GOLDMANNS WELTRAUM TASCHENBÜCHER Band 0100 Lloyd Biggle • Fanfaren der Freiheit
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GOLDMANNS WELTRAUM TASCHENBÜCHER Band 0100 Lloyd Biggle • Fanfaren der Freiheit
Von Lloyd Biggle sind bisher erschienen: Fanfaren der Freiheit Für Menschen verboten Spiralen aus dem Dunkel Verbrechen in der Zukunft
Dieses Buch wird unter der Bedingung verkauft, daß es ohne Zustimmung des Verlages weder in Leihbibliotheken eingestellt noch gewerbsmäßig weiterverkauft. vermietet oder auf ähnliche Weise genutzt wird. Die vom Verlag gewählte Ausstattung darf weder durch einen festen Einband noch durch einen besonderen Umschlag noch in sonstiger Weise verändert werden.
LLOYD BIGGLE
Fanfaren der Freiheit Utopisch-technischer Abenteuerroman
WILHELM GOLDMANN VERLAG MÜNCHEN
6092 • Ungekürzte Ausgabe • Made in Germany • I © 1968 by Lloyd Biggle, Jr. © 1969 by Wilhelm Goldmann Verlag, München. Titel des englischen Originals: The still, small Voice of Trumpets. Ins Deutsche übertragen von Tony Westermayr. Herausgegeben von Dr. Herbert W. Franke. Alle Rechte, auch die der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Jeder Nachdruck bedarf der Genehmigung des Verlages. Umschlagentwurf von Eyke Volkmer. Gesetzt aus der Linotype-Garamond-Antiqua. Druck: PresseDruckund Verlags-GmbH. Augsburg. WTB 0100 • ak/Sch
1 Hinter ihm öffnete und schloß sich eine Tür. Jeff Forson achtete nur auf die Gemälde, die eine Wand des Raumes ausfüllten, vom Boden bis zur Decke. Herrliche Gemälde. Als erstes würde er einen Chemiker beauftragen, sich mit diesen Farben zu befassen, dachte er. So etwas hatte er noch nie gesehen. Die Farben waren herrlich, die Landschaft verblüffte ihn. In den Händen großer Künstler, und die meisten hier vertretenen Bilder stammten von großen Künstlern, schufen sie eine vieldimensionale Wirkung, die ihm den Atem benahm. Kein Wunder, daß das Amt für Interplanetarische Beziehungen dringend um Entsendung eines Spezialisten aus dem Institut für Kulturforschung gebeten hatte! Personal, das bei der einfachen Aufgabe versagte, Türschilder zu beschriften, und das für die Büros eine Farbgestaltung wählte, die einem düsteren Mausoleum angemessen gewesen wäre, erschien für den Umgang mit Kunstwerken denkbar ungeeignet. Die Leute hatten ja nicht einmal eine Ahnung davon, wie man Bilder hängen mußte! Aus dem Lautsprecher krächzte eine Stimme; die Sekretärin sagte eisig: »Der Koordinator hat jetzt Zeit für Sie, Sir.« Forson stand auf, warf einen letzten, prüfenden Blick auf die Gemälde und folgte ihr. Er liebte seine Arbeit, aber er haßte die bürokratischen Formalitäten, denen er sich dabei unterwerfen mußte. Außerdem haßte er wohlgeformte junge Damen, die Männeruniformen trugen und überlegen lächelten. Das Lächeln dieser jungen Dame verschwand schlagartig, und Forson entdeckte betroffen, daß er sie böse angefunkelt hatte. Eigentlich mußte er sich bei ihr entschuldigen. Ihr überlegenes Lächeln war vielleicht das einzige, worüber sie verfügte, und die Uniform hatte sie sich vermutlich nicht selbst ausgesucht. Jedenfalls hoffte er es. »Trägt die Stützpunktbesatzung auch mal die Kleidung der Einheimischen?« fragte er. »Wie bitte?« Der Gedanke erschreckte sie so, daß ihr die Tür aus der Hand glitt
und vor Forsons Nase zufiel. Sie öffnete sie wieder, und er folgte ihr durch einen Korridor, wo er die Beschriftung an den Türen las >Zentrale Stab AZentrale Stab B< — bis er an eine unbeschriftete Tür kam. Vielleicht war dieses Zimmer für sein Büro bestimmt. Das Schild dafür gedachte er jedenfalls selbst anzufertigen. Bislang hatte er noch nie unter einer anderen Regierungsbehörde direkt arbeiten müssen, und mit jedem Schritt, der ihn dem Koordinator näher brachte, gefiel ihm diese Vorstellung weniger. »Es ist aber doch nicht verboten, oder?« fragte er das Mädchen. »Wie bitte?« »Das Tragen einheimischer Kleidung«, meinte Forson beharrlich und betrachtete mit tiefempfundener männlicher Mißbilligung ihren Männerhaarschnitt. »Nein, Sir. Der Koordinator wünscht es aber nicht.« Forsons Vorbehalte gegen diesen Koordinator verdichteten sich zu echter Abneigung. Er konnte es dem Mann nicht verübeln, daß er nicht mitten in der Nacht aufgestanden war, um ihn einzuweisen, aber es gab keine Entschuldigung dafür, daß er Forson am Morgen danach über eine Stunde warten ließ. Forson hatte das zwar der Gemälde wegen nichts ausgemacht, aber er wußte, daß es unnötig war. Bewußter Unhöflichkeit auf Seiten eines leitenden Beamten der Interplanetarischen Verwaltung war schwer genug zu begegnen: Unhöflichkeit, gepaart mit Neigung zur Willkür, erschien unerträglich. In den meisten Stützpunkten trug das Personal mit Freuden die Kleidung der Einheimischen. Aber das ging ihn nichts an. Er gedachte, die Formalitäten so schnell wie möglich zu erledigen und sich dann unter die Einheimischen zu mischen, wo er sich hingehörig fühlte. Die Sekretärin führte ihn zu einer weiteren Tür, nickte ihm schnippisch zu und ließ ihn allein. Eine zweite junge Dame von ebenso strengem Aussehen führte ihn in ein Arbeitszimmer. Forson schlenderte gelassen auf Wem Rastadt, den Koordinator des Amts für Interplanetarische Beziehungen auf dem Planeten Gurnil, zu. »Forson zur Stelle«, sagte er. Die Worte riefen auf dem Gesicht von Koordinator Rastadt keine erkennbare Freude hervor. Schlaff, von tiefen Falten durchzogen, mit
einem mürrisch herabhängenden Mund, war es kein Gesicht, das Freude auszudrücken vermochte. Die Augen funkelten zwar lebendig, waren aber mit dicken Tränensäcken gepolstert. Ein Haarkünstler hatte den tapferen Versuch unternommen, aus dem spärlichen weißen Haar einen strengen militärischen Haarschnitt zu machen, dabei aber nur weite Flächen rötlicher Kopfhaut bloßgelegt. Nur das Kinn des Koordinators besaß Charakter: es stand weit hervor, wie eine unpassende Erhebung in tristem Brachland. Seine dicken, weißen Hände stützte er mit den Handflächen nach unten vor sich auf den Schreibtisch, als wolle er Forson anspringen. Offensichtlich war er im Dienst alt und fett geworden, hatte auf die freiwillige Versetzung in den Ruhestand verzichtet und sich auf eine Pfründe zurückgezogen, aus der ihn, abgesehen von einem kolossalen Schnitzer und einer Sonderuntersuchung, nur der Tod vertreiben konnte. Forson richtete seinen Blick auf den gerahmten Wahlspruch an der Wand hinter dem Koordinator - >Demokratie, von außen aufgezwungen, ist die schlimmste Form der Diktatur< - und unterdrückte ein Lächeln. Das war heute das fünftemal, daß er ihm begegnete. Abrupt ballten sich Rastadts Hände zu Fäusten. »Die Kulturforschung bringt ihren Leuten wohl nicht bei, wie man sich bei einem Vorgesetzten zu melden hat!« herrschte er ihn an. »Überlegenheit ist ein Mythos«, meinte Forson ruhig. »Das hat die Kulturforschung längst bewiesen.« Rastadts Fäuste hieben auf den Schreibtisch. Er sprang auf, warf seinen Stuhl um, beugte sich über den Schreibtisch und schrie: »Sie unterstehen jetzt meinem Befehl und werden sich entsprechend verhalten! Verschwinden Sie, kommen Sie wieder herein und melden Sie sich vorschriftsmäßig!« Alter und Stellung des Mannes erheischten ein gewisses Mindestmaß an Respekt, wenn auch durchaus nicht sein Verhalten. Forson warf als Antwort seine Papiere auf den Schreibtisch. Der Koordinator prüfte sie schweigend. Als er das Wort wieder ergriff, klang seine Stimme überaus gedämpft. »Sie - Sie sind — Sektorinspizient - der Kulturforschung?« »So lautet die Bezeichnung.«
Der Koordinator drehte sich um, stellte seinen Sessel wieder auf die Beine und ließ sich schwerfällig nieder. Forson hatte noch nie einen Menschen gesehen, der so schnell und so gründlich auf sein wahres Maß zurückgeführt worden war. Rastadt starrte Forson ungläubig an. Forson wog in aller Ruhe die Porträtqualitäten der aufgeschwemmten Züge ab und stufte sie gering ein. Ein Porträtmaler, der aus diesem trostlosen Gesicht Charakter zutage fördern sollte, wäre zur Verzweiflung getrieben worden. Ein Karikaturist dagegen hätte erstklassiges Material vorgefunden. »Sie sind jung«, meinte Rastadt plötzlich. »Das passiert jedem einmal.« »Kann ich, bitte, Ihre Instruktionen haben.« »Mir wurde gesagt, daß ich sie hier bekomme.« »Hier?« Rastadts Kopf zuckte, und das schwammige Fleisch zog sich zusammen und machte argwöhnische Schlitze aus seinen Augen. »Ich habe keine Instruktionen für Sie.« Er schwieg einen Augenblick. »Sie wissen also nicht, warum Sie hier sind?« »Warum bin ich überhaupt im Dienst? Um Kulturforschung zu betreiben.« »Nein.« Der Koordinator schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Nein. Gurnil ist immer noch als feindseliger Planet eingestuft. Auf feindseligen Planeten darf Kulturforschung nicht betrieben werden, wie Sie wissen sollten.« »Meine Zentrale hat mich auf diesen Planeten beordert«, sagte Forson langsam. »Das Amt für Interplanetarische Beziehungen hat die Order bestätigt, mir erste Priorität zugesprochen und sogar veranlaßt, daß ein Raumkreuzer einen Umweg von mehreren Lichtjahren machte, um mich an Ihrer Türschwelle abzusetzen. Wollen Sie mir etwa jetzt einreden, daß ich mich verirrt habe?« Rastadt schob Forson die Ausweispapiere hin. »Als einzige Information habe ich die kurze Nachricht erhalten, daß ein IK-Mann zum Dienst auf diesem Planeten abgeordnet und dem Amt unterstellt worden sei. Um welchen Dienst es sich handelt oder welchen Rang der Mann bekleidet, erwähnte die Nachricht nicht, aber ich bin überzeugt, daß es mit Kulturforschung nichts zu tun haben kann. Sie sind kein IK-Mann mehr, sondern IPB, sonst wären Sie nicht
hier. Immerhin merkwürdig, daß Sie keine Instruktionen haben.« »Ich finde es noch seltsamer, daß meine Instruktionen nicht eingetroffen sind.« »Durchaus nicht seltsam. Wir stehen kurz vor einem Versorgungskontakt. Sie werden sich zweifellos in der normalen Post finden. Sie selbst sind früher eingetroffen, weil Sie mit einem Raumkreuzer kamen. Normalerweise stellt das IPB-Amt eine Durchschrift der Instruktionen für die Meldung zum Dienstantritt zur Verfügung, da Sie aber von einer anderen Organisation kommen, hat es wohl eine Panne gegeben.« Er drehte sich zur Seite und sprach zerstreut ins Leere. »Wie Ihr Auftrag auch lauten mag, Sie müssen eingewiesen werden.« »Nein«, sagte Forson ruhig, »aber Sie. Betrachten IPB-Beamte ihre Vorgesetzten grundsätzlich als einen Haufen von Nichtswissern? Nur ein Trottel würde einen Mann, der in einem winzigen Ausschnitt eines komplizierten Wissensgebietes zum Spezialisten ausgebildet wurde, abziehen und mit etwas anderem beschäftigen. Ihre Vorgesetzten sind keine Trottel, und sie haben das nicht getan. Das IPB-Amt würde nicht einen Kulturforscher anfordern, wenn es nicht eine Aufgabe für ihn hätte, die nur ein Mann mit gerade dieser Ausbildung bewältigen kann.« »Wenn Ihre Instruktionen eintreffen, wird sich zeigen -« »Ich brauche keine Instruktionen, um zu wissen, was ich zu tun habe.« Forson setzte sich auf die Schreibtischkante und hob die Stimme. »In Ihrem Empfangsraum hängt eine Anzahl einheimischer Gemälde. Es handelt sich um großartige Kunstwerke, die irgendein Tölpel mit Cellex an der Wand befestigt hat, was sie praktisch zu einem festen Bestandteil des Gebäudes macht. Vielleicht bringe ich den Betreffenden um, falls ich ihn finde. Eines der Gemälde ist das Porträt eines Musikers. Wissen Sie, welches ich meine?« »Ich scheine mich erinnern zu können -« »Gut. Das Musikinstrument ist ein gezupftes Saiteninstrument, das ich mangels einer besseren Bezeichnung eine Harfe nenne - obwohl es mit keiner Harfe, die mir je zu Gesicht gekommen ist, Ähnlichkeit besitzt. Es verfügt über einen wunderschönen, geschnitzten Rahmen, und die Saiten erstrecken sich vom Umkreis eines kugelförmigen Tonträgers zu einer Art Drachenschädel, der die Spitze des Instruments
ziert.« Er machte eine Pause. Der Koordinator starrte ihn mit großen Augen an. »Ich möchte folgendes wissen: Welche Tonleiter ist dem Instrument zugrunde gelegt?« »Ich -« Der Hals des Koordinators schwoll an, als er krampfhaft schluckte. »Ich habe leider keine Ahnung.« »Das dachte ich mir. Würden Sie eine Auswahl von Schallaufzeichnungen und die dazugehörige Abspielapparatur in mein Quartier schicken?« » Aufzeichnungen ?« »Von der Musik dieses Instruments. Die besitzen Sie doch, oder?« »Ich — nein, leider nicht.« »Aha. Dann fertige ich sie selbst an. Können Sie die Apparatur dafür und ein paar Musiker beschaffen, oder muß ich das selbst tun?« »Aber das ist -« Die Stimme des Koordinators versagte. »Nichts ist unmöglich«, erklärte Forson mit eiserner Ruhe. »Dieses Gemälde interessiert mich auch sonst. Ich brauche die chemische Analyse der Grundfarben und ein paar Proben davon zum Experimentieren.« Der Koordinator war sprachlos. »Keine chemische Analyse?« meinte Forson resigniert. »Nicht daß ich wüßte.« »Es kann nicht schwer sein, sie anzufertigen. Sie haben doch ein Labor hier, nicht? Geben Sie mir ein bißchen Farbe, dann analysiere ich sie selbst.« »Leider -« »Kein Labor?« »Keine Farbe.« »Das kann kein Problem sein. Besorgen Sie sie. Noch besser - laden Sie ein paar Maler ein. Ich möchte sie bei der Arbeit beobachten.« »Aber das ist unmöglich! Sehen Sie —« »Ich sehe nur, warum man es für nötig gehalten hat, Ihnen einen Kulturforscher zu schicken.« Das Gesicht des Koordinators hatte sich gerötet; sein steigender Blutdruck schien auf Kollisionskurs mit seiner abnehmenden Selbstbeherrschung zu sein, aber als er zu sprechen begann, geschah das im Tonfall eines bekümmerten Menschen.
»Sie sehen gar nichts. Bis Ihre Instruktionen eintreffen, können wir nicht viel tun, aber ich werde meinen Assistenten bitten, Sie einzuweisen. Sind Sie mit Ihrem Quartier zufrieden? Gut, dann - guten Morgen, Forson. Sektorinspizient Forson, meine ich natürlich.« Er stand auf und salutierte. Forson erwiderte den militärischen Gruß verblüfft und zog sich mit dem beunruhigenden Gefühl zurück, daß er eine Schlacht verloren hatte. Er kehrte in den Empfangsraum zurück und setzte sich, um die Gemälde noch einmal zu betrachten. Er mußte eine Analyse der Farbe haben. Er mußte die Musik aufnehmen. Der bloße Anblick dieses seltsamen Instruments rief berückende Phantasievorstellungen perlender Klänge hervor. Die Sekretärin betrachtete ihn feindselig, als verdächtigte sie ihn, von einer der übleren Ungezieferarten dieses Planeten befallen zu sein. »Sie wissen wohl nicht zufällig, welche Art von Tonleiter bei diesem Instrument Verwendung findet?« erkundigte er sich. Ihre Feindseligkeit verschwand. Einen peinlichen Augenblick lang wurde, was vorher ein recht anziehendes Gesicht gewesen war, von einer totalen, abstoßenden Verblüffung überzogen. Sie antwortete nichts, und Forson, dem alles Abstoßende zuwider war, wandte sich ab. Schönheit liebte er um ihrer selbst willen; Häßlichkeit, die oft eine Form umgedrehter Schönheit war, faszinierte ihn. Das Leben bot von beidem viel zuwenig und dafür viel zuviel erschrekkende Mittelmäßigkeit, die er scheußlich fand. Aber dieser Planet Gurnil besaß eine Kultur von nahezu unfaßbarem Reichtum. Die Gemälde zeigten verlockende Hinweise auf andere Künste, die der Malerei gleichkommen oder sie übertreffen mochten: das Musikinstrument; seinen meisterlich geformten Rahmen, der hohe Fertigkeiten auf dem Gebiet der bildenden Kunst verriet; die eindrucksvolle Architektur. Gebäude mit Wänden, die von einem schmalen Fundament her auseinanderstrebten und mit ihren gewölbten Dächern und herrlichen Farben wie strahlende, rechteckige Pilze aussahen. Wenn das zu Erwartende auf einer ähnlichen Ebene stand, mußte der Planet Gurnil jene Welt sein, die sich jeder Kulturforscher erträumte, ohne ihr jedoch zu begegnen. Forsons Begeisterung wurde von einer bösen Vorahnung jedoch
erheblich gedämpft. Das IPB-Amt hätte beliebig viele Kulturforscher anfordern können, auch ohne einen leitenden Beamten des Instituts beizuziehen, würde aber, wenn es sich doch dazu veranlaßt sah, seine Instruktionen keinesfalls mit einem langsamen Frachtschiff geschickt haben. Die Sekretärin sah ihn immer noch feindselig an. Er warf ihr einen fragenden Blick zu; sie erwiderte ihn finster. Er sah sich noch einmal das schimmernde Porträt einer wunderschönen jungen Dame Gurnils an, die ihr Haar in langen, wallenden Flechten trug und deren glanzvolle Kleidung ihre wohlgeformte Gestalt verbarg, ohne sie zu entstellen. Die Schultern des Uniformrocks der Sekretärin waren zu kantigen Rechtecken ausgestopft, obwohl jeder Fachmann wissen mußte, daß man die natürliche Schönheit der Rundungen nicht durch scharfe Kanten entstellen durfte. Die knielange Hose erwies sich, wenn möglich, als noch größerer Irrtum. Ihre Farbe erinnerte Forson an erstarrten Schlamm, und das gesunde Fleisch selbst der wohlgeformten Beine nahm daneben eine totenähnliche Färbung an. Der Gegensatz war so auffällig und störend, daß Forson die Gemälde auf der Stelle im Stich ließ und zu seinem Quartier marschierte, wo er in Ruhe versuchen konnte, das Rätsel zu lösen. Er spürte die unangenehme Gewißheit, daß ihm die Lösung nicht gefallen würde.
2 Die Wände von Forsons beiden kleinen, spartanisch eingerichteten Räumen waren triste Flächen verblaßten grauen Kunststoffs. Als einzige Zierde gab es in jedem Zimmer den schwarzgerahmten Wahlspruch des IPB-Amts: >Demokratie, von außen aufgezwungen, ist die schlimmste Form der Diktatur.< Die Fenster gingen auf den stillen, tiefen See eines riesigen Vulkankraters hinaus. Jenseits des Kraterrandes reckten gewaltige Berge ihre nebelumhüllten Gipfel in atemberaubender Schönheit. Inmitten dieser Naturschönheiten hatte das IPB-Amt ein gigantisches, eigenschaftsloses Gebäude errichtet und es mit einer Wüstenei von Lagerschuppen, Landefeld, Hangars und hektargroßen Brachflächen umgeben. Forson betrachtete angewidert die verunstaltete Landschaft und dachte mitfühlend an den legendären Vogel im Weltraum, der sich die Flügel an einem Vakuum gebrochen hatte. Der IPB-Stützpunkt war ein Kulturvakuum. Forson betrachtete die sterile Häßlichkeit und fühlte sich flügellahm. Bedrückt von der Trostlosigkeit im Innern, angewidert von der Aussicht, die ihm die Fenster boten, verbrachte Forson einige Minuten damit, zornig im Zimmer hin und her zu wandern, bevor er hinausstürzte, um einen ersten Besichtigungsgang durch das Gebäude zu unternehmen. Der Gedanke, daß für eine solch riesige Einrichtung erstaunlich wenige Menschen unterwegs waren, hatte sich schon einmal eingestellt. Das H-förmige Gebäude bestand aus zwei doppelstöckigen Wohnflügeln, verbunden durch ein langes, einstöckiges Mittelstück, in dem die Verwaltungs- und Versorgungsräume untergebracht waren. Forson ging am Empfangsraum vorbei, ohne darauf einen Blick zu verschwenden, und durchwanderte den ganzen langen Korridor des Wohntrakts gegenüber. Als er umkehrte, spürte er Musik. Spürte sie mehr, als er sie hörte. Der Klang war so sanft, so zart, so unbeschreiblich zerbrechlich, daß keine einzelne Sinnesempfindung bei der Wahrnehmung eine Rolle zu spielen schien. Er stand wie angewurzelt und atemlos vor einer Tür. Lange nachdem
die Töne verklungen waren, glaubte er sie immer noch zu hören. Er wartete. Als die Musik nicht mehr aufgenommen wurde, klopfte er schüchtern. Die Tür ging auf, und ein Mädchen stand vor ihm — ein Mädchen, das ganz ursprünglich war, langes, goldenes Haar, in eine Robe aus satten Farben gekleidet, die in strahlendem Gegensatz zu dem strengen Zimmer hinter ihr standen. »Verzeihung«, sagte Forson. »Ich wußte nicht, daß hier die Frauen untergebracht sind. Ich hörte die Musik und. wurde neugierig.« Zu seinem Erstaunen schaute sie hastig nach links und rechts, zog ihn schnell ins Zimmer und schloß die Tür. Wie durch ein Wunder stahl sich ein Lächeln über ihr zuerst streng wirkendes Gesicht. Er setzte sich auf den Stuhl, den sie ihm anbot, und erst als sich das Lächeln verstärkte, begriff er, daß er sie angestarrt hatte. »Verzeihung«, sagte er noch einmal. »Alle Frauen, die ich bisher hier gesehen habe, spielten Soldat.« Ihr Lachen erinnerte ihn entfernt an die Musik, die er gehört hatte, aber als sie zu sprechen begann, tat sie es nur im Flüsterton. »Sie gehören zum Stützpunktpersonal. Sie müssen sich soldatisch geben. Ich bin beim Stab B.« »Stab B?« wiederholte er, ebenfalls flüsternd. »In Erholung«, fuhr sie fort. »Ich habe einen Virus erwischt.« Plötzlich bemerkte er das Instrument auf einem niedrigen Tisch neben ihrem Feldbett. Es besaß Ähnlichkeit mit dem Instrument auf dem Gemälde, war aber nur sechzig Zentimeter hoch und sah eher wie ein Spielzeug aus denn wie ein Instrument für hohe Kunst. Der Holzrahmen war ohne Verzierung, aber zu strahlendem Schimmer poliert. »Es ist so klein!« entfuhr es Forson. »Das auf dem Bild war riesengroß!« Ihr Finger an den Lippen erinnerte ihn daran, daß er die Stimme erhoben hatte. »Sie meinen ein Torril«, sagte sie leise. »Ein Instrument für Männer. Ein Instrument für öffentliche Konzerte. Der Rahmen wird geschnitzt und genau auf die Größe des Musikers abgestimmt. Wenn der junge Torrilspieler aufwächst, muß er jedes Jahr ein neues Instrument
bekommen. Das hier ist ein Torru, ein Fraueninstrument. Der Ton paßt sehr gut zu kleinen Räumen, würde aber bei Konzerten viel zu zart sein.« »Ein wunderbarer, flüsternder Ton«, sagte Forson. Er stand auf und beugte sich über das Torru. Die zarten Saiten bestanden aus einer ein wenig gezwirbelten Faser, weiß und — jede fünfte Saite - schwarz. Er zupfte vorsichtig an ihnen. »Eine modulierte Fünftonleiter!« sagte er. »Primitiv und gleichzeitig höchst raffiniert. Merkwürdig.« Das Mädchen lächelte ihn wieder an. »Ich habe mich immer gefragt, wie IK-Leute sein mögen. Jetzt weiß ich es. Sie hören Musik!« Sie machte sich vielleicht über ihn lustig, aber Forson gab ernsthaft Antwort. »>Kultur< ist ein so weiter Begriff, daß das Institut mehr Spezialgebiete kennt, als Sie sich vorstellen. Meine eigene Spezialität sind Künste und Kunsthandwerk, und ich bin Könner des Einmaligen in allen diesen Bereichen. Aber das Instrument hier - die kreisförmige Anordnung der Saiten. Wissen Sie, daß sich das nirgends einordnen läßt?« »Daran habe ich noch nie gedacht. Es ist wunderbar zu spielen.« »Spielen Sie doch etwas«, schlug Forson vor. Er beobachtete ihre geschickten Finger und lauschte gebannt und hingerissen, bis die letzten perlenden, flüsternden Töne verklungen waren. »Erstaunlich«, sagte er begeistert. »Die Technik ist grandios. Sie haben alle Saiten direkt unter den Fingern, während bei den Harfen -« Er verstummte. Im Korridor waren Schritte vernehmbar geworden, und sie horchte erschrocken auf. »Es muß Mittagszeit sein«, meinte er. »Kommen Sie mit?« Sie schüttelte ernsthaft den Kopf. »Es ist besser, wenn niemand erfährt, daß wir miteinander gesprochen haben. Bitte erwähnen Sie es also nirgends.« Sie führte ihn hastig zur Tür, öffnete sie vorsichtig und schaute hinaus. »Kommen Sie nicht mehr hierher«, flüsterte sie. »Ich versuche Sie zu sehen, bevor ich fortgehe.«
Er stand plötzlich wieder im Korridor, setzte sich in Bewegung, und ihre Tür schloß sich lautlos. Er war um die Ecke gebogen, bevor ihm einfiel, daß sie ihm ihren Namen nicht gesagt hatte. Der Essensduft lockte ihn in den Speisesaal, wo sich ihm auf dem Weg zur Ausgabe eine der uniformierten Damen des Koordinators in den Weg stellte. »Offiziere werden in ihren Quartieren bedient«, erklärte sie. »Sehr freundlich von Ihnen«, erwiderte Forson. »Ich ziehe es aber vor, hier zu essen.« Sie wurde vor Verwirrung rot, wich und wankte aber nicht. »Der Koordinator hat verfügt —« »Sagen Sie ihm, daß der Sektorinspizient Hunger hatte«, murmelte Forson. Er ging um sie herum, bediente sich und trug sein Tablett zu einem langen Tisch, an dem eine Anzahl von jungen Frauen in Uniform und jungen Männern in Arbeitskleidung schon aßen. Er wurde schweigend aufgenommen, die anderen wichen seinen Blicken aus und reagierten einsilbig, als er ein Gespräch in Gang zu bringen versuchte. Der Reihe nach verschwanden sie, und es dauerte nicht lange, bis Forson allein am Tisch saß. Er kehrte nach dem Essen in sein Quartier zurück, wo er auf dem Arbeitstisch ein opulentes Mahl vorfand. Angeekelt leerte er das abgestandene Essen in den Schlucker. Während er mürrisch die trübe Aussicht betrachtete, klopfte es an seine Tür. Er beurteilte seinen Besucher mit einem schnellen Blick. Das muß einfach der stellvertretende Koordinator sein, dachte er. Der Mann stand stramm und salutierte. »Unterkoordinator Wheeler zur Stelle.« Forson bat ihn, das sein zu lassen, hereinzukommen und sich zu setzen. Als er darauf: »Jawohl, Sir«, sagte, ersuchte Forson ihn, auch das bleiben zu lassen. »Ich heiße Jeff. Haben Sie einen Vornamen?« »Blagdon.« Wheeler lächelte albern. »Meine Freunde nennen mich Blag.« »Also gut. >Unterkoordinator Wheeler< ist mir zu anstrengend.« Wheeler grinste wieder, überreichte Forson ein dickes Buch und
machte es sich in einem Sessel bequem. Forson grinste zurück. Nachdem er Koordinator Rastadt kennengelernt hatte, hätte er blind seinen Vertreter erkennen können, einen großen, jovialen, sympathisch wirkenden Mann, dessen wichtigste Aufgabe im Stützpunkt darin bestand, die von seinem brüsken Vorgesetzten aufgestörten Wogen wieder zu glätten. Wheelers Grinsen verschwand, und Forson entdeckte zu seiner Verblüffung, daß der Mann zwei Gesichter hatte, ein tragisches und ein komisches, und daß er vermutlich selbst nicht wußte, ob er nun ein weinender Clown oder ein lachender Tragöde war. Forson wog das Buch in der Hand. »Was ist das?« »Dienstvorschrift 1048 K. Das wichtigste Handbuch des IPB- Amts. Es erklärt Ihnen alles, also wahrscheinlich viel mehr, als Sie wissen wollen.« Forson schob es weg. »Sie sollen mich einweisen.« »Ja«, bestätigte Wheeler. »Aber zuerst — wir haben Ihre Instruktionen gefunden.« »Sie haben sie gefunden?« Wheeler nickte unglücklich. Selbst im traurigsten Zustand schien sich auf seinem runden, freundlichen Gesicht Lachen ausbreiten zu wollen. Welche Fähigkeiten der Mann auch sonst haben mochte, er schien dazu verurteilt zu sein, sein ganzes Leben hindurch an zweiter Stelle zu stehen. Bei jeder Krise in seiner Laufbahn würde der Clown in seinem Charakter das feixende Haupt erheben und seine Vorgesetzten davon überzeugen, dass dies kein Mensch war, den man ernst nehmen durfte. »Jemand aus der Nachrichtenabteilung hat gepfuscht«, sagte Wheeler. »Eigentlich kann er ja nichts dafür. Die Instruktionen waren für jemanden bestimmt, von dem er noch nie gehört hatte. Er wußte, daß es auf Gurnil keinen Jeff Forson gab und auch im Umkreis von Lichtjahren keinen Sektorinspizienten. Er nahm natürlich an, die Instruktionen seien versehentlich nach Gurnil gelangt, registrierte sie und bat um Bestätigung. Beim Relaisverkehr im Weltraum kann alles mögliche passieren, so daß die Bestätigung nie eintraf und Ihre
Instruktionen im Archiv verblieben. Aber Schaden ist ja nicht angerichtet worden. Sie sind hier, und Ihre Instruktionen sind hier. Ich lasse gerade Kopien anfertigen. Sie sollen den Stab B übernehmen.« Forson starrte ihn an. »Ein Kulturforscher als Kommandeur eines Einsatzstabes des IPBAmts? Die Instruktionen stecken Sie mal schnell wieder weg und fordern eine neuerliche Bestätigung an.« »Das habe ich schon getan«, erwiderte Wheeler. »Ich habe um Bestätigung gebeten, meine ich; das ist so üblich. Ich glaube nicht, daß ein Irrtum vorliegt.« »Dann hat in der Chefzentrale des IPB-Amts jemand den Verstand verloren.« Zur Abwechslung verriet Wheelers Lächeln diesmal nur Wehmut. »Darauf warte ich schon seit Jahren, aber unabhängig vom Geisteszustand der maßgebenden Personen bleiben Instruktionen eben Instruktionen. Der Stab B steht zu Ihrer Verfügung.« »Wozu?« »Hm - ja. Ein bißchen Gurnil-Geschichte dürfte nützlich für Sie sein.« »Nützlich wäre so ungefähr alles.« »Gewiß. Ich vergesse immer wieder, daß Sie - daß Sie nicht -« Er grinste traurig und überlegte einen Augenblick. »Wie Sie zweifellos wissen, wirkt das Amt für Interplanetarische Beziehungen in der Hauptsache außerhalb der Grenzen der Föderation Unabhängiger Welten. Dem Wachstum der Föderation entsprechend bildet IPB die Vorhut und bereitet ihr den Weg. Es stößt durch den Weltraum vor und erforscht und untersucht die Planeten. Wird intelligentes Leben entdeckt, dann setzt es einen Koordinator ein, der einen IPB-Stützpunkt errichtet, eine Klassifikationsprüfung durchführt und die notwendigen Stäbe aufbaut, um den Planeten zur Mitgliedschaft in der Föderation zu geleiten. Findet sich kein intelligentes Leben, dann geschehen andere Dinge, die uns hier aber nichts angehen, weil Gurnil bei der ersten Inspektion vor vierhundert Jahren schon zwei blühende humantypische Zivilisationen besaß. Wissen Sie etwas über das Vorgehen des IPB?« Forson schüttelte den Kopf. »Woher? Man läßt das IK ja erst zu, sobald man einen Planeten als
nicht-feindselig eingestuft hat, und das tut man erst, wenn die Arbeit beendet ist und der Planet bereits Antragauf Zulassung zur Föderation gestellt hat.« »Wir können uns nicht auf das Risiko einlassen, daß unsere Arbeit behindert wird«, meinte Wheeler. »Danke«, sagte Forson trocken. »Inzwischen pfuschen Sie uns ins Handwerk.« Wheeler zeigte wieder sein tragisches Grinsen. »Wir haben neben der Kultur auch noch anderes zu bedenken. Es ist oft sehr heikel, einen Planeten bis zur Mitgliedschaft in der Föderation zu steuern. Vor allem muß eine demokratische, sich über den ganzen Planeten erstreckende, vom Volk ohne erkennbare äußere Einflüsse selbst eingesetzte Regierung vorhanden sein. Wir werden von einem riesigen Vorschriftenkomplex eingeengt.« »Demokratie, von außen aufgezwungen —« murmelte Forson. »Die oberste Richtschnur des Amtes. Wir finden selten eine Globalregierung, geschweige denn eine Demokratie. Deshalb führen wir kleinere politische Einheiten zur demokratischen Regierungsform, steuern sie dann zum Zusammenschluß in größere Gebilde und gelangen so schließlich zu einer weltweiten Demokratie. Natürlich muß das alles so geschehen, daß die Leute von uns nichts bemerken. Manchmal dauert es Jahrhunderte.« »Und deshalb sind die Kulturen ausnahmslos angekränkelt, bis wir anfangen dürfen.« »Das läßt sich nicht vermeiden.« »Weshalb bin ich dann jetzt auf Gurnil?« »Das weiß ich nicht«, gab Wheeler offen zu. »Ich versuche Ihnen nur zu erklären, was IPB hier macht. Gurnil ist bi-kontinental, und als wir kamen, waren beide Kontinente von absoluten Monarchien kontrollierte politische Einheiten. Der Klassifizierungsstab des Amtes rechnete damit, daß unsere Arbeit fünfzig Jahre in Anspruch nehmen würde.« »Und das war vor vierhundert Jahren?« Wheeler nickte. »Der Stab A hier in Larnor hatte sofort Erfolg. Binnen einem Dutzend Jahre war die Monarchie von einer blühenden Demokratie
abgelöst worden. Sie blüht heute noch. Man kann sie praktisch als Modellausgabe bezeichnen. Der Stab B hatte drüben in Kurr dagegen keinerlei Erfolg. Nach vierhundert Jahren ist Kurr von einer Demokratisierung noch ebenso weit entfernt wie bei der Entdeckung des Planeten. Im Gegenteil - die Lage verschlimmert sich immer mehr. Jeder Nachfolgemonarch konsolidiert seine Macht stärker. So stehen die Dinge im Augenblick.« »Ich soll also das Kommando von Stab B übernehmen und habe den Auftrag, Kurr in eine Demokratie zu verwandeln.« »Ohne erkennbar äußere Einflüsse«, fügte Wheeler grinsend hinzu. »Sie werden sich das Archiv vom Stab B ansehen müssen, damit Sie wissen, was schon alles versucht worden ist, bevor Sie eigene Pläne entwerfen.« »Sie sagten, das Problem bestehe schon seit vierhundert Jahren.« »Ja —« »In vierhundert Jahren kann man allerhand versuchen.« »Das Archiv vom Stab B füllt einen ganzen Raum«, sagte Wheeler fröhlich. »Außerdem wird das IPB-Amt, dem das Problem Ärger, wenn nicht sogar große Verlegenheit bereiten dürfte, im Laufe der Jahre einige seiner besten Leute dort eingesetzt haben, die ohne Zweifel jeden Trick und jedes Manöver angewandt haben, die nur denkbar waren. Alle versagten, und deshalb gibt IPB den Auftrag nun an einen IK-Mann weiter. Ein reichlich verzweifelter Schachzug, selbst wenn wir Irrsinn als Motiv ausscheiden.« »In der Chefzentrale ist man verzweifelt«, gab Wheeler zu. »Die Föderationsgrenze kann nicht in Schnörkeln und Arabesken verlaufen. Ebensowenig darf es innerhalb der Grenze eine Enklave geben, die Beschränkungen unterliegen müßte. Ein Planet wie Gurnil kann die Aufnahme eines ganzen Sektors von Welten verzögern und die Ausbreitung der Föderation zum Stillstand bringen.« »Wie kommt es, daß Larnor so leicht zu beeinflussen war, wenn Kurr derartige Schwierigkeiten macht?« »Larnor ist ein armer Kontinent, der einen unglaublich dummen König hatte. Die Rohstoffquellen sind vernachlässigt worden. Die Bewohner lebten in tiefster Armut, so daß nicht viel nötig war, um sie
zur Revolution anzustacheln. Der König wurde ermutigt, immer neue Steuern zu erheben, während man seine Untertanen anspornte, sich endlich dagegen zur Wehr zu setzen.« »Und das alles geschah ohne Einflußnahme von außen, versteht sich.« »Ohne erkennbare Einflußnahme von außen. Das ist nicht ganz dasselbe.« »Und bei Kurr?« »Ein Kontinent von immensem Reichtum, dessen Herrscher geradezu genial begabt sind. Es sind Despoten, mit den üblichen Lastern von Despoten, aber sie wissen stets haargenau, wie weit sie gehen können, ohne ihre Untertanen gegen sich aufzubringen. Irgendein verfeinerter Instinkt scheint ihre naturgegebene Habgier im Zaum zu halten, und sie können soviel Reichtum scheffeln, wie sie für nötig halten, ohne bedrückende Steuerlasten aufzuerlegen, weil ihr Imperium so begütert ist. Sie sind sogar klug genug, ihre Grausamkeit zu zügeln. Der König kann sich jedes Mädchen nehmen, das ihm gefällt, aber Vater oder Ehemann werden stets belohnt, ebenso das Mädchen selbst, wenn er genug von ihm hat. Was ein unerträglicher Akt der Willkür sein könnte, wird so zu einer einträglichen Ehre. Wenn ihn ein Untertan beleidigt, kann ihm der König den linken Arm am Ellbogen abtrennen lassen - ein Lieblingsvergnügen des derzeitigen Königs Rovva -, aber das Opfer bekommt danach eine Pension. Außerdem handelt es sich dabei meist um Leute, die sich am Hof herumtreiben, so daß die Bevölkerung keinen Grund zur Aufregung hat. Abgesehen davon ist den Bewohnern seit Generationen Achtung vor dem König eingeimpft.« »Und die Beziehungen zwischen Kurr und Larnor?« »Seit der Revolution auf Larnor gibt es keine offiziellen Beziehungen mehr. Die Könige von Kurr hatten Verstand genug, um einzusehen, daß die larnorischen Ideen gefährlich waren. Inoffiziell pflegten die Larnorier Missionare zu entsenden, die sowohl ihre Religion als auch die Demokratie verbreiten sollten, aber diese verschwanden stets spurlos. Wahrscheinlich landeten sie in den Einhand-Dörfern des Königs. Beide Kontinente sind auf der Techno-
logiestufe zwanzig, und der Seeverkehr ist von unglaublicher Primitivität. Es fiel Kurr nicht schwer, praktisch jeden Kontakt zu unterbinden.« »Sie sagten, das IPB-Amt sei durch komplizierte Vorschriften behindert. Wie sehen sie aus?« Wheeler wies auf das Handbuch 1048 K. Forson zog es zu sich heran und blätterte darin. Auf dem Titelblatt wie über jedem Kapitel war der Wahlspruch und die oberste Richtschnur des IPB-Amtes abgedruckt: >Demokratie, von außen aufgezwungen, ist die schlimmste Form der Diktatur.< Fettgedruckt sprang ins Auge, was das Amt für Perlen konzentrierter Weisheit zu halten schien. >Das Amt schafft keine Revolution. Es schafft die Notwendig keit dafür. Sobald die Notwendigkeit gegeben ist, ist die einheimische Bevölkerung durchaus fähig, die Revolution selbst durchzuführen. Demokratie ist keine Regierungsform, sondern eine Denkweise. Man kann Menschen nicht willkürlich eine Denkweise aufzwingen. Die >Regel des einzigem war ein meisterliches Zugeständnis, weil es nichts zugestand. Unfähige Spezialisten forderten den Ersatz der Intelligenz durch Technologie. Sie bekamen die Technologie - auf eine Weise, die sie von der Intelligenz völlig abhängig machte. Ein Maßstab für die Dringlichkeit der Revolution ist die Freiheit, die die Menschen haben, verglichen mit der Freiheit, die sie wollen.< Forson klappte das Buch zu. »Hepp«, sagte er und warf es Wheeler zu, der es ungeschickt auffing, das Gesicht vor Verwirrung entstellt. Er war der Tragöde, dessen echtes Pathos unbegreifliches Lachen erregt hatte. »Was — was werden Sie tun?« »Wie lange braucht ein IPB-Mann, um das durchzuarbeiten?« »Drei Jahre.« »Es war sicher nicht die Absicht Ihrer Vorgesetzten, daß ich drei Jahre damit zubringe, die Dienstvorschrift 1048 K zu beherrschen.« Er stand auf und trat an ein Fenster. Je öfter er den tristen Stützpunkt sah, desto mehr ärgerte er sich darüber. Er fragte sich, ob das IPB-Personal nie über die Mauern hinausblickte, nie die Verschandelung der Großartigkeit des Kraters bemerkte. Ein IK-Stützpunkt wäre von soviel
Schönheit umgeben gewesen, wie fleißige Hände und gehorsame Maschinen aus der Umgebung nur hervorzaubern konnten. Er drehte sich um. »Diese Gemälde im Empfangsraum. Stammen sie aus Kurr?« Wheeler zögerte. »Die meisten sicher. Ich habe mich noch nie erkundigt.« »Wenn einige, dann alle«, sagte Forson. »Weit voneinander entfernte Kontinente mit geringen Kontakten entwickeln nicht identische Kunststile und -techniken.« Er hätte nicht zu fragen brauchen. Das Mädchen mit dem Torru gehörte zum Stab B, war also von Kurr, und das Torru war eine Miniaturversion des Instruments auf dem Gemälde. »Und die Bewohner wissen nicht, daß ihr hier seid«, meinte Forson nachdenklich. »Kein Wunder, daß der Koordinator die Fassung verlor, als ich ihn bat, ein paar Musiker und Maler einzuladen. Aber wie können Sie die Leute zur Demokratie führen, wenn Sie keinen Kontakt mit ihnen haben?« »Den haben wir doch!« protestierte Wheeler. »Jeder Mitarbeiter des Stabes hat eine Rolle unter den Einheimischen. Sie brauchen auch eine, bevor Sie Ihr Kommando übernehmen können.« »Verstehe. Mit anderen Worten, so etwas wie eine Verkleidung.« »Keine Verkleidung. Eine Identität.« »Wenn Sie es so nennen wollen. Langsam geht mir ein Licht auf. Das Amt hat in Kurr ein Dauerproblem vor sich. Kurr hat offensichtlich auf kulturellem Gebiet Unglaubliches geleistet. Nach vierhundert Jahren ist das jemandem im Amt endlich aufgefallen, und der Betreffende hat sich gefragt, ob nicht vielleicht ein Kulturforscher von Nutzen sein könnte. Nun gut. Ich bin an die Spitze von Stab B gestellt worden. Ich werde nach Kurr gehen und mit dem Stab Kulturforschung betreiben.« »Kultur -« - Wheeler atmete tief ein und schloß mit Fistelstimme - »forschung?« »Dafür bin ich ausgebildet. Es wäre sinnlos für mich, mit der Dienstvorschrift 1048 K zu beginnen. Damit wäre ich in drei Jahren erst so weit wie ein IPB-Mann nach Abschluß seiner Lehrzeit - und das auch nur, wenn ich fleißig studiere. Da gegenteilige Instruktionen nicht
vorhanden sind, kann ich nur unterstellen, daß das IPB-Amt jene Lücken in seinem Wissen ausfüllen will, die auf meinem Spezialgebiet noch vorhanden sind, und daß ich angefordert wurde, um diese Aufgabe zu erfüllen. Haben Sie vielleicht eine bessere Erklärung für meinen Auftrag?« Wheeler schwieg. »Ich brauche einen Blitz-Sprachkurs«, sagte Forson. »Gewiß. Ich lasse die Apparaturen bringen. Außerdem lasse ich prüfen, welche Identität für Sie geeignet erscheint.« »Ich möchte ein paar Leute vom Stab B kennenlernen«, sagte Forson und dachte an das Mädchen mit dem Torru. Wheeler zog die Brauen zusammen. »Wenn Sie wollen. Es dürfte aber ein bißchen schwierig sein. Sie sind alle in Kurr und können nicht immer nach Wunsch zurückkehren. Sie müssen ihre Stellungen behaupten, sonst war die ganze Arbeit umsonst. Wir könnten jeweils einen oder zwei zurückholen, aber es würde eine ganze Ewigkeit dauern, wenn Sie wirklich eine größere Anzahl von ihnen kennenlernen wollten. Da würde es sich dann schon eher empfehlen, sie in Kurr aufzusuchen.« »Ist denn vom Stab B niemand hier im Stützpunkt?« »Nein«, sagte Wheeler. »Der Stab hatte früher hier eine Zentrale, aber jetzt befinden sich nur noch die Archive hier. Sie werden vom Stützpunktpersonal betreut. Der gesamte Stab B ist in Kurr. Wir können Sie hinfliegen, sobald Sie soweit sind.« Er nickte freundlich und verließ das Zimmer. Forson wäre am liebsten sofort zum Frauenquartier geeilt, verzichtete aber bei schärferem Nachdenken darauf. Das Mädchen mochte an die Schicklichkeit gedacht haben, als sie ihn gebeten hatte, nicht mehr in ihr Zimmer zu kommen. Es konnte aber auch eine Warnung gewesen sein.
3 In einer Hinsicht hatte Forson nützliche Informationen erhalten. Das Amt für Interplanetarische Beziehungen war immer mehr wie ein Geheimorden statt wie eine Regierungsbehörde betrieben worden. Wenige Menschen außerhalb des Amtes wußten über seine Funktion Bescheid, aber jeder, der an den vorgeschobenen Linien im Weltraum arbeitete und reiste, spürte schnell, daß dort das Amt nahezu unbegrenzte Machtbefugnis besaß. Man sprach sogar davon, daß die Admiräle der Raumflotte beim IPB-Amt um Genehmigung nachsuchten, wenn sie beim Manöver die Grenzen der Föderation überschreiten wollten. Forson begriff jetzt, warum. Das Amt hatte die Aufgabe, Welten zur Mitgliedschaft in der Föderation zu führen, und zwar so, daß diese Welten nichts davon bemerkten. Es war klar, daß das nicht möglich sein würde, wenn Händler, Forscher, Wissenschaftler, Beamte und Schiffbrüchige wahllos aus dem Weltraum herbeiströmen konnten. Das Amt hatte deshalb die Grenzen zu überwachen. Auf Gurnil gab es einen Kontinent, Kurr, der immer noch von einem Monarchen regiert wurde. Die Zulassung benachbarter, allen Bedingungen entsprechender Welten zur Föderation hatte sich lange verzögert; das Amt befand sich in Verlegenheit. Man konnte verstehen, daß die Lage nach drastischen Mitteln verlangte, aber in der Chefzentrale des Amtes muß jemand die Notbremse gezogen haben. Ein Sektorinspizient des Instituts für Kulturforschung als Leiter des Arbeitsstabes auf Kurr? Das war genauso, als hätte man einen IPBMann mit der Leitung eines Kulturforschungsprojekts beauftragt, und Forson wußte, wohin das geführt hätte - er brauchte nur daran zu denken, wie man hier der Kunst gegenüberstand. Da er nicht wußte, was man von ihm erwartete, beschloß er, dem Amt zu liefern, was seinen Fähigkeiten entsprach: eine Kulturforschungsstudie. Er bereitete entsprechende Formulare vor und übergab sie Rastadts Sekretärin mit der Bitte, zunächst je tausend Abzüge herstellen zu lassen. Einen Tag später lagen die Muster immer noch unberührt auf ihrem Schreibtisch. Forson beschwerte sich bei Wheeler, der fröhliche Tränen weinte und ihm versprach, sie selbst zu
vervielfältigen. Forson widmete sich dem Sprachkurs und lernte fast ohne Unterbrechung, weil er sonst nichts zu tun hatte, aber seine Gedanken befaßten sich immer wieder mit dem Mädchen, das Torru gespielt hatte, mit der Angehörigen des Stabes B, die es, laut Wheeler, gar nicht gab. Er fragte sich, ob er sie wohl je wiedersehen würde. Sie kam in der Nacht. Forson, der von einer kühlen Hand und ihrem Flüstern aus unruhigem Schlaf geweckt wurde, setzte sich hastig auf und tastete nach Licht. »Kein Licht!« flüsterte sie. Er hörte das leise Rascheln ihres Gewandes, ihre schnellen Atemzüge, fing den Duft eines unbekannten Parfüms auf, konnte sie aber nicht sehen. »Ich fliege morgen zurück«, sagte sie. »Bei Tag? Ich dachte, die Einheimischen dürfen nicht wissen, daß das IPB hier ist.« »In Kurr wird Nacht sein.« »Natürlich. Wußten Sie schon, daß ich der neue Leiter von Stab B bin? Vielleicht sollte ich mitkommen?« »Nein!« sagte sie schnell. Dann wiederholte sie ungläubig: »Der neue - Leiter von Stab B?« »So lauten meine Instruktionen.« »Sehr interessant.« Er versuchte ihr Bild aus der undurchdringlichen Dunkelheit des Zimmers heraufzubeschwören. An ihr Gesicht erinnerte er sich genau die glatte Wölbung ihrer Wange und die zarte Vollkommenheit der Nase, als sie sich konzentriert über das Torru gebeugt hatte. »Sie dürfen nicht mit mir zurückfliegen«, sagte sie. »Es ist besser, wenn sie nicht erfahren, daß wir uns kennen.« »Kennen wir uns denn? Ich weiß ja nicht einmal, wer Sie sind.« »Ann Cory. Offiziell Gurnil B 627.« »Gut, Gurnil B 627. Welche Aufgabe haben Sie im Stab B?« »Unter anderem bin ich Musiklehrerin in Kurra, der Hauptstadt von Kurr. Ich gebe den begabten und weniger begabten Töchtern der Elite Musikstunden.«
»Wie groß ist der Stab?« »Ungefähr zweihundert Personen.« »Zweihundert? Ich hätte keine Ahnung, daß es so viele sind. Alle als Einheimische maskiert, wie?« »Die Angehörigen eines IPB-Stabes maskieren sich nicht«, sagte sie kühl. »Wir sind Einheimische - wenn wir in Kurr sind.« »Verstehe. Zweihundert. Über das ganze Land verteilt, sind das wahrscheinlich nicht sehr viele.« »Hat Sie der Koordinator denn nicht informiert?« »Wheeler hat mir ein Handbuch gegeben, das ich ihm sofort wieder in die Hand drückte. Er erläuterte mir die Lage ein bißchen. Ich habe daraus entnommen, daß die Leute von Kurr mit dem gegebenen Zustand nicht völlig zufrieden sind, sonst hätte man sich bei IPB nicht vierhundert Jahre umsonst bemüht. Außerdem erfuhr ich, daß sich ihr König Rovva beharrlich weigert, etwas zu unternehmen, das bei ihnen Unzufriedenheit hervorrufen würde. Meine eigenen Vorstellungen sind vom IK geprägt und werden Ihnen vermutlich wie Hochverrat vorkommen, aber ich finde, wenn ein Volk glücklich und zufrieden ist - und das sind die Kurranier, nach ihrer Kunst zu urteilen -, hat das IPB-Amt keine Berechtigung, den Umsturz seiner Regierung zu betreiben.« »Was Sie in Kurr vor allem sehen müssen, sind die Einhand-Dörfer«, sagte sie leise. »Es gibt mehrere davon, ausschließlich von Männern und Frauen bewohnt, die dem König missfallen haben. Dafür büßten sie den linken Arm am Ellbogen ein. Eine nette, kleine Zerstreuung, mit welcher der König sich und seinen Hof belustigt. Ein Diener, der niest, wenn der König Schweigen befohlen hat, ein anderer, der ein Tablett fallen läßt — aber immun ist niemand, auch der höchste Minister des Königs nicht. Es gibt gute und schlechte Könige, und wir arbeiten manchmal daran, einen König abzusetzen, der ein gütiger, friedfertiger Monarch ist und den wir persönlich mögen und bewundern. Das Böse liegt im System. Der ideale Monarch kann ein Ungeheuer als Nachfolger haben.« »Gut. Das System ist schlecht und muß geändert werden, aber vom Volk selbst. Demokratie, von außen aufgezwungen —« Er verstummte. Ihr Kleid raschelte leise, als sie sich bewegte, aber
sie blieb quälend unsichtbar. »Ich befasse mich mit der Sprache«, sagte er. »Noch ein Tag, und ich beherrsche sie ziemlich gut, noch zwei, und ich kann sie fließend sprechen. Eine leichte Sprache — viel leichter, als in dem verflixten Priesterkostüm gehen zu lernen, das Ihre Leute für mich ausgesucht haben. Die schreckliche künstliche Nase passt mir auch nicht, aber wenn die Kurranier gewaltige Gesichtserker tragen, würde ich ohne ihn wohl sehr auffallen.« Er wagte es nicht auszusprechen, aber zu den unerfreulichsten Seiten seines Auftrages gehörte die Aussicht, daß ihn Ann Cory mit einer entstellenden Kurranier-Nase sehen würde. »Was für ein Priesterkostüm?« fragte sie. Forson seufzte. »Ich soll so eine Art wandernder Heiliger sein. Rastadt behauptet, daß sie in Kurr sehr häufig seien. Die Rolle biete überdies absolute Sicherheit, weil kein Einheimischer es wagen würde, mich zweimal anzusehen, geschweige denn anzusprechen. Aber Sie wissen ja sicher genau Bescheid darüber.« »Eigentlich nicht. In Kurra sieht man sie nicht oft.« »Stimmt. Sie meiden die Städte, die sie als Lasterhöhlen der Ungläubigen bezeichnen. Bevor ich nach Kurra komme, brauche ich noch eine Wechselidentität. Haben Sie so etwas?« »Selbstverständlich. Jeder Mitarbeiter des Stabes hat mehrere.« »Sehr ermutigend. Dann werde ich diese verflixte Robe doch einmal los, wenn ich auch die Nase tragen muß, solange ich in Kurr bin.« »Ich möchte hören, wie gut Sie die Sprache sprechen«, sagte sie. Er begrüßte sie mit: »Seid gegrüßt, Bürgerin«, und sprach ausführlich vom Wetter, der kommenden Ernte und dem bevorstehenden Eintreffen des Steuereinnehmers. Als er fertig war, blieb sie stumm. »Was ist los?« fragte er. »Schlechte Aussprache?« »Nein, sehr gut sogar. Bemerkenswert, wenn man die kurze Zeit bedenkt. Ich schlage vor, daß Sie drei Tage warten und dann darum bitten, nach Kurr gebracht zu werden.« »Warum drei Tage?« »Eine Vorsichtsmaßnahme. Das gibt uns Zeit, alles für Sie vorzu-
bereiten.« »Der Stab B weiß, daß ich komme. Ich soll an einer entlegenen Station abgesetzt werden, wo es keine heiligen Orte gibt, die mich zwingen könnten, eine religiöse Funktion zu erfüllen, und nur sehr wenige Einheimische zum Segnen, selbst wenn ich gütig gestimmt sein sollte, was ich nicht bin. Ich kann mit der Arbeit nicht anfangen, bis meine Fragebögen fertig sind, werde aber an Ort und Stelle wahrscheinlich viel schneller zu Informationen kommen als hier.« »Was für Fragebögen?« erkundigte sie sich. »Für mein Kulturforschungsprojekt.« Wieder Stille, gestört nur vom leisen Rascheln ihres Kleids. »Warten Sie drei Tage«, sagte sie schließlich. »Sagen Sie niemandem, daß Sie mit mir gesprochen haben. Wir sehen uns in Kurr.« Sie war verschwunden. Er hörte nicht einmal die Tür hinter ihr zufallen. Am nächsten Tag blieb er in seinem Quartier und konzentrierte sich ganz auf die Sprache. Von Zeit zu Zeit brachte ihm eine uniformierte junge Dame ein schwer beladenes Tablett und entfernte sich mit ungeziemender Eile, die nur aus der Angst herrühren konnte, er sei imstande, anstelle des Essens sie selbst zu verschlingen. Am Morgen danach schlenderte er zum Verwaltungsbereich hinunter. Die Sekretärin betrachtete ihn argwöhnisch. Forson beachtete sie nicht. Er gewöhnte sich bereits an derartige Blicke. Er ging direkt zum Büro des Koordinators, wo ihm die junge Dame eisig erklärte, der Koordinator fühle sich nicht wohl. »Unterkoordinator Wheeler?« fragte Forson. »Er ist heute unterwegs.« »Stab A oder Stab B?« Sie zuckte die Achseln. Forson ging zu dem Raum mit der Aufschrift >Zentrale Stab BDie Regel des einzigem —« »Sooft ich etwas vorschlage, zitiert jemand die >Regel des einzigenRegel des einzigem formuliert. Die Mitarbeiter des Amtes erhielten die Erlaubnis, eine einzige technische Neuerung pro Planet einzuführen, aber wirklich nur eine. Der junge Mitarbeiter war glücklich — bis er erfuhr, daß die Ziffer wörtlich zu nehmen war, während in dem Gewehr allein mindestens tausend Neuerungen waren, von der Munition gar nicht zu reden. Er machte sich hoffnungslos lächerlich, und seitdem hat niemand mehr versucht, sich der Technologie zu bedienen. >Die Regel des einzigem gilt aber immer noch.« »Dann könnten wir die Lettern einführen, aber nicht die Druckerpressen. Oder die Presse, aber nicht die Lettern.« »Auch so einfach ist es nicht. Sowohl in der Presse als auch in den Lettern stecken Dutzende von Neuerungen, und mindestens noch einmal so viele, bevor Sie im erforderlichen Umfang Papier herstellen könnten. Aber um wieder auf die Kultur zu kommen. Die größte Aussicht haben Sie, wenn Sie sich das Archivmaterial zeigen lassen. Die Mädchen im Stützpunkt haben sowieso nichts zu tun, und es würde nicht lange dauern, das Register durch eine Maschine laufen zu lassen und die Hinweise herauszuziehen, die Sie interessieren.« Er griff wieder nach dem Weinkrug. »Leblanc und sein Glühwein. Ich mag ihn kalt, und das läßt sich in Kurr kaum erreichen.« »Wickeln Sie feuchte Tücher um den Krug«, schlug Forson vor.
»Kann ich nicht«, erwiderte Ultman traurig. »Dadurch mache ich mich vielleicht schuldig, eine technologische Neuerung beigesteuert zu haben.« Er hob bedauernd die Hände. »Das einzige, was mir abgeht. Ein kalter Trunk. Im Winter wird es einfach nicht kalt genug, daß man etwas einfrieren könnte. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann ich das letztemal Eis zu Gesicht bekommen habe. Ansonsten ist es hier angenehm zu arbeiten.« Er sprang herunter und schlug dem Führungsgespann auf die Flanken. Das Knarren und Quietschen begann von neuem, und Forson nahm pflichtgemäß seinen Platz neben den dahintrottenden Tieren ein. Ein herrliches Land, dieses Kurr. Sie kamen an Getreidefeldern vorbei, die wie Blumenbeete in geometrischen Mustern angelegt waren. Ein Feld, hoch oben auf einem Hügel, wo seine schimmernde Schönheit meilenweit zu sehen war, zeigte sich als gekräuselter See aus vielfarbigen Blumen. »Wozu werden die Blumen gezüchtet?« schrie Forson. »Honig? Parfüm?« Ultman schüttelte den Kopf. »Honigsammelnde Insekten gibt es hier nicht. Zucker wird aus den Blättern eines Zuckerstrauchs gewonnen, und ihre Duftstofle ziehen sie aus Wurzeln. Die Blumen sieht man überall, meist auf Hügelkuppen. Ich habe mich oft gefragt, warum sie sie nicht unterpflügen und etwas Nützliches anpflanzen.« »Zum Beispiel Knollengewächse?« meinte Forson lächelnd. Das Amt würde genau das tun, wie es auch diese gefestigte Gesellschaft und ihre glückliche, wohlhabende, schönheitsliebende Bevölkerung mit der scharfen Schar der Revolution umpflügen würde. Forson fragte sich, ob die Regierung durch das Volk nicht eine Form schöpferischen Ausdrucks sein mochte, die hier ewig zum Mißerfolg verurteilt war, weil die Bewohner ihre schöpferische Energie an so unpraktische Dinge wie Malerei, Musik, Dichtung - und Blumenfelder verschwendeten. Wie Leblanc war auch Ultman nicht im seelischen Einklang mit der Schönheit, die ihn umgab. Kunstwerke waren Gegenstände, wie die Knollengewächse, mit denen er handelte, und sie waren ohne Zweifel auch zu etwas gut, aber er würde nie in die Gefahr kommen, sich bei
dem einen oder anderen mit dem Gefühl zu engagieren. Was bewegte ihn also? Der Auftrag des Stabes? Auch darüber machte er sich keine großen Gedanken. Er hatte eine Aufgabe zu erfüllen, und er erfüllte sie - er zog durch die Zentralbezirke, pflegte seine Kontakte, gab Nachrichten weiter, sammelte Informationen. Gefährlich? Er konnte sich nicht erinnern, wann der Stab zuletzt einen Mann verloren hatte. Vor einigen Jahren waren mehrere Mitarbeiter in der Klemme gewesen, aber das hatte jemand bereinigt. Dafür gab es immer jemanden. Um den Auftrag von Stab B sollten sich die hochgestellten Persönlichkeiten den Kopf zerbrechen, und wenn eine von ihnen glaubte, Ultman könne etwas Nützliches leisten, dann würde sie es sagen, und Ultman würde es tun. Forson sagte sich, daß jeder, der daran interessiert war, das Problem des IPB-Amtes auf Kurr zu lösen, zuerst vermutlich das Problem des Stabes B zu bewältigen hatte. Trotz ihres mangelnden Interesses für die Kunst waren seine Angehörigen Künstler, die jedoch mehr darauf achteten, ihre Rollen richtig zu spielen, als sie zu irgendeinem Zweck zu gebrauchen. Sie zogen auf friedlichen Landstraßen dahin, an denen die malerischen Orte mit ihren wunderlichen, vielfarbigen Häusern wie glänzende, in großen Abständen auftauchende Perlen auf einem grünen Faden aufgereiht waren. Von Zeit zu Zeit besuchten sie eine Dorfschenke, einen allen Leuten zugänglichen Raum in einem gewöhnlichen Privathaus, und kosteten vom neuen Wein. Gasthöfe im strengen Sinn des Wortes gab es nicht. In diesem sanften, freundlichen und wohlhabenden Land fehlte es dem Reisenden, der einen dicken Umhang besaß, an nichts. Er schlief im Freien. Jede Frau mit einem Topf voll Essen verköstigte gerne jeden hungrigen Fremden, und wenn die Fremden dafür Knollengewächse anboten, servierte sie fürstliche Portionen und fügte süße Kuchen aus dem Bestand hinzu, den sie für den nächsten Feiertag aufbewahrte. Gelegentlich stießen sie auf Mitarbeiter des Stabes. Zwei von ihnen, ein Schenkenbesitzer und seine Frau, luden Ultman und Forson zum Übernachten ein und vereitelten dann Forsons langersehntes Wiedersehen mit einem Bett, indem sie ihn fast die ganze Nacht mit ihren und Ultmans Erinnerungen wachhielten. Ein Weinhändler, ein reisender Händler, ein Wolleinkäufer – sie
tauchten unerwartet auf und gingen an Ultmans Wagenzug ohne ein Kopfnicken vorbei. Ein Bauer, bei dem Ultman Knollengewächse kaufte. Ein anderer Bauer, der eine Schenke betrat, in der sie saßen, langsam einen Becher Wein trank und sich wieder entfernte, ohne ein Wort mit ihnen gewechselt zu haben. »Wir hatten nichts zu besprechen, sonst hätte ich ein Zusammentreffen unter vier Augen vereinbart«, erklärte Ultman. »Er ist nur hereingekommen, weil er Sie aus der Nähe sehen wollte. Eines Tages werden Sie vielleicht froh darüber sein, daß er weiß, wer Sie sind.« Ultmans sechs Wagen waren hochbeladen mit süßriechenden Knollen, als sie endlich eine der Hauptstraßen nach Kurra erreichten. Sie war breit genug für zweispurigen Verkehr und wurde von so vielen Karren und Wagen benützt, die Landwirtschaftserzeugnisse zur Hauptstadt brachten, daß sie eine Stunde auf eine Lücke warteten, die für Ultmans Wagenzug groß genug war. Später an diesem Tag, als Kurra bereits am Horizont auftauchte, kam der Verkehr vor ihnen zum Stehen. Ultman trieb seine Tiere hastig von der Straße und hielt an. Ein einzelner Fußwanderer näherte sich ihnen. Er trug eine helle, schon verstaubte Uniform und schlurfte müde dahin, den Blick auf den Staub gerichtet, den seine Füße aufwirbelten. Die Leute wichen auf die Felder aus oder wandten sich ab und blieben stehen, bis er vorbeigegangen war. Der linke Ärmel flatterte leer an seiner Seite. »Ein Diener des Königs«, flüsterte Ultman. »Er hat Seiner Majestät mißfallen und ist deshalb unterwegs zu einem Einhand- Dorf. Bis er es erreicht, ist er ein Ausgestoßener. Die Leute geben ihm zu essen, sprechen aber nicht mit ihm, und in jedem Haus bekommt er nur einmal zu essen.« Der Einarmige verschwand in der Ferne, und hinter ihm begann sich der Zug wieder in Bewegung zu setzen. Kurr war wieder schön und friedlich, aber der Schatten des eben Erlebten hing noch lange über Forson. Sie verbrachten die Nacht bei dem Bauern, der Ultmans Wagen und Zugtiere versorgte, wenn er sie nicht benützte. Am nächsten Morgen zogen sie sehr früh in die von einer Mauer umgebene Stadt Kurra, mit nur einem Wagen, gezogen von einem einzelnen Esg.
»Das ist Gesetz«, erklärte Ultman. »Sogar vernünftig, wie die meisten Gesetze König Rovvas. Ein Zug von sechs Wagen würde hier Stockungen verursachen, die man sehen muß, um sie für möglich halten zu können. Wahrscheinlich gab es das einmal, und der König geriet hinein. Nachdem er alle Beteiligten in ein Einhand-Dorf geschickt hatte, erließ er ein Gesetz, das eine Wiederholung ausschloß.« Die alten Gebäude waren - Forson riß vor Verblüffung den Mund auf — aus Stein gebaut, aber mit den gleichen, nach außen gewölbten Wänden, die er an Holzbauten auf dem Land gesehen hatte. Sogar die hohe Steinmauer um die Stadt wölbte sich an der Krone nach außen. »Ich würde am liebsten eines abtragen, um zu sehen, wie sie das machen«, sagte er zu Ultman, der nur die Achseln zuckte und zu verstehen gab, er ziehe Mauern massiv und stehend vor und wolle sie auch in diesem Zustand belassen. Die gewölbten Dächer der ländlichen Gebäude waren direkt auf die Mauern aufgesetzt gewesen; die Steinhäuser Kurras besaßen Obergeschosse mit lotrechten Wänden. Wegen der sich verjüngenden Mauern darunter reichten diese weit über die gewundenen Straßen hinaus. Über den engen Nebenstraßen trafen sie sich und bildeten Tunnels. Kurra war eine Stadt der Tunnels, und nur die großen Durchfahrtsstraßen hatten freien Himmel über sich. Während die Dörfer Künstler beherbergten, gab es in der Stadt Handwerker. Ihre Läden und einfache, kleine Fabriken für Handarbeiter säumten die Straßen. Kurz hinter dem Stadttor führte ihr Weg sie an einem großen Marktplatz vorbei, einem tollen Durcheinander von farbigen Kostümen, aufgehäuften Nahrungsmitteln, handgefertigten Erzeugnissen aller Art, Künstlern mit Arbeitsproben, die mit möglichen Kunden die Preise besprachen oder Porträts malten, und, in der Mitte des Platzes, vom Lärm karrender Wagen am weitesten entfernt, auftretende Torrilspieler, umgeben von Zuhörern. Ein Gewirr von Lauten - die Rufe der Händler, die spöttischen Antworten ihrer Kunden, das Ineinanderfließen der Torrilmelodien, der grandiose, lachende Überschwang glücklicher Wesen, und darüber das Quietschen und Knarren vorbeiziehender Karren. Sie drangen tief in die Stadt vor und blieben an einer übertunnelten Seitenstraße stehen, bis Ultman vorausgeeilt war, um sich zu vergewissern, daß nicht von der anderen Seite her ein Wagen kam und
ihnen den Weg versperrte. Sie bogen ein, steuerten den Wagen durch einen kleineren Tunnel in einen Innenhof und lenkten ihn rückwärts über eine Rampe zu einem Kellereingang hinunter. »Zu Hause!« verkündete Ultman. Forson half ihm beim Abladen, dann brachten sie den Karren und das Esg zum Bauernhof zurück und holten den nächsten beladenen Karren. Es wurde Abend, bis der letzte Wagen entladen und zum Bauernhof zurückgebracht war. Sie mußten rennen, um das Stadttor zu erreichen, bevor es geschlossen wurde. Ultman pflegte seine Knollengewächse mit einem Handwagen in den Tunnelstraßen und Höfen Kurras zu verkaufen, und bis er sie alle an den Mann gebracht hatte, war die neue Ernte bereit. Diesem Ablauf folgte er schon seit Jahren. Er war überall bekannt, konnte kommen und gehen, wie es ihm beliebte, und wenn er von Zeit zu Zeit verschwand, fand das niemand ungewöhnlich. Forson schien, daß Ultman für einen Mitarbeiter des Stabes den idealen Beruf hatte, aber Ultmans düsterer Keller gefiel ihm nicht. Diesem ebensowenig. »Er hat aber seine Vorteile«, meinte er. »Der kluge Stabsangehörige verfügt immer über einen Fluchtweg. Selbst wenn Hilfe in der Nähe wäre, müssen die anderen Mitarbeiter doch ihr eigenes Leben führen. Sie können nicht herumstehen und zusehen, für den Fall, daß man in Schwierigkeiten geraten sollte. Man muß sie wissen lassen, daß man Hilfe braucht, und das geht nicht, falls man in einer Wohnung festsitzt, die nur einen Ausgang hat. In einer neuen Unterkunft grabe ich als erstes einen Fluchttunnel. Hier führt er zu Ersatzlagerverschlägen, die ich im Nachbarhaus gemietet habe. Von einem Obergeschoß aus kann man keine Tunnels graben. Man muß Gänge bauen, und dazu braucht man Baumaterial, was immer ein Risiko bedeutet. Außerdem muß man die Wohnung daneben unter Kontrolle haben, was bei weitem nicht so einfach ist, wie die Ecke eines Kellers zu mieten. Ich wohne lieber dort, wo ich graben kann. Und jetzt bestelle ich zur Feier meiner Heimkehr bei meiner Wirtin eine Mahlzeit, und dann sehen wir uns Kurras Nachtleben an«. Nachttod, dachte Forson, als sie sich durch die dunklen Straßen auf
den Weg machten. Die eng zusammengerückten Gebäude verstärkten die Düsternis noch; es gab keinen Fahrzeugverkehr, und die daher rührende unheimliche Stille führte zu einer Atmosphäre, die ebenso angespannt wie trist war. In wenigen Fenstern ohne Läden in den Obergeschossen zeigte sich düsteres Kerzenlicht, aber den Passanten in den höhlenartigen Straßen unten nützte das wenig. In unregelmäßigen Abständen loderte eine Fackel in einem Halter hoch über den Köpfen der Fußgänger. »Schenken«, erklärte Ultman. »Solange sie offen sind, müssen die Fackeln brennen. Wollen wir es einmal versuchen?« Sie marschierten eine lange Steinrampe zu einem Kellereingang hinunter. Der Besitzer stieß einen Schrei aus, als er Ultman sah, und sprang auf sie zu, um sie zu begrüßen. Er versetzte Ultman einen kräftigen Stoß, den kurranischen Händedruck. Ultman revanchierte sich gehörig, sie lachten beide, und Ultman erklärte, sie hätten für ein, zwei Gläser Zeit. Das erstaunte Forson. In Kurr hatte er keine Trinkgefäße aus Glas gesehen. Die Gläser dienten als Zeitmaß, Halbkugeln aus klarem Glas, in einem Holzrahmen, unten mit einer engen Öffnung versehen. Sie setzten sich an einen runden Tisch, in den eine tiefe Schale voll Flüssigkeit eingelassen war. Der Schenk füllte ihre Gläser. Der Inhalt tropfte langsam in den großen Behälter, und sie konnten trinken, bis ihre Gläser leer waren. Sie füllten ihre eigenen Schalen, Forson probierte vorsichtig einen Schluck und verzog den Mund. Es war ein überaus bitteres Bier. »Ich dachte mir schon, daß es Ihnen nicht schmecken wird«, meinte Ultman, »aber Sie müssen alles probieren, zu Ihrer Sicherheit. Sonst kommen Sie vielleicht einmal in eine Lage, wo Sie das Zeug einen ganzen Abend lang in sich hineintrinken müssen.« »Schmeckt es Ihnen?« Ultman hob die Schultern. »Ich bin daran gewöhnt.« Er begann mit dem Mann am Nebentisch ein Gespräch. Auch dieser war Produktenhändler. Forson begann seine Umgebung zu studieren. Im Gegensatz zu Ultmans feuchtem Keller war dieser hier luxuriös eingerichtet. Säulen aus behauenen Baumstämmen trugen gewaltige
Querbalken, die wiederum die schmaleren Deckenbalken stützten. Forson vergewisserte sich hastig, daß das Gebäude nicht in Gefahr war einzustürzen, war sich aber nicht so sicher, was das wirtschaftliche Gefüge des städtischen Schankbetriebes anging. Ein paar schnelle Trinker konnten einen Schenk an einem einzigen Abend ruinieren. Aber diese Gäste waren keine Trinker. Sie schlürften während der Unterhaltung nur unregelmäßig oder starrten, wenn sie allein waren, wie gebannt auf ihre Gläser oder den zuckenden Widerschein der Wandkerzen in den Tiefen von Wein oder Bier. Der Schenk ging gnadenlos umher, bereit, sofort hinzuspringen, sobald sich ein Glas völlig geleert hatte. Er tippte dem Gast auf die Schulter, der Gast leerte seine Schale mit einem Schluck, starrte den Schenk mißgestimmt an und zahlte dann für ein neues Glas oder entfernte sich. Ein Torrilspieler, vom Abstieg mit seinem schweren Instrument keuchend, spielte ein kurzes Lied, sah sich erwartungsvoll um und schulterte sein Torril wieder. »Niemand hat ihn bezahlt«, erläuterte Ultman. »Dann werde ich ihn bezahlen«, sagte Forson und wollte aufstehen. »Lieber nicht. Er kann nicht besonders gut sein, sonst würde ihm der Schenk ein Glas anbieten.« Ein Maler wanderte mit einem Arm voll Bildern durch das Lokal und traf Verabredungen für den nächsten Tag. Ein zweiter Torrilspieler kam herein. Jemand warf ihm, als er fertig war, eine kleine Münze zu, aber er warf sie verächtlich zurück und gingAls sie ihre Gläser zum drittenmal geleert hatten, wies Ultman mit einer Kopfbewegung zur Tür. Nach einer kurzen Strecke mündete die Straße in eine breitere, wo in beiden Richtungen überall Fackeln loderten. »Die Straße der Schenken«, sagte Ultman. »Sie finden sie in der ganzen Stadt, aber hier gibt es mehr als sonstwo. Versuchen wir es mit einer anderen?« Sie besuchten kurz hintereinander vier Schenken und probierten ein Dutzend verschiedener Wein- und Biersorten. Torrilspieler kamen und gingen; schließlich blieb einer, offensichtlich ein Meister seines Faches, und spielte unter einem Hagel von Münzen eine Melodie nach
der anderen. Als er eine Pause einlegte, bemerkte Forson, daß er in der Nähe einer Gruppe von Leuten saß, die sich über die Vorzüge verschiedener Torrilberühmtheiten ausließen. Er lauschte begeistert und stellte dann zu seiner Enttäuschung fest, daß Ultman zufällig wieder auf einen Händler gestoßen war und sich über – Knollengewächse unterhielt. Der Musiker kehrte zu seinem Instrument zurück und spielte, bis die Fackel vor der Schenke niedergebrannt war. Der Wirt widerstand allen Bitten, eine neue anzuzünden, und warf die Gäste hinaus Die meisten Schenken waren schon geschlossen. Sie tasteten sich in fast völliger Dunkelheit zu Ultmans Keller zurück, Forson in der Ungewißheit, ob sein Schwindelgefühl vom Wein oder von der Torrilmusik herrührte. »Ich dachte eigentlich, Sie würden mich mit Leuten von Stab B bekannt machen, als wir am Abend weggingen«, meinte er, als sie sich die Rampe hinuntertasteten. Ultman blieb stehen. »Was dachten Sie, mit wem wir den ganzen Abend zusammen gewesen sind? Sie haben mindestens ein Dutzend Mitarbeiter kennengelernt.« »Oh«, sagte Forson betroffen. »Von den höheren Rängen wollen einige mit Ihnen sprechen, aber das eilt nicht. Wahrscheinlich möchten sie wissen, ob Ihnen irgendwelche Ideen gekommen sind.« Forson lachte in sich hinein. »Dazu, wie sich Kurr in eine Demokratie verwandeln läßt?« »Vermutlich. Es ist ihr Beruf, sich darüber den Kopf zu zerbrechen. Aber - Sie sind schließlich Sektorinspizient, und da wird es Ihnen nicht anders gehen.« Forson hatte Verantwortlichkeit bislang nie in diesem Licht gesehen, nämlich als Verpflichtung, sich Sorgen zu machen. Er schlief bei weitem nicht so schnell ein, wie er angenommen hatte.
7 Knollen, die dumpfen Trommelschlägen gleich in Ultmans Handkarren fielen, weckten Forson in der Morgendämmerung. Er preßte die Hände an den schmerzenden Kopf und stöhnte: »Muß das sein?« »Man muß tun, was natürlich aussieht«, erwiderte Ultman mit abstoßend guter Laune. »Ein Händler, der eben mit frischer Ware zurückgekommen ist, liegt nicht auf der faulen Haut, bis das Zeug verfault. Ich muß heute früh meine besten Kunden besuchen.« Forson drehte sich grollend auf die andere Seite und bedeckte seine Ohren. Ultman belud seinen Karren, verräucherte den schlecht gelüfteten Raum, als er sich einen Krug voll Cril braute, erklärte Forson schließlich, daß er sich bis zu seiner Rückkehr draußen nicht zeigen solle, und karrte die Rampe hinauf. Forson hatte nicht die Absicht, sich bei irgend jemandem zu zeigen. Später mochte er den Gedanken überprüfen, daß das normale Verhalten eines Mitarbeiters auch nicht wegen des Katers eines Sektorinspizienten um ein Jota abgeändert werden durfte, aber im Augenblick begnügte er sich damit, die Stille zu genießen und Schlaf zu suchen. Er döste mit der Überlegung ein, daß der getarnte Zugang zum Fluchttunnel nur eine Armlänge entfernt war und er trotzdem nie die Zeit haben würde, ihn zu benützen. An der Tür gab es kein Schloß, und wenn die Ruffs des Königs eindrangen, würde er gefangen sein, bevor er richtig wach war. Selbst wenn er durch ein Wunder in den Tunnel gelangte, wußte er nicht, wohin er sich wenden sollte, sobald er das andere Ende erreicht hatte. Als er wieder aufwachte, war Ultman mit heißem Fleischkuchen zurück, die Kopfschmerzen hatten sich verflüchtigt, und der Tag sah selbst in Ultmans tiefem Keller viel strahlender aus. »Es gibt Neuigkeiten«, triumphierte Ultman. »Der König hat ein Fest befohlen.« »Was für ein Fest?« »Eine öffentliche Unterhaltung. Gesang, Tanz, Musik – mit allem Drum und Dran. Jeder männliche Bürger, der den Eintrittspreis aufbringen kann, ist willkommen. Der König zitiert die besten Künstler herbei, das Publikum amüsiert sich, und Seine Majestät wird einen
hübschen Profit einstreichen. Wollen Sie hingehen?« »Etwas anderes kommt gar nicht in Betracht«, sagte Forson würdig. »Dann gehen wir. Beim Essen erkläre ich Ihnen, wie Sie sich in den Straßen Kurras zu benehmen haben.« »Haben Sie alle guten Kunden besucht?« »Genug«, meinte Ultman grinsend. »In diesem Geschäft ist das der Schlüssel des Erfolgs. Wenn man oft genug tut, was von einem erwartet wird, nehmen die Leute von selbst an, daß es immer so ist.« Sie verbrachten den Nachmittag damit, durch die Tunnelstraßen Kurras zu wandern und sich in kleinen Läden umzusehen, sooft Forson etwas Interessantes sah. Sie kauften nichts, obwohl Ultman, als Forson sich von einer herrlich ziselierten Trinkschale aus Silber fasziniert zeigte, mit dem Silberschmied ein grandioses Feilschen begann, zuerst um den Preis in Rohsilber, dann in Kupfermünzen und schließlich, als der Kauf getätigt zu sein schien, um die Menge an Knollen, die der Schmied im Tauschhandel anzunehmen bereit sein würde. Passanten blieben stehen, um belustigt zuzuhören oder beim Feilschen mitzutun, und plötzlich ergab sich eine Versteigerung, bei der Zuhörer den von Ultman mühsam heruntergehandelten Preis wieder hochtrieben. Die Schale fiel an einen gutgekleideten Fremden, der nur einmal mitbot das letztemal. Der Schmied offerierte eine andere Schale, aber Forson fand, daß sie lange nicht so schön war wie die erste, und sie zogen weiter. »Das liegt eher auf Ihrer Linie, wie?« fragte Ultman. Bei Tag konnten sie in den Straßen Kurras relativ gefahrlos Galaktisch sprechen. Bei dem Kreischen der Karren und Wagen, dem Geschrei der Bettler, Händler und Käufer bestand kaum die Möglichkeit, daß man sie belauschte. Sie hatten es schwer, sich einander verständlich zu machen. »Möchten Sie so einen Laden führen?« fragte Ultman ernsthaft. »Ich glaube nicht.« »Na gut, aber achten Sie auf Dinge, die Sie interessieren. Sie brauchen mehrere Berufe.« »Mehrere?« »Ja. Dann haben Sie eine Zuflucht, wenn irgend etwas schief geht.« »Wie kann man mehrere Berufe gleichzeitig haben?«
»Das muß nur richtig geplant werden. Ich kaufe und verkaufe Knollen, helfe aber auch in einer Schenke auf der anderen Seite der Stadt mit. Manchmal schlafe ich dort ein paar Nächte, erledige, was der Schenk mir aufträgt, nehme, was er mir geben will. Wichtig ist, daß ich dort bekannt bin und jederzeit unerwartet auftauchen kann, ohne unwillkommen zu sein. Außerdem haben mich zwei Mitarbeiter, die Geschäfte betreiben, als Gehilfen eingetragen, und ich lasse mich dort ab und zu sehen, damit mich ihre Kunden kennen. Natürlich spiele ich überall eine andere Rolle.« »Sie überlassen nicht viel dem Zufall.« Ultman grinste. »Sobald ein Mitarbeiter des Stabes sich in Sicherheit fühlt, wird es gefährlich, pflegt Leblanc zu sagen.« »Wie sicher bin ich als Ihr Gehilfe?« »Nicht sehr sicher. Produktenhändler haben normalerweise keine Gehilfen, und wenn die Landbevölkerung auch beim erstenmal nicht besonders darauf achtet, daß Sie dabei sind – Sie könnten ja jemand sein, der zufällig denselben Weg hat -, würde man aufmerksam werden, wenn ich Sie bei der nächsten Reise wieder mitbrächte. Niemand wird sich besonders darum kümmern, wenn Sie mit in einem Keller wohnen, aber wenn Sie sich länger ohne sichtbaren Brotberuf herumtreiben, werden sich meine Nachbarn über Sie Gedanken machen, und in Kurr geschieht das nicht lange, bevor auch die Ruffs des Königs aufmerksam werden.« »Ein Museum, das einen Direktor braucht, wird es wohl nicht geben . ..« Ultman lachte. »Sicher nicht.« »Bis jetzt habe ich noch keinen Beruf gesehen, der mir gefällt, aber ich werde mich weiter umsehen. Gehen wir etwas trinken.« »Kein anständiger Kurranier trinkt vor Sonnenuntergang«, erklärte Ultman streng. »Nicht in Kurra. Jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. Die Schenken öffnen erst, wenn es so dunkel ist, daß das Anzünden einer Fackel gerechtfertigt erscheint.« »Ist das auch eines der vernünftigen Gesetze von König Rovva?« fragte Forson in dem beleidigten Tonfall eines Durstigen.
»Es hält die Bürger nüchtern bei der Arbeit.« »Und erspart dem König die Kosten einer Straßenbeleuchtung. Ich nehme alles zurück. Die Kurranier haben Grund genug zur Revolte, und zwar je früher, desto besser.« Sie gingen bis zum Zentrum der Stadt, wo das Schloß des Königs wie ein gewaltiger steinerner Pilz in der Mitte eines offenen Platzes stand. Über dem Haupteingang war die Festproklamation entrollt und verkündete in großen Lettern die freudige Nachricht. Als sie schließlich in Ultmans Keller zurückkehrten, fanden sie, daß jemand ein Paket überbracht hatte - die ziselierte Trinkschale. »Sie meinen — die Person, die sie gekauft hat, war —«, stammelte Forson verwirrt. »Ein Mitarbeiter des Stabes. Bettler wie wir könnten sich niemals so etwas leisten, aber er dachte, Sie wollten sie unbedingt. Ein Bettler oder Hausierer darf zwar feilschen, aber er tut gut daran, sich zurückzuziehen, sobald geboten wird, vor allem, wenn die Ruffs in der Nähe sind, und das waren sie. Sie kommen sonst auf den Gedanken, sich zu fragen, woher ein Hausierer soviel Geld hat. Es wäre auch nicht gut, die Schale hierzubehalten. Auf dem Weg zum Fest bringe ich sie Lweyn und bitte ihn, sie für Sie ins Loch zu tun, bis Sie eine eigene Unterkunft haben.« In der Abenddämmerung stellten sie sich in die lange Reihe und traten zur Begleitmusik klirrender Münzen durch eigene Zugänge in der Stadtmauer, um in das königliche Amphitheater zu gelangen. Lange, gebogene Steingalerien waren in den steilen Hang einer natür-lichen Vertiefung- eingebaut worden. Unten, in der Mitte einer Arena, stand ein kleines, pilzförmiges Haus mit vielen Fenstern. »Die Privatloge des Königs«, flüsterte Ultman. Sie nahmen ihre Plätze ganz hinten ein - Ultman murmelte, daß es nicht gut sei, zu viel Leute zwischen sich und dem Ausgang zu wissen - und beobachteten, wie sich das Amphitheater mit Besuchern füllte. Die langsam niedersinkende Dunkelheit verwischte sogar die schattenhaften Gestalten ihrer Nachbarn, aber immer noch erschienen Zuschauer und stolperten auf der Suche nach Plätzen herum. Schließlich marschierten der König und sein Gefolge in einem imposanten Fackelzug den Hang zum Haus hinunter. Rings um die
Arena wurden Fackeln entzündet, und die Vorstellung begann. Vorübergehend konzentrierte sich Forsons Interesse auf den König, aber bei dieser Entfernung und im flackernden Licht der Fackeln sah er nichts als eine breite Gestalt in einer Robe. Enttäuscht wandte er seine Aufmerksamkeit den Darbietungen zu. Der erste Eindruck war chaotisch. An jeder Seite der Arena arbeitete ein Maler an einer großen Leinwand. »Der König spricht dem Bild, das ihm am besten gefällt, einen Preis zu«, erläuterte Ultman. Ein Dichter rezitierte sein neuestes Werk; die akustischen Bedingungen waren ideal, aber viele Anspielungen blieben Forson unverständlich. Eine Gruppe von Tänzern umschritt die Arena mit langsamen, schwerfälligen Bewegungen, die Körper aber zu den erstaunlichsten Verenkungen zwingend. Ein Trupp Soldaten stand in enger Formation und schien überhaupt nichts zu tun, aber schließlich bemerkte Forson, daß sich die inneren Reihen langsam verschoben und die Form einer Blume annahmen, deren Kelch sich langsam weitete und zu entfalten begann. Die Blume verschwand in einer langen Reihe sich verwandelnder geometrischer Muster. Schlagartig war der Bühnenraum leer bis auf die Maler. Ein uniformierter Diener trug ein wunderbar geschnitztes Torril herein, und das Publikum, bis zu diesem Augenblick schweigende Hochachtung bekundend, begrüßte den Musiker mit stampfendem Applaus. »Sie nennen ihn Tor«, flüsterte Ultman, als sich der Lärm gelegt hatte. »Das heißt, daß er praktisch mit seinem Instrument namensgleich ist. Er ist wirklich der Beste, aber noch ein relativ junger Mann.« Tor setzte sich vor das Instrument und berührte die Saiten mit den Händen. Forson sah scharf hin und machte eine Entdeckung. Die Höhe des Torrils entsprach der Größe des Musikers, aber die Größe des kugeligen Tonkopfes entsprach seinem Können. Je größer die Kugel, desto größer die Anzahl der Saiten, die man daran befestigen konnte, und desto größer die Vielseitigkeit des Instruments und die Anforderungen, die an den Musiker gestellt wurden. Tors Instrument besaß eine riesige Kugel, und der Ton besaß, von den hallenden Baßsaiten bis zu den glockenähnlichen Diskantsaiten, eine reiche Resonanz, mit der verglichen die in den Schenken gespielten Instrumente wie Spielzeug wirkten. Mit Händen, die sich
kaum zu bewegen schienen, erzeugte Tor Töne in unglaublicher Schnelligkeit. Die Musik sang jubilierend, sank zu gedämpftem Trauergesang herab, flüsterte von liedhafter Schönheit und steigerte sich zu einem Crescendo kriegerischer Brillanz. Das Publikum sprang auf, um mit den Füßen zu stampfen und zu jubeln. Auch Forson gestikulierte begeistert. »So etwas habe ich noch nie gehört«, vertraute er Ultman an, als sich der Tumult gelegt hatte. Tor begann ein zweites Werk zu spielen. Der perlende, drängende Ansturm auf die Saiten setzte im Baßregister ein und schwebte in komplizierten Tonfolgen durch alle Oktaven. Er endete mit einer solchen Plötzlichkeit, daß das Gehör zweifelte und vertrauensvoll die Stille nach der verflogenen Musik durchforschte. Tor erhob sich und trat mit gesenktem Kopf dem Mittelfenster des kleinen Hauses gegenüber. Eine in eine Robe gehüllte Gestalt hatte sich vorgebeugt; offenbar ergriff der König das Wort, wenngleich seine Stimme nicht bis hin zum Publikum drang. Forson hielt den Atem an, bis er zu ersticken drohte. Ultmans verschattetes Gesicht zeigte Betroffenheit. In einer Stille, die grabesartig war, starrten Tausende von Zuschauern in die Arena. Wachen umringten Tor und entblößten ihn bis zu den Hüften. Und dann war es vorbei, bevor Forson das Entsetzliche zu begreifen vermochte, so schnell spielte es sich ab - das blitzende Schwert, der Schmerzensschrei, ein Arzt, um den Armstumpf bemüht, aus dem das Blut quoll. Forson wußte gar nicht, dass er aufgesprungen war, bis Ultman ihn grob auf seinen Platz drückte und ihm zuzischte: »Vorsicht, Vorsicht —« Die Menge verharrte wie von dem eigenen Schweigen hypnotisiert, als Tor, wieder angekleidet, mit verbundenem Arm davontaumelte. Der Diener trug das Torril hinaus, und wo noch Augenblicke zuvor große Musik entstanden war, blieben nur der blutbefleckte Staub und der Unterarm eines Mannes. Der Arm lag während der weiteren Vorführungen unberührt auf dem Boden. Die Auftretenden mieden ihn nervös. »Warum?« stieß Forson hervor. »Warum? Er ist ein großer Musiker.« Ultman gebot mit einer Handbewegung Schweigen.
»Das war er«, flüsterte er unverblümt. Es gab eindrucksvollen Gesang, Tänzer, die zum Rhythmus kleiner Trommeln Erstaunliches vorführten, Akrobaten in einem schwierigen Spiel, zu dem das Hochwerfen brennender Fackeln in der verdunkelten Arena gehörte, hell klingende Glocken, hallende Gongs, Lyrik, Gesang, Tanz - alles hätte in Bann schlagen müssen, aber Forsons betäubtes Gehirn wollte sich nicht mehr onzentrieren. Starke Übelkeit quälte ihn. Er wollte fort, wusste aber, ohne fragen zu müssen, daß es schlimme Folgen haben würde, wenn jemand das Fest des Königs vor dem Finale verließ. Das Publikum war durch den Schock seiner Begeisterung beraubt worden; die Künstler bewegten sich, wie von Angst gepeitscht. Die Vorstellung zog sich noch eine schreckliche Stunde lang hin, bevor der König und sein Gefolge schließlich abzogen und die Zuschauer langsam das Amphitheater verlassen konnten. Ultman schwieg, bis sie in eine Nebenstraße eingebogen waren und die Menge hinter sich gelassen hatten. »Es heißt, daß das die ganze Zeit über vorkommt«, meinte er nachdenklich, »aber ich habe noch nie gehört, daß es in der Öffentlichkeit geschieht, und bei einem berühmten Mann wie Tor nicht einmal im geheimen. Der alte Rovva muß sich über irgend etwas aufgeregt haben. Vielleicht tut ihm wieder ein Zahn weh. Beim letztenmal soll die Hälfte des Hofstaats betroffen gewesen sein.« Das Bild des abgetrennten Unterarms glühte schmerzhaft in Forsons Gedächtnis. »Dieser Mann wäre überall als großer Künstler anerkannt worden«, sagte er tonlos. »Er war mehr als das. Diese Musiker kommen viel herum, und Tor war der Beste. Sie würden ihn vielleicht einen Nationalhelden nennen. Der König muß nicht bei Sinnen gewesen sein.« Sie gingen durch die winkligen, dunklen Straßen. Forson folgte stumm Ultmans Spuren und fragte sich, ob er den Rückweg zum Keller alleine wohl gefunden hätte. In diesem Stadtteil gab es wenige Schenken, und das einzige Licht war ein gelegentlicher Schimmer, der durch die Ritzen eines Fensterladens drang. In der Dunkelheit erschien Forson alles anders, und erst als sie viel weiter gelaufen waren, als
nötig erschien, begriff er, daß wirklich alles anders war. »Wir nehmen einen anderen Weg, nicht wahr?« fragte er. »Ja«, sagte Ultman kurz. Sie erreichten einen offenen Platz, der durch die Kreuzung mehrerer Straßen gebildet wurde. Auf der gegenüberliegenden Seite brannte eine Schenkenfackel. Ultman zog Forson zurück in die Dunkelheit und flüsterte: »Sehen Sie das Fenster?« Forson starrte ins Dunkel und beugte sich vor, um an dem Überbau des Hauses vorbeizusehen. »Ich weiß nicht -« »Bei Tag stehen Blumen in diesem Fenster. Bei Nacht brennt dort Licht.« »Ich sehe kein Licht«, wandte Forson ein. »Eben.« Sie hasteten weiter, und Forson bemerkte plötzlich, daß sich Ultman wiederholt umsah. »Solche Zeichen haben wir in ganz Kurra«, erklärte er. »Wir machen es uns zur Gewohnheit, so oft wie möglich darauf zu achten. Das ist heute nacht schon das dritte Fenster, in dem Licht brennen soll und nicht brennt. Das bedeutet, daß der Stab in Bedrängnis ist.« »Was tun wir?« »Ich weiß es noch nicht.« »Beim Institut hat es so etwas nie gegeben«, murmelte Forson. Er begann die vorbeikommenden Fußgänger argwöhnisch zu betrachten. Sie marschierten eine längere Strecke, wobei sie sich meist in den Häuserschatten hielten, bis Ultman unter einer Schenkenfackel stehenblieb, seinen Umhang abnahm und ihn über den Arm warf. Einen Augenblick später kam eine gebückte, alte Frau aus einem Hauseingang und humpelte auf sie zu. Sie bleckte vor Forson ihr Gebiß, wechselte rasch ein paar Schimpfworte mit Ultman und zischte ihm im Vorbeigehen zu: »Sturm drei.« Sie verschwand um eine Ecke, die beiden Männer schlugen die entgegengesetzte Richtung ein, und Ultman führte Forson nach einem langen, mühsamen Marsch zu einer verwahrlosten Schenke hinunter.
Die wenigen Gäste betrachteten sie gleichgültig und beschlossen, sie zu ignorieren. Sie wählten den einsamsten Tisch und entrichteten ihre Münzen. Als der dicke Schenk ihre Gläser füllte, wisperte er: »Es hat einen großen Einbruch gegeben, aber sie haben niemanden erwischt, glaube ich.« »Braucht ihr Hilfe?« flüsterte Ultman. »Ich glaube nicht. Meine Gruppe ist bis jetzt nicht betroffen. Trinkt und meldet euch dann oben. Ich verbreite inzwischen, dass ihr hier seid. Alle haben euch gesucht.« Ultman goß ruhig Bier in seine Trinkschale, Forson schaute sich besorgt in der Schenke um, aber niemand schien sie zu beachten. »Joe ist tüchtig«, sagte Ultman. »Trinken Sie Bier. Die alte Frau ist auch zuverlässig. Haben Sie sie erkannt?« Forson füllte seine Schale, schlürfte das Bier und verbarg seine Grimasse hinter vorgehaltener Hand. »Nein. Hätte ich sie erkennen sollen?« »Ich dachte, Sie kennen sie. Ann Cory. In Kurra läuft sie fast immer als alte Frau herum. Für ein Mädchen ist es in der Nähe von Rovvas Hof zu gefährlich, jung und hübsch zu sein. Trinken Sie weiter.« Forson tat es und fragte sich, ob im Handbuch auch etwas über Geduld stand. Oder darüber, daß man in einer Schenke vor einer Schale Bier seine Zeit vertrödelte, während man in Lebensgefahr schwebte, nur weil es zu auffällig gewesen wäre, eilig zu verschwinden. Er zollte Ultman größeren Respekt als vorher, war aber der Meinung, daß ein Bier ausreichender Beweis für Normalität gewesen wäre. Ultman legte jedoch noch einmal Münzen auf den Tisch und ließ sich nachfüllen. Als sie sich endlich erhoben, richteten sich alle Blicke auf sie, folgten ihnen zur Tür und wandten sich ab. Der Schenk entfernte sich, um einen anderen Zecher zu bedienen. Sie stiegen die Rampe hinauf, betraten das Haus durch den Seiteneingang und stießen auf einen muskulösen Wachtposten, der sie angrinste, Ultman die Hand drückte und mit einer Kopfbewegung zur Treppe wies. In einem Zimmer des Obergeschosses fanden sie einen ältlichen Mann in verblaßtem
Gewand, der neben einem Weinkrug an einem Tisch saß. Er betrachtete Forson mit blind starrenden, wässerigen Augen, die vom grauen Star befallen waren, und lud ihn ein, es sich bequem zu machen. »Wie schlimm ist es?« fragte Ultman. »Ihre Gruppe ist enttarnt. Ihr Haus wird bewacht. Wir haben alle Zugänge beobachtet, damit Sie nicht in die Falle laufen.« »Ich vergewissere mich stets«, sagte Ultman trocken. Der alte Mann hob die Schultern. »Um Sie haben wir uns auch keine Sorgen gemacht. Was Ihre Frage betrifft - der Kommandeur ist unterwegs, und das bedeutet, daß es kaum schlimmer sein könnte.« »Paul? Er kommt hierher?« »Mit dem Flugzeug«, sagte der alte Mann leise. »Und Sie wissen, daß Paul Leblanc auch bei Nacht nicht nach Kurra oder überhaupt ins Innere des Landes fliegen würde, wenn es nicht schon zu spät wäre, so daß es keine Rolle mehr spielt. Es gibt nur eine Erklärung: Unser Koordinator hat einmal zu oft gepfuscht und den ganzen Planeten auf dem Gewissen. Jetzt bleibt uns nur noch, alle Leute abzuziehen — und das schnellstens.«
8 »Ich bin Sev Rawner«, sagte der alte Mann. »Gurnil B Drei-EinsAcht. Setzen Sie sich, Inspizient. Sie brauchen etwas zu trinken.« Er füllte eine Trinkschale mit fester Hand und Augen, die sein Alter und die scheinbare Blindheit Lügen straften. »Ich habe eben getrunken«, protestierte Forson. »So etwas bekommen Sie in keiner Schenke. Versuchen Sie mal.« Forson probierte vorsichtig und trank dann einen großen Schluck. »Was ist das?« »Das verbotene Elixier«, sagte Rawner grinsend. »Eine Art Whisky, hergestellt aus dem Samen des Wulln, das ist ein kurranischer Baum. Wenn man Sie damit ertappt, ist Ihnen ein Marsch zu einem EinhandDorf sicher, ohne Rückkehr.« »Was kann der König gegen Whisky haben?« »Gar nichts. Er besitzt einen Privatkeller, um den man ihn auf jedem Planeten dieses Sektors beneiden würde. Er hat nur etwas dagegen, daß seine Untertanen Whisky trinken. Vermutlich legt er Wert auf nüchterne, arbeitsame Bürger. Oder er will alles für sich behalten.« Forson griff wieder nach der Schale. »Dieser Stoff ist verboten, und Sie haben keine Revolution entfesseln können?« »Er ist rar. Der Mann von der Straße könnte ihn sich selbst dann nicht leisten, wenn er erlaubt wäre. Es gibt nur eine begrenzte Anzahl von Wulln-Bäumen.« »Dann pflanzt einfach mehr.« »Es dauert vierzig Jahre, bis ein Baum Früchte liefert.« »Der Stab hat Zeit genug.« »Nein.« Rawner schüttelte betrübt den Kopf. »Die Zeit des Stabes ist abgelaufen. Man kann keinen Bedarf nach einem Produkt wecken, bis man es überall so in Umlauf gesetzt hat, dass die Leute es kennen. Von diesem Whisky wird es nie genug geben, um das zu erreichen. Sobald die Ruffs des Königs außerhalb der königlichen Reservate einen Wulln-Baum entdecken, fällen sie ihn. Genießen Sie Ihr Quantum und lassen Sie sich als Beweggrund für eine Revolution etwas anderes einfallen. Brauchen Sie etwas, Hance?«
Ultman füllte seine Schale mit Whisky und leerte sie langsam. »Jetzt nicht mehr.« »Geld?« Rawner warf einen Beutel voll Münzen auf den Tisch, und Ultman bediente sich. »Was wird aus dem Inspizienten?« fragte Ultman. »Wir kümmern uns um ihn.« »Sagt mir Bescheid, wann es soweit ist. Bis bald, Inspizient.« Ultman drückte Forson die Hand, öffnete eine Tür in der Wand und verschwand in dem dunklen Gang dahinter. Die Wand erschien wieder fugenlos. »Wir werden bald alle unterwegs sein«, meinte Rawner. »Joe glaubt zwar, seine Gruppe sei nicht betroffen, aber das liegt wohl nur daran, daß die Ruffs noch nicht soweit fortgeschritten sind. Wie fühlt man sich, wenn man gesucht wird?« »Ganz eigenartig. Für Sie ist das sicher nichts Neues.« »Doch. Ganz neu. König Rovva hatte schon immer ein wachsames Auge auf umstürzlerische Elemente, aber diesmal hat er es unzweifelhaft auf den Stab B abgesehen. Von der Existenz dieser Organisation dürfte er aber überhaupt nichts wissen. Was halten Sie davon?« Er zeigte ihm ein kleines Gemälde - ein Porträt Jeff Forsons. Forson betrachtete es kritisch. »Vom künstlerischen Standpunkt aus sehr wenig. Mäßige Arbeit. Perspektive völlig falsch.« »Aber die Ähnlichkeit ist beachtlich«, erklärte Rawner, hielt das Bild ans Licht und studierte es nachdenklich. »Künstlerische Vollkommenheit kann man nicht erwarten, wenn ein Maler mit großer Schnelligkeit eine ungewohnte Vorlage zu kopieren hat.. Erkennen Sie es nicht?« »Mein Ausweisfoto!« entfuhr es Forson. »Woher haben Sie das?« »Ein Ruff hat damit Erkundigungen eingezogen. König Rovva läßt es wahrscheinlich von jedem zweiten Maler in Kurra herstellen, aber das ist das erste, das wir in die Hand bekommen haben. Ein Ausweisfoto des Amtes -« Er schüttelt» den Kopf. »Kein Zweifel, der Planet ist ruiniert. Wir müssen Sie schnellstens
wegschaffen. Abgezogen werden müssen alle, aber Sie zuerst. Jeder Ruff in Kurra sucht Sie, und Sie besitzen keine Zweitrolle, in die Sie sich zurückziehen könnten.« »Ich habe nicht einmal eine Erstrolle.« »Richtig. Sie hatten keine Zeit, sich etwas zurechtzulegen. Paul kommt mit dem Flugzeug. Vermutlich wird er mit Ihnen sofort zurückfliegen wollen.« Der Wachtposten rief von unten herauf: »Wir bekommen Besuch. Joe ist auf dem Weg nach oben.« »Gut«, antwortete Rawner. »Alles unter Kontrolle? Kommen Sie herauf und trinken Sie einen Schluck. Den Ruffs wollen wir auch nichts schenken.« Er füllte Forsons Schale und eine zweite für Joe, den dicken Schankwirt, der durch die Wandtür hereinkam. Der Schenk leerte seine Schale auf einen Zug, wischte sich den Mund und sagte: »Eigentlich habe ich mich hier wohl gefühlt.« Er ging in das Nebenzimmer und kam Augenblicke später zurück, wie durch ein Wunder schlank geworden, in anderer Kleidung, eine Perücke in der Hand. »Brauchen Sie Geld?« fragte Rawner. »Ich habe genug«, sagte der Schenk und setzte die Perücke auf. »Del möchte wissen, ob noch Requisiten gebraucht werden. Er will zusperren.« »Nein. Dort, wo wir hinkommen, gibt es genug davon. Sagen Sie ihm, er soll das Dichtungsmittel mitbringen. Er weiß schon, was er zu tun hat. Noch einen Schluck, Inspizient?« Er füllte Forsons Schale und goß den Rest in seine eigene. »Trinken Sie aus, dann machen wir uns auf den Weg.« Sie leerten ihre Gefäße. Rawner stand auf und schlug ein paarmal die rechte Faust in die linke Handfläche. »Da verpufft gute Arbeit«, meinte er. Er öffnete die Wandtür. Der Mann, den sie Del nannten, stand schon mit einer Sprühpistole bereit. »Dieses Dichtungsmittel ist prima«, meinte Rawner. »In dreißig Sekunden wird diese Tür ein nicht zu unterscheidender Bestandteil der Wand sein. Ich würde es nicht verwenden, wenn die Aussicht
bestünde, daß wir das Haus hier noch einmal benützen könnten.« Joe, jetzt ehemaliger Schankwirt, ging mit einer brennenden Kerze voran. Forson folgte, andere Mitarbeiter aus dem Nebenraum und dem Untergeschoß gesellten sich dazu, und im Gänsemarsch zogen sie durch den dunklen Gang ins Obergeschoß des Nachbargebäudes. Eine Stunde lang folgten sie einem komplizierten Weg hinab in Tunnelstraßen, hinauf zu Korridoren, die durch fremde Häuser führten. Ihr Ziel war eine geschmackvoll eingerichtete Wohnung in einem versteckten Tiefkeller. An einem Tisch wartete dort ein Mann, der bedrückt in eine halbvolle Trinkschale starrte. Paul Leblanc. »Fertig?« fragte er Forson. Forson setzte sich müde und schüttelte den Kopf, als ihm Leblanc eine Trinkschale hinschob. Er schloß die Augen und lehnte sich schlaff zurück. Seit jenem schicksalshaften Augenblick bei der Festvorstellung, als Tors Musik verstummt war, hatte er nicht zur Ruhe kommen können. Die langen Stunden der nervlichen Belastung forderten ihren Zoll. Er war erschöpft, empfand aber gleichzeitig einen kaum zu unterdrückenden Grimm. Unterwegs war ihm plötzlich eingefallen, daß er auf diesem Planeten der ranghöchste Beamte war, daß alle Ereignisse hier letztlich unter seine Verantwortung fielen und daß er seine Autorität schwächlich an Untergebene abgetreten hatte, die ihn mit einer süßlichen Besorgtheit umhegten, wie sie verirrten Vollwaisen besser anstand. »Darf der Chefkoordinator fragen, was sich abspielt?« murmelte er. »Das Flugzeug wartet auf dem Dach. Wir haben später Zeit genug, das zu besprechen.« Forson richtete sich abrupt auf. »Wir besprechen es jetzt«, knurrte er. »Ich habe das Gefühl, daß wir Rastadt genau in die Hände arbeiten.« »Vielleicht. Es bleibt uns aber keine andere Wahl. Der Planet muß geräumt werden.« »Wer behauptet das?« »Rastadt -« Leblanc verstummte und starrte Forson an. »Haben Sie ihn gesehen?« Leblanc schüttelte den Kopf. »Die Nachricht wurde aufgezeichnet, als ich unterwegs war: >Planet
ruiniert, sofort räumenRegel des einzigem in Anspruch nehmen!« Sie fuhr herum und starrte ihn an.
»Das können Sie nicht!« sagte sie erschrocken. »Nicht so ohne weiteres. Sie müssen der Chefzentrale den Vorschlag unterbreiten, genau erklären, was Sie vorhaben und warum es für Ihren Plan unerläßlich ist, warum es auf andere Weise nicht geht und welche technologischen Auswirkungen es vermutlich haben dürfte. Die Chefzentrale wird das Ersuchen gründlich prüfen und vielleicht ein Dutzend ergänzender Berichte anfordern, um es dann auf ein paar Jahre zu den Akten zu legen. Bis es sich dazu entschließt, Ihre Bitte abzulehnen, ist Ihnen eine bessere Methode eingefallen, die das unnötig macht. Noch nie hat jemand die Regel beansprucht!« »Ich bin von der Chefzentrale abgeschnitten«, sagte Forson. »Ich kann meinen Vorschlag nicht zur Genehmigung vorlegen, aber da ich hier das Kommando führe, bin ich verpflichtet, Notmaßnahmen zu ergreifen, wenn ich es für erforderlich halte, und im Augenblick ist es das Dringendste, für Tor ein Instrument zu finden. Ich werde ihm eine Fanfare geben.« Sie trat einen Schritt auf ihn zu. »Sie Narr! Haben Sie nicht wenigstens eine vage Ahnung davon, welche Zahl von technologischen Neuerungen eine Fanfare bedingen würde?« »Eine primitive Fanfare«, sagte Forson geduldig. »Eine einfache Fanfare, nicht eine Trompete mit Ventilen. In irgendeiner Entwicklungsstufe ihrer Musik bringen die meisten Welten eine Variante davon hervor, und sie kann ein großartiges Instrument für künstlerische Zwecke sein. Man braucht nur ein Metallrohr in die richtige Form zu bringen. Wenn die kurranischen Metallhandwerker wissen, wie man ein Rohr herstellt, würde ich keine Neuerung bringen, sondern nur einen neuen Verwendungszweck für etwas, das sie schon besitzen.« Er machte eine Pause. »Vom Mundstück vielleicht abgesehen. Es ist das Mundstück, das ein primitives Lärminstrument zu einem künstlerischen Instrument macht. Merkwürdig, daß die Kurrianer keine Blasinstrumente besitzen. Trotzdem - Fanfare und Trompete entwickeln sieh aus dem Horn, und die ersten Hörner sind meist Tierhörner. Alle Tiere, die ich auf diesem Planeten gesehen habe, sind hornlos. Manche primitiven Völker haben aber eine Muscheltrompete. Gibt es auf Gurnil Lebewesen mit einer Schale, die man zu
musikalischen Zwecken gebrauchen könnte?« »Leben Sie wohl«, sagte sie. »Mit der Rückkehr eilt es nicht. In einem Einhand-Dorf wird nicht kontrolliert, wann man zu Bett geht. Wenn wir nachts umherlaufen wollen, ist das unsere Sache. Dieses Gesetz der Nichteinmischung ist sehr nützlich.« »Ich gehe. Ich bin nur hergekommen, um Sie zu sehen — um mir Ihre großartigen Pläne abzuholen. Ich werde Paul sagen, dass Sie zu angestrengt damit beschäftigt sind, einen deprimierten Musiker zu pflegen, um für etwas anderes Zeit zu haben. Wenn ich schnell laufe, kann ich vor dem Hellwerden die nächste Station erreichen. Wir vom IPB-Amt müssen nämlich arbeiten. Leben Sie wohl.« »Warten Sie doch!« drang Forson in sie. »Die Geschichte mit Tor -« »Ist sehr interessant, sicher. Sie werden Zeit genug für sie haben, weil es sehr lange dauern wird, bis wir Ihnen eine sichere Rolle verschaffen können. Inzwischen kann Ihnen hier ja nichts passieren.« Sie verschwand in der Nacht, und er sah ihr lange Zeit nach. Schließlich kehrte er in seine Unterkunft zurück. Die restlichen Stunden der Nacht verbrachte er sitzend auf dem Strohsack, in Gedanken verloren, und als es hell genug war, um arbeiten zu können, suchte er in den Abfallkörben nach Pergamentfetzen. Er saß den ganzen Vormittag über seinen Entwürfen. Als er einen angefertigt hatte, der ihn befriedigte, trug er ihn zu den Metallschmieden: die Zeichnung einer Fanfare.
11 Sie versammelten sich um ihn und studierten verwirrt den Entwurf. Im Hintergrund fauchten Blasebälge, klirrte Metall auf Metall, strömten Schmelztiegel Hitze und Rauch aus. Forson führte die Männer ins Freie, wo er sich wenigstens verständlich machen konnte. »Musikinstrument?« wiederholte einer von ihnen zweifelnd, als er mit seiner Erklärung fertig war. Das Rohr verstanden sie. Ja — an diesem Ende schmal und vorne größer werdend. Und von einer bestimmten Größe. Das begriffen sie alles. Aber - ein Musikinstrument? Wo waren die Saiten? Sie waren sofort bereit, den Versuch zu unternehmen. Der Entwurf war interessant, vor allem die sich verjüngende Röhre, und das war Grund genug, eines dieser merkwürdigen Dinge herzustellen. Wenn es fertig war, konnte er es benützen, wozu er wollte. Ihretwegen durfte er sogar Musik damit machen, wenn sie auch nicht einsahen, wie er das bewerkstelligen wollte. Sie machten sich also daran, eine Fanfare herzustellen. Drei Tage später besichtigte Forson das Ergebnis und war entsetzt. Sie hatten Verzierungen und Schnörkel angebracht, die allen Berechnungen Forsons über Länge und Verjüngung des Instruments Hohn sprachen. Da sie von der akustischen Funktion des Schallstücks nichts verstanden, hatten sie vorne eine massive, wunderbar polierte Scheibe angebracht. Ihr Mundstück war herrlich geformt, aber der Luftkanal fehlte. Forson verlangte mehrere grundsätzliche Änderungen, die sie sofort vornahmen, aber wieder so, daß er seinen Entwurf nicht wiedererkannte. Das fertige Instrument hatte kaum Ähnlichkeit mit seiner Vorstellung von einer Fanfare. Trotzdem glaubte er, sie könne genügen. Nachdem man sie vom Mundstück bis zum Schallstück mit zahlreichen Ziselierungen versehen hatte, trennte man sich widerstrebend von der Kostbarkeit. Alle Beteiligten gingen hinter ihm her, als er sie zu Tors Unterkunft trug. Tor, der über den Besuch nicht erfreut war, weigerte sich zunächst
eigensinnig, das Instrument anzurühren. Als er sich schließlich dazu bereit fand, hielt er es ungeschickt in der Hand, dachte eine Weile vergeblich über den Sinn nach und gab es achselzuckend zurück. Forson setzte es an die Lippen und blies. Der Ton war eigenartig weich - ob das an der seltsamen Form oder an dem unwissenschaftlich hergestellten Mundstück lag, konnte Forson nicht entscheiden —, aber das Instrument ließ sich mit verblüffender Leichtigkeit blasen. Forson, ein ausgesprochener Anfänger auf dem Gebiet der Musik, brachte ohne Schwierigkeiten eine Reihe von Tönen hervor, die man als Musik bezeichnen konnte. Tor lauschte verwundert. Er griff wieder nach der Fanfare, blies ein paarmal vergeblich hinein und brachte schließlich einen Ton zustande. Sein Gesicht hellte sich auf. Er blies von neuem, immer wieder. Mit rotem Gesicht produzierte er eine Reihe hoher Töne, entdeckte endlich die unteren Oktaven und begann nach einer Tonleiter zu suchen. Forson zog sich unauffällig zurück. Auf der Straße draußen kratzte sich einer der Metallschmiede am Kopf und starrte Forson mit unverhohlener Bewunderung an. »Wissen Sie«, sagte er, »so etwas möchte ich für mich auch haben.« In den Tagen danach trieben Tors Bemühungen, das Instrument zu meistern, Forson auf lange Wanderungen, damit er den abrupten, kreischenden Mißtönen entrann. Sie verursachten Gemurmel im ganzen Ort und brachten schließlich die Gouverneure zu Tors Schwelle. Das geheiligte Gesetz der Nichteinmischung schien an jammernden Fanfarenstößen zu zerschellen und Tor mit seinem Instrument in die Berge verbannen zu müssen. Diese Krise wurde vermieden, als Tors erstaunliche Fortschritte seine Kritiker zu begeisterten Bewunderern machten. Seine scharfen, keuchenden Töne wurden weich und lieblich, bildeten sanfte, vielgestaltige Melodienbögen, und Forson, der sich über die mögliche Korruption der Technologie Kurrs durch das Instrument keine Gedanken gemacht hatte, empfand tiefe Besorgnis für die unvermeidlichen Auswirkungen auf die kurranische Musik. Zuerst bemühte sich der Torrilspieler unablässig, die Fanfarentöne in die umgekehrte Fünftonleiter seines Torril zu pressen. Das Instrument weigerte sich jedoch hartnäckig, eine Reihe natürlicher Obertöne
hervorzubringen. Als Tor es jedoch zu beherrschen begann, kämpfte er nicht mehr gegen seine Eigenheiten an, sondern machte sie sich zunutze und erfand eine erstaunlich arteigene Musik für seine Fanfare. Er schrieb sie in einer rätselhaften Notenschrift nieder, die Forson auch dann nicht verstand, wenn er gleichzeitig den Tönen lauschte. Die Metallschmiede bauten Fanfaren für sich selbst, für ihre Nachbarn, für jeden, der sie haben wollte, und bald gab es ein halbes Hundert begeisterter Fanfarenbläser, die aus allen Teilen des Dorfes ohrenbetäubende Töne schmetterten. Die Schmiede konnten der Nachfrage kaum gerecht werden. Die lautstarke Kakophonie drang bis zum Haus des königlichen Beauftragten, der einen seiner seltenen Besuche im Dorf unternahm, um zu erkunden, was sich dort abspielte. Seine ursprüngliche Verwirrung machte dem Widerwillen Platz, als er die Zahl der Bewohner sah, die produktive Arbeit für Fanfarenblasen hingegeben hatte, und schließlich dem Zorn, als ihm einfiel, daß wertvolles Metall für diese Instrumente vergeudet wurde. Forson, der Schwierigkeiten befürchtete, stellte besorgt Erkundigungen an, aber die Ältesten versicherten ihm, das Dorf könne sein Metall verwenden, wie es wolle. Er begann Pläne für eine Fanfarenkapelle zu schmieden. Gemeinsame Musik war den Bewohnern Kurrs fremd, aber das Institut für Kulturforschung mußte in Kauf nehmen, die Tradition hier bis zur Unkenntlichkeit zu verändern. Fast ein Monat verging, bevor das Verschwinden Ann Corys im Ort Aufsehen erregte. Wegen der strikt beachteten Nichteinmischung dauerte es lange, bis man überhaupt bemerkte, daß sie nicht zugegen war. Schließlich besuchte man ihr Quartier, zog Erkundigungen ein und kam endlich zu dem Schluß, daß der letzte weibliche Neuzugang verschwunden war. Das gesamte Dorf machte sich auf die Suche in der nahen Umgebung. Ein Dorfältester erklärte Forson traurig, die meisten Einarmigen seien in der Lage, das Leben in einem Einhand-Dorf zu akzeptieren und mit der Zeit dort sogar glücklich zu werden. Es komme aber auch mal vor, daß der Verlust eines Arms schlimmere Wunden hinterließ, und ein schwaches Wesen sehe dann
im Tod die einzige Heilung. Außerdem bestehe natürlich immer die Möglichkeit, daß die Frau einen Unfall gehabt habe. Forson beteiligte sich gewissenhaft an der Suche. Als man nach mehreren Tagen von der Verschwundenen keine Spur gefunden hatte, kehrten die Gouverneure zu ihren Ratsversammlungen zurück, und das Leben im Dorf ging weiter wie bisher — mit Fanfaren. Unzählige Generationen hindurch waren die Künste in Kurr Monopol der Familien gewesen. Nur der Sohn eines Malers durfte die Malerei erlernen; nur der Sohn eines Musikers konnte Musik studieren. Forson hatte nicht voll begriffen, was eine solche Tradition für ein leidenschaftlich künstlerisches Volk an Entbehrungen bedeuten konnte, und der flammende Eifer, mit dem die Dorfbewohner zu den Fanfaren griffen, erstaunte ihn. Hier war ein neues Instrument, das keiner Familientradition unterlag. Jeder konnte es spielen! Man brauchte nur einen Lehrer, und Tor, ein großer Musiker, gierte nach Schülern. Das gesamte Dorf folgte dem Ruf. Die Arbeit wurde vernachlässigt. Die Schmiede stellten nur noch Fanfaren her. Beim nächsten Abrechnungstag war der Bestand an handwerklichen Erzeugnissen so gering, daß viele Wagen leer abfahren mußten. Der Beauftragte des Königs führte mit den Dorfgouverneuren eine stürmische Besprechung. Diese achtbaren Männer blieben eigensinnig dabei, daß die Dorfbewohner ein Recht auf Unabhängigkeit hatten, aber Forson wurde nachdenklich. »Wir wollen uns nicht den Unwillen des Beauftragten zuziehen«, sagte er zu Tor. »Nur die besten Musiker sollen sich während der Arbeitszeit mit Musik beschäftigen. Die anderen müssen ihren gewohnten Pflichten nachgehen und dürfen erst musizieren, wenn sie damit fertig sind.« »Der Beauftragte hat kein Recht, sich einzumischen, aber wir wollen auch nicht ohne Not seinen Zorn auf uns ziehen«, gab Tor zu. »Ich sorge dafür, daß sich nur die besten Musiker mit Musik beschäftigen.« »Ihre besten Musiker erreichen schon eine erstaunliche Fertigkeit. Was werden Sie mit ihnen anfangen?« »Sie werden weiterhin musizieren. Was sollen sie sonst tun?« »Musik ist da, um gehört zu werden«, sagte Forson. »Wenn Ihre
Bläser genügend Können und Selbstvertrauen besitzen, müssen Sie sie nach Kurra bringen.« Tor erhob entsetzt die rechte Hand. »Das würden wir nie wagen!« »Es ist nicht verboten«, meinte Forson ruhig. »Es gibt kein Gesetz, das uns auf ein Einhand-Dorf beschränkt. Wir sind nur hier, weil wir sonst nirgends arbeiten könnten. Bei den Bläsern wäre das anders. Die Musikliebhaber würden sie willkommen heißen, und ganz Kurr liebt die Musik.« »Niemand würde uns anhören!« »Kann jemand vermeiden, zuzuhören, wenn Musik für ihn gespielt wird? Diese wunderbare neue Musik soll nicht ungehört in einem Einhand-Dorf verhallen. Sie müssen nachKurra gehen!« »Das könnten wir nicht wagen.« »Ihren linken Arm können Sie nicht zweimal verlieren«, sagte Forson. »Nein. Wir können es nicht wagen.« Forson unterschätzte die Gefahren nicht, die den Fanfarenbläsern in Kurra bevorstanden. König Rovva war zu Neuerungen durchaus fähig, wenn sie ihn bei schlechter Laune erwischten. Diejenigen, die bereits einen Arm verloren hatten, mochten leicht auch ihre Köpfe dreingeben müssen. Trotzdem mußte das Risiko eingegangen werden, wenn die Infamie mit den Einarmigen ein Ende finden sollte. Er nahm sich vor, Tor wieder zu bedrängen. Die meisten Musikaspiranten kehrten zu ihren Pflichten zurück. Der Beauftragte des Königs war aber nicht zufrieden. Er wanderte immer wieder durch das Dorf und entdeckte bald, wer für die neue Plage verantwortlich war. Er sprach nie mit Forson, aber Forson begegnete ihm so oft, daß er sich bespitzelt fühlte. Schließlich dämmerte es Forson, daß die Aufmerksamkeit des Beauftragten durch seine Untätigkeit erregt worden war. Andere Bewohner arbeiteten auch nicht, aber sie blieben für sich und stolzierten nicht dort herum, wo sie die Fleißigen verderben konnten. Forson war nicht nur auffällig, sondern mit unerträglicher Begeisterung untätig. Er genoß es, anderen bei der Arbeit zuzuschauen, er störte sie mit Fragen, er lenkte sie mit Arbeiten eigener Erfindung ab und drohte
so, den Gewinn des Beauftragten zu schmälern. Jeden Abend, wenn Forson bei Tor saß, erklärte er dem Musiker: »Musik ist da, um gehört zu werden.« Und Tor erwiderte stets: »Wir können es nicht wagen.« Forson fühlte sich von dem Beauftragten so bedrängt, daß er bei einem Tischler Arbeit nahm, aber am dritten Tag verlor er die Stellung wieder. Er bewunderte die Maserung eines Tisches und geriet mit der rechten Hand in den Weg eines Hobels. Die Wunde war zwar harmlos, aber der Tischler erschrak furchtbar. In einem Einhand-Dorf wollte niemand die Schuld an der Verletzung einer Hand tragen müssen. Forson trug einige Tage lang einen Verband, aber als die Wunde verheilt war, schien der Tischler keine Arbeit mehr für ihn finden zu können. Forson ging zu den Schmieden. Seine Freunde hatten die Nachfrage befriedigen können und stellten keine Fanfaren mehr her, schienen aber auf ein neues Projekt zu warten. Er sah ihnen bei der Arbeit zu und half, wo es ging, damit er beschäftigt erschien, sobald der Beauftragte des Königs auftauchte. Und jeden Abend sprach er mit Tor. »Musik ist da, um gehört zu werden.« »Wir würden es nicht wagen!« Es war später Vormittag. Die Schmiede hatten eben ein paar Schalen angefertigt, und Forson trug sie zum Regal, bevor er auf die Straße hinaustrat, um sich kurz bei Musik zu entspannen und die Ausdauer der Musiker zu bewundern. Man probte bei Tor schon die dritte Stunde. Die Komposition war neu; Tor hatte die Fanfare entdeckt und brillierte mit ihr. Forson fürchtete nicht mehr für die musikalische Tradition Kurrs. Die Fanfare zerstörte sie nicht, sondern eröffnete eine neue Dimension. Die Torrilspieler würden die Fanfarenmusik unbeachtet lassen, davon war Forson überzeugt. Diese neue Musik, die Tor schuf, in einem fremden musikalischen System und für ein fremdartiges Instrument, war ebenso unverwechselbar kurranisch. Eine neue musikalische Tradition entstand, eine Tradition einarmiger Fanfarenbläser. Tor hatte schon einige seiner Musiker zu anderen Einhand-Dörfern geschickt, um dort den Gebrauch der Fanfaren einzuführen. Das paßte in Forsons Pläne, aber mit seiner Behauptung,
Fanfarenmusik müsse allen gehören, wenngleich Fanfarenblasen ein Monopol der Einarmigen sein dürfe, drang er nicht durch. Die Musik verstummte abrupt. Erstaunt ging Forson die Straße hinunter zum Dorfplatz. Der Beauftragte des Königs unterhielt sich dort leise mit den Gouverneuren. In der Nähe stand eine ganze Kompanie königlicher Soldaten. Die Konferenz löste sich schnell auf, und die Dorfältesten eilten durch den Ort, um alle Bewohner zum Dorfplatz zu holen. »Was will er?« fragte Forson einen der Bewohner. »Eine Rede halten«, erwiderte dieser gleichgültig. »Wegen der Arbeitsleistung? Er weiß doch, daß beim nächstenmal alle Wagen vollbeladen sein werden.« »Worum es geht, weiß ich nicht.« Die Bewohner versammelten sich langsam. Forson fand ihre Gleichgültigkeit verwunderlich. Der Beauftragte stand auf einem Karren und starrte grimmig über die wachsende Menge hinweg. Er schwitzte unter der heißen Sonne und zog schließlich sein Übergewand aus. Forson schwitzte ebenfalls, aber er wagte das seine nicht abzulegen. Schließlich gaben die Gouverneure zu verstehen, daß alle Bewohner versammelt seien. »Im Vollmond vor drei Monaten kam eine Frau ins Dorf«, rief der Beauftragte. »Sie kam und verschwand wieder. Kennt sie jemand von euch oder weiß jemand, wohin sie gegangen ist?« Die Menge blieb stumm. »Wir haben die Archive des Königs geprüft und festgestellt, daß seit dem zweiten Monat der alten Ernte keine Frau Bestrafung verdient hat«, fuhr der Beauftragte fort. »Keine Frau hat einen Arm verloren, keine Frau wurde in dieses Dorf geschickt, und doch traf eine Einarmige hier ein. Ihr werdet aufgefordert, zu sprechen, wenn ihr von ihr etwas wißt.« Er machte eine Pause und sah forschend in die Menge. Forsons Gedanken kreisten nur um ein einziges Wort. Archiv. Der Stab hatte nicht gewußt, daß der König über seine Bestrafungen Buch führen ließ.
»Nun gut«, fuhr der Beauftragte fort. »Wir haben die Archive des Königs und die Unterlagen aller Einhand-Dörfer überprüft und dabei festgestellt, daß eines einen Mann beherbergt, der keine Bestrafung verdient hatte. Wenn er hier ist, befehle ich ihm, vorzutreten.« Wieder sah er die Dorfbewohner forschend an. »Also gut«, knurrte er. »Alle, die zwischen den Erntezeiten im Dorf angekommen sind, haben vorzutreten.« Zurückzubleiben wäre Wahnsinn gewesen. Forson ließ sich von den anderen mit nach vorne stoßen. Sie wurden von den Soldaten umringt. »Durchsucht sie!« befahl der Beauftragte. Forson konnte nicht mehr reagieren. Es geschah zu schnell - sein Übergewand wurde heruntergerissen, der Soldat stieß einen überraschten Schrei aus, als der künstliche Armstummel mit abfiel, Forson stand nackt bis zu den Hüften da, man sah seinen gesunden linken Arm. Der Beauftragte sprang vom Wagen und schritt auf ihn zu. Er starrte Forson an, fuhr mit der Hand über seinen rasierten Kopf, starrte ihn wieder an und zog schließlich ein Porträt aus seiner Kleidung. Er verglich Forsons Profil mit seiner Kopie des Ausweisfotos und brummte zufrieden. »Aha!« sagte er. »Sie wollen also in einem Einhand-Dorf leben!« Er warf den Kopf zurück und lachte dröhnend. In seinen Augen funkelte Habgier. Zweifellos war die auf Forsons Kopf ausgesetzte Belohnung beträchtlich. »Sie wollen also in einem Einhand-Dorf leben«, wiederholte er. »Ich verspreche Ihnen, daß der König Ihren Wunsch erfüllen wird - sobald er gewisse Dinge mit Ihnen besprochen hat.« Forson wurde in den Wagen gehoben. Schon begannen sich die Dorfbewohner zu entfernen, aber als sich der Wagen in Bewegung setzte, konnte er einen Blick auffangen. »Tor, Musik ist dazu da, gehört zu werden«, schrie er. Wenige Minuten später lag das Dorf hinter ihnen, und der Karren holperte über den Weg, der aus dem Tal hinausführte. Über dem Knarren glaubte Forson Musik zu hören. Er schaute zum Dorfplatz hinunter und konnte die Sonne auf langen Reihen erhobener Fanfaren blinken sehen. Die Musiker waren zu ihrer Probe zurückgekehrt.
12 Sie zogen bis zur Garnison, wo über dem Wagen hastig ein zeltähnlicher Aufbau errichtet wurde. Forson daß darunter, an Händen und Füßen gefesselt, wie Ann Cory vor ihrer Rettung durch ihn. Er überlegte, daß man ihm Geduld beibringen würde. Die Zeit verging, der Karren rührte sich nicht, und unter der Plane wurde es unerträglich heiß. Der Berater des Königs und der Garnisonskommandeur hatten sich zurückgezogen und stritten heftig miteinander. Schließlich rollte der Wagen an, und das Knarren übertönte ihre Stimmen. Viel später, als Forson eine Ruhepause bewilligt bekam, sah er, daß beide mit finsteren Gesichtern neben der Eskorte hermarschierten. »Kopf hoch!« sagte er. »Vielleicht reicht die Belohnung für beide.« Sie funkelten ihn böse an. Er bat sie, zur Lüftung eine Zeltklappe offenzulassen, aber sie schnürten das Zelt verächtlich zu, und der Wagen holperte und knarrte durch den zur Neige gehenden Nachmittag dahin. Die Nacht brachte Kühlung und Lichtschimmer von der Fackel des vor dem Esg marschierenden Soldaten. Forson ließ sich nach hinten fallen und versuchte sich auszuruhen; daß die holprige Straße und das unablässige Quietschen und Knarren Schlaf nicht erlaubten, wußte er bereits. Gegen Morgen erreichten sie die nächste Garnison, wo er kurze Zeit losgebunden wurde und etwas essen durfte. Die Morgendämmerung kam, eine Flut von Sonnenlicht mit ihr, und immer noch erlaubten sie ihm keine Luftzufuhr. »Warum nicht?« fragte er, bekam aber keine Antwort. Er kannte sie aber. Der König fürchtete den Stab B und vermutete, daß die überall postierten Mitarbeiter aufmerksam werden und für seine Freilassung sorgen würden, wenn er Forson offen nach Kurra bringen ließ. Der König war klüger, als man dachte. Der Stab war von Forsons Sicherheit so überzeugt gewesen, daß er ihn isoliert zurückgelassen hatte. Bis man nun versuchen konnte, wieder Kontakt mit ihm aufzunehmen, würde Jeff Forson weit außer Reichweite jeder Unterstützung sein, die ihm der Stab bieten konnte.
Der Karren holperte und knarrte dahin, Stunde um Stunde, Tag für Tag, und Forson lernte Geduld. Er wußte, wann sie Kurra erreicht hatten, weil sie über Pflastersteine ruckten. Nach einiger Zeit kam der Karren zum Stehen, und in die plötzliche Stille hinein klang das Krachen eines zufallenden Tores. Ein Soldat griff in den Wagen, um Forsons Fesseln zu lösen. Dieser versuchte herauszusteigen, aber seine gefühllosen Gliedmaßen gehorchten ihm nicht. Vor einem Sturz wurde er nur durch das erschrockene Zugreifen des Soldaten bewahrt. Forson unterdrückte ein Lächeln. Für den Augenblick zumindest sorgte sich jemand um sein Wohlbefinden. Flankiert von Soldaten, die ihn stützten, wenn seine Beine einknickten, wurde Forson schnell durch ein Labyrinth von Korridoren und Rampen geführt, wohin niemals Tageslicht drang. In Wandhalter gesteckte Fackeln gaben kümmerliches Licht. In den oberen Bereichen des Schlosses kamen sie vor einer breiten Tür zum Stehen. Ein Trupp Wachen in den Uniformen der königlichen Palastgarde übernahm Forson, durchsuchte ihn gründlich und marschierte mit ihm in den Raum. Der Beauftragte, der Garnisonskommandeur und Forsons Eskorte blieben enttäuscht vor der Tür zurück. Forsons Beine wurden wieder durchblutet. Er konnte mit festem Schritt vorangehen, aber als sie durch den Saal marschiert waren, spürte er niederdrückende Enttäuschung. Während der mühsamen Fahrt hatte er sich nur auf eines gefreut - auf die Konfrontation mit König Rovva, aber der Mann auf der hohen Estrade war nicht der König. Die Wachen verbeugten sich auf komplizierte Weise, linker Fuß vorn, das Knie gebeugt, und als sie sich aufrichteten, wandten sie sich Forson empört zu. »Verbeugt Euch vor dem Minister Eures Königs!« »Er ist nicht der Minister meines Königs«, erwiderte Forson gelassen. Schwerter wurden gezogen; Forson blieb aufrecht stehen. »Setzt ihn hin!« befahl der Minister. Forson wurde an einen Stuhl gefesselt, die Wachen verbeugten sich wieder und zogen sich in die hintere Hälfte des Saales zurück. Was hier
gesprochen wurde, war nicht für die Ohren von Untergebenen bestimmt. Das bedeutete, daß König Rovva seinen Untertanen immer noch vorenthielt, daß es den Stab B gab. Der Minister sah mit steinernem Gesicht auf ihn hinunter. Ein schlanker Mann mit verhärmtem, jung - altem Gesicht, trug er die gewöhnliche Straßenkleidung besserer Bürger Kurrs. Zu tief unter dem Adel, um königliche Roben tragen zu dürfen, aber von so hohem Rang, daß es keine Uniform dafür gab, war er hoch genug gestiegen, um tief fallen zu können, und das schien er zu wissen. »Jeff Forson?« herrschte er ihn an. »Das ist mein Name«, erwiderte Forson. »Wer sind Sie?« »Gasq, Erster Minister des Königs.« »Welche Ehre.« Gasq starrte ihn verblüfft an. »Wirklich?« »Ist eine Audienz beim Ersten Minister des Königs in Kurr keine Ehre?« Gasq zog die Brauen zusammen. »Wo ist Paul Leblanc?« »Ich habe nicht die leiseste Ahnung.« Das Gesicht des Ministers verfinsterte sich. »Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?« So verzweifelt Forsons Lage auch sein mochte, der Komik entbehrte sie nicht. König Rovva hatte monatelang angestrengt nach dem Mann suchen lassen, den er für den gefährlichsten Fremden in Kurr hielt, dabei wußte Forson vom Stab B weniger als jeder IPB-Rekrut. Aus diesem Grunde beschloß Forson, die Wahrheit zu sagen, soweit ihm das vertretbar erschien, bis seine Gegner von seiner Ehrlichkeit so überzeugt schienen, daß er wirksam zu lügen vermochte. »Ich habe Leblanc zuletzt gesehen, bevor ich Kurra verließ — bevor ich mich zu dem Einhand-Dorf begab.« »Wo haben Sie ihn gesehen?« »Ich kenne die Stadt nicht gut genug, um Ihnen das erklären zu können. Es war in einer großen Wohnung im Obergeschoß eines Hauses. Von den Fenstern aus konnte man über die Stadtmauer sehen.« »In welcher Richtung?« Forson tat so, als müsse er nachdenken.
»Das weiß ich nicht«, erklärte er schließlich. »Für mich sieht die Aussicht in allen Richtungen ziemlich gleich aus.« »Könnten Sie dieses Haus wiederfinden?« »Das bezweifle ich. Ich suchte es nachts auf und verließ es, in einem Karren versteckt. Beide Male konnte ich nicht viel sehen, außerdem ist es schon lange her.« »Wo ist Sev Rawner?« »Keine Ahnung.« »Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?« »Gleichzeitig mit Paul Leblanc. Halt!« Gasq beugte sich erwartungsvoll vor. »Ich sah ihn, als ich Kurra verließ, als ich durch die Straßen zum Tor ging. Ich sah ihn aus einiger Entfernung. Er überquerte eine Seitenstraße.« Gasq brauchte einige Sekunden, um seine Enttäuschung zu überwinden. »Wohin ging er?« »Keine Ahnung.« »Wer war die Frau, die Sie im Einhand-Dorf besucht hat?« »Ich kannte Sie unter dem Namen Ann Cory.« »Sie hat auch andere Namen?« »Alle Mitarbeiter vom Stab B haben verschiedene Rollen.« »Wo ist Ann Cory jetzt?« »Das weiß ich nicht.« »Wie viele Mitarbeiter gibt es?« »Ich habe nie eine Liste zu Gesicht bekommen.« »Sie sind Chefkoordinator dieses Planeten und wissen nicht, wie viele Leute für Sie arbeiten?« »Kennen Sie die Pflichten eines Chefkoordinators?« fragte Forson kühl. »Nein.« »Ich auch nicht.« Gasq ging in die Falle. Er ließ das Thema fallen - was hieß, daß Rastadt ihn über Sektorinspizient Jeff Forson von der Kulturforschung ausgiebig unterrichtet hatte. »Was taten Sie in diesem Einhand-Dorf?«
»Ich versteckte mich«, antwortete Forson. »Bis der Stab eine Möglichkeit fand, mich aus Kurr herauszuschaffen.« »Warum hat Ann Cory Sie besucht?« »Um mir zu sagen, daß ich noch länger bleiben mußte.« Es ging weiter. Forson identifizierte bereitwillig die wenigen Mitarbeiter, die er kannte, und beschrieb im einzelnen, was sie getan hatten, als er ihnen begegnet war. Er wußte, daß Rastadt solche Informationen schon geliefert haben mußte, außerdem waren alle in andere Rollen geschlüpft, und sogar ihre Ausweisfotos würden Gasq von geringem Nutzen sein. Schließlich gab Gasq den Wachen einen Wink. Sie banden Forson los, und er stand lässig auf. »Ihre Antworten befriedigen nicht«, erklärte Gasq. »Unter den treuen Dienern des Königs gibt es viele, die große Erfahrung darin besitzen, Gefangene zum Sprechen zu bringen. Beim nächstenmal werden Sie sie kennenlernen.« Als Forson sich umdrehte, entdeckte er hoch oben an der Wand ein Fenster, von dem aus man in den Saal hinabsehen konnte. Dort saß eine rundliche, in üppige Gewänder gehüllte Gestalt - König Rovva. Einen Augenblick lang sahen sie sich an. Forson erwiderte den Blick des Königs offen. Die Wachen vollführten wieder ihre Verbeugung und führten Forson fort. Der Beauftragte und der Garnisonskommandeur standen immer noch vor der Tür. »Sehr schade«, murmelte Forson mit gespielter Betrübtheit. »Sie hätten Ihre Belohnung vor diesem Gespräch kassieren sollen.« Wieder führte man ihn durch das Labyrinth der dunklen Gänge und in sein Quartier. Er hatte ein Verlies erwartet, bekam aber ein Zimmer, das eher einem Ehrengast als einem Gefangenen entsprach, groß, luxuriös eingerichtet, aber dennoch eine Zelle. Die schwere Tür fiel krachend zu, ein Riegel wurde vorgeschoben, und man ließ ihn allein. Die Fensterschlitze des Zimmers gingen auf einen umschlossenen Hof tief unten hinaus. Er untersuchte sie und überzeugte sich schnell davon, daß keine Hungerkur einem Erwachsenen je gestatten würde, auf diesem Weg zu entfliehen. Er wandte sich dem Zick-Zack-Schlitz
in der Tür zu, aber sein Blick begegnete dem eines Bewachers, und weitere Wachen hockten daneben, in der drollig kauernden Haltung, die in Kurr als militärisch galt. Es wurde dunkel. Eine Weile vertrieb sich Forson die Zeit damit, die Wachen bei ihrem Rundgang im Innenhof zu beobachten. Jeder Mann trug eine Fackel; die Lichter marschierten aufeinander zu, machten kehrt, strebten anderen Lichtern zu. Die Paradierordnung schien sehr kompliziert zu sein. Forson streckte sich auf seinem Bett aus und dachte über König Rovva nach. Das war keine Null, die durch Geburtsrecht zur Krone gekommen war. Die Mitarbeiter des Stabes hatten Forson das Bild eines verschlagenen, grausamen, launenhaften egoistischen Mannes gezeichnet, der aber auch einen verfeinerten Instinkt besaß, mit dessen Hilfe jeder böse Trieb vor dem Ausschlag ins Extrem bewahrt wurde, das seine Untertanen gegen ihn aufbringen konnte. Forson sah seinen Charakter anders. Dies war ein alter Mann, und wenn er nicht mit Weisheit gesegnet worden war, dann hatte er sie sich erworben, und nun war er tief verstört. Seine heile Welt war durcheinandergeraten. Er war das schlechte Produkt eines schlechten Systems, aber Forson rief sich in Erinnerung, daß die Kurranier im Grunde anständige Wesen waren - und König Rovva war ein Kurranier. Was er tat, geschah nicht aus angeborener Grausamkeit, sondern als Ausübung eines Rechts, das den Königen von Kurr seit altersher zustand. Bevor der Stab das Volk gegen den König aufbringen konnte, mußte es ihn gegen sich selbst aufbringen. Das Gewissen des Königs zu packen - das war das Problem. Und der Stab hatte es völlig mißverstanden, weil niemand von den Mitarbeitern glaubte, daß der Konig ein Gewissen besaß. Der Insasse des Nachbarzimmers begann zu stöhnen und zu wimmern. Forson trat an die Fensterschlitze und versuchte mit Zischund Flüsterlauten seine Aufmerksamkeit zu erregen, bekam aber keine Antwort. Er kehrte zu seinem Bett zurück. Das Stöhnen und Schluchzen ging weiter, aber die lange Reise hatte Forson erschöpft, so daß er bald einschlief. Es war später Morgen, als er erwachte. Er bekam zu essen, und
danach blieb ihm nichts anderes übrig, als an den Fensterschlitzen zu stehen und die Wachen im Hof zu beobachten. Offenbar sollten die Lektionen in Geduld weitergehen. Das Stöhnen und Jammern im Nebenzimmer begann von neuem. Forson trat an die Tür und rief einem Bewacher zu: »Was ist mit der Person nebenan los?« Der Wachtposten zuckte die Achseln und schwieg. Forson war mit ausgesuchter Höflichkeit behandelt worden, aber seine Wachen sprachen nicht mit ihm. »Ich möchte ein anderes Zimmer«, sagte Forson. »Der Lärm stört mich.« Der Bewacher hob wieder die Schultern, aber einen Augenblick später wurde nebenan an die Tür gepoltert und ein Befehl gebrüllt. Das Schluchzen hörte auf. Später wurde Forson wieder in den Audienzsaal gebracht. Wieder schritt er mit festen Schritten voraus, verbeugte sich aber diesmal mit Grandezza. Gasq starrte ihn an. »Sie verbeugen sich? Warum?« »Euer Exzellenz«, sagte Forson, »ich habe einen Fehler begangen. Die Verbeugung ist bei Ihnen Brauch, und es war unhöflich von mir, ihn nicht zu respektieren. Ein höflicher Besucher hat sich den Sitten seiner Gastgeber anzupassen. Ich bitte für meinen Fehler um Entschuldigung und korrigiere ihn.« Gasq gab zerstreut einen Wink. Forson wurde wieder an einen Stuhl gefesselt, dann zogen sich die Wachen zurück. »Warum verläßt der Stab B nicht unser Land?« fragte Gasq plötzlich. »Warum sollte er?« fragte Forson, zum König gewandt, der regungslos an seinem Beobachtungsfenster saß. »Seine eigenen Vorschriften verlangen es«, erklärte Gasq. »Seine Zentrale hat es befohlen. Warum zieht er nicht ab?« Forson hielt den Blick auf den König gerichtet. »Euer Majestät sind besser informiert als ich. Ich weiß wenig über die Vorschriften des Stabes und nichts über seine Anweisungen.« »Hat die Frau Sie nicht darüber aufgeklärt, als sie Sie im Einhand-
Dorf besuchte?« wollte Gasq wissen. »Nein.« »Sie sind der Chefkoordinator. Sie haben die Macht, dem Stab B zu befehlen, daß er Kurr verläßt.« »Gewiß«, bestätigte Forson. »Warum tun Sie es nicht?« »Ich weiß nicht, wo der Stab ist, und in meiner augenblicklichen Lage muß ich Befehle entgegennehmen, statt sie zu erteilen.« Lächelnd erwiderte er offen den Blick des Königs. Rovva schien überaus verwirrt zu sein. Er hatte zwar den Flüchtling, den er so verzweifelt gesucht hatte, aber er wußte nicht, was er mit ihm anfangen sollte. Ein zweitesmal wog er alles ab und blieb unentschlossen. Gasq stellte noch einmal alle Fragen vom vorigen Tag, Forson gab dieselben Antworten, und schließlich wurde er entlassen. Das unablässige Wimmern seines Nachbarn hielt Forson in dieser Nacht wach, aber er zögerte vor einer neuerlichen Beschwerde. Er mußte immer wieder an Tors Qualen denken. Schließlich glitt er in einen unruhigen Schlaf, aber mitten in der Nacht rissen ihn die Wachen aus dem Bett. König Rovva hatte seine Entscheidung getroffen. Die Wachen zerrten Forson grob aus dem Zimmer. Er ließ sich widerstandslos mitnehmen und stolperte schläfrig dahin. Als sie auf den Korridor hinaustraten, zerriß ein schriller Schrei die Stille. »Forson!« Die Wachen schleppten ihn fort, aber nicht, bevor er Gelegenheit gehabt hatte, zu den Türschlitzen des Nachbarzimmers zu blicken. Ein Gesicht starrte ihm dort entgegen, gespenstisch bleich im flackernden Licht der Kerzen. Sein winselnder Nachbar war Koordinator Rastadt gewesen.
13 Diesmal war es ein Verlies. Aus der alles verhüllenden Dunkelheit drangen Schreie, Stöhnen und ein ekelerregender Geruch. Der Bewacher stieß Forson grob an und ließ eine Strickleiter in eine riesige, kreisrunde Grube. Von einer Lanze bedroht, begann Forson gehorsam hinunterzusteigen. Er hangelte sich Hand für Hand hinunter, bis er nach wenigen Metern von der untersten Sprosse baumelte. Gerade als er sich auf einen tiefen Sturz gefaßt machte, berührten seine Füße den Boden. Die Leiter wurde hochgezerrt, und Forson stand in undurchdringlicher Dunkelheit. Er schaute nach oben, und der Atem stockte ihm. Die hohe Decke wurde von gewaltigen Säulen getragen, die sich wie die Außenwände der Häuser bogen. Säulen, Wände, Decke - überall, wo das Licht von den Fackeln der Wachen aufgefangen wurde, schimmerte ein grandioses Farbenspiel. Nicht in den wildesten Träumen hätte er sich ein Verlies wie dieses vorstellen können. Die grenzenlose Schönheit überwältigte ihn. In unregelmäßigen Abständen schlenderten Wachen vorbei, und das Licht ihrer Fackeln erhellte kurz die Grube. Forson konnte andere Gefangene auf feuchten, modrigen Strohhaufen ausmachen. Winzige, bösartig aussehende Nagetiere liefen ungestört umher, und ihre großen, glühenden Augen leuchteten rot auf, sobald sie das Licht traf. Forson sammelte loses Stroh, ballte es zusammen und setzte sich bedrückt darauf, um seine stinkende Umgebung zu betrachten. Er wollte über Rastadt nachdenken, konnte sich aber nicht konzentrieren. Das unaufhörliche Stöhnen und Weinen der Gefangenen wurde nur von plötzlichen Schreien und dem entnervenden, zitternden Klagen der an den Nachwirkungen von Folterungen Leidenden übertönt. Die Nagetiere liefen über Forsons Füße. Sooft er unbedacht durch die Nase atmete, verursachte ihm der unbeschreibliche Gestank Übelkeit. Rastadts bleiches, flehendes Gesicht verfolgte ihn. Offenbar hatte die Uneinigkeit zwischen Bösewichtern ihn in die Hand des Königs gebracht. Stab B mußte verständigt werden. Wenn Rastadt den Stütz-
punkt nicht mehr in seiner Hand hatte, galt es, eine neue Strategie zu entwickeln. Und Rastadt Er konnte sich nicht konzentrieren. Er konnte auch nicht schlafen. Aus der Grubenwand drang Wasser; das Stroh war so feucht, daß es seine Kleidung durchnäßte, wo er es berührte. Er raffle sich auf und ging in engem Kreis um seinen Strohhaufen herum. Er sprach einen vorbeigehenden Bewacher an, aber die einzige Reaktion war ein Lanzenstoß, der ihn an der Schulter verwundete. Sobald ein Nachbar aus seinem Alptraum hochschreckte, versuchte Forson mit ihm zu reden, aber augenblicklich war ein Bewacher zur Stelle und begoß sie mit Abwasser. Die Morgendämmerung brachte schließlich Lichtsäulen, die durch Schlitze hoch oben an der Wand herabfielen. Die Wirkung war atemberaubend. Wände und Decke waren mit einem eigenartigen, kristallinen Stein bedeckt, der das Licht in Myriaden von Farbtönen brach. Nicht einmal ein Volk, das von der Schönheit so besessen war wie dieses, würde soviel davon an ein Verlies verschwenden. Vielleicht war hier einmal das königliche Schwimmbad gewesen, ein Raum mit glitzernden Schwimmbecken, in denen sich der König mit seinem Harem vergnügte.Jetzt waren die Becken stinkende Gruben, und wenige Augen sahen die Schönheit über ihnen. Die Gefangenen kehrten widerwillig aus ihren quälenden Träumen in die furchtbare Wirklichkeit zurück. Ein Wachtposten kam vorbei und kippte Nahrung in die Grube. Forson beobachtete entsetzt, wie Gefangene und Nagetiere sich darauf stürzten. Der Wachhabende, ein gutaussehender, weibisch wirkender Mann mit den graziösen Bewegungen eines Ballettänzers erschien zur Mittagszeit, um die Gefangenen zu verspotten. Er blieb stehen und grinste auf Forson herunter. »Schon wieder einer, der den Mund nicht aufmachen will.« »Ich bin einer, der nichts zu sagen hat«, erwiderte Forson. »Du wirst genug plaudern, wenn du an die Reihe kommst. Hast du den schwarzen Kasten schon kennengelernt?« »Das Vergnügen hatte ich, glaube ich, noch nicht.« Der Wachhabende lachte schrill.
»Vergnügen? Der schwarze Kasten wird dir schon Vergnügen machen, wenn du es so nennen willst. Zuerst reißt er dir die Nägel aus der linken Hand - jeden Tag einen, damit das Vergnügen länger dauert. Wenn du immer noch nichts zu sagen hast, macht er sich über deine Finger her — aber immer nur ein Glied. Der Kasten hat es nicht eilig. Er arbeitet nicht schnell und schneidet vor allem nicht. Er zieht nur heraus - Fingernägel, Fingergelenke, Hand, Unterarm. Er ist auch vielseitig. Wenn du dann immer noch nicht sprichst, kann er mit deinem rechten Arm dasselbe tun - aber dann stünden wir vor einem Problem. Darf jemand, dem beide Arme fehlen, noch in einem Einhand-Dorf wohnen? Ich kann das nicht entscheiden, habe mir die Frage aber oft vorgelegt. Zum Glück kommt es selten vor. Nach ein paar Fingergliedern sind die meisten überzeugt. Sie erzählen gerne, was sie wissen, damit die Sache mit einem Schwert schnell beendet wird. Hör auf meinen Rat. Je früher du auspackst und dich auf den Weg zu einem Einhand-Dorf machst, desto besser ist es für dich.« »Das bezweifle ich«, sagte Forson. »Ich komme nämlich gerade aus einem Einhand-Dorf, wissen Sie.« Der Wachhabende starrte ihn sprachlos an und sah mehrmals von einer Hand Forsons zur anderen. Er stapfte davon. Einen Augenblick später kam ein Bewacher und leerte einen Kübel mit Schmutzwasser genau über Forson aus. Dann begannen sie die Gefangenen abzuholen. Während des ganzen schrecklichen Tages schleppte man die armseligen Gestalten der Reihe nach fort. Sie kamen bewußtlos oder krampfhaft schluchzend zurück, während das Blut unter den Lumpen hervordrang, die ihre verunstalteten linken Hände einhüllten. Als die Dunkelheit den Grausamkeiten schließlich ein Ende machte, überließ sich Forson nervöser Erschöpfung und schlief ein paar Stunden lang. Am Morgen des zweiten Tages holten die Wachen ihn. Er fühlte nicht so sehr Angst als Empörung. In jedem Volk gab es moralisch Verkrüppelte, die sich einen Beruf wählten, der Befriedigung ihrer sadistischen Triebe versprach. Die Verliesbewacher und die
gefühllosen Leute, die den >schwarzen Kasten< bedienten, waren vielleicht nur der Abschaum einer sonst völlig gesunden Gesellschaft. Oder auch mehr, und in diesem Fall war Forsons Hoffnung, das Gewissen des Königs wachzurütteln, eine naive Illusion. In einem Raum neben dem Verlies überschütteten die Wachen Forson mit frischem Wasser und warfen ihm andere Kleidung zu. »Seid ihr zu penibel, euch mit einem schmutzigen Gefangenen abzugeben?« fragte Forson. Er zog sich um. Man trieb ihn in den Hof hinaus, fesselte ihn an Händen und Füßen und hob ihn in einen geschlossenen Wagen, der sofort losfuhr und durch die Straßen von Kurra holperte. Sie rollten durch ein Stadttor, knarrten eine Weile auf einer Landstraße dahin und hielten. Nach einer endlosen Wartezeit wurde die Plane entfernt, der Karren gedreht, und Forson fuhr durch das Tor zurück in die Stadt. Allen Blicken preisgegeben. Zunächst war Forson völlig verblüfft, aber er fand die Erklärung bald. Es war eine Falle. Bevor der >schwarze Kasten< des Königs Forsons linken Arm Stück für Stück abriß, so daß man ihn der Öffentlichkeit nicht mehr vorführen konnte, wurde er als Köder benutzt. Wenn er derart langsam durch die Straßen gezogen wurde, scheinbar ohne Bewachung, mußte ihn jemand vom Stab B sehen, einen Rettungsversuch unternehmen - und die Ruffs des Königs brauchten nur zuzugreifen. Sie waren überall, in Zivil gekleidet, zwischen den Passanten, sahen aus Fenstern, standen an wichtigen Kreuzungen. Er konnte sie nicht erkennen, wußte aber, daß sie da waren. Seine sichtbare Eskorte bestand nur aus vier Mann in den Uniformen der königlichen Stallknechte, aber die Fußgänger, die so auffällig mit dem Wagen Schritt hielten, mußten Ruffs sein, und direkt davor und dahinter fuhren Karren, unter deren Planen sich zweifellos Passagiere verbargen. Sie rollten durch schmale Nebenstraßen, die leicht blockiert werden konnten. Vor ihnen hielten die Ruffs den Weg für den Karren frei. Forson saß unbeweglich auf seinem Platz, schwitzend, kraftlos vor
Besorgnis und Zorn, suchte die überfüllten Straßen nach bekannten Gesichtern ab und hoffte verzweifelt, sie nicht zu finden. Ein schlanker Händler hob gleichgültig den Kopf und sah dem Karren nach. Joe Sornel, der ehemalige Schenk? Forson wandte sich schnell ab. Ein stämmiger Passant starrte Forson einen Augenblick an und verschwand dann eilig um eine Ecke. Hance Ultman? Forson versuchte sein Gesicht in dem wallenden Umhang zu verstecken, der seine Fesseln verbarg. Nichts geschah. Sie drangen in die Innenstadt vor, langsam, zögernd. Ein Stallknecht führte das Esg. Forson entdeckte einen Bürger, der ein Haus betrat. Er sah aus wie Leblanc. In diesen schlimmen Zeiten durfte Leblanc nicht wie Leblanc aussehen, aber bei diesem Mann war es der Fall gewesen. Ein gebückter, alter Mann schlurfte vor ihnen auf die Straße, sah sich unter der Nase des Esg und humpelte erschrocken davon. Sev Rawner ohne den grauen Star? Und die Frau, die sich aus einem Fenster beugte, um einem Nachbarn etwas zuzurufen — besaß sie Ann Corys Nase? Überall sah er seine Mitarbeiter. Sie bogen um eine Ecke, und weit voraus öffnete sich die schmale Straße auf den riesigen Platz vor dem Schloß. Der Stallknecht, der das Esg führte, hatte zu gute Arbeit geleistet; sie blieben hinter dem vorausfahrenden Wagen zurück, und plötzlich schob sich ein Karren aus einem Hof und versperrte ihnen den Weg. Ein Stallknecht sprang mit wütendem Schrei darauf zu, und Forsons Wagen kam zum Stehen. Forson drehte sich seitwärts, stieß sich mit den Füßen ab und fiel aus dem Wagen. Er fiel auf einen Stallknecht, der ihn verzweifelt umklammerte. Die anderen Stallknechte eilten herzu, und aus allen Richtungen stürzten Ruffs herbei. Der Stallknecht hielt Forson eisern umfaßt, als gelte es sein Leben. Vermutlich stand es wirklich auf dem Spiel. Die Ruffs schoben hierhin und dorthin; der Karrenführer versuchte zurückzufahren und fand den Weg auch hier blockiert. Die Ruffs befahlen ihm, umzukehren, befahlen ihm, vorwärts zu fahren. Er hob verwirrt die Hände. Sie packten ihn und schleppten ihn fort. Forson wurde unsanft in den Karren zurückgeworfen, wo sich zwei Stallknechte auf ihn setzten. Zum erstenmal wagte er aufzuatmen. Er
hatte niemanden vom Stab B gesehen, und die Falle des Königs war nicht zugeschnappt. Der Wagen setzte sich wieder in Bewegung, aber Forson mußte flach am Boden liegenbleiben, bis sie den Platz überquert hatten und das Schloßportal hinter ihnen zugefallen war. Im Schloßhof standen Soldaten in Reih und Glied. Man führte Forson sofort zu Gasq. Der König an seinem Fenster schien seit der letzten Begegnung gealtert zu sein. Auch Gasq machte diesen Eindruck. Er ließ Forson keine Zeit, sich zu verbeugen, bevor er hervorstieß: »Warum haben Sie sich aus dem Wagen fallen lassen?« Forson hob die Schultern. »Ich hatte eine lange Fahrt hinter mir, zur Hälfte in einem stickigen Wagen, und seit drei Tagen hatte ich nichts zu essen. Mir war schwindlig. Vielleicht bin ich ohnmächtig geworden.« Der König war eine vielschichtigere Persönlichkeit, als er oder seine Mitarbeiter vermutet hatten, dachte Forson. Dieser Mißerfolg eines sorgfältig entworfenen Plans hätte die gleiche Wut hervorrufen können, die Tor getroffen hatte, aber das war nicht der Fall. Statt dessen schien er gelassen zu reagieren und andere Pläne vorzubereiten. »Haben Sie jemanden vom Stab B gesehen?« fragte Gasq. »Ich glaubte es«, erwiderte Forson, den König beobachtend. »Sie glaubten es?« Forson lächelte. »Ich weiß nämlich nicht, wie die Mitarbeiter vom Stab B aussehen, verstehen Sie.« Gasq riß die Augen auf. »Sie wissen nicht -« »Ich weiß, wie sie aussahen, als ich zuletzt in Kurra war, aber sie haben sich äußerlich verändert. Darin sind sie sehr begabt.« »Aber Sie glaubten, einige von ihnen gesehen zu haben?« »Ich sah zwei Männer, die Mitarbeitern des Stabes ähnlich sahen, denen ich begegnet bin, aber das war sicherlich nur ein Zufall. In meiner Verfassung habe ich vielleicht nicht einmal deutlich sehen können. Wie gesagt, habe ich seit drei Tagen nichts zu essen bekommen. Außerdem werden die wenigen Mitglieder des Stabes, die ich kannte, wenn sie es nicht schon längst getan haben, dann wenigstens jetzt ihr Aussehen verändert haben. Als Sie mich durch die
Straßen fuhren, haben Sie dem Stab B gezeigt, daß ich ein Gefangener bin. Jeder, der Kontakt mit mir gehabt hat, wird in eine andere Rolle schlüpfen. Jeder Ort, wo ich sie getroffen habe, wird aufgegeben werden. Das war ein schwerer Fehler von Ihnen, mich so durch die Stadt zu führen. Jetzt kann ich Ihnen nicht mehr nützlich sein.« Offensichtlich ging der Fehler, wenn es einer war, zu Gasqs Lasten, und er kannte das Schicksal von Ministern, die bei Fehlern ertappt wurden, sehr gut. Sein Gesicht wurde bleich. »Ich werde Sie schon dazu bringen, nützlich zu sein!« fuhr er Forson an. Als er den Wachen einen Wink gab, tönte die Stimme des Königs herunter, hallend und verzerrt. »Warum hat er seit drei Tagen nichts mehr gegessen?« Gasq machte ein entsetztes Gesicht und schwieg. »Bringt Nahrung«, befahl der König. Diener eilten in den Saal und deckten für Forson einen Tisch. Dann trat eine Verzögerung ein; der plötzliche Befehl hatte die Küche überrascht. Der König verließ sein Fenster, und als die Diener schließlich das Essen brachten, folgte er ihnen in den Saal und blieb am Tisch stehen, während jeder Diener sich tief verbeugte und sein Tablett zur Begutachtung vorwies. »Setzen Sie sich und essen Sie«, sagte der König zu Forson. Forson verbeugte sich und nahm Platz. Der König verbannte Gasq mit einer Handbewegung ans andere Ende des Saales und setzte sich gelassen Forson gegenüber. Forson probierte verlegen ein rundes Stück Brot, entdeckte dabei, daß er so hungrig war, wie er behauptet hatte, und begann zu essen. Immer neue Schüsseln wurden gebracht. Eine Festmahlzeit begann. Erst als Forson seinen Hunger völlig gestillt hatte, ergriff der König das Wort. »Sie sagten, Sie wollten Kurr verlassen«, sagte er leise, beinahe im Verschwörerton. »Würden Sie das in meiner Lage nicht wollen?« »Sie können fort, wenn Sie den Stab B mitnehmen«, erklärte der König. »Der Stab ist über ganz Kurr verstreut«, meinte Forson. »Ich habe
keine Ahnung, wie ich mich mit den Leuten in Verbindung setzen könnte.« »Könnten Sie es, wenn Sie frei wären?« »Nein. Aber wenn ich wirklich frei wäre, würde sich der Stab vielleicht mit mir in Verbindung setzen.« »Und - dann würden Sie fortgehen und den Stab B mitnehmen?« Forson zögerte. Er fürchtete, daß man eine Lüge nicht glauben würde, während die Wahrheit zerstören mußte, was er an Fortschritten erzielt hatte. »Ich frage mich, ob der Stab meinen Befehl, Kurr zu verlassen, befolgen würde«, sagte er, als der König eine ungeduldige Bewegung machte. »Der Stab B hat in Kurr eine eigene Mission, die auf einem Eid beruht. Kennen Sie sie?« Der König schwieg. »Es wäre schwierig, sie zu Ihrer Zufriedenheit zu erläutern«, fuhr Forson fort, »aber Sie könnten sie wesentlich leichter verstehen, wenn Sie sich zu einer ganz bestimmten Handlung entschließen könnten.« »Was wäre das?« »Verbringen Sie einige Tage in Ihrem Verlies als Gefangener.« Der Wutanfall, den Forson befürchtet hatte, blieb aus. Der König betrachtete Chefkoordinator Forson offenbar als Rätsel, das er lösen wollte, nicht als Gefangenen, der bestraft werden mußte. Er legte den Kopf etwas auf die Seite und betrachtete Forson mit einem Ausdruck tiefer Verstörtheit. Plötzlich sprang er auf und starrte zu den Fensterschlitzen hinüber. Hinter Forson ließ ein Diener ein Tablett fallen, ohne daß irgend jemand darauf geachtet hätte. Die Wachen ließen ihre Waffen sinken, drehten die Köpfe, starrten mit offenen Mündern. Am fernen Ende des Saales verzichtete Gasq auf seine wütenden Blicke in Forsons Richtung und hastete verwundert zum nächstbesten Fensterschlitz. Über die Stadt hinweg schwebte laut und hell der Klang von Fanfaren, tausend hallende Echos weckend.
14 Stundenlang tönte die Fanfarenmusik über die Dächer Kurras, aber in dem Raum, wohin man Forson hastig gebracht hatte, als König Rovva ihn mit abwesender Geste aus Gegenwart und Denken verbannt hatte, war sie nur undeutlich zu hören. Die Fensterschlitze erlaubten Einblick in denselben Innenhof, den er von seinem ersten Zimmer im Schloß aus gesehen hatte, aber von höherer Warte aus. Immer noch standen dort Soldaten in Reih und Glied, offenbar, um einen Befreiungsversuch zugunsten Forsons vereiteln zu können. Der König hatte sie vergessen, obwohl seine Falle noch aufgestellt und mit einem Köder versehen war. Tors Fanfarenbläser hatten von ihrer Ausdauer nichts eingebüßt. Sie spielten bis in den späten Nachmittag hinein, und erst lange nach dem Verstummen der Musik kehrte wieder normales Leben im Schloß ein, hörte man in den Korridoren das gewohnte Kommen und Gehen, fuhren beladene Wagen in den Hof, wurden die Soldaten weggeschickt, erinnerte sich schließlich jemand an Forson und brachte ihm zu essen. Es wurde dunkel. Forson beobachtete die wandernden Fackeln, bis ihn Langeweile und Erschöpfung von den schlaflosen Nächten im Verlies und dem langen, spannungsgeladenen Tag ins Bett trieben. Er wurde von einer drängenden Hand und einer geflüsterten Frage geweckt. »Chefkoordinator?« Er brummte schläfrig. »Kommen Sie! Schnell!« Er zuckte hoch. Seine Tür stand offen und ließ das Licht einer im Wandhalter steckenden Kerze hereindringen. Die über sein Bett gebeugte Gestalt warf einen riesigen Schatten. »Wer sind Sie?« flüsterte Forson. »Ultman. Konnten Sie lange nicht finden, sind spät dran, los.« Er zischte in ein Funkgerät: »Ich habe ihn, weg hier.« Dann setzte er sich in Bewegung. Forson raffte sich auf und eilte ihm nach. Auf dem Boden des Korridors lagen zwei bewußtlose Wachen.
Forson betrachtete sie mitfühlend, als er über sie hinwegstieg. Vor Morgengrauen würden sie im Verlies sein und einer Begegnung mit dem >schwarzen Kasten< entgegensehen. Ultman hastete den düsteren Korridor entlang, und Forson mußte laufen, um Schritt zu halten. An der ersten Kreuzung stießen sie auf drei weitere Wachen, die am Boden lagen. »Wir müssen uns beeilen«, keuchte Ultman. »Die Ladung war nur schwach.« Sie erreichten eine nach unten führende Rampe und rannten hinunter. Ultman blieb plötzlich stehen, winkte Forson an die dunkle Wand und trat vor, um um eine Ecke zu lugen. Er trug eine Uniform, die Forson nicht kannte, mit einer Kapuze, die sein Gesicht halb verbarg, und sein Gesicht Forson starrte ihn an, starrte ein altes, runzliges Gesicht mit entstellenden Schwellungen an. »Sieht ganz gut aus«, murmelte Ultman. »Ich hätte Ihnen gerne einen Mantel mitgebracht, konnte es aber nicht riskieren. Die Wachen sind heute zu argwöhnisch. Wir müssen es wagen. Los.« Forson rührte sich nicht. »Der Koordinator«, sagte er. »Was ist mit ihm?« »Ich glaube, daß er in diesem Stockwerk ist.« »Mit ihm geben wir uns später ab. Kommen Sie.« »Er ist Gefangener!« »Rastadt?« Forson nickte. »Zuerst war ich in diesem Stockwerk. Ich glaube es jedenfalls. Rastadt war im Nebenzimmer.« »Das ist etwas anderes.« Ultman schob seine Kapuze zurück und fuhr sich durch die Haare. »Versuchen muß ich es wohl. Ab morgen kommt monatelang niemand heraus oder hinein. Kommen Sie.« Sie gingen nebeneinander zurück. An der ersten Biegung blieb Ultman stehen und sah sich nachdenklich um. »Wissen Sie, wie wir ihn finden können?« Forson schüttelte den Kopf. »Für mich sehen diese Korridore alle gleich aus. Ich weiß nur, daß
man auf den Hof hinaussehen konnte.« »Auf welchen Hof?« »Ich wußte nicht, daß es mehr als einen gibt.« »Es gibt vier. Ich mache das besser alleine.« Er öffnete vorsichtig eine Tür und schaute hinein. »Vorratsraum. Warten Sie hier. Wenn ich nicht wiederkomme, nehmen Sie das.« Er gab Forson ein zusammengerolltes Seil. »Sie müssen sich dann allein durchschlagen. Versuchen Sie ein größeres Fenster zu finden, das an der Außenseite ist. Wenn Sie es bis zum Boden schaffen, erwartet Sie Hilfe.« Die Tür schloß sich, und Forson blieb in der Dunkelheit zurück. Eine Ewigkeit schien zu vergehen; nervös begann er das Seil zu betasten. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. »Schnell!« zischte Ultman. Rastadt wankte den Korridor entlang, leise stöhnend, die ausgezehrte Gestalt von einem schwarzen Mantel umhüllt. »Vielleicht können Sie ihn zum Schweigen bringen«, flüsterte Ultman gereizt. Forson ging Rastadt entgegen, legte den Arm um ihn, versuchte, ihn zu schnellerem Gehen zu bewegen. Ultman eilte voraus, sicherte den Weg und kam von Zeit zu Zeit zurück, um vergeblich größeres Tempo und mehr Ruhe zu verlangen. Rastadt wankte mühsam dahin und war auch nicht von seinem Stöhnen abzubringen, das neugierige Wachen wie ein Magnet anzog. Sie kamen nur stockend vorwärts. Ultman zog immer wieder eine seltsame, zischende Waffe und hinterließ auf ihrem Weg eine Reihe von bewußtlosen Wachen. Rastadts geschwächte Beine versagten vollends. Forson stützte ihn, so gut er konnte, und trieb ihn vorwärts, aber schließlich weigerte sich der Koordinator, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Er lag schlaff in Forsons Armen, das Gesicht tränennaß, und schluchzte: »Geht fort. Laßt mich allein.« »Wir sind fast da«, zischte Ultman. Er drehte sich um, schlug Rastadt ins Gesicht und knurrte: »Weiter!« Der Koordinator taumelte vorwärts. Sie bogen um eine Ecke; Ultman schickte wieder eine Wache zu Boden und begann leise zu fluchen, als der Mann sich am Boden wälzte und aufzustehen versuchte. »Ladung verbraucht«, erklärte er und schlug dem Wachtposten den Kolben der Waffe an die Schläfe, bevor er eine Tür aufriß.
»Wenn draußen jetzt nicht alles im Eimer ist —« Forson drängte Rastadt in den Raum und schloß die Tür. Ultman war an ein schmales Fenster geeilt. Er ließ ein Licht aufblitzen; aus der Dunkelheit drang Lichtschein herauf. »Das Seil!« zischte Ultman. »Wir müssen uns hinuntergleiten lassen.« Er warf es hinunter, befestigte es am Fenster und wandte sich Rastadt zu. »Sie zuerst, Koordinator. Glauben Sie, daß Sie es schaffen?« Rastadt gab einen ächzenden Laut von sich. »Ich kann nicht!« Ultman richtete das Licht auf ihn. Rastadt schob seinen Mantel beiseite und hob beide Arme. Er hatte keine Hände mehr. Wortlos ergriff Forson das Seil und knüpfte es um Rastadts Brust, unter den Armen. Gemeinsam ließen sie den Koordinator hinuntergleiten. Wenn man seine frühere Beleibtheit bedachte, wirkte er erstaunlich leicht, aber das Seil war dünn und verbrannte ihnen die Handflächen, so oft es durchrutschte. Endlich erschlaffte es. Ultman stieß Forson an, der durch das Fenster kletterte. Das Seil glühte an seinen Händen, als er hinabsauste, mit den Beinen mühsam abbremsend. Er prallte so stark am Boden auf, daß er hinfiel; Ultman kam unmittelbar hinterher und stürzte auf ihn. Eifrige Hände hoben sie auf, und Ultman vollführte mit dem Seil einen Zaubertrick, riß es los und rollte es zusammen, während sie davoneilten. Hoch über ihnen wurde es an allen Fenstern hell. Die Jagd begann. Rastadt war schon weggetragen worden. Eine sichere Hand leitete Forson durch die Nacht, um die leblosen Gestalten der Wachen herum. Sie überquerten den riesigen Platz und überholten die Leute, die den Koordinator trugen, und erreichten eine Reihe von Gebäuden auf der gegenüberliegenden Seite. Eine Tür öffnete und schloß sich lautlos. Jemand schob Forson in ein erhelltes Zimmer und schlug ihm begeistert auf die Schulter. Die Stimme gehörte Joe Sornel, dem früheren Schenk; das häßliche Gesicht war unkenntlich, aber jedes Gesicht, zu dem diese Stimme gehörte, war für Forson ein Ausdruck überirdischer Schönheit.
»Wir haben es geschafft!« triumphierte Joe. »Ultmans Waffe ist genau das Richtige«, meinte Forson. Joe nickte. »Eine Betäubungspistole. Wir benützen sie nicht gerne, aber das war wohl ein Notfall.« »Sie haben gar keine Ahnung, was für ein Notfall!« »Wollen wir wetten?« fragte Joe grimmig. »Was, zum Teufel, ist schiefgegangen? Wir dachten, Sie verbringen einen ruhigen, angenehmen Urlaub, und plötzlich platzt Hance mit der Nachricht herein, daß Sie dem König in die Hände gefallen sind.« Forson sank auf einen Stuhl und ließ sich einen Becher Cril geben. Als er zu Atem gekommen war und den Becher geleert hatte, beschrieb er den durch Anns Verschwinden verursachten Aufruhr. Joe hob betroffen die Hände. »Weiber! Sie sollte bei Ihnen bleiben und Ihnen beim Ausarbeiten der Pläne helfen. Stattdessen kommt sie zurück, erklärt, daß Sie keinen Plan haben und nie einen haben werden. Sie wollten nur auf den Wiesen herumstrolchen und an den hübschen Blumen riechen. So ein Quatsch! Aber vielleicht war es doch ganz gut. Wir haben Rastadt!« »Wo ist er?« fragte Forson. »Sie haben ihn durch den Tunnel hinausgebracht. Es geht ihm schlecht, und da er getragen werden muß, hielten wir es für das beste, ihn so weit wie möglich fortzuschaffen, bevor die Ruffs auftauchen. Wir können uns ja verkrümeln, wenn es sein muß.« »Ist Leblanc in der Nähe?« »Er hat Rastadt begleitet. Du meine Güte - für die Hände müssen wir etwas tun. Haben Sie auf dem ganzen Weg hierher so geblutet? Lon, der Chefkoordinator hat eine Blutspur hinterlassen!« Lon eilte davon, um nachzusehen. Joe bestrich Forsons Hände mit kühlender Salbe und verband sie, dann lehnte er sich grinsend zurück und fragte: »Was ist mit den Fanfaren?« »Hat Ann nichts davon erzählt?« »Nein. Wir wußten überhaupt nichts, bis gestern Nachmittag auf dem südlichen Markt ein Haufen Einarmiger aufmarschierte. Alle Leute verdrückten sich, aber sie kamen sofort wieder, als sie zu spielen anfingen. Was bezwecken Sie damit?«
Forson betrachtete nachdenklich und schweigend seine bandagierten Hände. »Wir waren viel zu beschäftigt, Sie herauszuholen, um über die Fanfarenbläser nachdenken zu können, aber, wie ich zu Paul sagte, als sie zu spielen anfingen, wenn man Fanfaren braucht, um Kurr eine Demokratie zu geben, wundert mich nicht, daß das IPB-Amt hier keine Fortschritte gemacht hat. Es würde viertausend Jahre dauern, bis von den IPB-Leuten einer an Fanfaren denkt. Hast du etwas gefunden, Lon?« »Nein«, sagte der andere IPB-Mitarbeiter. »Viel kann er nicht geblutet haben. Aber sie kommen mit Fackeln. In alle Richtungen schwärmen sie aus. Sie werden jedes Haus durchsuchen.« Joe schnitt eine Grimasse. »Sie warten nicht, bis es hell wird. Nehmen Sie Ihren Becher mit, Chefkoordinator. Lon möchte nicht, daß die Ruffs etwas von einem Besucher merken. Sie können ihn im Tunnel lassen Viel Glück, Lon. Bis morgen - vielleicht.« Er führte Forson zum Tunnel hinunter. Sie folgten einer verwirrenden Route, die Forson an die Nacht vor der Katastrophe erinnerte. Als er aus dem fünften Tunnel auftauchte, sagte er staunend: »Haben sie den Koordinator hier überall hindurchgeschleppt?« »Hilfe gab es genug«, antwortete Joe. »Wir haben auch Abkürzungen, aber mit dem Koordinator konnten sie die natürlich nicht benützen. Die Ruffs werden heute alle Rekorde brechen. Sie müssen auch den Straßen fernbleiben, bis Ihre Hände wieder heil sind.« »Und meine Haare gewachsen sind?« meinte Forson. »Dafür genügt eine Perücke. Sie können sich unter hundert Frisuren etwas aussuchen.« Leblanc erwartete sie an ihrem Ziel, einem weiteren Tiefkeller mit verstecktem Zugang. Der Kommandeur des Stabes war nicht länger ein älterer Gutsbesitzer. Er hatte dichteres, dunkleres Haar, trug die Kleidung eines einfachen Arbeiters und genau den passenden Gesichtsausdruck dazu. Er ergriff geistesabwesend Forsons verbundene Hände, entschuldigte sich erschrocken und untersuchte sie besorgt.
»Es ist eine Freude, Sie zu sehen«, sagte er. »Wir haben einen schweren Fehler gemacht und uns ernsthaft verrechnet. Ich bin froh, daß es nicht schlimmer ausgegangen ist.« »Wie geht es dem Koordinator?« fragte Forson. »Schlecht. Er ist seelisch und körperlich schwer krank.« Er seufzte. »So etwas kommt vor. Ich weiß, daß ich in diesem Fall nicht verantwortlich bin, aber ich denke immer daran, wie leicht es zu verhüten gewesen wäre. Er möchte Sie sprechen. Angenehm wird es nicht sein. Fühlen Sie sich dem gewachsen?« Forson nickte. Leblanc Öffnete eine Tür und trat zur Seite. Forson ging auf den Strohsack zu, auf dem der Koordinator lag. Lange Zeit nahm ihn Rastadt nicht wahr. Schließlich drehte er den Kopf zur Seite und begegnete Forsons Blick. »Danke«, sagte er und brach in Tränen aus. Leblanc zog Forson mit hinaus. Im Nebenraum drückte er ihn auf einen Stuhl, füllte eine Schale mit Wein für ihn und sagte ernst: »Wir haben einen ungeheuerlichen Fehler gemacht.« »In welcher Beziehung?« erkundigte sich Forson. »Rastadt war Gefangener, seit Sie mit ihm in Kurr gelandet sind.« »Sie meinen - der Hinterhalt an der Küste -« Leblanc nickte. »Er wurde gefangengenommen, insgeheim nach Kurra gebracht und seitdem streng bewacht. Man hat ihn gefoltert. Auf entsetzliche Weise.« »Aber Sie bekamen doch eine Nachricht von ihm, nachdem -« Forson richtete sich plötzlich auf und verschüttete Wein. »Wheeler!« »Ja. Wheeler, verdammt soll er sein. Er war es, der Ihnen die falsche Sprache gegeben, Sie beide in larnorische Kostüme gekleidet, einen Landeplatz ausgesucht hat, wo der Stab B die geringste Möglichkeit hatte, einzugreifen — und der die Leute des Königs von Ihrem Kommen verständigte. Nachdem Sie beide gefangen waren - wie er annahm -, riß er im Stützpunkt die Macht an sich und zeichnete seine Mitteilungen mit Rastadts Namen. Als er schließlich erfuhr, daß Sie sich in Sicherheit befanden, versuchte er den ganzen Stab zu vernichten, um seinen Verrat zu verheimlichen.«
»Ich verstehe.« »Rastadt war einfach ein verbrauchter, alter Mann, der die Zügel nicht mehr halten konnte. Wheeler war viele Jahre sein Vertreter gewesen, Ein guter Vertreter - zu gut. Er schuf Rastadts Ruf, und Rastadt verließ sich blind auf ihn. Ich nehme an, daß es weh tat, die Arbeit zu leisten, für die ein anderer die Ehren einheimste, aber das ist keine ausreichende Erklärung.« Er schüttelte den Kopf. »Es war Wheeler, der sich - in Rastadts Namen - in die Angelegenheiten des Einsatzstabes einmischte. Der Koordinator wußte überhaupt nichts davon. Er wußte nahezu nichts über Kurr und sehr wenig von Larnor. Das war der Grund, warum Wheeler ihn so düpieren konnte. Sie natürlich auch.« »Wheeler muß aber einen Großteil des Stützpunktpersonals korrumpiert haben.« »Das fürchte ich auch.« »Aber warum? Bei Wheeler ist es ebensowenig verständlich wie bei Rastadt.« Leblanc sagte langsam: »Ich weiß es nicht. Ich - weiß - es - nicht.« »Sie haben versucht, Rastadt zum Sprechen zu bringen«, sagte Forson. »Er hätte Ihnen selbst dann nichts sagen können, wenn er gewollt hätte, weil er so wenig wußte. Deshalb ist er auch gefoltert worden.« Leblanc nickte, mit gequältem, bleichem Gesicht. »Und das erklärt das seltsame Verhalten des Königs mir gegenüber«, fuhr Forson fort. »Die Folterung hatte Rastadt nicht zum Sprechen gebracht. Wahrscheinlich ist das in der ganzen Geschichte Kurrs noch nicht vorgekommen. Als ich behauptete, nichts zu wissen, wurde der König nachdenklich. Er hatte schon einen hohen Beamten des IPB dem >schwarzen Kasten< ausgesetzt und nur einen verstümmelten Gefangenen dafür erhalten. Es lohnte sich nicht, mich ebenso zu behandeln, wenn das Ergebnis nicht anders ausfiel. Er versuchte, sich für mich etwas Besseres auszudenken.« »Und hat dadurch Ihre Rettung ermöglicht«, sagte Leblanc mit einem schwachen Lächeln. »Wenn er seine Ruffs nicht hinausgeschickt und Sie durch die Straßen geführt hätte, wäre er in der Lage gewesen,
Sie beliebig lange festzuhalten, ohne daß wir etwas gewußt hätten.« »Und wenn der Koordinator nicht seine Hände verloren hätte, dann ich die meinigen.« Leblanc zuckte die Achseln. »Was geschehen ist, war seine eigene Schuld, aber ich empfinde trotzdem Mitleid mit ihm. Er hat für eine so kleine Sünde wie das Festhalten am Amt, obwohl er es nicht mehr ausfüllen konnte, bitter bezahlen müssen. Sehr bitter. Aber es ist nun einmal geschehen.« Er straffte die Schultern. »Erzählen Sie mir von den Fanfaren.« »Was wollen Sie wegen Wheeler unternehmen?« »Nichts. Wir bleiben bei dem Plan, den Sie vorgeschlagen haben, als wir Rastadt für den Schuldigen hielten. Wir ignorieren ihn.« »Hatten Sie Verbindung mit dem Stützpunkt?« »Seit der Mitteilung, die uns den Rückzug befahl, nicht mehr. Wir haben einfach alles abgeschaltet.« Er hob die Schultern. »Wheeler interessiert uns nicht. Er kann uns nichts tun. Wie ist das mit den Fanfaren?« Forson lächelte und schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Kulturforscher, aber mir kam es so vor, als spielten sie großartig«, meinte Leblanc. »Die Kurranier scheinen überaus musikalisch zu sein.« »Sie lieben jedenfalls Fanfarenmusik. Als die Bläser eintrafen, zog sich alles zurück. Die Läden schlossen, die Bauern warfen ihre Erzeugnisse wieder auf die Karren, die Bürger rannten weg, um sich zu verstecken, und die Fanfarenbläser standen unschuldig dabei, als hätten sie nichts damit zu tun. Dann begannen sie zu spielen, und als sie mit dem ersten Stück fertig waren, hatte sich der Platz zum Bersten gefüllt. Die Leute tobten und warfen wie verrückt mit dem Geld herum. Noch ein paar Wochen so, und Ihre Musiker werden steinreich. Ich muß zugeben, daß ich nicht begreife, worauf Sie hinauswollen.« »Das soll ein wissenschaftliches Experiment sein«, erwiderte Forson. »Die alte Geschichte mit der unwiderstehlichen Kraft.« »Ich verstehe aber immer noch nicht -« »Das kann auch gar nicht sein«, sagte Forson. »Ich verstehe es selbst nicht. Ich fürchte, daß meine unwiderstehliche Kraft in die falsche Richtung zielt, kann aber nichts dagegen tun, weil ich die richtige nicht
kenne.«
15 Es gab in Kurra keinen freien Platz, der groß genug gewesen wäre, um alle diejenigen aufzunehmen, die sich die Fanfarenmusik anhören wollten, so daß Tor am zweiten Tag seine Musiker in fünf Gruppen aufteilte - vier für die Marktplätze, und die fünfte und zugleich größte für den Platz vor dem Schloß. Forson schaute von einem Fenster über dem Südmarkt aus zu und entdeckte zu seiner Verblüffung, daß Tor auf irgendeine Weise die visuellen Möglichkeiten der Fanfarenmusik erfasst hatte. Seine Musiker trugen wallende, scharlachrote Umhänge - der Beauftragte hätte mit den Zähnen geknirscht, angesichts dieser Vergeudung wertvoller Stoffe und standen hochaufgereckt da, die Fanfaren steil erhoben. Beim Spielen vollführten sie mit ihren funkelnden Instrumenten ein synchron abgestimmtes Bewegungsballett. Die Wirkung auf das Auge war so überwältigend wie die Musik. Die dichtgedrängte Menge auf dem Marktplatz brach nach jedem Stück in ekstatischen Jubel aus, und Forson mußte trotz der Entfernung seine Stimme erheben, um sich verständlich zu machen. »Haben sich die Ruffs nicht mit ihnen befaßt?« fragte er. Joe Sornel grinste vergnügt. »Die Ruffs haben heute besseres zu tun. Sie suchen alle nach Ihnen. Es heißt, daß fünfzehn Mann von der Palastwache auf dem Weg zu einem Einhand-Dorf sind, und wenn die Ruffs Sie nicht finden, und zwar umgehend, bekommen die Einhänder Gesellschaft. Beruhigen Sie sich. Ihr Fanfarentrick hat wirklich Erfolg, denn die Ruffs finden keine Zeit, um sich einzumischen.« »Er hat zuviel Erfolg«, sagte Forson bedrückt. Leblanc stürmte aufgeregt ins Zimmer. Die Menschenmenge war wieder in einen Beifallssturm ausgebrochen, und er wartete händereibend, bis der Lärm nachließ. »Ich glaube, langsam begreife ich, wohin der Hase läuft«, erklärte er zufrieden. »Ich fange an, zu verstehen. Sie werden mir wohl nicht erklären wollen -« »Was soll ich Ihnen erklären?« »Lassen Sie nur. Der König hat ein eigenes Festspiel angeordnet,
dessen Hauptattraktion Ihre Fanfarenbläser sein sollen.« Forson starrte ihn ungläubig an. »Der König hat was getan?« »Ein Festspiel angeordnet. Gehen wir hinunter, damit wir uns unterhalten können.« Forson begleitete ihn gehorsam in den Keller, wo Musik und Applaus nur noch gedämpft zu hören waren. »Der König hat ein Fest befohlen«, wiederholte Leblanc. »Für heute abend. Ihre Fanfarenbläser werden die Stars sein. Vermutlich locken sie eine Rekordzahl von Zuschauern an. Wirklich schade, daß Sie nicht hingehen können.« »Es ist wohl besser, wenn ich es Ihnen gleich sage«, meinte Forson resigniert. »Mein Plan ist gescheitert.« »Was haben Sie denn erwartet?« »Nicht das. Wieviel Zeit haben wir, bis uns die Chefzentrale hier herausholt?« »Keine Ahnung. Vielleicht eine Ewigkeit. Seit ich weiß, dass Wheeler für die ganze Geschichte verantwortlich ist, bezweifle ich, ob die Chefzentrale überhaupt etwas erfahren hat. Seine Mitteilung, daß der Planet geräumt werden müsse, war nur ein Trick, um den Einsatzstab in eine Falle zu locken. Ich vermute, daß er sich nicht getraut, einen Bericht vorzulegen, weil die Chefzentrale früher oder später Streitkräfte schicken würde, um das gesamte IPB-Personal, ihn eingeschlossen, abzuholen. Darauf können Sie sich verlassen. Und was danach käme, wäre für Unterkoordinator Blagdon Wheeler sicher nicht erfreulich.« »Er hat vielleicht die Möglichkeit, das abzuwehren.« »Das kann ich mir nicht vorstellen.« »Einer der Gründe, warum Wheeler so gefährlich ist, liegt darin, daß man ihn so leicht unterschätzt«, sagte Forson, Leblancs Blick erwidernd. »Wenn er eine Methode weiß, das abzuwehren, hat er den Bericht vermutlich eingereicht. Und das bedeutet, daß wir nur ganz wenig Zeit haben.« »Wieviel Zeit brauchen Sie?« »Genügend Zeit, um mir etwas Neues einfallen zu lassen und von vorne anzufangen.« Leblanc riß die Augen auf.
»Ist es das Fest, das Ihren Plan zunichte gemacht hat? Was haben Sie erwartet? König Rovva liebt Musik und alle Künste ebensosehr wie seine Untertanen.« »Noch viel mehr«, meinte Forson trocken. »Und damit habe ich nicht gerechnet.« Ann Cory brachte ihr Mittagessen. Sie war als junge, kurranische Hausfrau maskiert, ein gewaltiger Fortschritt gegenüber ihren früheren Rollen. Sie nickte, ohne ihn anzusehen, gab ihm eine Schüssel mit kurranischem Eintopf und erklärte schüchtern, daß die Fanfarenmusik sehr hübsch sei. »Was tun Sie jetzt?« erkundigte sich Forson. »Nichts«, sagte sie. Sie zerteilte Brot für sie, füllte ihre Cril-Becher, häufte Obst in eine Schale und eilte davon. Leblanc entfernte sich gleich nach dem Essen, und als er gegangen war, sagte Joe lächelnd: »Ann hat ein schlechtes Gewissen. Außerdem hat sie von Paul einen argen Rüffel dafür bekommen, daß sie Sie im Stich gelassen hat. Wenn sie sich an die Anweisungen gehalten hätte und dort geblieben wäre, hätte niemand zu zählen angefangen, und Sie wären unbehelligt geblieben. Ihre Unvernunft hätte Sie einen Arm oder mehr kosten können. Das belastet ihr Gewissen. Außerdem hat Paul sie von ihren Pflichten entbunden und dem Küchendienst zugeteilt.« »Dafür ist sie eine zu wertvolle Mitarbeiterin.« »Sicher. Aber auch ein guter Mitarbeiter muß sich an die Befehle halten, sonst erreichen wir gar nichts. Aber Sie brauchen ihr ja nur einen Auftrag zu erteilen, wenn es Sie stört. Sie sind hier der Chef.« »Ich wüßte keinen Auftrag«, sagte Forson. »Aber sie soll sich den Abend freinehmen und das Fest besuchen. Alle anderen Leute werden es auch tun.« Joe grinste und ging hinaus, um ihr die Nachricht zu überbringen. Als er zurückkam, machte er ein grimmiges Gesicht. »Weiber! Nein danke, hat sie gesagt, die Fanfaren hätte sie schon gehört. Wollen Sie einen Befehl daraus machen?« Forson schüttelte den Kopf. »Gehen Sie zum Fest?« »Nein. Paul sagte, Sie dürften unter keinen Umständen allein gelassen werden, und die Wahl ist auf mich gefallen. Außerdem habe ich die
Fanfaren ja auch schon gehört.« Forson blieb mit Joe auf und wartete, immer noch in der vagen Erwartung, daß aus dem Debakel irgendein Nutzen zu ziehen sein könnte, aber die Festbesucher kehrten um Mitternacht zurück und berichteten, daß Tors Musiker einen grandiosen Erfolg erzielt hatten. Sie durften das Programm eröffnen, und als die Zuhörer sie nicht abtreten ließen, spielten sie den ganzen Abend hindurch. »In ganz Kurra wird nur noch von Fanfarenmusik gesprochen«, sagte Leblanc. »Eine solche Aufregung habe ich noch nicht erlebt. Wenn Sie an eine Aktion denken, ist jetzt die Zeit dafür. Eines der Stadttore war heute abend unbewacht. Die Posten müssen weggelaufen sein, um sich die Musik anzuhören. Was wollen Sie unternehmen?« »Nichts«, sagte Forson. »Ich habe es Ihnen doch schon erklärt - es hat nicht funktioniert. Haben Sie einen Plan?« »Ich?« Leblanc sah ihn verblüfft an. »Dann liegt es also an mir«, meinte Forson resigniert. »Und wir wissen überhaupt nicht, wieviel Zeit uns bleibt. Ich werde es überschlafen, und morgen halten wir eine Besprechung ab, um festzustellen, ob vielleicht jemand eine Idee hat.« Er schlief lange. Gegen Mittag platzte Leblanc in sein Zimmer. Forson war schlagartig hellwach und stürzte zu einem Notausgang. Leblanc hielt ihn zurück. »Sie Genie!« keuchte er. »Was ist denn jetzt passiert?« fragte Forson entgeistert. »Der König hat eben eine Proklamation erlassen. Keine Fanfarenmusik mehr. Alle Fanfarenbläser haben den Befehl erhalten, sofort in ihre Einhand-Dörfer zurückzukehren. Jedem, der an einem öffentlichen Platz eine Fanfare hören läßt, hat die schlimmsten Konsequenzen zu erwarten. Ebenso jeder Zuhörer. Das wollten Sie doch, nicht wahr?« Forson nickte. »Aber, wie zum Teufel - warum hat der König - und gestern abend ehrte er sie noch mit einem festlichen Auftritt!« Leblanc wedelte aufgeregt mit den Armen. »Wie geht es weiter?« »Schicken Sie Tor eine Nachricht«, sagte Forson. »Senden Sie Grüße
vom Erschaffer der Fanfaren. Sagen Sie ihm, er soll mit seinen Leuten durch die Straßen zum Schloß marschieren und dem König eine Bittschrift vorlegen.« Der Baustil eines Gebäudes veränderte sich für Forson auf subtile Weise, sobald er es einmal betreten hatte, aber der massige Steinpalast in Kurra blieb einfach massig. Tatsächlich bestand das Schloß aus mehreren, miteinander verbundenen Gebäuden, und als Forson es von der anderen Seite des Platzes aus betrachtete, kam ihm plötzlich eine Erleuchtung. Er sah an der kurranischen Architektur etwas, das ihn von Anfang an beschäftigt hatte. Es war eine erstarrte Kunst. Sie hatte sich von gebogenen Bäumen zu gebogenen Holzwänden und schließlich zu einer starren Norm entwickelt, die auch Steinbauten mit ausladenden Wänden erzwang. In einem Schloß dienten sie natürlichen Verteidigungszwecken, aber das erklärte kaum ihre allgemeine Verwendung in Kurr. Die politische Situation im Land war Jahrhunderte hindurch stabil gewesen, die Bevölkerung auf dem gleichen Stand, die Technologie undynamisch. Die Arbeitsqualität war so hoch, dass die Gebäude nahezu ewig hielten. Demzufolge wurden kaum neue Bauten errichtet, und diese wenigen waren genaue Kopien der alten, mit zusätzlichen Verzierungen. Das Problem der kurranischen Architektur war, daß es keine Architekten gab. Man hatte keine Arbeit für sie. »Sehen Sie da drüben etwas?« fragte Leblanc. »Nein«, antwortete Forson, ohne den Blick vom Schloß abzuwenden. »Ich habe nur eine Entdeckung gemacht, was die kurranische Architektur betrifft. Es gibt keine kurranischen Architekten - nur Baumeister.« Er drehte sich um und entdeckte sich als Zielscheibe verblüffter Blicke. »Wie können Sie in einem solchen Augenblick über Architektur nachdenken?« brauste Leblanc auf. »Wie können Sie ein Gebäude betrachten, ohne an die Architektur zu denken?« erwiderte Forson. Der Platz begann sich bereits zu füllen. Mindestens ein Viertel davon waren erstaunlicherweise Frauen, und in der Stadt hieß es sogar, am
vergangenen Abend hätten einige Frauen, als Männer verkleidet, das Fest besucht. Forsons Fanfaren schienen eine Nebenrevolution hervorzurufen, mit der er nicht gerechnet hatte. Von allen Seiten gafften Kinder, viele aus Fenstern, die meisten aber auf den Dächern, wo sie in Kurra zu Hause waren. Zum Glück gab es auf dem Platz selbst keine Kinder. Forson rechnete mit allem und hoffte nur, daß dabei keine Kinder zu Schaden kommen würden. Die Nachricht, daß der König die Fanfarenbläser verbannt hatte und daß sie auf dem Weg zum Schloß waren, hatte sich mit Windeseile in der Stadt verbreitet. Die Bewohner hatten sich zuerst zurückgezogen, waren dann jedoch plötzlich auf die Straßen geeilt, um das Geschehene zu bereden. Der Stab B hatte überall Gerüchte ausgestreut, aber die geringe Zahl der Mitarbeiter wäre nie in der Lage gewesen, eine solche Menge auf die Beine zu bringen. Der einzige Grund, warum sich nicht ganz Kurra versammelt hatte, war der, daß der Platz nicht groß genug war. Die Menschenmenge reichte bis weit in die dort zusammenlaufenden Straßen hinein, und alle versuchten vergeblich, sich noch auf den Platz zu drängen. Die Menschenmenge war seltsam still. Forson betrachtete sie zweifelnd von seinem Fenster aus und kam sich vor wie ein Amateurchemiker, der nach Belieben ein paar Chemikalien zusammengemischt und eine Zündschnur angeschlossen hatte. Jetzt glomm die Lunte, aber er wußte nicht, ob die Mischung explodieren oder harmlos verpuffen würde. »Ich habe nur einmal eine Menge erlebt, die sich so verhalten hat, und das war auf einem anderen Planeten, beim Begräbnis eines Nationalhelden«, sagte Leblanc leise. »Betrauern sie wirklich den Tod der Fanfarenmusik?« »Sie sind neugierig«, meinte Ann. »Aber warum sind sie so still?« fragte Leblanc. »Das richtige Wort dürfte >scheu< sein«, sagte Ann. »Wann hat in Kurr das letztemal jemand eine Petition an den König gerichtet? Ich sage, sie sind verschüchtert - und neugierig.« »Falsch«, sagte Forson. »Sie sind fassungslos - das hoffe ich wenigstens.« »Fassungslos, daß jemand wagt, sich an den König zu wenden?«
»Fassungslos darüber, daß der König die Fanfarenbläser verbannt hat. Sie wollen es nicht glauben.« »Hoffen Sie«, sagte Ann trocken. Forson nickte. »Hoffe ich.« Ferner Jubel drang zu ihnen. Hell schimmerte es auf dem Platz auf, als sich jedermann umdrehte. Die Musiker erschienen. Sie näherten sich mit quälender Langsamkeit. Die Leute schoben und drängten zurück, um eine schmale Gasse zu bilden, die sich augenblicklich schloß, sobald sie hindurch waren. Sie gingen zu zweit nebeneinander, mit flatternden, roten Umhängen, die schimmernden Instrumente hoch erhoben. Man bejubelte sie auf dem ganzen Weg über den Platz, aber obwohl ihnen Raum gemacht wurde, wurden sie immer langsamer, je mehr sie sich dem Schloß näherten. Sie blieben vor der imposanten Fassade stehen. Von der Ferne wirkten sie wie ein scharlachroter Streifen in einem Meer vielfältiger Farben. Die Menge verstummte völlig. Leblanc schaute durch ein Fernglas und flüsterte: »Ich sehe den König. An dem großen Mittelfenster. Das ist sein Beobachtungsplatz bei großen Festen.« Sie hörten nichts von Tors Petition - nur ein anschwellendes Gemurmel der Zustimmung der Menge, als er geendigt hatte. Der König gab offenbar eine kurze Antwort, aber davon drang nichts über den Platz. Die Musiker kehrten um und zwängten sich wieder durch die Menge. Die Lunte war abgebrannt, und Forson konnte buchstäblich das enttäuschende Zischen hören. »Ein Blindgänger«, sagte er resigniert. »Blindgänger?« rief Leblanc. »Ist Ihnen klar, daß wir zum erstenmal seit vierhundert Jahren eine öffentliche Demonstration zustande gebracht haben? Was kommt jetzt?« »Ich weiß nicht. Es sei denn -« Forson beugte sich weit aus dem Fenster und schrie, so laut er konnte: »Musik!« Leblanc fiel sofort ein und brüllte Forson das Wort so plötzlich ins Ohr, dass jener beinahe das Gleichgewicht verloren hätte. Gemeinsam brüllten sie: »Musik! Musik!« Die Menge unter ihnen nahm den Ruf auf, und binnen Sekun-den war er zu einem donnernden, rhythmischen Schrei ange-schwollen, der
über den Platz hinwegbrauste. »Musik! Musik!« Die Musiker hatten die Mitte des Platzes erreicht und trugen ihre Instrumente immer noch über den Köpfen. Forson beobachtete sie gebannt. Würden sie dem König trotzen und spielen? Sie mußten es, wenn die Demonstration zu einem Erfolg werden sollte. Schwankten sie? Würde Tor es wagen? Auf der anderen Seite des Platzes öffnete sich das große Tor des Schlosses, und die Ruffs des Königs stürmten heraus. Sie hieben mit Schwertern und Lanzen um sich und arbeiteten sich durch die Menge vor. Einen Augenblick lang wichen die erstaunten Bürger zurück, dann wandten sie sich mit einem Aufschrei gegen sie, drängten in Wellen heran, ergriffen die Ruffs, schleuderten sie zu Boden, trampelten sie nieder. Erbeutete Waffen wurden trotzig gegen die Schloßfenster geworfen. Die Menge schlug wie eine Flutwelle an das Portal, brach es auf und strömte hindurch. Vom Platz her, von den Straßen dahinter rückte die zornige Bevölkerung unaufhaltsam gegen das Schloß an. Für kurze Zeit standen Tors Musiker wie eine scharlachrote Insel in der Flut und sahen die Bewohner vorbeiströmen. Dann senkten sie ihre Instrumente, und über dem pulsierenden Aufschrei der Menge schwebte der triumphierende Klang der Fanfaren. Forson sah sich allein im Zimmer. Dies war der Augenblick, auf den der Stab B vierhundert Jahre gewartet hatte, die Krise, die zu nutzen er vorzüglich ausgerüstet war. Leblanc tauchte schon in der Menge auf und begann die Leute anzustacheln. Unmittelbar unter Forsons Fenster ruderte Joe wild mit den Armen und schrie sich heiser, aber kein Wort drang zu Forson herauf. Der Lärm war so ohrenbetäubend geworden, daß sogar die Fanfaren untergingen. Tors Musiker ließen die Instrumente sinken und beobachteten wie betäubt die tobenden Massen. Auf der anderen Seite hatte sich der Schloßhof mit der aufgebrachten Vorhut gefüllt. Forson bezweifelte, ob sie die massiven Türen allein mit den Leibern aufzusprengen vermochte, aber das war Leblancs Problem. Er hatte den Aufstand, den er sich wünschte; er würde wissen, wie man ihn verwerten mußte. Forson drehte sich um und sah Ann neben sich
stehen. Ihre Lippen bewegten sich, aber er konnte nichts hören. Er schüttelte den Kopf, sie lächelten einander an, und dann nahm er sie in die Arme. Plötzlich glitt ein Schatten über den Platz, und im selben Augenblick erstarrten die Leute und verstummten, während sich Tausende blasser Gesichter nach oben hoben. Forson ließ Ann los. Sie standen am Fenster und schauten entgeistert auf die Menschenmassen hinunter, die so schlagartig verstummt waren. Der Schatten kehrte zurück. Ein Flugzeug schwebte in niedriger Höhe über den Platz, eines der lautlosen Flugzeuge, die das IPB-Amt für seine Kontakte mit Kurr benützte. Nicht einmal ein gedämpftes Surren erreichte Forsons Ohr, als die Maschine über dem Haus schwebte. Einen Augenblick später kam sie zurück und stieg langsam höher. Sie kreiste über dem Schloß und setzte zum Sturzflug an. Die Menge floh in panischer Angst. Eine Masse, die sich in Stunden angesammelt hatte, verschwand in Minuten. Die schon in den Schloßhof eingedrungenen Leute waren mit dem Niederbrechen der Türen zu sehr beschäftigt gewesen, um das Flugzeug zu bemerken, aber sie spürten plötzlich die fehlende Unterstützung der Menschenmassen, schwankten und wurden von den Ruffs durch das Tor zurückgetrieben. Das Flugzeug stürzte wieder herab, und sie flohen entsetzt in die engen Straßen. Die Ruffs hatten ebensoviel Angst wie die Bürger; sie flüchteten Hals über Kopf auf das Schloß zu. Wie von einer Zauberhand berührt, lag der Platz plötzlich verlassen da, abgesehen von denjenigen, die bei der Flucht gestrauchelt waren. Sie lagen regungslos auf dem Boden, und niemand kam zurück, um sie zu holen. Das Flugzeug kreiste und stieß herab, immer wieder, und lange, nachdem der Platz leer war, konnte man es über der Stadt schweben und immer wieder herabstürzen sehen, wo es die Kurranier bis zu ihren Häusern verfolgte. Schließlich schoß es empor, wackelte mit den Tragflächen und flog davon. Leblanc kam atemlos ins Zimmer, die Kleidung zerfetzt, das Gesicht von einem Bluterguß entstellt. »Wheeler!« keuchte er. »Entweder ist er im Schloß, oder er hat dort jemanden postiert.« Er rang nach Atem. »Wheeler —« »Sind die Musiker ungeschoren entkommen?« fragte Forson.
»Ich denke schon. Wheeler —« »Mehr Sorgen macht sich IPB um die Menschen nicht?« fuhr ihn Forson an. »Sind sie nur Figuren, die auf dem Schachbrett hin- und hergeschoben und weggeworfen werden, wenn das Spiel beendet ist? Ihr braucht diese Musiker vielleicht noch einmal!« »Natürlich machen wir uns Sorgen«, sagte Leblanc betroffen. »Ich habe jemanden geschickt, um festzustellen, ob sie entkommen sind. Aber Wheeler -« Seine Stimme versagte. Andere waren eingetroffen - Joe, Hance Ultman, Sev Rawner. Alle waren verletzt, hatten aber noch nichts davon bemerkt. Sie trugen die entsetzten Gesichter von Menschen, vor deren Augen eine Welt untergegangen ist. Die IPB-Welt. Nach vier Jahrhunderten klugen Versteckspiels hatte ein verräterischer IPB-Beamter schlagartig und unwiderruflich die Anwesenheit des IPB-Amtes aufgedeckt, bei Tag, über der Hauptstadt von Kurr, vor den entsetzten Augen der gesamten Einwohnerschaft. »Tut mir leid«, sagte Forson. »Ich habe übereilt gesprochen. Fanfaren können jetzt nicht mehr helfen. Kurr ist nicht mehr zu retten. Wenn der König von Wheeler mit Flugzeugen unterstützt wird, kann hier keine Revolution gelingen.«
16 Nacht fiel über eine tote Stadt. Hance Ultman, zum Spähdienst abgeordnet, sah in den finsteren Straßen niemanden und entdeckte nicht eine einzige brennende Schenkenfackel. Die Stadttore waren unbewacht. In den Häusern sah man kein Licht. Außer im Schloß des Königs, wo die oberen Stockwerke hell erstrahlten, kauerten die Bewohner Kurras zitternd im Dunkeln. Einige Angehörige des Einsatzstabes versammelten sich im Tiefkeller und schrieben Berichte und verglichen Beobachtungen, aber nicht einmal diese Demonstration eiserner Disziplin konnte die Tatsache verbergen, daß sie alle tief betroffen waren. »Was ist mit den Musikern?« fragte Forson. »Alles in Ordnung«, erwiderte Leblanc. »Ein paar Prellungen, ein paar demolierte Instrumente, nichts Ernstes. Haben Sie eine Nachricht für sie?« »Sagen Sie Tor, sie sollen weiterspielen.« »König Rovva ist kein Dummkopf, wie ich vielleicht schon erwähnt habe. Er wird denselben Fehler nicht zweimal begehen. Er wird die Fanfarenbläser spielen lassen.« »Ich fürchte, Sie haben recht«, meinte Forson. »Ich habe noch nie eine Revolution erlebt, die so schnell erstickt wurde, aber - ich habe auch noch nie vom Verrat eines IPB-Beamten gehört. Wenn Sie noch etwas im Hinterhalt haben, müssen Sie es herausrücken, bevor die Katastrophe endgültig ist.« Forson, auf den erwartungsvoll alle Blicke gerichtet waren, konnte nur die Achseln zucken und wiederholen: »Sagen Sie Tor, er soll weiterspielen.« Händler vom Land, die am Vortag nicht in Kurra gewesen waren, zogen in der Morgendämmerung durch die unbewachten Stadttore und stellten sich auf den Marktplätzen auf – ohne Kunden zu finden. Als die Sonne immer höher stieg und der riesige Todesvogel mit dem häßlichen, schnellen Schatten nicht zurückkam, faßten die Bewohner jedoch wieder Mut und wagten sich aus ihren Häusern. Sie versammelten sich nicht im Freien, sondern in den Tunnelstraßen und Läden, um furchtsam zu besprechen, was sie erlebt hatten. Die Händler zogen sich mit ihren Waren
unter die schützenden Vorbauten zurück, und die Bürger kauften hastig ein, was sie brauchten, ohne lange zu handeln. Mittags marschierten Gruppen von Musikern auf die Marktplätze. Während sie trotzig spielten, suchten sie angstvoll den Himmel nach dem Todesvogel ab und die angrenzenden Straßen nach Ruffs. Sie spielten nicht gut und zogen auch nicht die Zuhörermassen an, die sie gewöhnt waren. Leblanc sagte zum zehntenmal zu Forson: »Wenn Sie noch irgend etwas vorbereitet haben -« »Setzen Sie Ihre Nachrichtenverbindungen wieder in Betrieb«, sagte Forson. »Wir können es nicht riskieren. Wir wüßten nie, wann Wheeler mithört.« »Das rechtzeitige Eintreffen des Flugzeuges kann kein Zufall gewesen sein. Wheeler scheint sich auch so zu verständigen. Wie wäre es, wenn wir ihn belauschen würden?« Leblanc schlug sich an die Stirn und lief murmelnd hinaus. Forson suchte Joe Sornel. »Ich habe Rastadt beinahe vergessen«, sagte er. »Wie geht es ihm?« »Er ist immer noch im Delirium. Wir mußten ihn in ein schalldichtes Zimmer bringen. Wenn er aufwacht, brüllt er etwas von einem schwarzen Kasten.« »Verständlich. Er weiß vermutlich nichts, was uns weiterhelfen könnte, aber ich möchte mit ihm sprechen, sobald er dazu fähig ist.« »Ich sage Ann Bescheid«, versprach Joe. »Sie pflegt ihn. Sonst noch etwas?« »Sagen Sie ihr -« Forson unterbrach sich. »Lassen Sie nur.« Joe grinste mitfühend. »Weiber! Mensch, das war wirklich eine feine Revolution, die Sie da ausgelöst hatten. Ich hätte nie geglaubt, daß ich in Kurr so etwas erlebe. Wir haben uns darüber unterhalten, verstehen aber immer noch nicht, wie Sie das geschafft haben.« Joe schüttelte gutmütig den Kopf. »Spaß hat es jedenfalls gemacht, wenn auch nicht lange. Ich spreche mit Ann.« Er verließ das Zimmer und stieß beinahe mit Leblanc zusammen, der
um ihn herumging, sich betont langsam niederließ und Forson fragte: »Sind Sie auf eine Überraschung gefaßt?« »Seit ich hier gelandet bin, komme ich nicht aus ihnen heraus«, erwiderte Forson. »Wheeler möchte mit Ihnen sprechen.« »Wirklich? Über Funk?« »Persönlich. Er sandte ein automatisches Rufsignal und wollte auf Kanal Eins Nachricht von Ihnen haben. Ich rief auf Kanal Eins an, erreichte seinen Funker und bekam Wheeler nach einer Minute in die Leitung. Er will persönlich mit Ihnen sprechen.« »Sehr selbstsicher, wie? Oder sagen wir lieber >tollkühn