Vorstoß zum Kometen von Ronald M. Hahn
Nr. 80 Februar 2012 Als Warstein den von einer dicken Schneeschicht bedeckten M...
9 downloads
391 Views
379KB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Vorstoß zum Kometen von Ronald M. Hahn
Nr. 80 Februar 2012 Als Warstein den von einer dicken Schneeschicht bedeckten Mercedes Maybach in die Hauptstraße einbiegen ließ, wurde ihm klar, dass in diesem Ort etwas nicht stimmte. Schon die Außenbezirke von Jakutsk waren ihm merkwürdig leer erschienen. Doch hier, wo sich um diese Zeit das pralle Leben hätte abspielen müssen, sah es nicht anders aus: Die verschneite Straße war frei von Autos. Er sah Parkplätze ohne Zahl. Die Schaufenster der Geschäfte schauten finster und ohne Licht in die Welt hinaus. Die Straßenlaternen waren erloschen, die Ampeln wirkten wie dreiäugig vor sich hin glotzende Wesen. Jakutsk war eine Geisterstadt.
WAS BISHER GESCHAH Am 8. Februar 2012 trifft der Komet »Christopher-Floyd« die Erde. Die Folgen sind verheerend. Die Erdachse verschiebt sich, weite Teile Russlands und Chinas werden ausradiert, ein Leichentuch aus Staub legt sich um den Planeten … für Jahrhunderte. Als die Eiszeit endet, hat sich das Antlitz der Erde gewandelt: Mutationen bevölkern die Landet und die Menschheit ist unter dem Einfluss grüner Kristalle aus dem Kometen auf rätselhafte Weise degeneriert. In dieses Szenario verschlägt es den US-Piloten Matthew Drax, dessen Jet-Staffel beim Kometeneinschlag durch einen Zeitriss ins Jahr 2516 gerät. Beim Absturz wird er von seinen Kameraden getrennt und von Barbaren gerettet, die ihn als Gott »Maddrax« verehren. Zusammen mit der telepathisch begabten Kriegerin Aruula wandert er über eine dunkle, postapokalyptische Erde … Beim Wettlauf zum Kratersee, wo das Geheimnis um die Veränderungen auf der Erde verborgen liegt, haben Matt Drax, Aruula und der Cyborg Aiko, sowie Mr. Black und Miss Hardy von den Running Men Konkurrenz: General Crows Tochter Lynne leitet eine Weltrat-Expedition, begleitet vom irren Professor Dr. Jacob Smythe. Bevor sie das russische Festland betreten, fordert Matthew über die Hydriten, eine im Verborgenen lebende Untersee-Rasse, Unterstützung aus der Londoner Community an, wo sich Matts alter Kamerad Dave McKenzie und der Neo-Barbar Rulfan mit seinem Lupa auf den Weg machen. Geführt werden sie vom Hydriten Quart'ol, der Matthew einst als »Seelenträger« benutzte und ihm seitdem verbunden ist, und dessen Assistenten Mer'ol. Matt & Co. begegnet unterdessen dem russischen Techno Boris, der von einer Kristallfestung berichtet - und von einem Panzer, der dort zurückgelassen wurde. Beide Gruppen haben erste Kontakte mit fliegenden Rochen, die offenbar den Kratersee bewachen. Dann trifft die Expedition auf Jed Stuart, Majela Ncombe und den Barbaren Pieroo, drei Mitglieder des WCA-Trupps, die sich nach einer Revolte abgesetzt haben und sich nun Matt Drax anschließen. Schließlich kommt es zur Begegnung mit Smythe, der sich an seinem Todfeind rächen will. Er hetzt das Volk der Geistmeister auf Matt, doch die Mutanten erkennen die böse Absicht und wenden sich gegen Smythe, der mit seinen Leuten und Majela als Geisel zu den Schwertkriegern flieht. Das hätte er besser nicht getan, denn dieses Volk lebt nach strengen Regeln, für deren Nichtbeachtung es drastische Strafen gibt. Nur Matt und Stuart ist es zu verdanken, dass sie wieder freikommen. Die WCA-Leute und ein gedemütigter Jacob Smythe setzen sich ab, während Matt & Co. am Treffpunkt die Kristallfestung entdecken. Dave, Rulfan und die beiden Hydriten sind schon dort, ebenso der ARET-Panzer - und ein einzelner Mutant, der sich als Feuerteufel entpuppt. Rochen tauchen auf und töten ihn. Die Gruppe beschließt hier eine Basis zu errichten …
3
Warstein lenkte den Maybach an den Straßenrand und stoppte vor einem dreistöckigen Hotel. Die Leuchtreklame war abgeschaltet. Kyrillische Buchstaben verkündeten, dass der Laden »Odessa« hieß. Na prima. Nachdem das Brummen des Motors erstorben war, blieb Warstein hinter dem Steuer sitzen und schüttelte sich. Ihm war saukalt. Die Heizung hatte vor zwei Stunden den Geist aufgegeben. Er hatte die Karre, ein Modell von 2004, in Warschau gekauft. Sie hatte ihm während der langen Fahrt nach Sibirien treu gedient, aber jetzt war der Ofen offenbar aus. Warstein freute sich, endlich aussteigen und sich die Beine vertreten zu können. Außerdem sehnte sich nach einem ordentlichen Frühstück mit Kaffee, nach einer heißen Dusche und einem Bett, in dem er die nächsten vierundzwanzig Stunden verbringen konnte. Er nahm den kleinen Schweinslederkoffer vom Rücksitz, überprüfte den Sitz seiner Beretta im Schulterholster und stieg aus. Kalter Wind wehte ihm ins Gesicht, als er zum Eingang des Hotels schritt. Der Schnee knirschte unter seinen Füßen. Er hatte die Tür noch nicht erreicht, als rechts von ihm ein Surren laut wurde. Eine Garagentür, offenbar fernbedient, glitt in die Höhe. Dann fuhr ein schneefreier BMW über den Bürgersteig auf die stille Straße hinaus. Am Steuer saß ein knochiger Mann mit einem dicken Schnauzbart. Er trug eine Pelzkappe, und auf dem Rücksitz waren mehrere Koffer zu sehen. Der Wagen wirkte auch sonst schwer beladen. Der Schnauzbärtige zwinkerte Warstein zu, dann gab er Gas. Der Wa4
gen fuhr davon und bog fünfzig Meter weiter links ab. Die Glastür des Odessa war gut geölt. Warstein trat ein. Die Empfangshalle war unbeleuchtet, fast finster. Es roch nach Mottenkugeln und Staub. Außerdem war der Raum nur spärlich beheizt. Aber ein Mann auf der Flucht konnte nicht wählerisch sein. Warstein seufzte. Die Rezeption war nicht besetzt. Er wurde nicht erwartet. Dies erstaunte ihn, dem er hatte die Reservierung schon vor einer Woche über ein Internet-Cafe in Wiljussk vorgenommen. Warstein stellte den Koffer ab, peilte die Klingel auf ,dem Tresen an und betätigte sie. Klingeling. Nichts rührte sich. Immer cool bleiben, Mann. Warstein lehnte sich mit dem Rücken an den Empfangstresen, schaute in alle Richtungen und lauschte konzentriert. Irgendwo, vermutlich in fernen Landen, hörte er jemanden »Ferry Cross the Mersey« singen. Mach dir nichts vor, dachte er. Du bist hier im tiefsten Sibirien, dreitausendsiebenhundert Kilometer von deinem Ziel entfernt. Hier am kalten Arsch der Welt gab es keinen Rundfunksender, der Songs aus dem 20. Jahrhundert spielte. Oder? Erneut betätigte Warstein die Klingel. Der Erfolg war der gleiche. Kein Schwanz ließ sich blicken. Schließlich packte er den Koffer und warf einen Blick auf die Türen, die von der Empfangshalle abgingen. Seine Sprachkenntnisse waren für einen Mann seines Standes eigentlich nicht übel, aber die Umsetzung kyrillischer Lettern hatte
ihm schon immer Schwierigkeiten gemacht. Er entzifferte mit Mühe und Not eine Buchstabenkombination, die seiner Meinung nach »Restaurant« bedeutete, und setzte sich in Bewegung. Kurz darauf fand er sich in einem großen, menschenleeren Raum wieder. Sein Blick schweifte über allerlei Tisch und Stühle. Dann sah er auf der rechten Seite eine lange hölzerne Theke. Dahinter jede Menge blitzblank polierte Spiegel. Sie reflektierten einen stoppelbärtigen, mittelblonden, leicht angegrauten Burschen mit kantigem Gesicht, dessen blaue Augen den Eindruck erweckten, als hätte er das eine oder andere Buch gelesen. Seine schwarze Lederjacke mit Pelzkragen war über dem Herzen leicht ausgebeult. Ralph Warstein, dachte er. Wie er leibt und hoffentlich noch lange lebt. Warstein schaute sich um. Das Restaurant war verlassen. Das heißt, es war fast verlassen. Am Ende der Theke saß eine flachbrüstige dunkelhaarige Frau mit roten Lippen auf einem Barhocker. Ihre leicht schräg gestellten Augen wiesen auf tatarische Abstammung hin. Vor der Frau stand eine angebrochene Wodkaflasche. Daneben ein Glas, zu zwei Dritteln geleert. Sie rauchte eine mörderisch qualmende Zigarette. Auf dem Hocker neben ihr lagen ein Mantel und eine prall gefüllte Handtasche. Sie blätterte in einer Zeitung. »Hallo, gute Frau« , sagte Warstein auf Englisch. »Haben Sie zufällig ein Zimmer frei?« Die Frau hob den Kopf und schaute
ihn an. Ihre Augen waren schwarz. In ihren Pupillen glitzerte der Schalk. Sie nahm Warstein in Augenschein, dann glitt sie von ihrem Hocker. Sie war klein und zierlich. Warstein schätzte sie auf einsfünfundsechzig. Ihr schwarzes Haar war schulterlang; sie hatte eine Frisur wie Prinz Eisenherz. Ihre Taille wirkte zerbrechlich. Ihr grauer Rock war für Sibirien und diese Jahreszeit verdammt kurz und enthüllte zwei von dunklem Nylon verhüllte Knie. Die Absätze ihrer Schuhe waren hoch und fast bleistiftdünn. Die Frau wirkte, als sei sie zu einer konservativen Tanzveranstaltung unterwegs. »Wollen Sie mich verscheißern?« Ihre englische Grammatik war perfekt, aber ihre Aussprache verriet die Einheimische. Ihre Stimme war so rau und erotisierend, dass sich in Warsteins Hose zum ersten Mal seit Wochen etwas tat. Er stellte den Koffer vor der Theke ab und ging auf die Frau zu. Sie war Anfang dreißig. Sie stand mit der Zigarette zwischen den roten Lippen da und begutachtete ihn. Sie war genau der Typ, den er gern näher kennen gelernt hätte. Aber er war müde und auf der Flucht und konnte sich jetzt kein Abenteuer leisten. »Glauben Sie, ich arbeite hier?« »Jetzt nicht mehr.« Warstein löste seinen Blick von ihr und schaute sich um. Neben der Theke stand eine antike Wurlitzer an der Wand. »Ich trink mir nur einen« , sagte die Unbekannte, ohne Warstein aus den Augen zu lassen. »Wer weiß, wann ich wieder dazu komme.« Warstein nickte. Sein Blick wanderte 5
von der Wurlitzer zu der Wodkaflasche auf der Theke und dann wieder zurück. »Wollen Sie auch einen?« »Offen gesagt, ein Frühstück wäre mir lieber.« Warstein ging auf die Wurlitzer zu und schaute sich an, welche Scheiben sie enthielt. Die Titel der Platten prangten ihm in lateinischer Schrift entgegen. Er stellte fest, dass er sich nicht getäuscht hatte. »Ferry Cross the Mersey« war enthalten. Es versetzte ihm fast einen Schock. Die Kiste war mit allen Songs bestückt, die ihn an seine Jugend erinnerten. Und das ihm tiefsten Sibirien. Wie bizarr! »Mögen Sie alte Musik?« , fragte die Frau. Warstein drehte sich zu ihr um. Dann nickte er, kehrte an die Theke zurück und beäugte die Wodkaflasche. Ihm war noch immer kalt. Er hatte vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen. »Frühstück wird's wohl nicht geben« , sagte die Frau. »Es sei denn, Sie machen sich selbst was.« Sie deutete zur Straße hinaus. »Der Hotelier ist weg. Sie hätten ihm eigentlich begegnen müssen.« Der Mann mit dem BMW. »Wo ist er hin?« , fragte Warstein und trat hinter die Theke, sodass er der Frau nun gegenüber stand. Er nahm ein leeres Glas, kippte die Wodkaflasche und schenkte sich ein. »Sah nicht so aus als wäre er mal eben weg, um 'ne Besorgung zu machen.« »Er ist abgehauen, wie alle in der Stadt.« Die Frau zupfte sich an der Nase. »Und ich bin auch nicht mehr lange hier. Ich nehm den letzten Zug nach Tiksi.« 6
Tiksi war eine Hafenstadt. Sie lag im Norden, dort wo die Lena in Form eines Deltas in die Laptewsee mündete. Bis dahin waren es - Luftlinie - sechshundert Kilometer. Warstein trank einen Schluck. Das Gesöff war teuflisch scharf. Er musste sich schütteln. »Gibt's da irgendwas umsonst?« Die Frau lächelte, und zwar ziemlich schräg. »Glaub ich kaum. Ich nehm an, sie wollen erst mal so weit wie möglich aus dem Einschlagsbereich raus.« »Einschlagsbereich?« Warstein zwinkerte. Das russische Feuerwasser wärmte ihn von innen, doch er spürte nun die mörderische Müdigkeit seiner Knochen. »Was soll das heißen?« Die Frau schwang sich wieder auf den Hocker. Sie nahm ihr Glas und kippte einen großen Schluck. Dann deutete sie auf die Zeitung, die zwischen ihnen auf der Theke lag. Warstein drehte sie zu sich herum, doch die kyrillischen Buchstaben der Schlagzeile verschwammen vor seinen Augen. Er brauchte eine Weile, bis er das Wort »Komet« erkannte und begriff, dass die schwarzhaarige Unbekannte offenbar den Brocken meinte, den zwei schottische Hobby-Astronomen vor ein paar Monaten entdeckt hatten. Warstein hatte die Sache nicht verfolgt, da die Randale-Sender und Radaublätter ihm seit seiner Geburt mit abstrusen Meldungen Angst einzujagen versuchten. Bisher hatte sich jedes angekündigte Ende der Welt als Schauermär entpuppt. Der ganze Kram diente nur zur Auflagensteigerung und zur Erhöhung der Sehbeteiligung privater Fernsehsender. Außerdem wusste Warstein, dass seit
Anbeginn der Zeiten täglich Hunderte von Gesteinsbrocken aus dem Weltraum zur Erde niederprasselten. Sie verglühten aufgrund der Reibungshitze der Atmosphäre. Was war an diesem »Christopher-Floyd«-Steinchen so Besonderes, dass sogar die Bewohner von Jakutsk die Flucht ergriffen? »Sie wissen überhaupt nicht, wovon ich rede, was?« , sagte die Frau. »Sie haben nicht die geringste Ahnung.« Warstein zuckte die Achseln. Wenn er ehrlich war, hatte ihn Käse dieser Art noch nie interessiert. Die Welt war voller Sektierer, die sich alle naselang von den Medien vor die Kamera zerren ließen und den Untergang der Menschheit prophezeiten. Seit seiner Kindheit hatte er mindestens zehn Weltuntergänge überlebt. Auch dieser würde sich zweifellos als gigantischer Schwindel entpuppen. Wenn der Steinbrocken wirklich gefährlich war, würden die Amerikaner ihn mit ihrer überragenden Technik plattmachen. Er hatte mal einen Film mit Bruce Willis gesehen … »Glauben Sie etwa an diesen Scheiß?« Warstein genehmigte sich noch ein Schlückchen. Ihm wurde jetzt richtig heiß, aber er fühlte sich sauwohl dabei. »Glauben Sie wirklich, so 'n Steinchen kann die Menschheit auslöschen?« Ihm war nach Kichern zumute. »Steinchen?« Die Frau schaute ihn an, als sei er nicht ganz bei Trost. »Steinchen?« Sie schlug mit der flachen Hand auf die Zeitung. »Das Steinchen ist so groß, dass der Staub, den es aufwirbelt, wenn es auf Erde fällt, die ganze Welt wie einen Mantel umhüllt.
Die Folge wäre ein nuklearer Winter, der …« »Nuklearer Winter, was?« Warstein schenkte sich nach. Er konnte mit dem Begriff nichts anfangen. Der sibirische Winter genügte ihm schon. »… monate-, wenn nicht jahrelange Finsternis zur Folge hätte. Auf der ganzen Welt würde die Ernte auf den Feldern erfrieren. Das Vieh wird auf der Weide verrecken.« »Glaub ich nicht« , erwiderte Warstein und machte eine abfällige Handbewegung. »Den Wissenschaftlern wird schon was einfallen, um das Ding zu zerblasen. Ich hab da mal einen Film mit Bruce Willis gesehen …« Die Frau starrte ihn an. »Wo haben Sie in den letzten Wochen gesteckt? Im Urwald?« Sie deutete erneut auf die Zeitung. »Das Ding ist kein Steinchen. Es hat einen Durchmesser von acht Kilometern. Die Wissenschaftler sagen, es wäre ein Großer Auslöscher. Er wird neunzig Prozent des Lebens auf der Erde vernichten …« Sie schaute Warstein an, und ihre Augen blitzten. »Und heute Nacht« , fuhr sie fort und hob erneut ihr Glas an die Lippen, »soll er in der Gegend des Baikalsees einschlagen.« Warstein runzelte die Stirn. »Am Baikalsee? Der ist tausendfünfhundert Kilometer von hier entfernt, meine Liebe.« »Alexandra« , sagte die Frau. »Mein Lieber.« »Ralph Warstein. Angenehm.« Warstein deutete eine Verbeugung an. Ah, wie wohlig ihm zumute war. Er hatte nun keinen Hunger mehr. Der Wodka 7
wärmte ihn wunderbar und machte ihn froh wie schon lange nicht mehr.' Als er sich hinter der Theke aufrichtete, wurde sein Blick wie magisch von der Wurlitzer angezogen. Er vergaß den Kometen, trat vor die Theke und baute sich vor der Jukebox auf. Er glaubte nicht, dass ein auf die Erde krachender Stein aus dem All, selbst wenn er acht Kilometer durchmaß, hier etwas bewirken konnte. So ein Quatsch. Na schön, vielleicht würde die Erde ein wenig beben. Dort, wo der Einschlag erfolgte, war bestimmt mehr los. Aber hier? Anderthalbtausend Kilometer entfernt? Nu mach mal keine Pferde scheu. Dann entdeckte Warstein den Song, den er hören wollte. Er fischte die nötigen Kopeken aus der Tasche, steckte sie in den Schlitz und drückte den erforderlichen Knopf. Leise Gitarrenklänge und Flötenmusik erfüllten den Raum. Waiting by the side ofthe road… Er lauschte den sentimentalen, ihn immer wieder ergreifenden Worten, die von einem Säufer erzählten, der nach einer wüsten Kneipenschlägerei auf die Sonne wartete, um zu der einen zurückzukriechen, deren Blick ihm Rettung versprach - wenn er nur an sie glaubte. Oohoohoohoohooh - I keep crawling back to you … Aber angenommen - nur mal angenommen -, es stimmte doch? Angenommen, die Welt ging wirklich unter? Traf es dann auch sie und ihn? War es dann nicht angesagt, Alaska zu vergessen und den letzten Zug nach Tiksi zu nehmen? Warstein seufzte. Sein Hochgefühl nahm plötzlich ab und er fühlte sich unendlich müde. 8
Ja, er war fertig. Die lange Flucht hatte ihn Kraft und Nerven gekostet. Er war den Menschen wochenlang ausgewichen, hatte sich über die abgelegensten Schleichwege voran bewegt. Er hatte allerlei schmutzige Tricks angewandt, um den Leuten zu entwischen, die irgendwie von seinen Ausstiegsplänen erfahren hatten. Klar, sie mussten verhindern, dass er sich abseilte. Er wusste einfach zu viel über ihre schweinischen Geschäfte. Es ging nicht nur um getürkte Bilanzen. Aber wenn die Welt wirklich unterging, wenn all seine Bemühungen für die Katz gewesen waren … Irgendwie bedauerte er es, dass ihn das Schicksal ausgerechnet am Arsch der Welt ereilte. Die Beretta würde ihm dann auch nichts mehr nützen. Warstein seufzte. Sein Blick fiel auf Alexandra. Es war wirklich bedauerlich, dass er ihr erst jetzt begegnet war. Das nächste Lied war »Wake Up Time« . Pianoklänge. Sie gingen ihm durch und durch. Alexandra glitt von ihrem Hocker, nahm Warstein das Glas aus der Hand, stellte es auf die Theke und schlang die Arme um seine Taille. Ehe er einen klaren Gedanken fassen konnte, wiegten sie sich in dem menschenleeren Restaurant auf der Stelle. Erst jetzt, bei Alexandras unsicheren Schritten spürte er, dass sie ebenso angeschickert war wie er, doch irgendwie fand er es süß, dass sie ausgerechnet bei »You hang out forever and still miss the dance« die Wange an seine Schulter legte und die Augen schloss. Der Wodka ließ ihn so leichtfüßig wie nie durch den Raum schweben, und
zog sie an sich. »A Boy finds a girl« , murmelte Warstein, »… to help him to shoulder the pain in this world …« Alexandra schaute zu ihm auf, und in einem Anfall von Sentimentalität küsste er sie. Nur mal eben so. Ganz sanft auf die Lippen. Sie wich ihm nicht aus. Als das Lied zu Ende war, hob Warstein Alexandra auf die Arme und trug sie in den ersten Stock, wo er sie in einem leeren Zimmer, dessen Tür offen stand, aufs Bett legte. Sie schloss die Augen und schlief auf der Stelle ein. *
1632, wusste Warstein aus einem Reiseführer, war Jakutsk ein Fort am rechten Ufer der Lena gewesen. Zehn Jahre später hatte man es aus ihm unbekannten Gründen siebzig Kilometer weiter flussaufwärts verlegt: Über Jahrhunderte hinweg war der Ort ein Nest aus bloßen Holzhäusern. Im 19. Jahrhundert hatten die russischen Zaren Jakutsk genutzt, sich Dissidenten vom Hals zu schaffen. Heute verfügte die Stadt über einen Flusshafen, eine Universität und leichte Industrie. Nach der Emigrationswelle, die Sibirien ab 2010 erfasst hatte, war die Einwohnerzahl von 194.000 auf 68.000 gesunken. Doch auch von diesen 68.000 erspähte Warstein keine Seele, als er nach der dringend nötigen Rasur aus dem Fenster des kalten kleinen Badezimmers schaute. Sein müder Blick, der auf die verschneite Straße fiel, erspähte weder Autos noch Menschen. Er hörte nur ein durch Mark und Bein gehendes Pfeifen, wie von einem Zug. Auf der anderen
Seite der Straße warf eine dürre Promenadenmischung mit lautem Scheppern eine Mülltonne um und stürzte sich auf den Inhalt, der sich auf die Fahrbahn ergoss. Der Himmel drohte mit weiterem Schnee. In der Ferne heulte ein Automotor auf. Ihm folgte das Geräusch von Reifen, die auf einem vereisten Untergrund durchdrehten. Einige Leute schienen also noch in der Stadt sein. Vielleicht sollte er den Maybach im Auge behalten … Warstein wischte sich die Rasierseife aus dem Gesicht und öffnete die Tür, die ins Zimmer zurück führte. Dabei sah er zweierlei: Alexandra lag nicht mehr auf dem Bett. Dafür schoss ein dicker, gefährlich aussehender Baseballschläger in der gleichen Sekunde frontal auf seinen Schädel zu. Warstein ging instinktiv in die Knie. Seine Hand zuckte zur Beretta im Schulterholster, doch als seine Hand sich um den Griff krallte, explodierte seine Stirn in mörderischem Schmerz. Die kalte Herrlichkeit des Kosmos tat sich vor ihm auf. Als sein Hintern den Boden berührte und sein Steißbein sich schmerzhaft meldete, bekam Warstein das Schießeisen endlich heraus. Doch schon tauchte im Türrahmen des Badezimmers ein Schatten auf und der Schläger krachte so heftig auf seinen Oberarm, dass die Beretta ihm entfiel. Sie knallte auf den Boden und schlitterte über die schlecht verfugten Fliesen. Warsteins Kopf fuhr hoch. Nun erblickte er die Gestalt, die mit kalter Miene das Sportgerät schwang und schon zum nächsten Hieb ausholte: Alexandra. 9
Warstein stellte sich keine Fragen. Es gehörte zu seinem Berufsbild, die Dinge so zu nehmen, wie sie kamen. Er erkundigte sich nie nach Motiven und Hintergründen. Der Angreifer war identifiziert und musste so schnell wie möglich ausgeschaltet werden. Warstein riss den linken Arm hoch - den rechten würde er irgendwann noch zum Schießen brauchen - und spürte den Aufschlag des harten Holzes. Im gleichen Moment flog sein rechtes Bein hoch. Ein spitzer Schuh traf Alexandra in den Bauch. Sie klappte wie ein Taschenmesser in der Mitte zusammen und stolperte zurück. Warstein sprang mit dröhnendem Schädel und heftig pulsierendem Arm federnd auf. Schon war sein Bein wieder in Aktion und trat zielgerichtet gegen den Arm, der den Schläger hielt. Alexandra schrie auf. Der Schläger flog im hohen Bogen durch das Hotelzimmer und zerschmetterte die Glasscheibe eines Kitschgemäldes, das über dem Bett an der Wand hing. Scherben regneten auf die Tagesdecke. Ohne ihnen Beachtung zu schenken, riss Warstein beide Arme hoch, denn Alexandra war wie ein Gummiball vom. Boden hochgesprungen und nahm eine geduckte Position ein, die ahnen ließ, dass sie Karatekenntnisse hatte. Leben oder Tod, dachte Warstein. Mit dem linken Bein nahm er eine Finte vor, auf die sie hereinfiel. Seine rechte Handkante krachte quer über ihr Gesicht und traf den Raum zwischen ihrer Nasenspitze und ihrer Oberlippe. Alexandra verdrehte die Augen. Dann seufzte sie, fiel nach hinten und landete auf dem Bett. Ihre Beine baumelten zu 10
Boden. Warstein rang heftig nach Atem. Er verharrte drei Sekunden, bis er sicher war, dass sie tatsächlich die Besinnung verloren hatte. Dann eilte er ins Bad zurück und suchte die verlorene Beretta. Ins Zimmer zurückgekehrt, fingen seine Knie an zu schlottern. Ihm wurde übel. Er musste sich zusammenreißen, um nicht auf den abgelatschten Teppich zu kotzen. Obwohl Alexandra reglos auf dem Bett lag, war Warstein nicht darauf aus, sich noch einmal überraschen zu lassen. Er zog sie nach oben, bis ihre ausgestreckten Arme das Messinggestell des Kopfteils berührten, dann zog er die Handschellen aus seiner Lederjacke und fesselte ihren rechten Arm am Gestänge. Schließlich lief er die Treppe hinunter und ins Restaurant. Ihr Mantel und ihre Handtasche lagen noch auf dem Barhocker, neben dem sie gesessen hatte. Warstein filzte das eine wie das andere. Er fand ein Schießeisen jenes Typs, das für die russische Kripo typisch war, einen amtlich aussehenden Ausweis mit ihrem Foto und - dies war die größte Überraschung - eine Scheckkarte der Genfer Bank, bei der auch er ein Konto unterhielt. Es war die Bank, die für seine ehemaligen Auftraggeber Geld wusch. Verdammt, dachte Warstein. Sie ist 'ne Kollegin. Es wunderte ihn eigentlich nicht. Die Organisation war weit verzweigt und hatte auch Mitarbeiter in den Reihen der schlecht bezahlten russischen Polizei. Es hätte ihn eher überrascht, wenn der Verein in Jakutsk keinen Residenten gehabt hätte.
Was sollte er nun tun? Sie umlegen, um seine Spur zu verwischen? Ich bin kein Mörder, dachte er. Ich kille nur im Auftrag. Außerdem lege ich nur Menschen um, die ich nicht kenne. Aber ich muss verduften. So schnell wie möglich … Er ging wieder hinauf. Als er das Zimmer betrat, kam Alexandra gerade zu sich. Sie stöhnte leise und zerrte an der stählernen Fessel. Ihr Blick traf ihn. Er sah blanken Hass und dachte: Vielleicht arbeitet sie für den Laden, aber sie ist keine aus meiner Branche. Hier spielen Gefühle mit, und das darf bei Typen unserer Art nicht sein. »Wer bist du?« Warstein blieb am Fußende des Bettes stehen. »Und was hast du gegen mich?« »Krepier, du Sau!« , fauchte Alexandra. Ihre Augen sprühten Blitze. »Bring mich schon um. Lass mich nicht so lange warten.« »Ich leg niemanden um, nur weil er mich verdroschen hat« , erwiderte Warstein. Er steckte Alexandras Dienstwaffe ein und warf ihre Handtasche aufs Bett. »Ich würd gern hören, was man dir über mich erzählt hat.« Damit ich rauskriege, ob die Lumpen, für die ich bisher gearbeitet habe, etwas über mein Reiseziel wissen. Denn wenn sie es kennen, muss ich mir überlegen, ob ich es nicht ändere. »Verreck!« Warstein setzte sich ans Fußende des Bettes und achtete sorgfältig darauf, nicht in die Reichweite ihrer Beine zu kommen. »Du bist keine von meiner Art« , sagte er. »In dir steckt zu viel Leidenschaft.« Er sah das Zucken ihrer
Gesichtsmuskeln. »Du hast persönliche Motive.« Alexandra schwieg, doch ihre Miene besagte, dass er ins Schwarze getroffen hatte. Warstein wusste, wie seine alten Herren vorgingen, wenn sie einen Neuling abrichteten: Der erste Vertrag erledigt sich immer am leichtesten, wenn man den Kandidaten auf jemanden hetzt, von dem er glaubt, er hätte ihm ein persönliches Leid angetan. Hat er den Vertrag, von blindem Hass dirigiert, zur Zufriedenheit erfüllt, haben die Herren einen in der Hand und richten einen zur Gefühllosigkeit ab. Leidenschaft erhöht nämlich den Blutdruck und sorgt für zittrige Hände. Auftragskiller hingegen müssen wie Maschinen'funktionieren. »Ich wette, sie haben dich aufgehetzt« , sagte Warstein. »Sie haben dir irgendeine Sauerei zu Ohren gebracht, die ich angeblich begangen habe. Nicht wahr?« Alexandra schwieg. Ihr Blick sprach Bände. »Sie wollen mich erledigen, weil ich ausgestiegen bin« , fuhr Warstein fort. »Weil ich zu viel weiß. Weil ihnen die Muffe eins zu achtzig geht. Weil sie glauben, ich könnte mein Wissen irgendwann versilbern.« Er räusperte sich. »Ich versteh ja, dass sie das nicht so gern haben. Du kennst den Eid: Unsere Firma verlässt man nur als Leiche.« Alexandra sagte noch immer nichts. Warstein betrachtete ihr Gesicht, registrierte ihre innere Aufgewühltheit. Sie bebte am ganzen Körper. Sie hatte Angst vor dem Tod, aber sie wollte es 11
nicht zeigen. Vielleicht glaubte sie, er würde sie zuerst vergewaltigen und dann auf möglichst bestialische Art abservieren. Warstein stand auf. »Hör zu, Mädchen« , sagte er. »Ich dreh keine Dinger mehr. Ich hab mit dieser Scheiße Schluss gemacht. Ich will nur meine Ruhe haben.« Er hielt ihr die Scheckkarte unter die Nase. »Wir haben übrigens die gleiche Bankverbindung.« Alexandra zuckte sichtlich schockiert zusammen. »Weiß deine Behörde eigentlich, mit welchen Ratten du dich eingelassen hast?« Er warf die Karte auf ihren Bauch. »Du … bringst mich nicht um?« Alexandras Augen waren groß und zeigten Erleichterung. »Warum sollte ich?« Warstein trat neben das Bett und zückte den Schlüssel, um die Handschellen aufzuschließen. »Was bringt es mir, wenn doch die Welt, wie du sagst, in Bälde hinüber ist?« Als er sich zu ihr umwandte, um ihr beim Aufstehen zu helfen, krachte eine Faust gegen sein Nasenbein. Warstein schlug mit dem Schädel gegen die Heizungsrippen und tauchte ins Nichts ein. *
Februar 2519. Der Morgen dämmerte grau herauf, als sich Captain Lynne Crow, die offizielle Leiterin der Washingtoner WCAExpedition, über die rechte Platte des Gaskochers beugte, die Kanne mit dem heißen Kafi an sich nahm und eine 12
Blechtasse mit dem schwarzen Gebräu füllte. Gefrühstückt hatte sie schon, deswegen war sie, sofern man es in einer barbarischen Umgebung wie dieser überhaupt sein konnte, satt und zufrieden. Nicht fern von ihrem Lagerplatz erblickte sie Private Andy Bellows. Er wand sich wie eine Schlange im Tarnanzug über die Hügelkuppe und kam, den Driller an der Seite, zu ihr herab. Er war etwas blass um die Nase, was daran lag, dass er in der vergangenen Nacht nicht zum Schlafen gekommen war. Jacob Smythe, der nicht nur Lynnes Stellvertreter, sondern seit einiger Zeit auch ihr Geliebter war, hatte ihm am Abend zuvor den Befehl erteilt, das Camp ihrer Konkurrenten am Ufer des Kratersees auszuspionieren. Eigentlich hatte Smythe den Auftrag selbst durchführen wollen. Lynne hatte es verhindert. Wenn - wie sie vermutete - ihre Konkurrenz unter dem Kommando von Mr. Black stand, war es ein zu großes Risiko. Dieser Mann war der Gründer und Leiter der Terrororganisation »Running Men« . Lynne hatte vor zehn Jahren ihre eigenen Erfahrungen mit Black gemacht, deswegen wünschte sie ihm den Tod. Jacob Smythe war ihm nicht gewachsen. Als offiziellen Grund für eine nächtliche Aufklärungsmission hatte Smythe die zwei wertvollen ISS-Funkgeräte ins Spiel gebracht, die die Meuterer und Überläufer ihnen gestohlen hatten. Solange sie im Besitz der Geräte waren, würden sie - auf die richtige Frequenz eingestellt - alle geheimen Gespräche mit Washington abhören können.
Natürlich wusste Lynne, dass diese Sorge nur vorgeschoben war: Der wahre Grund für Jacob Smythe, die Konkurrenz auszuspitzeln, war ein Mann namens Matthew Drax. Aus irgendwelchen Gründen, die in fernster Vergangenheit ihren Ursprung hatten, hasste Smythe ihn, als wäre er der Antichrist persönlich. Leider verlor er, sobald er Drax' ansichtig wurde, jede Zurechnungsfähigkeit. Deswegen hatte Lynne Bellows mit dieser Aufgabe betraut. Der Private trat vor den Kocher hin und stand stramm. Seine rechte Hand flog an seine Mütze. Allem Anschein nach wollte er ihr lauthals Meldung erstatten. Um zu verhindern, dass er Smythe und die drei restlichen Angehörigen ihrer arg geschrumpften Einheit aus dem Schlaf riss, hob Lynne schnell die Hand und sagte: »Hinsetzen. Und Maul halten.« Private Bellows folgte ihrer Anweisung. Er nahm ihr und dem Gaskocher gegenüber auf einem abgeflachten Felsen Platz und beäugte die Kaf ikanne mit sehnsüchtigen Blicken. Lynne lächelte und reichte ihm eine Blechtasse. »Bedienen Sie sich, Bellows. Nur keine falsche Bescheidenheit.« »Danke, Captain.« Obwohl Bellows die ganze Nacht über kein Auge zugemacht hatte, glänzten seine Pupillen in strahlender Wachheit. Lynne schrieb es entweder einer erfolgreichen Mission oder dem Anblick ihrer Kurven zugute auch wenn sie unter dem gefleckten Tarnanzug nicht sonderlich zur Geltung kamen. »Berichten Sie« , sagte sie knapp und
trank einen Schluck. »Aber leise.« »Gewiss, Captain.« Bellows hob den Becher an seine Lippen und genehmige sich ebenfalls einen Schluck. Dann richteten sich seine braunen Hundeaugen schmachtend auf seine Vorgesetzte und er beugte sich vor. »Mission auftragsgemäß, erfolgreich und ungesehen abgeschlossen, Captain.« Er räusperte sich. »Der Feind hat sich am Seeufer in einer Art Festung verschanzt …« »In einer Art Festung?« Lynne schaute den jungen Mann an. »Etwas präziser, wenn ich bitten darf.« Bellows schaute verlegen drein. »Das Bauwerk ist schwer zu beschreiben, Captain. Es besteht aus einer mir nicht bekannten Baumasse - falls man es überhaupt so nennen kann …« Er zog entschuldigend die Schultern hoch. »Sie wirkt kristallin, eisenhart und scheint nicht gemauert zu sein …. Fast als wäre sie gewachsen … Ich weiß nicht, wie ich es beschreiben soll.« Lynne runzelte die Stirn. »Fahren Sie fort.« »Gewiss, Captain.« Bellows atmete tief durch. »Ich habe in der Umgebung der Festung eine ganze Reihe von Menschen beobachtet, die ich beschreiben kann.« Er hüstelte. »Wie Professor Smythe schon vermutet hat, habe ich auch einige der Meuterer dort wiedergesehen … Doc Stuart, Staff Sergeant Ncombe und den verlausten Barbaren, der so spricht, dass es sogar der Wiisau graust.« Lynne zischte bösartig. »Ich wusste es! Sie haben sich dem Pack angeschlossen! - Haben Sie auch Sergeant Laramy gesehen?« , wandte sie sich 13
wieder an Bellows. Der schüttelte den Kopf. »Nein.« Er beschrieb ihr die restlichen Personen, die er in der Umgebung der Kristallfestung gesehen hatte. Seine Beschreibungen waren so detailliert, dass Lynne keine Mühe hatte, den Renegaten Drax, seine europäische Barbarenschlampe Aruula und den Erzterroristen Black sofort zu identifizieren. Außerdem hatte Bellows eine junge schwarze Frau mit einem - wie er sich ausdrückte »ziemlich scharfen Hinterteil« sowie einen bezopften, asiatisch wirkenden Burschen erspäht. Zwei oder drei andere Gestalten hatte er leider nicht identifizieren können, denn er war ihrer nur ganz kurz und aus der Ferne ansichtig geworden. Sie sind uns personell also haushoch überlegen, dachte Lynne grimmig. »Noch etwas von Wichtigkeit?« Sie stellte die Blechtasse zwischen ihren Beinen ab. Bellows nickte. Seine Miene verfinsterte sich so sehr, dass Lynne das Schlimmste vermutete. »Die Typen haben einen Panzer« , sagte Bellows. »Es ist ein Fabrikat, das ich noch nie gesehen habe.« Lynne runzelte die Stirn. Dass Blacks Terroristen über einen Panzer verfügten, wunderte sie eigentlich nicht, denn zu Fuß war die Bande ja wohl kaum hier angekommen. Zudem wusste sie, dass die Running Men der inzwischen verstorbenen Captain Melanie Chambers während eines Angriffs in Washington einen Prototypen des NixonPanzers entwendet hatten. Was aber hatte sie davon zu halten, 14
dass der von Bellows gesichtete Panzer ein unbekanntes Fabrikat sein sollte? Hatten sich die Running Men mit einer Macht verbündet, die Panzer baute? Mit einer der europäischen Communities vielleicht? Aber wie und wann hätten sie das anstellen sollen? »Auch wenn ich kein Offizier bin und mir ein solches Urteil vielleicht nicht zusteht, Captain«, raunte Private Bellows im Tonfall eines Verschwörers und schaute sich argwöhnisch um, als befürchte er, belauscht zu werden. »Ich sehe einen Abgrund von Landesverrat!« Seine braunen Augen blitzten. »Ich glaube, der Feind hat sich mit den Nachfahren jener Kräfte zusammengetan, von denen der legendäre Reagan gesagt hat, sie regierten das Reich des Bösen.« Er holte tief Luft. »Mit den Kommies!« Ah ja, das Reich des Bösen. Lynne erinnerte sich an den Politunterricht für Stabsoffizierskinder in der zwölften Klasse. Dieser langweilige Scheiß hatte unter anderem zu ihrer Revolte gegen das System ihrer Eltern beigetragen, sodass sie schließlich aus dem Washington-Bunker an die Oberwelt emigriert war, um das kennenzulernen, was sie für das wahre Leben gehalten hatte. Ihr Vater, schon damals ein hoher Offizier, hatte ihr Black und einen anderen Mann auf den Hals gehetzt, der ulkigerweise White hieß. Black und White hatten sie in der Kaschemme »Zum Einäugigen« mit dem herrlich ungebildeten, aber umso potenteren Dauntless Kid auf der Matratze erwischt … Bellows leerte seine Tasse und stand
auf. Sein Blick fiel auf den plätschernden Bach, der nicht fern vom Eingang der Grotte durch die Landschaft plätscherte, von allerlei Grünzeug und Birken umsäumt. »Wenn Sie gestatten, Captain …« , er deutete auf das Gewässer, »…würde ich mich jetzt gern ein wenig frisch machen und mich dann aufs Ohr hauen.« »Ja, machen Sie das.« Lynne nahm ihre Tasse und blickte sinnierend in sie hinein. Bellows' Worte entbehrten nicht einer gewissen Logik. Aber auch die Briten konnten ihre Hand in diesem Spiel haben, denn sie waren in Europa die am weitesten entwickelte Macht. Angenommen, der Panzer war deren Produkt - was zum Henker hatten die Briten hier suchen? Vermutlich wusste man auch in England von der Existenz des Kratersees, aber die zeitliche Übereinstimmung mit ihrer Expedition wäre dann doch ein zu großer Zufall gewesen. Es sei denn, Commander Drax, der schon früher mit den Briten zusammengearbeitet hat, steckt dahinter. Lynne biss sich auf die Unterlippe. Wenn es Drax tatsächlich gelungen war, der Londoner Community Meldung über seine Reisepläne zu machen … wieso sollte es ihnen nicht gelungen sein, ein Kommando in Gang zu setzen, um ihm und seinen Leuten zu Hilfe zu kommen? Dann sitzen wir in der Scheiße, dachte Lynne. Sie waren nur noch sechs Mann mit zwei Panzern. Die Munition war nach der Meuterei knapp geworden. Sie hatten ein Kommando der Running Men am Hals, das möglicherweise von Briten unterstützt wurde.
Der Feind saß in einer ausgebauten Festung, während sie in einer türlosen Grotte hockten und sich von Trockenfraß und Vitaminpillen ernährten. Drei ihrer Leute - Stuart, Ncombe und Sergeant Brian Laramy - waren zum Feind übergelaufen und hatten ihn wahrscheinlich mit hochbrisanten Informationen gespickt. Die Konkurrenz war über ihre Lage also genau um Bilde. So was war kein guter Ausgangspunkt für einen Wettbewerb. In Lynnes Schädel kreisten die Gedanken. Als sie den Kopf hob, stand Private Bellows in all seiner muskulösen Pracht nackt im Bach und seifte sich ein. Zwischen seinen Beinen baumelte etwas, das an eine Treibhaus-Salatgurke erinnerte. Als Lynne sich vorbeugte, um zu erkunden, ob sie an Halluzinationen litt, fiel ihr Blick hinter dem Gaskocher auf zwei bestiefelte Beine. »Ein gut bestückter Knabe« , sagte Jacob Smythe hämisch. »Aber nicht die Größe zählt, sondern die Technik.« Lynne schaute auf. Professor Dr. Jacob Smythe, der nicht müde wurde, jedem Hinz und Kunz einzubläuen, dass er »in früheren Jahren« Leiter der Astronomie Division der US Air Force gewesen war, Astrophysik unterrichtet und nebenbei noch seinen Doktor der Medizin gemacht hatte, wirkte im Gegensatz zu Private Bellows eigentlich nicht sehr beeindruckend. Lynne wusste, dass er biologisch vierundvierzig Jahre alt war. Andererseits entstammte er, wie auch Commander Drax, dem 21. Jahrhundert. Und im Widerspruch zu seinen gerade 15
geäußerten Worten verzog sich sein knochiges Gesicht vor Neid, als der Soldat in den Bach abtauchte, sich die Seife vom Leib spülte und anschließend mit federnden Schritten in der Grotte verschwand, um den versäumten Schlaf nachzuholen. »Du bist doch wohl nicht neidisch, Jacob?« »Pah.« Smythe kniete sich vor den Kocher hin und griff nach der Pfanne. »Habe ich einen Grund dazu? Eine Frau von hohem Intellekt, wie du es bist, fällt doch wohl nicht auf pure Äußerlichkeiten rein.« »Menschen von hohem Intellekt« , erwiderte Lynne spöttisch, obwohl sie sich geschmeichelt fühlte, »sind doch wohl keine Spießer, Jacob, hm?« Sie schaute ihn an. »Oder gar monogam veranlagt?« Smythe wich ihrem Blick aus. Er ignorierte auch die spitze Bemerkung. Stattdessen schüttete er Eipulver in die Pfanne. »Erzähl mir, was Bellows gesehen hat.« Lynne wiederholte den Bericht des jungen Soldaten. Smythe verrührte das Eipulver und spickte es mit kleinen Würfeln aus Synthospeck. Er hörte ihr geduldig zu. Obwohl er keine Zwischenfragen stellte, kannte Lynne ihn gut genug, um zu wissen, dass schon die Erwähnung des Namens Matthew Drax ausreichte, um mörderische Rachepläne in seinem Herzen entstehen zu lassen. Aber sie verstand seine Rachsucht. Sie war schließlich nicht anders. Sie war die Tochter eines mächtigen Mannes und hatte - im Rahmen der Mög16
lichkeiten - immer alles bekommen, was sie sich wünschte. Deswegen hatte sie als Zwanzigjährige auch rebelliert. Sie hatte das Abenteuer abseits vom reglementierten Leben im Bunker gesucht. Auch sie vergaß niemanden, der ihr je schräg gekommen war. Niemals. Wer ihr ein Bein stellte, konnte sein Testament machen. Wie zum Beispiel Mr. Black, dem sie ihre Hüftattrappe und den bionischen Arm verdankte. Der verfluchte Schweinehund hatte auf der Insel Cape Canaveral in einem übelriechenden Schacht ein monströses Untier auf sie losgelassen. Irgendwann würde er dafür ins Gras beißen. Doch nicht ohne zuvor schreckliche Schmerzen zu erleiden. Lynne musterte kurz ihren künstlichen Arm aus den Werkstätten des Androiden Miki Takeo. Eigentlich wusste sie, dass er von einem normalen nicht zu unterscheiden war. Trotzdem verbarg sie ihre bionischen Finger, die ihr immer irgendwie falsch erschienen, unter einem Handschuh. Eine nicht logisch denkende Abteilung ihres Hirn flüsterte ihr ständig zu, dass sonst jeder es erkennen müsste. Jacob hatte sie sich erst vor kurzem offenbart; sonst wusste keiner ihrer Begleiter etwas davon. Smythe nahm auf dem Stein Platz, wo zuvor Bellows gesessen hatte. Er stocherte mit der Gabel eines Feldbestecks in seinem Frühstück herum und schaufelte es in sich hinein. Hinter Lynne wurden Geräusche laut. Sie sah auf. Corporal Jackson, Private Blayre und Corporal Maggie Pole verließen in olivgrüner Unterwäsche im Gänsemarsch
die Grotte und trabten zum Bach. Ihre Augen waren verquollen. Sie wirkten alles andere als ausgeschlafen. Kein Wunder bei dem harten Höhlenboden. »Glaubst du, es sind die Briten?« , fragte Lynne. »Ich meine, die Leute mit dem Panzer?« »Ich werde es dir sagen« , erwiderte Smythe kauend, »sobald ich es weiß.« Das Grau des Morgens wich allmählich dem Licht. Die Wolken rissen auf. Corporal Jackson spritzte Corporal Maggie Pole nass. Sie erwiderte kreischend seine Attacke und ließ ihr blondes Haar wehen. Im Licht des frühen Morgens sah sie mit ihrer Mähne irgendwie vulgär aus. *
Trotz des Winters war der Himmel über dem Lena-Becken auch in den Abendstunden noch klar. Von Wind war kaum zu reden. Vor fünfhundert Jahren war es hier im Februar nur selten wärmer als 30 Grad unter Null geworden. Doch nach dem Einschlag des Kometen »Christopher-Floyd« , den der Barbarenmob aufgrund mangelnder Artikulationsfähigkeit »Kristofluu« nannte, hatte sich gerade in diesem Teil der Welt klimatisch vieles verändert. Das Wasser des Kratersees war das ganze Jahr über lauwarm, als würde es künstlich erhitzt. Dementsprechend herrschte an seinen Ufern ein warmes Klima, das durch die ringförmig aufgetürmten Gebirgsmassive konstant blieb. Jenseits der Berge herrschte bitterer Frost, aber diesseits brauchte man kaum mehr als eine Badehose als Bekleidung.
Diese klimatische Besonderheit hatte wohl auch die Jahrhunderte lange Eiszeit erträglich gemacht und dafür gesorgt, dass sich hier lange vor allen anderen Gegenden Mutationen entwickeln konnten. Mutationen, an denen die grünen Kristalle aus den Kometen maßgeblich beteiligt waren. Aber entstanden sie zufällig … oder wurden sie bewusst initiiert? »Nur eines der Rätsel, die ich lösen werde« , murmelte Jacob Smythe vor sich hin, als er in der halbdunklen Grotte vor den beiden Tauchpanzern stand und die Schussanzeige seines Drillers prüfte. Die Waffentechnik dieser Zeit übte große Faszination auf den Mann aus der Vergangenheit aus. Wie er Lynne gestanden hatte, war er damals von den »hirnlosen Kommissköpfen der USMarine« als »für den Militärdienst untauglich« eingestuft worden. Später hatte Smythe es immerhin zur Luftwaffe geschafft, wenn auch nur über seine wissenschaftliche Kompetenz und seinen Job als Berater des USPräsidenten. In diesen Sphären war es fast unabdingbar, zum Militär zu gehören, schon der Geheimhaltung wegen. Smythe steckte den Driller ein und erfasste mit herrischem Blick den nun völlig ausgeschlafenen und in Grundstellung neben den drei anderen Soldaten stehenden Private Bellows. »Die Aufgabenstellung ist Ihnen bekannt?« »Yes, Sir!« , schnarrte Bellows. »Erneutes Ausspähen der feindlichen Festung. Wenn möglich, unbemerktes Eindringen und Rückeroberung der von Dr. Stuart entwendeten Funkgeräte!« 17
»Richtig, Bellows.« Smythe nickte Lynne zu. Die wandte sich an die drei anderen WCA-Agenten, die dem Spektakel mit großen Augen folgten. »Corporal Jackson?« »Captain?« Jackson knallte die Hacken zusammen. »Sie übernehmen während unserer Abwesenheit das Kommando und halten die Stellung. Sind wir um acht Uhr Ortszeit nicht zurück, folgen Sie uns und klären unseren Verbleib. Sollten wir dem Feind in die Hände gefallen oder gar getötet worden sein, kehren Sie zu Ihren Kameraden zurück, beladen einen Panzer mit sämtlicher vorhandener Munition und bringen dem Feind so viele Verluste wie nur möglich bei.« »Verstanden, Captain.« Lynne räusperte sich. »Anschließend erstatten Sie über das verbliebene Funkgerät Bericht an meinen Vater. Wenn Sie von ihm keine gegenteilige Befehle erhalten, schlagen Sie sich nach Kamtschatka durch, versorgen sich beim dortigen ›Meister der Erde‹ und kehren nach Washington zurück.« Corporal Jackson erbleichte. Lynne wusste, dass er weder Tod noch Teufel fürchtete, aber General Arthur Crow die Meldung zu überbringen, dass seine Tochter ins Gras gebissen hatte, ließ das Blut aus seinem Gesicht weichen. Warum Captain Crow nicht schon zuvor Washington über ihr Vorhaben informierte, lag auf der Hand: Mit den beiden gestohlenen Geräten könnte der Feind die Meldung abhören und wäre gewarnt. »Natürlich ist es wenig wahrschein18
lich, dass wir in die Hand des Feindes geraten« , relativierte Smythe. »Captain Crow möchte nur, dass Sie auf alle Eventualitäten vorbereitet sind, Jackson.« Corporal Jackson salutierte. »Natürlich, Sir.« Ob er Smythes Zuversicht teilte, blieb unklar. Der Professor nickte Lynne zu. Lynne nickte Bellows zu. »Abmarsch.« Bellows setzte sich in Bewegung. Lynne folgte ihm. Smythe stiefelte hinter ihr her. Wieder hatte Lynne Crow das Gefühl, dass eigentlich er die Befehle gab, dass er sie nur brauchte, um selbige zu sanktionieren. Aber sie verdrängte den Gedanken rasch. Natürlich hatte sie das Kommando; bestenfalls erlaubte sie Jacob einen gleichberechtigten Status. Als sie die Grotte verließen und ins Freie traten, wehte ein leiser Wind. Der Himmel war fast dunkel und zeigte die ersten Sterne. Ein letzter Blick zurück zeigte Lynne die Gesichter von Jackson, Pole und Blayre. Auch Blayre war irgendwann mal Corporal gewesen, aber er hatte sich, weil er lieber Befehle ausführte als zu geben, degradieren lassen. Ein devoter Schwachkopf. Aber es musste auch Soldaten seiner Art geben. Je mehr, desto besser. Eine Schlacht war schließlich kein Blumenkorso. Wer wusste, welcher Platz ihm gebührte, litt auch nicht an irgendwelchen Zweifeln. Nach Bellows' Erkenntnissen hatte sie Jacob nicht mehr verbieten können, gegen die Kristallfestung zu ziehen. Sie befanden sich in einer verzweifelten
Lage. Der Feind war ihnen nicht nur zahlenmäßig überlegen, sondern verfügte nun auch über Alliierte. Eigene Verbündete gab es zwar am östlichen Ende des Kratersees, auf der Halbinsel Kamtschtka, aber schon der Erstkontakt zu ihnen war vor Wochen fehlgeschlagen. Lynne hatte nach dem Überqueren der Beringstraße eine genetisch programmierte Libelle mit der Bitte um Unterstützung losgeschickt. Diese primitive Art der Nachrichtenübermittlung war nötig, da Kamtschatka noch nicht über ISS-Funkgeräte verfügte. Doch die Truppen mit der Ausrüstung waren nie am vorgegebenen Treffpunkt angelangt. Mochte der Teufel wissen, was da schiefgelaufen war. Vielleicht existierte der Stützpunkt mongolischer WCA-Hilfstruppen, der sogenannten Ostmänner, gar nicht mehr. Der »Meister der Insel« hielt den Kontakt zur Heimat wegen der großen Entfernung nur zwei Mal im Jahr mittels eines barbarischen Boten aufrecht. Private Bellows huschte geschmeidig wie eine Wildkatze einen moosbewachsenen Hügel hinauf. Dann bewegten sie sich im glitzernden Licht der Sterne durch einen erdigen Graben in Richtung Süden. Smythe, dicht hinter Bellows, trug ein aufgerolltes Seil mit einem Enterhaken über der Schulter. Gelegentlich richtete sich sein Blick zum Himmel. Befürchte er einen Angriff? Lynne hielt das Misstrauen ihres Gefährten durchaus für begründet. Vor nicht allzu langer Zeit war ein Schwarm fliegender Geschöpfe aufgetaucht, die an Eochen erinnerten. Dass mit den
seltsamen Kreaturen irgendetwas nicht stimmte, war auch ihr aufgefallen: Sie hatten sich wie stille Beobachter verhalten. Es lief Lynne kalt über den Rücken, wenn sie sich vorstellte, dass die Biester gar keine Tiere waren, sondern ferngesteuerte Spionaugen. Von wem auch immer gelenkt. Nach dem Graben kamen sie in hügeliges Felsgelände. Diesem folgte ein Gehölz, in dem es knisterte und knackte. Bellows hatte sich den Weg gut eingeprägt; er führte sie, als sei er in diesen Breitengraden aufgewachsen. Nach einer Stunde konnte Lynne die Wasser des Kratersees gegen das Ufer rauschen hören. Eine laue Brise wehte ihnen entgegen. Der Himmel war noch immer klar, und als sie nach oben schaute, fiel ihr Blick auf tausend Sterne. Minuten später endete das Waldgebiet. Das Rauschen wurde lauter. Vor ihnen ragte ein steiniger Hügel auf. Er war hier und da mit Gras und Dornenbüschen bewachsen. Private Bellows blieb stehen. »Vom Hügelkamm aus kann man die Festung gut sehen« , raunte er. Smythe ignorierte ihn. Die rechte Hand auf dem Knauf seines Drillers, die linke auf dem vor seiner Brust baumelnden Feldstecher, trabte er an ihnen vorbei. Lynne gab Bellows ein Zeichen, ihm zu folgen. Sie überquerten eine grasige, etwa fünfzig Meter breite Fläche und nahmen den Hügel in Angriff. Als die Hälfte der Strecke hinter ihnen lag, war Smythe schon oben angekommen. Er lag zwischen zwei sich im Wind wie19
genden Büschen auf dem Bauch und spähte durch sein Fernglas. Lynne sank neben ihm zu Boden. Vor ihr fiel der Hügel in ein langes, schmales, stark bewaldetes und von zahlreichen Findlingen bedecktes Tal ab. Etwa zweihundert Meter weiter stieg es wieder an und endete auf dem Kamm eines anderen Hügels, der aber viel niedriger war als der, auf dem sie lagen. Dahinter erspähte Lynne den Kratersee, etwa einen Kilometer von ihrem gegenwärtigen Standort entfernt. Im Sternenlicht wirkte das Gewässer wie eine bis an den Horizont reichende schwarze Fläche. Auf halber Strecke stand die Festung. Lynne sog unwillkürlich die Luft scharf ein. Der Anblick war in der Tat atemberaubend, sogar bei Nacht. Ein grünliches Schillern, durch das Mondlicht hervorgerufen, lenkte den Blick unwillkürlich auf das monströse Gebilde, das sich wie ein bizarr gedrehter und geborstener Stalagmit in den Himmel schraubte. Lynne brauchte eine Weile, um den Anblick zu verdauen und ihren eigenen Feldstecher an die Augen zu führen. Das Äußere der Kristallfestung entsprach Bellows' Schilderung. Das spitz zulaufende Bauwerk war in seinen Dimensionen riesenhaft und sah tatsächlich so aus, als sei es gewachsen. Hier und da sah sie etwas, das an Fensterhöhlen erinnerte. Waren sie vergittert? Sie justierte die Schärfe und konzentrierte sich. Hm. Nein, keine Gitter. Auch die Streben wirkten wie gewachsen. »Schau dir das an« , zischte Jacob ne20
ben ihr. »Da, vor dem Eingang!« Lynnes Blick wanderte an der Festung nach unten, bis sie mehrere Gestalten sah, die gerade im Begriff waren, mit Hilfe eines primitiven Flaschenzugs und eines Fahrzeugs ein hölzernes Portal vor den Eingang der Festung zu hieven. Black und seine Leute hatten eindeutig vor, sich hier einzurichten. Lynne glaubte plötzlich ein leises Rauschen zu vernehmen, das nicht nach Brandung klang. Sie ließ den Feldstecher sinken. Bellows hockte an ihrer linken Seite. Er reckte den Hals und lauschte angestrengt in die Nacht hinein. »Was ist, Bellows?« , fragte Lynne leise. Der Private schreckte aus seiner Konzentration auf. »Ich dachte, ich hätte was gehört.« Er schüttelte den Kopf. »War wohl nur Einbildung.« Er deutete zur Festung hinab. »Was halten Sie davon?« Bellows hat es also auch gehört. Lynne konzentrierte sich, aber das eigentümliche Rauschen war verstummt. Oder die Wellen übertönten es. »Ich glaub nicht, dass wir 'ne Chance haben, in die Festung reinzukommen« , raunte Bellows. »Das lass mal meine Sorge sein« , knurrte Smythe. Auch er ließ nun sein Fernglas sinken. »Ich schlage vor, wir sehen uns dieses Ding mal aus der Nähe an.« Als Lynne an die Echsenwesen dachte, von denen sie gehetzt worden waren, und an die Mönchswesen, die von einem Moment auf den anderen be-
gonnen hatten, ihre Leute abzuschlachten, hielt sie nicht viel von der Idee. Wer wusste schon, ob sich nicht weitere Mutanten dort unten in der Festung aufhielten. Schließlich war es ihr Reich. Sie hatte den beschämenden Auszug aus der Stadt der Schwertkrieger noch vor Augen; als die tödlichen Zweikämpfe so schnell beendet worden waren, wie sie begonnen hatten, als man Majela Ncombe von ihnen getrennt und sie dann mitsamt der Panzer fortgeschickt hatte. Commander Drax und Jed Stuart hatten am Stadttor gestanden und sich offenbar bestens mit den Mutanten verstanden. Es hatte Jacob einige schlaflose Nächte gekostet, die Schmach des Offensichtlichen zu überwinden: Drax und seine Konsorten hatten Verhandlungen mit den Schwertkämpfern geführt und nicht nur Stuarts Flittchen Majela gerettet, sondern sie gleich mit dazu. »Was meinen Sie, Captain?« Lynne zuckte zusammen. Ja, was meinte sie? Sie hielt nicht viel von Jacobs Vorhaben. Sah er nicht die Gefahren, die ihnen drohten? Hielt er sich für unverwundbar? Seine Rechnung enthielt einfach zu viele Unbekannte. Aber sie wusste, dass sie nicht gegen seine Entscheidung ankommen würde. Dort unten war Matthew Drax, der Mann, dessen Tod er beschlossen hatte, und nichts und niemand würde ihn davon abbringen. »Na schön« , sagte Lynne. »Einverstanden.« »Wunderbar.« Smythe stand auf und rieb sich die Hände. Das Rauschen war plötzlich wieder da!
Als Lynne begriff, dass es nicht vom See her kam, sondern aus der Luft, ruckte ihr Kopf hoch. Smythe und Bellows hörten es im gleichen Augenblick. Im nächsten spritzen sie mit einem kollektiven Fluch auseinander. Über ihnen schwebte ein Dutzend Rochen! Große schwarze Augen an der Unterseite ihrer weißen Leiber starrten auf sie herab. Smythe zückte seinen Driller. »Nicht schießen« , rief Lynne gedämpft. »Sie beobachten -« Weiter kam sie nicht. In der Dunkelheit hatte sie nicht sehen können, wohin sie gehechtet war. Als sie fühlte, dass unter ihr der Hügelkamm scharf abfiel, war es zu spät. Der Schwung trug sie über die Kante hinaus. Bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, rutschte sie auch schon auf der anderen Seite nach unten. Der Hang war steiler als angenommen. Lynne versuchte noch, sich irgendwo festzuklammern, fand aber keinen Halt. Schon verschwanden Bellows und Smythe aus ihrem Blickfeld. Offenbar waren die beiden klug genug, nicht zu schießen. Die Explosivgeschosse der Driller hätte man meilenweit hören können. Nicht, dass Lynne das im Augenblick half! Mit dem Gepolter loser Steine rollte sie in die Tiefe. In Panik streckte sie die Arme aus. Die bionische Hand empfand nichts, doch die organische schrammte über steinigen Boden und ließ Lynne vor Schmerzen aufschreien. Sie riss beide Arme schützend an den Körper. Im Mondlicht tauchten zwei manns21
hohe Findlinge vor ihr auf - wie geschaffen, um einen mit hoher Geschwindigkeit auf sie zurasenden Schädel zu Brei zu schlagen. Gott … Lynne presste verzweifelt die Hände vors Gesicht. Gleich würde sie aufschlagen. Ich werde sterben …! Da wurde sie unerwartet abgebremst. Irgendetwas Nachgiebiges lag plötzlich im Weg, gegen das sie mit Wucht prallte und das ihr die Luft aus den Lungen trieb, sie aber wenigstens vor den Felsen bewahrte. Abrupt kam sie zum Halten und schnappte nach Atem. Als sie die Augen öffnete, fiel ihr Blick auf zwei schmutzige Stiefel. Ein Fabrikat, das sie kannte. Nein, dachte Lynne nur. Nicht das … bitte! Doch als sie den Kopf hob, bestätigte sich ihre schlimmste Ahnung. Sie schaute geradewegs in das kantige Gesicht eines Mannes, den sie schon in jungen Jahren zu fürchten gelernt hatte. Er hielt ein Lasergewehr in der Hand, und die Mündung war genau auf ihre Stirn gerichtet. Trotzdem griff sie nach ihrer Waffe. Aber sie hatte sie verloren. »Irgendwie« , sagte Black leise, »habe ich immer gewusst, dass wir uns eines Tages Wiedersehen, Miss Crow.« Er schüttelte den Kopf. »Dass unsere Begegnung auf der anderen Seite der Erdkugel stattfindet, hätte ich mir aber wahrlich nicht träumen lassen.« *
Angesichts des Lasergewehrs zog Lynne Crow es vor, auf dem Bauch liegen zu bleiben. Jacob und Bellows hiel22
ten bestimmt nach ihr Ausschau, und wenn sie den blonden Hünen zwischen den Findlingen sahen, würden sie ihn aufs Korn nehmen. Sie musste nur Zeit gewinnen. Offenbar hatte Black den gleichen Gedanken, dehn seine linke Hand schoss vor, packte Lynne am Kragen und schleifte sie hinter einen der beiden Felsen. »Wir wollen doch nicht, dass Ihre Knechte im Dunkeln versehentlich Sie treffen …« Lynne schluckte. Sie wagte keinen Finger zu rühren. »Mr. Black, ich …« Sie setzte neu an: »Ich verstehe ja, dass Sie nicht gut auf mich zu sprechen sind …« »Nicht gut zu sprechen?« , unterbrach Black sie. »Das ist …« Jetzt fehlten ihm die Worte. »Miss Crow, Sie sind sich doch bewusst, dass Sie mein Leben versaut und meinen besten Freund auf dem Gewissen haben?« »Ich …« »Aber eigentlich muss ich Ihnen ja dankbar sein« , fuhr er fort. »Ihre Lügen haben mich zwar geächtet und in die Rebellion getrieben, aber nur so konnte ich letztlich erkennen, wie skrupellos der Weltrat denkt und handelt.« O ja, Lynne Crow erinnerte sich gut. Als Black und White und sie damals auf Befehl ihres Vaters zurückgeholt hatten, warf sie Ihnen vor, sie brutal vergewaltigt zu haben. Den beiden gelang die Flucht. Dies war die Geburtsstunde der Running Men gewesen, und wenn sich Lynne Crow auch bis heute weigerte, es einzugestehen: An dem langen und blutigen Guerillakrieg in Washington trug allein sie die Schuld.
»Ich … ich entschuldige mich dafür« , hörte sie sich jetzt zuckersüß und kleinmädchenhaft flöten. Ah, wie reuig sie klang! Sie glaubte ihren Worten fast selbst. »Ich war ein unreifes, verzogenes, nur auf den eigenen Vorteil bedachtes Kind.« Black lachte leise. »Soll das heißen, Sie denken heute anders?« Seine Lippen wurden zu einem schmalen Strich. »Lautet Ihre Parole nicht mehr: Wenn jeder an sich selbst denkt, ist an alle gedacht?« Jacob, tu was, dachte Lynne. Der Typ hasst mich. Er wird mich umlegen. Und wenn er mich nicht umlegt, schleppt er mich in die Festung und foltert mich so lange, bis ich alle Geheimnisse des Pentagons verraten habe … »Auch verzogene Gören lernen hinzu« , sagte sie und hob zaghaft den Kopf. Ihr Blick suchte Blacks Augen, denn sie wusste um die Wirkung ihres Charmes. Am meisten verwünschte sie, dass ihre Kurven in dem Tarnanzug nicht zur Geltung kamen. Aber vielleicht war er mit schönen Worten viel eher einzuwickeln. Sie traute ihm nicht zu, dass er auf schnöde weibliche Reize ansprach. Black war kein Dummkopf. Sie kannte seine Akte auswendig. Seine äußerliche Steifheit besagte nicht, dass er ein bornierter Paragraphenreiter war. Er ließ nur niemanden an sich heran. Kein Wunder, war er doch als Klon unter Wissenschaftlern auf gewachsen. Black hatte nie eine Familie, nie Freunde gehabt. Nicht mal leibliche Eltern. Sein »Vater« war eine Genprobe des letzten US-Präsidenten vor der Großen Kata-
strophe. »Ich verabscheue meine Tat von damals« , hauchte sie. »Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie sehr ich mich schäme. Gäbe es einen Weg, es ungeschehen zu machen, ich würde ihn gehen.« Und sie dachte: Wo bleibst du, Jacob? Hast du nicht gesehen, wohin ich gerutscht bin? Schleich dich endlich ran und leg diesen Muskelprotz um, bevor ich noch anfange, mich vor seinen Augen selbst zu geißeln. Sie schöpfte Hoffnung aus der Tatsache, dass er sie nicht auf der Stelle mit seiner Laserwaffe grillte. Offenbar siegte die Vernunft über seine Wut. Umso besser. Lynne stützte sich auf ihre Ellbogen und schaute Black an. Sie musste seine Nachdenklichkeit nutzen, um eine neue Intrige zu spinnen. Da Jacob Smythes Eingreifen auf sich warten ließ, räusperte sie sich. »Sie können natürlich nicht wissen, warum ich zu Commander Drax und Ihnen unterwegs war« , sagte sie, während ihr Hirn noch fieberhaft nach den nächsten Worten suchte. Black verzog keine Miene, doch seine Augen kündeten von Interesse. »Fahren Sie fort« , sagte er. »Aber bleiben Sie flach auf dem Bauch liegen.« Lynne sank wieder zu Boden. Wenn sie ihm weismachen konnte, dass sie sich von Smythe getrennt hatte, kam sie vielleicht in die Höhle des Löwen. Aber sie musste vorsichtig sein! Menschen wie Black und Drax verachteten Verräter. Es kam auf eine geschickte, glaubwürdige Argumentation an. Warum könnte sie Jacob verlassen 23
haben?… Weil sie ihre Leute nicht mehr unter Kontrolle hatte! Weil ihre Truppe unter der Knute eines Irren stand, der sie fanatisierte und die Konkurrenz mit Stumpf und Stiel ausrotten wollte, egal wie hoch der Preis war. »Ich bitte um Asyl, Mr. Black« , begann sie. »Ich bin längst nicht mehr Herr über meine Truppen …« Und dann leierte sie herunter, was ihr spontan in den Sinn kam: Dass Professor Dr. Smythe sie in einem Putsch ihres Kommandos enthoben und ihre Leute mit wüsten Versprechungen auf seine Seite gezogen hätte, nur um mit allen Kräften Commander Drax' Grab zu schaufeln, den er abgrundtief hasste. »So wie er sich in den letzten Tagen aufgeführt hat« , sagte sie, »scheint er vollkommen wahnsinnig geworden zu sein.« Sie atmete tief ein. »Offen gesagt, ich fürchte um mein Leben, Mr. Black. Deswegen bin ich hier.« Sie wagte erneut, den Kopf zu heben, um zu sehen, wie ihre Worte auf ihn wirkten. »Ich kann Ihnen sicherlich von Nutzen sein. Und ich bin mir sicher, dass mein Vater, wenn Sie mich mit ihm sprechen lassen, im Gegenzug bereit ist, Ihre Leuten in Washington bis zu meiner sicheren Rückkehr zu schonen.« Lynne drückte ihr Gesicht wieder ins Gras, damit Black ihr Grinsen nicht sehen konnte. Wie kann er jetzt noch nein sagen, geschweige denn mich töten? »Hm« , machte Black nachdenklich. »Ihr Angebot erscheint mir in der Tat überdenkenswert …« Lynne frohlockte. »Ich muss weg von diesem Smythe. Ich will nicht als Kano24
nenfutter eines Irren enden, dessen blinde Rachsucht nur in einer Katastrophe enden kann.« Black nickte. Dann tat er etwas, das er in Lynnes Gegenwart noch nie getan hatte: Er grinste. Hatte er sie etwa durchschaut? In der gleichen Sekunde polterte ein Stein den Hang hinab. Er wurde von einem leisen Fluch begleitet, als hätte jemand unbeabsichtigt etwas losgetreten. Blacks Lasergewehr fuhr wie ein Blitz in die Höhe, dann krachte es auch schon auf dem Hügelkamm und Private Bellows brüllte: »Deckung, Captain!« Der Findling, hinter dem sich Black und seine Gefangene aufhielten, spuckte Steinsplitter. Der Rebellenchef sprang mit einem weiten Satz hinter den zweiten Fels und brachte seine langläufige Laserwaffe in Anschlag. Lynne warf sich zur Seite, ließ die steinerne Deckung hinter sich, rollte übers Gras, sprang einige Metern weiter flink wie eine Katze auf die Beine und suchte sich ein Versteck, in dem sie es aushalten konnte, bis Bellows und Smythe den Hünen erledigt oder zumindest in die Flucht geschlagen hatten. Zum Glück wimmelte es in dem schmalen Tal von Steinen, hinter denen man Deckung fand. Als Lynne den vierten hinter sich gebracht hatte und auf den fünften zu hastete, krachte sie mit Smythe zusammen, der wie ein Kastenteufel hinter ihrem anvisierten Ziel hervorsprang. Lynnes Stirn knallte gegen seine Nase. Beide schrien auf und stürzten zu Boden. Bellows ballerte weiter vom Hügelkamm nach unten. Als Lynne den Kopf
hob, flogen ihr Querschläger und Felssplitter um die Ohren. Smythe lag flach auf dem Rücken, ruderte mit der Hand, die den Driller hielt, und presste die andere auf seine Nase, aus der das Blut spritzte. Da er mehr oder weniger kampfunfähig wirkte, fiel es Lynne leicht, ihm die Waffe zu entreißen, sich dem Standort Blacks zuzuwenden und ihn unter Beschuss zu nehmen. Erstaunlicherweise erwiderte der Hüne das Feuer nicht. Während Smythe sich im Gras wälzte, robbte Lynne an den Findlingen entlang zurück - doch nur um zu sehen, dass die Stelle, an der Black noch kurz zuvor gewesen war, mit seiner Abwesenheit glänzte. Lynne schaute sich fassungslos um. Wo war der Hund? Wo hatte er sich verkrochen? »Wo ist er, Captain?« , schrie Bellows auf dem Hügelkamm. »Ich seh ihn nicht mehr!« Lynne ließ den Driller sinken, dann kehrte sie zu Smythe zurück. Als sie sich über ihn beugte, blitzten seine großen Augen sie voller Wut an. »Hab dich nicht so, Jacob« , sagte sie. »Wir sind im Krieg. Da kommt so was schon mal vor.« Sie half ihm auf die Beine, und er saute das Oberteil ihres Tarnanzugs mit seinem Blut ein. »Alarm!« , brüllte nun Private Bellows. »Panzer im Anmarsch!« Smythe riss sich von Lynne los und schaute zum Hügelkamm hinauf. Der Blick, den er Bellows schenkte, verkündete Mord und Tod. Dann setzte er sich eilig in Bewegung und kletterte schnur-
stracks den Hang hinauf. Lynne folgte ihm - mit einem äußerst mulmigen Gefühl in der Magengrube. *
Februar 2012. Noch nie in meinem Leben, dachte Warstein, von dicken Schneeflocken umwirbelt auf dem Bahnhof von Jakutsk, bin ich so gedemütigt worden. Er schnaubte verhalten vor sich hin. Am wenigsten schmerzten ihn die Blicke der Menschen, wenn sie die Handschellen sahen, mit denen Alexandra ihm die Arme auf den Rücken gebunden hatte: Die Schmerzen in seinem Kopf machten ihn verrückt. Sie waren unerträglich. Außerdem zitterten seine Knie. Er kam sich vor wie ein Schwächling. Aber natürlich war sein Erschöpfungszustand daran schuld. Nach seinem Erwachen hatte Alexandra ihn in den Maybach gezwungen und seine Beretta vor dem Odessa in einem Gully versenkt. Nun stand er gefesselt und mit dröhnendem Schädel auf dem windigen Bahnsteig von Jakutsk. Ein zweites Handschellenpaar band ihn an ein Eisengitter. Alexandra stand vor dem Zug und parlierte mit dem pferdegesichtigen Zugführer, der eine wundersame starre preußische Haltung an den Tag - beziehungsweise den frühen Abend - legte. Hin und wieder musterte er mit starrer Miene ihren in der Kälte stehenden Gefangenen. Zweifellos wies Alexandra auf seine Gefährlichkeit hin. Die Passagiere des letzten Zuges, der die Stadt in wenigen Minuten in Rich25
tung Tiksi verlassen würde, drückten sich die Nasen an den Waggonfenstern platt und begafften den bösartigen Mafioso, der sich in diesem Moment wie ein Häufchen Elend fühlte. Seine Nase war geschwollen, vielleicht sogar gebrochen. Außerdem schillerte sie in allen Regenbogenfarben. Ein Passagier mit einem gewaltigen Schnauzbart und einem Arztköfferchen, der bei seinem jämmerlicher Anblick Mitleid empfunden hatte, hatte Warstein in einer unbekannten Sprache Hilfe angeboten. Alexandra hatte ihn mit groben russischen Worten zunächst zu verscheuchen versucht, doch dann nachgegeben. Der Arzt, ein Bulgare, hatte ihren Gefangenen notdürftig verarztet und war dann kopfschüttelnd in den Zug gestiegen. Der Zug war auch so eine Sache - ein Fossil aus dem 20. Jahrhundert, wahrscheinlich sechziger Jahre. DDRProduktion. Dampflok. Kohlentender inklusive. Auf der Lok drei haarige Gestalten mit verrußten Pelzmützen und Ohrenschützern. Ein Wunder, dass sie bei diesen Temperaturen im Freien überleben konnten. Wahrscheinlich gab der Kessel mächtige Hitze ab. Der Zugführer salutierte vor Alexandra und zückte seine Trillerpfeife. Alexandra kehrte mit blassem Gesicht zu Warstein zurück und machte ihn vom Eisengitter los. »Wir steigen jetzt ein« , sagte sie. »Ich rate dir, dich ordentlich aufzuführen, sonst spick ich dich mit Blei.« »Wohin gehts denn?« , erkundigte sich Warstein, als er sich in Bewegung setzte. »Etwa zum nächsten Justizpa26
last?« Er lachte hämisch, denn er wusste, dass die Organisation keinerlei Wert darauf legte, dass er je in die Hände eines Richters fiel, der nicht in ihrem Sold stand. »Auf geradem Weg nach Tiksi« , erwiderte Alexandra. »So weit wie möglich weg vom Einschlagsort des Kometen.« Im Inneren des Waggons wurde Warstein von wohliger Wärme umfangen. Sie machte ihn noch müder. Sein Blick glitt über die Passagiere hinweg. Gesichter. Gesichter. Gesichter. Er fragte sich, was Alexandra davon hatte, wenn sie ihn nach Tiksi brachte. Warum hatte sie ihn nicht gleich im Odessa umgelegt? »Hier rein.« Alexandra hielt ihn an den Handschellen fest, sodass er beinahe aufs Maul gefallen wäre. Sie öffnete eine Abteiltür. »Wir haben reserviert?« »Das Lachen wird dir noch vergehen.« Warstein nahm in Fahrtrichtung am Fenster Platz. Man konnte nie wissen. Vielleicht ruckte der Zug irgendwann mal, oder der Lokführer musste eine unvorhersehbare Bremsung vornehmen. Vielleicht landete er dann auf dem Alexandras Schoß und konnte sie mit einer raschen, fest ausgeführten Kopfnuss außer Gefecht setzen. Leider nahm sie neben ihm Platz. Merde, alors! Die Waggontüren wurden krachend zugeworfen. Eine Pfeife schrillte. Der Zug setzte sich TschuggTschugg-Tschugg - langsam nach Norden in Bewegung. Westen wäre dumm gewesen. Wenn der Komet wirklich be-
schloss, im Baikalsee zu landen, würde es mächtig in ihre Richtung spritzen. »Hast du vielleicht die Güte, mir eine Zigarette anzuzünden?« , fragte Warstein. »Einen Scheiß werd ich tun« , fauchte Alexandra. Sie stand wieder auf. In ihrer Hand klirrte ein kleiner Schlüsselbund. Warstein sah erst jetzt, dass die Abteiltür abschließbar war. Wahrscheinlich hatte sie dem Zugführer das Dienstabteil abgeschwatzt. Es musste verschließbar sein, weil das Zugpersonal dort hochwichtige Dokumente aufbewahrte - zum Beispiel furchtbar geheime Fahrpläne. »Ich an deiner Stelle würde brav hier sitzen bleiben« , sagte sie, als sie sich in der Tür umdrehte. Sie deutete zum Fenster. »Es sei denn, du willst Selbstmord begehen.« Die Tür ratschte ins Schloss. Der Schlüssel drehte sich. Dann war sie weg. Richtung Lokomotive. Warstein saß da, knirschte mit den Zähnen und stierte die Fensterscheibe an. Sie sah hart aus. Sie sah bestimmt nicht nur so aus. In diesen Breitengraden durften Scheiben nicht kaputtgehen, weil es draußen arschkalt war. Gesetzt den Fall, es gelang ihm, die Scheibe mit Schädel einzuschlagen: Was erwartete ihn wohl neben diversen Beulen und Blutergüssen, wenn er aus dem fahrenden Zug sprang? Die Freiheit? Ha, ha. Er schaute hinaus. Steppe. Grasflächen. Unendliche Weiten. Kiefern und Birken. Kälte. Hunger. Tod. Drei Minuten später ging die Tür wieder auf. Alexandra kehrte zurück. Warstein hatte erwartet, dass sie Kaffee und belegte Brote mitbrachte, aber er
hatte sich verrechnet. Wahrscheinlich war sie nur mal für kleine Kommissarinnen gewesen. Diesmal nahm sie gegenüber Platz. Musterte ihn. Ihr Ballermann lag auf ihrem Schoß. Sie hielt sie mit einer Hand fest. Sie wirkte entschlossen. Warstein zweifelte daran, dass die Polizei ihn je zu Gesicht kriegen würde. Irgendwann, wenn der Zug in einem Kuhdorf anhielt - vielleicht in Knatterottopowsk oder so - würden zwei, drei hartgesichtige, schlecht rasierte Männer ins Abteil kommen und ihn ins Freie zerren. Die Herren, auf deren Soldliste sie standen, wollten bestimmt allerhand von ihm wissen. Um sämtliche Spuren zu beseitigen, die ihn mit ihnen in Verbindung brachten. When you walk through the storm… hold your head up high … and don't be afraid of the dark … Warsteins Blick fiel auf Alexandras Knie. Er dachte an die fast intime Situation im OdessaRestaurant. Sie hatte den Eindruck erweckt, als sei er ihr sympathisch; als gäbe es nach den schrecklichen Zeitungsmeldungen nur noch den Tanz auf dem Vulkan … Aber sie hatte alles nur vorgetäuscht. Sie hatte ihn in Sicherheit gewiegt, um dann hart und erbarmungslos zuzuschlagen. Und er Blödian hatte sie freilassen wollen. Der Ehrliche ist immer der Dumme. Wer hatte das noch mal gesagt? Warstein seufzte schwer. Er sank zurück, um sich anzulehnen, doch bei der Berührung mit der Kopfstütze stach es heftig in seinem Schädel. Er musste ein Stöhnen unterdrücken. Er fühlte sich so tot und leer. 27
So müde. Erschlagen. Fertig. Erschossen. »Ich hab Hunger« , sagte er. »Du hast nichts zu haben« , erwiderte Alexandra kalt. »Du hast abzuwarten, was du kriegst.« Sie deutete mit dem Kopf nach hinten. »Aber ich werd dich schon nicht verhungern lassen.« »Mit welchem Gift haben sie dich geimpft?« Warstein schaute sie an. »Wen soll ich umgelegt haben? Dein Kind? Deinen Lieblingsbruder? Deinen Vater? Das erzählen sie den Neulingen nämlich immer - damit sie richtig wütend und blind für die Wahrheit werden.« Er räusperte sich. »Nach dem ersten Vertrag haben sie dich dann am Wickel. Dann wohnst du für den Rest deines Lebens in Hotels und unterhältst dich vor dem Schlafengehen nur noch mit den Waffen in deinem Koffer.« Alexandras Augen blitzten auf. »Ja, sie haben mir wirklich was erzählt.« »Pack aus« , erwiderte Warstein. »Vielleicht kann ich ja zur Erhellung der Sachlage beitragen.« Er machte sich trotzdem wenig Hoffnungen. Wer geimpft war, war auch darauf vorbereitet, dass sein Opfer die eigene Mutter in die Pfanne haute, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. »Sie haben mir von deinem letzten Vertrag erzählt« , fauchte Alexandra. »Der Job in Paris, im Hotel Ritz. Vor sechs Wochen. Der Mann war mein Vater.« Warstein gab sich die größte Mühe, nicht aufzustöhnen. Heiligabend 2011. Der Franzose. »Er hieß Iwan Pawlowitsch Korsakow.« 28
Warstein erbleichte. Er konnte nichts dagegen machen. Seine Kehle wurde eng. Er schnappte nach Luft. »Das … hab ich nicht gewusst« , keuchte er. »Wie zum Teufel hätte ich es wissen sollen? Der Vertrag kam über die Leitung in Moskau. Man hat mir gesagt, er wäre Franzose. Ein gewisser Jean Paul Sowieso … Mein Gott, Alexandra, ich hab es wirklich nicht gewusst. Wir erfahren nie etwas über die Hintergründe, und das hat auch seinen Sinn.« »Komm mir bloß nicht mit diesem Scheiß« , erwiderte Alexandra höhnisch. »Dass der Vertrag über die Leitung gekommen ist, glaubst du doch selbst nicht! Mein Vater hatte einen Vertrag. Er sollte dich ausschalten, weil man von deinen Ausstiegsplänen erfahren hatte. Du bist ihm nur zuvorgekommen.« Warstein drückte den Hinterkopf vorsichtig gegen die Kopfstütze. Draußen war es nun ziemlich dunkel geworden. Die schneebedeckte Landschaft wurde einer verwaschenen Fläche. Durch sein schmerzendes Hirn torkelten allerlei Gedanken. Nun saß er wirklich in der Tinte. Die Idee, Alexandra mit seinem Charme einzuwickeln, konnte er vergessen. Die Leitung hatte von seinem Vorhaben erfahren und zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Er hatte Korsakow - aus Gründen, die niemanden mehr interessierten - umgelegt, damit Alexandra ihre Feuertaufe bestehen konnte. Man hatte sie beide missbraucht. Korsakow hatte selbst zur Leitung gehört. Der Teufel mochte wissen, aus welchen Gründen er sich bei seinen Kollegen unbeliebt gemacht
hatte. »Wenn ich dir diesen Vertrag gegeben hätte, hätte ich dir das Gleiche erzählt« , sagte Warstein leise. »Ich habe gar keinen Vertrag« , erwiderte Alexandra. »Ich soll dich nur in Sicherheit bringen. Das heißt aber nicht, dass ich dich nicht umniete, wenn du Zicken machst.« »Wo bringst du mich hin?« , fragte Warstein. Alexandra zuckte die Achseln. »Zu ein paar Leuten, die dringend mit dir sprechen wollen.« »Obwohl das Ende der Welt vor der Tür steht?« »Ganz wird sie bestimmt nicht untergehen. Und die Leute, die ich meine, haben natürlich vorgesorgt.« Warstein seufzte. Ja, dachte er, das kann ich mir lebhaft vorstellen. Die haben seit dem Zusammenbruch der alten Sowjetunion Milliarden und Abermilliarden gescheffelt. Und da sie schon vor der Wende zu den Wohlsituierten gehört haben, wissen sie auch, wo die wirklich sicheren Bunker unter der Erde vergraben sind … Die werden ganz bestimmt überleben … *
Früher Abend. Noch nicht ganz Essenszeit. Der Zug ratterte durch endloses Dunkel. Am Himmel glitzerten Sterne. Der Speisewagen, der sich an den Waggon mit dem abschließbaren Dienstabteil anschloss, war voller Menschen. Warstein sah ihnen schon beim Eintreten an, dass sie auf heißen Kohlen saßen. Sie schau-
ten oft auf die Uhr. Ein russischothodoxer Pope, der mit dem bulgarischen Arzt an einem Zweiertisch saß, bewegte murmelnd die Lippen, als spräche er ein Gebet. Warstein sah den Reisenden an, dass jeder Kilometer, der sie von Jakutsk fort brachte, sie glücklich machte. Einige Passagiere saßen vor halb geleerten Flaschen und stierten vor sich hin. Viele rauchten nervös. Andere telefonierten. Ein junger Glatzkopf, auf dessen T-Shirt Rich Kid stand - seine hochnäsige Miene deutete an, dass er Sohn von Beruf war -, legte sich keine verbalen Zügel an: Seine mit amerikanischem Akzent hervorgestoßenen Worte zielten darauf ab, den anderen Fahrgäste zu verklickern, dass er dicke Aktienpakete besaß. Ein halbes Dutzend Männer und Frauen, die Deutsch sprachen und WDR-Kappen trugen, nuckelten an Cocktails. Nur an einem Tisch waren noch Plätze frei. An ihm saß eine Wasserstoffblondine mit den dicksten Silikon-Klötzen, die Warstein je außerhalb schweinischer Videos gesehen hatte. Vor ihr lag ein amerikanisches Taschenbuch. Irgendein Bestseller, tausend Seiten dick. »Ist hier noch frei?« Obwohl Alexandras Miene deutlich sagte, was sie von Wasserstoffblondinen und Silikon hielt, sprach sie die Lady an. »Dürfen wir uns zu Ihnen setzen?« »Yeah, of course.« Kalifornischer Akzent. Hollywood. Oder nähere Umgebung. Alexandra gab Warstein mit einem Nicken zu verstehen, er solle sich ans Fenster setzen, der Blonden gegenüber. Als er Platz nahm, fiel der Blick der 29
Lady auf seine Hände und sie sah die blitzenden Armbänder. Alexandra hatte sie ihm mit Unterstützung des pferdegesichtigen Zugführers und eines kräftigen Schaffners nach vorn geschnallt. Sonst hätte er keine Mahlzeit einnehmen können. »Gosh! Wow!« Blondie bleckte ihre vierundsechzig Zähne. »Sind Sie 'n echter Gangster?« Warstein zuckte mit einem leichten Grinsen die Achseln. »Ich bin noch nicht verurteilt. Bis dahin bin im herrschenden Sprachgebrauch nur 'n mutmaßlicher Gangster.« Blondie lachte. »Ich bin entzückt! Sie sind 'n Mann nach meinem Geschmack.« Sie streckte eine Hand aus, packte Warsteins Rechte und beäugte interessiert die Armbänder. Alexandra schenkte ihr einen verächtlichen Blick, griff aber nicht ein. »Ich bin Della Del Rio. Aber sagen Sie Della zu mir.« Alexandra ignorierte die Dame und griff nach der Speisekarte. »Ralph Warstein. Ebenfalls sehr entzückt. Sind Sie beim Film, Della?« Della kicherte. »Sozusagen. Eigentlich mach ich nur DVDs. Filme für Erwachsene, wenn Sie wissen, was ich meine.« Sie deutete hinter sich. »Ich hab grad 'n dicken Preis für meine Arbeit gekriegt, in Rom, Frankreich. Auf 'nem Festival.« »Rom, Italien« , sagte Warstein. »Wirklich? Als das Festival zu Ende war, hab ich mir gedacht, fahr doch mal 'n bisschen durch Europa, Della, und guck dir die Gegend an, aus der deine Eltern 1990 abgehauen sind.« »Stammen die aus Jakutsk?« , fragte 30
Warstein. Della nickte. »Ich bin auch da geboren, aber ich kann mich an nichts mehr erinnern. Ich war noch 'n Baby, als wir da weg sind.« Der Kellner kam. Alexandra sprach auf Russisch mit ihm, und Warstein nutzte die Gelegenheit, einen Blick auf den Rest der Fahrgäste zu werfen. Rich Kid, der noch immer telefonierte, begattete Della mit den Augen. Auch die beiden schnauzbärtigen Jakuten - sie wirkten wie Pelzjäger - und der bulgarische Arzt schienen beim Anblick des blonden Busenwunders visuelle Freude zu empfinden. Das Sprachgewirr in ihrer Umgebung war babylonisch. Die meisten Passagiere waren offenbar Touristen. Möglicherweise hatten sie aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse als Letzte von der bevorstehenden Katastrophe erfahren. »Sehen Sie den Clown da hinten, der ständig mit seinem Börsenmakler telefoniert?« Della kicherte. »Der hängt schon seit Rom wie eine Klette an mir.« Sie beugte sich vor. »Ich glaub, er ist 'n Fan von mir.« Warstein nickte. »Er glotzt Sie an wie Nachbars Lumpi.« Della schüttelte sich. »Er ist irgendwie unheimlich, nicht?« Sie nahm Warsteins bunte Nase in Augenschein. »Sind Sie hingefallen? Brauchen Sie ärztliche Hilfe?« Sie deutete auf den Bulgaren. »Es ist nämlich 'n Arzt an Bord. Dr. Rogoff heißt er. Ist auch 'n Fan von mir. Auf dem Bahnhof wollte er 'n Autogramm von mir haben. Er ist viel netter als der blöde Yuppie.« »Ich hab ihn schon kennen gelernt.«
Der Kellner kam zurück. Die Auswahl war nicht groß: Er servierte Alexandra und Warstein Koteletts mit Bratkartoffeln. Della erbot sich, ihm das .Fleisch klein zu schneiden. Alexandra, der dies nicht zu schmecken schien, überwachte sie dabei mit scheelen Blicken. Warstein haute rein. Das Knurren in seinem Magen legte sich. Zwar war er noch immer weit davon entfernt, Bäume ausreißen zu können, aber er spürte, dass seine Lebensgeister langsam wieder erwachten. »Ist Ihre Begleiterin von der Polizei oder vom Geheimdienst?« , plapperte Della weiter. »Kann sie uns überhaupt verstehen? Was haben Sie für 'n Ding gedreht? Sind Sie Spion oder so was? Soll ich mich bei Ihrem Konsulat für Sie einsetzen? Wo kommen Sie überhaupt her? Sind Sie Amerikaner? Sie sprechen wie einer aus New York.« »Die entzückende junge Dame neben mir arbeitet für die russische Mafia« , sagte Warstein frech. Es bereitete ihm diebisches Vergnügen, Alexandra neben sich empört nach Luft schnappen zu hören. »Diesen Typen kann man nicht trauen. Ich wette, sie legt mich bei nächster Gelegenheit um.« »Was?« Della riss Augen und Mund auf. Einer die WDR-Journalisten wandte sich um, korrigierte den Sitz seiner Brille und nahm Warstein näher in Augenschein. »Mr. Warstein scherzt nur.« Alexandra erdolchte Warstein mit einem Blick. Natürlich konnte sie kein Interesse daran haben, die Beachtung der Fahrgäste auf sich zu ziehen. Die Zugpassa-
giere gingen angesichts der Handschellen wahrscheinlich davon aus, dass sie Polizistin war und irgendeinen Verbrecher irgendwohin überführte. So etwas war in einem Land, in dem die meisten Straßen im Winter unpassierbar waren, nicht ungewöhnlich. Doch Sprüche dieser Art konnten sich als gefährlich erweisen: Journalisten waren von Natur aus neugierig. Zudem waren die Männer an Nebentisch Deutsche. Erst jetzt schien Alexandra klar zu werden, was passieren konnte, wenn Warstein sich in seiner Muttersprache an sie wandte. »Was haben Sie eigentlich früher gemacht, Ralph?« , fragte Della neugierig. »Bevor Sie Gangster wurden, mein ich.« »Ich hab Bücher geschrieben. Aber die wollte niemand lesen. Den Kritikern haben sie auch nicht gefallen. Da musste ich mir ein neues Betätigungsfeld suchen. Von irgendwas muss der Mensch ja leben.« »Bücher?« Alexandra wirkte rechtschaffen schockiert. Sie glaubte wohl, Auftragskiller seien samt und sonders Analphabeten. »Ja« , sagte Warstein. »Ich …« Ein schreckliches metallisches Kreischen schnitt ihm das Wort ab. Die meisten Fahrgästehielten sich erschreckt an den Tischplatten fest und schauten sich mit besorgter Miene um. Der Zug, der gerade noch monoton durch die Tundra gerattert war, bremste scharf ab. Was war passiert? Als er quietschend zum Stehen kam, fiel Warsteins Blick auf die Waffe, die Alexandra unter dem Tisch auf seinen 31
Schritt richtete. Sie bemühte sich wirklich, kein Aufsehen zu erregen. Die deutschen Journalisten - Warstein sah erst jetzt, dass einer eine Kamera dabei hatte - standen eilig auf, schwangen sich in ihre dicken Pelz Jacken und folgten ihrem Chef an der kleinen Küche vorbei zur Tür. Die Leute waren vermutlich nicht zum Vergnügen in Sibirien, und Zwischenfälle wie dieser kamen ihnen wohl gerade recht. Als die Journalisten hinausgegangen waren, drückten sich die restlichen Fahrgäste an die Scheiben und äugten angestrengt und nervös ins Dunkel. Dann trat der Zugführer ein und sagte etwas. Alexandra übersetzte: Die Vollbremsung sei vermutlich auf irgendeinen technischen Defekt zurückzuführen; der Zugführer habe noch keine genauen Informationen, sei aber ganz sicher, dass man die Fahrt in kürzester Zeit fortsetzen könne. Die meisten Fahrgäste atmeten auf, doch vier, fünf Reisende schlängelten sich durch die Tischreihen und folgten dem Kamerateam, das nun offenbar im Freien Filmaufnahmen machte. Warstein sah den Kameramann und einige seiner Begleiter am Zug entlang in Richtung Lokomotive eilen. Die Gelegenheit ist günstig, dachte er, als ihm auffiel, dass auch Alexandra und Della konzentriert nach draußen starrten. Er warf einen Blick auf Alexandras Waffe und kalkulierte die Chancen, sie ihr zu entreißen. Gesetzt den Fall, er bekam sie in die Hände. Was sollte er dann tun? Geiseln nehmen? Den Zugführer zur Rückfahrt 32
nach Jakutsk zwingen, dort in seinen am Bahnhof geparkten Maybach steigen und Richtung Beringstraße abhauen? Die WDR-Journalisten und die anderen, die draußen in der Kälte herumkrauchten, dem sicheren Erfrierungstod ausliefern? Hätte ich doch bloß nie ein Buch aufgeschlagen, dachte Warstein verzweifelt. Hätte ich doch bloß nie gelernt, was Mitleid ist. »Es ist Schwachsinn« , hörte er Alexandra sagen. »Und das weißt du.« Warstein blinzelte. Sie hatte ihn beobachtet und seine Gedanken gelesen »Wenn du hier abspringst, bist du auch mit einer Knarre in der Hand in ein paar Stunden tot.« Warstein nickte. Sie hatte Recht. Es hatte keinen Sinn, sich was vorzumachen. Er hatte die Arschkarte gezogen. Ebenso gut hätte er versuchen können, einem Bullenkommando in der Antarktis zu entwischen. Er konnte nichts anderes tun, als im Zug zu bleiben und irgendwann einen Versuch zu machen, ihr die Waffe zu entreißen und im nächsten Bahnhof auszusteigen. Er rechnete nicht damit, dass die Firma ihnen ein Kommando entgegen schickte, um ihn in Empfang zu nehmen. Wenn der Komet so groß war, wie Alexandra behauptete, und die Auswirkungen seines Einschlags sich noch im Umkreis von eineinhalbtausend Kilometern bemerkbar machten, waren bestimmt längst alle Dörfer zwischen Jakutsk und Tiksi evakuiert. Warstein hörte nun aufgeregte Stimmen. Ein Schaffner kam in den Speisewagen. Er rief etwas, das die meisten
Fahrgäste nicht verstanden, aber mehrere des Russischen kundige Männer sprangen sofort auf und folgten ihm aus dem Speisewagen. »Steinschlag« , übersetzte Alexandra für die Touristen. »Die Lok kann nicht weiter. Man braucht Freiwillige, um die Strecke freizumachen.« Ein bärtiger blonder Tourist, der bisher rauchend und Bier vernichtend mit einer drallen dunkelblonden Frau geschäkert hatte, sprang ebenfalls auf und rief, sich einen Weg zur Tür bahnend, seiner Begleiterin in deftigem Kölsch zu: »Da mussisch doch hälllfen, Marina!« Auch Warstein machte Anstalten sich zu erheben, doch der stählerne Lauf von Alexandras Waffe drückte nun in seine Rippen. Ihre Blicke trafen sich. »Wie lange, hast du gesagt, kann ich da draußen ohne Schießeisen überleben?« Alexandra spitzte die Lippen. Dann nickte sie. »Na schön. Geh raus. Wir müssen so schnell wie möglich weiter. Die Leute hier brauchen jede Hand.« Warstein hielt ihr die Handschellen hin. Zuerst sah es so aus, als wolle sie in die Tasche greifen, um sie aufzuschließen, doch dann schien sie es sich zu überlegen. »Das geht zu weit. Und dicke Steine kannst du auch so heben.« Sie deutete mit dem Kopf zur Tür. Warstein seufzte, dann ergab er sich seinem Schicksal. Alexandra stand auf und machte ihm Platz. Während Della sie kopfschüttelnd musterte, durchquerte Warstein den Speisewagen. Kurz darauf schaute er durch die of-
fene Waggontür ins Freie. Vorne, an der Lok, war allerhand los. Ein bis zwei Dutzend Männer wimmelten dort herum und schleppten Felsbrocken. Der Speisewagenkellner, der neben Alexandra ins .Freie sprang, setzte Warstein im Vorbeigehen einen Schutzhelm auf. In Gebieten, in denen es zu Steinschlag kam, konnte einem sicher auch mal was auf den Kopf fallen. Die Luft war eiskalt. Ein schneidender Wind fauchte Warstein ins Gesicht. Als er den Kinnriemen des Helms an seinen Hals drückte, erfüllte ein unheimliches Brausen die Luft. Irgendwie schien es heller geworden zu sein. Obwohl Warstein es besser wusste, schob den Kopf ins Freie, um zu prüfen, ob die geografischen Gegebenheiten einer Flucht vielleicht doch förderlich waren. Doch die Landschaft war felsig und verschneit. Nirgendwo war ein Licht zu sehen, das auf eine bewohntes Gegend hindeutete. »Wenn du türmst« , sagte Alexandra, »schieß ich dich über den Haufen.« Und dann war es plötzlich da. Das Licht. Es flutete blutrot über den Horizont wie eine aus kalten Meeresfluten auftauchende Sonne. Ein runder Körper, flackernd wie ein Irrlicht. Eine Sekunde später sahen es auch die Leute im Speisewagen. Sie schrien überrascht auf. Warsteins Kinnlade sank herunter. Er spürte, dass die hinter ihm stehende Alexandra zurückwich. Im gleichen Moment vernahm er ein gewaltiges Tosen und Pfeifen. Am Horizont blitzte es knallrot. Die Männer, die an der Lok zugange waren, schrien überrascht auf. 33
Dutzende von Köpfen flogen herum. Alle schauten auf das unerklärliche Phänomen, das sich nun anschickte, die Nacht zu erhellen. »Der Komet« , hörte Warstein Alexandra keuchen. Das Tosen schwoll dermaßen an, dass es Warsteins Gehörgänge quälte. Ein kurzer Blick nach rechts sagte ihm, dass es den Eisenbahnern, Journalisten und Fahrgästen nicht anders erging: Die Menschen standen wie Ölgötzen neben dem Gleisschotter und hielten sich die Ohren zu. Ein infernalisches Pfeifkonzert jagte ihnen vom Horizont her entgegen, und als Warstein zum Himmel aufschaute, glaubte er ganze Wälder entwurzelter Bäume wie Streichhölzer durch die Luft fliegen zu sehen. Das Pfeifen zwang ihn in die Knie und ließ seine Augen so heftig tränten, dass er alles nur noch wie durch einen Gazeschleier sah. Dann wurde das Krachen einer Explosion laut, die alles in den Schatten stellte, was er je gehört hatte. Dort, wo gerade noch das rote Licht gewesen war, breitete sich nun rasend schnell Schwärze aus. Sie war so absolut, dass sämtliche Sterne verblassten. Ein schwarzer Pilz, der Warstein an die Dokumentaraufnahme einer Atomexplosion erinnerte, stieg hinter dem Horizont die Höhe. Hoch, hoch, noch höher. Der Pilz durchbohrte die Wolken. Schwärze breitete sich aus und fegte Erde, Gestein, Wälder und von Permafrost erstarrten Tundraboden vor sich her. Dann spielte die Luft verrückt. Im Nu bildeten sich riesige Wirbel, die wie 34
Tornados über die Landschaft fegten. Schwerelosigkeit … Warstein spürte, dass seine Füße nicht mehr auf festem Boden standen. Etwas schob ihn vor sich her. Etwas anderes saugte an ihm. Irgendwas krachte in seinen Rücken. Finger krallten sich in das Leder seiner Jacke. Er drehte sich plötzlich im Kreis. Eine Gestalt war in seinen Armen, dann ergriff ihn ein Wirbel und er starrte mit offenem Mund, der sich sogleich mit Dreck füllte, auf den Speisewagen. Er selbst - und die an ihn geklammerte Gestalt - schwebte in der Luft. Der Speisewagen hob sich von den Schienen und entfernte sich von ihm wie eine Papierschwalbe. All dies geschah in Sekunden, doch Warstein empfand es wie einen in Zeitlupe ablaufenden Film: Der ganze Zug - schätzungsweise zwanzig Waggons - wurde wie eine Spielzeugeisenbahn von der Kraft eines heranfegenden Sturms erfasst. Zahllose Tonnen Eisen verloren ihren Halt auf den Schienen, wurden in die Luft gerissen und wehten in mehreren Metern Höhe fort von ihm. Die Kupplungen zwischen den Waggons rissen wie Bindfäden. Die Einzelteile des Ganzen mächten sich selbstständig. Ein Waggon jagte, von einem Luftwirbel erfasst und in Rotation versetzt, so hoch in die Luft, dass Warstein ihn aus den Augen verlor. Die anderen entfernten sich mit rasender Geschwindigkeit von ihm und verschwanden im Dunkel der Nacht. Ein kurzer Blick dorthin, wo gerade noch die Lok gewesen war: Absolute Leere. Keine Spur vom Zugpersonal,
von den Journalisten, von den hilfsbereiten Fahrgästen. Dann sank Warstein in einem Inferno aus Dreck, Gestein, Holz und Metall in die Tiefe, knallte auf aufgewühlten Boden und hörte seine Knochen knacken. Die sich an ihn klammernde Last war Alexandra Korsakowa. Als er auf dem Boden lag, vor einem hoch aufragenden Felsen, ein gutes Dutzend Meter vom Gleiskörper entfernt, bemerkte Warstein, dass sie ohnmächtig war. Der Sturm, der mit Titanenkraft vom Horizont heranwehte, warf ihn über sie, und die Drecksturmflut, die über ihn hinweg wehte, verstopfte ihm Mund und Nase. Irgendein Instinkt sagte ihm, dass er Deckung suchen, sich an den riesigen Felsen pressen musste, damit die fliegende Erde ihn nicht begrub. Kleine Steine und Äste prasselten gegen seinen Schutzhelm und schlugen ihm ins Gesicht. Die Erde schien nun überall zu beben. Sie ächzte, knirschte, knackte und kreischte wie ein weidwundes Tier. Als Warstein in den Schutz des Felsens kriechen wollte, erwies sich dies als unmöglich, da die Wirbel nun wieder an ihm rissen. Alexandra hing wie eine Klette an ihm, und er brauchte eine ganze Weile, bis er bemerkte, dass der offene Reißverschluss seiner Jacke sich an ihrer Kleidung verhakt hatte. Schon fühlte er sich von dem Wirbel gepackt. Alexandras Kreuz krachte in seine Rippen. Warstein riss instinktiv die Arme hoch, warf sie über ihren Oberkörper und presste sie an sich. Er wusste nicht, ob sie noch lebte, und in diesem Moment war es ihm auch herzlich gleichgültig. Er hielt sie fest,
denn wenn sie tot war, konnte sie ihn vielleicht vor dem herumfliegenden Gestein schützen. Dann schleuderte der Wirbel sie und ihn nach hinten und Warsteins Rücken krachte gegen den schützenden Felsen. Er sah nun gar nichts mehr. Die Luft war schwarz und steinig und machte schon das Atmen zu einem gefährlichen Unterfangen. Erde bedeckte sie. Der Sturm fegte über sie hinweg. Die Lok und die Männer, die draußen gewesen waren, um den Steinschlag zu beseitigen, waren verschwunden. Vom Winde verweht. Der Speisewagen lag etwa fünfzig Meter von ihm entfernt auf der Seite. Was war aus den Menschen geworden, die arglos darin gesessen hatten? Der Schnee, der das Land noch vor wenigen Minuten bedeckt hatte, war verschwunden. Frisch herangetragene Erde hatte ihn bedeckt. Warstein schloss die Augen. Als er sie wieder öffnete, spürte er, dass er den Schutzhelm verloren hatte. Der Sturm war etwas abgeebbt, aber er hatte noch immer Orkanstärke. Als sein Blick auf den Speisewagen fiel, bemerkte er, dass der nun fast völlig unter einer dicken Erdschicht vergraben war. War er ohnmächtig geworden? Wenn ja, wie lange? Alexandra ruhte noch immer an seiner Brust. Sie rührte sich nicht, aber er spürte ihre Wärme. Noch immer peitschten Dreck und Vegetation Warsteins Gesicht. Er steckte bis zum Bauch in der Erde. Die Nacht war noch immer so schwarz wie die Hölle. Was 35
hatte Alexandra gesagt? Nuklearer Winter? Ewige Nacht? Für Monate, wenn nicht gar für Jahre? Gott im Himmel. Er war wie betäubt. Er wollte schreien, damit Alexandra erwachte, doch seine Stimmbänder waren wie gelähmt. Dafür klapperten seine Zähne. Sein Nasenrücken schmerzte. Warstein spannte seine Muskeln, um zu prüfen, ob er sich etwas gebrochen hatte. Er empfand keinen Schmerz. Trotzdem war er erledigt. In dieser Jahreszeit konnte niemand lange im Freien überleben. Schon gar nicht in einer endlosen Nacht. Als er einen Versuch machte, sich aus der Erde zu graben, fiel ihm ein, dass ihn die Handschellen noch immer banden. Wie gut, dass er Alexandra festgehalten hatte. In einer ihrer Taschen musste der Schlüssel sein, den er brauchte, um die Scheißdinger auf zuschließen. Dort wo der umgekippte Speisewagen lag, flackerte nun ein Licht auf. Gleich darauf hörte Warstein das hysterische Weinen einer Frau. Er hatte die Katastrophe also nicht allein überlebt. Warstein grub sich ächzend einen Weg aus der Erde, schob Alexandra von sich herunter, presste sich neben ihr auf den harten kalten Boden und legte die rechte Hand auf ihre Halsschlagader. Er ertastete nichts. Kein Wunder. Seine Finger waren schmutzverkrustet und sahen aus wie Maulwurfskrallen. Er nahm sich die Taschen ihrer Jacke vor. Sie waren mit Erde gefüllt. Verdammt. In dieser Umgebung hatte es keinen Zweck, den Schlüssel zu suchen. Seine Hände waren kalt, gefühllos und 36
zitterten. Selbst wenn er ihn fand, würde er ihn vermutlich verlieren. Er musste sich Alexandra über die Schulter wuchten und zum Wrack des Speisewagens schleppen. Schwachsinn, mit gefesselten Händen. Wo war ihre Kanone? Er musste sie wenigstens entwaffnen. Er fand auch ihr Schießeisen nicht. Vielleicht hatte sie es verloren. Warstein brachte Alexandra schnaufend in eine halb sitzende Position und drückte sie rückwärts an den hohen Felsen. Sie schien mehrere Zentner zu wiegen, was bei ihrer Körpergröße mehr als unwahrscheinlich war. Aber wahrscheinlich empfand er nur aufgrund seiner Erschöpfung so. Mehrere Versuche, ihre schlaffe Gestalt auf seine Schulter zu heben, endeten fruchtlos: Der Sturm warf ihn jedes Mal um, sobald er sich aufrichtete. Schließlich gab Warstein es auf. Er packte Alexandra am Kragen und schleifte sie geduckt dorthin, wo das Geschrei der Frau nicht verstummen wollte. Er schätzte die Strecke auf fünfzig Meter, aber sie kam ihm wie fünfzig Kilometer vor. Der Waggon war zu neunzig Prozent unter einem Erdhügel vergraben. Er musste Alexandra hinauf ziehen. Die Tür, durch die der Wirbel sie ins Freie gesaugt hatte, war nun eine Art Dachluke. Warstein ignorierte seine schmerzenden Muskeln, versuchte den Hügel rückwärts zu erklimmen und zerrte Alexandra am Kragen hinter sich her. Als er ihn fast überwunden hatte, drosch der Orkan gegen seine Brust und
warf ihn nach hinten. Der Kragen riss ab. Warstein rappelte sich fluchend auf, arbeitete sich erneut an die Bewusstlose heran und griff unter ihre Achseln. Er zog Alexandra hinter sich her, bis er hinter sich eine Leere spürte. Er hatte den Eingang zum Speisewagen erreicht. Irgendwie gelang es ihm, sich in die Tiefe hinab gleiten zu lassen und Alexandra mit sich zu ziehen. Über ihm kreischte der Sturm, doch er wehte ihm wenigstens nicht mehr ins Gesicht. Warstein ließ sich zu Boden sinken und schnappte nach Luft. Hinter ihm in der Finsternis war das Geschrei nun verstummt. Er hörte mehrere Stimmen. Sie fluchten und beteten. Warstein verschnaufte. Er brauchte einen Moment Ruhe, damit sich das Zittern seiner Hände legte. Alexandra lag flach vor ihm auf dem Boden. »Ralph! Ralph, sind Sie das?« Della. Warstein meldete sich. Kurz darauf kroch eine schmutzige Gestalt auf ihn zu. Der Strahl einer Taschenlampe leuchtete ihm ins Gesicht. »Guter Gott, Sie sind es wirklich.« »Sie glauben nicht, wie ich mich freue, Sie zu sehen« , schnaufte Warstein. Er deutete auf Alexandra. »Seien Sie lieb. Leuchten Sie Alexandra mal an.« »Ist sie tot?« Warstein konnte zwar nicht viel erkennen, aber Della sah schrecklich aus. Sie rutschte auf den Knien neben ihn und beugte sich über die leblose Gestalt. Ihre Nylons waren nur noch Fetzen. »Ich weiß nicht.« Warsteins Herz schlug heftig, und er empfand plötzlich leichte Übelkeit. Hoffentlich hatte er
sich nichts gebrochen. »Ich muss den Schlüssel für die Handschellen finden, sonst kann ich mich nicht bewegen.« Della leuchtete Alexandras Oberkörper an, und Warstein filzte mit äußerster Sorgfalt ihre Taschen. Er förderte mehrere Pfund Dreck zutage. Schließlich fand er den winzigen Schlüssel. Er reichte ihn Della, damit sie die Handschellen aufschloss. »Danke …« Warstein rieb seine Handgelenke und atmete tief ein. Er fühlte sich nun wieder als Mensch. Jetzt galt es nur noch, Alexandras Schießprügel zu finden. Es war nicht auszuschließen, dass sie beschloss, ihn selbst zu richten, . wenn sie zu sich kam und den Ernst der Lage erkannte. »Ich bin froh, dass Sie wieder frei sind« , sagte Della krächzend. »Sie haben doch bestimmt nichts Böses getan.« Sie grinste. »Na, selbst wenn Sie was Böses getan haben … Es ist mir scheißegal, solange Sie mir nichts tun.« Warstein klopfte ihr auf die Schulter. »Keine Bange. Ich tu niemandem mehr was.« Er schaute sich um, deutete auf die Tür, die ins Speisewagen-Restaurant führte. »Wer ist da noch drin?« Dellas Kinn zitterte. »Dr. Rogoff« , hauchte sie. »Und die Russin, die immer ,Hansi' schreit. Ich weiß nicht, was Hansi bedeutet. Ich versteh kein Russisch.« Sie schluckte. »Der doofe Yuppie ist auch noch da. Und noch 'n paar andere Leute. Vielleicht zehn oder zwölf. Ich weiß nicht. Viele rühren sich nicht mehr. Ich glaub, die sind tot.« Ein plötzliches Husten ließ Warstein zusammenzucken. Dann krachte etwas gegen seine Wange. Er flog zurück, 37
griff instinktiv zu und erwischte ein Handgelenk. »Alexandra?« Dellas Taschenlampenstrahl richtete sich wieder auf die liegende Gestalt. Alexandras Gesicht war rabenschwarz. Nur das Weiße ihrer Augen war sichtbar. Sie würgte, öffnete den Mund und spuckte Dreck aus. »Wo … bin ich?« , brachte sie abgehackt heraus. »Was ist passiert?« Sie schaute sich verwirrt um. »Wieso ist es so dunkel?« »Der Komet ist passiert« , erwiderte Warstein leise. »Der Zug ist hin.« »Hin?« »Der Sturm hat ihn fortgeweht.« Alexandra richtete sich stöhnend auf. »Wo sind wir?« »Im Speisewagen, Schätzchen« , sagte Della. Sie strich Alexandra übers Haar. »Er ist umgekippt. Das hat vielleicht gekracht …« »Der Sturm hat ihn gegen einen Hügel geworfen«, sagte Warstein. »Vielleicht war das unser Glück.« Quatsch, dachte er. Es wird unser Ableben nur ein wenig verzögern. »Hansi!« , schrie nun eine Frauenstimme. Und dann, auf Deutsch: »Wo bist du? Wo bist du?« »Wer ist Hansi?« , fragte Alexandra. »Der Kölsche Jung, glaub ich.« Warstein zuckte die Achseln. »Ich fürchte, er hat längst ins Gras gebissen, wie die meisten Menschen, die nicht im Speisewagen waren.« Alexandra setzte sich aufrecht hin. Das Licht der Taschenlampe, das nun auf Warsteins Hände fiel, zeigte ihr, dass er frei war. »Hat wohl keinen Zweck, nach dem 38
Verbleib meiner Kanone zu fragen, was?« Alexandra rappelte sich auf. »Nein.« Warstein schüttelte den Kopf. Ich wüsste selbst gern, wo sie ist. Aber es ist wohl besser, dass du von meiner Ahnung slosigkeit nichts erfährst. Er deutete ins Innere des Speisewagens. »Ich schlag vor, wir schauen nach, ob wir jemandem helfen können.« Alexandra schenkte ihm einen verächtlichen Blick. Dann nickte sie und setzte sich in Bewegung. Warstein und Della schlossen sich ihr an. Als sie in den Raum kamen, in dem sie kurz zuvor noch bei Kotelett und Bratkartoffeln gesessen hatten, empfand er fast Dankbarkeit dafür, dass nur diffuse Helligkeit herrschte. Es minderte den Anblick der Menschen, die ums Leben gekommen waren. Irgendjemandem war es gelungen, aus der Küche Kerzen zu organisieren. Dr. Rogoff tastete sich von einem Fahrgast zum nächsten und verabreichte denen schmerzstillende Mittel, die es ohne nicht aushielten. Als Warstein hereinkam, schiente er mit Unterstützung eines Jakuten dem Popen gerade den linken Arm. Marina, die Russin, saß weinend in einer Ecke und rief leise nach ihrem Hansi. Der Zugführer hatte seine Dienstmütze verloren. Sein rotblonder Schopf wurde von einem Verband geziert, auf dem sich ein Blutfleck zeigte. Drei junge Frauen, offenbar Studentinnen aus Holland, zogen gerade einen Toten in den hinteren Teil des Waggons. Rich Kid hockte inmitten des Chaos am Boden und brabbelte in sein Satellitentelefon. Der Chef der Journalisten, der die Katastrophe offenbar als
Einziger überlebt hatte, beobachtete ihn kopfschüttelnd. Als er Warsteins fragenden Blick bemerkte, sagte auf Englisch: »Der Typ hat einen an der Waffel.« Er hob sein eigenes Telefon hoch. »Sämtliche Verbindungen sind tot. Ich hab's versucht. Aber der blöde Hund da redet angeblich mit seinem Broker.« »Scheiße« , sagte Warstein auf Deutsch. »Sind Sie ein Landsmann?« Der Journalist streckte ihm überrascht die Hand hin. »Freut mich, Sie kennen zu lernen. Ich bin Claus Bednarz. Ich glaub, die Welt geht unter.« »Malen Sie bloß nicht den Teufel an die Wand.« Warstein schüttelte Bednarz die Hand und stellte sich vor. Es kümmerte ihn jetzt nicht mehr, wer seine Identität kannte. Geheimniskrämerei war ab sofort fehl am Platze. Kein Aas würde sich jetzt noch dafür interessieren, was er auf dem Kerbholz hatte. Außerdem war der Name sowieso erfunden. *
Februar 2519. Eine halbe Stunde nach der entsetzlichen Schlappe, deren Konsequenzen allmählich hinter ihnen verstummten, ließ Jacob Smythe sich in dem Gehölz, das sie schon auf dem Hinweg durchquert hatten, ächzend unter einen Baum sinken. Das Schlimmste an der Niederlage war nicht, dass der Mann, vom dem er inzwischen wusste, dass er Black hieß, ihnen entkommen war. Es war viel
schlimmer, dass er, Professor Dr. Jacob Smythe, von der Vorsehung zum Herrn der Welt auserkoren, mit einer Frau zusammengekracht war und mit einer blutenden Nase hilflos am Boden gelegen hatte. Natürlich wurmte es ihn auch, dass der Hüne mit dem Vierkantkinn, der Arnold Schwarzenegger so ähnlich sah wie ein Zwilling, im Dunkel der Nacht verschwunden war. Nun musste er seinen schönen Plan, sich bei Nacht und Nebel in die Festung zu schleichen und Drax mit einer Drahtschlinge zu erdrosseln, erst mal zu den Akten legen. Vermutlich wimmelte es in der Umgebung von Drax' bizarrer Zuflucht nun von Bewaffneten. Das Dröhnen des fremdartigen Panzers war jedenfalls nicht zu überhören gewesen. Wenigstens waren sie von den fliegenden Rochen verschont geblieben. Die verdammten Viecher hatten offenbar nur beobachten wollen und sich zurückgezogen, als Lynne Crow abstürzte. »Was ist, Jacob?« Lynne beugte sich über ihn. »Kannst du nicht mehr?« Wenn du wüsstest, was ich alles kann, du blöde Kuh, dachte Smythe. Warst du jetzt nicht hier, würde ich dafür sorgen, dass dieser Stümper Bellows mindestens sechs Mal in mein Messer rennt … Er stöhnte leise, dann richtete er sich auf und erdolchte den jungen Mann, der mit seiner Ungeschicklichkeit alles verdorben hatte, mit einem Blick. Na, warte, wir sprechen uns noch. Bellows wäre nicht der Erste, den er auf der Reise von Washington hierher um einen Kopf kürzer gemacht hätte. 39
Aber es war klüger, sich Lynne nicht bis in die letzte Einzelheit zu offenbaren. Ihr Vater spielte eine wichtige Rolle im Sicherheitsrat der USRegierungsbunker. Wenn Jacob Smythe sein Fernziel erreichen wollte, tat er gut daran, sich ihr Vertrauen zu bewahren. Lynne würde eine Stiege in der Leiter sein, auf der er in der Hierarchie schnell aufstieg. Smythe schüttelte sich. »Los, wir gehen weiter.« Er nickte Bellows zu, der wieder die Führung übernahm. Sie brauchten diesmal fast zwei Stunden, um ihr gebirgiges Versteck zu erreichen. Als sie auf den Platz vor der Grotte kamen, verlangte sinnigerweise jemand nach der Parole. Bellows rief sie mit bebender Stimme, um nicht über den Haufen geschossen zu werden. Jackson, Pole und Blayre wirkten erleichtert, als sie sahen, dass es keine Verluste zu beklagen gab. Sie hatten das Feuergefecht in der Ferne gehört und das Schlimmste angenommen. Wenigstens hatte die Pole frischen Kafi aufgebrüht. Sie brachte Smythe eine Tasse, und er ließ sich in der Grotte vor einem Panzer auf einem Klappstuhl nieder. Seine Hände zitterten noch immer. Seine Nase tat weh. Die verdammten Rochen hatten sie abgelenkt. Wären sie nicht gewesen, hätten sie Black bestimmt früher bemerkt und schnell ausgeschaltet … Smythe war nun fest davon überzeugt, dass die fliegenden Biester keine gewöhnlichen Tiere waren. Nein. Sie mussten ferngesteuerte Beobachter einer einheimischen Macht sein - möglicherweise der Echsenbiester. 40
Dass der Kafi so heiß war, dass er sich beinahe die Lippen verbrannte, besserte Smythes Laune auch nicht. Lynne unterhielt sich kurz mit dem Mob, dann schickte sie Private Blayre und Corporal Jackson hinaus, um die Lage zu peilen. Corporal Pole und Private Bellows begaben sich zu ihren Schlaf sacken und rollten sich ein. Smythe hörte, dass sie sich flüsternd unterhielten. Lynne kam zu ihm hin und baute sich vor ihm auf. Natürlich sah sie seiner Miene an, wie sauer er war. »Sei nicht kindisch, Jacob« , sagte sie. »Du glaubst doch wohl nicht, dass ich ernsthaft überlaufen und dich in die Pfanne hauen wollte?« Was? Smythes Kopf zuckte hoch. Da war er wieder, der alte Argwohn. Er war von Inkompetenz und schleichendem Verrat umgeben. Was redete sie da? Dann begriff er. Sie hatte keine Ahnung, was er von ihrem Gespräch mit Black mitbekommen hatte. Nur deswegen ging sie in die Offensive. Sie hatte ihm also das Angebot gemacht, mit Drax' Haufen zusammen zu arbeiten. Wie schön. »Ich hab das doch nur gesagt, um Black hinzuhalten« , fuhr Lynne fort. Sie wirkte irgendwie fahrig, fand er. Wie jemand, der ein schlechtes Gewissen hat. Ich glaub dir kein Wort, dachte er. Du wolltest deinen Hals retten, du falsche Schlange. Dazu hättest du, wenn nötig, auch deinen hochdekorierten Alten ans Messer geliefert. »Das weiß ich doch« , heuchelte er und blies mit gesenktem Blick in die Blechtasse.
Dennoch, der Spaltpilz wucherte. Er fühlte sich heftig in seiner Ehre gekränkt. Mit ihm trieb man keine Scherze. Nicht mal zum Spaß. Er war derjenige, der Scherze mit anderen trieb. Bellows würde in Bälde zu spüren kriegen, wie witzig Professor Dr. Jacob Smythe sein konnte. Der Versager hatte den Tod verdient. Ganz ruhig bleiben! Smythe nippte an seinem Kafi. Er musste sich zusammennehmen. Es hatte keinen Zweck, jetzt zu schäumen und zu toben. Es hätte nur Lynnes Widerborstigkeit geweckt. Man durfte es nicht zu weit mir ihr treiben. In dieser Hinsicht war sie fast wie er. Andererseits neigte sie zur Nachgiebigkeit, wenn er schmollte. Vielleicht sollte er die Gelegenheit nutzen. Er trank noch einen Schluck, dann bedeutete er ihr, sich hinzusetzen. Lynne war brav. Sie wollte keinen Stress. »Wir haben eine Chance vertan, die wir nie wieder kriegen werden« , sagte er so leise, dass Bellows und die Pole ihn nicht hörten. »Dir ist natürlich klar, dass wir aufgrund unserer jämmerlichen Personallage nur noch in der Lage sind, den ersten Teil unseres Auftrags erfüllen - die Beschaffenheit des Kometen im Kratersee festzustellen. Den zweiten Teil - seine Absicherung gegen Dritte müssen wir vergessen, da der Feind uns haushoch überlegen ist und vermutlich mit uns unbekannten Mächten paktiert.« Lynne nickte langsam. Smythe sah ihrem Gesicht an, dass sie nicht in der Lage war, dies zu bestreiten. Smythe beugte sich vor. »Da unsere
Munition inzwischen knapp ist und die Wahrscheinlichkeit besteht, dass Drax und seine Banditen uns irgendwann hier aufstöbern, schlage ich Folgendes vor: Wir erledigen so schnell wie möglich den ersten Teil unseres Auftrags. Dann packen wir die Aufzeichnungen und alles, was wir noch haben, in einen Panzer, machen den anderen unbrauchbar und kehren nach Washington zurück.« Lynne nickte zögernd. »Der erste Teil unseres Auftrags ist ohnehin der Wichtigere. Das Geheimnis des Kratersees ist möglicherweise von besonderer Bedeutung für die künftigen Herren der Welt.« Herren?, dachte Smythe belustigt, doch ohne eine Miene zu verziehen. Es kann nur einen geben. Dann nickte er und setzte die Tasse wieder an seine Lippen. »Sobald ich hiermit fertig bin« , sagte er, »brechen wir auf.« *
Februar 2519. In den oberen Etagen der mysteriösen Kristallfestung roch es noch immer stark nach Rauch. Matthew Drax, von seinen Kumpels Matt, von seinen Untergebenen in der nicht mehr existenten US Air Force »Sir« oder »Commander« gerufen und von seiner Geliebten aufgrund eines Verständigungsproblems von Anfang an nur »Maddrax« genannt, rümpfte die Nase, als er die nächste Ecke umrundete. Die Nachwirkungen der Feuerkatastrophe, die sich der inzwischen tote Bru'ban mit seinen mentalen Kräften 41
entfacht hatte, waren überall spürbar. Der Rauch der Flammen war bis ganz nach oben gestiegen. Es muffelte in allen Gängen und Räumen. Matts schlaksiger Freund und Kollege David McKenzie, in besseren Zeiten Astrophysiker und Angehöriger der Astronomie Division der US-Luftwaffe, nun mehr oder weniger in den Diensten der britischen Monarchie stehend, hielt sich die Nase zu. Er hatte sich zudem einen Lappen vor den Mund gebunden, damit sein Bart den Qualmgeruch nicht annahm. Eine Dusche hatten sie in dem verschachtelten Kasten, über dessen Erbauer sie wenig mehr als den Namen wussten, noch nicht entdeckt. Der dritte Angehörige des Kommandos, der hellhäutige Albino Rulfan von Coellen, hatte für die empfindlichen Nasen der beiden Männer aus der Vergangenheit nur verächtliche Blicke übrig. Wieso habe ich, wenn ich den Kerl sehe, immer das Gefühl, ich müsste jemandem in den Arsch beißen?, dachte Matthew Drax, während sein Blick durch einen Korridor wanderte, von dem allerlei offene Türlöcher abwichen. Dabei wusste er die Antwort: Weil sich Rulfan mit Aruula vergnügt hatte, während er selbst in Meeraka verschollen gewesen war. Wenn er ehrlich war, hatte damals nicht die geringste Chance bestanden, dass Aruula ihn je wiedersah. Als Sklave hatte er auf dem Segler eines Kolumbus der Gegenwart den Ozean überquert, um das Land der unbegrenzten Möglichkeiten zum zweiten Mal zu entdecken, während Aruula in Rulfans Begleitung durch das Land ihrer Väter gezogen war … 42
Okay, er selbst hatte sich auch zwei Seitensprünge in Meeraka geleistet, nicht mehr als flüchtige Abenteuer. Vorbei. Er hatte es Aruula gebeichtet, und sie hatte ihm - wenn auch erst nach einer Weile - verziehen. Aber Matt spürte deutlich, dass Rulfan noch immer scharf auf Aruula war und das auch bei jeder sich bietenden Gelegenheit durchblicken ließ. Und er wirkte so verdammt selbstsicher dabei. Vergiss den Scheiß, flehte Drax seine nagende Eifersucht an. dm bist doch kein Spießer. Du bist ein Kind des tollen 20. Jahrhunderts. Da waren alle Menschen frei und hatten keine sexuellen Komplexe. Er bedauerte es wirklich, keine Hirnerweiterungen zu haben wie der Cyborg . Aiko. Er hätte die ganzen Zweifel und das Misstrauen darauf ausgelagert und abgeschaltet. Mit aller Macht zwang er seine Gedanken zur ursprünglichen Aufgabe zurück. Sie wollten herausfinden, was das seltsame Klirren erzeugte, das ihn, Dave und Rulfan so spät am Abend in die obersten Stockwerke gelockt hatte. Es war nicht so, dass sie glaubten, hier triebe ein Gespenst mit rostigen Ketten sein Unwesen. Aber die mannigfaltigen Gefahren am Kratersee - sowohl tierischer als auch pflanzlicher Natur - legten nahe, auch ein einfaches Klirren erst einmal als Bedrohung einzustufen, bis sie sich vom Gegenteil überzeugt hatten. Matt und seine Begleiter schauten in jeden Raum dieser Etage, und dies beschäftigte sie über eine halbe Stunde lang. Dann wandten sie sich wieder der Kristalltreppe zu und
nahmen das nächste Stockwerk des monumentalen Baus in Angriff. Irgendwann fand Matt sich in luftiger Höhe in einer Art Wintergarten wieder und schaute einem Rochenschwarm zu, der mit eleganten Bewegungen die obersten Bereiche der Festung umkreiste. Die Rochen waren auf ihrem Rücken pechschwarz und weiß auf der Unterseite. Als sie ihn bemerkten, stiegen sie höher, als wollten sie sich nicht zum Angelpunkt seiner Aufmerksamkeit machen. Matt sah ihre schwarzen Knopfaugen, über denen ein grünlich schillernder Punkt prangte. Diese kleinen grünen Kristalle erinnerten ihn an das Material, aus dem auch diese Festung bestand. Je nachdem, wie sich das Mondlicht in ihnen brach, schillerten sie im gleichen Farbton. Matt schüttelte sich. Wenn man diese flachen Geschöpfe durch die luftigen Höhen gleiten sah, wirkten sie majestätisch, ungefährlich. Doch der Schein trog: Aruula hatte schon unliebsame Bekanntschaft mit ihnen gemacht. Es war sicher, dass die Rochen über Intelligenz verfügten. Eins der Biester hatte seine Gefährtin mit einer mentalen Energieattacke kampfunfähig gemacht und verschleppt. Aruula hatte festgestellt, dass ihre Tentakel, wenn sie sie verloren, wie Eidechsenschwänze nachwuchsen. Ihre Stachelschwänze konnten Menschen mit einem Hieb in zwei Teile zerlegen. Heute Nacht schienen sie jedoch nicht auf Beute aus zu sein. Deswegen fühlte Matt sich hinter den kristallinen Gitterstäben des Wintergartens relativ sicher. Er wandte sich ab.
Im gleichen Moment vernahm er wieder das geheimnisvolle Klirren, das ihn und seine Begleiter nach oben gelockt hatte. Matts Blick fiel durch den offenen Eingang des leeren Raumes und über den Korridor hinweg in ein gegenüberliegendes Zimmer, in dem Dave und Rulfan wie erstarrt standen. Matt huschte lautlos zu ihnen hinüber. Als er im Rahmen der Tür stand, erblickte er die Quelle des melodiösen Klirrens: ein phantastisch anmutendes, drei Meter hohes, von der Hand eines unbekannten Künstlers aus hauchdünnen Kristallscheiben erzeugtes Objekt. Sein Anblick versetzte ihn in Erstaunen. Das Objekt war ebenso mit dem Boden verwachsen wie viele der »Möbel« , auf die sie in der Festung gestoßen waren. Durch die kristallenen Gitterstäbe zweier großer, sich gegenüber liegender Fenster wehte leiser Wind. Er versetzte die »Blätter« des Objekts in Schwingungen und erzeugte so das feine Klirren, das bis weit nach unten zu hören war. »Es sieht wie 'ne Palme aus« , sagte McKenzie. Er zog das Halstuch von seinem Mund und zerzauste sinnierend seinen Kinnbart. »Kaum zu glauben, dass ein Künstler dieser Epoche so eine Feinarbeit hinbekommen hat. Sonst sieht hier alles ziemlich grob aus.« »Vielleicht war es kein Künstler dieser Epoche« , sagte Matt. Ihm fiel ein, was sie in den Datenspeichern des ARET über die mysteriösen »Waa'steiner« gefunden hatte, die Ahnen der ums Leben gekommenen Festungsbewohner. Ihr Name erinnerte ihn an manchen fröhlichen Abend in 43
Deutschland … Das unerwartete Krachen von Drillerschüssen ließ Matt und seine Begleiter zusammenfahren. Der Astrophysiker McKenzie warf sich flach auf den Boden. Rulfan jagte mit wehender Mähne an der Kristallpalme vorbei und presste sich neben einem Fenster mit dem Rücken an die Wand. Sein feines Gehör hatte offenbar in Sekundenschnelle in Erfahrung gebracht, wo geschossen wurde. Da in dieser Höhe keine Gefahr bestand, von einem Projektil getroffen zu werden, durchquerte Matt kaltblütig den Raum und baute sich an der anderen Fensterseite auf. Sein Blick fiel auf das hügelige Gebiet, das sich hinter der Festung erstreckte und nach und nach in eine Bergkette überging. An einer bestimmten Stelle - sie war vielleicht einen Kilometer entfernt - sah er das Aufblitzen einer Schusswaffe. Dann flammten kurz hintereinander in der Gegenrichtung einige Laserstrahlen auf und ließen ahnen, was los war: Mr. Black, der sich seit ihrer Ankunft in der Festung keine Gelegenheit entgehen ließ, die umliegenden Hügel zu erkunden und nach Spuren der WCAExpedition zu suchen, hatte Feindberührung! Dave McKenzie nickte Matt zu. »Sieht aus, als wäre unser Muskelmann in Schwierigkeiten.« »Yeah …« Matt legte die Hand auf das Schießeisen an seinem Gurt. »Wird Zeit, dass wir dem Kunstgenuss entsagen und uns auf die Socken machen.« Er hatte kaum ausgesprochen, als der vor Festung geparkte ARET aufheulte 44
und Rulfans Wolfshund anschlug. *
Februar 2012. Durch die nordostsibirische Republik Jakutien verliefen mehrere ins arktische Meer mündende Flüsse. Die Lena, die sich in die Laptewsee ergoss, war der größte. 1922 hatte ein gewisser Genösse Lenin die abgelegene Odnis zur autonomen Republik befördert. Doch auch nach dem Zerfall des von seinen Erben in Grund und Boden gewirtschafteten Systems war Jakutien die zweitgrößte russische Provinz geblieben. Tundra, Taiga, Sümpfe, Gebirge, Birken-, Fichten- und Kiefernwälder bestimmten das Antlitz der Region. Die früher nomadisch lebenden Jakuten, über Jahrhunderte hinweg die größte Volksgruppe der Republik, waren im 20. Jahrhundert in die Minderheit geraten. Die Wirtschaft Jakutiens widerspiegelte die Abgeschiedenheit und harten Lebensumstände der Region: Nur im Süden und im Lena-Becken waren Landwirtschaft, Rinder- und Rentierzucht möglich. Die Jakuten fischten und gingen auf Fuchs-, Hermelin- und Eichhörnchenjagd. Bergbau und Holzindustrie spielten eine gewichtige Rolle. Fünfundzwanzig Prozent aller Diamanten kamen aus jakutischen Minen. Riesige Gasvorkommen im WiljujsskBecken wurden über eine Pipeline nach Jakutsk geleitet. Im Jahr 2008 hatte man sogar die bis dahin nicht nennenswerten Verkehrswege zwischen der Hauptstadt und Tiksi ausgebaut, um von der nur drei bis vier Monate im Jahr schiffbaren
Lena unabhängiger zu sein. Doch all das nützt uns jetzt gar nichts mehr. Warstein seufzte und schüttelte sich. Der Sturm, der einfach nicht nachlassen wollte, ließ ihn trotz der Pelzkappe - er hatte sie einem Toten abgenommen - frösteln. Seine Nase schmerzte mehr als zuvor. Wahrscheinlich würde sie sich über kurz oder lang ohnehin in einen Eiszapfen verwandeln. Durch den Schal, den er vor seinen Mund presste, bekam er nur mangelhaft Luft. Sein Kopf ragte aus der Tür des umgekippten Speisewagens, doch wohin er auch schaute, er sah nur schwarze Finsternis. Kein Stern glitzerte am Himmel. Dabei behauptete das Leuchtzifferblatt seiner Armbanduhr, es sei nun elf Uhr morgens. Hell wurde es trotzdem nicht. Die Nacht war geblieben. Wenn Warstein einatmete, hatte er ständig das Gefühl, Staub zu schlucken. So sehr er sich auch anstrengte - er hörte nichts außer dem Heulen und Tosen des Windes. Und nun fing es auch noch an zu regnen … Die Welt war irrsinnig geworden. Warstein zerbiss einen Fluch zwischen den Lippen und zog sich langsam zurück. Die Waggontür war völlig verbeult und ließ sich nicht mehr schließen. Hoffentlich gab es keinen Wolkenbruch. Er hatte keine Lust, mitten in Sibirien zu ersaufen. Er tastete sich durch das Dunkel, was nicht einfach war, denn im Speisewagen hatten sich die Dimensionen sehr verschoben. Hinter der Tür, die ins Restaurant des Speisewagens führte, ging er erst mal in die Hocke und schaute sich
um. Chaos. Scherbenmeer. Zerschlagenes Mobiliar. Die beiden jakutischen Trapper hatten die nun den Fußboden bildenden Fenster notdürftig mit Tischplatten bedeckt, damit niemand ausrutschte und sich verletzte. Dem Zugführer Kolja war es immerhin gelungen, den Heizgenerator wieder ans Laufen zu kriegen. So waren sie wenigstens einstweilen vor dem Erfrieren geschützt. Della und Marina krauchten in den Überresten der Küche herum und versuchten so viele Lebensmittel wie möglich zu retten. Der Pope, die holländischen Studentinnen und Alexandra lagen, von der Erschöpfung übermannt, auf harten Behelfslagern. Im Licht der Kerzen wirkten ihre Gesichter bleich und ihre Nasen unglaublich spitz. Der Pope murmelte im Schlaf. Dr. Rogoff kniete mit sorgenzerfurchter Miene vor der phantasierenden Gattin des finnischen WodkaImporteurs, dessen Augen er vor einer Stunde zugedrückt hatte. Rich Kid hockte im Schneidersitz auf dem Boden und wählte irgendeine Nummer in New York. Sein Broker schien jedoch den Abschied eingereicht zu haben. Gegen Mitternacht hatte Warstein erfolglos eine halbe Stunde lang versucht, mit Alexandras Mobiltelefon irgendeine Verbindung zu kriegen und es dann aufgegeben. Auch Bednarz und Kolja hatten sich bemüht, Hilfe herbeizurufen. Aber entweder waren alle Systeme ausgefallen oder der Rest der Welt hatte genug mit sich zu tun. Der Ofen ist aus, dachte Warstein. Uns wird niemand retten. Wir sind auf 45
uns allein angewiesen. Punkt. »Ich glaube nicht, dass die Dame den Tag überlebt.« Dr. Rogoff sprach das wie gedruckt klingende Deutsch eines fleißigen Abendschülers. Er hatte sich seine praktischen Sporen als Touristenarzt an der Goldküste verdient. Seine Stirn war gerunzelt. »Andererseits glaube ich kaum, dass wir es viel länger machen, Herr Warstein.« Warstein seufzte. Nachdem er und die Jakuten die vielen Toten aus dem Waggon gehievt hatten, hatten sie ihre prekäre Lage stundenlang diskutiert. Abgesehen von dem verrückten Yuppie machte sich niemand Illusionen über das, was ihnen bevorstand. Sie konnten hier bleiben, bis die Batterie des Heizgenerators leer war, und dann langsam erfrieren. Vermutlich würden sie aber vorher verhungern, denn die Bahn, mit der sie unterwegs gewesen waren, war im Gegensatz zur weiter südlich verkehrenden Transsibirischen nicht auf alle möglichen unvorhersehbaren Situationen und Zwischenfälle eingerichtet: Wer von Moskau nach Wladiwostok fuhr, musste damit rechnen, dass er statt der fahrplanmäßigen acht zehn oder zwölf Tage unterwegs war. Doch das, was sie an Lebensmitteln hatten, reichte auch bei strengster Rationierung höchstens für drei Tage. Der Kühlwaggon mit den Vorräten war vom Sturm verweht worden. Auch der Heizung war nicht unbedingt zu trauen: Kolja hatte gemeldet, dass irgendein wichtiges Teil abgebrochen war. Das Gerät war jetzt nur noch mit maximaler Leistung fahrbar. Entsprechend schnell würde das Heizöl verballert ein. 46
Nach der eiskalten Wacht an der Tür empfand Warstein die mollige Wärme im Waggon als sehr angenehm. Aber wenn es so weiterging, würden sie bald ins Schwitzen geraten und mussten trinken. Zwar waren nicht alle Flaschen zerbrochen, aber nicht jedes Getränk eignete sich zum Durstlöschen. Zu ihrem großen Pech hatten hauptsächlich Cognac und Krimsekt die Katastrophe überlebt. »Ich habe festgestellt, dass der linke Unterschenkel Ihrer Freundin angebrochen ist« , sagte Dr. Rogoff. »Wie? Was?« Warstein schaute auf. Sein Blick fiel auf Della, die mit Marina die noch verzehrfähigen Lebensmittel so verpackte, dass der allgegenwärtige Dreck sie nicht verschmutzte. Dann wurde ihm klar, dass Rogoff Alexandra meinte. »Ich habe das Bein notdürftig geschient. Aber laufen kann sie damit nicht.« »Wieso hat sie nichts davon gesagt?« , fragte Warstein. »Sie hatte einen Schock.« Dr. Rogoff löste sein Stethoskop und stopfte es in seine Tasche. »Sie hat es gar nicht gemerkt.« Warstein bahnte sich einen Weg nach hinten, wo Alexandra auf dem Pelzmantel eines ins Freie beförderten Toten lag. Sie schlief, aber sie zuckte in einer Tour und atmete rasselnd. Welche Dämonen auch in ihrer Brust wüteten - als er sie so daliegen sah, vergaß er, was sie ihm angetan hatte. Es war keine Frage, dass sie ihren Unterstand in Kürze verlassen mussten. Wie Kolja gesagt hatte, war Jakutsk
nicht fern. Ein gesunder, kräftiger Mensch konnte die Strecke vielleicht in zwei Tagen hinter sich bringen. Aber wie wollte Alexandra es mit einem angeknacksten Bein schaffen? »Ich glaube, wir können nicht hierbleiben« , sagte Bednarz. Warstein drehte sich müde zu ihm um. »Oder glauben Sie, dass uns jemand rettet?« Warstein schüttelte den Kopf. »Niemand vermisst uns. Ich schlage vor, wir machen uns auf den Rückweg nach Jakutsk, sobald der Sturm es erlaubt.« »Glauben Sie, da lebt noch jemand?« Bednarz zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Aber die Stadt ist für sibirische Verhältnisse groß. Vielleicht finden wir dort wenigstens einen Unterstand, in dem wir uns wohler fühlen.« Er kratzte Schmutz von seinem Kinn. »Vielleicht kann man sich da sogar waschen.« Warstein beugte sich über Alexandra und begutachtete die Schiene, die Rogoff an ihrem Bein befestigt hatte. Draußen toste, heulte, knarzte und knisterte der Sturm. Er schleuderte noch immer Gestein und Holz gegen das Wrack, aber Warstein glaubte zu hören, dass er schwächer wurde. Vielleicht flaute er bald ab. Vielleicht verwüstete er jetzt gerade die großen Städte im Westen. »Hört zu, Leute, ich hab einen Beschluss gefasst.« Warstein und Bednarz fuhren herum. Sie waren beide ziemlich verblüfft, als sie sahen, dass Rich Kid sich zu Wort meldete. Der junge Mann war aufgestanden und steckte sein Mobiltelefon
ein. Seine grünen Augen glitzerten im Kerzenschein und verliehen ihm ein wenig Vertrauen erweckendes Aussehen. Warstein kannte diesen Blick. Er hatte ihn oft genug bei den höheren Chargen seiner Firma gesehen - meist dann, wenn zu viel Macht und Geld in. Größenwahn umschlugen. Rich Kids Blick deutete aufkeimenden Irrsinn an, vielleicht auch ein Delirium. »Mein ganzer Stoff war in meinem Koffer« , sagte Rich Kid mit nervöser Stimme. Er deutete in eine Richtung, in der sich vermutlich der Waggon mit seinem Abteil befunden hatte. »Ich hab jetzt nichts mehr. Meinen Broker kann ich auch nicht erreichen. Vermutlich bin ich also jetzt mittellos. Ich finde, dass sich das Leben für mich nicht mehr lohnt.« »Überlegen Sie sich, was Sie tun, junger Mann« , wandte Bednarz ein. Die anderen Überlebenden, sofern sie nicht schliefen, starrten Rich Kid an. »Lassen Sie ihn« , zischte Warstein dem Journalisten zu. »Ohne diesen Irren kommen wir allemal besser zurecht.« »Da mir das Leben nicht mehr lebenswert erscheint« , fuhr Rich Kid fort und schob eine Hand hinter seinen Rücken, »hab ich beschlossen, meine Existenz zu beenden.« Er schaute sich triumphierend um. »Ich hab nämlich keine Lust, mir den Arsch abzufrieren und im Dreck zu verhungern.« Sein Arm verharrte hinter seinem Rücken, und Warstein, der ihn mit professioneller Gewohnheit im Blickfeld behielt, ahnte Fürchterliches. Rich Kids Arm zuckte nach vorn. In 47
seiner Faust schimmerte eine verdreckte, aber gut erkennbare Schusswaffe. Alexandras Brünna. Das Schießeisen, das sie im Augenblick der Katastrophe verloren hatte. »Ich werd mir 'ne Kugel in die Birne jagen« , sagte Rich Kid und hielt sich den Lauf an die Stirn. Irrsinn glitzerte in seinem Blick. Nur zu, dachte Warstein. Los, mach schon, du Arsch. »Tun Sie das nicht« , sagte Dr. Rogoff auf Französisch. Er hatte zwar kein Wort verstanden, doch die Mimik und die Gesten des jungen Mannes waren vielsagend genug. Bednarz machte Anstalten, sich von seinem Lager zu erheben, doch Warstein drückte, ohne ihn anzusehen, eine Hand auf seine Brust. »Nicht bewegen.« Rich Kids Blick richtete sich nun auf die zerbeulte Küchenzeile des Speisewagens, hinter der Marina und Della Del Rio sich verängstigt duckten. »Allerdings« , fuhr er fort, »werde ich nicht aus dem Leben scheiden, ohne mir zuvor den Traum zu erfüllen, der mich seit einem halben Jahr um den Erdball reisen und Geld verpulvern lässt …« Sein irrsinniger Blick richtete sich auf Della. »O nein« , sagte Della. »Ich hab es doch gewusst …« Sie warf Warstein einen bittenden Blick zu. »Gütiger Gott« , keuchte Bednarz. »Was hat er vor? Etwa das, was ich denke?« Warstein nickte, ohne ihn anzusehen. »Die meisten Fans würden für eine solche Gelegenheit sonst was geben …« Rich Kid kam, die Brünna im Vor48
halt, aus seiner Ecke. Sein Gang war unsicher, seine Stirn voller Schweißtropfen. Außerdem zog er aufgeregt die Nase hoch, was auf allzu viel Koksgenuss schließen ließ. Der Mann war nicht zurechnungsfähig. Vielleicht war er es von Anfang an nicht gewesen. Ein Mann, der eine Porno-Aktrice um die halbe Welt verfolgte, ohne sie auch nur ein einziges Mal anzusprechen, konnte nicht ganz richtig ticken. Und nun hatte er auch noch ein Schießeisen in der Hand. Dass er seinem Leben ein Ende setzen wollte, störte Warstein nicht. Im Gegenteil. In ihrer momentanen Lage war er bereit, alles zu unterstützen, was ihn und die anderen von diesem Durchgedrehten befreite. Andererseits konnte er Menschen, die andere mit Waffengewalt zu etwas zwangen, ums Verrecken nicht ausstehen. »Hören Sie« , hörte er Bednarz in makellosem Englisch keuchen. »Das meinen Sie doch nicht im Ernst … Sie scherzen doch, oder?« Rich Kid verharrte vor der Küchenzeile. Marina war auf Tauchstation gegangen. Kolja stand, einen Schraubenschlüssel in der Hand, vor irgendwelchen Geräten. Dr. Rogoff, der noch immer neben der röchelnden Finnin hockte, zupfte aufgeregt an den Fransen seiner Krawatte. Della stierjte Rich Kid mit offenem Mund an. Sie war fassungslos. »Komm her, Baby« , sagte Rich Kid und winkte mit der Brünna. »Komm her und knie vor mir nieder.« Er stand etwa zwei Meter vor dem knienden Warstein und wandte ihm den
Rücken zu. Warstein kalkulierte seine Chancen. Wenn er sich an die Beine des Burschen hechtete und seine Kniekehlen erwischte … Wenn er ihn zu Fall brachte, musste ihn jemand rasend schnell entwaffnen. Er warf einen Blick zu Bednarz hinüber, doch der Journalist war mindestens vierzig Jahre älter als Rich Kid und hatte die wüstesten Kämpfe seines Lebens vermutlich an einem Schreibtisch gefochten. Dr. Rogoff war jünger, aber zu weit entfernt. Kolja wurde durch elektrische Gerätschaften und die Thekenzeile behindert. Die beiden jakutischen Trapper, harte Burschen und jung genug,, um jedem Durchgedrehten die Knochen zu brechen, lagen im Tiefschlaf und waren noch weiter entfernt … »Ich sag das nicht noch mal, Baby« , rasselte Rich Kid. Della setzte sich trotz ihrer Fassungslosigkeit in Bewegung. Als sie vor Rich Kid stand, deutete dieser mit dem Schießeisen zu Boden. »In die Knie, Schnucki - wie du es in deinen Filmen immer machst.« Er griff sich mit der freien Hand an den Gürtel und drückte der am ganzen Leibe zitternden Della die Mündung der Waffe an die Stirn. Della schlug den Blick zu Boden und griff mit zitternder Hand an seinen Hosenstall. Rich Kid presste die Mündung fest an ihren Kopf und keuchte aufgeregt: »Und wenn es am Schönsten ist, gehen wir gemeinsam rüber - auf die andere Seite.« Das reicht, dachte Warstein. Ungeachtet seiner schmerzenden Muskeln spannte er alles an, was er hatte, und
schoss aus der Hocke nach vorn. Seine linke Hand drosch in Rich Kids rechte Kniekehle. Seine rechte Hand zuckte hoch und flog auf die Brünna zu. Della schrie auf, als Rich Kids Kniescheibe vorzuckte und ihre Kinnlade traf. Sie fiel nach hinten. Warsteins Hand krallte sich um Kids Waffenhand. Rich Kid wirbelte herum. Er schrie wie am Spieß; wie ein Junge, den Mama in flagranti beim Masturbieren erwischt hat. Seine Waffe richtete sich auf Warsteins Brustkorb. Ein mörderisches Donnern zerriss die Luft und hüllte das Innere des Waggons in ätzenden Pulverdampf. Ein fester Schlag krachte gegen Warsteins Herzgegend, und er dachte: Ich bin im Arsch. Della kreischte und verbarg ihr Gesicht in den Händen. Kolja warf sich zu Boden. Die jakutischen Trapper und die niederländischen Studentinnen fuhren aus dem Schlaf hoch und schrien vor Schreck. Dr. Rogoff vergaß seine Patientin und hechtete auf Rich Kid zu. Bednarz war plötzlich neben Warstein auf den Beinen und schlug mit etwas, das wie ein Kamerastativ aussah, auf Rich Kids Nasenrücken ein. Warsteins Linke, in Kids Handgelenk verkrallt, war plötzlich klatschnass und blutrot. Er wich verwundert zurück und betrachtete seine Finger. Es ist sein Blut, nicht meins. Rich Kid brach wie ein nasser Sack zusammen und knallte mit dem Hinterkopf auf den Boden. Auf seiner Brust breitete sich ein großer roter Fleck aus. Als Bednarz' Stativ ihn an der Stirn traf, war er vermutlich längst tot. 49
Hinter Warstein wurde ein nervöses Husten laut. Die Überlebenden starrten Rich Kids Leiche an. Die Studentinnen, von Entsetzen geschüttelt, fingen an zu weinen. Warstein drehte sich um. Alexandra saß mit fiebrig glänzenden Augen auf ihrem Lager und musterte ihn. Sie hatte ihren Hose bis zum Knie hochgezogen. Um ihren linken Unterschenkel schlang sich ein dünnes Lederholster. Es war leer: Ihre Hand umklammerte eine kleine Pistole. »Ich hab Durst« , keuchte sie. »Und mein Bein tut weh.« Dr. Rogoff und Della eilten zu ihr. Marina kam mit einer Wasserflasche. Bednarz erklärte den Jakuten auf Russisch und den Niederländerinnen auf Deutsch, was geschehen war. Warstein winkte Kolja heran, und sie packten den Toten und schleiften ihn aus dem Speisewagen. Weit hinter ihnen, in der Richtung, in der Warstein Jakutsk vermutete, loderte eine gewaltige Feuersbrunst. War die Pipeline explodiert? Oder brannte die Stadt? Nachdem sie Rich Kids Taschen nach brauchbaren Gegenständen gefilzt und seine Leiche aus dem Waggon geworfen hatten, sagte Kolja leise in kehligem Englisch: »Wenn wir bleiben hier, wir erfrieren.« Warstein warf einen Blick auf das Feuer. »Was schlagen Sie vor? Glauben Sie, dass Jakutsk noch existiert?« Kolja zuckte die Achseln. Dann brachte er ein Grinsen zustande. »Bei Feuer wir haben wenigstens warm.« »Was Sie nicht sagen.« Warstein stieß einen Seufzer aus. Der Sturm hatte 50
nun wirklich nachgelassen. Er war kaum mehr als ein starker Wind. Vielleicht schafften sie es. Vielleicht fanden sie in Jakutsk oder in der Umgebung der Stadt ein Quartier, in dem man nicht bei jedem Atemzug Dreck in den Mund kriegte. Vielleicht fanden sie, wie Bednarz gesagt hatte, sogar eine Möglichkeit, sich vom dem an ihnen klebenden Schmutz zu befreien. Sie mussten sich gegen die Kälte schützen. Sie mussten kräftig ausschreiten. Sich beladen, damit sie schwitzten. So was wärmte den Körper. Dann dachte er an Alexandras Bein und fluchte leise. *
Februar 2519. Auch wenn Mr. Blacks Physiognomie bei Menschen, die ihn nur oberflächlich kannten, gelegentlich den Eindruck erweckte, das alte Vorteil »stark = doof« müsse stimmen, war der Hüne aus Washington doch alles andere als ein Blödian. So wusste er zum Beispiel, dass es kein Zeichen von Klugheit ist, sich in finsterer Nacht in einem Gebiet, das er nicht besonders gut kannte, allein gegen mehrere entschlossene, militärisch ausgebildete und mit unbekannten Waffen ausgerüstete Gegner herumzuschlagen. Die WCA-Agenten hatten ein Ziel: Sie wollten eine der ihren befreien, die unverhofft in Gefangenschaft geraten war. Vielleicht setzten sie ihre Kampfkraft auch nur ein, um Lorbeeren zu ernten. Black hingegen brauchte sich nichts zu beweisen. Er wusste auch so,
dass er gut war. Deswegen hatte er, nachdem der Schusswechsel ihm klar gemacht hatte, dass er den WCA-Agenten personell unterlegen war, für einen taktischen Rückzug votiert. Nun sind aber auch kluge Menschen gegen Missgeschicke nicht gefeit: Nachdem Black, Haken schlagend wie ein Hase, dem Beschuss seiner unbekannten Gegner entwischt war, hatte er in einem am Fuße des schmalen Tals aufragenden Wäldchen verschnauft und so lange gewartet, bis er sicher war, dass seine Gegner den Rückzug angetreten hatten. Dann war er den Hügel hinauf und an der anderen Seite wieder hinab geeilt. Dort hatte sich sein Schicksal erfüllt. Als er wieder zu sich kam, brauchte er eine Weile, um zu erkennen, dass der Sternenhimmel über ihm auf die Größe eines kleinen Quadrats geschrumpft war. Als er mit dröhnendem Schädel aufstand, um dieses Phänomen näher zu untersuchen, verspürte er einen stechenden Schmerz in seinem rechten Fuß und stieß - was er nur tat, wenn er ganz allein war - den einzigen ihm bekannten amerikanischen Fluch aus: »Fuck! Fuck! FUCK!« Was jetzt?, dachte er. Ein Beinbruch hat mir gerade noch gefehlt. Er setzte sich hin, zückte eine Taschenlampe, beleuchtete den schmerzenden Fuß und tastete ihn ab. Er tat weh, ja, aber war er gebrochen? Da er keine Möglichkeit hatte, eine genaue Diagnose stellen, doch andererseits wusste, dass ein Marsch mit einem gebrochenen Fuß einen Bruch
unnötig verkomplizieren würde, gab er seufzend nach und aktivierte eines der beiden ISS-Funkgeräte, die der zu ihnen übergelaufene Dr. Stuart - leider kein Mediziner - mitgebracht hatte. Sie waren übereingekommen, die Geräte nur im Notfall zu benutzen, da auch die Gegenseite noch mindestens eines besaß und mit etwas Pech den Funkspruch abhören konnte. Aber wenn das hier kein Notfall war …? »Tsuyoshi hier« , meldete sich eine ihm gut bekannte Stimme. »Wo stecken Sie? Wir sind schon mit dem ARET unterwegs.« Black räusperte sich. Er war selten in seinem Leben so verlegen gewesen. »Ich muss leider gestehen, dass ich es nicht weiß, Mr. Tsuyoshi.« »Ihre Angaben sind wirklich sehr hilfreich, Mr. Black« , erwiderte Tsuyoshi nicht ganz ohne Harne. Seit der Asiate Miss Kareen Hardy, die alle Honeybutt nannten, den Kopf verdreht hatte, sodass ihr revolutionärer Elan in letzter Zeit zu wünschen übrig ließ, stand Black dem Cyborg eher kritisch gegenüber. »Ich stecke in einem Loch« , erwiderte Black, »und habe mir das Bein verstaucht. Oder gebrochen.« »Es wird immer besser, Mr. Black.« Tsuyoshi seufzte. »Aber keine Sorge. Wir finden Sie schon. Wir haben nämlich einen …« , er räusperte sich, »… eine Art Hund dabei. Es kann vielleicht etwas dauern.« »Ansonsten gehts mir gut« , sagte Black und schaute sich um. »Ich scheine in einer Höhle zu sein. Bin 51
wohl irgendwo durchgebrochen.« »Hüten Sie sich vor den Bären« , sagte Tsuyoshi, und Black konnte nicht genau einordnen, ob es ein gut gemeinter Rat war oder der Cyborg ihn veräppelte. Er kappte die Verbindung. Es bestand kein Grund, dem Feind mehr Hinweise auf sein Missgeschick zu geben als nötig. Er legte keinen Wert auf unverhofften Besuch durch die Henkersknechte General Crows. Er wusste, sie konnten ihn nicht leiden. Black nahm die Taschenlampe und erforschte die nähere Umgebung. Er war nicht in einer Höhle. Die Wände waren glatt und wirkten irgendwie metallischrostig. Er richtete sich vorsichtig auf und stützte sich auf sein Lasergewehr. Jetzt verstand er, wieso der Sternenhimmel so klein geworden war: Über ihm war eine Luke. Den Rest des Firmaments verdeckte eine Decke. Metall, wohin das Auge schaute. Ein Bunker? Wohl kaum. Black tappte an der Wand entlang, die ihm an nächsten war. Am Boden lag allerlei Gerumpel, aber auch längst verdorrte Äste und Wurzeln. In der Luft war ein undefinierbarer Geruch. Möglicherweise hatte Tsuyoshi die richtige Nase gehabt. Nicht alle Tiere waren so fleißig, sich einen eigenen Bau zu graben. Der Raum erwies sich nach einmaligem Abschreiten als ungefähr zwanzig Meter lang und vier Meter breit. Ein künstliches Produkt. Vermutlich - nein, ganz sicher - aus alter, uralter Zeit. Dann stieß Blacks Fuß gegen ein am Boden liegendes Eisenteil. Er bückte 52
sich und hob es auf. Es war rostig, steinalt, nicht mehr zu gebrauchen. Aber relativ gut zu erkennen. Eine tschechische Pistole. Eine Jahreszahl war in die rechte Seite des Laufs eingraviert: 1999. Modell Brünna. Welch hübsches Artefakt. *
Der südliche Horizont färbte sich allmählich grau, als die WCATauchpanzer zwanzig Kilometer östlich der Kristallfestung aus einer Granitschlucht rollten und sich leise rasselnd auf den Weg machten, um den einen Kilometer hinter sich zu bringen, der sie vom Ufer des Kratersees trennte. Die Grotte, in der sie sich in den letzten Tagen verborgen hatten, lag weit hinter ihnen. Um die Mission auf keinen Fall im letzten Moment zu gefährden, hatte Jacob Smythe auf einem langen Umweg bestanden. Er wollte nicht von Drax und seinen Leuten gesehen werden, wenn sie zum Tauchgang schritten, das Geheimnis in den Tiefen des Sees lösten und sich dann - wie abgesprochen - auf die Heimfahrt machten. Die Expedition war vom ersten Tag an vom Pech verfolgt worden. Sie hatten auf der Fahrt nach Sibirien ungeheure Verluste einstecken müssen. Jetzt sollte nichts mehr ihren Triumph torpedieren. Die dunklen Wasser des Sees tauchten - vor ihnen auf. Feiner Dunst dräute über der spiegelglatten Fläche. An Land war es so wunderbar neblig, dass eine Entdeckung
durch die Konkurrenz unwahrscheinlich war. Größere Sorgen machten Captain Lynne Crow, die hoch konzentriert und sich auf die Unterlippe beißend hinter dem Steuer von Panzer l saß, die weithin leuchtenden weißen Unterseiten der Rochen. Sie segelten vor ihnen in einer Höhe von ungefähr hundert Metern über dem Wasser. Smythe saß neben ihr an den Geschützen. Zur Feier des Tages und um gegen Schweißhände gewappnet zu sein, trug er Lederhandschuhe. Private Bellows, vor Aufregung hin und her rutschend, nahm einen der Sitze hinter ihnen ein und bediente die Ortung. Smythes Blick hatte ihm klargemacht, dass seine Tage gezählt waren, sobald er sich den nächsten Fauxpas erlaubte. Heute ging es nämlich, wie Jacob es mit einem seiner altertümlichen Sprüche ausgedrückt hatte, »um die Wurst« . Als Panzer l die Böschung zum See hinter sich gebracht hatte und seine Ketten ihn ins Wasser trugen, hielten alle an Bord den Atem an. Kurz darauf zeigten die Bildschirme, dass das Wasser um sie herum stieg. Schließlich schlug es über ihnen zusammen. Lynne schaltete das Kettentriebwerk aus und aktivierte die Strömungstriebwerke. Das Gerassel der Ketten wurde vom Wispern des komprimierten Wasserstroms ersetzt. Es ging tiefer hinab. Dann verschwand der Boden unter ihnen. Panzer l schwebte im Wasser. »Tauchvorgang erfolgreich abgeschlossen« , sagte Lynne in das Mikro des Headsets. »Wie siehts bei Ihnen aus, Jackson?«
Rauschen. Smythes Kopf fuhr herum. Seine Augen funkelten wütend. Wenn er etwas nicht ausstehen konnte, dann »menschliche Unzulänglichkeit« . Technische Probleme, so seine Ansicht, seien in der Regel nur Ausreden für Inkompetenz. Wenn etwas nicht funktionierte, lag es meist nicht an der Technik, sondern an den Menschen, die sie unfachmännisch bedienten. »Jackson?« , wiederholte Lynne. »Empfangen Sie mich?« »… erfolgreich« , hörte sie Corporal Jackson mit gepresster Stimme sagen. »Wiederhole: Tauchvorgang ebenfalls erfolgreich.« Dann: »Ich glaube, irgendwas beeinträchtigt den Funkverkehr, Captain.« »Das glaube ich auch.« Lynne nickte. Smythe schnaubte verächtlich. Private Bellows hielt sich bedeckt. Lynne behielt den Tiefenmesser im Auge. Sie hatten nun dreißig Meter hinter sich gebracht. Das Wasser war, wie zu dieser frühen Stunde nicht anders zu erwarten, dunkel und trüb. In ihrer Umgebung schwamm allerlei fischiges und schalenkrustiges Getier und beglotzte sie Stiel- und Glubschaugen. Auf dem Heckbildschirm wurde nun Panzer 2 sichtbar. Corporal Jackson steuerte ihn. »Was ist das da?« , fragte Bellows plötzlich und deutete auf den Seitenbildschirm. »Einer dieser Rochen?« Lynne blickte auf ihre Anzeigen und bestätigte Bellows' Vermutung. »Entfernung vierzig Meter.« Smythe beugte sich vor, nickte und knirschte mit den Zähnen. »Behalten 53
Sie ihn im Auge, Bellows, Wenn er näher kommt, will ich eine Meldung hören.« »Jawohl, Sir.« Der Rochen hielt Abstand, blieb aber auf ihrer Höhe. In sechzig Metern Tiefe gesellte sich ein zweiter zu ihm. Dann ein dritter. Sie hielten Abstand, schienen die Panzer zu belauern. Lynne wurde immer unwohler zumute. Hielten sie die Tauchpanzer für Riesenfische - oder stimmte Jacobs Theorie, dass sie künstlichen Ursprungs und nichts anderes als Spionaugen der Herren dieses Gebiets waren? Wenn seine Vermutung zutraf, war ihr Unternehmen dem Feind längst bekannt. Auf Smythes hoher Stirn standen Schweißtröpfchen. Er umklammerte die Waffenkonsole und stierte auf die Bilder der Außenbordkameras. Aus dem Rochentrio war nun ein Dutzend geworden, das die Expedition mit wedelnden Flossen begleitete. »Die brüten doch irgendwas aus« , rasselte Smythe gepresst. »Die führen was im Schilde! Aber die sollen nur kommen!« Mach jetzt keinen Scheiß, dachte Lynne. Trotz seiner hohen Bildung und seiner akademischen Titel verhielt sich Jacob manchmal wie ein Halbstarker, der ständig aller Welt beweisen musste, dass ihm niemand das Wasser reichen konnte. In diesen Momenten wurde sie den Verdacht nicht los, dass er vielleicht zu irre für sie war. In seiner Selbstüberschätzung wagte er sich nicht zum ersten Mal in eine Situation, die zur Todesfalle werden konnte. 54
Vielleicht war ihr irrwitziger, aus der Not geborene Scheinplan, sich mit Black und Drax zusammenzutun, für ihre nähere Zukunft doch Erfolg versprechender als ein Leben an der Seite des unberechenbaren Jacob Smythe … *
In einer Tauchtiefe von zweihundertfünfzig Metern breitete sich in Smythes noch immer leicht schmerzender Nase eine angenehme Wärme aus. Kurze Zeit später erfasste sie seinen gesamten Schädel. Die Wärme verlieh ihm ein noch nie dagewesenes Hochgefühl. Dann breitete sie sich auch im Rest seines Körpers aus, bis in die Spitzen sämtlicher Extremitäten. Die Hitze, die ihn körperlich erfasste, war am ehesten mit den Auswirkungen einer Kalziumspritze zu vergleichen. Außerdem verursachte sie ihm eine so gewaltige Erektion, dass er um die Nähte seines Tarnanzugs fürchtete. Smythe lugte schnell nach links und hinter sich, um festzustellen, ob Lynne und der nichtsnutzige Bellows etwas davon mitbekamen. Zum Glück ließen die beiden die Anzeigen ihrer Instrumente und die Bildschirme des Kampfgefährts nicht aus den Augen. Smythe fragte sich, was wohl für sein Wohlgefühl verantwortlich war. Der Schluss, zu dem er kam, War wenig erfreulich: Eine fremde Macht wirkt auf mich ein. Schon begann sein Puls zu rasen. Von seiner hohen Stirn strömte Schweiß. Er schmeckte Salz auf seinen Lippen. »Zweihundertsiebzig« , sagte Lynne.
»Zweihundertsiebzig« , bestätigte Corporal Jackson über Funk aus dem ihnen folgenden Panzer. »Die Rochen umkreisen uns immer noch in konstantem Abstand« , meldete Private Bellows. Ein grünes Licht erschien vor ihnen in der Dunkelheit des Kratersees. Doch als Smythe sich überrascht vorbeugte, um es heran zu zoomen, war es schon wieder verschwunden. Nein, doch nicht; aus den Augenwinkeln konnte er es sehen. Aber wenn er den Kopf zur Mattscheibe wandte … Merkwürdig … Urplötzlich empfand er das Innere des Tauchpanzers als sehr beengend. Und dann vernahm er überall um sich herum ein Knirschen und Knacken, als wollten die finsteren Wasser des Kratersees prüfen, wie viel Kraft sie brauchten, um das Gefährt und seine Insassen zu zerquetschen. Smythes rechte Hand löste sich von der Waffenkontrolle. Er griff sich an den Hals. Ihm fiel ein, dass er sich noch nie im Leben so tief unter Wasser befunden und in seinem ganzen Leben noch keinen Gedanken an die Frage verschwendet hatte, ob er vielleicht, ohne es zu wissen, an Klaustrophobie litt. Ein merkwürdiges Kribbeln machte sich in seinem Bauch breit. Eine bisher unbekannte Angst wogte in ihm hoch. Er registrierte, dass er sehr flach atmete, als befürchte sein Körper, er könne platzen, wenn er zu viel Sauerstoff aufnahm. Reiß dich am Riemen, dachte er. Du bist ein hochdekorierter Wissenschaft-
ler, keine Null, die zum sabbernden Idioten wird, sobald sie die physikalischen Gegebenheiten nicht mehr versteht … Ja, die Enge macht dir zu schaffen, aber du hast die Gefahr erkannt und wirst dich nicht von ihr vereinnahmen lassen. Als er nach links schaute, zu Lynne Crow hin, die wie üblich Handschuhen trug, damit niemand auf die Idee kam, sie könne einen künstlichen Arm haben, glaubte er seinen Augen nicht zu trauen. Sie hatte sich nach hinten gedreht und tat etwas, das ihn bis ins Mark erschütterte: Sie knutschte mit Private Bellows, der seine Arme von hinten um sie gelegt hatte und Jacob Smythe frech zuzwinkerte. Smythes Hand zuckte zu seinem Driller. »Jacob?« Er schüttelte den Kopf. Die Halluzination verblasste. Lynne saß allein am Steuer. »Ist dir schlecht?« , fragte Lynne. »Du siehst blass aus.« Smythe verneinte mit krächzender Stimme und wandte sich wieder der Konsole zu. Die Munitionsanzeige hatte dem Gesicht von Commander Drax Platz gemacht. Auch er grinste Smythe frech an. Smythe schüttelte erneut den Kopf. Drax verschwand. An seiner Stelle tauchte nun Bellows auf, und er sprach sogar zu ihm. »Die geile Braut spann ich dir aus« , sagte er. »Da verlass dich mal drauf. Gegen mich bist du nichts weiter als ein alter Sack mit schütterem Haar. Du glaubt doch nicht wirklich, dass Lynne auf dich abfährt, Mann.« 55
Ich werd dir zeigen, was ein ,alter Sack' alles drauf hat, knirschte es in Smythes Hirn. Ich werd dir das Herz rausschneiden, du dämlicher Prolet. Er drehte sich um. Bellows saß, als könne er kein Wässerchen trüben, vor der Ortung. Aber ein Jacob Smythe ließ sich nicht täuschen. Niemals! Als seine Hand auf dem Knauf des Drillers lag, wurde Smythe klar, dass es Irrsinn war, im Inneren des Panzers zu schießen. Zu groß war die Gefahr, dass das Projektil Bellows' weichen Wanst durchschlug und lebensgefährliche Schäden anrichtete. Nein, er würde das Messer nehmen. Bevor er es jedoch ziehen konnte, quäkte es in seinem Headset und die Stimme Corporal Poles sagte in einem fast hysterischen Tonfall: »Wir haben Probleme, Captain … Jackson …« Gleich darauf kreischte in Smythes Gehörgängen eine Stimme unverständliche Worte. Sie übertönte Pole und ließ Lynne erschreckt den Kopf herumreißen. Smythe brauchte fünf Sekunden, bis er begriff, dass es Jacksons Stimme war. Die Worte, die er hysterisch brüllte, bewiesen nur eins: Er litt an Wahnvorstellungen. Durch die Wände des Panzers, so krakeelte Jackson, kämen Tausende von Käfern, um ihm das Hirri auszusaugen. Er müsse die Mission sofort abbrechen und auftauchen. Private Blayre und Corporal Pole versuchten ihn zu übertönen und der Besatzung von Panzer l einen Lagebericht zu geben, doch Jackson setzte sich allem Anschein nach nun auch körperlich gegen sie zur Wehr. 56
In Smythes Headset knisterte, knackte und rauschte es. Lynne saß kreidebleich am Steuer und stierte ihn mit offenem Mund an, während Bellows zu irgendeiner Gottheit betete, mit denen dieser Planet seit »Christopher-Floyd« im Überfluss gesegnet war. Um das Getöse in seinem Kopfhörer zu übertönen und zu Pole und Blayre durchzudringen, sah Smythe sich gezwungen, nach Disziplin zu brüllen. Private Blayre fing unmotiviert zu singen an. Maggie Pole schrie um Hilfe. Zwei Drittel der Besatzung des Panzers 2 waren offenbar nicht bei Sinnen. »Reißt euch zusammen!« , schrie Smythe ins Mikro. »Es ist eine Attacke! Eine Attacke! Die verdammten Rochen sind daran Schuld! Es sind nur Halluzinationen!« Er beugte sich über die Waffenkontrollen. »Kommt zu euch! Schießt die verdammten Rochen über den Haufen!« »Sie saugen mein Hirn aus!« , kreischte Corporal Jackson. »Au! Au! Es tut so weh!« Er fing an zu flennen wie ein Waschweib. »Ausschalten!« , rief Smythe ins Mikro. »Schalten Sie die Memme Jackson aus, Pole, wie auch immer! Das ist ein Befehll« Das Ächzen, das sein Headset übertrug, schien aus einer weiblichen Kehle zu kommen. Was war da los? War Jackson im Begriff, Pole zu erdrosseln? Nun schrie Private Blayre um Hilfe. Smythe befahl ihn, das Kommando zu übernehmen und Pole zu Hilfe zu kommen. Aber offenbar entwickelte Jackson in seinem Wahn Bärenkräfte und ließ we-
der Pole noch Blayre an sich heran. »Vampirkäfer!« , schrie er. »Hirnsauger! Aber nicht mit mir!« Smythes Kopfhörer übertrug heftige Kampfgeräusche. Dann schrie Jackson vor Schmerz auf und verstummte. Private Blayre heulte triumphierend auf. »Ich hab ihn erledigt, Sir! Ich hab ihn erledigt!« Smythe atmete auf. »Wie geht es Corporal Pole?« , erkundigte er sich. »Sie ist 'n bisschen blass um die Nase und massiert sich den Hals« , meldete Blayre. »Aber ich glaub, ich krieg sie schon wieder hin.« »Mein Gott« , stöhnte Corporal Pole. »All das Blut … All das Blut … Ich glaub, ich muss …« Das nachfolgende Geräusch verkündete, dass sie sich übergab. »Können Sie die Kiste steuern, Blayre?« , fragte Smythe besorgt. »Ich glaub schon, Sir« , erwiderte Blayre. »Corporal Pole kann es natürlich besser, aber … Moment, ich muss Jackson eben beiseite schaffen.« Smythe schaute Lynne an. Sie war noch immer blass, schien sich aber gefangen zu haben. »Das kriegen wir schon wieder auf die Reihe« , sagte er und tätschelte beruhigend ihren Oberschenkel. »Die Pole ist fähig. Sie hat auch mehr auf dem Kasten als Jackson.« »Dein Wort in Gottes Ohr.« Lynne seufzte. »Alles klar, Sir« , meldete Blayre kurz darauf. »Hab den Pilotensitz übernommen. Jetzt können wir ordentlich auf die Kacke hauen.« Er fing wieder an zu singen.
Lynne und Smythe schauten sich an. »Blayre?« , sagte Lynne argwöhnisch. »Sind Sie wirklich ganz in Ordnung?« »Yeah, Baby …« »Beschuss von achtern« , keuchte Private Bellows plötzlich. »O gütiger Himmel …« Smythe zuckte nach vorn, über den Monitor. Lynnes Hände flitzten über die Kontrollen, leiteten ein blitzschnelles Ausweichmanöver ein. Panzer 2 unter dem Kommando von Private Blayre feuerte aus allen Rohren - doch nicht auf die Rochen, sondern auf das Fahrzeug der Expeditionsleitung! Die Strömungstriebwerke heulten auf und zwangen Panzer l auf einen Ausweichkurs. Blayres Schüsse gingen ins Leere. Bellows stieß einen Freudenschrei aus. Smythe umklammerte mit beiden Händen die Waffensteuerung. Er brauchte nicht zu wenden, um das zu tun, von dem er nun wusste, dass es unausweichlich war. Sie oder ich. Seine Finger aktivierten die Systeme. Am Heck passierte etwas. Tödliche Feuerzungen peitschten durch das dunkle Wasser. Bumm! Bumm! Bumm! Corporal Maggie Pole kreischte in seinem Kopfhörer. Lynne stieß bittere Flüche aus. Smythe brachte eine zweite Dreiersalve auf den Weg. Hinter ihnen breitete sich ein Feuerball aus, der das Wasser sprudeln ließ. Als die Luftblasen aufstiegen, war von Panzer 2 nichts mehr zu sehen. »Das reicht mir« , stieß Lynne her57
vor. »Die Expedition wird abgebrochen. Wir tauchen auf!« Smythe schaute von seiner Konsole auf. Sein Kopf flog zur ihr herum. Dann seine rechte Faust. Er versetzte Lynne einen Kinnhaken, der sie besinnungslos hinter der Steuerung zusammensacken ließ. Er ignorierte das entsetzte Stöhnen Bellows', packte ihre Schultern und zerrte sie vom Sitz auf den Boden. Verächtlich sah er auf sie hinab. Abbrechen? Dafür war er schon zu weit gegangen. Er hatte getan, was getan werden musste, und würde es auch weiter tun. Für Furcht oder Verzagtheit war kein Platz. Als Nächstes waren die Rochen dran. Er musste verhindern, dass sie weitere Halluzinationen schickten. Mit einer flinken Handbewegung schaltete Smythe den Autopiloten ein, beugte sich wieder über die Waffenkontrollen und nahm den Schwarm ins Visier. Feuer! Feuer! FEUER! Er erwischte mit drei Salven mindestens ein Dutzend der Bestien, die sofort auseinander schwärmten. Etwas geschah. Klarheit kam über Smythe, als ob jemand ein schwarzes Tuch von seinem Verstand gezogen hätte. Vor sich erblickte er in der Tiefe, am Grund des Kratersees, eine riesige dunkle Masse, in deren mächtigem Leib unzählige grüne Lichter glühten. Dann hörte er ein Geräusch hinter sich. Und als er sich umdrehte, schaute er in Bellows' kalkweißes Gesicht - und 58
in die Mündung eines Drillers. Bellows' Pupillen waren wie die eines Epileptikers, der einen Anfall hatte, nach oben geklappt. »Ja, ich habe verstanden« , sagte er mit einer Stimme, die klang, als käme sie aus einer anderen Welt. Smythes Hand zuckte hoch. Die Klinge seines Messers bohrte sich in Bellows' Hals. *
Februar 2012. Laut Gerry Marsden aus Liverpool erwartete einen am Ende des Sturms ein goldener Himmel. Aber der brave Gerry hatte im 20. Jahrhundert nur ins Ohr gehende Popsongs geschrieben und vermutlich nichts von Meteorologie verstanden. Auch dieser Tag war so schwarz und kalt wie die davor. Eigentlich konnte man Tag und Nacht nur unterscheiden, wenn man auf die Uhr blickte. Wie lange machts die Batterie wohl noch? Seit zwanzig Stunden marschierte Warstein nun hinter den jakutischen Trappern her. Kolja zufolge kannten sie sich in dieser Gegend sehr gut aus. Inzwischen hatte sich jedoch herausgestellt, dass die Gegend, durch die sie, dick vermummt und in Tischdecken gehüllt wanderten, nichts mehr mit der gemein hatte, die die Naturburschen gewöhnt waren: Sie fanden keinen bekannten Weg oder Steg. Der Kometeneinschlag und der ihm nachfolgende Sturm hatte alles von unten nach oben gekehrt. Er hatte die Bäume im Lena-Becken entwurzelt und wie einen
Schwarm gigantischer Zugvögel nach Norden fliegen lassen. Die Überlebenden der Eisenbahnkatastrophe mussten sich in dunkler Nacht einen Weg durch eine fremde planetarische Landschaft bahnen. In Küchenfett getauchte, aus Vorhangstoff und Stuhlbeinen gebastelte Fackeln wiesen ihnen den Weg durch eine bizarre Landschaft. Sie gingen dem Feuer entgegen. Nach dem Tod der Finnin hatten sie die Lage besprochen und sich entschieden, den Marsch nach Jakutsk zu wagen. Der Pope, ein kräftiger, schwarzbärtiger Bursche, hatte zwar einen gebrochenen Arm, aber gesunde Beine. Warstein trug Alexandra Huckepack. Die restlichen Überlebenden zuckelten durch die finstere, aufgewühlte Landschaft hinter ihnen her. Schnee war nirgendwo mehr zu sehen. In der Luft war ein mysteriöses Rauschen. Es erinnerte Warstein an die Brandung der See. Auch am linken Ufer der Lena loderten gigantische Feuer. Ihr Knistern und Knacken war überall zu hören. Wärme wehte über Fluss. Die Helligkeit der Flammen wurde so stark, dass man die Fackeln bald nicht mehr brauchte. Dennoch kamen sie nur langsam voran, denn der frisch aufgeworfene Boden war nicht festgetreten. Dummerweise war er aber auch nicht weich, denn in diesen Breitengraden herrschte ständiger Permafrost. Warstein hatte das Gefühl, auf Eiern gehen. Die beiden Jakuten blieben plötzlich stehen. »Schschsch!« , machte der Ältere. »Was ist?« Warstein hielt mit seiner schlafenden Last an. Er spürte, dass die
anderen es ihm gleichtaten. Alexandra, an seine regelmäßigen Bewegungen gewöhnt, zuckte zusammen und murmelte etwas. Kolja huschte an die Spitze und tuschelte mit den Jakuten, die nun aufgeregt nach vorn deuteten. »Da kommt jemand« , sagte Kolja und starrte in die Finsternis. Warstein strengte sich an, sah aber nichts. Er hörte auch nichts, aber er war bereit, den Trappern zu glauben. Dann loderte auf der anderen Seite der Lena ein neuer Waldabschnitt auf. Im Schein des Feuers fiel Warsteins Blick auf einen gespenstisch anmutenden Zug von Menschen, die sich ihnen aus Richtung Jakutsk näherten. Es mussten Dutzende sein. Sie waren völlig verdreckt und verrußt, in schmutzige Lumpen gekleidet und brabbelten leise und unverständlich vor sich hin. Sie näherten sich den Jakuten und Kolja im Gänsemarsch, schienen sie jedoch nicht wahrzunehmen. Die Jakuten schauten sich an. Kolja stutzte. Als die zerrissene Karawane nahe genug herangekommen waren, rief der Zugführer ihnen etwas zu, doch niemand reagierte. Die Menschen gingen weiter. Eins, zwei, eins, zwei … Warstein blickte in starre Gesichter, leere Augen. Viele der Ankömmlinge waren verletzt und notdürftig mit schmutzigen Lumpen verbunden, durch die dennoch Blut tropfte. Es waren meist junge Menschen. Auch einige Kinder waren dabei. Sie wirkten wie eine Abordnung lebender Toter, die auf dem Weg zum Friedhof war, um sich dort zur letzten Ruhe zu betten. Kolja stürzte sich auf den ersten 59
Mann, hielt ihn an den Kleidern fest und redete auf ihn ein. Der Mann ging einfach weiter, als sähe er ihn nicht. Auch beim zweiten erging es dem Zugführer nicht anders. Die Ankömmlinge wirkten, als stünden sie ausnahmslos unter schwerem Schock, als seien sie geistig in eine andere Dimension gewechselt. Viele stöhnten und brabbelten vor sich hin. Alle marschierten in stumpfem Gleichmut an ihnen vorbei. Niemand schenkte ihnen einen Blick. Warstein blieb stocksteif stehen und musterte die Leute. Das Grauen breitete sich in seinem Herzen aus. Er schüttelte sich. Alexandra murmelte etwas. Dann scherte der kräftige Pope aus ihrer Gruppe aus, hob seinen gesunden Arm und trat den Menschen in den Weg. Warstein verstand seine Worte nicht, doch auch ihm erwies man keinen Respekt. Die abgerissenen Zombies wichen ihm aus, gingen um ihn herum. Schließlich, als fast alle an ihnen vorbeigegangen waren und in der Finsternis verschwanden, sagte der Pope etwas zu den Jakuten. Der letzte Wanderer, ein bleicher Bursche mit einem blutigen Kopfverband, der sein linkes Auge verdeckte, wurde am Kragen gepackt und festgehalten. Der Pope brüllte ihn an. Der Bursche richtete den Blick zu Boden, dann murmelte er etwas, das die Jakuten und den Geistlichen so verdutzte, dass sie ihn losließen. Der Bursche wankte weiter, verschwand im Dunkel. »Was hat er gesagt?« , fragte Warstein. Die Jakuten schauten sich fassungslos an. Der Pope schüttelte den Kopf, 60
als traue er seinen Ohren nicht. Warstein drehte sich zu Kolja um und wiederholte seine Frage. Kolja zuckte verlegen die Achseln. »Er chat gesagt …« Er schüttelte sich. »Das Meer ist da … Das Meer ist gechommen …« »Das Meer ist gekommen?« Warstein fiel das Rauschen ein, das er gehört zu haben glaubte. Aber es konnte natürlich nur Einbildung sein. Jakutsk lag mindestens siebenhundertfünfzig Kilometer von der Laptew-See entfernt. Wenn »das Meer« in die Stadt gekommen wäre, hätte es sich einen Weg durch die Lena bahnen müssen, an deren Ufer sie nun seit Stunden entlang gingen. Nicht mal einem Blinden hätte dies entgehen können. »Ein Verrückter« , sagte Kolja. »Zweifellos.« Die lebenden Toten waren verschwunden. Der Teufel mochte wissen, wo sie hin wollten - in der Gegend, in die sie zogen, war bestimmt kein Blumentopf zu gewinnen. Zwischen Jakutsk und Tiksi lagen nur Kaffs, deren Holzbauten der Sturm geplättet haben musste. Wollten sie etwa zu Fuß nach Tiksi gehen? Es war reiner Wahnsinn. Minuten später hörte Warstein einen der Jakuten fluchen. Seine Arme wirbelten durch die Luft. Der Mann schien über etwas gestolpert zu sein. Er verlor das Gleichgewicht und fiel nach vorn. Sein Gefährte eilte ihm zu Hilfe. Als Warstein und die anderen sie erreichten, sahen sie, dass da nicht einer, sondern zwei Mann am Boden lagen. Warstein rief nach Dr. Rogoff, der nach vorn eilte und den Unbekannten
untersuchte, über den der Jakute gestolpert war. Ein Mann. Er war bewusstlos. Rogoff versetzte ihm ein paar Ohrfeigen. Schließlich stöhnte der Mann und öffnete die Augen. Sein Blick war so wirr wie der aller anderen, die ihnen begegnet waren, doch dann - im Angesicht des Todes - klärte er sich und er sagte etwas, das alle, die ihn verstanden, offenbar verdutzte. »Was sagt er?« , fragte Warstein. Er hatte damit gerechnet, dass Rogoff übersetzte, doch zu seinem Erstaunen vernahm er Alexandras Stimme. »Er hat gesagt: Guten Tag, meine Herren, wie geht es Ihnen?« »Was?« Warstein war zu verdutzt, um sich darüber zu wundern, dass Alexandra mit ihm redete, ohne ihn zu schmähen. Aber wahrscheinlich war sie zu dem Schluss gekommen, dass ihr eine große Klappe in ihrer Lage nicht zum Vorteil gereichte. Die Jakuten hatten sie im Schlaf mit Riemen auf seinen Rücken geschnallt, sodass es an sich nicht nötig war, dass sie sich an ihm festhielt. Zu seinem Erstaunen spürte er jedoch, dass sie nun von hinten die Arme um seinen Hals schlang. Rogoff sprach auf den Mann ein, der keine Anstalten machte, sich zu erheben. Er wirkte nun völlig klar und schien zu wissen, dass es mit ihm zu Ende ging. Er beantwortete Rogoffs Fragen, dann schloss er die Augen und starb. »Jakutsk existiert nicht mehr« , raunte Alexandra in Warsteins Ohr. »Die Pipeline ist in die Luft geflogen. Und …« , sie räusperte sich, »das Meer ist gekommen.«
»Was zum Henker hat das zu bedeuten?« Warstein wuchtete ihr kaum nennenswertes Gewicht in eine für ihn bequemere Lage. Als Alexandra es merkte, machte sie sich leicht, als wollte sie ihm so wenig wie möglich eine Last sein. Sie waren ganz gut aufeinander eingespielt. »Ich weiß es nicht.« Rogoff und die Jakuten richteten sich auf und schauten sich ratlos an. Es bedeutet jedenfalls nichts Gutes, dachte Warstein. Er betrachtete die vor ihnen lodernden Wälder. Aber wenn ich schon krepieren muss, soll es wenigstens im Warmen sein. Sie ließen den Toten liegen und gingen, jeder tief in Gedanken versunken, weiter. Je näher sie dem Feuer kamen, desto wärmer wurde es und desto besser konnten sie sehen, wohin sie traten. Als die Umgebung fast taghell war, fiel Warsteins Blick hin und wieder auf merkwürdige, grünlich schillernde Brocken, Sie strahlten in eigenartiger Helligkeit, als enthielten sie eine eigene Lichtquelle. Je näher sie Jakutsk kamen, desto zahlreicher wurden sie, und so fragte er sich bald, ob der Aufschlag des Kometen etwa eine bisher unbekannte Smaragd-Ablagerung zu Tage gefördert hatte. Aber das war natürlich unmöglich, denn die kleinsten der Brocken waren so groß wie eine Männerfaust. Manche waren kopfgroß, andere mussten, ihrem Umfang zufolge, einen halben Zentner wiegen. Welche Ironie, dachte er erheitert, als er mit Alexandra auf dem Rücken durch die von gespenstischem Feuerschein erhellte Landschaft wankte. Die Welt geht 61
unter - und Ralph Warstein stößt auf das größte Edelsteinvorkommen der Erde. Ein Schinkenbrötchen wäre ihm lieber gewesen. Dann vernahm er wieder das mysteriöse Rauschen. Kam nun der Wolkenbruch, damit ihr Pech wirklich hundert Prozent erreichte? Wenn ja, löschte er die Brände? Fiel nun, da sie endlich in der Nähe der Wärme waren, Eiswasser vom Himmel und durchnässte sie bis auf die Haut, sodass sie in ein paar Stunden wie die Fliegen an einer Lungenentzündung krepierten? Die Jakuten deuteten aufgeregt nach links und redeten mit gutturalen Lauten auf den Popen und Kolja ein. Warstein schaute in die angegebene Richtung. Sein Blick fiel auf einen frisch aufgeworfenen Hügel, aus dem ein helles Objekt herausragte. Er erspähte kyrillische Buchstaben: »Lux« . Er hatte diesen Namen während der langen Fahrt von Moskau nach Sibirien mehr als hundert Mal gelesen und irgendwann, vor einem Supermarkt, einen Tieflader gesehen, der einen Container mit dieser Aufschrift abgeladen hatte. Lux war der Name eines Unternehmens, das abgelegene Provinzen mit allem versorgte, was man brauchte. Ein Grund zum Jubeln? Dann hörte Warstein Alexandra keuchen. Er schaute nach rechts. Auch die anderen Überlebenden fuhren herum. Alexandra deutete fassungslos auf den Fluss, der knapp hundert Meter vor ihnen endete, obwohl er sich gestern noch tausendfünfhundert Kilometer weiter erstreckt hatte - bis zum Baikalsee. Die Lena mündete in ein Meer! 62
Das Land hat sich gesenkt, zuckte es durch Warsteins Verstand. Das Meer ist gekommen. Doch welches Meer? Es konnte nur das Ochotskische sein. Als ihm die Dimensionen der Katastrophe klar wurden, schwindelte ihm und er musste sich zusammenreißen, um nicht zu Boden zu sinken. Die Jakuten gingen fassungslos in die Knie. Der Pope murmelte etwas, das wie ein Gebet klang. Während rings um ihn her die Überlebenden, die offenbar noch gar nicht verstanden, was passiert war, die Gelegenheit nutzten, um zu verschnaufen, betrachtete Ralph Warstein im Glosen des Feuers viele grünlich schillernde Kristallbrocken. Dann blickte er zum noch immer schwarzen und absolut sternenlosen Himmel auf und dachte an Alexandras Worte: dass es vielleicht Jahre so blieb wie jetzt. Finster, eiskalt. Dass der nukleare Winter vor der Tür stand. Dass jedes Weizenkorn auf der Erde erfror. Dass das Vieh, von dem der Mensch lebte, steif gefroren auf den Weiden lag. Dass die meisten Menschen, die noch lebten, dem Tod geweiht waren, auch wenn sie es noch nicht ahnten. Dass auch ihre Überlebenschancen in dieser lebensfeindlichen Umgebung gleich Null waren. »Ich hab wirklich nicht gewusst, wer der Mann in Paris war« , sagte er vor sich hin, obwohl es wirklich keine Rolle mehr spielte. »Und es stimmt auch, dass die Leitung mir den Vertrag gegeben hat.« »Mach dir keine Vorwürfe, Mann« ,
erwiderte Alexandra. »Ich glaube dir. Wenn du das Schwein wärst, für das ich dich anfangs gehalten habe, hättest du mich doch verrecken lassen.« Sie regte sich. »Lass mich mal runter.« Warstein löste vorsichtig das Riemengeschirr, das sie an ihn band, dann ließ er sie langsam von seinem Rücken gleiten. Alexandra stand auf einem Bein. Er nahm ihre Arme und zog sie an seine Brust, damit sie eine Stütze hatte. An ihrem Standort war es herrlich warm. Noch herrlicher war es, jemanden in den Armen zu halten, von dem er wusste, das sie wenigstens der gleiche musikalische Geschmack einte. Denn böse Menschen haben kein Klavier. Aber das Feuer würde nicht in alle Ewigkeit brennen. Sie brauchten einen festen Unterstand. Der Container war als Notquartier bestimmt geeignet. Ohne Fenster und Schießscharten war er allerdings nicht leicht zu verteidigen. Warstein fragte sich, wer alles in dieser Gegend aufkreuzen würde, wenn die Wälder abgebrannt waren und der Wind sich legte. Nicht alle Überlebenden der Katastrophe würden um Aufnahme in ihre Gruppe bitten. In den sibirischen Wäldern trieben harte und skrupellose Burschen ihr Unwesen. Sie waren bewaffnet und setzten in erster Linie auf ihre eigene Stärke und Ausdauer. War der Mensch nicht des Menschen schlimmster Feind? Auf was würden sie im Inneren des Containers stoßen? Auf eingelegte Gurken? Auf Knackwürstchen im Glas? Auf eine Million zerbrochene Flaschen Perrier-Tafelwasser? Ihm war alles
Recht. Selbst Rote Beete. Schon wieder fiel sein Blick auf grünen Kristallbrocken. Sie sahen hart aus. Vielleicht konnten sie auch Gewehrkugeln abschmettern. Vielleicht ließen sie sich zum Bau einer Befestigungsmauer verwenden. Rund um den Container. Warstein musterte die Schar der Überlebenden. Sie waren alle fix und fertig und so grau wie Gespenster, aber auch sie streichelten den Container mit sehnsuchtsvollen Blicken. Ja, er würde das Ding befestigen. Er würde es mit Hilfe der Männer zur Festung ausbauen, an der sich jeder die Zähne ausbiss, der den Versuch machte, ihnen an die Gurgel zu gehen. Danach konnte man weitersehen. *
Februar 2519. Die Stimme des murmelnden Gespensts wollte einfach nicht verstummen. Sein heiseres Organ drang bis in die letzte Zelle ihres Leibes vor und nistete sich dort ein. Das Gespenst war körperlos, ungreifbar, aber seine Stimme war unerträglich. Captain Lynne Crow sehnte sich nach Stille, denn der endlose Wortschwall klang so, als spräche das Gespenst rückwärts. Es zehrte an ihren Nerven. Außerdem tat ihr Unterkiefer verdammt weh und sie hatte den Verdacht, dass einer ihrer makellosen Zähne wackelte. Lynne Crow hatte schon Menschen aus geringeren Gründen in Schwierigkeiten gebracht. Sie war immerhin die Tochter des Mannes, der dienstgradmä63
ßig gleich nach Präsident Hymes kam. Ihr Vater verfügte über Möglichkeiten, jedem Angehörigen des Mobs glasklar zu machen, dass es sehr teuer kam, wenn jemand seiner Tochter ein Leid antat. Gespenstern, vermutete Lynne entnervt, als ihr Ego über die Schwelle des Bewusstseins trat, kann aber auch General Arthur Crow nicht viel antun. Sie entzogen sich seiner Macht, weil sie körperlos waren. Ihnen konnte man nicht mal in den Arsch treten. Lynne hob den Kopf und schaute sich um. Der Anblick, der sich ihr bot, bestätigte sie einmal mehr in der Ansicht, dass es ein Fehler war, mit Männern im gleichen Schlafsack zu nächtigen, die man weniger als ein halbes Jahr kannte. Wohin sie auch schaute, fiel ihr Blick auf frisches Blut. Ihr Tarnanzug war voll davon. Auch die Armaturen und die Fläche vor ihren Beinen. Als sie den Kopf drehte, erspähte sie auf dem Sitz hinter sich das totenbleiche Gesicht von Private Bellows. Seine Halspartie sah so aus, als sei sie mit der scharfen Schneide eines Bowie-Messers in Konflikt geraten. Er war mausetot. Seine Klamotten hatten sich dunkelrot verfärbt. Sein Mund stand offen, was ihm ein irgendwie einfältiges Aussehen verlieh. Seine braunen Augen starrten Lynne an. Am liebsten wäre sie auf der Stelle in den Traum zurückgekehrt, den die Stimme des plappernden Gespensts so rüde unterbrochen hatte. Aber das war wohl jetzt nicht mehr möglich. Ihr Blick fiel auf die Außenbildschirme. Sie sah einen grün gesprenkelten Brocken vom 64
Format einer mittleren Großstadt. Er schien zu pulsieren. Jacob Smythe - das plappernde Gespenst - hockte wie gebannt hinter den Waffenkontrollen. Was war mit ihm los? Phantasierte er? Lynne ignorierte den Schmerz in ihrem Unterkiefer und das Blut und richtete sich im Sitz auf. Sie hatte einen militärischen Dienstgrad. Sie war Captain. Dinge dieser Art durften eine Frau wie sie nicht schrecken. »Was ist los mit dir, Jacob?« , fragte sie. »Und vor allem: Was ist mit Bellows passiert?« Smythe wirkte, als erwache er aus einem Trancezustand. Er wandte ihr sein Gesicht zu, doch es dauerte eine ganze Weile, bis in seinen Augen so etwas wie Erkennen aufflackerte. Er deutete mit fahriger Hand auf den toten Bellows und sagte mit einer Stimme, die mit seiner eigenen kaum Ähnlichkeit hatte: »Alle, die Schuld tragen, müssen bezahlen.« Er ist durchgeknallt. Lynne presste die Lippen aufeinander und beäugte die Kontrollen. Die Uhr sagte ihr, dass sie zehn Minuten ohne Bewusstsein gewesen war. Was war in dieser Zeit alles passiert? Ihr Blick fiel wieder auf die Monitore. Über dem pulsierenden grünen Klotz, der vom Boden des Kratersees zu ihnen hinauf leuchtete, drehte ein Rochenschwarm seine Kreise. »Du brauchst keine Angst zu haben« , versicherte Smythe ihr mit glänzenden Augen. »Ich weiß jetzt, wer sie sind.« Er kicherte wie ein elfjähriger Bub, dem die Enträtselung des größten Geheimnisses aller Zeiten geglückt ist. Sie
hoffte, dass es kein Geheimnis war, das Zwölfjährige schon nicht mehr interessierte. »Gnadenlose Gottheiten« , fuhr er mit der hektischen Gespensterstimme fort, die sie aus ihrem Traum geholt hatte. Er hob die Hände, als brauche er sie, um ihr die Größe und Tragweite seines Wissens zu verdeutlichen. »Die Zeit der Dorfmusik ist vorbei … Wir haben sie gefunden … Sie sind endlich da … Und ich werde ihr Statthalter sein.« Er kicherte. O Mann, dachte Lynne, als sie spürte, dass sich ihre Nackenhaare aufrichteten. Wie komme ich nur hier raus? Sie schaute sich um. Er wird mich daran hindern. Sie nickte Smythe zu und sagte: »Ich schau mir Bellows mal an.« Wenn sie hinter Jacob gelangen konnte, ergab sich bestimmt eine Möglichkeit, ihm eins auf die Nuss zu geben und das Auftauchmanöver einzuleiten. Sie wollte nicht hier unten bleiben. Sie wollte nicht in einer Konservendose sitzen, die von Lebewesen umkreist wurde, die sie für gefährlich hielt. Sie hatte miterlebt, wie zuerst Jackson und dann Blayre in den Irrsinn abstürzten. Es drängte sie nicht danach, in Gesellschaft des letzten Überlebenden ihrer Expedition dreihundert Meter unter dem Wasserspiegel den letzten Atemzug zu tun. »Er ist tot, hm?« , fragte Smythe, als Lynne sich über Bellows beugte. Bellows hielt seinen Driller in der Hand. Es bestand also die Möglichkeit, dass Smythe ihn in Notwehr getötet hatte. Vielleicht war auch Bellows durchgedreht. Aber es war Lynne jetzt egal. Sie hatte die Schnauze voll. Endgültig.
Sie nahm Bellows die Waffe aus der Hand und fragte sich, wie sie Jacob das Ding am besten über den Schädel hauen konnte. Sie musste ihn mit dem ersten Schlag fällen. Eine zweite Chance würde er ihr nicht einräumen. Am besten … Lynne verhielt in der Bewegung, als ihr Blick auf den Monitor fiel, vor dem Smythe saß. Sie schauderte. Sie waren von Myriaden von Rochen umgeben! »Gleich kommt es!« , kicherte Smythe aufgeregt. »Gleich!« »Was?« , fragte Lynne und hob langsam Bellows Waffe. »Das Licht …« Plötzlich erfüllte ein intensives grünes Leuchten das Innere des Panzers. Smythe hob beide Hände vor die Augen und kreischte. In Lynnes Bauch breitete sich ein Kribbeln aus, das sich bis in ihre Fuß- und Fingerspitzen ausdehnte. Dann hatte sie das Gefühl, schwerelos durch einen Kosmos voller glitzernder Sterne zu rasen. Sie sah vor sich die Erdkugel. Sie fühlte die Kälte des Alls. Sie hörte die Stimmen. Und sie begriff. »Gott im Himmel« , hauchte sie. »Es war alles geplant …!« *
Februar 2519. Der Morgen graute. Der Dunst über dem Kratersee löste sich langsam auf. Das Wasser war spiegelglatt. Nirgendwo zeigte sich ein Rochen. Matthew Drax schüttelte sich. Dann musterte er seine Gefährten. Sie saßen 65
vor dem neuen Holzportal der Festung in dem inzwischen zurückgekehrten ARET-Panzer, dessen Plastiflex-Räder sie ins Hügelgebiet und zurück getragen hatten. Die gespenstischen Stimmen aus dem Lautsprecher hallten noch immer in seinen Ohren. Schon auf der Fahrt zu dem alten Container, durch dessen morsche Decke Mr. Black auf der Flucht gebrochen war, hatte Aiko Tsuyoshi mit dem Funkgerät des russischen Allzweck-Panzers sämtliche Frequenzen durchforstet, bis er diejenige gefunden hatte, auf der sich die WCA-Agenten verständigten. So hatten sie den Funkverkehr zwischen den Tauchpanzern mitgehört und die Unterwassertragödie schaudernd aus der Ferne verfolgt. Das unerklärliche Fiasko an Bord des zweiten Panzers hatte Smythe offenbar vergessen lassen, dass sein Funkkanal noch immer offen war. Sein völlig zusammenhangloses, undechiffrierbares Gebrabbel konnte nur eins bedeuten: Er hatte nun völlig den Verstand verloren. Viel hatte ja eh nicht gefehlt. Matt dachte an die letzten Worte Lynne Crows und fragte sich, was sie gesehen hatte. Er kannte diese Frau. Er hatte tagelang mit ihr in der Wildnis gelebt. Sie war eine gerissene und mit allen Wassern gewaschene Agentin. Er hatte sie beten hören, aber er konnte sich ums Verrecken nicht vorstellen,
dass sie einem religiösen Aberglauben anhing. Menschen wie sie erkannten nur weltliche Mächte als göttlich an. Andererseits kehrten viele Menschen zur Mystik zurück, wenn sie unerwartet dem Sensenmann ins Auge schauten … Gott im Himmel! Es war alles geplant … »Sie haben ins Gras gebissen.« David McKenzie schnippte mit den Fingern. »Wenn wir das Geheimnis des Kratersees ergründen wollen, müssen wir vorsichtiger sein als sie.« »Das glaube ich auch.« Aiko Tsuyoshi griff sich ans Kinn und nickte. Rulfan verzog keine Miene. Matts Blick fiel auf die muskulöse Gestalt in der zweiten Reihe. Mr. Black, inzwischen wieder quietschfidel, kraulte den Wolfshund des Albinos, der ihn in seinem Loch aufgespürt hatte, dankbar hinter den Ohren. »Tja …« Matt seufzte. Irgendwie war es ein angenehmes Gefühl, Jacob Smythe bei den Fischen zu wissen. Doch andererseits war der Mann der reinste Kastenteufel und sprang einem immer dann entgegen, wenn man ihn am wenigsten gebrauchen konnte. Ich fresse einen Besen, wenn er diesmal wirklich hinüber ist, dachte Matt. Wie sagt doch dieses deutsche Sprichwort? Unkraut vergeht nicht.
ENDE
66
Ausblick: Schatten der Vergangenheit. von Claudia Kern and Stephanie Seidel Wenn sich Matthew Drax einer Tatsache bewusst ist, dann der, dass seine Welt von 2012 seit über 500 Jahren Vergangenheit ist. Doch nun scheint es, als wollten ihn die Schatten dieser Vergangenheit heimsuchen. Es beginnt, als die Gruppe um Matt auf eine Familie trifft, die vor einem geheimnisvollen Verfolger flüchtet. So jedenfalls sagt sie. Doch der Gegner bleibt unsichtbar. Dafür tauchen andere, vertraute Gestalten auf. Matts Ex-Frau Liz. Sein bester Freund Burt Cassidy. Seine Eltern. Sind sie tatsächlich nur Schatten - oder eine konkrete Gefahr?
67