Nina Jakoby (Wahl-)Verwandtschaft – Zur Erklärung verwandtschaftlichen Handelns
Nina Jakoby
(Wahl-)Verwandtschaft – ...
54 downloads
1263 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Nina Jakoby (Wahl-)Verwandtschaft – Zur Erklärung verwandtschaftlichen Handelns
Nina Jakoby
(Wahl-)Verwandtschaft – Zur Erklärung verwandtschaftlichen Handelns
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Monika Mülhausen / Marianne Schultheis Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-15706-1
1.1 Zum Begriff der Verwandtschaft
5
Vorwort
Diese Arbeit stellt eine leicht überarbeitete Version meiner Dissertation an der RWTH Aachen dar. Mein größter Dank gilt meiner Freundin Michaela, die mich immer uneingeschränkt unterstützt und ermutigt hat, an die Fertigstellung der Arbeit zu glauben. Sie hat einen größeren Beitrag zu der Dissertation geleistet, als ihr wahrscheinlich bewusst ist. Ohne ihre Zuversicht, ihr Vertrauen und Verständnis wäre dieser Weg sehr viel schwerer gewesen. Mein Dank gilt ebenfalls Prof. Paul B. Hill, der mir den Weg zur Promotion geöffnet hat. Danken möchte ich außerdem meinen Eltern, auf deren liebevolle Unterstützung ich immer bauen konnte. Ihnen ist dieses Buch gewidmet.
Nina Jakoby
7
1.1 Zum Begriff der Verwandtschaft
Inhalt
Abbildungsverzeichnis ...................................................................................................... 11 Tabellenverzeichnis ........................................................................................................... 13 Einleitung ........................................................................................................................... 15 1
Verwandtschaft: begriffliche und thematische Einordnung ................................. 1.1 Zum Begriff der Verwandtschaft .................................................................... 1.1.1 Allgemeine Verwandtschaftsterminologie ...................................................... 1.1.2 Objektive vs. subjektive Verwandtschaft ........................................................ 1.2 Verwandtschaft und Kernfamilie .................................................................... 1.3 Verwandtschaft und Freundschaft .................................................................. 1.4 Verwandtschaft in der Soziobiologie .............................................................. 1.5 Verwandtschaft als soziologische Kategorie .................................................. 1.6 Verwandtschaft und Gender ............................................................................
19 19 19 26 35 37 43 48 56
2
Verwandtschaftsbeziehungen im sozialen Wandel ................................................ 2.1 Historische Betrachtung von Verwandtschaft ................................................ 2.2 Zum Verhältnis von Verwandtschaft und Moderne ........................................ 2.2.1 Postmoderne Verwandtschaftsstrukturen ........................................................ 2.2.2 Auswirkungen der gesellschaftlichen Modernisierung ................................... 2.3 Die strukturell-funktionale Theorie der Familie ............................................. 2.3.1 Kontraktionsgesetz der Familie (Durkheim 1921) ......................................... 2.3.2 Isolationsthese (Parsons 1943) ........................................................................ 2.3.3 Das Konzept der modifiziert erweiterten Familie (Litwak) ............................ 2.4 Exkurs: „Sachbezug“-Paradigma (Lüschen 1989) .......................................... 2.5 Individualisierungsthese .................................................................................. 2.6 Fazit .................................................................................................................
61 61 69 69 72 78 80 84 91 93 95 99
3
Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns ................................................................................................................... 3.1 Zum Stand der Theoriebildung ..................................................................... 3.1.1 Explorative und heuristische Modelle ........................................................... 3.1.2 Ansätze auf Grundlage von Austauschtheorie und Rational-Choice-Theorie ............................................................................... 3.1.2.1 Choice-Constraint-Modell ..................................................................
103 103 104 108 109
8
Inhalt
3.1.2.2 Theorien der Freundschaftswahl ......................................................... 113 3.1.3 Exkurs: Theoretische Ansätze zur Erklärung familialer Generationenbeziehungen ............................................................................. 120 3.1.4 Fazit .............................................................................................................. 125 3.2 Empirischer Forschungsstand ....................................................................... 127 3.2.1 USA und Großbritannien .............................................................................. 127 3.2.1.1 Verwandtschaftsstudien im Zeitraum von 1950 bis 2005 ................... 127 3.2.1.1.1 Die Studien der 1950er und 1960er Jahre – Kritik an Parsons .......... 127 3.2.1.1.2 Exkurs: Geschwisterbeziehungen ...................................................... 142 3.2.1.1.3 Studien der 1970er und 1980er Jahre – Wachsende thematische Vielfalt ................................................................................................ 143 3.2.1.1.3.1 Verwandtschaftbeziehungen im Alter ............................................. 147 3.2.1.1.3.2 Verwandtschaft und eheliche Instabilität ........................................ 152 3.2.1.1.3.3 Netzwerkstudien .............................................................................. 155 3.2.1.1.4 Studien der 1990er Jahre bis 2005 ..................................................... 158 3.2.1.2 Die Struktur von Verwandtschaftsnormen (Rossi, Rossi 1990) ......... 162 3.2.1.2.1 Genealogische Abbildung von Verwandtschaftsverpflichtungen ...... 163 3.2.1.2.2 Der Einfluss von Verwandtenmerkmalen .......................................... 166 3.2.1.2.3 Der Einfluss von Befragtenmerkmalen .............................................. 168 3.2.1.2.3.1 Soziodemographische Determinanten ............................................ 168 3.2.1.2.3.2 Biographische Ursprünge normativer Verpflichtungen .................. 172 3.2.1.2.4 Fazit .................................................................................................... 173 3.2.2 Deutschland im Zeitraum 1950 bis 2005 ...................................................... 174 3.2.2.1 Die Dekaden 1950-1959 und 1960-1969 ............................................ 174 3.2.2.2 Die Dekade 1970-1979 ....................................................................... 176 3.2.2.3 Die Dekade 1980-1989 ....................................................................... 179 3.2.2.4 Die Dekade 1990-1999 und der Zeitraum bis 2005 ............................ 181 3.2.2.4.1 Netzwerkstudien ................................................................................. 182 3.2.2.4.2 International vergleichende Studien ................................................... 184 3.2.2.4.3 Soziobiologische Studien ................................................................... 190 3.2.2.4.4 Verwandtschaftsbeziehungen im Alter .............................................. 192 3.2.2.4.5 Exkurs: Verwandtschaftsbeziehungen in der DDR ........................... 195 3.2.3 Fazit .............................................................................................................. 200 3.3 Forschungsdefizite ........................................................................................ 203 4
Ein Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten ....................................... 4.1 Handlungstheoretische Grundlagen .............................................................. 4.1.1 Austauschtheorie ........................................................................................... 4.1.2 Theorie der rationalen Wahlhandlung ........................................................... 4.1.3 Exkurs: Verwandtschaft als soziales Kapital ................................................ 4.2 Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten ......................................... 4.3 Exkurs: Bindung an Verwandte: Das Investitionsmodell von Rusbult ........
211 212 212 218 222 231 239
9
Inhalt
5
6
Empirische Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen ...................................... 5.1 Erläuterung zur Sekundäranalyse .................................................................. 5.1.1 Datenbasis und Analysemethoden ................................................................ 5.1.2 Restriktionen der Datenanalyse .................................................................... 5.2 Ergebnisse ..................................................................................................... 5.2.1 Struktur und Bedeutung von Verwandtschaft ............................................... 5.2.2 Kontakte mit sekundären und tertiären Verwandten .................................... 5.2.3 Determinanten der Wichtigkeit von Verwandtschaft ................................... 5.2.4 Überprüfung ausgewählter Hypothesen des Modells ................................... 5.2.4.1 Deskriptive Darstellung der Kontakte mit entfernten Verwandten .... 5.2.4.2 Determinanten der Wahl von Verwandten ......................................... 5.2.4.2.1 Onkel und Tanten ............................................................................... 5.2.4.2.2 Cousins und Cousinen ........................................................................ 5.2.4.2.3 Nichten und Neffen ............................................................................ 5.2.4.3 Fazit .....................................................................................................
247 247 247 248 249 249 254 263 270 270 276 277 279 283 285
Schlussbetrachtung und Ausblick ......................................................................... 291
Literaturverzeichnis ........................................................................................................ 297
11
Inhalt
Abbildungsverzeichnis
Abbildung 1: Abbildung 2: Abbildung 3: Abbildung 4: Abbildung 5:
Zum Verhältnis von objektiver und subjektiver Verwandtschaft ........... 33 Charakteristiken von objektiver Verwandtschaft, subjektiver Verwandtschaft und Freundschaft .......................................................... 43 Rational-Choice-Ansatz zur Erklärung der persönlichen Netzwerke (van der Poel 1993) ............................................................ 111 Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten ................................. 233 Zeitreihenanalyse „Wichtigkeit von Verwandtschaft“ ......................... 253
13
Inhalt
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3: Tabelle 4: Tabelle 5: Tabelle 6: Tabelle 7: Tabelle 8: Tabelle 9: Tabelle 10: Tabelle 11: Tabelle 12: Tabelle 13: Tabelle 14: Tabelle 15: Tabelle 16: Tabelle 17: Tabelle 18: Tabelle 19: Tabelle 20: Tabelle 21: Tabelle 22: Tabelle 23: Tabelle 24: Tabelle 25: Tabelle 26: Tabelle 27: Tabelle 28: Tabelle 29:
Vergleich von objektiver Verwandtschaft und Freundschaft ....................... 41 Charakterisierung der Primärgruppen ........................................................... 50 Typologie der Gemeinschaft nach Wellmann ............................................... 77 Anreden für Onkel und Tanten (Angaben in Prozent) ................................ 135 Soziale Mobilität und Familienorientierung (Angaben in Prozent) ............ 139 Geographische Distanz und Familienorientierung ...................................... 140 Normative Verpflichtungen differenziert nach Verwandtschaftstyp .......... 164 Normative Verpflichtungen differenziert nach Geschlecht und Familienstand der Verwandten ................................................................... 167 Begünstigte des Testaments ........................................................................ 168 Normative Verpflichtungen differenziert nach Geschlecht ........................ 169 Normative Verpflichtungen und „childhood salience“ ............................... 170 Verwandte, die für wichtig gehalten werden (in v.H., gerundet) ............... 177 Netzwerkaktivitäten von türkischen Eltern und Kindern (Angaben in Prozent) .................................................................................. 188 Netzwerkaktivitäten von deutschen Eltern und Kindern (Angaben in Prozent) ....................................................................................................... 189 Existenz von Verwandten (Alterssurvey 1996) (Angaben in Prozent) ....... 194 Netzwerkbeziehungen in der DDR (Angaben in Prozent) .......................... 197 Veränderung der Beziehung zu Geschwistern und anderen Verwandten nach der Wende (Angaben in Prozent) ................................... 199 Größe des Verwandtschaftsnetzwerkes ...................................................... 250 Univariate Verteilung der „Wichtigkeit von Verwandtschaft“ im Zeitverlauf (Angaben in Prozent) .......................................................... 252 Wer gehört zur Familie? (Angaben in Prozent) .......................................... 254 Kontakte mit entfernten Verwandten (Angaben in Prozent) ...................... 255 Erst- und Zweithelferinnen und -helfer in drei Hilfesituationen (Angaben in Prozent) .................................................................................. 256 Ländervergleich von entfernten Verwandten als Erst- und Zweithelferinnen und -helfer (Angaben in Prozent) ................................... 257 Verwandtschaftsstatus der besten Freundin und des besten Freundes (Angaben in Prozent) ................................................................... 258 Multiplexität von Verwandtschaftsbeziehungen (Angaben in Prozent) ..... 259 Logistische Regressionsanalyse zur Vorhersage der Wahl von Verwandten als Freundin oder Freund ........................................................ 261 Arbeitsvermittlung (Angaben in Prozent) ................................................... 263 Mittelwertunterschiede der Wichtigkeit von Verwandtschaft nach sozialstrukturellen Merkmalen .................................................................... 265 Einfaktorielle Varianzanalysen zur Wichtigkeit von Verwandtschaft ....... 266
14
Tabellenverzeichnis
Tabelle 30: Korrelation zwischen Wichtigkeit von Verwandtschaft und Alter/Einkommen ........................................................................................ Tabelle 31: Multiple Regression „Wichtigkeit von Verwandtschaft“ ........................... Tabelle 32: Kontakte mit Onkeln und Tanten nach sozialstrukturellen Merkmalen (Angabe der Spaltenprozente) ..................................................................... Tabelle 33: Kontakte mit Cousins und Cousinen nach sozialstrukturellen Merkmalen (Angabe der Spaltenprozente) ................................................. Tabelle 34: Kontakte mit Nichten und Neffen nach sozialstrukturellen Merkmalen (Angabe der Spaltenprozente) ..................................................................... Tabelle 35: Kontakte mit Nichten/Neffen und Cousins/Cousinen nach (familien-)biographischen Merkmalen (Angabe der Spaltenprozente) ...... Tabelle 36: Zusammenhang zwischen Alter der Kinder und Kontakthäufigkeit mit Geschwistern (Angaben in Prozent) ........................................................... Tabelle 37: Verteilung der abhängigen Variablen „Wahl von Verwandten“ ................ Tabelle 38: Logistische Regressionsanalyse zur Vorhersage der Wahl von Onkeln und Tanten ................................................................................................... Tabelle 39: Logistische Regressionsanalyse zur Vorhersage der Wahl von Cousins und Cousinen ............................................................................................... Tabelle 40: Logistische Regressionsanalyse zur Vorhersage der Wahl von Nichten und Neffen ...................................................................................................
267 268 271 272 273 275 276 277 278 280 284
Einleitung
15
Einleitung
„Die Metapher der »Wahlverwandtschaften«, die ursprünglich der Chemie entstammt und in Goethes gleichnamigen Roman der Beschreibung menschlicher Verhältnisse dient, bezeichnet (…) eine eigenartige zwischenmenschliche Kausalität: A »entscheidet« sich zu einer Verwandtschaft mit B – aber diese Entscheidung ist bereits Element und Indiz der Verwandtschaftsbeziehung“ (Heins 2004: 48).1
Die vorliegende Arbeit analysiert Verwandtschaftsbeziehungen und damit Sozialbeziehungen, die in der Soziologie schon fast in Vergessenheit geraten sind. Diese Vernachlässigung der Verwandtschaft wird zwar in einer Vielzahl von familiensoziologischen Publikationen problematisiert, jedoch bleiben konkrete Folgen für eine theoretische und empirische Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen aus. Während die Kernfamilie im Zentrum des familiensoziologischen Interesses steht, werden die Beziehungen zur kollateralen Verwandtschaft nur am Rande thematisiert. Aus diesem Grund bilden die so oft vergessenen Onkel und Tanten, Nichten und Neffen oder Cousins und Cousinen den Schwerpunkt dieser Untersuchung, die zumeist nicht differenziert betrachtet werden, sondern unter der Kategorie „sonstige“ oder „andere“ Verwandte subsumiert werden. Ausgangspunkt der vorliegenden Arbeit ist die Frage nach der Erklärung verwandtschaftlichen Handelns. Die Selektivität von Verwandtschaftsbeziehungen steht im Vordergrund dieser soziologischen Betrachtung von Verwandtschaft. So wird in einer Vielzahl der Publikationen die Wahl als konstituierendes Merkmal von modernen Verwandtschaftsbeziehungen herausgestellt. Diese Wahl, die ja somit eine Entscheidung der Individuen voraussetzt, wird jedoch nicht handlungstheoretisch erklärt. Die Arbeit verfolgt zwei Ziele. Das erste Ziel ist die Aufarbeitung des theoretischen und empirischen Forschungsstandes für die USA und Deutschland. Diese Aufgabe ist von besonderem Interesse, da die Kenntnisse über die Beziehungen zum erweiterten Familienkreis gering sind. Zudem existiert die Vorstellung eines Bedeutungs- und Funktionsverlustes von Verwandtschaftsbeziehungen, die es empirisch zu prüfen gilt. Das zweite Ziel ist die Erklärung von verwandtschaftlichem Handeln. Innerhalb eines theoretischen Rahmens soll ein Modell die Frage nach den Determinanten der Wahl von Verwandten beantworten und empirisch prüfbare Hypothesen aufstellen. Ausgangspunkt ist die Theorie der rationalen Wahlhandlung. Hieran schließt sich eine empirische Untersuchung zu den Determinanten der Wahl von Onkeln und Tanten, Cousins und Cousinen sowie Nichten und Neffen an. Im ersten Kapitel findet eine begriffliche und thematische Einordnung von Verwandtschaft in das Gebiet der Soziologie statt. In Kapitel 1.1.1 werden Abstammungsregeln, Verwandtschaftsterminologien und allgemeine begriffliche Kennzeichnungen von Verwandten thematisiert. Im Vordergrund steht das moderne bilineare Verwandtschaftssystem.
1
Der Roman Die Wahlverwandtschaften wurde von Johann Wolfgang Goethe im Jahr 1809 veröffentlicht.
16
Einleitung
In Kapitel 1.1.2 wird das zentrale Konzept dieser Arbeit vorgestellt: die Differenzierung zwischen subjektiver und objektiver Verwandtschaft. Die Logik der Wahl von Verwandten wird erstmals in den ersten Verwandtschaftsstudien der 1950er Jahre in Großbritannien formuliert und im Verlauf der Zeit von weiteren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aufgegriffen und vertieft. Die unterschiedlichen Positionen werden in diesem Kapitel dargestellt. Kapitel 1.2 erläutert zentrale Merkmale und Funktionen der Kernfamilie in Abgrenzung zum erweiterten Familienkreis. In diesem Zusammenhang folgt Kapitel 1.3, in dem Unterschiede und Gemeinsamkeiten der Sozialbeziehungen „Verwandtschaft“ und „Freundschaft“ aufgezeigt werden. Die soziobiologische Diskussion von Verwandtschaft wird in Kapitel 1.4 aufgearbeitet. In Kapitel 1.5 erfolgt eine ausführliche Darstellung von Verwandtschaft als soziologische Kategorie: Charakteristiken, Funktionen und allgemeine Merkmale von Verwandtschaftsbeziehungen. Das letzte Unterkapitel thematisiert Verwandtschaftsbeziehungen unter einem Gender-Aspekt (Kapitel 1.6). Der Zusammenhang zwischen Geschlechtsrollen und Verwandtschaftsbeziehungen zeigt sich in der Rolle der Frauen als „kinkeeper“, die verwandtschaftliche Kontakte initiieren und aufrechterhalten. Zur Verdeutlichung dieses Sachverhaltes werden ausgewählte Befunde empirischer Studien angeführt. Das zweite Kapitel widmet sich dem sozialen Wandel von Verwandtschaftsbeziehungen. Als Charakteristikum der modernen Gesellschaft wird der Bedeutungs- und Funktionsverlust von Verwandtschaft postuliert. In diesem Kapitel werden die modernisierungstheoretischen Ursprünge dieser Annahme skizziert. Zuerst wird Verwandtschaft aus einer historischen Perspektive betrachtet (Kapitel 2.1). Zentrale Fragen in diesem Zusammenhang sind der Stellenwert, die Bedeutung und Funktionen von Verwandtschaftsbeziehungen vor und zu Zeiten der Industrialisierung, die anhand unterschiedlicher historischer Fallstudien expliziert werden. Kapitel 2.2 befasst sich allgemein mit dem Verhältnis von Verwandtschaft und Moderne und differenziert zwischen postmodernen Verwandtschaftsstrukturen, wobei insbesondere demographische Veränderungen betrachtet werden (Kapitel 2.2.1), und den Auswirkungen der gesellschaftlichen Modernisierung (Kapitel 2.2.2). Das Thema der Veränderung der persönlichen Beziehungen wird insbesondere in den theoretischen Ansätzen von Wirth (1938) und der Gegenüberstellung von „Gemeinschaft und Gesellschaft“ (Tönnies, Wellman) diskutiert. Kapitel 2.3 stellt die strukturell-funktionale Theorie der Familie dar. Kapitel 2.3.1 und Kapitel 2.3.2 vertiefen die klassischen Positionen des Kontraktionsgesetzes von Durkheim (1921) und Parsons´ These der isolierten Kernfamilie, die gemeinsam die Annahme des Bedeutungs- und Funktionsverlustes von Verwandtschaft in der Moderne prägen. Darüber hinaus wird in Kapitel 2.3.3 der Gegenentwurf der „modifiziert erweiterten Familie“ vorgestellt, der in Kritik am Konzept der isolierten Kernfamilie von Litwak (1960a,b) entwickelt wurde. In einem Exkurs (Kapitel 2.4) wird das „Sachbezug“-Paradigma von Lüschen (1989) erläutert. Kapitel 2.5 greift abschließend die wichtigsten Aussagen der Individualisierungsthese (Beck 1986) auf und diskutiert diese im Zusammenhang mit dem Konzept der subjektiven Verwandtschaft. Kapitel 2.6 fasst die wichtigsten Erkenntnisse über den sozialen Wandel von Verwandtschaftsbeziehungen zusammen. Das dritte Kapitel erörtert den theoretischen und empirischen Forschungsstand. In Kapitel 3.1 erfolgt eine Bestandsaufnahme und kritische Diskussion der bisherigen theoretischen Ansätze zur Erklärung von verwandtschaftlichem Handeln. Diese werden in heuristische und explorative Modelle (Kapitel 3.1.1) und eine Zusammenfassung von Ansätzen, die auf der Austauschtheorie und Rational-Choice-Theorie basieren (Kapitel 3.1.2), diffe-
Einleitung
17
renziert. In einem Exkurs (Kapitel 3.1.3) werden theoretische Ansätze zur Erklärung familialer Generationenbeziehungen dargestellt. Kapitel 3.1.4 diskutiert Gemeinsamkeiten und Defizite der verschiedenen Ansätze und überprüft die jeweilige Erklärungskraft für die Wahl von Verwandten. Kapitel 3.2 enthält eine umfassende Literaturübersicht der empirischen Verwandtschaftsstudien. Die Darstellung erfolgt jeweils getrennt für die USA und Großbritannien (Kapitel 3.2.1) und Deutschland (Kapitel 3.2.2). Empirische Befunde angloamerikanischer und deutscher Studien – mit Schwerpunkt auf den Beziehungen zum erweiterten Familienkreis – werden in chronologischer Reihenfolge und zum Teil themenspezifisch für die Jahre 1950 bis 2005 dargestellt. Damit soll ein Überblick über den empirischen Forschungsstand und die Determinanten verwandtschaftlichen Handelns gegeben werden. In Kapitel 3.2.1.2 erfolgt eine ausführliche Darstellung der Studie von Rossi und Rossi „Of Human Bonding“ aus dem Jahr 1990, die Verpflichtungen gegenüber Verwandten und die Struktur von Verwandtschaftsnormen analysieren. Das Fazit (Kapitel 3.2.3) fasst die wichtigsten Befunde der empirischen Studien zusammen. Abschließend werden die hieraus resultierenden theoretischen und empirischen Forschungsdefizite in Kapitel 3.3 benannt und darüber hinaus auch nach Ursachen für die Vernachlässigung von Verwandtschaft in der Soziologie gesucht. Der Schwerpunkt liegt insbesondere auf dem Theoriedefizit in der bisherigen soziologischen Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen. Im vierten Kapitel werden in einem ersten Schritt die handlungstheoretischen Grundlagen des Modells zur Erklärung der Wahl von Verwandten vorgestellt (Kapitel 4.1). Im Einzelnen sind das die Austauschtheorie (Kapitel 4.1.1) und Theorie der rationalen Wahlhandlung (Kapitel 4.1.2). In einem Exkurs (Kapitel 4.1.3) wird das Thema „Verwandtschaft als soziales Kapital“ aufgegriffen. Die Vorstellung des Modells und die Ableitung empirisch prüfbarer Hypothesen erfolgt in Kapitel 4.2. In Kapitel 4.3 wird in einem Exkurs das Investitionsmodell von Rusbult (1980a) auf die Erklärung der Bindung an Verwandte und Aufrechterhaltung der verwandtschaftlichen Beziehung übertragen. Eine sekundäranalytische Überprüfung ausgewählter Hypothesen des Modells erfolgt im fünften Kapitel. In Kapitel 5.1.1 wird zuerst die Datenbasis der Sekundäranalyse vorgestellt. Im Einzelnen werden der ALLBUS 1980-2004, das ISSP 2001 und der Familiensurvey 2000 für die verwandtschaftsspezifischen Analysen genutzt. Kapitel 5.1.2 geht kritisch auf Restriktionen und Probleme ein, die der sekundäranalytischen Überprüfung des theoretischen Modells unterliegen. Die empirischen Ergebnisse werden in Kapitel 5.2 dargestellt. Kapitel 5.2.1 zeigt Befunde zur Struktur und Bedeutung von Verwandtschaft und Kapitel 5.2.2 beschreibt die Kontakte mit sekundären und tertiären Verwandten. Kapitel 5.2.3 analysiert die Determinanten der Wichtigkeit von Verwandtschaft mit Daten des ALLBUS 1998. Eine Überprüfung der Hypothesen mit Daten des ISSP 2001 erfolgt in Kapitel 5.2.4. Die Wahl von Verwandten wird durch die Kontakte in den letzten vier Wochen mit Onkeln/Tanten, Cousins/Cousinen und Nichten/Neffen operationalisiert. Zuerst erfolgt eine deskriptive Darstellung (Kapitel 5.2.4.1), die einen Überblick über die Verteilung und Operationalisierung der zentralen Variablen gibt. Daran anschließend werden die Determinanten der Wahl von Verwandten entsprechend der zuvor formulierten Hypothesen in Kapitel 5.2.4.2 – differenziert nach dem Verwandtentyp – multivariat überprüft: Kapitel 5.2.4.2.1 analysiert die Wahl von Onkeln und Tanten, Kapitel 5.2.4.2.2 die Wahl von Cousins und Cousinen und Kapitel 5.2.4.2.3 die Wahl von Nichten und Neffen. Eine zusammenfassende Diskussion der Befunde erfolgt dann in Kapitel 5.2.4.3.
18
Einleitung
Die Arbeit endet mit einer Schlussbetrachtung und einem Ausblick im sechsten Kapitel. Rückblickend auf den erarbeiteten theoretischen und empirischen Forschungsstand und die eigenen empirischen Befunde werden Anhaltspunkte für eine zukünftige soziologische Verwandtschaftsforschung aufgezeigt.
Einleitung
19
1 Verwandtschaft: begriffliche und thematische Einordnung
Fragen zur Terminologie und Struktur von Verwandtschaftsbeziehungen beantworten vor allem die wissenschaftlichen Disziplinen Anthropologie und Ethnologie, da sie Verwandtschaftsforschung als ihre Kerndisziplin betrachten (vgl. Marbach 1998: 95). Die Ethnologie und Anthropologie analysieren Verwandtschaftsbeziehungen jedoch weniger als Teil der familialen Interaktion, sondern primär als Hauptbestandteil der umfassenden Sozialstruktur einer Gesellschaft (vgl. Goode 1967b: 111). Diese Strukturanalysen berücksichtigen nicht ausreichend die Dimension des praktischen Handelns, die im Zentrum einer soziologischen Betrachtung von Verwandtschaft steht (vgl. Medick, Sabean 1984: 49). Rosenbaum (1998: 29f.) stellt in diesem Zusammenhang eine „auffällige Arbeitsteilung zwischen Soziologie und Ethnologie“ fest, in der die Soziologie Verwandtschaftsbeziehungen wegen ihrer vermeintlichen Irrelevanz aus ihrem Gegenstandsbereich ausblendete und sich erst allmählich durchsetzt, dass diese Annahme ein Fehler gewesen sein könnte.2 Die These des Bedeutungs- und Funktionsverlustes der Verwandtschaft gehört zu den klassischen Annahmen in der Soziologie.3 Vor diesem Hintergrund wird Verwandtschaft als soziologischer Gegenstand aufgearbeitet. 1.1 Zum Begriff der Verwandtschaft 1.1.1 Allgemeine Verwandtschaftsterminologie Eine Begriffsdefinition ist in einer wissenschaftlichen Arbeit notwendig, da gerade im Deutschen „Familie“ und „Verwandtschaft“ oft synonym gebraucht wird (vgl. Lüschen 1989: 435). So werden beide Begriffe in der Umgangssprache nicht klar voneinander getrennt (vgl. Rosenbaum 1998: 18). Der Begriff „Familie“ wird im Alltagsgebrauch für jegliche Form von Gemeinschaft gebraucht, sei die „typische“ Kernfamilie, bestehend aus Vater-Mutter-Kind, aber auch komplexe intergenerationale Beziehungen und Verwandtschaftsnetzwerke (vgl. Johnson 2000a: 129). Unter „Familie“ soll im Folgenden die Kernfamilie verstanden werden, „(entfernte) Verwandtschaft“ und „erweiterter Familienkreis“ umfasst alle darüber hinausreichenden Beziehungen (vgl. auch Rosenbaum 1998: 189). Es gibt sehr große kulturelle Variationen in Bezug auf die Zugehörigkeit und NichtZugehörigkeit zur Verwandtschaft, so dass festgehalten werden kann: „Jede Gesellschaft bestimmt für sich, wer mit wem verwandt ist“ (Nave-Herz 2004: 35). Und für König (1976: 15) ist Verwandtschaft nicht einfach mit der Blutsverwandtschaft gleichzusetzen, vielmehr 2
3
Eine Verknüpfung zwischen den Disziplinen erfolgt durch die Ethnosoziologie (vgl. dazu Müller 1981; Müller u.a. 1984; Goetze, Mühlfeld 1984). Kaufman (1995: 147) bezeichnet die Soziologie als verwandtschaftsblind.
20
1 Verwandtschaft: begriffliche und thematische Einordnung
stellt Verwandtschaft ein „System von Vorstellungen“ dar, das sich von Gesellschaft zu Gesellschaft unterscheidet. Verwandtschaft wird im Folgenden in ihrer grundlegenden und einfachen Terminologie definiert – Begriffe, die in der westlichen Gesellschaft von praktischer Relevanz sind. In der Familiensoziologie wird Verwandtschaft als ein „spezifischer Kooperations- und Solidaritätsverband definiert, dessen Existenz und dessen Grenzen durch das Erbschaftsrecht, das Inzesttabu und durch Rollenbezeichnungen (Tante, Neffe, Schwager) (...) erkennbar sind“ (Nave-Herz 1998: 288). Verwandtschaft bedeutet allgemein die „Bindung zwischen mehreren Personen aufgrund gemeinsamer Abstammung bzw. Vorfahren (Eltern, Großeltern usw.) und infolge von Eheschließungen“ (Hillmann 1994: 909). Das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) behandelt Verwandtschaftsverhältnisse im 4. Buch (Familienrecht) (vgl. Lucke 1998: 62f.):4 §§ 1598 BGB (Verwandtschaft) Personen, deren eine von der anderen abstammt, sind in gerader Linie verwandt. Personen, die nicht in gerader Linie verwandt sind, aber von derselben dritten Person abstammen, sind in der Seitenlinie verwandt. Der Grad der Verwandtschaft bestimmt sich nach der Zahl der sie vermittelnden Geburten. §§ 1590 BGB (Schwägerschaft) I Die Verwandten eines Ehegatten sind mit dem anderen Ehegatten verschwägert. Die Linie und der Grad der Schwägerschaft bestimmen sich nach der Linie und dem Grade der sie vermittelnden Verwandtschaft. II Die Schwägerschaft dauert fort, auch wenn die Ehe, durch die sie begründet wurde, aufgelöst ist. Somit sind zwei Formen der Verwandtschaft zu unterscheiden: Verwandtschaft aufgrund von Abstammung (Deszendenz) und der über Heirat gegründete Verwandtenkreis (Schwägerschaft, Affinalverwandtschaft), zu dem angeheiratete Verwandte wie Schwiegereltern und -kinder sowie Schwägerinnen und Schwager gezählt werden (vgl. Hill, Kopp 2004: 18, Harris 1989: 174). Diese Unterscheidung manifestiert sich nach Schneider (1980: 27) in zwei grundlegenden kulturellen Regeln – Natur und Gesetz. „(…) the cultural universe of relatives in American kinship is constructed of elements from two cultural orders, the order of nature and the order of law” (Schneider 1980: 27; Hervorhebung im Original).
Verwandtschaft über Deszendenz bedeutet Blutsverwandtschaft – Personen, die aufgrund von Geburt miteinander verwandt sind und welche auf eine Abstammung von gemeinsamen Vorfahren zurückschauen können: „Relatives between whom every connecting blood or common ancestry, (...), are known as consanguineal5 relatives“ (Murdock 1949: 95; Hervorhebung im Original). Die Blutsverwandtschaft wird häufig mit dem Begriff „real“ assoziiert und gilt als die „wahre“ Verwandtschaft, da sie auf einer gemeinsamen Identität
4
5
Speziell mit dem Status von Verwandtschaft im Recht beschäftigen sich Farber (1970: 101ff.), Lucke (1998) und Schwab u.a. (1997). Der ethnologische Begriff „konsanguin“ bedeutet „vom selben Blut“ (vgl. Harris 1989: 176).
1.1 Zum Begriff der Verwandtschaft
21
gründet (vgl. Schneider 1980: 24f.). Affinalverwandtschaft und künstliche Verwandtschaft sind hingegen „nur“ über die Beziehung definiert, da ihnen jegliche natürliche Basis fehlt. „The spouse, on one hand, and the step-, -in-law, and foster- relatives, on the other hand, are related by the relationship alone; there is no natural substance aspect to the relationship” (Schneider 1980: 26; Hervorhebung im Original).
In Abhängigkeit von Kultur und Sprache gibt es eine differenzierte oder weniger differenzierte Terminologie für die Affinalverwandtschaft. So wird im Deutschen beispielsweise der Mann der Cousine mit dem Begriff des „Schwippschwagers“ bezeichnet (vgl. König 1974a: 31f.). Heirat als konstituierendes Prinzip von verwandtschaftlichen Beziehungen unterscheidet sich von blutsverwandtschaftlichen Beziehungen vor allem dadurch, dass sie beendet bzw. verändert werden kann. Heirat als menschliche Konstruktion bzw. soziales Arrangement ist auflösbar und damit einhergehend ebenso die Verwandtschaftsbeziehungen (vgl. Allan 1979a: 31).6 Zu den gesetzlichen Verwandtschaftsbeziehungen wird auch die Adoption gezählt. Man klassifiziert zwischen angeborener „Verwandtschaft erster Ordnung“, angeheirateter „Verwandtschaft zweiter Ordnung“ und der „Adoptiv- oder vermittelnden Verwandtschaft“. Verwandtschaft nach dem Recht schließt Formen von geistiger oder sozialer Verwandtschaft (z.B. übernommene Patenschaften, Nenntanten oder -onkel) aus (vgl. Lucke 1998: 63f.). Generell unterscheidet man zwischen linearen Verwandten (Blutsverwandte in auf- oder absteigender Linie) und kollateralen Verwandten. Kollaterale Verwandte können der gleichen als auch einer vorangegangenen oder folgenden Generation angehören. Zwischen ihnen besteht kein Abstammungsverhältnis, man ist weder Abkömmling noch Ahne von Bruder und Schwester, auch wenn sie mindestens einen gemeinsamen Vorfahren haben (z.B. Cousin und Cousine ersten, zweiten oder entfernteren Grades) (vgl. König 1974a: 30). Der Begriff Filiation bezeichnet dagegen die Abstammungsbeziehungen zwischen Mitgliedern der Kernfamilie. Unsichtbare Strukturen unterliegen der Verwandtschaft, deren gesellschaftliche Unterschiede auf historischen, kulturellen und traditionellen Elementen basieren und sich in unterschiedlichen Verwandtschaftsorganisationen und Verwandtschaftsideologien manifestieren (vgl. Kaser 2001: 16f.). Auf der Basis von Deszendenzregeln können Individuen in der Generationenabfolge eine gemeinsame Abstammung bestimmen (vgl. Hill, Kopp 2004: 18). Es wird zwischen kognatischer und unilinearer Deszendenz unterschieden – den zwei Haupttypen der Deszendenzsysteme (vgl. dazu Pasternak 1976: 101ff., Harris 1989: 182ff.). Bei unilinearer Deszendenz werden männliche und weibliche Vorfahren zwar berücksichtigt, aber ihre Bedeutung und Gewichtung wird unterschiedlich eingeschätzt. Ego leitet die Deszendenz über Männer und Frauen ab, aber es werden z.B. einige männliche oder weibliche Vorfahren ausgeschlossen (vgl. Harris 1989: 177f.). Bei unilinearer Deszendenz wird lediglich über die Vorfahren eines Geschlechts die genealogische Verbindung hergestellt und damit Verwandtschaftsbeziehungen nur über ein Geschlecht gebildet (vgl. Hill, Kopp 2004: 18). Die wichtigsten idealtypischen Formen von unilinearer Deszen6
„It is because marriage is social and consequently fragile that blood is in the end recognized as being more important of the two principles on which kinship is based“ (Allan 1979a: 31). Dieses Zitat verdeutlicht die westeuropäisch-amerikanische Verwandtschaftsvorstellung. So werden Blutsverwandte als die „wahren“ Verwandten angesehen, da man mit ihnen biogenetische Substanz teilt. Die Affinalverwandtschaft und die fiktiven Verwandten erfahren eine andere kulturelle Bedeutung und gelten als sekundäre Formen von Verwandtschaft (vgl. Petersen 2000: 35).
22
1 Verwandtschaft: begriffliche und thematische Einordnung
denz sind Matrilinearität und Patrilinearität. Diese zwei Hauptformen differenzieren danach, ob einem Geschlecht eine größere Bedeutung zugemessen wird oder nicht (vgl. dazu Harris 1989: 184f., Pasternak 1976: 106ff., König 1974a: 22ff.). Bei patrilinearer Abstammung werden die Verwandtschaftsbeziehungen ausschließlich über die männliche Linie abgeleitet, bei matrilinearer Deszendenz dagegen nur über die mütterliche (vgl. Hill, Kopp 2004: 19). So ist beispielsweise das patrilineare Verwandtschaftssystem als ahnenzentriert zu klassifizieren, da sich die Verwandtschaft lediglich um die männliche Linie konstituiert, die zum Urahnen zurückführt.7 Alle Personen, die in männlicher Linie von einem Urahnen abstammen, gelten als verwandt (vgl. Kaser 2001: 17). Ein weiterer Begriff, der diese unilinearen Abstammungslinien bezeichnet, ist „lineages“ (vgl. König 1974a: 33). In den Fällen von unilinearer Verwandtschaftsorganisation gelten auch spezielle Residenzregeln.8 Zieht der Mann zu der Familie seiner Frau spricht man von matrilokaler Residenz, im umgekehrten Fall, wenn die Frau zur Familie ihres Mannes zieht, spricht man von patrilokaler Residenz (vgl. Goetze, Mühlfeld 1984: 204).9 Bei Patrilinearität herrscht Patrilokalität mit der Konsequenz, dass Frauen ihre Herkunftsfamilien verlassen und Mitglied im Haushalt der Familie des Ehemanns werden.10 Lokalitätsregeln bestimmen allgemein den Wohnort von verheirateten Paaren. Der Begriff „Ambilokalität“ fasst den Sachverhalt zusammen, wenn es dem Paar freigestellt ist, zu den Verwandten des Mannes oder der Frau zu ziehen. Bei Neolokalität gründet das Paar unabhängig von den Familien einen eigenen Haushalt (vgl. Hill, Kopp 2004: 19ff.). Bei kognatischen Deszendenzbeziehungen wird die Abstammung auf männliche und weibliche Vorfahren bezogen. Die häufigste Form kognatischer Deszendenz ist die bilineare Deszendenz, wobei in diesem Fall männliche und weibliche Vorfahren von gleicher Bedeutung und rechtlicher Stellung für die Abstammung sind (vgl. Harris 1989: 177f.). Goode (1967a: 78) bezeichnet dies als „zweiseitige Abstammung“. Das moderne europäische und amerikanische Verwandtschaftssystem ist bilinear. Dies bedeutet, dass Bluts- und Heiratsverwandte bzw. die Bezeichnungen von Verwandten mütterlicherseits und väterlicherseits gleichbedeutend sind.11 Die Bilinearität betrifft allgemein die Zusammensetzung von Verwandtschaftsgruppen und die Regelung der Vererbung von Besitz (vgl. Harris 1989: 181). Im Folgenden sollen die Charakteristiken des modernen Verwandtschaftssystems herausgearbeitet werden. Insbesondere Goode (1967a: 78) thematisiert die Konsequenzen der bilinearen Abstammung für die Ausgestaltung der Verwandtschaftsbeziehung. Zum einen bedeutet diese Art von Abstammung, dass sich die Mitglieder der Kernfamilie nicht in abgeschlossenen Verwandtschaftslinien voneinander abtrennen (im Vergleich zu patri- und 7
8 9
10
11
In Südosteuropa (z.B. Bulgarien) dominierte bis etwa in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts die patrilineare Abstammungsgruppe hinsichtlich der Bewertung von Verwandten und der Konzeption von Erbrecht und Namensgebung. Heute allerdings ist diese traditionelle Struktur vom Prinzip der Bilinearität überlagert, obwohl sich die patrilineare Organisation jedoch in vielen Situationen als immer noch handlungsrelevant zeigt (vgl. Kaser 2001: 16f.). Ausführlicher zu den verschiedenen Typen und Begriffen postmaritaler Residenz vgl. Harris (1989: 186). Zu den Ursachen und Konsequenzen von Patrilokalität und Matrilokalität vgl. ausführlicher Harris (1989: 189ff.) und Pasternak (1976: 42ff.). In diesem Kontext wird eine Gesellschaft als patriarchalisch bezeichnet, wenn das Abstammungssystem patrilinear organisiert ist, die Heirat patrilinear bestimmt ist, die Erbschaft in der männlichen Linie bleibt und die Autorität über die Familienmitglieder in der Hand des Vaters oder seiner Verwandten ist. In einer matriarchalischen Gesellschaft obliegt der Frau und ihren Verwandten Autorität und Besitz (vgl. RadcliffeBrown 1969: 22). Ausführlicher zu den historischen Ursprüngen der Bilinearität vgl. Goody (1986).
1.1 Zum Begriff der Verwandtschaft
23
matrilinearen Verwandtschaftssystemen). Dies gilt auch für die Mitglieder einer größeren Familienstruktur, die nicht voneinander in getrennte Verwandtschaftslinien aufgeteilt werden (vgl. Goode 1967a: 78). Bilinearität (oder auch Bilateralität) ergibt das bekannte Bild eines Stammbaums, der sich symmetrisch nach der väterlichen und mütterlichen Seite entwickelt (vgl. König 1974a: 28). Das bilineare System ist ego-fokussiert, da die Linien verwandtschaftlicher Beziehungen in jeweils die männliche und weibliche Richtung von ego verlaufen. Somit ist das bilineare Verwandtschaftssystem netzwerkartig angelegt, das aufgrund von Eheschließungen vergrößert werden kann (vgl. Kaser 2001: 17f.). Eine weitere Konsequenz erscheint Goode (1967a: 78) fast paradox: Sie bezieht sich auf die Tatsache, dass außer den eigenen Geschwistern niemand die gleiche Gesamtheit von Verwandten hat, da die Grenzen nicht klar festgelegt sind. Denn im Gegensatz zu den unilinearen Verwandtschaftssystemen, die durch klare Grenzen gekennzeichnet sind, überschneiden sich die Verwandtschaftsgruppen eines jeden Menschen mit denen jedes anderen Menschen. Diese Überschneidungen bedeuten, „daß ich nicht einmal die gleiche Verwandtschaftsgruppe besitze wie mein eigener Vater; seine Verwandtschaftsgruppe reicht noch eine Generation weiter rückwärts“ (Goode 1967a: 78). Das moderne Verwandtschaftssystem wird deshalb als offen und flexibel bezeichnet (vgl. Rosenbaum 1998: 20). Diese Offenheit und unklare Grenzziehung hat natürlich auch Auswirkungen auf die gelebten, konkreten sozialen Beziehungen mit Verwandten. Kennzeichnend und „fast eine Folgesatz aus dem Vorhergehenden“ sind nach Goode (1967a: 78) folgende Konsequenzen auf der personalen Ebene bzw. Handlungsebene: keine engen sozialen Verbindungen mit weiter entfernten Verwandten, keine strengen Verpflichtungen zur gegenseitigen Versorgung, das Fehlen einer rein moralischen Verantwortung für die übrige Verwandtschaft (außerhalb der Kernfamilie), geringe Anforderungen oder Bitten um Hilfen und die verhältnismäßig geringfügige Anzahl von Besuchen und Teilhabe an gemeinsamen Sitten. Konsequenz dieses Systems ist die undifferenzierte Mitgliedschaft eines Menschen in den Familien seiner Vorfahren (väterlicherseits und mütterlicherseits) und damit existiert eine große quantitative Ausdehnung des Verwandtschaftsnetzes (vgl. Marbach 1998: 96). Aufgrund der daraus resultierenden persönlichen Selektivität von Verwandtschaftsbeziehungen wird das Verwandtschaftssystem von Firth, Djamour (1956: 63) als „optionally bilateral“ definiert.12 Wendet man bilineare Deszendenz auf unendlich viele Verwandte und Generationen an und sind damit in der Weite und Tiefe der Deszendenzbeziehungen keine Beschränkungen gegeben, entstehen Verwandtschaftsgruppen, die man als kindred bezeichnet.13 Nach Murdock (1949: 56) ist die kindred der häufigste Typ von bilinearer Deszendenz in der modernen Gesellschaft. Die unklaren, individuellen Grenzen einer kindred führen dazu, dass diese keine klaren Segmente innerhalb der Gesellschaft darstellen, da sie nicht als Kollektiv handeln können (vgl. Goode 1964: 66). Die natürliche Grenze der Zugehörigkeit bilden zumeist Cousins und Cousinen zweiten Grades (vgl. Murdock 1949: 60). Die kindred stellt keine juristische Person dar, die Mitglieder haben weder gemeinsame Rechte, noch teilen sie gemeinsame Güter (vgl. Segalen 1990: 79). Eine Verwandtschaftsgruppe existiert nur in einem theoretischen und idealen Sinn, „since they never actually 12 13
Vgl. dazu ausführlicher Kapitel 1.1.2. Ein weiterer Begriff ist „kinfolk“ (Murdock 1949: 56), wobei insbesondere die Geselligkeitsfunktion dieser Verwandten hervorgehoben wird: „(…) group of near kinsmen who may be expected to be present and participant on important ceremonial occasions, such as weddings, christenings, funerals, Thanksgiving and Christmas Dinners, and family reunions” (Murdock 1949: 56f.).
24
1 Verwandtschaft: begriffliche und thematische Einordnung
assemble as a whole. They are in a sense a group of potential mobilization“ (Firth 1956b: 16). Eine wichtige Differenzierung liefert König (1974a). Er weist auf die starke Mutterzentrierung des modernen bilinearen Verwandtschaftssystems hin, in dem vor allem Frauen die Beziehungen zu Verwandten beider Abstammungslinien aufrechterhalten.14 Deswegen wird das heutige Verwandtschaftssystem als theoretisch bilinear, mutterzentriert und patrinominal klassifiziert (vgl. König 1974a: 29).15 Jede Kultur verfügt über ein bestimmtes Begriffssystem zur Klassifizierung von Verwandten. Die Begriffe und Anwendungsregeln bilden das so genannte Verwandtschaftsterminologiesystem einer Kultur (vgl. Harris 1989: 194). 16 Kennzeichnend für die moderne westliche Gesellschaft ist die Eskimoterminologie bzw. das Eskimo-System (vgl. Murdock 1949: 100), nach der geschlechtsspezifisch und generational zwischen den Mitgliedern der Kernfamilie unterschieden wird (Mutter, Vater, Schwester, Bruder). Davon sind die Verwandten außerhalb der Kernfamilie klar abgegrenzt. Man differenziert nicht zwischen Verwandten der mütterlichen und väterlichen Abstammungslinie. Mutter-Bruder, VaterBruder, Mutter-Schwester und Vater-Schwester sind in einer einheitlichen Terminologie Onkel und Tante. Es wird nicht zwischen Parallel- sowie Kreuzcousins und -cousinen unterschieden (vgl. Hill, Kopp 2004: 22). Nach Harris (1989: 195) spiegelt sich in den Merkmalen der Eskimoterminologie die Tatsache wider, dass Gesellschaften, die diese Terminologie verwenden, keine korporierte Abstammungsgruppen umfassen: Die Kernfamilie wird somit unabhängig von den Verwandten und bildet eine gesonderte und funktional dominante Produktions- und Reproduktionseinheit. Johnson (1970: 39) sieht die Verwandtschaftsterminologie in diesem Kontext als eine Art „Index tieferer Fakten“. Harris (1989: 200) gibt hierfür verschiedene Beispiele und analysiert die Bedeutung der Verwandtschaftsterminologien: Die Eskimoterminologie ist funktional mit Familienorganisationen verknüpft, die für Mobilität und die Isolation der Kernfamilie verantwortlicht sind. Die HawaiTerminologie ist funktional mit kognatischen Lineages und Klans verbunden. Die IrokesenTerminologie, die zwischen Kreuz- und Parallelcousinen differenziert, ist funktional mit unilinearen Abstammungsgruppen verbunden (vgl. Harris 1989: 200). Trotz der interkulturellen Verschiedenheit der Verwandtschaftssysteme besteht in jeder Gesellschaft ein Inzesttabu17, das Geschlechtsverkehr zwischen engen Verwandten in auf- oder absteigender Linie (Vater-Tochter, Mutter-Sohn) oder von Geschwistern (BruderSchwester) verbietet (vgl. König 1974a: 35). Das Inzesttabu gilt nahezu universal für die Mitglieder der Kernfamilie, aber auch darüber hinaus für sekundäre Verwandtschaftsverhältnisse, wie z.B. Cousins und Cousinen ersten Grades (vgl. Neidhardt 1971: 17). Die Gesamtheit an Verwandten wird begrifflich strukturiert.18 Als allgemeine Einteilung dient die Differenzierung in 1) primäre Verwandtschaft, 2) sekundäre Verwandtschaft 14 15
16
17
18
Vgl. hierzu ausführlich Kapitel 1.6. Die Namensgebung ist weitgehend patrinominal organisiert, mit Ausnahme z.B. der iberischen Kulturen, die den Namen des Vaters und der Mutter zusammenfügen – trotz des ausgeprägten Patriarchalismus in diesen Ländern. Trotzdem bleibt die weit verbreitete Patrinominalität ein Restbestand unilateraler Verwandtschaftsbeziehungen (vgl. König 1974: 28). Vgl. dazu auch Parsons (1943: 25). Man unterscheidet insgesamt zwischen sechs Verwandtschaftsterminologien: „Iroquois“, „Omaha“, „Crow“, „Sudanese“, „Hawaiian“, „Eskimo“ (vgl. dazu weiterführend Pasternak 1976: 129ff., Harris 1989: 194ff.). In seinem Werk „Elementare Strukturen der Verwandtschaft“ beschäftigt sich Claude Lévi-Strauss mit der theoretischen Fundierung des Inzesttabus (vgl. Lévi-Strauss 1981: 57ff., vgl. dazu auch Pasternak 1976: 28ff. und Harris 1989: 166ff.). Ausführlicher zur sozialen und kulturellen Begründung des Inzesttabus vgl. Klein (1991), Johnson (1970: 41), zu den Inzestregeln vgl. Goode (1967a: 53ff.). Ausführlicher zur europäischen Verwandtschaftsterminologie vgl. Goody (1986: 275ff.).
1.1 Zum Begriff der Verwandtschaft
25
und 3) tertiäre Verwandtschaft. Murdock (1949: 94f.) zählt zu den primären Verwandten Mitglieder der Kernfamilie (Vater, Mutter, Geschwister der Orientierungsfamilie) und die Mitglieder der Fortpflanzungsfamilie (Ehepartner/-in und Kinder), zu sekundären Verwandten Großeltern, Onkel und Tanten, zu tertiären Verwandten die primäre Verwandtschaft von egos sekundären Verwandten (Cousins, Cousinen, Nichten, Neffen). Alle weiteren genealogisch entfernten Verwandten werden als „distant relative“ bezeichnet.19 Der Verwandtschaftsgrad wird ermittelt über die Zahl der Generations- oder Fortpflanzungsschritte, die sie herstellen: In der geraden Linie werden die Schritte bis zum Vorfahren bzw. Nachkommen gezählt, in der Seitenlinie die Schritte von der einen Person zurück bis zum gemeinsamen Vorfahren und dann vorwärts bis zur anderen Person.20 Demnach sind wir mit unseren Eltern und Kindern im ersten Grad verwandt, mit Geschwistern, Großeltern, Enkelkindern im zweiten Grad, mit Urgroßeltern, Urenkelkindern, Onkeln, Tanten, Nichten, Neffen im dritten und mit Cousins und Cousinen im vierten Grad. Die Feststellung des Verwandtschaftsgrades ist juristisch deshalb von Bedeutung, weil Gesetze die Ehe und Geschlechtsverkehr mit Blutsverwandten eines bestimmten Grades verbieten (vgl. Vowinckel 1995: 68f.).21 Eine weitere Abgrenzung unterscheidet Verwandte in gerader Linie (GroßelternEltern-Kinder) und Verwandte in einer Seitenlinie (Tante-Onkel usw.). Hierzu zählen auch angeheiratete Verwandte. Juristisch gesehen und somit z.B. in Unterhalts- und Sozialhilfefällen, gelten jedoch nur Personen in gerader Linie als miteinander verwandt. Vor Gericht besteht im Fall einer Schwägerschaft ein Zeugnisverweigerungsrecht, ein Erbrecht oder Anspruch auf Unterhaltspflichten existiert jedoch nicht (vgl. Lucke 1998: 65f.). Die Termini für Verwandte sind begrenzt. Im deutschsprachigen Raum sind das vor allem die bereits erwähnten Referenztermini wie Vater, Mutter, Onkel, Tante, Cousin, Cousine usw. (vgl. Segalen 1990: 66). Murdock (1949) liefert in seiner Studie „Social Structure“ eine Systematisierung der Verwandtschaftsterminologie, die im Folgenden dargestellt wird. Er unterscheidet zwischen drei Klassifikationsmöglichkeiten von Verwandtschaftsbegriffen („kinship terms“): 1) „mode of use“, 2) „linguistic structure“, 3) „range of application“ (vgl. Murdock 1949: 97). Die erste Klassifikation, die sich auf den konkreten Gebrauch der Verwandtschaftstermini bezieht, wird in a) „terms of adress“ (direkte Ansprache der Verwandten) und b) „terms of reference“ (man spricht in der dritten Person in der Form des jeweiligen Verwandtschaftsstatus über Verwandte) unterteilt (vgl. Murdock 1949: 97). Hinsichtlich der linguistischen Struktur der Verwandtschaftsbezeichnungen wird ebenfalls eine Differenzierung vorgenommen: a) „elementary term“, b) „derivative term“ und c) 19
20
21
Der Begriff der „Distanz“ im Kontext verwandtschaftlicher Beziehungen wird von Schneider (1980: 72f.) weiter differenziert. Zum einen repräsentiert der Begriff die genealogische Distanz, ausgedrückt durch die Verwandtschaftsterminologie (z.B. Großtante vs. Tante). Darüber hinaus wird zwischen geographischer und sozioemotionaler Distanz differenziert. Geographische Distanz kann eine entscheidende Determinante von verwandtschaftlichen Kontakten sein. Geographische Nähe wird jedoch nicht als alleiniger Faktor für sozioemotionale Nähe zwischen Verwandten angesehen. Die sozioemotionale Distanz hingegen rekurriert auf die unterschiedliche Verbundenheit zwischen Verwandten, die in Abhängigkeit von der genealogischen Distanz, Häufigkeit der Interaktion, gemeinsamen Erfahrungen u.a. steht. In der abendländisch-christlichen Kultur hat sich die Berechnung der Blutsverwandtschaft mehrmals geändert. Die römische Verwandtschaftsrechnung wurde vom kanonischen (kirchlichen) Recht übernommen. Sie ermittelt den Verwandtschaftsgrad wie zuvor beschrieben wurde (vgl. Vowinckel 1995: 67ff.). Das römische Recht verbot die Heirat von Verwandten bis zum vierten Verwandtschaftsgrad (Geschwisterkinder) (vgl. Plöchl 1960: 229). Das Ehehindernis der Blutsverwandtschaft wurde in der Zeit vom 8. zum 9. Jahrhundert auf den siebten Grad (Geschwisterurenkel) erhöht. Im 8. Jahrhundert erfolgte eine Verschiebung zugunsten des germanischen Typs. Die Schwägerschaft wurde mit der Blutsverwandtschaft gesetzlich gleichgesetzt (vgl. Plöchl 1960: 403).
26
1 Verwandtschaft: begriffliche und thematische Einordnung
„descriptive term“ (vgl. Murdock 1949: 98). Die Anredeformen bestehen aus Grundformen („basic term“ oder „elementary term“), die nahe Verwandte bezeichnen und ihren abgeleiteten Formen („derivative terms“), die sich auf entfernte Verwandte beziehen und sich aus den Grundformen und einem lexikalischen Element zusammensetzen. Ein Beispiel hierfür: Vater (Grundform) und seine Modifizierung zu Großvater, Schwiegervater usw., die bestimmte Verwandtentypen und nicht spezifische Verwandte bezeichnen (vgl. Schneider 1980: 21f., Murdock 1949: 98). Schneider (1980: 21) weist neben diesen zwei Grundformen auf so genannte „modifiers“ hin, die kennzeichnend für die amerikanische Verwandtschaftsterminologie sind (z.B. „step-“, „in-law“, „great-“, „grand-“, „first-“). Diese zusätzlichen Bezeichnungen, die den klassischen Verwandtschaftsbegriffen voran- bzw. nachgestellt werden, unterscheiden Blutsverwandte von den künstlichen und angeheirateten Verwandten. Darüber hinaus wird die genealogische Distanz sprachlich markiert (z.B. „first-“ vs. „second-“cousin).22 Die dritte Klassifikationsmöglichkeit differenziert zwischen a) „denotative term“, die sich auf die primären Verwandten beziehen, die einer einzelnen Verwandtschaftskategorie angehören (definiert durch Geschlecht, Generation und Abstammungsverhältnis, z.B. Vater, Mutter, Schwester) und b) „classificatory term“, die Personen benennen, die zwei oder mehr Verwandtschaftskategorien angehören (z.B. Tante mütterlicherseits und väterlicherseits, die Bezeichnung Cousin oder Cousine, die sich auf alle Kollateralverwandten ohne weitere Differenzierung bezieht) (vgl. Murdock 1949: 99). Gesellschaftliche Unterschiede in der Bedeutung und Wahrnehmung von Verwandtschaft manifestieren sich außerdem bei einem Vergleich der englischen und französischen Verwandtschaftsterminologie. In der englischen Sprache heißen Eltern „parents“, während „parents“ im Französischen „Verwandte“ bedeutet. Verwandte werden im englischen Sprachgebrauch als „kin“ bzw. „kindred“ bezeichnet, der Begriff „extended kin“ klassifiziert die erweiterte bzw. die entfernte Verwandtschaft. „Kinship“ wird im französischen ersetzt durch „parenté par le sang“ (Blutsverwandtschaft). Der englische Begriff „affinity“ bezeichnet sowohl Blutsverwandtschaft als auch angeheiratete Verwandte. Eine gesonderte Benennung der durch Heirat entstandenen Verwandtschaft entsteht erst durch den Zusatz „in law“ (Schwägerschaft). Diese Abweichungen in der englischen und französischen Terminologie demonstrieren die unterschiedlichen Auffassungen von Verwandtschaft in den Sprachen und damit in den verschiedenen Kulturen. So ist zum Beispiel auffällig, dass in der englischen Sprache die Blutsverwandtschaft und durch Heirat entstandene Verwandtschaft nicht gesondert aufgeführt werden, sondern in einem Begriff zusammengefasst werden (vgl. Segalen 1990: 65). 1.1.2 Objektive vs. subjektive Verwandtschaft „(…) lernt man die Grade der Verwandtschaften, die nähern, stärkern, entferntern, geringern Beziehungen kennen; (…). (…) und man glaubt sich nunmehr berechtigt, sogar das Wort Wahlverwandtschaften anzuwenden, weil es wirklich so aussieht als wenn ein Verhältnis dem andern vorgezogen, eins vor dem andern erwählt würde“ (Goethe 2002 [1809]: 47).
22
Als spezielle amerikanische Ausdrücke für die entfernte Verwandtschaft können genannt werden: „wakesand-weddings relatives“, „kissin´ kin“ bzw. „kissin´ cousin“. Insbesondere die entfernten Verwandten sieht man oft zu Familienfeiern, darüber hinaus symbolisiert der Kuss ein Zeichen von verwandtschaftlicher Beziehung, auch wenn zu diesen Verwandten ein eher distanziertes Verhältnis besteht (vgl. Schneider 1980: 70).
1.1 Zum Begriff der Verwandtschaft
27
Die im vorherigen Kapitel dargestellte Verwandtschaftsterminologie und die Klassifikation des Verwandtschaftssystems sind vor allem Themenbereiche der Anthropologie bzw. Ethnologie, die beispielsweise Verwandtschaftssysteme verschiedener Kulturen miteinander vergleichen. Betrachtet man Verwandtschaft jedoch aus soziologischer Sicht, ist eine Differenzierung zwischen formaler bzw. biologischer Verwandtschaft (objektive Verwandtschaft) und sozialer Verwandtschaft (subjektive Verwandtschaft) als moderne Sozialbeziehung sinnvoll und notwendig.23 In diesen Aussagen manifestiert sich der Doppelcharakter von Verwandtschaft: Natur und Kultur und damit die Frage, ob Verwandtschaft sich auf ein biologisches Phänomen reduzieren lässt (vgl. Fehlmann-von der Mühll 1978: 6). Aus soziologischer Sicht muss man nach der sozialen Bedeutung des biologischen Faktors „Verwandtschaft“ fragen. Kein Verwandtschaftssystem wird alleine durch biologische Tatbestände determiniert, jedes Verwandtschaftssystem trifft eine bestimmte Selektion von möglichen Beziehungstypen, die auf Basis biologischer Beziehungen entwickelt werden (vgl. Johnson 1970: 39). Das Verständnis von Verwandtschaftsbeziehungen geht somit über die biologische Dimension hinaus, denn „biologische Verwandtschaft genügt alleine nicht, man braucht dazu kulturell definierte Erwartungs- und Handlungsmuster“ (Fehlmann-von der Mühll 1978: 23). Für Goode (1967a: 78) ist das Biologische nur ein Ausgangspunkt für die Variationen der sozialen Verwandtschaft. Es bestimmt lediglich die Form und Struktur der Familie auf eine allgemeine Weise – die soziale Bedeutung der Verhältnisse lässt sich daraus nicht erfassen. Kaser (2001: 20) differenziert in diesem Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis von Verwandtschaft, denn „wenn wir von Verwandtschaft sprechen, so haben wir es also einerseits mit einer theoretisch fest umrissenen, andererseits allerdings mit einer durch die Praxis des Lebens definierten Kategorie zu tun.“ In der Literatur wird die begriffliche Differenzierung von biologischer Verwandtschaft und den konkreten sozialen Beziehungen unterschiedlich vorgenommen (vgl. insbesondere Firth, Djamour 1956; Bott 1971). Firth, Djamour (1956: 42ff.) unterscheiden zwischen unterschiedlichen Arten von Verwandten, deren Klassifikation mit der Annahme der Selektivität der Beziehungen korrespondiert. Es wird unterschieden zwischen a) „recognized kin“ und b) „nominated kin“, wobei a) alle Verwandten erfasst, unabhängig davon, ob sie namentlich bekannt sind und b) alle Verwandten zusammenfasst, deren Namen genannt wer-
23
Auf das unterschiedliche Ausmaß von emotionaler Bindung an Verwandte in verschiedenen Gesellschaften und Kulturen wird bereits in „How to Observe Morals and Manners“ (1838) von Harriet Martineau (18021876) hingewiesen. Martineau gilt als erste Soziologin (Rossi 1973) und ihr Werk als erste methodologische Abhandlung zur Soziologie und Sozialforschung (vgl. Hill 2002a: li). Ihr soziologischer Beitrag wird jedoch kaum von der akademischen Welt wahrgenommen (vgl. dazu ausführlicher Hoecker-Drysdale 1998: 55ff.). Das Studium der Gesellschaft, von „morals“ (ethischen und moralischen Grundlagen) und „manners“ (Handlungen) beinhaltet folgende institutionelle Bereiche einer Gesellschaft: Religion, allgemeine moralische Vorstellungen, innere Verfassung („domestic state“) wie z.B. Familie, Ökonomie, Geographie, Verhältnis zwischen Männern und Frauen u.a., die Idee der Freiheit (u.a. Gesetze, Urbanisierung, Erziehung) und Diskurs über die Erforschung von Werten und Zielen einer Gesellschaft (vgl. Hoecker-Drysdale 1998: 41). Verwandtschaftsbeziehungen gehören dem Themenbereich der allgemeinen moralischen Wertvorstellungen an. Martineau stellt dabei die Bedeutung von Verwandtschaft heraus, die für das Studium von Gesellschaften von Relevanz ist: „The observer may obtain further light upon the moral ideas of a people by noting the degree of their Attachment to Kindred and Birth-place. This species of attachment is so natural, that none are absolutely without it; but it varies in degree, according as the moral taste of the people goes to enhance or to subdue it” (Martineau 2002 [1838]: 119).
28
1 Verwandtschaft: begriffliche und thematische Einordnung
den können.24 Diese zwei Arten von Verwandten werden jedoch noch weiter differenziert. „Nominated kin“ werden unterteilt in a) „effective kin“ und b) „non-effective kin“. Zu den „effective kin“ zählen die Verwandten, mit denen Kontakte bestehen. Diese werden weiterhin unterteilt in a) „peripheral kin“ (zufälliger, distanzierter, sporadischer Kontakt) und b) „intimate kin“ (enger und häufiger Kontakt). Bott (1971: 120f.) differenziert zwischen vier Graden von sozialer Nähe bzw. Distanz zu Verwandten, die aufgrund von zwei Kriterien gebildet werden: a) „intimacy of contact with relatives“, b) „degree of knowledge of them“. Sie unterscheidet intimate kin, effective kin, non-effective kin und unfamiliar kin. Mit den „intimate kin“ unterhält man häufige Kontakte, man besucht sich regelmäßig und tauscht Hilfeleistungen aus. Im Fall der „effective kin“ sind Verwandte persönlich bekannt (man kennt allgemein die Interessen und den Geschmack der Verwandten u.a.) und unterhält Kontakte im Rahmen ritueller Feste oder Familientreffen (z.B. Weihnachten). Im Gegensatz dazu bestehen zu „non-effective kin“ keinerlei Kontakte, allerdings kennt man die Verwandten und kann beispielsweise ihren Namen und Beruf nennen. Der höchste Grad an sozialer Distanz besteht zu den „unfamiliar kin“, von denen man lediglich weiß, dass sie existieren.25 Das Konzept der subjektiven Verwandtschaft korrespondiert mit dem Begriff „effective kin“. Die subjektive Verwandtschaft repräsentiert somit diejenigen Verwandten, zu denen eine soziale Beziehung besteht. Unter den Bedingungen der modernen Gesellschaft verliert Verwandtschaft ihre „Naturgewalt“ und somit ihren Pflichtcharakter. Es lässt sich eine Transformation von Verwandtschaft, deren natürliche Basis „Blut“ und „Heirat“ sind, im Kontext der Moderne feststellen. Verwandtschaft wird umdefiniert zu einer Beziehung auf Grundlage von freier Wahl und Nutzenkriterien bzw. Bedürfnissen (vgl. Johnson 2000a: 144). Verwandtschaft als gesetzliches und biologisches „Modell“, wird in der Realität durch Selektivität eingegrenzt. Die Existenz einer genealogischen Beziehung „not necessarily involve behaving towards that person as a kinsman” (Allan 1979a: 32f.). Auf den ersten Blick erscheinen die Begriffe Wahl und Verwandtschaft, die im gleichen Kontext benutzt werden und der erste Begriff sogar darüber hinaus eine Eigenschaft des zweiten darstellen soll, contraintuitiv. Lee (1985: 29) bringt es auf eine kurze Formel: „Kin are not subject to choice.” Dieser Satz drückt die alltagstheoretische Auffassung aus, dass man seine Verwandten (im Vergleich zu Freundschaften) nicht wählen kann und dass man – aus der Perspektive egos – von seinen Freundinnen und Freunden gewählt wird, jedoch nicht von seinen Verwandten (vgl. Lee 1985: 28f.). Rubin (1985: 24) beschreibt diesen Sachverhalt folgendermaßen: „‚You can pick your friends but not your relatives’, we sigh with resignation, reminding ourselves that we have little choice in kin relationships, that there´s nothing much we can do to change them.”
Auch Adams (1968: 17) weist explizit auf die Zugeschriebenheit von verwandtschaftlichen Beziehungen hin:
24
25
Turner (1969: 16) bezeichnet Verwandte jenseits des ersten und zweiten Grades als „peripheral relations“ und weist darauf hin, dass das Wissen über diese Verwandten und Kontakte zu ihnen sehr variabel sind. Er erkennt auch das Forschungsdefizit in diesem Bereich: „Little attention has been specifically devoted to the study of second or peripheral kin” (Turner 1969: 17). Vgl. auch Firth, Djamour (1956: 42ff.).
1.1 Zum Begriff der Verwandtschaft
29
„Relatives are to a great extent ‚givens’ in the individual´s social milieu. He does not choose them, he has them” [Hervorhebung im Original].
Das zentrale Merkmal der Zuschreibung und Nicht-Wählbarkeit von Verwandtschaft trifft auf die objektive Verwandtschaft zu. Die Gesamtheit der Verwandten ist eine biologische Gegebenheit und „schicksalsbedingt“ vorgegeben. Eine Wahl ist zu Recht nicht möglich, denn man kann sich nicht aussuchen, mit wem man verwandt ist. Auch wenn keine Beziehungen bzw. Interaktionen zwischen Verwandten existieren, bleibt das objektive Verwandtschaftsverhältnis bestehen. Die biologische Zahl von Verwandten ist durch ihren objektiven und zugeschriebenen Charakter bestimmt. Betrachtet man jedoch in einem nächsten Schritt die Merkmale der subjektiven Verwandtschaft, die diejenigen Verwandten repräsentiert, zu denen eine soziale Beziehung besteht, so ist auf dieser Ebene sehr wohl von einer Wahl zu sprechen, denn in der modernen Gesellschaft bestehen nicht „immer enge oder überhaupt irgendwelche Interaktionsbeziehungen zwischen Verwandten“ (Nave-Herz 2004: 35).26 Verwandtschaft unterscheidet sich von anderen sozialen Gruppen dadurch, „dass hier nicht reale Interaktionen, sondern vielmehr die Chance auf derartige Interaktionen“ erfasst werden (vgl. Jakoby, Kopp 2006: 339f.). Verwandtschaft ist zwar biologisch festgelegt, aus soziologischer Perspektive jedoch wählbar. Im Folgenden soll die Logik der „Wahl von Verwandten“ genauer expliziert werden. Hierzu werden die Positionen verschiedener Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler herangezogen. So findet man den Aspekt der Wahl von Verwandtschaftsbeziehungen bereits in der Monographie „Die moderne Familie“ von Renate Mayntz aus dem Jahr 1955. Dort heißt es: „Die Tatsache, daß ein bestimmter Mensch entfernt mit einem verwandt ist, bedeutet heute nicht mehr selbstverständlich, daß man am Leben dieses Menschen Anteil nimmt und ihm gleichermaßen Anteil am eigenen Leben einräumt. Die heutigen Menschen suchen sich aus dem großen Angebot möglicher sozialer Beziehungen ihren ganz individuellen Interessen und Bevorzugungen nach einzelne Menschen aus, mit denen sie engere Bindungen halten. Unter diesen Menschen kann auch ein bestimmter Verwandter sein, doch wird er in den engeren Freundeskreis nicht deshalb gewählt, weil er ein Verwandter ist, sondern weil man ihn als Persönlichkeit schätzt“ (Mayntz 1955: 106; Eigene Hervorhebung).
In Deutschland hat darüber hinaus René König diesen Gedanken aufgegriffen und an verschiedenen Stellen seiner familiensoziologischen Abhandlungen vertieft. „Durchschnittlich scheint einem heute Verwandtschaft nicht mehr einfach ‚zuzufallen’, sondern man entscheidet aufgrund eines mehr oder weniger bewußten Selektionsprozesses, mit wem man umgeht“ (König 1976: 79; Eigene Hervorhebung).
König (1974a, 1976) benennt explizit den Selektionsmechanismus als konstituierendes Element moderner Verwandtschaftsbeziehungen und weist darauf hin, dass diese Selektion mehr oder weniger bewusst von den Menschen durchgeführt wird. Er zeigt zudem Paralle-
26
Vgl. in diesem Zusammenhang auch Adams (1999): „While kin relations are not voluntary, how one relates to kin certainly has an element of choice in it in the United States, and increasingly in the rest of the world“ (Adams 1999: 89).
30
1 Verwandtschaft: begriffliche und thematische Einordnung
len zwischen Verwandtschaftsbeziehungen und Freundschaften auf.27 Im Vordergrund seiner Argumentation steht die neue Rolle des Gattenpaares, die zu einem Ort einer Vielzahl von Entscheidungen geworden ist: „Diese Vereinigung wird nämlich zum Ursprung zahlloser Entscheidungsprozesse mit deren Hilfe nicht nur das Leben geplant, sondern vor allem auch die Beziehungen zur Verwandtschaft ausgestaltet werden, die von jetzt ab nicht mehr etwas schicksalhaft Zugefallenes, sondern ebenfalls bewußt gewählte Verkehrsnetze darstellen, in die auch Freunde, Arbeitskollegen u.a. je nach Umständen eingeschlossen werden können” (König 1976: 105; Hervorhebung im Original).
Das objektive Verwandtschaftsverhältnis, d.h. der reine Status des Verwandtseins, genügt nicht mehr als alleinige Ursache für Kontakte und gegenseitige Unterstützung, sondern es muss noch „ein besonderes Gefühl der Verbundenheit hinzukommen“, das entscheidend die Auswahl an Verwandten determiniert, zu denen engere Beziehungen bestehen (vgl. König 1976: 78). Das Prinzip der Wahl von (entfernten) Verwandtschaftsbeziehungen wird explizit auch von Schneider (1970) angesprochen. Sie weist darauf hin, „(…) daß in industrialisierten Gesellschaften institutionalisierte Verwandtschaftsbeziehungen, die auf gegenseitigen Rechten und Pflichten basieren, abgelöst worden sind von Verwandtschaftsbeziehungen, die der gegenseitigen Wahl unterliegen“ (Schneider 1970: 446; Eigene Hervorhebung).
Die Logik der Wahl von Verwandten wird darüber hinaus explizit in den ersten Verwandtschaftsstudien aus Großbritannien nach dem zweiten Weltkrieg festgehalten. Firth (1956a) wird in diesem Zusammenhang von Allan (1977: 183) als erster Autor genannt, der auf die Wahl von Verwandten hinweist. „The importance of personal choice in Western kinship was first recognized some 20 years ago by Firth (1956)” (Allan 1977: 183).
Selektivität ist nach Firth (1956b: 16) das entscheidende Kennzeichen moderner Verwandtschaftsbeziehungen. „(…) the prime characteristic of the South Borough kinship system lies in the aspect of selectivity on a basis of personal attachment rather than on a basis of formalized ties. (…) To be able to treat kinship as an instrument of social expression is personally important (…)“ (Firth, Djamour 1956: 44; Eigene Hervorhebung).
Die Selektivität moderner Verwandtschaftsbeziehungen erlaubt nicht nur die Wahl von und zwischen Verwandten, sondern auch deren Zurückweisung und Ablehnung (vgl. Firth 1956b: 20). Dabei werden vor allem die Beziehungen zur sekundären und tertiären Verwandtschaft als freiwillig und von geringer Bedeutung für das Individuum angesehen, denen keine festen Verhaltensregeln und Verpflichtungen zugrunde liegen (vgl. Allan 1979a:
27
Der Gedanke der Parallelität zwischen Verwandtschaft und Freundschaft wird insbesondere in den 1970er Jahren von König (1974a, 1976) und Schneider (1970) aufgegriffen. Diese zentralen Positionen werden an dieser Stelle nicht weiter verfolgt, sondern ausführlich in Kapitel 1.3 dargestellt.
1.1 Zum Begriff der Verwandtschaft
31
11).28 Das Merkmal der Selektivität ist nach Firth, Djamour (1956: 44) jedoch für eine Schwächung bzw. Auflösung verwandtschaftlicher Beziehungen verantwortlich, die nicht mehr auf formalisierten Verwandtschaftsverpflichtungen beruhen. Während patrilineare oder matrilineare Verwandtschaftssysteme dauerhafte und reziproke Verpflichtungen bzw. Rechte institutionalisiert haben, hängen die Beziehungen von Verwandten in der modernen Gesellschaft von der individuellen Aufrechterhaltung der Kontakte ab.29 Dies kann ein Zerbrechen der Verwandtschaftsstruktur zur Folge haben. „Should an elementary family be denuded, or dispersed, or should dislikes between siblings or other relatives weaken contacts, the kinship structure is immediately broken“ (Firth, Djamour 1956: 44).
Auch Turner (1969) geht ausführlich auf das Prinzip der Selektivität ein und bezeichnet das moderne Verwandtschaftssystem als „selective multilineal system“, das durch Variabilität und Optionalität gekennzeichnet ist. Zurückzuführen ist dieses Prinzip auf die Bilinearität des modernen Verwandtschaftssystems, das gesellschaftliche Toleranz und Offenheit im Aufbau der sozialen Beziehungen zur Folge hat, indem das Individuum ohne Gefahr von Sanktionen frei wählen kann, ob verwandtschaftliche Beziehungen hergestellt werden oder nicht (vgl. Turner 1969: 16, vgl. auch Firth 1956b: 12f.). Die Selektivität bezieht sich auf die Herstellung bzw. Aufrechterhaltung und darüber hinaus auf Inhalt und Form der Beziehung (vgl. Turner 1969: 36). Das blutsverwandtschaftliche Abstammungsverhältnis fungiert lediglich in der Rolle eines sozialen Bewusstseins über die Existenz dieser Beziehung (vgl. Turner 1969: 86f.). Hubert (1965: 74) hebt ebenfalls die „idiosynkratische Natur“ von Verwandtschaftsbeziehungen hervor. Sie weist darüber hinaus auch auf bestehende normative Verpflichtungen gegenüber Verwandten hin, die nicht zu negieren sind. „To a great extent who is kept in touch is a matter of personal preferences, with certain elements of duty in the case of older relatives, but even here a certain amount of selection goes on with regard to who is felt responsible for and who is not. This element of selection of kin whom a person will keep up contact is very important, (…)” (Hubert 1965: 73).
Über diese bloße Feststellung der Selektivität hinaus liefert die Wissenschaftlerin neue Erkenntnisse über den Wahlprozess, da sie die Wichtigkeit der elterlichen Beziehung mit den Verwandten betont. So wird die erste Wahlentscheidung bereits von den Eltern durchgeführt, die das Wissen und die Kontakte mit den Verwandten an ihre Kinder vermitteln.30
28
29
30
Vgl. auch Klatzky (1971: 16): „(…) the element of choice or selectivity in kin contacts operates to a much greater extent in the case of siblings and more distant relatives than in that of parents, (…).” Auch wenn der Anspruch an Familienfeste (z.B. Weihnachten) besteht, die Verwandtschaft als korporierte, exklusive Gruppe zusammenzubringen, so besteht in Wirklichkeit die Gruppe aus „selected or self-selected kinfolk and unrelated friends“ (vgl. Turner 1969: 86). Des Weiteren vermutet die Autorin, dass eine instabile Beziehung mit den Eltern sich folgendermaßen auf die Wahl von Verwandten auswirken könnte: So könnte die Einstellung des Kindes derart sein, dass es keine nahen Beziehungen mit seinen Verwandten erwartet (aufgrund mangelnder Bindung an seine Eltern). Zum anderen können aufgrund unregelmäßiger und geringer Kontakte mit den Eltern oder Geschwistern nur wenige genealogische entfernte Verwandte in sein Leben „dringen“, die zur subjektiven Verwandtschaft der Eltern gehören (vgl. Hubert 1965: 79).
32
1 Verwandtschaft: begriffliche und thematische Einordnung
Diese subjektive Verwandtschaftsgruppe der Eltern stellt die potentielle subjektive Verwandtschaft egos dar (vgl. Hubert 1965: 73). „The majority of relatives an individual has contact with are those whom they have been brought up to know, or have met through their parents; from this group he then selects out the kin that will make up his own effective kin set. This selection at each generation is highly significant for the apparently idiosyncratic nature of an individual´s effective kin at any given point” (Hubert 1965: 73f.).
Zu folgenden Verwandten bestehen somit keine Kontakte: Verwandte, die ego nie getroffen hat bzw. Verwandte, die nicht der subjektiven Verwandtschaft der Eltern angehören sowie Verwandte, die ego zwar kennt, zu denen jedoch aus Mangel an Interesse oder unfreiwillig keine Kontakte bestehen (vgl. Hubert 1965: 74). Das Individuum steht vor der Notwendigkeit aus der „Fülle von Verwandten“ – aufgrund des bilinearen Verwandtschaftssystems – bestimmte Verwandte auszuwählen und Beziehungen zu diesen zu intensivieren, andere Beziehungen wiederum zu vernachlässigen (vgl. Rosenbaum 1998: 29). Dieser „pool“ (Gibson 1972: 20) an potentiell verfügbaren Verwandten hängt entscheidend von der biologischen Existenz ab.31 Zusammenfassend kann festgehalten werden: „Je größer die Familie, desto verzweigter sind die verwandtschaftlichen Beziehungen. Damit steigen auch die Wahlmöglichkeiten, zu einzelnen Verwandten herausgehobene Beziehungen zu pflegen, deren Reiz nicht zuletzt in der Freiwilligkeit besteht“ (Kaiser 1993: 151f.).
Die Wahl von Verwandten als Interaktionspartner/-innen gilt als spezifisches Merkmal moderner Verwandtschaftsbeziehungen. Die subjektive Verwandtschaft wird im Folgenden als eine Teilmenge der objektiven Verwandtschaft dargestellt, aus denen bestimmte soziale Beziehungen generiert werden (vgl. Abbildung 1). Über die Bewertung der Beziehung hinsichtlich Intensität bzw. Grad der emotionalen Bindung oder Häufigkeit der Kontakte ist damit noch keine Aussage getroffen (vgl. Esser 2000: 179). Die Entstehung der subjektiven Verwandtschaft basiert auf dem grundsätzlichen Mechanismus der Wahl von Verwandten als Interaktionspartner/-innen.32
31
32
Firth, Djamour (1956: 43) bezeichnen die Gesamtheit an Verwandten einer Person als „kinship universe“. Dieser Begriff wird von Turner (1969: 22f.) wieder aufgegriffen, der die Bedeutung für die Analyse der sozialen Beziehungen vor dem Hintergrund des Prinzips der Selektivität verwandtschaftlicher Beziehungen hervorhebt: „A detailed knowledge of the kinship universe provides an excellent background against which to examine social contact between kin, since it tends to highlight the selectivity permitted in the establishment of such relationships“ (Turner 1969: 24). In diesem Kontext ist auch der „subjektive Familienbegriff“ (Bien, Marbach 1991; Trost 1990) zu sehen. Er erfasst die subjektiv wahrgenommene Familie und entspricht den Familienmitgliedern, die individuell zur Familie gezählt werden.
33
1.1 Zum Begriff der Verwandtschaft
Interaktionspartner/-innen
objektive Verwandtschaft
subjektive Verwandtschaft
Abbildung 1:
Zum Verhältnis von objektiver und subjektiver Verwandtschaft
Unterstützung für das Konzept der subjektiven Verwandtschaft findet sich bei Riley (1983, 1985) und Riley, Riley (1993, 1996). Ihre Konzeption von modernen Verwandtschaftsbeziehungen soll an dieser Stelle expliziert werden. Als Ursache für eine Revision der traditionellen Sichtweise von Verwandtschaft stellt die Autorin insbesondere demographische Faktoren wie eine längere Lebenszeit heraus, die zu einer Verlängerung potentieller Bindungen zwischen Verwandten führt und die Anzahl sowie Komplexität von Generationenund Verwandtschaftsbeziehungen erhöht (vgl. Riley 1983: 400f.). Es werden insbesondere die Merkmale der Selektivität, Optionalität und Flexibilität herausgestellt: „It provides many new opportunities for people at different points in their lives to select and activate the relationships they deem most significant. That is, the options for close family bonds have multiplied. Over the century, increased longevity has given flexibility to the kinship structure, relaxing both the temporal and spatial boundaries of optional relationships” (Riley 1983: 445).
Riley (1983) definiert Verwandtschaft als eine „Matrix latenter Beziehungen“ – eine Konzeption, die als eine idealtypische Konstruktion verstanden werden soll (vgl. Riley, Riley 1993: 167). „I have to come to think of today´s large and complex kinship structure as a matrix of latent relationships – father with son, child with great-grandparent, sister with sister in law, ex-husband with ex-wife, and so on – relationships that are latent because they might or might not become close and significant during lifetime. Thus I´m proposing a definition of the kinship structure as a latent web of continually shifting linkages that provide the potential for activating and intensifying close family relationships” (Riley 1983: 441; Hervorhebung im Original).
34
1 Verwandtschaft: begriffliche und thematische Einordnung
Verwandtschaftliche Beziehungen sind demnach „matters of choice, rather than obligation“ (Riley 1993: 167). Sie konstituieren ein Sicherheitsnetz aus signifikanten Bindungen, aus denen man einige in Notfällen oder Krisensituationen wählen kann (vgl. Riley, Riley 1993: 167). Verwandtschaftsbeziehungen unterschiedlichster Art – und damit auch entfernte Verwandtschaftsbeziehungen – stellen ein Potential für enge persönliche Verbindungen dar. Kontrastiert wird diese neue Verwandtschaftsstruktur mit zwei Typen, die jedoch primär die Struktur intergenerationaler Beziehungen beschreiben. Riley, Riley (1996: 170) differenzieren zwischen 1) „simple type“ und 2) „expanded type“, in denen sich ein Wechsel von der ersten zur zweiten Struktur vollzogen hat. Die erste einfache Form der Familienbzw. Verwandtschaftstypologie besteht aus der Kernfamilie und einer älteren Generation, die aufgrund ökonomischer und sozioemotionaler Bindungen zusammengehalten werden. Die zweite erweiterte Form zeichnet sich durch größere und komplexere Verwandtschaftsnetzwerke aus, für die ein ökonomischer Funktionsverlust charakteristisch ist. Staatliche Institutionen oder andere nicht-familiale Institutionen übernehmen die ehemals verwandtschaftlichen Funktionen. Die höhere Lebenserwartung führt dazu, dass immer mehr Generationen miteinander in Kontakt stehen können. Zudem leben die Generationen in größerer geographischer Distanz voneinander (vgl. Riley, Riley 1996: 173). Entscheidendes Merkmal der „latenten Matrix“ – als dritte zukünftige und idealtypische Verwandtschaftsform – ist ihre Komplexität, Heterogenität, Selektivität und Optionalität (vgl. Riley, Riley 1993: 170). „In our latent matrix, the extra familial supports remain; the kinship structure has become more complex; and a wide array of relationships, no longer constrained by age or generation, are matters of choice rather than obligation” (Riley, Riley 1996: 170; Hervorhebung im Original).
Es wird nicht mehr nur die Intergenerationenbeziehung mit ihrer Begrenzung durch die Merkmale „Generation“ und „geographische Nähe“ betrachtet, sondern die Grenzen für diverse soziale (verwandtschaftliche) Beziehungen sind geöffnet (vgl. Riley, Riley 1996: 174). So nennt Riley (1983: 446) exemplarisch die Beziehungen zwischen Cousins und Cousinen. Diese bleiben inaktiv, bis sie in Zeiten des Bedarfs reaktiviert werden – in unterschiedlichen Phasen des Lebenszyklus, für instrumentelle oder emotionale Hilfe, „companionship“, „affection“ und „intimacy“ (vgl. Riley, Riley 1996: 174). „These relationships are no longer prescribed as strict obligations. They must rather been earned – created and recreated by family members throughout their long lives” (Riley 1983: 451).
Riley, Riley (1996: 180) sehen ihr Konzept durch moderne familiale Phänomene wie Scheidung, nichteheliche Lebensgemeinschaften und die Existenz von Ersatzverwandten und ihre Folgen für verwandtschaftliche Beziehungen gestützt, denn diese neue Formen familialer Beziehungen führen zu neuen, komplexeren, zahlreicheren Verbindungen zwischen Verwandten.33 In diesen modernen Familien- und Lebensformen finden sie die Schlüsselelemente der Matrix latenter Verwandtschaftsbeziehungen wieder: Komplexität der Struktur, Prolongation der Beziehung und vor allem die Substitution ehemals verpflichtender Beziehungen durch das Element der Flexibilität und Wahl.
33
Vgl. dazu ausführlicher Kapitel 2.2.1.
1.2 Verwandtschaft und Kernfamilie
35
1.2 Verwandtschaft und Kernfamilie Die Kernfamilie ist als Lebensgemeinschaft von Eltern und ihren unverheirateten, unmündigen Kindern definiert (vgl. Fuchs-Heinritz u.a. 1994: 333). Äquivalente Begriffe sind Gattenfamilie („famille conjugal“)34 oder die Nuklearfamilie („nuclear family“). Darüber hinaus ist die erweiterte Familie zu nennen, bei der zu der gemeinsamen Haushaltsführung weitere Verwandte gezählt werden.35 Sie lässt sich wiederum in a) die Dreigenerationenfamilie und b) die Großfamilie („joint family“) differenzieren. Das Charakteristikum der Großfamilie ist ihre erweiterte verwandtschaftliche Struktur des Zusammenlebens und nicht irrtümlicherweise der quantitative Umfang der Mitglieder (vgl. Hill, Kopp: 2004: 16). Die Kernfamilie als Eltern-Kind-Einheit wird als zentrales Teilsystem innerhalb der Verwandtschaft angesehen (vgl. Schütze, Wagner 1998: 9). Wird der Begriff der Familie verwendet, so bezieht er sich meist auf Mitglieder der Kernfamilie. Die Kernfamilie als soziologisches Modell besteht traditionellerweise aus zwei Elternteilen oder Dauerpflegebzw. Erziehungspersonen verschiedenen Geschlechts und kleineren Kindern (seien es eigene, Pflege- oder Adoptivkinder) (vgl. Claessens 1979: 58). Sie beruht auf zwei Kriterien: zum einen ist es die Ehe, zum anderen die Filiation (d.h. die dauerhafte, blutsverwandtschaftliche Anbindung der Kinder an die Eltern) (vgl. Tyrell 1979: 18). Man unterscheidet zwischen zwei Typen von Kernfamilien, die die Mittelpunkte unseres Familiensystems darstellen: die Orientierungsfamilie („family of orientation“) und die Fortpflanzungsfamilie bzw. Zeugungsfamilie („family of procreation“) (vgl. Parsons 1943: 25). Die Kernfamilie wird seit Murdocks (1949) kulturvergleichender Studie von 250 Gesellschaften als universal angesehen.36 Seine These der Universalität der Kernfamilie besagt, dass die Kernfamilie in ihrer familialen Struktur und Organisation als eine universale Erscheinung in allen Gesellschaften angesehen wird (vgl. Neidhardt 1971: 11).37 „The nuclear family is a universal human social grouping. Either as the sole prevailing form of the family or as the basic unit from which more complex familial forms are compounded, it exists as a distinct and strongly functional group in every known society” (Murdock 1949: 2).
Murdock (1949: 10f.) nennt vier Funktionen der Familie, die fundamental für menschliches und soziales Leben sind und für die es kein gesellschaftliches Substitut gibt: die sexuelle, ökonomische, reproduktive und erzieherische Funktion der Familie. Andere Autoren legen unterschiedliche Schwerpunkte. Für Goode (1967b: 18) sind es: Reproduktion, physische Erhaltung der Familienmitglieder, soziale Placierung des Kindes, Sozialisierung und soziale Kontrolle. Neidhardt (1971: 59ff.) nennt Reproduktion, Sozialisation, soziale Placierung, Haushalts- und Freizeitfunktionen und die Funktion des emotionalen Spannungsausgleichs. Die Hauptfunktion der Familie besteht übereinstimmend in der Sozialisation der Kinder, in dem „Aufbau der sozialkulturellen Person des Menschen im Rahmen einer kleiner Gruppe, die sich ferner dadurch auszeichnet, daß die Menschen in ihr durch intime und stärkste 34 35 36
37
Zu den strukturellen Unterschieden der Begriffe Kernfamilie und Gattenfamilie vgl. Kapitel 2.1.2. Koschorke (1972: 555) bezeichnet diese Form des Zusammenlebens als „Verwandtschaftsfamilie“. In der Literatur werden aber auch zwei Gegenbeispiele genannt. Es werden die matrilineare Gesellschaft der indischen Nayar und die Institution des israelischen Kibbuzim angeführt (vgl. dazu Neidhardt 1971: 11f., Harris 1989: 153ff., Johnson 1970: 40f.). Als zweite gesellschaftliche Universalie wird das Inzesttabu in allen Gesellschaften identifiziert (vgl. Johnson 1970: 39).
36
1 Verwandtschaft: begriffliche und thematische Einordnung
Gefühle verbunden sind“ (König 1974a: 71).38 Als Vorteile der Kernfamilie im Hinblick auf die Sozialisierungsfunktion wird zum einen die geringe Größe herausgestellt, da sich starke affektive Bande zwischen den Familienmitgliedern herausbilden. Zum anderen besteht die Kernfamilie traditionellerweise aus zwei Geschlechtern und kann somit Geschlechtsrollen, die Bestandteil des sozialen Systems sind, vermitteln (vgl. Johnson 1970: 40).39 Die überragende Bedeutung der Familie, so betont Goode (1967b: 13), liegt in der Vermittlungsfunktion im Rahmen der Gesamtgesellschaft, da sie das Individuum mit der weiteren Sozialstruktur verklammert. Die Familie wird als „Keimzelle“ der Gesellschaft betrachtet (vgl. Goode 1967b: 32, Murdock 1949: 10ff.). Weiteres entscheidendes Kennzeichen ist die Neolokalität der Kernfamilie, d.h. die Gründung eines eigenen Haushalts, die die Unabhängigkeit von weiteren Verwandten ausdrückt. Die Kern- oder Kleinfamilie wird als „normale“, im Sinne einer kulturell institutionalisierten Familienform der Moderne angesehen (vgl. Tyrell 1979: 18). Damit ist sie die kleinste denkbare Einheit der Familienstruktur, aus der sich dann die verschiedenen Verwandtschaftsgruppen zusammensetzen (vgl. Goode 1967a: 38). Tyrell (1979: 21) begründet die Bezeichnung der Kernfamilie als „Normalfall der Moderne“ mit dem sozialisierten Alltagsverständnis von Familie, das automatisch ein Bild der Familie bestehend aus Vater, Mutter, Kind impliziert. Vor dem Hintergrund der Pluralisierung von Lebensformen und alternativen Familienmodellen muss diese Auffassung jedoch kritisch in Frage gestellt werden. Die klassische Position kann mit einem Zitat von Tyrell (1979) verdeutlicht werden: „Dabei ist entscheidend: wir denken an nicht mehr (also nicht auch an Großmütter, Tanten, Vettern usw.) und auch nicht an weniger (also etwa nur an Mutter und Kind) als an diese Rollenkonstellation, d.h. wir denken sie insgesamt in geschlossener-exklusiver Zusammengehörigkeit, also mit klarer Innen-Außen-Differenz von Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit“ (Tyrell 1979: 21).
Andere familial-verwandtschaftliche Konstellationen des Zusammenlebens werden zwar nicht als abweichend empfunden, sondern eher als Notlösungen oder provisorische, unübliche Lösungen betrachtet.40 Neben dem vorherrschenden Modell der Kernfamilie gibt es kein anderes ebenbürtiges verwandtschaftliches Muster (z.B. die Großfamilie), das sich als wirkliche Alternative zur Kernfamilie anbietet (vgl. Tyrell 1979: 21f.). Im Zuge von Modernisierungs- und Industrialisierungsprozessen hat sich die Stellung der Kernfamilie innerhalb des Verwandtschaftssystems verändert, denn im Vergleich zu früheren Zeiten ist die Kernfamilie unabhängiger von der Verwandtschaft (vgl. Goode 1967a: 76). Dies ist eine Feststellung gewesen, die sich zum einen in der These und dem Vorurteil der „Isolation der Kernfamilie“ manifestiert hat (Durkheim 1921; Parsons 1943).41 Zum anderen sind jedoch viele Autorinnen und Autoren der Ansicht, dass keine Kernfamilie mit sich selbst isoliert leben kann. Sie ist auf Außenbeziehungen angewiesen, die wirtschaftliche, soziale, politische und kulturelle Funktionen übernehmen – Leistungen, 38 39
40
41
Ausführlich zur Theorie der „zweiten sozio-kulturellen Geburt“ des Menschen vgl. Claessens (1979). Die Sozialisierung von Geschlechtsrollen wird aus feministischer Sicht kritisiert (vgl. dazu weiterführend Brück u.a. 1997: 63ff.). „Es gibt nur die Kernfamilie als familialen Normalfall und davon abweichende, aber in der familialen Privatsphäre durchaus zulässige Varianten, die dann zumeist als »schlechtere Lösungen« erlebt werden, (…)“ (Tyrell 1979: 22). Vgl. dazu ausführlich Kapitel 2.1.2.
1.3 Verwandtschaft und Freundschaft
37
die eine Kernfamilie nicht alleine in ausreichendem Maße herstellen. Eine weit verbreitete Verbindung, die die Kernfamilie zu größeren gesellschaftlichen Gruppen der sozialen Umwelt eingehen kann, besteht nach Neidhardt (1971: 19) in bestimmten Formen der Verwandtschaftsbeziehung. 1.3 Verwandtschaft und Freundschaft Verwandtschaft wird häufig im Zusammenhang mit der soziologischen Kategorie Freundschaft thematisiert, ihre Funktionen und Besonderheiten gegeneinander abgegrenzt und ihre Gemeinsamkeiten aufgezeigt.42 In der modernen Gesellschaft erscheint Freundschaft als die eigentlich angemessene Form der Sozialbeziehung und wird beispielsweise von BeckGernsheim (2000: 101) als potentielle „Familie der Zukunft“ bezeichnet. Auf der anderen Seite spricht aber auch einiges dafür, dass gerade Verwandtschaft in der Moderne aufgrund der Komplexität persönlicher Beziehungen „als relative Invariante fungiert, auf die als einzige nichtkontingente Beziehungsform vergleichsweise unaufwendig zurückgegriffen werden kann“ (Schuster u.a. 2003: 4). Dieses Kapitel thematisiert Verwandtschaft aus drei unterschiedlichen Perspektiven. Zuerst wird Verwandtschaft als objektive und zugeschriebene Sozialbeziehung klassifiziert und ihre zentralen Charakteristiken aufgeführt. In einem zweiten Schritt wird die Sozialbeziehung Freundschaft mit diesen Eigenschaften kontrastiert und so ihre spezifische Qualität und die zentralen Unterschiede herausgearbeitet. In einem dritten Schritt soll verdeutlicht werden, dass in der modernen Gesellschaft diese klare Trennung der Charakteristiken von Verwandtschaft und Freundschaft nicht mehr Bestand hat. Stattdessen ist eine Synthese dieser zwei Sozialbeziehungen festzustellen, die in ihrem Resultat als subjektive Verwandtschaftsbeziehung bezeichnet werden kann. Dies bedeutet nicht, dass alle Verwandtschaftsbeziehungen gleichzeitig auch Freundschaften sind. Die Möglichkeit der Überschneidung der Sozialbeziehungen besteht jedoch und wird von Kon (1979) weiter differenziert. Von objektiven Verwandtschaftsbeziehungen spricht man aufgrund von biologischen oder sozialen Zuschreibungen, die durch externe und objektive Kriterien wie Geburt (Blutsverwandtschaft) oder Heirat (Affinalverwandtschaft) bedingt sind. Schneider (1984: 165) sieht in der fundamentalen Formel „Blood is thicker than water“ die Auffassung von Verwandtschaft als privilegiertem System begründet. Der biologische Faktor „Blut“ impliziert eine Unauflösbarkeit der familialen und verwandtschaftlichen Beziehungen, während hingegen die sozialen Verbindungen, die durch Heirat entstehen, durch die Möglichkeit der Scheidung aufgelöst werden können (vgl. Nötzoldt-Linden 1994: 142). Selbst bei Abbruch der verwandtschaftlichen Beziehung bleibt das objektive Verwandtschaftsverhältnis weiterhin bestehen. Es existiert „außerhalb“ und unabhängig von den Individuen. Der zentrale 42
Freundschaften sind (ebenso wie Verwandtschaft) ein vernachlässigtes Thema in der Soziologie. Zur Erklärung der Vernachlässigung führt Tenbruck (1964) zwei Gründe an. Zum einen thematisiert die Soziologie die Gesellschaft und mit ihr soziale Institutionen (Herrschaft, Wirtschaft, Familie usw.) und Rollen. Dementsprechend ist es gesellschaftlich unerheblich, ob Mitglieder der Gesellschaft Freundinnen und Freunde haben oder nicht. Persönliche Beziehungen erscheinen soziologisch irrelevant. Zum anderen sind Freundschaften nur aus der Individualität heraus erklärbar, da sie auf Freiwilligkeit beruhen. Dies impliziert, dass eine soziologische Theorie der Freundschaft nicht nur irrelevant, sondern auch unmöglich erscheint (vgl. Tenbruck 1964: 435f.). Tenbruck weist jedoch diese Annahmen zurück. Vgl. dazu ausführlicher Tenbruck (1964: 438ff.).
38
1 Verwandtschaft: begriffliche und thematische Einordnung
Unterschied liegt somit in den Konzepten Zuschreibung („ascription“) und Leistung („achievement“), denn „kin are given, friendships are developed“ (Adams 1970: 590).43 Allan (1979a: 34) verdeutlicht diesen Zusammenhang mit dem Begriff des „categorical label“: „Conversely no social relationship necessarily develops simply because people are recognized as having some connection through blood or marriage. In other words, kin labels are for our purpose categorical labels. (…). They all serve to locate people in their social structure in sets of categories with others similarly placed on the basis of criteria that are, to a degree, independent of the personal relationship that exists between them” (Allan 1979a: 34).
Heirat und Abstammung sind externe Kriterien von Verwandtschaft, die jedoch noch nichts über die Qualität und die Art dieser Beziehung aussagen (vgl. Nötzoldt-Linden 1994: 142). Es herrscht eine klare Rollenverteilung, die Paine (1974: 119) als komplementäre Familienrollen bezeichnet. Die komplementären Referenztermini „Bruder-Schwester“, „NichteTante“, „Enkelin-Großvater“ sind mehr als nur Begriffe, sie implizieren gewisse Rollenverteilungen und Rollenerwartungen und damit auch indirekte Verhaltensanforderungen im Verwandtschaftsnetzwerk. Es ist nicht das Individuum, das im Vordergrund der Beziehung steht, sondern die soziale Rolle bestimmt die Art und das Ausmaß der Beziehung (vgl. Nötzoldt-Linden 1994: 142). Die sozialen Rollen der Mutter, der Tochter, des Onkels usw. stiften Bindungen und legen Rechte und Pflichten des Einzelnen fest (vgl. Vowinckel 1995: 75). Insbesondere die nahen Verwandtschaftsbeziehungen sind institutionalisiert, d.h. räumlich, zeitlich und inhaltlich durch Rollen vorgegeben, routinisiert und daher gesellschaftlich sanktionierbar (vgl. Nötzoldt-Linden 1994: 146). Verwandtschaft repräsentiert ein einzigartiges Gefühl lang anhaltender Solidarität, die auf geteilten Erfahrungen beruht und durch die gemeinsame Blutsverbindung symbolisiert ist (vgl. Weston 1991: 34). Objektive Verwandtschaftsverhältnisse existieren unabhängig vom individuellen Wollen und Wünschen. Vom Augenblick der Geburt hat der Mensch mehr oder weniger viele Verwandte, in deren Beziehungen er hineinwächst und in deren Aufbau und Pflege – im Vergleich zu Freundschaften – viel weniger Energie investiert werden muss (vgl. Rosenbaum 1998: 29). Verwandtschaft wird ein „exklusiver Solidarcharakter“ zugeschrieben, die Verpflichtungen und unmittelbare Erfahrungen von sozialer Zugehörigkeit auszeichnen (vgl. Strohmeier, Schultz 2005: 56). Die gemeinsame Familiengeschichte und geteilte Erfahrungen bzw. Erinnerungen werden als Basis der Solidarität unter den Familienmitgliedern angesehen. Auch wenn vielleicht die Intimität einer Verwandtschaftsbeziehung nicht mit der einer Freundschaft zu vergleichen ist, so basiert die besondere Bindung zwischen Familienmitgliedern vor allem auf den geteilten Erfahrungen und Erinnerungen (vgl. Rubin 1985: 25). „A shared history. Who else has always been there? Who else shares the memories? Who else was part of our earliest struggles and joys and pains? We can tell others about the events of our lives, about how we felt then, but only the members of our immediate family lived them with us” (Rubin 1985: 25).
Diese Merkmale treffen zwar insbesondere auf die Mitglieder der Kernfamilie zu, aber auch auf Großeltern und den erweiterten Familienkreis. So beginnt eine Vielzahl von Gesprächen bei Familienfesten und -feiern mit den Worten „Erinnerst Du Dich noch, damals…?“ 43
Schuster u.a. (2003: 3) stellen folgende Gegensatzpaare auf: Zuschreibung vs. Freiwilligkeit und Permanenz vs. Auflösbarkeit.
1.3 Verwandtschaft und Freundschaft
39
(vgl. Rubin 1985: 25). Das Bewusstsein der gemeinsamen Geschichte wird nach Rubin (1985: 25) insbesondere dann präsent, wenn sich Personen mit ihren Verwandtschaftsbeziehungen und all ihren widersprüchlichen, widersprechenden und uneindeutigen Gefühlen, die sie ihnen entgegenbringen, auseinandersetzen. „Kinship is, and always has been, the critical distinction people make among social relations. The differences between kin and nonkin are many and far-reaching. (…). While friends can be chosen and abandoned, relatives are imposed and presumably forever. What we owe to and what we can expect from relatives involves far more commitment, trust and sacrifice than in the case with nonrelatives. We are even expected to assist kin whom we dislike or never met” (Fischer 1982a: 80).
Aus soziologischer Sicht sind Freundschaften als nicht-familiale Privatbeziehung, ebenso wie Verwandtschaft, als eine Primärgruppe zu definieren (vgl. Nötzoldt-Linden 1994: 138).44 Im Vergleich zu Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen wird in der Literatur im Besonderen die Freiwilligkeit und Wahlmöglichkeit als Charakteristiken von Freundschaften betont und damit ihre spezifische Qualität hervorgehoben. Diese Merkmale stehen in Kontrast zu der zugeschriebenen Rolle als Familienmitglied: „(…) they are defined as voluntary. They are seen as consequent on the free choice and selection of each friend by the other. To put this another way, they are achieved rather than ascribed” (Allan 1979a: 40).
Kon (1979: 8) definiert Freundschaft u.a. als „ein Verhältnis von gegenseitiger Verbundenheit, geistiger Verwandtschaft45, Gemeinsamkeit der Interessen.“ Eine freie und individuelle Wahlentscheidung, gegenseitige Sympathie sowie Leistung in Bezug auf das Aufrechterhalten einer persönlichen Beziehung (Reziprozität) sind Basis einer Freundschaftsbeziehung, deren Handlungen nicht normiert und sanktionierbar sind (vgl. Nötzoldt-Linden 1994: 144ff.). Auhagen (1993: 217) definiert Freundschaft als „dyadische, persönliche, informelle Sozialbeziehung.“ Weitere Merkmale sind Freiwilligkeit (bezüglich der Wahl, der Gestaltung und des Fortbestandes der Beziehung), zeitliche Ausdehnung (Vergangenheits- und Zukunftsaspekt), positiver Charakter und keine offene Sexualität (vgl. Auhagen 1993: 217). Es sind genau diese Eigenschaften, die etwas über die spezifische Qualität der Freundschaft aussagen, die, unabhängig von externen Kriterien wie Blut und Heirat, eine innere Selbstdefinition der Verbindung auf Seiten der Individuen erfordert.46 Es sind interne Kriterien, die eine Beziehung definieren und bewerten (vgl. Nötzoldt-Linden 1994: 149). In Bezug auf Freundschaftsbeziehungen spricht Allan (1979a: 34) – im Gegensatz zum „categorical label“ der Verwandtschaft – von einem „relational label“:
44 45
46
Ausführlicher zum Begriff der Primärgruppe vgl. Kapitel 1.6. In diesem Zusammenhang muss der Begriff der symbolischen Verwandtschaft genannt werden, der sich auf Blutsbrüderschaft oder Patenschaft bezieht. Der Begriff gilt als Synonym für rituelle, nicht auf biologischer Blutsverwandtschaft konstituierende Verwandtschaft (vgl. Benovska-SaҔbkova 2001: 201). Ausführlicher zu den religiösen und historischen Ursprüngen von Blutsbrüderschaft und anderen quasi-verwandtschaftlichen Formen (z.B. Patenschaft) vgl. Goody (1986: 211ff.). Eine Freundschaft manifestiert sich vor allem in der gegenseitigen Anerkennung als Freundin oder Freund: „In other words, friendship must be reciprocal in terms of both sides´ labelling of the other“ (Allan 1979a: 44).
40
1 Verwandtschaft: begriffliche und thematische Einordnung
„It is the actual relationship itself that is the most important factor in deciding whether someone can or cannot be labelled a friend. Thus as well as locating people in the social structure, the term friend also implies something about the relationship between those so labelled. Thus it is a relational label rather than a categorical one“ (Allan 1979a: 34; Hervorhebung im Original).
Der Begriff Freundschaft impliziert somit immer eine „Qualität“ der persönlichen Beziehung, während Verwandtschaft hingegen auf externen Kriterien beruht (vgl. Allan 1979a: 41).47 Tönnies (1979 [1887]) zählt Verwandtschaft und Freundschaft zur Gemeinschaft, wobei Freundschaft der vollkommene Ausdruck von Gemeinschaft ist und der Status somit deutlich von dem der Verwandtschaft abgegrenzt ist.48 Verwandtschaft verkörpert für Tönnies nur „einfache“ Nähe, während in der Freundschaft die Gemeinschaft ihren vollkommensten Ausdruck findet (vgl. Kon 1979: 16). Beck-Gernsheim (2000: 101) diskutiert die Bedeutung von Freundschaftsnetzwerken und Familie bzw. Verwandtschaft in Bezug auf potentielle Versorgungsmöglichkeiten im Alter.49 Die entscheidende Antwort auf die Frage, ob eine Freundschaft eventuell die „Familie der Zukunft“ darstellt, liegt in der Betrachtung des Regelwerkes auf dem Freundschaften und die traditionelle Familie aufbauen. Familien beruhen – wie zu Beginn des Kapitels dargestellt – auf einer gemeinsamen Herkunft. Der Zusammenhalt unter Verwandten folgt nicht nur aus Liebe und Fürsorge, sondern vielfach aufgrund von Pflicht, Druck des Gewissens, moralischem Zwang und sozialer Erwartung. Freundschaften hingegen zeichnen sich durch persönliche Wahl und Zuneigung aus und entstehen ohne Pflichtgefühle und äußeren Druck. Da sie freiwillig eingegangen werden, sind sie im Vergleich zu Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen eine weniger beständige Bindung, die Aktivität und Eigenleistung voraussetzt (vgl. Beck-Gernsheim 2000: 101f.). „Das was ihre Stärke ausmacht, ist zugleich auch ihre Schwäche“ (Beck-Gernsheim 2000: 101).50 Als zusätzlichen Aspekt führt Beck-Gernsheim (2000: 101f.) die biologisch-physische Grenze von Freundschaftsbeziehungen an, die ihr Potential für Hilfeleistungen im Alter einschränken. Während Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen aus mehreren Generationen bestehen und damit aus Personen unterschiedlichen Alters, sind Freundinnen und Freunde meist im gleichen Alter und eventuell nicht rüstig genug, um für jemanden mehr als gelegentliche Unterstützung zu übernehmen.51 Zusammenfassend werden in Tabelle 1 Charakteristiken des objektiven Verwandtschaftsverhältnisses und der Freundschaft gegenübergestellt. 47
48
49
50
51
„Friendship, as a continuous creation of personal will and choice, is ungoverned by the structural definitions that bear on family and kinship” (Pahl 2000: 38). Die begriffliche Einordnung von Verwandtschaft als „Gemeinschaft“ ist nach Lüschen (1989: 435) nicht angemessen, da Gemeinschaft – ebenso wie die Primärgruppe – von positiven sozialen Beziehungen und Interaktionen ausgeht (und dies für Verwandtschaft nicht immer zutreffen muss). Lee (1985: 28f.) weist in diesem Kontext auf positive Effekte der Interaktionen mit Freundinnen bzw. Freunden für ältere Menschen hinsichtlich des emotionalen Wohlbefindens hin, während sich diese Zusammenhänge für Verwandtschaftsbeziehungen (insbesondere Geschwisterbeziehungen) nicht zeigen. Dieser Unterschied liegt nach Lee in dem Status der jeweiligen Sozialbeziehung begründet, da die Motivation der Verwandten für Hilfe, Zuneigung und Unterstützung vor allem auf normative Verpflichtungen und Zwänge zurückgeführt wird. Bei Rubin (1985: 22) heißt es: „Friends choose to do, what kin are obliged to do. With friends, we must earn the rights and privileges that with family usually come just for being part of the collectivity” [Hervorhebung im Original]. Beck-Gernsheim (2000: 102) kommt zu folgendem Fazit: „Sicher ist es einseitig, wenn man nur die Zerfallserscheinungen der tradierten Institutionen und Familienformen sieht, nicht dagegen die Ansätze zu neuen Freundschaftsnetzwerken, die sich heute in manchen Gruppen herausbilden. Aber man muss gleichzeitig
41
1.3 Verwandtschaft und Freundschaft
Tabelle 1: Vergleich von objektiver Verwandtschaft und Freundschaft Objektives Verwandtschaftsverhältnis
Freundschaft
Zuschreibung
Leistung, Freiwilligkeit, Wahl
„unconditional“
„conditional“
soziale (komplementäre) Familienrollen
Individuum (Ganzheit)
gemeinsame Herkunft
(begrenzte) zeitliche Ausdehnung
räumliche Lokalisierung
räumliche Flexibilität
Unauflösbarkeit, Permanenz
Auflösbarkeit
(Eigene Darstellung) Moderne Verwandtschaftsbeziehungen kennzeichnet jedoch eine Synthese von Verwandtschaft und Freundschaft, d.h. von Pflichtcharakter und Freiwilligkeit.52 Dieses Thema ist von verschiedenen deutschen und amerikanischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aufgegriffen worden. Zu nennen sind hier insbesondere Adams (1967a), Kon (1979), König (1974a, 1976), Schneider (1970) und Goode (1963). Die klare Trennung zwischen den Charakteristiken des objektiven Verwandtschaftsverhältnisses und der Freundschaft (Tabelle 1) kann nicht mehr aufrechterhalten werden. Kennzeichen von modernen Verwandtschaftsbeziehungen – der subjektiven Verwandtschaft – ist der Selektions- und Entscheidungsprozess über Kontakte und die dadurch bedingte Auswahl von Verwandten (vgl. König 1974a: 94). So weist König (1976: 79) auf die Wichtigkeit der Neubestimmung des Verhältnisses zwischen Verwandten und Freunden hin, denn empirische Untersuchungen zeigen, dass viele Verwandte zu den engsten Freunden gezählt werden. Er verdeutlicht diesen Sachverhalt folgendermaßen: „Verwandte ‚hat’ man nicht mehr einfach, sondern man ‚entscheidet’ sich, mit wem man Verkehr haben will, so daß Verwandtschaftsbeziehungen mit Freundschafts- und Sympathieverhältnissen vergleichbar werden“ (König 1974a: 46). Moderne Verwandtschaftsbeziehungen haben ihre traditionellen Merkmale verloren, da sie Parallelen zu Freundschaften aufweisen (vgl. König 1974a: 96).53 „Man verkehrt mit Verwandten nicht, weil man sie ‚hat’, sondern nur wenn man besondere Beziehungen freundschaftlicher Art zu ihnen empfindet“ (König 1974a: 96).
Nach König (1976: 78) hat sich das Gefühl verwandtschaftlicher Verpflichtungen in der modernen Gesellschaft verwandelt, „indem es sich durch freundschaftliche Beziehungen verdoppelt.“ Die unter modernen gesellschaftlichen Bedingungen entstandenen Beziehun-
52
53
auch wissen, was die Grenzen solcher Freundschaftsnetzwerke sind, was sie an Aktivität und Eigenleistung voraussetzen, und wer unter diesen Bedingungen vermutlich nicht mithalten kann.“ Allan (1979a: 41) weist jedoch auf die verbreitete Ansicht der westlichen Kultur hin, dass verwandtschaftliche und freundschaftliche Bindungen exklusiv sind. Dies liegt primär in dem Gegensatzpaar von „achieved“ (Freundschaft) und „ascribed“ (Verwandtschaft) begründet. Knipscheer (1987) spricht in diesem Zusammenhang von einer Symbolisierung der heutigen Generationenbeziehungen, da die Qualität der Beziehung an Wichtigkeit gewonnen hat.
42
1 Verwandtschaft: begriffliche und thematische Einordnung
gen zur subjektiven Verwandtschaft weisen die gleichen Merkmale wie Freundschaften auf: interne Kriterien wie Wählbarkeit, Freiwilligkeit und aktive „Pflege“. Adams (1970: 591) weist auf das Leistungsprinzip innerhalb moderner Verwandtschaftsbeziehungen hin, mit der Folge, dass „kin relations may be allowed to wane almost easily as friendships.“ Für Goode (1963: 76) bedeutet die Assimilation eine qualitative Veränderung der Verwandtschaftsbeziehung, denn Verwandte werden als askriptive Freunde bezeichnet. „Finally, we suppose that a qualitative change, impossible to measure, has taken place – that, to a considerable extent, relatives are now assimilated to the status of ‚ascriptive friends’. That is, one has an obligation to be friendly to them, but they, in turn, have an obligation to reciprocate, and they may not intrude merely because they are relatives. Perhaps another way of paraphrasing this is to say that in spite of the perhaps lessened intensity of extended kinship ties, the ascriptive character of kinship greatly increases the chances of relatively frequent contact and thus the chances of reciprocal services and sentiments” (Goode 1963: 76).
Das Verhältnis von Freundschaft und Verwandtschaft wird von Kon (1979) weiter expliziert. Es sind unterschiedliche Zusammenhänge denkbar. Zum einen kann Freundschaft einen Aspekt der verwandtschaftlichen Beziehung darstellen (Verhältnis der Fusion).54 Man kann Verwandte auch zu den persönlichen Freundinnen und Freunden zählen, wobei sich in diesem Fall eine Überschneidung von Verwandtschaft und Freundschaft ergibt.55 Die Überlappung von zwei unterschiedlichen sozialen Beziehungen wird als Multiplexität bezeichnet (Verbrugge 1979). Fehlen hingegen verwandtschaftliche Beziehungen, kann man freundschaftliche Kontakte intensivieren, die dann Ersatz und Kompensation für fehlende familiale Beziehungen sind (Verhältnis der Substitution). Familiale und freundschaftliche Rollen können sich auch ergänzen, indem sie unterschiedliche Funktionen übernehmen (Verhältnis der Ergänzung). Die familiale Privatwelt realisiert ähnliche Werte, Bedürfnisse und Funktionen wie Freundschaften. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich beide Formen von Sozialbeziehungen ausschließen müssen, sondern sie können je eigene Quellen von Sinn für die Menschen darstellen (vgl. Nötzoldt-Linden 1994: 139f.). Das Verhältnis des Wettbewerbs besagt, dass Freundschafts- und Verwandtschaftsrollen miteinander in Konflikt geraten können. Abbildung 2 verdeutlicht das Verhältnis zwischen objektiver Verwandtschaft, subjektiver Verwandtschaft und Freundschaft. Während sich die Charakteristiken des objektiven Verwandtschaftsverhältnisses und der Freundschaft ausschließen, kann bei subjektiven Verwandtschaftsbeziehungen Freundschaft einen Aspekt der Beziehung darstellen. 54
55
Auch Hoyt, Babchuk (1983: 83) sprechen die Möglichkeit von unterschiedlichen Rollen von Verwandten an: Während Verwandtschaftsbeziehungen zum einen unidimensional und begrenzt sein können, ist darüber jedoch auch eine Koexistenz und Überlappung von freundschaftlichen und verwandtschaftlichen Rollen denkbar. In verschiedenen empirischen Studien (Pfeil, Ganzert 1973; Lüschen 1988) wird die Intimität der Freundschaftsbeziehung über die Übernahme einer Patenschaft bei eigenen Kindern operationalisiert. Sie werden deswegen auch als „Quasi-Verwandte“ bezeichnet (vgl. Lüschen 1988: 159). Rubin (1985: 17) weist in diesem Zusammenhang auf die Familien-Metapher hin. Möchte man die Nähe und Verbundenheit einer Freundschaft verdeutlichen, sagt man oft: „Sie sind wie Familie (Schwester, Bruder usw.) für mich.“ Turner (1969: 21) gibt das Beispiel, dass gute Freunde der Eltern von den Kindern oft als Onkel bzw. Tante bezeichnet werden. Bei Naturvölkern konnte man sich unbedingte Freundschaftsbeziehungen (so genannte institutionalisierte Freundschaften) nur im Bild von Verwandtschaftsbeziehungen vorstellen, denn für Treue und Leistung dieser Beziehung ist nur das von „geheiligten Verwandtschaftsbanden“ vorhanden (vgl. Tenbruck 1964: 450f.).
43
1.4 Verwandtschaft in der Soziobiologie
objektives Verwandtschaftsverhältnis
subjektive Verwandtschaft
Abbildung 2:
Freundschaft
Freundschaft
Charakteristiken von objektiver Verwandtschaft, subjektiver Verwandtschaft und Freundschaft
Die vorherigen Ausführungen lassen zwei unterschiedliche Sichtweisen erkennen. Zum einen werden die besonderen Charakteristiken der Freundschaft „Freiwilligkeit“ und „Wählbarkeit“ als Zeichen ihrer spezifischen Qualität hervorgehoben. Im Kontext der Moderne werden die Merkmale jedoch auch für die Beziehungen zur subjektiven, gewählten Verwandtschaft in Anspruch genommen. Dies steht im Gegensatz zur klassischen Auffassung über das objektive Verwandtschaftsverhältnis, das vor allem mit Zuschreibung und Zwängen assoziiert wird. Gleichzeitig wird jedoch auch die einzigartige Bindung an Verwandte aufgrund der gemeinsamen Abstammung und Familiengeschichte betont und diese als entscheidende Kriterien der Abgrenzung von anderen Sozialbeziehungen herausgestellt. Verwandtschaftsbeziehungen assimilieren unter Bedingungen der modernen Gesellschaft immer mehr zu Freundschaften und teilen ihre Merkmale bezüglich einer freien Wahl von Sozialbeziehungen. Die spezifische Verbindung, die aufgrund des Abstammungsverhältnisses zwischen zwei oder mehreren Individuen existiert, macht jedoch ihre unvergleichliche Stellung und Bedeutung im Leben der Menschen aus. 1.4 Verwandtschaft in der Soziobiologie Marbach (1998) weist darauf hin, dass sich die Familiensoziologie auf dem Gebiet der Verwandtschaftsforschung theoretische Lücken leistet, die z.B. durch eine Integration von nichtsoziologischen Theorien der Verwandtschaft geschlossen werden könnten. Verwandtschaft wird jedoch auch in diesem Bereich als „altes Thema“ deklariert, ohne jedoch zu berücksichtigen, dass das Alter eines Themas nichts über die Aktualität der Inhalte aussagt (vgl. Marbach 1998: 121f.).
44
1 Verwandtschaft: begriffliche und thematische Einordnung
Die Erkenntnisse der Soziobiologie – als Synthese der wissenschaftlichen Disziplinen Biologie und Soziologie – sind auch für familiensoziologische Fragestellungen interessant, da sie Regelmäßigkeiten des tierischen Sozialverhaltens auf das menschliche Verhalten überträgt und beispielsweise ein Erklärung für eine „Biologie des Altruismus“ (Barash 1980: 76) liefert.56 Ein zentrales Anwendungsgebiet der Soziobiologie ist damit die Erklärung von familialem Handeln (vgl. Kopp 1992: 489).57 So wird altruistisches Verhalten als typisches Verhalten innerhalb von Familienbeziehungen – speziell innerhalb der ElternKind-Beziehung – thematisiert. Die Soziobiologie erklärt verwandtschaftliches Handeln durch genetische Dispositionen. Die biologische Sichtweise geht davon aus, dass kooperatives Verhalten unter Verwandten ein Selektionsvorteil bringt und diese Tatsache die Evolution von altruistischem Verhalten erklärbar macht (vgl. Schuster u.a. 2003: 6). Für Meyer (1982: 49) ist der Begriff des Altruismus durch „Folgen in Begriffen des Reproduktionserfolges“ definiert: „Eine Handlung von A, welche die Eignung von B vergrößert, während jene von A im gleichen Maße verringert wird, kann als altruistisch bezeichnet werden.“ Somit liegt der Fokus auf dem „Schicksal der Gene“ und nicht dem Schicksal von Individuen (vgl. Meyer 1982: 49). Wichtigste soziobiologische Prämisse ist die Tatsache, dass die Gene die entscheidende Ebene der evolutionären Anpassung sind. Der soziobiologische Ansatz weist nun darauf hin, dass Verwandtsein gleichbedeutend mit übereinstimmenden Erbinformationen ist. Genau in diesem Punkt liegt die Erklärung der Soziobiologie für altruistisches Verhalten gegenüber der Verwandtschaft (Verwandtenaltruismus): Das Individuum hat die Möglichkeit, eigene genetische Informationen an die nächste Generation weiterzugeben, wenn es generell Verwandten hilft und damit ihre Fortpflanzungschancen erhöht (vgl. Voland 2000: 279). Zentraler Begriff in diesem Zusammenhang ist Nepotismus. Er beschreibt die Tendenz „zwischen den unterschiedlichen Verwandtschaftsgraden von Sozialpartnern zu differenzieren und nahe Verwandte gegenüber weniger nahen oder Nicht-Verwandten emotional zu bevorzugen“ (Neyer, Lang 2003b: 35).58 Verwandtschaftsselektion („kin selection“) 59 ist der Selektionsmechanismus im Rahmen des nepotistischen Altruismus, der eine Unterstützung von Blutsverwandten in deren Bemühen um eine bestmögliche Fortpflanzung postuliert (vgl. Voland 2000: 100). Dabei können folgende Aspekte zusammenfassend festgehalten werden (vgl. Barash 1980: 93): 1. 2. 3.
56
57 58
59
Altruismus ist unter nahen Verwandten häufiger anzutreffen als unter entfernten Verwandten. Altruismus ist häufiger bei Arten mit einem relativ starken Gruppenzusammenhalt anzutreffen, wodurch eine enge verwandtschaftliche Verflechtung begünstigt wird. Arten mit altruistischen Verhaltensweisen neigen eher zur Diskriminierung Außenstehender, zu denen keine verwandtschaftlichen Bande bestehen, während sie andererseits eher in der Lage sind, Verwandte individuell zu erkennen; damit erhöhen sie die
Als Ausgang der Soziobiologie wird die Evolutionstheorie Darwins (1809-1882) angesehen. Erste Ausführungen findet man bei Wilson (1980). Ausführlicher zum Verhältnis von Familiensoziologie und Soziobiologie vgl. Kopp (1992). Als zweite soziale Grundregel wird Reziprozität genannt, die Kontakte mit Nicht-Verwandten ermöglicht. In Bezug auf nahe Verwandtschaftsbeziehungen wird die Möglichkeit des Aufschubs bzw. des Aufhebens der Erfüllung der Reziprozitätsnorm hervorgehoben, während in Beziehungen mit Freunden/Freundinnen oder Kollegen/Kolleginnen viel eher die Erfüllung dieser Regel erwartet wird (vgl. Neyer, Lang 2000b: 37). Vgl. Hamilton 1964; Maynard Smith 1964.
1.4 Verwandtschaft in der Soziobiologie
45
Wahrscheinlichkeit, dass sie sich gemäß dem Verwandtschaftsgrad unterschiedlich verhalten. Es war Hamilton (1964), der als Erster darauf hingewiesen hat, dass nicht nur durch sexuelle Reproduktion Gene an die nächste Generation weitergegeben werden, sondern dass auch ein zweiter Mechanismus dies leisten kann. Indirekt kann dies durch Unterstützung von Verwandten realisiert werden (vgl. Neyer, Lang 2003b: 34). Barash (1980) formuliert folgenden Kernsatz und bezieht sich auf Hamiltons Verwandtschaftstheorie: „Gene für altruistisches Verhalten werden von der Selektion bevorzugt, wenn k > 1/r, wobei k60 das Verhältnis zwischen dem Nutzen für den Hilfeempfangenden und dem Aufwand des Hilfeleistenden ist und r den Verwandtschaftsgrad zwischen Nutznießer und Altruist angibt, und zwar summiert über sämtliche Individuen, die in den Nutzen kommen“ (Barash 1980: 90).
Der Verwandtschaftsgrad spiegelt hierbei den Anteil der Gene wider, den zwei Individuen aufgrund ihrer Abstammung gemeinsam haben. Je höher der Verwandtschaftsgrad, desto mehr Gene teilen sie (vgl. Barash 1980: 90). Durchschnittlich ein Viertel (25%) unserer Gene haben wir mit Onkeln/Tanten, Nichten/Neffen, Großeltern, Enkelkindern und Halbgeschwistern gemeinsam, mit Cousins/Cousinen, Großtanten und -onkeln 12,5%. Die Hälfte der Gene egos stammen jeweils von Vater und Mutter (vgl. Vowinckel 1995: 50f.).61 Mit abnehmender genealogischer Nähe wird dieser Anteil in statistisch darstellbarer Weise immer geringer – ein genetischer „Verdünnungseffekt“ tritt ein. Dieser wird als Grundlage für eine Abstufung von Kooperation, Hilfsbereitschaft und emotionaler Nähe je nach Verwandtschaftsgrad angesehen (vgl. Voland 2000: 279). Evolutionspsychologische Studien (Gaulin u.a. 1997; Hoier u.a. 2001) führen den Aspekt der Vaterschaftsgewissheit bzw. Verwandtschaftsgewissheit an, der die engeren Beziehungen mit Verwandten der matrilinearen Abstammungslinie erklärt.62 Dies korrespondiert mit einer Vielzahl von anthropologischen Befunden, die zeigen, dass je ungeklärter die Vaterschaftsverhältnisse in einer Gesellschaft, desto spärlicher fließen die materiellen Erbschaften über die männliche Abstammungslinie und desto bedeutsamer werden die Kinder der Schwestern in den Erbfolgen (vgl. Voland, Paul 1998: 45f.). Die Verwandtschaftsgewissheit über Nichten und Neffen ist größer für Geschwister der Mutter als für die Geschwister des Vaters (vgl. Hoier u.a. 2003: 206f.). Der Kernsatz der Verwandtschaftstheorie liefert jedoch darüber hinaus eine wichtige Erklärung für die Bedingungen von altruistischem Verhalten gegenüber entfernten Verwandten. Gemäß der Formel bedeutet dies nun, dass bei einem niedrigen Verwandtschaftsgrad 1/r groß ist. Konsequenz ist, dass entweder der Nutzen für die Hilfeempfangenden groß sein muss und/oder der Aufwand für die Altruisten klein sein muss, damit Altruismus selektionsbegünstigt ist (vgl. Barash 1980: 92). Dabei ist eine Gleichzeitigkeit von altruistischem und egoistischem Verhalten festzustellen, denn aus individueller Sicht ist diese Hilfe selbstlos, aus Sicht seiner Gene jedoch egoistisch (vgl. Vowinckel 1995: 50).63 Unter bestimmten Umständen ist demnach ein „psychologischer Altruismus“ und „genetischer Egoismus“ bedeutungsäquivalent (vgl. Voland, Paul 1998: 36). Entsprechend der Logik des 60 61 62 63
k kann auch als das Verhältnis von Gewinn und Verlust interpretiert werden (vgl. Barash 1980: 92). Vgl. dazu ausführlicher Barash (1980: 91). Vgl. dazu ausführlicher Kapitel 3.2.2.4.3. Die These des egoistischen Gens stammt von Dawkins (1976).
46
1 Verwandtschaft: begriffliche und thematische Einordnung
egoistischen Gens wird altruistisches Verhalten – ceteris paribus – umso wahrscheinlicher, je enger Altruist und Nutznießer genetisch verwandt sind (vgl. Voland, Paul 1998: 38).64 Dies ist jedoch kein automatischer Vorgang bzw. kein biologisch festgelegtes Verhalten. Verwandtschaft per se bringt noch kein altruistisches Verhalten hervor, sie setzt lediglich „Fitnessprämien auf Verhalten, das Verwandten zugute kommt“ (Vowinckel 1995: 54). Vowinckel (1995: 58f.) stellt jedoch auch die Grenzen der Soziobiologie fest und weist auf die Notwendigkeit der Verhaltensforschung hin, denn bei der Erklärung menschlichen Verhaltens muss man vom Egoismus der Individuen und nicht der Gene sprechen. Zu beachten sind darüber hinaus auch soziale, historische und variierende kulturelle Rahmenbedingungen: „Es ergibt biologisch keinen Sinn, kulturell höchst unterschiedliche Bindungs- und Beziehungsmuster unter Verwandten unmittelbar durch ihre Fitnessträchtigkeit zu erklären“ (Vowinckel 1995: 59).
Was bedeuten diese Aussagen nun konkret für das menschliche Verhalten und wie können diese soziobiologischen Annahmen verwandtschaftliches Handeln erklären?65 Kernaussage der Soziobiologie ist, dass sich bestimmte Verhaltensweisen herausbilden, wenn sie zu einer höheren Eignung verhelfen als entsprechende Alternativen. Für das menschliche Verhalten allerdings gilt kein biologischer Determinismus, d.h. das Verhalten wird nicht notwendigerweise durch Gene gelenkt. Die DNS ist lediglich Vorlage bzw. Entwurf von etwas, dessen Erscheinungsbild von den zur Verfügung stehenden „Materialien“ und der jeweiligen individuellen Situation abhängig ist. Dennoch wird von einer klaren Beziehung zwischen Genen und Verhalten ausgegangen, wobei sich in bestimmten Situationen eine präzise Beziehung feststellen lässt (z.B. bei körperlichen Reaktionen), auf der anderen Seite jedoch meist eine diffuse oder fast völlig von Umwelteinflüssen unabhängige Beziehung charakteristisch ist (vgl. Barash 1980: 275). Wichtig ist hierbei die generelle Unterscheidung zwischen „genetischem Determinismus und genetischer Neigung“ (Barash 1980: 273) oder „biologischem Determinismus und genetischem Einfluß“ (Barash 1980: 276).66 Gene haben einen Einfluss auf menschliches Verhalten, obwohl dies nicht notwendigerweise genetische Kontrolle bedeutet. Der Begriff „genetisch beeinflussbare Verhaltenspräposition“ wird als zutreffender für das menschliche Verhalten erachtet, d.h. man geht lediglich von einem „biologischen Substrat“ im menschlichen Verhalten aus (vgl. Barash 1980: 276f.). Die Soziobiologie weist darüber hinaus auf ein mögliches Ziel menschlichen Handelns hin: Ein Großteil des menschlichen Handelns kann adaptiv sein, d.h. es kann zu einer Maximierung der individuellen Gesamt-Eignung im darwinistischen Sinne führen (vgl. Barash 1980: 276). So können beispielsweise persönliche Befriedigungen (soziale Anerkennung, persönliche Macht, Leistungen) zur individuellen Eignung beitragen. Die Nei64
65
66
Nicht nur Beispiele aus dem Tierreich, auch historische Beispiele (Pilgerväter) bestätigten die Alltagserfahrung, „Altruismus ist teilbar und genetische Verwandtschaft bildet ein Maß für seine Portionierung“ (Voland, Paul 1998: 36). Die Übertragung soziobiologischer Erkenntnisse auf das menschliche Verhalten ist ausführlich bei Barash (1980: 266-310) dargestellt. Barash (1980: 276) gibt hierfür ein anschauliches Beispiel: „Der Unterschied zwischen Determinismus und genetischem Einfluß ist der gleiche wie zwischen einer gezielt abgeschossenen Kugel und einem in die Luft geworfenen Papierflugzeug. Das Papierflugzeug ist ausgesprochen empfindlich gegenüber Umwelteinflüssen wie Wind, und seine endgültige Flugbahn läßt sich nur bedingt vorhersagen.“
1.4 Verwandtschaft in der Soziobiologie
47
gung, diesen Nutzen zu erzielen, ist selektionsbegünstigt gewesen (vgl. Barash 1980: 277f.).67 In Bezug auf die Erklärung der Familiensolidarität zwingt der biologische Imperativ nicht bedingungslos unter das „Joch der Familienbande“, denn die „natürliche“ Sympathie für Verwandte reicht nur so weit, wie es dem Kalkül des egoistischen Gens auch dient (vgl. Voland, Paul 1998: 42). Die zuvor beschriebene gen-egoistische Rationalität des menschlichen Umgangs mit Verwandten erfolgt somit nicht durch eine direkte genetische Steuerung des menschlichen Verhaltens. Der Zusammenhang zwischen Erbinformation und Verhalten wird vielmehr durch psychologische Mechanismen vermittelt, die als proximate Wirkmechanismen das Verhalten hervorbringen. Ultimater Grund menschlichen und somit auch verwandtschaftlichen Handelns ist die Umsetzung der reproduktiven Interessen.68 Zudem wird auf biographische, soziokulturelle, ökologische und ökonomische Kontexte verwiesen, die die biologische Zweckmäßigkeit des Verhaltens in Grenzen setzen und Verhaltensoptionen mit unterschiedlichen Erfolgsaussichten versehen. Je nach Lebenszusammenhang sind somit unterschiedliche Bewertungen der Bedeutung von Verwandtschaft zu erwarten, denn menschliches Verhalten kennzeichnet eine Verhaltensplastizität und -flexibilität. Nepotismus wird von den Darwinschen Algorithmen reguliert, die den biologischen Imperativ jeweils unter der Beachtung der persönlichen und situativen Umstände in durchschnittlich fitneßsteigerndes Verhalten umsetzt (vgl. Voland, Paul 1998: 47f.).69 Zusammenfassend können folgende Aspekte der soziobiologischen Theorie festgehalten werden, die im Kontext dieser Arbeit von besonderem Interesse sind:70
Nepotismus kann als eine generelle Präferenz für verwandtschaftliche Beziehungen gegenüber Nicht-Verwandten interpretiert werden. Zudem werden nahe Verwandte den entfernten Verwandten bevorzugt. Die objektive Verwandtschaft kann damit als Opportunitätenstruktur für soziale Kontakte angesehen werden, die durch die biologische Nähe begünstigt ist.
67
Interessant ist an dieser Stelle die Verbindung von ökonomischer Theorie der Familie und der Soziobiologie von Becker (1993: 317ff.), der ein „ökonomisches Modell von Altruismus“ liefert. Beide Theorien unterscheiden sich hinsichtlich ihres Rationalitätsbegriffes und Becker gelingt eine Verbindung des ökonomischen Konzeptes der individuellen Rationalität und dem von der Soziobiologie benutzten Konzept der Gruppenrationalität (vgl. Becker 1993: 320). Altruismus gegenüber Verwandten ist eine Eigenschaft der menschlichen und tierischen „Natur“ (Verwandtschaftsselektion) und basiert vornehmlich auf der Existenz gemeinsamer Gene. Rationalität in der Soziobiologie hängt somit ausschließlich mit der genetischen Selektion zusammen (Gruppenrationalität), nicht thematisiert werden dagegen rationale Akteure, die die Nutzenfunktionen in Abhängigkeit von begrenzten Ressourcen maximieren, was den Prämissen der ökonomischen Theorie entspricht (vgl. Becker 1993: 319f.). Zusammenfassend kann festgehalten werden: „Unter Verwendung eines ökonomischen Modells des Altruismus habe ich das Überleben des Altruismus durch die Vorteile erklärt, die er im Fall physischer und sozialer Wechselwirkung erbringt: Unter Verwandten haben sehr viel stärkere Wechselwirkungen bestanden, weil sie in der Regel miteinander oder nahe beieinander lebten“ (Becker 1993: 332). Als Beispiele für psychologische Mechanismen, die im Zusammenhang mit dem Kinderwunsch thematisiert werden, nennen Voland, Paul (1998: 46f.) u.a. das kulturelle Normverständnis der Gesellschaft und einen psychologisch verankerten Kinderwunsch. Diese Faktoren jedoch werden aus Sicht der Soziobiologie als proximate Gründe betrachtet, die wirkungsvolle Instrumentarien zur Umsetzung des ultimaten Grunds – die Umsetzung reproduktiver Interessen – sind. Zum Begriff der Darwinschen Algorithmen, die den biologischen Imperativ in adaptives Verhalten umsetzen, vgl. ausführlicher Cosmides, Tooby (1987). Zur Kritik am soziobiologischen Ansatz vgl. Kapitel 3.3.
68
69
70
48
1 Verwandtschaft: begriffliche und thematische Einordnung
Es gibt eine „abgestufte Verwandtschaftsnähe“ (Voland, Paul 1998: 46) entsprechend des genealogischen Abstammungsverhältnisses und damit eine Abstufung an emotionaler Nähe und Hilfsbereitschaft. Matrilineare Verwandtschaftsbeziehungen gelten als emotional enger als Verwandtschaftsbeziehungen, die über die patrilineare Abstammungslinie konstituiert sind. Als Ursachen werden a) die höhere Verwandtschaftsgewissheit und b) die biologische Rolle der Frau genannt (vgl. dazu ausführlicher Kapitel 1.6). Die soziobiologische Sichtweise widerspricht ausdrücklich kulturkritischen Vorstellungen, die im Zuge der Modernisierungstheorien (vgl. Kapitel 2.2 und Kapitel 2.3) entstanden sind, nach denen Verwandtschaft „bis zur Bedeutungslosigkeit zerfallen könnte“ (vgl. Voland, Paul 1998: 55).
1.5 Verwandtschaft als soziologische Kategorie Trotz unterschiedlicher wissenschaftlicher Auffassungen wird Verwandtschaft zu den Primärgruppen gezählt.71 Der Begriff Primärgruppe ist eine Bezeichnung für Gruppen, „deren Mitglieder in relativ intimen, vorwiegend emotional bestimmten, direkten und häufigen persönlichen Beziehungen miteinander stehen“ (Fuchs-Heinritz u.a. 1994: 514).72 Die Kennzeichen von Interaktionen in Primärgruppen sind „face-to-face“, „permanent“, „affective“, „non-instrumental“ und „diffused“ (vgl. Litwak, Szelenyi 1969: 465).73 Kritik an der Bezeichnung von Verwandtschaft als Primärgruppe übt Lüschen (1989: 435). Er weist darauf hin, dass eine Primärgruppenanalyse nur von positiven sozialen Beziehungen und Interaktionen ausgeht, für Verwandtschaft muss dies nicht zweifelsfrei zutreffen, denn „man kann verwandt sein, auch ohne sich zu sehen und sich zu mögen.“ Auch an dieser Kritik wird die (implizite) Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver Verwandtschaft deutlich. Eine Übertragung ist nur auf das subjektive Verwandtschaftsnetzwerk zulässig, da der Term „Primärgruppe“ von positiven Sozialbeziehungen ausgeht. Über die Häufigkeit der Interaktion, emotionale Qualität, Größe und Homogenität der subjektiven Verwandtschaftsbeziehungen können keine allgemeingültigen Aussagen getroffen werden (Bates, Babchuk 1961). Eine Modifizierung des Verständnisses des Begriffs „Primärgruppe“ erfolgt durch Litwak und Szelenyi (1969). Sie differenzieren zwischen drei unterschiedlichen Primär71
72 73
Eine weitere Bezeichnung führt Schneider (1970) ein. Sie spricht von einem Verkehrskreis, d.h. einem Interaktionsnetz, zu dem Freundschafts- und Verwandtschaftsbeziehungen gezählt werden (vgl. Schneider 1970: 443). Auch nach König (1976: 86) gehört die Verwandtschaft zum Verkehrskreis einer Familie. Der Begriff „Primärgruppe“ geht auf Cooley (1955) zurück. Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Aufsatz von Bates, Babchuk (1961), die zwischen traditionellen soziologischen und sozialpsychologischen Merkmalen von Primärgruppen differenzieren (vgl. Bates, Babchuk 1961: 190). Die zentralen sozialpsychologischen Dimensionen sind „member orientation“ (instrumentelle und expressive Funktionen für die Mitglieder, Freiwilligkeit der Beziehungen) und die emotionale Qualität („feelings of attraction“, „equivalence of exchange“) (vgl. Bates, Babchuk 1961: 182f.). Die soziologische Dimension bezieht sich auf folgende Merkmale: Größe der Gruppe (Je kleiner, desto eher Primärgruppencharakter), Zeitdauer der Beziehung (Je länger, desto eher Primärgruppencharakter), Häufigkeit der Interaktion (Je häufiger die Interaktion, desto eher Primärgruppencharakter) und Homogenität (Je homogener die Mitglieder, desto eher Primärgruppencharakter) (vgl. Bates, Babchuk 1961: 185). Festzuhalten bleibt, dass die Gruppen hinsichtlich ihres Primärcharakters variieren und „it does not follow that any specific kind of group is necessarily primary“ (Bates, Babchuk 1961: 189). Kennzeichen der Primärgruppe Familie sind Langfristigkeit, häufige Interaktionen, ein geringe Größe und Heterogenität.
1.5 Verwandtschaft als soziologische Kategorie
49
gruppen: Verwandte, Freunde/Freundinnen und Nachbarn, die durch jeweils unterschiedliche Strukturen und Funktionen gekennzeichnet sind (vgl. Litwak, Szelenyi 1969: 465f.). In ihrem vielzitierten Aufsatz stellen sie für moderne Verwandtschaftsbeziehungen die Notwendigkeit heraus, auch über längere Distanzen kommunizieren zu können und Dienste auszutauschen, unabhängig von einer „face-to-face“-Situation“ (vgl. Litwak, Szelenyi 1969: 467f.). „If these two considerations, (…), permanent membership and differential mobility, are taken into account, then the kinship system can survive only by dropping the traditional primary group demand for face-to-face relations. It is hypothesized that it is possible in modern society because technological developments permit kinship exchanges over large distances” (Litwak, Szelenyi 1969: 467f.; Eigene Hervorhebung).
In einer mobilen und industriellen Gesellschaft ist das Merkmal „face-to-face“ nicht zwingend erforderlich, um persönliche Beziehungen aufrecht zu erhalten, denn moderne Kommunikationsmittel wie Telefon oder Transportmittel (Flugzeuge und Autos) erlauben Kommunikation auch über längere geographische Distanzen. Geld stellt hierbei das zentrale Mittel zur Zielerreichung dar (vgl. Litwak, Szelenyi 1969: 466ff.).74 Mit den modernen Kommunikations- und Transportmitteln sind darüber hinaus auf personaler Ebene folgende Möglichkeiten verbunden: „(…) they also make it possible for individuals to seek education, participate in national markets, learn about opportunities, explore them at low cost, and travel without fear of completely losing touch with the home base. These are the contributions of the transportation and communication technologies to dispersing kin. They simultaneously contribute to the other element of contemporary kinship discussed here – staying in touch and the latent availability of kin in times of crises“ (Fischer 1982b: 368; Hervorhebung im Original).
In Bezugnahme auf die von Cooley (1955) beschriebenen Charakteristiken der sozialen Besonderheit von Primärgruppen, kennzeichnen Litwak und Szelenyi die Beziehungen zur erweiterten Verwandtschaft („extended kin“) mit denen in Tabelle 2 aufgeführten Merkmalen. Im Besonderen betonen beide Autoren den geringen face-to-face-Kontakt, aber auch das dauerhafte und lebenslange commitment (vgl. Litwak, Szelenyi 1969: 471).
74
Werden moderne Kommunikationstechnologien betrachtet, so muss aus heutiger Sicht zusätzlich das Internet genannt werden und die damit verbundenen Möglichkeiten der schnellen und preiswerten Kommunikation. Darüber hinaus werden jedoch auch die negativen Folgen des Internets auf die sozialen Beziehungen analysiert, da beispielsweise eine Substitution der Zeit für soziale Aktivitäten (z.B. Kommunikation mit Familie oder Verwandtschaft) durch die individuelle Zeit der Internetnutzung festzustellen ist (vgl. Franzen 2003: 341f.).
50
1 Verwandtschaft: begriffliche und thematische Einordnung
Tabelle 2: Charakterisierung der Primärgruppen Primary Groups nuclear family
extended kin
friends
neighbors
face-to-face permanent (ascribed)
high high
low high
low moderate
high low
diffused affective non-instrumental (particularistic) human resources type of task optimally done
high high high
moderate moderate moderate
moderate high moderate
moderate moderate moderate
high (…) tasks which require low faceto-face contact, long-term commitment and more than two people.
high (…) tasks which require the closest manifest agreement to be accomplished but involve relatively long-term involvement.
high (…) tasks which require everyday contact (…), e.g., time-urgent tasks, everyday socialization tasks, etc., however no tasks which require long-term commitment.
low (…) tasks which require only two or fewer adults.
(Quelle: Litwak, Szelenyi 1969: 471)
Die Trennung zwischen objektiver und subjektiver Verwandtschaft weist auf den uneindeutigen, intermediären Status von Verwandtschaftsbeziehungen hin, der in der Literatur mit dem Begriff „Zwitterstellung“ (Schütze, Wagner 1998: 12) beschrieben wird. Einerseits sind Verwandte zugeschrieben, ein Merkmal, das sie mit der Kernfamilie teilen. Dieser zugeschriebene Status begründet eine Vielzahl von soziologischen Charakteristiken, die im Folgenden erläutert werden. Man wird in eine Verwandtschaftsgruppe hineingeboren, man gehört zu ihr und ist ihr somit auch verpflichtet, auch wenn man einige Familienmitglieder nicht persönlich, sondern nur vom Hörensagen kennt. Auf der anderen Seite ist es freigestellt, zu wem man den Kontakt aufrechterhält und persönliche Neigungen und Sympathie entscheiden über Art und Häufigkeit des Kontaktes – Merkmale, die diese subjektive Verwandtschaft mit Freundschaften teilt (vgl. Schütze, Wagner 1998: 12). Somit stellt Verwandtschaft partiell eine variable soziale Konstruktion dar, ein Gefühl von Zu- und Abneigung entscheidet über die Aufrechterhaltung der Beziehungen zu Verwandten (vgl. Hill, Kopp 2004: 17). Soziologisch gesehen, impliziert das objektive Verwandtschaftsverhältnis Verpflichtungen zu, aber auch Anrecht auf bestimmte Handlungen (vgl. Hill, Kopp 2004: 17). Damit ist ein weiteres Merkmal genannt: Verwandtschaft konstituiert sich als ein formales und normatives Netzwerk, das durch Rollen und gegebenenfalls durch gegenseitige Pflichten und Rechte gekennzeichnet ist (vgl. Wagner 2002: 229). Im soziologischen Betrachtungsfeld stehen die Verhaltensweisen (Vorschriften und Erwartungen), die für bestimmte Verwandte gelten und die spezifische Moralität, die Verwandtschaftsbeziehungen auszeichnen und in der die Grundnorm einer voraussetzungslosen Hilfsbereitschaft kennzeichnend ist
1.5 Verwandtschaft als soziologische Kategorie
51
(vgl. Ganzer 2000: 275). Der Ethnologe Meyer Fortes (1969: 219ff.) beschreibt mit dem Begriff amity die soziale Besonderheit von Verwandtschaftsbeziehungen und damit den ethischen Kern eines jeden Verwandtschaftsverhältnisses.75 Verwandtschaftsbeziehungen sind mit gewissen Verhaltensregeln verbunden, deren Wirksamkeit von einem allgemeinen Prinzip der Verwandtschaftsmoral stammt. Diese Regel eines „präskriptiven Altruismus“ ist das Prinzip von amity.76 Amity enthält auch ein Moment des Vertrauens – Vertrauen als Kennzeichen von Verwandtschaft unterscheidet nach Fortes (1978: 143) diese wiederum von anderen Sozialbeziehungen: „Wir brauchen unsere Verwandten nicht zu lieben, aber wir erwarten, ihnen auf eine Weise vertrauen zu können, die wir bei Nicht-Verwandten nicht ohne weiteres voraussetzen können“ (Fortes 1978: 156).
Verwandtschaft ist als eine Beziehung mit normativen Charakter zu beschreiben, die Ansprüche und Verpflichtungen zum Inhalt hat und damit Solidarität zwischen ego und alter erfordert, ohne „dass damit ein Recht auf Rückzahlung verbunden ist (die höchstens in abstrakter Form besteht) (vgl. Rosenbaum 1998: 28). Murdock (1949: 92) definiert Verwandtschaft als „a structured system of relationships, in which individuals are bound to one another by complex interlocking and ramifying ties“ und weist somit auf die spezifische Verbundenheit von Verwandten hin. Dieses Solidaritätsgefühl gilt prinzipiell auch für einander fremde Verwandte, denn „so ruft in der Regel der Hinweis auf eine Verwandtschaftsbeziehung zwischen zwei einander völlig fremden Personen ein Gefühl der Verpflichtung hervor“ (Rosenbaum 1998: 29). Man unterstellt somit einen normativen Verpflichtungsgehalt von Verwandtsein. Diese normative Nichtnegierbarkeit ist ein zentrales Moment verwandtschaftlicher Beziehungen, es impliziert jedoch nicht, dass Verwandtschaftsbeziehungen automatisch kooperativ sein müssen. Gleichzeitig muss an dieser Stelle auf das Konfliktpotential innerhalb der Verwandtschaft hingewiesen werden, das jedoch mit einer höheren Konflikttoleranz einhergeht (vgl. Schuster u.a. 2003: 5f.). Trotz der zutreffenden Beschreibungen für Verwandtschaftsbeziehungen mit Hilfe der Begriffe „commitment“ und „amity“, die die spezifische Solidarität zwischen Verwandten bezeichnen, wird jedoch auch auf die soziale Schwäche von Verwandtschaftsbeziehungen hingewiesen. Neidhardt (1971) erklärt die soziale Schwäche von Verwandtschaft dadurch, dass sie keine integrierte Gruppe darstellen: „Es gibt zwar Beziehungen zu Onkeln und Tanten, Großeltern, Vettern und Nichten, sie sind in Einzelfällen für die Kernfamilie auch von erheblichem emotionalen und funktionalen Wert, aber sie sind weit überwiegend nicht Teil eines formell geordneten Zusammenlebens und Zusammenhandelns in solidarischen Verwandtschaftsgruppen“ (Neidhardt 1971: 27).
Vor allem die Beziehungen zu sekundären und tertiären Verwandten werden als freiwillig und von geringer Bedeutung für das Individuum angesehen, denen keine festen Verhaltens75
76
Fortes´ (1969, 1978) Aussagen über Verwandtschaftsbeziehungen beziehen sich auf eine ethnologische Analyse von Stammesgesellschaften. Sie werden darüber hinaus jedoch als Ideal von Verwandtschaftsbeziehungen betrachtet. Vowinckel (1995: 83) verbindet den Gedanken von amity mit soziobiologischen Überlegungen: „Amity“ ist biotischen Ursprungs und passt somit inhaltlich in das Konzept der soziobiologischen Theorie des Verwandtschaftsaltruismus (Kapitel 1.4).
52
1 Verwandtschaft: begriffliche und thematische Einordnung
regeln und Verpflichtungen zugrunde liegen. Konsequenz ist, dass persönliche Selektivität Basis dieser Beziehungen ist (vgl. Allan 1979a: 111). So sind Verwandtschaftsbeziehungen nach Neidhardt (1971: 27) kein „unausweichliches Schicksal“ mehr77, sondern als „beliebig, selektiv und informell“ zu kennzeichnen. Sie werden allgemein weniger als verpflichtend angesehen, da die mit dem verwandtschaftlichen Verhalten verbundenen Sanktionen moralischer und nicht gesetzlicher Art sind (vgl. Firth 1956b: 14). Verwandtschaftsbeziehungen außerhalb der Kernfamilie sind nach Tyrell (1979: 23) institutionell und normativ unterakzentuiert, ohne Profil – woran sich zeigt, wie die Gesellschaft die Kernfamilie (zu Lasten ihres verwandtschaftlichen Umfeldes und möglicher innerverwandtschaftlicher Alternativen) akzentuiert und profiliert. Für Adams (1999) sind Beziehungen zu entfernten Verwandten von untergeordneter Bedeutung, zufällig und gelegentlich. „Secondary kin are all those relatives (aunts, uncles, cousins, and so on) who are connected to an individual through contacts best described in the U.S. society as circumstantial and incidental. Secondary kin relations seldom involve frequent contact, common interests, mutual aid, or strong affectional and obligatory concern. Yearly contact – the Christmas card, for example, or perhaps kin reunion at holidays or during a vacation – frequently suffices” (Adams 1999: 87; Hervorhebung im Original).
Allan (1979a: 112) betont, dass Kontakte zur entfernten Verwandtschaft oft durch spezifische Gelegenheiten bestimmt sind (z.B. durch Familienfeste und -feiern). Da diese jedoch nicht zufällig auftreten, spricht er in diesem Zusammenhang von „strukturierten Zufällen“ auf denen die Mehrheit der Kontakte mit entfernten Verwandten basiert. Diese schwache normative Regulierung mit der Konsequenz der Existenz von optionalen Beziehungen, die auf persönlichen Präferenzen und gemeinsamen Interessen basieren, wird als charakteristisch für deutsche und amerikanische Verwandtschaftsbeziehungen angesehen. Wesentliches Merkmal der modernen Verwandtschaftsbeziehung ist ihre Latenz (Fischer 1982b; Riley 1983), die bereits ausführlich in Kapitel 1.1.2 erläutert wurde. Riley (1983: 441) spricht von den heutigen bzw. zukünftigen Verwandtschaftsstrukturen als eine „Matrix latenter Beziehungen“ und beschreibt sie damit als ein Potential bzw. Opportunität für die Aktivierung und Intensivierung enger persönlicher Beziehungen, deren Merkmale Freiwilligkeit und Flexibilität sind. Auch Fehlmann-von der Mühll (1978: 22) weist darauf hin, dass man eine Verwandtschaftsbeziehung, die man lange vernachlässigt hat, bei Bedarf aktualisieren kann – ein weiterer Hinweis auf die Latenz der Verwandtschaftsbeziehungen. Verwandte stellen somit eine „Solidaritätsreserve“ dar (vgl. Bruckner 1993: 4).78 Nach König (1974a: 46) können sich moderne Verwandtschaftsnetzwerke spontan wiederherstellen, wie etwa bei festlichen Anlässen (Feiertage, Geburtstage, usw.). Verwandtschaft stellt ein bedeutsames „Beziehungs- und Leistungspotential“ für die Kernfamilie und somit eine „soziale Chance“ für solidarische Beziehungen dar (vgl. Neidhardt 1971: 26f.).79 Sie waren und sind eine der wichtigsten Quellen sozialer Sicherheit und Unterstützung in Krisenzeiten (vgl. Hareven, Mitterauer 1996: 23). Nave-Herz (2004: 35) weist auf die Situation nach
77 78
79
Die objektive Verwandtschaft kann jedoch als „unausweichliches Schicksal“ bezeichnet werden. Verwandte übernehmen die Rolle von „Ersatzspielern“, die im Fall einer fehlenden Partnerschaft in empirischen Studien verstärkt als Zweithelfer/-innen in unterschiedlichen Hilfesituationen genannt werden (vgl. Bruckner 1993: 20). Neidhardt (1971: 27) bezeichnet diese Art familialer Verbindungen auch als „Solidarität auf Abruf“.
1.5 Verwandtschaft als soziologische Kategorie
53
dem zweiten Weltkrieg und nach der Wiedervereinigung Deutschlands hin:80 Personen, die sich völlig fremd waren, haben aufgrund ihres objektiven Verwandtschaftsstatus Kontakt aufnehmen können und de facto auch aufgenommen. Eine derartige Kontaktmöglichkeit ist in Bezug auf Nicht-Verwandte nicht gegeben. Die Feststellung der Latenz von modernen Verwandtschaftsbeziehungen verweist auf eine weitere Eigenschaft der objektiven Verwandtschaft, d.h. allen für Interaktionen zur Verfügung stehenden Verwandten. Aus handlungstheoretischer Sicht ist die Gesamtheit der objektiven Verwandtschaft eine Prädisposition für soziale Kontakte, da eine Kontaktaufnahme im Gegensatz zu nicht-verwandten Personen erleichtert ist. Die genealogische Beziehung zwischen zwei Personen wird bereits von Firth (1956b: 29) als prädisponierendes Merkmal für Sozialbeziehungen angesehen und damit als ein Instrument der Kommunikation, das einer sozialen Handlung Inhalt und Bedeutung gibt. Die genealogische Abstammung dient als Referenzrahmen und wird nicht als determinierende Basis für das Entstehen einer sozialen Beziehung angesehen (vgl. Firth 1956b: 29). Verwandtschaft ist somit eine Art „natürliche“ Vorgabe, die eine Auswahl an Personen nahe legt. Gerade in dem modernen bilinearen Verwandtschaftssystem, das eine große quantitative Ausdehnung von Verwandten zur Konsequenz hat, bildet die objektive Verwandtschaft eine Opportunitätenstruktur, d.h. sie stellt einen Personenkreis mit genealogisch möglichen Beziehungen dar, aus denen einige bewusst oder unbewusst ausgewählt werden.81 Verwandtschaft stellt einen Fokus im Sinne der Fokustheorie von Feld (1981) dar.82 Das Verwandtschaftsverhältnis ist somit ein soziales Bindemittel und zugleich Kommunikationsmedium – ein Hilfsmittel, das es erleichtert, soziale Beziehungen herzustellen (vgl. Vowinckel 1997: 38, Vowinckel 1995: 79). Darüber hinaus muss angeführt werden, dass Verwandtschaft in wechselnden Kontexten unterschiedliche Bedeutungen haben kann. Riley (1983: 443ff.) weist darauf hin, dass Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen nie „fixiert“ sind, da sie sich im Verlauf der Lebenszeit verändern und sich somit immer in einer Entwicklung befinden. Nach Rosenbaum (1998: 29) sind die Flexibilität und Variationsbreite zwei Merkmale, die es erschweren, generelle Aussagen über Verwandtschaft zu machen. Speziell hierin sieht die Autorin einen wesentlichen Grund für mangelnde Forschungen auf diesem Gebiet. Shanas (1979: 7) spricht in Anlehnung an den Anthropologen David Schneider von einem „hour glasseffect“,83 der kennzeichnend für das amerikanische Verwandtschaftssystem ist. Personen haben mit ihren Geschwistern und anderen Verwandten Kontakte in ihrer Jugendzeit, diese Kontakte nehmen mit Verlauf des Erwachsenwerdens und in der mittleren Lebensphase ab, während mit dem Alter die Kontakte wieder zunehmen. Die Veränderung von verwandtschaftlichen Beziehungen im Lebensverlauf manifestiert sich zum einen quantitativ durch
80
81
82 83
So können Verwandtschaftsbeziehungen im persönlichen Notfall schnell reaktiviert werden. Im besonderen Maße war dies nach dem zweiten Weltkrieg der Fall (vgl. dazu exemplarisch Wurzbacher 1952; Schelsky 1953; Baumert, Hüning 1954). Hareven (1982a: 101ff.) weist auf die Rolle der Verwandtschaft im beginnenden 19. Jahrhundert im Zuge der Industrialisierung hin: Sie übernahmen Unterstützungsleistungen in Krisensituationen (Geburt, Krankheit, Todesfall). Ausführlicher zur historischen Bedeutung von Verwandtschaftsbeziehungen vgl. Kapitel 2.1. Demographische Veränderungen wirken sich jedoch entscheidend auf die Existenz der biologischen Verwandten aus (vgl. Kapitel 2.2.1). Vgl. dazu ausführlicher Kapitel 3.1.2. hour glass: engl. Sanduhr.
54
1 Verwandtschaft: begriffliche und thematische Einordnung
die veränderte Stellung von Personen im Lebensverlauf.84 So haben etwa Kinder nur Verwandte in ihrer und der älteren Generationen, mit zunehmendem Alter sind nur noch Verwandte im gleichen Alter oder in jüngeren Generationen vorhanden. Nur die mittleren Lebensphasen ermöglichen es gleichzeitig mit jüngeren und älteren Generationen zu leben. Zweitens kann eine qualitative Änderung der verwandtschaftlichen Beziehungen und eine Veränderung der verwandtschaftlichen Funktionen stattfinden (vgl. Schütze, Wagner 1998: 14). Piddington (1965b) differenziert in diesem Zusammenhang zwischen vier Phasen des Lebenszyklus, in denen unterschiedliche Einstellungen gegenüber Verwandten kennzeichnend sind und die Bedeutung von Verwandtschaft variiert. Die vier Phasen, Kindheit Adoleszenz - Erwachsensein - Alter, werden im Hinblick auf Funktion und Qualität der Verwandtschaftsbeziehungen im jeweiligen Stadium skizziert:85 1. 2. 3. 4.
„To young children kinsfolk are important as a source of affectionate attention and candy.” „With adolescence new interests deflect attention from kinsfolk; moreover kinship obligations may be partially rejected as part of the protest against authority, specially that of parents e.g. ‚You must write to your Aunt Emma’.” „In adult life kinship assumes a new and different significance arising from ‚advantages’ (sense of belonging, feeling of security, affection and companionship, help and advice).” „As an old age approaches, kinship once more assumes a new significance. Interest in it arises partly from the necessary waning of other interests, such as occupational pursuits and strenuous physical activities; and partly from the comfort derived from the contemplation of younger kinsfolk as an embodiment of the onward flow of human existence, an experience which does not usually characterize younger people for whom life is active and appears to stretch indefinitely into future” (Piddington 1965b: XIII).
Man neigt dazu, Verwandtschaftsbeziehungen auf affektive, rituelle und symbolische Funktionen zu reduzieren, denn die größte Anzahl von Verwandten sieht man zu gesellschaftlichen Ritualen86, die oft den Übergang von einem Lebensstadium in ein nächstes markieren. Beispiele sind Familienfeste wie Taufe, Kommunion, Hochzeit, Beerdigung oder auch das Weihnachtsfest, bei denen eine große Zahl von Verwandten eingeladen wird (vgl. Segalen 1990: 124f.). Sie schaffen die Grundlage für die gemeinsame Familiengeschichte und damit verbundene Erinnerungen und Erfahrungen. Sie symbolisieren darüber hinaus innerfamiliale Zusammenhänge und soziokulturelle Werte (vgl. Claessens 1979: 165).
84
85
86
Wagner (2002) verdeutlicht die personale Veränderung der Zusammensetzung des Verwandtschaftsnetzwerkes im Lebenslauf: „Aus Sicht der Kinder sind die Verwandten außerhalb des Haushaltes Angehörige beider Generationen, also Onkel und Tante aus der Generation der Eltern sowie die Generation der Großeltern. Aus der eigenen Generation sind dies Kinder der Geschwister der Eltern, also Cousins und Cousinen. Aus Sicht der alten Menschen stellt sich das Verwandtschaftsnetzwerk ganz anders dar. Zur eigenen Generation gehören die Geschwister, zu den beiden jüngeren Generationen die Kinder und Enkel“ (Wagner 2002: 237). Hiermit werden implizit handlungstheoretische Konstrukte angesprochen, die verwandtschaftliche Beziehungen in den unterschiedlichen Stadien des Lebenszyklus erklären können: Belohnungen, Opportunitäten (z.B. Zeitressourcen im Alter) und Alternativen. Rituale sind expressiv betonte Handlungen mit großer Regelmäßigkeit des Auftretens und Gleichheit des Ablaufs (vgl. Claessens 1979: 163).
1.5 Verwandtschaft als soziologische Kategorie
55
Neidhardt (1971: 27) stellt allgemein die Freizeitbedeutung und Geselligkeitsfunktion von Verwandten heraus. Der frühere Verpflichtungscharakter ist von einer emotionalen Verpflichtung (die sich z.B. bei Feiertagen zeigt) abgelöst worden (vgl. Schneider 1970: 470). Während ökonomische und politische Aufgaben von Verwandtschaftsbeziehungen an Relevanz verloren haben, steht das gemeinsame soziale Leben im Vordergrund der Beziehung: „The significance of kin ties outside the elementary family (…) lies primarily in the positive social contacts in visiting, in recreation, in exchange of news and advice, in attendance on ceremonial occasions and at crises of life, and in the moral obligations that frequently attach to such contacts. Kinship recognition and relations are important as a part of social living in general rather than as components of specific economic, political, or ritual aspects of institutions” (Firth 1956b: 19).
Anfang und Ende von Familienbeziehungen sind klar markiert, da Familienbande auf diese Einstiegs-, Erhaltungs- und Auflösungsrituale gestützt sind (vgl. Nötzoldt-Linden 1994: 145). Die Familientreffen sind nach Segalen (1990: 125) nur einzelne Ereignisse in einem allgemeinen Identifikationsprozess mit der Familie. Über Kontakte, Feste und den Austausch von Dienstleistungen hinaus liefert die Verwandtschaft einen festen Bezugsrahmen. Weitere individuelle Bezugsrahmen wären z.B. der Beruf, die Wohngegend oder der Herkunftsort. Diese Konkurrenz mit anderen sozialen Subsystemen ist vor allem für Verwandtschaftssysteme in urbanen Gesellschaften kennzeichnend. Aufgrund dessen beschreibt Segalen (1990: 215) die Identifikation als eine wichtige Funktion von Verwandtschaft, die vor allem in ihrer latenten Eigenschaft begründet ist. Die Zugehörigkeit zu einem Familienund Verwandtschaftsnetzwerk verleiht Sicherheit und Stabilität. „Durch die Familiengeschichte weiß man, wer man ist, da man weiß woher man kommt. (...). Umschlossen von der Folge der Generationen und bestimmt durch die geographische Herkunft der Familie erkennt jeder seinen Platz. (...). Die Verwandtschaft dient (...) als Personalausweis, als Identifikation in der Beziehung zu einer anderen Person“ (Segalen 1990: 215).
Einen weiteren Aspekt hebt Roussel (1976: 246) hervor. Verwandtschaftsbeziehungen haben demnach die Funktion, mehrere Generationen in Verbindung zu bringen und zu halten, was andere Sozialbeziehungen nicht vermögen. In diesem Zusammenhang ist auch die Beziehung von Kindern zu ihren Verwandten zu sehen. Durch die Geburt eines Kindes wird die Familiengeschichte weitergeführt und Familienmerkmale tradiert (vgl. Zeiher 1998: 136). Alltagspraktisch – aus Sicht der Kinder – sind Verwandte als „Anhang“ der Eltern zu bezeichnen (vgl. Zeiher 1998: 134).87 Die Beziehungen der Eltern können sich auf die Gestaltung der verwandtschaftlichen Beziehungen der Kinder auswirken, wenn nicht sogar determiniert werden. In diesem Kontext muss allgemein der Netzwerkcharakter von Verwandtschaftsbeziehungen hervorgehoben werden, denn Verwandtschaft konstituiert neben isoliert gelebten, dyadischen Beziehungen auch immer ein soziales Netz von Beziehungen, die sich untereinander beeinflussen und strukturieren. So wird beispielsweise von Kaiser (1993: 151) auf den „triadischen Kontext“ der Beziehungen zu Onkeln/Tanten und
87
Zeiher (1998: 133) nennt zwei Funktionen von Verwandtschaft. Zum einen ist es die Betreuung von Kindern und zum anderen der so genannte „Urlaubstourismus“ (Kinder verbringen ihre Ferien z.B. bei ihrer Tante), der jedoch in früheren Zeiten ein größere Rolle gespielt hat.
56
1 Verwandtschaft: begriffliche und thematische Einordnung
Cousins/Cousinen hingewiesen, die von den Geschwisterbeziehungen der Eltern geprägt werden.88 1.6 Verwandtschaft und Gender „Gender is a primary concern in the study of kinship because kinship is most basically determined by relationships between men and women, their procreation, and the socialization of the dependent children” (Johnson 2000a: 130).
In der Literatur wird die besondere Rolle der Frauen im Zusammenhang mit der Aufrechterhaltung und Gestaltung von Verwandtschaftsbeziehungen thematisiert. Von besonderem Interesse ist die Rolle des kinkeeper, die charakteristisch für Frauen ist und im Verlauf des Kapitels genauer definiert wird. Zur Verdeutlichung werden ausgewählte empirische Befunde zur geschlechtsspezifischen Wahl von Verwandten dargestellt.89 Moderne Gesellschaften zeichnen sich durch frauenzentrierte, „feminine“ familiale Strukturen aus (vgl. Pasternak u.a. 1997: 288). Sweetser (1963) beschreibt die asymmetrische, „matrilineare Verzerrung“ von Verwandtschaftsbeziehungen in modernen Gesellschaften, die trotz der theoretisch bilateralen Organisation des modernen Verwandtschaftssystems existiert.90 Das Phänomen der Asymmetrie liegt in der Rolle der Frau im Verwandtschaftssystem begründet, die gleichzeitig mit einer engen Mutter-Tochter-Bindung und einer generell größeren Bedeutung der Mitglieder der matrilinearen Abstammungslinie einhergeht (vgl. Adams 1970: 581).91 „In summary, for instrumental reasons the important intergenerational link in non-industrial settings is the tie between men. Again for instrumental reasons, namely the detachment of mens work in the family, in urban-industrial societies the important link is the tie between women” (Sweetser 1966: 170).
Lüschen (1989: 444) bezeichnet diesen Sachverhalt als Feminisierung der Verwandtschaft, ein Phänomen, für das er sogar zukünftig einen Bedeutungszuwachs erwartet. Er erklärt diesen Aspekt zum einen durch die höhere Lebenserwartung der Frauen, denn das Verwandtschaftsnetzwerk besteht zu immer größeren Teilen aus Frauen. Zum anderen zeigen Frauen ein größeres Engagement für die Aufrechterhaltung ihrer Verwandtschaftsbeziehungen, da dieses Verhaltensmuster Teil der Hausfrauenrolle ist. Frauen, in ihrer Rolle als Ehefrau, Mutter oder Tochter, führen zu einer Verbindung der Familien- und Verwandtschaftsmitglieder untereinander. In ihrer Mutterrolle bringen Frauen ihre Kinder in engere Beziehungen mit Mitgliedern der matrilinearen Verwandtschaft (Großeltern, Tanten und Onkel) (vgl. Rossi, Rossi 1990: 196). 88 89 90
91
Zum Thema Geschwisterbeziehung vgl. auch Kapitel 3.2.1.1.2. Die Studien werden nicht mehr in Kapitel 3.2 dargestellt. Das Verwandtschaftssystem wird auch als „matri-centred“ bzw. „matral“ bezeichnet (vgl. Firth, Djamour 1956: 41). Lüschen (1970: 283) spricht von einer Wandlung des Verwandtschaftssystems zu einem System mit „matriarchalischer Tendenz“. Sabean (1998: 503) bezeichnet die Zentralität der Frauen und der matrilinearen Verwandtschaft als „matrifocality“. Als Ursache wird ein „spill over“-Effekt der engen Eltern-Tochter-Beziehung auf die Verwandtschaft angeführt (vgl. Adams 1970: 582).
1.6 Verwandtschaft und Gender
57
Die Geschlechtsrollenorientierung bzw. das Modell der häuslichen Arbeitsteilung liefert somit eine Erklärung für die geschlechtsspezifische Wahl von Verwandten (vgl. Allan 1979a: 125). Für die Soziobiologie ist das biologische Geschlecht die alleinige Erklärung für eine größere verwandtschaftliche Einbindung der Frauen. Die Frau hat – aufgrund ihrer biologischen und sozialisationsbedingten Mutterrolle – größere emotionale Investitionen in die Familie (vgl. Bott 1971: 136).92 Neyer, Lang (2003b: 36) bezeichnen Frauen demnach als „Hüterinnen der Verwandtschaft“. Diese Rolle ist nicht nur gesellschaftlich bedingt und ein Zeichen sozialer Ungleichheit, sondern im Wesentlichen auf einen „fundamentalen natürlichen Geschlechtsunterschied“ zurückzuführen. Kritisch muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass sich bei einer solchen Argumentation biologische Unterschiede zwischen den Geschlechtern in Zuschreibungen über Männer und Frauen an sich verwandeln (vgl. Brück u.a. 1997: 54). Der Hinweis auf die Natur (z.B. in Form von Genen) erhält in dieser Argumentation den Status eines unumstößlichen Faktors, der die psychischen Geschlechtsdifferenzen und zugleich auch die Grenzen der Aufhebung dieser Unterschiede markiert (vgl. Brück u.a. 1997: 52f.).93 „Denn indem aus der biologisch-physischen Organisation der Geschlechter der gesellschaftliche Status von Frauen und Männer abgeleitet wird, leistet eine so geartete Wissenschaft ihren Beitrag zur Rechtfertigung der bestehenden Hierarchie zwischen den Geschlechtern“ (Brück u.a. 1997: 54).
Bahr (1976) definiert die kinship role als eine spezifische Familienrolle, die vornehmlich von Frauen erfüllt wird: „the maintenance of kinship ties is defined as sex-specific role behavior“ (vgl. Bahr 1976: 66).94 Es ist die Aufgabe der Frau „to function as chief correspondent, executive secretary, or family clerk“ (vgl. Bahr 1976: 78). Diese Rolle wird als kinkeeper bezeichnet. Darunter versteht man allgemein die Personen, die die Familienmitglieder über einander informieren und die Familienzusammenkünfte organisieren (vgl. Troll 1993: 147). Eine weitere Bezeichnung ist „gatekeeper“ (Rossi, Rossi 1990: 196). Hagestad (1987) bezeichnet Frauen als „ministers of the interior“, Cumming und Schneider (1966: 143) als „focal figures“ des amerikanischen Familienlebens und verwenden den Begriff „gynefocality“ zur Beschreibung dieses gesellschaftlichen Tatbestandes.95 92
93 94
95
Entscheidend ist jedoch die Geschlechtsrollenorientierung. So werden beispielsweise Geschlechterunterschiede hinsichtlich der Verwandtschaftsorientierung bei egalitärer Arbeitsteilung minimiert (vgl. Bott 1971: 136). Ausführlicher zur feministischen Kritik an Aussagen der Soziobiologie vgl. Brück u.a. (1997: 52ff.). Operationalisiert werden diese Verpflichtungen und die Verwandtschaftsrolle („kinship role“) über folgende Frage: „Who, if anyone, has a duty to do the following for your own relatives? 1. Make decisions of financial help or economic assistance 2. Write letters to relatives 3. Telephone relatives 4. Visit relatives“ (vgl. Bahr 1976: 63f.). Rosenthal (1985: 968) operationalisiert die Aufgabe wie folgt: „Thinking about your side of the family in the broadest terms – including your brothers, sisters, aunts, uncles, cousins, grandparents, and so forth – is there currently any one person among you and your family, who, in your opinion, works harder than others at keeping the family in touch with one another?“ (vgl. Rosenthal 1985: 968f.). In der repräsentativen Studie von Rosenthal (1985) wurden insgesamt 458 Personen, die 40 Jahre und älter sind, in Ontario (Kanada) befragt. Nach Gewichtung der Daten ergibt sich ein Anteil von 56% der Befragten, die angegeben, einen kinkeeper in der Familie bzw. Verwandtschaft zu haben. Von den genannten kinkeeper sind 51% Geschwister der Befragten, 23% die Befragten selbst, 4,6% Kinder und 5,4% Eltern. 74% der genannten kinkeeper sind Frauen, womit die Hypothese der geschlechtsspezifischen Verteilung dieser Rolle bestätigt wird. Die Gründe für die Übernahme der Rolle sind vielfältig. 27% der Befragten geben an, der kinkeeper übernahm die Aufgabe, um die Familie zusammenzuhalten, 18% haben die Aufgabe von einem gestorbenen oder erkrank-
58
1 Verwandtschaft: begriffliche und thematische Einordnung
Schon zu Zeiten der frühen Industrialisierung berichtet Hareven (1982a) von einem meist weiblichen kinkeeper der Familien- bzw. Verwandtschaftsgruppe.96 Es ist eine lebenslange Aufgabe und die Frauen übernehmen die Rolle einer Helferin, Friedensstifterin und Schlichterin – Aufgaben, die mit Respekt, Autorität und Macht verbunden sind. Dies ist jedoch ein ambivalenter Sachverhalt. Auf der einen Seite nehmen die Frauen eine besondere, einflussreiche und mächtige Position innerhalb ihrer Familie/Verwandtschaft ein, die sie ansonsten als Frau nie hätte realisieren können.97 Auf der anderen Seite ist die Funktion und Rolle des kinkeeper mit Selbstaufopferung und lebenslanger Verpflichtung gegenüber den Verwandten verbunden (vgl. Hareven 1982a: 106ff.). Die einzigartige Rolle der Frauen als familiale Integrationsfigur im Verwandtschaftsnetzwerk wird durch zahlreiche amerikanische und deutsche Studien über die Jahre hinweg bestätigt (Young, Wilmott 1957; Schneider 1970; Bott 1971; Pfeil, Ganzert 1973; Bahr 1976; Rosenthal 1985; Hagestad 1986; Gerstel 1988; Rossi, Rossi 1990; Mayr-Kleffel 1991; di Leonardo 1992; Gerstel, Gallagher 1993; Bien 1994; Farkas, Hogan 1995; Szydlik 2000) und ist darüber hinaus auch ein Thema der historischen Familienforschung (Hareven 1982a; Rosenbaum 1992; Sabean 199898). Die Aufrechterhaltung und Pflege von verwandtschaftlichen Beziehungen sind Bestandteile der Rolle als Hausfrau oder Ehefrau, ebenso wie Kindererziehung und Hausarbeit. Dieser Sachverhalt findet sich bei di Leonardo (1992: 247) unter dem Stichwort „work of kinship“ und „kin work“ wieder. Sie stellt heraus, dass die Aufrechterhaltung von Kontakten innerhalb des Verwandtschaftsnetzwerkes als Arbeit bezeichnet werden muss, die vornehmlich von Frauen ausgeführt wird, Zeit und Fähigkeiten zur Voraussetzung hat und nicht den Status von Freizeitbeschäftigung tragen darf (vgl. di Leonardo 1992: 248). Der Median der Zeitdauer des kinkeeping beträgt in der Studie von Rosenthal (1985) zwanzig Jahre. Rosenthal (1985: 969) stellt heraus, dass diese Aufgaben generell langfristig angelegt sind und kinkeeping mehr als nur die Erfüllung von Aufgaben bedeutet – der Begriff der „Karriere“ wird als zutreffender erachtet. Es stellt ein „demanding but normal part of everyday life“ (Gerstel, Gallagher 1993: 606) im Leben der Frauen dar. Zu den Aufgaben zählen: „Conception, maintenance, and ritual celebration of cross-household kin ties, including visits, letters, telephone calls, presents, and cards to kin; the organization of holiday gatherings; the creation and maintenance of quasi-kin relations; decisions to neglect or to intensify particular ties; the mental work of reflection about all those activities; and the creation and communication of altering images of family and kin vis-à-vis the images of others, both folk and mass media“ (di Leonardo 1992: 248).
Es fallen somit nicht nur Dienstleistungen und Hilfe für pflegebedürftige Familienangehörige darunter, sondern „kin work“ bezieht sich darüber hinaus auch auf alle anderen Mit-
96 97
98
ten Familienmitglied übernommen. Weitere Gründe sind persönliche Eigenschaften, ein spezielles Talent, Zeit und Interesse (vgl. Rosenthal 1985: 970). Vgl. dazu ausführlicher Kapitel 2.1. Auch Rossi, Rossi (1990: 14) weisen auf die Aktivität, Stärke und Produktivität der Frauen hin, die Kennzeichen ihrer Rolle innerhalb der Familie sind. Sabean (1998: 490ff.) liefert hierzu eine Vielzahl von historischen Fallstudien. Sie demonstrieren die wichtige Funktion der Frauen für die Entwicklung, Aufrechterhaltung und Organisation eines Verwandtschaftsnetzwerkes.
1.6 Verwandtschaft und Gender
59
glieder der Familie (vgl. Gerstel, Gallager 1993: 599).99 Zu den Aktivitäten zählen allgemein Besuche, Telefongespräche, Briefe und Hilfestellungen.100 Gerstel, Gallagher (1993) verweisen in diesem Zusammenhang darauf, dass die meisten Studien lediglich einige Aspekte des kinkeeping (z.B. die Versorgung von älteren Familienangehörigen) und nicht seine Gesamtheit (Anzahl und Typen von Hilfe, Stundenzahl) untersuchen.101 In ihrer Studie zeigt sich, dass Frauen durchschnittlich 14,83 Stunden im Monat für das kinkeeping in Bezug auf „andere Verwandte“ (Eltern/Kinder ausgeschlossen) aufwenden, ihre Ehemänner haben einen zeitlichen Aufwand von durchschnittlich 7,63 Stunden (vgl. Gerstel, Gallagher 1993: 602). Frauen unterstützen ihre Verwandten zu größeren Anteilen sowohl praktisch als auch materiell (vgl. Gerstel, Gallagher 1993: 603).102 Weibliche Aktivitäten innerhalb des „kin work“ sind nur ein Aspekt einer umfassenderen Aufgabe, Frauen haben zudem ein größeres Wissen über die Verwandtschaft als Männer und dies nicht nur über ihre eigene Familie, sondern auch über die des Partners (vgl. di Leonardo 1992: 249). In Übereinstimmung mit diesen Einschätzungen steht die psychologische Studie von Salmon, Daly (1996), die geschlechtsspezifische Unterschiede hinsichtlich kognitiver Verwandtschaftsrepräsentationen thematisiert.103 Die Antworten auf die Frage „Who are you?“ zeigt, dass Frauen ihre Identität und ihr Selbstkonzept eher in Familienrollen (Mutter, Tochter usw.) sehen als Männer, die eher ihre Familien- bzw. Nachnamen als Teil ihrer Identität nennen (vgl. Salmon, Daly 1996: 293).104 Erklärt werden diese Ergebnisse mit einer unterschiedlichen weiblichen und männlichen Verwandtschaftspsychologie: Die weibliche Psychologie der Verwandtschaft fokussiert auf genealogischen Verbindungen zwischen den Generationen, die männliche Psychologie dagegen patrilineare Gruppenidentität (vgl. Salmon, Daly 1996: 296).105 99
100
101
102
103 104
105
Ein weiterer Themenbereich, der im Zusammenhang von Gender Studies und Verwandtschaft von zentraler Bedeutung ist, ist die Versorgung der älteren Familienangehörigen (vgl. hierzu Abel 1991; Dwyer, Coward 1992; Wolf u.a. 1997). Brück u.a. (1997: 149) betonen, dass die Leistungen von Frauen im Zusammenhang mit der Intergenerationensolidarität auch in der feministischen Forschung noch weitaus mehr Beachtung geschenkt werden sollte. Vgl. darüber hinaus Brody (1981), Brody u.a. (1983), Troll u.a. (1979). Bott (1971: 135) schreibt: „It was these women who organized the large gatherings of kin at weddings, funerals, christenings, and so on, it was usually these women who persuaded male relatives to help one another get jobs, and it was these women who did most of the visiting and small acts of mutual aid.” Frauen übernehmen hauptsächlich Aufgaben wie Briefe schreiben (82%) und Telefongespräche mit Verwandten (60%) (vgl. Bahr 1976: 67). Die Stichprobe umfasst 273 Befragte aus Massachusetts (USA), die älter als 21 Jahre sind (vgl. Gerstel, Gallagher 1993: 602). Als zweiten thematischen Schwerpunkt der Studie untersuchen die Wissenschaftlerinnen die psychologischen Kosten des kinkeeping für Frauen (und Männer). Sie stellen dabei fest, dass insbesondere ein kinkeeping, das geringfügig normativ verankert ist (z.B. in Bezug auf „andere Verwandte“), in einem signifikanten positiven Zusammenhang mit Stress, Kummer und Sorgen steht, während dies bei stark normativ verpflichtendem kinkeeping (Eltern) nicht festzustellen ist. Dabei gilt allgemein, dass die Erfahrung eines Rollenkonfliktes zwischen den Aufgaben von kinkeeping, Haushalt und Beruf mit der Anzahl von unterstützten Verwandten und aufgewendeten Stunden zusammenhängen (vgl. Gerstel, Gallagher 1993: 605). Insgesamt wurden 150 kanadische Studierende befragt (vgl. Salmon, Daly 1996: 289ff.). Auf den ersten Blick erscheint dieses Ergebnis jedoch nicht erstaunlich, bedenkt man die patrilineare Namensgebung, die mittlerweile zwar nicht mehr zwingendes Namensmodell bei einer Heirat ist, jedoch immer noch von der Mehrheit der verheirateten Paare übernommen wird. In diesem Fall wäre es vielleicht nicht erstaunlich, dass Frauen den Nachnamen (Familiennamen des Mannes) nicht in ihr weibliches Selbstkonzept aufnehmen. Die überwiegende Mehrheit (96%) der befragten Frauen sind jedoch nicht verheiratet und tragen ihren Geburtsnamen (vgl. Salmon, Daly 1996: 295). Voland, Paul (1998: 51) weisen darauf hin, dass hier noch Forschungsbedarf besteht und eine Generalisierung der Ergebnisse noch nicht gerechtfertigt ist.
60
1 Verwandtschaft: begriffliche und thematische Einordnung
Die Auffassung von „Verwandtschaftspflege“ als Teil der weiblichen Hausarbeit folgt mit großer Wahrscheinlichkeit traditionell definierten Solidaritätsnormen im Rahmen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung. Die verwandtschaftlichen Mitglieder erscheinen als „vormoderne Bürde“106, selbst erwerbstätige Frauen können sich dieser Aufgabe nicht entziehen, denn die Hausarbeit ist nach wie vor nicht vom Modernisierungsprozess erfasst worden (vgl. Mayr-Kleffel 1991: 143). Frauen konstruieren ihre Sozialbeziehungen in den Grenzen, die ihnen sozialstrukturelle Zwänge setzen. Diese Zwänge für die Wahl weiblicher Netzwerke sind sehr stark von dem Prinzip der geschlechtshierarchischen Arbeitsteilung geprägt. Bei Frauen dominieren somit Verwandtschaftsbeziehungen, die nicht ausschließlich auf freier Entscheidung basieren, sondern auch in modernen Gesellschaften Verbindungen mit hohem Verpflichtungsgrad sein können (vgl. Mayr-Kleffel 1991: 68). Fragen, die nach Mayr-Kleffel (1991: 91) weiterhin noch ungelöst sind, sind zum einen, wie umfangreich die weibliche Reproduktionsarbeit im Verwandtennetzwerk ist und welche Tätigkeiten sie genau und in welchem zeitlichen Umfang enthalten.107 Zudem bleibt weiterhin in den bisher durchgeführten Studien offen, ob Frauen subjektiv ihre Integration in das verwandtschaftliche Netzwerk auch als Reproduktionsarbeit empfinden. Es liegen keine Informationen darüber vor, ob und unter welchen Bedingungen sich Frauen dieser verwandtschaftlichen Einbettung verweigern. Auch di Leonardo (1992: 256) fragt: „Why do women do kin work?” und „How do women themselves see their kin work and its place in their lives?” Welchen Status hat weibliche Verwandtschaftsarbeit, ist sie Teil einer „women´s culture“? Es fehlt an einer systematischen Erklärung und empirischen Überprüfung der hier zusammengetragenen Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen Geschlecht und kinkeeping, insbesondere zum Einfluss der traditionalen Geschlechtsrollenorientierung bzw. häuslichen Arbeitsteilung auf die Wahl von Verwandten.
106
107
Auch di Leonardo (1992: 255) bezeichnet es als „kin burden“. Abel (1991) und Nelson, Abel (1990) zeigen, dass „kin work“ auch positive Gefühle wie Erfüllung und Triumph auslösen kann. Als einzige bisherige Antwort auf dieses Problem ist die amerikanische Studie von Gerstel, Gallagher (1993) anzusehen.
Einleitung
61
2 Verwandtschaftsbeziehungen im sozialen Wandel
Das folgende Kapitel thematisiert Verwandtschaftsbeziehungen im sozialen Wandel. Ausgehend von einer historischen Betrachtung der Bedeutung und Funktionen von Verwandtschaft, werden die Veränderungen der Beziehungen im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung und Industrialisierung skizziert. Kennzeichnend ist der postulierte Bedeutungsund Funktionsverlust, der von den Arbeiten von Durkheim und Parsons entscheidend geprägt wurde. Die Frage nach dem Bedeutungsverlust von Verwandtschaft steht im Mittelpunkt dieses Kapitels. 2.1 Historische Betrachtung von Verwandtschaft Verwandtschaft soll im Folgenden aus einer historischen Perspektive betrachtet werden. Der Grund hierfür ist ein besseres Verständnis der darauf folgenden Kapitel, die das Postulat des Bedeutungs- und Funktionsverlustes von verwandtschaftlichen Beziehungen unter den Bedingungen von Modernisierung und Industrialisierung thematisieren. Die Vorstellungen über Verwandtschaftsbeziehungen vergangener Zeiten sind durch ideologische Auffassungen geprägt. In diesem Kontext stellt Mitterauer (1978: 129) das Gegensatzpaar „kühl-unpersönliche Sozialbeziehungen der Gegenwart“ und „einstmalige starke Bindung an Verwandte“ auf.108 Auch die Aussage von Ogburn, Nimkoff (1955) erfasst das nostalgisch-verklärte Bild von Verwandtschaftsbeziehungen: „These ties were strong in the rural areas of our forefathers. An aunt, nephew, or cousin was considered a part of the family“ (Ogburn, Nimkoff 1955: 22).
König (1976: 77) weist jedoch darauf hin, dass eine Forschung, die den Umfang an „faktisch praktizierten Verwandtschaftsbeziehungen“ feststellt, früher kaum durchgeführt wurde. Deshalb besteht in diesem Fall immer die Gefahr, „den Idealtyp für die Wirklichkeit zu halten“ (König 1976: 77). Verwandtschaftsbeziehungen sind jedoch vereinzelt Gegenstand der historischen Familienforschung (Ehmer 2000; Hareven 1982a,b; Mitterauer 1978, 1979; Rosenbaum 1982, 1992, 1993; Sabean 1998; Schlumbohm 1994; zusammenfassend Rosenbaum 1998), so dass dieses zuvor beschriebene Idealbild überprüft werden kann. Verwandtschaft wird allerdings auch in diesem Bereich als ein vernachlässigtes Thema bezeichnet, zu dem es im deutschsprachigen Raum nur wenig Literatur gibt.109 Die Feststellung eines Forschungs108
109
Vgl. ebenso Goode (1963: 6) über Verwandtschaftsbeziehungen vergangener Zeiten: „There are lots of happy children, and many kinfolk live together in a large rambling house.” Laslett (1972: 2f.) fragt allgemein nach den Ursachen für die „Unpopularität“ der historischen Familienforschung und damit für die Trennung von Geschichte und Soziologie. Er vermutet, dass für viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler das Familiensystem so genannter primitiver Gesellschaften als Reprä-
62
2 Verwandtschaftsbeziehungen im sozialen Wandel
defizits gilt somit nicht nur für gegenwärtige Verwandtschaftsbeziehungen, sondern auch für vergangene (vgl. Rosenbaum 1998: 17). Im Blickpunkt der historischen Betrachtung steht die vorindustrielle Zeit und Anfänge der Industrialisierung, in deren Kontext die Funktionen von Verwandtschaftsbeziehungen thematisiert werden (vgl. insbesondere Hareven 1982a; Rosenbaum 1992). Zuerst wird auf die wichtige Unterscheidung zwischen unilinear strukturierten Verwandtschaftsgruppen auf der einen Seite und verwandtschaftlichen Beziehungen auf der anderen Seite hingewiesen, die für das Verständnis der historischen Verwandtschaftsbeziehungen von Bedeutung ist. Des Weiteren wird das Problem der Abgrenzung von Haushalt und Familie/Verwandtschaft angesprochen. Daran anschließend werden in einem Schwerpunkt die unterschiedlichen Funktionen von verwandtschaftlichen Beziehungen beschrieben. Die sozialen Funktionen stehen im Vordergrund der Betrachtung und werden anhand historischer Fallstudien differenziert für Bauernfamilien und Arbeiterfamilien erläutert. Die vorindustrielle Gesellschaft stellt ein Wirtschafts- und Sozialsystem dar, das sich in den westlichen und mittleren Teilen Europas bis ins 18. und zum Teil bis ins 19. Jahrhundert erstreckte (vgl. Neidhardt 1971: 23). Neidhardt (1971: 23) nennt folgende allgemeine Merkmale der einfachen Abstammungsgesellschaft: einfache Formen landwirtschaftlicher und handwerklicher Wirtschaftsweisen; Mangel an räumlichen und gesellschaftlichen Mobilitätschancen; politische, relativ autoritäre Herrschaftsformen und ein gesellschaftliches Leben als relativ undifferenziertes Sozialgebilde. Die Subsistenzwirtschaft mit Ziel der möglichst vollständigen Selbstversorgung kennzeichnete die Situation außerhalb der Städte.110 Unter diesen ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Bedingungen erfüllten Verwandtschaftsgruppen lebensnotwendige Funktionen (Produktion, Erziehung, u.a.).111 Die familiale Herkunft markierte ebenfalls die Bewegungs- und Aufstiegschancen der Individuen. Diese Tatsache steigerte die gesellschaftliche Bedeutung der Verwandtschaft (vgl. Neidhardt 1971: 23f.). Eine historische Betrachtung von Verwandtschaftsbeziehungen erfordert die Differenzierung zwischen der Analyse von unilinearen Verwandtschaftsverbänden und verwandtschaftlichen Beziehungen unter Mitgliedern, die in getrennten Haushalten leben. Mitterauer (1978: 136f.) kommt nach Sichtung des historischen Datenmaterials zu dem Schluss, dass mehrgenerationale oder um sonstige Verwandte erweiterte Familientypen, die einen gemeinsamen Haushalt und eine ökonomische Einheit bilden, schon in vorindustriellen Zeiten in West- und Mitteleuropa relativ selten existierten. So fand man erweiterte Familienformen in der Stadtbevölkerung nur in den schmalen Oberschichten von Adeligen, Patriziern und reichen Kaufleuten. Bei der breiten Masse der Gewerbetreibenden waren mehrgenerationale und komplexe Familienformen nur ganz selten vertreten. Die Erweiterung der Kernfamilie geschah hier vor allem durch Gesellen, Lehrlinge und Dienstboten, jedoch nicht
110
111
sentation der Vergangenheit genügend ist. Jedoch gilt auch für Historikerinnen und Historiker – so Medick, Sabean (1984: 48) – dass Untersuchungen von Verwandtschaftsbeziehungen, die über die Kernfamilie hinausgehen, weitgehend vernachlässigt werden. Allgemein kann festgehalten werden, dass in der vorindustriellen Zeit die Familie die Produktionsgemeinschaft innerhalb des Handwerks sowie in der Landwirtschaft bildete. Durch die Entstehung industrieller Großbetriebe wurde diese Funktion vollkommen von der Familie und dem Verwandtenkreis gelöst (vgl. Mitterauer 1978: 146). So weist Neidhardt (1971: 23f.) auch darauf hin, dass rechtliche Bestimmungen zahlreiche Leistungen von nahen und entfernten Verwandtschaftsmitgliedern gesetzlich erzwangen.
2.1 Historische Betrachtung von Verwandtschaft
63
ausschließlich durch mitlebende Verwandte.112 Konstituierend ist die Sozialform des „Ganzen Hauses“ (Brunner 1978), die sich durch folgende Merkmale auszeichnet: die Einheit von Produktion und Haushalt, die lohnlos mitarbeitenden Familienangehörigen, das mit ins Haus eingebundene Gesinde und die Herrschaft des Hausvaters über alle anderen Haushaltsmitglieder (vgl. Rosenbaum 1982: 116). Diese Sozialform ist nicht nur für bäuerliche Schichten kennzeichnend, sondern auch für die im Handel und Gewerbe tätige Bevölkerung (vgl. Brunner 1978: 87). So wurde die bäuerliche Hausgemeinschaft durch Mägde und Knechte erweitert, der Handwerkerhaushalt durch Gesellen und Lehrlinge und im tertiären Erwerbssektor das Kaufhaus durch Handlungsgehilfen (vgl. Mitterauer 1997: 17). In den städtischen Unterschichten fehlen ebenfalls erweiterte Familienformen. Eine Ausnahme stellt jedoch das bäuerliche Milieu dar. Dennoch kann man nicht von einer generellen Verbreitung von erweiterten Familienformen für weite Gebiete West- und Mitteleuropas sprechen (vgl. Mitterauer 1978: 145). Während das häusliche Zusammenwohnen mit NichtVerwandten dort eine Selbstverständlichkeit war, dominierte in Ost- und Südosteuropa das Verwandtschaftsprinzip die Zusammensetzung familialer Gruppierungen (vgl. Mitterauer 1990: 100f.). In diesen Teilen Europas ist die Verbreitung des patrilinearen Verwandtschaftssystems der „joint family“ (Großfamilie) bewiesen, die in Europa patrilinear strukturiert ist (Balkanländer, Polen, Ungarn, aber auch Frankreich und Italien) (vgl. Mitterauer 1990: 102).113 Die patrilineare Organisation bedeutet einen „Aufbau des Familienverbandes um agnatisch verwandte Männer, um Väter, Söhne, um in Erbschaften lebende Brüder, um Onkel und Neffen, wenn es lange zu keiner Teilung kommt auch um Cousins erster und zweiter Linie“ (Mitterauer 1990: 118). Ein bekanntes Beispiel für die ländliche Großfamilie ist die Zadruga auf dem Balkan (Kroatien, Bosnien, Serbien, Montenegro, Albanien, Mazedonien, Bulgarien), die der gängige Familientyp dieser Region war. Es sind die erwachsenen Männer, die zu einem patrilinearen Geschlechtsverband gehörten, um die sich die Großfamilie anordnete. Als weitere Beispiele werden erweiterte bzw. komplexe Familientypen in den ländlichen Gebieten Süd- und Mittelfrankreichs genannt. Diese stellten nicht 112
113
Verschiedene Autoren diskutieren ebenfalls die Abgrenzung von Haushalt und Familie. Es geht dabei vor allem um die Frage, ob nicht-verwandte Personen, die mit im Haushalt leben, als ein gesonderter Haushalt zu rechnen sind (vgl. Schlumbohm 1994: 194). Mitterauer (1997: 16) grenzt die Haushaltsgemeinschaft von der „Verwandtschaftsfamilie“ ab. Letztere impliziert ein zweites Verständnis von Familie und bezieht sich auf die Personen, die zu Familientreffen zusammenkommen. Allerdings ist dieser Kreis nur sehr schwer abzugrenzen (vgl. Mitterauer 1997: 16). Vgl. darüber hinaus Kaser (1995) und Brunnbauer, Kaser (2001) zum Thema Familie und Verwandtschaft in Südosteuropa. Luleva (2001) berichtet in diesem Zusammenhang von der Bedeutung von Verwandtschaft zu früheren Zeiten und die Veränderungen und Wandel der persönlichen Beziehungen, die auch in Bulgarien festzustellen sind. Untersuchungsort ist ein Dorf in Westbulgarien. Untersuchungsmethode ist die „oral history“ (vgl. Luleva 2001: 161). So berichten beispielsweise ältere Befragte über frühere intensive Beziehungen mit der patrilokalen Verwandtschaft (Onkel, ihren Söhnen und Enkeln), die sich gegenseitig bei Feldarbeit und Hausbau geholfen haben. Des Weiteren werden von Kontakten zu Cousins zweiten und dritten Grades bei Familienfesten berichtet. Cousins zweiten und dritten Grades werden als „entfernte Verwandte“ klassifiziert, während diese Verwandtentypen in angloamerikanischen und deutschen Studien gar nicht mehr aufgeführt werden. Darüber hinaus wird auch die soziale Bedeutung der Verwandtschaft herausgestellt (Zitat: „Frag´ nicht was ich bin, schau auf meine Verwandtschaft“) (vgl. Luleva 2001: 144). Dennoch wirken sich auch in diesem Land gesellschaftliche und politische Veränderungen (z.B. Kollektivierung der Landwirtschaft in den fünfziger Jahren) auf die Beziehungen mit der Verwandtschaft aus. Luleva (2001: 158) sieht die Veränderungen vor allem in der wachsenden Urbanisierung und Landflucht begründet. Das Zusammenleben zwecks gemeinschaftlicher Arbeit in der Familienwirtschaft hat entscheidend an Bedeutung verloren, mit der Konsequenz, dass die horizontal erweiterte Familie („joint family“) zugunsten der aus zwei oder drei Generationen bestehenden erweiterten Familie zurückgetreten ist.
64
2 Verwandtschaftsbeziehungen im sozialen Wandel
nur Dreigenerationenfamilien dar, sondern häufig lebten mehrere Brüder zusammen, die so genannten „fréréche“ (vgl. Mitterauer 1978: 134f.). Für diese Verwandtschaftsverbände, als eigenständiges Beziehungsgeflecht mit festgelegten Verhaltensmustern, Aufgaben und Regeln, gibt es in Mittel- und Westeuropa jedoch keine strukturelle Grundlage (Endogamie-/Exogamieregeln, Eskimosystem, bilineares Verwandtschaftssystem) (vgl. Rosenbaum 1998: 20). So existierten zwar in der westeuropäischen Gesellschaft keine erweiterten Verwandtschaftsverbände, dies bedeutet jedoch nicht, dass Verwandtschaftsbindungen unwichtig und funktionslos waren (vgl. Rosenbaum 1998: 21).114 Allgemeine Quellen für die Analyse der historischen Bedeutung von Verwandtschaftsbeziehungen im 18. bis zum 20. Jahrhundert sind volkskundliche und kulturwissenschaftliche Studien. Eine explizit soziologische Literatur findet sich dagegen kaum (vgl. Rosenbaum 1998: 17). Mit dem zur Verfügung stehenden Datenmaterial können keine generellen, sondern lediglich für bestimmte sozialhistorisch begrenzte Situationen Aussagen über Verwandtschaftsbeziehungen getroffen werden (vgl. Rosenbaum 1998: 21). So ist zwar keine Generalisierung der nun folgenden historischen Befunde möglich, sie geben dennoch Einblicke in die unterschiedlichen Funktionen und Bedeutungen von Verwandtschaft. Die unterschiedlichen Funktionen von Verwandtschaft werden von Rosenbaum (1998: 22ff.) zusammenfassend in ökonomische, politische und soziale Funktionen differenziert. Die Autorin bezieht sich auf den Zeitraum des 18. bis 20. Jahrhunderts (vgl. Rosenbaum 1998: 21).115 Betrachtet man Verwandtschaftsbeziehungen aus einer historischen Perspektive, ist eine weitere Differenzierung nach den unterschiedlichen sozialen und beruflichen Klassen der damaligen Gesellschaft notwendig. So unterscheiden sich die Funktionen von Verwandtschaft für die Oberschicht, die Arbeiterfamilie und die bäuerliche Familie. Während für die Oberschichten Verwandte ein Hilfsmittel der ökonomischen Entwicklung und Konsolidierung sowie zur politischen Machtausübung waren116, übernahmen Verwandte eher die Rolle eines sozialen Netzes für die Unterschichten (vgl. Rosenbaum 1998: 28). Die Sicherung und Vermehrung des Eigentums war ein konstituierender Bestandteil verwandtschaftlicher Beziehungen der Oberschicht. Dies wurde durch Heiratsstrategien verwirklicht, die zu Verbindungen zwischen Verwandtschaftsgruppen oder innerhalb der Verwandtschaft 114
115 116
Die Unterscheidung zwischen einer Verwandtschaftsgruppe, die einen gemeinsamen Haushalt bildet, und verwandtschaftlichen Beziehungen wird von Laslett (1972) aufgegriffen. So weist er explizit darauf hin, dass Verwandtschaft als soziales Netzwerk für ihn von untergeordneter Bedeutung ist: „(…) this book is not concerned with the family as a network of kinship“ (Laslett 1972: 1). Es besteht (für England und andere Länder) bisher keine Notwendigkeit des historischen Studiums von verwandtschaftlichen Beziehungen außerhalb der koresidierenden Familiengruppe. Vgl. dazu ausführlicher Kapitel 2.2 und 2.3. Insbesondere die Studie von Sabean (1998) thematisiert die politischen Funktionen von Verwandtschaftsbeziehungen der bäuerlichen Gesellschaft in einem Dorf in Württemberg (Neckarhausen) in dem Zeitraum 1700-1870. Die Funktion von Verwandtschaftsbeziehungen liegt dabei insbesondere in der Schaffung von politischen Allianzen zur Machtsicherung im Dorf durch gezielte, systematische Heiratsstrategien (z.B. Cousin/Cousine-Heirat): „(…) political powerful groups in the village began to marry their second cousins, thereby creating interlocking syndicates to control the distribution of village resources more tightly“ (Sabean 1998: 10). In diesem Kontext ist im Jahr 1740 der Begriff der Vetternwirtschaft („Vetterleswirtschaft“) zum ersten Mal aufgetaucht (vgl. Sabean 1998: 37). Sabean (1998: 47) gibt ein Beispiel für die Dichte der verwandtschaftlichen Beziehungen – die Mitglieder eines Rathauses entstammten alle aus einem kindred. Darüber hinaus werden rituelle Funktionen in Form von Patenschaften erfüllt, deren Auswahl durch die Faktoren Geschlecht, Alter und Wohlstand bestimmt war (vgl. Sabean 1998: 142ff.). Vgl. dazu auch Schlumbohm (1994: 595ff.). Zusammenfassend zu den politischen Funktionen vgl. Rosenbaum (1998: 24ff.).
2.1 Historische Betrachtung von Verwandtschaft
65
führte und ökonomische Vorteile realisierte. Verwandte übernahmen darüber hinaus die Rolle von Finanziers und Bürgen oder die Reputation der Verwandtschaft erhöht die Kreditfähigkeit einer Person – allesamt Funktionen in einer Gesellschaft, in der es noch keinen institutionalisierten Kapitalmarkt gab.117 Sowohl nahe als auch entfernte Verwandte dienten auch als personelle Ressourcen für die Rekrutierung von Leitungspersonal durch das frühe Wirtschaftsbürgertum (vgl. Rosenbaum 1998: 22f.).118 Der Hintergrund für das Verständnis von Verwandtschaftsbeziehungen der bäuerlichen Familie (Rosenbaum 1982; Schlumbohm 1994) bildet die Erbregelung bzw. die Vererbungspraxis. Es wird zwischen a) der Realteilung, die Neolokalität begünstigt und ein Zusammenleben von mehreren Generationen selten vorkommen lässt und b) dem Anerbenrecht unterschieden. Das Anerbenrecht begünstigt die Ausbildung der Drei-GenerationenFamilie oder anderen erweiterten Familienformen (wenn z.B. Geschwister als Knechte und Mägde auf dem Hof bleiben). Die Existenz einer Drei-Generationen-Familie wird als eine kurze Phase im Familienzyklus angesehen, die entscheidend vom Heiratsalter und Sterbealter abhängig war (vgl. Rosenbaum 1982: 60ff.). Allgemein kann festgehalten werden, dass in Deutschland das Zusammenleben von zwei Generationen weit verbreitet gewesen ist. Drei-Generationenfamilien (und andere erweiterte Familienformen) waren am häufigsten in Gebieten anzutreffen, in denen eine wohlhabende Bauernschaft lebte, die wiederum in Anerbengebieten anzutreffen war (vgl. Rosenbaum 1982: 63). Zudem hatten die Rechtsformen der Vererbungspraxis Einfluss auf die geselligen Kontakte von Bauernfamilien. So kann die Frage, welche Personenkreise – Verwandte oder Nachbarn – bei den Geselligkeitsformen als Interaktionspartner/-innen dominierten, nicht allgemein beantwortet werden, da sie von der unterschiedlichen Vererbungspraxis bestimmt war. In Realteilungsgebieten, in denen Verwandte in derselben sozialen Schicht innerhalb des Dorfes verblieben, wurden Kontakte mit Verwandten bevorzugt. Existierte hingegen das Anerbenrecht, wurden Kontakte mit Nachbarn favorisiert (vgl. zusammenfassend Rosenbaum 1982: 112). Festzuhalten bleibt somit, dass es zweckfreie, intensive persönliche Verwandtschaftsbeziehungen in den bäuerlichen Gesellschaftsschichten kaum gab (vgl. Rosenbaum 1982: 113). Die Verwandtschaftsbeziehung tritt bei der Bestimmung innerhäuslicher Sozialbeziehungen zugunsten von funktionalen Aspekten des Zusammenlebens in den Hintergrund (vgl. Mitterauer 1990: 101).119 Ob ein Verwandtschaftsverhältnis bestand oder nicht, machte für die (soziale) Stellung in der bäuerlichen Hausgemeinschaft nicht viel aus, denn Verwandte werden nicht als „Bruder“ oder „Schwester“ charakterisiert, sondern in ihrer Rolle und Funktion als Gesinde, das somit auch aus Verwandten des Bauernpaares bestand (vgl. Mitterauer 1997: 17).120 Innerhalb der bäuerlichen Hausgemeinschaft nahmen Verwandte 117
118
119
120
„Through this kind of institutional arrangement, kinship and the hierarchy of familial reputation played a fundamental role in villager access to outside funds“ (Sabean 1998: 7). Ehmer (2000: 86ff.) berichtet über die Gewerbeübertragung im Wiener Zunfthandwerk. Insbesondere die Gruppe der Wiener Rauchfangkehrer wies eine Verknüpfung von Familienstrategien, Verwandtschaftsnetzwerken und Zunft auf. Das Geschwisterverhältnis kennzeichnet ein Konkurrenzverhältnis (infolge der Vererbungspraxis), zum anderen jedoch auch solidarisches Verhalten (in Krisenzeiten, z.B. als Arbeitskräfte oder wenn uneheliche oder verwaiste Kinder auf dem Hof des Bruders versorgt wurden) (vgl. Rosenbaum 1982: 100f.). Der Gesindestatus in der ländlichen Gesellschaft bezieht sich auf eine Phase im Lebensverlauf, die zwischen Kindheit und Eheschließung liegt (vgl. Sabean 1998: 213). Die Anzahl von Gesinde ist entscheidend vom sozialen Status des bäuerlichen Hofes abhängig. So zeigen die Analysen Schlumbohms (1998: 213) eine ungleiche Verteilung des Gesindes im 18. und 19. Jahrhunderts, denn der großbäuerliche Haushalt „verfügte“ über die größte Anzahl von Gesinde.
66
2 Verwandtschaftsbeziehungen im sozialen Wandel
und Nicht-Verwandte die gleiche Position ein. Die Bedeutung des blutsverwandtschaftlichen Abstammungsverhältnisses trat gegenüber den sachlichen, instrumentellen Arbeits- und Lebensbedingungen zurück (vgl. Rosenbaum 1982: 102). Das „Kriterium der Verwandtschaft“ (Rosenbaum 1982: 68) hat in der Regel keinerlei soziale Folgen, entscheidend ist vielmehr die soziale Position der Individuen. Eine Differenzierung zwischen dem engen Familienkreis und einem weiteren Kreis des Haushaltes (oder zwischen Familienangehörigen und familienfremden Personen) ist deshalb nicht angebracht (vgl. Rosenbaum 1982: 67f.). Ein etwas anderes Bild der Verwandtschaftsbeziehungen der bäuerlichen Gesellschaft vermittelt Schlumbohm (1994).121 Schlumbohm (1994) weist darauf hin, dass die Befunde aus der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht auf einen simplen Kausalzusammenhang schließen lassen, der besagt, dass sich „relevante Bande zwischen Verwandten nur auf Grundlage von stabilem Besitz entfaltet hätten“ (Schlumbohm 1994: 594). Für die von ihm analysierte ländliche Gesellschaft gilt, dass die armen Bevölkerungsschichten nicht „arm an Verwandten waren“, sondern diese übernahmen soziale Funktionen wie Bereitstellung von Wohnraum, Hilfe bei Arbeitsplatzsuche oder Kinderbetreuung (vgl. Schlumbohm 1994: 594f.). Schlumbohm (1994: 324) stellt insbesondere die Übernahme von Pflegschaften durch den erweiterten Familienkreis heraus. Viele Waisen und durch andere Umstände von ihren Eltern getrennte Kinder wurden von dem Netz ihrer Verwandtschaft (Großeltern, Tanten, Onkel) aufgefangen. Die These des Bedeutungs- und Funktionsverlustes von Verwandtschaft muss angesichts dieser Befunde kritisch hinterfragt werden. „Die Veränderungen, (…), widersprechen entschieden der Vorstellung einer linearen Entwicklung der Art, daß im Zuge des Übergangs von einer sog. ,traditionellen‘ bäuerlichen Gesellschaft hin zu einer ,modernen‘ sich die Verwandtschaftsbindungen immer mehr aufgelöst und abgeschwächt hätten und daß so die ‚Kernfamilie’ immer stärker von dem Netz der Verwandtschaft ‚isoliert’ worden sei. Im Gegenteil, um die ökonomischen und sozialen Probleme der ,Modernisierung‘ zu bewältigen – so könnte man sagen –, wurden Verwandtschaftsbeziehungen im 19. Jahrhundert stärker aktiviert als zuvor, zwischen Bauern und ihren ,armen Verwandten‘, vor allem aber innerhalb der eigentumslosen Schicht selbst“ (Schlumbohm 1994: 595).
Im Vordergrund dieses Kapitels stehen jedoch die sozialen Funktionen von Verwandtschaftsbeziehungen, die vor allem für Arbeiterfamilien historisch nachgewiesen wurden (vgl. insbesondere Rosenbaum 1992, 1993; Hareven 1982a,b). Rosenbaums Studie (1992) analysiert Verwandtschaftsbeziehungen von Arbeiterfamilien im frühen 20. Jahrhundert in der Industriestadt Linden bei Hannover.122 Es ist ihr Anliegen, die allgemeinen Lebensbedingungen darzustellen, die den untersuchten Familien gemeinsam sind (vgl. Rosenbaum 1992: 33). Verwandtschaftsbeziehungen, vor allem Beziehungen zu kollateralen Verwandten, werden als wichtig und von überragender Relevanz betrachtet, die das Leben in unterschiedlicher Art und Weise erleichterten (vgl. Rosenbaum 1993: 237, Rosenbaum 1992: 148). Zugewanderte Personen waren Anlaufstelle in der Fremde und boten somit zentrale Hilfe beim Ein- und Überleben. Darüber hinaus halfen sie bei der Beschaffung von Arbeitsplätzen und Wohnraum (vgl. Rosenbaum 1993: 236). Denn entgegen der klassischen Annahme wanderten die Menschen nicht alleine, kennzeichnend ist vielmehr eine Familienund „Verwandtschaftswanderung“, auch wenn Mitglieder nicht gleichzeitig wanderten. 121
122
Studie der bäuerlichen/ländlichen Gesellschaft des Osnabrückschen Kirchspiels Belm in der vorindustriellen Zeit (1650-1860). Eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse findet sich bei Rosenbaum (1993, 1998).
2.1 Historische Betrachtung von Verwandtschaft
67
Folglich lebte ein Großteil der Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen in räumlicher Nähe, mit denen gleichzeitig (insbesondere zu Verwandten der mütterlichen Linie) enge Beziehungen gepflegt wurden (vgl. Rosenbaum 1992: 142ff.). Neben dem instrumentellen Nutzen wird insbesondere der psychische Nutzen von Verwandten hervorgehoben. Zugewanderte befanden sich aufgrund sprachlicher und konfessioneller Differenzen oft in einer Minderheitenrolle und erhielten emotionalen Rückhalt von ihren Verwandten, mit denen sie ihre alte Heimat, Erinnerungen und Herkunft teilten. Die große Bedeutung von Verwandtschaftsbeziehungen wird vor allem in der Schutzfunktion „vor einer bedrohlich erlebten Umwelt“ gesehen (vgl. Rosenbaum 1992: 145). Die Verwandtschaftshilfe fiel dabei unterschiedlich aus. Zu nennen sind Unterstützungen mit Sachleistungen und bei anfallender Arbeit (bei den Frauen zum Beispiel bei der „Großen Wäsche“) (vgl. Rosenbaum 1993: 236). Verwandte der Mutter halfen bei Erziehung und Ausbildung der Kinder, die Frauen unterstützten sich bei Krankheiten und Wochenbett. Verwandte waren Ratgeber/-innen in schwierige Situationen. Insbesondere bei der Berufswahl der Kinder wurde der Rat von Verwandten eingeholt, die zudem auch Arbeitsplätze vermittelten. Sabean (1998) weist in diesem Zusammenhang auf eine wichtige geschlechtsspezifische Differenzierung hin, denn die beruflichen Unterstützungsleistungen wurden vornehmlich Söhnen gewährt (vgl. Sabean 1998: 460). Zwar erhielt die Ausbildung der Töchter ebenfalls Unterstützung, dies jedoch primär dadurch, dass die Frauen bei ihren Verwandten untergebracht wurden, um Haushaltsmanagement und andere „weibliche“ Qualifikationen zu erlernen oder kranke und alte Verwandte zu versorgen (vgl. Sabean 1998: 462). So lebten in Krisenzeiten (Krankheitsfälle, Versorgung der älteren Angehörigen) die Töchter der Familie mit Tanten oder Großmüttern zusammen (vgl. Sabean 1998: 498f.).123 Aufgrund des deprivierten sozioökonomischen Status war eine direkte finanzielle Hilfe in Arbeiterfamilien kaum verbreitet. Sabean (1998) thematisiert auch die sozialen und emotionalen Konsequenzen der instrumentellen Unterstützungsbeziehungen: „The fact of living in the house of an aunt together with cousins for several years provided the basis of life-long intense contacts through correspondence, travelling, crisis aid, and even marriage” (Sabean 1998: 499).
Der Ausbau des Eisenbahnnetzwerkes erhöhte die geographische Mobilität, so dass Beziehungen zu Verwandten „vom Land“ aufrechterhalten werden konnten (vgl. Rosenbaum 1992: 146ff.). Diesen Verwandten kam eine weitere Funktion zu, denn vielfach unterstützen sie die Familien in der Stadt mit Nahrungsmitteln. Die Beziehungen zum Land waren für städtische Familien eine weitere „Quelle der Ernährung“ jenseits des Familieneinkommens (vgl. Rosenbaum 1992: 153). Eine zentrale Funktion übernahmen Verwandte – neben diesen eher regelmäßigen Hilfen – in Krisensituationen.124 Rosenbaum (1998: 27) bezeichnet Notsituationen als „klassisches Feld“ von Verwandtschaftshilfen. In Zeiten, in denen es noch kein oder nur ein rudimentär ausgebildetes System von institutionalisierten Hilfeleistungen gab, kam dem sozialen Netz eine existentielle Bedeutung bei unterschiedlichen Gefährdungen (Tod eines Elternteils, Krankheit oder Unfall) zu (vgl. Rosenbaum 1992: 123
124
Sabean (1998) hebt die besondere Rolle der Frauen hervor: „Unmarried girls, (…), and widows of closed allied kin in many instances became central figures in extended families through their caritative labors“ (Sabean 1998: 463). Diese Tatsache unterstützt die Feststellung der Latenz verwandtschaftlicher Beziehungen. Vgl. Kapitel 1.1.2.
68
2 Verwandtschaftsbeziehungen im sozialen Wandel
148). Die Aufrechterhaltung und Pflege von Verwandtschaftsbeziehungen war (unbewusst) auch eine Vorsorge für diese Bedrohung, die durch kein öffentliches System der sozialen Sicherung aufgefangen wurde (vgl. Rosenbaum 1993: 237). Neben den eher informellen Unterstützungsleistungen gab es jedoch auch gesellige Beziehungen zu Verwandten (vor allem zu Tanten und Onkeln) in Form von gegenseitigen Besuchen und Ausflügen am Wochenende (vgl. Rosenbaum 1992: 149).125 Zusammenfassend kann für die Situation in Deutschland festgehalten werden, dass die ausgebildeten Verwandtschaftsstrukturen durch den zweiten Weltkrieg und seine Folgen zerstört wurden: „Was in der Literatur vornehmlich für England, teilweise auch für die USA beschrieben wird, das enge und engste Zusammenleben der Arbeiterfamilien mit ihren Verwandten, besonders denen der mütterlichen Linie, konnte sich in Deutschland nur vereinzelt und kurzfristig als eine typische Lebensform der Arbeiterschaft ausbilden“ (Rosenbaum 1992: 145).
Harevens Analyse (1982a) bezieht sich auf historische Daten aus Manchester (New Hampshire, USA) in dem Zeitraum des 19. Jahrhunderts bis zum Jahr 1930.126 Grundlage ihrer vielzitierten qualitativen Studie sind historische Interviews von ehemaligen Arbeitern der „Amoskeag Manufactoring Company“ (vgl. Hareven 1982a: xiff.).127 Verwandtschaftsbeziehungen erfüllten in Zeiten der Industrialisierung vor allem ökonomische und soziale Funktionen. Sie halfen bei der Arbeitsplatzsuche, da sie für die Migration der Verwandten nach Manchester und Rekrutierung der Arbeiter innerhalb der Fabrik verantwortlich waren (vgl. Hareven 1982a: 85). Im Zuge der Migration unterstützen Verwandte einander aktiv bei der Suche nach Wohnraum und Arbeit und erleichterten den Neuankömmlingen die Assimilation an das neue städtisch-industrielle Leben. Entsprechend dem Muster einer Kettenmigration bildeten Verwandte Anlaufstellen für ihre Angehörigen (vgl. Hareven 1997: 56f.). Eine Unterstützung von Seiten der Verwandtschaft war notwendig, um mit den Unsicherheiten des industriellen Systems (z.B. Arbeitslosigkeit), aber auch zu Zeiten von familiären Krisen (Krankheit, Geburt, Tod) zurecht zu kommen. Ein Leben in geographischer Nähe ist somit unerlässlich gewesen (vgl. Hareven 1982a: 101). Hareven (1982b: 77) differenziert darüber hinaus zwischen den Funktionen von nahen und fernen Verwandten. Beziehungen zum erweiterten Familienkreis kennzeichnen routinemäßige Hilfeleistungen (z.B. gegenseitiges Ausleihen von Geräten, Werkzeug), Kinderaufsicht, Finanzhilfe, vorübergehende Unterbringung in der eigenen Wohnung128 und die Unterstützung in Krisensituationen, während auf längere Sicht geplante Hilfe primär von der Kernfamilie geleistet wurde. Festgehalten werden kann, dass Verwandtschaftsnetzwerke durch die Migration in industrielle Zentren nicht zerstört wurden – im Vorgriff auf die modernisierungstheoretische These, die in Kapitel 2.3 ausführlicher dargestellt wird. Die historischen Studien belegen den ökonomischen, sozialen und psychischen Wert von Verwandtschaftsbeziehungen für Familien in der vorindustriellen und industriellen Gesellschaft. 125
126 127 128
Auch Sabean (1998) berichtet über verwandtschaftliche Treffen zu Familienfeiern und Festtagen, den Austausch von Geschenken und die Übernahme von Patenschaften. Vgl. auch Hareven, Mitterauer (1996). Vgl. dazu Hareven, Langenbach (1978). Mit Verwandten wurde nur in Zeiten der Wohnungsnot oder wirtschaftlich schlechten Bedingungen ein Wohnraum geteilt: „Das Faktum miteinander verwandt zu sein, hatte somit häufiger den Austausch von Hilfsmitteln und Hilfsleistungen zur Folge als die Benutzung eines gemeinsamen Wohnraums“ (Hareven 1982b: 78).
2.2 Zum Verhältnis von Verwandtschaft und Moderne
69
2.2 Zum Verhältnis von Verwandtschaft und Moderne Zur genaueren Darstellung der Veränderung von Verwandtschaftsbeziehungen in der Moderne soll im Weiteren zwischen postmodernen und modernen gesellschaftlichen Strukturen differenziert werden. Zuerst werden gegenwärtige demographische Entwicklungstendenzen und ihre Auswirkungen auf postmoderne Verwandtschaftsbeziehungen skizziert. Darin anschließend werden die Veränderungen der Verwandtschaftsbeziehungen im Zuge der Modernisierung und Industrialisierung erläutert. 2.2.1 Postmoderne Verwandtschaftsstrukturen Johnson (2000b: 624) identifiziert zusammenfassend drei Entwicklungstendenzen der postmodernen Gesellschaft, die die sozialen Änderungen von Verwandtschaft markieren:129 1. 2.
3.
Demographische Veränderungen (höhere Lebenserwartung, rückläufige Fertilität), die entscheidende Auswirkungen auf die biologische Existenz und damit auf Anzahl und Typen von Verwandtschaft haben. Entstehung alternativer Familien- und Lebensformen und die damit einhergehende neue Basis von Verwandtschaftsbeziehungen, die vor allem auf Gefühl und gemeinsamen Interessen und nicht mehr alleine auf dem biologischen Abstammungsverhältnis gründen. Wachsende kulturelle Diversität von Familienbeziehungen, die durch Migrantinnen und Migranten bedingt ist und eine potentiell höhere Bedeutung von Verwandtschaft innerhalb dieser Familien.
Postmoderne Verwandtschaftsstrukturen sind vor allem durch demographische Veränderungen, insbesondere das gestiegene Lebensalter und die rückläufige Fertilität, verursacht. Die veränderten Tatbestände wirken sich auf die Anzahl der objektiven Verwandtschaft aus. Der demographische Wandel führt zu einer intergenerationalen Ausdehnung des Verwandtschaftssystems. Es gibt mehrere Generationen in einer Familie, da die Menschen immer älter werden. Die Opportunitäten für intergenerationale Beziehungen sind gestiegen (vgl. Uhlenberg 1996b: 227).130 Die höhere Lebenserwartung wirkt sich darüber hinaus auf das Timing und die Dauer der Witwenschaft aus (vgl. Uhlenberg 1996b: 226). Dieses Merkmal moderner Verwandtschaftsbeziehungen wird allgemein auch als Vertikalisierung der Familienstruktur bezeichnet (vgl. Knipscheer 1987, Bengtson u.a. 1990). Gleichzeitig führt der Geburtenrückgang und die damit einhergehende Verkleinerung der Personenhaushalte zu einer kollateralen Kontraktion der Verwandtschaft, die sich z.B. darin äußert, dass vor allem jüngere Generationen immer weniger Tanten, Onkel, Cousins, Cousinen, Nichten und Neffen haben. Andere demographische Veränderungen, wie z.B. das gestiegene Heiratsalter und das Alter beim ersten oder zweiten Kind, wirken sich ebenfalls auf die Anzahl der objektiven Verwandtschaft aus (vgl. Uhlenberg 1996b: 226).131 Knipscheer (1987) 129 130 131
Vgl. dazu auch Uhlenberg (1996a: 24). Vgl. auch Lauterbach (1995). Im Vordergrund der demographischen Studie von Post u.a. (1997) steht der quantitative Verlauf unterschiedlicher Verwandtentypen im Zeitraum von 1830 bis 1990. Zusammenfassend kann festgehalten wer-
70
2 Verwandtschaftsbeziehungen im sozialen Wandel
spricht in diesem Zusammenhang von einer intragenerationalen Verkleinerung der Familie, die durch gesunkene Geburtenraten verursacht wurde. Peuckert (2002: 297) gibt hierfür ein anschauliches Beispiel: Heiraten zwei Einzelkinder und bekommen nur ein Kind, so verfügt es über zwei Eltern und vier Großeltern (evtl. Urgroßeltern), jedoch weder über Geschwister, Onkel, Tanten, Cousins oder Cousinen. Die Existenz von Geschwistern ist Voraussetzung für die vielfältigen Beziehungen zur erweiterten Verwandtschaft. In einer Gesellschaft, in der es keine Geschwister gibt, sind folglich auch keine weiteren Verwandtschaftsbeziehungen vorhanden: „(…) other kinship ties would exist only in the imagination. Aunts, uncles and cousins would be nonexistent. All relatives, including in-law relationships, would be intergenerational“ (Matthews 2005: 181).132 Bengtson u.a. (1990) bezeichnen diese Familienstruktur als bean-pole-family. Es ist eine Familienstruktur, die lang und dünn ist, d.h. mehrere Familiengenerationen leben gleichzeitig, jedoch mit weniger Familienmitgliedern in einer Generation (vgl. Bengtson 2001: 5). Die makrostrukturelle Veränderung von Verwandtschaftsnetzwerken geht somit in Richtung einer Ausdünnung und Verschlankung von Verwandtenbeziehungen (vgl. Diewald 2003: 5). Eine quantitative Abnahme der kollateralen Verwandtschaft bedeutet jedoch nicht automatisch einen Bedeutungsverlust – so wie es bisher eher unkritisch in der Literatur unterstellt wird. Denn das Gegenteil ist denkbar: Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, Nichten und Neffen als „familiensoziologische Raritäten“ (Lucke 1998: 60) erfahren auch aus Sicht der Individuen einen Bedeutungszuwachs. Bei der Diskussion über den demographischen Wandel muss jedoch ebenfalls berücksichtigt werden, dass die Ein-Kind-Familie auch angesichts der niedrigen Fertilitätsrate ein Mythos ist. Kindheit bedeutet etwa für ein Drittel aller Kinder das gemeinsame Aufwachsen mit Geschwistern (und Halbgeschwistern), wobei der Anteil der geschwisterlosen 6-9-Jährigen seit 1996 in Westdeutschland um 1,3 und in Ostdeutschland um 1,4 Prozentpunkte gestiegen ist (vgl. Engstler, Menning 2003: 27f.). Alternative Lebens- und Familienformen führen zu postmodernen Verwandtschaftsverhältnissen, die mit der biologischen Verwandtschaft kontrastiert werden und primär auf dem Charakteristikum der Wahl gründen. Zu nennen sind: Künstliche Verwandtschaft, Pseudo- oder Quasiverwandtschaft, Wahlverwandtschaft bzw. Wahlfamilien. Die Begriffe stehen in einem engen Zusammenhang mit der aktuellen Diskussion über die Bedeutung von Familie und Verwandtschaft. Reduziert sich Verwandtschaft auf Blutsverwandtschaft oder ist diese biologische Basis von Verwandtschaft in der postmodernen Gesellschaft mit ihren pluralistischen und alternativen Lebensformen nicht mehr angemessen? Die biologische Abstammung dominiert die Interpretationen und Assoziationen, die wir mit Verwandtschaft haben. Der Begriff der Blutsverwandtschaft ist in der Vorstellung der Menschen mit biologischem Ursprung konnotiert. Nur diese Art von Verbindung zwischen Menschen erscheint als die authentische und gesellschaftlich legitimierte Form von
132
den, dass die Zahl der lebenden Verwandten von 1830 stetig angestiegen ist und das Maximum zwischen 1930 und 1960 erreicht wurde. Dabei verzeichnen insbesondere die älteren Befragten eine Vergrößerung der objektiven Verwandtschaft, denn im Vergleich zu anderen Altersklassen und Zeiten verfügen sie über mehr Nichten und Neffen sowie Cousins und Cousinen und damit potentielle Interaktionspartner/-innen (vgl. Post u.a. 1997: 277). Betrachtet man in diesem Zusammenhang die Auswirkungen der Ein-Kind-Politik Chinas, die seit Ende der 1970er Jahre propagiert wird, so kann diese nicht nur als staatliche Familienpolitik bzw. Familienplanung bezeichnet werden. Sie stellt darüber hinaus auch eine „staatliche Verwandtschaftspolitik“ dar, da mehrere Generationen keine Opportunitäten für sekundäre und tertiäre verwandtschaftliche Beziehungen haben, da sie ohne Geschwister und damit ohne Tanten und Onkel, Cousins und Cousinen, Nichten und Neffen aufwachsen und leben.
2.2 Zum Verhältnis von Verwandtschaft und Moderne
71
Verwandtschaft (vgl. Weston 1991: 34). Es gibt jedoch klare gesellschaftliche Tendenzen hin zu einer Pluralisierung und Individualisierung von Familien- und Lebensformen. Zu erwähnen ist hier die relative quantitative Zunahme von nichtehelichen Lebensgemeinschaften, Stieffamilien, „Fortsetzungsfamilien“ (Stichwort: „Patchwork-Familie“)133, Pflege- und Adoptivfamilien sowie gleichgeschlechtlichen Partnerschaften/Familien, für deren Lebenskonstellationen traditionelle Verwandtschaftsbegriffe nicht mehr gelten und die eine neue Definition von Familie und Verwandtschaft notwendig machen. „(…) numerous other forms of relationships are tending to replace many traditional consanguineous and affinal kin connections“ (Riley, Riley 1996: 183).
Diese Formen postmoderner Familien zeichnen sich durch einen „Variantenreichtum der Verwandtschaftsgeschichten“ aus (vgl. Stacey 1991: 320f.). Die Vielfalt und Komplexität dieser Familien übertrifft jene vormoderner Verwandtschaftsformen (vgl. Stacey 1991: 312). Unter diesen Lebensbedingungen entstehen insbesondere nach Scheidung und Wiederheirat Querverbindungen und komplexe Beziehungsnetze, deren Merkmal es ist, dass gar nicht mehr genau klar ist, wer zur Familie gehört. Stattdessen hat jeder der Beteiligten eine eigene Definition von Familie. Es ist insbesondere die Nach-Scheidungs-Situation, die nach Beck-Gernsheim (2000: 49) zu einer Neukonstitution von Familienverhältnissen führt, in der das Aufrechterhalten von Beziehungen kein selbstverständlicher Akt, sondern explizit eine freiwillige Handlung geworden ist und somit den Charakter von „Wahlverwandtschaften“ trägt.134 In diesen neuen Konstellationen gibt es keine traditionellen Zurechnungsregeln (Abstammung und Heirat), die Verwandtschaft konstituieren (vgl. BeckGernsheim 2000: 49).135 Schütze (1993: 205) stellt in diesem Zusammenhang heraus, dass es dadurch zu Unsicherheiten und Ungewissheiten kommt, da es keine allgemein akzeptierten und eindeutigen Bezeichnungen für diese neuen Beziehungsformen gibt und unklar ist, ob diese darüber hinaus überhaupt als Verwandtschaftsbeziehungen gelten.136 Aufgrund der entstandenen komplizierten Verwandtschaftsverhältnisse ist es an dieser Stelle notwendig, zwischen rechtlicher und sozialer Verwandtschaft zu unterscheiden (vgl. Lüscher 1993: 34). Mit dem Tatbestand der Adoption tritt neben der biologischen Abstammung „künstliche“ Verwandtschaft auf (vgl. König 1974a: 34).137 Stief- und Adoptivfamilien sind durch 133
134
135
136
137
Ausführlicher zum Thema „Fortsetzungsehe“ vgl. Furstenberg (1987) und Furstenberg, Cherlin (1991). Weiterführend zum Thema „Patchwork-Familie“ vgl. Bernstein (1993). Vgl. auch Beck-Gernsheim (1994). Hareven (1997: 58) spricht in diesem Zusammenhang von „blended families“. Sie konstituieren sich aus Beziehungen mit Blutsverwandten, Wahlverwandten, angeheirateten und verschwägerten Verwandten. Als strukturelle Ursachen werden Scheidung, Wiederheirat und das Zusammenleben von nichtverheirateten Paaren genannt. Als Konsequenz und Kennzeichen der Moderne sieht Beck-Gernsheim (2000: 57) den Übergang von der Normalbiographie eines Individuums zur „Bastelbiographie“, die sich durch flexible Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen auszeichnet. So schreibt Honneth (1994: 40): „Was vor einem Vierteljahrhundert noch als das intakte Herzstück der modernen Gesellschaft gelten könnte, ist die private Sphäre von Vater, Mutter und mindestens einem Kind nicht nur zu einem Experimentierfeld für neue Formen des privaten Lebens geworden, sondern auch zu einem Schlachtfeld für die Neufestlegung von Verwandtschaftsbeziehungen“ [Eigene Hervorhebung]. Der Begriff „künstliche“ Verwandtschaft ist nach König (1974: 34) jedoch nicht gerade sehr glücklich ausgewählt worden, da dieser die Vorstellung impliziert, dass eine solche Verwandtschaft lockerer sei als die natürliche. Dies ist jedoch nicht der Fall, da eine Adoption die gleichen Verpflichtungen wie eine biologische Elternschaft mit sich bringt. Ein weiterer Begriff für Verwandtschaftsverhältnisse, die durch Adoption entstehen, ist „soziale“ Verwandtschaft (vgl. Allan 1979a: 32).
72
2 Verwandtschaftsbeziehungen im sozialen Wandel
komplexere verwandtschaftliche Beziehungsmuster zu charakterisieren.138 Neue Familienkonstellationen stellen somit den traditionellen Verwandtschaftsbegriff in Frage. Persönliche Beziehungen sind somit nicht mehr schicksalhaft vorgegeben, sondern haben Eigenleistung und aktive Pflege zur Voraussetzung (vgl. Beck-Gernsheim 2000: 49). Aus der Vielzahl potentieller Verwandten „bauen sich Menschen ihre Verwandtschaft aktiv zusammen“ und „arbeiten daran, verwandt zu sein“ (vgl. Furstenberg, Cherlin 1991: 93). Dementsprechend vergrößert ist die „Beweglichkeit unseres Verwandtschaftssystems, das jetzt schon die individuelle Entscheidungsfreiheit stärker betont als gegenseitige Verpflichtungen“ (Furstenberg 1987: 37). Es sind jedoch nicht nur gesellschaftliche Tatbestände wie Scheidung, Wiederheirat oder Adoption, die zu einer Umstrukturierung des Verwandtschaftssystems führen. Die Idee von Wahlverwandtschaft bzw. Wahlfamilie wird vor allem in Partnerschaften und Familien von homosexuellen Frauen und Männern thematisiert (Weston 1991). Gleichgeschlechtliche Partnerschaften entwickeln ihren eigenen Verwandtschaftsbegriff, der zum einen durch freie Wahl und soziale Zuschreibung, zum anderen aber auch durch Adoption oder die Möglichkeit der künstlichen Befruchtung notwendigerweise entsteht (vgl. Johnson 2000a: 139).139 „Kinship began to seem more like an effort and a choice than a permanent, unshakable bond or a birthright. The mute substance of genes, blood, and bone had to be transformed into something more” (Weston 1991: XV).
Die Existenz von fiktiven Verwandten ist jedoch nicht nur für die postmoderne Familie kennzeichnend, sondern die Erweiterung der konventionellen Familie hat Tradition in vielen unterschiedlichen Kulturen. So weisen Riley, Riley (1996: 184) auf verschiedene ethnische Minderheiten hin (mexikanisch-amerikanische, afroamerikanische oder asiatisch-amerikanische Familien), in denen Freundinnen und Freunde zur Verwandtschaft gezählt werden. Alternative Lebensentwürfe und -formen stehen in Konkurrenz zur traditionellen, klassischen Familie und erfordern eine Neuorientierung für die Zukunft. Es sind neue Verwandtschaftsmodelle und -begriffe gefordert, die den Ansprüchen einer sich wandelnden Gesellschaft und der in ihr gelebten sozialen Beziehungen gerecht werden. 2.2.2 Auswirkungen der gesellschaftlichen Modernisierung Von besonderem Interesse sind – neben den im vorherigen Kapitel skizzierten postmodernen Verwandtschaftsstrukturen – die Veränderungen, die im Zuge der Modernisierung zu einem gesellschaftlichen Wandel von Verwandtschaftsbeziehungen führten. Wie ist es zu erklären, dass Verwandtschaft im Zuge der Urbanisierung und Industrialisierung an „Bindekraft“ verliert? (vgl. Goode 1967b: 113f.).
138
139
Ausführlicher zum Thema Adoption und Verwandtschaft vgl. Modell (1994). Zum Thema Stieffamilien vgl. Cherlin, Furstenberg (1994); Bien u.a. (2002); Hetherington, Stanley-Hagan (2000). Zum anderen entstehen im Fall der Registrierung eines gleichgeschlechtlichen Paares als eingetragene Lebenspartnerschaft, Verwandtschaftsverhältnisse (Schwägerschaft) zwischen den Verwandten der Lebenspartnerinnen bzw. Lebenspartner. Ausführlicher zur Konstitution von Verwandtschaft in schwulen und lesbischen Lebensgemeinschaften vgl. Demo, Allen (1996); Weston (1991); Savin-Williams, Esterberg (2000).
2.2 Zum Verhältnis von Verwandtschaft und Moderne
73
Dieser Funktionsverlust tritt ein, da Aufgaben, die zuvor von Verwandten erfüllt wurden, nun von unpersönlichen, nicht-verwandtschaftlichen, staatlichen oder privaten Organisationen übernommen werden. In Bezug auf finanzielle Unterstützung wendet man sich wegen kleinerer Anleihen eventuell noch an die Verwandtschaft, Banken werden jedoch zur Quelle des Investitionskapitals. Dabei ist nach Goode (1967b: 114) die Phase der Industrialisierung entscheidend für die veränderte Bedeutung verwandtschaftlicher Beziehungen. „In der ersten Phase der Industrialisierung hat eine Familie, die über eine wirkungsvolle Verwandtschaftsstruktur verfügt, oft große Vorteile vor anderen Familien, die versuchen, aus eigener Kraft vorwärts zukommen. Mit zunehmender Industrialisierung verschwinden jedoch derartige Strukturen“ (Goode 1967b: 114).
Insbesondere Neidhardt (1971: 25) beschäftigt sich mit der Frage des Funktionsverlustes von Verwandtschaftsbeziehungen infolge des gesellschaftlichen Differenzierungsprozesses, dessen entscheidende Kräfte Rationalisierung, Industrialisierung und Demokratisierung sind. So ist die Lockerung des Verwandtschaftszusammenhangs nicht durch einen „Schwund an Familialismus“, sondern als funktionale Anpassung an neue gesellschaftliche Strukturen zu verstehen (vgl. Neidhardt 1971: 29). Die Aufgaben und Funktionen von Verwandten wurden an neu entstandene Sozialgebilde bzw. Institutionen abgegeben.140 Die Leistungen, die von Verwandten in der modernen Gesellschaft erzielt werden, sind nicht mehr universal wie in vormodernen Gesellschaften.141 Welche Konsequenzen hat dies für die Rolle der Verwandtschaft? „Die wichtigsten Vorgänge liegen in diesem Prozeß darin, daß die Verwandtschaftsgruppen, denen die Kernfamilie ihre soziale Integration in den früheren Gesellschaftssystemen verdankte, nunmehr ihre soziale Bedeutung weitgehend einbüßten und daß sich an ihre Stelle eine komplexe ‚Öffentlichkeit’ mit einer Fülle hochrationalisierter Sozialverbände setzte, die verwandtschaftliche und ‚familistische’ Prinzipien zurückdrängten. Verwandtschaftsgebilde sind in unserer Gesellschaft nicht mehr hinreichend wirksam“ (Neidhardt 1971: 26; Hervorhebung im Original).
Nach Walter (1993) sind die Veränderungen der Verwandtschaftsbeziehungen im Zusammenhang mit der Entstehung des Wohlfahrtstaates in der modernen Gesellschaft zu sehen. Er zieht eine Verbindungslinie mit der „Nachkriegs-Expansion der westlichen Wohlfahrtsstaaten als eine Substitution verwandtschaftlicher Solidarbeziehungen durch verrechtlichte, monetarisierte und bürokratisierte Formen von Unterstützung“ (Walter 1993: 332). Die Existenz eines Wohlfahrtstaates mit seiner öffentlichen und solidarischen Absicherung macht eine Unterstützung im Kontext der erweiterten Familie überflüssig. Das moderne personenbezogene Verwandtschaftssystem ist funktionsärmer, da zahlreiche Funktionen (gesellschaftliche Integration, Hilfe, Solidarität) zu einem großen Teil von öffentlichen Einrichtungen (wie z.B. Vereine, Schule, soziale Dienste, Krankenhäuser, Altenheime) übernommen wurden (vgl. Peuckert 2003: 420). 140
141
„Hochtechnisierte Industriebetriebe spezialisierten sich auf die Produktion; Schulen auf Erziehung; Gerichte auf Rechtssprechung; Einrichtungen der Versicherung, Versorgung, Fürsorge auf die soziale Sicherung des einzelnen; Behörden auf Verwaltung; Vereine auf Freizeitleben; Parteien und Interessenverbände auf Politik etc. In dieser Weise wurden früher zusammenhängende Lebensbereiche voneinander getrennt“ (Neidhardt 1971: 25). Laufbahnen, politische Karrieren und gesellschaftliche Verbindungen werden beispielsweise nur noch in Ausnahmefällen durch Großväter, Onkel und Cousins vermittelt (vgl. Neidhardt 1971: 30).
74
2 Verwandtschaftsbeziehungen im sozialen Wandel
„Verwandtschaft ist in einer differenzierten Leistungsgesellschaft keine tragfähige Brücke zur Welt der Betriebe, Behörden und Parteien. Darin liegt wohl der Hauptgrund dafür, daß die Kernfamilie heute als gesellschaftlich desintegriert erscheint“ (Neidhardt 1971: 29).
Die Veränderung von persönlichen Beziehungen wird insbesondere in den theoretischen Ansätzen von Wirth (1938) und der Gegenüberstellung von „Gemeinschaft vs. Gesellschaft“ (Tönnies, Wellman) thematisiert. Die Ansätze nehmen Bezug auf die Veränderungen der Sozialbeziehungen, wobei Verwandtschaft mit vormodernen, traditionellen Beziehungen assoziiert wird. Die moderne Gesellschaft manifestiert sich vor allem in der Stadt und dem Prozess der Urbanisierung. Im Vordergrund steht die Annahme, dass die Stadt durch distanzierte Sozialbeziehungen und einen Zerfall enger, persönlicher und familialer Beziehungen gekennzeichnet ist. Der festgestellte Bedeutungsverlust von Verwandtschaft steht somit insbesondere im Zusammenhang mit einer urbanen Lebensweise. Im Folgenden wird die klassische Position von Wirth (1938) dargestellt, der sich in seinem Aufsatz „Urbanism as a Way of Life“ auch zu Verwandtschaftsbindungen unter dem Kontext des städtischen Lebens äußert. Die Stadt wird von Wirth (1938: 8) folgendermaßen definiert: „a relatively large, dense, and permanent settlement of socially heterogeneous individuals.“ Die soziologische Analyse der Urbanisierung fokussiert u.a. die soziale Organisation innerhalb des städtischen Lebens.142 Aus soziologischer Sicht kann der „urban mode of life“ folgendermaßen beschrieben werden: „The distinctive features of the urban mode of life have often been described sociologically as consisting of the substitution of secondary for primary contacts, the weakening of bonds of kinship, and the declining social significance of the family, (…), and the undermining of the traditional basis of social solidarity” (Wirth 1938: 20f.; Eigene Hervorhebung).
Diese Veränderungen sind eingebettet in einen generellen Wandel der Sozialbeziehungen. Aufgrund der Organisationsstruktur einer Stadt und der mit ihr einhergehenden Arbeitsteilung, ist man mit einer größeren Anzahl von Personen in Kontakt (Segmentierung der Sozialbeziehung), indem jeweils nur Ausschnitte der Persönlichkeit (entsprechend der Partizipation in der jeweiligen sozialen Gruppe) im Umgang miteinander kennen gelernt und thematisiert werden (vgl. Wirth 1938: 12). Es ist zwar ein enger physischer Kontakt zwischen den Menschen gegeben, aber die sozialen Kontakte gelten als distanziert (vgl. Wirth 1938: 14). Die städtischen Sozialbeziehungen sind durch Oberflächlichkeit, Anonymität und ihren flüchtigen und vergänglichen Charakter gekennzeichnet (vgl. Wirth 1938: 12). Eine Verwandtschaftsbindung bzw. -solidarität ist entweder überhaupt nicht vorhanden oder wird als schwach bezeichnet (vgl. Wirth 1938: 11). Als Erklärung weist Wirth (1938: 21) auf die Unvereinbarkeit einer städtischen Lebensweise mit dem „traditionellen Familientyp“ hin. Im Zuge der gesellschaftlichen Differenzierung übernahmen spezialisierte Institutionen Funktionen, die vormals von Familie und Verwandtschaft erfüllt wurden (vgl. Wirth 1938: 21). Darüber hinaus hat das ökonomische System bzw. die Beschäftigungsstruktur dazu geführt, dass „traditional ties of human association are weakenend, urban existence involves a (…) more complicated, fragile, and volatile form of mutual interrelations“ (Wirth 142
Insgesamt nennt Wirth (1938: 18ff.) drei Perspektiven der Urbanisierung: 1) „physical structure”, 2) „system of social organization“ (Charakteristiken der Sozialstruktur, soziale Institutionen und eine typische Art von Sozialbeziehungen) und 3) „set of attitudes and ideas“ (urbane Persönlichkeit).
2.2 Zum Verhältnis von Verwandtschaft und Moderne
75
1938: 22). Wirth macht somit explizit städtisches Leben für die Schwächung von verwandtschaftlichen Beziehungen verantwortlich. „The family as a unit of social life is emancipated from the larger kinship group characteristic of the country, and the individual members pursue their own diverging interests in their vocational, educational, religious, recreational, and political life“ (Wirth 1938: 21).
Dieser Emanzipationsprozess hat zwar allgemein einen Gewinn an Freiheit und Autonomie gegenüber der persönlichen und emotionalen Kontrolle der Intimgruppe zur Folge, jedoch treten als negative Konsequenzen soziale Desintegration und Einsamkeit auf (vgl. Wirth 1938: 12ff.). Der soziale Wandel kann darüber hinaus mit dem Gegensatzpaar Gemeinschaft und Gesellschaft expliziert werden. Der Weg zur modernen Gesellschaft wird von Tönnies (1979 [1887]) durch einen Wandel von Gemeinschaft zur Gesellschaft beschrieben, von Durkheim (1988 [1893]) durch einen Wandel der mechanischen zur organischen Solidarität und von Weber (1988 [1905])143 in seinem Aufsatz „Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus“ als einen Prozess der Rationalisierung (vgl. Hoffman-Nowotny 1995).144 Tönnies unterscheidet zwei grundsätzliche Typen von gesellschaftlicher Organisation: Gemeinschaft und Gesellschaft. In der Gemeinschaft werden die sozialen Beziehungen um ihrer selbst Willen aufrechterhalten (unabhängig vom rationalen Zweck), sie gründen auf Gefühlen von Solidarität und Zusammengehörigkeit. Gemeinschaft beruht auf Blutsverwandtschaft oder enger Nachbarschafts- und Freundschaftsbeziehung (vgl. Esser 1996a: 336).145 Insbesondere die Blutsverwandtschaft ist nach Tönnies (1959: 190) das allgemeinste und natürlichste Band, das Menschen umschließt („Zusammenwesen“).146 Im Vordergrund der Beziehungen der modernen Gesellschaft steht dagegen die Abwägung von Vorund Nachteilen und somit egoistischen Interessen der Individuen (vgl. Esser 1996a: 336). Der Individualismus der bürgerlichen Gesellschaft vermindert das gemeinschaftliche soziale Leben (vgl. Tönnies 1959: 191). Modernisierung kann mit Tönnies´ begrifflicher Unterscheidungen als Verlust von Gemeinschaft interpretiert werden. Parsons (1951) erfasst die Bewegung von Tönnies´ Gemeinschaft zur Gesellschaft mit den pattern variables, die Gegensatzpaare von modernen und traditionellen Werten beschreiben (vgl. Scheuch, Sussman 1970: 239). Für Verwandtschaftsbeziehungen gelten die traditionellen Werte wie Partikularismus und Zuschreibung, die mit den modernen Werten Universalismus und Leistung kontrastiert werden (vgl. Parsons 1943: 34f.).147 143
144
145
146
147
„The breaking down of this corporate kin structure in the west, he felt, was a crucial turning point that led toward the possibility of rationalized capitalism. (…) for Weber the traditional family structure had to be overcome in order for rationalized capitalism to emerge” (Collins 1986: 268f.). Der Zusammenhang zwischen den hier aufgeführten Theorien wird von Hoffmann-Nowotny (1995: 331) folgendermaßen beschrieben: „Man kann auch formulieren, dass der Tönniessche Prozess von ‚Gemeinschaft’ zu ‚Gesellschaft’ von Durkheim strukturell (...) und von Weber kulturell (...) erklärt wird [Hervorhebung im Original]. Tönnies differenziert zwischen beiden Typen nach der Art der Verbundenheit: „Ich nenne nun alle Arten von Verbundenheit, in denen Wesenwille überwiegt, Gemeinschaft, alle, die durch Kürwillen gestaltet werden (...) Gesellschaft“ – wobei der Kürwille als „rationaler Wille“ zu definieren ist (vgl. Tönnies 1959: 185f.). Kennzeichnend für Gemeinschaften sind natürliche Verhältnisse: „Wenn ein natürliches Verhältnis vorhanden ist, z.B. daß ein Mensch mein Bruder ist, (...), mein Schwager (...) so heißt es normalerweise, daß ich mich ihm nahestehend fühle (...), miteinander verbunden sind“ (Tönnies 1959: 187). Vgl. dazu ausführlicher Kapitel 2.3.2.
76
2 Verwandtschaftsbeziehungen im sozialen Wandel
In diesem Kontext sind auch Simmel (1968 [1908]) und seine Ausführungen über die „Kreuzung sozialer Kreise“ zu sehen. Er stellt in seiner Abhandlung den Unterschied zwischen ursprünglichen, „naturgegebenen“ Beziehungen (Familie, Verwandtschaft) und „inhaltlichen“, „sinnlichen“, gewählten Sozialbeziehungen heraus, die neue „Berührungskreise“ herstellen (vgl. Simmel 1968: 305f.). „Denn gegenüber der lokalen und sonst irgendwie ohne Zutun des Subjekts veranlaßten Bindung wird die frei gewählte, in der Regel doch die tatsächliche Beschaffenheit des Wählenden zu Wirksamkeit bringen und damit die Gruppierung auf sachlichen, d.h. in dem Wesen der Subjekte liegenden Beziehungen sich aufbauen lassen“ (Simmel 1968: 306f.).
Der Abbau an vorgegebenen Kreisen wird somit als kennzeichnend für den Entwicklungsprozess von Individuen und Gesellschaften angesehen (vgl. Schneider 1970: 444). Die Community-Frage von Wellman befasst sich mit der Veränderung von Primärbeziehungen (Verwandtschaft, Nachbarschaft) im Zuge der Industrialisierung, Bürokratisierung und Arbeitsteilung der modernen städtischen Gesellschaft (vgl. Wellman 1979: 1202).148 Zur Beschreibung der verschiedenen Charakteristiken verwendet Wellman (1979: 1204ff.) drei Ansätze: a) community lost, b) community saved und c) community liberated.149 Pappi, Melbeck (1988: 225) schlagen folgende Übersetzung vor: a) „in der Gemeinde verlorene Gemeinschaft“, b) „in der Gemeinde oder Stadt gerettete Gemeinschaft“ und c) „von der Gemeinde befreite Gemeinschaft“. Kennzeichen der „in der Gemeinde verlorenen Gemeinschaft“ sind schwache, desorganisierte, vergängliche, uniplexe Bindungen zwischen den Menschen, die nicht in eine Solidargemeinschaft integriert sind (vgl. Wellmann 1979: 1204). Nach Wellman (1979: 1204) sind u.a. Wirth (1938) und Tönnies (1979 [1887]) Vertreter der Position „community lost“. Konsequenz des gesellschaftlichen Differenzierungsprozesses ist die Auflösung der traditionellen gemeinschaftlichen Solidarität und der zunehmende Bedeutungsverlust der inneren Verbundenheit der Menschen mit Familienmitgliedern, Verwandten und Nachbarn (vgl. Kim 2001: 76). Anhänger von „community saved“ dagegen weisen auf die Fortsetzung der Solidarität in Verwandtschafts- und Nachbarschaftsnetzwerken in industriell-bürokratischen Gesellschaften hin (vgl. Wellman 1979: 1205). Darüber hinaus belegen Studien die Aufrechterhaltung von Verwandtschaftsbeziehungen (vgl. dazu Young, Willmott 1957; Litwak 1960a,b; für den deutschsprachigen Raum vgl. exemplarisch Pfeil, Ganzert 1973).150 Aus den Ansätzen „community lost“ und „community saved“ hat sich der dritte Ansatz „community liberated“ entwickelt, dessen Anhänger Wellman ist. Es wird weiterhin von der Wichtigkeit von Primärbeziehungen für die Individuen in der modernen Gesellschaft ausgegangen. Gleichzeitig wird jedoch auch die neue Organisation bzw. Veränderung der persönlichen Beziehungen herausgestellt. Zu den Veränderungen zählen (vgl. Wellman 1979: 1206):
148 149 150
Vgl. auch Wellman, Wortley (1990) und Wellman, Leighton (1979). „Community“ kann sowohl mit Gemeinde als auch Gemeinschaft übersetzt werden. Vgl. dazu ausführlicher Kapitel 3.2.
77
2.2 Zum Verhältnis von Verwandtschaft und Moderne
a. b. c. d. e.
die Trennung von Arbeit, Wohnung und Verwandtschaft, die multiple, schwächere Netzwerke entstehen lässt, die hohe geographische Mobilität, die soziale Verbindungen schwächt, aber gleichzeitig auch starke neue Beziehungen entstehen lässt, die weit verbreiteten, billigen Transport- und Kommunikationsmittel, die zu einer Reduktion der sozialen Kosten der geographischen Distanz führen, die Bevölkerungsdichte und Diversität einer Großstadt in Verbindung mit der Möglichkeit, räumlich ausgedehnte Beziehungen zu unterhalten, schaffen Aussichten für den Zugang zu lockeren, multiplen sozialen Netzwerken, die räumliche Dispersion der Primärbeziehungen und die Heterogenität der Stadt machen eine enge Verbundenheit der Individuen eher unwahrscheinlich.
Demnach prognostiziert Wellman für die persönlichen Netzwerke in modernen Gesellschaften einen geringeren Anteil von Verwandten und entsprechend höheren Anteil von Freundschaften, deren Kennzeichen wiederum eine freiwillige Kontaktaufnahme ist. In Tabelle 3 werden die unterschiedlichen Typologien und ihre Charakteristiken voneinander abgegrenzt. Tabelle 3: Typologie der Gemeinschaft nach Wellmann Variable
verlorene Gemeinschaft klein
erhaltene Gemeinschaft groß
befreite Gemeinschaft groß
Anteil der Verwandten
niedrig
hoch
niedrig
Anteil der Nachbarn
niedrig
hoch
niedrig
hoch
niedrig
hoch
niedrig
hoch
niedrig
hoch
niedrig
hoch
Face-to-face-Kontakte
niedrig
hoch
niedrig
Telefonischer Kontakt
niedrig
mittelmäßig
hoch
Netzwerkgröße
Anteil der Freunde/Freundinnen Multiplexität Anteil der freiwilligen Kontakte
(Quelle: in Anlehnung an Kim 2001: 79)
Welche Erklärung bietet die Community-Frage nun für die Veränderung der Verwandtschaftsbeziehungen in modernen Gesellschaften? Aus der Perspektive der Rational-ChoiceTheorie (van der Poel 1993) wird auf die Zunahme von Alternativen zu verwandtschaftlichen Beziehungen, wie sie typisch für städtisches Leben sind, hingewiesen (Nachbarn, Freundschaften, nicht-personale soziale Alternativen bzw. Aktivitäten). Die Trennung von Wohnung und Arbeitsplatz erhöht den Nutzen, den man von Sozialbeziehungen mit Arbeitskolleginnen und -kollegen hat. Der tägliche Kontakt führt zu einer Reduktion der Kosten der Entwicklung und Aufrechterhaltung dieser Sozialbeziehungen. Dagegen erhöhen sich die Kosten für die Aufrechterhaltung der Beziehungen, wenn Verwandte aufgrund von Mobilitätserfordernissen in geographischer Distanz leben. Gleichzeitig ist jedoch auch eine Reduktion der Kosten für die Aufrechterhaltung von verwandtschaftlichen Kontakten fest-
78
2 Verwandtschaftsbeziehungen im sozialen Wandel
zustellen, z.B. durch moderne Kommunikations- und Transportmittel (vgl. van der Poel 1993: 28f.). 2.3 Die strukturell-funktionale Theorie der Familie Im Folgenden wird das Paradigma des Strukturfunktionalismus in seinen zwei Dimensionen skizziert und im Besonderen seine Aussagen über Verwandtschaftsbeziehungen herausgestellt. Man muss zwischen den folgenden Perspektiven des Strukturfunktionalisums differenzieren (vgl. Schulz u.a. 1989: 31): a. b.
dem in der Kulturanthropologie und Ethnologie verwendete Strukturfunktionalismus (strukturfunktionalistische Sozialanthropologie) und der strukturell-funktionalen Theorie von Parsons (und Durkheim) (vgl. dazu ausführlicher Kapitel 2.3.2 und Kapitel 2.3.2).
Die Theorien des Strukturfunktionalismus wurden zuerst in der Anthropologie entwickelt (vgl. Homans 1960: 269). In Bezug auf die sozial- bzw. kulturanthropologische Analyse von Verwandtschaftssystemen sind vor allem die Arbeiten von Morgan (1970 [1871])151, Murdock (1949), Malinowski (1963), Radcliffe-Brown (1969 [1952])152 und Lévi-Strauss (1981)153 zu nennen. Die anthropologische und ethnologische Betrachtung von Verwandtschaftssystemen ist für diese Arbeit jedoch von untergeordneter Bedeutung. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die empirischen Befunde der unter diesem Paradigma durchgeführten Untersuchungen zu Erkenntnissen einer strukturellen Regelmäßigkeit im Bereich von Verwandtschaftsbeziehungen führen. So gibt es einen sozialen Strukturzusammenhang zwischen der Form institutioneller Herrschaft und bestimmten Mustern von zwischenmenschlichen Beziehungen (vgl. Bohnen 2000: 94). Die unterschiedlichen Deszendenz- und Residenzregeln, die Verwandtschaftsterminologien und erweiterten Familienformen werden aus den Bedürfnissen der Gesellschaft heraus erklärt, die Familie und Verwandtschaft passt sich an die Gesellschaft und ihre funktionalen Erfordernisse an (vgl. Hill, Kopp 2004: 75). Das Verwandtschaftssystem wird demnach in strukturellen Begriffen definiert und als ein institutionalisiertes Muster angesehen, das Kollektivitäten und Rollen kontrolliert, die biologischen Ursprungs sind oder durch Heirat zugeschrieben
151
152
153
Morgans Werk (1970 [1871]) stellt eine ethnologische Sammlung von Verwandtschaftsterminologien und klassifikationen unterschiedlicher Gesellschaften dar. Die sozialanthropologische Analyse von Radcliffe-Brown (1969) thematisiert Verwandtschaftssysteme so genannter primitiver Gesellschaften. Im Vordergrund steht der systematische Vergleich unterschiedlicher Verwandtschaftssysteme und der Funktionen, die sie für das soziale System erfüllen (vgl. Radcliffe-Brown 1969: 53). Ein Verwandtschaftssystem ist definiert als „network of social relations (…), which constitutes part of that network of social relations that I call social structure“ (Radcliffe-Brown 1969: 53). Er grenzt seine strukturelle Analyse der Verwandtschaftssysteme von Morgans Methode (die er als „conjectural history” bezeichnet) ab. Von Verwandtschaftsterminologien kann man nicht ausschließlich auf die Form der sozialen Organisation schließen (vgl. Radcliffe-Brown 1969: 58f.). Lévi-Strauss (1981) stellt den funktionalen Wert von Exogamieregeln und des Inzesttabus in den Vordergrund seiner ethnologischen Darstellung der Verwandtschaftssysteme (u.a. Asien und Australien). So leiten Verwandtschaftsstrukturen ihre Form aus der Art und Weise ab, wie der Heiratsaustausch geregelt wird. Dieser vermittelt einer Verwandtschaftsgruppe Zugang zu dem Besitz einer anderen (vgl. Farber 1970: 95ff.).
2.3 Die strukturell-funktionale Theorie der Familie
79
werden (vgl. Johnson 1970: 38).154 In der strukturell-funktionalen Theorie der Familiensysteme wird Verwandtschaft als Teil der Sozialstruktur gesehen, die dazu dient, alle vier grundlegenden Subsysteme des allgemeinen Handlungssystems zu verbinden: Kultur, das soziale System, die Persönlichkeit und den Verhaltensorganismus (vgl. Johnson 1970: 32). In dieser Sichtweise übernehmen Verwandte Rollen und somit Rechte und Pflichten in der Gesellschaft, die einer der vier grundlegenden funktionalen Typen entsprechen, die von Parsons (1951) als Adaption (Anpassung), Goal Attainment (Zielverwirklichung), Latent Pattern Maintenance (Wertmustererhaltung) und Integration beschrieben werden (vgl. Johnson 1970: 38).155 Die strukturell-funktionale Theorie der Familie wurde insbesondere von Parsons geprägt. Schwerpunkt der strukturell-funktionalen Theorie der Familie ist die Frage nach Funktionen der Familie für die Gesellschaft und deren Entwicklung im Zuge der Modernisierung von Gesellschaft.156 Die wichtigsten Themenbereiche sind u.a. Fragen nach allgemeinen Definitionen und spezifischen Abgrenzungen einzelner familialer Konstellationen, die Universalität der Kernfamilie (Murdock 1949), das Inzesttabu, die besondere Bedeutung und Funktion der Kernfamilie, der soziale Wandel der Familie und ihre Funktion in der modernen Gesellschaft (vgl. zusammenfassend Hill, Kopp 2004: 72). Die moderne Gesellschaft ist eine funktional differenzierte Gesellschaft, die aus einem Nebeneinander spezialisierter Teilsysteme (Subsysteme) wie Wirtschaft, Politik oder Recht besteht. Jedes Teilsystem erfüllt besondere, von keinem anderen System übernommene Beiträge zur Reproduktion der Gesellschaft. Kein Teilsystem kann in dieser Hinsicht durch ein anderes ersetzt werden (vgl. Schimank, Volkmann 1999: 6).157 Familie wird demnach nicht als eine soziale Gruppe mit individuellen Persönlichkeiten betrachtet (vgl. Johnson 1970: 37), sondern als „funktionsspezifisches Teilsystem der Gesellschaft“ – neben der Politik, der Wissenschaft, der Wirtschaft, dem Recht usw. – angesehen (vgl. Tyrell 1979: 14). Als wichtige Ursache des strukturellen Wandels von Verwandtschaft wird u.a. der technologische Wandel der Gesellschaft angesehen (vgl. Johnson 1970: 24f.). In diesem Zusammenhang wird die Veränderung der Funktion und Bedeutung von Verwandtschaft im Zuge der Modernisierung thematisiert und ihre funktionale Irrelevanz festgestellt. Konsequenz dieser strukturfunktionalistischen Sichtweise ist, „dass im Zuge der einseitigen Betonung gesellschaftlicher Funktionalität und Differenzierung“ das Verwandtschaftssystem aus der soziologischen Analyse ausgeklammert wurde (vgl. Lüschen 1989: 437). Die zwei klassischen Arbeiten innerhalb des strukturfunktionalistischen Ansatzes werden in den nun folgenden zwei Kapiteln dargestellt. Zuerst wird die Position Durkheims (1921) und die zentralen Aussagen seines vielzitierten Aufsatzes „La famille conjugale“ 154
155
156 157
Johnson (1970: 38) betont, dass diese auch als Leitbilder für Rollen und Beziehungen fungieren, die keine biologische Basis haben (z.B. Adoption). Diese vier grundlegenden funktionalen Typen stellen das AGIL-Schema (vgl. exemplarisch Parsons, Shils 1951) dar. Vgl. hierzu ausführlicher Kapitel 2.2.1 und Kapitel 2.2.2. Dieser Grundgedanke des Strukturfunktionalismus wird insbesondere von Homans (1972a) kritisiert. Funktionale Theorien unterstellen, dass das Vorhandensein einer bestimmten Institution in einer bestimmten Gesellschaft durch die Funktion erklärt wird, die diese Institution bei der Aufrechterhaltung dieser Gesellschaft erfüllt. Genau hier liegt jedoch das zentrale Problem. Es besteht zum einen die Schwierigkeit einer Definition der „Erhaltung der strukturellen Kontinuität“ der Gesellschaft, zum anderen kann keine Methode angegeben werden, die diese Variable messen könnte (vgl. Homans 1972a: 27). Funktionale Hypothesen sind nicht durch die Erfahrung bestätigt, sie werden von Homans (1972a: 30) als nicht kontingent bezeichnet und sind daher nicht als Theorien zu klassifizieren.
80
2 Verwandtschaftsbeziehungen im sozialen Wandel
erläutert. Daran anschließend wird Parsons´ These (1943) der strukturellen Isolation der Kernfamilie expliziert, die in eine strukturelle Analyse des amerikanischen Verwandtschaftssystems eingebettet ist. Die Veränderung der Institution Familie von der Haushaltshaltsfamilie (erweiterter Familientyp) zur Gattenfamilie (Durkheim) und letztendlich zur modernen Kernfamilie (Parsons) wird als Prozess des Bedeutungsrückgangs von Verwandtschaft in der Soziologie interpretiert (vgl. Nave-Herz 1998: 288). So schreibt Rosenbaum (1998) über Durkheim und Parsons, die als Hauptvertreter der strukturfunktionalistischen Theorie der Familie angesehen werden: „Beide Autoren suggerieren eine abnehmende Bedeutung von Verwandtschaft im Laufe der Industrialisierung und Modernisierung der Gesellschaft. In dieser Konsequenz hat sich die Soziologie vermeintlich wichtigeren Themen zugewendet“ (Rosenbaum 1998: 17).
2.3.1 Kontraktionsgesetz der Familie (Durkheim 1921) In der Familiensoziologie wird Durkheim meist zitiert, wenn es um den Begriff der Gattenfamilie geht und um die Frage, ob sich die Kernfamilie im Zuge der Modernisierung von der Verwandtschaft isolierte (vgl. Wagner 2001: 19f.). Die im Folgenden dargestellte evolutionistische Theorie Durkheims bestimmte nach Rosenbaum (1998: 17) sehr lange das Selbstverständnis der Soziologie und ihre Perspektive auf Verwandtschaftsbeziehungen. Zentrale Aussage ist, dass die Verwandtschaft im Zuge der Entwicklung der Gesellschaft bedeutungsloser wird, bis nur noch die Gatten- bzw. Kernfamilie als private Konstellation übrig bleibt (vgl. Rosenbaum 1998: 17). Durkheim (1858-1917) hielt bereits im Jahr 1892 in Bordeaux eine Vorlesung über die famille conjugal. Diese wurde von Marcel Mauss überarbeitet und im Jahr 1921 in der Revue philosophique de la France et de l´ étranger veröffentlicht.158 Seine Vorlesungen in Bordeaux gelten als Grundlage der strukturell-funktionalen Analyse der Familie (vgl. König 1976: 51). Durkheims Ziel ist es, die wichtigsten Merkmale des Familientyps der Moderne – „la famille conjugal“ (Gattenfamilie) – zu beschreiben, die sich im Laufe eines Entwicklungsprozesses entwickelt hat (vgl. Durkheim 1921: 2). Dieser Prozess wird von Durkheim (1921: 6) als „loi du contraction“ (Kontraktionsgesetz) bezeichnet.159 Der Fokus liegt insbesondere auf dem Umfang bzw. der Anzahl von Familienmitgliedern, die sich im Laufe der Zeit reduzierten (vgl. Durkheim 1921: 7). Die Gattenfamilie entsteht durch die Kontraktion der väterlichen Familie („famille paternelle“)160, die aus Vater, Mutter und weiteren Mitgliedern (mit Ausnahme von Töchtern und ihren Nachkommen) besteht. „La famille conjugale résulte d´une contraction de la famille paternelle. Celle-ci comprenait le père, la mère, et toutes les générations issues d´eux, sauf les filles et leurs descendants. La fa158 159
160
Marcel Mauss kommentiert und ergänzt Durkheims Ausführungen anhand von Fußnoten. Eine starke Wirkung dieser Vorstellung der Kontraktion ging bereits von Frederic Le Play (1806-1882) und Riehl (1855) aus, der die Kernfamilie als Familienform sah, die sich im Zuge der Industrialisierung aus der „Stammfamilie“ entwickelte (vgl. Mitterauer 1978: 128f.). So differenziert Le Play zwischen der patriarchalischen Familie, der Stammfamilie („la famille souche“) und der instabilen Familie. Vgl. dazu ausführlicher Laslett (1972: 29ff.). Dieser Familientypus wird auch als „germanische Familie“ bezeichnet (vgl. Durkheim 1921: 2, Fußnote 1, M.M.). In deutschen Rezensionen des Kontraktionsgesetzes (König 1976) wird der Begriff „Vaterfamilie“ verwendet.
2.3 Die strukturell-funktionale Theorie der Familie
81
mille conjugale ne comprend plus que le mari, la femme, les enfants mineurs et célibataires” (Durkheim 1921: 2).
Die moderne Gattenfamilie besteht nur noch aus Vater, Mutter und ihren minderjährigen, unverheirateten Kindern. Der Begriff der Gattenfamilie wurde von Durkheim bewusst gewählt, da die einzigen und permanenten Mitglieder dieser Familie Ehemann und -frau sind, da die Kinder früher oder später das elterliche Haus verlassen werden (vgl. Durkheim 1921: 3). Das Gattenpaar bildet somit die „zone centrale de la famille moderne” (Durkheim 1921: 5). Diese zentrale Zone wird allerdings von weiteren Zonen umgeben, die sie komplettieren. Die sekundären Zonen bilden dabei Reste von früheren, vergangenen Familientypen, die jedoch um eine Stufe nach hinten verschoben werden (vgl. Durkheim 1921: 5). „Il y a d´abord le group formé par les ascendants et les descendants: grand-père, grand-mère, frères et sœurs, et les ascendants, c´est-à-dire l´ancienne famille paternelle, déchue du premier rang et passée au second” (Durkheim 1921: 5).
Marcel Mauss weist darauf hin, dass der Begriff „Zone“ von Durkheim explizit benutzt wurde, um die Kreise von unterschiedlich nahen und fernen Verwandten zu bezeichnen (vgl. Durkheim 1921: 5). Zusammenfassend differenziert Durkheim zwischen drei Familientypen: 1) Die moderne Gattenfamilie bildet die erste und zentrale Zone. 2) Die „famille paternelle“ bildet die sekundäre Zone, während 3) die „famille cognatique“ ebenfalls der sekundären Zone zugeordnet wird, jedoch noch jenseits der Vaterfamilie angeordnet ist.161 Die kognatische Familie besteht aus Familienmitgliedern bis zum sechsten oder siebten Verwandtschaftsgrad, die durch gegenseitige Rechte und Pflichten gekennzeichnet sind, deren Rolle jedoch von nun an als „nahe Null“ betrachtet wird. Vom Clan bleiben lediglich „Spuren“ übrig (vgl. Durkheim 1921: 5f.). Welche Gründe werden genannt, die für diesen Entwicklungsprozess verantwortlich sind? Als Ursache wird der Einfluss der sozialen Umwelt angeführt: „En effet l´étude de la famille patriarcale nous a montré que la famille doit nécessairement se contracter à mesurer que le milieu social avec lequel chaque individu est en relations immédiates, s´étend davantage“ (Durkheim 1921: 6; Eigene Hervorhebung).
Der von Durkheim verwendete Begriff des sozialen Milieus bezieht sich auf das Phänomen einer wachsenden Verstädterung und auf verbesserte Kommunikationsmöglichkeiten (vgl. Durkheim 1921: 7).162 Industrialisierung und Urbanisierung und die damit verbundenen Veränderungen der Handlungsoptionen sind nach Durkheim Ursachen des sozialen Wandels der Familie. Eine weitere Frage, die Durkheim (1921: 8) beschäftigt, ist die Auswirkung dieser veränderten Familienstruktur auf die verwandtschaftliche Solidarität. Ist als Konsequenz eine Schwächung oder Stärkung der Solidarität zu vermuten? Durkheim verwendet den 161
162
„(…) c´est-à-dire l´ensemble de tous les collatéraux autres que ceux dont il vient d´ être question, mais plus amoindri et plus affaibli encore qu´elle n´était dans la famille paternelle” (Durkheim 1921: 5). „Au régime du village succède celui de la cité, au milieu formé par la cité avec les villages placés sous sa dépendance. (…). En même temps, les différentes parties de ces sociétés se sont mises de plus en plus étroitement en contact par suite de la multiplication et de la rapidité croissante des communications, etc.“ (Durkheim 1921: 7).
82
2 Verwandtschaftsbeziehungen im sozialen Wandel
Begriff der „häuslichen Solidarität“ und bezieht diese insbesondere auf die Mitglieder der Gattenfamilie. Darüber hinaus werden jedoch auch Aussagen über verwandtschaftliche Solidarität im Allgemeinen und den veränderten Status von Verwandtschaft gemacht. Für Durkheim ist die Frage nach den Auswirkungen des familialen Wandels auf die Solidarität nicht leicht zu beantworten. Sie wird auch nicht von ihm konkret beantwortet, da er zwei unterschiedliche Sichtweisen darlegt. Zum einen geht er von einer starken Solidarität aus, die in der Unauflösbarkeit des biologischen Verwandtschaftsverhältnisses begründet liegt. Auf der anderen Seite sind es gerade die solidarischen Verpflichtungen, deren Charakter sich im Zuge des sozialen Wandels verändert hat. Sie sind weniger zahlreich und wichtig geworden und beziehen sich vor allem auf individuelle Personen (vgl. Durkheim 1921: 8f.). Das Charakteristikum der modernen Verwandtschaft ist somit ihre Personengebundenheit: „Nous tenons à notre famille parce que nous tenons aux persons qui la composent; (…). La solidarité domestique devient toute personelle“ (Durkheim 1921: 9).
Eine kritische historische und soziologische Auseinandersetzung mit dem Kontraktionsgesetz erfolgt durch René König (1974b, 1976). König (1976: 62) differenziert zwischen einer strukturellen und historischen Interpretationsmöglichkeit des Gesetzes – beide sind von Durkheim behandelt worden, ohne jedoch Rechenschaft über ihre fundamentalen Unterschiede zu geben. Die strukturelle Interpretation des Kontraktionsgesetzes hat ihren Schwerpunkt in der Frage nach der Kohäsion der Familie. Speziell thematisiert wird die „Abnahme der Dichte der gegenseitigen Beziehungen“ in der Vaterfamilie. Die historische Interpretation geht davon aus, dass die strukturelle Abfolge der Familientypen auch eine historische Abfolge bzw. Entwicklung darstellt, die unumkehrbar ist (vgl. König 1976: 62). König (1974b: 133) löst die Theorie Durkheims in folgende fünf Thesen auf, die er im Anschluss überprüft: 1. 2. 3. 4. 5.
Die Gattenfamilie ist in den Industriekulturen dominant geworden, nachdem sie sich aus den weiteren Familienzusammenhängen gelöst hat. Die Gattenfamilie und Kernfamilie soll eine neuere Erscheinung sein. Alleine die Industrialisierung hat sie prädominant gemacht (andere Ursachen können nicht dafür verantwortlich gemacht werden).163 Die stillschweigende Unterstellung des Kontraktionsgesetzes ist, dass es früher ausschließlich weitere Familienzusammenhänge gegeben haben soll. Das spontane Entstehen weiterer Familienzusammenhänge muss im Zeitalter des Industrialismus ausgeschlossen werden.
Unbestreitbar ist die Hypothese, dass die Gattenfamilie in den Industriekulturen dominant geworden ist, dennoch schließen sich die Existenz weiterer Familienzusammenhänge und die Dominanz der Gattenfamilie nicht gegenseitig aus. So kann davon ausgegangen werden, dass es keine komplexen Gesellschaften gibt, in denen nicht mehrere Familientypen gleichzeitig existierten (vgl. König 1974b: 131).164 Es besteht keine Exklusivität von Gattenfami163
164
Nach König (1976: 69) spricht die „modifiziert erweiterte Familie“ (Litwak 1960a,b) gegen diese These, da sich unter dem Einfluss der Urbanisierung Ansätze zu einer erweiterten Familienform zeigen. Vgl. dazu ausführlicher Kapitel 2.3.3. König (1974b: 140) beschreibt als Gegenargument vier Familientypen, die man gleichzeitig in der Alten Welt findet: 1. die Großfamilien als Aggregat von verschiedenen Verwandten, 2. die patriarchalischen Fami-
2.3 Die strukturell-funktionale Theorie der Familie
83
lie und erweiterten Familienformen, denn beide existierten gemeinsam, sowohl zu früheren Zeiten als auch in fortgeschrittenen Industriegesellschaften (vgl. König 1974b: 137).165 Im Zuge seiner historischen Kritik am Kontraktionsgesetz stellt König (1976) eine neue Entwicklungstheorie der Familie auf. Sie enthält folgende zwei Grundgedanken: 1.
2.
„Die Großfamilien unterliegen einem Kontraktionsprozeß. Hier erweist sich Durkheims Gesetz als gültig. Es ist also nur ein adäquater Ausdruck für die partielle Entwicklung der Familie in den Oberschichten der Alten Welt und nicht etwa für die Entwicklung der Familie insgesamt. (…).“ „Die Kernfamilien erfahren dagegen durch den sozialen Aufstieg der nach diesem Typ lebenden Bevölkerung einen rapiden Bevölkerungszuwachs und gleichzeitig bei wachsender Konvergenz mit der anderen Entwicklungslinie eine Universalisierung im Sinne der numerischen Ausweitung und Vermehrung. Damit sind die Voraussetzungen für die Entstehung einer neuartigen Dominanz gegeben, welche die bisherige der verschiedenen Großfamilien ablöst, ohne daß darum letztere total verschwinden müssten. Man kann diese Entwicklung als Universalisierung des Familientyps der Unterklasse bezeichnen, die das Gegenstück zur Kontraktion darstellt. (…)“ (König: 1976: 143; Hervorhebung im Original).
Kerngedanke ist, dass das Kontraktionsgesetz aus der Perspektive der Oberklassen konzipiert wurde (vgl. König 1974b: 143). So lässt sich der Kontraktionsvorgang bei der Entwicklung der Oberschichten feststellen, während in den Unterschichten immer schon die Kern- und Gattenfamilie als Familienform charakteristisch war (vgl. König 1976: 7). Von einer Kontraktion als allgemeine Entwicklungstendenz kann nach der historischen Analyse und angesichts des historischen Materials, das König präsentiert, nicht mehr gesprochen werden. Von entscheidender Bedeutung für die Gestaltung familialen Lebens wird die Schichtstruktur der Gesellschaft angesehen, während Industrialisierung und Verstädterung ebenfalls Auswirkungen auf die Familie haben, dennoch nicht ausschließliche Erklärungen für den sozialen Wandel der Familie liefern (vgl. König 1974b: 141). In Bezug auf verwandtschaftliche Beziehungen der Gattenfamilie bedeutet dies keine Isolierung von der weiteren Verwandtschaftsgruppe. Auf dieses Missverständnis in der Familiensoziologie weist König (1974a: 45) ausdrücklich hin. Auch die historische Familienforschung (Mitterauer 1978, 1979; Laslett 1972) widerlegt die These der Reduktion der Großfamilie zu Kleinfamilien im Zuge der Industrialisierung, so wie es das klassische Kontraktionsgesetz von Durkheim postulierte. Von einer vorindustriellen Großfamilie lässt sich anhand der Haushaltsstatistik nicht mehr sprechen, denn mittlere Haushaltsgrößen, wie sie in Westeuropa typisch sind, lassen sich schon in der vorindustriellen Zeit finden (vgl. Mitterauer 1978: 132).166
165
166
lien (ebenfalls erweiterte Familien), 3. Familien der Unterklasse (Vater, Mutter, Kind), 4. die Familie der Abhängigen (Sklaven verschiedener Art). So zeigt König (1974b: 136f.), dass auch in Industriegesellschaften erweiterte Familienformen spontan neu entstehen, die die gleiche Funktion wie früher erfüllen (z.B. zur Bindung von Vermögen an die Familie). Zum Beispiel hatte Antwerpen im Jahr 1755 eine durchschnittliche Haushaltsgröße von 3,04 Personen, genauso wie England Ende der 1970er Jahre (vgl. Mitterauer 1978: 132). Wesentlich ist nicht die quantitative Veränderung der Familiengröße, sondern vielmehr die personelle Veränderung der Zusammensetzung der Haushalte, die nur vor dem Hintergrund der Funktionsentlastung der Familie als Produktionsgemeinschaft zu verstehen ist (vgl. Mitterauer 1978: 150).
84
2 Verwandtschaftsbeziehungen im sozialen Wandel
„(…) von einer allgemeinen Entwicklung von der Großfamilie zur Kleinfamilie kann nicht gesprochen werden – schon gar nicht im Sinne familiensoziologischer Entwicklungsmodelle, die einer generelle Abfolge von mehrgenerationalen Verwandtschaftsverbänden zur isolierten Kernfamilie annehmen“ (Mitterauer 1978: 150).
Dennoch beginnt mit Durkheims Kontraktionsgesetz (1921) die so genannte „Zerfallsrhetorik“ (Nauck, Kohlmann 1998: 205) der Verwandtschaftsbeziehungen in modernen Gesellschaften, die von Parsons (1943) fortgesetzt und vertieft wird.167 2.3.2 Isolationsthese (Parsons 1943) Parsons (1943)168 liefert mit seinem Aufsatz über das amerikanische Verwandtschaftssystem Erkenntnisse zur Struktur, Aufgabe und Bedeutung von Verwandtschaft in der modernen amerikanischen Gesellschaft. Das Kapitel stellt zuerst den Aufbau des amerikanischen Verwandtschaftssystems dar und benennt in diesem Zusammenhang zentrale Merkmale der isolierten Kernfamilie. Im Anschluss daran wird der Einfluss der Industrialisierung auf die Veränderung von Verwandtschaftsbeziehungen allgemein erläutert und mit Hilfe der Rational-Choice-Theorie erklärt (van der Poel 1993). Eine kritische Diskussion der Thesen Parsons erfolgt von Goode (1963) und König (1974b). Die wichtigsten Aussagen der Isolationsthese von Parsons können nach Marbach (1989: 83) folgendermaßen zusammengefasst werden: „(…) Gemeinschaftsbindungen und sogenannte Primärgruppenbeziehungen – d.h. Beziehungen unter Personen, die unmittelbare, dauerhafte und gefühlsbetonte Kontakte miteinander pflegen – werden in modernen Industriegesellschaften von zwei Seiten bedroht: von dem Mobilitätsdruck, den der Arbeitsmarkt und berufliche Karrieremuster ausüben, und von der überlegenen Effizienz bürokratisch organisierter Dienstleistungen. Allein die Primärgruppe ‚Kernfamilie’ vermag es in diesem Szenarium zu überleben, aber nur auf Kosten mobilitätshemmender Bindungen an Verwandte (…)“ (Marbach 1989: 83).
Die amerikanische Familie ist nach Parsons (1943: 24) ein „offenes, multilineales Gattenfamiliensystem“ – ein Kernfamiliensystem, dessen entscheidendes Charakteristikum ihre strukturelle Isolierung von der Verwandtschaft ist. Die Kennzeichnung des Verwandt167
168
Im Folgenden sollen die Unterschiede zwischen den Begriffen „Gattenfamilie“ (Durkheim 1921) und „Kernfamilie“ (Parsons 1943) erläutert werden, da die Interpretationen, die sich mit ihnen verbinden, unterschiedliche Einschätzungen der Bedeutung der weiteren Verwandtschaft zur Folge haben. König (1976: 74) weist darauf hin, dass sich die Gattenfamilie strukturell von der Kernfamilie unterscheidet. Der Begriff Gattenfamilie ist vor allem mit einer kulturellen Erhöhung der Einheit des Gattenpaares (als Ideal) konnotiert. Darüber hinaus bestehen – im Unterschied zur Isolation der Kernfamilie – aufgrund persönlicher Entscheidungen Beziehungen zu Verwandten (vgl. König 1976: 74). Er wird als geeigneter angesehen, „(…) um die moderne Familie zu kennzeichnen, weil er den Aufbau von weiteren Verwandtschaftszusammenhängen nicht ausschließt (…). Im Gegenteil: hier sind alle Möglichkeiten offen, Beziehungen zu den gegenseitigen Schwiegereltern, zwischen Großeltern und Enkelkindern, zwischen Onkeln und Tanten einerseits, Neffen und Nichten andererseits“ (König 1976: 74f.; Eigene Hervorhebung). Dies entspricht auch der Einschätzung von Lüschen (1989: 437f.), der betont, dass Durkheim bei seinen Ausführungen zum Kontraktionsgesetz die Existenz der Verwandtschaft nicht bestritten hat, es wird lediglich davon ausgegangen, dass sie in die „sekundäre Zone“ abgesunken ist. Die deutsche Übersetzung des erstmals 1943 erschienenen Zeitschriftenartikels über das amerikanische Verwandtschaftssystem erfolgt im Jahr 1964 (Parsons 1964). Vgl. auch Parsons (1949).
2.3 Die strukturell-funktionale Theorie der Familie
85
schaftssystems als „offen“ und „multilinear“ steht in einem besonderen Zusammenhang mit der Isolierung der Kernfamilie. „This relative absence of any structural bias in favor of solidarity with the ascendant and descendant families in any one line of descent has enormously increased the structural isolation of the individual conjugal family. This isolation, the almost symmetrical ‚onion’ structure, is the most distinctive feature of the American kinship system (…)” (Parsons 1943: 28).
Das Verwandtschaftssystem nach Parsons ist ein Kernfamiliensystem, das ausschließlich aus miteinander verbundenen Kernfamilien besteht. Begrifflich wird zwischen a) der Familie (die sich ausschließlich auf die Einheit des Ehepaares bezieht) und b) den Verwandten differenziert, die keine Solidargemeinschaft darstellen (vgl. Parsons 1943: 24). Somit existieren – als Konsequenz für die institutionalisierte Verwandtschaftsstruktur – kein „extended kin grouping“ in der Form von matrilinearen oder patrilinearen Clans (vgl. Parsons 1943: 27). Der Aufbau des Verwandtschaftssystems, das typisch für die städtische Mittelklasse ist (vgl. Parsons 1943: 29), erfolgt nach einem Zwiebelprinzip: Herkunftsfamilie („family of orientation“) und Zeugungsfamilie („family of procreation“) von ego bilden den inneren Kreis und damit den Kern des Verwandtschaftssystems. Andere Verwandte gehören zu dem äußeren Kreis (vgl. Parsons 1943: 25). Es ist ein System, „welches durch eine mit jedem »Kreis« von miteinander verbundenen Kernfamilien proportional zunehmende »Entferntheit« gekennzeichnet ist“ (Parsons 1964: 90). Die ersten beiden Familien des äußeren Kreises sind die Vorfahren des ersten Grades und damit die Herkunftsfamilien von egos Eltern. Neben der verbindenden Person (egos Vater oder Mutter) besteht jede Familie aus vier Verwandtschaftsmitgliedern (Großvater, Großmutter, Onkel, Tante), wobei keine terminologischen Differenzierungen mütterlicherseits oder väterlicherseits vorgenommen werden. Darüber hinaus fehlen diese Differenzierungen auch für vorhergehende Generationen (vgl. Parsons 1943: 25). Dies veranlasst Parsons (1943: 25f.), von einem multilinearen Verwandtschaftssystem zu sprechen. Weitere Familien des äußeren Kreises sind die Kollateralfamilie (die Zeugungsfamilie von egos Geschwistern) und die Familie der Nachkommen ersten Grades (die Zeugungsfamilie der Kinder egos). Letzte Familie im äußeren Kreis des Verwandtschaftssystems bildet die Schwiegerfamilie. Sie hat eine besondere Bedeutung, da sie die einzige Familie ist, die nicht durch Abstammung und Blutsverwandtschaft mit ego verbunden ist, sondern gesetzlich aufgrund von Schwägerschaft entsteht. Als letzte Kategorie der Verwandtschaftsterminologie werden von Parsons (1943: 27) die Abstammungslinien eingeführt, die mit der Vorsilbe „Ur“ benannt werden (z.B. Urgroßeltern, Urenkel). Es werden von Parsons (1943: 28f.) drei Abweichungen von dieser Verwandtschaftsstruktur genannt, die er als typisch für die städtische Mittelschicht ansieht (Urbanisierungsgrad, soziale Schicht). Eine höhere Bedeutung der Verwandtschaft wird für ländliche Gebiete vermutet. Als zweite abweichende Organisation nennt er die besondere Bedeutung der Vorfahren für Eliten, die zu einer Kontinuität von patrilinearer Verwandtschaftssolidarität führt (vgl. Parsons 1943: 29). Die dritte Abweichung manifestiert sich in der unteren sozialen Klasse – unabhängig von ethnischer Herkunft oder städtischen und ländlichen Kontexten. Die hier existierenden sozialen Bedingungen, wie Instabilität der Ehen und eine mutterzentrierte Familienstruktur, wirken sich insbesondere auf die klassische, traditionale Struktur der Kernfamilie aus und weniger auf das Verwandtschaftssystem. Auch für die Familie
86
2 Verwandtschaftsbeziehungen im sozialen Wandel
der Unterschicht, so vermutet Parsons (1943: 29), ist eine Tendenz der Isolation von weiteren Verwandtschaftsgruppen charakteristisch.169 Kennzeichen der isolierten Kernfamilie ist ihre Konstitution als Solidargemeinschaft, die mit einer Reihe von Charakteristiken verbunden ist. Zu nennen ist der eigene Haushalt, die ökonomische Unterstützung der Familienmitglieder untereinander, die Neolokalität, die ökonomische Unabhängigkeit von der Orientierungsfamilie und die geographische Distanz zu anderen Familienmitgliedern. Es vollzieht sich eine drastische Trennung von der Herkunftsfamilie. Die starke Betonung der Ehe geht auf Kosten der Beziehung egos zu Eltern und Geschwistern (vgl. Parsons 1943: 30).170 Der soziale Status der Familie ist einzig und allein vom Berufsstatus des Ehemanns abhängig, der in keinem Zusammenhang mit seiner Verwandtschaftszugehörigkeit steht (vgl. Parsons 1943: 27). Darüber hinaus ist die Ausgeschlossenheit der weiteren Verwandtschaft von den Entscheidungen der Gattenfamilie kennzeichnend, die mit einer schwachen sozialen Kontrolle des Gattenpaares durch entfernte Verwandte einhergeht (vgl. Goode 1967b: 101). Besondere Betonung liegt – in Analogie zu den Ausführungen Durkheims (1921) – auf der Bedeutung der Ehe bzw. des Gattenpaares: „the first kinship loyalty is unequivocally to his spouse and then to their children if and when any are born“ (Parsons 1943: 30). Die Heirat führt zu einer „drastischen“ Trennung von der Orientierungsfamilie, den Geschwistern und weiteren Verwandten. Dieser Prozess wird von Parsons als Emanzipation bezeichnet. Das Ehepaar ist strukturell isoliert und erhält keine Unterstützung von vergleichbaren, „ebenbürtigen“ Verwandtschaftsbindungen (vgl. Parsons 1943: 30). Der Emanzipationsprozess gilt sowohl für Männer als auch für Frauen und betrifft alle Mitglieder der Orientierungsfamilie und der weiteren Verwandtschaft: „(…) it applies to both sexes about equally, and includes emancipation about all members of the family of orientation about equally, so that there is relatively little continuity with any kinship ties established by birth for anyone” (Parsons 1943: 32; Hervorhebung im Original).
An einer Stelle nimmt Parsons (1943: 32) explizit Stellung zu den personalen Konsequenzen der Isolationsthese und der Ausgestaltung des Familienlebens für Kinder und ältere Menschen. Er spricht zum einen die emotionalen Bindungen von Kindern an ihre Verwandten an. Die affektiven Beziehungen von Kindern bleiben auf wenige Verwandte beschränkt: „(…) the child´s emotional attachments to kin are confined to relatively few persons instead of being distributed more widely“ (Parsons 1943: 32).
Welche Konsequenzen hat die strukturelle Isolation der Kernfamilie darüber hinaus für ältere Menschen? Lebt beispielsweise eine ältere, verwitwete Person im Haushalt der Kinder, so wird dies nicht als „natural arrangement“ angesehen. Als Beweise für diese Einschätzung werden die Gründe für das Teilen eines gemeinsamen Haushaltes angeführt, wie z.B. sozialer Druck, ökonomische Unterstützung, Vermeidung von Einsamkeit und sozialer Isolation (vgl. Parsons 1943: 37). 169 170
An dieser Stelle besteht allerdings noch Forschungsbedarf (vgl. Parsons 1943: 29). Gibson (1972: 14) betont, dass dies der entscheidende Aspekt der These Parsons ist: Die Interessen egos sind stärker in Bezug auf die Zeugungsfamilie als gegenüber seiner Herkunftsfamilie. Parsons´ These gilt nur dann als widerlegt, wenn der Grad an Interaktionen zwischen miteinander verbundenen Haushalten größer ist als die Interaktionen im Haushalt der Kernfamilie.
2.3 Die strukturell-funktionale Theorie der Familie
87
Welche Ursachen werden für diese Entwicklung genannt? Verwandtschaftsbeziehungen und die Werte, die mit ihnen verbunden sind, stehen im Widerspruch zur modernen Beschäftigungsstruktur (vgl. Parsons 1943: 34). Innerhalb des modernen Beschäftigungssystems existiert eine strukturelle Trennung von Verwandtschafts- und Berufsrollen, da es die Menschen als Individuen und nicht als Verwandtschaftsmitglieder behandelt. Voraussetzungen dieses Systems sind persönliche Leistung, Gleichheit an Möglichkeiten, Erfüllung von Mobilitätserfordernissen, Werte hinsichtlich der Erzielung von wirtschaftlichen Zielen sowie Interessen unabhängig von persönlichen Erwägungen.171 Des Weiteren können folgende Merkmale genannt werden: technische Kompetenz, Rationalität, universalistische Normen und funktionale Spezialisierung. Diese stehen im Gegensatz zu Normen und Werten, die in traditionellen Verwandtschaftszusammenhängen gelten (vgl. Parsons 1943: 34). „(…) our kinship system is of a structural type which, (…), interferes at least with the functional needs of the occupational system, above all in that it exerts relatively little pressure for the ascription of an individual´s social status – through class affiliation, property, and of course particular ‚jobs’ – by virtue of his kinship status. The conjugal unit can be mobil in status independently of the other kinship ties of its members, (…)“ (Parsons 1943: 34f.).
In den Anforderungen der Industriegesellschaft sieht Parsons eine wesentliche Ursache für den Bedeutungsverlust der Verwandtschaft, denn die Befreiung vom „Ballast“ verwandtschaftlicher Verpflichtungen ermöglicht beispielsweise soziale und geographische Mobilität (vgl. Bruckner 1993: 2). Während Verwandtschaft in vormodernen Gesellschaften die soziale Struktur determinierte und es nur wenig konkrete Strukturen gibt, in denen eine Teilhabe unabhängig vom Verwandtschaftsstatus möglich war, dominieren in modernen Gesellschaften nicht-verwandtschaftliche Institutionen (z.B. Staat, Kirche, Unternehmen, Universitäten). Dieser Prozess hat einen Funktionsverlust eines Teils bzw. aller verwandtschaftlichen Einheiten zur Folge (vgl. Parsons, Bales 1968: 9). Die Kernfamilie kommt somit den funktionalen „Anforderungen des Industrialismus“ gut entgegen, deren entscheidendes strukturelles Merkmal die geringe Ausdehnung der verwandtschaftlichen Beziehungen ist (vgl. Goode 1967b: 197). Interpretiert man die Aussagen des Strukturfunktionalismus zur Isolierung der Kernfamilie mit Hilfe der Rational-Choice-Theorie (van der Poel 1993), so kann an dieser Stelle die Veränderung der Verwandtschaftsbeziehungen im Zuge der Industrialisierung mit Rückgriff auf eine Handlungstheorie erklärt werden (vgl. Homans 1972b). Nach Homans (1972b: 35) sind Urbanisierung und Industrialisierung Ursachen für einen sozialen Wandel, sie können jedoch nicht mit Erklärungen gleichgesetzt werden.172 Dieses Defizit des Strukturfunktionalismus wird von Homans (1972b) erkannt. Er versucht, den Bedeutungsverlust von Verwandtschaft mit Hilfe eines individualistischen Ansatzes zu erklären:173 171
172 173
Einen anderen Aspekt hebt Fischer (1982b) hervor: Nicht die Industrialisierung, sondern die Ausweitung des Dienstleistungssektors ist für die moderne Form des Verwandtschaftssystems verantwortlich. „It may be the office, not the factory, that generated the genealogically constricted and spatially extended kinship structure“ (Fischer 1982b: 367). Ausführlicher zur Kritik am Strukturfunktionalismus vgl. Homans (1972b: 44-58). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Homans (1960). Er weist darauf hin, dass sich die für die Gesellschaft des alten Typs so charakteristischen erweiterten Verwandtschaftsbande, im Zuge der Industrialisierung und der mit ihr verbundenen beruflichen und räumlichen Beweglichkeit der Individuen und der „Verminderung der Gelegenheiten ihrer Nutzung“ aufgelöst haben (vgl. Homans 1960: 269): „Sie bestanden nur so lange, wie sie zum äußeren System rückgekoppelt waren. Die Kernfamilie verließ nun zunächst den Haushalt und
88
2 Verwandtschaftsbeziehungen im sozialen Wandel
„Man betrachte die Aussage, daß die Verwandtschaftsorganisation industrialisierter Gesellschaften sich zur Kernfamilie hin entwickelt. Ich kann keineswegs eine vollständige Erklärung hierfür liefern, aber ich kann mir, ebenso wie jeder andere, den Ansatz zu einer solchen ausdenken. Einige Leute richten Fabriken ein, weil sie annahmen, so größere materielle Belohnungen zu erhalten als auf eine andere Weise. Andere Leute traten aus gleichartigen Gründen in Fabriken ein. Dadurch verlagerte sich ihre Arbeitsstätte von zu Hause fort, und so mussten sie, wenn auch nur aus Zeitmangel, auf die Pflege der ausgedehnten Verwandtschaftsbeziehungen verzichten. Dies war insofern ein Verzicht, als in vielen traditionellen Agrargesellschaften, wo Arbeit und Wohnstätte näher zusammenliegen, die Verwandtschaftsbeziehungen als Quelle gegenseitiger Hilfeleistung auch eine Quelle der Belohnung sind. Folglich entwickelte sich ein Zusammenhang zwischen Kernfamilie und der Einrichtung von Fabriken; und dieser Zusammenhang läßt sich durch Hypothesen über das Verhalten von Menschen als solchen erklären. Nicht die Bedürfnisse der Gesellschaften erklären die Beziehung, sondern die Bedürfnisse der Menschen“ (Homans 1972b: 51f.; Eigene Hervorhebung).
In vormodernen traditionalen Gesellschaften existierte eine Einbindung in die Verwandtschaftsgruppe, die ökonomisch wie sozial miteinander verflochten waren (vgl. Kapitel 2.1). Dementsprechend existierte ein hoher Nutzen von dieser Gemeinschafts- und Familienorganisation, während gleichzeitig die Kosten gering ausfielen, da die Familienmitglieder in geographischer Nähe voneinander lebten. Ebenso waren kaum Alternativen vorhanden, denn die Kosten der Aufrechterhaltung von Beziehungen mit Personen außerhalb der Verwandtschaftsgruppe waren zu hoch. Im Zuge der Industrialisierung jedoch änderten sich diese Bedingungen. Konsequenz der geographischen Mobilität bzw. Migration war eine geographische Distanz zu zurückbleibenden Verwandten. Der Nutzen der Arbeit ist höher als der Nutzen, den sie erhalten, wenn sie weiterhin in der Nähe der Verwandten wohnen blieben. Der Lebensraum „Stadt“ erhöhte aber auch die Chancen auf außerverwandtschaftliche Kontakte. Da Parsons seine Überlegungen auf Familien der Mittelklasse bezieht, lässt sich insbesondere für diese Gruppe eine weitere Erklärung anführen. Diese Familien kennzeichnet ein ökonomischer Wohlstand, der sie unabhängig von verwandtschaftlichen Unterstützungsleistungen machte (vgl. van der Poel 1993: 27f.).174 Im Vordergrund dieser mikrotheoretisch fundierten Erklärungen von Homans (1972b) und van der Poel (1993) stehen die handlungstheoretischen Konstrukte: Belohnungen, Kosten und Alternativen. Industrialisierung und Urbanisierung an sich führen nicht kausal zu einer Isolierung der Kernfamilie, so wie es in den klassischen familiensoziologischen Theorien – insbesondere im Strukturfunktionalismus – formuliert wird. Die Erklärungskraft für die Veränderungen der Verwandtschaftsbeziehungen in der Moderne mit Verweis auf die gesellschaftliche Struktur ist begrenzt.175 Festzuhalten ist eine Reduktion der in traditiona-
174
175
dann auch die Nachbarschaft der anderen Verwandten, und zwar deshalb, weil sie es sich leisten konnten und weil ein jungverheiratetes Paar den Reiz empfand, den Tanten und anderen alten Leuten zu entkommen“ (Homans 1960: 269). Die Annahme, dass die Industrialisierung die traditionellen Verwandtschaftsbeziehungen zerbrochen hat, ist auch aus der Sicht der historischen Familienforschung als Mythos zu bezeichnen (vgl. Hareven, Mitterauer 1996: 22). Daten belegen eindeutig, dass die Bedeutung der Kernfamilie und ihre fehlende Einbindung in starke Verwandtschaftsbande nicht kausal auf Industrialisierung und Modernisierung zurückzuführen ist (vgl. Rosenbaum 1998: 21). Hill (2002b: 72) weist auf einen weiteren Aspekt hin. Makrosoziologische Konzepte wie die der Industrialisierung oder Urbanisierung versagen als Erklärungen, da sie als „explanative Kategorien eine gewisse Homogenität der Lebenslagen und Handlungschancen voraussetzen müssen.“ Das makrosoziologische Gesetz behauptet dabei, dass alle Individuen trotz heterogener Lebenslagen in gleicher Weise auf die Industrialisie-
2.3 Die strukturell-funktionale Theorie der Familie
89
len Gesellschaften charakteristischen universalen Funktion von Verwandtschaft im Zuge der gesellschaftlichen Differenzierung. Die gesellschaftliche Struktur ist darüber hinaus eine entscheidende Determinante des individuellen Handelns. Die industrielle Revolution, wachsende Urbanisierung und die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates hatten entscheidende Einflüsse auf die Handlungsoptionen der Individuen, die sich konkret in einer Zunahme an Opportunitäten und Wahlfreiheiten äußern. Gesellschaftliche Modernisierung und die mit ihr verbundenen Veränderungen begründen neue Verwandtschaftsstrukturen – die Entstehung subjektiver Verwandtschaft. Abschließend soll die Position von Goode (1963) verdeutlicht werden. Seine Aussagen sind als Differenzierung und Erweiterung der Isolationsthese zu sehen. Im Vordergrund stehen zwei Feststellungen von Goode (1963). Zum einen wird Parsons´ isolierte Kernfamilie als theoretische Konstruktion bezeichnet und zwischen Theorie und empirischer Realität der Verwandtschaftsbeziehungen differenziert. Zum anderen wird von einer Unmöglichkeit der Negierung verwandtschaftlicher Beziehungen und Bindungen ausgegangen, da sie aus den emotionalen Bindungen innerhalb der Mitglieder der Kernfamilie hervorgehen. Ausgangspunkt der Argumentation von Goode (1963) ist die Feststellung, dass Industrialisierung und Urbanisierung zur folgenden Entwicklung führen: „toward fewer kinship ties with distant relatives and a greater emphasis on the nuclear family“ (Goode 1963: 1). Im Speziellen nennt Goode (1963: 1f.) sieben Aspekte, die man bei der Bewertung der Isolationsthese berücksichtigen muss: 1. 2. 3. 4.
5.
6.
die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen („Even if the family systems in diverse areas of the world are moving toward similar patterns, they begin from very different points, (…)” (Goode 1963: 1f.; Hervorhebung im Original)). die unterschiedliche Geschwindigkeit der Entwicklung („The elements within a family system may each be altering at different rates of speed“ (Goode 1963: 2)). die Auswirkungen der Industrialisierung sind unklar („Just how industrialization or urbanization affects the family system, or how the family system facilitates or hinders these processes, is not clear” (Goode 1963: 2; Hervorhebung im Original)). die zusätzliche Berücksichtigung von unabhängigen Faktoren, z.B. den Wertewandel („It is doubtful, that the amount of change of family patterns is a simple function of industrialization; more likely, ideological and value changes, partially independent from industrialization, also have some effect on family action” (Goode 1963: 2)). die genaue Analyse des historischen Ausgangspunktes („Some beliefs about how the traditional family system worked may be wrong. Even to measure change over the past half-century requires a knowledge of where these family systems started from” (Goode 1963: 2; Hervorhebung im Original)). die Unterscheidung zwischen idealen und realen Familienverhalten und -werten („Correlatively, it is important to distinguish ideal family patterns from real family behavior and values, (…)” (Goode 1963: 2; Hervorhebung im Original)). rung reagieren. Diese Annahme des Strukturfunktionalismus ist nicht haltbar (vgl. Hill, Kopp 2004: 83). Vgl. dazu auch Anderson (1971), der die Erklärungskraft der Industrialisierung mit ähnlichen Argumenten kritisiert: „It has treated industrialization as an almost irresistable force and has failed to do justice to the empirical diversity and complexity of reactions to similar pressures for social change. (…) The ability of different family systems to maintain commitment of their members is variable and must enter into the analysis” (Anderson 1971: 7).
90 7.
2 Verwandtschaftsbeziehungen im sozialen Wandel
die Berücksichtigung der Validität der Daten („(…) it is necessary to examine carefully whatever numbers and counts can be obtained in order to be sure that they are in fact descriptions of reality (…). Especially when inquiring into the past, we must question the validity of the data” (Goode 1963: 2; Hervorhebung im Original)).
Goode (1963) unterstützt grundsätzlich das Konzept der isolierten Kernfamilie. Er führt darüber hinaus jedoch eine wichtige Differenzierung ein. Die isolierte Kernfamilie ist als theoretische Konstruktion zu verstehen, die einen idealen Familientyp repräsentiert (vgl. Goode 1963: 7). Das Charakteristikum dieser idealtypischen Konstruktion „is the relative exclusion of a wide range of affinal and blood relatives from is everyday affairs: There is no great extension of the kin network“ (Goode 1963: 8). Konsequenz ist, dass der Kernfamilie keine große Zahl von Verwandten für Hilfeleistungen zur Verfügung stehen, dass keine definierten Rechte im Umgang miteinander existieren, reziproke Verpflichtungen nur schwach ausgeprägt sind und relativ schwache verwandtschaftliche Kontrollen bestehen (vgl. Goode 1963: 8). Dies entspricht der klassischen Position von Parsons (1943). Darüber hinaus wird jedoch explizit auf den Konflikt zwischen Theorie und empirischer Realität hingewiesen. In der Realität bestehen enge Beziehungen zwischen Großeltern und Enkel176 kindern, zwischen Geschwistern sowie Interaktionen mit Schwiegereltern und -kindern. Daraus folgt auch, dass Kinder Kontakte mit Onkel, Tante, Cousin und Cousine haben. Die Ursachen für erweiterte Familienbeziehungen liegen in den emotionalen Verbindungen der Kernfamilie selbst begründet (vgl. Goode 1963: 10). Beziehungen zu entfernten Verwandten sind somit notwendige Konsequenz der affektiven Beziehungen der Mitglieder der Kernfamilie untereinander. „At a minimum, the members of each unit are tied to other units through a common member of a given family. For example, the brother has continued social relations with his sister, and thereby with his brother-in law and nephews; (…)” (Goode 1963: 70).
Eine Reduktion auf die Kernfamilie hätte eine zwanghafte Restriktion auf Bindungen zwischen Geschwistern und Eltern zur Folge – eine Annahme, die der empirischen Realität nicht gerecht wird (vgl. Goode 1963: 10). In Deutschland wird die Diskussion über die isolierte Kernfamilie ebenfalls weitergeführt. König (1974b: 76) führt den Begriff der Desintegration in die familiensoziologische Diskussion ein, der definiert ist als „Ausgliederung aus gesamtgesellschaftlichen Zusammenhängen“ und somit Parallelen zur Isolationsthese Parsons aufweist. Insbesondere König (1976: 56ff.) führt Argumente gegen die Isolationsthese an und weist auf Entwicklungen hin, die die Strukturfunktionalisten nicht gesehen haben. Er benennt strukturelle Voraussetzungen der modernen Gesellschaft, die auf eine andere Entwicklung hindeuten. Demographische Veränderungen, wie eine höhere Lebenserwartung und ein niedrigeres Heiratsalter, führen zu der Herausbildung einer „mittleren Verwandtschaft“ (Großeltern), so dass ein „Überschneiden der Lebensläufe von drei Generationen“ zur Regel wird (König 1976: 57f.). Empirisch ungeklärt ist nach König (1976: 58) allerdings das Verhältnis zur kollateralen Verwandtschaft. Hier besteht die Vermutung, dass diese Beziehungen in Industriegesellschaften strukturell etwas weniger hervortreten und verwandtschaftliche Beziehungen 176
Goode (1963) bezieht sich auf verschiedene empirische Studien (vgl. exemplarisch Firth 1956a), die in Kapitel 3.2.1.1.1 ausführlich dargestellt werden.
2.3 Die strukturell-funktionale Theorie der Familie
91
vor allem von wirtschaftlich schwächeren Familien gepflegt werden. Zum anderen werden von König (1976: 56) – in Analogie zu den Ausführungen von Litwak, Szelenyi (1969) – veränderte Kommunikationsbedingungen in der Moderne genannt. Zu nennen ist die Entwicklung des Verkehrs, insbesondere des privaten Autoverkehrs und die Möglichkeiten der Inanspruchnahme von modernen Kommunikationstechnologien (Telefon). Darüber hinaus besteht eine allgemein vergrößerte Bereitschaft zu einer zeitweiligen Ortsveränderung (Wochenende, Ferien). Selbst größere räumliche Entfernungen zwischen Familien- und Verwandtschaftsmitgliedern müssen somit nicht automatisch zum Abbruch der Beziehung führen (vgl. König 1976: 56). 2.3.3 Das Konzept der modifiziert erweiterten Familie (Litwak) Litwak (1960a,b) entwirft die modified extended family (modifiziert erweiterte Familie) als Gegenentwurf zur isolierten Kernfamilie, in der weiterhin enge Generationenbeziehungen trotz verschiedener Haushalte von Eltern und Kindern kennzeichnend sind.177 Darüber hinaus wird auch die Existenz von Beziehungen mit dem erweiterten Familienkreis nicht ausgeschlossen. Litwak kontrastiert die modifiziert erweiterte Familie mit der traditionalen Verwandtschaftsstruktur, die sich durch die Merkmale a) Notwendigkeit der geographischen Nähe bzw. Existenz eines gemeinsamen Haushaltes, b) Verflechtungen hinsichtlich der Beschäftigungsstruktur und einer Abweisung von Nicht-Verwandten charakterisieren lässt (vgl. Litwak, Kulis 1987: 649). Ein drittes Modell stellt die isolierte Kernfamilie (Parsons 1943) dar, deren Kennzeichen die Schwäche verwandtschaftlicher Beziehungen ist (vgl. Litwak, Kulis 1987: 657). Diese Unterscheidung ist für eine empirische Analyse (speziell der gewählten Operationalisierung von Verwandtschaftsbindungen) von großer Bedeutung, da ansonsten ein inadäquates bzw. geschwächtes Bild real existierender Verwandtschaftsbeziehungen gemessen wird (vgl. Litwak, Kulis 1987: 649).178 Die modifiziert erweiterte Familie wird als idealer Familien- und Verwandtschaftstypus der modernen, industrialisierten und bürokratischen Gesellschaft betrachtet und zeichnet sich, im Vergleich zum Typus der klassischen erweiterten Familie, durch folgende Charakteristiken aus: Es besteht keine Notwendigkeit einer geographischen Nähe zwischen den Familienmitgliedern oder von 177
178
Rosenmayr (1976: 336ff.) sieht die für Generationenbeziehungen aufgestellte These der „Intimität auf Abstand“ (Rosenmayr, Köckeis 1962) als eine frühe Formel der modifiziert erweiterten Familie. Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Differenzierung der Verwandtschaftsstrukturen von Riley, Riley (1996) in 1) „simple type“, 2) „expanded type“ und 3) „latent matrix“ (Kapitel 1.1.2). Litwak, Kulis (1987) machen darauf aufmerksam, dass die Methoden der Messung von Verwandtschaftsbindungen von dem zugrunde liegenden Verwandtschaftsmodell bzw. -struktur abhängen. Folgende Variablen müssen innerhalb des Konzeptes der „modified extended family“ erhoben werden, da es ansonsten zu einer Verzerrung der verwandtschaftlichen Beziehungen kommt: 1) Häufigkeit von Telefonkontakten (im Gegensatz zu face-to-face-Kontakten), 2) Dienste, die unabhängig von geographischer Nähe bereitgestellt werden können (z.B. emotionale Unterstützung, Rat, finanzielle Unterstützung), 3) Hilfeleistungen, die im Rahmen bedeutender Lebenssituationen (Krankheit, Tod, Heirat, Geburt) bereitgestellt werden können, da sie unregelmäßig eintreten und eventuell eine Überwindung größerer geographischer Distanzen mit Hilfe moderner Technologien notwendig machen. Demgegenüber steht das traditionale Verwandtschaftsmodell mit den klassischen Variablen: 1) Anzahl von Verwandten, die im gemeinsamen Haushalt bzw. geographischer Nähe wohnen, 2) die Anzahl von face-to-face-Kontakten und 3) Anzahl von verwandtschaftlichen Dienstleistungen, die sich auf den Haushalt beziehen (und damit eine geographische Nähe voraussetzen) (vgl. Litwak, Kulis 1987: 657).
92
2 Verwandtschaftsbeziehungen im sozialen Wandel
Nepotismus. Sie unterscheidet sich von der isolierten Kernfamilie, da die Familienmitglieder Hilfeleistungen austauschen. Die modifiziert erweiterte Familie besteht aus miteinander verbundenen Kernfamilien, deren Basis „Gleichheit“ ist und die verwandtschaftliche Bindungen untereinander als eigenständigen Wert betrachtet (vgl. Litwak 1960b: 10). Diesen Ausführungen liegen drei grundsätzliche Annahmen zugrunde (vgl. Litwak, Kulis 1987: 649):179 1. 2. 3.
Verwandtschaftsbeziehungen sind eine Notwendigkeit in der modernen Gesellschaft. Um in einer Gesellschaft mit mächtigen Organisationsstrukturen existieren zu können, muss die Verwandtschaftsstruktur ihre Form ändern und ihren Mitgliedern unterschiedliche Arten von Mobilität (geographische und soziale) ermöglichen. Diese Bedingungen können erfüllt werden, da moderne Technologien Austausch von Hilfeleistungen auch über geographische Distanz ermöglichen (vgl. auch Litwak, Szelenyi 1969).
Schwerpunkt der empirischen Arbeiten von Litwak bildet die Analyse des Zusammenhangs zwischen geographischer Mobilität (Litwak 1960a) bzw. beruflicher bzw. sozialer Mobilität (Litwak 1960b) und verwandtschaftlicher Kohäsion. Entgegen der klassischen Annahme einer Unvereinbarkeit von Mobilitätserfordernissen und verwandtschaftlichen Beziehungen werden diese vermuteten negativen Zusammenhänge empirisch widerlegt. Die klassische Position besagt, dass Individuen, die mit ihren Verwandten stark verbunden sind, nur widerwillig wegen einer besseren Arbeitsstelle ihren Wohnort wechseln. Eine familiale Identifikation unter den Bedingungen von räumlicher Trennung erschien darüber hinaus nicht möglich (vgl. Litwak 1960a: 386). Entgegen dieser Annahme betont Litwak (1960a: 386), dass Individuen, die Teil einer modifiziert erweiterten Familie sind, sich in einer besseren Position befinden, ihren Wohnort zu verlassen, da sie ökonomisch, sozial und psychologisch unterstützt werden können.180 Zum anderen können verwandtschaftliche Beziehungen auch über große geographische Entfernungen aufrechterhalten werden, da moderne Technologien die sozial zerstörerischen Effekte einer räumlichen Trennung mindern. Litwak (1960b: 9) stellt darüber hinaus die These auf, dass die Struktur der modifiziert erweiterten Familie im Einklang mit der sozialen Mobilität steht. Auch hier postuliert die klassische Position eine Unvereinbarkeit und damit einen negativen Zusammenhang zwischen sozialer Mobilität und einer erweiterten Familienstruktur.181 Entgegen der Auffassung familialer Anomie weist Litwak (1960b: 10ff.) darauf hin, dass Individuen an Status gewinnen kön179
180
181
Litwak (1965: 293) nennt vier Anforderungen an eine moderne Verwandtschaftsstruktur, die von der modifiziert erweiterten Familie erfüllt werden: 1) „kinship efficiencies for goal achievement“, 2) „capacity to get along with bureaucratic organizations“, 3) „differential occupational mobility“, 4) „differential geographical mobility“. Diese Beziehung zwischen Kernfamilie und erweiterter Familie wird als „semiindependent relation“ bezeichnet. Auf der einen Seite kann Unterstützung und Hilfe von erweiterten Familienmitgliedern geleistet werden, auf der anderen Seite ist die Kernfamilie durch das Einkommen des Mannes abgesichert. Dadurch, dass die erweiterte Familie keine vollkommene ökonomische Sicherheit für die Kernfamilie bereitstellen kann, legitimiert sich die geographische Mobilität der Kernfamilie (vgl. Litwak 1960a: 387). Litwak (1960b: 10) nennt hierfür zwei klassische Gründe: a) „status by orientation“ und b) „differential socialization“. So wird vermutet, dass Individuen, die sich durch soziale Mobilität auszeichnen, eher statusorientiert sind und somit nur wenig Identifikation mit der erweiterten Familie vorliegt. Die Kernfamilie würde an Status verlieren, wenn sie enge Beziehungen mit ihrer erweiterten Familie pflegen würde, die einen niedrigeren Status hat. Ein weiterer Aspekt ist, dass soziale Mobilität zu unterschiedlichen Sozialisationserfahrungen von Familienmitgliedern führen kann und diese nur noch wenige Werte und Einstellungen teilen (vgl. Litwak 1960b: 10).
2.4 Exkurs: „Sachbezug“-Paradigma (Lüschen 1989)
93
nen, auch wenn sie mit Personen in Kontakt sind, die einen vergleichsweise niedrigeren Status haben. Auf der anderen Seite werden die Klassenunterschiede der Gesellschaft als moderat bezeichnet. Als Begründung dieser These werden höhere Bildungsstandards, die Entwicklung der Massenmedien, der generelle Anstieg des Lebensstandards und Rückgang von „large-scale“-Immigration genannt. „Class similarities seem to be sufficiently large to provide cross-class identification by extended family members and the differences appear to be shrinking” (Litwak 1960b: 13).
Es wird die These aufgestellt und empirisch bewiesen, dass ein sozialer Aufstieg keine Barriere für die Beziehungen mit der erweiterten Familie ist (vgl. Litwak 1960b: 13). Charakteristisch für dieses neue Familien- und Verwandtschaftsmodell ist seine Nähe zum Konzept der subjektiven Verwandtschaft, da von einer grundlegenden Wahl von Verwandten ausgegangen wird. Sussman, Burchinal (1962: 234) weisen im diesem Kontext explizit auf die emotionale Bindung zwischen Familien- und Verwandtschaftsmitgliedern hin, deren Beziehungen auf Wahlentscheidungen gründen. Auch König (1974a: 94) stellt heraus, dass eine der wichtigsten Entdeckungen in der Familiensoziologie auf eine Kritik der isolierten Kernfamilie zurückgeht. Dazu gehört der mit diesen neuen Vorstellungen verbundene „Entscheidungsprozess über nähere und ferne Verwandte, mit denen man engeren Verkehr haben möchte“ und damit folglich die „Auswahl der Verwandten (…), die einander in den Schwierigkeiten unterstützen, die in der heutigen Welt auftreten können“ (König 1974a: 94). 2.4 Exkurs: „Sachbezug“-Paradigma (Lüschen 1989) Lüschen (1989) entwickelt in Abgrenzung zu den klassischen Paradigmen – Strukturfunktionalismus und Symbolischer Interaktionismus – ein neues Paradigma zur Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen. Bevor das „Sachbezug“-Paradigma vorgestellt wird, werden zuerst die zentralen Annahmen des Symbolischen Interaktionismus im Kontext der Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen skizziert. Vertreter des Symbolischen Interaktionismus sind u.a. Mead (1973 [1934]), Blumer (1973) und Wilson (1973). In Bezug auf den interaktionistischen Ansatz im Bereich der Familie sind u.a. Burgess, Cottrell (1936), Stryker (1970), Burr u.a. (1979) und Markefka (1989) zu nennen. Theoriegeschichtlich versteht sich der Symbolische Interaktionismus als Kritik am Strukturfunktionalismus, da er eine vollkommen andere Denktradition in die (Familien-)Soziologie einbringt (vgl. Hill, Kopp 2004: 95). Während die strukturellfunktionale Theorie ein makrotheoretisches Konzept der Familie vertritt, verlagert sich die Perspektive innerhalb des interaktionistischen Ansatzes auf die Mikroebene, hin zu der subjektiven Bedeutung der Familie für die Individuen (vgl. Hill, Kopp 2004: 98). Das Verhalten eines Individuums ist die Antwort einer Interpretation der Handlungsabsichten des anderen, d.h. eine Interaktion wird als „interpretativer Prozess“ verstanden (vgl. Markefka 1989: 65).182 182
Vgl. in diesem Zusammenhang Wilson (1973), der das interpretative Paradigma des Symbolischen Interaktionismus dem normativen Paradigma des Strukurfunktionalismus (insbesondere der klassischen Rollentheorie) gegenüberstellt.
94
2 Verwandtschaftsbeziehungen im sozialen Wandel
Innerhalb des Symbolischen Interaktionismus stellt die Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen jedoch nur ein Randthema dar. Die Themenschwerpunkte der interpretativen Familiensoziologie konzentrieren sich vor allem auf die Erforschung von Ehe und Kernfamilie (Familienwelten, Rollenübernahmen von Mitgliedern der Kernfamilie und die Rekonstruktion der Ehewirklichkeit) (vgl. Markefka 1989: 68ff.). Der interaktionistische Ansatz ist überwiegend empirisch angelegt und liefert nach Lüschen (1989: 439) verschiedene Studien zu verwandtschaftlichen Interaktionen (u.a. Young, Wilmott 1957; Adams 1968; Turner 1969; Lüschen 1970; Pfeil, Ganzert 1973).183 Lüschen (1989) weist jedoch auf die theoretischen Defizite dieser Studien hin, da verwandtschaftliche Beziehungen zwar registriert, „aber nicht im verwandtschaftlichen Kontext erklärt“ werden (Lüschen 1989: 439). Die deskriptiven empirischen Befunde, die die Isolation der modernen Kernfamilie (Parsons) widerlegen, sind nicht für eine Verbesserung der Strukturanalyse von Verwandtschaft genutzt worden. Eine theoretische Erklärung verwandtschaftlicher Beziehungen findet nicht statt, da sich die Studien mit der Feststellung konkreter Interaktionsbefunde begnügen (vgl. Lüschen 1989: 439). Im Rahmen des interaktionistischen Ansatzes fehlen konkrete Handlungstheorien bzw. Hypothesen über soziale Regelmäßigkeiten des familialen und verwandtschaftlichen Handelns (vgl. Hill, Kopp 2004: 100f.). „Erst wenn die Alltagsdokumente des symbolischen Interaktionismus eine theoretische Interpretation erfahren, erlangen sie den Status prüfbarer Hypothesen. Insofern kann man vielen Präpositionen des symbolischen Interaktionismus nur zustimmen, muss andererseits jedoch auch einen Schritt in Richtung theoretischer Exploration – sei sie nun tausch-, rollen- oder handlungstheoretischer Art – weitergehen“ (Hill, Kopp 2004: 101).
Aufgrund der den klassischen Paradigmen angelasteten Versäumnisse in der soziologischen Verwandtschaftsanalyse, ist ein neuer Ansatz erforderlich geworden (vgl. Lüschen 1989: 441): „Sachbezug als Paradigma der Verwandtschaftsforschung“.184 Der deskriptive Ansatz fokussiert die sachlichen (biologischen) Bedingungen der Verwandtschaft, die sozial und kulturell überformt sind. Der Verwandtschaft liegen Sachstrukturen zugrunde, die einen besseren Ansatz für ihre Erforschung darstellen als die angewandten Forschungsansätze der Familiensoziologie (Strukturfunktionalismus, Interaktionismus) (vgl. Lüschen 1989: 442). Es geht im Speziellen um die Thematisierung und Problematisierung von:
biologischen Bedingungen von Verwandtschaft, Bedingungen der Umwelt, Rechtsnormen (Erb- und Familienrecht), materiellen und ideellen Inhalten der Verwandtschaftskultur.
Die biologischen Bedingungen sind insbesondere durch den demographischen Wandel (höhere Lebenserwartung und niedrige Fertilität) determiniert (Kapitel 2.2.1). Diese Veränderungen führen zu einer intergenerationalen Ausdehnung des Verwandtschaftssystems bei gleichzeitiger Schrumpfung der kollateralen Verwandtschaft. Zu den Bedingungen der Umwelt wird die räumliche Entfernung zwischen Verwandten („Sozialökologie der Ver183 184
Ausführlicher zu den empirischen Ergebnissen dieser Studien vgl. Kapitel 3.2. Dieses neue Paradigma ist in der soziologischen Literatur und Diskussion vollkommen unkommentiert geblieben. Historische Vorläufer dieses Ansatzes sind nach Lüschen (1988: 147): Lévi-Strauss 1981; Farber 1971, 1981; Claessens, Menne 1970.
2.5 Individualisierungsthese
95
wandtschaft“) sowie Technologien gezählt, die Kommunikation trotz geographischer Distanz ermöglichen. Auch Reformen im Familienrecht (Adoptionsrecht, Erbrecht oder Scheidungsrecht) haben Auswirkungen auf das Verwandtschaftssystem, da neue verwandtschaftliche Bindungen entstehen. Der letzte Punkt thematisiert die fundamentale Bedeutung des Transfers von Familienkultur. Hierzu gehören familial-verwandtschaftliche Rituale (Feiertage, Geburtstage usw.), in denen materielle und ideelle Inhalte der Verwandtschaftskultur vermittelt werden (vgl. Lüschen 1989: 442f.). Abschließend sollen die von Lüschen (1989) aufgeführten Forschungsdefizite dargestellt werden. Er nennt sechs Themen, die für eine soziologische Verwandtschaftsanalyse von Bedeutung sind. Es geht dabei zum größten Teil um eine strukturelle Analyse von Verwandtschaftssystemen und weniger um subjektive Verwandtschaftsbeziehungen (vgl. Lüschen 1989: 448): 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Die Struktur eines sachbezogenen Verwandtschaftssystems, wobei zu verfolgen wären: demographische, sozialökologische, familienrechtliche, familienkulturelle Determinanten. Die Struktur kognitiver Verwandtschaftssysteme mit ihren Bedingungen und verhaltensspezifischen Folgen. Die den verwandtschaftlichen Interaktionen in einem effektiven Verwandtschaftssystem zugrunde liegenden Strukturen. Die Auswirkung von Scheidung, Lebensgemeinschaft und Fortsetzungsehe auf Verwandtschaftssysteme im Hinblick auf deren Auflösung, Diffusion und potentiellen Expansion. Die Bedeutung von Verwandtschaft in Zusammenhang mit Nachbarschaft und Freundschaft im Hinblick auf ihre gegenseitigen Beziehungen und das Problem der Transitivität der Verwandtschaft zur Gemeinde. Die Bedeutung von Verwandtschaft, Freundschaft und Nachbarschaft für das System sozialer Sicherheit und gegenseitiger Hilfeleistungen im Sinne moderner Subsidiarität.
Mit dem dritten Punkt spricht Lüschen das Konzept der subjektiven Verwandtschaft an, das er als „effektives Verwandtschaftssystem“ bezeichnet. Zentrale Aufgabe einer soziologischen Verwandtschaftsanalyse ist es, die zugrunde liegenden Prinzipien verwandtschaftlicher Interaktionen zu erklären. 2.5 Individualisierungsthese Aktuelle modernisierungstheoretische Überlegungen zum sozialen Wandel der persönlichen Beziehungen sind in der Individualisierungsthese formuliert worden, deren prominenter Vertreter Ulrich Beck (1986) ist. Ein Großteil der Aussagen bezieht sich auf Entwicklungen und Veränderungen der Institution Kernfamilie. Verwandtschaftsbeziehungen werden hingegen eher implizit angesprochen. Die Individualisierungsthese verdeutlicht jedoch das Konzept der subjektiven Verwandtschaft, da sie die Zunahme der Wahlmöglichkeiten von persönlichen Beziehungen explizit herausstellt. Diese Überlegungen stellen keine geschlossene Theorie dar, sondern es sind vielmehr allgemeine Beschreibungen der Lebensbedingungen in der modernen Gesellschaft (vgl. Hill, Kopp 2004: 304f.).
96
2 Verwandtschaftsbeziehungen im sozialen Wandel
Bevor die Grundideen Becks skizziert werden, wird zuerst eine frühere Position zu diesem Thema dargestellt. Die zentralen Gedanken der Individualisierungsthese sind schon in einer früheren familiensoziologischen Publikation (Mayntz 1955) formuliert worden, in der u.a. Bezug auf die Veränderung von Verwandtschaftsbeziehungen genommen wird. Mayntz (1955: 10f.) thematisiert die Lockerung der sozialen Verwurzelung und Trennung der Menschen aus der traditionellen sozialen Einordnung, die auf räumliche Mobilität zurückgeführt werden.185 Kennzeichen ist das Herauslösen der modernen Familie aus den traditionellen Sozialbeziehungen (Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft, Gemeinde) (vgl. Mayntz 1955: 108). Auf personaler Ebene entwickelt sich ein allgemeiner Zwang zur Wahl der Lebensform. Das Leben verlangt vom Menschen die Fähigkeiten des Urteilens, Wägens und Unterscheidens. So stehen der persönliche Wille und die eigene Initiative im Vordergrund, während früher die Herkunftsfamilie das Leben determinierte. Dazu wird nun auch die Unabhängigkeit von der Verwandtschaft gezählt und dies auf zwei Ebenen: 1) im Denken und 2) auf sachlicher Ebene (vgl. Mayntz 1955: 11). Für diese Gegebenheiten wird von der Autorin explizit der Begriff der Individualisierung gewählt: „Damit brachte die erhöhte Mobilität eine innere und äußere Verselbständigung des einzelnen mit sich, die man auch als Individualisierung bezeichnet“ (Mayntz 1955: 11).
Betrachtet man die gegenwärtige Literatur zur Individualisierungsdebatte, so werden diese Überlegungen wieder aufgegriffen. So bedeutet Individualisierung allgemein, dass die Biographie der Menschen „aus traditionalen Vorgaben und Sicherheiten, aus fremden Kontrollen und überregionalen Sittengesetzen herausgelöst, offen (...) und als Aufgabe in des Handelns jedes einzelnen gelegt“ – die „Normalbiographie“ wandelt sich zu einer „Wahlbiographie“ (Beck, Beck-Gernsheim 1990: 12f.).186 Der Individualisierungsschub der letzten Jahrzehnte greift dabei immer stärker in den Bereich der Familie ein (vgl. Beck-Gernsheim 2000: 18). Individualisierung umfasst nach Becks ahistorischem Modell drei Aspekte (vgl. Beck 1986: 206).187 1. 2. 3.
185
186
187
188
die Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge (Freisetzungsdimension)188 den Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glaube und leitende Normen (Entzauberungsdimension) eine neue Art der sozialen Einbindung (Kontroll- bzw. Reintegrationsmechanismus)
Mayntz (1955: 11f.) weist ebenfalls auf den zentralen Gedanken der Auflösung der ständischen Gesellschaft und die allgemeine Wohlfahrtssteigerung hin, die als Konsequenzen der Industrialisierung für die moderne Gesellschaft kennzeichnend sind. Auch Scheuch, Sussman (1970: 242) definieren die moderne Gesellschaft als „eine Gesellschaft, die mehr und mehr ihrer Bürger aus diesen Zwängen entlassen und ihnen mehr Auswahlmöglichkeiten zur Wahl gestellt hat.“ Begleitet wird der Individualisierungsprozess von einem sozialen Wertewandel. Es ist Ablösung von traditionellen Pflicht- und Akzeptanzwerten (Materialismus) durch Selbstentfaltungswerte (Postmaterialismus) (vgl. dazu ausführlicher Inglehart 1977; Klages 1984, 1988). So bedeutet Individualisierung nach Hradil (1995b: 82) in sozialer Hinsicht den Trend der Verselbständigung des Einzelnen gegenüber der sozialen Gemeinschaft, die ihm früher traditionale Verhaltenserwartungen und Wirklichkeitsdeutungen in aller Verbindlichkeit vermittelten.
2.5 Individualisierungsthese
97
Im Vordergrund des Individualisierungsprozesses steht für Beck (1986: 208) die Herauslösung aus sozialen Klassenbindungen, die insbesondere Familienstruktur, Wohnverhältnisse und Nachbarschaftsbeziehungen betreffen. Eine Kernfrage betrifft somit die Veränderung der Institution Familie in der Folge fortschreitender Modernisierung und Enttraditionalisierung. Die Individualisierungsthese fokussiert damit insbesondere die Tendenz der Auflösung von personalen Bindungen, die nach traditionellen Mustern vorstrukturiert sind (vgl. Hill, Kopp 2004: 305).189 Allgemein geht es darum, „was passiert, wenn die festen Vorgaben von einst – verankert in Religion, Tradition, Biologie usw. – zwar nicht gänzlich verschwinden, aber doch viel von ihrer einstigen Stärke einbüßen; wenn in der Folge neue Wahlmöglichkeiten, (…) Entscheidungsspielräume entstehen (…)“ (Beck-Gernsheim 2000: 17). Diese Loslösung aus traditionellen Vergesellschaftungsformen ermöglicht Chancen für frei wählbare Beziehungen. Sie verlieren ihren Charakter als Schicksalsgemeinschaft und wandeln sich zur Wahlgemeinschaft (vgl. Rosenmayr, Kolland 1997: 256). Verwandtschaftsbeziehungen, die stark mit traditionellen Bindungen assoziiert werden (vgl. Schütze, Wagner 1998: 12), sind nicht mehr vorgegeben, Kontakte zu Verwandten nicht mehr normativ vorgeschrieben, sondern werden nach individuellen Präferenzen gewählt. Die gewonnenen Freiheiten für das Individuum haben als negative soziale Konsequenz einen Verlust an Sicherheit und Stabilität privater Beziehungen zur Folge (vgl. Bertram 1995a: 9). Herausgestellt wird vor allem der Bindungsverlust an die Herkunftsgruppe (Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft), der einerseits Voraussetzung für die Existenz postindustrieller Gesellschaften ist, andererseits aber auch eine Gefahr hinsichtlich Orientierungslosigkeit bezüglich Werten und kulturellen Mustern für das Individuum bedeutet (vgl. Bertram 1995a: 10). „Das Marktsubjekt ist in letzter Konsequenz das alleinlebende, nicht partnerschafts-, ehe- oder familien-‚behinderteǥ Individuum. Entsprechend ist die durchgesetzte Marktgesellschaft auch eine kinderlose Gesellschaft“ (Beck 1986: 191).
Das Kriterium der Selektivität bezieht sich nicht nur auf Verwandtschaftsbeziehungen, sondern auch auf die Lebensform. Hervorgehoben werden in diesem Zusammenhang die Veränderung der Frauenrolle und die neuen Wahlmöglichkeiten im weiblichen Lebensentwurf (vgl. dazu insbesondere Beck-Gernsheim 1983). Die Ausgestaltung der individuellen Lebensform ist nicht mehr traditionell vorgegeben, sondern offen und frei wählbar (vgl. Bertram 1995a: 10).190 Die Pluralisierung von Familien- und Lebensformen wird u.a. auch als eine Bedrohung der kulturellen Werte und Normen der Gesellschaft angesehen und speziell für die „Krise der Familie“ verantwortlich gemacht (vgl. Beck 1986: 195).191 Die Familie als eine „Synthese“ generations- und geschlechtsübergreifender Lebenslagen zerbricht, ihre Monopolstellung geht verloren (vgl. Beck 1986: 209). Zu nennen ist hier insbesondere die moderne Vielfalt von Lebensformen (z.B. nichteheliche Lebensgemeinschaf189
190
191
„Modernität ist für sie im Kern ein Bruch mit den Ligaturen früherer Zeiten. Dahin ist die idyllische Vergangenheit mit ihren heiligen Schauern. Der Ausgang aus der Nestwärme stabiler menschlicher Beziehungen in festen ständischen Strukturen“ (Dahrendorf 1994: 424). Unter differenzierungstheoretischen Gesichtspunkten unterscheidet Meyer (1993: 27ff.) drei Privatheitstypen der modernen Gesellschaft, die sich aus der klassischen Kernfamilie ausdifferenziert haben: der kindorientierte, partnerschaftsorientierte und individualistische Privatheitstyp. Beck-Gernsheim (2000: 9) spricht in Anlehnung an Habermas (1985) von einer „neuen Unübersichtlichkeit“ der Familie.
98
2 Verwandtschaftsbeziehungen im sozialen Wandel
ten192, Single-Dasein193 u.a.), als Konkurrenzformen zur traditionellen Ehe, die jedoch den Ansprüchen einer modernen Gesellschaft hinsichtlich Mobilität und Flexibilität gerechter werden (vgl. Nave-Herz 1998: 292).194 „Das heißt nicht, die traditionelle Familie verschwinde, löse sich auf. Aber offensichtlich verliert sie das Monopol, das sie lange besaß. Ihre quantitative Bedeutung nimmt ab, neue Lebensformen kommen auf und breiten sich auf, die nicht oder jedenfalls nicht zumeist auf Alleinleben zielen, eher auf Verbindungen anderer Art: z.B. ohne Trauschein oder ohne Kinder; Alleinerziehende, Fortsetzungsfamilien oder Partner desselben Geschlechts; Wochenend-Beziehungen und Lebensabschnittsgefährten; Leben mit mehreren Haushalten oder zwischen verschiedenen Städten. Es entstehen Zwischenformen und Nebenformen, Vorformen und Nachformen. Das sind die Konturen der ‚postfamilialen Familie’“ (Beck-Gernsheim 2000: 20).
Die Existenz einer großen Variationsbreite von familialen und nicht-familialen Lebensformen ist charakteristisch für die moderne Gesellschaft und hat auch Auswirkungen auf den Stellenwert traditionaler und biologischer Verwandtschaft (Kapitel 2.2.1). Festgehalten werden kann, dass die Individualisierungsthese als zentrales Charakteristikum des familialen und damit auch verwandtschaftlichen Handelns, die zunehmende Wahlfreiheit zwischenmenschlicher Beziehungen herausstellt. Hill, Kopp (2004: 310) weisen darauf hin, dass die Individualisierungsthese somit implizit eine Theorie der rationalen Wahlentscheidung der Akteure unterstellt.195 Der Mensch trifft Entscheidungen, wie und mit wem er leben und interagieren möchte. Diese Überlegungen stellen jedoch keine in sich geschlossene Theorie dar, die menschliches Verhalten unter diesen neuen gesellschaftlichen Bedingungen erklärt, sondern haben eher deskriptiven Charakter und sind empirisch nicht fundiert.196 Diese allgemeinen Zusammenhänge zwischen moderner Gesellschaft und familialer Struktur haben den Charakter von Orientierungshypothesen, sie weisen jedoch auf wichtige Variablen hin, die bei der Analyse von verwandtschaftlichen Beziehungen zu berücksichtigen sind. Dies kann anhand des folgenden Beispiels verdeutlicht werden: „So kann es zwar korrekt sein, dass Modernisierung und Mobilität eine räumliche Trennung von traditionellen Bezugspersonen zur Folge haben, inwieweit dies jedoch Konsequenzen für die Akteure besitzt und ob nicht funktionale Äquivalente gefunden werden können, ist jedoch offen“ (Hill, Kopp 2004: 319). Reine makrotheoretische Erklärungen sind somit nicht in der Lage, die zur Diskussion stehende Logik der Wahl von Verwandten angemessen zu erklären.
192 193
194 195
196
Vgl. dazu ausführlicher Klein, Lauterbach 1999; Vaskovics, Rupp 1995; Vaskovics u.a. 1997. „Die Single-Gesellschaft ist letztlich die logische und meist übersehene Konsequenz der fortschreitenden Modernisierung. Die Erfordernisse des Arbeitsmarktes – wie Weiterbildung und Mobilität – sind weitgehend unvereinbar mit Ehe und Elternschaft, also der Pflege familialer Beziehungen“ (Beck 1986: 199). Vgl. dazu auch Hradil (1995a,b). Ein anderer Begriff in diesem Zusammenhang ist Multioptionsgesellschaft (vgl. dazu Gross 1994). Kopp (1994: 34f.) betont, dass innerhalb der Individualisierungsthese keinerlei Bezug genommen wird zu bekannten Paradigmen (Strukturfunktionalismus, Interaktionismus, Austauschtheorie). „Warum dies nicht geschieht, sei dahingestellt, aber aus der Argumentation der Autoren drängt sich eine Verbindung zu einer handlungstheoretischen Interpretation auf. Termini wie ‚Zunahme von Handlungsspielräumen’, ‚größere Wahlmöglichkeiten’ (…) legen eine solche Rekonstruktion nahe“ (Kopp 1994: 35). Die empirische Basis der Individualisierungsthese ist sehr schwach, sofern die Thesen empirisch geprüft werden, geschieht dies mit Material aus der amtlichen Statistik und Umfragedaten, die jedoch in anderen Kontexten erhoben wurden (vgl. Kopp 1994: 35f.).
2.6 Fazit
99
In den USA findet man die Grundgedanken der Individualisierungsthese und deren Auswirkungen auf Familien unter dem Stichwort „Habits of the Heart“ (Sennett 1986; Bellah u.a. 1987) und der „family decline“ - Hypothese (Popenoe 1988, 1993a) wieder. In der Diskussion um „Habits of the Heart“ wird der Individualismus der amerikanischen Gesellschaft für einen Verlust an gemeinschaftlicher Bindung verantwortlich gemacht (vgl. Burkhart 1995: 408). Die hier angesprochenen negativen gesellschaftlichen Konsequenzen werden in der „family decline“ - Hypothese von Popenoe (1993a) speziell auf die Veränderungen und den Wandel der Kernfamilie bezogen. Verwandtschaftsbeziehungen werden von Popenoe nicht thematisiert. So sieht Popenoe die Familie in der modernen Gesellschaft „as an institution in decline and believe that this should be a cause of alarm – especially as regards the consequences for children. (…). But often overlooked in the current debate is the fact that recent family decline is unlike historical family change. It is something unique, and much more serious” (Popenoe 1993a: 527). Der Niedergang der Familie vollzieht sich auf demographischer, institutioneller und kultureller Ebene (vgl. Popenoe 1993a: 536ff.). Rückläufige Geburtenraten, gestiegene Frauenerwerbstätigkeit (und die damit einhergehende ökonomische Unabhängigkeit der Frauen), hohe Scheidungsraten und nichteheliche Lebensgemeinschaften sind für Popenoe Anlass, von einem Zerbrechen der traditionellen Nuklearfamilie und generell von einem verminderten kulturellen Wert „familism“ zu sprechen (vgl. Popenoe 1993a: 527). Charakteristisch für unsere heutige Gesellschaft ist die „Me-Generation“ (Popenoe 1993a: 538), in der Selbstverwirklichung und Egoismus dominieren – empirisch bewiesen durch gesellschaftlich und kulturell akzeptierte Phänomene wie Scheidung, Single-Dasein und Kinderlosigkeit (vgl. Popenoe 1993a: 534). Feministische Kritik an Popenoes Argumenten wird von Stacey (1993) geäußert. Sie kritisiert den konservativen Charakter von Popenoes strukturfunktionalistischer Sichtweise der Familie (vgl. Stacey 1993: 546).197 Für Stacey ist Familie ein ideologisches und politisches Konstrukt – die heterosexuelle Nuklearfamilie, mit dem Ideal des erwerbstätigen Manns und seiner Ehefrau als Mutter und Hausfrau (vgl. Stacey 1993: 545). Weitere Kritik an Popenoes Aussagen übt Bengtson (2001), in dem er den Fokus auf Intergenerationenund Verwandtschaftsbeziehungen legt. Er weist darauf hin, dass Popenoe mit keinem Wort die Möglichkeiten multigenerationaler Beziehungen (Großeltern) und anderer Verwandtschaftsbeziehungen für die Sozialisation von Kindern erwähnt, die im Sinne Rileys (1983) Matrix latenter Beziehungen in Krisensituationen emotionale und instrumentelle Unterstützung bereitstellen können (vgl. Bengtson 2001: 4). 2.6 Fazit Der soziale Wandel von Verwandtschaftsbeziehungen bezieht sich auf folgende Aspekte (vgl. auch Bruckner 1993: 2): 1.
Ökonomischer/wirtschaftlicher Funktionsverlust von Verwandtschaft aufgrund des gesellschaftlichen Differenzierungsprozesses und Ausbau des Sozialstaates.
197
Popenoes konservative und diskriminierende Sichtweise kann mit Hilfe des folgenden Zitats verdeutlicht werden: „My main thought about her (gemeint ist Stacey, N.J.) ‚postmodern family condition’ is, what child wants to live in a ‚non-traditional’ family?“ (Popenoe 1993b: 554; Eigene Hervorhebung). Vgl. dazu auch Cowan (1993) und Glenn (1993).
100 2. 3. 4. 5.
6.
2 Verwandtschaftsbeziehungen im sozialen Wandel
Urbanität erhöht die außerverwandtschaftlichen Alternativen und schwächt verwandtschaftliche Bindungen. Stärkere räumliche Streuung der Verwandtschaft aufgrund geographischer Mobilität und urbaner Lebensweise. Abnahme der Kontakthäufigkeit infolge von räumlicher Streuung und Abschottung der Kernfamilie als „Privatsphäre“. Abnehmender Verpflichtungscharakter verwandtschaftlicher Beziehungen, so dass auch ihre Leistungen weniger und spezifischer werden. Räumliche Entfernung, reduzierte Kontakte, das Selbstverständnis der Familie als Privatsphäre und die Entstehung sekundärer Sicherungssysteme wirken hier zusammen. Selektivität kennzeichnet das verwandtschaftliche Handeln.
Folgerichtig fragt Rosenbaum (1998) nach der Bedeutung von Verwandtschaft in unserer heutigen Gesellschaft und betrachtet die Aussagen zur Veränderungen der Kernfamilie in einem direkten Zusammenhang mit Verwandtschaftsbeziehungen: „Es bleibt angesichts dessen die nahe liegende Frage, welche Bedeutung Verwandtschaft heute noch hat. Treffen die Prognosen des 19. Jahrhunderts, in deren Tradition sich auch die Parsons´schen Thesen über das amerikanische Verwandtschaftssystem bewegten, inzwischen zu? Griffige Gegenwartsdiagnosen wie Individualisierung, Wertewandel, aber auch Zunahme von Singlehaushalten und Verzicht auf Kinder scheinen in diese Richtung zu deuten“ (Rosenbaum 1998: 28).
Aber sie betont zudem, dass es für diese Annahmen und Schlussfolgerungen keine empirischen Beweise gibt, denn es gibt kaum Untersuchungen zu Ausmaß, Art und Intensität von Verwandtschaftsbeziehungen (vgl. Rosenbaum 1998: 29).198 Die These von der historisch abnehmenden Bedeutung von Verwandtschaft rekurriert u.a. auf die Folgen der geographischen Distanz zu Verwandten. Die klassische Sichtweise impliziert, dass sofern eine räumliche Trennung zwischen den Familienmitgliedern stattfindet, die verwandtschaftlichen Beziehungen geschwächt bzw. nicht mehr von Bedeutung für die Kernfamilie sind – eine Position, die von Litwak (1960a,b) widerlegt wurde. Der Wandel in der Wohn- und Haushaltsform im Zuge der Modernisierung und Urbanisierung muss nicht mit einem Wandel der gelebten Beziehungen und der Vorstellung der Bevölkerung, wer zur Familie gezählt wird, übereinstimmen (vgl. Bertram 2000: 98). Dieser Aspekt steht im Zusammenhang mit der generellen Annahme, dass Verwandtschaftssysteme in vormodernen Gesellschaften durch ökonomische Nutzenerwartungen zusammengehalten wurden, wobei im Zuge der Modernisierung Verwandte als wirtschaftliche Nutzenbringer tendenziell keine Funktion mehr übernehmen (vgl. Lüschen 1988: 145). Es sind jedoch primär die wirtschaftlichen Funktionen, die im Zuge der Modernisierung von spezialisierten Institutionen übernommen wurden, die aber zugleich auch Raum für neue Funktionen oder eine Intensivierung von „rudimentär“ ausgebildeten Funktionen (z.B. emotionalen Nutzen) schaffen. Ein festzustellender ökonomischer Funktionsverlust muss nicht automatisch bedeuten, dass Verwandtschaftsbeziehungen generell obsolet geworden sind, wenn sie nicht unmittelbar mit instrumentellem Nutzen für die Individuen einhergehen (vgl. Schütze, Wagner 1998: 11). Zudem ist denkbar, dass in wirtschaftlichen Krisenzeiten, individuellen 198
Vgl. dazu ausführlicher Kapitel 3.2.
2.6 Fazit
101
Notlagen (z.B. Arbeitslosigkeit) oder generell für untere soziale Schichten, ökonomische Funktionen weiterhin von Verwandten erfüllt werden. Während zum Beispiel der Wegfall von ökonomisch-utilitaristischen Nutzenerwartungen von Kindern in modernen Gesellschaften durch psychischen Nutzen ausgeglichen wird (value-of-children-Ansatz), spielen solche Überlegungen in Bezug auf Verwandtschaft noch keine Rolle (vgl. Schütze, Wagner 1998: 11).199 Die Bedingungen der Moderne führen in ihrer Entwicklung und Gemeinsamkeit hin zu der Existenz einer subjektiven Verwandtschaft, die sich durch Selektivität auszeichnet. Zu früheren Zeiten war ein Überleben ohne Verwandtschaft für die Kernfamilie nicht möglich, ihre Beziehungen waren von ökonomischen und sozialen Interdependenzen geprägt. Im Kontext der modernen Gesellschaft ist die Zwangsverflechtung jedoch aufgehoben geworden. „What is left after such changes is the sense of personal obligation to kin and the sense of affective attachment to them” (Zelditsch 1964: 492).
Der entscheidende Aspekt ist, dass die gesellschaftlichen Bedingungen die Voraussetzung für eine neue Art von verwandtschaftlichen Beziehungen geschaffen haben, in denen nicht mehr Verpflichtungen und Abhängigkeiten Grundlagen der Beziehungen sind, sondern die vielmehr durch eine freiwillige Aufrechterhaltung der Kontakte zu subjektiv relevanten Verwandten charakterisiert werden können (vgl. auch Schneider 1970: 451).
199
Ausführlicher zum value-of-children-Ansatz vgl. Nauck (1989, 2001). So ist der ökonomisch-utilitaristische Nutzen von Kindern in modernen Gesellschaften nicht mehr existent, der psychische Nutzen hingegen ist bedeutsamer für die Fertilitätsentscheidung geworden (vgl. zusammenfassend Hill, Kopp 2004: 207).
Einleitung
103
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
Angesichts der defizitären Forschungslage konzentriert sich das dritte Kapitel auf theoretische Perspektiven und empirische Befunde von Verwandtschaftsbeziehungen. Zuerst werden die bisher existierenden theoretischen Ansätze und Modelle zur Erklärung verwandtschaftlichen Handelns dargestellt. Das Kapitel dient als eine Art „Einstieg“ für die darauf in Kapitel 3.2 folgenden empirischen Studien, die die Beziehungen zur erweiterten Verwandtschaft analysieren. Die Studien werden in chronologischer Reihenfolge und getrennt für die USA/Großbritannien und Deutschland dargestellt. 3.1 Zum Stand der Theoriebildung Welche Antworten geben die bisherigen theoretischen Ansätze auf die Frage, warum und nach welchen Prinzipien verwandtschaftliche Beziehungen gestaltet werden? Im Vordergrund dieses Kapitels steht die Erklärung der Beziehungen zur entfernten Verwandtschaft und die bisherigen theoretischen Antworten auf die zentrale Fragestellung dieser Arbeit: Welche Faktoren erklären die Wahl von (entfernten) Verwandten? Der erweiterte Familienkreis wird allerdings nur in dem Modell von van der Poel (1993) explizit berücksichtigt, während die anderen die Globalkategorie „Verwandte“ verwenden und nicht zwischen den einzelnen Verwandtentypen unterscheiden. Angesichts der fehlenden theoretischen Fundierung innerhalb der familiensoziologischen Forschung sollen an dieser Stelle die bisherigen Ansätze dargestellt und diskutiert werden, die den folgenden theoretischen Bereichen zuzuordnen sind:200
Explorative und heuristische Modelle Ansätze auf Basis von Austauschtheorie und Rational-Choice-Theorie
Im Einzelnen können folgende Ansätze genannt werden: die explorativen Modelle von Firth (1956a) und Bott (1971), das „choice-constraint“-Modell von Fischer (1977), auf dem eine Vielzahl von Netzwerkstudien basieren und dessen Grundlage die Austauschtheorie bildet und insbesondere der Rational-Choice-Ansatz zur Erklärung der Wahl von „anderen“ Verwandten in das persönliche Netzwerk von van der Poel (1993).201 Zusätzlich werden Ansätze dargestellt, die die Wahl von Freundinnen bzw. Freunden erklären (Adams 1967a; Jackson 1977; Jackson u.a. 1977; Verbrugge 1979; Feld 1981, 1984). Die Erkenntnisse über Freundschaftswahlen liefern wichtige Hinweise für die Analyse von Verwandtschafts200
201
In diesem Kontext muss ebenfalls die soziobiologische Theorie der Verwandtschaftsselektion angeführt werden, die jedoch bereits in Kapitel 1.4 dargestellt und in Kapitel 3.3 kritisch diskutiert wird. Die jeweiligen empirischen Befunde werden in Kapitel 3.2.1.1 dargestellt.
104
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
beziehungen. Nicht nur eine Freundschaft ist das Ergebnis eines Entscheidungsprozesses, sondern dies gilt auch für Verwandtschaftsbeziehungen (Kapitel 1.1.2). Ein Blick auf Theorien der Freundschaftswahl erscheint aus diesem Grund sinnvoll. 3.1.1 Explorative und heuristische Modelle Die explorativen und heuristischen Modelle zur Erklärung verwandtschaftlichen Handelns sind insbesondere für die 1950er und 1960er Jahre der frühen Verwandtschaftsstudien Großbritanniens kennzeichnend. Die Ansätze von Firth (1956b) und Bott (1971 [1957]) sind jedoch weniger als theoretische Ansätze zu klassifizieren, sondern sie weisen allgemein auf komplexe Determinanten hin, die bei der Erklärung verwandtschaftlichen Handelns zu berücksichtigen sind. Es sind die ersten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die die Wahl von Verwandten im Kontext ihrer familiensoziologischen Untersuchungen thematisieren. Firth (1956b: 21) geht von einer grundsätzlichen Selektivität von Verwandtschaftsbeziehungen aus und benennt folgende Einflussfaktoren:
Gemeinsame ökonomische Interessen (Beschäftigung, Besitz) Zusammensetzung des Haushaltes bzw. der Kernfamilie Biologische Anzahl der zur Verfügung stehenden Verwandten Existenz von Schlüsselpersonen, die Verwandtschaftskontakte initiieren (so genannte „pivotal kin“) Entwicklungsphase der Familie202
Als weitere Determinanten werden der soziale Status und der Austausch von Hilfeleistungen genannt.203 So können Austauschleistungen als Verstärkung von verwandtschaftlichen Beziehungen wirken (vgl. Firth, Djamour 1956: 60f.). Abschließend wird auf die frühen Erfahrungen in Kindheit und Adoleszenz aufmerksam gemacht, die sich auf verwandtschaftliche Bindungen im Erwachsenenalter auswirken. Firth (1956b) gibt jedoch keine explizite Erklärung für die Wahl einer verwandten Person und benennt nicht die Wirkungsrichtungen und Zusammenhänge der jeweiligen Faktoren. So lautet sein Fazit: „The reasons for this are complex, and their force in various types of kin situations is not entirely clear“ (Firth 1956b: 21). Dieser Meinung schließt sich Turner (1969: 34) an, der ebenfalls an der Komplexität des Phänomens kapituliert und zur folgenden Einschätzung über die Möglichkeit einer theoretischen Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen kommt: „(…) it makes the analysis of kinship ties extremely difficult, because of the great complexity and range of choice which is possible. (…). Further research into the complex factors which underlie the process of selection is clearly needed” (Turner 1969: 34).
202
203
Die sechste Determinante lautet im Original „phase of development in which any given family finds itself“ (Firth 1956b: 21). Es werden keine weiteren Erläuterungen gegeben. Zum Einfluss des sozialen Status wird lediglich gesagt: „social status of kin was directly related to the factor of personal selectivity“ (Firth, Djamour 1956: 60). Auch an dieser Stelle bleibt eine explizite Erklärung offen.
3.1 Zum Stand der Theoriebildung
105
Welche Erklärung wird für die Selektivität von Verwandtschaftsbeziehungen bei Turner (1969) gegeben? Die Antwort lautet: „The type of decision is based upon shared economic, political, educational, religious or leisure interests rather than simply upon knowledge of kinship link“ (Turner 1969: 34). Auch Hubert (1965: 72) spricht nur allgemein von historischen und persönlichen Faktoren, die die Selektivität erklären. Zusätzlich weist sie auf die Wichtigkeit der geographischen Distanz als Determinante des verwandtschaftlichen Kontaktes hin, die jedoch nicht als alleiniger Erklärungsfaktor angesehen werden sollte: „Geographical distance is seldom the sole cause of infrequent contact, though it may be a contributing factor, and is sometimes the reason given for it” (Hubert 1965: 72).
Die qualitative Studie von Bott (1971) stellt einen wichtigen Schritt in Richtung einer soziologischen Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen dar. Ausgangspunkt der Untersuchung ist die Feststellung, dass die Beziehungen zur Verwandtschaft nicht alleine durch persönliche Wahl und damit Selektivität bestimmt sind. Sie erklärt die Wahl von Verwandten ausschließlich aus psychologischer Perspektive, indem sie als alleinige Determinanten verwandtschaftlichen Handelns die Persönlichkeit der Individuen und den „personality fit“ anführt. „For a time I adopted the view that relationships with kin entirely are a matter of personal choice, that is, that the only really important factors affecting relationships with kin were the personalities of the various people concerned and the personality fit between them. But this is obviously too simple” (Bott 1971: 122; Eigene Hervorhebung).
Darüber hinaus gibt es jedoch verschiedene Faktoren, die diese Variabilität und Wahlfreiheit eingrenzen und formen (vgl. Bott 1971: 118). Entsprechend dem Modell von Bott (1957) ist das verwandtschaftliche Handeln ein komplexes Resultat verschiedener Einflussfaktoren, die voneinander abhängig sind und interagieren. In der empirischen Realität operieren diese Faktoren simultan und beeinflussen das Verhalten gemeinsam, können aber auch untereinander in Konflikt geraten (vgl. Bott 1971: 123). Bott (1971: 122) nennt folgende Faktoren, die Einfluss auf das Verhalten gegenüber Verwandten haben:204 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Ökonomische Bindungen zwischen Verwandten Geographische Distanz und physische Zugänglichkeit von Verwandtschaft Art der genealogischen Beziehung Verbindungen innerhalb des Verwandtschaftsnetzwerkes Präsenz und Sympathien der „connecting relatives“ Wahrgenommene Ähnlichkeiten und Unterschiede im sozialen Status zwischen Verwandten Idiosynkratische Kombination von bewussten und unbewussten Bedürfnissen und Einstellungen
Die hier vorgestellten sieben Einflussgrößen gehören unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen an. Bott (1971: 123) klassifiziert 1) und 2) als ökologische Faktoren, 3) und 4) 204
Bott (1971: 123) erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit ihrer Liste und betont, dass kein Faktor bedeutender ist als ein anderer.
106
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
als soziologische Faktoren, 5) und 6) als sozialpsychologische Faktoren und 7) als psychologischen Faktor. Im Folgenden werden nun die einzelnen Determinanten näher erläutert. In der industriellen Gesellschaft sind Verwandte für die Kernfamilie – in Übereinstimmung mit der Isolationsthese von Parsons (vgl. Kapitel 2.3.2) – für den alltäglichen Lebensunterhalt nicht bedeutend, da jeder Haushalt ökonomisch unabhängig ist und nur noch geringe soziale Verpflichtungen gegenüber den Verwandten bestehen. Je größer jedoch die ökonomischen Verflechtungen sind (z.B. gemeinsames Geschäft, Unternehmen, Eigentum, Erbe), desto größer ist die verwandtschaftliche Bindung (vgl. Bott 1971: 124). In der konkreten Situation könnte diese Verflechtung so aussehen, dass Verwandte beispielsweise in einem Familienunternehmen angestellt sind. Weitere Aspekte der Verknüpfung zwischen Kernfamilie und Verwandtschaft sind Hilfen bei der Arbeits- und Haussuche bzw. Bereitstellung einer Unterkunft (vgl. Bott 1971: 124f.). Der zweite Faktor bezieht sich auf die geographische Distanz. Die physische Zugänglichkeit von Verwandten ist eine wichtige Determinante der Kontakthäufigkeit, die sich insbesondere auf den face-to-face-Kontakt auswirkt. Dennoch determiniert die physische Zugänglichkeit nicht die Qualität der Beziehung und bewirkt automatisch eine affektive Nähe und Intimität (vgl. Bott 1971: 128). Die moderne Gesellschaft ermöglicht zudem mit ihren Kommunikations- und Transportmitteln die Aufrechterhaltung von Sozialbeziehungen über geographische Distanzen hinweg (vgl. auch Litwak, Szelenyi 1969). Unter den dritten Punkt fallen zwei Themenbereiche: zum einen das genealogische Wissen über Verwandte und zum anderen die Bedeutung der genealogischen Verbindung für die Intimität der Beziehung. Entsprechend der genealogischen Bindung ist eine Rangordnung an Intimität festzustellen, die die Eltern anführen. Danach folgen Geschwister, Onkel/Tanten und Cousins/Cousinen. Frauen übernehmen eine wichtige Rolle in der Aufrechterhaltung von Verwandtschaftsbeziehungen, was u.a. in der starken Mutter-TochterBindung begründet liegt. Dies äußert sich in einer höheren Kontakthäufigkeit und emotionalen Bindung an Verwandte der matrilinearen Abstammungslinie (vgl. Bott 1971: 128ff.).205 Die einzelnen (Kernfamilien-)Haushalte in einem Verwandtschaftsnetzwerk sind ökonomisch und finanziell voneinander unabhängig und nur durch einzelne Individuen miteinander verbunden. Die Verbindungen von Verwandten stellen ein Netzwerk dar, von denen sich einige kennen, andere jedoch unbekannt sind. Sie sind keine organisierte soziale Gruppe. Zu einigen Mitgliedern besteht Kontakt, zu anderen wiederum nicht (vgl. Bott 1971: 132). Gegenseitiger häufiger Kontakt – so wird vermutet – übt zwischen Verwandten einen konsistenten und kollektiven Druck aus, Verpflichtungen gegenüber der Verwandtschaft aufrechtzuerhalten. Sind kaum Kontakte vorhanden, so bleibt die soziale Kontrolle fragmentarisch, partiell und inkonsistent (vgl. Bott 1971: 133). Determinanten der Verbundenheit eines Verwandtschaftsnetzwerkes sind nach Bott (1971: 136ff.) die Existenz eines kinkeeper, deren Rolle insbesondere von der Arbeitsteilung der ehelichen Dyade bestimmt wird (Kapitel 1.6), geographische Distanz und Statusgleichheit im Beruf. Es wird vermutet: Je geringer die räumliche Distanz zwischen Verwandten und je homogener ihr Berufsstatus, desto höher ist die verwandtschaftliche Verbundenheit. Die fünfte Determinante führt einen neuen Begriff ein: connecting relative (Brückenperson). Innerhalb einer sozialen Gruppe wäre diese Person der/die Gruppenführer/-in (vgl. Bott 1971: 143). Verwandte sind miteinander sozial verbunden, wobei manche Beziehun205
Bott (1971: 132) weist darauf hin, dass der Typ der genealogischen Verbindung nicht als isolierter Faktor gesehen werden kann und nicht generell das Verhalten gegenüber Verwandten erklärt.
3.1 Zum Stand der Theoriebildung
107
gen direkt aufeinander bezogen sind, andere jedoch indirekt über „intervenierende“ Verwandte erfolgen.206 So sieht ein Individuum Onkel und Tante, weil diese die Eltern besuchen oder man hat Kontakt zur Cousine, weil man die Tante besucht (vgl. Bott 1971: 139f.). Personen, die die Funktion eines „connecting relative“ übernehmen, sind hauptsächlich Eltern (Mütter), Großeltern und vereinzelt Tanten (vgl. Bott 1971: 140). Sie kontrollieren und dirigieren die Aktivitäten und sozialen Beziehungen zwischen Verwandten. Diese Rolle ist nicht sozial definiert, relativ offen, nicht verpflichtend und nur geringfügig sanktionierbar. Innerhalb der Grenzen von ökonomischen Bindungen und der geographischen Entfernung können persönliche Sympathien und Antipathien nicht nur von Seiten egos die Beziehung beeinflussen, auch die Präferenzen der „connecting relatives“ bestimmen, zu welchen Verwandten Kontakte bestehen (vgl. Bott 1971: 143). Ähnlichkeiten und Unterschiede im sozialen Status werden von Bott (1971: 143) als generelle Basis für „likes and dislikes“ von Verwandten angesehen. Wahrgenommene Statusunterschiede beeinflussen mit größerer Wahrscheinlichkeit die Beziehungen zur entfernten Verwandtschaft und haben nur einen geringen Einfluss auf die Beziehungen zu nahen Verwandten (z.B. Eltern).207 Der letzte Faktor erfasst bewusste und unbewusste psychologische Mechanismen, die die Einstellungen gegenüber Verwandten beeinflussen. Persönliche Vorlieben und Abneigungen entscheiden – als unabhängige Faktoren – über die Aufrechterhaltung einer persönlichen Beziehung oder determinieren die Wahl, mit welchen Verwandten überhaupt Beziehungen gepflegt werden. Dies gilt vor allem für das moderne bilineare Verwandtschaftssystem, während andere kulturelle Verwandtschaftssysteme Beziehungen institutionell vorschreiben und keine Wahlmöglichkeiten erlauben (vgl. Bott 1971: 148f.). Ein unbewusster Mechanismus liegt jedoch in der Verwandtschaftsbeziehung selbst begründet: Das einzigartige Merkmal Dauerhaftigkeit grenzt Verwandtschaftsbeziehungen von anderen Sozialbeziehungen (z.B. Freundschaften) ab: „The implicit assumption appears to be that relatives are in some way parts of oneself and one is part of them, even if one had never seen them. One can break off a friendship but one cannot break off a ‚blood’ relationship. Contact with a relative may be stopped, but in a sense the relationship is still there, something is still shared. Relatives are links with past and the future. They give a feeling of continuity. One must die oneself, but one´s family, in the broadest sense, goes on” (Bott 1971: 149).
Ein zusätzlicher Faktor, der den Kontakt mit Verwandten beeinflusst, ist die Stellung des Individuums bzw. der Familie im Lebenszyklus. Bott (1971: 156f.) weist auf die Veränderung der Bedeutung und Intensität der Kontakte mit Verwandten im Verlauf des Lebens hin. Verwandtschaftsbeziehungen sind in der Kindheit oft am intensivsten, in der Adoleszenz und dem frühen Erwachsensein werden sie reduziert und dann, wenn beispielsweise eine eigene Familie und Kinder vorhanden sind, wieder erneuert. Eine mögliche Determinante für die unterschiedliche Bedeutung von Verwandten im Lebenszyklus ist somit die Existenz einer eigenen Familie. Bott (1971: 157) unterstellt verschiedene Wirkungszusam206 207
Firth, Djamour (1956: 39) bezeichnen diese Verwandte als „pivotal kin“. Auch bezüglich dieses Faktors muss man kritisch darauf hinweisen, dass die Angabe einer Erklärung fehlt, aus welchen Gründen ein wahrgenommener Statusunterschied insbesondere die Beziehung zu entfernten Verwandten beeinflusst und vor allem wie diese Beziehung (positiv oder negativ) beeinflusst wird. An dieser Stelle muss die Richtung des Einflusses des Statusunterschiedes genauer expliziert werden. Zudem fehlt eine theoretische Fundierung des unterstellten negativen Zusammenhangs.
108
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
menhänge. Zum einen ist eine Erneuerung von unterbrochenen Verwandtschaftsbeziehungen denkbar. Auf der anderen Seite wird darauf hingewiesen, dass sich die Existenz von Kindern auf die Ressource Zeit auswirkt, sie knapp werden lässt und dementsprechend ein negativer Zusammenhang mit der Kontakthäufigkeit unterstellt werden kann. Die verwandtschaftlichen Beziehungen durchleben somit verschiedene Phasen von Ausweitung und Rückzug im Zuge der Entwicklung des Individuums bzw. der Familie. Bott (1971: 142) spricht in diesem Zusammenhang einen weiteren interessanten Aspekt an: die Prägung der verwandtschaftlichen Beziehungen durch Erfahrungen in der Kindheit, die sich positiv auf die gegenwärtigen und zukünftigen Kontakte mit diesen Verwandten auswirken können. Als weitere Determinanten werden die religiöse und ethnische Zugehörigkeit und die Haushaltszusammensetzung der Verwandten (Erhöhung der Kontaktchancen) genannt (vgl. Bott 1971: 157). Bott liefert somit einen ersten und wichtigen Beitrag zur Erklärung verwandtschaftlichen Handelns. Das von ihr vorgestellte Modell hat explorativen Charakter und damit heuristischen Wert und beschreibt detailliert potentielle Determinanten, die jedoch empirisch sowie theoretisch nicht fundiert sind. Die Wahl von Verwandten wird durch die Kontakthäufigkeit und den Grad der affektiven Bindung operationalisiert. Zu Beginn der Ausführungen spricht Bott (1971: 122) von einem allgemeinen Verhalten gegenüber Verwandten („behaviour towards kin“), das später in a) Kontakthäufigkeit und b) Intimität zwischen Verwandten als abhängige Variablen differenziert wird.208 Kritisch muss festgehalten werden, dass von ihr keine konkreten Hypothesen und theoretische Erklärungen über die positiven oder negativen Wirkungen der genannten sieben Einflussfaktoren formuliert werden. Bott liefert somit kein integriertes Gesamtmodell zur Erklärung verwandtschaftlichen Handelns. Die Faktoren repräsentieren zu einem großen Teil soziodemographische Variablen, die im Zusammenhang mit der Variation des Verwandtschaftshandelns diskutiert werden. Bott weist zwar darauf hin, dass die von ihr genannten Faktoren interagieren und voneinander abhängig sind, aber eine theoretische Fundierung der Zusammenhänge erfolgt nicht. 3.1.2 Ansätze auf Grundlage von Austauschtheorie und Rational-Choice-Theorie209 In diesem Kapitel werden die theoretischen Ansätze zusammenfassend dargestellt, die auf der Austauschtheorie und Rational-Choice-Theorie basieren.210 Das choice-constraintModell von Fischer (1977) bildet die Grundlage für eine Vielzahl von Netzwerkstudien. 208
209
210
Zwischen diesen Variablen können unterschiedliche Zusammenhänge existieren: Beide Variablen können voneinander abhängig sein. Dies würde bedeuten, dass häufige Kontakte Intimität bewirken können. Aber auch das Gegenteil kann der Fall sein, so ist eine hohe Intimität zwischen Verwandten auch bei wenigen Kontakten denkbar. An dieser Stelle fehlen theoretische Aussagen über den Zusammenhang dieser unterschiedlichen Dimensionen einer Verwandtschaftsbeziehung. Ausführlicher zu den theoretischen Grundlagen der Austauschtheorie und Rational-Choice-Theorie vgl. Kapitel 4.1.1. Die Ökonomische Theorie zur Erklärung menschlichen Handelns muss ebenfalls an dieser Stelle genannt werden. Die Theorie der sozialen Wechselwirkungen (Becker 1993: 282ff.) bezieht sich explizit auf die Beziehungen zwischen Familienmitgliedern (Zweipersonenfamilie), erhebt jedoch darüber hinaus den Anspruch, auf größere Familien übertragbar zu sein (Großeltern, Eltern, Kinder, Onkel, Tanten und andere Verwandte eingeschlossen) (vgl. Becker 1993: 297). Das gesamte soziale Einkommen der Familie ergibt sich aus der Summe des Eigeneinkommens und dem monetären Wert, den die soziale Umwelt der Personen für sie hat (vgl. Becker 1993: 282f.). Der Ansatz wird an dieser Stelle nicht weiter verfolgt.
3.1 Zum Stand der Theoriebildung
109
Einen wichtigen Beitrag liefert darüber hinaus van der Poel (1993), der die Wahl von „anderen“ Verwandten in das persönliche Netzwerk mit Hilfe der Rational-Choice-Theorie erklärt. Zusätzliche Erkenntnisse liefern in diesem Zusammenhang Theorien, die Freundschaftswahlen und im Speziellen die Wahl von Verwandten als Freundinnen und Freunde erklären (Adams 1967a; Jackson 1977; Jackson u.a. 1977; Verbrugge 1979; Feld 1981, 1984). Diese Ansätze werden berücksichtigt, da Freundschaften Parallelen mit Familienund Verwandtschaftsbeziehungen aufweisen (vgl. Kapitel 1.3). 3.1.2.1 Choice-Constraint-Modell Betrachtet man Studien zur Größe und Zusammensetzung von Netzwerken, so sind in diesem Bereich theoretische Ansätze zur Erklärung der Wahl von persönlichen Beziehungen erkennbar.211 Netzwerkstudien differenzieren jedoch nicht zwischen unterschiedlichen Verwandtentypen, so dass keine differenzierte Analyse der entfernten Verwandtschaft erfolgen kann. Im Vordergrund der Studien steht die Analyse der Anzahl und des Anteils von Verwandten (als Globalkategorie), Freunden/Freundinnen und anderen Sozialbeziehungen, die zum persönlichen Netzwerk gezählt werden. Netzwerkstudien erfassen somit – je nach Verwendung des Netzwerkgenerators – eine Teilmenge der subjektiven Verwandtschaft, zu denen starke emotionale, gesellige oder instrumentelle Beziehungen bestehen. Theoretischer Hintergrund der Netzwerkstudien ist das choice-constraint-Modell von Fischer (1977), das die Wahl von persönlichen Beziehungen erklärt.212 Die handlungstheoretischen Grundlagen sind nach Fischer (1977: 3) die Rational-Choice-Theorie (Coleman), Austauschtheorie (Thibaut und Kelley, Homans) und Ökonomische Theorie (Becker). Individuen wählen demnach aus unterschiedlichen Optionen, die die Gesellschaft und ihr soziales Milieu für sie bereitstellen. Gleichzeitig lernen sie von der Gesellschaft über Kosten und Nutzen der jeweiligen Alternativen. Vor diesem Hintergrund wird das Individuum betrachtet, seine Wünsche und Wahlhandlungen, die durch physische und soziale Zwänge strukturiert sind. Mit folgender Kernaussage von Fischer (1977) kann diese Position verdeutlicht werden: „This perspective, which we labeled a ‚choice-constraint’-model, views human behavior, including the formation and maintenance of social relations, as choices made within limited alternatives and limited resources. Individuals´ choices vary with both their preferences and their options” (Fischer 1977: 2f.; Hervorhebung im Original).
Strukturierte Wahlen innerhalb von begrenzten Alternativen und Ressourcen erklären das Entstehen von sozialen Beziehungen. Die Wahl von persönlichen Beziehungen (und somit auch von Verwandten) ist durch individuelle Präferenzen, jedoch auch durch unterschiedliche Opportunitäten, Zwänge und Restriktionen bestimmt.213 In der empirischen Analyse überwiegt jedoch die Beschreibung der soziodemographischen Korrelate der Wahl von Verwandten vs. Nicht-Verwandten in das persönliche Netzwerk. So dominiert in den zumeist deskriptiven Netzwerkstudien (vgl. exemplarisch Die211 212 213
Ausführlicher zu den empirischen Ergebnissen vgl. Kapitel 3.2.1.1.3.3 und 3.2.2.4.1. Vgl. dazu auch Franz (1986). Vgl. hierzu die Opportunitätentheorie von Blau (1994) (Kapitel 4.2).
110
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
wald 1991; Fischer 1982a; Marbach 1989214; Marsden 1987) die „Lebenslage“ als Determinante des Netzwerks- und Unterstützungsverhaltens und die mit ihr verbundenen Opportunitäten, Ressourcen und Zwänge (vgl. Diewald 1991: 112). Die jeweilige Ausgestaltung des Netzwerkes (z.B. der Anteil von Verwandten) ist von der individuellen Lebenslage abhängig (vgl. Diewald 1991: 88). Unter Lebenslage werden verschiedene soziodemographische Merkmale erfasst: Geschlecht, Alter, Stellung im Lebenszyklus, Erwerbsstatus, Einkommens- und Bildungsstatus, soziale Schicht und Stadt-/Land-Unterschiede (vgl. Diewald 1991: 113ff.). Sie definieren unterschiedliche Einschränkungen, Belastungen und Chancen für den Aufbau von verwandtschaftlichen Beziehungen bzw. für verwandtschaftliche Unterstützung (vgl. Diewald 1991: 88). „Diese können den Bedarf an bestimmten Formen der sozialen Unterstützung erhöhen (z.B. Pflegehilfe bei dauerhaften Behinderungen oder motivationale Unterstützung bei beruflicher Erfolglosigkeit); oder sie können das Angewiesensein auf soziale Unterstützung verringern (ein Arbeitsplatz kann durch gute Ausbildung oder durch gute Beziehungen erreicht werden, (…); oder sie können für die Aufrechterhaltung von informellen Beziehungen hilfreich sein (freie Zeit und finanzielle Ressourcen zur Überbrückung größerer Entfernungen)“ (Diewald 1991: 88f.).
Im Kontext der Netzwerkstudien lassen sich austauschtheoretische Konstrukte – wie die Berücksichtigung von Kosten und Nutzen von Interaktionen (z.B. Marbach 1989)215 und Alternativen bzw. Opportunitäten (z.B. Fischer 1982a) – finden. Sie werden jedoch nicht explizit formuliert und zusammenfassend in ein theoretisches Modell integriert. Zudem erfolgen die theoretischen Erklärungen erst im Nachhinein, d.h. sie werden als potentielle Erklärungen für einen deskriptiven, empirischen Zusammenhang ex-post formuliert. Eine hypothesengeleitete empirische Überprüfung erfolgt jedoch nicht (vgl. dazu auch Kapitel 3.3). Im Vordergrund der Studien steht vor allem die Analyse der geographischen Distanz als zentraler Kostenfaktor für verwandtschaftliche Kontakte. Insbesondere Klatzky (1971) analysiert den Zusammenhang zwischen geographischer Distanz und Kontakten zu unterschiedlichen nahen und entfernten Verwandten.216 Die Autorin führt ein neues Analysekon214
215
216
Marbach (1989: 120) weist in seiner Studie auf einen zentralen Aspekt hin, der dem Konzept der subjektiven Verwandtschaft entspricht: Gelegenheiten und Wahlhandlungen erklären die Wahl von Netzwerkmitgliedern. Diese Gelegenheiten sind dabei größtenteils gesellschaftlich vorgegeben, während Wahlhandlungen von persönlichen Vorlieben gesteuert werden. Dieses Wahlverhalten gilt darüber hinaus auch für die Beziehungen zu Verwandten, denn eine Wahlhandlung entscheidet auch bei dieser Personengruppe, ob entweder aus einer vorhandenen Gelegenheit ein Kontaktverhältnis wird oder das Kontaktangebot einer verwandten Person nicht angenommen wird (vgl. Marbach 1989: 113). Marbach (1989: 113) spricht von einer „aktiven Ausschöpfung“ der Kontaktgelegenheiten von Verwandten. Marbach (1989) formuliert dabei Thesen zur Erklärung der Größe bzw. Zusammensetzung des persönlichen Netzwerks unter besonderer Berücksichtigung von Kosten- und Nutzenaspekten von Netzwerkbeziehungen. Es wird dabei von einer grundsätzlichen Wahlentscheidung der Individuen ausgegangen. Folgende Annahmen werden u.a. aufgestellt: Umfangreiche Netzwerke privater Helfer können sich nur Personen leisten, die über genügend eigene Hilfsquellen verfügen, um Geben und Nehmen (im Sinne der Reziprozitätsnorm) auch gegenüber vielen Helfern in Balance zu halten (vgl. Marbach 1989: 99). „Je weniger wirtschaftliche und soziale Mittel jemand besitzt, desto mehr ist er oder sie darauf angewiesen, sich Unterstützung kostenlos oder auf kostensparendem Weg zu beschaffen“ (Marbach 1989: 101). Als weiteren Aspekt wird der Auswahlmechanismus bei der Rekrutierung von Netzwerkmitgliedern angesprochen. Entscheidend für die Wahl eines Netzwerkmitgliedes sind Homogenitätskriterien wie Alter, Geschlecht, Bildung, Erfahrung, Interessen u.a., da diese Personen am ehesten Rückhalt und Bestätigung bieten (vgl. Marbach 1989: 113). Klatzky (1971: 70) fasst darüber hinaus Aussagen anderer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bezüglich einer Nicht-Zufälligkeit von Verwandtschaftskontakten in ihrer „Theorie der Interdependenz“ von Ver-
111
3.1 Zum Stand der Theoriebildung
zept ein – das Konzept der Elastizität von Verwandtschaftsbeziehungen.217 Geographische Distanz ist ein Kostenfaktor für verwandtschaftliche Interaktionen und dementsprechend nimmt die Nachfrage nach Kontakten mit zunehmender Wohnentfernung ab. Dabei werden zwei gegensätzliche Hypothesen aufgestellt. Die erste nimmt Bezug auf die Möglichkeit der Existenz von Substituten bzw. funktionalen Äquivalenten: Je mehr funktionale Äquivalente es für einen face-to-face-Kontakt gibt, desto größer ist die Elastizität von Kontakten, da das funktionale Äquivalent als Substitut eingesetzt werden kann (vgl. Klatzky 1971: 16f.). Darüber hinaus gibt es Überlegungen zu den Auswirkungen eines normativen Systems, das die Kosten der geographischen Distanz relativieren kann. Klatzky (1971: 18) bezeichnet diese „Verrechnung“ von normativen Verpflichtungen und Kosten der geographischen Distanz als rationale Entscheidung. Die Studie von van der Poel (1993) thematisiert die Zusammensetzung und Größe der persönlichen Netzwerke. Zentrale Frage ist: Warum wählen einige Personen mehr Verwandte in ihr persönliches Netzwerk als andere? Die Zusammensetzung und Größe der persönlichen Netzwerke (als abhängige Variable) werden mit Hilfe der Rational-ChoiceTheorie erklärt, die die Wahl einer Bezugsperson aufgrund von Kosten- und Nutzenerwägungen der Individuen erklärt. Abbildung 3 verdeutlicht den Rational-Choice-Ansatz. constraints
sozio-structural characteristics
personal network
costs
benefits
Abbildung 3:
Rational-Choice-Ansatz zur Erklärung der persönlichen Netzwerke (van der Poel 1993)
Die Theorie der rationalen Wahl besagt, dass Individuen – nach Abwägung von Kosten und Nutzen von möglichen alternativen persönlichen Beziehungen – die Alternative mit dem maximalen Gewinn auswählen (vgl. van der Poel 1993: 6). Für potentielle Kandidatinnen und Kandidaten gibt es zwei Möglichkeiten: die Beziehung wird hergestellt und damit
217
wandtschaftsbeziehungen zusammen. Sie bezieht sich dabei u.a. auf den Einfluss von „connecting relatives“ für die Erklärung von verwandtschaftlichen Kontakten (Bott 1971). Unter dem mikroökonomischen Begriff der Elastizität versteht man das Verhältnis der relativen Veränderung einer abhängigen Variablen a zur relativen Veränderung einer unabhängigen Variable b (vgl. Diederichs 1996: 15).
112
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
gewählt oder nicht (vgl. van der Poel 1993: 26). Zum ersten Mal werden die Annahmen der Rational-Choice-Theorie auf die Erklärung verwandtschaftlichen Handelns übertragen, speziell auf die Erklärung der Inklusion von Verwandten in das persönliche Netzwerk. Im Vordergrund der Betrachtung steht der Personenkreis der „anderen“ Verwandten, d.h. ausgeschlossen werden Eltern, Kinder, Geschwister und die Affinalverwandtschaft. Sozialstrukturelle Charakteristiken bilden den Ausgangspunkt des Modells. Hierzu zählen Geschlecht, Alter, Familienstand, soziale Klasse, Bildung, Wohnortgröße (vgl. van der Poel 1993: 7). Unter Kosten von sozialen Beziehungen fallen verschiedene Aspekte, die die Entwicklung und Aufrechterhaltung einer persönlichen Beziehung hemmen. Die Kosten steigen allgemein (vgl. van der Poel 1993: 33): a.
je geringer die Kontaktmöglichkeiten mit dieser Person sind.
H1: „The smaller the contact opportunities, the higher the costs of developing and maintaining personal relationships, which increases the chance that such relationship is not established or that it is ended” (van der Poel 1993: 31). b.
je größer die geographische Entfernung zu dieser Person ist.
H2: „The longer the travel distance, the higher the costs of developing and maintaining personal relationships, which increases the chance that such relationship is not established or that it is ended” (van der Poel 1993: 32). c.
je kürzer der Zeitraum ist, den man diese Person kennt.218
H3: „The shorter the period one has known a person, the higher the costs of developing and maintaining personal relationships, which increases the chance that such relationship is not established or that it is ended” (van der Poel 1993: 32). Der Nutzen einer persönlichen Beziehung steigt allgemein (vgl. van der Poel 1993: 35): d.
je kleiner das Netzwerk egos ist.219
H4: „The larger the number of personal relationships, the lower the benefits derived from additional personal relationships, which increases the chance that no new relationships are established” (van der Poel 1993: 34). e.
je stärker die Orientierung „self-disclosure“ bei ego ausgeprägt ist.220
218
Der Zeitraum, den man eine Person kennt, wird als Investition in die Beziehung betrachtet (vgl. dazu ausführlicher Kapitel 4.3). Dies entspricht dem Prinzip des abnehmenden Grenznutzens in der Ökonomie. Es besagt, dass mit zunehmender Konsummenge der Nutzenzuwachs abnimmt. Der Nutzen, den man von einer zusätzlichen persönlichen Beziehung hat, fällt umso geringer aus, je größer die Anzahl der bereits existierenden Beziehungen ist (vgl. van der Poel 1993: 34). Darunter versteht man den Wunsch, mit anderen emotional involviert zu sein (vgl. van der Poel 1993: 34).
219
220
3.1 Zum Stand der Theoriebildung
113
H5: „The people are oriented toward self-disclosure, the more benefits derive from additional personal relationships, the more personal relationships they have” (van der Poel 1993: 34). f.
je größer die Wichtigkeit für ego ist, die mit dieser Art von Beziehung verbunden ist (Rollenorientierung: Familie vs. Freundschaft).221
H6: „The more importance people attach to personal relationships with representatives of a particular role category, the more benefits they derive from those relationships, the more likely are those relationships developed and maintained" (van der Poel 1993: 35). Van der Poel (1993: 115f.) formuliert folgende Hypothesen speziell über die Determinanten der Inklusion von „anderen“ Verwandten in das persönliche Netzwerk. Die Hypothesen integrieren die zuvor formulierten Kosten und Nutzen der Aufrechterhaltung einer persönlichen Beziehung und beziehen sich ausschließlich auf die Wahl von entfernten Verwandten.
Hypothese 1: „The farther away one´s other kin lives, the less other kin are included in the personal network” (geographische Entfernung). Hypothese 2: „The larger the personal network (other kin excluded), the less other kin are included in it” (Größe des Gesamtnetzwerkes). Hypothese 3: „The more people are oriented to self-disclosure, the more other kin they include in their personal networks” (Intensität „self-disclosure“). Hypothese 4: „The more people think that kin support is natural, the more other kin they include in their personal networks“ (Verpflichtungen gegenüber Verwandten).
Die ersten zwei Hypothesen beziehen sich auf strukturelle Determinanten der Beziehung (Opportunitäten/Restriktionen und Kosten), die letzten zwei Hypothesen thematisieren den Einfluss von individuellen, psychologischen Determinanten und sind im Einstellungsbereich verankert. Schwächere Normen und Verpflichtungen sind charakteristisch für die Beziehungen zur entfernten Verwandtschaft. Die Aufrechterhaltung der Beziehungen ist somit stärker von der geographischen Nähe abhängig, da u.a. auch die Kosten bei Beendigung der Beziehung (wie moralische und soziale Missbilligung) im Vergleich zur Kernfamilie geringer ausfallen (vgl. van der Poel 1993: 33). 3.1.2.2 Theorien der Freundschaftswahl „Die soziologische Deutung der Bildung von Freundschaften erinnert – mindestens auf den ersten Blick – an eine für Soziologen oft befremdliche Erklärungsweise: Freundschaften seien das Resultat von Kosten-Nutzen-Vergleichen (jedenfalls in einem weiten Sinne der Bedeutung von Kosten und Nutzen)“ (Esser 1991: 780).
221
Individuen erhalten höhere Belohnungen von Beziehungen mit Freundinnen oder Freunden, während für andere verwandtschaftliche Beziehungen einen höheren Belohnungswert haben (vgl. van der Poel 1993: 35).
114
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
In diesem Kontext sind Theorien der Freundschaftswahl von Erwachsenen zu nennen, die u.a. auch die Wahl von Verwandten als Freundinnen und Freunde erklären (Adams 1967a; Jackson 1977; Jackson u.a. 1977; Verbrugge 1979; Feld 1981, 1984).222 Adams (1967a) formuliert eine „Theorie der Anziehungskraft in sozialen Netzwerken“ und geht dabei ausführlich auf Unterschiede, Gemeinsamkeiten und die Möglichkeit der Überlappung dieser Beziehungen ein (vgl. Adams 1967a: 67). Die Forschungsfrage lautet: „In urban, industrial society who interacts with whom and why?“ (Adams 1967a: 64). Den theoretischen Hintergrund bilden die Arbeiten von Homans (1960, 1968), Bates, Babchuk (1961) und Newcomb (1961) (vgl. Adams 1967a: 65). Inhaltlich geht es um die Unterscheidung zwischen zwei Ursachenbündeln, die für Interaktionen in sozialen Netzwerken verantwortlich sind. Zum einen sind das verpflichtende und zwanghafte Elemente von sozialen Beziehungen: „Obligation, or the reciprocity-responsibility norm, is thus an additional factor which is of value in understanding the social network“ (Adams 1967a: 66).
Auf der anderen Seite sind es die Determinanten „affection“ und „consensus“, die mit Sympathie assoziiert sind und die Wahl von persönlichen Beziehungen determinieren (vgl. Adams 1967a: 66). Auf dieser grundlegenden Unterscheidung aufbauend, differenziert Adams in seinen weiteren Aussagen zwischen „consensus“ und „positive concern“. Zum 222
Vgl. auch Esser (1991). Thematischer Hintergrund ist die Erklärung der ethnischen Zusammensetzung der Freundschaftsnetzwerke von türkischen und jugoslawischen Arbeitsmigranten. Eine ökonomische Modellierung der Freundschaftswahl liegt aus zwei Gründen nahe. Zum einen sind Freundschaften das Resultat von Entscheidungen, zum anderen berücksichtigt ein ökonomisches Modell die begrenzten Ressourcen, vor der jede Wahlhandlung stattfindet. Eine Entscheidung ist die Verteilung von knappen Mitteln (Einkommen) auf Alternativen (z.B. unterschiedliche soziale Beziehungen). Betrachtet wird dabei der Beginn der Freundschaft, d.h. die Anfangsbeziehung. Außer acht bleibt der Prozess der Formation und Synchronisierung der Freundschaft (vgl. Esser 1991: 781). Entscheidend ist an dieser Stelle, dass Beziehungen wechselseitig als belohnend oder zufriedenstellend erlebt werden müssen, erst dann wird die Anfangsbeziehung vertieft. Dieser Aspekt wird von der Equity-Theorie (Walster u.a. 1973, 1977) hervorgehoben, die als zentrales Konstrukt den psychologischen Zustand der Un- bzw. Ausgewogenheit innerhalb der Beziehung beinhaltet. Dabei gilt, dass die Equity-Prinzipien in allen Sozialbeziehungen nachweisbar sind. Sie gelten somit in oberflächlichen und intimen Sozialbeziehungen (vgl. Walster u.a. 1977: 200). In diesem Kontext ist ebenfalls die Stimulus-Werthaltungs-Rollentheorie (SVR-Theorie) von Murstein (1976, 1977) zu erwähnen. Es ist eine Theorie der dyadischen Kompatibilität, die in ihrer Anwendung nicht nur auf Ehepartner/-innen beschränkt bleibt, sondern auch auf Freundschaften übertragbar ist. Sie geht von dem klassischen austauschtheoretischen Ansatz aus, in der die Attraktivität einer Beziehung in einer relativ freien Wahlsituation vom Tauschwert der Vorzüge und Nachteile abhängt, die jeder Partner in die Beziehung einbringt. Es sind drei Variablen, die den Verlauf der (romantischen) Beziehung beeinflussen: 1) Stimulus, 2) Werterhaltungsvergleich und 3) Rolle (vgl. Murstein 1977: 167). Im Stimulus-Stadium geht es allgemein um die Kontaktaufnahme. Entscheidende Determinanten des ersten Eindrucks sind insbesondere die Wahrnehmung anderer Personen (Stimuluswert: physische Attraktivität) und/oder Informationen über sie (vgl. Walster u.a. 1977: 173f.). Wenn das Paar in den Stimulusvariablen Ausgewogenheit erreicht, d.h. wenn die gewichtete Summe der Stimulusattribute jedes Einzelnen annähernd gleich ist, beginnt das zweite Stadium der Beziehung. Im Vordergrund des Stadiums des Werterhaltungsvergleichs steht die Sammlung von Informationen hinsichtlich Interessen, Einstellungen, Absichten und Bedürfnissen des anderen. Konsequenz ist, dass beide in diesem Stadium eine Vielzahl von öffentlichen und privaten Informationen über den anderen erhalten (vgl. Murstein 1977: 175ff.). In erfolgreichen Beziehungen wird ein Konsens über die für die Beziehung wichtigen Werthaltungen erreicht, gleichzeitig haben die Stimulusvariablen ein wenig an Bedeutung verloren. Im dritten Rollenstadium steht die Rollenkompatibilität im Vordergrund (vgl. Murstein 1977: 177f.). Für Freundschaften wird festgestellt, dass eine Ausgewogenheit u.a. in Bezug auf Werthaltungen besteht (vgl. Murstein 1977: 191, vgl. auch Murstein 1976).
3.1 Zum Stand der Theoriebildung
115
einen definiert er consensus als zentrale Komponente von Freundschaftsbeziehungen, während positive concern ein zentrales Moment von Verwandtschaftsbeziehungen ist. Die erste Hypothese lautet: „(…) 1) consensus is likely to be modal in friendship and positive concern in kinship relations” (Adams 1967a: 69).
Homogenität von Werten und Interessen sowie positive Gefühlshaltungen kennzeichnen die inneren Merkmale einer Freundschaft. „Positive concern“ hingegen wird assoziiert mit langfristigen Bindungen und andauerndem Interesse an der Beziehung – Faktoren, die sich zu einer positiven emotionalen „Kraft“ bzw. sozialen Notwendigkeit der Beziehung bündeln lassen. „Concern“ kann auch ein vages Gefühl implizieren, das verantwortlich ist, mit Verwandten Kontakt zu halten. „Consensus“ äußert sich auf der Verhaltensebene in Form von gemeinsamen Aktivitäten oder einer grundlegenden Ähnlichkeit hinsichtlich Einstellungen und Interessen (vgl. Adams 1967a: 66ff.). „The friend, then might be epitomized as the social companion, the kinsman as the object of continuing interest“ (Adams 1967a: 69).
Im Folgenden werden die weiteren vier Hypothesen von Adams vorgestellt, die für diese Arbeit von Interesse sind. Denn die Untersuchung von Adams endet nicht mit der Feststellung zweier unterschiedlicher, interner Komponenten von Freundschaft und Verwandtschaft, sondern der Autor weist auf die Möglichkeit des „cross-categorical overlap“ (Adams 1967a: 71) hin, d.h. der Möglichkeit der Überlappung der zwei Komponenten „concern“ und „consensus“. In der realen Welt eines sozialen Netzwerkes gibt diese klare Trennung der zwei Sozialbeziehungen nicht, auf die jeweils ganz verschiedene Eigenschaften zutreffen (vgl. Adams 1970: 591). Die Hypothesen lauten im Einzelnen: „(…) 2) in general interaction is likely to be desired with friends in preference to kin, due to the consensual component of friendship and the absence of strong obligatory feelings towards friends“ (Adams 1967a: 70). „(…) 3) positive concern is more likely to lead to relationship persistence than is consensus” (Adams 1967a: 70). „(…) 4) the relationship based upon positive concern is more likely than the consensual relationship to have as an element intimate communication” (Adams 1967a: 71). „(…) 5) the consensual and concern components of social relations demonstrate a substantial overlap between the various structural categories of individuals (…)” (Adams 1967a: 71).
So gibt es Freundschaften, die ein hohes Maß an „positiv concern“ zeigen und Verwandtschaftsbeziehungen, für die ein Konsens in Bezug auf Einstellungen, Werte und Interessen charakteristisch ist (vgl. Adams 1967a: 71). Zur Verdeutlichung gibt Adams (1967a: 76) folgendes Beispiel: „I don´t really think of John as my cousin; he is a good friend“ (Adams 1967a: 76). Wie kann man diesen Satz interpretieren? John ist nunmehr kein Objekt einer üblichen schwachen Beziehung mit einem tertiären Verwandten (ausgedrückt durch den Verwandtschaftsterm „Cousin“), sondern er teilt mit ego gemeinsame Aktivitäten und/oder vielleicht dessen Werte und Einstellungen. Aus den Befunden wird folgender Grundsatz für die (zukünftige) Erforschung von Verwandtschaftsbeziehungen abgeleitet, der darüber hinaus sehr gut die Intention dieser Arbeit erfasst:
116
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
„Awareness and utilization of cross-categorical similarities as well as differences may make possible a significant step forward in understanding the traditional kin-friend categories of the social network” (Adams 1967a: 76).
Ein weiteres Forschungsdefizit besteht in Bezug auf die Ursachen für „positive concern”, die wichtige Impulse für eine generelle Verwandtschaftsanalyse geben könnten. Wie kann die spezifische Bindung an Verwandte erklärt werden? Es werden Faktoren wie Präsenz in der Kindheit, Dankbarkeit für erhaltene Hilfen, Lebenskrisen, die gemeinsam erlebt wurden, der Familienname und geteilte Erfahrungen/Erinnerungen genannt, die jedoch nicht theoretisch erfasst werden. Zusätzlich sollten soziodemographische Determinanten (Geschlecht, soziale Klasse u.a.) in die Analyse aufgenommen werden, die für potentielle Variationen der verwandtschaftlichen Orientierung verantwortlich sind. Ein Beispiel hierfür ist die höhere Wahrscheinlichkeit von „kin primariness“ bei Frauen und die geringere Wahrscheinlichkeit für „consenual friends“ außerhalb des Verwandtschaftsnetzwerkes von Angehörigen der Arbeiterklasse (vgl. Adams 1967a: 77). An dieser Stelle ist auf die Differenzierung zwischen zwei zentralen Konstrukten hinzuweisen, die im Rahmen der Erklärung von Freundschaften diskutiert werden: mating und meeting (Lazarsfeld, Merton 1954). Während die Psychologie Freundschaftswahlen primär aufgrund gegenseitiger Attraktivität (mating) erklärt, liegt der Schwerpunkt der soziologischen Analyse auf der sozialen Struktur, in der die Freundschaftswahl eingebettet ist (meeting). In diesem Zusammenhang formuliert Jackson (1977) – in Abgrenzung zu den sozialpsychologischen Ansätzen – eine Theorie der Freundschaftswahl, die auf der Austauschtheorie basiert. Berücksichtigt werden direkte und indirekte Kosten, Opportunitätskosten, Belohnungen und Opportunitäten (Einschränkungen der sozialen Position und des existierenden sozialen Netzwerkes) (vgl. Jackson 1977: 60ff.).223 Eine Freundschaft entsteht auf der Grundlage einer Kosten-Nutzenabwägung (vgl. Jackson 1977: 62): „It requires that people meet and they participate in mutually rewarding interactions in which each receives a substantial ‚return’ for his or her ‚investment’” (Jackson 1977: 62). Zu den Kosten werden Opportunitätskosten, Energie und Zeit, die Beziehung aufrechtzuerhalten, sowie Konflikte gezählt. Der Nutzen einer Freundschaft wird in dem Austausch von immateriellen und materiellen Gütern gesehen (z.B. Rat, Unterstützung). Verbrugge (1979) formuliert ebenfalls eine Theorie der Freundschaftswahl, die auf austauschtheoretischen Prämissen gründet. Seine Forschungsfrage lautet: „Why do some adults choose their kin, neighbors, and coworkers as close friends?“ (Verbrugge 1979: 1288). Explanandum der Analyse ist die Multiplexität, d.h. die Überlappung von zwei oder mehr sozialen Beziehungen. Von besonderem Interesse für diese Arbeit ist die Multiplexität der Sozialbeziehungen „Verwandtschaft“ und „Freundschaft“. Gleichzeitig gelten zwei strukturelle Annahmen, die mit „repetition“ und „segregation“ bezeichnet werden. „Repetition“ bezeichnet die Tatsache, dass Personen, die Verwandte als Freundinnen und Freunde wählen, mit höherer Wahrscheinlichkeit auch weitere Verwandte als Freundinnen und Freunde wählen. „Segregation“ bezeichnet die Tatsache, dass nur wenige Personen persönliche Beziehungen haben, in denen sich zwei oder mehr Rollen überlappen (vgl. Verbrugge 1979: 1287). Dies wird auf die industrielle Gesellschaft zurückgeführt, die aufgrund von 223
Vgl. in diesem Zusammenhang auch Verbrugge (1977) und Jackson (1977), die die Bedeutung der Homogenität hinsichtlich Alter, Nationalität, Berufsstatus und Geschlecht für die Entstehung von Freundschaften analysieren.
3.1 Zum Stand der Theoriebildung
117
Mobilitätserfordernissen und Rollensegregation den Aufbau von hoch multiplexen Beziehungen erschwert. So ist es beispielsweise eher unwahrscheinlich, dass Verwandte der unmittelbaren Nachbarschaft angehören (vgl. Verbrugge 1979: 1296). Die Erklärung einer Freundschaftswahl erfolgt auf der Grundlage von Opportunitäten und Präferenzen. Dies ist eine Annahme, die dem „choice-constraint“-Modell von Fischer (1977) entspricht (Kapitel 3.1.2.1).224 „Which people become close friends in a population is influenced by contact opportunities and by preferences” (Verbrugge 1979: 1289; Hervorhebung im Original).
Die im Folgenden vorgestellten Einflussfaktoren gelten für die drei angesprochenen Personengruppen a) Verwandte, b) Nachbarn und c) Kollegen/Kolleginnen, ohne dass eine inhaltliche Differenzierung erfolgt und spezifische Hypothesen für die einzelnen Sozialbeziehungen aufgestellt werden. Es werden drei Faktoren genannt, die die Multiplexität fördern. Der erste Faktor bezieht sich dabei auf Kontaktopportunitäten, die anderen zwei auf individuelle Präferenzen (vgl. Verbrugge 1979: 1288f.): 1. 2. 3.
„frequent opportunities for contact“ „preference for the special similarities that kin (neighbors, coworkers) have with each other” „the desirability of diffuse and holistic ties”
Geographische Nähe erhöht allgemein die Gelegenheit für verwandtschaftliche Kontakte. Speziell mit Verwandten teilt man eine gemeinsame Familiengeschichte, Erfahrungen und Erinnerungen – Charakteristiken, die die besondere Stellung von Verwandten und ihre Attraktivität für eine Freundschaft ausmachen (vgl. Verbrugge 1979: 1288f.). Verwandtschaftsbeziehungen sind durch ein positives Interesse, Vertrauen und die Erwartung von gegenseitiger Hilfe, z.B. in Krisenzeiten, gekennzeichnet (vgl. Verbrugge 1979: 1289). Zur Erklärung der Wahl von Verwandten als Freundinnen und Freunde werden somit ökonomische und emotionale Bedürfnisse und die Wertschätzung von Familien- und Verwandtschaftsbindungen angeführt, die insbesondere bei Personen mit niedrigem sozioökonomischem Status und höherem Alter vermutet werden (vgl. Verbrugge 1979: 1302). In diesem Kontext muss die Fokustheorie von Feld (1981, 1984) angeführt werden, der eine Theorie der sozialen Organisation von Freundschaften aufstellt.225 Im Vordergrund seiner Argumentation steht somit nicht eine psychologische Erklärung von Freundschaftswahlen, sondern die Theorie „stresses the focused organization of the social context rather than similarities of individual characteristics“ (Feld 1981: 1019). Zentrale Annahme ist, dass sich soziale Beziehungen auf die Personen konzentrieren, mit denen man Foki teilt. Diese stellen relevante Aspekte der Sozialstruktur dar, innerhalb derer Individuen ihre sozialen Beziehungen organisieren (vgl. Feld 1981: 1016). „A focus is defined as a social, psychological, legal or physical entity around which joint activities are organized (…)“ (Feld 1981: 1016). 224
225
Es gibt keine Zufälle, die zur Entstehung von sozialen Beziehungen führen: „Randomness in social relationships means the absence of social structure“ (Verbrugge 1979: 1291). Vgl. auch Feld (1982).
118
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
Wegener (1987: 281) bezeichnet Foki als „Stoff“, aus dem sich soziale Beziehungen konstituieren, die damit die Substanz einer Bindung repräsentieren. Foki können allgemein Personen, Orte, soziale Positionen, Aktivitäten oder Gruppen sein, deren Größe variabel ist (vgl. Feld 1981: 1018f.). Zu den Foki gehören die Familie (und damit auch die Verwandtschaft) oder der Arbeitsplatz und damit allgemein Personen, Gruppen oder Orte, die zwei Personen teilen (vgl. Feld 1981: 1016ff.). Homogenität in Bezug auf individuelle Merkmale erklärt somit nicht ausschließlich die Wahl einer persönlichen Beziehung, sondern der gemeinsame Fokus erhöht die Wahrscheinlichkeit der Interaktion. Die Zusammensetzung eines persönlichen Netzwerkes hängt entscheidend von den Zwängen und der Größe der individuellen Foki ab (vgl. Feld 1981: 1019). Zwei Personen, die einen Fokus teilen, haben somit eine höhere Wahrscheinlichkeit miteinander verbunden zu sein.226 Je „zwingender“ ein Fokus ist, desto höher ist darüber hinaus die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Personen miteinander verbunden sind (vgl. Feld 1981: 1019). Der Zwang besteht darin, Zeit und Energie in die gemeinsame Interaktion zu investieren (vgl. Feld 1981: 1026). In diesem Zusammenhang bezeichnet die Dichte eines persönlichen Netzwerkes das Ausmaß der Verbundenheit der einzelnen Mitglieder untereinander. Unterhalten Individuen dagegen Beziehungen mit verschiedenen Foki, so ist die Wahrscheinlichkeit eines dichten Netzwerkes gering (vgl. Feld 1981: 1024).227 Feld (1984) vertieft die Analyse der Wahl von persönlichen Beziehungen für spezifische Hilfesituationen. Er spricht nicht explizit von Freundschaften, sondern benutzt den allgemeinen Begriff der „associate“, da dieser die Betrachtung einer größeren Vielfalt von Beziehungen ermöglicht (vgl. Feld 1984: 641).228 Zu Beginn seiner Ausführungen weist er darauf hin, dass nicht alleine Homogenitätsaspekte die Wahl von „associates“ erklären können. Der entscheidende Gesichtspunkt ist: „Associates are chosen from within structured social contexts, such as families, neighborhoods, workplaces, and voluntary organizations” (Feld 1984: 640; Eigene Hervorhebung). Jeder dieser Kontexte (oder Foki im Sinne von Feld (1981)) wird als eine „Quelle” von persönlichen Beziehungen angesehen, die unterschiedlichen Zwecken dienen können (z.B. langfristige Hilfen, Hilfe in Krisensituationen oder Notfällen).229 Kennzeichen dieser Kontexte ist weiterhin, dass sie Personen inkludieren, die ganz verschiedene Eigenschaften aufweisen (vgl. Feld 1984: 640f.). Die Homogenität von Familienmitgliedern bezieht sich vor allem auf die ethnische Herkunft und Religionszugehörigkeit, während sie in Bezug auf das Alter eher inhomogen sind. Nachbar226
227
228 229
In Anlehnung an Homans (1960) gilt: Je belohnender die soziale Interaktion ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass die beteiligten Personen positive Gefühle für einander empfinden (vgl. Feld 1981: 1025f.). Die Fokustheorie von Feld (1981) stellt den theoretischen Hintergrund der Netzwerkstudie von Pappi, Melbeck (1988) dar. Diese wenden die Fokustheorie auf die Problematik der mit der Gemeindegröße abnehmenden Dichte der Beziehungen im persönlichen Netzwerk an (vgl. Pappi, Melbeck 1988: 230). Sie formulieren dabei folgende Hypothesen: 1) „Wir nehmen an, daß die Gelegenheiten für Kontakte mit zunehmender Größe und Dichte einer Siedlung zunehmen. Die täglichen Interaktionen in einer Großstadt bringen eine Person mit mehr vorher unbekannten Personen zusammen, und jeder oberflächliche Kontakt führt mit einer gewissen, jedoch auch sehr geringen Wahrscheinlichkeit zu einer dauerhaften Beziehung. Insofern ist in Großstädten die Wahrscheinlichkeit für zunächst unfokussierte Verbindungen größer.“ 2) „Ein zweiter Grund für eine mögliche geringere Dichte der Beziehungen in Großstädten könnte in der größeren Segmentierung der verschiedenen Foki liegen. Räumliche Nähe und geringere Größe der Bevölkerung in kleineren Gemeinden vergrößern die Verträglichkeit verschiedener Foki. Kein Familienfest, von dem die Nachbarn nicht wissen, und keine größere Vereinsaktivität, an der nicht auch Mitglieder anderer Vereine teilnehmen“ (Pappi, Melbeck 1988: 230). engl.: Gefährte/Gefährtin; Partner/-in. Feld (1984: 642) bezeichnet einen Kontext auch als „focus of activity“.
3.1 Zum Stand der Theoriebildung
119
schaften konstituieren sich beispielsweise durch Personen, die sich im gleichen Lebenszyklus befinden und somit annähernd altershomogam sind. Kolleginnen und Kollegen sind homogen in Bezug auf den sozioökonomischen Status, Bildungsstatus und Alter (vgl. Feld 1984: 642). In Anlehnung an Fischer u.a. (1977) differenziert Feld (1984: 624f.) zwischen zwei Arten von persönlichen Beziehungen: 1) „relationships of commitment“ und 2) „relationships of convenience“. Erstere kennzeichnet eine Langzeitperspektive, Intimität, normative Regulierung und unregelmäßigen Kontakt. Dies gilt insbesondere für Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen. Die zweite Art von Beziehung hingegen ist kurzlebig, weniger intim und durch häufigen Kontakt gekennzeichnet. Sie gehören dem Kontext der Arbeitswelt und der Nachbarschaft an. Beide Arten von Beziehungen, die sich durch eine unterschiedliche Qualität auszeichnen, stehen in einem direkten Zusammenhang mit der Art der nachgefragten Hilfe (vgl. Feld 1984: 643). Der Zusammenhang kann folgendermaßen beschrieben werden: „Large uses require trust that is characteristic of particular foci; these foci may be described as normatively constraining, because norms governing the interactions in the focused activities require people to be helpful and trustworthy. Normatively constraining foci include mostly families, (…) (Feld 1984: 643).
Bei Familien- und Verwandtschaftsmitgliedern werden beispielsweise größere Geldsummen oder emotionale und praktische Unterstützung in Krisensituationen nachgefragt, da sie Vertrauen erfordern – ein Kriterium, das vor allem für familiale Beziehungen charakteristisch ist. Kleinere Dienstleistungen (z.B. „house-sitting“ von Nachbarn) erfordern eine direkte Verfügbarkeit von Personen, sie stellen weniger „zwingende“ Foki dar (vgl. Feld 1984: 643). Zusammenfassend kann festgehalten werden: „The theory emphasizes that the focus sources are the main determinants of trust and availability of associates. Large services require trust; consequently, people tend to use associates drawn from normatively constraining foci for these purposes. Small services require availability; consequently, people tend to use associates from spatially constraining foci for these purposes” (Feld 1984: 643).230
Die empirische Analyse bestätigt nun, dass für bestimmte Interaktionen spezifische Foki gewählt werden, die jeweils in ihrem Ausmaß an Homogenität variieren (vgl. dazu ausführlicher Feld 1984: 646ff.).231 Die entscheidende Determinante der Homogenität ist der jeweils gewählte Fokus (z.B. Familie/Verwandtschaft): „(…) indicating that the focus sources can account for most of the differences in characteristics of associates used for these purposes“ (Feld 1984: 648). Die Erklärung der Wahl von persönlichen Beziehungen muss somit immer im Kontext der sozialen Foki erfolgen. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die sozialen Kontaktchancen (meeting) auf die Personen konzentrieren, mit denen man einen Fokus teilt. Darüber hinaus sind diese Gelegenheitsstrukturen wiederum selbst hinsichtlich verschiedener Dimensionen (wie z.B. räumliche Nähe, Bildung, ethnische Zugehörigkeit, u.a.) sozial strukturiert. So 230
231
Feld (1984: 643) weist einschränkend darauf hin, dass sich Vertrauen auch im Verlauf der Zeit in einer persönlichen nicht-familialen Beziehung aufbauen kann und somit nicht nur ausschließlich für Familienbeziehungen charakteristisch ist. Die empirische Analyse unterschiedlicher Interaktionsinhalte bestätigt die Annahmen (vgl. Feld 1984: 646).
120
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
variiert die Wahrscheinlichkeit für ein Treffen von zwei Individuen mit der positionellen Verteilung von Personen in bestimmten sozialen Kontexten und daher auch mit strukturierten soziodemographischen Ähnlichkeiten (vgl. Esser 1991: 776). Darüber hinaus weist Feld (1981, 1984) auf potentielle Determinanten der Wahl von Verwandten hin, die einen sozialen Fokus darstellen und deren Interaktionswahrscheinlichkeit dadurch erhöht ist: Die Art der nachgefragten Hilfe bzw. der Nutzen, den ego aus der Beziehung mit den Verwandten bzw. Nicht-Verwandten ziehen kann. Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen als „commitment relationships“ werden eher in Krisensituationen nachgefragt. Diese Annahme korrespondiert mit der Aussage von Riley (1983), die Verwandtschaft als „Matrix latenter Beziehungen“ bezeichnet, die in Krisenzeiten aktiviert werden können. 3.1.3 Exkurs: Theoretische Ansätze zur Erklärung familialer Generationenbeziehungen Die Beziehungen zur entfernten Verwandtschaft bilden den Schwerpunkt dieser Arbeit, doch eine vollkommen isolierte Betrachtung der Verwandtschaft ohne Bezug auf die Kernfamilie und Generationenbeziehungen erscheint nicht sinnvoll, da diese Personengruppen untrennbar miteinander verbunden und verflochten sind. In dem folgenden Exkurs wird ein Überblick über den theoretischen Stand familialer Generationensolidarität gegeben. Ebenso wie Verwandtschaftsbeziehungen waren Generationenbeziehungen lange Zeit ein vernachlässigtes Thema in der deutschen Familiensoziologie, während sie in den USA schon seit Ende der 1970er Jahre Gegenstand der Forschung sind. Allerdings hat sich diese Situation für den deutschsprachigen Raum (u.a. durch Anregung der innovativen amerikanischen Studie von Rossi, Rossi (1990)) seit Beginn der 1990er Jahre geändert. Es sind Ansätze von Theorieentwicklung zur Erklärung familialer Generationenbeziehungen zu erkennen, deren allgemeiner theoretischer Hintergrund die Austauschtheorie von Nye (1979) ist.232 Im Einzelnen werden die Modelle von Bengtson u.a. (1976), Rossi, Rossi (1990) und Szydlik (2000) vorgestellt. Der Begriff familiale Generation umfasst Mitglieder in einer Abstammungslinie (Kinder, Eltern, Großeltern) und damit Linienverwandte, nicht in Betracht sind Verwandte in einer Seitenlinie (Tanten, Onkel usw.) (vgl. Szydlik 2000: 21). Im Fokus der theoretischen und empirischen Analyse steht die Eltern-Kind-Dyade, Eltern-Kind-Großeltern-Triade und Enkelkinder-Großeltern-Dyade (vgl. Szydlik 2000: 27). 233 Im Vordergrund der Analyse 232
233
Vgl. in diesem Zusammenhang auch Walter (1993). Er fasst die bisherigen Theorien der Unterstützungsund Netzwerkforschung zusammen und entwickelt dabei einen eigenen Ansatz zur Erklärung von Generationenbeziehungen. Er stellt folgende Ansätze gegenüber: 1) Unterstützungs- und damit auch Generationenbeziehungen folgen einem rationalen Kosten-Nutzen-Kalkül in einem Tauschprozess (unter der zusätzlichen Annahme einer Reziprozitätsnorm). 2) Unterstützungs- und damit Generationenbeziehungen werden von Normen und Verpflichtungen geleitet, die sich in der Bindungsgeschichte von Eltern und Kindern etablieren (vgl. Walter 1993: 334ff.). Das Prinzip des „allgemeinsten Parameters der Moral“ wird dabei insbesondere zur Erklärung der Pflege von älteren Familienangehörigen herangezogen. Kritisch ist jedoch an dieser Stelle anzumerken, dass normative und moralische Verpflichtungen bzw. der soziale Druck auch im Rahmen der Rational-Choice-Theorie durch psychische und soziale Kosten und/oder nicht vorhandene Alternativen erklärt werden können. Eine Auffassung von „Generationenbeziehungen als solidarisches Handeln“ steht nicht im Widerspruch zu handlungstheoretischen Überlegungen. Normen, Werte bzw. Moral an sich erklären nicht solidarisches Handeln (vgl. hierzu auch Kapitel 4.1.1). Die Inhalte der bisherigen Studien zu Generationenbeziehungen konzentrieren sich auf Kontakthäufigkeit, Beziehungsenge, Hilfeleistungen und materielle Transfers zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern. Viele Studien sind „mehr und mehr ins Fahrwasser der Gerontologie“ geraten und stellen meist „Fragen
3.1 Zum Stand der Theoriebildung
121
steht jedoch primär die Analyse der Solidarität zwischen Eltern und ihren erwachsenen Kindern, die nicht mehr in einem gemeinsamen Haushalt leben.234 Generationenbeziehungen waren ebenso wie Verwandtschaftsbeziehungen lange Zeit ein vernachlässigtes Thema soziologischer Analysen, so dass eine „Kluft zwischen den alltäglichen Praktiken familialen Austauschs und den Repräsentationen dieser Phänomene in sozialwissenschaftlichen Theorien“ festzustellen ist. Das Theorem der „strukturell isolierten Kernfamilie“ führte zu einer Ausblendung von Netzwerkbeziehungen über die Haushaltsgrenze hinweg und damit weg von Beziehungen zwischen Familienmitgliedern (Eltern und Kindern), die in getrennten Haushalten leben (vgl. Walter 1993: 331). Ein theoretischer Ansatz zur Erklärung familialer Generationenbeziehungen ist die Austauschtheorie, die von Nye (1979) auf familiale Interaktionen übertragen wird.235 Als spezifisches Merkmal des sozialen Tauschs innerhalb der Familie wird die Asymmetrie identifiziert, die sich zum einen in den Geschlechtsrollen und der damit verbundenen innerfamilialen Arbeitsteilung manifestiert und zum anderen durch ein Machtgefälle zwischen Eltern und ihren Kindern geprägt ist. Darüber hinaus gibt es höhere Ausstiegskosten bei Beendigung der Beziehung (vgl. Nye 1979: 10f.). Es wird von dem Prinzip der generalisierten Reziprozität bzw. des generalisierten Tauschs236 ausgegangen, nach dem Belohnungen nicht unmittelbar und in gleichem Ausmaß zurückgegeben werden müssen (vgl. Nye 1979: 8ff.). Der von den Drei-Generationen-Studien (Bien 1994c; Marbach 1994a) verwendete austauschtheoretische Ansatz orientiert sich klassischerweise am Konzept des sozialen Tauschs von Blau (1964), Homans (1968) sowie Thibaut und Kelley (1959).237 Den begrifflichen Orientierungsrahmen zur Analyse familialer Generationenbeziehungen bildet das Konzept der Solidarität (vgl. Lüscher 2000: 145). Deutsche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler orientieren sich an den Operationalisierungen des Solidaritätskonstruktes des amerikanischen Gerontologen und Soziologen Vern Bengtson.238 Es werden sechs Dimensionen der intergenerationalen Solidarität unterschieden: Affectual, Associational, Consensual, Functional, Normative and Structural Solidarity (vgl. Bengtson u.a. 1984; Bengtson, Mangen 1988; Bengtson, Schrader 1982; Roberts u.a. 1991; Bengtson u.a. 1995).
234 235 236 237
238
nach den Unterstützungsleistungen, die erwachsene Kinder für alte Eltern leisten oder leisten sollen oder aus kulturpessimistischer Perspektive nicht mehr leisten können oder wollen“ (Schütze, Wagner 1998: 13). Stichworte in diesem Zusammenhang sind Generationenvertrag bzw. -transfer (Vaskovics 1997; Motel, Szydlik 1999; Szydlik 2003), Versorgung von Pflegebedürftigen (Bender 1994) oder Beziehungstypologien (Silverstein u.a. 1994; Silverstein, Bengtson 1997). Drei-Generationen-Studien sind dagegen seltener zu finden (mit Ausnahme der Mehrgenerationenstudie des DJI (Bien 1994a), der französischen DreiGenerationen-Studie (Attias-Donfut 1995) und amerikanischen Studien des Forschungsteams um Vern Bengtson (vgl. Bengtson u.a. 1984; darüber hinaus Hagestad 1982; Hill u.a. 1970; Jackson 1979). Einen Überblick über Themen der intergenerationalen Studien geben Mancini, Blieszner (1989). Vgl. dazu ausführlicher Kapitel 4.1.1. Vgl. Ekeh 1974. In der Studie von Marbach (1994b) wird der Zusammenhang zwischen Wohnentfernung (Kosten) und den Solidarleistungen zwischen Eltern und Kindern untersucht und somit explizite austauschtheoretische Annahmen überprüft (vgl. dazu ausführlicher Marbach 1994b: 81ff.). Jansen (1952: 730) operationalisiert als einer der ersten Forscher das Konstrukt der Familiensolidarität anhand einer Skala aus acht Indikatoren (agreement, cooperation, concern, enjoyment of association, affection, esteem or admiration, interest, confidence or trust). Er definiert Familiensolidarität als „closeness of family members to each other and is assumed to be observable in a number of different types of interaction” (Jansen 1952: 733).
122
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
„We use the theoretical construct of intergenerational solidarity as a means to characterize the behavioral and emotional dimensions of interaction, cohesion, sentiment, and support between parents and children, grandparents and grandchildren, over the course of long-term relationships” (Bengtson 2001: 8; Hervorhebung im Original).
Schwerpunkt der Analyse ist die Häufigkeit von sozialen Interaktionen, die Intensität der Gefühle, Übereinstimmung von Werten und normative Verpflichtungen (vgl. Rossi, Rossi 1990: 251). Im Detail lassen sich folgende inhaltliche Abgrenzungen der Dimensionen anführen (vgl. Roberts u.a. 1991):239 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Associational solidarity: „the frequency and patterns of interaction in various types of activities in which family members engage” Affectual solidarity: „the type and degree of positive sentiments held about family members, and the degree of reciprocity of these sentiments” Consensual solidarity: „the degree of agreement on values, attitudes, and beliefs among family members” Functional solidarity or exchange: „the degree to which family members exchange services or assistance” Normative Solidarity: „the perception and enactment of norms of family solidarity” Intergenerational family structure: „the number, type, and geographic proximity of family members“
Im Folgenden werden die theoretischen Modelle von Rossi, Rossi (1990) und Szydlik (2000) vorgestellt, die jeweils unterschiedliche Solidaritätsdimensionen in ihre Modelle integrieren. Eine erste Bestimmung des Solidaritätsmodells erfolgt von Bengtson u.a. (1976).240 Empirische Tests des Modells (Atkinson u.a. 1986; Roberts, Bengtson 1990) ergeben übereinstimmend, dass diese ursprüngliche Bestimmung der Solidarität als eindimensionales Konstrukt (operationalisiert durch „affection“, „association“ und „(attitudinal) consensus“) nicht korrekt ist (vgl. zusammenfassend Roberts u.a. 1991: 21f.). In einem zweiten Schritt werden nun die Beziehungen zwischen den einzelnen Solidaritätsdimensionen genauer analysiert (Roberts, Bengtson 1990; Rossi, Rossi 1990). Rossi, Rossi (1990: 29ff.) analysieren vier Solidaritätsdimensionen: affektive Solidarität (affektive Nähe, Intimität), assoziationale Solidarität (Häufigkeit von Kontakten), funktionale Solidarität (Ausmaß der Hilfeleistungen) und konsensuale Solidarität (Übereinstimmung von Werten).241 Es wird von einer kausalen Anordnung der Solidaritätsdimensionen ausgegangen, deren Bedeutung im Zeitverlauf variiert. Es wird zwischen den Stadien Kindheit, Adoleszenz und Erwachsenalter differenziert. Die affektive Nähe zwischen 239 240
241
Ausführlich zu den Operationalisierungen der Solidaritätsdimensionen vgl. Mangen (1988). Bengtson u.a. (1976: 256) erfassen die Komponenten „affection“, „association“ und „consensus“ in einem multivariaten Modell intergenerationaler Solidarität. Bengtson u.a. (1976: 250ff.) nennen folgende Determinanten der Solidaritätsdimensionen: „residential propinquity“, „helping behavior“, „American birth“, „acceptance of changed norms of the elderly“, „experiences not shared across generational lines“. Darüber hinaus werden sekundäre Variablen in das Modell aufgenommen, die die Effekte dieser primären Variablen modifizieren. Die sekundären Variablen „communication by letters or telefone“, „type of sex linkage“ und „filial responsibility“ beeinflussen den Zusammenhang zwischen der geographischen Entfernung und assoziationalen Solidarität, da sie mögliche negative Einflüsse der Distanz kompensieren können (vgl. Bengtson u.a. 1976: 257ff.). Ausführlicher zu den einzelnen Hypothesen vgl. Bengtson u.a. (1976: 260f.). Ausführlicher zu den Operationalisierungen vgl. Rossi, Rossi (1990: 30f.).
3.1 Zum Stand der Theoriebildung
123
Eltern und ihren Kindern hat ihren Ursprung in der frühen Kindheit, weswegen die affektive Solidarität dort entschieden geprägt wird.242 Die Prägung der Beziehung in der Kindheit gilt nach Rossi, Rossi (1990) ebenfalls für entfernte Verwandtschaftsbeziehungen (vgl. dazu auch Bott 1971). Darüber hinaus wird davon ausgegangen, dass sie positive Auswirkungen auf die Häufigkeit der sozialen Interaktionen (assoziationale Solidarität) und den Austausch von Hilfen (funktionale Solidarität) hat. Die konsensuale Solidarität wird von dem Bildungsunterschied zwischen Eltern und ihren Kindern sowie ihren unterschiedlichen religiösen und politischen Orientierungen determiniert, wobei letztere eher in der Adoleszenz und dem Erwachsenenalter der Kinder eine Rolle spielen. Die assoziationale Solidarität ist eine Funktion von Opportunitäten (z.B. geographische Nähe), Lebensumständen und Bedürfnissen, darüber hinaus wird jedoch ein kumulativer „Schneeballeffekt“ der bisherigen Faktoren angenommen (vgl. Rossi, Rossi 1990: 265ff.). In Deutschland werden die Solidaritätsdimensionen von Bertram (2000, 2003) und Szydlik (2000) zum Teil verkürzt verwendet, weiterentwickelt und anhand verschiedener Datensätze (Familiensurvey 1988, 1994243, Alterssurvey 1996, SOEP (Sozioökonomisches Panel)) analysiert. Die Analyse von Szydlik (2000) wird als deutsche Antwort auf die amerikanische Studie von Rossi und Rossi (1990) bezeichnet. Szydlik (2000) konzentriert sich auf die funktionale, affektive und assoziative Dimension der intergenerationalen Solidarität. Die funktionale Solidarität ist rein auf Handlungen bezogen und enthält die drei Subdimensionen monetäre Transfers, instrumentelle Hilfeleistungen und Koresidenz. Die affektive Solidarität bezieht sich auf Gefühlshaltungen. Sie ist ein Maß für emotionale Nähe, Verbundenheits- und Zusammengehörigkeitsgefühle unter Familienmitgliedern. Die assoziative Solidarität fasst gemeinsame Aktivitäten und die Kontakthäufigkeit bzw. die Art der Kontakte zusammen (vgl. Szydlik 2000: 38ff.). Das Mehrebenenmodell der familialen Generationensolidarität enthält vier Faktorengruppen (Opportunitätenstrukturen, Bedürfnisstrukturen, familiale Strukturen, kulturell-kontextuelle Strukturen), die je nach Ausprägung solidaritätsfördernd oder -hindernd sein können, und drei Analyseebenen (Individuum, Familie, Gesellschaft). Im Vordergrund steht die Analyse der affektiven Solidarität. Intergenerationale Beziehungen hängen von den individuellen Möglichkeiten und Bedürfnissen der beteiligten Personen ab. Weiterhin spielen Merkmale der Familien bzw. des erweiterten Familienverbandes eine Rolle, in denen die Generationenbeziehungen gelebt werden. Darüber hinaus werden direkte und indirekte gesellschaftliche Faktoren berücksichtigt (vgl. Szydlik 2000: 43f.). Opportunitätenstrukturen ermöglichen, fördern oder verhindern soziale Interaktion. Die geographische Entfernung und die zur Verfügung stehende Ressource Zeit sind die wichtigsten Determinanten dieser Struktur. Größere Entfernungen führen zu veränderten Interaktionsformen und geringeren Bindungen zwischen den Generationen, da sie die Mög242
243
Die Generational-Stake-Hypothese (Bengtson, Kuypers 1971) besagt in diesem Zusammenhang, dass Eltern (unabhängig von Geschlecht, Nationalität oder Konfession) eher enge oder sehr enge Beziehungen angeben als ihre Kinder (vgl. Szydlik 2000: 180). Diese Ergebnisse werden durch Studien bestätigt (vgl. exemplarisch Aquilino 1999; Lawton u.a. 1994; Rossi, Rossi 1990; Szydlik 2000). Erklärt wird dies dadurch, dass Eltern an der Weiterführung und Beständigkeit von Werten interessiert sind, die in ihrem bisherigen Leben wichtig waren, mit der Konsequenz einer Minimierung von Konflikten und einer Betonung von Solidarität in der Beziehung zu ihren Kindern. Junge Erwachsene dagegen fokussieren die Autonomie von elterlichen Werten und bezeichnen die Beziehung mit ihren Eltern als weniger eng (vgl. Giarusso u.a. 1995: 228). Herauszustellen ist die im Jahr 1990 durchgeführte Mehrgenerationenstudie des DJI, deren Datenbestand aus insgesamt 1285 Interviews von 479 Mehrgenerationenfamilien besteht (vgl. Bien u.a. 1994).
124
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
lichkeit von häufigen Treffen einschränken. Wer z.B. berufstätig ist oder eine eigene Familie hat, verfügt über weniger Ressourcen für den Aufbau sozialer Interaktionen. Es ist jedoch noch nicht geklärt, ob größere Zeitressourcen auch zu einer größeren intergenerationalen Solidarität führen. Die Opportunitätenstruktur stellt somit ein Potential für familiale Solidarität dar. Bedürfnisstrukturen beziehen sich auf emotionale oder finanzielle Solidaritätsbedürfnisse. Als Beispiele für emotionale Bedürfnisse werden genannt: Vermeidung von Langeweile, Bedürfnis nach Verständnis, Anerkennung und Bedürfnisse bei akuten Problemen (vgl. Szydlik 2000: 46).244 Aus handlungstheoretischer Sicht werden sie als Auslöser für intergenerationale Solidarität angesehen, wobei der positive Zusammenhang zwischen Bedürfnissen und einer tatsächlichen engen Beziehung noch nicht geklärt ist. Die Opportunitätenstruktur stellt einen Filter dar, ob diese Bedürfnisbefriedigung realisiert werden kann. Bedürfnis- und Opportunitätenstrukturen können somit voneinander abhängig sein. Unter familialen Strukturen werden die Rollenverteilung im Haushalt, Anzahl der Familienmitglieder und die Existenz von Kindern subsumiert. Es wird ein positiver Effekt der Rolle einer familialen Integrationsfigur (kinkeeper), die vornehmlich von Frauen erfüllt wird, auf generationale Solidarität unterstellt. Darüber hinaus wird vermutet, dass sich die Anzahl der Familienmitglieder sowohl positiv als auch negativ auf die Solidaritätsgefühle auswirken kann. Zum einen muss die zur Verfügung stehende Zeit auf eine größere Anzahl von Familienmitgliedern verteilt werden (negativer Effekt), zum anderen kann es in größeren Familien generell einen stärkeren Zusammenhalt geben. Die individuellen, dyadischen Generationenbeziehungen werden von den familialen Strukturen umrahmt, die wiederum in einem Wechselverhältnis mit den Bedürfnisstrukturen stehen: In der Primärsozialisation werden Grundlagen für ein späteres Bedürfnis nach Generationenbeziehungen im Erwachsenalter gelegt, ebenso kann die Anzahl von Familienmitgliedern ein Bedürfnis nach Solidarität schaffen. Unter kulturell-kontextuellen Strukturen werden gesellschaftliche Rahmenbedingungen verstanden, innerhalb derer Generationenbeziehungen gelebt werden. Im Einzelnen gehören dazu Bedingungen des Gesellschafts-, Wirtschafts- und Steuersystems, des Wohlfahrtsstaates, des Arbeits- und Wohnungsmarktes sowie Regeln und Normen von Institutionen und Gruppen (Zugehörigkeit zu einer Geburtsjahrgangskohorte, Schichtzugehörigkeit, ethnische Zugehörigkeit, Konfessionszugehörigkeit).245 Es wird vermutet, dass die Zugehörigkeit zu einer Geburtsjahrgangskohorte mit demographischen Besonderheiten korreliert (z.B. biologische Existenz von Verwandten). Zusätzlich werden jedoch auch die Verhaltensweisen und Einstellungen durch historische Ereignisse oder den „Zeitgeist“ bestimmt.246 Man vermutet, dass höhere Bildungsschichten (aufgrund des höheren kulturellen Kapitals (Bourdieu 1983) oder der geringen ökonomischen Belastungen) „pfleglicher“ miteinander umgehen. Der Einfluss der ethnischen Herkunft wird auf unterschiedliche Normen und Verhaltensweisen der intergenerationalen Beziehungen zurückgeführt. In diesem Kontext ist auch die Konfessionszugehörigkeit zu betrachten. Es wird vermutet, dass sich eine Verbundenheit mit der Kirche positiv auf Generationenbeziehungen auswirkt. Die kulturell-kontextuellen Strukturen stellen allgemeine Determinanten der familialen Struktur sowie der Bedürfnis- und Opportunitätenstruktur dar. Konfessionszugehörigkeit kann bei244 245
246
Szydlik orientiert sich dabei allgemein an den sechs Bedürfnisklassen von Foa, Foa (1980). Unterschiede zwischen west- und ostdeutschen Generationenbeziehungen werden in erster Linie auf kulturell-kontextuelle Faktoren zurückgeführt (vgl. Szydlik 2000: 50). Es wird die Hypothese aufgestellt, dass Mitglieder der 68er Generation weniger enge Beziehungen zu ihren Eltern unterhalten (vgl. Szydlik 2000: 50).
3.1 Zum Stand der Theoriebildung
125
spielsweise die Familienstruktur (Familienstand, Kinderzahl) beeinflussen, Arbeitszeiten wirken sich auf die zur Verfügung stehende Zeit aus usw. (vgl. Szydlik 2000: 44ff.).247 Das Modell von Szydlik (2000) ist ein multidimensionales, heuristisches Konzept zur Analyse der Generationenbeziehungen, das eine Vielzahl von potentiellen Einflussfaktoren der verschiedenen Solidaritätsdimensionen benennt. Relevante Determinanten einer handlungstheoretischen Erklärung der Generationenbeziehungen, z.B. die Wichtigkeit der Berücksichtigung des Zeitfaktors als Kosten einer sozialen Beziehung, werden implizit verwendet. Festzuhalten bleibt, dass mit Hilfe der Konzeptualisierung des Solidaritätskonstruktes eine detaillierte Beschreibung der unterschiedlichen Dimensionen von Generationenbeziehungen (Kommunikation, emotionale Bindungen, normative Verpflichtungen, Wertekonsens, Austausch von Dienstleistungen und finanzieller Unterstützung) und ihrer soziodemographischen Korrelate erfolgt. Eine mikrotheoretisch fundierte Erklärung der intergenerationalen Beziehungen findet bisher jedoch nur in Ansätzen statt. 3.1.4
Fazit
Aus den beschriebenen theoretischen Ansätzen ergeben sich wichtige Hinweise für die Beantwortung der zentralen Frage: Welche Faktoren erklären verwandtschaftliche Beziehungen über die Kernfamilie hinaus? Welche Antworten geben die Ansätze auf die offene Forschungsfrage nach der Wahl von Verwandten? Wie können die bisherigen Ansätze systematisiert werden? Eine Übereinstimmung lässt sich hinsichtlich der Feststellung der Wahl von Verwandten ausmachen. Die objektive Verwandtschaft kann als eine Opportunitätenstruktur für den Aufbau einer Sozialbeziehung gesehen werden, aus deren Gesamtheit Beziehungen zu einigen Verwandten gewählt werden und deren Wahl durch die soziale Nähe begünstigt ist: Verwandtschaft stellt somit einen sozialen Fokus (Feld 1981, 1984) und damit eine „kleinräumliche Opportunitätenstruktur“ (Hill, Kopp 2004: 166) dar. Die soziale Nähe ist durch den „Verwandtenfokus“ (Pappi, Melbeck 1988: 237) hergestellt, die Wahrscheinlichkeit der gemeinsamen Interaktion ist dementsprechend hoch. Genetische Dispositionen – im Sinne einer soziobiologischen Erklärung (Kapitel 1.4) – erklären in diesem Zusammenhang eine generelle Präferenz für Verwandtschaftsbeziehungen gegenüber nicht-verwandtschaftlichen Beziehungen. Speziell für Verwandtschaftsbeziehungen gilt das Merkmal „transitivity“. Es beschreibt die Tendenz, dass zwei Individuen, die mit einer dritten Person verbunden sind, eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, selbst miteinander verbunden zu sein (vgl. Feld 1981: 1022). Diesen Gedanken findet man in den explorativen und heuristischen Ansätzen (Kapitel 3.1.1) in Verbindung mit den Begriffen „connecting relative“ (Bott 1971) oder „pivotal kin“ (Firth, Djamour 1956) wieder. Zu berücksichtigen sind ebenfalls die Beziehungen der Eltern egos zu den Verwandten, da diese in Anlehnung an Turner (1969) die Verwandtschaftsbeziehungen ihrer Kindern zwar nicht ausschließlich determinieren, aber durch ihre „Vorauswahl“ entscheidend prägen. 247
Unter dem Stichwort Ambivalenz von Generationenbeziehungen wird der bisher vernachlässigte Aspekt von konfliktgeladenen Beziehungen thematisiert. Von Ambivalenzen spricht man, „wenn Polarisierungen des Fühlens, des Denkens, des Handelns, (...) in sozialen Beziehungen (...) zu einem bestimmten Zeitpunkt (...) als prinzipiell unauflösbar interpretiert werden“ (Lüscher 2000: 144). Dementsprechend kritisiert Lüscher (2000: 147) die Verwendung einfacher Skalen zur Messung der Solidarität, die die Ambivalenz von Beziehungen bzw. Gefühlen nicht erfassen können.
126
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
Zur Erklärung der Wahl von Verwandten werden in den hier umrissenen Ansätzen handlungstheoretische Konstrukte angeführt: die Berücksichtigung von Kosten, Belohnungen, Alternativen und Opportunitäten. Wenn diese Determinanten auch nicht immer direkt benannt werden – wie zum Beispiel bei Bott (1971) oder Szydlik (2000) – so wird ihr Wirkungsmechanismus implizit unterstellt. Dies geschieht jedoch in unterschiedlicher Art und Weise, mehr oder weniger werden die Faktoren explizit genannt, theoretisch erfasst und empirisch überprüft. Im Vordergrund steht vor allem die Analyse der geographischen Distanz als ein Kostenfaktor von verwandtschaftlichen Kontakten (Klatzky 1971; van der Poel 1993). Darüber hinaus weist Feld (1984) auf den Belohnungswert der Beziehung hin, der entscheidet, bei welcher Personengruppe soziale Interaktionen nachgefragt werden. So sind Merkmale der Hilfesituation (sei es eine intensive, langfristige Hilfe, die gegenseitiges Vertrauen erfordert (Krisensituationen) oder kurzfristige Hilfe) entscheidende Determinanten der Wahl von Verwandten bzw. Nicht-Verwandten. Speziell für Verwandtschaftsbeziehungen werden Zusammenhänge mit dem sozioökonomischen Status und dem Alter theoretisch vermutet (Verbrugge 1979). In diesem Zusammenhang wird außerdem die Wichtigkeit von Alternativen und Opportunitäten für die Erklärung verwandtschaftlichen Handelns betont. Insbesondere Fischer (1982a) stellt den Zusammenhang zwischen Wohnortgröße und den damit verbundenen Alternativen für nicht-verwandtschaftliche Kontakte her, die personeller oder institutioneller Art sein können. Als weitere Faktoren werden die Größe des Gesamtnetzwerkes und die Existenz eines kinkeeper berücksichtigt. So sind insbesondere kinkeeper Teil der Opportunitätenstruktur, da sie die Wahrscheinlichkeit für verwandtschaftliche Interaktionen erhöhen (Bott 1971; Szydlik 2000). Geht es speziell um die Erklärung einer spezifischen Bindung an Verwandte, so werden als wichtige Erklärungsfaktoren, die dem besonderen Charakter des biologischen Abstammungsverhältnisses entsprechen, die gemeinsame Familiengeschichte, Erfahrungen und Erinnerungen genannt (Verbrugge 1979). Damit zusammenhängend ist ebenfalls die Prägung der Verwandtschaftsbeziehung in der Kindheit (Bott 1971; Rossi, Rossi 1990) anzuführen. Ein weiterer, zumeist isoliert betrachteter Erklärungsfaktor gründet ebenfalls in dem biologischen Abstammungsverhältnis und lässt sich als normative Verpflichtungen gegenüber Verwandten bezeichnen, die sich ebenfalls positiv auf die Wahl von Verwandten als Interaktionspartner/-innen auswirken (Klatzky 1971; van der Poel 1993). Darüber hinaus werden jedoch auch sozialpsychologische Erklärungsansätze auf die Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen übertragen. Die individuelle Wahl von Verwandten wird von Bott (1971) psychologisch durch die Persönlichkeit der Individuen bzw. den „personality fit“ zwischen ego und der verwandten Person erklärt (vgl. Bott 1971: 122). Betrachtet man die psychologischen Theorien der Freundschaftswahl, so ist die Werte- und Einstellungshomogenität eine zentrale Variable von individuellen Präferenzen und gegenseitiger Attraktivität (vgl. Kapitel 3.1.2.2). Eine Übertragung des Solidaritätsmodells auf die Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen erscheint nicht sinnvoll. Die unterschiedlichen Solidaritätsdimensionen erfassen u.a. Häufigkeit und Art von Kontakten, emotionale Bindung, instrumentelle Unterstützungsleistungen, normative Verpflichtungen und Wertekonsensus innerhalb der Generationenbeziehung. Diese sozialen Dimensionen gelten auch für Verwandtschaftsbeziehungen. Im Vordergrund der Arbeit steht die Erklärung verwandtschaftlichen Wahlhandelns. Die in Kapitel 3.1.3 vorgestellten theoretischen Ansätze bieten keine Erklärung für Intergenerationenbeziehungen, sondern stellen vielmehr Konzeptualisierungen des Solidaritätskonstruk-
3.2 Empirischer Forschungsstand
127
tes dar. Die einzelnen Modelle (z.B. Szydlik 2000) greifen implizit auf handlungstheoretische Konstrukte wie Kosten, Nutzen, Alternativen und Opportunitäten zurück. Eine Übertragung dieser Determinanten auf die Erklärung verwandtschaftlichen Handelns liegt somit nahe und findet dadurch Unterstützung. Im Anschluss an die theoretischen Ansätze wird der empirische Forschungsstand zum Thema entfernte Verwandtschaftsbeziehungen aufgezeigt. Dies geschieht getrennt für die USA, Großbritannien (Kapitel 3.2.1) und Deutschland (Kapitel 3.2.2). Angesichts der defizitären Forschungslage werden die Studien und zentrale empirische Befunde zum Teil ausführlich vorgestellt, denn die Kenntnisse der Familiensoziologie über die Beziehungen zum erweiterten Familienkreis fallen gering aus. 3.2 Empirischer Forschungsstand Die in den folgenden Kapiteln dargestellten amerikanischen, deutschen und internationalen Studien zeichnen sich durch eine Vielzahl heterogener Fragestellungen aus. Erweiterte Familienbeziehungen bilden nur sehr selten den Schwerpunkt der Untersuchungen. Sie werden meist zusätzlich zu dem eigentlichen Schwerpunkt – der Analyse der Beziehungen zwischen Eltern und Kindern – erhoben. 3.2.1 USA und Großbritannien In diesem Kapitel werden die Befunde angloamerikanischer Studien in chronologischer Reihenfolge vorgestellt und zum Teil themenspezifisch zusammengefasst. Die Studie von Rossi, Rossi (1990) über die Struktur der verwandtschaftlichen Verpflichtungen wird aufgrund ihrer herausragenden Stellung in Kapitel 3.2.1.2 dargestellt. Die Studien werden mit folgendem Forschungsinteresse ausgewertet: Besteht ein Bezug zur Wahl bzw. Selektivität von Verwandtschaftsbeziehungen (Konzept der subjektiven und objektiven Verwandtschaft)? Gibt es Faktoren, die diese Wahl erklären? Welche Bedeutung und Funktion hat der erweiterte Familienkreis für die Individuen? Welche Determinanten des Kontaktes, der emotionalen Bindung oder der normativen Verpflichtungen gegenüber entfernten Verwandten können identifiziert werden? Im Vordergrund stehen Ergebnisse zu Angaben über die Globalkategorie „Verwandte“, die meist mit der Kategorie der Nicht-Verwandten oder der Kernfamilie kontrastiert werden. Darüber hinaus werden spezifische Befunde zu den Beziehungen mit dem erweiterten Familienkreis (Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, Nichten und Neffen) dargestellt. Dieser Personenkreis bildet den Schwerpunkt der nun folgenden Ausführungen. 3.2.1.1 Verwandtschaftsstudien im Zeitraum von 1950 bis 2005 3.2.1.1.1 Die Studien der 1950er und 1960er Jahre – Kritik an Parsons Das Kapitel beginnt mit der Vorstellung der wohl ersten Verwandtschaftsstudie aus dem Jahr 1934. Sie stammt von F. Stuart Chapin und wurde in der Zeitschrift „Sociology and
128
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
Social Research“ im Jahr 1934 veröffentlicht. Die Studie trägt den Titel „Degrees of kinship intimacy“.248 Zentrale Annahme ist, dass der Grad der emotionalen Nähe unter Blutsverwandten vor allem mit dem Geschlecht der Individuen variiert. „Degrees of personal intimacy vary with the conventional relationship of blood kinship, sex, and age of members” (Chapin 1934: 117).
Betrachtet werden Geschwisterbeziehungen, aber auch Beziehungen zu entfernten Verwandten. Zentrale Fragen in diesem Zusammenhang lauten: Haben Cousinen untereinander eine engere Beziehung als Cousins? Ist die Beziehung zwischen Tante und Nichte enger als die Beziehung zwischen Onkel und Neffe? (vgl. Chapin 1934: 117). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Beziehungen unter weiblichen Paaren – unabhängig vom Verwandtentyp – im Vergleich zu männlichen Paaren am engsten ist (vgl. Chapin 1934: 117).249 Die Mehrheit der Verwandtschaftsstudien findet man ab den 1950er Jahren. Theoretischer Ausgangspunkt der nun folgenden Betrachtung ist Wirths (1938) klassischer Aufsatz „Urbanism as a way of life“ und insbesondere Parsons´ These der Isolation der Kernfamilie (1943), die die Irrelevanz von Verwandtschaftsbeziehungen für das Funktionieren moderner Gesellschaften und die Kernfamilie postulierte.250 Amerikanische Studien (Axelrod 1956; Bell, Boat 1957; Blumberg, Bell 1959; Dotson 1951; Greer 1956; Sussman 1953, 1956) thematisieren die verwandtschaftlichen Beziehungen unter städtischen Lebensbedingungen und knüpfen an die Thesen Wirths (1938) an, der eine Substitution von primären durch sekundäre Kontakte, eine Schwächung von verwandtschaftlichen Bindungen und eine generelle Abnahme der Wichtigkeit von Familie als Kennzeichen eines städtischen Lebensstils postulierte (Kapitel 2.2.2). Die Studien zeigen jedoch, dass Kontakte zur Familie und Verwandtschaft unter städtischen Lebensbedingungen weiterhin bestehen und Verwandte eine Vorrangstellung im Vergleich zu anderen informellen Kontakten einnehmen (vgl. Bell, Boat 1957). Im Verwandtschaftsnetzwerk werden darüber hinaus emotionale und instrumentelle Unterstützungsleistungen ausgetauscht und es finden soziale Aktivitäten wie eine gemeinsame Freizeitgestaltung oder Verwandtenbesuche statt (vgl. Dotson 1951). In den Jahren 1955-1965 gibt es darüber hinaus vermehrt deskriptive Studien, die im Kontext der Kritik und Prüfung von Parsons´ These der „isolated nuclear family“ durchgeführt werden (Kapitel 2.3.2).251 In diesem Zeitraum entstehen Untersuchungen über die 248
249 250
251
Es wurden zwei Stichproben aus dem Jahr 1932 (211 Paare) und dem Jahr 1933 (372 Paare) gebildet (vgl. Chapin 1934: 120). Zur Operationalisierung von „kinship intimacy“ vgl. ausführlicher Chapin (1934: 118f.). Folgende Methoden wurden bei der Recherche der empirischen Studien angewendet. Es wurde eine Literaturrecherche in den soziologischen und psychologischen Datenbanken WisoNet und PsycInfo durchgeführt. In der nun folgenden Darstellung empirischer Studien orientiere ich mich darüber hinaus an den Übersichtsartikeln von Adams (1970), Lee (1980) – so genannte „decade reviews“ – und Johnson (2000a,b). Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Übersicht von Lee (1979) und Sussman, Burchinal (1962). Vgl. auch Troll (1971), die eine Übersicht von Verwandtschaftsstudien der 1960er Jahre gibt. Sie thematisiert Verwandtschaftsbeziehungen von Familien in der zweiten Phase des Lebenszyklus, setzt ihren Schwerpunkt allerdings auf intergenerationale Beziehungen. Gibson (1972) übt als einziger Wissenschaftler Kritik an den Studien der fünfziger und sechziger Jahre. Die Kritik umfasst u.a. folgende Aspekte: 1) Ein geringer Grad an Kontakten zwischen den Haushalten wird als Beweis für die Feststellung genommen, die isolierte Kernfamilie sei ein Mythos. 2) Bisherige Studien zeichnen sich durch konfuse und inadäquate Konzeptualisierungen und Operationalisierungen aus, zudem ist der überwiegende Teil der Studien nicht-repräsentativ: die Ergebnisse basieren auf kleinen, nicht durch Zu-
3.2 Empirischer Forschungsstand
129
amerikanische Verwandtschaftsstruktur und -beziehungen der Mittelschicht, die durch die Alters- und Großstadtsoziologie wichtige Impulse erfahren haben. Im Gegensatz zur amerikanischen Forschung liegt der Fokus in Großbritannien auf den Verwandtschaftsbeziehungen der Arbeiterklasse. Festzuhalten bleibt, dass eine Vielzahl dieser frühen Studien die Diskrepanz zwischen dem Leitbild der autonomen Kernfamilie und dem tatsächlichen verwandtschaftlichen Verhalten aufdeckt (vgl. Schwägler 1970: 153f.). Für die USA sind für den Zeitraum der 1950er bis Mitte der 1960er Jahre folgende wichtige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler zu nennen: Adams 1968; Litwak 1960a,b; Reiss 1962; Robins, Tomanec 1962; Sussman, Burchinal 1962; Sussman 1965; Piddington 1965a252; für Großbritannien: Bott 1957253; Firth 1956a; Young, Wilmott 1957; Rosser, Harris 1965; Willmott, Young 1960.254 Eine der wohl am häufigsten zitierten Studien ist die von Firth (1956a).255 Deren besondere Bedeutung für das zentrale Thema dieser Arbeit – die Selektivität verwandtschaftlicher Beziehungen – wurde bereits in Kapitel 1.1.2 dargestellt. Festzuhalten bleibt, dass Verwandtschaftsbeziehungen in der untersuchten Nachbarschaft der Arbeiterklasse wichtige Sozialbeziehungen mit unterschiedlichen Funktionen sind (Information, Geselligkeit u.a.). Dabei zeigt sich eine Variabilität der Kontakthäufigkeit und des Austauschs von Hilfeleistungen zwischen Mitgliedern der Kernfamilie und den Verwandten. Die Befunde verdeutlichen auch, dass verwandtschaftliche Kontakte und Bindungen nicht notwendigerweise eine Funktion der geographischen Nähe sind. So genannte „pivotal kin“ haben eine zentrale Funktion für die Aufrechterhaltung von Verwandtschaftsbeziehungen (Kapitel 3.1.1). Diese Rolle wird primär von Frauen erfüllt. Frauen und Verwandte der matrilinearen
252
253
254
255
fallsauswahlen gezogenen Stichproben. So gibt es z.B. keine konzeptionellen Unterscheidungen zwischen der Häufigkeit von Kontakten und der Funktionalität, vielmehr werden sie als Indikatoren für einander verwendet. 3) Bisherige Artikel, die den Forschungsstand zusammenfassen, tun dies eher mit Enthusiasmus als mit Genauigkeit. Darüber hinaus kommen die „reviews“ zu unterschiedlichen Ergebnissen und die Studien zu unterschiedlichen Schlussfolgerungen (vgl. Gibson 1972: 14ff.). Kritisch äußert sich auch Lopata (1978). Als Verbesserungsvorschläge für eine zukünftige Verwandtschaftsforschung nennt Gibson (1972: 17) folgende Punkte: 1) Genaue und einheitliche Operationalisierung der Subdimensionen von verwandtschaftlicher Interaktion (4 Subdimensionen: a) availability of kin, b) proximity of kin, c) frequency of kin contact, d) functionality of kin). 2) Die Erhebung von repräsentativen Daten, die eine Generalisierung der Ergebnisse zulassen. 3) Klare Aussagen der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler über Kriterien, die für die Entscheidung für oder gegen die These der isolierten Kernfamilie verwendet werden. In dem von Piddington (1965a) herausgegebenen Sammelband sind ausschließlich Beiträge enthalten, die den Zusammenhang von geographischer Mobilität und Verwandtschaftsbeziehungen thematisieren (vgl. Ayoub 1965; Hubert 1965; Osterreich 1965). So thematisiert Ayoub (1965) beispielsweise die Beziehungen von Kindern zu ihren Onkeln und Tanten unter dem Einfluss der geographischen Mobilität. Die Ergebnisse werden an dieser Stelle nicht dargestellt. Die empirischen Befunde von Bott (1971) werden an dieser Stelle nicht diskutiert. In der qualitativen Studie wurden drei Familien zu ihren verwandtschaftlichen Beziehungen befragt. Vgl. Kapitel 3.1.1. Für Kanada vgl. Piddington (1961). Themen sind genealogisches Wissen über Vorfahren, „intermarriages“ und Migrationsbewegungen von Verwandten. Darüber hinaus wird der Zusammenhang von geographischer Distanz und Kontakthäufigkeit von immigrierten Verwandten untersucht. Es zeigt sich jedoch kein konsistenter Zusammenhang (vgl. Piddington 1965c: 147f.). Firth (1956a) veröffentlicht die Ergebnisse von zwei unterschiedlichen Studien: Firth, Djamour (1956: 21ff.) analysieren die verwandtschaftlichen Beziehungen einer Nachbarschaft im Süden Londons (South Borough). Im Zeitraum 1947-1949 wurden insgesamt 25 Haushalte befragt und beobachtet (Methoden: Intensivinterviews, teilnehmende Beobachtung). Aufgrund von methodischen Begrenzungen wird die Studie nicht als „full-scale kinship study“ bezeichnet (vg. Firth, Djamour 1956: 23). Die zweite Studie analysiert die verwandtschaftlichen Beziehungen einer italienischen Gemeinde Londons (vgl. dazu ausführlicher Garigue, Firth 1956).
130
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
Abstammungslinie nehmen eine besondere Stellung innerhalb des Verwandtschaftsnetzwerkes ein, da die emotionalen Bindungen als „matri-centred“ bezeichnet werden (vgl. Firth, Djamour 1956: 62f.). Young, Willmott (1957: 63f.) stellen in diesem Kontext die Rolle der Eltern und Großeltern für die Aufrechterhaltung von verwandtschaftlichen Kontakten (insbesondere mit Onkeln/Tanten) heraus.256 Die Veränderung der Familienstruktur, z.B. durch Tod dieser „Mittelspersonen“ oder Existenz einer eigenen Familie, schwächen die Beziehungen zur entfernten Verwandtschaft (vgl. Young, Willmott 1957: 63f.). Adams (1970: 577) differenziert u.a. zwischen zwei zentralen Themenbereichen der Verwandtschaftsstudien, zu denen empirische Befunde vorliegen und die für diese Arbeit von Interesse sind: 1) Genealogisches Wissen (Firth, Djamour 1956; Croog, Kong-Minh New 1965; Cumming, Schneider 1966) und 2) Wichtigkeit von sekundären und tertiären Verwandten (Adams 1968; Robins, Tomanec 1962).257 Im Vordergrund der Studie von Cumming, Schneider (1966) steht die Analyse der Geschwistersolidarität, die als fundamentale Bindung innerhalb des bilateralen Verwandtschaftssystems betrachtet wird.258 Sie liefern darüber hinaus empirische Befunde über das genealogische Wissen, das durch die Frage nach dem Namen der Verwandten operationalisiert wird. Insgesamt lässt sich ein größeres Wissen über Kollateralverwandte feststellen.259 Die Solidarität mit kollateralen Verwandten wird zusammenfassend als integraler Bestandteil des sozialen Systems angesehen, „which requires a high level of coordination and mutual dependency but which, at the same time, values a high level of autonomy, freedom of choice, and equalitarism (Cumming, Schneider 1966: 148; Eigene Hervorhebung). Firth, Djamour (1956) liefern in diesem Kontext qualitative Ergebnisse über das genealogische Wissen. Es liegen über fünf bis sechs Generationen Informationen über Verwandte vor, wobei jeweils sekundäre Cousins und Cousinen die Grenze für Blutsverwandte bilden. Frauen verfügen allgemein über ein größeres Wissen als Männer. Bei ihrer Analyse stellen sie darüber hinaus fest, dass ca. 15% von den genannten 1150 Verwandten verstorben sind (vgl. Firth, Djamour 1956: 37f.). Die Bedeutung der Erinnerungen an verstorbene Verwandte wird folgendermaßen interpretiert: 256
257
258
259
Es wurden 55 Intensivinterviews mit verheirateten Paaren aus London durchgeführt (vgl. Young, Wilmott 1957: xviif.). Ein weiterer Themenbereich ist der Wandel von Verwandtschaftsbeziehungen. In diesem Kontext ist die Studie von Rossi (1965) zu sehen, die die Namensgebung von Kindern nach ihren Verwandten analysiert. Die Namensgebung wird als valider Faktor einer positiven affektiven Beziehung zwischen Eltern und den Verwandten angesehen. Dies gilt darüber hinaus auch für die Beziehung der Kinder zu ihren Verwandten. 90% der Frauen, die sehr in das Verwandtschaftsnetzwerk involviert sind, haben ihr Kind nach Verwandten genannt (vgl. Rossi 1965: 501). Insgesamt tragen 62% der Kinder Namen von spezifischen Verwandten. Die Namensgebung variiert mit dem Geschlecht der Kinder, so tragen häufiger Jungen (und Erstgeborene) Namen von Verwandten als Mädchen (vgl. Rossi 1965: 513). Die Stichprobe umfasst 220 Erwachsene im Alter von 50 bis 80 Jahren (Kansas City, USA). Es wurden 15 Intensivinterviews durchgeführt (vgl. Cumming, Schneider 1966: 143). Ausführlicher zum Thema Geschwisterbeziehungen vgl. Kapitel 3.2.1.1.2. Croog, Kong-Ming New (1965) stellen die These auf, dass das genealogische Wissen über die Beschäftigung des Großvaters „can be interpreted as a reflection of basic orientations toward kindred in the context of the conjugal family system“. Schwerpunkt ihrer Analyse ist der Einfluss des sozialen Status auf das genealogische Wissen. Die Stichprobe ihrer Studie bilden 1556 Soldaten aus „intakten Familien“ aus New York und städtischen Gebieten New Jerseys und den Neuengland Staaten. Insgesamt 54% der Befragten können Aussagen über die Beschäftigung des Großvaters (väterlicher- und mütterlicherseits) machen und 25% über jeweils einen Großvater. 21% geben keinerlei Auskunft (vgl. Croog, Kong-Ming New 1965: 70f.). Darüber hinaus ergeben sich positive Zusammenhänge des genealogischen Wissens mit Bildung, sozialer Klasse (des Vaters) und sozialer Mobilität (vgl. Croog, Kong-Ming New 1965: 72ff.).
3.2 Empirischer Forschungsstand
131
„Memory of dead kin is a part of the social personality of an informant; the dead serve as a focus for sentiment; they are links of justification of active social ties with other kin” (Firth, Djamour 1956: 38).
In Bezug auf die Wichtigkeit von Verwandten sollen die Ergebnisse unterschiedlicher Studien vorgestellt werden (Robins, Tomanec 1962; Adams 1968). Nach Adams (1968: 26f.) geben 48% der Befragten an, dass Verwandte sehr wichtig in ihrem Leben sind, für 11% sind sie unwichtig.260 10% der Befragten kennen keine entfernten Verwandten, um über ihre subjektive oder objektive Beziehung Auskunft zu geben, d.h. zwischen ihnen bestehen keine sozialen Beziehungen (vgl. Adams 1968: 134). Im Vordergrund der Studie von Robins, Tomanec (1962) steht die emotionale Beziehung zum erweiterten Familienkreis (Großeltern, Onkel/Tanten, Cousins/Cousinen und Großonkel und -tanten).261 Es ist eine der wenigen Studien, die den Personenkreis der entfernten Verwandten in den Mittelpunkt ihrer Analyse stellt. Die zentrale Forschungsfrage lautet: Welche Variablen beeinflussen die emotionale Nähe („family closeness“) zwischen Verwandten? (vgl. Robins, Tomanec 1962: 340).262 Es wird eine Rangfolge der emotionalen Nähe, differenziert nach dem Verwandtentyp und der genealogischen Abstammung, festgestellt. Die Befragten fühlen sich mit ihren Großeltern am engsten verbunden (53%), gefolgt von Onkeln/Tanten (40%), Cousins/Cousinen (36%) und Großonkel/-tanten (12%) (vgl. Robins, Tomanec 1962: 342f.). Als weitere Determinanten der emotionalen Nähe werden das Geschlecht egos und der Verwandten, die geographische Nähe und der Familienstand (der Verwandten) analysiert. In Bezug auf die Beziehungen zu Onkeln und Tanten ergeben sich signifikante Zusammenhänge mit dem Geschlecht egos (Frauen fühlen sich diesen Verwandten näher als Männer), dem Geschlecht der verwandten Person (die Befragten fühlen sich Onkel und Tante der mütterlichen Abstammungslinie emotional näher) und der geographischen Nähe. Ein weiterer Zusammenhang zeigt sich zwischen dem Familienstand der Verwandten und der emotionalen Nähe, denn engere Beziehungen bestehen mit den ledigen Cousins und Cousinen sowie den ledigen Großonkeln und -tanten (vgl. Robins, Tomanec 1962: 343f.). Darüber hinaus werden keine Zusammenhänge zwischen emotionaler Nähe und unterschiedlichen Homogenitätsaspekten (Alter, Status) gefunden (vgl. Robins, Tomanec 1962: 345). Welche Erklärungen werden für diese Befunde angeführt? Die Reihenfolge der emotionalen Nähe entspricht zum einen dem strukturellen Aufbau des modernen Verwandtschaftssystems, wie er von Parsons (1943) dargelegt wurde, denn Großeltern, Onkel und Tanten bilden den „outer circle“, während Cousins, Cousinen, Großonkel und -tanten noch dahinter liegen (vgl. Robins, Tomanec 1962: 343). Diese Interpretation korrespondiert ebenfalls mit soziobiologischen Überlegungen (Kapitel 1.4). Es wird darüber hinaus eine allgemeine Erklärung gegeben. Zum einen sind Verpflichtungen und Loyalität gegenüber der eigenen Familie am höchsten ausgeprägt. Ist keine eigene Familie vorhanden bzw. ist 260
261
262
Die Stichprobe bilden 799 Befragte aus einer Stadt in North Carolina, die seit den 1950er Jahre ein hohes industrielles Wachstum zu verzeichnen hatte. Die Befragten sind alle verheiratet und jüngeren bis mittleren Alters (vgl. Adams 1968: 9). Ziel der Studie ist es, die Charakteristiken der „urban kinship“ zu analysieren. Es wurden 140 Interviews durchgeführt (bewusste Auswahl). Die Befragten gehören der Mittelklasse an, 74% studieren und 80% sind jünger als 25 Jahre (bei einer Spannweite von 18 bis 45 Jahren) (vgl. Robins, Tomanec 1962: 341f.). Diese wird durch die Häufigkeit der Kommunikation und Besuche, Austausch von Hilfen und Existenz von Verpflichtungsgefühlen zwischen ego und den Verwandten operationalisiert (vgl. dazu ausführlicher Robins, Tomanec 1962: 341).
132
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
die Anzahl der Mitglieder in der Orientierungsfamilie gering (z.B. durch Geschwisterlosigkeit), so wird die Bedeutung der entfernten Verwandten höher sein. Dem Individuum steht nur eine relativ konstante Zeitmenge für verwandtschaftliche Interaktionen zur Verfügung. Ist nun eine eigene Familie vorhanden, so gilt ihr die ganze Aufmerksamkeit in Form von Interaktionen oder Verpflichtungen (vgl. Robins, Tomanec 1962: 343). „Whatever enlarges the nuclear family, whether it is the presence of many siblings in Ego´s family of orientation or Ego´s entering a new nuclear family through marriage or expanding it through childbirth, reduces the amount of time and effort available to expend on relatives outside the nuclear family. When Ego has few siblings or has not yet entered into marriage, his relationships to his relatives outside the nuclear family are closer. As he marries, and particularly as he has children of his own, his relationships with his secondary relatives diminish” (Robins, Tomanec 1962: 343).
Der Heiratsstatus wird ebenfalls zur Erklärung herangezogen, denn eine Heirat führt zu einer Isolierung von Onkeln und Tanten. „(…) that the families of procreation of his aunts and uncles do not include members of Ego´s nuclear family, while the families of procreation of his grandparents do. Marriage segregates the aunts and uncles from him, but not the grandparents“ (Robins, Tomanec 1962: 343f.).
Die Studie von Adams (1968) ist im Besonderen herauszustellen, da sie in einem Schwerpunkt sekundäre und tertiäre Verwandtschaftsbeziehungen betrachtet. Im Vordergrund der Analyse stehen die Beziehungen der befragten jungen Erwachsenen zu den best known cousin. Dabei werden das Konzept der subjektiven Verwandtschaft und das Prinzip der Wahl von Verwandten angesprochen. So weist Adams auf individuelle Präferenzen als Determinanten verwandtschaftlichen Handelns hin, deren Bedeutung beispielsweise in Theorien der Freundschaftswahl diskutiert wird (Kapitel 3.1.2.2). Gleichzeitig werden die Opportunitäten des Kontaktes berücksichtigt, da die Beziehungen zwischen Cousins und Cousinen von den Kontakten der Eltern und der geographischen Nähe abhängen (vgl. Adams 1968: 136). „However, ordinarily preference and choice are assumed to operate in secondary kin relations in very much the same fashion as they do in the relations between old friends. Nevertheless, the ‚given’ aspect of kinship is likewise operative, determining which kin are apt to have the opportunity for contact” (Adams 1968: 136).
85% der Befragten kennen wenigstens ein Cousin oder eine Cousine, um genauere Auskunft über sie zu geben. Nur ca. 15% der Befragten haben eine enge emotionale Beziehung zu ihren Cousins/Cousinen, davon leben 59% in der gleichen Gemeinde (vgl. Adams 1968: 139f.).263 Aufgrund dessen spricht Adams (1968: 140) von einem Zusammenhang zwischen der geographischen Nähe und dem Grad der Intimität. Beziehungen zu Onkeln und Tanten sind insgesamt durch größere affektive Nähe gekennzeichnet (vgl. Adams 1968: 156). Die häufigsten Interaktionsformen sind Besuche, Telefongespräche oder Briefe, dagegen findet 263
21% der Männer und 25% der Frauen geben an, dass ihre Werthaltungen mit denen der Cousins und Cousinen übereinstimmen (vgl. Adams 1968: 154). Dies würde der Solidaritätdimension „consensual solidarity“ (Kapitel 3.1.3) entsprechen.
3.2 Empirischer Forschungsstand
133
so gut wie kein Austausch von Hilfeleistungen statt (vgl. Adams 1968: 145). Als wichtigster Grund für die Beziehung wird „enjoyment“ genannt. Dabei gilt: Je enger die Bindung zwischen Cousins und Cousinen, desto häufiger sind auch die Kontakte. Die Mehrheit der Befragten empfindet jedoch keine Verpflichtung zur Aufrechterhaltung der Kontakte (vgl. Adams 1968: 154f.).264 Wichtige Einflussfaktoren sind Geschlecht und Abstammungslinie, so sind die „best known cousin“ aus Sicht egos primär die Töchter der Schwester der Mutter. Adams (1968: 138) führt diesen Befund auf die Offenheit des bilinearen Verwandtschaftssystems, die spezielle Rolle der Frau in der Familie und die Trennung der Geschlechterrollen in der Arbeiterklasse zurück. Die wichtigsten Determinanten einer engen Beziehung mit Cousins und Cousinen sind nach Adams (1968: 155f.): 1) eine enge Beziehung in der Kindheit („childhood proximity“), 2) Übereinstimmung von Werten („value consensus“) und 3) keine gleichgeschlechtlichen Geschwister („no same-sex-sibling“). Diese Einschätzungen sind jedoch nur mit gewissen Einschränkungen gültig. Die Nähe in der Kindheit ist eine quasi Voraussetzung für die Existenz von Beziehungen im Erwachsenenalter, jedoch keine ausreichende Bedingung für eine affektive Nähe zwischen Cousins und Cousinen. Darüber hinaus lassen die Daten es nicht zu, Cousins und Cousinen als Ersatz für fehlende Geschwister zu bezeichnen. Dies wird vielmehr als eine Überinterpretation des Einflusses des Geschwisterstatus bezeichnet (vgl. Adams 1968: 144). Folgende allgemeine Determinanten der Wahl von Cousins und Cousinen werden von Adams zusätzlich festgehalten, die in der individuellen Biographie, der Familiengeschichte, dem Verhältnis der Geschwister untereinander, der geographischen Nähe (in Kindheit und Erwachsenenalter) und der Entwicklung gemeinsamer Interessen begründet liegen: „(…) choice being based primarily, of course, upon residential and genealogical availability, i.e., whether such a cousin exists or not, but after this upon similarity of sex, similarity of values, and other aspects of personal preferences“ (Adams 1968: 160).
In Anlehnung an Adams (1970: 580) können nun in einem zweiten Schritt folgende thematische Schwerpunkte der Verwandtschaftsstudien genannt werden: 1) Verwandtschaftsterminologie (Schneider, Homans 1955; Hagstrom, Hadden 1965; Ballweg 1969) 2) Asymmetrie (Sweetser 1963, 1964, 1966) und 3) Interaktionsformen zwischen Verwandten (Reiss 1962).265 Die Studie von Schneider, Homans (1955) über die amerikanische Verwandtschaftsterminologie unterstützt das Konzept der subjektiven Verwandtschaft und konzentriert sich
264
265
Die Studie von Reiss (1962: 336) zeigt, dass insgesamt 90% der Befragten sich dazu verpflichtet fühlen, Kontakte mit Verwandten zu pflegen. Frauen fühlen sich eher verpflichtet als Männer. Frauen sind darüber hinaus Initiatorinnen für Kontakte mit matrilinearen als auch mit patrilinearen Verwandten: „It was clear that without the female initiative in keeping in touch with kin, many kin relationships would not be maintained“ (Reiss 1962: 336). Ausführlicher zur Variabilität der normativen Verpflichtungen gegenüber unterschiedlichen Verwandtentypen vgl. Kapitel 3.2.1.2. Als viertes Thema werden Probleme und Konflikte innerhalb der Verwandtschaft genannt. Hierzu gehören verschiedene inhaltliche Schwerpunkte, z.B. Konflikte zwischen alten Eltern und ihren Kindern im Hinblick auf Versorgung oder Zusammenleben; Konflikte zwischen Familienangehörigen, die gemeinsam wirtschaftlich aktiv sind, Konflikte zwischen Schwiegereltern und -kindern (vgl. dazu ausführlicher Adams 1970: 584f.). Die empirischen Befunde werden an dieser Stelle vernachlässigt.
134
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
explizit auf den Personenkreis der entfernten Verwandten (Onkel, Tanten).266 Die zentrale Forschungsfrage lautet: Welche Determinanten stehen im Zusammenhang mit einem unterschiedlichen Gebrauch der Anreden für Onkel und Tanten? Es wird vermutet, dass die Anreden auf den Grad der emotionalen Beziehung schließen lassen. Möglichkeiten der Anrede sind a) „Onkel“/„Tante“ plus Vorname, b) nur Vorname oder c) nur formaler Verwandtschaftsterm „Onkel“ oder „Tante“ (vgl. Schneider, Homans 1955: 1195). Die Kombination von „Onkel“/„Tante“ plus Vorname sowie nur der Vorname werden am häufigsten genannt.267 Es zeigen sich darüber hinaus auch Variationen innerhalb einer Genealogie (vgl. Schneider, Homans 1955: 1199). Die unterschiedlichen Verwandtschaftsbeziehungen, die sich durch jeweils verschiedene Anreden manifestieren, werden von Schneider, Homans (1955: 1200) als signifikantes Statement über die Natur des amerikanischen Verwandtschaftssystems interpretiert. Es bestehen drei potentielle Beziehungsverhältnisse zwischen ego und den Onkeln bzw. Tanten: „(…) that there can be three broad possibilities in the relationship between ego and uncles or aunts; the relationship may be intensely close, warm and intimate with equalitarian overtones; or it may be intensely hostile with or without the prominent display of this affect; or it can be mildly positive, mildly negative, or, to put it another way, the affect can be subordinate to other, primarily kinship, considerations” (Schneider, Homans 1955: 1200).
Von welchen Faktoren hängt nun die gewählte Terminologie ab? Zum einen gibt es eine Tendenz, Verwandte der mütterlichen Linie mit dem Vornamen anzusprechen. Männer hingegen sprechen ihre Verwandten häufiger nur mit dem Vornamen an, während die formalen Anreden häufiger bei Frauen verbreitet sind. Es lässt sich zudem eine Veränderung im Lebenslauf feststellen, d.h. es zeigt sich ein positiver Zusammenhang zwischen dem Gebrauch des Vornamens und dem Alter. „Here, for more surely, the use of the first name implies a role of equality with uncle and aunt. The formal term is dropped when children view themselves, and are viewed, as being grown up and so almost on the same plane as uncle and aunt“ (Schneider, Homans 1955: 1199).
Eine vierte Determinante der Anrede ist die Qualität der persönlichen Beziehung bzw. die Persönlichkeit der Verwandten (vgl. Schneider, Homans 1955: 1202). Starke affektive Gefühle für Verwandte stehen in einem positiven Zusammenhang mit der Verwendung des Vornamens und dem Verzicht auf die formale Anrede „Onkel“ oder „Tante“ (vgl. Schneider, Homans 1955: 1199f.). Die Beziehung wird als Freundschaft wahrgenommen und weniger als „reine“ Verwandtschaft, denn diese Verwandten werden zugleich auch als Freundinnen bzw. Freunde bezeichnet. In Anlehnung an König (1976: 78) kann man eine „starke Personalisierungstendenz“ der entfernten Verwandtschaftsbeziehungen feststellen: „This is clearly in line with the tendency to treat kinsmen as particular people with particular and unique qualities of a personal nature” (Schneider, Homans 1955: 1202).
266
267
Die Stichprobe bilden 209 Studierende (154 Männer und 55 Frauen) der Universität Harvard (USA) (vgl. Schneider, Homans 1955: 1194). Über die quantitative Verteilung liegen keine Prozentwerte vor.
135
3.2 Empirischer Forschungsstand
Die Studie von Hagstrom, Hadden (1965) versteht sich als Replikat und Erweiterung der Studie von Schneider, Homans (1955). Die Analyse bezieht sich ebenfalls auf die Anreden für Onkel und Tanten.268 Die häufigste Anrede ist „Onkel“/„Tante“ in Kombination mit dem Vornamen und die Anrede nur mit dem Vornamen. Tabelle 4 zeigt die jeweilige Verteilung der möglichen Anredeformen differenziert nach dem Geschlecht der Befragten und Verwandten. Tabelle 4: Anreden für Onkel und Tanten (Angaben in Prozent) Anrede
Vorname Spitzname Onkel/Tante plus Spitzname Onkel/Tante plus Vorname Nur Onkel/Tante
Alle Befragten GeGeschwister schwister des der Vaters Mutter
Männer GeGeschwister schwister des der Vaters Mutter
Frauen GeGeschwister schwister des der Vaters Mutter
29,0 8,0
33,0 8,0
36,0 9,0
40,0 6,0
20,0 6,0
27,0 9,0
8,0
12,0
9,0
8,0
8,0
16,0
48,0 7,0
40,0 7,0
35,0 10,0
37,0 9,0
61,0 5,0
43,0 5,0
N 727 718 (Quelle: Hagstrom, Hadden 1965: 328)
378
361
349
357
Es sind insbesondere Männer, die ihre Verwandten (beider Abstammungslinien) eher mit dem Vornamen ansprechen. Die Formalität der Ansprache auf Seiten der Frauen zeigt sich vor allem bei der Anrede der patrilinearen Verwandten (61%), während im Vergleich 43% der Frauen ihre (matrilinearen) Verwandten mit Verwandtschaftsterm und Vornamen ansprechen (vgl. Hagstrom, Hadden 1965: 328).269 Darüber hinaus besteht ein Zusammenhang zwischen der Anrede mit dem Vornamen und der Qualität der Verwandtschaftsbeziehung.270 Dieses Ergebnis korrespondiert mit den Befunden von Schneider, Homans (1955). Das Geschlecht ist eine wichtige Determinante der affektiven Haltung, denn es zeigen sich größere positive Gefühle gegenüber Tanten und den matrilinearen Verwandten. Die Gefühlshaltung steht darüber hinaus in einem positiven Zusammenhang mit der Häufigkeit der verwandtschaftlichen Interaktion (vgl. Hagstrom, Hadden 1965: 330f.). Die Autoren sehen in der Feststellung der individuellen Wahl der Verwandtschaftsterminologie ein Potential für eine zukünftige Verwandtschaftsforschung, die die emotionalen Beziehungen zum erweiterten Familienkreis verstärkt berücksichtigt:271 268 269
270
271
Die Stichprobe bilden 272 Studierende der Universität Wisconsin (USA) (vgl. Hagstrom, Hadden 1965). Weitere Analysen bezüglich des Einflusses des Alters auf die Wahl der Anrede sind nicht eindeutig (vgl. Hagstrom, Hadden 1965: 329). Die Gefühlshaltung wird durch eine fünfstufige Skala operationalisiert (1 = „intensely negative“ bis 5 = „intensely positive“) (vgl. Hagstrom, Hadden 1965: 330). Dieser innovative Ansatz in der Analyse von entfernten Verwandtschaftsbeziehungen ist jedoch in der familiensoziologischen Forschung nicht vertieft worden. Es lassen sich keine weiteren Studien zu diesem Thema anführen. Dies ist mit Sicherheit als ein Forschungsdefizit zu bewerten.
136
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
„If future studies show that sentiment has an important effect on the choice of kin terms, it may become possible to use terminology as a diagnostic tool, a kind of projective test. (…). And it may be possible to make inferences about the strength of extended families on the basis of terms of address for aunts and uncles; (…)” (Hagstrom, Hadden 1965: 332).
Die Studie von Ballweg (1969) hat ihren Schwerpunkt in der Analyse der fiktiven Verwandtschaftsterminologie.272 Die Verwandtschaftsterminologie hat eine klassifikatorische und ordnungsschaffende Komponente. Darüber hinaus kann das Verwandtschaftssymbol ein Ausdruck der emotionalen Beziehung sein, so wie es die Studien von Schneider, Homans (1955) und Hagstrom, Hadden (1965) nachweisen konnten. Zur genaueren Analyse wird zwischen drei Kategorien differenziert: 1) „institutional category“, 2) „associational category“ und 3) „fictive category“ (vgl. Ballweg 1969: 84f.). Die Begriffe sind charakteristisch für verschiedene Arten von persönlichen Beziehungen. Institutionelle Begriffe beziehen sich auf Personen, die auf der Grundlage von Blutsverwandtschaft und Schwägerschaft miteinander verbunden sind. Beispiel hierfür sind die klassischen Verwandtschaftsterme wie Mutter, Bruder, Onkel, Tante u.a. Sie gelten als institutionalisierte Begriffe, da sie eine überindividuelle Gültigkeit haben. Assoziationale Begriffe beziehen sich beispielsweise auf religiöse Titel, z.B. wird ein Priester einer religiösen Gemeinde als „Vater“ bezeichnet. Die Person ist kein Mitglied der biologischen oder affinalen Verwandtschaftsgruppe egos, sondern die Bindungen sind von symbolischer Natur und werden im Kontext von bestimmten Organisationen verwendet. Der dritte Typ hingegen ist außerhalb einer Determinierung durch die soziale Struktur verankert. Die Beziehungen werden als „personal kinship“ und „pseudo-kinship“ bezeichnet, die Personen einschließen, die nicht Mitglied der Bluts- bzw. Affinalverwandtschaft oder anderer institutioneller Verbindungen sind. So wird beispielsweise eine Nachbarin, zu der ein enges persönliches Verhältnis besteht, als „Tante“ bezeichnet (vgl. Ballweg 1969: 85). Insgesamt 64% der Befragten verwenden die fiktive Verwandtschaftsterminologie. Frauen nutzen sie etwas häufiger als Männer. Die häufigsten Anreden sind „Onkel“ und „Tante“, mit denen somit auch Nicht-Verwandte bezeichnet werden.273 Die Mehrheit der fiktiven Verwandten sind Frauen. 55% der fiktiven Verwandten sind Tanten, Schwestern und (Groß-)Mütter (vgl. Ballweg 1969: 85f.).274 Das Konzept der Asymmetrie – als Merkmal des modernen Verwandtschaftssystems – wird von Sweetser (1963, 1964, 1966) in die soziologische Diskussion eingeführt und knüpft inhaltlich an die Befunde über weibliche Verwandtschaftsbeziehungen an.275 Zur besseren Charakterisierung dieses speziellen Sachverhaltes wird der Begriff Asymmetrie gewählt, der besagt, dass trotz der (theoretisch) bilateralen Ordnung des Verwandtschaftssystems, matrilineare Verwandte eine größere Bedeutung für die Ausgestaltung der konkre272
273
274
275
Die Stichprobe dieser Pilotstudie besteht aus 567 Studierenden (294 Männer, 273 Frauen) einer Universität im Mittleren Westen der USA (vgl. Ballweg 1969: 84). Die weitere Verteilung sieht folgendermaßen aus: Bruder/Schwester (26%), Mutter/Vater (16,1%), Großvater, -mutter (12,9%), Cousin/Cousine (4,7%). Zur vertiefenden Analyse der Beziehungsqualität wird u.a. folgende Frage gestellt: „Do you feel as close to this person as you would to a relative who held the same kinship titel?“ (Ballweg 1969: 86). An dieser Stelle ist anzumerken, dass diese Frage aus methodischen Gesichtspunkten sehr kritisch zu beurteilen ist. Wie sollen die Befragten diese hypothetische Frage beantworten? Die Ergebnisse werden aus diesem Grund nicht dargestellt. Sweetser (1963: 349) bezieht das Problem der Asymmetrie speziell auf die engere Beziehung zwischen Eltern und der Familie der Tochter. Als stärkster Beweis hierfür wird das Teilen eines gemeinsamen Haushaltes angesehen.
3.2 Empirischer Forschungsstand
137
ten sozialen Beziehungen haben. Dies zeigt sich in engeren emotionalen Beziehungen und häufigeren Kontakten mit Verwandten der mütterlichen Abstammungslinie. Zu den verwandtschaftlichen Interaktionsformen gehören Besuche, soziale Aktivitäten, Hilfeleistungen und Kommunikation (vgl. exemplarisch Adams 1968, 1970; Sussman, Burchinal 1962; Litwak, Szelenyi 1969). Als Indikatoren der verwandtschaftlichen Kontakte mit „effective kin“ werden nach Firth, Djamour (1956: 51ff.) vor allem Familienfeiern genannt. Insbesondere das Verschicken von Weihnachtsgrüßen wird als „token of kin interest“ interpretiert, das durch eine exakte Reziprozität gekennzeichnet ist und neben der Einladung zu Hochzeiten als „Instrument der Selektivität“ von Verwandtschaftsbeziehungen bezeichnet wird (vgl. Firth, Djamour 1956: 55). Reiss (1962) analysiert die Korrelate der Kontakthäufigkeit mit Verwandten.276 Keine Zusammenhänge gibt es mit dem Geschlecht, der ethnischen Herkunft und dem Familienzyklus (vgl. Reiss 1962: 334). Die Kontakthäufigkeit steht jedoch in einem direkten Zusammenhang mit der geographischen Distanz, die aus handlungstheoretischer Sicht als Kosten der Beziehung zu interpretieren ist (vgl. Kapitel 3.1.2 und Kapitel 4.1.1). Sie ist damit eine wichtige Determinante der Quantität von verwandtschaftlichen Interaktionen. Aus Sicht der Befragten stellt die geographische Distanz ein Kostenfaktor dar, denn 39% geben an, dass der „Zeit-Kosten-Distanz-Faktor“ eine wichtige Determinante des Verwandtschaftskontaktes sei. Hinderungsgründe für häufigere Kontakte sind entweder die physische Distanz oder die damit verbundenen Kosten und die Zeit, die mit der Fahrt in Verbindung gebracht werden (vgl. Reiss 1962: 337). Diese Ergebnisse veranlassen den Autor zu folgendem Fazit, das die Bedeutsamkeit der geographischen Distanz für die Existenz von subjektiven Verwandtschaftsbeziehungen hervorhebt: „While the cultural norm of bilaterality is maintained, actual kinship systems are structured greatly by the ecological situation generated by geographical mobility” (Reiss 1962: 339).
Von den Befragten, die mit ihren entfernten Verwandten (Großeltern, Onkeln, Tanten, Nichten und Neffen in einer Kategorie zusammengefasst) mindestens einmal im Monat Kontakt haben, leben 82,7% in der gleichen Stadt wie diese Verwandten, 36,5% in der näheren Umgebung und 7,3% im Großraum der Neuengland Staaten. Insgesamt sehen 1,1% der Befragten diese Verwandten täglich, 8,3% wöchentlich, 17,1% monatlich, 41,4% jährlich und 32% seltener (vgl. Reiss 1962: 335f.). Die Interaktionen mit Cousins und Cousinen werden in einer gesonderten Kategorie abgefragt. Insgesamt sehen 1,2% der Befragten ihre Cousins/Cousinen wöchentlich, 10,5% monatlich, 51,8% jährlich und 36,2% seltener (vgl. Reiss 1962: 335). Es wird eine Rangfolge der Kontakthäufigkeit festgestellt, die sich entsprechend der genealogischen Nähe konstituiert: 1) Eltern, 2) Geschwister, 3) Großeltern, 4) Onkel/Tanten, Nichten/Neffen, 4) Cousins/Cousinen. Auch bei Kontrolle der räumlichen Distanz zeigt sich dieser Zusammenhang (vgl. Reiss 1962: 334). Als weitere Determinanten werden darüber hinaus die Bedeutung von Familienfesten und die Qualität der Beziehung mit den Verwandten analysiert. Familienereignisse (Hochzeiten, Beerdigungen, Notsituationen im Krankheitsfall u.a.) werden von 45% der Befragten als Hauptgründe für verwandtschaftliche Kontakte genannt. Als zusätzlichen Erklärungsfaktor wird die Qualität der Be276
Im Mittelpunkt dieser Studie steht die städtische Familie der Mittelklasse und ihr erweitertes Verwandtschaftsnetzwerk. Insgesamt wurden 161 zufällig ausgewählte Familien aus Boston (USA) befragt, die Angaben über 2063 Verwandtschaftsmitglieder machten (vgl. Reiss 1962: 333).
138
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
ziehung mit den Verwandten angeführt. Für 73% der Befragten sind die Eigenschaften der Verwandten (Persönlichkeit, relatives Alter, Vorhandensein von Kindern) und gemeinsame Interessen die entscheidenden Determinanten des Kontaktes und damit der Wahl von Verwandten (vgl. Reiss 1962: 337). Zu den spezifischen Determinanten, die im Zusammenhang mit der Variabilität des verwandtschaftlichen Handelns diskutiert werden, zählt Adams (1970: 585) insbesondere die soziale Klasse sowie soziale und geographische Mobilität.277 Studien belegen, dass Angehörige der Arbeiterklasse eine stärkere verwandtschaftliche Bindung haben als Angehörige der Mittelklasse (Bott 1957; Adams 1968). Dies gilt insbesondere für den alltäglichen Austausch von Hilfeleistungen. Lee (1979: 48) liefert hierfür eine differenzierte Erklärung, die auf austauschtheoretischen Prämissen beruht. Demnach sind die Kosten einer Beziehung (z.B. geographische Distanz) entscheidend für die Art der Hilfeleistung. Im Vergleich zu Familien der Mittelschicht leben Arbeiterfamilien in geographischer Nähe zu ihren Verwandten, und diese Tatsache erhöht die Wahrscheinlichkeit für den Erhalt von Unterstützungsleistungen. Da gleichzeitig das Einkommen von Familien der Mittelschicht höher ist, sind finanzielle Hilfen dort häufiger verbreitet. Die Frage nach dem Einfluss der sozialen Klasse steht im Zusammenhang mit den Auswirkungen der sozialen und geographischen Mobilität (Litwak 1960b; Stuckert 1963; Adams 1967b). Entgegen der Position von Parsons (1943), der die relative Unvereinbarkeit von Mobilitätserfordernissen und verwandtschaftlichen Bindungen bzw. Kontakten postuliert, liefern diese Studien ein differenziertes und teilweise widersprüchliches Bild. Dies gilt auch im Hinblick auf den Einfluss des sozialen Status auf verwandtschaftliche Beziehungen. Als klassische Positionen werden im Folgenden Parsons (1943) und Litwak (1960b) kontrastiert, wobei die Studien von Stuckert (1963) und Adams (1967b) explizit das Ziel haben, herauszufinden, welche dieser Sichtweisen korrekt ist. Im Vordergrund steht insbesondere das Konzept der „modified extended family“ von Litwak (1960a,b), das als Gegenentwurf und Widerlegung der „isolierten Kernfamilie“ in die familiensoziologische Diskussion eingeführt wurde (vgl. Kapitel 2.3.3). Die klassische Annahme, die einen negativen Zusammenhang von Mobilitätserfordernissen und erweiterten Verwandtschaftskontakten postuliert, wird von Litwak (1960a,b) empirisch widerlegt.278 Litwak (1960b) untersucht den Zusammenhang von sozialer Mobilität und „extended family cohesion“, die durch die Häufigkeit der Besuche (Verhaltensebene) und den Grad
277
278
Darüber hinaus wird von Adams (1970: 585) auf die ethnische Herkunft verwiesen. Hierzu zählen Studien über chinesische Migrantinnen und Migranten (Barnett 1960), Unterschiede zwischen Katholiken und Protestanten (Kosa u.a. 1960; Winch, Greer 1968) und Juden (vgl. exemplarisch Goldscheider, Goldstein 1967). Die empirischen Befunde werden an dieser Stelle nicht aufgeführt. Zum Zusammenhang von Migration und Verwandtschaft können in Anlehnung an Adams (1970) folgende Ergebnisse festgehalten werden: Enge Verwandtschaftsbindungen können Migration hindern (Komarovsky 1962) oder sie initiieren (Young, Geertz 1961; Berado 1966; Adams 1968). Sussman, Burchinal (1962: 238) fassen die Befunde Litwaks (1960a,b) zusammen: „1) The extended kin family as a structure exists in modern urban society at least among middle class families; 2) Extended family relations are possible in urban industrial society; 3) Geographical propinquity is an unnecessary condition for these relationships; 4) Occupational mobility is unhindered by the activities of the extended family, such activities as advice, financial assistance, temporary housing, and the like provide aid during such movement; and 5) The classical extended family of rural society or its ethnic counterpart are unsuited for modern society, the isolated nuclear family is not the most functional type, the most functional being a modified extended kin family.”
139
3.2 Empirischer Forschungsstand
der Familienorientierung (Einstellungsebene) operationalisiert wird.279 Die soziale Mobilität erfasst den Wechsel zwischen sozialen Positionen (Berufsstatus) und wird über den Beruf des Ehemanns und seines Vaters operationalisiert. Folgende Kategorien werden gebildet (vgl. Litwak 1960b: 14):
„stationary upper class“ (Ehemann und sein Vater befinden sich in der oberen Klasse.) „upwardly mobile class“ (Ehemann hat einen höheren beruflichen Status als sein Vater.) „downwardly mobile class“ (Vater hat einen höheren beruflichen Status als der Ehemann.) „stationary manual class“ (Ehemann und Vater sind Handwerker.)
Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es keinen negativen Zusammenhang zwischen sozialer Mobilität und der Häufigkeit von Kontakten mit der erweiterten Familie gibt.280 Eine differenzierte Analyse der am stärksten sozial mobilen Befragten bestätigt diesen Befund (vgl. Litwak 1960b: 15f). Tabelle 5 zeigt den Zusammenhang zwischen sozialer Mobilität und Familienorientierung. Tabelle 5: Soziale Mobilität und Familienorientierung (Angaben in Prozent)
Stationary upper class (N = 247) Upwardly mobile class (N = 284) Downwardly mobile class (N = 147) Stationary manual class (N = 242) (Quelle: Litwak 1960b: 17)
„Extended Family Oriented“ 26,0
Familienorientierung „Nuclear Family Oriented“ 55,0
„Non-Family Oriented“ 19,0
22,0
55,0
23,0
17,0
52,0
31,0
15,0
51,0
34,0
Die Verteilung lässt einen positiven Zusammenhang zwischen Familienorientierung und der sozialen Mobilität erkennen. Die Intensität der Familienorientierung nimmt mit dem beruflichen Status zu. Litwak fasst die wichtigsten Ergebnisse zusammen:
279
280
Die Familienorientierung wird über folgende vier Statements operationalisiert: 1) „Generally I like the whole family to spend evenings together.“ 2) „I want a house where family members can spend time together.” 3) „I want a location which would make it easy for relatives to get together.” 4) „I want a house with enough room for our parents to feel free to move in.” Befragte, die Item 3) und 4) positiv beantworten werden als „extended family oriented“ bezeichnet. Befragte, die Item 1) und 2), aber nicht 3) und 4) positiv beantworten, sind „nuclear family oriented“. Werden keine dieser Statements positiv beantwortet, erfolgt die Klassifikation als „non-family oriented“ (vgl. Litwak 1960a: 388). Diese Operationalisierung findet sich bei Litwak (1960a,b) und Stuckert (1963) wieder. Befragte der oberen Klasse berichten über die häufigsten Kontakte mit Verwandten (die im gleichen Wohnort) leben, die „manual class“ hat die wenigsten Kontakte und die mobile Klasse nimmt eine Zwischenposition ein (vgl. Litwak 1960b: 15).
140
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
„(…) the data (…) indicate that extended family visits and identification increase with occupational position or occupational resources. The only exception is among those with no relatives living in the community, and this seems to be an understandable function of geographical mobility” (Litwak 1960b: 18).
Im Gegensatz zu Litwak (1960b) berichtet Stuckert (1963)281 über negative Zusammenhänge zwischen beruflicher Mobilität und den unterschiedlichen Dimensionen familialer Kohäsion. Es existiert ein negativer Zusammenhang zwischen Mobilität und familialen Kontakten (Eltern, nahe Verwandte). Insbesondere Frauen, für die soziale Mobilität kennzeichnend ist, identifizieren sich weniger mit ihrer erweiterten Familie (vgl. Stuckert 1963: 304ff.). Litwak (1960a) untersucht den Einfluss der geographischen Distanz. Trotz der damit verbundenen geringeren Kontaktchancen mit Verwandten, zeigt sich kein Verlust von Familienidentität und -orientierung (vgl. Litwak 1960a: 388).282 Befragte, die weiter entfernt von ihren Verwandten leben und Befragte, die in der unmittelbaren Nähe leben, zeigen nur einen vernachlässigbaren Unterschied hinsichtlich der Familienorientierung (vgl. Litwak 1960a: 388f.). Tabelle 6 zeigt die bivariaten Zusammenhänge. Tabelle 6: Geographische Distanz und Familienorientierung Familienorientierung
Verwandte leben in der gleichen Stadt (N = 648) Verwandte leben außerhalb der Stadt (N = 272) (Quelle: Litwak 1960a: 389)
„Extended Family Oriented“ 20,0
„Nuclear Family Oriented“ 52,0
„Non-Family Oriented“ 28,0
22,0
58,0
20,0
Die Aufrechterhaltung von Beziehungen über größere geographische Distanzen wird auf moderne Kommunikationsmittel und -techniken zurückgeführt, die die sozial zerstörerischen Effekte der räumlichen Trennung minimieren (vgl. Litwak 1960a: 386, vgl. auch Litwak, Szelenyi 1969). Eine weitere Prüfung und Bestätigung der „modified extended family“ erfolgt durch die explorative Studie von Osterreich (1965).283 In Anlehnung an die Studien von Litwak (1960a,b) wird folgende Forschungshypothese aufgestellt:284
281
282
283
284
Die Stichprobe bilden 266 verheiratete Paare aus Wisconsin (USA) (vgl. Stuckert 1963: 303). Stuckert (1963: 307) weist jedoch auf die Schwierigkeit einer Generalisierung der Ergebnisse und auf die Notwendigkeit der Analyse anderer Subgruppen hin (Unverheiratete, Kinderlose, Ältere usw.). Die Stichprobe umfasst 920 verheiratete Frauen, die in Buffalo (New York) leben (vgl. Litwak 1960a: 387f.). Litwak (1960b) verwendet ebenfalls diese Datenbasis, verweist jedoch auch kritisch auf die Begrenzungen der Studie hinsichtlich Stichprobengröße und -zusammensetzung hin. 1961 wurden 45 Personen im Alter von 24-50 Jahre befragt, die der Mittelschicht angehören und in Montreal (Kanada) leben (vgl. Osterreich 1965: 133f.). Als „mobil“ werden die Personen bezeichnet, die keine Verwandten in der „Metropolitan Area“ haben, als „nicht-mobil“ Personen mit wenigsten zwei Blutsverwandte in der näheren Umgebung (vgl. Osterreich 1965: 134).
3.2 Empirischer Forschungsstand
141
„(…) while geographical mobility may affect the types of interaction patterns found, it should not result in a lessening of ideological and emotional commitment to kin nor should it disrupt relations between relatives“ (Osterreich 1965: 133).
So determiniert die geographische Distanz vor allem die Häufigkeit der verwandtschaftlichen Kontakte (vgl. Osterreich 1965: 137). Auf der Einstellungsebene („kin orientation“)285 zeigt sich jedoch kein Zusammenhang (vgl. Osterreich 1965: 140).286 Zusammenfassend können folgende Befunde der ersten Verwandtschaftsstudien festgehalten werden. Frauen sind stärker in Verwandtschaftsbeziehungen involviert als Männer. Dies zeigt sich in der Häufigkeit der Interaktionen und dem Ausmaß der emotionalen Bindung und Verpflichtungen gegenüber Verwandten (vgl. Robins, Tomanec 1962; Adams 1968). Häufigere Kontakte werden mit der matrilinearen Verwandtschaft gepflegt. Zur Verdeutlichung dieses Befundes verwendet Sweetser (1963) den Begriff der Asymmetrie. Die Wahrscheinlichkeit zu Verwandten mütterlicherseits Kontakte zu haben, ist somit allgemein erhöht (Robins, Tomanec 1962). Insgesamt uneindeutige Befunde sind für den Zusammenhang mit dem sozialen Status und der sozialen Mobilität festzustellen (Litwak 1960b; Stuckert 1963). Die geographische Distanz lässt sich als Kostenfaktor interpretieren, der in einem negativen Zusammenhang mit der Häufigkeit von verwandtschaftlichen Kontakten steht (Reiss 1962), während keine Zusammenhänge mit der erweiterten Familienorientierung gefunden werden (Litwak 1960a; Osterreich 1965). Darüber hinaus ist die ElternKind-Beziehung die stärkste Verwandtschaftsbeziehung. Dies entspricht einer Rangfolge der emotionalen Nähe differenziert nach dem biologischen Verwandtschaftsgrad (Robins, Tomanec 1962). Konkrete Verwandtschaftsbeziehungen werden zum einen von normativen Verpflichtungen bestimmt. So weist Adams (1968) beispielsweise auf die Wichtigkeit von Familientradition und Verpflichtungen hin: „When they are close, however, they tend to be based less upon a friendship pattern than upon family tradition, rituals, and a moderate sense of obligation” (Adams 1968: 156f.).
Auf der anderen Seite wird jedoch auch die Bedeutung der Qualität der Verwandtschaftsbeziehung diskutiert, die somit Parallelen zu einer Freundschaft aufweisen kann. Für Reiss (1962) und Bott (1971) sind die Persönlichkeit der Verwandten und gemeinsame Interessen zentrale Determinanten verwandtschaftlichen Handelns. Adams (1968) nennt in diesem Zusammenhang biographische Merkmale, wie die Wichtigkeit einer engen Beziehung in der Kindheit, Übereinstimmung von Werten und verschiedene soziodemographische Charakteristiken (Geschlecht, Geschwisterstatus, u.a.).
285
286
Operationalisiert wird dieses Konstrukt mit Hilfe der Items 1) „Blood is thicker than water“ und 2) „Is there something ‚special’ about kin?“ (vgl. Osterreich 1965: 139). Zusätzlich wird eine Ausschöpfungsquote berechnet, die den Anteil der subjektiven Verwandten („effective kin“) erfasst. Differenziert nach Verwandtschaftsgrad ergeben sich folgende „contact ratios“: Eltern und Geschwister (96,8%), Geschwister der Mutter (61,2%), Nichten/Neffen (63,6%), Geschwister des Vaters (48,3%), Cousin/Cousine (24,4%) (vgl. Osterreich 1965: 136).
142
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
3.2.1.1.2 Exkurs: Geschwisterbeziehungen Aus biologischer Sicht sind Geschwister Voraussetzung für die Existenz von entfernten Verwandtschaftsbeziehungen. Aus der Perspektive egos lässt sich dieser Sachverhalt verdeutlichen: Die Geschwister der Eltern sind Onkel und Tanten, deren Kinder die Cousins und Cousinen. Die Kinder der Geschwister egos sind Nichten und Neffen. Die bloße Existenz von Geschwistern erhöht somit die Größe und Komplexität der objektiven Verwandtschaft und damit die Opportunitätenstruktur für verwandtschaftliche Beziehungen. „The very existence of siblings increases the size and complexity of kinship groups and the ways in which they are embedded in larger networks of relationships. Aunts, uncles, cousins, nephews, nieces, and the variety of in-law relationships all stem from the existence of siblings“ (Matthews 2005: 182).
Die Analyse von Geschwisterbeziehungen eröffnet die Möglichkeit, die Diversität von Verwandtschaftsbeziehungen über die Kernfamilie hinaus zu analysieren. „By shifting the focus away from parents and children, and wives and husbands, to the actual social networks in which the individuals and kin relate to one another over the life course, the study of sibling ties broadens our ability to explore family relationships“ (Walker u.a. 2005: 167; Hervorhebung im Original).
Eine Betrachtung von Geschwisterbeziehungen ist für diese Arbeit aus zwei Gründen von Interesse. Zum einen weist die Geschwisterforschung auf die persönliche Wahl hin, die als allgemeines, konstituierendes Element von Verwandtschaftsbeziehungen angesehen wird (vgl. Allan 1977: 183; Cumming, Schneider 1996: 148). Das Konzept der subjektiven Verwandtschaft findet somit auch Anwendung bei der Analyse von Geschwisterbeziehungen.287 Zum anderen ist die Qualität der geschwisterlichen Beziehung eine wichtige Determinante der Beziehungen zum erweiterten Familienkreis (Onkel/Tanten, Cousins/Cousinen, Nichten/Neffen). Sie ist zwar kein alleiniger Erklärungsfaktor, prägt diese Beziehungen jedoch entscheidend. Mit Ausnahme der Studien von Allan (1977) und Johnson (1982a) wird die Bedeutung der Geschwister für weitere kollaterale Beziehungen nicht thematisiert.288 Allan (1977: 183) bezeichnet den Netzwerkcharakter bzw. -effekt und die Selektivität von Verwandtschaftsbeziehungen als die zentralen Charakteristiken des modernen Verwandtschaftssystems. Die Sichtweise von Verwandtschaft als sozialem Netzwerk impliziert, dass bestimmte persönliche Beziehungen andere verwandtschaftliche Beziehungen (z.B. mit Cousins/Cousinen und Nichten/Neffen) strukturieren und erzwingen können (vgl. Allan 1977: 180). Geschwister sind indirekte „links“ (Matthews 2005: 182), d.h. Verbindungsglieder zwischen Verwandten, die die Opportunitäten für verwandtschaftliche Kontakte erhöhen (vgl. Matthews 2005: 183). Sie sind dies aufgrund ihres objektiven Verwandtschaftsverhältnisses (per Definition) und in der Alltagspraxis (vgl. Walker u.a. 2005: 287
288
Variationen der Interaktionen von Geschwistern werden durch geographische und soziale Mobilität, Stellung im Familienzyklus und Altersunterschiede zwischen den Geschwistern erklärt. Als entscheidender Faktor wird jedoch „compatibility and liking for one another“ angesehen (vgl. Allan 1977: 181). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Connidis (1989) und Lee (1990). Eine Zusammenfassung des Forschungsstandes zum Thema findet sich bei Walker u.a. (2005). Für Deutschland vgl. Kasten (1998, 2003), Schütze (1989) und Onnen-Isemann, Rösch (2005).
3.2 Empirischer Forschungsstand
143
180). Eine intensive geschwisterliche Beziehung (der Eltern egos) erhöht die Wahrscheinlichkeit der Wichtigkeit von Onkeln und Tanten, Cousins und Cousinen bzw. Nichten und Neffen. Sie stellt damit eine Opportunität für die Entwicklung von dauerhaften kollateralen Verwandtschaftsbeziehungen dar (vgl. Johnson 1982a: 163ff.). Die Studie von Johnson (1982a) liefert den empirischen Beweis für die ethnische Gruppe der „Italian Americans“.289 Es zeigt sich, dass für Kinder von Geschwistern, die häufigen Kontakt haben, ebenfalls enge Beziehungen charakteristisch sind. Darüber hinaus führen Familienfeiern zu Kontakten zu sekundären und tertiären Cousins und Cousinen, die so genannte „cousin clubs“ bilden (vgl. Johnson 1982a: 164f.). Geographische Nähe, tägliche Kontakte und eine affektive Gefühlshaltung kennzeichnen diese „entfernten“ Verwandtschaftsbeziehungen (vgl. Johnson 1982a: 163f.).290 Darüber hinaus thematisieren nur wenige aktuelle Studien die Bedeutung der Geschwister für weitere kollaterale Verwandtschaftsbeziehungen. Die Panelanalyse von White (2001) stellt jedoch eine Ausnahme dar.291 Ein zentraler Befund ist der positive Zusammenhang zwischen dem Elternstatus und der Kontakthäufigkeit mit Geschwistern. Es wird vermutet, dass die Übernahme der Elternrolle dazu führt, Beziehungen mit Geschwistern zu intensivieren. Dies liegt vor allem in dem Wunsch der Eltern begründet, aktive Beziehungen ihrer Kinder mit Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen zu ermöglichen (vgl. White 2001: 566).292 Festzuhalten bleibt, dass bei einer Erklärung der Wahl von entfernten Verwandten die Qualität der Beziehungen der Eltern zu den Geschwistern und die Beziehungen egos zu den Geschwistern als wichtige Determinanten zu berücksichtigen sind. Geschwister übernehmen die Rolle als Verbindungsglieder zwischen den Verwandten und erhöhen die Opportunitäten der Wahl. 3.2.1.1.3 Studien der 1970er und 1980er Jahre – Wachsende thematische Vielfalt In den siebziger Jahren ist eine Abnahme der Quantität von Verwandtschaftsstudien festzustellen, dagegen steigt die thematische Diversität. Die Veränderungen können durch folgende Fragen verdeutlicht werden: „Concern has shifted from the question of whether the nuclear family is isolated to the conditions under which it is more or less isolated; from the question of if kinship is important to when it is important; and a search for appropriate descriptive labels to a search for causes and consequences. This indicates some progress“ (Lee 1980: 931; Hervorhebung im Original).
Im Unterschied zu den deskriptiven Studien der 1950er und 1960er Jahre, die primär die Prüfung der Isolationsthese (Parsons 1943) zum Ziel haben, steht nun die Erklärung und 289 290
291
292
Die Zufallsstichprobe bilden 74 amerikanische Familien italienischer Abstammung (vgl. Johnson 1982a: 159). Vgl. auch die qualitative Studie von Sena-Rivera (1979), die Familien mit mexikanischer Herkunft als Beispiel für Litwaks (1960a,b) „modified extended family“ anführt. Vgl. auch Milardo (2005), der die Wichtigkeit der Geschwisterbeziehung für die Beziehung zwischen Onkel und Neffe thematisiert (Kapitel 3.2.1.1.4). Geographische Distanz, wenige Kontakte und Hilfeleistungen kennzeichnen die Geschwisterbeziehungen im jüngeren Erwachsenalter. Die geographische Nähe und Kontakte stabilisieren sich jedoch im Verlauf des mittleren Alters und steigen mit dem Alter der Befragten (ab 70 Jahre) an (vgl. White 2001: 565).
144
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
damit die Suche nach Ursachen für Variationen des verwandtschaftlichen Handelns im Vordergrund (vgl. Lee 1980: 931). Soziodemographische Korrelate der gesellschaftlichen Variabilität von Verwandtschaftsbeziehungen sind in Anlehnung an Lee (1980: 925ff.): 1) Ethnische Zugehörigkeit, 2) Sozioökonomischer Status, 3) Geographische Distanz und 4) Geschlecht.293 Ethnische Unterschiede werden im Vergleich zwischen afroamerikanischen und weißen Familien festgestellt. Studien über Verwandtschaftsbeziehungen afroamerikanischer Familien (Hays, Mindel 1973; Soldo, Lauriat 1976; Allan 1978, 1979b) belegen häufige Kontakte, Austausch von Hilfeleistungen und Koresidenz von Verwandten. Folgende Aussagen gelten nach Kontrolle mit sozioökonomischen Variablen als empirisch bestätigt (vgl. Hays, Mindel 1973: 52):294 1. 2. 3.
Afroamerikanische Familien haben häufigere Kontakte mit ihren Verwandten (dies gilt nicht für die Beziehung mit Eltern). In den Haushalten von afroamerikanischen Familien leben auch Mitglieder des erweiterten Familienkreises (Nichten, Neffen, Tanten) und generell mehr Verwandte.295 Afroamerikanische Familien haben häufigere Kontakte mit einer größeren „Vielfalt“ von Verwandten.
Lee (1980: 925f.) fasst mögliche Erklärungen für die intensiveren Verwandtschaftsbeziehungen zusammen. Die deprivierte sozioökonomische Situation wird als monokausale Erklärung abgelehnt. Es wird herausgestellt, dass enge Verwandtschaftsbindungen unabhängig von der sozioökonomischen Lage bestehen und die Gründe vielmehr in der größeren kulturellen Bedeutung der Familie, insbesondere der kollateralen Blutsverwandtschaft, zu suchen sind (Aschenbrenner 1973, 1975; Stack 1972, 1974; Soldo, Lauriat 1976; McAdoo 1978; Allan 1979b). Dagegen ist das Verwandtschaftssystem weißer Familien zu einem höheren Grad um die Eltern-Kind-Beziehung organisiert, obwohl erweiterte verwandtschaftliche Kontakte nicht obsolet sind (vgl. Hays, Mindel 1973: 55). Über diesen Themenschwerpunkt können die Befunde der 1950er und 1960er Jahre bestätigt werden. In den Studien der 1970er Jahre gibt es ebenfalls keine eindeutigen Zusammenhänge mit der sozialen Klasse (Gordon, Noll 1975; Klatzky 1971; Winch 1977). Angehörige unterer Schichten haben tendenziell engere Verwandtschaftsbeziehungen als Angehörige der mittleren und oberen Schicht. Allerdings wird dies primär auf die geographische Nähe zurückgeführt (vgl. Lee 1980). Die Wichtigkeit des Geschlechts, die Rolle der Frauen als kinkeeper und die matrilineare Verzerrung der gelebten Verwandtschaftsbeziehungen werden hingegen bestätigt (Booth 1972; Bahr 1976; Spicer, Hampe 1975).296 Die geographische Distanz wird als wichtigster Einflussfaktor des persönlichen Kontaktes betrachtet (vgl. Klatzky 1971). Es wird allgemein ein negativer Effekt der geographischen Distanz postuliert. Zum anderen wird jedoch vermutet, dass die geographische Distanz keine Rolle für die Aufrechterhaltung von Kontakten mit dem erweiterten Familienkreis 293
294
295
296
Allerdings muss an dieser Stelle kritisch angemerkt werden, dass diese Einflussgrößen bereits in früheren Studien analysiert wurden. Diese Tatsache kann somit nicht als eine Neuerung bzw. theoretische und empirische Verbesserung der soziologischen Verwandtschaftsforschung interpretiert werden. Die nicht-repräsentative Stichprobe bilden jeweils 25 afroamerikanische und weiße Familien aus einer Stadt im Mittleren Westen der USA. Befragungszeitpunkt ist das Jahr 1966 (vgl. Hays, Mindel 1973: 52f.). In sieben von den insgesamt 25 afroamerikanischen Familien leben weitere Verwandte im gleichen Haushalt. Davon sind 37,5% Nichten und Neffen (vgl. Hays, Mindel 1973: 54). Widersprüchliche Befunde finden Anspach, Rosenberg (1972).
3.2 Empirischer Forschungsstand
145
spielt. Dies liegt vor allem in dem rituellen und zeremoniellen Charakter der Kontakte begründet (z.B. in Form von Familienfeiern), die unabhängig von der geographischen Entfernung zwischen Verwandten stattfinden (vgl. Klatzky 1971: 16). Ein übergeordnetes Thema, sowohl der 1960er als auch 1970er Jahre, ist der Vergleich zwischen den Primärgruppen Verwandtschaft und Freundschaft (Babchuk 1965; Adams 1967a297; Croog 1972; Litwak, Szelenyi 1969). Im Vordergrund steht ein Vergleich des Austauschs von Hilfeleistungen und der Interaktionshäufigkeit (vgl. Adams 1970: 589f.). Darüber hinaus wird das Ausmaß terminologischer Überschneidungen von Freundschaft und Verwandtschaft thematisiert. Dieses Phänomen der Überlappung von zwei unterschiedlichen sozialen Beziehungen wird als Multiplexität bezeichnet (vgl. dazu auch Verbrugge 1979).298 Litwak, Szelenyi (1969) untersuchen unterschiedliche Hilfe- und Dienstleistungen von Verwandten und Freunden/Freundinnen. Die unterschiedlichen Funktionen dieser Personen hängen von drei Faktoren ab: 1) Dringlichkeit der Hilfe, 2) geographische Distanz zwischen Verwandten, 3) Möglichkeiten der Kommunikation über längere Distanzen (vgl. Litwak, Szelenyi 1969: 473). Es zeigt sich eine größere Bedeutung von Verwandten für eine längerfristige Versorgung im Krankheitsfall, während Freunde/Freundinnen (und Nachbarn) bei kurzzeitigen Notfällen helfen (vgl. Litwak, Szelenyi 1969: 473ff.). Studien belegen somit die unterschiedlichen Funktionen von Verwandtschaft und Freundschaften. Die These der Kompensation wird übereinstimmend abgelehnt. Die Befunde weisen darauf hin, dass Freundschaften eher ergänzende Hilfen zu familialen Ressourcen darstellen (vgl. Croog u.a. 1972). Dies bestätigt indirekt auch ein Ergebnis von Babchuk (1965: 488): Befragte, die häufig ihre Verwandten besuchen, interagieren deswegen nicht weniger häufig mit ihren Freundinnen und Freunden.299 Für den Zeitraum der 1970er und 1980er Jahre werden drei weitere Themenschwerpunkte der Verwandtschaftsstudien identifiziert, deren Befunde im Folgenden vorgestellt werden: Verwandtschaftsbeziehungen im Alter (Kapitel 3.2.1.1.3.1), Verwandtschaft und eheliche Stabilität (Kapitel 3.2.1.1.3.2) und Netzwerkstudien (Kapitel 3.2.1.1.3.3). 3.2.1.1.3.1 Verwandtschaftsbeziehungen im Alter Die verwandtschaftlichen Beziehungen von alten Menschen bilden einen Schwerpunkt innerhalb der Verwandtschaftsforschung, in dem auch Ansätze von Theorie- und Modell297
298
299
Das Konzept von Adams (1967a) wurde bereits in Kapitel 3.1.2 dargestellt. Die empirischen Ergebnisse beziehen sich auf die Eltern- und Geschwisterbeziehung und werden aus diesem Grund nicht weiter aufgeführt (vgl. dazu Adams 1967a: 72ff.). In den 1970er Jahren wird die Möglichkeit der Überlappung dieser zwei Sozialbeziehungen gesehen – trotz der überwiegenden Mehrheit an Studien, die beide Beziehungen unabhängig voneinander analysieren. So weisen Wood, Robertson (1978) auf die Notwendigkeit eines gemeinsamen theoretischen Rahmens in der Analyse von Verwandtschaft und Freundschaft hin: „At the same time, the developing interest in relating kinship to other societal systems, particularly friendship, probably means that investigators will be looking at the theoretical formulations used in both kinship and friendship studies with an eye to their possible usefulness in comparing the two types of relationships“ (Wood, Robertson 1978: 373; Eigene Hervorhebung). Gibson (1972: 15) weist darauf hin, dass Vergleiche von Interaktionen mit Freunden/Freundinnen, Arbeitskollegen/Arbeitskolleginnen oder Nachbarn in vielen Studien fehlen und nur vor diesem Hintergrund die Bedeutung von Verwandtschaftsbeziehungen bewertet werden kann. In einer international vergleichenden Studie mit Daten des ISSP 1986 (inkl. USA) kommen Bruckner u.a. (1993: 68) ebenfalls zu dem Ergebnis, dass häufige Verwandtschaftskontakte nicht zu einer Reduktion von Freundschaftskontakten führen.
146
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
entwicklungen zu finden sind.300 Es hat sich ein gerontologisches Spezialgebiet herausgebildet, das intensiv die soziale Unterstützung für ältere Menschen analysiert. Zuerst werden allgemeine begriffliche Erläuterungen und theoretische Modelle zu diesem Themenkomplex vorgestellt. Im Anschluss daran folgt die Darstellung zentraler empirischer Befunde, die von besonderem Interesse für diese Arbeit sind. Es werden auch Befunde von aktuellen Studien berücksichtigt. Zu dem informellen Unterstützungssystem von alten Menschen gehören Familie und Verwandte, Freundschaften und die Nachbarschaft. Soziale Organisationen zählen zu dem institutionalisierten Unterstützungssystem und müssen von diesen „signifikanten Anderen“, zu denen emotionale und instrumentelle Beziehungen bestehen, unterschieden werden (vgl. Cantor 1979: 436). Cantor (1979: 441) führt in diesem Zusammenhang den Begriff der funktionalen Verwandten ein, mit denen häufige Kontakte gepflegt werden. Diese Bezeichnung bezieht sich auf den erweiterten Familienkreis, denn Ehepartner/-innen, Kinder und Geschwister sind nicht in dieser Kategorie eingeschlossen. Institutionen spielen eine untergeordnete Rolle im Vergleich zu den idiosynkratischen sozialen Unterstützungen der informellen Personengruppen. Sie kommen nur zum Einsatz, wenn spezielles technisches und medizinisches Wissen, Fähigkeiten oder mangelnde Zeitressourcen es erfordern (vgl. Cantor 1979: 453). Gerontologische Studien untersuchen primär intergenerationale Unterstützungsleistungen.301 Darüber hinaus werden – wenn auch nur im geringen Umfang – kollaterale Verwandtschaftsbeziehungen von älteren Menschen thematisiert, wobei neben den Geschwistern, insbesondere Nichten und Neffen eine besondere Bedeutung zugesprochen wird. Es existieren nur wenige Studien, die sich ausschließlich mit diesen Verwandten beschäftigen. Informationen werden zumeist im Kontext von intergenerationalen Studien erhoben und beziehen sich auf Art und Umfang von Kontakten, Determinanten einer engen Beziehung, Auswirkungen auf emotionales Wohlbefinden und allgemeinen Charakteristiken der Beziehung. So kennzeichnen Wenger, Burholt (2001) treffend den gegenwärtigen Forschungsstand: 300 301
Eine Zusammenfassung liefert Lee (1985). Ein weiterer Untersuchungsgegenstand ist der Vergleich der psychischen Auswirkungen der Unterstützungsleistung von Freundschaften und Familien- bzw. Verwandtschaftsbeziehungen. Analysiert werden die Folgen verwandtschaftlicher, freundschaftlicher und nachbarschaftlicher Beziehungen auf die psychische Stimmung und das emotionale Wohlbefinden („morale“) von älteren Menschen (vgl. exemplarisch Arling 1976; Wood, Robertson 1978). Ausgangspunkt ist hierbei der Befund, dass Interaktionen mit Freundinnen und Freunden sich positiv auf das Wohlbefinden von Älteren auswirken, während sich keine Zusammenhänge mit häufigen familialen und verwandtschaftlichen Kontakten nachweisen lassen. Eine Ausnahme stellt die Reduktion von Einsamkeitsgefühlen dar. Freundschaften hingegen stehen in einem starken, positiven Zusammenhang mit der sozioemotionalen Zufriedenheit (vgl. Arling 1976: 761f.). Die Erklärung für diese empirischen Befunde beruht auf unterschiedlichen Charakteristiken der jeweiligen Sozialbeziehung. Die zugeschriebenen Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen werden mit Abhängigkeiten und Verpflichtungen assoziiert, die erworbenen Freundschaftsbeziehungen bestehen aufgrund von eigener Initiative, Freiwilligkeit, Wahl und Reziprozität (vgl. zusammenfassend Wood, Robertson 1978: 371f.). Gleichzeitig werden unterschiedliche Interessen, Werte und Lebensstile (von Kindern und ihren Eltern) angeführt (vgl. zusammenfassend Arling 1976: 758). Familie bzw. Verwandtschaft und Freundschaft werden als zwei sich ergänzende, unabhängig voneinander existierende Beziehungssysteme angesehen (vgl. Wood, Robertson 1978: 372). Vgl. in diesem Zusammenhang auch die Studie von Gallagher, Gerstel (1993). Sie differenzieren zwischen „kinkeeping“ und „friend keeping“ und untersuchen den Einfluss der Heirat auf das Ausmaß der geleisteten Hilfe gegenüber Verwandten und Freunden/Freundinnen. Es zeigt sich ein positiver Zusammenhang zwischen einer Witwenschaft und „friend keeping“: „Thus it is widowhood, not marriage, that is associated with greater friend keeping. While widows have fewer material and physical resources available for helping others, what they may have is more time and more freedom“ (Gallagher, Gerstel 1993: 681).
3.2 Empirischer Forschungsstand
147
„Even less attention has been given to the relationship between old grandparents and their adult grandchildren and little attention has been given to the relationships between aunts and uncles and their adult nieces and nephews“ (Wenger, Burholt 2001: 568; Hervorhebung im Original).
Die allgemeine Vorstellung, dass ältere Menschen von ihren Kindern und anderen Verwandten vernachlässigt werden, ist laut Shanas (1979: 3) als Entfremdungsmythos („alienation myth“) zu bezeichnen. Diese Annahme muss angesichts der empirischen Befunde widerlegt werden. Es wird von einer nicht-statischen Definition der Familie ausgegangen, die auch Bezugspersonen von älteren Menschen inkludiert, die dem erweiterten Familienkreis angehören. „The family may include those persons somewhat distantly related by blood and marriage, such as cousins of various degrees or in-laws, all of whom may be perceived as family members. Further, for any on the family network is not static. It may expand to include even more distant relatives as a need arises for information, services, or help from these relatives” (Shanas 1979: 4).
Nach Shanas (1979: 7) belegen die empirischen Befunde die Existenz einer modifiziert erweiterten Familienform (Litwak 1960a,b), die nahe Familienangehörige, Geschwister als auch Nichten und Neffen und andere Verwandte einschließt (vgl. auch Shanas 1973: 505). Es werden im Folgenden zwei Modelle vorgestellt, die u.a. die Rolle von entfernten Verwandten für ältere Menschen erklären. Es ist zum einen die Substitutionsannahme, in deren Kontext insbesondere die Rolle von Nichten und Neffen für Kinderlose thematisiert wird. Zum anderen werden funktionsspezifische Aufgaben und Unterstützungsleistungen für die strukturell unterschiedlichen Primärgruppen hervorgehoben:302 1.
Hierarchische These oder These der hierarchischen Kompensation (Cantor 1979) „The function of support giving is generally ordered according to primacy of the relationship of the support giver to the elderly recipient rather than to the nature of the task. This model postulates an order of preference in the choice of the support element. In the value system of the present generation of elderly, kin is generally seen as the most appropriate support giver followed by significant others and lastly by formal organizations. In cases in which the initially preferred element is absent, other groups act in a compensatory manner as replacement” (Cantor 1979: 453; Eigene Hervorhebung).
Sind keine Ehepartner/-innen, Kinder oder Geschwister verfügbar, werden andere Verwandtschaftsbeziehungen im sozialen Netzwerk verstärkt realisiert (vgl. Lang, Schütze 1998: 168). Diese These beruht auf der Annahme, dass Beziehungen zum erweiterten Familienkreis erst im Fall von Verlusterfahrungen von Mitgliedern der Kernfamilie wirksam oder intensiviert werden. Folgende Hierarchie der Bezugspersonen wird üblicherweise unterstellt: Partner/-in, erwachsene Kinder, Geschwister, sonstige Verwandte und Freunde/Freundinnen. Fallen nun einige dieser Personen aus, werden die jeweils in der Hierarchie folgenden Beziehungen an 302
Lang, Schütze (1998) ergänzen die bisherigen Modelle um eine neue These (Wirkungsthese). Vgl. dazu ausführlicher Kapitel 3.2.2.4.3. Darüber hinaus benennt Cantor (1979: 453) zwei alternative Modelle: 1) „additive model“ und 2) „asymmetrical model“. Das additive Modell besagt, dass jede Unterstützungseinheit unterschiedliche Aufgaben übernimmt, die zufällig verteilt sind. Nach dem asymmetrischen Modell dominiert ein Element alle Arten der Unterstützungen. Für diese Modelle finden sich jedoch keine empirischen Beweise (vgl. Cantor 1979: 453).
148
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
die Stelle der ausgefallenen Beziehungen gesetzt (vgl. Lang, Schütze 1998: 165). Dieser Sachverhalt wird von Shanas (1979: 4) als principle of family substitution bezeichnet. Cumming, Schneider (1961: 502) definieren Substitut wie folgt: „any class of kinsman, affinal or consanguinal, of the same generation as the kinsman being substituted for, except that grandchildren are included with nephews and nieces as substitute children.” Für Troll (1971: 281) erfüllen insbesondere Onkel und Tanten sowie Nichten und Neffen diese passive Rolle eines Substituts. Sie operieren „as a reservoir of kin from which replacements and substitutions for missing or lost relations can be obtained“ (Troll 1971: 285). Im Vordergrund der Betrachtung steht die Rolle von Nichten und Neffen als Substitut für fehlende Kinder (Shanas 1979). 2.
Leistungsthese oder These der funktionalen Kompensation (Litwak, Szelenyi 1969; Litwak 1985)
Im Vordergrund der funktionsspezifischen These stehen die Merkmale der jeweiligen Unterstützungsleistung und des Unterstützungsnetzwerkes. Subjektive Verwandtschaftsbeziehungen zeichnen sich durch die traditionellen Merkmale „long-term history“ (Langfristigkeit, gemeinsame Familiengeschichte) und Intimität aus. Berücksichtigt man beispielsweise die geographische Distanz zwischen Verwandten, so können nur Aufgaben erfüllen werden, die keine oder unregelmäßige physische Nähe erfordern (im Vergleich zur Nachbarschaft) (vgl. Cantor 1979: 453). Dieser Ansatz geht auf Litwak, Szelenyi (1969) und Litwak (1985) zurück. In ihren Arbeiten werden die strukturellen Unterschiede der einzelnen Primärgruppen (Kernfamilie, Verwandtschaft, Nachbarschaft und Freundschaft) herausgestellt. Die entsprechend identifizierten Primärgruppen übernehmen die Aufgaben, die ihrer internen Struktur entsprechen. „Groups will most effectively handle those tasks that are consistent with their structure“ (Litwak 1985: 36; Hervorhebung im Original).
Die Struktur von (subjektiven) Verwandtschaftsbeziehungen ist im Vergleich zu anderen Primärgruppen u.a. durch unregelmäßigen face-to-face-Kontakt (aufgrund geographischer Distanz), hohes commitment, Affektivität und Heterogenität (hinsichtlich Alter, Status, Lebensstil) gekennzeichnet. Die unterschiedlichen Aufgaben, die Verwandte für ihre Familienangehörigen übernehmen können, entsprechen nun diesen Dimensionen (vgl. Litwak 1985: 36f.). Folgende (exemplarische) Bereiche werden genannt: a. b. c. d.
„(…) taking care of people who need home nursing for 2 or 3 weeks; managing financial matters that do not involve daily expenditures but do involve monthly bills and checks; providing emotional support for marital quarrels or illnesses that can be managed over the telephone or on weekly or monthly visits; and providing temporary supplement loans or acting as guarantors of larger loans, which in turn may be used for a variety of things” (Litwak 1985: 37).
Im Vordergrund stehen somit emotionale und instrumentelle Unterstützungsleistungen, die keine unmittelbare persönliche Anwesenheit der Angehörigen voraussetzen. Andere Primärgruppen, wie z.B. die Nachbarschaft, übernehmen hingegen Aufgaben, die aufgrund der
3.2 Empirischer Forschungsstand
149
potentiellen geographischen Distanz zu Verwandten nicht geleistet werden können.303 Freundschaften hingegen kennzeichnen ähnliche Lebensstile und eine annähernde Altersund Statushomogenität und damit beispielsweise eine gemeinsame Freizeitgestaltung (vgl. Litwak 1985: 38).304 Verluste von älteren Menschen gehen mit einer veränderten Verteilung von Leistungen auf andere verwandtschaftliche Rollenbeziehungen einher, so dass bestimmte Funktionen der Gattenbeziehung auf andere Verwandte übertragen werden (vgl. Lang, Schütze 1998: 165f.). Es wird somit nicht angenommen, dass Verluste von kernfamilialen Mitgliedern durch „nachrückende“ Verwandte kompensiert werden, sondern dass die fehlenden Leistungen relativ gleichmäßig auf die zur Verfügung stehenden Netzwerkmitglieder verteilt werden (vgl. Lang, Schütze 1998: 166). Es findet keine Substitution von Primärgruppen statt (vgl. Litwak 1985: 50). Weitere theoretische Überlegungen betreffen die Veränderungen von Verwandtschaftsbeziehungen im Lebenslauf (vgl. Leigh 1982).305 Die zentrale Frage lautet: Bleiben verwandtschaftliche Interaktionen konstant oder verändern sie sich im Laufe des Lebens? (vgl. Leigh 1982: 197). Die Wirkungsrichtung der Variablen „Lebensdauer“ ist nicht eindeutig. Es gibt verschiedene Erklärungsansätze, die sowohl eine Zunahme als auch eine Abnahme von verwandtschaftlichen Interaktionen postulieren, aber auch Hypothesen, die von konstanten Interaktionen ausgehen. Die Idee eines „time-energy-budget“ besagt, dass Individuen nur eine begrenzte Zeit und Energie für persönliche Beziehungen verfügbar haben. Sobald eine eigene Familie gegründet wird, hat man weniger Zeit für verwandtschaftliche Interaktionen (vgl. auch Robins, Tomanec 1962). Ein zweiter Ansatz ist die „disengagement theory“. Sie besagt, dass mit dem Älterwerden eine Loslösung von der Gesellschaft stattfindet (z.B. von ökonomischen Rollen). Deswegen wird vermutet, dass mit dem Alter Familienbindungen mehr Wertschätzung erhalten und die Interaktionen mit Verwandten zunehmen. Der dritte Erklärungsansatz thematisiert die Mittlerfunktion von Eltern oder Großeltern (kinkeeper). Ihr Tod kann zu einem Verlust von verwandtschaftlichen Bindungen führen (vgl. Leigh 1982: 198). Die empirischen Studien analysieren den Einfluss der Witwenschaft und Kinderlosigkeit der älteren Menschen auf verwandtschaftliche Beziehungen. Im Vordergrund stehen insbesondere die Beziehungen zu Nichten und Neffen (Lopata 1978; Johnson, Catalano 1981; Wenger, Burholt 2001).306 Einen wichtigen, häufig zitierten Beitrag – in kritischer
303
304
305
306
Litwak (1985: 38) differenziert im Einzelnen zwischen drei Freundschaftstypen: 1) „short-term friends“, 2) „intermediate friends“ und 3) „long-term friends“. Ausführlicher zu den weiteren Primärgruppen und ihren strukturspezifischen Aufgaben vgl. Litwak (1985: 36ff.). Die empirischen Befunde sind jedoch widersprüchlich. So gibt es auch Hinweise für atypische Primärgruppen (vgl. Litwak 1985). 42% der Befragten nennen Freunde/Freundinnen als Freizeitpartner/-innen, 29% Nachbarn und 31% Verwandte. Eine Dominanz von Freundschaften ist somit nicht feststellbar (vgl. Litwak 1985: 45f.). Dieses Ergebnis trifft im Kern auch die Diskussion über die Abgrenzung von Freundschaft und Verwandtschaft (Kapitel 1.3). Es werden zwei Datensätze aus den Jahren 1964 und 1976 analysiert. Die erste Stichprobe (1964) bilden 799 Erwachsene aus North Carolina (USA) und wird ebenfalls von Adams (1968) verwendet (vgl. Leigh 1982: 200f.). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Interaktionen (u.a. auch mit dem „bestknown cousin“) über die Lebensdauer hinweg konstant bleiben. Bessere Prädiktoren für verwandtschaftliche Interaktionen sind affektive Nähe, „enjoyment“, geographische Nähe und der Austausch von Hilfeleistungen (vgl. Leigh 1982: 204). Vgl. auch Petrowsky 1976; Morgan 1984; Taylor 1985. Eine Zusammenfassung der Studien der 1940er bis 1950er Jahre – mit Schwerpunkt der Beziehungen von erwachsenen Kindern zu ihren Eltern – liefert Gravatt (1953). Für die 1990er Jahre vgl. exemplarisch Connidis, Davies 1990, 1992; Finch, Mason 1990; Hogan,
150
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
Auseinandersetzung mit der „modified extended family“ (Litwak 1960a,b) – liefert Lopata (1978).307 Lopata (1978: 356) weist explizit auf das Forschungsdefizit bisheriger Studien hin, die primär intergenerationale Unterstützungsleistungen untersuchen, ohne jedoch weitere Familienangehörige zu berücksichtigen. Wie sehen nun die empirischen Ergebnisse differenziert nach Art des Unterstützungssystems aus?308 In Bezug auf das soziale Unterstützungssystem zeigt sich, dass 25% der Witwen Feiertage mit ihren anderen Verwandten verbringen, während die Prozentsätze weiterer sozialer Aktivitäten deutlich geringer ausfallen (Besuche 10%, Restaurantbesuch 5%, u.a.) (vgl. Lopata 1978: 360). Lopata (1978: 363) betont in diesem Zusammenhang die geringen Auswirkungen dieser Sozialkontakte auf eine affektive Beziehung. Gelegentliche Kontakte an Feiertagen führen nicht zu dem Aufbau von engen verwandtschaftlichen Beziehungen. Geschwister und andere Verwandte spielen darüber hinaus eine sehr geringe Rolle für das finanzielle und emotionale Unterstützungssystem.309 Die These eines modifiziert erweiterten Verwandtschaftsnetzwerkes von Witwen wird nach Durchführung der statistischen Analysen lediglich für die Beziehungen zu Kindern, aber nicht für die Mitglieder der erweiterten Familie bestätigt. „There are so few references to grandparents, aunts and uncles in the four support systems of younger widows, to cousins of all widows, and to nieces and nephews in interviews with older widows, that there is no justification for separating them out for analysis“ (Lopata 1978: 361).
Darüber hinaus wird kein Zusammenhang mit dem Alter der Frauen festgestellt, d.h. ein höheres Alter korreliert nicht mit der Höhe der Unterstützungsleistungen (vgl. Lopata 1978: 362). Im Widerspruch zu diesen Befunden steht jedoch eine Vielzahl von Studien, die zeigen, dass entfernte Verwandte Substitut für fehlende kernfamiliale Beziehungen sind. So sind kinderlose Erwachsene beispielsweise näher mit ihren Nichten und Neffen (und Geschwistern) verbunden und pflegen häufigen Kontakt mit ihnen. Dies gilt insbesondere für ältere Frauen und ihre Nichten (vgl. exemplarisch Shanas 1973: 510).310 Näheren Aufschluss über entfernte Verwandtschaftsbeziehungen (Nichten und Neffen) von kinderlosen älteren Menschen gibt die qualitative Studie von Johnson, Catalano (1981). Sie konzentrieren sich in ihrer Analyse insbesondere auf die Art der geleisteten Hilfe (emotional vs. instrumentell), ihre Handlungsmotivation und mögliche Ambivalenzen der Beziehung. Johnson, Catalano (1981) können zeigen, dass die Hauptbezugspersonen („prima-
307
308
309
310
Spencer 1993; Wolf 1994; Wolf u.a. 1997. Aktuelle Studien thematisieren darüber hinaus die sozialen Unterstützungsleistungen von älteren homosexuellen Menschen (vgl. Grossman u.a. 2000). Insgesamt wurden 1169 Witwen aus Chicago (USA) befragt, die im Durchschnitt zehn Jahre verwitwet sind (vgl. Lopata 1978: 356). Es wird zwischen vier Unterstützungssystemen differenziert: 1) „economic support system“, 2) „service support system“, 3) „social support system“ und 4) „emotional support system“ (vgl. dazu ausführlicher Lopata 1978: 357). Die Prozentsätze liegen überwiegend unter 10%. So fühlen sich beispielsweise 9% der Witwen ihren anderen Verwandten emotional nahe (10% Geschwister), 4% erzählen ihnen von Problemen (9% Geschwister) und 6% wenden sich in Krisen an sie (10% Geschwister). Dennoch gilt: „Although one-eighth of the women enjoy being with relatives outside of the families of orientation or procreation, usually listing grandchildren more than others, this enjoyment does not translate into emotional supports. Such relatives are particularly ineffective as comforters, confidants or suppliers of the self-feelings of usefulness, independence or selfsuffiency” (Lopata 1978: 361). Männer spielen für das emotionale Unterstützungssystem keine Rolle. Des Weiteren zeigt sich eine geschlechtsspezifische, traditionale Aufgabenverteilung im „service support system“ (vgl. Lopata 1978: 363). Vgl. auch Johnson (1983).
3.2 Empirischer Forschungsstand
151
ry caregivers“) der Kinderlosen neben den Geschwistern vor allem Nichten und Neffen sind.311 Diese übernehmen die Funktion von Manager/-innen und stehen als Vermittler zwischen den Angehörigen und formellen Betreuungsinstitutionen. Ihre Motivation zur Unterstützung liegt vor allem in der Erfüllung von Verpflichtungen den eigenen (verstorbenen) Eltern gegenüber begründet (vgl. Johnson, Catalano 1981: 613). Diese Tatsache wird als „residual obligation“ bezeichnet (vgl. Johnson, Catalano 1981: 617). Dementsprechend sind die konkret übernommenen Aufgaben nicht durch intime persönliche Pflege gekennzeichnet (z.B. Zubereitung des Essens, Übernahme von Hausarbeit, Hilfe bei körperlicher Hygiene), sondern vielmehr übernehmen Nichten und Neffen gelegentliche Unterstützungsleistungen, wie „arranging for hired help, offering legal and financial advice, or giving occasional transportation“ (Johnson, Catalano 1981: 613f.).312 Die Mehrheit der Nichten und Neffen äußert Ambivalenzen hinsichtlich ihrer Rolle als Unterstützungsperson. Die Reserviertheit bzw. der Stress wird auf die Inkompatibilität der übernommenen Verantwortlichkeiten mit den in der Gesellschaft herrschenden Erwartungen gegenüber entfernten Verwandten zurückgeführt (vgl. Johnson, Catalano 1981: 614): „Namely, there are few explicit norms regulating the relationships between distant relatives. Other than diffuse sentiments, any reciprocity is extended on an optional basis, so the situation of distant relative taking extensive care of a dependent relative is unlikely” (Johnson, Catalano 1981: 614).
Die Beziehungen von älteren Menschen zu ihren Nichten und Neffen steht ebenfalls im Vordergrund der aktuellen Studie von Wenger, Burholt (2001).313 Sie gibt wichtige Hinweise für die Erklärung der Variabilität der Beziehungen mit Nichten und Neffen. Die Autorinnen weisen darauf hin, dass sich die Charakteristiken der „rural kinship“ (Wenger, Burholt 2001: 569) auch auf städtische Verwandtschaftsbeziehungen übertragen lassen (vgl. Wenger, Burholt 2001: 585). Folgende Determinanten der Beziehungen zu Nichten und Neffen können festgehalten werden. Es zeigen sich Einflüsse der geographischen Distanz, der affektiven Nähe zu den Geschwistern, der Größe und Intensität der familialen Interaktionen („family overflow effect“), der Rolle als „Ersatzeltern“ sowie Substitutionseffekte bei Kinderlosigkeit (vgl. Wenger, Burholt 2001: 576ff.).314 Eine Vielzahl der Beziehungen bleibt oberflächlich, symbolisch und unregelmäßig, es sei denn, Onkel und Tante haben die Quasirolle der Eltern übernommen. Zu berücksichtigen ist ebenfalls das Verhältnis der Geschwister, denn eine affektive geschwisterliche Nähe steht in einem positiven Zusammenhang mit einer engen Beziehung zu Nichten und Neffen. Die Analyse der geo311
312
313
314
Insgesamt wurden 28 kinderlose Personen befragt, zehn von ihnen sind verheiratet. Das Durchschnittsalter liegt bei 76 Jahren (vgl. Johnson, Catalano 1981: 611). Freundinnen übernehmen weniger instrumentelle Unterstützungsleistungen, sondern haben primär eine Geselligkeitsfunktion (vgl. Johnson, Catalano 1981: 612). Als Erklärung für dieses Ergebnis ist die Altershomogenität anzuführen, während Verwandte (insbesondere Nichten und Neffen) jünger sind und alleine aus diesem biologischen Grund bessere Möglichkeiten haben, instrumentelle Hilfen zu geben. Die Längsschnittstudie hat insgesamt sieben Befragungszeitpunkte (1979, 1983, 1987, 1991, 1995, 1999). Die vorgestellten Ergebnisse beziehen sich auf die letzte Befragung im Jahr 1999. Von den ursprünglich 534 Befragten haben 60 Befragte überlebt (vgl. Wenger, Burholt 2001: 569f.). Während die vorgestellten Determinanten allgemeine Gültigkeit besitzen, zeigen sich darüber hinaus auch Merkmale von spezifisch ländlichen Verwandtschaftsbeziehungen. Es wird der Begriff der „collateral farm/business family“ geprägt. So sind Verwandte (insbesondere Neffen) nicht nur Arbeitskräfte im familiären Betrieb, sondern werden auch als Erben eingesetzt (vgl. Wenger, Burholt 2001: 582).
152
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
graphischen Distanz zeigt, dass die Beziehungen mit Nichten und Neffen dann am stärksten sind, wenn die eigenen Kinder nicht in der Nähe der Eltern leben (vgl. Wenger, Burholt 2001: 587f.). Die geographische Nähe korreliert ebenfalls positiv mit der Höhe der instrumentellen Hilfeleistungen von Nichten und Neffen (vgl. Wenger, Burholt 2001: 584).315 Sind keine eigenen Kinder vorhanden, fungieren enge Beziehungen mit Nichten und Neffen als „compensatory strategies in the loss or absence of an adult child for support“ (Wenger, Burholt 2001: 587). Im Vordergrund der hier vorgestellten gerontologischen Studien stehen emotionale oder instrumentelle Unterstützungsleistungen des erweiterten Familienkreises. Gegenstand der Analyse ist somit eine spezifische Wahl von Verwandten. Verwandtschaft erweist sich als zentrales Unterstützungsnetzwerk für ältere Menschen. Von besonderer Bedeutung sind hierbei die Beziehungen zu Nichten und Neffen, die im Fall von Kinderlosigkeit und einer engen Geschwisterbeziehung verstärkt werden. 3.2.1.1.3.2 Verwandtschaft und eheliche Instabilität Man kann zwischen unterschiedlichen Schwerpunkten im übergeordneten Themenbereich „Verwandtschaftsbeziehungen und eheliche Instabilität“ differenzieren: Verwandtschaftsbeziehungen und eheliche Solidarität (vgl. zusammenfassend Lee 1979)316 sowie Verwandtschaftsbeziehungen und häusliche Arbeitsteilung.317 Ein weiteres Thema, das mit diesen eng verknüpft ist, ist die Auswirkung einer Scheidung auf die Häufigkeit verwandtschaftlicher Beziehungen. Der Zeitraum der Studien erstreckt sich von den 1960er Jahren bis Anfang der 1990er Jahre. Den Schwerpunkt der Analysen bilden die sozialen Beziehungen zu Eltern, Schwiegereltern und Geschwistern. Darüber hinaus werden jedoch auch die Beziehungen zu Mitgliedern des erweiterten Verwandtschaftsnetzwerkes analysiert (Spicer, Hampe 1975; Duffy 1981; Gerstel 1988; Johnson, Barer 1987; Spanier, Hanson 1982318). 315
316
317
318
Dies bestätigt Kivett (1985). Darüber hinaus zeigt sich ein negativer Zusammenhang mit der Anzahl der Kinder. Auch das Alter der Befragte steht in einem positiven Zusammenhang mit der geleisteten Hilfe. Dies entspricht der hierarchischen Kompensationsthese (Cantor 1979) (vgl. Kivett 1985: 232f.). Lee (1979: 38ff.) fasst den Stand der Forschung zu den Auswirkungen des sozialen Netzwerkes auf die eheliche Solidarität zusammen und benennt Studien der 1950er, 1960er und 1970er Jahre. Dabei werden folgende Thesen aufgestellt: 1) „Adjustment to affinal kin is positively related to marital solidarity.“ 2) „The relationship between interaction with kin and marital solidarity is curvilinear, with marital solidarity attaining its highest values at an intermediate point on the continuum of interaction with kin” (Lee 1979: 42). Vgl. auch Blood (1969), Mindel (1972) und Booth u.a. (1991). Für den deutschsprachigen Raum vgl. Hartmann (1999, 2003). Der Zusammenhang zwischen der ehelichen Solidarität und Verwandtschaftsnetzwerken wird an dieser Stelle nicht weiter vertieft, da die Beziehungen zu Eltern und Schwiegereltern im Vordergrund der Analysen stehen. Bott (1971 [1957]) ist die erste Autorin, die den Einfluss der ehelichen Arbeitsteilung auf die Dichte des sozialen Netzwerkes untersucht. Dabei wird folgende Hypothese formuliert: „The degree of segregation in the role-relationship of husband and wife varies directly with the connectedness of the family´s social network. The more connected the network, the greater the degree of segregation between the roles of husband and wife“ (Bott 1971: 60; Hervorhebung im Original). Die nicht-repräsentative Studie von Spanier, Hanson (1981) thematisiert die Rolle der Verwandtschaft (Eltern, Affinalverwandtschaft, Geschwister) und „post-separation adjustment“. Es werden folgende zentrale Hypothesen formuliert, die potentiell auch auf den Personenkreis der entfernten Verwandtschaft übertragen werden können: „1) The greater the number of relatives providing support following marital separation, the better the individual´s adjustment to separation. 2) The more social interaction the separated person has with extended kin following marital separation, the better the individual´s adjustment to separation” (Spanier,
3.2 Empirischer Forschungsstand
153
Exemplarisch sollen in diesem Kontext die Studien von Gerstel (1988) und Spicer, Hampe (1975) dargestellt werden. Schwerpunkt der Studie von Gerstel (1988) ist die geschlechtsspezifische Bedeutung von sozioemotionaler und praktischer Unterstützung für Geschiedene.319 Eine Scheidung, als persönliche und soziale Krisensituation, erfordert die Reorganisation des persönlichen Netzwerkes. Verwandtschaftsbeziehungen stellen eine Quelle der Unterstützung dar. Es wird vermutet, dass insbesondere geschiedene Frauen, als ökonomisch Unterprivilegierte, verstärkt Beziehungen mit ihren Verwandten aufrechterhalten (vgl. Gerstel 1988: 209ff.). Frauen haben einen geringfügig höheren Anteil von Verwandten (26%) in ihrem Gesamtnetzwerk als Männer (22%). Keine signifikanten geschlechtsspezifischen Unterschiede zeigen sich in Bezug auf die Höhe der Unterstützungsleistungen. Während jedoch mit der Zeit die Intensität der Verwandtschaftsbeziehungen bei männlichen Geschiedenen abnimmt, halten Frauen die Beziehungen kontinuierlich aufrecht (vgl. Gerstel 1988: 213f.). Darüber hinaus bestätigen die Befunde einen negativen Effekt des Einkommens von Frauen auf die Häufigkeit der verwandtschaftlichen Interaktionen sowie den Anteil von Verwandten im persönlichen Netzwerk. Ein geringes Einkommen der Frau steht zudem in einem positiven Zusammenhang mit den erhaltenen Unterstützungsleistungen (vgl. Gerstel 1988: 215). Die Studie von Spicer, Hampe (1975) untersucht die Häufigkeit von Interaktionen mit der Bluts- und Affinalverwandtschaft nach der Scheidung mit besonderem Fokus auf einem Vergleich dieser Verwandtentypen. Dabei werden u.a. folgende Arbeitshypothesen aufgestellt: 1. 2. 3.
Die Häufigkeit der Kontakte mit Blutsverwandten wird gleich bleiben (oder zunehmen), während die Häufigkeit der Kontakte mit der Affinalverwandtschaft nach der Scheidung abnehmen wird. Frauen werden häufigere Kontakte sowohl mit ihrer Bluts- als auch mit ihrer Affinalverwandtschaft haben. Geschiedene mit Kindern werden häufigere Kontakte mit beiden Verwandtentypen nach der Scheidung haben als Kinderlose (vgl. Spicer, Hampe 1975: 114).320
Nach Kontrollen mit sozioökonomischen Variablen (geographische Distanz, soziale Klasse, Bildung, Ehedauer, Alter) werden diese Hypothesen bestätigt (vgl. Spicer, Hampe 1975: 118). Darüber hinaus werden die Gründe für verwandtschaftliche Interaktionen mit dem erweiterten Familienkreis (Eltern, Geschwister ausgeschlossen) genauer analysiert. Es verzeichnen sich zwei Hauptgründe: Zuneigung (55,4%) sowie Zuneigung und Verpflichtung (22,9%). Dieses Antwortmuster verdeutlicht sehr anschaulich die „Zwitterstellung“ von modernen Verwandtschaftsbeziehungen, die einerseits biologisch zugeschriebene, auf der anderen Seite jedoch frei wählbare Sozialbeziehungen sind (vgl. Schütze, Wagner 1998).
319
320
Hanson 1981: 36). Die vermuteten Zusammenhänge konnten jedoch nicht bestätigt werden (vgl. Spanier, Hanson 1981: 41ff.). Ihre Stichprobe umfasst 104 Geschiedene (jeweils 52 Männer und Frauen) in verschiedenen (zeitlichen) Stadien der Scheidung (getrennt/geschieden seit weniger als einem Jahr, 1-2 Jahre, 2 und mehr Jahre). Verwandte werden ohne Differenzierung nach Verwandtentypen erfasst (Eltern, Geschwister, Großeltern, Onkel/Tanten, Cousins/Cousinen und sonstige Verwandte) (vgl. Gerstel 1988: 218). Die Stichprobe bilden insgesamt 104 Geschiedene (62 Männer, 42 Frauen), die im Jahr 1971 interviewt werden. Datengrundlage sind insgesamt 929 gerichtliche Scheidungsakten der Jahre 1967 bis 1971 (vgl. Spicer, Hampe 1975: 114).
154
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
Als weitere Gründe werden u.a. Verpflichtungen (9,6%), gemeinsame Interessen (8,4%) und Zufälle (1,2%) genannt (vgl. Spicer, Hampe 1975: 116). In diesem Kontext sprechen die Wissenschaftlerinnen das Prinzip der Wahl von Verwandten an, die sowohl von persönlichen Bindungen als auch Verpflichtungen determiniert wird. „The term relative symbolizes obligation and personal attachment, but not all close relationships are with relatives nor are all relatives emotionally close. We need to determine more accurately what processes are involved in the formation of one´s affinal network as well as the consanguineal network (…)” (Spicer, Hampe 1975: 119).
3.2.1.1.3.3 Netzwerkstudien Netzwerkstudien geben Auskunft über die Größe und Zusammensetzung des persönlichen Netzwerkes (Fischer 1982a; Marsden 1987; Moore 1990; Hoyt, Babchuk 1983). Die egozentrierten Netzwerke werden mit Hilfe von Namensgeneratoren erhoben, die jeweils verschiedene Netzwerkpersonen identifizieren. Fischer (1982a) verwendet zehn Namensgeneratoren, die soziale Interaktionen in den Bereichen emotionale, instrumentelle Unterstützung und Geselligkeit erfassen (z.B. Geld leihen, soziale Aktivitäten, Hilfe im Haushalt, Sprechen über persönliche Dinge u.a.).321 Der Namensgenerator des General Social Surveys (Datenbasis von Marsden 1987; Moore 1990) besteht hingegen aus einer einzigen Frage, die in der deutschen Fassung folgendermaßen lautet: „Hin und wieder besprechen die meisten Leute wichtige Angelegenheiten mit anderen. Wenn Sie an die letzten sechs Monate zurückdenken: Mit wem haben Sie über Dinge gesprochen, die Ihnen wichtig waren?“ Sie ist bezogen auf maximal fünf Nennungen und erfasst im Vergleich zu Fischer (1982a) einen höheren Anteil von Freunden/Freundinnen und Verwandten (vgl. Wolf 2004: 248). Beide Namensgeneratoren identifizieren somit starke, positiv bewertete Beziehungen innerhalb der subjektiven Verwandtschaft. Sie sind als eine Teilmenge der subjektiven Verwandtschaft zu verstehen, die durch intensive affektive und/oder instrumentelle Beziehungen gekennzeichnet sind. Eine differenzierte Analyse unterschiedlicher Verwandtentypen erfolgt mit Ausnahme der Studie von Hoyt, Babchuk (1983) nicht. Fischer (1982a) vergleicht die persönlichen Netzwerke von Befragten in unterschiedlichen Gemeindegrößen. Abhängige Variable ist „kin involvement“.322 Theoretischer Ausgangspunkt ist die Annahme, dass neben der Persönlichkeit und individuellen Präferenzen, strukturelle Opportunitäten und Zwänge die Wahl der Sozialbeziehung determinieren (vgl. Fischer 1982a: 79). Dies entspricht dem „choice-constraint“-Modell von Fischer (1977) (vgl. Kapitel 3.1.2.1). Die Nennung von Verwandten als Mitglieder des persönlichen Netzwerkes hängt insbesondere von der Stellung im Lebenszyklus und der geographischen Distanz ab, andere soziale Charakteristiken (Geschlecht, Einkommen, u.a.) sind von untergeordneter Bedeutung (vgl. Fischer 1982a: 87). „Among respondents in our study, stage in life cycle and number of relatives in the vicinity basically determine the number of relatives they named. In other words, how many kin people 321 322
Vgl. auch McCallister, Fischer (1978). „Kin involvement“ erfasst die Anzahl von Verwandten, die außerhalb des Haushaltes von ego lebt (vgl. Fischer 1982a: 80). Die Stichprobe der Studie umfasst 1050 Befragte aus fünfzig Gemeinden unterschiedlicher Größen aus Nord-Kalifornien (vgl. Fischer 1982a: 17).
3.2 Empirischer Forschungsstand
155
were involved with largely depended on how many kin they had. Within these limits, other social characteristics made little difference. Men were slightly less involved with kin than were women; high-income people less than middle-income people; those who had moved away from their communities of origin – and thus from their kin of origin – than those who stayed. And urban residents were less involved with kin than were Town or Semirural residents” (Fischer 1982a: 87).
Von besonderem Interesse ist der Zusammenhang zwischen Wohnortgröße und Größe des Verwandtschaftsnetzwerkes. Dabei wird die These aufgestellt, dass städtische Kontexte die Opportunitäten für außerverwandtschaftliche Beziehungen erhöhen. Die Studie zeigt, dass unabhängig von der Anzahl der Verwandten, Stadtbewohner/-innen weniger Verwandte zu ihrem persönlichen Netzwerk zählen: „City people apparently associated with fewer relatives than they actually had available to them“ (Fischer 1982a: 83). Im Hinblick auf verschiedene Unterstützungsleistungen spielen „andere Verwandte“ (Ehepartner/-in, Eltern, Kinder, Geschwister, Affinalverwandtschaft nicht eingeschlossen) gegenüber Freundschaften lediglich eine untergeordnete Rolle (vgl. Fischer 1982a: 372f.).323 Weitere Unterschiede zeigen sich in Bezug auf persönliche Gespräche und soziale Aktivitäten. Nach Fischer (1982a: 83) ermöglicht ein städtisches modernes Leben „to disregard kin“. Dies kann die Befreiung von zwanghaften Verpflichtungen sowie das „Verlassen” von Verwandten bedeuten (vgl. Fischer 1982a: 83). Ein Leben in der Stadt bietet zum einen persönliche Alternativen, z.B. nicht-verwandtschaftliche Beziehungen (Freundschaften, Bekannte u.a.), zum anderen institutionelle Alternativen in Form von unterschiedlichen Freizeitmöglichkeiten. Als Konsequenz wird vermutet, dass im alltäglichen Leben von Stadtbewohner/-innen Verwandte eine eher untergeordnete Rolle spielen im Vergleich zu ländlichen Gebieten, wo diese Alternativen zur Verwandtschaft nicht oder nur in geringerem Maße existieren. Dies hat einerseits eine Substitution von Verwandten zur Folge, andererseits ist eine Selektivität kennzeichnend. Stadtbewohner/-innen verhalten sich selektiver, wenn es darum geht, mit wem man Kontakte pflegt. Diese Tatsache betrifft vor allem Mitglieder des erweiterten Familienkreises, deren Anzahl im persönlichen Netzwerk geringer ist (personale Selektivität) (vgl. Fischer 1982a: 83f.). „Urban people, no less than rural people, can call upon kin (setting asides the question of family size), but they have less occasion to do so. They can be more selective in deciding when to mobilize which specific kin relations for which specific purposes” (Fischer 1982a: 83; Hervorhebung im Original).
Fischer (1982a: 83) differenziert zwischen ländlicher und städtischer Verwandtschaft, wobei die letztere auch als freiwillige Verwandtschaft („voluntary kinship“) bezeichnet wird. Entscheidend ist die Schlussfolgerung und Bewertung, denn dieser Sachverhalt veranlasst den Wissenschaftler, von einer Schwächung der Verwandtschaft zu sprechen: „In an important sense, of course, voluntary kinship – for example, not feeling obliged to visit one´s uncle and aunt every weak – is debilitated kinship” (Fischer 1982a: 83; Eigene Hervorhebung).
323
Vgl. dazu ausführlicher Fischer (1982a: 386f.).
156
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
Dennoch sind die Befunde zu den Auswirkungen der Wohnortgröße nicht eindeutig. So ist zwar die Anzahl von Verwandten im Netzwerk der städtischen Bevölkerung geringer, betrachtet man jedoch die affektiven Beziehungen, zeigen sich lediglich inkonsistente Zusammenhänge (vgl. Fischer 1982a: 84). Darüber hinaus ist eine Selektivität in Bezug auf spezifische Situationen charakteristisch, in denen sich die Befragten an ihre Verwandten wenden (situationale Selektivität). Während ein negativer Zusammenhang zwischen der Wohnortgröße und alltäglichen Unterstützungsleistungen existiert, gilt dies nicht für Krisensituationen. Abschließend verweist Fischer (1982a: 84) darauf, dass die Studie keinen Hinweis für eine familiale Desintegration liefert, sondern die Bezeichnung „selektive Familienintegration“ angemessener erscheint. An dieser Stelle kann auf das Konzept der Latenz von modernen Verwandtschaftsbeziehungen (Riley 1983) hingewiesen werden, das in Kapitel 1.1.2 ausführlicher beschrieben wurde. Marsden (1987) vergleicht im Rahmen seiner Netzwerkstudie – auf Basis des General Social Surveys (GSS) 1985 – die Anteile von Verwandten und Nicht-Verwandten in Abhängigkeit von sozioökonomischen Variablen (Alter, Geschlecht, Bildung, Wohnortgröße). Es lässt sich ein höherer Anteil von Verwandten in den Netzwerken von jungen und älteren Befragten feststellen. Frauen verfügen ebenfalls über einen höheren Anteil von Verwandten. Zudem nimmt der Anteil von Verwandten mit Zunahme der Bildungsjahre ab. Der Wohnort hat einen negativen Einfluss: Je größer, desto mehr Nicht-Verwandte und weniger Verwandte kennzeichnen die Netzwerke (vgl. Marsden 1987: 128f.). Im Vordergrund der Analyse von Moore (1990) stehen ebenfalls strukturelle Determinanten von persönlichen Netzwerken.324 Moore (1990) liefert u.a. detaillierte Ergebnisse zum Zusammenhang zwischen Geschlecht und dem Anteil von Verwandten.325 Generell weisen Frauen – nach Kontrolle mit strukturellen Merkmalen – einen höheren Anteil und eine größere Diversität von Verwandtentypen in ihren Netzwerken auf. Bei Vollbeschäftigung jedoch nimmt der Anteil von Verwandten im persönlichen Netzwerk ab, während dieser Zusammenhang bei Männern nicht nachzuweisen ist (vgl. Moore 1990: 731). In Relativierung des in bisherigen Studien festgestellten Effektes des biologischen Geschlechts, kann dieses Ergebnis nun dahingehend interpretiert werden, dass eine ähnliche sozialstrukturelle Position von Frauen und Männer nicht zu Verhaltensunterschieden im Aufbau der persönlichen Netzwerke führt (vgl. Moore 1990: 734). Die Studie von Hoyt, Babchuk (1983) ist im Besonderen herauszustellen. Sie untersucht die Determinanten einer emotionalen Beziehung zu Verwandten.326 Dabei wird zwischen a) „primary kin“ und b) „confidant kin“ differenziert. Der Begriff der primären Verwandtschaft ist äquivalent zum Begriff der subjektiven Verwandtschaft (Kapitel 1.1.2), die eine Teilmenge der Gesamtheit der biologischen Verwandten abbildet und die Verwandten erfasst, mit denen soziale Beziehungen gepflegt werden. 28% der primären Verwandtschaft sind entfernte Verwandte (vgl. Hoyt, Babchuk 1983: 91).327 „Confidant kin“ sind wiederum die primären Verwandten, die von den Befragten als Vertrauenspersonen bezeichnet 324
325 326
327
Moore (1990: 726) verweist dabei auf die Erklärungskraft der strukturellen Variablen für die Zusammensetzung des Netzwerkes. Kritisch muss an dieser Stelle angemerkt werden, dass strukturelle Faktoren wie Geschlecht, Familienstand, Erwerbstätigkeit u.a. Unterschiede nicht erklären können. Die zentrale Beantwortung der Frage nach dem Warum? ist damit nicht erfolgt (vgl. Homans 1972b). Datenbasis ist ebenfalls der General Social Survey (GSS) 1985. Die Stichprobe bilden 800 Erwachsene (45 Jahre und älter) aus zwei städtischen Zentren im Mittleren Westen der USA (vgl. Hoyt, Babchuk 1983: 89). Kategorie „extended kin“ (ohne Ehepartner/-in, Eltern, Kinder und Geschwister).
3.2 Empirischer Forschungsstand
157
werden. Folgende Hypothesen werden formuliert, die auf der Grundlage von bisherigen Forschungsergebnissen aufgestellt werden (vgl. Hoyt, Babchuk 1983: 89f.):328 1.
2. 3. 4. 5. 6.
Verwandte, die sich in einem genealogisch absteigenden Abstammungsverhältnis von ego befinden, werden eher als Vertrauenspersonen gewählt. Folgende Reihenfolge wird unterstellt: Ehepartner/-in, Eltern, erwachsene Kinder, Geschwister, jüngere Kinder, entfernte Verwandte. Es gibt nur wenig systematische Zusammenhänge zwischen der Häufigkeit der Interaktion und der affektiven Bindung zwischen „primary kin“ und „confidant kin“. Frauen haben intimere Beziehungen zu allen Verwandten. Mit dem Alter wird die Wahrscheinlichkeit steigen, eine Person aus der primären Verwandtschaft als Vertrauensperson zu wählen. Verwandte des gleichen Geschlechts werden eher als Vertrauenspersonen gewählt. Homogenität hinsichtlich Alter, Geschlecht und sozialer Status ist eine wichtige Determinante der Wahl von Verwandten als Vertrauenspersonen.329
Die Ergebnisse der statistischen Analyse demonstrieren die Vorrangstellung von Ehepartner/-innen als Vertrauenspersonen. Kritisch muss anmerkt werden, dass der Vergleich zwischen diesen Bezugspersonen und die bestätigten Ergebnisse einer „Rangfolge der Intimität“ keine neuen Erkenntnisse über die Wahl von entfernten Verwandten liefert. Dass man Ehepartner/-innen im Vergleich zu Cousinen oder Tanten mit größerer Wahrscheinlichkeit als Vertrauenspersonen wählt, gilt als selbstverständlich – von Ausnahmen natürlich abgesehen – angesichts der Institution Ehe als intime Zweierbeziehung. Die Häufigkeit der Interaktion erweist sich als nicht signifikant für die Wahl von entfernten Verwandten als Vertrauenspersonen. Die Hypothese über den Einfluss des Geschlechts wird bestätigt, Frauen wählen häufiger eine Vertrauensperson aus ihrem primären Verwandtschaftsnetzwerk. Darüber hinaus ergibt sich eine höhere Wahrscheinlichkeit, weibliche Verwandte zu wählen. Mit dem Alter nimmt die Wahrscheinlichkeit ab, Mitglieder der entfernten Verwandtschaft als Vertrauensperson zu wählen, wobei sich speziell für die höchste Altersgruppe (75 Jahre und älter), eine Zunahme der Wahrscheinlichkeit zeigt (vgl. Hoyt, Babchuk 1983: 95f.). Hoyt, Babchuk (1983: 99) vermuten, dass der Verlust von signifikanten Personen (Ehepartner/-innen, Geschwister, u.a.) in den späten Lebensjahren durch andere Familienmitglieder kompensiert wird. Dies entspricht einem Substitutionseffekt bzw. der These der hierarchischen Kompensation (Cantor 1979) (vgl. Kapitel 3.2.1.1.3.1). Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Individuen nicht alle ihre objektiven Verwandten zu den primären Verwandten und „Vertrauensverwandten“ zählen. Sie verhalten sich vor allem dann sehr selektiv, wenn es um die Wahl von entfernten Verwandten als Vertrauenspersonen geht. Strukturelle Determinanten wie Alter, Verwandtentyp, Phase im Lebenszyklus und Geschlecht sind nach Hoyt, Babchuk (1983: 98f.) zentrale Faktoren, die im Zusammenhang mit der Variabilität einer affektiven Beziehung diskutiert werden.
328
329
Als statistisches Analyseverfahren wird eine Logistische Regression geschätzt, da sowohl die abhängige und die unabhängigen Variablen kategoriales Messniveau haben. Homogenität wird als entscheidende Determinante der Freundschaftswahl angesehen (vgl. dazu exemplarisch Verbrugge 1977, Jackson 1977).
158
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
3.2.1.1.4 Studien der 1990er Jahre bis 2005 Für die Analyse der Verwandtschaftsstudien bis Mitte der 1990er Jahre kann u.a. auf Johnson (2000a,b) zurückgegriffen werden, die gleichzeitig auch zwei der wenigen aktuellen amerikanischen Publikationen darstellen.330 Es gibt keine theoretischen und empirischen Arbeiten speziell über den erweiterten Familienkreis. Studien über Geschwister- und Generationenbeziehungen bestimmen die Forschung. Dies gilt ebenso für die Jahre 1997, 1998 und bedingt für das Jahr 1999.331 Waite, Harrison (1992) analysieren zwar die Determinanten der Verwandtschaftsbeziehungen von Frauen, beschränken ihre empirische Analyse allerdings auf Eltern, Kinder, Geschwister und die Affinalverwandtschaft. Die zu Beginn aufgeführten Hypothesen über allgemeine Determinanten des Kontaktes sind jedoch auch auf den erweiterten Familienkreis übertragbar. Zusammenfassend kann festgehalten werden: „Our results indicate that the contact middle aged women have with kith and kin are influenced by interacting factors: the nature of the relationship, household structure, distance, resources, and a predisposition to contact with family. Across the board the first two seem to exert the strongest influence. Further their interaction sheds light on the motivations, pressures, and needs that may shape kind and degree of contacts for these women in the middle” (Waite, Harrison 1992: 650; Eigene Hervorhebung).
Folgende Hypothesen werden im Einzelnen genannt, die implizit auf austauschtheoretischen Prämissen beruhen (vgl. Waite, Harrison 1992: 638).332 Es wird eine Hierarchie von normativen Verpflichtungen je nach Verwandtschaftsgrad und -typ unterstellt, die das Verhalten determiniert.333 Darüber hinaus wird ein Zusammenhang zwischen strukturellen Faktoren und der Kontakthäufigkeit postuliert (z.B. Zusammensetzung des Haushaltes, geographische Distanz). Eine leichtere Verfügbarkeit von Verwandten kann die Hierarchie von Sozialkontakten modifizieren (vgl. Waite, Harrison 1992: 639f.). Als Erklärung werden folgende austauschtheoretische Konstrukte angeführt: „Further, the costs – in time and effort – of social contact with coresidents are much lower than the costs of social contact with those living elsewhere” (Waite, Harrison 1992: 640).
Eine weitere Determinante ist der Familienstand. Die Existenz von Ehepartner/-innen und Kindern nimmt große Zeitressourcen in Anspruch, so dass andere Verwandte in Konkurrenz zu der Kernfamilie stehen (vgl. Waite, Harrison 1992: 640). Die vierte Hypothese bezieht sich auf die genealogische Abstammungslinie, wobei häufigere Kontakte mit Verwandten der matrilinearen Linie erwartet werden. Dieser Zusammenhang wird jedoch nicht 330
331
332
333
Johnson (2000b: 623) analysiert das Journal of Marriage and Family, American Sociological Review und American Journal of Sociology für den Zeitraum von 1990-1998. Die Studien von Parish u.a. (1991) und Uttal (1999) bilden Ausnahmen. Parish u.a. (1991) analysieren die verwandtschaftliche Unterstützung junger Mütter hinsichtlich Kinderbetreuung und finanzieller Hilfen. Die qualitative Studie von Uttal (1999) thematisiert ebenfalls die verwandtschaftliche Betreuung von Kindern. Die empirischen Ergebnisse werden an dieser Stelle vernachlässigt. Kritisch muss jedoch angemerkt werden, dass es sich nicht um Hypothesen handelt. Es werden zwar allgemeine Determinanten detailliert beschrieben, aber sie stellen keine spezifischen Hypothesen dar, die Ursache und Wirkung miteinander verknüpfen. Vgl. dazu ausführlicher Kapitel 3.2.1.2.
3.2 Empirischer Forschungsstand
159
als stark eingeschätzt, da Frauen in ihrer Rolle als kinkeeper auch Beziehungen zu patrilinearen Verwandten pflegen. Die fünfte Hypothese bezieht sich auf Zeitressourcen der Frau, denn je mehr Zeit Frauen zur Verfügung haben (z.B. durch Nicht-Erwerbstätigkeit), desto mehr soziale Kontakte können aufrechterhalten werden. Abschließend werden kulturelle Faktoren wie die ethnische Herkunft und eine „Prädisposition für verwandtschaftliche Beziehungen“ genannt (vgl. Waite, Harrison 1992: 641f.). Insbesondere der letzte Faktor „erklärt“ die Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Netzwerken mit dem Verweis auf das biologische Geschlecht.334 „This perspective argues that women are more disposed than men toward maintaining kin ties and less disposed toward other types of ties“ (Waite, Harrison 1992: 642).
Es wird weiterhin davon ausgegangen, dass die Mehrheit an sozialen Kontakten zwischen Dyaden stattfinden und weniger innerhalb familialer Gruppen (vgl. Waite, Harrison 1992: 641). Dennoch zeigen die empirischen Analysen, dass soziale Kontakte vor allem durch den „family-reunion-effect“ geprägt sind und die Verwandtschaftsgruppe mehrmals im Jahr zu Feiertagen und Familientreffen zusammenkommt (vgl. Waite, Harrison 1992: 651). Eine zentrale Determinante, deren Bedeutung in der aktuellen amerikanischen Diskussion über „kinship diversity“ (Johnson 2000b) diskutiert wird, ist die ethnische Herkunft. Studien zu ethnischen Unterschieden von Verwandtschaftsbeziehungen wurden bereits in den 1970er Jahren verfasst (Kapitel 3.2.1.1.3), die vor allem Unterschiede zwischen weißen und afroamerikanischen Familien thematisieren. Vor diesem Hintergrund ist die Arbeit von Roschelle (1997) zu nennen, die eine Zusammenfassung des Forschungsstandes liefert und eine empirische Analyse mit Daten des National Survey of Family and Household (NSFH) durchführt.335 Das Verwandtschaftsnetzwerk von afro- und lateinamerikanischen Familien wird im Zusammenhang mit der ethnischen Herkunft, der sozialen Klasse und dem Geschlecht analysiert.336 Roschelle führt ein neues, integratives theoretisches Konzept zur Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen ein. Sie weist darauf hin, dass die bisherigen Ansätze vor allem monokausal ausgerichtet sind, d.h. sich entweder auf strukturelle Determinanten (sozioökonomischer Kontext) oder kulturelle Determinanten (Normen, traditionelle Familienorganisation) der Variabilität des verwandtschaftlichen Handelns konzentrieren (vgl. Roschelle 1997: 68). Studien mit einem kulturellen Erklärungsansatz sind aus methodischer Sicht zu kritisieren (kleine Fallzahlen, keine Repräsentativität). Darüber hinaus nehmen sie keine Vergleiche zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen vor und vernachlässigen den sozioökonomischen Kontext der Familien (vgl. Roschelle 1997: 40f.). Der strukturelle Erklärungsansatz hingegen, der die Ursache für intensive Verwandtschaftsbeziehungen vor allem in der ökonomischen Deprivation begründet sieht, berücksichtigt nicht ausreichend die kulturelle Familienorganisation und impliziert somit, dass bei Wohlstand eine individualistische Orientierung der Menschen existiert und Verwandtschaftsbeziehungen „nutzlos“ sind (vgl. Roschelle 1997: 53). Roschelle (1997) hingegen integriert kulturelle und ökonomische Faktoren zu einem theoretischen Konzept, das von 334 335
336
Ausführlicher zur Kritik an der biologistischen Argumentation vgl. Kapitel 1.6. Insgesamt wurden 13017 Personen über 19 Jahre befragt. Zeitraum der Befragung ist 1987-1988 (vgl. Roschelle 1997: 87). Insgesamt werden vier ethnische Gruppen differenziert: „African American“, „Chicano“, „Puerto Rican“, „Non-Hispanic White“.
160
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
ihr „culture-structure nexus“337 genannt wird und vermeidet somit die bisherigen reduktionistischen Sichtweisen. Die Annahme, dass die (potentiell) ökonomisch deprivierte Stellung von ethnischen Minoritäten zu einer stärkeren Familien- und Verwandtschaftsorientierung führt, wird nicht länger als korrektes Bild der Wirklichkeit betrachtet (vgl. Roschelle 1997: 181f.). Von besonderem Interesse sind die intensiven Verwandtschaftsbeziehungen von afroamerikanischen Familien. Die Ergebnisse zeigen die größte Einbindung in verwandtschaftliche Unterstützungsleistungen, wobei eine geschlechtsspezifische Aufgabenallokation festzustellen ist (vgl. dazu ausführlicher Roschelle 1997: 106ff.). Dieser Befund wird auf die kollaterale Organisation der Verwandtschaft mit dem Konzept der „unity of the sibling group“ zurückgeführt (vgl. Johnson 2000b: 632). Für den Zeitraum 2000 bis 2004 lassen sich keine Studien anführen, die sich speziell mit dem Thema der entfernten Verwandtschaft befassen.338 Eine Ausnahme ist der Artikel von Johnson (2000b).339 Johnson (2000b: 624f.) benennt vier Faktoren, die für das geringe Interesse an Verwandtschaft in der familiensoziologischen Forschung verantwortlich sind. Zum einen erschwert ein uneindeutiger Familienbegriff, der sowohl für die Kernfamilie als auch für den erweiterten Familienkreis benutzt wird, die Identifikation von Forschungsproblemen. Johnson weist auf die linguistische Interpretation dieses Sachverhaltes hin: Das Vokabular für ein Phänomen reflektiert die Bedeutung, die ihm von der Gesellschaft gegeben wird. Bisherige amerikanische Studien lassen auf eine geringe Bedeutung von verwandtschaftlichen Beziehungen schließen, da sie die Zentralität kernfamilialer Interaktionen betonen. Keinerlei Erkenntnisse gibt es darüber hinaus über die Veränderung der Ideologien, Normen und Werte von Verwandtschaftsbeziehungen. Bisherige Forschungsparadigmen, insbesondere der Strukturfunktionalismus, analysieren Verwandtschaftsbeziehungen primär auf der Basis von Kontakthäufigkeiten und Unterstützungsleistungen – neuere dynamische Paradigmen, wie beispielsweise „families by choice“, haben sich bis auf wenige Ausnahmen noch nicht durchgesetzt. Die Forschung konzentriert sich zudem auf Themen, die den aktuellen gesellschaftlichen Verhältnissen Rechnung tragen (z.B. die Scheidungsforschung). Abschließend wird darauf hingewiesen, dass die methodologischen Grenzen von „large-scale surveys“ zu einer Unterschätzung der Bedeutung von Verwandtschaft führen.340 „Moreover, because the sources of variation in kinship involvement, such as race, ethnicity, and gender, are often controlled in regression models, we learn about the phenomena clustered around the mean rather than the diverse ways family and kinship systems are organized” (Johnson 2000b: 625).
Dieses Kapitel endet mit der Darstellung der qualitativen Studie von Milardo (2005) über die Beziehungen zwischen Onkeln und Neffen. Sie ist damit eine der wenigen Studien, die
337 338
339
340
nexus: engl.: Verknüpfung/Verkettung. Werden Verwandtschaftsbeziehungen thematisiert, sind dies beispielsweise die Beziehungen von Ehepaaren zu Schwiegereltern und Eltern (vgl. Lee u.a. 2003). In Analogie zu Lee (1980) fasst Johnson (2000b: 627f.) folgende (klassische) Determinanten von „kinship diversity“ zusammen: Geschlecht, geographische Entfernung, soziale Klasse und ethnische Herkunft. In diesem Zusammenhang ist auf den Aufsatz von Litwak, Kulis (1987) hinzuweisen, die Verwandtschaft als theoretischen und empirischen Gegenstand sozialwissenschaftlicher Forschung analysieren und auf bisherige Defizite bei der Messung verwandtschaftlicher Kontakte hinweisen.
3.2 Empirischer Forschungsstand
161
explizit den erweiterten (männlichen) Familienkreis als Forschungsthema definiert – „a theme that has been largely unexplored to date“ (Milardo 2005: 1226).341 „(…) research has largely ignored the potential contributions of collateral kin, including uncles, and nonkin, including fictive kin and friends” (Milardo 2005: 1226f.).
Ziel ist die vertiefende Analyse der Charakteristiken und Funktionen der verwandtschaftlichen Beziehung zwischen Onkel und Neffe („uncling“). Zusammenfassend können folgende Merkmale der Onkelrolle festgehalten werden (vgl. Milardo 2005: 1226):
Onkel sind Mentoren ihrer Neffen. Onkel übernehmen die Rolle als Familienhistoriker. Onkel übernehmen die Rolle als „intergenerational buffer“. Zwischen Onkeln und Neffen gibt es freundschaftliche Beziehungen.
Die Rolle des Mentors äußert sich in Form von sozialer und instrumenteller Unterstützung und der Vermittlung von traditionellen maskulinen Werten. Milardo (2005: 1231) verwendet den Begriff der „third party“, um diese spezifische Rolle zu beschreiben. Während Onkel auf der einen Seite ihre Neffen unterstützen und sich verantwortlich für sie fühlen, haben sie – im Vergleich zu den Eltern – keine vollkommene Verantwortung für ihre Neffen. In ihrer Funktion als „intergenerational buffer“ übernehmen sie die Rolle eines Mediators bei familialen Konflikten zwischen ihren Neffen und deren Eltern. Als dritte Funktion wird das „family storytelling“ identifiziert, die für knapp der Hälfte der Onkel kennzeichnend ist (vgl. Milardo 2005: 1232). Diese Tatsache veranlasst den Autor sogar von der Rolle des kinkeeper zu sprechen (vgl. Milardo 2005: 1235). Diese Einschätzung ist angesichts der existierenden Befunde zur Rolle der Frauen als kinkeeper (Kapitel 1.6) sowie der mangelnden empirischen Fundierung dieser Aussage kritisch zu hinterfragen.342 Abschließend wird darauf hingewiesen, dass es ein Vielzahl von Beziehungstypen und Rollen zwischen Onkeln und Neffen gibt: Sie bezeichnen sich als Freunde, der Onkel kann aber auch Vaterersatz und der Neffe Sohnersatz sein (vgl. Milardo 2005: 1233f.). Welche Faktoren werden genannt, die nach Auffassung der Befragten dafür verantwortlich sind, dass es keine enge Beziehung zwischen Onkel und Neffe gibt? Diese Tatsache wird auf fehlende gemeinsame Interessen, geographische Distanz, „family and career commitment“ und die Qualität der Geschwisterbeziehung zurückgeführt (vgl. Milardo 2005: 1230). Weitere potentielle Einflussfaktoren sind Kinderlosigkeit, ethnische Herkunft und soziale Klasse (vgl. Milardo 2005: 1235). Als direkte Antwort auf die Aussage von Adams (1999: 87), der Beziehungen zu sekundären Verwandten als gelegentlich und zufällig bezeichnet, entgegnet Milardo:
341
342
Insgesamt wurden 29 Onkel und Neffen aus Neuseeland sowie 23 Onkel und Neffen aus Maine (USA) befragt (willkürliche Auswahl). Die Neffen sind im Durchschnitt 19 Jahre (Neuseeland) und 23 Jahre (USA). Gibt es mehrere Onkel bzw. Neffen werden die Aussagen über den „Lieblings“-Onkel/-Neffen protokolliert. Die Onkel und Neffen stehen in keiner verwandtschaftlichen Beziehung zueinander (vgl. ausführlicher Milardo 2005: 1228). Diese Feststellung wird auf der Grundlage der Befragung von 12 Onkeln und 17 Neffen getroffen (vgl. Milardo 2005: 1233). Eine empirisch fundiertere Aussage ist zudem nur über den Vergleich der verwandtschaftlichen Rollen von Tanten, Müttern oder Großmüttern zu treffen.
162
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
„In this study, uncles and nephews, speaking from their own lived experience, at times described relationships that were hardly circumstantial, hardly incidental, and hardly secondary. (…) To be sure, uncles varied in the nature of their relationships with nephews. Some were casual, involving little contact or intimacy, whereas others were quite the contrary” (Milardo 2005: 1233f.).
Dieser Einschätzung kann nur zugestimmt werden. Die These des Bedeutungs- und Funktionsverlustes erscheint angesichts der referierten Forschungslage als nicht mehr geeignet, die Beziehungen zum erweiterten Familienkreis adäquat zu beschreiben. Ebenfalls dokumentiert ist die Variabilität der verwandtschaftlichen Beziehungen in Bezug auf emotionale Bindung und Kontakthäufigkeiten. 3.2.1.2 Die Struktur von Verwandtschaftsnormen (Rossi, Rossi 1990) Die Studie von Rossi, Rossi (1990) ist die bedeutsamste familiensoziologische Studie der 1990er Jahre. Sie hat ihren Schwerpunkt in der Analyse der intergenerationalen Solidarität, liefert aber darüber hinaus wichtige Erkenntnisse über die Struktur von normativen Verwandtschaftsverpflichtungen.343 Schwerpunkt der Analyse sind normative Verpflichtungen gegenüber der objektiven Verwandtschaft. Subjektive Verwandtschaftsbeziehungen sind nicht Gegenstand der Forschung. Die Variation der normativen Verpflichtungen wird anhand genealogischer, soziodemographischer und biographischer Faktoren erklärt. Was Turner (1969: 89) Ende der 1960er Jahre noch vermutete – den Zusammenhang zwischen verwandtschaftlichen Verpflichtungen und soziodemographischen Merkmalen wie z.B. soziale Klasse, Alter oder geographische Distanz und dies als notwendigen Untersuchungsgegenstand bezeichnete – wird von Rossi, Rossi (1990) zu Beginn der 1990er Jahre für unterschiedliche Verwandtentypen analysiert. Ihre Leistung besteht vor allem darin, dass die These der Schwäche der normativen Verbindlichkeit von entfernten Verwandtschaftsbeziehungen untersucht werden kann (vgl. auch Bengtson 2001: 12). Ein Verwandtschaftssystem kann aus zwei Blickrichtungen analysiert werden. Zum einen stellt Verwandtschaft eine kulturell definierte normative Struktur344 dar, auf der anderen Seite konstituiert sie ein Netzwerk mit konkreten sozialen Beziehungen (vgl. Rossi, Rossi 1990: 155). Mit dieser Betrachtung wird indirekt die Unterscheidung zwischen objektiver und subjektiver Verwandtschaft angesprochen. Die kulturellen Normen beziehen sich auf die Gesamtheit der biologischen Verwandten (objektive Verwandtschaft), während die subjektiven Verwandten jene konkreten Verwandten sind, zu denen eine persönliche Beziehung besteht. Die Studie von Rossi, Rossi (1990) fokussiert die erste Ebene. „Here our focus is on the levels and strengths of obligations evoked by different kin in a variety of circumstances, whether or not respondents have ever had an actual person occupying a particular kin position. Our goal is to uncover the general principles underlying the American kin343
344
Die Hauptstichprobe (G2) umfasst 1393 Befragte, die „spinoff“ Stichproben jeweils 323 Eltern (G1) und 278 erwachsene Kinder (G3). Die Interviews wurden im Herbst 1984 bis Frühjahr 1985 in Boston (USA) durchgeführt. Die Zufallsstichprobe von Wohneinheiten basiert auf der „Boston Standard Metropolitan Statistical Area (SMSA)“ (vgl. Rossi, Rossi 1990: 23). Unter Struktur wird hier die latente Organisation der Normen durch allgemeine Prinzipien verstanden (vgl. Rossi, Rossi 1990: 156).
3.2 Empirischer Forschungsstand
163
ship system as revealed in obligations acknowledged to specific kin” (Rossi, Rossi 1990: 156; Eigene Hervorhebung).
Verwandtschaftsnormen sind kulturell definierte Regeln und Pflichten, die das Verhalten zwischen Verwandten spezifizieren und sich z.B. in gegenseitiger Verpflichtung zu Austausch, Hilfe und Unterstützung äußeren.345 Verwandtschaftsnormen bestehen somit aus einer inneren psychischen Komponente und einer äußeren beobachtbaren Komponente, die sich in Einstellungen und Handeln manifestieren. Eine subjektive Verwandtschaftsbeziehung ist, neben anderen Einflussfaktoren wie geographische Distanz, Ressourcenausstattung und der jeweiligen idiosynkratischen Geschichte der Beziehung, von diesen Normen direkt beeinflusst. Zwischen Verpflichtungen und Verhalten besteht jedoch keine deterministische Beziehung (vgl. Rossi, Rossi 1990: 155f.).346 Was ist nun im Speziellen unter verwandtschaftlichen Regeln und Pflichten zu verstehen? Sie umfassen ein weites Spektrum an Verhaltensweisen, die von ihrem jeweiligen Verpflichtungsgrad abhängig sind. Sie reichen vom Händeschütteln bei der Begrüßung bis hin zu finanzieller und emotionaler Hilfe in Krisenzeiten oder der Bereitschaft, wichtige Lebensereignisse gemeinsam zu feiern (vgl. Rossi, Rossi 1990: 156). Kinder erlernen den Unterschied zwischen Fremden und Verwandten, indem sie gewarnt werden, mit Fremden zu sprechen, gleichzeitig jedoch ihre (noch nie zuvor gesehenen) Verwandten bei Besuchen mit einem Kuss begrüßen müssen. Der Kuss repräsentiert Intimität und Vertrauen gegenüber einer verwandten Person. Das Kind erlernt somit fundamentale Verhaltensregeln und eine „Verwandtschaftsdisposition“ im Verlauf der Sozialisation, die eine Reihe von sozialen Normen implizieren: der Unterschied zwischen Verwandten und Fremden, zwischen jung und alt oder zwischen Mutter und Tante (vgl. Rossi, Rossi 1990: 202f.).347 Die Studie „Of Human Bonding“ ist von besonderem Interesse für diese Arbeit, da für die einzelnen Verwandtentypen detaillierte Befunde über das Ausmaß und die Variabilität der normativen Verpflichtungen vorliegen. Dieses Vorgehen verspricht einen entscheidenden Erkenntniszuwachs für eine soziologische Verwandtschaftsanalyse. 3.2.1.2.1 Genealogische Abbildung von Verwandtschaftsverpflichtungen Im Vordergrund stehen vier Arten der normativen Verpflichtung, die zwei unterschiedlichen Dimensionen zuzuordnen sind (vgl. Rossi, Rossi 1990: 162): 1) Krisensituationen („crisis events“), die finanzielle und emotionale Notsituationen erfassen und 2) Situationen, 345
346
347
Nach Leichter, Mitchell (1967: 19) sind Verwandtschaftsnormen Teil des „kinship bond“: „Kinship bonds are ties of obligation and sentiment (…).“ Nach Farber (1964: 196) sind Normen von „ideal kindred relations“ auf folgende Sachverhalte bezogen: 1) „participation in rituals and ceremonies”, 2) „promotion of the welfare of family members”, 3) „making personal resources available to family members”, 4) „trust in kindred”, 5) „maximizing communication”. Lye (1996: 95) beschreibt darüber hinaus die schwierige Balance zwischen gesellschaftlichen Normen der Verpflichtung („norms of obligation“) und der Unabhängigkeit („norms of independence“), die speziell für intergenerationale Beziehungen charakteristisch ist, jedoch darüber hinaus auch für alle anderen Verwandtschaftsbeziehungen gilt. Verwandtschaft und das Verhalten, das sich mit ihr verbindet, gehört somit zu den fundamentalen Erfahrungen fast jedes Menschen von klein auf. Mit dem Erlernen des Sprechens werden Begriffe für Verwandtschaft sozialisiert, die mit Bedeutungen versetzt sind, die Verhaltensbereitschaften und -erwartungen gegenüber vertrauten Personen enthalten (vgl. Vowinckel 1995: 77).
164
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
in denen Anerkennung bzw. Dankbarkeit im Vordergrund stehen („celebratory events“). Die Verpflichtungen werden mit der Methode der Vignetten-Technik operationalisiert, in denen Befragte ihren Verpflichtungsgrad gegenüber Verwandten in einer bestimmten Situation mit Hilfe einer 11-stufigen Skala bewerten müssen (0 = „no obligation at all“, 3 = „mild obligation“, 10 = „strong obligation“). Im Speziellen wird zwischen folgenden Situationen unterschieden:348 1) „Social and emotional comfort (crisis event)”, 2) „Financial aid (crisis event)”, 3) „Gift (celebratory event)”, 4) „Pay a visit (celebratory event)”. Die unterschiedlichen Verpflichtungen werden für die einzelnen Verwandtentypen differenziert erfasst. Tabelle 7 gibt einen Gesamtüberblick über die Verteilung der normativen Verpflichtungen. Tabelle 7: Normative Verpflichtungen differenziert nach Verwandtschaftstyp349 „crisis“ „comfort“ „money“ Mittel- Rang Mittel- Rang wert wert (eigene) Eltern (eigene) Kinder Geschwister Enkelkinder Schwiegerkinder Schwiegereltern Großeltern Stiefkinder Freund/-in Stiefeltern Nichten/Neffen Nachbarn Onkel/Tanten Cousins/Cousinen Ex-Partner/-in
8.71 8.68 7.60 7.22 7.12 7.04 7.01 6.93 6.37 6.05 5.57 5.05 4.77 4.09 3.45
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15
8.32 8.32 6.90 6.47 7.11 6.58 6.30 6.10 4.86 5.43 4.81 3.28 4.03 3.25 2.84
1 1 4 6 3 5 7 8 10 9 11 13 12 14 15
„celebrations“ „gift“ „visit“ Mittel- Rang Mittel- Rang wert wert 8.11 8.36 6.94 6.40 7.19 6.37 6.67 6.88 5.55 5.94 6.57 4.32 6.05 3.56 2.19
2 1 4 8 3 9 6 5 12 11 7 13 10 14 15
8.13 7.86 6.50 6.81 6.10 6.82 6.43 5.91 5.67 5.77 4.91 4.17 4.33 2.75 2.11
1 2 5 4 7 3 6 8 10 9 11 13 12 14 15
(Quelle: Rossi, Rossi 1990: 173)
Eltern und Kinder weisen in allen Dimensionen jeweils die höchsten Mittelwerte auf. Dies wird als Hinweis auf die Stärke der kernfamilialen Bindungen im Vergleich zu anderen Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen interpretiert. Es zeigen sich jedoch Variationen 348
349
Rossi, Rossi (1990: 163) geben folgendes Beispiel für die Vignette „Crisis Event“: „Your unmarried sister has undergone major surgery and will be bedridden for a few weeks. This problem is straining her financial resources. How much of an obligation would you feel to offer her some financial help?” Ein anderes Beispiel für einen „celebratory event” lautet: “Your widowed father is going to have birthday. How much of an obligation would you feel to give him something appropriate to the occasion?” Ausführlicher zur Vignetten-Technik und Operationalisierung vgl. Rossi, Rossi (1990: 164). Datengrundlage ist die Hauptstichprobe G2 (N = 1393). Maximal zu erreichender Mittelwert ist 10, minimaler Mittelwert ist 0.
3.2 Empirischer Forschungsstand
165
in Bezug auf einzelne Verwandtentypen. Auffallend hoch fällt das Ausmaß der Verpflichtung zu Geschenken gegenüber Nichten/Neffen aus (6.57) – ein Wert, der fast auf gleichem Rang mit den Großeltern liegt (6.67) und den der Enkelkinder sogar übertrifft (6.40). Bei entfernten Verwandten dominiert somit die Verpflichtung zu Geschenken gegenüber der Verpflichtung zu sozial-emotionaler Unterstützung. Begründet wird dies durch die Tatsache, dass ein Geschenk (als neutrale Handlung) über Post vermittelt werden kann, während persönliche Unterstützung in Krisensituationen auf einer persönlichen Interaktion beruht (vgl. Rossi, Rossi 1990: 177). Die Verpflichtung zur sozialen und emotionalen Unterstützung in Krisensituationen zeigt darüber hinaus deutliche Unterschiede zwischen Freunden und Freundinnen (6.37) sowie entfernten Verwandten (Onkel und Tanten: 4.77, Cousins und Cousinen: 4.09), was als ein Hinweis auf die spezifische Qualität einer Freundschaft zu interpretieren ist. In Bezug auf „Zwangshandlungen“ (z.B. der Austausch von Geschenken) weisen die entfernten Verwandten höhere Mittelwerte auf. Im Hinblick auf finanzielle Verpflichtungen teilen Nichten und Neffen, Onkel und Tanten mit Freundschaften eine Position, während Nachbarn auf einer Stufe mit Cousins und Cousinen stehen, wobei alle Mittelwerte unterhalb der Grenze von 5.0 liegen (vgl. Rossi, Rossi 1990: 174ff.). Auffallend niedrig sind die Verpflichtungen in allen vier Bereichen gegenüber Cousins/Cousinen, die jeweils den vorletzten Rang vor den Ex-Partner/-innen einnehmen.350 Demgegenüber verweisen die Befunde auf die Zentralität der Ehe, die sich in einem hohen Grad der Verpflichtung gegenüber der Affinalverwandtschaft zeigt (vgl. Rossi, Rossi 1990: 176). Aber auch Stiefeltern und -kinder weisen hohe Verpflichtungswerte auf, die größtenteils die Werte der entfernten Verwandten übertreffen und auf einer Ebene mit Geschwistern, Enkelkindern oder Großeltern stehen (vgl. Rossi, Rossi 1990: 178). Im Vordergrund der vertiefenden Analyse von Verwandtschaftsverpflichtungen stehen zwei strukturelle Dimensionen der anthropologischen Verwandtschaftsforschung a) „range“ und b) „depth“ (vgl. Rossi, Rossi 1990: 178). Entsprechend der Klassifikation „range“ differenzieren Rossi, Rossi (1990: 180) zwischen folgenden Blutsverwandten: 1. 2. 3.
primary kin (primäre Verwandte, direkte Verbindung zwischen ego und Verwandten, z.B. Eltern) secondary kin (sekundäre Verwandte, eine Verbindung zwischen ego und Verwandten, z.B. Geschwister, Enkelkinder) distant kin (entfernte Verwandte, zwei oder mehr Verbindungen zwischen ego und Verwandten, z.B. Onkel/Tanten, Cousins/Cousinen)
Die Dimension „depth“ differenziert zwischen fünf Generationen, die sich aus der Sicht egos aufwärts oder abwärts befinden. Geschwister gehören der gleichen Generation an, während Eltern, Onkel/Tanten, Schwiegereltern und Stiefeltern eine Generation aufsteigend von ego anzuordnen sind, Großeltern hingegen zwei Generationen aufsteigend. Eine Generation absteigend von ego befinden sich Kinder, Nichten/Neffen, Schwiegerkinder, Stiefkinder, zwei Generationen absteigend Enkelkinder (vgl. Rossi, Rossi 1990: 179). Analysiert man die finanzielle und sozial-emotionale Unterstützung, so zeigt sich eine generelle Tendenz von höheren Verpflichtungen gegenüber Nachkommen. Es bestehen höhere Verpflichtungen gegenüber Nichten/Neffen (im Vergleich zu Onkeln/Tanten) und gegenüber 350
Die geringe Spannweite von 1.34 zeigt, dass hierüber auch Konsens unter den Befragten besteht. Dieses Ergebnis korrespondiert mit den Resultaten von Adams (1968).
166
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
Schwiegerkindern (im Vergleich zu Schwiegereltern). Als Erklärung wird auf den größeren Bedarf an finanzieller Unterstützung von jüngeren Personen verwiesen (vgl. Rossi, Rossi 1990: 181). Die stärkste strukturelle Dimension ist jedoch „range“, d.h. die Anzahl der genealogischen Verbindungen zwischen ego und den Verwandten: Der Grad der Verpflichtungen nimmt mit Zunahme der Verbindungen zwischen ego und den Verwandten ab (vgl. Rossi, Rossi 1990: 184). Der Befund wird als Existenz einer konsistenten Struktur der normativen Verpflichtungen interpretiert, die den Antworten zugrunde liegt. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die höchsten Verpflichtungen bestehen gegenüber den primären Verwandten. Der Verpflichtungsgrad ist höher gegenüber Nachkommen im Vergleich zu Verwandten der aufsteigenden Generation (vgl. Rossi, Rossi 1990: 182f.). Nimmt man die Standardabweichung als Maß der Übereinstimmung, zeigt sich, dass der Konsens abnimmt, je größer die Zahl der genealogischen Verbindungen zwischen ego und den Verwandten ist.351 Die größten Standardabweichungen finden sich bei entfernten Verwandten: Cousins/Cousinen (3 Verbindungen), Onkel/Tanten und Nichten/Neffen (jeweils 2 Verbindungen) (vgl. Rossi, Rossi 1990: 212f.). In einer vertiefenden Analyse zeigt sich der Dissens vor allem bei Verpflichtungen zur emotionalen Unterstützung und Verpflichtungen zu Besuchen (vgl. dazu ausführlicher Rossi, Rossi 1990: 214). Cousins und Cousinen haben eine besondere Stellung, da sich die Meinungsverschiedenheit konsistent in den Daten wieder finden lässt. Übereinstimmung existiert lediglich in Bezug auf die Verpflichtung zu Geschenken (vgl. Rossi, Rossi 1990: 215). In einem zweiten Schritt wird nun versucht, die Variationen der verwandtschaftlichen Verpflichtungen anhand soziodemographischer und biographischer Determinanten ausführlicher zu beschreiben. 3.2.1.2.2 Der Einfluss von Verwandtenmerkmalen Im Anschluss an die strukturellen Merkmale des objektiven Verwandtschaftsverhältnisses werden nun persönliche Charakteristiken der Verwandten analysiert, die für Variationen der normativen Verpflichtungen verantwortlich sind (vgl. Rossi, Rossi 1990: 185f.). Zuerst werden Einflüsse des Geschlechts und des Familienstandes der Verwandten überprüft (vgl. Tabelle 8). Höhere Verpflichtungen werden gegenüber weiblichen Verwandten erwartet. Dabei interagiert der Familienstand mit dem Geschlecht. Dies zeigt sich in einer stärkeren Verpflichtung gegenüber unverheirateten Verwandten (vgl. Rossi, Rossi 1990: 187f.). Auf der anderen Seite zeigen aber auch unverheiratete Verwandte (z.B. Tanten) höhere Investitionen in Nichten und Neffen, die die Rolle von „quasichildren“ übernehmen (vgl. Rossi, Rossi 1990: 189). Ebenso wird vermutet, dass sich eine emotional enge Mutter-TochterBeziehung auch auf die Beziehungen zur entfernten Verwandtschaft auswirkt und eine asymmetrische Verschiebung zur matrilinearen Abstammungslinie produziert (vgl. Rossi, Rossi 1990: 189).
351
Große Standardabweichungen können als eine geringe soziale Definition von Verwandtschaftsnormen interpretiert werden, dementsprechend indizieren kleine Standardabweichungen einen hohen normativen Konsens (vgl. Rossi, Rossi 1990: 212f.).
167
3.2 Empirischer Forschungsstand
Tabelle 8: Normative Verpflichtungen differenziert nach Geschlecht und Familienstand der Verwandten352 Finanzielle Hilfe („money“) alleinmit Partner/stehend353 in Onkel/Tanten Schwester der Mutter 4.05 Bruder der Mutter 4.21 Schwester des Vaters 4.28 Bruder des Vaters 4.05 Nichten/Neffen Tochter der Schwester 5.31 Sohn der Schwester 4.87 Tochter des Bruders 4.86 Sohn des Bruders 4.78 Cousins/Cousinen weiblich, mütterlicherseits 3.51 männlich, mütterlicherseits 2.80 weiblich, väterlicherseits 3.58 männlich, väterlicherseits 3.09 Mittelwertunterschiede > .30 gelten als signifikant (Quelle: Rossi, Rossi 1990: 190)
Soziale und emotionale Unterstützung („comfort“) alleinmit Partner/stehend in
4.11 4.25 3.97 3.36
4.70 4.41 4.77 4.69
5.37 5.29 4.85 4.10
4.93 4.83 4.56 4.34
5.97 5.59 5.93 5.42
5.76 5.29 5.34 5.29
3.66 3.35 3.22 2.79
3.76 3.97 4.34 3.81
4.20 4.31 4.15 4.15
Als Hauptfiguren kristallisieren sich folgende alleinstehende Frauen heraus: unverheiratete Tanten, unverheiratete Cousinen und Nichten der matrilinearen oder patrilinearen Abstammungslinie. Ihnen fühlt man sich im Hinblick auf finanzielle, soziale und emotionale Unterstützung am stärksten verpflichtet. In 89,3% der Fälle fühlen sich die Befragten eher weiblichen Verwandten verpflichtet und in 73,3% der Fälle sind die Verpflichtungen gegenüber alleinstehenden Personen der gleichen Verwandtschaftsgruppe stärker ausgeprägt. Generell werden die Einflüsse von Geschlecht und Familienstand mit zunehmendem Verwandtschaftsgrad größer (vgl. Rossi, Rossi 1990: 191f.). In diesem Kontext sind auch die Ergebnisse der Analyse von aktuellen/realen und hypothetischen Begünstigten eines Testaments oder einer Lebensversicherung zu sehen, bei denen sich geschlechtsspezifische Unterschiede zeigen (vgl. Tabelle 9).
352
353
Maximal zu erreichender Mittelwert ist 10, minimaler Mittelwert ist 0. Es gibt keine Angabe zur verwendeten Stichprobe. Unter „alleinstehend“ werden Personen erfasst, die verwitwet oder unverheiratet sind (vgl. Rossi, Rossi 1990: 190).
168
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
Tabelle 9: Begünstigte des Testaments354 Frauen
Verwandte Kinder (Ehe)Partner/-in Eltern Geschwister Nichten/Neffen Nicht-Verwandte Freunde/Freundinnen Institutionen Wohlfahrtsstaat. Einrichtungen *** p < .001 (Quelle: Rossi, Rossi 1990: 475)
Männer
„Have Will“
„Have No Will“355
„Have Will“
„Have No Will“
99,6 (232) 90,5 (189) 27,2 (125) 23,8 (235) 12,0 (250)
97,4 (342) 84,6 (338) 61,8*** (387) 54,0*** (476) 32,5*** (474)
95,0 (159) 96,1 (154) 21,4 (84) 16,4 (165) 11,8 (170)
94,4 (234) 92,6 (258) 59,2*** (368) 52,1*** (368) 28,5 (347)
10,3 (261) 11,7 (265) 10,2 (265)
29,9*** (495) 26,3*** (502) 31,3*** (501)
4,5 (177) 8,4 (178) 7,3 (178)
25,6*** (382) 23,6*** (382) 29,6*** (382)
12% der Frauen setzen ihre Nichten und Neffen als Erben ein und 32,5% planen dies zukünftig zu tun. Die Prozentsätze der Männer weichen nur geringfügig davon ab. Somit sind in einem von zehn Testamenten Nichten und Neffen aufgenommen (vgl. Rossi, Rossi 1990: 474f.). Dabei zeigt sich ein signifikanter positiver Effekt der Kinderlosigkeit. Nichten und Neffen sind Substitute für fehlende Kinder, deren Bedeutung mit Zunahme des Alters der Befragten steigt (vgl. Rossi, Rossi 1990: 478). Darüber hinaus zeigen sich signifikante positive Zusammenhänge mit dem Statusfaktor „Anzahl von Dingen, die zu vererben sind“ und den Verpflichtung gegenüber primären Verwandten (vgl. Rossi, Rossi 1990: 477f.). Zusammenfassend kann festgehalten werden: „Lastly, while income and educational attainment were relevant to whether or not adults had written a will, they play no significant role in the choice of the beneficiaries. Status factors affect taking the legal steps to cover transfer of money and possessions, whereas family characteristics affect to whom the money and possessions are to go” (Rossi, Rossi 1990: 478).
3.2.1.2.3 Der Einfluss von Befragtenmerkmalen 3.2.1.2.3.1 Soziodemographische Determinanten Wechselt man nun von der Perspektive der genealogischen Faktoren und der Verwandtenmerkmale auf die individuelle Befragtenebene, so bilden soziodemographische Einflussfaktoren den Schwerpunkt der nun folgenden Analysen. Im Einzelnen werden Geschlecht, Alter, Bildung und ethnische Herkunft betrachtet. 354
355
Datengrundlage ist die Hauptstichprobe G2 (N = 1393). Die absoluten Häufigkeiten sind in Klammern aufgeführt. Der Fragetext lautet: „Hypothetical question to those who do not have a written will: If you were to draw up a will, would you make any of the following beneficiaries for either money or things you own?“ (Rossi, Rossi 1990: 475).
169
3.2 Empirischer Forschungsstand
Geschlecht Im Vordergrund der theoretischen Fundierung dieser Analyse steht die sozialisierte Geschlechtsrollenorientierung, die die Normen gegenüber Verwandtschaft strukturiert. Sie ist eine zentrale Komponente des Selbstbildes von Männern und Frauen und manifestiert sich im aktuellen Verhalten (vgl. Rossi, Rossi 1990: 192). Tabelle 10 zeigt die Verteilung der Verpflichtungen differenziert nach Geschlecht und Verwandtentyp. Tabelle 10: Normative Verpflichtungen differenziert nach Geschlecht356 Finanzielle Hilfe
Soziale und emotionale Unterstützung
Männer
Frauen
Differenz Mittelwerte
8.32 6.38 5.49
8.32 6.43 5.39
.00 .05 -.10
8.35 7.02 5.84 6.24
8.29 7.17 6.31 6.28
Enkelkinder
6.26
Geschwister
7.01
Onkel/Tanten
3.94
Eltern Eigene Eltern Schwiegereltern Stiefeltern Kinder Eigene Kinder Schwiegerkinder Stiefkinder Großeltern
Frauen
Differenz Mittelwerte
8.70 7.26 6.02
8.71 6.89 6.08
.01 -.37 .06
-.06 .15 .47 .04
8.62 6.71 6.64 6.76
8.73 7.47 7.11 7.16
.11 .76 .47 .40
6.63
.37
6.99
7.40
.41
6.80
-.21
7.49
7.67
.18
4.09
.15
4.52
4.97
.45
Männer
Nichten/Neffen
4.09
4.92
.83
5.24
5.83
.59
Cousins/Cousinen
3.19
3.00
-.19
4.04
4.12
.08
Freunde/ Freundinnen Nachbarn
4.92
4.80
-.12
6.05
6.57
.52
3.16
3.36
.20
4.93
5.12
.19
(Quelle: Rossi, Rossi 1990: 193)
Frauen empfinden gegenüber Nichten und Neffen größere normative Verpflichtungen zu finanzieller und sozial-emotionaler Unterstützung. Darüber hinaus kann der in Kapitel 3.2.1.2.1 herausgestellte Befund einer höheren Verpflichtung gegenüber Nachkommen spezifiziert werden: Insbesondere Frauen haben stärkere Verpflichtungen gegenüber Nachkommen, wobei keinerlei signifikante Geschlechtsunterschiede in der Eltern-KindBeziehung festzustellen sind. Sind jedoch andere Verwandtentypen betroffen, zeigen Frauen jeweils höhere Verpflichtungen gegenüber Nichten und Neffen im Vergleich zu Onkeln und Tanten (vgl. Rossi, Rossi 1990: 194f.).357 356
357
Datenbasis ist die Hauptstichprobe G2 (N = 1393). Mittelwertdifferenzen gleich oder größer als .30 gelten als signifikant. Maximal zu erreichender Mittelwert ist 10, minimaler Mittelwert ist 0. Der „Expressivity Index“ misst darüber hinaus die Offenheit gegenüber anderen Personen bzw. die Fähigkeit, Emotionen zu zeigen. Es wird ein positiver Zusammenhang mit den Verwandtschaftsverpflichtungen
170
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
Rossi, Rossi (1990: 196) weisen darauf hin, dass ihre Studie nur begrenzte Informationen über soziale Interaktionen und affektive Beziehungen zwischen Verwandten außerhalb der Eltern-Kind-Dyade gibt. Anhand der erhobenen Daten ist es jedoch möglich, den Zusammenhang zwischen normativen Verpflichtungen und der Präsenz bzw. Bedeutung der Verwandten in der Kindheit zu analysieren (vgl. Tabelle 11). Sozial-emotionale Verpflichtungen werden in diesem Zusammenhang als Spiegel einer affektiven Beziehung interpretiert. Tabelle 11: Normative Verpflichtungen und „childhood salience“358 Normative Verpflichtungen
Prozentsatz der Kategorie „sehr wichtig“ in der Kindheit („childhood salience“)
„money“
„comfort“
Großeltern Mutter mütterlicherseits Vater mütterlicherseits Mutter väterlicherseits Vater väterlicherseits
6.48 6.40 6.32 5.99
7.25 6.88 7.04 6.85
42.6 35.7 31.7 25.2
Onkel/Tanten Schwester der Mutter Bruder der Mutter Schwester des Vaters Bruder des Vaters
4.08 4.23 4.12 3.70
5.04 4.85 4.81 4.39
34.5 27.5 26.1 22.1
(Quelle: Rossi, Rossi 1990: 197)
Insbesondere die Großmutter (42,6%) und Tante mütterlicherseits (34,5%) sind sehr wichtig in der Kindheit gewesen – wichtiger als Großväter und Onkel beider Abstammungslinien. Sie stellen somit signifikante Personen im Leben der Befragten dar, zu denen darüber hinaus auch die höchsten emotionalen Verpflichtungen bestehen (vgl. Rossi, Rossi 1990: 197). Alter Im Vordergrund dieses Abschnitts steht die Frage der Veränderung der normativen Verpflichtungen im Lebenslauf der Individuen. Es werden positive und negative Zusammenhänge zwischen dem Alter und der Höhe der normativen Verpflichtungen gegenüber Verwandten diskutiert. Zum einen wird in der gerontologischen Forschung von einer „Loslösung“ von sozialen Beziehungen im Alter gesprochen, wobei die Sterbewahrscheinlich-
358
vermutet. Analysen zeigen, dass dies auf alle Verwandtentypen zutrifft (vgl. Rossi, Rossi 1990: 242). Das biologische Geschlecht erklärt nicht per se, warum Frauen generell höhere Verpflichtungen haben. Es ist vielmehr „the gender-related, personal trait of Expressivity. Men as well as women who are high in Expressivity show strong obligations to kin and nonkin” (Rossi, Rossi 1990: 143). Maximal zu erreichender Mittelwert ist 10, minimaler Mittelwert ist 0. Es gibt keine Angabe zur verwendeten Stichprobe.
3.2 Empirischer Forschungsstand
171
keit entscheidenden Einfluss hat und sich quantitativ in einer Verkleinerung des Netzwerkes auswirkt. Der Tod und Verlust von Großeltern, Eltern, Onkel und Tanten führt zu einem Bedeutungszuwachs von Kindern, Nichten, Neffen und Enkelkindern im Leben der Individuen (vgl. Rossi, Rossi 1990: 220). Eine alternative Interpretation nimmt Bezug auf einen Kohorteneffekt, nach dem unterschiedliche historische Lebenserfahrungen im Zusammenhang mit verwandtschaftlichen Verpflichtungen diskutiert werden. Erfahrungen von jungen Erwachsenen – im Vergleich zur Elterngeneration – sind soziale und berufliche Mobilität, nichteheliches Zusammenleben und zunehmende Kinderlosigkeit. Auf der Grundlage dieser Erfahrungen könnte man ein niedriges Verpflichtungsniveau von jüngeren Personen im Vergleich zur mittleren und älteren Generation voraussagen (vgl. Rossi, Rossi 1990: 221). Die mittlere Generation erfüllt hingegen eine besondere Rolle zwischen den (pflegebedürftigen) älteren Angehörigen und den eigenen (erwachsenen) Kindern und leistet sowohl generationsaufwärts als auch generationsabwärts verschiedene Unterstützungsleistungen.359 Ebenso wird vermutet, dass Kinder, die in früheren Jahren zumeist Empfänger/-innen von materiellen und instrumentellen Unterstützungen von Verwandten sind, dies im Alter in Form von Leistungen „zurückzahlen“ (vgl. Rossi, Rossi 1990: 222). Betrachtet man die Ausprägungen der einzelnen (Verpflichtungs-)Indizes360 zeigt sich, dass ältere Personen die geringsten verwandtschaftlichen Verpflichtungen haben. Der höchste Verpflichtungsgrad besteht bei der jüngsten Altersklasse der 19- bis 30-Jährigen. Der gefundene Zusammenhang ist unabhängig von Drittvariablen wie Geschlecht, sozioökonomischer Status und ethnische Herkunft. Kontrolliert mit diesen Variablen, bestätigt sich eine generelle Abnahme der Verpflichtungen mit zunehmendem Alter. Statistisch nicht signifikant ist der Einfluss des Alters für den „Distant Obligation Index“, obwohl auch hier die Verpflichtungen mit dem Alter abnehmen (vgl. dazu ausführlicher Rossi, Rossi 1990: 222ff.). Bildung Ein weiterer Einflussfaktor ist der formale Bildungsabschluss. Entgegen der Annahme, dass weniger gebildete und finanziell benachteiligte Personen aufgrund ihrer höheren Abhängigkeit von verwandtschaftlichen Unterstützungsleistungen stärker in das Verwandtschaftssystem eingebunden sind, zeigt die Analyse einen positiven Zusammenhang zwischen Bildungsniveau und normativen Verpflichtungen gegenüber primären, sekundären und entfernten Verwandten (vgl. dazu ausführlicher Rossi, Rossi 1990: 229). Dieser Befund stimmt mit dem aus dem vorherigen Kapitel gefundenen Zusammenhang des Alters überein, da jüngere Personen tendenziell über eine höhere formale Schulbildung verfügen (vgl. Rossi, Rossi 1990: 226). Zum anderen stellt die schulische Ausbildung eine elterliche Investition in Form von materiellen und psychologischen Unterstützungsleistungen dar. Als Konsequenz vermutet man, dass höher gebildete Kinder – im Sinne der Reziprozitätsnorm – gegenüber ihren Eltern auch höhere Verpflichtungen haben. Dieser Zusammenhang zeigt sich jedoch für alle anderen Verwandtentypen (vgl. Rossi, Rossi 1990: 227). 359 360
Die mittlere Generation wird deswegen auch als „Sandwich-Generation“ bezeichnet. Rossi, Rossi (1990. 218f.) erstellen sieben Indizes: 1) „(Adjusted) Total Obligation Index“, 2) „Primary obligation Index“, 3) „Parental Obligation Index“, 4) „Children Obligation Index“, 5) „Secondary Obligation Index“, 6) „Distant Obligation Index“, 7) „Nonkin Obligation Index“.
172
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
Ethnische Herkunft Abschließend wird der Zusammenhang zwischen der ethnischen Herkunft und den normativen Verpflichtungen analysiert. Befragte mit irischer, afroamerikanischer, asiatischer und portugiesischer Herkunft haben die stärksten Verpflichtungen gegenüber der entfernten Verwandtschaft (vgl. Rossi, Rossi 1990: 239). Diese Verpflichtungen sind im Vergleich zu der primären und sekundären Verwandtschaft noch stärker ausgeprägt (vgl. Rossi, Rossi 1990: 240). 3.2.1.2.3.2 Biographische Ursprünge normativer Verpflichtungen Zu den biographischen Faktoren werden unterschiedliche Kindheitserfahrungen gezählt, die verwandtschaftliche Verpflichtungen determinieren können. Im Einzelnen fallen darunter folgende Merkmale (vgl. Rossi, Rossi 1990: 231): 1. 2. 3. 4.
„childhood family“ (Familie der Kindheit: intakte vs. zerbrochene Familie (durch Tod, Scheidung oder Trennung der Eltern) „parental affection“ (elterliche Zuneigung: niedrig vs. hoch) „family cohesion“ (Familienzusammenhalt: niedrig vs. hoch) „kin salience“ (Präsenz der Verwandten im Kindesalter: niedrig vs. hoch)
Befragte, die in einer intakten und vollständigen Familie aufgewachsen sind und elterliche Zuneigung erfahren haben, zeigen höhere Verwandtschaftsverpflichtungen. Zudem haben diese Faktoren entscheidenden Einfluss über die Eltern-Kind-Beziehung hinaus, da ein Aufwachsen mit beiden Elternteilen, eine hohe elterliche Zuneigung und familiale Kohäsion mit höheren Verpflichtungen gegenüber allen Verwandten einhergehen. Die Präsenz der Verwandten (Großeltern, Onkel, Tanten) in der Kindheit hat darüber hinaus entscheidenden Einfluss auf die Verpflichtungen ihnen gegenüber im Erwachsenalter: „Those who grew up in circumstances in which such kin were important feel stronger obligations to their kin many years, even decades later, as mature adults“ (Rossi, Rossi 1990: 231). Das Ausmaß der elterlichen Zuneigung und die Präsenz der entfernten Verwandten in der Kindheit haben signifikante Einflüsse auf die Verpflichtungen gegenüber entfernten Verwandten. Weitere Analysen zeigen, dass eine Scheidung in einem signifikanten negativen Zusammenhang mit den Verpflichtungen gegenüber der entfernten Verwandtschaft steht (vgl. Rossi, Rossi 1990: 243). Eine emotional enge Beziehung mit den Eltern, Geschwistern und anderen Verwandten in der Kindheit fördert die Entwicklung von starken normativen Verpflichtungen gegenüber allen Verwandten im Erwachsenenalter (vgl. Rossi, Rossi 1990: 232).361 „Obligations to distant kin are mainly affected by whether or not such kin played important roles in the respondents´ childhoods and by the degree of affection shown by parents” (Rossi, Rossi 1990: 235).
361
Mit Ausnahme der Abwesenheit von familialen und emotionalen Problemen stehen Verpflichtungen gegenüber Nicht-Verwandten in keinem signifikanten Zusammenhang mit den einzelnen biographischen Faktoren (vgl. Rossi, Rossi 1990: 235).
3.2 Empirischer Forschungsstand
173
3.2.1.2.4 Fazit Zusammenfassend können folgende Erkenntnisse über die Determinanten der normativen Verpflichtungen gegenüber dem erweiterten Familienkreis festgehalten werden (vgl. Rossi, Rossi 1990: 206f.): 1. 2. 3. 4.
5. 6.
7. 8.
Zwischen Eltern und Kindern bestehen die stärksten Bindungen und Verpflichtungen (unabhängig von strukturellen Determinanten). Höhere Verpflichtungen bestehen gegenüber Nachkommen. Geringere Verpflichtungen bestehen gegenüber der Affinal- und Stiefverwandtschaft (im Vergleich zur Blutsverwandtschaft in vergleichbarer Position). Geschlecht und Familienstand der entfernten Verwandten haben Einfluss auf die Höhe der Verpflichtungen: Die stärksten Verpflichtungen bestehen gegenüber unverheirateten Tanten, Cousinen und Nichten der matrilinearen und patrilinearen Abstammungslinie. Frauen haben höhere verwandtschaftliche Verpflichtungen als Männer. Die These einer asymmetrischen, matrilinearen Verschiebung innerhalb des amerikanischen Verwandtschaftssystems kann bestätigt werden. Sie bezieht sich auf soziale Interaktionen, subjektive Gefühle der Verbundenheit sowie Wichtigkeit der Verwandten im Kindesalter.362 Es zeigen sich positive Zusammenhänge der normativen Verpflichtungen mit den soziodemographischen Merkmalen „Bildungsstatus“ und „ethnische Herkunft“. Negative Zusammenhänge werden hingegen für das Alter berichtet. Variationen im Ausmaß der Verpflichtungen gegenüber entfernten Verwandten (Onkel und Tanten) werden insbesondere auf die Wichtigkeit dieser Verwandten in der Kindheit zurückgeführt.
Rossi, Rossi (1990) betonen die Wichtigkeit der genealogischen Abstammung für die Struktur verwandtschaftlicher Verpflichtungen: „Perhaps the most striking finding in the kinship norm analysis was the systematic patterning of the normative structure: What mattered most for obligation level was not a specific type of kinperson, but the degree of relatedness of ego for the various kintypes. Grandparents, grandchildren, and sibling – all related to ego through one connecting link – evoked comparable levels of felt obligation (between 6 and 7 on the 10-point-scale); aunts and uncles, nieces and nephews – related to ego through two connecting links – showed similar levels of obligation (between 4 and 5 on the scale); while the lowest obligation was to cousins – related through a minimum of three connecting links (a mean of 3.2 on the scale)” (Rossi, Rossi 1990: 491; Hervorhebung im Original).
Diese Einschätzung entspricht der These eines Bedeutungsrückgangs von normativen Verpflichtungen gegenüber entfernten Verwandten in der modernen Gesellschaft (vgl. Kapitel 1.5). Diese empirische fundierte Feststellung unterstützt zugleich das Konzept der subjektiven Verwandtschaft. Verwandtschaftsbeziehungen sind nicht mehr normativ vorgegeben, 362
An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass diese matrilineare Verschiebung lediglich auf der subjektiven Ebene festzustellen ist, während auf der rechtlichen Ebene weiterhin das bilineare Verwandtschaftssystem gültig ist.
174
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
d.h. der Verweis auf Normen bietet keine Erklärung für die Wahl von Verwandten. Normative Verpflichtungen werden lediglich als eine Determinante verwandtschaftlichen Handelns neben anderen betrachtet (vgl. Rossi, Rossi 1990: 155f.). Die Studie von Rossi und Rossi weist jedoch auch auf wichtige Differenzierungen hin. Die empirischen Analysen bestätigen beispielsweise höhere finanzielle Verpflichtungen gegenüber Nachkommen (Nichten, Neffen). Die Bedeutung von Nichten und Neffen als Substitut für fehlende Kinder kann ebenfalls empirisch nachgewiesen werden. Soziale und emotionale Verpflichtungen bestehen insbesondere gegenüber ledigen und weiblichen entfernten Verwandten. Auch soziodemographische Faktoren wie Geschlecht, Alter, Bildungsstatus, ethnische Herkunft und biographische Aspekte (z.B. Wichtigkeit der Verwandten in der Kindheit) weisen Zusammenhänge mit höheren normativen Verpflichtungen auf. Betrachtet man spezielle Bevölkerungsgruppen und Verwandtentypen, dann muss der allgemeine Befund eines geringen normativen Verpflichtungsgrades relativiert werden. 3.2.2
Deutschland im Zeitraum 1950 bis 2005
In diesem Kapitel wird der deutsche Forschungsstand zum Thema entfernte Verwandtschaftsbeziehungen aufgezeigt. Obwohl eine neuere Publikation Verwandtschaftsbeziehungen in der Soziologie „seit den 1950er Jahren als stets präsent, aber kein Schwerpunktthema“ (Strohmeier, Schultz 2005: 55) bezeichnet, muss diese „Präsenz“ jedoch differenziert und kritisch betrachtet werden. Sie ist gekennzeichnet durch a) eine Vernachlässigung des erweiterten Familienkreises, b) disparate Fragestellungen und c) einen vorwiegend deskriptiven Charakter der empirischen Studien. Die deutschen Studien, in denen Verwandtschaftsbeziehungen meist nur am Rande thematisiert werden, werden in chronologischer Reihenfolge vorgestellt. Diese Darstellung wird gewählt, da sich nur vereinzelt übergeordnete Themen finden lassen, die eine thematische Zusammenfassung der Studien ermöglichen. Eine Ausnahme stellt der Zeitraum ab den 1990er Jahren dar, in denen zwischen fünf Themenschwerpunkten differenziert wird, die jeweils in einzelnen Kapiteln erläutert werden. Die Inhalte der Studien sind jedoch überwiegend als disparat zu bezeichnen. Sie zeichnen sich durch jeweils unterschiedliche Thematiken, abhängige und unabhängige Variablen und angewandte Methoden aus. Theoretische Hintergründe sind nur vereinzelt und ansatzweise zu identifizieren. 3.2.2.1 Die Dekaden 1950-1959 und 1960-1969 In der deutschen Nachkriegszeit lassen sich die ersten Verwandtschaftsstudien finden (Thurnwald 1948; Wurzbacher 1969; Schelsky 1967; Baumert, Hüninger 1954), die jedoch nicht mit der Quantität der Studien in Großbritannien und den USA in diesem Zeitraum zu vergleichen sind.363 Exemplarisch sollen die Ergebnisse von Wurzbacher (1969)364 dargestellt werden, der die Auswirkungen der Kriegs- und Nachkriegsverhältnisse auf die west-
363
364
Ich orientiere mich an meiner Darstellung bis zu Beginn der 1970er Jahre u.a. an den Ausführungen von König (1976: 82f.). Zuerst 1952.
3.2 Empirischer Forschungsstand
175
deutsche Familie untersucht. Nach einer Analyse von 164 Familienmonographien klassifiziert Wurzbacher (1969: 218) folgende Strukturtypen: 1.
2.
3. 4.
Familien, die sich sehr stark an eine elterliche Familie bzw. an die übrige Verwandtschaft anlehnen, sich mehr oder weniger einordnen, teilweise sogar unterordnen, und daher entscheidende Einwirkungen auf ihre innerfamilialen Beziehungen erfahren (9 von 110 Familien). Familien, in denen enge Beziehungen zu individuell ausgewählten Verwandten bestehen, jedoch unter Berücksichtigung eines eindeutigen Anspruchs der Kleinfamilie auf Wahrung ihrer Selbständigkeit und Intimsphäre und mehr oder minder starker Beachtung dieser Sphäre durch die Verwandten (73 von 110 Familien). Familien, für die ein beziehungsschwaches Nebeneinander von Kleinfamilie und Verwandtschaft kennzeichnend ist (20 von 110 Familien). Familien, in denen Beziehungen zur Verwandtschaft vorwiegend abgelehnt werden (8 von 110 Familien).
Für die Mehrheit der Familien ist somit eine „Bejahung der verwandtschaftlichen Verbundenheit bei Beanspruchung und Beachtung der kleinfamilialen Selbständigkeit und Intimsphäre“ charakteristisch (Wurzbacher 1969: 240). Als Gründe für die Aufrechterhaltung werden Nachwirkungen des Sippengedankens, gemeinsame Kindheitserinnerungen und verstärkt die sozialen Kriegs- und Nachkriegserscheinungen genannt. Verwandtschaftsbeziehungen – als persönliche Bindungen der Vergangenheit – geben den Familien Halt (vgl. Wurzbacher 1969: 240). Die Wahl von individuellen Verwandten ist somit für die Mehrheit der untersuchten Familien charakteristisch. Wurzbacher (1969: 240) bezeichnet diese „elastische“ Art von persönlichen Verwandtschaftsbeziehungen als reduzierte Verwandtenbindung. Sie beruht auf persönlicher Bekanntschaft und Anteilnahme. König (1976: 83) weist darauf hin, dass Mitte der 1960er Jahre die Haushaltsstatistik als Ausdruck für die These der Schwächung des Verwandtschaftssystems herangezogen wird und benennt in diesem Kontext die Studie von Neidhardt (1971).365 Nach Neidhardt (1971) leben im Jahr 1961 nur drei Prozent der Haushalte mit ihren entfernten Verwandten zusammen, sechs Prozent in Form einer Dreigenerationenfamilie. König (1976: 83) übt Kritik an dieser Feststellung, denn für ihn sind die Ergebnisse „theoretisch völlig ertraglos“, da sie an einen „sehr engen zeitgeschichtlichen Moment“ gebunden sind und es keine Vergleichsbasis mit früheren Zeiten gibt. Zugleich verdeckt die Haushaltsstatistik die Existenz von multilokalen Haushalten mit intensiven verwandtschaftlichen Kontakten (vgl. König 1976: 83).366 Dies ist auch Wurzbacher bewusst, denn er weist auf einen besonderen Faktor hin, der verstärkend auf die Verwandtenbindung wirkt: Die passiv erduldete Isolierung durch Ausweisung, Flucht, Deklassierung und Not schafft bei vielen ein Anlehnungsbedürfnis an Verwandte. Sie geben Rückhalt und Rat in persönlichen Angelegenheiten, vor allem aber sind sie ein letztes Überbleibsel der verlorenen Heimat. Trotz der Auflösungserscheinungen von Verwandtschaft, die in dem Selbständigkeitsbedürfnis der Kernfamilie begründet liegt, wird festgestellt, dass verwandtschaftliche Beziehungen kein „konventionelles Überbleib365 366
Zuerst 1966. Nur eine Zeitreihenanalyse gibt Aufschluss über eine eventuelle Reduktion von Verwandten im Haushalt. Vgl. auch Kapitel 5.2.1.
176
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
sel“ sind. Die „Reste verwandtschaftlicher Hilfe“ tragen dazu bei, „der Kernfamilie eine mit familialen Werten erfüllte Verklammerung mit der Gesamtgesellschaft“ zu geben (vgl. Wurzbacher 1969: 234f.). 3.2.2.2 Die Dekade 1970-1979 Im Kontext der Stadtsoziologie gibt es in den 1970er Jahren einige Studien zur Bedeutung der Verwandtschaft für die großstädtische Familie (Lüschen 1970; Schneider 1970; Pfeil, Ganzert 1973), die zum Teil gesellschafts- und kulturvergleichend ausgerichtet sind. Es geht jedoch nicht um die Analyse interkultureller Unterschiede von verwandtschaftlichen Beziehungen, sondern vielmehr um die Prüfung und Widerlegung der Isolationsthese (Parsons 1943). Dementsprechend werden Familien in Ländern bzw. Städten mit unterschiedlichen Modernisierungsgraden zu ihren verwandtschaftlichen Kontakten befragt (Lüschen 1970; Schneider 1970). Lüschen (1970: 271) führt seine Studien in vier Großstädten durch:367 a. b. c. d.
Helsinki (als protestantische Gesellschaft mit geringem Modernisierungsgrad) Dublin (als katholische Gesellschaft mit geringem Modernisierungsgrad) Bremen (als protestantische Gesellschaft mit hohem Modernisierungsgrad) Köln (als katholische Gesellschaft mit hohem Modernisierungsgrad)
Im Vordergrund der Untersuchung steht die Frage, ob Verwandtschaft für die heutige Familie sekundär geworden ist. Die Vergleichsuntersuchung beinhaltet zum einen Fragen zur Organisation und Interaktion von Familie und Verwandtschaft, die Verfügbarkeit von Verwandten sowie die Analyse der Funktionalität des Weihnachtsfestes (vgl. Lüschen 1970: 271). Es wird vermutet, dass „Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen trotz gesellschaftlicher Modernisierung stabil und funktional wichtig geblieben sind, da Familien sich an gesellschaftliche Veränderungen anpassen und Mechanismen entwickeln, um das Überleben von Familie und Verwandtschaft im sozialen Wandel zu sichern“ (Lüschen 1970: 272). Die empirischen Analysen zeigen, dass der für wichtig gehaltene Personenkreis nicht ausschließlich auf die Kernfamilie beschränkt ist, sondern auch entfernte Verwandte einbezieht (vgl. Lüschen 1970: 273). Tabelle 12 zeigt die Verteilung differenziert nach den jeweiligen Städten.
367
In jeder dieser Städte wurde im Jahr 1969 eine Stichprobe von 200 Familien (Finnland: 160 Familien) mit Kindern im Grundschulalter gezogen (vgl. Lüschen 1970: 271).
177
3.2 Empirischer Forschungsstand
Tabelle 12: Verwandte, die für wichtig gehalten werden (in v.H., gerundet) Bremen Mann Entfernte Verwandte 15 (Onkel, Tanten und ihre Familien) Nahe Verwandte 47 (Eltern, Geschwister und ihre Familien) Nur die eigene Familie 35 N 158 (Quelle: Lüschen 1970: 273)
Frau
Köln Mann
Helsinki
Frau
Mann
Frau
Dublin Mann
Frau
13
11
7
11
9
6
6
53
52
61
59
68
58
63
33 158
33 123
28 123
25 140
20 140
34 160
30 160
Die Unterschiede zwischen eher modern orientierten (Bremen, Köln) und traditionalen Städten (Helsinki, Dublin) fallen marginal aus. Es zeigt sich – entgegen modernisierungstheoretischer Annahmen – dass entfernte Verwandte in traditionalen Gesellschaften als wenig wichtig erachtet werden. Es lassen sich keine klare Tendenzen ausmachen, denn dort wo die eigene Kernfamilie am stärksten favorisiert wird (Bremen), ist auch die Wertorientierung zugunsten der entfernten Verwandtschaft stärker ausgeprägt (vgl. Lüschen 1970: 273).368 Insgesamt zeigen die Ergebnisse zu Besuchen, Interaktionen und Austausch von Hilfeleistungen, dass Familien in modernen Gesellschaften keinesfalls ausschließlich isolierte Kernfamilien konstituieren. Dies steht im Widerspruch zur Isolationsthese von Parsons (1943) und dem Kontraktionsgesetz von Durkheim (1921), das ein Zurückweichen von Verwandten in die „sekundäre Zone“ postuliert (vgl. Lüschen 1970: 282). Eine wichtige Funktion übernimmt hierbei das Ritual des Weihnachtsfestes, da es die verwandtschaftlichen Beziehungen der Kernfamilie aktiviert.369 Darüber hinaus gibt es Befunde, die auf die Existenz eines theoretisch bilateralen Verwandtschaftssystems mit „deutlichen Tendenzen hin zu einem matrilinearen System“ schließen lassen (vgl. Lüschen 1970: 281f.). Schneider (1970) untersucht in ihrer Studie die Bedeutung unterschiedlicher Sozialbeziehungen, die als „expressive Verkehrskreise“ bezeichnet werden und ausschließlich die Personen erfassen, die von ego gewählt werden.370 Es besteht somit ein expliziter Bezug zum Konzept der subjektiven Verwandtschaft und der Selektivität verwandtschaftlicher Beziehungen. Instrumentelle Beziehungen sind von der Betrachtung ausgeschlossen, da die Beziehungsinhalte extern verankert sind. Bei expressiven Beziehungen ist die Beziehung 368
369
370
Des Weiteren wird die Verfügbarkeit von Verwandten differenziert nach dem Verwandtschaftsgrad erfasst (objektive Verwandtschaft). Die Verteilung der durchschnittlichen Zahl von (lebenden) Verwandten pro Familie sieht folgendermaßen aus: 2. Grad (Onkel, Tanten): Bremen (Mann: 3,7; Frau: 4,6), Köln (Mann: 4,2; Frau: 5,3), Helsinki (Mann: 5,7; Frau: 6,6), Dublin (Mann: 4,9; Frau: 5,8). 3. Grad (Vettern, Cousinen): Bremen (Mann: 7,1; Frau: 7,8), Köln (Mann: 7,8; Frau: 8,3), Helsinki (Mann: 11,0; Frau 11,3), Dublin (Mann: 11,5; Frau: 12,3). Es verzeichnen sich höhere Mittelwerte für die eher traditionalen Gesellschaften. Ebenso weisen Frauen durchweg höhere Werte auf (vgl. Lüschen 1970: 274). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Caplow (1982). Die amerikanische Studie thematisiert die Bedeutung von Weihnachtsgeschenken als Bestandteil der amerikanischen Kultur. Es werden zwei Stichproben im Rahmen der international vergleichenden Zeitbudget-Studie erhoben: eine repräsentative Stichprobe der Stadt Osnabrück (979 Personen) und eine repräsentative Stichprobe von 1490 Personen der Bundesrepublik (vgl. Schneider 1970: 443).
178
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
selbst das Ziel (vgl. Schneider 1970: 446). Die Analysen zeigen, dass ca. ein Drittel der Interaktionspartner/-innen (38,9%) Verwandte sind. Kein anderer Verkehrskreis hat einen ähnlich hohen Stellenwert wie die Verwandtschaft (vgl. Schneider 1970: 448).371 Es sind insbesondere Frauen, deren Bezugspersonen Verwandte sind und zwar unabhängig von Familienstand und Berufstätigkeit (vgl. Schneider 1970: 452ff.). Verwandtschaft erweist sich als der wichtigste Verkehrskreis, der einen Großteil der expressiven, wählbaren Interaktionen ausmacht (vgl. Schneider 1970: 469f.). Dieses Ergebnis steht darüber hinaus im Widerspruch zu der Behauptung, dass die Industrialisierung den Abbau und das Verschwinden von „vorgegebenen“ Sozialbeziehungen bewirkt hat (vgl. Schneider 1970: 449). Die vielzitierte Studie von Pfeil, Ganzert (1973) analysiert Umfang und Bedeutung des „Verwandtenverkehrs“ (Pfeil, Ganzert 1973: 367).372 Es bestehen Beziehungen zu durchschnittlich 8,2 Verwandtenparteien. Eine „Verwandtenpartei“ setzt sich aus den in einer Hausgemeinschaft lebenden Verwandten zusammen (vgl. Pfeil, Ganzert 1973: 370). Eine wichtige Funktion von Verwandtschaft besteht in der Übernahme von Patenschaften. Das größere Vertrauen zu der Dauerhaftigkeit der Verwandtschaftsbeziehung im Vergleich zu Freundschaften zeigt sich darin, dass in nur 10% der Familien Familienfremde als Paten eingesetzt werden (vgl. Pfeil, Ganzert 1973: 379). Pfeil, Ganzert (1973: 370) sprechen auch das Thema „Verwandtenverluste“ an – ein Phänomen, das unabhängig von der sozialen Schicht festzustellen ist und insbesondere die entfernte Verwandtschaft (speziell Cousins und Cousinen) betrifft. Die Verwandtschaft des Mannes ist deutlich häufiger von der „Ausmerze“ betroffen als Mitglieder der matrilinearen Abstammungslinie (vgl. Pfeil, Ganzert 1973: 370). Als Erklärungen werden neben der räumlichen Entfernung, die Wahl unter vorhandenen Verwandten aufgrund von Sympathie und funktioneller Angewiesenheit angegeben. Als weitere Determinante des Verwandtschaftshandelns führen Pfeil, Ganzert (1973: 381f.) die Rollenorientierung der Frau bzw. das Modell der häuslichen Arbeitsteilung an (vgl. auch Bott 1971). Ehen mit starker Rollendifferenzierung und traditionaler Arbeitsteilung zeigen eine stärkere Betonung des Verwandtenverkehrs als partnerschaftliche Ehen. Darüber hinaus können folgende empirische Befunde zu den Determinanten verwandtschaftlichen Handelns festgehalten werden (vgl. Pfeil, Ganzert 1973: 368): 1. 2. 3.
Je sesshafter eine Bevölkerungsgruppe und je niedriger ihr Bildungsgrad, desto mehr überwiegen die Verwandten als Interaktionspartner/-innen. Je mobiler und gebildeter eine Schicht, desto mehr findet geselliger Verkehr im Umgang mit Bekannten sowie Freundinnen und Freunden statt. Die Besuchshäufigkeit ist abhängig vom Verwandtschaftsgrad, der Entfernung im Stadtraum und der Wegdauer.
Die weit verbreitete Vorstellung, dass die Kernfamilie in Großstädten besonders isoliert von der Familie lebt, kann nicht bestätigt werden. Die intensivsten verwandtschaftlichen Beziehungen werden mit Verwandten ersten Grades (Eltern, Schwiegereltern) gepflegt, während sich der erweiterte Familienkreis vor allem zu Familienfeiern (Geburtstage, Hochzeiten, 371
372
Die ebenfalls im Rahmen der Zeitbudget-Studie durchgeführte Studie in den USA liefert einen Vergleich zwischen den Ländern. Die Analyse bestätigt die große Bedeutung der Verwandten für die Zusammensetzung der Verkehrskreise. Die Stichprobe bilden 120 Mütter von Schulanfängerinnen und -anfängern in vier Hamburger Stadtteilen. Das Durchschnittsalter der Mütter ist 35 Jahre (vgl. Pfeil, Ganzert 1973: 366). Vgl. auch Pfeil (1965, 1971).
3.2 Empirischer Forschungsstand
179
Weihnachten usw.) trifft (vgl. Pfeil, Ganzert 1973: 372). Die Kernfamilie ist der „Konvergenzpunkt geselliger Beziehungen“: Der Verkehrkreis stellt eine Art Stern dar, dessen „Strahlen in der Familienwohnung der Kernfamilie zusammentreffen“ (Pfeil, Ganzert 1973: 374). Abschließend muss auf die Studie von Cyprian (1978) verwiesen werden. Während die bisherigen Studien Verwandtschaftsbeziehungen von Familien thematisieren, analysiert Cyprian (1978) die Bedeutung von Verwandtschaftskontakten für Individuen, die in Wohngemeinschaften bzw. Kommunen leben.373 21% der Befragten haben häufigen Kontakt (persönlich, postalisch, telefonisch) mit ihren Eltern, Geschwistern und anderen Verwandten, 11% haben seltene Verwandtenkontakte. Die Mehrheit der Befragten berichtet über gelegentliche Kontakte (vgl. Cyprian 1978: 142). Frauen haben häufigere verwandtschaftliche Kontakte als Männer (vgl. Cyprian 1978: 146). Die Erklärung für diese wenig intensiven Beziehungen liegt nach Cyprian (1978: 142) an den Merkmalen der Personengruppe begründet, die in Wohngemeinschaften leben und verweist auf Alter, Bildungsstatus, Familienstand und räumliche Mobilität: „Erstens sinkt der Anteil von Verwandten im Verkehrskreis umso stärker, je regional mobiler eine Person und je höher ihr Bildungsgrad ist; zum zweiten spielt für Ledige die Verwandtschaft eine geringere Rolle als für Verheiratete; zum dritten bevorzugen Jugendliche einen möglichst homogenen Verkehrskreis: Freundschaftliche Beziehungen wählen sie selten aus dem vorgegebenen Verwandtensystem, sondern aus selbst bestimmten Kreisen. Alle diese Merkmale treffen auch für den überwiegenden Teil der Wohngemeinschaftspopulation zu und verringern auch die Wahrscheinlichkeit intensiver Kontakte mit den Verwandten“ (Cyprian 1978: 142).
Verwandte „versinnbildlichen das traditionelle Wertsystem“, das von den Mitgliedern der Wohngemeinschaften abgelehnt wird (vgl. Cyprian 1978: 142).374 Verwandtschaft ist ein vorgegebenes Sozialsystem, das die Angehörigen zwangsweise einbezieht. Dieses Prinzip steht somit im klaren Widerspruch zu der freiwilligen Wahl von Bezugspersonen, die die Basis der Lebensform „Wohngemeinschaft/Kommune“ ist. Daraus resultiert die Schwierigkeit der Akzeptanz von normativen Verpflichtungen, die sich auch heute noch aus verwandtschaftlichen Beziehungen ergeben (vgl. Cyprian 1978: 144). Aufgrund dieser Überlegungen kommt die Autorin zu dem Schluss, dass Mitglieder in Wohngemeinschaften auch bei Kontakten zum vorgegeben Verwandtschaftssystem relativ freiwillige Beziehungen bevorzugen (vgl. Cyprian 1978: 143). Dies entspricht dem Konzept der subjektiven Verwandtschaft. 3.2.2.3 Die Dekade 1980-1989 In den 1980er Jahren bestimmt die Netzwerkforschung die Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen (Diewald 1986; Pappi, Melbeck 1988).375 Insgesamt werden die Ergebnisse 373
374
375
Ihre Stichprobe besteht aus 86 Wohngemeinschaften (52 mit Kindern, 34 ohne Kinder), die über das gesamte Bundesgebiet verteilt sind und dabei fünf regionale Schwerpunkte bilden (Berlin, München, Köln, Stuttgart, Kassel-Göttingen). Die Befragung fand im Jahr 1974 statt (Methode: Schnellballverfahren). Die Gruppengröße beträgt im Durchschnitt sechs Personen (vgl. Cyprian 1978: 18f.). „Die Verwandte erinnern an frühere Sozialisationsphasen, die zurückblickend als ‚unzureichend’, ‚falsch’ oder gar ‚krankmachend’ beurteilt werden (…)“ (Cyprian 1978: 143). Weitere Studien thematisieren die Rolle von Verwandten im Sozialisationsprozess und schließen inhaltlich an Neidhardt (1970) an. Analysiert wird der Einfluss von Verwandten auf die Schulwahl von Kindern bzw.
180
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
der 1970er Jahre bestätigt. Lüschen (1988: 152) spricht sogar eher von einer tendenziellen Stärkung als Schwächung verwandtschaftlicher Beziehungen.376 Ein bemerkenswerter Befund ist die gestiegene subjektive Wertschätzung der entfernten Verwandten (Onkel, Tanten, Cousins, Cousinen) über den Zeitraum von 14 Jahren (vgl. Lüschen 1988: 152). Diewald (1986) untersucht auf der Grundlage des repräsentativen Wohlfahrtssurveys (1978, 1980, 1984) Sozialkontakte und Hilfeleistungen in informellen Netzwerken.377 Die Befunde zu den haushaltsübergreifenden Kontakten mit „anderen nahen Verwandten“ korrespondieren mit den Ergebnissen früherer, meist gruppen- oder regionalspezifischer Studien der 1970er Jahre (vgl. Diewald 1986: 56).378 Im Detail ergibt die Analyse der Besuchskontakte, dass 12% der Befragten „andere nahe Verwandte“ einmal die Woche treffen, 24% einmal pro Monat, 56% seltener und 4% nie (vgl. Diewald 1986: 57). Das Leitbild der „erweiterten Kernfamilie“ ist nach Diewald (1986: 59) bei vielen Bevölkerungsgruppen real vorhanden. Allgemeine Determinanten für Hilfeleistungen sind Alter und Geschlecht. Physische Leistungsfähigkeit ist Voraussetzung für das Erbringen von instrumentellen Hilfeleistungen, dementsprechend gehören die Leistungsträgerinnen und Leistungsträger der jüngeren Alterskohorte an. Zudem zeigt sich eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung: Frauen dominieren bei der Bereitstellung personenbezogener Leistungen, Männer dagegen bei güterbezogenen Leistungen (vgl. Diewald 1986: 73). Die sozialpolitische Bedeutung von verwandtschaftlicher Hilfe in Bezug auf Pflege von Kranken, Behinderten und der Betreuung von Kindern wird somit deutlich (vgl. Diewald 1986: 70f.). Pappi, Melbeck (1988: 228) untersuchen die sozialen Netzwerke der städtischen Bevölkerung mit Hilfe egozentrierter Netzwerke.379 Theoretischer Hintergrund ist die Fokustheorie von Feld (1981) (vgl. Kapitel 3.1.2.2). Determinanten der Zusammensetzung der persönlichen Netzwerke sind u.a. Wohnortgröße und Bildung. Amerikanische Befunde (Fischer 1982a; Marsden 1987) können für Deutschland bestätigt werden: Die Anzahl und der Anteil der Nicht-Verwandten im Netzwerk nimmt mit der Gemeindegröße zu. Die durchschnittliche Anzahl von Verwandten ist in Städten mit mehr als 100000 Einwohnern am geringsten (vgl. Pappi, Melbeck 1988: 238). Es zeigt sich darüber hinaus, dass die mit Hilfe der amerikanischen Studien gewonnenen Generalisierungen nur zu einem Teil zutreffen: Die durchschnittliche Intensität der Beziehung nimmt in der BRD nicht mit der Gemeinde-
376
377 378
379
den Erhalt einer Lehrstelle (vgl. zusammenfassend Fauser 1982; Neubauer 1983). Die qualitative Fallstudie von Fenner (1984) untersucht Verwandtschaftsbeziehungen in einem Dorf des rheinischen Braunkohlereviers. Als Themen können – neben der Auswirkung der Umsiedlung auf verwandtschaftliche Interaktionen – Verwandtschaftskonzeptionen und Wissen über Verwandte genannt werden (vgl. Fenner 1984: 74ff.). Die Befunde über Verwandtschaftskonzeptionen sind im Rahmen dieser Arbeit von Interesse. „Verwandt“ hat neben seiner genealogischen Bedeutung weitere Assoziationen, die u.a. anhand der Kriterien „verwandtschaftliche Anrede“, „Einladung zu Familienfeiern“, „Kontakte und persönliches Verhältnis“ beschrieben werden können (vgl. Fenner 1984: 43). Die Anerkennung bzw. Nicht-Anerkennung von Verwandten beruht auf genealogischen Kriterien sowie auf Kriterien, die das persönliche Verhältnis (z.B. Verbundenheit, Verpflichtungen, Hilfeleistungen) betreffen (vgl. Fenner 1984: 56f.). Interkulturelle (Nachfolge-)Studie von Lüschen (1970) in vier Großstädten Deutschlands, Irlands und Finnlands. Im Fokus stehen zwei deutsche Großstädte (Bremen und Köln) und die verwandtschaftlichen Beziehungen von Familien mit Kindern im Vorschulalter. Vgl. auch Diewald (1991). Es wird zwischen sechs Verwandtschaftsverhältnissen unterschieden: Kinder, Eltern, Schwiegereltern, Großeltern, Geschwister, andere nahe Verwandte (vgl. Diewald 1986: 55). Datenbasis ist die dritte Welle des Wahlpanels zur Bundestagswahl 1987 und der General Social Survey 1985. Namensgenerator beider Studien ist das Kriterium „Besprechen wichtiger Dinge“ (vgl. Pappi, Melbeck 1988: 232).
3.2 Empirischer Forschungsstand
181
größe ab, sondern bis zu den Mittelstädten zu und in den Großstädten nur unmerklich ab, wobei die Netzwerkdichte immer noch größer ist als in den Landgemeinden (vgl. Pappi, Melbeck 1988: 237).380 Die Schulbildung wird als zweites Individualmerkmal zur Erklärung der Netzwerkcharakteristika herangezogen. Personen mit höherer Schulbildung verfügen insgesamt über umfangreichere Netzwerke, die sich aus einem höheren Anteil aus Nicht-Verwandten zusammensetzen. Es zeigen sich jedoch nur geringe Unterschiede im Hinblick auf die Anzahl von Verwandten in den persönlichen Netzwerken. Festgehalten werden kann: Je höher der Bildungsstatus, desto geringer ist der Anteil von Verwandten im Netzwerk (vgl. Pappi, Melbeck 1988: 238ff.).381 In Anlehnung an Granovetter (1973) geht man davon aus, dass statusniedrige Personen im Vergleich zu statushöheren ressourcenarm sind und sich die dringend benötigten Ressourcen am besten über kostengünstige Primärbeziehungen (Familie, Verwandte) beschaffen (vgl. Pappi, Melbeck 1988: 228). 3.2.2.4 Die Dekade 1990-1999 und der Zeitraum bis 2005 Es lassen sich für diesen Zeitraum folgende übergeordnete Themenschwerpunkte identifizieren, nach denen die Studien klassifiziert werden können: Netzwerkstudien (Kapitel 3.2.2.4.1), International vergleichende Studien (Kapitel 3.2.2.4.2), Soziobiologische Studien (Kapitel 3.2.2.4.3) und Verwandtschaftsbeziehungen im Alter (Kapitel 3.2.2.4.4). In einem Exkurs werden Verwandtschaftsbeziehungen in der DDR diskutiert (Kapitel 3.2.2.4.5). 3.2.2.4.1 Netzwerkstudien Inhaltlich schließen die Netzwerkstudien der 1990er Jahre (Schubert 1990; Mayr-Kleffel 1991; van der Poel 1993; Kim 2001) an die Netzwerkstudien der 1980er Jahre an. Allgemeine Bevölkerungsumfragen (Familiensurvey, ISSP, Alterssurvey) liefern zudem repräsentative Befunde – auch wenn Verwandtschaftsbeziehungen nur ein Randthema der veröffentlichten Studien sind. Schubert (1990: 183f.) stellt auf Basis einer egozentrierten Netzwerkanalyse eine Dominanz von Partner/-innen, Eltern und Kindern in den Hilfenetzwerken fest.382 Zu dem familialen Beziehungsgeflecht gehören jedoch nicht nur die Mitglieder der Kernfamilie. Etwas mehr als ein Viertel der Befragten (27,9%) zählen Mitglieder des erweiterten Familienkreises zum persönlichen Hilfenetzwerk (vgl. Schubert 1990: 193). Nähere Analysen zeigen, dass am häufigsten biologische sowie verschwägerte Onkel, Tanten, Neffen und 380
381
382
„Dies ist ein bemerkenswertes Ergebnis, heißt das doch, daß die von vielen Autoren als Folge der Verstädterung erwartete ‚Lockerung der Netzwerke’ nicht beobachtet werden kann“ (Pappi, Melbeck 1988: 237f.). Die Schulbildung ist nach Pappi, Melbeck (1988: 239) somit eine wichtige Drittvariable in der Analyse des Zusammenhangs von Netzwerkcharakteristiken und der Gemeindegröße. Sie muss kontrolliert werden, da die Ergebnisse weiterhin zeigen, dass das Bildungsniveau in kleineren Gemeinden am niedrigsten und in den Großstädten am höchsten ist. Jedoch sind die Bildungsunterschiede im städtischen Bereich (Kleinstädte bis Mittelstädte) ziemlich gering, so dass in diesem Fall davon ausgegangen werden kann, dass größere Unterschiede in der Netzwerkzusammensetzung für die Städte schwerlich auf Bildungsunterschiede zurückzuführen sind (vgl. dazu ausführlicher Pappi, Melbeck 1988: 241f.). Die Stichprobe bilden 982 Personen (ab 18 Jahren), die an einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage im Jahr 1989 teilnahmen (vgl. Schubert 1990: 180f.). Der Netzwerkgenerator besteht aus insgesamt 18 StimuliSituationen zur Erfassung des persönlichen Hilfenetzwerkes (vgl. dazu ausführlicher Schubert 1990: 186).
182
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
Nichten genannt werden. Diese Verwandtentypen machen 43,2% des Netzwerkes aus (vgl. Schubert 1990: 194). Somit reichen die Hilfeleistungen bis in die vielfältigen Verzweigungen der erweiterten Familie hinein (vgl. Schubert 1990: 194). Speziell mit den Netzwerkbeziehungen von Frauen beschäftigt sich die Studie von Mayr-Kleffel (1991), die den Befund einer geschlechtsspezifischen Ausrichtung des Verwandtschaftsnetzwerkes bestätigt.383 Die abhängige Variable ist der regelmäßige Kontakt mit Verwandten (mindestens viermal im Jahr).384 Dabei ergibt sich folgende Verteilung: Tanten: 11,3% (Frauen) vs. 6,8% (Männer), Onkel: 5,7% vs. 7,1%, Cousinen: 5,9% vs. 3,0%. Geringfügige Unterschiede verzeichnen sich hinsichtlich der Kontakte mit Neffen (4,9% vs. 4,1%), Nichten (4,8% vs. 3,6%) und Cousins (3,6% vs. 3,5%) (vgl. Mayr-Kleffel 1991: 89f.). Marbach (1989: 114) führt diesen Befund auf zwei sich überlagernde Effekte zurück: die Vorliebe für das eigene Geschlecht (mit Ausnahme der Nichten und Neffen) und die affektive Nähe. Des Weiteren sind Verwandte die bedeutsamsten Unterstützungspersonen im Alltag von Frauen (vgl. Mayr-Kleffel 1991: 98).385 Insgesamt lässt sich festhalten, dass die intensivsten Kontakte mit der Kernfamilie bestehen. Darüber hinaus kristallisieren sich jedoch insbesondere Tanten als wichtige Bezugspersonen heraus. Die niederländische Studie von van der Poel (1993) analysiert sozialstrukturelle Determinanten der Größe und Zusammensetzung der persönlichen Netzwerke.386 Aufgrund ihrer besonderen Bedeutung (Kapitel 3.1.2.1) wird sie ebenfalls vorgestellt. Im Unterschied zu den amerikanischen Netzwerkstudien (Kapitel 3.2.1.1.3.3) erfasst der Netzwerkgenerator keine aktuellen und konkreten Sozialbeziehungen, sondern die Personen, die für Hilfeleistungen potentiell zur Verfügung stehen (vgl. van der Poel 1993: 55).387 Es existiert kein Zusammenhang zwischen dem Geschlecht und dem Anteil von Verwandten in den persönlichen Netzwerken. Männer und Frauen haben annähernd gleiche Anteile von 51,8% und 53,1% (vgl. van der Poel 1993: 68). Auch das Merkmal Alter zeigt keinen eindeutigen Effekt. Ältere Befragte (60-72 Jahre) verfügen über kleinere Netzwerke, aber einen höheren Anteil von Verwandten. Es ist kein linearer Anstieg des Anteils von Verwandten mit dem Alter festzustellen (vgl. van der Poel 1993: 69f.). Es zeigt sich zudem ein positiver Zusammenhang mit der Bildung: Je höher die schulische Bildung, desto größer werden die persönlichen Netzwerke und desto geringer wird der Anteil von Verwandten (vgl. van der Poel 1993: 70ff.). Als letzte sozialstrukturelle Determinante wird die Wohnortgröße analysiert. Je geringer die Wohnortgröße, desto höher ist der Anteil von Verwandten im Netzwerk (vgl. van der Poel 1993: 73).
383 384
385
386
387
Vgl. in diesem Zusammenhang auch Bruckner, Knaup (1990) und Schulz (1995). Mayr-Kleffel verwendet Daten des Projektes „Familienalltag“, das im Auftrag des Deutschen Jugendinstituts durchgeführt wurde (vgl. auch Marbach 1989). Die Stichprobe bilden 1446 Frauen im Alter von 18 bis 69 Jahren. Darüber hinaus werden Daten des Familiensurveys genutzt (vgl. Mayr-Kleffel 1991: 82ff.). Mayr-Kleffel (1991: 108) analysiert ebenfalls den Einfluss der Erwerbstätigkeit auf das Unterstützungsnetzwerk der Frauen. Die Unterschiede fallen gering aus, denn insbesondere Frauen mit Teilzeitbeschäftigung werden im Vergleich zu den anderen zwei Gruppen weniger unterstützt, zwischen Hausfrau und vollerwerbstätiger Frau sind dagegen kaum Unterschiede festzustellen. Die Studie ist im Zusammenhang mit dem Projekt PRESOS (Primary Relationships and Social Support) durchgeführt worden. 1985 fand der erste Survey statt (SOCON Social and cultural developments in the Netherlands) – eine repräsentative Befragung mit einer Stichprobe von 3003 Befragten. Die Nachfolgestudie PRESOS umfasst eine Unterstichprobe von 902 Befragten (vgl. van der Poel 1993: 41f.). Der Netzwerkgenerator erfasst mit Hilfe von zehn Stimuli-Situationen die Personen, die potentiell für emotionale und instrumentelle Unterstützung sowie Geselligkeit zur Verfügung stehen (vgl. van der Poel 1993: 55).
3.2 Empirischer Forschungsstand
183
Darüber hinaus prüft van der Poel (1993) verschiedene Hypothesen zur Erklärung des Anteils von „anderen Verwandten“ im persönlichen Netzwerk, die ausführlich in Kapitel 3.1.2.1 dargestellt wurden.388 Theoretischer Hintergrund ist die Rational-Choice-Theorie. Hypothese 1 über den Einfluss der geographischen Distanz wird bestätigt: Je weiter entfernt die anderen Verwandten leben, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie in das persönliche Netzwerk inkludiert werden (vgl. van der Poel 1993: 116). Dies gilt auch für die zweite Hypothese: Je größer die Anzahl von nahen Verwandten im persönlichen Netzwerk, desto weniger wahrscheinlich werden andere Verwandte inkludiert. Nur solche Personen, die kleine Netzwerke haben, wenden sich für Unterstützung, Hilfe und Gemeinschaft an den erweiterten Familienkreis. Für Individuen, die über große Netzwerke verfügen, ist der persönliche Nutzen einer weiteren Beziehung aufgrund begrenzter Zeitressourcen relativ gering. Die dritte Hypothese, die einen Zusammenhang mit der psychologischen Determinante „self-disclosure“ postuliert, muss aufgrund der empirischen Analysen abgelehnt werden (vgl. van der Poel 1993: 117f.). Kim (2001) analysiert soziodemographische Unterschiede in deutschen und südkoreanischen Netzwerken (Alter, Geschlecht, Familienstand, Gemeindegröße, sozioökonomischer Status).389 Mit zunehmenden Alter nimmt der Anteil von Verwandten in deutschen Netzwerken zu, allerdings ist dieser Zusammenhang nicht signifikant (vgl. Kim 2001: 173). Deutsche Frauen verfügen im Vergleich zu Männern über einen höheren Anteil von Verwandten im persönlichen Netzwerk. Verheiratete und Verwitwete weisen einen höheren Anteil von Verwandten auf als Ledige – was kein überraschender Befund ist. Keine signifikanten Unterschiede zeigen sich in Bezug auf die Gemeindegröße (vgl. Kim 2001: 174ff.). Mit zunehmenden Bildungsjahren und Sozialprestige nimmt die Netzwerkgröße zu und es reduziert sich der Anteil von Verwandten. Als zusätzliche, in bisherigen deutschen und amerikanischen Studien vernachlässigte Determinante, analysiert Kim (2001: 195) den Einfluss der Kirchgangshäufigkeit. Es wird vermutet, dass Familie bzw. Verwandtschaft für christlich-religiöse Menschen mit eher traditionellen Einstellungen einen höheren Stellenwert hat, und demnach deutlich mehr Verwandte in ihren persönlichen Netzwerken zu finden sind (vgl. Kim 2001: 188). Es zeigt sich ein signifikanter Effekt der Kirchgangshäufigkeit auf die Wahl von Verwandten als Mitglieder des Netzwerkes (vgl. Kim 2001: 195). Entscheidender Erkenntniszuwachs für die familiensoziologische Forschung ist mit Hilfe des Familiensurveys erzielt worden (Bertram 1995b; Bien, Marbach 1991390; Bien 1994a). Schwerpunkt der Forschung sind Intergenerationenbeziehungen, während die entfernte Verwandtschaft nur am Rande thematisiert wird. Im Folgenden werden aus diesem Grund allgemeine Befunde zu Verwandten als Globalkategorie vorgestellt, die sowohl nahe
388
389
390
Zur Erinnerung werden nochmals die zentralen Hypothesen aufgeführt: 1) „The farther away one´s other kin lives, the less other kin are included in the personal network” (geographische Entfernung). 2) „The larger the personal network (other kin excluded), the less other kin are included in it” (Größe des Gesamtnetzwerkes). 3) „The more people are oriented to self-disclosure, the more other kin they include in their personal networks” (Intensität „self-disclosure“). 4) „The more people think that kin support ist natural, the more other kin they include in their personal networks“ (Verpflichtungen gegenüber Verwandten) (vgl. van der Poel 1993: 115f). Datenbasis ist die repräsentative Wahlstudie (1987). Der Namensgenerator zur Erhebung der persönlichen Netzwerke lautet: „Mit wem haben Sie über Dinge gesprochen, die Ihnen wichtig waren?“ (vgl. Kim 2001: 125). Befunde zur Struktur der südkoreanischen Netzwerkbeziehungen werden an dieser Stelle vernachlässigt. Schwerpunkt der Analyse von Bien, Marbach (1991) sind Linienverwandte (Eltern, Kinder, Großeltern, Enkelkinder).
184
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
als auch entfernte Verwandte umfasst. Bien (1994b) kann im Rahmen der Mehrgenerationenstudie des Familiensurveys zeigen, dass Verwandte eine überraschende Bedeutung im sozialen Leben der Deutschen haben – unabhängig von der jeweiligen Lebensform, in der sich die Individuen befinden. Verwandte sind dominante Gesprächspartner/-innen von Alleinerziehenden, von nichtehelichen Lebensgemeinschaften und Alleinlebenden. Insbesondere bei Alleinlebenden sind die gefühlsmäßigen Bindungen zu 53% auf Verwandte bezogen (auf Nicht-Verwandte 33%). Familienbegriff und Finanztransfer beziehen sich ausschließlich auf Verwandte. Der einzige Unterschied zeigt sich in Bezug auf die Freizeitgestaltung, denn hier dominieren Nicht-Verwandte (vgl. Bien 1994b: 12). Bertram (1995b: 103) sieht die These des fünften Familienberichts bestätigt: Traditionale horizontale Verwandtschaftsbeziehungen werden zunehmend durch vertikale Verwandtschaftsbeziehungen (Generationenbeziehungen) ersetzt.391 Etwas anders sieht jedoch die Situation für Ledige aus. Der Übergang von horizontalen zu vertikalen Verwandtschaftsbeziehungen ist hier nicht zu konstatieren, da sie nicht im generativen Beziehungsmuster Eltern-Kind-Großeltern leben. Ihr soziales Netz konstituiert sich aus Eltern, Geschwistern und sonstigen Verwandten (vgl. Bertram 1995b: 104). Die Daten des Familiensurveys geben ebenfalls Auskunft über die familiale und verwandtschaftliche Betreuung von (Vorschul-)Kindern (vgl. Nauck 1995).392 Spielen entfernte Verwandte eine funktionale Rolle? Für Westdeutschland wird festgestellt, dass insgesamt 4,1% der Einzelkinder, 2,6% der Mehrkinder und 2,4% der Vielkinder von „anderen Verwandten“ betreut werden. Großeltern sind nicht in dieser Kategorie eingeschlossen. Für Ostdeutschland verzeichnen sich insgesamt höhere Prozentsätze: 14,4% der Einzelkinder, 6,3% der Mehrkinder und 5,1% der Vielkinder werden von dem erweiterten Familienkreis betreut. Für Ostdeutschland zeigt sich somit eine größere Bedeutung der entfernten Verwandten für die Betreuung von Kindern (vgl. Nauck 1995: 164).393 3.2.2.4.2 International vergleichende Studien Das im Rahmen des International Social Survey Programme (ISSP) erhobene Modul „Social Networks and Support Systems” I (1986) hat Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen in einem international vergleichenden Ansatz zum Schwerpunkt (Bruckner u.a. 1993; Höllinger, Haller 1990). Das ISSP ist ein interkulturell vergleichendes Fragenprogramm über Einstellungen und Verhaltensweisen der Bevölkerung in verschiedenen Nationen. Die beteiligten Nationen sind Australien, Italien, (West-)Deutschland, Großbritannien, Österreich, Ungarn und die USA (vgl. Bruckner u.a. 1993: 9ff.). Die Studien sind durch eine makrostrukturelle „Erklärung“ der Variabilität des Verwandtschaftshandelns gekennzeich391
392
393
„Beziehungen im familialen Kontext sind nicht brüchig, sondern werden zunehmend entlang der Generationenbeziehungen organisiert“ (Bertram 1995b: 103). Datenbasis: Familiensurvey 1988, 1990 und verschiedene Regionaldatenbanken (vgl. dazu ausführlicher Nauck, Bertram 1995). Zum Thema Kinderbetreuung vgl. ebenfalls Fauser (1982). Die repräsentative Studie zur Isolation von Müttern (Eltern) zeigt, dass 9% der Befragten bei einer (kurzzeitigen) Kinderbetreuung auf „andere erwachsene Verwandte“ zurückgreifen (Großmutter/Großeltern 42%, Nachbarn/Bekannte 17%) (Mehrfachantworten waren möglich). Differenziert man das Ergebnis nach dem Alter der Kinder, so versorgen 14% der anderen Verwandten Kinder im Alter von 0-3 Jahren, 11% Kinder im Alter von 4-6 Jahren, 3% Kinder im Alter von 7-10 Jahren und 6% Kinder über 10 Jahre (vgl. Fauser 1982: 129f.).
3.2 Empirischer Forschungsstand
185
net. Im Vordergrund der Betrachtung stehen „nationale Kontextbedingungen“ (Bruckner u.a. 1993: 9) und damit Makrophänomene wie Industrialisierungs- und Urbanisierungsgrad, geographische Mobilität und soziokulturelle Muster (vgl. Höllinger, Haller 1990: 105). Der erste Faktor bezieht sich – im Sinne der klassischen Modernisierungstheorie – auf die sozioökonomische Entwicklung eines Landes. Es wird angenommen, dass in Ländern mit hohem Industrialisierungs- und Urbanisierungsgrad sowie sozioökonomischer Entwicklung eine Konzentration auf die Kernfamilie und ein Bedeutungsverlust der Verwandtschaft stattgefunden hat. Die geographische Mobilität und die damit verbundene größere geographische Distanz zwischen Verwandten erschwert die Aufrechterhaltung von Kontakten. Darüber hinaus werden soziokulturelle Unterschiede der Länder diskutiert, die auf vorindustrielle Familienstrukturen in Europa zurückgeführt werden. Die historische Sozialforschung verweist in diesem Zusammenhang auf die komplexen Familien- und Verwandtschaftsstrukturen in Südost-Europa, deren Auswirkungen bis heute erkennbar sind (Kapitel 2.1). Diese interagierenden Faktoren können nationale Unterschiede in den persönlichen Netzwerken erklären (vgl. Höllinger, Haller 1990: 105f.).394 Die Studie von Bruckner u.a. (1993) untersucht die Größe des persönlichen Netzwerkes (Gesamtnetzwerk) sowie das Unterstützungsnetzwerk in verschiedenen Ländern. Datenbasis ist das ISSP 1986.395 Die Größe der objektiven Verwandtschaft (Großeltern, Onkel, Tanten, Nichten, Neffen u.a.) unterscheidet sich nicht, denn in den sieben untersuchten Ländern haben über 97% der Befragten Verwandte, zu denen sie durchschnittlich mehr als sieben Beziehungen unterhalten (vgl. Bruckner u.a. 1993: 29). Auch bezüglich der Zusammensetzung der persönlichen Netzwerke zeigen sich kaum Unterschiede. Die prozentuale Verteilung innerhalb eines Netzwerkes ergibt ca. 30% nahe Verwandtschaft, ca. 50% weitere Verwandtschaft und ca. 20% Freundschaften (vgl. Bruckner u.a. 1993: 41). Unterschiede zwischen den Nationen existieren im Hinblick auf das Zusammenleben mit (erwachsenen) Verwandten und die räumliche Distanz zu Verwandten. Nationenübergreifend gilt, dass Verwandte in direkter Linie (Eltern, Kinder) tendenziell häufiger in unmittelbarer Nähe leben als Geschwister und andere Verwandte. Darüber hinaus besteht ein positiver Bildungseffekt. Die relativ geringe räumliche Einbindung in verwandtschaftliche Netzwerke wird als Konsequenz einer erhöhten geographischen Mobilität bei Personen mit hoher Bildung interpretiert. Die räumliche Nähe gilt darüber hinaus als zentrale Determinante der Kontakthäufigkeit. Kontrolliert man diese, so zeigen sich beispielsweise nur geringe Geschlechts-, Bildungs- und Nationeneffekte (vgl. Bruckner u.a. 1993: 64). Die Existenz einer Partnerschaft ist die wichtigste Determinante für die Nennung von Verwandten als Helfer und Helferinnen (vgl. Bruckner u.a. 1993: 107). An dieser Stelle muss jedoch auf die Abstufung der Bedeutung in alltäglichen Notsituationen mit zunehmendem Verwandtschaftsgrad hingewiesen werden. Erwachsene Geschwister und weitere Verwandte folgen Kindern und Eltern mit deutlichem Abstand. Dennoch wird aufgrund der Befunde nicht von einem Bedeutungsverlust der Verwandtschaft im Sinne eines fehlenden Austauschs von Leistungen gesprochen (vgl. Bruckner u.a. 1993: 93).396
394 395
396
Die empirischen Ergebnisse werden an dieser Stelle vernachlässigt. Das Gesamtnetzwerk besteht aus der Anzahl der biologischen Verwandten. Netzwerkgenerator des Unterstützungsnetzwerkes sind unterschiedliche Stimuli-Situationen (u.a. Hilfe bei Arbeiten im Haushalt, Besprechung persönlicher Dinge), die potentielle Erst- und Zweithelfer/innen erfassen. Vgl. auch Bruckner (1993). Vgl. hierzu auch Kapitel 5.2.2.
186
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
Im Hinblick auf nationenspezifische Besonderheiten muss die Sonderstellung Italiens hervorgehoben werden. Verwandte leben in geringerer Entfernung voneinander als in anderen Ländern und haben häufiger Kontakt (vgl. Bruckner 1993: 146). Bruckner u.a. (1993: 59) bezeichnen diese Tatsache als ausgeprägte Form des „Lokalismus“. Während für Deutschland eine Orientierung auf die Kernfamilie bzw. die Paarbeziehung charakteristisch ist, erstreckt sich in Italien und Ungarn die Familienzentrierung auch auf die Verwandtschaft (vgl. Bruckner 1993: 34). Die USA dagegen zeigt keine ausgeprägte Tendenz zur Partnerschafts- bzw. Verwandtschaftsorientierung. Trotz der Größe des Landes und der hohen geographischen Mobilität weisen die Daten auf enge Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen hin (vgl. Bruckner 1993: 34f.). Die psychologische Studie von Georgas u.a. (1997) thematisiert die unterschiedliche Bedeutung von Verwandtschaft in kollektivistischen Gesellschaften (Griechenland, Zypern) und individualistischen Gesellschaften (Niederlande, Großbritannien, Deutschland).397 Der Schwerpunkt liegt auf den Beziehungen mit dem erweiterten Familienkreis (Cousins und Cousinen, Onkel und Tanten). Während sich im Hinblick auf die Kernfamilie keine Unterschiede zeigen, muss man die Beziehungen zur entfernten Verwandtschaft differenziert betrachten. Griechische und (griechisch-)zyprische Befragte haben eine engere emotionale Bindung an ihre Cousins, Cousinen, Onkel und Tanten. Sie leben in räumlicher Nähe zueinander und pflegen häufigen telefonischen oder persönlichen Kontakt (vgl. Georgas u.a. 1997: 309ff.). Enge Beziehungen mit kollateralen Verwandten werden als Hinweis auf eine „extended family structure“ in kollektivistischen mediterranen Ländern interpretiert, die in nordwesteuropäischen Ländern nicht ausgeprägt ist (vgl. Georgas u.a. 1997: 314). Verwandtschaftsbeziehungen sind jedoch nicht nur ein Thema der Familiensoziologie, sondern sie tangieren auch die Migrationssoziologie, die Verwandtschaftsbeziehungen interkulturell vergleicht (Nauck, Kohlmann 1998; Haug 2000). Die Feststellung der Vernachlässigung von Verwandtschaft trifft nach Nauck, Kohlmann (1998: 205) auch auf die Migrationssoziologie zu. Die Forschung ist jedoch von stereotypen Vorstellungen über eine „mechanische Solidarität“ der Familien in mediterranen Ländern geprägt. Diese Annahme wird den modernen Aufnahmeländern mit ihrer Zerfallsdiskussion über Verwandtschaft gegenübergestellt (vgl. Nauck, Kohlmann 1998: 205). Im Einzelnen gehört dazu, dass: a. b. c. d.
397
398
„jede nukleare Gattenfamilie in ein umfassendes Netz verwandtschaftlicher Beziehungen eingebettet ist, diese Beziehungen dauerhaft harmonisch und konfliktfrei funktionieren, ein fraglos gegebenes Reservoir sozialer und psychischer Unterstützung darstellen und in denen ein nahezu grenzenloser und durch keinerlei Restriktionen eingeschränkter Transfer von materiellen Gütern und Dienstleistungen stattfindet“ (Nauck, Kohlmann 1998: 205).398 Insgesamt wurden 799 Studierende befragt. Die verschiedenen Dimensionen der Verwandtschaftsbeziehung sind a) emotionale Nähe, b) geographische Nähe, c) Häufigkeit von Treffen, d) Häufigkeit telefonischer Kontakte) und repräsentieren kognitive und emotionale Elemente sowie eine Verhaltensebene (vgl. Georgas u.a. 1997: 135ff.). Vgl. auch Georgas u.a. (2001). Dabei kann nur wenig über die Validität dieser Aussagen in den Herkunftsgesellschaften gesagt werden. Zudem bleibt offen, in welcher Weise Verwandtschaftsbeziehungen nach erfolgter Migration aufrechterhalten und reorganisiert werden. Es gibt jedoch Hinweise, dass die geographische Distanz kein Kostenfaktor für die Aufrechterhaltung von intensiven Verwandtschaftsbeziehungen für türkische Migrantenfamilien sind (vgl. Nauck, Kohlmann 1998: 205).
3.2 Empirischer Forschungsstand
187
Ein Schwerpunktthema der Migrationssoziologie ist die Wirkung von verwandtschaftlichen Beziehungen auf den Eingliederungsprozess der Migrantenfamilie. Verwandtschaft bedeutet soziales Kapital im Migrationsprozess, das die Migrationsentscheidung entscheidend beeinflusst (vgl. zusammenfassend Haug 2000: 40ff.).399 Verwandtschaftsbeziehungen existieren unter Umständen sowohl in den Herkunftsländern als auch in den Aufnahmeländern und konstituieren so genannte transnationale Netzwerke (vgl. Nauck, Kohlmann 1998: 209f.). Zum einen werden Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen als Eingliederungsalternative und zum anderen als Eingliederungsopportunität angesehen. Im ersten Fall absorbieren extensive familiale Kontakte soziale Bedürfnisse und stehen somit in Konkurrenz zur Aufnahmegesellschaft, da sie bei der Bewältigung alltäglicher Probleme helfen. Im zweiten Fall bilden Familie und Verwandtschaft ein Unterstützungssystem (vgl. Nauck, Kohlmann 1998: 204).400 In der nun folgenden Darstellung werden die Netzwerkbeziehungen von türkischen Migrantenfamilien analysiert. Damit werden aktuell gelebte Beziehungen (subjektive Verwandtschaft) und nicht die formal-rechtlichen Verwandtschaftsbeziehungen (z.B. Deszendenzregeln) thematisiert (vgl. Nauck, Kohlmann 1998: 214).401 Verwandtschaftskontakte spielen bei der ersten Zuwanderergeneration (türkische Elterngeneration) eine wesentliche Rolle, Kontakte außerhalb der ethnischen Gruppe fallen kaum ins Gewicht (vgl. Nauck, Kohlmann 1998: 217). 83% der befragten Väter haben mindestens einmal pro Woche Kontakt mit einem männlichen Verwandten (Bruder/Schwager/sonstiger Verwandte) (Mütter: 41,5%), 76,1% berichten über Kontakte mit weiblichen Verwandten (Schwester/Schwä399
400
401
Die Studie von Haug (2000) analysiert Verwandtschaftsnetzwerke italienischer Migrantinnen und Migranten. Datenbasis ist das Sozioökonomische Panel (SOEP, Welle 1991 (N= 445) und Welle 1996 (N= 349)) (vgl. Haug 2000: 209). Theoretischer Hintergrund ist ein allgemeines Erklärungsmodell für Kettenmigrationsprozesse auf Grundlage der Theorie der rationalen Wahl (vgl. dazu ausführlicher Haug 2000: 107ff.). Der Anteil von „sonstigen Verwandten“ im Familiennetzwerk beträgt im Jahr 1991 10,3% (1996: 10,4%). 1991 halten sich 45,1% der sonstigen Verwandten in Deutschland auf, 54,9% in Italien (vgl. Haug 2000: 209ff.). Schwerpunkt der Analyse stellen die Determinanten der Remigration dar, in der folgende Hypothesen im Zusammenhang mit Verwandtschaftsnetzwerken formuliert werden (vgl. Haug 2000: 228): 1) Leben Verwandte außerhalb des Haushaltes in Deutschland, sinkt die Rückkehrwahrscheinlichkeit. 2) Mit steigender Größe des familialen Netzwerkes in Deutschland und mit steigendem zielortspezifischen sozialen Kapital sinkt die Remigrationstendenz. 3) Mit steigender Größe des familialen Netzwerkes in Italien und mit steigendem herkunftsspezifischen sozialen Kapital steigt die Remigrationstendenz. 4) Die Remigrationswahrscheinlichkeit sinkt, wenn sich die Mutter, der Vater oder andere Verwandte in Deutschland aufhalten. Demgegenüber steigt die Remigrationswahrscheinlichkeit, wenn sich diese Familienangehörigen in Italien aufhalten. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Existenz von Verwandten außerhalb des Haushaltes in Deutschland dazu führt, dass die Rückkehrwahrscheinlichkeit sinkt. Mit zunehmender Größe des Gesamtnetzwerkes in Italien, tritt umso eher Remigration auf (vgl. Haug 2000: 234). Die Hypothesen 2), 3) und 4) werden bestätigt (vgl. Haug 2000: 263). Den Forschungsstand zusammenfassend, benennt Haug (2000: 123) fünf Hypothesen, die den Einfluss von sozialen Netzwerken auf die Migrationsentscheidung thematisieren: 1) Affinitätshypothese, 2) Informationshypothese, 3) Erleichterungshypothese, 4) Konflikthypothese, 5) Ermutigungshypothese (vgl. dazu ausführlicher Haug 2000: 122ff.). Es wurden 405 Interviews mit türkischen Eltern und 405 Interviews mit ihren Kindern (7. bis 9. Klasse) aus zwei Erhebungskontexten durchgeführt (Westberlin als hochurbanisiertes Milieu und Friedrichshafen/Weingarten als kleinstädtisches Milieu). Für den Vergleich mit deutschen Familien wird die erste Welle des Familiensurveys herangezogen. In der Substichprobe sind nur Eltern mit einem Kind zwischen 12 und 16 Jahren (N = 1315). Es liegen Befunde über intragenerationale Verwandte vor, die wiederum geschlechtsspezifisch differenziert werden (Bruder/Schwager/sonstiger Verwandter, Schwester/Schwägerin/sonstige Verwandte). Bei der Analyse der Verwandtschaftskontakte der Kinder wird die Verwandtschaft in einer Kategorie erfasst (Großeltern/Onkel/Tanten) und geschlechtsspezifisch aufgeteilt in „Verwandte“ und „Verwandter“ (vgl. Nauck, Kohlmann 1998: 212f.). Vgl. auch Nauck u.a. (1997).
188
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
gerin/sonstige Verwandte) (Mütter 61,1%) (vgl. Nauck, Kohlmann 1998: 216f.). Betrachtet man in einem zweiten Schritt die Prozentsätze der Kinder, so zeigen die Analysen, dass 74,3% der Söhne mindestens einmal pro Woche Kontakt mit männlichen Verwandten (Töchter: 54,1%) und 80,5% mit weiblichen Verwandten (Töchter: 59,1%) haben. Diese Befunde verdeutlichen die ausgeprägte Differenzierung türkischer Verwandtschaftsbeziehungen nach Generation und Geschlecht. Männer (insbesondere die Vätergeneration) haben intensive verwandtschaftliche Beziehungen, während speziell für Frauen gleichgeschlechtliche Kontakte charakteristisch sind (vgl. Nauck, Kohlmann 1998: 217f.). Die Wohnform ist intragenerativ-patrilokal organisiert, da insbesondere männliche Verwandte in räumlicher Nähe zu den Vätern leben (vgl. Nauck, Kohlmann 1998: 218f.). Tabelle 13 zeigt die Netzwerkaktivitäten von türkischen Müttern, Vätern und ihren Kindern in Deutschland. Tabelle 13: Netzwerkaktivitäten von türkischen Eltern und Kindern (Angaben in Prozent)402 Netzwerkaktivität Sprechen
Bindung
Freizeit
Hilfe erhalten d)
Helfen
a) b) c) e) Bruder/Schwager/sonstiger Verwandter Mütter 80,5 58,5 17,1 0,0 2,4 Väter 83,0 65,9 13,6 18,2 20,5 Schwester/Schwägerin/sonstige Verwandte Mütter 86,2 69,0 15,5 6,9 13,8 Väter 97,0 79,1 10,4 4,5 9,0 Verwandter Töchter 71,4 28,6 20,0 5,7 5,7 Söhne 86,9 60,7 19,7 4,9 9,8 Verwandte Töchter 75,3 39,0 27,3 11,7 26,0 Söhne 92,4 71,2 6,1 4,5 15,2 a) Besprechen wichtiger Dinge (Informationen), b) Eine enge persönliche Bindung haben, c) Die Freizeit miteinander verbringen (Emotionen), d) Hilfe erhalten, e) Hilfe geben (Dienstleistungen) (Quelle: Nauck, Kohlmann 1998: 221f.)
Betrachtet man den Austausch von Informationen, so zeigt sich, dass entfernte Verwandte sowohl für türkische Eltern als auch für die Kinder eine hohe Bedeutung haben. Die emotionalen Bindungen der Söhne bzw. Väter erweisen sich als enger, wobei die größten geschlechtsspezifischen Unterschiede im Vergleich zwischen Söhnen und Töchtern festzustellen sind.403 Instrumentelle Hilfen sind in die Beziehungen eingebettet, wobei auch hier die 402 403
Es liegen keine Angaben über N vor. Im Vergleich zu anderen Netzwerkmitgliedern, die in Tabelle 13 nicht aufgeführt werden, zeigt sich, dass die türkische Migrantenfamilie alle Merkmale des Typus der modernen Gattenfamilie trägt. Expressivität und Interaktionsdichte konzentrieren sich auf die Kernfamilie. Somit ist eine Abgrenzung zu weiteren verwandtschaftlichen Beziehungen gegeben (vgl. Nauck, Kohlmann 1998: 223).
189
3.2 Empirischer Forschungsstand
gleichgeschlechtliche Hilfe charakteristisch ist: Töchter und Mütter helfen primär weiblichen Verwandten, Söhne und Väter eher männlichen Verwandten. Fast durchgängiges Muster dieser Beziehung ist die Asymmetrie, d.h. es wird mehr geholfen als Hilfe erhalten wird und somit die Norm der Reziprozität nicht erfüllt (vgl. Nauck, Kohlmann 1998: 224). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass türkische Familien keine erweiterten Familien konstituieren und somit die Trennung zwischen inner- und außerfamilialen Beziehungen gegeben ist. Kontakt- und Distanzmaße zeigen darüber hinaus, dass die in dem Herkunftsland dominierende patrilineare und patrilokale Organisation auch in dem Aufnahmeland beibehalten wird. Insbesondere für Frauen existieren so gut wie keine außerverwandtschaftlichen und außerethnischen Beziehungen, ihr Interaktionsradius ist fast ausschließlich auf die Verwandtschaft beschränkt. Türkische Verwandtschaftsbeziehungen weisen eine große Kontinuität im Lebensverlauf auf, denn Verwandtschaftsbeziehungen sind schon bei den türkischen Jugendlichen von großer Bedeutung (vgl. Nauck, Kohlmann 1998: 225). Der anschließende interkulturelle Vergleich zeigt, dass sich deutsche Verwandtschaftsbeziehungen weitgehend auf intergenerative Beziehungen konzentrieren, wohingegen intragenerative Beziehungen seltener genannt werden. Es sind vor allem Mütter, die an den intragenerativen Verwandtschaftskontakten beteiligt sind. Die Bedeutung der Verwandtschaft besteht fast ausschließlich in engen persönlichen Bindungen und der Freizeitfunktion, das Besprechen von wichtigen Dingen und instrumentelle Aktivitäten haben eine geringere Bedeutung (vgl. Nauck, Kohlmann 1998: 226).404 Tabelle 14: Netzwerkaktivitäten von deutschen Eltern und Kindern (Angaben in Prozent)405 Netzwerkaktivität Sprechen
Bindung
Freizeit
Hilfe erhalten d)
Helfen
a) b) c) e) Bruder/Schwager/sonstiger Verwandter Mütter 45,1 47,1 31,4 3,9 7,8 Väter 44,2 38,5 30,8 0,0 3,8 Schwester/Schwägerin/sonstige Verwandte Mütter 52,0 39,8 34,1 6,5 8,1 Väter 22,0 43,9 29,3 2,4 9,8 a) Besprechen wichtiger Dinge (Informationen), b) Eine enge persönliche Bindung haben, c) Die Freizeit miteinander verbringen (Emotionen), d) Hilfe erhalten, e) Hilfe geben (Dienstleistungen) (Quelle: Nauck, Kohlmann 1998: 235)
Deutsche Verwandtschaftsbeziehungen werden als spezifisch und expressiv klassifiziert, während die Verwandtschaftsbeziehungen von türkischen Familien eine höhere Diversität 404
405
Instrumentelle Unterstützung erfolgt in Form eines Kaskadenmodells, nach dem die Leistungen von der älteren zu der jüngeren Generation fließen. In türkischen Migrantenfamilien werden instrumentelle Hilfen vor allem von der jüngeren Generation für die ältere erbracht, die Tauschrichtung ist somit umgekehrt (vgl. Nauck, Kohlmann 1998: 230). Es liegen keine Angaben über N vor.
190
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
aufweisen. Dieser Befund wird auf die patrilineare und -lokale Organisation der türkischen Netzwerke zurückgeführt, während die tendenziell matrilineare Organisation von deutschen Verwandtschaftsbeziehungen eine stärkere Spezialisierung erklären kann (vgl. Nauck, Kohlmann 1998: 230). Kontrolliert man den Anteil der Verwandten im persönlichen Netzwerk in Abhängigkeit von der Verfügbarkeit der Verwandten (geographische Nähe) zeigt sich ein Opportunitäteneffekt, denn sobald Verwandte „verfügbar“ sind, verändert sich die Zusammensetzung des Netzwerkes entscheidend. Dies gilt insbesondere für deutsche Familien, während türkische Familien mehr Verwandtschaftsbeziehungen unterhalten, auch wenn die Verwandten nicht direkt am Ort anzutreffen sind. Geographische Distanz zu Verwandten führt in Deutschland zu einem „Rückzug in Gattenfamilie“, nur teilweise zeigt sich eine Substitution durch Freundschaften: „Insofern sind nicht Freundschafts-, sondern Familienbeziehungen der häufigste Ersatz für fehlende Gelegenheiten für Verwandtschaftskontakte“ (Nauck, Kohlmann 1998: 228). Die Berücksichtigung der ethnischen Herkunft erweist sich bei der Analyse der entfernten kollateralen Verwandtschaftsbeziehungen von besonderer Bedeutung. Amerikanische Studien (Kapitel 3.2.1.1.3 und Kapitel 3.2.1.1.4) belegen intensive verwandtschaftliche Kontakte und Bindungen von ethnischen Minderheiten. International vergleichende Studien zeigen dies auch für ethnische Minderheiten in Deutschland (türkische Migrantenfamilien) sowie für süd- und südosteuropäische Länder (Italien, Zypern, Griechenland). 3.2.2.4.3 Soziobiologische Studien Im Folgenden werden die Befunde von soziobiologischen und evolutionspsychologischen Verwandtschaftsstudien dargestellt (Marbach 1998; Neyer, Lang 2003a; Hoier u.a. 2001; Gaulin 1997). Marbach (1998) überprüft soziobiologische und ethnologische Thesen mit Daten der zweiten Welle des Familiensurveys.406 Dabei wird der Zusammenhang zwischen alltäglichen Beziehungen und der genealogischen Distanz analysiert (vgl. Marbach 1998: 93). Multiplexität erfasst den Grad an funktioneller Vielfalt der Unterstützungsbeziehungen und wird anhand der Nennungen von Verwandten in dem jeweiligen Namensgenerator operationalisiert (persönliche Gespräche, gemeinsame Mahlzeiten, Gefühlsbindung, Vergabe und Empfang finanzieller Unterstützung, gemeinsame Freizeit). Überschneidung erfasst die Tatsache, dass Verwandte sowohl Haushaltsmitglied, Angehörige der subjektiv wahrgenommenen Familie und/oder Funktionsträger/-innen in mindestens einer der oben genannten Beziehungsdimensionen sind. Im Vergleich zur Kernfamilie erweisen sich die Beziehungen egos zu den „sonstigen Verwandten“ als weniger multiplex und überschneidend (vgl. Marbach 1998: 103ff.). Allgemein lässt sich festhalten: „Je größer die genealogische Distanz, desto spärlicher fallen soziale Unterstützung (Multiplexität) und gemeinschaftlicher Lebensvollzug (Überschneidung) aus“ (Marbach 1998: 110). Die These der an die genealogische Entfernung gekoppelten Stufenfolge der Intensität verwandtschaftlicher Beziehungen wird bestätigt (vgl. Marbach 1998: 95). Mit wachsender genealogischer Dis-
406
Im Zentrum der Analyse stehen die Beziehungen zu Partner/-innen, Kindern, Eltern, Geschwistern, Enkelkindern und Großeltern. Alle weiteren Verwandten werden in der Kategorie „sonstige Verwandte“ zusammengefasst.
3.2 Empirischer Forschungsstand
191
tanz zu ego sinkt die Kontakthäufigkeit, nimmt die Wohnentfernung zu, Gefühlsbindungen und finanzielle Hilfe werden schwächer (vgl. Marbach 1998: 110ff.). Eine evolutionspsychologische Betrachtung von Verwandtschaftsbeziehungen erfolgt von Neyer, Lang (2003a), Hoier u.a. (2001) und Gaulin u.a. (1997).407 Thematisiert wird zum einen der Zusammenhang zwischen genetischer Nähe und emotionaler Nähe (Nepotismus). Die Zusammenhänge werden auf die evoltierte Bevorzugung von nahen Verwandten gegenüber entfernten Verwandten und Nicht-Verwandten zurückgeführt. Unter diesem Gesichtspunkt wird ebenfalls die Fürsorglichkeit von Onkeln und Tanten in Abhängigkeit von der Abstammungslinie analysiert. Zur Erklärung der größeren Bedeutung der matrilinearen Abstammungslinie wird auf das Konzept der Verwandtschaftssicherheit (vgl. Kapitel 1.4) und das biologische Geschlecht (vgl. Kapitel 1.6) verwiesen. Zentrale These der psychologischen Studie von Neyer, Lang (2003a) ist, dass die subjektive Nähe im persönlichen Netzwerk mit dem genetischen Abstammungsverhältnis korreliert (vgl. Neyer, Lang 2003a: 310).408 Es werden drei Ursachen für die Variationen des Nepotismus vermutet (vgl. Neyer, Lang 2003a: 312): 1. 2. 3.
genetische Variation und individuelle Differenzen hinsichtlich verschiedener Persönlichkeitsmerkmale („openness“, „neurotiscm“, „extraversion“, agreeableness, „consciousness“),409 biologische Geschlechtsunterschiede, unterschiedliche soziale Opportunitäten (Alter, Elternschaft, Partnerschaftsstatus).
Die Befunde verdeutlichen eine Rangfolge der subjektiven Nähe: „Partners received highest levels of closeness, followed by 50%-related kin, 25%-related kin, 12,5%-and-lessrelated kin, friends, and other non-kin“ (Neyer, Lang 2003a: 316). Variationen des Nepotismus ergeben sich im Zusammenhang mit dem Geschlecht, denn Frauen zeigen sich nepotistischer als Männer. Dieser Befund korrespondiert mit den Resultaten von Marbach (1998). Zudem ergibt sich ein signifikanter positiver Interaktionseffekt zwischen Alter und Partnerschaftsstatus, wobei sich der Effekt einer fehlenden Partnerschaft nur bei älteren Befragten zeigt. Keine Zusammenhänge ergeben die Analysen der Persönlichkeitseigenschaften (vgl. Neyer, Lang 2003a: 316f.).410 Die evolutionspsychologischen Studien von Hoier u.a. (2001) und Gaulin u.a. (1997) thematisieren die matrilineare Verzerrung der Fürsorglichkeit von Onkeln und Tanten gegenüber ihren Nichten und Neffen. Die Fürsorglichkeit wird durch persönliche Einschätzung der Befragten erfasst („Wie sehr ist dein patrilaterale Onkel um dein Wohlergehen besorgt?“). Bestätigt wird ein matrilinearer Bias und ein (biologischer) Geschlechtereffekt, wobei zusätzlich ein signifikanter Interaktionseffekt zwischen den Variablen nachgewiesen wird. Tanten erweisen sich als fürsorglicher gegenüber ihren Nichten und Neffen als Onkel. Die matrilinea407 408
409 410
Vgl. auch Neyer, Lang (2004). Es werden fünf Stichproben analysiert, wobei das Alter der Befragten variiert und unterschiedliche Auswahlverfahren kennzeichnend sind. In drei Stichproben sind die Befragten über 65 Jahre, in einer Stichprobe sind Befragte mittleren Alters (45 bis 65 Jahre). In der fünften Stichprobe sind die Befragten zwischen 20 und 40 Jahre alt (vgl. dazu ausführlicher Neyer, Lang 2003a: 312). Vgl. dazu ausführlicher Neyer, Lang (2003a: 312). Kritisch muss angemerkt werden, dass die hier vorgestellten Ergebnisse nicht durch eine statistische Kontrolle wichtiger Drittvariablen (geographische Nähe, Kontakthäufigkeit) abgesichert sind. Die Autoren bezeichnen die Studie aus diesem Grund als quasiexperimentell (vgl. Neyer, Lang 2003a: 317).
192
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
re Verzerrung ist somit für Tanten stärker. Die Ergebnisse gelten unabhängig von der geographischen Distanz und dem Alter der Verwandten (vgl. Hoier u.a. 2001: 206ff.).411 Engere Beziehungen zwischen Angehörigen der matrilinearen Abstammungslinie werden ausschließlich evolutionspsychologisch mit dem Verweis auf die ultimate Ursache eines Reproduktionsvorteils erklärt. Eine Erklärung der Wahl von Verwandten, die ausschließlich nach evolutionären Gesichtspunkten strukturiert ist, ist aus soziologischer Sicht abzulehnen (vgl. dazu Kapitel 1.6 und Kapitel 3.3). 3.2.2.5 Verwandtschaftsbeziehungen im Alter In Kapitel 3.2.1.1.3.1 wird das Thema Verwandtschaftsbeziehungen von alten Menschen bereits als ein Spezialgebiet der amerikanischen gerontologischen Forschung theoretisch und empirisch dargestellt. Dies gilt ebenfalls – wenn auch in geringerem Umfang – für die deutsche Forschung (Lang, Schütze 1998; Künemund, Hollstein 2000).412 Den Schwerpunkt bilden die Unterstützungsleistungen von Kindern für ihre alten Eltern. Die Bedeutung der entfernten Verwandten wird hingegen insbesondere für kinderlose ältere Menschen analysiert. Im Vordergrund der Studie von Lang, Schütze (1998) steht die Veränderung der Verwandtschaftsbeziehungen im Alter und ihre spezifische Funktionen. Zusätzlich wird die psychische Wirkung der Beziehungen in Hinsicht auf emotionale Stabilisierung und soziale Einbindung betrachtet (vgl. Lang, Schütze 1998: 164f.). Lang, Schütze (1998: 168) weisen darauf hin, dass die von ihnen formulierte Wirkungsthese413 nicht in einem Widerspruch zur These der Hierarchischen Kompensation414 und Leistungsthese415 steht, sondern sie ergänzt, da sie die sozioemotionale Funktion von Verwandtschaftsbeziehungen hervorhebt. An diese theoretischen Ausführungen ist eine empirische Analyse der Verfügbarkeit und Leistungen von Verwandtschaft angeschlossen.416 Es erfolgt eine differenzierte Erhebung der objektiven und subjektiven Verwandtschaft, die im Folgenden als verfügbare Ver411
412
413
414
415
416
Kritisch ist auf die Datengrundlage hinzuweisen, denn die Stichprobe bilden Studierende, deren Eltern noch zusammenleben. Sie wurden willkürlich ausgewählt. Eine Generalisierung der empirischen Befunde ist somit nicht möglich. Vgl. auch die qualitative Netzwerkstudie von Hollstein (2002), die soziale Netzwerke nach der Verwitwung analysiert. Ebenfalls in diesem Kontext zu nennen sind die Studien von Wagner u.a. (1996); Schneekloth, Müller (2000); Hoff (2003); Tesch-Römer u.a. (2004). Die Wirkungsthese lautet: „Einsamkeit ist umso geringer, je höher das Ausmaß der Realisierung von Verwandtschaftsbeziehungen ist. Dieser Effekt ist umso größer, wenn ältere Menschen soziale Verluste erfahren“ (Lang, Schütze 1998: 168). Die emotionale Funktion von Verwandtschaft besteht vor allem darin, dass die für das Alter kennzeichnenden sozialen Verluste und die dadurch entstehenden Belastungen und Einsamkeitsgefühle in Form einer emotionalen Stabilisierung abgefangen und gemildert werden können (vgl. Lang, Schütze 1998: 168). In den USA liegt der Schwerpunkt auf dem Vergleich der psychischen Auswirkungen von Familie/Verwandtschaft und Freundschaften. Während intensive Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen zu einer Reduktion von Einsamkeitsgefühlen beitragen, wirken sich Freundschaften positiv auf die sozioemotionale Zufriedenheit aus (vgl. dazu ausführlicher Kapitel 3.2.1.1.3.1). Sind keine Ehepartner/-innen, Kinder oder Geschwister verfügbar, werden andere Verwandtenbeziehungen im sozialen Netzwerk vermehrt realisiert (vgl. Lang, Schütze 1998: 168). Die Art der Realisierung (z.B. emotionale Nähe, Zärtlichkeit, Hilfeaustausch) von Verwandtschaftsbeziehungen unterscheidet sich, je nachdem ob Ehepartner/-innen, Kinder oder Geschwister verfügbar sind oder nicht (vgl. Lang, Schütze 1998: 168). Datenbasis ist die multidisziplinär ausgerichtete Berliner Altersstudie (BASE). Insgesamt wurden 516 Personen im Alter zwischen 70 und 103 Jahren befragt (ausführlicher zum Studiendesign vgl. Lang, Schütze 1998: 168).
3.2 Empirischer Forschungsstand
193
wandtschaft und realisierte Verwandtschaftsbeziehung bezeichnet werden (vgl. Lang, Schütze 1998: 170). Realisierte Verwandtschaftsbeziehungen sind durch emotionale Verbundenheit oder Hilfeaustausch gekennzeichnet. Es liegen Ergebnisse für die Kategorie der „anderen Verwandten“ vor, die alle Familienangehörigen außerhalb der Kernfamilie, Geschwister, Schwiegerkinder und Enkelkinder erfasst. Insgesamt verfügen 89,1% der älteren Befragten über Beziehungen zu anderen Verwandten, wobei 49,5% dieser Beziehungen auch realisiert werden. Verschiedene soziodemographische Variablen (Geschlecht, Alter, Einkommen, Ehestatus, Bildung) stehen in keinem signifikanten Zusammenhang mit der Anzahl der verfügbaren (objektiven) Verwandtschaft (vgl. Lang, Schütze 1998: 171). 27,7% berichten über eine sehr enge Beziehung, 44,5% über eine enge und 29,5% über eine weniger enge Beziehung mit diesen Verwandten. 16,1% der alten Menschen erhalten Hilfe und 18,9% körperliche Zuwendungen (Zärtlichkeit) von anderen Verwandten (vgl. Lang, Schütze 1998: 172). Das Ausmaß der Realisierung steht in keinem Zusammenhang mit dem Ehe-, Elternoder Geschwisterstatus, denn der Anteil der realisierten Verwandtschaftsbeziehungen bleibt weitgehend stabil.417 Es zeigen sich jedoch positive Zusammenhänge mit der Nachfrage nach spezifischen Leistungen (emotionale Nähe, Zärtlichkeit, Hilfeerhalt, soziales Beisammensein). Diese werden in den meisten Fällen dann aktiviert, wenn ältere Menschen Verluste erfahren haben. Es ist jedoch eine hierarchische Aufteilung festzustellen, da der Verlust von Ehepartner/-innen und erwachsenen Kindern eher mit einer verstärkten Aktivierung von Verwandten einhergeht als der Verlust von Geschwistern. Verwitwete haben engere Bindungen mit Verwandten und erhalten verstärkt verwandtschaftliche Unterstützungsleistungen. Diese Ergebnisse stehen somit teilweise im Einklang mit der leistungsspezifischen Kompensationsthese (vgl. Lang, Schütze 1998: 174ff.). Die Wirkungsthese kann ebenfalls bestätigt werden, denn es zeigen sich positive Zusammenhänge zwischen der Anzahl der objektiven Verwandten sowie dem realisierten Anteil der Verwandtschaftsbeziehungen und der Reduktion von Einsamkeitsgefühlen (vgl. Lang, Schütze 1998: 177f.). Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang Befunde des Alterssurveys 1996 (Kohli, Künemund 2000), die Auskunft über Verwandtschaftsbeziehungen älterer Menschen geben (vgl. Künemund, Hollstein 2000).418 Insgesamt lässt sich eine eher untergeordnete Rolle von „anderen Verwandten“ für die Personengruppe der 70- bis 80-Jährigen konstatieren. Betrachtet man die Rangfolge der potentiellen Unterstützungspersonen, so nehmen entfernte Verwandte hinsichtlich des instrumentellen, emotionalen oder kognitiven Unterstützungspotentials letzte und hintere Plätze ein (vgl. Künemund, Hollstein 2000: 252).419 Wie sieht nun die Situation aus, wenn keine Partner/-innen bzw. Kinder vorhanden sind? Sind Verwandte Substitut für fehlende Familienangehörige? (vgl. Künemund, Hollstein 2000: 254). Eine höhere Gewichtung von „anderen Verwandten“ zeigt sich in Bezug auf emotionale 417
418
419
Wird im Folgenden von Verwandten oder Verwandtschaftsbeziehungen gesprochen, betrifft dies die Schwiegerkinder, Enkelkinder und andere Verwandte, die in einer Kategorie erfasst werden. Der Alterssurvey 1996 umfasst eine repräsentative Stichprobe von ca. 5000 in Privathaushalten lebenden Deutschen im Alter von 45-85 Jahren. Themen der Studie sind objektive Lebensbedingungen und subjektive Selbst- und Lebenskonzepte von älteren Menschen. Die zweite Welle wurde im Jahr 2002 realisiert (vgl. Tesch-Römer 2002: 2f.). Dominierend sind die Partner/-innen und Kinder, der Abstand zu anderen Personengruppen beträgt bei allen drei Hilfearten 40% und mehr. „Andere Verwandte“ nehmen bei der instrumentellen Hilfe insgesamt den letzten (achten) Platz und ein. Hinsichtlich ihres emotionalen und kognitiven Potentials ist es Platz fünf vor Nachbarn, anderen Personen und Enkelkindern (vgl. Künemund, Hollstein 2000: 252f.).
194
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
und kognitive Unterstützungsleistungen für Kinderlose. So dominieren bei Kinderlosen zwar Partnerinnen bzw. Partner, die jeweils die ersten Plätze einnehmen, „andere Verwandte“ werden jedoch deutlich häufiger genannt. Es ergibt sich folgende Verteilung für die 70- bis 80jährigen Befragten: 1) kognitive Unterstützung: Geschwister (26%), Freunde/Freundinnen (18%), andere Verwandte (18%), Nachbarn (6%), andere Personen (5%), 2) emotionale Unterstützung: Geschwister (22%), andere Verwandte (18%), Freunde/Freundinnen (16%), andere Personen (8%), Nachbarn (5%), 3) instrumentelle Unterstützung: Nachbarn (20%), Geschwister (18%), andere Verwandte (15%) (vgl. Künemund, Hollstein 2000: 255f.). Der Alterssurvey gibt darüber hinaus einen Überblick über die Existenz von Verwandten differenziert nach dem Alter der Befragten (vgl. Künemund, Hollstein 2000). Man erhält somit repräsentative Daten über die Verbreitung der objektiven Verwandtschaft der deutschen Bevölkerung über 45 Jahre.420 Die Zahlen repräsentieren die Opportunitätenstruktur für verwandtschaftliche Beziehungen und damit ihre potentielle Verfügbarkeit. Tabelle 15 zeigt die Verteilung der Verwandtentypen differenziert nach West- und Ostdeutschland. Tabelle 15: Existenz von Verwandten (Alterssurvey 1996) (Angaben in Prozent) Altersgruppe 40-54 Jahre ƃ
Ƃ
ge-
55-69 Jahre ƃ
Ƃ
samt
ge-
70-85 Jahre ƃ
Ƃ
samt
ge-
40-85 Jahre ƃ
Ƃ
samt
gesamt
Onkel/ Tante West
84,6
84,6
84,6
58,0
57,4
57,7
20,0
18,9
19,3
66,6
62,2
64,3
85,5
85,7
85,6
59,0
59,5
59,2
20,8
19,2
19,8
67,4
63,3
65,3
Ost
80,5
80,2
80,3
53,5
49,3
51,3
16,4
17,6
17,2
63,0
57,7
60,2
Cousin/ Cousine West
88,9
90,2
89,5
83,7
86,7
85,2
71,2
71,9
71,7
84,8
85,4
85,1
88,9
90,8
89,8
84,0
87,2
85,6
70,9
73,1
72,3
84,8
86,0
85,4
Ost
89,1
87,8
88,4
82,2
84,7
83,5
72,7
66,8
69,0
84,6
82,9
83,7
Nichte/ Neffe West
82,0
88,7
85,3
80,1
82,6
81,4
77,1
79,5
78,6
80,7
84,8
82,8
81,8
88,5
85,1
80,1
83,4
81,7
77,6
80,5
79,4
80,7
85,1
82,9
Ost
82,5
89,7
86,1
80,2
79,6
79,9
74,9
74,9
74,9
80,7
83,3
82,1
Datenbasis: Alterssurvey 1996 (gewichtet) (Quelle: Künemund, Hollstein 2000: 268) 420
Auch Galler (1990: 65) präsentiert Befunde zur Verteilung der objektiven Verwandtschaft. Datenbasis ist der ALLBUS 1986. Im Folgenden werden die Häufigkeiten jeweils für Onkel/Tanten und Cousins/Cousinen differenziert nach Altersgruppen dargestellt: 1) Onkel/Tanten: 18-29 Jahre: 94,9%, 30-39 Jahre: 91,3%, 4049 Jahre: 79,9%, 50-59 Jahre: 62,9%, 60-69 Jahre: 38,6%, 70-79 Jahre: 7,9%, 80+: 1,2%. 2) Cousins/Cousinen: 18-29 Jahre: 76,2%, 30-39 Jahre: 80,2%, 40-49 Jahre: 80,4%, 50-59 Jahre: 86,9%, 60-69 Jahre: 84,5%, 70-79 Jahre: 71,8%, 80+: 75,2%.
3.2 Empirischer Forschungsstand
195
80% der Männer und Frauen im Alter von 40 bis 85 Jahren zählen Cousins/Cousinen und Nichten/Neffen zu ihrer objektiven Verwandtschaft. Frauen nennen insgesamt mehr lebende Verwandte als Männer. Aufgrund der Altersstruktur der Stichprobe fallen die Prozentwerte der „verfügbaren“ Onkel und Tanten insgesamt niedriger aus. Die Opportunitäten für verwandtschaftliche Kontakte sind somit gegeben.421 Die Befunde deuten angesichts einer niedrigen Fertilität und einer potentiellen Verringerung der Geburtenzahlen auf einen Bedeutungszuwachs des erweiterten Familienkreises als emotionale und instrumentelle Hilferessource hin (vgl. Künemund, Hollstein 2000: 257, vgl. auch Lang, Schütze 1998: 180f.). Die These des Bedeutungsrückgangs von Verwandten muss somit insbesondere für die Altersgruppe der 70- bis 80-Jährigen falsifiziert werden, wobei Kinderlosigkeit und altersspezifische Verluste (Verwitwung) wichtige Determinanten der Verwandtschaftsbeziehungen (vor allem zu Nichten und Neffen) sind. Die individuelle, gesellschaftliche und sozialpolitische Bedeutung dieser Verwandten wird sich nach Auffassung der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler somit zukünftig erhöhen. Aus methodischer Sicht bleibt anzumerken, dass deutsche Studien keine Differenzierungen zwischen einzelnen Verwandtentypen vornehmen und stattdessen die Globalkategorie „andere Verwandte“ erhoben wird (z.B. Künemund, Hollstein 2000). Im Vergleich zu der Vielzahl von amerikanischen Studien (Kapitel 3.2.1.1.2), in der insbesondere die Bedeutung von Nichten und Neffen für Ältere differenziert analysiert wird, spiegelt diese Tatsache den gegenwärtigen untergeordneten Status von entfernten Verwandtschaftsbeziehungen in der deutschen Familiensoziologie und gerontologischen Forschung wider. Vor dem Hintergrund der referierten Forschungslage ist dieser Status nicht gerechtfertigt. 3.2.2.4.5 Exkurs: Verwandtschaftsbeziehungen in der DDR Innerhalb der Dekade der 1990er Jahre wird die Bedeutung von Verwandtschaftsbeziehungen in der DDR diskutiert. Wichtige theoretische und empirische Befunde werden im folgenden Exkurs dargestellt. Zuerst wird ein Überblick über die sozialistische Struktur von Verwandtschaftsbeziehungen in der DDR gegeben, die nur in ihrem institutionellen Kontext zu verstehen sind. Es liegen hierzu unterschiedliche Einschätzungen vor (Srubar 1991; Diewald 1995). Empirische Befunde zur Rolle und Bedeutung von Verwandtschaft in der DDR liefert Diewald (1995, 1998). Abschließend werden die Veränderungen der Verwandtschaftsbeziehungen nach der Wende analysiert (Diewald 1998). Die unterschiedlichen Annahmen über Verwandtschaftsbeziehungen in der DDR können mit Hilfe der Metaphern Vitamin B und Nische verdeutlicht werden (vgl. Diewald 421
Das Allensbacher Institut für Demoskopie (Noelle-Neumann, Köcher 2002) erfasst die geographische Distanz zu Verwandten (Frage: Wo wohnen die meisten Ihrer Verwandten?). Betrachtet man die aktuellen Daten aus dem Jahr 2000, zeigt sich, dass die Hälfte der Verwandten der westdeutschen Befragten (52%) im gleichen Ort und näheren Umgebung leben (Ostdeutschland 51%). Im gleichen Bundesland leben 23% der westdeutschen und 18% der ostdeutschen Verwandten, im Ausland 3% (2%) und ganz verstreut 10% (15%). Im Zeitverlauf (1953-2000) hat sich der Anteil der Verwandten in der unmittelbaren Nähe von 48% (1953) auf 52% (2000) leicht erhöht (vgl. Noelle-Neumann, Köcher 2002: 113). Interpretiert man diese Prozentwerte als grobe Indikatoren für die Verfügbarkeit von Verwandten, so kann für den Großteil der Befragten eine geographische Nähe zu ihren Verwandten konstatiert werden. Diese Tatsache ist von besonderer Bedeutung, da die geographische Distanz in der deutschen und amerikanischen Literatur als zentraler Kostenfaktor für verwandtschaftliche Kontakte betrachtet wird (vgl. exemplarisch Klatzky 1971).
196
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
1995: 56ff.).422 „Vitamin B“ verweist auf die Prägung der Sozialbeziehungen durch wirtschaftliche Notwendigkeiten. Persönliche Beziehungen werden in diesem Kontext als „Untergrund-System zur Beschaffung knapper Waren und Dienstleistungen“ angesehen (vgl. Diewald 1995: 57). Als Beispiel wird der Begriff „Westverwandtschaft“ angeführt und ihre Bedeutung für Zuwendungen in Form von Devisen oder westlichen Konsumgütern hervorgehoben (vgl. Diewald 1998: 186). Insbesondere Srubar (1991: 416) verdeutlicht die Auswirkungen des sozialistischen Gesellschafts- und Politiksystems auf die Konstitution von Sozialbeziehungen. Im Vordergrund der Betrachtung stehen die Folgen der Privatisierung des Staates durch die Partei und Verstaatlichung der Wirtschaft (Schatten- und Mangelwirtschaft) auf die Lebensführung und normativen Orientierungen der Bevölkerung. Verwandtschaftsbeziehungen realisierten u.a. als informelle Netzwerke ein „alternatives Distributionsgesetz von Dienstleistungen und Waren“ (Srubar 1991: 421), wobei „etwas aufzutreiben“ als typische Handlungsweise des Alltags beschrieben wird (vgl. Srubar 1991: 420). Dabei betont Srubar (1991: 422), dass es ein Fehler ist, den „Solidarisierungseffekt“ in den Netzwerken zu überschätzen, auch wenn der Umgang in den Umverteilungsnetzwerken das Potential hatte, menschliche und freundschaftliche Solidarität freizusetzen. Materielle Nutzenkalküle sind die Determinanten der Aufrechterhaltung von verwandtschaftlichen Beziehungen (vgl. Diewald 1998: 185f.). Diewald (1998: 188) kritisiert jedoch diese Sichtweise und weist darauf hin, dass ein instrumenteller Nutzen – als besonderes Gewicht innerhalb einer persönlichen Beziehung – nicht automatisch eine Reduktion von emotionaler Qualität bedeutet. So war die DDR zudem keine Gesellschaft, in der existentielle Not herrschte und verwandtschaftliche Hilfe nicht einziger Garant der Existenzsicherung. Die Metapher „Nische“ (Gaus 1983) impliziert hingegen eine Sonderstellung von Familie und Verwandtschaft und fokussiert die besondere emotionale Qualität dieser Beziehungen (vgl. dazu insbesondere Diewald 1995). Diese Sichtweise stellt die Gegenposition zur Überbetonung des instrumentellen Charakters der Sozialbeziehungen dar. In Anlehnung an Granovetter (1973) differenzieren Völker, Flap (1997: 247) in diesem Zusammenhang zwischen schwachen Beziehungen (zu Nachbarn oder Bekannten) und starken Beziehungen (Familie und Verwandtschaft), wobei letzteren eine größere Bedeutung zugesprochen wird. Im Vordergrund der Argumentation steht die Angst vor Bespitzelungen der STASI: „Many tried to escape this control and collectivization by treating into a cocoon of trusted friends and family members. These ‚niches’ (…) can also be seen as the solution to the systeminduced problem of whom to trust. Intensive, long-standing relationships (…) are less dangerous (…)” (Völker, Flap 1997: 247).
Welche Ergebnisse liefern nun die empirischen Studien über Verwandtschaftsbeziehungen in der DDR (Diewald 1995, 1998; Völker, Flap 1997423)? Tabelle 16 zeigt die Verteilung der Netzwerkmitglieder für verschiedene Formen der sozialen Unterstützung in der Zeit vor 1989. 422 423
Zu einer ausführlichen Diskussion zur Lage der Familien in der DDR vgl. Schneider u.a. (1995: 5-9). Die Studie von Völker, Flap (1997) gibt ebenfalls Aufschluss über die Zusammensetzung der persönlichen Netzwerke in der DDR. Auf Basis von (realen) Interaktionspartner/-innen in unterschiedlichen sozialen Hilfesituationen wurde die Zusammensetzung der Netzwerke von Befragten im Alter von 30 bis 55 Jahren für den Zeitraum März 1989 bis September 1989 erhoben. Datengrundlage ist eine Zufallsauswahl von Bewohnern aus Dresden und Leipzig (vgl. Völker, Flap 1997: 248f.). Die Zusammensetzung der Netzwerke ergibt folgende Verteilung (N= 489): 5,9% (Ehe)Partner/-in, 23,8% nahe Verwandte (Eltern, Geschwister, Kinder, Schwiegereltern), 7,1% entfernte Verwandte, 26,3% Freunde/Freundinnen, 24,5% Kollegen/Kolleginnen, 10,2% Bekannte und 2,2 % Nachbarn.
197
3.2 Empirischer Forschungsstand
Tabelle 16: Netzwerkbeziehungen in der DDR (Angaben in Prozent) Beschaffungshilfen
Partner/-in Eltern Kinder Geschwister andere Verwandte Freunde/-innen Bekannte Nachbarn Kollegen/-innen N = 2323 (Quelle: Diewald 1995: 61)
35 56 25 23 13 37 30 8 28
Hilfe bei Bauarbeiten 45 53 49 25 8 32 14 6 13
Sprechen über Probleme am Arbeitsplatz 55 28 18 4 3 16 3 1 52
Sprechen über gesellschaftliche Verhältnisse 87 55 38 12 7 44 13 4 41
Anerkennung der persönlichen Leistung 72 42 29 8 2 17 4 2 44
Ratschlag in schwieriger persönlicher Lage 93 68 44 22 4 36 7 5 22
Die Ergebnisse verdeutlichen den instrumentellen Charakter von entfernten Verwandtschaftsbeziehungen, der sich insbesondere in Form von Beschaffungshilfen zeigt. Hierunter versteht man die Beschaffung von Dingen des täglichen Bedarfs oder Material für Bau- und Reparaturarbeiten. Darüber hinaus ist ein geringer Grad an Multiplexität im Vergleich zu Eltern, Kindern, Geschwistern und Freundschaften charakteristisch. Beziehungen mit Arbeitskolleginnen und -kollegen erweisen sich darüber hinaus als wichtiger Bestandteil des Gesamtnetzwerkes (vgl. Diewald 1995: 72). Der hohe Prozentsatz von Beziehungen aus dem Arbeits- und Berufskontext liegt in der hohen Erwerbsquote der DDR begründet (vgl. Diewald 1998: 193). Festgehalten werden kann, dass in der DDR die Partnerschaft und die Eltern-Kind-Beziehung innerhalb des Verwandtschaftsnetzwerkes herausragende Stellungen einnahmen. „Die in der DDR im Vergleich zu westlichen Verhältnissen relativ höhere und grundsätzliche Bedeutung informeller Strukturen für die materielle Versorgung hat also keine ‚vormodernen’ Verwandtschaftsstrukturen mit sich gebracht“ (Diewald 1995: 64).
Diewald (1998) untersucht die Veränderungen der Sozialbeziehungen nach der Wende im Jahr 1989.424 Die Wende manifestiert eine mit der gesellschaftlichen Transformation einhergehende Veränderung der Handlungsspielräume (vgl. Diewald 1998: 183). Diewald 424
Datenbasis von Diewald (1995) sowie Diewald (1998) ist die Studie „Lebensverläufe und historischer Wandel in der ehemaligen DDR“ des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, eine repräsentative Stichprobe von 2323 Befragten aus vier Geburtskohorten (1929-31, 1939-41, 1951-53, 1959-61). Die Befragung fand zwischen 1991 und 1992 statt. Diewald (1998) verwendet zusätzlich die Zusatzerhebung des ALLBUS „Soziale Netzwerke und Unterstützungsleistungen (ISSP 1986, Social Networks I) für einen Vergleich mit Westdeutschland. Nach der Bildung äquivalenter Geburtskohorten steht eine Stichprobe von 765 Befragten zur Verfügung. Darüber hinaus werden die Veränderungen seit der Wende im Rahmen einer Panelstudie (N=1254) erhoben, die im Frühjahr 1993 zur Haupterhebung der Studie „Lebensverläufe und historischer Wandel in der ehemaligen DDR“ durchgeführt wurde (vgl. Diewald 1998: 190f.)
198
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
(1998: 189) vermutet vor allem Veränderungen für die weiteren Verwandtschaftsbeziehungen. Die peripheren und durch instrumentelle Nützlichkeiten geprägten Beziehungen sind somit eher von der Aufhebung spezifischer Handlungsrestriktionen und -anreize betroffen. Es sind folgende Veränderungen der Nützlichkeiten zu konstatieren, die einen Bedeutungsgewinn von schwachen Beziehungen implizieren (Granovetter 1973): „Es ist nicht mehr wichtig, Personen zu kennen, die ‚Bückware’ beschaffen können usw.; jetzt ist es wichtig Personen zu kennen, die über bestimmte Informationen außerhalb des eigenen Blickfeldes verfügen, oder die den Zugang zu den knapp gewordenen Arbeitsplätzen in irgendeiner Weise erleichtern können“ (Diewald 1998: 189).
Darüber hinaus haben zunehmend selbstbestimmte Formen der Freizeitgestaltung einen größeren Stellenwert, denen Verwandtschaft für sich alleine genommen, kein Eigengewicht entgegensetzen kann (vgl. Diewald 1998: 189). Konsequenz wäre nun, dass diese „alten“ Beziehungen, in denen „der persönliche Gehalt und die Sympathie über Nützlichkeitserwägungen hinaus unklar waren“ besser aufgelöst werden können (vgl. Diewald 1998: 189). Dies geschieht jedoch nur unter zwei weiteren Voraussetzungen: 1) wenn sich Investitionen in schwächere Beziehungen auch lohnen und 2) wenn Alternativen zur Verfügung stehen, d.h. Optionen für neue Kontakte. Dies entspricht Überlegungen der Rational-ChoiceTheorie zu Handlungsentscheidungen von Individuen (vgl. Kapitel 3.1.2). Eine Tatsache, die jedoch bei diesen Überlegungen noch nicht berücksichtigt wurde, ist die Plötzlichkeit und Geschwindigkeit des gesellschaftlichen Wandels. Unsicherheits- und Anomieerfahrungen können zu einer Intensivierung von vertrauten Beziehungen führen (vgl. Diewald 1998: 189). Srubar (1991: 429) weist ebenfalls darauf hin, dass die anomische Wirkung des gesellschaftlichen Wandels die Orientierung an vertrauten Beziehungsstrukturen der bestehenden Netzwerke (z.B. Verwandtschaftsbeziehungen) verstärken kann. Trommsdorff (1995) verweist in diesem Kontext auf mögliche Identitätskrisen und eine generelle Orientierungslosigkeit im Zuge der gesellschaftlichen Transformationsprozesse. Sie gelten gleichermaßen für Personen, die sich mit dem politischen System der DDR identifiziert haben als auch für Personen, für die dies nicht zutrifft. Sie entstehen als Folge des Zusammenbruchs von relevanten Bezugssystemen und Identifikationsmodellen, wobei insbesondere der Zerfall des sozialen Bezugssystems und der informellen sozialen Netze als identitätsbedrohlich angesehen wird (vgl. Trommsdorff 1995: 141f.). Obwohl nach der Vereinigung Deutschlands theoretisch eine Vielzahl von Angeboten für die Identitätsbildung zur Verfügung standen und verschiedene Gruppenzugehörigkeiten als Handlungsalternativen potentiell möglich waren, sind diese Wahlmöglichkeiten auch begrenzt und die Chancen für eine Neuorientierung strukturell ungleich verteilt (vgl. Trommsdorff 1995: 138f.). Die Veränderungen der persönlichen Beziehungen mit Geschwistern und anderen Verwandten nach der Wende werden in Tabelle 17 dargestellt.425
425
Zur Analyse steht die Kategorie „Geschwister, andere Verwandte“ zur Verfügung. Die Zusammenfassung der beiden Verwandtentypen in einer Kategorie bedauert auch Diewald (1998: 195). Die Befunde für andere Verwandtentypen werden nicht aufgeführt.
199
3.2 Empirischer Forschungsstand
Tabelle 17: Veränderung der Beziehung zu Geschwistern und anderen Verwandten nach der Wende (Angaben in Prozent) 426 Geschwister, andere Verwandte Beziehung enger und vertrauter weniger eng und vertraut unverändert Instrumentelle Hilfeleistung427 mehr weniger unverändert Austausch von „wichtigen Informationen und Tips“ größer geringer unverändert Als Mensch anerkannt und geschätzt mehr weniger unverändert N = 1229 (Quelle: Diewald 1998: 195)
9 22 69 6 24 71 19 18 64 7 9 84
Im Vergleich zur Partnerschaft und den Beziehungen zu Kindern (vgl. dazu ausführlicher Diewald 1998: 195), sind bei Geschwistern und anderen Verwandten eher Auflösungsbzw. Auflockerungstendenzen in Bezug auf die Beziehungsenge und den Austausch instrumenteller Hilfeleistungen zu erkennen. Die Veränderungen der persönlichen Wertschätzung und des Informationsaustausches sind jedoch weniger stark ausgeprägt (vgl. Diewald 1998: 195). Dennoch überwiegt in allen der hier erfragten Beziehungsdimensionen die Kategorie „unverändert“. Somit ist ein Bedeutungsrückgang dieser Sozialbeziehungen bis zum Jahr 1993 nicht feststellbar. Die Einbrüche in Bezug auf die „persönliche Wertschätzung“ sind am geringsten. Dies kann als Indiz dafür angesehen werden, dass auch in der DDR zwischen affektiven Beziehungen und instrumentellen Nützlichkeitskalkülen differenziert wurde (vgl. Diewald 1998: 196).428 Als Erklärungen werden zwei Aspekte angeführt: zum einen die bereits in der DDR bestehende „moderne“ Ausdifferenzierung persönlicher Netzwerke und zum anderen die Reaktionen auf die Krisenhaftigkeit der Wende (vgl. Diewald 1998: 196). Beziehungen zu Geschwistern und anderen Verwandten – als vormals instrumentelle Beziehungen – erweisen sich als „keineswegs anfälliger gegen die mit der Wende einhergehenden umfassenden Veränderungen systembedingter Handlungsvoraus426
427 428
Die Frage lautete: „(…) denken Sie bitte noch einmal daran, ob sich bei Ihnen persönlich in der Zeit seit der Wende etwas im Umgang mit anderen Menschen verändert hat“ (vgl. Diewald 1998: 195). Gegenseitige Hilfeleistungen bei Umbau- oder Renovierungsarbeiten u.a. Im Vergleich dazu überwiegen bei der Eltern-Kind-Beziehung die positiven Veränderungen im Zuge der Transformation, stärkere Einbrüche zeigen sich hingegen bei ehemaligen Freundschaften und Beziehungen zu Kolleginnen und Kollegen. Es wird vermutet, dass diese stärker als Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen von den sozialstrukturellen Bedingungen der DDR-Gesellschaft determiniert wurden (vgl. Diewald 1998: 195f.).
200
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
setzungen“ (Diewald 1998: 197). Diewald (1998: 200) schließt aus diesen Ergebnissen, dass es nicht zu einem über die Kernfamilie hinaus spezifischen Zusammenschluss der weiteren Verwandtschaft zur Bewältigung finanzieller oder emotionaler Krisen gekommen ist. Bei Frauen ist eine Intensivierung der bestehenden Beziehungen in Bezug auf emotionale und praktische Unterstützung nach der Wende festzustellen. Dieser Befund wird als empirische Bestätigung der weiblichen Rolle „gatekeeper“ (Kapitel 1.6) angesehen. Diewald (1998: 200) warnt jedoch vor einer vorschnellen Interpretation eines Bedeutungsgewinns dieser Verwandtentypen. Im Vergleich zu Freundeskreisen und der Kernfamilie bewegen sich die Bedeutungsgewinne der Geschwister und anderen Verwandten auf einem geringen Niveau. „Dagegen konnten Verwandtschaftsbeziehungen außerhalb von Ehe und direkten Generationenbeziehungen offensichtlich keine nennenswerte Bedeutung erlangen, weder zu Zeiten der DDR noch bei der Bewältigung der Anforderungen nach 1989. Zumindest ist dies der globale Eindruck, der sich im Vergleich zu anderen Beziehungen aufdrängt. Dieser Eindruck mag sich ändern, wenn spezielle Bevölkerungsgruppen in den Blick genommen werden“ (Diewald 1998: 201).
3.2.3
Fazit
Die im dritten Kapitel vorgestellten angloamerikanischen, deutschen und internationalen Befunde der bisherigen Verwandtschaftsstudien belegen zu einem großen Teil die Existenz von Beziehungen zur entfernten Verwandtschaft und deren Bedeutung für die Individuen. Von einem generellen Bedeutungs- und Funktionsverlust des erweiterten Familienkreises kann somit nicht mehr gesprochen werden. Die Beziehungen mit entfernten Verwandten sind jedoch nicht mit der Stellung der Kernfamilie zu vergleichen. Diese Feststellung entspricht der in verschiedenen Studien festgestellten „Hierarchie von Verwandtschaftsbeziehungen“ bzw. „Hierarchie an Intimität“, die zum einen auf die modernisierungstheoretische These von Parsons (1943) (Kapitel 2.2) und zum anderen auf die soziobiologische Annahme einer Abstufung von emotionaler Nähe und Hilfsbereitschaft mit zunehmenden Verwandtschaftsgrad zurückgeführt wird (Kapitel 1.6). In Bezugnahme auf Parsons und Durkheim stellt Wagner (2002) über den Status von entfernten Verwandtschaftsbeziehungen im Vergleich zu kernfamilialen Beziehungen fest: „Die Vorstellungen von Durkheim und Parsons von ‚starken’ kernfamilialen Beziehungen im Vergleich zu ‚schwachen’ oder ‚schwächeren’ Umweltbeziehungen zu Verwandten und Nicht-Verwandten wird durch solche Ergebnisse gestützt“ (Wagner 2002: 245). Dennoch sollte diese Sichtweise einer Rangfolge von Verwandten nicht zu einer generellen Vernachlässigung des erweiterten Familienkreises führen, denn die empirischen Studien belegen einen eigenständigen Existenz- und Wertebereich dieser Sozialbeziehungen. Der referierte Forschungsstand wird im Folgenden aus methodischen und inhaltlichen Gesichtspunkten diskutiert. Die vorherigen Kapitel präsentieren eine Vielzahl von deskriptiven Einzelergebnissen, deren Vergleichbarkeit und Generalisierung auf die Gesamtgesellschaft aufgrund der angewandten divergenten Methoden nur eingeschränkt möglich ist. Insbesondere die Studien der 1950er bis 1970er Jahre weisen gravierende methodische Mängel und damit eine geringe Validität auf. Kennzeichen sind kleine Stichproben, willkürliche und bewusste Auswahlen, keine Repräsentativität und spezifische Befragtenpopulationen. Zudem werden Verwandtschaftsbeziehungen ausschließlich querschnittsanalytisch
3.2 Empirischer Forschungsstand
201
betrachtet. Es gibt keine Längsschnittuntersuchungen, die die Bedeutungen und Funktionen von Verwandtschaft im Lebenslauf analysieren. Für Studien der 1980er und 1990er Jahre (und aktuelle Studien) gilt diese methodische Kritik in der Regel nicht mehr, denn die Datenlage hat sich aufgrund der Verbreitung allgemeiner Bevölkerungsumfragen entscheidend verbessert. Allerdings werden Beziehungen zum erweiterten Familienkreis nur selten explizit analysiert. Die Mehrheit der Studien hat deskriptiven Charakter und nur vereinzelt werden theoretische Annahmen zur Erklärung verwandtschaftlichen Handelns überprüft. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von qualitativen Studien, die eine vertiefende Analyse der Verwandtschaftsbeziehungen durchführen (z.B. Milardo 2005). Sie sind jedoch methodisch begrenzt. Fallstudien sowie bewusste und willkürliche Auswahlen erlauben keinen Repräsentativschluss (vgl. Schnell u.a. 2005). Eine soziologische Verwandtschaftsanalyse muss über das Stadium der qualitativen Beschreibung von Einzelfällen hinausgehen und Erklärungen für die Variabilität des verwandtschaftlichen Handelns geben, die gesamtgesellschaftlich von Bedeutung sind. Qualitative Studien können viel zum Verständnis dieser vernachlässigten Sozialbeziehung beitragen, sie tragen jedoch nur wenig zum eigentlichen Ziel der Soziologie – der Erklärung kollektiver Phänomene – bei (Esser 1996a). Betrachtet man das Charakteristikum verwandtschaftlicher Beziehungen – die Selektivität – so muss festgehalten werden, dass diese nur vereinzelt Gegenstand des empirischen Forschungsinteresses ist. Zu nennen sind insbesondere Studien, die zwischen objektiver Verwandtschaft und subjektiven Verwandtschaftsbeziehungen differenzieren: Firth (1956a) unterscheidet zwischen „kin universe“ und „effective kin“, Lang, Schütze (1998) zwischen „verfügbaren Verwandten“ und „realisierten Verwandtschaftsbeziehungen“. Die Studie von Hoyt, Babchuk (1983) differenziert zwischen „primary kin“ (subjektive Verwandtschaft) und „confidant kin“ (Verwandte als Vertrauenspersonen). Die Unterschiede zwischen der Anzahl der objektiven und subjektiven Verwandten wird in der „contact ratio“ von Osterreich (1965), der „Ausschöpfungsquote“ von Marbach (1989) und dem „Realisierungsgrad“ von Lang, Schütze (1998) berechnet. Indirekt wird in der Vielzahl von Netzwerkstudien auf die Wahl von Verwandten als Interaktionspartner/-innen Bezug genommen. Werden Verwandte zum persönlichen Netzwerk gezählt, hat ein Selektionsprozess stattgefunden. Mit Ausnahme der Studie von van der Poel (1993), der ein rational-choice-basiertes Entscheidungsmodell zur Inklusion von entfernten Verwandten in das persönliche Netzwerk präsentiert, dominiert in den anderen Netzwerkstudien die Beschreibung der soziodemographischen Korrelate derjenigen Personen, die über mehr und weniger Verwandte in ihrem Netzwerk verfügen. Eine Unterscheidung der Verwandtentypen wird darüber hinaus nicht vorgenommen, denn Verwandte werden als Globalkategorie erfasst. Die Studien weisen jedoch grundsätzlich auf potentielle Determinanten hin, die Einfluss auf die Wahl von Verwandten haben. Dabei liegt der Schwerpunkt der deskriptiven Analysen auf den soziodemographischen Determinanten verwandtschaftlichen Handelns. Unter „Verwandtschaftshandeln“ sollen an dieser Stelle die unterschiedlichen abhängigen Variablen subsumiert werden, die eine Wahl von Verwandten implizieren: Kontakthäufigkeit, emotionale Bindungen, Austausch von Dienstleistungen und finanzieller Unterstützung, normative Verpflichtungen sowie die Größe und Zusammensetzung des persönlichen Netzwerkes. Sie stellen unterschiedliche Dimensionen einer Verwandtschaftsbeziehung dar. Welche Faktoren determinieren nun speziell die Wahl von entfernten Verwandten? Es werden im Folgenden die wichtigsten Befunde der bisherigen Verwandtschaftsstudien zusam-
202
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
mengefasst. Dies geschieht unter dem Aspekt der Dyade, d.h. es werden Determinanten egos und der Verwandten berücksichtigt. Betrachtet man die spezifischen Determinanten der Beziehungen zu Onkeln/Tanten, Cousins/Cousinen und Nichten/Neffen, so muss zuerst auf die Wichtigkeit des „triadischen Kontextes“ (Kaiser 1993: 151) hingewiesen werden, in den diese Beziehungen eingebettet sind. Zu nennen ist die Qualität der Geschwisterbeziehung, die die Beziehungen zu Nichten und Neffen prägt. Zum anderen muss auf die Qualität der elterlichen Geschwisterbeziehung verwiesen werden, die Beziehung egos zu Onkeln/Tanten und Cousins/Cousinen prägen. Darüber hinaus gelten biographische und individuelle psychologische Determinanten wie die Wichtigkeit der Verwandten in der Kindheit, Übereinstimmung von Werten bzw. Einstellungen, Zuneigung und die Persönlichkeit der Verwandten. Diese Faktoren stehen in einem positiven Zusammenhang mit der Höhe der normativen Verpflichtungen (Rossi, Rossi 1990) sowie einer emotionalen Bindung (vgl. exemplarisch Adams 1968; Bott 1971). Zusammenfassend können folgende soziodemographische Korrelate der Beziehungen mit entfernten Verwandten genannt werden: Geschlecht, Alter, soziale Schicht und ethnische Herkunft. Darüber hinaus gilt die geographische Distanz als zentraler Kostenfaktor für verwandtschaftliche Kontakte (vgl. auch Johnson 2000b). Es wird allgemein auf die Bedeutung des Geschlechts hingewiesen. Berücksichtigt werden das Geschlecht der Befragten und Verwandten, die Abstammungslinie der Verwandten (matri- vs. patrilineare Abstammungslinie) und die Geschlechtsrollenorientierung der Frau bzw. das Modell der häus-lichen Arbeitsteilung. In diesem Kontext muss auf die besondere Rolle eines kinkeeper hingewiesen werden, die verwandtschaftliche Kontakte aufrechterhält, initiiert und organisiert und primär von Frauen erfüllt wird. Ebenfalls zu erwähnen ist der „familyreunion-effect“ (Waite, Harrison 1992). In Bezug auf die Variable Alter zeigen Studien, dass entfernte Verwandte (insbesondere Nichten und Neffen) ein Unterstützungspotential für ältere Menschen sein können. In diesem Zusammenhang wird auch die Bedeutung der Kinderlosigkeit für Kontakte mit Nichten und Neffen diskutiert (Kapitel 3.2.1.1.3.1). Die besondere Rolle eines Substituts, die charakteristisch für Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Onkeln/Tanten und ihren Nichten/Neffen ist, ist in einem dyadischen Kontext zu sehen und steht im Zusammenhang mit dem Elternstatus und Familienstand. So übernehmen Nichten und Neffen die Rolle des Substituts insbesondere für kinderlose Ältere. Auf der anderen Seite sind Onkel und Tanten Substitut im Fall von nur geringen Bindungen an die Eltern bzw. ein Elternteil oder bei Verlust eines Elternteils. Die soziale Schicht wird zur Erklärung der Variabilität des verwandtschaftlichen Handelns herangezogen. Personen mit niedrigem sozioökonomischen Status haben häufigere Kontakte mit ihren Verwandten. Die bisherige Literatur liefert jedoch uneindeutige Befunde zum Zusammenhang zwischen Verwandtschaftshandeln und dem sozioökonomischem Status (Kapitel 3.2.1.1.1 und Kapitel 3.2.1.1.3). Deutsche und amerikanische Netzwerkstudien können dabei übereinstimmend zeigen, dass der Bildungsstatus negativ mit dem Anteil von Verwandten im persönlichen Netzwerk korreliert (Kapitel 3.2.1.1.3.3 und Kapitel 3.2.2.4.1). Abschließend muss die Bedeutung der ethnischen Herkunft betont werden, da für Angehörige verschiedenster ethnischer Minderheiten enge Bindungen speziell mit entfernten kollateralen Verwandten charakteristisch sind. Die bisherigen theoretischen Ansätze (Kapitel 3.1) und empirischen Studien (Kapitel 3.2) liefern somit wichtige Ansatzpunkte und Hinweise für ein allgemeines Modell zur
3.3 Forschungsdefizite
203
Erklärung der Wahl von Verwandten und darüber hinaus für eine zukünftige soziologische Verwandtschaftsforschung. 3.3 Forschungsdefizite „Relations with other kin – aunts, uncles, cousins – have seldom been felt important in this society to spend research time and effort studying them” (Adams 1970: 583).
Das dritte Kapitel erläutert den theoretischen und empirischen Forschungsstand der (entfernten) Verwandtschaftsbeziehungen für die USA und Deutschland. Im Vordergrund der familiensoziologischen Forschung steht jedoch die Analyse von Generationenbeziehungen (Eltern-Kind-Dyade). Einen sehr viel geringeren Stellenwert haben Studien über entfernte Verwandtschaftsbeziehungen von Erwachsenen, bei denen sowohl ein empirisches als auch theoretisches Forschungsdefizit festzustellen ist.429 Dies gilt insbesondere für Deutschland, ist aber auch für die amerikanische Familiensoziologie kennzeichnend. Die Vernachlässigung von Verwandtschaft spiegelt sich in den veröffentlichten Monographien wider. Bis zu dem jetzigen Zeitpunkt kann nur eine Monographie zum Thema Verwandtschaft genannt werden (Wagner, Schütze 1998).430 Der amerikanische Forschungsstand ist durch eine größere Anzahl empirischer Studien gekennzeichnet (Kapitel 3.2.1.1.). Aber auch in den USA wird auf die Vernachlässigung der entfernten Verwandtschaftsbeziehungen hingewiesen (insbesondere Johnson 2000a,b; Walker u.a. 2005; Matthews 2005). Dennoch thematisieren einige Studien explizit den erweiterten Familienkreis (vgl. insbesondere Milardo 2005). Darüber hinaus werden die einzelnen Verwandtentypen als gesonderte Kategorien explizit berücksichtigt (vgl. insbesondere Adams 1968; Rossi, Rossi 1990). Unter den Stichwörtern family diversity und kinship diversity findet in den USA eine thematisch breitere Diskussion über verwandtschaftliche Beziehungen statt. Zu nennen sind Themenschwerpunkte wie Verwandtschaftsbeziehungen und Gender (vgl. Johnson 2000a), interkulturelle Vergleiche von Verwandtschaft (vgl. Stack 1974; Roschelle 1997) sowie Verwandtschaftskonstruktionen von homosexuellen Menschen (vgl. Demo, Allan 1996; Weston 1991). Während beispielsweise Forschungsdefizite in Bezug auf entfernte Verwandtschaftsbeziehungen in Deutschland ausschließlich für die heterosexuellen Mitglieder der „Normalfamilie“ thematisiert werden, wird in den USA dieses Forschungsdefizit ebenfalls im Zusammenhang mit gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften diskutiert (vgl. Demo, Allan 1996).431 429
430
431
Sussman, Burchinal (1962: 231) stellen ebenfalls ein „academic cultural lag“ zwischen Familientheorie und empirischer Realität fest. Die Theorie postuliert die soziale Isolation der Kernfamilie, während empirische Studien Hinweise für die Existenz von erweiterten Verwandtschaftsbeziehungen liefern. Auch in dem von Auhagen, von Salisch (1993) herausgegebenen Band „Zwischenmenschliche Beziehungen“ gibt es einen Beitrag von Kaiser (1993) zu Beziehungen mit der erweiterten Familie. In Schwägler (1970: 153-163) findet man ein Kapitel über „Untersuchungen über die Verwandtschaftsstruktur“. Zu erwähnen ist außerdem die Dissertation von Fehlmann-von der Mühll (1978), die sich ausschließlich auf Verwandtschaft bezieht. Ihre Darstellung von soziologischen Theorien, die Verwandtschaftsbeziehungen erklären können, ist auf den Interaktionismus und Strukturfunktionalismus beschränkt. Effektive Verwandtschaftsbeziehungen sind weitgehend auf die Herkunfts- und Fortpflanzungsfamilie (Kernfamilie) beschränkt. Somit decken sich nach Fehlmann-von der Mühll (1978: 111f.) die gängigen Theorien von Familien- und Verwandtschaftsforschung. Demo, Allen (1996: 421) weisen auf folgende Forschungsdefizite bisheriger Studien über gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften und Familien hin: Es existieren keine inter- und intragenerationalen Studien,
204
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
In der gegenwärtigen soziologischen Diskussion werden verschiedene Gründe für die Vernachlässigung von Verwandtschaftsbeziehungen angeführt.432 Zu nennen ist insbesondere die Stellung der Kernfamilie innerhalb der familiensoziologischen Forschung. Generationenbeziehungen werden allgemein als wichtiger und bedeutender angesehen als horizontale Verwandtschaftsbeziehungen (Bundesministerium für Familie und Senioren 1994; NaveHerz 1998). Als Gründe hierfür werden u.a. die komparativen Vorteile für die Vermittlung wesentlicher Elemente der primären Sozialintegration und sozialen Unterstützung der ElternKind-Beziehung im Vergleich zu Beziehungen mit der Seitenverwandtschaft angesehen (vgl. Diewald 1998: 184).433 Als spezifische Ursachen für das Defizit in der amerikanischen Familiensoziologie nennt Johnson (2000a: 139) u.a. die Annahme, dass Verwandte eine eher untergeordnete Rolle für die Kernfamilie spielen, mit Ausnahme von „sentimental or identificational bonds“. Des Weiteren richtet sich die Aufmerksamkeit der Forschung seit den 1990er Jahren vor allem auf Probleme der Kernfamilie. Zu nennen ist die Debatte über „American Family Decline“ (Popenoe 1993) sowie die umfangreiche Scheidungsforschung, während man sich allgemein vom Thema Verwandtschaft abgewendet hat. Darüber hinaus, so vermuten Schütze, Wagner (1998: 13), tragen Verwandtschaftsbeziehungen mit ihrem uneindeutigen, intermediären Status „zwischen institutionalisierter Familienbeziehung und frei gewählten Freundschaften“ offenbar nichts zur Lösung sozialer und individueller Probleme bei. Verwandtschaft wird in diesem Kontext zwar als Matrix latenter Beziehungen (Riley 1983) bezeichnet, die in Krisenzeiten aktiviert werden können, das Aktivierungspotential wird jedoch nur eingeschränkt empirisch analysiert. So kann insbesondere die gerontologische Forschung aktive emotionale und instrumentelle Beziehungen zu Verwandten außerhalb der Kernfamilie (insbesondere Nichten und Neffen) nachweisen. Die Analyse bleibt jedoch auf den Personenkreis der älteren Menschen beschränkt und wird nicht auf Individuen im mittleren Erwachsenenalter ausgedehnt. Die in den bisherigen Studien erhobenen Hilfesituationen (im Krankheitsfall, bei finanziellen Problemen u.a.) entsprechen nicht einer Krisensituation von Riley (1983), in der entfernte Verwandte als Bezugspersonen gewählt werden. Zudem erscheint auch die Operationalisierung durch die Frage nach potentiellen Erst- und Zweithelfer/-innen eher ungeeignet, denn Partner/-innen und nahe Verwandte (Eltern, Kinder) werden mit überwiegender Mehrheit für diese alltäglichen Hilfesituationen genannt, während entfernte Verwandte eine nur marginale Bedeutung haben.434 Die Kernfamilie hat in unserer Gesellschaft und damit in der soziologischen Forschung eine so herausragende Stellung, was die zahlreichen wissenschaftlichen Studien zu den Beziehungen zwischen Herkunfts- und Zeugungsfamilie belegen, dass die Beziehungen mit dem erweiterten Familienkreis von der Theoriebildung und empirischen Analyse weit-
432
433
434
die die Beziehungen von Lesben und Schwulen zu den Großeltern, Onkeln, Tanten, Nichten, Neffen und anderen Mitgliedern ihrer erweiterten Verwandtschaft thematisieren. Verwandtschaft wird ebenfalls nur selten in der Migrationsforschung thematisiert (vgl. Nauck, Kohlmann 1998: 203). Dies gilt ebenso für die historische Familienforschung (Rosenbaum 1998). Forschungsdefizite lassen sich ebenfalls im Bereich der Persönlichkeits- und Sozialpsychologie feststellen (vgl. Neyer, Lang 2003a: 310). Vgl. hierzu auch Johnson (2000a). Sie stellt eine Hierarchie an Interessen fest, in der die Eltern-KindBeziehung die dominierende Beziehung innerhalb der (familien-)soziologischen Forschung ist – mit folgenschwerer Konsequenz für weitere Familienbeziehungen: „The roles of siblings and secondary relatives, such as in-laws, cousins, nieces, nephews, are barely of passing interest to most family researchers” (Johnson 2000a: 143). Vgl. dazu auch Kapitel 5.2.2 und Kapitel 5.4.
3.3 Forschungsdefizite
205
gehend vernachlässigt werden. Die traditionelle Fokussierung auf intergenerationale Beziehungen und damit Beziehungen zwischen (heterosexuellen) Eltern und ihren Kindern, verdeckt nach Walker u.a. (2005: 167) die Diversität des Familien- und „Verwandtschaftslebens“. So stammen die Ergebnisse, die in Kapitel 3.2 präsentiert werden, fast ausschließlich aus Studien, die ihren Schwerpunkt in der Analyse von Eltern-Kind-Beziehungen haben. Verwandtschaftsbeziehungen als eigenständiges soziologisches Thema existiert nicht in der vergangenen und gegenwärtigen soziologischen Forschungslandschaft. Marbach (1998: 92) bestätigt dies und stellt fest, dass „Verwandtschaft selbst weder theoretisch noch empirisch zu einem eigenständigen Gegenstand soziologischer Forschung geworden ist“ [Eigene Hervorhebung]. Verwandtschaft übernimmt in der Familiensoziologie die Rolle einer „Staffage in Untersuchungen über familiale Sozialisation, über Stabilität und Wandel privater Lebensformen, über Gatten-, Eltern-Kind- und Generationenbeziehungen oder den Austausch von Solidarleistungen unter Familienangehörigen“ (Marbach 1998: 91). Familiales Leben ist jedoch nicht nur auf die Eltern-Kind-Beziehung beschränkt, sondern es existieren mehr oder weniger umfangreiche Verwandtschaftsbeziehungen verschiedener Generationen (vgl. Kaiser 1993: 143). „Familie scheint für die meisten Autoren bei den Großeltern zu enden: der weitere Familienkreis geht in die wissenschaftliche Analysen nur sporadisch und anekdotisch ein (…) wiewohl eine gründlichere Aufarbeitung dieses Bereichs zu wünschen wäre“ (Kaiser 1993: 151).
Größere Studien ausschließlich zu Beziehungen mit der erweiterten Verwandtschaft und ihrer Bedeutung für das Individuum fehlen gänzlich.435 Dies bestätigen auch Schütze, Wagner (1998: 12): „Es mag typisch für die gegenwärtige Forschung sein, daß es uns nicht gelungen ist, ein größeres Projekt ausfindig zu machen, das sich speziell dem Thema der Verwandtschaft widmet.“
Es fehlen in Deutschland nicht nur Studien, die sich schwerpunktmäßig mit dem Personenkreis der entfernten Verwandten (Onkel/Tanten, Cousins/Cousinen und Nichten/Neffen) beschäftigen, sie werden darüber hinaus noch nicht einmal explizit als mögliche Antwortkategorien vorgesehen. Eine detaillierte Untersuchung der einzelnen Verwandtentypen erfolgt in der Regel nicht. Vielmehr werden in der Mehrheit der kernfamilienzentrierten Studien (und Fragebögen) alle Mitglieder der erweiterten Verwandtschaft in der Kategorie „Sonstige Verwandte“ oder „Andere Verwandte“ subsumiert, ohne dass die Möglichkeit von spezifischen Analysen besteht. Dass der erweiterte Familienkreis ohne Differenzierung in diese Residualkategorie aufgenommen wird, entspricht dem gegenwärtigen Status und Stellenwert in der Familiensoziologie. Es fehlen darüber hinaus Basisinformationen über die Sozialstruktur verwandtschaftlicher Netzwerke in Deutschland, denn auch die amtliche Statistik gibt aufgrund ihrer 435
Weitere offene Fragen werden von Sabean (1990: 134) formuliert: „Wir wissen nicht mehr über den Rest des Verwandtschaftsnetzwerkes; vollzieht sich der Bruch zwischen verwandten Familien auf dieser Ebene der entfernteren Verwandtschaft, wenn die Konflikte bezüglich des Status, der Ideologie und der Kultur zu groß sind oder diese Beziehungen nicht mehr emotional getönt sind? Werden auch die Beziehungen zu Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen aufrechterhalten, die man in den Ferien trifft und mit denen man eine Identifikation teilt? Uns fehlen die entsprechenden Untersuchungen, um auf diese Fragen eine Antwort geben zu können.“
206
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
Haushaltszentrierung hierüber keine Auskunft (vgl. Schütze, Wagner 1998: 12, vgl. auch Galler 1990: 64). Alternative Informationen liefert jedoch der Alterssurvey (Kohli, Künemund 2000), der die Existenz der objektiven Verwandtschaft der über 40-jährigen deutschen Bevölkerung erfasst.436 Auch im Rahmen der Netzwerkforschung werden nur spezifische soziale Beziehungen erfasst, die jeweils durch den verwendeten Namensgenerator vorgegeben werden. So wird, je nach Art des Namensgenerators, eine Teilmenge der subjektiven Verwandtschaft erhoben, zu denen affektive Beziehungen bestehen (Marsden 1987; Pappi, Melbeck 1988; Moore 1990) oder konkrete Beziehungen erfasst, die sich durch emotionale und instrumentelle Unterstützung sowie Geselligkeit auszeichnen (Fischer 1982a). Wieder andere Namensgeneratoren erfassen mit Hilfe von hypothetischen Fragen das potentielle Unterstützungsnetzwerk (van der Poel 1993; Bruckner u.a. 1993).437 Eine Vergleichbarkeit der Ergebnisse unterschiedlicher Netzwerkstudien wird erschwert, da entweder die tatsächliche oder die erwartbare Unterstützung gemessen wird (vgl. Wagner 2002: 232). Zudem differenzieren Netzwerkstudien nicht zwischen unterschiedlichen Verwandtentypen und geben keine Auskunft über den Anteil von entfernten Verwandten. Die Stellung von Verwandtschaft innerhalb des sozialen Netzwerkes ist ebenfalls uneindeutig, denn es wird zwischen den Kategorien „Freundschaft“ und „Verwandte“ differenziert. Damit bleibt unberücksichtigt, dass der Kontext „Verwandtschaft“ auch Freundschaften produzieren kann und sich beide Rollen überschneiden können (Multiplexität) (vgl. Schenk 1984: 223).438 Kaum oder nur in Ansätzen wird die emotionale Beziehung zu entfernten Verwandten diskutiert (vgl. Rosenbaum 1998: 31). Als Grund hierfür führt Rosenbaum (1998: 31) an, dass dieses Beziehungsmerkmal von Verwandtschaft historisch gesehen, keine Rolle gespielt hat. Zum anderen wird die emotionale Beziehung vor allem in der Eltern-KindBeziehung untersucht. Dabei sollte ein Vergleich der affektiven Beziehungen zwischen Kernfamilie und Verwandtschaft im Sinne einer Rangfolge von Verwandtschaftsbeziehungen (vgl. insbesondere Hoyt, Babchuk 1983; Neyer, Lang 2003a) von einer anderen Sichtweise abgelöst werden. Die Feststellung, dass zu Partner/-innen, Eltern und Kindern die intensivsten emotionalen und instrumentellen Beziehungen bestehen, stellt kein Erkenntnisgewinn in einer differenzierten Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen dar. Ein Vergleich dieser Personengruppen hinsichtlich emotionaler Bindung und Kontakthäufigkeit erscheint nicht sinnvoll, da Partner/-innen, Eltern und Kinder, von einzelnen Ausnahmen natürlich abgesehen, die zentralen persönlichen Beziehungen und emotionalen Foki von ego sind und sozusagen „außer Konkurrenz“ stehen. Es stellt sich doch vielmehr die Frage, zu wem und aus welchen Gründen eine Beziehung zu einer entfernt verwandten Person besteht und aufrechterhalten wird. Welche weiteren Gründe werden für die Vernachlässigung der Verwandtschaft in der Soziologie genannt? Rosenbaum (1998: 29) vermutet den Grund für „den auffälligen Mangel an Forschungen auf diesem Gebiet“ in der Schwierigkeit, Generelles über Verwandtschaft festzustellen, da ihre Bedeutung und Interaktionen mit dem Lebenszyklus variieren. Lüschen (1988: 145) spricht von „Ideologien“, die den „Glauben, daß Verwandtschaft überflüssig sei“ gefestigt hätten und vor allem auf die strukturfunktionalistische Theorie zu436 437 438
Vgl. auch Galler (1990), der Daten des ISSP 1986 auswertet. Vgl. hierzu auch Wolf (2004). Die Multiplexität von Verwandtschaftsbeziehungen führt nach Irving zu einer „verwirrenden Position“ von Verwandtschaftsbeziehungen in einem Netzwerk, da zumeist die Anteile von Verwandten und Freundinnen bzw. Freunden miteinander verglichen werden (vgl. Irving 1977: 868).
3.3 Forschungsdefizite
207
rückzuführen sind (Durkheim, Parsons). Soziologie versteht sich als „Wissenschaft der Moderne“ – eine Auffassung, die dazu geführt hat, dass sie Charakteristiken von vormodernen Gesellschaften (z.B. Religion, Verwandtschaft) lediglich eine geringe wissenschaftliche Beachtung schenkt (vgl. Rosenbaum 1998: 29). Auch Segalen (1990: 135) nennt ideologische und damit auch politisch verankerte Gründe für die Vernachlässigung und Verneinung von verwandtschaftlichen Beziehungen. So ist es beispielsweise unmöglich, Gruppen von Verwandten zu besteuern oder die Einwohnerzahl über diffuse Verwandtschaftsnetzwerke zu erfassen. Aus politischer Sicht benötigt der Staat somit den Kernfamilienhaushalt innerhalb des Verwandtschaftsnetzwerkes. So werden zwar in Presse und Fernsehen das Bild und die Ideologie der Kernfamilie verbreitet, im Alltag jedoch werden die verwandtschaftlichen Beziehungen anerkannt und gelebt (vgl. Segalen 1990: 135). Insbesondere der unterstellte Bedeutungsverlust von Verwandtschaft, der auf Parsons und Durkheim zurückführt (Kapitel 2.3), wird nach Rosenbaum (1998) für das soziologische Desinteresse verantwortlich gemacht. Die zentrale Frage lautet demnach: Existiert dieser so oft postulierte Bedeutungsverlust der entfernten Verwandten? „Verhält es sich tatsächlich so, daß aus der Perspektive Egos die Beziehungen zu Onkeln, Tanten, Cousins, Cousinen, Neffen und Nichten, Schwägern und Schwägerinnen usw. eine so geringe Bedeutung haben, daß es gerechtfertigt ist, wenn sich die Familienforschung der ‚Verwandten’ nicht annimmt? Wenn verwandtschaftliche Regeln auch in modernen Gesellschaften ein wichtiger Bestandteil der sozialen Ordnung sein sollten, dann hätte dies erhebliche Folgen für das Bild von der Familie, das inner- und außerhalb der Wissenschaft vorherrscht“ (Schütze, Wagner 1998: 13).
Nach Aufarbeitung des amerikanischen und deutschen Forschungsstandes (Kapitel 3.2) muss diese Annahme, die seit nunmehr 60 Jahren die Familiensoziologie dominiert, entschieden abgelehnt werden. Insbesondere für Deutschland muss konstatiert werden, dass der Bedeutungsverlust zwar immer unterstellt wird, es jedoch keine empirischen Belege für diese zentrale Annahme der Familiensoziologie gibt. Es fehlen Ergebnisse von repräsentativen Studien, die die Einstellung gegenüber Verwandtschaft und das Vorhandensein von Kontakten mit entfernten Verwandten im Zeitverlauf analysieren.439 Der gesellschaftliche Wandel von Verwandtschaftsbeziehungen bedeutet keineswegs, dass Verwandtschaft generell unwichtig geworden ist. Zudem bedeutet ein instrumenteller Funktionsverlust in der modernen Gesellschaft auch nicht automatisch einen Verlust der emotionalen Bindung. Darüber hinaus wird sogar ein Bedeutungszuwachs von Verwandtschaft postuliert. Der Familiensoziologe F. X. Kaufmann kommt in einer neueren Publikation (Strohmeier, Schultz 2005) zur folgenden Einschätzung über die zukünftige Bedeutung von Verwandtschaftsbeziehungen: „Verwandtschaft als bewusst akzeptierter Moment der Bindung und Milieubildung wird einen erneuten Bedeutungsgewinn erhalten. Auch Wahlverwandtschaften werden an Bedeutung gewinnen“ (Strohmeier, Schultz 2005: 161).440 439 440
Vgl. hierzu auch Kapitel 5.2.3. Wahlverwandtschaften (im Sinne nichtbiologischer Beziehungen) hingegen erfahren nach der Prognose des Soziologen M. Diewald einen Bedeutungszuwachs gegenüber leiblicher Verwandtschaft. Dies hat keine negativen Auswirkungen auf die Qualität von Familienbeziehungen, deren exklusive Bedeutung sich jedoch relativiert (vgl. Strohmeier, Schultz 2005: 153).
208
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
Neben der generellen Frage nach der Bedeutung verwandtschaftlicher Beziehungen in der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Gesellschaft, muss ein weiteres zentrales Forschungsdefizit angeführt werden. Bei zunehmender Freiwilligkeit und Selektivität und nur geringem Verpflichtungscharakter von entfernten Verwandtschaftsbeziehungen (Rossi, Rossi 1990), bleibt die Frage unbeantwortet, warum Verwandte gewählt werden. Lee (1980: 931) stellt in seinem „review“ amerikanischer Verwandtschaftsstudien der 1970er Jahre fest, dass der Prozess der Erklärung der unterschiedlichen Interaktionen mit Verwandten erst begonnen hat. Gerade die Komplexität und Diversität der Einflussgrößen machen weitere Untersuchungen nötig (vgl. Lee 1980: 931). „These changes do not mean that kinship is becoming unimportant, but rather that it is important in different ways than was true in the past. The process of explaining how and why individuals associate with kin, and how kin relationships affect individuals and families has really just begun. Given the diversity and complexity of the issues involved, it should keep us busy for quite a while“ (Lee 1980: 931).
Aus heutiger Sicht kann über keine entscheidende Verbesserung der theoretischen und empirischen Arbeiten berichtet werden. Sicherlich gibt es im Bereich von Generationenbeziehungen theoretische Ansätze und repräsentative Studien, Verwandtschaftsbeziehungen außerhalb der Eltern-Kind-Beziehungen sind jedoch nach wie vor ein vernachlässigtes soziologisches Thema. Im Besonderen soll das Theoriedefizit der Studien hervorgehoben werden, denn dem größten Teil der bisherigen empirischen Studien, die in den vorangegangenen Kapiteln dargestellt wurden, liegen keinerlei theoretische Annahmen und explizit formulierte Forschungshypothesen zugrunde. Die Wichtigkeit von Theorien innerhalb der Familiensoziologie soll an dieser Stelle mit Hilfe von König (1976: 20) verdeutlicht werden: „Es gibt auch in der Familiensoziologie keine Empirie ohne Theorie, d.h. mit anderen Worten, daß etwa eine bloße ‚Inventarisierung’ von Phänomenen (…) sachlich ohne jede Bedeutung ist, sofern sie nicht nach bestimmten Begriffen aufgestellt ist“ [Hervorhebung im Original].
Die bisherigen theoretischen Ansätze werden im Folgenden zusammenfassend und kritisch diskutiert. Die heuristischen Ansätze von Firth (1956a) und Bott (1971), die in Kapitel 3.1.1 ausführlich dargestellt wurden, sind in diesem Zusammenhang nicht als theoretische Modelle zu bezeichnen. Charakteristisch ist ihr überwiegend explorativer Charakter. Sie zeigen ausführlich potentielle Determinanten auf, die die Beziehungen zur entfernten Verwandtschaft beeinflussen können. Die von ihnen genannten Einflussgrößen des Verwandtschaftshandelns werden jedoch nicht systematisch in einer Theorie erfasst, ihre Wirkungsrichtungen weder explizit genannt noch darüber hinaus empirisch überprüft. Auch Lüschens (1989) „Sachbezug als Paradigma der Verwandtschaftsanalyse“ (Kapitel 2.4) hat deskriptiven Charakter. Es zeigt Forschungsprobleme auf und entwickelt Vorschläge zu einer komplexen Analyse des Verwandtschaftssystems in der modernen Gesellschaft, liefert aber keine Erklärung für die Existenz von subjektiven Verwandtschaftsbeziehungen. Die Soziobiologie erklärt Altruismus und Solidarität in verwandtschaftlichen Beziehungen auf der Grundlage von gemeinsamen Genen, die handlungsentscheidend sind und dort als „stabile Verhaltensdispositionen“ (Kopp 1992: 446) betrachtet werden (vgl. Kapitel 1.4). In diesem Zusammenhang soll die Position von Barash (1980: 277) angeführt werden, der in seinen Ausführungen Bezug auf die Möglichkeit von soziobiologischen Erkenntnissen für die Sozialwissenschaften nimmt. Diese Position wird im Folgenden unterstützt.
3.3 Forschungsdefizite
209
Barash weist zum einen auf die Tatsache hin, dass es ein biologisches Substrat für das menschliche Verhalten gibt, d.h. man kann „gewisse grundlegende Gegebenheiten im menschlichen Verhaltensrepertoire identifizieren.“ Diese Tatsache ist jedoch nicht damit gleichzusetzen „für die Erklärung dieser Gegebenheiten die Evolutionstheorie heranzuziehen und sogar noch weiter zu gehen und andere Tendenzen vorauszusagen, die vielleicht noch nicht identifiziert worden sind“ (Barash 1980: 277). Es kann somit ein genetischer Einfluss auf das menschliche Verhalten unterstellt werden – diese Beziehung ist allerdings nicht deterministisch und meist rudimentär. In Bezug auf Verwandtschaftsbeziehungen gibt es keine deterministische „Vorprogrammierung menschlichen Sozialverhaltens“ (Vowinckel 1991: 523), die Verwandtschaftshandeln monokausal erklären kann und damit auch keine direkte genetische Steuerung des Handelns (vgl. Voland, Paul 1998: 47).441 Das Verwandtschaftsverhältnis kann eher, im Sinne einer Opportunitätenstruktur, eine „primäre, genprogrammierte Bindungsbereitschaft“ (Vowinckel 1991: 537) implizieren. Wobei diese Tatsache vor allem für die matrilineare Verwandtschaft theoretisch vermutet und empirisch nachgewiesen wird (vgl. dazu Kapitel 1.4 und Kapitel 3.2.2.4.3). Eine wichtige Erweiterung dieser Sichtweise liefern Voland, Paul (1998: 55), indem sie auf ökologischökonomische, demographische und andere Gründe hinweisen, die sich auf einen unterschiedlichen Stellenwert der Verwandtschaft auswirken können. „Je nachdem welche Opportunitätenstrukturen das ‚egoistische Gen’ vorfindet, mag es Kontexte geben – etwa in modernen Industriegesellschaften –, in denen sich Kooperation mit NichtVerwandten mehr lohnt als Nepotismus. Unter solchen Bedingungen mag die Verwandtschaft hin und wieder auf Unterschwelligkeit reduziert erscheinen, ganz vergessen ist sie aber sicherlich nicht. Es bedarf nicht viel – so die soziobiologische Prognose –, um die Idee der Familienbande jederzeit mit viel Bedeutungsgehalt zu versehen. Demgegenüber bedarf es aber wesentlich mehr, wenn Menschen sich indiskriminativ – ganz ohne Ansehen ihrer Verwandtschaft – verhalten sollen“ (Voland, Paul 1998: 55).
Die Soziobiologie kann somit nicht erklären, warum bestimmte Verwandte als Interaktionspartner/-innen gewählt werden, zu anderen jedoch keine persönliche Beziehung besteht. Sie weist jedoch auf eine generelle Präferenz aufgrund des gemeinsamen blutsverwandtschaftlichen Abstammungsverhältnisses von Verwandten als Bezugspersonen hin. Zudem widerspricht die Soziobiologie der Vorstellung eines Bedeutungsverlustes von Verwandtschaftsbeziehungen (vgl. Voland, Paul 1998: 55). Die Erkenntnisse der Soziobiologie tragen jedoch zur Erklärung aktuellen familialen Verhaltens sehr wenig bei (vgl. Hill, Kopp 2004: 94, vgl. auch Kopp 1992). Die Ansätze der Austauschtheorie und Rational-Choice-Theorie finden Anwendung auf die Erklärung von Generationenbeziehungen. Die einzelnen Ansätze, die in einem Exkurs (Kapitel 3.1.3) dargestellt wurden, sind primär durch detaillierte Beschreibungen der intergenerationalen Beziehungen anhand unterschiedlicher Solidaritätsdimensionen gekennzeichnet. Sie basieren zu Teilen auf austauschtheoretischen Annahmen, die jedoch nicht systematisch in einem theoretischen Modell erfasst werden. 441
„Damit der mögliche reproduktive Vorteil des Verwandtschaftsaltruismus realisiert werden kann, muss es im Seelenhaushalt der handelnden Individuen Planstellen für Verwandte geben, möglichst gestaffelt nach dem Grad der Verwandtschaft – verbunden mit der Motivation, den Inhabern der Planstellen uneigennützige Hilfe zuzuwenden. (…). Einen experimentell (…) demonstrierbaren Mechanismus gibt es bei Menschen nicht“ (Vowinckel 1991: 525).
210
3 Theoretische Erklärungen und empirische Korrelate verwandtschaftlichen Handelns
Die Erklärungen der Netzwerkstudien konzentrieren sich vor allem auf die soziodemographischen Korrelate des Anteils von Verwandten im persönlichen Netzwerk. Es wird auf austauschtheoretische Konstrukte wie Opportunitäten, Handlungschancen, Restriktionen und Zwänge (implizit) verwiesen, um beispielsweise den unterschiedlichen Anteil von Verwandten in den persönlichen Netzwerken zu erklären. Diese handlungstheoretischen Konstrukte werden jedoch nicht explizit benannt, Hypothesen über den Wirkungszusammenhang werden nicht formuliert und empirisch überprüft. Auf einen sehr wichtigen Aspekt weist in diesem Zusammenhang Kopp (1994) hin, der zum Teil charakteristisch für die hier vorgestellten Modelle ist: die „ex-post-Interpretationen“ (Kopp 1994: 88). Austauschtheoretische Konstrukte, wie die Berücksichtigung von Kosten und Nutzen sozialer Beziehungen, werden im Nachhinein als Erklärungen angeführt. Folgende Konsequenzen für die soziologische Analyse treten dabei auf: „Durch die nachträgliche Anwendung handlungstheoretischer Konstrukte auf die empirischen Ergebnisse (…) wird der theoretische Ansatz de facto immunisiert. Die Theorie besitzt dann keine Möglichkeit, falsch zu sein. Sie verliert somit jeglichen Erklärungsgehalt. Es erscheint deshalb angemessen, die theoretische Fundierung von Anfang an klar zu machen, denn nur so ist ein kritischer Test der gesamten Überlegung überhaupt erst möglich“ (Kopp 1994: 40).
Einen wichtigen Beitrag für die Erklärung der Beziehungen zur entfernten Verwandtschaft liefert van der Poel (1993). Hier werden zum ersten Mal vier konkrete Hypothesen zur Erklärung der Inklusion von „anderen Verwandten“ ins persönliche Netzwerk aufgestellt. Kritisch anzumerken ist jedoch, dass dieses Modell lediglich vier Determinanten zur Erklärung der Wahl von entfernten Verwandten berücksichtigt und somit der Komplexität von verwandtschaftlichen Beziehungen nicht entsprochen wird. Die Erklärung von verwandtschaftlichem Handeln erfordert die Aufnahme von weiteren Determinanten in ein allgemeines Modell. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass in der gegenwärtigen und vergangenen Forschung kein Modell existiert, das erklärt, aus welchen Gründen Individuen ihre verwandtschaftlichen Kontakte und Beziehungen über die Kernfamilie hinaus strukturieren.
Einleitung
211
4 Ein Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten
Eine soziologische Analyse von Verwandtschaft impliziert die Trennung zwischen objektiver und subjektiver Verwandtschaft, die kennzeichnend für die moderne Gesellschaft ist. Unter den Bedingungen der Moderne wird Verwandtschaft, wie alle anderen Sozialbeziehungen auch, wählbar, freiwillig und abhängig von den Entscheidungen der Individuen. Beziehungen zur Verwandtschaft sind nicht mehr entsprechend eines „Naturgesetzes“ vorgegeben, da Notwendigkeiten, die sich in ökonomischen und normativen Zwängen manifestieren, in modernen Gesellschaften nur noch in geringem Maße existieren und Individuen, entbunden von strukturellen und normativen Zwängen, ihre Sozialbeziehungen wählen können. Die „Pluralisierung von Optionen“ (Schimank, Vollman 1999: 20) in der modernen Gesellschaft hat zur Konsequenz, dass die ehemals verpflichtenden Beziehungen zu freiwilligen Bindungen umdefiniert werden. Kennzeichen der gelebten sozialen Beziehungen innerhalb eines modernen Verwandtschaftsnetzwerkes sind positive Gefühle, Zuneigung und ein freiwilliger reziproker Austausch. Dies sind Merkmale, die eine subjektive Verwandtschaftsbeziehung mit Freundschaften teilt (vgl. Johnson 2000a: 143). „Choice, after all, can be exercised in selecting kin who serve as intimates and as confidants. Ties so cultivated have much in common with relationships that are typically categorized as friendships” (Hoyt, Babchuk 1983: 86; Eigene Hervorhebung).
Das Prinzip der Wahl als konstituierendes Element moderner Verwandtschaftsbeziehungen wird zwar vereinzelt in empirischen Studien angesprochen (insbesondere Firth 1956a; Bott 1971; Hubert 1965; Klatzky 1971; Turner 1969; Allan 1977; Fischer 1982a; Hoyt, Babchuk 1983; Johnson 2000a,b442) und in früheren familiensoziologischen Abhandlungen direkt (Mayntz 1955; König 1974a, 1976) und indirekt benannt, beispielsweise in der Charakterisierung von Verwandten als „ascriptive friends“ (Goode 1963: 76), es wird jedoch nicht weiter vertieft. Hoyt, Babchuk (1983) weisen auf die falsche Sichtweise der bisherigen Forschungsarbeiten hin: Die Thematisierung von Verwandtschaft ist zu sehr auf die zugeschriebenen und verpflichtenden Aspekte dieser Beziehung fokussiert. Von Seiten der Forschung wird zu wenig Aufmerksamkeit auf den Grad der Wahl gelegt, der entscheidend für Quantität und Qualität von verwandtschaftlichen Bindungen ist – dieser Prozess der Wahl ist noch nicht genauer analysiert worden (vgl. Hoyt, Babchuk 1983: 86).
442
Johnson (2000b: 629) nennt drei Typen von Verwandtschaftsorganisationen, wobei die dritte Organisation Merkmale des subjektiven Verwandtschaftssystems trägt: 1) „linear generational bonds“ (Dominanz der Eltern-Kind-Beziehung, wie sie für „White-Americans“ charakteristisch ist), 2) „collateral bonds“ (die Betonung liegt hierbei auf der Geschwistersolidarität, charakteristisch für „Black-Americans“) und 3) „opportune extended families“ (individuelle, egozentrierte Betonung, persönliche Präferenzen als entscheidendes Charakteristikum).
212
4 Ein Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten
„Only certain kin, from a larger pool of all available kin, are likely to be viewed as close. Even fewer will be identified as confidants. Not much is known about the process by which these choices are made” (Hoyt, Bachuk 1983: 86; Eigene Hervorhebung).
Dementsprechend stellt sich die Frage nach den Ursachen der Handlungsentscheidungen der Individuen. Wenn Verwandte zwar biologisch vorgegeben, jedoch aus soziologischer Perspektive wählbar sind und die objektive Verwandtschaft nur ein potentielles Interaktionsfeld ist, dann stellt sich die Frage nach den Determinanten der Wahl von Verwandten. In der bisherigen Literatur wird vor einer Behebung dieses Forschungsdefizits kapituliert und sich mit dem Hinweis auf die Komplexität (insbesondere Firth, Djamour 1956; Turner 1969) dieses Phänomens abgefunden.443 Es existiert somit kein handlungstheoretisches Modell, das die Determinanten der Wahl von Verwandten umfassend bestimmt. In der modernen Gesellschaft hat das Individuum die Freiheit Sozialpartner/-innen auszuwählen, das gilt für intime Liebesbeziehungen aber auch für Beziehungen zu Familienmitgliedern außerhalb der Kernfamilie. Litwak, Kulis (1987) weisen allgemein auf die Bedeutung des zugrunde liegenden Verwandtschaftsmodells für die angewandten Methoden und Operationalisierungen von Verwandtschaftsbindungen hin. Unterstellt man an dieser Stelle das Konzept der subjektiven Verwandtschaft, das verwandtschaftliches Handeln als Wahlhandeln begreift – in Abgrenzung zur traditionalen Verwandtschaftsstruktur, dem Modell der isolierten Kernfamilie (Parsons 1943) und die Erweiterung in Form der „modified extended family“ (Litwak 1960a,b) – legt es die Verwendung von Entscheidungstheorien nahe, die bereits in anderen Bereichen familiensoziologischer Forschung zur Erklärung familialen und partnerschaftlichen Handelns Anwendung finden. 4.1 Handlungstheoretische Grundlagen In den folgenden Kapiteln werden die Austauschtheorie (Kapitel 4.1.1) und die Theorie der rationalen Wahlhandlung (Kapitel 4.1.2) skizziert. Sie verdeutlichen die allgemeinen Determinanten menschlichen Handelns. Im Vordergrund steht die Frage nach den theoretischen Grundlagen der Entstehung von sozialen Beziehungen. Ziel ist die Übertragung und Modifizierung der theoretischen Überlegungen auf die Erklärung der Wahl von Verwandten. 4.1.1 Austauschtheorie Die Austauschtheorie gehört zu den zentralen Theorien innerhalb der Familiensoziologie, auf deren Grundlage wichtige theoretische Modelle und empirische Befunde für unterschiedliche familiale Phänomene zu konstatieren sind.444 Die klassische mikrosoziologische
443
444
Vgl. in diesem Zusammenhang auch Kaiser (1993: 166), der die Defizite in Bezug auf Theoriebildung und Forschungsstand auf diese Komplexität zurückführt: „Familiale Beziehungen spielen sich also in komplexen Zusammenhängen ab, in die sie verwoben sind. Diese Komplexität trotzt jedoch häufig sozialwissenschaftlichen Methoden.“ Ein erfolgreicher theoretischer und empirischer Anwendungsbereich der Austauschtheorie ist die Erklärung ehelicher Stabilität bzw. Instabilität. Vgl. hierzu die Modelle von Lewis, Spanier (1979, 1982) und Levinger (1976). Die Ehe kann als Spezialfall dyadischer Beziehungen angesehen werden, die sich jedoch u.a. durch
4.1 Handlungstheoretische Grundlagen
213
Austauschtheorie wurde erstmals in den 1950er und 1960er Jahren in den USA formuliert. Vertreter sind vor allem Blau (1964), Homans (1968) und Thibaut, Kelley (1959).445 Eine Übertragung der theoretischen Überlegungen auf Familien erfolgt von Nye (1979).446 Ausgangspunkt der Theorie ist, dass persönliche Beziehungen bzw. Interaktionen grundsätzlich selektiv sind.447 Die Selektivität bezieht sich auf die Personen sowie auf die Inhalte der Interaktion und hat zur Konsequenz, dass zufriedenstellende Beziehungen eher aufrechterhalten werden als unbefriedigende (vgl. Thibaut, Kelley 1959: 12). Familie, Bekanntschaften und Freundschaften sind kleine überschaubare Interaktionszusammenhänge und stellen soziale Kooperationszusammenhänge im weitesten Sinne dar. Menschen bringen durch ihre Interaktionen etwas hervor, aus dem die Beteiligten einen persönlichen Nutzen ziehen, den sie anderweitig nicht so hätten erzielen können. Die Interaktionen sind somit als häufig anzutreffende und relativ dauerhafte Beziehungen von wechselseitigen Abhängigkeiten zu klassifizieren (vgl. Bohnen 2000: 120).448 Die zentralen Konstrukte der Austauschtheorie sind Belohnungen und Kosten, die infolge von Interaktionen entstehen können und auf deren Grundlage das Ergebnis einer Interaktion basiert. Die Austauschtheorie unterstellt somit einen subjektiv rational handelnden Menschen (vgl. Homans 1968: 67ff.). „By rewards, we refer to the pleasures, satisfaction, and gratifications the person enjoys. (…). By costs, we refer to any factors that operate to inhibit or deter the performance of a sequence of behavior. Thus cost is high when great physical or mental effort is required, when embarrassment or anxiety accompany the action, or when there are conflicting forces (…)” (Thibaut, Kelley 1959: 12f.).
Man kann auch formulieren: „Gewinn = Belohnungen - Kosten“ (vgl. Homans 1968: 83). Der Austausch von Belohnungen führt zu Beziehungsstabilität und Interaktionsverdichtung (vgl. Homans 1968: 49). Zu den wichtigsten Belohnungen werden Gefühle der sozialen Anerkennung gezählt, denn „man kann viele menschliche Aktivitäten hervorrufen, indem man soziale Anerkennung und ähnliche Gefühle als Gegenleistung zum Tausch anbietet“ (Homans 1968: 30). Die unterschiedlichsten subjektiven familialen Bedürfnisse (wie Zuneigung, Geborgenheit, Unterstützung, finanzielle Sicherheit u.a.) können auf die grundlegenden menschlichen Grundbedürfnisse psychisches Wohlbefinden und soziale Wertschätzung449 zurückgeführt werden (vgl. Hill, Kopp 2004: 125). In Bezug auf Freundschaften differenzieren Thibaut, Kelley (1959: 49) unterschiedliche Belohnungen und Kosten, die
445
446 447
448
449
ihre rechtliche Institutionalisierung und ihre intime affektive Gefühlsbeziehung von anderen Beziehungen unterscheidet. Vgl. auch Foa, Foa (1980). Die Ressourcentheorie erfasst die zum Austausch stehenden Ressourcenklassen Liebe, Status, Informationen, Geld, Güter und Dienstleistungen. Vgl. auch die Zusammenfassung von Nauck (1989). Eine Interaktion ist bei Homans (1960: 60) folgendermaßen definiert: „Wenn wir auf die Tatsachen hinweisen, daß eine bestimmte Einheit eines Menschen der bestimmten Einheit der Aktivität eines anderen folgt oder, falls wir den Ausdruck vorziehen, von dieser angeregt wird, und zwar unabhängig von der Frage, aus was diese Einheiten bestehen, so beziehen wir uns auf eine Interaktion“ [Hervorhebung im Original]. Generell differenziert man zwischen einem sozialen und ökonomischen Tausch. Im Gegensatz zum ökonomischen Tausch, der bindende Verträge zwischen Interaktionspartner/-innen beinhaltet, sind die Verpflichtungen im Rahmen eines sozialen Tauschs diffus, unspezifiziert und werden nicht in Form einer direkten Gegenleistung ausgetauscht. Dagegen wird Vertrauen und eine persönliche Verpflichtung zur Erfüllung einer Gegenleistung impliziert, die wiederum nicht mit einem exakten Gegenwert definiert ist (vgl. Blau 1964: 93ff.). Soziale Wertschätzung setzt sich dabei aus drei Komponenten zusammen: Status, Affekt und Bestätigung (vgl. Lindenberg 1984: 169). Vgl. auch Wippler (1990).
214
4 Ein Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten
darüber hinaus auch für Verwandtschaftsbeziehungen gelten können. Es werden folgende Quellen von Belohnungen genannt, die Einfluss auf die Wahl einer persönlichen Beziehung haben: Belohnungen aufgrund von Ähnlichkeiten oder Unterschieden bzw. komplementären Bedürfnissen der Individuen (vgl. Thibaut, Kelley 1959: 33ff.).450 Zu den externen Kosten einer sozialen Beziehung zählen Thibaut, Kelley (1959: 39) insbesondere die geographische Distanz. Je geringer die physische Distanz zwischen den Individuen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit für soziale Kontakte.451 Eine weitere Kostenart stellen die Opportunitätskosten dar, die von Thibaut, Kelley (1959: 51) „response interference“ bezeichnet werden.452 Sie entstehen, da man bei der Wahl einer Handlung auf Alternativen verzichten muss. Die Kosten bestehen somit aus dem Wert der Belohnung, der mit einer alternativen Aktivität erhältlich ist, auf die jedoch zugunsten einer anderen Aktivität verzichtet wurde (vgl. Homans 1968: 51). Homans weist darüber hinaus auf einen zentralen Aspekt zur Erklärung der Stabilität menschlicher Beziehungen hin. Es werden Beziehungen nicht nur aufgrund von Belohnungen (oder Sympathie) aufrechterhalten, sondern sie können auch einen zwingenden Charakter haben. Beziehungen werden allgemein dann aufrechterhalten, wenn die mit der Beendigung der Beziehungen verbundenen Kosten und die Kosten der Umgebung zu hoch sind (vgl. Homans 1968: 158). Normen sind gesellschaftliche Erwartungen und ein zentrales soziologisches Konstrukt zur Erklärung menschlichen Handelns, deren Einfluss auch im Kontext von Verwandtschaftsbeziehungen diskutiert wird (z.B. Rossi, Rossi 1990). Normen „fixieren“ das Handeln und stellen sowohl eine „Richtschnur“ für das eigene Verhalten als auch für das anderer Personen dar (vgl. Homans 1968: 98).453 Dabei wird die Hypothese aufgestellt, dass sich eine Person „um so wahrscheinlicher konform verhält, je herzlicher die Anerkennung ist, die er als Gegenleistung erwarten kann“ (Homans 1968: 99). So erklären nicht Normen an sich individuelles Handeln, sondern die mit dem entsprechenden Verhalten verbundenen Belohnungen und Kosten. Normen entfalten ihre Wirkung nur über menschliches Handeln (vgl. Hill, Kopp 2004: 132). Bei der Erklärung von Sozialbeziehungen muss man ebenfalls die sozialen Gegebenheiten betrachten, in die das Verhalten eingebettet ist (vgl. Homans 1968: 173). Es wird zwischen drei Kategorien differenziert, die speziell bei der Entstehung von Freundschaften zu berücksichtigen sind. Im Einzelnen sind dies (vgl. Homans 1968: 175): 1. 2. 3.
450 451
452
453
Merkmale der physischen oder funktionellen Nähe von Mensch zu Mensch, die sozialen Verkehr wahrscheinlicher machen Merkmale der Vergangenheit oder des Milieus von Menschen, die auf den Besitz ähnlicher Werte schließen lassen Merkmale der Positionen, die Menschen außerhalb der betreffenden Gruppe einnehmen
Dieser Annahme liegt die Theorie der komplementären Bedürfnisse zugrunde (vgl. Thibaut, Kelley 1959: 45). Blau (1964) differenziert zwischen sechs Arten von Belohnungen: „personal attraction“, „social approval“, „respect-prestige“, „social acceptance“, „instrumental services“, „compliance-power“. Zu den Kosten werden Investitionskosten, direkte Kosten und Opportunitätskosten gezählt (vgl. Blau 1964: 100f.). „A person often cannot do two things at the same time and do them efficiently and well. This is the phenomenon referred to as response interference, by which is meant that the performance of one response (…) may be incompatible with the performance of another” (Thibaut, Kelley 1959: 51; Hervorhebung im Original). In diesem Sinne definieren Normen die soziale Situation der Individuen. Der Gedanke wird im FramingModell von Esser (1996b) aufgenommen (vgl. dazu ausführlicher Kapitel 4.1.2).
4.1 Handlungstheoretische Grundlagen
215
Der erste Punkt bezieht sich primär auf die geographische Distanz zwischen Individuen. Die zentrale These in diesem Zusammenhang lautet: „Wir behaupten, daß die Geographie in erster Hinsicht die Quantität einer Aktivität beeinflußt, die von einer Person an eine andere gegeben wird. Je näher die Leute wohnen, desto mehr werden sie einander treffen und ein gewisses Quantum an Aktivität austauschen, auch wenn es noch so klein ist (…)“ (Homans 1968: 178). Kosten, die bei geographischer Distanz anfallen, sind beispielsweise (finanzielle) Aufwendungen oder Mühen (z.B. Zeit, Reisekosten, Kosten für Unterkunft) (vgl. Thibaut, Kelley 1959: 40). Die geographische Entfernung gilt als eine zentrale Determinante der Häufigkeit von Verwandtschaftskontakten (vgl. exemplarisch Klatzky 1971). Darüber hinaus gilt: Je häufiger zwei Personen interagieren, desto sympathischer finden sie sich (vgl. Homans 1968: 153). Der zweite Punkt bezieht sich auf die Ähnlichkeit von persönlichen Merkmalen, die die Wahrscheinlichkeit der Belohnungen und Sympathie für die andere Person erhöht (vgl. Homans 1968: 181). Wertehomogamie erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass eine Freundschaft entsteht (vgl. Homans 1968: 182): „Je ähnlicher die Werte zweier Personen sind, desto eher werden die beiden Personen einander sympathisch finden“ (Homans 1968: 182). In diesem Kontext muss zusätzlich der soziale Status berücksichtigt werden (Bildung, Alter, Schicht), denn je ähnlicher der Status, desto mehr gemeinsame Werte kann man voraussetzen (vgl. Homans 1968: 182). Thibaut, Kelley (1959) und Kelley, Thibaut (1978) spezifizieren dieses allgemeine austauschtheoretische Modell und führen zwei neue Konstrukte ein: das Vergleichsniveau („comparison level“, CL) und das Vergleichsniveau der Alternativen („comparison level of alternatives“, CLalt). Das Vergleichsniveau ist der Standard mit dem ein Individuum die Attraktivität seiner Beziehung bewertet und darüber entscheidet, ob ein Individuum die Beziehung aufrechterhält oder beendet (vgl. Thibaut, Kelley 1959: 21). Anfallende Kosten und Belohnungen der Beziehung werden mit Hilfe des Vergleichsniveaus (CL) bewertet, das den individuellen Erwartungen entspricht. „CL is a standard by which the person evaluates the rewards and costs of a given relationship in terms of what he feels he ‚deserves’. (…). The location of CL on the person´s scale of outcomes will be influenced by all the outcomes known to the member, either direct or symbolically” (Thibaut, Kelley 1959: 21).
Der „outcome“ einer Beziehung, der über dem CL liegt, wird als zufriedenstellend bewertet, der unterhalb des CL als unbefriedigend und unattraktiv (vgl. Thibaut, Kelley 1959: 21). Die zweite Bewertungsgrundlage ist das Vergleichsniveau der Alternativen (CLalt), „which can be defined informally as the lowest level of outcomes a member will accept in the light of available alternative opportunities” (Thibaut, Kelley 1959: 21). Sobald der „outcome” einer Beziehung unterhalb des CLalt liegt, wird die Beziehung beendet. Die Höhe von CLalt hängt hauptsächlich von der Qualität der besten zur Verfügung stehenden Alternative ab. Es besteht die Erwartung, dass die Kosten-Belohnungs-Position der Alternative höher ist als die der anderen Alternativen (vgl. Thibaut, Kelley 1959: 21f.). Als Beispiele für mögliche Alternativen zur Beziehung nennen Thibaut, Kelley (1959: 22) eine andere dyadische Beziehung oder das Alleinsein. Für den Fortbestand einer Beziehung ist somit nicht nur der Nettonutzen entscheidend, sondern die relative Stellung dieses Nettonutzens zu diesen zwei Vergleichsstandards (vgl. Mikula 1992: 70). Die zentrale Differenzierung der Interdependenztheorie ist „attraction“ und „dependence“. Dies bedeutet, dass ein Individuum von einer Beziehung abhängig sein kann, ohne dass er/sie zufrieden mit ihr
216
4 Ein Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten
ist. Eine mögliche Diskrepanz zwischen „attraction” und „dependence” wird mit Hilfe der Unterscheidung zwischen CL und CLalt verdeutlicht (vgl. Thibaut, Kelley 1959: 23). Festzuhalten sind folgende zentrale Annahmen der Austauschtheorie, die für die Analyse der Wahl von dyadischen und triadischen Beziehungen relevant sind (vgl. Nye 1979: 7):
Menschen sind rationale Wesen, sie verfügen nicht über vollständige Informationen und treffen die Wahl, die ihnen den höchsten Profit einbringt (hohe Belohnungen, geringe Kosten). Menschen agieren und reagieren, sie treffen Entscheidungen und initiieren Handlungen und sind weniger determiniert durch ihre Kultur und ihr Milieu. Um Belohnungen zu erhalten, müssen Kosten in Kauf genommen werden. Jedes Verhalten hat Kosten zur Voraussetzung (beispielsweise aufgebrachte Energie und Zeit). Soziales Verhalten wird nicht wiederholt, wenn es nicht in der Vergangenheit belohnt wurde.454 Wenn man sich zwischen ungünstigen Alternativen entscheiden muss, wird die Alternative mit den geringsten Kosten gewählt. Soziales Leben setzt Reziprozität voraus (Gouldner 1960). Individuen unterscheiden sich in der Bewertung spezifischer Beziehungen, Erfahrungen und Objekte. Zwar besteht ein Konsens darüber, was generell als Kosten und Belohnungen zu bezeichnen ist, dennoch nehmen diese eine individuelle Stellung in der Hierarchie der Werte von Individuen ein. Je mehr man etwas besitzt, umso weniger Wert haben zusätzliche Einheiten von diesem Gut (Prinzip des abnehmenden Grenznutzen)
Eine Übertragung der Austauschtheorie zur Erklärung familialen Handelns erfolgt von Nye (1979), der auf zentrale Unterschiede zwischen familialen Interaktionen und ökonomischen Austauschbeziehungen hinweist. Für Interaktionen in der Familie – im Vordergrund der Betrachtung stehen jedoch primär die Beziehungen zwischen Eltern und Kindern, von Partnerschaften und Ehen – gilt die Annahme einer generalisierten Reziprozität bzw. eines generalisierten Tauschs (vgl. Nye 1979: 10ff). Beziehungen sind langfristig angelegt und auf die Zukunft bezogen, eine Maximierung des Profits verteilt sich auf eine längere Zeitspanne, denn Belohnungen werden nicht direkt und unmittelbar erwidert und im gleichen 454
Homans (1968) hat hierzu insgesamt fünf Hypothesen aufgestellt, die er in Anlehnung an den Behaviorismus und die ökonomische Verhaltenstheorie formuliert. Aus dem Behaviorismus stammt die Vorstellung, dass Menschen durch ihre Lerngeschichte geprägt sind, insbesondere stehen die belohnenden und bestrafenden Resultate des vergangenen Verhaltens im Blickpunkt. Der ökonomischen Verhaltenstheorie ist die generelle Vorstellung eines ökonomischen Nutzenmaximierungsprinzips entnommen, das dem menschlichen Verhalten und Handeln unterliegt (vgl. Bohnen 2000: 94f.). Die Hypothesen lauten im Einzelnen: 1) „Wenn die Aktivität einer Person früher während einer bestimmten Reizsituation belohnt wurde, wird diese sich jener oder einer ähnlichen Aktivität um so wahrscheinlicher wieder zuwenden, je mehr die gegenwärtige Reizsituation der früheren gleicht“ (Homans 1968: 45). 2) „Je öfter eine Person innerhalb einer gewissen Zeitperiode die Aktivität einer anderen Person belohnt, desto öfter wird jene sich dieser Aktivität zuwenden“ (Homans 1968: 46). 3) „Je wertvoller für eine Person eine Aktivitätseinheit ist, die sie von einer anderen Person erhält, desto häufiger wird sie sich Aktivitäten zuwenden, die von der anderen Person mit dieser Aktivität belohnt werden“ (Homans 1968: 47). 4) „Je öfter eine Person in jüngster Vergangenheit von einer anderen Person eine belohnende Aktivität erhielt, desto geringer wird für sie der Wert jeder weiteren Einheit jener Aktivität sein“ (Homans 1968: 47). 5) „Je krasser das Gesetz der ausgleichenden Gerechtigkeit zum Nachteil einer Person verletzt wird, desto wahrscheinlicher wird sie das emotionale Verhalten an den Tag legen, das wir Ärger nennen“ (Homans 1968: 64).
4.1 Handlungstheoretische Grundlagen
217
Ausmaß durch eine Gegenleistung zurückgegeben (vgl. Nye 1979: 8ff.). In diesem Kontext differenzieren Clark, Mills (1979) und Mills, Clark (1982) zwischen zwei Arten von Sozialbeziehungen, denen jeweils andere Regeln unterliegen: a) Austauschbeziehungen („exchange relationships“), die für Geschäftsbeziehungen typisch sind und Gemeinschaftsbeziehungen („communal relationships“), die für Partnerschaften, Familienmitglieder und Freundschaften als langfristige Beziehungen charakteristisch sind (vgl. Mills, Clark 1982: 123). Austauschbeziehungen beinhalten eine direkte Verpflichtung zur Gegenleistung und Ausgewogenheit des Austauschs. In einer Gemeinschaftsbeziehung hingegen gelten Verantwortungsgefühle den anderen Personen gegenüber (vgl. Clark, Mills 1979: 12f.). Die Verpflichtung zur Hilfe hängt nicht von der Gegenleistung ab (vgl. Mills, Clark 1982: 123). Diese Aussagen korrespondieren mit dem Befund einer abnehmenden Bedeutung der Reziprozitätsregel mit zunehmendem Verwandtschaftsgrad, der in der Soziobiologie diskutiert wird (vgl. Neyer, Lang 2003a,b; Voland, Paul 1998). Charakteristisch für familiale Austauschbeziehungen sind darüber hinaus – im Vergleich zu Freundschaften – höhere Ausstiegskosten bei Beendigung der Beziehung (vgl. Nye 1979: 10). Einen anderen Ansatz verfolgt in diesem Zusammenhang Ben-Porath (1980), der vertragstheoretische Überlegungen auf Familie und Verwandtschaft überträgt. Diese sind durch implizite Verträge gekennzeichnet, die langfristig angelegt sind und Investitionen in Form von Identität erfordern (vgl. Ben-Porath 1980: 1). Verträge implizieren auch eine gewisse Freiwilligkeit der Beziehung, so dass auch hier ein Bezug zum Konzept der subjektiven Verwandtschaft besteht: „The transformation of the biological event into a social relationship (…) involves voluntary behavior of both parties (…)“ (Ben-Porath 1980: 3). Charakteristiken des Familienvertrags sind u.a. Langfristigkeit, eine Vielzahl von familialen/verwandtschaftlichen Aktivitäten und implizit geltende Verhaltensprinzipien und Rollenerwartungen. Zentrales Merkmal ist jedoch die kollektive Identität (vgl. Ben-Porath 1980: 3). „The most important characteristic of the family contract is that it is embedded in the identity of the partners, without which it loses its meaning” (Ben-Porath 1980: 3f.).
Wie lassen sich diese theoretischen Überlegungen auf das Explanandum der Wahl von Verwandten anwenden? Generell lässt sich festhalten, dass die Austauschtheorie für familiensoziologische Fragestellungen eine theoretisch fundierte Ausgangsbasis und vor allem ein empirisch prüfbares Erklärungsmodell bietet (vgl. Kopp 1994: 51, vgl. auch Hill, Kopp 2004: 274). Im Speziellen müssen die handlungstheoretischen Konstrukte Kosten (geographische Distanz, begrenzte Zeitressourcen), Alternativen (z.B. Freundschaften oder Beziehungen mit der Kernfamilie) und Belohnungen aufgrund der Ähnlichkeit von Werten/Einstellungen oder Homogenität sozialstruktureller Merkmale angeführt werden, die für die Erklärung verwandtschaftlichen Handelns von zentraler Bedeutung sind.455 Zudem können normative Verpflichtungen und religiöses Verhalten handlungstheoretisch rekonstruiert werden (Nye 1979). Zusätzlich muss jedoch die Langfristigkeit und damit die Inter-
455
Es wird darüber hinaus folgende allgemeine Hypothese formuliert, die die Wichtigkeit der Berücksichtigung von Kosten zur Erklärung von verwandtschaftlichen Hilfen hervorhebt: „When extended family members provide aid beyond the boundaries of their nuclear family, they will, when possible, do so in the form least costly to themselves“ (Nye 1979: 30).
218
4 Ein Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten
aktionsgeschichte der Verwandtschaftsbeziehung berücksichtigt werden (Nye 1979; Clark, Mills 1979; Mills, Clark 1982; Ben-Porath 1980).456 4.1.2
Theorie der rationalen Wahlhandlung
Die Austauschtheorie steht in enger Verbindung mit der Ökonomischen Theorie der Familie (Becker 1976, 1981). Beide können als Theorie der rationalen Wahl bezeichnet werden, die den handlungstheoretischen Kern der erklärenden Soziologie darstellt (Coleman 1991; Esser 1996a). Ausgangspunkt ist ein subjektiv rationaler Akteur, der bei gegebenen Präferenzen in sozial vorgegebenen Situationen seine Belohnungen maximiert (vgl. Hill, Kopp 2004: 125f.). Rationalität ist der übergreifende Grundzug menschlichen Handelns (vgl. Bohnen 2000: 111). Im Rahmen dieser allgemeinen Betrachtung müssen zwei Grundannahmen genauer erläutert werden: das zugrunde liegende anthropologische Menschenmodell (RREEMM-Modell) und die Explikation der Wahl aus verschiedenen Handlungsorientierungen mit Hilfe der SEU-Theorie („subjective expected utility“). Darüber hinaus wird die Erweiterung der Rational-Choice-Theorie durch die Konzepte habits und frames vorgenommen und die zentralen Überlegungen skizziert. Das RREEMM-Modell (Lindenberg 1985; Esser 1996a) beschreibt den Menschen als resourceful, restricted, evaluating, expecting, maximizing man. Zusammenfassend unterstellt das Modell, „daß der Akteur sich Handlungsmöglichkeiten, Opportunitäten bzw. Restriktionen ausgesetzt sieht; daß er aus Alternativen seine Selektionen vornehmen kann; daß er dabei findig, reflektiert und überlegt, also: resourceful, vorgehen kann; daß er immer eine Wahl hat; daß diese Selektionen über Erwartungen (expectations) einerseits und Bewertungen (evaluations) andererseits gesteuert ist; und daß die Selektion des Handelns aus den Alternativen der Regel der Maximierung folgt. Diese Regel ist explizit und präzise – und anthropologisch gut begründet“ (Esser 1996a: 238; Hervorhebung im Original).
Die Handlungssituation des Menschen ist somit durch soziale und natürliche Restriktionen bestimmt. Menschliches Handeln unterliegt Einschränkungen z.B. in Form von geltenden gesellschaftlichen Normen oder begrenzten Zeitressourcen. Für die Erklärung des sozialen Handelns sind die jeweils geltenden Restriktionen und Situationsdefinitionen bedeutsam (vgl. Esser 1996a: 219ff.). Die Erklärung der Maximierungsregel erfolgt über die WertErwartungstheorie. Sie stellt eine Art „ideales Gesetz“ dar, wie sich Menschen generell verhalten würden, wenn bestimmte ideale, in der Wirklichkeit jedoch nur annähernd erfüllte Bedingungen existierten (vgl. Bohnen 2000: 109).457 Ein Akteur wählt die Handlung (aus Handlungsalternativen), bei der die Nutzenerwartung maximiert wird. Die Nutzenerwartung wird durch das Produkt p x U erfasst. U stellt bestimmte Folgen des Handelns dar und 456
457
Vgl. hierzu insbesondere Kapitel 4.3, in dem das Investitionsmodell von Rusbult (1980a) auf die Erklärung der Bindung an Verwandte übertragen wird. Zusammenfassend zur Kritik und Problemen an der Wert-Erwartungstheorie und neueren Modellierungen vgl. Kopp (1994: 98ff. und 108ff.). Kopp (1994: 110) weist jedoch darauf hin, dass die Wahl zwischen diesen unterschiedlichen Modellen keinerlei Einfluss auf die empirische Arbeit hat. Trotz einer Vielzahl von internen Weiterentwicklungen und Verfeinerungen (vgl. exemplarisch Kahneman, Tversky 1979) bleibt der Kern der Argumentation – die Annahme eines an Kosten und Nutzen orientierten menschlichen Entscheidungsverhaltens – bestehen.
4.1 Handlungstheoretische Grundlagen
219
p sind Erwartungen, dass diese Konsequenz mit dem gewählten Handeln auch eintritt, wobei diejenige Handlung mit der größten Nutzenerwartung gewählt wird (vgl. Esser 1996a: 95). Bewertung (evaluation) bedeutet in diesem Zusammenhang die Zuweisung von emotionalen Besetzungen auf Folgen des Handelns. Sie konstituieren ein System aus Bedürfnissen, Präferenzen bzw. Werten. Erwartungen (expectation) beziehen sich auf die möglichen Konsequenzen der Selektion in der sozialen Umwelt, wobei das Handeln nach einer optimierenden Kombination beider Faktoren gewählt wird (vgl. Esser 1996a: 223ff.). Die Regel der Maximierung des Handelns besagt, dass die Alternative ausgewählt wird, die den größten subjektiven Nutzen verspricht, wobei die Betonung auf „subjektiv rational“ liegt. Diese subjektive und keineswegs objektive Rationalität wird auch als „bounded rationality“ (Simon 1972, 1993) bezeichnet. Übertragen auf Verwandtschaftsbeziehungen sind für die Handlungen der Akteure somit nur biographisch erworbene Einschätzungen, Erfahrungen und Meinungen zu den Verwandten relevant (vgl. Hill, Kopp 2004: 126). Der Begriff „satisficing“ (Simon 1972) wird auch anstelle des „maximizing“ verwendet. Er drückt aus, dass Individuen nicht die Alternative wählen, die ihnen den maximalen Nutzen verspricht, sondern ihre Suche aufgrund hoher Suchkosten an einer Stelle abbrechen, wenn eine zufriedenstellende Alternative gefunden wurde.458 Habituelles und traditionelles Handeln stehen in einem scheinbaren Widerspruch zu den Annahmen der Rational-Choice-Theorie. Darüber hinaus wird von Vertreter/-innen des Symbolischen Interaktionismus und der Ethnomethodologie die Wichtigkeit der „Definition der Situation“ betont, die sie als handlungsentscheidend betrachten. Habits und frames stellen somit scheinbare Anomalien der Rational-Choice-Theorie dar (vgl. Esser 1990: 231).459 Lindenberg (1989) und Esser (1990, 1996a,b) zeigen nun, dass diese scheinbaren Anomalien in das Grundmodell der Rational-Choice-Theorie integrierbar sind. Habits sind definiert als „automatische, unreflektierte Reaktionen ohne Ziel-Mittel-Kalkulation“ (Esser 1990: 234), deren spezielle Form „Schemata“ und „Skripte“ sind.460 Es sind allgemeine Wissensvorräte bzw. -strukturen, die in bestimmten Situationen automatisch zur Verfügung stehen und den Prozess der Informationsverarbeitung vereinfachen (vgl. Esser 1990: 234). Auch das Routinehandeln beruht letztlich auf Selektionen, denn routinemäßig ausgeführte Handlungen rekurrieren auf den Entscheidungen der Akteure, im Speziellen auf der Entscheidung, alles in der gewohnten Routine weiterlaufen zu lassen (vgl. Esser 1996a: 595). Die Menschen bleiben demnach bei der Routine, je geringer der Nutzen aus der neuen Alternative verglichen mit der aus der Routinehandlung ist; je höher die zusätzlichen Kosten der Informationsbeschaffung und der Entscheidungsfindung und je geringer die Wahrscheinlichkeit ist, eine bessere Alternative zu finden. Kann am bisherigen Set an Handlungsalternativen für eine vorgegebene Situation festgehalten werden, kommt es zur automatischen Wahl einer Routine. Ist dies nicht der Fall, dann erfolgen weitere Aktivitäten (Suche nach weiteren Informationen, Kalkulation der Folgen) und damit die Selektion einer neuen Handlung (vgl. Esser 1990: 236f.). Die Gründe für routinehaftes Verhalten im Vergleich zur rationalen Kalkulation sind vielfältig: Routinen sind relativ unaufwendig, effizient und haben oft eine zusätzliche normative Stütze. Sie sind kognitiv leicht verfügbar und zeichnen sich durch geringe Informationskosten aus (vgl. Esser 1990: 235).
458 459 460
Zu dieser Problematik vgl. auch Riker, Ordeshook (1973). Vgl. hierzu auch Srubar (1992). Vgl. Abelson 1981.
220
4 Ein Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten
Framing ist als subjektive Definition der Situation definiert oder als ein übergreifendes Ziel bzw. Leitmotiv, das die Situation kennzeichnet (vgl. Esser 1990: 238f.).461 In jede Handlungsentscheidung wird eine Definition der Situation geschaltet, die dann Präferenzen, Bewertungen und Erwartungen strukturiert und die Handlungsentscheidung determiniert (vgl. Esser 1996b: 2). Framing ist dann die Selektion eines bestimmten Modells der Situation und damit eine Art von „Entscheidung“, die die Akteure treffen (vgl. Esser 1996b: 17). „Die ‚Interpretation’ von Symbolen – als wichtigstem Teil der subjektiven Definition der Situation – ist ein intelligentes, nicht reflexhaftes, ‚rationales’ inneres Tun – und eben kein bloßes automatisches Reagieren auf Reize“ (Esser 1996b: 17; Hervorhebung im Original).
Die subjektiven Situationsdefinitionen der Individuen sind Vorgänge, die jede erklärende soziologische Handlungstheorie zu berücksichtigen hat (vgl. Esser 1996b: 31). Es lassen sich zwei Fälle voneinander unterscheiden. Zum einen ist es die „Auferlegtheit“ des einmal gewählten Modells der Situation, bei dem es „keine Zweifel, keine Frage und kein Zögern“ gibt (vgl. Esser 1996b: 17). Hierzu wird affektives und normorientiertes Handelns gezählt (vgl. Esser 1996b: 17). Insbesondere soziale Normen werden in diesem Zusammenhang als „Quellen gesellschaftlich vorgegebener Situationsdefinitionen“ betrachtet, die die individuelle Situationsdefinition determinieren (vgl. Bohnen 2000: 113). In diesem Zusammenhang sind es nicht die zu erwartenden negativen Sanktionen bei Verstoß gegen normative Verpflichtungen, die normatives Handeln erklären, so wie es die klassische Austauschtheorie formuliert (vgl. Kapitel 4.1.1). Die Konformität mit Normen ist vielmehr verstehbar als ein „Eintauchen in eine fraglos geltende Sinnwelt“ bzw. als die „Auferlegung eines fraglosen Modells“ (vgl. Esser 1996b: 28). In Bezug auf die Erklärung von Verwandtschaftsbeziehungen sind jedoch nicht nur soziale Normen (als Situationsdefinitionen) relevant. Auch der vielfache Hinweis auf die Wichtigkeit der Eltern, Geschwister und Großeltern, kinkeeper und „connecting relatives“ für die Existenz von Verwandtschaftsbeziehungen kann mit Hilfe des Framing-Modells genauer expliziert werden. Eltern pflegen Kontakte mit ihren Geschwistern und definieren somit die Situation für verwandtschaftliche Kontakte ihrer Kinder mit Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen. Zum anderen gibt es auch die rationale Reflexion des einmal ausgewählten Modells der Situation. Dies geschieht vor allem bei aufkommenden Fragen und Zweifeln, ob das Modell das Richtige ist. Die Änderung eines frames wird durch Störungen der gewohnten Umgebung, hohe Kosten einer falschen Wahl des Rahmens und gegebene Möglichkeiten der Reflexion ausgelöst (vgl. Esser 1996b: 17). Die erwartbaren Kosten einer „falschen“ Situationsinterpretation werden mit dem „Nutzen“ einer richtigen Situationsinterpretation verglichen und die subjektiv günstigste gewählt. Es handelt sich somit um ein zweistufiges Entscheidungsmodell: zum einen wird der frame gewählt und in einem zweiten Schritt innerhalb des frames (der Situationsdefinition) die konkrete Handlung (vgl. Hill 2002b: 37).462 Es findet somit implizit auch eine Erweiterung des Rationalitätsbegriffes statt. Die Rationalität kann sich auf ein bestimmtes Modell des Rahmens der Situation beziehen, zum anderen kann sie ein bestimmter Modus der Informa461 462
Eine empirische Anwendung des Framing-Modells erfolgt im Bereich der Ehescheidung (vgl. Esser 2002). Das Problem der subjektiven Definition der Situation ist nach Esser (1996b: 18) auf die Entscheidungstheorie (SEU-Theorie) anwendbar. „Das ‚innerliche Tun’ der kognitiven und emotionalen Selektionen bei der subjektiven Definition der Situation erfolgt selbst wiederum den Variablen und der Selektionsregel der Theorie rationalen Handelns“ (vgl. Esser 1996b: 30; Hervorhebung im Original).
4.1 Handlungstheoretische Grundlagen
221
tionsverarbeitung (Kalkulation von Erwartungen und Bewertungen der SEU-Theorie) sein (vgl. Esser 1996b: 30). Festzuhalten bleibt, dass die Darstellung der wichtigsten Annahmen der Austauschtheorie und Theorie der rationalen Wahl vielfältige Anknüpfungspunkte aufzeigt, diese Theorien auch auf die Erklärung von Verwandtschaftsbeziehungen anzuwenden. Die gesellschaftlichen Verhältnisse erfordern eine neue theoretische Herangehensweise zur Erklärung der Wahl von Verwandten. Mit Sicherheit wird diese Annahme auf Kritik stoßen. Denn schließlich sprechen wir hier von Verwandtschaftsbeziehungen! Ist eine Theorie der rationalen Wahl überhaupt auf die Erklärung verwandtschaftlicher Beziehungen anwendbar? Im Speziellen geht es um die nutzenmaximierende Selektion des Handelns, die für einige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eine Vereinfachung und Verfälschung menschlichen Verhaltens darstellt (vgl. Esser 1996a: 134f.). Sind in diesem Fall nicht eher „Emotionen“, „Biologie“, „normorientiertes Handeln“ und damit „irrationales Handeln“ charakteristisch? (vgl. in diesem Zusammenhang auch Kopp 1994: 116f.). In Anlehnung an Kopp (1994: 117ff.) können folgende Argumente für die Rational-Choice-Theorie genannt werden: die Methode der abnehmenden Abstraktion und die „as-if-methodology“. Zusätzlich werden pragmatische Erwägungen und die Befunde der bisherigen Verwandtschaftsstudien herangezogen. Die Methode der abnehmenden Abstraktion geht auf Wippler, Lindenberg (1987) zurück.463 Sie verbindet Theoriesteuerung und Realitätsnähe miteinander und hebt als zentrale Aufgabe die Erklärungsleistung einer Theorie hervor. Ein theoretischer Modellbau gründet auf der Maxime der Einfachheit. Dies hat die Entproblematisierung von schwierigen Aspekten zur Folge, zur Ableitung von Hypothesen sollen so wenige Annahmen wie nötig getroffen werden.464 Bei jeder theoretischen Modellierung eines soziologischen Sachverhaltes tritt somit das Problem auf, dass die geforderte Einfachheit und Erklärungskraft des Modells zu einer Abstraktion der Annahmen von der Wirklichkeit führt (vgl. Esser 1996a: 133).465 Diese Vorgehensweise wird als eine Annäherung an Wahrheit verstanden (vgl. Wippler, Lindenberg 1987: 142).466 Soziale Phänomene sind komplex und können das Handeln in komplexer Weise beeinflussen. Ohne die Fähigkeit zur Vereinfachung, wären wir – so Wippler, Lindenberg (1987: 142) – in einem Teufelskreis gefangen: „We would have to know what we are trying to find out.“ In diesem Kontext muss ebenfalls auf die as-if-methodology von Friedman (1953) verwiesen werden. Kernaussage ist, dass man mit einer Theorie nicht ein genaues Abbild der Wirklichkeit geben muss. Theorien sind Instrumente für Prognosen und Hypothesen. Wenn man in der Lage ist, überprüfbare Hypothesen aus einem theoretischen Modell abzuleiten, kann man auch mit einer auf den ersten Blick vielleicht wenig realistischen Theorie arbeiten (vgl. Braun 1999: 47). Die Nützlichkeit des Ansatzes liegt nicht ausschließlich in 463
464
465
466
Ausführlicher zu den Ursprüngen und der modernen Variante der Methode der abnehmenden Abstraktion vgl. Lindenberg (1991). Lindenberg (1991: 66f.) formuliert folgende Schritte der Methode der abnehmenden Abstraktion: Ziel ist es, dass Modell so einfach wie möglich und so komplex wie nötig zu machen. Man soll mit dem einfachsten Problematisierungsgrad beginnen. Zweitens soll die Problematisierung so fortgesetzt werden, dass sie die geringste Unsicherheit über Zusatzannahmen mit sich bringt. Vgl. dazu ausführlicher Lindenberg (1991: 67f.). „Meist ist eine ‚Anpassung’ des Modells and die Wirklichkeit leichter getan als nützlich wäre. Ein Modell nur mehr ‚realistisch’ zu machen, ist keine besondere Kunst. Man erkauft sich dies unvermeidlicherweise mit Zusatzannahmen und folglich mit höherer Komplexität – und verschlechtert so den tradeoff des Verhältnisses von Einfachheit und Erklärungskraft“ (Esser 1996a: 133f.; Hervorhebung im Original). Vgl. Popper 1976.
222
4 Ein Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten
der Gültigkeit der Theorie selbst, sondern in ihrer Erklärungskraft und der empirischen Bestätigung der aus ihr abgeleiteten Hypothesen (vgl. Hill 2002b: 54).467 Zum anderen muss man eine pragmatische Antwort geben und die Frage nach alternativen soziologischen Erklärungen stellen (vgl. auch Esser 1996a: 135 und Kopp 1994: 118). Können die „Natur“ im Sinne einer soziobiologischen Erklärung oder die Determinierung menschlicher Handlungen durch gesellschaftliche Normen Erklärungen für die Wahl von Verwandten geben? Die Hypothese, dass Verhalten alleine von Normen determiniert wird, ist nicht haltbar. Personen können von diesen Normen abweichen bzw. für eine Vielzahl von Verhaltensweisen existieren keine präzisen normativen Richtlinien (vgl. Opp 1978: 136). Zudem entfalten Normen ihre Wirkung nur über menschliche Handlungen und die damit verbundenen Belohnungen und Kosten (vgl. Hill, Kopp 2004). Dies gilt insbesondere für entfernte Verwandtschaftsbeziehungen, deren abnehmender Verpflichtungscharakter in der modernen Gesellschaft in einer Vielzahl von Publikationen herausgestellt wird (vgl. insbesondere Rossi, Rossi 1990). Auch die Soziobiologie bietet keine Alternative für die Erklärung der Selektivität verwandtschaftlicher Beziehungen (vgl. dazu Kapitel 3.3). Die bisherigen theoretischen Ansätze (Kapitel 3.1) und empirischen Studien (Kapitel 3.2) und deren implizite Verwendung von Kosten, Nutzen, Alternativen oder Opportunitäten zur Erklärung der Variabilität verwandtschaftlicher Beziehungen legen darüber hinaus eine Rekonstruktion der Verwandtschaftswahl mit Hilfe der Rational-Choice-Theorie nahe. Das stärkste Argument für die Anwendung der Theorie der rationalen Wahl liefert jedoch die Feststellung selbst, die seit den 1950er Jahren mehr oder weniger kontinuierlich formuliert wird (vgl. Kapitel 1.1.2): die Wahl ist das konstituierende Element moderner Verwandtschaftsbeziehungen. Die Feststellung der Selektivität bzw. des Wahlhandelns legt die handlungstheoretische Modellierung dieses sozialen Phänomens mit Hilfe einer Entscheidungstheorie nahe. 4.1.3 Exkurs: Verwandtschaft als soziales Kapital Der Begriff „soziales Kapital“ taucht im Allgemeinen immer dort auf, wo von sozialen Beziehungen und Vertrauen, Solidarität und moralischen Normen die Rede ist (vgl. Braun 2001: 337). Betrachtet man nun Verwandtschaftsbeziehungen unter handlungstheoretischen Gesichtspunkten, so muss ihre Bedeutung als soziales Kapital für die Individuen genauer expliziert werden. Ausgangspunkt des folgenden Exkurses ist Bourdieu (1982, 1983), der im Rahmen seiner Habitustheorie eine erste Definition des Sozialkapitals gibt. Darauf aufbauend werden die Positionen von Coleman (1991) und Esser (2000) dargestellt, die soziales Kapital innerhalb der Rational-Choice-Theorie definieren und zwischen verschiedenen Arten von Sozialkapital differenzieren.468 Die Bedeutung von Verwandtschaft als soziales Kapital wird insbesondere im Bereich der Jobvermittlung und Arbeitssuche (Granovetter 1973; Wegener 1987) sowie im Migrationsprozess (Nauck, Kohlmann 1998) diskutiert. 467
468
Hill (2002b: 54) verweist zudem auf die Kompatibilität der „as-if-methodology“ mit der Methodologie von Forschungsprogrammen von Lakatos (1974). Der eigentliche Theoriekern ist nicht Gegenstand einer Theoriediskussion. Die Theorie bildet den harten Kern, der durch einen Schutzgürtel (negative und positive Heuristik) vor Falsifikationen geschützt ist. Auf die Darstellung zusätzlicher Konzepte des Sozialkapitals wird verzichtet (vgl. zusammenfassend Haug 1997, 2000).
4.1 Handlungstheoretische Grundlagen
223
Nach Bourdieu (1982, 1983) stellt das Sozialkapital eine Ressource der Individuen dar. Soziales Kapital wird neben dem ökonomischen, kulturellen und symbolischen Kapital zur Erklärung sozialer Ungleichheit im Rahmen der Habitustheorie herangezogen, denn das Ausmaß des Besitzes der vier Kapitalarten konstituiert die gesellschaftliche Stellung der Individuen.469 Soziales Kapital wird folgendermaßen definiert: „Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes von mehr oder weniger institutionalisierten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerkennens verbunden sind; oder anders ausgedrückt, es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“ (Bourdieu 1983: 190f.; Hervorhebung im Original).
Als Beispiele für die Zugehörigkeit zu einer Gruppe nennt Bourdieu (1983: 191) Familien, Schulen, Klubs oder Parteien, die durch einen gemeinsamen Namen gesellschaftlich institutionalisiert sind. Die Grundlage für die Schaffung von Sozialkapital sind Austauschbeziehungen. Sozialkapitalbeziehungen sind in der Praxis materielle sowie symbolische Tauschbeziehungen, die sich positiv auf deren Aufrechterhaltung auswirken (vgl. Bourdieu 1983: 191).470 Dabei steht der Nutzenaspekt von sozialen Beziehungen im Vordergrund: „(…) das Beziehungsnetz ist das Produkt individueller oder kollektiver Investitionsstrategien, die bewußt oder unbewußt auf die Schaffung oder Erhaltung von Sozialbeziehungen gerichtet sind, die früher oder später einen unmittelbaren Nutzen versprechen“ (Bourdieu 1983: 192).
Die Existenz eines solchen Beziehungsnetzwerkes ist keine natürliche oder soziale Vorgabe, „sie ist vielmehr das Produkt einer fortlaufenden Institutionalisierungsarbeit“ (Bourdieu 1983: 192) bzw. „Beziehungsarbeit“ (Bourdieu 1983: 193). Voraussetzung für die Produktion und Reproduktion von Sozialkapital ist nach Bourdieu (1983: 193) eine kontinuierliche Beziehungsarbeit, vor allem in Form von Tauschakten, die die gegenseitige Anerkennung immer wieder bestätigen. Diese Beziehungsarbeit manifestiert sich in Form von Zeit und Geld (und damit ökonomischem Kapital), die in eine Beziehung investiert werden müssen (vgl. Bourdieu 1983: 193). Darüber hinaus nennt Bourdieu (1983: 196) weitere Investitionen wie Aufmerksamkeit, Sorge und Mühe. Beziehungsspezifische Investitionen haben folgende Konsequenzen für die Austauschbeziehung:471 „Gleichzeitig wird dadurch der Sinn der Austauschbeziehung selbst verändert, die aus einem engen ‚ökonomischen’ Blickwinkel als reine Verschwendung erscheinen muss, während sie im Rahmen der umfassenden Logik des sozialen Austausches eine sichere Investition darstellt, deren Profite über kurz oder lang in monetärer oder anderer Gestalt wahrgenommen werden können“ (Bourdieu 1983: 196).
Der Umfang des Sozialkapitals hängt zum einen von der Netzwerkgröße ab und auf der anderen Seite von der qualitativen Ausstattung bzw. dem quantitativen Umfang des ökonomischen, kulturellen oder symbolischen Kapitals der Netzwerkmitglieder. Das Sozialka469
470
471
Ausführlicher zum kulturellen, ökonomischen und symbolischen Kapital vgl. Bourdieu (1983: 185ff.) und Bourdieu (1982). Als Beispiel für materielle Tauschgüter nennt Albrecht (2002: 207) Hilfestellungen und Informationsgüter. Symbolische Tauschgüter sind beispielsweise Anerkennung und Vertrauen. Vgl. hierzu Kapitel 4.3.
224
4 Ein Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten
pital übt in diesem Zusammenhang allgemein einen „Multiplikatoreffekt“ auf das tatsächlich zur Verfügung stehende Kapital aus, wobei das Gesamtkapital eines Individuums dessen „Kreditwürdigkeit“ ausmacht (vgl. Bourdieu: 1983: 191). Die materiellen und symbolischen „Profite“, die sich aus der dauerhaften und nützlichen Zugehörigkeit zu einer solchen Gruppe ergeben, sind Grundlage für deren Solidarität. Dabei ist eine „quasi-reale Existenz“ des Sozialkapitals kennzeichnend, die durch die Austauschbeziehungen aufrechterhalten und verstärkt wird (vgl. Bourdieu 1983: 191f.). Im Zusammenhang mit diesen Ausführungen spricht Bourdieu indirekt das Konzept der subjektiven Verwandtschaft an. „Zufallsbeziehungen“ – (u.a. werden Verwandtschaftsbeziehungen genannt) – werden in „besonders auserwählte und notwendige Beziehungen umgewandelt, die dauerhafte Verpflichtungen nach sich ziehen“ (Bourdieu 1983: 192). Die Verpflichtungen manifestieren sich in subjektiven Gefühlen wie Anerkennung, Respekt oder Freundschaft oder beruhen auf institutionellen Garantien (Rechtsansprüchen) (vgl. Bourdieu 1983: 192). Verwandtschaftsbeziehungen verfügen somit über das Potential, Sozialkapital für die einzelnen Mitglieder zu produzieren. In den „Feinen Unterschieden“ (Bourdieu 1982) stellt Bourdieu die Auffassung des Kleinbürgertums über das Vermögen von „Familienbanden“ als Sozialkapitalbeziehungen dar.472 Das aufstrebende Kleinbürgertum bricht die Kontakte mit der Familie ab, da sie dem individuellen Aufstieg im Wege sind (vgl. Bourdieu 1982: 529).473 „Für den Kleinbürger bieten Familien- und Freundschaftsbande keine Zuflucht mehr gegen Unglück und Not, Einsamkeit und Elend, und auch kein Netz von Unterstützung und Schutz, von dem man sich notfalls Hilfe, ein Darlehn oder einen Posten erhoffen darf; sie sind noch nicht das, was man anderswo »Beziehungen« nennt, d.h. ein zur Verwertung des eigenen ökonomischen und kulturellen Kapitals unerläßliches soziales Kapital. Sie sind nur Ketten, die man um jeden Preis brechen muss, weil Dankbarkeit, gegenseitige Hilfe, Solidarität und ihr materieller und symbolischer Genuß zu den verbotenen Früchten zählen“ (Bourdieu 1982: 529).
Nach Coleman (1991: 392) ist die Akkumulation von sozialem Kapital eine rationale Handlung, da es der Verwirklichung bestimmter Ziele dient.474 „Ich werde diese sozialstrukturellen Ressourcen als Kapitalvermögen für das Individuum bzw. als soziales Kapital behandeln“ (Coleman 1991: 392).
472
473
474
So wird nach Bourdieu (1982: 529) die kinderreiche Familie gegen einen „engen Familienkreis“ oder die Kernfamilie ausgetauscht, mit der Konsequenz, dass auf die „Funktion familiärer Einheit“ verzichtet wird, „und das bedeutet auch die Freuden der Großfamilie und die traditionellen Verkehrsformen mit ihrem Umgang, ihren Festen, ihren Konflikten, aber auch Sicherheiten, die eine zahlreiche Nachkommenschaft verheißt (vor allem für die Mütter nahezu der einzige Schutz gegenüber Problemen des Alterns) aufzugeben.“ Dieser traditionellen Auffassung setzt Bourdieu die (moderne) „Welt“ entgegen, die sich durch eine „Labilität der Familie“ kennzeichnet. In diesem Kontext sind die Aussagen von Esser (2000) zu sehen, der den negativen Effekt von Alternativen herausstellt: „Sobald sie (Individuen, N.J.) aber auf andere Kapitalien zurückgreifen können, läßt sie relativ kalt, was mit dem Netzwerk ihrer Beziehungen und dem sozialen Kapital wird. Denn weil es so spezifisch ist, schränkt es den Spielraum des Handelns doch oft auch sehr ein“ (Esser 2000: 239). Kritik an dieser Explikation einer „Logik des sozialen Kapitals“ als Rational-Choice-Theorie übt Albrecht (2002: 207ff.) und grenzt die Auffassung entschieden von Bourdieus Konzept ab. Betrachtet man sich jedoch Bourdieus Argumentation (z.B. die Verwendung der Begriffe Austauschakte, Investitionsstrategien und Nutzen), so bestehen auch hier eindeutige Parallelen zu den Prämissen der Rational-Choice-Theorie.
4.1 Handlungstheoretische Grundlagen
225
Das Sozialkapital ist sozialstrukturell verankert, zugleich begünstigt es bestimmte Handlungen von Individuen, die sich innerhalb der Sozialstruktur befinden. Dementsprechend wird der überindividuelle Charakter des sozialen Kapitals hervorgehoben, da es in der Beziehungsstruktur von zwei oder mehr Individuen verankert ist und somit nicht nur eine Eigenschaft des Individuums darstellt (vgl. Coleman 1991: 392). Sozialkapital ist kein Privateigentum, sondern ein öffentliches Gut (vgl. Coleman 1991: 409f.). Coleman (1991: 396ff.) differenziert zwischen unterschiedlichen Formen von sozialem Kapital bzw. Eigenschaften von sozialen Beziehungen, die sie zu einer nützlichen Kapitalressource für Individuen werden lassen. Als erste Form werden Verpflichtungen und Erwartungen und damit die Vertrauenswürdigkeit als Form von Sozialkapital genannt. „Wenn (…) A etwas für B tut und in B das Vertrauen setzt, daß er in Zukunft eine Gegenleistung erbringt, wird damit in A eine Erwartung hervorgerufen und für B eine Verpflichtung geschaffen, das Vertrauen zu rechtfertigen“ (Coleman 1991: 396).
Diese Verpflichtungen werden von Coleman (1991: 397) auch als „Gutschriften“ bzw. in akkumulierter Form als „Kreditmasse“ bezeichnet, auf die ein Individuum zurückgreifen kann. Sozialstrukturen unterscheiden sich in Bezug auf das Maß an Vertrauenswürdigkeit475, während sich Akteure innerhalb einer Sozialstruktur je nach Menge der Verpflichtungen unterscheiden (vgl. Coleman 1991: 397). Als zweite Form wird das Informationspotential von sozialen Beziehungen genannt, denn eine Möglichkeit an Informationen zu gelangen, besteht im Rückgriff auf soziale Beziehungen (vgl. Coleman 1991: 402). Eine dritte Form von Sozialkapital stellen Normen dar, die als eine „mächtige, doch manchmal labile Form von sozialem Kapital“ bezeichnet werden (vgl. Coleman 1991: 403). Als Beispiel werden Normen genannt, die dafür verantwortlich sind, dass Familien bzw. führende Familienmitglieder selbstlos im Interesse ihrer Familie handeln. Normen können internalisiert sein oder aber durch äußere Belohnungen (von selbstlosen Handlungen) oder Sanktionierung (von eigennützigen Handlungen) unterstützt und eingefordert werden. Sie können somit bestimmte Handlungen begünstigen, sie haben aber auch das Potential, bestimmte Handlungen einzuschränken (vgl. Coleman 1991: 402). Die Geschlossenheit eines sozialen Netzwerkes spielt für Coleman (1991: 413) eine wichtige Rolle für die Emergenz von Normen und die Vertrauenswürdigkeit. Abschließend wird die Zerstörung des sozialen Kapitals angesprochen. Wohlstand und/oder staatliche Unterstützungsleistungen können als entscheidende Faktoren die gegenseitige Abhängigkeit von Individuen verringern und sich somit zerstörerisch auf das Sozialkapital auswirken (vgl. Coleman 1991: 417). Diese Einschätzung korrespondiert indirekt mit der Annahme eines Bedeutungs- und Funktionsverlustes von Verwandtschaftsbeziehungen im Zuge der Modernisierung und Industrialisierung (Kapitel 2.2.2). Esser (2000) schließt inhaltlich an die Aussagen von Coleman an und definiert soziales Kapital wie folgt: „Die Gesamtheit des Wertes der Ressourcen und Leistungen, die ein Akteur aus der Existenz von Beziehungen zu anderen Akteuren und aus dem Vorhandensein eines Netzwerkes von Beziehungen insgesamt kontrolliert, ist dann sein soziales Kapital“ (Esser 2000: 237). 475
Zusätzlich nennt Coleman (1991: 398) die jeweiligen Bedürfnisse nach Hilfe, die Existenz anderer Hilfequellen (z.B. staatliche Wohlfahrtsleistungen), den Grad des Wohlstands, kulturelle Unterschiede und die Geschlossenheit von Netzwerken (vgl. Coleman 1991: 413ff.).
226
4 Ein Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten
In Analogie zu den Ausführungen von Bourdieu und Coleman wird ebenfalls der überindividuelle spezifische Charakter des sozialen Kapitals betont, der nicht ablösbar von den sozialen Beziehungen ist und somit – bei Verlassen des Netzwerkes – den Verlust des sozialen Kapitals impliziert (vgl. Esser 2000: 239). Es werden in diesem Zusammenhang zwei Aspekte hervorgehoben, die zu einer Differenzierung des Sozialkapitals führen. Sozialkapital ist individuelles Gut (Privatgut) und Kollektivgut zugleich: Das soziale Kapital ist zum einen das, was ein individueller Akteur aufgrund seiner Beziehungen besitzt, zum anderen ist das soziale Kapital etwas, was das gesamte Netzwerk an Beziehungen in seiner Struktur für alle Mitglieder leistet (vgl. Esser 2000: 240).476 Darauf aufbauend wird zwischen 1) Beziehungskapital und 2) Systemkapital differenziert, die diesem doppelten Charakter Rechnung tragen (vgl. Esser 2000: 241ff.). Das Beziehungskapital ist der Wert aller Ressourcen und Leistungen mit denen ein Akteur ausgestattet ist, auf die er aufgrund seiner Beziehungen mit individuellen Akteuren zugreifen kann: „Je wertvoller die Ressourcen der mit Ego verbunden Akteure sind, um so höher ist sein soziales Kapital“ (Esser 2000: 242). Übereinstimmend mit den Ausführungen Bourdieus, der bereits auf die Notwendigkeit von Investitionen in Austauschbeziehungen hingewiesen hat, hebt Esser (2000: 246) insbesondere die Zeit als Ressource, Produktionsfaktor und Investition hervor. In modernen Gesellschaften sind soziale Beziehungen vergleichsweise teuer (z.B. durch Erwerbstätigkeit): „Weil der Preis der Zeit ansteigt und weil Beziehungen meist viel an Zeit kosten“ (Esser 2000: 247).477 Eine Investition muss sich dauerhaft lohnen. Dies kann jedoch nur dann realisiert werden, wenn es keine attraktiven Alternativen gibt und es gewährleistet ist, dass eine zuerst einseitig geleistete „Vorleistung“ innerhalb der Beziehung nicht ausgebeutet wird (vgl. Esser 2000: 264).478 Im Unterschied zum Beziehungskapital ist das Systemkapital ein Kollektivgut, von dem alle Akteure eines Netzwerkes profitieren – auch diejenigen, die nicht in das Kapital investiert haben (vgl. Esser 2000: 256). Welche unterschiedlichen Ressourcen und Leistungen als Beziehungs- und Systemkapital sind in diesem Zusammenhang zu nennen? Esser (2000: 240ff.) differenziert zwischen sechs Arten, wobei die ersten drei Unterarten des Beziehungskapitals und die letzten drei der folgenden Aufzählung Unterarten des Systemkapitals darstellen:479 1. 2. 3.
476 477
478
479
Zugang zu Informationen und geselliger Unterhaltung über gewisse Beziehungen zwischen Akteuren (Positionskapital) Bereitschaft der Akteure sich vertrauensvoll auf gewisse riskante Unternehmungen mit einem bestimmten Akteur einzulassen (Vertrauenskapital) Erbringung von Hilfeleistungen und die Gewährung von Solidarität (Verpflichtungskapital)
Vgl. dazu auch Coleman (1991: 409ff.). Vor diesem Hintergrund ist auch die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Erwerbstätigkeit der Frau und ihrer Rolle als kinkeeper zu sehen (Kapitel 1.6). Dies ist zugleich auch die Antwort auf die formulierte Kritik der Rational-Choice-Annahmen von Albrecht (2002: 208), der darauf hinweist, dass Investitionen als intentionale Akte in soziales Kapital weiten Zeitspannen unterliegen und in hohem Maße mit Unsicherheit belastet sind und daraus schließt, dass „die Annahme einer Kosten-Nutzen-Kalkulierbarkeit gerade des sozialen Kapitals (…) als wenig plausibel“ erscheint (Albrecht 2002: 208). Vgl. dazu ausführlicher Esser (2000: 247ff.).
4.1 Handlungstheoretische Grundlagen
4. 5. 6.
227
Vorhandensein von sozialer Kontrolle und einer gewissen Aufmerksamkeit für das Schicksal und das Tun der Akteure in einem ganzen Beziehungssystem, etwa in der Familie, Verwandtschaft oder Nachbarschaft (Systemkontrolle) Existenz eines Klimas des Vertrauens in einem Netzwerk (Systemvertrauen) Geltung von Normen, Werten und Moral in einer Gruppe, Organisation oder Gesellschaft (Systemmoral)480
Festgehalten werden kann, dass soziales Kapital auf zwei Ebenen wirksam wird. Zum einen auf der Mikroebene, da soziales Kapital eine individuelle Ressource (Information, Hilfe u.a.) ist, zum anderen ist soziales Kapital auch auf der Makroebene verankert, da es über die Eigenschaften des gesamten Netzwerkes (Normen, Vertrauen u.a.) definiert ist (vgl. Haug 2000: 78). Die Eigenschaften als Beziehungs- und Systemkapital lassen sich auf (subjektive) Verwandtschaftsbeziehungen übertragen, die damit potentielle Sozialkapitalbeziehungen sein können. Eine empirische Anwendung des Sozialkapital-Ansatzes findet vor allem im Bereich der Jobvermittlung sowie in der Migrationssoziologie statt.481 Die Arbeitssuche über Mitglieder der Familie und Verwandtschaft sowie Bekannte wird als informelle Arbeitssuche bezeichnet.482 In diesem Zusammenhang wird primär die „Stärke von schwachen Beziehungen“ diskutiert (Granovetter 1973, 1974, 1982; Wegener 1987; Lin 1981; zusammenfassend Preisendörfer, Voss 1988). Die Stärke einer Beziehung ist nach Granovetter (1973: 1361) durch eine Kombination von Zeit, Intimität und reziproker Austauschbeziehung definiert. Schwache Beziehungen kennzeichnen oberflächliche Beziehungen zu entfernten Bekannten, Personen, die man nur flüchtig kennt, mit denen keine häufige Interaktion stattfindet und die man nur „selten zu Gesicht bekommt“ (vgl. Wegener 1987: 278f.). Beziehungen zu Familienmitgliedern, zu Vertrauten und guten Freunden werden hingegen als starke Beziehungen bezeichnet. Sie sind in der Regel dauerhaft, expressiv, reziprok und durch häufige (außerberufliche) Interaktionen gekennzeichnet (vgl. Wegener 1987: 279). Schwache Beziehungen stellen „locker verwebte Netzwerke“ dar und haben nur eine geringe Dichte, während starke Beziehungen in dichten Netzwerken zu finden sind (vgl. auch Granovetter 1973: 1370).483 Zentraler Unterschied zwischen beiden Arten von Sozialbeziehungen sind unterschiedliche Wissens- und Informationspotentiale. Personen, die sich in einem Gefüge von starken Beziehungen bewegen, können somit von Informationen abgeschnitten sein, die sich auf entfernte Parteien eines sozialen Systems beziehen. In starken Beziehungen ist das 480
481
482
483
Die fraglose Geltung von Normen, Werten und Moral ermöglichen ein Handeln ohne jede „rationale“ Überlegung (vgl. Esser 2000: 263). Vgl. auch Franzen (2003), der den Zusammenhang von Internetnutzung und der Größe des sozialen Kapitals analysiert. Es wird eine Reduktion des sozialen Kapitals infolge der zunehmenden Internetnutzung vermutet, die zu einer „Privatisierung der Freizeitbeschäftigung“ führt und zu einem Rückgang der Zeit, die man für andere soziale Kontakte braucht (vgl. Franzen 2003: 341f.). Ein negativ konnotierter Begriff in diesem Zusammenhang ist „Vetternwirtschaft“, der jedoch den hier beschriebenen Sachverhalt verdeutlicht. Folgende Beispiele werden genannt: die verwandtschaftlichen Geflechte innerhalb der Politik, im Bereich der Wirtschaft und insbesondere in Bezug auf die Verflechtung von Wirtschaft und Politik. „Für die Gegenwart steht jedenfalls die Rekonstruktion verwandtschaftlicher Verflechtungen in Wirtschaft und Politik sowie zwischen den Bereichen noch aus“ (Rosenbaum 1998: 30). Die Dichte ist eine Maßzahl zur Beschreibung der Verbundenheit eines sozialen Netzwerkes. Sie stellt das Verhältnis der Anzahl tatsächlich existierender zur Anzahl der möglichen Beziehungen dar (vgl. Esser 2000: 189). Des Weiteren werden in diesem Zusammenhang „Brückenbeziehungen“ als schwache soziale Beziehungen klassifiziert, die über den Kreis der eigenen engen Beziehung hinausgehen und somit neue Kontaktmöglichkeiten schaffen (vgl. Granovetter 1973: 1364, Wegener 1987: 280).
228
4 Ein Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten
Wissen lokal gebündelt und es existiert nicht über die eingeschränkten, geschlossenen Grenzen des Freundes- oder Verwandtenkreises hinaus (vgl. Wegener 1987: 283f.).484 Sind Verwandtschaftsbeziehungen „schwache“ oder „starke“ Beziehungen? Familienund Verwandtschaftsbeziehungen, die die Merkmale Granovetters (1973) hinsichtlich Zeit, Intimität und Reziprozität erfüllen, sind als stark zu bezeichnen. Locker verwebte verwandtschaftliche Beziehungen, Verwandte, die man nur flüchtig kennt und mit denen keine häufige Interaktion stattfindet, sind hingegen als schwache Beziehungen zu klassifizieren (vgl. Wegener 1987: 279). Die Bezeichnung „schwach“ kann somit für Verwandtschaftsbeziehungen gelten, auch wenn generell Beziehungen zu Familienmitgliedern als „stark“ bezeichnet werden und die Eigenschaft „schwach“ für flüchtige Bekannte vorbehalten ist. Dennoch muss darauf hingewiesen werden, dass schwache Verwandtschaftsbeziehungen das Potential haben – in Bezugnahme auf die Matrix latenter Beziehungen (Riley 1983) – sich in starke Beziehungen zu transformieren. Bei der Klassifikation von Verwandtschaftsbeziehungen ist ebenfalls das zugeschriebene biologische Abstammungsverhältnis zu berücksichtigen, das diese Beziehungen, auch wenn nur lose Kontakte bestehen, qualitativ von flüchtigen Bekannten unterscheidet. Wegener (1987) formuliert in diesem Zusammenhang eine rationale Handlungstheorie für die Wahl von schwachen oder starken Beziehungen. Er stellt die Bedingungen auf, unter denen sie gewählt werden und überträgt diese auf die Arbeitsplatzsuche. Theoretischer Ausgangspunkt ist die Rational-Choice-Theorie. Sein Nutzen-Erwartungsmodell steht in Abhängigkeit von der Statuslage der Individuen (vgl. Wegener 1987: 288ff.). „Der Nutzen, den ein Akteur von der grundsätzlichen Wahl starker bzw. schwacher Beziehungen erwartet, hängt ab von seinem sozio-ökonomischen Statusniveau oder von dem Ausmaß, in dem er über soziale Ressourcen verfügt“ (Wegener 1987: 288f.).
Starke Beziehungen sind insbesondere für Personen relevant, die nur über geringe soziale Ressourcen verfügen (vgl. Wegener 1987: 289).485 Im Sinne einer Opportunitätenstruktur stehen statusniedrigeren Personen Verwandtschaftsbeziehungen leichter und kostengünstiger zur Verfügung. Bei niedrigem Statusniveau sind von schwachen sozialen Beziehungen nur Kosten zu erwarten, während starke Beziehungen nutzbringend im Sinne von Intimität, gegenseitiger Hilfe u.a. sind. Mit Zunahme des Status steigen auch die Kosten für diese engen sozialen Beziehungen: „Die Zeit, die ich für die Pflege meiner starken sozialen Beziehungen verbrauche, steht mir für die Ausbildung schwacher sozialer Beziehungen, die mich über meinen begrenzten Kreis hinausführen könnten, nicht mehr zur Verfügung“ (Wegener 1987: 289). Daraus folgt, dass der rationale Akteur im Zuge seiner Statusent484
485
Wegener (1987) zieht darüber hinaus eine Parallele zur Fokustheorie von Feld (1981) (vgl. Kapitel 3.1.2.2) und verbindet diese mit der Idee von schwachen und starken Beziehungen. Schwache Beziehungen sind soziale Beziehungen, in denen Foki a) begrenzt sind, b) nicht einschränkend wirken in Bezug auf die Interaktionen der beteiligten Personen und in denen sie c) nur ein geringes Ausmaß von Zeit, emotionalem Engagement und Aufwand für reziproke Leistungen verlangen (vgl. Wegener 1987: 281). Vgl. in diesem Zusammenhang auch Granovetter (1982: 133ff.), der Studien nennt, die den Zusammenhang mit dem sozialen Status empirisch nachweisen können. In diesem Aufsatz widmet er sich u.a. auch den starken Beziehungen, die in seinem ersten Aufsatz (Granovetter 1973) weniger von Interesse waren (vgl. Granovetter 1982: 113). So stellt er auch die Bedeutung starker Beziehungen heraus: „Weak ties provide people with access to information and resources beyond those available in their own social circles; but strong ties have greater motivation to be of assistance and are typically more easily available. I believe that these two facts point the way to understanding when strong ties play their unique role” (Granovetter 1982: 113).
4.1 Handlungstheoretische Grundlagen
229
wicklung die Wahl von schwachen Beziehungen der Wahl starker vorzieht (vgl. Wegener 1987: 289). In diesem Kontext kann nun der Zusammenhang zwischen der sozialen Klasse und verwandtschaftlichen Beziehungen handlungstheoretisch erklärt werden. Für die Arbeitsplatzsuche bedeutet dies, dass Stellensucher/-innen zwar davon ausgehen können, dass ihrem Anliegen von Seiten der starken Beziehungen entsprochen wird, jedoch wird der damit verbundene Nutzen nur gering sein. Aufgrund der großen sozialen Ressourcen der schwachen Kontaktpersonen wird der potentielle Nutzen hingegen größer sein (vgl. Wegener 1987: 289f.). Ein zweiter Themenbereich, in dem die Bedeutung von Verwandtschaft als Sozialkapital hervorgehoben wird, ist die Migrationsforschung (Nauck, Kohlmann 1998; Haug 2000). Verwandtschaft stellt innerhalb des Migrationsprozesses eine erhebliche Ressource dar. Dies gilt umso mehr, wenn die Verwandtschaftsbeziehungen transnational organisiert sind, d.h. Beziehungen sowohl zu Verwandten in der Herkunfts- als auch in der Aufnahmegesellschaft bestehen (vgl. Nauck, Kohlmann 1998: 211).486 Nauck, Kohlmann (1998: 210) sprechen in diesem Zusammenhang die Bedingungen an, unter denen es zu einer dauerhaften Ablösung von Verwandten kommt. Die rational-choice-basierte Überlegung kann auf die Erklärung von Verwandtschaftsbeziehungen übertragen werden: „Wenn seine ökonomischen und sozialen Kosten der Aufrechterhaltung dieser Beziehungen dauerhaft den erwarteten Nutzen übersteigen und Alternativen bestehen“ (Nauck, Kohlmann 1998: 210; Hervorhebung im Original). Verwandtschaftsbeziehungen haben hinsichtlich der Bereitstellung von sozialem Kapital verschiedene Vorteile gegenüber anderen Sozialbeziehungen. Diese Vorteile gründen primär in dem zugeschriebenen biologischen Abstammungsverhältnis. Im Einzelnen können in Anlehnung an Nauck, Kohlmann (1998: 209) folgende Merkmale von Verwandtschaftsbeziehungen genannt werden, die die Produktion von Sozialkapital begünstigen: 1.
Soziale Beziehungen mit Verwandten besitzen einen vergleichsweise geringen Legitimationsbedarf, das heißt, dauerhafte, vertrauensvolle Beziehungen lassen sich vergleichsweise schnell und unaufwendig herstellen.487
486
In den bisherigen Eingliederungstheorien werden Verwandtschaftsbeziehungen kaum thematisiert, da aufgrund der einseitigen Fokussierung auf Assimilation Verwandtschaft als unnötig oder störend angesehen wird (vgl. Nauck, Kohlmann 1998: 211). Nauck, Kohlmann (1998) entwickeln unter der zusätzlichen Berücksichtigung des sozialen Kapitals ein Modell mit vier Typologien bzw. Akkulturationsmodi (Integration, Assimilation, Segregation, Marginalisierung) anhand derer sich die unterschiedliche Bedeutung von Verwandtschaftsbeziehungen bestimmen lässt. Es kommt zur Integration, wenn die Migrantinnen und Migranten sowohl mit kulturellem und sozialem Kapital ausgestattet sind und die Kontakte auf das Herkunftsland und Aufnahmeland verteilt sind. Soziales Kapital tritt in Form von transnationalen verwandtschaftlichen Netzwerken auf. Assimilation hat kulturelles Kapital zur Voraussetzung, jedoch kein soziales Kapital und beschreibt einen Modus, der sich lediglich auf eine optimale Platzierung in der Aufnahmegesellschaft richtet. Kennzeichen sind eine hohe familiale Kohäsion, jedoch geringe familienexterne Verwandtschaftskontakte. Segregation setzt ein hohes Maß an externem sozialen Kapital voraus, jedoch kein kulturelles Kapital und beschreibt einen Modus für eine optimale Platzierung in der Migrantenminorität und ist oft mit ritualistischen Traditionalismus verbunden. Marginalisierung – als letzter Modus – ist durch das Fehlen von beiden Kapitalarten gekennzeichnet und entsteht als Resultat von fehlenden Ressourcen und Opportunitäten (vgl. Nauck, Kohlmann 1998: 210f.). Dies entspricht der Überlegung, die Gesamtheit der Verwandten als eine Prädisposition für soziale Kontakte zu bezeichnen, da eine Kontaktaufnahme aufgrund des biologischen Abstammungsverhältnisses erleichtert ist.
487
230 2. 3. 4.
5.
4 Ein Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten
Verwandtschaftsbeziehungen weisen einen hohen Grad an Multiplexität auf, so dass aus ihnen erwachsendes soziales Kapital für alle Beteiligten vergleichsweise geringe Verfallsrisiken hat. Die Höhe des auch zukünftigen Gewinns aus dem sozialen Kapital und die aus der Verkettung resultierende reziproke soziale Kontrolle verhindert dauerhaft free-riding.488 Verwandtschaftsbeziehungen lassen sich wegen des geringen Legitimationsbedarfs auch nach längeren interaktionsfreien Intervallen vergleichsweise leicht remobilisieren und lassen entsprechend dem Multiplexitätsgrad auch Diskontierungen in langen Zeiträumen zu.489 Die askriptive Mitgliedschaft in Verwandtschaftsbeziehungen begünstigt die Übertragung von sozialem Kapital zwischen den Mitgliedern; je enger die Verwandtschaftsbeziehung, desto geringer ist der Transferverlust.
Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen haben im Vergleich zu anderen Sozialbeziehungen komparative Vorteile hinsichtlich ihrer Verlässlichkeit bzw. Vertrauenswürdigkeit (vgl. Diewald 1998: 185). Verwandtschaftliche Beziehungen sind dauerhaft und beruhen nicht alleine auf Emotionalität, sondern darüber hinaus auf einem gemeinsamen Abstammungsverhältnis. Damit sind sie berechenbarer und bilden eine besondere Basis für Vertrauen (vgl. Diewald 1991: 53). Die Gültigkeit der Reziprozitätsnorm macht Verwandte für soziale Beziehungen interessant (vgl. Walter 1993). „Investitionen in Verwandtschaftsbeziehungen sind im Hinblick auf Reziprozitätserwartungen eine rentable Anlage in soziales Kapital, deren Rendite in Hilfeleistungen im Alltag und in Krisen besteht“ (Walter 1993: 335).
Furstenberg (2005: 810f.), der speziell „family-based social capital“ untersucht, verweist in diesem Zusammenhang darauf, dass sich Familien- und Verwandtschaftsnetzwerke hinsichtlich ihrer Fähigkeit, soziales Kapital zu generieren, unterscheiden. Soziales Kapitel bezieht sich auf die Existenz gemeinsamer Normen, Vertrauen und commitment, die zwischen Familienmitgliedern Verpflichtungen entstehen lassen.490 Die Generierung von sozialem Kapital wird positiv von einer Elternschaft beeinflusst. Kinder schaffen neue potentielle Verbindungen mit dem erweiterten Familienkreis, der Nachbarschaft und lokalen Institutionen. Sie intensivieren die Beziehungen mit den entfernten Verwandten und damit die Möglichkeit von Unterstützungsleistungen (vgl. Furstenberg 2005: 813f.).491
488
489 490
491
Das „free-rider-Problem“ (Trittbrettfahrer-Problem) wurde zuerst von Olson (1965) in seinem Werk „The Logic of Collective Action“ formuliert und verdeutlicht das Problem der Nutzung von kollektiven Gütern durch rational agierende Individuen. Dies entspricht dem Konzept von Verwandtschaft als Matrix latenter Beziehungen (Riley 1983). Soziales Kapital ist definiert als „The stock of social goodwill created through shared social norms and a sense of common membership from which individuals may drawn in their efforts to achieve collective or personal objectives. By membership or affiliation, actors (in this case members of a family or kinship system) may derive benefits through sharing objectives, sponsorship, connections, and supports from others inside and outside that family” (Furstenberg 2005: 810). Eine Bestätigung dieser Annahme liefert die Studie von White (2001), die einen positiven Zusammenhang zwischen Elternstatus und Kontakten mit Geschwistern nachweisen kann. Dies liegt vor allem in dem Ziel der Eltern begründet, aktive Beziehungen ihrer Kinder mit Onkel, Tante, Cousin und Cousine herzustellen (Kapitel 3.2.1.1.2).
4.2 Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten
231
„As grandparents, and other extended kin become more involved, the child (and parents) become more embedded in a web of obligations and affiliations” (Furstenberg 2005: 814).
Übereinstimmend mit diesen Aussagen weist Ben-Porath (1980: 21f.) auf die Versicherungsfunktion von Familie und Verwandtschaft in Krisensituationen hin, deren Grundlage Vertrauen und persönliche Investitionen sind. Insbesondere größere Familien können diese Funktion erfüllen. Subjektive (entfernte) Verwandtschaftsbeziehungen sind aufgrund der genannten Vorteile somit als ein Potential für die Akkumulation von sozialem Kapital anzusehen, deren Bedeutung vor allem in Krisenzeiten (Ben-Porath 1980; Riley 1983) postuliert wird. Die Überlegungen der Austauschtheorie (Kapitel 4.1.1) und Theorie der rationalen Wahlhandlung (Kapitel 4.1.2) bilden die theoretische Basis des Modells zur Erklärung der Wahl von Verwandten. Damit sind die wichtigsten handlungs- und entscheidungstheoretischen Konstrukte und Mechanismen beschrieben worden, die die allgemeine Wahl von Verwandten erklären können. Nachdem nun Verwandtschaft im ersten Kapitel begrifflich und thematisch in das Gebiet der Soziologie eingeordnet wird, der soziale Wandel von Verwandtschaftsbeziehungen im zweiten Kapitel skizziert wird, die bisherigen theoretischen Ansätze (Kapitel 3.1) und empirischen Studien (Kapitel 3.2) einen Überblick über die Determinanten verwandtschaftlichen Handelns gegenüber dem erweiterten Familienkreis geben und die handlungstheoretischen Grundlagen in diesem Kapitel genauer expliziert werden, stellt das folgende Kapitel ein Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten vor. 4.2 Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten Im Folgenden wird ein Modell vorgestellt, welches das Konzept der subjektiven Verwandtschaft in die soziologische Verwandtschaftsanalyse integriert. Der Fokus liegt auf den Beziehungen zu folgenden Verwandtentypen, die insgesamt als entfernte Verwandte bezeichnet werden sind: Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, Nichten und Neffen. Außerhalb der Betrachtung liegen Generationenbeziehungen, Geschwisterbeziehungen und Beziehungen zur Affinalverwandtschaft. Den entfernten Verwandten gilt somit, vor dem Hintergrund der in Kapitel 3.3 dargestellten Forschungsdefizite, das besondere soziologische Interesse. Das Grundprinzip der Rational-Choice-Theorie (Kapitel 4.1.2) ist anwendbar, da zwei Prämissen gelten. Es wird von einer potentiellen Wahlsituation ausgegangen, in der – basierend auf der Abwägung von Kosten und Nutzen einer Beziehung und unter Berücksichtigung von Opportunitäten, Restriktionen und individuellen Präferenzen – eine Handlungsentscheidung getroffen wird. Die objektive Verwandtschaft, die den Ausgangspunkt der Analyse darstellt, wird durch die Gesamtheit der zur Verfügung stehenden Verwandten repräsentiert. In Anlehnung an Esser (2000) können zwei grundlegende Annahmen des Modells formuliert werden, die das Konzept der objektiven Verwandtschaft stützen. Theoretischer Ausgangspunkt ist die Opportunitätentheorie von Blau (1994):
232 1. 2.
4 Ein Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten
„Die Wahrscheinlichkeit für eine bestimmte Form der Beziehung hängt von den Opportunitäten des Kontaktes ab, weil Beziehungen erst dann entstehen können, wenn es zu Kontakten überhaupt erst kommt“ (Esser 2000: 273; Hervorhebung im Original).492 „Die Nähe im multidimensionalen sozialen Raum erhöht die Wahrscheinlichkeit für das Entstehen von Beziehungen. „Nähe“ kann dabei eine räumliche oder soziale Nähe sein“ (Esser 2000: 273; Hervorhebung im Original).493
Die objektive Verwandtschaft ist entsprechend der Ausführungen in Kapitel 1.1.2 und Kapitel 1.6 eine Prädisposition bzw. Opportunitätenstruktur für soziale Kontakte. Sie stellt einen Fokus im Sinne der Fokustheorie Felds (1981) (Kapitel 3.1.2.2). Die zentralen Hypothesen in diesem Zusammenhang lauten (vgl. Feld 1981: 1019ff.): 1. 2. 3.
Zwei Personen, die einen Fokus teilen, haben eine höhere Wahrscheinlichkeit der Interaktion. Je „zwingender“ ein Fokus ist, umso höher ist darüber hinaus die Wahrscheinlichkeit, dass zwei Personen miteinander verbunden sind. Zwei Individuen, die mit einer (verwandten) dritten Person verbunden sind, haben eine höhere Wahrscheinlichkeit, selbst miteinander verbunden zu sein.
Die allgemeine Kontaktaufnahme zu Verwandten ist durch die soziale Nähe, d.h. das biologische Abstammungsverhältnis, erleichtert. Unter Wahl wird die Herstellung bzw. die Existenz einer sozialen Beziehung verstanden. In diesem Zusammenhang muss man zwischen zwei Aspekten differenzieren: 1) die Bedingungen der Aufnahme und 2) die Bedingungen der Stabilität und des Bestandes einer sozialen Beziehung. Die Aufnahme einer Interaktion liegt in einer Entscheidung für die Wahl einer Interaktionshandlung in Bezug auf Verwandte begründet (vgl. Esser 1980: 198). So werden Interaktionen als Handlungsentscheidungen begonnen, dies sagt jedoch noch nichts über ihren (dauerhaften) Bestand aus. Die Stabilisierung einer Beziehung ist von den Bedingungen der Aufnahme einer Interaktion prinzipiell unabhängig (vgl. Esser 1980: 202). Esser (1980: 202f.) weist zusammenfassend auf drei Bedingungskonstellationen der Stabilität einer Beziehung hin: 1) eine hohe Bedeutsamkeit der Interaktionshandlungen für die Zielerreichung der beteiligten Akteure, 2) zu hohe negative Folgen mit Eintreten des Abbruchs der Beziehung, so dass auch Beziehungen mit geringerem Nutzen aufrechterhalten werden und 3) wenn keine Alternativen zur bestehenden Beziehung bekannt sind. Die Erklärung der Wahl von Verwandten muss – entsprechend der bisherigen Ausführungen – folgendermaßen differenziert werden:
Die Erklärung der Wahl von Verwandten (subjektive Verwandtschaft). Die Erklärung der Bindung an Verwandte und Aufrechterhaltung der Beziehung.
Die subjektive Verwandtschaft stellt eine Teilmenge der objektiven Verwandtschaft dar und umfasst den Familienkreis, mit denen soziale Beziehungen gepflegt werden. Die zentrale Forschungsfrage lautet: Welche Determinanten erhöhen die Wahrscheinlichkeit der Wahl von Verwandten? Über die Bewertung der Beziehung hinsichtlich Intensität bzw. Grad der emotionalen Bindung wird damit keine Aussage gemacht. Das Modell zur Erklä492 493
Vgl. hierzu im Original Blau (1994: 29). Vgl. hierzu im Original Blau (1994: 39).
233
4.2 Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten
rung der Wahl von Verwandten erfasst die allgemeinen Bestimmungsfaktoren. Eine Differenzierung des Konzeptes der subjektiven Verwandtschaft erfolgt mit der Erklärung der spezifischen Bindung (commitment) zwischen Verwandten. Hierzu wird in einem Exkurs das Investitionsmodell von Rusbult (1980a) auf Verwandtschaftsbeziehungen übertragen (Kapitel 4.3). Das Modell (vgl. Abbildung 4) enthält im Einzelnen sechs Elemente der Wahl von Verwandten. Theoretische Ausgangspunkte sind die Austauschtheorie und RationalChoice-Theorie (vgl. Kapitel 4.1). Sie bestimmen die allgemeinen Determinanten der Handlungsentscheidung. Opportunitäten
sozialstrukturelle Position (familien-) biographische Charakteristiken
Barrieren
Alternativen
Wahl von Verwandten
normative Verpflichtungen Abbildung 4:
Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten
Die sozialstrukturelle Position und die (familien-)biographischen Charakteristiken bestimmen allgemein Opportunitäten, Alternativen, Barrieren und normative Verpflichtungen im Kontext der Wahl von Verwandten. Unter der sozialstrukturellen Position versteht man die Einordnung des Individuums anhand sozialer, struktureller und ökonomischer Faktoren. Zentrale Variablen sind Geschlecht, Alter, Bildungs-, Berufs- und Einkommensstatus, Familienstand, Familienzyklus, ethnische Herkunft und Religiosität. Darüber hinaus werden die Variablen geographische Distanz, Wohnortgröße und Anzahl der Freunde/Freundinnen aufgenommen. Es werden allgemeine Hypothesen für Wahl von entfernten Verwandten sowie spezifische Hypothesen für die Verwandtentypen Onkel/Tanten, Cousins/Cousinen und Nichten/Neffen generiert. Dem Aspekt der Dyade wird Rechnung getragen, da ebenfalls Hypothesen über sozialstrukturelle Merkmale der Verwandten formuliert werden. In Bezug auf den Einfluss der sozialstrukturellen Position lassen sich aus den theoretischen Überlegungen folgende Hypothesen ableiten:
234
4 Ein Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten
Geschlecht Kapitel 1.6 thematisiert die einzigartige Rolle der Frauen als familiale Integrationsfigur (kinkeeper) im Verwandtschaftsnetzwerk, die in der sozialisierten Geschlechtsrollenorientierung begründet liegt. Die Aufrechterhaltung und Pflege von verwandtschaftlichen Beziehungen sind Bestandteile einer traditionellen Frauenrolle (speziell Hausfrau oder Ehefrau), die sich beispielsweise in höheren verwandtschaftlichen Verpflichtungen gegenüber Verwandten und häufigeren Kontakten äußern. Neben dem biologischen Geschlecht, ist somit ein Einfluss der traditionellen Geschlechtrollenorientierung auf die Wahl von entfernten Verwandten zu vermuten. Gleichzeitig sind, z.B. im Fall einer Berufstätigkeit der Frau, außerverwandtschaftliche Alternativen und die Kosten der Wahl, in Form nur begrenzt zur Verfügung stehender Zeitressourcen, erhöht. H1a: H1b:
Frauen wählen mit höherer Wahrscheinlichkeit entfernte Verwandte als Männer. Je traditioneller die Geschlechtsrollenorientierung der Frau, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Wahl von entfernten Verwandten.
Bildungs-, Berufs- und Einkommensstatus Statusniedrige Personen sind eher auf kostengünstige Interaktionspartner/-innen angewiesen als statushöhere Personen. Personen mit niedrigerem Status verfügen über geringere persönliche Ressourcen und weniger Gelegenheiten zum Aufbau externer, nicht-verwandtschaftlicher Beziehungen. Ihre Ressourcen werden am besten über intensive familiale und verwandtschaftliche Kontakte – als starke Beziehungen (Granovetter 1973) – beschafft (vgl. Pappi, Melbeck 1988: 226). Personen mit höherem Status verfügen über größere Möglichkeiten für die Aufnahme von „optionalen Beziehungen“ (Bruckner u.a. 1993: 20), wie z.B. Freundschaften. H2a: H2b: H2c:
Je niedriger der Bildungsstatus, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Wahl von entfernten Verwandten. Je niedriger der Berufsstatus, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Wahl von entfernten Verwandten. Je niedriger das Einkommen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Wahl von entfernten Verwandten.
Familienstand Unter dem Aspekt des Familienstandes wird insbesondere der Einfluss des Elternstatus auf die Wahl von Verwandten thematisiert. Insbesondere Nichten und Neffen erfüllen die Rolle eines Substituts für fehlende Kinder. Zudem kann man bei Kinderlosen ein stärkeres emotionales Interesse an verwandtschaftlichen Beziehungen vermuten. H3:
Kinderlose wählen mit höherer Wahrscheinlichkeit entfernte Verwandte als Personen, die eigene Kinder haben.
4.2 Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten
235
Der Einfluss des Familienstandes muss jedoch differenziert betrachtet werden. In der Familiensoziologie wird in diesem Zusammenhang das Konzept des Familienzyklus (Glick 1947, 1978) diskutiert. Der Familienzyklus unterscheidet Stadien oder Phasen, in denen sich Familien oder Partnerschaften befinden, die mit unterschiedlichen Bedürfnissen oder funktionalen Erfordernissen verknüpft sind (vgl. Hill, Kopp 2004: 68). Innerhalb der einzelnen Stadien variiert die Bedeutung von Verwandtschaftsbeziehungen. Eine für die Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen relevante Einteilung differenziert zum einen zwischen Paaren mit jüngeren Kindern und Kindern im Vorschulalter bzw. im schulpflichtigen Alter und zum anderen zwischen Paaren mit älteren Kindern (über 18 Jahre), die noch im Haushalt leben oder diesen bereits verlassen haben. Vor allem für die erste Phase der Elternschaft mit jüngeren Kindern kann man eine höhere Bedeutung von Verwandtschaft vermuten, da durch intensivere Kontakte mit den Geschwistern Möglichkeiten für Kontakte der Kinder mit Onkel, Tante, Cousin und Cousine geschaffen werden (White 2001). Bezogen auf den Einfluss des Familienzyklus wird folgende Hypothese aufgestellt:494 H4:
Paare (Alleinerziehende) mit jüngeren Kindern haben häufigere Kontakte mit ihren Geschwistern.
Alter Mit Zunahme des Alters steigt die Wahrscheinlichkeit der Wahl von entfernten Verwandten, da mit dem Alter ein höherer emotionaler und instrumenteller Nutzen von Verwandten verbunden ist und vermehrt Zeitressourcen für Kontakte zur Verfügung stehen. Diese These bezieht sich vor allem auf Verwandte, die zu der objektiven Verwandtschaft der älteren Menschen gehören (Nichten/Neffen, Cousins/Cousinen). H5:
Je älter die Person, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Wahl von entfernten Verwandten (Nichten/Neffen, Cousins/Cousinen).
Ethnische Herkunft Als Erklärungen für den Einfluss der ethnischen Herkunft können an dieser Stelle unterschiedliche Argumente angeführt werden: ein größerer Nutzen von entfernten Verwandten aufgrund einer ökonomisch deprivierten Situation, keine Alternativen in Form außerverwandtschaftlicher Sozialbeziehungen oder kulturell-verwandtschaftliche Werte, Einstellungen und stärkere normative Verpflichtungen. H6:
494
Migrantinnen und Migranten wählen mit höherer Wahrscheinlichkeit entfernte Verwandte als Personen deutscher Herkunft.
Verwandtschaftsbeziehungen von Kindern werden im Rahmen dieser Arbeit jedoch nicht analysiert.
236
4 Ein Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten
Religion Bei religiösen Menschen kann man einen höheren Stellenwert von Familie und Verwandtschaft vermuten. Religiosität kann darüber hinaus als eine zentrale Determinante von normativen Verpflichtungen angesehen werden. Allgemein gilt, dass je stärker die normativen Verpflichtungen gegenüber Verwandten ausgeprägt sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Wahl von Verwandten. Normen wirken sich auf die Kosten der Handlungsalternativen aus und stellen somit soziale Randbedingungen des menschlichen Handelns dar, da sie die Einhaltung oder Nicht-Einhaltung für den Akteur positiv belohnen oder sanktionieren (vgl. Opp 1978: 136). H7:
Je stärker die Religiosität, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Wahl von entfernten Verwandten.
Geographische Distanz, Wohnortgröße und Anzahl von Freunden/Freundinnen Die geographische Distanz zwischen Verwandten wirkt als eine Barriere der Wahl von Verwandten, da sie ein zentraler Kostenfaktor für verwandtschaftliche Interaktionen ist. Die Existenz von Alternativen zur Verwandtschaftsbeziehung ist durch a) die Wohnortgröße (Stadt vs. Land) und b) die Größe des Freundesnetzwerkes bestimmt. Städtische und ländliche Kontexte werden mit unterschiedlichen außerverwandtschaftlichen Gelegenheitsstrukturen und Wahlmöglichkeiten assoziiert. In Anlehnung an Fischer (1982a) kann zwischen persönlichen Alternativen (Substitution durch andere Interaktionspartner/-innen wie z.B. Freundschaften oder andere Verwandte) und institutionellen Alternativen differenziert werden. Speziell Freundschaften stellen persönliche Alternativen zu Verwandtschaftsbeziehungen dar. Die Kosten (Zeit) für verwandtschaftliche Interaktionen sind erhöht, zudem sind die Belohnungen geringer, da diese in der alternativen Sozialbeziehung „Freundschaft“ realisiert werden können. Auf der anderen Seite gilt, dass ein Fehlen von verwandtschaftlichen Beziehungen durch ein vergrößertes Freundesnetzwerk substituiert werden kann. H8: H9: H10:
Je geringer die geographische Distanz, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Wahl von entfernten Verwandten. Je geringer der Urbanisierungsgrad des Wohnortes, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Wahl von entfernten Verwandten. Je geringer die Anzahl der Freundinnen und Freunde, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Wahl von entfernten Verwandten.
Zu den (familien-)biographischen Charakteristiken werden zum einen die Wichtigkeit und Präsenz der entfernten Verwandten gezählt (Hypothese 11). Erfahrungen und Bindungen in der Kindheit prägen die Verwandtschaftsbeziehung im Erwachsenenalter. Mit der Berücksichtigung der Kindheit kann die idiosynkratische Geschichte der Beziehung und die damit verbundenen gemeinsamen Erfahrungen und Erinnerungen erfasst werden. Eine weitere Determinante ist die traditionelle Familienorientierung (Clanbewusstsein)495 (Hypothese 12). Dieser Faktor erfasst den zugeschriebenen Charakter von Verwandtschaftsbeziehungen, der auf dem biologischen Abstammungsverhältnis beruht. Ausgeprägte verwandt495
Der Begriff „Clanbewusstsein“ wird von Kaiser (1993: 151) übernommen.
4.2 Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten
237
schaftliche Solidaritätsgefühle und Werte, aber auch damit verbundene normative Verpflichtungen, erhöhen die Wahrscheinlichkeit der Wahl von entfernten Verwandten als Bezugspersonen. Die Qualität der geschwisterlichen Beziehung der Eltern gilt als eine Determinante der Wahl von Onkeln/Tanten und Cousins/Cousinen (Hypothese 13). Zu Beginn der entfernten Verwandtschaftsbeziehung steht oft die Vermittlung von näheren Verwandten und deren soziale Beziehungen (vgl. Kaiser 1993: 166). Die erste Wahlentscheidung wird somit von den Eltern durchgeführt. Verwandte dieses bereits existierenden subjektiven Verwandtschaftsnetzwerkes der Eltern haben eine höhere Wahrscheinlichkeit von ego gewählt zu werden als die übrigen Mitglieder der objektiven Verwandtschaft. Zur Erklärung lassen sich ebenfalls Gedanken des Framing-Modells (Esser 1996b) anführen: Eltern vermitteln ihren Kindern eine Situationsdefinition, da sie durch Interaktionen mit ihren Geschwistern und deren Kindern, verwandtschaftliche Kontakte mit Tanten, Onkeln, Cousins und Cousinen prägen. Dieser Mechanismus gilt ebenfalls für die Beziehungen egos zu den Geschwistern. Je enger die geschwisterlichen Beziehungen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Wahl von Nichten und Neffen (Hypothese 14a). Verschiedene Konzepte der Netzwerkanalyse – Zentralität und Clique – verdeutlichen die Bedeutung der Geschwisterbeziehung. Besonders stark verdichtete Teile eines Netzwerkes werden als Cliquen bezeichnet. Sie stellen besondere Formen von direkten Beziehungen dar, die zu einem Zusammenhalt des erweiterten Familienkreises (Cousins/Cousinen, Nichten/Neffen) führen (vgl. Esser 2000: 200). Hypothese (H14b) bezieht sich auf die Qualität der Beziehung egos zu den Onkeln und Tanten. Damit wird die Tatsache berücksichtigt, dass die Beziehungen zu Cousins und Cousinen von den Beziehungen zu Onkeln und Tanten geprägt werden. In diesem Kontext muss ebenfalls der Geschwisterstatus berücksichtigt werden, denn Geschwisterbeziehungen stellen alternative persönliche Beziehungen dar. Einzelkinder haben eine höhere Wahrscheinlichkeit der Wahl von Cousins und Cousinen (Hypothese 15). Onkel und Tanten können darüber hinaus die Rolle eines Substituts für Eltern übernehmen, so dass fehlende Bindungen oder der Verlust der Eltern bzw. eines Elternteils zu einer höheren Wahrscheinlichkeit führt, diese Verwandten zu wählen (Hypothese 16). Innerhalb des Verwandtschaftsnetzwerkes übernehmen kinkeeper die Rolle der Aufrechterhaltung, Initiative und Organisation von verwandtschaftlichen Kontakten, die kostengünstig für andere Familienangehörige bereitgestellt werden. Kinkeeper erhöhen die Wahrscheinlichkeit der Verbundenheit unter den Verwandten und damit die Opportunitäten der Wahl von entfernten Verwandten (Hypothese 17), wie es zum Beispiel der „familyreunion-effect“ (Waite, Harrison 1992) betont. Hypothese 18 bezieht sich auf den Einfluss der Ähnlichkeit von Werten und gemeinsamen Interessen innerhalb der Verwandtschaftsbeziehung. Diese individuellen psychologischen Faktoren werden ebenfalls in Theorien der Freundschaftswahl thematisiert (Kapitel 3.1.2.2) und gelten als zentrale Determinanten der Wahl von entfernten Verwandten. Als eine weitere Opportunität der Wahl muss abschließend die Größe der objektiven entfernten Verwandtschaft erfasst werden. Es sind sowohl positive als auch negative Einflüsse denkbar. Je mehr entfernte Verwandte eines bestimmten Verwandtentyps vorhanden sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Wahl dieser Verwandten (Hypothese 19a). Auf der anderen Seite gilt jedoch, dass die Tatsache einer geringen Anzahl von biologischen Verwandten eines bestimmten Verwandtentyps zu einer höheren Bedeutung in Bezug auf den emotionalen Nutzen dieser Beziehungen führt (Hypothese 19b).
238
4 Ein Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten
Die Hypothesen zum Zusammenhang von (familien-)biographischen Charakteristiken und der Wahl von Verwandten lauten: H11: H12: H13: H14a: H14b: H15: H16: H17: H18: H19a: H19b:
Je wichtiger und präsenter Onkel/Tanten und Cousins/Cousinen in der Kindheit sind, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Wahl im Erwachsenenalter. Je stärker die traditionelle Familienorientierung (Clanbewusstsein) ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Wahl von entfernten Verwandten. Je enger die Beziehung der Eltern mit ihren Geschwistern, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Wahl von Onkeln/Tanten und Cousins/Cousinen. Je enger die Beziehung egos mit den Geschwistern, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Wahl von Nichten und Neffen. Je enger die Beziehung egos mit Onkeln und Tanten, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Wahl von Cousins und Cousinen. Einzelkinder wählen mit höherer Wahrscheinlichkeit Cousins und Cousinen als Individuen, die Geschwister haben. Individuen, die eine geringe Bindung an ihre Eltern haben bzw. keine Eltern mehr haben, wählen mit höherer Wahrscheinlichkeit Onkel und Tanten. Die Existenz eines kinkeeper erhöht die Wahrscheinlichkeit der Wahl von entfernten Verwandten, da diese familialen Integrationsfiguren die Initiative für verwandtschaftliche Kontakte übernehmen und diese kostengünstig bereitstellen. Ähnlichkeit von Werten und gemeinsame Interessen erhöhen die Wahrscheinlichkeit der Wahl von entfernten Verwandten. Je geringer die Anzahl der entfernten Verwandten (eines bestimmten Verwandtentyps), desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Wahl. Je größer die Anzahl der entfernten Verwandten (eines bestimmten Verwandtentyps), desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Wahl.
Darüber hinaus werden Hypothesen generiert, die sich auf spezifische Merkmale der Verwandten und der Dyade beziehen. Berücksichtigt werden die Einflüsse des Geschlechts, der Abstammungslinie (matrilinear vs. patrilinear) und der Homogenität hinsichtlich Geschlecht und sozialem Status. Zusätzlich wird in Anlehnung an Feld (1984) die Art der Unterstützungsleistung erfasst und dem Aspekt der Latenz von Verwandtschaftsbeziehungen Rechnung getragen, die vor allem in Krisenzeiten gewählt werden (Riley 1983). Bezogen auf die Merkmale der Verwandten ergeben sich folgende Hypothesen: H20: H21: H22: H23:
Weibliche entfernte Verwandte werden mit höherer Wahrscheinlichkeit gewählt als männliche entfernte Verwandte. Entfernte Verwandte der matrilinearen Abstammungslinie werden mit höherer Wahrscheinlichkeit gewählt als patrilineare entfernte Verwandte. Homogenität hinsichtlich sozialstruktureller Eigenschaften (Geschlecht, sozialer Status) erhöht die Wahrscheinlichkeit der Wahl von entfernten Verwandten. Entfernte Verwandte werden im Vergleich zu Nicht-Verwandten mit höherer Wahrscheinlichkeit in Krisensituationen gewählt, wenn intensive und umfangreiche emotionale, finanzielle oder praktische Unterstützungsleistungen gefordert sind.
4.3 Exkurs: Bindung an Verwandte: Das Investitionsmodell von Rusbult
239
Eine sekundäranalytische Überprüfung ausgewählter Hypothesen des Modells erfolgt im fünften Kapitel. Das folgende Kapitel stellt in einem Exkurs das Investitionsmodell von Rusbult vor, das – als alternatives Modell – die Bindung zwischen Verwandten erklären kann. 4.3 Exkurs: Bindung an Verwandte: Das Investitionsmodell von Rusbult Die Austauschtheorie, wie sie in Kapitel 4.1.1 dargestellt wurde, ist neben ihrer erfolgreichen theoretischen und empirischen Anwendung in der Familiensoziologie, auch kritisch beurteilt worden. So berücksichtigt die klassische Austauschtheorie nicht die Langfristigkeit einer sozialen Beziehung. Langfristige Beziehungen sind oft asymmetrische Tauschbeziehungen, für die verschiedene Grade von Belohnungen und Kosten charakteristisch sind (vgl. Lewis, Spanier 1982: 58). Aufgrund dessen wird in diesem Exkurs das Konzept des commitments und das Investitionsmodell von Rusbult (1980a) vorgestellt. Das Investitionsmodell erweitert die klassische Austauschtheorie um die in einer Beziehung getätigten Investitionen und erklärt die Bindung an eine persönliche Beziehung. Nachdem das Investitionsmodell und seine zentralen Determinanten allgemein dargestellt werden, erfolgt die Übertragung dieser Überlegungen auf entfernte Verwandtschaftsbeziehungen. Die Affinität zwischen commitment und Verwandtschaft wurde bereits in Kapitel 1.5 deutlich. Verschiedene Autoren haben als zentrales Merkmal die spezifische Bindung an Verwandte hervorgehoben und diese als commitment bezeichnet (vgl. exemplarisch Fischer 1982a; Litwak, Szelenyi 1969).496 Commitment erhebt den Anspruch ein allgemeines Phänomen zu sein, das auf verschiedene Typen von Sozialbeziehungen anwendbar ist und auch in Alltagskonzeptionen auf Verwandte bezogen wird (vgl. Fehr 1999). „(…) is to emphasize that processes of commitment are general phenomena that occur in all social settings and which are crucial for the maintenance of many types of social relationships, (…)” (Johnson 1973: 404).
Howard S. Becker hat in den 1960er Jahren einen entscheidenden Beitrag zur Spezifikation des commitment-Konzeptes geliefert.497 Der Gedanke der Dauerhaftigkeit einer Beziehung wird explizit hervorgehoben: „Sociologists typically make use of the concept of commitment when they are trying to account for the fact that people engage in consistent lines of activity” (Becker 1960: 33; Hervorhebung im Original).
496 497
Vgl. in diesem Zusammenhang auch den Begriff „amity“ (Fortes 1978). Becker (1960: 32) kritisiert die mangelnde formale Analyse und theoretische Integration in die soziologische Theoriebildung. Er grenzt commitment von anderen soziologischen Theorien ab, die ebenfalls den Anspruch haben, menschliches Verhalten zu erklären. Seine Kritik bezieht sich vor allem auf die Rollentheorie und das Konzept der kulturellen Werte. Die Rollentheorie kann nicht abweichendes Verhalten erklären und liefert keine Erklärung, nach welchen Regeln gehandelt wird. Das zweite Konzept hebt den Einfluss von kulturellen Werten hervor. Personen wählen die Handlungsalternative, die konform mit den gegebenen gesellschaftlichen Werten ist und sich logisch aus ihnen ableiten lässt. Es ist jedoch schwierig, insbesondere in modernen Gesellschaften, die sich durch Wertepluralismus kennzeichnen, die jeweiligen Werte zu identifizieren. Darüber hinaus bleibt offen, nach welchem Mechanismus Werte das aktuelle Verhalten determinieren (vgl. Becker 1960: 33ff.).
240
4 Ein Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten
Inhaltliche und begriffliche Differenzierungen erfolgen von Johnson (1982b, 1991a) und Kelley (1983), die jeweils unterschiedliche Aspekte von commitment hervorheben. Johnson (1982b: 53) differenziert zwischen persönlichem und strukturellem commitment.498 Persönliches commitment „results from strong personal attachments to the line of action” (Johnson 1982b: 53). Die Hauptkomponente ist die Zufriedenheit mit der Beziehung, die wiederum Resultat von Kosten und Belohnungen und der Abwägung möglicher Alternativen zur bestehenden Beziehung ist. Dies entspricht den austauschtheoretischen Überlegungen von Thibaut, Kelley (1959) sowie Kelley, Thibaut (1978).499 Strukturelles commitment erfasst die strukturelle Verflechtung der Individuen. Unabhängig von der Zufriedenheit mit der Beziehung (Beziehungsqualität) besteht ein Zwang, die Beziehung aufrechtzuerhalten. Komponenten des strukturellen commitments sind vor allem Investitionen, sozialer Druck und (mangelnde) Alternativen. Zu den Investitionen werden insbesondere Zeit, Emotionen und Geld gezählt, die im Verlauf der Beziehung kumuliert werden. Eine Beendigung der Beziehung hat einen Verlust dieser Investitionen zur Folge (vgl. Johnson 1982b: 54ff.). In Auseinandersetzung mit den bisherigen Definitionen entwickelt Kelley (1983) ein eigenes Konzept mit besonderer Berücksichtigung der Variabilität der im Verlauf der Zeit aggregierten Kosten und Belohnungen einer Beziehung. „Commitment to a relationship means that a person is in a causal system that stably, over time and situations, supports membership in the relationship” (Kelley 1983: 295).
Dazu gehören positive Elemente der Beziehung (Belohnungen) sowie stabile äußere Faktoren, wie sozialer Druck, Verpflichtungen und Investitionen (vgl. Kelley 1983: 312f.). Die Entscheidung, eine Beziehung zu beenden, hängt von der individuellen, psychologischen Perspektive und der Zeitspanne ab, in der die Nutzen und Kosten aggregiert werden (vgl. Kelley 1983: 289). Die Variabilität der Kosten-Belohnungs-Differenz bestimmt sich auf der Grundlage von zwei Faktoren (vgl. Kelley 1983: 290): 1. 2.
„the average level of the pro-con-difference“ (Mittelwert des Ertrags einer Beziehung) „the variance of this difference” (Varianz des Ertrags einer Beziehung)
Mit dieser Differenzierung wird auf die (mögliche) Variabilität der Kosten-BelohnungsDifferenz im Verlauf einer Beziehung hingewiesen. Damit sind die Gesamtheit der Belohnungen und Kosten, der Durchschnitt und die Variabilität, mit der dieser Gewinn auftritt, für die Bestimmung des commitments entscheidend (vgl. Kelley 1983: 292).500 Es findet keine kurzfristige Abwägung von Belohnungen und Kosten statt. Um die Aufrechterhaltung einer Beziehung zu erklären, muss die gesamte Beziehungsdauer betrachtet werden. In 498
499 500
In einer früheren Publikation differenziert Johnson (1973: 395ff.) zwischen 1) „personal commitment“ und 2) „behavioral commitment“. Letztere besteht wiederum aus zwei Komponenten: a) „social commitment“ (normative Erwartungen als Resultat kultureller Normen) und b) „cost commitment“ (subjektive Kosten, die bei Beendigung der Beziehungen entstehen, z.B. Verlust von Investitionen) (vgl. Johnson 1973: 397). In einer aktuelleren Publikation differenzieren Johnson (1991a) und Johnson u.a. (1999) zwischen persönlichem, strukturellem und moralischem commitment. Vgl. dazu Kapitel 4.1.1. Kelley (1983: 290f.) weist zudem darauf hin, dass die zeitliche Variabilität in bisherigen Modellen zur Erklärung der Beziehungsstabilität (z.B. Rusbult 1980a) nicht berücksichtigt wurde. So wird commitment bzw. die zugrunde liegenden Kausalfaktoren Zufriedenheit, Investitionen und Alternativen nur zu einem bestimmten, einzelnen Zeitpunkt gemessen (vgl. Kelley 1983: 307).
4.3 Exkurs: Bindung an Verwandte: Das Investitionsmodell von Rusbult
241
Anlehnung an Kopp (1994: 154) kann folgender Zusammenhang zwischen commitment und Varianz der Kosten-Belohnungs-Differenz formuliert werden: Je höher die Varianz des Gewinnes ist, desto niedriger ist das commitment in diese Beziehung. Ziel des Investitionsmodells von Rusbult (1980a) ist es, den Grad an commitment und Zufriedenheit mit einer Beziehung vorherzusagen. Rusbult (1980a: 174) definiert: „The individual´s commitment to an association, however, is related to the probability that he/she will leave the relationship, and involves feelings of psychological attachment” [Eigene Hervorhebung]. Das Investitionsmodell basiert grundlegend auf verschiedenen Prinzipien des Interdependenzmodells von Kelley, Thibaut (1978) und Thibaut, Kelley (1959). Das Investitionsmodell berücksichtigt drei Faktoren, die den Grad an commitment bestimmen: die Zufriedenheit mit der Beziehung, die Qualität der Alternativen und die Investitionen.501 Zufriedenheit mit der Beziehung (Beziehungsqualität) Der Zufriedenheitsgrad („satisfaction level“ (SAT)) mit der Beziehung ist, in Übereinstimmung mit der Interdependenztheorie von Thibaut, Kelley (1959), das Ergebnis von Belohnungen und Kosten einer Beziehung und des Vergleichsstandards (CL). Er wird definiert als: SATAx = Ox – CL. Das Vergleichsniveau (CL) ist der Standard, mit dem die Attraktivität der gegenwärtigen Beziehung evaluiert wird. Er resultiert aus den allgemeinen Erwartungen an die Beziehung sowie aus sozialen Vergleichsprozessen mit Freundinnen, Freunden oder anderen dritten Personen (vgl. Rusbult 1991: 157). Das Vergleichsniveau wird als „qualitative Erwartung“ bezeichnet, die als Schemata oder mentale Modelle einer idealen Beziehung vorstellbar sind (vgl. Rusbult, Buunk 1993: 181).502 Der Zufriedenheitsgrad mit der Beziehung steigt, je höher die Belohnungen der Beziehung und je geringer die Kosten
501
502
In der Debatte von Johnson (1991a, b), Rusbult (1991) und Levinger (1991) geht es um die Gemeinsamkeiten, Parallelen und Unterschiede zwischen dem commitment-Konzept von Johnson (1991a) und dem Investitionsmodell von Rusbult (1980a). Insbesondere die Einführung des moralischen commitments in die wissenschaftliche Diskussion wird von Johnson (1991a) als entscheidende Verbesserung angesehen. Setzt man das Investitionsmodell in Beziehung zu Johnson (1991a), der zwischen persönlichem, moralischem und strukturellem commitment differenziert, so zeigen sich nach Rusbult (1991: 154f.) eindeutige Parallelen. Das persönliche commitment erfasst die Zufriedenheit im Investitionsmodell von Rusbult (1980a). Beides sind positive Faktoren, die eine Person freiwillig dazu veranlassen, eine Beziehung aufrechtzuerhalten. Das strukturelle commitment benennt als eine Komponente die „investments“. Sie entsprechen dem wichtigen Modellparameter der Investitionen. Die Komponente der „availability of acceptable alternative“ (ebenfalls Teil des strukturellen commitments) entspricht der Qualität der Alternativen im Investitionsmodell von Rusbult. Die explizite Berücksichtigung des moralischen commitments stellt nun eine entscheidende Verbesserung der bisherigen Ansätze dar (vgl. Johnson 1991a: 136). Kritik üben Levinger (1991) und Rusbult (1991). Als Begründung führt Levinger (1991: 148) die Schwierigkeit an, in der Praxis zwischen äußerem sozialen Druck und inneren Faktoren (z.B. moralische Verpflichtung) zu differenzieren. Nach Rusbult (1991: 159) sind soziale Normen und moralische Verpflichtungen bereits in dem Modellparameter „Investitionen“ aufgenommen. Darüber hinaus zeigen empirische Analysen (Rusbult u.a. 1989), dass subjektive Normen nur schwach mit commitment korrelieren (vgl. Rusbult 1991: 159). Das Vergleichsniveau (CL) wird zwar an dieser Stelle in die theoretischen Überlegungen der Zufriedenheit mit einer Beziehung einbezogen, es wird jedoch nicht empirisch erhoben. Rusbult (1980a: 176) weist darauf in, dass das Vergleichsniveau nicht in den Studien gemessen wird, da die Teilnehmer/-innen der Experimente nicht zwischen Kosten und Belohnungen und ihren allgemeinen Erwartungen an die Beziehung unterscheiden können. Dies führt dazu, dass die experimentelle Variation des Vergleichsniveaus keine signifikanten Einflüsse auf die Zufriedenheit mit der Beziehung hat.
242
4 Ein Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten
und (qualitativen) Erwartungen sind (vgl. Rusbult 1980a: 174). 503 Als allgemeine Hypothese kann festgehalten werden: Je größer die Zufriedenheit mit einer Beziehung, desto höher ist das commitment. Qualität der Alternativen Des Weiteren wird die Qualität der Alternativen im Investitionsmodell berücksichtigt (CLalt). Die Zufriedenheit mit der Alternative (SATAy) wird definiert als: SATAy = Oy – CLt, wobei Oy die Qualität der besten Alternative bezeichnet und CL das Vergleichsniveau ist, das den allgemeinen Erwartungen des Individuums bezüglich der alternativen Beziehung entspricht (vgl. Rusbult 1980a: 173f.). Alternativen werden als Opportunitäten angesehen, eine nicht zufriedenstellende Beziehung zu verlassen (vgl. Rusbult, Buunk 1993: 183). „In a general sense, quality of alternatives refers to the strength of the forces pulling an individual away from a relationship, or the degree to which an individual believes that important needs could be effectively fulfilled outside the relationship“ (Rusbult, Buunk 1993: 182).
Die Hypothese lautet: Je weniger (subjektiv) wahrgenommene Alternativen einer Beziehung zur Verfügung stehen bzw. je geringer die Qualität dieser Alternativen eingeschätzt wird, desto höher ist das commitment. Investitionen Das Investitionsmodell erweitert das Interdependenzmodell von Thibaut und Kelley, das die Wichtigkeit des Ertrags einer Beziehung und deren Alternativen postuliert, um eine zusätzliche Komponente. Commitment ist von der Höhe der realisierten Investitionen abhängig und erhöht sich im Verlauf der Dauer einer Beziehung (vgl. Rusbult 1980a: 174). Investitionen werden allgemein als „mächtige psychologische Anreize“ der Aufrechterhaltung einer Beziehung mit der Konsequenz einer Langzeitorientierung definiert, die die Beziehungsstabilität erhöhen (vgl. Rusbult, Buunk 1993: 186). Rusbult (1980a: 174) unterscheidet zwischen zwei Arten von Investitionen, die sowohl materieller als auch psychologischer Art sein können: a) extrinsische Investitionen und b) intrinsische Investitionen. Als Beispiele für direkte Investitionen (intrinsische Investitionen) können vor allem Zeit, Emotionen, intime Informationen und soziale Unterstützung genannt werden (vgl. Rusbult 1980a: 174). Indirekte Investitionen (extrinsische Faktoren) beziehen sich auf äußere Faktoren, die nicht unmittelbar im Zusammenhang mit der Beziehung selbst stehen. Beispiele hierfür sind gemeinsame Freunde, geteilte Erinnerungen und Aktivitäten. Investitionen erhöhen das beziehungsspezifische commitment, da sie die Kosten einer Beendigung der Beziehung erhöhen, denn das Beziehungsende bedeutet den Verlust zuvor akkumulierter
503
In einer neueren Publikation wird zusätzlich das Gleichgewicht zwischen Geben und Nehmen berücksichtigt (Equity-Theorie). So sind nicht nur isolierte Kosten und Belohnungen wichtig für die Bewertung einer Beziehung, sondern auch das Verhältnis von Input und Output. Je ausgewogener das Verhältnis von Input und Output, desto größer ist die Zufriedenheit mit einer Beziehung (vgl. Rusbult, Buunk 1993: 181f.).
4.3 Exkurs: Bindung an Verwandte: Das Investitionsmodell von Rusbult
243
Investitionen (vgl. Rusbult, Buunk 1993: 184).504 Die Hypothese lautet: Je höher die beziehungsspezifischen Investitionen, desto höher ist das commitment. Zusammenfassend kann festgehalten werden: Commitment erhöht sich im Verlauf der Zeit mit Zunahme der Investitionen in die Beziehung. Es ist darüber hinaus jedoch auch eine Funktion der Zufriedenheit mit der Beziehung und der wahrgenommen Alternativen. Commitment kann wie folgt definiert werden: COMx = Ox + Ix - Oy, wobei „Ox“ den Ertrag der Beziehung, „Ix“ die getätigten Investitionen innerhalb dieser Beziehung und „Oy“ den Ertrag der besten Alternative bezeichnet (vgl. Rusbult 1980a: 175). Die Größe der Investitionen ist definiert als Ix = ¦ wj rj, wobei rj die Höhe der direkten und indirekten Investitionen der Ressource j in Beziehung x ist und wj sich auf die Wichtigkeit dieser Ressource bezieht (vgl. Rusbult 1980a: 174). Commitment nimmt zu, je höher der Ertrag einer Beziehung ist (Zufriedenheit), je höher die spezifischen Investitionen in die Beziehung sind und je geringer die Qualität der (besten) Alternative ist. Das Investitionsmodell differenziert somit zwischen Zufriedenheit und commitment innerhalb einer Sozialbeziehung. So kann es zum Beispiel sein, dass hohe Investitionen und/oder schlechte Alternativen Kennzeichen der gegenwärtigen Beziehung sind und unzufriedene Beziehungen aus diesen Gründen aufrechterhalten werden (vgl. Rusbult 1980a: 175). Unzufriedenheit mit einer persönlichen Beziehung bedeutet nicht automatisch deren Beendigung. Im Vordergrund der empirischen Anwendung steht die Vorhersage der Stabilität von (heterosexuellen) Liebesbeziehungen (Rusbult 1980a, 1983; Rusbult u.a. 1986a,b; Lin, Rusbult 1995) und gleichgeschlechtlichen Partnerschaften (Duffy, Rusbult 1986), aber die Analyse bleibt nicht auf diese Beziehungstypen beschränkt.505 Die Studie von Rusbult u.a. (1986a) ist herauszustellen, dass sie eine Generalisierung des Investitionsmodells auf unterschiedliche demographische Subgruppen bestätigt.506 Aktuellere Studien thematisieren commitment in Partnerschaften, in denen Gewalt und Missbrauch herrschen (Rusbult, Martz 1995). Des Weiteren findet das Modell Anwendung auf Freundschaftsbeziehungen (Rusbult 1980b; Lin, Rusbult 1995) sowie in Arbeits- und Berufskontexten (Farrell, Rusbult 1981; Rusbult, Farrell 1983). Als Untersuchungsdesign werden experimentelle Rollenspiele (Rusbult 1980a), Querschnittsstudien (Rusbult 1980b; Rusbult u.a. 1986a) und Längsschnittstudien (Rusbult 1983) gewählt.507 Die genannten Studien zeigen konsistente Befunde, die das Investitionsmodell und seine Modellparameter Kosten, Belohnungen, Zufriedenheit, Qualität der Alternativen und Investitionen unterstützen.508 Die Generalisie504
505
506
507
508
Rusbult, Buunk (1993: 184f.) benennen zwei weitere Formen von Investitionen, die in den ersten Veröffentlichungen noch nicht explizit benannt wurden. Es ist zum einen die Komponente der persönlichen Identität, die in der Beziehung aufgebaut wird und die mit dem Beziehungsende verloren geht. Eine weitere Quelle von Investitionen bezieht sich auf kognitive Abhängigkeiten. Vgl. insbesondere den Übersichtsartikel von Le, Agnew (2003), die eine Metaanalyse und Zusammenfassung des bisherigen Forschungsstandes veröffentlichen. Während die Stichproben vorheriger Studien aus Studierenden bestehen, analysieren Rusbult u.a. (1986: 82f.) eine heterogenere Stichprobe von 130 Personen, die sich in längerfristigen Beziehungen befinden. Gleichzeitig wird jedoch auch kritisch auf die geringe Fallzahl hingewiesen. Das Investitionsmodell wird auch von anderen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern übernommen (vgl. exemplarisch Bui u.a. 1996). Reliabilitäts- und Validitätsmessungen der Skalen liefern signifikante Ergebnisse (vgl. exemplarisch Rusbult 1980b: 101). Insgesamt können 50% bis 90% der Varianz erklärt werden (vgl. Rusbult, Buunk 1993: 187). Vgl. zusammenfassend Rusbult u.a. (1998). Inkonsistente bzw. nicht signifikante Befunde sind bei der Analyse des Zusammenhangs zwischen Kosten und commitment (bzw. Zufriedenheit) festzustellen (vgl. Rusbult 1980a, Rusbult u.a. 1986a). Eine Erklärung für diese Variationen liefert zum einen der Schwellenwerteffekt, nach dem erst eine bestimmte Höhe der Kosten in einer Beziehung erreicht werden muss. Zum ande-
244
4 Ein Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten
rung des Investitionsmodells auf unterschiedliche Sozialbeziehungen gilt somit als gut bestätigt. Kritisch wird jedoch angemerkt, dass sich der Großteil der bisherigen Studien auf weiße heterosexuelle „dating couples“ konzentriert. Der Schwerpunkt der Forschung sollte hingegen verstärkt auf vernachlässigte Gruppen, z.B. ethnische Minderheiten oder Freundschaften, verlagert werden (vgl. Le, Agnew 2003: 54). Auch Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen stellen in diesem Kontext eine vernachlässigte Gruppe dar. Festzuhalten bleiben somit folgende Merkmale, die eine Übertragung des Investitionsmodells auf die Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen nahe legen:
Das Konzept des commitments ist anwendbar auf alle langfristigen und dauerhaften Beziehungen. Commitment erfasst die psychische Bindung an Verwandte (Kapitel 1.5). Die Aspekte der Langfristigkeit und Dauerhaftigkeit der Beziehung werden berücksichtigt, die primäre Charakteristiken von Verwandtschaftsbeziehungen sind. Die in Form von Investitionen erfasste gemeinsame Familiengeschichte (Erinnerungen und Erfahrungen) ist ein zentrales Merkmal von Verwandtschaftsbeziehungen. Das Investitionsmodell kann erklären, warum bei geringer Beziehungsqualität die Beziehung nicht abgebrochen wird, sondern weiter bestehen bleibt.509
Die zentrale Hypothese lautet nun, dass commitment steigt, je größer die Zufriedenheit mit der Verwandtschaftsbeziehung, je höher die verwandtschaftsspezifischen Investitionen sind und je weniger Alternativen zur Verfügung stehen. In Anlehnung an Rusbult (1991: 160) kann folgende Gleichung aufgestellt werden: COMV = (SATV – ALT) + INVV. Die drei entscheidenden Determinanten – Qualität der Verwandtschaftsbeziehung (SATV), Alternativen (ALT) und die verwandtschaftsspezifischen Investitionen (INVV) bestimmen die Höhe des commitments gegenüber Verwandten. Die Beziehungsqualität (SATV) ergibt sich aus der Berücksichtigung von Belohnungen und Kosten. Zu den verwandtschaftsspezifischen Kosten werden in Anlehnung an Rusbult (1980b: 100) insbesondere Zeit, monetäre Kosten, aber auch eine „unattraktive“ Persönlichkeit oder Verhaltensweise der Verwandten, interpersonelle Konflikte und Mangel an Reziprozität (im Sinne der Equity-Theorie) gezählt. Insbesondere die geographische Distanz zu Verwandten gilt als zentraler Kostenfaktor (vgl. exemplarisch Klatzky 1971). Die verwandtschaftsspezifischen Belohnungen liegen in der Qualität der miteinander verbrachten Zeit (gemeinsame Interessen), Komplementarität der Bedürfnisse und Ähnlichkeit der Werte, ausgetauschten Unterstützungsleistungen, gegenseitiger Sympathie und Vertrauen. Je größer die Belohnungen und je niedriger die Kosten, desto höher ist die Zufriedenheit mit der Verwandtschaftsbeziehung und desto höher ist das commitment gegenüber dem/der Verwandten. Die Existenz von Alternativen (ALT) steht in einem negativen Zusammenhang mit commitment. Als Alternative kann zum einen das Alleinsein gezählt werden, aber
509
ren wird der Interaktionseffekt zwischen Belohnungen und Kosten angeführt, d.h. hohe Kosten reduzieren nur dann Zufriedenheit bzw. commitment, wenn gleichzeitig auch geringe Belohnungen vorliegen. Negative Effekte ergeben sich nur in einer „high cost/low reward“- Situation. Beide Erklärungen sind empirisch bestätigt (vgl. Rusbult 1986a: 86f.). So sind Verwandtschaftsbeziehungen nicht zwingend emotional positiv besetzt, sondern können Unzufriedenheit und Konflikte aufweisen. Die Beziehung bleibt jedoch trotzdem weiterhin bestehen und wird nicht aufgelöst. In Bezug auf Generationenbeziehungen wird hierfür der Begriff der Ambivalenz (Lüscher 2000) verwendet.
4.3 Exkurs: Bindung an Verwandte: Das Investitionsmodell von Rusbult
245
auch die Substitution durch Freundschaften oder institutionelle Alternativen (vgl. Fischer 1982a). Zu den verwandtschaftsspezifischen Investitionen (INVV) werden die Dauer der Beziehung, emotionale Investitionen, intime Informationen, gemeinsamer Besitz und soziale Unterstützung gezählt. Es werden darüber hinaus ebenfalls die Familiengeschichte und die damit verbundenen gemeinsamen Erinnerungen und Erfahrungen in der Kindheit und familiale Ereignisse (Familienfeste, -feiern) berücksichtigt. Mit diesem Faktor wird der spezifische Charakter von Verwandtschaftsbeziehungen erfasst, der insbesondere in einer gemeinsam geteilten Familiengeschichte und damit verbundenen Erinnerungen begründet liegt. Rusbult u.a. (1998) entwickeln Skalen, um die Komponenten des Investitionsmodells – commitment, Zufriedenheit, Alternativen und Investitionen – adäquat zu operationalisieren. Eine deutsche Übersetzung der Fragebogenskalen erfolgt von Grau u.a. (2001). Es wird darauf verwiesen, dass – nach entsprechenden Umformulierungen der Items – diese auch für andere Arten zwischenmenschlicher Beziehungen anwendbar sind, da das zugrunde liegende Investitionsmodell Gültigkeit für verschiedene Formen von Sozialbeziehungen beansprucht (vgl. Grau u.a. 2001: 43). Eine angemessene Überprüfung dieser Überlegungen in Bezug auf entfernte Verwandtschaftsbeziehungen setzt somit entsprechende Operationalisierungen und empirische Erhebungen voraus, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht erfolgen können. Dies wäre jedoch als Ziel einer zukünftigen soziologischen Verwandtschaftsforschung wünschenswert. Die vorangegangenen Ausführungen sollten deutlich gemacht haben, dass eine Übertragung auf andere Sozialbeziehungen möglich ist und neue Erkenntnisse für die Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen verspricht.
5.1 Erläuterung zur Sekundäranalyse
247
5 Empirische Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen
Die empirische Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen vollzieht sich in mehreren Schritten. Zuerst werden Datenbasis (Kapitel 5.1.1) und Restriktionen (Kapitel 5.1.2) der Sekundäranalyse erläutert. In Kapitel 5.2.1 wird allgemein die Struktur und Bedeutung von Verwandtschaft in Deutschland dargestellt. Anschließend wird in Kapitel 5.2.2 ein erster Überblick über die Häufigkeit von Kontakten mit sekundären und tertiären Verwandten gegeben. Hierzu gehört die Rolle von entfernten Verwandten in verschiedenen Notsituationen, das Phänomen der Multiplexität und Verwandtschaft als soziales Kapital im Rahmen der Arbeitsvermittlung. Kapitel 5.2.3 analysiert die Determinanten der Wichtigkeit von Verwandtschaft, Kapitel 5.2.4 die Determinanten der Wahl von Onkeln/Tanten (Kapitel 5.2.4.2.1), Cousins/Cousinen (Kapitel 5.2.4.2.2) und Nichten/Neffen (Kapitel 5.2.4.2.3). Ziel ist es, mit dem zur Verfügung stehenden Datenmaterial, die in Kapitel 4.2 abgeleiteten Hypothesen empirisch zu überprüfen. Es werden folgende statistische Verfahren verwendet: t-Test, Einfaktorielle Varianzanalysen (ANOVA)510, Multiple Regression und Logistische Regressionsanalyse. Der Schwerpunkt der folgenden Analysen liegt auf dem Personenkreis der entfernten Verwandten, über den es in Deutschland bisher keine eigenständige Untersuchung gibt. Eine zusätzliche Analyse der Beziehungen zu nahen Verwandten (Eltern, Geschwister, Kinder, Großeltern) wird im Rahmen dieser Arbeit nicht durchgeführt. 5.1 Erläuterung zur Sekundäranalyse 5.1.1
Datenbasis und Analysemethoden
Die Vernachlässigung von Verwandtschaftsbeziehungen in der soziologischen Forschungslandschaft spiegelt sich auch in den zur Verfügung stehenden Datensätzen wider. Es werden mehrere Datensätze für die empirische Analyse herangezogen. Im Einzelnen sind dies:
die Allgemeine Bevölkerungsumfrage in den Sozialwissenschaften (ALLBUS) (kumulierter Datensatz 1980-2004),
510
Bei dichotomen Variablen wird ein t-Test durchgeführt. Hat die Gruppierungsvariable mehr als zwei Ausprägungen, werden einfaktorielle Varianzanalysen (ANOVA) gerechnet. Vorab wird der Levene-Test auf Varianzhomogenität berechnet. Liegen heterogene Varianzen vor wird anstatt des F-Tests die WelchStatistik kontrolliert. Die einfaktoriellen Varianzanalysen enthalten darüber hinaus Tests für multiple Mittelwertvergleiche. Bei homogenen Varianzen zeigt der Scheffé-Test für Post-hoc-Vergleiche signifikante Gruppenunterschiede auf. Bei Verletzung der Varianzhomogenitätsannahme wird der Tamhane T2-Test durchgeführt. Beide Tests sind konservative und robuste Verfahren. Zur statistischen Beurteilung der empirischen Ergebnisse wird eine Irrtumswahrscheinlichkeit von 1% festgelegt. Der Scheffé-Test und Tamhane T2-Test für Post-hoc-Vergleiche haben ein Signifikanzniveau 5 %. Zur Erläuterung der einzelnen Verfahren vgl. Bortz (1999).
248
5 Empirische Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen
das International Social Survey Programme (ISSP 2001) (Social Networks II: Social Relations and Support Systems), der Familiensurvey (2000).
Mit Ausnahme des ALLBUS, dessen kumulierter Datensatz (1980-2004) sich für Zeitreihenanalysen anbietet, wird in dieser Arbeit mit den jeweils neusten Wellen gearbeitet. Der ALLBUS ist eine repräsentative Bevölkerungsumfrage und dient der Erhebung von Daten über Einstellungen, Verhaltensweisen und die Sozialstruktur Deutschlands. Seit 1980 wird alle zwei Jahre ein repräsentativer Bevölkerungsquerschnitt mit einem teils replikativen, teils variablen Fragenprogramm befragt.511 Bis 1990 wurden nur deutsche Staatsbürgerinnen und Staatsbürger befragt, ab 1991 auch Ausländerinnen und Ausländer mit ausreichenden Deutschkenntnissen. Die Stichproben der Umfrage in den Jahren 1980 bis 1992 sowie 1998 wurden nach dem ADM-Stichprobendesign gebildet. Danach setzte man Gemeindestichproben mit Ziehung von Personenadressen aus Einwohnermelderegistern ein (vgl. Allbus Codebuch 2004: 18). Bei der statistischen Analyse wird zwischen den Teilstichproben aus Westund Ostdeutschland differenziert. Das International Social Survey Programme (ISSP) erhebt jährlich einen anderen Themenschwerpunkt in allen beteiligten Ländern in gleicher Form. Das ISSP 2001 mit dem Schwerpunkt „Social Networks II: Social Relations and Support Systems“ ist eine Replikation des ISSP-Moduls aus dem Jahr 1986 (Social Networks I) und enthält darüber hinaus auch neue Fragen. Die neu erhobenen Variablen machen den Datensatz für diese Arbeit interessant, da sie die Kontakte mit entfernten Verwandten (Onkeln/Tanten, Cousins/Cousinen, Nichten/Neffen) erfassen. Insgesamt nahmen 26 Nationen an dem Survey teil, der in Deutschland mit dem ALLBUS 2002 kooperiert (vgl. Scholz u.a. 2003: 10). Es wurden insgesamt 1369 Personen befragt. Die bivariate Darstellung der Häufigkeitsverteilungen erfolgt getrennt nach West- und Ostdeutschland, die multivariaten Analysen werden mit dem gewichteten Datensatz für Gesamtdeutschland durchgeführt. Der Familiensurvey 2000 „Familie und Partnerbeziehungen in der Bundesrepublik Deutschland“ ist eine Repräsentativbefragung zu den Themenbereichen Familienbeziehungen und soziale Netzwerke, Partnerbeziehungen im Lebensverlauf, Einstellungen gegenüber Partnerschaft, Familie und Gesellschaft, materielle Lebenssituation und Wohnen. Es ist eine Querschnittsbefragung von insgesamt 8091 Personen im Alter zwischen 18 und 55 Jahren, die in Privathaushalten in Deutschland leben (6613 Interviews in den alten und 1478 Interviews in den neuen Bundesländern). Die Grundgesamtheit bilden alle Personen im Alter zwischen 18 und 55 Jahren, die unabhängig von ihrer Nationalität oder ethnischen Herkunft sprachlich in der Lage waren, dem Interview zu folgen. Die Stichprobe wurde auf der Grundlage einer modifizierten Random-Route-Erhebung durchgeführt (vgl. dazu ausführlicher Infratest Burke Sozialforschung 2000: 1ff.). 5.1.2
Restriktionen der Datenanalyse
Eine Sekundäranalyse bedeutet immer auch Restriktionen für die empirische Überprüfung des theoretischen Modells. Es gibt keine spezifischen Operationalisierungen der zentralen 511
www.social-science-gesis.de/en/data_service/allbus/index.htm
5.2 Ergebnisse
249
Determinanten des hier entwickelten Modells, denn zur Überprüfung der Hypothesen wird auf allgemeine Bevölkerungsumfragen zurückgegriffen. Dies betrifft vor allem die abhängige Variable: die Wahl von Verwandten. Im Rahmen dieser Arbeit wird die Wahl von Verwandten durch die Frage nach den Kontakten in den letzten vier Wochen operationalisiert. Die Wahl bezieht sich somit nur auf diesen Referenzzeitraum und erfasst nicht, ob über diesen Zeitraum hinaus generell Kontakte zu den entfernten Verwandten bestehen. Die Restriktionen betreffen zum anderen die Auswahl der unabhängigen Variablen für die Modellspezifikationen. Ein zentraler Nachteil ist, dass nicht alle Konstrukte des Modells in den Datensätzen erhoben wurden. Es kann somit kein „harter“ und vollständiger Theorietest erfolgen, da nur ein Teil der Einflussgrößen empirisch überprüft werden kann und zentrale unabhängige Variablen für die statistische Analyse nicht zur Verfügung stehen. So gibt das Datenmaterial nur begrenzt Auskunft über (familien-)biographische Charakteristiken. Keinerlei Informationen liegen über die geographische Distanz vor, die als ein zentraler Kostenfaktor von verwandtschaftlichen Kontakten in der Literatur diskutiert wird (z.B. Reiss 1962; Klatzky 1971; van der Poel 1993). Zudem werden keine Daten über subjektive Faktoren der Verwandtschaftsbeziehung wie gemeinsame Interessen, Ähnlichkeit von Werten oder verwandtschaftsspezifische Einstellungen (Clanbewusstsein) erhoben. Nicht analysierbar sind ebenfalls dyadische Aspekte der Verwandtschaftsbeziehung. Hierzu zählen – entsprechend der Hypothesen des Modells – das Geschlecht und die Abstammungslinie der Verwandten sowie die Homogenität sozialstruktureller Eigenschaften. 5.2 Ergebnisse 5.2.1
Struktur und Bedeutung von Verwandtschaft
In diesem Kapitel wird ein erster Überblick über die Struktur und die Bedeutung von Verwandtschaft in Deutschland gegeben. Erkenntnisse über die Struktur von Verwandtschaftsbeziehungen liefert der Familiensurvey 2000. Tabelle 18 gibt einen Überblick über die Anzahl von Verwandten, mit denen soziale Beziehungen gepflegt werden.512 Sie erfasst nicht die tatsächliche Anzahl von lebenden Verwandten und damit das Potential von Verwandtschaftsbeziehungen im Sinne einer Gelegenheitsstruktur (objektive Verwandtschaft), sondern die im Netzwerk generierten und als verwandt identifizierten Verwandten (Wahlstruktur). Diese Verwandten bilden eine Teilmenge der subjektiven Verwandtschaft, mit denen affektive, gesellige und instrumentelle Beziehungen gepflegt werden.513
512
513
Anhand des folgenden Netzwerkgenerators wird das persönliche Netzwerk der Befragten erhoben: „Mit den folgenden Fragen möchten wir erfahren, welche Menschen derzeit in Ihrem Leben eine besonders wichtige Rolle spielen. Ich nenne Ihnen dafür eine Reihe von Tätigkeiten oder Situationen, die im täglichen Leben wieder vorkommen. Mit wem besprechen Sie Dinge, die Ihnen persönlich wichtig sind? Mit wem haben Sie eine enge gefühlsmäßige Bindung? Von wem erhalten Sie ab und zu oder regelmäßig finanzielle Unterstützung? An wen geben Sie ab und zu oder regelmäßig finanzielle Unterstützung? Mit wem verbringen Sie hauptsächlich Ihre Freizeit? Denken sie nur an Menschen, mit denen Sie einen großen Teil der Freizeit verbringen.“ http://213.133.158/surveys/index.php?m=mva,0&keyID=19,fo202000.
250
5 Empirische Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen
Tabelle 18: Größe des Verwandtschaftsnetzwerkes Anzahl der Verwandten
absolut
keine 243 1-2 1153 3 1145 4 1328 5 1523 6 1567 7 1213 8 819 9 503 10 und mehr 824 N = 10318, Mittelwert: 5.53, Std. Abw.: 2.91 Datenbasis: Familiensurvey 2000, Eigene Berechnungen
Prozent 2,4 11,2 11,1 12,9 14,8 15,2 11,8 7,9 4,9 8,0
Im Durchschnitt haben die Befragten 6 Verwandte, die sie zu ihrem persönlichen Netzwerk zählen, 2,4% der Befragten nennen keine Verwandte. Leider liegen keine differenzierten Angaben zum Verwandtentyp vor, so dass die Frage nach dem Anteil der entfernten Verwandten an dieser Stelle nicht beantwortet werden kann. Zur Analyse der Haushaltszusammensetzung wird der kumulierte ALLBUS (19802004) genutzt. Für diese Arbeit interessant ist der jeweilige Anteil der erweiterten Familien (Familien-Feintypologie nach Porst).514 Der Haushaltstyp ist definiert durch die Existenz „mindestens einer mit den Haushaltsmitgliedern verwandten Person außerhalb der linearen Generationenfolge“ (vgl. Allbus Codebuch 2004: 797). Betrachtet man den Zeitverlauf von 1980 bis 2004, so liegen die jeweiligen Anteile der Verwandtschaftshaushalte bzw. erweiterten Familien bei einem Prozentsatz von 1,1% und weniger. Im Jahr 2004 stellen 0,9% der Haushalte in Westdeutschland und 0,3% in Ostdeutschland erweiterte Familien dar. Die Kernfamilie dominiert die Gesamtverteilung der Familientypologie mit insgesamt 81,2% (West) und 80,7% (Ost). 3,6% der westdeutschen und 2,1% der ostdeutschen Befragten leben in vollständigen oder unvollständigen Dreigenerationenfamilien. Sekundäre und tertiäre Verwandte spielen in der Haushaltszusammensetzung somit keine große Rolle. Die Betrachtung der Haushaltsstatistik ist von besonderem Interesse, da sich die These von der historisch abnehmenden Bedeutung von Verwandtschaft u.a. auch auf die Annahme einer Verringerung der Zahl in Haushaltsgemeinschaften lebenden Verwandten stützt (vgl. Schütze, Wagner 1998). Eine Studie von Neidhardt (1971) aus dem Jahr 1960, mit der die hier dargestellten Befunde verglichen werden können, berichtet von einem Anteil von 3% aller deutschen Haushalte, in denen weitere Verwandte leben (6% Dreigenerationenfamilien). Vergleicht man diese Werte mit aktuellen Daten über Verwandtschaftshaushalte aus dem Jahr 2004 – 0,9% (West) und 0,3% (Ost) – kann ein Rückgang dieser Haushaltsform konstatiert werden, der sich jedoch auf einem sehr niedrigen Niveau bewegt.515 Amerika514 515
Ausführlicher zu den Haushalts- und Familientypologien vgl. Beckmann, Trometer (1991). Ideologisch geprägte Auffassungen über vorindustrielle Verwandtschaftsbeziehungen sind verantwortlich für die Annahme eines Bedeutungsverlustes von Verwandtschafts- und Generationenbeziehungen. Die his-
5.2 Ergebnisse
251
nische Studien (vgl. exemplarisch Hays, Mindel 1973) weisen jedoch auf eine wichtige Differenzierung im Hinblick auf ethnische Unterschiede in der Haushaltszusammensetzung hin. Während die hier dargestellten Ergebnisse mit Erkenntnissen über weiße Familien in den USA korrespondieren, kann für afroamerikanische Haushalte eine häufigere Koresidenz mit kollateralen Verwandten (insbesondere Tanten, Nichten und Neffen) empirisch nachgewiesen werden. Als Erklärung wird das kollaterale Prinzip der Verwandtschaftsorganisation genannt, das für verschiedene ethnische Gruppierungen in den USA charakteristisch ist (Johnson 1982a; Roschelle 1997). Eine der wenigen zentralen Variablen des ALLBUS stellt die Frage nach der Wichtigkeit von Verwandtschaft dar.516 Die Frage misst die Einstellung der Bevölkerung hinsichtlich der persönlichen und sozialen Bedeutung von Verwandtschaft, jedoch nicht faktisches Verhalten im Sinne von Kontakten mit subjektiven Verwandten. Die Frage nach der Einschätzung der Wichtigkeit von Verwandtschaft wurde in den Jahren 1980, 1982, 1986, 1990, 1991, 1992 und 1998 im ALLBUS erhoben und ermöglicht somit eine Zeitreihenanalyse. Ab dem Jahr 1991 liegen Ergebnisse für West- und Ostdeutschland vor, die Grundgesamtheit bilden bis 1990 nur die alten Bundesländer (einschließlich West-Berlin). Die relative Kontinuität der statistischen Erhebung endet leider mit dem Jahr 1998, so dass keine aktuelleren Befunde vorliegen. Tabelle 19 gibt einen Überblick über die Antwortverteilungen der einzelnen Skalenwerte im Zeitverlauf 1980 bis 1998 differenziert nach dem Erhebungsgebiet.
516
torische Familienforschung (Mitterauer 1978) kann jedoch nachweisen, dass mehrgenerationale und um sonstige Verwandte erweiterte Familientypen, die einen gemeinsamen Haushalten bildeten, im vorindustriellen West- und Mitteleuropa nur relativ selten existierten (Kapitel 2.1). Der Fragetext lautet: „Auf diesen Karten hier stehen verschiedene Lebensbereiche. Wir hätten gerne von Ihnen gewusst, wie wichtig für Sie die einzelnen Lebensbereiche sind. Auf jeder dieser Kärtchen hier sehen Sie rechts eine Skala mit sieben Feldern. Das unterste Feld mit der Zahl 1 bedeutet, daß dieser Lebensbereich für Sie unwichtig ist. Das Feld 7 ganz oben bedeutet, daß der betreffende Lebensbereich für Sie sehr wichtig ist. Mit den Zahlen dazwischen können Sie ihre Antworten abstufen.“ Als weitere Lebensbereiche werden – neben der Wichtigkeit von Verwandtschaft – u.a. die Wichtigkeit von eigener Familie und Kindern, Beruf und Arbeit, Religion u.a. erhoben.
252
5 Empirische Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen
Tabelle 19: Univariate Verteilung der "Wichtigkeit von Verwandtschaft" im Zeitverlauf (Angaben in Prozent) Erhebungsjahr (W = West, O = Ost) 1980W
1982W
1986W
1990W
1991W
1991O
1992W
1992O
1998W
1998O
1 (unwichtig) 2
5,8
4,7
3,9
4,7
3,0
2,5
3,0
2,8
2,9
1,5
7,7
8,0
5,7
7,4
5,5
1,9
4,2
2,8
3,9
3,0
3
13,7
15,1
11,1
11,5
9,3
6,3
9,1
6,4
8,3
6,6
4
18,0
18,2
20,6
21,2
20,0
14,0
21,0
18,7
17,7
14,3
5
21,8
21,8
22,4
22,4
22,6
22,4
20,9
20,9
22,2
22,7
6
14,9
16,3
20,4
16,7
20,8
25,8
21,2
23,3
22,6
31,3
7 (sehr wichtig) N
18,1
15,9
15,9
16,1
18,8
27,1
20,5
25,2
22,4
20,6
2949
2989
3081
1573
1509
1539
2395
1141
2207
1020
Mittelwert
4.59
4.57
4.77
4.64
4.91
5.38**
4.98
5.23**
5.10
5.30**
Std. Abw.
1.75
1.69
1.60
1.67
1.58
1.47
1.57
1.53
1.56
1.40
** p d .01 Datenbasis: kum. ALLBUS 1980-2002, Eigene Berechnungen
Mittelwertvergleiche (t-Test) zwischen Ost- und Westdeutschland für die Jahre 1991, 1992 und 1998 ergeben signifikante Unterschiede zwischen den Erhebungsgebieten. Die Befunde einer höheren Wichtigkeit von Verwandtschaft, vor allem für den unmittelbaren Zeitraum nach der Wende, korrespondieren mit Diewald (1998). Er weist auf die Plötzlichkeit und Heftigkeit des sozialen Umbruchs hin, der mit Unsicherheits- und Annomieerfahrungen einherging (vgl. Kapitel 3.2.2.4.5). Ergänzend sei an dieser Stelle auf Trommsdorff (1995) und Srubar (1991) verwiesen, die ebenfalls einen potentiellen Bedeutungsanstieg von vertrauten Beziehungsstrukturen infolge des gesellschaftlichen Wandels vermuten. Daraus resultiert ein steigendes Bedürfnis nach „vertrauten, überschaubaren, identitätsstützenden und nicht direkt von äußeren Rahmenbedingungen abhängigen Beziehungen (…)“ (Diewald 1998: 189). Der Ost-Westvergleich für das Jahr 1991 stellt eine eindrucksvolle Bestätigung dieser Einschätzungen dar. Die Betrachtung im Zeitverlauf zeigt darüber hinaus jedoch eine langsame Angleichung der Werte. Im Jahr 1998 beurteilen 45% der Befragten aus Westdeutschland Verwandtschaft als wichtig. Im Vergleich hierzu sind es knapp 51% der Befragten aus Ostdeutschland.517 Ab 1991 steigen die Prozentwerte für Westdeutschland kontinuierlich an. Auffallend ist darüber hinaus der Rückgang von 27,1% auf 20,6% der ostdeutschen Befragten, für die Verwandtschaft sehr wichtig ist. Anzuführen ist an dieser Stelle das Argument, dass die im Zeitverlauf unterschiedlichen Transformations517
Die Prozentsätze erklären sich aus der Addition der Prozentwerte der beiden Skalenwerte 6 und 7 (7 = „sehr wichtig“).
253
5.2 Ergebnisse
erfahrungen (vor allem auf dem Arbeitsmarkt) unterschiedliche Bewältigungsversuche auf der Ebene der persönlichen Netzwerke zur Konsequenz hatten (vgl. Diewald 1998: 190). Ein genereller Bedeutungsverlust von Verwandtschaft kann weder für West- noch für Ostdeutschland festgestellt werden. Vielmehr steigt die Bedeutung von Verwandtschaft im Verlauf des Befragungszeitraums an, wie Abbildung 5 verdeutlicht.
60
% sehr wichtig
50 40 Ost West
30 20 10 0 1982
1986
1990
1991
1992
1998
Datenbasis: ALLBUS 1982, 1986, 1990-1998, Eigene Berechnungen Abbildung 5:
Zeitreihenanalyse „Wichtigkeit von Verwandtschaft“
Diese Einschätzung wird durch einen multiplen Mittelwertvergleich (einfaktorielle Varianzanalyse (ANOVA)) bestätigt. Der Gesamtvergleich zeigt signifikante Unterschiede zwischen den Erhebungsjahren (F = 80,055, df = 6, p d .01). Der anschließende SchefféTest liefert drei homogene Untergruppen, die sich auf dem 5%-Niveau signifikant voneinander unterscheiden: 1) 1980, 1982, 1990, 2) 1986 und 3) 1991, 1992 und 1998. Die Befunde korrespondieren indirekt mit Studien, die den Anstieg der Bedeutung von entfernten Verwandten dokumentieren, die zur Familie gezählt werden (Noelle-Neumann, Köcher 2002) und allgemeinen Einschätzungen über den Bedeutungsgewinn von Verwandtschaft (Strohmeier, Schultz 2005). So präsentieren Noelle-Neumann, Köcher (2000) Ergebnisse einer Befragung des Allensbacher Instituts für Demoskopie, die die Einschätzung eines Bedeutungsgewinns von (entfernten) Verwandten stützen. Die Frage „Wer gehört zur Familie?“ erfasst die „subjektive Familie“ (Trost 1990) und weist Parallelen zum Konzept der subjektiven Verwandtschaft auf. Tabelle 20 informiert über die Personen, die zur Familie gezählt werden und betrachtet dabei die Zeitspanne von 1953 bis zum Jahr 2000.
254
5 Empirische Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen
Tabelle 20: Wer gehört zur Familie? (Angaben in Prozent) 518 insgesamt
West
Ost
1953
1979
2000
1991
2000
Kinder (Sohn, Tochter) Ehegatte (mein Mann, meine Frau)
69 57
70 70
69 67
68 58
79 76
73 56
Eltern (Vater, Mutter) Geschwister Enkelkinder
54 43 18
28 19 5
39 30 12
54 43 17
51 33 20
57 44 23
Großeltern Onkel, Tante, Neffe, Nichte
16 14
1 2
6 7
15 14
7 8
16 14
Schwiegersohn, -tochter Schwiegereltern (-vater, -mutter)
7 6
4 3
7 7
6 5
8 10
8 9
Schwager, Schwägerin Habe keine Familie, bin allein
4 x
2 3
4 1
5 x
5 1
3 x
4 292
7 214
7 256
4 289
9 307
3 306
Andere Angaben N (Mehrfachnennungen)
(Quelle: Noelle-Neumann; Köcher 2002: 110)
Auffallend ist der Bedeutungszuwachs von Onkeln/Tanten und Nichten/Neffen, die zur Familie gezählt werden. Im Vergleich zu 2% der Befragten im Jahr 1953, steigt der Anteil im Jahr 2000 in West- und Ostdeutschland auf insgesamt 14%. Nur die Prozentwerte der unmittelbaren Mitglieder der Kernfamilie liegen höher, Mitglieder der Affinalverwandtschaft werden weniger häufig genannt. 5.2.2
Kontakte mit sekundären und tertiären Verwandten
In diesem Kapitel werden empirische Ergebnisse des ISSP 2001 vorgestellt, die Auskunft über Kontakte mit Onkeln/Tanten, Cousins/Cousinen und Nichten/Neffen in den letzten vier Wochen geben. Des Weiteren liegen Informationen über das Unterstützungsnetzwerk vor. Welche Netzwerkbeziehungen kennzeichnen die Interaktionen mit entfernten Verwandten? In Anlehnung an die Netzwerkstudie von Fischer (1982a) wird zwischen unterschiedlichen Notsituationen differenziert. Darüber hinaus werden Ergebnisse präsentiert, die sich auf die Ausführungen der vorherigen Kapitel dieser Arbeit beziehen und folgende Themen aufgreifen: die Multiplexität von verwandtschaftlichen Beziehungen (Kapitel 3.1.2.2) und Verwandtschaft als soziales Kapital (Kapitel 4.1.3). Tabelle 21 gibt einen Überblick über die Häufigkeit von Kontakten in den letzten vier Wochen differenziert für die Verwandtentypen Onkel und Tanten, Cousins und Cousinen, Nichten und Neffen. Die Interaktionsform (persönlich, telefonisch, etc.) wird nicht erhoben. 518
Der Fragetext lautet: „Wenn wir hier so von Familie sprechen: an wen denken Sie dabei? Wen rechnen Sie zu Ihrer Familie?“
255
5.2 Ergebnisse
Anzumerken ist, dass sich die Anwortkategorie „überhaupt nicht“ nur auf die Vorgabe des Referenzzeitraums von vier Wochen bezieht. Sie bedeutet hingegen nicht, dass generell keine Kontakte bestehen. Tabelle 21: Kontakte mit entfernten Verwandten (Angaben in Prozent) Häufigkeit der Kontakte in den letzten vier Wochen
Onkel/Tanten West Ost 9,6 8,3 28,2 31,4 40,2 36,2 22,0 24,1
mehr als zweimal einmal oder zweimal überhaupt nicht habe keine dieser Verwandten (mehr) N 854 398 Datenbasis: ISSP 2001, Eigene Berechnungen
Cousins/Cousinen West Ost 9,3 7,9 31,4 27,2 50,4 54,4 8,8 10,5 849
390
Nichten/Neffen West Ost 18,0 14,3 31,4 34,8 32,0 31,7 18,6 19,2 870
391
Fasst man die Prozentwerte zusammen, zeigt sich, dass knapp 40% der Befragten (aus Ostund Westdeutschland) mindestens einmal in den letzten vier Wochen Kontakt mit ihren Onkeln und Tanten hatten. Knapp 41% der westdeutschen Befragten hatten Kontakt mit ihren Cousins und Cousinen, wohingegen es bei den ostdeutschen Befragten nur 35% waren. Bezüglich des Kontaktes mit Nichten und Neffen zeigen sich größere Prozentsatzdifferenzen zwischen den Erhebungsgebieten, denn 18% der westdeutschen und 14,3% der ostdeutschen Befragten hatten mit ihnen mehr als zweimal in vier Wochen Kontakt.519 Die wenigsten Kontakte bestehen mit Cousins und Cousinen. Dennoch widersprechen die empirischen Ergebnisse der Einschätzung von Adams (1999), der Beziehungen zu sekundären und anderen entfernten Verwandten von untergeordneter Bedeutung und durch seltene oder gelegentliche Kontakte charakterisiert sieht. Die Frage von Schütze, Wagner (1998: 13): „Verhält es sich tatsächlich so, daß aus der Perspektive Egos die Beziehungen zu Onkeln, Tanten, Cousins, Cousinen, Neffen und Nichten (…) eine so geringe Bedeutung haben, daß es gerechtfertigt ist, wenn sich die Familienforschung der ‚Verwandten’ nicht annimmt?“ kann aufgrund der vorliegenden empirischen Befunde verneint werden. Beziehungen zu Onkeln und Tanten, Cousins und Cousinen sowie Nichten und Neffen erweisen sich als wichtige Sozialbeziehungen, zu denen relativ häufige Kontakte bestehen und die somit nicht von einer soziologischen Betrachtung ausgeschlossen werden können. Das ISSP 2001 gibt Aufschlüsse über das Unterstützungsnetzwerk und erfasst Erstund Zweithelferinnen und -helfer in unterschiedlichen Notsituationen (Grippe, Geld und Depression). Es handelt sich hierbei jeweils um eine hypothetische Frage, die den Personenkreis identifiziert, der potentiell für Unterstützung zur Verfügung steht.520 In Anlehnung 519
520
Der Familiensurvey 2000 erfasst zudem den Wunsch nach häufigeren Kontakten mit Verwandten („Ich vermisse häufigeren Kontakt mit meinen Familienangehörigen und Verwandten“). Insgesamt 16,6% der Befragten stimmen diesem Statement zu, 65,6% der Befragten stimmen nicht zu und 17,7% geben „teils-teils“ an. Bei der Mehrheit der Befragten existiert somit kein Wunsch nach häufigeren Kontakten mit Familie und Verwandten. Der Fragetext lautet: 1. „Stellen Sie sich vor, Sie hätten die Grippe, müssten ein paar Tage im Bett bleiben und würden im Haushalt oder z.B. beim Einkaufen Hilfe brauchen. An wen würden Sie sich zuerst wenden?“ 2. „Angenommen Sie müssten sich eine hohe Geldsumme leihen. An wen würden Sie sich in diesem
256
5 Empirische Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen
an Bruckner u.a. (1993: 99ff.) werden zuerst die Anforderungen der jeweiligen Problemsituation charakterisiert. Die Problemsituation „Grippe“ erfordert eine eher langfristige Hilfeleistung, die zwar nicht unbedingt ein enges Vertrauensverhältnis zur helfenden Person voraussetzt, jedoch mit einem relativ hohen Aufwand einhergeht. Die schnelle Erreichbarkeit ist ein wesentliches Kriterium für die Auswahl der Hilfeperson bei kurz- und langfristigen Problemen. Verwandtschaftsbeziehungen stellen aufgrund ihres stärkeren Verpflichtungscharakters eine relativ verlässliche Quelle der Unterstützung dar. Dies gilt nur bedingt für die Problemsituation „Geld“, da institutionelle Alternativen (Bank, soziale Einrichtungen) hier eine besondere Rolle spielen könnten. Bei persönlichen Problemen, wie der Aussprache bei Niedergeschlagenheit, ist hingegen das Vertrauensverhältnis zur helfenden Person entscheidend. Freundschaften sind in einer solchen persönlichen Krisensituation von besonderer Relevanz, denn expressive Hilfeleistungen werden als „Domänen“ der besten Freundin oder des besten Freundes bezeichnet (vgl. Bruckner u.a. 1993: 101). Vor allem Partnerschaften werden darüber hinaus als universelle Hilfeinstanzen betrachtet, während Freundschaften auf emotionale Unterstützung spezialisiert sind (vgl. Bruckner u.a. 1993: 103f.). Tabelle 22 informiert über die ersten und zweiten Nennungen bei drei Hilfesituationen. Tabelle 22: Erst- und Zweithelferinnen und -helfer in drei Hilfesituationen (Angaben in Prozent) Grippe
Geld
1. Stelle 2. Stelle 1. Stelle Partner/-in 61,9 5,3 16,7 Eltern 12,6 20,3 23,1 Kinder521 9,6 31,1 4,9 Geschwister 3,5 8,9 5,3 andere/r Blutsverwandte/r 0,3 0,9 1,0 angeheiratete/r Verwandte/r 0,4 2,8 0,8 Patenonkel/-tante 0,4 Freund/Freundin 6,0 14,4 2,7 Nachbar 3,2 6,8 0,2 Arbeitskollege/-kollegin 0,9 0,2 Institutionen u.a. 1,5 5,2 36,6 Niemand 0,9 3,2 8,2 N 1323 1337 1345 Datenbasis: ISSP 2001 (gewichtet), Eigene Berechnungen
2. Stelle 3,3 20,4 9,2 8,5 3,0 2,3 0,5 7,1 0,5 0,5 25,1 20,0 1342
Depression 1. Stelle 52,7 6,4 6,8 4,8 0,4 0,4 21,3 0,8 0,5 3,1 3,0 1343
2. Stelle 8,1 8,1 18,2 12,4 0,7 1,8 26,9 1,2 2,3 6,2 6,5 1341
Als Erst- und Zweithelferinnen und -helfer spielen entfernte Verwandte (Kategorie „andere/r Blutsverwandte/r“) keine Rolle, hier dominieren jeweils Partner/-in und nahe Verwandte (Eltern, Kinder). Die Prozentsätze der Hilfesituation „Grippe“ und „Depression“ liegen
521
Fall zuerst wenden?“.3. „Angenommen Sie fühlten sich etwas niedergeschlagen oder deprimiert und wollten mit jemanden darüber sprechen. Mit wem würden Sie zuerst darüber sprechen?“ An diese Frage angeschlossen ist jeweils die Frage, an wen man sich an zweiter Stelle wenden würde. Bei der Hilfesituation „Grippe“ werden in der Kategorie „Kinder“ ebenfalls Schwiegertochter und -sohn erfasst.
257
5.2 Ergebnisse
jeweils im Bereich von 0,2 bis 1,0%. Andere Blutsverwandte spielen lediglich in finanziellen Notsituationen als Zweithelfer/-innen eine größere Rolle, wobei der Prozentsatz mit 3% marginal erhöht ist. Die Ergebnisse korrespondieren mit den Resultaten von Bruckner u.a. (1993)522 und Schubert (1990), die die „Rangfolge der Zuständigkeit“ bestätigen. Sie gilt als allgemeines Prinzip und erfasst folgende hierarchische Abfolge der Familienmitglieder: Partner/-in, Eltern, Kinder und Geschwister. Die besondere Rolle von Freundschaften zeigt sich insbesondere bei expressiven persönlichen Hilfeleistungen (Depression). Partnerschaft und nahe Verwandtschaftsbeziehungen stehen in einem komplementären Verhältnis zueinander, denn die Bedeutung von nahen Verwandten als Unterstützungsinstanz hängt entscheidend von der Existenz einer Partnerschaft ab: Ist eine Partnerschaft vorhanden, sind nahe Verwandte nur noch die zweitwichtigsten Helfer/-innen. Entfernte Verwandte haben auch im Fall einer fehlenden Partnerschaft als soziale Unterstützungsinstanz keine größere Bedeutung.523 In der Literatur werden jedoch auch andere verwandtschaftliche Funktionen diskutiert, über die die vorliegenden Daten keine Auskunft geben. So stellt Nauck (1995) fest, dass der erweiterte Familienkreis eine wichtige Rolle in der Betreuung von Kleinkindern übernimmt. Darüber hinaus verweisen Riley (1983) und Feld (1984) auf außeralltägliche Krisensituationen, in denen Verwandte soziale Unterstützung geben. Abschließend soll die länderspezifische Bedeutung der Netzwerkmitglieder analysiert werden. Tabelle 23 zeigt die Verteilung der entfernten Verwandten in den drei Hilfesituationen für Italien, Ungarn und die USA. Tabelle 23: Ländervergleich von entfernten Verwandten als Erst- und Zweithelferinnen und -helfer (Angaben in Prozent)524 Grippe
Geld
1. Stelle 2. Stelle 1. Stelle Italien 1,9 5,2 2,6 N 999 999 998 Ungarn 1,2 7,1 5,3 N 1521 1453 1469 USA 1,5 3,9 3,2 N 1142 1133 1130 Datenbasis: ISSP 2001 (ungewichtet), Eigene Berechnungen
2. Stelle 8,2 998 5,4 1364 5,6 1130
Depression 1. Stelle 1,2 998 2,5 1510 1,0 1139
2. Stelle 3,4 996 3,1 1417 3,1 1137
Im Vergleich zu Deutschland zeigen sich allgemein höhere Prozentsätze der Kategorie „andere Blutsverwandte“, die als Zweithelfer/-innen in finanziellen Notsituationen und im Krankheitsfall genannt werden. Für Ungarn wurde zusätzlich der Partnerschaftsstatus kontrolliert.525 Bivariate Analysen zeigen, dass sich eine fehlende Partnerschaft positiv auf die Wahl von anderen Verwandten in der Hilfesituation auswirkt. Die größten Prozentsatzdifferenzen zeigen sich in der Notsituation „Depression“, so wenden sich 4,7% der Befragten 522 523
524 525
Datenbasis der Studie von Bruckner u.a. (1993) ist das ISSP 1986 (Social Networks I). Der Einfluss der Partnerschaft wurde anhand bivariater statistischer Analysen und Drittvariablenanalysen kontrolliert. Die empirischen Ergebnisse werden nicht ausgewiesen. Es werden die Prozentwerte der Kategorie „andere/r Blutsverwandte/r“ dargestellt. Die Analyse konnte nicht für Italien durchgeführt werden, da der italienische Datensatz des ISSP 2001 nur den Familienstand der Befragten erfasst, darüber hinaus jedoch nicht nach der Existenz einer Lebenspartnerschaft fragt.
258
5 Empirische Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen
ohne Partner/-in an ihre anderen Blutsverwandten (erste Nennung) im Vergleich zu 0,9% der Befragten mit Partner/-in (2. Nennung: 5,4% vs. 1,5%). In den anderen Notsituationen unterscheiden sich die Befragtengruppen jedoch nur geringfügig. Die Resultate korrespondieren mit Ergebnissen der Vorgängerstudie ISSP 1986 (Social Networks I) (vgl. Bruckner u.a. 1993). Während sich in allen Nationen die „Rangfolge der Zuständigkeit“ und die problemspezifische Auswahl der Helfer/-innen als allgemeine Prinzipien zeigen, müssen jedoch Unterschiede in der Priorität der Partnerschaft und der Bedeutung von Verwandtschaftsbeziehungen konstatiert werden. Insbesondere Italien und Ungarn kennzeichnet eine starke Verwandtschaftsorientierung. Verwandte (als Globalkategorie) werden im Ländervergleich insgesamt häufiger in den drei Problemsituationen genannt. Übereinstimmend mit dem Befund der komplementären Rolle von Partnerschaft und Verwandtschaft werden Partner/-innen seltener genannt.526 Das in den Kapiteln 1.3 und 3.1.2.2 beschriebene Phänomen der Multiplexität von verwandtschaftlichen Beziehungen kann anhand der Datensätze ALLBUS 2000 und ISSP 2001 genauer analysiert werden. Das ISSP 2001 fragt allgemein danach, ob die genannten besten Freundinnen und Freunde auch Verwandte sind, ohne jedoch zwischen einzelnen Verwandtentypen zu differenzieren. Tabelle 24 informiert über Geschlecht und Verwandtschaftsstatus der besten Freundin bzw. des besten Freundes.527 Tabelle 24: Verwandtschaftsstatus der besten Freundin und des besten Freundes (Angaben in Prozent) Ist Ihr bester Freund/ Ihre beste Freundin… ?
West
Ost
Frauen 12,2
Männer 16,3
Frauen 20,4
Männer 23,9
ein Verwandter
4,7
9,4
4,3
11,5
eine Verwandte
13,6
3,1
8,5
1,9
ein Mann, mit dem Sie nicht verwandt sind
4,2
61,3
6,2
48,8
eine Frau, mit der Sie nicht verwandt sind
65,3
9,8
60,7
13,9
447
211
209
Habe keine/n beste/n Freund/-in
N 449 Cramers V (West): .705 (p d .01), (Ost): .593 (p d .01) Datenbasis: ISSP 2001, Eigene Berechnungen
Die These einer geschlechtsspezifischen Freundschaftswahl kann bestätigt werden. Frauen wählen in deutlich höherem Maße weibliche Verwandte (und Nicht-Verwandte) und Männer häufiger männliche Verwandte (und Nicht-Verwandte) als Freunde. Diese Ergebnisse korrespondieren mit Befunden von Verbrugge (1979), nach denen insbesondere Frauen Verwandte als Freundinnen wählen.
526
527
So zeigt die Analyse des ungarischen Datensatzes eine untergeordnete Bedeutung der Partnerschaft im Vergleich zu nahen Verwandten (Eltern und Kinder) in der finanziellen Hilfesituation. Der Fragetext lautet: „Denken Sie an den besten Freund/die beste Freundin (aber bitte nicht an den (Ehe)Partner/die (Ehe)Partnerin). Wir meinen die Person, mit der Sie sich am engsten verbunden fühlen.“
259
5.2 Ergebnisse
Der ALLBUS 2000 enthält darüber hinaus Angaben über den Verwandtschaftsgrad von drei genannten Personen, die nicht im Haushalt der Befragten leben und mit denen die Befragten am häufigsten privat zusammen sind („3-Freunde-Frage“).528 Von Interesse für diese Arbeit ist hierbei die Kategorie „andere verwandte Person (Onkel, Tante, Nichte, Neffe usw.)“. Tabelle 25 informiert über die Multiplexität von entfernten Verwandtschaftsbeziehungen. Tabelle 25: Multiplexität von Verwandtschaftsbeziehungen (Angaben in Prozent) Freund/-in A
Freund/-in B
Freund/-in C
Ist nicht mit mir verwandt
West 67,4
Ost 56,2
West 64,2
Ost 54,0
West 63,0
Ost 53,9
Eigenes Kind (Sohn/Tochter)
10,5
16,4
11,6
13,2
8,8
9,6
Bruder/Schwester
7,2
9,1
6,5
6,8
7,9
10,5
Vater/Mutter
6,1
6,4
5,4
7,4
5,6
5,9
Schwiegersohn/-tochter
0,7
1,3
1,9
4,4
1,8
3,6
Schwager/Schwägerin
2,4
3,0
3,6
5,7
4,0
4,9
Schwiegervater/-mutter
0,7
1,4
1,4
1,4
1,1
2,0
Andere verwandte Person (Onkel, Tante, Neffe, Nichte usw.) N
4,9
6,2
5,4
7,0
7,8
9,7
2041
1116
1790
908
1436
698
Datenbasis: ALLBUS 2000, Eigene Berechnungen
Die Tabelle zeigt, dass die Mehrheit der genannten Freundinnen und Freunde nicht mit den Befragten verwandt sind. Insgesamt bezeichnen 4,9% der westdeutschen Befragten entfernte Verwandte als Freundin oder Freund A (5,4% Freund/-in B, 7,8% Freund/-in C). Die Prozentwerte der ostdeutschen Befragten fallen insgesamt höher aus, wenn auch auf niedrigem Niveau. Anzumerken ist, dass die an dritter Stelle genannte Person zu einem höheren Prozentsatz dem Personenkreis der entfernten Verwandtschaft angehört. Es verzeichnet sich folgende Reihenfolge: 1. Eigene Kinder, 2. Bruder/Schwester und 3. Vater/Mutter. Entfernte Verwandte haben in diesem Kontext eine annähernd gleiche Bedeutung wie Geschwister, denn ihre Prozentsätze unterscheiden sich nur geringfügig voneinander. Dies ist ein Ergebnis, das man nicht unmittelbar erwartet hätte. Die in der Literatur verbreitete These der „Rangfolge der Intimität“ (vgl. exemplarisch Hoyt, Babchuk 1983; Neyer, Lang 2003a) basierend auf Parsons´ (1943) zwiebelförmiger Anordnung der Verwandtschaft um die isolierte Kernfamilie, die darüber hinaus auch auf soziobiologische Prämissen zurückgeführt wird (Kapitel 1.4), kann in diesem spezifischen Kontext nicht nachgewiesen werden. Vielmehr haben entfernte Verwandte eine – im Vergleich zu Nicht-Verwandten – ebenso 528
Der Fragetext lautet: „Wir haben jetzt einige Fragen zu den Personen, mit denen Sie häufig privat zusammen sind: Denken Sie bitte einmal an die drei Personen, mit denen Sie am häufigsten privat zusammen sind. Es kann sich dabei sowohl um Verwandte als auch um nicht verwandte Freunde oder Bekannte handeln, nur nicht um Personen, die mit Ihnen im selben Haushalt wohnen.“
260
5 Empirische Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen
untergeordnete Bedeutung wie nahe Familienmitglieder (insbesondere Geschwister). Diese Befunde sind als eine überwiegende Trennung von verwandtschaftlichen und freundschaftlichen Rollen zu interpretieren. Dennoch finden sich Hinweise auf die Existenz von multiplexen Beziehungen mit dem erweiterten Familienkreis in Deutschland. Eine Analyse der Determinanten der Freundschaftswahl ist von großem Interesse für diese Arbeit, auch wenn die Prozentsätze der Wahl von entfernten Verwandten als Freundinnen und Freunde insgesamt niedrig ausfallen. Zur Beantwortung dieser Frage wird im Folgenden eine Logistische Regression geschätzt (vgl. Tabelle 26). 529 Es wurde ein Index gebildet, der darüber Auskunft gibt, wie viele Befragte mindestens eine andere verwandte Person zu ihren drei Freundinnen und Freunden zählen. Insgesamt bezeichnen 13,3% der westdeutschen und 16,9% der ostdeutschen Befragten mindestens eine entfernt verwandte Person als ihre Freundin oder ihren Freund.530 Die Analyse versteht sich als Replikat der Studie von Verbrugge (1979) und überprüft Zusammenhänge mit den soziodemographischen Merkmalen Geschlecht, Alter, Familienstand, Berufs- und Bildungsstatus, Religionszugehörigkeit und ethnischer Herkunft.531
529
530
531
Zur Interpretation der Ergebnisse sollen folgende allgemeine Erläuterungen angeführt werden (vgl. dazu Andreß u.a. (1997); Backhaus u.a. (2000)). Wirkungsrichtung und -stärke der unabhängigen Variablen zeigen sich in den odds ratios („Exp(B)“). Die Werte der odds ratio beziehen sich auf die Chance, dass die mit „1“ codierte Ausprägung der abhängigen Variablen (mindestens einmal Kontakt in vier Wochen) als Ereignis eintritt. Der jeweilige Wert gibt an, wie sich das Chancenverhältnis ändert, wenn sich die entsprechende unabhängige Variable um eine empirische Einheit erhöht (bei ansonsten gleichen Bedingungen) (vgl. Backhaus u.a. 2000: 121). Effekte größer eins bedeuten, dass die odds steigen (positiver Effekt), während Effekte kleiner eins bedeuten, dass sie sinken (negativer Effekt). Ein Effekt-Koeffizient gleich eins zeigt einen Nulleffekt (vgl. Andreß u.a. 1997: 271). Negative Werte der Regressionskoeffizienten („B“) bedeuten (bei steigendem X) eine höhere Wahrscheinlichkeit für die mit „0“ codierte Ausprägung der abhängigen Variablen (kein Kontakt in den letzten vier Wochen), positive Werte einen Anstieg für die mit „1“ codierte Ausprägung der abhängigen Variablen. Die Wald-Statistik („Wald“, „Sig.“) ist eng an die Überprüfung der Signifikanz einzelner Koeffizienten innerhalb der linearen Regression angelehnt. Es gilt ein Signifikanzniveau von 5%. Auch hier wird die Nullhypothese getestet, dass die jeweilige unabhängige Variable keinen Einfluss auf die Trennung der Gruppen hat (vgl. Backhaus u.a. 2000: 119). Die Wald-Statistik kann auch zur Überprüfung des gemeinsamen Effektes von mehreren zusammenhängenden unabhängigen Variablen, d.h. Dummys der kategorialen Variablen verwendet werden. Die Anzahl der Freiheitsgrade („df“) entspricht der Zahl der zu prüfenden Parameter. Die Beurteilung der Güte des Gesamtmodells erfolgt durch drei verschiedene Pseudo-R-Quadrat-Maßzahlen: McFaddens R2, Cox and Snells R2 und Nagelkerkes R2. Generell gilt, je näher die Werte an Eins heranreichen, desto höher ist die Erklärungskraft der Variablen. Werte von 0,2 bis 0,4 (McFadden) können als gute Erklärungen der Gruppenzugehörigkeit durch die unabhängigen Variablen interpretiert werden. Das Problem der Maßgröße von Cox and Snell ist, dass sie auch im optimalen Fall nicht Eins erreicht. Diesen Defekt überwindet Nagelkerkes R2, wobei die Deutung dieser Maßzahl exakt der des Bestimmtheitsmaßes einer linearen Regression entspricht. Sie gibt an, wie viel Varianz der abhängigen Variablen durch die betrachteten unabhängigen Variablen erklärt wird (vgl. dazu ausführlicher Backhaus u.a. 2000: 132f.). Weiterhin wird die Größe des Standardfehlers („SE“) angegeben. Zu diesem Zweck wurden die Variablen dichotomisiert, so dass es jeweils zwei Ausprägungen gibt: 1 = „entfernte Verwandte als Freund/-in“ und 0 = „andere Person als Freund/-in“. Vgl. dazu ausführlicher Kapitel 3.1.2.2.
261
5.2 Ergebnisse
Tabelle 26: Logistische Regressionsanalyse zur Vorhersage der Wahl von Verwandten als Freundin oder Freund532 Variablen Geschlecht (männlich) weiblich
B
SE
Wald
df
Sig.
Exp(B)
.056
.152
.139
1
n.s.
1.058
Bildung (Volks-/Hauptschule) Mittlere Reife FH/Abitur
.026 -.386
.179 .224
4.169 .021 2.984
2 1 1
n.s. n.s. n.s.
1.026 .680
Berufsstatus (Arbeiter/in) Angestellte/r Beamter/Beamtin
-.107 -.450
.170 .313
2.081 .399 2.076
2 1 1
n.s. n.s. n.s.
.898 .637
Alter
.027
.005
24.834
1
Familienstand (ledig) verheiratet verwitwet geschieden
-.338 -.354 -1.406
.201 .351 .464
9.580 2.834 1.014 9.169
3 1 1 1
d .01 d .05
n.s. n.s. d .01
.713 .702 .245
Religionszugehörigkeit (keine) evangelisch katholisch
.015 -.287
.182 .190
3.844 .007 2.281
2 1 1
n.s. n.s. n.s.
1.015 .751
Dt. Staatsangehörigkeit (ja) nein
.679
.447
2.305
n.s.
1.972
Konstante
-2.328
.681
11.693
n.s.
.098
1
1.027
-2 Log-Likelihood: 1347,522 Pseudo R2: Cox/Snell .033, Nagelkerke .060, McFadden .042 N = 1731 Datenbasis: ALLBUS 2000 (gewichtet), Eigene Berechnungen Wie Tabelle 26 zeigt, ist das Geschlecht keine Determinante der Wahl von entfernten Verwandten als Freundinnen und Freunde. Dieser Befund widerspricht damit der Hypothese von Verbrugge (1979) und den eigenen vorherigen Analysen des ISSP 2001. Als Erklärungsmöglichkeit für diese unterschiedlichen Ergebnisse kann angeführt werden, dass die hier konstatierten nicht signifikanten Zusammenhänge speziell für die Wahl von entfernten Verwandten gelten, während Verbrugge (1979) und das ISSP 2001 als abhängige Variable „Verwandte“ als Globalkategorie erfassen und nicht zwischen Verwandtschaftsgrad und typ unterscheiden. Dieser Befund kann somit als Hinweis auf eine Differenzierung der in der bisherigen Literatur vermuteten positiven Zusammenhänge zwischen Geschlecht und der Wahl von Verwandten als Freundinnen und Freunde interpretiert werden, denn der geschlechtsspezifische Einfluss zeigt sich nicht in Bezug auf entfernte Verwandte. 532
Die Referenzkategorien werden in Klammern aufgeführt.
262
5 Empirische Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen
Bestätigt werden kann hingegen der Effekt des Alters, denn mit Zunahme des Alters steigt die Wahrscheinlichkeit der Wahl von entfernten Verwandten (odds ratio = 1.027). Dieses Ergebnis korrespondiert mit den Resultaten Verbrugges (1979), der ebenfalls einen positiven Alterseffekt nachweisen kann. Basierend auf austauschtheoretischen Überlegungen werden von Verbrugge (1979) als Erklärungen ein höherer emotionaler und instrumenteller Nutzen, höhere Kontaktopportunitäten und gemeinsame Werte genannt. Übereinstimmend mit diesen Befunden zeigen auch Hoyt, Babchuk (1983), dass mit Zunahme des Alters die Wahrscheinlichkeit der Wahl von entfernten Verwandten als Vertrauenspersonen steigt. Sie führen das Ergebnis insbesondere auf altersspezifische Verluste von signifikanten Personen (Partner/-in, Geschwister, u.a.) zurück. Mit Ausnahme des Familienstandes „geschieden“ (odds ratio = .245) leisten die hier analysierten soziodemographischen Variablen keinen signifikanten Erklärungsbeitrag. Geschiedene haben im Vergleich zur Referenzkategorie „ledig“ eine signifikant geringere Wahrscheinlichkeit der Wahl von entfernten Verwandten. Damit widersprechen die Ergebnisse den Resultaten Verbrugges (1979), die somit nicht vollständig repliziert werden. Die Wahl von entfernten Verwandten als Freundinnen und Freunde erweist sich als unabhängig von Geschlecht, Bildungs- und Berufsstatus, religiöser Identität und ethnischer Herkunft. Diese Befunde können zum einen auf die explizite Berücksichtigung der entfernten Verwandten als abhängige Variable zurückgeführt werden, die in bisherigen Studien nicht gesondert analysiert wurden. Diese Schlussfolgerungen müssen jedoch durch weitere Studien, die ebenfalls zwischen Verwandtschaftsgrad und -typ in der Analyse der Multiplexität von Verwandtschaft differenzieren, statistisch abgesichert werden. Auf der anderen Seite spricht dieses Ergebnis auch für eine stärkere Berücksichtigung der individuellen Faktoren der Freundschaftswahl (Kapitel 3.1.2.2), wie gemeinsame Interessen und Ähnlichkeit von Werten, die als Determinanten einer emotionalen Beziehung mit entfernten Verwandten diskutiert werden (z.B. Adams 1968; Milardo 2005). In Kapitel 4.1.3 wurde in einem Exkurs die Rolle von Verwandtschaft als Sozialkapital thematisiert. Eine empirische Anwendung des Sozialkapital-Ansatzes findet vor allem im Bereich der Arbeitsvermittlung statt. Mit Hilfe der Daten des ISSP 2001 kann die Bedeutung von Verwandten als „starke Beziehungen“ (Granovetter 1973) empirisch überprüft werden. Erfasst wird die Institution oder der Personenkreis, von dem die Befragten von offenen Arbeitsstellen erfahren haben.533 Tabelle 27 zeigt die verschiedenen Informationsquellen.
533
Der Fragetext lautet: „Man kann von offenen Arbeitstellen auf unterschiedliche Weise erfahren – von anderen Menschen, durch Anzeigen, das Arbeitsamt usw. Bitte geben Sie an, wie Sie von Ihrer jetzigen Stelle erfahren haben. (Wenn Sie zur Zeit nicht erwerbstätig sind, denken Sie bitte an Ihre letzte Stelle).“
263
5.2 Ergebnisse
Tabelle 27: Arbeitsvermittlung (Angaben in Prozent)
Ich bin niemals erwerbstätig gewesen Durch Eltern, Brüder oder Schwestern Durch andere Verwandte Durch einen engen Freund/eine enge Freundin Durch andere Bekannte Durch das Arbeitsamt Durch eine private Stellenvermittlung Durch Stellenvermittlung an der Schule/Hochschule Durch eine Anzeige oder einen Aushang Der Arbeitgeber hat mit mir Kontakt aufgenommen Ich habe einfach angerufen oder bin hingegangen, um nach Arbeit zu fragen N Datenbasis: ISSP 2001, Eigene Berechnungen
West
Ost
5,1 8,0 4,0 8,9 11,4 11,6 1,7 2,6 19,9 11,4 15,4
2,8 7,3 4,9 6,7 13,7 14,0 1,3 4,9 13,5 11,9 18,9
835
386
Für 8% der westdeutschen Befragten waren Eltern/Geschwister und für 4% andere Verwandte informelle Informationsquellen über den Arbeitsplatz, die in diesem Kontext als starke Beziehungen bezeichnet werden können. 4,9% der ostdeutschen Befragten nennen andere Verwandte. Wesentlich höher fallen hingegen die Prozentsätze der „schwachen Beziehungen“ (Granovetter 1973; Wegener 1987) unabhängig vom Erhebungsgebiet aus, denn 11,4% der westdeutschen und 13,7% der ostdeutschen Befragten haben von einer offenen Arbeitsstelle durch andere Bekannte erfahren. Insgesamt dominieren jedoch institutionalisierte Informationsquellen und Selbstinitiative (Arbeitsagentur, Anzeigen, direkte Nachfrage beim Arbeitgeber u.a.). Verwandtschaftsbeziehungen haben als informelle Informationsquelle eine eher untergeordnete, aber nicht zu negierende Bedeutung. 5.2.3 Determinanten der Wichtigkeit von Verwandtschaft Der ALLBUS fragt nach der Wichtigkeit von Verwandtschaft, eine Variable, die zum letzten Mal im Jahr 1998 erhoben wurde und für die (leider) keine aktuelleren Ergebnisse vorliegen.534 Diese Frage erhebt darüber hinaus nicht direkt eine konkrete Wahl von Verwandten, da man keine Auskunft über reale Kontakte erhält. Sie misst hingegen die Einstellung der Befragten, von der man nicht ohne weiteres auf konkretes Verhalten schließen kann. Andererseits lässt eine hohe Wichtigkeit von Verwandtschaft implizit auch eine höhere
534
Einschränkend muss darauf hingewiesen werden, dass der allgemeine Oberbegriff „Verwandtschaft“ sowohl nahe als auch entfernte Verwandte einschließen kann. Die Interpretation bleibt an dieser Stelle den Befragten überlassen. Eine weitere Frage, die innerhalb des gleichen Kontextes und zeitlich vor der Frage nach der Wichtigkeit von Verwandtschaft gestellt wurde, fragt nach der Wichtigkeit einer eigenen Familie und Kindern, so dass dieser Personenkreis bei der Beantwortung der Frage exkludiert wird.
264
5 Empirische Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen
Wahrscheinlichkeit der Wahl von Verwandten als Interaktionspartner/-innen vermuten.535 Zur Prüfung der Hypothesen werden zuerst Mittelwertvergleiche (t-Test, einfaktorielle Varianzanalysen (ANOVA)) durchgeführt. In einem zweiten Schritt wird ein multiples Regressionsmodell geschätzt.536 Folgende Hypothesen können überprüft werden:537
Für Frauen ist Verwandtschaft wichtiger als für Männer (H1a). Je niedriger der Bildungsstatus, desto wichtiger ist Verwandtschaft (H2a). Je niedriger der Berufsstatus, desto wichtiger ist Verwandtschaft (H2b). Je niedriger das Einkommen, desto wichtiger ist Verwandtschaft (H2c). Je höher das Alter, desto wichtiger ist Verwandtschaft (H5). Für Migrantinnen und Migranten ist Verwandtschaft wichtiger als für Personen deutscher Herkunft (H6). Je geringer der Urbanisierungsgrad des Wohnortes, desto wichtiger ist Verwandtschaft (H9).
In Tabelle 28 geben Mittelwertvergleiche einen Überblick über die verschiedenen Ausprägungen der Wichtigkeit von Verwandtschaft differenziert nach der sozialstrukturellen Position der Befragten.
535
536
537
Dieser Zusammenhang müsste jedoch noch überprüft werden. Es ist von keiner direkten positiven Beziehung zwischen Einstellung und Verhalten auszugehen (vgl. Fischer, Wiswede 1997: 247). Vgl. dazu ausführlicher Ajzen, Fishbein (1973, 1980). Die Variable „Wichtigkeit von Verwandtschaft“ (Skalenwert 1 = „unwichtig“ bis 7 = „sehr wichtig“) wird zur weiteren statistischen Analyse (Produkt-Moment-Korrelation nach Pearson, multiple Regression) als intervallskaliert behandelt. Zur Rechtfertigung dieser Vorgehensweise vgl. Benninghaus (1998: 23ff.) und Urban, Mayerl (2006: 275). Zusätzlich werden die Einflüsse der Berufstätigkeit der Frau und des Familienstandes überprüft. Erfasst werden die Frauen, die sowohl ganz- als auch halbtags berufstätig sind.
265
5.2 Ergebnisse
Tabelle 28: Mittelwertunterschiede der Wichtigkeit von Verwandtschaft nach sozialstrukturellen Merkmalen538 Wichtigkeit von Verwandtschaft West
Geschlecht Männer Frauen Berufstätigkeit der Frau ja nein Alter 18 - 29 Jahre 30 - 44 Jahre 45 - 59 Jahre 60 Jahre und älter Bildungsstatus Volks-/Hauptschule Mittlere Reife Fachhochschulreife/Abitur Berufsstatus Arbeiter/-in Angestellte/r Beamter/Beamtin539 (Haushalts-)Einkommen (DM) unter 1000 1000 - 1999 2000 - 2999 3000 - 3999 4000 - 4999 5000 und mehr Familienstand verheiratet verwitwet geschieden/getrennt ledig Deutsche Staatsangehörigkeit ja nein Wohnortgröße (Einwohnerzahl) unter 5000 5000 - 19999 20000 - 49999 50000 - 99999 100000 und mehr
Ost
x
s
N
x
s
N
4.90 5.27**
1.62 1.49
1049 1158
5.09 5.46**
1.50 1.30
446 574
5.10 5.38**
1.47 1.50
416 684
5.39 5.50
1.30 1.31
224 341
5.01 4.85 5.02 5.42
1.56 1.64 1.54 1.46
347 607 563 690
5.12 5.20 5.23 5.56*
1.58 1.43 1.36 1.27
154 324 244 298
5.19** 5.00 4.91
1.54 1.57 1.53
1057 580 458
5.41 5.24 5.23
1.38 1.41 1.37
352 454 189
5.17 5.04 5.02
1.60 1.55 1.47
663 1020 137
5.24 5.35 5.40
1.46 1.32 1.60
437 464 15
5.02 5.14 5.20 4.77 4.80 5.43
1.78 1.56 1.44 1.62 1.31 1.43
254 716 374 113 41 28
5.10 5.44 5.21 5.20 6.50 -
1.58 1.29 1.39 1.19 0.58 -
231 421 150 30 4 -
5.19** 5.40** 4.59 4.80
1.51 1.44 1.79 1.65
1310 297 145 453
5.44** 5.55** 4.87 4.99
1.30 1.35 1.54 1.53
573 130 106 211
5.05 5.72**
1.55 1.55
2065 142
-
-
-
5.14 5.07 5.24 5.03 5.06
1.59 1.48 1.51 1.60 1.62
284 586 343 229 765
5.32 5.11 5.38 5.43 5.31
1.40 1.50 1.27 1.32 1.44
347 162 146 67 298
* p d .05, ** p d .01 Datenbasis: ALLBUS 1998, Eigene Berechnungen 538
539
Die ausgewiesenen Mittelwerte ( x ) und Standardabweichungen (s) sind aus Gründen der Übersichtlichkeit auf zwei Stellen hinter dem Komma gerundet. In dieser Kategorie werden ebenfalls Richter/-in und Soldat/Soldatin erfasst.
266
5 Empirische Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen
Hypothese (H1a) kann bestätigt werden. Es gibt signifikante Unterschiede zwischen Männern und Frauen hinsichtlich der Einstellung gegenüber der Wichtigkeit von Verwandtschaft. Dieses Ergebnis einer stärkeren Verwandtschaftsorientierung der Frauen (Einstellungsebene) entspricht dem theoretisch erwarteten Einfluss der geschlechtsspezifischen Sozialisation und Rollenverteilung (Stichwort: „kinkeeper“), der in Kapitel 1.6 beschrieben wurde. Dieses Ergebnis wird durch den signifikanten Mittelwertunterschied zwischen berufs- und nichtberufstätigen Frauen unterstützt. Für nichtberufstätige Frauen ist Verwandtschaft wichtiger als für berufstätige Frauen. Ebenfalls bestätigt wird der Einfluss der ethnischen Herkunft (H6). Es zeigen sich signifikante Unterschiede zwischen Personen mit und ohne deutsche Staatsangehörigkeit.540 Tabelle 29 zeigt darüber hinaus die Ergebnisse des Post-hoc-Vergleichs, der im Fall von signifikanten Gruppenunterschieden durchgeführt wurde. Tabelle 29: Einfaktorielle Varianzanalysen zur Wichtigkeit von Verwandtschaft N
Gruppenunterschiede
x
d .01
2207
5.130
d .01
1020
60 Jahre und älter vs. 30-44 Jahre vs. 18-29 Jahre vs. 45-59 Jahre 60 Jahre und älter vs. 18-29 Jahre vs. 30-44 Jahre
5.42 4.85 5.01 5.02 5.56 5.12 5.20
Familienstand West
15.982
d .01
2205
Ost
10.458
d .01
1020
verwitwet und verheiratet vs. ledig und geschieden verwitwet und verheiratet vs. ledig und geschieden
5.40 5.19 4.80 4.59 5.55 5.44 4.99 4.87
Bildungsstatus West
5.874
d .01
2095
Sozialstrukturelle F Position Alter West 15.706
Ost
p
FH/Abitur 4.91 vs. Volks-/Hauptschule 5.19 Datenbasis: ALLBUS 1998, Eigene Berechnungen
540
Die Frage nach der deutschen Staatsangehörigkeit ist jedoch kein „harter“ Indikator. So können Befragte mit Migrationshintergrund die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen. Voraussetzung zur Durchführung eines tTests sind annähernd gleiche Stichprobenumfänge. Trotz der ungleichen Stichprobenumfänge der Variablen „Deutsche Staatsangehörigkeit“ wird die Präzision des t-Tests nicht beeinträchtigt, solange die Varianzen gleich sind (vgl. Bortz 1999: 138). Es liegt Varianzhomogenität vor.
267
5.2 Ergebnisse
Der Scheffé-Test für die Variable Alter zeigt zwei homogene Untergruppen. Die über 60Jährigen unterscheiden sich signifikant von den anderen drei Altersklassen, wobei diese untereinander keine signifikanten Unterschiede aufweisen. Die bivariaten Korrelationen (vgl. Tabelle 30) stützen dieses Ergebnis. Festgehalten werden kann: Je älter die (westdeutschen) Befragten, desto wichtiger ist die Verwandtschaft (H5). Zwischen Einkommen und der Wichtigkeit von Verwandtschaft ergibt sich keine signifikante Beziehung. Tabelle 30: Korrelation zwischen Wichtigkeit von Verwandtschaft und Alter/Einkommen541 Sozialstrukturelle Position N Alter West 2207 Ost 1020 Einkommen West 2207 Ost 1020 ** p d .01 Datenbasis: ALLBUS 1998, Eigene Berechnungen
r .120** .134** -.001 .039
Hinsichtlich des Einflusses des Familienstandes unterscheiden sich die Mittelwerte von zwei Gruppen signifikant voneinander (unabhängig vom Erhebungsgebiet): Für Verheiratete und Verwitwete ist Verwandtschaft wichtiger als für Ledige und Geschiedene. Die Gruppe des niedrigsten Bildungsstatus (Volks- und Hauptschule) unterscheidet sich signifikant von denjenigen Personen mit Fachhochschulreife/Abitur. Hypothese 2a kann somit bestätigt werden. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich für die Variablen Berufsstatus, Einkommen und Wohnortgröße keine signifikanten Mittelwertunterschiede ergeben. Signifikante Zusammenhänge können mit folgenden Merkmalen der sozialstrukturellen Position festgestellt werden: Geschlecht (West, Ost), Berufstätigkeit der Frau (West), Alter (West, Ost), Staatsangehörigkeit (West), Familienstand (West, Ost) und Bildungsstatus (West). Zur genaueren Erläuterung der Determinanten der Wichtigkeit von Verwandtschaft wurde eine multiple Regression geschätzt (vgl. Tabelle 31).
541
Eine zum Vergleich durchgeführte Berechnung des Rangkorrelationskoeffizienten nach Spearman zeigt in Bezug auf das Alter nur geringfügige Abweichungen für Westdeutschland (.124). Für Ostdeutschland fällt der Korrelationskoeffizient jedoch etwas höher (.134) aus. Bivariate Korrelationen zwischen der Wichtigkeit von Verwandtschaft und dem Einkommen sind ebenfalls nicht signifikant.
268
5 Empirische Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen
Tabelle 31: Multiple Regression „Wichtigkeit von Verwandtschaft“542 Unabhängige Variablen
Beta West
T Ost
Konstante
Sig.
West 9.395
Ost 12.389
West d .01
d .01
Ost
Geschlecht (Männer) Frauen
.115
.128
3.986
3.246
d .01
d .01
Alter (in Jahren)
.083
.168
2.371
3.468
d .05
d .01
Bildungsstatus
-.070
-.029
-2.134
-.670
d .05
n.s.
Berufsstatus
-.023
-.000
-.697
-.004
n.s.
n.s.
Einkommen (in DM)
.033
.044
1.034
.972
n.s.
n.s.
Familienstand (ledig) verheiratet verwitwet geschieden
.072 .057 -.053
.025 -.077 -.153
1.830 -1.826 -1.645
.435 -1.342 -.3498
n.s. n.s. n.s.
n.s. n.s. d .01
Dt. Staatsangehörigkeit (ja) nein
.177
-
4.156
-
d .01
-
Wohnortgröße
-.003
.037
-.099
1.005
n.s.
n.s.
korr. R2 .051 (West), korr. R2 .057 (Ost) F = 7,936, p d .01 (West); F = 6,047, p d .01 (Ost) N = 2207 (West), N = 1020 (Ost) Datenbasis: ALLBUS 1998, Eigene Berechnungen
Der Gesamtanteil der erklärten Varianz des Modells beträgt 5,1% (West) und 5,7% (Ost).543 Keine signifikanten Effekte, unabhängig vom Erhebungsgebiet, zeigen sich bei den Variablen Berufsstatus, Einkommen, Familienstand „verwitwet“ und „verheiratet“ und Wohnortgröße. Der Zusammenhang mit dem Familienstand („geschieden“) ist nur für Ostdeutschland signifikant, während sich der Einfluss des Bildungsstatus nur für Westdeutschland signifikant erweist. Zwischen diesen Variablen und der Wichtigkeit von Verwandtschaft bestehen zudem negative Beziehungen. Es ergibt sich somit folgende Reihenfolge der signifikanten Erklärungsbeiträge: Deutsche Staatsangehörigkeit (.117), Geschlecht (.115), Alter (.083), Bildungsstatus (.070) und für Ostdeutschland: Alter (.168), Familienstand
542
543
Die Referenzkategorien werden in Klammern aufgeführt. Die nominale Variable „Familienstand“ wird als Dummy behandelt. Die Regressionsanalyse unterliegt einer Reihe von Modellannahmen, wobei sie robust gegenüber kleineren Verletzungen der Annahmen ist (vgl. Backhaus u.a. 2000). Eine Überprüfung der Kollinearitätsstatistiken ergibt akzeptable Werte der Toleranz und „VIF“ (Varianz-Inflation-Faktor). Die Werte liegen zum Teil deutlich über den geforderten Schwellenwerten von 0,20 bis 0,25 (Toleranz) und >10,00 (VIF), die nicht unter- bzw. überschritten werden sollten (vgl. dazu ausführlicher Urban, Mayerl 2006: 232). Die Normalverteilung der Residuen wurde anhand der Kennzahlen Kurtosis und Schiefe und einer visuellen Residuenanalyse überprüft. Während die berechneten Werte der Kurtosis im akzeptablen Bereich liegen und somit auf eine annäherungsweise Gültigkeit der Normalverteilungsannahme hinweisen, liegt der Wert der Schiefe knapp über dem Toleranzbereich für große Stichproben (vgl. Urban, Mayerl 2006: 195f.). Infolgedessen wird die multiple Regression als explorativ bezeichnet.
5.2 Ergebnisse
269
(geschieden) (-.153) und Geschlecht (.128). Folgende Zusammenhänge können bestätigt werden, sie entsprechen dem theoretisch erwarteten Einfluss dieser Determinanten:
Für Frauen ist Verwandtschaft wichtiger als für Männer (West, Ost). Je älter die Personen, desto wichtiger ist Verwandtschaft (West, Ost). Je niedriger der Bildungsstatus, desto wichtiger ist Verwandtschaft (West). Für Geschiedene ist Verwandtschaft am unwichtigsten (Ost). Für Personen, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit haben, ist Verwandtschaft wichtiger als für Personen mit deutscher Staatsangehörigkeit (West).
Die theoretisch vermuteten Zusammenhänge zwischen Wohnortgröße, Einkommen, Berufsstatus, Familienstand und der Wichtigkeit von Verwandtschaft können nicht bestätigt werden. Die im Kontext dieser Arbeit überprüfbaren sozialstrukturellen Merkmale haben nur einen geringen Erklärungsbeitrag für die Einstellung gegenüber der Wichtigkeit von Verwandtschaft. Das niedrige Bestimmtheitsmaß kann als Hinweis auf die Nichtberücksichtigung von weiteren unabhängigen Variablen interpretiert werden, da der Großteil der Varianz nicht durch die Prädiktoren im Modell gebunden wird. Somit ist dieses Ergebnis als ein Hinweis auf nicht spezifizierte soziodemographische und (familien-)biographische Charakteristiken zu interpretieren, die aufgrund der sekundäranalytischen Restriktionen nicht analysiert werden konnten. Eine traditionelle Familienorientierung (Clanbewusstsein), die Geschlechtsrollenorientierung oder das Modell der häuslichen Arbeitsteilung müssen in der Diskussion über einen höheren Stellenwert von Familie und traditionellen Sozialbeziehungen berücksichtigt werden.544 Die Berücksichtigung spezifischer Lebenslagen erscheint zudem wichtiger für die Einstellung gegenüber der Wichtigkeit von Verwandtschaft als soziodemographische Standardvariablen.545 An dieser Stelle kann auf das Konzept von Verwandtschaft als „Matrix latenter Beziehungen“ (Riley 1983) verwiesen werden. Die Latenz ist ein zentrales Merkmal moderner Verwandtschaftsbeziehungen. Diese bleiben inaktiv bis sie in persönlichen Krisensituationen oder anderen „Bedarfssituationen“ aktiviert werden. Die Wichtigkeit von Verwandtschaft zeigt sich unter diesem Gesichtspunkt als eine variable Konstruktion, die nicht als konstante Einstellung gemessen werden kann. Darüber hinaus lassen sich bis zu diesem Zeitpunkt in der bisherigen Forschung keine Vergleichsstudien finden, die als abhängige Variable die „Wichtigkeit von Verwandtschaft“ bestimmen und mit denen die hier vorgestellten Befunde verglichen werden könnten.546 Die nachgewiesenen Zusammenhänge der multiplen Regression sind somit nur unter Berücksichtigung der datentechnischen Restriktionen zu interpretieren. Vor diesem Hintergrund muss die multiple Regression als explorativ bezeichnet werden. Sie gibt erste Hin544
545 546
Zum anderen lässt dieses Ergebnis auf eine unzureichende Operationalisierung der abhängigen Variable „Wichtigkeit von Verwandtschaft“ schließen. Die Existenz einer objektiven Verwandtschaft ist beispielsweise nicht Voraussetzung zur Beantwortung dieser Frage. Die Frage nach der Wichtigkeit von Verwandtschaft wird somit auch von denjenigen Personen beantwortet, die keine Verwandten haben. Eine mögliche Verzerrung der Daten kann somit nicht vollständig ausgeschlossen werden. Vgl. hierzu auch die Diskussion über die Variablen-Soziologie (Kapitel 6). Litwak (1960a,b) analysiert den Zusammenhang zwischen der „erweiterten Familienorientierung“ und dem sozialen Status (Kapitel 3.2.1.1.1) und Rossi, Rossi (1990) untersuchen die Intensität der normativen Verpflichtungen gegenüber Verwandten (Kapitel 3.2.1.2). Die gewählten abhängigen Variablen sind jedoch nicht mit der Wichtigkeit des Lebensbereichs „Verwandtschaft“ zu vergleichen.
270
5 Empirische Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen
weise auf potentielle Zusammenhänge mit den sozialstrukturellen Determinanten Geschlecht, Bildungsstatus, Alter, Familienstand und ethnische Herkunft, die jedoch noch durch weitere empirische Analysen statistisch abgesichert werden müssen. 5.2.4 Überprüfung ausgewählter Hypothesen des Modells Das Kapitel verfolgt das Ziel, die in Kapitel 4.2 aufgestellten Hypothesen zu überprüfen. Es können aufgrund datentechnischer Restriktionen nur die Beziehungen zwischen sozialstrukturellen Determinanten sowie einzelnen (familien-)biographischen Charakteristiken und der Wahl von Verwandten überprüft werden. In Kapitel 5.4.2.1 werden zunächst deskriptive Statistiken dargestellt und danach in Kapitel 5.2.4.2 logistische Regressionen geschätzt. 5.2.4.1 Deskriptive Darstellung der Kontakte mit entfernten Verwandten Das ISSP 2001 ermöglicht eine differenzierte Analyse der Kontakte mit Onkeln und Tanten, Cousins und Cousinen sowie Nichten und Neffen. Die abhängige Variable „Kontakte in den letzten vier Wochen“ mit Onkeln/Tanten, Cousins/Cousinen und Nichten/Neffen hat die Ausprägungen 1 = „mindestens einmal in vier Wochen“547, 2 = „überhaupt nicht in vier Wochen, 3 = „habe keine dieser Verwandten (mehr)“. Im Folgenden werden zuerst die bivariaten Zusammenhänge mit den sozialstrukturellen bzw. (familien-)biographischen Merkmalen vorgestellt. Die Tabellen 32, 33 und 34 zeigen die Häufigkeitsverteilungen differenziert für die einzelnen Verwandtentypen.
547
In dieser Kategorie befinden sich Befragte, die „mehr als zweimal“ und „einmal oder zweimal“ Kontakt in den letzten vier Wochen mit ihren Verwandten hatten.
271
5.2 Ergebnisse
Tabelle 32: Kontakte mit Onkeln und Tanten nach sozialstrukturellen Merkmalen (Angabe der Spaltenprozente) Kontakte mit Onkeln/Tanten in den letzten vier Wochen West mindestens einmal
überhaupt nicht
habe keine dieser Verwandten (mehr)
Geschlecht Mann 38,7 36,9 19,0 Frau 36,9 38,1 25,1 Cramers V (West): .074 (n.s.), (Ost): .124 (p d .05) Alter 18 - 29 Jahre 58,3 39,1 2,6 30 - 39 Jahre 46,2 50,5 3,3 40 - 49 Jahre 39,1 50,3 10,6 50 - 59 Jahre 34,9 40,5 24,6 60 Jahre und älter 14,8 21,7 63,5 Cramers V (West): .423 (p d .01), (Ost): .455 (p d .01) Bildungsstatus Volks-/Hauptschule 28,9 35,7 35,2 Mittlere Reife 44,8 39,2 15,9 Fachhochschulreife/Abitur 40,8 47,4 11,8 Cramers V (West): .188 (p d .01), (Ost): .308 (p d .01) (Familien-)Einkommen unter 1000 (Euro) 29,0 37,7 33,3 1000 - 1999 35,1 35,1 29,8 2000 - 2999 39,4 44,8 15,8 3000 - 3999 47,2 38,9 13,9 4000 - 4999 39,0 48,8 12,2 5000 und mehr 32,5 52,5 15,0 Cramers V (West): .148 (p d .01), (Ost): .209 (p d .01) Familienstand verheiratet 35,2 41,7 23,1 verwitwet 13,3 15,6 71,1 geschieden/getrennt 26,7 44,2 29,1 ledig 52,2 40,2 7,5 Cramers V (West): .247 (p d .01), (Ost): .253 (p d .01) Kinderlosigkeit ja 45,4 42,1 12,6 nein 33,7 39,1 27,2 Cramers V (West): .176 (p d .01), (Ost): .209 (p d .01) Wohnortgröße unter 5000 (Einwohner) 35,5 41,9 22,6 5000 - 19999 41,8 37,1 21,1 20000 - 49999 40,5 38,8 20,7 50000 - 99999 38,1 39,7 22,2 100000 und mehr 34,0 42,9 23,2 Cramers V (West): .049 (n.s.), (Ost): .163 (n.s.) Datenbasis: ISSP 2001, Eigene Berechnungen
Ost N
mindestens einmal
überhaupt nicht
habe keine dieser Verwandten (mehr)
N
431 423
35,6 43,6
42,3 30,4
22,2 26,0
194 204
151 212 161 126 203
61,3 50,6 35,8 39,0 13,6
36,0 43,7 52,6 30,5 12,3
2,7 5,7 11,6 30,5 74,1
75 87 95 59 81
308 232 272
17,6 46,1 49,6
28,7 41,9 35,7
53,7 12,0 14,8
108 167 115
69 208 203 108 41 40
28,3 33,6 48,5 48,3 50,0 57,1
41,3 30,5 38,4 48,3 31,3 28,6
30,4 35,9 13,1 3,4 18,8 14,3
46 128 99 29 16 14
494 45 86 228
37,0 25,0 27,7 54,1
35,1 10,7 46,8 39,6
28,0 64,3 25,5 6,3
211 28 47 111
302 552
55,2 34,1
32,4 37,5
12,4 28,3
105 293
155 256 121 63 259
47,3 32,5 32,1 23,8 41,8
31,3 41,0 43,4 52,4 36,2
21,3 26,5 24,5 23,8 26,4
150 83 53 21 91
272
5 Empirische Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen
Tabelle 33: Kontakte mit Cousins und Cousinen nach sozialstrukturellen Merkmalen (Angabe der Spaltenprozente)
mindestens einmal
Kontakte mit Cousins/Cousinen in den letzten vier Wochen West Ost überhabe N minüberhabe haupt keine destens haupt keine nicht dieser einmal nicht dieser VerwandVerten wandten (mehr) (mehr)
Geschlecht Mann 40,5 52,0 Frau 41,0 48,8 Cramers V (West): .050 (n.s.), (Ost): .041 (n.s.) Alter 18 - 29 Jahre 56,0 42,0 30 - 39 Jahre 41,5 57,0 40 - 49 Jahre 34,8 60,0 50 - 59 Jahre 43,9 45,5 60 Jahre und älter 31,9 45,5
N
7,5 10,1
425 424
36,5 33,8
54,2 54,5
9,4 11,6
192 198
2,0 1,4 5,2 10,6 22,5
150 207 155 123 213
41,3 38,1 29,3 33,9 34,2
56,0 56,0 62,0 50,8 44,3
2,7 6,0 8,7 15,3 21,5
75 84 92 59 79
Cramers V (West): .232 (p d .01), (Ost): .165 (p d .01) Bildungsstatus Volks-/Hauptschule 36,8 49,7 Mittlere Reife 40,7 54,1 Fachhochschulreife/Abitur 43,6 50,4
13,5 5,2 6,0
310 231 266
28,3 38,9 35,1
53,8 54,3 56,1
17,9 6,8 8,8
106 162 114
Cramers V (West): .100 (p d .01), (Ost): .115 (p d .05) (Familien-)Einkommen unter 1000 (Euro) 47,9 39,7 1000 - 1999 41,3 46,0 2000 - 2999 41,2 53,8 3000 - 3999 43,8 49,5 4000 - 4999 42,1 52,6 5000 und mehr 28,9 65,8
12,3 12,7 5,0 6,7 5,3 5,3
73 213 199 105 38 38
27,1 36,1 39,2 35,7 37,5 28,6
64,6 47,5 56,7 57,1 50,0 71,4
8,3 16,4 4,1 7,1 12,5 -
48 122 97 28 16 14
Cramers V (West): .112 (n.s.), (Ost): .151 (n.s.) Familienstand verheiratet 38,5 53,6 verwitwet 29,2 39,9 geschieden/getrennt 35,4 49,4 ledig 49,8 46,2
7,9 31,3 15,2 4,0
496 48 79 225
35,3 14,8 35,4 40,0
55,4 59,3 45,8 54,5
9,3 25,9 18,8 5,5
204 27 48 110
6,4 10,2
298 551
38,1 34,0
54,3 54,4
7,6 11,6
105 285
7,7 13,7
684 124
36,2 31,7
53,6 57,1
10,2 11,1
304 63
7,2 8,7 8,1 11,3 9,7
152 254 123 62 258
40,5 34,1 36,5 19,0 29,9
49,3 54,9 51,9 66,7 60,9
10,1 11,0 11,5 14,3 9,2
148 82 52 21 87
Cramers V (West): .167 (p d .01), (Ost): .147 (p d .01) Kinderlosigkeit ja 45,3 48,3 nein 38,3 51,5 Cramers V (West): .083 (n.s.), (Ost): .062 (n.s.) Existenz Geschwister ja 40,8 51,5 nein 41,9 44,4 Wohnortgröße unter 5000 (Einwohner) 40,1 52,6 5000 - 19999 44,5 46,9 20000 - 49999 46,3 45,5 50000 - 99999 38,7 50,0 100000 und mehr 35,3 55,0 Cramers V (West): .066 (n.s.), (Ost): .088 (n.s.) Datenbasis: ISSP 2001, Eigene Berechnungen
273
5.2 Ergebnisse
Tabelle 34: Kontakte mit Nichten und Neffen nach sozialstrukturellen Merkmalen (Angabe der Spaltenprozente) Kontakte mit Nichten/Neffen in den letzten vier Wochen West mindestens einmal
überhaupt nicht
Ost
habe keine dieser Verwandten (mehr)
N
mindestens einmal
überhaupt nicht
habe keine dieser Verwandten (mehr)
17,7 19,5
435 435
45,1 53,0
35,2 28,3
19,7 18,7
193 198
46,0 12,0 10,5 8,5 18,3
150 209 162 130 218
22,9 65,5 56,8 46,4 47,1
31,4 22,6 34,7 37,5 34,1
45,7 11,9 8,4 16,1 18,8
70 84 95 56 85
Cramers V (West): .244 (p d .01), (Ost): .260 (p d .01) Bildungsstatus Volks-/Hauptschule 52,3 34,6 Mittlere Reife 49,3 34,5 Fachhochschulreife/Abitur 47,4 27,0
13,1 16,2 25,6
327 229 270
48,6 54,3 44,2
33,0 29,6 33,6
18,3 16,0 22,1
109 162 113
Cramers V (West): .102 (p d .01), (Ost): .064 (n.s.) (Familien-)Einkommen unter 1000 (Euro) 32,9 35,7 1000 - 1999 49,3 30,6 2000 - 2999 55,8 29,1 3000 - 3999 50,5 32,1 4000 - 4999 60,0 32,5 5000 und mehr 60,5 21,1
31,4 20,1 15,0 17,4 7,5 18,4
70 219 206 109 40 38
31,1 44,3 61,2 55,2 52,9 33,3
44,4 34,4 23,5 34,5 29,4 26,7
24,4 21,3 15,3 10,3 17,6 40,0
45 122 98 29 17 15
Cramers V (West): .120 (p d .05), (Ost): .169 (p d .05) Familienstand verheiratet 56,7 32,8 verwitwet 41,3 26,1 geschieden/getrennt 45,8 36,1 ledig 35,6 29,8
10,5 32,6 18,1 34,7
515 46 83 225
60,7 35,7 42,2 33,0
28,9 46,4 46,7 26,4
10,4 17,9 11,1 40,6
211 28 45 106
Cramers V (West): .202 (p d .01), (Ost): .264 (p d .01) Kinderlosigkeit ja 38,5 30,1 nein 55,2 32,9
31,4 11,9
299 571
26,5 57,1
33,3 31,3
40,2 11,8
102 289
Cramers V (West): .244 (p d .01), (Ost): .344 (p d .01) Wohnortgröße unter 5000 (Einwohner) 49,4 32,3 5000 - 19999 57,7 26,0 20000 - 49999 47,5 35,8 50000 - 99999 33,3 33,3 100000 und mehr 45,8 35,6
18,4 16,2 16,7 33,3 18,6
158 265 120 63 264
58,5 44,7 41,2 33,3 46,0
25,9 34,1 35,3 57,1 31,0
15,6 21,2 23,5 9,5 23,0
147 85 51 21 87
Geschlecht Mann 48,5 33,8 Frau 50,3 30,1 Cramers V (West): .041 (n.s.), (Ost): .085 (n.s.) Alter 18 - 29 Jahre 30,0 24,0 30 - 39 Jahre 56,0 32,1 40 - 49 Jahre 58,6 30,9 50 - 59 Jahre 59,2 32,3 60 Jahre und älter 44,0 37,6
Cramers V (West): .109 (p d .01), (Ost): .136 (n.s.) Datenbasis: ISSP 2001, Eigene Berechnungen
N
274
5 Empirische Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen
Das ISSP 2001 ermöglicht darüber hinaus eine detaillierte Analyse der Kontakte mit Nichten und Neffen, da zusätzliche Angaben über die Geschwisterbeziehung erhoben wurden. Im Vordergrund der Analyse steht die Überprüfung von (familien-)biographischen Hypothesen, die sich explizit auf die Wahl von Nichten und Neffen beziehen. Ebenso kann die Qualität der Beziehung mit Onkeln/Tanten berücksichtigt werden, die als eine Determinante der Wahl von Cousins/Cousinen gilt. Die Hypothesen lauten: H14a: H14b: H19a: H19b:
Je enger die Beziehung egos mit den Geschwistern, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Wahl von Nichten und/oder Neffen.548 Je enger die Beziehung egos zu Onkeln/Tanten, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Wahl von Cousins/Cousinen.549 Je geringer die Anzahl der entfernten Verwandten (eines bestimmten Verwandtentyps), desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Wahl.550 Je größer die Anzahl der entfernten Verwandten (eines bestimmten Verwandtentyps), desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Wahl.
Tabelle 35 gibt einen Überblick über die bivariaten Verteilungen der Familienbiographie und der Kontakthäufigkeit mit Nichten/Neffen sowie Cousins/Cousinen.
548 549 550
Die affektive Nähe zwischen Geschwistern wird durch die Häufigkeit der Kontakte operationalisiert. Die affektive Nähe zu Onkeln/Tanten wird ebenfalls durch die Häufigkeit der Kontakte operationalisiert. Die Anzahl der Nichten und Neffen kann an dieser Stelle nicht zur Analyse genutzt werden, da diese Information nicht im ISSP 2001 erhoben wurde. Stattdessen wird die Anzahl der Geschwister als Indikator einer größeren Anzahl von Nichten und Neffen herangezogen.
275
5.2 Ergebnisse
Tabelle 35: Kontakte mit Nichten/Neffen und Cousins/Cousinen nach (familien-)biographischen Merkmalen (Angabe der Spaltenprozente)
mindestens einmal
Kontakte mit Nichten/Neffen in den letzten vier Wochen West Ost überhabe N mindesüberhabe haupt keine tens haupt keine nicht dieser einmal nicht dieser VerVerwandten wandten (mehr) (mehr)
Kontakte mit Geschwistern in den letzten vier Wochen täglich 59,1 22,7 18,2 22 77,8 22,2 1x pro Woche u. mehr 64,1 20,8 15,1 192 72,1 17,6 10,3 1x pro Monat 58,6 28,7 12,7 157 63,6 26,0 10,4 mehrmals im Jahr u. 46,6 41,8 11,6 seltener 249 47,7 41,3 11,0 kein Kontakt 30,4 36,6 32,9 161 25,9 32,9 41,2 Cramers V (West): .211 (p d .01), (Ost): .303 (p d .01) Anzahl der Geschwister 1 44,7 35,8 19,5 293 46,4 32,9 20,7 2 51,3 35,8 13,0 193 64,6 27,8 7,6 3 65,5 26,4 8,2 110 59,0 38,5 2,6 4 und mehr 73,3 20,7 6,0 116 67,4 26,1 6,5 Cramers V (West): .163 (p d .01), (Ost): .177 (p d .01) Kontakte mit Cousins/Cousinen in den letzten vier Wochen West Ost Kontakte mit Onkeln/ Tanten in den letzten vier Wochen mindestens einmal 71,1 26,9 2,0 301 64,4 33,6 2,1 überhaupt nicht 19,2 78,8 2,1 339 9,8 86,7 3,5 habe keine dieser Ver24,3 41,4 34,3 181 27,4 38,9 33,7 wandten (mehr) Cramers V (West): .475 (p d .01), (Ost): .474 (p d .01) Datenbasis: ISSP 2001, Eigene Berechnungen
N
9 68 77 109 85
140 79 39 46
146 143 95
In Anlehnung an White (2001) wird zusätzlich der Zusammenhang zwischen Familienzyklus und der Kontakthäufigkeit mit Geschwistern analysiert. White (2001) vermutet, dass die Übernahme der Elternrolle dazu führt, Beziehungen mit den Geschwistern zu intensivieren. Dieses Verhalten wird vor allem auf den Wunsch der Eltern zurückgeführt, aktive Beziehungen ihrer Kinder mit Onkeln, Tanten, Cousins und Cousinen herzustellen. Die Übernahme der Elternrolle wird im Rahmen dieser Untersuchung durch das Alter der Kinder operationalisiert. Es wird zwischen Befragten mit Kindern unter 18 Jahren und Kindern über 18 Jahren differenziert (vgl. Tabelle 36).
276
5 Empirische Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen
Tabelle 36: Zusammenhang zwischen Alter der Kinder und Kontakthäufigkeit mit Geschwistern (Angaben in Prozent) Alter der Kinder unter 18 Jahre
West über 18 Jahre
Kontakte mit Geschwistern in den letzten vier Wochen täglich 3,0 0,8 1x pro Woche und mehr 29,8 16,5 1x pro Monat 23,2 16,2 mehrmals im Jahr/seltener 32,3 39,6 kein Kontakt 11,6 26,9 N 198 260 Cramers V (West): .166 (p d .01), (Ost): .110 (n.s.) Datenbasis: ISSP 2001, Eigene Berechnungen
beides
unter 18 Jahre
Ost über 18 Jahre
beides
0,9 25,2 16,8 38,3 18,7 107
2,9 23,5 27,9 27,9 17,6 68
2,2 19,4 17,2 37,3 23,9 134
2,3 15,1 24,4 39,5 18,6 86
Die bivariaten Analysen zeigen, dass westdeutsche Befragte mit Kindern unter 18 Jahren signifikant häufigeren Kontakt mit ihren Geschwistern haben. Für Ostdeutschland zeigen sich keine signifikanten Zusammenhänge. Der statistische Zusammenhang müsste jedoch durch weitere Analysen, z.B. durch die Berücksichtigung der Intentionen bzw. Einstellungen gegenüber den geschwisterlichen Kontakten, abgesichert werden. Nur wenn diese in dem Ziel der Herstellung von Kontakten der Kinder mit ihren Onkeln und Tanten, Cousins und Cousinen begründet liegen, kann von einer ersten Bestätigung der Hypothese Whites gesprochen werden. 5.2.4.2 Determinanten der Wahl von Verwandten Welche Bestimmungsfaktoren der Wahl von Verwandten können entsprechend der theoretischen Überlegungen empirisch nachgewiesen werden? Die im vorherigen Kapitel vorgestellten sozialstrukturellen und (familien-)biographischen Variablen werden im Folgenden multivariat überprüft. Das Grundprinzip der Logistischen Regression ist die Modellierung des Wahrscheinlichkeitsübergangs einer binären abhängigen Variablen in Abhängigkeit von den Ausprägungen der unabhängigen Variablen, die beliebiges Messniveau haben können (vgl. Backhaus u.a. 2000: 111). Damit wird der Zusammenhang zwischen der Veränderung einer kontinuierlichen unabhängigen Variable auf der einen Seite und der Wahrscheinlichkeit der Zugehörigkeit zu der betrachteten Kategorie (der abhängigen Variablen) auf der anderen Seite analysiert (vgl. Backhaus u.a. 2000: 107). Die abhängigen Variablen stellen jeweils die Kontakte in den letzten vier Wochen mit Onkeln/Tanten, Cousins/Cousinen und Nichten/Neffen dar, die als dichotome Variablen repräsentiert sind (Kontakte 1 = „ja“, 0 = „nein“) und die Wahl von Verwandten erfassen.551 Somit können 551
Diejenigen Befragten, die mindestens einmal in den letzten vier Wochen Kontakt mit den Verwandten hatten, bekommen von SPSS eine „1“ (Kontakte) zugewiesen und diejenigen, die keine Kontakte in den letzten vier Wochen hatten, eine „0“ (keine Kontakte). Befragte, die angeben keine dieser Verwandten (mehr) zu haben, werden von der Analyse ausgeschlossen.
277
5.2 Ergebnisse
Wahrscheinlichkeitsveränderungen für Kontakte mit entfernten Verwandten angegeben werden. Tabelle 37 zeigt die Verteilung der abhängigen Variable. Tabelle 37: Verteilung der abhängigen Variable „Wahl von Verwandten“ Onkel/Tanten Cousins/Cousinen kein Kontakt (in den 50,8 56,3 letzten vier Wochen) mindestens einmal Kon49,2 43,7 takt (in den letzten vier Wochen) N 970 1127 Datenbasis: ISSP 2001 (gewichtet), Eigene Berechnungen
Nichten/Neffen 39,3 60,7 1029
Als unabhängige Variablen können leider nur die folgenden Determinanten der sozialstrukturellen Position analysiert werden: Geschlecht (H1a), Bildungsstatus (H2a), Einkommen (H2c), Kinderlosigkeit (H3), Alter (H5), Wohnortgröße (H9), Anzahl der Freunde/Freundinnen552 (H10). Zusätzlich werden für die Analyse der Kontakte mit Nichten und Neffen folgende (familien-)biographische Variablen aufgenommen: Häufigkeit der Kontakte mit Geschwistern (H14a) und Anzahl der Geschwister (H19a, H19b).553 Für die Analyse der Determinanten der Wahl von Cousins/Cousinen wird die Häufigkeit der Kontakte mit Onkeln/Tanten (H14b) und die Existenz von Geschwistern (H15) berücksichtigt. In den folgenden Kapiteln werden die Ergebnisse der empirischen Überprüfung der Hypothesen differenziert nach dem Verwandtentyp vorgestellt. Eine zusammenfassende Diskussion der Befunde erfolgt dann in Kapitel 5.2.4.3. 5.2.4.2.1 Onkel und Tanten Im folgenden Abschnitt werden zuerst die Hypothesen zu sozialstrukturellen Unterschieden in der Wahl von Onkeln und Tanten überprüft.554 Tabelle 38 zeigt die Ergebnisse der Logistischen Regression.
552
553 554
Erfasst wird die Anzahl der Freundinnen und Freunde, die nicht Mitglieder der Familie und Verwandtschaft sind. Die Variable „Anzahl der Geschwister“ hat eine Variationsweite von 10 Geschwistern. Aufgrund von biologischen Altersbegrenzungen wird die Variable „Alter“ nicht in das Modell aufgenommen. Die Mehrheit der Befragten über 60 Jahre (63,5% der westdeutschen und 74,1% der ostdeutschen Befragten) hat keine Onkel und Tanten (mehr).
278
5 Empirische Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen
Tabelle 38: Logistische Regressionsanalyse zur Vorhersage der Wahl von Onkeln und Tanten Variablen Geschlecht (männlich) weiblich
B
SE
Wald
df
Sig.
Exp(B)
-223
.177
1.579
1
n.s.
1.250
Bildung (Volks-/Hauptschule) Mittlere Reife FH/Abitur
.362 .126
.239 .248
2.615 2.285 .259
2 1 1
n.s. n.s. n.s.
1.436 1.134
Einkommen (in Euro)
.000
.000
.979
1
n.s.
1.000
Wohnortgröße (100000 und mehr) unter 5000 5000 - 19999 20000 - 49999 50000 - 99999
.452 .294 .034 -.158
.264 .233 .305 .305
4.834 2.933 1.590 .013 .013
4 1 1 1 1
n.s. n.s. n.s. n.s. n.s.
1.571 1.341 1.035 1.035
Anzahl Freunde/Freundinnen
.012
.008
2.411
1
n.s.
1.012
Existenz Kinder (nein) ja
-.128
.185
.480
1
n.s.
.880
Konstante
-.441
.329
1.797
1
n.s.
.643
-2 Log-Likelihood: 733,102 Pseudo R2: Cox/Snell .025, Nagelkerke .034, McFadden .018 N = 540 Datenbasis: ISSP 2001 (gewichtet), Eigene Berechnungen Keine der in das Modell aufgenommenen Merkmale der sozialstrukturellen Position (Geschlecht, Bildung, Einkommen, Wohnortgröße, Kinderlosigkeit) erweisen sich als signifikant. Dies gilt auch für die Anzahl der Freundinnen und Freunde, die als Alternativen für verwandtschaftliche Kontakte in die Analyse miteinbezogen wurden. Sie leisten somit keinen Erklärungsbeitrag für die Wahl von Onkeln/Tanten, die durch mindestens einen Kontakt in den letzten vier Wochen operationalisiert wird. Aufgrund sekundäranalytischer Restriktionen konnten ausschließlich Merkmale der sozialstrukturellen Position analysiert werden. Betrachtet man jedoch die bisherigen Befunde amerikanischer Verwandtschaftsstudien, die in einem Schwerpunkt die Beziehungen zu Onkeln und Tanten thematisieren, so werden insbesondere (familien-)biographische Determinanten der Kontakthäufigkeit und emotionalen Bindung angeführt.555 Aus der Perspektive der Neffen und Nichten können sie Substitut für fehlende Beziehungen mit den Eltern sein (Wenger, Burholt 2001; Milardo 2005). Verpflichtungen den (verstorbenen) Eltern 555
Deutsche Studien, die ausschließlich die Beziehungen mit Onkeln und Tanten analysieren, können bis zu diesem Zeitpunkt nicht identifiziert werden. Eine Ausnahme stellt lediglich die Aussage von Kaiser (1993) dar, der allgemein auf die Wichtigkeit der Berücksichtigung des „triadischen Kontextes“ hinweist, in den entfernte Verwandtschaftsbeziehungen eingebettet sind.
5.2 Ergebnisse
279
gegenüber haben ebenfalls Einfluss auf die Kontakthäufigkeit mit Onkeln und Tanten (Johnson, Catalano 1981). Weiterhin wird von einer Vielzahl von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern auf die Qualität der geschwisterlichen Beziehung der Eltern verwiesen, die als zentrale Determinante einer engen Beziehung mit Onkeln/Tanten und Cousins/Cousinen gilt (z.B. Allan 1977). An dieser Stelle sei ergänzend auf die Befunde von Rossi, Rossi (1990) verwiesen, die den biographischen Faktor „Wichtigkeit und Präsenz der Verwandten in der Kindheit“ zur Erklärung der Variabilität der normativen Verpflichtungen gegenüber Verwandten analysieren. Dabei zeigt sich ein positiver Zusammenhang zwischen der Wichtigkeit von Tanten der matrilinearen Abstammungslinie in der Kindheit und einer höheren normativen Verpflichtung. Ebenfalls diskutiert wird der Einfluss gemeinsamer Interessen im Kontext der Beziehung zwischen Onkel und Neffe, die damit Charakteristiken von Freundschaftsbeziehungen tragen (Milardo 2005). Verschiedene Studien weisen zudem auf eine unterschiedliche Bedeutung von Tanten und Onkeln hin. Insbesondere Tanten sind wichtige Bezugspersonen (Rossi, Rossi 1990; Mayr-Kleffel 1990). Mayr-Kleffel (1990) berichtet ergänzend, dass Frauen häufigere Kontakte mit Tanten haben. Die Analysen und bisherigen Befunde verdeutlichen, dass die alleinige Berücksichtigung von Merkmalen der sozialstrukturellen Position keinen Erklärungsbeitrag für die Wahl von Onkeln und Tanten liefert.556 Eine umfassende Explikation der Determinanten der Wahl von Onkeln und Tanten muss (familien-)biographische Charakteristiken stärker berücksichtigen und auch individuelle Merkmale der Beziehung (z.B. gemeinsame Interessen) erfassen. Die nicht existierenden Zusammenhänge können ebenfalls dahingehend interpretiert werden, dass aus methodischer Sicht eine differenzierte Erhebung der Kontakte mit Tanten und der Kontakte mit Onkeln sinnvoll ist und beide Verwandtentypen nicht in einer Kategorie zusammengefasst werden sollten. 5.2.4.2.2 Cousins und Cousinen In diesem Abschnitt erfolgt die Überprüfung der Hypothesen zu sozialstrukturellen und (familien-)biographischen Determinanten der Wahl von Cousins und Cousinen. Die Ergebnisse werden in Tabelle 39 dargestellt.
556
Vgl. dazu ausführlicher die Diskussion in Kapitel 5.2.4.3 und Kapitel 6.
280
5 Empirische Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen
Tabelle 39: Logistische Regressionsanalyse zur Vorhersage der Wahl von Cousins und Cousinen Variablen Geschlecht (männlich) weiblich
B
SE
Wald
df
Sig.
Exp(B)
-.199
.226
.769
1
n.s.
.820
Bildung (Volks-/Hauptschule) Mittlere Reife FH/Abitur
.045 .639
.310 .325
5.776 .021 3.856
2 1 1
n.s. d .05 d .05
1.046 1.894
Einkommen (in Euro)
.000
.000
.711
1
n.s.
1.000
Alter (in Jahren)
.005
.013
.149
1
n.s.
1.005
Wohnortgröße (100000 und mehr) unter 5000 5000 - 19999 20000 - 49999 50000 - 99999
.270 .733 .988 .039
.342 .306 .392 .509
10.081 .625 5.745 6.361 .006
4 1 1 1 1
d .05 n.s. d .05 d .05 n.s.
1.310 2.082 2.685 1.040
Anzahl Freunde/Freundinnen
.009
.010
.765
1
n.s.
1.009
Existenz Kinder (nein) ja
.271
.273
.990
1
n.s.
1.312
Existenz Geschwister (nein) ja
-.117
.345
.116
1
n.s.
.889
Häufigkeit Kontakte mit Onkeln/ Tanten (überhaupt nicht in 4 Wochen) mehr als zweimal 3.260 einmal oder zweimal 2.289
.417 .240
116.859 2 61.038 1 90.947 1
d .01 d .01 d .01
26.051 9.866
Konstante
.681
11.693
n.s.
.098
-2.328
1
-2 Log-Likelihood: 501,506 Pseudo R2: Cox/Snell .290, Nagelkerke .389, McFadden .250 N = 490 Datenbasis: ISSP 2001(gewichtet), Eigene Berechnungen Die unabhängigen Variablen erklären 25% der Varianz der abhängigen Variablen „Wahl von Cousins/Cousinen“ (McFadden). Als signifikant erweisen sich die Kontakthäufigkeit mit Onkeln/Tanten und die sozialstrukturellen Merkmale Bildungsstatus und Wohnortgröße. Personen mit mittlerer Reife und Fachhochschulreife/Abitur haben im Vergleich zu Personen mit Volks-/Hauptschulabschluss eine höhere Wahrscheinlichkeit der Wahl von Cousins/Cousinen (odds ratio = 1.046, odds ratio = 1.894).557 Die Hypothese „Je niedriger der Bildungsstatus, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Wahl von entfernten Verwandten“ 557
Die von SPSS ausgewiesene empirische Irrtumswahrscheinlichkeit liegt für den gemeinsamen Effekt des Bildungsstatus bei p = .056 und damit nur knapp über dem vorgegebenen Signifikanzniveau von 5%.
5.2 Ergebnisse
281
(H2a) kann somit für diesen Verwandtentyp nicht bestätigt werden. Entgegen der Erwartung zeigt sich vielmehr ein Richtungswechsel des theoretisch vermuteten Einflusses des Bildungsstatus: Je höher die Bildung, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Wahl von Cousins/Cousinen. Welche Erklärungen können für diesen Befund angeführt werden? Auf der Einstellungsebene zeigt sich ebenfalls ein positiver Zusammenhang zwischen normativen Verpflichtungen gegenüber entfernten Verwandten und dem Bildungsstatus (Rossi, Rossi 1990) sowie zwischen der erweiterten Familienorientierung und der sozialen Mobilität (Litwak 1960b). Es gibt jedoch keine deterministische Beziehung zwischen normativen Verpflichtungen und Verhalten (Rossi, Rossi 1990), so dass die häufigeren Kontakte nicht darauf zurückgeführt werden können. Gegen eine solche Interpretation spricht außerdem, dass insbesondere Beziehungen zu Cousins und Cousinen durch geringe normative Verpflichtungen gekennzeichnet sind (Rossi, Rossi 1990) und sich entsprechende Auswirkungen der normativen Verpflichtungen auf die Kontakte empirisch nicht nachweisen lassen (Adams 1968). Als eine alternative Interpretationsmöglichkeit könnte zudem die höhere Wahrscheinlichkeit von Kinderlosigkeit bzw. Geschwisterlosigkeit bei hohem Bildungsstatus angeführt werden. Für diese Sichtweise sprechen die Befunde von Adams (1968). Einzelkinder haben engere soziale Beziehungen mit ihren Cousins und Cousinen. Im Modell werden die Einflüsse dieser zwei Variablen jedoch kontrolliert, so dass diese Erklärung ebenfalls ausgeschlossen werden kann. Betrachtet man abschließend die bisherige Literatur zur Wirkungsrichtung des sozialen Status auf Verwandtschaftsbeziehungen, so kann keine eindeutige Aussage getroffen werden. Ein stabiler Befund deutscher und amerikanischer Netzwerkstudien, der sich unabhängig vom eingesetzten Netzwerkgenerator reproduzieren lässt, ist der positive Zusammenhang zwischen dem Anteil des Teilnetzwerkes der Nicht-Verwandten und dem Bildungsstatus sowie anderen Schichtindikatoren.558 Während der Anteil von Verwandten in einem negativen Zusammenhang mit dem sozialen Status steht, variiert die Anzahl von Verwandten hingegen nicht mit dem sozioökonomischen Status (vgl. exemplarisch Marsden 1987; Pappi, Melbeck 1988; Moore 1990; van der Poel 1993). Die relative Wichtigkeit von Verwandten ist für Personen mit niedrigem sozialen Status größer, absolut gesehen zeigen sich zwischen den sozialen Schichten keine Unterschiede. In Bezugnahme auf Granovetter (1973) wird als Erklärung darauf verwiesen, dass statusniedrigere Personen ressourcenärmer sind und sich die Ressourcen am besten über kostengünstige Primärbeziehungen beschaffen können, während für Personen mit hoher Bildung und Berufsstatus größere Vorteile (Informationen, Arbeitsplatzsuche) durch außerverwandtschaftliche Beziehungen bestehen (Pappi, Melbeck 1988; Wegener 1987). Die Netzwerkstudien geben jedoch keine Auskunft über die Bedeutung von entfernten Verwandten, da nicht zwischen unterschiedlichen Verwandtentypen differenziert wird. Die Befunde können somit nur eingeschränkt mit den eigenen Ergebnissen verglichen werden. Frühe Studien der 1950er und 1960er Jahre berichten über häufigere verwandtschaftliche Kontakte und Bindungen der Arbeiterklasse (Firth 1956a; Adams 1968; Bott 1971). Der Befund wird jedoch primär auf die geographische Nähe von Arbeiterfamilien zu ihren Verwandten zurückgeführt (Lee 1980; Johnson 2000b), die mit geringen Kontaktopportunitäten und einer höheren Wahrscheinlichkeit einer emotionalen Distanz zu Verwandten einhergehen kann. Die geographische Distanz stellt somit eine wichtige Kontrollvariable in der Analyse des Zusammenhangs zwischen Verwandtschaftshandeln und sozialem Status dar. 558
Vgl. hierzu auch die Analyse von Wolf (2004).
282
5 Empirische Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen
Hypothese H9 erwartet einen negativen Zusammenhang zwischen der Wohnortgröße und der Wahl von entfernten Verwandten. Nach der Modellschätzung nehmen bei Personen, die in kleinen bis mittelgroßen Gemeinden/Städten leben (5000-19999 und 2000049999 Einwohner), die odds Cousins/Cousinen zu wählen, um den Faktor 2.082 bzw. 2.685 zu. Dieser Zusammenhang zeigt sich auch für Personen, die in Gemeinden mit weniger als 5000 Einwohnern leben (odds ratio = 1.310), jedoch wird er als nicht signifikant ausgewiesen. Die Referenzkategorie sind Großstädte mit 100000 und mehr Einwohnern. Somit kann die Hypothese (H9) „Je geringer der Urbanisierungsgrad, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Wahl von Cousins/Cousinen“ bestätigt werden. Bisherige deutsche und amerikanische Netzwerkstudien thematisieren den Einfluss der Wohnortgröße und zeigen, unabhängig vom verwendeten Netzwerkgenerator, dass der Anteil von Verwandten im persönlichen Netzwerk in einem negativen Zusammenhang mit der Wohnortgröße steht (Fischer 1982a; Marsden 1987; Pappi, Melbeck 1988; van der Poel 1993). Als Erklärung werden die unterschiedlichen (außerverwandtschaftlichen) Gelegenheitsstrukturen und Wahlmöglichkeiten in städtischen und ländlichen Kontexten angeführt. Feld (1981) verweist in diesem Zusammenhang ebenfalls darauf, dass die Gelegenheiten für Kontakte (mit NichtVerwandten) mit der Größe der Gemeinde zunehmen. Eine statistische Absicherung des Befundes muss vor allem durch die Kontrolle der geographischen Distanz und Interaktionsform (face-to-face, telefonisch u.a.) erfolgen. Die geographische Distanz ist ein zentraler Kostenfaktor für verwandtschaftliche Kontakte (Klatzky 1971). So könnte der negative Zusammenhang zwischen der Wahl von Verwandten und der Wohnortgröße auf die geographische Nähe mit Cousins und Cousinen in kleineren Gemeinden bzw. Städten zurückzuführen sein. Dies ist jedoch eine empirisch offene Frage, die mit dem zur Verfügung stehenden Datenmaterial nicht hinreichend untersucht werden kann. Auch in Bezug auf die Kontakthäufigkeit mit Onkeln und Tanten zeigen sich signifikante Zusammenhänge. Personen, die mit ihren Onkeln/Tanten mehr als zweimal (odds ratio = 26.051) und einmal (odds ratio = 9.866) in den letzten vier Wochen Kontakt hatten, haben eine höhere Wahrscheinlichkeit der Kontakte mit Cousins/Cousinen (Referenzkategorie: kein Kontakt). Hypothese H14b kann somit als eingeschränkt gültig angesehen werden, da die Qualität der Beziehung mit Onkeln und Tanten im Rahmen der Modellspezifikation durch die Kontakthäufigkeit operationalisiert wird. In Anlehnung an das Konzept von Allan (1979a) kann man somit von „strukturierten Chancen“ sprechen, die für Kontakte mit Cousins und Cousinen charakteristisch sind. Bott (1971) bezeichnet diese Verwandten als „connecting relatives“, die als Verbindungsglieder zwischen ego und den Cousins bzw. Cousinen stehen. An dieser Stelle müssten weitere Analysen Koresidenzeffekte ausschließen. Es wäre wünschenswert zu wissen, ob die Cousins und Cousinen im gleichen Haushalt wie ihre Eltern leben und damit Kontakte mit Onkeln/Tanten somit „automatisch“ den Kontakt mit Cousins und Cousinen herstellen. Trifft dies nicht zu, wäre dies als ein stärkerer Hinweis auf die Gültigkeit von Hypothese 14b zu deuten, denn die Kontakte mit Cousins/Cousinen sind damit nicht auf einen Aspekt der Opportunitätenstruktur (Koresidenz) zurückzuführen. Die Hypothese, nach der geschwisterlose Personen eine höhere Wahrscheinlichkeit der Wahl von Cousins und Cousinen haben, lässt sich im Rahmen der durchgeführten Sekundäranalyse nicht bestätigen. Damit stimmen die Befunde nicht mit Adams (1968) überein, der nachweisen kann, dass Individuen ohne gleichgeschlechtliche Geschwister engere Be-
5.2 Ergebnisse
283
ziehungen mit ihren Cousins und Cousinen pflegen. Einschränkend ist jedoch darauf hinzuweisen, dass auch Adams (1968) – in Relativierung seiner Befunde – Cousins und Cousinen nicht als Substitut für fehlende Geschwister betrachtet. Zudem kann das Geschlecht der Geschwister und Cousins/Cousinen nicht mit dem vorliegenden Datensatz überprüft werden. Es zeigt sich kein Effekt des Alters auf die Wahrscheinlichkeit der Kontakte mit Cousins und Cousinen. Die Annahme, dass aufgrund biologischer Veränderungen die Opportunitäten für verwandtschaftliche Kontakte erhöht sind – im Sinne von Zeitressourcen aufgrund des Ausstiegs aus dem Erwerbsleben und eines höheren emotionalen und instrumentellen Nutzens aufgrund von Verlusterfahrungen von Angehörigen (z.B. Leigh 1982; Rossi, Rossi 1990) – lässt sich aufgrund der vorliegenden Ergebnisse nicht bestätigen. Diese Resultate widersprechen auch indirekt Befunden der Netzwerkforschung, die über einen höheren Anteil von Verwandten im persönlichen Netzwerk bei älteren Befragten berichten (Marsden 1987; van der Poel 1993). Das Ergebnis korrespondiert jedoch mit Leigh (1982), die konstante Interaktionen mit Cousins und Cousinen im Lebensverlauf der Befragten nachweisen kann. Als Spezifikum der Beziehungen von Cousins und Cousinen – im Vergleich zu anderen Verwandten – muss ebenfalls die (annähernde) Altershomogamie dieser Verwandten beachtet werden. In Übereinstimmung mit den Theorien zur Erklärung von Freundschaftswahlen (Kapitel 3.1.2.2) müssen bei der Erklärung der Wahl von Cousins und Cousinen z.B. gemeinsame Interessen oder die Ähnlichkeit von Werten berücksichtigt werden. In diesem Kontext sind außerdem die Qualität der geschwisterlichen Beziehung der Eltern und die geographische Nähe (in Kindheit und Erwachsenenalter) anzuführen, die beispielsweise bei Adams (1968) zentrale Determinanten einer engen Beziehung mit Cousins und Cousinen sind. 5.2.4.2.3 Nichten und Neffen Abschließend werden die Einflüsse der sozialstrukturellen Position und der Familienbiographie auf die Wahl von Nichten und Neffen überprüft. Wie Tabelle 40 zu entnehmen ist, erklärt das Modell 10,3% der Varianz der abhängigen Variablen (McFadden). Als signifikant erweisen sich die (familien-)biographischen Charakteristiken „Anzahl der Geschwister“ und „Häufigkeit der Kontakte mit Geschwistern“. Mit Ausnahme der Wohnortgröße haben die hier überprüften sozialstrukturellen Merkmale (Geschlecht, Bildung, Einkommen, Alter, Kinderlosigkeit) keinen Erklärungsbeitrag für die Wahl von Nichten/Neffen. Bei einem Anstieg der Anzahl der Geschwister (um eine empirische Einheit), steigt die Wahrscheinlichkeit für Kontakte mit Nichten/Neffen (odds ratio = 1.238). Je größer die Anzahl der Nichten und Neffen (operationalisiert durch die Anzahl der Geschwister), desto höher ist die Wahrscheinlichkeit der Wahl von Nichten und Neffen. Hypothese H19b kann somit bestätigt werden. Die Alternativhypothese H19a, in der ein negativer Zusammenhang zwischen der Anzahl von Verwandten eines bestimmten Typs und der Wahl dieser Verwandten postuliert wird, lässt sich im Rahmen der durchgeführten Sekundäranalyse nicht bestätigen. Hierfür spricht auch die Feststellung von Matthews (2005), nach der die bloße Existenz von Geschwistern die Größe und Komplexität der objektiven Verwandtschaft er-
284
5 Empirische Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen
höht und dies umso mehr gilt, wenn viele Geschwister vorhanden sind und die Opportunitäten für verwandtschaftliche Kontakte mit Nichten und Neffen erhöht sind. Auch der Befund von Fischer (1982a) lässt sich in diesem Kontext anführen, der eine große Anzahl von subjektiven Verwandten im persönlichen Netzwerk auf ihre biologische Existenz (und geographische Nähe) zurückführt. Tabelle 40: Logistische Regressionsanalyse zur Vorhersage der Wahl von Nichten und Neffen Variablen Geschlecht (männlich) weiblich
B
SE
Wald
df
Sig.
Exp(B)
.057
.231
.061
1
n.s.
1.059
Bildung (Volks-/Hauptschule) Mittlere Reife FH/Abitur
.065 .114
.302 .328
.120 .047 .120
2 1 1
n.s. n.s. n.s.
1.068 1.120
Einkommen (in Euro)
.000
.000
2.461
1
n.s.
1.000
Alter (in Jahren)
.012
.012
.984
1
n.s.
1.012
Wohnortgröße (100000 und mehr) unter 5000 5000 - 19999 20000 - 49999 50000 - 99999
-.691 -.326 -.562 -1.142
.358 .320 .399 .501
7.001 3.725 1.036 1.988 5.208
4 1 1 1 1
n.s. n.s. n.s. n.s. d .05
.501 .722 .570 .319
Anzahl Freunde/Freundinnen
.014
.012
1.277
1
n.s.
1.014
Existenz Kinder (nein) ja
.524
.277
3.579
1
n.s.
1.688
Anzahl der Geschwister
.214
.091
5.522
1
d .05
1.238
Häufigkeit Kontakte mit Geschwister (kein Kontakt) täglich mind. 1x pro Woche 1x pro Monat mehrmals im Jahr/seltener
2.070 1.104 .391 -.354
.979 .559 .557 .545
26.998 4.476 3.907 .492 .423
4 1 1 1 1
d .01 d .05 d .05
n.s. n.s.
7.927 3.017 1.478 .702
Konstante
-1.101
.856
1.654
1
n.s.
.332
-2 Log-Likelihood: 466,864 Pseudo R2: Cox/Snell .121, Nagelkerke .169, McFadden .103 N = 412 Datenbasis: ISSP 2001 (gewichtet), Eigene Berechnungen Die Qualität der Beziehung (operationalisiert durch die Häufigkeit der Kontakte) zeigt ebenfalls die theoretisch zu erwartende Einflussrichtung, so dass Hypothese H14a bestätigt
5.2 Ergebnisse
285
werden kann. Das Chancenverhältnis der Individuen für Kontakte mit Nichten und Neffen, die täglich und mindestens einmal pro Woche Kontakt mit ihren Geschwistern haben, ist gegenüber der Referenzkategorie (kein Kontakt) deutlich erhöht (odds ratio = 7.927 und odds ratio = 3.017). Dieser Befund korrespondiert mit Ergebnissen von amerikanischen Studien (Wenger, Burholt 2001; Milardo 2005) und allgemeinen Aussagen, die die Bedeutung der Geschwisterbeziehung für enge Beziehungen mit Nichten und Neffen hervorheben (Allan 1977; Johnson 1982a; Matthews 2005). Eine aktive und enge Beziehung zwischen den Geschwistern erhöht die Wahrscheinlichkeit für intensive Kontakte mit Nichten und Neffen. An dieser Stelle müssten weitere Analysen Koresidenzeffekte prüfen. Eine empirische offene Frage bleibt, ob dieser Befund auch gilt, wenn verschiedene Haushalte existieren und Koresidenz ausgeschlossen werden kann. Diese Frage kann jedoch aufgrund des zur Verfügung stehenden Datenmaterials nicht beantwortet werden. Relativ zur Wohnortgröße von über 100000 Einwohnern und mehr haben Individuen, die in Städten von 50000-99999 Einwohnern leben, eine geringere Chance für Kontakte mit Nichten und Neffen (odds ratio = .319). Betrachtet man die anderen Wohnortgrößenklassen, die jedoch als nicht signifikant ausgewiesen werden, so weist der Einfluss in dieselbe Richtung: das Chancenverhältnis für Kontakte ist niedriger. Dieses Ergebnis korrespondiert nicht mit dem Befund eines negativen Zusammenhangs zwischen Wohnortgröße und der Wahl von Cousins/Cousinen, über den im vorherigen Kapitel 5.2.4.2.2 berichtet wurde. Es zeigt sich vielmehr ein Richtungswechsel des theoretisch erwarteten Einflusses. Hypothese H9 kann nicht bestätigt werden. Aufgrund der nicht für alle Ausprägungen der unabhängigen Variablen gefundenen signifikanten Zusammenhänge sollten die Ergebnisse als Tendenzen interpretiert werden, die durch weitere empirische Analysen abgesichert werden müssen. Kinderlosigkeit ist eine zentrale Determinante des Kontaktes mit Nichten und Neffen. In dieser Untersuchung zeigen sich keine Effekte der Kinderlosigkeit auf die Kontakthäufigkeit in den letzten vier Wochen. Es finden sich somit keine Belege für die in der Literatur weit verbreitete und theoretisch abgeleitete Annahme eines „Substitutionsprinzips“ (Shanas 1979), das insbesondere für die Beziehungen mit Nichten und Neffen charakteristisch ist. Kinderlose aktivieren ihre Beziehungen mit Nichten und Neffen nicht vermehrt in vier Wochen. Ebenfalls nicht signifikant ist der Einfluss des Alters auf die Wahrscheinlichkeit der Kontakte mit Nichten und Neffen. Zudem zeigt sich kein Interaktionseffekt zwischen Alter und Kinderlosigkeit, der aus diesem Grund auch nicht in Tabelle 40 ausgewiesen wird. 5.2.4.3 Fazit Im Rahmen der Sekundäranalyse werden Zusammenhänge zwischen der Wahl von Verwandten und der sozialstrukturellen Position sowie (familien-)biographischen Charakteristiken überprüft. Aufgrund der unvollständigen Modellspezifikationen müssen die Logistischen Regressionsanalysen als explorativ bezeichnet werden. Die (familien-)biographischen Determinanten Kontakthäufigkeit mit Geschwistern und Anzahl der Geschwister stehen in einem positiven Zusammenhang mit der Wahl von Nichten und Neffen. Damit können die Hypothesen (H14a, H19a) und empirischen Befunde bisheriger Verwandtschaftsstudien, die die Bedeutung der Qualität der Geschwisterbeziehung für Kontakte mit Nichten und Neffen hervorheben, bestätigt werden (Adams 1968;
286
5 Empirische Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen
Allan 1977; Johnson, Catalano 1981; Johnson 1982a; Wenger, Burholt 2001; Milardo 2005). Dies gilt ebenfalls für den Einfluss der Kontakthäufigkeit mit Onkeln und Tanten, die die Wahrscheinlichkeit der Wahl von Cousins und Cousinen signifikant erhöht. Hypothese H14b kann ebenfalls bestätigt werden. Speziell für Verwandtschaftsbeziehungen gilt somit das Merkmal „transitivity“ (Feld 1981). Es beschreibt die Tendenz, dass zwei Individuen, die mit einer dritten Person verbunden sind, eine höhere Wahrscheinlichkeit haben, selbst miteinander verbunden zu sein (vgl. Feld 1981: 1022). Die analysierten Determinanten der sozialstrukturellen Position erweisen sich, mit Ausnahme der Wohnortgröße, als nicht signifikant. Hinsichtlich der Beziehungen mit Cousins und Cousinen zeigt die Wohnortgröße die theoretisch postulierte Einflussrichtung, die in Kapitel 5.2.4.2.2 ausführlich diskutiert wurde. In Bezug auf die Wahl von Nichten und Neffen zeigt sich jedoch ein Richtungswechsel des theoretisch vermuteten negativen Zusammenhangs. Dieser sollte jedoch aufgrund der nicht für alle Ausprägungen der unabhängigen Variablen gefundenen signifikanten Zusammenhänge vorsichtig als Tendenz interpretiert werden. Zur weiteren statistischen Absicherung des Einflusses der Wohnortgröße wird eine Kontrolle der geographischen Distanz als notwendig erachtet. Der Bildungsstatus hat, entgegen der theoretisch erwarteten Richtung, einen positiven Effekt auf die Wahrscheinlichkeit der Wahl von Cousins und Cousinen. Dieser Zusammenhang lässt sich jedoch nur für diesen Verwandtentyp nachweisen. In diesem Kontext erweist sich die Wahl von entfernten Verwandten als unabhängig vom Einkommensstatus. Die Annahme eines größeren „Bedarfs“ von Verwandtschaftsbeziehungen (aufgrund einer ökonomisch deprivierten Situation) äußert sich nicht in einer höheren Wahrscheinlichkeit für Kontakte mit entfernten Verwandten innerhalb des vorgegebenen Referenzzeitraums von vier Wochen. Der theoretisch erwartete Einfluss einer höheren Unabhängigkeit von Verwandtschaftsbeziehungen kann somit nicht bestätigt werden. Die ebenfalls widersprüchlichen Befunde und das Alter der bisherigen Verwandtschaftsstudien, die in Kapitel 5.2.4.2.2 ausführlich dargestellt wurden, deuten auf weiteren Forschungsbedarf hin. Mit Ausnahme der Netzwerkstudien sind diese größtenteils über 40 Jahre alt. Eine Übertragung der Ergebnisse auf die heutige Gesellschaft ist aufgrund von Modernisierungs- und Individualisierungsprozessen nicht möglich. Der Einfluss des sozialen Status auf die Wahl von Verwandten muss genauer expliziert und analysiert werden. Als wichtig erscheint insbesondere die Analyse der verschiedenen Funktionen von Verwandten, die mit dem sozialen Status variieren können. So kann in Anlehnung an Johnson (2000b) beispielsweise zwischen einem praktischen Nutzen für Personen mit niedrigem sozioökonomischen Status und dem symbolischen Nutzen für Angehörige der Mittel- und Oberschicht differenziert werden.559 Die klassische Variable der bisherigen Verwandtschaftsstudien Geschlecht leistet – unter Berücksichtigung der gegebenen Modellrestriktionen – keinen Erklärungsbeitrag für die Wahl von entfernten Verwandten. Der in der amerikanischen und deutschen Literatur immer wieder referierte Befund einer größeren verwandtschaftlichen Einbindung von Frauen (kinkeeper) kann mit den vorliegenden Daten nicht repliziert werden. Für die Kontakthäufigkeit in den letzten vier Wochen gelten somit nicht „frauenzentrierte, feminine familiale Strukturen“ (Pasternak u.a. 1997). Frauen zeigen für diesen Referenzzeitraum kein größeres „Engagement“ für verwandtschaftliche Kontakte, so wie Lüschen (1989) es allgemein prognostiziert. Exemplarisch muss auf die Studien von Marbach (1989) und Mayr559
Der symbolische Nutzen besteht insbesondere in der Familienkontinuität und dem Verstärken der symbolischen Bedeutung der Familie (vgl. Johnson 2000b: 628).
5.2 Ergebnisse
287
Kleffel (1991) verwiesen werden, deren Befunde für eine Differenzierung der bisherigen Annahme einer generell höheren verwandtschaftlichen Einbindung sprechen: Frauen haben häufigere Kontakte mit weiblichen Verwandten (Tanten), während bei Cousins und Cousinen sowie Nichten und Neffen keine geschlechtsspezifischen Unterschiede in der Kontakthäufigkeit festzustellen sind. In der Literatur werden das biologische Geschlecht (sex) und die sozialisierte Geschlechtsrollenorientierung (Gender) als Erklärungen für die größere verwandtschaftliche Einbindung der Frauen herangezogen (vgl. Kapitel 1.6). Das biologische Geschlecht steht in dieser Untersuchung in keinem signifikanten Zusammenhang mit der Wahl von Verwandten. Die vorliegenden Resultate können als Beleg dafür angesehen werden, dass in einer zukünftigen Verwandtschaftsforschung die Geschlechtsrollenorientierung und das Modell der häuslichen Arbeitsteilung stärker berücksichtigt werden müssen. So wird das Verhaltensmuster eines größeren Engagements für die Aufrechterhaltung von Verwandtschaftsbeziehungen (di Leonardo 1992; Gerstel, Gallagher 1993; Rosenthal 1985), die höheren normativen Verpflichtungen gegenüber Verwandten (Rossi, Rossi 1990) und emotionalen Bindungen (Reiss 1962; Hoyt, Babchuk 1983; Rossi, Rossi 1990) sowie der höhere Anteil von Verwandten in weiblichen Netzwerken (Marsden 1987; Moore 1990; Kim 2001) auf eine traditionelle Geschlechtsrollenorientierung und Arbeitsteilung zurückgeführt, die das „Verwandtschaftshandeln“ als Teil der Hausfrauen- und Mutterrolle definiert. Diese Überlegungen korrespondieren mit Befunden der Netzwerkforschung (Moore 1990; MayrKleffel 1991), nach denen bei vollzeiterwerbstätigen Frauen ein geringerer Anteil von Verwandten im persönlichen Netzwerk festzustellen ist. Zudem haben vollzeitbeschäftigte Frauen deutlich weniger verwandtschaftliche Verpflichtungen (Bahr 1976).560 Eine ähnliche sozialstrukturelle Position von Männern und Frauen geht mit nur geringen Unterschieden in der Zusammensetzung der persönlichen Netzwerke einher. Auch dieses Resultat verstärkt die Kritik an der biologistischen Argumentation, nach der das biologische Geschlecht Unterschiede „erklären“ kann. Vielmehr sind die Befunde dahingehend zu interpretieren, dass eine zukünftige Verwandtschaftsforschung stärker individuelle Variablen wie Geschlechtsrollenorientierung, traditionelle Familienorientierung und die Organisation der häuslichen Arbeitsteilung berücksichtigen sollte. Wichtiger als die Analyse der Zusammenhänge zwischen Alter bzw. Kinderlosigkeit und der Kontakthäufigkeit mit entfernten Verwandten, die keine signifikanten Zusammenhänge aufweisen, erscheint die Analyse der spezifischen Leistungen und Funktionen, die beispielsweise Nichten und Neffen für ältere Menschen übernehmen. Dafür sprechen Befunde, die eine höhere Bedeutung von Nichten/Neffen (und anderen entfernten Verwandten) für die emotionale Unterstützung von kinderlosen Älteren (Künemund, Hollstein 2000) und generell als Bezugs- und Betreuungspersonen (Shanas 1973; Johnson, Catalano 1981; Wenger, Burholt 2001) aufzeigen. Der theoretisch zu erwartende negative Einfluss der Anzahl von Freundinnen und Freunden, die Alternativen für traditionelle Verwandtschaftsbeziehungen sind, kann nicht bestätigt werden. Kontakte mit entfernten Verwandten sind im Rahmen dieser Sekundäranalyse unabhängig von dem Vorhandensein und der Anzahl der Freundinnen und Freunde. Freundschaften sind somit nicht als Alternativen für verwandtschaftliche Kontakte zu betrachten, denn die Größe des Freundesnetzwerkes steht in keinem Zusammenhang mit einer 560
Auch Pfeil, Ganzert (1973) und Bott (1971) weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Ehen mit traditioneller Arbeitsteilung eine stärke Betonung des Verwandtenverkehrs zeigen.
288
5 Empirische Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen
geringeren Wahrscheinlichkeit der Wahl von entfernten Verwandten. Damit stimmen die Befunde mit einer Vielzahl von Resultaten von amerikanischen und deutschen Studien überein, die keinen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit der Interaktionen mit Verwandten und Freunden/Freundinnen finden (Babchuk 1965; Bruckner u.a. 1993) und über unterschiedliche Funktionen von Verwandtschaftsbeziehungen und Freundschaften berichten (z.B. Litwak, Szelenyi 1969). Die Befunde korrespondieren ebenfalls mit dem Ergebnis der Studie von Nauck, Kohlmann (1998: 228). Fehlende Verwandtschaftsbeziehungen werden nicht durch Freundschaften substituiert, vielmehr ist ein „Rückzug in die Gattenfamilie“ charakteristisch. Somit sind Familienbeziehungen der häufigste Ersatz für fehlende Gelegenheiten für verwandtschaftliche Kontakte. In Anlehnung an die Typologie von Kon (1979) kann von einem „Verhältnis der Ergänzung“ und nicht von einem „Verhältnis der Substitution“ dieser Sozialbeziehungen gesprochen werden (Kapitel 1.3). Damit kann einer Einschätzung von Nötzoldt-Linden (1994: 139f.) entsprochen werden, die darauf hinweist, dass die familiale und verwandtschaftliche Privatwelt ähnliche Werte, Bedürfnisse und Funktionen wie Freundschaften erfüllen kann. Diese Tatsache bedeutet jedoch nicht, dass sich beide Sozialbeziehungen gegenseitig ausschließen müssen, sondern sie stellen eigene Sinnquellen für die Menschen dar. Abschließend sei auf die Möglichkeit der Multiplexität von Verwandtschaftsbeziehungen und Freundschaften verwiesen (Verbrugge 1979), für deren Existenz sich auch eigene empirische Befunde anführen lassen (vgl. Kapitel 5.2.2). Die Varianzaufklärung der berechneten Modelle würde durch die Berücksichtigung von weiteren Merkmalen der sozialstrukturellen Position und (familien-)biographischen Charakteristiken sicherlich höher ausfallen. Dies betrifft vor allem die geographische Distanz und ethnische Herkunft sowie verschiedene biographische und individuelle Determinanten der Wahl von entfernten Verwandten, deren Einfluss im Rahmen dieser Untersuchung nicht analysiert wurde. Bisherige Studien berichten übereinstimmend, dass die geographische Distanz ein zentraler Kostenfaktor für verwandtschaftliche Kontakte ist. Je geringer die geographische Distanz, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit von Kontakten (Thibaut, Kelley 1959; Homans 1968). Dieser Wirkungsmechanismus wird ebenfalls für Freundschaften (Kapitel 3.1.2.2) und Generationenbeziehungen unterstellt (Kapitel 3.1.3) und gilt als theoretisch fundiert und empirisch abgesichert. Eine Vielzahl von Verwandtschaftsstudien bestätigen den Einfluss der geographischen Distanz oder weisen auf die Notwendigkeit der Berücksichtigung dieses Faktors hin (Reiss 1962; Adams 1968; Bott 1971; Klatzky 1971; Hoyt, Babchuk 1983; van der Poel 1993; Milardo 2005). So zeigt auch eine international vergleichende Studie (Bruckner u.a. 1993), dass bei Kontrolle der geographischen Distanz nur geringfügige Geschlechts-, Bildungs- und Nationenunterschiede in der Kontakthäufigkeit mit Verwandten festzustellen sind. Nauck, Kohlmann (1998) sprechen von einem Opportunitäteneffekt der geographischen Nähe, der insbesondere für deutsche Familien (im Vergleich zu türkischen) kennzeichnend ist. Sind Verwandte am Ort verfügbar, ändert sich die Zusammensetzung des Netzwerkes zugunsten einer Erhöhung des Anteils von Verwandten. Der Befund eines negativen Zusammenhangs zwischen Kontakthäufigkeit und geographischer Distanz muss jedoch auch differenziert betrachtet werden. Geographische Distanz als Kostenfaktor wirkt sich vor allem auf die Häufigkeit des face-to-face-Kontaktes aus, andere Interaktionsformen sind weniger davon betroffen (Litwak 1960a; Litwak, Szelenyi 1969). Der vielzitierte Aufsatz von Litwak, Szelenyi (1969) verweist in diesem Zusammenhang auf die modernen Kommunikations- und Transportmittel, die eine Aufrecht-
5.2 Ergebnisse
289
erhaltung von Verwandtschaftsbeziehungen auch über größere geographische Distanzen ermöglichen. Im modernen Zeitalter, in dem der Gebrauch von E-Mail und Billigflügen einer breiten Bevölkerungsschicht zugänglich ist, bekommen diese über dreißig Jahre alten Aussagen eine neue Bedeutung für die Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen. In Bezugnahme auf diese Befunde ergeben sich die folgenden methodischen Konsequenzen: Verwandtschaftliche Interaktionsformen (face-to-face, Telefon, E-Mail) sollten zukünftig differenziert erhoben werden. Nur so kann der Einfluss der geographischen Distanz überprüft werden. Die geographische Distanz sollte darüber hinaus als wichtige Kontrollvariable in Bezug auf die Determinanten Wohnortgröße und sozialer Status in die statistischen Analysen aufgenommen werden. Kultur- und gesellschaftsvergleichende Studien dokumentieren die Bedeutung der ethnischen Herkunft (Höllinger, Haller 1990; Georgas u.a. 1997, 2001; Nauck, Kohlmann 1998). Darüber hinaus berichten amerikanische Studien über ein kollaterales Prinzip der Verwandtschaftsorganisation mit dem Schwerpunkt der Geschwistersolidarität, das für afroamerikanische Familien (Hays, Mindel 1973; Stack 1974; Roschelle 1997) und amerikanische Familien italienischer Herkunft (Johnson 1982a) kennzeichnend ist. Insbesondere afroamerikanische Familien haben eine erweiterte Familienstruktur, die als „adaptive extended family structure“ (McAdoo u.a. 2005: 198) bezeichnet wird und sich konkret in häufigen Kontakten und Koresidenz mit Geschwistern, Tanten, Cousins und Cousinen zeigt. Das kollaterale Prinzip der Verwandtschaftsorganisation wird mit einer größeren Bedeutung von Generationenbeziehungen in westeuropäischen und weißen Familien kontrastiert. Dabei wird die Erklärung für engere Verwandtschaftskontakte aufgrund einer deprivierten sozioökonomischen Lage kontrovers diskutiert (Lee 1980; Roschelle 1997). Die in der Literatur weit verbreitete Annahme eines geringen normativen Verpflichtungsgrades muss im Hinblick auf die ethnische Herkunft differenziert betrachtet werden. Die Studie von Rossi, Rossi (1990) berichtet in diesem Zusammenhang über vergleichsweise höhere normative Verpflichtungen von ethnischen Minderheiten gegenüber ihren entfernten Verwandten. Dieser Befund korrespondiert ebenfalls mit den eigenen Ergebnissen eines signifikanten Zusammenhangs zwischen der Staatsangehörigkeit und der Wichtigkeit von Verwandtschaft (Kapitel 5.2.3). Weiterhin sollten subjektive biographische und psychische Merkmale der verwandtschaftlichen Beziehung berücksichtigt werden. Als Determinanten der Familienbiographie bzw. der idiosynkratischen Geschichte der Beziehung werden insbesondere die Beziehungen zu Verwandten in der Kindheit thematisiert. Enge Beziehungen in der Kindheit gehen mit höheren normativen Verpflichtungen gegenüber Verwandten (Rossi, Rossi 1990) und emotionalen Bindungen von Cousins und Cousinen im Erwachsenenalter (Adams 1968) einher. Amerikanische Studien weisen allgemein auf die Notwendigkeit der Berücksichtigung von persönlichen Präferenzen und Abneigungen (Bott 1971), der Persönlichkeit der Verwandten bzw. „personality fit“ (Bott 1971), die Ähnlichkeit von Werten (Adams 1968) und gemeinsamen Interessen (Reiss 1962; Milardo 2005) hin. Die Bedeutung dieser individuellen Merkmale wird zwar in den zuvor genannten Studien allgemein herausgestellt, sie werden jedoch nicht systematisch in die Verwandtschaftsanalyse integriert und empirisch analysiert. Diese Tatsache ist als zentrales Forschungsdefizit zu bewerten. Wertehomogamie ist eine zentrale Determinante gegenseitiger Sympathie und wird insbesondere im Kontext sozialpsychologischer Theorien der Freundschaftswahl thematisiert (Kapitel 3.1.2.2). Soziale Beziehungen – das gilt für Freundschaften und auch für Beziehungen mit dem er-
290
5 Empirische Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen
weiterten Familienkreis – werden jedoch nicht nur aufgrund von ähnlichen Werten oder gemeinsamen Interessen gewählt. Soziologische Theorien der Freundschaftswahl berücksichtigen aus diesem Grund gleichzeitig Präferenzen und Kontaktopportunitäten (Verbrugge 1977, 1979) bzw. den sozialen Kontext der Wahl (Feld 1981, 1984). Übertragen auf die Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen bedeutet dies, dass individuelle Determinanten der verwandtschaftlichen Beziehung theoretisch und empirisch nicht vernachlässigt werden dürfen. Sie sollten jedoch nicht als alleinige Erklärungsfaktoren für die Wahl von entfernten Verwandten betrachtet werden. Eine zukünftige Verwandtschaftsforschung sollte ein stärkeres Gewicht auf die Analyse der (familien-)biographischen Charakteristiken und individuellen Merkmale legen. Eine soziologische Analyse erfordert darüber hinaus die Berücksichtigung von verwandtschaftsspezifischen Einstellungen und Werten (traditionelle Familienorientierung) und normativen Verpflichtungen, die in dem objektiven Verwandtschaftsverhältnis begründet liegen und die Wahl von Verwandten als Interaktionspartner/-innen determinieren können.
Einleitung
291
6 Schlussbetrachtung und Ausblick
Die Soziologie sollte der Verwandtschaft als Sozialbeziehung verstärkt Beachtung schenken und neben intergenerationalen Beziehungen, die die Hierarchie der Interessen in der Familiensoziologie bestimmen, auch den erweiterten Familienkreis theoretisch und empirisch differenziert analysieren. Die verengte Sichtweise wird den gelebten verwandtschaftlichen Beziehungen im Alltag nicht gerecht. So zeigen die eigenen empirischen Analysen, dass kein Bedeutungsverlust von Verwandtschaft in Bezug auf die Wichtigkeit von Verwandtschaft für den Zeitraum 1980 bis 1998 zu verzeichnen ist. Auch aktuelle Befunde aus dem Jahr 2002 berichten über einen gestiegenen Prozentsatz der entfernten Verwandten, die zur Familie gezählt werden (Noelle-Neumann, Köcher 2002). Es kann ebenfalls nicht von einer geringen Kontakthäufigkeit mit Verwandten ausgegangen werden, denn 45% bis 60% der Befragten hatten mindestens einmal in vier Wochen Kontakt mit ihren Onkeln/Tanten, Cousins/Cousinen und Nichten/Neffen.561 Verwandtschaft erweist sich somit als relevantes soziales Beziehungssystem, in dem die häufigsten Kontakte mit Nichten und Neffen und die wenigsten Kontakte mit Cousins und Cousinen gepflegt werden. Von einer generell geringen Bedeutung der entfernten Verwandtschaft auf der Einstellungs- und Verhaltensebene kann nach Aufarbeitung des Forschungsstandes und der eigenen Untersuchung nicht mehr gesprochen werden, so dass der postulierten „Fundamentalbedeutung von genetischen Beziehungen für die Ausgestaltung des sozialen Miteinanders“ (Voland, Paul 1998: 55) auch in Bezug auf entfernte Verwandtschaftsbeziehungen zugestimmt werden kann. Aufgrund datentechnischer Restriktionen blieb die Überprüfung der Hypothesen primär auf Merkmale der sozialstrukturellen Position beschränkt. Die vorliegende Untersuchung stellt somit keine erschöpfende Analyse der entfernten Verwandtschaftsbeziehungen dar. Die theoretisch vermuteten soziodemographischen Zusammenhänge erwiesen sich überwiegend als nicht signifikant. Eine Vielzahl von Befunden zu den klassischen Determinanten verwandtschaftlichen Handelns – Geschlecht, sozialer Status, Alter u.a. – konnte nicht oder nur eingeschränkt repliziert werden. Generell muss auch festgestellt werden, dass viele Befunde amerikanischer Studien nicht problemlos auf Deutschland zu übertragen sind. Hieraus lassen sich zwei Schlussfolgerungen ableiten. Aus methodischer Sicht bleibt anzumerken, dass bei der Interpretation der Befunde der gewählte Referenzzeitraum beachtet werden muss. Es gibt keine Aussagen über die Zusammenhänge mit sozialstrukturellen Charakteristiken über den Referenzzeitraum von vier Wochen hinaus. Die Wahl von Verwandten ist somit nur eingeschränkt operationalisiert, da sich das Konzept der subjektiven Verwandtschaft auf die Verwandten bezieht, mit denen generell soziale Beziehungen gepflegt werden. Man muss ebenfalls berücksichtigten, dass die abhängige Variable sowohl weibliche als auch männliche Verwandte in einer Kategorie umfasst. Viele Studien berichten hingegen über geschlechtsspezifische Wahlen, z.B. haben Frauen häufiger Kontakt mit weiblichen Verwandten (z.B. Tanten) (Mayr-Kleffel 1991) oder die Beziehung zwischen 561
Datenbasis: ISSP 2001, gewichtete Daten für Gesamtdeutschland.
292
6 Schlussbetrachtung und Ausblick
Onkeln und Neffen wird als eigenständiger Themenbereich untersucht (Milardo 2005). Eine differenzierte Analyse der Zusammenhänge von sozialstrukturellen Charakteristiken und der Wahl von weiblichen und männlichen Verwandten sollte damit Ziel einer zukünftigen Verwandtschaftsforschung sein. Es besteht die Notwendigkeit von präzisen Kategorien für unterschiedliche Verwandtentypen, die nicht mehr in Globalkategorien („sonstige Verwandte“) oder ohne Unterscheidung des Geschlechts (Onkel und Tanten) erfasst werden sollten. Aus inhaltlicher Sicht bleibt festzuhalten, dass die bisherigen Verwandtschaftsstudien sich in ihrer Analyse fast ausschließlich auf soziodemographische Merkmale und ihren Zusammenhang in Bezug auf verwandtschaftliche Kontakte, emotionale Bindungen, normative Verpflichtungen und Austausch von Hilfeleistungen konzentrieren. Nur selten wird darüber hinaus der Einfluss von biographischen und individuellen Faktoren der Verwandtschaftsbeziehungen berücksichtigt. Die bisherigen Ansätze greifen offenbar zu kurz. Die im Rahmen dieser Arbeit untersuchten Determinanten der sozialstrukturellen Position haben lediglich einen sehr geringen Erklärungsbeitrag für die Einstellung gegenüber der Wichtigkeit von Verwandtschaft (Kapitel 5.2.3), die Wahl von Verwandten als Freundinnen und Freunde (Kapitel 5.2.2) und die Variabilität der Kontakte mit entfernten Verwandten (Kapitel 5.2.4.2). Die Befundlage kann generell als Hinweis auf die geringe Erklärungskraft von soziodemographischen Variablen als Indikatoren verwandtschaftsspezifischer Einstellungen und Handlungen gedeutet werden. Diese Interpretation sollte jedoch durch weitere Analysen statistisch abgesichert werden. In der Soziologie wird diese Diskussion unter dem Begriff der Variablen-Soziologie geführt (vgl. Esser 1979). Verhalten und soziale Regelmäßigkeiten werden als Folge des Wirkens von „Kontext-Variablen“ oder „kategorialen Kollektiven“ (Geschlecht, Alter, sozialer Status u.a.) aufgefasst. Der soziale Kontext bewirkt spezifische Einstellungen und diese steuern das Verhalten. Die genannten Variablen gelten als Indikatoren für vergangene oder handlungssteuernde Einstellungen, die z.B. durch soziale Beeinflussung erworben wurden (vgl. Esser 1996a: 232f., Esser 1979: 16). So dominiert in einer Vielzahl von Netzwerkstudien die „Lebenslage“ als Erklärung für die Variation der Zusammensetzung des persönlichen Netzwerkes (vgl. Diewald 1991). Die soziodemographischen Merkmale (Geschlecht, Alter, Bildung u.a.) definieren unterschiedliche Einschränkungen, Alternativen und Opportunitäten für die Interaktionen mit Verwandten (Fischer 1982a). Infolge von gesellschaftlicher Differenzierung und der damit verbundenen Vielfalt von Lerngeschichten, Handlungssituationen und Handlungsoptionen, gelten diese Grundannahmen der empirischen Sozialforschung nicht mehr (vgl. Esser 1979: 15). Die heutige Gesellschaft kennzeichnet sich jedoch durch eine tendenzielle Abnahme der Einheitlichkeit von Sozialisationsgeschichten und Ähnlichkeit von situativ vorgegebenen Handlungsoptionen. Dies hat zur Folge, „daß die ‚Zwischengruppenvarianz’ von Personen bestimmter Kategorialzugehörigkeiten sinkt und die ‚Binnengruppenvarianz’, die man statistisch als Fremdvarianz, soziologisch als Individualität ansehen kann, steigt“ (Esser 1979: 19; Eigene Hervorhebung). Personen gleicher Kategorialzugehörigkeit halten sich somit immer weniger in gleichen Handlungskontexten auf. Hierzu zählt die Zunahme der Komplexität und Heterogenität der Lernerfahrung, die Vielfalt an gespeicherten Handlungsalternativen (Rollendistanz, IchIdentität), die Abnahme externer Handlungsbeschränkungen oder eine höhere Wahrscheinlichkeit, dass Akteure auf sehr spezifische Situationsbedingungen reagieren, die mit einer groben, „objektiven“ Situationsbeschreibung nicht genau erfassbar sind. Folge ist, dass die Strukturvariablen der empirischen Sozialforschung mit steigender funktionaler Differenzie-
6 Schlussbetrachtung und Ausblick
293
rung und Modernisierung zunehmend an Erklärungskraft verlieren (vgl. Esser 1979: 19f.). In den 1950er und 1960er Jahren stellt beispielsweise der Berufsstatus „Arbeiter/-in“ (als kategoriales Kollektiv) einen stabilen Handlungskontext dar, der mit spezifischen Einstellungen, emotionalen Bindungen und geringer geographischer Mobilität das Verhalten gegenüber Verwandten bestimmt und als Teil der Arbeiterkultur betrachtet wird. Im Zuge gesellschaftlicher Differenzierung und des Wandels von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft, der sich seit den 1970er Jahren in Deutschland vollzog (vgl. Geißler 2006), und der damit einhergehenden Veränderung der Handlungskontexte der Arbeiterschicht, treffen diese sozialen Regelmäßigkeiten nicht mehr im gleichen Ausmaß wie noch vor fünfzig Jahren zu.562 Methodische Konsequenz ist nach Esser (1979: 25) eine stärkere individuenzentrierte Operationalisierung der interessierenden Konstrukte, denn nur so kann die Subjektivität der Handlungen und die spezifischen Lebenslagen besser erfasst werden. Eine stärkere Berücksichtigung von individuellen und biographischen Determinanten sollte damit Ziel einer zukünftigen soziologischen Verwandtschaftsforschung sein. Persönlichkeitsfaktoren wie gemeinsame Interessen und Übereinstimmung von Werten und Einstellungen, aber auch biographische Erfahrungen der Kindheit und die Beziehungen der Verwandten untereinander müssen in die Erklärung der Wahl von Verwandten einbezogen werden. In Anlehnung an Esser (1979: 25) muss zudem auf Variablen der kognitiven Handlungstheorie verwiesen werden, wie z.B. subjektive Situationswahrnehmungen und Motivintensitäten. Hierzu zählen auch Einstellungen und persönliche Werthaltungen, z.B. die traditionelle Familienorientierung, die die Wahl von Verwandten als Interaktionspartner/-innen determinieren können. Ebenfalls sollten normative Verpflichtungen beachtet werden, die in dem objektiven Verwandtschaftsverhältnis begründet liegen. Auch wenn entfernte Verwandtschaftsbeziehungen durch geringe normative Verpflichtungen gekennzeichnet sind, gibt die Studie von Rossi, Rossi (1990) wichtige Hinweise auf die Variabilität dieser allgemein unterstellten Annahme. Die individuellen und biographischen Faktoren werden zwar im Modell zur Erklärung der Wahl von Verwandten berücksichtigt, sie können jedoch mit den zur Verfügung stehenden Datensätzen nicht genauer analysiert werden, da diese Informationen über die Angaben in allgemeinen Bevölkerungsumfragen hinausgehen und spezifische Operationalisierungen erfordern. So zeigt diese Arbeit gleichzeitig auch die Grenzen einer soziologischen Verwandtschaftsforschung im Rahmen einer Sekundäranalyse auf. Eine zukünftige Verwandtschaftsforschung sollte zudem das Prinzip der Wahl genauer analysieren. Im Vordergrund einer soziologischen Betrachtung steht die Erklärung verwandtschaftlichen Handelns. In Abgrenzung zu biologischen, ethnologischen oder juristischen Konzeptionen erfordert dies die Unterscheidung zwischen der Gesamtheit der (biologischen) Verwandten und den gelebten konkreten verwandtschaftlichen Beziehungen. Die Wahl von Verwandten kann anhand des vorliegenden Datenmaterials nicht hinreichend operationalisiert werden, denn es liegen keine Auskünfte über Kontakte mit subjektiven Verwandten über den Referenzzeitraum von vier Wochen vor. Ergänzend sei darauf verwiesen, dass die Eigenschaft von Verwandtschaftsbeziehungen als Matrix latenter Bezie562
Für die Arbeiterschicht ist nach Geißler (2006: 190f.) eine Veränderung der „proletarischen“ Elemente (ungesicherte Berufs- und Existenzbedingungen, materieller Notstand) charakteristisch. Dennoch wird trotz eines höheren Einkommens und sozialer Absicherung von einer Fortdauer der schichtspezifischen Unterschiede zwischen Arbeitern (insbesondere un-/angelernte) und Angestellten berichtet, die sich in unterschiedlichen Arbeitsbedingungen, Lebensstandards und Mobilitätschancen manifestieren.
294
6 Schlussbetrachtung und Ausblick
hungen (Riley 1983) nicht hinreichend mit der Messung des kontinuierlichen Kontaktes erfasst wird und es somit zu einer Unterschätzung der Bedeutung und Funktionen des erweiterten Familienkreises kommen kann. Darüber hinaus muss der Grad der Freiwilligkeit der Kontakte und in diesem Kontext das Ausmaß der normativen Verpflichtungen gegenüber Verwandten genauer expliziert werden. Welchen Einfluss haben normative Verpflichtungen auf verwandtschaftliche Kontakte und damit auf die Wahl von Verwandten? Gibt es empirische Belege dafür, dass normative Verpflichtungen gegenüber entfernten Verwandten in Deutschland nicht oder nur schwach existieren? Eine soziologische Verwandtschaftsforschung sollte verstärkt auch die Gründe thematisieren, warum keine Beziehungen mit entfernten Verwandten bestehen und es zu „Verwandtenverlusten“ (Pfeil, Ganzert 1973) kommt. Wünschenswert wäre zudem eine Gegenüberstellung der Größe der objektiven Verwandtschaft und der real existierenden Beziehungen mit subjektiven Verwandten im Sinne einer „Ausschöpfungsquote“ (Osterreich 1965; Marbach 1989). Es gibt keine Kenntnisse über den „Realisierungsgrad“ (Lang, Schütze 1998) von entfernten Verwandtschaftsbeziehungen der erwachsenen deutschen Bevölkerung. In diesem Kontext bietet die Netzwerkanalyse vielfältige Anschlussmöglichkeiten für eine strukturelle Analyse des Verwandtschaftsnetzwerkes. Über die Betrachtung von konkreten Netzwerkbeziehungen hinaus, können formale und strukturelle Eigenschaften des erweiterten Verwandtschaftsnetzwerkes analysiert werden. So erfasst beispielsweise die Dichte eines Netzwerkes das Verhältnis zwischen objektiver und subjektiver Verwandtschaft. Das Konzept der Zentralität thematisiert die Brückenfunktion eines Akteurs zwischen den Netzwerkmitgliedern und somit die Rolle von kinkeeper oder „pivotal kin“. Darüber hinaus sind Cliquen besonders stark verdichtete Teile eines Netzwerkes (z.B. Geschwisterbeziehungen). Sie zeichnen sich durch eine direkte Verbundenheit aus und können den Zusammenhalt des erweiterten Familienkreises (Cousins/Cousinen, Nichten/Neffen) erklären (vgl. Esser 2000). Eine differenzierte Analyse der Interaktionsform mit Verwandten ist ebenfalls notwendig. Handelt es sich beispielsweise um face-to-face oder telefonischen Kontakt? Kommt die Familie als Verwandtschaftsgruppe zusammen oder sind die Treffen eher dyadischer Natur? Die bisherige Forschung legt ihren Schwerpunkt auf verwandtschaftliche Dyaden, ohne jedoch explizit sozialstrukturelle Merkmale der Verwandten zu berücksichtigen. Hier sei auf die Bedeutung des Geschlechts und der Abstammungslinie verwiesen, denn Studien belegen eine höhere Wahrscheinlichkeit der Wahl von weiblichen Verwandten und (weiblichen) Verwandten der matrilinearen Abstammungslinie. Eine zukünftige Verwandtschaftsforschung muss die Rolle der Frauen für die Initiative und Aufrechterhaltung verwandtschaftlicher Beziehungen nach amerikanischem Vorbild (vgl. Kapitel 1.6) stärker berücksichtigen und die Rolle der Frauen als kinkeeper für die Verbundenheit von Verwandten genauer analysieren. Darüber hinaus sollte das Konzept der subjektiven Verwandtschaft differenziert werden, indem man nach dem Grad der emotionalen Bindung fragt. Während die subjektive Verwandtschaft diejenigen Verwandten repräsentiert, mit denen in einer gewissen Kontinuität soziale Beziehungen gepflegt werden, kann das Investitionsmodell von Rusbult die Bindung an spezifische Verwandte erklären (vgl. Kapitel 4.3). Es ist ein bereits erfolgreich angewendetes Modell zur Erklärung von commitment in Freundschaften und dyadischen romantischen Beziehungen. Im Vordergrund steht die Rolle von Investitionen für die Aufrechterhaltung einer verwandtschaftlichen Beziehung, die sich beispielsweise in Form einer
6 Schlussbetrachtung und Ausblick
295
gemeinsamen Familiengeschichte und gemeinsamen Erinnerungen oder Erfahrungen manifestieren. Ist der erweiterte Familienkreis eine Matrix latenter Beziehungen (Riley 1983), der in Krisenzeiten aktiviert werden kann? Hat dieser Personenkreis eine eigenständige Bedeutung als solidarisches Potential, dem neben der individuellen auch eine sozialpolitische Bedeutung zugesprochen werden kann? Dies ist eine empirisch offene Frage. Die bisherige Forschung und das zur Verfügung stehende Datenmaterial geben hierzu nur unzureichende Auskunft. Dies liegt vor allem in der gewählten Methodik begründet, die zu einer Unterschätzung des Hilfepotentials von entfernten Verwandten führen kann. So begünstigt der Namensgenerator des Unterstützungsnetzwerkes des ISSP 2001 („An wen würden Sie sich im Fall von Grippe, Niedergeschlagenheit oder Leihen einer größeren Geldsumme an erster bzw. zweiter Stelle wenden?“) primär die Partnerschaft und nahe Verwandte (Eltern, Kinder), die überwiegend als potentielle Erst- und Zweithelfer/-innen genannt werden. Darüber hinaus ist die Bereitstellung von Hilfeleistungen eine Funktion der geographischen Nähe. Die Möglichkeit der geographischen Distanz zu entfernten Verwandten wird mit den üblichen Namensgeneratoren nicht berücksichtigt. Die bisherige Forschung gibt keine Hinweise auf typische außeralltägliche Krisensituationen, in denen man entfernte Verwandte kontaktiert. Krisensituationen sind nicht mit einer einwöchigen Grippe, Niedergeschlagenheit oder dem Leihen einer größeren Geldsumme gleichzusetzen, die üblicherweise in der empirischen Sozialforschung als Generatoren des Unterstützungsnetzwerkes verwendet werden. Die bisherigen Messinstrumente erfassen damit nicht die latente Eigenschaft von Verwandtschaftsbeziehungen. Ungeeignete Methoden zur Analyse verwandtschaftlicher Beziehungen führen zu einer Unterschätzung der Bedeutung und Funktionen dieser Sozialbeziehungen. Darauf haben bereits Litwak, Kulis (1987) hingewiesen. Die gewählten Methoden hängen entscheidend vom zugrunde liegenden Verwandtschaftsmodell ab. Das Modell von Verwandten als „Matrix latenter Beziehungen“ erfordert eine andere methodische Herangehensweise. Krisensituationen müssen erst spezifisch operationalisiert und als real existierende vergangene Ereignisse erfragt werden. Eine Verbindung von quantitativen und qualitativen Methoden erscheint hier sinnvoll, da qualitative Forschungsmethoden bei eher unerforschten Themen ein tieferes Verständnis durch Detailstudien ermöglichen. Dennoch muss an dieser Stelle generell angemerkt werden, dass es der Soziologie um die Erklärung von kollektiven Sachverhalten gehen muss und eine „detailgenaue Beschreibung jeder Idiosynkrasie“ (Esser 1996a: 137) den Anspruch der Erklärung von verwandtschaftlichem Handeln verfehlt. Zudem ermöglichen nur quantitative Methoden die Entdeckung sozialer Regelmäßigkeiten. Interessant und wünschenswert wäre zudem die Analyse von Verwandtschaftsbeziehungen in Abhängigkeit vom Familienzyklus. Zu betrachten sind die Qualität der Beziehung, aber auch die Funktionen, die Verwandte in den Stadien Kindheit, Adoleszenz, Erwachsenenalter und Alter übernehmen. Verwandtschaftsbeziehungen stellen keine festen Größen dar, sondern sie entwickeln und verändern sich im Laufe der Zeit. Der Einfluss der verschiedenen Familien- und Lebensphasen kann nur im Rahmen von Panelstudien oder retrospektiven Fragen untersucht werden. In welcher Art werden Verwandtschaftsbeziehungen speziell zu Onkeln/Tanten und Cousins/Cousinen in der Kindheit geprägt und in welchem Zusammenhang stehen diese biographischen Erfahrungen mit den Beziehungen im Erwachsenenalter? In Anlehnung an das Konzept der Ambivalenz von Lüscher (2000), das im Kontext von Generationenbeziehungen diskutiert wird, muss ebenfalls das Thema
296
6 Schlussbetrachtung und Ausblick
der konfliktbeladenen Verwandtschaftsbeziehungen aufgegriffen werden. Der Verwandtschaftsalltag kann durch Enttäuschungen und Konflikte gekennzeichnet sein. In diesem Kontext muss wiederum auf das Investitionsmodell von Rusbult verwiesen werden, das genau diese Aspekte der Ambivalenz aufgreift und erklären kann, warum eine Verwandtschaftsbeziehung auch dann aufrechterhalten wird, wenn Unzufriedenheit mit dieser Beziehung herrscht. Dennoch bleibt die Beziehung weiter bestehen – das Investitionsmodell erklärt dies durch einen Mangel an Alternativen und hohe Investitionen. Verwandtschaft – als relativ unerforschte Sozialbeziehung – erwies sich als ein soziologischer Themenbereich „der sich zu bearbeiten lohnt“ (Rosenbaum 1998: 31). Diese Arbeit ist ein Beitrag zur Aufarbeitung des Themas und versucht, die Frage nach der Wahl von Verwandten zu beantworten. Eine vollständige Klärung dieser Frage kann mit der Arbeit nicht geleistet werden. Hierzu wäre eine spezifische Erhebung der Wahl von entfernten Verwandten und anderen Aspekten verwandtschaftlichen Handelns (z.B. die Latenz von Verwandtschaftsbeziehungen) notwendig. Die mit dieser Untersuchung verbundenen Restriktionen wären damit weitgehend gelöst.
Literaturverzeichnis
297
Literaturverzeichnis
Abel, E. K. (1991): Who cares for the elderly? Public policy and the experience of adult daughters, Philadelphia Abelson, R. P. (1981): The psychological status of the script concept, in: American Psychologist, 36, S. 715-729 Adams, B. N. (1967a): Interaction theory and the social network, in: Sociometry, 30, S. 64-78 Adams, B. N. (1967b): Occupational position, mobility, and the kin of orientation, in: American Sociological Review, 32, S. 364-377 Adams, B. N. (1968): Kinship in an urban setting, Chicago Adams, B. N. (1970): Isolation, function and beyond: American kinship in the 1960s, in: Journal of Marriage and the Family, 32, S. 575-597 Adams, B. N. (1999): Cross cultural and U.S. kinship, in: Sussman, M. B.; Steinmetz, S. K.; Peterson, G. W. (Hrsg.): Handbook of marriage and the family, 2. Aufl., New York/London, S. 77-91 Albrecht, S. (2002): Netzwerke als Kapital. Zur unterschätzten Bedeutung des sozialen Kapitals für die gesellschaftliche Reproduktion, in: Ebrecht, J.; Hillebrandt, F. (Hrsg.): Bourdieus Theorie der Praxis. Erklärungskraft – Anwendung – Perspektiven, Wiesbaden, S. 199-224 Allbus Codebuch (2004). Codebuch kumulierter Allbus 1980-2002, ZA-Nr. 1795. Zentralarchiv für Empirische Sozialforschung an der Universität Köln Ajzen, I.; Fishbein, M. (1973): Attitudinal and normative variables as predictors of specific behavior, in: Journal of Personality and Social Psychology, 27, S. 41-57 Ajzen, I.; Fishbein, M. (1980): Understanding attitudes and predicting social behavior, Englewood Cliffs Allan, G. A. (1977): Sibling solidarity, in: Journal of Marriage and the Family, 39, S. 177-184 Allan, G. A. (1979a): A sociology of friendship and kinship, London Allan, W. A. (1978): Black family research in the United States: A review, assessment and extension, in: Journal of Comparative Family Studies, 9, S. 167-189 Allan, W. A. (1979b): Class, culture, and family organization: The effects of class and race on family structure in urban America, in: Journal of Comparative Family Studies, 10, S. 301-313 Anderson, M. (1971): Family structure in nineteenth century Lancashire, Cambridge Anspach, D.; Rosenberg, G. S. (1972): Working class matricentricity, in: Journal of Marriage and the Family, 34, S. 437-442 Aquilino, W. S. (1999): Two views of one relationship: Comparing parents´ and young adult children’s reports on the quality of intergenerational relations, in: Journal of Marriage and the Family, 61, S. 858-870 Aschenbrenner, J. (1973): Extended families among black Americans, in: Journal of Comparative Family Studies, 4, S. 257-268 Aschenbrenner, J. (1975): Lifelines: Black families in Chicago, New York Atkinson, M. P.; Kivett, V. R.; Campbell, R. T. (1986): Intergenerational solidarity: An examination of a theoretical model, in: Journal of Gerontology, 41, S. 408-416 Attias-Donfut, C. (1995): Les solidarités entre générations. Vieillesse, familles, état, Paris Auhagen A. E. (1993): Freundschaft unter Erwachsenen, in: Auhagen, A. E.; von Salisch, M. (Hrsg.): Zwischenmenschliche Beziehungen, Göttingen, S. 215-233 Auhagen, A. E.; von Salisch, M. (1993) (Hrsg.): Zwischenmenschliche Beziehungen, Göttingen
298
Literaturverzeichnis
Axelrod, M. (1956): Urban structure and social participation, in: American Sociological Review, 21, S. 13-18 Ayoub, M. R. (1965): The child’s control of his kindred in view of geographical mobility and its effects, in: Piddington, R. (Hrsg.): Kinship and Geographical Mobility, Leiden, S. 1-6 Babchuk, N. (1965): Primary friends and kin: A study of the associations of middle-class couples, in: Social Forces, 43, S. 483-493 Babchuk, N.; Ballweg, J. (1971): Primary extended kin relations of Negro couples, in: Sociological Quarterly, 12, S. 69-77 Backhaus, K.; Erichson, B.; Plinke, W.; Weiber, R. (2000): Multivariate Analysemethoden, 9. Aufl., Berlin u.a. Bahr, H. M. (1976): The kinship role, in: Nye, F. I. (Hrsg.): Role structure and analysis of the family, Beverly Hills, S. 61-79 Ballweg, J. A. (1969): Extensions of meaning and use for kinship terms, in: American Anthropologist, 71, S. 84-87 Barash, D. P. (1980): Soziobiologie und Verhalten, Berlin/Hamburg Barnett, M. L. (1960): Kinship as a factor affecting Cantonese economic adaption in the United States, in: Human Organization, 19, S. 40-46 Bates, A. P.; Babchuk, N. (1961): The primary group: A reappraisal, in: Sociological Quarterly, 2, S. 181-191 Baumert, G.; Hüninger, E. (1954): Deutsche Familien nach dem Kriege, Darmstadt Beck, U. (1986): Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a.M. Beck, U.; Beck-Gernsheim, E. (1990): Das ganz normale Chaos der Liebe, Frankfurt a.M. Beck-Gernsheim, E. (1983): Vom „Dasein für andere“ zum Anspruch auf eine Stück „eigenes Leben“: Individualisierungsprozesse im weiblichen Lebenszusammenhang, in: Soziale Welt, 34, S. 381-406 Beck-Gernsheim, E. (1994): Auf dem Weg in die postfamiliale Familie: Von der Notgemeinschaft zur Wahlverwandtschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte: Beilage zur Wochenzeitung. Das Parlament, B29/39, S. 3-14 Beck-Gernsheim, E. (2000): Was kommt nach der Familie? Einblick in neue Lebensformen, 2. Aufl., München Becker, G. S. (1976): The economic approach to human behavior, Chicago/London Becker, G. S. (1981): A treatise of the family, Cambridge/London Becker, G. S. (1993): Ökonomische Erklärung menschlichen Verhaltens, 2. Aufl., Tübingen Becker, H. S. (1960): Notes on the concept of commitment, in: American Journal of Sociology, 66, S. 32-40 Beckmann, P.; Trometer, R. (1991): Neue Dienstleistungen des ALLBUS: Haushalts- und Familientypologien, Klassenschema nach Goldthorpe, in: ZUMA-Nachrichten, 28, S. 7-17 Bell, R. R. (1981): Worlds of friendship, London Bell, W.; Boat, M. D. (1957): Urban neighborhoods and informal social relations, in: American Sociological Review, 62, S. 391-398 Bellah, R. N.; Madsen, R.; Sullivan, W. M.; Swidler, A.; Tipton, S. M. (1987): Individualism & commitment in American life. Readings on the themes of Habits of the Heart, New York Ben-Porath, Y. (1980): The F-Connection. Families, friends, and firms and the organization of exchange, in: Population and Development Review, 6, S. 1-30 Bengtson, V. L. (2001): Beyond the nuclear family: The increasing importance of multigenerational bonds, in: Journal of Marriage and the Family, 63, S. 1-16 Bengtson, V. L.; Kuypers, J. A. (1971): Generational differences and the „developmental stake”, in: Aging and Human Development, 2, S. 249-260 Bengtson, V. L.; Mangen, D. J. (1988): Family intergenerational solidarity revisited, in: Mangen, D. J.; Bengtson, V. L.; Landry, P. H. (Hrsg.): Measurement of intergenerational relations, Newbury Park, S. 222-238
Literaturverzeichnis
299
Bengtson, V. L.; Schrader S. S. (1982): Parent-child relations, in: Mangen, D.; Peterson, W. (Hrsg.): Handbook of research instruments in social gerontology, Minneapolis, S. 115-185 Bengtson, V. L.; Mangen, D. J.; Landry P. H. (1984): The multi-generation family: Concepts and findings, in: Garms-Homolová, V.; Hoerning, E. M.; Schaeffer, D. (Hrsg.): Intergenerational relationships, New York, S. 63-79 Bengtson, V. L.; Olander, E. B.; Haddad, A. (1976): The „generation gap” and aging family members: Toward a conceptual model, in: Gubrium, J. F. (Hrsg.): Times, roles, and self in old age, New York, S. 237-263 Bengtson, V. L.; Schaie, K. W.; Burton, L. M. (1995) (Hrsg.): Adult intergenerational relations: Effects of societal change, New York Bengtson, V. L.; Rosenthal, C. J.; Burton, L. M. (1990): Families and aging: Diversity and heterogeneity, in: Binstock, R. H.; George, L. K. (Hrsg.): Handbook of aging and the social sciences, New York, 3. Aufl., S. 263-287 Benninghaus, H. (1998): Einführung in die sozialwissenschaftliche Datenanalyse, 5. Aufl., München Benovska-SaҔbkova, M. (2001): Die Verwandtschaftsbande – Realität und Symbol. Bruderschaft und Milchverwandtschaft in Nordwestbulgarien, in: Brunnbauer, U.; Kaser, K. (Hrsg.): Vom Nutzen der Verwandten. Soziale Netzwerke in Bulgarien (19. und 20. Jahrhundert), Wien, S. 200-218 Berado, F. M. (1966): Kinship interaction and migrant adaptation in an aerospace-related community, in: Journal of Marriage and the Family, 28, S. 296-304 Bernstein, A. C. (1993): Deine, meine und unsere Kinder. Die Patchworkfamilie als gelingendes Miteinander, Freiburg im Breisgau Bertram, H. (1995a): Individuen in einer individualisierten Gesellschaft, in: Bertram, H. (Hrsg.): Das Individuum und seine Familie. Lebensformen, Familienbeziehungen und Lebensereignisse im Erwachsenenalter, DJI: Familien-Survey 4, Opladen, S. 9-34 Bertram, H. (1995b): Die Sicherheit privater Beziehungen, in: Bertram, H. (Hrsg.): Das Individuum und seine Familie. Lebensformen, Familienbeziehungen und Lebensereignisse im Erwachsenenalter, DJI: Familien-Survey 4, Opladen, S. 91-123 Bertram, H. (2000): Die verborgenen familiären Beziehungen in Deutschland: Die multilokale Mehrgenerationenfamilie, in: Kohli, M.; Szydlik, M. (Hrsg.): Generationen in Familie und Gesellschaft, Opladen, S. 97-121 Bertram, H. (2003): Die multilokale Mehrgenerationenfamilie – Von der neolokalen Gattenfamilie zur multilokalen Mehrgenerationenfamilie, in: Feldhaus, M.; Logemann, N.; Schlegel, M. (Hrsg.): Blickrichtung Familie. Vielfalt eines Forschungsgegenstandes, Würzburg, S. 15-32 Bien, W. (1994a) (Hrsg.): Eigeninteresse oder Solidarität. Beziehungen in modernen Mehrgenerationenfamilien, DJI: Familien-Survey 3, Opladen Bien, W. (1994b): Leben in Mehrgenerationenfamilien – Regel oder Sonderfall?, in: Bien, W. (Hrsg.): Eigeninteresse oder Solidarität. Beziehungen in modernen Mehrgenerationenfamilien, DJI: Familien-Survey 3, Opladen, S. 3-45 Bien, W.; Alt, C.; Bender, D.; Marbach, J. H. (1994): Die Anlage der Mehrgenerationenstudie, in: Bien, W. (Hrsg.): Eigeninteresse oder Solidarität. Beziehungen in modernen Mehrgenerationenfamilien, DJI: Familien-Survey 3, Opladen, S. 30-45 Bien, W.; Hartl, A.; Teubner, M. (2002) (Hrsg.): Stieffamilien in Deutschland. Eltern und Kinder zwischen Normalität und Konflikt, Opladen Bien, W.; Marbach, J. H. (1991): Haushalt - Verwandtschaft - Beziehungen. Familienleben als Netzwerk, in: Bertram, H. (Hrsg.): Die Familien in Westdeutschland. Stabilität und Wandel familialer Lebensformen, Opladen, S. 3-44 Blau, P. M. (1964): Exchange and power in social life, New York Blau, P. M. (1994): Structural contexts of opportunities, Chicago/London Blood, R. O. (1969): Kinship interaction and marital solidarity, in: Merill Palmer Quarterly, 15, S. 171-184 Blumberg, L.; Bell, R. R. (1959): Urban migration and kinship ties, in: Social Problems, 6, S. 328333
300
Literaturverzeichnis
Blumer, H. (1973): Der methodologische Standpunkt des Symbolischen Interaktionismus, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Bd. 1: Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie, Reinbek, S. 80146 Bohnen, A. (2000): Handlungsprinzipien oder Systemgesetze. Über Traditionen und Tendenzen theoretischer Sozialerkenntnis, Tübingen Booth, A. (1972): Sex and social participation, in: American Sociological Review, 37, S. 182-192 Booth, A.; Edwards, J. N.; Johnson, D. R. (1991): Social integration and divorce, in: Social Forces, 70, S. 207-224 Bortz, J. (1999): Statistik für Sozialwissenschaftler, 5. Aufl., Berlin/Heidelberg Bott, E. (1971 [1957]): Family and social network, 2. Aufl., London Bourdieu, P. (1982): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. Bourdieu, P. (1983): Ökonomisches Kapital, kulturelles Kapital, soziales Kapital, in: Kreckel, R. (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten, Soziale Welt, Sonderband 2, Göttingen, S. 183-198 Braun, D. (1999): Theorien rationalen Handelns in der Politikwissenschaft. Eine kritische Einführung, Opladen Braun, S. (2001): Putnam und Bourdieu und das soziale Kapital in Deutschland. Der rhetorische Kurswert einer sozialwissenschaftlichen Kategorie, in: Leviathan, 23, S. 337-354 Brody, E. M. (1981): Women in the middle and family help to older people, in: The Gerontologist, 21, S. 471-480 Brody, E. M.; Johnson, P. T.; Fulcomer, M. C.; Lang, A. M. (1983): Women’s changing roles and help to elderly parents: Attitudes of three generations of women, in: Journal of Gerontology, 38, S. 597-607 Bruce, J. M. (1970): Intragenerational occupational mobility and visiting with kin and friends, in: Social Forces, 49, S. 117-127 Brück, B.; Kahlert, H.; Krüll, M. (1997): Feministische Soziologie, Frankfurt a.M./New York Bruckner, E: (1993): Zur Bedeutung von Partnerschaft und Verwandtschaft – ein internationaler Vergleich, Reihe: Arbeitspapier AB I, Nr. 4, Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung, Mannheim Bruckner, E.; Knaup, K. (1990): Frauen-Beziehungen – Männer-Beziehungen? Eine Untersuchung über geschlechtsspezifische Unterschiede in sozialen Netzwerken, in: Müller, W.; Mohler, P. Ph.; Erbslöh, B.; Wasmer, M. (Hrsg.): Blickpunkt Gesellschaft. Einstellungen und Verhalten der Bundesbürger, Opladen, S. 43-62 Bruckner E.; Knaup, K.; Müller, W. (1993): Soziale Beziehungen und Hilfeleistungen in modernen Gesellschaften, Reihe: Arbeitspapier AB I, Nr. 1, Mannheimer Zentrum für Europäische Sozialforschung, Mannheim Brunnbauer, U.; Kaser, K. (2001) (Hrsg.): Vom Nutzen der Verwandten. Soziale Netzwerke in Bulgarien (19. und 20. Jahrhundert), Wien Brunner, O. (1978): Vom »ganzen Haus« zur »Familie«, in: Rosenbaum, H. (Hrsg.): Seminar: Familie und Gesellschaftsstruktur. Materialien zu den sozioökonomischen Bedingungen von Familienformen, Frankfurt a.M., S. 83-91 Bui, K.-V. T.; Peplau, L. A.; Hill, C. T. (1996): Testing the Rusbult model of relationship commitment and stability in a 15-year study of heterosexual couples, in: Personality and Social Psychology Bulletin, 22, S. 1244-1257 Bundesministerium für Familie und Senioren (1994) (Hrsg.): Fünfter Familienbericht. Familien und Familienpolitik im geeinten Deutschland, Bonn Burgess, E. W.; Cottrell, L. S. (1936): The prediction of adjustment in marriage, in: American Sociological Review, 1, S. 737-751 Burkhart, G. (1995): Individualisierung und Familie in den USA, in: Bertram, H. (Hrsg.): Das Individuum und seine Familie. Lebensformen, Familienbeziehungen und Lebensereignisse im Erwachsenenalter, DJI: Familien-Survey 4, Opladen, S. 399-428
Literaturverzeichnis
301
Burr, W. R.; Leigh, G. K.; Day, R. D.; Constantine, J. (1979): Symbolic interaction and the family, in: Burr, W. R.; Hill, R.; Nye, F. I.; Reiss, I. L. (Hrsg.): Contemporary theories about the family, Vol. 2, New York, S. 42-111 Cantor, M. H. (1979): Neighbors and friends: An overlooked resource in the informal support system, in: Research on Aging, 1, S. 435-463 Caplow, T. (1982): Christmas gifts and kin networks, in: American Sociological Review, 47, S. 283-392 Chapin, F. S. (1934): Degrees of kinship intimacy, in: Sociology and Social Research, 19, S. 117-125 Cherlin, A. J.; Furstenberg, F. F. (1994): Stepfamilies in the United States: A reconsideration, in: Annual Review of Sociology, 20, S. 359-381 Claessens, D. (1979): Familie und Wertsystem. Eine Studie zur „zweiten, sozio-kulturellen Geburt“ des Menschen und der Belastbarkeit der „Kernfamilie“, Berlin Claessens, D.; Menne, A. E. (1970): Zur Dynamik der bürgerlichen Familie und ihrer möglichen Alternativen, in: Lüschen G.; Lupri E. (Hrsg.): Soziologie der Familie, Opladen, Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 14, S. 169-198 Clark, M. S.; Mills, J. (1979): Interpersonal attraction in exchange and communal relationships, in: Journal of Personality and Social Psychology, 37, S. 12-24 Coleman, J. S. (1991): Grundlagen der Sozialtheorie, Bd. 1: Handlungen und Handlungssysteme, München Collins, R. (1986): Weberian sociological theory, Cambridge Connidis, I. A. (1989): Siblings as friends in later life, in: American Behavioral Scientist, 33, S. 81-93 Connidis, I. A.; Davies, L. (1990): Confidants and companions in later life: The place of family and friends, in: Journal of Gerontology, 45, S. 141-149 Connidis, I. A.; Davies, L. (1992): Confidants and companions: Choices in later life, in: Journal of Gerontology, 47, S. 115-122 Cooley, C. H. (1955): Primary groups, in: Hare, A. P.; Borgatta, E. F.; Bales, R. F. (Hrsg.): Small groups: Studies in social interaction, New York, S. 15-20 Cosmides, L.; Tooby, J. (1987): From evolution to behavior: Evolutionary psychology as the missing link, in: Dupré, J. (Hrsg.): The latest on the best – Essays on evolution and optimality, Cambridge Cowan, P. A. (1993): The sky is falling, but Popenoe´s analysis won’t help us do anything about it, in: Journal of Marriage and the Family, 55, S. 548-553 Croog, S. H.; Kong-Minh New, P. (1965): Knowledge of grandfathers occupation – a clue to American kinship structure, in: Journal of Marriage and the Family, 27, S. 69-77 Croog, S. H.; Lipson, A.; Levine, S. (1972): Help patterns in severe illness: The roles of kin network, non-family resources and institutions, in: Journal of Marriage and the Family, 34, S. 32-41 Cumming, E.; Schneider, D. M. (1966): Sibling solidarity. A property of American kinship, in: Farber, B. (Hrsg.): Kinship and family organization, New York/London/Sydney, S. 142-148 Cyprian, G. (1978): Sozialisation in Wohngemeinschaften. Eine empirische Untersuchung ihrer strukturellen Bedingungen, Stuttgart Dawkins, R. (1976): The selfish gene, Oxford Demo, D. H.; Allan, K. R. (1996): Diversity within lesbian and gay families: Challenges and implications for family theory and research, in: Journal of Social and Personal Relationships, 13, S. 415-434 Diederichs, D. (1996): Mikroökonomik, 3. Aufl., Köln Diewald, M. (1986): Sozialkontakte und Hilfeleistungen in informellen Netzwerken, in: Glatzer, W.; Berger-Schmitt, R. (Hrsg.): Haushaltsproduktion und Netzwerkhilfe, Frankfurt a.M./New York, S. 51-85 Diewald, M. (1991): Soziale Beziehungen: Verlust oder Liberalisierung. Soziale Unterstützung in informellen Netzwerken, Berlin Diewald, M. (1995): Informelle Beziehungen und Hilfeleistungen in der DDR: Persönliche Beziehungen und instrumentelle Nützlichkeit, in: Nauck, B.; Schneider, N. F.; Tölke, A. (Hrsg.): Familie und Lebensverlauf im gesellschaftlichen Umbruch, Stuttgart, S. 56-75
302
Literaturverzeichnis
Diewald, M. (1998): Persönliche Bindung und gesellschaftliche Veränderungen – Zum Wandel von Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen in Ostdeutschland nach der Wende, in: Wagner, M.; Schütze, Y. (Hrsg.): Verwandtschaft. Sozialwissenschaftliche Beiträge zu einem vernachlässigten Thema, Stuttgart, S. 183-202 Diewald, M. (2003): Erwerbsbiographien von Männern und die sozialen Beziehungen zu Verwandten und Freunden, Duisburger Beiträge zur Soziologischen Forschung, Nr. 2, Duisburg di Leonardo M. (1992): The female world of cards and holidays: Women, families, and the work of kinship, in: Thorne, B.; Yalom M. (Hrsg.): Rethinking the family, Boston, S. 246-261 Dotson, F. (1951): Patterns of voluntary associations among urban working-class families, in: American Sociological Review, 16, S. 689-693 Duffy, M. (1981): Divorce and the dynamics of the family kinship system, in: Journal of Divorce, 5, S. 3-18 Duffy, S.; Rusbult, C. E. (1986): Satisfaction and commitment in homosexual and heterosexual relationships, in: Journal of Homosexuality, 12, S. 1-23 Durkheim, E. (1921): La famille conjugale, in: Revue Philosophique de la France et de l´étranger, 91, S. 1-14 Durkheim, E. (1988 [1893]): Über soziale Arbeitsteilung, Frankfurt a.M. Dwyer, J. W.; Coward, R. T. (1992) (Hrsg.): Gender, families, and elder care, Newbury Park Ehmer, J. (2000): Ökonomische Transfers und emotionale Bindungen in den Generationenbeziehungen des 18. und 19. Jahrhunderts, in: Kohli, M.; Szydlik, M. (Hrsg.): Generationen in Familie und Gesellschaft, Opladen, S. 77-96 Ekeh, P. (1974): Social exchange theory, Cambridge Engstler, H., Menning, S. (2003): Die Familie im Spiegel der amtlichen Statistik, Berlin Esser, H. (1979): Methodische Konsequenzen gesellschaftlicher Differenzierung, in: Zeitschrift für Soziologie, 8, S. 14-27 Esser, H. (1980): Aspekte der Wanderungssoziologie. Assimilation und Integration von Wanderern, ethnischen Gruppen und Minderheiten. Eine handlungstheoretische Analyse, Darmstadt/Neuwied Esser, H. (1990): „Habits“, „Frames“ und „Rational Choice“. Die Reichweite von Theorien der rationalen Wahl (am Beispiel der Erklärung des Befragtenverhaltens), in: Zeitschrift für Soziologie, 19, S. 231-247 Esser, H. (1991): Der Austausch kompletter Netzwerke. Freundschaftswahl als ”Rational Choice“, in: Esser, H.; Troitzsch, K. G. (Hrsg.): Modellierung sozialer Prozesse, Bonn, S. 773-809 Esser, H. (1996a): Soziologie. Allgemeine Grundlagen, Frankfurt a.M./New York Esser, H. (1996b): Die Definition der Situation, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 48, S. 1-34 Esser, H. (2000): Soziologie. Spezielle Grundlagen, Bd. 4: Opportunitäten und Restriktionen, Frankfurt a.M./New York Esser, H. (2002): In guten wie in schlechten Tagen? Das Framing der Ehe und das Risiko der Scheidung. Eine Anwendung und ein Test des Modells der Frame-Selektion, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 54, S. 27-63 Farber, B. (1964): Family organization and interaction, San Francisco Farber, B. (1970): Affinität und Abstammung in industriellen Gesellschaften, in: Lüschen G.; Lupri E. (Hrsg.): Soziologie der Familie, Opladen, Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 14, S. 94-120 Farber, B. (1971): Kinship and class, New York Farber, B. (1981): Conceptions of kinship, New York Farrell, D.; Rusbult, C. E. (1981): Exchange variables as predictors of job satisfaction, job commitment, and turnover: The impact of rewards, costs, alternatives and investments, in: Organizational Behavior and Human Performance, 27, S. 78-95 Fauser, R. (1982): Zur Isolationsproblematik von Familien. Sozialisationstheoretische Überlegungen und empirische Befunde, DJI Forschungsbericht, München
Literaturverzeichnis
303
Fehlmann-von der Mühll, M. (1978): Verwandtschaft. Theorien und Alltag, Zürich Fehr, B. (1999): Laypeople’s conceptions of commitment, in: Journal of Personality and Social Psychology, 76, S. 90-103 Feld, S. L. (1981): The focused organization of social ties, in: American Journal of Sociology, 86, S. 1015-1035 Feld, S. L. (1982): Structural determinants of similarity among associates, in: American Sociological Review, 47, S. 797-801 Feld, S. L. (1984): The structured use of personal associates, in: Social Forces, 62, S. 640-652 Fenner, B. (1984): Verwandtschaftsbeziehungen in einem Dorf des rheinischen Braunkohlegebietes, Berlin Finch, J.; Mason, J. (1990): Filial obligations and kin support for elderly people, in: Ageing and Society, 10, S. 151-175 Finch, J.; Mason, J. (1991): Obligations of kinship in contemporary Britain: Is there a normative agreement?, in: British Journal of Sociology, 42, S. 345-367 Firth, R. (1956a) (Hrsg.): Two studies of kinship in London, London Firth, R. (1956b): Introduction, in: Firth, R. (Hrsg.): Two studies of kinship in London, London, S. 11-29 Firth, R.; Djamour, J. (1956): Kinship in South Borough, in: Firth, R. (Hrsg.): Two studies of kinship in London, London, S. 33-63 Fischer, C. S. (1977): Perspectives on community and personal relationships, in: Fischer, C. S. (Hrsg.): Networks and places. Social relations in the urban setting, New York, S. 1-16 Fischer, C. S. (1982a): To dwell among friends: Personal networks in town and city, 2. Aufl., Chicago Fischer, C. S. (1982b): The dispersion of kinship ties in modern society: Contemporary data and historical speculations, in: Journal of Family History, 7, S. 353-375 Fischer, L.; Wiswede, G. (1997): Grundlagen der Sozialpsychologie, München Foa, E. B.; Foa, U. G. (1980): Resource theory, in: Gergen, K. J.; Greenberg, M. S.; Willis, R. H. (Hrsg.): Social exchange. Advances in theory and research, New York/London, S. 77-101 Fortes, M. (1969): Kinship and the social order: The legacy of Lewis Henry Morgan, Chicago Fortes, M. (1978): Verwandtschaft und das Axiom der Amity, in: Kramer, F.; Sigrist, C. (Hrsg.): Gesellschaften ohne Staat, Bd. 2: Genealogie und Solidarität, Frankfurt a.M., S. 120-164 Franz, P. (1986): Der „constrained-choice“-Ansatz als gemeinsamer Nenner individualistischer Ansätze in der Soziologie. Ein Vorschlag zur theoretischen Integration, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 38, S. 32-54 Franzen, A. (2003): Social capital and the internet: Evidence from Swiss Panel Data, in: KYKLOS. Internationale Zeitschrift für Sozialwissenschaften, 56, S. 341-360 Friedman, M. (1968): The methodology of positive economics, in: Brodbeck, M. (Hrsg.): Readings in the philosophy of the social sciences, New York/London, S. 508-528 Fuchs-Heinritz, W.; Lautmann, R.; Rammstedt, O.; Wienold, H. (1994): Lexikon zur Soziologie, 3. Aufl., Opladen Furstenberg, F. F. (1987): Fortsetzungsehen. Ein neues Lebensmuster und seine Folgen, in: Soziale Welt, 1, S. 29-39 Furstenberg, F. F. (2005): Banking on families: How families generate and distribute social capital, in: Journal of Marriage and the Family, 67, S. 809-821 Furstenberg, F. F.; Cherlin, A. J. (1991): Divided families. What happens to children when parents part, Cambridge/London Gallagher, S. K.; Gerstel, N. (1993): Kinkeeping and friend keeping among older woman: The effect of marriage, in: The Gerontologist, 33, S. 675-681 Galler, H. P. (1990): Verwandtschaftsnetzwerke im demographischen Wandel, in: Acta demographica, 1, S. 63-84 Ganzer, B. (2000): Verwandtschaft, in: Streck, B. (Hrsg.): Wörterbuch der Ethnologie, Wuppertal, S. 274-278
304
Literaturverzeichnis
Garigue, P.; Firth, R. (1956): Kinship organization of Italianates in London, in: Firth, R. (Hrsg.): Two studies of kinship in London, London, S. 67-93 Gaulin, S. J. C.; McBurney, D. H.; Brakeman-Wartell, S. L. (1997): Matrilaterial biases in the investment of aunts and uncles, in: Human Nature, 8, S. 139-151 Gaus, G. (1983): Wo Deutschland liegt: eine Ortsbestimmung, München Geißler, R. (2006): Die Sozialstruktur Deutschlands. Zur gesellschaftlichen Entwicklung mit einer Bilanz zur Vereinigung, 4. Aufl., Wiesbaden Georgas, J.; Christakopoulou, S.; Poortinga, Y. H.; Angleitner, A.; Goodwin, R.; Charalambous, N. (1997): The relationship of family bonds to family structure and function across cultures, in: Journal of Cross-Cultural Psychology, 28, S. 303-320 Georgas, J. u.a.563 (2001): Functional relationships in the nuclear and extended family: A 16-culture study, in: International Journal of Psychology, 36, S. 289-300 Gerstel, N. (1988): Divorce and kin ties. The importance of gender, in: Journal of Marriage and the Family, 50, S. 209-219 Gerstel, N.; Gallagher, S. K. (1993): Kinkeeping and distress: Gender, recipients of care, and workfamily conflict, in: Journal of Marriage and the Family, 55, S. 598-607 Giarrusso, R.; Stallings, M.; Bengtson, V. L. (1995): The „intergenerational stake” hypothesis revisited: Parent-child differences in perceptions of relationships 20 years later, in: Bengtson, V. L.; Schaie, K. W.; Burton, L. M. (Hrsg.): Adult intergenerational relations: Effects of societal change, New York, S. 227-263 Gibson, G. (1972): Kin family network: Overheralded structure in past conceptualizations of family functioning, in: Journal of Marriage and the Family, 34, S. 13-24 Glenn, N. D. (1993): A plea for objective assessment of the notion of family decline, in: Journal of Marriage and the Family, 55, S. 542-544 Goethe, J. W. (2002 [1809]): Die Wahlverwandtschaften, Frankfurt a.M. Goetze, D.; Mühlfeld, C. (1984): Ethnosoziologie, Stuttgart Goldscheider, C.; Goldstein, S. (1967): Generational changes in Jewish family structure, in: Journal of Marriage and the Family, 29, S. 267-276 Goode, W. J. (1963): World revolution and family patterns, New York Goode, W. J. (1964): The family, New Jersey Goode, W. J. (1967a): Die Struktur der Familie, Köln Goode, W. J. (1967b): Soziologie der Familie, München Goody, J. (1986): Die Entwicklung von Ehe und Familie in Europa, Berlin Gordon, M.; Noll, C. E. (1975): Social class and interaction with kin and friends, in: Journal of Comparative Family Studies, 6, S. 239-248 Gouldner, A. W. (1960): The norm of reciprocity, in: American Sociological Review, 25, S. 161-179 Granovetter, M. S. (1973): The strength of weak ties, in: American Journal of Sociology, 78, S. 13601380 Granovetter, M. S. (1974): Getting a job, Cambridge Granovetter, M. S. (1982): The strength of weak ties. A network theory revisited, in: Marsden, P. V.; Lin, N. (Hrsg.): Social structure and network analysis, Beverly Hills/London/New Delhi, S. 105130 Grau, I.; Mikula, G.; Engel, S. (2001): Skalen zum Investitionsmodell von Rusbult, in: Zeitschrift für Sozialpsychologie, 32, S. 29-44 Gravatt, A. E. (1953): Family relations in middle and old age. A review, in: The Journal of Gerontology, 8, S. 197-201 Greer, S. (1956): Urbanism reconsidered, in: American Sociological Review, 21, S. 13-18 563
Mylonas, K.; Bafiti, T.; Poortinga, Y. P.; Christakopolou, S.; Kagitcibasi, C.; Kwak, K.; Ataca, B.; Berry, J.; Orung, S.; Sunar, D.; Charalambous, N.; Goodwin, R.; Wang, W.-Z.; Angleitner, A.; Stepanikova, I.; Pick, S.; Givaudan, M.; Zhuravliova-Gionis, I.; Konantambigi, R.; Gelfand, M. J.; Marinava, V.; McBride-Chang, C.; Kodic, Y.
Literaturverzeichnis
305
Gross, P. (1994): Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt a.M. Grossman, A. H.; D`Augelli, A. R.; Hershberger, S. L. (2000): Social support networks of lesbian, gay, and bisexual adults 60 years of age and older, in: Journal of Gerontology, 55B, S. 171-179 Habermas, J. (1985): Die Neue Unübersichtlichkeit, Frankfurt a.M. Hagestad, G. O. (1982): Parent and child: Generations in the family, in: Field, T. M.; Huston, A.; Quay, H. C.; Finley G. E. (Hrsg.): Review of human development, New York, S. 485-499 Hagestad, G. O. (1986): The family: women and grandparents as kinkeepers, in: Pifer, A.; Bronte, L. (Hrsg.): Our aging society, New York, S. 141-160 Hagestad, G. O. (1987): Parent-child relations in later life: Trends and gaps in past research, in: Lancaster, J. B.; Altmann, J.; Rossi, A. S.; Sherrod, L. R. (Hrsg.): Parenting across the life-span: Biosocial dimensions, New York, S. 405-434 Hagstrom, W. O.; Hadden, J. K. (1965): Sentiment and kinship terminology in American society, in: Journal of Marriage and the Family, 27, S. 324-332 Hamilton, W. D. (1964): The genetical evolution of social behaviour, I and II, in: Journal of Theoretical Biology, 7, S. 1-32 Hareven, T. K. (1982a): Family and industrial time, Cambridge Hareven, T. K. (1982b): Family time and historical time, in: Mitterauer, M.; Sieder, R. (Hrsg.): Historische Familienforschung, Frankfurt a.M., S. 64-87 Hareven, T. K. (1997): „Blended Families“ – Die Entwicklung in den USA, in: Mitterauer, M.; Ortmayer, N. (Hrsg.): Familie im 20 Jahrhundert. Traditionen, Probleme, Perspektiven, Frankfurt a.M., S. 53-64 Hareven, T. K.; Langenbach, R. (1978): Amoskeag: Life and work in an American factory-city, New York Hareven, T. K.; Mitterauer, M. (1996): Entwicklungstendenzen der Familie, Wien Harris, M. (1989): Kulturanthropologie. Ein Lehrbuch, Frankfurt a.M. Hartmann, J. (1999): Soziale Einbettung und Ehestabilität, in: Klein, T.; Kopp, J. (Hrsg.): Scheidungsursachen aus soziologischer Sicht, Würzburg, S. 233-253 Hartmann, J. (2003): Ehestabilität und soziale Einbettung, Würzburg Haug, S. (1997): Soziales Kapital. Ein kritischer Überblick über den aktuellen Forschungsstand, Arbeitspapier 5 des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung, Mannheim Haug, S. (2000): Soziales Kapital und Kettenmigration. Italienische Migranten in Deutschland, Opladen Hays, W. C.; Mindel, C. H. (1973): Extended kinship relations in black and white families, in: Journal of Marriage and the Family, 35, S. 51-57 Heins, V. (2004): Max Weber zur Einführung, 3. Aufl., Hamburg Hetherington, E. M.; Stanley-Hagan, M. (2000): Diversity among stepfamilies, in: Demo, D. H.; Allen, K. R.; Fine, M. A. (Hrsg.): Handbook of family diversity, Oxford, S. 173-196 Hill, M. R. (2002a): Empiricism and reason in Harriet Martineau´s sociology, in: Martineau, H. (2002 [1838]): How to observe morals and manners, 3. Aufl., New Brunswick/New Jersey, S. xv-lx Hill, P. B. (2002b): Rational-Choice-Theorie, Bielefeld Hill, P. B.; Kopp, J. (2004): Familiensoziologie: Grundlagen und theoretische Perspektiven, 3. Aufl., Wiesbaden Hill, R.; Foote, N.; Aldous, J.; Carlson, R.; McDonald, R. (1970): Family development in three generations, Cambridge Hillmann, K.-H. (1994): Wörterbuch der Soziologie, 4. Aufl., Stuttgart Hoecker-Drysdale, S. (1998): Harriet Martineau (1802-1876), Kritische Sozialforschung: Theorie und Praxis, in: Honegger, C.; Wobbe, T. (Hrsg.): Frauen in der Soziologie. Neun Portraits, München, S. 28-59 Hoff, A. (2003): Die Entwicklung sozialer Beziehungen in der zweiten Lebenshälfte. Ergebnisse des Alterssurveys 2002, Arbeitsbericht für das BMFSFJ, Berlin
306
Literaturverzeichnis
Hoffmann-Nowotny, H.-J. (1995): Die Zukunft der Familie – Die Familie der Zukunft, in: Gerhardt, U.; Hradil, S.; Lucke, D.; Nauck, B. (Hrsg.): Familie der Zukunft. Lebensbedingungen und Lebensformen, Opladen, S. 325-348 Hogan, D. P.; Spencer, L. J. (1993): Kin structure and assistance in aging societies, in: Annual Review of Gerontology and Geriatrics, 13, S. 169-186 Hoier, S.; Euler, H. A.; Hänze, M. (2001): Diskriminative Fürsorglichkeit von Tanten und Onkeln. Eine empirische Untersuchung aus evolutionstheoretischer Perspektive, in: Zeitschrift für Differentielle und Diagnostische Psychologie, 22, S. 206-215 Höllinger, F.; Haller, M. (1990): Kinship and social networks in modern societies: A cross-cultural comparison among seven nations, in: European Sociological Review, 6, S. 103-124 Hollstein, B. (2002): Soziale Netzwerke nach der Verwitwung. Eine Rekonstruktion der Veränderungen informeller Beziehungen, Opladen Homans, G. C. (1960): Theorie der sozialen Gruppe, Köln/Opladen Homans, G. C. (1968): Elementarformen sozialen Verhaltens, Köln/Opladen Homans, G. C. (1972a): Zeitgenössische soziologische Theorie, in: Vanberg, V. (Hrsg.): Georg C. Homans. Grundfragen soziologischer Theorie, Opladen, S. 9-43 Homans, G. C. (1972b): Wider den Soziologismus, in: Vanberg, V. (Hrsg.): Georg C. Homans. Grundfragen soziologischer Theorie, Opladen, S. 44-58 Honneth, A. (1994): Desintegration. Bruchstücke einer soziologischen Zeitdiagnose, Frankfurt a.M. Hoyt, D. R.; Babchuk, N. (1983): Adult kinship networks: The selective formation of intimate ties with kin, in: Social Forces, 62, S. 84-101 Hradil, S. (1995a): Die “Single-Gesellschaft”, München Hradil, S. (1995b): Auf dem Weg zur “Single-Gesellschaft”, in: Gerhardt, U.; Hradil, S.; Lucke, D.; Nauck, B. (Hrsg.): Familie der Zukunft: Lebensbedingungen und Lebensformen, Opladen, S. 189-224 Hubert, J. (1965): Kinship and geographical mobility in a sample from a London middle-class area, in: Piddington, R. (Hrsg.): Kinship and geographical mobility, Leiden, S. 61-80 Infratest Burke Sozialforschung (2000) (Hrsg.): Familiensurvey 2000. Methodenbericht, München Inglehart, R. (1977): The silent revolution, Princeton/New Jersey Jackson, J. S. (1979): National survey of Black Americans, Ann Harbour Jackson, R. M. (1977): Social structure and process in friendship choice, in: Fischer, C. S. (Hrsg.): Networks and places. Social relations in the urban setting, New York, S. 59-78 Jackson, R. M.; Fischer, C. S.; McCallister Jones, L. (1977): The dimensions of social networks, in: Fischer, C. S. (Hrsg.): Networks and places. Social relations in the urban setting, New York, S. 39-58 Jakoby, N.; Kopp, J. (2006): Verwandtschaft, in: Schäfers, B.; Kopp, J. (Hrsg.): Grundbegriffe der Soziologie, 9. Aufl., Wiesbaden, S. 339-342 Jansen, L. T. (1952): Measuring family solidarity, in: American Sociological Review, 17, S. 727-733 Johnson, C. L. (1982a): Sibling solidarity: Its origin and functioning in Italian-American families, in: Journal of Marriage and the Family, 44, S. 155-167 Johnson, C. L. (2000a): Kinship and gender, in: Demo, D. H.; Allen, K. R.; Fine, M. A. (Hrsg.): Handbook of family diversity, Oxford, S. 129-148 Johnson, C. L. (2000b): Perspectives on American kinship in the later 1990s, in: Journal of Marriage and the Family, 62, S. 623-639 Johnson, C. L.; Barer, B. M. (1987): Marital instability and the changing kinship networks of grandparents, in: The Gerontologist, 27, S. 330-335 Johnson, C. L.; Catalano, D. H. (1981): Childless elderly and their family supports, in: The Gerontologist, 21, S. 610-618 Johnson, H. M. (1970): Strukturell-funktionale Theorie der Familien- und Verwandtschaftssysteme, in: Lüschen G.; Lupri E. (Hrsg.): Soziologie der Familie, Opladen, Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 14, S. 32-48
Literaturverzeichnis
307
Johnson, M. P. (1973): Commitment: A conceptual structure and empirical application, in: The Sociological Quarterly, 14, S. 395-406 Johnson, M. P. (1982b): Social and cognitive features of the dissolution of commitment to relationships, in: Duck, S. (Hrsg.): Personal relationships 4: Dissolving personal relationships, London u.a., S. 51-73 Johnson, M. P. (1991a): Commitment to personal relationships, in: Jones, W. H.; Perlman, D. (Hrsg.): Advances in personal relationships, Vol. 3, London, S. 171-176 Johnson, M. P. (1991b): Reply to Levinger and Rusbult, in: Jones, W. H.; Perlman, D. (Hrsg.): Advances in personal relationships, Vol. 3, London, S. 117-145 Johnson, M. P.; Caughlin, J. P.; Huston, T. L. (1999): The tripartite nature of marital commitment: Personal, moral, and structural reasons to stay married, in: Journal of Marriage and the Family, 61, S. 160-177 Kahneman, D.; Tversky A. (1979) Prospect theory: An analysis of decision under risk, in: Econometrica, 47, S. 263-291 Kaiser, P. (1993): Beziehungen in der erweiterten Familie und unterschiedlichen Familienformen, in: Auhagen, A. E.; von Salisch, M. (Hrsg.): Zwischenmenschliche Beziehungen, Göttingen, S. 143-172 Kaser, K. (1995): Familie und Verwandtschaft auf dem Balkan. Analyse einer untergehenden Kultur, Wien Kaser, K. (2001): Familie und Verwandtschaft in Bulgarien. Historische und anthropologische Perspektiven, in: Brunnbauer, U.; Kaser, K. (Hrsg.): Vom Nutzen der Verwandten. Soziale Netzwerke in Bulgarien (19. und 20. Jahrhundert), Wien, S. 13-40 Kasten, H. (1998): Geschwisterbeziehungen im Lebensverlauf, in: Wagner, M.; Schütze, Y. (Hrsg.): Verwandtschaft. Sozialwissenschaftliche Beiträge zu einem vernachlässigten Thema, Stuttgart, S. 148-161 Kasten, H. (2003): Geschwister. Vorbild, Rivalen, Vertraute, 5. Aufl., München Kelley, H. H. (1983): Love and commitment, in: Kelley, H. H.; Berscheid, E.; Christensen, A.; Harvey, J. H.; Huston, T. L.; Levinger, G.; McClintock, E.; Peplau, L. A.; Peterson, D. R. (Hrsg.): Close relationships, New York, S. 265-314 Kelley, H. H.; Thibaut, J. W. (1978): Interpersonal relations. A theory of interdependence, New York Kim, A. (2001): Familie und soziale Netzwerke. Eine komparative Analyse persönlicher Beziehungen in Deutschland und Südkorea, Opladen Kivett, V. R. (1985): Consanguinity and kin level: Their relative importance to the helping network of older adults, in: Journal of Gerontology, 40, S. 228-234 Klages, H. (1984): Wertorientierung im Wandel. Rückblick, Gegenstandsanalyse, Prognosen, Frankfurt a.M./New York Klages, H. (1988): Wertedynamik. Über die Wandelbarkeit des Selbstverständlichen, Zürich Klatzky, S. R. (1971): Patterns of contact with relatives, Washington D.C. Klein, S.; Harkness, J. (2001): ISSP Study Monitoring 2001. Report to the ISSP General Assembly on monitoring work undertaken for the ISSP by ZUMA, Mannheim Klein, T.; Lauterbach, W. (1999): Nichteheliche Lebensgemeinschaften. Analysen zum Wandel partnerschaftlicher Lebensformen, Opladen Knipscheer K. (1987): Perspektiven für die Mehrgenerationenfamilie in einer sich wandelnden Gesellschaft, in: Deutsches Zentrum für Altersfragen (Hrsg.): Die ergraute Gesellschaft, Berlin, S. 424-438 Kohli, M.; Künemund, H. (2000) (Hrsg.): Die zweite Lebenshälfte. Gesellschaftliche Lage und Partizipation im Spiegel des Alters-Survey, Opladen Komarovsky, M. (1962): Blue-collar marriage, New York Kon, I. S. (1979): Freundschaft: Geschichte und Sozialpsychologie der Freundschaft als soziale Institution und individuelle Beziehung, Leningrad König, R. (1974a): Die Familie der Gegenwart. Ein interkultureller Vergleich, München König, R. (1974b): Materialien zur Soziologie der Familie, 2. Aufl., Köln
308
Literaturverzeichnis
König, R. (1976): Soziologie der Familie, in: König, R.; Rosenmayr, L. (Hrsg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 7: Alter und Familie, 2. Aufl., Stuttgart, S. 1-217 Kopp, J. (1992): Soziobiologie und Familiensoziologie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 44, S. 489-502 Kopp, J. (1994): Scheidung in der Bundesrepublik. Zur Erklärung des langfristigen Anstiegs der Scheidungsraten, Wiesbaden Kosa, J.; Rachiele, L. D.; Schommer, C. O (1960): Sharing home with relatives, in: Marriage and Family Living, 22, S. 129-131 Koschorke, M. (1972): Formen des Zusammenlebens in Deutschland, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 24, S. 533-563 Künemund, H.; Hollstein, B. (2000): Soziale Beziehungen und Unterstützungsnetzwerke, in: Kohli, M.; Künemund, H. (Hrsg.): Die zweite Lebenshälfte. Gesellschaftliche Lage und Partizipation im Spiegel des Alters-Survey, Opladen, S. 213-276 Lakatos, I. (1974): Falsifikation und die Methodologie wissenschaftlicher Forschungsprogramme, in: Lakatos, I.; Musgrave, A. (Hrsg.): Kritik und Erkenntnisfortschritt, Braunschweig, S. 89-189 Lang, F.; Schütze, I (1998): Verfügbarkeit und Leistungen verwandtschaftlicher Beziehungen im Alter, in: Wagner, M.; Schütze, Y. (Hrsg.): Verwandtschaft. Sozialwissenschaftliche Beiträge zu einem vernachlässigten Thema, Stuttgart, S. 163-182 Laslett, P. (1972): Introduction: The history of family, in: Laslett, P.; Wall, R: (Hrsg.): Household and family in past time, Cambridge, S. 1-85 Lauterbach, W. (1995): Die gemeinsame Lebenszeit der Generationen, in: Zeitschrift für Soziologie, 24, S. 22-41 Lawton, L.; Silverstein, M.; Bengtson, V. L. (1994): Solidarity between generations in families, in: Bengtson, V. L.; Harootyan, R. B. (Hrsg.): Intergenerational linkages. Hidden connections in American society, New York, S. 19-42 Le, B.; Agnew, C. R. (2003): Commitment and its theorized determinants: A meta-analysis of the investment model, in: Personal Relationships, 10, S. 37-57 Lee, E.; Spitze, G.; Logan, J. (2003): Social support to parents-in-law: The interplay of gender and kin, in: Journal of Marriage and the Family, 65, S. 396-403 Lee, G. R. (1979): Effects of social networks on the family, in: Burr, W. R.; Hill, R.; Nye, F. I.; Reiss, I. L. (Hrsg.): Contemporary theories about the family, Vol. 1, New York/London, S. 27-59 Lee, G. R. (1980): Kinship in the seventies: A decade of research and theory, in: Journal of Marriage and the Family, 42, 923-934 Lee, G. R. (1985): Kinship and social support of the elderly: The case of the United States, in: Ageing and Society, 5, S. 19-38 Lee, T. S. (1990): Sibling relationships in adulthood: Contact patterns and motivations, in: Journal of Marriage and the Family, 52, S. 431-440 Leichter, H. J.; Mitchell, W. E. (1967): Kinship and casework, New York Leigh, G. K. (1982): Kinship interaction over the family life span, in: Journal of Marriage and the Family, 44, S. 197-208 Lévi-Strauss, C. (1981): Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft, Frankfurt a.M. Levinger, G. (1976): A social psychological perspective on marital dissolution, in: Journal of Social Issues, 32, S. 21-47 Levinger, G. (1991): Commitment vs. cohesiveness: Two complementary perspectives, in: Jones, W. H.; Perlman, D. (Hrsg.): Advances in personal relationships, Vol. 3, London, S. 145-150 Lewis, R. A.; Spanier, G. B. (1979): Theorizing about the quality and stability of marriage, in: Burr, W. R.; Hill, R.; Nye, F. I.; Reiss, I. L. (Hrsg.): Contemporary theories about the family, Vol. 1, New York/London, S. 268-294 Lewis, R. A.; Spanier, G. B. (1982): Marital quality, marital stability, and social exchange, in: Nye, F. I. (Hrsg.): Family relationships. Rewards and costs, Beverly Hills, S. 49-65 Lin, Y. H. W.; Rusbult, C. E. (1995): Commitment to dating relationships and cross-sex friendships in America and China, in: Journal of Social and Personal Relationships, 12, S. 7-26
Literaturverzeichnis
309
Lindenberg, S. (1984): Normen und Allokation sozialer Wertschätzung, in: Todt, H. (Hrsg.): Normengeleitetes Verhalten in den Sozialwissenschaften, Berlin, S. 169-190 Lindenberg, S. (1985): An assessment of the new political economy: Its potential for the social sciences and for sociology in particular, in: Sociological Theory, 3, S. 99-114 Lindenberg, S. (1989): Choice and culture. The behavioral basis of cultural impact on transactions, in: Haferkamp, H. (Hrsg.): Social Structure and culture, Berlin, S. 175-200 Lindenberg, S. (1991): Die Methode der abnehmenden Abstraktion: Theoriegesteuerte Analyse und empirischer Gehalt, in: Esser, H.; Troitzsch, K. G. (Hrsg.): Modellierung sozialer Prozesse, Bonn, S. 29-78 Litwak, E. (1960a): Geographic mobility and extended family cohesion, in: American Sociological Review, 25, S. 385-394 Litwak, E. (1960b): Occupational mobility and extended family cohesion, in: American Sociological Review, 25, S. 9-21 Litwak, E. (1965): Extended kin relations in an industrial democratic society, in: Shanas, E.; Streib, G. F. (Hrsg.): Social structure and the family: Generational relations, New Jersey, S. 290-323 Litwak, E. (1985): Helping the elderly. The complementary roles of informal networks and formal systems, New York/London Litwak, E.; Kulis, S. (1987): Technology, proximity, and measures of kin support, in: Journal of Marriage and the Family, 49, S. 649-661 Litwak, E.; Szelenyi, I. (1969): Primary group structures and their functions: Kin, neighbors, and friends, in: American Sociological Review, 34, S. 465-481 Lopata, H. Z. (1978): Contributions of extended families to support networks of metropolitan area widows: Limitations of the modified kin network, in: Journal of Marriage and the Family, 40, S. 355-364 Lucke, D. (1998): Verwandtschaft im Recht – Rechtssoziologische Aspekte verwandtschaftlicher Beziehungen, in: Wagner, M.; Schütze, Y. (Hrsg.): Verwandtschaft. Sozialwissenschaftliche Beiträge zu einem vernachlässigten Thema, Stuttgart, S. 59-89 Lukes, S. (1973): Émile Durkheim. His life and work, London Luleva, A. (2001): Dimensionen der Verwandtschaft in der westbulgarischen Alltagskultur, in: Brunnbauer, U.; Kaser, K. (Hrsg.): Vom Nutzen der Verwandten. Soziale Netzwerke in Bulgarien (19. und 20. Jahrhundert), Wien, S. 138-162 Lüschen, G. (1970): Familie und Verwandtschaft. Interaktion und die Funktion von Ritualen in: Lüschen G.; Lupri E. (Hrsg.): Soziologie der Familie, Opladen, Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 14, S. 271-284 Lüschen, G. (1988): Familial-verwandtschaftliche Netzwerke, in: Nave-Herz, R. (Hrsg.): Wandel und Kontinuität der Familie in der Bundesrepublik Deutschland, Stuttgart, S. 145-172 Lüschen, G. (1989): Verwandtschaft, Freundschaft, Nachbarschaft, in: Nave-Herz, R.; Markefka, M. (Hrsg.): Handbuch der Familien- und Jugendforschung, Bd. 1: Familienforschung, Neuwied/Frankfurt a.M., S. 435-452 Lüscher, K. (1993): Generationenbeziehungen – Neue Zugänge zu einem alten Thema, in: Lüscher, K.; Schultheis, F. (Hrsg.): Generationenbeziehungen in »postmodernen« Gesellschaften, Konstanz, S. 17-47 Lüscher, K. (2000): Die Ambivalenz von Generationenbeziehungen – Eine allgemeine heuristische Hypothese, in: Kohli, M.; Szydlik, M. (Hrsg.): Generationen in Familie und Gesellschaft, Opladen, S. 138-161 Lye, D. N. (1996): Adult child-parent relationships, in: Annual Review of Sociology, 22, S. 79-102 Malinowski, B. (1963): The family among the Australian Aborigines, London Mancini, J.; Blieszner, R. (1989): Aging parents and adult children: Research themes in intergenerational relations, in: Journal of Marriage and the Family, 51, S. 275-290 Mangen, D. J (1988): Measurement of intergenerational relations, in: Mangen, D. J.; Bengtson, V. L.; Landry, P. H. (Jr.) (Hrsg.): Measurement of intergenerational relations, Beverly Hills, S. 31-53
310
Literaturverzeichnis
Marbach, J. H. (1989): Soziale Netzwerke von Familien – Wer hat, dem wird gegeben, in: Deutsches Jugendinstitut (Hrsg.): Familienalltag. Ein Report des Deutschen Jugendinstituts, Reinbek, S. 82-120 Marbach, J. H. (1994a): Tauschbeziehungen zwischen Generationen: Kommunikation, Dienstleistungen und finanzielle Unterstützung in Dreigenerationenfamilien, in: Bien, W. (Hrsg.): Eigeninteresse oder Solidarität. Beziehungen in modernen Mehrgenerationenfamilien, DJI: FamilienSurvey 3, Opladen, S. 164-196 Marbach, J. H. (1994b): Der Einfluß von Kindern und Wohnentfernung auf die Beziehungen zwischen Eltern und Großeltern: Die Prüfung des quasi-experimentellen Designs der Mehrgenerationenstudie, in: Bien, W. (Hrsg.): Eigeninteresse oder Solidarität. Beziehungen in modernen Mehrgenerationenfamilien, DJI: Familien-Survey 3, Opladen, S. 77-111 Marbach, J. H. (1998): Verwandtschaftsbeziehungen und Abstammung – Eine Prüfung soziobiologischer und ethnologischer Thesen mit Hilfe familiensoziologischer Daten, in: Wagner, M.; Schütze, Y.: Verwandtschaft. Sozialwissenschaftliche Beiträge zu einem vernachlässigten Thema, Stuttgart, S. 91-126 Markefka, M. (1989): Symbolischer Interaktionismus, Ethnomethodologie und Familienforschung, in: Nave-Herz, R.; Markefka, M. (Hrsg.): Handbuch der Familien- und Jugendforschung, Bd. 1: Familienforschung, Neuwied/Frankfurt a.M., S. 63-79 Marsden, P. V. (1987): Core discussion networks of Americans, in: American Sociological Review, 22, S. 122-131 Martineau, H. (2002 [1838]): How to observe morals and manners, 3. Aufl., New Brunswick/New Jersey Matthews, S. H. (2005): Reaching beyond the dyad: Research on adult siblings, in: Bengtson, V. L.; Acock, A. C.; Allen, K. R.; Dilworth-Anderson, P.; Klein, D. M. (Hrsg.): Sourcebook of family theory and research, Thousand Oaks, S. 181-184 Maynard Smith, J. (1964): Group selection and kin selection, in: Nature, 201, S. 1145-1147 Mayntz, R. (1955): Die moderne Familie, Stuttgart Mayr-Kleffel, V. (1991): Frauen und ihre sozialen Netze. Auf der Suche nach einer verlorenen Ressource, Opladen McAdoo, H. P. (1978): Factors related to stability in upwardly mobile black families, in: Journal of Marriage and the Family, 40, S. 761-776 McAdoo, H. P.; Martìnez, E. A.; Hughes, H. (2005): Ecological changes in ethnic families of color, in: Bengtson, V. L.; Acock, A. C.; Allen, K. R.; Dilworth-Anderson, P.; Klein, D. M. (Hrsg.): Sourcebook of family theory and research, Thousand Oaks, S. 191-202 McCallister, L.; Fischer, C. S. (1978): A procedure for surveying personal networks, in: Sociological Methods and Research, 7, S. 131-148 Mead, G. H. (1973 [1934]): Geist, Identität und Gesellschaft aus der Sicht des Sozialbehaviorismus, Frankfurt a.M. Medick, H.; Sabean, D. (1984): Emotionen und materielle Interessen in Familie und Verwandtschaft: Überlegungen zu neuen Wegen und Bereichen einer historischen und sozialanthropologischen Familienforschung, in: Medick, H.; Sabean, D. (Hrsg.): Emotionen und materielle Interessen. Sozialanthropologische und historische Beiträge zur Familienforschung, Göttingen, S. 27-54 Meyer, P. (1982): Soziobiologie und Soziologie. Eine Einführung in die biologischen Voraussetzungen sozialen Handelns, Darmstadt/Neuwied Meyer, T. (1993): Der Monopolverlust der Familie. Vom Teilsystem Familie zum Teilsystem privater Lebensformen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 45, S. 23-40 Mikula, G. (1992): Austausch und Gerechtigkeit in Freundschaft, Partnerschaft und Ehe: Ein Überblick über den aktuellen Forschungsstand, in: Psychologische Rundschau, 43, S. 69-82 Milardo, R. M. (2005): Generative uncle and nephew relationships, in: Journal of Marriage and the Family, 67, S. 1226-1236
Literaturverzeichnis
311
Mills, J.; Clark, M. S. (1982): Exchange and communal relationships, in: Wheeler, L. (Hrsg.): Review of Personality and Social Psychology: 3, Beverly Hills/London/New Delhi, S. 121-144Mindel, C. H. (1972): Kinship affiliation: Structure and process in divorce, in: Journal of Comparative Family Studies, 3, S. 254-264 Mitterauer, M. (1978): Der Mythos von der vorindustriellen Großfamilie, in: Rosenbaum, H. (Hrsg.): Seminar: Familie und Gesellschaftsstruktur. Materialien zu den sozioökonomischen Bedingungen von Familienformen, Frankfurt a.M., S. 128-151 Mitterauer, M. (1979): Faktoren des Wandels historischer Familienformen, in: Pross, H. (Hrsg.): Familie - wohin? Leistungen, Leistungsdefizite und Leistungswandlungen der Familien in hochindustrialisierten Gesellschaften, Reinbek, S. 83-124 Mitterauer, M. (1990): Historisch-anthropologische Familienforschung. Fragestellungen und Zugangsweisen, Wien/Köln Mitterauer, M. (1997): „Das moderne Kind hat zwei Kinderzimmer und acht Großeltern“ – Die Entwicklung in Europa, in: Mitterauer, M.; Ortmayer, N. (Hrsg.): Familie im 20 Jahrhundert. Traditionen, Probleme, Perspektiven, Frankfurt a.M., S. 13-51 Modell, J. S. (1994): Kinship with strangers. Adoption and interpretations of kinship in American culture, Berkeley/Los Angeles/London Moore, G. (1990): Structural determinants of men’s and women’s personal networks, in: American Sociological Review, 55, S. 726-735 Morgan, L. H. (1970 [1871]): Systems of consanguinity and the affinity in the human family, Oosterhout Morgan, D. H. (1975): Social theory and the family, London Morgan, L. A. (1984): Changes in family interaction following widowhood, in: Journal of Marriage and the Family, 46, S. 323-331 Motel, A.; Szydlik, M. (1999): Private Transfers zwischen Generationen, in: Zeitschrift für Soziologie, 28, S. 3-22 Müller, E. W. (1981): Der Begriff Verwandtschaft in der modernen Ethnosoziologie, Berlin Müller, E. W.; König, R.; Koepping, K.-P.; Drechsel, P. (1984) (Hrsg.): Ethnologie als Sozialwissenschaft, Opladen, Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 26, S. 240-254 Murdock, G. P. (1949): Social structure, New York Murstein, B. J. (1976): Who will marry whom? Theories and research in marital choice, New York Murstein, B. J. (1977): Die Stimulus-Werthaltungs-Rollentheorie, in: Mikula, G.; Stroebe, W. (Hrsg.): Sympathie, Freundschaft, Ehe. Psychologische Grundlagen zwischenmenschlicher Beziehungen, Bern u.a., S. 166-192 Nauck, B. (1989): Individualistische Erklärungsansätze in der Familienforschung: die rational-choiceBasis von Familienökonomie, Ressourcen- und Austauschtheorie, in: Nave-Herz, R.; Markefka, M. (Hrsg.): Handbuch der Familien- und Jugendforschung, Bd. 1: Familienforschung, Neuwied/Frankfurt a.M., S. 45-61 Nauck, B. (1995): Lebensbedingungen von Kindern in Einkind-, Mehrkind- und Vielkindfamilien, in: Nauck, B.; Bertram, H. (Hrsg.): Kinder in Deutschland. Lebensverhältnisse von Kindern im Regionalvergleich, DJI: Familien-Survey 5, Opladen, S. 137-169 Nauck, B. (2001): Der Wert von Kindern für ihre Eltern. „Value of Children“ als spezielle Handlungstheorie des generativen Verhaltens und von Generationenbeziehungen im interkulturellen Vergleich, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 53, S. 407-435 Nauck, B.; Bertram, H. (1995): Vorwort, in: Nauck, B.; Bertram, H. (Hrsg.): Kinder in Deutschland. Lebensverhältnisse von Kindern im Regionalvergleich, DJI: Familien-Survey 5, Opladen, S. 1-9 Nauck, B.; Kohlmann, A. (1998): Verwandtschaft als soziales Kapital – Netzwerkbeziehungen in türkischen Migrantenfamilien, in: Wagner, M.; Schütze, Y. (Hrsg.): Verwandtschaft. Sozialwissenschaftliche Beiträge zu einem vernachlässigten Thema, Stuttgart, S. 203-235
312
Literaturverzeichnis
Nauck, B.; Kohlmann, A.; Diefenbach, H. (1997): Familiäre Netzwerke, intergenerative Transmission und Assimilationsprozesse bei türkischen Migrantenfamilien, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 49, S. 477-499 Nave-Herz, R. (1998): Die These über den „Zerfall der Familie“, in: Friedrichs, J.; Lepsius, M. R.; Mayer, K. U. (Hrsg.): Die Diagnosefähigkeit der Soziologie, Opladen, Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 38, S. 286-315 Nave-Herz, R. (2004): Ehe- und Familiensoziologie. Eine Einführung in Geschichte, theoretische und empirische Befunde, Weinheim/München Neidhardt, F. (1970): Strukturbedingungen und Probleme familialer Sozialisation, in: Lüschen G.; Lupri E. (Hrsg.): Soziologie der Familie, Opladen, Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 14, S. 144-168 Neidhardt, F. (1971): Die Familie in Deutschland. Gesellschaftliche Stellung, Struktur und Funktionen, 3. Aufl., Opladen Nelson, M.; Abel, E. K. (1990): Circles of care, Albany Neubauer, E. (1983): Isolationsproblematik, soziales Netzwerk und Selbsthilfepotential von Familien, Bonn Neyer, F.; Lang, F. R. (2003a): Blood is thicker than water: Kinship orientation across adulthood, in: Journal of Personality and Social Psychology, 84, S. 310-321 Neyer, F.; Lang, F. R. (2003b): Wie dick ist Blut?, in: Psychologie Heute, 30, S. 34-38 Neyer, F.; Lang, F. R. (2004): Die Bevorzugung von genetischen Verwandten im Lebenslauf. Längsschnittliche Befunde zu Plastizität und Stabilität nepotistischer Orientierungen bei jüngeren und älteren Erwachsenen, in: Zeitschrift für Sozialpsychologie, 35, S. 115-129 Newcomb, T. (1961): The acquaintance process, New York Noelle-Neumann, E.; Köcher, R. (2002): Allensbacher Jahrbuch für Demoskopie 1998-2002, München Nötzoldt-Linden, U. (1994): Freundschaft. Zur Thematisierung einer vernachlässigten soziologischen Kategorie, Opladen Nye, F. I. (1979): Choice, exchange, and the family, in: Burr, W. R.; Hill, R.; Nye F. I.; Reiss, I. L. (Hrsg.): Contemporary theories about the family, Vol. 2, New York/London, S. 1-41 Ogburn, W. F.; Nimkoff, M. F. (1955): Technology and the changing family, Cambridge Olson, M. (1965): The logic of collective action, Cambridge Onnen-Isemann, C.; Rösch, G. (2005) (Hrsg.): Schwestern. Zur Dynamik einer lebenslangen Beziehung, Frankfurt a.M./New York Opp, K.-D. (1978): Das ökonomische Programm in der Soziologie, in: Soziale Welt, 29, S. 129-154 Osterreich, H. (1965): Geographical mobility and kinship: A Canadian example, in: Piddington, R. (Hrsg.): Kinship and Geographical Mobility, Leiden, S. 131-144 Pahl, R. (2000): On friendship, Malden Paine, R. (1974): An exploratory analysis in ´middle class` culture, in: Leyton, E. (Hrsg.): The compact. Selected dimensions of friendship, Newfoundland Pappi, F. U.; Melbeck, C. (1988): Die sozialen Beziehungen städtischer Bevölkerungen, in: Friedrichs, J. (Hrsg.): Soziologische Stadtforschung, Opladen, Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 29, S. 223-250 Parish, W. L.; Hao, L.; Hogan, D. (1991): Family support networks, welfare, and work among young mothers, in: Journal of Marriage and the Family, 53, S. 203-215 Pasternak, B. (1976): Introduction to kinship and social organization, New Jersey Pasternak, B.; Ember, C. R.; Ember, M. (1997): Sex, gender and kinship. A cross-cultural perspective, New Jersey Parsons, T. (1943): The kinship system of the contemporary United States, in: American Anthropologist, 45, S. 22-38 Parsons, T. (1949): The social structure of the family, in: Anshen, R. N. (Hrsg.): The family: It’s function and destiny, New York, S. 173-201
Literaturverzeichnis
313
Parsons, T. (1964): Das Verwandtschaftssystem in den Vereinigten Staaten, in: Parsons, T.; Rüschemeyer, D. (Hrsg.): Beiträge zur soziologischen Theorie, 2. Aufl., Berlin, S. 84-108 Parsons, T.; Bales R. F. (1968): The American family: It’s relations to personality and to the social structure, in: Parsons, T.; Bales R. F. (Hrsg.): Family socialization and interaction process, London, S. 3-33 Parsons, T.; Shils, E. A. (1951) (Hrsg.): Toward a general theory of action, New York Petersen, I. (2000): Konzepte und Bedeutung von Verwandtschaft. Eine ethnologische Analyse der Parlamentsdebatten zum bundesdeutschen Embryonenschutzgesetz, Beiträge zur gesellschaftswissenschaftlichen Forschung, Bd. 22, Herbolzheim Petrowsky, M. (1976): Marital status, sex, and the social networks of the elderly, in: Journal of Marriage and the Family, 38, S. 749-756 Peuckert, R. (2002): Familienformen im Wandel, 4. Aufl., Opladen Peuckert, R. (2003): Verwandtschaft, in: Schäfers, B. (Hrsg.): Grundbegriffe der Soziologie, 8. Aufl., Opladen, S. 419-421 Pfeil, E. (1965): Die Familie im Gefüge der Großstadt, Hamburg Pfeil, E. (1970): Die Großstadtfamilie, in: Lüschen G.; Lupri E. (Hrsg.): Soziologie der Familie, Opladen, Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 14, S. 411-432 Pfeil, E.; Ganzert, J. (1973): Die Bedeutung der Verwandten für die großstädtische Familie, in: Zeitschrift für Soziologie, 2, S. 366-383 Piddington, R. (1961): A study of French Canadian kinship, in: International Journal of Comparative Sociology, 2, S. 3-22 Piddington, R. (1965a) (Hrsg.): Kinship and geographical mobility, Leiden Piddington, R. (1965b): Editor´s introduction, in: Piddington, R. (Hrsg.): Kinship and geographical mobility, Leiden, S. XI-XIV Piddington, R. (1965c): The kinship network among French Canadians, in: International Journal of Comparative Sociology, 6, S. 145-165 Plöchl, W. M. (1960): Geschichte des Kirchenrechts, 2. Aufl., Wien/München Popenoe, D. (1988). Disturbing the nest. Family change and decline in modern societies, New York Popenoe, D. (1993a): American family decline, 1960-1990: A review and appraisal, in: Journal of Marriage and the Family, 55, S. 527-555 Popenoe, D. (1993b): The national family wars, in: Journal of Marriage and the Family, 55, S. 553-555 Popper, K. R. (1976): Logik der Forschung, Tübingen Post, W.; van Poppel, F.; van Imhoff, E.; Kruse, E. (1997): Reconstructing the extended kin network in the Netherlands with genealogical data: Methods, problems, and results, in: Population Studies, 51, S. 263-278 Preisendörfer, P.; Voss, T. (1988): Arbeitsmarkt und soziale Netzwerke. Die Bedeutung sozialer Kontakte beim Zugang zu Arbeitsplätzen, in: Soziale Welt, 39, S. 104-119 Radcliffe-Brown, A. R. (1969 [1952]): Structure and function in primitive society, London Reiss, P. J. (1962): The extended kinship system: Correlates of attitudes on frequency of interaction, in: Marriage and Family Living, 24, S. 333-339 Riehl, H. W. (1855): Die Familie, Stuttgart Riker, W. H.; Ordeshook, P. C. (1973): An introduction to positive political theory, Englewood Cliffs Riley, M. W. (1983): The family in aging society: A matrix of latent relationships, in: Journal of Family Issues, 4, S. 439-454 Riley, M. W. (1985): Women, men, and the lengthening of life course, in: Rossi, A. (Hrsg.): Gender and the life course, New York, S. 333-347 Riley, M. W.; Riley, J. W. (1993): Connections: Kin and cohort, in: Bengtson, V. L.; Achenbaum, W. A. (Hrsg.): The changing contract across generations, New York, S. 167-189 Riley, M. W.; Riley, J. W. (1996): Generational relations: A future perspective, in: Hareven, T. K. (Hrsg.): Aging and generational relations over the life course: A Historical and cross-cultural perspective, Berlin, S. 526-533
314
Literaturverzeichnis
Roberts, E. L.; Bengtson, V. L. (1990): Is intergenerational solidarity a unidimensional construct? A second test of a formal model, in: Journal of Gerontology, 45, S. 512-520 Roberts, E. L.; Richards, L. N.; Bengtson, V. L. (1991): Intergenerational solidarity in families: Untangling the ties that bind, in: Marriage and Family Review, 16, S. 11-46 Robins, L. N.; Tomanec, M. (1962): Closeness to blood relatives outside the immediate family, in: Marriage and Family Living, 24, S. 340-346 Roschelle, A. R. (1997): No more kin. Exploring race, class, and gender in family networks, Thousand Oaks u.a. Rosenbaum, H. (1982): Formen der Familie. Untersuchungen zum Zusammenhang von Familienverhältnissen, Sozialstruktur und sozialem Wandel in der deutschen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. Rosenbaum, H. (1992): Proletarische Familien. Arbeiterfamilien und Arbeiterväter im frühen 20. Jahrhundert zwischen traditioneller, sozialdemokratischer und kleinbürgerlicher Orientierung, Frankfurt a.M. Rosenbaum, H. (1993): Vaterlose Familien. Zur Bedeutung von Verwandtschaftsbeziehungen in der Arbeiterschaft des frühen 20. Jahrhunderts – am Beispiel der Industriestadt Linden bei Hannover, in: Schlumbohm, J. (Hrsg.): Familie und Familienlosigkeit. Fallstudien aus Niedersachsen und Bremen, Hannover, S. 235-242 Rosenbaum, H. (1998): Verwandtschaft in historischer Perspektive, in: Wagner, M.; Schütze, Y. (Hrsg.): Verwandtschaft. Sozialwissenschaftliche Beiträge zu einem vernachlässigten Thema, Stuttgart, S. 17-33 Rosenmayr, L. (1976): Schwerpunkte der Soziologie des Alters (Gerosoziologie), in: König, R.; Rosenmayr, L. (Hrsg.): Handbuch der empirischen Sozialforschung, Bd. 7: Alter und Familie, 2. Aufl., Stuttgart, S. 218-406 Rosenmayr, L.; Köckeis, E. (1962): Sozialbeziehungen im höheren Lebensalter, in: Soziale Welt, 12, S. 214-229 Rosenmayr, L.; Kolland, F. (1997): Mein »Sinn« ist nicht dein »Sinn«. Unverbindlichkeit und Vielfalt – Mehrere Wege im Singletum, in: Beck, U. (Hrsg.): Kinder der Freiheit, Frankfurt a.M., S. 256-287 Rosenthal, C. J. (1985): Kinkeeping in the familial division of labor, in: Journal of Marriage and the Family, 47, S. 965-974 Rosser, C.; Harris, C. (1965): The Family and social change. A study of family and kinship in a South Wales town, London/New York Rossi, A. S. (1965): Naming children in middle class families, in: American Sociological Review, 30, S. 499-513 Rossi, A. S. (1973) (Hrsg.): The feminist papers. From Adams to de Beauvoir, New York Rossi, A. S.; Rossi, P. H. (1990): Of human bonding. Parent-child relations across the life course, New York Roussel, L. (1976): La famille après le mariage des enfants. Étude de relations entre générations, Paris Rubin, L. (1985): Just friends: The role of friendship in our lives, New York Rusbult, C. E. (1980a): Commitment and satisfaction in romantic associations: A test of the investment model, in: Journal of Experimental Social Psychology, 16, S. 172-186 Rusbult, C. E. (1980b): Satisfaction and commitment in friendships, in: Representative Research in Social Psychology, 11, S. 96-105 Rusbult, C. E. (1983): A longitudinal test of the investment model: The development (and deterioration) of satisfaction and commitment in heterosexual involvements, in: Journal of Personality and Social Psychology, 45, S. 101-117 Rusbult, C. E. (1991): Commentary on Johnson’s commitment to personal relationships: What’s interesting, and what’s new?, in: Jones, W. H.; Perlman, D. (Hrsg.): Advances in personal relationships, Vol. 3, London, S. 151-169
Literaturverzeichnis
315
Rusbult, C. E.; Buunk, B. P. (1993): Commitment processes in close relationships: An interdependence analysis, in: Journal of Social and Personal Relationships, 10, S. 175-204 Rusbult, C. E.; Farrell, D. (1983): A longitudinal test of the investment model: The impact of job satisfaction, job commitment, and turnover of variations in rewards, costs, alternatives, and investments, in: Journal of Applied Psychology, 68, S. 429-438 Rusbult, C. E.; Johnson D. J.; Morrow, G. D. (1986a): Predicting satisfaction and commitment in adult romantic involvements: An assessment of the generalizability of the investment model, in: Social Psychology Quarterly, 49, S. 81-89 Rusbult, C. E.; Johnson D. J.; Morrow, G. D. (1986b): Determinants and consequences of exit, voice, loyalty, and neglect: Responses to dissatisfaction in adult romantic involvements, in: Human Relations, 39, S. 45-63 Rusbult, C. E.; Martz, J. M. (1995): Remaining in an abusive relationship: An investment model analysis of nonvoluntary commitment, in: Personality and Social Psychology Bulletin, 21, S. 558-571 Rusbult, C. E.; Martz, J. M.; Agnew, C. R. (1998): The investment model scale: Measuring commitment level, satisfaction level, quality of alternatives, and investment size, in: Personal Relationships, 5, S. 357-391 Sabean, D. W. (1998): Kinship in Neckarhausen 1700-1870, Cambridge Salmon, C. A.; Daly, M. (1996): On the importance of kin relations to Canadian women and men, in: Ethnology and Sociobiology, 17, S. 289-297 Savin-Williams, R. C.; Esterberg, K. G. (2000): Lesbian, gay, and bisexual families, in: Demo, D. H.; Allen, K. R.; Fine, M. A. (Hrsg.): Handbook of family diversity, Oxford, S. 197-215 Schelsky, H. (1967): Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart, 5. Aufl., Stuttgart Schenk, M. (1984): Soziale Netzwerke und Kommunikation, Tübingen Scheuch, E. K.; Sussman, M. B. (1970): Gesellschaftliche Modernität und Modernität der Familie, in: Lüschen G.; Lupri E. (Hrsg.): Soziologie der Familie, Opladen, Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 14, S. 239-253 Schimank, U.; Volkmann, U. (1999): Gesellschaftliche Differenzierung, Bielefeld Schlumbohm, J. (1994): Lebensläufe, Familien, Höfe, Göttingen Schneekloth, U.; Müller, U. (2000): Wirkungen der Pflegeversicherung. Forschungsprojekt im Auftrag des Bundesministeriums für Gesundheit, München Schneider, A. (1970): Expressive Verkehrskreise: Eine Untersuchung zu freundschaftlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen, in: Lüschen G.; Lupri E. (Hrsg.): Soziologie der Familie, Opladen, Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 14, S. 443-472 Schneider, D. M. (1980): American kinship. A cultural account, 2. Aufl., New Jersey Schneider, D. M. (1984): A critique of the study of kinship, Michigan Schneider, D. M.; Homans, G. (1955): Kinship terminology and the American kinship system, in: American Anthropologist, 57, S. 1194-1208 Schneider, N. F.; Tölke, A.; Nauck, B. (1995): Familie im gesellschaftlichen Umbruch –nachholende oder divergierende Modernisierung, in: Nauck, B.; Schneider, N. F.; Tölke, A. (Hrsg.): Familie und Lebensverlauf im gesellschaftlichen Umbruch, Stuttgart, S. 1-25 Scholz, E.; Harkness, J.; Klein, S. (2003): ISSP 2001 Germany. Social Networks II: Social relations and support systems. ZUMA report on the German study. ZUMA Methodenbericht 16/2003, Mannheim Schubert, H. J. (1990): Mitglieder der erweiterten Familie in persönlichen Hilfenetzen – Ergebnisse einer egozentrierten Netzwerkanalyse, in: Zeitschrift für Familienforschung, 2, S. 176-210 Schulz, R. (1995): Soziale Netzwerke von Frauen im mittleren Alter, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft, 20, S. 247-270 Schulz, H.-J.; Tyrell, H.; Künzler, J. (1989): Vom Strukturfunktionalismus zur Systemtheorie der Familie, in: Nave-Herz, R.; Markefka, M. (Hrsg.): Handbuch der Familien- und Jugendforschung, Bd. 1: Familienforschung, Neuwied/Frankfurt a.M., S. 31-43
316
Literaturverzeichnis
Schuster, P.; Stichweh, R.; Schmidt, J.; Trillmich, F.; Guichard, M.; Schlee, G. (2003): Freundschaft und Verwandtschaft als Gegenstand interdisziplinärer Forschung, in: Sozialer Sinn, 1, S. 3-20 Schütze, Y. (1989): Geschwisterbeziehungen, in: Nave-Herz, R.; Markefka, M. (Hrsg.): Handbuch der Familien- und Jugendforschung, Bd. 1: Familienforschung, Neuwied/Frankfurt a.M., S. 311-324 Schütze, Y.; Wagner, M. (1998): Verwandtschaft – Begriff und Tendenzen der Forschung, in: Wagner, M.; Schütze, Y. (Hrsg.): Verwandtschaft. Sozialwissenschaftliche Beiträge zu einem vernachlässigten Thema, Stuttgart, S. 8-16 Schwägler, G. (1970): Soziologie der Familie. Ursprung und Entwicklung, Tübingen Segalen, M. (1990): Die Familie. Geschichte, Soziologie, Anthropologie. Frankfurt a.M./New York Sennett, R. (1986): Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a.M. Shanas, E. (1973): Family-kin networks and aging in cross-cultural perspective, in: Journal of Marriage and the Family, 35, S. 505-511 Shanas, E. (1979): Social myth as hypothesis: The case of family relations of old people, in: The Gerontologist, 19, S. 3-9 Shanas, E.; Streib, G. F. (1965) (Hrsg.): Social structure and the family: Generational relations, New Jersey Silverstein, M.; Bengtson, V. L. (1997): Intergenerational solidarity and the structure of adult childparent relationships in American families, in: American Journal of Sociology, 103, S. 429-460 Silverstein, M.; Lawton, L.; Bengtson, V. L. (1994): Types of relations between parents and adult children, in: Bengtson, V. L.; Harootyan, R. B. (Hrsg.): Hidden connections in American society, New York, S. 43-79 und S. 252-264 (Anhang zu Kapitel 3) Simmel, G. (1968 [1908]): Soziologie. Untersuchung über die Formen der Vergesellschaftung, 5. Aufl., Berlin Simon, H. A. (1972): Theories of bounded rationality, in: McGuire, C. B.; Radner, R. (Hrsg.): Decisions und organizations. A volume in honor of Jacob Marschak, Amsterdam/London, S. 161-176 Simon, H. A. (1993): Homo rationalis. Die Vernunft im menschlichen Leben, Frankfurt a.M./New York Soldo, B.; Lauriat, P. (1976): Living arrangements among the elderly in the United States: A loglinear approach, in: Journal of Comparative Family Studies, 7, S. 351-366 Spanier, G.; Hanson, S. (1981): The role of extended kin in adjustment to marital separation, in: Journal of Divorce, 5, S. 34-48 Spicer, J. W.; Hampe, S. G. D. (1975): Kinship interaction after divorce, in: Journal of Marriage and the Family, 37, S. 113-119 Srubar, I. (1991): War der reale Sozialismus modern? Versuch einer strukturellen Bestimmung, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 43, S. 415-432 Srubar, I. (1992): Grenzen des „Rational Choice-Ansatzes“, in: Zeitschrift für Soziologie, 21, S. 157-165 Stacey, J. (1991): Zurück zur postmodernen Familie. Geschlechterverhältnisse, Verwandtschaft und soziale Schicht im Silicon Valley, in: Soziale Welt, 42, S. 300-322 Stacey, J. (1993): Good riddance to the family. A response to David Popenoe, in: Journal of Marriage and the Family, 55, S. 545-547 Stack, C. B. (1972): Black kindreds: Parenthood and personal kindreds among urban Blacks, in: Journal of Comparative Family Studies, 3, S. 194-206 Stack, C. B. (1974): All our kin: Strategies for survival in a Black community, New York Strohmeier, K. P.; Schultz, A. (2005): Familienforschung für die Familienpolitik. Wandel der Familie und sozialer Wandel als politische Herausforderungen, Bochum Stryker, S. (1970): Die Theorie des Symbolischen Interaktionismus: Eine Darstellung und einige Vorschläge für die vergleichende Familienforschung, in: Lüschen G.; Lupri E. (Hrsg.): Soziologie der Familie, Opladen, Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 14, S. 49-67 Stuckert, R. P. (1963): Occupational mobility and family relationships, in: Social Forces, 41, S. 301307
Literaturverzeichnis
317
Sussman, M. B. (1953): The help pattern in the middle class family, in: American Sociological Review, 18, S. 22-28 Sussman, M. B. (1956): The isolated nuclear family: Fact or fiction?, in: Social Problems, 6, S. 333-340 Sussman, M. B. (1965): Relationships of adult children with their parents in the United States, in: Shanas, E.; Streib, G. F. (Hrsg.): Social structure and the family: Generational relations, New Jersey, S. 62-92 Sussman, M. B.; Burchinal, L. (1962): Kin family network: Unheralded structure in current conceptualizations of family functioning, in: Marriage and Family Living, 24, S. 231-240 Sweetser, D. A. (1963): Asymmetry in intergenerational family relationships, in: Social Forces, 41, S. 346-352 Sweetser, D. A. (1964): Mother-daughter ties between generations in industrial societies, in: Family Process, 3, S. 332-343 Sweetser, D. A. (1966): The effect of industrialization on intergenerational solidarity, in: Rural Sociology, 31, S. 156-170 Szydlik, M. (2000): Lebenslange Solidarität? Generationenbeziehungen zwischen erwachsenen Kindern und Eltern, Opladen Szydlik, M. (2003): Soziale Sicherung durch Familiensolidarität, in: Feldhaus, M.; Logemann, N.; Schlegel, M. (Hrsg.): Blickrichtung Familie. Vielfalt eines Forschungsgegenstandes, Würzburg, S. 33-49 Taylor, R. J. (1985): The extended family as a source of support to elderly Blacks, in: The Gerontologist, 25, S. 488-495 Tenbruck, F. H. (1964): Freundschaft. Ein Beitrag zur Soziologie der persönlichen Beziehungen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 16, S. 431-456 Tesch-Römer, C.; Wurm, S.; Hoff, A.; Engstler, H. (2002): Die zweite Welle des Alterssurveys. Erhebungsdesign und Instrumente, Deutsches Zentrum für Altersfragen, Diskussionspapier Nr. 35, Berlin Tesch-Römer, C.; Motel-Klingebiel, A.; Kontratowitz, H.-J. (2004): Die Bedeutung der Familie für die Lebensqualität alter Menschen im Gesellschafts- und Kulturvergleich, in: Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie, 35, S. 335-342 Thibaut, J.; Kelley, H. (1959): The social psychology of groups, New York Tönnies, F. (1959): Gemeinschaft und Gesellschaft, in: Vierkandt, A. (Hrsg.): Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart, S. 180-191 Tönnies, F. (1979 [1887]): Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt Troll, L. E. (1971): The family of later life: A decade review, in: Journal of Marriage and the Family, 33, S. 263-290 Troll, L. E. (1993): Strukturen und Funktionen des erweiterten Familienbandes in Amerika, in: Lüscher, K.; Schultheis, F. (Hrsg.): Generationenbeziehungen in »postmodernen« Gesellschaften, Konstanz, S. 143-156 Troll, L. E.; Bengtson, V. L. (1979): Generations in the family, in: Burr, W. R.; Hill, R.; Nye, F. I.; Reiss, I. L. (Hrsg.): Contemporary theories about the family. Vol. 1, New York/London, S. 127-161 Trommsdorff, G. (1995): Identitätsprozesse im kulturellen Kontext und im sozialen Wandel, in: Sahner, H. (Hrsg.): Transformationsprozesse in Deutschland, Opladen, S. 117-148 Trost, J. (1990): Do we mean the same by the concept of family?, in: Communication Research, 17, S. 431-443 Turner, C. (1969): Family and kinship in modern Britain, London Tyrell, H. (1976): Probleme einer Theorie der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung der privatisierten modernen Kleinfamilie, in: Zeitschrift für Soziologie, 5, S. 393-417 Tyrell, H. (1978): Die Familie als ”Urinstitution“: Neuere spekulative Überlegungen zu einer alten Frage, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 30, S. 611-651
318
Literaturverzeichnis
Tyrell, H. (1979): Familie und gesellschaftliche Differenzierung, in: Pross, H. (Hrsg.): Familie wohin? Leistungen, Leistungsdefizite und Leistungswandlungen der Familien in hochindustrialisierten Gesellschaften, Reinbek, S. 13-77 Uhlenberg, P. (1996a): Mortality decline in the twentieth century and supply of kin over the life course, in: The Gerontologist, 36, S. 681-685 Uhlenberg, P. (1996b): Mutual attraction: Demography and life-course analysis, in: The Gerontologist, 36, S. 226-229 Umberson, D. (1992): Relationships between adult children and their parents: Psychological consequences for both generations, in: Journal of Marriage and the Family, 54, 664-674 Urban, D.; Mayerl, J. (2006): Regressionsanalyse: Theorie, Technik und Anwendung, 2. Aufl., Wiesbaden Uttal, L. (1999): Using kin for child care: Embedment in the socioeconomic networks of extended families, in: Journal of Marriage and the Family, 61, S. 845-857 van der Poel, M. (1993): Personal networks. A rational-choice explanation of their size and composition, Lisse Vaskovics, L. A. (1997): Generationenbeziehungen: Junge Erwachsene und ihre Eltern, in: Liebbau, E. (Hrsg.): Das Generationenverhältnis. Über das Zusammenleben in Familie und Gesellschaft, Weinheim/München, S. 141-160 Vaskovics, L. A.; Rupp, M. (1995): Partnerschaftskarrieren. Entwicklungspfade nichtehelicher Lebensgemeinschaften, Opladen Vaskovics, L. A.; Rupp, M.; Hofmann, B. (1997): Lebensverläufe in der Moderne: Nichteheliche Lebensgemeinschaften. Eine soziologische Längsschnittstudie, Opladen Verbrugge, L. M. (1977): The structure of adult friendship choices, in: Social Forces, 56, S. 576-597 Verbrugge, L. M. (1979): Multiplexity in adult friendships, in: Social Forces, 57, S. 1286-1309 Voland, E. (2000): Grundriss der Soziobiologie, 2. Aufl., Heidelberg/Berlin Voland, E.; Paul, A. (1998): Vom „egoistischen Gen“ zur Familiensolidarität – Die soziobiologische Perspektive von Verwandtschaft, in: Wagner, M.; Schütze, Y. (Hrsg.): Verwandtschaft. Sozialwissenschaftliche Beiträge zu einem vernachlässigten Thema, Stuttgart, S. 35-58 Völker, B.; Flap, H. (1997): The comrades´ belief: Intended and unintended consequences of communism for neighbourhood relations in the former GDR, in: European Sociological Review, 13, S. 241-265 Vowinckel, G. (1991): HOMO SAPIENS SOCIOLOGICUS oder: Der Egoismus der Gene und die List der Kultur, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 43, S. 520-541 Vowinckel, G. (1995): Verwandtschaft, Freundschaft und die Gesellschaft der Fremden: Grundlagen menschlichen Zusammenlebens, Darmstadt Vowinckel, G. (1997): Verwandtschaft und was Kultur daraus macht. Das Verhältnis biologischer und soziologischer Aspekte, in: Meleghy, T.; Niedenzu, H.-J.; Preglau, M.; Traxler, F.; Schmeikal, B. (Hrsg.): Soziologie im Konzert der Wissenschaften. Zur Identität einer Disziplin, Opladen, S. 32-42 Wagner, M. (2001): Soziale Differenzierung, Gattenfamilie und Ehesolidarität. Zur Familiensoziologie Emile Durkheims, in: Huinink, J.; Strohmeier, K. P.; Wagner, M. (Hrsg.): Solidarität in Partnerschaft und Ehe. Zum Stand familiensoziologischer Theoriebildung, Würzburg, S. 19-42 Wagner, M. (2002): Familie und soziales Netzwerk, in: Nave-Herz, R. (Hrsg.): Kontinuität und Wandel der Familie in Deutschland. Eine zeitgeschichtliche Analyse, Stuttgart, S. 227-251 Wagner, M.; Schütze, Y. (1998) (Hrsg.): Verwandtschaft. Sozialwissenschaftliche Beiträge zu einem vernachlässigten Thema, Stuttgart Wagner, M.; Schütze, Y.; Lange, F. R. (1996): Soziale Beziehungen alter Menschen, in: Mayer, K. U.; Baltes, P. B. (Hrsg.): Die Berliner Altersstudie, Berlin, S. 31-319 Waite, L.; Harrison, S. (1992): Keeping in touch: How women in mid-life allocate social contacts among kith and kin, in: Social Forces, 70, S. 637-655
Literaturverzeichnis
319
Walker, A. J.; Allen, K. R.; Connidis, I. A. (2005): Theorizing and studying sibling ties in adulthood, in: Bengtson, V. L.; Acock, A. C.; Allen, K. R.; Dilworth-Anderson, P.; Klein, D. M. (Hrsg): Sourcebook of family theory and research, Thousand Oaks, S. 167-190 Walster, E.; Berscheid, E.; Walster G. W. (1973): New directions in equity research, in: Journal of Personality and Social Psychology, 25, S. 151-176 Walster, E.; Utne, M. K.; Traupman, J. (1977): Equity-Theorie und intime Sozialbeziehungen, in: Mikula, G.; Stroebe, W. (Hrsg.): Sympathie, Freundschaft, Ehe. Psychologische Grundlagen zwischenmenschlicher Beziehungen, Bern u.a., S. 193-220 Walter, W. (1993): Unterstützungsnetzwerke und Generationenbeziehungen im Wohlfahrtsstaat, in: Lüscher, K.; Schultheis, F. (Hrsg.): Generationenbeziehungen in »postmodernen« Gesellschaften, Konstanz, S. 331-354 Weber, M. (1988 [1905]): Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Weber, M.: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I, Tübingen, S. 17-236 Wegener, B. (1987): Vom Nutzen entfernter Bekannter, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 39, S. 278-302 Wellman, B. (1979): The community question: The intimate networks of East Yorkers, in: American Journal of Sociology, 84, S. 1201-1231 Wellman, B.; Leighton, B. (1979): Networks, neighborhoods, and communities: Approaches to the study of the community question, in: Urban Affairs Quarterly, 14, S. 363-390 Wellman, B; Wortley, S. (1990): Different strokes from different folks: Community ties and social support, in: American Journal of Sociology, 96, S. 558-588 Wenger, G. C.; Burholt, V. (2001): Differences over time in older people’s relationships with children, grandchildren, nieces and nephews in rural North Wales, in: Ageing and Society, 21, S. 567-590 Weston, K. (1991): Families we choose. Lesbians, gays, kinship, New York White, L. (2001): Sibling relationships over the life course: A panel analysis, in: Journal of Marriage and the Family, 63, S. 555-568 Willmott, P.; Young, M. (1960): Family and class in a London suburb, London Wilk, L. (1993): Großeltern und Enkelkinder, in: Lüscher, K.; Schultheis, F. (Hrsg.): Generationenbeziehungen in »postmodernen« Gesellschaften, Konstanz, S. 75-93 Wilson, E. O. (1980): Sociobiology, Cambridge/London Wilson, T. P. (1973): Theorien der Interaktion und Modelle soziologischer Erklärung, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen (Hrsg.): Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit, Bd. 1: Symbolischer Interaktionismus und Ethnomethodologie, Reinbek, S. 54-79 Winch, R. F. (1977): Family organization: A quest for determinants, New York Winch, R. F.; Greer, S. (1968): Urbanism, ethnicity, and extended familism, in: Journal of Marriage and the Family, 30, S. 40-45 Wippler, R. (1990): Cultural resources and participation in high cultures, in: Hechter, M.; Opp, K.-D.; Wippler, R. (Hrsg.): Social institutions. Their emergence, maintenance and effects, Berlin/New York, S. 187-204 Wippler, R.; Lindenberg, S. (1987): Collective phenomena and Rational Choice, in: Alexander, J. C.; Giesen, B.; Münch, R.; Smelser, N. J. (Hrsg.): The Micro-Macro-Link, Berkeley/Los Angeles/London, S. 135-152 Wirth, L. (1938): Urbanism as a way of life, in: American Journal of Sociology, 44, S. 1-24 Wolf, C. (2004): Egozentrierte Netzwerke. Erhebungsverfahren und Datenqualität, in: Diekmann, A. (Hrsg.): Methoden der Sozialforschung, Opladen, Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Bd. 44, S. 244-273 Wolf, D. A. (1994): The elderly and their kin. Patterns of availability and access, in: Martin, L. G.; Preston, S. H. (Hrsg.): Demography of aging, Washington D.C., S. 146-194 Wolf, D. A.; Freedman, V.; Soldo, B. (1997): The division of family labor: Care for elderly parents, in: Journal of Gerontology, 52B, S. 102-109 Wurzbacher, G. (1969): Leitbilder gegenwärtigen deutschen Familienlebens, 4. Aufl., Stuttgart
320
Literaturverzeichnis
Yanagisako, S. J.; Collier, J. F. (1987): Toward a unified analysis of gender and kinship, in: Collier, J. F.; Yanagisako, S. J. (Hrsg.): Gender and kinship. Essays toward a unified analysis, Stanford, S. 14-50 Young, M.; Geertz, H. (1961): Old age in London and San Francisco: Some families compares, in: British Journal of Sociology, 12, S. 124-141 Young, M.; Willmott, P. (1957): Family and kinship in East London, London Yorburg, B. (1975): The nuclear and the extended family: An area of conceptual confusion, in: Journal of Comparative Family Studies, 6, S. 5-14 Yorburg, B. (1983): Families and societies. Survival or extinction, New York Zeiher, H. (1998): Kinder und ihre Verwandten, in: Wagner, M.; Schütze, Y. (Hrsg.): Verwandtschaft. Sozialwissenschaftliche Beiträge zu einem vernachlässigten Thema, Stuttgart, S. 127-145 Zelditsch, M. (1964): Cross-cultural analysis of family structure, in: Christensen, H. T. (Hrsg.): Handbook of marriage and family, Chicago, S. 462-500