Penny Richards
Warum hast du mich verlassen?
Nie hat Kate ihn vergessen: Cullen McGyver! Der prominente Staatsanwalt ...
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Penny Richards
Warum hast du mich verlassen?
Nie hat Kate ihn vergessen: Cullen McGyver! Der prominente Staatsanwalt trennte sich vor zwei Jahren von ihr und ließ sie mit gebrochenem Herzen zurück. Eigentlich wollte Kate ihn nie wiedersehen, aber sie kann diesen lukrativen Job nicht ablehnen, da sie viel zu dringend das Geld benötigt. Auf Cullens luxuriöser Ranch soll sie ihn beschützen, bis der Verbrecher gefunden wird, der ihn bedroht. Obwohl sich Kate ständig vornimmt, sich nie wieder auf Cullen einzulassen, erliegt sie ihren leidenschaftlichen Gefühlen für ihn. Wieder in seinen Armen genießt Kate seine zärtliche Liebe. Wird es diesmal für immer sein?
© 2002 by Penny Richards
Originaltitel: „Hers To Protect“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
in der Reihe: SPECIAL EDITION
Übersetzung: Meike Stewen
PROLOG Ein kaum hörbares Blätterrascheln signalisierte Cullen McGyver, dass er nicht mehr allein war. Nun saß er kerzengerade in seinem Drehstuhl auf dem drei Meter hohen Hochsitz und ließ seinen Blick zunächst über den Waldrand zu seiner Rechten schweifen, dann folgte er mit den Augen der Holzfällerstraße, die links von ihm um die Kurve bog. Der Hirschbock stand am Rande der ausgefahrenen, mit Geröll bedeckten Straße im tiefen Gras, das in der klirrenden Kälte ganz braun und brüchig geworden war. Genau wie Cullen verharrte der Bock bewegungslos und lauschte. Sein riesiges Geweih war mindestens einen halben Meter breit und hatte zehn makellose Spitzen. Es wirkte zu schwer für das Tier, trotz seines muskulösen Halses. Entschlossen und unglaublich leise zugleich bewegte sich der Bock direkt auf Cullens Hochsitz zu. Cullen war ein guter Schütze und hatte von dieser Position aus bereits einige Hirsche erlegt, doch diesmal hatte er nicht vor, das Gewehr zu benutzen, das direkt neben ihm lag. Diesmal genügte es Cullen, dieses stattliche, königliche Tier einfach nur zu bewundern. Außerdem war er gar nicht zum Jagen hergekommen. Er wollte hier draußen bloß Abstand von dem hässlichen Gerichtsprozess gewinnen, der heute Morgen zu Ende gegangen war. In seiner Funktion als Staatsanwalt hatte Cullen erreicht, dass der Angeklagte, Rodney Perry, nun eine ganze Weile hinter Gittern verbringen musste. Doch in Anbetracht dessen, was dieser Mann seiner Familie angetan hatte, wäre selbst lebenslänglich nicht genug gewesen – so jedenfalls sah Cullen das. Für ihn war es immer wieder grausam zu erfahren, was manche Menschen anderen antaten… und zu wissen, dass er nie genug dafür tun konnte, das Leiden der Opfer zu mildern. Auch ihm hatte man damals nicht helfen können, als seine Frau Joanie gestorben war. Ein gedämpfter Schuss, der irgendwo in der Ferne zwischen den mit jungen Kiefern bewachsenen Hügeln abgefeuert wurde, holte Cullen wieder in die Gegenwart zurück. Auch der Hirschbock hielt inne und lauschte erneut, wartete… Nun ertönte ein wenig näher, mitten im dichten, dunklen Wald, der Lockruf einer Hirschkuh. Es war mitten in der Brunftzeit. Jetzt, wo der Bock so stark von seinen Hormonen geleitet wurde, war es am wahrscheinlichsten, dass er sich von einem Jägertrick täuschen ließ. Nun war er am verletzlichsten. Der Hirsch schnaubte, sah sich noch ein letztes Mal um und verschwand dann im Dickicht. Er lief in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, ohne dabei zu ahnen, dass dort in den langen Schatten der Nachmittagssonne nicht etwa eine willige Hirschkuh, sondern ein Wildjäger auf ihn lauern könnte. Vielleicht nahm das Tier die Gefahr sogar bewusst in Kauf. Cullen schenkte sich einen Becher Kaffee aus der Thermosflasche ein, die er mitgebracht hatte, und ließ seinen Gedanken freien Lauf. Weil er als Staatsanwalt von Arkansas bereits in vielen Fällen für Gerechtigkeit gesorgt hatte, hatten die einflussreichsten Staatsmänner und frauen ihn immer wieder als möglichen Kandidaten für einen Senatorposten ins Gespräch gebracht. Er fand das schmeichelhaft, und zum Teil reizte es ihn tatsächlich, dem Staat möglicherweise auf einer noch höheren politischen Ebene dienen zu können als bisher. Andererseits war er sich nicht sicher, ob er überhaupt bereit dazu war, sein Leben entsprechend umzustellen, wenn er denn überhaupt in diese Position gewählt würde. Cullen war sich auch noch gar nicht im Klaren darüber, ob ihm die Welt der großen Politik überhaupt behagte. Wenn er dort eintauchte, würde er seine
Hobbys weitestgehend vergessen können, und auch die momentan so enge und herzliche Beziehung zu seiner Schwester Meghan und deren Familie würde darunter leiden. Neben seinem Beruf waren das die wichtigsten Dinge in Cullens Leben – seit er Joanie verloren hatte. In den letzten beiden Jahren hatte er bewusst versucht, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und wieder ins Leben einzusteigen. Dazu gehörte wohl auch, dass er sich wieder mit Frauen traf, allerdings hatte er schon wochenlang keine Verabredung mehr gehabt. Nicht, dass sich keine Möglichkeiten dazu geboten hätten. Wenn man als einer der begehrtesten Männer der Stadt oder sogar des ganzen Staates galt, dann hatte man automatisch das Problem, dass zahlreiche Frauen einem viel zu dicht auf die Pelle rückten – ganz egal, wie desinteressiert man sich ihnen gegenüber gab. Die Schatten wurden immer länger, und Cullen sah auf die Uhr. Zeit, dass er sich auf den Weg nach Hause machte. Er schraubte die Thermosflasche zu und griff nach seinem Gewehr. Aus Gewohnheit überprüfte er mehrmals, ob die Waffe auch gesichert war, bevor er mit ihr die Treppe des Hochsitzes hinunterstieg. Erst zwei Leitersprossen hatte er genommen, als er einen weiteren Schuss hörte, der diesmal aus nächster Nähe abgefeuert wurde. Fast gleichzeitig durchfuhr ein heftiger stechender Schmerz Cullens linke Schulter. Erschrocken und schmerzerfüllt schrie er auf. Thermosflasche und Gewehr glitten ihm aus der Hand, er verlor den Halt auf der Leiter. Undeutlich war ihm bewusst, dass sich der Boden mit rasanter Geschwindigkeit auf ihn zu bewegte, doch noch bevor Cullen aufschlug, wurde er von Dunkelheit umhüllt. Als Cullen erwachte, nahm er einen modrigen Geruch wahr. Er öffnete die Augen und blickte zum fleckigdunklen Himmel hinauf, an dem ein paar vereinzelte Sterne flackerten. Cullens Atem ging flach und schnell – etwas anderes ließen die Schmerzen nicht zu, die seinen Brustkorb in der Zwinge hielten. Zwei Dinge drangen trotz Cullens Benommenheit zu ihm durch: Erstens war es schon fast völlig dunkel, zweitens musste er vom Hochsitz gefallen sein. Als er sich aufsetzen wollte, schrie er laut auf und sank sofort wieder auf den kalten Boden zurück. Kalter Schweiß stand Cullen auf der Stirn. Er hatte schreckliche Schmerzen auf der rechten Seite seines Brustkorbes, und irgendetwas war offenbar mit seiner Schulter nicht in Ordnung. Cullen biss die Zähne zusammen, hob den rechten Arm und berührte vorsichtig die Stelle, von der der pulsierende Schmerz ausging. Als er die Hand wieder zurückzog, waren die Finger blutverschmiert. Nach und nach erinnerte er sich wieder: an den Schuss, den er ganz in der Nähe gehört hatte, bevor er vom Hochsitz gestürzt war. Ganz offensichtlich war er Opfer eines Jagdunfalls geworden. Beim Aufprall hatte er wohl auch ein paar Rippen verletzt, vermutlich an dem verrotteten Baumstumpf, der ihm jetzt gegen die Seite drückte. Bestenfalls wären die Rippen bloß angeknackst, schlimmstenfalls gebrochen. In diesem Fall könnte er sich durch eine falsche Bewegung die Lungen durchstechen. Cullen blieb reglos liegen, blickte in den Himmel und bemühte sich, seine Lage so gut wie möglich zu durchdenken. In diesem Moment wehte eine eisige Brise über ihn hinweg. Er erschauerte und wurde sofort von quälenden, krampfartigen Schmerzen geschüttelt. Als das Schlimmste überstanden war, dachte er weiter über seine Handlungsmöglichkeiten nach. Sein Handy hatte er im Jeep liegen lassen, weil er heute Nachmittag von nichts und niemandem gestört werden wollte. Also blieben ihm jetzt nur noch zwei Wahlmöglichkeiten: Einerseits konnte er versuchen aufzustehen und irgendwie seinen Wagen zu erreichen. Dabei musste er allerdings in Kauf nehmen, sich noch ernsthafter zu verletzen, und er hatte keine
Ahnung, wie viel Blut er bereits verloren hatte. Alternativ konnte er einfach hier liegen bleiben und darauf hoffen, dass früher oder später ein anderes Mitglied des Jagdclubs über ihn stolperte. Die Chancen, dass ihn hier jemand fand, standen allerdings ausgesprochen schlecht. Außerdem riskierte er, sich eine Unterkühlung zuzuziehen, wenn er hier bliebe. Möglichkeit Nummer zwei fiel also weg. Cullen hatte keine Wahl, er musste ganz allein von hier fortkommen. Er biss die Zähne zusammen und rollte sich auf die Seite. Die Schmerzen waren kaum zu ertragen. Dann drückte er mit dem gesunden Arm den Oberkörper hoch, so dass er fast aufrecht saß. Erneut musste er warten, bis die Woge von Schmerz und Übelkeit vorüber war. Dann stemmte er sich auf die Knie. Schließlich hatte er beide Füße auf dem Boden und richtete sich auf. Langsam, ganz langsam, wankte er schließlich den Pfad entlang, der zu der Jagdhütte führte. Für den kurzen Weg brauchte Cullen doppelt so lang wie sonst. Immer wieder musste er anhalten und sich gegen einen Baum lehnen, bis der Schwindelanfall vorüber war. Endlich, als er schon dachte, dass er in der Dunkelheit die Richtungen durcheinander gebracht und sich verlaufen hatte, erblickte er das Licht über der Eingangstür der Jagdhütte, das durch die Bäume schien. Die Schlüssel für seinen Jeep umklammerte er bereits mit vor Kälte tauben Fingern. Die nächste Tortur bestand darin, überhaupt in den Wagen zu gelangen. Schmerzen und Übelkeit überkamen Cullen in Wogen, und er fluchte. Endlich saß er hinter dem Steuer. Er zerrte am Sicherheitsgurt und gab schließlich auf, dann schaltete er in den ersten Gang, um den Sandweg hinunterzufahren, der in die Landstraße mündete. Cullen lenkte den Jeep auf die asphaltierte Strecke und beschleunigte auf neunzig Stundenkilometer, obwohl ihn der Schwindel jetzt in immer geringeren Abständen überkam. Alle Willenskraft nahm Cullen zusammen, um bloß nicht bewusstlos zu werden. Als er etwa drei Kilometer Schlangenlinien gefahren war, nahm die Straße eine scharfe Kurve. Schnell drehte er das Lenkrad, und die Schmerzen übermannten ihn. Dunkelheit hüllte ihn ein, er spürte, dass er das Bewusstsein verlor. Mit letzter Kraft klammerte er sich an das Lenkrad und bemerkte dabei gar nicht, dass der Wagen bereits auf die Gegenfahrbahn gerollt war. Die aufleuchtenden Scheinwerfer eines entgegenkommenden Wagens, der laut hupte, brachten ihn in die Wirklichkeit zurück. Automatisch riss Cullen das Steuer herum. Viel zu weit. Vor Schmerzen benebelt, bekam er gerade noch mit, dass er direkt auf den tiefen, von Bäumen gesäumten Graben am Rande der Landstraße zusteuerte. Cullen trat heftig auf die Bremse. Aber es reichte nicht aus. Es war zu spät. Noch bevor der Jeep mit der Nase voran im Graben verschwand, registrierte Cullen mit der letzten Kraft seines Bewusstseins, dass er das Bremspedal bis zum Anschlag durchgedrückt hatte, ohne dass der Wagen an Geschwindigkeit verlor.
1. KAPITEL Gedämpfte Stimmen störten Cullen in seinem Schlaf. Ein weiblicher, eleganter Duft umspielte seine Nase, und er spürte eine warme, sanfte Berührung an der Stirn. Er zwang sich, die Augen zu öffnen, und nahm verschwommen das Lächeln seiner Zwillingsschwester Meghan wahr. Meghan war eine erfolgreiche Notfallärztin, aber statt ihres Arztkittels trug sie jetzt Straßenkleidung. Wahrscheinlich hatte man sie von zu Hause an sein Krankenbett geholt. Als sie ihm zärtlich durchs Haar fuhr, bemerkte er, dass sie Tränen in den Augen hatte. „Du bist ja wach“, sagte sie. „Hm… sozusagen. Wie spät ist es denn?“ Seine Stimme klang heiser, als hätte er sie lange nicht mehr benutzt. „Drei Uhr nachts.“ Cullen versuchte, Meghans Gesicht scharf zu stellen. „Du bist extra hergekommen.“ „Natürlich“, erwiderte sie, schenkte ihm ein Glas Wasser ein, steckte einen Strohhalm hinein und hielt ihn Cullen an die Lippen. „Nimm aber erst mal nur ein, zwei Schlucke.“ Er brachte den Kopf dem Strohhalm entgegen. Erstaunlich, dass selbst so eine geringfügige Bewegung so quälende Schmerzen verursachen konnte. Cullen verzog das Gesicht und nahm bloß ein paar Schlucke, obwohl er am liebsten das ganze Glas geleert hätte. „Was ist passiert?“ Meghan bemühte sich um ein Lächeln. „Vielleicht sollte ich das lieber dich fragen.“ „Was soll das heißen?“ Es bereitete ihm nicht nur große Mühe, den Satz auszusprechen, er konnte sich auch kaum auf Meghans Worte konzentrieren. Wahrscheinlich lag das an den Schmerzmitteln. „Du hast eine Schussverletzung in der linken Schulter, gleich unter dem Schlüsselbein. Sie stammt vermutlich von einem Gewehr. Und du kannst deinem Schutzengel auf Knien dafür danken, dass es keine lebenswichtigen Organe oder das Schultergelenk erwischt hat.“ Nun ging Meghan die Liste seiner Verletzungen durch – in dem gleichen emotionslosen, professionellen Tonfall, den sie auch ihren Patienten gegenüber an den Tag legte. „Außerdem hast du dir rechts ein paar Rippen angeknackst, als du bei dem Sturz in den Graben gegen das Lenkrad geschleudert wurdest. Natürlich hattest du den Sicherheitsgurt nicht angelegt, also ist es ein Wunder, dass du das überlebt hast“, tadelte sie. „Du brauchst mir keine Vorträge zu halten, Schwesterchen. Ich konnte den Gurt gar nicht anlegen, außerdem habe ich mir die Rippen nicht im Jeep gebrochen. Das ist passiert, als ich vom Hochsitz gefallen bin, nachdem ich… angeschossen wurde. Darf ich noch etwas Wasser haben? Bitte?“ Meghan hielt ihm das Glas hin. „Du warst also auf dem Hochsitz, als du angeschossen wurdest?“ „Na ja, ich kam gerade herunter.“ Cullen entging nicht, dass seine Schwester kurz die Stirn runzelte. Er ließ den Kopf wieder auf das Kissen sinken und schloss die Augen. Noch nie hatte es ihn so angestrengt, etwas Wasser zu trinken. Einige Sekunden lang beobachtete seine Schwester ihn eingehend. „Was geht da eigentlich vor sich, Cullen?“ „Was meinst du damit?“ „Die Polizei ist offenbar der Ansicht, dass dich einfach bloß ein unvorsichtiger Jäger erwischt hat.“
Cullen runzelte die Stirn und versuchte sich zu konzentrieren, doch es kam ihm vor, als hätte er Watte im Kopf. „Ja, der Ansicht bin ich eigentlich auch“, sagte er gedehnt. „Warum hab ich bloß den Eindruck, dass du das anders siehst?“ Meghan zuckte mit den Schultern. „Wenn der Unfall auf der Erde passiert wäre, würde ich ja auch an diese Theorie glauben. Aber du hast mir eben gesagt, dass du gerade vom Hochsitz heruntergestiegen bist. Was muss das bloß für ein Jäger gewesen sein, der nach oben in die Baumkronen schießt, um einen Hirsch zu erwischen?“ „Hm… vielleicht wollte er gar keine Hirsche erlegen, sondern war eher auf Eichhörnchen oder Waschbären aus.“ Seine Schwester hob die Augenbrauen. „Und die jagt er mit einem so hochkalibrigen Gewehr? Das Einschussloch in deiner Schulter war nicht gerade klein.“ Cullen fuhr sich mit der Zunge über die trockenen Lippen. „Willst du damit etwa andeuten… dass das Ganze gar kein Unfall war?“ „Nein, das ergibt nämlich überhaupt gar keinen Sinn.“ „Aber… wenn es kein Versehen war, dann heißt das ja, dass mir jemand etwas antun will.“ „Jemand will dich umbringen“, stellte Meghan klar. „Wer sollte mich denn umbringen wollen?“ fragte Cullen und war sich gleichzeitig bewusst, wie dumm seine Frage war. Ihm fielen ja bereits spontan mehrere Namen ein, und sein Gehirn war derzeit nicht mal voll funktionsfähig. Meghan lachte. „Wie wär’s mit all diesen Miststücken, die du als Staatsanwalt schon hinter Gitter gebracht hast? Da kommt eine ganz schön lange Liste zusammen.“ „Du hast Recht.“ Cullen schloss die Augen und dachte einen Moment lang nach. „Obwohl – kann es nicht auch sein, dass da einfach jemand bei der Jagd gestolpert ist, so dass sich ein Schuss gelöst hat? Das würde erklären, warum ich die Kugel auf dem Hochsitz abbekommen habe.“ Meghan dachte kurz über diese Idee nach. „Kann sein“, gab sie schließlich widerwillig zu. „Na also. Rätsel gelöst.“ Cullen lächelte. Seine Schwester jedoch wirkte nicht besonders überzeugt, also drückte er zur Beruhigung ihre Hand, die sie ihm auf die Bettdecke gelegt hatte. „Nun geh schon nach Hause zu deinem Mann, Doc, und lass mich ein bisschen schlafen.“ „Also gut.“ Meghan beugte sich über ihn und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. „Wir sehen uns dann morgen.“ Jagdunfall: Staatsanwalt verletzt. Die Meldung war rechts unten auf der Titelseite der Tageszeitung erschienen, daneben war ein Foto von Cullen McGyver abgebildet. Der Mann, der in diesem Moment stirnrunzelnd den Artikel las, saß in einem kleinen Zimmer, das nach Medizin und Leder roch. Damit, dass die Zeitung gleich auf der ersten Seite von dem Unfall berichten würde, hatte er nicht gerechnet. Natürlich hatte er ebenso wenig in Betracht gezogen, dass er sein Ziel verfehlen würde… oder McGyver die Autofahrt überleben würde, obwohl die Bremse nicht funktionierte. Was für ein verdammtes Glück dieser Typ doch hatte! Aus der Zeitung erfuhr der Mann von McGyvers Wunde an der Schulter und der anschließenden Fahrt mit dem Jeep, die im Graben geendet hatte. Der Artikel berichtete über die zahlreichen Verurteilungen, die McGyver bereits erwirkt hatte, und darüber, dass er als möglicher Senator für den Bundesstaat Arkansas gehandelt wurde. Im Text stand außerdem, dass McGyver nun in einem
Krankenhaus in Little Rock untergebracht sei und sich nach seiner Entlassung noch ein wenig erholen würde, bevor er seine Tätigkeit wieder aufnahm. Der Mann ballte die Hand, mit der er die Zeitung hielt, zur Faust und zerknüllte dabei McGyvers Foto. Cullen McGyver hat mein Leben verpfuscht. Er hat mich finanziell und beruflich in den Ruin getrieben – und das alles im Namen des Gesetzes! Meine Zeit ist vorbei, ehe sie richtig begonnen hat, während McGyver im ganzen Bundesstaat ständig mehr Respekt und Anerkennung bekommt. In einem nahe gelegenen Stall schnaubte ein Pferd. Genau, dachte der Mann, als er die Faust wieder öffnete und das zerknüllte Papier mit allergrößter Sorgfalt wieder glättete. Dann nahm er sich die Schere, die neben der Tasse lag, in der gerade der Kaffee kalt wurde. Was McGyver mir angetan hat, war alles andere als fair, dachte der Mann und stach mit der Scherenspitze zu – mitten in die Abbildung seines Widersachers. Louella Stephens war Cullens Sekretärin, seitdem er vor zehn Jahren seine Tätigkeit als Staatsanwalt aufgenommen hatte. Sie war Anfang sechzig, hübsch, ein wenig mollig, angenehm und außerordentlich pfiffig. Cullen erzählte ihr immer wieder, dass er sie sofort heiraten würde, wenn ihn das nicht in einen Interessenkonflikt stürzen würde. Darauf erwiderte Louella stets, dass er gar nicht mit ihr mithalten könnte. Und wenn er sie so bei der Arbeit beobachtete, gab er ihr insgeheim Recht. „Hallo.“ Louella lächelte über ihr ganzes rundes Gesicht, das von grau melierten Haaren eingefasst war. Als sie sah, dass er das Essen auf seinem Tablett kaum angerührt hatte, schritt sie entschlossen ins Krankenzimmer und hielt die Tüte einer HamburgerKette hoch, wo Cullen gern aß. „Sieht aus, als käme ich gerade rechtzeitig“, bemerkte sie. „Allerdings“, erwiderte er lachend und packte die Mitbringsel aus. „Was gibt’s Neues im Büro?“ „Senator Falk hat angerufen“, informierte ihn Louella und setzte sich auf einen Stuhl, der neben Cullens Bett stand. „Er und Senator Watson wollen sich demnächst gern mit dir unterhalten. Sie finden wohl, du solltest schon mal damit anfangen, etwas Geld für die Wahlkampagne einzutreiben.“ „Ich treffe mich schon noch mit den beiden, aber… ich finde, es ist zu früh, sich um solche Dinge zu kümmern.“ Müde schüttelte Cullen den Kopf. „Ich bin mir ja noch nicht mal sicher, ob ich überhaupt kandidieren will.“ Louella betrachtete ihn über ihre Lesebrille hinweg. „So eine Chance bekommst du so schnell nicht wieder.“ „Ja, ich weiß, aber ich bin mir nicht sicher, ob ich überhaupt das Zeug zum Politiker habe.“ „Aber natürlich“, gab seine Sekretärin zurück. „Und noch viel mehr hast du das Zeug, ein attraktiver Kandidat zu werden.“ Fragend sah Cullen sie an. „Na ja, du hast ein gesundes Gewissen“, erwiderte die ältere Frau. „Und das ist in den erlauchten Kreisen unserer Politiker eine wahre Seltenheit.“ Cullen lächelte schief. In diesem Moment klopfte es energisch an der Tür, aber bevor Cullen etwas sagen konnte, stürmte schon seine Schwester ins Zimmer. Meghan trug ein grünes MedizinerOutfit und wirkte äußerst besorgt. Ohne Louella zu beachten sagte sie: „Ich habe eben mit Buddy telefoniert.“ Buddy war der Automechaniker, der sich seit langem um die Wagen der Geschwister kümmerte. Auch Cullens Jeep war nach dem Unfall in Buddys fachmännische Hände übergeben worden.
Na wunderbar, dachte Cullen. „Dir auch einen guten Tag, Meghan“, erwiderte er kurzatmig, denn seine Rippen Verletzung machte ihm das Luftholen schwer. „Ich glaube, du hast noch gar nicht bemerkt, dass Louella hier ist.“ Meghan warf der älteren Frau einen flüchtigen Blick zu. „Hallo, Louella“, sagte sie, dann wandte sie sich sofort wieder ihrem Zwillingsbruder zu. „Buddy hat mich darüber informiert, was mit dem Jeep los ist, und ich bin ihm sehr dankbar. Du hättest es mir nämlich glatt verschwiegen.“ „Nein, eigentlich hatte ich wirklich vor, es dir noch zu erzählen“, meinte Cullen und griff nach seinem Milchshake. „Aber ich wollte dich nicht mitten an deinem Arbeitstag damit stören.“ „Also, hör mal. Da schießt jemand vorsätzlich auf dich und durchtrennt auch noch die Bremsleitungen, und du willst mich deswegen nicht stören?“ Cullen entging nicht, dass bei diesen Worten ein Ausdruck des Entsetzens über Louellas Gesicht huschte. „Wie meinst du das, dass da jemand vorsätzlich auf ihn geschossen hat?“ hakte sie nach und gewann damit schließlich Meghans Aufmerksamkeit. Cullens Schwester zuckte mit den Schultern. „Offenbar hat jemand versucht, ihn aus dem Weg zu räumen.“ „Das ist ja interessant. Und ich muss sagen, dass mir der Gedanke auch schon gekommen ist“, sagte Louella. „Cullen hält an dem Glauben fest, dass das alles bloß ein Unfall war“, erwiderte Meghan. „Bei irgendeinem Hobbyjäger soll sich aus Versehen ein Schuss gelöst haben, und mitten auf diesem riesigen Gelände hat die Kugel ausgerechnet ihn getroffen. Auf dem Hochsitz, drei Meter über der Erdoberfläche.“ Louella schnaubte ungläubig. „Wohl kaum. Und was hat es mit der Bremse auf sich?“ „Buddy hat mir erzählt, dass wohl jemand die Leitungen durchgeschnitten hat, so dass die Bremsflüssigkeit ausgelaufen ist. Cullen hätte tödlich verunglücken können.“ „Aber wer könnte denn bloß wollen, dass er…“ Mitten im Satz brach Louella ab. „Entschuldige. Dämliche Frage.“ Cullen, der den beiden Frauen bis jetzt verärgert und fasziniert zugleich zugehört hatte, meldete sich nun ebenfalls zu Wort: „Es wäre ganz ausgesprochen nett, wenn ihr zwei Damen nicht… über mich reden würdet, als wäre ich nicht da.“ „Tut mir Leid“, entgegneten beide wie aus einem Munde, aber keine schien es auch wirklich so zu meinen. „Was willst du also dagegen tun?“ fragte ihn Meghan und stützte die Fäuste auf die schmalen Hüften. „Wogegen?“ „Dagegen, dass jemand dich umbringen will!“ „Jetzt mal angenommen, ihr habt Recht. Was kann ich da groß tun? Ich habe doch keine Ahnung, wer das sein könnte. Mögliche Täter gibt es viele.“ „Na ja, du könntest dich eine Zeit lang zurückziehen, bis die Polizei diesen Verrückten endlich geschnappt hat“, fand Meghan. „Irgendwelche Spuren wird er hinterlassen haben.“ „Und wie will man die finden, auf einem Gelände von über einem Quadratkilometer?“ hakte Cullen nach. „Was passiert, wenn man dort gar nichts findet? Ziehe ich mich dann vollständig aus dem Leben zurück?“ Augenblicklich wich der Ärger aus Meghans Blick, nun stand sie auch nicht mehr so stocksteif da. „Nein“, antwortete sie, und ihre Stimme war nicht viel mehr als ein Flüstern. „Das wohl nicht.“ Dann ging sie in dem kleinen Krankenzimmer auf und ab. „Du könntest doch zumindest ein paar Wochen lang auf der
Familienranch unterschlüpfen“, schlug sie vor und sah ihn dabei flehend an. „Natürlich kannst du nicht ewig dort bleiben, aber du musst dich ohnehin erst mal auskurieren. Und dort hast du alles, was du zum Arbeiten brauchst. Wenn du vor Gericht erscheinen musst, kannst du ja zurück in die Stadt fahren. Bleib doch erst mal dort, bis kurz nach Thanksgiving.“ Die Ranch lag im Südwesten des Staates Arkansas. Cullen und Meghan hatten dort ihre Kindheit verbracht. Als dann ihr Vater gestorben war, hatte er das Anwesen ihnen beiden gemeinsam hinterlassen. Nun züchtete die Pferdeliebhaberin Meghan dort Vollblüter und ließ die Tiere in ihrer Abwesenheit von einem Aufseher pflegen, der am Rande des Anwesens ein kleines Haus bewohnte. Die Zwillinge fuhren beide gern zum Ausspannen auf die Ranch, fanden aber kaum Zeit dafür. Es war der perfekte Ort, um sich auszukurieren – oder zu verstecken –, und Cullen würde dort tatsächlich auch gut arbeiten können. Es passte ihm bloß ganz und gar nicht, sich von einem Unbekannten diktieren zu lassen, wie er sein Leben zu führen hatte. „Wenn du für ein Weilchen von der Bildfläche verschwindest, entspannt sich die Lage vielleicht. Auf der Ranch kannst du dann eine Liste der Leute zusammenstellen, die dir möglicherweise etwas antun wollen. Und dann gibst du der Polizei ein wenig Zeit, den Schuldigen zu finden.“ „Klingt sehr vernünftig“, pflichtete Louella ihr bei. „Ja, schon“, gab Cullen widerwillig zu und rieb sich dabei mit der gesunden Hand über die Stirn. Am liebsten wäre es ihm allerdings, wenn die beiden Frauen einfach wieder verschwänden. Wenn überhaupt alles wieder verschwände: seine Sorgen, die schreckliche Ungewissheit und die pulsierenden Schmerzen. „Du hast auch noch eine weitere Möglichkeit“, sagte Louella nachdenklich. „Und die wäre?“ Die Sekretärin blickte von Cullen zu Meghan und wieder zurück. „Du könntest einen Leibwächter anheuern.“ „Nein!“ stieß Cullen sofort hervor. Meghan jedoch lächelte. „Das ist eine ganz hervorragende Idee!“ „Nein“, beharrte Cullen. „Das geht zu weit. Durch so etwas mache ich doch nur noch mehr auf mich aufmerksam. Außerdem würde ich mir dabei ziemlich blöd vorkommen, von einem zwei Meter großen Ringertypen auf Schritt und Tritt begleitet zu werden.“ Louella sah Cullen an. „Aber wer sagt denn, dass es ein zwei Meter großer Ringertyp sein muss?“ fragte sie mit vermeintlicher Unschuld in der Stimme. „Was wäre denn die Alternative?“ „Eine Frau zum Beispiel.“ „Bist du jetzt völlig von Sinnen?“ protestierte Cullen. „Ich hänge mich doch nicht an den Rockzipfel einer Frau. Schließlich bin ich sonst derjenige, der die Frauen beschützt. Hast du das etwa vergessen?“ „Natürlich nicht“, erwiderte Louella unbeirrt. „Aber die Frau, an die ich gerade denke, trägt gar keine Röcke – jedenfalls nicht sehr oft.“ „Na toll. Dann willst du mir also ein weibliches Muskelpaket an die Seite stellen?“ „Quatsch.“ Louella klopfte ihm beruhigend auf den Arm. „Du hast ja völlig Recht damit, dass du durch einen typischen Leibwächter bloß unnötig auf dich aufmerksam machen würdest. Also scheint es mir die beste Lösung zu sein, jemanden zu engagieren, der gar nicht weiter auffällt.“ „Und wie soll das funktionieren?“ hakte Meghan nach. „Na ja, wir lassen es eben so aussehen, als würde Cullen mit der Frau rein privat zu tun haben.“
Cullen betrachtete seine Sekretärin kritisch. „Du meinst also, dass da jemand als
meine Freundin posieren soll?“
„Ganz genau. Du bist doch allein stehend und triffst dich mit einer Menge Frauen.
Da kann es doch gut sein, dass du irgendwann auf die Richtige getroffen bist.“
„Das klingt sehr sinnvoll, Cullen“, stimmte Meghan zu, und ihre Augen glitzerten.
„Ich glaube nicht, dass das funktioniert“, widersprach er.
„Wir können es doch zumindest ausprobieren.“ Seine Zwillingsschwester wandte
sich Louella zu. „Denkst du da etwa an jemand Bestimmten?“
Louella nickte. „Kate.“
„Kate? Deine Nichte?“ hakte Meghan nach.
„Ganz genau“, erwiderte Louella lächelnd.
„Nein.“ Cullens Abfuhr klang so knapp und barsch, dass sich beide Frauen abrupt
zu ihm umwandten und ihn verwundert ansahen. „Das könnt ihr vergessen.
Unter gar keinen Umständen engagiere ich Kate Labiche als Leibwächterin.“
2. KAPITEL Meghan und Louella blickten Cullen so erstaunt an, dass es unter anderen Umständen direkt komisch gewesen wäre. Er überlegte, ob seine Reaktion auf Louellas Vorschlag vielleicht zu heftig ausgefallen sein könnte. „Ich dachte, du warst sehr zufrieden mit Kates Arbeit, als du sie zuletzt angeheuert hast“, sagte Louella. Nun sah sie ihn weniger verblüfft als vielmehr besorgt an. Seine Sekretärin liebte ihre Nichte über alles, und Cullen war sich sehr wohl bewusst, dass Louella jeden Einwand gegen Kate persönlich nehmen würde. „Ich war auch sehr zufrieden mit ihrer Arbeit“, erwiderte er also schnell. „Sie hat den Auftrag wunderbar erledigt und diesen Umweltsünder schnellstmöglich ausfindig gemacht.“ „Warum bist du dann so sehr dagegen, sie als Leibwächterin zu beschäftigen?“ hakte Meghan nach. Cullen seufzte. Wie konnte er sich jetzt geschickt aus der Affäre ziehen? „Nun schaut doch mal her, meine Damen“, sagte er in einem ganz ruhigen, milden Tonfall, mit dem er schon so manchen Geschworenen beeinflusst hatte. „Ich will keinen Leibwächter. Egal, wer es ist. Aber am allerwenigsten möchte ich Kate engagieren, weil… na ja, sie ist schließlich Louellas Nichte, und es könnte für sie gefährlich werden. Ich… mir wäre nicht wohl bei dem Gedanken, dass ihr etwas zustoßen könnte.“ Geniales Argument, McGyver! Louella machte eine wegwerfende Handbewegung. „Vergiss nicht, dass Kate lange bei der Polizei war, bevor sie sich als Privatdetektivin selbstständig gemacht hat. Sie ist perfekt ausgebildet und kann sehr wohl auf sich aufpassen.“ Cullen nahm all seine Willenskraft zusammen, damit er nicht laut losfluchte. Er wollte einfach nicht, dass Kate Labiche vierundzwanzig Stunden lang um ihn war! Das könnte er nicht aushalten. Aber die beiden Frauen schienen ihn überstimmt zu haben. Und die wahren Gründe für seinen inneren Widerstand konnte er ihnen unmöglich darlegen. Weder seine Schwester noch seine Sekretärin würden verstehen, was zwischen ihm und Kate passiert war, damals in New Orleans. „Was hältst du also davon, Cullen?“ erkundigte sich Meghan nun. Tja, was hielt er davon? Ihm tat die Seite weh, er hatte pochende Schmerzen in der Schulter, und es kam ihm so vor, als hätte er Watte im Kopf. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass ihm jemand ernsthaft etwas antun wollte, aber alle Anhaltspunkte schienen tatsächlich darauf hinzuweisen. „Ruf sie von mir aus an“, erwiderte er schließlich mürrisch und gab sich alle Mühe, nicht an zerwühlte Laken, lange Beine und langes rotes Haar zu denken. Kate. Bereits zum dritten Mal hatten sie sich an jenem Abend geliebt – obwohl er sich nicht sicher gewesen war, ob er dazu überhaupt noch in der Lage sein würde. Er hatte sie damit geneckt, dass sie lernen musste, es ruhiger anzugehen. Kate. Cullen dachte daran, wie sie sich ihm entgegengehoben hatte, während er ihren Bauch mit Küssen übersäte. Wie sie ihm zum Kuss begegnet war, wie sie sanft an seiner Unterlippe geknabbert hatte, um sich schließlich selbst auf die Unterlippe zu beißen, als sie gemeinsam den Gipfel der Erfüllung erklommen. Das entfernte Klingeln des Telefons schreckte Kate aus einem äußerst erregenden Traum hoch. Sie blinzelte schläfrig und stützte sich schließlich auf die Ellbogen. Das Läuten kam aus dem vorderen Teil ihrer Wohnung, dort hatte sie das kleine Esszimmer in ein Büro für ihre Detektivagentur Tracers umfunktioniert.
Kate schwang die Beine aus dem Bett und zog das Trägerhemd nach unten, das über Nacht hochgerutscht war. „Ich komme ja schon“, murmelte sie. Mit wenigen Schritten trugen die langen Beine sie vom Schlaf ins Esszimmer. Als sie nach dem Hörer griff, fiel ihr Blick auf die in Leder gefasste Uhr, ein Geschenk ihres Vaters zur Geschäftseröffnung. Fast zehn. Kate runzelte die Stirn und drückte auf den Knopf, mit dem sie das Gespräch annahm. „Tracers, private Ermittlungen, guten Tag.“ „Katie?“ Sofort entspannte sie sich wieder. Außer ihrem Dad und dessen Schwester nannte niemand sie Katie. „Tante Lou?“ „Ja, ich bin’s. Wie geht es dir, Liebling?“ Je nachdem, dachte Kate. Sie ließ sich in den gebraucht gekauften Bürostuhl fallen und stützte einen Ellbogen auf den zerkratzten Eichenschreibtisch. Wie es ihr ging, hing stark davon ab, welcher Tag gerade war. Manchmal hing es sogar von der genauen Tageszeit ab. „Mir geht’s gut, Tante Lou. Und dir?“ „Bestens. Ich rufe gerade durch, weil ich dich fragen wollte, ob du vielleicht Interesse an einem kleinen Zusatzauftrag hättest.“ Und ob, dachte Kate. Neue Aufträge waren ihr jederzeit willkommen. „Im Moment kümmere ich mich bloß um ein paar Vermisstenmeldungen und ein paar Adoptivkinder, die nach ihren leiblichen Eltern suchen. Da kann ich problemlos noch einen weiteren Job unterbringen. Das passt mir auch ganz gut, im letzten Monat waren die Aufträge recht dünn gesät.“ „Na ja, du bist eben noch nicht lang genug im Geschäft, um dich auf die Mundpropaganda zufriedener Klienten zu verlassen“, beruhigte Louella ihre Nichte. „Das kommt schon noch.“ Kate fuhr sich mit schlanken Fingern durch das lange rote Haar. „Ich hoffe doch. Es ist schon nicht einfach, auf einmal selbstständig zu arbeiten, wenn man sich bisher auf ein festes, regelmäßiges Gehalt verlassen konnte.“ „Das glaube ich. Aber der Auftrag, von dem ich hier spreche, ist enorm gut bezahlt.“ Das klang doch schon mal gut. Nachdenklich betrachtete Kate ein Glas mit Wasser, das auf einem Papierstapel stand. Das Wasser stammte von ein paar Eiswürfeln, die zurückgeblieben waren, nachdem sie den Eistee vor ein paar Tagen ausgetrunken hatte. „Worum geht’s denn?“ Sie zuckte die Schultern, griff nach dem Glas und setzte es sich an die Lippen. „Es geht um meinen Boss“, erwiderte ihre Tante. Kates Herz überschlug sich, und das Wasser, das sie im Begriff war herunterzuschlucken, landete in der falschen Röhre. Sie hörte die besorgten Fragen ihrer Tante, während sie hustete und nach Luft rang. „Keine Sorge, es ist alles in Ordnung“, brachte Kate schließlich hervor. Es ging also um Louellas Boss. Will heißen: Cullen McGyver, den viel gerühmten Staatsanwalt, für den ihre Tante arbeitete. Zweifellos benötigte der angesehene Mr. McGyver mal wieder Unterstützung bei einem wichtigen Fall, für den er außerhalb der Landesgrenzen ermitteln musste. Und offenbar wollte er sie als Privatdetektivin engagieren. Daran gab es noch nichts Ungewöhnliches. Eine ganze Menge Privatdetektive arbeiteten Hand in Hand mit Anwälten, die aus den verschiedensten Gründen auf die Fähigkeiten der selbstständigen Ermittler zurückgriffen. Kate selbst war ja schon einmal für Cullen aktiv geworden, als sie gerade ihre Agentur eröffnet hatte. Sie wusste, dass ihre Arbeit ihn wirklich überzeugt hatte, schließlich hatte er ihr anschließend einen großzügigen BonusScheck zukommen lassen.
Offenbar war sie aber nicht halb so überzeugend im Bett gewesen, denn sie hatte keine einzige Nachricht mehr von ihm bekommen, seit sie ihm ihren Bericht überreicht und er New Orleans verlassen hatte. Ohne sich von ihr zu verabschieden. Nun kannte Kate als erwachsene Frau durchaus die Spielregeln solcher Affären. Da sie aber gerade eine Scheidung hinter sich hatte, fühlte sie sich besonders verletzlich und sehnte sich nach Bestätigung. Und Cullen hatte es ganz wunderbar verstanden, sie von seiner Aufrichtigkeit ihr gegenüber zu überzeugen – und davon, dass sich zwischen ihnen an diesen wenigen Tagen, die sie zusammen verbringen konnten, etwas ganz Besonderes entwickelte. Dass sie eine gemeinsame Basis hatten, aus der noch sehr viel mehr werden konnte. Als es sich aber bloß als Lug und Trug herausstellte, hatte Kate genau das getan, was sie am besten konnte: Sie hatte sich ganz in sich zurückgezogen und die kurze Begegnung als Erfahrung verbucht. Und nun, zwei Jahre später, wollte dieser Cullen sie erneut engagieren? „Es geht um deinen Boss?“ fragte Kate ihre Tante nervös. „Was will er denn diesmal?“ „Er wurde vor ein paar Tagen bei einem Jagdunfall verletzt.“ Trotz ihrer Abneigung gegen Cullen McGyver wich Kates anfänglicher Ärger der Sorge um den Mann. „Bei einem Jagdunfall? Ist es schlimm?“ „Er hat eine Wunde an der Schulter und außerdem ein paar angeknackste Rippen.“ Na, Gott sei Dank, das klang ja nicht allzu gefährlich. Betont gelassen erwiderte Kate: „Da wendest du dich an die falsche Frau. Weißt du denn nicht mehr, dass meine Fähigkeiten als Krankenpflegerin sich auf Jod, Wundpflaster und Aspirin beschränken?“ Ihre Tante lachte herzlich. „Aber Cullen braucht ja auch gar keine Krankenpflegerin. Er braucht eine Leibwächterin.“ Nun richtete sich Kate im Schreibtischstuhl auf. Eine Leibwächterin! Das Wort allein weckte eine Flut von Erinnerungen, und die waren allesamt sehr viel unangenehmer als ihre vorigen Gedanken an das Zwischenspiel mit Cullen. An die Dinge, die sie jetzt lebhaft vor Augen hatte, hätte sie am liebsten nie mehr wieder denken müssen. Erinnerungen daran, wie sie und ihr Partner bei der Polizei einem der Bösewichter von New Orleans gegenübergestanden hatten. Raul sah sich Auge in Auge mit einem pickeligen jungen Kerl, der sich fast zur Besinnungslosigkeit zugedröhnt hatte. In der einen Hand hielt er eine halbautomatische Waffe, in der anderen eine Tüte Crack. Raul richtete seine Pistole auf den Jungen und herrschte ihn an, er solle die Tüte loslassen und die Waffe herunternehmen. Kate selbst stand abseits, war dort außer Gefahr. Sie hatte gewusst, dass sie dringend etwas unternehmen musste, war aber nicht in der Lage gewesen, auf jemanden zu schießen, der gerade erst volljährig geworden war… Bei dem Gedanken daran wurde ihr speiübel, und ein lähmendes Gefühl überkam sie. „Ich bin aber keine Leibwächterin, Tante Lou. Das müsstest du eigentlich wissen.“ „Katie, Raul Santiagos Tod war…“ „Meine Schuld“, ergänzte sie tonlos. „Du wolltest bloß vorsichtig sein und Raul Zeit geben, vernünftig mit dem Jungen zu sprechen.“ „Na ja“, erwiderte Kate. „So hab ich auf die harte Tour erfahren, dass es schlicht unmöglich ist, vernünftig mit jemandem zu reden, der nur Brei im Hirn hat.“
„Du hast gelernt, jedes Menschenleben zu respektieren, Katie. Und obwohl du wusstest, dass du als Polizistin eines Tages möglicherweise jemanden verletzen oder sogar töten müsstest, kann dir niemand vorwerfen, dass dir der Gedanke widerstrebt hat.“ „Erklär das mal bitte Rauls Ehefrau und ihren Kindern.“ Kate hörte ihre Tante am anderen Ende der Leitung seufzen. „Ich weiß ja, dass die letzten Jahre sehr schwer für dich waren, mein Liebling, aber das Leben geht weiter. Du musst aufhören, dir die Schuld dafür zu geben.“ „Mein Leben ist doch weitergegangen“, sagte Kate und bemühte sich darum, halbwegs begeistert zu klingen. „Ich habe bei der Polizei aufgehört und mich als Privatdetektivin selbstständig gemacht.“ „Das stimmt schon, aber du bist immer noch nicht mit dem, was damals passiert ist, ins Reine gekommen. Katie, du warst eine ganz wundervolle Polizistin. Und du lässt deine Talente verkümmern, wenn du jetzt bloß noch zahlungsunfähige Väter und flüchtige Kleinkriminelle jagst. Du solltest aufhören, vor der Vergangenheit wegzulaufen, und das Beste aus deinen Fähigkeiten machen.“ „Und wie, bitte schön, stelle ich das an?“ Kate hörte selbst, wie ärgerlich und provokant ihr Tonfall war, und sie nahm es sich sehr übel, dass sie so mit ihrer Tante sprach. Erneut seufzte Louella. „Ich kann es dir leider nicht genau sagen, aber ich denke, es läuft nach demselben Prinzip wie die Sache mit dem Pferd, das einen abgeworfen hat: sofort wieder aufsteigen.“ Mehrere Sekunden lang sagte keine von beiden etwas. Kate wusste, dass ihre Tante Recht hatte, und trotzdem war sie sich sicher, dass es geradezu leichtsinnig von ihr wäre, jetzt die Verantwortung für ein fremdes Leben zu übernehmen. Nicht, wenn sie sich überlegte, wie sie sich die vergangenen zwei Jahre lang gefühlt hatte, die seit Rauls Tod vergangen waren. Nein, unmöglich. Schließlich atmete Kate laut hörbar aus und gab dem Drang nach, Louella die Frage zu stellen, die ihr schon die ganze Zeit auf der Seele brannte: „Warum braucht Cullen überhaupt einen Leibwächter?“ „Na ja, alles weist darauf hin, dass dieser so genannte Jagdunfall gar kein richtiger Unfall war.“ „Wie meinst du das – alles?“ erkundigte Kate sich angsterfüllt. Louella erzählte ihrer Nichte nun die ganze Geschichte. „… und sein Automechaniker meinte, jemand habe die Bremsleitungen durchtrennt“, schloss sie. Kate runzelte die Stirn und kaute auf ihrer Unterlippe. Auf gar keinen Fall wollte sie riskieren, dass Cullen sie ein zweites Mal verletzte. Der Auftrag ist enorm gut bezahlt. Ganz unvermittelt schoss ihr wieder durch den Kopf, was ihre Tante gesagt hatte.
Unglücklicherweise war Geld zu diesem Zeitpunkt tatsächlich wichtig für Kate.
Sehr sogar. Sie hatte ein paar schwierige Monate hinter sich und war mit ihren
KreditkartenRechnungen im Rückstand. So weit, dass sie die Karten in der
letzten Woche nicht mehr hatte einsetzen können.
Für sie waren also harte Zeiten angebrochen, und da musste sie schon hier und
dort eine Ausnahme machen. Sich etwa einer Situation aussetzen, aus der sie
aller Wahrscheinlichkeit nach mit gebrochenem Herzen herauskommen würde.
Andererseits…
„Kann die Polizei denn nicht für seinen Schutz sorgen?“ warf Kate ein.
Louella lachte. „Selbst wenn sie genügend Personal dafür hätten, und sie
behaupten, sie hätten keins, wäre Cullen damit nicht einverstanden. Für ihn kam
es gar nicht infrage – wie hat er sich doch gleich ausgedrückt? –, ständig von einem zwei Meter großen Ringertypen verfolgt zu werden.“ Kate schwang die langen, nackten Beine auf die Papier übersäte Schreibtischplatte, bevor sie ihrer Tante die Frage stellte, die ihr schon die ganze Zeit auf der Zunge brannte: „Und wie gefällt ihm der Gedanke, von einer fast einsachtzig Meter großen Frau verfolgt zu werden?“ Wie gefällt es ihm, von mir verfolgt zu werden? „Na ja, begeistert hat ihn das auch nicht. In erster Linie wohl deswegen, weil er nicht möchte, das jemand mitbekommt, was eigentlich los ist.“ Alles klar. Vermutlich war Cullen also ebenso erpicht darauf, sie zu beschäftigen, wie sie für ihn arbeiten wollte. Natürlich ahnte Louella nichts von alledem. Soweit sie informiert war, hatten sie beide bisher nur rein geschäftlich miteinander zu tun gehabt. „Er möchte einfach nicht, dass die Medien Wind von der Sache bekommen“, fuhr Kates Tante unbeirrt fort. „Deswegen habe ich ja dich als Leibwächterin vorgeschlagen. Wenn du nämlich den Job übernimmst, dann können wir verheimlichen, dass du nur zu Cullens Sicherheit bei ihm bist. Indem wir es so aussehen lassen, als wärst du seine aktuelle Freundin.“ Sofort schwand Kates Interesse an dem Auftrag. Sie nahm die Beine wieder vom Schreibtisch und stellte beide Füße fest auf den Boden. Louellas Tonfall klang zwar sachlich, aber Kate wusste aus Erfahrung, dass das täuschen konnte. „Moment mal, Tante Lou. Soll das etwa wieder einer deiner Verkupplungsversuche werden?“ „Wie bitte? Glaubst du wirklich, ich habe vor, dich mit Cullen zu verkuppeln?“ Ihre Tante brach in helles Gelächter aus. „Wieso ist das so witzig?“ Louella kicherte immer noch. „Na ja, wenn ich mir dich und Cullen so als Paar vorstelle… das ist einfach köstlich! Nimm’s mir nicht übel, mein Schatz, aber du bist ganz und gar nicht sein Typ Frau!“ Kate runzelte die Stirn. Sie empfand es als durchaus beleidigend, dass ihre Tante sie als so unattraktiv sah. Gleichzeitig wollte sie unbedingt wissen, woran das lag. „Ach, nein? Und wie genau sieht sein Typ Frau aus?“ „Zierlich. Mit perfekten Umgangsformen und edler Garderobe.“ Nun denn, dachte Kate. Das erklärt immerhin, warum Cullen sich damals einfach genommen hat, was er wollte, „ um sich dann gleich wieder aus dem Staub zu machen. Für ein paar ausgelassene Nächte auf der Matratze war sie ihm also gerade recht gewesen, aber wenn es um eine langfristige Beziehung ging, zog der smarte Herr Staatsanwalt rehäugige Modepüppchen vor. Und da fiel Kate unten durch. Sie hasste es, sich „in Schale“ zu werfen, und ihr einziges Zugeständnis an die aktuelle Mode bestand darin, dass sie sich immer die aktuellsten Laufschuhe kaufte. Erleichtert atmete sie auf. Oder war das etwa gerade ein Stoßseufzer der Enttäuschung? „Puh, noch mal Glück gehabt. Das trifft alles nicht auf mich zu.“ „Nun sei doch nicht gleich beleidigt, Katherine. Du hast gute Manieren und kannst sehr schick aussehen, wenn du dich zurechtmachst.“ „Herzlichen Dank, Tante Lou.“ „Damit hätten wir das also erst mal geklärt. Denkst du jetzt bitte über das Angebot nach? Mir zuliebe?“ Kate spürte, wie ihr Widerstand dahinschmolz. „Ich hatte dir ja schon gesagt, was er zahlt, oder? Fünftausend Dollar gibt es sofort, und dann kommen noch sechshundert pro Woche hinzu, außerdem
werden sämtliche Ausgaben erstattet.“ Louella wusste nur zu gut, womit sie ihre Nichte ködern konnte. „Fünftausend Dollar!“ Das war mehr, als Kate in den letzten drei Monaten eingenommen hatte. „Ich weiß ja, dass dieser Auftrag nicht so wirklich dein Ding ist… oder wie auch immer du dich ausdrücken würdest… aber du bist eine glänzende Schauspielerin, deswegen warst du auch so eine brillante verdeckte Ermittlerin, als du noch bei der Polizei warst.“ Louella seufzte. „Warum fliegst du nicht wenigstens hin und sprichst mal mit Cullen darüber?“ Vielleicht wird es jetzt wirklich mal Zeit, dass ich mich mit ihm auseinander setze, dachte Kate. Vielleicht hat Tante Lou Recht. Kann sein, dass ich mich tatsächlich zu sehr vor der Vergangenheit verstecke, statt mich ihr zu stellen. „Also gut. Kannst du versuchen, mir für morgen früh ein Flugticket zu organisieren?“ fragte Kate. „Wie wär’s stattdessen mit heute Nachmittag um halb drei?“ Kate schloss die Augen und schüttelte langsam den Kopf. Das war doch nicht zu fassen! Allerdings war das durchaus typisch für Tante Lou. „Du hast das Flugticket also schon gekauft?“ „Ja, Kate, das habe ich“, gestand ihre Tante. „Ich dachte mir, auf diese Weise sehen wir zwei uns wenigstens mal wieder, selbst wenn nichts aus dem Auftrag wird.“ „Na, dann sehen wir uns wohl schon heute Nachmittag.“ „Ja, ich hole dich nachher vom Flughafen ab. Anschließend essen wir etwas zusammen, und morgen sprichst du dann mit Cullen.“ Wie versprochen wartete Louella in der Ankunftshalle, als Kate einige Stunden später aus dem Flieger stieg. Sie umarmte ihre Nichte herzlich, und eine Woge warmer, nostalgischer Gefühle überkam Kate. Louella war für sie wie eine Mutter gewesen, seit sie ihre eigene im Alter von zehn Jahren durch Leukämie verloren hatte. Vor elf Jahren war Kates Onkel und Louellas Mann dann nach Little Rock versetzt worden, so dass Kate und Louella sich kaum noch gesehen hatten. Mittlerweile war er leider verstorben, und Louella lebte allein. „Ich habe dich ja so vermisst, Tante Lou.“ Kate blinzelte sich die Tränen aus den Augen. „So richtig wird mir das immer erst klar, wenn ich dich wieder sehe.“ „Ich habe dich auch vermisst, mein Schatz“, erwiderte Louella und strich ihrer Nichte über die Wange. „Hast du Hunger?“ „Und ob.“ Kate war schon immer mit einem gesunden Appetit gesegnet gewesen. Zum Glück hatte sie gleichzeitig einen gut funktionierenden Stoffwechsel. Louella lachte. „Einige Dinge ändern sich offenbar nie. Wo möchtest du denn essen?“ „Ach, das kannst du ruhig entscheiden. Ich kenne mich hier nicht so gut aus.“ „Dann lass uns mal deinen Koffer holen, während ich darüber nachdenke.“ „Übrigens“, kündigte Louella wenig später an, als sie an der Gepäckausgabe standen. „Cullens Schwester hat heute bei mir angerufen. Morgen früh wird er aus dem Krankenhaus entlassen. Sie holt ihn ab und bringt ihn direkt auf die Familienranch, wo er sich ein bisschen erholen soll. Sie möchte, dass wir dorthin kommen und das Wochenende mit ihnen verbringen.“ Kate hatte plötzlich das Bedürfnis, loszuschreien. Schließlich war sie wegen eines Vorstellungsgespräches hier, nicht um sich mit Cullen und seiner Schwester zu vergnügen. Kate war müde und hatte große Sorgen wegen ihrer noch ausstehenden Rechnungen. Ihr stand ganz und gar nicht der Sinn danach, jetzt am Wochenende mit Fremden auf Tuchfühlung zu gehen.
3. KAPITEL „Das hier müsste die richtige Abzweigung sein.“ Kate, die während der Fahrt gedöst hatte, öffnete nun die Augen und stellte dabei fest, dass ihre Tante Louella den Wagen gerade von der Landstraße auf einen schmalen asphaltierten Weg lenkte. Auf der Weide zur Rechten standen vereinzelt schwarze schottische Rinder, links auf den sanft geschwungenen Hügeln grasten etwa zehn Pferde. Laub und Nadelbaumbestände erstreckten sich bis zum Horizont, und ein erst kürzlich gestrichener weißer Lattenzaun säumte die Zufahrt, die zu dem weißen zweigeschossigen Haus führte. Eine Veranda fasste das Gebäude von drei Seiten ein. Mindestens zehn Bäume wuchsen um das Haus herum, einer davon war ein uralter Magnolienbaum. Weiter hinten gab es einen altmodischen roten Stall, dazu einige Nebengebäude. Nach ihrer kurzen Bekanntschaft mit Cullen hatte Kate eigentlich mit etwas Bombastischerem gerechnet, nun war sie freudig überrascht, dass sich ihre Erwartungen nicht erfüllt hatten. Louella parkte den Wagen vor dem Haus. Kaum hatte sie den Motor abgestellt, als auch schon eine hübsche dunkelhaarige Frau aus der Eingangstür kam und die Treppe herunterlief. „Da ist Meghan ja schon!“ rief Louella aus. Obwohl die junge Frau bloß Jeans und Pulli trug, machte sie einen wohlhabenden, fast aristokratischen Eindruck auf Kate. Vielleicht lag es an Meghans perfekt geschnittenem kinnlangen Bob oder ihren edlen Gesichtszügen. Was auch immer es war, Kate fühlte sich schlagartig minderwertig. Seit Rauls Tod hatte sie sich nicht mehr die Mühe gemacht, zum Friseur zu gehen. Es war ihr ohnehin nicht besonders wichtig, andere Leute mit ihrem Aussehen zu beeindrucken, und ihr langes Haar ließ sich schließlich problemlos zu einem Pferdeschwanz binden oder hochstecken. Für das erste Treffen mit Cullen und seiner Schwester hatte sie einen neuen Hosenanzug herausgesucht. Jetzt wünschte sie, sie hätte sich auch noch die Zeit für eine Maniküre genommen und ein wenig mehr Makeup aufgelegt. Selbst wenn Kate ihre Gastgeberin zunächst für hochnäsig gehalten hatte, so zerstreute Meghan diesen ersten Eindruck sofort, indem sie Kates Tante ohne zu zögern umarmte und fest an sich drückte. „Habt ihr gut hergefunden?“ erkundigte Meghan sich. „Ja, das war ganz einfach“, erwiderte Louella. „Wo ist denn Cullen?“ „Er ist noch ganz müde von der Fahrt hierher, außerdem hatte er ziemlich starke Schmerzen. Ich hab ihm also erst mal etwas gegeben, damit er sich ausruhen kann.“ Die Sorge um ihren Bruder stand Meghan ins Gesicht geschrieben. Louella stellte die beiden jüngeren Frauen einander vor. „Meghan, das ist meine Nichte Katherine Labiche aus New Orleans. Katie, das ist Cullens Schwester Meghan Longstreet. Meghan ist Notfallärztin im BaptistMemorialKrankenhaus von Little Rock.“ Lächelnd wandte sich Cullens Schwester um und richtete ihre wachen, intelligenten Augen auf Kate. Auch Kate musterte ihre Gastgeberin aufmerksam, betrachtete ihre ausgeblichene Jeans mit dem Loch im Oberschenkel und den alt rosa Kaschmirpulli. Interessante Frau, dachte Kate und ergriff Meghans Hand, die diese ihr zur Begrüßung reichte. Ihr Händedruck war fest und kühl. „Es freut mich, Sie kennen zu lernen“, sagte Kate. „Mich auch“, entgegnete Meghan.
„Cullen hat schon davon geschwärmt, wie gut Sie damals in New Orleans gearbeitet haben“, sagte Meghan. „Wirklich?“ „Wirklich“, bestätigte Meghan. „Wissen Sie was? Von Ihrem Lebenslauf her hatte ich Sie mir ganz anders vorgestellt.“ „Wie denn?“ hakte Kate nach. Sie war sich nicht sicher, wie sie mit dieser Bemerkung umgehen sollte. „Ich weiß auch nicht. Irgendwie unscheinbar, schätze ich. Unattraktiv.“ Meghan lächelte. „Vielleicht sogar… ziemlich stämmig. Aber Sie sind ja nichts von alledem.“ „An meiner Katie ist rein gar nichts unscheinbar“, warf Louella ein. „Höchstens ihr Name vielleicht.“ Da fingen Kate und Meghan beide an zu lachen, und gleichzeitig war Kate überrascht, dass man ihr so unvermittelt ein Kompliment gemacht hatte. Gemeinsam gingen die drei Frauen ins Haus. Auf der Suche nach ihrer Gastgeberin steckte Kate den Kopf mal in diesen, mal in jenen Raum, bis sie schließlich in der Bibliothek ankam. Die Materialien Holz und Leder, die Farben Burgunderrot und Dunkelgrün umgaben sie. Der Raum war im klassischen Stil eingerichtet, zurückhaltend und geschmackvoll. Da Kate Bücher liebte, trat sie ein, um zu sehen, was die Regale zu bieten hatten. Auf dem Kaminsims standen einige Fotos, die ihre Aufmerksamkeit auf sich zogen. Eines der Bilder zeigte ein älteres Paar, vermutlich Meghans und Cullens Eltern. Dann gab es da noch einen Schnappschuss von einer viel jüngeren Meghan im CheerleaderKostüm und ein Foto von Cullen im BasketballOutfit. Auf weiteren Bildern waren die beiden mit Barett und Talar zu sehen, wie man sie bei Abschlussfeiern an der Universität trägt. Sie hielten ihre Diplomzeugnisse in den Händen und lächelten über das ganze Gesicht. Dann gab es noch eine große Aufnahme von Meghans Hochzeit mit Dan und ein Bild von Cullen und Joanie, einer zierlichen Frau mit kastanienbraunem Haar. Sie trug ein Hochzeitskleid im viktorianischen Stil. Mit ihren taubenblauen Augen, dem vollen Haar und einem sanften Lächeln auf den Lippen war Joanie McGyver einfach wunderschön. Sie wirkte zart, zerbrechlich. Kate fragte sich, was für eine Persönlichkeit wohl dahinter steckte, und griff nach einem Foto, auf dem Joanie eindeutig hochschwanger war. Kate wusste, dass die junge Frau bei der Geburt ums Leben gekommen war – ebenso wie das Baby. Auf dem Bild lächelte Joanie stolz, eine Hand auf dem prallen Bauch. Kate ahnte, dass dies eine der letzten Aufnahmen war, die vor ihrem Tod gemacht wurden. Auf einmal wurde Kate von einer Trauer ergriffen, die sie nicht ganz einordnen konnte. Sie umklammerte den Rahmen und fixierte Joanie McGyvers Augen, als könnte sie darin die Antwort finden. Die Augen dieser Frau leuchteten so voller Glück, dass sich ein Kloß in Kates Hals bildete. Sie konnte sich sehr wohl vorstellen, wie sich dieses unendliche Glück anfühlen musste, hatte es aber noch nie selbst erlebt. Sie hatte ja nur eine winzige Kostprobe davon erhalten, wie es sein musste, von Cullen geliebt zu werden. „Sie war sehr hübsch, nicht wahr?“ Der Klang seiner Stimme – tief, ruhig und irgendwie nüchtern – erschreckte Kate, und sie fühlte sich ertappt. Sie umklammerte das Foto noch fester, damit ihre Hände aufhörten zu zittern. Stattdessen griff das Zittern jedoch allmählich auf ihren ganzen Körper über, während sie sich geistig darauf einstellte, Cullen zum ersten Mal seit zwei Jahren wieder zu sehen.
Er lehnte nonchalant im Türrahmen, trug Jeans und ein Polohemd, ein Arm hing
in einer Schlinge. Das dunkle Haar war modisch kurz geschnitten. Er hatte ein
ausdrucksvolles Kinn und eine aristokratische Nase. Dazu einen Mund, der jede
Frau um den Verstand bringen würde. Das sollte Kate selbst am besten wissen.
Ihr entfuhr ein Seufzen.
Da sie seinen forschenden Blick nicht mehr länger aushielt, drehte sie sich dem
Kaminsims zu und stellte dort das Foto seiner verstorbenen Frau wieder ab.
„Ja“, sagte Kate, als sie sich ihm erneut zuwandte.
„Was – ja?“ fragte er stirnrunzelnd.
Hatte er seine Frage etwa schon wieder vergessen? „Ja, sie war eine
wunderschöne Frau“, erinnerte ihn Kate. „Es ist offensichtlich, warum du sie so
geliebt hast.“
Cullen schüttelte den Kopf. „Ihr Aussehen hatte überhaupt nichts damit zu tun,
dass ich sie geliebt habe.“
Natürlich nicht. Joanie McGyver war zweifellos eine perfekte Frau gewesen. Hatte
Cullen mit ihr nicht ein perfektes, wunderbares Leben geführt?
„Erstaunlich, dass du hergekommen bist“, unterbrach er ihre Gedanken.
Sie zuckte leicht mit den Schultern. „Mich hat vielmehr deine Einladung
überrascht.“
„Das war Louellas Idee.“
„Ach so“, erwiderte Kate. „Ganz offensichtlich hat sie keine Ahnung, dass wir
damals nicht gerade im Guten auseinander gegangen sind.“
Ein undefinierbarer Ausdruck erschien in seinen rauchblauen Augen. Als guter
Anwalt gelang es ihm jedoch, sich schnell wieder zu fangen.
„Ich wüsste nicht, was nicht gestimmt haben sollte, als wir wieder auseinander
gegangen sind“, entgegnete er und steckte dabei die gesunde Hand in die
Jeanstasche. „Wir haben nichts bereut, uns keine Vorwürfe gemacht, auch keine
Versprechen gegeben, die wir nicht hätten halten können.“
„Wir haben uns auch nicht verabschiedet“, fügte Kate noch hinzu, und es klang
ein wenig verbittert.
„Hätte das denn irgendetwas verändert?“ fragte er. „Es war doch eine eindeutige
Sache.“
„Und was genau war es?“ hakte Kate nach.
„Ein kurzer Moment, den wir zusammen verbracht haben. Wir haben zusammen
gelacht und uns unterhalten. Wir waren zwei traurige, einsame Menschen, die ein
wenig Trost gesucht haben.“
Eine äußerst treffende Zusammenfassung, vermutete Kate. Zumindest aus
Cullens Sicht.
„Da hast du wohl Recht“, gab sie widerwillig zu. „Da hätte es auch nichts
geändert, wenn wir uns noch voneinander verabschiedet hätten.“
Schon gar nicht, wo jetzt klar war, dass Kate für ihn nur jemand gewesen war,
der ihn ein paar Tage und Nächte lang von seinem Schmerz und seiner
Einsamkeit ablenkte. Ein ausgedehnter, trauriger Abschied hätte auch nichts
mehr daran geändert, dass sie damals kurz davor war, sich in ihn zu verlieben.
Damit hätte sie nie gerechnet… schon gar nicht so bald, nachdem Lane sie
verlassen hatte.
Nun, diese zweite Lehre in Sachen Liebe war bei ihr auf fruchtbaren Boden
gefallen: Seit diesem Zwischenfall sorgte sie dafür, dass niemand mehr ihr Herz
erreichen konnte. Zweimal hatte sie sich schon verbrannt, ein drittes Mal würde
ihr das nicht mehr passieren.
„Hast du Bedenken, den Auftrag anzunehmen, weil es dieses… kurze
Zwischenspiel gab?“ erkundigte Cullen sich.
Kate hob das Kinn ein Stück und zwang sich zu einem Lächeln, das ein wenig hochmütig wirkte. „Ich bin doch schließlich gekommen, oder nicht?“ Cullen nickte langsam. „Ja, das bist du wirklich.“ Du liebe Güte! dachte Cullen. Ob Kate wohl bemerkt hatte, wie zweideutig die letzten Worte waren? Wahrscheinlich war ihre Äußerung ganz unschuldig gemeint – warum hatte er dann auf so provokative Weise darauf reagiert? Lag das etwa
daran, dass sie in hautenger Jeans und kurzem Pulli vor ihm stand und er sich
nur zu gut daran erinnerte, wie er ihr einen ganz ähnlichen Pulli über den Kopf
und eine andere Jeanshose von den langen, wohlgeformten Beinen gestreift
hatte?
„Tante Louella hat mir erzählt, dass dich jemand umbringen wollte“, sagte sie
und lenkte damit das Gespräch aus dem Privatbereich auf die Sachebene.
„Das stimmt. Offenbar bin ich momentan nicht der beliebteste Mann der Stadt.
Darüber scheinen sich alle einig zu sein.“
„Und es scheinen sich auch alle darüber einig zu sein, dass dein bestmöglicher
Schutz darin besteht, eine Leibwächterin anzuheuern, die so tut, als wäre sie
deine aktuelle… Geliebte, stimmt’s?“
„Stimmt auch.“
Kate verlagerte ihr Gewicht auf ein Bein und verschränkte die Arme vor der
Brust. Dann musterte sie Cullen von oben bis unten. „Und was hält deine
derzeitige echte Geliebte davon, dass nun jemand ihren Platz einnehmen soll,
selbst wenn es nur vorübergehend ist und bloß zum Schein?“
„Es gibt keine derzeitige Geliebte“, erwiderte er und hielt ihren Blick fest.
„Es fällt mir schwer, das zu glauben.“
„Dann musst du dich eben noch mehr anstrengen“, konterte er. Oje, er hatte
inzwischen schon wieder vergessen, wie sehr diese Frau ihn zur Verzweiflung
bringen konnte.
„Und wie geht es dir damit, wenn du daran denkst, dass du mich demnächst
womöglich vierundzwanzig Stunden am Tag um dich hast, sieben Tage in der
Woche? Angesichts unseres… kurzen Zwischenspiels vor einiger Zeit?“
„Ganz ehrlich?“
„Ehrlichkeit ist in jeder Beziehung wichtig“, sagte Kate mit Nachdruck.
Cullen räusperte sich. „Also gut. Um ganz ehrlich zu sein: Mir gefällt der Gedanke
überhaupt nicht, dich oder irgendeine andere Frau die ganze Zeit in meiner Nähe
zu haben. Dass eine Frau mich beschützen soll, widerspricht meinen
grundlegenden Überzeugungen.“
„Sie sind ganz schön altmodisch, Herr Anwalt.“
„In mancherlei Hinsicht bin ich das wohl“, stimmte Cullen ihr zu.
„Okay, zurück zur Frage“, beharrte Kate. „Eigentlich willst du gar keine
Leibwächterin, aber du musst trotzdem eine haben. Wie geht es dir damit, dass
ausgerechnet ich diejenige sein soll?“
Cullen hatte Sorge, zu viel von seinen widersprüchlichen Gefühlen preiszugeben,
also sagte er bloß: „Ich glaube, es wäre einfacher für uns beide, wenn ich
jemand anders engagieren würde, aber bei dir habe ich keinerlei Bedenken, dass
du dem Auftrag auch gewachsen wärst, falls du ihn annimmst.“
„Dann bietest du mir die Position also hiermit an?“
„Nun tu doch nicht so bescheiden, Kate“, sagte Cullen ein wenig verärgert. „Das
passt nicht zu dir. Als Louella bei dir anrief, gehörte der Job schon dir, das weißt
du ebenso gut wie ich. Nun stellt sich nur noch die Frage, ob du ihn auch willst.“
„So hat sie sich aber nicht ausgedrückt.“
„Ist doch egal, wie sie sich ausgedrückt hat. Schließlich kennst du mich.“
„Daran wage ich zu zweifeln, Herr Anwalt.“
Zu Kates Überraschung fluchte Cullen. „Das Ganze funktioniert nicht, wenn wir uns ununterbrochen streiten. Schon gar nicht, wenn wir dabei ständig die Vergangenheit ins Spiel bringen.“ „Also gut. Dann funktioniert es wohl nicht“, erwiderte sie bissig. „Im Gegensatz zu dir kann ich meine Gefühle nämlich nicht auf und zudrehen wie einen Wasserhahn.“ „Du bist mir immer noch böse, weil ich dich damals nicht geweckt habe, um mich von dir zu verabschieden?“ erkundigte Cullen sich ungläubig, war sich jedoch gleichzeitig bewusst, dass er damit den Nagel auf den Kopf traf. Und dass er tatsächlich einen großen Fehler gemacht hatte. „Da hast du verdammt Recht, ich bin dir wirklich böse!“ stieß sie wütend hervor. „Wie kann ich denn die Sache wieder gutmachen?“ fragte Cullen ernsthaft. „Möchtest du eine Entschuldigung hören? Ja, es tut mir Leid, das war unverzeihlich von mir. Und ich tue es auch nie wieder.“ „Da hast du Recht, so etwas passiert uns nämlich kein zweites Mal“, gab Kate entschieden zurück. „Und es war wirklich unverzeihlich. Du hast dich wie ein Feigling aus der Affäre gezogen.“ „Wir hatten doch bloß Sex, Kate“, sagte er geradeheraus. „Ganz wunderbaren Sex, ohne jegliche Verpflichtung. Ich wusste, dass aus verschiedenen Gründen nichts weiter daraus werden konnte, also dachte ich mir, dass es am einfachsten für uns beide wäre, wenn ich einfach verschwände. Können wir die Sache jetzt bitte zu den Akten legen und uns anderen Dingen zuwenden?“ „Klar“, erwiderte Kate knapp. „Warum auch nicht? Schließlich bin ich eine moderne Frau.“ „Sei doch mal einen Moment lang nicht so zickig und erzähl mir stattdessen, warum du diesen Auftrag überhaupt in Erwägung ziehst, wo du ganz offensichtlich noch so viel angestaute Wut auf mich hast.“ „Weil mein Geschäft zurzeit nicht so läuft und du gut zahlst, wenn es stimmt, was Tante Lou mir erzählt hat.“ „Die Summe, die Louella dir genannt hat, kannst du fest einplanen.“ „Prima.“ Kate lächelte dünnlippig. „Dann hast du ab sofort eine Leibwächterin.“ Erleichtert hielt Cullen ihr seine gesunde Hand hin. „Lass uns doch Waffenstillstand schließen, was hältst du davon?“ „Klar.“ Kate kam auf ihn zu und umschloss ihre Finger mit seinen. Sie hatte einen festen Händedruck… und zarte, weiche Haut. „Sind wir jetzt wieder Freunde?“ hakte er nach. Kate sah ihm in die Augen und schüttelte den Kopf. „Das mit dem Waffenstillstand bekomme ich noch hin… glaube ich. Aber eine Freundschaft? Das geht mir doch ein wenig zu weit, Herr Anwalt. Lass uns einfach versuchen, uns nicht gegenseitig an die Gurgel zu gehen, in Ordnung?“
4. KAPITEL Nach dem Mittagessen zog Cullen sich in sein Zimmer zurück, um sich dort auszuruhen. Er fühlte sich noch ganz benommen von den Schmerzmedikamenten und brauchte außerdem Zeit, um über das Gespräch – oder war es nicht vielmehr eine Konfrontation? – mit Kate nachzudenken. Und über Kate selbst. Zum ersten Mal waren sie sich in einem Februar in New Orleans begegnet, dazu ausgerechnet am Valentinstag. Auf Louellas Drängen hin war Cullen dorthin geflogen, um Kate als verdeckte Ermittlerin zu engagieren. Sie sollte ein paar Männer beobachten, die offenbar Abfallstoffe von Erdölfeldern auf illegale Weise entsorgten und dabei auch im angrenzenden Bundesstaat Arkansas aktiv waren. Kate hatte damals gerade erst ihre Agentur Tracers eröffnet, und der Tod ihres Partners Raul sowie ihre Scheidung lagen noch nicht lange zurück. Die Wunden waren noch ganz frisch und bereiteten ihr schreckliche Schmerzen – besonders die Trauer und die Schuldgefühle, die sie immer wieder überkamen, wenn sie an ihren Partner bei der Polizei dachte. Cullen, der seinerseits noch um Joanie trauerte und sich ebenfalls für ihren Tod mitverantwortlich fühlte, fand Kate faszinierend und nervenzermürbend zugleich. Sie faszinierte ihn, weil sie so ganz anders als alle Frauen war, die er kannte und zu denen er sich gewöhnlich hingezogen fühlte. In ihrem Beruf war sie ein Profi, sie trat selbstsicher auf und hatte eine scharfe Zunge. Zunächst konnte er seine Gefühle ihr gegenüber gar nicht einordnen, am allerwenigsten verstand er, warum sie ihn gleichzeitig so ärgerlich machte. Erst nach mehreren Wochen wurde ihm klar, dass Kate die erste Frau war, die ihn auf schmerzliche Weise darauf aufmerksam machte, dass er selbst nicht mit Joanie gestorben war, dass er trotzdem noch etwas für eine andere Frau empfinden konnte. Kate war eine Frau, an der man sich stoßen konnte, die einem unumwunden ihre Meinung sagte. Um diesen Typ Frau hatte er immer einen weiten Bogen gemacht und sich stattdessen eher an weichere, femininere Typen gehalten. Und trotzdem kam er sich in ihrer Gegenwart vor, als erwachte er gerade aus einem tiefen, traumlosen Schlaf. Wie ein düsterer Schwarzweißfilm waren die Tage seit Joanies Tod an ihm vorbeigezogen, nun erschien ihm plötzlich seine Umgebung in den schillerndsten Farben. Kate war so voller Leben – mit ihrem schlanken, sportlichen Körper, ihrer scharfen Zunge und der herausfordernden Art, mit der sie ihn manchmal anschaute. Und Herausforderungen nahm Cullen gern an. So auch diese. Er kannte Kate nicht mal vierundzwanzig Stunden, als er den ersten Schritt tat. Er hatte etwas zu ihr gesagt, womit sie nicht einverstanden war. Daraufhin hatte sie sich von ihm abgewandt, da griff er nach ihrem Arm und wirbelte sie zu ihm herum, so dass sie sich Auge in Auge gegenüberstanden. Dann zog er sie in seine Arme und küsste sie. Einerseits um sie zu bestrafen und andererseits deswegen, weil er sich schon danach sehnte, seit er sie das erste Mal gesehen hatte. Nie hätte er damit gerechnet, dass die Sache so ausufern würde. Bald landeten sie in ihrem Bett, und Cullen versuchte vier Tage und drei Nächte lang, dabei etwas von ihrer Lebenskraft in sich aufzunehmen. Durch Kate empfand er so intensiv, dass es für ihn befreiend und beängstigend zugleich war. Die Gefühle stellten alles in den Schatten, was er je mit anderen Frauen erlebt hatte – seine verstorbene Ehefrau eingeschlossen. Die ganze Zeit über, die er mit Kate verbrachte, hatte er die Gewissheit, dass er Joanie untreu war. Er fühlte sich deswegen so schuldig, dass er Kates Wohnung schließlich fluchtartig verließ, ohne irgendeine Erklärung und ohne ein Wort des
Abschieds. Er wusste, sehr wohl, wie feige das von ihm war, doch an jenem
Morgen hatten ihn so schreckliche Gewissensbisse geplagt, dass ihm klar wurde:
Entweder setzte er der Beziehung zu Kate ein Ende, oder er wurde verrückt.
Seitdem hatte er sie nicht vergessen können, obwohl er wusste, dass sie in jeder
Hinsicht die Falsche für ihn war. Mit den Frauen, mit denen er sich sonst
verabredete, hatte sie rein gar nichts gemein, mit Joanie schon gar nicht. Und er
und Joanie hatten eine perfekte Ehe geführt…
Nach dem Wochenende in Arkansas war Kate zurück nach New Orleans geflogen,
um sich dort auf den nun bevorstehenden längeren Aufenthalt auf der Ranch mit
Cullen vorzubereiten. Sie gab ihre derzeitigen Klienten an andere Agenturen ab,
räumte den Kühlschrank aus und packte alles, was sie in den nächsten Wochen
brauchen könnte, ins Auto, mit dem sie sich dann erneut auf den Weg nach
Arkansas machte.
Die Fahrt dauerte länger, als Kate vermutet hatte. Als sie bei der Ranch ankam,
war es bereits dunkel. Kate stieg aus dem Wagen, öffnete den Kofferraum und
holte zwei Gepäckstücke heraus. Müde schleppte sie die Sachen die Treppen zur
Eingangstür hinauf, dann klopfte sie. Durch die Spitzengardine im Fenster sah
sie, dass jemand das Wohnzimmer verließ, dann erhellte Licht den langen Flur.
Cullen.
Kate bemühte sich um ein Lächeln, als er die Tür öffnete, doch es gelang ihr
nicht so ganz. Er trug Jeans, dazu einen rauchblauen Pulli. Und er sah darin
unglaublich gut aus, wie sie sich nur äußerst ungern eingestand. „Hi.“
„Warum hast du so lange gebraucht?“ fragte er, ohne ihren Gruß zu erwidern.
Kates Müdigkeit wich dem Ärger, der nun in ihr aufstieg. „Entschuldige“, sagte
sie. „Ich habe mir erlaubt, zwischendurch eine kleine Pause einzulegen.“
„Alles halb so wild, aber ich habe angefangen, mir Sorgen zu machen. Nun komm
schon rein.“ Cullen trat zur Seite. „Du siehst umwerfend aus.“
„Komplimente bringen dich jetzt auch nicht weiter“, gab Kate knapp zurück und
nahm ihre Koffer wieder auf. „Wo soll ich mein Gepäck hinbringen?“
„In dasselbe Zimmer, das du vorher auch hattest, und ich wollte dir eben keinen
Vorwurf machen“, sagte er. „Hast du schon zu Abend gegessen?“
„Nein.“
„Hast du Hunger?“
„Und wie.“
„Ausgezeichnet. Wenn du fertig bist, findest du mich in der Küche. Es gibt Eintopf
und Salat.“
„Hört sich toll an.“
Cullen wandte sich um und ging den Flur hinunter zur Küche. Während Kate ihm
nachsah, dachte sie sich, dass sie vielleicht weiteren Streitereien einfach dadurch
aus dem Weg gehen konnten, dass sie ihre Gespräche auf so wenige Silben wie
möglich beschränkten. Außerdem dachte sie sich noch, dass seine alte,
ausgewaschene Jeans ganz schön gut saß. Ihr gefiel auch seine Art, sich zu
bewegen. Selbstbewusst, elegant und sexy zugleich.
Nun reicht’s aber, Kate! Je mehr du über diese ganze SexGeschichte nachdenkst, desto schwieriger wird das alles für dich. Kümmere dich lieber darum, dass Cullen, der Staatsanwalt, in Sicherheit ist, und vergiss Cullen, den Mann. Sie stieg ein paar Treppenstufen hinauf, dann hielt sie inne. „Wo ist denn deine Schwester?“ „Meghan musste zurück ins Krankenhaus.“ „Ach so.“ Natürlich. Ihre Tante und Cullens Schwester mussten ihr Leben weiterführen und ihre Arbeit wieder aufnehmen. Kate erklomm die letzten
Treppenstufen und versuchte sich damit zu arrangieren, dass sie von nun an für einen unvorhersehbaren Zeitraum mit Cullen allein sein würde. Zehn Minuten später hatte Kate ihr gesamtes Gepäck ins Zimmer gebracht. Sie fuhr sich einmal mit der Bürste durch das offene Haar, putzte sich die Zähne, spritzte sich ein wenig Eau de Toilette hinter die Ohren und trug rosafarbenes Lipgloss auf. Unten wartete Cullen schon in der Küche, deren Erscheinungsbild von Ziegelsteinmauern und viel glänzendem Kupfer bestimmt wurde. Durch die vielen Fenster war der Raum sehr hell, dazu gab es zahlreiche Pflanzen. Der ovale Eichentisch war für zwei Personen gedeckt. Auf den jeansfarbenen Platzdeckchen standen Teller aus gesprenkeltem Steingut, daneben mit Eiswürfeln gefüllte Becher. Als Servietten dienten rote Halstücher. Cullen hatte es geschafft, den Eintopf mit nur einer Hand aus dem Ofen zu holen, ohne ihn auf den makellosen Dielenfußboden fallen zu lassen. Nun stand das Essen auf einem knallblauen Untersetzer und erfüllte den Raum mit seinem herzhaften Duft nach Gewürzen. Das Ganze wirkte sehr ungezwungen, und sofort fühlte sich Kate sehr viel wohler in ihrer Haut. Sie war nicht der Typ Frau, der am liebsten aus Kristallgläsern trank und von feinen Porzellantellern aß… wahrscheinlich war das kein gutes Vorzeichen für die bevorstehenden sozialen Anlässe, zu denen sie Cullen als seine vermeintliche neue Freundin würde begleiten müssen. Cullen holte gerade zwei Salatteller aus dem Kühlschrank. Als er sich umwandte, erblickte er Kate. „Hast du dich schon häuslich eingerichtet?“ wollte er wissen, als er die Teller auf dem Tisch abstellte. „Zumindest habe ich schon mal alles hochgetragen“, informierte sie ihn. „Das sieht ja toll aus, was du uns gerade servierst. Ich wusste gar nicht, dass du auch kochst.“ „Na ja, in Wirklichkeit habe ich auf dem Gebiet kaum Begabungen. Deswegen habe ich auch jemanden engagiert, der sich ein bisschen um uns kümmert, solange wir hier sind. Ich glaube, Meghan hat dir schon von Greg erzählt, oder?“ „Ja“, erwiderte Kate. „Ich hoffe, man kann ihm vertrauen.“ Cullen lächelte. „Greg Kingsley kenne ich schon mein ganzes Leben lang. Früher war er praktischer Arzt in der Stadt und hat unsere Wunden verbunden, als wir noch klein waren. Seine Frau war eine der besten Freundinnen meiner Mutter.“ „Ich merke schon, er hat vorzügliche Referenzen“, sagte Kate. „Und jetzt?“ „Greg hat sich vor sechs Jahren zur Ruhe gesetzt, und seine Frau Maude ist letztes Frühjahr verstorben. Er hat Meghan zu verstehen gegeben, dass er überglücklich wäre, sich hier um meine Verletzungen zu kümmern und außerdem für uns zu kochen. Seine Tochter Connie wollte außerdem ein oder zweimal wöchentlich vorbeikommen, um zu putzen. Und bevor du mich danach fragst: Ja, Greg kann gut kochen. Wahrscheinlich besser als die meisten Frauen hier vor Ort.“ Cullen lächelte, und es war das erste richtige Lächeln, das Kate an ihm sah. Ihr Entschluss, die Beziehung so unpersönlich wie möglich zu gestalten, war ernsthaft gefährdet. Sie hielt den Atem an, und ihr wurde auf einmal ganz heiß. Es war einfach erstaunlich, wie sehr dieses Lächeln sein Aussehen veränderte. Er sah ja ohnehin schon ungemein gut aus, aber wenn nun auch noch dieses Glitzern in seinen Augen hinzukam, machte ihn das so zugänglich, wie sie ihn zuletzt nur erlebt hatte, als sie sich geliebt hatten. Sie zwang sich dazu, einmal tief durchzuatmen, um sich zu beruhigen. „Was hast du ihm denn erzählt, wer ich bin?“ „Da habe ich mich ganz an unseren Plan gehalten und ihm gesagt, du bist meine Freundin und leistest mir Gesellschaft, während ich mich von diesem Jagdunfall
erhole.“ Cullen zog einen Stuhl unter dem Küchentisch hervor. Kate setzte sich und dachte darüber nach, dass sie sich an solche kleinen Aufmerksamkeiten erst mal gewöhnen müsse. Während Cullen ihr trotz seines verletzten Arms so gut wie möglich dabei half, den Stuhl wieder unter den Tisch zu schieben, nahm sie sein After Shave wahr. Es roch ein wenig exotisch und ließ sie an heiße Wüstennächte denken und an schneidige Männer mit Turbanen, die auf stolzen Araberhengsten ritten. Kein guter Anfang. Da war sie gerade erst hier angekommen, und schon steckte sie mitten in einer Gefühlskrise. Die nächsten drei oder vier Monate würden ihr ganz schön lang werden.
5. KAPITEL An ihrem ersten Arbeitstag wachte Kate früh auf. Sie duschte und schlüpfte dann in eine ausgeblichene Jeans und ein buntes Hemd. Schließlich ging sie nach unten, um nachzusehen, was sie sich dort zum Frühstück organisieren konnte. Bereits auf der Treppe drangen ihr Düfte von Kaffee und gebratenem Speck in die Nase. Offenbar war Cullen schon wach. Als sie die Küchentür öffnete, erblickte sie dort jedoch einen großen, drahtigen grauhaarigen Mann. Er stand am Herd, in der einen Hand einen Kaffeebecher, in der anderen eine Gabel. Als er hörte, wie sich die Tür mit einem Quietschen schloss, drehte er sich zu Kate herum. Er hatte ein zerfurchtes Gesicht und eine große Nase und hieß Kate mit einem warmen Lächeln willkommen. „Sie sind sicher Kate“, sagte er, legte die Gabel ab und kam mit ausgestreckter Hand auf sie zu. Kate lächelte zurück und erwiderte die Begrüßung. „Und Sie müssen Dr. Kingsley sein.“ „Greg“, sagte er. Er hatte einen warmen, festen Händedruck. „Gut. Greg.“ „Setzen Sie sich doch schon mal, dann schenke ich Ihnen einen Kaffee ein.“ Kate winkte ab. „Lassen Sie den Speck nicht anbrennen. Um den Kaffee kümmere ich mich schon selbst.“ Greg lächelte. Im Schrank über der Kaffeekanne fand Kate einen Becher, dann goss sie sich etwas von der duftenden Flüssigkeit ein, während sie die Zutaten für das Frühstück, die auf der Arbeitsplatte standen, in Augenschein nahm: eine Tüte Reibekäse, scharfe Sauce und pürierte Bohnen. „Der mexikanische Eintopf gestern war übrigens ausgezeichnet.“ „Danke schön“, sagte Greg und schenkte ihr ein schiefes Lächeln. Sie erwiderte seinen Blick, dann schaute sie verstohlen zu dem Teller mit dem Speck hinüber. Greg lachte. „Bedienen Sie sich ruhig.“ Kate stibitzte ein Stück und nahm es mit an den Küchentisch, während Greg den restlichen Speck aus der Pfanne holte, um anschließend zwei Eier in das heiße Fett zu schlagen. „Nicht besonders gesund, dafür schmeckt es aber“, informierte er sie. „Ich weiß.“ „Ist Cullen schon wach?“ Kate zuckte mit den Schultern. „Das weiß ich nicht.“ Greg warf ihr einen Seitenblick zu, den sie nicht so ganz einzuordnen wusste, und begann, die Eier im Bratfett zu bewegen. „Wie haben Sie Cullen eigentlich kennen gelernt? Wo Sie doch in New Orleans wohnen und er in Little Rock.“ Mit dieser Frage hatte Kate nicht gerechnet. Sie hatte ganz vergessen, dass dieser Mann ja gar nicht wusste, warum sie eigentlich auf der Ranch war. Für Greg war sie Cullens Freundin und Geliebte, die jetzt eine Zeit lang bei ihm wohnte. Kein Wunder, dass er sie so seltsam angeschaut hatte, als sie nicht wusste, ob Cullen schon wach war. Na toll! Die erste Stunde ihres ersten Arbeitstages hier war noch nicht vorbei, und schon war Kate kurz davor, alles auffliegen zu lassen! Verzweifelt durchforstete sie ihr Hirn nach einer plausiblen Antwort auf Gregs Frage. „Mein Dad hat ein Restaurant, dort sind wir uns zum ersten Mal begegnet“, sagte sie schließlich. „Cullen war mit ein paar Freunden dort, und ich habe an dem Abend an der Kasse ausgeholfen.“ „Dann war es wohl Liebe auf den ersten Blick?“
„Na ja“, sagte Kate. „Zumindest war auf Anhieb Interesse da. Er… ähm… ist gleich am nächsten Abend wieder gekommen, und zwar allein. Da hat er mich dann gefragt, ob wir mal einen Kaffee zusammen trinken können. Ich habe Ja gesagt, und das haben wir dann auch getan, und…“ Sie ließ den Satz einfach ausklingen. „Und der Rest ist Geschichte, wie es so schön heißt.“ Dieser Kommentar kam aus Richtung der Küchentür. Dort stand Cullen. Er trug Jeans, die mindestens genauso verwaschen waren wie Kates, und betrachtete sie nachdenklich. „Guten Morgen“, begrüßte Greg ihn. „Gut geschlafen?“ „Es geht so. Wie ist es mit dir?“ erkundigte sich Cullen, während er zielstrebig auf Kate zuging. „Hast du gut geschlafen?“ „Mittelprächtig“, erwiderte sie und registrierte mit kritischer Miene, dass er immer näher kam. Etwa dreißig Zentimeter vor ihr blieb er stehen. „Du hast mich vermisst, stimmt’s? Hattest niemanden, an dem du deine eiskalten Füße wärmen konntest.“ Du liebe Güte, wovon redete er denn da? Und was hatte er jetzt vor? Diese Gedanken gingen Kate durch den Kopf, als Cullen sich vorbeugte und dabei vor Schmerz leise aufstöhnte. Er sah ihr kurz in die Augen, und offenbar wollte er ihr mit seinem Blick einen Hinweis geben. Erst wenige Sekunden, bevor seine Lippen ihre berührten, wurde ihr klar, was er vorhatte. Sie schnappte verärgert nach Luft und fuhr sofort zurück. Seufzend richtete sich Cullen wieder auf. „Oje. Du bist also immer noch böse auf mich?“ Böse? Sie hatte schon den Mund geöffnet, um Cullen zu fragen, wovon er da eigentlich sprach. Da hob er seinen gesunden Arm und legte ihr die Finger mit leichtem Druck auf die Lippen. „Nein, Kat. Lass uns jetzt nicht schon wieder streiten. Ich hab dir doch schon gesagt, dass es mir Leid tut. Verzeihst du mir?“ Er hatte die Kurzform ihres Namens benutzt, und seine Stimme klang heiser und intim. Auch der Blick, mit dem er sie betrachtete, könnte ohne weiteres als zärtlich durchgehen. Cullen hob die Augenbrauen, und etwas blitzte in seinen Augen auf. Offenbar wollte er sie warnen, und nun wurde ihr auch klar, was er gerade zu tun versuchte. Leider zu spät. Cullen hatte ihr einen Gutenmorgenkuss geben wollen, wie jeder verliebte Mann das tun würde, wenn er die Frau an seiner Seite morgens begrüßte. Und Kate war vor ihm zurückgewichen, also versuchte er nun, ihren Fehler wieder auszubügeln. Diese seltsame Idee, dass sie Cullens Geliebte spielen sollte, erwies sich als weitaus schwieriger, als sie angenommen hatte. Als Kate zu Greg sah, wandte er sich gerade wieder dem Herd zu. Und obwohl er dort offenbar konzentriert die Eier auf Tellern verteilte, wusste sie doch, dass er jedes einzelne Wort mit Interesse in sich aufnahm. Wer konnte ihm das auch übel nehmen? Zweifellos fragte er sich, wofür Cullen sich gerade entschuldigt hatte. Kate hatte keine Ahnung, was sie nun sagen sollte, also beschloss sie, Cullen die Angelegenheit zu überlassen. Der hatte augenscheinlich beschlossen, keine Erklärung abzuliefern. Er setzte sich Kate gegenüber an den Tisch und nahm von Greg einen gefüllten Teller entgegen. „Die Dame zuerst“, sagte er und reichte die Portion an Kate weiter. Entgeistert schaute sie auf ihren Platz. Vor ihr stand ein Teller mit zwei Scheiben Toast mit Butter, drei Scheiben Speck, zwei Spiegeleiern mit scharfer Sauce und Käse sowie einer ordentlichen Portion Bohnenpüree. Eben hatte sie noch großen Hunger gehabt, jetzt war ihr Appetit fast vollständig verflogen.
„Was machen Sie eigentlich beruflich, Kate?“ wollte Greg wissen.
Fragend sah sie Cullen an. Was sollte sie jetzt sagen? Bestimmt wollte er nicht,
dass sie dem Arzt von ihrer Tätigkeit als Privatdetektivin erzählte.
„Sie jagt Zahlungsunwillige.“
„Ich bin bei einer Versicherung.“
Als Cullen und Kate merkten, dass sie zwei vollkommen unterschiedliche Berufe
genannt hatten, trafen sich ihre Blicke.
„Hm“, sagte Greg gedehnt und sah fragend vom einen zur anderen. „Was denn
nun?“
Kate bemühte sich, so zu tun, als wäre nichts Außergewöhnliches passiert. Sie
griff nach ihrer Gabel und machte sich daran, ein Stück Spiegelei abzutrennen.
„Na ja, ich habe früher mal Leute ausfindig gemacht, die ihren Zahlungspflichten
nicht nachkommen wollten – ob es nun die Ratenzahlung fürs Auto oder der
Unterhalt fürs Kind war“, meinte sie. „Aber letzte Woche habe ich eine Stelle bei
einer Versicherung angenommen, dort versuche ich Fälle möglichen
Versicherungsbetrugs auszukundschaften. Der Job ist noch so neu, dass Cullen
das wohl noch nicht so parat hatte.“
„Verstehe.“ Greg wandte sich wieder dem Herd zu, wo eine weitere Ladung
Spiegeleier in der Pfanne brutzelte. „War bestimmt nicht ganz leicht, Urlaub zu
nehmen, um herkommen zu können. Wo es doch ein ganz neuer Job ist.“
Kate sah Cullen Hilfe suchend an. „Ach, eigentlich war man sogar sehr
verständnisvoll“, log sie.
„Das freut mich.“ Greg holte die fertigen Eier aus der Pfanne und füllte damit
einen weiteren Teller, den er Cullen brachte. „Wie funktioniert so eine
Fernbeziehung eigentlich?“ fragte er. „Stelle ich mir nämlich ganz schön
schwierig vor.“
Kate funkelte Cullen an, um ihm auf diese Weise zu vermitteln, dass er sich nun
ruhig mal wieder etwas ausdenken durfte. „Das ist es auch“, sagte er schließlich.
„Deswegen hat Kate sich auch endlich dazu entschieden, hierher zu ziehen.“
Nun lag ein nachdenklicher Ausdruck auf Gregs faltigem Gesicht. „Ich verstehe“,
erwiderte er. „Dann sitzt diese Versicherung, für die Kate seit neustem arbeitet,
also hier in Little Rock?“
„Ja!“
„Genau!“
Beiden Antworten war die Erleichterung darüber anzuhören, dass Greg selbst
eine so gute Erklärung gefunden hatte.
Der pensionierte Arzt nahm den Kaffeebecher in beide Hände und schaute von
Kate zu Cullen, von Cullen zu Kate.
„Was ist los?“ erkundigte sich Cullen.
Greg lächelte düster. „Was glaubt ihr zwei eigentlich, wen ihr vor euch habt? Den
Dorfidioten?“ Als sie ihn schockiert ansahen, fuhr er fort: „Ihr meint doch nicht
ernsthaft, dass ich auf so eine selten dämliche Geschichte hereinfalle?“
„Ich weiß gar nicht, wovon du sprichst“, sagte Cullen unschuldig.
„Natürlich weißt du das. Und Kate hier weiß das auch.“ Greg wies mit dem
Daumen auf sie. „Falls das überhaupt ihr richtiger Name ist.“
„Natürlich ist das mein richtiger Name“, empörte sie sich. Es kam ihr vor, als
würde sich ihr gesamtes Konzept vor ihren Augen in Luft auflösen.
„Na ja, das ist immerhin schon mal ein Anfang“, meinte Greg. „Wie wär’s, wenn
ihr jetzt damit aufhört, so dumm aus der Wäsche zu schauen, und mir
stattdessen mal erzählt, was hier eigentlich vor sich geht.“
Fünf Minuten später war Cullen mit seiner Geschichte fertig. Greg hatte sich
wortlos alle Details angehört – über den Unfall, Meghans Befürchtungen und dass
Kate sich bereiterklärt hatte, Cullens Freundin zu spielen, bis der Schuldige gefunden war. „Kann gut sein, dass das lebenslänglich bedeutet“, meinte Greg. „Was willst du damit sagen?“ hakte Cullen nach. „Vielleicht schnappt die Polizei den Täter ja nie.“ „Das wird sie schon“, warf Kate entschlossen ein. „Cullen und ich wollen noch heute eine Liste aller Verdächtigen aufstellen.“ „Das ist sicher eine gute Idee, ich hab aber eine noch bessere.“ „Was denn?“ wollte Cullen wissen. „Ihr zwei solltet euch mal hinsetzen und die Geschichte eurer Liebe ganz genau durchdenken. Wenn ihr alles beim Alten lasst, nimmt euch niemand ab, dass ihr ein Paar seid.“ „Da hat er wohl Recht“, wandte sich Cullen an Kate. Greg lächelte. „Das erklärt auch, warum Kate nicht wusste, ob du schon wach warst oder nicht.“ Als sie ihn daraufhin bloß wortlos ansah, fuhr er fort: „Belehrt mich ruhig eines Besseren, aber es gibt heutzutage nicht mehr allzu viele Liebespaare, die in unterschiedlichen Zimmern schlafen.“ Er wies mit dem Finger auf Cullen. „Ihr könntet auch ruhig mal ein bisschen kuscheln oder euch küssen.“ „Küssen!“ rief Kate aus, als ob sie davon noch nie etwas gehört hätte. „Ja, küssen“, wiederholte Greg nüchtern. „Wissen Sie, wenn ein Mann und eine Frau verliebt sind, dann umarmen und küssen sie sich normalerweise hin und wieder. Jedenfalls nimmt euch niemand euren kleinen Bluff ab, wenn Sie jedes Mal so genervt reagieren, kaum dass Cullen Ihnen zu nahe kommt, Kate.“ „Ich habe nicht genervt reagiert!“ „Doch, meine Liebe, das haben Sie. Ich wette, Sie haben schon Abdrücke in den Handinnenflächen… von Ihren Fingernägeln.“ Ohne nachzudenken, schaute Kate nach. Greg hatte richtig vermutet. „Sagte ich doch.“ Der alte Mann lächelte selbstzufrieden und wandte sich dann Cullen zu. „Und was dich angeht… du musst Kate ansehen, als würdest du sie anhimmeln. Schließlich soll sie die Frau sein, die du liebst, die, Frau, mit der du am liebsten bei jeder Gelegenheit in die Federn hüpfen würdest… vielleicht sogar die Frau, die du eines Tages heiraten willst. Da kannst du sie nicht so anfunkeln, als würdest du ihr am liebsten an die Gurgel gehen.“ „Hab ich doch gar nicht.“ Greg betrachtete seinen Arbeitgeber mit undurchdringlicher Miene, dann sagte er nur: „Lass uns jetzt einfach die kalten Eier entsorgen und noch mal von vorn anfangen.“ Angewidert, frustriert und wütend schlug der Mann die Zeitung zu und knallte sie auf den Stapel mit den übrigen. Wo hielt sich dieser McGyver bloß versteckt? Ihn im Jagdgebiet aufzuspüren war nicht weiter schwierig gewesen. Er hatte ihm ja einfach bloß zu folgen brauchen. Das Schwierigste daran war gewesen, so lange zu warten, bis McGyver allein war, und es so aussehen zu lassen, als wäre es ein Unfall gewesen. Nun stand der Mann wieder ganz am Anfang. Abgesehen davon, dass die Lokalnachrichten kurz von McGyvers Entlassung aus dem Krankenhaus am Freitag berichtet hatten, war der Aufenthaltsort des Staatsanwaltes völlig unbekannt. Jedenfalls war er nicht bei sich zu Hause, und er war auch noch nicht wieder bei der Arbeit erschienen. Also versteckte er sich irgendwo – bloß wo? Es war einfach nicht fair, dass ein Mann wie McGyver alles haben sollte: gutes Aussehen, eine liebevolle Familie, Ansehen, Erfolg. Und es war auch nicht fair, dass das Leben eines anderen Mannes aus Rache zerstört wurde. Und dass McGyver sich nicht eingestand, welche Rolle er dabei gespielt hatte, als alle
Träume und Hoffnungen dieses Mannes zu Grunde gerichtet wurden. Es hieß, dass die Zeit alle Wunden heilte, aber der Mann wollte das gar nicht erst zulassen. Mit jedem Tag wurde sein Hass auf McGyver nur noch stärker – genau wie seine Entschlossenheit, für ausgleichende Gerechtigkeit zu sorgen. Nein, es war noch nicht vorbei. Er war allerdings schon nah dran gewesen, die Welt von diesem arroganten, selbstgerechten Staatsanwalt zu befreien, und beim nächsten Mal würde er keine Fehler machen. Kate fand Cullen in der Bibliothek. Dort saß er am Schreibtisch, den Stuhl hatte er zum Fenster gedreht. Sie atmete den Geruch von Leder und altem Zigarrenrauch ein, den ein früherer Besucher im Raum hinterlassen hatte, und hörte die entfernten Geräusche aus der Küche, wo Greg tätig war. Aber eigentlich lieferten diese Sinneswahrnehmungen bloß den Hintergrund für das, was wirklich ihre Aufmerksamkeit in Anspruch nahm: der Mann, der hier am Schreibtisch saß. Seine Schultern waren gesenkt, und er wirkte gar nicht mehr so arrogant – oder selbstbewusst? – wie sonst. Jetzt, da er sich unbeobachtet fühlte, zeigte er eine Verletzlichkeit, die Kate noch nie zuvor an ihm bemerkt hatte. Jemand hatte sein Leben bedroht, und jetzt war seine ganze Welt im Umbruch. Kate wusste genau, wie es war, wenn alles über einem zusammenbrach, wenn Überzeugungen und Wertvorstellungen an der harschen Wirklichkeit zerschellten. Sie wusste auch ganz genau, wie schwer es war, auf den zerplatzten Illusionen wieder etwas Neues aufzubauen. Eine unvermutete Welle des Mitgefühls stieg in Kate auf. Um diesen Empfindungen entgegenzuwirken, klopfte sie schnell gegen den Türrahmen. Fast schuldbewusst drehte sich Cullen zu ihr um. „HL“ „Hi“, erwiderte sie und trat in den Raum. „Ist im Büro alles in Ordnung?“ Sie stellte diese Frage nicht nur aus Interesse, sondern vor allem, weil sie ihn damit aus seiner grüblerischen Stimmung holen wollte. „Ich denke schon.“ Er hielt ein weißes Blatt Papier hoch. „Ich habe gerade eine Liste der Leute zusammengestellt, gegen die ich die Anklage geführt habe und denen ich es zutrauen würde, dass sie mir etwas antun wollten. Wahrscheinlich fallen mir noch mehr Namen ein, wenn ich noch weiter darüber nachdenke.“ Kate setzte sich neben ihn an den Schreibtisch. „Wen hast du aufgeschrieben?“ Wortlos reichte er ihr die Liste. „Dub Lambert“, las sie. Sie begegnete Cullens Blick. „Was hat er getan, dass er gleich an erster Stelle steht?“ Cullen nahm sich einen Kugelschreiber und begann ein Kreuzmuster auf den Notizblock zu malen, der vor ihm lag. „Er ist vor etwa einem Monat vor meiner Haustür aufgetaucht und hat mich beschimpft.“ „Worum ging es denn?“ Cullen blickte auf den Notizblock hinab, auf dem er herumkritzelte, und schwieg. „Es ist wenig sinnvoll, Geheimnisse vor mir zu haben, Cullen“, ermahnte Kate ihn. „Wenn ich dir helfen soll, muss ich alles wissen. Auch die schmutzigen kleinen Detaüs.“ „Also gut“, erwiderte er schließlich. Dann atmete er einmal tief durch und fixierte einen Punkt auf der anderen Seite des Raumes. „Dub ist mit einer Frau namens Lucy verheiratet, mit der ich vor meiner Ehe mal eine kurze Affäre hatte. Joanie und ich hatten uns gerade vorübergehend getrennt, sie und Dub auch. Lucy war hübsch und verständnisvoll und… sie zeigte Interesse an mir. Man kann also sagen, dass ich sie benutzt habe.“ Cullen suchte Kates Blick. „Nicht besonders rühmlich von mir, oder?“ Draußen auf dem Fenstersims saß ein kleiner roter Vogel und schaute zu ihnen herein. Er neigte den Kopf erst in die eine, dann in die andere Richtung, als
wollte auch er gern Kates Meinung hören. Und obwohl sie wusste, dass es lächerlich war, musste sie zugeben, dass Cullens Geständnis ihr wehtat. Klar, er war ein gut aussehender Mann, natürlich hatte er auch schon andere Frauen gehabt. Und zweifellos hatte es auch nach New Orleans weitere Frauen in seinem Leben gegeben. Kate unterdrückte das schmerzliche Gefühl und bemühte sich, möglichst gelassen zu wirken. „Ich bin nicht hier, um darüber zu urteilen, was du getan und gelassen hast“, informierte sie ihn. „Mein Auftrag besteht darin, dich zu schützen und herauszufinden, wer hinter dem Mordanschlag steckt.“ Was auch immer Cullen fühlte, als er ihre Worte hörte, er versteckte es perfekt hinter seiner undurchdringlichen Maske. „Wie hat Dub überhaupt von Lucys und deinem kurzen Abenteuer erfahren?“ „Lucy war schwanger, als sie und er geheiratet haben. Offenbar waren bei dem Jungen vor einem Jahr einige Blutuntersuchungen nötig, und dabei kam dann heraus, dass seine Blutgruppe weder mit Lucys noch mit Dubs übereinstimmt.“ „Hm… dann hat Dub also Lucy unter Druck gesetzt, und sie hat ihm von dir erzählt“, mutmaßte Kate. „Bingo.“ Cullen erhob sich langsam, und der Vogel draußen brachte sich auf einen Ast der nun kahlen Eiche in Sicherheit, die im Sommer, in voller Blättertracht, ihren kühlenden Schatten auf diese Seite des Hauses warf. Kate lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „Und was ist passiert, als er bei dir vorbeigeschaut hat?“ Cullen kniff sich mit der gesunden Hand in den Nasenrücken. „Er wollte Geld. Ich sollte mich meiner Verantwortung stellen, wie er es nannte, sonst wollte er sich an die Presse wenden.“ „Aha“, sagte Kate. „Klingt mir ganz nach Erpressung. Wahrscheinlich hat ihn diese Enthüllung ziemlich getroffen.“ „Das dachte ich mir auch.“ Unruhig schritt Cullen um den Schreibtisch herum. „Was hast du ihm denn gesagt?“ „Dass er sich einen Anwalt nehmen und seine Behauptungen beweisen soll, wenn er Geld will. Und dass er sich ohne Beweise auch besser nicht an die Presse wendet, weil ich ihn sonst wegen übler Nachrede verklage.“ „Glaubst du denn, dass der Junge tatsächlich dein Sohn ist?“ „Nein. Da bin ich mir absolut sicher.“ „Hast du Lucy schon mal angerufen und mit ihr über die Sache gesprochen?“ erkundigte sich Kate. „Nein.“ „Vielleicht wäre das keine schlechte Idee gewesen, zumal sie Dub gegenüber ja deinen Namen genannt hat. Außerdem würde ich an deiner Stelle einen Vaterschaftstest machen lassen.“ „Vielleicht.“ Cullen ging bis zur Tür, dann drehte er sich wieder um. Kate lehnte sich in ihrem Stuhl vor. „Bist du denn kein bisschen neugierig, ob das Kind von dir ist oder nicht?“ „Er ist nicht von mir“, erwiderte er tonlos. „Mag ja sein, dass ich nicht immer die klügsten Entscheidungen fälle, aber ich bin kein unvorsichtiger Mensch. Ich habe gewisse… Vorkehrungen getroffen.“ Kate entging nicht, dass sich Cullens Wangen leicht rot färbten. „Gut, dann hast du also Vorkehrungen getroffen“, sagte sie. „Aber auch dann geht hin und wieder mal was schief. Ich schätze, dass eine ganze Menge Kinder trotz gewisser Vorsichtsmaßnahmen auf die Welt gekommen sind.“ „Sag mal, auf wessen Seite stehst du eigentlich?“
„Darum geht es hier doch gar nicht“, erwiderte Kate. „Ich liste hier bloß die Tatsachen auf, und die sind nicht immer angenehm.“ Um ihm noch eine Reaktion zu entlocken, fügte sie hinzu: „Ich finde, dass du unbedingt einen Vaterschaftstest machen solltest.“ Cullen schloss die Augen. „Wie würde es dir denn damit gehen, wenn der Junge dein Sohn wäre?“ drängte sie ihn. Er wirkte angeschlagen. „Das ist unmöglich!“ rief er gequält aus. „Mein Sohn sollte ein Wunschkind sein und von zwei Menschen stammen, die sich lieben. Wenn ich der Vater dieses Kindes wäre, dann wäre das nicht fair… mir und Joanie gegenüber.“ Zwei Dinge konnte Kate aus seiner Reaktion schließen. Erstens hatte Cullen McGyver trotz aller Weltgewandtheit und Professionalität eine gehörige Portion Idealismus. Und zweitens trug er noch viele unverarbeitete Gefühle für seine verstorbene Frau in sich. Kein Wunder, dass er ihr, Kate, in New Orleans den Rücken zugekehrt hatte: Es gab in seinem Herzen einfach keinen Platz für eine andere Frau. Bei dem Gedanken zog sich Kates eigenes Herz zusammen. „Mein lieber Herr Staatsanwalt, ich sage Ihnen so etwas ja nur äußerst ungern“, setzte sie an. „Aber das Leben ist nun mal nicht immer fair. Wenn es so wäre, wäre mein Partner bei der Polizei jetzt nicht tot. Also schlag dir das mit der Fairness mal lieber aus dem Kopf. Und so, wie die Dinge stehen, gibt es irgendwo einen kleinen Jungen, der recht gut dein Sohn sein könnte. Von allem, was ich über dich gehört habe, scheinst du sonst nicht der Typ Mann zu sein, der seiner Verantwortung aus dem Weg geht.“ „Das nicht. Aber vielleicht hat Louella dir davon erzählt, dass ich möglicherweise für den amerikanischen Senat kandidiere. Und du weißt ja, wie die Medien reagieren, wenn solche Dinge ans Licht kommen. Es wäre reiner Selbstmord, jetzt diesen Vaterschaftstest einzuleiten.“ „Besser, es kommt jetzt ans Licht als mitten in der Wahlkampagne.“ „Verdammt!“ fluchte Cullen und funkelte Kate wütend an. Sie zuckte bloß mit den Schultern. „Okay, okay. Du hast ja Recht. Besser jetzt als später. Und natürlich ist es egoistisch von mir, meine Karriere über das Leben eines Kindes zu stellen. Ich lasse den Test machen.“ „Schön. Meiner Einschätzung nach ist es nämlich immer gut zu wissen, wo man steht.“
6. KAPITEL „Gut“, sagte Kate und betrachtete erneut die Liste der Verdächtigen, die Cullen zusammengestellt hatte. „Dann werde ich jetzt ein paar Nachforschungen über diesen Dub Lambert anstellen. Wen hast du noch aufgeschrieben? Claude Porter? Wer ist das?“ Cullen legte den Kopf in den Nacken und starrte zur Decke, während er nachdachte. „Der hatte sich angeblich den Rücken verletzt und sich eine ordentliche Summe von seiner Unfallversicherung auszahlen lassen. Schließlich hat ein Fahnder ihn bei einer Tätigkeit ertappt, die er mit seinem angeblich so kaputten Rücken unmöglich hätte ausführen können. Er war schuldig, und wir haben es ihm bloß nachgewiesen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass er mich jetzt umbringen will, bloß weil ich dafür gesorgt habe, dass er auffliegt.“ „Man kann nie wissen“, meinte Kate und ging zum nächsten Namen auf der Liste über. „Was ist mit John Lamonti?“ „Der war Trainer eines MädchenBasketballteams und ist einigen Spielerinnen etwas zu nah gekommen. Die Verteidigung wollte den Geschworenen weismachen, dass das alles in gegenseitigem Einvernehmen geschehen ist. Das hat aber nicht geklappt.“ „Und wie lange ist das jetzt her?“ „Ungefähr vier Jahre. Das Letzte, was ich von ihm gehört habe, war, dass er jetzt an einer Schule im Südosten von Arkansas arbeitet.“ Cullen rieb sich mit den Fingerkuppen die Unterlippe und dachte über den nächsten Kandidaten nach, den er aufgeschrieben hatte. „Vincent James hat den Staat um über hunderttausend Dollar betrogen. Er hat einfach weiter die Fürsorgezahlungen an seine Mutter kassiert, obwohl die schon längst gestorben war.“ „Und der nächste Name? Michael Mullins?“ fragte Kate. „Michael Mullins…“ Erneut schloss Cullen die Augen. „Der gute Mike hat ein paar Jahre lang jede Menge gefährlicher Chemikalien in einem Bach entsorgt und dadurch zahlreiche Wildtiere und ein oder zwei Rinderherden auf dem Gewissen. Ich weiß nicht mehr, wie lange er dafür bekommen hat. Jedenfalls nicht lange genug, da bin ich mir sicher.“ Plötzlich stieß Cullen einen Fluch aus. „Was ist?“ Er sah Kate an. „Jetzt erinnere ich mich, dass er damals gesagt hat, er würde mir das heimzahlen, wenn er wieder entlassen würde.“ „Du weißt aber nicht mehr, wann das gewesen wäre?“ „Nein“, erwiderte Cullen. „Tut mir Leid.“ „Kein Problem, das finde ich schon noch heraus.“ Kate schob sich den Kugelschreiber hinter das Ohr. „Ich nehme mir sowieso alle diese Kerle mal vor und überprüfe, wo sie gerade stecken und was sie so treiben. In der Zwischenzeit kannst du dir ja überlegen, wer dir außerdem etwas Böses wollen könnte.“ Cullen nickte, und Kate erhob sich zum Gehen. „Übrigens“, sagte er, bevor sie die Bibliothek verlassen konnte. „Ich bin am ersten Dezember zu einer Ausstellungseröffnung in Dallas eingeladen. Anschließend gibt es noch eine Party. Du weißt ja, dass ich diese sozialen Verpflichtungen habe, die ich nicht absagen kann und will.“ „Also gehen wir zusammen hin“, sagte Kate, obwohl ihr ganz und gar nicht danach zu Mute war. Erstens begab sich Cullen dadurch in Gefahr, und zweitens hasste sie selbst solche Anlässe wie die Pest. „Sieht so aus, als müssten wir vorher in die Stadt fahren, um ein wenig einzukaufen“, bemerkte er nun. Kate konnte diesen Vorschlag zunächst gar nicht einordnen. „Einkaufen?“
„Ja. Du brauchst für den Anlass noch eine passende Garderobe.“ Kate musste sich schon sehr beherrschen, um nicht laut aufzustöhnen. Sie hasste Veranstaltungen mit Kleiderordnung. Egal, wie häufig sie zu hören bekam, dass sie hübsch aussah, sie hatte dabei immer das Gefühl, bloß eine Rolle zu spielen. „Ich… ich weiß doch gar nicht, was ich mir kaufen soll. Was für so einen Anlass angemessen wäre.“ „Ich aber.“ Cullen lächelte grimmig. „Mach dir mal keine Sorgen, wir beide werden das perfekte Gespann sein. Du setzt dein Leben für mich aufs Spiel, und ich sorge dafür, dass du die bestangezogene Frau auf der ganzen Veranstaltung bist. Und da ich mich hier ohnehin gerade zu Tode langweile, fahren wir am besten gleich heute Nachmittag los.“ „Heute Nachmittag?“ „Wieso nicht? Du hältst doch auch nicht besonders viel davon, gewisse Dinge unnötig hinauszuzögern.“ Damit spielte er auf den Vaterschaftstest an. Kate seufzte. „Da hast du Recht.“ „Prima. Dann entschuldige mich jetzt bitte, ich muss meine Medikamente nehmen.“ Er wandte sich um und ließ Kate allein in der Bibliothek zurück. Obwohl sie es ihm gegenüber nie zugeben würde, war sie grenzenlos verwirrt, und sie machte sich schreckliche Sorgen. Früher war es ihr doch immer so gut gelungen, ganz in ihrer falschen Identität aufzugehen, sich in ihren Widersacher hineinzuversetzen… und auf diese Weise nach und nach an verschiedene Informationen heranzukommen, um diese schließlich wie die Teile eines Puzzles aneinander zu fügen. Bloß diesmal war alles anders. Ganz anders. Du kriegst das schon hin. Immer wieder sagte Kate diese Worte vor sich hin, als sie in die Bibliothek ging, wo Cullen auf sie wartete. Als sie ihn am Schreibtisch stehen sah, den Telefonhörer am Ohr, zog sich ihr das Herz zusammen. Sie hörte nicht, was er gerade zu dem Anrufer sagte, dazu war sie zu sehr damit beschäftigt, ihn zu betrachten. Und er sah aus, als wäre er mehrere Millionen schwer, so wie er angezogen war: Er trug eine edle, offensichtlich sehr teure graue Hose, dazu ein Hemd in hellem Fliederton und eine Sportjacke. Er war frisch rasiert, das kurze dunkle Haar hatte er zu einem Seitenscheitel gebürstet. Am rechten Finger trug er einen Onyxring, am linken Handgelenk eine Armbanduhr, die wahrscheinlich mehr gekostet hatte, als Kate innerhalb mehrerer Monate verdiente. Nun wandte Cullen sich Kate zu, die im Türrahmen der Bibliothek stand, und sagte: „Warte mal. Ich gebe dir Kate.“ Dann hielt er ihr den Hörer hin. „Meghan ist dran. Das musst du dir anhören.“ Kate nahm das Telefon entgegen. „Was ist passiert?“ Meghans Stimme klang verängstigt und gehetzt. „Ich bin bei Cullen zu Hause vorbeigefahren, um dort ein paar Sachen einzupacken, die ich ihm morgen mitbringen wollte, wenn wir zur ThanksgivingFeier auf die Ranch kommen. Da habe ich dann auch die Nachrichten auf seinem Anrufbeantworter abgehört. Unter anderem hatte ein Mann draufgesprochen, und der sagte so etwas wie: Ich habe im Fernsehen von Ihrem Unfall gehört. Schade, dass es nicht richtig geklappt hat. Sie hören wieder von mir, wenn Sie aus Ihrem Versteck herauskommen.“ Kates Herzschlag beschleunigte sich. Einerseits hatte dieser Verbrecher offenbar keine Ahnung, wo sie sich aufhielten, da konnten sie jetzt immerhin ruhigeren Blutes einkaufen gehen. Andererseits ließ die kurze Nachricht nun keinen Zweifel mehr daran, dass man absichtlich auf Cullen geschossen hatte. „Ich wusste gar nicht, was ich eigentlich machen sollte“, sagte Meghan.
„Sie haben sich genau richtig verhalten, aber jetzt müssen Sie sich wieder beruhigen“, beschwichtigte Kate die Frau. „Cullen ist nicht unmittelbar gefährdet. Können Sie mir eine Kopie dieser Nachricht anfertigen?“ „Ja“, erwiderte Meghan. „Dann tun Sie das. Übergeben Sie das Original der Polizei und bringen Sie die Kopie zu mir, damit Cullen und ich uns den Anruf zusammen anhören können. Vielleicht erkennt er die Stimme ja wieder.“ „Gute Idee.“ Meghan informierte Kate noch darüber, dass sie und ihre Familie am nächsten Tag gegen Mittag ankommen würden, dann legte Kate auf und blickte zu Cullen. Sofort erkannte sie, dass es nicht notwendig war, ihm eine Zusammenfassung des Gesprächs mit Meghan zu liefern. Er hatte schon alles mitbekommen. „Bist du bereit?“ fragte er. Sie nickte, und er warf ihr die Autoschlüssel zu, da er unter dem Einfluss der Schmerzmittel nicht fahren konnte. Kate fing sie und verließ ihm voran den Raum. Ihr Gang war aufrecht, ihre Miene wirkte ausgeglichen. Doch all das täuschte. In Wirklichkeit war sie innerlich aufgewühlt, denn nun war klar, dass Cullen tatsächlich in Gefahr war. Irgendjemand – offenbar ein Mann – wollte Cullen töten. Und es war Kates Aufgabe, das zu verhindern. Gemeinsam fuhren Kate und Cullen nach Little Rock. Kate lenkte den Wagen, und Cullen gab ihr genaue Anweisungen, so gelangten sie schließlich zu einer Boutique in einer beliebten Einkaufsstraße. In dem Moment, in dem sie vor dem Laden hielten, der einfach den Namen Chyna’s trug, wüsste Kate schon, dass sie hier fehl am Platze war. Ganz offenbar kleideten sich hier bloß die Reichen und die Schönen ein. Die Schickimickis, wie ihre Tante Lou sich ausdrücken würde. Kate selbst würde hier vermutlich nicht mal vorbeischauen, wenn sie den entsprechenden Geldbeutel hätte. Ihr zog sich der Magen zusammen, und sie fühlte sich ganz und gar nicht wohl in ihrer Haut. Cullen hielt ihr die Tür auf, und ihm voran betrat Kate die Boutique. Der Laden war ziemlich klein und im Stil der vierziger Jahre eingerichtet, der Kate gefiel. Sofort kam eine Verkäuferin auf sie zu. Die musterte Kate geringschätzig von oben bis unten und wandte sich dann ab, um stattdessen Cullen zu begrüßen, den sie offenbar kannte. Cullen erkundigte sich nach Chyna, und dann hörte Kate, die sich gerade einen Ständer mit Seidenblusen anschaute, ihn auch etwas über Joanie sagen. Kate drehte das Schild um, das an einer seegrünen Bluse hing. Als sie den Preis sah, der darauf geschrieben stand, zog sie sofort erschrocken die Hand zurück, als hätte sie sich daran verbrannt. „Sie suchen also nach einem Abendkleid“, hörte sie eine seidenweiche Stimme hinter sich. Die Verkäuferin, eine ziemlich aufgetakelte Mittfünfzigerin, schenkte Kate ein bemüht höfliches Lächeln, das allerdings nicht ihre Augen erreichte. „Ja“, erwiderte Kate. „So ist das wohl.“ Die Frau wies auf den hinteren Boutiquebereich. „Wenn Sie sich dort mal umschauen mögen. Vielleicht finden Sie ja etwas, das Ihnen gefällt.“ Kate warf Cullen einen beunruhigten Blick zu und folgte der Frau, die ihr ein weiteres künstliches Lächeln schenkte und sie aufforderte, sie doch Frieda zu nennen. „Schwebt Ihnen eine bestimmte Farbe vor?“ Gerade wollte Kate die Frage verneinen, da wurde ihr bewusst, dass die Verkäuferin gar nicht sie, sondern Cullen angesprochen hatte.
„Ein Pastellton wäre schön“, meinte der. Er wirkte so, als wäre er in Gedanken ganz weit weg, als bemühte er sich mit aller Kraft, Erinnerungen an eine lang vergangene Zeit wachzurufen. Ein Pastellton? Kate war entsetzt. So etwas hatte sie zuletzt als Kleinkind getragen. Verzweifelt schaute sie zu der Verkäuferin hinüber, aber deren Aufmerksamkeit gehörte ausschließlich Cullen. „Wir suchen etwas Zartes, Feminines. Vielleicht aus Chiffon“, fügte der gerade hinzu. „Natürlich, Mr. McGyver.“ Frieda betrachtete Kate noch einmal von oben bis unten, murmelte etwas über ihre Größe und wählte dann drei Kleider aus. „Fangen wir doch mal hiermit an.“ Pflichtbewusst verschwand Kate in der Umkleidekabine und hängte fliederfarbenen Chiffon, Perlenstickereien in Apricot und mintgrünen Satin an den Haken. Als Erstes probierte sie das grüne Etuikleid an. Es war gar nicht schlecht geschnitten, allerdings wurde ihr beim Anblick der Farbe regelrecht übel. Tapfer trat Kate aus der Kabine, um sich Cullen zu präsentieren, der draußen in einem Lehnstuhl wartete. Kate biss sich auf die Lippen, um bloß nichts von sich zu geben, womit sie provozieren könnte, dass zwischen ihnen wieder einmal die Funken flogen. Schließlich brauchte sie das Kleid ja bloß ein einziges Mal zu tragen. Und trotzdem, wenn sie sich damit in der Öffentlichkeit zeigen müsste, würde sie den Job sofort an den Nagel hängen, Morddrohung hin oder her. Cullens Gesichtsausdruck war undurchschaubar, konzentriert runzelte er die Stirn. Kate folgte Friedas Aufforderung und drehte eine kleine Pirouette. Nun sah Cullen noch kritischer drein. „Steht dir gut“, sagte er schließlich. Das Kleid gefiel ihm also? Kate schlug ihre bisherige Zurückhaltung in den Wind. „Ich finde es furchtbar.“ Immerhin eine eindeutige Aussage. „Ich bin einfach nicht der Typ, der Mintgrün tragen kann.“ „Da muss ich ihr allerdings Recht geben“, schaltete sich Frieda ein und lächelte Cullen entschuldigend an. „Probieren wir doch mal etwas anderes.“ Das apricotfarbene, mit Perlen verzierte Kleid passte zwar farblich besser, aber die Stickerei war aus Kates Sicht viel zu überladen. „Ich komme mir vor wie ein Weihnachtsbaum“, sagte sie und begegnete herausfordernd Cullens Blick. Der funkelte sie wütend an, als würde er denken, sie stellte absichtlich auf stur. „Versuch’s mal mit dem nächsten Kleid“, sagte er schließlich. Die fliederfarbene Kreation aus Chiffon war die reinste Katastrophe – vom Schnitt bis zur Farbgebung. In dem über Kreuz geschnürten Leibchen kam sie sich vor wie ein mexikanischer Bandit aus einem alten Western… oder eine Barbiepuppe beim Abschlussball. Kate biss die Zähne zusammen und verließ die Kabine, um die Meinung ihres ganz persönlichen kleinen Publikums einzuholen. Ganz offensichtlich war Cullen aus irgendeinem Grund völlig ratlos. „Joanie hatte doch damals ein ganz ähnliches Kleid“, sprach er seine Gedanken aus. Genau wie Kate vermutet hatte! Er hatte Frieda also angewiesen, Kate Kleider in Farben und Stilrichtungen zu bringen, wie sie seine Frau früher getragen hatte. „Cullen“, sagte Kate. „Ich bin nicht Joanie, und ich lasse mich von dir auch nicht in eine billige Kopie von ihr verwandeln.“ Obwohl sie sehr leise sprach, so doch deutlich genug, dass auch Frieda den scharfen Unterton mitbekam. Die Verkäuferin warf Cullen daraufhin einen Hilfe suchenden Blick zu. Die Situation war gerettet, als plötzlich eine weibliche Stimme ertönte: „Nein! Um Gottes willen, Frieda! Was tun Sie dieser armen Frau bloß an?“
Cullen und die Verkäuferin drehten sich um, und Kate erblickte eine zierliche Frau
mit milchkaffeefarbener Haut und einem Kostüm im Stil der vierziger Jahre. Wie
ein kleiner Wirbelsturm fegte sie durch den Verkaufsraum.
„Hallo, Chyna“, begrüßte Cullen die Frau lächelnd.
Aha, die Boutiquebesitzerin also. Sofort registrierte Kate, wie sehr er sich
offenbar freute, sie zu sehen. Mit ihrer zierlichen und sehr weiblichen Figur,
riesigen braunen Augen, einem sinnlichen Mund und dem kurzen, kecken
Haarschnitt hatte sie genau das Aussehen, von dem. die rothaarige,
aufgeschossene Kate schon immer geträumt hatte.
„Sei gegrüßt, Partner!“ sagte Chyna und lächelte herzlich, bevor sie sich zu
Cullen hinüberlehnte und ihm einen Kuss auf die Wange hauchte.
Partner? Was ging hier vor sich?
Chyna betrachtete die Schlinge, in der Cullen seinen verwundeten Arm trug.
„Oje, was hast du denn angestellt?“
„Ich bin einem etwas unvorsichtigen Jäger in die Schusslinie geraten. Alles nur
halb so schlimm.“
Nun wandte sich Chyna Kate zu. „Ts, ts. Der Mann fängt sich eine Kugel ein, aber
es ist alles nur halb so schlimm.“ Sie streckte die rechte Hand aus. „Hi. Ich bin
Chyna Talmadge. Und Sie sind…?“
„Kate. Kate Labiche.“
„Kate Labiche“, wiederholte die Boutiquebesitzerin. „Cullens…?“ Sie brachte die
Frage nicht zu Ende und sah stattdessen von Kate zu Cullen.
„Oh, ich bin bloß die Liebe seines Lebens“, säuselte Kate mit honigsüßem
SüdstaatenAkzent und schenkte Cullen ein Lächeln, von dem sie hoffte, dass es
überzeugend war. Dabei entging ihr nicht der Ärger, der kurz in seinen Augen
aufleuchtete.
Chyna schien angetan. „Na, das wird aber auch allerhöchste Eisenbahn, wenn ich
das mal so sagen darf. Schließlich kannst du nicht bis an dein Lebensende als
einsamer Wolf durch die Gegend streifen.“
„Dem hat Kate auf jeden Fall ein Ende gesetzt“, erwiderte er und lächelte Chyna
freundschaftlich an.
Genau, dachte Kate. Ich und ein unbekannter Mörder.
Chyna hob die perfekt geschwungenen Augenbrauen. „Es muss wirklich ernst
sein, wenn ihr sogar schon zusammen Kleidung kauft.“
Nicht ganz neidlos lauschte Kate den leichtherzigen Neckereien zwischen den
beiden Freunden. Sie selbst hatte immer nur wenige wirklich gute Freunde
gehabt, und die waren dann meist entweder in einen anderen Bundesstaat
gezogen oder eben immer noch bei der Polizei in New Orleans, also sah sie sie
jetzt nur noch selten.
Chyna wandte nun Cullen den Rücken zu und widmete sich voll und ganz Kate.
Dabei neigte die Boutiquebesitzerin den Kopf mal nach rechts und mal nach links,
während sie Kate Anweisungen gab, sich erneut um die eigene Achse zu drehen.
„Sie kommen aus New Orleans, stimmt’s?“ fragte Chyna gesprächig. In erster
Linie galt ihre Aufmerksamkeit jedoch dem Kleid, das Kate gerade trug.
„Ja.“
„Das dachte ich mir doch. Ich hab’s am Akzent gehört.“ Nun drehte sich Chyna zu
der Verkäuferin um. „Wie kommen Sie bloß dazu, ihr etwas Fliederfarbenes
vorzuschlagen?“
„Mr. McGyver hat gesagt, dass es Pastelltöne sein sollen“, verteidigte sich Frieda.
Chyna stemmte die Hände in die schmalen Hüften. „So, hat Mr. McGyver das
gesagt? Darf ich Sie daran erinnern, dass Sie hier die Expertin sind? Und der
Grundsatz lautet doch: Lass nie eine Frau etwas anziehen, von dem du schon
weißt, dass es ihr nicht stehen wird. Schließlich wollen wir doch etwas verkaufen.“ Cullen war der Nächste, den die Boutiquebesitzerin sich vornahm. „Du versuchst wohl gerade, eine zweite Joanie aus ihr zu machen, Zuckerschnäuzchen. Aber sie ist nun mal nicht Joanie.“ Augenblicklich schoss Cullen das Blut in die Wangen. Also hatte Chyna denselben Eindruck wie Kate. Seltsamerweise konnte sie keinerlei Triumphgefühl dafür entwickeln, dass sie Recht gehabt hatte. Sie fühlte sich bloß seltsam traurig. Als Chyna ihren niedergeschlagenen Gesichtsausdruck bemerkte, sagte sie: „Das sollte keine Beleidigung sein, Kate aus New Orleans. Joanie McGyver war eine meiner besten Freundinnen. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätte ich nie die Gelegenheit gehabt, diesen Laden zu eröffnen. Ich meinte eben bloß, dass Joanie ein weicher, lieblicher Typ war. Und an Ihnen ist so gar nichts Weiches und Liebliches.“ Kate wusste nicht, ob sie schon mal jemandem begegnet war, der so freimütig sagte, was er dachte. „Aber das ist völlig in Ordnung“, fügte Chyna schnell hinzu und tätschelte Kates Arm, während sie sie zurück in die Kabine schob. „Ich bin selbst nicht besonders lieblich. Sie haben bestimmt auch schon festgestellt, dass viele Dinge, die einen erst auf den zweiten Blick ansprechen, sich am Ende als etwas ganz Besonderes herausstellen. Und jetzt warten Sie mal kurz hier, und ich hole Ihnen dieses Wahnsinnskleid, das ich selbst entworfen habe. Das zieht Cullen McGyver bestimmt die Schuhe aus.“ „Ja, klar.“ Dass Kates Stimme verbittert klang, überraschte sie nicht. Wohl aber der enttäuschte Unterton, der in ihren Worten mitschwang. „Was ist denn los?“ erkundigte sich Chyna. „Sie würden Ihrem Liebsten wohl lieber ein anderes Kleidungsstück ausziehen, was?“ Dieser Frau entgeht aber auch wirklich nichts, dachte Kate. „Ich berufe mich auf mein Recht zu schweigen“, sagte sie gedehnt und versuchte dabei so gut wie möglich, ihre Rolle zu spielen. Sie dachte immer noch angestrengt darüber nach, warum es sie so sehr mitnahm, dass sie Cullen als Frau wohl nicht ansprach, da kam Chyna mit dem Kleid zurück, und Kate zog es gleich an. Es war einfach perfekt. Kate war angenehm überrascht, was für eine Rolle die richtige Farbe und der passende Stil spielten. Es war auch überwältigend, wie viel besser sie sich in diesem Kleid fühlte. Auf einmal kam sie sich richtig chic vor. Sexy. Begehrenswert. So hatte sie sich schon lange nicht mehr gefühlt, vielleicht noch nie. Das Kleid war aus einem weich fließenden, schimmernden olivgrünen Stoff gearbeitet, der gleichzeitig ein wenig dehnbar war. Es hatte einen Wasserfallausschnitt und umschmiegte sinnlich und geschmeidig ihren Oberkörper bis zu den Hüften. Darunter gaben zwei lange Schlitze auf beiden Seiten bei jedem Schritt die Sicht auf Kates cremefarbene Schenkel frei. Während es von vorn vornehm zurückhaltend wirkte, ließ es hinten den Rücken bis kurz unterhalb der Taille frei. Dazu gehörte eine kragenlose Jacke aus schwarzem Samt, die vorne kurz war, im Rücken jedoch länger, so dass sie den Rückenausschnitt ganz bedeckte. Das Kleid war dezent, und doch gewagt. Hinter Kate stand Chyna, um die Früchte ihrer Arbeit zu begutachten. Als sie Kates Gesichtsausdruck im Spiegel sah, grinste sie zufrieden. „Das ist es, Baby“, sagte sie und gab Kate einen kleinen Schubs. „Nun schauen wir doch mal, was Ihr Liebster dazu zu sagen hat.“
7. KAPITEL Cullen war immer noch ganz aufgewühlt, weil Kate und Chyna ihm beide vorgehalten hatten, dass er aus Kate eine zweite Joanie machen wollte. Und das Schlimmste an der ganzen Sache war für ihn, dass sie Recht hatten. Er hatte tatsächlich versucht, Kate in Kleider zu stecken, die von Farbgebung und Stil her perfekt zu seiner verstorbenen Frau gepasst hätten, Kates markanteres Aussehen aber keineswegs vorteilhaft unterstrichen. Chyna hatte das sofort gemerkt, gleich als sie zur Tür hereingekommen war. Joanie und Chyna hatten sich auf dem College angefreundet. Sie waren ein ungleiches Paar, verstanden sich aber blendend und eröffneten nach dem Abschluss gemeinsam eine Boutique. Chyna hatte die kreative Ader und Joanie das Geld und den Geschäftssinn. In ihrer ersten Boutique, die noch woanders stand, hatte Cullen Joanie kennen gelernt. Er war mit einer anderen Frau in das Geschäft gekommen, als Chyna gerade unterwegs war und Joanie auf den Laden aufpasste. Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen. Nach Joanies Tod war Cullen Teilhaber der Boutique geworden. Chynas Geschäftssinn hatte sich mittlerweile deutlich verbessert, so dass sie jetzt die Boutique allein führte. Allmählich wurde Cullen kribbelig. Da wurde der Vorhang der Umkleidekabine zur Seite geschoben, und Kate erschien. Langsam kam sie auf ihn zu. Sie ging sehr aufrecht, in der einen Hand hielt sie eine schwarze Samtjacke. Umwerfend. Das war das erste und einzige Wort, das Cullen bei dem Anblick seiner Leibwächterin in den Sinn kam. Der weiche olivgrüne Ton des Stoffes schmeichelte ihrer Haut und Haarfarbe auf wunderbare Weise. Das Kleid schmiegte sich an ihren Körper, umspielte jede Kurve, unterstrich ihre Weiblichkeit. Der Anblick war ungemein aufreizend. Plötzlich und unerwartet überkam Cullen ein Verlangen, das von seinem ganzen Körper Besitz ergriff, sein Herz schneller schlagen ließ und ihn benommen machte, als hätte er zu viel getrunken. „Und?“ fragte Chyna. Cullen war noch so überwältigt von Kates Verwandlung, dass er Chynas selbstzufriedenes Lächeln gar nicht wahrnahm. „Was denkst du?“ Er dachte, dass es sich wunderbar anfühlen würde, seine Hände über Kates seidige Arme gleiten zu lassen. Mit den Lippen wollte er jede einzelne goldene Sommersprosse berühren, die auf ihrer Schulter und im Dekollete verteilt waren – ein unmögliches Unterfangen. Das wusste er, denn er hatte es bereits ausprobiert. Er sehnte sich danach, ihr über die Hüften zu streichen, den weichen, glatten Stoff des Kleides zu spüren und darunter ihren festen Körper… Cullen war bestürzt, beschämt und ärgerlich zugleich darüber, dass er so intensiv auf Kate reagierte. Ohne ein Wort zu sagen, löste er den Blick von ihr und sah stattdessen Chyna an, deren Lächeln sich mittlerweile in ein Stirnrunzeln verwandelt hatte. „Ich dachte, es würde dir gefallen“, begann sie, „aber wenn es nicht so ist…“ „Doch, es gefällt mir.“ Seine Stimme klang ungewohnt heiser. Ganz ohne es zu wollen, blickte er wieder zu Kate. „Probieren Sie doch auch mal die Jacke dazu, meine Süße“, schlug Chyna vor. Auf einmal wirkte sie äußerst zufrieden. Kate kam der Anregung gerne nach und drehte eine weitere Pirouette. „Wir nehmen das Kleid“, sagte Cullen. „Und alles, was dazugehört.“ Als sie fertig waren, besaß Kate nicht nur Schuhe und Dessous passend zum Kleid, sondern auch noch ein braunes Kostüm sowie mehrere Hosen und Blusen
zum Kombinieren. Chyna meinte, Cullen könne die Kleidungsstücke zum Selbstkostenpreis haben – schließlich musste sie ihren Teilhaber und Buchhalter bei guter Laune halten. Als sie ihm den Gesamtpreis nannte, sog Kate hörbar die Luft ein. „Alles in Ordnung?“ erkundigte sich Cullen, der gerade die Kreditkarte über den Tresen schob. „Ich… es ist bloß… Ich… kann das nicht annehmen“, stammelte sie. „Das ist einfach zu viel.“ „Nun machen Sie sich mal keine Sorgen. Er kann sich das schon leisten“, beruhigte sie Chyna. Cullen war sich einerseits bewusst, dass sie beide bloß eine Rolle spielten, andererseits ahnte er nicht, dass immer noch ein Ausdruck des Verlangens in seinem Blick lag, als er Kates Gesicht betrachtete. Lange betrachtete er ihren Mund, konnte sich nicht mehr davon lösen. Und plötzlich wirkte sie nicht mehr verwirrt, sondern schien ganz genau zu verstehen, worauf er hinauswollte, als er die Hand hob und Kate mit den Fingerknöcheln über die Wange strich, dann die Kuppen ihr Kinn entlangfahren ließ, bis zu den vollen, leicht geöffneten Lippen. Es war zu spät. Nun konnte er sie nicht mehr leugnen, die verbotenen Gefühle, die in ihm brannten und die er immer wieder versucht hatte zu unterdrücken, zu verbergen. Er wollte Kate küssen. Der Gedanke überraschte ihn nicht einmal. „Chyna hat Recht“, sagte er, und ein leises Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Ich kann es mir leisten, also nimm es doch einfach an.“ Kate sah ihn erstaunt an, als sie den Ausdruck in seinen Augen sah. Sie schüttelte noch halbherzig den Kopf, doch da schloss Cullen schon fest, aber sanft die Finger um ihr Kinn und neigte den Kopf zu ihr herunter. Kurz bevor sich ihre Lippen berührten, hielt Cullen inne. „Außerdem“, fuhr er fort, und wieder klang seine Stimme ungewohnt rau, „scheint das Kleid wie für dich gemacht. Da wäre es doch eine Schande, wenn es jemand anders bekäme.“ Kaum hatte er diese Worte ausgesprochen, überwand er auch den letzten Abstand zwischen ihnen. Der Schauer* der durch seinen Körper ging, berührte auch seine Seele. Kates Lippen waren sogar noch weicher, als er sie in Erinnerung hatte, viel weicher, als der Mund einer so scharfzüngigen Frau es eigentlich sein sollte. Cullen kämpfte gegen den Drang an, sich diesem süßen Genuss noch länger hinzugeben. Es gelang ihm, den Kuss auf eine kurze, aber feste Berührung zu beschränken und dabei bloß ganz leicht mit der Zunge über ihre Lippen zu fahren. Wie betäubt hob er den Kopf. Kate öffnete die Lider, und in ihren Augen stand die gleiche Verwirrung geschrieben, die auch Cullen empfand. Abgesehen von der romantischen Musik, die aus den im ganzen Geschäft verborgenen Lautsprechern zu ihnen drang, war es absolut still. „Er hat wirklich Recht, meine Süße“, durchbrach Chyna das Schweigen. „Es ist das perfekte Kleid für Sie. Ich muss genau an Sie gedacht haben, als ich es entworfen habe.“ Kate fühlte sich immer noch etwas benommen. „Danke“, sagte sie und bemühte sich um ein Lächeln. „Gern geschehen. Hier bitte, meine Hübschen.“ Die Boutiquebesitzerin zwinkerte ihnen zu und gab Cullen die Tragetaschen und Kate die Schachteln, da er die Einkäufe nur mit einer Hand tragen konnte. „Du liebe Güte!“ rief plötzlich jemand aus, als Kate und Cullen gerade das Geschäft verlassen wollten. „Sehe ich richtig? Bist du das etwa wirklich?“
Als Cullen die elegant gekleidete Frau erblickte, zu der die Stimme gehörte, hätte er sich am liebsten in Luft aufgelöst. Mit Tracy Cunningham hatte er sich früher ein paar Mal getroffen, und sie hatte alles darauf angelegt, ihn zum Altar zu schleppen. Als er ihr gegenüber dann fast ein wenig hässlich werden musste, damit sie endlich verstand, dass sein Interesse an ihr begrenzt war, hatte sie sich an ihm gerächt: Sie hatte Gerüchte darüber in die Welt gesetzt, dass er ihr erst Hoffnungen gemacht hatte, um sie dann gebrochenen Herzens sitzen zu lassen. Tracy war schön, klug, heimtückisch und verbreitete unentwegt Klatsch und Tratsch, meist mit wenig Wahrheitsgehalt. Auch Chyna stöhnte leise, als sie die Frau erblickte. „Doch, du bist es!“ rief Tracy aus. „Cullen McGyver, wie er leibt und lebt!“ Wie befürchtet, folgte nun die übliche Begrüßungszeremonie. Tracy drückte ihre mit Rouge bedeckten Wangen an seine und küsste mit scharlachroten Lippen in die Luft. „Wie geht es dir?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie gleich fort: „Ich habe in den Nachrichten von deinem Jagdunfall gehört.“ „Danke, mir geht es gut“, sagte Cullen und bemühte sich mit aller Kraft um Höflichkeit. Alles andere würde bloß wieder zu bösen Gerüchten führen. „Miss Cunningham“, eilte Chyna ihm zu Hilfe. „Sie sind bestimmt hier, um sich die Seidenbluse anzuschauen, von der ich Ihnen erzählt hatte.“ „Ja, das bin ich“, erwiderte Tracy und schaute die Boutiquebesitzerin noch nicht mal an. „Ich hole sie sofort“, versprach Chyna. Nun ließ Tracy ihren Blick zu Kate schweifen. „Willst du uns denn gar nicht vorstellen, Cullen?“ Da hatte er wohl keine Wahl. „Kate, mein Liebling, das hier ist Tracy Cunningham, eine alte Freundin. Tracy, das ist Katherine Labiche, die neue Frau in meinem Leben.“ „Ich freu mich, Sie kennen zu lernen, Miss Cunningham“, sagte Kate. „Ebenso“, erwiderte Tracy und musterte sie geringschätzig. Dann wandte sie sich vollständig von ihr ab. „Wo bist du bloß in letzter Zeit gewesen?“ Was sollte er darauf antworten? Dass er sich gerade vor jemandem versteckte, der es auf sein Leben abgesehen hatte? Wohl kaum. Also entschied er sich für eine ganz allgemeine Antwort: „Ich habe mich von dem Unfall erholt. Jetzt verbringe ich die ThanksgivingFeiertage mit der Familie auf der Ranch.“ „Schön.“ Tracy ließ den Blick über die Tüten und Schachteln aus der Boutique schweifen, dann sah sie zu Kate und anschließend zu Cullen. Er ahnte, wie es in ihrem Gehirn arbeitete, wie sie versuchte einzuschätzen, ob er es mit Kate tatsächlich ernst meinte. „Das hier ist die Bluse, Miss Cunningham“, sagte Chyna in diesem Moment. Cullen hätte sie dafür küssen können. „Lass dich nicht weiter von uns aufhalten, Tracy“, säuselte er überhöflich und griff nach Kates Arm. „Wir müssen jetzt auch wirklich los. Morgen kommt die Familie vorbei, und wir müssen noch ein paar Besorgungen machen.“ „Oh!“ rief Tracy aus und zog einen Schmollmund. „Und ich hatte gehofft, dass wir zusammen essen gehen und uns ein bisschen unterhalten…“ „Vielleicht ein andermal“, erwiderte Cullen. „Bist du so weit, Kate?“ Nach diesem ereignisreichen Tag hatte Kate einen unruhigen Schlaf. Als am nächsten Tag um sieben der Wecker ging, schaltete sie ihn gleich wieder aus und schlief weiter bis kurz vor acht. Normalerweise war sie um diese Zeit fast mit dem Frühstücken fertig. Schnell stand sie auf, spritzte sich Wasser ins Gesicht, putzte sich die Zähne, nahm die Haare im Nacken zusammen und schlüpfte in
Jeans und Sweatshirt. Bald würden ihre Tante Louella und Cullens Familie ankommen, um Thanksgiving auf der Farm zu verbringen. Die nächsten paar Tage würden also reichlich hektisch werden. In der Küche sortierte Greg gerade Geschirr in die Spülmaschine, als Kate den Raum betrat, in dem es nach Äpfeln und Zimt duftete. Cullen war nirgends zu sehen. Inzwischen hatten Greg und Kate beschlossen, sich zu duzen. Schließlich wohnten sie im selben Haus, und Greg war in ihr wichtigstes Geheimnis eingeweiht. „Wird ja auch Zeit, dass du runterkommst“, begrüßte er sie. „Was hältst du von Waffeln mit Zimt und Walnüssen? Dazu kann ich dir Ahornsirup und warmes Apfelmus anbieten.“ „Klingt herrlich“, erwiderte sie, holte sich einen Becher aus dem Schrank und schenkte sich Kaffee ein. „Wo ist Cullen eigentlich?“ „Der ist schon fertig mit dem Frühstück und ist losgegangen, um die Zeitung reinzuholen.“ Der Trägerdienst lieferte die Zeitung nicht direkt an der Haustür ab, sondern steckte sie in eine Röhre, die unten an der Hauptstraße angebracht war… bloß war die etwa einen Kilometer von der Ranch entfernt. „Und du hast ihn einfach so gehen lassen, ganz allein?“ fragte Kate entsetzt. Greg zuckte mit den Schultern und griff nach der Teigschüssel. „Ich habe ihn gefragt, ob er das für so klug hält, da hat er gesagt, er sei ein erwachsener Mann und könne sehr wohl selbst die Zeitung holen gehen. Er meinte, der kleine Spaziergang würde ihm gut tun.“ Kate murmelte etwas wenig Schmeichelhaftes über Männer und ihre Macho Allüren, dann knallte sie den Kaffeebecher auf den Tresen, so dass die heiße Flüssigkeit über den Rand schwappte. „Das habe ich sehr wohl gehört“, drohte Greg ihr im Scherz. „Dann weißt du ja auch, dass ich Recht habe“, erwiderte sie und wischte die Hände an ihrer Jeans ab. „Ich bin gleich wieder da.“ Kate stürmte aus dem Haus, sprang in den Wagen und schoss darin den Kiesweg entlang zur Landstraße. Als sie um die Kurve bog, erblickte sie Cullen, der gerade mit der Zeitung auf dem Rückweg war. Sie trat auf die Bremse, dass der Kies spritzte und der Wagen ein wenig schlingerte, bevor er zum Stillstand kam. Ohne den Motor vorher abzustellen, riss sie die Tür auf und sprang heraus. „Was ist denn los?“ fragte Cullen, schob die Zeitung in seine verbundene Hand und fasste Kate mit der anderen am Oberarm. „Was los ist?“ rief sie aus und befreite sich aus Cullens Griff. „Da hat es jemand auf dein Leben abgesehen, und du spazierst hier einfach so allein durch die Gegend! Wie soll ich denn da bitte meinen Auftrag erledigen?“ Eine ganze Weile lang sagte Cullen nichts. Kate nahm wahr, wie er langsam ärgerlich wurde, wie er die Lippen aufeinander presste und sich versteifte. „Ich bin hier völlig sicher.“ Sie stemmte die Hände auf die Hüften. „Ach, wirklich?“ „Es weiß doch niemand, wo ich bin.“ „Das vermuten wir bloß.“ Cullen nahm die Zeitung nun wieder in seine gesunde Hand und schlug sich damit auf den Schenkel. „Ich komme mir vor wie ein verfluchter Gefangener.“ „Unglücklicherweise triffst du damit den Nagel auf den Kopf.“ Als er nichts darauf erwiderte, deutete Kate auf den Wagen. „Steig ein. Ich fahr dich zurück zum Haus.“
Als Cullen und Kate in die Küche kamen, bemerkte Greg sofort die Spannung zwischen ihnen und hielt sich daher mit Kommentaren zurück, um stattdessen Teig in das Waffeleisen zu gießen. Wortlos setzte sich Kate an den Tisch und umklammerte mit beiden Händen ihren Kaffeebecher. Cullen versuchte ihr keine Beachtung zu schenken. Er faltete die Zeitung auseinander und blätterte bis zu den Seiten mit den Lokalnachrichten für Arkansas vor. Es dauerte nicht lange, bis er fand, wonach er suchte – obwohl er insgeheim gehofft hatte, dass er es nicht finden würde. „Staatsanwalt Opfer eines Mordanschlags?“ Die Überschrift sagte eigentlich schon alles. Trotzdem las Cullen weiter. Aus anonymer Quelle erhielten wir gestern Informationen, die Zweifel an der Theorie aufkommen lassen, dass die Schussverletzung des Staatsanwaltes Cullen McGyver aus Little Rock tatsächlich auf einen Jagdunfall zurückzuführen ist. Von anderer Seite wurde uns zugetragen, dass McGyver sich derzeit auf der Familienranch aufhält, um sich von den Verletzungen zu erholen. Der Rest des Artikels fasste noch einmal zusammen, was an dem Tag passiert
war, an dem Cullen angeschossen wurde. Schließlich wies der Autor noch darauf
hin, dass sich Cullen sicher einige Feinde gemacht haben dürfte, da er als
erfolgreicher Staatsanwalt geholfen hatte, zahlreiche Kriminelle hinter Gitter zu
bringen. Cullen fluchte.
„Was ist denn?“ fragte Kate und sah auf.
Cullen faltete die Zeitung mit dem Artikel nach oben zusammen und reichte sie
ihr. „Rechts unten in der Ecke.“
Kate las den Text und sah dann bedeutungsvoll zu Cullen. Siehst du? schien ihr
Blick zu sagen, sie sprach die Worte jedoch nicht aus. „Jeder halbwegs
intelligente Mensch kann ganz leicht herausfinden, wo du dich gerade aufhältst“,
sagte sie.
„Das ist mir durchaus bewusst.“ Sein Tonfall klang schärfer, als Cullen es
eigentlich beabsichtigt hatte, aber Kate schien davon unberührt.
Greg setzte ihr gerade einen Teller mit Waffeln und Würstchen vor, und sie griff
nach dem warmen Apfelmus.
In diesem Moment klingelte das Telefon. Es war Meghan.
„Hast du schon in die Zeitung geschaut?“ fragte sie ihren Bruder.
„Ja, gerade eben“, informierte er sie.
„Und hast du eine Ahnung, wer etwas von dem Unfall erzählt haben könnte?“
„Nein“, erwiderte er und lehnte sich dabei gegen einen Küchenschrank. „Aber
wenn ich mich nicht irre, stammt die Information, dass ich hier auf der Ranch
bin, von Tracy Cunningham.“
„Tracy Cunningham?“
„Ganz genau. Kate und ich sind ihr gestern in Chynas Boutique begegnet, als wir
ein Kleid ausgesucht haben, das Kate bei dieser Kunstausstellung tragen kann.
Tracy hatte schon von dem Unfall gehört und wollte von mir wissen, wo ich mich
herumgetrieben hätte. Da habe ich ihr erzählt, dass wir Thanksgiving auf der
Ranch verbringen.“
Meghan stöhnte. „Übrigens habe ich auf einem der Lokalnachrichtensender schon
eine ganz ähnliche Geschichte gehört, mit ein paar zusätzlichen Details.“
„Was für Details?“
„Wer auch immer da gerade Bericht erstattete, wusste von den durchtrennten
Bremsleitungen und hatte sich außerdem ausgerechnet, wie gering die
Wahrscheinlichkeit ist, dass du dort oben auf dem Hochsitz versehentlich
angeschossen wurdest.“
Schweigend dachte Cullen darüber nach. Schließlich sagte er: „Vielleicht solltet
ihr doch lieber zu Hause bleiben, du, Dan und die Mädchen. Es könnte nämlich
ziemlich gefährlich werden, falls dieser Typ hier auftaucht.“
Meghan seufzte. „Das riskieren wir einfach. Wir lassen uns von diesem Menschen
nicht die Feiertage vermiesen.“ Erneut seufzte sie. „Ich will dich ja nicht noch
mehr belasten, aber Lucy hat eine Nachricht auf deinem Anrufbeantworter
hinterlassen.“
Cullen fluchte leise. „Was wollte sie?“
„Sie meinte, Dub würde sich jetzt einen Anwalt nehmen.“
„Na toll!“ erwiderte Cullen, dann fügte er schnell hinzu: „Und jetzt will ich nichts
mehr von dem Fall hören. An den Feiertagen können wir ja sowieso nicht viel
unternehmen. Bring einfach auch die Kassette mit Lucys Nachricht mit, dann
sehen wir weiter. Und weil ich dich ja offenbar nicht davon abhalten kann zu
kommen – wann seid ihr in etwa hier?“
„Wir fahren los, sobald Lindsay und Marley fertig sind.“ Das waren Meghans und
Dans Töchter. „Gegen Mittag sind wir dann bei euch.“
„Gut. Bis dann also. Fahrt vorsichtig.“
„Das werden wir tun. Pass du aber auch auf dich auf.“
Cullen hörte, wie besorgt seine Schwester war. „Natürlich.“
Als er aufgelegt hatte, erzählte er Kate von dem Gespräch.
„Hm“, machte Kate. „Nun weiß also der Mensch, der es auf dich abgesehen hat,
wo du dich in etwa aufhältst und dass wir wissen, dass er dich umbringen wollte.
Daran können wir nun nichts mehr ändern – es sei denn, du möchtest von hier
weg.“
„Nein danke.“
Sie nickte. „Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten, wie der Typ reagieren wird.“
„Welche?“
„Was meinst du denn?“
„Na ja“, setzte Cullen an. „Da jetzt die Polizei nach ihm sucht, kann es sein, dass
es ihm zu riskant ist, einen weiteren Tötungsversuch zu unternehmen.“
„Stimmt.“
„Andererseits ist er vielleicht schon viel zu wahnsinnig vor Wut auf mich, so dass
es ihm herzlich egal ist, ob die Polizei ein Auge auf mich hat oder nicht. Er will
einfach sein Werk vollenden.“
„Sehr gut, Herr Anwalt“, lobte Kate ihn leise lächelnd. „Sag mal, wann kommen
eigentlich Meghan und ihre Familie?“
„Sie meinte, sie wären gegen Mittag hier“, erwiderte Cullen. „Aber wie ich ihre
beiden Teenager kenne, schaffen sie es bis dahin nicht. Wie sieht’s mit Louella
aus?“
„Tante Lou hat sich schon für heute Morgen angekündigt“, informierte Kate ihn.
„Ich glaube, sie wollte noch ein paar Pasteten machen und Maisbrot backen oder
so.“
Greg, der im Hintergrund vor sich hin werkelte und nicht besonders angetan
davon war, dass eine weitere Person die Küche für sich in Anspruch nehmen
würde, murmelte grimmig etwas vor sich hin.
„Was hast du da eben gesagt?“ erkundigte sich Cullen.
Greg drehte sich zu ihnen um. „Nichts für ungut, Kate. Ich bin mir sicher, dass
deine Tante eine tolle Frau ist, aber ich glaube nun mal nicht, dass diese Küche
groß genug für uns beide ist.“
„Sie ist wirklich eine tolle Frau“, entgegnete Kate. „Und ich bin mir sicher, dass
ihr zwei hier problemlos zurechtkommt.“
8. KAPITEL Wie jeden Morgen, bevor er seinem lächerlichen, erniedrigenden Job nachging, sah sich der Mann die Nachrichten an und hoffte auf einige neue Informationen, damit er endlich handeln konnte. Mit der Fingerkuppe fuhr er über den Rand eines kleinen gerahmten Bildes, auf dem eine lächelnde Frau zu sehen war. Er hatte sie so sehr geliebt, aber Cullen McGyver hatte alles zerstört. Sie war für immer aus seinem Leben verschwunden und mit ihr alles, was ihm wichtig war. Das hatte er allein McGyver zu verdanken. Wie hieß es doch gleich in der Bibel? Auge um Auge, Zahn um Zahn. Es war allerhöchste Zeit, dass McGyver zahlte. „… und schon wieder gibt es brandaktuelle Nachrichten in Sachen Cullen McGyver. Wir schalten jetzt zu unserem Reporter Miles Gentry vor dem Krankenhaus in Arkadelphia, wo der Staatsanwalt aus Little Rock aufgenommen wurde. Miles?“ Sofort griff der Mann vor dem Fernseher nach der Fernbedienung und stellte den Apparat lauter. Miles Gentry, ein gepflegt aussehender junger Mann, der zweifellos frisch vom College kam, interviewte gerade eine Krankenschwester namens Sara Jerome. Offenbar war sie im Dienst gewesen, als McGyver zur Notaufnahme gebracht worden war. Als der Reporter sie fragte, ob es sich ihrer Meinung nach tatsächlich um einen Jagdunfall handelte, äußerte sie sofort Bedenken. Auf Miles Gentrys Drängen hin zählte sie die Anhaltspunkte auf: den Ort, an dem sich McGyver zum Zeitpunkt des Schusses befunden hatte, die Flugbahn der Kugel, die sich daraus ergab und dazu die Tatsache, dass diese Kugel rein zufällig die einzige Person getroffen hatte, die neben dem Schützen auf dem ganzen Jagdgelände anwesend war. „Unter diesen Umständen halten Sie es also für wahrscheinlicher, dass es sich um Absicht handelte?“ beharrte Miles. „Sagen wir mal, ich habe schon einige Jagdunfälle gesehen und dabei auch einige Todesfälle erlebt. Und hier habe ich den Eindruck, dass irgendetwas faul an der Sache ist.“ Der Reporter bedankte sich bei der Frau, und der Sender schaltete zurück zur Zentrale. Erneut griff der Mann vor dem Fernseher nach der Fernbedienung und schaltete sich weiter durch die Kanäle, die zu dieser Zeit Nachrichten brachten. Und tatsächlich – auf einem anderen Programm befragte gerade jemand einen jungen Mann, der nicht viel älter aussah als neunzehn Jahre. Es war ein Angestellter einer Autowerkstatt, wie sich herausstellte. Dem Reporter erzählte er, dass er dabei geholfen habe, Cullen McGyvers Jeep zu reparieren, und dass zweifellos jemand die Bremsleitungen durchtrennt hatte. Du liebe Güte, auf einmal hatte ja jeder etwas zu dem Fall zu sagen! „Und aus einer weiteren Quelle wissen wir, dass Cullen McGyver, der nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus von der Bildfläche verschwunden ist, sich zurzeit auf der Familienranch im südwestlichen Arkansas erholt.“ Nun richtete sich der Mann vor dem Fernseher auf. Er wünschte, er könnte das Ganze noch einmal zurückspulen^ um insbesondere diese letzte Information noch einmal zu hören. Hatte er das richtig verstanden, Cullen McGyver war also auf der Familienranch? Der Mann lachte laut auf. Das war doch einfach zu köstlich! Während der ganzen Zeit, die er sich über McGyvers Aufenthaltsort den Kopf zerbrochen hatte, hatte er den Anwalt direkt vor seiner Nase gehabt. Kate hatte den Morgen mit ein paar Schießübungen auf dem Ranchgelände verbracht, und Cullen hatte ihr dabei Gesellschaft geleistet. Nun waren sie wieder
zurück, und Cullen wollte sich in seinem Zimmer bis zum Mittagessen noch ein wenig erholen. Weil sie sich irgendwie beschäftigen wollte, bevor die verschiedenen Gäste eintrafen, machte Kate sich auf den Weg in die Küche, um zu sehen, ob sie Greg dort behilflich sein konnte. Gerade lief sie die Treppe hinunter, da hörte sie, dass draußen eine Autotür zugeschlagen wurde. Als Kate anschließend die Haustür öffnete, kam Louella den Weg entlang und lächelte ihre Nichte herzlich an. Louella sah hübsch aus in der braunen Jeans und dem selbst bemalten ThanksgivingSweatshirt. „Tante Lou! Schön, dass du hier bist. Komm doch gleich mit in die Küche, dann kannst du Greg kennen lernen. Ich glaube, er ist vor ein paar Minuten vom Einkaufen zurückgekommen.“ „Greg? Er ist Arzt, nicht wahr?“ fragte Louella. „Pensionierter Arzt“, ergänzte Kate. „Verwitwet und ein unverschämt guter Koch.“ Louella runzelte die Stirn. „Kann es vielleicht sein, dass er niemanden neben sich in der Küche duldet?“ Kate hielt es für cleverer, ihrer Tante nichts von Gregs Bedenken zu erzählen. Schließlich gab es auch so schon genug Probleme. Die beiden Küchenprofis würden das schon unter sich klären. „Warten wir’s doch einfach mal ab, ja?“ schlug Kate also vor. Greg schob gerade eine eiserne Backschale mit goldgelbem Maisbrot in den Ofen, als die beiden Frauen die Küche betraten. „Du bist also vom Einkaufen zurück“, begrüßte Kate ihn. „Ich habe zwar ein paar Beulen und blaue Flecken abbekommen, aber ja, ich bin wieder da“, erwiderte er, während er die Ofentür schloss. „Ich verstehe einfach nicht, warum manche Frauen immer vollkommen ausflippen müssen, sobald sie ein Lebensmittelgeschäft betreten. Die werden dann richtig rücksichtslos und kriegerisch. Eine davon hat sogar versucht, mir ein Dutzend Eier aus der Hand zu reißen.“ Er wandte sich um, und als er Louella erblickte, verschwand sofort das Lächeln aus seinem Gesicht. Er wurde puterrot. Oje! „Greg, das ist meine Tante Louella Stephens.“ Kate wandte sich Louella zu und bemerkte, dass sie gerade sehr nachdenklich aussah. „Tante Lou, das ist Greg Kingsley, unser Ferienkoch und Vertretungsarzt.“ Zu Kates Überraschung schenkte ihre Tante dem Arzt ein liebenswürdiges Lächeln und streckte Greg die Hand entgegen. „Freut mich, Sie kennen zu lernen, Greg.“ Als Gentleman hatte er keine andere Wahl, als die Geste zu erwidern. Louella nahm seine Hand in ihre beiden. „Ich habe gehört, dass wir in den nächsten paar Tagen gemeinsam in der Küche zu tun haben werden, und da wollte ich Ihnen gleich sagen, dass es sehr großzügig von Ihnen ist, eine fremde Person in Ihren Wirkungsbereich zu lassen. Ich verspreche Ihnen auch hoch und heilig, Ihnen nichts aus der Hand zu reißen.“ „Ich… ähm… na ja“, stammelte Greg. Seit Kate ihn kannte, war dies das erste Mal, dass er um eine Antwort verlegen blieb. Tante Lou strahlte ihn an. „Ganz ernsthaft: Ich verspreche, dass ich Ihnen so wenig wie möglich in die Quere komme“, sagte sie und hob die Hand zum Schwur. „Und ich muss schon sagen, Ihr Ruf ist Ihnen schon vorausgeeilt. Ich hoffe also, dass ich von Ihnen noch einige Kniffe lernen kann.“ „Na ja, ist ja sehr nett, dass Sie das so sagen, Louella, aber ich bezweifle, dass ich Ihnen noch irgendetwas beibringen kann. Außerdem glaube ich überhaupt
nicht, dass es problematisch werden könnte, die Küche mit Ihnen zu teilen“, sagte Greg. Kate hustete, um ihr Lächeln zu verbergen. Was hätte er auch sonst sagen können? Tante Lou, die jünger und hübscher aussah als die meisten Frauen in ihrem Alter, hatte ihn äußerst gekonnt um den Finger gewickelt. Sie war das Problem direkt angegangen, hatte sich aufrichtig für mögliche Unannehmlichkeiten entschuldigt und nicht zuletzt Gregs Ego geschmeichelt, und das alles in einem Rutsch. Greg hatte gar nicht anders reagieren können, sonst hätte er wie ein ungehobelter Kerl dagestanden. „Ach, bitte“, sagte Kates Tante in diesem Moment und tätschelte ihm kurz die Hand, bevor sie sie losließ. „Nennen Sie mich doch Lou. Und wir können uns auch gern duzen.“ Kein Wunder, dass Cullen sie als seine Mitarbeiterin so sehr schätzt, dachte Kate. Tante Lou war einfach unbezahlbar. Eine ganz wundervolle Frau. Und wenn sich Kate nicht allzu sehr täuschte, dann sah Greg das ebenso. Vierzig Minuten später gab es einen Tumult an der Haustür, als Meghan mit Mann und zwei Töchtern eintraf. Cullen führte alle zunächst mal in die Küche, wo es das übliche Durcheinander von Begrüßungen gab und diejenigen einander vorgestellt wurden, die sich noch nicht kannten. Dan, Meghans Ehemann, war groß und stämmig und wirkte wie ein Ringkämpfer. In Wahrheit arbeitete er jedoch als Bilanzbuchhalter, und das sehr erfolgreich. Ihre Töchter Lindsay und Marley, dreizehn und fünfzehn waren hübsche, lebhafte, offene Mädchen. Nach dem Mittagessen sattelten die Teenager zwei Pferde und ritten los, um das Ranchgelände zu erkunden. Dan brachte währenddessen das Gepäck herein und setzte sich dann vor den Fernseher, um den Rest eines Footballspieles mitzubekommen. Kate und Cullen hingegen verschwanden in der Bibliothek, wo sie sich die AnrufbeantworterKassetten anhören wollten, die Meghan mitgebracht hatte. Die männliche Stimme auf dem ersten Band war leise und beherrscht, vollkommen emotionslos hinterließ der Mann seine Nachricht. Als sie die Kassette zum zweiten Mal abspielten, hörte Kate ein Hintergrundgeräusch, das sie vorher noch nicht wahrgenommen hatte. „Was war das?“ „Was denn?“ fragte Cullen Sie spulte das Band zurück, und sie hörten sich alles noch einmal an. „Klingt, als wieherte da ein Pferd im Hintergrund“, meinte Kate schließlich. „Stimmt“, sagte Cullen. Seine blauen Augen funkelten vor Aufregung. „Heißt das etwa, dass unser Mann auch auf einer Pferderanch lebt?“ „Vielleicht“, erwiderte Kate vorsichtig. „Ich gehe am besten mal alle Namen auf unserer Liste durch und überprüfe, ob einer von denen irgendetwas mit Pferden zu tun haben könnte.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Und dann gibt es natürlich noch die Möglichkeit, dass das im Hintergrund bloß der Fernseher war.“ „Musst du unbedingt immer alles so genau durchdenken?“ „Ich versuche nur, alles in Betracht zu ziehen.“ „Und das machst du ganz schön gut.“ Erneut spielte Cullen die Nachricht ab und lauschte konzentriert. „Die Stimme kommt mir bekannt vor.“ „Das ist sie auch wahrscheinlich“, sagte Kate. „Könnte es dieser Dub Lambert sein?“ Cullen dachte kurz nach. „Hundertprozentig sicher bin ich mir nicht, aber ich glaube es eher nicht. In meiner Erinnerung ist Dubs Stimme viel tiefer.“
„Hm“, machte Kate. „Es besteht natürlich die Möglichkeit, dass er seine Stimme
für den Anruf verstellt hat.“
Als Nächstes legte sie Lucy Lamberts Kassette in das Gerät. „Mal hören, was sie
zu sagen hat.“
Die Stimme, die nun zu hören war, klang jung und nervös. „Cullen. Hier ist Lucy.
Ich rufe an, um dir zu sagen, dass ich Dub verlassen habe. Er ist völlig verrückt,
seit er von uns weiß… und von Tyler.“ Tyler war Lucys Sohn. „Jetzt will er sich
einen Anwalt nehmen, um dich wegen Unterhaltszahlungen dranzukriegen. Er
meint, er will zurückbekommen, was er fünf Jahre lang aus eigener Tasche in das
Kind gesteckt hat. Und ich dachte mir, du willst vielleicht lieber nicht vor Gericht,
wo du doch wahrscheinlich für den Senat kandidierst.“ Sie schwieg einen Moment
lang. „Ich dachte bloß, dass du das vielleicht wissen solltest. Und glaub mir, es
tut mir wirklich Leid.“ Es folgte ein Klick, dann war es still.
Stirnrunzelnd stand Cullen am Kassettenrekorder, als hoffte er, das Gerät würde
von selbst noch weitere Informationen ausspucken. „Spul die Nachricht noch mal
zurück, bitte.“
Kate verschränkte die Arme und tippte sich mit dem Zeigefinger auf die Lippen,
während sie ein zweites Mal zuhörten. Als es vorbei war, seufzte sie. „Als du mir
von Lucys Nachricht erzählt hast, hatte ich mit einem ziemlich offenkundigen
Erpressungsversuch gerechnet. Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher.“
„Warum nicht?“ hakte Cullen nach.
„Hör dir mal ihre Stimme an. Klingt, als hätte Lucy gerade geweint. Und sie
entschuldigt sich bei dir.“
„Warum hat sie dann überhaupt angerufen?“
„Vielleicht wollte sie dir einfach mitteilen, was Dub vorhat, dich warnen. Das sagt
mir mein Instinkt. Sie wollte dir den Hinweis geben, dass du Dub mit einer
ordentlichen Summe von seinem Vorhaben abbringen könntest.“
„Und wie können wir sicher sein, was sie wirklich bezweckt hat?“ wollte Cullen
wissen.
„Na ja, indem wir sie fragen. Hast du eine Idee, wo sie hingegangen sein könnte,
nachdem sie Dub verlassen hat?“
„Wahrscheinlich zurück zu ihren Eltern.“
„Und wo leben die?“ fragte Kate.
„Ich weiß es nicht. In oder in der Nähe von Little Rock, nehme ich an. Bevor sie
geheiratet hat, hieß sie übrigens Newman, und ihr Vater heißt Richard Newman.
Die Nummer bekommt man bestimmt über die Auskunft. Sobald ich sie habe,
rufe ich mal dort an und interviewe die Dame.“
„Sag ihr, dass du dich nicht von ihr erpressen lässt, und warte ab, wie sie darauf
reagiert. Dann erzähl ihr, dass du nicht daran glaubst, dass das Kind von dir sei,
und dass du auf einem Vaterschaftstest bestehst. Vereinbare am besten gleich
einen Arzttermin mit ihr, damit ihr endlich die Wahrheit herausfinden könnt.“
Cullen hob die Hand zum Salut. „Ja, Ma’am“, sagte er, drehte sich um und verließ
den Raum.
Über die Telefonauskunft erhielt Cullen die Nummer von Lucys Vater, Richard
Newman. Als er sie sofort anwählte, erfuhr er durch die Ansage auf dem
Anrufbeantworter, dass die ganze Familie bis Donnerstagabend unterwegs sei,
also musste Cullen sich bis nach den ThanksgivingFeiertagen gedulden.
Cullen passte es gar nicht, dass ihm so die Hände gebunden waren. Da kam Dans
Vorschlag, sich einfach einen netten Abend in einer CowboyBar zu machen,
gerade recht. Die beiden Teenager würden mit Louella auf der Ranch bleiben und
sich ein Video ansehen.
Während Dan mit seinen Töchtern losfuhr, um einen Film auszusuchen, hatte
Kate die Gelegenheit, ein paar Worte mit ihrer Tante zu wechseln.
„Wie ist es denn heute mit Greg in der Küche gelaufen?“
Louella lächelte spitzbübisch. „Na ja, da ist gar nichts gelaufen, zwischen Greg
und mir. Allerdings kam es mir hin und wieder in den Sinn, dass ich es durchaus
nicht schlecht fände, wenn da was liefe.“
„Tante Lou!“
„Tja, Katie, ich bin zwar kein junges Hühnchen mehr, aber tot bin ich auch noch
nicht“, erwiderte Louella. „Und Greg ist ein sehr attraktiver Mann. Er ist klug, hat
Humor, und wir haben uns ganz ausgezeichnet verstanden, danke der Nachfrage.
Wenn ich’s mir recht überlege, ist er seit meinem Bert der erste Mann, der mich
überhaupt interessiert.“
„Das ist ja toll, Tante Lou!“ Darüber freute Kate sich ganz aufrichtig. „Glaubst du
denn, dass Greg das erwidert?“
Der Ausdruck in Louellas Augen wirkte selbstzufrieden. „Ich habe ihn ein paar
Mal dabei ertappt, wie er mich beobachtet hat, und es sah mir ganz so aus wie…
ich weiß auch nicht. Eine Art Mischung aus Ärger und Verehrung.“
„Und was genau soll das zu bedeuten haben?“ fragte Kate und legte die Hände
auf die Hüften.
„Na ja, er mag mich, findet mich attraktiv, aber irgendwie passt es ihm nicht,
dass das so ist.“
Seltsamerweise fand Kate das sehr einleuchtend. Ihre Tante hatte genau das
beschrieben, was sie, Kate, Cullen gegenüber empfand.
Die CowboyBar war laut und verraucht, und die Beleuchtung war schummrig.
Kate kam sich vor, als hätte sie eine Reise in die Vergangenheit unternommen…
in eine Zeit, in der man noch nicht danach gefragt wurde, ob man lieber im
Raucher oder im Nichtraucherbereich sitzen wollte. Die Gäste hier, Männer wie
Frauen, trugen fast alle Cowboystiefel und Jeans. Aber keine Hüftjeans mit
Schlag, wie sie gerade in Mode waren, sondern richtig klassische Cowboyjeans.
Kate, Cullen, Meghan und Dan suchten sich einen freien Tisch im hinteren Teil
des Raumes. Nicht weit davon stand die Jukebox, die laute Countrymusic spielte.
Mit Meghans Erlaubnis hatte Cullen heute die Schlinge abgenommen, die bisher
den verletzten Arm gehalten hatte. Am Tisch zog er einen Stuhl für Kate zurück,
und Dan tat das Gleiche für Meghan.
Das Essen war überraschend gut, trotz des zweifellos hohen Cholesteringehaltes.
Das Chili con Carne war hausgemacht, die Pommes frites frisch geschnitten, und
der Hamburger war perfekt gegrillt, so dass er noch schön saftig war.
Als Dan nach dem Essen von Kate erfuhr, dass sie nicht tanzen konnte, bot er
sich an, ihr ein paar Schritte zu zeigen – Cullen selbst kam ja wegen seines
verletzten Armes nicht dafür infrage. Als sie erschöpft wieder an den Tisch
zurückkamen, leerte Dan sein inzwischen lauwarmes Bier und ergriff die Hand
seiner Frau, um sie auf die Tanzfläche zu ziehen. Dort stellten die beiden schnell
alle anderen tanzenden Paare in den Schatten. Meghan lächelte ihren Mann keck
an, und es stand ihm ins Gesicht geschrieben, dass er sie anhimmelte.
„Sie sind ganz verrückt nacheinander, nicht?“ sagte Kate zu Cullen.
„Absolut.“
„Es sieht so aus, als würden sie schon ihr ganzes Leben lang miteinander
tanzen.“
„Das hier ist ganz sicher nicht ihr erster Auftritt“, erwiderte Cullen. „Sie kennen
sich schon seit dem College. Das Problem ist bloß, dass sie nicht oft die
Gelegenheit dazu haben, zusammen auszugehen, weil beide so erfolgreich in
ihren Berufen und dementsprechend eingespannt sind.“
„Sie sollten sich die Zeit aber nehmen“, gab Kate zurück und merkte dabei gar
nicht, wie viel Sehnsucht in ihrer Stimme mitschwang.
„Das klingt ja, als wüsstest du ganz genau, wovon du sprichst“, sagte Cullen und
hob sein Glas an die Lippen.
Kates Lächeln war bittersüß. „Ja? Tja, ich habe auch schon eine Scheidung hinter
mir.“
Gerade überlegte sie, wie sie das Gespräch wieder von diesen allzu persönlichen
Themen wegbringen könnte, da erschien ein hünenhafter Mann an ihrem Tisch.
Abgesehen von seiner Statur strahlte er allerdings nichts Bedrohliches aus,
tatsächlich wirkte er im Vergleich zu so manchen anderen Gestalten hier noch
ganz zivil.
„Darf ich um einen Tanz bitten?“
Damit hatte Kate nun wirklich nicht gerechnet. Schnell sah sie zu Cullen hinüber,
um seine Reaktion einzuschätzen, aber sein Gesichtsausdruck war
undurchdringlich. Nun denn. Warum sollte sie nicht mit einem anderen Mann
tanzen? Cullen konnte heute auf der Tanzfläche nicht viel ausrichten, und
schließlich war Kate doch auch zu ihrem Vergnügen hier. Sie ließ noch einen
schnellen prüfenden Blick über den Fremden gleiten und entschied schließlich,
dass er wohl harmlos war.
„Klar“, sagte sie und erhob sich. „Warum nicht?“
Der Mann ging mit ihr auf die kleine Tanzfläche, wo er Kate locker an sich zog.
„Wie heißen Sie?“ erkundigte er sich.
„Kate. Und Sie?“
„Brutus.“
Ganz trocken hatte er den Namen ausgesprochen, aber in seinen Augen funkelte
es schelmisch. Offenbar rechnete er fest damit, dass Kate ihm das nicht abnahm.
„Brutus“, wiederholte sie und nickte. „Das passt.“
Zu ihrer Überraschung legte er den Kopf in den Nacken und brüllte vor Lachen.
Kate blickte zu ihrem Tisch. Cullens Gesichtsausdruck sagte ihr, dass er das
Ganze alles andere als amüsant fand.
„Woher kommen Sie, Kate? Klingt nicht so, als wären Sie von hier.“
„New Orleans.“
Brutus grinste, zog sie dann fester an sich und raunte: „Ah, aus der Stadt des
Jazz also… und des süßen, unbeschwerten Lebens.“
Kate schob ihn sanft ein Stück zurück. „Süß und unbeschwert… ja, das sagt man
wohl über die Stadt. Aber nicht über mich.“
Erneut brach Brutus in lautes, herzhaftes Gelächter aus, dann wirbelte er mit
Kate über die Tanzfläche. Dabei rauschten sie an Dan und Meghan vorbei. Der
eine blickte verwirrt, die andere besorgt zu Kate herüber.
Schließlich wies Brutus mit dem Kopf zu Cullen. „Ist der Typ da Ihr Freund?“
Also gut. Nun war es an der Zeit, dass sie die Rolle übernahm, die sie laut
Auftrag spielen sollte. „Das ist er.“
„Behandelt er Sie auch anständig?“
Kate nickte. „Meistens jedenfalls“, brachte sie hervor. „Er arbeitet zwar für
meinen Geschmack viel zu viel, aber abgesehen davon…“
Brutus sah von Cullen zu Kate. „Wie kommt es, dass er nicht mit Ihnen tanzt?“
Kate schenkte Cullen ein strahlendes Lächeln und küsste in die Luft. „Mein armes
Baby“, säuselte sie. „Er hat sich vor kurzem bei einem Autounfall ein paar Rippen
gebrochen.“ Kate war überrascht, wie überzeugend das aus ihrem Munde klang.
Nun denn, es war ja noch nicht mal so richtig gelogen.
Brutus wirbelte sie noch ein paar Mal herum, dann sagte er: „Hören Sie mal, vielleicht geht es mich ja nichts an, aber weil Sie mir langsam immer sympathischer werden, muss ich einfach fragen. Lieben Sie den Mann?“
9. KAPITEL Kate stolperte, und Brutus umklammerte sie fest, um sie zu stützen. „Entschuldigung“, murmelte sie. Angesichts der unerwarteten Frage war sie knallrot geworden, und ihr Magen hatte sich zusammengekrampft. „Ich hab den Bogen beim Westerntanz wohl noch nicht so richtig raus.“ „Sie machen das doch ganz prima“, erwiderte Brutus und wirbelte sie erneut herum, so dass ihr erst recht schwindelig wurde. Als sie ihm wieder zugewandt war, sagte er: „Also?“ „Also… es schmeichelt mir, dass Sie sich für mich interessieren“, gab Kate zurück und hoffte, dass sie um die eigentliche Frage herumkommen würde. „Aber?“ beharrt Brutus. „Was, aber?“ „Sie lieben den Typen, stimmt’s?“ Ob sie Cullen liebte? Allein die Frage kam ihr wie ein schlechter Scherz vor. Doch als sie darüber nachdachte, wurde ihr bewusst, dass dieser Scherz auf ihre Kosten ging. Natürlich liebte sie ihn, und im Grunde hatte sie genau darum diesen Auftrag angenommen. Sie hatte sich schon vor zwei Jahren in ihn verliebt, aber bisher hatte sie diese Gefühle gut hinter ihrer Wut auf Cullen verbergen können. Nun schlug ihr das Herz so heftig, dass sie befürchtete, Brutus könnte es spüren. Kate zwang sich, seinem fragenden Blick zu begegnen. „Wissen Sie, Brutus“, sagte sie schließlich und klang dabei ebenso verwirrt wie verzweifelt, „ich bin fest überzeugt, dass das wirklich so ist.“ Brutus gab ein Geräusch von sich, das alles Mögliche hätte bedeuten können, dann war das Lied zu Ende. „Dann kann sich der Mann verdammt glücklich schätzen. Und wenn er sich für eine Frau wie Sie nicht genug Zeit nimmt, dann ist er ein Idiot.“ Die Überzeugung, mit der er die Worte aussprach, zeugte von seinem Charakter. „Oh, danke, Brutus“, erwiderte Kate leise. „Das werde ich ihm auf jeden Fall ausrichten.“ „Das richte ich ihm selbst aus.“ Und schon stolzierte der Hüne selbstbewusst auf den Tisch zu, an dem Cullen saß. Kate fühlte sich nicht ganz wohl in ihrer Haut, als sie ihm folgte. Schließlich reagierte Cullen bekanntlich nie gelassen auf Kritik, selbst wenn es sich dabei um konstruktive Kritik handelte. Allerdings wusste Kate nicht, wie sie ihren Helden von seinem Vorhaben abbringen sollte, ohne dass es unangenehm würde. Als Cullen den großen, schweren Mann auf sich zukommen sah, machte er sich auf das Schlimmste gefasst. Allerdings war er nun wirklich nicht auf eine Schlägerei eingestellt. Schließlich blieb der Riese direkt vor Cullen stehen. „Brutus Vickers“, begrüßte er ihn und streckte die Hand aus. Cullen ging davon aus, dass die Geste wohlwollend gemeint war, also erwiderte er sie. Der Händedruck des Mannes war zwar fest, aber schmerzlos. „Cullen McGyver.“ „Schön, Sie kennen zu lernen“, sagte Brutus und schob sich die Daumen in die Hosentaschen. „Ich schaue nur mal kurz vorbei, um Ihnen zu sagen, was für eine tolle Frau Sie da haben.“ Cullen ließ den Blick zu Kate schweifen, die ein Stück hinter ihrem neuen Beschützer stand. Ihr Gesicht war ganz weiß, die Arme hatte sie vor der Brust verschränkt.
„Das weiß ich“, sagte Cullen, und während er diese Worte aussprach, wurde ihm auch bewusst, dass er die Wahrheit sagte. Kate war wirklich eine tolle Frau. Aber sie gehörte leider nicht zu ihm. „Sie sollten eine so tolle Frau nicht zu oft allein lassen, wissen Sie.“ Verärgert sah Cullen zu Kate hinüber. Was hatte sie diesem Mann bloß erzählt? „Ich glaube nicht, dass Sie das irgendetwas angeht.“ „Mag ja sein“, erwiderte Brutus ruhig. „Aber es gibt eine Menge einsamer Männer, die nur zu froh wären, wenn sie Ihnen die Dame abnehmen könnten.“ Nachdem er diese Worte ausgesprochen hatte, drehte er sich um und ging. Cullen sah ihm nach. Einerseits ärgerte er sich, andererseits war er froh, dass das Zusammentreffen so ein harmloses Ende genommen hatte. Kate war gerade dabei, sich wieder an den Tisch zu setzen, da streckte er seinen verletzten Arm aus, um sie davon abzuhalten. Ein stechender Schmerz schoss ihm durch die Schulter. Erstaunt sah Kate erst auf die Hand, die auf ihrem Ellenbogen lag, dann zurück in Cullens Gesicht. Nun zog er sie kräftig zu sich herüber. „Was machst du denn da?“ fragte sie leise und versuchte sich wieder zu befreien. „Ich spiele meine Rolle und tue, was der Mann mir nahe gelegt hat.“ Er stieß die Worte zwischen den Zähnen hervor, die er vor Schmerz zusammenbiss. „Ich versuche, mich besser um dich zu kümmern, aufmerksamer zu sein.“ Kates Augen spiegelten ihre Verwunderung wider. „Nun lass dich nicht von Brutus aus der Fassung bringen. Ich hab doch bloß kurz mit ihm getanzt.“ „Klar“, gab Cullen verärgert zurück. „Und es sah ganz so aus, als hättet ihr einen Riesenspaß dabei gehabt.“ Nun runzelte Kate die Stirn. „Was ist bloß los mit dir, Cullen? Du bist doch nicht etwa eifersüchtig… oder doch?“ Darauf fiel Cullen keine Antwort ein, mit der er sich nicht verraten würde. „Setz dich“, wies er sie an. „Bitte?“ „Nun setz dich endlich!“ Er zog an ihrer Hand. Wenn Kate ihm nicht vor allen Leuten eine Szene machen wollte, blieb ihr nichts anderes übrig, als auf seinem Oberschenkel Platz zu nehmen. Sofort nahm er ihren lieblichen Duft wahr, mit jedem seiner Sinne spürte er ihre Nähe. Er schlang ihr seinen verletzten Arm um die Taille und hakte den Daumen in eine Gürtelschlaufe ihrer Jeans. Dabei war ihm selbst nicht klar, inwieweit er bloß seine Rolle spielte und inwieweit er wirklich das Bedürfnis hatte, sich an sie zu schmiegen. Er legte ihr seine unverletzte Hand auf das Knie und strich ihr dann über den Oberschenkel. Dabei erinnerte er sich daran, wie es sich damals angefühlt hatte, als kein Jeansstoff zwischen seiner Hand und ihrer bloßen Haut gewesen war. Er erinnerte sich an Dinge, die er lieber vergessen sollte. Mit großen Augen sah Kate ihn an. Sie wirkte verängstigt. „Sieh das jetzt bitte nicht gleich als persönlichen Angriff“, sagte sie ein wenig atemlos. „Aber ich glaube, du nimmst das mit unserem Täuschungsmanöver gerade ein bisschen zu ernst.“ Unbeirrt legte Cullen ihr nun die Hand in den Nacken und zog ihr Gesicht zu sich heran. „Cullen?“ Kates Stimme klang sanft. „Bitte nicht!“ „Pst!“ „Du musst das nicht tun.“ Kate drehte den Kopf leicht zur Seite. „Doch, auf jeden Fall.“ Cullen verstärkte den Druck seiner Hand, und ihre Lippen berührten sich leicht. Und dann begegneten sie sich mit einem Verlangen, an das sich beide nur allzu lebhaft erinnerten. Bloß die vage Erkenntnis, dass sie sich
hier mitten unter Menschen befanden, hielt Cullen davon ab, sich vollständig
lächerlich zu machen. Nach nur wenigen Sekunden zwang er sich, den Kuss zu
beenden. Als er sich zurückneigte, stellte er fest, dass Brutus Vickers sie von der
anderen Seite des Raumes beobachtete.
Nun sah Cullen zu Kate hinüber, die mehr als bloß ein bisschen verwirrt schien.
Am liebsten hätte er sie sofort wieder geküsst, hielt sich jedoch davon ab.
Schließlich war er selbst alles andere als verwirrt, er wusste nun ganz genau,
warum er ihre Lippen wieder spüren wollte, und das hatte ganz und gar nichts
mit der Rolle zu tun, die er ihr gegenüber in der Öffentlichkeit spielen musste. Es
hatte vielmehr etwas mit Sehnsucht und Verlangen zu tun, mit seinem
schmerzhaft wachsenden Begehren.
„Überzeugender Auftritt.“
Als hinter ihnen Dans Stimme erklang, war Cullen mit einem Schlag wieder
zurück in der Wirklichkeit. Sofort erhob sich Kate von seinem Schoß, ihr Gesicht
war knallrot. „Wie bitte?“
„Ich meinte eben, dass ihr zwei eure vermeintliche Beziehung richtig gut
rüberbringt. Ein Uneingeweihter würde nie darauf kommen, dass das alles bloß
Schauspielerei ist.“
Cullen hob das Bierglas an den Mund, um sein verbittertes Lächeln zu verbergen.
Genau dort liegt ja das Problem, Dan, dachte er. Ich bin mir gar nicht so sicher,
ob es bloß Schauspielerei ist.
Als der Wagen vor der Ranch hielt, war Kate die Erste, die ausstieg und ins Haus
lief. Als sie in die Küche kam, saßen dort Greg und ihre Tante Louella am Tisch.
Vor ihnen standen zwei Gläser Weißwein sowie Teller mit Kräckern und Käse.
Louellas rechte Hand lag neben dem Käseteller, und Greg bedeckte sie mit
seinen kräftigen Fingern.
Als Louella Kate erblickte, färbten sich ihre vollen Wangen rosa. Sie lächelte,
schien es aber nicht besonders eilig zu haben, ihre Hand unter der des
pensionierten Arztes wegzuziehen. „Hallo, mein Schatz. Wo sind denn die
anderen?“
„Die sehen wahrscheinlich erst mal nach den Mädchen“, erwiderte Kate und holte
sich dann ein Wasserglas aus dem Schrank.
„Sie haben sich benommen wie zwei Engel, ganz lieb und höflich. Hattet ihr denn
auch euren Spaß?“
„Natürlich.“ Kate füllte ihr Glas mit Eis. „Für mich war es mal was anderes. Ich
habe sogar ein paar Schritte Country und Westerntanz gelernt.“
„Das klingt doch toll“, sagte Louella.
Greg, der ein bisschen verlegen wirkte, fragte Kate, ob sie nicht auch gern ein
Glas Wein hätte.
„Nein danke. Ich gehe jetzt gleich ins Bett.“
„Ich mache mich dann auch besser auf den Weg“, meinte er und erhob sich. „Es
ist schon spät, und wir haben morgen einen langen Tag vor uns.“
„Wann bist du wieder hier?“ erkundigte sich Louella bei ihm.
Greg blinzelte nachdenklich. „Na ja, es gilt einen großen Truthahn zuzubereiten.
Wenn wir Punkt zwölf essen wollen, muss der Vogel schon um halb sechs im Ofen
sein.“
Louella lächelte. „Ich koche dann schon mal Kaffee.“
„Das brauchst du doch nicht“, sagte Greg, konnte dabei aber schwer verbergen,
wie sehr ihn das eigentlich freute.
Louella gab seiner Hand einen kleinen Klaps. „Ich weiß, dass ich das nicht zu tun
brauche. Ich möchte es aber.“
Nun lächelte Greg noch strahlender, falls das überhaupt möglich war. „Dann sehen wir uns also morgen früh.“ Louella nickte. „Gute Nacht.“ Als Greg die Küche verlassen hatte, wandte Kate sich ihrer Tante zu. „Also gut“, sagte sie. „Was geht hier vor?“ „Hier geht überhaupt nichts vor“, erwiderte Louella. „Jedenfalls nichts außer dem Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Und wenn die Dinge sich so gut weiterentwickeln, wie ich erwarte, dann wird daraus sogar etwas mehr.“ „Bist du da nicht ein wenig voreilig?“ fragte Kate ungläubig. „Ich meine, Greg scheint ein wunderbarer Mann zu sein, aber du kennst ihn doch erst seit einem Tag.“ Louellas Gesichtsausdruck spiegelte ihre innere Gewissheit wider. „Wenn es passt, dann passt es auch, Katie. Und wenn es passt, dann weißt du das sofort.“ Die Entschlossenheit ihrer Tante fand Kate geradezu überwältigend, aber sie freute sich für Louella. Schließlich verdiente sie es, glücklich zu sein, und wenn ein netter Mann wie Greg sie glücklich machen konnte, dann sollte Kate das nur recht sein. Und trotzdem: Obwohl sie es nicht zugeben wollte, war sie ein kleines bisschen neidisch, dass das Glück für ihre Tante gleich in Reichweite sein sollte, während sie selbst so weit davon entfernt war. Thanksgiving verging mit einer Menge gutem, reichhaltigem Essen und fröhlichen Brettspielen. Kates Tante und Greg Kingsley verhielten sich so jung wie die Teenager. Kate beobachtete, dass sich die beiden älteren Leute einige bedeutungsvolle Blicke zuwarfen, und ihr entging auch nicht die Verwunderung, die das bei Cullen und den Longstreets auslöste. Falls jemand Kate nach der Beziehung zwischen Louella und Greg fragen sollte, würde sie wohl einfach die Worte ihrer Tante wiederholen: „Wenn es passt, dann passt es auch.“ Nach dem Abendessen zog sich Kate Sportsachen an und ging in den Fitnessraum, um ein wenig zu trainieren. Sie war gerade erst zehn Minuten dort, als jemand energisch an die Tür klopfte. Noch bevor sie reagieren konnte, kam Cullen in den Raum. Erstaunt sah Kate ihn an und verharrte mitten in ihrer Bewegung. Er ließ seinen Blick suchend über ihren ganzen Körper gleiten, vom kecken Pferdeschwanz bis zu den Füßen. Auf der Höhe ihrer bloßen Taille hielt er inne, ebenso lange betrachtete er ihre langen Beine, die nur bis zur Mitte der Oberschenkel von einer grauen Stretchhose bedeckt waren. Verwirrt und erwartungsvoll zugleich beobachtete Kate, wie das Verlangen in Cullens blauen Augen wuchs. Erschrocken schnappte sie nach Luft. Nun spürte sie, dass dasselbe Verlangen auch von ihr Besitz ergriff. Schweigend überwand Cullen die kurze Entfernung, die noch zwischen ihnen lag. Kate wurde nun klar, dass ihre Hände nicht etwa wegen der großen körperlichen Anstrengung so stark zitterten, sondern wegen der Wirkung, die der Mann auf sie ausübte, der in diesem Moment auf sie zukam. Langsam nahm sie die Hanteln herunter und legte sie auf dem Boden ab. Dann wollte sie nach dem Handtuch greifen, das neben ihr lag, aber Cullen war schneller. Ihre Finger berührten sich, als er seine Hand in der weichen Baumwolle zur Faust ballte. Langsam richtete Kate sich auf. Sie hob die Lider und blickte flüchtig zu Cullen… und bemerkte dabei, dass sein Gesicht nur wenige Zentimeter von ihrem entfernt war. In seinen Augen lag ganz zweifellos ein Ausdruck des Verlangens. Panik überkam Kate, denn sie wusste, dass sie Gefahr lief, erneut mit gebrochenem Herzen aus dieser Sache hervorzugehen. Ruckartig tat sie einen Schritt zurück. „Was willst du?“ fragte sie, als sie endlich ihre Stimme wieder fand. „Dich“, erwiderte er und hielt ihr das Handtuch hin.
Seine Worte klangen ruhig und bestimmt. Kate atmete hörbar ein und griff dankbar nach dem Handtuch, das ihr erst mal dabei half, Zeit zu gewinnen, bis ihr eine passende Antwort einfiel. Sie tupfte damit ihr verschwitztes Gesicht ab und verbarg dahinter gleichzeitig das Verlangen, das in ihrem Blick lag. Als sie Cullens warme Hand auf ihrem Oberarm spürte, erstarrte sie. Langsam ließ sie das Handtuch sinken. Sie wagte es nicht, zu atmen oder sich zu bewegen, und stand einfach wie hypnotisiert da, ganz gebannt von dem maskulinen Duft, der ihr die Fähigkeit nahm, logisch zu denken. Wenn du ihn liebst, warum denn nicht? argumentierte die leise Stimme in Kates Kopf, die gegen ihren Verstand ankämpfte. Also gut, sie liebte ihn – sehr viel schlimmer konnte es nun nicht mehr kommen. Und im Gegensatz zum ersten Mal, als sie sich auf ihn eingelassen hatte, wusste sie nun immerhin, was sie zu erwarten hatte. Sie wusste, dass sie nicht sein Typ war und dass er keinerlei Absichten hatte, eine feste Beziehung daraus werden zu lassen. Und da sie das alles ganz genau wusste, bestand auch diesmal nicht die Gefahr, noch einmal verletzt zu werden, oder? Cullen ließ die Hand über Kates Schulter herauf zu ihrem Hals gleiten, um anschließend ihr Kinn sanft zwischen Daumen, Zeige und Mittelfinger zu nehmen. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und trotzdem fühlte sie sich wie gelähmt, konnte sich nicht bewegen. Cullen neigte den Kopf. Seine markanten Gesichtszüge verschwammen vor ihren Augen. Schön, dachte sie und senkte die Lider. Schließlich brauchte sie ja auch gar nichts zu sehen. Sie brauchte nur zu fühlen… Sie spürte seine warmen Lippen auf ihren. Ohne es zu wollen, ohne dass ihr klar war, was sie da eigentlich tat, ließ sie das Handtuch fallen. Mit der einen Hand griff sie in eine Gürtelschlaufe an Cullens Jeans, die andere legte sie ihm auf den Hinterkopf, um ihn noch fester an sich zu drücken. Sein Kuss vertiefte sich, und sie öffnete den Mund weiter, um seine Zunge einzulassen. Cullen ließ die Hand, die er an Kates Hals gelegt hatte, weiter herabgleiten, um damit die Rundungen ihres Körpers zu erkunden. Die andere Hand schob er weiter nach oben, unter den dehnbaren Stoff ihrer Sportkleidung. Kate spürte seine warmen Finger auf ihrer nackten Haut. Seine Berührung war noch wunderbarer, als sie es in Erinnerung hatte. Vielleicht lag es daran, dass es schon so lange her war. Ihr Körper war von einem quälenden Verlangen erfüllt, das alle Vernunft verdrängte. Es hatte einfach keinen Sinn mehr, gegen diese Versuchung anzukämpfen, nicht wenn sie sich so sehr wünschte, ihr nachzugeben. Lange Zeit küssten sie sich gierig, hungrig. Dann zog Cullen Kate noch dichter an sich, so dass sie seine heiße Erregung spürte. Kate brauchte keine weitere Aufforderung. Sie drängte sich ihm entgegen und rieb ihre intimste Stelle an seiner harten Männlichkeit, wollte ihm so nah wie möglich sein und wusste gleichzeitig, dass es nie nah genug sein würde. Nun ließ Cullen von ihrem Mund ab, um ihren Hals mit kleinen feuchten Küssen zu übersäen. Sie gab einen leisen Laut von sich und krallte die Finger zusammen, hielt sich an Cullen fest. Das letzte Mal, dass Kate sich so weiblich, so begehrenswert und gleichzeitig so bedürftig vorgekommen war, war das erste Mal gewesen, dass Cullen und sie sich geliebt hatten. Oder war es das letzte Mal gewesen? „Ich will dich, Kate“, raunte Cullen an ihrem Hals, und seine Stimme klang tief und heiser. „Ja“, flüsterte sie fieberhaft zurück. „Bitte.“
Ohne ein Wort zog er ihr das Gummi aus dem Haar, das ihren Pferdeschwanz hielt. Kate schüttelte den Kopf, und die feuerrote Pracht ergoss sich auf ihre Schultern. Als Nächstes griff Cullen den Saum ihres Sportoberteils und zog es nach oben, dabei verzerrte er das Gesicht vor Schmerz. Kate schob seine Hände zur Seite, zog sich selbst das Oberteil aus und warf es zu Boden. Nun war es zu spät. Sie ist so wunderschön, dachte Cullen. Verletzlichkeit und Trotz lagen in ihrem Blick, als sie vor ihm stand. Er bewunderte ihren perfekten, ebenmäßigen Körper, die zarte Haut auf den Schultern, die von honigfarbenen Sommersprossen bedeckt waren. Während er Kate anschaute, röteten sich ihre Wangen leicht, und sie verschränkte automatisch die Arme vor der Brust, um sich vor seinem so intensiven Blick zu schützen. Cullen umschloss ihre Handgelenke und zog sanft ihre Arme nach unten. Dann nahm er ihren Blick gefangen und streckte die Hand nach ihr aus, um endlich ihren weichen, zarten Körper zu berühren. Sie schnappte nach Luft, schloss die Augen und biss sich auf die Unterlippe. Da küsste er Kate, öffnete ihr dabei vorsichtig die Lippen, während er sie langsam zum Sofa schob, das an der Wand des Raumes stand. Es war ein schwieriges Unterfangen, denn Cullens Brustkorb und seine Schulter schmerzten. Schwierig, unbequem… und gleichzeitig ungemein zärtlich. Seltsam aufregend und kreativ. Wenn er sich ein Kleidungsstück nicht selbst ausziehen konnte, half Kate ihm dabei. Mit geschickten Fingern öffnete sie Knöpfe, zog Reißverschlüsse auf. Wenn er sich allein nicht in einer bestimmten Position halten konnte, tauschte sie mit ihm die Plätze, übernahm die Führung, so dass er sich bloß noch zurückzulehnen brauchte, um ihre Berührungen zu genießen. Es war genau so, wie er es vom letzten Mal in Erinnerung hatte, wie er es auch erwartet hatte. Und er wusste, er würde nie genug davon bekommen. Er hatte so lange darauf verzichtet, dass es nun viel zu schnell vorbei war. Hinterher saß Kate unbeweglich auf seinem Schoß, auf jeder Seite von ihm ein schlankes Bein, den Kopf hatte sie ihm auf die Schulter gelegt. Allmählich beruhigten sich ihre Herzschläge. Cullen atmete den Duft ihres Haares ein und versuchte zu verstehen, was da gerade zwischen ihnen passiert war. Ja, sie hatten Sex gehabt. Aber es war mehr als nur Sex, denn Kate war mehr als nur irgendeine Frau, mit der er schlief. Du bist drauf und dran, dich in sie zu verlieben. Eine leise Stimme in seinem Kopf flüsterte ihm zu, was er sich selbst nicht hatte eingestehen wollen, als er sie mit Brutus Vickers hatte tanzen sehen. Abrupt öffnete Cullen die Augen und hielt in seinen Bewegungen inne, ließ die Hände ruhen, mit denen er Kate träge den Rücken gestreichelt hatte. Er verliebte sich in sie? Unmöglich. Er bewunderte sie, war beeindruckt von ihren Fähigkeiten. Er mochte sie sogar ein bisschen, trotz ihrer scharfen Zunge. Aber Liebe? Nein. Das kam gar nicht infrage. Aber warum denn nicht? Du kannst Joanie nicht mehr als Ausrede vorschieben. Es ist nun fast schon drei Jahre her. Cullen hatte Joanie geliebt, und in gewisser Weise würde er sie auch immer lieben. Andererseits wusste er auch, dass er durch die Zeit mit Kate die Trauer und den schrecklichen Schmerz hinter sich gelassen hatte, die nach Joanies Tod von ihm Besitz ergriffen hatten. Ganz unspektakulär, in einem Moment absoluter Klarheit wurde ihm bewusst, dass er Joanies Tod überwunden hatte, schon seit einiger Zeit. Er war bereit, den nächsten Schritt zu gehen. Bereit, sich neu zu verlieben. Kate hielt die Augen geschlossen und versuchte, ihren Atem wieder unter Kontrolle zu bringen. Plötzlich spürte sie, dass etwas in Cullen vorging. Auf einmal war er ganz reglos, als wartete er auf etwas, als hätte er gerade eine
überwältigende Erkenntnis gehabt. Dieses Bewusstsein verdrängte langsam Kates Zufriedenheit, und aus der tiefsten Versenkung meldete sich wieder ihr Verstand. Was hatte sie da bloß getan? Ganz einfach: Sie hatte gerade ihren Job aufs Spiel gesetzt, vielleicht sogar Cullens Sicherheit. Und wofür? Eine Wiederholungsveranstaltung mit dem gut aussehenden, unerreichbaren Anwalt? Um sich dadurch letztlich wieder unglücklich zu machen? Wie dem auch sei: Nichts gab ihr das Recht, Cullens Leben in Gefahr zu bringen. Schließlich war sie engagiert worden, um ihn zu beschützen, nicht um seine eventuellen sexuellen Bedürfnisse zu befriedigen. Nun blieben ihr zwei Möglichkeiten: Entweder sie blieb und betrieb Selbstverleugnung, indem sie so tat, als hätten sie bloß ein wenig Spaß miteinander gehabt… genau so, wie er sich das wohl gedacht hatte. Oder aber sie reiste ab, mitsamt ihrem gekränkten Stolz, und fuhr zurück nach New Orleans. Besser gekränkter Stolz als ein gebrochenes Herz. Kate spürte Cullens Hand auf ihrer Schulter. „Kat?“ Sie zwang sich, die Augen wieder zu öffnen, und löste sich von ihm. „Das hier… war aber nicht Teil unserer Abmachung.“ Es überraschte sie, wie ruhig und kontrolliert sie die Worte aussprach. „Du zahlst mir nicht genug, um auch mit mir schlafen zu können.“ Die Zärtlichkeit wich aus seinen Augen und machte einer leisen Wut Platz. „Nun versuch nicht so zu tun, als hättest du es nicht auch gewollt“, sagte er. „Das weiß ich nämlich besser.“ „Ich habe gar keine Absicht, das abzustreiten“, erwiderte sie, glitt von seinem Schoß und drehte ihm den Rücken zu, um nach ihrer Kleidung zu suchen. „Sagen wir einfach, dass es gegenseitige Anziehung war, okay?“ Kate hatte keine Ahnung, wie sie es schaffte, so unbeteiligt zu klingen, wo sie doch den Eindruck hatte, dass sie sofort dahinschmelzen würde, wenn Cullen sie auch nur ein einziges Mal berührte. Sie griff nach ihren Shorts und zog sie schnell an. „Ach“, bemerkte Cullen spöttisch, während er sich seinerseits wieder anzog. „Dann gibst du also immerhin zu, dass es auch von dir ausging.“ „Na ja, das kann ich schlecht abstreiten.“ Kate bemühte sich nun, ihre Stimme so klingen zu lassen, als wollte sie einen wissenschaftlichen Vortrag halten. „Es kommt häufig vor, dass sich ein besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Menschen in gewissen Situationen entwickelt, selbst wenn es da moralische Bedenken gibt. Patienten verlieben sich in ihre Ärzte, Schüler in ihre Lehrer. Und es gilt als erwiesen, dass sogar enge Verbindungen zwischen Geiseln und Kidnappern entstehen können. Als Staatsanwalt weißt du das sicher ebenso gut wie ich. Mit uns ist das Gleiche in New Orleans passiert, und was auch immer das ist, es funktioniert offenbar auch jetzt wieder.“ „Du machst dir doch was vor, Kat“, widersprach Cullen^ während er den Reißverschluss der Jeans zuzog und umständlich das Hemd zuknöpfte. „Du bist wie eine Katze. Bevor dir jemand zu nahe kommt, fährst du deine scharfen Krallen aus. So wie jetzt.“ „Sehr viel näher hättest du mir doch gar nicht kommen können“, erinnerte sie ihn. „Ja, aber nur körperlich.“ „Mehr wolltest du doch gar nicht.“ „Bist du dir da sicher?“
Kate sah ihn an und hoffte, dass er das noch genauer erklären würde. Da kam aber nichts, und auch an seinem Blick konnte sie nichts erkennen. „Die Hauptsache ist doch, dass wir so nicht weitermachen können“, sagte sie und wandte den Kopf ab, um Cullen nicht mehr in die Augen schauen zu müssen. „Wir wissen beide, dass ich nicht dein Typ bin, also ist es doch eindeutig, dass wir eben bloß unseren Trieben gefolgt sind.“ Sie hob das Kinn, holte tief Luft und fuhr sich durch das Haar, das er noch vor wenigen Minuten zerzaust hatte. „Es ist passiert, und wir sollten uns keine Vorwürfe deswegen machen, sondern lieber aufpassen, dass es nicht noch einmal passiert. Ich darf mich durch so etwas nicht von meinem Auftrag ablenken lassen.“ Cullen streckte die Hand aus und strich ganz leicht an Kates Kinn entlang. „Du hast Recht, dass Triebe auch eine große Rolle dabei gespielt haben. Aber ich weiß genau, was ich für dich empfinde, Kate. Und dieses Wissen macht es mir nicht leichter, mich damit abzufinden.“ „Dann weißt du ja auch, dass ich Recht habe.“ „Das werden wir noch sehen“, entgegnete er. „Aber weil du im Moment nicht in der richtigen Verfassung bist, diese Dinge zu besprechen, müssen wir das wohl auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Nachdem wir diesen Verbrecher geschnappt haben.“ Er lehnte sich vor und berührte ihre Lippen mit seinen. Der zärtliche Kuss sandte ihr einen Schauer durch den ganzen Körper. „Träum süß, Kat“, sagte Cullen und ließ sie im Raum zurück. Nun war sie mit ihren Gedanken allein und kam sich dabei noch einsamer vor als damals, als sie aufgewacht war und Cullen ohne ein Wort des Abschieds verschwunden war. 10. KAPITEL Der Mann am Fenster beobachtete Cullen McGyver und die rothaarige Frau dabei, wie sie sich wieder anzogen, und empfand dabei eine Mischung aus Interesse und Hass. Ganz offensichtlich war er zu spät gekommen, um das Hauptereignis mitzuerleben, aber eines war ihm dennoch klar: McGyver hatte sich auf eine Frau eingelassen. So viel also zu der angeblich unsterblichen Liebe, die er für seine verstorbene Frau empfand. Eine unsterbliche Liebe, die ihn dazu veranlasst hatte, alle Hebel in Bewegung zu setzen, um Vergeltung zu üben. Aber wie dem auch sei. Wenigstens wusste der Mann nun ganz genau, wo sich McGyver aufhielt, und konnte dementsprechend planen. Bald würde es so weit sein. Der Mann zog sich vom Fenster zurück und lief von Schatten zu Schatten über den Hinterhof. Als Kate am nächsten Morgen in die Küche kam, bemerkte Cullen, wie frisch und ausgeschlafen sie aussah. Als hätte es ihr gar keine Probleme bereitet, nach dem romantischen Zwischenfall im Fitnessraum tief und fest einzuschlafen. Zu der braunen Hose trug sie einen gelbgrünen Strickpulli, und Cullen ließ den Blick über ihre langen Beine und schmalen Hüften schweifen. Unwillkürlich musste er daran denken, wie sich ihr unbekleideter Körper gestern angefühlt hatte: fest, aber trotzdem weiblich… Sosehr Cullen sich auch um Blickkontakt bemühte – Kate weigerte sich strikt, zu ihm herüberzuschauen. Allmählich wurde er ärgerlich. Schließlich waren sie zwei erwachsene Menschen, die durchaus in der Lage sein sollten, über das zu reden, was passiert war. Aber vielleicht hatte Kate ja schon alles gesagt, was es von ihrer Seite zu dem Thema zu sagen gab? Sobald Cullen mit dem Frühstück fertig war, entschuldigte er sich und verschwand in der Bibliothek. Er wollte nun endlich Lucy anrufen, die mittlerweile wieder da sein müsste. Gerade durchsuchte er die Unterlagen auf seinem Schreibtisch, da kam Kate in den Raum. Es machte ihn wütend, dass sie so ruhig bleiben konnte. Er selbst
brauchte sie bloß anzuschauen, und schon spürte er wieder ein unbändiges
Verlangen nach ihr. Um dieses Gefühl zu verdrängen, funkelte er sie ärgerlich an
und sagte: „Würdest du vielleicht bitte die Tür schließen?“
„Was ist dir denn für eine Laus über die Leber gelaufen?“
„Gar keine“, knurrte er. „Ich habe bloß die Nase voll davon, mich hier verstecken
zu müssen, weil irgendein Idiot mir unbedingt eins auswischen will. Jetzt will ich
endlich Lucy anrufen. Warum hörst du das Gespräch nicht einfach an dem
Apparat mit, der in dem Zimmer auf der anderen Seite des Flures steht?“
„Gute Idee“, meinte Kate und verschwand.
Cullen holte einen Zettel aus der Hosentasche und tippte die Nummer ein. Nach
dem dritten Klingeln meldete sich eine Frau, deren Stimme er sofort erkannte.
„Lucy? Hier ist Cullen McGyver.“
„Cullen!“ sagte sie so leise, dass es kaum mehr als ein Flüstern war. „Wie hast du
herausgefunden, wo ich bin?“
„Ich habe mir das zusammengereimt.“
Sie seufzte. „Worum geht es?“
„Worum es geht?“ wiederholte Cullen empört. „Ich will von dir wissen, warum du
mir das antust!“
„Einen Moment mal bitte“, sagte Lucy. Er hörte, wie sie den Hörer ablegte und
die Tür schloss. Dann nahm sie den Hörer wieder auf. „Was tue ich denn?“
„Zunächst mal will ich wissen, warum du Dub überhaupt von mir erzählt hast.“
„Das hat Dub dir doch schon gesagt.“
„Ja, das hat er. Aber das erklärt immer noch nicht, warum du ihn glauben lässt,
dass Tyler von mir ist.“
„Irgendetwas musste ich ihm doch erzählen. Ihm irgendeinen Namen nennen.“
Lucy klang nervös und verängstigt.
„Also hast du einfach mich genommen.“
„Natürlich habe ich dich nicht einfach so genannt!“ rief Lucy leise. „Oder hast du
etwa vergessen, dass Tyler aus gewissen Gründen durchaus dein Sohn sein
könnte?“
„Ich habe überhaupt nichts vergessen“, informierte Cullen sie. „Und am
allerwenigsten habe ich damals vergessen, gewisse Vorkehrungen zu treffen.“
„Tja, mit den Vorkehrungen klappt das aber nicht immer.“
Cullen stützte einen Ellbogen auf den Schreibtisch, kniff sich in den Nasenrücken
und dachte über ihre Worte nach. Plötzlich fuhr er auf.
„Sag mal… wer könnte denn außer mir noch Tylers Vater sein?“
„W…wie meinst du das?“
„Du sagtest doch eben, du hättest Dub irgendeinen Namen nennen müssen“,
erklärte Cullen. „Du hast gesagt, dass ich Tylers Vater sein könnte. Aber wenn du
während der Zeit nur mit mir geschlafen hättest, dann hättest du gar keinen
Zweifel daran, oder? Dass du dir nicht so sicher bist – liegt das daran, dass es
außer mir noch einen anderen Mann gab, von dem du Dub aber nichts erzählt
hast?“
„Nein!“ rief Lucy aus, aber Cullen hörte sofort heraus, dass es doch so war.
„Du lügst, Lucy“, sagte er mit Überzeugung. „Du hast doch noch mit einem
anderen Mann geschlafen. Wer war das?“
„Niemand!“
„Sag es mir.“
Sie begann zu schluchzen. An ihrem Tonfall hörte er, wie verzweifelt sie war, als
sie sagte: „Das spielt doch jetzt keine Rolle, oder? Für mich spielt bloß eine Rolle,
dass Dub mich richtig übel zugerichtet hat, als er von dir erfahren hat. Was
meinst du, was er anstellt, wenn er hört, dass es da noch einen zweiten Mann
gegeben hat?“
Cullen zog sich der Magen zusammen, wenn er sich vorstellte, wie der schwere,
kräftige Dub auf die kleine, zart gebaute Lucy einschlug. „Dann hast du also
davor Angst?“
„Hättest du das etwa nicht?“ gab sie mit tränenerstickter Stimme zurück.
Cullen seufzte tief. „Ich verstehe ja, in was für einem Dilemma du da steckst,
Lucy, und ich will es dir nicht auch noch schwerer machen, als es ohnehin schon
ist. Aber du solltest Dub wirklich von dem anderen Mann erzählen und eine
einstweilige Verfügung gegen ihn erwirken, falls du das für notwendig hältst.“
„Du weißt doch genauso gut wie ich, dass diese Dinge nicht das Papier wert sind,
auf dem sie geschrieben sind, wenn jemand wie Dub verrückt spielt.“
„Wenn er noch einmal versucht, dich zu schlagen, dann sorge ich dafür, dass du
den besten Anwalt bekommst, den man für Geld engagieren kann.“
„Ich kann das nicht tun.“ Ihre Stimme war voller Angst.
„Das musst du aber, Lucy. Versuch doch mal, dich in meine Lage zu versetzen.
Dub will mich vor Gericht bringen, damit ich ihm Geld für ein Kind zahle, das
höchstwahrscheinlich nicht von mir stammt. Nach dem, was du mir auf den
Anrufbeantworter gesprochen hast, muss ich annehmen, dass ihr euch an die
Presse wendet, wenn ich dagegen angehe.“
„Nein!“ rief Lucy empört aus. „Kennst du mich denn nicht gut genug, um zu
wissen, dass das nicht stimmt? Das Ganze war Dubs Idee. Ich habe dich bloß
angerufen, um dich zu warnen.“
Also hatte Kate Recht gehabt. „Okay. Dann hast du mich hiermit gewarnt. Mein
Entschluss steht allerdings fest.“
„W…was hast du vor?“
„Ich werde mich einem Vaterschaftstest unterziehen, damit ein für alle Mal klar
ist, ob ich Tylers Vater bin. Und ich hoffe, dass du mir hilfst, indem du dafür
sorgst, dass eine Blutprobe von Tyler zur Verfügung steht. Du willst doch
bestimmt auch die Wahrheit wissen, oder?“
„Ja“, schluchzte Lucy leise.
„Dann hilf mir bitte“, sagte Cullen in seinem überzeugendsten Tonfall. „Lass uns
gemeinsam die Wahrheit herausfinden. Wenn Tyler mein Sohn ist, zahle ich
natürlich gern Unterhalt. Und wenn er das nicht ist, dann ist es auch besser für
dich, das zu wissen. Falls Dub dir Ärger macht, helfe ich dir höchstpersönlich
dabei, einen neuen Unterschlupf zu finden und ein neues Leben aufzubauen.
Herrje, dabei helfe ich dir auf jeden Fall, okay?“
Als Lucy sich langsam wieder beruhigt hatte und nur noch hin und wieder mit
einem leichten Schluckauf kämpfte, vereinbarte Cullen mit ihr für die kommende
Woche einen Termin, an dem sie den Vaterschaftstest durchführen wollten. Er
ermahnte sie noch, ihre Eltern einzuweihen, damit sie sich dementsprechend
verhalten konnten. Außerdem warnte er sie davor, sich allein mit Dub zu treffen.
„Eine Frage habe ich noch“, sagte Cullen, als sie gerade auflegen wollten. „Du
weißt doch bestimmt, dass Dub bei mir vorbeigekommen ist und mich bedroht
hat.“
„Ja. Ich habe noch versucht, ihn davon abzuhalten^ aber er hat sich nicht
beirren lassen.“
„Glaubst du, dass er fähig wäre, auch noch etwas…
Schlimmeres zu tun?“
„Etwas Schlimmeres? Was denn zum Beispiel?“ fragte Lucy.
„Zum Beispiel mich umzubringen.“
Er hörte, wie sie erschrocken nach Luft schnappte. „Warum fragst du?“
„Ich versuche nur herauszufinden, worauf ich mich einstellen muss“, versuchte
Cullen sich herauszureden.
„Warte mal!“ rief Lucy aus, und es klang so, als wäre ihr gerade etwas klar
geworden. „Du bist angeschossen worden, das habe ich in den Nachrichten
gehört. Und jetzt vermutet man sogar, dass es kein Unfall war. Willst du jetzt
etwa von mir wissen, ob ich glaube, dass das Dub gewesen sein könnte?“
„Ja.“
Lucy beantwortete die Frage nicht sofort. „Dub ist ein Rüpel und ein Großmaul“,
sagte sie schließlich. „Er ist ein ganz fieser und auch aggressiver Typ, aber er
sucht sich immer bloß Opfer aus, die schwächer sind als er. Und ich glaube nicht,
dass er jemanden umbringen würde, dazu ist er im Grunde viel zu feige.“
Nachdem Lucy aufgelegt hatte, hörte Cullen ein zweites Klicken in der Leitung.
Kate. Wenig später kam sie zurück in den Raum, und sie sah sehr nachdenklich
aus.
„Und?“ erkundigte sich Cullen.
Sie zuckte mit den Schultern. „Ich schätze mal, dass sie noch am besten
einschätzen kann, wie sich ihr Mann in einer bestimmten Situation verhalten
würde. Andererseits kommt es täglich vor, dass sich Menschen in jemandem
irren, den sie angeblich gut kennen.“
„Stimmt.“
„Jedenfalls bin ich froh, dass du jetzt den Vaterschaftstest durchführen lässt. Du
nachher bestimmt auch.“
„Ja“, sagte Cullen. „Hey, warte mal, wo willst du jetzt hin?“ rief er ihr hinterher,
als er sie zurück zur Tür gehen sah.
Kate wandte sich um und fuhr sich durch das wundervolle Haar, das sie heute
aus irgendeinem Grund offen gelassen hatte. „Ich wollte noch ein paar
Schießübungen machen, zur Sicherheit. Verlass also bitte nicht das Haus, bevor
ich wieder da bin.“
Cullen salutierte übertrieben. „Ja, Ma’am.“
„Seien Sie nicht so spöttisch, Herr Anwalt.“
Offenbar hatte sie wieder ihre Krallen ausgefahren. „Kat?“ rief Cullen ihr nach
und benutzte dabei mit Absicht ihren Kosenamen. Sie blickte ihn über die
Schulter hinweg fragend an. War sie etwa ein wenig rot geworden?
„Ja?“
„Du siehst heute wirklich umwerfend aus. Deine Jeans sitzt toll.“
Nun wandte sie sich vollständig zu ihm um, ihre Augen blitzten verärgert auf.
„Hör auf damit!“
„Womit?“
„Hör auf damit, mich durch deine anzüglichen Bemerkungen an die letzte Nacht
zu erinnern.“
Cullen stand auf, ging um den Schreibtisch herum und direkt auf Kate zu, bis er
direkt vor ihr stand. Trotz der Schmerzen in seiner Schulter hob er beide Arme
und nahm Kates Kopf in beide Hände, so dass sie seiner Nähe nicht mehr
entkommen konnte. „Es ist nun mal passiert, Kate“, sagte er mit einer sanften
Stimme, die keinen Widerspruch duldete. „ Wenn du jetzt so tust, als wärst du
wütend, dann ändert das immer noch nichts an den Tatsachen. Also schlage ich
dir vor, es einfach so hinzunehmen, wie es gemeint war. oder es eben
abzuhaken.“
„Ich tue nicht bloß so, als wäre ich wütend. Ich bin wütend. Ich ärgere mich ganz
fürchterlich über mich selbst, weil ich das zugelassen habe.“
„Weil du es zugelassen hast?“ sagte er ungläubig. „Wenn mich meine Erinnerung nicht täuscht, dann hast du doch ab einem gewissen Punkt selbst die Führung übernommen.“ Das konnte Kate tatsächlich nicht abstreiten. Cullen war zufrieden, dass er das einmal klargestellt hatte, und ließ die Hände wieder sinken. Dann trat er einen Schritt zurück. „Fröhliches Schießen“, wünschte er ihr, drehte sich um und ging wieder zum Schreibtisch. „Und wie war es gemeint?“ Als Cullen ihre Stimme hörte, blieb er mitten im Raum stehen. Dann wandte er sich wieder Kate zu und runzelte die Stirn. „Wie war was gemeint?“ „Du hast eben gesagt, ich soll es hinnehmen, wie es gemeint war. Wie genau war es denn gemeint? Welche Bedeutung hatte das Ganze?“ Was hat es dir bedeutet? Obwohl Kate diese Worte nicht aussprach, ging es ihr genau darum, das wusste Cullen. Gemächlich ließ er seinen anerkennenden Blick über sie schweifen, ließ ihn einen Moment lang auf ihren Lippen ruhen, bevor er ihre Augen fand. Cullen wusste ganz genau, was ihm die gemeinsame Nacht bedeutete, aber er war noch nicht bereit, ihr sein Herz zu Füßen zu legen. Dieses Geschenk würde sie nicht annehmen. „Ich versuche selbst immer noch, mir darüber klar zu werden“, log er also. „Sobald ich Genaueres weiß, sage ich dir Bescheid.“ Aufgeregt stürmte Kate in die Küche. Eigentlich hatte sie damit gerechnet, Greg dort anzutreffen, stattdessen erblickte sie zu ihrer Überraschung Dan, der gerade im Kühlschrank nach etwas suchte. „Wo sind die anderen?“ fragte sie atemlos. „Greg ist mit Louella losgefahren, um ihr sein Haus zu zeigen, und Meghan ist mit den Mädchen einkaufen gefahren“, erwiderte Dan. „Was ist denn los?“ „Ich komme gerade von der alten Kiesgrube, da habe ich ein paar Schießübungen gemacht“, erklärte Kate gehetzt. „Die Schüsse haben den Fohlen Angst gemacht, und eins davon ist durch den Zaun gebrochen. Jetzt humpelt es ziemlich stark.“ Dan runzelte die Stirn und stieß die Kühlschranktür zu. „Normalerweise kümmert sich Sam für Meghan um die Pferde, aber der ist jetzt erst mal bis Montag unterwegs. Sag Cullen, er soll einen Tierarzt rufen, ich hole Werkzeug. Wir treffen uns dann bei meinem Wagen.“ Wenig später trafen Cullen, Dan und Kate an der Stelle ein, an der das Fohlen durch den Zaun gebrochen war. In der Zwischenzeit war bloß noch ein weiteres Pferd durch das Loch geschlüpft. Kate und Dan fingen beide Tiere ein und brachten sie wieder zurück auf die Weide, um sich dann gemeinsam vor die Lücke zu stellen, die Dan provisorisch schloss. „Ist das Fohlen schlimm verletzt?“ erkundigte sich Kate besorgt. „Es hat eine ziemlich tiefe Schnittwunde über der Brust und hässliche Abschürfungen am Bein, aber es scheint nichts gebrochen zu sein“, erwiderte Cullen. „Bestimmt geht es ihm bald besser.“ Nun blieb ihnen nichts anderes übrig, als auf die Ankunft des Tierarztes zu warten. Endlich hörten sie Motorengeräusche, und wenig später sahen sie, wie ein roter Kleintransporter hinter Dans Wagen hielt und zwei Männer ausstiegen. Der eine, offenbar der Tierarzt, war groß und hatte einen Lockenkopf. Der zweite ging gebeugt, er trug einen Bart und einen Baseballkappe. Der Tierarzt kam sofort auf sie zu, während sein Assistent den Laderaum des Wagens öffnete, um die notwendigen Utensilien herauszuholen.
Der große Mann reichte Cullen die Hand. „Ist mir ein Vergnügen, Sie kennen zu lernen, Mr. McGyver. Ich bin Mark Johnson, der neue Tierarzt.“ Anschließend begrüßte er auch Dan und Kate, die sich ebenfalls vorstellten. Schließlich wies der Arzt mit dem Kopf auf den Mann, der noch am Wagen zugange war. „Das ist Kenny, mein Assistent.“ Kenny war offenbar ziemlich beschäftigt und winkte bloß kurz zu ihnen herüber. Nun wandte sich der Tierarzt dem Fohlen zu. Er forderte Dan auf, das Tier ein wenig herumzuführen, so dass er seinen Gang beobachten konnte. Dann berührte der Arzt vorsichtig die Schnittwunde an der Brust des Tieres, um abschätzen zu können, wie tief sie war. Kate, die zwar als Polizistin jede Menge Blut zu sehen bekommen hatte, konnte es kaum ertragen, wenn einem Tier Schmerzen zugefügt wurden. Also zog sie sich ein Stück zurück und war dankbar dafür, dass sich die anderen schon so gut um alles kümmerten. „Wir müssen die Wunde wohl nähen, Kenny“, rief Mark Johnson seinem Assistenten zu. „Hol mir mal bitte etwas zur lokalen Betäubung und dazu ein Beruhigungsmittel, falls es Schwierigkeiten gibt.“ Kenny brachte dem Arzt beide Spritzen und stellte sich dann so hin, dass das Pferd zwischen ihm und den anderen drei Männern stand. Nun traten auch Dan und Cullen ein Stück zurück, um dem Arzt nicht im Weg zu sein. „Wir können ja versuchen, die Lücke im Zaun ein bisschen besser zu schließen, während die beiden sich um das Fohlen kümmern“, schlug Dan vor. „Hol du schon mal den Hammer, ich schaue solange, was ich noch mit den durchgebrochenen Brettern anfangen kann.“ „Gute Idee“, meinte Cullen und ging zum Wagen. Kenny kraulte das Fohlen an den Nüstern und zwischen den Ohren. Das Tier war so beschäftigt damit, ihn zu beschnüffeln, dass es gar nicht viel von den Spritzen mitbekam. Der Mann kann wirklich gut mit Pferden umgehen, dachte Kate und betrachtete Kenny eingehender. Seine ganze Aufmerksamkeit schien Dan und Cullen zu gelten, die gerade den Zaun reparierten. Kate war verblüfft darüber, was für ein feindseliger Ausdruck dabei in seinen Augen lag, und sie versteifte sich. „Kenny“, sagte der Arzt und streckte die Hand aus. „Ich muss die Schnittwunde erst auswaschen, bevor ich sie zunähen kann. Holst du mir bitte alles Nötige und dazu noch ein Antibiotikum?“ „Aber klar, Doc“, erwiderte Kenny freundlich und ging zum Wagen. Wahrscheinlich habe ich mir das eben nur eingebildet, dachte Kate. Der Assistent wirkte auf sie nun ausgesprochen entgegenkommend. Als er in geringer Entfernung an ihr vorbeiging, neigte er den Kopf, tippte sich an den Schirm der Baseballkappe und lächelte Kate schief zu. Ihr Unbehagen verschwand, und sie lächelte zurück. Wahrscheinlich sah sie schon Gespenster, weil sie sich solche Sorgen um Cullen machte.
11. KAPITEL Samstag war der letzte Tag, den Meghan und ihre Familie auf der Ranch übernachten würden. Am Abend dieses Tages fand ebenfalls der Weihnachtsumzug des kleinen Ortes Barnesville statt und dieser Weihnachtsumzug gehörte zu Cullens gesellschaftlichen Verpflichtungen. Kate hatte ihn nicht davon überzeugen können, zumindest dieses Jahr abzusagen, also fuhren alle gemeinsam in den Ort: Greg chauffierte Louella, Kate und Cullen, Dan fuhr mit seiner Familie. Kate stand mit Cullen direkt an der Straße, durch die der Umzug führte. Als Zeremonienmeister hatte er einen Platz direkt neben den Schiedsrichtern, die darüber entscheiden würden, welcher Umzugswagen den ersten Preis gewann. Cullen erledigte seine Aufgabe hervorragend, er wechselte ein paar Worte mit dem Fernsehreporter und der Dame von der Handelskammer. Er war charmant und witzig und gleichzeitig eine unerschöpfliche Wissensquelle, wenn es um die zurückliegenden Weihnachtsumzüge, um Ortsvereine oder sonstige Bürgerorganisationen ging. Die ganze Zeit passte Kate neben ihm auf wie ein Luchs. Zum Glück dauerte der ganze Spaß bloß etwa vierzig Minuten, und es gab keine Zwischenfälle. Anschließend setzten sich alle zusammen in ein kleines Cafe, um dort eine heiße Schokolade zu trinken, bevor sie zur Ranch zurückkehrten. Die Kellnerin nahm ihre Bestellungen auf, und sie unterhielten sich ein bisschen über den Umzug. Plötzlich sagte Meghan zu Cullen: „Du rätst nie, wen ich heute gesehen habe. Zumindest glaube ich, dass er es war.“ „Ich bin viel zu müde, um zu raten“, erwiderte Cullen. „Wen denn?“ „Kent Carlson.“ Als Meghan den Namen ausgesprochen hatte, breitete sich eine bedrohliche Stille aus. Selbst Lindsay und Marley hörten auf zu schwatzen. „Irgendetwas entgeht mir hier gerade“, sagte Kate und schaute von einem Erwachsenen zum nächsten. „Wer ist Kent Carlson?“ „Kent Carlson ist der Mann, der Joanie umgebracht hat“, erwiderte Cullen mit tonloser Stimme. Erneut schwiegen alle. Glücklicherweise kam die Kellnerin bereits kurze Zeit später mit den Getränken und Naschereien, und ein etwas schleppendes Gespräch begann, das nach und nach ein wenig lockerer wurde. So ausgelassen wie vorher konnten sie nun allerdings nicht mehr sein. Schließlich einigten sich alle darauf, dass sie zwar alle erschöpft waren, aber einen schönen Abend verbracht und insgesamt ein paar schöne Feiertage gemeinsam genossen hatten. Meghan sagte noch, wie schade sie es fände, dass sie und ihre Familie am nächsten Tag schon abreisen müssten. Zwanzig Minuten später hielt Greg seinen Wagen hinter dem der Longstreets an, ließ Cullen, Kate und Louella aussteigen und fuhr dann weiter nach Hause, um am nächsten Morgen wieder auf der Ranch zu erscheinen. Die übrigen sieben Ausflügler stürmten ins Haus und legten dort Jacken, Mützen und Handschuhe ab. Louella ging sofort nach oben, weil sie noch ein Buch zu Ende lesen wollte, Dan und die Mädchen wollten sich etwas im Fernsehen anschauen, und Cullen hatte vor, die Nachrichten auf dem Anrufbeantworter abzuhören. Unentschlossen stand Kate am Fuß der Treppe und dachte darüber nach, wie Cullen reagiert hatte, als Kent Carlsons Name gefallen war. Schließlich folgte sie Meghan in die Küche. Cullens Schwester wollte dort etwas gegen ihre Kopfschmerzen einnehmen.
Meghan schluckte gerade die Tabletten herunter, als Kate in den Raum kam. „Ich möchte dich nicht stören, aber ich würde gern mit dir über Cullens Reaktion sprechen, als du erzählt hast, dass du… Kent gesehen hast. Dieser Mann hieß doch Kent?“ Meghan nickte. „Ja, Kent. Kent Carlson. Ich hätte mir denken können, dass ihn das aufwühlt. Hätte ich doch bloß nichts gesagt, gerade weil ich mir nicht mal sicher war, dass er das auch wirklich war.“ „Er liebt sie immer noch, oder?“ fragte Kate. Sie war sich unsicher, ob sie wirklich die Wahrheit wissen wollte, andererseits brauchte sie diese Wahrheit, wenn sie während der restlichen Zeit mit Cullen einen klaren Kopf behalten wollte. Statt diese Frage zu beantworten, stellte Meghan Kate eine Gegenfrage: „Du bist dabei, dich in meinen Bruder zu verlieben, hab ich Recht?“ Erschrocken blickte Kate Meghan an. „Mir ist aufgefallen, wie du ihn anschaust“, erklärte Meghan. „Und wenn ich es mir recht überlege, betrachtet er dich genauso.“ „Es liegt bloß daran, dass wir so viel miteinander zu tun haben“, versuchte Kate sich herauszureden. „Diese ganze Schauspielerei. So was kommt vor.“ „Hat es schon in New Orleans angefangen?“ fragte Meghan unbeirrt. „Deinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, gehe ich mal davon aus, und das würde auch einiges erklären.“ „Was denn zum Beispiel?“ hakte Kate nach. Sie wollte so viel wie möglich darüber herausfinden, was wohl damals in Cullens Kopf vorgegangen war. „Na ja, es würde erklären, warum er sich so brummig aufgeführt hat, als er wieder hier war. Monatelang war er unheimlich reizbar. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er sich je wieder mit Frauen treffen würde, aber als er doch damit anfing, dann gleich mit aller Macht. Als wollte er sich damit etwas beweisen… oder etwas darüber vergessen.“ „Und was könnte das sein?“ „Damals dachte ich, er wollte sich damit beweisen, dass er Joanies Tod überwunden hatte. Aber jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher. Vielleicht hat er versucht, dich zu vergessen.“ Kates Lachen klang ein wenig spröde. „Das dürfte nicht allzu schwierig gewesen sein. Offenbar war es ihm ja auch nicht schwer gefallen, einfach zu verschwinden.“ „Dann ist also tatsächlich etwas passiert, zwischen euch?“ Kate nickte. „Ja, aber nichts Ernsthaftes.“ „Da könntest du dich irren. Und es ist passiert als Joanie noch nicht ein Jahr tot war. So, wie ich meinen Bruder kenne, hat er sich das sicher zum Vorwurf gemacht.“ „Warum?“ „Er hat Joanie geliebt. Für ihn wäre es eine Art Vertrauensbruch, so bald nach ihrem Tod wieder eine Beziehung zu einer anderen Frau einzugehen, wie auch immer diese Beziehung aussieht.“ „Ein Vertrauensbruch gegenüber wem? Joanie?“ Meghan zuckte mit den Schultern. „Gegenüber ihrem Andenken, der Beziehung, die sie zusammen gelebt hatten. Für Cullen wäre das einfach zu früh.“ Sie betrachtete Kate nachdenklich. „Jetzt, wo ich weiß, dass da doch etwas zwischen euch war, kann ich mir auch erklären, warum er anfangs so abgeneigt war, dich zu engagieren.“ Obwohl es Kates Selbstwertgefühl gut tat zu hören, dass es Cullen ganz eventuell doch nicht so leicht gefallen war, sie zu vergessen, glaubte sie immer noch nicht
daran, dass sie eine größere Bedeutung für sein Leben hatte. Trotzdem wollte sie gern mehr über diesen vielschichtigen Mann erfahren, dem nun ihr Herz gehörte. Und sie wollte mehr über Joanie wissen, die immer noch so viel Macht über ihn zu haben schien. „Erzähl mir etwas von Joanie“, forderte Kate Meghan auf. „Was möchtest du denn wissen?“ „Er liebt sie immer noch, nicht wahr?“ wiederholte Kate ihre Frage, die bisher unbeantwortet geblieben war. Meghan dachte eine Weile nach. „Nein“, sagte sie schließlich. „Ich glaube, dass er lange Zeit einfach in die Vorstellung verliebt war, Joanie noch zu lieben. Und er hat sich schuldig gefühlt, als sie gestorben ist. Ich glaube, das tut er immer noch.“ „Schuldig?“ fragte Kate. „Warum denn?“ „Weil er damals mit ihr ein paar Tage hier auf der Ranch verbringen wollte und sie allein vorausgeschickt hat. Dann haben plötzlich die Wehen eingesetzt. Noch bevor er hier eintraf, war sie tot.“ Dank dieser kurzen Erklärung hatte Kate auf einmal ein viel klareres Bild vor Augen. „Und dieser Kent Carlson war ihr Arzt, als sie schwanger war?“ „Nein“, sagte Meghan. „Jedenfalls nicht derjenige, der sie normalerweise medizinisch betreut hat. Kent hatte Gregs Praxis in Webster übernommen, das ist eine Kleinstadt in der Nähe von Barnesville. Kent hatte gerade sein Medizinstudium beendet, und…“ „Kate!“ Cullens Stimme, die vom anderen Ende des Flures zu ihnen herüberdrang, klang wütend und fassungslos. Wenig später stürmte Cullen auch schon zur Küchentür herein. Sein Gesicht war aschfahl, die Lippen hatte er fest zusammengepresst. „Komm bitte in die Bibliothek. Das musst du dir anhören.“ „Was ist denn los?“ fragte sie, als sie ihm in den anderen Raum folgte, Meghan dicht hinter ihr. „Der Killer. Er weiß, wo ich bin.“ Kates Herz stand für einen kurzen Moment still, sie bemühte sich, trotz aller Panik einen kühlen Kopf zu wahren. In der Bibliothek drückte Cullen auf den Wiedergabeknopf des Anrufbeantworters. „Hi, McGyver“, erklang eine leise, raue Männerstimme. „Ich dachte, ich rufe mal kurz durch, um Sie wissen zu lassen, dass ich Sie endlich gefunden habe… wie ich es Ihnen schon gesagt hatte. Ich weiß, wo Sie sich aufhalten, und ich weiß auch, was Sie mit dieser hübschen Rothaarigen im Fitnessraum getrieben haben.“ Kates erschrockener Blick fand Cullens. Sie wagte es nicht, Meghan anzuschauen. Du liebe Güte! Hatte der Killer wirklich bei ihrer intimen Begegnung zugesehen? Kate erschauerte. „Schlafen Sie gut, McGyver“, flüsterte die Stimme heiser. „Ich melde mich dann wieder.“ Kate rieb sich über die Gänsehaut, die sich auf ihren Armen gebildet hatte, als der Anrufer seine Drohung aussprach. Dass dieser unbekannte Mann sie und Cullen beobachtet hatte, war schlimm, ja. Viel schlimmer jedoch erschien es ihr, dass er in diesem Moment ganz nah an Cullen gewesen war… so nah, dass er sehr gut zu Ende hätte bringen können, womit er damals im Wald angefangen hatte. Schließlich hatte niemand geahnt, dass er in der Nähe war – auch Kate nicht. „Erkennst du die Stimme wieder?“ fragte Meghan.
Nervös fuhr Cullen sich durch das vom Wind zerzauste Haar. „Nein. Ich meine, irgendwie klingt sie schon ein bisschen vertraut, aber ich kann leider nichts Genaueres sagen, weil er flüstert.“ „Kannst du denn sagen, ob es derselbe Mann ist, der auch die andere Nachricht hinterlassen hat?“ fragte Kate, als sie ihre Stimme wieder gefunden hatte. Cullen runzelte die Stirn. „Ich weiß es nicht. Wenn ich mir beide Nachrichten nacheinander anhöre, kann ich das vielleicht genauer sagen.“ „Das lässt sich machen“, meinte Kate. Genau das taten sie auch. Schließlich waren sich alle einig, dass beide Nachrichten wohl tatsächlich von derselben Person hinterlassen wurden. Trotzdem hatte Cullen auch nach mehrmaligem Abspielen immer noch keine Ahnung, ob er die Stimme kannte oder nicht. „Warum hat er nichts getan, als er die Gelegenheit dazu hatte?“ wunderte sich Meghan und bezog sich dabei dezent auf Cullens und Kates Rendezvous im Fitnessraum. „Er spielt mit uns“, vermutete Kate. „Vielen Verbrechern bereitet die Jagd auf das Opfer einen größeren Nervenkitzel als die Tat selbst. Der Typ will Cullen so richtig ins Schwitzen bringen.“ „Und das gelingt ihm auch verdammt gut“, sagte Cullen. Meghan seufzte. „Was machen wir jetzt?“ „Sorgt auf jeden Fall dafür, dass alle Türen abgeschlossen sind“, wies Kate sie an. „Ich glaube nicht, dass er etwas unternimmt, solange noch so viele Leute im Haus sind, aber garantieren kann ich das nicht. Wahrscheinlich wäre es am besten, wenn ihr noch heute Abend nach Little Rock zurückfahrt, Meghan. Ich verspreche euch auch, dass ich Cullen keine Sekunde aus den Augen lasse.“ „Ich lasse mich doch nicht von irgendeinem Verrückten aus meinem eigenen Haus vertreiben“, protestierte Meghan. „Die Mädchen können in unserem Zimmer auf Gästebetten schlafen, und Dan holt sich dann das Gewehr ans Bett. Er ist ein guter Schütze.“ „Das stimmt“, meinte Cullen. „Und was ist mit Louella?“ „Ich rede gleich mal mit ihr“, bot Kate an. „Mal sehen, wie sie reagiert.“ Louellas Einstellung unterschied sich nicht grundlegend von Meghans. Auch sie wollte auf der Ranch bleiben. „Du warst ja schon immer ganz schön dickköpfig“, sagte Kate zu ihr. Kent Carlson lag in seinem Einzelbett, die Hände unter dem Kopf verschränkt. Er stellte sich vor, wie die Leute auf der McGyverRanch nun vor Sorge nicht mehr ein noch aus wussten. McGyvers Schwester hatte ihn beim Weihnachtsumzug entdeckt, und obwohl ihrem Blick anzusehen war, dass er ihr irgendwie bekannt vorkam, war er sich nicht ganz sicher, ob sie ihn hatte einordnen können. Schließlich sah er nun ganz anders aus als noch vor drei Jahren. Älter. Er hatte auch mehr graue Haare als damals. Dazu verlieh ihm der Bart ein derberes Aussehen. Kent fragte sich, ob Cullen McGyver, der mittlerweile vermutlich Kents neuste Nachricht abgehört hatte, die Situation nun endlich so ernst nahm, wie er sie nehmen sollte. Denn es war wirklich verdammt ernst. Gerade jetzt, wo auch noch eine andere Frau im Spiel war. Cullen McGyver hatte Kents Leben ruiniert, weil er ihm die Schuld an Joanie McGyvers Tod gab. Vor Gericht hatte McGyver tränenreich die Rolle des gebrochenen Mannes gespielt, der seinen Verlust niemals überwinden würde. War es da nicht interessant, dass seine unendliche Trauer bloß drei Jahre angehalten hatte? Kent ließ seine Gedanken wie so oft in die Vergangenheit schweifen, zurück zu der Nacht, in der Joanie McGyver gestorben war. Damals war er frisch verheiratet
und hatte gerade die Praxis von Greg Kingsley übernommen. Das Leben meinte es gut mit ihm. An jenem Abend feierte er zu Hause mit seiner Frau Celia die ersten sechs Monate ihrer Ehe, da bekam er plötzlich einen Anruf aus dem Krankenhaus. Eine schwangere Frau war dort eingetroffen, bei der die Wehen offenbar zu früh eingesetzt hatten. Kent schenkte sich den Rest Champagner ein, spülte das Getränk herunter und gab seiner Frau einen langen Kuss und das Versprechen, so schnell wie möglich wieder zu kommen. Als Kent im kleinen Ortskrankenhaus ankam, betrachtete ihn die zuständige Krankenschwester eingehend, runzelte die Stirn und fragte ihn, ob alles in Ordnung sei. Er schenkte ihr ein breites Lächeln und beruhigte sie. Dann zog er seinen Arztkittel und Handschuhe an und folgte der Schwester in das kleine Krankenzimmer, in dem Joanie McGyver lag. Während er die fremde Frau untersuchte, war er in Gedanken immer noch zu Hause bei Celia. Man brauchte keinen medizinischen Abschluss, um zu erkennen, dass Joanie McGyver starke Schmerzen hatte. Kent hörte ihr nur mit einem Ohr zu, als sie erklärte, dass sie und ihr Mann das Wochenende auf ihrer Ranch verbringen wollten, die etwa fünfunddreißig Kilometer entfernt lag. Allerdings habe sich der Flug ihres Mannes aus Atlanta wegen des schlechten Wetters verspätet, so dass er erst in den nächsten Stunden eintreffen würde. Sie meinte, dass ihre Schmerzen etwa vor einer Stunde eingesetzt hätten und auch nicht besser geworden seien, als sie sich ein wenig hingelegt hätte. Schließlich sei sie durch den tobenden Sturm über die Landstraßen ins Krankenhaus gefahren. Kent versicherte ihr, dass alles nicht so schlimm sei und dass er ihr nun etwas gegen die Wehen verabreichen würde. Dann verließ er mit der Krankenschwester das Zimmer. „Steißlage“, flüsterte er ihr auf dem Flur zu. „Dann rufen wir besser das Krankenhaus in Texarkana um Hilfe“, gab sie zurück. „Wir sind hier unterbesetzt und haben weder ausreichende Qualifikationen noch die entsprechende Ausrüstung, so eine Geburt durchzuführen, Doktor. Und eine Steißgeburt kann richtig kompliziert werden. Sie kommen doch selbst frisch von der Universität…“ Kent spürte, wie eine Riesenwut in ihm aufstieg. Wie wagte diese Frau es nur, an seinen Fähigkeiten als Arzt zu zweifeln? Er war ein guter Mediziner, ein hervorragender sogar. Und ganz bestimmt in der Lage, ein Baby auf die Welt zu bringen… falls es dazu kommen sollte. „Na hören Sie mal“, sagte er, und der Alkohol in seinem Blut beflügelte seine Worte. „An der Hochschule war ich der Beste meines Jahrganges.“ „Das ist mir schon klär. Ich will Ihnen auch nicht zu nahe treten, Doktor, aber meiner Meinung nach sind Sie viel besser qualifiziert, sich um Mandelentzündungen oder Gürtelrosen zu kümmern als um eine Frühgeburt, dazu noch eine mit Steißlage!“ „Herrje! Ich bin Arzt, dazu noch ein verdammt guter“, sagte Kent mit gedämpfter, wütender Stimme. „Das ist nicht meine erste Geburt. Ich habe schon einigen Babys auf die Welt geholfen. Es ist eine Routinesache.“ Es sah bloß so aus, als würde diese Entbindung alles andere als eine Routinesache werden. Kent ignorierte seine Bedenken. „Falls Sie es noch nicht bemerkt haben: Dort draußen stürmt es“, belehrte er die Krankenschwester. „Bei dem Wetter lassen die den Hubschrauber niemals starten.“ Als versöhnliche Geste legte er ihr eine Hand auf den Arm. „Wir tun unser Möglichstes, damit die Wehen wieder aussetzen. Falls das nicht funktioniert, haben wir immer noch genügend Zeit, das Baby zu drehen und auf die Welt zu bringen. Verstehen Sie?“
„Ich weiß bloß, dass wir hier eine Frühgeburt gar nicht richtig versorgen können, selbst wenn alles glatt gehen sollte.“ In diesem Moment drang ein qualvoller Schrei aus dem Zimmer, in dem Joanie McGyver lag. „Das tut jetzt wohl nichts mehr zu Sache“, sagte Kent und lächelte der Krankenschwester aufmunternd zu. „Die Zeit rennt, Schwester Larsen. Und die Pflicht ruft.“ Unglücklicherweise liefen die Dinge nicht so, wie Kent es sich vorgestellt hatte. Die Wehen ließen sich nicht eindämmen. Für eine erste Geburt ging alles viel zu schnell, und das war bei einer Steißlage gefährlich. Joanie McGyver brauchte unbedingt ein Schmerzmittel, sie schrie ununterbrochen… aber weil der Anästhesist noch nicht eingetroffen war, musste Kent ihr selbst etwas geben. Aber es half nicht. Dann war es endlich vorbei. Das Baby – ein Junge – wurde tot geboren, die Nabelschnur hatte sich ihm um den Hals gewickelt. Schließlich traf auch der Anästhesist ein und verabreichte Joanie etwas, das sie vorübergehend alles um sich herum vergessen lassen sollte. Kent zog sich die Atemschutzmaske vom Gesicht und verließ den Kreißsaal. Er wollte nicht mehr über diese Nacht nachdenken und sehnte sich nach einer Flasche Champagner und seiner sanften, willigen Frau… Im Auto schaltete er sein Handy aus. Eigentlich hatte er sowieso keinen Dienst, und er hatte schon sehr viel mehr getan, als man eigentlich von ihm erwarten konnte. Später erfuhr er, dass bei Joanie McGyver kurz nach seiner Wegfahrt schwere Blutungen eingesetzt hatten, die sich durch nichts mehr eindämmen ließen. Schwester Larsens Aussage nach war Joanie McGyver gestorben, noch bevor der Hubschrauber eintraf, den man schließlich gerufen hatte. Cullen McGyver traf kurz nach der Notarztmannschaft im Krankenhaus ein. Als er von dem Tod seiner Frau und seines Sohnes erfuhr, wurde er fast wahnsinnig vor Schmerz. Aus der Trauer wurde bald Wut, und schließlich kam es zu einem Gerichtsverfahren. Anita Larsens Aussage, dass Kent Carlson unter dem Einfluss von Alkohol gestanden hatte, führte schließlich dazu, dass ihm die Approbation entzogen wurde und er somit seinen Beruf nicht mehr ausüben durfte. Und damit war das Leben vorbei, auf das Kent so viele lange Jahre hingearbeitet hatte. Celia, die sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als die Frau eines Arztes zu sein, hatte ihn bald verlassen. Kent hatte aus jener Nacht einiges gelernt, und darunter befand sich auch die bittere Erkenntnis, dass politische Verbindungen eine mächtige Waffe waren, wenn sie in die richtigen Hände fielen… oder aber in die falschen. Kate duschte, föhnte sich das Haar und schlüpfte in ein Flanellnachthemd und weiche Hausschuhe. Den Halfter mit ihrer Waffe hängte sie sich über die Schulter, dann ging sie den Flur hinunter zu Cullens Schlafzimmer. Dort atmete sie einmal tief ein und klopfte an. Cullen öffnete die Tür. Er hatte das nasse Haar zurückgekämmt und sich ein Handtuch um die Hüften geschlungen, sonst trug er nichts. Einige Sekunden lang sagte keiner von ihnen ein Wort. Kate ließ den Blick über seinen bloßen Körper gleiten, über die blauen Flecken auf seinem Brustkorb, wo er sich die Rippen verletzt hatte, über den weißen Verband an seiner Schulter. Sie betrachtete den breiten, behaarten Oberkörper und die schmale Taille. „Was tust du hier?“ riss er sie aus ihren Gedanken. „Ich erledige meinen Auftrag.“ Cullen starrte sie an. „Mein Auftrag besteht darin, dich zu beschützen, und ich habe deiner Schwester versprochen, dass ich dich nicht aus den Augen lasse.“
„Ich dachte nicht, dass du es so wörtlich meinst… schon gar nicht nach der
letzten Nacht.“
Kate hob leicht das Kinn. „Wir haben uns doch schon darauf geeinigt, dass die
letzte Nacht bloß…“
„Sag nicht, dass es bloß ein Fehler war“, warnte Cullen sie.
„Was passiert ist, ist passiert. Aber es wird kein zweites Mal geben.“
„Warum nicht?“
Kate spürte, wie sie errötete. „Weil dieser Mann hier war“, sagte sie ärgerlich. „Er
war dir so nah, dass er sein Vorhaben sehr gut hätte zu Ende bringen können.
Und ich… ich habe ihn nicht bemerkt, weil ich zu sehr mit anderen Dingen
beschäftigt war.“ Er hätte dich töten können, und das hätte ich mir nie verziehen.
Cullen verschränkte die Hände vor der bloßen Brust. „Was hast du also vor?“
Kate deutete mit dem Kopf auf den großen Lehnstuhl, der neben dem Bett stand.
„Das reicht mir für die Nacht.“
„Nein“, erwiderte Cullen. Dann umfasste er ihren Arm, zog sie ins Zimmer und
schloss die Tür. „Wenn du hier bleiben musst, dann schläfst du auch in meinem
Bett. Neben mir.“
Kates Herzschlag beschleunigte sich. „Ich schlafe aber ganz bestimmt nicht mit
dir, Cullen!“ warnte sie ihn ärgerlich.
„Darum hat dich auch niemand gebeten.“
Schließlich lagen sie nebeneinander, jeder auf seiner Seite des Bettes. Ihre Waffe
hatte Kate neben sich auf dem Nachttisch abgelegt. Eine Zeit lang schwiegen sie.
„Erzähl mir, wie Joanie gestorben ist.“ Kates Worte durchdrangen plötzlich die
Dunkelheit. Der Geist der verstorbenen Ehefrau würde Kate und Cullen schon
davon abhalten, etwas Unüberlegtes zu tun.
Cullen schwieg.
„Erzähl mir nicht, dass es mich nichts angeht“, sagte Kate. „Nach New Orleans
und Thanksgiving schuldest du mir zumindest das.“
Nun drehte sich Cullen auf den Rücken, sie tat es ihm nach.
„Joanie war schwanger. Die Schwangerschaft ist von Anfang an schwierig
verlaufen.“ Er sprach die Worte langsam und gedehnt aus, als würde es ihm
Schmerzen bereiten, sich an die Ereignisse zu erinnern. „Sie hat Blut verloren…
und musste viel im Bett bleiben. Es gab eine Menge Probleme, ihr war oft
schrecklich übel…“
Cullen seufzte, und Kate wartete darauf, dass er fortfuhr. „Wir wollten
gemeinsam das Wochenende hier auf der Ranch verbringen. Sie ist schon mal
vorgefahren, mein Flug aus Atlanta hatte Verspätung. Als sie hier war, haben die
Wehen eingesetzt – viel zu früh. Sie ist sofort ins Ortskrankenhaus gefahren,
mitten in der Nacht. Dort hat man Kent Carlson gerufen, den einzigen
verfügbaren Arzt. Als er eintraf, war er offensichtlich angetrunken, meinte aber
trotzdem, alles im Griff zu haben. Es war eine Steißgeburt, und das Baby war tot,
als es zur Welt kam. Carlson hatte das Krankenhaus gerade verlassen, da bekam
Joanie starke Blutungen. Daran ist sie schließlich gestorben. Sie ist verblutet.“
Kate krallte die Fingernägel in die Handinnenfläche. Heiße Tränen brannten ihr in
den Augen. „Das tut mir schrecklich Leid“, sagte sie in die Dunkelheit hinein.
„Ja. Mir auch. Ich habe dafür gesorgt, dass der Kerl seine Approbation verliert.“
„Das war auch richtig so.“
Ohne ein weiteres Wort drehte sich Cullen auf seine unverletzte Seite und gab
Kate damit zu verstehen, dass das Gespräch beendet war. Kate hingegen blieb
genau so liegen und ließ ihre stillen, heißen Tränen über die Schläfen und auf das
Kopfkissen laufen. Trotz all der Unterschiede, die es zwischen Cullens und ihrem
eigenen Leben gab: Noch nie war sie sich so sicher, dass sie ihn liebte. Und noch
nie war sie sich so sicher, dass sie alles nur Erdenkliche tun würde, um ihn zu schützen.
12. KAPITEL Als Kate die Augen wieder öffnete, dauerte es eine Weile, bis ihr klar wurde, wo sie sich gerade befand: in Cullens Schlafzimmer, genauer: in seinem warmen Bett. Es ärgerte sie, dass sie einfach so eingeschlafen war – was war sie bloß für eine Leibwächterin? Als sie langsam immer mehr zu Bewusstsein kam, spürte sie, dass etwas Schweres, Warmes auf ihrer Taille lag. Cullens Arm. Nun merkte sie auch, dass sie den Rücken an seine Brust geschmiegt hatte, und dass Cullen die Oberschenkel von hinten gegen ihre presste. Schließlich spürte sie seinen warmen Atem auf ihrer Schulter. Ohne weiter darüber nachzudenken, schloss sie die Augen und ließ die Fingerkuppen über seinen Unterarm gleiten, über die weichen, dunklen Härchen und die warme Haut. Ein heißes Verlangen durchfuhr sie. Schnell riss sie die Augen auf. Um Himmels willen, was tue ich denn da? dachte sie. Ich muss aufpassen, auch auf mich selbst. Sie seufzte leise und versuchte vorsichtig, unter Cullens Arm hinwegzuschlüpfen. Sein Griff wurde fester. „Pst!“ Kate spürte, wie er die Lippen an ihre Schulter drückte. „Bleib liegen!“ Kate hätte sich jetzt ohnehin nicht mehr bewegen können, selbst wenn sie gewollt hätte. Sie hielt die Luft an und wartete ab, was als Nächstes passieren würde. Als Nächstes klingelte das Telefon. Kate versteifte sich, und Cullen stöhnte. „Reichst du mir den Hörer?“ fragte er schläfrig an ihrem Ohr. Kate griff nach dem Apparat, und Cullen nahm den Anruf entgegen. „Hallo?“ Sie brauchte nicht lange, um herauszufinden, dass er mit dem Tierarzt sprach, der vorbeikommen wollte, um noch mal nach dem Fohlen zu sehen. Kate dachte sich, dass nun der Moment gekommen war, aufzustehen und aus Cullens gefährlicher Nähe zu entkommen. Also warf Kate die Decke zurück und sprang schnell aus dem Bett. Als sie nach ihrer Waffe griff, legte Cullen gerade den Hörer auf. „Feigling.“ Kate wandte sich um und sah ihn an. Die Decke verbarg seine nackte Brust nur zum Teil. Das glühende Verlangen, das sie in seinem Blick entdeckte, sandte ihr heißkalte Schauer über den Rücken. „Sagen wir mal, dass es nicht besonders klug von mir wäre, neben dir liegen zu bleiben.“ Cullen seufzte. „Also gut, wenn ich dich nicht zum Frühstück haben kann, dann ziehen wir uns jetzt besser an und schauen nach, was Greg für Alternativen zu bieten hat.“ „Nun hör schon auf!“ sagte Kate bissig. „Womit?“ „Hör auf, mit mir zu spielen!“ „Wie kommst du darauf, dass ich bloß spiele? Glaubst du etwa, das, was zwischen uns passiert ist, war für mich nur ein Spiel, nur ein Zeitvertreib?“ hakte Cullen nach. „War es das etwa nicht?“ „Würdest du mir denn glauben, wenn ich dir sagte, dass du dich irrst? Dass es mir viel mehr bedeutet hat, als du meinst?“ Das wollte Kate von ganzem Herzen glauben, aber all die Schwierigkeiten zwischen ihnen und all die schlechten Erfahrungen, die sie in der Vergangenheit gemacht hatte, machten ihr das schwer. „Nein“, erwiderte sie also. Kühl, entschieden, unerschütterlich. „Das klingt ziemlich endgültig“, sagte Cullen und lächelte sie traurig an. „Dann zieh dich jetzt an. Wir treffen uns unten.“
Unten in der Küche steckten Kates Tante und Greg bereits mitten in der
Frühstücksvorbereitung und kamen sich dabei nie in die Quere. Unglaublich, dass
die beiden sich erst seit fünf Tagen kennen, dachte Kate.
„Hallo, mein Schatz!“ Louella lächelte ihre Nichte strahlend an.
„Guten Morgen, Tante Lou. Guten Morgen, Greg.“
„Morgen, Katie“, sagte Greg. Mittlerweile benutzte er für Kate denselben
Kosenamen wie ihre Tante.
„Zum Glück war das eine ereignislose Nacht!“ rief Louella aus.
„Ja, Gott sei Dank“, bestätigte Kate und schenkte sich einen Becher Kaffee ein.
„Wo sind denn die anderen?“
„Meghan ist im Stall, um dort nach dem Fohlen zu sehen, und Dan und die
Mädchen schlafen sich wohl noch aus.“
„Ach so“, erwiderte Kate. „Könnt ihr mit meinem Frühstück noch etwas warten,
dann laufe ich kurz rüber, um Meghan zu sagen, dass der Tierarzt gleich kommt.“
„Ich glaube, ich habe vor ein paar Minuten schon seinen Wagen gehört“, meinte
Greg. „Aber schau doch trotzdem mal vorbei, dann kannst du Meghan gleich
fragen, wie lange sie wohl noch braucht, damit ich weiß, wann ich ihr Frühstück
fertig haben sollte.“
„Klar.“ Kate ging zur Hintertür und nahm dort ihre Jacke vom Haken. „Wenn
Cullen herunterkommt, richtet ihm aus, dass ich gleich wieder hier bin. Er darf
auf gar keinen Fall ohne mich das Haus verlassen.“
„Verstanden“, sagte Greg.
Kate trat in den kühlen, sonnigen Morgen heraus und zog sich die Jacke an. Dann
ging sie zum Stall hinüber und trat aus dem hellen Sonnenlicht in das
schummrige Gebäude.
Einige Sekunden lang nahm sie bloß die Dunkelheit um sich herum wahr… und
den Duft von Heu und Stallmist. Als sich ihre Augen langsam an das trübe Licht
gewöhnten, das durch die Ritzen in den Wänden hereinfiel, konnte sie kleine
Staubpartikelchen erkennen, die durch die Luft tanzten. Es kam ihr so vor, als
wäre außer ihr und den Tieren niemand hier. Sie konnte weder Meghan noch den
Tierarzt entdecken und hörte außer dem Schnauben der Pferde und dem
Stampfen der Hufe kein Geräusch. „Meghan?“ rief sie. „Bist du hier irgendwo?“
Keine Antwort.
Plötzlich überkam Kate ein wohl bekanntes und gleichzeitig unerklärliches
Unbehagen. Es war das gleiche Gefühl, das sie auch an dem Tag gehabt hatte,
als sie mit Raul durch die Tür des Drogenverstecks gestürmt war, wo der Tod auf
sie beide gewartet und Raul gleich mitgenommen hatte. Langsam zog sie ihre
Waffe unter der Jacke hervor und entsicherte sie. Immerhin ist Cullen in
Sicherheit, dachte Kate.
Cullen kam gerade in die Küche, als das Telefon klingelte. „Wo ist Kate?“ fragte
er, als er zum Apparat ging.
„Sie ist in den Stall gegangen, um nachzusehen, wie lange Meghan und der
Tierarzt noch brauchen.“
„Ach so.“ Cullen nahm den Hörer auf. „Hallo?“
„Mr. McGyver?“
„Ja.“ Es war der Tierarzt, Mark Johnson. Cullen erkannte die Stimme sofort, sie
hatten ja gerade erst telefoniert.
„Ich rufe an, weil ich gern kurz mit Kenny sprechen würde“, sagte der Tierarzt.
„Kenny?“ fragte Cullen, der den Namen nicht einordnen konnte.
„Ja. Kent Carlson, mein Assistent. Ich habe ihn gerade bei Ihnen
vorbeigeschickt.“
Kent Carlson. Der Name hallte in Cullens Gedanken nach. Kent Carlson, der Arzt,
der für Joanies Tod verantwortlich war. Cullen versuchte sich an Mark Johnsons
Gehilfen zu erinnern. In Cullens Erinnerung hatte er wenig Ähnlichkeit mit dem
Mann, den er vom Gerichtsverfahren im Gedächtnis hatte, aber vielleicht lag das
an dem Bart und den grauen Haaren.
„Ich habe ihn über Pager verständigt, aber er hat mich noch nicht zurückgerufen,
und da dachte ich…“
Den Rest des Satzes bekam Cullen schon nicht mehr mit. Er war viel zu
beschäftigt damit, zu verarbeiten, dass Kent Carlson nun als Assistent des
örtlichen Tierarztes arbeitete. Als Cullen klar wurde, dass Mark Johnson noch auf
eine Reaktion wartete, versicherte er ihm, dass er Kenny bitten würde, so schnell
wie möglich zurückzurufen. Gerade wollte sich der Tierarzt verabschieden, da rief
Cullen: „Warten Sie!“
„Ja?“ fragte Mark Johnson höflich.
„Wie lange arbeitet er schon für Sie?“
„Erst seit ein paar Tagen, aber machen Sie sich keine Sorgen wegen des Fohlens.
Kenny hatte die allerbesten Empfehlungen von seinem vorigen Arbeitgeber,
einem Tierarzt in Hempstead County.“
Cullen bedankte sich und legte auf. In seinem Kopf ging alles drunter und drüber.
War es möglich, dass es sich bei dem Assistenten des Tierarztes um denselben
Kent Carlson handelte, der durch seine Stümperei Joanie getötet hatte?
Das werden Sie noch bereuen, McGyver. Hören Sie mich? Eines Tages wird Ihnen noch Leid tun, was Sie mir angetan haben. Das waren die Worte, die Carlson ihm mit heiserer Stimme zugeflüstert hatte, als er damals den Gerichtssaal verließ und sein Leben und seine Karriere zerstört waren. Auf einmal sah Cullen die erschreckende Wahrheit gestochen scharf vor sich. So scharf, dass es schon wehtat. „Cullen? Ist alles in Ordnung?“ Louella klang besorgt. Ohne zu antworten, machte Cullen auf dem Absatz kehrt und rannte in die Bibliothek, wo die Jagdflinten seines Dad aufbewahrt wurden. Cullen zog eine Waffe und Munition heraus, laden würde er das Gewehr auf dem Weg zum Stall. Im Flur stieß er mit Meghan zusammen, die aufgeregt auf ihn einzureden begann. „Ich dachte, du wärst im Stall“, unterbrach er sie. „Da war ich auch, aber dann ist der Assistent des Tierarztes aufgetaucht, und ich hatte plötzlich eine Eingebung. Also bin ich unter einem Vorwand wieder ins Haus gekommen.“ Sie griff ihren Bruder am Arm. „Cullen, hör mir jetzt gut zu. Der Mann, den ich beim Weihnachtsumzug gesehen habe, war wirklich Kent Carlson. Er ist der Assistent des Tierarztes. Und ich glaube, er ist auch derjenige, der es auf dich abgesehen hat.“ „Ich weiß“, sagte Cullen. „Und jetzt muss ich ganz schnell los.“ Als Meghan das Gewehr in seiner Hand erblickte, sah sie ihn entsetzt an. „Was hast du vor?“ „Kate ist jetzt mit ihm im Stall. Ich muss zu ihr.“ Meghan versuchte, Cullen festzuhalten. „Warte! Warum…“ Cullen riss sich los. „Ich habe keine Zeit mehr, hier rumzustehen und zu reden, Meg. Ich kann es nicht zulassen, dass Kent Carlson noch einmal eine Frau tötet, die ich liebe.“ Kates Nackenhärchen hatten sich aufgerichtet. Hier war etwas faul, und sie wusste auch genau, was: Der Mann, der es auf Cullen abgesehen hatte, war vorbeigekommen, um sein Werk zu Ende zu bringen. Und dabei handelte es sich weder um Dub Lambert noch um einen der anderen Männer, über die sie in der letzten Woche Erkundigungen eingezogen hatte. Nein, es war Mark Johnsons
Assistent, Kenny. Kent. Das erklärte auch den hasserfüllten Blick, den sie kürzlich bei ihm bemerkt hatte. Ebenso erklärte es, warum er sich immer auf die andere Seite des Fohlens gestellt hatte als Cullen: Er wollte unerkannt bleiben. Unglaublich, dass er ausgerechnet für den Tierarzt arbeitete, den sie zur Hilfe gerufen hatten. Das heißt – nein. Unglaublich war es nicht. Es war reine Absicht. Langsam und äußerst vorsichtig ging Kate den Gang zwischen den Ställen entlang. Als sie hinter sich ein leises Rascheln hörte, fuhr sie herum und hob die Pistole. Doch es war bloß eine Maus, die vor der Stallkatze floh. Als Kate sich wieder umdrehte, war der Weg vor ihr immer noch leer. Einige Meter weiter bog der Gang nach rechts ab. Kate bewegte sich leise auf die Biegung zu und fragte sich, wo Carlson wohl steckte und was er wohl mit Meghan gemacht hatte. Das Adrenalin schoss Kate wie ein starkes Rauschmittel durch die Adern. Da! War das nicht ein Geräusch hinter ihr? Als sie sich erneut umdrehte, flog die Stalltür auf, durch die sie gekommen war, und krachte gegen die Wand. „Kate!“ Cullen. Kate öffnete den Mund, um ihm zuzurufen, er solle dort bleiben, da stürzte jemand – Carlson – auf sie zu, so dass sie nach vorn fiel. Sie versuchte, den Fall mit den Ellbogen abzubremsen, aber sie schlug mit solcher Wucht auf den harten Fußboden auf, dass ihr die Waffe aus der Hand glitt. Die Pistole schlitterte quer über den Boden und verschwand schließlich irgendwo zwischen ein paar Heuballen, die dort aufgestapelt waren, wo der Gang einen Knick machte. Erneut hörte Kate, wie Cullen ihren Namen rief. Nun riss sie jemand von hinten an der Jacke hoch und zog sie unsanft auf die Füße. Kate wollte Cullen eine Warnung zurufen, als sie den Lauf einer Schusswaffe an ihrer Schläfe spürte. „Ein Wort, und du bist tot.“ Cullen lauschte. Von der Mitte des Stalles kamen Geräusche, die sich wie ein Handgemenge anhörten. Warum antwortete Kate ihm bloß nicht? Vielleicht kann sie nicht. Oh nein! Ihr durfte nichts passieren! Das konnte er nicht zulassen! Cullen hob den Gewehrlauf auf Schulterhöhe und ging mutig den Gang entlang und ließ den Blick blitzschnell von rechts nach links und wieder nach rechts huschen. Dabei lauschte er angestrengt. Da wurde Kate in den Gang gestoßen, die Hände hielt sie über dem Kopf. Kent Carlson folgte ihr gemächlich, als hätte er alle Zeit der Welt, sein Ziel zu erreichen. Cullen versuchte die Situation so gut es ging zu erfassen. Immerhin hielt Carlson Kate nicht fest und richtete die Waffe auch nicht auf sie – stattdessen umfasste er die Pistole mit beiden Händen und zielte auf Cullen. Allerdings konnte Cullen nicht auf Carlson schießen, weil Kate genau in der Schusslinie stand. „Lassen Sie die Frau gehen, Carlson“, sagte Cullen. „Das ist eine Angelegenheit zwischen Ihnen und mir.“ „Kommt ganz auf die Perspektive an.“ Der Mann lachte und tat einen weiteren Schritt vor. Kate blieb stehen, in ihren Augen spiegelten sich Angst und Entsetzen. „Sie haben doch was mit ihr. Und vor Gericht haben Sie so getan, als würden sie nie über den Tod Ihrer Frau hinwegkommen, als hätte Ihr Leben ein Ende, bis zum Erbrechen haben Sie das erzählt.“ Angewidert spuckte Carlson die Worte aus. „Aber wie heißt es doch so schön, Herr Anwalt? Sag niemals nie! Ihre ach so große, unendliche Trauer hat nicht länger als drei Jahre angehalten, und Ihr wunderbares Leben wird von Tag zu Tag besser.“ „Jeder ist seines Glückes Schmied“, sagte Cullen und kam einen Schritt auf Cullen und Kate zu. „Für die meisten von uns heilt die Zeit die Wunden. Es sei denn, wir reißen immer wieder den Schorf ab.“
Erneut lachte Carlson, und es klang viel zu fröhlich und heiter angesichts der Lage, in der sie sich befanden. Ein deutlicher Hinweis auf seinen Wahnsinn, den er normalerweise streng unter Kontrolle hielt. Carlson wies mit dem Kinn auf Kate. „Sie ist ein Bulle, stimmt’s?“ „Nein.“ „Lügner.“ Nun trat Carlson so nah an sie heran, dass er sie greifen könnte, wenn er wollte. Sie wirkte, als stünde sie unter Schock. Cullen ahnte, dass sie gerade ein zweites Mal den Albtraum jenes Tages durchmachte, an dem ihr Partner gestorben war. Irgendetwas musste Cullen also tun, um sie aus diesem Trancezustand herauszuholen. „Kate!“ In Kates Kopf jagte ein Bild das nächste. Es waren Bilder einer Gasse in New Orleans: Raul stand inmitten stinkender Abfalleimer, eine Waffe war auf ihn gerichtet. Plötzlich drang Cullens Stimme zu Kate durch. Er rief ihren Namen! Sie riss den Kopf hoch, und die Bilder aus der Vergangenheit lösten sich in Luft auf. Nun war sie wieder mitten in der gefährlichen Gegenwart. Kate versuchte die Situation einzuschätzen. Nachdem Carlson sie in den Gang gestoßen hatte, hatte er die Waffe stattdessen auf Cullen gerichtet, für dessen Sicherheit sie sorgen sollte. Cullen, den sie liebte. Ihr zog sich das Herz zusammen, und sie fühlte sich auf einmal vollkommen hilflos. Ihre Pistole war verschwunden, so dass sie nun weder sich selbst noch Cullen schützen konnte. Was willst du jetzt also tun, Kate? Einfach dastehen und zulassen, dass er Cullen erschießt? Nein. Sie hatte schon einmal im Leben dabei zugesehen, wie jemand, der ihr viel bedeutete, erschossen wurde. Denk scharf nach, Kate. Ein leises Miauen, das von links über ihr kam, zog ihre Aufmerksamkeit auf sich, wahrscheinlich auch Cullens und Carlsons. Die verfluchte Katze balancierte gerade auf einer Stalltür. Das Tier bedachte die Menschen im Gang mit einem geringschätzigen Blick, dann sprang es auf die Heuballen, die dort gestapelt waren, wo der Gang um die Ecke bog. Kate verfolgte den Sprung und die elegante Landung der Katze mit den Augen, und ihr blieb fast das Herz stehen. Dort unten im Dreck, eingeklemmt zwischen einem Heuballen und der Stallwand, lag ihre Waffe… Einen kurzen Augenblick lang lenkte das Miauen der Katze Cullens Aufmerksamkeit von Carlson ab. Dem ehemaligen Arzt erging es nicht anders, und er blickte ebenfalls zur Seite. Leider nur kurz. Bevor Cullen sicher einschätzen konnte, ob er einen Schuss auf Carlson abfeuern konnte, ohne Kate dabei zu gefährden, richtete der seinen kalten, berechnenden Blick wieder auf Cullen und ebenso den Lauf seines Revolvers. Zumindest schien es so, als ob Kate ihre Geistesgegenwart wiedererlangt hätte. Sie betrachtete Cullen nun mit einem ruhigen, festen Blick, fast als wollte sie ihm etwas mitteilen. „Lassen Sie sie frei“, wiederholte Cullen seine Aufforderung. „Ich…“ Unvermittelt ließ Kate sich zur Seite fallen, und von da an kam es Cullen vor, als liefen die Geschehnisse in Zeitlupe vor seinen Augen ab. Instinktiv richtete Carlson nun die Waffe auf Kate. Nein! Ohne weiter über die Auswirkungen nachzudenken, drückte Cullen zweimal auf den Abzug und sah, dass Carlson zusammenzuckte. Fast gleichzeitig hörte er, dass aus einer zweiten Waffe geschossen wurde. Oh, Kate! Immer noch hatte Cullen den Gewehrlauf auf Carlson gerichtet. Jetzt bekam Cullen das nervöse Trampeln der Hufe um sich herum mit, das ängstliche Wiehern. Die Katze, die vor seinen Füßen über den Boden huschte und nach
einem sicheren Unterschlupf suchte. Nur am Rande nahm er Carlson wahr, der ein paar Meter weiter stand und aussah, als würden ihm die Arme zu schwer, um seine Waffe zu halten. Cullen konnte jetzt nur noch an Kate denken. Doch dann, bevor er noch einen kurzen Blick in ihre Richtung werfen konnte, neigte sich Carlson nach vorn und fiel über einen Heuballen. Da ließ Cullen das Gewehr fallen und eilte zu Kate, die auf dem Boden lag. Sie war totenbleich, doch die Augen hatte sie weit geöffnet. Ihre Waffe hielt sie ganz fest in beiden Händen, so dass die Knöchel weiß hervortraten. Aus einer zwei Zentimeter langen Furche in ihrer Wange floss das Blut. Cullen zog sich der Magen zusammen, und ihm blieb fast das Herz stehen. Das war knapp gewesen. Viel zu knapp. „Alles in Ordnung?“ Kate nickte und hielt ihm eine Hand hin, damit er ihr aufhelfen konnte. Mit seinem gesunden Arm drückte er sie fest an sich, dann gab er Carlson einen Stoß mit dem Turnschuh und rollte den Mann so auf den Rücken. Zwei Einschusslöcher waren in seinem Rumpf zu sehen. Das eine stammte von Cullens Gewehr, das andere von Kates Pistole. Als Kate und Cullen aus der Dunkelheit des Stalls in die helle Wintersonne hinaustraten, wurden sie von Sirenengeheul begrüßt, das sich aus der Ferne näherte. Greg, Louella und Meghan mussten Cullen und Kate vom Fenster aus erblickt haben, denn in diesem Moment flog die Küchentür auf, und die beiden Frauen rannten über den Hof auf Cullen und Kate zu. Greg folgte ihnen deutlich gemächlicheren Schrittes und lächelte dabei zufrieden. Louella drückte Kate an sich, und Meghan warf ihrem Bruder schluchzend die Arme um den Hals. Es dauerte über zwei Stunden, bevor die Polizei mit der Befragung fertig war, die Rettungssanitäter Kates Wange versorgt und Carlsons Leiche eingeladen hatten und auf dem Weg ins Leichenschauhaus waren. Dan und die Mädchen hatten offenbar das meiste verschlafen und waren erst von den Schüssen wach geworden. Zu sagen, dass im Haus ein Gefühl der Erleichterung herrschte, wäre weit untertrieben. Kate zog einen ihrer Koffer unter dem Bett hervor und warf ihn auf die gehäkelte Tagesdecke. Nun war es Zeit, in ihr eigenes Leben zurückzukehren… obwohl sie sich im Moment noch nicht vorstellen konnte, wie sie ihr restliches Leben ohne Cullen bewältigen sollte. Gerade holte sie einige Sachen aus einer Schublade, als es an der Tür klopfte und Cullen seinen Kopf zur Tür hereinsteckte. Sofort fiel sein Blick auf den aufgeklappten Koffer, der auf dem Bett lag. „Darf ich reinkommen?“ Das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte, war ein ernstes Gespräch mit ihm, aber sie wusste, dass es nun an der Zeit war. „Natürlich.“ Er schob die Fingerspitzen in die Vordertaschen seiner Jeans und wies mit dem Kopf auf den Koffer. „Willst du verreisen?“ „Ja.“ Kate stopfte einen Stapel Unterwäsche in eine Ecke des Gepäckstückes und sagte aufgesetzt fröhlich: „Zeit, wieder nach Hause zu fahren. Der Täter ist geschnappt, das Spiel ist aus. Wir haben gewonnen.“ „Ich dachte, ich hätte dir schon gesagt, dass es für mich kein Spiel ist“, sagte Güllen und lehnte sich gegen die geschlossene Tür. „Das ist es seit etwa deinem zweiten Tag hier auf der Ranch schon nicht mehr gewesen.“ Kate fragte sich, ob der Lärm der Schusswaffen ihr Hörvermögen beeinträchtigt hatte. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. „Was war kein Spiel?“ „Gar nichts war gespielt“, sagte er. „Weder dass du die Frau in meinem Leben bist noch das, was im Fitnessraum passiert ist.“
Kate strich einen Pulli glatt, den sie gerade eingepackt hatte, und wandte sich
Cullen zu. „Dann war es also kein Spiel, und es war auch nicht bloß Sex. Was
willst du mir eigentlich damit sagen? Dass es Liebe war?“
Cullen betrachtete sie mit festem Blick. „Und wenn ich die Frage mit Ja
beantworte, was würdest du dann sagen?“
Dass sie schockiert war. Ihm nicht glaubte. „Dass das Schmerzmittel dir zu Kopfe
gestiegen ist. Dass…“
„Aber warum, Kate?“ unterbrach Cullen sie. „Warum fällt es dir so schwer zu
glauben, dass dich jemand lieben kann?“
Sie schleuderte ihm die erste Rechtfertigung entgegen, die ihr in den Sinn kam.
„Vielleicht weil ich am eigenen Leibe erfahren habe, wie kurzlebig die Liebe sein
kann.“
„Mit deinem Mann? Lane?“
„Ja, mit Lane.“
„Es war ganz schön blöd von ihm, eine Frau wie dich so einfach gehen zu lassen.“
„Klar. Ich bin so ein guter Fang, dass er sich bestimmt selbst in den Hintern
beißt, seit wir die Scheidungsunterlagen unterzeichnet haben“, spöttelte sie.
„Und selbstverständlich bin ich genau der Typ Frau, nach dem du die ganze Zeit
gesucht hast.“
Cullen lachte verbittert. „Nein. Du hast mit meinem Typ Frau überhaupt nichts
gemein. Warum sollte ein Mann, der noch seinen Verstand beisammen hat, sich
eine Frau wünschen, die ihm in allem, was er sagt, widerspricht? Eine Frau, die
überempfindlich ist…“
„Und das sind noch meine guten Seiten“, warf Kate ein.
Als Cullen diesmal lachte, kam es von Herzen. Und sein Lachen zog sie sofort in
seinen Bann.
„Einen Sinn für Humor hast du auch“, fügte er fröhlich hinzu.
Nun bekam Kate Angst, dass sie ihm tatsächlich nachgeben würde, wenn er so
weitermachte. Schnell schlug sie also den Koffer zu und sah Cullen hochmütig an.
„Schön, dass Sie meine Schwächen so amüsant finden, Herr Anwalt, aber…“
Irgendetwas in seinem Blick brachte sie zum Schweigen. Es lag eine gewisse
Traurigkeit darin, auch Ärger und noch etwas anderes, das sie nicht zu deuten
wusste.
„Ich muss dir etwas beichten“, sagte Cullen schließlich. Dann nahm er die Hände
aus den Hosentaschen und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Was?“
„Ich bin damals in New Orleans einfach verschwunden, weil mir das, was
zwischen uns passiert ist, eine Heidenangst gemacht hat.“
„Angst?“
Cullen nickte. „Ich habe Joanie geliebt. Und als sie gestorben ist, war ich so am
Boden zerstört, dass ich mein Leben kaum bewältigen konnte. Ich glaubte nicht
daran, dass ich jemals wieder glücklich sein könnte, und war überzeugt, dass ich
mich nie wieder verlieben würde. Und dann, in New Orleans, hast du innerhalb
von nur zwei Tagen alle meine Überzeugungen auf den Kopf gestellt.“
Kates Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb. „Willst du mir etwa weismachen,
dass du dich in New Orleans in mich verliebt hast?“
„Damals hat es angefangen. Es lag an deiner Energie, deinen Einstellungen,
deiner Verletzbarkeit… du hast mir klargemacht, dass ich nicht mit Joanie
gestorben, sondern noch sehr lebendig war…“ Cullens Stimme verlor sich, und er
zuckte mit den Schultern. „Und dann hatten wir auch noch fantastischen Sex.
Das, was ich mit dir erlebt habe, war so intensiv, dass ich es mit der Angst
bekam… und mich schuldig fühlte.“
„Warum solltest du dich schuldig fühlen?“ „Weil ich angenommen hatte, dass ich bis an mein Lebensende um Joanie trauern würde. Aber, wie Carlson ja schon richtig bemerkt hat, hat meine Trauerphase nicht mal annähernd so lange angehalten wie erwartet. Nicht mal ein Jahr, wenn man es genau nimmt. Und so verrückt es jetzt vielleicht klingt: Ich hatte das Gefühl, ich hätte Joanie dabei verraten, wäre ihr untreu geworden.“ Sprachlos sah Kate Cullen an. Genau das hatte Meghan ihr auch zu verstehen gegeben. Kate musste nun an ihre eigenen Schuldgefühle wegen Rauls Tod denken, und ihr wurde bewusst, dass die Menschen auf ganz verschiedene Arten mit Schuld umgingen. Wahrscheinlich war Cullens Verhalten nicht unlogischer als ihr eigenes: Seit Jahren hielt sie sich etwas vor, das sie möglicherweise auf gar keinem Fall hätte verhindern können, egal, was sie auch getan hätte. Cullen lächelte sie nun an, ein wenig schief und sehr zärtlich. „Du wirkst nicht besonders überzeugt. Ich weiß, dass es schwer nachzuvollziehen ist, mir gelingt es ja selbst kaum. Aber ich kann mittlerweile immerhin akzeptieren, dass es echt ist.“ „Was ist echt?“ „Das, was ich für dich empfinde. Wovon ich glaube, dass du es auch für mich empfindest. Die Liebe. Nun muss ich… nun müssen wir uns nur noch unseren Ängsten stellen. Es macht mir solche Angst, wenn ich daran denke, dass ich noch einmal eine Frau verlieren könnte, die ich liebe. Als mir klar wurde, dass du mit diesem Verrückten im Stall warst, konnte ich es kaum aushalten. Aber wenn man liebt, geht man damit immer auch Risiken ein. Wie überhaupt im Leben.“ „Ich möchte nicht noch mal erleben, dass mich jemand einfach im Stich lässt, bloß weil es Schwierigkeiten gibt“, gestand Kate ihm, und langsam keimte eine wunderbare Hoffnung in ihr auf. „Ich werde dich nicht im Stich lassen. Nie.“ Kate fiel es schwer, Cullen diese Worte nicht zu glauben. Nicht, wenn er sie so sehnsüchtig ansah und sie sich so sehr wünschte, dass er die Wahrheit sagte. „Was ist mit Tyler?“ erkundigte sie sich nach Lucys Sohn. „Wie sieht es da mit deinen Ängsten aus? Was wirst du tun, wenn sich herausstellt, dass du sein leiblicher Vater bist?“ „Dann werde ich mich nicht aus der Affäre ziehen, sondern die entsprechende Verantwortung übernehmen.“ Das war schon mal die richtige Antwort. „Aber ich passe doch gar nicht in deine Welt, in dein Leben“, wandte Kate als Nächstes ein. Cullen zuckte mit den Schultern. „Wenn ich ein glücklich verheirateter Mann bin, dann werde ich mich auch nach und nach von meinen gesellschaftlichen Verpflichtungen trennen.“ Kate schnappte nach Luft. Er will mich heiraten, dachte sie. Cullen McGyver will mich heiraten. Hatte sie das auch wirklich richtig gehört? Konnte sie ihm auch wirklich trauen? „Ich würde mich in Washington schrecklich unwohl fühlen“, brachte Kate vor. „Ach, weißt du“, sagte Cullen nachdenklich. „Mir geht es da wohl nicht anders. Ich glaube, ich lasse mich doch nicht zum Senator wählen.“ Lange Zeit sah er sie an, dann nahm er langsam und ganz bewusst die Arme herunter, die er bisher verschränkt gehalten hatte. Er tat einen Schritt auf Kate zu und streckte eine Hand nach ihr aus. „Nun komm schon, Kate“, bat er sie. „Riskier etwas. Bleib bei mir. Wenn du jetzt abreist, sehe ich dich nie in diesem umwerfenden Kleid.“ „Ich habe Angst“, sagte sie leise. „Dann sind wir schon zu zweit.“
Mehrere Sekunden lang stand Kate einfach nur da und sonnte sich in der Liebe, die sie in seinen Augen sah. Das Herz hämmerte wie wild, und sie hatte eine Heidenangst, Cullen zu verlieren und sich die vielleicht letzte Chance entgehen zu lassen, ihre große Liebe zu finden. Und wenn sie das täte, würde sie keine Minute mehr glücklich sein können. Das Herz schlug ihr nun bis zum Hals, als sie ihrerseits die Hand ausstreckte und einen ersten vorsichtigen Schritt auf Cullen zuging… ENDE