Atlan - König von Atlantis Nr. 474 Das Ende der Neffen
Widerschein der Freiheit von Detlev G. Winter
Das Geh...
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Atlan - König von Atlantis Nr. 474 Das Ende der Neffen
Widerschein der Freiheit von Detlev G. Winter
Das Geheimnis der Großen Plejade
Während Atlan und Razamon auf Dorkh ums Überleben kämpfen und um die Chance, den todgeweihten Dimensionsfahrstuhl mit einem raumtüchtigen Fahrzeug zu verlassen, ereignen sich in der Schwarzen Galaxis auch andernorts schwerwiegende Dinge. Da ist vor allem Duuhl Larx, der verrückte Neffe, der für gebührende Aufregung sorgt. Mit Koratzo und Copasallior, den beiden Magiern von Oth, die er in seine Gewalt bekommen hat, rast er mit dem Organschiff HERGIEN durch die Schwarze Galaxis, immer auf der Suche nach weiteren »Kollegen«, die er ihrer Lebensenergie berauben kann. Der HERGIEN folgt die GOLʹDHOR, das magische Raumschiff, mit Koy, Kolphyr und vier Magiern an Bord. Die Pthorer sind Duuhl Larx auf der Spur, um ihm seine beiden Gefangenen abzujagen, und nähern sich dabei immer mehr dem Zentrum der Schwarzen Galaxis. Und da ist schließlich die ZIEMEN, das Schiff eines Koordinators der Ewigkeit, das ebenfalls dem Zentrumsgebiet der Schwarzen Galaxis zustrebt. Der bunt zusammengewürfelten Schar von Passagieren dieses Schiffes war ein grausames Schicksal zugedacht gewesen, doch nun, da Tolfex nicht mehr ist und da die große Plejade ihren Einfluß ausübt, ist alles anders. Die große Plejade verbreitet den WIDERSCHEIN DER FREIHEIT …
Die Hauptpersonen des Romans: Yeers und Olken ‐ Zwei Körperlose in der Lebensblase. Zwertelis, Usmaender und Faderkyhl ‐ Drei Wesen aus dem Marantroner‐Revier. Der laute Quahrt ‐ Schöpfer der großen Plejade.
PROLOG Wie ein Blitz voll strahlender Symbolik brach es durch die Mauern des Gefängnisses, pflanzte sich fort in diesem dunklen, unwirklichen Raum, bahnte sich einen Weg zwischen Fetzen planloser Gedankenreste, pflügte durch die Überbleibsel zerrissener Bewußtseine – und streifte die, die so sehnsüchtig darauf gewartet hatten. »Das Zeichen …!« Nicht mehr als ein schwacher Impuls positiver Kräfte, unbedeutender Widerschein einer Handvoll Freiheit irgendwo in den Weiten einer unterdrückten Galaxis. Für Yeers und Olken bedeutete es mehr. Nachdem ihr großartiger Plan längst zum Scheitern verurteilt schien, weckte das Signal neue Hoffnung. Wieviel Zeit verstrichen ist, seit sie das Projekt in Angriff genommen haben, wissen sie nicht. Sie definieren ihren Aufenthaltsort als zeitlos. Es mag Tage, Jahre oder Jahrzehnte her sein, daß sie das Signal das erste Mal empfingen und damit die Gewißheit erlangten, daß das Objekt produziert worden war und sich in den Händen positiv eingestellter Lebewesen befand. Bald jedoch versiegte der Impulsstrom wieder, und lange herrschte Unklarheit, ob der marmorne Stein jemals in ihren Besitz gelangen würde. Jetzt ist es anders. Das Warten ist vorbei. Abermals wurde das Objekt von einem Intelligenzwesen aufgelesen, das den Keim des Guten in sich trug. Der Zufall – Olken nannte es die Macht des Schicksals – tat ein Übriges, um die Erfüllung des Planes ein Stück weiter voranzutreiben. Tolfex, ein Koordinator der Ewigkeit, war im Marantroner‐Revier unterwegs, um von jedem Volk, das dort lebte, ein Exemplar einzusammeln. Er nahm Zwertelis, die sich selbst die Denkende
nannte und das wertvolle Objekt mit sich führte, an Bord seines Sternenschiffs. Es war der Anfang vom Ende. Dem Widerschein der Freiheit hatte Tolfex nichts entgegenzusetzen. Er starb unter der reinigenden Wirkung des Marmorsteins und entließ die Passagiere der ZIEMEN aus seinem Einfluß. Damit war ein weiterer Schritt vollzogen. Es gelang, eine mentale Verbindung zu Zwertelis und ihren Freunden herzustellen, die bis heute bestehen blieb, wenn sie auch sehr schwach ist. Aber es ist die Chance, den Plan doch noch zu verwirklichen. Alle, die auf dem Sternenschiff versammelt sind, haben Bereitschaft gezeigt, dem Projekt zum Erfolg zu verhelfen. Yeers bleibt dennoch skeptisch. »Du meinst, sie seien in der Lage, das Ziel zu erreichen?« »Ich hoffe es«, sagt Olken. »Sie verfügen über ein funktionstüchtiges Raumschiff und bleiben von der Ausstrahlung der Schwarzen Galaxis unbeeinflußt. Nur sie können dem Objekt zu seiner Bestimmung verhelfen.« »Aber sie kennen das Ziel nicht …« »Das Ziel ist die Ringwelt. Wir müssen dafür sorgen, daß sie erfahren, auf welchem Weg man dorthin gelangt.« Yeers und Olken konzentrieren sich. Sie spüren jenes geheimnisvolle Band, das den dunklen Raum und die Marmorkugel über Lichtjahre hinweg auf geistiger Ebene miteinander verschmelzen läßt. Aber es ist schwach, viel zu schwach – fast so, als wollte es jeden Moment zerreißen. »Kein Kontakt!« schreit Yeers enttäuscht. »Es kommt kein Kontakt zustande!« »Beruhige dich«, ermahnt ihn Olken. »Du weißt, wie schwierig es ist, einen Gedankenaustausch herbeizuführen. Wir müssen Geduld bewahren.« Etwas von seiner Gelassenheit springt auf Yeers über. Er schweigt und versucht sich zu sammeln. Gemeinsam verstärken sie ihre Anstrengungen. Es ist ein seltsamer und im Grunde unbegreiflicher Vorgang. Über eine Entfernung, deren Weite einem planetengebundenen Lebewesen bestenfalls abstrakt vorstellbar ist, können Yeers und Olken verfolgen, welche Geschehnisse sich an Bord der ZIEMEN abspielen. Es sind keine Bilder oder gesprochene Worte, die durch die Schranke der Dimensionen zu ihnen
dringen. Es sind Eindrücke, Gedanken, Gefühle; es ist unbewußtes Erleben, verschwommenes Erfassen und instinktives Deuten. Der Schlüssel dazu ist die Marmorkugel, deren Ausstrahlung eine Brücke schlägt zwischen verschiedenen Räumen und gegensätzlichen Daseinsebenen. Aber die Kraft der großen Plejade wird immer geringer. Ihre ganze geistige Substanz müssen Yeers und Olken aufbieten, um sich verständlich zu machen und einen sinnfälligen Kontakt herzustellen. Daß auf der Gegenseite ein telepathisch veranlagtes Wesen seinerseits bemüht ist, sich mitzuteilen, hilft ihnen ein wenig. Sie wachsen über sich selbst hinaus, verstärken erbittert ihre Konzentration. Dann, endlich, ist es soweit. Bewußtseine und Gedanken begegnen sich. Informationen werden ausgetauscht, Daten übermittelt. Aber die Verbindung währt nicht lange. Das Band beginnt sich zu dehnen. Yeers und Olken können nichts dagegen tun. Sie spüren, wie sich der fremde Geist aus ihnen löst. »Zu spät!« klagt Yeers. Enttäuscht zieht er sich zurück, kapselt sich ab. »Nichts haben wir erreicht! Alle unsere Träume können wir begraben.« Olken ist erschüttert und zugleich wütend über die Mutlosigkeit des anderen. »Was redest du!« fährt er ihn an. »Der Plan ist weiter gediehen, als wir vor kurzem noch erwarten durften. Und die Informationen, die wir eben übermitteln konnten, treiben ihn abermals ein Stück voran.« »Es war zwecklos«, beharrt Yeers auf seinem Standpunkt. »Um das Objekt sicher an sein Ziel zu dirigieren, sind weitere Kontakte notwendig. Die positive Kraft, die der Marmorkugel noch innewohnt, ist dazu viel zu schwach.« »Das wundert mich nicht. Der Kontakt mit Tolfex und dem Todesboten hat viel Energie gekostet, und es kann lange dauern, bis sich das Objekt regeneriert hat. Das Signal ist jedoch nicht erloschen!« »Das besagt nichts.« »Natürlich nicht. Aber es sollte uns Auftrieb geben. Unsere Freunde an Bord der ZIEMEN sind auf dem Weg zur Ringwelt – das alleine zählt.«
* Das lange Warten beginnt in der Zeitlosigkeit des dunklen Raumes. Allmählich schwindet auch Olkens grenzenlose Zuversicht. In dem Maß, in dem er erkennen muß, daß die positiven Kräfte auf dem Sternenschiff zu gering sind, um das Objekt ausreichend aufzuladen, sinkt die Erwartung, den notwendigen nächsten Kontakt herstellen zu können. Mehrmals versuchen Yeers und er es, aber immer wieder scheitern sie. Die Euphorie, die sie beherrschte, als sie das Zeichen empfingen, schlägt immer mehr in Lethargie und Resignation um. Minimal ist die Kraft der großen Plejade, gerade noch groß genug, das dünne Band nicht völlig reißen zu lassen. Von ihrem anfänglichen Einfluß auf die Lebewesen an Bord des Sternenschiffs hat sie bereits einen gewaltigen Teil eingebüßt. Die Bereitschaft unter den Raumfahrern, den Plan weiter zu verfolgen, schwindet mit jedem zurückgelegten Lichtjahr weiter. Irgendwann bricht Yeers das Schweigen. »Es hat keinen Sinn mehr. Wir werden uns einen neuen Plan ausdenken müssen.« Bei aller eigenen Skepsis ist Olken nicht dazu bereit. »Solange wir das Signal noch empfangen und die Geschehnisse verfolgen können, werden wir unsere Strategie nicht ändern. Es wäre ein Verrat an uns selbst.« Doch trotz der großen Worte beginnt auch er, je länger alles dauert, schier zu verzweifeln. Er kann nicht ahnen, daß sich bald eine entscheidende Wende anbahnt. 1. Etwas klatschte neben ihm an die Wand. Ein zischendes Geräusch entstand, als würde das Holz von Säure zerfressen. Bestialischer Gestank drang ihm in die Nase.
Während er sich unwillkürlich duckte, fuhr Faderkyhl herum und versuchte, das Halbdunkel mit Blicken zu durchdringen. Wieder schlug ein prall gefüllter Ballon gegen die Fassade des Gebäudes und zerplatzte knallend. Einige Spritzer ätzender Flüssigkeit trafen ihn und brannten sich schmerzhaft in seine Schuppenhaut. Er unterdrückte alles, was ihn in diesem Moment an instinktiven Impulsen überschwemmte: den Aufschrei, den Wunsch, eine sichere Deckung zu suchen, in rasendem Lauf die Flucht zu ergreifen. Statt dessen blieb er stehen und verhielt sich völlig reglos. Mit seinem klar arbeitenden Verstand erfaßte er, daß er gegen die Übermacht keine Chance hatte. Es mochten fünfzig oder mehr jener dicht behaarten Zweibeiner sein, die sich ihm entgegengestellt hatten, die Arme mit den Wurfgeschossen drohend erhoben. Faderkyhl war sicher, daß sie ihm bei der geringsten Gegenwehr die Säureballons entgegenschleudern würden. Es wäre sein Tod gewesen. Dennoch bemühte er sich, seine Friedfertigkeit zu zeigen. Langsam breitete er die Arme aus, während der Mob murrend vorrückte. Einige der Fremden trugen Fackeln, um ihr Opfer in der Dämmerung besser ausmachen zu können. Ein weiterer Ballon flog ihm entgegen, gefolgt von einem empörten Kreischen. Faderkyhl duckte sich und wich blitzschnell einige Schritte zur Seite. »Was wollt ihr von mir?« schrie der Noot. Das Kreischen, das er gehört hatte, deutete er als Protest eines Anführers gegen die unbeherrschte Aktion des Säurewerfers. Es gab ihm Hoffnung, daß die Bepelzten ihn lebend fassen wollten. »Ich habe euch nichts getan und hege keine bösen Absichten!« Er erhielt keine Antwort. Abermals schob sich die Menge drei, vier Schritte vorwärts, Ballons und Fackeln über den Köpfen schwenkend. Faderkyhl hatte geglaubt, sich frei bewegen zu können, nachdem die Verwalter des Tanklagers eifrig die Wünsche der
ZIEMENBesatzung erfüllt hatten. Sicher: Es mochte damit zusammenhängen, daß die Einheimischen einen Koordinator der Ewigkeit an Bord wähnten, vor dem sie gehörigen Respekt hatten. Faderkyhl war der Ansicht gewesen, daß sie ihr Zuvorkommen auch auf die bezögen, die, wie sie glauben mußten, im Dienst des Koordinators standen. Offensichtlich war das nicht der Fall. Seine Neugier und sein Unternehmungsgeist schienen dem Noot zum Verhängnis zu werden. Er sah sich einer Schar von Angreifern gegenüber, der er nichts entgegenzusetzen hatte als seine blanke Haut. Die Motive für die unerwartete Konfrontation begriff er nicht. An Bord des Sternenschiffs hielt sich, seinerzeit von Tolfex entführt, ein Artgenosse der Bepelzten auf, die sich selbst Koohlks nannten. Mit ihm hatte es nie Schwierigkeiten gegeben. Der Koohlk war ein umgänglicher und friedlicher Zeitgenosse; um so seltsamer mutete es an, daß andere Mitglieder dieses Volkes sich derart aggressiv verhielten. Natürlich mußte man immer mit unterschiedlichen Mentalitäten rechnen. Faderkyhl gestand sich ein, daß er das wohl nicht recht bedacht hatte, als er die ZIEMEN verließ. Jetzt mußte er sehen, wie er mit der Bedrohung fertig wurde. Mit dem Rücken zur Wand stand er einer Gruppe angriffslustiger, düsterer Gestalten gegenüber, die sich ihm weiter näherte. Dumpfes Raunen drang ihm entgegen, als die Koohlks damit begannen, mysteriöse Beschwörungsformeln leise vor sich hin zu murmeln. Kaum mehr als fünf Meter trennten ihn noch von der vorderen Reihe der Angreifer. Die Köpfe mit den rotglühenden Augen wiegten sie im Rhythmus ihres monotonen Singsangs. Faderkyhl spürte, wie er zu zittern begann in Erwartung dessen, was gleich geschehen würde. Zwei Armlängen vor ihm verhielten die Angreifer in ihrem Schritt. Faderkyhl roch ihre intensiven Körperausdünstungen, die einen würgenden Reiz in ihm auslösten. Im Licht der Fackeln sah er breite,
haarige Gesichter mit wulstigen Lippen und platten Nasen. Ein gutes Hundert phosphoreszierender Augen musterte ihn kalt. Das Raunen in der Menge verstummte nach und nach. Eisige Stille legte sich über die Prozession, nur vom leisen Knistern der Flammen durchbrochen. Wieder erwachte der Impuls, die Flucht zu ergreifen, aber Faderkyhl wußte, daß es hoffnungslos war. Nur durch äußerste Bedachtsamkeit konnte er diese Situation überleben. Worauf warteten die Koohlks? Es schien fast so, als lauerten sie nur darauf, daß er unüberlegt reagierte und ihnen ein moralisches Alibi lieferte, mit den Säurebällen nach ihm zu werfen. In seiner Kehle schien ein fester Kloß zu stecken und ihn am Reden hindern zu wollen. Dennoch sprach er abermals auf die Fremden ein. »Ich weiß nicht, was euch dazu treibt, gegen mich vorzugehen. Ich bin ohne Waffen hier und besitze nichts, was ihr mir entwenden könntet. Falls ich eines eurer Gesetze mißachtet habe, geschah es unbeabsichtigt. Ich bin ein friedlicher Besucher eurer Stadt. Was werft ihr mir vor? Warum greift ihr mich an?« In die Menge kam wieder Bewegung. Einige Koohlks begannen leise zu sprechen, aber der Noot verstand nicht, was sie sagten. Andere nahmen ihre ritualen Gesänge wieder auf. Faderkyhl witterte seine Chance. Offenbar hatte er die Fremden unsicher gemacht. Vielleicht konnte er sie dazu bringen, von ihm abzulassen. »Hört mir zu!« rief er. Langsam hob er einen Arm und deutete in Richtung des Raumhafens. »Dort steht das Schiff, mit dem meine Freunde und ich gekommen sind. Laßt mich ziehen und ihr werdet nie wieder etwas von uns hören.« Sechs oder sieben Koohlks, die in der letzten Reihe gestanden hatten, wandten sich ab und trotteten davon, als sei nichts geschehen. Faderkyhl wußte jedoch, daß er noch nicht gewonnen hatte. Mehrere Fackeln wurden drohend in die Höhe gestemmt.
Jemand stieß einen heiseren Schrei aus. »Einige von euch sind bereits vernünftig geworden«, appellierte der Noot weiter. »Den anderen will ich in Erinnerung rufen, daß ich der Mannschaft eines Koordinators der Ewigkeit angehöre. Wenn mir etwas zustößt, wird er nicht zögern, eine Strafaktion einzuleiten.« Nachdem er zunächst seine Haut als Bittsteller zu retten versucht hatte, vertraute er mit seinen letzten Worten dem ungeheuren Respekt, den Tolfex überall im Marantroner‐Revier genoß. Daß der Koordinator längst nicht mehr am Leben war, wußte niemand. Dennoch schoß Faderkyhl mit seiner Drohung über das Ziel hinaus. Er hatte gehofft, die Fremden einschüchtern zu können. Das Gegenteil trat ein. Wie ein kollektiver Aufschrei ging es durch die Menge. Eine Fackel wurde ihm entgegengestoßen. Der Noot spürte die Hitze, die durch die Kleidung in seinen Körper drang. Instinktiv wich er zur Seite aus und ließ sich fallen. Ein ungezielt geworfener Ballon zerplatzte an der Hauswand und hinterließ ätzende Säurespuren. Bereits jetzt wußte Faderkyhl, daß er keine Rücksicht mehr zu erwarten hatte. Seine Taktik war gescheitert. Er hörte das unartikulierte Brüllen der Koohlks, ihre wütenden Schreie und das Trampeln ihrer Füße. Er fühlte sich gepackt und in die Höhe gerissen, wand sich in dem stählernen Griff und kam überraschend frei. Ohne Orientierung taumelte er nach vorn und riß mehrere der Angreifer um. Es war ein ungleicher Kampf, dessen Ausgang von vornherein feststand. Aber Faderkyhl gab noch nicht auf. Er ruderte mit den Armen und stürmte kraftvoll nach vorn, in der verwegenen Hoffnung, die Mauer aggressiver Koohlks zu durchbrechen. Von der Seite schoß ein Schatten auf ihn zu. Er spürte den Schlag, als der Ballon auf seiner Montur platzte. Es begann erbärmlich zu stinken, als sich die Säure langsam durch das Leder fraß. Beißender Schmerz tobte durch seinen Körper.
Aufschreiend ging Faderkyhl in die Knie. Jemand trat auf ihn zu, umfaßte mit beiden Händen das Rauchhorn und wollte ihn mit aller Macht daran hochziehen. Der Noot holte aus und schlug dem anderen mit letzter Anstrengung gegen die Beine. Der Fremde ließ von ihm ab und fiel polternd zu Boden. Ein heftiger Tritt riß Faderkyhl vollends um. Abermals traf ihn ein Säureballon, und er fühlte den Schmerz, der sich brennend durch die Schuppen in sein Inneres fraß. Seine Kraft und sein Widerstandswille waren aufgebraucht. Unter den Achseln wurde er gepackt und hochgezerrt. Zwei Koohlks hatten ihn in die Mitte genommen und schleppten ihn mit sich. Während er in der Mitte eines Pulks triumphierender Einheimischer davongeschleift wurde, schloß Faderkyhl mit dem Leben ab. * »Wo ist er?« Lässig hüpfte der Tamater in die Unterkunft des Freundes und gestikulierte mit allen vier Armen. Hinter ihm schloß sich das Eingangsschott. Aus starren Facetten blickte ihm der Camagur entgegen. »Wo ist wer?« Der Zwerg vollführte eine linkische Bewegung und ließ sich auf ein mit weichen Polstern ausgelegtes Gestell fallen. »Faderkyhl«, bemühte er sich um eine Erläuterung seiner Frage, »der Noot.« Der Camagur reagierte weiterhin verständnislos. »Was ist mit ihm?« »Er ist verschwunden.« Es war allgemein bekannt, daß der Tamater eine besonders nervenaufreibende Art besaß, seine Informationen nur auf
ausdrückliches Verlangen preiszugeben. Ärgerlich fuchtelte der Camagur mit den Armen. »Du tust gerade so, als sei ich dafür verantwortlich. Glaubst du vielleicht, ich hätte ihn entführt?« Der Zwerg zeigte deutliche Verlegenheit. »Natürlich nicht.« »Sondern?« »Nun, ich dachte, du wüßtest, wo er sich herumtreibt.« »Ich weiß es nicht«, bekräftigte der Camagur ungeduldig. »Und ich wäre dir dankbar, wenn du dich endlich konkret äußern könntest, was dich daran so beunruhigt.« »Ich hatte mich mit ihm in seiner Kabine verabredet.« »Und?« »Er war nicht da.« »Er wird es sich anders überlegt haben«, vermutete der Camagur leichthin. »Es soll ja Momente geben, wo er auf dich nicht gut zu sprechen ist.« »Das ist es nicht«, sagte der Tamater ernst. »Ich weiß, daß Faderkyhl vorhatte, die ZIEMEN zu verlassen und sich in der Stadt ein wenig umzusehen.« »Ja, neugierig war er schon immer.« »Du verstehst nicht, was ich meine«, warf der Zwerg dem Freund vor. »Ich befürchte, daß ihm etwas zugestoßen ist.« »Du übertreibst«, widersprach der Camagur. »Wir sind hier gelandet, um Treibstoff für unsere lange Reise aufzunehmen. Die Koohlks haben uns freundlich und hilfsbereit behandelt. Warum sollten sie dem Noot etwas antun?« Das Argument war nicht von der Hand zu weisen, dennoch vermochte der Tamater seine Unruhe nicht zu unterdrücken. »Du darfst nicht vergessen«, sagte er, »daß die Lebenseinstellung, die wir hier an Bord erworben haben, hauptsächlich der Wirkung dieses Marmorsteins zuzuschreiben ist. Die Koohlks sind dem befreienden Einfluß nicht ausgesetzt, und ich halte es für möglich,
daß sie Faderkyhls Auftauchen mit Feindschaft begegnet sind.« Der Camagur erkannte, daß der Verdacht etwas für sich hatte, aber er war noch nicht bereit, ihn sich zu eigen zu machen. »Die Koohlks werden sich hüten, gegen jemanden vorzugehen, von dem sie annehmen müssen, daß er in Tolfexʹ Diensten steht.« »Und wenn sie sich einen Dreck darum scheren? Wenn sie ihn trotzdem angegriffen haben?« Eine Weile zögerte der Camagur, dann ging ein Ruck durch seinen hochgewachsenen Körper. »Du hast recht, Freund«, sagte er. »Wir dürfen nicht zu sorglos sein. Komm!« Entschlossen wandte er sich dem Ausgang zu. Der Tamater hüpfte von der Sitzgelegenheit und folgte ihm. Gemeinsam bewegten sie sich durch verschiedene Korridore und näherten sich dem Kommandozentrum des Sternenschiffs. Einst hatte hier die bösartige Ausstrahlung des Koordinators der Ewigkeit dafür gesorgt, daß niemand den Steuerkomplex betrat. Jetzt war von der mentalen Sperre nichts mehr zu spüren. Unbehelligt drangen sie in die Zentrale ein. Es handelte sich um einen großen, kuppelförmigen Raum, in dessen Mitte ein wannenähnliches Behältnis installiert war. In diesem Nährbad war der gehirnähnliche Organklumpen, der sich Tolfex nannte, am Leben erhalten worden. Die sterblichen Überreste des Koordinators und seines Todesboten waren mittlerweile längst entfernt und dem Weltraum übergeben worden. In schweißtreibender Kleinarbeit hatten die Passagiere der ZIEMEN die Impulsleitungen, die das Gehirn mit den verschiedenen Aggregaten verbanden, gelöst und so verlegt, daß das Schiff manuell gesteuert werden konnte. Zahlreiche Bildschirme an den Wänden dienten als Kontrollelemente; die Befehlseingabe erfolgte über ein großes Schaltpult. Nur zwei Wesen hielten sich in der Zentrale auf, als die Freunde den Saal betraten: Zwertelis, die Denkende, ein kleines, vierbeiniges
Geschöpf mit einem phantasievoll gemusterten Fell – und Usmaender, der Havare, dessen dürre, knochige Gestalt leicht darüber hinwegtäuschte, daß er über eine gehörige Portion Intelligenz und die schwach ausgeprägte Gabe der Telepathie verfügte. Die beiden standen vor einer Konsole und starrten wie gebannt auf die Kugel aus Marmor, die den Widerschein der Freiheit verströmte. Es schien ihnen schwerzufallen, ihre Blicke von dem Objekt zu lösen, denn es dauerte eine Weile, bis sie auf die Besucher aufmerksam wurden. Usmaender wandte schließlich den Kopf und trat einige Schritte auf sie zu. »Was wollt ihr?« fragte er, obwohl es ihm möglich gewesen wäre, das Anliegen der beiden aus deren Gedanken zu ergründen. »Ihr stört uns in unserer Konzentration.« »Faderkyhl ist verschwunden«, sagte der Camagur und trug die Überlegungen vor, die ihn und den Tamater zu dem Schluß hatten kommen lassen, dem Noot müsse etwas zugestoßen sein. »Wir machen uns große Sorgen und wollten darum bitten, unseren Freund suchen zu lassen.« Auch Zwertelis hatte sich von der Marmorkugel abgewandt und dem Bericht des Camagurs zugehört. Mit Faderkyhl verband sie, seit sie sich auf der ZIEMEN befand, eine tiefe Freundschaft, und angesichts der Tatsache, daß sich der Noot seit Stunden nicht gemeldet hatte, verblaßte der Versuch, über das marmorne Objekt mit den flüsternden Wesenheiten aus dem Nichts abermals Kontakt aufzunehmen, zur Zweitrangigkeit. Bevor die Denkende oder der Havare sich noch äußern konnten, öffnete sich das Zentraleschott erneut. Die Koohlk trat ein, ein weibliches Mitglied jenes Volkes, das auf diesem Planeten beheimatet war und das Tolfex im Zuge seiner Sammelaktion als eines der ersten an Bord genommen hatte. Wahrscheinlich hatte sie nur Usmaender hier anzutreffen geglaubt, denn sie blieb überrascht stehen und sah sich unsicher um. »Ich …«, stammelte sie schließlich und hob in beinahe hilfloser
Geste die Arme. »Ich bin Xyriell …« Die anderen sahen sie verständnislos an. Niemand antwortete. »Versteht ihr denn nicht?« Die Stimme der Koohlk klang beschwörend. »Ich habe mich an meinen Namen erinnert!« »Es freut mich für dich«, sagte Usmaender teilnahmslos. »Wir haben jedoch Probleme, die wichtiger sind als dein plötzliches Erinnerungsvermögen.« Die Enttäuschung war Xyriell anzumerken. Ihr Blick wurde trüb, das rötliche Glühen ihrer Augen verblaßte. »Was sagt ihr dazu?« wandte sie sich an den Tamater und den Camagur. »Sind euch eure Namen ebenfalls wieder eingefallen?« »Nein«, antwortete der Zwerg stellvertretend für beide. »Es ist auch nicht wichtig.« Wahrscheinlich begriff nur Zwertelis, daß sie Zeugen einer bedeutsamen Entwicklung wurden. Bis auf zwei Ausnahmen – das waren der Havare und sie selbst – hatten alle Passagiere an Bord der ZIEMEN unter dem Einfluß des Koordinators der Ewigkeit nach und nach ihre Individualität verloren. Tolfex hatte dafür gesorgt, daß sie alles vergaßen, was ihnen bisher wichtig gewesen war: ihren Lebenskreis, ihre gewohnte Umwelt, ihre Freunde und Familien; auch ihre Namen. Allein der Noot war in der Lage gewesen, einen Rest Eigentümlichkeit zu bewahren, indem er sich eine Kunstbezeichnung zulegte und sich Faderkyhl nennen ließ. Erst das faustgroße Objekt, das Zwertelis mit an Bord brachte, hatte den Passagieren dazu verholfen, das Joch der geistigen Beeinflussung von sich abzustreifen. Wenn jetzt, nachdem die Erwartung des absoluten Glücks dem aufrichtigen Bestreben gewichen war, die Ringwelt zu erreichen und die Marmorkugel ihrer Bestimmung zuzuführen, war dies ein Vorgang, dessen Bedeutung nach Ansicht der Denkenden nicht hoch genug eingeschätzt werden konnte. »Natürlich ist es wichtig«, widersprach sie den Freunden. »Xyriell ist die erste, die nach dem Tod des Koordinators wieder völlig zu
sich selbst findet.« Es schien die Koohlk zu bestärken, daß wenigstens eine Person unter den Anwesenden in der Lage war, den Wandel, der mit ihr vorging, zu begreifen. Ihr massiger, behaarter Körper straffte sich. »Ja«, sagte sie leise, »ich habe zu mir selbst gefunden. Und deshalb möchte ich um euer Verständnis bitten, wenn ich die ZIEMEN verlasse und zu meinesgleichen gehe.« Das hatte freilich auch Zwertelis nicht erwartet. Sie schwieg betroffen. Alle Lebewesen an Bord des Sternenschiffs hatten noch vor kurzem ihre Entschlossenheit bekräftigt, die Reise zur mysteriösen Ringwelt auf sich zu nehmen, um die Marmorkugel an ihren Zielort zu bringen. »Das darfst du nicht tun«, versuchte Usmaender die Koohlk umzustimmen. »Wir müssen dieses Schiff ins Zentrum der Schwarzen Galaxis manövrieren, und wir sind, im Vergleich zu einer normalen Raumschiffbesatzung, beängstigend wenig Personen. Wir sind daher auf jeden einzelnen angewiesen!« Xyriells Blick ruhte auf der Denkenden, von der sie sich das meiste Verständnis erhoffte. »Aber … ich bin hier zu Hause. Dieser Planet ist meine Heimat …!« »Ich kann dich nur bitten, bei uns zu bleiben, bis wir unsere Aufgabe erfüllt haben«, sagte Zwertelis. »Danach werden wir ins Marantroner‐Revier zurückkehren und dich hier absetzen.« Usmaender wartete nicht, wie die Entscheidung der Koohlk ausfiel. Er griff nach dem Objekt und hielt es Xyriell auf der ausgestreckten Hand entgegen. »Dieses unscheinbare Ding«, sagte er beschwörend, »ist der Grundstein dafür, daß bald jedes Lebewesen im Bereich dieser Galaxis so frei und ungebunden denken und handeln kann wie du. Wir alle auf der ZIEMEN haben die moralische Pflicht, seinen Transport zum Zielort zu ermöglichen.« Seine Worte, vermischt mit dem Widerschein der Freiheit und
dem behutsamen mentalen Einfluß der Marmorkugel, verfehlten ihre Wirkung nicht. Eine Weile wirkte Xyriell sehr nachdenklich, fast betrübt. »Gut«, sagte sie dann, »ich will nicht dafür verantwortlich sein, wenn das Unternehmen scheitert. Ich werde bei euch bleiben – unter der Bedingung, daß ich später hierher zurückkehren kann.« Zwertelis machte eine zustimmende Geste. »Wir danken dir für deine Bereitschaft, uns weiterhin zu unterstützen.« »Nicht, daß ich unhöflich wirken möchte«, mischte sich der Tamater ein. Der Camagur und er hatten das Gespräch schweigend verfolgt. »Aber ich möchte an unseren Freund Faderkyhl erinnern, der sich in der Stadt umsehen wollte und wahrscheinlich in Schwierigkeiten steckt.« »Wir haben ihn nicht vergessen …«, setzte Zwertelis an, doch in diesem Moment ruckte der Kopf der Koohlk herum, und ihre Augen richteten sich bestürzt auf den gelbhäutigen Zwerg. »Der Noot hat das Schiff verlassen?« fragte sie erregt. »Wann war das?« »Kurz vor Einbruch der Dunkelheit«, antwortete der Tamater. »Er wollte mit den Einheimischen ins Gespräch kommen, wie er sich ausdrückte, Land und Leute kennenlernen …« »Dieser Narr! Weiß er denn nicht …« Sie brach ab, weil sie einsah, daß ein Fremder die Eigenheiten der koohlkasischen Gesellschaft weder kennen noch in seine Pläne einkalkulieren konnte. »Glaubst du, daß er in Schwierigkeiten ist?« hakte Usmaender nach. »Allerdings. Er dürfte kaum ungeschoren davongekommen sein.« »Was willst du damit sagen?« »Nichts«, lehnte Xyriell jede Erläuterung ab. »Ich werde versuchen, ihn herauszuholen.« Sie wollte sich abwenden, aber Usmaender packte sie am Arm und hielt sie fest.
»Warum tust du so geheimnisvoll?« fragte er ärgerlich, während er auf geistiger Ebene behutsam in ihre Gedanken eindrang. »Was kann mit Faderkyhl geschehen sein, das du uns nicht sagen willst?« Xyriells Augen blitzten auf. »Du bist ein Wahrheitsfinder. Weißt du es nicht längst?« Betroffen entließ Usmaender die Koohlk aus seinem Griff. Ja, er hatte die Wahrheit erkannt; in diesem Moment, als sie daran dachte. Sie erschütterte ihn. »Suche den Noot, wenn du möchtest«, stimmte er zu. »Aber sei vorsichtig. Wir möchten dich nicht verlieren.« »Ich gehe mit dir«, erbot sich der Tamater spontan. Mit einem seiner Ärmchen stieß er den Camagur an. »Du sicher auch, nicht wahr!« »Nein!« lehnte Xyriell ab und wandte sich zum Gehen. »Ich erledige es alleine!« »Es ist gefährlich«, erinnerte Usmaender besorgt. »Ich weiß. Wenn ich bis Sonnenaufgang nicht zurück bin – wartet nicht auf mich.« Sie sahen ihr nach, bis sich das Zentraleschott hinter ihr geschlossen hatte. * Im Schutz der Dunkelheit fiel es Xyriell nicht schwer, das sternförmige Raumschiff ungesehen zu verlassen. Die rund um das Landefeld installierten Scheinwerfer reichten nicht aus, das Areal gleichmäßig zu beleuchten. Mehrere Organschiffe warfen tiefschwarze Schatten, in deren Bereich die Koohlk zügig vorankam. Unbehelligt schlich sie an Hangars, Verwaltungsgebäuden und Tanklagern entlang und arbeitete sich, geschickt kletternd, über einen Lärmschutzwall. Als sie wieder ebenen Boden erreichte und vor sich die ersten
Häuser der Stadt erblickte, blieb sie einen Moment erschöpft stehen. Ihr Atem ging schnell, und die dichten Haare des Fells waren vom Schweiß verklebt. Aber das störte sie nicht. Sie war kräftig genug, um sich von der anstrengenden Kletterpartie rasch zu erholen. Nach dem Eindruck des hohen technischen Standards, der auf der ZIEMEN und im Bereich des Raumhafens herrschte, schien es fast, als betrete Xyriell nun eine andere Welt. Die Stadt lag weitgehend im Dunkeln, nur hier und da von Fackeln spärlich erhellt. In dieser seltsamen Atmosphäre verschmolzen die Umrisse vieler Häuser zu langgestreckten, düsteren Silhouetten. Leises Unbehagen befiel die Koohlk, als sie die erste Gasse betrat. Von weither hörte sie das Echo dumpfer Stimmen, irgendwo lachte jemand verhalten. Es fiel ihr nicht leicht, sich zu orientieren. Zu lange war sie von hier fort gewesen, zu lange hatte der Widerschein der Freiheit die nächtlichen Ausschweifungen koohlkasischer Mentalität in ihr überlagert. Erst mit der Zeit würde sich der gewohnte Lebensrhythmus wieder einstellen. Dann würde sie, wie alle anderen, fast ohne Schlaf auskommen, würde tagsüber einer sinnvollen Beschäftigung nachgehen und nachts wie ein Tier in der Horde durch die Straßen ziehen und nach Opfern Ausschau halten. Es war die entsetzliche Wahrheit über die Koohlks: jeder von ihnen hatte zwei Gesichter. Es gab nur wenige Raumfahrer, die davon wußten. Zwar rankten sich zahllose Gerüchte und Legenden um diesen Planeten, der im Grenzgebiet zwischen dem Marantroner‐ und dem Rghul‐Revier seine Bahn zog, doch hätte niemand Genaues zu berichten vermocht. Man kam hierher, um die Treibstofftanks der Schiffe aufzufüllen, pflegte freundschaftlichen Kontakt zu den Einheimischen, die pflichtgemäß ihre Dienste anboten, und kümmerte sich weder um den sozialen Aufbau ihrer Gesellschaft noch um ihre Lebensart. Man wußte, daß man den Raumhafen tunlichst nicht verlassen sollte, schon gar nicht nachts, denn niemand, der in der Dunkelheit in der Stadt etwas
Abwechslung suchte, war je zurückgekehrt. Wahrscheinlich lag es am Einfluß der Schwarzen Sonnen, daß man lieber einen Schleier des Geheimnisses um diese Welt legte, als Nachforschungen anzustellen. Den Koohlks konnte das nur recht sein. Vielleicht waren sie das einzige Volk im Machtbereich des Dunklen Oheims, dessen ursprüngliche Existenz nicht manipuliert worden war. Nachdem sie die Freiheit kennengelernt hatte, empfand Xyriell diesen Umstand als erstrebenswert. Überhaupt merkte sie, wie der Wunsch, in ihren angestammten Lebensraum zurückzukehren, wieder stärker wurde, wie das Bedürfnis, in der Gemeinschaft ihrer Artgenossen zu existieren, die Einsicht verdrängte, einer kleinen Marmorkugel zu einer unbekannten Bestimmung zu verhelfen. Nicht, daß sie sich nach den koohlkasischen Nächte zurücksehnte. Das würde sich erst ergeben, wenn die letzten Reste einer friedvollen und freiheitlichen Einstellung aus ihren Gedanken gewichen waren. Aber sie wollte unter ihresgleichen sein und ihre Tage im Kreis ihrer Artgenossen gestalten. Ein wenig erschreckte sie ihr Sinneswandel selbst, aber bereits jetzt war sie sicher, daß sie nicht auf die ZIEMEN zurückkehren würde. Ihr Platz war hier, auf diesem Planeten, in dieser Stadt. Die Aufgabe, die sie sich gestellt hatte, vergaß sie allerdings nicht. Sie war entschlossen, den Noot zu finden und aus der Gewalt der Jäger zu befreien, und sie wußte, daß sie nicht mehr viel Zeit hatte. Wenn sie zu lange zögerte, konnte es nicht nur geschehen, daß sie ihre urtümlichen Instinkte wieder schätzen lernte, es mochte auch sein, daß sie Faderkyhl dann nicht mehr helfen konnte. Denn bei Sonnenaufgang war der Noot entweder frei – oder tot. *
Die Kulisse einer ausgelassen‐grausamen Fröhlichkeit war nicht zu überhören. Xyriell wußte, wohin sie sich zu wenden hatte. Zielsicher schlich sie durch dunkle, verwinkelte Gassen, kümmerte sich nicht um verschiedene Einzelgänger, die sie aufhalten wollten. Es kam nicht oft vor, daß die durch die Straßen ziehenden Horden Gefangene machten, deshalb war das dumpf vernehmbare Lachen und Schwatzen ein sicherer Anhaltspunkt dafür, wo Faderkyhl sich aufhalten mochte. Als sie das Haus erreichte, aus dessen Keller der Lärm drang, war sie davon überzeugt, daß sie Faderkyhl, wenn er noch am Leben war, befreien konnte. Ohne Scheu öffnete sie die Tür und stieg eine steinerne Treppe hinab. Der Duft von Gewürzen, von gebratenem Fleisch und süßem Wein schlug ihr entgegen. An dem vielfältigen Stimmengewirr erkannte sie, daß die Stimmung unter den Koohlks bereits dem Höhepunkt zustrebte. Sie mußte sich beeilen, wenn sie dem Noot noch helfen wollte. Furchtlos betrat sie das Kellergewölbe. Zunächst kümmerte sich niemand um sie. Es war selbstverständlich, daß auch Koohlks, die an der Gefangennahme eines Opfers nicht direkt beteiligt gewesen waren, den Feierlichkeiten beiwohnen durften. Xyriell sah sich um. An den Wänden loderten Fackeln und tauchten den Raum in unstetes Licht. Mehrere Tische waren mit Speisen und Getränken überladen. Mehr als ein halbes Hundert ihrer Artgenossen scharte sich schmatzend und saufend um die angebotenen Gaumenfreuden. Zu ihrer Linken, wo mehrere steinerne Bahren zur Schaustellung von Opfern aufgereiht waren, erkannte sie den Noot. Er bot einen entsetzlichen Anblick. Kraftlos lag er auf einem der Gestelle, Hand‐ und Fußgelenke von Fesseln umschlungen. Die lederne Montur hatten sie ihm abgenommen, und an vielen Stellen hatte Säure die bläulichen Schuppen zerfressen und tiefe Wunden hinterlassen. Aber er lebte noch. Xyriell erkannte es an den Zuckungen, die
durch seinen Körper liefen, und an den Augen, die weit geöffnet waren und voller Angst um sich blickten. »Ja, sieh ihn dir an!« Jemand stieß sie in die Seite und legte die Pranke auf ihre Schulter. »Wir haben einen prachtvollen Fang gemacht, mit dem wir noch viel Freude haben werden.« Der Atem des anderen war heiß und roch nach Alkohol. Widerwillig wandte Xyriell den Kopf und befreite sich mit einer raschen Drehung aus dem harten Griff. »Pack mich nicht an, Kerl!« stieß sie hervor. »Ich bin hergekommen, um mit euch zu feiern, und nicht, um von Tölpeln wie dir belästigt zu werden!« Innerlich war sie keineswegs so wütend, wie sie sich gab. Zwar war ihr die Berührung des Koohlk tatsächlich unangenehm, doch kam ihr dessen Anzüglichkeit für den Plan, den sie sich zurechtgelegt hatte, durchaus entgegen. »Oho!« rief der Betrunkene lautstark. »Habt ihr das gehört, Freunde? Wir haben eine Dame unter uns!« Kaum jemand schenkte ihm Beachtung. Nicht mehr als drei oder vier Koohlks verfolgten die Auseinandersetzung eher teilnahmslos als interessiert. Als der Betrunkene die Arme ausstreckte, um Xyriell an sich zu ziehen, wich sie geschickt zurück. »Ah – die Kleine ist zickig!« In seinen Augen irrlichterte es. »Merkst du, wie mich deine Gegenwart anregt?« »Dafür bewirkt deine bei mir eher das Gegenteil«, versetzte sie barsch. »Du tätest gut daran, dich weiter mit deiner Weinflasche zu beschäftigen und mich in Ruhe zu lassen.« »Recht hat sie, Telx!« grölte jemand aus der Menge. »Sie ist viel zu schön für dich!« Der Betrunkene reagierte nicht darauf. Starr waren seine Blicke auf Xyriell gerichtet. »Willst du mir drohen, du eingebildetes Weib?« »Mitnichten«, gab sie spöttisch zurück.
Ihr abfälliges Verhalten erhöhte die aggressive Spannung in Telx abermals. Zornbebend, aufs äußerste gereizt, stand er ihr gegenüber. An der Art, wie sich die Bewegungen seiner Muskeln auf das Körperfell übertrugen, erkannte sie, daß er sich jeden Moment auf sie stürzen würde. Dann sprang er. Xyriell hatte den Zeitpunkt genau abgeschätzt. Sie wirbelte zurück und zur Seite, ließ sich in Richtung des nächststehenden Tisches fallen und riß mehrere Koohlks von den Bänken. Protestierendes Geschrei erhob sich, während der Angreifer, vom eigenen Schwung getragen, polternd zu Boden stürzte. In dem Durcheinander, das Xyriell ausgelöst hatte, achtete niemand auf sie. Jeder war zunächst bestrebt, wieder auf die Beine zu kommen. Zielsicher griff sie zwischen die Speisen und packte ein Messer. Dann löste sie sich aus dem Gewühl, spurtete am stöhnenden Telx vorbei und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Kante der Steinbahre, auf der Faderkyhl lag. In drohender Gebärde schwang sie die Waffe. »Wenn mir keiner von euch helfen will, muß ich es selbst tun!« rief sie und verfolgte wachsam jede Bewegung Telxʹ, der sich schwerfällig erhob und auf sie zu taumelte. »Bleib zurück! Ich meine es ernst!« Einen Moment zögerte der Betrunkene, dann ging er weiter. Erst jetzt wurden die anderen allmählich darauf aufmerksam, daß es sich bei der Auseinandersetzung keineswegs um eine harmlose Reiberei ging. Einige sprangen auf und versuchten, den Wütenden zurückzuhalten. Sofort richtete sich dessen Zorn gegen die eigenen Freunde. Er ruderte mit den Armen und schlug wild um sich. Jemand schrie auf, als er, bislang völlig unbeteiligt, umgestoßen wurde. Zwei andere, denen, ebenfalls ohne Absicht, die Gläser aus der Hand geschlagen wurden, mischten sich mit wütendem Geschrei in die Auseinandersetzung ein. Es war wie eine Kettenreaktion. Innerhalb
weniger Augenblicke verwandelte sich das Festgelage in ein Chaos. Speisereste flogen von den Tischen, Gläser und Karaffen zersprangen klirrend. Plötzlich war jedermann Angreifer und Verteidiger in einem. Niemand, der sich an dem Handgemenge, das mehr und mehr zu einer brutalen Schlägerei ausartete, nicht beteiligte. Xyriell hatte damit gerechnet. Sie kannte die Reaktionen von Koohlks, die in nächtlicher Aggressivität und unter dem enthemmenden Einfluß von Wein in eine Auseinandersetzung hineingezogen wurden. Der Tumult kam ihr zustatten. Mit sicherem Griff zerschnitt sie die Fußfesseln des Noots, sprang ans Kopfende der Bahre und durchtrennte dort die Stricke, die die Arme festhielten. Ob Faderkyhl sie erkannte, wußte sie nicht. Sein Blick wirkte trüb und kraftlos, etwas Ungläubigkeit lag darin. Plötzlich begann sie zu bezweifeln, daß er die ZIEMEN unbehelligt erreichen konnte. Sein Körper war viel zu geschwächt. Außerdem schien er nicht zu begreifen, daß die Entfesselung zu seiner Befreiung gedacht war. Hastig überflog Xyriell die Lage. Die sich prügelnden Koohlks waren noch immer mit sich selbst beschäftigt. Mittlerweile hatten sich zwei Gruppen gebildet, deren Mitglieder sich gegenseitig bedrängten. Niemand kümmerte sich um sie oder das Opfer. Der Weg zur Treppe war noch frei. »Mehr kann ich nicht für dich tun, Faderkyhl«, sagte sie leise. »Du mußt fliehen. Auf der ZIEMEN warten sie auf dich.« Um die Augen des Noots zuckte es. Endlich verstand er. Xyriell legte eine Hand auf seinen Arm. »Es geht um dein Leben. Lauf, so schnell du kannst …« Abermals sah sie sich um, schätzte den geeigneten Moment ab – und zog ihre Hand zurück. »Jetzt!« Faderkyhl richtete sich auf und sprang mit einem schnellen Satz von der Bahre. Xyriell war überrascht, wie viel Behendigkeit und Kraft trotz seiner Verletzungen noch in ihm steckten. Das hatte sie
nicht erwartet, aber sie war zufrieden, daß sich seine Chancen damit vergrößerten. Sekundenlang stand er da und suchte den Ausgang. Da gellte ein Schrei durch das Gewölbe. »Das Opfer …!« Der Kampflärm ließ nach. Viele der Streitenden ließen voneinander ab und versuchten, sich auf die neue Situation einzustellen. »Fangt ihn!« rief jemand. Eine Gruppe Koohlks stürmte los. Faderkyhl wirbelte herum und winkte seiner Befreierin zu. »Los doch! Worauf wartest du!« Xyriell machte eine abwehrende Geste. »Ich bleibe hier. Du mußt dich alleine in Sicherheit bringen!« Es schien, als wollte der Noot das nicht akzeptieren, als spiele er mit dem Gedanken, zu ihr zu laufen und sie gegen ihren Willen mitzuzerren. Die heranrückende Meute brachte ihn zur Besinnung. Erleichtert sah Xyriell, wie Faderkyhl sich abwandte und mit weiten, schnellen Schritten die Treppe erreichte. Sekundenbruchteile später war er aus ihrem Blickfeld verschwunden. Ein enttäuschtes Murren ging durch die Reihen der nachsetzenden Koohlks, als sie begriffen, daß ihnen ihr Opfer entkommen würde. An Schnelligkeit war ihnen der Noot weit überlegen. Es war sinnlos, die Verfolgung aufzunehmen. Xyriell stand zitternd an die Wand gelehnt. Ihre Freude über die geglückte Aktion wich der ängstlichen Sorge, daß sich der ganze Zorn ihrer Artgenossen nun gegen sie richten würde. Unschlüssig verharrte die Gruppe eine Weile, dann reckte jemand drohend den Arm. »Das Weib!« Es war Telxʹ Stimme. »Dieses mißratene Weib hat ihn befreit!« Er löste sich aus der Masse und lief auf sie zu. Abwehrbereit hob Xyriell das Messer, obwohl sie sich darüber im klaren war, daß sie
nicht die kleinste Überlebenschance besaß, wenn die anderen begannen, sie ebenfalls zu bedrängen. »Laß es gut sein, Telx!« hörte sie zu ihrer Überraschung. »Wir haben unseren Spaß gehabt. Morgen werden wir wieder ausziehen, um Beute zu machen. Vielleicht haben wir dann mehr Glück.« Telx blieb stehen, warf seiner Gegnerin jedoch noch einen haßerfüllten Blick zu. »Ich bin viel zu müde, um mich noch mit dir anzulegen«, sagte er mit schwerer Zunge. »Aber ich werde es nicht vergessen.« Wer die Mentalität der Koohlks kannte, den konnte der plötzliche Umschwung der Stimmung nicht verwundern. Bald würde die Nacht zu Ende sein, und allmählich gewann jener Teil des zweigleisigen Charakters wieder die Oberhand, dem die Kontrolle jener urtümlichen, aggressiven Instinkte oblag. Xyriell spürte, wie sie sich entspannte, als die Gruppe sich langsam auflöste. Irgendwo würden sie kurz schlafen, um danach dem geregelten Leben des Tages nachzugehen. Es war der Rhythmus dieser Welt. Unwillkürlich mußte die Koohlk an ihre Freunde an Bord der ZIEMEN denken, die sie mit ihrem Hierbleiben bitter enttäuschen würde. Immerhin hatte sie mit viel Glück den Noot befreien können, und falls er das Sternenschiff unversehrt erreichte, bevor sich Usmaender zum Start entschloß, mochten sie das als Entschädigung für ihren Wortbruch würdigen. Sie konnte nicht anders handeln. Das Verlangen, in ihrer Heimat zu bleiben, war zu stark. Der beinahe mystische Reiz dieser Welt verdrängte in ihr die Bereitschaft, mit unbekanntem Ziel durch das All zu fliegen und eine Marmorkugel zu transportieren, von der niemand wußte, wozu sie diente und wie sie entstanden war. 2.
Laß dir erzählen, warum wir so sehnsüchtig darauf warten, daß das Objekt die Ringwelt erreicht. Es bedeutet uns viel, eigentlich alles, denn in seiner Entstehungsgeschichte sind viel Leid, Trauer und Selbstaufgabe enthalten. Siehst du, noch vor wenigen Jahren hätte kein lebendes Wesen im Bereich der Schwarzen Galaxis geglaubt, daß man jemals etwas gegen den Dunklen Oheim tun könnte. Heute verfügen wir über ein Mittel, das uns Hoffnung macht, das die Kraft besitzt, den Niedergang der dunklen Mächte einzuleiten. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir zugeben, daß wir auf Ewigkeiten in unserem Gefängnis hätten sitzen und über einen wirkungsvollen Plan philosophieren können, ohne eine wirklich brauchbare Idee zu haben – wenn nicht ein Wesen aus Fleisch und Blut jenes seltsam strahlende Gestein entdeckt und es als bedeutsam klassifiziert hätte … * »Was ist das, womit du spielst?« Überrascht und etwas erschrocken hob der laute Quahrt den Kopf und blinzelte gegen die tiefstehende Sonne. Er hatte den Jungen nicht kommen hören, so sehr hatte er sich in den Anblick des Steinkügelchens vertieft. Hastig schloß er die Finger darum. Der Junge trat näher und setzte sich neben ihm ins Gras. »Warum versteckt du es?« fragte er enttäuscht. »Es gefällt mir.« »Ich weiß nicht, ob es gut ist, wenn ich es dir zeige«, entgegnete der Krejode unschlüssig. »Weshalb?« »Weil es die Gedanken verwirrt, wenn man es zu lange ansieht.« »Wie kommt das?« »Ich weiß es nicht.« »Ich möchte es trotzdem sehen … bitte.« Der laute Quahrt blieb weiterhin vorsichtig. Er kannte die frappierende Wirkung, die das Gestein auf seine Gefühlswelt ausübte, seit seiner frühesten Kindheit. Damals, in den Bleichen
Marmorbergen von Xudon, hatte er in einem aufgegebenen Steinbruch herumgegraben und dabei seltsame Empfindungen verspürt, die ihm völlig neu und fremd waren. Als er später hier, auf Railen, ansässig wurde, entdeckte er ein Gestein, das ähnliche Gefühle in ihm erzeugte: einen nagenden Drang nach Weite, Unabhängigkeit und Freiheit. Das Kügelchen, das er in der Hand hielt, stammte aus diesem Gestein, und er war besorgt, daß die Ausstrahlung auf die Psyche eines heranwachsenden eine andere, vielleicht schädigende Wirkung haben könnte. »Zeigst du es mir?« drängte der Junge. »Ich möchte es so gerne sehen.« Ihm, überlegte der laute Quahrt, hatten die unbekannten Empfindungen nie geschadet. Sie hatten ihn höchstens schon in frühen Jahren einen Teil jener Weisheit erlangen lassen, die sonst nur die Alten auszeichnete. »Bitte!« »Nun gut«, entschied der Krejode. Langsam öffnete er die Hand und streckte sie aus. »Nimm es.« Zögernd griff der Junge nach dem Kügelchen, als ahnte er etwas von der Bedeutung, die ihm innewohnte. Er drehte es zwischen den Fingern und betrachtete es mit beinahe verklärtem Gesicht. Dann, nach einer Weile, hob er den Kopf und sah den lauten Quahrt offen an. »Schenkst du es mir? Ich möchte es behalten.« »Gefällt es dir so gut?« »Ja«, gab der Junge zu. »Ich weiß zwar nicht, warum, denn es ist eine einfache Steinkugel, die nicht einmal ein schönes Muster hat. Aber sie kommt mir vor wie ein lebendes Wesen, wie ein kleines Tier, mit dem man spielen und sich die Zeit vertreiben kann.« »Das meinte ich, als ich sagte, sie verwirrt die Gedanken.« »Vielleicht tut sie es. Aber sie tut es auf angenehme Weise. Ich fühle mich wohl dabei.« Der Krejode erzeugte einen knarrenden, erheiterten Ton. Natürlich
fehlte dem Jungen die Erfahrung, um genau beschreiben zu können, was in ihm vorging. Was er als Wohlgefühl bezeichnete, war ein erstes, vorsichtiges Öffnen des Geistes, eine Erweiterung der gedanklichen Bahnen, in denen er sich bisher bewegt hatte. Noch vermochte der Kleine es nicht in voller Konsequenz zu begreifen. »Behalte die Kugel«, sagte Quahrt belustigt, »wenn du Freude an ihr hast.« »Danke!« In ehrlicher Begeisterung sprang der Junge auf und lief der untergehenden Sonne entgegen. »Besuche mich wieder einmal!« rief der Krejode ihm nach, doch darauf reagierte er nicht mehr. Eine Weile blieb Quahrt noch sitzen und beobachtete das Farbenspiel der heraufziehenden Nacht. Die letzten Sonnenstrahlen brachen gleißend hinter dem Horizont hervor und überzogen das Land mit hellrotem Glühen, das allmählich nachließ und in schattigdüstere Dämmerung überging. Als der Krejode endlich aufstand und sich seinem Haus zuwandte, erhob sich blaßgelber Schein über der Kimmung, der nach oben mit dem abendlich dunklen Blau des Himmels verschmolz. Von überall her erscholl das Zwitschern und Schnattern einer reichhaltigen Tierwelt. Vielleicht war Quahrt, den sie den Lauten nannten, das einzige Intelligenzwesen in der Schwarzen Galaxis, das die Fähigkeit besaß, die Schönheiten einer planetaren Natur rein emotional zu erfassen und auf sich einwirken zu lassen. Ganz sicher war er sich dessen selbst nicht, doch wenn er seine Lebensart mit der anderer Krejoden verglich, drängte sich die Vermutung geradezu auf. Und sollte er damit recht haben, verdankte er es wohl allein der Einwirkung der Gesteinswand, an die er seine Behausung gebaut hatte. Es war eine eher bescheidene Hütte, die er mit wenigen Möbelstücken behaglich eingerichtet hatte; weitab vom lauten und bunten Treiben der großen Städte, der Fabriken und Warenumschlagplätze. Seit er die Felsformation entdeckt hatte, die
jene ungewöhnlichen Empfindungen auslöste, war er zum Einsiedler geworden und hatte sich von der Gesellschaft zurückgezogen. Manchmal kamen Kinder hierher, um ihn zu besuchen, ansonsten führte er ein Leben in der Einsamkeit. In gewissem Sinn bescherte ihm das eine Art von Freiheit, deren sich ansonsten niemand rühmen durfte. Er war nicht in die grausame Maschinerie von Demütigung und Unterdrückung integriert, darüber hinaus war er fähig, deren Mechanismen zumindest in den Ansätzen zu durchschauen. Warum er vorhin, als der Junge ihn um die Kugel bat, so lange gezögert hatte, begriff er jetzt selbst nicht mehr. Weshalb sollten anderen die positiven Erfahrungen, die er an sich erlebt hatte, nicht ebenfalls zuteil werden! Schädlich, das hatte er heute gelernt, war die Ausstrahlung des Gesteins auch auf einen unreifen, kindlichen Geist nicht. Mit solchen und ähnlichen Überlegungen begab sich der laute Quahrt zur Ruhe – und seine Gedanken drehten sich, bevor er Schlaf fand, um das Kind, dem er etwas geschenkt hatte, das womöglich wertvoller war als alle Schätze des Universums. Als der Junge zwei Tage später vor seiner Tür stand, verwunderte ihn das kaum. Väterlich nahm er ihn bei der Hand und spazierte mit ihm am Fuß des Steilhangs entlang. »Es freut mich, daß du mich nicht vergessen hast«, sagte er. »Weißt du, es gibt nicht viele Kinder, die den langen Weg zu mir mehrmals auf sich nehmen.« »Es ist auch nur, weil ich dich um etwas bitten möchte«, gestand der Junge ehrlich. »Kannst du dich an die kleine Kugel erinnern, die du mir neulich geschenkt hast?« Einen Einsamen, der erfolglos die Gegenwart anderer suchte, hätte die Äußerung vielleicht getroffen. Den lauten Quahrt störte sie nicht. »Natürlich«, antwortete er gelassen. »Was ist mir ihr?« »Ich habe sie meinen Freunden gezeigt, die jetzt unbedingt auch
solch ein Spielzeug haben möchten. Ich wollte dich fragen, ob du noch mehr davon hast.« Der Krejode verlangsamte seinen Schritt und blieb schließlich stehen. Sein Auge musterte den Jungen nachdenklich. Das, was er sich in den vergangenen beiden Tagen zusammengesponnen hatte, schien doch nicht so realitätsfremd zu sein, wie er zunächst angenommen hatte. »Die Kugel, die ich dir geschenkt habe, war die einzige«, sagte er. »Aber wenn du möchtest, kann ich viele davon herstellen.« »Das würdest du tun?« vergewisserte sich der Junge eifrig. »Warum nicht. Ich habe viel Zeit und freue mich immer, wenn ich einer Beschäftigung nachgehen kann.« Die Begeisterung des Kleinen kannte kaum noch Grenzen. »Ich brauche siebzehn Stück.« »So viele Freunde hast du?« fragte Quahrt in gespielter Anteilnahme. »Das ist ungewöhnlich, nicht?« »Ja«, gab der Junge zu, ging jedoch nicht weiter darauf ein. »Wann kann ich die Kugeln abholen?« »Versuche es in drei Tagen. Vielleicht bin ich bis dahin fertig.« Der Kleine bedankte sich und wollte davonlaufen, aber Quahrt hielt ihn zurück. »Wie heißt du überhaupt, mein Junge?« »Ich bin Kyrlt aus der Familie der Behutsamen«, verkündete er ebenso stolz wie bereitwillig, während er sich im Griff des Älteren wand. »Kann ich jetzt gehen?« »Geh.« Der Krejode ließ ihn los. »Aber denke daran, daß viele deiner Freunde nur deshalb Freunde sind, weil sie eines der Kügelchen haben möchten.« In der Folgezeit arbeitete der laute Quahrt wie ein Besessener. Stundenlang wanderte er an der Steilwand entlang, um Stellen zu finden, die geeignet waren, Gesteinsbrocken herauszuschlagen. In seinem Haus bearbeitete er sie, formte mit primitiven Werkzeugen kleine Kugeln aus ihnen.
Die Bedenken, die er anfangs gehabt hatte, waren längst begraben. In dem behutsamen Kyrlt sah er ein eindrucksvolles Beispiel dafür, daß die Ausstrahlung der Steine tatsächlich harmlos war. Es gab keinen Grund anzunehmen, daß bei anderen Kindern eine abweichende Wirkung eintreten würde. Ruhigen Gewissens überließ Quahrt die Kugeln dem Behutsamen, der sie an seine Freunde verteilen würde. Ihnen allen mochten sie ein wenig Einsicht in die Geheimnisse des Lebens vermitteln. Er ahnte nicht, daß diese Lebenseinsicht durch die herrschenden Zustände unversehens in gefährliche Bahnen gelenkt werden konnte, daß aus einer positiven Grundhaltung heraus der Drang übermächtig werden konnte, die weitgehend negativen Umstände gewaltsam zu ändern. Hätte der laute Quahrt es gewußt, er hätte niemals jemandem eine der Kugeln überlassen. So aber kam es – nach Jahren – zur Katastrophe. * Krachend flog die Tür auf, und der listige Opork taumelte in den Raum. Er blutete aus mehreren Wunden und ließ sich mit letzter Kraft zwischen den Stützen einer Sitzgelegenheit nieder. Die anderen waren hochgefahren und starrten ihn entsetzt an. Sie schienen wie gelähmt, denn keiner machte Anstalten, dem Kampfgenossen zu helfen. Lediglich die hungrige Filta begab sich sofort in das Nebenzimmer, um Verbandsmaterial zu holen. »Was ist geschehen?« fragte der behutsame Kyrlt nach einer Weile. »Warum bist du verletzt?« »Sie sind hinter mir her«, stöhnte Opork. Sein dreiecksförmiges Gesicht war vor Schmerz verzogen. »Ich fürchte, sie haben Wind von der Sache bekommen.« Betretenes Schweigen machte sich breit, während Filta den Raum
wieder betrat und den Verletzten notdürftig behandelte. »Wie konnte das geschehen?« fragte schließlich jemand. »Was weiß ich!« fuhr Opork ihn an, weil er den Verdacht hatte, daß die anderen in ihm den Schuldigen suchten. »Jemand hat nicht dicht gehalten, vermutlich.« »Konntest du sie wenigstens abhängen?« »Natürlich! Glaubst du, sonst wäre ich hergekommen?« »Fangt jetzt bitte keinen Streit an, Freunde«, mischte sich der behutsame Kyrlt ein. »Es hat weder Sinn, daß wir uns gegenseitig Vorwürfe machen, noch daß wir jemanden verdächtigen. Vielmehr sollten wir überlegen, wie wir uns auf die veränderte Situation einstellen.« Allmählich beruhigten sich die Gemüter. Sie waren dreizehn Personen, allesamt mit dem festen Vorsatz, der herrschenden Schicht den Garaus zu machen und das Gesellschaftssystem auf Railen zu sanieren. Seit ihrer Kindheit, als Kyrlt sie mit seltsam auf ihren Geist wirkenden Steinkugeln versorgte, trugen sich Zweifel mit sich herum, ob die Verhältnisse auf dem Planeten eines Krejoden würdig waren, und mit den Jahren waren diese Zweifel mehr und mehr gewachsen, bis sie schließlich in der Einsicht gipfelten, gewaltsam gegen jene vorzugehen, die Unterdrückung praktizierten. Drei nebeneinander liegende, enge Kellerräume hatten sie zu ihrem Aktionszentrum gemacht. Hier trafen sie sich regelmäßig, um Besprechungen abzuhalten und Pläne zu schmieden. Durch sorgsame Arbeit im Untergrund gewannen sie mit der Zeit immer mehr Sympathisanten. Geschickt verstanden sie es, im verborgenen zu wirken und die Sicherheitskräfte ein ums andere Mal in die Irre zu führen. Das war jetzt anders. Jemand aus der Sympathisantenszene mußte einen konkreten Hinweis geliefert haben, sonst wäre der Angriff auf Opork nicht zu erklären gewesen. Es bedeutete, daß sie ihre bisherige Strategie vergessen konnten.
»Wir müssen unseren Plan ändern«, forderte Filta. »Wenn der Informant mehr als Namen verraten hat, sind wir alle in höchster Gefahr.« »Dann gibt es nur eine Alternative«, sagte der listige Opork. Durch die Behandlung, die ihm die Krejodin hatte zuteil werden lassen, waren seine Schmerzen weitgehend gemildert worden. »Wir müssen sofort zuschlagen!« »Das wäre tödlich«, widersprach der behutsame Kyrlt. »Die Vorbereitungen sind noch längst nicht abgeschlossen, und außerdem sind die Sicherheitskräfte jetzt gewarnt. Wir müssen warten. Die Zeit ist noch nicht reif.« »Je länger wir noch zögern, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, daß sie unseren Schlupfwinkel entdecken«, hielt ihm Opork entgegen. »Nein, wenn es noch eine Chance für uns gibt, dann gibt es sie nur jetzt!« Eigentlich war Kyrlt der einzige, dem es unangebracht erschien, den Zeitpunkt für den Beginn der Rebellion vorzuziehen. Nicht ohne Grund bezeichnete sich die Familie, der er entstammte, als die Behutsamen. Ihm lag nichts an schnellen, übereilten Entschlüssen, die sich im Nachhinein vielleicht als verhängnisvoll erwiesen. Er war für Abwarten und vorsichtiges Taktieren. Aber damit stand er allein. Die Freunde waren anderer Meinung. Ein Blick auf den Körper Oporks, der von den Sicherheitskräften übel zugerichtet worden war, genügte ihnen, um sich der Befürchtung anzuschließen, daß es bald allen so ergehen könnte. Niemand wußte, wieviel brisante Information der Verräter insgesamt weitergegeben hatte. Es war denkbar, daß der Zeitplan ihres Vorgehens längst bekannt war. Ein zweites Mal würden sie keine Gelegenheit erhalten, etwas für die Befreiung der Bevölkerung Railens zu unternehmen. Zu lange hatten sie darauf gehofft, ihre Ideen in die Tat umsetzen zu können. Zu sorgfältig hatten sie sich vorbereitet, und zu nah war der Tag, an dem es beginnen sollte, als daß sie noch bereit gewesen
wären, das Unternehmen aufzuschieben. Selbst Kyrlt schloß sich nach heftiger Diskussion den Argumenten der anderen an. »Gut«, resümierte der listige Opork schließlich. »Wir schlagen los. In dieser Nacht!« * So nahm das Unheil seinen Lauf – das Unheil für den Planeten Railen, für die dort lebenden Krejoden, und insbesondere für den lauten Quahrt, der durch die Verteilung seiner Kügelchen den Stein ins Rollen gebracht hatte. Dennoch erwuchs aus der Katastrophe, deren Anbahnung wir geschildert haben, jener Faktor, der uns befähigen könnte, dem Dunklen Oheim Paroli zu bieten. Viele Zufälle waren geschehen, von denen wir damals noch nichts wußten, und die sich doch bereits zum winzigen Bruchteil eines Mosaiks zusammengefügt hatten, das nun kurz vor seiner Vollendung steht. 3. Wer über die Freiheit des Denkens verfügte und vor der Wahl stand, auf die Rückkehr eines guten Freundes zu warten oder ihn seinem Schicksal zu überlassen und zu riskieren, sein Eintreffen vielleicht nur um eine Minute zu verpassen, der wußte, wie er zu handeln hatte. Wenn freilich andere zu dem Freund eine weniger enge Beziehung pflegten und auf eine Entscheidung drängten, die der eigenen Einstellung zuwiderlief, geriet man unweigerlich in einen Konflikt, dessen Auflösung oftmals so schwer war, daß er zu niederschmetternden Ergebnissen führte. So oder ähnlich mochte es Usmaender ergangen sein, als er nach einem Rundgang durch die Wohnbezirke des Sternenschiffs die
Steuerzentrale betrat. Er brauchte nur einen kurzen Blick auf die Bildschirme zu werfen, um festzustellen, daß draußen die Morgendämmerung bereits einsetzte. Aus der Dunkelheit hinter den Tiefstrahlern am Rand des Landefelds schälten sich allmählich die klotzigen Gebäude der Raumhafenverwaltung heraus, und der Himmel zeigte sich im fahlen Licht des beginnenden Tages. Nirgendwo war um diese Zeit ein lebendes Wesen zu erkennen, alles schien erstarrt und ausgestorben. »Wir können nicht länger warten«, sagte der Havare. »Wir müssen Faderkyhl und die Koohlk abschreiben.« Zwertelis, die die Bereitschaftsanzeigen der Triebwerke kontrolliert hatte, fuhr herum und sah ihn ungläubig an. »Das ist nicht dein Ernst!« protestierte sie. »Du kannst sie nicht einfach im Stich lassen!« »Ich fürchte, mir bleibt keine Wahl«, entgegnete Usmaender niedergeschlagen. »Die Stimmung unter den Passagieren wird immer schlechter. Sie sind ungeduldig und warten darauf, daß wir endlich aufbrechen. Ich kann sie nicht mehr lange hinhalten.« »Bis jetzt haben sie noch immer auf dich gehört.« »Ganz recht: bis jetzt! Aber ihre Bereitwilligkeit, sich meinen Anweisungen zu beugen, läßt nach. Es fällt mir bei manchen sogar schon schwer, ihnen klarzumachen, daß wir das Marantroner‐Revier verlassen müssen. Sie werden immer unruhiger.« »Ist das ein Grund, unseren besten und zuverlässigsten Freund der Verbannung auf einem ihm fremden Planeten preiszugeben?« fragte Zwertelis vorwurfsvoll. »Eine solche Einstellung hätte ich nicht von dir erwartet, Usmaender.« »Was soll ich denn tun!« versuchte sich der Havare zu verteidigen. »Wenn wir dieses Schiff sicher steuern wollen, sind wir auf jeden angewiesen, der sich an Bord befindet. Wir können es uns nicht leisten zu riskieren, daß auch nur einer seine Mitarbeit aufkündigt. Und diese Gefahr besteht durchaus, wenn wir noch länger zögern.« Aus dem Blick der Denkenden sprach Unverständnis.
»Wenn du den Start anordnest, ohne daß wir wissen, was mit Faderkyhl geschehen ist und ob er noch lebt«, sagte sie hart, »wirst du vor allem auf meine Mitarbeit verzichten müssen! Ich weiß nicht, was dir wichtiger ist.« Sie wußte genau, welche Überlegungen den Havaren beschäftigten, und es lag ihr fern, ihn in irgendeiner Form zu erpressen. Aber momentan sah sie keine andere Möglichkeit, ihn von einem sofortigen Start abzuhalten. »Du verstehst mich nicht, Zwertelis«, hielt Usmaender ihr vor. »Ich tue es nicht gerne, aber ich bin gezwungen, zwei verschiedene Einstellungen miteinander in Einklang zu bringen. Ich muß Prioritäten setzen, so schwer es mir fällt. Du kennst meine Entscheidung, und du wirst mich durch Drohungen nicht umstimmen können.« »Ich habe dir nicht drohen wollen. Aber es ist meine Überzeugung, daß du falsch entschieden hast.« Ihr Tonfall wurde beschwörend. »Wir sollten noch warten!« »Es hat keinen Sinn. Auch du erinnerst dich der Worte von Xyriell, bevor sie das Schiff verließ. Sie sagte, wir sollten nicht auf eine Rückkehr hoffen, wenn die Nacht erst vorbei ist. Im Gegensatz zu dir weiß ich, wie das gemeint war, und ich weiß auch, daß wir umsonst warten würden.« »Dann glaubst du, daß beide diese Nacht nicht überlebt haben?« »Ja. Ich habe aus den Gedanken der Koohlk erfahren, welches Geheimnis über diesem Planeten lastet. Glaub mir, wenn sie bis jetzt nicht zurück sind, werden sie nie mehr kommen.« »Du denkst hoffentlich nicht«, sagte Zwertelis eine Spur schärfer, »daß ich mein Urteil ändere, solange du nur ominöse Andeutungen machst. Vielleicht solltest du mir endlich erklären, was du wirklich weißt und worin das angeblich so schreckliche Geheimnis besteht.« »Nein. Es ist besser, wenn ich es für mich behalte.« Abrupt wandte sich die Denkende dem Ausgang zu. »Dann bleibe ich dabei«, verkündete sie verärgert. »Wenn du
startest, kannst du auf meine Mithilfe nicht mehr zählen.« Noch während sie sich anschickte, die Zentrale demonstrativ zu verlassen, fiel ihr Blick auf einen Bildschirm der Außenbeobachtung. Fast hätte sie aufgeschrien. Am Rand des Landefelds, dort, wo Verwaltungsgebäude und ein Lärmschutzwall den Raumhafen begrenzten, hatte sie eine schattenhafte Bewegung ausgemacht. Wie angewurzelt blieb sie stehen. »Was war das?« fragte sie gespannt, während sie sich bemühte, Genaueres zu erkennen. »Hast du es gesehen?« Verständnislos musterte Usmaender die Reihe der Bildschirme. »Was meinst du?« »Da hat sich etwas bewegt«, behauptete Zwertelis und tastete eine Ausschnittsvergrößerung. Die Front eines Kontrollgebäudes rückte scheinbar näher, dann schwenkte das Bild langsam zur Seite und zeigte eine Gruppe freistehender Buschgewächse. »Da ist nichts«, stellte der Havare fest. »Du hast dich getäuscht.« Zwertelis senkte enttäuscht den Kopf. Wahrscheinlich war sie tatsächlich ihrer Einbildungskraft zum Opfer gefallen, weil sie darauf gehofft hatte, der Noot könnte doch noch auftauchen. Nach allem, was Usmaender angedeutet hatte, durfte sie das jedoch nicht mehr erwarten. Schon wollte sie die Vergrößerung zurückschalten, da tauchte der Schatten abermals auf. »Da!« rief sie, um das Interesse des Havaren wieder auf den Monitor zu lenken. Hinter den Büschen war er zu erkennen: ein gedrungener, massiger Körper, der sich, sorgsam Schutz vor Entdeckung suchend, langsam und geduckt bewegte … Usmaender stieß einen Laut der Überraschung aus. »Es ist Faderkyhl!« sagte er fassungslos. Einen Moment stand er noch unschlüssig da, dann kam wieder Leben in ihn. Hastig bewegte er sich, betätigte mehrere Schaltungen, mit denen er die Schleusen öffnete und die Triebwerke warmlaufen ließ. Dumpfes
Rumoren erfüllte die Schiffszelle. »Er hat es geschafft!« Die Art, wie er es sagte, ließ in Zwertelis jeglichen Zorn über sein bisheriges Verhalten erlöschen. Sie erkannte die große Erleichterung, die der Havare empfand, weil der Freund doch noch vor dem unumgänglichen Start zurückkehrte. Aufmerksam beobachtete sie, wie sich Faderkyhl verhielt. Über die Entfernung von kaum hundert Metern konnte ihm die Aktivierung der Triebwerke nicht entgangen sein. Er mußte wissen, daß sie ihn entdeckt hatten. Dennoch zögerte er, richtete sich nur langsam auf, um sogleich wieder im Schutz des Buschwerks zu verschwinden. »Komm schon …!« murmelte die Denkende so beschwörend, als könne der Freund sie hören. »Lauf los …! Wenn die Hafenverwaltung erst merkt, daß wir zum Start ansetzen, ist es zu spät!« »Beruhige dich«, redete Usmaender ihr zu. »Ich bin sicher, daß die Koohlks am Tag niemandem etwas zuleide tun. Wenn ich Vorbereitungen zu einem Alarmstart treffe, ist das eine reine Vorsichtsmaßnahme. Man kann nie wissen …« In diesem Augenblick kam Bewegung in den Noot. Er richtete sich auf und stürmte los, brach durch die dünnen Blätter der Büsche und hielt geradlinig auf das Sternenschiff zu. Zwertelis erkannte, daß er nackt war und humpelte. Überall an seinem Körper klafften tiefe Wunden in den Schuppen. »Bei meinen Kindern!« schrie sie entsetzt auf. »Was haben sie mit ihm angestellt!« So, wie Faderkyhl zugerichtet war, erschien es ihr wie ein Wunder, daß er überhaupt noch laufen konnte. Sein Überlebenswille mußte unbeugsam sein, sonst hätte er kaum die Kraft dazu aufgebracht. Erst als Usmaender die Schleusenschotte schloß, gelang es ihr, sich zu beruhigen. Der Noot war in Sicherheit, nur das war jetzt wichtig. Die medizinische Ausrüstung an Bord der ZIEMEN war umfangreich genug, um ihm fachgerechte Behandlung zu
gewähren. »Warum startest du nicht endlich?« wandte sie sich an den Havaren. »Willst du warten, bis sie das Schiff stürmen?« »Rede keinen Unsinn! Ich habe dir eben erklärt, daß sie bei Tag nichts gegen uns unternehmen werden! Du kannst es mir glauben.« Über die interne Beobachtungsanlage konnten sie Faderkyhls Weg verfolgen. Erschöpft, aber zielsicher, näherte er sich der Steuerzentrale. Zufällig trat der Camagur aus einem Seitenkorridor und stützte ihn, ohne lange zu fragen. »Vielleicht sollten wir doch warten, ob auch Xyriell noch auftaucht«, murmelte Usmaender, der unentschlossen vor den Startkontrollen stand. Zwertelis hörte es mit Beschämen. Vor lauter Sorge um ihren Freund hatte sie die Koohlk fast vergessen, hatte sogar auf Aufbruch gedrängt, obwohl sie kurz zuvor alles getan hatte, den Havaren davon abzuhalten. Ihr selbst war diese Reaktion unverständlich. Sie erhielt jedoch keine Gelegenheit, nach einer Erklärung für ihr Verhalten zu suchen oder sich gar zu rechtfertigen. In diesem Moment nämlich betrat Faderkyhl das Steuerzentrum. Der Camagur hielt sich an seiner Seite und führte ihn zu einer Sitzgelegenheit. Kaum noch fähig, sich auf den Beinen zu halten, sank der Noot hinein. Usmaender trat auf ihn zu. »Wir sind froh, daß du zurück bist«, sagte er ehrlich. »Das …«, stammelte Faderkyhl schwach, »… das habe ich der Koohlk zu verdanken. Ohne sie wäre ich jetzt tot.« »Wo ist sie?« hakte der Havare nach. »Wird sie noch kommen?« »Ich glaube … nein. Sie wollte nicht auf das Schiff zurück.« Zu weiteren Äußerungen war der Noot nicht mehr fähig. Sein Schädel sank langsam zur Seite. Die Flucht aus der Gewalt der Koohlks mußte seine letzten Kraftreserven aufgezehrt haben. »Wir starten«, verkündete Usmaender. »Die lange Reise beginnt!« Während sich Zwertelis und der Camagur um ihren Freund
kümmerten, betätigte der Havare die entsprechenden Schaltungen. Aufgetankt und in den wichtigsten technischen Funktionen überholt, verließ die ZIEMEN den Planeten der Koohlks und stieß hinein in die düsteren Weiten der Schwarzen Galaxis. * Wahrscheinlich war der Terzog das einsamste Wesen an Bord. Auf dem Planeten Gooderspall beheimatet, verfügte diese staatenbildende Insektenart über eine beachtliche Intelligenz, die jedoch nur in der Gemeinschaft und auf kollektiver Basis voll zur Geltung kam. Für Außenstehende mußte die Denkweise der Terzöge zwangsläufig unverständlich bleiben. Das Garva‐Guva, die Einheitssprache im Marantroner‐Revier, vermochten sie weder zu sprechen noch zu verstehen. Von Tolfex aus seinem Staatssystem herausgerissen und auf der ZIEMEN von seinen Artgenossen isoliert, hatte sich der Terzog, wie alle Geschöpfe an Bord, zunächst äußerst zufrieden und in gewissen Grenzen glücklich gefühlt. Dann, als der Koordinator der Ewigkeit starb und sein Einfluß erlosch, unterlag auch er dem unbekannten und überwältigenden Eindruck der Freiheit. Zwar verstand er nichts von dem, was um ihn herum vor sich ging, welche Pläne seine Mitpassagiere verfolgten, doch begriff er, aus einem Instinkt oder einer Eingebung heraus, daß eine kleine Marmorkugel, von Usmaender überall herumgezeigt, für die neuen Wertmaßstäbe verantwortlich war und daß die anderen gut daran taten, die Bestimmung dieses Objekts zu verwirklichen. Erst mit der Zeit änderte sich seine Einstellung. Je länger die Reise dauerte, desto stärker wurde ihm seine Vereinsamung bewußt. In seiner Heimat hatten Fremde zur Verständigung mit den Terzögen Schockpeitschen benutzt, die in einem bestimmten Rhythmus gegen die Fühler der Insektenabkömmlinge geschlagen wurden. Auf dem
Sternenschiff gab es solche Instrumente nicht. Eine Kommunikation mit den anderen war ausgeschlossen. Es führte dazu, daß der Terzog sich in immer stärkerem Maß ins Abseits gedrängt fühlte, daß die Sehnsucht nach einem seiner Lebensart entsprechenden Dasein unter seinesgleichen größer und größer wurde. Die Marmorkugel und deren willensbildenden Eingebungen wurden allmählich verdrängt durch ein mehr ich‐orientiertes Selbstbewußtsein. Nichts von dem, was an Bord im Sinne eines leblosen Objekts geschah, war mehr wichtig. Er wollte zurück nach Gooderspall, wollte leben, wie es ihm zustand, in einem Insektenstaat unter der Obhut einer Königin, in der Gemeinschaft mit anderen Terzögen … Aber er konnte sich nicht verständlich machen. Sein Wunsch blieb ungehört, sein Verlangen versickerte zwischen stählernen Wänden und fremd gewordenen Freunden. Sein Wille war einsamer als er selbst, war gefangen in ihm, wie er im Sternenschiff gefangen war. Mehrere Versuche unternahm er, durch Zeichen und Gesten den anderen begreiflich zu machen, was er empfand und dachte. Erfolg hatte er keinen. Er vergrub sich in seiner Einsamkeit, zog sich in sich selbst zurück, jammerte in sich hinein, litt – bis er plötzlich begriff, daß die Freiheit, die ihm zuteil geworden war, trotz aller Isolation die Möglichkeit der Entscheidung zwischen zwei Alternativen offenließ. In aller Klarheit wurde es ihm bewußt. Er konnte wählen. Die erste Alternative war, das Leben so, wie es sich an Bord gestaltete, zu akzeptieren und sich mit der Unbeeinflußbarkeit des eingeschlagenen Weges abzufinden. Der Terzog entschied sich für die zweite Möglichkeit. Es war der Freitod. *
Als die Nachricht in die Steuerzentrale übermittelt wurde, löste sie bei den Anwesenden Betroffenheit und Bestürzung aus. Vielleicht begriff zumindest Zwertelis, welche Gründe den Terzog zu seinem Schritt bewogen hatte. Auf Cyrsic war sie selbst lange dazu verurteilt gewesen, ihr Leben auf den Rhythmus fremder Geschöpfe einzustellen, mit denen es keine noch so geringe Basis der Verständigung gab. Womöglich war es ihr nur deshalb gelungen, weil sie in der Suche nach ihren Kindern eine Aufgabe gefunden hatte, der sie mit Eifer nachgehen konnte. In gewisser Weise verstand sie die Verzweiflung des Terzogs, wenn sie auch seine Tat nicht billigte. Usmaender hingegen bewegten völlig andere Überlegungen. »Dieser Selbstmord«, sagte er, nachdem er den Schock überwunden hatte, »ist Ausdruck eines Sinneswandels, den ich in mehr oder weniger ausgeprägter Form bereits bei allen Passagieren festgestellt habe. Das begann mit dem freiwilligen Ausscheiden der Koohlk aus der Besatzung, es setzte sich fort mit der steigenden Unlust fast aller unserer Freunde, das Unternehmen mit dem bisherigen Ziel weiter zu verfolgen, und es hat nun mit der Tat des Terzogs einen vorläufigen Höhepunkt erreicht.« »Aber …« Zwertelis gelang es ungleich schwerer, ihre Bestürzung niederzukämpfen. »… warum? Ich meine: woran kann das liegen? Bisher waren wir uns alle einig, daß wir die Ringwelt ansteuern müssen, wenn wir auch immer noch nicht wissen, was wir uns eigentlich darunter vorzustellen haben. Wie erklärst du dir den Meinungsumschwung?« »Das ist nicht schwer«, behauptete Usmaender. Aus einer Tasche seiner Kombination zog er die Marmorkugel hervor und betrachtete sie nachdenklich. »Ich glaube, daß die Zustimmung unserer Freunde, die Ringwelt anzufliegen, weniger meinen Überredungskünsten zuzuschreiben war, als vielmehr der Ausstrahlung dieses Objekts. In diesem Stein muß eine Kraft
gespeichert sein, die nicht nur persönliche Freiheit verleiht, sondern auch in der Lage ist, Entscheidungen massiv zu beeinflussen, oder anders ausgedrückt: das Allgemeinwohl den Interessen des einzelnen überzuordnen.« »Das würde erklären, warum anfangs keiner an sich selbst dachte, sondern nur bestrebt war, der Kugel zu ihrer Bestimmung zu verhelfen.« »Richtig. Ich nehme an, daß diese positive Kraft sich nun allmählich erschöpft. Wir verlieren zwar nicht unsere Freiheit, aber wir denken wieder mehr an uns selbst, zumindest die meisten von uns.« Bedauernd steckte Usmaender die Kugel in die Tasche zurück. »Das Schlimme daran ist, daß ich mir einen Teil der Schuld selbst zuschreiben muß. Wahrscheinlich haben meine ständigen Versuche, Kontakt zu den seltsamen Stimmen aufzunehmen, zusätzliche Energie gekostet.« »Du solltest dir keine Vorwürfe machen«, sagte Zwertelis. »Die Kontakte, die du anstrebst, sind notwendig, um das Ziel zu erreichen. Bis jetzt kennen wir nur die generelle Richtung, und wenn wir uns nicht weiter darum bemühen, genauere Informationen zu erhalten, werden wir die Ringwelt niemals finden.« »Das heißt, wir müssen der Kugel weitere Kraft entziehen – trotz der Risiken, die sich dadurch abzeichnen …« »Natürlich; andernfalls könnten wir das Unternehmen von vornherein abblasen. Wir müssen darauf bauen, daß die anderen auch ohne direkte Beeinflussung bereit sind, uns weiter zu unterstützen. Immer wieder müssen wir ihnen klarmachen, daß unsere Mission eine große galaktische Bedeutung hat und daß man dafür die eigenen Interessen hintanstellen muß. Ich glaube schon, daß sie es einsehen werden.« Usmaender teilte den Optimismus der Denkenden nicht. Er bewegte die Arme in einer Weise, die starke Skepsis ausdrückte. »Wenn die Entwicklung, die wir bis jetzt erlebt haben, sich
fortsetzt, werden wir einige Schwierigkeiten bekommen«, meinte er. Dann, nach kurzem Zögern, ging es wie ein Ruck durch seinen knochigen Körper. »Aber vorerst werden wir den eingeschlagenen Weg weiter verfolgen! Das Ziel ist weit, aber erreichbar!« Fast schien es, als hätte ihm Zwertelisʹ Zuspruch neue Energie vermittelt. Das nächste Eintauchen in den Normalraum stand bevor, und die Einleitung der nötigen Schaltungen beanspruchte seine ganze Aufmerksamkeit. Das Marantroner‐Revier hatten sie längst verlassen, und hier, in Regionen, in denen weniger ungeordnete Zustände herrschten, mußten sie auf der Hut sein, nicht unversehens einem Verband von Organschiffen vor die Geschütze zu fliegen. Einen geeigneten Austrittspunkt zu finden, der von einer Sonne mit ihrem weitreichenden Ortungsschutz markiert wurde, war nicht immer leicht. Während der Havare sich darum kümmerte und sich wieder in seine Arbeit vertiefte, vergewisserte sich Zwertelis, daß alle Vorbereitungen getroffen wurden, die Leiche des Terzogs dem Weltraum zu übergeben … * Nicht, daß Faderkyhl es als lästig empfand, wenn sich seine Freunde um seine Gesundheit sorgten. Er war noch immer stark geschwächt und mußte zeitweise heftige Schmerzen erdulden, die den Heilungsprozeß begleiteten. Jeder Beweis der aufrichtigen Anteilnahme tat ihm gut, und das Bewußtsein, daß er nicht alleine stand und jederzeit Zuspruch erwarten durfte, richtete ihn zusätzlich auf. Aber die Häufigkeit, mit der insbesondere der Tamater und der Camagur seine Unterkunft aufsuchten, hatte schon etwas Nervenzerfetzendes an sich. Als die beiden in selten zuvor demonstrierter Eintracht die Kabine betraten, wußte sich Faderkyhl deshalb nicht anders zu helfen, als
den Schädel zur Seite zu drehen und einen nootischen Fluch auszustoßen. Dies bewirkte indes das genaue Gegenteil von dem, was er sich erhofft hatte. Die Besucher kannten die Sprache der Trimor‐Echsen nicht und mochten die Lautäußerung für den Ausdruck großen Schmerzes gehalten haben. Der Tamater beschleunigte seine Gangart, hüpfte um das Lager Faderkyhls herum und legte ihm besorgt eines der Ärmchen auf den Kopf. »Wie fühlst du dich? Können wir dir irgendwie helfen?« »Bis vor wenigen Sekunden«, knurrte der Noot, »habe ich mich sehr wohl gefühlt. Jetzt aber, nachdem ich dich gesehen habe, hat sich das schlagartig geändert.« Beleidigt zog der Zwerg seinen Arm zurück. »Was sagst du dazu?« wandte er sich an den Camagur. »Wir kommen in bester Absicht hierher und werden dafür noch ausgeschimpft.« Der Camagur reagierte auf den Gefühlsausbruch des Tamaters mit der ihm eigenen Gelassenheit. »Was regst du dich auf!« meinte er gelangweilt, während er mit den Facettenaugen einen imaginären Punkt fixierte. »Erwartest du, daß ein sterbenskranker Noot in der Lage ist, deinen dauernden Anblick ohne psychische Schäden zu verkraften? Glaub mir, Freund, dazu muß man kerngesund sein!« »Ach nein«, empörte sich der Tamater und fuchtelte aufgebracht mit den Armen. »Wir beide treffen uns ja auch ziemlich oft. Willst du behaupten, daß du kerngesund bist?« »Allerdings.« »Welch maßlose Selbstüberschätzung!« urteilte der Zwerg. »Sieh dich doch an, mit deiner schwarzen Haut, den komischen Augen und den Stelzenbeinen! Du bist genauso krank wie jeder von uns!« Vor Freude und Genugtuung, daß er dem Camagur endlich die vielen Demütigungen der letzten Zeit heimgezahlt hatte, hüpfte der Tamater mehrmals quer durch den Raum. Mit den beiden
Sprachorganen für Ausgeglichenheit und Hektik produzierte er dabei abwechselnd schrille Tonfolgen. Aber sein Triumph währte nicht lange. In drohender Gebärde trat der Camagur einen Schritt nach vorn, was den Zwerg veranlaßte, sich kreischend hinter dem Lager des Noots in Sicherheit zu bringen. »Hilf mir, Faderkyhl!« jammerte er. »Der Lange geht auf mich los. Er hat den Verstand verloren.« Mühsam richtete der Noot seinen von dicken Verbänden umschlungenen Oberkörper auf und bedachte die Streitenden mit bösen Blicken. Die von Schmerzen verursachte Trägheit, die seinen Bewegungen anhaftete, verlieh ihm etwas von der kraftvollen Massigkeit eines erwachenden urzeitlichen Ungeheuers. »Wer von euch den Verstand verloren hat, wird sich wahrscheinlich nie zufriedenstellend ergründen lassen«, brummte er mit dumpfer Stimme. »Wenn ihr euch aber nicht bald dazu entschließt, eure Zankereien an anderer Stelle auszutragen, handelt ihr euch zu gegebener Zeit solche Prügel von mir ein, daß diese Frage bedeutungslos wird.« Während Faderkyhl auf das Lager zurücksank, vollführte der Zwerg einen Sprung, der ihn wieder näher an den Camagur heranführte. »Ha!« machte er triumphierend. »Damit hat er auch dich gemeint!« »Ich glaube, du verkennst …«, setzte der Camagur an, aber ein Geräusch wie das klagende Röhren eines angeschossenen Tieres ließ ihn verstummen. »Hört – endlich – auf!« schrie Faderkyhl mit solcher Lautstärke, daß man hätte meinen können, er sei darum bemüht, seine Stimme ohne die Hilfe technischer Anlagen bis in die Zentrale dringen zu lassen. Erst jetzt begriffen die Freunde, daß der Noot mit seinen ausgefeilten Worten den Spaß nicht hatte mitmachen, sondern beenden wollen. Beinahe beschämt traten sie, Seite an Seite friedlich
vereint, an das Lager heran. »Wir wollten dich nicht ärgern«, bekannte der Camagur zerknirscht. »Wir dachten, wir könnten dich etwas aufmuntern.« »Dazu braucht ihr nicht ein solches Theater zu inszenieren. Ihr helft mir mehr, wenn ihr mich eine Weile in Ruhe laßt.« »Das werden wir tun«, versprach der Tamater verständnisvoll und wandte sich dem Ausgang zu. »Bleib hier, du Narr!« rief der Camagur ihm nach. »Hast du vergessen, warum wir hier sind!« Der Zwerg blieb stehen, als sei er gegen eine Wand gelaufen. Einen Moment verharrte er in dieser Position, dann kam er, etwas vor sich hin murmelnd, an Faderkyhls Krankenlager zurück. »Außer der beabsichtigten Aufmunterung liegt uns noch etwas am Herzen«, erklärte der Camagur zögernd. Der Noot musterte die beiden Freunde auffordernd. »Also? Heraus damit!« »Wir …« Es war dem Camagur sichtlich unangenehm, davon anzufangen, doch schließlich platzte es aus ihm heraus: »Nun, wir möchten zurück nach Hause, zu unseren Freunden und Familien!« »Diesen Wunsch«, meinte Faderkyhl leichthin, »werden wir alle irgendwann einmal verspüren. Was habe ich damit zu tun?« »Von allen Wesen an Bord hast du die besten Beziehungen zu Zwertelis und Usmaender«, erklärte der Camagur. »Wir wollten dich bitten, mit ihnen zu reden. Vielleicht kannst du sie dazu bringen, die Reise zur Ringwelt abzubrechen.« Erst jetzt begriff der Noot, daß die Freunde keiner Stimmung ausgesetzt waren, die sich alsbald wieder legen würde, sondern daß sie, dem Beispiel von Xyriell folgend, einen Sinneswandel durchmachten, dessen Ernsthaftigkeit weitreichende Folgen haben konnte. »Ihr wollt umkehren?« vergewisserte er sich fassungslos. »Das sagte ich.« Faderkyhl schwieg betroffen. Noch vor kurzer Zeit waren alle
Passagiere geradezu besessen gewesen, die Marmorkugel an das ihr zugedachte Ziel zu transportieren und damit einen Beitrag zu leisten, den positiven Kräften in der Galaxis zum Durchbruch zu verhelfen. Niemand hatte je nach den persönlichen Opfern gefragt, die er zu bringen hatte. Nach dem schrecklichen Schicksal, das Tolfex ihnen zugedacht hatte und dem sie nur knapp entronnen waren, schien es auch bedeutungslos. Woran es lag, daß die Freunde plötzlich Sehnsucht nach der Heimat verspürten, entzog sich seinem Begriffsvermögen. Er wußte nur, daß er Zeuge einer Entwicklung wurde, die das Unternehmen letztlich zum Scheitern verurteilen konnte. Das galt es zu verhindern. »Hört mir zu«, sagte er ruhig und bemühte sich, möglichst verständnisvoll und sachlich zu wirken. »Ich kann euch nachfühlen, wie euch manchmal zumute ist. Aber ihr dürft nicht nur an euch denken, sondern müßt auch die Einstellung der anderen berücksichtigen. Sie nehmen große persönliche Entbehrungen auf sich, um die Mission erfolgreich durchzuführen, und denken sicherlich nicht weniger wehmütig an ihr Zuhause zurück wie ihr. Ihr wißt, daß wir für ein Schiff wie die ZIEMEN eigentlich viel zu wenig Besatzungsmitglieder sind. Jeder von uns ist wichtig, um unsere Sicherheit zu gewährleisten. Es wäre fatal, wenn ihr jetzt, nachdem uns bereits die Koohlk verlassen hat, eure Hilfe ebenfalls versagen wolltet. Wer soll denn die Nahrungsautomatik warten, wenn nicht ein Spezialist wie du, Camagur! Und gibt es einen versierteren Fachmann für die Geschützstände – falls wir sie gebrauchen müssen – als dich, Tamater! Nein, ihr könnt jetzt nicht einfach abspringen und die anderen im Stich lassen. Ihr müßt bei uns bleiben, bis das Unternehmen beendet ist und wir den Rückweg ins Marantroner‐Revier antreten. Das kann euch niemand befehlen, und es wird euch auch niemand dazu zwingen. Aber ich bitte euch darum.«
Die Freunde hatten ihm schweigend und nachdenklich zugehört, und Faderkyhl hoffte bereits, daß sein Appell nicht ohne Wirkung verhallen würde. Aber er täuschte sich. Er sah es an der ablehnenden Haltung, die die beiden jetzt einnahmen. »Du hast uns mißverstanden«, sagte der Camagur ungewöhnlich ernst. »Es geht nicht um den Tamater und mich. Es geht nicht darum, daß wir die anderen im Stich lassen wollen. Nein, Faderkyhl, das ist nicht das Problem. Was wir dir vorgetragen haben, bewegt die anderen in gleichem Maß. Es betrifft uns alle.« * Nach dem Fortgang der Koohlk und dem Freitod des Terzogs war die Stimmung an Bord immer schlechter geworden. Hatten die Passagiere anfangs darauf gedrängt, die Mission so zügig wie möglich zum Abschluß zu bringen, überwog jetzt die Meinung, daß es vernünftiger sei, das Unternehmen auf der Stelle abzubrechen und ins Marantroner‐Revier zurückzukehren. Die Gründe für diese Forderung lagen auf der Hand. Von jeder Art hatte Tolfex nur einen Vertreter auf die ZIEMEN bringen lassen. Sie alle waren zwar Freunde geworden, aber es war nicht zu verleugnen, daß sie dennoch einsam und isoliert waren. Immer stärker sehnten sie sich nach ihrem angestammten Lebensraum zurück und solange das Marantroner‐Revier nicht von einem neuen Neffen kontrolliert wurde, durfte es, bei den dort herrschenden Verhältnissen, nicht schwer sein, die verschiedenen Heimatplaneten anzusteuern und die Entführten gefahrlos dort abzusetzen. Die Idee fand unter den Passagieren um so mehr Befürworter, als Usmaender sich weigerte, auf den Vorschlag einzugehen. Schließlich war der Druck der Mannschaft so groß geworden, daß der Havare eine Versammlung einberief, in der er seine Argumente nochmals überzeugend vortragen wollte. Als verbalen Mitstreiter
hatte er Faderkyhl verpflichtet, der sich in den vergangenen Stunden überraschend schnell von seinen Verletzungen erholt hatte. Die Marmorkugel trug er ebenfalls bei sich, aber die Hoffnung, daß sie noch viel bewirken könne, war unterdessen weiter geschrumpft. Zwertelis verfolgte die Diskussion von ihrem Platz in der Steuerzentrale aus. Nach dem Orientierungsaustritt hatte das Sternenschiff seine Position nicht mehr verändert. Es befand sich im Orbit um eine Sonne, deren vielfältige Strahlungen hinreichenden Schutz vor den Orter‐ und Tasterimpulsen patrouillierender Organschiffe boten. Die Gefahr einer Entdeckung war also verschwindend gering, und solange nichts Ungewöhnliches geschah, durfte die Denkende es sich leisten, die verschiedenen Argumente, die in der Debatte vorgetragen wurden, mit anzuhören. Auf einem Bildschirm erkannte sie die bunte Vielfalt der verschiedenen Arten. Keines dieser Wesen glich dem anderen, und doch bildeten sie fast so etwas wie eine verschworene Gemeinschaft, der sich nur der Havare und der Noot nicht angeschlossen hatten. Als Wortführer agierte zu Zwertelisʹ Überraschung der Bratude, ein behaartes, affenähnliches Wesen, das ihr eher als ruhig und verschlossen bekannt war. »Eine Welt mit einem Ring sollen wir ansteuern«, sagte er eben in vorwurfsvollem Tonfall. »Aber wir wissen weder, was wir uns darunter überhaupt vorzustellen haben, noch wo dieses Ziel genau liegt. Findest du nicht, daß das bereits Gründe genug sind, die Suche aufzugeben?« »Nein«, widersprach Usmaender. Er deutete auf die Marmorkugel, die vor ihm auf einem Tisch lag. »Über dieses Objekt habe ich von den Unbekannten das Wissen übermittelt bekommen, daß die Ringwelt in der Nähe des galaktischen Zentrums zu finden ist. Zu gegebener Zeit werde ich weitere Informationen erhalten.« »Wenn du keinen Kontakt mehr zustande bringst? Was willst du dann tun?« »Dann können wir die Suche immer noch auf eigene Faust
fortsetzen. Die kosmopolitische Bedeutung unseres Unternehmens gebietet es.« »Weißt du überhaupt, was du da sagst?« empörte sich der Camagur. »Zentrumsnähe – das ist ein äußerst dehnbarer Begriff! Wir können ihn zwar nach unserem Gutdünken definieren und begrenzen, aber wir laufen dennoch Gefahr, jahre‐ oder jahrzehntelang in diesem Bereich umherzuirren, ohne auch nur die geringste Spur der Ringwelt zu finden.« »Was bedeutet überhaupt Zentrum?« ergänzte der Bratude. »Welches Zentrum ist gemeint? Das geometrische, das magnetische, das hyperphysikalische oder die Rotationsachse? Wo sollen wir anfangen zu suchen, und wo aufhören?« Am Gesichtsausdruck des Havaren, dessen Mimik ihr mittlerweile vertraut war, erkannte Zwertelis, daß er am Ende seiner Überredungskunst angelangt war. Für ihn sprang jetzt Faderkyhl ein, der, nicht mit dem Status des Kommandierenden belastet, vielleicht die größeren Chancen besaß, die Mehrheit der Versammelten auf seine Seite zu ziehen. Er ergriff die Kugel aus weichem Marmor, hielt sie so hoch über seinen Kopf, daß alle sie sehen konnten, und begann über ihre universelle Bedeutung und den ihr entströmenden Widerschein der Freiheit zu referieren. Zwertelis hörte nicht mehr hin. Ihre Aufmerksamkeit wurde von einer Leuchtplatte abgelenkt, die in schneller Folge zu blinken begonnen hatte. Beunruhigt trat sie darauf zu. Die Bedeutung des Signals war ihr völlig unbekannt, und auch die Funktion des Geräts, das hinter der Platte verborgen war, hatte trotz großer Anstrengungen bislang niemand ergründen können. Hastig überflog sie die übrigen Anzeigen, um festzustellen, ob die plötzliche Aktivierung des unbekannten Aggregats eine Gefahr bedeutete. Nichts wies darauf hin. Der Kurs um die Sonne blieb stabil, die Lebenserhaltungssysteme arbeiteten einwandfrei, die Maschinen im Triebwerksbereich der ZIEMEN liefen weiter mit konstanter Minimalleistung.
Dennoch wurde die Denkende, je länger das Blinkzeichen anhielt, zunehmend nervöser. Sie spürte, daß hier ein Vorgang eingeleitet wurde, der außerhalb ihrer Kontrolle lag. Mit angespannten Sinnen ging sie mehrmals die Kontrollpulte ab, warf immer wieder scheue Blicke auf die Fahrtanzeigen und die Leuchtplatte, ohne sich entscheiden zu können, wie sie sich verhalten sollte. Vielleicht, überlegte sie, wäre es am Vernünftigsten, wenn sie Usmaender benachrichtigte … Da erklang die Stimme. Der Schrecken fuhr Zwertelis durch alle Glieder. Wie angewurzelt blieb sie stehen. Ihr rotes Rückenfell sträubte sich. Es war eine tiefe und dumpfe Stimme, die, obwohl sie nicht mechanisch erzeugt schien, ungemein kalt und modulationslos klang. Es war unmöglich zu lokalisieren, woher sie kam. Von allen Seiten drang sie auf Zwertelis ein, sie sickerte durch Wände, Bildschirme und Apparaturen, schwang mit unheimlicher Intensität durch den Raum – und verhallte zitternd im Nichts. Dann war Stille. Bebend, voller Unwissenheit und Angst, stand Zwertelis inmitten der Steuerzentrale. Die Leuchtplatte war erloschen, sonst hatte sich nichts verändert. Einen kurzen Blick warf sie auf den Bildschirm, der die Versammlung der Passagiere zeigte. Sie alle schwiegen betroffen, sie alle hatten die Stimme ebenfalls gehört. Es war, als habe das Schiff selbst zu ihnen gesprochen, in einer unbekannten Sprache, die niemand verstand. Die Denkende fühlte sich von unwirklicher, eisiger Kälte umgeben. Instinktiv spürte sie, daß die unheimliche Stille nicht lange währen würde. Das Schiff verharrte einen Moment, nachdem es warnend zu ihnen gesprochen hatte, es sammelte Kraft und holte Atem. Gewaltsam unterdrückte Zwertelis den Impuls, diesen Ort zu verlassen und davonzulaufen. Nirgendwo an Bord würde sie Sicherheit finden. Wohin sie sich auch verkroch, der Schrecken würde sie einholen. Dem, was auf sie und ihre Freunde zukam, war
sie hilflos ausgeliefert. Unter ihren Pfoten erzitterte der Boden. Sie wußte, was es bedeutete, und ein wenig half es ihr, die ungeordneten, panischen Gedanken zu sortieren und ihre animalische Furcht abzuschütteln. Die Übertragungsanlage vermittelte ihr aus dem Konferenzraum überraschte Rufe. Mit dieser Entwicklung hatte niemand gerechnet. Die ZIEMEN beschleunigte. Zwertelis erkannte es an den typischen Geräuschen der zu Vollast hochgefahrenen Maschinen, sie sah es auf den Bildschirmen der Außenoptik, wo die Sonne, in deren Orbit sie kreisten, sich langsam aus dem Blickfeld schob, wo ein Pulk von Organschiffen, als deren Kommandanten die ZIEMEN als die Einheit eines Koordinators der Ewigkeit identifizieren, ungeordnet auseinanderstob. Sie fühlte sich klein und unbedeutend, machtlos und verloren. Das Schiff hatte die Initiative ergriffen. Voller Verzweiflung kontrollierte sie die Kursangaben und stellte entsetzt fest, daß die Bewegungsrichtung der ZIEMEN geradlinig ins galaktische Zentrum wies. Wieder überschlugen sich ihre Gedanken. Sie betätigte hastig mehrere Schaltungen, ohne einen Erfolg zu erzielen. Sie drückte die Pfote auf die für Notfälle vorgesehene Kontaktplatte, deren Betätigung normalerweise alle Aggregate stillegte. Nichts geschah. »Zwertelis!« donnerte Usmaenders Stimme aus den Lautsprechern. »Was ist los? Warum beschleunigen wir?« »Wir haben keine Kontrolle mehr über das Schiff!« Über die Rundrufanlage war ihre Meldung in jedem Winkel zu hören. »Hier reagiert nichts mehr! Wir sind verraten …!« 4. Seit dunkle Mächte in dieser Galaxis residieren, seit Dimensionsfahrstühle
Verderben über friedliche Welten bringen und schwarze Kerne in den Sonnen nisten, kennzeichnen Unfreiheit und Unterdrückung das Leben in diesem Teil des Universums. Zu allen Zeiten gab es Wesen oder Gruppen, die sich dagegen auflehnten und die Verhältnisse zu ändern suchten, aber sie waren von vornherein zum Scheitern verurteilt. Sie hatten nichts zu erwarten als unnachgiebige Härte und gnadenlose Vernichtung. Nur auf diese Weise glaubten der Dunkle Oheim und seine Neffen ihre Macht erhalten zu können. Ein Beispiel dafür ist auch das Vorgehen gegen die Rebellen auf dem Planeten Railen. Es wurde nach dem bewährten Muster verfahren, die Aufständischen in ihre Schranken zu weisen und allen anderen Völkern ein Zeichen zu setzen. Erst heute, nach langen Jahren, stellt sich heraus, daß genau diese Handlungsweise für die Sicherheit der herrschenden Mächte die falsche war – und das verleiht dem Fall eine besondere Note der Pikanterie. Denn durch sein Eingreifen auf Railen legte der Dunkle Oheim selbst den Grundstein für die Entstehung jenes Objekts, das vielleicht dazu bestimmt ist, seine Macht zu brechen. * Schmerz und Trauer beherrschten die Stimmung gleichermaßen. Mit dem Rücken gegen die Wand gelehnt, beobachtete Kyrlt die Bemühungen der hungrigen Filta, das Leben des Verletzten um einige Minuten, bestenfalls um eine Stunde, zu verlängern. Opork selbst nahm es nicht mehr war. Er war bewußtlos und so schwer angeschlagen, daß es nur noch eine Frage der Zeit war, wann seine Körperorgane ihre Funktion einstellten. Auf ganzer Linie hatten sie verloren, obwohl es zunächst danach aussah, als sei ihrem Aufstand ein durchschlagender Erfolg beschieden. In der vergangenen Nacht hatten sie den Angriff beschlossen; Getreue, Sympathisanten oder einfach Unzufriedene waren ihrem Ruf gefolgt. Der Sturm auf den Palast des Curt hatte vielversprechend begonnen, und es war, trotz heftiger Gegenwehr
der Systemtreuen, bereits abzusehen gewesen, wann die Rebellen die Macht übernehmen würden. Doch es kam anders. Nach Stunden blutiger Kämpfe regnete es Organschiffe vom rauchgeschwängerten Himmel, und Hunderte und aber Hunderte Scuddamoren griffen in die Auseinandersetzung ein. Dieser Übermacht erbarmungsloser Krieger waren die Aufständischen nicht gewachsen. Mehr und mehr von ihnen wurden niedergeschossen und gemordet, immer weiter wurden sie zurückgedrängt in die Randbezirke einer Stadt, die zum größten Teil in hellen Flammen stand. Viele seiner Freunde und Anhänger hatte der behutsame Kyrlt fallen sehen, bevor er sich mit Opork und Filta in diesen Schlupfwinkel retten konnte. Sie drei waren die letzten Überlebenden einer Revolution, von der man hätte wissen müssen, daß sie nicht siegreich verlaufen konnte. Verbittert blickte Kyrlt auf den blutüberströmten Körper des Freundes. Er hatte davor gewarnt, vorzeitig und überhastet loszuschlagen, um sich schließlich doch überzeugen zu lassen. Vielleicht, wenn er auf seiner Meinung beharrt hätte … Es war zu spät, über Versäumnisse nachzugrübeln oder darüber, ob der Verlauf der Geschehnisse ein anderer gewesen wäre, wenn sie sich durch einen unbekannten Verräter nicht hätten provozieren lassen. Es half auch nicht, sich selbst oder sonst jemandem die Schuld an dem Debakel anzulasten. All das änderte nichts. Als Filta sich erhob und mit gesenktem Kopf von Opork abließ, glaubte Kyrlt, von einem inneren Schmerz zerfressen zu werden. Stumm verfolgte er die Bewegungen der Krejodin, die müde zu ihm herüberkam und sich neben ihn setzte. »Er ist tot«, sagte sie. Der Blick ihres Auges ging ins Leere. »Und auch wir werden nicht mehr lange leben.« Nur langsam gewann Kyrlt seine Fassung zurück. Ein weiterer Freund war gestorben, in einem sinn‐ und aussichtslosen Kampf. Wider besseres Wissen hatte er bis zuletzt gehofft, daß Opork eine winzige Überlebenschance besäße. Erst jetzt, nachdem die verdrängte Einsicht durch den Tod untermauert worden war,
gelang es ihm wieder, klare und vernünftige Gedanken zu fassen. »Wir dürfen uns nicht aufgeben«, verlangte er. »Wir müssen in diesem oder einem anderen Versteck ausharren, bis die Scuddamoren den Planeten verlassen haben.« »Sie werden uns finden«, prophezeite Filta mutlos, »wo wir uns auch verkriechen.« Wahrscheinlich hat sie recht, überlegte Kyrlt, aber er hütete sich, es auszusprechen. Sein Blick fiel auf die kleinen, steinernen Kügelchen, die sorgsam in einer Ecke aufgeschichtet waren. Wie mochte es dem lauten Quahrt in all den Jahren ergangen sein, in denen er sich nicht um ihn gekümmert hatte? Wenn der weise Krejode noch lebte, würde er ihnen in seiner friedlichen Einsiedelei sicherlich Unterschlupf gewähren … Doch daran jetzt zu denken, war vermessen. Draußen, in der Stadt, wurde noch immer gekämpft. Die Schreie von Verfolgten und Sterbenden drangen bis in ihr Versteck, vermischt mit dem Prasseln der Flammen und dem grellen Zischen abgefeuerter Strahlschüsse. Vorläufig durften sie nicht wagen, diesen Raum zu verlassen. Sie mußten warten, bis sich die Lage beruhigte – oder bis man sie fand. Irgendwann in diesen angstvollen, bangen Minuten erhob sich die hungrige Filta, ging schweigend einige Schritte im Raum umher und wandte sich dem Ausgang zu. Einen Moment zögerte sie. »Was hast du vor?« fragte Kyrlt alarmiert. Seine Sinne spannten sich fast zum Zerreißen. Mit trübem Auge sah die Krejodin ihn an. »Ich halte es hier nicht mehr aus«, sagte sie leise und deutete auf den Leichnam Oporks. »Ich ertrage diesen Anblick nicht länger. Ich muß hinaus!« »Du gehst in den sicheren Tod!« versuchte Kyrlt sie zur Besinnung zu bringen. »Du hast keine Chance dort draußen!« Sie hörte nicht auf ihn. Entschlossen trat sie auf die Tür zu, griff nach dem Öffnungsmechanismus. Wie von einer Sehne geschnellt, stieß sich Kyrlt von der Wand ab
und sprang die Kampfgefährtin von hinten an. Die Wucht des Aufpralls riß beide zu Boden. »Bist du von Sinnen!« schrie der Krejode, während er die hungrige Filta niederrang und ihre Arme hinter dem Kopf festhielt. »Wenn du diese Tür öffnest, sind wir verraten!« Sie wehrte sich verbissen, ohne sich aus seinem Klammergriff befreien zu können, sie strampelte mit den Beinen, wälzte ihren Körper hin und her und schrie. Kyrlt drückte ihr eine Hand auf die Sprechblase im Kinn, damit niemand sie hörte. Das gab ihr etwas mehr Bewegungsfreiheit. Mit dem freien Arm hieb sie auf den Krejoden ein, versetzte ihm schmerzhafte Schläge, und plötzlich, mit einer geschickten und überraschenden Körperdrehung, entwand sie sich seinem Zugriff. Kyrlt schrie ihr nach, als sie abermals zum Ausgang eilte, doch bevor sie ihn noch erreichte, wurde die Tür von außen aufgestoßen. Vier Scuddamoren, umgeben von der düsteren, drohenden Aura ihrer Schattenschilde, drangen in den Raum ein. Für den Krejoden ging alles viel zu schnell, um sich später an Einzelheiten erinnern zu können. Er sah, daß seine Gefährtin sich in wahnsinniger Wut den Schatten entgegenwarf, sah das grelle Aufblitzen, hörte das Krachen der energetischen Entladung, sah Filta zurücktaumeln und mit erhobenen Armen zu Boden sinken. Wie aus weiter Ferne hörte er die dumpfen Stimmen der Eindringlinge, spürte deren niederdrückende Ausstrahlung, als sie ihn umringten. In ihm war die Leere des überwältigenden Verlusts, der Schock des Entsetzens und die Antriebslosigkeit der eingestandenen Niederlage. Einmal nur versuchte er sich zu wehren, als sie ihn davonschleppten, doch da traf ihn der lähmende Schlag einer Schockwaffe und ließ seinen Geist in abgrundtiefer Dunkelheit versinken … Als er wieder zu sich kam, wagte er nicht abzuschätzen, wie lange die Bewußtlosigkeit gedauert hatte. Es schien auch unwichtig. An Händen und Füßen war er gefesselt, und eine Schar Scuddamoren
umringte ihn. Er befand sich in einem mit technischen Gerätschaften überladenen Raum, und über seinem Schädel schwebte eine haubenförmige Konstruktion, deren Aussehen kaum einen Zweifel an ihrem Verwendungszweck zuließ. Sie wollten ihn verhören, das war sicher, und wenn es nötig werden sollte, unter psychischem Zwang. Vielleicht, überlegte er, hatte er es auch schon hinter sich, und sie hatten während seiner geistigen Abwesenheit bereits alles erfahren, was sie wissen wollten. Letzteres sollte sich allerdings sofort als Fehleinschätzung herausstellen, denn einer der Scuddamoren trat auf ihn zu. »Du mußt dir darüber im klaren sein«, drang seine Stimme aus dem Schattenschild, »daß du mit der Teilnahme an der Rebellion dein Leben bereits verwirkt hast. Das Urteil ist unwiderruflich. Du hast es jedoch in der Hand, die Art deines Todes mitzubestimmen. Wir könnten uns bereit erklären, dir anstelle langsamen, qualvollen Dahinsiechens ein schnelles und schmerzloses Ende zu bereiten, sofern du unsere Fragen wahrheitsgemäß beantwortest. Willst du das tun?« Das Angebot war makaber genug, aber Kyrlt wußte, daß ihm keine Wahl blieb. Es wunderte ihn selbst, wie gelassen er reagierte. »Ja«, antwortete er. Im Angesicht des Todes, fügte er in Gedanken hinzu, ist das keine schwere Entscheidung. »Gut«, sagte der Scuddamore zufrieden. »Wir haben in deinem Unterschlupf eine Anzahl kleiner Steinkügelchen gefunden. Wozu sollten sie dienen?« »Nun«, meinte Kyrlt leichthin, »sie lagen auf dem Boden verstreut, als wir das Quartier einrichteten. Da wir nicht viel Zeit hatten, haben wir sie einfach zu einem Haufen zusammengeschichtet.« »Du bist ein Lügner!« warf der Scuddamore ihm vor und trat drohend einen Schritt auf ihn zu. »Diese Kugeln verströmen eine Empfindung, die bei sensiblen Naturen durchaus dazu führen kann, daß sie plötzlich unzufrieden werden und sich gegen die herrschenden Mächte auflehnen. Willst du bestreiten, daß es so ist?«
Mit einemmal fühlte Kyrlt sich in die Enge getrieben. Nie hätte er geglaubt, daß die Scuddamoren das Geheimnis der Kugeln so schnell ergründen würden. Er ahnte, wie die Befragung weitergehen würde, und er war bereits jetzt entschlossen, nichts von dem, was er wußte, preiszugeben. Jedes Wort konnte den lauten Quahrt entlarven und gefährden – und dieser Preis war ihm für einen schnellen Tod zu hoch. »Wenn es an dem ist«, wich er aus, »so war es uns nicht bewußt.« »Du lügst abermals. Damit gibst du zu erkennen, daß dir an unserem Entgegenkommen nichts liegt. Es war deine einzige Chance, Krejode – wir können auch andere Mittel anwenden, um die Wahrheit zu erfahren.« Kyrlt bäumte sich in seinen Fesseln auf, als die Haube über ihm langsam herabsank. Wenn sie den Psycho‐Detektor einsetzten, würde er nicht nur alles verraten, was er wußte; die Impulse des Geräts würden auch seinen Geist zerstören und ihn zum lallenden Idioten machen … »Ich lüge nicht!« schrie er. »Ich habe die Wahrheit gesagt!« Es half nichts. Schon schob sich der Rand der Haube in sein Blickfeld, dann umschloß sie den dreieckigen Schädel völlig. Kyrlt gab jeden körperlichen Widerstand auf. Jetzt konnte er nur noch versuchen, sich auf geistigem Weg gegen die mentale Beeinflussung zu wehren. Er wußte, daß er letztlich daran scheitern würde, dennoch konzentrierte er sich auf die Auseinandersetzung mit der Maschine. Woher hat du die Kugeln? schoß die Frage in seine Gedanken, verbunden mit einem schmerzhaften Stich, der seinen Schädel auseinanderzureißen schien. »Ich habe sie gefunden.« Die Frage wurde wiederholt. Er wiederholte die Antwort. Noch blieb er standhaft, aber er spürte bereits, wie seine Kraft erlahmte. Immer heftiger wurden die Schmerzen, die durch seinen
Kopf fuhren und sich über den gesamten Körper ausbreiteten, immer drängender das Verlangen, sich selbst zu erlösen und die Wahrheit preiszugeben. Woher hast du die Kugeln? Ich habe sie gefunden. Er durfte es nicht verraten, weil er damit einen anderen der Verfolgung und der Vernichtung ausgesetzt hätte. Wen? Niemand. Woher hast du die Kugeln? Ich habe sie … gefunden. Er wußte, daß er zitterte, daß seine Muskeln verkrampft waren. Aber er spürte nichts davon. Sein Leib war wie ein Fremdkörper, taub und gefühllos, seine Gedanken wilde Fetzen bruchstückhafter Erinnerungen, die er in einem dünnen, zerbrechlichen Kreis verzweifelt gefangen hielt. Woher hast du die Kugeln? Ich habe Sie gefunden. Woher? Gefunden. Woher? Woher? Der Kreis platzte. Unkontrolliert und gegen seinen Willen spie er alles aus, was er zurückgedrängt hatte. Woher? Ich bekam sie geschenkt. Von wem? Von einem Krejoden. Wie ist sein Name? Quahrt. Welcher Sippe gehört er an? Den Lauten. Wo lebt er? Auf Railen. Wo genau? Am Fuß eines Steilfelsens. Mit wieviel Personen lebt er zusammen? Er lebt allein. Hat er die Kugeln hergestellt? Ja. Wie viele solcher Kugeln gibt es? Ich weiß es nicht. Wie viele? Ich weiß es nicht. Wie viele? Ich weiß es nicht. Wie kann man den lauten Quahrt finden? Nördlich der Stadt, am Ende einer grasbewachsenen Hochebene in einem kleinen Holzha … Ein greller, lautloser Blitz. Wirbelndes, verströmendes Gedankengut. Dunkelheit. * Am Horizont tobte das Feuer des Untergangs. Rotgelbe Flammen
loderten dort empor, und dichter, schwarzer Qualm verdunkelte den Himmel. Heftige Erschütterungen ließen die Planetenkruste erbeben. Der laute Quahrt stand am Eingang seines Hauses und beobachtete die Zeichen der Vernichtung. Ungläubigkeit und Fassungslosigkeit sprachen aus seinen Gesichtszügen. War das die einzige Antwort, die der Dunkle Oheim auf den Aufschrei einer unterdrückten Minderheit wußte? Was im einzelnen vorgefallen war, was zu dem Aufstand geführt, wer ihn angezettelt hatte – das entzog sich seiner Kenntnis. Er wußte nur, daß wilde Kämpfe in der Stadt getobt hatten, daß Scuddamoren aufgetaucht waren und die Rebellion niedergeschlagen hatten. Noch lange nach dem Ende der Auseinandersetzung waren die Schattenwesen gegen die Einheimischen vorgegangen – und nun hatten sie den Atombrand gelegt. Railen starb. Nichts und niemand vermochte die eingeleitete Entwicklung mehr aufzuhalten. Unlöschbar würde sich das Feuer durch die Elemente des Planeten fressen, bis er als toter Schlackebrocken durch die Galaxis trieb. Auch der laute Quahrt hatte mit seinem Leben abgeschlossen. Es gab keine Rettung, weder für ihn noch für sonstjemand. Immer hatte er sich gewünscht, hier sterben zu können, doch seinen Tod hatte er sich anders vorgestellt, in Frieden, nicht auf diese Weise. Erschüttert und müde, bis in die Tiefen seiner Seele von verzehrender Traurigkeit erfüllt, wandte er sich ab. Er registrierte kaum den Schatten, der über ihn fiel, nahm kaum das dumpfe Brummen energetischer Prozesse wahr – und blickte doch, vielleicht aus einem alten Instinkt heraus, nach oben. Was er sah, konnte ihn nicht mehr erschrecken. Dafür war er zu abgeklärt. Es versetzte ihn höchstens in Erstaunen.
Dort schwebte, vielleicht hundert Meter über dem Boden, das sternförmig gezackte Schiff eines Koordinators der Ewigkeit. Es gab kaum einen Zweifel für den lauten Quahrt, daß der Besuch ihm galt, wenn er sich auch nicht vorzustellen vermochte, welches Interesse eines der mächtigsten und einflußreichsten Wesen dieser Galaxis an ihm haben könnte. Er war jedoch sicher, daß er es bald erfahren würde. Völlig gelassen wartete er. Etwas Schlimmeres als das, was er in den vergangenen Tagen hatte mitansehen müssen, konnte nicht mehr auf ihn zukommen. An der Unterseite des Sternenschiffs öffnete sich eine Luke. Ein humanoid geformter Roboter schwebte daraus hervor und erreichte wenige Meter vor dem Krejoden den Boden. Noch immer verharrte Quahrt reglos. Von weither vernahm er leise die qualvollen Schreie sterbender Stadtbewohner. Unter den Füßen spürte er die leichte Erschütterung eines Bebens. »Der Koordinator wünscht dich zu sehen«, sagte der Roboter, während er sich dem Einsamen näherte. »Wirst du mir folgen?« Die Frage war rhetorisch; Quahrt wußte es. Wenn er sich geweigert hätte, der Aufforderung nachzukommen, wäre er dazu gezwungen worden. Eine Wahl blieb ihm nicht. »Ich werde dir folgen«, antwortete er ruhig. Trotz aller Gelassenheit, die er empfand, begann sich jetzt eine gewisse Nervosität in ihm zu entwickeln. Während er hinter dem Roboter her ging, wurde er zunehmend unruhiger. Er fragte sich, welchem Zweck sein Besuch auf dem Sternenschiff dienen sollte. Es gab, nach den Neffen und dem Dunklen Oheim selbst, kaum eine Gruppe, die über mehr Macht und Einfluß verfügte als die Koordinatoren der Ewigkeit. Überall waren sie gefürchtet, und ihr Auftauchen hatte meist unangenehme Folgen. Dennoch leistete der laute Quahrt keinen Widerstand. Auf Railen erwartete ihn der Tod – und wenn er versuchen sollte, die Flucht zu ergreifen, ebenfalls. Von allen denkbaren Überlebensmöglichkeiten war die, auf die er sich jetzt einließ, noch die größte.
Gefaßt vertraute er sich dem Transportfeld des Sternenschiffs an. Neben dem Roboter schwebte er in die Höhe und setzte sanft in der Schleusenkammer auf. Hinter ihm schloß sich das Schott. Nach seinem Leben in der Abgeschiedenheit einer ausgedehnten Hochebene war es ihm, als habe er ein Gefängnis betreten. Trotz der Weiträumigkeit der Korridore und Hallen, durch die der Roboter ihn führte, fühlte er sich eingeengt und in seinem Bewegungsdrang behindert. Das Gefühl war neu für ihn, und es bereitete ihm körperliches Unbehagen. Er wußte, daß er nicht mehr allein war – er wurde beobachtet, jeder Schritt verfolgt und jede Bewegung registriert. Er unterlag ständiger Kontrolle. Das war ungewohnt und bedrückte ihn. Hinzu kam die düstere Ausstrahlung des Koordinators, die mit jedem Schritt deutlicher wurde und sich unerbittlich in seinen Geist drängte. Der Marsch durch das Schiffsinnere endete in einem Raum, an dessen Stirnseite mehrere Bildschirme angebracht waren. Der Roboter ließ den lauten Quahrt allein, während ein leichtes Zittern des Bodens anzeigte, daß der Raumer beschleunigte und sich von Railen entfernte. Der Krejode drehte sich enttäuscht um sich selbst. Es sah nicht danach aus, daß der Kommandant ihn persönlich empfangen wollte. Wahrscheinlich lag es an der Mentalität der Mächtigen dieser Galaxis, daß sie sich denen, die von ihnen unterdrückt wurden, in den seltensten Fällen zeigten. Auch die Kommunikation mit dem Koordinator würde kaum über die Monitore, sondern höchstens akustisch erfolgen. Um so erstaunter war Quahrt, als einer der Bildschirme aufflammte. Das ansteigende Interesse wich jedoch blankem Entsetzen, als sich die Wiedergabe stabilisierte. Der Planet Railen war dort zu sehen, aus einer Entfernung, die es mittlerweile gestattete, das ganze Ausmaß der Zerstörungen zu überblicken. Unaufhaltsam hatte sich der Atombrand ausgebreitet; an mehreren Stellen war die Planetenkruste aufgebrochen, und glühende Massen
zähen Magmas wälzten sich über das Land. Wie ein leuchtendes Fanal, als Warnung und Drohung weithin sichtbar, schwebte Railen in der Schwärze des Raumes. Erschüttert wandte Quahrt sich ab. Das erste Mal in seinem Leben überschwemmte ihn ein Gefühl, das sich schmerzhaft und zehrend in ihn hineinfraß. Er nannte es Haß. »Erträgst du es nicht, den Untergang einer Welt mitanzusehen?« klang eine Stimme auf, deren Teilnahmslosigkeit seine Aggressionen noch steigerte. »Du selbst hast die Verantwortung dafür zu tragen.« Wie ein Peitschenhieb trafen ihn diese Worte. Unkontrolliert begann er zu zittern. Seine Gedanken rasten. Mit einemmal wurde ihm alles klar: warum auf Railen die Rebellion ausgebrochen war, warum die Strafe dafür so hart ausfiel, warum er an Bord des Sternenschiffs gebracht worden war … Plötzlich erinnerte er sich des behutsamen Kyrlt, dem er vor vielen Jahren mehrere jener Empfindungen auslösenden Steinkügelchen geschenkt hatte. Seitdem war der junge Krejode nicht mehr bei ihm aufgetaucht, und Quahrt hatte sich immer stärker in die Einsamkeit zurückgezogen, hatte am Fuß der Gesteinswand ein ruhiges und friedliches Leben geführt. Die Kugeln, die er unter den Kindern verteilt hatte, gerieten zwar nicht in Vergessenheit, aber er hielt sie für harmlose Objekte, die ihren Besitzern das Dasein eine Spur angenehmer machten und ihnen einen Hauch von Unabhängigkeit vermittelten. Nie hätte er damit gerechnet, daß die Sehnsucht nach Freiheit mit den Jahren zum gewaltsamen Kampf gegen die Unterdrücker führen könnte. Jetzt, nach den Worten des Koordinators der Ewigkeit, wurden ihm die Zusammenhänge schlagartig klar. »Du schweigst?« klang die Stimme erneut auf. Ja, dachte er verbittert, ich schweige. »Sicherlich siehst du ein, daß dem Dunklen Oheim keine andere Wahl blieb, als Railen vernichten zu lassen. Die Gesteinsart, die dort
existiert und aus der du kleine Kugeln gedreht hast, hätte eine ständige Gefahr für die Stabilität der galaktischen Ordnung bedeutet.« Natürlich! schoß es dem Krejoden durch den Kopf. Die Denkweise der herrschenden Mächte ließ eine andere Handlung nicht zu. Ein Wesen wie der Dunkle Oheim mußte zwangsläufig darum besorgt sein, jedes noch so zaghaft glimmende Flämmchen, das den Anschein von Unzufriedenheit erweckte, zu löschen. Die Methoden, deren er sich bediente, entsprachen seiner negativen, gefühllosen Geisteshaltung. Die nüchterne Analyse dessen, was geschehen war und auf einem der Bildschirme immer noch in seiner ganzen Grausamkeit deutlich wurde, schürten Quahrts Haß weiter. In ihm wuchs das unbändige Verlangen, etwas zu zerschlagen. Er bebte vor Wut. »Wie du siehst, Krejode«, fuhr die Stimme fort, »ich bin sehr genau darüber unterrichtet, was auf Railen vorgefallen ist und was die Ursachen sind. Die Spur führt zu dir. Ich habe deshalb beschlossen, dich zum Dunklen Oheim zu schicken. Dort wirst du dich zu verantworten haben.« In seiner aufgewühlten Stimmung war der laute Quahrt nicht fähig, die Bedeutung dieser Ankündigung zu erfassen. Er würde dem Dunklen Oheim gegenüberstehen – einem Wesen, von dem niemand wußte, wie es aussah oder was es eigentlich darstellte … er würde das Geheimnis erfahren! Es kümmerte ihn nicht. In ihm waren nur noch Abneigung und Widerwillen. Selbst wenn er den Herrscher über die Schwarze Galaxis zu Gesicht bekam, er würde kaum Gelegenheit erhalten, sein Wissen weiterzugeben. Er würde sterben, dessen war er sicher. Plötzlich wurde er wieder völlig ruhig. Fast jegliches Gefühl in ihm erlosch angesichts der bevorstehenden Hinrichtung. Ein einzelnes Wesen war unfähig, etwas zu ändern. Sein Haß mußte sinnlos bleiben, weil er sein Ziel weder treffen noch beeindrucken konnte.
»Du schweigst weiter?« Ja, dachte er gleichmütig, ich schweige weiter. Als das Schott sich öffnete und ein Roboter den Raum betrat, hätte er nicht zu sagen gewußt, ob es die gleiche Maschine war, die ihn hergeführt hatte, oder eine andere. Es war ihm auch egal. In den ausgestreckten Greifarmen hielt der Roboter einen schwarzen Schlackebrocken. Nur unbewußt registrierte der laute Quahrt, daß dieses Stück Materie alles Licht in sich aufzusaugen und zu schlucken schien. Er spürte die Bedrohung, die von dem Gestein ausging, doch der aufwallende Fluchtimpuls verlor sich in der Gleichgültigkeit. »Deine Reise beginnt«, verkündete die Stimme des Koordinators. »Halte dich bereit.« Die Worte zogen an ihm vorbei wie das ferne Rauschen eines Wasserfalls. Für den Krejoden waren sie unbedeutend. Reglos stand er da, warf einen letzten Blick auf den Bildschirm, der den Untergang von Railen wiedergab. Dort, bei seinen Artgenossen, tobte das Feuer der Vernichtung, und er … Der Roboter hatte sich so weit genähert, daß Quahrt mit dem Schlackebrocken in Berührung kam. Ein unbändiger Schmerz durchfuhr ihn, als würde sein Körper in tausend Stücke zerrissen. Ein kurzer Blitz schoß grell durch seine Sinne. Der Raum, der Roboter, der Gesteinsklumpen – alles schien perspektivisch verzerrt, entfernte sich wie in einer düsteren Röhre, und verschwand. Der laute Quahrt befand sich auf dem Weg zum Dunklen Oheim. Um ihn war das Nichts. * Der Zufall – oder die Vorsehung; wie du es nennen willst – hatte weiter für uns gearbeitet. Der Transport des lauten Quahrt erfolgte durch ein
Kontinuum, das so fremdartig ist, daß du seine Beschaffenheit oder seine Gesetze nicht begreifen kannst, selbst wenn wir versuchten, es zu erklären. Nimm deshalb einfach hin, daß er auf die Reise geschickt worden war – auf die Reise zum Dunklen Oheim, die diesem selbst, ohne daß er es damals ahnte, im nachhinein zum Verhängnis werden kann. 5. »Willst du es nicht endlich aufgeben? Das einzige, was du mit deinen ständigen Versuchen erreichst, ist eine weitere Schwächung der positiven Energie.« Der Havare reagierte nicht. Schweigend und unbeweglich saß er vor einer Konsole, auf der die Marmorkugel ruhte. Seine Körperhaltung verriet höchste Konzentration. »Usmaender!« rief die Denkende scharf. »Ich rede mit dir!« Erst jetzt schien der Angesprochene zu bemerken, daß er nicht mehr allein in der Steuerzentrale war. Langsam, als erwache er aus einer Trance, hob er den Kopf. Die kleinen Augen leuchteten in stechendem Grün. »Was willst du?« fragte er vorwurfsvoll. »Du störst mich. Ich brauche Ruhe.« »Es ist sinnlos, weiter Kontakt zu den Stimmen zu suchen«, wiederholte Zwertelis. »Die Kraft der Kugel ist zu schwach.« »Ich sehe keine andere Möglichkeit«, versuchte Usmaender sein Vorgehen zu rechtfertigen. »Die ZIEMEN läßt sich von uns nicht mehr steuern. Wir sind machtlos einer Maschinerie ausgeliefert, deren Funktionsweise wir nicht begreifen. Wenn uns noch jemand helfen kann, sind es die Unbekannten.« »Nur ein einziges Mal gelang es dir, unmittelbaren Kontakt zu den Stimmen herzustellen«, erinnerte die Denkende. »Das war, als wir die annähernde Lage der Ringwelt erfuhren. Du bist naiv, wenn du nach so vielen erfolglosen Versuchen glaubst, du könntest abermals
eine Verbindung zustande bringen. Wir haben bereits festgestellt, daß die Ausstrahlung der Kugel nicht mehr viel taugt.« Der Havare erhob sich träge und verstaute das mysteriöse Objekt in seiner Kombination. Er kam nicht umhin, zuzugeben, daß die Argumente des kleinen Pelzwesens stichhaltig waren. »Es war ein Experiment«, sagte er, »nichts weiter.« Zwertelis bemerkte erstaunt, wie niedergeschlagen der Wahrheitsspürer sich gab. Bisher hatte sie ihn als ein entschlußfreudiges, dynamisches Wesen geschätzt – beides Charaktermerkmale, die nicht zuletzt dazu beigetragen hatten, daß er von der Besatzung stillschweigend als Kommandant akzeptiert wurde. Jetzt jedoch schien er allen Mut verloren zu haben. Angesichts der mißlichen Lage, in der sie sich befanden, war das nicht einmal ein Wunder. »Ich glaube, wir sollten nicht zu pessimistisch in die Zukunft sehen«, meinte die Denkende, während sie sich in betont gelöster Art auf die Hinterpfoten setzte. »Es ist mir nämlich nach längerem Nachdenken gelungen, der Aktivierung dieses Aggregats, dieser Katastrophe also, wie wir es zunächst nannten, einige gute Aspekte abzugewinnen.« »Rede nicht so geschwollen daher!« fuhr Usmaender sie unwirsch an. Seine Nerven waren wirklich nicht mehr die besten. »Was willst du damit sagen?« »Nun, ich habe mir überlegt, daß wir, um die Ringwelt zu finden, auf dem Weg ins Zentrum der Schwarzen Galaxis waren. Mittlerweile sind wir zwar nicht mehr in der Lage, das Schiff zu steuern, aber sein Kurs entspricht bis auf geringe Abweichungen dem, den wir ohnehin gewählt hätten. Er führt in dieses Zentrum!« Usmaenders silberne Kieferbacken mahlten knirschend aufeinander. »Ja«, knurrte er, »direkt zum Dunklen Oheim!« Sie waren, ausgehend von der Stimme, die sie gehört hatten, zu der Überzeugung gelangt, daß die so plötzlich aktivierte Maschine
eine Art Kontrollfunktion ausübte. Sie diente dazu, mit dem Koordinator der Ewigkeit in Verbindung zu treten. Nachdem Tolfex sich nicht gemeldet hatte, mußte der Herrscher über die Galaxis zu dem Schluß gekommen sein, daß etwas an Bord nicht nach seinen Wünschen verlief. Es hatte die ZIEMEN zu sich zurückgerufen, und nun befand sich das Schiff auf dem direkten, unbeeinflußbaren Kurs ins Zentrum der Macht. »Zum Dunklen Oheim, ganz genau!« bestätigte Zwertelis gelassen. »Und?« Es war zu sehen, wie der Havare allmählich den letzten Rest von Fassung verlor. »Wo erkennst du dabei positive Aspekte? Er wird uns töten, noch bevor wir seiner gewahr werden.« »Das ist deine Meinung«, erwiderte die Denkende altklug. »Was aber, glaubst du, wird geschehen, wenn du ihn mit dem strahlenden Objekt konfrontierst?« »Nichts!« brauste Usmaender auf. »Nichts wird geschehen!« Mit einer heftigen Bewegung griff er nach der Marmorkugel in seiner Tasche und hielt sie der Denkenden entgegen. »In diesem Ding ist keine Kraft mehr! Seine Eigenschaften sind erloschen!« »Es verströmte den Widerschein der Freiheit«, beharrte Zwertelis. »Vielleicht ist die Ausstrahlung schwächer als früher, aber sie ist noch vorhanden. Dessen bin ich mir gewiß, oder glaubst du, wir könnten uns im Bann der Schwarzen Galaxis einer persönlichen Freiheit erfreuen, wenn die Wirkung der Kugel völlig erstorben wäre? Wir spüren sie nicht mehr bewußt, das ist richtig, aber unser Denken und Handeln, unsere Fähigkeit, eigenständige Entscheidungen zu treffen und unser Leben selbst zu gestalten, beweist, daß wir immer noch beeinflußt werden, in einem positiven Sinn.« Usmaender war davon keineswegs überzeugt. Er hatte eine scharfe Entgegnung auf der Zunge, aber er kam nicht mehr dazu, sie auszusprechen. Durch das sich öffnende Schott stürmte der Noot in die Zentrale. Von seinen Verletzungen hatte er sich inzwischen völlig erholt.
»Der Camagur …!« rief er aufgeregt. »Er will ein Triebwerk sprengen!« In seiner aufgebrachten Verfassung war der Havare nicht in der Lage, die Folgen einer solchen Tat vernünftig abzuschätzen. »Hervorragend!« zollte er spontanen Beifall. »Er soll es tun! Ich habe selbst schon lange Zeit mit dem Gedanken gespielt.« »Der Narr!« Mit einem Satz sprang Zwertelis auf und wandte sich hastig dem Ausgang zu. »Komm, Faderkyhl, wir müssen ihn aufhalten!« Der Noot rührte sich nicht. »Es dürfte zu spät sein«, murmelte er. Die Denkende hielt in ihrem Lauf inne, überlegte verwirrt, ob sie trotz der geringen Erfolgsaussichten versuchen sollte, die Triebwerkssektion zu erreichen und den Camagur zurückzuhalten. Sie sah den Noot, der in mutloser Haltung neben ihr stand, sah den Havaren, der sich in demonstrativer Gleichgültigkeit setzte und damit zu erkennen gab, daß er die Aktion befürwortete … Da fuhr der Schlag durch das Schiff. Zwertelis riß es von den Beinen. Der Boden der Zentrale schien sich nach oben zu wölben. Sie schlitterte über den glatten Belag auf den Noot zu. Faderkyhl, wesentlich massiger und standfester als das kleine Pelzwesen, versuchte auszuweichen und verlor ebenfalls den Halt. Krachend schlug er gegen eine Konsole und blieb kraftlos liegen. Allein Usmaender vermochte seinen Platz zu sichern, indem er sich krampfhaft an den Verstrebungen seines Sitzes festhielt. Eine zweite Explosion erschütterte die ZIEMEN. Die Vibrationswelle ließ die Schiffszelle erzittern. Die Umgebung verschwamm vor Zwertelisʹ Augen. Abermals wurde sie umhergeschleudert, streckte instinktiv die Beine von sich, um einen möglichen Aufprall abzufangen. Beißender Schmerz erfüllte ihren Körper, als sie hart gegen eine Wand schlug. Sie hörte den Schrei des Havaren, vernahm den Donner einer neuerlichen Explosion. Dann verlor sie ihr Bewußtsein.
Die Ruhe, die um sie herrschte, überraschte Zwertelis. Sie hatte damit gerechnet, wenn überhaupt, in einer aufgewühlten Atmosphäre der gegenseitigen Anschuldigungen und hitzigen Debatten zu erwachen. Statt dessen war es still. Nicht einmal das vertraute Summen energetischer Prozesse war zu vernehmen. Erst als sie vorsichtig die Augen öffnete, begriff sie, warum das so war. Sie befand sich nicht mehr in der Zentrale, sondern lag seitlich auf dem Lager in ihrer privaten Kabine. Direkt vor sich erkannte sie Faderkyhl, der sie mit besorgtem Blick musterte. Als er sah, daß sie erwacht war, begann sein froschähnliches Gesicht Erleichterung auszudrücken. »Wie fühlst du dich?« fragte er. Zwertelis bewegte sich vorsichtig. Einige Gelenke schmerzten, und auf dem Rücken schien sie eine leichte Prellung davongetragen zu haben, ansonsten spürte sie keine Nachwirkungen ihres Sturzes. Insbesondere wunderte sie sich, daß sie sich an jede Einzelheit des Geschehens sofort erinnern konnte, ohne mit anfänglichen Gedächtnisschwierigkeiten kämpfen zu müssen. »Leidlich«, antwortete sie, während sie sich langsam von dem Lager herunterwälzte. »Ich kann nicht klagen.« Eine Weile beschäftigte sie sich noch mit sich selbst, indem sie einige Lockerungsübungen für die verkrampften Muskeln machte, dann gewann die Sorge um die Sicherheit des Sternenschiffs in ihren Gedanken die Oberhand. »Wie steht es um die ZIEMEN?« wollte sie wissen. »Ist sie noch flugtauglich?« »Kaum«, berichtete Faderkyhl. »Die Explosionen haben gewaltigen Schaden angerichtet. Fast die gesamte Triebwerkssektion des Schiffes ist zerstört. Usmaender und einige Spezialisten sind bereits dabei, das Schlimmste zu beheben, aber der Erfolg dürfte minimal sein.« »Usmaender …«, staunte Zwertelis. »Er ist also vernünftig
geworden und hat eingesehen, daß die Aktion des Camagurs niemandem genutzt, sondern allen nur geschadet hat.« »Ja«, bestätigte der Noot mit rauher Stimme. »Wir sollten jedoch dem Camagur keine Vorwürfe machen. Er hat nach bestem Gewissen gehandelt, weil er glaubte, den wahnsinnigen Flug ins Zentrum der Galaxis aufhalten zu müssen – und er hat bei seinem Unternehmen den Tod gefunden.« Zwertelis schwieg betroffen. Der Camagur war ihr Freund gewesen, wie eigentlich alle Wesen an Bord, ein umgänglicher Zeitgenosse, der zwar keinem Zank auswich, aber auch immer ein aufmunterndes Wort bereit hatte und notfalls bei allen Handgriffen hilfsbereit zur Seite stand. Sein Tod erfüllte die Denkende mit tiefer Trauer. Er war – nach der Koohlk und dem Terzog – der dritte Passagier, den sie verloren. Faderkyhl, dem nicht verborgen blieb, wie sehr die Denkende von der Nachricht getroffen wurde, versuchte, sie mit praktischen Erwägungen abzulenken. »Was wirst du nun tun?« fragte er. Es war, als ginge ein Ruck durch den Körper des kleinen Pelzwesens. Neue Energie schien durch Zwertelis zu strömen. Sie hob den Kopf, schüttelte ihn, als wollte sie lästige Erinnerungen loswerden, und sah den Noot an. »Ich werde mir die Sache ansehen«, sagte sie. »Kommst du mit?« »Natürlich.« Gemeinsam verließen sie die Kabine. Faderkyhl war sich darüber im klaren, daß die Denkende den Schmerz um den Camagur keineswegs bereits verdrängt hatte; vielmehr suchte sie mit ihrem Eifer Ablenkung von quälenden Gedanken. Sie sprachen nicht viel miteinander, während sie durch verlassene Korridore und Lagerhallen marschierten. Je weiter sie sich der Triebwerkssektion näherten, desto deutlicher wurden bereits hier die Anzeichen, daß sich eine Katastrophe ereignet haben mußte. Überall an den Wänden fanden sich dunkle Rußspuren und durch die Hitze wellenartig
verzogenes Material. Auf dem Boden lagen winzige Splitter zerfetzter Maschinenteile, die der Druck der Explosion bis hierher getrieben hatte. Immer öfter mußte Zwertelis vom geraden Weg abweichen und kleine Bögen schlagen, um sich die nackten Pfoten nicht zu verletzen. Faderkyhl, der über festes Schuhwerk verfügte, hatte diesbezüglich weniger Schwierigkeiten. Weiter vorn erkannten sie die Überreste eines Schottes. Es war verbeult und zur Hälfte aus der Verankerung gerissen, Teile des Materials waren durch die Hitze geschmolzen und in bizarren Formen wieder erstarrt. Zwertelis zwängte sich als erste durch den Spalt, der in die angrenzende Halle führte. Ein Panorama des Chaos und der Zerstörung tat sich vor ihr auf. Hier, wo früher mächtige Maschinen zur Energieerzeugung in die Höhe gewachsen waren, war ein Trümmerfeld entstanden. Meilerblöcke waren in sich zusammengesunken, umherfliegende Stahlteile hatten tiefe Kerben in die Wände geschlagen. Der ganze Raum war übersät von Schutt, herabgebrochenen Trägerelementen und verschmorten Resten ehemals wichtiger Anlagen. Die vielfach gezackten Ruinen demolierter Aggregate wuchsen daraus hervor, und dazwischen bewegten sich, winzig klein und hilflos, mehrere Mitglieder der Besatzung. Es mutete beinahe lächerlich an, wie sie versuchten, die wichtigsten Leitungen wieder herzustellen, wie zwei von ihnen mit großer Kraftanstrengung ein Trümmerstück beiseite räumten, das den Weg ins Innere eines Kontrollelements versperrte, wie andere ein Ersatzteil in den erhaltenen Rahmen einer ansonsten völlig zerstörten Maschine schoben. Als dominierende Figur inmitten der Unordnung agierte Usmaender, der mit heftigen Gesten und lautstarkem Geschrei Anweisungen an seine Leute erteilte. »Das hat doch alles keinen Zweck«, sagte Zwertelis, nachdem sie das Bild eine Weile auf sich hatte einwirken lassen. »Hier gibt es nichts mehr zu reparieren.«
Faderkyhl, der die Halle unmittelbar nach ihr betreten hatte, gab einen zustimmenden Laut von sich. In diesem Moment wurde der Havare auf sie aufmerksam. Er unterbrach seine Kommandotätigkeit und kam ihnen, über mehrere Trümmerbrocken kletternd, entgegen. »Es freut mich, daß du wohlauf bist«, begrüßte er die Denkende. »Wir sind gerade dabei, das Schlimmste zu verhindern.« Zwertelis war nicht in der Verfassung, den Bemühungen, die sie für unsinnig hielt, den geringsten Respekt zu zollen. »Ihr vergeudet eure Zeit!« schimpfte sie. »Ich verfüge zwar über keinerlei technisches Verständnis, aber daß hier nichts mehr zu retten ist, kann ich dir sogar als Laie bescheinigen.« »Du verstehst mich falsch«, verteidigte sich Usmaender. Er hob den Arm und machte eine Bewegung, die die gesamte Halle symbolisch umfassen sollte. »Es besteht die Gefahr, daß durch Sekundärreaktionen eine Situation eintritt, die das gesamte Schiff in Stücke reißt. Dem versuchen wir entgegenzuwirken.« »Oh.« Damit verlieh Zwertelis ihrer Verlegenheit akustischen Ausdruck. Offenbar hatte sie die Weitsicht des Kommandanten gehörig unterschätzt. »Ich wußte nicht, daß hier noch etwas passieren kann. Ich dachte …« »Schon gut«, winkte Usmaender ab. »Ich hätte selbst nichts veranlaßt, wenn mich der Bratude nicht darauf hingewiesen hätte, daß unser Leben bedroht ist, solange wir nicht die wichtigsten Energieträger überbrückt haben.« »Überhaupt scheint der Bratude das Wesen mit dem größten Sachverstand zu sein«, meinte Faderkyhl mit beißender Ironie. »Wenn ich mir überlege, wie er dich bei der Grundsatzdiskussion in Verlegenheit gebracht hat …« »Na und!« brummte Usmaender verärgert. »Ich bin schließlich nicht allwissend.« Er wandte sich ab, um den Fortgang der Arbeiten zu überwachen. »Können wir irgendwo mithelfen?« rief Zwertelis ihm nach.
Usmaender blickte über die Schulter zurück. »Danke, nein, wir sind ohnehin gleich fertig … – He, paßt auf da vorne! Bei allen Neffen, zur Seite …!« Die Denkende fuhr zusammen und blickte sich hastig um, um zu ergründen, was den Havaren in solche Erregung versetzte. Am anderen Ende der Halle erkannte sie einen Stahlträger in der zerfetzten Decke, der sich langsam senkte. Drei Wesen, die in diesem Bereich arbeiteten, waren durch Usmaenders Schreien aufmerksam geworden und entfernten sich hastig aus der Gefahrenzone. Natürlich, die Statik des Raumes war durch die Zerstörungen empfindlich aus dem Gleichgewicht geraten! Immer tiefer sackte der schwere Balken ab – bis er, jeder stabilisierenden Stütze beraubt, donnernd niederbrach. Eine dichte Wolke aus Staub und hochgewirbelten Metallteilen entstand an der Unglücksstelle. »Los, Freunde!« gellte Usmaenders Stimme durch den Lärm. »Wir müssen uns beeilen. Packt zu, bevor uns hier alles um die Ohren fliegt!« Zwertelis bezweifelte, daß auch nur die kleinste Handreichung noch den geringsten Sinn hatte. Selbst wenn es gelang, die unmittelbare Gefahr auszuschalten, blieb immer die Möglichkeit offen, daß die Halle völlig in sich zusammenstürzte und alle Bemühungen zunichte machte. Die anderen schienen solche Überlegungen freilich nicht zu hegen. Verbissen fuhren sie, nachdem der Schrecken verdrängt war, in ihren Tätigkeiten fort. »Laß uns gehen«, wandte sich die Denkende an den Noot, der noch immer neben ihr stand. »Hier gibt es nichts zu tun für uns.« Bevor Faderkyhl sich äußern konnte, wurde ihre Aufmerksamkeit abgelenkt durch den gelbhäutigen Zwerg, der sich ihnen hüpfend näherte. Seine Bewegungen waren langsam und phlegmatisch, nichts von der früheren Unbeschwertheit haftete ihnen mehr an. »Hallo, Kleiner«, rief der Noot ihm zu. »Du siehst aus, als hätte dich die Arbeit total geschafft.« »Versuche nicht, mich aufzumuntern«, maulte der Tamater. Er
benutzte die Sprechblase, die, neben einigen anderen Gefühlszuständen, der Trauer vorbehalten war. »Es wird dir nicht gelingen.« »Es war auch nicht meine Absicht«, gab der Noot zurück. »Ich frage mich lediglich, warum ihr wie die Besessenen schuftet, obwohl zu erwarten ist, daß es nicht mehr lange dauert, bis die Decke vollständig herunterbricht.« Empört kreischte der Tamater auf. Zwertelis wußte, daß der Camagur und er ein besonderes Verhältnis zueinander gehabt hatten. Die beiden hatte eine tiefe und innige Freundschaft miteinander verbunden. Die vielen Wortgeplänkel hatten nie darüber hinwegtäuschen können. Von allen Wesen an Bord war der Zwerg vermutlich das einzige, dem der Verlust des Kameraden so nahe ging, daß er nicht oder zumindest nur sehr schwer darüber hinweg kam. Zwar würdigte die Denkende die Bemühungen Faderkyhls, den Tamater zu einem Streit zu provozieren, doch glaubte sie nicht, daß dies die richtige Methode sei, den anderen von seinem Schmerz abzulenken oder ihn sogar vergessen zu lassen. »Du solltest dich von dem Muskelprotz nicht ärgern lassen«, wandte sie sich an den Trauernden. »Er ist zwar körperlich stark gebaut, aber mit seiner Gehirnmasse ist es nicht weit her.« Als sie das sagte, wurde ihr bewußt, daß sie unbeabsichtigt den gleichen Fehler machte wie kurz zuvor der Noot. Allerdings erwies sich sogleich, daß sie das Thema besser gewählt hatte. »Pah!« machte der Tamater und warf Faderkyhl einen vernichtenden Blick aus seinem Sehkranz zu. »Er kann mich gar nicht ärgern. Ich stehe über solchen Dingen.« Das wiederum versetzte den Noot in Rage, aber als er Zwertelisʹ warnende Haltung sah, zog er es vor, zu schweigen. »Was hältst du davon«, fragte die Denkende, »wenn wir uns in meiner Kabine etwas unterhalten?« Insgeheim beabsichtigte sie, durch ein ernsthaftes Gespräch den Zwerg innerlich wieder aufzurichten. Ob ihr das gelingen konnte,
war ein anderes Problem, aber sie wollte es versuchen. »Wozu?« erwiderte der Tamater abweisend und bewies damit, daß er es vorzog, allein mit seinen Schwierigkeiten fertig zu werden. »Ich wüßte nicht, was wir zu besprechen hätten.« »Es gibt einiges zu beratschlagen. Beispielsweise muß geklärt werden, was wir als nächstes unternehmen, wie wir die Zeit überbrücken, bis uns jemand findet.« »Anscheinend gehst du davon aus, daß wir an Bord der ZIEMEN bleiben wollen. Das ist jedoch nicht der Fall. Wir werden einige Beiboote flott machen und damit ins Marantroner‐Revier zurückkehren.« Zwertelis fühlte sich, als sei sie unvermittelt ins kalte Wasser getaucht worden. Die Eröffnung des Tamaters versetzte ihr einen Schock. Die ganze Zeit über hatte sie nie daran gezweifelt, daß die Mannschaft auch nach der Katastrophe zusammenbleiben würde, um die Marmorkugel irgendwie doch noch an ihr Ziel zu bringen. So sehr die Unzufriedenheit in den letzten Tagen gewachsen war, hatte sie nicht damit gerechnet, daß die anderen, ohne sich mit ihr abzusprechen, bereits feste Pläne für die Zukunft schmiedeten … Pläne zudem, die von ihren eigenen Vorstellungen um hundert Prozent abwichen. »Wer ist wir?« fragte sie vorsichtig, obwohl sie die Antwort bereits zu kennen glaubte. »Wie viele werden an Bord bleiben?« Anscheinend spürte der Tamater, wie tief er die Denkende mit seiner Aussage getroffen hatte. Er senkte den Blick und schwieg. »Wir – das sind alle«, antwortete der Noot an seiner Stelle. Er wußte, welch herbe Enttäuschung er dem Pelzwesen damit bereitete, aber er war sich im klaren, daß sie es irgendwann ohnehin erfahren mußte. »Es wurde bereits besprochen, als du noch bewußtlos warst. Niemand wird auf dem Schiff zurückbleiben.« 6.
Der Vorgang der Entstofflichung und die Reise durch das übergeordnete Medium kostete die, die davon betroffen sind, sehr viel Kraft und Substanz. Niemand aber darf dem Dunklen Oheim geschwächt gegenübertreten. Er würde von dessen Ausstrahlung auf der Stelle getötet, und das ist nicht im Sinne des Herrschers. Deshalb wurde uns die Aufgabe zuteil, solche Transporte zu kontrollieren und die Opfer mit frischer Energie zu versehen. Auch der laute Quahrt gelangte, gleichsam als Zwischenaufenthalt, in unseren dunklen Raum, den wir die Lebensblase nennen. So erfuhren wir alles, was sich bis dahin ereignet hatte und wovon wir dir berichtet haben. Wir erkannten die Chancen, die sich für die positiven Kräfte eröffnen würden, wenn es dem Krejoden gelänge, eine in jeder Hinsicht perfekte Kugel aus jenem strahlenden Material herzustellen. So beschlossen wir erstmals, einen Transportauftrag nicht auszuführen. Die Reise des lauten Quahrt endete bei uns, in der Lebensblase. Wir schickten ihn zurück ins Marantroner‐Revier, auf jenen Planeten, auf dem er herangewachsen war und wo er als Kind bereits diese seltsamen Empfindungen hatte, als er in einem aufgegebenen Steinbruch buddelte – nach Xudon. * Er kannte den durstigen Tharm und verehrte ihn wie einen Vater. Damals, als seine Eltern ihn irgendwo aussetzten (ein Vorgang, der bei der Kinderfreundlichkeit der Krejoden durchaus ungewöhnlich und gerade deshalb um so verachtungswürdiger war), hatte sich der Steinmetz seiner angenommen, hatte ihn im Kreis seiner Familie aufgezogen und ihn vergessen lassen, daß er ein Findelkind war. Heute war Tharm ein alter Mann, dessen Schultern sich unter der Last der Jahre gebeugt hatten und der mit der ruhigen Gelassenheit eines Weisen den Zeitpunkt abwartete, an dem sein Leben zu Ende ging. Die Leitung der Marmorfabrik hatte längst ein anderer
übernommen: Zyrl, einer seiner Söhne, der dem lauten Quahrt in seiner Kindheit ein gern gesehener Spielkamerad gewesen war. Tharm selbst hielt sich im Hintergrund. Er erteilte manchmal Ratschläge und war im übrigen ein stiller, umgänglicher Zeitgenosse, der sich nur selten in die Angelegenheiten der anderen einmischte. Den Besucher, der an der Seite seines Sohnes die Kammer betrat, musterte er verständnislos. »Was soll das?« murrte er. »Seit wann werden mir neue Arbeitskräfte vorgestellt?« Zyrl stieß einen erheiterten Ton aus. »Dein Gedächtnis scheint dich allmählich im Stich zu lassen«, meinte er ironisch, aber ohne den Anflug einer Kritik. »Sonst würdest du unseren neuen Steinmetz sofort erkennen.« Aus seinem halbkreisförmigen Auge starrte der Alte den Besucher an, musterte ihn lange, ohne die geringste Regung zu zeigen. Dann schien die Erinnerung einzusetzen, denn seine Sprechblase wölbte sich im Zustand der Überraschung weit nach außen. »Du …«, stammelte er, und es war ihm anzusehen, daß er seinem Gedächtnis selbst nicht mehr traute, »… du bist Quahrt … Quahrt, den wir den Lauten nannten, weil er als Kleinkind niemals den Mund halten konnte …!« Quahrt spürte, wie er von Rührung überwältigt wurde. Viel fehlte nicht, und er wäre auf den Alten zugetreten und hätte ihn umarmt. Doch er sagte sich, daß dies in Zyrls Gegenwart eine unpassende Reaktion gewesen wäre. »Ja, der bin ich«, bestätigte er mit größtmöglicher Kühle. »Und ich freue mich, daß ich nach Hause zurückgekehrt bin.« »Du bist willkommen«, sagte Tharm. »Beim Dunklen Oheim, wie lange ist es her …« Die Erwähnung des Herrschers der Galaxis führte dazu, daß sich Quahrt unvermittelt der Aufgabe erinnerte, die ihm die Körperlosen gestellt hatten. Er sollte eine perfekte Marmorkugel schaffen, die
den Widerschein der Freiheit in alle Reviere tragen konnte. Es war ihm nicht wohl bei dem Gedanken, daß er zu diesem Zweck die Gastfreundschaft der Durstigen mißbrauchen mußte, daß er sie in gewisser Weise hintergehen mußte, um das Objekt herzustellen. Aber er würde es tun – um der Freiheit aller Völker willen. Sehr schnell lebte er sich in dem neuen und doch vertrauten Kreis ein. Es bereitete ihm keine Schwierigkeiten, den Steinbruch wiederzufinden, in dem er seinerzeit jenes strahlende Gestein entdeckt hatte. Seine besten Freunde wurden die Kinder des durstigen Zyrl, die ihn wegen seiner menschlichen Wärme und seiner Fähigkeit, interessante Geschichten zu erzählen, schätzen lernten. Zu den anderen mied er den Kontakt, denn er befürchtete, daß sie den eigentlichen Sinn seiner Arbeit erkennen könnten. Mit den Jahren ließ er sich immer seltener sehen, zog sich mit der Zeit völlig in den alten, aufgegebenen Steinbruch zurück und drehte kleine Marmorkugeln, die den Widerschein der Freiheit enthielten. Die Kinder, die ihn oft besuchten, schmuggelten die Steine unter die übrigen Waren des offenen Marktes im Danjitter‐Tal – ohne zu ahnen, welche Gefahr sie damit heraufbeschworen. Dann, endlich, war es soweit. Nach langen Versuchen stand der laute Quahrt vor dem Erfolg seiner Bemühungen. Alles, was er bisher erschaffen hatte, war nur ein Abglanz dessen, was er nun in Händen hielt: eine Kugel aus reinem Marmor, deren Ausstrahlung so stark und intensiv war, daß sie ihn selbst überraschte. Es war das Objekt, auf das die Körperlosen warteten … die große Plejade! Wenn er die Kugel lange genug betrachtete und sich darauf konzentrierte, gelang es ihm sogar, geistigen Kontakt zu seinen Auftraggebern herzustellen. Leise, geheimnisvolle Stimmen begannen dann in seinen Gedanken zu wispern; Stimmen, die voller Zuversicht waren und ihn aufforderten, die Plejade in die Lebensblase zu transportieren. Es gab einen Weg, er wußte es, und die Fremden hatten ihm erklärt, wie er sich verhalten mußte, was er tun mußte, um die Reise
zu ihnen anzutreten. Aber er vermochte ihn nicht zu beschreiten. In den letzten Jahren hatte seine Sehkraft erheblich nachgelassen. Er wagte sich nicht in eine Umgebung, die ihm unbekannt und fremd war und in der er, weil er kaum mehr als düstere Schatten wahrzunehmen in der Lage war, sich nicht zurechtfinden würde. So beschränkte sich die Freude der Körperlosen zunächst auf die Tatsache, daß die große Plejade existierte. Irgendwann würde man eine Lösung finden, auf welche Weise sie zur Ringwelt gelangen konnte. Doch dann, als Quahrt völlig erblindete, riß der Kontakt ab. Ohne den optischen Eindruck gelang es ihm nicht mehr, die Verbindung wieder herzustellen. Er hatte das Objekt, das den Widerschein der Freiheit in reiner und ursprünglicher Form verströmte, hergestellt, aber er war nicht fähig, ihm zu seiner Bestimmung zu verhelfen. Er wußte nicht, wieviel Zeit vergangen war, als die Katastrophe über die Familie der Durstigen hereinbrach. Es war nicht unbemerkt geblieben, daß Zyrls Kinder den Markt von Xudon mit verbotener Ware bereichert hatten – und die wütenden Krejoden anderer Sippen, die eine Bestrafung fürchteten, rotteten sich zusammen, um gegen die vermeintlichen Verbrecher vorzugehen. Sie richteten ein entsetzliches Blutbad an. Unterstützt von Mitgliedern anderer Völker, drangen sie in den Palast des durstigen Zyrl ein und mordeten alles, was sich ihnen entgegenstellte. Den Lärm und die Schreie hörte selbst Quahrt in dem abgelegensten Teil des Steinbruchs. Niemand überlebte das Massaker … Niemand außer der kleinen Gryta. Voller Angst und Entsetzen floh das Mädchen vor den Horden und suchte bei dem Blinden Schutz. So gut es ihm möglich war, versuchte er sie zu beruhigen und sie seelisch wieder aufzurichten. Dabei hätte er selbst Zuspruch am dringendsten nötig gehabt, denn er wußte, daß das ganze Ausmaß der Schuld auf ihm allein lastete. Nur eines konnte er tun, um vielleicht einen winzigen Teil davon abzutragen. Er übergab der durstigen Gryta die Marmorkugel – in der
Hoffnung, daß das Objekt irgendwann zu den Körperlosen gelangte, auf Wegen und durch Umstände, die heute noch unbekannt waren und sich vielleicht erst in ferner Zukunft eröffnen würden. »Du sollst die Marmorkugel immer bei dir tragen«, gab er Gryta auf. »Verstecke sie, wenn nötig. Es ist aus einer beseelten Ader das schönste und reinste Stück. Ich nenne die Kugel die große Plejade. Du wirst den festen Glauben an die Freiheit des einzelnen niemals verlieren, solange du die große Plejade bei dir trägst.« Er selbst würde nie erfahren, was mit dem Objekt weiter geschah. Er zeigte dem Mädchen einen Weg nach draußen, den die Angreifer nicht kannten und den es gefahrlos gehen konnte. Dann traf er seine letzten Vorbereitungen. Der laute Quahrt starb unter den Trümmern eines Seitenstollens der Bleichen Marmorberge. Sein Vermächtnis aber lebte. * Nachdem es schon danach ausgesehen hatte, als seien wir kurz vor dem Ziel unserer Wünsche, mußten wir nun erkennen, daß sich die Erfüllung unseres Planes schwieriger gestaltete als wir angenommen hatten. Der Kontakt war unterbrochen, und der laute Quahrt war offensichtlich nicht in der Lage, den Transport zu bewerkstelligen. Das war eine schlimme Zeit für uns. In einem der äußersten galaktischen Reviere gab es ein Objekt, mit dessen Hilfe wir die Macht des Dunklen Oheims vielleicht würden brechen können, aber es bestand keine Aussicht, daß die Marmorkugel jemals in unseren Besitz gelänge. Wir sind, wie du weißt, körperlos und unfähig, direkt in Geschehnisse einzugreifen. Wir konnten nur warten, ob uns der Zufall abermals zu Hilfe käme. 7.
Es war der Augenblick, in dem Usmaender feststellte, daß die Antriebsaggregate die Betriebstemperatur erreicht hatten. Seine Hand näherte sich der Kontaktplatte, die, wenn er sie berührte, die Schleusenautomatik auslösen und das Außenschott öffnen würde. Dann war der Weg frei, das Beiboot konnte die ZIEMEN verlassen und in den Weltraum starten. Aber dazu kam es nicht. Bevor der Havare sein Vorhaben in die Tat umsetzen konnte, sprang Faderkyhl von seinem Sitz auf und riß Usmaenders knochigen Arm zur Seite. »Wir dürfen es nicht tun!« rief er erregt. »Wir können sie nicht alleine zurücklassen!« »He, was soll das«, erklang die keifende Stimme des Tamaters aus dem Hintergrund. »Willst du unseren Abflug sabotieren?« Der Noot kümmerte sich nicht um den Protest. Von Anfang an war ihm klar gewesen, daß seine Gedanken auf wenig Gegenliebe stoßen würden. Dennoch war er entschlossen, sie durchzuführen. »Also?« drängte er den Havaren. »Wie ist deine Meinung dazu?« Usmaender drehte den Kopf und blickte ihn aus stechenden Augen an. »Sie wollte es nicht anders«, erinnerte er abweisend. »Wir haben lange genug auf sie eingeredet.« »Ob sie es wollte oder nicht«, widersprach Faderkyhl heftig, »es ist unverantwortlich, was wir tun. Wir müssen noch einmal mit ihr sprechen!« »Wozu?« ließ sich der Bratude aus dem Passagierraum vernehmen. »Abgesehen davon, daß sie sich nicht überzeugen lassen will, kann es für uns nur von Vorteil sein, wenn sie nicht mitkommt. Unsere Vorräte sind begrenzt, und sie reichen um so länger, je weniger Leute an Bord sind.« Der Noot wirbelte herum, und es fehlte nicht viel, daß er wütend auf den Bratuden losging. Der harte Griff Usmaenders, der ihn am
Arm packte, hielt ihn zurück. »Denkt nur an euch!« schrie er aufgebracht. »Denkt an euch selbst und an sonst niemanden! Vergeßt einfach alles, was Zwertelis für euch getan hat. Überlaßt sie getrost ihrem Schicksal!« »Du bist ungerecht«, knurrte der Havare. »Wir alle wissen, daß wir unsere Freiheit nur der Denkenden zu verdanken haben. Aber die Freiheit des einzelnen schließt auch Egoismus ein. Du kannst hier niemandem einen Vorwurf machen, wenn er in erster Linie um sein eigenes Wohlergehen besorgt ist. Zwertelis hat dafür schließlich selbst ein Beispiel gegeben, indem sie darauf bestand, an Bord der ZIEMEN zu bleiben. Ihr Verhalten ist nicht weniger selbstsüchtig als unseres. Du bekommst nichts geschenkt, Faderkyhl, und auch die Freiheit hat ihren Preis!« »Der Preis ist mir zu hoch!« Mit einer heftigen Bewegung befreite sich der Noot aus Usmaenders Griff und wandte sich dem Ausgang zu. »Ich fliege nicht mit euch, solange Zwertelis noch auf der ZIEMEN ist.« Er öffnete das Schott des Beiboots und trat in den Hangar hinaus. »Bleib hier!« rief Usmaender ihm nach. »Du wirst sie nicht umstimmen können.« »Ich versuche es. Falls euch die Zeit zu lang wird, braucht ihr nicht auf mich zu warten.« Seine Stimme nahm einen gehässigen Unterton an. »Dann reichen auch die Rationen etwas länger.« Er kümmerte sich nicht mehr darum, wie die anderen reagierten. Ohne sich umzusehen, verließ er die Schleusenkammer und machte sich auf den Weg zur Steuerzentrale. Gewiß, sie hatten lange und ausgiebig mit Zwertelis debattiert, hatten ein ums andere Mal versucht, ihr klarzumachen, daß im ausgebrannten Wrack der ZIEMEN nichts als der Tod auf sie wartete. Die Argumente waren einleuchtend. Blieben sie auf dem Sternenschiff, würden irgendwann Suchkommandos des Dunklen Oheims auftauchen und sie für den Tod des Koordinators der Ewigkeit zur Rechenschaft ziehen. Flohen sie dagegen mit einem der
intakten Beiboote, bestand zwar keine Aussicht, das Marantroner‐ Revier und ihre Heimatwelten zu erreichen, aber sie hatten Hoffnung, im näheren Umkreis einen bewohnbaren Planeten zu finden, auf dem sie sich niederlassen konnten. Zwertelis ließ sich davon nicht überzeugen. Hartnäckig bestand sie darauf, an Bord zu bleiben. Von Usmaender, der froh war, das Objekt, das ihm immer nutzloser vorkam, endlich loszuwerden, hatte sie sich die Marmorkugel aushändigen lassen, hatte sich in einen Winkel der Steuerzentrale zurückgezogen und war jedem weiteren Gespräch aus dem Weg gegangen. Wenn tatsächlich Suchkommandos auftauchten, hoffte sie, daß der Widerschein der Freiheit die gleiche Wirkung entfalten würde wie seinerzeit bei ihren Freunden. Damit wäre die Grundlage gegeben, die Kugel doch noch zur Ringwelt zu bringen. Es war graue Theorie, sie wußte es selbst, aber sie hatte sich nicht umstimmen lassen. Ruhig hatte sie mit angesehen, wie die anderen ihre Vorbereitungen trafen. Natürlich hatte der Havare recht: niemand brauchte sich Vorwürfe zu machen, wenn die Denkende auf dem Sternenschiff zurückgelassen wurde. Es war ihr eigener Wunsch, den sie zu respektieren hatten. Dennoch brachte es Faderkyhl nicht übers Herz. Er wollte nichts unversucht lassen. Er betrat die Kommandozentrale und sah das Pelzwesen auf dem Boden liegen, alle viere von sich gestreckt, vor sich die Kugel. »Was willst du?« fragte sie, während sie träge den Kopf hob. »Ich dachte, ihr seid längst gestartet.« »Alle Vorbereitungen sind abgeschlossen«, berichtete Faderkyhl. »Ich wollte jedoch hören, ob du wirklich hierbleiben willst.« »Du kennst meine Einstellung«, sagte Zwertelis abweisend. »Es hat sich nichts daran geändert.« »Du gehst in den sicheren Tod!« ereiferte sich der Noot. »Wir haben längst festgestellt, daß die Wirkung der Marmorkugel nicht mehr stark genug ist, um eine wirksame Beeinflussung auszuüben.
Wenn hier Suchkommandos auftauchen, wird niemand dem Widerschein der Freiheit erliegen. Sie werden dich zum Dunklen Oheim bringen, weil wir Tolfex vernichtet haben.« »Ich habe nichts dagegen. Ich werde ihm das Objekt zeigen, und er wird ebenso sterben wie der Koordinator.« »Du weißt genau, wie unsinnig deine Hoffnung ist«, hielt Faderkyhl ihr vor. »Was dich zu deiner Haltung treibt, ist nichts als der Wunsch nach Rache. Du hast erkannt, daß alles in dieser Galaxis vom Dunklen Oheim gesteuert wird, und du machst ihn dafür verantwortlich, daß du auf Cyrsic deine Identität und deinen ursprünglichen Körper verloren hast. Dafür willst du ihn bestrafen – dabei weißt du ebenso, daß dieses Wesen zu mächtig ist, um von einer kleinen Kugel mit ständig nachlassender positiver Ausstrahlung besiegt zu werden!« »Was macht dich so sicher? Ist es nicht denkbar, daß die Kugel ihre Kräfte absichtlich zurückhält? Daß die Fremden deren Stimmen wir vernommen haben, zu dem Schluß gekommen sind, daß nur ich in der Lage bin, den Dunklen Oheim zu erreichen, weil ich wie ein harmloses Tier aussehe? Daß sie die Ausstrahlung mit Bedacht drosseln und euch gehen lassen, damit sie, wenn ich vor dem Mächtigen stehe, um so heftiger zuschlagen können?« »Was du da sagst, läßt mich an deinem Verstand zweifeln!« Wütend ging Faderkyhl einen Schritt auf sie zu und versetzte dem Objekt einen Tritt. Polternd rollte die Kugel über den Boden, bis sie zwischen zwei Terminals gegen die Wand schlug. »Dein Glauben in dieses Ding hat schon etwas Fanatisches. Wenn sich die Völker einer ganzen Galaxis nicht gegen die Macht des Dunklen Oheims wehren können, wie soll dann eine Marmorkugel ihn besiegen!« Zwertelis war kreischend aufgesprungen und machte Anstalten, sich auf den Noot zu stürzen. Nur die Tatsache, daß sich das Eingangsschott abermals öffnete und Usmaender die Zentrale betrat, hielt sie davon ab. »Ich habe lange überlegt, ob ich es tun soll«, sagte der Havare
ruhig. »Und ich bin zu der Überzeugung gekommen, daß es sein muß.« »Was?« fragte Zwertelis verständnislos. »Wenn du nicht freiwillig die ZIEMEN verläßt«, eröffnete Usmaender, »werde ich dich dazu zwingen!« Faderkyhl starrte ihn an, als glaube er an eine Halluzination. Innerlich triumphierte er. Nicht nur, daß Usmaender, aus welchen Gründen auch immer, sich seiner Einstellung angeschlossen hatte, zu zweit hatten sie überdies die Chance, das flinke Pelzwesen zu überwältigen und in das Beiboot zu schleppen. Aber sie hatten Zwertelisʹ Wendigkeit unterschätzt. Nicht umsonst hatte sie lange Zeit im Dschungel von Cyrsic gelebt und sich der überraschenden Angriffe gefährlicher Bestien erwehren müssen. Als Usmaender und Faderkyhl sich auf sie stürzten, entging sie dem Zugriff durch einen schnellen seitlichen Ausfall. »Laßt mich in Ruhe!« rief sie zornig. »Ich gehe nicht mit euch.« »Sei endlich vernünftig«, redete Faderkyhl auf sie ein, während er ihr mit wuchtigen Bewegungen nachsetzte. Wieder entkam sie den zupackenden Klauen. Mit atemberaubender Schnelligkeit hetzte sie in die Nische, in der die Marmorkugel zum Stillstand gekommen war, griff nach ihr und raste weiter. Den Havaren, der sich ihr in den Weg stellte, umging sie mit einem überraschenden Haken. Sekunden später war sie aus der Zentrale verschwunden. Betroffen sahen sich Faderkyhl und Usmaender an. »Die finden wir nicht mehr«, resignierte der Noot. »Es gibt zu viele Schlupfwinkel, in denen sie sich verbergen kann.« Der Havare mahlte knirschend mit seinen Kieferbacken. »Zumindest haben wir es versucht«, sagte er, während er sich dem Ausgang zuwandte. »Aber gegen eine solche Hartnäckigkeit sind wir machtlos.« Faderkyhl folgte ihm schweigend. Er wußte, daß er jetzt nichts mehr tun konnte, daß jeder Versuch, die Denkende in den
Räumlichkeiten des Sternenschiffs aufzuspüren, fehlschlagen mußte. Das Beiboot betrat er mit gemischten Gefühlen. Er und die anderen würden die ZIEMEN verlassen und irgendwo ein neues Leben beginnen. Aber er hatte das Wichtigste verloren, was einem Intelligenzwesen zuteil werden konnte – einen aufrichtigen Freund. * Seltsamerweise war die Ausstrahlung wieder stärker geworden. Zwertelis hatte, nach weiteren erfolglosen Kontaktversuchen, kaum noch damit gerechnet. Jetzt jedoch spürte sie, wie der mentale Widerstand, den die Marmorkugel ihren drängenden Gedanken entgegensetzte, allmählich nachließ. Woran das lag, vermochte Zwertelis nicht zu beurteilen. Vielleicht war die Ringwelt die Ursache, der sie trotz der Havarie ein gutes Stück näher gekommen waren, vielleicht auch die Tatsache, daß die anderen das Schiff verlassen hatten. Sie wußte es nicht, und es spielte auch keine Rolle. Wichtig war in diesem Moment nur, daß sich ihr Entschluß, auf der ZIEMEN zu bleiben, im Nachhinein als richtig herausstellte. Nachdem sie so lange in ihrem Versteck ausgeharrt hatte, bis sie annehmen konnte, daß das Beiboot gestartet war, hatte sie sich wieder in die Zentrale begeben, um die Bemühungen fortzusetzen, die Faderkyhl mit seinem Auftauchen unterbrochen hatte. Nun zeichnete sich endlich ein Erfolg ab. Noch stärker konzentrierte sie sich. Sie schloß die Augen und ließ ihre Gedanken spielen. Beinahe körperlich spürte sie, wie der Widerstand immer geringer wurde, wie ihr Geist gegen ein Hindernis stieß, wie er es dehnte, langsam und allmählich schwächte – und durchbrach.
Zwertelis hatte das Gefühl, ins Nichts zu stürzen. Instinktiv riß sie die Augen auf, sah die Marmorkugel … weit, unendlich. Vor Freude und Erwartung schreiend, versank sie darin. Steuerlos taumelte ihr Ich durch Raum und Zeit, durchbrach wie ein Blitz voll strahlender Hoffnung die Mauern eines Gefängnisses, zerstob in einem dunklen Raum und verschmolz mit fremden Bewußtseinen … Mit Yeers. Mit Olken. Ein Aufschrei: Kontakt! Wir haben wieder Kontakt! Schon einmal hatte Zwertelis die Stimmen wahrgenommen, damals, als sie erst kurze Zeit auf dem Sternenschiff weilte und die Möglichkeiten der Kugel noch nicht in vollem Ausmaß begriff. Es war für sie nicht mehr als ein unbewußtes Erlebnis gewesen – heute jedoch entstanden die Worte so klar und deutlich in ihren Gedanken, als säße sie jemandem gegenüber, der sich akustisch mit ihr unterhielt. Auch ich habe lange darauf gewartet, formulierte sie ihre Antwort. Noch wußte sie nicht, ob sie geschickt genug war, sich so zu konzentrieren, daß die Fremden sie verstanden. Vielleicht war die Existenzebene der Unbekannten so verschieden von ihrer eigenen, daß eine Unterhaltung nur einseitig erfolgen konnte. Wir hören dich, zerstreuten die Stimmen jeden Zweifel. Du hast viel Geduld gehabt, und wir danken dir dafür. Doch jetzt ist das Warten vorbei. Die große Plejade war schwach, aber es ist ein anderes Objekt aufgetaucht, das so viel positive Kraft beinhaltet, wie wir es nie für möglich gehalten haben. Dieses neue Objekt wird bald zu dir stoßen und deine Einsamkeit beenden. Von dem, was die Unbekannten sagten, verstand Zwertelis kaum etwas. Sie begriff nur, daß sie mit ihrem Hierbleiben entscheidend dazu beigetragen hatte, die Chance, den Dunklen Oheim zu besiegen, zu wahren. Wer seid ihr? wollte sie wissen. Wann wird das andere Objekt hier sein?
Bereitwillig gaben die Fremden Auskunft. Wir sind Körperlose, bloße Bewußtseine in einem Raum, den wir die Lebensblase nennen. Hier sind wir gefangen mit vielen anderen, die jedoch nicht in der Lage sind, planvoll zu denken. Sie sind nur noch Bruchstücke, Fragmente dessen, was sie in früheren Zeiten einmal darstellten. Zu deiner zweiten Frage: Das andere Objekt wird kommen, es ist bereits unterwegs, aber es wird noch eine Weile dauern, bis es eintrifft. Werde nicht ungeduldig, Zwertelis. Vielleicht können wir dir die Wartezeit etwas verkürzen, indem wir dir berichten, wie es zur Entstehung der großen Plejade, jener Marmorkugel, die den Widerschein der Freiheit verströmt, gekommen ist. – Laß dir erzählen, warum wir so sehnsüchtig darauf warten, daß sie die Ringwelt erreicht. Es bedeutet uns viel … 8. Ein zweites Mal, das wußten wir, würden wir keine Gelegenheit mehr erhalten, einen Plan wie diesen einzuleiten. Deshalb wurde die Zeit der Stille, in der wir nichts über den Verbleib der Marmorkugel in Erfahrung bringen konnten, zur Qual. Obwohl die Lebensblase zeitlos ist, glauben wir abschätzen zu können, daß der neuerliche Zufall, den wir erhofften, nicht lange auf sich warten ließ. So beschwerlich diese Phase für uns war, sie währte nur kurz. Dann geschah das Wunder. * Die Wracks der Flotte von Sotron‐Belloskap hatten sich als Fundgrube erwiesen. Seit sich Pthor unaufhaltsam auf die Schwarze Galaxis zubewegte, waren Atlan und seine Freunde, allen voran Thalia und Razamon, bemüht, Einzelheiten über die dortigen Begebenheiten und die Gesellschaftsstruktur herauszufinden. Viel hatten sie bisher nicht erfahren können, doch jetzt, durch die Funde
in den zerschossenen Schiffen, eröffneten sich ungeahnte Forschungsmöglichkeiten. Einen Bordcomputer hatten sie geborgen, drei Behälter, in denen fremde Raumfahrer im Tiefschlaf lagen – und einen rätselhaften Brocken schwarzer Materie, der alles Licht verschluckte. Die Aufgabe, den Gesteinsklumpen zu untersuchen, hatte der Berserker übernommen. Alles, was er herausfand, war die Tatsache, daß im Innern des Brockens offenbar energetische Prozesse abliefen. Eine Erklärung dafür wußte niemand. Als schließlich die drei Schläfer mitsamt dem Schlackehaufen verschwanden, wurde das Rätselraten perfekt. Razamons Zeitklumpen war es zuzuschreiben, daß der Berserker den Weg in das Versteck der wiedererwachten Fremden fand, die von einer anderen temporalen Ebene gegen Pthor vorgingen. Er nahm den Kampf auf. Währenddessen ging mit dem Materieklumpen eine bedrohliche Veränderung vor sich. Von innen heraus begann er zu glühen und zu pulsieren … dann explodierte er. Er tötete die Fremden und riß Razamon in die Dunkelheit. Er erwachte in einem lichtlosen Raum ohne Anfang oder Ende. Nachdem er sich von dem Schock erholt hatte, begann er sich darin zu bewegen. Es schien ihm, als spüre er festen Boden unter den Füßen, aber das konnte eine Täuschung sein. Es hätte bedeutet, daß der Raum begrenzt war, und das glaubte er nicht. Vielmehr sagte ihm seine Intuition, daß er sich in einem völlig fremdartigen Kontinuum aufhielt, für das die gewohnten Maßstäbe keinerlei Gültigkeit besaßen. Zwischen seinen Gedanken waren wispernde, raunende Stimmen. Jemand versuchte, sich verständlich zu machen, ihm etwas mitzuteilen. Razamon konzentrierte sich, lauschte aufmerksam. Der verschwommene Eindruck, etwas zu hören, wurde immer deutlicher, dabei war ihm klar, daß es sich um einen rein geistigen, telepathischen Kontakt handelte.
Er wußte nicht, wie lange er auf diese Weise sondiert wurde. Das Gefühl für den Ablauf der Zeit hatte er längst verloren. Doch schließlich entstanden klare, akzentuierte Worte und Sätze … »Deine Reise wurde uns nicht angekündigt«, verstand er. »Aus welchem Grund sollst du vor den Dunklen Oheim treten?« Die Auskunft, daß er sich offenbar auf einer Zwischenstation auf dem Weg zum Herrscher der Schwarzen Galaxis befand, überraschte den Berserker. »Ich bin einem Unglück zum Opfer gefallen«, berichtete er vorsichtig. »Es war nicht meine Absicht, zum Dunklen Oheim zu gelangen. Ich habe auch kein Interesse daran.« Dies wiederum mußten die Körperlosen erst verdauen. Eine Weile herrschte Schweigen, und Razamon begann sich zu fragen, ob er einen Fehler begangen hatte. Vielleicht hätte er nicht so freimütig bekennen sollen, wie wenig er vom Dunklen Oheim hielt. Erst als die Stimmen wieder erklangen, wußte er, daß seine Sorge unbegründet war. »Deine Meinung vom Herrscher ist nicht die beste …« Es war eher eine Feststellung als eine Frage. »Allerdings nicht.« »Willst du uns helfen, ihn vernichtend zu schlagen?« Das hatte der Berserker nicht erwartet. Unwillkürlich überlegte er, ob die Körperlosen einen Trick anwendeten, um seine Einstellung zu testen. Dann jedoch sagte er sich, daß ihnen eine Lüge kaum verborgen geblieben wäre. Seine Gedanken mußten wie ein offenes Buch vor ihnen liegen. Vor seinem geistigen Auge entstanden Bilder unzähliger Greueltaten, die im Auftrag des Dunklen Oheims überall im Kosmos durchgeführt wurden. Er und Atlan hatten sich vorgenommen, diesem Unwesen ein Ende zu setzen. Warum sollte er die Gelegenheit, die ihm hier angeboten wurde, nicht wahrnehmen! »Wenn ich dazu in der Lage bin, werde ich euch helfen.«
»Laß dir erklären …« Die Körperlosen berichteten ihm von der großen Plejade, die sich auf dem Planeten Xudon befand und in die Lebensblase gelangen mußte, wenn ihre mühevolle Herstellung einen Sinn erfüllen sollte. Razamon brauchte nicht lange, um die Chance zu erkennen, die sich hier für alle Völker der Galaxis eröffnete. Er nahm die Aufgabe an. »Allerdings habe ich eine Bedingung«, fügte er hinzu. »Welche?« »Ich fürchte, daß man mich mit meiner wahren Identität sehr schnell entlarven wird. Auch besteht die Gefahr, daß ich mich selbst verrate. Deshalb sollt ihr meine Erinnerung an die Vergangenheit und mein wahres Ich so lange blockieren, bis ich den Auftrag ausgeführt habe.« »Das ist gefährlich«, wandten Yeers und Olken ein. »Unter ungünstigen Umständen wird sich diese Blockade niemals mehr lösen. Du könntest nicht mehr der sein, der du jetzt noch bist.« »Das muß ich riskieren.« Nachdem ihn seine kämpferische Begeisterung gepackt hatte, wischte er alle Bedenken zur Seite. »Werdet ihr es tun?« »Wir tun es.« Alles, was Razamon noch wahrnahm, übermittelte sich in einem heftigen Schmerz und einem grellen Lichtblitz. Er vergaß. Als er erwachte, befand er sich auf dem Planeten Ximmerrähne im Rghul‐Revier. Sein Name war Nomazar. * Die Zuversicht, die wir schöpften, als der Fremde bei uns auftauchte, wurde abermals zerstört. Warum der Transport mißlang, wissen wir nicht – wir wissen nur, daß Nomazar nie auf Xudon materialisierte. Er blieb verschollen. Dennoch trat ein Ereignis ein, das unsere Hoffnungen weiter nährte. Wir erfuhren, daß die große Plejade aus dem Steinbruch des lauten
Quahrt entfernt wurde, denn zwei Wesen, die nicht von der bösartigen Ausstrahlung des Dunklen Oheims vergiftet waren, berührten sie und lösten damit ein Signal aus. Natürlich bemühten wir uns um eine Verständigung, doch die positive Kraft, die das Objekt in den Bleichen Marmorbergen hatte aufsaugen können, war bereits zu sehr abgeklungen. Erst auf Cyrsic konnte sich die Kugel regenerieren, deshalb konnten wir uns mit dir in Verbindung setzen, als du sie endlich fandest. Und jetzt – jetzt strahlt sie stärker als jemals zuvor. Spürst du es, Zwertelis, wie das Positive um dich immer stärker wird? Spürst du das zweite Objekt in deiner Nähe? Ja, sie sind da, sie haben den Weg gefunden! Sträube dich nicht, wenn sie dich auffordern, mit ihnen zu gehen … EPILOG Es ist soweit. Nach langem Warten nähert sich der Plan der Körperlosen endlich seiner Erfüllung. Das neu entdeckte Objekt, das das Positive an sich verkörpert, nähert sich der ZIEMEN. Geradezu magisch wurde es von der großen Plejade angezogen, jetzt hat es sie erreicht. Der Raumer, der am Sternenschiff des Koordinators der Ewigkeit andockt, ähnelt mehr einem riesigen Insekt als einer technischen Konstruktion. Die äußere Hülle strahlt in einem Glanz, als sei sie aus purem Gold. Die Insassen nennen das ungewöhnliche Flugobjekt GOLʹDHOR. Yeers und Olken sind zufrieden. Aufmerksam beobachten sie das Kunstwesen vom Planeten Cyrsic, wie es den Ankömmlingen gegenübertritt. Koy, Kolphyr und die Magier nehmen die Denkende an Bord, und es geschieht das, was die Körperlosen sich erhofft hatten. »Es ist wunderbar«, schwärmt Olken. »Die große Plejade und die GOLʹDHOR – sie ergänzen sich!« »Ja«, antwortet Yeers. Das, was dort geschieht, fasziniert und überwältigt ihn. Die überschüssige positive Energie, die das goldene Raumschiff
gespeichert hat, geht auf die Marmorkugel über. Ein Kräfteaustausch findet statt, der die Körperlosen vor Freude taumeln läßt. So stark wird die große Plejade, daß es sogar möglich ist, Botschaften akustisch zu übermitteln. »Fliegt zur Ringwelt«, fleht Olken inbrünstig, und er weiß, daß die Wesen an Bord ihn verstehen können. »Helft uns im Kampf gegen den Dunklen Oheim!« Das Raumschiff selbst scheint ihn zu hören. Es wartet keine Befehle ab, wartet nicht, was seine Insassen beschließen. Es richtet sich allein nach den Impulsen der Körperlosen. Langsam löst es sich von der ZIEMEN, treibt ab – und nimmt Fahrt auf. »Wir sind fast am Ziel«, sagt Olken bedächtig. Eine große Ruhe breitet sich in ihm und Yeers aus. »Nicht mehr lange, dann wird die große Plejade bei uns sein.« ENDE Weiter geht es in Atlan Band 475 von König von Atlantis mit: Die Traumprüfung von H.G. Ewers