwischt zu werden. Sie müßten Seth… kennen. Verstehen Sie, seine Familie war nicht einfach nur bitterarm so wie unsere. Die waren richtig verwahrlost, und man hatte den Eindruck, als würde es ihnen nichts ausmachen. Ich meine, die hatten noch immer ein Plumpsklo draußen und nicht mal Purpurwinden 333
gepflanzt, die es überwuchert hätten, damit man es nicht so deutlich sah. Seth war fest entschlossen, da rauszukommen, und das hat er auch geschafft. Aber er wollte das mit aller Macht, als hätte er sich überlegt, daß derjenige, der die Regeln gemacht hatte, dabei nicht an ihn gedacht hatte. Er hätte alles getan, um zu kriegen, was er wollte. Es war nicht nur reiner Eigennutz – er wollte das Beste für Ellen und die Kinder –, aber sie mußten haargenau das machen, was er wollte, und ihm immer alles recht machen, weil er fand, daß er den Weg nach oben gefunden hatte, und weil es keine Rolle spielte, was die anderen dachten. Und wenn er sich mal zu irgendwas entschlossen hatte, war er unmöglich davon abzubringen. Und jetzt sagen Sie, er hat… seine Töchter benutzt. Ja, das kann ich mir vorstellen. Er hat gedacht, Frauen sind dazu da, sich um Männer zu kümmern. Nähen und kochen und waschen und putzen und das andere, das auch. Und als die Mädchen keine Kinder mehr waren, da waren sie eben Frauen.« »Sie wären also nicht überrascht, wenn ich Ihnen sagen würde, daß er sich an Sandy und Dusty sexuell vergangen hat«, sagte ich. Er schüttelte den Kopf. »Nein, Ma’am. Ich wäre nicht überrascht. Aber ich weiß nicht, ob er das getan hat. Ich hab Ihnen alles erzählt, was ich weiß.« Und mehr konnte er nicht sagen. Wir dankten ihm und ließen ihn gehen; mehr war nicht zu erfragen, und mehr konnte er uns nicht erzählen. Ich war jetzt sicher, warum Dusty sich umgebracht hatte. Aber ich war gleichfalls sicher, daß mir dienstlich die Hände gebunden waren. Selbst wenn ich damit richtig lag, daß Dusty sich umgebracht hatte, weil sie das Gefühl hatte, daß sie das gleiche Schicksal erwartete wie Sandy, gab es, wie Captain Millner sehr richtig feststellte, kein Gesetz, das einem Mann verbot, seine Töchter auf einen Ausflug mitzunehmen, damit sie für ein paar von seinen Freunden kochten. Es gab absolut 334
keinen Beweis dafür, daß er irgend etwas anderes beabsichtigt hatte, weder für Sandy noch für Dusty. Im Grunde gab es nicht mal echte Beweise dafür, daß er überhaupt beabsichtigt hatte, Dusty mitzunehmen. Denn nach allem, was er Kilgore gesagt hatte, hätte es sein können, daß er einfach irgendein junges Mädchen mitnehmen wollte. Wenn ich also nichts Offizielles machen konnte, konnte ich dann vielleicht irgend etwas Inoffizielles machen? Es ging nicht um Rache, sagte ich mir, weder für Dustys Tod noch für Sandys gescheitertes Leben, und ich benutzte auch nicht Seth Miller als Stellvertreter für meinen eigenen Vater, den nichts und niemand mehr erreichen konnte. Nein, es ging um etwas viel Wichtigeres als um Rache für irgendwen oder irgendwas. Denn früher oder später würde Doreen nach Hause zurückkehren müssen. Und ich wollte, daß sie, anders als ihre Schwestern, anders als ich und meine Schwester, ein sicheres Zuhause hatte, zu dem sie zurückkehren konnte. Ich rief Ellen Miller an, Dustys Mutter, und bat sie, aufs Polizeirevier zu kommen. »Wozu?« fragte sie, wobei sie eher gereizt klang als voller Trauer um Dusty oder voller Sorge um Doreen. »Geht’s um Doreen? Haben Sie sie gefunden?« »Nein, wir haben sie nicht gefunden«, sagte ich, »aber die Ergebnisse dessen, was ich mit Ihnen besprechen muß, könnten dabei helfen, sie wieder nach Hause zu holen.« »Tja, könnten Sie nicht zu mir kommen?« In ihrer Stimme lag ein weinerlicher Unterton, bei dem sich mir die Nackenhaare sträubten. »Mrs. Miller«, sagte ich. »Ich bin zur Zeit auf Krücken angewiesen. Ich kann nicht gehen und erst recht nicht Auto fahren. Natürlich kann ich Sie nicht zwingen herzukommen. Aber wenn Sie nicht kommen, würden mir einige Fragen durch den Kopf gehen, warum Sie nicht wollen.« Letztlich erklärte sie sich einverstanden zu kommen, wie ich erwartet hatte, und sie sagte, sie wäre gegen Mittag da. Na toll. 335
Es war erst halb elf, und ich hatte gehofft, so früh fertig zu werden, daß Harry mich würde abholen können. Es gefiel mir nicht, zwei Tage hintereinander jemanden zu bitten, mich nach Hause zu fahren. Aber angesichts der Tatsache, daß wir sie nicht zwingen konnten herzukommen, mußten wir uns eben mit dem zufriedengeben, was sie uns anbot. »Ich möchte noch immer, daß Sandy herkommt«, rief Captain Millner mir in Erinnerung. »Eins nach dem anderen«, sagte ich. »Ich weiß, was ich tue.« »Das hoffe ich.« Er klang nicht sehr überzeugt. »Das weiß ich doch meistens, oder?« »Wie wahr. Apropos wahr, Sie lügen ganz schön viel.« »Wie kommen Sie denn darauf?« »Weil Sie dieser Frau erzählt haben, dieses Gespräch könnte dazu beitragen, daß Doreen wieder nach Hause kommt.« »Das war keine Lüge«, sagte ich. »Das ist die Wahrheit. Es könnte dazu beitragen, Seth aus dem Haus zu bekommen, ins Gefängnis oder sonstwohin, und ich vermute mal, sobald Seth weg ist, kommt Doreen zurück.« Ellen Miller verspätete sich. Als sie schließlich eintraf, war Rafe aus der Gerichtsverhandlung zurück, die erst um zwei Uhr fortgesetzt würde, und Captain Millner und ich hatten ihn über das bevorstehende Gespräch informiert. Sie kam herein und sah genauso gereizt aus, wie sie sich angehört hatte. Ich war mir sicher, daß sie echte Trauer empfand, um Dusty, und echte Sorge, um Doreen, aber es war ihr gelungen, beides zu kaschieren. »Worum geht’s denn eigentlich?« wollte sie sofort wissen. »Wenn Sie Doreen nicht gefunden haben, weshalb sollte ich dann herkommen?« »Wir beschäftigen uns noch immer mit Dustys Tod«, sagte ich. »Warum denn das um alles in der Welt?« entfuhr es ihr. »Sie ist gesprungen. Das wissen Sie doch. Sie waren schließlich da, 336
als es passiert ist.« »Ich weiß, daß sie gesprungen ist«, bestätigte ich, »aber haben Sie sich nie gefragt, warum sie gesprungen ist?« »Nie gefragt!« rief sie. »Ich frage mich hundertmal am Tag, warum sie es getan hat! Wir haben ihr alles gegeben! Allein für ihre Kleidung haben wir über zweitausend Dollar im Jahr ausgegeben, und Sie haben ja gesehen, wie hübsch ihr Zimmer war, sie durfte sich alles, was da drin war, aussuchen, und eine Privatschule – und ihre Noten waren hervorragend –, und ihre Freundinnen waren alle so nett, nicht wie die Leute, wo wir früher gewohnt haben. Es gab überhaupt keinen Grund!« Sie tat mir leid. Jeder in dieser Situation hätte mir leid getan. Aber ich mußte trotzdem Fragen stellen, und ihr würden weder die Fragen gefallen noch die Antworten, die sie würde geben müssen, wenn schon nicht mir, dann wenigstens sich selbst. »Wußten Sie von dem Angelausflug, den Ihr Mann geplant hatte?« »Selbstverständlich wußte ich davon!« entgegnete sie. »Sie meinen doch wohl nicht, daß er eine Woche verreisen würde, ohne mir etwas davon zu sagen, oder?« »Dann wußten Sie also auch, daß er vorhatte, Dusty mitzunehmen?« »Ja, natürlich. Dusty ist… Dusty konnte sehr gut kochen, und er wollte –« »Wollte Dusty mitkommen?« »Nun ja, nein, nicht so richtig. Ein paar von ihren Freundinnen hatten für diese Woche was vor, und sie wollte lieber dabei mitmachen. Schließlich wäre es in den Ferien gewesen, wissen Sie. Nicht die der staatlichen Schulen – die waren schon vorbei –, sondern in den Ferien von ihrer Schule. Aber Seth meinte, bei allem, was wir ihr geboten haben, würde es ihr nicht schaden, wenn sie einmal das tat, was er wollte, und ich mußte ihm recht geben. Zugegeben, es wäre nicht gerade schön gewesen, Fische putzen und braten und Betten machen, 337
aber es war auch nicht gerade Sklavenarbeit.« Ihre Stimme klang ganz vernünftig, doch ihre Hände verrieten ihre wahren Gefühle, denn sie drehte unablässig den Ehering und den Verlobungsring um den Finger, eine völlig unbewußte Geste. »Und Sie sehen keinerlei Parallele zwischen dieser Geschichte und dem, was mit Sandy passiert ist.« »Ich weiß nicht, wovon Sie reden. Ich habe keine Tochter namens Sandy.« »Hat Ihr Mann Ihnen befohlen, das zu sagen?« fragte ich ungläubig. »Sie haben sehr wohl eine Tochter namens Sandy. Namens Alexandra, genauer gesagt, genannt Sandy. Ich kenne sie. Ich kenne sie seit Jahren.« »Wir… wir wollen nichts mehr mit ihr zu tun haben. Ihre Lebensweise… Was irgendwelche Parallelen zwischen ihr und Sandy betrifft, da weiß ich nicht, wovon Sie reden.« Ich beugte mich vor. »Mrs. Miller, Sie wissen haargenau, wovon ich rede. Ich rede davon, daß Seth Miller seine älteste Tochter auf einen Jagdausflug mit sechs Männern mitgenommen hat, wo sie kochen und putzen sollte, und ich rede davon, daß sie gleich nach diesem Ausflug von zu Hause weggelaufen ist und sich seitdem ihren Lebensunterhalt als Prostituierte verdient. Ich rede davon, was während dieses Ausflugs passiert ist, und vor diesem Ausflug, was sie veranlaßt hat, diese Entscheidung zu treffen, und ich rede davon, daß Dusty aus dem Fenster gesprungen ist, weil sterben immer noch besser war als das, was sie unweigerlich erwartete, nämlich dasselbe Leben, das Sandy jetzt führt.« »Sie haben kein Recht, so etwas zu sagen.« Sie weinte jetzt, und sie nahm ein besticktes Taschentuch hervor, um sich damit die Augen abzutupfen, und dann drehte sie sich weiter die Ringe um den Finger, das Taschentuch in der rechten Hand. »Aber Seth hatte das Recht, sich an seinen Töchtern zu vergehen?« »Das ist eine Lüge!« Sie sprang auf, stieß beinahe den Tisch 338
um. »Sie haben kein Recht, so schreckliche Dinge zu sagen!« »Denken Sie mal zurück«, sagte ich. »Und fragen Sie sich selbst, wie oft Sie in den letzten zehn Jahren abends nicht zu Hause waren und Seth allein mit seinen Töchtern gelassen haben. Fragen Sie sich, wie viele Male Seth es irgendwie gedeichselt hat, daß Sie weg waren und er allein mit den Mädchen. Fragen Sie sich, in wie vielen Nächten, wenn Sie zu Hause waren, Seth irgendeinen Vorwand hatte, mitten in der Nacht in den Zimmern seiner Töchter zu sein, bei verschlossener Tür. Und fragen Sie sich, wie fröhlich die Mädchen am nächsten Tag gewirkt haben. Vor allem die jeweils älteste im Haus.« »Seth hat niemals… Seth würde nie… Hören Sie, Sie verstehen das nicht«, platzte sie heraus. »Wir sind so lange arm gewesen… Wir sind beide arm aufgewachsen, Seth und ich, und wir sind schon die ganze Zeit in der High-School miteinander gegangen, und wir haben uns vorgenommen, daß wir es schaffen würden, wir würden nicht so leben, und Seth hat gesagt, ich müßte nur genau das tun, was er will, und ihn immer unterstützen, dann würden wir eines Tages reich, aber als wir heirateten und die Kinder kamen, da waren wir noch arm. Wir hatten nie viel. Dann hat er diesen wunderbaren Job bekommen – aber er mußte ihn auch behalten, und dafür mußte er all diese Leute zufriedenstellen. Sie verstehen das einfach nicht! Ich… Als ich noch klein war, mußten wir fünf Kinder in einem einzigen Zimmer schlafen, und dann sind wir in ein größeres Haus gezogen, so daß wir endlich drei Schlafzimmer hatten, eins für unsere Eltern, eins für die Jungs und eins für die Mädchen, das Dach im Badezimmer war im Winter so undicht, daß man beim Baden einen Regenmantel tragen mußte, weil einem ein eiskalter Wind auf den Rücken blies. Und… man konnte sich ja an den Geruch gewöhnen und daran, daß man, wenn man nachts was trinken wollte, dreimal das Glas ausspülen mußte, um nicht aus Versehen eine Kakerlake zu 339
verschlucken, und man konnte sich an die Mäusekacke auf den sauberen, gefalteten Laken gewöhnen, aber… Wissen Sie, woran ich mich nie gewöhnen konnte? Die Handtücher paßten nie zusammen. Ich hab mich immer gefragt, wenn sie doch sowieso Handtücher kaufen müssen, auch wenn sie immer nur eins kaufen können, wieso können sie nicht wenigstens immer dieselbe Farbe kaufen, damit sie wenigstens halbwegs zusammenpassen. Das ging soweit, daß ich manchmal gedacht habe, ich würde alles für ein paar passende Handtücher tun… Auf einen Jagdausflug zu gehen und für die Männer zu kochen, das war nicht zuviel verlangt, ihrem Daddy dabei zu helfen, daß er seinen tollen Job behält – eine schöne Wohnung, jedes Mädchen mit einem eigenen Zimmer und sogar einem eigenen Bad und keine Kakerlaken und keine Mäuse und kein undichtes Dach und alle Handtücher paßten zusammen…« Schön zu wissen, wieviel Ihre Töchter wert sind, dachte ich, sagte es aber nicht. Natürlich hatte ich Mitleid. Jeder hätte unwillkürlich Mitgefühl für jemanden, der aus solchen Lebensumständen kommt. Aber wenn man den Haushalt anständig führte, alles in Schuß hielt, konnte ein Haus wohnlich bleiben; bei richtiger Planung konnten auch die Handtücher im Bad zueinander passen, auch ohne daß man seine Töchter mißbrauchen – oder verkaufen – mußte. »Sie verstehen das nicht«, jammerte sie erneut. »Ich gebe mir Mühe«, sagte ich. »Mir ist klar, daß Sie unter miesen Bedingungen aufgewachsen sind, und wie ich höre, Seth auch. Aber man muß nicht reich sein, um nicht so leben zu müssen. Haben Sie die Mädchen je gefragt, ob es ihnen vielleicht lieber gewesen wäre, weniger Sachen zu besitzen und dafür nicht mißbraucht zu werden?« »Es war nicht zuviel verlangt… Es hat ihnen nicht geschadet… Mir hat es doch auch nicht geschadet, daß mein –« Sie verstummte plötzlich. Aber sie hatte genug gesagt, ich mußte an das Stockholm340
Syndrom denken – das Opfer, das sich auf die Seite des Täters schlägt. Doch ganz gleich, wie schlimm Ellen Millers Kindheit auch gewesen war, ganz gleich, was sie für Ticks hatte, ihre noch verbliebene Tochter – denn Sandy hatte sie verloren, und Dusty war tot – mußte geschützt werden. »Ich sehe ein, ich muß Sandy herkommen lassen«, sagte ich zu Captain Millner. »Hab ich Ihnen doch gesagt«, antwortete er. »Wenn Sie schon dabei sind, lassen Sie auch Seth Miller herkommen. Ich will wissen, wie dieser Dreckskerl aussieht.« Ich hatte Mitleid mit Ellen Miller, mehr als ich es vielleicht gehabt hätte, wenn sie nicht diesen letzten, unvollständigen Satz hervorgestoßen hätte. Aber ich hatte nicht halb soviel Mitleid für sie wie für ihre Kinder. Meine Mutter hatte alles geleugnet. Aber meine Mutter hatte es wirklich nicht gewußt. Ellen Miller, dessen war ich mir nun sicher, hatte es gewußt. Sie hatte es gewußt und hatte aus ihrer eigenen Habsucht und aus ihrer eigenen Opfererfahrung heraus beschlossen, daß passende Handtücher – und all die anderen Annehmlichkeiten des luxuriösen Lebens – wichtiger waren. Ich griff zum Telefon.
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Kapitel 15 Freitag nachmittag um halb zwei, und das Büro der Abteilung war ziemlich voll. Rafe hatte es geschafft, sich für den Rest des Tages vom Gericht entschuldigen zu lassen, mit der Begründung, daß er Dringendes im Büro zu erledigen hatte und daß er, sollte man ihn noch einmal brauchen – womit niemand ernsthaft rechnete – innerhalb von fünfzehn Minuten dasein könnte. Captain Millner hatte beschlossen, daß er sich stärker für den Fall Dusty Miller interessierte, als er ursprünglich gedacht hatte – seine Anweisung an mich, die Finger davon zu lassen, war inzwischen völlig gegenstandslos geworden, wenn nicht ganz vergessen –, und er blieb im Raum. Wir hatten Sandy herbestellt und Ellen Miller dabehalten und Rodney Kilgore noch einmal kommen lassen, und wir hatten Seth Miller in einem Vernehmungszimmer untergebracht – nicht in einer Arrestzelle, weil ihm noch nichts zur Last gelegt worden war und er theoretisch jederzeit hätte gehen können –, aber ich will es mal so ausdrücken: Das Vernehmungszimmer wurde von einem uniformierten Polizisten gut bewacht, und falls Miller auf die Idee kam, das Zimmer zu verlassen, würde er feststellen, daß diese Idee nicht besonders gut war. Die erste Stunde war, was mich anging, eine Wiederholung, also sah ich mehr oder weniger bloß zu. Aber Rafe hatte noch nichts aus erster Hand gehört und Captain Millner nur einen Teil der Geschichte. Zunächst mußten wir mit Rodney Kilgore sprechen. Er erzählte praktisch dieselbe Geschichte noch einmal, ohne etwas dazuzutun oder wegzulassen, und dann ließ Captain Millner ihn gehen. Es gab keinen Grund, ihn hierzubehalten, und wir hatten beschlossen, daß wir – zumindest vorläufig – Seth Miller nicht wissen lassen wollten, wer von seinen Freunden ihn angeschwärzt hatte. 342
Als nächstes sprachen wir mit Ellen Miller. Auch hier gab es keine Überraschungen. Sie weinte; sie leugnete jede Möglichkeit eines Fehlverhaltens, und sie bat darum, nach Hause gehen zu dürfen. Captain Millner legte ihr nahe, noch eine Weile zu warten, und schickte sie hinaus ins große Büro. Dann holten wir Sandy. Man stellte ihr viele Fragen: Was genau hat Ihr Vater getan, wußte Dusty, was passiert ist, als Sie für die Jagdgesellschaft kochen mußten, wußte Dusty, welchen Beruf Sie derzeit ausüben, was hielt Dusty davon? Sandy war geduldig, aber es war ziemlich offensichtlich, daß ihr die Fragen trotz ihres derzeitigen Berufes extrem peinlich waren. Ihr Vater hatte sie nicht vergewaltigt. Er hatte auf HandGenital- oder Mund-Genital-Kontakt bestanden (so drückte sie sich aus), wobei sie sowohl die aktive als auch die passive Rolle spielen mußte. Ja, Dusty wußte, was passiert war, als Sandy für die Jagdgesellschaft gekocht hatte. Dusty wußte, daß Sandy Prostituierte war, und sie fand Prostitution widerlich. »Was haben Sie Ihrem Vater gesagt, als Sie von zu Hause ausgezogen sind?« fragte Rafe. »Sie meinen, als ich abgehauen bin? Ich hab ihm überhaupt nichts gesagt, von Angesicht zu Angesicht«, sagte Sandy. »Er hatte mich schon vorher verprügelt, nach dem Motto, es sei nur zu meinem Besten – er hat immer behauptet, alles wäre nur zu meinem Besten. Wieso hätte ich das Risiko noch einmal eingehen sollen? Aber ich hab ihm einen Brief hinterlassen.« »Was stand in dem Brief? Ich möchte nicht in Ihren Privatangelegenheiten herumschnüffeln«, sagte Rafe, »aber wir müssen nun mal wissen –« »Ich weiß«, sagte Sandy ruhig. »Was stand in dem Brief… Ich hab ihm einfach mitgeteilt, daß ich es satt hatte, seine kostenlose Hure zu sein, und daß ich, wenn ich es sowieso sein mußte, auch genausogut Geld dafür nehmen könnte. Ich hab ihm geschrieben, daß einer seiner arabischen Freunde meine Flucht finanziert hat. Ich hab ihm geschrieben, er sollte gar 343
nicht erst versuchen, mich zu finden, weil er mich nicht zurückbekommen würde. Und ich hab ihm geschrieben, daß ich bewaffnet wäre und ihn umbringen würde, falls er versuchen sollte, mich zurückzuholen.« »Waren Sie bewaffnet?« fragte Captain Millner. »Naja, wenn Sie ein Fleischmesser als Waffe betrachten.« »Hätten Sie ihn umgebracht?« »Ich hätte es versucht«, sagte Sandy. »Er hätte mich nicht zurückbekommen. Dazu war ich fest entschlossen.« »Wußte Dusty von dem Brief?« fragte Rafe. Sandy seufzte. »Von meinem Brief? Ja, ich hab ihr davon erzählt, und ich hab sie gefragt, ob sie mit mir kommen wollte. Die Sache ist die, er – mein Vater – hat erst angefangen, mit mir rumzumachen, nachdem ich, na ja, nachdem ich zum ersten Mal meine Periode bekommen hatte. Als ich fort wollte, war Dusty auch soweit, und ich hab mir gedacht, daß er mit ihr anfangen würde, wenn ich nicht mehr da war. Also hab ich versucht, sie zu überreden, mit mir zu kommen, wie schon gesagt. Dusty hatte Angst. Dusty… wollte, daß alles schön ist. Dusty wollte alles möglichst einfach haben, und wenn man mit meinem Vater zu tun hat, ist nichts möglichst einfach und angenehm. Mein ganzes Leben lang habe ich gekämpft, wenn sich mir irgendwas entgegengestellt hat… und Sie meinen doch wohl nicht, daß ich in dieser miesen Branche bleibe, oder? So blöd bin ich nicht. Ich hab mir nur… meine Ausbildung damit finanziert, und jetzt hab ich meine Ausbildung abgeschlossen. Nachdem ich die High-School abgebrochen hatte, hab ich den Abschluß nachgeholt, und dann bin ich aufs College, zuerst in Tarrant County und dann in Arlington, und hab Betriebswirtschaft studiert. Vor ein paar Tagen war ich in Austin« – sie lächelte mich an – »und hab die Prüfung zur Steuerberaterin gemacht. Jetzt mach ich erst ein bißchen Urlaub, und nächsten Monat fange ich an zu arbeiten, und ja, mein Arbeitgeber kennt meine persönliche Geschichte. Die 344
kleine Sandy läßt sich nicht mehr aufs Kreuz legen, weder von meinem Alten noch von sonstwem. Ich bin eine Kämpferin, verstehen Sie, ich komme immer wieder auf die Beine. Aber Dusty wollte immer nur, daß alles schön in Ordnung ist. Sie wollte in der Schule die besten Noten haben, und sie wollte bei den Cheerleadern sein, und sie wollte hübsche, pastellfarbene Sachen zum Anziehen, und sie wollte die richtigen Freundinnen, und sie war nicht… bereit, oder vielleicht sollte ich besser sagen, sie war nicht fähig, für irgendwas davon zu kämpfen. Wenn irgendwas nicht so lief, wie ich wollte, hab ich immer gekämpft. Wenn irgendwas nicht so lief, wie sie wollte, hat sie geweint. Ich war wütend. Sie war ängstlich. Deshalb war es für sie, als wäre das Leben schizoid. Die Dusty, die gute Noten bekam und bei den Cheerleadern war und im Förderprogramm für Sonderbegabte, das war die wirkliche Dusty, und die Dusty, die abends um zehn den eigenen Daddy im Bett hatte, das war gar nicht Dusty. Und sie konnte sich das wirklich einreden und daran glauben, weil ja außer ihr und Daddy keiner davon wußte. Und ich natürlich, aber ich zählte nicht, weil das zu dem Teil ihrer Schwester gehörte, der für sie nicht existierte, genausowenig, wie dieser Teil von ihr selbst existierte. Und Mom, aber die zählte auch nicht, weil sie nie zugab, daß sie es wußte, also konnten wir so tun, als wüßte sie es wirklich nicht, zumindest Dusty konnte so tun. Aber ich will Ihnen sagen, was ich denke. Ich denke, als Daddy gesagt hat, daß er sie auf diesen Angelausflug mitnehmen will, tja, da würden Leute dabeisein, die wir kannten. Wenn es so wie bei mir gewesen wäre, Araber oder irgendwelche Typen aus Südamerika oder Schottland oder egal wo, ich glaube nicht, daß sie dann so durchgedreht wäre. Sie wäre entsetzt gewesen, aber sie hätte es sich gefallen lassen und hätte getan, was Daddy sagt. Aber Leute, die wir kannten… Und Daddy konnte es vor Mom verbergen, zumindest hinreichend genug, daß sich alle in der Familie was vormachen 345
konnten, obwohl, wie gesagt, wenn Sie mich fragen, ich glaube, daß Mom es weiß. Aber wir alle wußten, wie er war, wenn er getrunken hatte. Dann bildete er sich ein, er verhielt sich unauffällig, und er war ungefähr so unauffällig wie ein Elefant im Ballettröckchen. Also würden diese Leute es merken. Rodney Kilgore würde es merken. Ray Garcia würde es merken. Menschen, die wir kannten, würden es erfahren. Und das konnte sie nicht ertragen.« Sie sah mich an. »Deb«, sagte sie, »ich weiß, Sie glauben, daß sie gesprungen ist, weil sie Angst hatte, so zu werden wie ich, weil sie Angst hatte, eine Hure zu werden. Aber ich glaube nicht, daß das der Grund war. Ich denke, sie ist gesprungen, weil sie den Gedanken nicht ertragen konnte, daß irgendwer wußte, was ihr Daddy von ihr hielt. Ich denke…« Sie blickte nach unten auf ihre langen, schön manikürten Finger auf dem Tisch. »Wenn Sie mich fragen, ist Dusty nicht erst gestorben, als sie aus dem Fenster gesprungen ist. Dusty fing an zu sterben, als sie erkannte – und ich hab es so lange vor ihr verborgen, wie ich konnte, bis ich soweit war, daß ich fort mußte, weil ich den Alten umgebracht hätte, wenn ich geblieben wäre –, daß sie und Doreen und ich für ihn nicht mehr waren als Fotzen. Und sie ist ganz gestorben, als sie herausfand, daß es ihm total egal war, ob seine Freunde das merkten. Was danach passiert ist, das war nur noch das Tüpfelchen auf dem i. Aber sie war schon tot, lange bevor sie aus dem Fenster gesprungen ist.« »Hat denn keine von euch beiden versucht, eurem Vater begreiflich zu machen, welche Wirkung das alles auf euch hatte?« fragte Rafe. Sandy starrte ihn fassungslos an und lachte, ein rauhes, fast beängstigendes Lachen. »Das kann nicht Ihr Ernst sein«, sagte sie. »Wir haben es ihm gesagt. Ich hab’s ihm gesagt. Dusty hat’s ihm gesagt. Nicht gemeinsam, denn wenn wir es ihm gemeinsam erzählt hätten, hätten wir zugegeben, daß es 346
wirklich passierte, und das konnte Dusty nicht ertragen. Aber er hat gewußt, wie es für uns war. Er hätte es unmöglich nicht wissen können. Wenn Ihnen jemand einen bläst und dabei weint und kotzt, dann wissen Sie, wie er sich fühlt. Er wußte es, und es war ihm egal. Seiner Meinung nach war das eine reine Überreaktion von uns. Er tat uns ja nichts. Er hat uns bloß erzogen, und das war zu unserem eigenen Besten. Ich wünschte, ich hätte einen Dollar für jedes Mal, daß er mir erzählt hat, er würde mir nichts tun. Er glaubt wirklich allen Ernstes, daß es nichts ausmacht, solange das Hymen intakt bleibt. Also nein, es war ihm egal, und es ist ihm noch immer egal. Sehen Sie ihn sich mal an. Sie werden nicht feststellen, daß er sich irgendwelche Gedanken macht wegen dem, was seinetwegen mit mir passiert ist oder mit Dusty oder was vielleicht mit Doreen passiert. Wenn er die Klamotten bezahlt, eine schöne Wohnung, das Essen auf dem Tisch, wenn er dafür sorgt, daß seine Kinder eine gute Ausbildung bekommen, dann hat er seine Pflicht erfüllt und seine Kinder schulden ihm das, was er will. Sie werden also keinen Mann vor sich sehen, der zerknirscht ist, weil er die jungfräuliche Keuschheit seiner Töchter mit Füßen getreten hat. Nein, Sie werden ein Gorillamännchen sehen, das stinksauer ist, weil ein Teil seines Harems sich aus dem Staub gemacht hat. Im Augenblick hat er nur noch Mom, weil Dusty tot ist und Doreen… verschwunden. Er ist ein geiler Gorilla, der es im Moment nur mit einer treiben kann, es sei denn, er zieht tatsächlich los und bezahlt dafür, und er wird allmählich kribbelig, als hätte man ihn in einen Käfig gesperrt.« »Ich begreif so was nicht«, sagte Rafe halblaut. Captain Millner stand energisch auf. »Das ist auch gut so«, entgegnete er. »Miss Miller, danke, daß Sie hergekommen sind. Es wäre schön, wenn Sie noch etwas warten würden, für den Fall, daß wir noch einmal mit Ihnen sprechen müssen. Möchten Sie gerne hierbleiben, damit Sie Ihren Vater nicht sehen müssen, oder 347
würden Sie lieber im großen Büro warten?« »Ist mir egal, ob ich ihn sehe oder nicht«, sagte sie, »aber ich kann auch hier drin sitzen bleiben.« Rafe, Captain Millner und ich gingen zusammen in das andere Vernehmungszimmer. Seth Miller blickte auf, als wir eintraten. »Was genau liegt eigentlich an?« wollte er wissen. »Die Person, die mich im Büro angerufen und hergebeten hat, hat sich ziemlich unklar ausgedrückt.« Die Person, die ihn angerufen hatte, war Captain Millner. Und Captain Millner – der sich nie unklar ausdrückt – setzte sich ruhig hin und begann das Gespräch. »Sie fragen, was hier eigentlich anliegt. Was meinen Sie denn, was hier anliegt?« »Ich vermute, es hat etwas mit meiner Tochter zu tun, die von zu Hause weggelaufen ist. Sie haben sie gefunden und möchten sie jetzt baldmöglichst zurück in meine Obhut geben.« »Wir haben sie nicht gefunden«, erwiderte Captain Millner, »und wenn wir sie gefunden hätten, würde ich dafür sorgen, daß sie nicht in Ihre Obhut zurückgegeben wird. Sie hören mir jetzt mal gut zu. Sie stehen unter dem Verdacht des sexuellen Mißbrauchs an einer Minderjährigen. Vorläufig sind Sie noch nicht verhaftet. Sie haben das Recht zu schweigen… Sind Sie bereit, auf diese Rechte zu verzichten?« »Ich hab keine Geheimnisse«, sagte Miller mit diesem Grinsen im Gesicht, das alle Polizeibeamten nur allzugut kennen, das Grinsen, das besagt: »Ich komm ungeschoren davon, und ihr könnt nichts dagegen machen.« Er unterschrieb an der Stelle, die Rafe ihm zeigte, und gab damit sein Recht auf Aussageverweigerung auf. Dann lehnte sich Captain Millner auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Erzählen Sie mir von Sandy.« »Sandy?« Miller klang leicht amüsiert, distanziert. »Sandy. Ihre älteste Tochter. Diejenige, von der Sie so tun, als existiere sie nicht mehr. Nun, sie existiert. Wir haben ihre 348
Aussage gehört. Jetzt würden wir gern Ihre Version hören.« »Sandy ist eine Prostituierte, eine Drogensüchtige und eine Lügnerin.« »Sandy ist keine Prostituierte mehr, war nie drogensüchtig, und sie lügt nicht«, entgegnete Captain Millner. »Sie ist Steuerberaterin. Drogensüchtige sind ziemlich leicht zu erkennen, und ich hab schon so viel mit Lügnern zu tun gehabt, daß ich auch die inzwischen einigermaßen gut erkenne. Soweit ich weiß, war und ist sie weder eine Drogensüchtige noch eine Lügnerin. Deb, Sie kennen sie doch schon seit Jahren, was meinen Sie?« »Sie hat früher mal Marihuana geraucht«, sagte ich, »aber nie so viel, daß man sie als süchtig hätte bezeichnen können, und außerdem ist ohnehin fraglich, ob Marihuana überhaupt süchtig macht. Sie hat Zigaretten geraucht, und das ist natürlich eine Sucht« – ich lächelte Seth Miller liebenswürdig zu, denn er kaute auf einer Zigarre, die Rafe ihm verboten hatte anzuzünden – »aber selbst damit hat sie aufgehört.« Ich erklärte nicht, woher ich das wußte, aber Tatsache ist, da keiner in meiner Familie raucht, kann ich den Geruch in der Kleidung von Rauchern wahrnehmen, selbst wenn sie nicht in meiner Gegenwart rauchen. »Soweit ich weiß, war sie nie eine Lügnerin. Im Gegenteil, sie neigt eher dazu, höchst unbequeme Wahrheiten auszusprechen.« Miller seufzte gedehnt. »Sie wollen also meine Version der Geschichte hören. Ich sehe zwar keinerlei Sinn darin, aber meinetwegen. Ich möchte wirklich nicht, daß Sie, wackere Polizisten, die Sie sind, mich für unkooperativ halten. Ich bin sicher, daß sie mich in ihrer Version als das schlimmste Ungeheuer im ganzen Universum darstellt. Ich hab gut für meine Familie gesorgt – besser als je einer für mich gesorgt hat, als ich noch ein Kind war. Sie hat von mir alles gekriegt, gutes Essen, eine schöne Wohnung, schicke Sachen –« »Ein gut verpflegter, gut untergebrachter, gut gekleideter 349
Sklave ist und bleibt dennoch ein Sklave«, sagte Captain Millner schneidend. »Es geht hier nicht um Wohnung und Essen und Kleidung.« »Sklave?« fragte Miller und zog die Augenbrauen hoch. »Hat sie Ihnen das gesagt? Ich habe niemals irgend etwas Unzumutbares von einer meiner Töchter erwartet. Ich liebe und umsorge meine Töchter. Ja, ich erwarte viel von ihnen, aber ich gebe ihnen auch viel. Es stimmt, daß ich sie mit auf einen Jagdausflug genommen habe. Ich hatte ein paar äußerst wichtige ausländische Geschäftspartner eingeladen, und es war wichtig für mich, daß alles gut lief. Wie Sie wissen, befindet sich die Ölindustrie in einer tiefen Krise, und das schon eine ganze Weile, und ich verkaufe die Technik für Ölbohrungen. Es ging um ein so lukratives Geschäft, daß meine Familie ein ganzes Jahr lang davon leben könnte, wenn ich den Auftrag kriegte. Ich hab Sandy mitgenommen, damit sie die Gastgeberin spielt, ein bißchen Kochen und Haushalt, und das ist in meinen Augen nun wirklich keine Sklavenarbeit. Irgendwann während der Tage in der Jagdhütte, und ich weiß nicht genau wann, hat sie eine unglückselige… Liaison… mit einem meiner Gäste angefangen, der sie, wie ich vermute, gut dafür bezahlt hat. Als die Woche um war, hatte sie die idiotische Vorstellung, daß sie allein, unabhängig von meiner väterlichen Autorität, zurechtkommen und weiterhin soviel Geld verdienen könnte. Ich glaube, daß sie später dann, als nicht alles so lief, wie sie sich das gewünscht hat, zu dem Schluß gekommen ist, daß ihre schlechten Entscheidungen meine Schuld waren.« »Vor diesem Jagdausflug, was für eine Beziehung hatten Sie da zu Ihrer Tochter?« »Eine angespannte«, sagte er. »Manche Jugendliche…« »Was meinen Sie, inwieweit Ihre sexuellen Übergriffe zu diesem angespannten Verhältnis beigetragen haben?« fragte ich. Er sah mich an. »Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen«, sagte er und schloß den Mund um die Zigarre. Aber er hatte den 350
Bruchteil einer Sekunde zu lange gewartet, bevor er es sagte, und nur für diesen Bruchteil einer Sekunde blickte ein Tier aus seinen Augen. Rodney Kilgore hatte recht. Dieser Mann würde bedenkenlos jemanden umbringen, wenn er irgendeinen Grund dafür hätte und meinte, er käme ungeschoren davon, und ich fragte mich mit einem jähen Frösteln, ob Sandy tatsächlich wußte, wo Doreen war, oder ob sie bloß meinte, es zu wissen. »Ach nein?« sagte Captain Millner. »Dann versuchen wir’s mal anders. Fanden Sie es nicht ein wenig unklug, ein jugendliches Mädchen mit auf einen Jagdausflug zu nehmen, an dem sonst nur Männer teilgenommen haben?« Miller rückte sorgsam seine Krawatte zurecht. »Im nachhinein betrachtet, war es vielleicht ein wenig unbedacht. Aber ich hatte keinerlei Grund zu der Annahme, daß eine wohlbehütete junge Frau so reagieren würde, wie sie das getan hat.« »Und nachdem sie also so reagiert hatte, beschlossen Sie, Ihre zweite Tochter auf einen Angelausflug mitzunehmen?« fragte Rafe. »Als Gegenleistung für Essen, Kleidung, Bildung und Fürsorge habe ich ein Recht darauf, daß meine Töchter gelegentliche Dienstleistungen erbringen«, sagte Miller, »solange diese nicht mit ihren schulischen oder kirchlichen Pflichten kollidieren.« »Welche Art von Dienstleistungen«, fragte Captain Millner. »Benutzen Sie Ihre Töchter nur selbst, oder verleihen Sie sie auch schon mal an Bekannte?« »Ich würde sie nie im Leben an –« »Warum haben Sie Ihren Freunden erzählt, daß Sie ein ›süßes, kleines Ding‹ auf den Angelausflug mitbringen würden?« fragte ich. Wir hatten ihm nichts von Rodney Kilgore erzählt und dafür gesorgt, daß die beiden sich nicht begegneten, und seine Reaktion verriet mir, daß er die Frage nicht erwartet hatte. Aber 351
er hatte sich schnell wieder unter Kontrolle. »Wieso sollte ich sie nicht so nennen. Hat Ihr Vater Sie nie als ›süßes, kleines Ding‹ bezeichnet?« »Ja, mein Vater war Ihnen sehr ähnlich«, sagte ich. Captain Millner warf mir einen Blick zu, rasch, als ich das sagte, und dann widmete er seine Aufmerksamkeit wieder Seth Miller. »Was denken Sie, meinen die meisten Männer hier bei uns, wenn sie jemanden als ›ein süßes, kleines Ding‹ bezeichnen?« »Ich hab sie nicht gefragt.« »Haben diese Worte nicht meistens den Beigeschmack sexueller Verfügbarkeit?« fragte Rafe. »Mag schon sein«, sagte Miller. »Wie erklären Sie sich die Blutergüsse, die Dusty im Genitalbereich hatte, und ihre Pilzinfektion?« fragte Captain Millner. »Teenager experimentieren natürlich herum. Das heißt noch lange nicht, daß ihre Eltern –« Rafe stand auf und sprach ziemlich laut, als ob Miller schlecht hören könnte. »Ich glaube Ihnen nicht«, sagte er. »Sie haben eine Ihrer Töchter in die Prostitution getrieben, eine in den Selbstmord und eine soweit gebracht, daß sie von zu Hause weggelaufen ist, und Sie haben keinerlei Gewissensbisse?« »Warum sollte ich?« fragte Miller. »Ich hab ihnen nichts getan. Ich hab sie bestens versorgt, alles nur vom Feinsten, und das einzige, was ich verlangt habe, war Gehorsam. Wenn sie mein Verhalten mißverstanden haben, so war das ihr Problem. Sandy war Jungfrau, bis sie mit diesem… Araber ins Bett gestiegen ist. Dusty ist unberührt gestorben.« »Wie die Tochter von Bernarda Alba«, sagte ich leise, aber das bekam niemand mit. »Ich wollte sie an Disziplin gewöhnen und erziehen«, fuhr Miller fort. »Ich wollte, daß sie, wenn sie mal heiraten, verantwortungsbewußte Frauen sind, fähig, einen Haushalt zu führen, sparsam zu wirtschaften, Gäste zu bewirten, ihre 352
Männer zufriedenzustellen und zu wissen, was sie selbst wollen. Meine Mutter hat das Leben meines Vaters und das ihrer Kinder ruiniert, weil sie zu nichts von alledem in der Lage war, und meine Frau mußte es nach unserer Hochzeit mühsam Stückchen für Stückchen lernen, was für unsere eheliche Beziehung sehr von Nachteil war, zumal sie manches davon überhaupt nicht mehr lernen konnte. Ich selbst bin ein Selfmademan. Ich hatte mir vorgenommen, daß meine Töchter alles Erforderliche wissen sollten, bevor sie heiraten. Ich habe ihnen keinerlei Schaden zugefügt, und wenn sie meine Erziehung zu streng fanden, dann ist das ihr Problem. Ich habe ihnen nichts getan, und wenn sie aufrichtig wären, würden sie Ihnen das bestätigen. Was auch immer passiert ist, sie haben es genossen. Mag sein, daß sie es sich später anders überlegt haben, aber zum damaligen Zeitpunkt haben sie es genossen, und glauben Sie mir, ich kann das beurteilen. Also… Gewissensbisse? Ich sag’s noch einmal. Warum sollte ich welche haben? Ich hab nichts getan, was ihnen geschadet hätte.« »Ich habe Hochachtung vor Menschen, die hart arbeiten«, sagte Captain Millner. »Ich habe Hochachtung vor jemandem, der mehr erreicht, als ihm vom Schicksal zugedacht wurde. Wenn Sie sich damit begnügt hätten, säßen Sie jetzt nicht hier. Aber Sie haben sich über die Gesetze dieses Staates erhoben, über die Gesetze der Moral und über die Gesetze von Anstand und Sitte. Niemand – weder Ihre Frau, Ihre Töchter, noch einer hier im Raum – schuldet Ihnen jetzt noch irgendwelchen Respekt. Hatten Sie auch schon angefangen… Doreen zu… erziehen?« Wieder rückte Miller seine Krawatte zurecht. »Noch nicht«, sagte er leichthin. »Nur in kleinen Dingen. Und wenn Sie meinen, Sie könnten mit irgendwas von dem, was ich gesagt habe, vor Gericht gehen, sollten Sie sich das gut überlegen. Es gibt kein Gesetz, das einem Mann verbietet, seine Kinder zu 353
erziehen und zu disziplinieren.« »Das hängt davon ab, worin er sie erzieht und wie er sie diszipliniert. Was meinen Sie, wo Doreen ist?« »Sie ist wie meine anderen Töchter, zeigt keine Dankbarkeit für alles, was ich ihr gegeben und für sie getan habe. Ich weiß nicht, wo sie ist.« »Wieviel wußte Doreen über Ihre… Erziehungsmethoden bei Sandy und Dusty?« fragte Rafe, und in dem Moment wurde mir klar, daß er und Captain Millner den gleichen Gedanken hatten wie ich. »Sie wußte soviel, wie sie wissen mußte.« »Was soll das heißen?« hakte Rafe nach. »Das können Sie verstehen, wie Sie wollen.« »Ich will Ihnen sagen, wie ich das verstehe«, sagte Captain Millner, der aufgestanden war, einen Fuß auf den Stuhl gestellt hatte und jetzt vor Miller aufragte. »Ich verstehe das so, daß Doreen sehr wohl wußte, was Sie Ihren beiden anderen Töchtern angetan hatten. Vielleicht hatten Sie ja auch bei ihr schon angefangen. Und anders als Sandy, die nur noch weg wollte, und Dusty, die sich deswegen das Leben nahm, hat sie gedroht, zur Polizei zu gehen. Und Sie wollten dafür sorgen, daß sie keine Gelegenheit dazu hatte. Deshalb haben Sie sie umgebracht, und Sie haben die Leiche irgendwo hingeschafft, wo sie glauben, daß wir sie nie finden werden. Was halten Sie von diesem Szenario?« »Sie sind verrückt«, sagte Miller. Die Verachtung in seiner Stimme klang echt; es hörte sich nicht so an, als wollte er damit Wut oder Angst verschleiern. »Ach ja? Das werden wir noch sehen. Sie bleiben hier«, sagte Millner. Seine Stimme war leise, aber jeder, der ihn kannte, hätte ihm angemerkt, daß er vor Wut kochte. Rafe und ich folgten ihm zurück in das andere Vernehmungszimmer, wo Sandy ganz gefaßt wirkte. Millner setzte sich ihr gegenüber an den Tisch und sagte: »Sie werden uns helfen müssen.« 354
»Wie?« fragte Sandy. »Erstens, schenken Sie uns reinen Wein ein. Wissen Sie, wo Doreen ist? Ich bitte Sie nicht, uns zu sagen wo, sagen Sie uns nur, ob Sie wissen, wo sie ist.« Sandy musterte sein Gesicht einen Moment lang und kam dann sichtlich zu einem Entschluß. »Ja, ich weiß es.« »Wann haben Sie zuletzt mit ihr gesprochen?« »Heute morgen, am Telefon.« »Weiß Ihr Vater, wo sie ist?« »Nein.« »Sind Sie sich da ganz sicher?« »Ich bin mir sicher.« Ihre Augen glitten zu mir herüber. »Und er käme auch nicht an sie ran, wenn er es wüßte. Sie ist in Sicherheit.« »Dann fällt das weg«, sagte Millner rätselhaft. »Okay, passen Sie auf. In Texas gibt es keine Verjährung für sexuellen Mißbrauch an Minderjährigen. Falls die Tochter bereit ist auszusagen, auch nach zwanzig Jahren noch, wird der Staat Anklage erheben. Ihr Vater wird überhaupt nichts gestehen. Er denkt tatsächlich, er hätte nichts Falsches getan. Ihre Mutter wird auch nichts zugeben. Nach dem, was Sie uns erzählen, und nach dem, was er uns erzählt, werden wir keine konkreten Beweise vorlegen können. Das bedeutet, wenn wir Doreen nicht finden und sie dazu bringen, gegen ihn auszusagen, besteht die einzige Möglichkeit, Doreen vor ihm zu schützen, darin, ihn wegen des Mißbrauchs an Ihnen vor Gericht zu bringen, und zwar erfolgreich. Sind Sie bereit, gegen ihn auszusagen?« »Ja«, sagte Sandy, »aber ob das Gericht mir glauben wird?« »Sie sind als Zeugin überzeugender als er«, sagte Captain Millner. »Er hat diese gewisse Arroganz, die Geschworene abstößt. Ich kann Ihnen nicht versprechen, daß wir eine Verurteilung erreichen. Das kann keiner. Geschworene sind unberechenbar. Aber es ist den Versuch wert. Wenn Sie wollen.« 355
»Ich will.« »Die Sache ist die, selbst wenn wir keinen Schuldspruch erreichen, wird ihm das alles furchtbar unangenehm sein und ihm vielleicht als Warnung dienen, daß er bei einer Wiederholungstat nicht mehr so leicht davonkommt.« »Meinen Sie, das wird ihn aufhalten?« fragte Sandy. »Nein. Also versuchen wir, einen Schuldspruch zu erreichen. Falls Sie bereit sind zu kämpfen.« »Ich bin bereit.« »Dann setzen Sie sich bitte zu Deb Ralston an die Schreibmaschine, und sie wird einen Haftbefehl aufsetzen. Deb, wo Sie schon mal dabei sind, machen Sie doch gleich noch einen für diesen Dreckskerl Reddich und für seine Frau. Für Miller vorläufig nur einen, bis wir herausgefunden haben, was Doreen weiß und ob sie aussagen wird. Ich glaube kaum, daß wir ihm, hinsichtlich Dusty irgendwas beweisen können, und wir werden wohl auch kaum beweisen können, daß die Mutter etwas wußte. Rafe, möchten Sie die Verhaftung vornehmen, oder soll ich das machen?« »Überlassen wir das Deb«, sagte Rafe. »Ich meine im Fall Miller. Reddich werde ich festnehmen, nach dem müssen wir nämlich eventuell suchen. Aber Sie sollten selbst die Unterschriften für die Haftbefehle besorgen. Ich muß hierbleiben, damit das Gericht mich erreichen kann, und Roger traue ich bei der Geschichte nicht über den Weg, um ehrlich zu sein.« Während Sandy und ich über die Schreibmaschine hinweg konferierten, konnte ich sehen, wie Roger Hales und Wayne Harris leise miteinander sprachen. Ich war keineswegs überrascht angesichts der – gelinde gesagt – äußerst ablehnenden Blicke, die Roger in meine Richtung warf. Aber ich wußte, daß er nichts sagen würde, solange Zivilisten im Raum waren. Er würde erst dann einen Aufstand machen, wenn nur noch Cops übrig waren. 356
Es dauerte eine halbe Stunde, bis die Haftbefehle fertig waren, und eine weitere halbe Stunde, bis ein Richter gefunden war und sie unterschrieben hatte. Miller war schon zweimal aus dem Vernehmungszimmer gekommen und hatte erklärt, er würde jetzt gehen, aber jedesmal hatte der Streifenpolizist, der vor dem Raum Wache stand, ihn davon abhalten können, beim ersten Mal mit dem höflichen Vorschlag, daß Mr. Miller vielleicht seinen Anwalt verständigen sollte, beim zweiten Mal etwas energischer, mit der Erklärung, daß Mr. Miller seinen Anwalt anrufen könnte oder nicht, ganz nach Belieben, daß er aber auf keinen Fall gehen könnte. Beide Male sagte Miller, er brauchte keinen Anwalt. Als Captain Millner mit den Haftbefehlen zurückkam, gingen wir zu dritt in das Vernehmungszimmer. Mit dem Haftbefehl in der Hand sagte ich: »Seth Miller, Sie sind verhaftet. Sie stehen unter Verdacht –« Er hechtete über den Tisch auf mich zu, langte nach meinem Hals und schrie: »Du dreckiges Miststück, ihr Luder seid doch alle gleich – frigide, nervtötende Männerhasser –« Ich war nicht in der Verfassung, mich schnell bewegen zu können, aber ich sah Rafe und Captain Millner, die von beiden Seiten auf ihn zustürzten. Rafe ist klein, aber der Captain ist sogar noch größer als dieser Miller, und trotz der Behauptungen der Verteidigung in dem Rodney-King-Verfahren braucht man nicht unbedingt Gummiknüppel, um einen großen, gewalttätigen und potentiell gefährlichen Menschen zu überwältigen. Ich ließ mich einfach auf den Boden fallen und krabbelte aus der Gefahrenzone nach hinten in eine Ecke, bis die Rangelei vorbei war und Seth Miller Handschellen trug. »Tätlicher Angriff auf eine Polizistin«, sagte Captain Millner mit sehr erfreuter Stimme. »Vor den Augen von zwei anderen Polizisten. Das dürfte Ihnen noch ein, zwei Jährchen mehr bescheren. Deb, alles in Ordnung mit Ihnen?« »Mir geht’s gut«, sagte ich, stand vorsichtig auf und 357
wünschte, ich hätte meine Schmerztabletten nicht zu Hause neben dem Bett liegenlassen. Ich war mit der ganzen Operationsnaht gegen ein Stuhlbein geknallt, und die Folgen machten sich ausgesprochen schmerzhaft bemerkbar. »Das war eine Schockreaktion«, sagte Miller und rückte schon wieder seine Krawatte gerade, die es diesmal auch wirklich nötig hatte. »Jede Jury wird das verstehen.« »Bestimmt«, sagte Rafe und rief den uniformierten Kollegen, der den Festgenommenen abführte. Als wir zurück ins große Büro gingen, saß Sandy Miller neben ihrer Mutter und redete leise auf sie ein, während die Mutter weinte. Sie sah zu mir hoch. »Ich hab ihr gesagt, daß es Doreen gutgeht«, erklärte sie, »aber ich finde nach wie vor, sie sollte nicht nach Hause zurück.« Captain Millner setzte sich. »Sie haben recht«, sagte er, »und da Sie Kontakt zu ihr aufnehmen können, sagen Sie ihr bitte, sie soll genau da bleiben, wo sie ist. Sie soll mich anrufen, dann sorge ich dafür, daß sie zu Pflegeeltern kommt, oder, wenn ihr das lieber ist, sorge ich dafür, daß die Leute, bei denen sie ist, offiziell zu Pflegeeltern erklärt werden, falls das möglich ist. Sie können sie nicht aufnehmen, Miss Miller, und ich hoffe, Sie verstehen das.« »Sie ist nicht bei mir«, sagte Sandy. »Mrs. Miller, Sie sollten wissen, daß Ihr Mann mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gegen Kaution auf freien Fuß gesetzt wird«, sagte er weiter. »Er wird wütend sein, und vermutlich gefährlich. Ich würde Ihnen empfehlen, entweder eine einstweilige Verfügung zu erwirken, daß er sich Ihnen nicht nähern darf, oder irgendwo unterzukommen, wo er sie nicht findet.« »Das kann ich nicht machen«, sagte sie bekümmert. »Ich hab’s ihm versprochen – Sie wissen schon, in guten wie in schlechten Tagen –, und er ist im Grunde ein guter Mensch, Sie verstehen das einfach nicht… Außerdem, wenn ich versuche, 358
vor ihm zu fliehen, und er findet mich, bringt er mich um.« Captain Millner und ich wechselten Blicke. Unsere Definition eines guten Menschen unterschied sich offensichtlich kraß von Ellen Millers. »Dann auf Ihre eigene Verantwortung«, sagte Captain Millner. »Es wäre aber sehr viel besser für Sie, wenn Sie weggehen würden, statt unterwürfig dazusitzen und abzuwarten, bis er Sie umbringt, aber ich kann Sie nicht dazu zwingen. Danke, daß Sie gekommen sind, Miss Miller. Bitte halten Sie mich auf dem laufenden, wo Sie zu erreichen sind.« »Das werde ich. Jetzt bringe ich erst mal meine Mutter nach Hause. Später lasse ich mich von jemandem herbringen, um ihren Wagen zu holen. Sie ist nicht in der Verfassung, Auto zu fahren –« »Was wird mit dem Wagen von deinem Daddy?« fragte Ellen Miller. »Den holen wir auch später irgendwann. Komm jetzt…« Roger Hales kochte innerlich, und kaum hatte sich die Fahrstuhltür hinter den beiden Frauen geschlossen, da brüllte er mich auch schon an, in nahezu denselben Worten, die Seth Miller verwendet hatte. »Ihr Luder haltet doch alle zusammen«, schrie er. »Zwei Väter – zwei anständige Männer, von verführerischen kleinen Huren bis an die Grenze des Erträglichen getrieben – und beide kommen hinter Schloß und Riegel, während alle die kleinen Nutten bedauern. Wo ist denn euer Mitleid für sie! Haben sie keine Rechte mehr? Dieser Seth Miller hat verdammt hart geschuftet, um all das zu erreichen, was er jetzt hat, und was war ihr Dank dafür? Eins sag ich euch, und es ist mir egal, was andere sagen, es ist noch nie vorgekommen, daß eine Frau gefickt worden ist, wenn sie es nicht gewollt hat, es sei denn, sie hat mit aller Kraft versucht, sich zu wehren. Hab ich recht, Wayne?« Wayne Harris hinter ihm sagte: »Aber Roger, ich weiß wirklich nicht, ob –« 359
»Dauernd hört man diesen Schwachsinn von Kindesmißbrauch, ich sage euch, so was gibt’s nicht!« fuhr Roger haßerfüllt fort. »Die kleinen Schlampen wollen es doch nicht anders. Wenn sie es nicht wollten, würden sie nein sagen oder es irgendwem erzählen, oder sie würden sich wehren –« »Hab ich es etwa gewollt?« schrie ich los, und meine Selbstbeherrschung, die mich während des gesamten Gesprächs mit Seth Miller hatte schweigen lassen, brach schließlich in sich zusammen. »Mein Vater hat angefangen, mich zu mißbrauchen, als ich neun Jahre alt war, und das einzige, was ich tun konnte, war weinen. Es jemandem erzählen? Wem sollen sie es denn erzählen? Wenn die Menschen, die dich doch eigentlich behüten sollten, diejenigen sind, die dir weh tun, wem erzählst du es dann, hä, Roger? Wer kommt und rettet dich, wenn du neun Jahre alt bist und dein Daddy steht plötzlich nachts um zehn Uhr neben deinem Bett und weckt dich auf und sagt: ›Lutsch dran‹? Hast du mal ein Foto von mir gesehen, als ich neun war, Roger? Mit Sommersprossen im Gesicht und das Haar zu Zöpfen gebunden, und mein Mund und meine Nase und Augen sehen aus, als wäre ich fünf und nicht schon neun? Aber für meinen Vater war das sexy, weil ich ein Mädchen war, und weil ich ein Mädchen war, hatte ich nicht das Recht, nein zu sagen. Und mich wehren? Was meinst du, wie gut sich eine Neunjährige gegen einen erwachsenen Mann wehren kann? Und wenn sie an dreihundertfünfundsechzig Tagen im Jahr Blutergüsse auf dem Hintern hat, weil seine Vorstellung von Erziehung ein doppelt gelegter Gürtel ist, dann wird sie es gar nicht erst versuchen, wenn sie schlau ist. Ich konnte also nicht nein sagen. Ich hatte nicht das Recht dazu. Und Rhonda auch nicht. Mein Vater hat meine Schwester in die Prostitution getrieben, genau wie Seth Miller Sandy in die Prostitution getrieben hat, nur daß Rhonda nicht so klug war wie Sandy, und Rhonda ist nicht mehr da rausgekommen, und Rhonda ist gestern beerdigt worden! Meine einzige Schwester ist gestern 360
beerdigt worden, und es ist mir egal, was auf ihrem Totenschein steht, mein Vater hat sie ermordet, genau wie Seth Miller Dusty ermordet hat. Mein Vater hat sie ermordet, als er ihren Geist gebrochen hat!« »Schwachsinn!« brüllte Roger. »Hörst du, ich sage, Schwachsinn! Ein bißchen Vögeln hat noch keiner geschadet –« »Hales, räumen Sie Ihren Schreibtisch aus und machen Sie, daß Sie rauskommen«, sagte Captain Millner mit einer sehr leisen, völlig emotionslosen Stimme. »Sie sind vom Dienst suspendiert, bis wir wissen, ob die uniformierte Abteilung irgendwo Verwendung für Sie hat.« »Ich bin froh, hier rauszukommen«, sagte Roger. »Immer nur diese dämlichen, weinerlichen Tussis, die gebumst werden wollen und dann rumheulen, wenn es passiert –« »Du brauchst deinen Schreibtisch nicht mehr auszuräumen«, sagte Rafe jetzt ebenso ruhig. »Wir schicken dir die Sachen hinterher. Und jetzt raus.« »Wer soll mich denn ersetzen? Minniemaus?« »Deb, wie hieß noch gleich der Officer, der an dem Tag, als Dusty gestorben ist, einen ruhigen Kopf bewahrt hat, wie Sie gesagt haben?« fragte mich Captain Millner. »Woodall. Den Vornamen weiß ich nicht mehr. Könnte ich aber nachsehen.« »Meinen Sie, er würde hier arbeiten?« Roger Hales stand mit offenem Mund da, während ich sagte: »Ich glaube schon. Er kam mir sehr einfühlsam und noch dazu vernünftig vor.« »Was halten Sie davon, Rafe?« fragte Captain Millner. »Ich kenne ihn nicht, aber wenn Deb meint, er wäre hier richtig, werden wir es auf alle Fälle mit ihm probieren.« »Und ich bin raus, ja? Einfach so?« schrie Roger. »Wegen so ein paar kleiner Mösen –« »Du bist raus, ja. Einfach so«, sagte Rafe müde. »Und wenn du deinen Hintern nicht sofort Richtung Fahrstuhl bewegst, 361
verklage ich dich höchstpersönlich wegen Hausfriedensbruch.« »Deb, wenn Sie mir erzählt hätten, daß Sie solche Erfahrungen gemacht haben, hätte ich Sie doch niemals in diese Abteilung versetzt«, sagte Captain Millner. Wir waren jetzt in seinem Büro, das er ungefähr alle tausend Jahre mal für irgendwas anderes benutzt, als jemanden zusammenzustauchen. »Wenn Frösche Flügel hätten, würden sie beim Hüpfen nicht immer mit dem Hintern auf den Boden knallen«, entgegnete ich, starrte weiter auf Millners chaotischen Schreibtisch und hörte den dumpfen Zorn in meiner Stimme. »Ich bin kein Frosch. Ich bin Ihr Freund. Hoffe ich.« Ich holte tief Luft. »Wenn Ihnen so etwas widerfahren wäre, hätten Sie dann Lust, es der ganzen Welt zu erzählen?« »Ich bin nicht die ganze Welt. Außerdem haben Sie es doch soeben der ganzen Welt erzählt, zumindest der Welt, in der Sie arbeiten. Meinen Sie, ich hätte noch nie im Leben mit Menschen zu tun gehabt, denen so etwas passiert ist? Meinen Sie, ich wäre mit keinem dieser Menschen befreundet? Wenn ja, liegen Sie falsch. Ich schätze – da Männer und Frauen, die so etwas erlebt haben, entweder Situationen suchen, in denen sie weiter Opfer sein können, oder Situationen, in denen sie sich selbst verteidigen können –, daß mindestens jede dritte Polizistin in diesem oder irgendeinem anderen Department und jeder fünfte oder sechste Polizist wenigstens einmal Opfer eines Sexualdelikts geworden ist. Ich kenne einige, und ich werde Ihnen nicht ihre Namen nennen, weil ich nicht das Recht dazu habe.« »Wenn ich nur verstehen könnte, wieso«, sagte ich, halb zu mir selbst. »Ich denke, einige von diesen Männern hat irgendwann mal irgend jemand davon überzeugt, daß es wirklich in Ordnung ist, hat sie davon überzeugt, daß Inzest niemandem wirklich schadet, hat sie davon überzeugt, daß wirklich nichts dagegen einzuwenden ist, die eigene Lust an 362
den eigenen Kindern zu befriedigen, auch wenn sie weinen, schreien, kotzen. Mein Vater trug den religiösen Glauben wie ein Gewand, um seine Nacktheit zu verhüllen, genau wie Seth Miller seinen finanziellen Erfolg trägt.« Captain Millner nickte. »Wir haben ja erlebt, wie dieser Miller argumentiert. Was Ihren Vater angeht, vielleicht hat er ja zum Teil versucht, das Böse in ihm nicht nur vor den anderen, sondern auch vor sich selbst zu verbergen, und vielleicht – was meinen Sie, hat er versucht, religiös zu sein, weil er hoffte, auf diese Weise die Kraft zu finden, das Böse in sich zu überwinden?« »Nicht mein Vater«, sagte ich. »Er kann nicht versucht haben, es zu überwinden. Er hat es gar nicht erkannt oder sich eingestanden, daß es existierte.« »Soweit Sie wissen«, sagte Captain Millner, sehr sanft. Ich sah ihn an, und ein Bild stieg in mir auf – mein Vater, nur wenige Monate vor seinem Tod, wie er seinen gebückten, schrumpeligen Körper in einen ordentlichen Anzug hüllte und zum Ostergottesdienst in eine andere Kirche ging, weil die Kirche, die er noch immer als die seine betrachtete, ihn nicht hereinlassen wollte. Unvermittelt brach ich in Tränen aus. Captain Millner sagte nichts, schob mir nur eine Packung Kleenex hin, und nach einer Weile stieß ich gepreßt hervor: »Tja, alle haben mich bekniet, ich sollte mich an eine Beratungsstelle wenden. Jetzt komme ich wohl wirklich nicht mehr drum rum.« »Ja, tun Sie das«, sagte Captain Millner ernst. »Weil… Sie kennen sich doch in der Bibel ganz gut aus, nicht?« »Schätze, ja.« Er sah mich eindringlich an. »Also schön«, sagte ich. »Also schön, ja, ich kenne mich in der Heiligen Schrift ganz gut aus.« »Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind davon die Zähne stumpf geworden. Vergessen Sie nicht, 363
Deb, dieser Satz über die Sünden der Väter, die an den Kindern heimgesucht werden, das ist keine Drohung; das ist eine Feststellung von Tatsachen. Die Sünden Ihres Vaters haben – wie Sie selbst vorhin gesagt haben – Ihre Schwester getötet, nach so langer Zeit, und die Sünden Ihres Vaters nagen noch immer an Ihnen. Deb, auf diese Art von Heimsuchung können Sie gut verzichten.« Ich grinste leicht unter Tränen und sagte: »Sie haben recht. Darauf kann ich wirklich gut verzichten. Okay, versprochen. Ich rufe Susan an und frage, wen sie mir empfehlen kann, und ich werde mit meinem Bischof sprechen.« Darauf erwiderte er nichts, aber das war mir klar. Als überzeugtes Mitglied der Church of Christ hatte er keine allzu hohe Meinung von den Mormonen. Aber das würde er mir nicht sagen, zumindest jetzt nicht, obwohl er mich weiter etwa einmal pro Woche einladen würde, mit in seine Kirche zu kommen, wie er das schon seit sieben Jahren tat. »Deb – es tut mir leid«, fuhr er fort. »Ich hätte wissen müssen, daß Sie sich nicht ohne guten Grund so gegen diese Versetzung gewehrt haben. Ich stecke Sie also wieder zurück ins Sonderdezernat und, mal sehen, ich könnte Margie von der Jugendabteilung raufholen –« »Nein«, sagte ich. »Wie bitte?« »Nein, ich bleibe, bis Chandra zurückkommt«, sagte ich. »Es ist… Ich wollte nicht in dieser Abteilung bleiben, wenn ich nichts Gutes bewirken kann. Und ich hab das Gefühl – vielleicht – kann ich ja doch etwas Gutes bewirken.« »Das können Sie. Aber Deb –« »Ja?« »Sie müssen das nicht im Alleingang machen. Wir haben hier ein ganzes Department zur Verfügung. Sie brauchen das hier nicht. Ich versetze Sie zurück ins Sonderdezernat. Wir wollten Margie sowieso raufholen, warum also nicht jetzt?« 364
Epilog Ich überlegte gerade, wen ich bitten sollte, mich nach Hause zu fahren, als Harry anrief. »Ich war bei Bell«, sagte er mit unverhohlener Freude in der Stimme, »und ich wollte nur mal fragen, ob du schon fertig bist und ich dich abholen kann.« Ich bejahte und sagte, ich würde unten in der Eingangshalle auf ihn warten. Bell hat, wenn er es so abkürzt, nichts mit Telefonen zu tun. Es ist die Hubschrauber-Firma, für die er seit seiner Zeit bei den Marines gearbeitet hat und von der er zur Zeit krank geschrieben ist. Oder krank geschrieben war. Denn als er mich abholte, trug er seinen besten Anzug, grinste von einem Ohr zum anderen, und irgendwie war ich nicht überrascht, als er mir eröffnete, daß er am Montag morgen wieder arbeiten gehen würde. »Hast du deinen Job zurück?« fragte ich ziemlich dümmlich. »Nee«, antwortete er und wartete ein paar Sekunden, was ich als nächstes fragen würde. Als ich gar nichts fragte, sagte er: »Ich hab eine Beförderung bekommen. Eine Beförderung, die zehntausend Dollar im Jahr mehr einbringt.« »Wow«, sagte ich, und wir fuhren in behaglichem Schweigen nach Hause. Wir konnten Hals Band hören – die gesamte Band diesmal, nicht bloß Lori und Hal und einen Kassettenrecorder –, noch bevor der Wagen hielt. Der Van von meinem Schwiegersohn Olead parkte vor dem Haus, und ich folgerte ohne große Mühe, daß er angeheuert worden war, die gesamte Bagage dahin zu fahren, wo Hal seinen Auftritt hatte. Ein fremder roter Miata stand daneben, und ich vermutete, daß er einem der anderen Bandmitglieder gehören mußte. Als wir aufs Haus zugingen, hörten wir eine unbekannte 365
Stimme in der Garage röhren: »I Am Woman«. Und dann erkannte ich voller Freude, daß das gar keine unbekannte Stimme war – es war Lori. Unsere alte Lori war wieder da, nicht diese zitternde, ängstliche Gestalt, die monatelang durchs Haus geschlichen war, sondern die alte Lori, die fast nie irgendwohin ganz normal zu Fuß ging, weil es viel mehr Spaß machte zu rennen, die vor fast drei Jahren in New Mexico einen Mörder in die Rippen getreten hatte. Als wir eintraten, stellten wir fest, daß sie Publikum hatten. Sandy Miller sagte gerade: »Siehst du, ich hab doch gewußt, daß du es kannst, alles eine Frage der richtigen Atmung.« Meine Tochter Becky saß mit Olead auf einer improvisierten Bank und hielt ihr bislang jüngstes Kind im Arm, während die beiden anderen auf dem Boden saßen und mit großen Augen die Drums anstarrten. Und neben ihr saß Doreen Miller. Die Stimme neulich am Telefon, die mir vage bekannt vorgekommen war… Ich hätte es mir denken können. Aber bei den beiden gehen so viele Teenager ein und aus, daß ich nicht ein einziges Mal an Doreen gedacht hatte. Sie alle erblickten mich praktisch gleichzeitig, und Becky stand auf und sagte: »Ich hatte sie die ganze Zeit bei mir, Mom. Es ist mir schwergefallen, es dir nicht zu sagen, aber ich hatte Angst, wegen deiner Arbeit, du hättest sie zurückschicken müssen, und das konnte ich nicht –« »Natürlich konntest du das nicht«, stimmte ich zu und drehte mich zu Lori um. »Das war doch bestimmt noch nicht alles! Laß mal mehr hören.« Und wir hörten noch mehr, weil sie den ganzen Auftritt komplett durchprobten, von Anfang bis Ende, und dann fingen sie hastig an, Drums und Keyboard und Notenständer in Oleads Van zu verstauen. Ich beobachtete Hal, der mit einer Checkliste und grenzenloser Energie herumhantierte und dafür sorgte, daß alles an die richtige Stelle kam, und ich fragte mich, wo mein 366
zerstreuter Sohn geblieben war. Er war verschwunden, irgendwann zwischen Loris Unfall und ihrer Genesung, und bis auf einige wenige Rückfälle kam er nicht mehr wieder. Auf einmal konnte ich mir – ziemlich unvermittelt, vor meinem inneren Auge – Hal tatsächlich vorstellen, wie er in einem dunklen Anzug, mit ordentlich gekämmten Haaren und diesem kleinen Namensschildchen aus Plastik, auf dem »Elder Ralston« stehen wird, was soviel wie »Missionar« bedeutet, zwei Jahre weit weg von Lori verbrachte, weit weg von Harry und mir, weit weg von seinen Schwestern und seinem Bruder, seinen Nichten und Neffen, weil er das für seine Pflicht Gott gegenüber hielt. Als Erwachsener würde er ganz anders sein als mein Vater; er würde sehr viel weniger sagen, und unermeßlich viel mehr Gutes tun. Liebe, das war das Entscheidende, dachte ich, während ich da auf der schmalen Truhe saß, die eine meiner Töchter vor Jahren mit Abziehbildchen von Tieren und Vögeln und Blumen beklebt hatte, gemütlich den Rücken gegen Harry gelehnt, und über meinen älteren Sohn nachdachte. Hal, halb Koreaner, halb Gott weiß was (aber groß, sehr groß), war unmittelbar nach der Geburt von seiner Mutter verlassen worden, und er hätte so aufwachsen können wie diese herzzerreißenden Kinder in Rumänien, die wir alle im Fernsehen gesehen haben, wie sie in einem mit Kot besudelten Kinderbett hin und her schaukeln. Er hatte lieben gelernt, weil wir ihn schon liebten, bevor wir ihn überhaupt zum ersten Mal sahen, und ihn immer weiter geliebt haben, trotz all seiner Dummheiten und Streiche… und die Bischöfe liebten ihn, und die Leiter seiner Jugendgruppe und seiner Pfadfindergruppe und seine Lehrer vom Seminar liebten ihn… und dieser Lastwagenfahrer hatte Rhonda geliebt, auch wenn sie zu tief verletzt gewesen war, um seine Liebe annehmen zu können… und die Washingtons liebten Diane Reddich genug, um ihr ganzes Leben für sie umzukrempeln… Gott ist die Liebe… wir lieben Ihn, weil Er uns zuerst geliebt 367
hat… Liebet einander. »Schatz, schläfst du?« fragte Harry sanft. »Nee«, sagte ich, blinzelte und merkte, daß wir allein in der Garage waren. »Oder vielleicht doch ein bißchen.« »Kann ich dich zum Essen ausführen?« fragte Harry. »Mhmm… laß mich drüber nachdenken… Harry?« »Ja?« »Du weißt doch, daß mir immer mal wieder Sachen einfallen, die wir in der Schule auswendig lernen mußten und die ich damals nicht verstanden habe, aber jetzt verstehe?« »Ich weiß.« Er klang kläglich. Ich konnte verstehen, wieso. Längere Zitate aufzusagen ist eine meiner kleinen Schwächen. »Also, es gibt da was, das fängt so an: ›Die Art der Gnade weiß von keinem Zwang: Sie träufelt wie des Himmels milder Regen‹ oder so ähnlich, und die Lehrerin hat uns erklärt, daß dieses ›weiß von keinem Zwang‹ heißen soll, daß man sie nicht bezwingen kann. Aber ich hab darüber nachgedacht, und das stimmt nicht ganz.« »Wie meinst du das?« fragte Harry geduldig. »Mag ja sein, daß die Gnade herabträufelt, wie des Himmels milder Regen«, sagte ich, »aber immer wieder tun Menschen ihr Möglichstes, sie zu bezwingen. Zum Beispiel dieser Kerl heute…« setzte ich an, doch dann brach ich ab. »Ach egal, es ist zu häßlich, um darüber nachzudenken. Jedenfalls, wenn man die Menschen mal außer acht läßt, dann ist da immer dieses kleine bißchen Gnade irgendwo versteckt… Alle waren so lieb zu uns, die Frauenhilfsvereinigung, die uns das Abendessen bringt. Weißt du, was ihr Motto ist?« »Nee.« »›Die Liebe höret nimmer auf.‹ Wenn Menschen anderen helfen, ist das auch eine Form von Liebe.« »Mhm«, sagte Harry, und es klang, als wäre jetzt er es, der allmählich einschlief. »Und wir haben Lori nicht nur, weil wir nett sein wollten, 368
bei uns aufgenommen. Wir lieben Lori.« »Stimmt.« Er klang etwas wacher. »Ich wünschte, ich wäre so nett wie dieser Lastwagenfahrer, der Rhonda beerdigt hat. Oder so nett wie die Washingtons.« »Häh?« Harry setzte sich kerzengerade auf, so daß ich mich nicht mehr bei ihm anlehnen konnte. »Meine Liebe, du bist so nett – und so liebevoll, das meinst du wohl eigentlich damit – wie dieser Lastwagenfahrer und die Washingtons. Vielleicht ein bißchen dickköpfig und impulsiv, aber –« »Na so was, danke. Also schön, stimmt. Und du bist auch dickköpfig und ein viel zu großer Geheimniskrämer – aber ich liebe dich trotzdem.« Seine Antwort war recht zufriedenstellend. Zwei Stunden später rief die Zentrale an. »Können Sie herkommen? Dieser Campus-Vergewaltiger hat wieder zugeschlagen.« »Ich bin krankgeschrieben«, sagte ich, »und überhaupt, ich bin nicht mehr in der Abteilung für Sexualdelikte. Sie müssen sich jemand anderes suchen.« Ich hörte leises Papierrascheln. »Oh ja, stimmt. Manuel Rodriguez ist als nächster dran. Ich hab Sie hier als krank gemeldet stehen. Chandra hat ihr Baby bekommen; ist übrigens ein Junge… mal sehen, Roger Hales ist ausgetragen… Calvin Woodall neu eingetragen mit Fragezeichen… Was um alles in der Welt macht ihr denn da oben im Vergewaltigungsdezernat?« »Das heißt Abteilung für Sexualdelikte«, sagte ich, »und da, äh, wird gerade einiges umstrukturiert. Aber mich können Sie streichen. Ihr habt schließlich ein ganzes Department zur Verfügung.« Harry sagte nichts, nachdem ich aufgelegt hatte – wahrscheinlich traute er sich nicht, weil er Angst hatte, ich würde es mir sofort anders überlegen –, aber er blickte sehr 369
zustimmend drein. »Bist du sicher, daß du nicht essen gehen möchtest?« »Dann müßten wir uns wieder anziehen, und die Energie hab ich nicht mehr. Vielleicht könnten wir uns eine Pizza kommen lassen – oder wie heißt noch mal dieser Chinese, der auch ins Haus liefert? Nein, hab ich ganz vergessen, ist ja nicht nötig. Jemand von der Hilfsvereinigung bringt uns das Abendessen. Du solltest dir was anziehen, damit du an die Tür gehen kannst.« Später träumte ich von Kindern, die schwammen, Mädchen und Jungen gemeinsam, und das Mädchen, das in meinem Traum von ihrer Mutter gewürgt worden war, schwamm auch, und Lori schwamm und Diane Reddich und die Washingtons und Sandy und Dusty und Doreen Miller und der Lastwagenfahrer, den ich nie gesehen hatte, der aber ein freundliches, zerfurchtes Gesicht hatte, und meine Schwester Rhonda und Oprah Winfrey und Captain Millner und Rafe und natürlich Harry und ich, wir schwammen auch, in einer hellen, glitzernden, leuchtenden, warmen Bucht, und später, viel später, kamen mein Vater und Seth Miller und Emil Reddich und dann immer mehr und mehr und mehr Menschen, bis alle, die ich kannte, und alle, die ich nicht kannte, da waren, und keiner war zornig oder bedrohlich, keiner verlangte von einem anderen irgend etwas Schlimmes. Nur das Wasser und der Sonnenschein, und all die sauberen, glücklichen, schwimmenden Kinder.
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Anmerkung der Autorin Wie immerhin jede vierte Amerikanerin und ungefähr jeder siebte Amerikaner wurde ich als Kind – gemeinsam mit einigen meiner Geschwister – sexuell und auf andere Weise mißbraucht. Zu dem Zeitpunkt, als ich emotional fähig war, über das Problem zu reden, waren meine Eltern beide tot, so daß die von Psychiatern empfohlenen Konfrontationstechniken für mich nicht anwendbar waren. Aber ich möchte hier betonen, daß mir meine Brüder, meine Vettern und Cousinen ebenso wie mein Mann und meine Kinder bereitwillig jede emotionale Unterstützung gegeben haben, und mein Bischof hat für mich eine Selbsthilfegruppe gefunden, die mir großartig geholfen hat. Ich kenne jedoch andere Frauen, denen weiter Leid zugefügt wird, weil ihre Peiniger ihnen Jahre später ins Gesicht sehen und abstreiten, daß je etwas passiert ist, weil ihre Familien geschlossen abstreiten, daß etwas passiert ist, und diese Frauen beschuldigen, nur Ärger machen zu wollen. Ich empfehle allen meinen Leserinnen und Lesern, die sich irgendwo auf diesen Seiten wiederentdecken, dringend, sich Hilfe zu suchen. Ob Sie sich einen Psychiater oder eine Psychologin leisten können oder nicht, es gibt viele Möglichkeiten, Beistand zu bekommen. Ich hätte dieses Buch unmöglich schreiben können, hätte ich nicht die emotionale Unterstützung sowohl meiner Familie als auch die meiner vielen Schwestern überall hier in der Gegend gehabt, mit denen ich mich jeden Dienstagabend treffe. Sollte ein Kind, das derzeit mißbraucht wird, dieses Buch lesen: Ich rate dir dringend, sprich mit deiner Klassenlehrerin oder dem Vertrauenslehrer oder der Polizei, und laß dir sofort helfen. Ganz gleich, was man dir gesagt haben mag, das, was mit dir passiert, hast du NICHT verdient, und niemand – ganz gleich, was er sagt – hat das Recht, solche Dinge zu tun. 371
Nachwort Die Detektivromane, die die ehemalige Polizeibeamtin Anne Wingate unter dem Pseudonym Lee Martin über die Jahre hinweg in schöner Regelmäßigkeit erscheinen läßt, zeichnen sich durch drei Dinge aus, die in dieser Kombination nahezu einzigartig sind. Als Mutter einer Generationen umfassenden, meist herbeiadoptierten Großfamilie, zu der sich kürzlich überraschenderweise noch ein eigenes Baby gesellte, das jünger ist als seine Onkel, und als Ehefrau eines ehemaligen Testpiloten, der nach einem Unfall seit längerem bei geringem Überbrückungsgeld umgeschult wird, und mit diversen Haustieren hat ihre Heldin Deb Ralston ein ebenso farbiges wie glaubwürdiges Privatleben. Ihre Tätigkeit als Detektivin in der Abteilung für Schwerkriminalität der Polizei von Fort Worth, Texas, und die in langen Berufsjahren gewonnene Sachkenntnis der Autorin läßt ihren Romanen immer wieder Elemente des Police Procedural zuwachsen, der Sonderform des Genres, in der ein Schwerpunkt auf technisch perfekte modernste Kriminalistik gelegt wird. Daneben kommt es aber genau so sehr auf Debs Hartnäckigkeit und ihren sprichwörtlichen Riecher an. Ihre Fälle wiederum haben die Härte und Brutalität aktueller Großstadtkriminalität, unterliegen in ihrer literarischen Aufbereitung aber dem Fairneßgebot des klassischen Detektivromans, d. h. dem Leser präsentiert Lee Martin elaborierte Rätsel, die er mit Scharfsinn und extrem präziser Lektüre lösen könnte. Diese stete, nachhaltige Pflege ihrer speziellen Unterform des Genres hat Lee Martin über fast zwei Jahrzehnte hinweg Erfolg und Ruhm beschert, deren Anwachsen meßbar dokumentiert werden kann: In den USA erscheinen ihre Bücher zunächst gebunden bei der renommierten St. Martin’s Press, danach als Taschenbücher in 372
der Worldwide Library. DuMonts Kriminal-Bibliothek gebührt das Verdienst, sie für das Ausland entdeckt und ins Deutsche übersetzt zu haben. Inzwischen erscheinen ihre Bücher aber auch in einem britischen Verlag sowie übersetzt in Ungarn, Italien und Frankreich – dort immerhin bei Gallimard, eine beachtliche Erfolgsbilanz, wenn man bedenkt, wie viele der zahllosen Serien auf dem riesigen englischsprachigen Markt niemals dessen Sprachgrenzen überschreiten. Der neunte Band zeichnet sich durch sein besonderes Thema aus, das, trotz der Häufigkeit und Vielfalt des Verbrechensspektrums, bis vor einigen Jahren Tabu war – die sexuelle Belästigung bis hin zum Missbrauch und zur Vergewaltigung. Versteht man darunter zu Recht jeden Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung eines Menschen und nicht nur die vollendete Notzucht, erscheint die im Roman genannte Zahl, jeder vierten Amerikanerin passiere dies irgendwann, keineswegs übertrieben und nicht nur für die USA gültig. Bei dem großen Ernst und dem Engagement, mit dem Lee Martin das Thema bereits 1993 aufgegriffen hat, erledigt sich auch der Verdacht von selbst, hier werde lediglich ein Modethema behandelt und die Autorin schlösse sich lediglich einer populären Kampagne an – was im Roman selbst Debs Bruder seiner Schwester vorwirft. Lee Martin schreibt vielmehr aus eigener Betroffenheit, die sie an ihre Seriendetektivin weitergibt. Entsprechend positiv war die Resonanz in den USA. Im renommierten Boston Sunday Globe hieß es: »Das Buch packt den Leser am Kragen und sagt ihm: Hör zu, das ist das wirkliche Leben, und das ist so unerfreulich, daß du dir das nicht mal vorstellen kannst, deshalb tue ich das für dich… Randvoll und zwingend wie das Leben selbst läuft die Handlung ab, und die Art und Weise, wie die Leute sich weigern, der Wahrheit über den Mißbrauch ins Auge zu sehen, wird deutlicher herausgestellt als ich das jemals in Reportagen gelesen habe… Wir wissen, daß die Autorin das, worüber sie 373
schreibt, kennt, und zwar bis in die schmutzigsten Tiefen.« »Publishers Weekly« schrieb: »Diese starke und leidenschaftliche Geschichte erfaßt adäquat die ganzen Schrecken des sexuellen Mißbrauchs von Kindern… In zwingender und machtvoller Sprache verknüpft Martin kunstvoll die Erzählstränge – Debs eigene Aufarbeitung ihrer einschlägigen Vergangenheit und die Suche nach einem Serienvergewaltiger und nach dem Motiv für Dustys Selbstmord.« An den Fall der Dusty Miller, der für die eigentliche Polizei bald kein Fall mehr ist, kommt Deb Ralston durch Zufall: Eine Sechzehnjährige hat sich in ihrem Zimmer im vierzehnten Stock eines Hochhauses eingeschlossen und droht, aus dem Fenster zu springen. Deb wird über Notruf als die nächste Beamtin herbeigerufen, um mit ihr zu reden, aber noch ehe sie zu der Todeskandidatin ins Zimmer dringen kann, ist Dusty auch schon gesprungen. Was sich im klassischen Detektivroman vielleicht zum Geheimnis des verschlossenen Raumes entwickeln würde, ist hier natürlich keins: Mehrere Polizisten können bezeugen, daß niemand in dem Raum gewesen ist, der Dusty geistig manipulieren oder schlicht physisch hätte stoßen können, und so wird der Vorgang nicht zum Fall, obwohl die Obduktion ergibt, daß Dusty zwar virgo intacta war, aber Spuren eines lang andauernden sexuellen Mißbrauchs aufwies. Wenn eine Konfliktschwangerschaft als Motiv auszuschließen ist und sexueller Mißbrauch sozusagen zu Dustys Alltag gehört – was hat dann so plötzlich den Entschluß zum Selbstmord und seine konsequente Verwirklichung ausgelöst? Deb Ralston muß dieser sie beunruhigenden Frage illegal nachgehen, denn sie wird gleichzeitig mit dem Vorfall zur Abteilung für Sexualdelikte abgeordnet, weil die einzige Frau dort in Schwangerschaftsurlaub geht. Eine Frau ist aber das mindeste in der Abteilung, nicht nur, weil potentielle Opfer 374
Recht auf Aussage vor einer Frau haben, sondern weil einigen der dort tätigen Männer immer noch das Verständnis für die Problematik dieses Bereichs abgeht – sie vertreten immer noch die Macho-Ansicht, man könne halt keinen Ast in eine Colaflasche stecken, wenn diese wackele. Mithin seien Frauen fast immer willig dabei, bekämen hinterher Bedenken und wollten sich rächen. Diese werten Kollegen nehmen auch beim auffälligen Verhalten eines kleinen Mädchens gegenüber ihm begegnenden Männern eher an, es handele sich eben um einen besonders jungen, tief verdorbenen Vamp, als daß sie an einen Verderber in Gestalt eines das Kind abrichtenden Vaters glauben. Die Familien potentieller kindlicher Opfer sind keineswegs einsichtiger. Die Mütter, die den offenkundigen Mißbrauch abstreiten, wissen deshalb nichts davon, weil sie nichts wissen wollen – das hat Debrah als Kind selber schmerzlich erfahren, weshalb sie gerade die kleine oder junge Mädchen betreffenden Fälle ihrer neuen Abteilung fast persönlich nimmt. Dem Polizeiroman entsprechend hat Deb es bald mit einer Reihe von Fällen zu tun, die ihre Zeit offiziell oder inoffiziell beanspruchen. Während bei einem Privatdetektiv die Fälle sich offensichtlich anstellen und der neue erst kommt, wenn der alte abgeschlossen ist, überkreuzen sie sich bei der Polizei, egal ob real oder fiktional. Zu Diane Reddich, dem verhaltensgestörten – respektive tief verdorbenen – kleinen Mädchen, das allen Männern an die Hose geht, kommt eine Vergewaltigungsserie, bei der der Täter seinen Opfern mit Sekundenkleber Augen, Mund und Vagina verklebt, und der Fall eines freundlichen alten Mannes, den Nachbarn voller Hysterie als »schmutzigen alten Mann«, also als Lustgreis, denunzieren. Obendrein leidet Deb Ralston an den Folgen einer Fußoperation, was sie unbeweglich macht. Zudem beunruhigt sie der Fall Dusty, der für die Kollegen keiner ist, obwohl deren kleine Schwester inzwischen verschwunden ist, tief – was ist in 375
der Familie vor sich gegangen? Die Zeit zum Nachdenken über und zum Nachforschen in dieser Sache muß sie sich förmlich stehlen. Dabei wird ihr rasch klar, daß die polizeilichen Recherchen für sie selbst zur Analyse ihrer Kindheit werden. Ihre Schwester ist am Mißbrauch durch den Vater und am mangelnden Rückhalt bei der Mutter zerbrochen und im Leben gescheitert – ist sie selbst vielleicht nur Polizistin geworden, um dem Monster Mann, das sie neuerdings wieder bis in ihre Träume verfolgt, nicht hilflos ausgeliefert zu sein, vielmehr selbst eine Pistole zu besitzen? So hat sie letztlich mit vier Bällen zu jonglieren – der offensichtlich vom Vater mißbrauchten Diane Reddich, den undurchschaubaren Verhältnissen bei den Millers, die Dusty in den Selbstmord und die kleine Schwester Doreen offenbar in die Flucht getrieben haben, dem denunzierten Mr. Washington und dem überaus brutalen Serienvergewaltiger mit dem Sekundenkleber. Hilft ihr die eigene Betroffenheit dabei oder macht sie sie parteiisch? Der Detektivroman hat es von jeher schon mit den Sünden der Väter zu tun gehabt, die an den Kindern heimgesucht werden, dieser Motivkomplex gehört zu seinem Erbe aus dem europäischen Schauerroman. Waren es früher eher unterdrückte Kinder – man denke etwa an Mignon in Goethes »Wilhelm Meisters Lehrjahre« –, verleugnete uneheliche oder gar vertauschte, mit deren Hilfe die biblische Wahrheit demonstriert wurde, so ist es in diesem modernen Geheimnisroman der bislang tabuisierte Kindesmißbrauch, der es evident macht, daß das alttestamentliche Wort nicht die unverständliche Drohung eines rachsüchtigen Gottes ist, sondern eine alltägliche Erfahrung, genauso wie das im Buch zitierte hebräische Sprichwort: »Die Väter haben saure Trauben gegessen, und den Kindern sind die Zähne stumpf geworden.« Debrah lernt auch mühsam verstehen, was Mütter wie ihre oder Mrs. Miller oder Mrs. Rettich die Augen schließen läßt 376
und sie letztlich in die Solidarität mit dem Täter statt mit dem Opfer treibt: Es ist zum einen der Respekt vor dem Eheversprechen vor Gott, das in guten und in schlechten Tagen gelten sollte, und zum anderen ein mißverstandenes viertes Gebot: »Du sollst Vater und Mutter ehren.« Gegenüber dieser pseudoreligiösen Bemäntelung der zum Himmel schreienden Sünde wie des schweren Verbrechens hilft nur ein anderer Bibelspruch, der von jeher schon die Essenz des Detektivromans als Geheimnisroman ausmachte und mit dem ein Kirchenältester Debs Mutter auf den rechten Weg zurückbringt: »Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen« (Joh. 8, 32). Diese Wahrheit ans Licht zu bringen ist Aufgabe aller Detektive und somit auch der Polizeidetektivin Deb Ralston. Was die Gerechtigkeit richten – im Doppelsinne – wird, ist zweifelhaft, aber die Wahrheit macht frei, Opfer, Mitwisser und vielleicht sogar die Täter, sofern sie ihnen zur Einsicht verhilft. Volker Neuhaus
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