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Elfriede Hammerl
Hast du unseren Mann betrogen? Roman
Marion von Schröder
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Die Deutsche Bibliothek - CIP-E...
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Elfriede Hammerl
Hast du unseren Mann betrogen? Roman
Marion von Schröder
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Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Hammerl, Elfriede: Hast du unseren Mann betrogen?: Roman/ Elfriede Hammerl. - Düsseldorf: Marion von Schröder, 1995. ISBN 3-547-73906-3 Copyright © 1995 by Marion von Schröder Verlag GmbH, Düsseldorf. Ein Unternehmen der ECON-Verlagsgruppe. Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art, auszugsweisen Nachdruck oder Einspeicherung und Rückgewinnung in Datenverarbeitungsanlagen aller Art, sind vorbehalten. Lektorat: Krista Maria Schädlich Gesetzt aus der Baskerville, Linotype Satz: Heinrich Fanslau GmbH, Düsseldorf. Papier: Papierfabrik Schleipen GmbH, Bad Dürkheim Druck und Bindearbeiten: Bercker Graphischer Betrieb, Kevelaer Printed in Germany ISBN 3-547-73906-3
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1. Viktoria: Viktoria ist klein, zierlich und kapriziös. Viktoria ist betont weiblich. Viktoria ist betont weiblich, weil sie klein, zierlich und kapriziös ist. Große Frauenzimmer galten zu Viktorias Mädchenzeit als Mannweiber. Viktoria hütete sich deshalb, zum großen Frauenzimmer heranzuwachsen. Bis heute betrachtet Viktoria große Frauenzimmer mit großen Füßen als Versager. Viktoria ist klein, zierlich und kapriziös, aber nicht unpraktisch. Die Männer mögen es zwar, wenn eine Frau durch Unlogik bezaubert, aber die Sprunghaftigkeit des Denkens darf nicht so weit gehen, daß die Frau vergißt, an frische Bettwäsche zu denken. Die Gedanken der fraulichen Frau haben sich um den Mann zu drehen, also auch um seine Bettwäsche. Erst das, was der Frau an freier Denkkapazität bleibt, nachdem sie ausreichend das Wohlergehen des ihr verbundenen Mannes bedacht hat, kann, nein: soll in gedankliche Kapriolen umgesetzt werden. Der Mann darf nicht leiden unter der weiblichen Unlogik. Der Mann darf aber auch nicht leiden unter weiblicher Logik, die unweiblich ist. Schlimm, wenn eine Frau ihre freie Denkkapazität nützt, um logisch zu denken, und zwar schlimm für die Frau, die dadurch unweiblich wird und somit unattraktiv für die Männer. Noch schlimmer, wenn eine Frau nicht nur ihre Restgedanken logisch gestaltet statt feminin kraus, sondern wenn sie sich freie Denkkapazität schafft für logisches Nachdenken! -, indem sie ihr Denken rücksichtslos entrümpelt von der Sorge um das männliche Wohlergehen. Viktoria hat silbernes Haar. In weichen Wellen umrahmt Viktorias silbernes Haar Viktorias immer noch mädchenhaftes Gesicht. Wenn Haar in derart anmutigen Wellen optimal ein Gesicht umrahmt, dann ist es von einem erstklassigen Friseur geschnitten worden. Da Viktorias Haar immer von erstklassigen Friseuren geschnitten wurde, hat Viktoria keine Ahnung, wie ihr Haar um ihr Gesicht fiele, wenn Viktoria zum Beispiel gezwungen wäre, auf einer einsamen Insel auszuharren, bis das nächste Schiff kommt (was bekanntlich lange dauern kann). Viktoria schreibt es ihrer natürlichen Anmut
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zu, daß ihr Haar so anmutig fällt. Wenn ihr Frauen begegnen, deren Haar nicht anmutig fällt, dann denkt Viktoria nicht, daß diese Frauen vielleicht von einer einsamen Insel kommen, auf der es keine erstklassigen Friseure gibt, sondern Viktoria denkt, daß diese Frauen es ungeschickterweise verabsäumt haben, sich natürliche Anmut zu verschaffen. Die Handlung: An diesem Morgen ist Viktoria zeitig von ihrer ehemaligen Schwiegertochter Christa geweckt worden. Christa sieht Viktoria nicht als ehemalige, sondern als nach wie vor gültige Schwiegermutter an. Mit Viktoria lebt Christa unbeirrt in aufrechter Ehe, obwohl sie von Georg, Viktorias Sohn, seit vielen Jahren geschieden ist. Unter dem Vorwand schwiegertöchterlicher Fürsorge hält Christa die Erinnerung an ihre Ehe mit Georg wach. Gnadenlos weckt Christa Viktoria zu früher Stunde, nämlich vor acht, um zu fragen: Alles in Ordnung, Mutti? Viktoria denkt: Wenn eine von uns beiden eine Mutti ist, dann du, meine Liebe. Christa ist bieder. Viktoria ist zierlich und elegant, sie ist eine Mamaah. Noch nie hat Georg Mutti zu Viktoria gesagt, aber Christa kam angestapft, vollbusig und dickfellig, und wagte es, Viktoria zu ihrer Mutti zu machen. Vielleicht hat Georg Christa geheiratet, weil ihm eine Mutti gefehlt hat. Viktoria mag die Lauterkeit nicht, mit der Christa immer noch Anteil nimmt an ihrem und Georgs Leben. Viktoria an Stelle ihrer gewesenen Schwiegertöchter würde sich selbst aus dem Weg gehen. Sie würde die gewesene Schwiegermutter aus ihrem Dasein streichen, um die Spuren der Niederlage zu verwischen, die eine gescheiterte Ehe darstellt. Aber
Viktorias
gewesene
Schwiegertöchter
bestehen
darauf,
gute
Freundinnen von Georg zu bleiben. Sie bestehen darauf, einander gute Freundinnen zu sein. Sie bestehen darauf, sich Viktoria unabänderlich töchterlich zugetan zu fühlen. Besonders Christa bezeugt der ganzen, inzwischen großen Familie unermüdlich ihre Gunst.
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Kein Ostern ohne Christas Schokoladeneier mit feiner Marzipanfüllung. Sie finden sich in sämtlichen Haushalten, bei Viktoria ebenso wie bei Agnes und Daniela. Für Viktoria ist die freundliche Selbstverleugnung, mit der Christa aufmerksam alle zu allen Anlässen bedenkt, ein Indiz, daß Christa zum Scheitern geschaffen ist. Nur zum Scheitern Geschaffene stellen ihre Interessen hintan, weil sie nämlich wissen, daß es ihnen nicht gelingen würde, sie durchzusetzen. Ein anderer Beweis für Christas Untüchtigkeit ist die Tatsache, daß sie im Morgengrauen
aufstehen
muß,
und zwar
insofern,
als
hinter
der
Notwendigkeit des morgendlichen Aufbruchs der Zwang zum Broterwerb steckt. Wären Christa und Agnes keine Nieten,
hätten sie sich einen
Ehemann gesichert, der sie standesgemäß erhält. Alles in Ordnung, Mutti? Viktoria bejaht und kommt sich fast unhöflich vor, wenn sie dadurch, daß alles in Ordnung ist, Christas Besorgnis die Berechtigung entzieht. Alles in Ordnung? Warmherzige Frage, (Besorgnis) abweisende Antwort, und schon ist Viktoria in der moralisch unterlegenen Position. Wie kommt sie dazu, sich von Christa da hineinmanövrieren zu lassen? Viktorias Freundinnen beneiden Viktoria um soviel Fürsorge, aber Viktoria hat immer das Gefühl, daß diese Frauen, mit denen Georg sich mehr oder weniger lang gepaart hat, sie krank zu beten versuchen, wenn sie sich forschend nach ihrem Befinden erkundigen. Außerdem mag Viktoria Aufmerksamkeiten von Frauen nicht. Sie spielen für ihre Selbstachtung keine Rolle oder höchstens die eines Alarmsignals. Im Zweifelsfall möchte Viktoria von Geschlechtsgenossinnen als unschlagbare Konkurrenz verabscheut werden. Zuneigung von weiblicher Seite erzeugt in ihr den Verdacht, sie könnte aus jeglichem Rennen sein. Es wäre ihr lieber, ihre Schwiegertöchter buhlten mit ihr um die Liebe ihres Sohnes. Seufzend ging Viktoria nach Christas Anruf ins Bad. Nun sitzt sie, zum Weggehen angezogen, am Frühstückstisch. In der Küche werkelt gedämpft Frau Brettschneider.
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Viktorias Schwiegertöchter haben Putzfrauen, die müssen beim Bügeln den Fernseher laufen lassen, die wollen ihre kleinen Kinder zur Arbeit mitbringen, die sagen ungeniert ab, sobald Stemmarbeiten, Logiergäste oder Schmutzwäscheberge nach dem Urlaub ihnen mehr als den üblichen Einsatz abverlangen würden. Viktoria ist es unbegreiflich, wie man an derartige Wesen geraten kann. Viktoria würde nichts dergleichen dulden. Viktoria hat noch nicht einmal geduldet, daß ein derartiges Wesen sich auch nur bei ihr vorgestellt hat. Viktoria gegenüber kann man sich nichts herausnehmen, und deshalb kommen Viktoria Wesen, die sich etwas herausnehmen würden, erst gar nicht in die Nähe. So tüchtig ist Viktoria. So tüchtig ist Viktoria im Gegensatz zu ihren Schwiegertöchtern. Armer Georg! Vielleicht muß er deshalb immer wieder neu heiraten, weil er keine Frau findet, die so tüchtig ist wie seine Mutter. Insofern ist Georg von seiner Mutter zu sehr verwöhnt worden. Viktoria hat Georg durch hausfrauliche Tüchtigkeit verwöhnt, und nun haben ihre Schwiegertöchter Mühe, an die von der Schwiegermutter gesetzten Maßstäbe heranzukommen. Viktoria frühstückt: Honigsemmel, weiches Ei, Kaffee. Christa ißt Müsli. Agnes besänftigt ihre Magenschleimhaut mit Tee. Daniela trinkt Fruchtsaft, und Georg warnt vor zuviel Cholesterin. Ach was, sagt Viktoria streng; schau mich an, hör mir zu: Willst du behaupten, daß ich verkalkt bin? Christa ißt Müsli, und was hat sie davon? Dick ist sie, grauhaarig ist sie, ein schlaffes Kinn hat sie. Agnes trinkt Tee; hohläugig schaut sie aus, spitznäsig ist sie, ihre Mundwinkel hängen. Daniela ist noch jung, eine blaßblonde Prinzessin mit milchigen Wangen, aber schon beißt sie schmallippig die Zähne zusammen in ihrem kleinen kleinkarierten Paradies, verbissen saugt sie ihren Fruchtsaft durch die aufeinandergepreßten Zähne, so viele Vitamine und sowenig erfreuliche Wirkung. Und Georg, schwer atmend, mit einem Bauch, der k.o. im Gürtel hängt, und einem Blutdruck, der beobachtet werden muß, ist der ein glaubwürdiger Apostel der Heilslehre von der gesunden Ernährung?
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Du wirst uns noch alle überleben! sagt Christa manchmal aufmunternd zu Viktoria, aber Viktoria braucht gar keine Aufmunterung. Christa zu überleben fühlt sie sich durchaus in der Lage. Frau Brettschneider, ich gehe jetzt einkaufen! verkündet Viktoria in die Küche hinein. Sie greift nach Handtasche, Schlüsseln, Einkaufskorb. Die Leerflaschen läßt sie stehen. Frau Brettschneider kann sie zurücktragen, dazu ist Viktorias höhere Intelligenz nicht nötig. Viktoria tritt aus dem Haus. Ein sonniger Tag mit kühlem Wind. Die alten Häuser halten still im Großstadtverkehr. Sie stehen da als Kleinstadt in der großen. Immer noch herrscht in diesem Viertel gediegene Bürgerlichkeit. Man kennt einander und wahrt trotzdem Distanz. Die City ist nahe und beschert eine Ahnung von kosmopolitischer Großzügigkeit. Andererseits bewahrt die Überschaubarkeit des Bezirks seine Bewohner vor der allzu gleichgültigen Anonymität, die in anderen Metropolen das Gesetz des Dschungels regieren läßt. Viktoria lebt schon lange hier. Viele Gesichter sind verschwunden. Andere sind neu aufgetaucht. Manche gehören jungen Frauen mit buntgestreiften Haaren über schwarzen Herrenjacken. Manche gehören sanftäugigen jungen Männern, die mit Madonnengebärde Babys tragen, den Bauch vorgeschoben, als wollten sie .eine Schwangerschaft simulieren. Es
gibt
jetzt
einen
Bioladen
neben
dem
alteingesessenen
Delikatessengeschäft, ein Kellertheater unweit der renommierten Bühne mit dem gepflegten Spielplan, neue Galerien, die nicht Stahlstiche alter Städteansichten führen. Viktoria findet das amüsant. Im Gegensatz zu den meisten ihrer Freundinnen faßt sie nicht jegliche Veränderung als beklagenswerten Verfall auf. Für diese aufgeschlossene Haltung wird Viktoria dadurch belohnt, daß sie sich neben ihren gleichaltrigen Freundinnen jung und keck fühlt. Die gleichaltrigen Freundinnen sind dazu übergegangen, Viktoria als erstaunliche Vertreterin einer unberechenbaren Generation anzusehen und angeblich nicht ernst zu nehmen. Mit nachsichtigem Kopfschütteln wundern sie sich über die gelassene Heiterkeit, die Viktoria angesichts von Straßenfesten unter ihren Fenstern an den Tag legt. In Wirklichkeit sehen sie voll Neid, wie Viktoria
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immer wieder den Sprung in eine Mentalität schafft, die ihr altersmäßig gar nicht zukommt. Freundlich nickt Viktoria der türkischen Hausmeisterin, dem ägyptischen Blumenverkäufer zu, die sie grüßen. Diese fremdländischen Leute bedrohen sie nicht mehr als die böhmischen Köchinnen in ihrer Kindheit. Guten Morgen, Frau Professor! Der Frühling kommt, ich spür's! Die Zeitschriftenhändlerin bedient ihre Kundschaft flink auch mit Floskeln, denn sie repräsentiert ein Umfeld, in dem man sich noch zu benehmen versteht. Wie geht's Ihrem Mann, Frau Gruber? erkundigt sich Viktoria leutselig. Die Zeitschriftenhändlerin weiß, was sich gehört. Sie wird Viktoria diese menschliche Geste nicht schlecht lohnen, indem sie sie mit der ausführlichen Schilderung von Symptomen und womöglich nutzlosen Therapien langweilt. Nein, mit artiger Zuversicht antwortet sie, »es« würde schon wieder. So schickt es sich! Viktoria geht einen Schritt auf die brave Frau zu, dergestalt, daß sie sich die Mühe macht, ihr sowohl den richtigen Namen wie auch den richtigen Ehemann (leidend) zuzuordnen; und die brave Frau kennt ihre Grenzen:
Sie
tut
kund,
daß
ordnungsgemäß
mit
einem
erneuten
Funktionieren ihres Mannes zu rechnen sei. Damit ist der rituelle Austausch persönlicher Mitteilungen beendet. Zu seinen Gesetzmäßigkeiten gehört, daß man einander nicht wirklich nahekommt. Fragen und Antworten markieren lediglich den passenden Abstand zwischen kalter Ignoranz und warmherziger Aufdringlichkeit. So. Danach das Delikatessengeschäft. (Den Bioladen duldet Viktoria, aber sie kauft dort nicht ein.) Sorgfältig wählt sie aus: ein bißchen Mortadella, etwas luftgetrockneten Nordtiroler Schinken, Orangenmarmelade nein, bitte die englische! Georg macht sich lustig über ihre echt englische Marmelade und den französischen Heideblütenhonig. Er spottet über ihre Teemischung, die sie in dem noblen Teegeschäft in der Innenstadt zusammenstellen läßt. Georg kauft, wenn er Honig kauft, den billigsten im Regal. Georg schmeckt keinen Unterschied zwischen französischer Heideblüte und einer Mixtur namens Imkerstolz. Georg hält die verschiedenen Sorten für reinen Käuferbeschiß, auf den er aber nicht reinfällt.
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Wieso hat Georg einen so groben, schlecht entwickelten Geschmack? Von Viktoria kann er ihn nicht haben. Herbert? Herbert hat stets mit Behagen gegessen, was Viktoria ihm vorsetzte. Aber vielleicht hätte Herbert mit demselben Behagen auch Käsewurst statt Mortadella verzehrt, wenn Viktoria ihm
Käsewurst
vorgesetzt
hätte?
Immerhin
hat
Herbert
Viktorias
hausfrauliche Kompetenz und damit ihren Geschmackssinn nie in Frage gestellt. Freilich wäre es unter seiner Würde gewesen, sich mit der Problematik des Lebensmitteleinkaufs auseinanderzusetzen. Viktorias Kompetenzen hingen unmittelbar mit Herberts Würde zusammen. Was darunter war, fiel in Viktorias Zuständigkeitsbereich beziehungsweise waren Bereiche, die in ihrer Entscheidungsgewalt lagen, auf jeden Fall solche, für die Herbert aufgrund seiner Manneswürde überqualifiziert gewesen wäre. Herbert und Viktoria haben eine lange und glückliche Ehe geführt. Herbert hat Viktorias Erbteil anständig verwaltet, er hat es nicht vermehrt, aber auch nicht aufs Spiel gesetzt oder gar verschludert. Herbert war immer höflich, auf einen untadeligen Ruf bedacht und gepflegt bis zuletzt. Wenn eine Dame den Raum betrat, stand Herbert auf. Seine Spesenabrechnungen waren absolut korrekt. Nie hätte Herbert nachlässig geputzte Schuhe angezogen. Herbert war ein Herr. Viktoria versteht nicht, wieso noch keine ihrer Schwiegertöchter dafür gesorgt hat, daß Georg ein Herr sein kann. Georg muß Papiertaschentücher verwenden. Seine Jacken sind zerknautscht. Wenn er es eilig hat, dann ißt Georg eine Fischsemmel auf der Straße, direkt aus dem Einwickelpapier. Georg hat es eilig, weil er für seine Frauen sorgen muß. Aber keine seiner Frauen sorgt so gut für ihn, daß er es nicht nötig hat, Fischsemmeln auf der Straße aus dem Einwickelpapier zu essen. 2. Agnes: Agnes ist nicht einfach Agnes, Agnes ist die tüchtige Anges. Agnes ist tüchtig, weil sie über Geld redet. Agnes verdient Geld und redet darüber, daß es verdient werden muß. Deshalb spricht die Familie von ihr als von der
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tüchtigen Agnes. Das ist kein Kompliment. Mehr Achtung verdiente Agnes, wenn
sie
einfach
Agnes
wäre,
unverwechselbar
kraft
einer
unverwechselbaren Persönlichkeit. Doch Agnes bedarf einer Kennzeichnung, damit sie unterscheidbar wird, und ihr Etikett ist die Bedeutsamkeit, die sie dem Geldverdienen und dem Geldausgeben beimißt. Agnes ist die, die immer am Materiellen hängenbleibt. Agnes verdient Geld, so viel, wie sie nur verdienen kann, investiert es großzügig in großzügige Anschaffungen und beredet lauthals, was wieder wie teuer war, und daß sie, wenn es nach Georg ginge, beziehungsweise nach seinen sparsamen Zuschüssen, winters über in einer ungeheizten Wohnung sitzen müßten. Aber Agnes sitzt nicht in einer bloß geheizten Wohnung, sie sitzt in einer Wohnung
mit
Wäschetrockner,
Anrufbeantworter
(plus
Fax),
Mikrowellenherd, Videorecorder, zwei Farbfernsehern, italienischen Sofas und englischen Leinengardinen an Jugendstilhalterungen aus Messing, und daran kann man sehen, daß ihre Vorstellungen von einem annehmbaren Lebensstandard weit über eine geheizte Wohnung hinausgehen und über das, was andere geschiedene Ehemänner finanzieren helfen. Agnes lebt entschieden über die Verhältnisse geschiedener Frauen und alleinerziehender Mütter, und das macht ihre Anmerkungen zu Georgs angeblicher Knausrigkeit unglaubwürdig. Wie soll man glauben, daß Georg nicht einmal für das Nötigste sorgt, wenn Agnes soviel Unnötiges besitzt? Daniela
sagt,
wenn
Hunderttausende
alleinstehender
Frauen
ohne
Wäschetrockner auskommen, wieso soll dann Georg mehr zahlen, damit ausgerechnet
Agnes
sich
einen
Wäschetrockner
leisten
kann?
Beziehungsweise: Wenn Agnes sich sowieso einen Wäschetrockner zu leisten vermag, kann es ihr nicht so schlecht gehen, als daß Georg mehr zahlen sollte. Georg sagt, es ist Agnes gar nicht darum zu tun, ob er für die Heizkosten aufkommt, sondern sie will über ihn klagen können. Selbst wenn er so viel zahlte, daß sie ihre exorbitanten Heizungsrechnungen davon zu begleichen vermöchte, würde sie weiter über ihn klagen. Er tut ihr also nur einen
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Gefallen, wenn er sie möglichst knapphält, wenigstens hat sie einen Grund zum Klagen. Christa sagt, das hängt alles damit zusammen, daß Agnes Georg noch immer liebt und sich mit seinem Verlust nicht abfinden mag. Georg sagt, im übrigen hält er sie natürlich keineswegs knapp, im Gegenteil, erst kürzlich hat er sich an einem neuen Fahrrad für Matthias beteiligt. Viktoria sagt, leider ist es so, daß Agnes zwar tüchtig ist, aber keinen Stil hat. Damit meint Viktoria, daß Agnes keinen Stil hat, weil sie tüchtig ist. Frauen haben entweder Stil, oder sie verdienen tüchtig Geld. Die Handlung: Die tüchtige Agnes frühstückt mit ihrem Liebhaber, nachdem Matthias, ihr Sohn, in die Schule abgezogen ist, knapp dran wie immer. Der Liebhaber, der Agnes gegenübersitzt, hat ihr vor Monaten noch geradezu ekstatische Nächte beschert, nach Jahren der erotischen Flaute. Die Jahre der erotischen Flaute haben Agnes zugesetzt. Trotz einer katholischen Schulzeit und einer strengen Mutter, die den Geist in seiner Existenz bedroht sah, wenn er nicht ständig über das Fleisch triumphierte (und die darum Agnes und sich immer nur in ausschließlich zweckmäßige Kleidung steckte), trotz dieser Handicaps hat Agnes ein erstaunliches Talent, sich der Lust zu überlassen, wenn Lust in ihr Leben einbricht. Am liebsten ist es Agnes selbstverständlich, wenn Lust und Liebe Hand in Hand als Paar an ihre Tür klopfen; aber für den Fall, daß Leidenschaft auftritt ohne leidenschaftliche Zuneigung im Schlepptau, ist das Agnes immer noch lieber als die Absenz von Liebe und Lust. Agnes hat keine Lust, aus Gründen des Anstands auf einer Lust zu bestehen, die ohne Liebe hinfällig ist. Die ekstatischen Nächte mit ihrem Liebhaber haben Agnes, die demoralisiert war von den dürren Jahren davor, überrascht, gerührt und zuversichtlich gestimmt.
Doch
nun
sitzt
ihr
Wiederbeleber
eines
kraftvollen
Selbstvertrauens vis a vis von ihr, zählt grämlich seine Galletropfen und widmet sich mit penibler Konzentration der Überlegung, ob er Milch oder Zitrone in seinen Tee träufeln soll. Außerdem will er wissen, ob Agnes am Mittwoch mitkommen mag nach Krems, er hat dort eine Verhandlung. Nach Krems? Am Mittwoch? Ja, warum nicht?
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Aber der Mittwoch ist für Agnes ein ganz normaler Arbeitstag. Das überzeugt ihn nicht. Seiner Meinung nach sind Agnes' normale Arbeitstage keine Tage voll Arbeit. Seiner Meinung nach sind Agnes' Tage nur deshalb voll, weil sie sich alles falsch einteilt. Was hast du denn soviel zu tun? Agnes, durch fruchtlose Gespräche noch immer nicht klug geworden, zählt auf: Funkhaus, mit Matthias zur Kieferorthopädin, Fernsehstudio. Kann dein Sohn denn nicht allein zur Kieferorthopädin fahren? Ich meine, ich frag' ja nur, weil er in seinem Alter doch fähig sein sollte, ohne dich in die U-Bahn zu steigen. Schlägt Agnes sich jetzt gegen die Stirn, erleuchtet und zugleich erschüttert, weil ihr das noch nicht selber eingefallen ist? Oder duckt sie sich beschämt unter der souveränen Ironie, mit der er sie als Glucke durchschaut? Nein, Agnes leistet Widerstand. Sie ist daran gewöhnt, anderen ständig was erklären zu wollen, was die gar nicht verstehen möchten. Sie erläutert: Bis eins Schule, um halb zwei Behandlung, mit der Straßenbahn anderthalb Stunden bis hin. Das ist es, wovon ich immer rede, sagt der Mann, während er seinen Tee umrührt (er hat sich für Milch entschieden), du kannst nicht organisieren. Warum hast du keinen späteren Termin für ihn ausgemacht? Seit langer Zeit muß Agnes nicht nur jeden ihrer Tage genau verplanen, sondern darüber auch unentwegt Rechenschaft ablegen vor Menschen, die keine Ahnung haben von den Notwendigkeiten, die ihre Tageseinteilung bestimmen. Kann Ihr Kind noch nicht selber? Aber da gibt es doch sicher eine Nachbarin! Machst du das nicht einfach zwischendurch? Die Vorstellungswelt der Menschen um Agnes ist bevölkert von Dreijährigen, die allein ins Schwimmbad traben, von Nachbarinnen, die vor Glück stöhnen, wenn sie anderen die Kinder hüten und etwas Dreck putzen dürfen, und von berufstätigen Frauen, die mit links komplizierte Rechtsgutachten verfassen, während die ihrem Ältesten Latein beibringen sowie spielerisch ein fünfgängiges Abendessen für acht Personen zubereiten.
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Eigentlich ist der Mittwoch perfekt aufgeteilt, die Termine fügen sich präzise ineinander, bewußt hat Agnes dafür gesorgt, daß sie Matthias zur Kieferorthopädin begleiten kann, denn erstens will sie mit der Ärztin die weitere Behandlung besprechen, und zweitens möchte sie Matthias, der ja obendrein
seine
Aufgaben
zu
machen
hat,
eine
mehrstündige
Straßenbahnfahrt durch die Stadt ersparen, zumal er in Gegenden umsteigen müßte, wo sie ihn tatsächlich lieber nicht alleinObendrein und außerdem! Kaum entkräftet man ein Argument, fällt dir eine andere Ausrede ein! Hämisch
demontiert
der
Mann
Agnes'
Umsicht
zu
scheinbaren
Widersprüchen. Indem er aus einem Komplex von Begründungen wahllos mal diese, mal jene herauspickt und ihr die Berechtigung abspricht, denunziert er Agnes' vernünftige und zusammenhängende Überlegungen als unzusammenhängende Ausflüchte. Beharrlich tut er genau das, was er Agnes vorwirft: Kaum daß sie einen seiner Einwände entkräftet hat, zerrt er flink den nächsten aus seinem unerschöpflichen Vorrat an Vorhaltungen. Hättest du einen späteren Termin ausgemacht! Fahr halt früher zum Fernsehen! Das gibt es nicht, daß der nur dann Zeit hat! Muß das ausgerechnet am Mittwoch sein? Also, was ist, kommst du jetzt mit oder nicht? Ich kann nicht! Kopfschütteln, gereizter Abschied: Rascheltrockene Lippen sreifen Wange. Agnes' Liebhaber hält auf Formen. Nie würde er sich verabschieden ohne Abschiedskuß. Wenn ihm nicht wirklich nach Küssen ist, läßt er seinen Abschiedskuß schrumpeln und plaziert ihn in Agnes Gesicht als welke Erinnerung an die Blütezeit der Zärtlichkeit, aber er hält weder Küsse noch Ermahnungen jemals ganz zurück. Sein verdorrter Abschiedskuß ist eine Mahnung. Die Tür fällt hinter ihm zu. Agnes wünscht sich, ihn nicht wiederzusehen. Das bißchen Bettwärme, sagt sie sich, wiegt die Strapazen der ständigen Machtkämpfe nicht auf.
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So eisig wird Agnes nicht bleiben. Ihrem augenblicklichen Bedürfnis, sich zu verbarrikadieren vor ihrem Liebhaber und seinen strengen Forderungen, wird ratlose Rührung folgen. In dieser Phase ist sie dann geneigt, die stetigen Versuche ihres Liebhabers, ihr Leben seinen Ansprüchen anzupassen auf Biegen oder Brechen, als Ausdruck der Anhänglichkeit und der stürmischen Zuneigung zu interpretieren. Sie wird sich beschämt fühlen, weil sie seine Zuneigung nicht zu würdigen weiß. Beschämung und eine jähe Angst, der Mann könnte sich ganz abwenden von ihr und eine weniger Undankbare in seinen Terminkalender zu integrieren trachten, überfallen Agnes vor allem dann ganz stark, wenn sie mit Frauen spricht, deren Liebhaber sie zuwenig teilhaben lassen an ihren Plänen und an ihrer Freizeit. In solchen Momenten kommt sie sich privilegiert vor. Ihr Liebhaber strebt Nähe an. Er strebt sie rücksichtslos an, er rückt ihr auf den Leib. Aber das spielt keine Rolle. Sie kommt sich privilegiert vor, weil sie angeboten kriegt, wonach andere vergeblich gieren. In diesen Augenblicken unterscheidet sie nicht zwischen einer Nähe, die auf gegenseitiger Annäherung beruht, und einer Nähe, die die Verfügungsgewalt des einen über die andere bedeutet. Wer unterscheidet das überhaupt? Agnes ist im Gehen, als das Telefon läutet. Christa. Weißt du was von Georg? Länger nichts gehört, sagt Agnes, zögernd, weil sie sich oft des Verdachts nicht erwehren kann, Christa trage einen Wettbewerb mit ihr aus: Wer von uns sieht Georg öfter/länger, welcher von uns vertraut er sich an, um wessen Kind kümmert er sich mehr? Es ist nämlich, sagt Christa, ich mache mir ein bißchen Sorgen Die gute Christa! Sorgt sich immer noch um Georg und sogar um Daniela, während Agnes argwöhnt, das freundlichste Gefühl, das sie selber ganz ohne Heuchelei für die beiden aufbringt, sei eine tiefe Gleichgültigkeit. Natürlich hält Agnes es für möglich, daß Christa ebenfalls heuchelt. Sie schließt aber auch nicht aus, daß Christa tatsächlich der bessere Mensch ist. Selten schließt Agnes aus, daß andere besser, klüger, schöner sind als sie. Der Verdacht, daß sie im Zweifelsfall die Unterlegene ist, verbittert Agnes und macht den Umgang mit ihr oft schwierig.
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Weswegen? fragt Agnes. Es stellt sich heraus, Christa hat Grund zu der Annahme, daß Georg fremdgeht. Das ist doch nichts Neues, sagt Agnes brutal. Der schmucklose Hinweis auf Georgs Unfähigkeit, treu zu sein, ist brutal gegenüber Christa, die dadurch an schmerzliche Zeiten erinnert wird. Er ist brutal gegenüber Daniela, weil er ihr den Anspruch abspricht, den sie als gegenwärtige Gattin stellen kann: daß nämlich Georg sich für sie endlich zusammennehmen wird. Und er ist brutal gegenüber Agnes, die sich dadurch selber an schmerzliche Zeiten erinnert. Aber so ist Agnes: brutal, unweiblich, unmütterlich irgendwie. Mütter haben was Beschwichtigendes. Agnes hat was Aufwieglerisches. Armer Matthias. Ach, weißt du, Christa klingt milde und geduldig. Ihre Geduld gilt Agnes. Ihr milder Ton drückt aus, daß Christa im Unterschied zu Agnes nicht aufhört, an das Gute im Menschen zu glauben, also zum Beispiel daran, daß Georg seine Schwäche eines Tages überwinden wird. Er drückt aus, daß Christa es zudem nicht aufgegeben hat, auch eine zynische, skeptische Person wie Agnes dazu bringen zu wollen, an das Gute, zum Beispiel in Georg, zu glauben. Ach, weißt du, heutzutage ist das doch nicht ungefährlich! sagt Christa. Du meinst, er kennt kein Kondom? fragt Agnes, grob, ein grober Klotz. Wie hat Georg sie nur aushalten können, seinerzeit! Ich meine, er benützt vielleicht keins, antwortet Christa sanft. Naundnaundnaund? Soll Agnes Georg aufspüren beim Geschlechtsverkehr und sich dazwischenschieben, schützend, soll Agnes ein Kondom schieben zwischen Georgs Gier und die Vaginalschleimhaut seiner unbekannten Sexualpartnerin, soll Agnes zu Daniela eilen, schwesterlich, mit einem kleinen sterilen Zelt für ihren hoffentlich keimarmen Genitaltrakt? Ich sehe nicht ganz, was wir tun können, sagt Agnes. Ich auch nicht, deshalb wollte ich ja mit dir reden, sagt Christa. Denk drüber nach, vielleicht fällt dir was ein. Ich muß jetzt weitermachen, draußen staut sich's schon. Sofort ist Agnes erbost. Hat Christa daran gedacht, daß es sich auch bei Agnes stauen könnte? Nein, mit der größten Selbstverständlichkeit hat Christa angenommen, daß Agnes Zeit für sie hat. Christa selbst hat wenig
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Zeit, deshalb hat sie sich bloß die Zeit genommen, über Agnes' Zeit zu bestimmen. Christa hat sich Agnes' Zeit genommen. Christa ist leider sehr beschäftigt, deshalb kann sie sich nicht jederzeit Zeit nehmen. Doch Agnes' Zeit kann Christa sich jederzeit nehmen, glaubt Christa. Kaum hat Agnes aufgelegt, klingelt ihr Telefon erneut. Nein, nein! Schnitt! Keine weiteren banalen Details aus Agnes' häuslichem Alltag! Agnes sollte jetzt schleunigst ins Funkhaus fahren, wo sie einen Aufnahmetermin hat, und somit tätig werden in einer Umgebung von größerer gesellschaftlicher Relevanz. Ein Funkhaus ist ein politisch bedeutsamer Ort. Das Private ist zwar auch politisch, aber doch bedeutsamer, wenn es in mehr geraffter Form als Rundfunkbeitrag abgehandelt wird. Agnes' häusliche Details sind ungerafft schwer erträglich, wie oftmals auch die häuslichen Details anderer Leute; das Relevante am Leben vieler Leute ist ja eine Unerträglichkeit, die auch darin besteht, daß niemand rafft und kürzt, doch das Problem bei Rundfunkbeiträgen ist, daß niemand zuhört, wenn sie von schwer erträglicher Ausführlichkeit sind, noch dazu in der Beschreibung banaler Details. Agnes weiß: Wäre ihr Leben ein Rundfunkbeitrag, es hörte kein Mensch zu. Jedenfalls würden das die leitenden Menschen im Funkhaus befürchten. Agnes fährt noch nicht ins Funkhaus, sondern hebt das Telefon ab und hört ihre Freundin Helene. Helene bewohnt mit ihrer Familie die Wohnung unter Agnes' Wohnung. Sie ruft an, weil Agnes häufiger in die Innenstadt kommt als sie. Könnte Agnes ihr was mitbringen aus der Innenstadt? Das wäre fein! Unglücklicherweise hat Helene nämlich eine Sauciere zerschlagen, die man nur dort nachkaufen kann. Helenes Mann arbeitet gleichfalls in der Innenstadt. Es brächte Helene aber nur in Verlegenheit, wenn Agnes darauf hinwiese. Helene ist abhängig von ihrem Mann, das heißt, sie muß ihn bei Laune halten und darf die Last, die er als Familienerhalter trägt, nicht schwerer machen, indem sie ihm zusätzliche Aufträge erteilt. Er würde sich ohnehin weigern, sie auszuführen. Helene hätte nicht nur keinen Nutzen, sondern obendrein noch Streit mit ihrem Mann, der sich schön bedanken würde, wenn sie ihm mit zerschlagenen Saucieren und den Möglichkeiten ihrer Wiederbeschaffung belästigte. Sicher
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könnte er sich weder die Adresse des Geschäfts merken noch den Namen des Speiseservices, zu dem die Sauciere gehört. Er weiß ja nicht einmal richtig, was eine Sauciere ist. Sein Hirn ist voll mit wichtigeren Dingen, also wirklich. Also wirklich schaut seine Wirklichkeit anders aus als eine Wirklichkeit, zu der Saucieren u. ä. gehören. Agnes hingegen ist ein Teil von Helenes Netzwerk, das Helene ein Fortkommen ermöglicht in einer von verständnislosen Ehemännern dominierten Umwelt. Weil Agnes und Helenes übrige Freundinnen Verständnis haben, kommt Helene fort von daheim ins Fitneßcenter oder ins Kino oder in die Selbsterfahrungsgruppe oder zum Friseur, trotz häuslicher Pflichten und eines Ehemanns, der Mithilfe weitgehend verweigert. Wenn Agnes zu Helene sagte: Fahr doch einmal in die Innenstadt statt ins Fitneßcenter, dann verhielte sie sich genauso hartherzig wie Helenes Mann. Helene ist Agnes' Freundin. Sie hat Matthias ein Faschingskostüm genäht und Agnes zum Geburtstag eine Torte gebacken. Nie könnte Agnes ihrer Freundin gegenüber hartherzig sein. Helene näht auch für ihren Mann und bäckt ihm Torten, aber das ist nicht vergleichbar. Das Faschingskostüm für Matthias hat Helene übrigens vor sechs Jahren geschneidert. Matthias hat damals aufgeschnappt (und Agnes davon berichtet), wie Helenes Mann zu Helene sagte: Ist er ihr Kind oder deins? Ich finde das eigenartig: Du nähst für ihr Kind, damit sie inzwischen Karriere machen kann? Seit damals sollte Matthias, wenn er von der Schule kam und Agnes noch nicht da war, lieber nicht bei Helene läuten. Agnes hat ihn darum gebeten. Sie ist keine Ausbeuterin, und außerdem wollte sie Matthias mißbilligende Blicke oder Worte von Helenes Mann ersparen. Sie ist keine Ausbeuterin, doch muß sie sich deswegen ausbeuten lassen? Damit kann ich meinem Mann nicht kommen, er ist eh schon so strapaziert, sagt Helene oft. Mehr kann ich ihm wirklich nicht zumuten. Helenes Mann ist strapaziert, weil er sich abstrampelt zum Wohle seiner Familie (sagen Helene und ihr Mann). Im Gegengeschäft muß Helene ihn vor weiteren Strapazen schützen. Im Gegengeschäft muß Helene dafür sorgen, daß er seine kostbare Arbeitskraft regenerieren kann. Die Arbeitskraft ihres Mannes
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stellt die Ressourcen dar, die Helene nicht verschleißen darf, wenn sie ihre Existenz nicht gefährden will. Deshalb kommt Helene mit Sachen, mit denen sie ihrem Mann nicht kommen darf, zu ihren Freundinnen, zum Beispiel zu Agnes. Agnes' Arbeitskraft ist für Helene keine Ressource, die es unbedingt zu erhalten gilt. Agnes' Arbeitskraft ernährt bloß Agnes und Matthias, also kann es unmöglich zu Helenes Aufgaben gehören, Agnes' Arbeitskraft zu schonen und zu schützen. Wieso gehört es aber zu Agnes' Aufgaben, Helene beim Schonen ihres Ernährers zu unterstützen? Agnes und Matthias ernährt Helenes Ernährer nicht. Indem Agnes Helene hilft, Helenes Ernährer zu entlasten, damit er fit bleibt fürs Ernähren Helenes, ernährt Agnes Helene sozusagen mit. Ist Agnes verpflichtet, Helene zu ernähren? Rein statistisch betrachtet: ja, wenn man davon ausgeht, daß die Zahl der Ernährten, die von einem Ernährer abhängen, gerechterweise nicht zu stark schwanken sollte von Ernährer zu Ernährer. Wenn demnach Helenes Mann vier Menschen zu ernähren hat und Agnes bloß zwei, dann gebieten Anstand wie mathematische Logik, daß Agnes sich beteiligt an der Ernährung einer Person, die verwaltungstechnisch bei Helenes Ernährer im Futter steht. Bloß sieht Agnes, wenn sie gerade sauer ist, an der ganzen Regelung nicht ein, daß Helene freigestellt ist von der Pflicht des Ernährens. Wenn sie hingegen gerade nicht sauer ist, zu Zeitpunkten also, da Helene sie nicht um Saucieren schickt, sondern mit selbstgebackenem Kuchen füttert, sieht Agnes die Problematik anders. Dann sieht sie Helene als eine Person, die aus verschiedenen Gründen nicht in der Lage war, sich für die Position eines Ernährers zu entscheiden, und daher jetzt, im Zustand der Abhängigkeit, angewiesen ist auf kleine Liebesdienste, die sie ja auch ihrerseits zu erweisen bereit wäre, sofern nicht ihr Ernährer, kraft seiner Machtstellung, Einspruch erhebt. Immer, wenn Helenes Ernährer kraft seiner Machtstellung Einspruch erhebt gegen eine Entscheidung Helenes und daran erinnert, daß er ernährt, ist Agnes saumäßig froh, daß sie sich fürs Ernähren entschieden hat. Aber wenn Helene in ihrem Zweitwagen aufbricht zu ausgelassenen Tagen bei ihrer
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Schwester in München, wird Agnes sauer und läßt sich von einer Woge Selbstmildleid an die Stätten ihrer Berufsausübung spülen. Jetzt also die Sauciere. Agnes verspricht, bei Helene vorbeizukommen, damit sie Überreste des zerschlagenen Stücks besichtigen und die richtige Form nachkaufen kann. Sie schaltet den Anrufbeantworter ein, läuft unter der Dusche durch, zieht Jeans und Sweatshirt über dieselben Kleidungsstücke, die sie auch gestern schon anhatte und die deshalb griffbereit über einem Sessel im Schlafzimmer hängen , schaut nach, wieviel Milch im Kühlschrank ist, schreibt Milch! auf ihren Einkaufszettel, steigt in die nächstbesten Schuhe, Lackleder-Ballerinas, die zu allem und jedem passen, und verläßt die Wohnung. Gern würde Agnes ihrem Äußeren mehr Aufmerksamkeit widmen. Agnes liebt schöne Kleidung. Viel zu oft gibt sie viel zuviel Geld für Outfits aus, von denen sie sich Selbstbewußtsein und Überzeugungskraft verspricht. Ihre Schränke quellen über; aber hastig zieht sie doch immer wieder dieselben paar erprobten Hosen und Jacken an. Je weniger Agnes dazu kommt, sich zu inszenieren, desto gieriger fällt sie auf dem Weg ins Funkhaus, zwischen zwei Terminen, unterwegs zum Supermarkt
in Trend-Boutiquen ein und ersteht, im
Vorbeirennen, Textilien als potentielle Eintrittskarten in ein angenehmeres Leben. Agnes klingelt bei Helene. Helene öffnet, in Jeans und Sweatshirt und sagt, mit einem Blick auf Agnes' Jeans und Sweatshirt: Ach, bist du wieder toll gestylt! Ich hab' gerade dein Shirt bewundert! sagt Agnes. Helene macht eine verächtliche Handbewegung: Der alte Fetzen ...! Helenes alte Fetzen sind stets noble Markenware, während Agnes, um ihre Ausgaben auf dem Kleidersektor vor sich zu rechtfertigen, auch vor billigen Gelegenheitskäufen nicht zurückschreckt. Und obwohl Helene vermutlich geprügelt werden müßte, sollte sie Läden betreten, die nicht das Gütesiegel der »richtigen« Kundschaft tragen, ist es zum Ritual zwischen ihr und Agnes geworden, daß sie vorgibt, auf Agnes neidisch zu sein, die, tadellos zurechtgemacht, interessante Leute treffe, während sie selbst, Helene, eine sich vernachlässigende Hausfrau in trostloser Arbeitskluft sei.
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Agnes
kann
sich
nie
entscheiden,
ob
sie
Helenes
diesbezügliche
Beteuerungen als warmherzige Schmeichelei auffassen oder ob sie sie als plumpen Trick betrachten soll, angewendet, um sie mitleidig und willfährig zu stimmen. Helene hat inzwischen die Scherben der verunglückten Sauciere geholt. Alles klar, sagt Agnes, ich sause jetzt. Sie hastet die Treppe zum Vorgarten hinunter, stopft ihren Haushaltsmüll in die Tonne neben dem Eingang, trabt zum Altglascontainer an der nächsten Kreuzung, um eine Batterie Einwegflaschen wegzuwerfen, und fährt danach endlich los. Du kommst spät, sagt der Techniker im Funkhaus, als sie ins Studio stürmt. Zu langen Schönheitsschlaf gehalten, was? Agnes bleckt die Zähne: Haha! 3 Daniela: Daniela ist wohlerzogen und ebenmäßig gewachsen. Sie beherrscht zwei Fremdsprachen in Wort und Schrift, das ist hochschulkundig und akademisch nachgeprüft. Sie spielt leidlich Tennis. Sie erkennt eine Schneckenzange als Schneckenzange und weiß sie zu handhaben, wenngleich sie selten Schnecken ißt. Als Schülerin war sie in einer Reihe kostspieliger Feriencamps in Frankreich, England und den USA. Sie liebt ihre Eltern. Sie schätzt ihren Stiefvater und ihre Stiefmutter. Ihre Stimme ist hell, aber nicht schrill. Jederzeit könnte sie ein Tischgespräch über Lessings »Nathan« bestehen. Sie trägt blasses Haar über einer glatten Stirn. Sie versucht, über die wichtigsten politischen Ereignisse auf dem laufenden zu sein, und bemüht sich um eine ausgewogene Meinung. Sie blufft nicht: Wenn sie etwas nicht weiß, gibt sie es zu. Daniela verwendet Stoffservietten und kocht Spargel in einem Spargeltopf. Christa kocht ihn gebündelt in einem gewöhnlichen Kochtopf. Agnes kocht ihn ebenfalls in einem gewöhnlichen Topf und spart sich ungeduldig meist sogar das Bündeln. Christas Spargel schmeckt fast immer hervorragend. Agnes' Spargel schmeckt oft katastrophal. Bei Daniela schmeckt der Spargel
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ordentlich. In Danielas Händen weiß auch der Spargel, was sich schickt, und enthält sich grober Qualitätsschwankungen . Christa brät erstklassige Braten, außen knusprig, innen rosa, sie bäckt wunderbare Kuchen, locker und trotzdem saftig, ihre Saucen sind sämig, ihre Suppen cremig, wenn sie Fisch serviert, ist er fest, jedoch nie trocken. Agnes liefert köstliche Aufläufe, aber ihre Kuchen bleiben sitzen; ihre Saucen sind raffiniert, doch wenn Matthias gefülltes Huhn will, vertröstet sie ihn aufs Restaurant. Agnes macht sich nichts aus Spargel, dafür schmort sie Zwiebelchen in Rotwein und gart Lachsfilets auf den Punkt. Bei Daniela gibt es Putenschnitzel mit Reis und Karotten, die Karotten kurz in Butter geschwenkt. (Agnes glasiert sie in einer üppigen Menge Butter und Zucker). Auf Danielas Tisch steht ein Blumenstrauß; jedenfalls so lange, bis eins von den Kindern ihn umwirft. Heißluftherd, Heißluftherd an der Wand, wer ist die Sinnlichste im ganzen Land? (Kochen ist eine sinnliche Tätigkeit. Zeige mir, wie du kochst, und ich sage dir, ob du genießen kannst. Er beneidet die Frauen, sagt Georg, um den Sinnengenuß des Kochendürfens. Ach, wie ich es genieße, sagt Agnes, in Kartoffelschalen,
Zucchinischalen,
Karottenschalen
zu
wühlen!
Auch
Tischkultur ist eine Frage der Sinnlichkeit, wie das Wort Schönheitssinn verrät, darum gleicht der Blumenstrauß auf Danielas Tisch ihre allzu braven Karotten aus: Punktegleichstand! Oder?) Also, wer ist nun die Sinnlichste? Georg schweigt, lächelt, ißt Danielas Putenschnitzel, läßt sich von Christa zu Weihnachten selbstgebackene Kekse schenken und wird nie jemandem verraten, ob er manchmal einen Gusto auf Agnes' Rotweinzwiebelchen hat. Am Anfang seiner Ehe mit Agnes hat Georg Agnes in aller Unschuld geraten, sich doch Christas Guglhupfrezept zu besorgen. Agnes' Reaktion auf dieses Ansinnen hat Georg nachhaltig überzeugt, daß das Ansinnen ein Ansinnen war. Deshalb wird er sich, selbst für den Fall, daß er einen Gusto auf Rotweinzwiebelchen haben sollte, hüten, Daniela auf die Rotweinzwiebelchen anzusetzen. Vielleicht wäre aber Danielas Reaktion darauf eine ganz andere? Vielleicht würde Daniela gar nichts dabei finden? Georg wird es nie erfahren, denn er stellt sich diese Frage nicht. Was Georg von Agnes über Agnes erfahren hat,
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wendet er jetzt auf Daniela an. Auch Georg hat Wichtiges zu tun und daher keine
Zeit,
über
etwaige
Unterschiede
zwischen
seinen
Frauen
nachzudenken. Sollte Georg sich noch einmal verheiraten, wird er auf seine neue Frau anwenden, was er von Daniela über die Frauen gelernt hat, egal, ob das Gelernte auf die neue Frau zutrifft oder nur auf Daniela. Einstweilen muß Daniela mit Georgs durch Agnes gewonnenen Erkenntnissen leben. Zwar hat Georg Agnes gegen Daniela getauscht, weil er es mit Agnes nicht mehr ausgehalten hat, aber aufgrund welcher Unterschiede Daniela erträglicher ist als Agnes, das ist nicht Georgs Problem, sondern das von Daniela, die zusehen muß, wie sie es am besten schafft, erträglich und verträglicher zu sein als Agnes. Georg hat Agnes aus seinem Leben entfernt und Daniela die entstandene Lücke zur Verfügung gestellt. Nun muß Daniela sich selber einpassen. Empfindlichkeiten von Agnes, auf die Georg gelernt hat, Rücksicht zu nehmen, könnte sich auch Daniela leisten. Eigenheiten, die Georg schon an Agnes nicht ausstehen konnte, sollte sich Daniela lieber nicht leisten. Und jetzt die Handlung: Macht's gut, ihr drei! sagte Georg, als er das Haus verließ. Es klang warm und familienväterlich. Daniela ist Georg sehr zugetan, wenn er sich familienväterlich anhört. Das heißt, sie ist ihm natürlich immer zugetan. Aber Augenblicke, in denen er sie und die Kinder schützend umschließt, mit den Armen oder mit Worten, erfüllen sie mit besonders großer Zuneigung zu ihm. Solche Augenblicke mag sie lieber als zärtliche Gesten Georgs, die ihr allein gelten. Wenn Georg sich ihr allein zuwendet, fühlt sich Daniela immer noch als junges Mädchen, das einem reifen, anspruchsvollen Mann zu Gefallen sein soll; im Gespräch, indem sie ihm ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt (was schwer ist, seit die Kinder ebenfalls ihre Aufmerksamkeit fordern), und physisch, indem sie ihm die Attraktion eines straffen, bereitwilligen Körpers bietet. Nicht, daß Daniela Georgs Zärtlichkeiten nicht genießen würde, Gott bewahre. Doch wenn Georg sie tätschelt, womöglich im Vorübergehen oder während er in die Zeitung schaut, fühlt Daniela sich nicht genügend ... geachtet. Das ist ein altmodisches Wort, aber Daniela ist ein altmodisches Mädchen. Sie möchte Georg mehr sein als bloß eine jugendliche Gespielin.
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Darum ist sie so froh, wenn Georg sie weniger als Geliebte behandelt denn als Mutter seiner Kinder. Daß es sie froh macht, wenn Georg sie nicht mehr beachtet als die Kinder, läßt sie außerdem stolz auf sich sein. Sie weiß jetzt, daß sie eine gute Mutter ist. Für gute Mütter stehen die Kinder im Vordergrund. Nie hätte Daniela für möglich gehalten, daß es ihr so leichtfallen würde, eine gute Mutter zu sein. Früher, ohne die Kinder, hätte sie sich einfach nicht vorstellen können, daß sie Georgs Zuwendung freudig würde teilen wollen. Nun gibt sie sie glücklich an die Kinder ab, zufrieden mit sich, weil ihr das Abgeben nicht nur kein Opfer, sondern sogar ein Bedürfnis ist. Wer wollte so gemein sein zu behaupten, ihr Bedürfnis, Georgs Aufmerksamkeit auf die Kinder zu lenken, sei weniger ein Beweis für großherzige Mütterlichkeit als vielmehr Ausfluß einer Eitelkeit, der ein Part als jugendliche Gespielin nicht bedeutend genug ist? Wer könnte so herzlos sein, sie durch den Einwurf zu beunruhigen, Georg zähle möglicherweise zu den
zahlreichen Männern, denen eine
jugendliche Gespielin mehr bedeutet als die Mutter ihrer Kinder? Manchmal hat Daniela den Eindruck, er ist sicher falsch, aber sie kann ihn nicht immer abwehren , daß Georg die Kinder bloß in Kauf nimmt, statt wie sie die Krönung ihrer Liebe und einen Beweis für ihre Zusammengehörigkeit in ihnen zu sehen. Deswegen ist Daniela erleichtert, wenn Georg den Familienvater herauskehrt. Sie merkt daran, daß ihr falscher Eindruck wirklich falsch ist und daß Georg ihre Beziehung genauso ernst nimmt wie sie. Paß nur auf, daß er dich nicht auch austauscht! hat Danielas Vater sie scherzend gewarnt, als er von Georg erfahren hat. Vielleicht hat diese Bemerkung mit dazu beigetragen, daß Daniela manchmal fürchtet, Georg könnte ihr Zusammensein weniger verbindlich auffassen als sie. Gewiß, ihr Vater hat leichthin gesprochen, aber daß er, der Daniela doch liebt, überhaupt auf die Idee gekommen ist, ein anderer Mann könnte sie als austauschbar betrachten, hat Daniela zu denken gegeben. Daniela weiß natürlich, daß sie nicht austauschbar ist. Sie und austauschbar! Sie ist aus angesehenem Haus. Sie ist kultiviert, gebildet und, wie sie immer wieder zu hören bekommt, bildhübsch. Sie ist um fünfzehn Jahre jünger als
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Agnes und könnte spielend Christas Tochter sein. Der Mann, der es allen Ernstes wagen würde, mit ihr umzuspringen, müßte erst geboren werden. Phhh! Daniela brachte Georg zum Gartentor, als er das Haus verließ. Geh hinein, du wirst dich erkälten! sagte Georg, denn es war windig. Daniela ging nicht hinein. Sie findet, daß kleine, liebevolle Gesten wichtig sind in einer Ehe. Georg zum Gartentor zu bringen ist eine kleine, liebevolle Geste und verschafft ihr außerdem für Minuten die Illusion, ebenfalls wegfahren und das schmutzige Geschirr, das umherliegende Spielzeug und die ungemachten Betten zurücklassen zu können. Als Daniela und Georg aus dem Haus traten, bewegte sich am Nachbarhaus der Küchenvorhang. Sie paßt schon wieder auf! sagte Daniela. Wer? fragte Georg. Die Nachbarin! erklärte Daniela. Georg klopfte ihren Hintern. Werd mir bloß nicht paranoid, du! sagte er lachend. Verabschiedung am Gartentor. Georg beugte sich zu Daniela, und Daniela spürte plötzlich das panische Verlangen, sich festzusaugen an seinen Lippen, damit er bei ihr bleiben müßte. Zumindest wollte sie den Moment hinauszögern, da er sie allein zurücklassen würde, allein mit zwei plärrenden nein, falsch: mit zwei hilflosen Kleinkindern, inmitten von schmutzigem Geschirr und Spielzeughaufen, ohne Schutz vor der Nachbarin hinter ihrem Küchenvorhang. Ich geh mit dir bis zum Wagen! sagte sie. Kleine, liebevolle Gesten erhalten die Ehe. Unsinn! sagte Georg streng. Schau, daß du hineinkommst. Vielleicht steckt Mäsi gerade das Haus in Brand. Daniela ging zurück zum Haus. Genau davor hatte sie Angst: feststellen zu sollen, ob Mäsi das Haus in Brand steckte, und gegebenenfalls was dagegen unternehmen zu müssen. Mäsi hat sich wieder beruhigt. Zuerst hat sie gekreischt und getobt, weil Daniela sie nicht mit dem Waschpulver spielen ließ. Nun liegt sie bäuchlings auf dem Kinderzimmerteppich, um sich einen wüsten Haufen von Bausteinen, Puppengeschirr, Stofftieren und Buntstiften, und bearbeitet einen Klumpen Knetmasse. Ihre Augen sind rot vom Weinen und ihre Wangen rotzverschmiert.
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Daniela betrachtet sie erschöpft. Sie ist unglücklich. Sie fühlt sich als pädagogische Niete. Sie fühlt sich immer als pädagogische Niete, wenn Mäsi gebrüllt und sie mit Fäusten bearbeitet hat, mit Fäusten, die Daniela daraufhin abfing und umklammerte, so fest, daß Mäsi jetzt einen blauen Fleck am Handgelenk kriegt. Es irritiert Daniela, welchen Widerwillen Mäsi, ehrlich gestanden, in ihr erweckt, wenn sie schreit und geifert mit verzerrtem Gesicht. Daniela hat immer geglaubt, daß eine Mutter ihr Kind allezeit und unbeirrbar mit den Augen der Liebe sieht. Aber wenn Mäsi sich aufführt wie ein erbitterter Feind, dann Steigt eine unheimliche Kälte in Daniela hoch, und sie schaut Mäsi ohne jedes Erbarmen an, ihre dicken Backen, die zu Schlitzen zusammengekniffenen Augen, die stämmigen, stampfenden Beine. Daniela schämt sich, weil sie Mäsi in solchen Augen blicken häßlich findet und weil es sie sogar mit Genugtuung erfüllt, daß die tobende Mäsi mit Häßlichkeit bestraft wird für ihr Toben. Während Mäsi knetet, packt Clemens die Hortensie auf der Fensterbank an Blättern und Blüten und zerrt sie aus dem Übertopf. Der Übertopf fällt herunter, Erdklumpen purzeln zu Boden. Daniela wirft die Schmutzwäsche von sich, die sie zur Waschmaschine tragen wollte, und stürzt hin. Mäsi kommt angetrabt. Jetzt mußt du ihn aber auch hauen! verlangt sie. Ich haue doch nicht! behauptet Daniela. O ja. Mich schon. Mich hast du gehaut! Mäsi nickt ernsthaft zur Bekräftigung ihrer eigenen Worte. Gar nicht wahr, sagt Daniela mit Unbehagen. Du hast mir aber weh getan! Mäsi hält Daniela ihr Handgelenk hin. Daniela küßt es ungeschickt. Clemens will ebenfalls geküßt werden, doch Mäsi schubst ihn beiseite. Er fällt und stößt sich die Nase an den Bausteinen. Daniela nimmt ihn hoch, um ihn zu trösten. Jetzt heult Mäsi los: Den Clemens haust du nie! Den Clemens trägst du herum! So früh muß Mäsi erfahren, daß die Welt ungerecht ist. Für Mäsi ist Daniela die Welt. Wäre Daniela nicht ungerecht, sähe für Mäsi die ganze Welt gerechter aus.
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Ist Daniela ungerecht? Mäsi empfindet es offenbar so. Das bedrückt Daniela. Wäre Daniela für Mäsi nicht die Welt, müßte Daniela jetzt nicht so bedrückt sein. Bedrückt es Daniela, daß sie für ihre Tochter derart wichtig ist? Und rundherum ungetane Arbeit. Die Betten sind noch immer nicht gemacht. Der Geschirrspüler sollte leergeräumt werden. Die Badewanne hat einen Schmutzrand, die Fenster sind staubgesprenkelt, im Bidet liegt eine Seidenbluse, die darauf wartet, von Hand gewaschen zu werden, an Clemens' blaugestreifter Latzhose fehlen zwei Knöpfe, und Georg hat gestern gefragt, ob Daniela die Tulpenzwiebeln noch immer nicht ausgesetzt hat. Daniela kommt ihren Haushaltspflichten nicht nach! Daniela kommt ihren Haushaltspflichten mit der Arbeit nicht nach. Die Haushaltspflichten galoppieren vorneweg, und hinterdrein japst Daniela und droht ihnen vergeblich mit Erledigung. Wieso denn nur? Wieso ist Daniela unfähig, ihre Haushaltspflichten einzuholen und sie streng ins Geschirr einer strikten häuslichen Ordnung zu zwingen? Was würde Daniela erst tun, wenn sie nicht bloß
zwei
Kinder
hätte,
sondern
sechs
wie
die
adeligen
Einrichtungsberaterinnen, die in Hochglanzmagazinen das neue Bild der Frau repräsentieren? Hausarbeit ist eine Lappalie. Warum schafft Daniela die läppischen Handgriffe nicht, die das Dickicht ihrer wild wuchernden unerledigten Arbeiten lichten würden? Ich höre immer waschen! sagt Georg bei Gelegenheit. Gewaschen wird von der Waschmaschine. Wie wahr. Warum hat Daniela die Schmutzwäsche nicht in
die
Waschmaschine einschweben lassen, während sie Clemens hochgehoben hat, um ihn zu trösten? Daniela stopft erst Clemens in Mantel und Schuhe und dann Mäsi. Während sie Mäsis Mantel schließt, versucht Clemens, sich seinen vom Leib zu reißen. Noch zwei Knöpfe ab. Zum Glück ist der Reißverschluß heil geblieben. Das Einnähen neuer Reißverschlüsse stellt eine für Daniela unlösbare Aufgabe dar, was wiederum Georg vor ein unlösbares Rätsel stellt. Georg hat sich durch all die Jahre hindurch die Meinung bewahrt, daß das menschliche Weibchen
mit
einem
instinktiven
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Wissen
um
das
Einnähen
von
Reißverschlüssen zur Welt kommt. Das Bewahren dieser Meinung muß Georg viel Beharrlichkeit gekostet haben, denn weder seine Mutter noch Agnes, seine zweite Frau, können auf Anhieb eine Nähnadel von einem Krummsäbel unterscheiden. Stopft also Daniela Clemens in seinen Mantel. Dann stellt sie den Kinderwagen vors Haus und setzt Clemens hinein. Danach holt sie ihr Einkaufswägelchen aus dem Abstellraum. Mäsi hilft ihr eifrig: Sie entwindet Daniela das Wägelchen und schrammt damit die Eingangstür. Leichtfüßig ist Daniela früher durch den Tag geeilt. Schnell hat Daniela früher das Einkaufen erledigt gehabt. Gelegentlich erinnert sie sich an ihre einstige Leichtfüßigkeit wie an einen der Träume, in denen sie fliegen kann. Daniela hat es sich idyllisch vorgestellt, eine junge Mutter zu sein. Sie sah sich ausgelassen mit ihren Kindern tollen. Sie sah sich geschäftig durch die Straßen schreiten, blankäugige Kinder neben sich, die Bewunderung wie eine Schleppe hinter sich herzogen. Sie sah sich mit ihren Kindern auf einem blumig gemusterten Sofa sitzen und aus Basteibögen kleine Mädchen in Rüschenkleidern und kleine Jungen in Matrosenanzügen ausschneiden, als spielerische Verdoppelung des kleinen Mädchens und des kleinen Jungen neben sich. Sie sah sich und die Kinder von honigfarbenem Licht umflossen, und in ihrer Vorstellung duftete es nach frischgebackenem Gewürzkuchen. Sie sah Georg, wie er in das friedliche Zimmer trat und augenblicklich auflebte. Tatsächlich jedoch platzt Georg in schrille Raufhändel zwischen Mäsi und Clemens, und sein Gesicht zerknittert auf der Stelle. Es riecht nach Gurkenschalen, Erbrochenem und Kinderpoposalbe. Statt zu tollen kämpft Daniela
mit
lehmverkrusteten
Schuhen,
Fettspritzern
auf
den
Küchenschränken und einem sperrigen Staubsauger. (Ich höre immer staubsaugen, sagt Georg. Wieso mußt du staubsaugen? Ich denke, dazu haben wir einen Staubsauger.) Und sie kämpft mit Mäsi, die nicht ins Bett, und mit Clemens, der sein Birnenkompott nicht essen will. Einmal hat Daniela einen Gewürzkuchen gebacken. Die Kinder spuckten ihn aufs Tischtuch. Georg kaute endlos auf einem Bissen herum und zerstocherte das restliche Stück auf seinem Teller, freudlos.
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Diesmal bewegt sich kein Küchenvorhang, als Daniela mit den Kindern weggeht. Die Nachbarin steht am Gartentor und späht in ihren Briefkasten. Sie steckt in einem Jogginganzug von giftigem Türkis. Nie hätte in Danielas früherer Nachbarschaft jemand einen solchen Jogginganzug angehabt. Dort, woher Daniela kommt, trägt man Naturfaser in gedeckten Farben und silberne Strähnchen statt rundum gelb gefärbter Haare wie die jetzige Nachbarin. In den Haushalten von Danielas Eltern haben resolute bezahlte Kräfte die Arbeit im Griff. Schmutzränder erblassen noch im Entstehen, und kein abgerissener Knopf entgeht dem Annähen. Du bist ein ganz schön verwöhntes Balg! sagt Georg oft, scheinbar zärtlich neckend. Er sagt es, als müsse ihm Daniela dankbar sein, daß er sie einem für ihr Seelenheil schädlichen Parasitendasein entrissen hat. Georg mag kein Personal im Haus. Abgesehen von den hohen Kosten sind ihm fremde Leute daheim zuwider, und außerdem, so sagt er, ist es ihm peinlich, sich von einer eigens dazu abkommandierten Weibsperson bedienen zu lassen. Er würde sich schämen, sagt er, einen Menschen zum Zweck des Hinter-ihm-herPutzens anzuheuern. Vor Daniela schämt er sich nicht, das ist etwas anderes, und dann muß Daniela ja auch gar nicht hinter ihm herputzen, weil er sowieso den ganzen Tag außer Haus ist. Weil aber Daniela ein verwöhntes Balg ist, hat sie durchgesetzt, daß wenigstens einmal in der Woche Frau Schwarzinger aus der Nachbarschaft kommen darf, um ihr vier Stunden lang gegen Bezahlung zur Hand zu gehen. Georg hat sich allerdings ausbedungen, daß er Frau Schwarzinger nicht begegnen muß. So schützt er seine Instimsphäre und bewahrt sich vor Herrschaftsgesten, die ihm verhaßt sind. Daß Georg in seiner Firma Personal beschäftigt, ist keine Herrschaftsgeste, sondern notwendiges Delegieren. Hausarbeit an Außenstehende zu delegieren ist nicht notwendig. Seinen persönlichen Krempel soll gefälligst jeder selber erledigen. Daß Georg seinen persönlichen
Krempel
an
Daniela
delegiert,
ist
ebenfalls
keine
Herrschaftsgeste, sondern eher ein Vertrauensbeweis. Sie darf sich in seiner Intimsphäre bewegen, weil er mit ihr intim ist. Daniela hat den Verdacht, daß Frau Schwarzinger Georg für arrogant hält, weil er es so sorgfältig vermeidet, im Haus mit ihr zusammenzutreffen. Und
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sicher hat er noch nie, wenn sie ihm im Ort über den Weg gelaufen ist, ein paar freundliche Worte an sie gerichtet. Obwohl Daniela Georg auf Frau Schwarzinger mehrmals aufmerksam gemacht hat, kann Georg die Gesichter der Nachbarinnen nicht auseinander halten. Er hastet an allen Menschen gleich zerstreut vorbei und grüßt kaum. Manchmal schwärmt Georg vor Bekannten über ihr Leben abseits der Großstadt. Viel humaner! sagt er. Die Leute haben noch Zeit für einen Plausch. Da kennt einer den anderen. Der Briefträger grüßt dich, und am Bahnschalter kriegen wir Kredit, falls wir unser Geld vergessen haben sollten. Daniela weiß nicht, wie Georg das herausgefunden hat, denn er fährt nie mit der Bahn. Leider braucht er ja ein Auto, um zu seinen Baustellen zu kommen. Daniela zuckelt dahin, Mäsi neben sich, die ihr, in ihrem Bestreben, sich nützlich zu machen, in einem fort das Einkaufswägelchen gegen die Knöchel drischt. Clemens bäumt sich in seinem Sitz unter Protestgeschrei, weil er ebenfalls zu Fuß gehen möchte. Daniela, in ihre Kinder verstrickt, kommt sich vor wie ein groteskes Tier, dem seine Gliedmaßen nicht gehorchen. Daniela ist eine gute Mutter, sie fühlt sich eins mit ihren Kindern. Daniela ist vielleicht eine gute Mutter, aber sie ist keine gute Ehefrau. Gute Ehefrauen bewahren sich eine verführerische Weiblichkeit. Daniela zuckelt dahin und lockt vermutlich nicht einmal einen Hund hinter dem Ofen hervor. Ihre Haare sind nicht frisch gewaschen! Als sie an sich hinunterblickt, entdeckt sie Flecken auf ihrem Parka! Clemens hat seine Bananenhände an ihm abgewischt. Daniela hat nicht geübt, sich mit strähnigen Haaren und fleckiger Kleidung zu mögen. Wie soll Georg freudigen Herzens abends zu ihr heimkehren, wenn sie selber sich nicht als Grund für eine freudige Heimkehr zu betrachten vermag? Daniela versucht auszuschreiten. Öfters hat sie den Verdacht, daß ihr Leben leichter wäre mit einem Auto. Aber Georg hat natürlich recht: Man kann nicht dauernd vom Umweltschutz reden und dabei mit dem Auto durch die Gegend kurven. Vor allem dann nicht, wenn man in einem kleinen Ort lebt, wo man bloß bis zur Hauptstraße gehen muß und dann die Hauptstraße hinunter bis zum
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Bahnübergang, um zum Supermarkt zu gelangen. Hier wäre es geradezu lächerlich, mit dem Auto zum Einkaufen zu fahren. Die anderen Frauen fahren zwar mit ihren Autos vor und laden dann das Mineralwasser gleich kistenweise in den Kofferraum. Viele kaufen überhaupt nicht im Ort ein, sondern im Einkaufscenter zehn Kilometer weiter, wo es Großmärkte gibt, Boutiquen, einen Kinderspielplatz mit Rutsche und einem Drive-inMcDonald's. Die meisten Leute im Ort haben eben weder Geschmack noch ein Umweltbewußtsein. Georg braucht wie gesagt das Auto bedauerlicherweise beruflich. Er haßt das Autofahren mittlerweile, sagt er. Er wäre froh, wenn er wie Daniela auf ein Auto verzichten könnte. Die Bahnschranke ist zu wie gewöhnlich. Während Daniela mit den Kindern davorsteht und wartet, beginnt Clemens mit hochrotem Kopf zu drücken. Hoffentlich hält die Windel dicht. Mit leichtem Ekel denkt Daniela daran, wie verschmiert Clemens' Popo sein wird, bis sie wieder zu Hause sind. Daniela ekelt sich rasch. Zu rasch, behauptet Georg, der Danielas Ekelschranke gefährlich nahe an der Grenze zur Neurose vermutet. Daniela ekelt sich vor Clemens' kackeverschmiertem Hintern und vor ihrem Küchenausguß, wenn Frau Schwarzinger das Wasser hineinschüttet, mit dem sie den Boden aufgewaschen hat. Andere Mütter lecken den Löffel ab, mit dem sie ihrem Baby Speisereste vom Kinn geschabt haben, Daniela schwemmt ihn verstohlen unter der Wasserleitung, verstohlen, weil sie ihre Unfähigkeit, sich an den eingespeichelten Essensresten zu delektieren, für einen Mangel an Mutterliebe hält. Der Supermarkt ist groß, hell und trostlos. Andere junge Mütter wandern zwischen den Regalen umher. Sie kennen und duzen einander, denn viele von ihnen sind hier aufgewachsen und miteinander zur Schule gegangen. Außerdem treffen sie regelmäßig bei Sport und Pfarrveranstaltungen zusammen. Den meisten stehen resolute, tüchtige Omas zur Verfügung, die für die ganze Familie kochen, die Wäsche bügeln und die Enkel beaufsichtigen, während die jungen Mütter
turnen oder in einen
Seidenmalkurs gehen. Obwohl Daniela sich keine dieser Frauen als ihre
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Mutter vorstellen mag, fände sie es erleichternd, wenn sie Mäsi und Clemens gelegentlich ebenfalls einer solchen Oma anvertrauen könnte. Anfangs hoffte Daniela, Frau Schwarzinger würde sich vielleicht zur Ersatzgroßmutter umfunktionieren lassen. Aber diese Hoffnung erwies sich als unrealistisch. Frau Schwarzinger trifft keinerlei Anstalten, Daniela oder die Kinder auch nur im geringsten zu bemuttern. Ohne das geringste Interesse für Danielas Tagesverfassung, die Kinder nach Tunlichkeit übersehend, geht Frau Schwarzinger durchs Haus und den vereinbarten Tätigkeiten nach. Den zwischenmenschlichen Kontakt beschränkt sie darauf, Daniela klagend ihre Kreuzschmerzen und ihre angespannte finanzielle Lage zu beschreiben. Zuerst hat Daniela sich erwachsen und gefordert gefühlt als Frau Schwarzingers Grabstein. Aber mittlerweile erfüllen sie die immer gleichen, lamentierend vorgetragenen Sätze, die resistent sind gegen Einwände, Vorschläge und Anregungen, mit einer Mischung aus Gereiztheit und Schuldgefühlen. Zugegeben, im Vergleich zu Frau Schwarzinger ist Daniela vom Schicksal unglaublich begünstigt, aber warum grollt Frau Schwarzinger Daniela und nicht dem Schicksal? Etliche der jungen Mütter haben Kinder, die mit Mäsi zusammen in den Kindergarten
gehen
(sofern
er
nicht
wie
heute,
wegen
eines
Fortbildungsseminars der Kindergärtnerinnen, geschlossen ist). Manche nicken Daniela inzwischen freundlich zu, wenn sie grüßend in den Vorraum tritt, der Mäsis Gruppe als Garderobe dient. Andere blicken weg, mit unnahbarer Miene, Danielas Versuche, wenigstens mit den Freundlichen ins Gespräch zu kommen, werden meist einsilbig abgeschmettert. Um so lebhafter tratschen die jungen Frauen die Eingeborenen nennt Daniela sie bei sich, spöttisch, in dem (übrigens vergeblichen) Bemühen, Spott als Schutzschild zu verwenden , um so lebhafter tratschen die Eingeborenen untereinander. Besonders lebhaft und gesellig gebärden sich diejenigen, die wegschauen, wenn Daniela grüßt. Aus
ihren
Unterhaltungen
weiß
Daniela
über
die
Sport
und
Pfarrveranstaltungen Bescheid. Und obwohl sie keine Sehnsucht verspürt, im Turnsaal der örtlichen Volksschule über Kasten zu hüpfen oder sich auf katholischen Trachtenkränzchen zu vergnügen, fühlt sie sich angesichts der
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schwatzenden Frauen schmerzlich ausgeschlossen, wie damals, wenn sie die Schule wechselte und in der neuen Klasse auf festgefügte Cliquen stieß, die der Außenseiterin ihre Zusammengehörigkeit demonstrierten. Während Daniela sich die Ladengänge entlangschiebt, beschließt sie, daheim sofort eine Freundin anzurufen. Vielleicht kann Sophie sie besuchen kommen oder Marlene oder Nina. Als Daniela nach ihrer Heirat aus der Stadt wegzog, haben Nina und Marlene und Sophie und alle anderen beteuert, daß sie den Kontakt mit ihr nicht abreißen lassen würden. Damals hat Daniela sich ein von fröhlichem Lärm erfülltes, gastfreundliches Haus als das ihre vorgestellt, voll mit spielenden Kindern und geistreich scherzenden Erwachsenen an einer langen Tafel, die sich biegen würde unter der Last ländlicher Genüsse, unter Gemüse aus dem eigenen Garten, selbst eingelegten Früchten, Pasteten, frisch aus dem Ofen, und Terrinen nach speziellen Rezepten. Kräuter wollte Daniela pflanzen und bunte Bauernblumen, Nina wollte ihr dabei helfen, und Marlene meldete sich zum Brotbacken und Babysitten an. Inzwischen hat Marlene selbst ein Kind, Jonathan. Zwar hat sie auch ein Auto, aber die Fahrt von ihr zu Daniela dauert vierzig Minuten. Das ist zu lang für häufige Treffen. Danielas wie Marlenes Tage sind eingeteilt, zerteilt in schmale Scheiben Zeit, die sich bemessen nach den Bedürfnissen der Kinder und den Erfordernissen des Haushalts, zu schmal, als daß längere Besuche (für die allein längere Autofahrten sich lohnen würden) darin Platz fänden. Um neun bringt Daniela Mäsi in den Kindergarten, um halb zwölf muß sie sie holen. Dreimal in der Woche geht Marlene mit Jonathan zur Gymnastik. Wenn Marlene vormittags zu Daniela fährt, kommt Jonathan um seine Mittagsruhe, denn in fremden Betten schläft er nicht. Nachmittags gerät sie beim Heimfahren in den Stau. Bügelwäsche bleibt liegen. Nein, da hat
Clemens
einen
Kontrolltermin
beim
Kinderarzt.
Mäsi
brütet
möglicherweise was aus und soll Jonathan nicht anstecken. Im Auto ist Jonathan grundsätzlich unleidlich, deshalb sind Autofahrten mit Jonathan für Marlene ein Streß. Wo ein Wille, da ein Weg! pflegt Georg zu predigen, aber der Weg von Marlene zu Daniela ist voll mit Hindernissen.
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Wo ein Wille, da ein Weg? Kann schon sein. Irgendwo gibt es vielleicht nach wie vor einen Willen Marlenes samt dazugehörigem Weg, doch leider endet der Weg vorzeitig wegen erschöpft zusammengebrochenen Willens. Keuchend liegt Marlenes Willen platt auf dem Weg, der Daniela nicht erreicht. Wenn Marlene tatsächlich einmal da war, ist Daniela hinterher geschafft. Marlene tritt dann müde eine dreiviertelstündige Heimfahrt an, und Daniela kratzt an den Wänden, auf die Jonathan großzügig Plastillin verteilt hat. Nicht Marlene. Marlene nicht. Daniela sucht nach Kinderstrumpfhosen. Bis vor kurzem wäre sie nie auf die Idee gekommen, Kleidungsstücke im Supermarkt zu kaufen. Sie hat nicht einmal gewußt, daß Supermärkte auch Kleidungsstücke führen. Supermärkte waren langweilige Orte, an denen man langweilige Notwendigkeiten wie Mehl, Klopapier und Waschpulver erstand. Bereits Zahnbürsten war Daniela gewohnt, aus der Apotheke zu beziehen. Daß in Supermärkten nicht nur Zahnbürsten zu finden sind (freilich nicht die Spezialzahnbürsten, die Daniela früher benützte), sondern auch Slips, Hemden und Socken, hat Daniela jahrelang nicht einmal wahrgenommen, so fern lag ihr die Vorstellung, in Läden dieser Art einen Bedarf zu decken, den sie vor absehbarer Zeit noch als gehoben eingestuft hätte. Inzwischen greift sie zu, wo immer sie T-Shirts oder Strumpfhosen entdeckt, die Mäsi oder Clemens halbwegs zu passen versprechen. Die beiden zerreißen viel, und Fahrten in die Stadt zu den schicken Kinderboutiquen, die sie als Orte künftigen Konsums lustvoll musterte, lange bevor sie Kinder hatte sind selten und mühsam. Danielas gehobene Bedürfnisse sind tief gesunken. Wenn nicht Marlene, wer dann? Nina war anfangs ein paarmal da, hat aber seit langem zuviel um die Ohren, als daß sie herauskommen könnte. Als sie das letztemal auftauchte, trug sie ein weißes Leinenkostüm, über das Mäsi Kakao schüttete. Nina wollte mit Daniela damals über ihren neuen Lover schwatzen, doch ihre Schilderungen scheiterten am Gebrüll von Clemens, der an diesem Nachmittag eine Ohrenentzündung bekam. Erstaunlicherweise sprach Nina dennoch, schwärmerischen Tons, von den Kindern, die sie sich wünschte, und als deren Vater sie den neuen Lover in Betracht zog. Erstaunlicherweise?
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Gar nicht erstaunlich. Nina geht selbstverständlich davon aus, daß ihre Kinder wetterfeste Ohren haben und zierlich am Kakao nippen werden; auch Daniela hat brüllende und tortenzermanschende Kinder früher ruhigen Sinns als eine Sorte Nachkommen betrachtet, die nur andere Leute kriegen, Sophie hat Prüfungen. Und was das von heiterem Lärm erfüllte gastfreundliche Haus betrifft, so ist Georg froh, wenn er abends, nach einem anstrengenden Tag im Büro, auf lauten Baustellen und im zähflüssigen Straßenverkehr, nicht auch noch daheim auf fremde Menschen trifft, die womöglich von ihm unterhalten werden wollen. Georg hat es ja nicht leicht. So angestrengt im Beruf. Und diese vielen Verpflichtungen. Agnes könnte wirklich. Matthias brauchte nicht unbedingt. Was Agnes könnte und Matthias nicht brauchte, fällt Daniela auf Anhieb nicht ein, aber daß Agnes und Matthias wenig gewillt sind, auf Georg Rücksicht zu nehmen, ist offensichtlich. Agnes verdient doch nicht schlecht. Sicher, Matthias ist auch Georgs Kind. Und selbstverständlich gönnt Daniela Agnes und Matthias von Herzen alles Gute bloß: Während Daniela sich um Georg Sorgen macht, zeigen Agnes und Matthias keinerlei Anzeichen, Georg schonen zu wollen, und das lieblos zu finden, steht Daniela wohl zu. Matthias kam neulich an und bettelte um eine schwarze Lederjacke. Seine Mutter wolle sie ihm nicht kaufen, weil er ohnedies gleich wieder rausgewachsen sei. Kannst nicht du, Papa? Georg fand Agnes' Haltung vernünftig und nahm sie ebenfalls ein. Was ist denn los, was ärgert dich? fragte Georg gereizt, als Daniela den Kopf schüttelte. Mehr, als daß wir Eltern vernünftig bleiben, kannst du wirklich nicht verlangen. Klar, daß Matthias es wenigstens versucht. Das ist sein gutes Recht als Kind. Daniela gibt es jedesmal einen Stich, wenn Georg von sich und Agnes als von Matthias' Eltern spricht, also von einem zumindest in dieser Hinsicht untrennbaren Paar. Tatsächlich ärgert sie sich weniger über Matthias als vielmehr über Agnes, die Matthias auf Georg losgelassen, wenn nicht gar ermuntert hat, Georg anzuschnorren, statt ihm von vornherein klarzumachen, daß für schnellebige Luxusartikel auch der Vater nicht zuständig ist.
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Zu allem Überfluß schwankt Georgs Entschluß inzwischen. Vielleicht kauf ich ihm die schwarze Kluft ja doch, sagte er gestern zu Daniela. Wenn das ein Herzenswunsch ist! Ich hab' mir auch die Breitling gegönnt. (Seit Georg sie besitzt, weiß Daniela, daß das eine Uhr ist. Georg sammelt Uhren. Daniela, die lieber Zeit sammeln würde, hat früher nie Uhren getragen. Uhren sind die natürlichen Feinde der Zeit. Nimm eine Uhr zu dir, und sie frißt dir unter der Hand die Zeit weg. Inzwischen hat Georg Daniela mit einer Jaeger le Coultre beschenkt, die Daniela als Schmuckstück außerordentlich gefällt, weswegen sie sie nicht bloß Georg zuliebe trägt. Trotzdem ist auffällig, daß Daniela keine Zeit mehr hat, seit ihr die Jaeger le Coultre gehört.) Matthias soll also eine schwarze Lederjacke kriegen, aber daß Daniela für Mäsi Laura-Ashley-Kleider kauft, will Georg nicht. Mäsi wälze sich nur im Sand damit. Jeans wären viel praktischer für sie. Daniela hat sich immer vorgestellt, daß Georg stolz sein würde auf eine besonders hübsch ausstaffierte kleine Tochter. Georg ist es jedoch anscheinend völlig gleichgültig,
wie
Mäsi
aussieht,
ja,
er
zieht
im
Zweifelsfall
eine
geschlechtsneutral angezogene Mäsi einer in Kleidchen vor; Volants und Lackschuhe und bunte Spangen in den Locken bezeichnet er als affig. Wie hat er sich eigentlich seinerzeit Anna gegenüber verhalten? Wenn man Christas Erzählungen glaubt, dann war Georg der bezauberndste Stiefvater, den man sich denken kann. Aber vielleicht sollte man Christa nicht alles glauben? Georg will Christa übrigens sein Auto abtreten, wenn er sich demnächst ein neues kauft. Ihr alter Kübel wird es nicht mehr lange machen, sagt er. Christa braucht ein Auto, sagt er, weil es ihr schließlich nicht so gutgeht wie Daniela, der, wenn es nötig ist, ein chauffierender Ehemann samt Wagen zur Verfügung steht. 4. Georg kommt ins Büro, und die Sekretärin nennt ihm eine lange Reihe von Leuten, die nach ihm gefragt haben. (Er war auf einer Baustelle und
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demzufolge auch über sein Autotelefon nicht erreichbar.) Eine Frau Hirt hat dreimal angerufen, sagt sie. Sie möchte dringend zurückgerufen werden. Sie sagt es in einem Ton, den Georg für sachlich zu halten beschließt. Ist gut, erwidert er knapp und verschwindet in seinem Zimmer. Er könnte Anweisung geben, Frau Hirt nicht durchzustellen, aber das wäre vielleicht unklug, weil sie auf jeden Fall versuchen wird, ihn zu erreichen und, wenn gar nichts anderes klappt, womöglich auf die Idee kommt, zu Hause anzurufen. Georg traut es ihr mittlerweile zu. Er hat sich kaum gesetzt, als ihn das befürchtete Liebesgeflüster auch schon ereilt, das zunächst weder ein Flüstern ist noch nach Liebe klingt, sondern bloß nach Vorwurf (aber reiche einschlägige Erfahrungen haben Georg gelehrt, daß Liebe und Vorwurf nahe beieinander liegen, wenn nicht gar untrennbar miteinander verbunden sind). Ach. Es gibt dich also noch. Warum sollte es mich nicht geben? fragt Georg sanft. Weil du es nicht der Mühe wert findest, mich zurückzurufen. Ich bin in diesem Augenblick ins Büro gekommen, erwidert Georg ruhig. Veronikas Stimme bleibt schneidend. Tagelang nichts gehört, kein Lebenszeichen, gar nichts. Georg schließt die Augen und läßt den Wortschwall vorüberrauschen. Worum geht's? fragt er in die erste Pause hinein. Ich stecke mitten in der Arbeit, weißt du. Stille. Ein verzitternder Seufzer. Du bist so lieblos. Ich bin beschäftigt. Ich hab' gedacht, wir sehen uns. Ja, sicher. Ach, und wann? Ich rufe dich an. Das sagst du seit drei Wochen. Gewiß, und wenn sie nicht unbelehrbar wäre, würde sie den richtigen Schluß daraus ziehen. Das heißt, sie zieht ja den richtigen Schluß, aber sie will sich nicht damit abfinden, sie möchte von Georg hören, daß sie sich irrt, und wenn sie von Georg keinen Widerspruch zu hören bekommt, dann will sie
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zumindest protestieren gegen den zu ziehenden Schluß, statt ihn still für sich zu behalten im Interesse ihres Stolzes. Veronikas Stolz scheint robust und frostbeständig, ihre selbstbewußte Hartnäckigkeit verblüfft Georg. Veronika tritt Georg so fordernd entgegen wie eine langjährige Ehefrau. Fordernder eigentlich, denn keine von Georgs Ehefrauen hat je diesen Rechenschaft heischenden, selbstverständlich besitzergreifenden Ton angeschlagen, den Veronika anschlägt. In der Tat ist Veronika eine langjährige Ehefrau, und zwar die eines Mannes, der ihr in blindwütiger Anbetung zugetan ist. Die unerschütterliche, kritiklose Bewunderung ihres Ehemannes hat Veronika größenwahnsinnig, leichtsinnig und undankbar gemacht. Nur so ist zu erklären, daß sie eine vorübergehende Schwäche Georgs umzumünzen trachtet in anhaltende Emotionen und daß sie meint, in Konkurrenz treten zu können zu Georgs schöner junger, kultivierter und loyaler Frau. Georg hört durchs Telefon etwas, das wie ein Schluchzen klingt. Komm, sagt er weich, sei kein Schaf. Georg glaubt von sich, daß ihn Frauentränen hilflos machen. In Wirklichkeit erfüllen sie ihn mit süßer Wollust, es schmeichelt ihm die Macht, die sie ihm zugestehen. Obwohl
er
Veronika
mit
ihrem
ältlichen
Mädchengesicht,
ihrem
geschrumpelten Mädchenkörper und ihrer unangebrachten siegesgewissen Koketterie für eine Eroberung hält, auf die stolz zu sein sich nicht lohnt, zögert er, ihr den Laufpaß zu geben. Die leidenschaftliche Anhänglichkeit, mit der diese eitle und selbstsüchtige Person ihr Wohlbefinden ausgerechnet in seine Hände legt, amüsiert und fasziniert ihn. Veronika ist ihm einerseits lästig und wird ihm andererseits zur immer lieber wahrgenommenen Möglichkeit, eine Bosheit auszuleben, die er nie in sich vermutet hätte. Je unverschämter sie allen Ernstes darauf besteht, einen Stellenwert zu haben in seinem Leben, desto mehr verachtet er sie für ihren Mangel an realistischer Selbsteinschätzung. Und je mehr er sie verachtet, um so mehr reizt es ihn, weiterhin mit ihr zu spielen, sie wegzustoßen und wieder einzufangen ohne Mühe, ihr Zappeln zu beobachten, ihr kopfloses Wegrennenwollen aus der Trostlosigkeit, in die seine Kälte sie stürzt, wissend, daß er sie gleich erneut in den Krallen halten kann, wehrlos, schutzlos einer Begierde ausgeliefert, die
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sie für Liebe hält, die aber vielleicht bloß Trotz ist, ein Unvermögen, aufzugeben. Weil sie sich nicht auszählen lassen mag, besteht sie darauf, ihn zu lieben. Wenn sie ihn übermäßig liebt, muß sie nicht mehr verantwortlich sein für ihr Verhalten. Da Georg sie verachtet, kann er seine Macht über sie auskosten ohne sonderlich schlechtes Gewissen. Ist er unfair zu ihr, so ist sie unfair zu ihrem Ehemann. Das schafft eine Parität in moralischer Fragwürdigkeit, die Georg entlastet. Vielleicht ist Georg ja überhaupt ein Werkzeug des gerechten Gottes, ausersehen, Veronika heimzuzahlen, was die ihrem sie liebenden Gemahl antut? Wie es scheint, träumt sie davon, daß Georg heftig eine ungestörte Zweisamkeit mit ihr wünscht, sie will die eine sein, mit der er übereinstimmt in harmonischem Gleichklang, eine tiefe, respektvolle Neigung erwartet sie sich von ihm. Pech für sie. Warmherzige Frauen, die ihn lieben, mit denen er sich versteht und die er respektiert (zumindest aus seiner Sicht), umgeben Georg bereits zur Genüge. 5. Christa: Christa ist liebevoll, friedfertig und warmherzig. Auch Christas Bildung ist von einer akademischen Prüfungskommission abgesegnet, aber man muß es nicht extra erwähnen, weil Christas mütterliche Autorität und Kompetenz ihren Behauptungen ausreichend Gewicht verleihen. Auch Christa ist tüchtig, aber nicht so penetrant tüchtig wie Agnes, sondern mehr selbstverständlich und nebenbei tüchtig. Christa ist nicht selbstmitleidig wie Agnes und keine Prinzessin auf der Erbse wie Daniela. Sie erhält sich klaglos selbst und braucht keine drei Telefonapparate in der Wohnung wie Agnes (bei der es eine Nebenstelle in der Küche und eine in Matthias' Zimmer gibt, obwohl der Hauptanschluß mit einem mobilen Gerät versehen ist), weshalb ihr Georg immer wieder gerührt Geld zusteckt. Christa liest die wichtigsten Romane der Saison, geht regelmäßig ins Theater und findet dennoch die Muße, Knoblauchzehen in Kräuteröl einzulegen. Wenn Georg seinerzeit bei
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Christa Husten und Fieber bekam, packte sie ihn ins Bett, kochte ihm Lindenblütentee mit Honig und bestand gelassen darauf, daß er sein Sekretariat seine Termine verschieben ließ. Daniela würde durchs Haus schusseln, den Arzt rufen, Georg vergeblich die Kinder fernzuhalten trachten und mit zittriger Hand dreimal täglich eine falsche Anzahl Tropfen über sein Bett verschütten. Agnes hat Tee gekocht, Tropfen gezählt, selber mit Sekretariat und Klienten telefoniert und Georg dabei unentwegt vorgeworfen, daß sie seinetwegen wichtige eigene Vorhaben versäumte. Hat Christa keine Fehler? Doch, diesen: Eines Tages war sie für Georg zu alt. Viktoria war von Anfang an dagegen gewesen, daß Georg eine ältere Frau heiratete. Christa ist um vier Jahre älter als Georg. Eine Frau, die um vier Jahre jünger ist als ihr Mann, ist zunächst gleichaltrig und später dann eine ältere Frau, die sich leider nicht so jugendlich erhalten hat wie ihr Gatte. Eine Frau, die um vier Jahre älter ist als ihr Mann, befindet sich in der gleichen Ausgangslage wie ein reifer Mann, der sich ein junges Mädchen anlacht, nur mit dem Unterschied, daß die Altersdifferenz zwischen dem reifen Mann und dem jungen Mädchen abnimmt, weil ja auch im reifen Mann ein großer Junge steckt, während das junge Mädchen kein junges Mädchen bleibt, so daß zum Schluß der Sechzigjährige seine vierzigjährige Frau mehr oder minder scherzhaft warnen darf: Wenn sie nicht besonders lieb zu ihm ist als Ausgleich für ihre entschwundene Jugend, wird er sich nach einer Jüngeren umschauen. Der Altersunterschied zwischen einer etwas älteren Frau und einem etwas jüngeren Mann hingegen potenziert sich mit den Jahren, so daß schließlich ein unvorstellbar breiter (und demzufolge unüberwindbarer) Graben zwischen den beiden entsteht. Hinzu kommt, daß der reife Mann das junge Mädchen meist zusätzlich durch wirtschaftliche Überlegenheit beeindrucken kann, während die reife Frau von achtundzwanzig
in
ihre
Verbindung
mit
dem
jungen
Mann
von
vierundzwanzig in der Regel nur ihre Reife einbringt und kaum Geld. Christa jedenfalls brachte, als sie den fünfundzwanzig Jahre jungen Georg mit reifen neunundzwanzig heiratete, kaum Geld in die Verbindung ein, sondern bloß ihre reife Mütterlichkeit, die sich nicht zuletzt in der Person ihrer damals sechsjährigen Tochter Anna dokumentierte.
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Für Georg, der gerade daranging, die ersten Sprossen der Karriereleiter zu erklimmen, war Christas mütterlicher Rückhalt in jenen Jahren hilfreich und wichtig, und insofern lag Viktoria falsch, als sie sich gleich zu Beginn abfällig über diese Verbindung äußerte. Erst später wurde Christa mütterlich in einem Ausmaß, das Georgs jugendlich dynamisches Image bedrohte. Präziser: Je mehr Georg sich ein jugendlichdynamisches Image erarbeiten mußte, statt sich einfach auf seine Jugend verlassen zu können, desto weniger konnte er es sich leisten, dieses Image durch Christas Mütterlichkeit zu gefährden. Christa ist vollbusig und schmalhüftig und hat rosige Wangen unter einer silbergrauen Lockenmähne. Christas Beschreibung fällt günstig aus, weil sie infolge ihres fortgeschrittenen Alters und ihrer Mütterlichkeit keine Konkurrenz darstellt. Nur in seltenen dunklen Stunden lächelt Christa ihrem Spiegelbild zu wie einer Verschwörerin und ballt die Faust gegen alle, die sich von ihrer fröhlichen, praktischen Bescheidenheit täuschen lassen und ihr nicht zutrauen, daß sie noch einmal eine wilde Leidenschaft für einen nichtsnutzigen Prinzen empfinden wird. Die Handlung: Christa wird heute mit Georg Mittag essen. Anna hat neue Fotos von den Kindern geschickt, die will sie ihm zeigen. Christa schlüpft aus ihrem Arbeitsmantel, trägt Lippenstift auf und fährt sich mit den Fingern durch die krausen Locken. Sie hat weniger gegessen in den letzten paar Wochen und braucht deshalb kaum den Bauch einzuziehen, als sie vor den Spiegel tritt. Christa hält keine grausamen Diäten, aber sie bremst ihre Kalorienzufuhr, wenn sie den Eindruck hat, aus dem Leim zu gehen. In letzter Zeit fällt es ihr immer schwerer zu bremsen. In einer Welt voll Bedrohungen und Katastrophen erscheint es ihr zunehmend unangemessen, Gedanken
an
einen
so
fragwürdigen
Begriff
wie
Übergewicht
zu
verschwenden. Christa neigt angesichts der bedrohlichen Weltlage nicht zur Verzweiflung wie Agnes. Aber gerade weil sie einen Sieg der Vernunft und des Anstands trotz allem für vorstellbar hält, mag sie sich nicht damit aufhalten, sogenannten Figurproblemen Beachtung zu schenken.
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Agnes, die selber dünn und knochig ist ob aus Veranlagung, Eitelkeit oder hypochondrischer Appetitlosigkeit, ist nicht zu klären, Agnes sagt, sie beneidet Leute, die Figurprobleme haben, weil Figurprobleme zwangsläufig bedeuten, daß diese Leute sich andere Probleme sparen. Man kann nicht gleichzeitig, behauptet Agnes, Figurprobleme wälzen und den Zustand der Welt problematisieren. Agnes sagt, sie möchte es ebenfalls fertigbringen, sich über Orangenhaut aufzuregen statt über menschliche Niedertracht und atomare Gefahren, und sie schätzt alle glücklich, die verbissen an Fitneßmaschinen
gegen
ihren
Körper
ankämpfen,
statt,
von
Hoffnungslosigkeit gelähmt, möglichen Katastrophen entgegenzustarren. Würde Agnes anders reden, wenn sie Orangenhaut hätte? Manchmal denkt Christa, Agnes sagt so was nur als Hinweis auf ihre glücklicherweise von Cellulitis verschonten Oberschenkel. Diesen Verdacht äußert Christa aber nicht, statt dessen äußert sie die Vermutung, daß das Kämpfen an Fitneßgeräten
möglicherweise
Resignation
vor
einer
vermeintlichen
Unfähigkeit ist, den Zustand der Welt zu verbessern; wer glaubt, sonst nichts ändern zu können, ändert wenigstens seine Kondition. Agnes schaut spöttisch. Christa weiß, Agnes hält sie für naiv. Christa wird gern für naiv gehalten, sie pflegt ihre Blauäugigkeit als Schutz vor dem Gefängnis jammervoller und düsterer Stimmungen. Christa tuscht ihre Wimpern. Arme Viktoria. Wenn sie vor einem Spiegel steht, zieht sie die Brauen hoch, klappt die Lider halb über die Augen und wölbt die Lippen, damit sich die Fältchen um den Mund straffen. Agnes behauptet, die halbgeschlossenen Augen hätten die Wirkung eines Weichzeichners. Viktoria werfe deshalb seit vielen Jahren jedes Foto von sich als schlechte Aufnahme verächtlich beiseite, weil keines ihr so schmeicheln könne wie das weichgezeichnete Bild, das sie sich selbst von sich macht. Anders als Agnes nennt Christa Viktoria nur in Gedanken Viktoria. Als Christa und Georg heirateten, war es üblich, zu seiner Schwiegermutter Mutti zu sagen. Alle ihre Freundinnen haben es so gehalten, deshalb sagte Christa zu Viktoria Mutti, ehe sie auch nur auf die Idee kam, über Sinn oder Berechtigung
dieser
Anrede
nachzudenken.
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(Schon
ihre
erste
Schwiegermutter hat Christa selbstverständlich Mutti genannt. Sie starb allerdings kurz nach Christas erster Hochzeit, so daß sich Christas MuttiSammlung immer in bürgerlichen Grenzen hielt.) Später wäre es Christa unfreundlich vorgekommen, Viktoria die töchterliche Zuneigung durch eine geänderte Anrede gewissermaßen zu entziehen. Während Christa sich schönmacht, kreist ihre Chefin mißtrauisch um den elektronischen Blutdruckmesser; ein frevelndes Kind hat ihn heute vormittag in Betrieb zu nehmen versucht, weswegen sie fürchtet, er könnte doch noch Erste Hilfe von einem Fachmann brauchen. Bis nachher! sagt Christa und verläßt beschwingten Schritts die Apotheke. Georg hat sie nie verstanden, aber sie gratuliert sich noch heute zu dem Entschluß, die Apotheke ihres Onkels seinerzeit nicht übernommen zu haben. Eine Goldgrube habe sie sausen lassen, sagten Familienmitglieder und Freunde. Und wenn schon! Genau das wollte Christa nicht: In einer Goldgrube sitzen und über ihre Schätze wachen. Christa macht, sobald ihr Dienst zu Ende ist, die Apothekentür hinter sich zu und ist frei. Die Chefin bleibt zurück, zählt die Kasseneinnahmen und entdeckt verärgert, welche Bestellungen verschlampt worden sind. (Nicht von Christa verschlampt, denn Christa ist zuverlässig und genau. Aber Mitarbeiterinnen wie Christa sind nicht die Regel.) Christa freut sich darauf, Georg zu sehen. Anna und Georg sind nach wie vor ihre nächsten Angehörigen, nie mehr nach ihrer Ehe mit Georg hat Christa sich einem Mann so stark verbunden gefühlt wie Georg. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, daß Christas Erinnerungen an Georg untrennbar mit ihren Erinnerungen an die kleine Anna zusammenhängen. Wenn Christa an Annas Kindheit denkt, muß sie auch an Georg denken, der Anna auf seinen Schultern reiten ließ, mit ihr Fangen spielte, neben ihr über den Christkindlmarkt trabte, Maroni mampfend wie sie. Georg sitzt bereits an einem Tisch, als Christa das italienische Restaurant betritt, in dem sie sich verabredet haben. Fesch siehst du aus! sagt er. Er ist aufgestanden und küßt sie auf die Wangen. Keusche Küsse sind das, glutlos, die es unvorstellbar erscheinen lassen, daß er sich Christa jemals in unkeuscher Absicht genähert hat. Küßten sie einander gar nicht, könnte man
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eher noch nachklingendes Begehren in ihre Distanz hineininterpretieren als in diese zivilisierten, freundschaftlichen Bussis. Christa ist es am Anfang nicht leichtgefallen, Georg zu umarmen wie ihren schwulen Friseur, ohne Anspruch auf Intimität und ohne Groll, aber eisern hat sie sich dazu gezwungen, Georg als guten Kumpel zu betrachten, wie es sich gehört. Das war sie ihrer Selbstachtung schuldig. Georg kommt ihr massiger vor als beim letztenmal, unter seinen Augen liegen Schatten. Lebst du gesund? fragt sie leichthin. Er grinst sie an. Sollte ich? Sie bestellt einen Campari Orange. Anna hat Fotos geschickt, berichtet sie. Ich weiß, erwidert Georg, mir auch. Christa wird warm ums Herz. Wie schön, daß Anna nach wie vor einen Vater an Georg hat! Solange Anna in inniger Beziehung zu Georg steht, so lange wird er auch von großer Bedeutung für Christa sein. Wenn man bedenkt, wie gleichgültig oft leibliche Väter ihre Kinder nach einer Scheidung fallenlassen, muß man das herzliche Interesse, das Georg Anna unbeirrt entgegenbringt, doppelt schätzen. Zweierlei sieht Christa als Ursache für Georgs unbeschwertes Verhältnis zu Anna an: Zum einen war sie sein erstes Kind und darum spannender für ihn als die nachfolgenden Kinder, die nicht mehr unerforschtes Land darstellten, sondern bloß eine sich wiederholende Erfahrung, zum anderen hat Christa Zuneigung für Anna nie so selbstverständlich eingefordert, wie die Mütter seiner leiblichen Nachkommen Zuneigung für ihre Kinder einfordern. Durch Anna und mit Anna entdeckte Georg eine neue Rolle, die er spielen durfte ohne die Last der ernsthaften Verpflichtung, die er als leiblicher Vater gehabt hätte. Christa verlangte nie zuviel von ihm. Während Agnes schäumte, als Georg mit Matthias um ihre Zuwendung wetteiferte, statt ihr bei seiner Pflege zu helfen, lächelte Christa gerührt, wenn Georg mit Anna durch die Wohnung tobte wie ein älterer Bruder. Agnes bringt Georgs vergleichsweise größeres Engagement für Anna sowie sein eher lahmes Interesse an Matthias, Mäsi und Clemens auf diesen
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Nenner: Als fürsorglicher Stiefvater steht Georg glänzend da; betreut er hingegen die leibliche Brut, läuft er Gefahr, daß ihm das bloß als die selbstverständliche Erfüllung gerechtfertigter Erwartungen angerechnet wird, also spart er sich diesbezügliche Bemühungen. Aber Agnes ist gehässig. Was treibst du so? fragt Christa in leichtem Konversationston. Sie ißt Antipasti, wozu allerlei Öliges gehört, während Georg bloß in grünem Salat mit Joghurtdressing stochert. Hat ihm Daniela zu verstehen gegeben, daß er nicht zu dick werden darf? Oder trachtet er aus eigenem Antrieb, sich für seine junge Frau in Form zu halten? Würde er sich auch Christa oder Agnes zuliebe grünen Salat mit Joghurt zumuten, wenn er noch an Christas oder Agnes' Seite lebte? Christa ist sich nicht schlüssig, ob sie einen leisen Stich von Eifersucht spürt, als sie Georg zusieht, wie er sich, möglicherweise für Daniela, kasteit, oder ob sie Schadenfreude empfinden soll. Am elegantesten wäre Mitleid. Vielleicht wird Christa Mitleid mit Georg haben. Unklar bleibt auch, was sich Christa als Antwort auf ihre Was treibst du so? Frage erwartet. Denkt sie, ein schaumig leichter Konversationston genügt, um Georg zu ebenso beiläufigen Geständnissen zu provozieren? Seit Jahren stellt Christa Georg Fragen im Mir kannst du's doch erzählen Stil. Schwebenden Tons signalisiert sie ihm, daß sie keinerlei Offenbarung seinerseits auf irgendeine Waagschale legen wird, aber noch nie ist Georg auf dieses Angebot eingegangen. Seit Jahren erntet Christa für Fragen, die leichtherziges Verständnis offerieren, langweilige, schwerfällige Antworten. Was treibst du so? fragt Christa, und schon setzt Georg ein geplagtes Gesicht auf und seufzt: Du kannst dir nicht vorstellen, wieviel Arbeit ich habe! Das ist eine von Georgs Lieblingsdarbietungen: Kaum gibt man ihm Gelegenheit und es ist schwer, ihm keine Gelegenheit zu geben! , brilliert er als schwer schuftender Patriarch, der schuften muß, weil ihm ein Rudel blutsaugerischer Weiber und Kinder am Hals hängt. Matthias läuft nur noch in schwarzem Leder rum, berichtet Georg. Kannst du dich erinnern, daß wir in dem Alter solche Ansprüche gestellt haben?
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Von Jahr zu Jahr wird der jugendliche Georg in Georgs Reden mehr und mehr zum Waldbauernbuben, der glänzende Augen gekriegt hat, wenn er an hohen Feiertagen ein rotbackiges Äpfelein geschenkt bekam. So teuer sind Lederjacken doch gar nicht, sagt Christa, erheitert wie stets, wenn Georg die Nummer mit der bescheidenen Kindheit abzieht. Sofort lacht Georg bitter auf. Entschuldige, sagt er, wenn ich dich mit meinen Normalverbrauchervorstellungen belästigt habe. Diese kleine Welt ist dir natürlich fremd. Allen meinen Frauen ist diese Welt fremd. Ihr müßt euer Geld verdammt leicht verdienen. Christa bleibt heiter. Das hat sie Agnes voraus: Sie lacht nachsichtig, wenn Georg das Opfer spielt, und tätschelt begütigend seine Hand. Agnes braust auf; sie würde Georg die Opfermaske herunterreißen und sie selber aufsetzen wollen. Weil Agnes Georgs Hand nie nachsichtig und mitleidsvoll tätschelt, wird sich diese Hand auch nie spendabel für sie öffnen und mehr herausrücken als das Allernötigste. Nie wird Agnes Georgs abgelegte Autos erben wie Christa, und höchstwahrscheinlich wird sie es auch noch schaffen, Matthias die Lederjacke zu vermasseln. Macht nichts, sagt Agnes trotzig, wenn sie will, kann sie Matthias eine Lederjacke schenken ganz ohne Zuschuß von Georg. Macht nichts, sagt Agnes, wenn sie ein neues Auto braucht, dann kauft sie es sich selber. Georgs Hand zu tätscheln, sagt Agnes, hat sie nicht nötig. Das mag schon sein, aber dafür hat sie es nötig, über Geld zu sprechen was o.k. ist, wenn Georg es tut, ein Mann im Konkurrenzkampf, ein Unternehmer und Familienvater, was aber etwas grob wirkt und wenig idealistisch, wenn es eine Frau tut, noch dazu eine angeblich künstlerisch ambitionierte Person wie Agnes , und sie hat es nötig, hinter Aufträgen herzuhecheln und an Schlaf zu sparen und Matthias anzubrüllen, er solle gefälligst in der Schule aufpassen, damit er die Aufgaben ohne ihre Hilfe machen könne. Christa lacht nachsichtig und tätschelt, und schon wird Georg, brummend zwar, aber letztlich gutmütig, ihr bei der Finanzierung ihres nächsten Urlaubs kräftig unter die Arme greifen. Ächzend, aber doch wird er ihr tarifvertraglich festgelegtes bescheidenes Urlaubsgeld aus seinen Einnahmen vom freien Markt auffetten, und Christa wird sich dabei nicht im geringsten gedemütigt
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vorkommen. So was ist Einstellungssache. Christas Selbstbewußtsein hält es aus, daß Christa lacht, Nachsicht zeigt, tätschelt und dafür mit milden Gaben belohnt wird. Nachdem Georg sie gerügt hat, läßt Christa ihn ungestört sein Klagelied zu Ende singen, das von Zeitmangel und Termindruck, von unselbständigen Mitarbeitern, unfähigen Beamten, unsinnigen Auflagen der Behörden und von merkwürdigen Auftraggebern handelt. Und wie geht's Daniela und den Kindern? fragt sie dann. Wie? Georg horcht ihrer Frage einen Augenblick erstaunt nach. Bestens! versichert er hastig. Bestens! Es klingt ein bißchen desinteressiert, so, als betrachte Georg es als Geduldprobe, über seine problemlose häusliche Welt reden zu sollen, solange die berufliche voll besprechenswerter Tücken ist. Fühlt sie sich nicht manchmal isoliert da draußen? fragt Christa. Wer? Georg winkt dem Kellner und bestellt Mineralwasser. Daniela, sagt Christa. Georg schaut ehrlich verblüfft. Nein, wieso? fragt er. Hör mal, sagt er, das ist doch ein Paradies für die Kinder. Richtig dörflich. Grün. Reine Luft, jedenfalls im Vergleich zur Stadt. Ich finde, schöner kann man nicht wohnen. Ich meine ja nur, sagt Christa, weil sie doch niemanden kennt dort. Und du bist vermutlich selten zu Hause. Rückt Georg jetzt endlich mit den Orten heraus, an denen er ist, wenn er nicht zu Hause ist und auch nicht beruflich unterwegs? Gesteht er jetzt endlich in einem überraschenden Anfall von Vertraulichkeit: Ja, du, das ist wahr, ich bin selten zu Hause, und weißt du, warum? Weil ich nämlich mit folgenden Weibspersonen in den Betten folgender Hotels liege ... ? Nein, Georg wird nicht vertraulich. Georg sagt: Daniela ist im Grunde eine sehr häusliche Person. Die will das so, Kinder und Heim und Garten und so weiter. Dann setzt er nicht ohne Bosheit hinzu: Die jungen Frauen heutzutage sind anders, weißt du. Die sind schon wieder viel weiter als ihr alten Emanzen.
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Ach, komm, sagt Christa, nun fast ein wenig ärgerlich, ich kenne die jungen Frauen von heute. Ich habe eine junge Frau von heute zur Tochter, falls du dich erinnerst. Georg lacht. Die junge Frau, die wir zur Tochter haben, ist nicht so jung wie die junge Frau, die ich zur Frau habe. Christa lacht gleichfalls. Schäm' dich! Macht es Christa Spaß, ihre junge Geschlechtsgenossin Daniela aus dem Blickwinkel eines Stammtischbruders zu sehen? Wohl kaum. Aber wie soll Christa sich Georgs Freundschaft erhalten, wenn sie sich weigert, sein Kumpan zu sein? Christa überlegt, ob sie Georg von dem Tratsch erzählen soll, der über ihn im Umlauf ist. Sie hat Hemmungen, ihn geradeheraus darauf anzusprechen. Wahrscheinlich würde Georg aufbrausend jede Auskunft verweigern. Diese Reaktion herauszufordern wäre unpädagogisch. Georg soll Christa ja als mögliche Zuflucht empfinden und sich im Ernstfall an sie wenden wollen. Verprellt sie ihn jetzt, wird er, schon um sein Gesicht zu wahren, auch dann nichts zu ihr sagen, wenn es einmal nötig sein sollte. Christa sieht sich als unvoreingenommene Freundin der Familie, die im Krisenfall umsichtig intervenieren kann. Also handelt sie in Danielas wie in Georgs Interesse, wenn sie Georgs Zutrauen zu ihr an das sie glaubt, auch wenn ihr wenig Beweise dafür vorliegen nicht durch Neugier und voreilige Einmischung aufs Spiel setzt. Andererseits geht Georg vielleicht allzu sorglos seinen mutmaßlichen Affären nach, wenn er nicht gewarnt wird. Man tut Daniela keinen Gefallen, versucht man diese Sorglosigkeit nicht zu unterbinden. Wenn Georg schon untreu sein muß, soll es Daniela wenigstens nicht erfahren. Was sie nicht weiß, macht sie nicht heiß. Christa startet einen Versuchsballon. Wie stehe Georg eigentlich zur, äh, AidsVorsorge? Georg zieht eine Braue hoch. Ist das eine taktvolle Methode, mir mitzuteilen, daß Daniela mich betrügt? fragt er kühl.
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Christa kichert verwirrt. (Darauf wäre sie nicht gekommen.) Dann dementiert sie eilig. Sie stelle diese Frage ganz allgemein, nicht zuletzt, weil sie gerade in ihrem Beruf mit der Statistik konfrontiert- . Georg lehnt sich zurück und mustert sie streng. Da ich nicht davon ausgehe, daß Daniela den Rauchfangkehrer aufs Kreuz legt, kaum daß ich das Haus verlassen habe, und da der Rauchfangkehrer bei weitem das Attraktivste ist, was ihren Weg kreuzt da draußen, sehe ich nicht, inwiefern ich irgendwelche Vorkehrungen treffen sollte. Christa nippt besiegt an ihrem Mineralwasser. II 1. Die tüchtige Agnes lenkt ihr Auto über die Stadtautobahn und singt laut und wild Schuberts Unvollendete mit, die sie sich per Kassette vorspielt. Sie fühlt sich stark und auf glückliche Weise unglücklich, laut singend läßt sie Fluten aufgewühlter Gefühle über sich zusammenschlagen; hinterher wird sie angenehm erschöpft und erleichtert sein. Es gab Zeiten, da liefen Agnes Tränen über die Wangen, wenn sie schluchzend Schuberts Unvollendete mitzusingen versuchte. Jetzt ist der Schmerz, der ihr damals ins Herz schnitt, nur mehr Erinnerung. Wenn sie singt, singt sie vor Glück, daß er vorbei ist, voll Mitleid mit der verwundbaren Person, die sie so oft war (denn Agnes ließ wenig Gelegenheiten aus, zu Tode betrübt zu sein
vielleicht, um damit auch himmelhohes Jauchzen zu
erzwingen),
wild
und
entschlossen,
vom
Sprungbrett
beschworener
Erinnerungen einzutauchen in Gefühlsstrudel, die sie wegtragen sollen aus den bleiernen Gewässern der alltäglichen Langeweile. Nachdem Agnes festgestellt hatte, daß Betrübnis und Jauchzen keineswegs zuverlässig aufeinander folgen wie Berg und Tal einer gleichmäßigen Wellenlinie, gab sie es auf, das Risiko der Betrübnis allzu leichtfertig einzugehen. Wenn Unglücklichsein nicht garantiert durch ebenso heftiges Glücklichsein belohnt wurde, wollte sie sich lieber wappnen gegen heftiges Unglücklichsein. Die tüchtige Agnes ist seitdem tüchtig, vernünftig und
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pragmatisch. Ihre Sehnsucht nach Gefühlsstürmen stillt sie, indem sie auf der Autobahn hemmungslos singt zu Musik, die sie erschüttert. Andere brauchen Drogen und Therapien. Agnes braucht Schuberts Unvollendete und einen Kassettenrecorder im Auto. Oft würde Agnes, wenn sie singend fährt, gern lange so weiterfahren, weg von ihren Pflichten. Agnes will in die große blaue Freiheit fahren. (Möchte sie Matthias zurücklassen? Nein, aber die Zwänge, die er ihr auferlegt. Agnes will fahren und singen unter einem weiten Himmel, ohne an Matthias' Schularbeiten denken zu müssen, an seine Zahnspange, an den Fahrradheini, der zu besorgen wäre; Matthias soll neben ihr sitzen und mitsingen und bitte nicht über ihren Musikgeschmack maulen!) Agnes will aufbrechen und nicht so bald ankommen. Agnes will nachts in schützenden Armen liegen, schwach vor Leidenschaft, und am nächsten Morgen weiterziehen, unbekümmert. Agnes will am Tag lachen mit einem, der mit ihr lacht, und nachts für sich sein. Agnes will die Nächte ihrer Jugend zurück, dunkle, durchsichtige Nächte voll spannungsgeladener Stille. Das waren noch Nächte! Agnes' Nächte jetzt geben sich geschlagen unter einem unausweichlichen, stumpfen Schlaf, der dazu dient, Agnes' zerschlissene Arbeitskraft notdürftig zu reparieren. Agnes will einmal wieder nicht zuständig sein, nicht verantwortlich sein, nicht schuld sein. Agnes will Höhenrücken stürmen, atemlos vor glücklicher Gier auf ihr sicherlich zugeteilte Abenteuer. Agnes will wehmütig über sanfte Hügel im scharfen klaren Licht eines sonnenlosen Tages schauen dürfen, der Wehmut hingegeben, statt Termine und Einkaufslisten memorieren zu müssen. Ihr schwerer Schlaf hat Agnes bloß auf zittrige Beine gestellt. Zittrig duckt sich Agnes in den Käfig ihres Autos, domptiert vom Zeitdruck, der sie unerbittlich einholt, gängelt und ihre Gedanken kontrolliert. Agnes will, daß ihr Kopf wieder ihr gehört. Aber er gehört ihren Pflichten und ihrer Verantwortung. Agnes mit ihren zittrigen Beinen und ihrer Zeitnot würde es gar nicht schaffen, Höhenrücken zu stürmen. Alles, was Agnes schafft, ist, ihr Auto über die Stadtautobahn zu lenken und singend von Autofahrten über
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Höhen und Hügel zu träumen, mitten hinein in das gläserne Licht zeitloser Tage. Im Funkhaus hat Agnes eine Sendung moderiert, die sie sich freiwillig nie anhören würde. Agnes moderiert oft Sendungen, die sie sich freiwillig nicht anhören würde. Sie stellt populären Künstlern freundliche Fragen, auf die sie eitle Antworten kriegt. Für solche Sendungen wird Agnes ziemlich gut bezahlt. Niemand zwingt Agnes, freundliche Fragen zu stellen. Vielleicht würde sie sogar noch besser bezahlt, wenn sie rotzfrech umginge mit den Veteranen des Showgeschäfts. Agnes mag sich aber nicht profilieren auf dem Buckel wehrloser Hanswurste, die es sich nicht leisten könnten, sich ihren Fragen nicht zu stellen. Vor der Wahl, dümmlich freundlich zu fragen oder dummdreist, findet Agnes die freundliche Variante noch anständiger. Agnes glaubt nach wie vor, daß sie das Zeug zur großen Schauspielerin hätte, aber sie mochte nie der großen Kunst zuliebe auf die vielen kleineren und größeren Honorare verzichten, die ihr zusammen ihr komfortables Leben ermöglichen. Agnes wollte nie darben für die große Kunst, zu der sie ihrer Meinung nach fähig wäre. Hätte Agnes darben müssen, wenn sie auf die Honorare für mittelmäßige Darbietungen verzichtet hätte? Man weiß es nicht, weil Agnes die Nerven zum Verzicht von Anfang an gefehlt haben. Statt am Fließband Hanswürste vorzuführen, könnte Agnes auch versuchen, intelligente, fundierte Gespräche mit intelligenten Menschen zu führen. Doch abgesehen davon, daß die Sendungen rar sind, in denen solche Gespräche als statthaft gelten, stimmt für Agnes das Verhältnis zwischen Lohn und Anstrengung dabei ebenfalls nicht. Fundierte Gespräche müssen sorgfältig vor und aufbereitet werden. In der Zeit, die Agnes in ein einziges fundiertes Gespräch investieren müßte, schafft sie es locker, sich durch mehrere Sendungen zu plaudern, von denen jede soviel Geld einbringt wie ein fundiertes Gespräch. Da Agnes' Zeit knapp ist, trachtet sie, sie kostbar zu machen. Agnes verschachert ihre knappe Zeit an die Meistbietenden. Agnes entscheidet sich für oberflächliches Geplauder und damit einmal mehr für mehr Geld zuungunsten von mehr Qualität.
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Agnes hat eine Entschuldigung, sie heißt Matthias. Ein großer Teil von Agnes' Zeit gehört Matthias; der Rest muß so verwertet werden, daß ein annehmbarer Lebensstandard für Matthias dabei herausspringt. Auch für Agnes soll ein annehmbarer Lebensstandard herausspringen, zugegeben, und Agnes nimmt, wie wir wissen, nicht jeden Lebensstandard an. Doch selbst wenn Agnes bereit wäre, ein bescheidenes Leben zu akzeptieren, wäre sie nicht bereit, Matthias größere Einschränkungen zuzumuten. Er soll alles haben, was die anderen rundum haben, und im Zweifelsfall ein bißchen mehr. Matthias darf sowenig wie möglich darunter leiden müssen, daß Agnes mit seinem Vater nicht zurechtgekommen ist. Wer weiß, vielleicht hätte Agnes sich schon einen Namen als Gestalterin einfühlsamer, gescheiter, geduldig ausgefeilter Sendungen gemacht, wenn sie nicht seit Jahren ihre Aufmerksamkeit zwischen ihren Sendungen und Matthias teilen müßte? Es ist schwer, geduldig zu feilen, wenn man ständig unterbrochen wird. Kaum hat Agnes sich in eine Arbeit vertieft, muß sie auch schon wieder daraus auftauchen und Essen wärmen oder bei der Mathematikaufgabe helfen oder schnell noch Milch kaufen laufen oder Englischvokabeln
prüfen
oder
Hustentropfen
holen
oder
in
eine
Lehrersprechstunde eilen oder Schlittschuhe besorgen oder Geometrie üben oder bekleckerte Windjacken einweichen. Hustentropfen holen? fragt Agnes' Lover. Kann Matthias nicht selbst zur Apotheke gehen? Agnes' Lover findet, das Beispiel mit den Hustentropfen ist ein gutes Beispiel für Agnes' Unfähigkeit zu delegieren, also zu organisieren. Agnes findet, ihres Liebhabers Reaktion auf das Beispiel mit den Hustentropfen ist ein gutes Beispiel für seine Ahnungslosigkeit. Wenn ich Matthias zur Apotheke schicke, erklärt Agnes ihrem Liebhaber, wissend, daß das Erklären nichts nützen wird, wenn ich Matthias zur Apotheke schicke, fängt er zu spät mit seinen Hausaufgaben an und kommt nicht mehr dazu, für die Lateinschularbeit zu lernen, oder er kommt zu spät ins Bett und ist bei der Lateinschularbeit hundemüde. Wie vorauszusehen war, bleibt Agnes' Liebhaber unbeeindruckt. Er hätte Matthias dazu angehalten, bereits vor einer Woche für die Lateinschularbeit zu lernen.
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Vor einer Woche hat er für die Englischschularbeit gelernt, sagt Agnes. Und überhaupt sollten Kinder kontinuierlich lernen, nicht erst vor Schularbeiten. Deswegen renne ich zur Apotheke, sagt Agnes. Damit Matthias lernen kann. Aber ich werde ihm sagen, er soll seinen Husten in Zukunft besser einplanen. Matthias war und ist kein pflegeleichtes Kind. (Gibt es pflegeleichte Kinder? Agnes bezweifelt es. Sie glaubt, daß es bloß Lebensumstände gibt, die die Pflege von Kindern erleichtern. Agnes' und Matthias' Lebensumstände gehören nicht dazu.) Matthias schlief nachts nicht durch und wollte tagsüber nicht im Kindergarten bleiben. Er lernte früh sprechen, aber spät laufen. Seine Altersgenossen fuhren längst allein auf ihren kleinen Rädern, da mußte Agnes immer noch hinter ihm herrennen und seinen Sattel halten; ließ sie los, verriß er in Panik den Lenker, kippte in den nächsten Busch und schrie Agnes tränenüberströmt an. Er schreibt originelle Aufsätze voll mit Rechtschreibfehlern. Er schwimmt schnell, aber nie um die Wette, was sein Turnlehrer nicht hinnehmen mag. Nach wie vor platzt er ohne Zaudern in Agnes' Telefongespräche, wenn er was von ihr will (und er will oft etwas). Er verschlampt seine Schulsachen. Er vergißt Abmachungen. Er trödelt und wird böse, wenn Agnes ihn zur Eile antreibt. Er hat in Werken einen Vierer, aber zu ihrem Geburtstag bastelt er Agnes einen Guckkasten voll kunstvoller Kulissen nach eigenem Entwurf. Matthias ist eigensinnig. Hätte Agnes mehr Ruhe um, aber auch in sich, fiele es ihr leichter, Matthias' Beharren auf einem eigenen Sinn als Talent zu sehen und nicht als Behinderung ihrer eigenen eigensinnigen Vorhaben. Agnes war und ist keine pflegeleichte Mutter. (Gibt es pflegeleichte Mütter? Agnes
glaubt,
daß
es
vor
allem
Lebensumstände
gibt,
die
die
Anpruchslosigkeit der Mütter auf keine zu harte Probe stellen. Agnes' Verzichtbereitschaft wird immer wieder auf harte Proben gestellt. Agnes wäre eine angenehme Mutter, könnte sie, nachdem sie mit Matthias auf einem Spaziergang ausführlich über Gott und die Welt geredet hat, in Ruhe Zeitung lesen. Statt dessen muß sie aufs Zeitunglesen verzichten, um Matthias' Biologieheft zu kontrollieren, das Einräumen seiner Schultasche zu
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überwachen und sein Zimmer aufzuräumen; der Frust darüber macht sie unangenehm.) Agnes ist ungeduldig, unbeherrscht, nur mäßig interessiert an kindlichen Interessen. Agnes ist laut, fordernd, rasch gelangweilt. Wenn der gestürzte Matthias sie anschrie, schrie sie zurück. Agnes möchte nicht gebraucht werden, zumindest nicht für banale Aufgaben. Agnes hat eine Entschuldigung namens Matthias, aber vielleicht sollte man sie nicht gelten lassen. Agnes hat nämlich nicht nur für Matthias zu sorgen, sie hat auch eine nicht zu leugnende Gier nach Applaus. Agnes braucht Anerkennung in kurzen Abständen, sonst vergeht ihr die Arbeitslust. Deswegen würde sie vielleicht selbst dann, wenn ihr Tag nicht vollgestopft wäre mit banalen Aufgaben, der Verführung des leichtverdienten Beifalls erliegen und lieber für oberflächliches Geplauder stetig abkassieren (Applaus und Geld), als in aller Stille ernsthaft zu arbeiten mit dem Risiko, daß das Produkt dieser langen, ernsthaften Bemühungen womöglich gar nicht besonders gewürdigt wird. Georg jedenfalls ist überzeugt, daß Agnes gar kein Bedürfnis hat nach sorgfältiger Arbeit. Für Georg ist Agnes eine, die unverhältnismäßig gut verdient mit einer unseriösen Tätigkeit, weshalb er kein schlechtes Gewissen zu haben braucht, wenn er sie und Matthias knapphält. Auch Georg läßt Matthias (dem zuliebe Agnes einen geordneten Haushalt führen will) als Entschuldigung nicht gelten. Du kaufst doch nicht andauernd Milch, sagt er. So was teilt man sich ein. Georgs Vorstellungen davon, wie man sich die Erfordernisse des Haushalts einteilt, wenn man eine vernünftige Frau ist, beruhen auf einem grundlegenden Mißverständnis: Er hat noch nicht mitgekriegt, daß eingekaufte Vorräte aufgebraucht werden und deshalb wieder aufzufüllen sind, er weiß nicht, daß gewaschene Wäsche in Windeseile schmutzig, daß gekochtes Essen im Handumdrehen verzehrt, daß ein gemachtes Bett schon am nächsten Morgen erneut zu machen ist. Mußt du ausgerechnet jetzt wischen? fragte Georg gereizt, wenn seine Schuhe trübe Lachen in der Wohnung hinterlassen hatten und Agnes um ein Bodentuch lief.
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Nach Georgs Verständnis kauft man einmal Milch ein, und dann ist für lange Zeit Ruhe. Desgleichen das Kind: Man liest ihm einmal für eine Weile vor, und danach hat es viele Stunden lang nichts zu brauchen. Wieso denn? fragte Georg irritiert, wenn Agnes ihn bat, schnell Matthias zu übernehmen. Ich hab' doch erst gestern mit ihm gespielt! Agnes hört zu singen auf und parkt ihr Auto vor dem Gebäude der Verlagsniederlassung, um den Plattenproduzenten Antonio Hirt zu treffen, einen schlanken Mann mit Glatze und der enervierenden Angewohnheit, ständig seine Frau zu zitieren. 2. Viktoria sitzt mit Gerda im Kaffeehaus. Gerda erzählt von den schulischen Erfolgen einer ihrer Enkeltöchter, und Viktoria rührt in stiller Verzweiflung in ihrer Teetasse. Gerda trägt einen faden Kaschmirrock zu einer dezenten Bluse und eine Korallenkette, die sie vermutlich von ihrer Schwiegermutter geerbt
hat.
Gerdas
Enkeltöchter
tragen
Faltenröcke
zu englischen
Kniestrümpfen und verlieben sich nur in junge Männer, die bei den Schotten oder den Piaristen zur Schule gehen. Schon Gerdas Töchter waren hormonell standesbewußt gesteuert, sie leben jetzt mit Tafelparkett und Barockmöbeln. Gerda ist liebenswürdig und schlicht. Eine echte Dame, hat Herbert von solchen Frauen gesagt. Wenn Gerda von den schulischen Erfolgen ihrer Enkeltöchter berichtet, dann hört sich das zwar nach großmütterlichem Stolz an, aber nie nach Auftrumpfen. Gerda klingt wie eine, die es nicht nötig hat, aufzutrumpfen. Man könnte meinen, für eine wie Gerda wäre es selbstverständlich, daß die Enkeltöchter problemlos lernen und daß die Töchter auf Tafelparkett leben und klassische Seidentücher um den Hals haben. Viktoria weiß aber, daß das nicht so ist. Bis heute staunt Viktoria über Gerdas Wandlung von der kleinen Beamtentochter zur gutbürgerlichen Ehefrau mit Familienschmuck. Bis heute kann sie nicht umhin, die gewandte, selbstsichere Bescheidenheit, mit der Gerda als Repräsentantin gediegener
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Verhältnisse auftritt, als Anmaßung zu empfinden. Viktoria erinnert sich noch gut an die Vorstadtwohnung, in der Gerda als Mädchen gelebt hat, und an die ärmlichen, schlecht geschnittenen Kleider, in denen sie daherkam. Gerdas Mutter war vom Land. Gerdas Vater sah abgewetzt aus. Im Kabinett standen Marmeladengläser auf den Schränken. Schon als junges Mädchen hatte Gerda ein braves Gesicht und eine bestenfalls unauffällige Figur. Gerdas Beine sind kurz und ihre Hüften breit. Doch nie ' hat Gerda unter ihren Mängeln gelitten. Es wird wohl diese Dickfelligkeit gewesen sein, die Gerda zum gesellschaftlichen Aufstieg befähigte. Ihr nachmaliger Mann war zwar ein unscheinbarer Jüngling, aber aus wohlhabendem und angesehenem Haus. Er hätte bessere Partien machen können als Gerda. Daß er Gerda heiratete, hing vielleicht mit der ruhigen Selbstverständlichkeit zusammen, mit der Gerda erwartete, von ihm geheiratet zu werden. Hätte sie ihm Unterlegenheit signalisiert, hätte er sie womöglich schlecht behandelt. Dickfellig und unkompliziert aber paßte sie zu ihm, einem geradlinigen Mann mit einfachen Reaktionen. Oje, bist du müde? fragt Gerda und legt Viktoria mitfühlend eine Hand auf den Arm. Viktoria hat gegähnt. Es ist bezeichnend für Gerda, daß sie nicht auf die Idee kommt, Viktoria könnte aus Langeweile gegähnt haben. Statt dessen kriegt sie einen Pflegerinnenblick, der Viktoria zur gebrechlichen Alten degradiert. Ist sie übergeschnappt? Gerda ist nicht jünger als Viktoria. In der gemeinsamen Schulzeit hat Gerda Viktoria gegenüber oft einen penetrant mütterlichen Ton angeschlagen, obwohl sie wiederum auch nicht älter ist. Damals hat sie sich reifer gefühlt. Jetzt fühlt sie sich offenbar weniger verbraucht. Gerda hält ihre Beschränktheit für höhere Vernunft. Gerda glaubt, ihre vernünftige Beschränktheit bewahrt sie vor Verfall, so, wie sie sie von Jugendtorheiten abgehalten hat. Und wie geht's deiner Cousine? fragt Viktoria boshaft. Trinkt ihr Sohn noch? Falsches Stichwort. Gerda hört »Sohn« und erkundigt sich nach Georg. Was Neues da draußen auf dem Land? Mäsi und Clemens sind jetzt wie alt? Und die Urenkel, die müssen doch auch schon -. Anna ist nicht meine Enkelin, und ihre Kinder sind nicht meine Urenkel! sagt Viktoria streng.
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Gerda lacht. Also, ich wäre stolz, wenn ich Urgroßmutter wäre! Ja, du ! Viktoria nippt verstimmt an ihrem Tee. Ein Mensch, der so uneitel ist, wie Gerda vorgibt zu sein, ist eine Zumutung. Christliche Demut. Makellose, unbefleckte Gerda. Öd. Warum mag Viktoria mit Gerda nicht über Georg reden? Ist sie nicht stolz auf Georg? O ja. Georg ist perfekt. Bloß die Schwiegertöchter wirken unvorteilhaft neben Gerdas tadellosen Töchtern. Schon daß es drei sind, hat etwas vulgär Maßloses angesichts von Gerdas wohlproportionierten Familienverhältnissen.
Seine zwei Scheidungen zeigen, daß Georg sich
zweimal geirrt und eine Frau geheiratet hat, die seiner nicht würdig war. Viktoria findet natürlich, daß das für Georg spricht, weil es ihn als lässigen, großherzigen Menschen ausweist, aber Gerda sieht es vermutlich mehr als Schlamperei. Wenn Viktoria von Gerda gezwungen wird, Georgs drei Ehen zu erwähnen, dann fühlt sie sich in Georgs Schulzeit zurückversetzt, als der lässige Georg Prüfungen verhaute, weil er ins Kino gegangen war, statt sich den Biologiestoff anzusehen. Selbstverständlich hat Georg von seinen Kinobesuchen letztlich mehr profitiert, als wenn er als sturer Streber weltfremd versauert wäre, aber es war schon damals schwer gewesen, so was Gerda klarzumachen, deren Töchter lauter Einser und Zweier schrieben. Hätte Viktoria gern eine Schwiegertochter wie Gerdas Töchter? O nein. Abgesehen davon, daß Viktoria Gerdas tadellose Töchter durchaus tadelnswert findet, würde sie sie auch dann nicht zur Schwiegertochter wollen, wenn sie tatsächlich so perfekt wären, wie Gerda sie darstellt. Viktoria würde an und für sich keine perfekte Schwiegertochter wollen, weil sie keine Lust hat, ihre Überzeugung erschüttern zu lassen, daß es außer ihr keine perfekte Frau gibt auf der Welt. Aber der Gedanke ist insofern abwegig, als die betulichen Urscheln, Gerdas Töchter, ja weit davon entfernt sind, an dieser Überzeugung Viktorias auch nur zu kratzen. Viktoria tadelt ihre Schwiegertöchter nicht ungern; daß sie sie schonen möchte angesichts von Gerdas Töchtern, die in Gerdas Gegenwart nicht getadelt werden dürfen, entspringt keinem Gerechtigkeitssinn, sondern soll
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lediglich Georgs Schutz dienen, dessen Image leiden könnte unter den Qualitätsfehlern seiner Frauen, jedenfalls in Gerdas Augen. Viktoria mag mit Gerda nicht über Georg reden, weil sie es ablehnt, Georgs Privatleben nach Gerdas Maßstäben zu diskutieren. Und außerdem mag Viktoria überhaupt nicht immer nur über Kinder und Enkel schwatzen. Viktoria will wahrgenommen werden als Viktoria, nicht bloß als Georgs Mutter oder, Gott behüte, gar als Urgroßmutter von Annas Brut. Ich habe Marianne getroffen, berichtet sie. Schrecklich schaut sie aus. Wie eine alte Frau. Wir sind ja auch alte Frauen, sagt Gerda und lacht. Viktoria macht ein hochmütiges Gesicht. Willst du damit sagen, ich sehe aus wie Marianne? Na, schön, du bist eine Ausnahme, gesteht Gerda Viktoria beschwichtigend zu. Du bist alterslos. Stimmt es, daß ihr Mann jetzt eine Fünfundzwanzigjährige geheiratet hat? Fünfunddreißig, korrigiert Gerda, sie ist fünfunddreißig. Immer noch viel zu jung für ihn. Ach, weißt du, wenn eine Frau sich so gehenläßt wie Marianne
Gerda
widerspricht resolut. Für sie fehlt es Mariannes Mann einfach am nötigen Anstand. Und daß Marianne so alt ausschaue, sei eine Folge ihres Kummers, jawohl. Viktoria seufzt. Sie hätte Mariannes Kummer gern unter dem Aspekt von Mariannes Schuld besprochen. Die Behauptung, daß Marianne nicht schuld ist an ihrem Kummer, klingt viel zu beunruhigend. Wenn man erst einmal anfängt zu glauben, daß einen Unglück unverdient treffen kann, bietet man dem Schicksal eine Schwachstelle dar, auf die es womöglich einschlagen wird. Das Schicksal ist ein Boxer. Man darf ihm gegenüber nie die Deckung vernachlässigen.
Wer
aufhört,
sich
hinter
einer
behaupteten
Unverwundbarkeit zu verschanzen, gibt seine Deckung preis. Aber Gerda will vernünftig abwägen und dann Mariannes Partei ergreifen. Geistloser Standpunkt.
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Viktoria hätte sich allerdings gleich denken können, daß von Gerda keine spannendere Reaktion zu erwarten ist. Oft nimmt Viktoria sich vor, Gerda fallenzulassen, aber dann trifft sie sich doch wieder mit ihr. Vielleicht weil Gerda die einzige ist, die sich zuverlässig regelmäßig bei ihr meldet. 3. Na, du Schöne? sagt Antonio Hirt und zieht Agnes an seine schmale Brust. Wäre ich nicht schon in meine Frau verliebt ich würde dir glatt verfallen. Unverschämt gut schaust du aus. Alter Schmeichler, erwidert Agnes lachend. Wer sich mit Antonio Hirt unterhält, hat viel zu lachen. Antonio Hirt ist ein sonniges Gemüt, oder wenigstens gibt er vor, eines zu sein. Unermüdlich verstreut er Liebenswürdigkeiten. Kontaktfreude strahlt aus seinen Augen. Freigebig teilt er einen unerschöpflich scheinenden Vorrat an Optimismus. Und nie vergißt er seine glückliche Ehe zu erwähnen. In einer beziehungskrisengeschüttelten Umwelt voll düsterer Egozentriker, die das Image der einsamen Wölfe pflegen, brilliert Antonio Hirt als Kontrastprogramm: als altmodischer Biedermann mit Familiensinn. Das spricht für seine Intelligenz. Antonio Hirt würde einen blassen einsamen Wolf abgeben; als vergnügter Ehemann beeindruckt er schon deswegen, weil er in dieser Rolle so gut wie keine Konkurrenz hat. Magst du Kaffee? fragt Antonio. So gut wie bei mir daheim ist er hier nicht, aber meine Damen bemühen sich. Er greift nach einer Zigarettenpackung. Stört's dich? Agnes schüttelt den Kopf. Sie selber raucht noch immer nicht, danke. Ihr Frauen seid viel standhafter! Hab' ich dir erzählt, daß meine Frau das Rauchen aufgegeben hat? Einfach so. Von einem Tag auf den anderen. Ich bewundere euch. Mich brauchst du nicht zu bewundern, sagt Agnes. Mir wird schlecht, das ist alles.
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Der Kaffee kommt. Antonio Hirts Sekretärin bringt ihn. Er lächelt ihr zu. Wenn meine Frau anruft verbinde mich gleich, ja? Die Sekretärin geht hinaus. Mein direkter Apparat ist nämlich gestört, erläutert Antonio, zu Agnes gewandt. Und meine Frau ist beim Chiropraktiker. Bin gespannt, ob er ihr helfen kann. Sie hatte das ganze Wochenende Kreuzschmerzen, weißt du. Agnes murmelt höflich mitfühlende Wort. Sie spürt, wie neidischer Groll in ihr hochsteigt. Womit hat Antonio Hirts Frau einen Mann verdient, der sich wegen ihrer Kreuzschmerzen sorgt? Antonios Frau macht den besten Kaffee. Sie hat die besorgniserregendsten Kreuzschmerzen. Ihr Teint ist sensationell. Wenn sie aus dem Fenster schaut, dann schaut sie in anbetungswürdiger Weise. Ihre Buttersemmeln gehören preisgekrönt. Was sie nach Theaterpremieren äußert, ist dermaßen zutreffend, daß man es kaum fassen kann. Zumindest kann Antonio Hirt es kaum fassen, der mit seiner Fassungslosigkeit hausieren geht. Antonio Hirt ist ein schmalbrüstiger, unscheinbarer Mann mit mittelmäßigen Talenten. Durch seine Loblieder auf seine angeblich außergewöhnliche Frau wertet er sich ebenfalls auf. Antonio Hirt wird in seinen Schilderungen zum tollen Hecht, der einer schillernden Nixe zuliebe als zahmer Karpfen lebt. Beschriebe Antonia Hirt, seine Frau, nicht ständig das Zauberwesen, das ihn durch vielfältige Begabungen fesselt, müßte er zugeben, daß er der Karpfen ist, als der er scheint. Als Karpfen wäre er ein Schleimer. Als gezähmter Hecht kann er sich sein stetiges Buhlen um das Wohlwollen seiner Umgebung ohne Prestigeverlust leisten. Und wie geht's dir? Alles in Ordnung? fragt Antonio mit Wärme. Er fragt, als würde er gerne was vom Übermaß seines Glücks an Agnes abtreten, aber auch wie einer, der weiß, daß ihm das leider verwehrt ist. So elend könnte Agnes nie zumute sein, daß sie dem vor Mitgefühl dampfenden Antonio Hirt Gelegenheit geben würde, sich an ihr als tröstender Glückspilz abzureagieren. Ehe Agnes antworten kann, läutet Antonios Telefon. Na, mein Schätzchen, wie war's? säuselt er in den Hörer. Mit seidiger Stimme streichelt er seine Frau fernoral. Agnes hört mißgünstig weg und doch mit.
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Der gute Antonio! sagt Agnes' Liebhaber milde, wenn die Rede auf Hirt kommt. Würdest du den ertragen, Tag für Tag? Agnes' Liebhaber geht davon aus, daß Agnes einen Antonio nicht ertragen würde. Doch wer weiß? Agnes ist längst nicht mehr überzeugt, daß der kleine Intelligenzvorsprung, den ihr Liebhaber vor Antonio möglicherweise hat, sein Defizit an Liebenswürdigkeit wettmacht. 4. Daniela sehnt sich nach einer praktischen, resoluten Omi für ihre Kinder, die Schokofinger putzt und ohne Zögern klebrige Wangen küßt. Zimperlich ist Daniela selber. Daniela wünscht sich eine beherzte Großmutter für ihre Kinder, die lachend zupackt und gelassen zuschaut. Daniela wünscht sich und den Kindern eine mütterliche Großmutter; eine mütterliche Großmutter ist eine, in deren Arme man flüchten kann und die einen aufrichtet. Doch alles, was Daniela gekriegt hat, ist eine Mutter, die aus der Schweiz Briefe schreibt, und eine Schwiegermutter, die steif dasitzt, wenn Clemens sich an ihren Beinen hochzieht. Danielas Mutter schickt den Kindern ein Elektroauto, in dem sie zu zweit Platz haben, und pelzgefütterte Rauhledermäntel. Was gibt's Neues, mein Herz? fragt sie am Telefon (sie ruft Daniela vor einer Abendeinladung an, im Nebenzimmer steht ihr Mann und bindet seine Smokingschleife über dem faltigen Hals), und Daniela hat zunehmend Mühe, ihr daraufhin etwas Erzählenswertes zu berichten. Daniela fürchtet sich vor dem gequälten Ausdruck, den das Gesicht ihrer Mutter möglicherweise annehmen wird, wenn Daniela ihr ihren Alltag schildert: das Sonderangebot greller Plastikjacken im neonbeleuchteten Supermarkt, den öden Horizont, in den sich die holprigen Feldwege am Ortsrand verlieren, die Küchenvorhänge am Nachbarhaus, die sich bewegen, wann immer Daniela aus der Tür tritt. Als ihre Mutter vor einem Jahr zu Besuch hier war, haben Daniela und sie Danielas neue Umgebung entschlossen als skurriles Volksstück belacht; gutgelaunt hat Danielas Mutter eine heitere Miene zum ländlichen Spiel
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gemacht, wie zu einer originellen Marotte. In der Darstellung von Danielas Mutter waren Daniela und Georg zwei starke, unabhängige Menschen, die es sich leisten können, außerhalb ihres gewohnten Milieus zu leben. Nie wird Daniela die Bestürzung in den Augen ihrer Mutter vergessen, als Daniela an einem Nachmittag vorsichtig anklingen ließ, daß sie vor allem deshalb in eine gottverlassene Gegend gezogen sind (in der Daniela sich nicht stark und unabhängig fühlt, sondern hilflos und allein), weil Georg, den Zukunftsängste plagen, ausgerechnet an den Ausgaben für seine aktuelle Familie spart, während er mit seinen Verflossenen dort wohnte, wo die Mieten hoch und die Delikatessenläden erstklassig sortiert sind. Daniela will nicht noch einmal in bestürzte Augen ihrer Mutter sehen. Sie will ihre Mutter nicht enttäuschen. Was ihre Schwiegermutter anlangt, so hat Daniela den Verdacht, daß sie Mäsi und Clemens für schlecht erzogen hält. Großmama! Schau mal, Großmama! fordert Mäsi und fuchtelt ihrer Großmutter mit einem angebissenen Keks vor dem Gesicht herum. Schau, was ich kann! Sie versucht, sich den Keks in den offenen Mund zu werfen. Er fliegt über ihre Schulter auf den Boden, wo er in Krümel zerspringt. Mäsi lacht unbändig und rüttelt quietschend, vor Vergnügen hopsend, an Viktorias Stuhl. Viktoria wird ganz schmal vor Abwehr. Mit angestrengter Freundlichkeit bittet sie: Mäsilein, sei doch nicht so wild! Ich kann gar nicht verstehen, was deine Mami sagt. Daniela schluckt. Es stört sie nicht, daß Viktoria Mäsi auffordert, leiser zu sein. Aber muß sie gleich so gepeinigt dreinschauen? Kann sie sich nicht einmal zurücklehnen und schmunzeln über Mäsis Ausgelassenheit? Nie hat Daniela den Eindruck, daß Viktoria ihre Enkelkinder genießt. Vor ihrem beherrschten Mund, unter ihren distanzierten Blicken werden Mäsi und Clemens zu kleinen Barbaren, denen Menschenfresserei zuzutrauen ist, wenn nicht
Schlimmeres.
(Was
mag
für
Viktoria
schlimmer
sein
als
Menschenfresserei?) Giftigsüß tropfen ermahnende Worte von Viktorias Lippen, Rügen in Sirup. Andere junge Mütter seufzen befreit, wenn sie ihre Kinder der Oma überlassen können. Daniela kann Viktoria ihre Kinder nicht nur nicht überlassen, sie fühlt sich doppelt unter Druck, sobald Viktoria auftaucht. Beflissen gießt sie Tee nach, bietet sie Kuchen an. Clemens schleppt
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Bilderbücher herbei und wirft sie Viktoria vor die Füße. Lesen! verlangt er energisch. Viktoria beugt sich zu ihm hinunter und schaut ihm eindringlich in die Augen: Hör zu, kleiner Mann! Das heißt BITTE! Bitte, liebe Großmama, lies mir vor! Lesen! sagt Clemens störrisch und kickt ein Buch näher hin zu Viktoria. Viktoria zuckt die Achseln und richtet sich auf. Ein eisiges Lächeln streift Daniela. Dann eben nicht. Daniela geht in die Hocke und sammelt die Bilderbücher ein. 5. Agnes hat eine Live-Sendung mit Studiogästen und Höreranrufen zu moderieren. Ihre Studiogäste sind diesmal ein hochrangiger Polizeijurist, der ein Buch über die angeblich zunehmende Aggressionsbereitschaft der Jugend geschrieben hat, und eine junge Erziehungswissenschaftlerin, die ihm vermutlich widersprechen wird. Agnes hat das Buch quergelesen; es bedient das übliche Entsetzen der älteren Generation angesichts einer respektlosen jungen Generation, der die guten Sitten abhanden gekommen seien, und beschwört in üblicher Manier eine gute alte Zeit, die es nie gegeben hat. Nicht, daß Agnes nicht auch manchmal Furcht hätte vor militant auftretenden Gruppen Jugendlicher; nicht, daß Agnes sich nicht auch ärgerte über
maulfaule,
muffige
Halbwüchsige,
wenn
sie ihr
rücksichtslos
Schwingtüren an den Kopf knallen, sie in der U-Bahn rempeln oder im Kino ihre schmutzigen Latschen in die Lehne neben Agnes' Kopf bohren. Agnes glaubt nur nicht, daß die heutigen Jugendlichen die ersten sind, die Anlaß zum Ärger geben ganz abgesehen davon, daß Agnes unentwegt jede Menge rücksichtsloser, muffiger und maulfauler Erwachsener trifft, die sich ebenfalls aufführen wie die Axt im Walde ohne das geringste Anzeichen von Reue. Agnes übersieht keineswegs, wie unfriedlich die heutige Welt ist, aber sie zieht daraus nicht den Schluß, daß sie früher friedlicher war. Schließlich
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genügen ganz einfache Geschichtsbetrachtungen, um herauszufinden, daß die Vergangenheit alles andere war als eine Abfolge gemeinsinniger Taten. Früher, sagt sich Agnes, war die Gewalt kanalisiert, und zwar vertikal, und legalisiert,
solange
sie
von
oben
nach
unten
ausgeübt
wurde.
Aggressionsbereitschaft hieß Mut und Tapferkeit und war ein erwünschtes Verhalten, sofern es den Mächtigen als Instrument diente. Heute, da die Herrschaftsverhältnisse nicht mehr so klar geordnet sind, wird Druck auch horizontal weitergegeben; man kommt nicht mehr auf die Welt als einer, der ein Leben lang anschaffen wird können, oder als eine, die ein Leben lang kuschen wird müssen; plötzlich wollen welche anschaffen, die nicht dazu autorisiert sind, und plötzlich wollen welche nicht kuschen, ohne einzusehen, daß es keine Anschaffer mehr geben kann, wenn es keine Kuscher mehr gibt das verwirrt. Nie, sagt sich Agnes, haben die Jungen insgesamt allen Alten Respekt bezeugt. Die jungen Hochgeborenen haben Jahrhunderte hindurch alte Untertanen schamlos kommandiert, bloß hat sich niemand darüber aufgeregt,
weil
der
herrische
Ton
der
jungen
Herrschaft
als
selbstverständliche Inanspruchnahme selbstverständlicher Vorrechte galt. Wer nach Zucht und Ordnung schreit, sagt sich Agnes, schreit nie nach mehr Gerechtigkeit, sondern nur nach einer stärkeren Institutionalisierung der Ungerechtigkeit: sie wollen sich sicher fühlen, sagen die Wiederbeleber von Sitte und Anstand und meinen damit, sie wollen sicher sein, daß ihnen einmal errungene Machtpositionen nicht wieder weggenommen werden. Agnes' Studiogast ist, dem Buch nach, das er geschrieben hat, so einer, der von entschwundenem Anstand spricht, wenn er einer Hierarchie nachtrauert, derzufolge größere Teile der Bevölkerung kein Anrecht auf eine
nach
heutigen Maßstäben anständige Behandlung hatten. Immerhin, sagt sich Agnes, akzeptieren wir die Gewalt nicht mehr selbstverständlich. Es gibt sie zwar, aber wir nehmen sie wenigstens als Gewalt wahr und lehnen sie ab, statt sie Heldenmut oder Tapferkeit oder väterliche Autorität zu nennen. Agnes ist eine Optimistin, weil sie an einen Fortschritt glaubt. Ihr Studiogast ist ein Pessimist, der für die Gewalttätigkeiten in der modernen Welt eine
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einfache Erklärung hat: schuld ist der Verlust der alten Werte, wie sie früher von heilen Familien vermittelt wurden, in denen die Mütter das Herdfeuer hüteten, statt egoistisch berufstätig zu sein. Als Agnes das Buch ihres Studiogastes, das von dieser einfachen Erklärung handelt, quergelesen hat, hat sie kurz um Luft gerungen, aber nun geht sie ganz
zuversichtlich
in
die
Sendung:
Die
ebenfalls
geladene
Erziehungswissenschaftlerin ist, Agnes' Informationen zufolge, eine gescheite Person, die dem Law-and-order-Typ schon ordentlich Contra geben wird. Agnes trifft ihre Gäste in der Kantine, eine halbe Stunde vor Sendebeginn. Händeschütteln, die Andeutung eines Lächelns. Es herrscht von Anfang an eine kühle, reservierte Höflichkeit zwischen den Gästen. Kaffee? fragt Agnes. Die beiden bejahen und gehen mit Agnes zum Büffet. Zucker! sagt Agnes' männlicher Gast knapp zur Frau am Büffet, als er seine Kaffeetasse entgegennimmt. Die Frau, eine runde Person in mittleren Jahren, legt den Kopf schief und schaut ihn freundlich an. Zucker, bitte verbessert sie und fügt hinzu: Zuckerstreuer stehen auf dem Tisch. Der Mann verzieht säuerlich den Mund. Danke! sagt er mit Betonung. Agnes grinst der Frau zu und folgt ihm an den Tisch. Als sie auf Sendung sind, legt der Mann los wie erwartet: Gewalttätigkeit schon unter Grundschulkindern, Verwahrlosung, weil Mütter sich weigerten, ihrer
Erziehungspflicht
nachzukommen,
allgemeiner
Egoismus
und
Materialismus, der auch die Frauen erfaßt habe, blabla. Die junge Wissenschaftlerin bemüht sich tapfer, ihm Paroli zu bieten, wird aber durch anrufende Hörer verunsichert, die dem Mann begeistert zustimmen. Sie klingt lahm und farblos, ihre Sätze sind kompliziert und verschachtelt, ihre Wortwahl ist akademisch und wenig anschaulich. Die Sendung entwickelt sich mehr und mehr zu einer Werbeveranstaltung für den männlichen Studiogast und das ideologische Lager, das er vertritt. Agnes versucht behutsam, die Wissenschaftlerin zu unterstützen, sie darf das nicht auffällig tun, denn eigentlich soll sie ja neutral bleiben. Schließlich aber wird es ihr doch zu bunt.
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Woher nehmen Sie eigentlich die Berechtigung, in Familienfragen mitzureden? fragt der Mann gerade seine Widersacherin. Soviel ich weiß, sind Sie unverheiratet und kinderlos! Die Frau schnappt nach Luft. Darf ich fragen, woher Sie die Berechtigung zum Mitreden nehmen? mischt sich Agnes mit seidenweicher Stimme ein. Der Mann blickt irritiert auf sie. Ich habe eine Frau und zwei Kinder. Zwei ordentlich erzogene Kinder, wie ich betonen möchte. Von Ihrer Frau erzogen, ergänzt Agnes sanft. Was meinen Sie damit? Damit meine ich, daß bei Ihnen zu Hause Ihre Frau sich um die Kinder gekümmert hat, oder nicht? Ich gebe zu, daß ich berufstätig bin, sagt der Mann ironisch. Eben, eben. Sie haben das Kindererziehen delegiert, wie alle vielbeschäftigten Männer. Sie verstehen also vom Kinderhaben genausoviel wie eine kinderlose Frau. Das ist doch wohl ein Unterschied! Ich finde nicht, sagt Agnes freundlich. Sofern sich das Kinderhaben auf den Zeugungsakt beschränkt, macht es keinen großen Unterschied. Sexuelle Erfahrungen haben wir so ziemlich alle, wissen Sie; die sind noch kein besonderer Beitrag zur Familienpolitik. Die Wissenschaftlerin beißt sich auf die Lippen, die Techniker hinter der Glaswand im Nebenraum lachen unhörbar. Ich muß mich hier nicht nicht beleidigen lassen, sagt der Mann steif. Und Sie müssen hier auch nicht beleidigen, ergänzt Agnes. Ich habe niemanden beleidigt! Wenn Sie nicht beleidigt haben, dann sind Sie auch nicht beleidigt worden! stellt Agnes fest. Nach der Sendung sagt der Mann zu Agnes: Ich glaube, daß Sie einen Fehler gemacht haben. Agnes blickt ihm ruhig in die Augen: Wir machen alle Fehler.
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Am Abend ruft Doris, die stellvertretende Chefin der zuständigen Abteilung, Agnes zu Hause an: Du hast einen Haufen zustimmender Anrufe bekommen. Wir zeigen dem Intendanten das Kundendienstprotokoll. 6. Wut, Wut. Weißglühende Wut. Dunkle Wut, schwarz wie Blut. Mit niederschmetternden Blicken vernichtet Christa ja, was denn nun? Christa vernichtet nichts. So weit geht sie nie. Christa schmettert Blicke als Blitze zu Boden, dort krümmt sich höchstens imaginäres Gewürm. Sie wirft den Kopf in den Nacken, mit gewaltsamem Schwung Christa tut sich selbst Gewalt an, das schon. Zahme Drohgebärden, ausgelöst durch einen scheinbar unerheblichen Vorfall, aber dahinter steckt ein echtes Zerstörungspotential. Wahrscheinlich wird kein Zündfunke es je wirklich explodieren lassen, aber daß es überhaupt da ist, erstaunt. Wer hätte gedacht, daß Christa, die milde ausgewogene Christa, sich so wütend fühlen kann! Kann sie aber. Und noch dazu aus ganz gewöhnlicher Selbstsucht! Die Welt starrt vor Unrecht und Brutalität, und Christa vergeudet Saft und Kraft, um sich in eine ganz und gar ichbezogene, anfechtbare Wut hineinzusteigern! Christa ist wütend, weil ein alter Spiegel sie zwingen will, sich um ihn zu sorgen. Christa vergeudet Kraft für einen lodernden Wutanfall, weil sie es satt hat, Kraft für die Sorge um alte Spiegel oder ähnliches zu vergeuden. Seit Jahrzehnten sorgt Christa für, kümmert sich Christa um Menschen. Das ist okay. Doch an den Menschen auch an dem Menschen Christa hängen Dinge; mit den Menschen müssen die Dinge versorgt werden. Es gilt, gemütliche Heime zu schaffen, Elternhäuser zu erhalten, Traditionen zu pflegen, ein kulturelles Erbe zu verwalten. Das erfordert viel Aufwand. Christa könnte heulen vor Wut, wenn sie an die große Menge kostbarer Lebenszeit denkt, die sie dazu benützt hat, Polituren zu polieren, Staubsauger zum Reparieren zu chauffieren, Batist zu falten, Tische zu decken (mit Platztellern, den alten Weingläsern und dreierlei Silberbesteck samt
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Monogramm, alles nicht geschirrspülertauglich; und mit Leinenservietten und bestickten Tischtüchern, die nicht in die Waschmaschine durften). Christa sitzt gern an Tischen mit Tafelsilber und geschliffenen Obstschalen, sogar allein bringt Christa nicht fertig, die Wurst direkt aus dem Papier zu essen. Christa lebt zwischen Kirschholzkommoden und Intarsienschränken und ist nicht blind für ihre Schönheit. Trotzdem spürt sie, je älter sie wird, einen immer größeren Unwillen, sich der Erhaltung dieser Schönheit zu widmen. Früher hat sie sich den Dingen selbstverständlich, nebenbei zur Verfügung gestellt, sie ist spät ins Bett gegangen, früh aufgestanden und tagsüber kaum still gesessen, und trotzdem hat sie es geschafft, zwischendurch die Netzvorhänge ihrer Großmutter auszubessern und in Annas Zimmer aufzuhängen, freudigen Herzens, als Überraschung für Anna. Seit Christa allein lebt und weit geruhsamer als früher, tut es ihr plötzlich leid um die vielen Male, da sie sich Netzvorhängen und Kirschholzkommoden gewidmet hat, während Georg vier Tageszeitungen las, kaffeetrinkend. Reine Zeitverschwendung! sagt Georg, wenn die Rede auf Zeitungen kommt. Steht eh nichts als Unsinn drin! Mag sein. Aber wenn Christa den Unsinn liest, der in den Zeitungen steht, fühlt sie sich frisch, vergnügt und unternehmungslustig. Wenn hingegen schon wieder ein eingerissenes Rollo ausgetauscht, einen Teekanneneinsatz nachgekauft, eine gesprungene Fliese ersetzt werden soll, erschlafft sie auf der Stelle, und schwerer Überdruß legt sich über sie. Schauen Sie, das gehört gerichtet! sagte heute die Putzfrau und zeigte auf eine sich ablösende Goldleiste am Biedermeierspiegel im Wohnzimmer. Christa
blickte
auf
die
Goldleiste
und
wurde
augenblicklich
von
Schuldbewußtsein überwältigt. Die Putzfrau geht grob um mit Christas Sachen. Christa zuckt zusammen, wenn sie den Staubsauger gegen Möbelkanten poltern hört, wenn Türen krachend an die Wand schlagen, wenn sie entdeckt, daß Sessel auf Tischplatten gestellt wurden. Doch Einwände zu äußern, fällt Christa schwer. Einmal aus sozialer Rücksicht: Christa schafft nicht gern an, sie meint, daß sie kein Recht hat, Arbeiten, die sie selber nicht übernehmen mag, einer anderen Frau aufzuhalsen und ihr dann auch noch vorzuschreiben, wie sie sie ausführen soll. Zum anderen aus
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schlechtem Gewissen den Gegenständen gegenüber, denen sie schuldig zu sein glaubt, daß sie sie persönlich betreut: Sie weiß schließlich, wie sie behandelt gehören, es ist deshalb unverantwortlich von ihr, sie den Angriffen einer des Umgangs mit ihnen unkundigen Person auszuliefern. Statt Einwände zu äußern, sollte sie, meint Christa, von vornherein selbst anpacken. Christa hat immer das Gefühl, es geschieht ihr recht, wenn etwas kaputt wird unter den grob zugreifenden Händen der Putzfrau. Was war sie auch zu faul, selber zuzugreifen! Der Verlust geschätzter Besitztümer ist, findet Christa unwillkürlich, der Preis, den sie dafür zahlen muß, daß sie Arbeit, die ihr zukäme, abwälzt. Sie zahlt ihn schweren Herzens, weil von ihr geschätzte Besitztümer für sie nicht Gebrauchsgegenstände im Sinn aufzubrauchender Gegenstände sind, sondern wertvolle Beweisstücke, Zeitzeugnisse, ihr bloß vorübergehend anvertraut mit dem Auftrag, sie möglichst unversehrt weiterzugeben an die nachfolgende Generation. Schauen Sie, das gehört gerichtet! sagte die Putzfrau, und Christa wurde von Schuldbewußtsein überwältigt und anschließend von Wut. Laßt mich in Ruhe! Wenn etwas kaputtgeht, fühlt Christa sich aufgerufen, es nie mehr dazu kommen zu lassen, daß etwas kaputtgeht. Dieser Spiegel will Christa in die Pflicht nehmen. Pieser Spiegel hat beobachtet, wie Christa heute morgen in den Zeitungen gelesen hat, sorglos daraufbauend, daß die Putzfrau schon saubermachen würde, dieser Spiegel hat mitgekriegt, wie unbekümmert Christa es darauf ankommen ließ, ob die Putzfrau behutsam vorgehen würde oder brutal, und schon haben sich ihm die Goldleisten gesträubt angesichts ihrer Nachlässigkeit. Nein. Dieser Spiegel hat Christas Aufsässigkeit unterschätzt. So leicht läßt Christa sich nicht mehr unterjochen. Goldleiste locker na und? Lang kann er warten, dieser Spiegel, bis Christa sich seiner Goldleisten annimmt. Gehört gerichtet! Möglich. Aber nicht von Christa. Wer sagt, daß es Christa sein muß, die richtet beziehungsweise richten läßt? Christa macht sich fertig, um zur Apotheke aufzubrechen. Stumm hängt ihr Widersacher an der Wand. Nicht zufällig tritt das Wort »stumm« gern Arm
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in Arm mit dem Wort »vorwurfsvoll« auf. Der Widersacher bleibt stumm, weil die Tatsachen ohnedies für sich sprechen. Tatsache ist: Wenn Christa die Goldleiste nicht richtet bzw. richten läßt, richtet sie niemand. Später einmal wird es schade sein um den Spiegel, einst ein prachtvolles Biedermeierstück, dann elend heruntergekommen. Später wird Christa sich die Vorwürfe machen, die schon jetzt hinter der Stummheit des Widersachers lauern. Vielleicht werden sogar Annas Kinder Christa Vorwürfe machen. Also gut. Der Spiegel hat Christas Aufsässigkeit nicht unterschätzt. Christas Aufsässigkeit ist verraucht. Schon Anna zuliebe wird Christa dafür sorgen, daß Abnutzung und Verfall sich nicht breitmachen bei ihr. 7. Das Telefon läutet. Clemens steht auf und wirft den Topf um, auf dem er gesessen ist. Urin rinnt über den Teppich. Mäsi lacht. Das Telefon läutet, und Daniela springt über die Urinpfütze, um abzuheben. (Nie käme Daniela in den Sinn, das Abheben des Telefons einfach zu schwänzen.) Clemens marschiert gleichfalls auf das Telefon zu, Mäsi hält ihn am T-Shirt zurück. Clemens setzt sich hin, mitten in die Pfütze. Mäsi lacht noch lauter. Daniela hebt ab. Servus, sagt eine fröhliche Stimme von einem anderen Stern. Hier ist der Martin, erinnerst du dich noch an mich? III 1. Danielas Eltern ließen sich scheiden, als Daniela vier war, aber Daniela hat, obwohl sie ihrer Mutter zugesprochen wurde, ihren Vater regelmäßig gesehen. Bibi, die danach zu ihrem Vater zog, war eine zierliche Blondine, lebhaft und lustig, Danielas Mutter in Statur und Temperament nicht unähnlich, nur sehr viel jünger. Bibi rannte lachend in T-Shirt und Slip durchs Haus, die kurzen Haare zerstrubbelt und tropfend naß, hinter Daniela her, um sie zu kitzeln. Sie begleitete Daniela zum Reiten und spielte
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Schwarzer Peter mit ihr. Nie hat Danielas Mutter sich abfällig über Bibi geäußert oder den Kontakt mit ihr und dem Vater unterbunden. Daheim bei der Mutter gab es Aupair-Mädchen, die bei Daniela blieben, wenn ihre Mutter abends ausging. Die Großmutter, Mutters Mutter, kam vorbei und holte Daniela ab, um sie in die Stadt mitzunehmen. Ein paarmal verreiste Daniela mit den Großeltern, sie erinnert sich an Nachmittage in gedämpften Konditoreien und an Hotelrestaurants voll älterer Herrschaften. Als Daniela sieben war, heiratete ihre Mutter wieder. Danielas Stiefvater ist ein beeindruckender Mann, weltläufig und geschäftlich erfolgreich, er gilt als charmant. Obwohl er Daniela liebenswürdig begegnete, blieb immer ein Stückchen Distanz zwischen ihnen. Das irritierte Daniela nicht wirklich, denn in Danielas Kindheit wimmelte es von beeindruckenden, erfolgreichen, distanziert liebenswürdigen Männern, die infolge ihrer Beschäftigung mit wichtigen Aufgaben überqualifiziert waren für die Suche nach menschlicher Nähe, schon gar nach der Nähe zu kleinen Kindern mit ihren ziemlich kindischen Wünschen. Als Daniela ihren Stiefvater zuletzt getroffen hat, schien er ihr übrigens recht gereizt, nur notdürftig verdeckte sein zerschlissener Charme eine massive Unduldsamkeit; aber Danielas Mutter handhabte ihn mit heiterer, bestimmter Routine, so daß es ungehörig gewesen wäre, sie darauf anzusprechen. Daniela war elf, als ihre Mutter mit dem Stiefvater in die Schweiz übersiedelte. Daniela kam zunächst mit, aber bald stellte sich heraus, daß das keine brauchbare Lösung war. Die Eltern reisten viel und pendelten zwischen zwei Wohnsitzen in Zürich und im Tessin, was sich mit einem regelmäßigen Schulbesuch Danielas schwer vereinbaren ließ.
In einem ausführlichen
Gespräch mit ihrer Mutter stimmte Daniela zu, daß es am vernünftigsten war, wenn sie in ein Internat ging. Man entschied sich für eins in der alten Heimat, so daß Daniela an den Wochenenden ihren Vater besuchen konnte. An Bibis Stelle war Elisa getreten, groß, biegsam, mit dunkelroter Lockenmähne und blassem, klugem Gesicht. Nicht, daß Elisa unfreundlich zu Daniela gewesen wäre; dennoch denkt Daniela an die Wochenenden mit ihr und dem Vater heute noch voll
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Unbehagen zurück, denn Elisa und der Vater waren nicht glücklich miteinander. Elisa neigte zu hysterischen Ausbrüchen, denen düsteres, brütendes Schweigen folgte. Später trennte sich ihr Vater von Elisa, darauf zog Daniela zu ihm und ging nur noch halbintern ins Sacre Coeur. Eine Zeitlang wohnten die beiden allein. Das waren vergnügte und ziemlich freie zwei Jahre. Daniela kam sich sehr erwachsen vor, denn ihr Vater machte ihr wenig Vorschriften. Im Grunde lebten sie jeder für sich; Daniela ging zur Schule und steckte viel mit Freundinnen zusammen, ihr Vater war in der Firma, auf Geschäftsreisen oder abends eingeladen. Dazwischen trafen sie einander, zu gemeinsamen Mahlzeiten und zu kürzeren oder seltener längeren Unterhaltungen. Ihr Vater begegnete ihr ruhig, verständnisvoll und großzügig, und Daniela bemühte sich, sein Vertrauen nicht zu enttäuschen. Ihre Schulleistungen waren annehmbar, nur in Mathematik brauchte sie immer wieder Nachhilfestunden. Der Vater spendierte Edelklamotten und reichlich Taschengeld und hatte nichts gegen Partybesuche einzuwenden, sofern ihre Lernerfolge nicht darunter litten. Daniela hielt sich aus eigenem Antrieb von Rauschgift fern, ihr stand der Sinn nicht nach Chaos und Anarchie. Den väterlichen Haushalt besorgten wechselnde Wirtschafterinnen, die es im allgemeinen lieber sahen, wenn Daniela Freundinnen besuchte statt mit ihnen das eigene Haus auf den Kopf zu stellen (wie die Wirtschafterinnen sich ausdrückten,
sobald
Popcorn auf den Teppichen gelandet war und
schmutzige Becher umherstanden). Daniela verbrachte viel Zeit vor dem Spiegel, aus dem ihr ein blasses, ebenmäßiges Gesicht entgegensah, mit strengen Brauen und einer zaghaften Nase. Die Wirtschafterinnen schimpften, weil offengelassene Eyeliner Farbtupfer auf den Glasplatten in den Badezimmern hinterließen und zwischen Haarbürsten geplatzte Cremetuben lagen. An den Wochenenden begleitete Daniela ihren Vater gelegentlich auf den Golfplatz, dort freundete er sich schließlich mit seiner zweiten Frau an, einer gepflegten Enddreißigerin, geschieden (von einem bekannten Chirurgen) und Mutter zweier Söhne, die etwas jünger waren als Daniela. Plötzlich erfüllte Leben das väterliche Haus. So ähnlich sagte jedenfalls Danielas neue
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Stiefgroßmutter, die oft kam, um nach dem Rechten zu sehen, und immer Schokolade für die Kinder mitbrachte. Sie brachte Schokolade für alle drei, aber ihre stolzen Blicke galten Danielas neuen Stiefbrüdern. Margit, Vaters zweite Frau, erklärte, sie würde sich freuen, wenn Daniela sie als Freundin akzeptieren wolle. Ihren Söhnen gegenüber trat sie bestimmt auf, während sie Daniela vorsichtiger behandelte, bemüht, ihr ja nicht autoritär zu kommen. Daniela fühlte sich erwachsen, aber diesmal nicht frei, sondern verpflichtet, vernünftiger zu sein als die kleinen Brüder. Stihile Naaacht! Der 24. Dezember im Kreise der neuen Familie: Daniela saß auf gepackten Koffern, denn sie würde am nächsten Tag nach Zürich fliegen, dort ihre Mutter und ihren Stiefvater treffen und dann mit beiden weiter fahren nach Gstaad; Nick spielte auf der Geige, Conrad machte sich darüber lustig. Margit schenkte Daniela Ohrstecker mit kleinen Saphiren. Nick bekam ein Flugzeug mit Fernsteuerung und ließ es in ein Erkerfenster donnern. Margit schimpfte, der Vater verteidigte ihn. Die neue Großmutter schaute mit weher Miene auf Nick, so, wie sie vorher auf die Saphire geschaut hatte, die Danielas Weihnachtsgeschenk von Margit waren. Danielas Mutter schluckte, als sie Daniela zu Gesicht bekam. Daniela hatte ziemlich viel gefuttert in letzter Zeit, und das sah man ihr leider an. Daniela erklärte sich einverstanden, für die Dauer des Urlaubs in Gstaad auf Süßspeisen zu verzichten. Kurz danach übersiedelten Mutter und Stiefvater für zwei Jahre nach Amerika. Daniela, gefragt, ob sie mitkommen wolle, bejahte. Sie besuchte eine High-School in Maryland, nahe Washington, D.C., in den Ferien flog sie mit den Eltern nach Florida, wo braungebrannte Pensionisten in palmenbestandenen
Reservaten
einen
angeblich
artengerechten
Vitalitätsspiegel konstant hielten. Daniela, inzwischen wieder dünn, bummelte mit ihrer Mutter durch klimatisierte Shopping Mails aus Redwood und getöntem Glas, draußen tauchten Pelikane ins Wasser des Golfs von Mexiko. Stefan lernte Daniela nach ihrer Rückkehr an der Uni kennen. Er war damals mit Katharina liiert, von der er sich aber Danielas wegen trennte. Stefan war zärtlich und witzig, neben ihm bekamen ganz gewöhnliche Tage den Glanz
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ahnungsvoller Vorfreude, und sogar Spaziergänge im Rathauspark (immer im Kreis herum) waren lohnende Unternehmen an seiner Seite. Daniela saß mit Stefan und Sophie, mit Thomas und Martin, Bernd und Marlene in den Kaffeehäusern nahe der Universität, lachte mit und gab sich einem Gefühl warmer Geborgenheit hin. Auch Stefans Eltern nahmen Daniela mit Herzlichkeit auf. Sein Vater war ein stiller Mann, der ihm, erzählte Stefan, geduldig Skifahren und Mathematik beigebracht hatte. Stefans Mutter buk Kuchen, umarmte viel und hatte eine Schwäche für allzu goldenen Schmuck (was Daniela ihrer Familie nicht verriet). Daniela kuschelte sich bereitwillig in Stefans Arme, doch Stefan sprach immer häufiger von der Freiheit, die er notwendig brauche, und daß er die Welt kennenlernen müsse. Sein Charme war beunruhigend. Daniela sah bang, wie auch Barbaras Augen in Stefans Nähe zu glänzen anfingen. Stefan schwärmte von einer Zukunft als tingelnder Wissenschafter, einmal wollte er ins Silicon Valley, dann wieder für Greenpeace tätig werden. Daniela kam in seinen Plänen nicht vor. Daniela, betrübt, doch noch nicht verstört, suchte Trost bei seiner Mutter. Das mußt du verstehen, sagte Stefans Mutter kühl, er ist jung, er will sich nicht festlegen, er will noch alles mögliche sehen. Du hast leicht reden, du warst schon überall. Aus Danielas Gesicht wich die Arglosigkeit. Als Daniela mit Georg essen ging, den sie bei Bekannten ihres Stiefvaters kennengelernt hatte, nahm sie atemlos im Restaurant Platz. Georg hatte sich weit entfernt von den Kaffeehäusern, in denen Stefan, Martin und Marlene in Zukunftsphantasien schwelgten, und trotzdem war er jung geblieben. Nie hätte Daniela sich in Georg verliebt, wenn Georg väterlich gesetzt auf sie gewirkt hätte. Was heißt, du wirst ihn heiraten? fragte Sophie, als Daniela ihr von sich und Georg erzählte. Ist er denn nicht schon verheiratet? Nur noch auf dem Papier, antwortete Daniela. Praktisch lebt er von seiner Frau getrennt. Natürlich willst du Kinder, hatte Georg gesagt, mit ironischem Unterton. Die Frauen wollen immer Kinder. Ich bin diesbezüglich ja schon eingedeckt, aber bitte, ich sehe ein, daß dir das nicht genügen wird.
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Kurz nach Danielas Heirat brach Stefan sein Studium ab und fing in einem heimischen Mittelbetrieb zu arbeiten an. Schon sein Vater hatte es nach einem ähnlichen Start bis zum Prokuristen einer regional angesehenen Textilverarbeitungsfirma gebracht. 2. Martin stapft vor Daniela und den Kindern hügelan und bleibt dann bei der fünften Kreuzwegstation stehen, um auf sie zu warten. Er dreht sich Daniela zu. Ein scharfer Wind bläst in seine Haare, so daß sie wie ein Kranz aus schwarzen Pinselborsten um seinen Kopfstehen. Seine Augen sind gerötet, seine Wangen blaß unter dem Dreitagebart. Beim Lächeln entblößt er spitze Eckzähne. Manche Mädchen haben Martins düsteres Aussehen attraktiv gefunden, sie vermuteten romantische Qualitäten hinter der fehlenden Harmonie seiner Züge. Aber Daniela erlag Stefans sonniger Zuversicht. Wie Martin vor ihr steht und mit spitzen Zähnen lächelt, während ihm der unerbittliche Wind Tränen in die Augen treibt, muß Daniela an Stefans makelloses Gesicht denken. Der Wind fährt ihr über den Mund. Sie schnappt nach Luft. 3. Lies nicht schon wieder! sagte Agnes' Mutter. Du kannst nicht den ganzen Tag herumsitzen und lesen, während es um dich drunter und drüber geht. Hast du Lateinvokabeln gelernt? Hast du die Mathematikaufgabe gemacht? Was ist mit Physik? fragte Agnes' Mutter und fegte durch die Wohnung und räumte weg und rückte gerade. Leg jetzt einmal das Buch weg, und greif was an! forderte Agnes' Mutter. Stell das Geschirr in die Küche, trag den Mist hinunter, such deine Pullover zusammen! Du kannst nicht mich den ganzen Tag arbeiten lassen und selber nichts tun, Herrgott noch einmal. Die Wohnung war groß und dunkel, unübersichtliche Räume gingen ineinander über, abends bildeten sich Lichtinseln unter Lampenschirmen,
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die staubig wirkten, egal, ob sie abgewischt wurden oder nicht. Agnes' Vater stand als vergilbende Fotografie auf keiner der Kommoden, ein knabenhafter Mann mit eingefallenen Wangen und großen Augen.
Seine schmalen
Lippen lagen fest aufeinander. Sensibel und künstlerisch begabt war er gewesen, einen viel zu frühen Tod war er gestorben; so hieß es, wenn von ihm die Rede war. Agnes betrachtete sein Bild mit Skepsis, es gelang ihr nicht, sich
diesen
Mann
als
fröhlichen
Spielkameraden
vorzustellen.
Ihr
signalisierte sein angeblich sensibler Mund egozentrische Verschlossenheit. Agnes' Mutter hatte ursprünglich als Ärztin eine eigene Praxis gehabt. Doch Agnes war ein kränkliches Kind, und bezahltes Personal erwies sich als nicht zuverlässig bei ihrer Pflege. Nach und nach blieben der Mutter, die immer wieder die hustende und fiebernde Agnes betreuen mußte, statt sich fremden Kranken widmen zu können, die Patienten weg. Sie gab die Ordination auf und rettete sich mit Halbtagsstellen, erst als Schulärztin, später bei der Polizei, durch. Agnes kann sich an die Zeit, in der ihre Mutter selbständig war, nicht erinnern. Aber sie hat die Geschichte von der gescheiterten Praxis oft genug gehört, um sie als gegen sich gerichteten Vorwurf empfunden zu haben. Mit erbitterter Selbstverleugnung kam die Mutter ihren Pflichten nach. Sie kochte ungern, doch um Agnes' Gesundheit willen wurde Agnes' Gesundheit längst stabilisiert hatte
auch, als sich
nie eine warme Mahlzeit
ausgelassen. Die warmen Mahlzeiten von Agnes' Mutter bestanden aus zersottenen Kartoffeln, geschmacklosem Gemüse und zähem Fleisch; Agnes aß sparsam und hatte keine Gewichtsprobleme. Agnes' Mutter langweilte sich in der Natur, aber Agnes zuliebe fuhr sie ans Meer und in die Berge, wo sie gereizt neben Agnes herstapfte, die ebenfalls übellaunig die lärmenden Urlauberhorden durchquerte. Ihr
Befremden
angesichts
johlender
Menschenmassen,
die
ihren
Freizeitkonsum betrieben wie eine harte Aufgabe, einte sie leider nicht. Zu sehr fühlten sich beide von der brutalen Heiterkeit der Horden bedroht, als daß sie ihrerseits zusammen hätten lachen können. Agnes' Mutter mußte rechnen. Agnes sollte sparen. Schon lange, ehe einen dieses Verhalten ökologisch ehrte (ja, sogar lange, bevor die Vokabel
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ökologisch zum allgemeinen Wortschatz gehörte), wurde Agnes angehalten, überflüssige Lichter zu löschen, Türen der Heizung wegen zu schließen, nicht mehr Wasser abzukochen, als sie brauchte, und ihre Kleidung aufzutragen. Mach deine Schuhe nicht kaputt! mahnte die Mutter. Erst essen wir die Marmelade auf! bestimmte die Mutter. Was, schon wieder ein neuer Malkasten? stöhnte die Mutter. Geht der alte wirklich nicht mehr? Nie wäre Agnes' Mutter auf die Idee gekommen, ein Taxi anzuhalten, nur weil es regnete. Ihre Telefongespräche waren so kurz wie möglich. Sie verwendete Teebeutel zweimal. Zu ihrer Angst vor einem wirtschaftlichen Zusammenbruch kamen ein bemerkenswerter
Mangel
an
persönlicher
Eitelkeit
und
ein
tiefes
Unverständnis für Faulheit, Bequemlichkeit oder luxuriöse Bedürfnisse. Kleidung diente ihrer Auffassung nach dazu, Blößen zu bedecken und seine Trägerinnen vor Wind und Wetter zu schützen. Nur Hohlköpfe mußten sich mit Hilfe von Statussymbolen legitimieren. Wer sich gehenließ und es sich gutgehen ließ, war eine wandelnde Provokation angesichts der vielen, die ums nackte Überleben zu kämpfen hatten. Agnes' Mutter lief in strengen Kostümen, mit schiefgetretenen Absätzen und lieblos zurückgekämmtem ergrauendem Haar durch die Straßen und bemerkte das Erstaunen, das sie auslöste, wenn herauskam, daß sie eine Frau Doktor war, genausowenig, wie sie zuvor die Herablassung bemerkt hatte, mit der ihr die Verkäuferinnen in dem noblen Bettwäschegeschäft begegnet waren. (Bei dauerhaften Haushaltsgütern griff die Mutter zu erster Qualität, weil sie ihrer Meinung nach länger hielt; allerdings verzichtete sie auf jeglichen Firlefanz und Schnickschnack, schlicht mußte alles sein.) Auch Agnes wollte die Mutter in praktischen Schuhen, vernünftigen Jacken und
derben
Röcken
sehen.
Kopfschüttelnd
betrachtete
sie
Agnes'
schwarzumrandete Augen. Du wirst dir die Füße ruinieren! sagte sie, als Agnes anfing, hohe Absätze zu tragen. Muß das sein? fragte sie, wenn Agnes sich die Lippen bemalte. Allerdings hielt sich ihr Befremden insofern in Grenzen, als Agnes sich nur kurze Zeit puppenhaft ausstaffierte; danach trug sie jahrelang mit Vorliebe Grau und Schwarz, was andere Mütter vielleicht sonderbar gefunden hätten.
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Agnes' Mutter hingegen fiel allenfalls eine gewisse Melodramatik in Agnes' betont farbloser Aufmachung unliebsam auf, ansonsten enthielt sie sich jeden Kommentars. Das bunte Thema Mode war von Agnes' schwarzen Rollkragenpullovern sozusagen verschluckt worden. Ihrer Mutter erschien das nur angemessen. Es kam Agnes vor, als panzerte sich ihre Mutter mit ihren strengen Kostümen gegen die Versuchung, als geschlechtliches Wesen aufzutreten. Auch die seltenen Male, da sie elegant ausging, steckte sie in Rüstungen aus starrem Stoff in harten Blautönen, die ihren Körper unter Verschluß hielten. Nur einer einzigen Leidenschaft gab die Mutter sich in all den Jahren hin: Sie hörte Musik, am liebsten barocke, deren machtvolle, triumphale Heiterkeit sie entführte aus der kargen Enge ihres spartanischen Lebens und die sie zugleich bestätigte in ihrer Überzeugung, daß das Einhalten strenger Gesetze einem höheren Zweck diene. Die Mutter hörte Musik nicht bloß aus dem Radio und von Platten, sie hatte auch ein Konzertabonnement, später eins für sich und Agnes, so lange, bis Agnes eigene Wege einschlug. Agnes erinnert sich an einen Herbstspaziergang mit ihrer Mutter, Matthias war knapp zwei. Sie wanderten einen stillen (es war wochentags) Waldweg hügelan, unter einem Blätterdach aus Gold und Kupfer, nachher saßen sie vor der verwitterten Holzhütte, die als Ausflugsgasthof diente, und schauten auf friedliche Weingärten, während Matthias Steinchen zu einem Haufen zusammentrug. Sie habe eine Umbrienreise gebucht, erzählte die Mutter mit rosigen Wangen, das Haar, das sie im Nacken verschlungen hatte, fiel ihr in einer weichen Welle über die Stirn. Sie lachte Matthias zu, der ihr stolz einen vielfach geäderten Beutestein zeigte. Weißt du, sagte sie zu Agnes, ab jetzt gönn' ich mir was. Auf dem Heimweg hörten sie im Auto Rod Stewart. Der Mutter gefiel seine aufsässige Stimme. Zwei Monate später war sie tot, an einem Lungeninfarkt gestorben. Agnes hält es für symbolträchtig, daß der Mutter gerade das Organ versagte, um dessen Gesundheit sie sich bei Agnes deren halbe Kindheit gesorgt hatte. Sie mochte aber nie darüber nachdenken, was dieses Zusammentreffen symbolisierte, wenn es denn einen Symbolgehalt hatte.
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Als Agnes anfing, ihre Vorlesungen zu schwänzen, und statt dessen in den Schauspielunterricht ging, mußte das vor der Mutter geheimgehalten werden. Das Geld für die Schauspielschule verdiente Agnes mit Nachhilfestunden in Mathematik und Physik (zwei Fächer, in denen sie erstaunlicherweise in der Schule gut gewesen war, trotz ihres Hangs zum Musischen), als Aushilfskellnerin und mit ersten Rundfunkaufträgen. Auf Betreiben der Mutter hatte Agnes (für die ein Medizinstudium nie in Frage gekommen war, schon deswegen, weil ihr die mit dem Arztberuf verbundene Verantwortung angst machte) Germanistik und Kunstgeschichte inskribiert, obwohl ihr die Vorstellung, einmal als Lehrerin zu arbeiten, tiefes Unbehagen bereitete. Als herauskam, daß sie sich der Schauspielerei zugewandt hatte, schrie die Mutter bitterböse mit Agnes und stellte sie vor die Wahl, entweder zur Germanistik zurückzukehren oder sich ganz auf eigene Füße zu stellen. Agnes nahm
die
Aufforderung
ernst
und
zog
zu Ines
und
Susi,
zwei
Germanistikstudentinnen aus der Provinz, die zusammen eine kleine Wohnung gemietet hatten. Die Wohngemeinschaft ging nicht lange gut, denn Ines und Susi waren strebsam, ordentlich und Frühaufsteherinnen, während Agnes meinte, das Feuer
ihrer
künstlerischen
Berufung
durch
nächtliches
Aufbleiben,
Schlamperei und Unzuverlässigkeit am Brennen halten zu müssen. Damals hat Agnes gelernt, Aufträge zu akquirieren und, wenn möglich, zäh um Honorare zu feilschen. Sie sprach Werbespots, schrieb PR-Texte und bekam schließlich eine kleine Rolle in einer wöchentlichen Hörfunkserie. So gelangte
sie
zu
einem
bescheidenen,
aber
halbwegs
regelmäßigen
Einkommen und konnte in eine eigene kleine Untermietwohnung umsiedeln, schäbig zwar, aber ganz ihrem Walten überlassen, wo sie bald freiwillig die Badewanne putzte und das Bettzeug lüftete. Ein Kollege aus der Schauspielschule kannte den Leiter eines Kellertheaters, an ihn vermittelte er Agnes als Regieassistentin. Das Kellertheater war keine Avantgardebühne, sondern eine, die billige Boulevardstücke spielte, und Agnes, die als Mädchen für alles Kulissen schleppte, Requisiten besorgte, Kostüme zur Reinigung brachte und Presseaussendungen verfaßte, redete
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sich ein, daß sie auf diese Art zumindest technisch und organisatorisch viel lernte. Dann wurde das Haus, in dem sich das Theater befand, verkauft, und es hieß, der neue Eigentümer wolle den auslaufenden Mietvertrag nicht verlängern. Bittgänge setzten ein, an denen auch Agnes teilnahm, Besprechungen wurden abgehalten, bei denen Agnes zugegen war. Zu einem Treffen brachte der neue Hausherr seinen Architekten mit, der das Gebäude sanieren und die alten Wohnungen in komfortable Appartements umbauen sollte. Der Architekt, ein kräftiger, energiegeladener Mittdreißiger mit kurzgeschnittenem, blondem Haar, blütensauberem Maßhemd und ungeduldigen Gesten, hörte sich die Beschwörungen der Theaterleute unbekümmert grinsend an. Als sich die Versammlung auflöste, stand er plötzlich neben Agnes und sagte halblaut amüsiert zu ihr: Jetzt behaupten Sie bloß, Sie sehen es als kulturellen Verlust an, wenn der Laden hier zusperrt! Agnes strafte ihn mit einem stechenden Blick: Warum reden Sie nicht lieber über Sachen, von denen Sie was verstehen? Daheim sagte Berni (am Herd, wo er gerade eines seiner überwürzten Halbfertiggerichte zusammenpanschte): Miese Profitgeier sind sie, alle miteinander. Und dann der Architekt! Hast du sein Hemd bemerkt? Mit Monogramm. Ein Spießer, wie er im Bilderbuch steht. (Später erfuhr Agnes, daß Viktoria Georg die Hemden mit Monogramm schenkte.) Berni wohnte und schlief gelegentlich bei Agnes. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätten sie ständig zusammengelebt, doch Agnes mochte sich nicht wirklich an ihn binden. Berni spielte einen Großteil der männlichen Hauptrollen an dem Kellertheater, das nun in seiner Existenz bedroht war, er mimte Liebhaber und Bösewichter jeden Alters in Stücken mit Titeln wie Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern oder Meine Frau, die Salonschlange. Privat las er Sartre, Camus und Steinbeck und träumte von einer Hauptrolle in einer skandalösen Tennessee-Williams-Inszenierung. Berni war sanftmütig und versponnen. Er war eine Maulhure, niemand redete so radikal daher wie er. Seine Thesen zur Kunst waren unerbittlich, seine
gesellschaftlichen
getragen.
Aber
im
Utopien
persönlichen
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von
erbarmungsloser
Umgang
war
er
Gerechtigkeit
nachgiebig
und
kompromißbereit. Im Bett mit ihm blieb Agnes lau, obwohl er sich zartfühlend
und
eifrig
mühte,
ihr
seine
Zuneigung
eindringlich
klarzumachen. Größeren Gewinn zog Agnes aus dem Beischlaf mit Christian, einem selbstverliebten Werbefilmer, der nach modischen Aftershaves roch und über billige Witze lachte. Auch er zeigte sich, allein mit Agnes wie Adam mit Eva, von einer erstaunlich zärtlichen Seite, was Agnes, eben weil diese Zärtlichkeit in einem verblüffenden Gegensatz stand zu seiner sonstigen lauten Selbstsicherheit, mehr aufregte als Bernis gleichmäßige, ja demonstrative Sensibilität. Aufrecht und angezogen war Christian ein unerträglicher Hohlkopf, der Agnes, sobald sie mit ihm ausging, zückte wie ein neues Feuerzeug - ein neues Stück in einer übrigens ziemlich unübersichtlichen Sammlung von Feuerzeugen
beziehungsweise
Frauen.
Agnes
verwehrte
ihm
daher
inzwischen, sie öffentlich vorzuführen, aber sie paarte sich weiterhin mit ihm in der einen oder anderen Nacht. Du bist wie diese Männer, für die Dummheit eine erotische Qualität darstellt! warf Berni ihr vor, der ihr Verhältnis mit Christian ahnte, wenngleich er nicht explizit davon wußte. Obwohl Besitzansprüche an und für sich als überholt galten, jedenfalls in Agnes' und Bernis Umfeld, und obwohl Agnes Berni nie irgendeine Zusammengehörigkeit bestätigt hatte, scheute sie davor zurück, seine Toleranz allzusehr zu strapazieren, indem sie ihm ausdrücklich mitteilte, daß sie mit Christian schlief. Berni seinerseits spielte den Coolen und
tarnte
seine Eifersucht
als
grundsätzliche
Bedenken.
(Als
er
zwischendurch mit Miriam ins Bett ging, meldete er es Agnes unverzüglich. Agnes konnte den Ärger,
der
sie
spontan
überkam
angesichts
des
schlechten Lohns für ihre Diskretion, nicht ganz unterdrücken, und Berni bezichtigte sie daraufhin des altmodischen Wunsches, ihn vereinnahmen zu wollen. Er schien enttäuscht, und zwar stärker, als Agnes' ärgerliche Reaktion erklärte. Hatte er gehofft, sie würde verzweifelt sein statt bloß verstimmt?) Bernis Vorwurf, Agnes' erotisches Begehren sei an ein Intelligenzmanko gebunden, traf Agnes nicht. Nicht seine Hohlköpfigkeit zog Agnes zu Christian, sondern seine Vitalität, die einen Ausgleich zu ihrer Schwäche
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verhieß. Berni war pessimistisch und unsicher. Das war Agnes selber, dazu brauchte sie keinen zweiten. Christian riß Agnes mit und lenkte sie ab. Zugegeben, seine Sicherheit resultierte aus Ignoranz. Aber da Agnes davon ausging, daß Stabilität auch auf anderen Wegen zustande kommen konnte, war sie überzeugt, daß ihre Vorliebe für sichere Männer nicht auf jeden Fall eine Vorliebe für dumme Männer war. Berni durfte als einziger in ihr Bett, ansonsten bewahrte sie ihre häusliche Intimsphäre vor ihrem unkeuschen Lebenswandel. Daß Agnes ihren Lebenswandel gelegentlich als unkeusch empfand, war vermutlich ein Relikt aus der Zeit, in der die kleine Agnes (keineswegs zur Begeisterung ihrer Mutter übrigens) jedes Wort der Religionslehrerin geglaubt hatte. Davon abgesehen, erhielt sie sich durch ihr außerhäusliches Sexualleben ihre Autonomie: Sie bestimmte, wie lange sie bei Christian (oder einem anderen gelegentlichen Liebhaber) blieb; indem sie kam und ging nach ihrem Belieben, gab sie nicht mehr von sich preis, als unbedingt nötig war. Lediglich für Berni machte sie eine Ausnahme, er war ihr ähnlich genug, um in ihrer heimischen Festung nicht zu stören, und zudem war er fügsam und ließ sich auch wieder wegschicken. Berni hätte sich freuen können darüber, daß er ja doch eine Vorzugsstellung genoß, indem er ihr zumindest näherkommen durfte als andere, wenn er um seine Vorzugsstellung gewußt hätte. Weil aber Agnes ihren Lebenswandel vor Berni ebenso verbarg wie vor ihrem Bett, ahnte Berni nichts von seinem Glück, was ihm zumindest falsche Hoffnungen ersparte. Glück? Wir wollen Agnes nicht kostbarer machen, als sie ist, und aus Berni nicht die Klischeefigur des blindergebenen Anbeters. In Wirklichkeit hatte Berni sehr viel mehr Furcht vor Nähe als Agnes. Während Agnes sich gewissermaßen für den Richtigen bewahrte und deshalb die Falschen auf Distanz hielt, suchte Berni, der ängstliche, trübe, bekümmerte Berni, menschliche Nähe bloß zum Zweck der selbstsüchtigen, einseitigen Gefühlsausbeutung, wie ein Patient die Nähe einer Pflegerin sucht. Trotz seiner angeblichen Teilnahme an Agnes' Leben strahlte er keine herzliche Wärme aus. Mit kalter Berechnung rang Berni sich seine Einfühlsamkeit ab. Sein vorgebliches Interesse an Agnes war lediglich der Preis, den er
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ungeduldig hinblätterte, um ihre Aufmerksamkeit dafür zu erhalten. Wie ein quengelndes Kind wollte er Mittelpunkt sein, und quengelnd zerrte er an Agnes, indem er an ihrer Psyche herumzudoktern versuchte. Seine Sensibilität legte er bloß, damit Rücksicht darauf genommen würde. Berni brauchte Nähe in ihm angemessener therapeutischer Dosierung. Agnes sollte ihm so nahekommen, wie erforderlich war, um ihm seelenpflegerische Dienstleistungen angedeihen zu lassen. Man kann einen Leidenden nicht umbetten, ohne ihn anzufassen. Berni wollte von Agnes auf Rosen umgebettet werden, und darum bedauerte er es, daß sie ihn nicht resolut an sich zog. Aber er wäre in Panik geraten, hätte Agnes ihm nahe sein wollen auf eine Art und Weise, die auch ihm Verantwortung abverlangt hätte statt unverbindlicher amateurpsychologischer Diagnosen. Hast du sein Hemd bemerkt? fragte Berni. Mit Monogramm. Ein Spießer, wie er im Bilderbuch steht. Er sagte es glücklich, weil Georgs Hemd mit Monogramm seine schlimmsten Vorurteile zu bestätigen schien. Georg rief Agnes an. Ich habe Sie im Radio gehört. Sie machen das sehr überzeugend. Sie aber nicht, sagte Agnes spröd. Ich hab' ihn doch am Anfang eigentlich gar nicht leiden können, erinnerst du dich? fragte Agnes später, als sie mit Georg in Scheidung lebte, ihre Freundin Mausi drängend, insistierend, so, als könnte ihre anfängliche Abneigung ihr die Scheidung erträglicher machen. Sie aber nicht, sagte Agnes abweisend, und Georg lachte. Agnes
bekam
eine
Hauptrolle
angeboten.
Eine
Gruppe
junger
Schauspielerinnen und Schauspieler wollte Anouilhs »Antigone« aufführen, mit Agnes als Antigone; man hatte eine Kellerbühne aufgetan, die vorübergehend nicht bespielt wurde, und das Kulturamt hatte eine Subvention in Aussicht gestellt. Agnes verbannte Berni aus ihrer Wohnung, weil er ihr seine Auffassung der Rolle aufdrängen wollte. Sie probte mit Geduld und Besessenheit, nichts sonst interessierte sie, mit Mühe und Not brachte sie ihre Rundfunkaufnahmen hinter sich. Ein oder zweimal holte Georg sie aus dem Theater ab und schleppte sie zum Essen. Sie schaute
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verwirrt um sich, ratlos in einer fremden Welt, und gab abwesende Antworten. Zur Premiere kam es nicht. Das Kulturamt gab die Subvention doch nicht her, die Betreiber der Kellerbühne verlangten Geld, das niemand hatte, und eine hohe Stromrechnung war offen. Der Darsteller des Kreon schmähte brüllend eine banausische Bürokratie im Extrazimmer des bühnennahen Wirtshauses, die Regisseurin schluchzte, man hielt einander tröstend umschlungen, später wurden kichernd diffuse Rachepläne geschmiedet. Agnes stand plötzlich auf, mit steifen Knien, ging zum Telefon und rief Georg an. Er kam in seinem großen, sicheren, teuren Auto, der Familienkutsche, und Agnes bestieg es wie ein Schiff. Nachsichtig lächelnd sah Georg zu, wie Agnes auf Plastikrosen schoß und auf die gegnerischen Flugzeuge am Karussell, auf dem sie, im Kreis fahrend, auf und nieder schwebten in ihrer Kunststoffschüssel, die ebenfalls ein Flugzeug darstellen sollte. Georg gegen den lärmerfüllten Nachthimmel, den bunte Lichtergirlanden durchlöcherten: Auf und nieder schwebte sein Lächeln, ein nachsichtiges Siegerlächeln. Er klappte den Kragen seiner rissigen Lederjacke hoch, verwegene Geste eines Flugpioniers. Agnes lachte dankbar. 4. Armer Georg! Zum Retter erkoren, schon zweimal, nur weil er sich als Retter anbot. Agnes wie Daniela suchten eine Zuflucht, weil sie zu schwach waren, auf der Flucht zu bleiben. Selber schuld, wer feige unterschlüpfen will. Du schlüpfst unter, und schwupps! sitzt du im Finstern. Georg als Ritter auf schimmerndem Pferd lächerlich. Seine eigene Haut wollte Georg retten, selbst flüchten wollte er, auch er auf der Suche nach einer .anderen Welt na, sagen wir: nach einem Kontrastprogramm. Agnes und Daniela haben nach Georg gegriffen wie nach einem Zirkusdirektor, der ihnen den fliegenden Wechsel vom Trapez zu festem Boden ermöglichen sollte. Eine schwierige Nummer ist das! Da müssen sie auch in Kauf nehmen, daß der Zirkusdirektor mit der Peitsche knallt.
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Ach nein, er ist ja nicht einmal ein Zirkusdirektor. Er ist der Mann vor dem Zelt. Wie konnten Agnes und Daniela hoffen, daß der Mann vor dem Zelt sie auffangen würde bei ihren Sprüngen vom Trapez! (Und wie sind sie auf das Trapez geraten, ganz ohne Ausbildung?) Agnes und Daniela haben auf Georg gesetzt als starken Prinzen, der ihnen die Dornenhecke teilen würde, und gekriegt haben sie einen normalen, irdischen Mann, der kein Unkraut jäten mag. Recht geschieht ihnen! Man überfordert arglose Männer nicht, indem man ihnen die Stärke abkauft, die sie vortäuschen (vortäuschen nicht aus Hinterlist, sondern aus eingelernter Gewohnheit). Armer Georg. Wünscht sich ein Kontrastprogramm und soll auf einmal selber das Kontrastprogramm sein! Wie anders hätte Georg sich Frauen denn nähern sollen als überlegen lächelnd, nachsichtig, mit breiter Brust und gepanzertem Familienauto, wenn man ihm doch beigebracht hat, daß man nur in dieser Kostümierung unter die Frauen gehen kann? Genug Metaphern strapaziert. Warum dieser Bilderreichtum ausgerechnet für Georg? Vielleicht, weil Agnes und Daniela den Fehler gemacht haben, in Georg mehr zu sehen als Georg, einen schwachen Menschen männlichen Geschlechts. So
symbolträchtig
war
Georg,
und
nachher
sind
ganz
normale
Schwangerschaften für Agnes und Daniela herausgekommen. Eine Metapher noch: Der feste Boden, auf dem Agnes und Daniela landen wollten, hat sich als loser Sand erwiesen. Wen wundert's? Unter jedem festen Boden droht loser Sand, es sei denn, man beschränkt sich aufs Geologische. 5. Christa hat sich Georgs wegen scheiden lassen, aber nicht, um einer unerträglichen Ehe zu entkommen. Christa hat Georg nicht retten müssen, da kann er noch so oft behaupten, er habe sie von einem quälend langweiligen Ehemann befreit. Christa, bei der es nicht zutrifft, will Georg als einzige erlöst haben. Würde man ihm sagen, daß er für Agnes und Daniela ein Notausstieg
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war, wäre er sehr beleidigt. Weder Danielas Stefan noch Agnes' Theaterleidenschaft würde er als Konkurrenz gelten lassen, was Agnes und Daniela betrifft, so sieht er sich als denjenigen, der sie emotional defloriert hat, er war für beide, glaubt er, die erste große und wahre Liebe. Ist ja auch wenig aufbauend, sich als Ersatz für zersprungene Träume betrachten zu sollen. Christa hingegen kann er gerettet haben ohne Beeinträchtigung seines Ansehens. Wollte er Agnes und Daniela gerettet haben, müßte er zugeben, daß er sie aus einer vergeblichen Zuneigung erlöst hat, die nicht ihm galt. Christa hat er, so stellt er es zumindest dar, aus einer Abneigung erlöst, die ihrem Ehemann galt. Christa stellt es nicht ganz so dar. Wenngleich sie behauptet, die Scheidung von ihrem ersten Mann nie bereut zu haben (was nur vernünftig ist, weil ihr eine späte Reue nichts einbrächte als einen gestörten Seelenfrieden), behauptet sie doch auch, daß ihre erste Ehe keineswegs dramatisch unglücklich war. Christa hat sich Georg nicht an den Hals geworfen aus einer tiefen Enttäuschung heraus, sondern sie ist, als sie Georg spielerisch, neugierig, umarmt hat, draufgekommen, daß sie an Georgs Hals Herzklopfen kriegte, am Hals ihres Ehemannes hingegen nicht mehr. (Hat ihr Herz am Hals ihres Ehemanns überhaupt je so stürmisch geklopft, wie es an Georgs Hals geklopft hat?) Was heißt, du mußt nach Hause? fragte Georg gekränkt, mit trotzigem Kindergesicht. Ich will, daß du bei mir zu Hause bist, nicht bei ihm. Komm zu mir, bettelte Georg, bleib bei mir, das könnt ihr doch nicht machen, daß ihr jetzt geht, ihr zwei. Ich will mit dir aufwachen, und zwar jeden Tag! forderte Georg. Die kleine Anna hatte ihn quietschend vom Bootssteg geschubst, nun schüttelte er sich wie ein nasser Hund und ließ sich neben Christa auf die Luftmatratze fallen. Blonde Härchen glitzerten silbern auf seinem sehr braunen Nacken. Er drehte sich Christa zu und zog mit einem Zeigefinger die Konturen ihrer Lippen nach. Vorsicht! sagte Christa mit einem warnenden Blick auf Anna, die ebenfalls aus dem Wasser kletterte. Vorsicht, Vorsicht!
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äffte Georg sie nach. Was soll denn das heißen? Ich will nicht ewig Verstecken spielen. Christas Mann ging lieber auf den Tennisplatz als mit Weib und Kind baden. Überhaupt verbrachte er seine Freizeit mehr mit seinen Sportsfreunden als mit Christa und Anna. Er fuhr Autorallyes. Er segelte Regatten. Im Winter gehörten seine Wochenenden dem Skifahren. Wenn Anna mitkam, wurde er zappelig. Sie behinderte ihn. Er war ihr immer ein paar Schritte voraus, ungeduldig. Nur mühsam bremste er sich dem Kind zuliebe. Erklär ihr doch was! forderte Christa ihn auf. Er blieb stehen, faßte die kleine Anna auf ihren kleinen Skiern unschlüssig ins Auge, sagte: Paß auf! und fuhr ihr einen Bogen vor. Anna rutschten die Skier unter den Füßen weg, sie setzte sich in den Schnee. Ihr Vater zog sie hoch, klopfte sie ab und gab sie Christa zum Halten wie ein Gepäckstück. Ich komm' gleich! sagte er. Dann spurte er zum Lift und war für den Rest des Vormittags verschwunden. Dagegen dieser Sommer mit Georg! Georg trug Anna huckepack, tauchte mit ihr unter, zog sie an der Luftmatratze durchs Wasser; ernsthaft erörterte er mit ihr die Frage, ob Teddys von Natur aus Nichtschwimmer seien. Faul lag er im Ruderboot, die Augen geschlossen. Du mußt rudern! verlangte Anna. Nein, du! Du mußt mich rudern! sagte Georg. Ich bin ganz müde. Du bist dran. Anna zerrte an ihm und kitzelte ihn. Er schnappte mit geschlossenen Augen nach ihr wie ein Tier nach einer Fliege. Anna kreischte. Er packte sie plötzlich mit beiden Händen. Rudere, oder ich freß dich! Anna verschluckte sich vor Lachen. Ich rudere jedenfalls nicht! sagte Christa. Hast du das gehört? fragte Georg Anna. Sie will nicht arbeiten! Sie ist ein Faulsack. Weißt du, was? Faulsäcke gehören über Bord! Er hatte Anna losgelassen und faßte nach Christa. Eifrig griff auch Anna nach Christas Hand. Mit einem spitzen Schrei hechtete Christa über den Bootsrand. Warum denn gleich Scheidung? wollte Christa wissen. Es geht uns doch nicht schlecht, so, wie wir's jetzt haben.
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Wie kannst du das behaupten? fragte Georg empört. Dir geht es nicht schlecht? Mir schon. Ich verstehe dich nicht. Schau, sagte Christa überredend, die schönen Zeiten verbringen wir eh miteinander. Und die öden ersparen wir uns. Das ist ja unmoralisch! Georg setzte sich jäh auf. Sag, willst du zwei Männer haben? Einen für den Alltag und einen für die Sonntage? Na ja, sagte Christa lachend, vielleicht wäre das ganz vernünftig. Alltag nutzt ab. Unfair wäre das, korrigierte Georg streng. Christa lachte wieder. Wem gegenüber? Meinem Mann? Bist du sein Anwalt? Nein. Dein Mann kriegt vermutlich nur, was er verdient. Georg legte sich wieder zurück. Mir tut es leid um die Alltage mit dir. Ich will auch die Alltage. Ich will dich alle Tage. Ich stell' mir das schön vor, weißt du. Solche Sätze sagte Georg, als er ein junger Hund war mit nassem, silbrigem Fell. Das Sonnenlicht zerging wie Butter auf dem Wasser, einem ruhigen Seitenarm des großen Flusses. Dunkle Baumkronen spiegelten sich darin in Ufernähe, und hinter den Bäumen ragten die Häuser der Stadt hoch. Christa liebte dieses Wasser gerade wegen seiner Nähe zum ärmlichen Flickwerk der Großstadtgassen, hier war die Ferienstimmung doppelt soviel wert wie in den geschniegelten Urlaubsgegenden. Bis heute hat Christa den Geruch der Großstadtsommer im Kopf und dazu die Musik der gedämpften Großstadtgeräusche, Wasser, fauliges Holz, Verkehrslärm und kleine Wellen eines staubigen kühlen Windes, der die Hitze entführte als leichtfüßiger Kavalier. Bis heute hat Christa Gerüche und Geräusche und Bilder lebendig im Kopf, die, wenn sie nachrechnet, erstarrte Vergangenheit sein müßten, lange vorbei. Statt dessen kommt das lang Vergangene näher, und das kürzer Vergangene bleibt nicht zurück, so daß der Wust der Geschehnisse, die in Christas Kopf lebendig sind und doch keine Rolle mehr spielen sollen für sie, immer größer wird. Manchmal meint Christa, die Last der Erinnerungen nicht tragen zu können. Wie soll das erst werden, wenn sie wirklich alt ist?
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Viele Jahre ist Christa beherzt vorangeschritten, den Blick in die Zukunft gerichtet. Dabei haben sich in ihrem Rücken die Erinnerungen angesammelt, die nun über sie hereinbrechen. Greifbar nah sind sie und trotzdem unwirklich und weit weg den Jahren nach, unwiederbringlich dahin. Christa hält Veränderungen nur noch schlecht aus; jeder neue Tag ist eine Trennung vom vorigen, das hinnehmen zu müssen kostet sie Kraft genug. Georg kann mit Christa nicht mehr leben, weil sie seine Erinnerungen kennt. Georg möchte weiterhin beherzt voranschreiten, den Blick in die Zukunft gerichtet, seiner immer längeren und immer gewichtigeren Vergangenheit davoneilend. Neben Christa müßte er schwer an der Bürde einer gemeinsamen Vergangenheit schleppen. Mit Daniela zusammen ist er ein junges Paar, das das Leben noch vor sich hat. IV 1. Na, so was! sagt Martin lächelnd. Du auf dem Land, mit Kindern und Kochen und so, wer hätte das gedacht! Er lehnt in Danielas Küche, schlürft Pulverkaffee und schaut ihr ungläubig zu, wie sie für Clemens eine Banane zermanscht, Mäsi ein Honigbrot streicht und das Fleisch für die Lasagne anbrät, die es zum Abendessen geben soll. Was ist daran sonderbar? fragt Daniela. Martin zuckt die Achseln. Ich hätt's mir nicht vorstellen können, das ist alles. Er stellt die Kaffeetasse ab. Seine Haare sind immer noch zerzaust vom Spaziergang. Wenigstens hat er keine roten Augen mehr. Du warst eine ... Prinzessin, weißt du! erklärt Martin. Ziemlich arrogant. Oft hab' ich eine richtige Wut gehabt auf dich. Hast du mich deswegen angerufen? fragt Daniela kühl. Schon bereut sie, daß sie Martin vorgeschlagen hat, sie zu besuchen. Er hat so vergnügt geklungen am Telefon, so ansteckend unbeschwert. Und jetzt steht er ihr da im Weg und erzählt ihr mit schiefem Grinsen, daß er sie für eine blöde Zicke gehalten hat. Oder immer noch hält. Hat sie das nötig?
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Martin lacht. Natürlich nicht. Du hast mir ja auch gefallen. Du hast mir gefallen, und zugleich hast du mich abgeschreckt. Und jetzt bist du auf einmal... richtig menschlich. Du meinst, Küchenarbeit macht menschlich? fragt Daniela. Dann fang schnell damit an. Oder gilt das nur für Frauen? Martin lacht wieder. Seit wann bist du unter die Emanzen gegangen? Bin ich ja gar nicht, erwidert Daniela. Sie ist selber verblüfft über sich, das heißt über die Wut, in die Martin sie versetzt hat, und darüber, daß sie bereit ist, mit ihm zu streiten. Es ist erstaunlich, was genügt, damit man als Emanze gehandelt wird, fügt sie hinzu. Ich meine, ich habe bloß einen kleinen logischen Einwand, und schon vermutest du ein wildes politisches Programm dahinter. Haben Emanzen ein wildes politisches Programm? fragt Martin boshaft. Vielleicht haben sie ja nur viele logische Einwände. Wenn sie viele haben, dann läuft das auf Gesellschaftsveränderung hinaus, sagt Daniela. Und dabei spielst du nicht mit? Daniela, die gerade dabei war, Clemens den Mund zu säubern, hält inne. Ich weiß es nicht, sagt sie. Ich habe mich noch nicht entschieden. Sie hört sich reden und stellt verwundert fest, sie etwas ausgesprochen hat, was ihr vorher gar nicht bewußt war: Sie hat sich wirklich noch nicht entschieden; sie ist sich ihrer Positionen keineswegs so sicher, wie sie vor einiger Zeit geglaubt hätte; eben noch hat sie die Welt bereitwillig so genommen, wie sie ist, aber plötzlich kommt sie drauf, daß niemand sie zwingen kann, diese Bereitschaft auch weiterhin an den Tag zu legen. Bis jetzt haben Daniela ihre Privilegien genügt, um die Ordnung, die ihr diese Privilegien verschafft haben, in Ordnung zu finden. Aber nun merkt sie auf einmal, daß Zweifel an der hergebrachten Ordnung berechtigt sein können. Hängt das vielleicht damit zusammen, daß Danielas Privilegien gelitten haben im Lauf der letzten Jahre? Hast du dich verändert, oder hab' ich dich falsch eingeschätzt? fragt Martin gerade.
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Ich weiß ja nicht, wie du mich jetzt einschätzt, sagt Daniela. Sie schaut Martin an, der nicht mehr düster wirkt, sondern eher wie ein ratloser Dackel, und muß lachen. Hast du gedacht, ich bin dumm? Oder ist, ganz im Gegenteil, jetzt mein Lack ab, wo ich in der Küche stehe und im Topf rühre? Martin mustert sie überlegend. Ich glaub' wirklich, ich hab' dich für nicht besonders intelligent gehalten. Vielleicht bin ich ja auch nicht besonders intelligent, wirft Daniela leichthin ein, nicht aus Bescheidenheit, sondern wiederum der Logik zuliebe und weil es ihr von Herzen egal ist, ob Martin sie für intelligent hält oder nicht. Das war kokett! rügt Martin. Und du bist überheblich, stellt Daniela fest. Die kleine Auseinandersetzung macht ihr Spaß. Sie fühlt sich selbstsicher und schlagfertig. Sie hat im Gespräch mit Martin nichts zu verlieren. Nie würde sie mit Georg so reden. Georg verunsichert sie, weil sie im Gespräch mit ihm was zu verlieren hat. Was eigentlich? Seine Zuneigung und seine Achtung. Aber kann sie sich seine Zuneigung und seine Achtung durch Unsicherheit und mangelnde Schlagfertigkeit erhalten? Falls nicht, müßte sie sich fragen, wieviel Zuneigung und Achtung Georg für sie noch übrig hat. Falls ja, das bedeutet: falls Georgs Zuneigung von Unterwürfigkeit ihrerseits abhängt, also davon, daß er keine Hochachtung vor ihr zu haben braucht , müßte sie sich fragen, was für einen Charakter Georg eigentlich hat und warum sie auf seine Zuneigung versessen ist. Wieso hast du mich für dumm gehalten? fragt sie Martin. Ich kann mich nicht erinnern, daß wir viel miteinander geredet haben. Du hast überhaupt nicht viel geredet, sagt Martin. Meistens bist du bloß dagesessen und warst schön. Ja, und? Was war das Indiz für meine Dummheit? Mein Schweigen oder meine Schönheit? fragt Daniela. Vielleicht hab' ich ja geschwiegen, weil mir eure Gespräche zu dumm waren? Hast du? Nein. Hättest du mich für klug gehalten, wenn ich Dagesessen und häßlich gewesen wäre? Vielleicht. Schade. Dann hab' ich mich in deiner Intelligenz auch getäuscht.
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Boiiing! Martin lacht. Daniela protestiert, weil er sich so schnell geschlagen gibt. Das legt nahe, daß er nach wie vor erheblich mehr an ihrem Aussehen interessiert ist als an ihrer Schlagfertigkeit. Komm, komm, sagt Martin, du hast leicht reden. Die Schönen wollen immer, daß man ihre Schönheit nicht wichtig nimmt. Das ist undankbar. Du würdest schön schauen, wenn du nur auf deine Schlagfertigkeit angewiesen wärst. Schau lieber schön aus! Vielleicht will ich nicht auf meine Schönheit angewiesen sein, weil ich mich nicht schön genug finde? Das ist wahr, sagt Martin grob. So schön bist du auch wieder nicht. Boiiing. Diesmal gibt sich Daniela geschlagen. Stumm wendet sie sich ab. Mäsi hat sich die Schachtel mit den Haferflocken aus dem Küchenschrank geangelt und schüttet Haferflocken auf die Ladefläche eines Spielzeuglasters. Geistesabwesend schaut Daniela zu. Siehst du, schon bist du sauer! Lachend legt Martin ihr eine Hand auf die Schulter und rüttelt sie sanft. Aber Daniela ist nicht sauer, weil er ihre Schönheit angezweifelt hat, sie ist erschrocken über die Aggression in seinem Ton. Obwohl Danielas Schönheit weder sensationell noch makellos ist, hat sie etwas Provokantes. Immer wieder wollen andere Leute sie für ihre angebliche Bevorzugung durch Mutter Natur bestrafen. Bilde dir bloß nicht zuviel ein! sagten Danielas Schulkolleginnen, und Daniela bemühte sich, sich besonders wenig einzubilden. Ihr Leben lang hat Daniela sich im voraus entschuldigt für klare Augen, eine reine Haut und ein ebenmäßiges Gesicht und wurde doch immer wieder gewarnt: Sei ja nicht hochmütig! Je mehr sie beteuerte, um ihre Durchschnittlichkeit zu wissen, desto strenger wiesen die anderen sie daraufhin, daß sie keinen Grund habe, sich für außergewöhnlich zu halten. So grob wie Martin waren junge Männer oft zu ihr: In der Meinung, Daniela sei hochnäsig und durch Anbetung verwöhnt, versuchten sie, sich auf, wie sie glaubten, originelle Weise zu profilieren und Daniela durch Aggressivität zu zähmen. Immer noch ist sich Daniela nicht sicher, ob sie die verletzenden
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Behauptungen, die ihr entgegengeschleudert werden, nicht irgendwie verdient, weshalb sie nach wie vor verstört darauf reagiert. He, du! Der Druck von Martins Hand verstärkt sich. Jetzt sei doch nicht eingeschnappt! Indem er versucht, sie zur Versöhnung auf die Wange zu küssen, und indem sie versucht, ihm auszuweichen, geraten ihre Münder aufeinander. Und wie gerät Martins Zunge in ihren Mund? Unwillkürlich hat Daniela ihre Lippen geöffnet mit dem Erfolg, daß Martins Zunge in ihren Mund schlüpft, und unwillkürlich bleibt auch Danielas Zunge nicht untätig. Mit
einemmal
entlädt
sich
das
angespannte
Durcheinander
an
gegensätzlichen Gefühlen, das Martin in ihr ausgelöst hat, als elektrischer Schlag, der Daniela in dem Augenblick, in dem ihre Zunge und Martins Zunge aufeinanderstoßen; Hoffnung, Enttäuschung, Zorn, Angriffslust und eine wehleidige Schwäche mischen sich zu Gier . Sie fahren auseinander. Mäsi schaut mit großen Augen. Spinner! Daniela räuspert sich und rempelt Martin burschikos. Martin grinst. Bis bald! sagt er. War schön, der Ausflug aufs Land. Der Mann ist aber dumm, gell? fragt Mäsi, als Martin die Eingangstür hinter sich zugemacht hat. Daniela nickt. 2. Vor der Lasagne gab es Melone mit Schinken, zur Lasagne gemischte Blattsalate, als Dessert Mousse au chocolat und danach Käse. Daniela konnte nicht viel essen, weil sie nicht nur mit Auftischen und Abräumen beschäftigt war, sondern zwischendurch auch immer wieder zu den Kindern eilen mußte, die nicht in ihren Betten bleiben mochten. Antonio Hirt lobt die Genüsse, die ihm geboten wurden. Seine Frau schließt sich dem Lob an, allerdings unter der Bedingung, daß ihre Kochkünste ebenfalls gewürdigt werden. Aber, mein Schätzchen, sagt Antonio und küßt sie auf die Wange, das ist doch ganz klar, daß du eine hervorragende Köchin bist.
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Daniela war erst einmal mit Georg bei Antonio und Veronika Hirt eingeladen. Wenn sie sich recht erinnert, ließ Frau Hirt ihre Gäste damals von einem Partyservice bewirten. Georg lächelt mild. Daniela ist eine Auflaufspezialistin, erläutert er nachsichtig. Eine studentische Angewohnheit. Es klingt, als müsse er sich für das Abendessen entschuldigen. Daniela hat den Verdacht, daß Georg Lasagne für ein Schnellgericht und damit für eine Speise hält, die man nicht ausgerechnet Besuchern vorsetzen sollte. Wenn er wüßte, wie lange sie allein an den Salaten geschnipselt, gezupft und gewaschen hat! Antonio Hirt zieht seine Frau an sich. Tja, sagt er zärtlich, unsere jungen Frauen! Kaum der Studentenzeit entwachsen! Er tätschelt seiner Frau die Hand: Ich danke dir, daß du mich alten Esel so geduldig erträgst. Daniela starrt. Antonio Hirt ist höchstens zehn Jahre älter als seine Frau! Georg ist um vierundzwanzig Jahre älter als Daniela und kein bißchen dankbar! Außerdem versteht Daniela nicht, wieso sie sich in einer Altersgruppe mit Frau Hirt befinden soll. Frau Hirt ist mindestens vierzig, Daniela noch keine dreißig! Allerdings führt Frau Hirt sich ziemlich infantil auf. Nein, nicht infantil. (Daniela will nicht unhöflich sein, auch nicht in Gedanken.) Unreif. Das heißt, unreif nicht in beleidigendem Sinn, sondern unreif im Sinn von, äh, jugendlich. Genau. Frau Hirt gibt sich jugendlich, und deswegen übersieht ihr Mann, daß sie eigentlich über die erste Jugend durchaus schon hinaus ist. Nein. Stimmt auch nicht. Veronika (Daniela muß aufhören, Frau Hirt zu denken, denn sie ist aufgefordert worden, in das allgemeine Du mit einzustimmen), Veronika Hirts Benehmen jugendlich zu nennen, wäre ungerecht gegenüber den Jugendlichen. Jugendliche benehmen sich nicht so wie Veronika, jedenfalls nicht aufgrund ihrer Jugend. So wie Veronika benehmen sich, ganz im Gegenteil, ältere Frauen, die jugendlich wirken wollen, aber leider schon vergessen haben, daß gerade Jugendliche es vermeiden, sich kindisch zu betragen, weil sie ja ihrerseits reifer wirken möchten.
Veronika
Hirt ist eine sogenannte
Kindfrau. Kindfrauen
konservieren eine künstliche Naivität, die mit echter Kindlichkeit soviel zu tun hat wie ein röhrender Hirsch überm Sofa mit dem Alltag eines Försters.
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Veronika Hirt argumentiert unlogisch, was sie mit Spontaneität begründet. Sie präsentiert kokett Bildungslücken als Beweis für ein Übermaß an Gefühlen. Ich bin eben emotional! sagt sie, so als wäre in ihrem Inneren ein Hohlraum, der Informationen nicht mehr fassen kann, weil er schon mit Gefühlen gefülllt ist. Daniela, die nicht glauben mag, daß Verstand und Emotionen einer Art archimedischem Prinzip der gegenseitigen Verdrängung unterliegen, ist irritiert. Allerdings muß sie zugeben, daß Frau Hirt durch das Zurückdrängen des Verstandes tatsächlich einen Auftrieb erfährt: Unbelastet von Wissen und demzufolge nicht geniert durch Zweifel, platzt sie zu jedem Thema mit einer Meinung heraus. Ihr Mann streichelt nachsichtig ihr Knie: So sind sie eben, die Frauen! Georg lacht. Daniela lacht nicht. Sie ist nicht so wie Frau Hirt. Überhaupt kennt sie wenige Frauen, die so sind. Wieso soll sie sich nachsagen lassen, daß sie wie Frau Hirt ist, nur weil Frau Hirt ebenfalls eine Frau ist? Daniela hat keine Lust, irgendwelche Unarten irgendwelcher Frauen auf ihre Kappe zu nehmen im Namen ihrer Zugehörigkeit zum selben Geschlecht. Ach, ihr Männer, ihr habt doch keine Ahnung stimmt's? Frau Hirt, das heißt: Veronika, zwinkert Daniela verschwörerisch zu. Wenn Daniela jetzt widerspricht, distanziert sie sich nicht bloß von Frau Hirt, sondern gleich von ihrem ganzen Geschlecht. Fies ist das von Frau Hirt: Sie mißbraucht die Sache
der
Frauen
zur
Legitimierung
ihrer
ganz
persönlichen
Unzulänglichkeiten. Ach, übrigens: Weißt du, mit wem ich mich in Frankfurt getroffen hab'? fragt Antonio Hirt. Er nennt einen Frauennamen, der Daniela nichts sagt, Georg aber schon. Offenbar handelt sich um eine Person, mit der Agnes befreundet war. Was macht die in Frankfurt? will Georg wissen. Das letztemal, als ich von ihr gehört hab', war sie grade im Begriff, einem Maler aufs Land zu folgen oder so. (Oder so? Was meint Georg mit oder so? Er meint damit, daß ihn die Frau nicht so sehr interessiert, als daß er präzise Bescheid wissen wollte über sie; selbst wenn er sich erinnert, welchem Maler sie wohin gefolgt ist, gibt er doch lieber vor, sich nicht so genau zu erinnern, und betont damit die Nebensächlichkeit dieser Kenntnisse, das heißt die Nebensächlichkeit der
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Person, die sie betreffen. Betont Georg sein Desinteresse, weil er vorsichtig geworden ist, seit Agnes ihn mit Eifersucht verfolgt hat? Ach, nein, an allem ist Agnes wiederum auch nicht schuld. Georg betont sein Desinteresse, weil er tatsächlich desinteressiert ist beziehungsweise war. Die Frau, die Antonio in Frankfurt getroffen hat, ist eine, der es nicht gelungen ist, Georgs Wertschätzung zu erringen, und Georg steht nicht an, das zu signalisieren. Georg urteilt schnell und erbarmungslos und tut seine schnellen, erbarmungslosen Urteile ungeniert kund. Daniela beobachtet es mit Erstaunen, Neid und demzufolge Bewunderung.) Antonio Hirt lacht. Das mit dem Maler ist vorbei, berichtet er. Sie zahlt zwar noch an den Kreditraten für den Bauernhof, aber den Maler ist sie los. Georg schüttelt den Kopf. Unmögliches Frauenzimmer! befindet er, während er an seinem Cognac nippt. Antonio pflichtet ihm bei: Ja, sie hat einen unglaublichen Griff für die falschen Männer. Direkt phänomenal. Daniela meldet sich zu Wort: ich weiß nicht... Ich kann mich nicht so recht anfreunden mit dem Gedanken, daß jemand gewissermaßen absichtlich immer eine schlechte Wahl trifft. Kann das nicht einfach und banal Pech sein? Ich meine, es ist ja letztlich doch sehr zufällig, wen man überhaupt trifft. Die anderen widersprechen heftig. Sie mögen nicht in Betracht ziehen, daß sie ihr Leben nicht unter Kontrolle haben, deshalb können sie auch nicht in Betracht ziehen, daß ein Pechvogel wie die von Antonio in Frankfurt getroffene Frau bloß durch das kopflose Walten kopfloser Zufälle zum Pechvogel
geworden
ist.
Sie
haben
nicht
gut
zwei
Jahrzehnte
Populärpsychologie über sich ergehen lassen, um jetzt fatalistisch von Zufall zu sprechen. Ich gebe dir höchstens insofern recht, sagt Antonio, als vielleicht der Terminus falsche Männer nicht zutrifft. Die Männer waren gar nicht falsch. Sie hat sich bloß falsch verhalten. Ich meine, du kannst schließlich in einem anderen die guten oder die schlechten Seiten provozieren. Was glaubt ihr, was ich für ein Scheusal wäre, wenn Veronika nicht wüßte, wie man mich behandelt.
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Daniela reißt ungläubig die Augen auf. Antonio Hirt ein finsterer Wüstling, gebändigt
bloß
durch
das
außergewöhnliche
Geschick
seiner
außergewöhnlichen Frau, die aber Daniela höchst gewöhnlich vorkommt? Na, na, jetzt mach dich nicht kostbarer, als du bist! sagt Georg lachend. Es gibt einfach grausliche Menschen, du kannst es dir in deiner Gutmütigkeit nicht vorstellen, aber es ist so. Antonio schaut gekränkt, er will nicht von Natur aus gutmütig sein, sondern mehr ein zwielichtiger Dämon, dessen Schattenseiten Veronika mit beträchtlicher Kunstfertigkeit unter Verschluß hält. Georg redet ungerührt weiter: Obwohl natürlich trägt sie ihr Teil bei. Schon allein diese Selbstaufgabe, mit der sie sich immer an ihre Männer hängt! Das ist doch hirnrissig, heutzutage. Muß irrsinnig anstregend sein, eine Frau, die nichts anderes zu tun hat, als dich anzubeten. Die kannst du ja nur enttäuschen, das geht gar nicht anders. Der eine hält sich für einen großen Dichter schon rennt sie herum und ist seine eifrigste PR-Agentin. Der andere gibt die Parole Bauernhof aus, und sofort zieht sie mit ihm an den Arsch der Welt. Wenn der nächste ihr sagt, seine Seligkeit hängt am Gruppensex, rennt sie hin und pflastert alle Zeitungen mit einschlägigen Annoncen, da kannst du sicher sein. Antonio Hirt lacht. Daniela duckt sich erschrocken. Ist nicht auch sie Georg zuliebe aufs Land gezogen? Einerseits würde sie Georg gern daraufhin ansprechen, andererseits ist es vielleicht nicht klug, auf etwaige Parallelen zwischen ihr und der Frau in Frankfurt hinzuweisen. Du bist eben eine starke Persönlichkeit, sagt Veronika Hirt gerade mit seidiger Stimme zu Georg. Darum hältst du ... darum würdest du eine starke Frau aushallen. Das schafft nicht jeder. Daniela, der nicht entgangen ist, wie Veronika Hirt sich, möglicherweise absichtlich, versprochen und dann rasch korrigiert hat, so daß nun aus Georgs angeblicher Fähigkeit, starke Frauen auszuhalten, eine potentiell zwar vorhandene, aber zur Zeit nicht geforderte geworden ist, Daniela wird zornig und vergißt ihre Vorsicht. Soviel ich weiß, warst du ziemlich verärgert, weil Agnes ... weil sie dich nie angebetet hat, sagt sie zu Georg. Georg zieht die Brauen hoch, und Daniela
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weiß, daß sie zu weit gegangen ist. (Hinterher wird Georg sie in schneidendem
Ton
bitten,
vor
Außenstehenden
künftig
nie
mehr
Schmutzwäsche waschen zu wollen. Aber darum geht's Daniela ja: Georg ist aufs äußerste erbost, wenn eine Frau von ihm seinen Erwartungen nicht entspricht. Warum kreidet er der Frau in Frankfurt an, daß sie ebenfalls versucht, den Erwartungen ihres jeweiligen Mannes zu entsprechen? Seine Ehe mit Agnes, hat Georg seinerzeit zu Daniela gesagt, ist unter anderem daran gescheitert, daß Agnes so dickschädelig war, während er unter Partnerschaft auch Anpassung verstehe. Wieso findet er jetzt auf einmal so verächtliche Worte für eine, die gewillt ist, sich anzupassen?) Ach, Agnes! Agnes ist nicht stark, sondern zänkisch, behauptet Antonio Hirt und lacht. Und Georg sagt ernst: Eine wirklich starke Frau hat es nicht nötig, ständig ihr Durchsetzungsvermögen zu beweisen. Dann ist die Frau in Frankfurt ja vielleicht doch stark? Daniela, bitte, sagt Georg gequält, verbeiß dich jetzt nicht in ein Thema, das niemanden wirklich interessiert. Mir ist nichts wurschter als irgendeine Verrückte, die irgendwelchen Kerlen hinterherhechelt. Die anderen lachen, und Daniela fühlt sich wie ein zurechtgewiesenes Kind, das
aufhören
soll,
Erwachsenen
in
eine
intelligente
Unterhaltung
hineinzuplappern. 3. Ich könnte wieder arbeiten, sagt Daniela, als die Hirts gegangen sind und sie schmutzige Teller in den Geschirrspüler schichtet. Ein zufälliger Blick auf die Uhr am Mikrowellenherd zeigt ihr, daß es halb eins vorbei ist. Wenn sie Pech hat, wird Clemens sie in nicht einmal fünf Stunden wecken. Ach ja? erwidert Georg zerstreut. Er gähnt. Komm, laß das jetzt, wir gehören ins Bett. Nur das Nötigste, sagt Daniela. Ich räume nur schnell das Nötigste weg. Wenn die Kinder auf sind, machen die sonst noch mehr Durcheinander.
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Himmel, ich vergesse immer, wie schwer das Hausfrauenlos ist! spottet Georg. Er schiebt ein paar Schüsseln in Richtung Geschirrspüler, dadurch fallen schmutzige Messer auf den Boden. Georg hebt die Messer auf. An den Bodenkacheln bleiben Saucenreste kleben. Daniela bückt sich und wischt die Saucenflecken weg. Herrgott, sagt Georg gereizt, mußt du jetzt wirklich deinen Putzfimmel ausleben? Ich will nicht, daß du hineinsteigst und das Zeug auf die Teppiche trägst, erklärt Daniela. Georg schüttelt den Kopf. Kannst du ausnahmsweise einmal an was anderes denken als an blitzblanke Böden? Ich würde ja gern, sagt Daniela scharf. Aber je mehr Dreck gemacht wird, desto weniger komme ich dazu. Du klingst schon wie Agnes! sagt Georg. Daniela läßt die Auflaufform mit Wasser vollaufen. Wenn sie sie jetzt nicht einweicht, kriegt sie morgen die Teigkruste nicht weg. Geh doch schlafen, ich komme gleich nach! schlägt sie vor. Georg schaut grantig. So hab' ich mir das vorgestellt, sagt er. Ich gehe hinauf und schlafe los, und irgendwann kommst du und fällst neben mir in die Federn. Sehr gemütlich. Und auch so erotisch. Mehr und mehr geht Georg dazu über, von Daniela die Erfüllung ihrer ehelichen Pflichten einzufordern. Und je öfter er eine beischlafbereite Daniela im Bett vorzufinden erwartet wie seine gebrauchsbereite Zahnbürste im Bad, desto häufiger überkommt Daniela eine fast weinerliche Lustlosigkeit. Mit einer heftigen Bewegung klappt sie die Tür des Geschirrspülers zu, dabei fegt sie ein Weinglas von der Abstellfläche, und es zerspringt in eine Unzahl kleiner Scherben. Scheiße! (Hat Daniela Scheiße gesagt? Aber, aber! Von ihrer Erziehung hat sie das nicht!) Sie geht in die Hocke, um die Splitter aufzukehren. Ich frage mich nur, sagt Georg und steckt ein Stück Schokolade in den Mund, ich frage mich nur, wie du es schaffen willst, auch noch arbeiten zu gehen. Du kommst doch jetzt schon mit deinem Krempel nicht zurecht.
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Ach, sagt Daniela, das ist eine Organisationsfrage. Genau, bestätigt Georg mit extra sanfter Stimme. Davon rede ich. Von deiner Organisation. Findest du, daß du ein Organisationstalent bist? Ich könnte Frau Schwarzinger bitten, öfter zu kommen, sagt Daniela. (Dabei glaubt sie zu wissen, daß Frau Schwarzinger gar keine Zeit hätte, öfter zu kommen. In Wirklichkeit hofft sie, Georg doch noch zu einem AupairMädchen überreden zu können. Schnell schiebt sie den Verdacht beiseite, daß sich kein Aupair-Mädchen bereit finden wird, so weit entfernt von der Stadt zu wohnen.) Ich könnte Frau Schwarzinger bitten oder sonst... jemanden. Was heißt das? fragt Georg. Willst du eine Haushälterin engagieren? Kinderfrauen? Einen Butler? Ich sehe mich schon meine Termine absagen und die Kinder hüten, damit du zu Kongressen reisen und dolmetschen kannst. Und was ist, wenn ich daheim übersetze? fragt Daniela. Hinreißende Vorstellung. Du wirst überhaupt nicht mehr fertig werden, die Kinder werden mir plärrend entgegenlaufen ... Ich sehe mich schon abends Berge von Schmutzwäsche waschen, die liegengeblieben sind, weil du ja übersetzen mußtest. Frau Schwarzinger könnte die Wäsche waschen. Und die Kinder? Und sich ein bißchen um die Kinder kümmern. Das wird teuer. Du wirst jeden Groschen, den du mit Übersetzen verdienst, an Frau Schwarzinger abliefern müssen. Wo ist da der Sinn? Ich ... ich übersetze gern. Du willst die Kinder einer Idiotin wie Frau Schwarzinger ausliefern, nur weil du gern übersetzt? Sie ist keine Idiotin. Ich halte sie nicht gerade für eine Intelligenzbestie, dich hingegen halte ich für überaus intelligent, vielleicht täusche ich mich. Aber wenn ich mich nicht täusche, dann wird es für die Kinder lehrreicher sein, den Tag mit ihrer überaus intelligenten Mutter zu verbringen als mit einem schlichten Gemüt wie Frau Schwarzinger.
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Ich könnte mich ja auch nach einer Studentin umschauen. Was willst du? Die Kinder abschieben? Was tun, was mich interessiert. Eigenes Geld verdienen. Du willst eigenes Geld verdienen, um es an Frau Schwarzinger oder eine Studentin weiterzugehen? Die Kinder interessieren dich nicht? Wäschewaschen interessiert mich nicht. Ich bitte dich! Du stehst doch nicht den ganzen Tag am Trog und wälzt deine Hände in Seifenlauge! Gerade eben warst du entsetzt bei der Vorstellung, du könntest dich um die Wäsche kümmern müssen. Genau. Und weißt du, warum? Weil ich den ganzen Tag schwer im Einsatz bin. Hör zu, meine Liebe: Du hast gewußt, worauf du dich einläßt. Du wolltest Kinder. Du hast gewußt, daß ich kein Beamter bin, der früh am Nachmittag heimtrabt und glücklich ist, wenn er sich zu Hause nützlich machen kann. Ich will ja gar nicht, daß du ... Nein, du willst bloß eine Horde Personal, damit du dich deinem Hobby, dem Übersetzen, widmen kannst. Andere Frauen arbeiten doch auch neben ihren Kindern. Aber sicher! Wenn du neben den Kindern über setzen kannst ...! So meine ich es nicht Versteh mich recht: Ich rede dir nicht drein. Mach, was du willst. Aber lieg mir nicht in den Ohren, wenn es dir zuviel wird. Und es wird dir zuviel werden, das verspreche ich dir. Und vor allem: Erwarte nicht, daß ich mit den Kindern an der Hand über meine Baustellen stolpere, sobald dich deine Damen Schwarzinger und Co. im Stich lassen! Georg mustert Daniela befremdet. Was ist auf einmal los mit dir? Du erinnerst mich wirklich immer mehr an Agnes. Das sind so ... Justament Standpunkte, die du auf einmal einnimmst. Oder willst du mir tatsächlich einreden, daß dein Herz an der Übersetzerei hängt? Ja, was ist los mit Daniela? Sie hat zwar Sprachen studiert, aber keineswegs mit der brennenden Sehnsucht im Herzen, später einmal den ganzen Tag übersetzen zu dürfen. Und eigenes Geld zu verdienen war ihr ebenfalls nie
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wichtig. Leichten Herzens gab Daniela auch das Geld ihrer Eltern aus, solange es ihr zur Verfügung stand, und leichten Herzens war sie bereit, Geld auszugeben, das ihr ein Ehemann zur Verfügung stellen würde. Daniela hat geheiratet und Kinder bekommen in der altmodischen Überzeugung, daß man auch als Hausfrau und Mutter ein erfülltes Leben führen kann. Allerdings waren die Hausfrauen und Mütter, die sie kannte, solche, denen eine Frau Schwarzinger selbstverständlich die Wäsche wusch und die der Kinder wegen nicht darauf verzichten mußten, regelmäßig ins Konzert, zum Friseur und auf den Tennisplatz zu gehen beziehungsweise für die ein Konzertbesuch oder eine Tennisstunde kein organisatorisches Problem darstellte. Als Daniela heiratete, sah sie sich schön angezogen mit ihrer kleinen Tochter durch die Stadt bummeln, in Gesellschaft einer Freundin, die ebenfalls fein ausstaffierte Kinder mit sich führte, oder neben anderen schicken jungen Müttern vor dem Eingang einer noblen Ballettschule warten, unbeschwert von der Überlegung, daß daheim die Fenster geputzt gehörten oder daß es im Supermarkt keine Frischmilch mehr geben würde, wenn sie sich nicht beeilte. Treibt, simpel ausgedrückt, bloß Georgs Knauserigkeit Daniela eventuell der Frauenbewegung in die womöglich lesbischen Arme? Wie alt ist eigentlich Veronika? fragt Daniela beiläufig, während sie Pulver in den Geschirrspüler füllt. Keine Ahnung, erwiderte Georg. Ausschauen tut sie wie hundertfünfzig. Daniela lacht. Sei nicht gemein. Eigentlich ist sie ganz hübsch. Nur ein bißchen ... schlaff. Wie du meinst, sagt Georg gelangweilt. V 1 Wochenende ist's, und Agnes ist ganz flügelschlagende Panik. Wochenende ist's, eine milde Sonne kommt durch, Ausflügler parken die Straße voll, und Agnes möchte sich verkriechen, tief hinein in eine tiefe Höhle, gepolstert, schalldicht, mit einem schweren Tor vor dem Eingang.
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Männer in greller Freizeitkleidung tragen pralle Bäuche spazieren. Frauen stöckeln unter der Last von zuviel Modeschmuck und zuviel Schminke, sie ziehen kunterbunte Duftfähnchen hinter sich her. Geschrei, Johlen, das dumpfe Zuschlagen von Autotüren. Die Wesen, die am Wochenende an den Stadtrand kommen, sind unfähig
und auch nicht willens , erträgliche
Geräusche zu produzieren. Ihr blechernes Lachen klingt immer höhnisch. Ihre gellenden Zurufe hören sich immer hämisch an. Agnes weiß definitiv: Das sind Leute, die sich beim Wein über TV-Seifenopern unterhalten und eine Vielzahl neckischer Synonyme für das Wort Vergewaltigung parat haben. Als Agnes und Georg seinerzeit hierher zogen, zogen sie in ein abgelegenes Villenviertel, voll mit lieblichem Grün und würdevollen verwitweten Damen. Inzwischen gibt es große Ausflugsgasthöfe um die Ecke und Reihenhäuser auf jedem einst unverbauten Fleck Boden. Auch der Garten des Hauses, das sich Agnes mit Helene samt Anhang und zwei weiteren Familien teilt, stößt an eine neue Reihenhausanlage. Sobald es halbwegs warm ist, bricht darin entschlossene Geschäftigkeit aus: Rasenmäher heulen, Stereoanlagen plärren, Gartengrillgeräte schicken schwarze Rauchschwaden über die Zäune, Kaffeerunden knüppeln mit kreischender Fröhlichkeit das letzte bißchen innere Ruhe nieder. Agnes fühlt sich vereinnahmt, überrollt, entrechtet, bedroht. Agnes fühlt sich den akustischen und mentalen Territorialkämpfen nicht gewachsen. Sie sieht die äffenden Familienväter aus der Reihenhausanlage wachsam um ihre Terrassen springen, sie hört die dickhäutigen Ausflügler selbstgefällig dröhnend unter ihren Fenstern vorbeiziehen und weiß: Gegen diese Übermacht hat sie keine Chance. So wie die ihr jetzt ihren Lärm aufzwingen, ihre Gerüche und ihren schlechten Geschmack, so zwingen sie ihr bei nächster Gelegenheit auch ihre Wertvorstellungen auf; diese Leute werden schon noch erreichen, daß das Bücherlesen unter Strafe steht und solche wie Agnes nicht anders können werden, als sich einen Beschützer anzulachen. (Ein Beschützer muß nicht stark sein. Ein Beschützer beschützt kraft seiner männlichen Existenz.) Unter der Woche fühlt Agnes sich oftmals lustvoll autonom. Am Wochenende, angesichts geschlossen vorrückender Ausflüglertruppen, fühlt
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sie sich angstvoll allein, die kreischenden Kaffeerunden stempeln Matthias und sie zur unvollständigen Familie. Matthias empfindet sie nicht als Verbündeten, im Gegenteil, er verstärkt ihre Furcht, weil sie meint, ihn beschützen zu müssen, und weil sie seinetwegen nicht einfach flüchten kann, sondern ihr und sein Heim zu verteidigen hat. Banaler gesagt, verhindern Matthias' berechtigte Ansprüche sowohl Agnes' Flucht aus der Wohnung als auch ihren Rückzug hinter einen Bücherwall: Matthias möchte Freunde herbei telefonieren, was zu essen, mit Agnes Trivial Pursuit spielen, radfahren, ebenfalls durch den nahen Wald laufen. Ihm zuliebe muß Agnes sich aus der Ecke bemühen, in der sie sich am liebsten verschanzen würde, so normal wie möglich sein, durch die Wohnung gehen, als ob die nicht von Heckenschützen belagert wäre, sich auf die Straße trauen. Matthias zuliebe muß Agnes sich den Wochenenden stellen. Agnes ist nicht menschenscheu. Sie liebt volle Großstadtstraßen unter der Woche, wenn hastende Passanten eilig ihren Geschäften nachgehen. Diese beschäftigten Menschen sind ihr nahe, ohne sie zu bedrängen, mit Vergnügen stürzt Agnes sich in den Menschenstrom einer großstädtischen Straße an einem ganz gewöhnlichen Arbeitstag, bereit, durch einen schnellen Scherz Unbekannte sekundenlang für sich zu gewinnen, beruhigt durch die Gewißheit, sie danach gleich wieder los zu sein. Mit würgender Bangigkeit hingegen erfüllen sie Horden von Menschen die nichts zu tun haben und satt, gelangweilt zur erbarmungslosen Jagd nach Amüsement ausschwärmen. Du bist gut, sagt Agnes' Lover strafend, da faselst du immer von Gerechtigkeit, und dann gönnst du ein paar armen Teufeln ihr bißchen Erholung nicht. Glaubst du, der Wald muß für dich reserviert bleiben? Das glaubt Agnes nicht. Agnes will gar nicht, redet Agnes sich ein, allein sein im Wald, was sie will, sind Stille und das höfliche Respektieren von Abständen.
Wäre
der
Wald
von
lauter
leisen,
rücksichtsvollen
Museumsbesuchern bevölkert, die, gescheite Führer in der Hand, andächtig vor Haselsträuchern verharren, hätte Agnes nichts einzuwenden. (Agnes liebt altmodische Museen, die ihren Besuchern Ehrfurcht abverlangen, statt sich als Tingeltangel-Veranstaltungsorte zu prostituieren, sie fühlt sich geborgen
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in dämmrigen Sälen voll sorgsam gehüteter Schätze, wo sie auf behutsame Betrachter trifft.) Agnes gönnt allen anderen jedes Maß an Erholung, solange sie unter Erholung dasselbe verstehen wie sie. Nein, im Ernst: ist es nicht verständlich, daß Agnes sich wohler fühlte unter ihresgleichen? Muß Toleranz von den Schwachen, den Unterlegenen, den Opfern geübt werden? Angesichts der freizeitgeilen Vatis mit ihren Bierbäuchen fühlt Agnes sich schwach, unterlegen, als Opfer. Das sind nämlich keine armen Teufel, sagt sie. Die, vor denen ich mich fürchte, sind, im Gegenteil, die Gegner der armen Teufel. So kratzt Agnes flink die Kurve, die sie um ein Haar ins Out, zu den hochmütigen Privilegienrittern getragen hätte, und präsentiert sich als duldsame Menschenfreundin, die mit wirklich armen Teufeln Wald und Garten jederzeit teilen würde. Was wollen wir machen? fragt Matthias erwartungsvoll. Möchtest du den Vater wieder einmal besuchen? fragt Agnes. Geschiedene Mütter müssen sorgfältig darauf achten, daß sich die Kinder dem Vater nicht entfremden. Und wenn Matthias ja sagt? Dann muß Agnes aufs Land hinausfahren, wo ihr gewesener Gatte mit seiner neuen jungen Frau und seinen entzückenden neuen Kindern ein idyllisches Heim bewohnt, das die junge Frau, wie es oft scheint, nicht recht zu würdigen weiß, weil die dumme Gans keine Ahnung hat, wie es sich lebt, wenn die Kinder zur Kindergymnastik nicht bloß über die Straße geleitet, sondern ins Auto verfrachtet und durch den Stadtverkehr gekarrt werden müssen. Agnes fährt gern aufs Land, wo sich ein weiter Himmel über friedliche Straßen spannt. Der kleine, überschaubare Ort macht einen handlichen Eindruck. Als Matthias in Clemens' Alter war, konnte Agnes ihn nicht einfach im Garten spielen lassen und vom Küchenfenster aus im Auge behalten. Sie mußte ihn zwei Stockwerke hinunterbegleiten und bei ihm bleiben. Weil das winzige Rasenstück, das den zu Agnes' Wohnung gehörigen Gartenanteil ausmacht, Matthias ohnehin zuwenig Auslauf bot, pilgerte Agnes meist in den nächsten Park mit ihm, wo es einen Spielplatz gab. Weiß Daniela, wie
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mühsam es ist, im Park auszuharren, neben einem Zweijährigen, der keine Minute unbeobachtet bleiben darf, weil er sonst verlorengehen oder von der Schaukel purzeln könnte, während daheim unerledigte Arbeit sich stapelt? Daniela hat keine Ahnung. Wenn der spielende Clemens Durst bekommt, läuft er ins Haus, und Daniela macht ihm was zu trinken. Agnes im Park mußte mit Teefläschchen und Butterbroten, mit Reservewindeln und Sandschaufel, mit Taschentüchern und Heftpflaster, mit Sonnenhut und Kuscheltier ausgerüstet sein, und wehe, sie hatte was vergessen. Agnes fährt gern aufs Land, wo das Leben einfach und gemächlich abläuft. Sie fährt nicht so gern zu Daniela, wo es mißlungene Kuchen zu essen und Mäsi und Clemens zu bewundern gilt. Doch Matthias sagt nein, und das ist wiederum auch blöd, weil ja, wie gesagt, sein Kontakt zum Vater nicht leiden darf. Den Kontakt zum geschiedenen Vater nicht abreißen zu lassen ist in erster Linie Aufgabe der geschiedenen Mutter, in zweiter Linie Aufgabe der geschiedenen Kinder und erst zuallerletzt Aufgabe des geschiedenen Vaters. (Vorher ist noch seine derzeitige Frau dran, die ihm die Kinder entfremdet, wenn sie nicht energisch darauf besteht, daß er auch wirklich zum Telefon kommt, sobald einer seiner geschiedenen Sprößlinge dran ist. Bei dieser Gelegenheit muß man leider mißbilligend anmerken, daß Daniela Georg nicht immer energisch genug ans Telefon holt, wenn Matthias anruft.) Keine Lust, sagt Matthias. Der Alte schenkt mir doch sowieso keine Lederjacke. Agnes' Lover wäre entsetzt über diese Bemerkung, die ihm wieder einmal beweisen würde, daß Matthias viel zu materialistisch denkt. Komm, komm, sagt Agnes, die zu wissen glaubt, daß in Wahrheit ganz andere Kränkungen Matthias zu schaffen machen (zum Beispiel die Kränkung, daß sein Vater es vorzieht, mit neuen Kindern zusammenzuwohnen
eine
Kränkung, die nicht betroffene Erwachsene nie als Kränkung gelten lassen wollen, weil doch Kinder schließlich akzeptieren lernen müssen, daß Eltern, vor allem Väter, ein Recht darauf haben, ihr Leben bei Bedarf großräumig umzubaggern) komm, komm, sagt Agnes, mehr zur Beschwichtigung eines
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imaginären Zuhörers, du siehst doch den Vater nicht wirklich bloß als Zapfstelle für Lederjacken an! Nein, weil genau das ist er ja eben nicht! sagt Matthias und lacht. Dann fügt er hinzu: Die Kleinen sind so doof. Glaubst du, ich will Türmchen bauen, wenn ich schon einmal keine Schule habe? Das ist ein Argument. Auch Agnes sieht nicht ein, warum Matthias seinen freien Samstagnachmittag als Babysitter für Mäsi und Clemens zubringen soll. Früher hat Georg mit Matthias Schach gespielt, oder er ist mit ihm ins Hallenbad gefahren. In letzter Zeit wird er zunehmend faul. Schau doch auch einmal in die Zeitung! rät er Matthias, der seinerseits mault, daß er zum Zeitunglesen nicht von weit her hätte anreisen müssen. Und Daniela blickt sowieso immer waidwund. Ihrer Überzeugung nach sollte es Matthias unbändigen Spaß machen, Clemens Hoppe, hoppe Reiter vorzusingen oder mit Mäsi Barbiepuppen in den Barbie-Haus-Aufzug zu setzen; daß Matthias Schöneres zu kennen behauptet, als seine kleinen Halbgeschwister zu unterhalten, will ihr nicht in den Sinn, wahrscheinlich vermutet sie ein psychisches Gebrechen hinter seinem diesbezüglichen Desinteresse. Und überhaupt will ich nicht immer nur mit dir unterwegs sein! Das ist fad! beschwert sich Matthias. Auch Agnes findet es langweilig, ihre Freizeit größtenteils in ausschließlich kindlicher Gesellschaft zu verbringen. Jedoch: Agnes' Freundinnen und Freunde (eigentlich handelt es sich vorwiegend um Freundinnen wohin sind bloß alle die Freunde verschwunden, die früher selbstverständlich zu Agnes' Leben gehört haben?), Agnes' Freundinnen also haben keine oder Kinder, die Matthias nicht ausstehen kann, und Matthias' Freunde haben Eltern, die nicht scharf sind auf Agnes (was Agnes ärgert, obwohl sie ihrerseits nicht scharf ist auf diese Eltern). Ich ruf mal an, wer Zeit hat, sagt Matthias. Was ist mit Stefan? fragt Agnes. Matthias winkt ab: Die sind weggefahren. Und Nikolaus? Ich glaub', sein Vater wollte mit ihm Klettern gehen.
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Oft und oft hat Agnes Stefan oder Nikolaus oder sonst einen Freund Matthias' mitgenommen, wenn sie mit Matthias wegfuhr, in eine Ausstellung ging oder zum Wandern aufbrach. Oft und oft toben Stefan, Nikolaus und sonstige Freunde Matthias' durch Agnes Wohnung, wenn Agnes Besuch hat. Umgekehrt läuft nichts: Die Wochenenden der intakten Familien sind heilig. Am Wochenende wollen Väter ihre Ruhe haben. Am Wochenende wollen Väter
ihre
Kinder
für
sich
haben.
Wenn
die
intakten
Eltern
Verwandtenbesuch kriegen, dann würden fremde Kinder bloß stören. Stefans Omi und Nikolaus' Opi wollen Stefan und Nikolaus sehen, aber nicht Matthias, der schließlich nicht ihr geliebter Enkel ist. Am Wochenende wollen die Familien unter sich bleiben. Am Wochenende wollen die intakten Familien untereinander bleiben: Deshalb kommt es zwar vor, daß Stefans Familie zusammen mit Nikolaus' Familie was unternimmt aber nie würde es Stefans oder Nikolaus' Familie einfallen, Matthias dabei haben oder gar mit Matthias und Agnes zusammen was unternehmen zu wollen. Früher hat Agnes arglos bei Stefan oder Nikolaus daheim angerufen und gemeinsame Sonntagsausflüge angeregt. Nach einer Weile hat sie die ausweichenden Antworten als Absagen zu deuten gelernt. Das Äußerste, was sie an Entgegenkommen erfuhr, war die Verheißung, Stefans oder Nikolaus' Mutter würde sich an einem Tag mit ihr treffen, an dem sie solo sei wie Agnes: Am Fünfzehnten, da ist mein Mann wahrscheinlich noch in Köln, da könnte ich eventuell. Flog der Mann nicht nach Köln, war Agnes unerwünscht, und zwar ganz selbstverständlich. Agnes ohne Mann paßt nicht zu Familien mit Mann, die Familienväter wissen nicht, was sie reden sollen, wenn Agnes keinen Mann mitbringt, mit dem sie ein Männergespräch führen können. Agnes ist groß und biegsam, mit ernsten Augen unter wehendem, dunklem Haar und hohen Backenknochen über einem vielversprechenden Mund nach wie vor schauen Männer ihr nach, wenn sie durch die Straßen eilt. Agnes ist intelligent und politisch interessiert, sie hat ein loses Mundwerk, mit dem sie witzig über aktuelle Vorfälle von überregionaler Bedeutung
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herzieht, niemand muß befürchten, daß Agnes bloß über Strickmuster oder Prinzenhochzeiten schnattert. Trotzdem ist Agnes für die gutbürgerlichen Väter von Matthias' Freunden eine Person, mit der sich ein Kontakt nicht lohnt. Die gutbürgerlichen Familienväter, mit deren Söhnen Matthias zur Schule geht, dulden an den heiligen Wochenenden außer ihren eigenen nur die Ehefrauen anderer gutbürgerlicher Familienväter um sich. Halt, halt! Sind es nicht vielmehr die Frauen, die Agnes als potentielle Verführerin ihrer Männer fernzuhalten trachten? Nein. Die Frauen sehen in Agnes keine Gefahr, sie wimmeln Agnes bloß im Auftrag ihrer Männer ab, in deren Augen die biegsame, langbeinige Agnes mit dem auffallenden Mund, der fremde Männer immer noch nachstarren, zum Ladenhüter mutiert ist, bloß weil ihr das Gütesiegel einer aufrechten Ehe fehlt. Sehen vielleicht die Männer in Agnes eine Gefahr? Fürchten sie, daß von ihrem Beispiel Aufruhr und Meuterei ausgehen, weil es gutbürgerlichen Ehefrauen zeigt, daß es für Frauen ein Leben nach der Scheidung gibt? Verweigern Sie Agnes die Anerkennung, damit ihre eigenen Frauen merken, welche Isolation sie riskieren im Fall eines Alleingangs? Kann sein. Kann aber auch sein, daß diese Interpretation Agnes bereits zu sehr schmeichelt, weil Stefans oder Nikolaus' Vater Agnes gar nicht so wichtig nehmen. Wenn Agnes an die Herablassung denkt, mit der Helenes Mann Agnes' Dienstleistungen wie das Besorgen der Sauciere quittiert, dann hegt sie wenig Hoffnung, daß seine Verachtung eine Dämonisierung ihrer Person einschließt. Helenes Mann redet mit Agnes nur das Allernötigste, weil er Agnes offensichtlich schlicht und einfach nicht der Rede wert findet. Eine höherkarätige Ablehnung Agnes' ist aus seinem Verhalten nicht erkennbar, und sie ist auch nicht wahrscheinlich. Männer wie Helenes Mann sind sich ihrer Bedeutung viel zu sicher, als daß eine Agnes sie bang machen könnte. Sonntags wollen die intakten Familien nicht gestört werden von fremden Kindern, aber sie gehen davon aus, daß ihre Kinder für Agnes bei der kein intaktes Familienleben gestört werden kann
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nicht bloß keine Störung,
sondern vielmehr eine Bereicherung darstellen. Deshalb hat Matthias eine Chance: Diejenigen seiner Freunde, deren Eltern an diesem Wochenende nicht unternehmungslustig sind, dürfen vielleicht zu ihm und Agnes stoßen. Moment: Und was ist mit Agnes' Lover? Agnes könnte ja doch einen Mann vorweisen, nämlich ihren Liebhaber. Gilt der nicht? Er würde vielleicht gelten, aber er spielt insofern nicht mit, als er wiederum nicht Matthias' Freunde, sondern seine Freunde treffen will. Auf seine Freunde beziehungsweise deren (großteils fast erwachsene) Kinder sind weder Agnes noch Matthias scharf. Die Freunde von Agnes' Lover sind gesetzte Herrschaften, polternde Herren mit gackernden Gemahlinnen, die von Matthias zackige Verbeugungen und von Agnes ein fügsames Lächeln erwarten. Die Freunde von Agnes' Lover sehen Agnes als Anhängsel, das längere Zeit nicht getragen wurde und nun einen gefunden hat, der es aus der Lade holt, sie meinen, daß Agnes froh und dankbar sein muß, wenn ihr Lover sie und Matthias mitnimmt, sie loben neckisch des Lovers Wagemut, weil er sich auf seine älteren Tage über Nacht nicht nur ein Weib, sondern gleich auch ein Kind zugelegt habe. Als Agnes in scharfem Ton sagte: Mein Kind ist nicht verfügbar!, blickten sie befremdet. Nein, nein, die Freunde ihres Lovers mag Agnes schon gar nicht treffen. Aber auch ohne seine Freunde ist der Lover problematisch, denn er begeistert sich grundsätzlich nur für Unternehmungen, die für Matthias eine Strafe wären. Wie Daniela meint auch Agnes' Liebhaber, daß Matthias Bedürfnisse zu haben hätte, die kaum ein Kind in Matthias' Alter hat. Agnes' Liebhaber ist zum Beispiel überzeugt, daß es Matthias, hätte Agnes ihn nicht grundfalsch erzogen, ein Bedürfnis wäre, neben seiner Mutter und ihrem Geliebten still in Wirtshausgärten zu sitzen und schweigend den Erwachsenen zu lauschen, wie sie die Mängel der letzten Mietrechtsreform diskutieren. Von solchen Gesprächen, sagt Agnes' Lover, könnte Matthias schließlich enorm profitieren. Wahrscheinlich hat er recht. Es wird Matthias sicher noch sehr schaden, wenn er später einmal, in einer klugen Unterhaltung, die Mietrechtskommentare von Agnes' Lover nicht zu zitieren vermag.
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Im Unterschied zu Georg, der zuläßt, daß Daniela Matthias nicht verstehen mag, läßt Agnes das Unverständnis ihres Liebhabers nicht zu: Da sie ihn nicht dazu bringen konnte, auf Matthias einzugehen, verzichtet sie, sobald ein Interessenkonflikt zwischen ihm und Matthias droht, auf seine Gegenwart. Georg verzichtet statt dessen auf Matthias' Gegenwart. Das nimmt Agnes ihm übel. (Daß Danielas Unverständnis Georgs Bequemlichkeit entgegenkommt, derzufolge Georg es nur begrüßt, wenn kein Matthias ihn drängt, ins Schwimmbad zu fahren, macht in Agnes' Augen Georgs Verhalten bloß noch tadelnswerter.) Ach, Agnes: Lang wird sie ihren Lover nicht mehr haben. Männer mögen keine Frauen, die sich nicht integrieren lassen. Gerade das ist ja normalerweise das Schöne an Frauen: das Vermittelnde, Anpassungsbereite. Aber Agnes paßt sich nicht nur nicht an, sie grollt ihrem Liebhaber zudem, weil er sich seinerseits nicht an sie und Matthias anpaßt. Agnes, die durchaus Mühe hat, sich Matthias' Bedürfnissen anzupassen, verlangt allen Ernstes, daß ihr Liebhaber mühelos Rücksicht nehmen soll auf Matthias' Bedürfnisse! Wie stellt sie sich das vor? Was denkt sie sich dabei? Rücksichtnahme gehört zu ihrer Rollenausstattung, diesen Part hätte sie zu singen! Ach, Agnes: Männer mögen schon gar keine Frauen, die sich nicht nur nicht integrieren lassen, sondern ihrerseits einen Mann integrieren wollen in ihr so und so organisiertes Leben! Es besteht natürlich der Verdacht, daß Agnes den Verlust ihres Liebhabers bewußt einkalkuliert. Vielleicht riskiert sie seinen Verlust, weil ihr nicht allzuviel an ihm liegt? (Was liegt ihr überhaupt an ihm, der Matthias mit ermüdenden Vorträgen langweilt und sich wohl fühlt unter Freunden, die niemals Agnes' Freunde sein könnten? Hält sich Agnes den Lover bloß seiner erotischen Qualitäten wegen? Pfui! Und wie kommt sie in den Genuß seiner erotischen Qualitäten, wenn sie ihn doch weiter nicht sonderlich schätzt? Muß Agnes ihre maskulinen Züge derart übersteigern, daß sie vergißt, wie sehr Frauen beim sexuellen Genuß auf tiefe Gefühle für den Verursacher des Genusses angewiesen sind?) Vielleicht also läßt Agnes der Gedanke kalt, daß sie ihren Liebhaber einbüßen könnte, weil sie sowieso auf der Suche nach einem ist, der ihr mehr bietet als
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bloß Vergnügen im Bett. In diesem Fall brauchen wir nicht länger hochachtungsvoll zu buckeln vor Agnes, der selbstlosen Mutter, die ihrem Sohn zuliebe den Lover vergrämt. In diesem Fall erhebt sich die Frage, wie risikofreudig Agnes wäre mit einem Lover, an dem ihr läge und dessen Verlust sie fürchtete? Matthias hat in der Zwischenzeit bei Philipp, Markus und Anton angerufen, jedoch ohne Erfolg. Kino? fragt Matthias seine Mutter. Sollte ich nicht lieber was erzieherisch Wertvolles mit dir tun? fragt Agnes zurück. Pfeif drauf! sagt Matthias. Agnes und Mattias fahren in die City, wo sie sich einen turbulenten amerikanischen Film ansehen. An diesem zartgrünen, mildsonnigen Samstagnachmittag, an dem Scharen geplagter Städter in die Natur strömen (wo sie das junge Gras niedertrampeln, mit gellendem Geschrei die Stille zerstückeln und die Luft mit Benzindämpfen schwängern, bis die Natur sich selber nicht mehr kennt), an diesem nach Waldläufen verlangenden Samstag fliehen Agnes und Matthias in die leere Innenstadt, die erschöpft döst in der rosa Wärme ihrer eigenen Mauern, und dort in die dunkle Höhle eines Kinos. Sie stopfen sich mit Popcorn voll und entkommen nach New York, zwischen schlagfertige Menschen, denen die Tücken des Schicksals nur als Schleifstein für ihre Souveränität dienen. Schön war's, sagt Matthias, als sie aus dem Kino treten. Auf dem Heimweg eine nicht abreißende Autokolonne in der Gegenrichtung. Agnes fährt die Scheinwerferprozession entlang nach Hause, wo von den Reihenhäusern her mit brüllenden Lachsalven in die Dunkelheit geschossen wird. Erschöpft schließt Agnes die Fenster. Wieder ein Samstag überstanden. 2. Aber du liebst mich doch, sagt Veronika funkelnden Blicks. Ich weiß, daß du mich liebst. Sie sitzt Georg gegenüber, entschlossen, das Kinn erhoben. Georg schaut gequält.
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Veronikas funkelnder Blick, ihr bohrender Ton haben etwas Beschwörendes angenommen. Vor kurzem noch hat Veronika die gleichen Sätze heiter, gelöst, unerträglich kokett, albern selbstsicher gesagt: Du liebst mich. Du kommst nicht los von mir. Du wirst mich schon noch heiraten, verlaß dich drauf. Und: Ich habe dich mit deiner Frau gesehen. Du liebst sie nicht. Sie versteht dich nicht. Sie macht dich nicht glücklich. Darauf Georg, erst perplex bis zur Erheiterung über ihre anmaßenden Hirngespinste, dann zunehmend gereizt: Laß meine Frau aus dem Spiel. Sei nicht komisch. Spiel nicht verrückt. Was soll denn das auf einmal? Doch Veronika ist mit simpler Unmißverständlichkeit nicht beizukommen. Und darum jetzt erneut die oft gespielte Szene, bei der Veronika Georg erklärt, was er für sie empfindet, unbeirrt durch Georgs Proteste, die angesichts ihres sturen Beharrens möglicherweise etwas verwirrt ausfallen. Warum tust du dir das an? fragt Veronika. Was? fragt Georg. Du
da draußen, sagt Veronika. Du mußt doch intellektuell verhungern
zwischen diesen Bauern. Quatsch, erwidert Georg. Wozu bringst du ihr dieses Opfer? fragt Veronika weiter. Ich finde, man kann die Sorge um die Kinder auch übertreiben. Ich versteh' dich nicht, sagt Georg. Es stellt sich heraus, Veronika glaubt, Georg sei aufs Land gezogen, weil Daniela darauf bestanden hat, daß die Kinder in der gesunden Luft aufwachsen müssen. Ein geselliger Mensch wie du! sagt Veronika vorwurfsvoll. Ein kreativer Geist wie du, der die Anregungen der Großstadt braucht! Ich bin doch eh die meiste Zeit in der Großstadt, wirft Georg ein. Und außerdem bin ich äußerst ungesellig. Veronika lacht schrill auf. Im Ernst, sagt Georg. Die Anregungen der Großstadt können mich mal. Veronika macht ein Gesicht, das ausdrückt, daß sie es besser weiß, und nimmt einen Schluck Campari. Sie trinkt mit spitzem Schnabel, und Georg
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kriegt Lust, dieses gezierte Wesen durchzubeuteln, bis es abläßt von seinem affektierten Betragen und von seinen affektierten Ideen. Ich habe euch beobachtet, sagt Veronika. Mir kannst du nichts vormachen. So ist es, bestätigt Georg. Du durchschaust mich. Veronika bringt es fertig, die Ironie zu überhören, und legt eine Hand auf seine. Er zuckt zusammen, Georg scheut nicht davor zurück, mit Veronika ins Bett zu gehen, aber die Intimität dieser Geste erschreckt ihn. Sie tut überhaupt nichts für dich, klagt Veronika. Du brauchst eine Frau, die dir was abnimmt. Den ganzen Kleinkram. Dich müßte man ... managen. Du meinst, du würdest was aus mir machen? fragt , Georg grinsend. Ich könnte viel für dich tun! behauptet Veronika. Georg grinst stärker. Ich bin doch schon was! Trotzdem, sagt Veronika. Warum hört Georg sich diesen Stumpfsinn überhaupt an? Darum: Veronikas Unverschämtheit überrumpelt ihn. Zum Beispiel die Unverfrorenheit, mit der sie auf Daniela herumhackt: Noch nie hatte Georg eine Geliebte, die versucht hat, ihm seine jeweilige Ehefrau madig zu machen. So was schickt sich einfach nicht. Die manierliche Geliebte des verheirateten Mannes hofft, daß er von selber drauf kommt, was er an ihr hat und was er an seiner Frau nicht hat. Georg ist verblüfft, doch was zuviel ist, ist zuviel. Also, ich muß jetzt, sagt Georg. Ich sollte längst weg sein. Fährst du zu ihr? Zu wem? Zu deiner Frau. Georg schaut erstaunt. Worauf willst du hinaus? Gib's doch zu: Du fährst zu ihr! Georg starrt sie fassungslos an. Machst du mir im Ernst eine Szene, weil die Möglichkeit besteht, daß ich abends heimfahre zu meiner Familie? Veronika
bricht
in
Tränen
aus.
Bleich
stößt
sie
zwischen
zusammengebissenen Zähnen hervor: Geh doch, geh nur! Ich will dich nicht mehr sehen! Geh endlich! Georg geht, kopfschüttelnd.
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3. Georg, mit wem warst du in Salzburg? fragte Anna eines Sonntagmorgens arglos beim Frühstück. Mit wem? Ja, mit welcher Frau? Mit welcher Frau? fragte Georg zurück. Seine Stimme klang belegt, und schlagartig wußte Christa, daß was nicht stimmte. Mit welcher Frau? fragte Georg zurück, und die Welt war nicht mehr wie davor. Jählings stürzte Christa vom Thron der kostbaren Angebeteten und verwandelte sich in eine ganz gewöhnliche betrogene Ehefrau. Christa, am Beginn ihrer Beziehung zu Georg eine Frau zwischen zwei Männern, die wählen hatte können zwischen Zuneigung und noch mehr Zuneigung, war plötzlich eine von zwei Frauen, die buhlen mußten um die Zuneigung des Mannes zwischen ihnen. Auf einmal mußte Christa bangen und zweifeln. Mit welcher Frau? fragte Georg zurück, und Christa, der eine eisige Hand ans Herz griff, wußte sofort Bescheid. So stellt es sich im Rückblick für Christa dar. Aber so war es nicht. Christa kann gar nicht mehr sagen, ob Georgs Stimme wirklich belegt klang. Wenn Christa sich den Sonntagmorgen genauer ins Gedächtnis ruft, an dem ihr klar wurde, daß Georg fremdging, dann muß sie zugeben, daß sie sogar ziemlich begriffsstutzig war; warum hätte sie auch annehmen sollen, daß Georg sie betrog? Als Anna fragte: Mit welcher Frau warst du in Salzburg?, hörte sie noch gar nicht richtig hin. Sie las in der Zeitung und dachte nebenbei amüsiert: Das klingt ja wie aus einer Boulevardklamotte, fehlte nur noch, daß Georg verlegen wird. Als Georg tatsächlich verlegen wurde, traute sie ihren Ohren kaum. Wann wurde Georg tatsächlich verlegen? Christa kann sich nicht präzise erinnern. In der Rückschau verschwimmen Georgs verwirrende Reaktionen und ihr schrittweises, verwirrtes Erschrecken ineinander.
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Zunächst erwartete sie, daß Georg auf Annas Frage unbekümmert auflachen und den Namen einer Mitarbeiterin nennen würde. Georg war zu dieser Zeit an einem Großprojekt beteiligt, für das er viel herumgefahren war. Es wäre nicht verwunderlich gewesen, hätte ihn der Auftrag auch in Begleitung der einen oder anderen Kollegin nach Salzburg geführt. Aber Georg nannte keinen Namen. Statt dessen fragte er zurück: Mit welcher Frau? und seine Stimme klang, wenn schon nicht belegt, so doch vorsichtig. Nicoles Mutter sagt, sie hat dich im Tomaselli gesehen. Sie hat dich gegrüßt, aber du hast sie nicht bemerkt, weil du so eifrig geredet hast. Was für ein Unsinn. Die Frau hat Halluzinationen. Wie bitte? Christa verstand nicht, warum er derart heftig abstritt, im Tomaselli gesessen zu sein. Was war dabei, wenn er mit einer Mitarbeiterin im Tomaselli saß und in ein eifriges Gespräch vertieft war? Nein, das glaube ich nicht. Sie hat mich nämlich gefragt, was mit deiner Hand ist. Sie hat den Verband gesehen. Georg hatte sich kurz zuvor den linken Daumen gequetscht und trug einen relativ auffälligen Verband. Sag mal, was wird das? Ein Verhör? wollte Georg ärgerlich wissen. Spioniert diese Nicole Mutter mir nach oder was? Anna schaute gekränkt, weil er so unfreundlich mit ihr sprach. Sie hat gar nicht spioniert. Sie hat sich nur nach deiner Hand erkundigt. Ich hab' deine Eltern in Salzburg gesehen, im Tomaselli, hat sie gesagt. Sie hätte euch gegrüßt, aber die Mami wäre mit dem Rücken zu ihr gesessen, und du hättest nicht hergeschaut. Sie ist dann gleich gegangen, sagt sie, weil sie es eilig gehabt hat. Das ist alles. Und mich mußt du deswegen nicht anfauchen. Ich fauche dich nicht an, sagte Georg. Eine unbehagliche Pause entstand. Anna starrte Georg beleidigt an. Ich hab' nicht wissen können, daß es dich so ärgern wird, wenn ich dir das erzähle. Ich ärgere mich doch gar nicht! behauptete Georg. Anna schmollte. Mich mußt du nicht anschnauzen. Ich hab' das lustig gefunden, weißt du. Weil die Mama doch gar nicht in Salzburg war. Ich war auch nicht dort. Aber Nicoles Mutter.
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Laß mich endlich mit Nicoles Mutter zufrieden! Warum hat Georg sich so ungeschickt verhalten? Immer noch hätte er lachend verkünden können, daß die Frau, die Nicoles Mutter für Christa gehalten hatte, diese oder jene Kollegin gewesen sei. Fiel ihm in der Geschwindigkeit keine Kollegin ein, mit der man Christa hätte verwechseln können? Ach was, hätte er nur überzeugend genug den Unbekümmerten gespielt, hätte er lachend hinzufügen können, es sei ihm rätselhaft, wie jemand allen Ernstes diese Frau für Christa habe halten können. Christa hätte ihm geglaubt. Christa war gar nicht scharf darauf, ihn einer Lüge zu überführen. Das hatte er allerdings nicht gewußt. Vielleicht veranlaßte ihn sein schlechtes Gewissen, Christa für hellhöriger zu halten, als sie war, weshalb er sie so alarmiert wähnte, daß er sich die unbekümmerte Nummer nicht mehr abzuziehen traute? Oder vielleicht fürchtete er bloß, den Namen einer Kollegin zu nennen, von der Christa zufällig, woher auch immer, definitiv wußte, daß sie nicht in Salzburg gewesen war? Anna schaute mittlerweile unglücklich drein. Auch sie hatte offensichtlich gedacht, daß Georg eine harmlose Erklärung parat haben würde. Christa versteckte sich ratlos hinter ihrer Zeitung. Sie haßte Georg, weil er ihr nur zwei Möglichkeiten ließ: sich blöd oder ihm inquisitorische Fragen zu stellen. Wenn Christa will, erinnert sie sich noch gut an den Sonntagmorgen, an dem sie draufkam, daß Georg fremdging. Sie erinnert sich vielleicht nicht an jedes Detail und nicht genau, wie die Details aufeinanderfolgten, aber sie erinnert sich eindringlich, wie erschreckend es war, als ihr der Boden unter den Füßen wegglitt. Sie hatte Georg vertraut. Auf einmal entpuppte er sich als einer, von dem sie nicht wußte, wie sie mit ihm dran war. Das war ein schlimmer Absturz aus der Sicherheit einer begehrten und umworbenen Frau (die Georg erobert und durch seinen Eroberungsfeldzug zur Trophäe erklärt hatte) in die unsichere Existenz einer Frau, deren Mann es auch mit anderen trieb, und die sich deswegen ständig fragen mußte, wen er nun eigentlich wie stark begehrte. Plötzlich war Christa keine Prinzessin mehr, sondern ein Groupie im mehrköpfigen Gefolge eines Prinzen.
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Verdammter Georg. Konnte er sich nicht mehr Mühe geben, seine Seitensprünge zu verschleiern? Ab jetzt war Christa hellhörig, und es gab kein Zurück in den geschützten Zustand der völligen Ahnungslosigkeit. Ein anderes Sonntagsfrühstück. Georg war am Vorabend mit schwedischen Geschäftsfreunden ausgewesen. Das Telefon. Anna ging ran. Sie kam zurück mit der Mitteilung: Eine Frau. Sie will dir nur guten Morgen sagen, sagt sie. Anna verdrehte spöttisch die Augen. (Auch das nimmt Christa Georg übel: Daß immer wieder ihre Tochter zur Nachrichtenübermittlerin in seinem Liebesleben wurde.) Georg stand auf mit unbewegtem Gesicht. Wider besseres Wissen hoffte Christa, daß er zurückkehren würde mit einer befreienden Bemerkung. Christa stellte sich ihr Gefühl der Befreiung vor und wie sie lachend zu Georg sagte: Also wirklich, für einen Moment war ich schon mißtrauisch. Aber Georg kehrte zurück und schwieg. Erst auf Befragen sagte er: Einer von den Schweden. Anna sagt doch, es war eine Frau. Ja, eine von den Schwedinnen. Was denn nun? Ich meine, wieso redest du dauernd von Schweden, wenn es sich um Schwedinnen hantelt? Es handelt sich, sagte Georg dozierend, um Schwedinnen und Schweden. Es war eine gemischte Gruppe da, weißt du. Du hast mit einer gemischten Gruppe telefoniert? Georg faltete seine Serviette, legte sie hin und stand auf: Was willst du eigentlich? Ja, was wollte Christa eigentlich? Zumindest wußte sie, was sie nicht wollte: Sie wollte Georgs Geringschätzung nicht, die darin bestand, daß er nicht einmal die kleinste Anstrengung unternahm, glaubwürdig zu lügen. Es fällt auf, daß ständig von Betrug und Lügen die Rede ist. Glaubwürdige Ausreden werden gefordert statt Offenheit. Sind sexuelle Kontakte mit anderen per se Betrug an der Partnerin (am Partner) oder nur dann, wenn sie mehr oder weniger unbeholfen verheimlicht werden? Christa hat versucht, Georgs Fremdgehen als etwas zu sehen, was sie nicht betrifft, aber es ist ihr nicht gelungen, jedenfalls nicht zu Lebzeiten ihrer Ehe.
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Christa kann sich nicht vorstellen, daß es sie erleichtert hätte, wenn Georg ihr seine Seitensprünge mitgeteilt hätte wie seine Zahnarzttermine. Zugegeben, beides diente dem körperlichen Wohlbefinden, aber trotzdem sind Zahnarzttermine was anderes. Nie hat Georgs Zahnarzt angerufen, um ihm einen guten Sonntagmorgen zu wünschen. Jetzt, da Georgs Seitensprünge nicht mehr Sprünge weg von Christas Seite sind, sieht die Situation etwas anders aus. Jetzt könnte Christa etwaigen Berichten Georgs gelassen zuhören, doch Georg berichtet ja nichts. Im übrigen stand eine offene Ehe nie zur Debatte. Georg war wütend vor Eifersucht auf Christas ersten Mann gewesen, heftig hatte er darauf gedrängt, daß Christa monogam wurde, ihrem ersten Mann entsagte und sich ganz für Georg entschied, wie hätte Christa da annehmen sollen, daß das Monogamiegebot nur für sie galt, nicht aber für ihn? Wahrscheinlich stritt Georg seine Seitensprünge schon deswegen ab, damit seine Frau nicht am Ende auf die Idee kam, gleiches Recht für beide zu beantragen. Womit wir wieder beim Anfang wären: Wenn er ein dem Monogamiegedanken förderliches häusliches Klima anstrebte, wieso gab er sich dann nicht mehr Mühe bei der Darstellung des monogamen Ehemanns? Als Christa ihren ersten Mann mit Georg betrog, ging sie so diskret vor, daß ihr erster Mann von dem Verhältnis erst erfuhr, als sie zur Scheidung fest entschlossen war. Georg (der Christa jahrelang betrog, ohne an Scheidung auch nur entfernt zu denken) sagte oft, die Perfektion, mit der sie ihren ersten Mann belogen hatte, habe sie ein wenig unheimlich für ihn gemacht. Er habe immer wieder denken müssen, daß er nicht derjenige sein wolle, der so gekonnt von ihr hintergangen würde. Vielleicht hielt Georg es ja für Anstand, daß er Christa zwar belog, aber nicht so, daß sie nicht jederzeit draufkommen konnte? Er stritt alles ab, aber er verheimlichte wenig. Das war seine Form von aufrechtem Charakter. Eine Zeitlang hat Christa sich gefragt, ob ihre Ehe mit Georg gehalten hätte, wenn es ihr gelungen wäre, Georgs außereheliche Verhältnisse so kameradschaftlich hinzunehmen, wie sie jetzt seine nachfolgenden Ehen hinnimmt. Später hat sie beschlossen, zu sich zu stehen, so, wie sie ist, und
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sie ist nun einmal so, daß sie Georg, wie er ist, als Ehemann nicht widerspruchslos ertragen hat. Christa selbst ist während ihrer Ehe mit Georg nicht fremdgegangen. Am Anfang war sie zu glücklich dazu, später dann zu unglücklich. Ihr Unglück beschäftigte sie viel zu sehr, als daß sie den Kopf frei gehabt hätte für andere Beziehungen. Nach der Scheidung behauptete Georg, es hätte ihm Christa entfremdet, daß sie kein gemeinsames Kind wollte. Christa wollte kein Kind von Georg, weil sie Anna nicht benachteiligen mochte. Selbst wenn Georg keinen Unterschied in der Behandlung der Kinder gemacht hätte, allein die Tatsache, daß das neue Kind das Kind einer größeren Liebe gewesen wäre, hätte einen Unterschied gemacht. Christa liebte Anna so sehr, wie sie Annas Vater nie geliebt hatte, und sie liebte Georg fast so sehr wie Anna. Es erschien ihr riskant, ein Kind zu kriegen, das sie nicht nur ebenso lieben würde wie Anna, sondern bei dessen Anblick ihr zudem die Zärtlichkeit einfallen würde, die sie für seinen Vater empfand; in Summe, dachte sie, käme dabei vielleicht mehr Zärtlichkeit für das neue Kind heraus, und dieser Ungerechtigkeit hätte sie Anna nie und nimmer aussetzen mögen. Umgekehrt wollte sie aber auch nicht Gefahr laufen, das neue Kind zu benachteiligen und Anna kompensierend zu bevorzugen, weil sie dem neuen Kind vielleicht grollend übelnehmen würde, daß es über den Startvorteil eines von der Mutter sehr geliebten Vaters verfügte. Der Vater ist unwichtig! sagt Agnes gern salopp. Pater semper impotens est oder so; Väter spielen keine Rolle, Kinder sind, wie sie sind, allenfalls hat das noch was mit ihren Müttern zu tun. Agnes sagt, sie hat nie das Gefühl, daß Matthias von einem anderen Vater anders ausgefallen wäre. Matthias, sagt Agnes, ist genau der Sohn, den sie auf jeden Fall bekommen hätte, egal, von welchem Mann. Auch Christa glaubt ja nicht, daß ein Kind von Georg besser gelungen wäre als Anna, aber sie glaubt doch, daß Väter eine Rolle spielen. Für Anna hätte es jedenfalls eine Rolle gespielt, mitansehen zu müssen, wie ihre Mutter den Vater ihrer Halbschwester oder ihres Halbbruders liebte, im Unterschied zu
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Annas leiblichem Vater, bei dem Anna nie erlebt hatte, daß er Christa sehr viel bedeutete. Christa versteht Frauen nicht, die ihren Kindern sorglos weitere Kinder von weiteren Vätern zumuten. Schon unter Geschwistern, die denselben Vater und dieselbe Mutter haben, kommt es doch ständig zu Eifersüchteleien. Christa weiß noch gut, wie ihre Brüder und sie die Eltern belauerten und wie sie darüber wachten, daß der Kuchen Elternliebe nur ja zu gleichen Teilen verfüttert wurde. Ihn hast du aber lieber als mich! Sooft Christa diesen Satz als Kind vorwurfsvoll trompetete, schien er ihr gerechtfertigt. Stets steckten hinter dem Vorwurf Indizien, die Christa in diesem Moment für unwiderlegbar hielt. Zur Widerlegbarkeit trug dann die Frage bei, die Christas Mutter in solchen Situationen gern stellte: Aber warum sollte ich ihn denn lieber haben? Ihr seid doch beide meine Kinder! Dieses Argument leuchtete dem Kind Christa als Begründung für einen Irrtum seinerseits ein. Anna gegenüber hätte sie dieses Argument nie ins Treffen führen können. Anna hätte, hätte es auch ein Kind von Georg gegeben, immer sagen können: Das ist nur, weil ich nicht Georgs Kind bin! Daß Anna nicht Georgs leibliches Kind ist, stand zwar nie zur Diskussion, aber möglicherweise auch deshalb nicht, weil es kein leibliches Kind Georgs mit Christa gab. Als es nachher leibliche Kinder Georgs gab, die seine Zuneigung zu Anna nicht sichtbar schmälerten, warf Christa sich vor, Georg durch ihre Entscheidung
gegen
ein
gemeinsames
Kind
vertrieben
zu
haben.
Andererseits zeigte sich an Agnes und Matthias: Auch gemeinsame Kinder vermögen Georg nicht zu halten. Hallo, du! Christas Bruder Hellmuth, bei dem sie am Abendessen eingeladen ist, beugt sich vor und tätschelt ihre Hand. Schläfst du? Du bist so stumm! Bei deinen politischen Ansichten kann man doch nur verstummen, sagt Christa, und die anderen lachen.
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Hellmuth hat sich langsam zum Ökofaschisten entwickelt, der mit wütender Gewalt die Menschen zu einem sanften Umgang mit der Natur zwingen will. Christa glaubt jedoch nicht, daß Rücksichtnahme durch rücksichtslosen Druck bewirkt werden kann, und selbst wenn es doch gelänge, würde sie nicht wollen, daß duldsames Maßhalten durch maßlose Unduldsamkeit zustande käme. Gib's zu, du bist so still geworden, weil du eingesehen hast, daß ich recht habe! sagt Hellmuth und lacht. Ich bin so still geworden, weil du alle niederschreist, sagt Christa. Du bist ein widerlicher Despot, aber Gott sei Dank nur anfallsweise. Tatsächlich ist Hellmuth, abgesehen von seiner Neigung, in lauten, einschüchternden Monologen bizarre politische Theorien zu entwickeln, ein herzlicher, hilfsbereiter und selbstironischer Mensch. Er prostet Christa zu. Sei froh, daß ich nichts zu reden habe! Ja, und ich bete, daß es so bleibt, sagt Christa. Du betest? Seit wann betest du? Bildlich gesprochen. Soll ich dir was sagen? Das Beten würd' ich auch wieder einführen. Wer betet, schaut nicht soviel fern. Ja, und? fragt ein Freund. Weniger Fernsehapparate, weniger Elektronikmüll, erläutert Hellmuth grinsend. Hellmuths Frau verdreht die Augen. Wenn mir jemand prophezeit hätte, daß du einmal dermaßen dämlich dahereden wirst...! Ich beneide dich um deine häusliche Idylle! sagt Christa, und Hellmuths Frau lacht. 4. Agnes hat Schuldgefühle, weil sie kein Frischlufttyp ist. Agnes meint, sie wäre es sich und Matthias schuldig, nach Schönwetter zu lechzen beziehungsweise freudig zu reagieren auf Schönwetter. Es kommt ihr wie ein Defekt vor, daß
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sie nicht imstande ist, sich mit einem Juchzer ins Frischluft-FreizeitSchönwetter-Geschehen zu stürzen. Agnes ist ein Indoor-Typ. Sie fühlt sich betäubt in der Sonne. Immer schon, lange vor dem Outing des Ozonlochs, hat sie sich hinter Sonnenbrillen zurückgezogen, wenn es draußen hell und grell war. Agnes empfindet hell leicht als grell. Wenn Agnes in ihrem Stückchen Garten tätig wird, dann kommt kein innerer Frieden über sie, sondern eine nagende Unruhe. Schade um die schöne Zeit, denkt Agnes. Agnes gibt sich lieber mit Büchern ab als mit Pflanzen. Agnes ist leid um jede Minute, die sie in Pflanzen investiert statt in Bücher. Darum schaut ihr Gartenanteil auch ziemlich langweilig aus, und er wäre noch öder, wenn Agnes nicht, in bekannt verschwenderischer Manier, ab und zu einen Gärtner bezahlte, der ihren Pflanzen die Zuwendung zuteil werden läßt, die Agnes ihnen vorenthält. Wenn Agnes sich mit Büchern abgibt, dann am liebsten auf einem bequemen Sofa in einem geschlossenen Raum, wo keine harten Wurzeln im Kreuz, keine krabbelnden Käfer und keine kitzelnden Gräser Aufmerksamkeit auf sich ziehen, die Agnes den Büchern widmen möchte. Agnes bringt es fertig, blind für ihre Umgebung, unaufmerksam durch malerisches Grün zu stolpern, vollständig in Anspruch genommen von einem Text in ihrem Kopf, der womöglich in betörenden Worten das Bild einer betörenden Natur malt. Stets sind für Agnes berauschende Schilderungen reizvoller als eine nonverbale Realität. Agnes hat den Verdacht, daß das eine Art von Handicap darstellt. Agnes glaubt, daß diejenigen leichter leben, die sich aufs Grüne stürzen und es sich unterwerfen, statt wie sie, verwirrt, blinzelnd, in Deckung zu gehen auf der Reise nach innen. Agnes reist nach innen, aber sie kommt nie dort an. Die Außenwelt in Form von vermeintlichen und tatsächlichen Verpflichtungen läßt Agnes nicht emigrieren. Deshalb pendelt sie ständig mehr oder weniger verzweifelt zwischen ihrer Unfähigkeit, halbwegs glücklich nach außen zu leben, und der Unmöglichkeit, abzutauchen nach innen und auf das Draußen zu pfeifen.
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Agnes ist unsportlich. Auch dem Funktionieren ihres Körpers mag sie keine Aufmerksamkeit schenken. Agnes benützt ihren Körper zur notwendigen Fortbewegung; sie bewegt sich schnell, weil sie dadurch Zeit gewinnt Zeit, die sie eventuell in ein Buch investieren kann , und wenn sich ihr Hindernisse in den Weg stellen, ist sie meist in der Lage, sie zu überwinden. Schnelles Sichbewegen und das Überwinden von Hindernissen zum Selbstzweck zu erheben, erscheint ihr sinnlos. Agnes war nie motivierbar, einem Tennisball hinterherzujagen oder ein Fahrrad nur zum Zweck des KilometerHerunterstrampelns zu besteigen. Agnes schiebt Sonnenbrillen zwischen sich und die Sonne, eine Pollenallergie zwischen sich und kitzelnde Gräser, gemauerte Wände zwischen sich und krabbelnde Käfer; mit ihrem distanzierten Verhältnis zu frischer Luft. die immer noch so heißt, auch wenn sie voller Schadstoffe ist und körperlicher Ertüchtigung die nicht aufscheint in Agnes' Auffassung von Tüchtigkeit , würde sie besser ins 19. Jahrhundert passen. Kein Wunder, daß sie sich zurückgeblieben vorkommt. 5. Schau, ich hab' dir die Zeitung mitgebracht! sagt Gerda und drückt Viktoria ein aufgeschlagenes Blatt in die Hand. Viktoria starrt auf verschwommene Schrift und verschwommene Flecken, die vermutlich Bilder sind. Hier! sagt Gerda und klopft auf ein Bild. Viktoria hält die Zeitungsseite so weit wie möglich von sich. Das Bild wird dadurch nicht deutlicher. Hast du deine Brille verlegt? fragt Gerda. Ich brauche keine Brille! sagt Viktoria barsch. Tatsächlich sind Viktorias Augen erst spät und langsam schwächer geworden. Lange Zeit benötigte sie ihre Lesebrille nur bei schlechtem Licht oder an besonders müden Tagen (die bei Viktoria selten sind, weil Viktoria nicht zögert, sich auszuruhen, wenn sie das Bedürfnis nach Regeneration verspürt). Mittlerweile gelingt es ihr so gut wie nie, Gedrucktes ohne Brille zu entziffern, aber das ist ein Zustand, den sie noch nicht zur Kenntnis nehmen will. Tag für Tag hofft Viktoria, daß ihre nachlassende Sehkraft sich als vorübergehende Unpäßlichkeit entpuppt, so
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wie sie überhaupt von der Vorstellung nicht loskommt, daß sie das Altern hinter sich bringen wird wie eine Erkältung, die irgendwann ein Ende hat und nach der man wieder frei ist von Beschwerden. Viktoria schaut in einen Spiegel, sieht die Fältchen um ihren Mund und die Haut, die schlaff neben ihrem Kinn herunterhängt, und mag einfach nicht glauben, daß sie nie wieder glatte Lippen und scharfe Gesichtskonturen haben wird. Viktoria hält den Anblick ihrer Knitterfältchen und ihrer herabsackenden Haut nur aus, weil sie darüber hinweggeht wie über eine Störung, die unmöglich ewig dauern kann. Ich habe halt einen schlechten Tag! sagt sich Viktoria, wenn sie mit ihrem Spiegelbild nicht zufrieden ist. Immer schon hat sie schlechte Tage gehabt, an denen sie mitgenommen aussah. Aber zuverlässig wurden die schlechten Tage
von
guten
abgelöst,
an
denen
man
ihrem
feinen,
kleinen,
entschlossenen Gesicht nicht mehr anmerkte, daß schlechte Tage es strapaziert hatten. Seit einiger Zeit reihen die schlechten Tage sich mit erschreckender Unablässigkeit aneinander, und manchmal überfällt Viktoria der Verdacht, daß so richtig gute, an denen ihr Spiegelbild sie anblickt wie früher, vielleicht nie mehr kommen werden, aber sie schiebt diese Furcht jedesmal schnell und resolut beiseite, denn sie ist, obwohl klein und zierlich, erstaunlich kräftig, wenn es sein muß. Wo sollen die Sachen hin? fragte Gerda. Sie hat Viktoria Bauernhonig mitgebracht, Vitaminsäfte und zwei Gläser ihrer selbst eingelegten Mixed Pickles, um die sich alle reißen, die je davon kosten durften. Gerda gefällt sich als umsichtige Hausfrau. Ich bitte dich, das ist doch kein Problem! Wenn du willst, besorge ich dir welchen, sagt sie beispielsweise, nachdem Viktoria ihre Empfehlung, morgens ein Glas naturtrüben Apfelsaft zu trinken, mit der Behauptung zurückgewiesen hat, leider sei es ihr unmöglich, an derartige Getränke zu kommen. Viktoria gefällt sich Gerda gegenüber als Paradiesvogel, der nicht dazu geschaffen ist, Banalitäten a la Apfelsaft hinterherzurennen. So ergänzen Gerda und Viktoria einander seit vielen Jahren: Gerda demonstriert an Viktoria ihre unermüdliche Lebenstüchtigkeit, und Viktoria
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kann dank Gerda ihrer Bequemlichkeit nachgeben. Jede fühlt sich der anderen überlegen: Gerda betrachtet Viktoria als Luxusgeschöpf, das aufgeschmissen wäre ohne sie, und Viktoria sieht Gerda als dienstbaren Trampel, der ihr nicht das Wasser reichen kann, obwohl er ihr Apfelsaft reicht. Diesmal hat Gerda also Honig, Multivitaminsäfte und Mixed Pickles dabei. Wohin damit? Stell' alles in die Küche! sagt Viktoria, die sich nun doch entschlossen hat, ihre Brille hervorzukramen und aufzusetzen. Irgendwohin. Frau Brettschneider wird es schon wegräumen. Gerda nimmt ihren Einkaufskorb, geht in Viktorias Speisekammer und verstaut das Mitgebrachte in den passenden Regalen, wobei sie gleich auch ein paar Vorräte umschichtet und den Deckel der Tiefkühltruhe abwischt, der ihr fleckig vorkommt. Du solltest deine Konserven einmal durchsehen, sagt sie, zurückkehrend. Manche scheinen mir ziemlich alt. Frau Brettschneider wird sich drum kümmern, erwidert Viktoria gelangweilt. Du mußt es ihr sagen! schärft Gerda ihr ein. Viktoria zieht eine Braue hoch. Frau Brettschneider ist sehr ordentlich! sagt sie bestimmt. (Vielleicht verfügt Gerda über zweitklassiges Personal. Das von Viktoria war immer erstklassig. Viktoria mag es ablehnen, eigenfüßig um Bauernhonig zu laufen, aber wie man Haushaltshilfen auswählt und dirigiert, das weiß sie.) Sie tippt auf das Zeitungsfoto, das Gerda ihr gezeigt hat. Welche ist denn nun Ediths Tochter? Die da? Nein, du bist in der falschen Geschichte, sagt Gerda. Die da ist ein Mordopfer. Das hier ist Ediths Tochter. Ich hab' sie aber dick in Erinnerung, wendet Viktoria ein. Dick war sie nie. Bloß nicht immer so dünn wie jetzt. Sie war ein besonders fettes Kind, beharrt Viktoria. Schreckliches Balg. Und die soll jetzt berühmt sein? Hier steht, sie hat einen Preis gekriegt. Was sagt das schon. Weiß du, daß Ediths Bruder mir den Hof gemacht hat? Ich weiß.
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Ganz verrückt war er nach mir. Wenn ich gewollt hätte, er hätte alles aufgegeben. Er war ja schon verheiratet damals, und es war seine Frau, die die Firma in die Ehe mitgebracht hat. Hab' ich dir die Geschichte erzählt? Hast du. Gerdas Gesichtsausdruck ist betont geduldig. Er wollte sich auf der Stelle scheiden lassen, wenn ich ihn erhören würde. Ach Gott, ich war so jung, ein halbes Kind. Mühsam versucht Viktoria, erzählend aus einstigen Eroberungen Funken zu schlagen. Eine herzerwärmende Flamme wird nicht daraus. Es ist schwer, von verblaßten Erfolgen zu zehren. Was Viktoria fehlt, sind aktuelle Erfolge. Viktoria lebt in der Vergangenheit, aber es ist nicht so schön dort, wie die Jungen vielleicht glauben. Lieber würde auch Viktoria in der Gegenwart leben, wenn die ihr was zu bieten hätte. Hast du nicht gesagt, Christa kommt heute vorbei? fragt Gerda, die sich schon wieder nützlich macht, indem sie irgendwelche Tischchen rückt und an Vorhängen zupft. Ja, wahrscheinlich, erwidert Viktoria mürrisch. Die Aussicht auf Christas Besuch heitert sie wenig auf, obwohl Christa als besonders liebenswürdiger Gast auftritt, ausgesuchte Süßigkeiten in der Hand und fürsorgliche Fragen auf den Lippen. Früher oder später kommt das Gespräch ja doch bei Georg an, und was soll Viktoria dann sagen? Schon recht, Georg wirkt unruhig und gehetzt, aber so wirkt er seit Jahren. Er arbeitet zuviel, schläft zuwenig, ißt zu hastig und hat vielleicht auch ein strapaziöses Geschlechtsleben, aber das geht Viktoria nichts an und Christa schon gar nicht. Georg, der kleine, dickschädelige Georg mit den weichen Kinderhänden und den stämmigen Beinen, ist ein großer, erwachsener Mann, der sich von seiner Mutter nicht dreinreden läßt. Seit vielen Jahren bemüht sich seine Mutter, nicht daran zu denken, was gehetzten
Männern
droht,
die
intensiv
arbeiten, wenig
schlafen und hastig essen. Da ist es kein Wunder, daß sie mürrisch wird, wenn Christa kommt und sie zwingen möchte, doch daran zu denken. Was soll Viktoria sagen? Daß sie Daniela langweilig findet und Mäsi und Clemens für außerordentlich ungezogen hält? Vielleicht würde Christa das ganz gerne hören (obwohl man bei Christa nicht sicher sein kann, daß sie reagiert wie ein normaler schadenfroher Mensch), doch wozu soll Viktoria
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Christa mit einem Gefühl der Genugtuung verwöhnen, das letztlich ja doch nur wieder zu Georgs Lasten gehen würde? Schließlich hat er sich die langweilige Daniela ausgesucht, die es nicht versteht, zwei eigensinnige Fratzen zu bändigen. Wie geht es ihr? fragte Gerda. Von allen Schwiegertöchtern Viktorias mag Gerda Christa am liebsten, wahrscheinlich, weil sie in ihr eine verwandte Seele sieht, grundvernünftig und ewig maßvoll. Keine Ahnung, antwortet Viktoria. Und ich muß dir sagen, es interessiert mich auch nicht besonders. Was immer sie treibt, es kann nichts Aufregendes sein. Gerda kichert. Sie selber ist nie boshaft, aber sie hat es von Zeit zu Zeit nicht ungern, wenn Viktoria dieses Geschäft für sie besorgt. Einer der Gründe, warum sie Viktoria die Treue hält. 6. Agnes war nicht immer ein Indoor-Typ. In Phasen intakter Zweisamkeit war sie imstande, schönes Wetter im Freien zu ertragen, ja, zu genießen. Doch Agnes allein ist unruhigen Herzens und so sehr mit der
vergeblichen
Besänftigung dieses Herzens beschäftigt, daß ihr keine Kraft bleibt, sich der Außenwelt zuzuwenden. Ihr unruhiges Herz hindert Agnes, ihren Körper ruhig der Wärme auszusetzen, der wohligen Mattigkeit eines Sonnentages, dem schläfrigen Verschwimmen der Gedanken in der Hitze. Agnes will die Kontrolle behalten, und weil das so kräfteraubend ist, traut sie sich der Gefahr schläfriger Mattigkeit nur in Gesellschaft eines Menschen zu begegnen, der ihr Halt und Schutz bietet. In ihrer Zeit mit Georg wagte sich Agnes auch an Sonntagen hinaus, ohne große Überwindung, Das muß man Georg lassen: In der Zeit mit ihm waren die Wochenenden kein Problem für Agnes. Öfter und öfter denkt Agnes mit Wehmut an Georg zurück. Nicht, daß sie sich nicht vorstellen könnte, daß es liebenswertere Männer gibt als Georg: Aber bedauerlicherweise sind alle, die Agnes seit Georg über den Weg laufen, weniger liebenswert als er. Georg war bereits ein fehlerhaftes Exemplar, doch alle, die Agnes nach Georg getroffen hat, waren mindestens so egoistisch,
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tyrannisch und uneinsichtig wie er, ohne über seinen Charme und seinen immerhin respektablen Verstand zu verfügen. Georg war der einäugige König unter lauter Blindgängern. Als Agnes sich seinerzeit mit Georg zerstritt, zerItritt sie sich, weil er ihren Vorstellungen von einem akzeptablen Ehemann und Partner nicht genügte. Mittlerweile denkt sie, er war noch Gold gegen die, die sonst herumlaufen. So kommt Georg zu Siegerehren mit bescheidenen Mitteln. Wollte man die Frage stellen, ob Georg Agnes' große Liebe war, müßte man zuerst einmal definieren, was unter einer großen Liebe zu verstehen ist. Soll eine große Liebe sich auf jeden Fall dadurch auszeichnen, daß ihr zuliebe der oder die Liebende das Versetzen von Bergen auf sich nehmen würde, freudig sogar, dann ist Georg weit davon entfernt, Agnes' große Liebe gewesen zu sein. Ist aber eine große Liebe bloß die relativ größte im Leben eines Menschen, dann hat Georg gute Chancen. Einen wirklich Spannenderen hat Agnes noch nicht aufgetrieben, also müßte sie Georg notgedrungen als ihre bisher größte Liebe gelten lassen. Agnes betrachtet es jedoch anders. Agnes, ausnahmsweise optimistisch, wartet nach wie vor auf ihre große Liebe. Im Grunde ihrer Seele ist Agnes diesbezüglich romantisch und naiv. Auch wenn rein rational nichts dafür spricht, meint sie, daß ihr das Erlebnis der großen Liebe zu- und demzufolge noch bevorsteht. Hat sie Georg nicht ziehen lassen in der Überzeugung, einer wie er könne unmöglich schon der Gipfel der ihr zugeteilten Lustbarkeiten gewesen sein? Zugegeben, Agnes wird immer älter, aber trotzdem sieht sie sich nicht als einsame Alte. Das heißt: Sie sieht sich sehr wohl als einsame Alte, aber hinter dem Bild, das Verstand und Einsicht ihr suggerieren, lauert die Hoffnung, ja, die Erwartung, fast die Gewißheit, daß das Schicksal ihr doch noch einen aufgehoben hat, der eine stürmische Zuneigung wert sein wird. Na ja, stürmisch: Sacht hat sich Agnes' Vorstellung von ihrer großen Liebe gewandelt, inzwischen wartet sie auf einen, mit dem sie friedlich in der Dämmerung sitzen mag, ohne unter Ungeduld, Groll oder Verachtung zu leiden. Einstweilen, da der, auf den Agnes hofft, noch nicht aufgetaucht ist, kriegt Georg Sehnsüchte ab, die ihm nicht zukommen.
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Agnes ist mit Matthias bei Georg und Daniela auf dem Land. Es ist jedesmal anstrengend für sie, die Gastrolle zu akzeptieren in einem Haushalt, in dem ihr ehemaliger Ehemann, der Vater ihres einzigen Kindes, als Gastgeber agiert, mit einer anderen Frau an seiner Seite und anderen Kindern unter seinen Fittichen (die er, zugegeben, nicht übertrieben schützend ausbreitet). Auch wenn es von mangelnder Flexibilität zeugt, Agnes ist irritiert von der geänderten Personenanordnung. Mögt ihr noch Kuchen? fragt Daniela eifrig, sichtlich bemüht, ja nicht unaufmerksam zu wirken, was ebenso beleidigend ist wie entwaffnend. Beleidigend,
weil
Danielas
betonte
Zuvorkommenheit
Agnes
zur
Unterlegenen degradiert, an der Daniela was gutzumachen hat; und entwaffnend,
weil
Agnes
dadurch
immer
eine
gewisse
Bedeutung
zugestanden wird Daniela beträgt sich, als gehöre es zu ihren vordringlichen Aufgaben, Agnes auf keinen Fall zu verstimmen. Außerdem gäbe es weiß Gott weniger sympathische Reaktionen auf eine Situation wie diese als Danielas Nervosität. Daniela hat diesmal Kuchen gekauft, statt selber einen zu backen. Ihre Einsicht in ihre beschränkten Fähigkeiten hat ebenfalls etwas Rührendes. Beruhige dich! Frag doch nicht ununterbrochen! sagt Georg, nachsichtig, lächelnd, in ironischer Distanz zu Danielas Eifer. Agnes
schwankt
zwischen
Ärger
auf
Daniela,
die
sich
hier
so
selbstverständlich breitmacht, Agnes und vor allem! Matthias an den Rand von Georgs Wahrnehmung drängend und einem fast sentimentalen Mitgefühl mit ihr, einer gutwilligen Person, die sich vermutlich weder Agnes' ärgerliche Abneigung noch George Ironie und Strenge verdient hat. Obwohl Agnes Daniela nicht bewußt ausschließen will aus ihrem Gespräch mit Georg, redet sie die meiste Zeit über Leute, die Daniela nicht kennt. Das liegt auch an Georg, der sich nach Helene erkundigt und nach alten Bekannten aus dem Funkhaus. Bereitwillig antwortet Agnes. Sie begibt sich damit auf vertrautes Terrain, das macht sie sicher, um so mehr, als Daniela, der das Terrain nicht vertraut ist, nicht folgen kann. Bereitwillig erzählt Agnes von alten Bekannten aus alten Zeiten, und wenngleich Agnes selber keine Sekunde vergißt, daß die alten Zeiten vorüber sind, muß es auf Daniela
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doch so wirken, als wären sie kurzfristig wieder lebendig. Wer will Agnes verübeln, daß sie mit einer Spur schlechtem Gewissen Daniela gegenüber, aber dennoch Daniela das antut? Daniela hat Georg, Agnes hat die alten Zeiten. Falls diese Verteilung ungerecht ist, dann sicher nicht zu Danielas Ungunsten. Agnes erzählt auch deshalb, weil sie sich, solange sie selber erzählt, nichts erzählen lassen muß. Sie hat keine Lust, Fragen zu stellen, bei denen sie nicht darumherumkommt,
Georg
und
Daniela
ein
gemeinsames
Personalpronomen zuzubilligen und Antworten zu kriegen, in denen Georg, Daniela, Mäsi und Clemens als intakte Familie auftreten. Wir haben uns gedacht, daß die Kinder später einmal, wenn sie ihre Partys feiern, froh darüber sein werden! hat Daniela erklärt, als sie Agnes und Matthias vorhin die Stelle zeigte, wo Georg ein Garten und Gästehaus aufstellen will. Agnes hat geschluckt. Jetzt sagt sie lachend, so, als sei ihr Spott gutmütig gemeint, zu Georg: Ich sehe ja schon den Tag kommen, an dem du allen Ernstes auch noch einen eigenen Reitstall planst...!, und mit einemmal ist Georgs bescheidenes Vorhaben, ein Gartenhaus aufzustellen, eine neureiche Attitüde, worauf wiederum Daniela schluckt. Und dann der Abschied. Eben noch waren Agnes und Matthias Teil eines großen, lebendigen Haushalts und plötzlich sind sie abgeschnitten vom Familienleben, 'tschüß, ihr zwei, sagt Georg und bleibt beim Gartentor stehen, wo er kleiner wird im Rückspiegel. Keine kräftige Georg-Stimme mehr, nur noch dünne Stille. Wie in einem Käfig fahren Agnes und Matthias zurück in Richtung Stadt, sie beide so allein, weswegen Matthias das Radio anwirft (grob drischt er auf den Einschaltknopf), das den Autokäfig mit aufgeregt dröhnender Popmusik füllt. Agnes und Matthias fahren allein in die Stadt zurück, weg von Georg, Daniela, Mäsi und Clemens, die in einem von warmem Licht erfüllten Haus zu Abend essen werden, glücklich, wieder ganz unter sich.
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7. Mäsi ist zu einem Kindergeburtstag eingeladen, was sie verhältnismäßig kaltläßt, Daniela aber nicht. Mit Erstaunen registriert Daniela die frohe Erwartung,
die
Veranstaltungen
sie erfüllt.
Daniela
war
schon
bei
bedeutenderen
zu Gast, weit glamouröser, als die bevorstehende
Geburtstagsfeier zu werden verspricht, und hat diesen Veranstaltumgen geradezu gelangweilt entgegengesehen. Jetzt stellt sie mit Verwunderung fest, daß sie sich und die Kinder fast aufgeregt zum Weggehen fertig macht. Danielas Aufgeregtheit wirft kein gutes Licht auf den Abwechslungsreichtum ihres jetzigen Lebens. Viel Vergnügen! sagt Georg hämisch, als sie das Haus verlassen, denn er kann sich nicht vorstellen, wie ein Kindergeburtstag Vergnügen machen soll. (Momentan ist Georg voll Häme, aber wenn Daniela demnächst einmal über mangelnde Anregungen klagt, wird er die kleinen innigen Freuden ihres Mutteralltags preisen, die in schroffem Gegensatz stehen zu der rauhen, freudlosen Arbeitswelt, in der er sich bewegt.) Georg hat beschlossen, einmal einen Nachmittag zu Hause zu arbeiten, in seinem Arbeitszimmer mit Gartenblick; wozu hat er schließlich dieses Haus im Grünen gekauft, wenn er es sowenig nützt wie bisher? Danielas Angebot, daheim zu bleiben, hat er hastig zurückgewiesen. Wenn die Kinder durchs Haus toben, kann er keinen vernünftigen Gedanken fassen. Nein, nein, es trifft sich wunderbar, daß sie eingeladen sind. So wird er in Ruhe arbeiten können. Daniela trabt mit den Kindern die Hauptstraße hinunter, zur neuen Reihenhaussiedlung. Ordentliches Häuschen an ordentlichem Häuschen, geleckte Vorgärtchen mit Blumenbeeten, die wie sauber ausgestochene Kekse in makellosen Rasenflächen liegen. Zu den Haustüren führen jeweils drei Stufen hinauf, Klinker, durch die Bank porentief rein. Luftballons am Gartenzaun markieren den Festort. Im Haus trifft Daniela Mütter, die sie vom Kindergarten und vom Einkaufen her kennt. Die Gastgeberin gehört zur vergleichsweise aufgeschlossenen Fraktion, also zu den jungen Frauen, mit denen Daniela wenigstens auf Grußfuß steht. Sie
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schüttelt Mäsis Hand und ruft nach dem Geburtstagskind, damit Mäsi ihm ihr Geschenk in die Hand drücken kann. Im Wohnzimmer stehen Torten und Kuchen auf einem festlich gedeckten Tisch, in einer Ecke liegen Päckchen. Kinder wuseln durcheinander, Mütter eilen durch die Räume, Geschirr, Spielzeug oder Kleidungsstücke in den Händen, sie scheinen sich hier alle gut auszukennen. Danielas Blick fällt auf eine junge Frau, die sich wie sie abseits hält. Sie sitzt im Türkensitz auf einem Sofa und lächelt Daniela zu. Hallo, ich bin neu hier! Sie auch? Sozusagen, erwidert Daniela. Sie beugt sich zu Mäsi hinunter, die sich an sie drückt. Geh doch zu den anderen! Willst du? Mäsi schüttelt den Kopf. Daniela seufzt. Ein größeres Kind kommt und faßt Clemens bei der Hand, der erstaunlicherweise mitmarschiert. Mäsi lehnt sich an Danielas Knie, umklammert mit der Linken einen Zipfel von Danielas Jacke und steckt den rechten Daumen in den Mund. Daniela schaut ratlos auf Mäsis Scheitel. Ist Mäsis Schüchternheit normal? Hat Daniela was falsch gemacht, weil Mäsi so schüchtern ist? Stimmt mit Daniela was nicht, weil ihr Mäsi lästig ist, wenn sie beharrlich an ihr klebt, mit einem Gesichtsausdruck, den Daniela nicht anders als dümmlich finden kann (auch wenn sie weiß, daß Mäsi in Wirklichkeit hochintelligent ist)? Ich heiße Lisa, sagt die fremde junge Frau auf dem Sofa. Wir wohnen im Posthof. Das dort ist mein Sohn. Sie
zeigt
auf
einen
dunkellockigen
Knaben,
der
neben
den
Geburtstagspäckchen kniet und weitere Luftballons aufbläst. Der Posthof, eigendich Gasthof zur Post, ist ein sanierungsbedürftiges Gebäude im Besitz der Gemeinde. Werden Sie den Posthof als Wirtshaus betreiben? fragt Daniela. Die fremde Frau namens Lisa lacht und schüttelt den Kopf. Nein, wir wohnen nur drin. Ich hab' ihn als Wohnhaus gemietet. Der Gemeinde ist es recht. Kann man denn da drin wohnen? fragt Daniela spontan und beißt sich dann auf die Lippen, weil ihr die Frage plötzlich sehr zickig vorkommt. Komfortabel ist es nicht, erklärt Lisa unbekümmert. Aber andererseits haben wir viel Platz. Ich wollte mich mal so richtig rühren können.
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Die Gastgeberin klatscht in die Hände und versammelt um sich die Kinder zu einem Spiel. Mäsi will nicht mittun. Mit verkniffenem Mund steht sie an Daniela gelehnt, die Arme vor der Brust verschränkt. Daniela hat den Eindruck, die Gastgeberin mustert Mäsi wie einen Fall für den Psychiater. Lisa lacht. Das kenn' ich, sagt sie. Der Benjamin mag auch keine Wettkämpfe. Aber er macht doch mit, wendet Daniela ein. Ausnahmsweise, sagt Lisa und streckt eine Hand nach Mäsi aus. Komm, setz' dich zu uns. Mäsi und Daniela setzen sich zu Lisa. Als Daniela heimzu wandert, links Clemens, rechts Mäsi, die beide einen Luftballon und Säckchen mit Süßigkeiten tragen, ist es später als geplant. Daniela geht beschwingten Schritts. Sie hat ein Treffen mit Lisa vereinbart. Außerdem hat sie mit der Gastgeberin geplauscht und mit zwei, drei weiteren Frauen, darunter eine, die ihr bisher immer sehr muffig vorgekommen ist. Die Muffige ist, wenn sie auftaut, weder muffig noch ungebildet, sie ist, wie sich herausgestellt hat, Klavierlehrerin und teilt Danielas Vorliebe für Schubert. Daheim ist Georg bleich vor Unmut. Daheim war Georg unvorstellbaren Belästigungen ausgesetzt. Zumindest hat er sie sich bisher nicht vorstellen können. Eine nachbarliche Lärmorgie hat Georg sowohl Arbeiten als auch Entspannen unmöglich gemacht. Auf der Straße, in den Gärten, auf den Feldern
rundum
nichts
als
Höllengeräusche:
plärrende
Autoradios,
kreischende Kreissägen, Bohrmaschinen, Schleifmaschinen, dröhnende Traktoren, gellendes Hämmern, weithin hallende Stimmen. An diesem Tag hat sich die stille Landbevölkerung gegen Georg verschworen. Aber so ist es immer hier! sagt Daniela erstaunt. Sie hat nicht mitbekommen, daß Georg bisher nichts von der Geräuscheflut mitbekommen hat, die alltäglich über den Ort hereinbricht. Und dann speziell die eine Nachbarin! Schnatternd ist sie mit irgendwelchen Weibern
am
Gartenzaun
herumgegangen,
Sträucher
beschneidend,
stundenlang. Allein diese Stimmen! Grell, schrill, jeder Ton ein Peitschenhieb fürs Trommelfell. Ich sage ja immer, daß sie mir auf die Nerven geht! sagt Daniela.
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Man müßte sich überlegen, woanders hinzuziehen, sagt Georg aufgebracht. In Daniela blitzt Freude auf. Sie sieht sich in Marlenes Nachbarschaft. Terrasseneigentum zwischen Villengärten , wo es Studentinnen gibt, die auf Mäsi und Clemens aufpassen können, wenn Daniela ins philharmonische Konzert geht oder in eine richtige, ernstzunehmende Ausstellung. (Im Nachbarort ist in einer Scheune eine Galerie eröffnet worden, aber die stellt nur Landschaftsaquarelle frustrierter Lehrer aus.) Ich fände es auch besser, näher an der Stadt zu sein, sagt sie. Wer redet denn von näher an der Stadt ruft Georg böse. Weiter hinaus aufs Land müßte man gehen, wirklich in die Einschicht, ein großes Grundstück, Einzellage; nur wir und rundherum keih anderes Haus, das war's. 8. Agnes' Lover geht Agnes zunehmend auf die Nerven. So schlicht muß dieser Tatbestand ausgedrückt werden, ohne Wenn und Aber und ohne gerührte Rückblicke auf beglückende Momente der Leidenschaft. Die Leidenschaft für ihren Lover ist Agnes mittlerweile sozusagen unter der Hand verwelkt, doch das ist insofern ein schiefes Bild, als an Agnes' Lover die Leidenschaft nach wie vor aufblüht unter Agnes' kundigen Händen. Also umgekehrt: Agnes' Leidenschaft ist unter der Hand verwelkt, aber unter der Hand ihres Lovers, den zu verlieren Agnes sich nicht mehr scheut, seit unübersehbar wird, daß sie durch seine Gegenwart nichts gewinnt. Übrigens: Soll Agnes' Lover namenlos bleiben? Er verdiente es, aber wo kämen wir hin, wenn jeder so behandelt würde, wie er es verdient? Einen Namen für den Lover! Kurt? Warum nicht. Kurt. Kurt, die Nervensäge. Matthias ist wieder mal vor dem Fernseher hängengeblieben,
statt
sich
rechtzeitig
über
seine
Hausübungen
herzumachen, und Kurt liegt Agnes in den Ohren, wie bedenklich Matthias' Antriebslosigkeit sei. Matthias entfernt sich achselzukkend, statt Agnes' Frage zu beantworten, warum er, Herrgott noch mal, seine dreckigen Socken auf den Boden werfe statt in den Schmutzwäschekorb, und Kurt ist fassungslos ob dieser asozialen Haltung. Matthias schreit: Du bist gemein!,
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weil Agnes sich weigert, ihm das Beschriften seiner Schulhefte abzunehmen, und Kurt fragt Agnes, ob sie sich im klaren sei, daß Matthias' Aggressivität ein zulässiges Maß längst überschritten habe. Kurt ist dazu übergegangen, jede Lebensäußerung von Matthias als pathologisch anzusehen. Nicht einmal ein sonniger Matthias findet Gnade vor Kurts Augen, denn in Kurts Augen ist Matthias sonnig aus verwerflichen Gründen. Freut Matthias sich, weil Agnes mit ihm ins Kino geht, dann ist Matthias nach Kurts Einschätzung käuflich. Tobt Matthias vergnügt mit einem Freund durch die Wohnung, dann beweist das Kurt zufolge nur, daß Matthias einzig dann erträglich ist, wenn er disziplinlos sein darf. Kurt stellt sich vor, Matthias wäre auch vergnügt beim Vokabellernen, wenn Agnes ihn bloß richtig erzogen hätte. Nicht, daß Agnes beglückt ist, wenn Matthias seine dreckigen Socken herumliegen läßt. Nicht, daß Agnes sich nicht ärgert, wenn Matthias mit ihr schreit. Nicht, daß Agnes sich keine Sorgen um Matthias macht. Agnes glaubt keineswegs, daß sie immer richtig vorgeht bei Matthias' Erziehung, und sie würde ihre Sorgen gerne mit jemandem besprechen, aber nicht mit Kurt, der sich nicht Sorgen um Matthias' Wohlergehen macht, sondern scheel und mißgünstig auf Matthias schaut als Gegner. Kurts scheeler Blick drängt Matthias auf die schiefe Bahn wegen nichts und wieder nichts, und sofort findet Agnes Kurt gegenüber Matthias' Schlamperei nicht der Rede wert, seine Faulheit nur zu verständlich, sein Geschrei ganz in Ordnung. Ach, sind das mühsame und nutzlose Streitereien! Agnes streitet mit Matthias und anschließend mit Kurt, der nicht einsehen will, daß Streit mit Kindern nicht die Folge einer verfehlten Erziehung ist, sondern zum Kindererziehen dazugehört. Mehr und mehr erwärmt sich Agnes für die Idee, sich wenigstens die Streitereien mit Kurt zu ersparen. Agnes war mit Kurt im Theater, wo sie fast eingeschlafen ist. Da sie jeden Morgen kurz nach sechs aufsteht, weil Matthias vor sieben aus dem Haus muß, wenn er rechtzeitig in seiner Schule sein soll, die bereits um halb acht mit dem Unterricht beginnt, ist sie abends gegen zehn, halb elf, nach einem Tag voll gehetzter Arbeit, immer hundemüde. Es sind vor allem die täglichen
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Hetzjagden, die Agnes zusetzen: Alles, was sie tut, tut sie in dem Bewußtsein, daß ihr die Zeit, die sie gerade aufwendet, heute noch bitter abgehen wird. Agnes rast durch den Supermarkt, mit schlechtem Gewissen, weil sie eigentlich schon im Funkhaus sein sollte, Agnes sitzt im Funkhaus, kribblig vor Unrast, weil zu Hause Matthias wartet, der für eine Englischschularbeit lernt und sich mit dem Konjunktiv nicht auskennt; während das Nudelwasser überkocht, zerrt Agnes Wäsche aus der Waschmaschine, fluchend, denn schon wieder läutet das Telefon; mit zwischen Kinn und Schulter eingeklemmtem Telefon seiht Agnes die Spaghetti für Matthias' Abendessen ab und holt gleichzeitig beim Funkarchiv Informationen über einen Interviewpartner ein. Wenn Agnes nach einem solchen Tag (und fast alle ihre Tage sind solche Tage), an dem sie dreizehn, vierzehn Stunden pausenlos auf den Beinen war und Agnes ist auf den Beinen, auch wenn sie im Studio sitzt, die Uhr im Auge, oder im Auto, verzweifelt im Stau , wenn Agnes nach einem Tag, der sie kreuz und quer durch die Stadt getreten hat, endlich niederplumpst, zum Beispiel auf einen samtigen Theaterfauteuil, dann überschwemmt sie augenblicklich eine gereizte Erschöpfung, der sie nur durch Augenschließen begegnen kann. Agnes war mit Kurt im Theater, wo ihr, im warmen Dunkel, ständig die Augen zugefallen sind, kaum daß sie sie wieder aufgerissen hat, um Aufmerksamkeit für die Bühne bemüht. Kurt saß sehr aufrecht neben ihr, ein Musterzuschauer, wach und aufnahmebereit. Kurt arbeitet auch, gewiß, aber nie muß er seine Arbeit keuchend in einen ohnedies mit Pflichten vollgerammelten Tag pferchen, nie muß er sich seine Arbeitszeit verdienen, indem er zuvor und zwischendurch in atemloser Hast Hausfrau und Mutter spielt, Rollen, für die Agnes' Kollegen oder Kurts Kollegen umsichtige, einsatzfreudige Hauptberufsgattinnen haben, deren Eifer die Linie vorgibt, an die Agnes sich bei ihren Auftritten als Mutter und Hausfrau halten soll. Außerdem arbeitet Kurt sich nicht krumm für seine Kanzlei. Kurt ist ein betulicher Mitarbeiter seiner Kanzlei, ein solider Fachmann für mäßig bedeutende Fälle des Körperschaftsrechts, die notfalls warten können und
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Kurt steht nicht an, den Notfall auszurufen, ehe er in schweißtreibende Hektik gerät. Kurt ist der Prinz, der gemächlich von seinem Schloß ins Theater geritten kommt, mit einem gesunden Appetit auf Erbauung, in guter Verfassung und daher bereit, auch schwerere literarische Brocken zu verdauen. Agnes ist ein ziemlich mitgenommenes Aschenputtel, immer wieder hat man ihr noch eine Schüssel Erbsen in die Asche geleert, und die Tauben sind ausgeflogen; nun hat sie es nicht nur nicht geschafft, unterm Bäumchen Rüttledich durchzulaufen, sie hat sich überdies Asche in die Haare und ins Gesicht geschmiert. Mit schweren Lidern hockt sie da, eine Banausin, die in den Fernsehschlaf des Proleten verfällt angesicht noch so sensationeller Inszenierungen. Nach dem Theater Essen. Doch, doch, Kurt braucht diesen kultivierten Ausklang, soviel Lebensqualität muß sein. Zudem hatte er sich schon mit Franz Karl und Aglaja verabredet. Also wirklich! Andere Frauen klagen, weil sie nie ausgeführt werden. Agnes möchte lieber nach Hause und ins Bett fallen. Wenn das nicht undankbar ist! Franz Karl und Aglaja kamen aus der Oper, heiter und gelöst saßen sie bei Tisch. Dabei hatte Aglaja am Nachmittag zwei Stunden Golf gespielt! Dennoch wirkte sie viel frischer als Agnes, die überhaupt nicht Golf gespielt hatte, ja, nicht einmal Golf spielen kann. Eine grandiose Stimme! schwärmte Aglaja, noch ganz im Bann ihres Opernerlebnisses. Und ein wirklich imponierender Mann, so elegant im Auftreten. Dabei aus kleinsten Verhältnissen, warf Kurt ein, und alle drei, Franz Karl, Aglaja und Kurt, ergingen sich in amüsiertem Staunen über die unberechenbare Mutter Natur, die bisweilen einem Menschen aus kleinsten Verhältnissen eine große Stimme (und ein nobles Auftreten!) schenkt. Kurts Vater war, wie Agnes weiß, Elektromonteur. Wieso staunt ausgerechnet Kurt, der doch selber am besten wissen müßte, daß in den Niederungen der Unterschicht nicht nur Unkraut gedeiht, wieso staunt ausgerechnet Kurt darüber, daß ein Mann aus kleinen Verhältnissen eine große Opernstimme hat?
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Kurt seufzte gereizt. Agnes sollte endlich diese linke Attitüde ablegen. Weiß sie denn nicht, daß links out ist? Danach kam Kurt mit in Agnes' Wohnung, in der es wüst aussah. Matthias hatte nicht nur sein Geschirr vom Abendessen auf dem Tisch stehenlassen, es lagen auch überall seine Schulhefte verstreut, und im Wohnzimmer ragte der Ledersessel (Matthias' Lieblingsplatz beim Fernsehen) wie eine Insel aus gegen ihn anbrandenden Pullovern, Socken, leergegessenen Joghurtbechern, Apfelbutzen, Zeichenblöcken und Buntstiften. Agnes überkam weinerliche Empörung, aber kaum schimpfte Kurt los, breitete sie schützende Flügel über Matthias. Kannst du ihm nicht einmal sagen, daß er Ordnung halten soll? fragte Kurt. Kurt ist der Typ, der glaubt, wenn Kinder Halsentzündung kriegen, dann liegt das nur daran, daß ihre Mütter ihnen nie was über die Möglichkeit des Schalumbindens erzählt haben. Eine originelle Anregung, wirklich! fauchte Agnes. Das ist doch schon gestört, diese Schlamperei! Das ist völlig normal. Ich kenne nur schlampige Kinder. Ich nicht. Du kennst doch überhaupt keine Kinder. Kurt bekam einen eindringlichen Blick. Du willst es nicht wahrhaben, zischte er schmallippig, aber ich sage dir, von normal kann keine Rede mehr sein. Wenn hier einer abnormal ist, dann bist das du! Kurt erkannte, daß er zu weit gegangen war, und zog sich ein Stück hinter Agnes' Schmerzgrenze zurück. Ich meine ja nicht, daß Matthias abnormal ist, sagte er ruhig. Ich meine bloß, daß du Alarmsignale übersiehst. Alarm weswegen? Das müßtest du wissen. Ich finde ihn doch nicht alarmierend. Davon rede ich. Vielleicht solltest du nicht soviel reden. Kurt explodierte. Es muß doch möglich sein, Herrgott, einem Kind Ordnung beizubringen!
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Agnes musterte ihn kalt. Ich möchte wissen, was dich das eigentlich angeht. Räumst du hier auf? Ich will dir helfen, sagte Kurt. Dauernd diese Klagen, wie sehr du dich abstrudelst. Und dann das hier. Du meinst, es hilft mir, wenn du mir sagst, daß mein Kind abnormal ist? Ich meine bloß, daß dein wunderbares Kind dir zur Hand gehen sollte, statt dich mit noch mehr Arbeit einzudecken. Das meine ich grundsätzlich auch. Na bitte. Aber ich glaube nicht, daß mein Kind abnormal ist, wenn es mir nicht zur Hand geht. Alle Eltern wollen, daß ihnen die Kinder zur Hand gehen. Und alle Kinder wollen das nicht. Das behauptest du. Und du behauptest, daß Matthias ein mißratenes Scheusal ist inmitten von lauter Wunderkindern. Deshalb diskutiere ich nicht mit dir. Ich finde tatsächlich, daß es kooperationsbereitere gibt als ihn. Ach, und was ist mit deiner Kooperationsbereitschaft? Für wen machst du jemals einen Finger krumm? Du läßt dir von mir das Frühstück hinstellen und bist viermal so alt wie Matthias! Ich würde dir gern zur Hand gehen. Wer hindert dich? fragte Agnes. Du. Du willst ja nicht, daß ich mit Matthias rede. (Das meint Kurt, wenn er sagt, daß er Agnes zur Hand gehen möchte: Er will sich nicht auf banale Handreichungen a la Frühstückszubereitung verschwenden, er will was Bedeutendes tun, nämlich Matthias maßregeln.) Agnes lachte auf. Das nicht, ganz recht. An meinem Kind wirst du deine fragwürdigen pädagogischen Vorstellungen nicht ausleben. Wer sagt dir, daß sie fragwürdig sind? Du. Du verlangst pausenlos, daß ich Matthias in den Hintern trete. Fragwürdig ist ein mildes Wort für das, was dir vorschwebt. Vielleicht sind meine altmodischen Vorstellungen von Erziehung ganz nützlich. Laß es uns ausprobieren.
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Ich denke nicht daran, dich mit meinem Kind experimentieren zu lassen, sagte Agnes mit schneidender Stimme. Wenn du mir zur Hand gehen willst, dann mach' morgen das Frühstück. Das hättest du gern! Einen Idioten, den du herumkommandieren kannst. Was hat Agnes bewogen, einen wie Kurt überhaupt zur Tür hereinzulassen? Das: Kurt war anfangs ganz anders. Agnes war anfangs ganz anders! behauptet Kurt, und damit hat er ebenfalls recht. Am Anfang war Agnes sanft und abwartend und geschmeidig und geduldig. Geduldig hörte sie Kurt zu und ging sie auf Kurt ein. Zartfühlend verwöhnte sie Kurt mit kleinen Aufmerksamkeiten. Das war, ehe sie daraufkam, daß Kurt es
bereits
als
liebevolle Geste seinerseits
ansieht, wenn er
Aufmerksamkeiten von Agnes einfordert. Kurt sprach am Anfang von Rücksichtnahme und Toleranz, von geteilten Interessen und gegenseitigem Respekt. Er streichelte Agnes' Hände und wollte mit Matthias zum Drachensteigen gehen. Er will immer noch mit Matthias
zum
Drachensteigen,
aber
nach
wie
vor
irgendwann
in
unbestimmter Zukunft. (Wer weiß? Vielleicht taucht eines Tages, wenn Matthias fünfunddreißig ist, ein rüstiger alter Kurt auf und überrascht ihn damit, daß er auf der Stelle mit ihm Drachen steigen lassen will?) Er spricht immer noch von geteilten Interessen und Rücksichtnahme, aber inzwischen weiß Agnes, daß er damit meint, Agnes soll seine Interessen teilen, und Agnes wie Matthias sollen Rücksicht nehmen auf ihn. Agnes hat jedoch keine Lust mehr, kostbare Lebenszeit zu verschwenden, indem sie die Interessen eines Mannes teilt, die nicht die ihren sind. Auch sie sehnt sich nach Gemeinsamkeit, aber so wie ein Mann: Sie will diejenige sein, die Monologe hält vor einem aufmerksamen Zuhörer. Für Kurts Monologe bringt Agnes keine Geduld mehr auf. Agnes' Geduld mit Kurt ist aufgebraucht. Auch ihre Geduld mit Georg war eines Tages verbraucht. Agnes hat keine Geduld mehr. Deshalb wird sie bald auch keinen Mann mehr haben. Geduld bringt nicht nur Rosen, sondern auch Männer.
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Agnes und Kurt gingen schlafen. Kurt zog sich aus und stakste auf dürren, knochigen Beinen durch Agnes' Schlafzimmer. Er roch nach Schweiß. Kurts Schweiß riecht nicht beißend, sondern dumpf und tranig. Agnes findet Kurts dumpfen Schweißgeruch noch schwerer erträglich als gewöhnlichen, beißenden
Schweißgeruch,
denn
Kurts
Geruch
ist
wegen
seiner
Ungewöhnlichkeit noch auffälliger als gewöhnlicher. Agnes flüchtete ins Bad. Kurt kam ihr nach und bürstete hingebungsvoll seine Zähne. Agnes beobachtete mit Abscheu, wie er mit der Zahnpasta Blut ins Waschbecken spuckte. Agnes hat ein schlechtes Gewissen bei dem Ekel, der sie neuerdings leicht überkommt, wenn sie Zeugin von Kurts Körperpflege wird. Kurts Körper ist nach gängigen Maßstäben ansehnlich, und daß er ihn pflegt, spricht objektiv für ihn. Agnes schämt sich für die Erbarmungslosigkeit, mit der sie jeden noch so kleinen Makel an Kurts Körper registriert (die dürren Beine, die mageren Arme, jede gereizte, gerötete Hautstelle unter dem schütteren Gestrichel schwarzer Haare auf dem ansonsten bleichen, weichen Bauch), nicht zuletzt deshalb, weil Agnes sich schön bedanken würde und schlecht abschnitte , wenn jemand sie mit ähnlicher Erbarmungslosigkeit betrachtete. Agnes' Widerwillen angesichts von Kurts blutendem Zahnfleisch und beim Anblick seiner von knotigen Adern und Sehnen durchzogenen Waden legt den Verdacht nahe, daß es vor allem altersbedingte Makel sind, die sie an Kurt stören. Diesen Verdacht möchte Agnes gern von sich weisen, denn wenn er zuträfe, dann müßte sie ihrerseits Verständnis aufbringen für Männer, die nur den Anblick von prallem, jungem Frauenfleisch aushallen. Also ist Agnes überzeugt, daß es nicht die Alterserscheinungen sind, die sie an Kurts Körper stören. Auch junge Körper haben Makel, die ins Auge fallen, wenn man darauf aus ist, sie zu orten. Vielleicht ist Agnes ihrerseits zu alt, um allzuviel Intimität zu ertragen? Vielleicht erträgt sie nur noch sorgfältig vorbereitete Liebesnächte, in einem gnädigen Halbdunkel (das Kurts knotige Sehnen mildtätig wegzaubert), die Nase mit wohlriechenden Essenzen örtlich betäubt? Vielleicht kann Agnes sich gar nicht mehr so sehr an einen gewöhnen, daß sie auch seine
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Ausdünstungen, seine schlechter werdenden Zähne, seinen bleichen, schlappen Bauch in nüchternem Licht, ohne romantische Inszenierung, als selbstverständlichen Bestandteil ihres Alltags erträgt? Halt: Hat Agnes Ausdünstungen jemals ohne Widerwillen ertragen? Was heißt das: Sie kann sich nicht mehr so sehr an einen gewöhnen, daß sie seine Ausdünstungen erträgt? Das ist doch kein Symptom des herannahenden Greisenalters, daß man die Nase rümpft, wenn einer nach Schweiß stinkt! Tatsache ist: Agnes hat keine Lust mehr auf Kurts Körper. Das muß nicht daran liegen, daß ihre Fähigkeit zur Lust überhaupt nachgelassen und einem Hang zu angeekeltem Mäkeln Platz gemacht hat, das kann schlicht und einfach eine spezielle Unlust auf Kurt sein, der sie so sehr ärgert, daß sie plötzlich mit Abscheu seine Spindelbeine betrachtet und sich schaudernd fragt, wie es ihr je möglich war, zwischen diesen Beinen zu liegen und Lust aus diesem Körper zu saugen? Vielleicht würden Agnes die Spindelbeine gar nicht auffallen, zumindest nicht unliebsam, wenn sie einem gehörten, den sie nicht satthat? Wenn aber ihre abgesackte Libido doch hormonelle Ursachen hat? Wenn sie auch mit einem anderen keine Lust empfände? Holla! Schnell ausprobieren! Agnes dachte nach, doch es fiel ihr keiner ein, den sie gerne zu Testzwecken heranziehen wollte. Möglicherweise kennt sie ja derzeit bloß keine sexuell attraktiven Männer. Agnes dachte nach, was sie wollte. Sie wollte Zuwendung und Zärtlichkeit, Selbstbestätigung und Geborgenheit. Wollte sie auch Sex? Vielleicht würde Agnes auch wieder Sex wollen, sobald ihr Bedürfnis nach Zuwendung, Zärtlichkeit und Bestätigung gestillt wäre. Jedoch, wer weiß, womöglich ist sie in einem Stadium, in dem es ihr nur noch auf Geborgenheit ankommt, und zwar auf eine, die sich in mentaler Unterstützung ausdrückt, aber nicht in physischer Verschmelzung? Ja, und? Agnes horchte in sich hinein, und es meldete sich ein Gefühl der Befreiung. Agnes sah ihrer entschwundenen Libido nach und verspürte keine Trauer. Wenn ihre Libido sie Kurt ausgeliefert hatte, dann war der Verlust dieses Triebs eine Erleichterung und ein Rückgewinn von Unabhängigkeit.
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Agnes und Kurt gingen ins Bett, und Agnes tat etwas, wofür sie sich mehr schämte als für ihre scheelen Blicke auf Kurts Waden: Sie gab Kurts Drängen nach. Obwohl keinerlei Begehren sie trieb, fügte sie sich Kurts Begehren aus pragmatischen Erwägungen, um es hinter sich zu bringen und sich damit ihre Nachtruhe für den Rest der Nacht zu sichern (so wild auf Agnes, daß er sich ihr mehr als einmal nähert, ist auch Kurt nicht mehr) sowie in der Hoffnung, daß es ihr schon noch gelingen würde, sich routiniert etwas Vergnügen abzuringen. Es gelang ihr nicht; Agnes lag da, Kurt auf sich und in sich, und fühlte sich mies, weil sie ihren Körper preisgegeben hatte. Nun, am Morgen nachher, lächelt Kurt Agnes zu wie ein zufriedener Gatte. Seiner Ansicht nach haben sie eine gelungene Nacht hinter sich. Matthias wankt aus seinem Zimmer, blaß und verschlafen. Hat er gestern zu lange ferngesehen? Nein, ehrlich nicht! versichert Matthias. Ich habe mich rechtzeitig hingelegt, ich habe bloß so lange nicht einschlafen können. Agnes zieht ihn tröstend an sich. Matthias ist ein Abendmensch, schon als Baby war er bis in die Nacht hinein putzmunter und am Vormittag müde. Kein Hausmittel hat seinen Rhythmus zu ändern vermocht. Agnes hat Wiegenlieder gesummt, beruhigende Geschichten vorgelesen, Spieluhren zirpen lassen, Honigmilch gebraut, der kleine Matthias turnte vergnügt in seinem Bettchen und strahlte sie unternehmungslustig an. Jetzt ist der größere Matthias nachmittags oft zum Umfallen schläfrig; doch kaum naht der Abend, erwachen seine Lebensgeister. Abwesend, wie ferngesteuert, trabt Matthias an den Frühstückstisch, kaut ein paar Bissen Honigsemmel, trinkt ein paar Schlucke Kakao, schnappt sich seine Schultasche und sagt im Weggehen: Blöde Scheißschule; fängt viel zu früh an. Kurt läßt eine unschlüssige Hand über dem Teller mit der Wurst schweben (soll er Salami nehmen oder Schinken? Schwierige Entscheidung!) und sagt streng: Mit der Auffassung wird er ja noch weit kommen. Agnes überhört es, aber Kurt läßt nicht locker. Du bist natürlich voll Mitleid, stimmt's? Willst du schon wieder streiten? fragt Agnes.
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Nein, sagt Kurt. Ich möchte dir nur empfehlen, dich nicht für blöd verkaufen zu lassen. Wie bitte? Von wegen: Nicht lang ferngesehen. Wer's glaubt, wird selig. Ich glaub's. Laß mich selig werden. Ich fürchte nur, das wirst du nicht bleiben. Na klar. Hast du wieder ein verbrecherisches Flackern in Matthias' Augen bemerkt? Mit dir kann man nicht reden. Deine Affenliebe macht dich blind und blöd. Worauf willst du hinaus? Selbst wenn er länger ferngesehen hätte, als er zugibt, würde mich das nicht aufregen. Hast du nie unter der Bettdecke gelesen? Genau: gelesen. Das ist der Unterschied. Ach ja, natürlich! Du hast wertvolle Weltliteratur verschlungen, während Matthias sich vermutlich irgendwelchen Schund reinzieht, ist es das, was du sagen willst? Was denkst du? Daß er nach Schiller-Übertragungen sucht? Spielst du dich allen Ernstes als Literatur-Papst auf? Du kannst doch Jane Austen nicht von Emily Bronte unterscheiden. Ich muß auch nicht jede Schnulzenschreiberin kennen. So ist Kurt: Hält Jane Austen und Emily Bronte unverfroren für Schnulzenschreiberinnen und will, daß Agnes und Matthias bewundernd zu ihm aufblicken. Es gibt nur eine Entschuldigung für die Tatsache, daß Agnes Kurt in ihr Leben und in ihren Leib gelassen hat: Sie hat einfach nicht für möglich gehalten, daß Kurt so ist, wie er ist. Agnes fährt ins öffentlichrechtliche Fernsehzentrum, aber sie fährt nicht gern dorthin. Sie soll am Konzept für eine neue Talk-Show mitarbeiten und weiß schon jetzt, daß das eine öde Sitzung wird. Eine neue Generation macht sich breit auf den beruflichen Rängen, über die Agnes leider nie hinausgekommen ist. Die Ränge, auf denen Agnes sich immer noch tummelt, sind nicht gerade die niedrigsten, aber wirklich was zu reden und zu entscheiden hat man dort nicht. Zunehmend würde Agnes gerne was zu entscheiden haben. Die
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Kollegen, mit denen Agnes angefangen hat, sind entweder ganz aus der Branche verschwunden oder haben inzwischen zu entscheiden. Die meisten sind, glaubt Agnes, nicht entscheidend besser als sie, sondern bloß unentwegt und unbeirrbar ihrer Karriere nachgegangen, während Agnes ihrem Beruf nachgehen
mußte und Matthias. Den Sohn hat sie einigermaßen
großgezogen, ihre Karriere ist dabei zurückgeblieben. Nun sitzt Agnes mit ihrer zwergwüchsigen Karriere inmitten unbeschwerter Jugend, beschwert durch die Erfahrungen ihrer Jahre, die sie Probleme bekümmerter sehen lassen als die unbekümmerten Jungen. Aber es ist nicht nur ihr Alter, das Agnes von den Jüngeren trennt: Diese Jüngeren sind anders, als Agnes je war. Agnes gab es sozusagen billig, aber jetzt sind welche da, die geben es noch billiger, und zwar mit programmatischem Stolz. Agnes ist oberflächlich aus Bequemlichkeit, Zeitnot und vielleicht einer Konfliktscheu, die dem Bestreben entspringt, niemanden zu verletzen und sich nicht unbeliebt zu machen. Die hier sind vorsätzlich gnadenlos oberflächlich aus Verachtung für ihr Publikum und in dem Bestreben, nur ja zu verletzen. Agnes' Oberflächlichkeit schlägt keine Wunden. Die Oberflächlichkeit der Neuen schlägt Wunden, weil sie bewußt verfälscht im Dienste einer ignoranten Sensationsgier. Wenn Agnes nicht eingeht auf die eben überstandene Krankheit einer alten Schauspielerin, dann deshalb, weil sie die alte Schauspielerin schonen will und sich selber auch. Das kann insofern ein Fehler sein, als die Genesene vielleicht gerade im Zusammenhang mit ihrer Krankheit Essentielles anzumerken hätte. Wenn die Neuen nicht eingehen auf die Krankheit der alten Schauspielerin, dann deshalb, weil sie sich nicht durch Recherchen ihre schnoddrigen Vorurteile zerstören wollen. Schnoddrig sind sie, fix, auf Zack und erbarmungslos im Abwürgen jedes Gedankengangs,
der
über
das
flinke
Ausspucken
von
plakativen
Binsenweisheiten hinausgehen möchte. Hopp oder tropp! Piff oder paff! Hick oder hack! So fragen die, so diskutieren die.
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Immer öfter hört Agnes sich bei Sitzungen mit ihnen einwenden: Aber so kann man das doch nicht sehen! Aber so kann man das doch nicht sagen! Bevor man, da müßte man doch zuerst Doch ehe Agnes auch nur diese paar Worte ausgesprochen hat, sind die anderen schon beim übernächsten Punkt der Tagesordnung, und Agnes klebt ganz allein auf dem zähen Leim ihrer zähen Bedenken. Agnes fährt zur Talk-Show-Sitzung mit Widerwillen im Herzen und einer kalten Wut auf Kurt im Bauch. Kein Wunder, daß sie sich vom Hals abwärts zum Wegwerfen fühlt. Erstaunlicherweise gelingt es ihr, ihr Hirn herauszuhalten aus der Misere ihres übrigen Körpers, in den sie ihr gesammeltes Unbehagen abgedrängt hat: Sie fährt weg mit kühlem Kopf und, wie ihr scheint, bei klarem Verstand. Das ist ein Fortschritt, weil es ihr auch schon oft passiert ist, daß Widerwillen und Wut ihr Hirn blockiert haben. Kannst du mich zu meinem Büro fahren? fragt Kurt, der sein Auto gestern in der Stadt stehengelassen hat. Nur zum nächsten Taxistand, antwortet Agnes. Reizend, sagt Kurt mißmutig. Das ist es, was ich auch so an dir schätze: diese außerordentliche Hilfsbereitschaft. Sitzt du gelähmt am Straßenrand, oder bist du bloß zu knausrig, dir ein Taxi zu leisten? fragt Agnes. Nur weiter so! sagt Kurt. Du wirst mich schon noch in die Flucht schlagen. Hoffentlich, erwidert Agnes. Als Kurt beim Taxistandplatz aussteigt, verspricht er, wieder versöhnlich; Ich ruf dich an. Agnes antwortet nicht. Ungeduldig zieht sie die Beifahrertür hinter ihm zu, steigt aufs Gas und fährt davon, ohne einen weiteren Blick an ihn zu verschwenden. Hoppla, nicht so schnell! Möchte sie einen Unfall riskieren, um Kurt zu entkommen? Wenn sie nicht will, muß sie Kurt nie, nie wieder treffen. Agnes atmet schnaubend aus und nimmt den Fuß vorn Gaspedal. Kurt hat gedroht, sie anzurufen. Na und? Sie wird keine Zeit haben, bestimmt nicht. Agnes stellt sich ihr weiteres Leben ohne Kurt vor, und eine wohltuende Erheiterung überkommt sie. Es hat auch Zeiten gegeben, da blickte Agnes
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heiter in die Zukunft bei der Vorstellung, sie mit einem bestimmten Mann zu verbringen. Nun genügt bereits die Vorstellung, einen bestimmten Mann, nämlich Kurt, künftig nicht mehr an der Seite zu haben, um sie froh zu stimmen. Ob das ein Abstieg ist oder ein Fortschritt? Beschwingt betritt Agnes die öffentlichrechtlichen Fernsehhallen. Auf dem Weg zum Sitzungszimmer läuft ihr Karl über den Weg. Auch so ein junger Schnösel. Das heißt, seine Arbeit macht Karl - er ist Redakteur in der Innenpolitik - eigentlich ganz ordentlich, soweit Agnes das feststellen kann. Aber privat sieht man ihn (dem Vernehmen nach) allzu häufig in den InLokalen der City, als daß sie ihn besonders sympathisch fände. Na? fragt Karl. Hast du Zeit für einen Kaffee? Agnes lächelt ihm zu. Warum nicht? Heute hat Agnes sogar Zeit für einen wie Karl. 9. In Danielas pädagogischen Ratgebern steht, daß Kinder zur Mithilfe im Haushalt angehalten und mit kleinen praktischen Aufgaben betraut werden sollen. Daniela betraut Mäsi mit kleinen praktischen Aufgaben, aber Mäsi ist ihr nicht nur keine Hilfe, sondern baut, im Gegenteil, Mist. Mäsi baut Mist nicht, weil sie, was verständlich wäre, trotz heißen Bemühens an den ihr aufgetragenen Arbeiten scheitert, sondern weil sie sich erst gar nicht bemüht, irgendwas so zu machen, wie Daniela es ihr aufgetragen hat. Daniela räumt den Tisch ab und drückt Mäsi einen Teller in die Hand: Trägst du den bitte in die Küche? Mäsi schnappt sich den Teller und schwenkt ihn krähend durch die Luft: Ich bin ein Flugzeug! Motorengeräusche imitierend, rast sie mit dem Teller durchs Haus, bis er in Scherben auf dem Boden liegt. Daniela nimmt Wäsche vom Trockenständer, und Mäsi hüpft schwatzend um sie herum. Gleich wird sie den Ständer umwerfen oder in den Wäschekorb treten. Hilf mir doch! bittet Daniela und will Mäsi zeigen, was sie tun soll. Aber Mäsi plappert unbeirrt weiter und zerrt, hüpfend, nebenbei irgendwie an einem Wäschestück, achtlos, gewaltsam, so daß in Windeseile ein
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Wäscheknäuel entsteht, das klatschend in der Schüssel landet, in der Daniela das Wasser aus der Schleuder aufgefangen hat. Mäsi ist in einem hohen Maß desinteressiert an den kleinen Aufgaben, die Daniela ihr anvertrauen will. Den pädagogischen Ratgebern zum Trotz fühlt sich Mäsi nicht voll Stolz ernst genommen, wenn Daniela, die gerade den Geschirrspüler leert, sie zum Besteckeinordnen einteilen will, sondern belästigt. Gelangweilt beäugt sie den Besteckkorb und funktioniert ihn schließlich zum Spielzeug um. Trällernd läßt sie Plastiktiere an ihm hochklettern und über Gabeln turnen, singend wirft sie Besteck aus dem Laden heraus statt in die Laden hinein, summend stellt sie sich taub, wenn Daniela sie auffordert, endlich das zu tun, worum sie sie gebeten hat. Einerseits findet Daniela Mäsis Unwillen ja begreiflich. Besteck einzuordnen ist langweilig, und vermutlich spricht es für Mäsis Intelligenz, wenn sie diesen Auftrag als Unterforderung empfindet. Aber andererseits wäre es vielleicht Danielas Pflicht, Mäsi auch langweilige Arbeiten so weit schmackhaft zu machen, daß Mäsi lernt, sich zu überwinden und eine Tätigkeit sinnvoll zu Ende zu führen. (Was, wenn am Ende gar nicht Intelligenz, sondern Dummheit Mäsi daran hindert, zuzuhören und sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren, bis sie sie erfüllt hat?) Jedenfalls mag Daniela nicht bis in alle Ewigkeit für die langweiligen Arbeiten allein zuständig sein. Wenn sie Mäsi jetzt (und Clemens in zwei, drei Jahren) nicht dazu anhält, mit anzupacken, werden die beiden nie aufhören, sich von ihr bedienen zu lassen. Ohnehin ist es keine Lösung, Mäsi ausschließen zu wollen von häuslichen Tätigkeiten. Ich kann das! Laß mich! sagt Mäsi resolut und drängt Daniela, die Kartoffeln schält, beiseite. Mäsi will durchaus mitmischen. Aber sie will den Ton angeben, statt Lehrling zu sein. Entschlossen hackt sie mit dem Schäler auf die Kartoffeln ein, die daraufhin kreuz und quer durch die Küche springen. Unbeirrt von Danielas Protest zieht sie die Mehltüte aus dem Lebensmittelfach und streut großzügig Mehl auf Arbeitsplatten und Fußboden. Und während Daniela die Mehltüte in Sicherheit bringt, hat sie so
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energisch im Kochtopf gerührt, daß ein größerer Teil der Tomatensoße auf den Herd geschwappt ist. Mäsi ist nicht bereit, aus derlei Fehlern zu lernen, ja, sie ist nicht einmal bereit, ihre Fehler als Fehler anzusehen. Ich will nicht! Laß mich! schreit sie, wenn Daniela ihr erklären möchte, wie sie mit dem Gemüseschäler umgehen soll. Danielas pädagogische Ratgeber sind auf Mäsis Seite. Die idealen Mütter, die sie beschwören, ermutigen. Deswegen vermeiden sie es, fehlgeschlagene Unternehmen als fehlgeschlagen darzustellen (wie Mäsi, die sich also selbst ermutigt, was aber, wie Daniela fürchtet, nicht ausreichen wird für ein glückliches späteres Leben ohne Psychotherapiebedarf). Statt dessen lassen sie das Kind so lange frei experimentieren, bis das Kind von selber herausgefunden hat, wie es den Kartoffeln das Schälmesser ansetzen muß. Und was die Tomatensoße anlangt: Ist das so schlimm, wenn sie aufs Kochfeld schwappt? Ja, ja, ja! Für Daniela schon. Daniela hat keine Lust, das Kochfeld zu putzen. Daniela hat keine Lust, auf den Knien in der Küche umherzurutschen und die Kartoffeln einzusammeln, die Mäsi entsprungen sind. Daniela hat keine Lust, Mehl aufzuwischen oder in Mehl zu waten und über kurz oder lang in einem verrammelten, vergammelten, verkrusteten Haus zu leben. Wissen die pädagogischen Ratgeber, daß ein Kochfeld kaputtgeht, wenn Tomatensoße darauf einbrennt? Verfügen die pädagogischen Ratgeber über einen unendlichen Vorrat an Kochfeldern, die intakt aus dem Herd wachsen, sobald die alten kaputtgegangen sind? Und wieso sind die pädagogischen Ratgeber so sicher, daß Kinder durch freies Experimentieren eines Tages herausfinden, wie das Schälmesser zu handhaben ist? Georg hat es bis heute nicht herausgefunden. Georg macht allerdings auch den Eindruck, als habe er es nie herausfinden wollen, aber was sagt das schon? So wie Daniela Mäsi bisher kennengelernt hat, würde auch Mäsi das Experiment Kartoffelschälen als viel zu langweilig abbrechen, lange bevor sie auf die Lösung gestoßen ist. Ich will nicht! Laß mich! Mäsi hält sich die Ohren zu und streckt Daniela die Zunge heraus. Mitten in eine solche Szene platzt Martin.
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Ich hab' mir gedacht, wir machen wieder einen kleinen Spaziergang. Ich werd' durch euch noch zum Wandervogel. Er steht da und lacht. Mäsi mustert ihn empört. Sein Überfall kommt Daniela ungelegen. Eigentlich ist sie mit Lisa verabredet. Ich geh' nicht zur Lisa! schreit Mäsi. Der Benjamin ist blöd! Wunderbar. Dann geh mit mir spazieren, sagt Martin. Mit dir geh' ich auch nicht! Du bist auch blöd! Mäsi stampft mit dem Fuß auf. Martin mustert sie wie ein Insekt. Daniela räuspert sich ratlos. Ich bin also unerwünscht? fragt Martin und schaut Daniela mit schiefgelegtem Kopf an. So würde ich es nicht ausdrücken, sagt Daniela, die es sich mit Martin nicht verscherzen möchte, obwohl sie nicht daran denkt, Lisa seinetwegen zu versetzen. Du könntest ja mitkommen, setzt sie unschlüssig hinzu. (Könnte er? Was soll er dabei? Lisa ist zwar keine Gesprächspartnerin, der Daniela besonders viel zu sagen hat, aber daß Martin ihre Unterhaltung bereichern würde, ist unwahrscheinlich.) Nein, danke. Martin lacht abwehrend. Ein Müttertreffen war nicht das, was mir vorgeschwebt ist, weißt du. Okay, dann nicht. Seine Unhöflichkeit entlastet Daniela. Sie macht sich und die Kinder zum Weggehen fertig. (Mäsi verschränkt in finsterem Protest die Arme vor der Brust.) Komm doch ein anderes Mal, schlägt sie Martin vor. Aber ruf lieber vorher an. Wie gütig, sagt Martin schroff. Und: Das weiß ich nicht, ob ich noch einmal komme. Auf Danielas irritierten Blick hin lacht er und tätschelt besänftigend ihren Ellbogen. Das war ein Scherz. Obwohl: Ein bißchen gekränkt bin ich schon. Wieso? fragt Daniela. Na, du könntest dieser Lisbeth doch ohne weiteres absagen.
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Würdest du alles absagen, wenn ich plötzlich in der Tür stehe? Wer weiß? Martin sagt es betont leichthin. Hör mal! Ich hab' mich fest mit Lisa verabredet! Wieso erwartest du, daß ich so unfair bin, sie sitzenzulassen? Na ja wenn du deine Lisa spannender findest...! Martin lacht unfroh. Es geht doch gar nicht darum, wen ich spannender finde! Daniela schüttelt ärgerlich den Kopf. Martin winkt ab. Hör auf. Keine Debatten. Ich hab' schon verstanden. Sie verlassen das Haus, und Daniela fragt sich, warum Martin davon ausgeht, daß er spannender für sie zu sein hätte als Lisa, und warum ihre Verabredung mit Lisa unverbindlich sein soll, sobald er die Szene betritt. Soll ich euch hinbringen? fragt Martin, der sein Auto vor dem Haus geparkt hat. Wir haben es nicht weit, antwortet Daniela. Soll ich euch zu Fuß begleiten? Wenn du magst. Na gut, ich betrachte es als Ersatzspaziergang, sagt Martin lächelnd. Er stiefelt neben Daniela und den Kindern her, die Hände in den Taschen seiner Jacke vergraben. Wo sind deine Kinder? fragt Mäsi Martin. Meinst du mich? Martin schaut entsetzt. Mäsi nickt. Ich habe keine Kinder. Warum nicht? Ich will keine. Ich meine, mit einem Seitenblick auf Daniela verbessert er sich hastig: Ich habe nichts gegen Kinder, weißt du. Ich will bloß keine eigenen. Warum? fragt Mäsi. Weil er dann nicht mit uns Spazierengehen könnte, sagt Daniela lachend, sondern sich um seine Kinder kümmern müßte. Genau, sagt Martin ebenfalls lachend. Er soll eh nicht mit uns Spazierengehen, sagt Mäsi. Vor Lisas Haustür küßt Martin Daniela auf die Wange. Bist du mir böse, wenn ich dir da drinnen nicht beistehe? Daniela schaut verwirrt. Wie meinst du das?
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Martin grinst. Ach, weißt du, ich stelle mir so einen Weibertratsch nicht sehr lustig vor. Ehe sie etwas erwidern kann, springt er davon, winkend. Tschau! Ich hab' alles gesehen! verkündet Lisa, als Daniela und die Kinder in ihr Haus treten. Wie bitte? Clemens
stürmt
auf
Benjamin
zu,
der
extra
langsam,
mürrisch
heranschlendert. Mäsi ignoriert Benjamin und verfolgt Lisas Kater in die ehemalige Gaststube, die jetzt als Wohnraum dient. Der Kater und Mäsi verschwinden hinter der Schank. Küßchen, Küßchen! sagt Lisa mit funkelnden Augen. Sieht irgendwie interessant aus, der Typ. Findest du? Ach geh, tu doch nicht so! Lisa rempelt Daniela an. Als sie Danielas verblüffte Miene gewahrt, bricht sie in Gelächter aus. Schau nicht ertappt. Ich bin kein Moralapostel. Red keinen Quatsch, sagt Daniela. Das ist ein alter Studienkollege. Was auch immer. Mir egal. Es muß dir nicht egal sein. Da ist nichts. Schade. Lisa, lachend, schaut enttäuscht. Na, ich weiß nicht, sagt Daniela und hängt ihre Jacke an die Garderobe, die überquillt von mehr oder minder fleckigen Kleidungsstücken. Der Bursche meint anscheinend allen Ernstes, ich mach' mir was draus, daß er nicht mitgekommen ist. Dabei bin ich erleichtert. Bist du? Wenn ich gewußt hätte, daß du ihn interessant findest, hätte ich ihn natürlich überredet. So interessant auch wieder nicht, sagt Lisa. Komm weiter und fall nicht übers Sofa, ich habe wieder einmal umgestellt. Lisa stellt unentwegt die Möbel um. Sie hat angefangen, die Wände anzumalen (eine Wand pastellblau, eine andere altrosa) und dann mittendrin aufgehört, heute hängt eine Stoffbahn über einem der Fenster, Lisa hat sie in
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Ermangelung von Vorhangstangen mit Tapezierernägeln an der Mauer befestigt. Nicht in Ermangelung! Lisa protestiert. Vorhangstangen hat jeder Spießer! Sie macht Früchtetee. Ursprünglich wollte sie selber allerlei Blüten sammeln und trocknen, aber jetzt begnügt sie sich doch wieder mit gekauften Teebeuteln. Lisa steckt voll mit Ideen und Plänen. Die wenigsten realisiert sie. Anfangs haben Daniela Lisas Einfallsreichtum und ihre Lässigkeit imponiert. Mittlerweile ist ihre Bewunderung für sie geschrumpft. Daniela weiß gern, woran sie ist. Mit Lisa weiß man das nie so ganz. Lisa bleibt einfach einen Tag im Bett, nur weil sie sich ein bißchen matt fühlt. Lisa kündigt an, daß sie Benjamin einen Schwimmkurs machen läßt, aber sie meldet ihn nie an. Lisa erzählt, daß sie ein Kinderbuch illustriert und kommt über die erste Zeichnung nicht hinaus. In ihrem Haus herrscht ein schmuddeliges Durcheinander. Benjamin spricht schlechter als Mäsi, obwohl er ein Jahr älter ist. Lisa gibt sich gern kompetent, aber wenn man nachfragt, kennt sie sich oft nicht aus. Trotzdem: Außer Georg ist Lisa der einzige erreichbare Mensch, mit dem Daniela sich unterhalten kann. (Außer Georg? Kann sie sich mit Georg unterhalten? Hat sie sich mit Georg je so gut unterhalten wie mit ihren Freundinnen? In der letzten Zeit jedenfalls bespricht Daniela mit Georg nur noch einen Bruchteil dessen, was sie mit ihren früheren Freundinnen besprechen könnte, wenn die erreichbarer wären. Auch Georg ist häufig gar nicht erreichbar. Georg ist unterwegs. Wenn er da ist, ist Georg müde. Er gähnt und sagt: Ach, nimm das alles nicht so ernst. Eigentlich hat Georg immer schon vorwiegend von sich gesprochen, aber ursprünglich hat Daniela das als Vertrauensbeweis aufgefaßt. Sie war stolz, daß Georg offenbar keine Geheimnisse vor ihr haben wollte, sondern ungehemmt darlegte, was ihn beschäftigte. So soll es sein, dachte Daniela oft, wenn Georg redete und sie zuhörte, ganz verständnisvolle Frau und Partnerin. Georgs Redefluß war nicht zuletzt erfreulich als Gegensatz zu der Verschlossenheit, die Stefan kultiviert hatte, als er begann, sich von ihr abzusetzen.)
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Lisa und Daniela lassen sich auf Lisas fleckigem Sofa nieder, um Früchtetee zu trinken. Mäsi teilt Benjamin und Clemens zu einem Spiel ein, das sie sich ausgedacht hat. In solchen Augenblicken findet Daniela sie anbetenswert: Liebenswürdig und bestimmt zugleich versteht es Mäsi, die anderen zwei, den älteren wie den jüngeren, für ihre Vorstellungen zu gewinnen. Wenn Mäsi will, legt sie eine erstaunliche soziale Reife an den Tag. Um so mehr fällt Daniela dann wieder die Ruppigkeit auf, mit der Mäsi sich so gern gegen sie stellt. Der Benjamin braucht unbedingt Geschwister, sagt Lisa, die die Kinder ebenfalls beobachtet hat. Ja, meinst du? Meine ich, im Ernst. Ich möchte gern noch Kinder, und zwar bald, sonst ist der Benjamin zu groß. Hast du schon einen Vater ins Auge gefaßt? Das findet sich, sagt Lisa und lacht. Vorige Woche hat Lisa vehement Benjamins Einzelkindstatus verteidigt und überlegt, ob sie Benjamin nicht für eine Weile bei ihrem geschiedenen Mann einquartieren
soll,
damit
sie
ihre
künstlerischen
Vorhaben
besser
verwirklichen kann. Ich hab' mich vielleicht verliebt, gesteht Lisa. Daniela schaut verblüfft. Woher nimmt Lisa hier in der Einöde einen Mann zum Verlieben? Woher nimmt Lisa überhaupt einen Mann zum Verlieben? Nach Danielas Beobachtungen sind die Männer zum Verlieben dünn gesät, schon gar, wenn man auf die Dreißig zugeht und ein Kind hat. Daniela kann sich schlecht vorstellen, daß faszinierende Männer - gesetzt den Fall, sie trennte sich von Georg, oder Georg trennte sich von ihr - darum wetteifern würden, mit Mäsi, Clemens und ihr sonntags zum Ententeich zu traben und den Kindern zuzuschauen, wie sie Brotkrümel ins Wasser werfen. Du kennst ihn nicht, sagt Lisa. Aber er ist süß. Was soll ich mir darunter vorstellen? fragt Daniela. Lisa lacht. Na ja, eigentlich ist er ziemlich spießig, aber irgendwie find' ich gerade das süß. Und von dem willst du jetzt Kinder?
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Vielleicht, sagt Lisa träumerisch. Er ist so ein bißchen verklemmt, weißt du, aber ich stelle mir vor, er müßte ein bezaubernder Vater sein. Wie lange kennst du ihn denn schon? Kurz. Daniela will Bedenken äußern, aber Lisa kommt ihr zuvor. Ich weiß, ich weiß, sagt Lisa, nichts überstürzen und so. Schlag jetzt bitte keinen mütterlichen Ton an! Erstens: Wer nicht wagt du kennst den Spruch. Und zweitens: Du hast leicht reden. Du hast zwei Kinder. Und sonst alles, was du dir gewünscht hast. Das stimmt. Daniela hat sich zwei Kinder gewünscht. Ein Einzelkind lehnte sie ab. Georg wollte ihr ursprünglich ein Kind zugestehen, wenn sie denn nun unbedingt Mutter werden mußte, aber Daniela bestand energisch auf zwei Kindern, wie es sich gehört. Benjamin hustet. Sein Husten klingt tief und bellend. Außerdem hängt ihm, wie Daniela jetzt auffällt, eine Rotzglocke von der Nase. Das geht schon seit gestern so, sagt Lisa mitleidig. Ich muß ihm nochmals Fieber messen. Am Morgen hat er nur erhöhte Temperatur gehabt, aber vielleicht ist sie gestiegen. Du meinst, er ist krank? fragt Daniela entsetzt. Nicht direkt krank, antwortet Lisa. Erkältet halt. Ich füttere ihn sowieso schon seit gestern mit Orangen und allem, was sonst noch Vitamin C in sich hat. Daniela ist wütend. Nie würde sie Lisa aufgesucht haben, wenn sie gewußt hätte, daß Benjamin krank ist. Abgesehen davon, daß Benjamin ihrer Meinung nach ins Bett gehört, ärgert sie sich über die Unbekümmertheit, mit der Lisa es riskiert, daß sich Mäsi und Clemens anstecken. Daniela wäre nicht so rücksichtslos. Nie würde sie Lisa und Benjamin zu sich einladen, wenn eins ihrer Kinder krank wäre. Sie hätte Lisa angerufen und gewarnt. Daniela ist wütend, aber sie traut sich nichts zu sagen, denn sie weiß, daß ihre Sorge vor Ansteckung nicht nur von Lisa nicht geteilt wird. Ständig kommen hustende, niesende Kinder in den Kindergarten, manchmal auch mit Ausschlägen, die Daniela alles andere als geheuer sind. Die meisten Mütter hier finden, daß man Kinder nicht unter einen Glassturz stellen kann. Daniela hingegen hat gelernt, daß man Infektionen vermeiden soll, wenn es
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irgendwie geht, und außerdem strapaziert es sie, ein fiebriges, quengelndes Kind zu pflegen und im Bett zu halten, während das andere Kind womöglich unleidlich ist, weil es nicht zu Haus bleiben mag. Benjamin hat inzwischen zu weinen begonnen. Er will nicht Fieber messen. Doch, Fiebermessen tut weh. Sein Hals tut auch weh. Er ist nicht krank! Durst hat er. Er will aber nichts trinken! Mäsi soll weggehen. Mäsi soll nicht weggehen! Er gehört ins Bett, stellt Daniela fest. Das weiß ich auch, sagt Lisa halblaut. Aber er bleibt nicht drin. Willst du's nicht wenigstens versuchen? Daniela hat die Spielsachen zusammengesammelt, die Mäsi und Clemens mitgebracht haben, und drängt ihre Kinder zur Garderobe. Lisa folgt ihnen mit unglücklichem Gesicht. Im Wohnzimmer rollt sich Benjamin brüllend auf dem Sofa hin und her. Geh zu ihm, wir finden allein zur Tür hinaus, sagt Daniela. Lisa küßt sie und die Kinder auf die Wangen und kehrt ins Wohnzimmer zurück, wo sie Benjamin auf den Schoß nehmen will. Er wehrt sich heulend und strampelnd. Ich ruf dich an! verspricht Daniela im Weggehen. Niedergeschlagen trottet sie kurz danach mit Mäsi und Clemens die Dorfstraße hinauf. Am Straßenrand geparkte Autos, grau vor Schmutz. Daniela grüßt den Gemüsehändler und schluckt an ihrer Enttäuschung. So ein Fiasko von einem Besuch, und dafür hat sie Martin verscheucht! 10. Die Fußpflegerin hat Viktorias Zehennägel gerade abgeschnitten und sorgfältig gefeilt, bevor sie durchsichtigen zartrosa schimmernden Lack auftrug. Jetzt massiert sie Balsam in die Haut an den Fersen und um die Knöchel. Behutsam hält sie Viktorias zierliche Füße mit dem hohen Rist, der in zarte Fesseln übergeht, und verteilt mit kreisenden Bewegungen die weiße Creme. Solche gepflegten Füße sind eine Freude! sagt sie mit schmeichelnder Stimme. Sie können sich nicht vorstellen, was mir machmal unterkommt!
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Doch, Viktoria kann es sich vorstellen. Schließlich rennen im Sommer genug Leute in Sandalen umher, da ist es unübersehbar, wie sehr manche sich verwahrlosen lassen. Viktoria läßt sich nie gehen. Sie badet in Wasser, dem sie rückfettende Essenzen hinzugefügt hat. Sie ruht nach dem Baden. Sie klopft vor dem Schlafengehen Nährcreme in Gesichtshaut und Dekollete. Sie kontrolliert ihr Gewicht und streicht das Abendessen, wenn sie zugenommen hat. Sie geht einmal in der Woche zur Gymnastik und alle sechs Wochen zur Kosmetikerin. Eine derartige Disziplin ist nicht alltäglich. In Viktorias eigener Familie gibt es Menschen, die diese Disziplin nicht aufbringen. Christa (wenn man sie denn schon zur Familie zählen soll) latscht auf ledrigen Fußsohlen, die noch nie eingeschmiert worden sein können. Zahllose Risse bilden ein graues Netzmuster auf ihren Fersen, und ihre Zehennägel sind dick und gelb. Welcher Mann soll Christa begehren, wenn ihre rauhen Füße an der Bettdecke hängenbleiben? Begehrt Viktoria ein (halbwegs interessanter) Mann, weil sie ihre Fersen mit Fußbalsam behandelt? Sagen wir so: Viktoria kann etwaigen Begegnungen mit interessanten Männern getrost entgegensehen, denn ihre seidig weichen Fersen sind für solche Begegnungen bereit, während Christa verdammt Mühe hätte, ihre Hornhaut in einer vertretbaren Zeit durch Haut zu ersetzen, die sich angenehm anfühlt und nicht schon durch ihren Anblick ein widerwilliges Erschauern im Betrachter auslöst. Im übrigen pflegt Viktoria sich für sich selbst. Und je weniger ihr Gesicht ihr diese Pflege dankt, desto beglückter blickt sie auf ihre Füße, die es jederzeit noch mit jüngeren Füßen aufnehmen könnten. Ach, Viktoria. Soviel Aufwand um einen Körper, der widerspenstig Collagen verliert und dafür sulziges Gewebe zu einem verräterischen kleinen Witwenbuckel aufschichtet ist! man versucht zu seufzen. Und man möchte hinzufügen: Tu doch lieber etwas für deinen Geist!, denn so haben wir es gelernt: Die Aufmerksamkeit, die wir unserer Schönheit schenken, geht uns bei der Pflege des Geistes ab.
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Indes
verfügt
Viktoria
über
reichlich
Zeit,
so
daß
sie
bei
aller
Schönheitspflege jede Menge kluger Bücher lesen könnte. Warum also soll sie kapitulieren und demütig Falten und Hornhaut hinnehmen, dankbar, solange ihr nur die Gesundheit nicht abhanden kommt, resignierend wie die formlosen Weiblein, die aus Angst vor der Strafe Krankheit artig froh sind über sackartige Körper, wenn diese Körper wenigstens wichtige Funktionen nicht verweigern? Vielleicht seufzt man ach, Viktoria bloß wegen der Mißgunst, mit der Viktoria die Körper aller anderen Frauen betrachtet, und weil sie eben nicht jede Menge kluger Bücher liest (zum Beispiel solche, die ihr das Fragwürdige an der lebenslangen Körperkonkurrenz von Frauen klarmachen würden), sondern ihre viele Zeit lieber mit selbstgerechten Gedanken verplempert? Ist denn wirklich nichts als Neid und Verachtung für andere Frauen in Viktorias Kopf? Wir wissen es nicht so genau. Viktoria selbst will es nicht so genau wissen. Seit nahezu sieben Jahrzehnten macht Viktoria das, was man ihr seinerzeit beigebracht hat: Wenn sie hört, daß ein Ehemann seine Frau die Treppe runtergeworfen hat, ist sie überzeugt, daß die Frau sich etwas zuschulden kommen hat lassen. Dieser Reflex wurde ihr als Kind schon eingepflanzt und nie gegen einen neueren ausgewechselt. Viktoria meint es nicht böse, wenn sie von anderen Frauen wenig hält. Sie würde es je auch nicht böse meinen, wenn sie den Fuß vorschnellen ließe, womöglich gegen das Schienbein des Arztes, nachdem der ihr mit einem Gummihämmerchen gegen das Knie geklopft hätte. 11. Mit der Schule verhält es sich nämlich so (wenigstens hier, bei uns, wo Agnes lebt): Sie zwingt die Kinder in einen Tages- und Arbeitsrhythmus, der wenig bis gar nicht zum Arbeitsrhythmus der Eltern paßt (sofern die Eltern nicht Lehrerinnen oder Nur-Hausfrauen sind). Die Eltern arbeiten an fünf Tagen in der Woche, die Kinder gehen sechs Tage zur Schule. Die Eltern haben ein freies Wochenende, die Kinder nicht, denn abgesehen davon, daß sie samstags erst zu Mittag heimkommen, müssen sie,
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wenn Prüfungen oder Schularbeiten angesagt sind, auch an den Sonntagen lernen. Unter der Woche kommen die Eltern abends nach Hause, die Kinder schon mittags. Die Eltern, jedenfalls viele von ihnen, haben nach Dienstschluß Feierabend; die Kinder nehmen Arbeit aus der Schule mit heim. Die Eltern sind vertraglich gegen unbegrenzte Dienstzeiten abgesichert; die Kinder sollen sich, wenn es nach den Lehrern geht (die interdisziplinäre Kontakte scheuen oder wenigstens nicht nützen, um zu erfahren, wieviel Hausaufgaben den Schülern bereits von Kollegen aufgebrummt wurden), mit jedem Gegenstand so intensiv befassen, als sei er der einzige, für den sie zu lernen haben, was auf nahezu endloses Lernen hinausliefe. Dafür haben die Kinder zwölf Wochen Ferien im Jahr, die Eltern aber nur sechs. In Wirklichkeit, sagt Agnes zu Karl, mit dem sie Kaffee trinkt (das zweitemal in dieser Woche), schiebt die Schule die Kinder an zu Hause ab. Die Schule wird ihren Aufgaben nicht gerecht. Die Schule delegiert ihre Arbeit an das sogenannte Elternhaus. Die Schule erwartet, daß zu Hause eine Mutter mit den Kindern lernt und ihnen all das erklärt, was in der Schule gar nicht oder bloß mangelhaft erklärt wird. Die Schule macht es sich leicht. Das gibt sie aber nicht nur nicht zu, sondern sie beschuldigt, im Gegenteil, die Eltern. Dieses Gerede, sagt Agnes, daß die Eltern ihre Kinder an die Schule abschieben möchten - ich kann es nicht mehr hören! Klar will ich das Unterrichten der Schule zuschieben; ich will nicht mein Kind abschieben, aber
das
Unterrichten
meines
Kindes
in
den
sogenannten
Unterrichtsgegenständen möchte ich der Schule zuschieben. Dazu ist die Schule da, hab' ich mir gedacht. Dafür werden Lehrer ausgebildet, hab' ich mir gedacht. Ich kann nicht unterrichten, ich hab' es nicht gelernt, ich fühle mich überfordert, wenn ich unterrichten soll. Deshalb bilden wir Lehrer aus, weil Eltern überfordert sind mit der Aufgabe des Unterrichtens. Aber was muß ich mir anhören, was muß ich in den Zeitungen lesen, was wirft man mir per Fernsehen vor? Daß ich zu faul bin, mich um mein Kind zu kümmern! Ich kümmere mich gern um mein Kind; ich weiche keinem tiefsinnigen Gespräch mit meinem Kind aus, aber Gesprächen über Mathematik möchte ich ausweichen, und weißt du, warum? Weil mein Kind von mir eh nur Blödsinn zu hören bekommt, wenn ich über Mathematik rede.
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Karl lacht. Dabei, sagt Agnes, war ich in der Schule gut in Mathematik, ich hab' sogar Nachhilfestunden gegeben, aber das ist zwanzig Jahre her, und jetzt habe ich das meiste vergessen. Ich habe die Formeln vergessen, und ich habe vergessen, wie ich sie seinerzeit erklärt habe und wer weiß, ob ich sie jemals gut erklärt habe. Jedenfalls fühle ich mich heute außerstande, sie zu erklären, und ich finde, das ist mein gutes Recht, denn ich habe das Unterrichten nicht zu meinem Beruf gemacht. Was mich am meisten aufregt, sagt Agnes, ist, daß die Schule ihre Weigerung, ihren Aufgaben nachzukommen, als Dienst an den Kindern tarnt. Ich rede von der öffentlichen Schule, wohlgemerkt. Die Privatschulen nehmen den Eltern ja beflissen einen Großteil der Arbeit ab, die die öffentlichen Schulen an die Eltern zu delegieren versuchen, und darüber regt sich niemand auf. Eine Mutter der höheren Stände, die ihr Kind in eine teure katholische Privatschule schickt, halb oder ganzintern, ist keine Mutter, die ihre christlichen Mutterpflichten vernachlässigt, sondern eine vielbeschäftigte höhere
Gattin,
deren
Gattinpflichten
Vorrang
haben
vor
ihren
Mutterpflichten, und außerdem bietet sie ihrer Brut dadurch eine erstklassige Ausbildung, wofür die Brut gefälligst dankbar sein soll. Aber die geschiedene Sekretärin, die ist eine nachlässige Schlampe, weil ihr Sohn in den Hort gehen muß! Agnes nimmt einen Schluck Kaffee. Ich hab' den Faden verloren. Wo war ich? Dienst an den Kindern, sagt Karl. Ach ja. Die öffentliche Schule behauptet also ständig, daß es zum Wohl der Kinder ist, wenn der Arbeitsrhythmus der Kinder sich nie und nimmer mit dem Arbeitsrhythmus der Eltern deckt. Aber weißt du, wer in erster Linie profitiert von dieser Zeiteinteilung? Die Lehrer. Zwölf Wochen Ferien und unterm Schuljahr mittags nach Hause, was schon einmal den Vorteil bietet, daß sie nicht im Stau stecken bei der Heimfahrt. Karl lacht wieder. Jetzt bist du ungerecht, stellt er fest. Was ist mit dem Heftekorrigieren und der Vorbereitung. Agnes verzieht das Gesicht. Vielleicht bin ich nicht ganz gerecht, aber die sind noch viel ungerechter zu mir. Tatsache ist: Vom Berufsalltag der meisten Eltern wissen die Lehrer wenig. Die leben in einer speziellen Welt, und weil sie sich diese Welt offenbar
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erhalten wollen, aus welchen Gründen auch immer, behaupten sie, daß die Kinder diese Welt brauchen. Ich behaupte aber: Für Kinder und Eltern wäre das Leben leichter, wenn die Kinder und die Eltern einen ähnlichen Arbeitsrhythmus hätten. Und es stinkt mir, daß Lehrer, die ihre Kinder ohne Probleme betreuen können, erstens, weil sie die Mathematik noch nicht vergessen haben, und zweitens, weil ihr Arbeitsrhythmus sich nämlich sehr wohl mit dem ihrer Kinder deckt Agnes stockt. Es stinkt dir, hilft Karl nach. Genau. Agnes ist wieder in Fahrt. Es stinkt mir, daß diese Leute mir schuldhaftes Versagen unterstellen, weil mein Arbeitsrhythmus nicht zu dem meines Sohnes paßt. Wütend rührt Agnes im Kaffee. Na ja, sagt Karl und räuspert sich, warum machst du darüber nicht einmal einen Beitrag für unser Magazin? Zuviel Aufwand, zuwenig Geld, antwortet Agnes automatisch. Aber vielleicht interessant für dich? wendet Karl ein. Ich kann es mir nicht leisten, meine Interessen zu pflegen, sagt Agnes. Komm, komm! Karl schaut fast beleidigt drein. So miserabel sind unsere Honorare auch wieder nicht. Nur im Verhältnis zu der Zeit, die ich brauchen würde, erklärt Agnes. Ich würde das sehr ordentlich machen wollen. Wenn schon, denn schon. Karl zuckt die Achseln. Schade. Obwohl - sagt Agnes. Obwohl was - ? Es war vielleicht eine Investition. In was Neues. Jetzt, da der Matthias immer selbständiger wird Eine Lebensstellung kann ich dir nicht bieten! sagt Karl rasch. Agnes schneidet eine unwillige Grimasse. So hab' ich's nicht gemeint. Na gut. Also, was ist? Ich versuch's, sagt Agnes. Agnes fährt nach Hause. Einkaufen muß sie noch. Welcher Supermarkt liegt auf dem Weg und führt alles, was sie braucht? So ist das Leben: Georg hat drei Kinder, beziehungsweise vier, wenn man Anna dazurechnet, und mußte
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sich noch nie den Kopf zerbrechen, ob genug Futter für sie daheim ist. Agnes hat bloß ein Kind und karrt unentwegt Nachschub an Nahrungsmitteln durch die Gegend. Weil Georg sich um die Ernährung seiner Kinder nicht zu kümmern braucht, kann er auch leicht so viele Kinder haben. Im Alter wird Georg am Kopf einer langen Tafel sitzen und stolz auf die stolze Schar seiner Nachkommen blicken. Agnes hingegen wird die arme Mama sein, ein lästiger, aber manchmal nicht vermeidbarer Gast in Matthias' Haus. Schau, wird Matthias seiner Frau zureden, sie hat doch sonst niemanden, was soll ich denn tun! Wer sagt übrigens, daß Matthias mit einer Frau zusammenleben wird? Warum blickt Agnes so selbstverständlich in eine angepaßte Zukunft für Matthias? Matthias könnte ja auch ein berüchtigter Herzensbrecher werden oder einer von diesen Junggesellen, die sich ein Leben lang nicht von der Mutter zu lösen vermögen, oder Teil eines homosexuellen Paares, was sich für Agnes vielleicht günstig auswirken würde, weil schwule Schwiegersöhne oft charmanter sind als eifersüchtige Schwiegertöchter, aber Agnes mag keine dieser Möglichkeiten in Betracht ziehen, sie sieht Matthias am liebsten als ganz gewöhnlichen Mann in einer ganz gewöhnlichen Zweierbeziehung mit Kindern. Vor die Wahl gestellt, von einem schwulen Schwiegersohn umgurrt zu werden oder bei einer mäßig entgegenkommenden Schwiegertochter lästiger Gast zu sein, würde Agnes sich für die Schwiegertochter-Version entscheiden, denn sie würde, wenn sie könnte, Matthias die Belastungen eines Außenseiterlebens ersparen wollen. Oh, edle Mutterliebe, aber so edel auch wieder nicht, denn nicht alle schwulen Schwiegersöhne sind garantiert charmant,
und
nicht
alle
heterosexuellen
Schwiegertöchter
sind
unfreundlich. (Christa, Agnes und Daniela zum Beispiel sind vorbildlich freundliche Schwiegertöchter, Viktoria kann sich nicht beklagen. Daß sie sich dennoch beklagt, und zwar über die Freundlichkeit ihrer Schwiegertöchter, steht auf einem anderen Blatt.) Agnes kauft also ein (und wie immer kriegt sie nicht alles, was sie braucht, denn der Supermarkt, für den sie sich entschieden hat, führt nur chemisch konserviertes Ketchup und keinerlei Schweizer Käse). Dann fährt Agnes weiter, holterdiepolter, weil ihr Auto von einer Kanaldeckelgrube in die
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nächste rumpelt. Das ist auch so ein ständiger Ärger von Agnes: die Kanaldeckelgruben. Es soll Länder geben, wo die Kanaldeckel eben abschließen mit dem Straßenbelag, aber hier, in dieser Stadt, die Agnes' Heimatstadt ist, haben sich die Straßenbauer mit den Autofirmen verbündet und sorgen durch einen fallgrubenartigen Einbau der Kanaldeckel für einen schnelleren Autoverschleiß. Vielleicht sollte Agnes die Drahtzieher respektive Nutznießer dieses Bündnisses zu recherchieren versuchen. Das wäre ein tolles
Stück
Enthüllungsjournalismus
für
Karls
Magazin!
Doch
bedauerlicherweise liest Agnes, eine ungeduldige und leicht gelangweilte Person, Krimis lieber, als an ihnen mitzuwirken. Als Agnes in ihrer Gasse die Lebensmittel aus dem Auto räumt, fällt ihr die Papiertragetasche in die Hände, in der sie die Scherben von Helenes Sauciere spazierenfährt. Noch immer hat sie keinen Ersatz besorgt. Kurz entschlossen nimmt Agnes die Tragetasche an sich und mit nach oben. Matthias hat Besuch von Stefan, die Wohnung ist von lauter Musik erfüllt. Agnes verstaut das Eingekaufte, hört den Anrufbeantworter ab, telefoniert mit einer Schauspielerin, die als Gast bei ihrer nächsten Radioplauderei vorgesehen ist, und schreit mit Matthias, weil er trotz ihrer flehentlichen Bitten seinen CD-Player während des Telefonats nicht leiser gestellt hat. Stefan mustert Agnes durch kalte Augen. Bestimmt kommt er aus Verhältnissen, in denen man Telefonate mit drittklassigen Schauspielerinnen nicht über das Glück der Kinder stellt. Nachdem Agnes Matthias und Stefan mit gebratenen Koteletts, Kartoffeln und Salat versorgt hat, nimmt sie die Tragetasche mit der zerbrochenen Sauciere und geht zu Helene hinunter. Sie wird einfach sagen, daß sie das Ersatzstück nicht bekommen hat. Soll Helene ihr doch nachweisen, daß sie gar nicht im Geschäft war, wenn sie kann! Komm rein, trink Kaffee mit mir, schlägt Helene vor, woraus geschlossen werden darf, daß ihr Mann noch nicht daheim ist, denn wenn ihr Mann daheim ist, hat Helene keine Zeit für Agnes. Nimmt sie sich trotzdem einmal die Zeit, mit Agnes zu reden, während ihr Mann daheim ist, beginnt Helenes Mann Helene ungehalten zur Ordnung zu rufen, indem er sie mit Fragen und Aufträgen eindeckt. Helene, hast du meine Brille gesehen? Wo ist mein
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blaues Polohemd? Helene, sollen die Kinder nicht längst im Bett sein? Helene, ruf bitte endlich bei den Langers an, wir wollten uns doch für Freitag verabreden! Streng demonstriert Helenes Mann Agnes durch unwirsche Zwischenrufe, daß sie einen Stein im Getriebe seines Haushalts darstellt. (Nein, das ist nicht wahr, das erfindest du! sagt Agnes' junge Kollegin Martina im Funkhaus, wenn Agnes derartige Szenen schildert. Das bildest du dir ein, das kann nicht sein, so ist doch heutzutage niemand mehr! Aber um Agnes herum sind viele so, und Agnes bildet sich nicht bloß ein, daß die so sind, weil sie ja auch registriert, wenn andere nicht so sind. Agnes' junge Kollegin Martina ist nur deshalb voll Unglauben, weil sie ihre Freizeit an Single-Treffpunkten zubringt und nicht wie Agnes unter wertbeständigen Stadtrandfamilien der gehobenen Einkommensklasse.) Du, lieber nicht; auf mich wartet oben ein Berg Arbeit! erwidert Agnes. Dann drückt sie Helene die Überreste der Sauciere in die Hand und hört sich zu ihrer Überraschung sagen: Tut mir leid, ich schaffe es einfach nicht. Ich komme dort nie vorbei, weißt du. So. Soll Helene pikiert sein. Was glaubt sie, wer sie ist? Was glaubt sie, wer Agnes für sie ist? Aber Helene ist gar nicht pikiert. Sie nimmt einfach die Scherben in der Tragetasche an sich und sagt: Macht ja nix. Ich hab' geglaubt, das Geschäft liegt irgendwie auf deinem Weg. Schon setzt Agnes zu entschuldigenden Erklärungen an, doch dann klappt sie den Mund wieder zu. Sonst alles okay? fragt sie. Na
ja,
antwortet
Helene,
das
Übliche.
Der
Sebastian
hat
die
Französischschularbeit verhau'n. Die Mausi will unbedingt ein eigenes Reitpferd. Falls du es nicht weißt: Neunzig Prozent aller Schulmädchen heutzutage haben ein eigenes Reitpferd, nur meine arme Tochter gehört nicht dazu. Und der Gernot kommt jeden Abend grantig aus der Firma, weil er so wahnsinnig viel Arbeit hat. Wenn du mich fragst, so hat er vor allem nicht sehr fähige Mitarbeiter. Besonders die Mitarbeiterinnen sind ein Problem: Kaum ist ein Kind ein bißchen krank, bleiben sie daheim.
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Da lehnt sie, Helene, in ihrer Eingangstür, rosig und lieblich, die Gattin des Chefs, und beklagt die Pflichtvergessenheit fremder Frauen, die kranker Kinder wegen zu Hause bleiben, während sie selbst zu Hause bleibt, sogar wenn ihre Kinder gesund sind. Was sagt man dazu? Agnes sagt nichts, sondern geht nach einem gemurmelten Abschied wieder die Treppe hinauf. Oben, bei ihr, spuckt der Anrufbeantworter (den sie eingeschaltet hat, weil Matthias und Stefan ungestört sein wollten) Kurts ärgerliche Stimme aus. Ach ja, sagt Matthias, der gerade durchs Zimmer schlendert, der Kurt hat schon ungefähr hundertmal angerufen. Er erreicht dich nie. Ich weiß, sagt Agnes. Matthias grinst. 12. Du bist einfach verdammt weit weg! sagt Anna am Telefon. Sie und Christa haben lange geschwatzt, Anna hat von ihren Zwillingstöchtern erzählt und von ihrer Arbeit im Krankenhaus, wo sie demnächst ihre Ausbildung zur Fachärztin beenden wird. Anna lebt, seit sie verheiratet ist, rund siebenhundert Kilometer von Christa entfernt. Das hätte Christa sich nicht so ausgesucht, wenn sie es sich aussuchen hätte können, aber solange Anna glücklich dabei ist, soll es Christa dennoch recht sein. Ich besuche dich! verspricht Christa jetzt. Das will ich hoffen. Bleibt's bei Ostern? Klar. Ich werde diesmal die Feiertagsdienste verweigern. Tu das! Und einen schönen Abend. Danke. Ich gehe ins Kino. Mit einem tollen Mann? In meinem Alter geht man ins Kino, um einen Film zu sehen. Würde ich einen tollen Mann kennen, würde ich nicht mit ihm ins Kino gehen. Keine halben Sachen. Anna lacht.
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Als Christa aufgelegt hat, läutet es an der Tür. Herein wirbelt Pia, vergnügt und unternehmungslustig. Was für ein Unterschied zu Christas gleichaltrigen Freundinnen, die eine zunehmende Neigung zur Mieselsucht haben und dazu, einfachste Vorhaben so lange zu komplizieren, bis man sie aufgibt! Pia ist die Nichte einer Studienkollegin, Christa hat sie bei einem ziemlich langweiligen Essen kennengelernt und sich auf Anhieb besser mit ihr verstanden als mit den steifen, gesetzten anderen Gästen, die ihre Kollegin an diesem Abend eingeladen hat. Pia hat Jura studiert, arbeitet im Unterrichtsministerium, trägt Lederjacken, fährt Motorrad, hat wechselnde Liebhaber, deren Handhabung sie mit Christa bespricht, unbekümmert, voll Selbstvertrauen, und einen Haufen tüchtiger, selbständiger Freundinnen, die meisten, wie Pia, knapp über dreißig. Christa fühlt sich wohl unter den jungen Frauen, die sie selbstverständlich in ihren Kreis aufgenommen haben, mit Respekt für ihre Lebenserfahrung, jedoch ohne erkennbare Absicht, sie in die Rolle der gütigen Mutter zu drängen. Obwohl das Alter kein Thema ist zwischen ihnen, kann Christa nicht umhin, einige Vorzüge ihrer neuen Freundinnen auf deren Jugend zurückzuführen: Sie sind pflegeleichter als Christas ältere Freundinnen, anpassungsbereiter, argloser, optimistischer einfach lustiger. Wenn Christa mit ihnen zusammen ist, meint sie zu verstehen, warum von der sexuellen Attraktion jüngerer Leiber einmal abgesehen ältere Männer ihre
sperrig
gewordenen
Gefährtinnen
gegen
schwungvollere
junge
austauschen. Andererseits ist nicht jede Kindfrau, die ein silbergrauer Daddy sich angelacht hat, von mitreißender Unkompliziertheit. Zum Beispiel ist zweifelhaft, ob die Frauen, die Georg nach Christa zusammengeheiratet hat, ihm einen sonderlichen Gewinn an Lebensfreude eingebracht haben. (Das muß so gesehen werden bei aller Freundschaft zu Agnes und Daniela.) Haben wir Karten? fragt Christa, und Pia bejaht, sie hat welche besorgt. Nie ist eine von Christas gleichaltrigen Freundinnen in der Lage, Kino oder Theaterkarten zu besorgen. Vielleicht schafft der Altersunterschied ja doch
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eine Art Hierarchie, derzufolge klar ist, wer eher Dienstleistungen im gemeinsamen Interesse zu erbringen hat, und wer eher nicht. Als sie die Wohnung verlassen wollen, läutet das Telefon: Daniela. Sei mir nicht bös, aber ich hab's eilig, sagt Christa. Ist was Besonderes? Nein, nein, erwidert Daniela hastig. Ich wollte nur hören, wie's dir geht. Ihre Stimme klingt flach und mutlos. Ich ruf dich morgen an, ja? Ja. Oder magst du wieder einmal herauskommen? Noch nie hat Daniela extra angerufen, um ausdrücklich nach Christas Besuch zu verlangen. Hör zu, sagt Christa, ich ruf dich morgen an, und dann machen wir uns was aus, okay? Tempo, Tempo, sagt Pia, als sie die Treppe hinunterstürmen. Wir dürfen keinesfalls den Anfang versäumen. 13. Die Architekturstudentin, die Georg neuerdings beschäftigt, stellt sich geschickt an. Sie ist flink, umsichtig und zuverlässig. Schon jetzt nimmt sie Georg eine Menge Kleinkram ab. Ich war mit den Stoffmustern bei Langers, sagt sie. Wir haben die Bezüge ausgesucht. Außerdem hab' ich, glaube ich, ganz gute Beleuchtungskörper für diese Schwimmhalle entdeckt, Sie wissen schon. Einer von Georgs Kunden, ein Industrieller, läßt eine alte Villa umbauen und mit einer Schwimmhalle ausstatten. Der Kunde hat eine fatale Neigung zu protzigem Dekor. Georg sucht seit geraumer Zeit nach Beleuchtungskörpern, die er mit seinem Gewissen vereinbaren kann und die dem Bauherrn trotzdem gefallen. Die Studentin zeigt Georg einen Katalog, den sie mitgebracht hat von ihrem Ausflug mit den Stoffmustern. Gemeinsam beugen sie sich über die Seiten, als
Veronika
hereinplatzt,
gefolgt
von
Georgs
Sekretärin,
Gesichtsausdruck verrät, daß sie sie nicht aufhalten konnte.
170
deren
Hallo, mein Lieber, sagt Veronika in unerbittlichem Ton, ich hoffe, ich störe nicht. Eigentlich schon, sagt Georg. Veronika lacht auf. Behandelst du alle deine Klienten so oder nur die kleinen Fische? Es würde mir nie einfallen, deinen Mann und dich als kleine Fische zu sehen! sagt Georg verbindlich. Indem er Veronikas Mann ins Spiel bringt, signalisiert er seinen Mitarbeiterinnen die Harmlosigkeit ihres Besuchs. Dann deutet er den beiden, daß sie ihn mit Veronika allein lassen sollen. Als sich die Tür hinter den beiden geschlossen hat, fragt Georg schroff: Hab' ich dich nicht gebeten, mich nicht zu überfallen? Hast du? Vielleicht. Wer ist das Frauenzimmer? Welches Frauenzimmer? Der rothaarige Trampel mit der unappetitlichen Mähne. Kannst du dich etwas weniger gehässig ausdrücken? Das Mädchen. Das rothaarige Mädchen. Eine Studentin. Sie jobt bei mir. Natürlich. Wie wär's mit einem Studenten gewesen? Georg mustert Veronika mit einem fassungslosen Lächeln. Willst du allen Ernstes in meine Personalentscheidungen dreinreden? Nein, zischt Veronika mit schmalen Augen. Deine Personalentscheidungen sind mir wurscht. Nicht wurscht sind mir deine Entscheidungen für irgendwelche Techtelmechtel. Das ist mir aber wirklich zu blöd, sagt Georg. Geh jetzt, bitte. Damit du mit ihr weitermachen kannst? Du sollst bitte gehen! Personalentscheidungen!
Warum
spielt
es
bei
deinen
Personalentscheidungen eine Rolle, ob eine hübsch ist oder nicht? Es geht dich zwar nichts an, sagt Georg erstaunt, aber ich finde Elisabeth gar nicht besonder s hübsch. Elisabeth! Ach! Hat sie keinen Nachnamen? Du machst dich lächerlich. Hör auf. Und wie sie dich angehimmelt hat. Diese Blicke!
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Georg steht auf. Was muß ich tun, damit diese absurde Szene ein Ende hat? Veronika starrt ihn an. Plötzlich zwingt sie sich zu einem süßen Lächeln. Geh mit mir essen! Jetzt. Sofort. Ich gehe mit dir, sagt Georg mit leiser, böser Stimme, jetzt hinunter ins Cafe. Dort kriegst du was zu trinken, am besten Beruhigungstropfen, und wenn du mich danach nicht weiterarbeiten läßt, drehe ich dir den Hals um. Veronika kichert und faßt nach seinem Arm. Ich liebe diese spontanen Entschlüsse! Georg macht sich frei, reißt die Tür auf und durchquert mit langen Schritten das Büro, gefolgt von Veronika. Ich bin in zehn Minuten wieder da, sagt er zu seiner
Sekretärin
und
zu
Elisabeth,
der
Studentin,
die
eine
Installateursrechnung kontrolliert. Elisabeth blickt auf und nickt ihm zu. Schmales Gesicht, großer Mund, lange Nase. Nicht hübsch im landläufigen Sinn, aber irgendwie elegant. 14 Am Abend sind die Kinder schon im Bett, als Georg kommt, denn es ist spät geworden. Daniela hat einen Schweinslungenbraten im Rohr warmzuhalten versucht, der ist jetzt trocken und die mitgeschmorten Kartoffeln sind matschig. Aber Georg will sowieso nichts mehr essen, er hat sich unterwegs verköstigt und ist gar nicht hungrig. Übrigens war er heute in einem Großmarkt, ein paar Einbaugeräte besorgen, und bei der Gelegenheit ist er auch durch die Lebensmittelabteilung gelaufen, wo er Kirschkompott im Sonderangebot entdeckt hat. Da, Vorräte, sagt er und leert Daniela fünfzig Gläser Kirschkompott vor die Füße. Würdest du das bitte verstauen? Mit weitaufgerissenen Augen starrt Daniela auf die Kompottgläser. Wann sollen wir denn das alles essen? fragt sie entsetzt. (Rundum passieren echte Greuel, aber Daniela ist entsetzt, weil sie fünfzig Liter Kirschkompott essen soll.) Das hält doch, Herrgott, sagt Georg ungeduldig, schnappt sich die Tageszeitungen und verzieht sich ins Wohnzimmer. Daniela trägt die
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Kompottgläser in den Keller und stapelt sie in einem der übervollen Regale, in denen schon andere Gelegenheitskäufe Georgs darauf warten, von Daniela mit hausfraulicher Umsicht verwertet zu werden. Kaiserschmarrn mit Kirschkompott, sagt Georg hinter seiner Zeitung hervor, als Daniela ins Wohnzimmer tritt, lauter solche Sachen. Ich meine, du mußt halt Sachen kochen, zu denen Kirschkompott paßt. VI 1 Während Veronika vergeblich versucht, sich im Fitneßcenter von den Plagen der Eifersucht abzulenken, während Georg erstaunt feststellt, daß Elisabeth, seine neue Mitarbeiterin, tatsächlich attraktiver ist, als er zunächst bemerkt hat, während Daniela mutlos Kirschkompott stapelt und ein paar Tage darauf von Christa besucht wird, die entsetzt ist über Danielas trübes Aussehen (was sie sich aber selbstverständlich nicht anmerken läßt), hat Agnes begonnen, an ihrem Fernsehbeitrag über die nicht kongruenten Arbeitsrhythmen von Schülern und Eltern zu werkeln, und die Arbeit daran macht ihr mehr Freude, als sie vermutet hat. Wie Agnes sich so müht, das Thema nicht nur gründlich, sondern auch spannend darzustellen, merkt sie, daß es sie weniger anstrengt, intelligente Antworten auf intelligente Fragen zu suchen, als in lauwarmem Geplauder zu baden. Zwischendurch erwischt Kurt sie ja doch am Telefon, und als Agnes sagt, daß sie ihn nicht sehen will, eine ganze Weile nicht sehen will, ziemlich lange nicht sehen will, schweigt Kurt zuerst geknickt und besteht dann auf einer klärenden Aussprache von Angesicht zu Angesicht. Agnes fährt in Kurts Wohnung, wo Kurt eine Flasche nach ihr schleudert, die sie aber zum Glück nicht trifft. Agnes flieht aus Kurts Wohnung, Kurt schreit ihr unflätige Schimpfworte hinterher. Agnes zittern die Knie, sie fährt, schweißnaß und mit stolperndem Herzen, ins Fernsehzentrum, wo sie Karl aufsucht, um ihm alles zu erzählen. Doch als sie Karl gegenübersitzt, sagt sie kein Wort von Kurt. Schließlich reden sie über Schneidetermine, und Agnes beruhigt sich langsam.
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Dann kriegt Matthias Angina. Agnes, die am nächsten Tag drehen soll, den fiebernden Matthias aber nicht allein lassen will, ruft bei Georg an, doch Georg reagiert, als sei sie übergeschnappt. Er einspringen? Wie stellt sie sich das vor? Er hat einen Beruf. Er hat ebenfalls Termine. Bei ihm geht es um bedeutende Summen. Was denkt sie sich? Kommt gar nicht in Frage. Damit mußt du schon selber fertig werden. So was läßt sich doch organisieren. Agnes telefoniert herum, aber niemand hat Zeit, einen Tag lang beim fiebernden Matthias zu bleiben. Agnes heult Rotz und Wasser und verschiebt die Dreharbeiten. Karl flucht. Agnes rast durch die Wohnung mit geballten Fäusten, die Tränen rinnen ihr übers Gesicht. Ich bin ein Kettenhund! Ein Kettenhund bin ich! Ich hab' es satt! Du bist gemein! krächzt Matthias aus seinem Bett. Ich hasse dich! Matthias haßt Agnes, verständlich, und Agnes haßt Matthias, auch verständlich, denn hat sie ihm nicht hundertmal gepredigt, daß man bei schneidendem Wind nicht mit offener Jacke und ohne Schal durch die Gegend stürmt? Zwischendurch ruft Christa an. Daniela macht mir Sorgen, sie kommt mir so bedrückt vor. Ich bin auch bedrückt! Mach dir Sorgen um mich! schreit Agnes ins Telefon. Christa schüttelt den Kopf. Ich meine es ernst. Sie ist da draußen so ... abgeschnitten von allem. Ich bin auch abgeschnitten! heult Agnes. Ich, ich, ich! Daß Agnes sich so gehenlassen muß! Christa gibt ihr noch eine Chance: Der einzige Kontakt, den sie zu haben scheint, ist der zu einer jungen Frau, aber die ist auch irgendwie sonderbar. Agnes schweigt erschöpft ins Telefon. Christa faßt Agnes' Schweigen als endlich erwachtes Interesse an Daniela auf und fährt fort: Einerseits ist sie ja sicher nicht unnett, aber andererseits wirkt sie doch wie eine ziemlich... verkrachte Existenz. Ich habe den Eindruck, sie sucht Halt bei Daniela, und damit ist Daniela eindeutig überfordert. Was ist, willst du mich als Halt für Daniela anheuern? fragt Agnes. Damit wäre ich überfordert.
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Ach, du, sagt Christa, du bist ganz anders. Du kennst doch irrsinnig viele Leute. Mag sein, aber ich treffe sie nie, weil ich nämlich entweder arbeiten oder mich um Matthias kümmern muß. Ich bin ein Kettenhund! Ein Kettenhund bin ich! Christa lacht. Das passiert Agnes nicht zum erstenmal, daß sie einen Verzweiflungsschrei losläßt, und die anderen lachen. Aus tiefer Not schreit Agnes um Hilfe, aber die, die sie hören, verstehen Agnes' dramatische Schreie als Parodie und lachen. Agnes ist ein Mensch, der andere Menschen leicht zum Lachen bringen kann. Sie sollte das als glückliche Gabe betrachten. Natürlich renkt sich dann eh wieder alles ein. Agnes umsorgt eine Woche lang den kranken Matthias tagsüber mit Säften, Suppen und Halswickeln, gibt drei Moderationen an eine Kollegin ab (was ihrem Bankkonto nicht guttun wird, aber ein Bankkonto sollte man bekanntlich nicht so wichtig nehmen) und arbeitet nachts an ihrem Text für den Fernsehbeitrag. Danach geht Matthias wieder zur Schule, und Agnes kann die versäumten Drehtage nachholen. Wen kümmert's, daß der Schlafmangel, unter dem sie seit Jahren leidet, Spuren in ihrem Gesicht zu hinterlassen beginnt? Auch Tränensäcke sollte man bekanntlich nicht so wichtig nehmen. Agnes ist sowieso nicht mehr die Jüngste, was erwartet sie von sich, daß sie aussieht wie fünfundzwanzig? Agnes dreht also und ist nachmittags nicht zu Hause, so daß Matthias das in der Schule Versäumte allein nachlernen muß, was ihm aber nicht recht gelingt. In der nächsten Mathematikschularbeit wird Matthias ein »Nicht genügend« schreiben, das kommt davon, daß Agnes ihn so vernachlässigt. Während Agnes tagsüber Matthias versorgt und nachts schreibt und es fertigbringt, sowohl ihre Arbeit als auch Matthias und obendrein noch ihre Gesundheit zu vernachlässigen, geht Georg unbeirrt seinem Beruf und dem damit verbundenen Geldverdienen nach, egal, ob Mäsi oder Clemens daheim fiebern oder in den Kindergarten gehen. So ist Georg: ein stetiger, fleißiger Arbeiter, dessen Bankkonto wichtig ist, weil er ja schließlich eine Familie erhält.
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Würde Agnes ihm gegenüber die Unsicherheit ihrer Einkünfte beklagen, die unter anderem davon abhängen, ob Matthias gesund ist, bekäme sie (sie hat es ausprobiert) zur Antwort: Das hättest du dir früher überlegen müssen. Du wolltest ja ein Kind. Mit einem Kind bist du eben nicht unbeschränkt einsatzfähig. Das hättest du wissen müssen. Georg hingegen darf Kinder wollen, ohne um seine Einkünfte bangen zu müssen (es sei denn, man betrachtet die Tatsache, daß ein Teil seiner Einkünfte seinen Kindern zugute kommt, als Gefährdung seiner materiellen Existenz). Ach, Agnes: immer selbstmitleidig. Man hat es schon über, sich mit Agnes' Selbstmitleid zu beschäftigen, deshalb nur noch soviel: Nicht zum erstenmal hätte Agnes Georg anläßlich Matthias' Angina gerne erwürgt oder doch wenigstens tödlich beleidigt, aber derartige exzessive Verhaltensweisen muß sie sich versagen, in Matthias' Interesse. Es ist wichtig, daß Matthias der Vater
nicht
verlorengeht.
Ginge
er
ihm
verloren,
schadete
das
merkwürdigerweise weniger Georg als Matthias, der es dann in seinen Augen und in denen der Umwelt nicht wert wäre, daß sein Vater sich um ihn kümmert. Wer seinem Vater nichts wert ist, ist auch den anderen nichts wert. Wer von seinem Vater aufgegeben wird, hat einen schweren Stand. Darum, um Georg für Matthias nicht aufzugeben, schluckt Agnes die tödlichen Beleidigungen, die ihr auf der Zunge liegen, hinunter und sagt zu Matthias: Ruf doch den Papa an, und erzähl ihm, daß du wieder gesund bist. Matthias ruft seinen Papa an und erzählt ihm, daß er wieder gesund ist. Von seinem »Nicht genügend« in Mathematik wird er ihm nichts erzählen, weil Georg ihn sonst behandeln würde wie einen Idioten. Matthias' Diskretion kommt auch Agnes zugute, die dadurch vorwurfsvollen Anfragen seitens Georgs entgeht, des Inhalts, wie es passieren könne, daß niemand sich um Matthias' schulische Fortschritte kümmere. Entginge Agnes diesen Anfragen nicht, würde sie Georg vielleicht doch erwürgen oder tödlich beleidigen, und das wäre schlecht für Matthias und für Georg und auch für Agnes, die dann womöglich im Gefängnis landete. (Nicht auszudenken, wenn Agnes Georg erwürgte! Was sollte wohl aus Daniela und Mäsi und Clemens werden? Georg ist eine bedeutende Person, von deren Wohlergehen das Wohlergehen ganzer Menschenrudel abhängt. Georg hat sich rechtzeitig mit einem Schutzschild
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aus Abhängigen abgesichert, jedenfalls potentiellen Angreifern wie Agnes gegenüber, deren Verantwortungsgefühl im Zweifelsfall ihre Angriffslust überwiegt.) Während Agnes also ihren Fernsehbeitrag dreht, textet und schneidet und ihren
Sohn
vernachlässigt,
weil
sie
daneben
ja
auch
noch
ihre
Hörfunksendungen weiter betreuen muß, während Elisabeth Georg äußerst brauchbare Vorschläge macht, die Wintergartengestaltung der Langers betreffend (derselben Langers, mit denen Helene und Gernot an einem der letzten Freitage abendessen waren, wobei die Langers geschwärmt haben von ihrem Haus, das nach dem Umbau hoffentlich ein Traum sein wird), während Veronika kurzatmig vor Wut Antonio gegenübersitzt, diesem Tölpel, der Azaleen anschleppt und ihre Hand tätschelt, voll Begeisterung über den Nudelsalat, den sie lieblos zusammengepanscht hat, während Lisa alternierend mal von einem zweiten Kind, mal von einer Übersiedlung in die Toskana
phantasiert,
blind
für
Benjamins
Rotzglocke,
die
zur
Dauereinrichtung wird, und während Christa sich zwischendurch immer wieder um Daniela sorgt, berechtigt, wie sich herausstellen soll, nimmt das Verhängnis (das Christas Besorgnis rechtfertigen wird) seinen Lauf, aber vorher macht Georg noch einen entscheidenden Fehler. Ich will ein Kind! verkündet ihm Veronika, die ihm erneut aufgelauert und es geschafft hat, ihn in ein Lokal zu verschleppen. Ich will ein Kind! verkündet Veronika, straff sitzt sie da, entschlossen, und präsentiert Georg ihren Wunsch als Forderung, als Aufforderung zu Taten, an die Georg nicht einmal im Schlaf denkt. Veronika will ein Kind als Bindeglied zu Georg, das Kind soll ihn an sie fesseln; wenn sie Georg dazu bringt, seine Gene an ihre zu koppeln, wird er auch, denkt sie, sein Leben an ihres koppeln. Georg lacht amüsiert. Wunderbar! sagt er. Und er rät Veronika, die begonnen hat, verwirrt zu strahlen (verwirrt, weil sie sich nicht vorgestellt hat, daß er so ohne weiteres auf ihre Forderung eingehen würde): Dann solltest du dich aber schleunigst an Antonio wenden! Veronikas Strahlen entgleist. Sie wirft Georg ihre Serviette ins Gesicht und rauscht aus dem Lokal.
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2. Martin ist wieder aufgekreuzt, er hat Daniela sozusagen großmütig verziehen, daß sie Lisa seinetwegen nicht versetzt hat. Martin saß mit beim Mittagstisch und berichtete das Neueste von den alten Freunden, soweit er noch Kontakt mit ihnen hält. Der Stefan will übrigens auch heiraten, erzählte Martin, es ist ein Jammer, wie häuslich jetzt alle werden. Daniela ist das Herz in die Magengrube geplumpst. Schnell hat sie Clemens ein Stück Kartoffel in den Mund geschoben, um ihr jähes Erschrecken zu überspielen. (Wie gesagt: Daniela erschrickt viel zu oft.) Martin hat nichts gemerkt. Lachend redete er weiter, und Daniela saß ihm gegenüber, gekrümmt, weil ihr hämmerndes Herz so schwer war, daß es sie zu Boden ziehen wollte. Nach dem Essen legte Daniela Clemens zum Mittagsschlaf nieder, und Clemens fielen ausnahmsweise gleich die Augen zu. Auch Mäsi, die mittags schon lange nicht mehr schläft, rollte sich diesmal müde auf dem Wohnzimmersofa zusammen und schlummerte ein. Ich mach' uns Kaffee, ja? sagt Daniela in der Küche, wohin sie sich mit Martin geschlichen hat, um die schlafenden Kinder nicht zu stören. Statt einer Antwort streckt Martin die Arme aus und zieht Daniela an sich. Und Daniela mit dem schweren Herzen, so schwer, daß es sie das Gleichgewicht verlieren läßt, fällt gegen Martins Brust und sucht Schutz in seinen Armen, wiewohl sie immer noch Bedenken hat gegen Martins schiefes Lächeln, seine spitzen Zähne und die bläulichen Bartschatten auf seinen Wangen. Martins Finger graben sich in Danielas Rücken, und seine Zunge drängt sich in ihren Mund, und Daniela weiß nicht, ob sie sie dort haben will. Sie biegt den Kopf zurück und weicht seinen feuchten Lippen und seiner drängenden Zunge aus. Komm, flüstert Martin keuchend. Sein heißer Atem bläst Daniela eine Strähne ihres Haars um die Nase, und Daniela muß kichern.
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Martin packt sie an der Hand und zieht sie hinter sich her, die Stiege hinauf. Daniela stolpert treppauf, durch die Tür ihres Schlafzimmers, wo sie mit Martin auf dem Bett landet. Martin schiebt sich auf sie, schwer liegt er auf ihr, wieder drückt er ihr die Zunge zwischen die Lippen, während seine Hände sich um ihren Hintern krallen und dann streichelnd nach vorn wandern. Daniela kann sich nicht aufsetzen, zuviel Gewicht hält sie nieder, Martins Gewicht und obendrein jawohl, richtig! ihr schweres Herz. Außerdem ist sie gar nicht so sicher, daß sie sich aufsetzen will, denn wenn auch Martins heißer, keuchender Atem ein nervöses Kichern in ihr auslösen möchte, so lassen seine kundigen Hände ihren Unterleib dennoch reagieren. In ihrem Schlafzimmer, auf ihrem Ehebett, koitiert Daniela, die Martin nicht erneut wegschicken und mit einem schmutziggrauen Tag zurückbleiben möchte (allein mit zwei Kleinkindern auf unbestimmte Zeit, wenn man von gelegentlichen Auftritten Georgs mit Autoladungen von Kompottgläsern absieht), mit Martin, einem Freund von Stefan, Danielas letztem romantischen Liebhaber, der um so idealere Züge annimmt, je länger es her ist, daß Daniela ihn gesehen hat. Daniela läßt sich auf einen hastigen, verstohlenen, verschwitzten Beischlaf mit Martin ein, mit hochgeschobenem Rock und verrutschtem Sweatshirt liegt sie da, unter Martin, dessen Hände sie flächendeckend in Besitz zu nehmen trachten, während er keuchend, mit halbgeschlossenen Augen, auf ihr auf und nieder turnt. Ohhh. Martins stoßweises Atmen verebbt, mit zitternden feuchten Fingern streicht er Daniela das Haar aus dem Gesicht und küßt sie sanft, ehe er seinen Kopf erschöpft neben ihrer Wange ins Kissen vergräbt. Daniela liegt ganz still. Die Tür knarrt. Bitzschnell setzt sie sich auf, greift nach der Bettdecke und wirft sie über Martin und sich, als Mäsi auch schon vor ihnen steht. Noch schlaftrunken, aber dennoch befremdet starrt Mäsi ihre Mutter und Martin an: Ich hab' dich gesucht! Was macht ihr da? 3.
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Agnes wacht auf, nachts, schweißgebadet und angsterfüllt, und muß sich plötzlich, bedrängt von der Dunkelheit, Georg vorstellen, wie er mit Daniela schläft. Protest! Obwohl Agnes, untertags und bei klarem Verstand, nicht wieder mit Georg zusammenleben möchte, erscheint es ihr in diesem Moment nicht richtig, daß er jetzt zu Daniela gehören soll. Er hat ein Kind mit Agnes. Es ist nicht in Ordnung, daß er seine Verbundenheit mit Matthias und Agnes aufgekündigt hat, indem er neue, ebenso starke nein, inzwischen stärkere Bindungen eingegangen ist. Die von Zeit zu Zeit jäh über sie hereinbrechende Erkenntnis, daß Georg sich nicht nur organisatorisch, sondern auch emotional von Matthias und ihr abgesetzt hat, dadurch, daß seine Solidarität jetzt Daniela gehört, erfüllt Agnes, schon gar in der Finsternis der Nacht, in der jeder Schrecken auf ein Vielfaches seiner Größe anschwillt, mit kaltem Entsetzen. Agnes liebt Georg nicht mehr, aber sie fühlt sich ihm durch Matthias verbunden. Nie zuvor und nie danach hat Agnes sich so sehr auf einen Mann eingelassen wie auf Georg, den sie für würdig befand, der Vater ihres Kindes zu werden. Daß Georg ihr Gefühl der Zusammengehörigkeit (das sie verspürt, ungeachtet der erloschenen Leidenschaft und des nicht mehr geteilten Alltags) mit Füßen tritt, indem er längst zu seiner anderen Frau und zu neuen Kindern gehört, versteht sie nicht. Womöglich sagt Georg zu Daniela: So wie dich hab' ich noch keine geliebt. Ach, hätt' ich dich nur als erste getroffen! Das wäre Verrat, und Agnes könnte ihn nicht verhindern! Wie kommt Agnes dazu, daß Georg seine Wertschätzung Danielas womöglich durch eine Abwertung seiner seinerzeitigen Gefühle für Agnes ausdrückt? Wie kommt Agnes dazu, daß Georg sein intimes Bündnis mit Daniela noch mehr festigt, indem er sich mit ihr verbal verbündet gegen seine früheren Frauen, die nun nicht mehr zählen in seinem Leben? Georg ist nicht gefeit gegen solche Verrätereien. Agnes erinnert sich an kleine abfällige Bemerkungen über Christa, wie er sie gelegentlich beiläufig fallen ließ. (Ist Agnes damals erschauert um Christas willen? Nein, sie hat sich gefreut über diese Liebesbeweise Georgs für sie.)
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Nun freut sich vielleicht Daniela, und Agnes kann gar nichts dagegen machen. Agnes kann nicht korrigierend dazwischenfahren: Hör einmal! Tu jetzt nicht so! Ich kann mich gut erinnern, wie du beteuert hast, was ich dir alles bedeute! Georg kann Agnes und seine Beziehung zu ihr Daniela gegenüber darstellen, ganz wie er will, ohne daß Agnes sich dagegen wehren kann. Das erfüllt sie mit Wut, und ihre Wut ist um so größer, als ihre Ohnmacht so weit geht, daß sie nicht einmal erfahren wird, wie Georg sie, unter vier Augen mit Daniela, darstellt und ob er sie tatsächlich abwertet. Agnes, Agnes! Sie könnte sich ja auch sagen: Da nicht erwiesen ist, daß Georg sich zu Daniela geringschätzig über mich äußert, rege ich mich nicht auf. Aber nein, schon ist ihre Phantasie mit ihr durchgegangen, schon hält sie das Mögliche für wahrscheinlich und das Wahrscheinliche für so gut wie passiert, und nun ist sie nur noch wütend, weil ihr die Beweise fehlen. Panisch, schweißnaß, wälzt sich Agnes in ihrem Bett, und je eindringlicher sie sich ermahnt, schleunigst wieder einzuschlafen, desto panischer wird sie. Gleichzeitig hindert sie eine zermürbende Müdigkeit, die Nachttischlampe anzuknipsen und zu lesen. Schließlich schafft sie den Griff zum Lichtschalter doch. Mit dröhnendem Kopf angelt sie sich eine Zeitschrift und liest, Wort für Wort, ohne einen Zusammenhang zu begreifen, bis sie verwirrt in einen verworrenen Traum fällt. Kurze Zeit danach schreckt der Wecker sie wieder auf und scheucht sie betäubt in einen Tag voll wichtiger Termine. 4. Veronika sagt jetzt alles Antonio. Sie hält es nicht mehr aus, sie muß Antonio die ganze Wahrheit sagen. Das ist die Wahrheit: Die Liebe hat Georg und sie wie ein Blitz getroffen und aneinandergeschmiedet. Sie wird sich für Georg entscheiden müssen. Georg braucht sie. Oh, Antonio, es tut Veronika ja so leid, aber wo die Liebe hinfällt, wächst kein Gras mehr, wenigstens nicht das Gras, das überall dort wächst, wo sich ein Schaf wie Antonio aufhält, es wächst jetzt um Veronika herum nicht mehr das Gras, aus dem ein Schaf wie
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Antonio die Milch der frommen Denkungsart produziert, sondern es blüht ein Dschungel aus gefährlich duftenden Orchideen. Veronika sagt jetzt alles Antonio, wortreich und gestenreich, unter Tränen, mit einer hohen, atemlosen Stimme, und Antonio wankt unter der Wucht der schrecklichen Mitteilung. Veronika erlaubt aber nicht, daß er sich in sein bodenloses Entsetzen fallen läßt, sie bietet ihm insofern noch einen Halt, als er sich weiterhin um sie kümmern darf, das wird ihn ablenken und verhindern, daß er sich egozentrisch nur in sein Unglück vertieft. Also: Es wird nötig sein, daß er mit Georg spricht. Georg hat nämlich Skrupel, Antonios wegen, aus lauter Hochanständigkeit wagt es Georg nicht, sich zu seiner Leidenschaft für Veronika zu bekennen, weil er seinem Freund Antonio die Frau nicht wegnehmen will. Deswegen muß Antonio ebenso hochanständig sein und Georg von sich aus seine Frau anbieten, das ist er Veronika als letzten Liebesdienst schuldig. Das ist er auch der höheren Macht schuldig, die eine so sengende Leidenschaft darstellt, wie sie zwischen Veronika und Georg lodert. Einer solchen Macht muß man sich dienend unterwerfen. Veronika hat jetzt alles Antonio gesagt, und Antonio ist wie erschlagen, und in seinem Kummer hat er das Bedürfnis, seinerseits Agnes alles weiterzusagen, vielleicht, weil er glaubt, Agnes, die Georg schließlich gut kennt, wird ihm das Unerklärliche erklären können. Das heißt: Daß auch andere Männer Veronika verfallen, erscheint Antonio natürlich keineswegs unerklärlich, unfaßbar ist ihm nur die Tatsache, daß sein Leben plötzlich als Trümmerfeld vor ihm liegt; wie soll er ohne Veronika existieren? Deswegen sucht Antonio Agnes' Nähe: Weil sie gelernt hat, ohne Georg zu existieren, der ihm jetzt Veronika wegnimmt; Agnes minus Klammer auf Georg plus Veronika Klammer zu ergibt Agnes minus Georg minus Veronika, weshalb Agnes' Lernprozeß sozusagen das Wissen miteinschließt, wie man mit Veronikas Verlust fertig wird, und dieses Wissen will Antonio von Agnes abzapfen. Na ja. Kurz gesagt, fällt Antonio in der Geschwindigkeit einfach keine andere Klagemauer ein als Agnes.
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Agnes ist irritiert. Agnes weiß nicht, ob sie schadenfroh sein soll, weil Daniela eine auf den Deckel kriegt, oder angewidert, weil Georg einen so miserablen Geschmack an den Tag legt. Veronika! Dieses hysterische, ausgebleichte, kopflose Geschöpf! Wer sich mit Veronika paart, paart sich wahllos. Wahllose Promiskuität stellt eine Geringschätzung der Paarungsgefährtinnen dar. Daß Georg sich mit Veronika paart, diskreditiert Agnes noch nachträglich. Womöglich hat Georg nie gewußt, was er an Agnes hatte. Entschuldige schon, sagt Agnes übellaunig zu Antonio, würdest du mich da bitte raushalten? Ich will damit wirklich nichts zu tun haben. Achach, o weh. Antonio, zurückgewiesen, versucht sich mit Georg in Verbindung zu setzen und gerät in eine chaotische Untergangsszenerie. Zwischen Georg und Daniela fliegen die Fetzen. Wegen Veronika? Nein, nicht wegen Veronika. Veronika? Wer ist Veronika? Antonio soll Georg bitte mit Veronika verschonen, Georg hat weiß Gott andere Sorgen am Hals, da kann er sich nicht mit irgendwelchen lächerlichen Behauptungen Veronikas herumschlagen. Antonio soll Veronika eine Kreuzfahrt spendieren, wenn sie Ärger macht, weil sie sich langweilt, so was wirkt oft Wunder. Antonio
zieht
sich
verwirrt
zurück.
Veronika
zertrümmert
unter
unkontrolliertem Gelächter einen Wandspiegel, indem sie einen schweren Aschenbecher dagegen schleudert (wie im Film), läßt sich anschließend wimmernd von Antonio trösten und fährt dann, wieder gefaßt, los, um Georg zu suchen, dem sich Antonio, der Tropf, offenbar nicht verständlich machen konnte. Aber, oje, sowohl Antonio als auch Veronika haben den falschen Zeitpunkt erwischt. Sie können keine Bombe platzen lassen, weil in Georgs und Danielas Heim bereits eine Bombe geplatzt ist. Weitere Bombendrohungen würden in der eh schon herrschenden Aufregung untergehen. Aufregung herrscht, weil Georg einen anonymen Brief gekriegt hat, zu dem Mäsis Geplapper dem allein Georg vielleicht keine Bedeutung beigemessen hätte, bestens paßt. Das hat Daniela jetzt davon. Warum war sie auch nicht fähig, ein gutes Einvernehmen herzustellen zwischen sich und der Nachbarin? Hochmütig hat Daniela die Frau geschnitten. Nun hat die sich mit einem anonymen Brief
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revanchiert. Da der Brief anonym ist, ist natürlich nicht erwiesen, daß er tatsächlich von der Nachbarin stammt, aber die Wahrscheinlichkeit ist hoch. Der Brief zeugt von einer ziemlich genauen Kenntnis dessen, was Daniela so tagsüber tut. Nicht ohne Grund hat Daniela sich beobachtet gefühlt. Sind halt einfache Leute, hat Georg stets gesagt, wenn Daniela klagte über lauernde Blicke und sich bewegende Vorhänge. Schon waren Danielas Bedenken versnobte Bedenken. In Georgs simplifizierender Darstellung sind einfache
Leute
grundsätzlich
grundgut,
weshalb
man
großzügig
hinwegzusehen hat über ihre befremdlichen Verhaltensweisen. Daniela hingegen glaubte zu wissen, daß es der Nachbarin nicht an Geld oder Selbstbewußtsein mangelte, sondern genau an dem, was Georg ihr optimistisch vor allem unterstellt, nämlich an Güte. Nun haben sie beide recht behalten: Während die Nachbarin es gut meint mit Georg, meint sie es gar nicht gut mit Daniela (sofern, wie gesagt, der Brief von ihr - aber von wem sollte er sonst sein?). An diesem kleinen Beispiel sieht man die Kraft des positiven Denkens. Georg hat positiv gedacht von der Nachbarin, und schon will sie ihm helfen, indem sie ihm die Augen öffnet über das, was während seiner Abwesenheit in seinem Hause vorgeht. Natürlich hätte der Brief allein gar nichts ausgerichtet, wenn er nicht zusammengefallen wäre mit einem Bericht Mäsis und mit Danielas Unfähigkeit, ihr schlechtes Gewissen bei sich zu behalten. Daniela sah sich ertappt, und sofort ergoß sie den Sturzbach eines Geständnisses über Georg. Jammervoll schluchzend gab Daniela alles zu, die dumme Kuh. Reuig legte Daniela eine Generalbeichte ab. Hat sie allen Ernstes geglaubt, sich ausgerechnet bei Georg erleichtern zu können? Was hätte Georg tun sollen? Das Geständnis aufwischen, Daniela die Nase putzen und zur Tagesordnung übergehen? Georg reagierte eiskalt. Georg tobte zwar, aber in seinem Herzen brach gleich, nachdem er alles erfahren hatte, eine Eiseskälte aus, die seitdem dort unbeirrbar herrscht. Für Georg ist Daniela gestorben. Georg geht jetzt zu einer Tagesordnung über, die Daniela nicht gefallen wird. Christa wollte vermitteln, aber als Georg ihr erzählt hat, wie sehr er
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hintergangen und brüskiert worden ist, fehlten auch Christa die Worte. Seiner Mutter sagte Georg nur soviel: Leider hat er mehr als gute Gründe, diese seine dritte Ehe aufzulösen. Es gibt Grenzen dessen, was er sich bieten lassen muß. Veronika wirft er, als sie in seiner Tür steht, hochkantig hinaus. Daniela, die verheult in ihrem Schlafzimmer sitzt, auf demselben Bett, auf dem sie Georg so schamlos betrogen hat, hebt nur verwundert den Kopf, weil sie draußen plötzlich eine schreiende Frauenstimme hört, die ihr bekannt vorkommt, und kurz danach das Aufbrüllen eines wegrasenden Autos. Finanziell ist Georg großzügig. Nicht nur wird er angemessene Unterhaltszahlungen leisten (angemessen heißt, Daniela und die Kinder werden keine Not leiden müssen, und Georgs Lebensstandard wird ebenfalls nicht leiden), er überläßt Daniela und den Kindern auch anstandslos das Haus. Einem Verkauf des Hauses kann er allerdings nicht zustimmen. Das wäre nicht im Interesse der Kinder, die zu je einem Viertel im Grundbuch stehen. Vermietet soll das Haus gleichfalls nicht werden. Außerdem brächte eine Vermietung nicht viel ein; nie könnte Daniela davon eine Wohnung am Stadtrand bezahlen. Nein, nein, Daniela wird schon auf dem Land bleiben müssen, und das ist ja auch viel besser für die Kinder, die hier von der guten Luft und den überschaubaren
dörflichen
Strukturen
profitieren.
Andere
würden
überglücklich sein, wenn ihre Kinder in einer derart guten Luft, fern der Großstadtkriminalität, aufwachsen dürften. Übrigens erlischt Danielas Unterhaltsanspruch, wenn Clemens zehn ist. Ab Clemens' zehntem Geburtstag muß Georg nur noch für die Kinder, aber nicht mehr für Daniela zahlen, und das ist recht und billig. Spätestens wenn Clemens zehn ist, sollte Daniela imstande sein, sich selber zu erhalten. Andere haben viel kleinere Kinder und müssen arbeiten gehen. Wohin Daniela mit ihrer Ausbildung in der ländlichen Umgebung arbeiten gehen wird, ist zwar noch nicht abzusehen, aber irgendwas findet sich bestimmt. Nein, nein, das geht nicht! Es kann doch nicht ständig von Geld geredet werden, wenn eigentlich Gefühle zur Debatte stehen sollten!
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Georg ist zutiefst verletzt. Er läßt es sich nicht anmerken, aber wer ihn kennt, merkt, wie sehr er getroffen ist. Christa, die ihn kennt, hat es gemerkt, und sie erzählt Agnes von seiner Verwundung, aber Agnes hat nicht viel Zeit. Zerstreut hört Agnes Christa zu und springt zwischendurch auf, um Karl anzurufen.
Christa
bestellt
noch
einen
Capuccino,
während
Agnes
wichtigtuerisch irgendwelche Termine mit Karl vereinbart. Seit Agnes mit ihrem Schulbeitrag gut angekommen ist (zahlreiche Anrufe während der Sendung, lobende Erwähnungen in mehreren Fernsehkritiken), tut sie, als hätte sie das Fernsehen erfunden, beziehungsweise als würde die öffentlichrechtliche Anstalt untergehen ohne ihre Umtriebe. Abgesehen davon, daß sie tatsächlich eine Story vorzubereiten hat, der sie mit Freude und Furcht zugleich entgegensieht mit Freude, weil sie sich gerne in das Thema vertiefen möchte, mit Furcht, weil sie nicht sicher ist, ob sie ihren eigenen Ansprüchen genügen wird (ja, Agnes leistet sich jetzt den Luxus, Ansprüche an ihre Arbeiten zu stellen), abgesehen davon hat Agnes wenig Lust, sich mit Danielas Ehebruch zu befassen. Stinksauer ist sie, daß Daniela, statt von Georg verletzt zu werden, wie es die Tradition erfordert, anscheinend die Oberhand gewonnen und ihrerseits Georg verletzt hat. Hat Georg jemals durch Agnes gelitten? Agnes ist ihm auf die Nerven gegangen, das schon, aber seinen Lebensnerv hat sie nie erwischt. Und war da nicht was mit Veronika? Hat Antonio nicht gefaselt, daß Georg Veronika heiraten wird oder wie? Armer irrer Antonio. Agnes hat ihn gestern zufällig in der Stadt gesehen, mit Veronika, händchenhaltend, und Antonio hat strahlend erzählt, daß sie auf Kreuzfahrt gehen, Veronika hätte es dringend nötig, sich in der Karibik zu erholen. Zu erholen wovon? Agnes hat nicht gefragt. Wäre Agnes nicht mit hochroten Wangen dabei, sich ihrer Story zu widmen, würde der Gedanke an Daniela vielleicht ihren Magen rebellisch machen, aber Gott sei Dank muß sie sich mit Angenehmerem beschäftigen als mit Danielas und Georgs trostlos zerrüttetem Eheleben. Weißt du, sagt Christa, als Agnes zurückkehrt, die Kinder tun mir leid, für die muß das alles ziemlich schlimm sein.
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Ich bitte dich, erwidert Agnes leichthin, Kinder halten so was aus, das wissen wir zwei gut genug. 5. Clemens hat in der Nacht unruhig geschlafen. Immer wieder rief er weinend nach seiner Mutter. Schließlich ließ sie ihn zu sich ins Bett kriechen. Mäsi, ebenfalls erwacht, tat es Clemens nach. Die heftig träumenden Kinder warfen sich dann in Danielas Bett hin und her, legten sich quer, stießen ihr die Füße in den Bauch und boxten sie in die Seite. Am Morgen waren alle drei erschöpft. Clemens' Müdigkeit äußerte sich in Aggressivität. Mäsi sollte ihn nicht anschauen, seinen Stoffhasen nicht anfassen, nicht aus dem gelben Becher trinken, sofort die Sandschaufel hergeben. Jeder Befehl, dem Mäsi nicht nachkam, zog erbittertes Gebrüll und gewalttätige Attacken nach sich. Mit beiden Fäusten schlug Clemens beim Einkaufen auf Mäsi ein, als sie nach einer Kekspackung griff, die er aus dem Regal hatte nehmen wollen. Nein, nein, nein! Bleib da! Außer sich vor Zorn und Verzweiflung krallte sich Clemens daheim in Danielas Jeans. Aber ich geh' doch nur aufs Klo! Hier bleib! Hier! Hör zu, sagte Daniela, um eine ruhige Stimme bemüht, ich kann nicht hier auf den Boden pinkeln. Ich lasse die Klotür offen, okay? Nein, nein! Wimmernd protestierte Clemens, stur vor Übermüdung. Hinlegen wollte er sich keinesfalls. Der Vorschlag allein brachte ihn dazu, sich brüllend die Haare zu raufen. Am späten Nachmittag hat er sich endlich beruhigt. Nun schlummert er, aber mittlerweile ist es fünf. Daniela befürchtet, daß er mitten in der Nacht ausgeschlafen sein und sie dann abermals wachhalten wird. Andererseits scheut sie davor zurück, das ausgepowerte Kind am Kräftesammeln zu hindern, indem sie es weckt. Außerdem ist sie froh, daß es ruhig ist. Sie beginnt, die Küche aufzuräumen, die das dringend nötig hat. Immerzu haben Küchen es dringend nötig, aufgeräumt zu werden, wenn darin regelmäßige
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Mahlzeiten für zwei Kleinkinder zubereitet werden. Irgendwann, in einer weit zurückliegenden Vergangenheit, hat Daniela ganze Bücher gelesen, statt schon wieder Stapel von schmutzigem Geschirr abzutragen. Mäsi ist nicht vom Fernseher wegzubringen. Seit neuestem verzieht sie sich bei jeder sich halbwegs bietenden Gelegenheit vor den Bildschirm und ist unansprechbar. Daniela kann es ihr nicht verdenken, daß sie vor ihrem tobenden Bruder und vor den trüben Augen ihrer Mutter zu fliehen versucht. Daniela wischt sich die Hände ab und schnappt sich das Telefon. Bei Sophie meldet sich bloß der Anrufbeantworter. Bei Marlene braucht sie es gar nicht zu probieren, die ist sicher noch in der Normandie. Lisa ist, seit sie weggezogen ist, praktisch verschollen. Manchmal sieht Daniela den Mann, den Lisa einmal als Vater für ihr zweites Kind ins Auge gefaßt hat. Lisa hat gemeint, daß er sie auch an ihrem neuen Wohnort besuchen wird. Vielleicht tut er das ja tatsächlich. Daniela kann ihn jedenfalls nicht nach Lisa fragen, da er hier im Ort eine Ehefrau und Kinder hat, weswegen Daniela offiziell keine Ahnung haben darf von ihm und Lisa. Nina hebt ab. Du bist im Land? fragt sie munter. Warum sitzt du nicht irgendwo am Meer, in der Sonne? Was soll Daniela darauf antworten? Daniela antwortet nichts, sondern fragt Nina, was sie von einem Ausflug zu ihr heraus Du, unmöglich! Nina bedauert. Keine Zeit. Zuviel um die Ohren. Leider, leider. Scherzhaft rügt Nina Daniela: Ich weiß nicht, wie du dir das vorstellst. Ich bin eine schwer schuftende Person. Mir geht's nicht so gut wie dir. Hm. Darum verstehe ich ja auch nicht, fährt Nina fort, warum du nicht wegfährst. Wenn ich soviel Zeit hätte wie du, ich wäre andauernd auf Reisen. Aha. Paß nur auf, rät Nina Daniela lachend, daß du nicht in diese Hausfrauenlethargie verfällst! Null Unternehmungsgeist und so, du weißt schon. Jedenfalls, ihre Stimme ist voll Wärme und Nachdruck, jedenfalls mußt du dich unbedingt melden, wenn du wieder einmal in der Stadt bist! Machen wir doch einen Lokalbummel, okay?
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Einen Lokalbummel mit Mäsi und Clemens? Warum nicht? Ich bin eigentlich nie in der Stadt, sagt Daniela. Das ist ein Fehler. Es ist nicht so einfach, weißt du Ach, Quatsch. Alles ist machbar. Sei nicht umständlich! Warum nimmst du dir nicht endlich ein Aupair? Wenn Nina mit dem Geld auskommen müßte, mit dem Daniela auskommen muß, würde sie Amok laufen. Übrigens ist der Martin hier, sagt Nina. Warte, ich geb' ihn dir. Martins Stimme. Noch munterer als die von Nina. Hallo, wie geht's? Danke gut, sagt Daniela höflich. Und dir? Ach, man wurstelt sich so durch, erwidert Martin. Im Hintergrund sagt Nina was, und Martin lacht. Halt den Mund, sagt Martin lachend zu Nina im Hintergrund, und zu Daniela sagt er: Dieses Weib ist unmöglich. Sei bloß froh, daß du sie nicht ertragen mußt. Dann wird seine Stimme ernster, und er klingt ein bißchen verlegen. Hältst du die Ohren steif? Aber klar, erwidert Daniela, ebenfalls befangen. Ich ... ich finde es besser, wenn ich dir noch ein Weilchen aus dem Weg gehe. Deinetwegen. Ich will nicht, daß du noch mehr Schwierigkeiten kriegst, sagt Martin. Welche Schwierigkeiten soll Daniela jetzt noch kriegen durch ihn? Martin: so überaus ritterlich. Als er erfuhr, daß Georg alles erfahren hatte, ging er hastig in Deckung, so, als stünde Daniela schon mit einem Lasso bereit, um ihn an Georgs Statt einzufangen. In Wirklichkeit ist Daniela froh, wenn sie Martin nicht sehen muß. Aber das nimmt natürlich niemand an, am allerwenigsten Martin. Und deshalb behandelt er Daniela mit Vorsicht, bemüht, Distanz zu signalisieren aber behutsam, damit keine Panik ausbricht bei Daniela. Verstehst du? fragt Martin jetzt nach. Ja, sicher, sagt Daniela. Was immer sie sagt, Martin wird herauslesen, daß sie bedauert, ihn nicht zu Mäsis und Clemens' Ersatzvater machen zu können.
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Das ist Danielas neue Rolle: Sie ist jetzt eine Frau, die sich verkalkuliert hat und die sich noch öfter verkalkulieren wird bei dem Bemühen, einen Hafen anzusteuern mit ihren geben wir es zu: doch ziemlich lästigen Kindern. Tschau, sagt Daniela. Mach's gut, sagt Martin. Die Nachmittagssonne verschüttet ein giftiges Gelb auf dem Fußboden. Aus dem Wohnzimmer schreit der Fernseher. 6. Agnes freut sich jetzt morgens wieder auf den vor ihr liegenden Tag. Mit heiterer Nachricht läßt sie sich auf ihre Tingeltangel-Unterhaltungen mit Tingeltangel-Stars ein, seit ihr als Belohnung auch Gespräche mit Leuten winken, bei denen sich das Zuhören auszahlt. Gestern hat Agnes miterlebt, wie im Funkhaus empörte Hörer anriefen, weil während
eines
Nachrichtenmagazins
ein
Beitrag
der
Amerika-
Korrespondentin zu früh gestartet worden war. Die wütenden Protestanrufe galten nicht der Schlamperei des Technikers, sondern der angeblichen Unbotmäßigkeit der Korrespondentin, die dem Moderator unhöflich ins Wort gefallen sei. Den Reaktionen nach betrachtete ein durchaus nicht kleiner Teil des Publikums den Moderator als väterliche Autorität, der inferiore Wesen wie Korrespondentinnen gefälligst Respekt entgegenbringen sollte. Vor ein paar Wochen noch hätte Agnes einen solchen Vorfall zum Anlaß für eine ausgewachsene Sinnkrise genommen und exzessiv bedauert, für einen Haufen Idioten tätig werden zu sollen. Gestern hat sie bloß darüber gelacht. Gähnend streckt sich Agnes gerade am Schneidetisch. Arschloch! sagt sie und meint den Mimen, dessen dröhnende Selbstgefälligkeiten soeben den Raum erfüllt haben. Jetzt, da die Technikerin das Band schnell durchlaufen läßt, wird das hohle Dröhnen zum quäkenden Geschnatter. Der Mime hat aus seinem Liebesleben berichtet, wobei er sich kokett als unverbesserlichen Macho bezeichnete, und zwischendurch hat er hämische Bemerkungen über modernes Theater gemacht, das die Zuschauer abschrecke, nicht zuletzt, weil es Talente wie ihn nicht zu würdigen wisse.
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Ich brauch' dich nicht mehr, sagt die Technikerin. Agnes winkt ihr zu und fährt in die Kantine, wo sie mit Matthias verabredet ist. Matthias sitzt an einem Tisch, langaufgeschossen, die Füße in den abgewetzten Turnschuhen weit von sich gestreckt, und liest in einem Buch. Voll lässiger Anmut lehnt er im Sessel, vertrauensvoll hingebreitet; sein ernsthaftes Gesicht ist beeindruckend makellos und zugleich so schutzlos in seiner Glätte, daß es Agnes mit großer Rührung erfüllt. Matthias blickt auf und lächelt ihr zu. Sein verschlafenes Lächeln kommt gut an bei den Mädchen, hat Agnes festgestellt. Das freut sie für ihn. Wird sie auch auf seiner Seite sein, wenn er dieses gewinnende Lächeln allzu leichtherzig einsetzt, unbekümmert darum, ob er einer weh tut, die sich davon zuviel verspricht? Agnes hegt den Verdacht, daß sie vielleicht sogar stolz sein wird auf einen Sohn, der siegt, statt sich besiegen zu lassen (so, als ob es in der Liebe nur Siege oder Niederlagen gäbe). Der Verdacht ist ihr unbehaglich, darum schiebt sie ihn rasch beiseite. In Englisch krieg ich ein Sehr gut, sagt Matthias, als sie sich am Selbstbedienungsbuffet entlangschieben und Teller mit Essen (Saftfleisch und Nudeln für Matthias, Linsen mit Knödeln für Agnes) auf ihre Tabletts stellen. Sie hat mich heute geprüft. Ich war super in Form. Von wegen: Ich lerne zuwenig. Er schaut Agnes triumphierend an. Toll! Ich bin stolz auf dich! Agnes strahlt. Sie tragen ihre Tabletts zum Tisch. Gehst du am Abend weg? fragt Matthias. Ich sollte zu diesem Vortrag Ja, ja, von mir aus. Geht der Karl mit dir? Sie setzen sich. Nein, warum? Nur so. Agnes grinst Matthias an: Was willst du wissen? Matthias zieht eine Braue hoch und grinst zurück: Wie findest du ihn denn, den Karl? Nett.
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Sehr nett? Agnes zuckt die Achseln. Weiß ich noch nicht. Ist nicht so wichtig. Das klingt aber gemein. Agnes schüttelt den Kopf und tätschelt Matthias' Hand. Ich bin auf keiner Suche, weißt du. Es geht mir gut. Sie lacht. Überhaupt, wo du in Englisch ein Sehr gut kriegst. Was kann ich mehr verlangen? Na ja, sagt Matthias, das ist natürlich wahr. Ich bin schon ein Haupttreffer. 7. Daniela ruft bei Georg an. Sie war mit Clemens bei der Ärztin, weil er schnarcht, und die Ärztin meint, er wird um eine Polypenoperation nicht herumkommen. Falls Clemens operiert wird, muß Daniela mit ihm im Krankenhaus übernachten. Mäsi kann aber nicht allein daheimbleiben, darum Moment! Langsam! Georgs Stimme klingt unwirsch. Wann ist denn nun diese Operation? Es gibt noch keinen Termin. Ich wollte nur rechtzeitig mit dir Du hast überhaupt noch nicht mal einen Termin und verfällst schon in Panik? Ich verfalle gar nicht in Panik, ich wollte dich nur rechtzeitig Das ist ja wohl ein Scherz! Georgs Stimme schwillt zu einem Donnerwetter an. Georg faßt es nicht! Da ruft Daniela ihn an, hysterisch, so daß er schon glaubt, Clemens liegt in diesem Augenblick auf dem Operationstisch, und dann stellt sich heraus, es ist alles nur ein vages Gerede. Wer sagt denn überhaupt, daß wirklich operiert werden muß? So schnell operiert man heutzutage nicht! Kann Daniela nicht erst einmal ernstzunehmende Erkundigungen einziehen? Ist sie denn wirklich unfähig, vernünftig zu agieren und einen Schritt nach dem ändern zu machen?
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Georg kann sich nur wundern, wie andere Frauen zurechtkommen, die auch Kinder haben (wozu gehört, daß die Kinder ab und zu krank sind) und außerdem noch einen Beruf! Was soll beispielsweise Agnes sagen? Ha? Auf einmal ist Agnes ein unerreichbares Vorbild. Schon seit einiger Zeit ist Agnes ein unerreichbares Vorbild. Früher war Agnes unfähig. Ein Grund für Georgs
Zerwürfnis
mit
ihr
war
ihre
Unfähigkeit,
ihn
aus
ihren
Mutterpflichten rauszuhalten. Aber obwohl Daniela sich so sehr bemüht hatte, es besser zu machen als Agnes (was ihr auch, wie sie findet, gelungen ist), war Georg ungeduldig und unzufrieden, und seine Kommentare waren immer häufiger zum Loblied auf die früheren Verhältnisse geworden, in denen es Probleme, wie sie mit Daniela auftraten, nie gegeben habe. Nun ist Agnes plötzlich auch noch diejenige, die ihre Mutterpflichten besser im Griff hat. Jahrelang war Agnes eine zänkische Person, die mißtönenden feministischen Parolen zufolge die Mutterrolle nicht richtig akzeptieren mochte, und jetzt ist sie über Nacht ein wunderbares Wesen, das Mutterrolle und berufliche Tüchtigkeit aufs trefflichste zu vereinen versteht, während Daniela sich nicht einmal in der Mutterrolle zurechtfindet. Mein Gott, sagte Georg gereizt an einem der letzten Tage seines Ehelebens mit Daniela, als er Daniela putzend vor den Scherben eines ins Rutschen geratenen und zu Boden gepolterten Glases mit Kirschkompott antraf, ich verlange ja nicht, daß du die Vorräte herbeischaffst aber mußt du sie denn kaputtmachen, wenn du sie schon nicht auftreibst? So verschwenderisch war nicht einmal Agnes! 8. Man muß Georg verstehen: Er war nicht wild darauf, sich schon wieder vor den Trümmern einer Ehe zu Finden. Mit Daniela hätte er eigentlich alt werden wollen. Aber was zuviel ist, ist zuviel. Georg hat einen Stolz, und den läßt er nicht mit Füßen treten. Soweit kommt es noch: Daß Georg sich in seinem anstrengenden Beruf zu Tode schuftet, während daheim sein süßes Frauchen
mit
nichtsnutzigen
Liebhabern
im
Ehebett
herumkugelt!
(Nichtsnutzig? Inwiefern nichtsnutzig? Nichtsnutzig, weil sie nicht den
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Anstand haben, die Finger von Georgs Ehefrau zu lassen, oder nichtsnutzig, weil sie mit Daniela im Ehebett herumkugeln können infolge Müßiggangs? Würde Georg Daniela fremde Männer im Ehebett kaum übelnehmen, wenn die fremden Männer ebenfalls schuftend in einen Arbeitsprozeß eingegliedert wären und ehrsam zur Mehrung des Nationalprodukts beitrügen? Man wird doch fragen dürfen.) Ach Gott, wie Georg diese kräfteraubenden häuslichen Miseren satt hat! Wie schaffen andere Männer es, ihr Privatleben gedeihlich zu gestalten? Andere Männer in Georgs Alter haben daheim einen ruhigen Hafen, in dem sie sich regenerieren können, bevor sie wieder der stürmischen See des beruflichen Konkurrenzkampfes trotzen müssen. Man sage jetzt nicht, das kommt davon, weil Georg nicht bei Christa geblieben ist! Die Männer, an die Georg denkt, können ebenfalls mit jüngeren Nachfolgerinnen ihrer ersten Ehefrauen aufwarten und ernten dennoch Solidarität und Loyalität. Häufig sind die jungen Zweitfrauen sogar anschmiegsamer als die Erstgefährtinnen, die ja, infolge harter Anfangsjahre und vermutlich auch aus Gründen des hormoneilen Verschleißes, gelegentlich eine Tendenz zum Zähnezeigen entwickeln, sogar im Umgang mit dem eigenen Gatten. Hingegen Georg: Da strudelt er sich ab, karrt Geld heran, stellt Häuser zur Verfügung, finanziert Vollholzbetten, Urlaubsreisen und Zahnklammern für mehrere Kinder, schließt Versicherungen ab und fährt Limousinen mit ABS und Airbag statt einer Harley Davidson und dann liegen ihm die Frauen, für die er das alles letztlich auf sich nimmt, quälend in den Ohren, weil die Häuser, die er zur Verfügung stellt, ihnen nicht behaglich genug sind. Als ob es nicht ihre Aufgabe wäre, für die Behaglichkeit zu sorgen! Armer Georg. Erst jahrelang der Hader mit Agnes, die partout wollte, daß er seiner
Vaterschaft
in
Form
gesplitteter
Dienstleistungen
am
Kind
nachkommen sollte (statt daß sie eingesehen hätte, um wieviel wichtiger und einträglicher sein Beruf ist als ihrer), und jetzt Daniela, die sich aufgeführt hat wie die Heldin einer Boulevardklamotte! Hätte Georg sich von ihr zur Witzblattfigur machen lassen sollen? Man muß Georg verstehen: Er ist wirklich nicht wild darauf, immer wieder von vorn anzufangen, aber andererseits ist er in der nicht gänzlich
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unerquicklichen Lage, daß ihn sein Leben stets aufs neue mit nicht gänzlich uninteressanten Frauen zusammenbringt. Georg ist weiß Gott unglücklich über das, was passiert ist, und darum kann er auch nicht so ohne weiteres darüber hinweggetröstet werden. Doch ein bißchen Ablenkung verträgt er durchaus. Soll er sich in seinen Kummer vergraben oder was? Georgs Leben ist manchmal hart zu Georg, aber nicht so hart, als daß es ihm nicht gnädig ein bißchen Ablenkung über den Weg schickte, zum Beispiel in der Person von Elisabeth, die immer zutraulicher wird, aber auch in Form dieser Mietshaussanierung, bei der die Auftraggeberin eine ebenso attraktive wie angenehme Person in den Vierzigern ist. Sie hat das Haus geerbt und will die schäbigen kleinen Wohnungen darin zu großen zusammenlegen, die luxuriös ausgestattet und teuer verkauft werden sollen. Die alten Mieter ist sie, sofern sie nicht verschieden sind, auf anderem Weg losgeworden Georg will gar nicht so genau wissen, auf welchem. Möglicherweise ist die angenehme Person angenehm für Georg, auf den sie Charme versprüht und dessen Vorschläge sie willig aufgreift als Hausherrin nicht ganz so angenehm gewesen, aber Georg kann sich nicht um alles kümmern. Besprechungen mit ihr sind jedenfalls ziemlich vergnüglich. Sie ist intelligent, witzig, hat Geschmack
und
kann
ihn
sich
leisten.
Daß
sie
darüber
hinaus
geschäftstüchtig ist, erhöht Georgs Achtung vor ihr. Als Georg schon im Gehen ist, sagt sie diesmal beiläufig: Ach ja, ich wollte Sie fragen, ob Sie mit Ihrer Frau nicht mal zu mir zum Essen kommen wollen? Georg lächelt und fragt dann knapp: Bestehen Sie auf Begleitung? Sie schüttelt graziös den Kopf: Ganz und gar nicht. Im Büro hat sich Elisabeth um eine Menge gekümmert, und außerdem will sie, wenn es Georg recht ist, eine Kleinigkeit vom Chinesen holen. Ich hab' mir gedacht, wir können dann heute noch die Einreichpläne für die Disco fertig machen, sagt sie. Von mir aus gern. Georg schenkt ihr einen väterlichen Blick. Ihr Freund kennt Sie langsam nur noch vom Foto, was? Mein Freund, sagt Elisabeth herb, kann mir gestohlen bleiben. Sie schaut aussprachebedürftig.
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Hoffentlich macht Georg jetzt nicht den Fehler, ihr sein Ohr zu leihen und sie mit dem reichen Schatz seiner Lebenserfahrung zu beeindrucken. 9. Raucher oder Nichtraucher? Nichtraucher, sagt Christa. Sie bekommt ihre Bordkarte, schultert die Reisetasche, die sie als Handgepäck mithat, und wandert zur Paßkontrolle. Vor den Checkin-Schaltern der Chartergesellschaften drängeln lange Menschenschlangen. Aus den Lautsprechern hallen schwer verständliche Durchsagen in mehreren Sprachen. Von draußen herein tönt das Heulen der Jet-Düsen. Uniformierte Flugbegleiter gehen zu mehreren vorbei und wirken kompetent. Geschäftsreisende
geben
sich
durch
zielstrebige
Schritte
als
Geschäftsreisende zu erkennen. Christa schlendert gemächlich ihrem Ausgang zu. Sie liebt die Aufbruchstimmung auf Flughäfen. In knapp zwei Stunden wird sie bei ihrer Tochter, ihren Enkelkindern und ihrem Schwiegersohn sein. Sie freut sich, sogar auf das Frühstück im Flugzeug. 10. Viktoria sitzt an Gerdas Bett und schaut auf Gerdas weißes Gesicht hinunter. Aus der Nase kommt ein Schlauch. In Gerdas rechtem Handrücken steckt eine Kanüle, durch die eine farblose Flüssigkeit in Gerdas Blutbahn tropft. Die Lage ist ernst, aber nicht hoffnungslos. Ausgerechnet das Herz. Wie kommt Gerda dazu, auf einmal ein krankes Herz zu haben, sie, die immer auf robuste Unverwüstlichkeit programmiert war? Viktoria muß an sich halten, um es Gerda nicht übelzunehmen, daß sie unansprechbar ist. Viktoria fühlt sich von Gerda im Stich gelassen. Das war nicht ausgemacht, daß Gerda sich plötzlich hinlegt, die Augen schließt und ein Pflegefall ist. Die Rolle der Hinfälligen steht Gerda nicht zu.
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Die Lage ist insofern doch hoffnungslos, als sie verdammt nach wirklichem Leben ausschaut. Hier liegt Gerda und macht ernst mit ihrem Alter, das auch Viktorias Alter ist. Es sieht nicht gut aus, hat eine von Gerdas tadellosen Töchtern gepreßt am Telefon gesagt. Aber die Ärzte bemühen sich sehr. Eine Krankenschwester kommt herein und dreht an dem Rädchen, das die Infusion reguliert. Sie lächelt Viktoria aufmunternd zu, dann eilt sie wieder zur Tür hinaus. Ihre Gesundheitssandalen klappern auf dem Steinboden des Gangs. Viktoria hat sich nicht gerührt. Oft, wenn Viktoria mit Jugendfreundinnen zusammensitzt, Frauen, die jetzt pensionierte Männer haben, erwachsene Kinder und Enkelkinder und die davon reden, daß irgendein Ereignis auch schon wieder vierzig Jahre zurückliege, hat Viktoria das Gefühl, bei einem Spiel mitzutun. Erst gestern war Viktoria ein kleines Mädchen, das beobachtet und in Romanen gelesen hat, wie Erwachsene sich gebärden und reden. Erst gestern war Viktoria ein kleines Mädchen, das die Erwachsenen nachgemacht hat und sich nicht vorstellen konnte, irgendwann einmal in ferner Zukunft zu ihnen zu gehören. Noch immer gehört Viktoria nicht wirklich dazu. Wie im Zeitraffer sind die Menschen um Viktoria gealtert. Wenn Viktoria mit den alten Leuten zusammen ist, die sie noch mit jungen Gesichtern und unerfüllten Zukunftshoffnungen gekannt hat, kann sie sich des Gefühls nicht erwehren, sie und diese Leute in der Maske gealterter Menschen spielten einem unsichtbaren Publikum eine Szene aus einem Buch vor. Erstaunt registriert sie, wie gut alle ihre Rolle können. Was sie sagen, hört sich an wie die Dialoge, die man von älteren Menschen erwarten darf. Sie haben ein Schicksal hinter sich. Sie sind keine unbeschriebenen Blätter mehr. Viktoria hört ihnen zu und versucht sich vorzustellen, wie die Personen und ihre Schicksale auf die unsichtbaren Zuschauer wohl wirken. Viktoria ist dabei stolz, der überzeugenden Truppe anzugehören, so stolz wie ein kleines Mädchen, das die Kleider seiner Mutter angezogen hat und nun von amüsierten Erwachsenen als Dame behandelt wird.
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Aber einmal muß dieses Spiel doch wieder aus sein! Je länger es dauert, desto sehnlicher wartet Viktoria auf den Schlußpfiff. Jetzt muß bald einmal jemand das Buch zuklappen, und alles ist wie vorher. Alle Spieler zurück an den Start! Dann ist Viktoria wieder ein ungeduldiges kleines Mädchen, das den Ernst des Lebens noch vor sich hat. Erst dann beginnt das wirkliche Leben, und es wird ganz langsam anlaufen. Was bis jetzt passiert ist, war nur ein spielerisches Ausprobieren. Was bis jetzt passiert ist, ist viel zu schnell passiert, das kann doch nicht möglich sein, daß das wirkliche Leben so hastig abläuft und so rasch vorüber ist! Viktoria hat sich innerlich noch nicht einmal von dem kleinen Mädchen gelöst, das sie angeblich vor mehr als sechzig Jahren war, und schon soll sie eine alte Frau sein? Lächerlich. Eine tadellose Gerda-Tochter betritt das Zimmer, sie hat Ringe unter den Augen und blasse Lippen, aber ihre Haare fallen kunstvoll natürlich, und sie duftet dezent nach teurer Frische. Das ist aber lieb, daß du da bist, Tante Vicki! sagt sie und küßt Viktoria auf die Wange. Aus unerfindlichen Gründen nennen Gerdas Töchter Viktoria Tante Vicki. Niemand sonst verwendet diese Abkürzung. Viktoria selbst betrachtet sich nicht als Vicki, schon gar nicht als Tante Vicki. Trotzdem läßt sie Gerdas Töchtern die Anrede durchgehen, seit jeher. Vielleicht meint sie, es gehört zu ihrer Rolle als Erwachsene, daß sie für Gerdas Töchter Tante Vicki ist. Die
Gerda-Tochter
verbreitet
sogleich
Betriebsamkeit.
Sie
wirft
kontrollierende Blicke auf den Tropf (obwohl sie unmöglich wissen kann, wie er eingestellt gehört), studiert das Krankenblatt, zupft an der Bettwäsche und macht sich auf die Suche nach dem diensthabenden Oberarzt. Gerdas Hand will auf der Bettdecke flattern, Viktoria fängt sie vorsichtig in ihrer Hand ein, damit der Kanüle nichts geschieht. Dabei schüttelt sie ungläubig den Kopf. Wie ist sie hierher geraten? Sie haßt Krankenhäuser! Die Gerda-Tochter kommt zurück, eine Pflegerin im Gefolge. Die Pflegerin mißt Gerdas Puls, richtet ihr Kopfpolster, notiert etwas auf dem Krankenblatt und geht wieder. Die Gerda-Tochter hat auch eine Vase geholt, die füllt sie jetzt mit Wasser, danach arrangiert sie die mitgebrachten Blumen darin.
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Viktoria ist ebenfalls mit Blumen gekommen, sie stehen in einer anderen Vase bereits auf dem Fensterbrett. Die Schachtel mit den Schokotrüffeln hat Viktoria auf Gerdas Nachtisch gestellt. Sie hat zwar gewußt, daß Gerda nichts essen kann, aber es wäre ihr ungehörig vorgekommen, einen Krankenbesuch ohne Bonbonniere zu machen. Heiß ist es draußen, sagt Gerdas Tochter und zieht für sich gleichfalls einen Stuhl zum Bett. Das Wetter ist Gift für sie. Aber sie hat doch nie was mit dem Herzen gehabt! sagt Viktoria fast vorwurfsvoll. Gerdas Tochter seufzt und zuckt die Achseln. Vielleicht doch. Geklagt hat sie nie, aber sie war ja auch nie wehleidig. Was sagt der Arzt? Man muß Geduld haben. Gerdas Tochter seufzt abermals. Viktoria sitzt an Gerdas Bett und hält Gerdas Hand auf der Bettdecke nieder. 11. Überraschend hat Agnes angerufen, und dann ist sie herausgebraust, mit ihrem schnellen Auto, über das Georg oft gespottet hat, obwohl die Motoren seiner Autos immer schon noch stärker waren. An diesem müden Sonntag ist Agnes vor dem Haus aus dem Auto gesprungen und hat die Hausbewohner aus dem Klammergriff der Sonntagslähmung befreit. Agnes und Matthias haben Daniela und die Kinder zu einem Ausflug abgeholt. Die zwei sind aufgetaucht, und auf einmal war was los. Unter einem Himmel voll Schäfchenwolken fuhren Agnes, Daniela, Matthias, Mäsi und Clemens vom Grünen ins Grüne, an den großen flachen See, wo sie ein Elektroboot mieteten und den Schilfgürtel entlangsurrten, in dem allerlei seltene Vögel nisten. Sie haben in einem schattigen Gasthausgarten zu Mittag gegessen, und obwohl er laut und überfüllt war, hat ihnen das Essen geschmeckt. Nach dem Essen hat Agnes ein Campingbett aus dem Kofferraum geholt, das haben sie unter einem Baum aufgestellt, und Clemens hat darauf geschlafen,
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von Agnes bewacht, während Daniela mit Matthias und Mäsi auf den nahen Minigolfplatz ging. Matthias hat Mäsi gezeigt, wie sie den Schläger am besten hält, und Mäsi hat sich hingerissen von ihm belehren lassen. Jetzt kehren sie zurück. Ein sanfter Wind ist aufgekommen, er riecht nach Abgasen, denn die Panoramastraße, die über die Höhenrücken hinter dem Ort führt, röhrt eine Kolonne von ebenfalls heimfahrenden anderen Ausflüglern entlang. Kommt ihr noch mit rein? fragt Daniela. Agnes schaut Matthias an. Er nickt. Warum nicht, sagt Agnes. Mäsi will unbedingt von Matthias ins Bett gebracht werden. Geschmeichelt von ihrer Anbetung, nimmt Matthias im Kinderzimmer Platz und liest eine Gutenachtgeschichte vor. Agnes und Daniela sitzen mit je einem Glas Rotwein im dunkler werdenden Garten. Die Autos röhren nur noch gedämpft. Ist doch ganz friedlich hier, sagt Agnes. Manchmal, sagt Daniela. Agnes nimmt einen Schluck Wein. Also, sagt sie dann zu Daniela, soll ich dir jetzt einen Rat fürs Leben geben? Ja, bitte. Daniela lehnt sich erwartungsvoll zurück. Agnes denkt kurz nach. Nimm nie einen Rat fürs Leben an, sagt sie schließlich.
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