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Siegfried von Vegesack
Versunkene Welt
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Siegfried vo...
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Siegfried von Vegesack
Versunkene Welt
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Siegfried von Vegesack
Versunkene Welt Geschichte einer Kindheit
P.KEPPLER, BADEN-BADEN
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„Die kleine Frühlingsnacht des Lebens verfließe dir ruhig und hell – der überirdische Verhüllte schenke dir darin einige Sternbilder über die – Nachtviolan unter dir – einige Nachtgedanken in dir – und nicht mehr Gewölk, als zu einem schönen Abendrot vonnöten ist, und nicht mehr Regen, als etwa ein Regenbogen im Mondschein braucht!“ JEAN PAUL
1.- 6. Tausend Copyright 1949 by P. Keppler Verlag, Baden-Baden Gesamtherstellung: K. & H. Greiser, Rastatt
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Mila Im Anfang war eine große, weiche Dunkelheit, eine wohlige Wärme und tiefes Geborgensein. Nur manchmal wanderte der blaue Schein einer kleinen Öllampe durch das Dunkel und warf gespensterhafte Schatten an die Wände. Wie groß, fast bis zur Decke, wuchs Karlomchens Buckel! Das Licht huschte hin und her, und dann wurde es wieder finster. Aurel lag in seinem schmalen Gitterbett, streckte die kleinen Hände nach den hölzernen Stäbchen aus, die ihn wie in einem Käfig gefangenhielten. Aber die Stäbchen ließen sich wenigstens drehen, und das gab einen lustigen, quietschenden Ton. Und wenn er mit den Armen noch weiter nach unten vortastete, konnte er sogar ein weiches, warmes Fell erreichen, das dann gleich zu schnurren anfing. Nein, er war nicht allein; Minka war bei ihm. Jeden Abend, wenn Karlomchen gegangen war, sprang sie lautlos zwischen den Gitterstäben zu ihm ins Bett und blieb bis zum Morgen. Aber noch war es finster. Auch wenn Janz, der Garten junge, in der Frühe mit der Stallaterne kam, um den Kachelofen zu heizen, war alles dunkel. Janz ging lautlos, wie ein Gespenst, in seinen Wollsocken; nur die Bohlen des Fußbodens knackten, und das Licht der flackernden Laterne schwankte hin und her, bis es vor der Holzkiste stillstand. Dann hockte sich Janz auf den Knien vor dem Ofen nieder, und jetzt konnte Aurel ganz deutlich im Schein der Laterne sehen, daß die rechte Socke auf dem Hacken ein Loch hatte, ein großes, rundes Loch. Die Ofentür klapperte, das Feuer knisterte, prasselte; Janz schlurfte davon, aber die roten und gelben Lichter tanzten noch lange vor dem Ofen auf dem Fußboden, bis dann langsam die Dämmerung vom Fenster ins Zimmer stieg und es allmählich
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Morgen wurde. Mila kam, Aurel wurde aus seinem Käfig herausgehoben, der Tag fing an. Ein Tag war damals noch eine kleine Ewigkeit, oder vielleicht stand die Zeit überhaupt still, wie das Haus stillstand mit seinen weiten, hellen Räumen, den vielen weißen Kachelöfen und der alten englischen Standuhr, deren Räderwerk längst abgelaufen war, und die ein merkwürdiges, heiseres Schnurren von sich gab, wenn man ihre Gewichte herunterzog. Aber das durfte man eigentlich nicht tun, und Aurel war auch dazu viel zu klein, nur wenn Mila ihn auf die Arme hob, konnte er bis zu den schweren Bronzezapfen hinauflangen und die blanke Scheibe des Perpendikels ein wenig auf und abticken lassen. Doch gleich darauf stand sie wieder still, der Zeiger rührte sich nicht. Die Uhr wollte nicht gehen. Nur die großen viereckigen Sonnenstücke wanderten langsam über den weiß gescheuerten, ungestrichenen Bretterfußboden und die bunten Flickendielenläufer, die von einer Schwelle zur anderen schräg durch die Zimmer liefen. Auf diesem Dielenläufer im Saal ging Mila oft hin und her, den kleinen Aurel auf den Armen, und Minka, die dreifarbige Katze, lief feierlich, mit hochgehobenem Schwanz hinter ihrem Rock immer auf und ab, bis der Junge ins Bett getragen wurde und sie sich wieder schnurrend zu ihm hinlegen konnte. Auf diesem gestreiften Dielenläufer machte Aurel seine ersten Gehversuche: Mila an der einen Hand und Karlomchen an der anderen. Vor ihm aber, nur ein paar Schritte entfernt, hockte die Mutter mit ausgebreiteten Armen auf den Knien und fing ihn auf, wenn er, das letzte Stück ganz allein, mit einem hellen Jauchzer an ihre Brust taumelte. Dann hob die Mutter ihn auf ihre Arme, war aber gleich so erschöpft, daß sie ihn doch der Wärterin abgeben mußte und Mila ihn wieder zu sich nahm.
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Wie zart und zerbrechlich war die Mutter und wie klein und bucklig Karlomchen neben der breiten, kraftstrotzenden Mila! Mila, und nicht die Mutter hatte den Jungen genährt, und so hing er auch noch jetzt unzertrennlich an ihr wie an keinem anderen Menschen. Sonst waren da noch die großen Brüder: drei Knaben, viel älter als er, die mit dem verspäteten Jüngsten nichts anzufangen wußten. Aber an einem hellen Wintermorgen wurde Aurel ins Schlafzimmer der Mutter geführt, und da lag etwas Winziges, Rosiges neben ihr im Bett. Nun hatte er eine kleine Schwester. Der Vater war fast immer unsichtbar, und zu ihm durfte man nicht hineingehen. Nur manchmal öffnete sich die Tür, und dann stand er da in seinem braunen Hausrock, die lange Pfeife in der Hand, sagte etwas und war ebenso plötzlich wieder verschwunden. Aber ein wenig Pfeifenrauch blieb im Saal zurück, und dieser Geruch war eigentlich alles, was der kleine Aurel von seinem Vater hatte. Dafür öffnete sich ihm ein neues Reich, in das ihn Mila jetzt öfters mitnahm: die Gesindestube neben der Küche. Hier ging es laut und lustig zu, es war ein Kommen und Gehen, immer saß jemand am blankgescheuerten Tisch bei einem großen geblümten Kaffeekrug, die Mädchen rannten hin und her, es war ein ewiges Lachen und Geschwätz. Besonders toll trieb es die schwarze Tina, aber auch die kleine Karlin hatte ein Mundwerk, das nur selten stillstand. Und was gab es da für sonderbare Männer: den alten Kutscher Marz mit dem buschigen Vollbart, der ihm tief über die Brust hing, und den er immer mit dem Handrücken strich, wenn er einen Kaffeeschluck geschlürft hatte; den stillen, bedächtigen Gärtner Indrik, der niemals lachte und immer zu träumen schien, und der eine so schöne tiefe Stimme hatte, daß alle Mädchen weinten, wenn sie ihn hörten. Aber er sang nur selten, und niemals, wenn man ihn bat. Dann war da oft der kleine
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aufgeregte Buschwächter Mickel mit den kurzen krummen Beinen und dem abgeschossenen Daumen: der glatte, vernarbte Stumpf sah gruselig und widerlich aus, aber Aurel mußte ihn doch immer wieder genau betrachten. Am liebsten aber hatte er den Gartenjungen Janz, der im Winter die vielen Öfen heizte und die Wassereimer an der über die Schulter gelegten Stange vom Ziehbrunnen zur großen Tonne trug, die im Küchenflur stand. Immer schleppte Janz etwas: Holz oder Wasser. Immer rief man nach ihm, und immer war er auf den Beinen. Trotzdem fand er Zeit, für Aurel Spielzeug zu schnitzen: eine kleine Schaufel, einen Schlitten, ein Boot. Wenn Aurel etwas wollte, dann ging er zu Janz. Und Janz tat alles, was der kleine Herr befahl. Einmal steckte er sogar seine Hand ins offene Herdfeuer, nur weil Aurel wissen wollte, ob es auch wirklich heiß sei. Ja, es war heiß. Die Haut war sogar ein wenig angebrannt. Janz lächelte, als er die Stelle zeigte. Aber Aurel fing an zu weinen. Er wußte es selbst nicht warum. Auch wenn die Mägde in der Dämmerung beim Spinnen oder Flicken sangen, oder wenn Mickel mit seinem abgeschossenen Daumen auf der Ziehharmonika spielte, stiegen dem Jungen die Tränen auf, aber er mußte trotzdem zuhören. Hier in der verräucherten, dunstigen Gesindestube fühlte er etwas, was ihm in den stillen, hellen Herrenhausräumen fehlte: derbes, ursprüngliches Leben. Aber zugleich fühlte er, daß er von diesem Leben ausgeschlossen war, daß er hier immer ein Fremder, ein Nichtdazugehöriger, bleiben würde. Sogar der alte Marz nannte ihn „Jungherr“, und Minna, die Wäscherin, küßte ihm jedesmal die Hand, wie alle Dienstboten der Mutter die Hand küßten. Nein, er gehörte nicht in die Gesindestube, etwas stand zwischen ihm und diesen Leuten, etwas, was er nicht begriff und doch spürte, wie eine gläserne Wand, die ihn von allem
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abschloß. So sehr er sich auch bemühte, das Glas zu durchbrechen – er blieb doch immer draußen, und selbst, wenn er Janz’ verbrannte Hand hielt oder Mickels Daumenstumpf befühlte, war etwas Fremdes zwischen seiner und ihrer Haut, ein unüberbrückbarer Abgrund. Wie beneidete er alle diese Menschen, die so unbekümmert schwatzten und Späße machten, die schmatzend, mit aufgestützten Ellbogen, den Kaffee schlürften und sich mit Butter gemischten Quark auf die dicken Schwarzbrotschnitten schmieren durften. Drinnen im Speisezimmer gab es nur Butter. Und wieviel besser schmeckte dieser weiße, körnige Quark! Mila gab ihm davon, außerdem hatte sie immer in ihrer tiefen Schürzentasche süße, klebrige Bonbons oder braune, gebrannte Zuckerstangen, an denen man lange lutschen konnte. Nein, Mila war nicht fremd, sie gehörte zu ihm, wenn sie auch hier in der Gesindestube aß. Und nur durch Mila fühlte er dunkel sich mit allen diesen Leuten verbunden, wenn sie ihm auch im Innersten verschlossen blieben. Es gab eben zwei Welten: die eine war still, mit bunten Dielenläufern, feiner Butter, Flüstern, gedämpften Schritten. Und die andere war laut, mit Quark und Gelächter und weißem Sand auf dem Fußboden. Diesen weißen Sand, der so schön unter den Schuhen knirschte, liebte Aurel besonders. Aber Quark und Sand blieben immer draußen hinter der Backstube. Dieser Raum mit dem mächtigen Backofen und der hohen Mehltruhe, der gleich hinter dem Anrichtezimmer lag, trennte die beiden Welten voneinander. Hier knetete Liese, die alte Köchin, mit aufgekrempelten Ärmeln den Teig in einem gewaltigen Trog, hier roch es säuerlich nach frischgebackenem Grobbrot, nach lockerem Karrasch und klintschigem Süßsauerbrot, und hier gab es, gleich neben dem Ofen, ein geheimnisvolles dunkles Loch in der Mauer, mit furchtbaren Spinngeweben. Aurel gruselte sich vor diesem Loch, aber er mußte
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doch immer wieder hineinschauen. Manchmal saß eine fette, runde Spinne in ihrem Netz, und dann mußte Janz seinen Arm hineinstecken – ganz tief, bis zum Ellbogen, und das graue Spinngewebe herausholen. Aber die Spinne selbst blieb immer in ihrem Versteck. In der Backstube standen auch die vielen Wasserstiefel vom Vater und den Brüdern, und Aurel sah zu, wenn Janz das weiße Schweinefett mit den Fingern in das schwarze Leder hineinrieb. Hier putzte auch Janz Vaters alte Schrotflinte mit einem geölten Hedepfropfen, den er mit einem Stock durch die Läufe stieß. Wenn Janz die Läufe gegen das Licht hielt und Aurel durchschaute, blitzten die runden Stahlwände wie brennendes Silber. „Warum schießt Papa Hasen?“ fragte Aurel, der gesehen hatte, wie Michel einen toten Hasen in der Küche ablieferte. „Weil sie gut schmecken“, lachte Janz und drehte einen neuen Hedepfropfen. „Ich werde ihn nicht essen“, erklärte der Junge nachdenklich, – „und auch keine Hasen schießen, wenn ich groß bin.“ „Und doch wirst du es tun“, meinte Janz und stieß den Pfropfen in den Lauf. „Ein Jungherr geht auf die Jagd, und ein Jungherr schießt Hasen!“ „Und du?“ fragte Aurel. „Ich bin kein Jungherr“, lachte Janz. „Ich putz nur die Flinte!“ „Was ist ein Jungherr?’ erkundigte sich Aurel. „Das bist du!“ sagte Janz und preßte den Putzstock immer tiefer in den Lauf hinein. Wieder war die Glaswand da, diese unsichtbare Mauer, die ihn von Janz, von Mickel, von Indrik und sogar vom alten Marz trennte. Alle diese Leute sagten zum Vater: „Großherr“, zur Mutter: „Großfrau“ und zu ihm und den Brüdern: „Jungherr“, Es war wie ein Zauberwort, mit dem sie Vater, Mutter und
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Brüder in einen gläsernen Berg bannten. Und nun sollte auch er dort eingeschlossen werden. „Ich bin kein Jungherr, und ich werde den Hasen nicht essen!“ Aurel stampfte mit dem Fuß und lief zur Backstube hinaus in das Anrichtezimmer. Hier trockneten die schwarze Tina und Karlin Geschirr. „Was hat nur der kleine Jungherr?“ fragte die schwarze Tina und wollte ihn an sich ziehen. Aber er riß sich wütend los und stürmte weiter. Jetzt kam er an der dunklen Vorratskammer vorbei, die Tür stand offen, er hörte Karlomchen rascheln und kramen. Es roch nach getrockneten Äpfeln, Pflaumen, Rosinen und Korinthen, nach Honigwaben, Kaneel und Safran. Der Junge konnte nicht widerstehen: er ging in die Vorratskammer. Geduldig wartete er, bis Karlomchen mit dem Kramen fertig war. Wie klein war jetzt ihr Buckel geworden, viel kleiner als in der Nacht – ob wirklich Flügel darin versteckt sind, mit denen Karlomchen heimlich fliegen kann, wie Mila behauptet? Aber gesehen hatte er es noch nicht. Wenn es auch merkwürdig war, daß Karlomchen überall gleichzeitig sein konnte: beim Wäschezählen, beim Zuckerhacken, in der Apfelkammer, in der Schafferei, beim Einmotten der großen Pelzkiste oder auf der Veranda beim Erbsenbulstern. Karlomchen war überall und immer im Trab, so daß der große Schlüsselbund klirrte. Selbst nachts huschte sie mit der blauen Öllampe durch die Zimmer. Vielleicht flog sie dann? Aber jetzt schob sie endlich das große Schubfach dort oben ein wenig auf, griff hinein und gab dem Jungen, der nur darauf gewartet hatte, eine Handvoll getrocknete Apfelscheiben. „Karlomchen, ich will nicht den Hasen essen“, erklärte Aurel, indem er sich ein Apfelstück in den Mund steckte. „Und ich will auch kein Jungherr sein.“ Karlomchen schob das Schubfach wieder zu.
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„Papperlapapp, ob du Jungherr bist oder nicht: es kommt nicht darauf an, was wir sind, sondern wie wir sind“, meinte sie ernst und schloß die Tür der Vorratskammer. „Und warum muß ich dann Jungherr sein?“ fragte Aurel und spürte mit Behagen den süßsäuerlichen Geschmack der getrockneten Apfelscheibe auf der Zunge. „Weil jeder das seih muß, was er ist“, sagte Karlomchen und drehte den Schlüssel um. „Aber im Himmel vor dem lieben Gott sind wir alle gleich!“ „Und warum können wir es nicht schon hier sein?“ forschte der Junge und steckte sich ein neues Apfelstück in den Mund. „Weil wir noch keine Engel sind“, seufzte Karlomchen, und schon war sie mit ihrem Buckel verschwunden. Nur der Schlüsselbund klapperte noch irgendwo aus der Ferne. Nein, Papa ist kein Engel, wenn er Hasen schießt, überlegte Aurel und wanderte nachdenklich in den Saal. Erschrocken blieb er stehen: dort stand er, der Vater, die lange Pfeife in der Hand und schaute zum Fenster hinaus. Schon wollte der Junge umkehren, schnell davonlaufen, aber dann besann er sich: wie, wenn er ihn jetzt fragte, ihn bat – vielleicht war alles gutzumachen, vielleicht ließ er dann die Hasen leben? Das kleine Herz klopfte zum Zerspringen bis in den Hals hinauf, und die Faust hielt noch immer das Apfelstück umklammert, als er nun neben dem Vater dastand und mit hochgereckter Nasenspitze zum glimmenden Pfeifenkopf hinauf starrte. Aber er brachte kein Wort hervor. Auch der Vater schwieg. Er legte nur seine schwere Hand auf den blonden Scheitel des Kindes, und damit waren alle Fragen und Bitten verstummt. Dann ging der Vater wieder in sein Zimmer. Die Tür schloß sich. Und Aurel steckte sich tiefbeschämt das letzte getrocknete Apfelstück in den Mund. Nein, den armen Hasen war nicht zu helfen. Jetzt nahm der
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Vater sogar die großen Brüder mit auf die Jagd: drei Schlitten mit dicken Felldecken hielten vor der Veranda. Der Vater kutschierte den ersten und hatte Christof bei sich. Marz folgte im zweiten mit Balthasar und Reinhard. Und Mickel, der Buschwächter, saß im letzten mit den Hunden: Waldi, Sagrei und Schamyl. Aurel war im Spielzimmer mit Hilfe eines Schemels auf das Fensterbrett geklettert, und von hier aus konnte er alles genau beobachten: die dampfenden Mäuler der Pferde, Vaters rote Fuchsfellmütze mit den Ohrenklappen, den schwarzen Bärenpelz, die blitzenden Flintenläufe. Und den aufgeregten Mickel mit den noch aufgeregteren Hunden, das runde Messing Jagdhorn auf dem kurzen Schafspelz. Dann knallten die Peitschen, das Horn schmetterte, die Schellen läuteten, die Hunde jauchzten – die Schlitten bogen bei den Tannen ein und waren hinter der Ecke der roten Klete verschwunden. ‘ Aurel ertappte sich bei dem Wunsch, mitzufahren. Und dann kam wirklich der große Tag, an dem Mila ihn dick einpackte und er mit ihr und den Brüdern in einer „Ragge“, einem tiefen, breiten Bauernschlitten, spazierenfahren durfte. Balthasar, der Älteste, kutschierte, und Reinhard und Christof balgten sich um die Peitsche, bis Balthasar auch die Peitsche an sich riß. Ehra, die alte Fuchsstute, rannte wie verrückt und schleuderte mit ihren Hufen vereiste Schneebälle in den Schlitten. Jetzt bogen sie von der Allee auf die Landstraße ein; dicke Weidenstümpfe mit kahlen Ästen flogen vorüber. Aber dann plötzlich, an einer Biegung, scheute Ehra, machte einen gewaltigen Satz, der Schlitten kippte um, und alle rollten in den Graben. Immer wieder mußte Aurel, ganz aufgeregt, Karlomchen und der Mutter davon berichten. Bis tief in die Ärmel und unter den Baschlik, die braune Kapuze, war der Schnee gedrungen. Er war glücklich und stolz wie auf eine Heldentat. Nur durfte er nicht mehr mit den großen Brüdern spazierenfahren.
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Dafür baute er sich im Spielzimmer mit Stühlen und Kissen selbst einen Schlitten, spannte das Schaukelpferd davor, packte sich in dicke Decken ein und fuhr los. Als die kleine Schwester etwas größer wurde, setzte er sie auch hinein und fuhr sie spazieren. Das Schaukelpferd Ehra trabte ganz brav, hob und senkte die Mähne, hob und senkte den etwas dünnen, halb ausgerissenen Schwanz, die Schellen an der blauen Leine klimperten. Aber dann plötzlich machte Ehra einen Satz, der Schlitten fiel um, und Adda, die kleine Schwester, mußte, auch wenn sie gar nicht wollte, über den Fußboden rollen. Das Spielzimmer war Aurels Reich; hier baute er mit glatten Holzklötzen mächtige Türme und Häuser, weidete große Herden von Kühen (das waren braune Kastanien) und Schafen (das waren Weidenkätzchen) oder spielte auch stundenlang eifrig mit seinen Puppen. Besonders liebte er Franz, der sogar die Augen aufschlagen und schließen konnte und der immer bei ihm im Gitterbett schlafen mußte. Während er eifrig spielte, saß Mila am Fenster, strickte oder stopfte Strümpfe. Dann und wann huschte Karlomchen durch das Zimmer, oder die schwarze Tina steckte den Kopf durch die Tür. Aber die Mutter kam nur selten. Sie schaute dann wie suchend nur ein wenig herein, fragte etwas und war ebenso schnell wieder verschwunden. Dafür kletterte Aurel jeden Morgen zu ihr ins Bett. Die kleine Karlin brachte ihr das Frühstück auf einem Tablett, die Mutter mußte lange liegen. Besonders im Winter, wenn es draußen kalt und dunkel war. Die Mutter fror immer. Wie oft stand sie fröstelnd, einen weißen, gehäkelten Schal um die schmalen zusammengezogenen Schultern, am weißen Kachelofen im Saal und wärmte sich den Rücken. Solange draußen Schnee lag, ging sie fast nie hinaus. „Dies ist kein Land für mich“, seufzte sie manchmal, „ich brauche Sonne und Wärme.“
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Lange konnte sie am Fenster stehen und den grauen Himmel nach ein wenig Blau absuchen. Und wenn sie dann ein Stückchen fand, so groß, daß man „eine Hose daraus machen“ konnte – dann war sie glücklich: dann klärte es sich auf! Und wenn die Sonne endlich durchbrach, strahlte es auch aus ihrem schmalen Gesicht. Dann kam es vor, daß sie leise vor sich hinsummte, alte Kinderlieder, die sie selbst einmal als Kind gelernt hatte. Der kleine Aurel trippelte neben ihr an der Hand, immer hin und her auf dem bunten Dielenläufer. Und Minka, die dreifarbige Katze, folgte mit hochgehobenem Schwanz von einer Schwelle zur anderen. Auf dem weißen Fußboden lagen große viereckige Sonnenstücke, die vom Schatten schmaler Blätter gesprenkelt wurden. An den Fenstern standen in hohen Kübeln die Oleander, ein ganzer Wald von schlanken Oleanderbäumen. Das waren die Lieblingspflanzen der Mutter, die sie selber begoß und pflegte. Im Sommer standen sie vor den weißen Säulen auf der Veranda, und ihre zarten rosa Blüten dufteten süß und zugleich bitter, als sehnten auch sie sich nach einem wärmeren Lande. Aber jetzt im Winter blühten nur Hyazinthen und Goldlack auf den Fensterbrettern im Saal. Jeden Morgen öffnete sich eine neue Hyazinthe, und vorher rieten die Mutter und Aurel, welche Farbe sie haben würde. „Riech, wie sie duften!“ Aurel grub die Nasenspitze tief zwischen die schmalen Blätter hinein und schnupperte an der kühlen Dolde. „Warum riechen die Blumen so gut?“ fragte der Junge. „Weil sie nicht sprechen können und doch Gott danken wollen“, sagte die Mutter. Dann summte sie wieder, und beide gingen auf und ab im rötlichen Schein der schwachen, niedrigen Wintersonne. Wenn sich aber die Tür vom Lesezimmer öffnete und der
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Vater dunkel mit der langen Pfeife auf der Schwelle stand, verstummte die Mutter. Und Aurel wurde zu Mila ins Spielzimmer geschickt. Wie bald kam die Dämmerung, und wie lange dauerte es, bis es richtig dunkel wurde! Mila erzählte Zauber- und Gespenstergeschichten von Ungeheuern und unheimlichen Geistern. Von einem Silberschatz, der tief im Moor begraben lag, und von Wölfen, die ein Kind verschleppten, das dann wild in den Wäldern aufwuchs und ein richtiges Wolfsfell bekam. Dieser Wolfsmensch lief auf vier Beinen und konnte sogar richtig heulen. Marz, der alte Kutscher, hatte ihn einmal gehört, als er nachts durch den Wald fuhr, und seine Frau war am nächsten Tage gestorben. Und Mickel, der Buschwächter, hatte einmal auf ihn angelegt, aber dann war der Schuß in seinen eigenen Daumen gegangen. Denn der Wolfsmensch ist kugelfest, und wer ihn heulen hört, der muß sterben. „Aber Marz ist doch gar nicht gestorben?“ meinte Aurel. „Dafür starb seine Frau“, erklärte Mila, „der Wolfsmensch holt sich die Frauen! Und paß auf: auch Marz wird er einmal holen! Der Wolfsmensch ist stärker als alle Menschen, weil er einen Wolfsrachen hat, und schlauer als die Wölfe, weil er ein Menschenhirn hat. Er ist böse, weil die Menschen ihn nicht mehr in ihre warmen Stuben hineinlassen, und er ist hungrig, weil die Wölfe ihm nichts zu fressen geben. Er hat kein Zuhause, gehört nirgends hin, weder zu den Tieren, noch zu den Menschen, und nur wenn ein Mädchen ihm ihr Herz schenkt, kann er erlöst werden. Aber sie muß es ihm freiwillig geben, und noch hat er keins bekommen.“ „Und was macht er mit allen Frauen, die er sich holt?“ „Er frißt ihre Herzen! Aber davon wird er nicht satt. Denn noch hat ihm keine ihr Herz geschenkt.“ „Und dann läßt er sie liegen?“ „Nein, er vergräbt sie im Moor. Der alte Jaunsem, der
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Grabenstecher, hat oft ihre Knochen gefunden. Sie sind weiß wie Zähne, und wenn man sie an der Brust trägt, ist man gegen den Wolfsmenschen geschützt.“ „Hast du einen Knochen?“ Mila schüttelte den Kopf: „Nein, ich habe keinen“, sagte sie leise, „und einmal wird der Wolfsmensch auch mich holen!“ Aurel war auf ihren Schoß gesprungen und umklammerte heftig ihren Hals. „Nein, das wird er nicht! Dann schieß’ ich ihn tot!“ Mila lächelte traurig: „Und wenn ich ihm mein Herz schenke?“ Aurel brach in Tränen aus: „Das gehört mir!“ Auch Mila schluchzte: „Wirst du mich nie vergessen?“ Und dann weinten beide, bis Karlomchen mit der Petroleumlampe kam. Einmal wachte Aurel mitten in der Nacht auf. Weiße Mondstreifen lagen auf dem Fußboden, aber ein großer, schwarzer Schatten fiel schräg über sein Bett. Er fühlte, daß dort jemand am Kopfende stand und ihn ansah, er glaubte sogar den schnauf enden Atem zu hören. Plötzlich wußte er: Es war der Wolfsmensch, der gekommen war, ihn zu holen. Er wollte schreien, aber der Mund war ihm zugeschnürt; er wollte aus dem Bett springen, aber alle Glieder waren gelähmt, er konnte sich nicht rühren. Nur mit größter Mühe gelang es ihm, die Augen zu schließen und sich schlafend zu stellen. Eine Ewigkeit lag er so, jeden Herzschlag darauf gefaßt, daß das Ungeheuer sich über ihn stürzen würde. Als er endlich wieder einen Spalt der Augen öffnete, war der Schatten verschwunden. Auch der Mond war weitergewandert bis zum Ofen, der so fremd und entrückt wie ein weißes Gespenst
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dastand. Der Mond hatte ihn verzaubert. Aber Minkas Fell war warm und weich wie immer, und die Hand nach der schnurrenden Katze ausgestreckt, schlief Aurel wieder ein. Nein, der Wolfsmensch kam nicht, aber dafür kam ein Bär, ein richtiger brauner Bär mit dickem Zottelpelz, kleinen, schwarzen Augen und mächtigen Tatzen. Vom Spielzimmerfenster hatte Aurel ihn kommen sehen, und ein schwarzer, dünner Mann mit einem großen Leierkasten auf dem Buckel stapfte hinter ihm her durch den tiefen Schnee. Dann kam der Bär in den Saal, der Mann drehte den Leierkasten, und der Bär mußte tanzen: er richtete sich auf den Hinterbeinen auf und wackelte mit dem Kopf. Es war ein noch junges, unausgewachsenes Tier, wenn er aber so dastand, war er doch größer als Aurel und recht unheimlich, obgleich er einen eisernen Maulkorb hatte. Die Mägde, die aus der Gesindestube hereingelaufen waren, standen lachend und kreischend im Kreise herum; die schwarze Tina schob immer die kleine Karlin vor, die sich an der alten Liese festhielt. Auch Marz, Janz, Mickel und Indrik waren gekommen. Mickel erzählte aufgeregt und wichtig, wie er einmal einen Bären geschossen hatte, der auf ihn losgegangen war; aber das sei ein anderes Tier gewesen, dreimal so groß wie dieses Baby, und dabei griff er mit der Hand in das Nackenfell, zog sie aber gleich wieder zurück, als sich der Rachen mit den weißen Zähnen und der roten Zunge öffnete. Mila aber hatte keine Angst und streichelte den zottigen Kopf. „Armes Tier“, sagte sie, „armes Tier!“ Und auch Aurel befühlte zögernd die rauhen Haare. Wie traurig ihn die kleinen, schwarzen Augen über dem eisernen Maulkorb anblickten. Und wie traurig der fremde Mann im dünnen Sommermantel aussah, und wie traurig der Leierkasten klang, obgleich der Bär tanzte und alle rundherum so lustig
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waren. Die Mutter versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht. Der Vater, der eine Weile von der Schwelle des Lesezimmers zugeschaut hatte, schloß bald wieder die Tür. Karlomchen kramte in der Pelzkiste, bis sie endlich einen abgetragenen Wintermantel fand. Außerdem bekam der Leierkastenmann in der Gesindestube tüchtig zu essen und heißen Kaffee. Auch der Bär wurde gefüttert. Aber noch lange roch es im Saal nach Tieren und Leuten. Karlomchen mußte alle Fenster öffnen und mit brennenden Wacholderzweigen die säuerliche Luft ausräuchern. Als die Fenster geschlossen waren, sprengte die Mutter Eau de Cologne aus. „Was denken sich wohl die armen Oleander“ fragte sie, „daß Bären vor ihnen herumtanzen? Aber dies Land ist wohl mehr für Bären geschaffen!“ Endlich kam warmer Wind aus dem Süden, der viele Schnee schmolz, es tropfte vom Dach, und überall auf den Wegen standen große Wasserpfützen. Dann trat bald braune Erde hervor, und man konnte in hohen Galoschen zum „Kleinen Wald“ wandern. Das war der nahe Wald, gleich hinter der Landstraße, während der weite, der schwarz und endlos sich jenseits der Heuschläge und Moore hinzog, der „Große Wald“ hieß. Aber zum „Großen Wald“ konnte Aurel noch nicht gehen. Mila führte ihn an der Hand; wenn eine Pfütze kam, griff sie ihn unter die Ellbogen und schwang ihn mit einem Ruck hinüber. Die großen Brüder sprangen von einem Erdhümpel zum andern. Die Luft flimmerte, der Schmelzschnee glitzerte, in den klaren Wasserlachen spiegelte sich der hellblaue Märzhimmel mit den schnell dahinziehenden Frühlingswolken. Rosigweiß standen die jungen Birkenstämme am schwarzen Waldrande. Zwischen den dunkeln Fichten lag noch viel Schnee, aber auf
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einer kleinen Lichtung, um einen Wassertümpel, leuchteten schon saftiggrüne Moospolster, und wenn man sich auf den Bauch darauf legte, konnte man durch ein Loch zwischen dem Wurzelwerk eines vermoderten Baumstumpfes ganz dicht in das blaßgrüne Eiswasser der Grube hineinblicken. Die großen Brüder taten das, sie lagen alle lang ausgestreckt auf dem Bauch und starrten abwechselnd in das geheimnisvolle Loch. Und weil die Großen das taten, legte auch Aurel sich hin und wollte hineinschauen. Dabei schob er sich wohl ein wenig zu weit vor, verlor das Gleichgewicht und stürzte Kopf voran in den Tümpel. Keine Luft, kein Licht, keine Sonne; die warme helle Welt da oben war ausgelöscht, und eine andere, eiskalte und dunkle Welt griff nach seinem Herzen. Verzweifelt strampelten die kleinen Beine, aber der Kopf konnte sich nicht mehr aus dem Eiswasser heben. Die großen Brüder schrien und zerrten ihn an den Füßen, aber die Grube war zu tief und der kleine Bruder zu schwer – sie konnten ihn nicht herausziehen. Im letzten Augenblick kam Mila herbeigeeilt, packte die schon schwächer zappelnden Beine und zerrte den Jungen heraus. Die Luft, die Sonne, das Licht waren wieder da, wenn auch der kleine Körper vor Eiseskälte bebte, von Schneewasser triefte. Mit weit von sich gehaltenen Armen und steif gespreizten Beinen wanderte der kleine Mann, verwundert und sehr benommen, neben den großen Brüdern und der verzweifelten Mila heimwärts. Bei jedem Schritt glucksten die wassergefüllten Galoschen. Die Mutter erfuhr es erst, als er warm eingepackt in seinem Gitterbett lag. Sie beugte sich tief über ihn und hielt lange seinen Kopf umschlossen. Aber sie sagte kein Wort. Dann drückte sie Mila die Hand und streichelte ihren Rücken. Denn Mila konnte sich nicht beruhigen und machte sich die bittersten Vorwürfe, daß sie den Jungherrn auch nur einen Augenblick
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unbewacht gelassen hatte. Karlomchen brachte heiße Himbeerlimonade. Dann schlief der Junge ein. Aber die Mutter saß noch lange bei ihm, befühlte seine Stirn, stopfte die Decken zurecht Und der blaue Schein von Karlomchens Öllampe schwebte immer wieder wie ein guter Schutzgeist in der Dunkelheit, und unermüdlich wanderte ihr Buckel, der wieder zu einem großen Flügelpaar bis zur Decke gewachsen war, an den Wänden entlang. Dann ging die Mutter. Und auch die blaue Öllampe erlosch. Nur der späte abnehmende Mond, der über den weiten, dunklen Wäldern aufging, tastete sich durch das Fenster und legte sich auf die weißen Bretterbohlen. Der Junge erwachte. Wieder fiel ein schwarzer Schatten schräg über sein Gitterbett Aber er fürchtete sich nicht. Er wußte: Der Wolfsmensch konnte ihn nicht holen. Ruhig wandte er den Kopf auf die andere Seite und blickte auf. „Mila?“ Ja, es war Mila, die dort neben seinem Bett kauerte, den Kopf tief in die Hände vergraben. Aber warum zuckten so ihre Schultern? Aurel richtete sich auf. Jetzt stand er, vom Mond beschienen, im weißen Nachthemd da und streckte die Arme nach Mila aus. „Du mußt dich hinlegen, du mußt schlafen“, sagte Mila leise, drückte ihn an sich und deckte ihn wieder zu, ‘ „Mila, der Wolfsmensch kann mich doch nicht holen?“ fragte der Junge, schon halb im Schlaf. „Nein, das kann er nicht, und wenn er kommt, dann jag’ ich ihn fort!“ Und wieder war um ihn eine große, weiche Dunkelheit, eine wohlige Wärme und tiefes Geborgensein. Aurel schlief ein.
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Der Wolfsmensch Und dann wurde es Sommer. Die Störche klapperten in ihrem Nest hoch oben auf dem Ahorn, der am Eingang zur Allee stand; der Faulbeerbaum neben der Schaukelbank am Spielplatz blühte, die verwilderten Cyrenen- und Jasminbüsche am alten Gartenzaun dufteten betäubend, und die Oleander vor den weißen Säulen der Veranda hatten schon zartrosa Knospen angesetzt. Schon ganz früh am Morgen drang durch die offenen Fenster ein unermüdliches Kratzen und Scharren ins Haus: Janz harkte mit einem hölzernen Rechen die breite Anfahrt vor dem runden Rasenplatz. Sorgfältig zog er schräge Strichelmuster in den lockeren, braunen Grand und wischte behutsam die Spuren seiner nackten, großen Füße hinter sich aus. In gemusterten Vierecken, wie Parkett, lag dann der breite Weg in der Morgensonne, schräg durchschnitten vom dunklen Dachschatten, der immer näher ans Haus rückte. Auf dem kurz geschorenen Rasenplatz glänzten fett und schwarz die frisch aufgeworfenen Maulwurfshümpel. Aurel mußte sie glatt trampeln, aber er tat es nur zaghaft und sehr vorsichtig, um den Maulwürfen, die vielleicht dicht unter seiner Sohle ahnungslos hockten, nicht wehzutun. Einmal hatte Janz einen gefangen. Er hielt das schwarze, kleine Tier mit dem spitzen Rüssel und den komischen krummen Schaufelpfoten in der Hand und meinte lachend: „Man braucht ihm nur einen kleinen Klaps auf die Schnauze zu geben – dann ist er tot!“ „Und warum willst du ihn totmachen?“ fragte Aurel verwundert. „Weil er so häßliche Haufen macht“, sagte Janz unbekümmert und griff nach dem Rechenstiel.
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Aber Aurel umklammerte den schon zum Schlag erhobenen Rechen, nahm ängstlich, aber doch tapfer das unheimliche, schwarze Geschöpf in beide Hände und trug es mit Mila in den kleinen Wald. Wie seidig weich sich das glänzende Fell anfühlte. Und wie schnell sich das Tier in die gelbe, sandige Walderde hineingrub. Aurel nahm sich nun vor, alle Maulwürfe zu fangen und in den Wald zu tragen: dort durften sie ja ungestört ihre Haufen machen. Aber so tief er auch mit den Händen in den aufgeworfenen Erdhümpeln herumwühlte – niemals konnte er einen erwischen. „Mein Gott“, seufzte die Mutter, „was hast du wieder für Pfoten!“ Und Karlin mußte warmes Wasser und Karlomchen grüne Seife bringen, und die Mutter band sich feierlich eine blaue Schürze vor – war aber gleich so erschöpft, daß sie kraftlos in den Stuhl sank und Mila die erdigen Hände mit einer Bürste schruppen mußte. Das Händewaschen machte Aurel Spaß. Er tat es jetzt ganz von selbst. Aber nicht, um die Finger rein zu bekommen, sondern nur, um zu sehen, wie der Seifenschaum, wenn man ihn tüchtig rieb, immer tiefer in die Haut hineinging und schließlich ganz verschwand. Die Hände fühlten sich dann so merkwürdig glatt und seifig an. Und wenn man sie später irgendwo ins Wasser steckte, fingen sie wieder an zu schäumen. Das war ein großes Wunder, mit dem er Adda und Janit, dem kleinen Verwalterssohn, imponieren konnte, wenn sie am Teich mit ihren Segelschiffen spielten. Sie hockten auf dem schmalen Brettersteg, der auf einem Holzbock in das von grüner Entengrütze, Schlamm und Schilf verwachsene Wasser ragte. Nur eine kleine Stelle dicht am Steg war klar, und wenn man sich tief bückte und den Arm hineintauchte, konnte man fast den lehmigen Grund berühren.
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Von hier aus traten die Segelschiffe ihre weiten Weltreisen an, die immer irgendwo in der dicken Entengrütze endeten, so daß Janz mit aufgekrempelten Hosen sie aus dem Wasser holen mußte. Hier gab es grüne Frösche, quabblige Kaulquappen, Teichsalamander mit roten Bäuchen, blanke, grünschillernde Wasserkäfer und die unheimlichen schwarzen Blutegel, die Janz sich lachend an die Wade setzte, wenn Aurel es haben wollte. Und hier konnte er das Seifenwunder vorführen: „Seht, ich habe kein Stückchen Seife!“ Er hielt beide Hände in die Luft. Adda und Janit untersuchten sie ganz genau. Dann tauchte er sie ins Wasser, rieb sie eifrig aneinander, und langsam fingen sie an zu schäumen! Auch Marz, der alte Kutscher, der gerade zum Wasserschöpfen kam, um die Kalesche zu putzen, schüttelte verwundert seinen buschigen Vollbart. Und dann durfte Aurel auf den Bock klettern, die verstaubte Lederschutzdecke aufund wieder herunterschlagen, die angetrockneten Schmutzspritzer abkratzen, zum gewölbten, hochgeklappten Verdeck hinauflangen. Aber noch schöner war es drinnen im dunklen Wagenhaus, wo die vielen Equipagen unter weißen Staubdecken standen: das „kleine“ Kupee, das „große“ Kupee, der alte „Wasok“ – eine Art russische Kibitke –’ Kaleschen, Korbwagen, Jagdwagen und die mächtige, nur mit sechs Pferden zu fahrende „Familien-Droschke“, ein Ungetüm aus Urgroßvaters Zeiten. Unter den herunterhängenden Decken konnte man überall hineinkriechen; am liebsten setzten sich Aurel und Adda in das „große“ Kupee, lehnten sich tief zurück, steckten die Arme in die breiten, mit bunten Glasperlen bestickten Armhänger, lehnten die Köpfe gegen die Schlummerrollen und federten auf dem weichen Polster. An den Fenstern waren dunkelgrüne Seidenrouleaus mit Fransen angebracht; zupfte man an einem Schnürchen, schnellten sie in die Höhe und rollten sich oben
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auf. Zog man an einer Troddel, klingelte ein helles, silbernes Glöckchen oben auf dem Bock. In dieser Kutsche war Großtante Ernestine über Königsberg zur Kur nach Marienbad gefahren. Wie es in allen Ecken nach Mottenpulver, nach altem Parfüm, uraltem Reisestaub roch! Und neben dem Wagenhaus war der Pferdestall; ein angenagelter Habicht, von dem nur noch ein paar zerzauste Flügelfedern übrig waren, spreizte sich über der Tür. Gleich am Eingang neben der Häckselmaschine stand die große Wassertonne, aus der die Pferde mit tief gesenkten Köpfen so merkwürdig lautlos tranken. Nur die sammetweichen Nüstern bewegten sich saugend über dem dunklen Wasserspiegel. Da standen die Pferde in den hohen Boxen: Ehra, die Fuchsstute; der dunkelbraune Viererzug: Brauni, Jipsi, Mascha und Mazurka; die beiden Apfelschimmel: Schalk und Scheck; und Hamilkar, der alte, blinde Rappe, der nur hoch zum Wasserfahren benutzt wurde. Sie mahlten mit den Mäulern, schnaubten, wendeten die langen, schmalen Köpfe, die Ketten klirrten, und dann und wann stampfte ein Huf. Wie Aurel diese schwere, von Pferde-, Zaumzeug- und Hafergeruch gesättigte Luft liebte! Die viereckige Düngerluke zum Garten stand offen. Grell und blendend, wie mit einem scharfen Messer herausgeschnitten, lag das Gartenstück im flimmernden Mittagslicht Über den dichten Stachelbeerbüschen krümmten sich die alten, kalkbespritzten Apfelstämme unter ihrer wachsenden Last. Weiße Kohlschmetterlinge schaukelten, Bienen brummten, und Spatzen tschiebsten in der brütenden Luft. Aurel kletterte durch die Luke über den brodelnd warmen Düngerhaufen zu den Mistbeeten hinunter, zog eine rote Karotte aus der fetten Erde, wischte sie mit ihrem eigenen Blätterstengel ab und biß in die süße, harte Frucht. Die Erdkörner knirschten zwischen den Zähnen.
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Wie eine dunkle Wolke hob sich der lärmende Spatzenschwarm aus dem Erbsenspalier und warf sich in den großen Cyrenenbusch am Ziehbrunnen. Knarrend senkte sich die lange Brunnenstange in die Tiefe. Janz schöpfte Wasser. „Willst du sehen, wie tief die Erde ist?“ rief er lachend über den Zaun. Aurel rannte aufgeregt durch die Pforte, und Janz hob ihn an den bemoosten Bohlenrand des dunklen Brunnenschachtes. Mit der anderen Hand stieß er langsam die Stange mit dem Eimer in den Abgrund. Wie unergründlich tief lag dort unten der blaue Himmel. „Siehst du, wie tief die Erde ist? Dort hört sie auf, dort ist nur Wasser!“ Mit einem klatschenden Schlag stieß der Eimer in den Himmel, zerschlug den Spiegel, füllte sich mit Wasser und stieg schwankend und schwappend aufwärts. Dann setzte Janz Eimer und Jungen auf den Rasen. „Willst du schmecken, wie kalt das Wasser ist?“ Aurel beugte sich über den grünbemoosten Holzeimer. Das noch schaukelnde Wasser schlug ihm eisig in das erhitzte Gesicht. „Und noch tiefer“, erklärte Janz, indem er die große Karaffe füllte, „ist lauter Eis. Die Erde ist eine Eiskugel, die nur oben ein wenig von der Sonne angewärmt wird!“ Unter der Erde war kaltes Wasser, Eis und Finsternis. Aber auf der moorigen Wiese, am Rande der Pferdekoppel, brannte die Sonne. Die Luft über den Gräsern, den blauen Glockenblumen, dem gelben Löwenmaul und den roten Kleebällen flimmerte; die Blätter der Ellernbüsche am Stangenzaun hingen schlaff und unbewegt in der drückenden Glut. Aurel ging hinter Mila her auf den schmalen Fußweg, der an der Koppel entlang zum Kirchhof führte. Er hielt einen kleinen,
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bunten Tonkrug in der Hand, und Mila trug eine tiefe Blechkanne am Henkel. Unter ihrem dunkelroten Rock schauten die nackten, von schwarzen Sandalenriemen umwikkelten Knöchel hervor. Plötzlich blieb sie stehen. Als Aurel aufschaute, sah er im Ellerngestrüpp am Zaun das braune, verschlafene Gesicht von Wannag, dem jungen Pferdeknecht. Wannag schlief immer; auch wenn er die Pferde striegelte oder die Häckselmaschine drehte, tat er dies wie im Schlaf. Gähnend, mit merkwürdig unbewegten Augen, stand er da hinter dem Zaun, den nackten, großen Fuß auf der wippenden Birkenstange. Aurel sollte ein wenig vorauslaufen, und als dann Mila später nachkam, war das weiße Kopftuch ihr tief in den Nacken gerutscht. Ihre Wangen glühten unter den schwarzen, wirr hervorquellenden Haaren. „Ist das eine Hitze!“ stöhnte sie, indem sie mit hochgehobenen Armen das Kopftuch wieder in Ordnung brachte. Langsam stiegen sie den steilen Hang zum Kirchhof hinauf. Aber auch hinter der dichten Tannenhecke, unter den hohen Birken und Kiefern war es drückend heiß. Und nachdem sie einen halben Krug Erdbeeren gepflückt hatten, setzten sie sich auf einen flachen Grabstein, der eingesunken im hohen Grase lag. Etwas abseits, hinter einer Reihe solcher Steinplatten, stand ein weißes Marmorkreuz mit verblaßter Goldschrift neben einem kleinen Hügel. Sonst war der Kirchhof eine Wildnis, in der Fichten, Kiefern, Birken, stämmige Eichen, stachelige Wacholderbüsche, ja sogar weichnadlige Lärchen durcheinanderwuchsen. „Liegen die Toten tief in der Erde?“ fragte Aurel und steckte sich eine dunkle Erdbeere in den Mund. „Ja, tief“, sagte Mila, „sehr tief. Die können nie mehr heraus.“ „Im Wasser oder noch tiefer im Eis?“
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„Nein, in der Erde, die ist tief genug“, erklärte Mila mit einem abwesenden Gesicht. Aurel überlegte: darum begräbt man also die Toten auf einem Berg, damit sie nicht im Wasser liegen müssen. „Und warum legt man so schwere Steine auf die Gräber?“ fragte er nach einer Weile. Mila schwieg. Dann sagte sie leise: „Damit die Toten nicht wiederkehren.“ „Aber auf dem Grab dort liegt kein Stein, da steht nur ein Kreuz.“ Aurel wies auf den kleinen Rasenhügel. „Dort liegt dein totes Schwesterchen“, sagte Mila ernst. „Und das ist ja auch wiedergekommen“, fügte sie nach einer Weile lächelnd hinzu. „Und alle anderen dürfen nie wiederkommen?“ Aurel sah Mila erschrocken an. Sie schüttelte das weiße Kopftuch: „Nein, nie.“ Aurel grübelte. „Und wer liegt unter diesem Stein?“ Mila war aufgestanden. Sie gingen an der Gräberreihe entlang, und Mila zeigte auf die einzelnen Steinplatten: „Dein Großvater, und dessen Vater, und dessen Vater..“ „Und die Großmütter?“ „Die Großfrauen liegen alle neben ihnen, unter demselben Stein. Und hier liegt der General, der gegen die russischen Heiden kämpfte und mit dem schwedischen König bis in die Türkei ritt.“ Aurel blieb stehen: „Und warum hebt man nicht den Stein auf, damit er wiederkommen und weiterkämpfen kann?“ „Weil er genug gekämpft hat“, meinte Mila, „und weil genug Blut geflossen ist!“ „Und werde ich auch einmal hier liegen?“ forschte Aurel weiter und holte sich wieder eine Erdbeere aus dem Krug.
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„Vielleicht, wenn die großen Brüder dir genug Platz übriglassen“, lachte Mila und öffnete die hohe, weiße Holzpforte. „Und du –dann liegst du doch neben mir, aber wir wollen keinen schweren Stein auf uns haben.“ „Nein“, Mila schüttelte wieder das weiße Kopftuch, „ich darf nicht hier liegen. Dieser Kirchhof ist nur für die Herrschaft, für die Großherren und Großfrauen, nicht für unsereinen. Wir werden auf dem Gemeindefriedhof begraben, da ist es enger, aber man ist auch näher beisammen. Und die Erde ist leicht: kein Stein liegt darauf, nur viele Blumen. Darum kommen wir immer wieder, und darum sind wir mehr als ihr. Ihr werdet immer weniger, und wir werden immer mehr!“ „Dann will ich bei dir unter den Blumen liegen“, erklärte Aurel und griff nach Milas Hand. „Das geht nicht“, sagte Mila mit einem traurigen Lächeln und schloß die weiße Kirchhofspforte. „Das schickt sich nicht für einen Jungherrn!“ Wieder war die gläserne Wand da: so dick wie eine Kirchhofsmauer und so hoch wie diese hölzerne Pforte. Auch wenn man tot war, konnte man nie hinüber. „Hier hast du es ja auch viel schöner“, suchte Mila ihn zu trösten. „Unsere Toten liegen so dicht nebeneinander, daß sie sich gar nicht in den Gräbern bewegen können!“ „Und warum liegen sie so dicht beisammen?“ fragte Aurel weiter. Sie gingen jetzt auf dem Feldweg, der an der alten Windmühle vorbei zum Hof führte. Mila blieb auf der kleinen Anhöhe neben der Mühle stehen. Die großen, grauen Windflügel standen still, ein dunkles Kreuz gegen den hellen Sommerhimmel. Dann sagte Mila ernst: „Weil wir so wenig Erde haben!“ Aurel begriff das nicht: Gibt es nicht genug Erde – überall Erde, so weit man sehen kann? Verwundert fragte er:
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„Warum nehmt ihr dann nicht die Erde, die ihr braucht?“ „Nein, das geht nicht“, erklärte Mila, „weil die Erde deinem Vater gehört!“ „Die ganze Erde?“ „Nicht die ganze, aber so weit du sehen kannst und noch weiter. Und wo die Grenze von Blumbergshof aufhört, da fängt ein anderes Gut an, das einem anderen Herrn gehört, denn die Erde gehört nur den Herren, wie der Himmel nur Gott gehört. Das ist nun einmal so eingerichtet.“ Aurel hob sich auf den Zehenspitzen, aber das war ihm nicht hoch genug: Mila mußte ihn auf ihre Arme nehmen. Von hier aus konnte er das weite Land übersehen, das im grellen Licht der schon tief geneigten Sonne dalag. Er streckte den kleinen Arm aus und beschrieb einen Bogen durch die Luft: „Die ganze Wiese bis zum Wald – gehört die Papa?“ Mila nickte mit dem Kopf: „Ja, das alles gehört dem Großherrn. Und der Wald auch!“ „Und dort“, Aurel wies auf die andere Seite, „alle diese Felder, die Allee und der Krug – gehört das alles ganz allein Papa?“ „Ja“, bestätigte Mila, „alle Felder und auch die Heuschläge und Wälder hinter dem Krug – alles gehört dem Großherrn!“ Aurel schwieg überwältigt. Der Vater erschien ihm fast so groß wie der liebe Gott. „Und das alles“, fuhr Mila fort, indem sie den Jungen wieder auf die Erde setzte, „wird einmal den großen Brüdern und dir gehören!“ „Dann nehm’ ich den Kleinen Wald“, erklärte Aurel eifrig, als sie weitergingen, „und bau’ dir ein Haus, und dann haben wir genug Erde, damit wir zusammen begraben werden!“ Auf dem Viehweg, der von der Landstraße zum Hofe führte, kam ihnen die Herde entgegen. Eine rosa Staubwolke, durch die schräge Sonnenstrahlen fielen, zog hinter der Herde her, die
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jetzt zu den Ställen einbog. Die braunen und schwarzweiß gefleckten Leiber der Kühe schaukelten, die Hörner wiegten sich, eine schwarze Kuh ging an der Spitze. „Das bedeutet Unglück“, meinte Mila ärgerlich. „Warum läßt der Pakalneek die Schwarze an der Spitze gehen?“ „Was für ein Unglück?“ fragte Aurel erschrocken. „Irgendeins“, sagte Mila und blieb am schrägen Bretterzaun stehen, „Unwetter, Feuerschaden oder Tod!“ Jetzt trappelten die Schafe, dichtgedrängt, eine weiche, wollige Masse, blökend mit langen, schwappenden Ohren vorüber. Pakalneek, der alte Hirt, mit zerrissenem, tief über das Gesicht hängendem Strohhut und bloßen Füßen, schlurfte, eine Rute in der Hand, hinterdrein. Aber gleich hatte auch ihn die dicke Staubwolke verschluckt. „Und die Kühe und Schafe – gehören auch die alle Papa?“ fragte Aurel. „Ja, auch alle Kühe und Schafe und alle Pferde und alle Schweine und alle Hühner und Enten und alle Häuser!“ Sie kamen jetzt am Knechtshaus vorbei, einem roten, kahlen Ziegelsteinbau mit kleinen, schwarzen Fensterhöhlen. Vor der Tür, im Staub, wälzten sich halbnackte Kinder in braunen Lumpen. Eine alte Frau humpelte über die Schwelle, bückte sich tief und griff nach Aurels Hand. Er wich ängstlich zurück, aber schon fühlte er den harten zahnlosen Mund auf der Haut und hörte das unheimliche Zauberwort: „Jungherr“, das ihn kalt, wie etwas Feindliches, anwehte. Aber dann öffnete sich die Gartenpforte, die dichten Johannisbeersträucher und die niedrigen Apfelbäume nahmen ihn schützend auf; von den Blumenrabatten vor der Gartenveranda dufteten Levkojen und Reseda, und oben auf der hölzernen Treppe, neben dem Geländer, stand die Mutter, beugte sich nieder, breitete die Arme aus und drückte den Jungen an ihr Herz.
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Nun war alles wieder gut, alle Fragen, alle dunkle Unruhe verstummt. Die Toten lagen auf dem Kirchhof, aber der Kirchhof war weit. Und die Knechtskinder wälzten sich in dickem Staub – aber das Knechtshaus war tief unten, hinter dem Gartenzaun. Die Welt war wieder schön, und dies hier war die Welt: das Haus mit den weißen Säulen, den blühenden Oleandern, den hohen, schlanken Lebensbäumen, die sich, eine grüne Mauer, schützend auf der Gartenseite erhoben. Und alles, alles gehörte Papa. Der Vater wurde ihm dadurch noch rätselhafter, noch fremder. Auch wenn er jetzt oft auf der Veranda saß, im Korbstuhl, die lange Pfeife zwischen den Knien, und über den runden Rasenplatz in den dunklen Schlauch der Allee blickte, an deren Ende, unter den tief herunterhängenden Lindenzweigen, der rote Ziegelsteinfleck des Kruges schimmerte. Von hier aus konnte man auch den Wirtschaftsweg übersehen, der hinter einer dünnen Blättergardine junger Laubbäume quer über den Hof führte, so daß jedes Gefährt und jeder, der vorüberging, wie vor einer Linse die runde Einfahrt der Allee überqueren mußte. Und weiter zwischen einigen Lücken dieser „Gardine“ schimmerte sogar die alte Landstraße durch, die am Kruge vorbeizog. Dies war der Lieblingsplatz des Vaters; von hier aus konnte er beobachten, wer zum Verwalterhaus, wer zu den Ställen, wer zur Klete ging, wer zum Kornmagazin und wer zur Mühle fuhr. Hier sah man den Postboten oder den Fleischer in ihren klappernden Wägelchen vom Krug her durch die Allee zuckeln, die sonst nur von herrschaftlichen Equipagen benutzt werden durfte. Aber der Postbote kam nur zweimal in der Woche und der Fleischer noch seltener, so daß der Weg zwischen den Wagenspuren vergraste. Kam ein Knecht oder der Viehpfleger oder der Verwalter an der Alleeöffnung vorbei, so blieb er stehen, zog tief den Hut
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und ging erst weiter, wenn der Vater den Gruß mit einem Kopfnicken oder einem Wort erwidert hatte. Ja, einmal hatte Aurel sogar gesehen, wie zwei uralte Bäuerchen vor dem Vater auf der Veranda in die Knie gefallen, auf den Knien bis zu ihm gerutscht waren und kniend seine Hand geküßt hatten. Der Vater war wirklich fast wie der liebe Gott und auch wie Gott oft lange unsichtbar. Manchmal war er ganz verschwunden, irgendwo auf den Nachbargütern oder in der Stadt. Und dann geschah es, daß an einem heißen Sommertage alle Polstermöbel, Kissen, Matratzen, Heusäcke und Decken auf den runden Rasenplatz wanderten und hier ein ohrenbetäubendes Klopfen begann. Die schwarze Tina, Karlin, Janz, sogar Minna, die alte Waschfrau, liefen aufgeregt hin und her, schüttelten die Matratzen, trugen Lehnstühle, Sofas, Couchetten, klapperten und klopften. Auch Karlomchen und die Mutter griffen zu, schleppten die Pelze, die Jagdmuffe und Fußsacke aus den Truhen, hingen die Bären- und Elchfelle auf dem Geländer der Veranda auf. Die großen Brüder hatten sich gewöhnlich an solchen Tagen rechtzeitig gedrückt und waren irgendwo in die Koppel oder in den Wald verschwunden. Aber Aurel und Adda wälzten sich auf den roten Matratzen, bauten Kaleschen aus den Polsterstühlen und Kissen und schleppten das Schaukelpferd hinaus. Wie sonderbar so ein Sofa, so eine Couchette auf dem Grase aussah, – aber das waren dann gar keine Möbel mehr, das waren Ozeandampfer, Eisenbahnen, Karossen. Und der Rasenplatz war die Welt: rund und ohne Grenzen. Wie die Mittagssonne schmorte, wie die Luft flimmerte, wie tief im blauen Himmel die weißen Sommerwolken schwammen! Waldi, die alte Jagdhündin, lag mit herausgestreckter Zunge auf der Verandastufe, Sagrei auf dem Rasen, und Schamyl hatte sich unter dem Sofa verkrochen. Sogar die Schmetterlinge flatterten nur träge in der Luft, und
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zwei waren zusammengewachsen und konnten überhaupt kaum noch fliegen. Sollte man sie nicht auseinandernehmen? Aber die schwarze Tina lachte nur: sie fand das komisch. Und die Mutter sagte ernst: „Laß sie nur, wie sie sind.“ Das Schmetterlingspärchen taumelte weiter. Wie es von der Lindenlaube her duftete und summte. Die dunklen Kronen der uralten Bäume ragten bis über den Giebel des silbergrauen Schindeldaches. Alle waren ins Haus gegangen. Nur Aurel lag noch, versteckt zwischen Sofa und Stühlen, auf einer Matratze und blinzelte mit halbgeschlossenen Augen in das flirrende Licht. Dann schlief er ein. Karlomchen weckte ihn. Wie traurig besorgt sie ihn über die schiefgeneigten Brillengläser ansah, und wie sonderbar ihre Stimme klang. Er sollte gleich zur Mutter kommen. Auf der Veranda begegnete er der schwarzen Tina. Sie hielt den Klopfer in der Hand und hatte so erschrockene Augen. Im Schlafzimmer war es dunkel und kühl. Die grünen Fenstervorhänge waren zugezogen. Nur ein schmaler Lichtstreifen fiel schräg über den Fußboden bis zum Bett, in dem die Mutter, den Kopf tief in die Kissen gedrückt, lag. Sie zog den Jungen an sich und strich mit der Hand über sein Haar. Dann sprach sie, aber ihre Stimme war so leise, daß Aurel nur das Summen der Fliegen hinter dem Fenstervorhang hörte. Und als endlich die Worte zu ihm drangen, konnte er sie nicht begreifen. Er starrte angestrengt auf seine nackten Beine, die über die Bettkante baumelten. Wenn er den einen Fuß ein wenig vorstreckte, berührte er mit den Zehen den kühlen Nachttisch. Und wenn er den großen Zeh etwas einbog, konnte er mit dem Nagel das glatt-polierte Holz kratzen. Nein, er begriff nicht, was die Mutter da sagte, warum Mila jetzt fortgehen, ohne ihn fortgehen sollte. „Willst du denn gar nicht bei mir bleiben?“ fragte die Mutter traurig.
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„Ich bleibe bei dir und Mila“, erklärte er immer wieder. „Und wenn Mila fortgeht?“ „Warum muß Mila fort?“ Nein, das begriff er nicht. Noch weniger: er verstand überhaupt nicht den Sinn dieser Worte. Mila war ein Stück von ihm wie die Mutter. Konnte man ihn denn entzweischneiden, mitten durch in zwei Teile? Nein, das konnte man nicht. Wenn er hierblieb, dann blieb auch Mila hier. Die Mutter machte Spaß. Wie kühl das polierte Holz war, und wie schön der Nagel kratzen konnte, wenn man den großen Zeh zusammenzog. Aber dann führte Karlomchen den Jungen ins Spielzimmer, und hier stand Mila, das weiße Kopftuch um das rote, aufgequollene Gesicht, und sie hatte keine Schürze um, und statt der Sandalen trug sie richtige Stiefel. Sie sah so fremd aus, nur das Kopftuch war wie immer ein wenig auf die Seite gerutscht, aber jetzt fing es plötzlich an, so merkwürdig zu zucken, sie beugte sich nieder – und dann sah Aurel nichts mehr. Er fühlte nur, wie etwas Heißes, Bebendes aufstieg, wie etwas Furchtbares, Unbegreifliches ihn schüttelte, die Kehle zusammenschnürte, und endlich brennend wie fließendes Feuer in die Augen stürzte. Aber begriffen hatte er es noch immer nicht, auch nicht, als die Tür sich schloß, als er allein da stand, als Karlomchen kam und ihn schlafen legte. Er ließ alles ruhig mit sich geschehen. Die schwarze Tina wusch ihn, sie sollte diese Nacht bei ihm schlafen. Karlomchen brachte das Abendbrot, aber essen konnte er nicht. Dann betete sie wie immer mit ihm, auch die Mutter kam noch zum Gutenachtkuß. Minka sprang zwischen den Gitterstäben ins Bett, der Junge schlief ein. Mitten in der Nacht wachte er auf. Es war so merkwürdig dämmerhell im Zimmer, wie gedämpftes Mondlicht, nicht Tag, nicht Nacht. Alte Dinge konnte man sehen, aber alle Dinge waren hinter einem Schleier: der weiße Kachelofen, der
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Strohstuhl, Milas Bett. Aurel richtete den Kopf auf und starrte hinüber: „Mila!“ rief er. Aber keine Antwort kam, nur ein gleichmäßiges tiefes Atmen. Er mußte zu ihr, er mußte sie wecken, er mußte sehen, daß alles ein böser Traum war, daß sie dalag und daß sie immer bei ihm bleiben würde. Leise erhob er sich aus der warmen Decke, kletterte vorsichtig über das Gitter, trippelte mit den bloßen Füßen über die kühlen Bohlenbretter und blieb vor Milas Bett stehen. Aber da war keine Mila. Ein fremder, im Schlaf zerwühlter Kopf lag dort auf dem Kissen mit offenem Mund. Aurel erstarrte. Lange stand er da wie gelähmt Dann hatte er es begriffen: Mila war fort, und er war hier ohne Mila. Er wollte schreien, aber die Kehle war ihm zugeschnürt. Irgend etwas würgte seinen Hals. Nur mühsam konnte er den Kopf wenden wie damals, als der Schatten des Wolfsmenschen auf sein Bett fiel. Und plötzlich wußte er, der Wolfsmensch hatte Mila geholt. Und jetzt wollte er ihr Herz fressen. Er mußte zu ihr, er mußte sie retten, jetzt gleich, bevor es zu spät war. Er brauchte ja nur durch den Garten zu laufen, da wußte er unten ein Loch im Zaun, und dann über den Heuschlag, immer am Graben entlang, bis zum Großen Walde – wenn er dann rief, würde Mila ihn hören. Noch konnte der Wolfsmensch sie ja nicht weit fortgeschleppt haben. Aber er mußte sich beeilen. Leise kletterte Aurel auf den Strohstuhl und von dort auf das Fensterbrett. Jetzt saß er im Nachthemd auf dem harten Holz, hielt sich am Fensterhaken und tastete mit den nackten Beinen in die Tiefe. Wie kühl und feucht die Blätter des wilden Weines waren, der die Gartenseite des Hauses berankte. Und wie schwarz und schmal sich die Lebensbäume gegen den blaßgrünen Himmel abhoben. Vom Heuschlag stiegen weiße Nebel auf, und dahinter am
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Horizont zog sich ein langer roter Streifen über den schwarzen Wald. Eine Schnarrwachtel knarrte. Dorthin mußte er; wenn er den Fensterhaken losließ, kam er schon hinunter – tief konnte es ja nicht sein … „Aber Aurel!“ Er fühlte sich von hinten umschlungen – Karlomchen hielt ihn und zog ihn ins Zimmer zurück. Dann lag er schluchzend im Bett. Die weiche, warme Dämmerung war hart und kalt geworden, die tiefe Geborgenheit war zerrissen. Vom offenen Fenster wehte kühl ein erstes schmerzliches Verlorensein.
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Das rote Bänkchen Fömarie heißt eigentlich Fräulein Marie, aber das ist zu lang, Aurel kann das Wort „Fräulein“ nicht aussprechen. Fömarie hat eine turmhohe Frisur mit Knotenzopf und unzähligen Spangen, runde, wasserhelle, immer erschrockene Augen und furchtbar viel Röcke, die man alle sehen kann, wenn sie in der Allee spazierengeht. Denn dann rafft sie die Röcke mit einem „Pagen“, einem schwarzen Gummiband hoch, weil draußen doch Pfützen sein könnten: „Aurel, paß auf, da kommt eine Pfütze!“ Und Fömarie macht mit hochgerafften Röcken einen gewaltigen Sprung. Ebenso fürchtet sie sich vor Fröschen, Kröten, Donner, Mäusen und Zugwind. „Mein Gott, es hat geraschelt“, sagt sie mitten in der Nacht und macht Licht. Oder: „Es donnert!“ – und hält sich beide Ohren zu. Oder: „Es zieht!“ – und schließt alle Fenster. Wenn Fömarie ausgeht, steckt sie sich und Aurel immer Wattepfropfen ins Ohr. Und dann wandern sie in der Allee: immer bis zum Krug und wieder zurück. Manchmal auch die „kleine Runde“: auf der Landstraße ein Stück und dann auf dem Wirtschaftsweg heimwärts. Alles richtet sich nach dem Wind, und wenn man trotz aller Berechnungen den Wind ins Gesicht bekommt, darf man nicht sprechen und muß die Hand vor den Mund halten. Aber Aurel kann die Wattepfropfen nicht leiden: er zieht sie heimlich aus den Ohren heraus. „Mein Gott, wo sind deine Wattepfropfen?“ „Herausgefallen.“ „Wo herausgefallen?“
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„Das weiß ich nicht, vielleicht auch hereingerutscht.“ „Mein Gott, hereingerutscht! Wie ist das denn möglich? Laß mal sehen!“ Aurel hält das Ohr hin und macht ein sehr nachdenkliches Gesicht: „Vielleicht ganz tief hereingerutscht!“ „Mein Gott, ganz tief! Ich sage dir doch immer, du sollst dich gradehalten. Bei mir sind sie noch nie hereingerutscht oder herausgefallen. Schnell nach Hause. Bei dem Wind ohne Watte. Du kannst dir den Tod holen!“ Zu Hause muß Aurel auf alle Fälle immer gurgeln: wenn er hustet, wenn er niest, wenn er mit nassen Füßen nach Hause kommt. Außerdem hat Fömarie noch eine Leidenschaft: die Köpfe der Kinder zu waschen. Auch die großen Brüder müssen dranglauben. Jeden Samstag schleppt die schwarze Tina unzählige Eimer heißes Wasser in die Backstube, Karlomchen bringt grüne Seife, die sich wie kalter quabbliger Froschlaich anfühlt, Fömarie bindet sich eine Küchenschürze vor und krempelt die Ärmel hoch. Nachher müssen die Kinder vor dem großen Backofen sitzen, und Tina, Karlin, die alte Minna und Fömarie bearbeiten abwechselnd die Haare mit Tüchern und Händen. Dann bringt Karlomchen zur Belohnung heiße Himbeerlimonade, aber die großen Brüder sind so beleidigt, daß sie nichts trinken. Sie hocken finster da, Bal, Rei und Tof (auch die Namen Balthasar, Reinhard und Christof sind für Aurel zu lang) und brüten Rachepläne aus. Einmal haben sie Fömarie einen Frosch ins Bett gelegt. Ein anderes Mal Brausepulver in den Nachttopf geschüttet. Beide Male erschrak Fömarie zu Tode: „Mein Gott, ein Frosch! Mein Gott, wie das kocht! Habe ich Fieber?“ Aurel, der jetzt oben bei Fömarie schlief, mußte sich den
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Zipfel des Kissens in den Mund stecken und die Decke über das Gesicht ziehen, um nicht herauszuplatzen. Die großen Brüder imponierten ihm sehr. Auch wenn sie bei Acka einen ganzen Sonntagvormittag nachsitzen mußten. Acka war Herr Ackermann, der stille, kränkliche, immer freundliche Hauslehrer, der fast den ganzen Tag in einem dicken Schlafrock in seinem Zimmer saß, das „Afrika“ hieß, weil der Kamin von der Küche dort durchging. Nur zu den Schulstunden wanderte er ins Schulzimmer hinüber, wo die Brüder an schrägen Pulten unterrichtet wurden. In den Pausen tobten sie im „Großen Korridor“, der eigentlich ein gewaltiger Saal mit tiefen Fensternischen war. Hier hing an zwei Stricken eine Stange, auf der man so hoch schaukeln konnte, daß die Fußspitzen die Decke berührten; aber nur Bal und Rei kamen so hoch, Tofs und Aurels Beine waren noch zu kurz. Dann standen da zwei Barren, eine große Mehlkiste mit abschüssigem Deckel, auf dem man herrlich hinunterrutschen konnte, die Pelztruhe, die immer nach Mottenpulver roch, ein altes Sofa mit schwarzrot gemustertem, zerschlissenem Polster, Schränke, Kommoden, drei kleine Kinderschlitten auf eisernen Kufen mit bunten, zerkratzten Bildern auf dem schrägen Schutzblech; auch im Sommer konnte man mit diesen Schlitten auf dem Bretterboden herumrutschen, wenn man mit den Hacken nachhalf. Und dann gab es zwischen den tiefen Fensternischen schmale, schräg abgedachte Rumpelkammern, die von zerbrochenen Möbeln, Geschirr, Kisten und rätselhaftem Gerümpel angefüllt waren. Diese Dachkammern hießen „Tschulanchen“, und wenn man hineinkroch, erstickte man fast in der dicken, staubigen, glühend heißen Luft. Aber man konnte sich hier gut verstecken, wenn Fömarie rief und Aurel und Adda lieber mit Puppen spielen wollten als mit wattierten Ohren über die Pfützen springen.
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Außer der staubigen Rumpelkammer gab es für Aurel noch einen Zufluchtsort, das war „Afrika“, das war „Acka“. Afrika und Herr Ackermann waren für ihn ein Begriff, und dieser Begriff war mit Wärme, Petroleumlampe und Schlafrock verbunden. Bei Acka durfte Aurel Bilderbücher besehen, bei Acka durfte er selbst Bilder kritzeln. Er saß Herrn Ackermann gegenüber, und die weiße Alabasterlampe stand zwischen ihnen. Fast so weiß wie die Lampe sah Ackas Gesicht aus, dieses immer freundlich lächelnde und doch traurige, nach innen gekehrte Gesicht mit der leisen Stimme. Aurel zeichnete Häuser, Bäume, Kühe und darüber immer eine runde Sonne mit langen, geraden Strahlen. Und dann schenkte er Acka das Bild, der sich besonders über die Sonne freute. „Die Sonne muß immer drauf sein“, erklärte der Junge, „sonst erfrieren die Bäume und Kühe!“ „Und auch die Menschen“, meinte Herr Ackermann fröstelnd. Aurel schüttelte den blonden Kopf: „Die haben doch Öfen! Oder einen Schlafrock! Oder auch einen Pelz! Die Bäume und Tiere haben nichts!“ „Aber die Sonne ist wärmer!“ seufzte Herr Ackermann mit traurigem Lächeln. „Dann schenke ich dir eine Sonne!“ erklärte Aurel großmütig und malte einen riesigen Kreis mit gewaltigen Strahlen, den Herr Ackermann über seinem Bett aufhing. „Jetzt werde ich nicht mehr frieren“, meinte er dankbar und strich behutsam über den Blondkopf. Dann holte Fömarie den Jungen. Er sollte heute baden. Und nach dem Bad brachte sie ihm das Abendessen ans Bett: Rührei mit Spinat und geschälte Kartoffeln. Aber die Kartoffeln sahen so merkwürdig aus: nicht glatt geschält, sondern wie abgekratzt, und als Fömarie die Gabel
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reichte, bemerkte Aurel, daß an ihren Fingernägeln kleine Schalenstücke hingen. Er rührte keine Kartoffel an. „Dann darfst du auch nicht das Rührei essen!“ Er schob den Teller von sich: „Abgekratzte Kartoffeln esse ich nicht!“ „Sie sind nicht abgekratzt!“ „Zeig deine Finger!“ „Du bist albern!“ Fömarie hielt die Hände auf dem Rücken. Aurel wiederholte beharrlich: „Zeig deine Finger!“ Fömarie wurde dunkelrot: „Du bekommst nichts, wenn du nicht die Kartoffeln ißt!“ Aurel drehte den Kopf zur Wand: „Dann werde ich nichts essen!“ Am nächsten Tag lagen dieselben Kartoffeln wieder auf seinem Teller. Sie waren aufgewärmt, ein wenig gebräunt, aber er erkannte sie doch sofort und rührte sie nicht an. Aurel und Adda aßen im Speisezimmer in der Ecke an einem niedrigen Kindertisch, auf zwei niedrigen Holzbänkchen. Fömarie beaufsichtigte die Mahlzeiten und trieb immer zur Eile, weil die Kinder fertig sein mußten, wenn die Großen zu Tisch gingen. Und Aurel trödelte immer so. Er kaute ewig. Die Bissen gingen nicht herunter/Und die Kartoffeln schob er jetzt einfach auf den Tellerrand. Fömarie riß ihm die Gabel aus der Hand, spießte ein Kartoffelstück auf und wollte es ihm in den Mund schieben. Aber der Junge preßte die Lippen zusammen, hielt beide Hände vor und zog den Kopf weit zurück. Dann versuchte sie ihn zu locken: „Wenn du dieses Stück ißt, nur dieses Stück, gebe ich dir einen Bonbon!“ Aurel schüttelte stumm den Kopf: Jetzt packte Fömarie den Jungen, bog sein Gesicht zurück
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und wollte ihm gewaltsam das Kartoffelstück in den Mund stopfen. Aber Aurel biß die Zähne fest zusammen, und die Kartoffel fiel auf den Fußboden. In diesem Augenblick kam die Mutter. Nachdem sie alles angehört hatte, nahm sie den Jungen an der Hand und führte ihn in ihr Schlafzimmer. Hier stand hinter einem Schirm am Ofen das Sünderbänkchen – ein roter Fußschemel, und hier mußte sich Aurel hinsetzen und „nachdenken“, bis der „Bock“ wieder fort war. Das kam nicht oft, aber doch auch nicht zu selten vor, so daß er sich weder an das rote Bänkchen gewöhnte, noch es vergaß. Die Mutter strafte nur ungern, nur wenn es sein mußte. Aber dann blieb sie fest: Aurel sollte Fömarie um Verzeihung bitten. Stumm und eigensinnig schüttelte er den Kopf: „Dann mußt du nachdenken, bis du es tust!“ Aurel setzte sich auf das Bänkchen. Die Mutter schob den Schirm vor, dann ging sie. Die Tür schloß sich hinter ihr. Nun saß er hier ganz allein im Halbdunkel, starrte auf den Kachelofen, den Fußboden, auf das Schutzblech vor der Ofentür. Die weißen Kacheln waren glatt und kühl, und wenn man die Finger mit Spucke naß machte, konnte man schöne Striche ziehen. Auch die dunklen Ritzen zwischen den weißen Brettern des Fußbodens mußte man genau untersuchen: wie sonderbar mulmig sich der Staub anfühlte, wenn man ihn mit dem Nagel herauskratzte. Das war keine so einfache Arbeit, Aurel kutschierte auf seinem Bänkchen bis in die Ecke, um das Werk zu vollenden. Hier entdeckte er aber im hintersten Winkel zwischen Ofen und Wand ein graues Spinngewebe, in dem eine tote Fliege hing. Spinnen interessierten ihn immer ganz besonders, und als sich jetzt eine Fliege auf den Kachelofen setzte, versuchte er sie zu fangen. Er stand auf, aber nun sah er im Wasserkrug, der unter dem Waschtisch stand, eine Fliege hilflos mit den Reinen zappeln.
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Vorsichtig fischte er sie heraus und warf sie mit kaltem Entsetzen und zugleich grausamer Freude ins Spinngewebe. In diesem Augenblick hörte er, wie sich die Tür öffnete. Schnell hockte er sich wieder auf das Bänkchen. Hastige, schlürfende Schritte näherten sich, ein Schlüsselbund klapperte, Karlomchen beugte sich zu ihm, sah ihn über die schiefen Brillengläser bekümmert an und fragte, ob der „Bock“ jetzt fort sei. Aber Aurel schüttelte den Kopf. Nie wollte er Fömarie um Verzeihung bitten, nie. Außerdem mußte er sehen, was aus der Fliege geworden war. Karlomchens Schlüsselbund klapperte, die Tür schloß sich. Aurel beugte sich vor und spähte neugierig in den Winkel. Sein Herz hämmerte bis in die Kehle hinauf. Die Hände wurden kalt und feucht: da hing die zuckende Fliege, und ein Ungeheuer mit schwarzem Kugelleib und spitzen, langen Beinen hielt sie saugend umklammert. Aber er mußte hinsehen, entsetzt hinstarren, bis die Zuckungen immer schwächer wurden und zuletzt ganz aufhörten. Jetzt war die Fliege tot, eine leere Hülle. Die Spinne kroch gesättigt in ihr Versteck. Als die Mutter kam, hockte Aurel schluchzend auf seinem Bänkchen. Aber auf die Frage, ob er jetzt Fömarie um Verzeihung bitten wolle, schüttelte er stumm den Kopf. „Dann mußt du noch ein wenig nachdenken“, seufzte die Mutter und ging. Und Aurel dachte nach: Warum hab’ ich die Fliege ins Spinngewebe geworfen, warum ist Mila fort und Wannag, der Pferdeknecht, auch? Ich möchte zu Mila, ich will auch fort, weit fort von Fömarie und den abgekratzten Kartoffeln. Am liebsten will ich tot sein wie die Fliege, ganz tot, und dann werden alle weinen. Aurel schluchzt und schluchzt über sich selbst, über die Mutter, über alle Menschen, die dann so traurig sein werden, so
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schrecklich traurig. Aber ich bin dann tot, wiederholt er immer wieder, ganz tot, und dann wird man mich begraben, neben dem toten Schwesterchen, neben dem weißen Kreuz … Der wilde Trotz geht in sanftes, süßes Selbstmitleid über. Die Tränen sind versiegt, und in den Waden kribbeln Ameisen. Vielleicht fängt es so an, wenn man verhungert, denkt er gespannt und streckt abwechselnd die Beine aus, und abwechselnd kribbeln die Ameisen in der rechten und in der linken Wade. Als die Mutter wiederkommt, schüttelt er den Kopf. „Dann mußt du zu Papa“, sagt die Mutter feierlich, nimmt ihn an der Hand und führt ihn durch den Saal in das Lesezimmer. Hier ist es dämmrig und kühl; die gelben Fensterrouleaus sind heruntergelassen; durch die angelehnte Tür vom Schreibzimmer des Vaters fällt ein dünner Sonnenstreifen, in dem Staubkörner wirbeln. Die Mutter ist hineingegangen, er hört ihr Flüstern, einen Stuhl rücken, das knurrige Brummen des Vaters. Dann kommt sie wieder heraus – er soll hierbleiben. Die Saaltür schließt sich hinter ihr. Ganz selten ist Aurel in dieses Heiligtum vorgedrungen, hinter dem das Allerheiligste, Vaters Schreibzimmer, liegt. Aber schon hier ist es feierlich und unheimlich genug: da steht ein Glasschrank mit lauter Büchern, da hängen an den Wänden auf schwarzen Brettern weiße Totenköpfe mit spitzen Geweihen – Rehköpfe, viele Rehköpfe – und mitten darunter ein weißer Elchschädel mit gewaltigen Schaufeln. An der anderen Wand hängt eine Bilderreihe von Männern und Frauen in sonderbaren Kleidern: in Rüstungen, Uniformen, mit weißen, komischen Frisuren, ja sogar Zöpfen. Und der unheimlichste – der General (Mila hat es ihm einmal gesagt), hat ein breites Band mit einem mächtigen Stern auf dem dicken Bauch. Und nun sind alle tot: die vielen Rehe, der Elch und der General.
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Warum wohl Papa so viele Tote an die Wände hängt? Nur schräg in der Ecke, da ist etwas Lebendiges, ein geheimnisvolles Bild, das Aurel immer wieder ansehen muß: eine blaue Höhle mit blauem Wasser, und ein Mann, der in einem Boot steht, fährt in diese Höhle hinein. „Das ist die Blaue Grotte“, hat einmal die Mutter gesagt, „und in diesem Boot bin ich selbst hineingefahren! Aber das ist schon lange her und sehr weit“, seufzte sie leise, „hier ist der Himmel nie so blau!“ Seitdem sehnt sich der Junge nach dieser blauen Höhle. Auch jetzt will er lieber dort sein, als auf den Vater warten, der ihn zwingen wird, die abgekratzten Kartoffeln zu essen. Denn das fühlt Aurel: dem Vater, der fast so groß und mächtig ist wie der liebe Gott, kann er sich nicht widersetzen. Schon hört er seine knarrenden Schritte, das kleine Herz pocht, die Hände werden wieder kalt und pressen sich aneinander. Dann öffnet sich die Tür, und der Vater steht mit der langen Pfeife im Sonnenviereck, das ihn wie ein Heiligenschein umflammt. Aurel ist so geblendet, daß er gar nicht aufblicken kann; er starrt nur auf den glühenden Pfeifenkopf, der tief bis zu den Knien des Vaters herunterhängt. Jedes Mal, wenn der Pfeifenkopf aufglüht, kommt von oben eine dicke Rauchwolke, der Vater verschwindet ganz im Sonnenstaub und Pfeifendampf: er ist wieder unsichtbar. Nur seine brummende Stimme dringt durch den Rauch zu dem Jungen; er fragt, und Aurel gibt in den Rauch hinein Antwort. Er starrt dabei auf den aufglühenden und wieder verglimmenden Pfeifenkopf, und da die Worte oben aus dem Dampf immer gerade dann kommen, wenn unten das Feuer aufblitzt, ist es so, als spräche er nur mit der Pfeife. „Und warum willst du die Kartoffeln nicht essen?“ fragt die Pfeife, und kneift lauernd das Auge zu. „Weil sie abgekratzt sind“, sagt Aurel und knetet die kalten
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Finger. Der Pfeifenkopf funkelt ihn böse an: „Abgekratzt?“ „Ja, Fömarie hat sie mit den Nägeln abgekratzt!“ Der Pfeifenkopf zwinkert lange stumm. Dann kommt ein dröhnendes Lachen, eine polternde Stimme aus der Höhe: „Das ist eine Schweinerei! Abgekratzte Kartoffeln brauchst du nicht zu essen!“ Als Aurel aufblickte, war der Vater verschwunden. Die Tür zum Schreibzimmer war wieder geschlossen. Nur dicker, grauer Pfeifenrauch hing noch wie eine Wolke in der Luft. Von den Kartoffeln wurde nie mehr gesprochen. Und Fömarie kratzte nie mehr die Schalen mit den Fingernägeln ab. Dafür gab es jetzt Beeren. Zuerst kamen die Gartenerdbeeren, aber die durfte man erst essen, wenn die Mutter ihre Vorräte eingekocht hatte. Das Beereneinkochen war etwas so Feierliches, daß nur die Mutter es selbst machen konnte. Für diesen Zweck hatte sie sich einen kleinen Ziegelsteinherd nahe am Teich unter den schattigen Bäumen bauen lassen – hier war es nicht so heiß, hier saß sie mitten im Freien, der ganze weite, blaue Sommerhimmel mit den Eichen, Linden und Birken war ihre Küche. Die großen Brüder mußten immer untersuchen, ob die Erdbeeren schon so weit wären, aber immer hieß es, nein, ganz reif sind sie noch nicht! Bis die Mutter endlich das Rätsel löste: daß gerade die reifen der Untersuchung zum Opfer fielen! Dann begann das Beerenpflücken: die schwarze Tina, Karlin, die alte Minna und unzählige Beerenweiberchen aus dem Knechtshaus hockten mit: weißen Kopftüchern zwischen den langen Beeten. Die großen Brüder, die mithelfen sollten, waren natürlich verschwunden. Sie schossen Drosseln in der Koppel, oder sie trieben sich auf dem Morast: herum, wo sie Kreuzottern erlegten. Einmal brachten sie eine tote Natter nach
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Hause und legten sie vor Fömaries Tür. Fast wäre sie drauf getreten., Die Brüder mußten wieder im Schulzimmer nachsitzen, aber das taten sie lieber als Beerenpflücken. Ganze Waschkörbe voll Erdbeeren wanderten auf die Veranda. Hier wurden sie von Karlomchen sortiert, gereinigt, vom Stengelblatt befreit und in gewaltigen Schüsseln aufgetürmt. Und dann kam der Tag, an dem sich die Mutter feierlich eine weiße Schürze umlegte, Janz den Herd einheizte, und die Mädchen mit Beerenschüsseln, Einmachgläsern, Zuckerdosen, Probiertellern, großen und kleinen Löffeln aufgeregt zwischen Haus und dem Herd am Teich hin und her rannten. „Tina, noch ein Kissen!“ Aber Tina war schon fort, und Aurel schleppte das große, rotweiße Kissen von der Veranda herbei. Die Mutter saß in einem Lehnstuhl, sie rührte mit dem großen silbernen Löffel in der dicken, roten Masse, auf der hier und dort rosa Schaumbläschen aufstiegen. Aurel stand neben ihr und beobachtete diesen Schaum. Wenn er zu heftig aufbrodelte, wurde er mit dem Löffel abgeschäumt und auf einen Teller getan. Dieser süße Beerenschaum war seine Liebhaberei. Nach den Erdbeeren kamen die Stachelbeeren, Johannisbeeren, Buchsbeeren, Himbeeren, Heidelbeeren, Preiselbeeren und Kranzbeeren an die Reihe. Immer wieder rauchte der niedrige Ziegelschornstein unter den Eichen, prasselten die Birkenscheite im Herd, galoppierten Mädchenröcke zwischen den Büschen hin und her, klapperte Karlomchens Schlüsselbund über den Rasen, saß die Mutter mit vorgebeugtem Rücken über der Glut des Feuers, unter der Glut der Sonne, und rührte mit dem Löffel. Endlich hatte sie die Hitze, die sie im Winter so entbehren mußte. Manchmal kam auch der Vater schräg über den Rasenplatz,
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im weißen Leinenrock, den flachen Strohhut auf dem Kopf, den Spazierstock mit dem gekrümmten Griff in der Hand, setzte sich auf einen alten Baumstumpf und stocherte mit dem Stock in einem Maulwurfshümpel. „Diese Biester“, sagte er ärgerlich, „zerwühlen den ganzen Rasen. Und diese Kalkhühner! Sie haben wieder die Tür offengelassen, und nun wimmelt es im Lesezimmer von Fliegen!“ Die „Kalkhühner“ waren ein für allemal die Mädchen, ganz gleich, wie sie gerade sonst hießen. Ein „Kalkhuhn“ kam und meldete, der Verwalter wolle den Großherrn sprechen. Und der Vater ging langsam – hier und da stieß er einen Maulwurfshümpel mit dem Stock um – über den Rasen ins Haus zurück. Auch Herr Ackermann saß manchmal hier in seinen graugestreiften Hosen und schnitzte aus einer Kiefernrinde ein Boot für Aurel. Und dann wurde es im Teich aufs Wasser gesetzt. Oder der Postbote kam aus der Allee, wo er am Ahorn seinen Klepper angebunden hatte. Die alte, schwarze Posttasche roch nach Staub und Leder, hatte eine eiserne Stange mit Vorhängeschloß, das schon von weitem klapperte. Aurel holte den Schlüssel, der in der Backstube hing, und die Tasche wurde geöffnet. „Tante Olla kommt!“ sagte die Mutter mit einem Seufzer und ließ den Löffel sinken. Oder auch: „Onkel Oscha kommt!“ Und dann sprang sie auf, strahlte wie ein junges Mädchen, hob Aurel in die Luft und wirbelte ihn im Kreise. Aber gleich darauf sank sie wieder erschöpft in den Stuhl. Aurel durfte die große Nachricht verkünden: „Onkel Oscha kommt! Onkel Oscha kommt!“ Und die kleine Adda hüpfte aufgeregt hinter ihm her. Aber es konnte auch geschehen, daß mitten in diesem Sommerglück, in dieser glühenden Sonne, ein dunkler
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Wolkenschatten über den Rasenplatz lief, sich auf das Haus mit dem silbergrauen Schindeldach legte. Dann verloren die weißen Säulen ihren Glanz, die Fensterscheiben erloschen und das Dach duckte sich unter der schwarzen Krone der Linden. Und es konnte geschehen, daß Aurel mitten im froherregten Lauf mit einem Ruck stehenblieb und irgendwohin starrte: war nicht dort hinter den Büschen ein weißes, etwas schiefes Kopftuch aufgetaucht, ein dunkelroter Rock, den er kannte? Nein, es war nur Rosalie, das Viehmädchen, die mit dem Milcheimer aus dem Kuhstall kam, aber ihr wiegender Gang, ihre volle Gestalt riefen in ihm dunkle Erinnerungen wach. Es gab einen Stich, mitten ins Herz, einen brennenden, spitzen Stich. Dann war der Wolkenschatten weitergezogen, das Haus mit den weißen Säulen lag wieder im prallen Sonnenlicht, und grün und unergründlich ragten die Linden schützend über das Dach. Nach solchen besonderen Tagen, wenn die Mutter ganz erschöpft war und Aurel ihr so eifrig beim Beerenkochen geholfen hatte, durfte er etwas länger aufbleiben. Die Mutter ließ sich nach dem Abendessen einen Stuhl hinter die „Gardine“, die jungen Linden und Ellern, tragen, auf dem Wirtschaftsweg am Kleefeld hinstellen, und Aurel durfte einen kleinen Fußschemel mitschleppen. Dort setzten sich dann beide hin, um den Sonnenuntergang zu betrachten. Die rote Feuerkugel stand schon ganz niedrig am gelbgrünen Horizont, über den schwarzen Wäldern. „Siehst du, wie sie jedesmal ein Stückchen näher zum Kruge untergeht“, sagte die Mutter, „und wenn der Winter kommt, fällt sie hinter der Allee in den Wald!“ „Und warum läuft sie dann nur bis zum Krug?“ fragte der Junge. „Weil sie zu müde ist“, sagte die Mutter, „auch die Sonne wird müde, wenn sie den ganzen Sommer gearbeitet hat! Sieh,
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jetzt stößt sie schon an die Baumspitzen!“ „Und warum kann es nicht immer Sommer sein?“ forschte Aurel. „Weil die Erde sich erholen muß. Aber es gibt Länder, wo es keinen Winter gibt und wo die Menschen nie frieren und Sonne und Erde nie müde werden. Sieh, jetzt fällt sie in den Jaunsemschen Wald! „Und warum gehen wir nicht hin, wo es immer Sommer ist?“ Aurel war aufgestanden und hatte sich auf den Schemel gestellt. Die Mutter schwieg. Sie richtete sich ein wenig auf, dann sank sie in den Stuhl zurück: „Weil es zu weit ist“, seufzte sie, „viel zu weit. Sieh, wie der Himmel brennt!“ „Und warum brennt der Himmel?“ „Damit wir wissen sollen, daß die Sonne wiederkommt, immer wiederkommt. Und weil wir den kürzesten Sommer haben, brennt bei uns der Himmel am längsten! Aber jetzt mußt du ins Bett!“ Von den Heuschlägen hinter dem Kruge stiegen weiße Nebel auf. Irgendwo weit von der Landstraße her klapperten Pferdehufe, brummte eine Ziehharmonika in den milchweißen Sommerabend.
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Die Welt ist voller Tanten Rei war auf den Ahorn hinaufgeklettert, der am Eingang der Allee stand, Tof baumelte auf einem Ast, Aurel klebte unten am Stamm wie ein Frosch mit hochgezogenen Knien, und Adda reckte sich auf den Fußspitzen. Da schrie Bal hoch oben von der Dachluke: „Sie kommen! Sie kommen! Ich sehe ganz deutlich eine Staubwolke bei der Grenzbrücke!“ Und bald rief auch Rei vom Ahorn herunter: „Ja, sie kommen! Ich kann schon die drei Schimmel erkennen! Jetzt sind sie bei der Flachsweiche!“ Aurel versuchte immer wieder hinaufzuklettern, rutschte aber jedesmal an der rauhen Borke herunter. Und dann bog die Kalesche mit den drei Pferden beim Kruge in die Allee ein. Eine Staubwolke wirbelte, Hufe klackerten, Räder knirschten, jetzt rollte die Equipage um den runden Rasenplatz, und Onkel Oscha saß winkend im weißen Staubmantel in der heruntergeklappten Kalesche. Alles drängte sich auf der Veranda. Die kleine Karlin öffnete den Wagenschlag. Onkel Oscha schnaufte die Stufen herauf, umarmte und küßte alle der Reihe nach: die rechte Backe, die linke und wieder die rechte; der weiße, stachlige Vollbart kitzelte. Janz und die schwarze Tina schleppten den schweren, mit Lederriemen zusammengeschnürten Koffer – den „Tschemodan“ – die Treppe hinauf. Der eine Schimmel spreizte so komisch die Beine. Ein dampfender Strom rauschte in den trockenen Grand und ergoß sich bis zum Rasenende. Dann durften Aurel und Adda in die Kalesche klettern; der Kutscher gängelte die Pferde um den Platz. Onkel Oscha war Mamas Bruder, Er war der einzige Onkel,
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der keine Tante hatte, und deshalb fuhr er wohl mit seiner Kalesche immer von Verwandten zu Verwandten. Auf seinem eigenen Gut war er nur selten, und was sollte er auch da so allein tun? Onkel Oscha war klein und breitschultrig, hatte eine dicke Goldkette über dem Bauch mit vielen Berlocken: Bärenkrallen, eine plattgedrückte Bleikugel und eine feuerrote Koralle. Den Bären hatte er selbst geschossen und mit der Bleikugel einen Elch erlegt, der ihn fast zertrampelt hatte. Wenn Onkel Oscha erzählte, strich er sich mit beiden Händen die Vollbartspitzen nach, rechts und nach links, und jedesmal, wenn er kam, befühlte er die Ohrläppchen der Kinder, und wenn sie dick waren, zog er süße Karamelbonbons aus den Ohren. Aber er konnte auch das Elfenbeinpapiermesser auf seinen Knien schleif en, und wenn man ihn dann noch immer nicht in Ruhe ließ, sprang er plötzlich auf und rannte hinter einem her: „Warte, jetzt wirst du abgemurchelt!“ Dann half kein „Mundspitzen“, kein „Zähneklappern“ – man wurde gemurchelt, bis man die „Engel im Himmel pfeifen“ hörte: „Hörst du sie?“ „Nein! Noch nicht!“ „Und jetzt?“ „Noch immer nicht!“ Aurel konnte nie die Engel pfeifen hören. Aber dafür horte er jetzt jeden Abend in der Waschküche, unten beim Knechtshaus, wie Indrik, der Gärtner, mit der schwarzen Tina, Karlin, Rosalia und den anderen Mädchen das Morgenständchen einübte. Und dann kam Mamas Geburtstag. Die Tür zu ihrem Schlafzimmer und ihr Stuhl am Speisetisch waren mit Laubgirlanden umrankt. Es roch nach Safran, nach Wachskerzen, nach frischen Kümmelkuchen. Indrik und die Mägde schlichen am frühen Morgen auf
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bloßen Füßen in den Saal, stellten sich räuspernd vor der Tür auf – der Gärtner hob die Hand, schwang sie im Takt, und seine tiefe, schöne Stimme tönte mit dem schrillen, hohen Gesang der Mägde durch das noch schlafende Haus. „Wie die Kalkhühner stinken“, sagte später der Vater, als er paffend durch den Saal ging. Auf dem Tisch im Speisezimmer lag ein mächtiger, gelber Safrankringel, zwischen dessen Rundungen auf zwei umgestülpten Tellern bunte Wachskerzen flackerten. Aber die braunen Mandeln hatten Aurels kleine Finger hier und dort aus der knusprigen Kruste schon herausgeknibbert, und jetzt wartete er darauf, mit Adda die Kerzen aus-; zupusten. Und dann stampfte plötzlich Tante Olla durch den Saal. Die Kristallzapfen am Kronleuchter zitterten, und auch Aurel erschrak, als er diese mächtige Tante zum erstenmal sah. Denn sie hatte einen tiefen Baß, ein dröhnendes Lachen und einen richtigen Schnurrbart im braungebrannten, von einer zottigen, weißen Mähne umwucherten Gesicht. Wenn Aurel ihr die Hand küßte, stieß seine Nase immer gegen den harten Carneol ihres Siegelringes, und wenn er neugierig um sie herumging, dann war es eine weite Wanderung: so gewaltig war ihr Umfang. Daß dies Mamas Schwester war, konnte er nie begreifen. Nach der Umarmung sank die Mutter immer erschöpft auf das Sofa, und Tante Olla holte sich ein silbernes Kästchen aus dem Beutel, klappte es auf, nahm ein Stückchen Papier, bestreute es mit Tabak und rollte sich eine Zigarette. Dann warf sie den Kopf zurück und paffte. Die großen Brüder hatten einmal gesagt: „Tante Olla ist ein Mann.“ Aber warum trug sie dann Röcke? Oder hatte sie darunter vielleicht doch Hosen an? Aurel kroch unter den Tisch, um das Rätsel zu ergründen. Aber dann mußte er wieder heraus und eine neue Tante begrüßen. Die Welt war voller Tanten, voller knisternder, schwarzer
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Seidenröcke, Lavendelgeruch, klappernder Stricknadeln und warmer, etwas feuchter Tantenküsse. Da war Tante Melanie, die immer Jäckchen häkelte. Aurel mußte ihr manchmal das Garn halten, die Hände steif nach oben, der Faden lief immer in der Runde, von einer Hand zur anderen. Aber Aurel schielte doch hinüber und sah, wie Tante Melanie heimlich in Papier eingewickelte Schokoladeplätzchen in den Wunderknaul steckte, die dann beim Häkeln zum Vorschein kamen. Deshalb saß er doch oft bei dieser Tante und starrte gespannt auf den sich abwickelnden Knaul. Dann war da Tante Constance, die mit ihrer weißen, welken Hand, an der viele blitzende Ringe und ein goldenes Armband klirrten, immer Karten auslegte. „Man muß sich in Geduld üben“, sagte sie belehrend und tupfte mit dem Zeigefinger über die Karten, „und deshalb heißt dieses Spiel auch Patience – das heißt Geduld!“ Wenn aber Aurel seine Hand in die Hosentasche steckte, dann sagte sie streng: „Kind, die Tasche ist nicht für die Hand! Das schickt sich nicht.“ „Warum schickt sich das nicht?“ „Weil ich es dir sage!“ erklärte sie ungeduldig. Aurel zog die Hand aus der Tasche und ging fort. Tante Constance mußte sich wohl noch lange in Geduld üben. Aber die liebste von allen war ihm Tante Madeleine. Sie war schmal und schwarz und so ausgelassen wie ein Füllen, machte immer Unsinn und schaukelte sogar oben im Großen Korridor, bis sie mit den Fußspitzen die Decke berührte. „Madeleine, je ťen prie!“ sagte Onkel Nicolas und hielt die Schaukel an. Onkel Nicolas und Tante Madeleine sprachen oft französisch, damit man es nicht verstehen sollte. Wenn sie kamen, mußten sich alle Kinder im Saal in einer Reihe aufstellen: Balthasar, Reinhard, Christof, Aurel und Adda. Und
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dann mußte jeder seinen Namen und sein Alter nennen, „Mon Dieu, wieviel Jungen!“ sagte Tante Madeleine, tupfte mit der Hand über die Scheitel und zählte: „Eins, zwei, drei, vier! Und nur ein kleines Mädel! Mais quelle gentille petite fille! Sollen wir nicht tauschen? Zwei Jungen gegen zwei Mädchen? Wieviel lieber hätte ich eine solche Rasselbande!“ Dann dürfen die großen Brüder abmarschieren. Und Tante Madeleine nimmt Aurel an der Hand, er muß sich an den Türpfosten stellen, die Schuhe ausziehen; sie mißt ihn mit dem Zentimeterstock. „Genau so groß wie Boris“, sagt sie nachdenklich, „und genau so alt. Die würden gut zusammen passen! Willst du mitkommen?“ Aber Aurel schüttelt den Kopf. Dann sagt er stockend: „Du mußt hierbleiben!“ „Und Boris?“ „Der soll auch herkommen!“ Und dann öffnet Janz, in einem grauen Dienerrock mit blanken Knöpfen, die roten Hände in weiße Glacéhandschuhe gepreßt, die Flügeltür und bittet zu Tisch. An diesem Festtag dürfen Aurel und Adda gleichzeitig mit den Großen essen. Aber Aurel fürchtet sich, er weiß, was später kommen wird, und daß dann wieder alle über ihn lachen werden. Er kneift sich heimlich mit dem Daumennagel in die Wade– vielleicht gelingt es ihm diesmal, das Schreckliche zu überstehen. Das weiße, lange Gesicht vom Pastor bekommt schon rote Flecken, die schwarze Halsbinde um den niedrigen Kragen ist zur Seite gerutscht, so daß man den Messingknopf sehen kann. Die Stimmen schwirren, die Messer und Gabeln klappern. Dann wird es plötzlich still. Der Doktor ist aufgestanden, die goldene Kette funkelt auf seinem weißen Bauch. Im Aufschlag des schwarzen Bratenrocks steckt eine weiße Aster. Er klopft an
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sein Glas, räuspert sich, und dann hält er seine Rede auf das Geburtstagskind. Doktor Martinell redet gern, redet lange und mit viel Gefühl. Er fängt immer mit dem Frühling an und endet mit dem Herbst: „Wir freuen uns an den Blüten, aber wir genießen die Früchte! Und die Kinder sind die Früchte der Frau: an ihren Früchten werdet ihr sie erkennen!“ Dann erhebt er sein Glas – Aurel kneift sich tief in die Wade: jetzt, jetzt kommt es. Alles hat sich erhoben, der Pastor stimmt an, und dann tönt es herzzerreißend: „Hoch soll sie leben, hoch soll sie leben! Dreimal hoch!“ Aurel schluckt und schluckt, Eiskugeln rollen ihm über den Rücken, und in der Kehle brennt es heiß. Lange hält er sich tapfer, starrt angestrengt auf seinen Teller, auf das Wachstuch mit den bunten Max- und Moritzbildern. Aber plötzlich verschwimmt alles vor seinem Blick, brennend schießt es in seine Augen es strömt und strömt, er schluchzt mit zuckenden Schultern. Und dann hört er dies schreckliche Gelächter, sieht durch den Tränenschleier lauter lachende Köpfe, auch das vom Wein gerötete Gesicht des Vaters lacht, ja, er macht sich sogar über ihn lustig und zuckt, ihn nachäffend, mit den Schultern. Noch nie war der Vater ihm so fremd, ja, in diesem Augenblick haßt er ihn. Auch die Mutter versucht zu lächeln, aber es glückt ihr nicht ganz. Nur Tante Madeleine lacht nicht, sie ist aufgesprungen, sie stellt sich schützend zwischen ihn und das grausame Gelächter. Dann führt sie ihn hinaus, legt ihn im Grünen Gastzimmer auf ihr Bett, erzählt ihm von Boris, seinem Vetter, von Jsa, Maurissa und Warinka, seinen Cousinen, die er noch nie gesehen hat, legt ihre kühle Hand, die so gut riecht, auf seine heiße Stirn, bis er beruhigt einschläft. Am Abend brennen überall weiße Alabasterlampen. Sogar
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im Flur, im Treppenhaus, im Großen Korridor – überall ist der weiße Schein der matten Kugelkuppeln, die wie lauter Monde aussehen. Nur im Lesezimmer flackern Wachskerzen in schweren silbernen Leuchtern: dort sind die grünen Kartentische aufgeschlagen, die Herren spielen Whist und trinken Rotwein. Dicke Rauchwolken stehen in der Luft. Alle Türen sind offen. Auch zum Schreibzimmer des Vaters, wo der Kamin prasselt, der Schaukelstuhl leise knarrt und in der Ecke die vielen langen Weichselholzpfeifen aufgereiht im Kreise um einen runden Pfeifenständer stehen. Karlomchen huscht überall herum, schraubt die Dochte, damit die Lampen nicht blaken, klappert mit dem Schlüsselbund. „Setz dich doch endlich hin!“ sagt die Mutter. Karlomchen setzt sich. Aber gleich darauf ist sie wieder verschwunden. Und dann müssen alle auf die Veranda: rund um den Rasenplatz, in allen Bäumen und Büschen, ja sogar tief in die Allee hinein, leuchten rote, grüne, blaue, gelbe und rosa Papierlaternen. Wie unergründlich, wie geheimnisvoll ist das Dunkel der Zweige im schwachen Schein der bunten Lichter. Dann und wann streicht eine Fledermaus dicht an der Veranda vorüber. „Mein Gott, eine Fledermaus!“ schreit Fömarie: „Man muß die Fenster schließen!“ Tante Madeleine führt aber Aurel auf die andere Seite des Hauses, auf die Gartenveranda. Hier brennen keine bunten Laternen, aber hoch über den Lebensbäumen funkeln und flimmern die Sterne in der schwarzen Augustnacht. Noch nie hat Aurel so viele und so helle Sterne gesehen. „Warum zittern sie so?“ fragt er verwundert. „Weil jeder Stern einen Menschen hat, den er liebt, und für den er fürchtet! Wenn der Mensch etwas Schlechtes tut, verliert
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der Stern seinen Glanz. Und jeder Stern will glänzen!“ Eine Sternschnuppe fliegt schnell über den Himmel und fällt hinter die Apfelbäume. „Sahst du?“ „Ja, ein Stern ist heruntergefallen“, sagt Tante Madeleine. Lange sieht sie schweigend zum Himmel hinauf. „Und wenn ein Stern herunterfällt“, sagt sie leise, „dann ist ein Mensch gestorben!“ In der Lindenlaube schreit ein Kauz: „Kuwiht, kuwiht, kuwiht!“ Es klingt wie schrilles Gelächter oder wie der Schrei eines Kindes. Dann fahren die vielen Tanten wieder fort. Im Grünen, im Rosa Gastzimmer, im Treppenzimmer, im Eckzimmer: überall werden die Betten mit weißen Spitzentüchern zugedeckt, die Waschschüsseln umgestülpt, die Vasen mit den welken Astern hinausgetragen. Die schwarze Tina klappert mit den Eimern, Karlomchen zählt die Wäsche, die Tür zum Lesezimmer ist wieder geschlossen. Als letzter fuhr Onkel Oscha. Aurel und Adda durften bis zur Flachsweiche mitfahren. Wieder stand alles winkend auf der Veranda, bis die Kalesche von der Allee auf die Landstraße einbog. Aber hier, beim Krug, ließ Onkel Oscha halten. Er ging mit den Kindern in den Kramladen. Wie es hier in der Bude nach Wagenschmiere, nach Heringen, Teer, Juchtenleder, Lakritzen und Wasserstiefeln roch! Mit zwei spitzen Tüten Karamelbonbons kamen sie wieder heraus. „Warum kannst du nicht länger hierbleiben?“ fragte Aurel verzweifelt, als die Schimmel bei der Flachsweiche hielten. „Weil ich noch viele andere Ohren untersuchen muß!“ Die Pferde zogen an, Onkel Oschas weißer Staubmantel beugte sich noch lange aus der halb aufgeschlagenen Kalesche heraus, dann war er hinter der dicken Staubwolke verschwunden. Die Kinder standen allein auf der Landstraße,
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die Bonbontüten in den Händen. Sie setzten sich am Grabenrand neben einen Weidenstumpf und fingen an zu lutschen. Die bunten, klebrigen Papierchen werden in die Taschen gesteckt, die Finger abgeleckt, alles ist süß und klebrig. Eine Dreschmaschine summt irgendwo, und auf dem Heuschlag am kleinen Fluß stelzen drei Störche. Wenn sie ein Stückchen auffliegen, hängen die langen, roten Beine so komisch in der Luft. Aurel wendet den Kopf und erschrickt: da kommt auf der Landstraße der „verrückte“ Schweinehüter mit seinen Schweinen gerade auf sie zu. Dieser Schweinehüter ist ein Idiot, der immer mit sich selbst redet und lallend mit einem Stock hinter den Schweinen hertorkelt. Er hat einen zerrissenen, schwappenden Strohhut, zerlumpte Hosen, ein unheimliches, bärtiges Gesicht mit immer offenem Mund und verblödeten Augen. Die Kinder sind aufgesprungen, halten sich an den Händen und rennen, was sie können. Aber jetzt fängt auch der Verrückte an zu laufen mit geschwungenem Stock und weißem Schaum vor dem Munde – Aurel sieht es ganz deutlich, als er sich umwendet –’ und alle Schweine galoppieren hinter ihm her. Bis nach Hause ist es noch weit. Adda kann nicht schnell laufen, und der Verrückte kommt immer näher. Aber da ist die Flachsweiche, mit dem hohen Schilf und den dichten Weidenbüschen. Aurel klettert über den Graben, zieht Adda nach, und beide verkriechen sich in dem grünen Dickicht. Am ganzen Leibe zitternd, hören sie den Verrückten lallend vorbeistolpern, das Grunzen und Quieken der Schweine. Noch lange hocken sie da versteckt. Aurel zieht einen Kalmusstengel aus der moorigen Erde, schält das rote Ende ab und riecht am weißen Mark: wie geheimnisvoll das duftet! Und genau so merkwürdig schmeckt auch der dicke, kühle Stengel, wenn man daran knabbert. Dann
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bricht er einen braunen Schilfkolben ab, der sich wie Samt anfühlt, und einen für Adda, und beide wandern Hand in Hand über die kahlen Stoppelfelder heimwärts. Die Tage werden immer kürzer, in den Nächten friert es schon. Janz muß wieder die Öfen heizen. Aber mittags scheint noch die Sonne warm auf die Veranda, die Mutter sitzt auf dem rotweiß gestreiften Ecksofa, den weißen Schal um die schmalen Schultern, und stopft. Der Ahorn am Eingang zur Allee ist blutrot. Und die Laubgardine vor dem Wirtschaftsweg wird immer gelber und dünner. Einmal, vor dem Mittagessen, nahm die Mutter Aurel mit zur Windmühle. Karlomchen trug einen großen Korb Verbandszeug, Watte, Wachssalbe und Baldrian. Mit Wachssalbe und Baldrian wurde alles kuriert, und das half immer. Aber diesmal war es etwas Ernsteres: die kleine Christin vom Müller hatte sich mit kochender Milch das Bein verbrüht. Wie dunkel und stickig war es in der armseligen Stube; überall hockten Kinder in Lumpen herum, starrten mit stumpfer Freudlosigkeit zu den Fremden auf. Und auf dem einzigen Bett lag etwas unsäglich Jämmerliches und wimmerte vor sich hin. Wieder wurden die Hände geküßt; Aurel hielt sie krampfhaft hinter dem Rücken versteckt, aber es half ihm nicht; und wieder fühlte er etwas widerlich Feuchtes und Kaltes auf seiner Haut. Auf dem Heimweg fragte Aurel die Mutter: „Haben sie nur ein Zimmer und nur ein Bett?“ „Ja, der Müller ist arm“, seufzte die Mutter und blieb erschöpft auf der Anhöhe stehen. Eine dunkle Erinnerung stieg in Aurel auf: alle diese Äcker, Heuschläge und Wälder – gehörte nicht alles dem Vater? „Und warum ist der eine arm und der andere reich?“ forschte Aurel weiter. „Weil der liebe Gott es so eingerichtet hat“, meinte die Mutter und nahm den Jungen an der Hand. „Aber im Himmel
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werden wir alle gleich sein!“ Warum erst im Himmel? grübelte Aurel. Und warum hat Gott es so eingerichtet, wenn er wirklich allmächtig ist? Und der Vater? Warum baut er nicht einfach ein paar Zimmer und noch ein paar Betten für den armen Müller – er hat doch so viel Bäume im Wald? Aber dann öffnete sich wieder die Gartenpforte, die tief herunterhängenden, schwer beladenen Apfelzweige nahmen ihn schützend auf, und alle unbeantworteten Fragen blieben hinter dem grauen Bretterzaun zurück. Viel wichtigere Fragen stürmten jetzt auf ihn ein: ob im Grase unter dem alten Birnbaum wieder die gelben, kleinen Birnen liegen, die ein wenig holzig, aber doch gut schmecken, besonders wenn man sie in der Bratröhre schmoren läßt, bis sie ganz weich und faltig werden. Manchmal fallen sie auch in den dichten Johannisbeerstrauch, und man muß tief hineinkriechen, um sie zu finden. Und wenn der Baum von selbst nichts hergeben will, klettern die großen Brüder hinauf und schütteln: dann prasselt es von den Zweigen. Mit dumpfem Aufschlag fällt hier und dort ein reifer Apfel auf den Erdboden. Man muß nur aufpassen, die richtigen Bäume und die Verstecke kennen, wo sie am liebsten hinplumpsen: in die Stachelbeersträucher, in das Klettendickicht, ja manchmal rollen sie sogar bis zu den Erdbeerrabatten hinunter. Die rosa gemaserten Birnäpfel werden in den Frostnächten schon klar und durchsichtig, und wenn man sie gegen das Licht hält, sieht man die schwarzen Kerne wie hinter Glas. Aber die bekommt die Mutter. Und wenn einer besonders schön ist, muß Aurel ihn dem Vater bringen. Der Vater beißt unbekümmert hinein und liest dabei die Zeitung: „Sieh doch, wie durchsichtig …“
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Aber dann ist nichts mehr zu sehen: Nur der Stengel und das abgenagte Kerngehäuse, der Vater wirft sie über das Geländer der Veranda, ohne aufzublicken. Und greift wieder nach der Pfeife. Grischa, der Apfelrusse, ist nun auch gekommen, hat im neuen Garten, zwischen den jungen Obstbäumen, ein richtiges Indianerzelt aus dicken Strohmatten aufgeschlagen, in dem er das Fallobst aufsammelt und am Tage, eingewickelt in einen Schafspelz, schläft. Denn nachts muß er wachen. Dann wandert er ruhelos zwischen den beiden Gärten hin und her, horcht, ob irgendwo der Zaun verdächtig knackt, irgendein Baum sich plötzlich zu schütteln anfängt. Einmal hat er sogar einen Apfeldieb, einen kleinen Burschen, gefangen. Er heulte und wurde zum Verwalterhaus geführt. Hier sollte er gezüchtigt werden. Aber die Mutter bat für ihn, und nun sollte er sich bei ihr bedanken. Heulend stand er da, mit bloßen Füßen, vor der Veranda. „Wenn du Äpfel haben willst“, sagte die Mutter, „dann brauchst du sie nicht zu stehlen!“ Und Karlomchen mußte ihm einen vollen Korb geben, den er kaum tragen konnte. „Ob du ihm so das Stehlen abgewöhnen wirst?“ lachte der Vater. „Sicher!“ meinte die Mutter zuversichtlich. „Wenn er Äpfel bekommt, wozu soll er sie dann noch stehlen?“ „Und wenn sich zwanzig Apfeldiebe fangen lassen?“ „Mein Gott, wir haben so viel Fallobst, das sonst verfault!“ seufzte die Mutter. Aber jetzt, mittags, schnarcht der Apfelrusse in seiner dunklen Höhle. Wenn man sich bückt und hineinschaut, kann man seine faltigen Stiefel und die plumpen fettigen Pumphosen sehen. Einmal, als Grischa ihm einen roten Apfel hinhielt, war Aurel sogar zu ihm hineingekrochen. Wie es da drin nach
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Äpfeln, Stroh, Zwiebeln und Schafsfell roch! Aber kein Wort konnte er verstehen, was der bärtige Russe mit den gelben Zähnen sagte, und so war er schnell mit dem roten Apfel wieder davongerannt. Das nächste Mal behielt er den sonderbaren Klang der fremden Worte im Ohr: „Jabloko, chotschesch Jabloko?“ hatte der Russe gefragt, als er ihm den Apfel hinhielt. Und dann verstand er: „Jabloko“ heißt Apfel. Komisch. Wenn Janz oder Indrik „Abol“ für Apfel sagten, so war das kein großer Unterschied. Aber Jabloko – wie konnte ein gewöhnlicher Apfel einen so verrückten Namen haben? Oder waren die russischen Äpfel anders? Und die Russen selbst – sind das überhaupt richtige Menschen? Mit solchen komischen Hosen, die wie Säcke um die Knie fallen, und einem Pelz mitten im Sommer? Einmal hatte Onkel Oscha gesagt: „Ich möchte so lange leben, bis der letzte Russe hinter Kamtschatka ersäuft!“ Ob dies der letzte Russe war? Und warum sollte er hinter Kamtschatka ersaufen? Das war wohl noch weiter als die Flachsweiche. Nein, der Apfelrusse soll lieber leben bleiben, dann kann Onkel Oscha niemals sterben. „Warum kann Grischa nicht richtig sprechen?“ fragte einmal Aurel die Mutter. „Grischa spricht richtig, aber er spricht Russisch!“ sagte die Mutter, nahm einen Apfel aus dem großen Korb, der vor ihr stand, und schälte ihn. Sie saßen alle auf der Gartenveranda: die Mutter, Karlomchen, die schwarze Tina, Karlin. die alte Minna, und schälten Äpfel. „Und warum spricht er Russisch?“ erkundigte sich Aurel weiter, „Wenn ihn doch niemand versteht?“ „Die Russen verstehen ihn schon“, lachte die Mutter, „und in Rußland wird man dich wieder nicht verstehen!“ Russen? Er war also doch nicht der letzte, stellte Aurel
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erleichtert fest: Onkel Oscha wird lange leben! „Gibt es viele Russen?“ forschte er nach einer Weile, um ganz sicher zu sein. „Viele, viele Millionen’4, seufzte die Mutter und warf den geschälten Apfel in eine braune Tonschüssel. „Und alle sprechen Russisch?“ „Ja, das tun sie, und du wirst auch einmal Russisch lernen!“ Die Mutter griff nach einem neuen Apfel. „Warum?“ „Weil wir zu Rußland gehören“, sagte die Mutter nachdenklich und drehte den Apfel. In einer dünnen, langen Spirale hing die Schale über ihren Knien in der Luft. „Und warum sprechen wir dann nicht Russisch?“ Die Mutter hielt im Schälen inne, blickte auf, und ihre Augen bekamen ein besonderes Leuchten. Dann sagte sie ernst und bestimmt: „Weil wir Deutsche sind!“ Aber Aurel war damit noch nicht beruhigt; die Mutter mußte ihm ausführlich erzählen, wie einmal die Deutschen, richtige Ritter, in blitzenden Rüstungen und mit Schwertern, das heidnische Land erobert, Letten, Liven und Esten zum Christentum bekehrt hatten und dann später von den Russen besiegt wurden; wie der General, der im Lesezimmer hängt, so tapfer gegen die Russen kämpfte, daß Peter der Große ihn in seine Dienste nahm und ihm für alle seine Nachkommen versprach, daß sie die deutsche Sprache und den deutschen Glauben behalten sollten. „Und darum sind wir deutsch und sprechen Deutsch!“ schloß die Mutter und schälte weiter. Aber Aurel grübelte noch lange, und als er in seinem Gitterbett lag und die Mutter ihm nach dem Abendgebet den Gutenachtkuß gab, hielt er ihre Hand fest und fragte: „Warum sprechen die Menschen so viele verschiedene
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Sprachen, und warum kämpfen sie?“ „Weil sie die Himmelssprache vergessen haben“, sagte die Mutter und hob langsam den Kopf, „einmal sprachen alle die Himmelssprache, aber dann bauten die Menschen einen hohen Turm, und jedes Volk wollte höher sein als das andere. Da vergaßen sie Gottes Wort, und nun versteht kein Volk das andere! Aber einmal –“ und die Hand der Mutter strich leise über das Haar des Jungen, „einmal werden alle wieder die Himmelssprache sprechen!“ „Auch Grischa?“ „Auch Grischa. Aber wir selbst müssen sie auch lernen!“ Aurel schlief beruhigt ein. Aber dann kam ein Abend, den Aurel nie vergaß und der sich tief in sein Herz brannte. Es war schon dunkel, als der Vater mit den großen Brüdern von der Jagd heimkehrte. Mickel blies auf dem Horn, draußen vor der Veranda, wo die Brettdroschke hielt. Die Brüder kamen aufgeregt ins Haus gelaufen, und dann rannte alles zum Eiskeller, die schwarze Tina, Karlin, Fömarie, und Aurel rannte mit. Fömarie war so erregt, daß sie ganz vergaß, Watte in die Ohren zu stopfen. Und hier, auf dem kurzen, flachgestrampelten Kamillengrase, lag ein riesiges Tier ausgestreckt, so groß, wie Aurel noch nie eins gesehen hatte. Indrik hielt die Stallaterne in der Hand, und der gelbe Schein wanderte über einen mächtigen Rücken, über ein dunkelbraunes Fell, lange, schmale, weiße Beine und einen gewaltigen merkwürdigen Kopf, mit gebogener Rammsnase, großen Ohren und spitzen Hörnern. Mickel, der Buschwächter, hockte auf dem Tier und erzählte aufgeregt, wie und wo der Elch gelaufen war und wie der Vater ihn geschossen hatte. Er tastete mit den blutigen Händen das Fell ab, bohrte den Zeigefinger tief in ein schwarzes Loch, hob den schweren Kopf am Geweih, ließ ihn dumpf auf den
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Erdboden fallen, öffnete das riesige Maul, zerrte an der blauroten Zunge und zeigte die gelben Zähne. Und Waldi, Sagrei und Schamyl, die Jagdhunde, schnüffelten mit wedelnden Schwänzen und hängenden Zungen am toten Tier. In dieser Nacht hatte Aurel einen furchtbaren Traum. Aus der Allee kam ein riesiger Elch gelaufen, so groß, daß er mit dem Geweih an die Äste des Ahorns stieß. Aber er lief nicht auf dem Weg um den runden Rasenplatz, sondern geradeaus über das Gras auf das Haus los. Er lief und lief, mit gesenkten Hörnern, und seine kleinen, schwarzen Augen starrten mit bösem Blick auf Aurel, der vor der Veranda stand. Aurel wollte ins Haus laufen, aber er konnte sich nicht rühren, nicht einmal den Kopf zur Seite wenden, und der Elch kam immer näher. Schon hörte er ihn schnaufen, schon sah er seine großen, gelben Zähne. Aber dann war es plötzlich Grischa, der Apfelrusse, der über den Rasenplatz auf ihn zuging, und auch Grischa war so groß, daß er mit seiner Fellmütze an die Zweige des Ahorns stieß. Und sein Schafspelz verdeckte die ganze Allee, seine Pumphosen waren so breit wie der Platz, und seine faltigen Wasserstiefel zerstampften den Rasen. In der Hand hielt er aber einen roten Apfel, und er lachte mit seinen gelben Zähnen und fragte: „Jabloko, chotschesch Jabloko?“ Jetzt aber war es der Verrückte, der über den Rasen kam, mit seinem schwappenden, flachen Strohhut, den zerlumpten Hosen. Lallend schwang er seinen Stock, starrte mit bösem, verblödetem Blick auf Aurel und lief auf ihn zu. Und von allen Seiten kamen grunzende Schweine angerannt, wühlten den Rasenplatz mit ihren Rüsseln auf und zertrampelten das Gras. Aber plötzlich waren alle Schweine Wölfe geworden, mit aufgerissenen Rachen und hungrigen Augen. Auch der Verrückte trug ein Wolfsfell, und als er seinen Mund öffnete und seine blaurote Zunge und die gelben Zähne zeigte, war sein
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Maul so groß wie der Rachen des Elches. Und jetzt wußte Aurel: es war der Wolfsmensch, der über den Rasenplatz auf ihn zukam, der Wolfsmensch, der Mila geholt hatte und der nun auch ihn fressen wollte. Und der Wolfsmensch und die heulenden Wölfe kamen immer näher – schön spürte Aurel ihren schnaufenden Atem im Gesicht … Mit einem Schrei wachte der Junge auf. Minka, die Katze, saß schnurrend auf seiner Brust. Er zitterte am ganzen Körper und konnte sich nicht beruhigen. „Warum träumst du so verrücktes Zeugs“, schalt ihn Fömarie, steckte sich Watte in die Ohren und drehte sich auf die andere Seite. Aber Aurel lag noch lange wach, preßte die Katze an sein hämmerndes Herz und starrte mit kaltem Entsetzen in die unbarmherzige Finsternis. Endlich schlief er ein.
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Der Schattenbaum Die Linden werden kahl, der Wind fegt durch die Allee, manchmal wirbelt schon etwas Weißes in der Luft. Die Oleander stehen wieder im Saal vor den zur Seite gerafften Fenstergardinen; in den Kachelöfen knallen die Birkenscheite, und zwischen den Doppelfenstern liegen bunte Strohblumen auf weißem Moospolster. Und Fömarie trägt dicke, grauwollene Unterwäsche. Aurel weiß das ganz genau. Wenn Fömarie am Morgen aufsteht, kommt sie jedesmal an sein Bett. Dann hat er die Augen geschlossen. Wenn sie sich aber wäscht und anzieht, dann schielt er heimlich zwischen den Gitterstäben zu ihr hinüber. Und da sieht er merkwürdige Dinge: Haare unter den Armen und komische Hängesäcke an der Brust. Dann stopft sie alles in graue Wolle, schnallt sich einen Panzer mit Eisenstangen herum (Aurel hat ihn einmal, als er auf dem Stuhl lag, genau untersucht) und stülpt sich die vielen Röcke über den Kopf. Welch ein Glück, daß man ein Junge ist. Und dann, an einem grauen Regentag, kommt Schlunski. Sein gelber Klepper mit dem vollgepackten, von einem Schutzleder überzogenen Wägelchen hält vor der Küchentür, und in der Backstube auf der Mehltruhe breitet er seine Schätze aus: geblümte Kattunballen, rote Sacktücher, Haarspangen, glitzernde Broschen, funkelnde Diamantringe, Mundharmonikas und viele bunte Glasperlen. Die schwarze Tina, Karlin, Liese, die alte Minna, Janz, der aufgeregte Mickel, Marz, Rosalia vom Viehstall, alle Mädchen vom Hof, ja sogar Trulla, die dicke Verwaltersfrau, drängen sich in der Backstube, kichern, schwatzen und feilschen. Und Schlunski mit seinen ausgefransten Peisacken, dem dicken
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schwarzen Kaftan und dem komischen Mützchen auf dem Kopf, steht wie ein König da und verteilt seine Reichtümer. Ja, er schenkt wirklich Aurel eine kleine Mundharmonika, und Adda bekommt bunte Glasperlen, und beide sind so glücklich, daß sie wortlos dastehen und den fremden Mann wie den lieben Gott anstaunen. Auch später, als der liebe Gott in der Gesindestube zu Mittag ißt, sehen sie ihm heimlich zu. Es gibt Klöße mit Heidelbeersoße. Und als Schlunski gegessen hat, wischt er sich schmatzend den Mund und sagt laut: „Klümpchen mit Schwarzbeeren schmecken gut!“ Aurel läuft ins Speisezimmer, wo die Großen noch am Tisch sitzen und verkündet laut: „Klümpchen mit Schwarzbeeren schmecken gut!“ Adda rennt aufgeregt hinter ihm her und wiederholt immer wieder: „Klümpchen mit Schwarzbeeren schmecken gut!“ Bis Fömarie es verbietet. Jetzt können sie es nur heimlich ganz leise sagen, aber gerade dadurch bekommen diese Worte einen besonderen Reiz, und jedesmal, wenn es seitdem Klöße mit Heidelbeeren gibt, stoßen sich die Kinder unter dem Tisch an und flüstern: „Klümpchen mit Schwarzbeeren schmecken gut!“ Aber noch besser schmecken die heißen, frischgebackenen Pfefferkuchen, die Marzipanplätzchen, Eierbiskuits und Schmantbonbons, die an den Zähnen so kleben. Immer gibt Karlomchen etwas zum Probieren, den ganzen Tag wird in der Backstube geknetet, der Teig auf einem Brett flachgerollt, werden lange schwarze Pfannen in den glühenden Ofen hineinund herausgeschoben. Aurel und Adda dürfen das Brett mit Mehl bestreuen und den Pfefferkuchenteig mit Blechformen ausstechen: aus der toten braunen Masse entstehen Hasen, Hähne, galoppierende Pferdchen, Sterne und Herzen, Und auf
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jedes Herz wird in der Mitte eine weiße Mandel gedrückt. „Warum?“ fragt Aurel. „Weil es so hübscher aussieht!“ sagt Karlomchen und rollt einen neuen Teigklumpen aus. „Und warum bekommen die Hasen keine Mandel?“ fragte Aurel vorwurfsvoll „Papperlapapp“, sagt Karlomchen und wendet den Teig, „lirum-larum Löffelstiel, kleine Kinder fragen viel, fragen dies und fragen das: warum ist der Regen naß? Warum …“ Und schon stürzt sie zur Ofenklappe und zieht mit einem eisernen Haken die Pfanne heraus. Das ganze Haus duftet nach Pfefferkuchen, nach Honig, nach Sirup, Marzipan und Safran. Und wenn es dunkel wird, sitzt alles im Saal am großen runden Tisch um die weiße Petroleumlampe: dann werden Walnüsse und Tannenzapfen vergoldet, bunte Kugeln, glitzernde Pappengel, Sterne, winzige Silbertrompeten ausgepackt und Ketten aus Goldpapier geschnitten und geklebt. Auch die großen Brüder arbeiten mit, wenn sie auch merken lassen, daß sie eigentlich viel zu groß dafür sind – aber die Pfeffernüsse, die Karlomchen auf den Tisch gestellt hat, verschmähen sie doch nicht. Dann und wann kommt auch der Vater aus dem Lesezimmer, schaut zu, pafft dicke Rauchwolken über den Tisch und sagt plötzlich: „Eine Motte!“ Die Mutter, Karlomchen, Fömarie, die Kinder – alles springt auf, alles klatscht mit den Händen wild in der Luft herum: „Mein Gott – die Lampe – wo? Wer hat sie?“ Aber die Motte und der Vater sind ebenso plötzlich wieder verschwunden. Und dann kommt der Tag, an dem der Vater mit den großen Brüdern in den Wald geht, um den Weihnachtsbaum zu holen. Den ganzen Nachmittag hocken Aurel und Adda auf dem
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Fensterbrett im Spielzimmer und drücken die Nasen an der Glasscheibe platt. Draußen ist alles weiß, und immer neue weiße Flocken fallen groß und dicht vom Himmel herunter. Den kahlen schwarzen Ahorn kann man kaum noch erkennen. Endlich tauchen vermummte Schneemänner in der milchigen Dämmerung auf, der Vater, die Brüder, – und hinter ihnen wandert, lang ausgestreckt auf vier Beinen, dunkel, mit schaukelnden Ästen, ein mächtiger Baum. Beide Flügel der Haustür werden aufgerissen, Mickel und Janz zerren, ziehen und stoßen, ein eisiger Wind weht in den Flur – „Kinder, es zieht!“ jammert Fömarie –’ und das schwankende Ungetüm rauscht in den Saal. Es riecht nach Tannennadeln, Harz und Rinde. Dann steht der Baum da. Von den Ästen tropft es, Eisklumpen fallen klirrend auf den Fußboden. Es ist, als wäre der ganze dunkle Wald in das Haus hereingebrochen. Am nächsten Tag wird geschmückt: die goldenen Walnüsse und Tannenzapfen, die bunten Kugeln, die Ketten, Sterne, Kerzen und das silberne Christkindleinshaar werden aufgehängt – die großen Brüder müssen auf der Trittleiter hinaufsteigen –’ und zuletzt hängt die Mutter den rosigen Wachsengel auf, der ein weißes Seidenfähnchen in der Hand hält, auf dem in Goldbuchstaben geschrieben steht: „Friede auf Erden!“ Dann werden die Türen geschlossen, und keiner darf in den Saal. Drinnen werden Tische gebückt, wird geflüstert, raschelt Packpapier, Karlomchen rennt hin und her, große, in weiße Tücher gehüllte Geheimnisse schweben durch die Dämmerung. Die Kinder müssen sich warm anziehen und werden in die Schlitten verpackt. Aurel und Adda dürfen vorne mit dem Vater fahren, die Mutter – Karlin bringt noch schnell eine Wärmflasche für die Füße – und Fömarie folgen mit Marz; die großen Brüder kutschieren sich selbst. Karlomchen und Herr Ackermann bleiben zu Hause.
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In der Kirche ist es eiskalt. Der Atem steigt wie Dampf aus den Mündern. Man muß mit den Füßen hin und her treten, damit die Zehen nicht erfrieren. Der Pastor steht in einem langen, schwarzen Nachthemd zwischen zwei brennenden Weihnachtsbäumen – warum zieht er sich nicht wärmer an? Und dann poltert, quiekt und dudelt es hoch oben in der Luft – aber man kann den großen Leierkasten gar nicht sehen. Und alles fängt an zu singen. Wieder laufen die Eiskugeln über den Rücken, wieder steigt es heiß in die Augen auf, die Lichterbäume fangen an zu schwimmen, aber Aurel starrt immer auf das schwarze Nachthemd, es ist so breit und groß; vielleicht hat er darunter einen Pelz an? Dann schielt er zum Vater hinüber. Der sitzt so ernst und feierlich da, die rote Fuchsfellmütze in der Hand – nein, lachen wird er nicht. Ein Mann mit einem langen Stock, an dem ein Schmetterlingsnetz hängt, geht von Reihe zu Reihe, und jeder wirft etwas hinein. Die Mutter drückt Aurel ein silbernes Zehnkopekenstück in die Hand, und er wirft es in den Beutel. Endlich kann man nach Hause fahren. Es ist schon dunkel, an jedem Schlitten brennt eine Laterne. Dickverschneite Tannenzweige tauchen im Lichtschein auf und verschwinden wieder in der Finsternis. Die Schellen klimpern. Zu Hause gibt es heiße Schokolade mit Schmantschaum, und gelbes, noch ganz feuchtwarmes Safranbrot mit Rosinen und Mandeln. Dann werden die Kinder im Lesezimmer eingesperrt. Hier ist es ganz dunkel. Nur die Ritze unter der Tür wird immer heller, und als es zum drittenmal klingelt, geht sie auf. Aber es blendet so, daß man zuerst gar nichts sehen kann. Endlich hat jeder seinen Tisch gefunden, benommen steht man davor, betastet die vielen Sachen, stopft sich etwas Süßes in den Mund und besieht sich mit scheinbarem Interesse auch die Geschenke der anderen, damit diese den eigenen Tisch bewundern.
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Dann geht alles in den Großen Korridor hinauf, wo der Leutebaum brennt, die Mägde und Knechtskinder mit buntem Kattun, Wollsocken, Fausthandschuhen, Pfeffernüssen und Knallbonbons beschert werden. Indrik, der Gärtner, taktiert, ein schriller, klagender Gesang heult durch das Haus. Dann drängt sich alles zum Händeküssen, aber Aurel läuft schnell vorher hinunter. Noch flackern die Wachskerzen, aber hier und dort ist eine schon heruntergebrannt, man muß den Stummel auspusten. Der Vater bläst mit dem Pfeifenrohr die Lichter oben an der Spitze aus. Manchmal knistert ein kleiner Ast, und es riecht dann so gut nach den angebrannten Nadeln. Immer dunkler werden die Schatten der Tannenzweige an den Wänden und oben an der Decke. Zuletzt brennt nur noch eine Kerze tief verborgen am Stamm – „das ist Schwesterchens Licht“, sagt die Mutter leise, „jetzt ist sie bei uns, und jetzt wollen wir an sie denken“. Alle müssen schweigen, es ist so still, daß man das Flackern der unsichtbaren kleinen Flamme hört. Aurel blickt zur Decke hinauf, die schon fast ganz von schwarzen Astschatten verdunkelt ist, nur hier und dort schimmert ein schwacher Lichtschein durch. Es ist, als wüchse oben der Schattenbaum immer dichter und dunkler zusammen, als kämpfe das kleine Licht gegen die große Finsternis. Und dann erlischt es. Karlomchen zündet die Lampe an. Der Vater ist aufgestanden, klopft an das Barometer und sagt: „Es klärt sich auf, morgen fahren wir auf die Hasenjagd!“ „Aber ich bitte dich“, sagt die Mutter, „morgen kommen doch die Koiküllschen Cousinen zu Mittag!“ „Um so besser“, meint der Vater schmunzelnd, „ich habe sie nicht eingeladen!“ „Aber ich mußte es doch tun“, seufzt die Mutter, „und dann hat man ein Jahr wieder Ruhe!“
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Diese Koiküllschen Cousinen sind immer zu Weihnachten fällig, und wenn sie fortfahren, hat die Mutter Kopfschmerzen und muß sich ins Bett legen. „Nein“, stöhnt sie dann und preßt ein Taschentuch mit Eau de Cologne an die Schläfe, „wenn man sich mit Ameli unterhält, dann denkt man: Adele ist doch klüger; und wenn man mit Adele spricht: Nein, Ameli ist doch klüger!“ „Sind beide so klug?“ fragt Aurel verwundert. „Nein, klug sind sie nicht“, seufzt die Mutter. Und wirklich: der Vater mit den großen Brüdern fährt auf die Jagd, und die Koiküllschen Cousinen kommen. Natürlich schon eine Stunde vor dem Mittagessen, aber es dauert lange, bis sie sich im Vorzimmer aus den Pelzpelerinen, den vielen Unterjacken, Schals, Seelenwärmern und Mantillen herauswickeln, die dicken Filzschuhe ausziehen, die hohen Frisuren zurechtmachen und die feuchten, erfrorenen roten Nasenspitzen abwischen. Aber die grauen Pulswärmer behalten sie an, trotzdem haben sie immer kalte und rauhe Hände. Aurel küßt sie ungern, und die großen Brüder küssen dann immer den eigenen Daumen. „Bist du aber gewachsen“, sagt Ameli. Und Adele bückt sich und hält die Hand ganz tief über den Fußboden: „So klein warst du – da habe ich dich schon gesehen!“ Dann stehen beide vor dem Weihnachtsbaum, falten die Hände und machen einen schiefen Kopf. „Nein, habt ihr einen wonnigen Baum“, sagt Ameli, „und was für einen wonnigen Engel!“ „Einen solchen Baum können wir uns nicht leisten“, seufzt Adele, „aber wir haben ja auch keine Kinder!“ Als man sich zu Tisch setzt, sagt die Mutter entschuldigend: „Onkel ist mit den Jungen auf der Jagd – da kann er sich leicht verspäten!“ „So, auch am Feiertag auf der Jagd?“ sagt Ameli spitz.
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Adele schüttelt die Frisur: „Und bei der Kälte mit den Kindern – ist das nicht der reine Leichtsinn?“ Nach dem Essen sitzt man im Saal. Karlomchen, Fömarie, Herr Ackermann – alle versuchen abwechselnd der Mutter beizustehen, aber die Unterhaltung kommt nicht in Gang. „Ich fürchte, es wird schon dunkel“, sagt endlich die Mutter, „ihr habt einen weiten Weg!“ „Wir haben eine Laterne!“ sagt Ameli unerschüttert, „wir wollen doch Onkel begrüßen!“ Aber der Vater erscheint nicht. Er ist schon längst nach Hause gekommen – Aurel hat die Schlitten gehört –’ und auch die großen Brüder haben sich verkrochen und kommen nicht herunter. Endlich meldet die schwarze Tina: der Kutscher sei vorgefahren. „Unser Kutscher?“ fragt Adele überrascht. „Wahrscheinlich hat er die Pferde schon angespannt“, meint die Mutter, „und jetzt frieren sie!“ „Die armen Kinder, hoffentlich ist ihnen nichts zugestoßen“, seufzt Ameli besorgt. „Kann man denn auch im Dunkeln Hasen schießen?“ Als die Koiküllschen Cousinen fort sind, öffnet sich die Lesezimmertür. Der Vater steht schmunzelnd auf der Schwelle, die lange Pfeife in der Hand. „Bist du denn schon zu Hause?“ fragt die Mutter verwundert. „Schade, jetzt sind sie fort!“ „Weil ich die Pferde anspannen ließ!“ lacht der Vater und schließt wieder die Tür. Auch der Pastor kommt mit der Pastorin; er hat jetzt kein schwarzes Nachthemd an, und sie trägt ein blaues Samtkleid mit weißen Spitzenkragen. Aber dafür hat er eine schwarze Halsbinde, und manchmal gucken die Enden hinten am Nak-
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ken heraus. Seine Augen sind hinter der Brille tief in den Kopf gesunken, und niemals lacht er. Ganz anders ist Doktor Martinell, mit der goldenen Kette über dem weißen Bauch. Immer tänzelt er, die langen Bratenrockschöße flattern um ihn herum, immer ist er begeistert, immer greift er beide Hände der Mutter und küßt alle beide. Und dann sagt er: „Wie schön Sie wieder sind, zum Verlieben!“ „Doktorchen, warum heiraten Sie nicht?“ lacht die Mutter. „Weil Sie schon verheiratet sind!“ sagt der Doktor und spreizt die Hand auf seinem weißen Bauch. „Gibt es denn sonst niemand?“ fragt die Mutter. „Niemand!“ seufzt der Doktor. Und dann kommt immer zu Weihnachten der alte Mojahnsche mit Tante Melanie. Der alte Mojahnsche hat einen Stock mit weißem Elfenbeingriff und einem Gummiende, auf den er sich stützt, weil er ein steifes Bein hat. Außerdem hat er dicke Haarbüschel in den Ohren und Nasenlöchern, und wenn er von draußen kommt, hängt ein Tropfen dran. Immer poltert er, immer ist er unzufrieden. „Diese Petersburger Affen“, sagt er, „jetzt wollen sie sogar ihre russische Zeit bei uns einführen!“ Aurel versteht das nicht: russische Zeit? Haben die Russen nicht nur eine eigene Sprache –’ auch eine eigene Zeit? Uhren, die ganz anders gehen? Und eine Sonne, die anders läuft? Aber die große englische Standuhr im Saal läuft nicht, und wenn Aurel der blanken Perpendikelscheibe einen Schubs gibt, schwingt sie ein wenig, bleibt aber gleich wieder stehen. Die Zeit steht still. Das Jahr dreht sich langsam in der Runde, aber der Zeiger rückt nicht vorwärts. Die vielen Weihnachten fließen zu einem Weihnachten, die vielen Sommer zu einem Sommer zusammen. Das Leben ist ein großes, kreisendes Jahr, ohne Anfang und ohne Ende.
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Und in jedem Jahr wächst Aurel ein Stückchen, aber das ist so wenig, daß er es gar nicht merken würde, wenn er sich nicht an jedem ersten Januar mit den Brüdern am Türpfosten im Speisezimmer aufstellen müßte. Ganz gerade muß er stehen, auf Socken, der Vater hält ein Lineal oben auf den Kopf und schneidet mit dem Messer eine Ritze ins Holz. Zuletzt wird auch Adda gemessen, sie stellt sich auf die Fußspitzen und reckt die Nase. Aber sie bleibt doch die Kleinste. Aurel sitzt wieder oft an den langen Winterabenden oben in „Afrika“, bei Herrn Ackermann. Er zeichnet viele Weihnachtsbäume, mit Kerzen und Kugeln, und Herr Ackermann spielt ihm auf der Mundharmonika vor, die Schlunski geschenkt hat Aber dann muß er wieder husten, es ist ein hartes, bellendes Husten, der ganze Körper wirft sich hin und her. Karlomchen bringt heißen Himbeertee, er soll sich ins Bett legen. „Unsinn“, sagt Herr Ackermann, „wenn jetzt die Sonne wieder scheint, bin ich gesund!“ Das neue Jahr hat angefangen, die Sonne wächst, und auch Aurel ist wieder ein kleines Stück gewachsen. Aber noch ist es Winter, und dann kommt eine Nacht, die kein Ende hat, eine dunkle Ewigkeit, in der er wach liegt, aber es ist kein richtiges Wachsein, es ist wie ein Schlafen mit offenen Augen. Da wandert wieder ein blaues Licht, ein Schattenbuckel unruhig an den Wänden; Karlomchens Gesicht, vom Schein der Öllampe beleuchtet, taucht auf und verschwindet; die Mutter beugt sich über ihn, er sieht sie nicht, aber er fühlt ihre Nähe, ihre kühle Hand, die auf der brennenden Stirn liegt und die so wohltut. Aber alles ist wie hinter einem Schleier, und auch die Stimmen und Geräusche sind gedämpft, wie, hinter moosgepolsterten Doppelfenstern. Immer flüstert, immer schlurft etwas, immer knackt eine Klinke, knarrt irgendwo eine Tür. Dann hebt sich plötzlich das Gitterbett und fängt langsam an
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zu fliegen: es schwankt und gleitet, schwebt durch die Tür, den Großen Korridor, die Treppe hinunter, schaukelt durch den Saal und landet in Mutters Schlafzimmer. Jetzt kann ich auch fliegen wie Karlomchen, denkt Aurel: Bin ich schon ein Engel? Aber warum ist alles so heiß und trotzdem so kalt? Es brennt im Rücken, im Hals, im Kopf, aber in dem Feuer sind kleine, spitze Eisstücke, die stechen und prickeln; und für das Feuer sind die Decken viel zu dick und zu warm und für das Eis viel zu dünn und zu kalt. Jetzt fliegt Karlomchen mit der weißen Lampe zum Fenster hinaus und stellt die Lampe mit der runden Kuppel auf den Lebensbaum. Will sie auch im Garten Motten fangen? Aber die Lampe rutscht langsam auf einen Ast, hängt in der Luft und klettert auf den nächsten Baum. Und Karlomchen ist wieder da. Gut, daß sie nicht fortgeflogen ist. Und auch die Mutter ist da, alles ist da, nur ich bin weit fort wie das Schwesterchen, als ihre Weihnachtskerze auslöschte … Und die Nacht hat kein Ende. Es dämmert wohl, aber es wird nicht hell. Nur wenn die Tür aufgeht, fällt etwas Licht auf den Fußboden. Aber dann schließt sich die Tür gleich wieder. Einmal öffnet sie sich, und Doktor Martinell hüpft über die Schwelle. Der Fenstervorhang schnurrt, es wird hell. Der Doktor beugt sich über das Bett, seine Goldkette klappert an den Gitterstäben. Aurels Hemd wird heruntergestreift, der Doktor klopft mit seinem kalten, harten Finger auf dem Rücken herum, dann preßt er eine schwarze Trompete an die Brust, und Aurel muß tief atmen. Was für einen speckigen, roten Hals der Doktor hat und was für komische, gekräuselte Haarstoppeln! Und wie sonderbar er riecht. Dann muß Aurel den Mund auf tun, Karlomchen hält ein Licht, und der Doktor drückt mit einem kleinen silbernen Löffel die Zunge herunter. Als die Tür sich hinter dem Doktor schließt, wird alles wieder dunkel. Eine brennende Kälte, eine eisige Hitze schüttelt den Körper, und dann fängt das Feuer an zu jucken; rote kleine
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Punkte brechen auf der Haut hervor, winzige Maulwurfshümpel, der ganze Körper fühlt sich wie dicke Erbsensuppe an, wenn man mit dem Löffelrücken über die Kugeln rollt. Es ist Scharlach. Bald liegt auch Adda in ihrem braunen Gitterbett neben Aurel. Der Saal wird abgesperrt, die großen Brüder dürfen nicht herunter. Fömarie gurgelt den ganzen Tag und wäscht sich mit Sublimat ab. Die Mutter schläft und wacht bei den Kindern, Karlomchen und die schwarze Tina helfen ihr bei der Pflege. Einmal – Aurel wacht aus tiefer Bewußtlosigkeit auf – sieht er die Mutter zwischen den beiden Betten auf dem Fußboden knien, das Gesicht in die Hände vergraben. Er hört die Mutter flüstern, als spräche sie mit jemandem, aber niemand ist im Zimmer, und er kann ihre Worte nicht verstehen. Dann sinkt er wieder in Schlaf. Endlich lichtet sich das Dunkel. Gedämpfte Sonne fällt hinter einem Schirm ins Zimmer. Die roten Hümpel auf der Haut trocknen aus, blättern sich ab, es juckt noch ein wenig, aber das Feuer ist ausgebrannt, und die Eisstücke sind geschmolzen. Aurel und Adda sitzen aufrecht im Bett, spielen mit den Puppen, mit Bauklötzchen, bauen Kaleschen. Karlomchen muß immer wieder die Geschichte vom „Großen und kleinen Klaus“, von „Plisch und Plum“ oder „Hans Huckebein“ vorlesen, und die Mutter muß erzählen – von ihrer Mutter, und wie sie selbst noch klein war. Nein, an ihre Mutter erinnert sie sich nicht: bald nach ihrer Geburt starb sie, mit neunundzwanzig Jahren; „und acht Kinder hatte sie: Tante Olla, Onkel Oscha, Onkel Nicolas, Tante Melanie, Tante Leocadie …“, aber Aurel kann nie die vielen Tanten und Onkel behalten. Nur das weiß er: daß die Mutter die Jüngste war und daß sie selbst nie eine Mutter gehabt hat. „Nie eine Mutter“, wiederholt er nachdenklich. „Und wer hat dir dann die Haare gekämmt“, fragt Adda aus
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ihrem Bett, „und dich aufs rote Bänkchen gesetzt?“ „Hanninka“, sagt die Mutter, „Hanninka war unser Karlomchen!“ „Und alle Tanten und Onkel gehören dir“, fragt Aurel ganz betroffen, „und Papa ist ganz ohne?“ „Papa hat nur einen Bruder“, sagt die Mutter, „das ist Onkel Henry, und der ist in Amerika.“ „Ist Amerika weit?“ „Sehr weit/hinter einem großen Meer.“ „Und kommt er nie mehr zurück?“ „Das weiß ich nicht“, sagt die Mutter. Dieser Onkel ist geheimnisvoll. Er ist noch rätselhafter als der Vater. Er ist so unsichtbar wie der liebe Gott. Ob er auch lange Pfeifen raucht und Hasen schießt? Und warum ist er in Amerika? Und wie ist er hingefahren? Auf einem großen Schiff? Der unsichtbare Onkel Henry, von dem man nur weiß, daß er in Amerika ist, schlägt für einige Zeit alle anderen Onkel und Tanten aus dem Felde. Einmal steht der Vater in der Tür, auf der Schwelle, aber ins Zimmer kommt er nicht. „Faulpelze!“ sagt er und droht mit dem Finger. „Immer noch im Bett!“ Darin schließt sich die Tür. Bald können Aurel und Adda aufstehen. Die Beine taumeln ein wenig, in den Knien ist ein komisches Gefühl, und der Fußboden schaukelt. Das Zimmer ist plötzlich so klein geworden, die Betten und Stühle, ja sogar die Mutter und Karlomchen sind zusammengeschrumpft; alles ist ein Stück in die Erde hineingesunken. Oder ist man selbst mit einem Ruck höher hinaufgewachsen? Die Arme und Beine sind jedenfalls viel länger geworden. Sie sind so lang, daß man gar nicht weiß, wo man sie hinlegen soll. Und der Kopf ist für den Hals viel zu schwer geworden: er neigt sich nach rechts, nach links – wenn er nur nicht von den
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Schultern herunterrollt. Am besten, man kriecht wieder ins Bett. Karlomchen bringt kühlen Apfelmus, und mit einem feinen säuerlichen Geschmack im Munde schläft man wieder ein. Fast jeden Tag kommt Doktor Martinell. Einmal fragt er: „Und wie ist der Stuhlgang?“ Aurel sieht ihn verwundert an: Stuhlgang? Kann denn ein Stuhl gehen? Karlomchen übersetzt den medizinischen Ausdruck in die Kindersprache. Als der Doktor gegangen ist, wiederholen Aurel und Adda immer wieder dieses komische Wort. Nach dem Abendgebet muß Adda plötzlich kichern. Aurel weiß ganz genau, was sie denkt. Dann flüstern beide so leise, daß Karlomchen es nicht hören kann: „Stuhlgang!“ und sind sehr glücklich über dieses neue und seltsame Wort. Und dann, an einem hellen Märzmorgen – der ganze Saal ist voll Sonnengeflimmer, gesprenkelter Oleanderschatten und Hyazinthenduft –’ wandern beide Kinder ins Badezimmer, das neben der Backstube liegt. Hier werden sie in einem gewaltigen Holzbottich mit grüner Seife abgewaschen, und damit ist der Scharlach beendet. Die Kerze unter dem dunklen Weihnachtsbaum hat diesmal gesiegt: die schwarzen Schatten sind fortgezogen. Aber ein flackerndes Licht nahmen sie mit. Es war noch ganz früh, als Aurel, in seine Decke dick eingepackt, von Janz die Treppe hinuntergetragen wurde. Im Flur stand Herr Ackermann. In Vaters schwarzem Bärenpelz sah er so jämmerlich aus, als hätte ihn der Bär verschluckt. Unter der schwarzen Karakulmütze war sein Gesicht weiß wie ein Handtuch. Er hustete, und in der Hand hielt er ein Näpfchen, über das er sich dann beugte. „Ich fahre dorthin, wo die Sonne noch wärmer ist“, sagte er keuchend und strich über Aurels Scheitel, „aber deine Sonne nehme ich mit!“
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Vom Spielzimmerfenster sah dann Aurel, wie die Kibitke um den Platz fuhr. Der alte Marz kutschierte, und Doktor Martinell, der Herrn Ackermann bis zur Stadt begleitete, beugte sich winkend heraus. Die Schellen läuteten, die Kufen knirschten auf dem gefrorenen Schnee, der nackte Ahorn schimmerte rosig in der Morgensonne. Dann bog der schwarze Schlittenkasten in die kahle Allee und verschwand schwankend zwischen den dunklen Bäumen.
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Der Wasserkringel In den Gräben gluckert es, die Weidenkätzchen sind schon ganz silbern, im Kleinen Walde blühen bläuliche Anemonen und weiße Sternblumen, und Fömarie legt ihre Pelzpelerine in die Mottenkiste. Dann klappert es auf dem Storchnest, Schwalben zucken durch die Luft – und mit einemmal ist es Sommer. Immer wieder muß Janz die Trittleiter holen und mit einem Besen die Schwalbennester in der Veranda herunterkratzen. Das ist ein furchtbarer Anblick, aber die weißen Spritzer auf dem Ecksofa kann man nicht dulden. Die Mutter seufzt. Der Vater lacht: „Die Biester können doch auch woanders ihren Dreck machen!“ Einmal am Abend sitzt Janz auf dem runden Mühlstein, der als Tisch vor Mutters Lieblingsbank steht, bei der roten Klete. Seine nackten Füße baumeln in der Luft, er schnitzt mit seinem krummen Gartenmesser runde Löcher in einen Weidenast, und Aurel sieht ihm gespannt zu. Es ist ein fingerdickes, ganz gerades Aststück mit graugrüner Rinde. Janz legt es auf den Mühlstein zwischen seine Beine und beklopft es mit dem schweren Messergriff. „Warum tust du das?“ fragt Aurel. „Damit sich die Rinde löst“, sagt Janz und lacht, „wie soll ich sonst eine Flöte machen?“ Und wirklich: langsam löst sich das weiße, glatte Holz, kriecht ein Stückchen aus der Rinde hervor, Janz klopft und klopft –’ und dann zieht er das ganze nackte Aststück aus der grünen Röhre. „Man muß nur lange klopfen“, sagt er, „sonst geht die Rinde kaputt!“ Dann schnitzt er ein Mundstück, setzt am anderen Ende einen Holzpfropfen hinein–und die Flöte ist fertig. Sie
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klingt ein wenig schrill, und sie hat eigentlich nur zwei Töne, aber man kann auf ihr blasen, und Aurel ist sehr glücklich. Und glücklich ist er überall, am Teich, wenn er mit dem grünen Wasserschöpfer Salamander fängt und wieder losläßt, wenn er im Treppenhaus auf dem glatten Geländer hinunterrutscht, im „Tschulanchen“ herumstöbert oder auf dem Spielplatz im Garten aus Lehm und Steinen ein richtiges Haus baut. Den Lehm gräbt er sich selbst aus der Erde und die Steine schleppt er mit Adda in einer „Tatschke“, einem Schubkarren, vom Grandhaufen hin. Der Lehm wird in einer Holzkiste richtig mit Wasser verrührt, bis er ganz klebrig ist, und dann wird er mit den Händen zwischen die Steine geknetet. Auf dem Spielplatz steht auch eine alte Schaukelbank, und wenn Fömarie darauf sitzt und liest und man ordentlich wippt, kann man sie schön prellen. Und dann ist da ein uralter Apfelbaum, der nicht nach oben, sondern auf die Seite gewachsen ist, über den Weg hinüber in ein dichtes Cyrenengestrüpp. Auf diesem Apfelbaum kann man weit herumklettern, bis zum vermoosten Bretterzaun, und auf dem Zaun bis zur schwarzen Klete. Hier, ganz versteckt in der Ecke, wuchern wilde Himbeeren und mächtige Kletten, so daß man die Beeren gleich auf den breiten Klettenblättern sammeln kann. Aber Fömarie bekommt nur die mit den Würmern. Wenn sie dann einen entdeckt, läßt sie alle stehen, und man ißt sie selbst. Aurel hat einmal sogar einen Wurm heruntergeschluckt, nur um Fömarie zu ärgern. „Mein Gott“, schreit Fömarie, „jetzt hast du Würmer im Magen!“ „Janit ißt sogar Regenwürmer“, erzählt Aurel unbekümmert. „Er halt den Regenwurm in den Händen und zieht ihn so lange, bis er in der Mitte zerreißt. Dann schluckt er beide Stücke herunter!“ Fömarie schreit, wendet den Kopf und hält sich die Ohren
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zu. Und dann kann man ihr von hinten vorsichtig ein paar Kletten in die Frisur stopfen. Hinter der Schaukelbank, von dichten Haselnußstauden halb versteckt, steht das alte Magazin, ein gelber Lehmbau mit schwarzen Fensterlöchern. Manchmal halten dort Bauernfuhren, Kornsäcke werden aufgeladen, man hört Pferde stampfen und prusten, den Verwalter schimpfen. Aber das alles hört und sieht man nur durch den Bretterzaun, wie hinter einem Gitter, und wenn ein zerlumptes Knechtskind dort vorbeigeht, neugierig stehenbleibt und zwischen den Latten hereinschaut, dann starren sich die Kinderaugen fremd und verwundert an. Hier ist keine Pforte, und kein Weg führt aus der einen Welt in die andere. Und neben der schwarzen Klete ist auch ein Zaun, und dahinter stehen zwei Schafe: ein schwarzes und ein weißes. Das schwarze gehört Aurel und hat ein blaues Halsband, und das weiße mit dem roten Band gehört Adda. Wenn die Kinder in den Kleinen Wald Spazierengehen, trappeln die Schafe blökend hinter ihnen her. Aber in den Garten dürfen sie nicht. Dafür raufen Aurel und Adda fettes blaues Gras und roten Klee am Grabenrande und streuen es in die Krippe. Das weiße Schaf senkt manchmal den Kopf und macht einen Luftsprung. Es bekommt schon kleine Knollen zwischen den Ohren. Einmal stieß es sogar Adda um. Jetzt führt Aurel das weiße an der Leine und versucht, auf ihm zu reiten: der breite wollige Rücken schaukelt hin und her, aber dann macht das Schaf einen Hops und Aurel rutscht herunter. Die Sonne brütet auf dem sandigen Spielplatz. Das Lehmhaus ist bald fertig. Aurel klopft mit einem Holzbrett die Mauer glatt, schmiert noch etwas klintschigen Lehm an die Ecke. Adda hat schon die Puppe Franz in das Haus gesetzt, aber vorläufig sind noch keine Möbel drin, und so muß Franz auf dem Erdboden sitzen. Denn Bretter gibt es auch noch nicht.
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Keine Fensterscheiben, keine Vorhänge, kein Dach. „Ich glaube, es zieht“, sagt Adda besorgt und nimmt Franz wieder heraus. Auf dem vergrasten, von Sonnenflecken und Blätterschatten gesprenkelten Weg kommt die Mutter. Sie geht langsam, ihre Schultern sind ein wenig vorgeneigt, und ihr schmales Gesicht, das jetzt in den grellen Lichtkreis des Spielplatzes tritt, ist nachdenklich und so merkwürdig ernst. Die Mutter kommt selten hierher, sie hat das Lehmhaus noch gar nicht gesehen. Aurel erklärt ihr eifrig, wo die Veranda hinkommt, und wie er das Dach bauen möchte, aber die Mutter ist gar nicht so überwältigt, wie er erwartet hatte, sie nickt nur mit dem Kopf, und Aurel ist ein wenig enttäuscht. Dann nimmt sie die Kinder mit sanftem, aber festem Griff an den Handgelenken – mein Gott, wie diese Finger wieder mit Lehm verschmiert sind –’ und alle drei setzen sich auf die Schaukelbank. Aurel hat ein schlechtes Gewissen; worüber wird sich Fömarie wieder beklagt haben: über den Himbeerwurm oder über die Kletten in der Frisur? Aber dann sagt die Mutter: „Ich muß euch etwas sehr, sehr Trauriges erzählen: Herr Ackermann kommt nie wieder, er ist beim Schwesterchen im Himmel!“ „Tot?“ fragt Adda. „Ja, für uns ist er tot“, sagt die Mutter, „aber im Himmel lebt er, und wenn wir selbst einmal hinkommen, werden wir ihn wiedersehen!“ „Und warum ist er nicht bei uns geblieben?“ fragt Aurel nach einer Pause. „Weil der liebe Gott ihn gerufen hat“, sagt die Mutter, „und weil es ihm hier auf der Erde wohl zu kalt war.“ Sie sitzt noch eine Weile mit den Kindern auf der Schaukelbank, die ganz stillsteht. Man könnte sie leicht ein
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wenig wippen, nur ein wenig, wenn man das Bein ausstrecken und mit dem Fuß einen kleinen Schubs geben würde – aber Aurel tut das nicht. Wenn Acka tot ist, dann soll die Bank auch nicht schaukeln. Dann will er auch nicht mehr bauen. Auch keine Beeren essen. Und nicht mehr klettern. Der ganze Spielplatz ist plötzlich so leer und so langweilig geworden. Als die Mutter gegangen ist, geht auch Aurel. Und Adda folgt ihm und schleift die Puppe Franz hinter sich her. Zum Mittag gibt es Stachelbeer-Kissél – Aurels Lieblingsspeise. Aber er ißt nur einen Teller davon und auch den nur nach langem innerem Kampf. „Warum willst du nicht mehr?“ fragt Fömarie verwundert. „Weil ich nicht will“, sagt Aurel und schiebt den Teller weit von sich. Aber Adda löffelt unbekümmert drauf los. Und auch sonst ist alles, als wäre nichts geschehen. Die großen Brüder und Herr Tiedebök, der neue Hauslehrer, der seit Ostern da ist, gehen nach dem Essen baden. Der Vater verschwindet mit seiner Pfeife im Lesezimmer. Die Mutter hat sich hingelegt. Auch Adda muß nach dem Mittag in ihrem Gitterbett liegen. Dies ist die Stunde, in der Aurel unter Fömaries Aufsicht etwas rechnen soll. Aber das kann er heute nicht. Und während sie Adda schlafen legt, rennt Aurel, die Mundharmonika in der Tasche, durch die Küchentür in den Garten, schleicht sich hinter dem Cyrenengestrüpp am Zaun entlang, an der Holzscheune, am Ziehbrunnen, an den Mistbeeten vorbei, und klettert über den warmen Düngerhaufen durch die Luke in den Pferdestall. Hier ist es kühl und dunkel. Das gleichmäßig mahlende Geräusch der käuenden Pferdemäuler wird nur von Kettengeklirr und Hufgestampf unterbrochen. Aber auch hier fühlt Aurel sich nicht ganz sicher: der alte Marz könnte kommen, die schwarze Tina könnte ihn hier suchen. Vorsichtig tastet er sich zur Sprossenleiter und klettert zum Heuboden
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hinauf. Er muß nur sehr achtgeben, denn er weiß, daß hier Löcher sind, durch die das Heu zu den Pferden hinuntergestoßen wird. Vorn, über der Tür zum Wagenhaus, ist eine große Luke: hier wird das Heu abgeladen. Jetzt ist sie geschlossen, aber durch einen Spalt kann Aurel den Hof bis zur Küchenseite des Wohnhauses übersehen. Eben schleppt Janz an einer Querstange auf den Schultern zwei Wassereimer vom Brunnen zur Küche. Liese steht auf den Stufen, ruft die Hühner und wirft ihnen etwas zu. Waldi liegt japsend, die steifen Beine von sich gestreckt, vor der Kellertür in der Sonne. Und wirklich, jetzt hört Aurel ganz deutlich von der Gartenveranda her Fömaries schrille Stimme. Aber er rührt sich nicht. Er legt sich im Heu hin, so daß er durch die Lukenspalte den Hof im Auge behält und bei drohender Gefahr sich tief im Heu vergraben kann. Dann zieht er die Mundharmonika aus der Tasche – dieselbe Mundharmonika, auf der ihm Acka zu Weihnachten vorgespielt hatte –’ preßt das schon etwas gelb angelaufene Blech an die Lippen, bringt aber nur ein klägliches, hoffnungsloses Gewinsel hervor, das sich ihm spitz in das Herz bohrt und ihn dennoch tief beglückt. Vielleicht hört mich jetzt Acka, denkt er, vielleicht freut er sich, daß ich hier so allein sitze und so traurig bin, weil er gestorben ist. Nie mehr werde ich wirklich froh sein. Nie mehr auf dem Spielplatz spielen, nie mehr Stachelbeer-Kissél essen. Und ein tiefes Mitleid mit sich selbst kommt über ihn, weil er hier so allem ist, weil er ganz allein an Acka denkt, während die andern sich so gar nicht um ihn kümmern. Er möchte gern weinen, aber die Tränen wollen nicht kommen, er preßt den Kopf in das Heu – nein, es geht nicht. Er zwinkert mit den Lidern, bohrt die Finger in die Augenwinkel, untersucht sie genau: nicht eine Träne. Vielleicht ist er so traurig, daß er nicht weinen kann, und das macht ihn noch trauriger. Jetzt hat er niemand: Mila ist fort, Acka ist fort. Nie wieder wird er in
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„Afrika“ sitzen und Sonnen und Weihnachtsbäume malen. Nein, zu Herrn Tiedebök geht er nicht. Obgleich er ihm oft etwas Süßes schenkt: Schokoladenplätzchen oder ein Bonbon. Aber Herr Tiedebök lacht immer so laut, und wenn er geht, wippt er so mit den Beinen und schlenkert so mit den Armen, als wollte er extra zeigen, wie schön er gehen kann: immer Brust heraus und Bauch herein. Aber Aurel findet das gar nicht schön. Und er versteht nicht, warum er mit den Brüdern auch so marschieren muß, im Großen Korridor, und Herr Tiedebök klatscht dann immer laut mit den Händen und zählt: „Eins – zwei, eins – zwei, eins – zwei!“ Weiter kann er nicht. Er wollte es ihnen vormachen, wie man richtig springen muß. Als er glücklich oben auf dem schräg über den Weg geneigten Apfelbaum stand, wippte er lange mit den Knien, schlenkerte mit den Armen, aber dann kam es ihm doch ein wenig zu hoch vor, und kleinlaut kroch er wieder herunter. Damals lachte er nicht. Aber die großen Brüder lachten. Und Aurel schämte sich sehr. Wenn er ihn jetzt so stolz wippen und schlenkern sieht, muß er immer denken: aber vom Kletterbaum herunterspringen, das kannst du doch nicht! Aurel hört das Knirschen von Rädern. Durch die Lukenspalte sieht er, wie der alte Marz mit der kleinen Kalesche langsam im Schritt von der Veranda auf das Wagenhaus zufährt. Dann fällt ihm ein: heute sollte die russische Gouvernante kommen, um den Brüdern russische Nachhilfestunden zu geben. Gut, daß er nicht zu Hause ist. Er gruselt sich vor der unheimlichen Russin, möchte aber doch wissen, ob sie wie Grischa auch im Sommer einen Schafspelz und hohe Stiefel trägt? Der alte Marz spannt jetzt unten die Pferde ab und führt sie in den Stall. Die kleine Kalesche steht da, verstaubt, die leere Deichsel stößt in die Luft. Aber jetzt muß Aurel doch hinunterklettern, es zieht ihn zum Bock. Er weiß, dort unter dem Kutschersitz, im Bockkasten,
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neben dem Hafersack, liegt etwas für ihn, etwas, was Marz ihm jedesmal mitbringt, wenn er von der Station kommt. Und das lockt ihn so, daß er es nicht länger auf dem Heuboden aushält. Schließlich ist er ja auch lange genug hier oben gewesen, so ganz allein, und wenn Acka ihn sieht, wird er ihm nicht böse sein, wenn er jetzt hinunterklettert. Unten im Stall führt Marz gerade die Pferde in die Boxen. Dann streut er Häcksel und Hafer in die Krippen. Aurel steht dabei und sieht aufmerksam zu. Und als Marz zur Kalesche geht, folgt er ihm in stummer Erwartung. Er möchte nicht zeigen, daß er etwas erwartet, und deshalb bückt er sich und betrachtet ganz genau die staubigen Speichen des Rades, obgleich da eigentlich nichts zu sehen ist. Endlich hat Marz das Geschirr, die schwarzen Lederleinen und die lange Peitsche ins Wagenhaus getragen, und jetzt – ja, jetzt steigt er auf den Bock, klappt den Sitz auf und holt eine braune Tüte hervor. Und aus der Tüte nimmt er zwei Wasserkringel und gibt sie Aurel. Hinter dem buschigen Vollbart lacht sein braunes Gesicht unter der staubbedeckten Kutschermütze. Diese Wasserkringel sind uralt und steinhart, man kann nur mit großer Mühe ein kleines Stück abbeißen, und sie riechen nach Kutscherbock, nach Leder und Wagenschmiere und schmecken ein wenig nach Staub und Sand. Aber Aurel liebt sie, kaut langsam, andächtig und mit Behagen. Diese Kringel kommen weit her von der Station, dort, wo die Eisenbahn fährt, also beinahe aus der Stadt. Und wenn man sie kaut und den Reisestaub schmeckt, ist es fast, als wäre man selbst ganz weit, in einem fremden Lande, in großen, fremden Städten. Denn hier, zu Hause, gibt es nie Wasserkringel, nur Karrasch, Schwarzbrot und Kümmelkuchen. Und die schmecken nie nach Staub. Den zweiten Kringel steckt Aurel in die Tasche: der ist für
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Adda. Es ist Sommer, immerfort Sommer, und es ist Tag, immerfort Tag. Die Sonne bückt sich nur ein wenig hinter dem Wald und fliegt dann gleich wieder auf wie ein Gummiball, der nur die Erde berührt, um wieder in die Luft zu hüpfen. Zwischen Abend und Morgen ist keine Nacht, nur eine hellgrüne Dämmerung, mit einem roten, schmalen Rand über den schwarzen Wäldern. Das Knarren der Schnarrwachteln und das Dengeln der Sensen hört nicht auf, und von den feuchten Heuschlägen weht durch die offenen Fenster ein betäubender Duft von frischgemähtem Gras, Klee und Nachtviolen. Und dann, an einem frühen Morgen, spannt der alte Marz den Viererzug und die beiden Schimmel vor die große Familiendroschke: an der Spitze Scheck und Schalk, dann Brauni, Jipsi, Mascha und Mazurka. Und alles, was Beine hat, klettert in den mächtigen Wagen, der breit und wippend wie ein Doppelbett ist, mit zwei hohen Türmen: dem Kutscherbock vorn und dem Dienersitz hinten. Die Mutter, der Vater, Karlomchen, Fömarie, Herr Tiedebök, Marja Petrowna, die russische Gouvernante, Doktor Martinell, die Pastorin – alles hat rechts und links auf dem Doppelbett Platz, und in der Mitte ist noch so viel Raum, daß Aurel und Adda zwischen den beiden Rückenmauern liegen können. Bal sitzt natürlich vorn auf dem Bock neben dem Kutscher, und Rei und Tof sind hinten auf den Dienersitz hinaufgeklettert. Janz und Karlin sind mit allen Vorräten in einer Fuhre vorausgefahren. Marz klatscht mit der langen Peitsche, und das rollende Haus setzt sich in Bewegung, Es rollt auf der alten Landstraße, an dicken Weidenstümpfen, an Korn- und Kleefeldern, an endlosen Heuschlägen vorbei, bollert dumpf über eine Bohlenbrücke, schaukelt durch kühlen, schattigen Fichtenwald. Sechzehn Werst sind es bis zu den Aa-Heuschlägen, wo die
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Knechte und Mägde seit einer Woche beim Mähen sind. Aurel liegt auf dem Rücken: zwischen den dunklen Tannenmauern ist ein blauer Himmelweg, auf dem weiße Lämmerwolken ziehen. Manchmal hat die Mauer ein Loch, und dann wird der blaue Weg plötzlich breiter. Endlich hören die grünen Wände auf, Land und Himmel öffnen sich weit und rund. Die Räder knirschen im tiefen Sand, eine dicke Staubwolke zieht neben dem Wagen her. Manchmal, wenn es aufwärts geht, muß man aussteigen. Herr Tiedebök geht wippend voran, reißt hier und dort eine Blume ab und fragt, Wie sie auf lateinisch heißt und wieviel Staubfäden sie hat. Doktor Martinell geht neben der Mutter und ist begeistert: vom Wetter, vom Weg, vom Leben. Auch der Tod kann ihm nichts anhaben: „Wenn er früher nach Meran gekommen wäre“, sagte er und tupft mit dem Taschentuch die rote Stirn, „aber es war zu spät, viel zu spät. Oder gewissermaßen auch zu früh: in zehn Jahren wird es in zivilisierten Ländern keine Tuberkeln geben. Wie es heute keine Pest gibt. Der Fortschritt der Wissenschaften …“ Marja Petrowna zeigt auf die Pferde und sagt: „Loschadji!“ Und Aurel soll es auch sagen. Aber warum soll er das tun? Die Pferde verstehen bestimmt kein Russisch. Er läuft zum Vater hinüber und geht hinter ihm her. Manchmal bleibt der Vater stehen und schnauft. Dann bleibt Aurel auch stehen. Aber der Vater sieht sich nicht um. Fömarie sagt: „Es staubt!“ und stelzt mit hochgezogenen Röcken am Grabenrande. Die Pastorin geht auf der anderen Seite neben dem Roggenfeld und pflückt Kornblumen. Sie trägt ein blaues Sommerkleid, und rund und blau sieht sie selbst wie eine Kornblume aus. Dann steigt alles wieder ein, und das fahrende Haus rollt
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weiter. Endlich ist man angekommen, auf einem weiten Heuschlag mit alten, einzeln dastehenden Eichen. Zwischen gelben, glatten Sandbänken windet sich die Aa, das Wasser glänzt und flimmert wie Silberpapier in der Sonne. Noch nie hat Aurel einen so großen Fluß gesehen und so viel Sand. Er darf mit Adda Schuhe und Strümpfe ausziehen und mit nackten Füßen auf dem heißen Sand herumlaufen. „Aber nicht ins Wasser!“ ruft Fömarie. „Nicht ins Wasser!“ Die großen Brüder gehen mit Herrn Tiedebök hinter den Ellernbüschen baden. Doktor Martinell krempelt sich die Hosen bis zu den Knien auf und watet im flachen Wasser. „Herrlich!“ ruft er und fuchtelt begeistert mit dem Taschentuch in der Luft. „Herrlich!“ Aber dann rutscht er aus und liegt – patsch – im Fluß. Hinter den Ellern trocknet er sich in der Sonne, seine weißkarierte Hose hängt an einem Ast. Aurel und Adda haben hinter einem Schilfdickicht einen kleinen Bach entdeckt und patschen im kühlen Wasser. Hier kann Fömarie sie nicht sehen. Dann helfen sie den Knechten und Mägden beim Heuen, schleppen eifrig Heubündel hin und her, kratzen mit einem Rechen, wälzen sich auf den Haufen. Heuschrecken zirpen und hüpfen in der flimmernden Luft, Aurel fängt ein fettes, grünes Tier: was für große Augen und spitze Beine es hat – er will es Adda zeigen, aber dann macht es einen gewaltigen Satz und ist verschwunden. Karlomchen ruft zum Essen. Am Ufer, unter einer schattigen Eiche, ist ein weißes Tischtuch auf dem Grase ausgebreitet. Es gibt kalte Hühnerbeine zum Knabbern, dicke Milch mit jungen Kartoffeln und kalten Reispudding mit Pflaumen und Äpfeln. Und nachher Kaffee und Kuchen. „Ist es nicht herrlich“, sagt Doktor Martinell und beschreibt mit den Armen einen weiten Bogen, als wenn er das alles – Sonne, Wiese und Fluß – selbst eingerichtet hätte, „nirgends ist
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der Sommer schöner als bei uns, da kann mir dieser ganze Süden mit seinen Palmen gestohlen werden!“ „Der Sommer“, seufzt die Mutter, „aber der Sommer ist kurz!“ Der Vater ist aufgestanden und geht langsam am Ufer entlang. Aurel folgt ihm. Hier ist das Ufer steil und ausgewaschen und drüben flach und sandig. Eine Eiche ist umgestürzt und liegt mit ihrem dicken Stamm halb im Wasser; eine andere klammert sich noch ans Erdreich, aber ihre ausgespülten Wurzeln hängen unten schon in der Luft. Der Vater bleibt nachdenklich stehen, und auch Aurel steht. „Im nächsten Frühling wird die Aa auch diese Eiche holen“, sagt der Vater und klopft mit dem Stock an den Stamm, „und jedes Jahr geht ein Stück von unserem Heuschlag mit!“ „Warum“, fragt Aurel verwundert. „Weil unser Ufer das hohe ist“, sagt der Vater, „das Wasser nimmt immer den Sand vom hohen Ufer und schwemmt ihn an das flache an: das hohe wird immer kleiner und das flache immer größer.“ „Und drüben das flache gehört nicht uns?“ erkundigt sich Aurel. „Nein, das gehört den Esten. Die Aa ist die Grenze“, sagt der Vater. „Und kann man nichts dagegen tun?“ „Nichts“, sagt der Vater und geht weiter. Und wie er so, ein wenig vornübergebeugt, am Rande des hohen, Stück für Stück abbröckelnden Ufers geht, hier und dort stehen bleibt und mit dem Stock in der Erde herumstochert, sieht der Vater plötzlich alt aus – so alt hat ihn Aurel noch nie gesehen. Und warum muß gerade unser Ufer mit dem fetten Gras und den hohen Eichen jedes Jahr immer kleiner und drüben das flache mit dem vielen Sand, auf dem nichts wächst, immer größer werden? Nein, das begreift er nicht. Der
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flimmernde Fluß, der sich wie eine Schlange zwischen den gelben Bänken schlängelt, erscheint ihm mit einemmal heimtückisch, und das Ufer auf der anderen Seite, mit den Esten, die dort wohnen, böse und feindlich. Zum erstenmal fühlt Aurel dunkel, daß es etwas gibt, was noch mächtiger ist als der Vater.“ Dann lag Aurel wieder ausgestreckt auf dem wippenden Polster der Familiendroschke. Die Hufe klapperten, die Räder rasselten, hin und wieder zischte die lange Peitschenschnur mit einem kurzen Knall durch die Luft. Halb schlief er, halb lag er wach. Dunkle Äste, schwarze Baumkronen schaukelten im blaßgrünen Himmel vorüber. Als der Wagen in die Allee einbog, wehte es schwül von den Zweigen, die noch die Mittagswärme aufbewahrten. Es war Sommer, immerfort Sommer, und jeder Tag hatte seine besonderen Freuden. Es braucht ja nicht gerade eine Flöte zu sein oder ein Haus, das man baut, oder eine Fahrt zu den AaHeuschlägen, es gibt so viele kleine, ganz winzige Dinge, die Aurel glücklich machen: ein glatter, gelber Stein, den er im Grandhaufen findet, und der so merkwürdig schimmert, wenn man ihn gegen das Licht hält, oder ein Stück rosig-weiße Birkenrinde, die so dünn ist wie Seidenpapier und so weich und kühl, wenn man sie an die Wange hält. Oder Aurel hockt auf der Verandastufe, die nackten Füße auf dem Schutzeisen, mit dem die Stufenkanten beschlagen sind: wie das Eisen brennt. Oder es kommt ein Guß, und aus dem Blechrohr der Dachrinne schießt das Wasser, rennt mit schäumender Zunge über den Grandweg zum Rasenrand, und man kann nachher mit bloßen Füßen im nassen Grase laufen. Aber man braucht nicht einmal etwas mit den Händen oder mit den Füßen zu befühlen, manchmal genügt es schon, wenn man nur schnuppert. Da sind die Weichselholzpfeifen des Vaters, die stehen im
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Schreibzimmer in der Ecke am Fenster, aufgereiht auf dem runden Pfeifenständer. Und wenn der Vater nicht zu Hause und die Tür offen ist, beriecht Aurel manchmal heimlich die süßlich duftenden Rohre, die gelben Bernsteinmundstücke, die einen kalten, bitteren Tabakgeruch ausströmen. Oder er zerreibt ein Blatt vom Buchsbeerstrauch: wie das duftet! Das ist der schönste Geruch, den er kennt. Oder er sucht auf dem Heuschlag am Waldrande die weißen Kerzen der Nachtviolen, die am Abend so betäubend duften, daß man sie auf die Veranda hinausstellen muß. Aber auch ganz gewöhnliche Geräusche können Aurel manchmal sehr glücklich machen: das Knarren vom Ziehbrunnen, das Wäscheklopfen unten beim Waschhaus, und mittags und abends das Geklapper mit dem Klöppel auf dem in der Luft baumelnden Brett, wenn die Knechte zum Essen kommen sollen. Die klagenden Rufe des Viehhüters: „Maja, maja, maja!“ – das Blöken der heimkehrenden Herde. Und dann kam der Abend, die Nacht, in der die Stimmen und Klänge überhaupt nicht verstummten, die bis in den Morgen vom Gesang der Leute und vom Gebrumm der Ziehharmonika erfüllt war. Bei Indrik, dem Gärtner, fing es an: dort versammelten sich die Knechte, Mägde und Weiber. Singend – ein schwermütiger, eintöniger Gesang – kamen sie auf den Hof gezogen, auf den Rasenplatz vor die Veranda. Das Lied hatte unzählige Verse, aber immer dieselbe Melodie, dieselbe klagende Anrufung des heidnischen Sonnengottes: „Ligoa, Ligoa, Ligoa!“ Alle Mägde und Knechte tragen Blumen-, Laub- und Beerenkränze auf den Köpfen, oft viele Kränze auf einander, die sich tief in die Gesichter drücken, so daß es von der Veranda aussieht, als stände und sänge dort ein Wald von mächtigen Gras- und Blätterkränzen. Karlin und die schwarze Tina laufen die Stufen hinauf und
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hinunter. Sie schenken Bier und süße Himbeerlimonade aus und tragen gewaltige Schüsseln umher mit Kuchen und gelbem Johanniskäse. Karlomchen füllt immer wieder die Krüge und die Karaffen. Und dann fliegen die Kränze auf die Veranda, die Mutter bricht fast unter der Last, die sich auf ihrem Kopf türmt, zusammen. Auch Aurel steht da mit einem schweren Blumenund Blätterturban, der sich tief über seine Augen senkt, so daß er nur noch zwischen herunterhängenden Grashalmen und Laubgewirr sehen kann, wie die Knechte und Mägde auf dem Rasenplatz tanzen, während Mickel auf der Ziehharmonika spielt. Endlich wandern die Leute singend durch die Allee zum Krug; immer weiter entfernt sich der Gesang, aber er verstummt nicht, und die windstille Luft trägt die Stimmen noch lange von der Landstraße her in die weißdämmernde Sommernacht. Und oben auf der höchsten Birke beim Eiskeller lodert eine Teertonne, und überall hinter den weiten Heuschlägen und dunklen Wäldern flammen rote Feuergarben auf in den blaßgrünen Himmel. Aurel darf länger aufbleiben. Er geht mit der Mutter in die Allee, und dort, am Stamm einer alten Linde, setzen sie sich auf eine Bank. „Hörst du?“ fragt die Mutter. Und er hört: aus dem Kleefelde tönt ein heller Vogelruf: „Ki – wi – witt, ki – wi – witt, ki – wi – witt!“ Dann ist es wieder still. „Das ist die Schlagwachtel“, sagt die Mutter, „und immer schlägt sie drei- bis fünfmal, nie mehr und nie weniger!“ Und immer wieder zählt Aurel: drei Schläge, vier Schläge, fünf Schläge, dann verstummt der Vogel. Und nur die Schnarrwachtel knarrt unermüdlich und ohne Pause. „Nie mehr und nie weniger“, wiederholt die Mutter seufzend. „Drei Monate, dann ist der Sommer zu Ende, und fünf Monate, dann ist es wieder Winter. Aber jetzt mußt du ins Bett!“
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Aurel nimmt die vielen Kränze mit und hängt sie am Bettpfosten über dem Kopfkissen auf. Wie die Wiesenblumen und Gräser duften! Ein Kranz ist voll überreifer Walderdbeeren, die süß auf der Zunge vergehen. Aber noch lange liegt Aurel wach. Durch das offene Fenster wehen vom Krug Gesang und Harmonikagedudel, quarren die Frösche im Teich, meckert weit auf dem Heuschlag eine Bekassine, bellt ein schreckender Rehbock im Wald. Die weiße Johannisnacht singt mit all ihren Stimmen das Lied vom kurzen Sommer.
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Die große Kalesche Die große Kalesche mit dem Viererzug steht vor der Veranda; Marz sitzt in seinem blauen Kutscherrock mit den Silberknöpfen und dem enggeschnürten Gürtel dick und steif auf dem Bock; Janz und die schwarze Tina binden hinten unter dem zurückgeklappten Verdeck den großen Reisekoffer auf, Karlin rennt auf geregt mit einer Hutschachtel, mit Handtaschen und Plaids hin und her; Karlomchen hält den Speisepaudel in der Hand. Tof sitzt schon oben neben Marz auf dem Bock. Dann steigen die Mutter und der Vater ein, in weißen Staubmänteln, zuletzt klettern Adda und Aurel auf das blaugepolsterte Bänkchen, das auf der Rückseite des Bockes vor den Füßen der Eltern aufgeklappt ist. Schon ziehen die Pferde an, da ruft die Mutter: „Der Schirm! Der Schirm!“ und Marz muß noch einmal halten. „Der Schirm!“ ruft die schwarze Tina. „Der Schirm!“ Fömarie. Alles ruft: „Der Schirm!“ Aber da kommt schon Karlomchen mit dem Schirm angerannt, die Kalesche rollt um den runden Rasenplatz, alles winkt von der Veranda, und dann biegt der Wagen in die Allee. Diesmal ist es eine weite Reise, eine „Wurstpartie“, sagt der Vater: „Wo die eine Wurst aufhört, da fängt die andre an!“ Und die Würste, das sind die vielen Onkel und Tanten. Balthasar und Reinhard werden nämlich in Altschwanensee konfirmiert, und da kann man auf dem Wege dorthin die vielen Verwandten abgrasen. Zuerst kommen die Mojahnschen an die Reihe. Onkel Leopold hat noch immer Haarbüschel in den Ohren und Nasenlöchern, und den Gummistock mit dem Elfenbeingriff.
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Und Tante Melanie häkelt an einem neuen Wunderknaul. In Mojahn sind alle gelben Rouleaus heruntergelassen, damit es kühl bleibt und die Sonne nicht blendet. Auf dem Fensterbrett stehen überall Teller mit lila Fliegenpapier, auf denen es von toten und halbtoten Fliegen wimmelt. Onkel Leopold kämpft einen erbitterten Kampf gegen alles, was er „Biester“ nennt, und Fliegen und Russen sind „Biester“. „Ich begreife nicht“, sagte er und stelzt, auf den Stock gestützt, mit einer Fliegenklappe von einer Wand zur anderen, „ich begreife nicht, warum der liebe Gott diese Biester geschaffen hat!“ Und jedesmal, wenn die Klappe klatscht, erklärt er feierlich: „Iwan, du bist tot!“ Dann führt er Aurel und Christof in sein Schlafzimmer. „Für jede Fliege“, sagte er, „die ihr hier fangt, schenke ich euch ein silbernes Zehnkopekenstück!“ Darauf schloß er die Tür, und Aurel und Tof blieben allein im unheimlich dunklen, von blauen Gardinen verhängten Raum. Irgendwo hoch oben am Fenster summte eine Fliege. Tof kletterte aufs Fensterbrett, konnte sie aber nicht fangen. „Das machen wir einfacher“, sagte er, sprang herunter, öffnete leise die Tür und kam bald mit zwei gefangenen Fliegen zurück. „Aber die hast du nicht hier gefangen!“ meinte Aurel. „Doch“, versicherte Tof eifrig, „ich werde sie hier fangen!“ Damit ließ er die Fliegen los und brachte gleich neue. Dann fing er sie an der Fensterscheibe und zerquetschte sie mit dem Daumen. „Du kannst auch eine zerquetschen“, sagte er großmütig. Aurel hielt eine Fliege zwischen den Fingern, als er aber sah, daß er ihr den Flügel ausgerissen hatte, ließ er sie los und lief entsetzt fort. Am Nachmittag ging Onkel Leopold mit dem Vater und
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Aurel über den Hof. Die Knechtskinder liefen auf ihn zu, und er hielt ihnen den Elfenbeinstock hin, den sie ehrfürchtig küßten. „Die Rotznasen säwern so“, sagte der Onkel zum Vater. Am andern Morgen führte der alte Mojahnsche Aurel und Christof vor die große Wanduhr, die im Speisezimmer hing. „Seht euch diese Uhr an“, erklärte er feierlich und wies mit dem Stock auf das Zifferblatt. „Dies ist die letzte Uhr in Livland, die richtig nach altlivländischer Zeit geht! Die Petersburger Affen können machen, was sie wollen, aber die Sonne und die Uhr in Mojahn können sie doch nicht umstellen!“ „Mein Gott, es ist schon zehn“, sagte die Mutter, „wir müssen fahren!“ „Es ist zwanzig Minuten vor zehn“, polterte Onkel Leopold ingrimmig. „Ihr habt also noch Zeit!“ Nein, die Koiküllschen Cousinen wollte der Vater nicht besuchen. „Aber das ist sehr unhöflich“, meinte die Mutter, „wenn sie es später erfahren ‚..“ „Um so besser“, lachte der Vater, „dann lassen sie beim nächsten Weihnachtsbesuch selbst anspannen!“ Und so fuhr die Kalesche an Koiküll vorbei und hielt stattdessen am Krug von Trikaten, hier mußten die Pferde abgefüttert werden. Auf dem Rasenhügel neben der Ruine lagerte man, der Speisepaudel wurde ausgepackt, Tof und Aurel durften in der Krugbude Pfefferkuchen kaufen, Pfefferkuchen, die so groß, so dick und so zäh wie alte Stiefelsohlen waren, mit einer Mandel in der Mitte, und die nach trockenem Sand schmeckten. „Warum ist das Haus kaputt?“ fragte Aurel und zeigte auf die Ruine. „Einmal war es ein Schloß“, sagte die Mutter, „und Ritter wohnten darin. Aber dann kamen die Russen und zerstörten die
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Burg.“ „Und die Ritter?“ erkundigte sich Aurel. „Die sind im Kampf gefallen“, erklärte die Mutter. „Alle?“ „Alle.“ Die Mutter schwieg. Verwittert und grau ragte die zerbröckelte Mauer in den sommerlichen Himmel. Im Grase zirpte es. Ein grauer Würger mit schwarzem Strich durch die Augen wippte schmatzend auf der Spitze eines Ellernbusches. Es war schon Abend, als sie in Kangermois ankamen. Onkel Gottlieb, im grauen Schlafrock mit roten Aufschlägen, eine Petroleumlampe in der Hand, stand auf der Veranda, und um ihn herum wimmelten die Cousinen: Marliese, Agathe und Clementine. Alle hatten blaukarierte Schürzen und rote Gesichter. Alle umarmten, küßten, lachten und rissen sich um die Kinder: „Nein, der gehört mir!“ – „Nein, mir!“ Aurel und Adda wurden hin und her gezerrt. Endlich waren die Kinder verteilt: jede Cousine hatte eins. Und jede schleifte ihren Schützling mit sich herum: in den Hühnerstall, in den Viehstall, zu den Kälbern und Ferkeln. Onkel Gottlieb ging immer im Schlafrock und Pantoffeln, zwei rote Troddeln auf dem Bauch. Jeden Morgen wanderte er so in den Viehstall, und jeden Abend saß er so auf der Veranda und sah zu, wie die Herde heimkehrte. Nur mittags zog er sich einen weißen Leinenrock an, kurze Reithosen und Wasserstiefel, obgleich er niemals ritt und nie spazierenging. Und die drei oberen Knöpfe der Weste waren immer offen, und auch ein Hosenknopf war gewöhnlich aufgegangen. „Aber Vater“, sagte Marliese und stieß ihn an. „Wa?“ schrie Onkel Gottlieb, denn er war harthörig. „Der Knopf!“ stöhnte Marliese. „Es belohnt sich nicht!“ brummte Onkel Gottlieb laut und
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knöpfte sich ungeniert die Hose zu. „Wir sollten das Verandageländer in Ordnung bringen lassen“, seufzte Agathe. „Und die Dachrinne soll verstopft sein!“ klagte Clementine. „Wa?“ schrie Onkel Gottlieb. „Die Dachrinne ist verstopft!“ trompetete Clementine. „Verstopft? Wer ist verstopft?“ „Die Dachrinne!“ „Das belohnt sich nicht!“ knurrte Onkel Gottlieb ärgerlich. „Irgendwo wird das Wasser schon abfließen!“ Nur die Kühe waren seine Leidenschaft, und auch der Vater und die Mutter mußten sie bewundern. Aurel ging mit. „Wa?“ brüllte Onkel Gottlieb, als sie vor dem Zuchtstier standen. „Großartig!“ sagte der Vater anerkennend. „Wa?“ „Großartig! Ein großartiger Stier!“ schrie der Vater verzweifelt. „Das weiß ich, daß es keine Kuh ist!“ brummte Onkel Gottlieb und ging weiter. Die Mutter stelzte unglücklich mit hochgehobenen Röcken zwischen den vielen Kuhschwänzen umher: „Mein Gott, Aurel, schnell zur Seite!“ „Kühe sehen doch immer wie Kühe aus“, meinte sie erschöpft, als sie ins Haus zurückgingen. „Wa?“ brüllte Onkel Gottlieb. „Wunderbare Kühe!“ schrie die Mutter, so laut sie konnte. „Gar kein Wunder“, knurrte Onkel Gottlieb verdrießlich, „wenn man sie richtig hält und füttert!“ Bei Tisch erzählte Onkel Gottlieb manchmal Geschichten, die Aurel nicht verstand, die aber komisch sein mußten, weil der Onkel dabei so lachte. Marliese, Agathe und Clementine wurden dann immer rot. Die Mutter sah verzweifelt auf ihren
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Teller. „Wa?“ schrie Onkel Gottlieb. „Später!“ brüllte der Vater. „Warum später?“ lachte Onkel Gottlieb dröhnend und schlug sich auf das Knie: „Das belohnt sich nicht!“ Wieder schaukelte die Kalesche auf der breiten, sandigen Landstraße, die Räder mahlten knirschend den tiefen Grand, eine dicke Staubwolke zog hinterher und schlug dann und wann zum Ersticken heiß und schwer in den Wagen. Das schwarze Schutzleder war schon ganz grau überzogen, mit dem Finger konnte man schön darauf zeichnen. Manchmal durfte Aurel auf den Bock, und dann hockte Tof tief gekränkt auf dem Rücksitz. Von oben sah alles ganz anders aus: die Landstraße, der Graben, das Roggenfeld, die endlosen Heuschläge, Moore und Wälder. Und mitten darin, ganz vorn, ganz nah, die vier immer gleichmäßig schaukelnden Hinterteile der trottenden Pferde. Das schwarze, silberbeschlagene Ledergeschirr tanzte und hüpfte hin und her auf den prallen, glatten Backen. Dann und wann hob sich ein Schwanz, und mitten im Lauf ließ ein Roß unbekümmert seine fettglänzenden Äpfel fallen. Im Walde, an einem kleinen Bach, wurde gerastet. Die Pferde bekamen Hafer, und für die Menschen gab es hartgekochte Eier, Schinkenbrötchen und Speckkuchen mit Rosinen. Der Vater schnitt das ungeschälte Ei mitten durch, hob mit der Messerspitze das Innere aus der Schale und schluckte jede Hälfte mit einem Bissen herunter. Aber die Mutter kickste die Eier mit den Kindern, und wer das stärkste hatte, war König, Dann durften die Kinder Schuhe und Strümpfe ausziehen und barfuß im Wasser plantschen. Es war ein flacher, schnellfließender Bach mit großen, glatten Kieselsteinen. An der Bohlenbrücke mit dem bemoosten Geländer stand eine alte Birke mit rissiger Rinde. Es war eigentlich nichts Besonderes
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an dieser Birke, auch nichts an der alten Brücke mit dem Bach und der Landstraße – aber plötzlich fühlte Aurel, daß er diese Stelle hier mitten im Walde immer wieder erkennen und nie vergessen würde. Nach dem Essen ging der Vater mit den Jungen „Riezchen“ suchen. Jeder müßte allein hinter einem bestimmten Busch gehen – aber keiner fand einen Pilz. „Sonderbar“, lachte der Vater, als sie wieder herauskamen, „und gerade hier wuchsen sonst immer so viele Riezchen.“ Dann fuhr man weiter. Onkel Oscha stand auf dem Rasenplatz vor dem einstöckigen, grauen Holzhaus mit den weißen Fenstern und winkte schon von weitem. Wieder wurden die Ohrläppchen befühlt und so lange gezupft, bis süße Karamelbonbons herauskamen. „Das Pinkazimmer, das Pinkazimmer!“ rief Aurel, „jetzt mußt du es uns zeigen!“ „Pinka“ war nämlich die Haut von gekochter Milch – das Schrecklichste, was es für die Kinder gab. Und Onkel Oscha hatte immer erklärt, daß er bei sich zu Hause im Waimasch ein ganzes Zimmer voll Pinka hätte, durch das man sich durchessen müsse, wenn man zum Pflaumen- und Apfelzimmer gelangen wollte. Nein, das Pinkazimmer war nirgends zu entdecken, aber alle Räume sahen auch so merkwürdig genug aus: im Saal hingen die Tapeten in großen Fetzen von den Wänden, ein paar zerschlissene Polsterstühle – das war die ganze Einrichtung. Im Speisezimmer zog sich ein schwarzer Riß quer über die Decke, neben der Küchentür war der Mörtel abgebröckelt, so daß das Holzgeflecht hervorschaute. Die morschen Stufen der schmalen Gartenveranda hatten tiefe Löcher, das verfaulte Geländer hing wackelnd in der Luft „Warum ist hier alles kaputt?“ fragte am Abend Aurel die
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Mutter. „Weil Onkel Oscha fast nie zu Hause ist“, sagte die Mutter. „Und warum ist er nie zu Hause?“ forschte Aurel. „Weil er so allein ist, keine Frau und Kinder hat“, meinte die Mutter. „Und warum hat er nicht geheiratet?“ Die Mutter schwieg. Dann sagte sie nachdenklich: „Weil die Tante, die er haben wollte, einen anderen Onkel geheiratet hat! Und so hat er kein richtiges Zuhause!“ Kein richtiges Zuhause. Aurel lag lange wach und grübelte. Wie furchtbar muß das sein: kein richtiges Zuhause und immer allein. Der arme Onkel. Vielleicht ist er in Wirklichkeit gar nicht so lustig. Vielleicht macht er so viel Spaß, nur damit man nicht merkt, wie traurig er ist. Das muß eine scheußliche Tante gewesen sein, die ihn nicht genommen hat. Aber die Welt ist ja voller Tanten – warum hat er nicht eine andere geheiratet? Nach dem Mittagessen ging Onkel Oscha immer „russisch lesen“ – dann durften die Kinder nicht im Hause herumrennen. „Russisch lesen ist nicht so einfach“, sagte der Onkel, „das kann man nur, wenn alles still ist! Aber um drei – dann könnt ihr mich holen!“ „Aber Onkel Oscha, du hast ja gar nicht russisch gelesen, du hast geschlafen!“ schrien die Kinder, als sie in sein Schreibzimmer stürmten, wo der Onkel auf dem alten Ledersofa lag. „Geschlafen? Ihr seid wohl verrückt? Wer wird denn am Tage schlafen, wo es so viele russische Bücher gibt!“ Onkel Oscha rieb sich das Gesicht, strich die beiden weißen Vollbartspitzen nach rechts und nach links: „Seht, wie müde meine Augen sind vom vielen Lesen! Russische Bücher sind besonders anstrengend!“ „Zeig das Buch, zeig das Buch“, schrie Aurel. „Komm mal her, dann werde ich es dir schon zeigen! Oder
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willst du die Engel im Himmel pfeifen hören?“ Onkel Oscha richtete sich auf – kreischend jagten die Kinder hinaus. Aber am schönsten war es, wenn Onkel Oscha auf seinem alten Ledersofa saß und sang. Er sang nur ein Lied, und das hatte nur wenige Worte, aber er mußte es immer wieder vorsingen –’ so schön war es; „Die Seele schwingt sich in die Höh’–juchhe!“ (Onkel Oscha hob beide Arme hoch in die Luft, es war, als flöge er wirklich mit dem weißen Vollbart zur Decke hinauf.) „Der Leib allein bleibt auf dem Kanapee!“ (Und Onkel Oscha sank wie tot auf das Sofa zurück. Die goldene Uhrkette mit der roten Koralle blitzte auf seinem Bauch.) Aber dann saß er wieder und strich sich seine Bartspitzen: „Ich will nur so lange leben, bis der letzte Russe hinter Kamtschatka ersäuft!“ „Aber deine Goldkette wird nicht so lange halten!“ meinte Aurel und zupfte an der Bärenkralle. „Hier ist sie schon ganz durchgerieben!“ „Fünfzig Jahre hält sie noch“, erklärte Onkel Oscha, „und dann kaufe ich mir eine neue!“ „Komm doch mit!“ bestürmten die Kinder den Onkel, als die Kalesche vorfuhr. „Komm doch mit!“ Aber Onkel Oscha blieb–da half kein „Mundspitzen“. Noch lange stand er da vor dem grauen Holzhaus, der weiße Rock und der weiße Bart leuchteten in der Sonne. In großen Biegungen schlängelte sich der breite, sandige Weg zwischen den vergrasten Gräben durch das wellige Land. Immer war der Geruch von reifem Korn, von Kamillen, von süßem Klee, immer der Lärm von Lerchen, das Knirschen der Räder, der dicke, heiße Staub in der Luft. „jetzt kommt das Tantenbassin“, sagte der Vater, „aber ich
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steige beim alten Igelströhm in Torma aus, Marz bringt euch nach Orrisfer, und morgen nachmittag holt er mich ab. Länger als eine Stunde halte ich es im Tantenbassin nicht aus!“ Mein Gott, wie dick der Igelströhm war–’ man müßte zum Tee dort bleiben. Noch nie hatte Aurel einen so dicken Menschen gesehen. Wenn er ging, dann schaukelte der Bauch hin und her, und wenn er saß, quoll er weit über den Lehnstuhl. Und die Hände waren so fett und so schwer, daß er sie kaum bewegen konnte. Immer lagen sie irgendwo auf dem Bauch, wie aufgequollene Kröten. Aber der Vater blieb doch lieber hier – wie schrecklich müßte es dann bei den Orrisferschen Tanten sein! „Tante Josephine, Tante Constance, Tante Luschen –’ alle drei sind sehr lieb, aber etwas eigen“, seufzte die Mutter. „Daß ihr nur keine Dummheiten macht!“ Ja, etwas eigen waren diese Tanten schon, und das ganze Haus roch so sonderbar nach Tanten, war voll Tantengeraschel und Tantengeflüster. Immer wisperte es irgendwo, immer galoppierte Emma, das alte Mädchen, mit einem Staublappen hin und her und wischte die Türklinken ab. „Hast du dir auch schon die Hände gewaschen?“ fragte Tante Constance immer wieder, und immer wieder mußte Aurel sie einseifen. „Draußen sind so viel Bazillen“, erklärte sie streng, während sie mit klirrendem Armband eine Patience legte, „und viele Menschen sind schon an Bazillen gestorben!“ „Was sind Bazillen?“ fragte Aurel. „Das wirst du später einmal erfahren, wenn du größer bist!“ sagte Tante Constance und tupfte mit dem Finger über die Karten. Immer sagte Tante Constance: „Wenn du größer bist“, und immer legte sie Patience. Geduldig war sie noch nicht geworden. Tante Josephine saß am Fenster im Lehnstuhl und stickte auf Kanevas schöne bunte Wandsprüche. Über jedem Bett hing ein
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solcher Spruch. Aurel buchstabierte: „Hoffnung ist mein Wanderstab und Geduld mein Reisekleid, womit ich durch Zeit und Grab wandre in die Ewigkeit!“ Aurel sah ganz deutlich die Hoffnung: einen dicken Spazierstock mit einem runden Griff. Und die Geduld war ein Staubmantel wie der von Mama, nur viel grauer, weil man ja mit ihm durch das Grab wandern mußte. Über einem anderen Bett las Aurel den Vers: „Einst stehst du vor dem Hügel, und ist er noch so klein, da kommst du nicht hinüber – da legt man dich hinein!“ Es klang so, als wenn sich Tante Josephine extra darüber freute, daß man über diesen kleinen Hügel nicht hinüber konnte: ätsch – da legt man dich hinein! Viel angenehmer war dagegen ein Spruch, der im Speisezimmer hing: „Des Leibes warten und ihn nähren, das ist, o Schöpfer, meine Pflicht! Mutwillig meinen Leib zerstören verbietet mir dein Angesicht!“ Nein, die Tanten zerstörten nicht mutwillig ihren Leib – das konnte man nicht behaupten. Und auch Aurel nahm sich diesen Spruch zu Herzen – besonders, wenn es Pfannkuchen mit Preiselbeeren gab. Ihn störte dabei nur der Gedanke, daß Jesus als Gast neben ihm saß und ihm zuschaute. Denn Tante Josephine betete jedesmal ausdrücklich: „Komm, Jesus Christ, sei unser Gast und segne, was du uns bescheret hast!“ Auch sonst standen die Tanten sehr gut mit dem lieben Gott: alles war eine „rechte Gabe Gottes“ – die Sonne, der Regen, das
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Essen – und immer dachte der liebe Gott an die Tanten. „Ja, wir dürfen ihn nie vergessen, der uns nicht vergißt“, sagte Tante Josephine, wenn sie die Serviette zusammengerollt hatte, und blickte zur Decke hinauf. Aurel hob den Kopf, konnte aber außer ein paar Fliegen, die an der Hängelampe herumkrochen, nichts entdecken. „Nie vergessen“, fuhr Tante Josephine fort, „was er alles für uns getan hat und immer noch tut!“ Es war fast so, als stünde der liebe Gott, wie Emma und die Köchin, im Dienst der Tanten. Nur daß er nicht mit Geld, sondern mit Gebeten bezahlt wurde. Tante Luschen sagte selten etwas; sie lief immer lautlos hin und her, immer mit einer großen, stillen Freude im rosigen Gesicht. „Luschen, die Hühner sind wieder im Garten!“ – „Luschen, wieviel Grad werden es heute im Schatten sein?“ – „Luschen, sollte man nicht das Fliegenpapier erneuern?“ „Man“ war immer Tante Luschen, aber sie tat alles so leise, daß man es gar nicht merkte. Und immer hatte sie etwas für die Kinder: Geduldplätzchen, Kranzbeerlimonade oder ein Glas Mandelmilch. Zum Nachmittagskaffee kam Doktor Amende, ein dürrer, kleiner Herr mit einer großen roten Nase. „Nun, was gibťs Neues, Doktorchen, was gibťs Neues?“ bestürmten ihn Tante Josephine und Tante Constance. Und dann berichtete der Doktor, zwischen einem Schluck Kaffee und einem Stück Kuchen: von einem Erdbeben irgendwo in Japan, von einer Überschwemmung oder von irgendeinem Eisenbahnunglück. „Mein Gott“, stöhnte Tante Josephine, und die Grübchen in ihren Wangen zuckten vor Erregung, indem sie nach der Schmantkanne griff. „Was heute für schreckliche Dinge passieren; das kommt davon, weil die Welt so gottlos geworden
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ist! Und ist es wirklich wahr, daß der Tormasche schon wieder heiraten will?“ Dann wurde Aurel fortgeschickt. Als aber der Vater kam, war Aurel dabei, wie die Tanten ihn ausfragten: wer sie sei, von wo und wie alt. „Gott sei Dank, wenigstens eine Geborene“, seufzte Tante Constance, „und keine Gewisse!“ „Aber schon die dritte!“ Tante Josephine schüttelte mißbilligend den Kopf. „Und die zweite ist erst vor einem Jahr gestorben!“ „Der Tormasche kann nicht mehr lange warten“, meinte der Vater lachend, „und wißt ihr, was er mir sagte?“ Tante Josephine beugte sich vor, ihre Augen blitzten vor Neugierde, ihre Grübchen bebten: „Nun?“ Der Vater trank die Tasse leer und setzte sie auf den Teller. Dann sagte er laut und mit Nachdruck: „Der Tormasche ist der Ansicht: wenn Gott nimmt – dann nehme ich auch!“ Der Vater lachte dröhnend. Tante Josephine saß wie erstarrt da. Tante Constance verschüttete fast den Kaffee. Dann sagte der Vater: „Aber ich glaube, es ist Zeit! Aurel, laß Marz vorfahren!“ Die Kalesche schaukelte, von den Heuschlägen wehte es feucht und kühl. Weiße Nebel hingen über dem moorigen Fluß, der sich zwischen Ellerngestrüpp durch die Wiesen schlängelte. Gelb und rund watete der Mond über den schwarzen Morast. Dann kamen die Laiskumschen Wälder, die endlose Laiskumsche Allee. „Die hat noch Großonkel Paul angelegt“, erzählte die Mutter, „er wollte die längste Allee haben. Aber dann pflanzte Großonkel Rembert in Katlekaln heimlich eine Eichenallee, die noch länger war und lud Großonkel Paul ein. Aber der hat sich so darüber geärgert, daß er den Kutscher gleich umkehren ließ,
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und seitdem ist der Laiskumsche nie mehr nach Katlekaln gekommen!“ „Wenn Onkel Arnold nur nicht wieder einen Schwips hat“, lachte der Vater, als sie vorführen. Was ist Schwips? grübelte Aurel neugierig, ich muß mal aufpassen. Da schmetterte schon eine ohrenbetäubende Blechmusik: Onkel Arnold hatte seine Hauskapelle auf der Veranda aufgestellt, jeder Knecht bearbeitete ein Instrument, Trompeten, Hörner und Trommeln. Er selbst war Kapellmeister und fuchtelte wild mit einem Stock in der Luft herum. Ja, Onkel Arnold komponierte sogar Jagdsignale und Märsche. Und er stellte nur Knechte an, die tüchtig blasen oder wenigstens trommeln konnten. Aber Aurel konnte nirgends den „Schwips“ entdecken. Der Onkel war nur immer sehr fidel. Er war fast so lang wie seine Allee und hatte einen spitzen Ziegenbart. Um so ernster war Tante Sascha. Diese Tante lachte nie. Ihre Wangen waren vielleicht zu glatt und zu hart, so daß sie einfach nicht lachen konnte. „Aber Arnold!“ sagte sie nur. Und wenn der Onkel sich noch ein Glas Wein eingoß, wurde sie noch ernster. Onkel Arnolds große Leidenschaft waren Likörchen, die er nach besonderem Rezept herstellte, und den ganzen Tag mußte er probieren: Buchsbeeren, Himbeeren, Kirschen, Kranzbeeren, Pielbeeren – auf allen Fensterbrettern standen die dickbauchigen, rotschwarzen, bernsteingelben, rosigen und blutroten Flaschen. Aurel durfte einmal davon schmecken: es brannte wie süßes Feuer auf der Zunge. „Aber Arnold!“ sagte Tante Sascha. „Ein Likörchen kann niemals schaden!“ meinte der Onkel. „Man soll nur nicht übertreiben!“ „Und wann übertreibt man?“ fragte die Mutter.
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„Wenn man nicht mehr eingießen kann!“ lachte Onkel Arnold und goß sich wieder ein Glas voll. „Prost!“ Tante Sascha seufzte tief. Sie konnte nicht einmal lächeln. Ihr glattes Gesicht war wie aus Hartgummi. Nach dem Kaffee wurde die Brettdroschke angespannt, und Aurel durfte mitfahren. Die Mutter und die Tante blieben zu Hause. „Krebsen ist nichts für Damen“, hatte Onkel Arnold erklärt, als er schmunzelnd eine dicke Flasche im Korb verpackte. Runde Kescher, Stangen und ein Sack mit gehäuteten Fröschen lagen unten auf dem Fußbrett. Tof und Aurel hatten den ganzen Tag Frösche fangen müssen – es war eine aufregende Jagd gewesen. Dann hatte der Stalljunge immer einen Frosch nach dem andern aus dem Sack genommen, an den Hinterbeinen langgezogen und gegen die Mauer geklatscht. Als alle tot waren, wurden sie mit dem Messer gehäutet. Aber da war Aurel fortgelaufen. Und jetzt, auf der Brettdroschke, zog er immer die Beine hoch, wenn der unheimliche Froschsack zu ihm rutschte. Von der Buschwächterei mußten sie noch ein gutes Stück bis zum moorigen Wiesenfluß zu Fuß gehen. Es dunkelte schon, der sumpfige Grasboden quatschte und schwankte bei jedem Schritt, kalt und feucht ständen dünne Nebelschwaden in der Luft. Auf einer Anhöhe am Flußufer wurde ein Feuer gemacht und ein Kessel mit Wasser daraufgesetzt. Dann wurden die Kescher mit den gehäuteten Fröschen an den Stangen im Wasser ausgelegt. Das Feuer lockte die Krebse, und jedesmal, wenn einer im Netz hochgehoben wurde, plumpste er in das kochende Wasser. Nur die kleinen kamen wieder in den kalten Fluß zurück, aber sie durften nie hineingeworfen, sondern immer nur vorsichtig am Ufer mit dem Schwanz ins Wasser hineingelegt werden: „Sonst ertrinken sie vor Schreck“, erklärte Onkel Arnold,
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„nur wenn sie von selbst rückwärts hineinspazieren, bleiben sie leben!“ Der Kessel füllte sich immer mehr mit kochenden Krebsen, die roten wurden herausgefischt und gleich verspeist: man riß ihnen die Schwänze ab, sog das salzige Dillwasser aus dem geöffneten Bauch, zerbrach die gepanzerten Scheren und Schwänze und holte das zarte, rosaweiße Fleisch hervor. Das war keine leichte Arbeit, Onkel Arnold mußte sich immer wieder mit der Kümmelflasche stärken. Auch der Vater nahm dann und wann einen Schluck. Noch nie hatte Aurel ihn so vergnügt gesehen. Überhaupt war er auf der ganzen Reise wie verwandelt: machte immerfort Späße mit den Jungen, lachte, erzählte komische Geschichten. Es war, als hätte er mit der langen Pfeife alle Feierlichkeit und Würde zu Hause gelassen, als wäre auch er plötzlich wieder ein Junge geworden. Erst in der großen Kalesche lernte Aurel seinen Vater ein wenig kennen. Die letzten Krebse wurden in den leeren Froschsack geworfen: wie es da drin krabbelte und raschelte–ein sonderbar rasselndes Geräusch, wenn man das Ohr daranlegte. Der volle Mond stand schon hoch am blassen Himmel, als sie heimkehrten. Und er ging gerade auf, als die Kalesche am nächsten Abend in die Ahornallee von Altschwanensee einbog. Und dann stand hinter dem weiten Rasenplatz mit den dunklen Bosketten das große steinerne Haus im weißen Mondlicht da. Alle Fenster waren erleuchtet, und über der Anfahrt fiel ein helles Licht auf die breiten Stufen der Freitreppe.
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Altschwanensee Wie von selbst war alles gekommen. War Aurel froh? War er traurig? Er wußte es nicht. Vielleicht war er beides zugleich: froh, daß er hier bei Tante Madeleine, bei Boris, bei den vielen Cousinen bleiben durfte, und traurig, sehr traurig, daß er nicht mitfahren konnte, als die große Kalesche mit der Mutter, dem Vater, mit Adda, den Brüdern und mit Marz wieder fortfuhr. Aber hierbleiben und mitfahren – beides zugleich kann man nicht. Man mußte sich entscheiden. Und er selbst hatte sich entschieden. An einem Morgen war die Mutter mit ihm in den Park gegangen, hatte sich bei der großen Eiche auf die Bank gesetzt und ihn gefragt: „Willst du hier bleiben, bei Boris?“ Natürlich wollte er hier bleiben, bei Boris, seinem ersten richtigen Freunde, mit dem er ganz anders spielen konnte als mit Adda, die ja nur ein Mädchen und für ihn viel zu klein war. Vom ersten Augenblick an, als sich die beiden Jungen sahen, war diese Freundschaft dagewesen – von Aurels Seite wohl noch leidenschaftlicher, schwärmerischer, aber auch Boris war glücklich, endlich einen Bruder zu haben. „Weißt du, Mädchen sind nichts“, hatte er ihm gleich am ersten Tag anvertraut. „Und große Brüder sind auch nichts“, hatte Aurel ihm seine Erfahrungen mitgeteilt. Jetzt waren Bal und Rei außerdem noch konfirmiert und trugen lange Hosen – sie waren also eigentlich schon erwachsen. Nein, der Abschied von den großen Brüdern fiel ihm nicht schwer. Aber die Mutter, der Vater, Adda? Und Karlomchen? „Soll ich gar nicht mehr nach Blumbergshof kommen?“ hatte
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Aurel gefragt. „Natürlich bist du in den Ferien immer bei uns“, versicherte die Mutter und zog seinen Kopf an ihre Schulter, „aber jetzt mußt du doch richtig lernen, und Herr Tiedebök und Fömarie haben zu wenig Zeit für dich. Ich glaube, hier mit Boris zusammen wirst du es besser haben!“ Ja, das sah Aurel ein. Und wenn er in den Ferien nach Hause konnte, war die Trennung ja nicht so lang und der Abschied nicht so schlimm. Trotzdem mußte er sich fest in die Finger kneifen und die Zähne zusammenpressen, als die große Kalesche davonfuhr, und die winkenden weißen Taschentücher sah er nur wie hinter einem flimmernden Schleier. Nun war er ganz allein hier. Zum ersten Male war er von der Mutter, dem Vater, von den Geschwistern, von Blumbergshof getrennt – denn die große Kalesche mit Marz war ja auch ein Stück Blumbergshof. Nun war das alles fort. Nur eine kleine Staubwolke stand noch in der Allee. Und dann war auch die verschwunden. Aber Tante Madeleine beugte sich zu ihm und küßte ihn auf die Stirn: „Jetzt bin ich deine Mama“, sagte sie, „und du bist mein zweiter Sohn!“ Dann lief er mit Boris in den Park zum kleinen Bach, wo sie eine Brücke bauten. Wie anders war hier alles als in Blumbergshof: keine bunten Dielenläufer, kein weißer Bretterboden – überall blankes, glattes Parkett, weiche, dicke Teppiche. Und die vielen Zimmer hatten gar kein Ende: der blaue Salon, das Musikzimmer, der „Petitsalon“, der „Grandsalon“, das Rauchzimmer, das Lesezimmer, die Bibliothek, Onkel Nicolas’ Schreibzimmer – alle diese Räume lagen in einer langen Reihe hintereinander, alle Flügeltüren waren immer offen, so daß man zwischen den vielen zur Seite gerafften Portieren von einem Ende bis ans andere durchsehen konnte. Und rechts vom Musikzimmer kam man in den richtigen Saal und von dort in das endlose
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Speisezimmer. Vom Flur mit den unzähligen Garderobenständern, den Truhen, Spiegeln und Elchgeweihen schwang sich eine breit ausladende Treppe zum ersten Stock hinauf, wo die Korridore und Schlafzimmer überhaupt kein Ende nahmen. Und vor dem Flur, in einem besonderen Anbau, war der Wintergarten mit Palmen, mächtigen Blattpflanzen und rätselhaften Gewächsen. Hier war es immer feucht und warm, und ein kleiner Springbrunnen plätscherte. Aurel schlief zusammen mit Boris in einem großen Zimmer im ersten Stock, und nebenan sollte der Hauslehrer wohnen, aber der war noch nicht da. Dafür gab es eine Gouvernante, Fräulein Kleeberg, mit einer braunen Warze auf dem Kinn, eine Mademoiselle und Miß Mabel, bei denen man Französisch und Englisch lernen sollte. Und dann war da Lim, die wie Karlomchen beständig umherlief, mit glattem, spärlichem Haar über dem länglichen, immer sorgenvollen Pferdegesicht. Und endlich die drei Cousinen: Isa, Maurissa und Warinka. Alle drei waren älter als Aurel – Warinka allerdings nur um ein Jahr – und alle drei waren am Anfang etwas unheimlich: sie lachten, wenn man gar nicht wußte warum, sprachen plötzlich französisch oder englisch, rümpften die Nasen und sagten so von oben herab: „Das versteht ihr doch nicht!“ Ja, Boris hatte recht, Mädchen sind nichts, und doch mußte Aurel immer wieder zu ihnen hinüberschauen, wenn sie bei Tisch saßen. Isa trug schon aufgestecktes Haar, Maurissa und Warinka dicke lange Zöpfe mit Ponnyschnitt in der Stirn. Welches Glück, daß man kein Mädchen war, mit Zöpfen und Röcken! Und daß man jetzt einen Freund hatte, einen Kameraden, mit dem man alles teilen, alles besprechen konnte. Gleich am ersten Abend, nach der Abfahrt der Eltern – Tante Madeleine hatte mit den Jungen gebetet, das Licht gelöscht, nun lagen beide allein im Dunkeln – flüsterte Boris: „Wenn wir wirklich Freunde sind, dürfen wir keine Geheimnisse
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voreinander haben!“ „Ja, keine Geheimnisse!“ bestätigte Aurel eifrig. „Aber ich habe ein Geheimnis“, fuhr Boris fort, „und das muß ich dir jetzt sagen. Aber du darfst es niemandem verraten!“ „Niemandem!“ beteuerte Aurel feierlich. Boris war ans Fußende heruntergerutscht – die beiden Betten standen hintereinander an der Wand – jetzt beugte er sich über Aurels Kopfkissen: „Dann mußt du es schwören!“ Aurel hockte sich hin und hob die Hand: „Ich schwöre!“ Boris rückte noch mehr an sein Ohr und flüsterte: „Ich weiß eine Höhle, die niemand weiß, auf der Insel, und dort habe ich etwas versteckt. Morgen zeige ich es dir.“ „Eine Höhle?“ Aurels Herz klopfte. „Ja, eine richtige Höhle!“ versicherte Boris. „Und du – hast du kein Geheimnis?“ Aurel grübelte lange angestrengt: nein, er kannte keine Höhle, und das Tschulanchen und der Heuboden waren eigentlich keine Geheimnisse. Ein richtiges Geheimnis ist nur das, was niemand weiß. Wie schrecklich, daß er keins hatte. Er schämte sich sehr. Aber da fiel ihm ein, daß er einmal in Blumbergshof unter der Gartenveranda heimlich einen toten Maulwurf begraben hatte. Dies Geheimnis konnte sich zwar nicht mit der Höhle messen, aber ein besseres wußte er nicht. Und so vertraute er Boris den toten Maulwurf an. Und auch Boris schwor, ihn niemandem zu verraten. Am nächsten Morgen liefen die Jungen zum See, der gleich hinter dem Park lag, ketteten das kleine grüne Boot vom Steg los und ruderten zur Waldinsel hinüber, die sich mitten auf dem spiegelblanken Wasser dunkel und geheimnisvoll erhob. Boris ruderte. Aurel saß hinten am Steuer. Noch nie war er so auf dem Wasser gefahren, es war ihm etwas unheimlich zumute, aber er ließ sich nichts anmerken. Wie tief wohl der See war? Jedenfalls viel tiefer als der kleine Teich in
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Blumbergshof. Und wenn man umkippte, dann mußte man wohl ertrinken. Das Boot schaukelte, das Wasser schlug gluckernd an die bauchige Holzwand; dann und wann spritzte es vom auftauchenden Ruder. Endlich stieß der Kiel zwischen rauschendem Schilf an das moorige Ufer. Boris schlich sich, immer nach allen Seiten spähend, durch Laubgestrüpp zur Anhöhe hinauf, auf der ein paar Fichten und Birken standen. Etwas abseits erhob sich ein verwitterter Eichenrumpf, der wohl einmal vom Blitz getroffen war. Als Boris festgestellt hatte, daß niemand ihn sehen konnte, schwang er sich an einem Aststumpf hinauf und hockte sich oben hin, wo sich der Eichenstamm gabelte. Dann mußte Aurel nachklettern. Ja, von hier oben konnte man tief in den hohlen Baum hineinblicken – es war eine richtige Höhle. Boris glitt hinein und auch für Aurel war noch genügend Platz darin. „Hier kann uns niemand entdecken“, flüsterte Boris, als lauschten und lauerten überall unsichtbare Feinde. „Aber wie soll denn jemand herkommen, ohne Boot?“ fragte Aurel verwundert. „Die Indianer können doch schwimmen“, versicherte Boris und spähte unruhig durch eine Spalte über den See. Aber nirgends war etwas Verdächtiges zu entdecken. „Und dies ist mein Speer“, fuhr er fort und griff nach einer langen, geraden, vorn zugespitzten Erbsenstange, „und du mußt heute auch einen bekommen!“ „Und was machen wir mit dem Speer?“ fragte Aurel benommen. „Wir kämpfen“, erklärte Boris!“ „Gegen wen?“ „Gegen den Feind!“ „Und wer ist der Feind?“ „Das wirst du schon sehen!“ Boris nahm den Speer, und beide kletterten wieder aus der
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Höhle heraus. Und als Aurel vom Gärtner auch eine solche Waffe erhalten hatte, begaben sich die Jungen auf den Kriegspfad. Lange schlichen sie hinter dem Stall, beim Teich, an der Gartenmauer herum, aber nirgends war ein Feind zu entdecken. Da plötzlich stürzte Boris mit wildem Geschrei, den Speer schwingend, in einen Cyrenenbusch, und gleich darauf schoß ein rostbrauner Hahn mit gesträubten, zerzausten Federn schrill krächzend über den Rasen. Das war eine aufregende, grausame Jagd. Manchmal setzte sich sogar der gereizte Gockel mit aufgeplusterten Flügeln zur Wehr. Nur dieser abgehetzte cholerische, wütende Hahn war der Feind – die anderen Hähne und Hühner wurden niemals gejagt. Und dann gab es noch ein paar Bauernjungen, mit denen Krieg geführt wurde. Sie waren in großer Überzahl, auch sicher stärker, trotzdem ergriffen sie nach kurzem Kampf immer die Flucht: sie wagten es nicht, die beiden „Jungherren“ richtig anzupacken. Selbst wenn Boris ihnen wütend befahl: „Ihr müßt ordentlich schlagen!“ knufften sie bloß widerwillig, nur aus Höflichkeit, und grinsten verlegen. Auch hier war die Glaswand, die unübersteigbare Mauer, die beide Welten trennte. Ja, hier – das fühlte Aurel – war diese Mauer noch höher, noch dicker als zu Hause in Blumbergshof. Hier lag die eine Welt nicht neben, sondern tief unter der anderen. Gesindestube, Küche, alle Leuteräume befanden sich im Souterrain, nur durch eine Treppe mit der oberen Welt verbunden. Und die Speisen schnurrten sogar ganz allein in einem Aufzug aus der Küche direkt in den Speisesaal; der dicke, behäbige Karel oder der magere Jekab, die beiden Diener, brauchten nur von oben hinunterzurufen, an einer Schnur zu ziehen, und schon kam die dampfende Bratenschüssel heraufgerasselt. Unten aber, in der unsichtbaren Tiefe, herrschte Koch Linde, lärmte, kreischte, schwatzte und rannte aufgeregt durcheinander
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ein ganzes Heer von Küchenmädchen, Hausmädchen, Waschweibern, Plättfrauen und Näherinnen, und zum Essen kamen noch viele Leute vom Hof: Garten- und Kutscherjungen, der Viehpfleger, der Vorarbeiter, die Knechte – an zwei langen Tischen wurde gegessen. Nein, hier konnte man sich nicht dazusetzen, wie in der Gesindestube in Blumbergshof, hier bekam man kein Stück Schwarzbrot mit Quark darauf – hier ging man fremd, wie ein Wesen anderer Art, an den vielen fremden Gesichtern vorbei, und der schlanke, dunkle Boris sah wie ein kleiner Prinz aus, wenn er die vielen untertänigen Grüße mit einem leichten Kopfnicken erwiderte oder mit einer kurzen Handbewegung irgendeinen Befehl aus der Oberwelt ausrichtete. Und Aurel gehörte zu seinem Freund, zu Boris, zur hellen, unbeschwerten, immer heiteren Welt da oben, die durch einen dünnen, aber undurchsichtigen Parkettboden von der Unterwelt getrennt war. Hier oben war es immer, als schiene die Sonne, selbst wenn es draußen regnete. So weiß waren die Fenstergardinen, so hell blitzten die Kristalle der Kronleuchter, die silbernen Scheiben der Wandspiegel, so blank schimmerte das immer frisch gebohnerte Parkett. Und auch am Abend war die endlose Flucht der Räume in helles, warmes Licht gebadet: überall leuchteten die weißen Kuppeln der Petroleumlampen, flackerten Kerzen, warfen die Spiegel einander die vielen Lichter zu, so daß alle Dunkelheit der frühen Herbstnächte machtlos draußen blieb, hinter den Fenstervorhängen. Aber das Wunderbarste war, daß diese helle, warme Welt hier oben von einer immerwährenden Musik erfüllt war: Tante Madeleine brauchte gar nicht auf dem Flügel zu spielen und zu singen, auch wenn sie schwieg, fühlte Aurel diese stumme Musik: in Tante Madeleines Gang, in der raschen Bewegung ihrer lebendigen Hände, im Vorbeifliegen und Lachen der
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Cousinen, in der etwas zur Seite geneigten Haltung von Boris, ja sogar in der belegten Stimme, im festen, elastischen Schritt von Onkel Nicolas. Wie plump, wie ungeschickt kam Aurel sich selbst vor; immer fiel es ihm schwer, nach dem Gutenachtsagen allein quer durch den großen Saal und die vielen Zimmer zu gehen: er fühlte, wie die Blicke sich ihm auf den Rücken hefteten, wie die Cousinen sich über sein eckiges, ruckweises Gehen lustig machten – und dadurch wurde sein Gang noch befangener, noch ungelenker. Wenn er doch so werden könnte wie Boris – aber dazu war er wohl zu schwerfällig, zu unbeholfen. Und wie war es erst, wenn Tante Madeleine sich an den Flügel setzte, die Ringe abstreifte, und ihre lebendigen Hände auf den schwarzen und weißen Tasten hin- und herglitten. Manchmal sang sie sogar in einer fremden, überirdischen Sprache – ob das wohl die Himmelssprache war, von der die Mutter einmal erzählt hatte? Aber das tat sie selten, und jedesmal, wenn sie gesungen hatte, stand Onkel Nicolas von seinem Sessel auf, ging auf sie zu und küßte ihre Hand. Er hob dabei ihren Arm hoch hinauf und neigte nur ein wenig den Kopf. Tante Madeleine war einmal – das erfuhr Aurel – eine berühmte Sängerin gewesen, sie hatte in Mailand, Paris und London gesungen, auf Onkel Nicolas’ Schreibtisch stand eine große Photographie von ihr, in einem seltsamen Kostüm mit weißer, hoher Frisur und komisch breitem Rock – aber dann hatte sie allen Ruhm, sogar ihre Muttersprache aufgegeben und Onkel Nicolas geheiratet. Denn sie war Italienerin und singen konnte sie nur italienisch. Auch beim Sprechen kamen ihr manchmal merkwürdige Worte, die man aber doch gleich verstand, weil nicht nur ihr Mund, sondern auch ihre lebendigen Augen, ihr schmales, bewegtes Gesicht, die immer rasch durch die Luft hüpfenden Hände mitsprachen. So sagte Tante
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Madeleine, wenn zum Beispiel die Jungen an einem Regentag durchaus zur Insel rudern wollten: „Maché, da werdet ihr ja ganz naß!“ Und wenn Boris dann erklärte, auf der Insel wäre es wirklich sehr trocken: „Altroché – glaubst du, daß es auf der Insel nicht regnet?“ Oder wenn Jekab eine Tasse auf dem Parkett zerschmetterte, lachte Tante Madeleine: „Das ist kein Granché.“ „Was ist ein Granché?“ fragte Aurel. „Das ist eine große Sache“, erklärte Tante Madeleine. „Und was ist eine große Sache?“ forschte Aurel. „Eine große Sache?“ Tante Madeleine überlegte, dann sagte sie: „Zum Beispiel, wenn das Haus abbrennt oder jemand stirbt. Das ist ein Granché!“ Alles andere, sogar das Singen, war für Tante Madeleine kein Granché – jedenfalls machte sie keine große Sache daraus, auch wenn dem weißhaarigen Pastor Nötkens, der sie auf dem Flügel begleitete, zum Schluß dicke Tränen über die Bakken kullerten. Pastor Nötkens, ein mächtiger Mann mit schneeweißem Haar, dunklen Augenbrauen und glattrasiertem, rosigem Gesicht, kam jede Woche, spielte mit Onkel Nicolas Schach und musizierte am Abend mit Tante Madeleine. Wenn es spät wurde, müßten die Jungen ins Bett. Aber dann schlichen sie im Nachthemd heimlich die Treppe hinunter, versteckten sich im Flur hinter den Garderobeständern, den vielen Mänteln und Pelzen – ja einmal wagten sie sich sogar in den Blauen Salon und verkrochen sich unter dem Sofa. Es war ein wenig hart und kalt, mit den nackten Füßen und dem dünnen Nachthemd auf dem blanken Parkett – aber der Gesang war so schön wie noch nie, und als er zu Ende war, wurde es ganz still, alles schwieg; nur Pastor Nötkens schneuzte
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sich, und dann knackte das Parkett: Onkel Nicolas. ging zum Flügel. Gerade wie die Jungen wieder hinauf schleichen wollten, kamen Mademoiselle und Miß Mabel und setzten sich auf das Sofa. Sie sprachen französisch und englisch, man konnte sie nicht verstehen, und deshalb war das Hocken dort unter ihnen auf die Dauer langweilig. Außerdem wurde es immer kälter. Da fing Boris an, ganz leise zu knurren. Einen Augenblick verstummten die Stimmen auf dem Sofa. Dann knurrte er lauter und kitzelte mit dem Finger einen Knöchel. „Mon Dieu – un chien!“ schrie Mademoiselle und sprang entsetzt auf. Miß Mabel bückte sich, spähte unter das Sofa und brach in lautes Gelächter aus. Und dann waren mit einem Male lauter Beine, lauter lachende Gesichter da – die Cousinen, Tante Madeleine, Fräulein Kleeberg, Lim, sogar Onkel Nicolas und Pastor Nötkens – wie zwei aufgescheuchte Hasen sprangen die Jungen aus ihrem Versteck und rasten mit fliegenden Nachthemden die Treppe hinauf. Zum Glück war auch dies für Tante Madeleine kein „Granché“. Nur mußten die Jungen von jetzt an versprechen, wirklich schlafen zu gehen, und das taten sie auch. Aber dafür ließen sie die Türen offen, so daß sie den Gesang bis in ihre Betten hören konnten. Und dann, an einem Abend, kam Herr Bjelinski, der Hauslehrer, ein Mann mit kohlschwarzen Augen und kohlschwarzen, krausen Barthaaren, die wie Fransen um sein bleiches, mageres Gesicht hingen. Er sagte zu Onkel Nicolas „Du“ – sie hatten zusammen in Dorpat studiert. Aber Tante Madeleine küßte er niemals die Hand. Und nie aß er Fleisch, „Wie kann man Leichen essen“, sagte er und nahm einen Teller Buchweizengrütze. „Auch Hühner sind eine Gabe Gottes“, meinte Pastor Nötkens, der die Serviette vor die Brust gesteckt hatte und mit Behagen an einem knusprigen Hühnerbein knabberte.
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„Du sollst nicht töten!“ erwiderte Bjelinski finster. „Ich töte kein Tier“, erklärte der Pastor und sog das Mark aus den Knochen. „Aber Sie essen es“, entgegnete Herr Bjelinski mit Abscheu. „Warum soll ich es nicht tun, wenn sonst ein anderer es täte?“ lachte der Pastor und wischte sich die fettigen Finger an der Serviette ab. „Mit diesem bequemen Grundsatz ist alles erlaubt44, stieß Herr Bjelinski heftig hervor. „Warum soll ich nicht in den Krieg gehen und Menschen töten, wenn sonst ein anderer es täte?“ „Hühner und Menschen sind nicht dasselbe“, meinte der Pastor und griff nach dem Weinglas. „Öfter als man glaubt44, versetzte Herr Bjelinski boshaft. „Es gibt nur eine Moral: du sollst dem Übel nicht widerstehen, du sollst …“ „Aber ich widerstehe ja gar nicht dem Übel!“ fiel ihm der Pastor lachend ins Wort. „Übrigens, dieser verrückte Tolstoi wäscht sich die Hände mit Eau de Cologne …“ „Bitte, nur nicht wieder Tolstoi!“ schnitt Tante Madeleine lächelnd die Diskussion ab und hob die Tafel auf. Aber während des Unterrichts erzählte Herr Bjelinski viel von diesem merkwürdigen russischen Grafen, den er oft besucht hatte und der für ihn der einzige wahrhafte Christ war. Und was er sagte, machte tiefen Eindruck auf Aurel. Da war ein reicher, mächtiger Graf, viel reicher als der Vater, der all sein Land den Bauern geschenkt hatte und selbst wie ein Bauer lebte. Und wenn Herr Bjelinski von ihm erzählte, leuchteten seine kohlschwarzen Augen, und sein bleiches vom dunklen Bart umkränztes Gesicht bekam einen elfenbeinernen Glanz. Aber furchtbar waren seine Augen, als er einmal Boris und Aurel zu sich ins Zimmer rief. „Was habt ihr getan?“ fragte er, und seine Stimme bebte.
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„Den alten Gockel gejagt“, antwortete Boris. „Und warum habt ihr das getan?“ „Weil wir Krieg spielten“, sagte Boris unbekümmert. „Ist das ein ritterlicher Kampf: ein armes, wehrloses Tier zu jagen?“ Die schwarzen Augen loderten so, daß die Jungen den Blick zu Boden schlagen mußten. Dann hörten sie eine tonlose, eindringliche Stimme: „Ich strafe nie. Euer Gewissen wird euch selbst strafen. Denkt mit aller Kraft an die grausamen Qualen, die ihr dem unglücklichen Tier zugefügt habt, und betet zu Gott, daß er euch verzeiht.“ Der Gockel wurde nie mehr gejagt und die Speere nur noch selten aus der Eichenhöhle hervorgeholt. Dann legte sich eine dünne Eisdecke auf den See, und das Boot wanderte ins Bootshaus. Mit dem Indianerkrieg war es aus. Statt dessen zimmerten die Jungen unter Herrn Bjelinskis Anleitung mächtige bunte Drachen und ließen sie im Oktobersturm hoch in den Himmel steigen. Die gelbroten Ahornblätter liegen dürr wie Papier in der kahlen Allee, an manchen Stellen hat der Wind sie zu hohen Haufen zusammengefegt. Auch die Bäume im Park stehen leer und nackt wie Skelette, so daß man vom Schulzimmerfenster bis zum Kapellenberg am See und unten am Bach bis zum Alten Haus durchblicken kann. Aurel hebt manchmal den Kopf von der lateinischen Grammatik, die er nicht leiden kann, und auch Boris stöhnt leise vor sich hin, wenn sie ihre Aufgaben machen sollen, statt draußen zu spielen. Beide Jungen sitzen da, bohren die Ellbogen in den Tisch, den Kopf in die Fäuste, die Daumen in die Ohren, aber die Augen lassen sich nicht von der Deklination festhalten, sie wandern zuerst vorsichtig auf die Tischplatte, betrachten aufmerksam eine Rille, einen Tintenfleck, der beinah wie ein Hundekopf aussieht, man müßte nur noch das eine Ohr verlängern – und schon tastet die Hand
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zum Federstiel, und als der Hundekopf fertig ist, fängt die Feder ganz von selbst an auf dem Löschpapier einen gewöhnlichen Klecks in eine sonderbare Fratze zu verwandeln. Und dann ist da ein Radiergummi, den man unbedingt befühlen und beriechen muß, ein abgebrochenes, winziges Kreidestück, das so angenehm kühl ist, wenn man sich damit die Finger einreibt, und der Korken vom Tintenfaß, von dem man sicher noch einen Brocken mit dem Nagel abknibbern kann. Alles Dinge, die Viel interessanter sind als die Ausnahmen der zweiten oder dritten Konjugation. Wenn aber die Augen erst bis zum Fenster gewandert sind, dann kehren sie nicht so bald zurück, und auch wenn Herr Bjelinski die Vorhänge schließt und die Petroleumlampe anzündet, treiben sich die Augen noch lange draußen hinten den Fensterscheiben herum: am See, auf der Insel, auf dem Kapellenberg, im Alten Haus bei Großtante Ernestine. Jeden Sonntagnachmittag machen Aurel und Boris einen Besuch im Alten Haus. Dann wäscht Lim ihre Hände mit heißem Wasser ab, Fräulein Kleeberg feuchtet die Haare an, zieht einen Scheitel und striegelt sie so lange, bis man die beiden Jungen kaum wiedererkennen kann. Bei Großtante Ernestine und Tante Leocadie gibt es immer Schokolade mit Schmantschaum und frische Apfelkuchen. Aber auch sonst gefällt es Aurel dort sehr gut: die weiß gescheuerten Fußböden, die bunten Dielenläufer, die Strohblumen auf den Moospolstern zwischen den Doppelfenstern – alles erinnert ein wenig an Blumbergshof. Großtante Ernestine sitzt immer im Rollstuhl am Fenster, ein dickes kariertes Plaid auf den Knien, eine schwarze Spitzenhaube über dem rosigen Gesicht mit den lebhaften, strahlenden Augen. Sie ist schon über neunzig, bald hundert Jahre alt, und wenn Aurel ihre durchsichtige weiße Hand küßt, wagt er sie kaum anzufassen, aus Furcht, sie könnte vielleicht zerbrechen.
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„Also, du bist Jennys Jüngster“, sagte sie ihm das erstemal, „und deine Mama war Isabels Jüngste und war noch viel kleiner als du, wie sie mit Tante Leocadie zu mir kam, weil Großmama starb! Also eigentlich bin ich deine Großmama. Komm mal etwas näher und sieh mich an!“ Es war nicht leicht, dem forschenden Blick dieser brennenden Augen standzuhalten, die einem bis auf den Grund des Herzens sahen, aber Aurel öffnete sich ganz und ließ diesen prüfenden Blick tief in sich eindringen. „Isabels Augen, wieder Isabels Augen“, sagte die Großtante Ernestine leise und sank in ihr Kissen zurück. Und als spräche sie zu sich selbst, fuhr sie nach einer Weile fort: „Wie ist das wunderbar – dieselben Augen, die sich so jung für immer schlossen, kehren wieder auf die Erde zurück, als hätten sie nie genug vom Leben! Und da soll man nicht an Gott, an die Unsterblichkeit unserer Seele glauben –’ wenn schon die Augen unsterblich sind!“ Und dann erzählte Großtante Ernestine von der Großmutter, die so jung, bald nach der Geburt der Mutter gestorben war, und die so viele kleine Kinder hinterlassen hatte: „Vier Jungen und drei Mädchen gingen mit Großpapa hinter dem Sarge her, zum Kapellenberg hinauf – deine Mama war ja noch zu klein, aber ich hielt sie am Fenster, als sie den Sarg hinaustrugen.“ Und auch vom Großvater erzählte sie, wie verzweifelt er gewesen war, wie er diesen Schmerz nie überwinden konnte. Er lebte nur noch in Erinnerungen, in Gedanken an seine tote Frau. Damals legte er den großen Park um den Kapellenberg an, ließ den ganzen See ausgraben – früher war das alles nur ein Moor gewesen – und mit der ausgegrabenen Erde die drei Inseln aufschütten, jede in der Form eines Buchstabens: ISA, so daß der Name der Toten für alle Zeiten in den See geschrieben steht. Aber auch das genügte ihm nicht. An seinem fünfundzwanzigsten Hochzeitstage verließ er das Schloß und
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siedelte auf den Kapellenberg über, wo er neben der Kapelle in einer einfachen Kammer als Einsiedler hauste und bald darauf auch starb. Aurel hörte aufmerksam zu. Dieser unglückliche Großvater beschäftigte ihn viel. Wenn er den ganzen See und die drei Inseln nur aus Kummer über den Tod von Großmama ausgraben ließ, dann mußte er wirklich sehr traurig gewesen sein. Und auch er hatte dann schließlich wie dieser merkwürdige russische Graf alles verlassen und war als Einsiedler auf dem Kapellenberg gestorben. Wenn dann Großtante Ernestine vom Erzählen müde wurde, brachte Tante Leocadie, die immer lautlos durch die Zimmer ging oder noch lautloser dasaß und an einer Gabelschnur arbeitete, eine große Schachtel mit uralten hölzernen Spielsoldaten, die Aurel und Boris auf dem Fußboden aufstellten. Diese Soldaten hatte Urgroßonkel Barclay de Tolly, als er Napoleon mit den Verbündeten gefangen hatte, aus Paris nach Hause gebracht. Es waren also ganz echte gefangene und eroberte französische Soldaten von Napoleon, bald hundert Jahre alt, mit denen man natürlich ganz anders spielen konnte als mit den gewöhnlichen aus Zinn, die bei Vierecke in Riga gekauft wurden. Aber noch schöner war es, wenn Tante Leocadie ein längliches Holzkästchen auf den Tisch stellte, an einer Schraube drehte, und wenn dann eine dünne, seltsame Musik wie von lauter winzigen Silberglöckchen durch die Dämmerung summte. Es war immer dieselbe Melodie, eine zärtliche, schmerzliche, doch heitere Melodie, die einen gleichzeitig sehr traurig und auch sehr glücklich machte. „Diese Spieldose“, erzählte Großtante Ernestine – jetzt in der Dämmerung konnte man nur ihre Stimme hören –’ „hat deine Großmutter als Kind bekommen, und sie liebte sie so, daß sie sich nie von ihr trennte. Wenn ich sterbe, soll deine Mutter sie
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haben!“ Dann zündete Tante Leocadie die Petroleumlampe an, und die Jungen packten die Soldaten wieder in die Schachtel. „Was wollt ihr eigentlich werden?“ fragte Großtante Ernestine beim Abschied, und wieder brannte ihr forschender Blick bis auf den Grund der Seele. „Soldat!“ rief Boris. „Und warum Soldat?“ fragten die Augen belustigt. „Weil Krieg das schönste ist!“ erklärte Boris. Die Augen wurden ernst und bekümmert, aber sie lächelten noch immer: „Ist das so schön – Menschen zu töten?“ Aber Boris ließ sich nicht abschrecken: „Kämpfen ist schön“, meinte er, „und das kann man nur, wenn man Soldat ist!“ Da sagte die Großtante – ihre Stimme war leise, aber sie drang bis in das Innerste und blieb dort haften: „Man kann auch ohne Waffen kämpfen – für Gott!“ Dann fragte sie Aurel, was er werden wolle. „Ich will Musik machen“, sagte Aurel; und erst jetzt, als diese Augen ihn fragten, war er sich dessen bewußt geworden. Noch nie hatte er darüber nachgedacht. „Musik“, wiederholte Großtante Ernestine, „das ist schön. Damit kannst du viele Menschen glücklich machen!“ Aber wie sollte er Musik machen? Nicht einmal auf der Weidenflöte und der Mundharmonika konnte er spielen! Und singen schon gar nicht. Während der Morgenandacht im Saal, wenn alle aus dem Gesangbuch den Choral sangen, brummte er nur leise mit. Und auch das tat er nur, wenn niemand es hörte. Als er einmal mit Warinka in ein Gesangbuch sehen mußte, bewegte er nur die Lippen. „Aber du singst ja gar nicht mit!“ hatte sie ihn nachher geneckt. „Warum bewegst du dann den Mund?“ Seitdem hielt er auch die Lippen geschlossen.
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Wenn man so singen und so spielen könnte wie Tante Madeleine! Oder wenigstens wie die Spieldose! Manchmal, wenn Aurel allein war, hörte er eine Musik. Aber er hörte sie nur ganz tief in sich drinnen, wie ein feines Summen, und wie sollte er dieses Summen aus sich herausholen, so daß auch andere es hören konnten? Als die Jungen ins Große Haus heimkehrten, brannten Lichter in allen Fenstern. Und als sie die Steinstufen hinaufstiegen und aus der Kälte und Dunkelheit in den Flur traten, schlug ihnen wohlige Wärme und blendende Helligkeit entgegen. Und durch die offenen Flügeltüren tönten Musik und Gesang.
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Der Kapellenberg Es wurde Winter. Der Schneepflug zog knirschend um den verschneiten Platz, dicke Schneemauern türmten sich zu beiden Seiten der Anfahrt. An den Fensterscheiben im Schulzimmer wuchsen Frostblumen. Auf dem See war ein Stück vom Schnee freigefegt worden, die Jungen und Mädchen, Mademoiselle, Miß Mabel, ja sogar Tante Madeleine liefen hier am Nachmittag Schlittschuh. Herr Bjelinski stapfte in hohen Galoschen im Schnee. Nein, auf das Glatteis ging er nicht. Hat das einen Sinn, immer in der Runde zu laufen? „Aber das ist doch so gesund“, rief Tante Madeleine, „und so schön!“ „Immer in der Runde, ist das so schön?“ spottete Herr Bjelinski. „Man muß doch auch vorwärtskommen!“ Und er stapfte weiter. In seinem schwarzen Stadtmantel, mit der schwarzen Karakulmütze und dem schwarzen Fransenbart sah er im weißen Schnee wie ein Gespenst aus. Auch Boris und Aurel fanden das Schlittschuhlaufen ein wenig langweilig, besonders, weil die Mädchen immer dabei waren. Und dann mußte man mit Mademoiselle und Miß Mabel laufen, französisch und englisch sprechen, immer „n’est ce pas“ und „isn’t it“ sagen – „oui, mademoiselle, la journée est magnifique!“ Oder „how lovely!“ – lauter Quatsch, und dazu immer in der Runde laufen! Viel schöner war es, wenn die Jungen die alte Jurka vor die Ragge anspannen und mit ihr spazierenfahren durften. Sie saßen im niedrigen, flachen Schlitten auf einem Strohsack, die Beine in dicke Schaffelle eingewickelt, und kutschierten abwechselnd. Sie fuhren auf der Landstraße, bogen dann in den
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verschneiten Wald ein, durch dichte, junge Schonungen zur Fasanenfuttersteile. Manchmal sahen sie den großen Vogel mit dem langen, rostroten Schweif über die Schneise streichen. Oder sie kutschierten zur kleinen Bude beim Krug und fragten den zappeligen, rundlichen Mann, der hinter seinem Ladentisch immer so tiefe Bücklinge machte, nach den unmöglichsten Dingen, nur um seine unerschütterlich immer gleiche Versicherung zu hören: „Solche is nich, kommt nächste Woche!“ Aber einmal kauften sie sich doch etwas: zwei kurze Tonpfeifen mit silbernem Deckel. In der alten Scheune sammelten sie dann Klee- und Heustaub, der zwischen den Balken lag, stopften damit die Pfeifenköpfe und schmauchten nun ganz so wie die Bauern, behaglich ausgestreckt auf der gleitenden Ragge. Das eine Bein baumelte über den Schlittenrand, um ein plötzliches Umkippen zu verhindern. Der Kleetabak brannte gut, stank aber und kratzte schrecklich im Halse. Keiner wollte es dem andern gestehen. Ein wenig grün im Gesicht kamen die Jungen zu Hause an. Die Pfeifen wurden sorgfältig hinter den Schulbüchern versteckt. Als es taute, errichteten Aurel und Boris mitten auf dem Platz vor dem Hause eine gewaltige Schneeburg mit dicken Mauern und hohen Türmen. Dann krochen sie hinein, und Krischjan und Dirick, die Söhne vom Viehpfleger, mußten die Burg beschießen. Aber sie wagten gar nicht, richtig scharfe Schneebälle zu werfen, und sobald Boris und Aurel einen Ausfall machten, rannten sie kreischend davon. Einmal erwischte Boris den langen Krischjan, riß ihn in den Schnee und wusch sein Gesicht ab. Da stapfte gerade Herr Bjelinski um die Hausecke: „Schämst du dich nicht“, rief er schon von weitem, „den Jungen so zu behandeln?“ „Er ist so feige“, erklärte Boris, „er läuft immer fort!“
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Krischjan erhob sich und lief heulend davon. „Und ist das nicht auch feige, mit jemand zu kämpfen, der sich nicht wehrt?“ fragte Herr Bjelinski, und seine Stimme bebte. „Aber warum wehrt er sich denn nicht?“ erwiderte Boris entrüstet. Schmal, mit geröteten Wangen, stand er da, die braune Samtmütze schief auf dem Kopf. „Weil du der Herr bist, wagt er es nicht, dich anzufassen“, sagte Herr Bjelinski, und in seinen schwarzen Augen war wieder das Feuer, vor dem man den Blick senken mußte. „Und weil du der Herr bist, darfst du deine Macht nicht mißbrauchen!“ ‚‚Dann dürfen wir also nicht mit den Jungen spielen?“ fragte Aurel bekümmert. „Spielen dürft ihr“, sagte Herr Bjelinski, „aber das ist kein Spiel, wenn ihr die Jungen, die sonst nichts anzuziehen haben, in den Schnee schmeißt und mit Schnee abreibt!“ Wieder war diese unsichtbare Mauer da: man konnte nicht hinüber, man war abgesperrt von allem, was hinter der Glaswand lag. Und wenn man sie mal durchbrechen wollte, zerschnitt man sich nur die Finger. Da blieb man lieber drinnen und gewöhnte sich daran, wie die Pflanzen im Treibhaus unter schützendem Glas zu leben. Ja, es war warm und hell hinter den vielen erleuchteten Fenstern, auf dem spiegelnden Parkett, auch wenn es draußen dunkel wurde und der eisige Nordwind über den See und die endlosen Wälder fegte. Und immer waren frohe Stimmen, ein helles Lachen in der weiten Flucht der Zimmer, immer das leise Gebuller brennender Birkenscheite in den vielen Kachelöfen, das Getrappel von Kinderfüßen auf dem Parkett und den knackenden Treppen. Und immer gab es Besuch: vom Pastorat, vom Doktorat, von den vielen Nachbarn und Verwandten. Schon an den
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verschiedenen Schlittenglocken und am Schellengeklingel konnte man hören, wer gerade vorgefahren kam. Die Pastoratsglocke war ganz tief und dumpf, die vom Doktorat bimmelte grell und aufgeregt; die Laiskumschen hatten immer zwei Glocken: eine brummende und eine lustig klimpernde; „die brummende, das ist Sascha, und die klimpernde – Arnold“, meinte Onkel Nicolas. Der Tormasche Baron Igelströhm hatte ein ganzes Glockenspiel, es hieß, zum Andenken an seine vielen Frauen. Der Paykulsche Herr von Dunten, ein alter Junggeselle, hatte nur Schellen, und wenn er kam, drückte er dem Diener gleich sein Nachthemd in die Hand, damit es in der Ofenröhre gewärmt würde. Tante Olla hatte ein Ungeheuer von Glocke, die man wersteweit hörte. „Wo hast du diese Kirchenglocke gestohlen?“ fragte Onkel Nicolas sie. Nur der alte Mojahnsche fuhr immer ohne Geläut: „Ich kann dies Gebimmel nicht ausstehen“, erklärte er, „ich bin doch keine Kuh mit einer Glocke um den Hals!“ Aber richtig voll wurde erst das Haus, als die zwei italienischen Nichten von Tante Madeleine aus Mailand kamen: Laura und Nena. Beide waren unheimlich schwarz, Laura ein wenig rundlich, Nena ganz schmal, und beide hatten nur Unsinn und Streiche im Kopf. Unglaublich, was sie zusammen mit Isa, Maurissa und Warinka alles anstellten; Mademoiselle und Miß Mabel waren natürlich auch mit ihnen im Bunde. Besonders hatten sie es auf den armen Herrn von Dunten abgesehen: Die Ärmel seines in der Ofenröhre gewärmten Nachthemdes wurden zugenäht. Zum Frühstück bekam er Zucker ins Salzfaß. Unter sein Laken wurden Pferdestriegel gelegt, die scharfen Kanten nach oben. Auch Herr Bjelinski wurde nicht verschont. Um ihn an Hühnerfleisch zu gewöhnen, sperrten die Cousinen zwei Gockel in seinen Schrank, die ihn dann am Morgen mit lautem Gekrähe weckten. Als er, noch ganz verschlafen, entsetzt die Schranktür
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aufriß, schossen die Hähne ihm fast ins Gesicht und flatterten kreischend durchs Zimmer. Jetzt nahm der Krieg immer größeren Umfang an, denn Herr Bjelinski machte mit den Jungen einen Gegenangriff: es wurden Flaschen mit getrockneten Erbsen und Wasser gefüllt, und mit offenen Hälsen gut versteckt auf Schränken und hinter Kommoden in den Schlafzimmern der Cousinen aufgestellt. Langsam quollen die Erbsen, stiegen durch den Flaschenhals hinauf und kullerten, immer in kleinen Pausen, mit lautem Gepolter auf den Fußboden. Die Rache der Cousinen war noch fürchterlicher: Unter Herrn Bjelinskis Bett wurde eine große Kuhglocke angebunden, die an einer Schnur gezogen werden sollte. Aber Herr Bjelinski entdeckte die Schnur, und in der nächsten Nacht bimmelte die Glocke am Fensterladen der Cousinen. Bei dieser Gelegenheit kam es sogar zu einem richtigen Handgemenge. Boris und Aurel waren im Nachthemd durch den dunklen Korridor bis vor die Tür der Cousinen geschlichen, um sich das Glockengeläute besser anzuhören. Plötzlich öffnete sich die Tür, etwas Helles schimmerte in der Finsternis, schrie auf, und gleich darauf stürzte die weibliche Übermacht auf sie los. Es kam zu einer erbitterten Wasserschlacht im Dunkeln: Von beiden Seiten wurden immer neu gefüllte Gläser herangeschleppt und gegen den Feind gespritzt. Aurel geriet ins Handgemenge. Zwei erhitzte Gesichter stießen keuchend gegeneinander. Aber in diesem Augenblick tauchte am Ende des Korridors Lims erschrockener Pferdekopf hinter einer Petroleumlampe auf – da liefen die kämpfenden Nachthemden auseinander. Am nächsten Tag hatten Aurels Stirn und Nenas Kinn eine kleine Beule. Aber auch völlig Unbeteiligte wurden in diesen aufregenden Krieg hineingezogen. So zum Beispiel Tante Sascha und die
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alte Pastorin Nötkens. Die Cousinen hatten die Teller der beiden Damen mit Siegellack an einem dünnen weißen Faden befestigt, der unter das Tischtuch gezogen und von der andern Seite gezupft wurde; jedesmal, wenn Tante Sascha einen Bissen vom Kotelett auf die Gabel stecken wollte, hüpfte der Teller davon –; fassungslos, mit weit aufgerissenen Augen, starrte sie auf dies Phänomen. Die alte Pastorin hielt, ganz rot vor Erregung, den hüpfenden Teller mit beiden Händen fest; aber sobald sie nach der Gabel griff, fing das Kotelett wieder an zu tanzen. Onkel Arnold bekam Zuckerwasser in die Schnapsflasche und Himbeerlimonade ins Rotweinglas. Um sich vom Schrecken zu erholen, stürzte er gleich zwei Allaschkümmel hinunter. „Aber Arnold“, seufzte Tante Sascha. „Willst du auch einen?“ Höflich füllte er ein drittes Glas, und als sie den Kopf schüttelte, spülte er es selbst in die Gurgel. Nach dem Essen wurde getanzt: Pas de Quatre, Pas de Patineur, Papillon, Lancier und Française. Tante Madeleine und Pastor Nötkens spielten abwechselnd auf dem Flügel; die Teppiche wurden aufgerollt, die Tische zur Seite geschoben. Aber immer waren zu wenig Herren da, so daß der dicke Baron Igelströhm, der kurzsichtige und ängstliche Herr von Dunten und der lange Onkel Arnold mit dem Ziegenbart und dem „Schwips“ um so eifriger tanzen mußten. Herr Bjelinski tanzte nie. Er spielte mit Onkel· Nicolas oder mit Pastor Nötkens im Petit-Salon Schach, oder er saß irgendwo finster in einer Ecke und zupfte an seinem schwarzen Fransenbart. „Ich bin doch kein Narr“, sagte er, „so sinnlos in der Runde zu hüpfen!“ „Und das Schachspiel“, fragte Tante Madeleine, „hat das etwa einen Sinn?“
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„Das stärkt den Intellekt“, erklärte Herr Bjelinski, „das ist geistige Gymnastik!“ „Und warum soll der Körper nicht auch Gymnastik treiben?“ lächelte Tante Madeleine. „Das soll er auch“, versetzte Herr Bjelinski, „aber Tanz ist keine Gymnastik. Tanz erregt nur die niedrigsten Sinne und schwächt den Intellekt.“ „Und die Sinne sind eine Erfindung des Teufels?“ lachte Tante Madeleine. „Ja“, erwiderte Herr Bjelinski ingrimmig. „Die Teufel tanzen! – Aber die Engel singen!“ fügte er mit einem aufleuchtenden Blick hinzu. „Tolstoi hat auch getanzt, und sogar sehr viel getanzt!“ polterte Pastor Nötkens, der die letzten Worte gehört hatte. „Erst als er nicht mehr tanzen konnte …“ „Um Gottes willen –nur nicht Tolstoi!“ unterbrach ihn Tante Madeleine. „Aber Sie, lieber Pastor, können noch tanzen!“ Dann spielte die Pastorin einen alten Ländler, und Tante Madeleine und Pastor Nötkens drehten sich langsam im Kreise, und alle sahen zu. Der Pastor setzte so feierlich die Füße, er hielt den Kopf mit dem silberweißen Haar ein wenig zur Seite, und sein rosiges, bartloses Gesicht bekam, einen kindlichglücklichen Ausdruck. Und wie tanzte Tante Madeleine! Aber noch schöner war es, wenn Pastor Nötkens auf dem Flügel eine Mazurka losdonnerte und Onkel Nicolas mit Tante Madeleine ganz allein eine richtige Mazurka vortanzten: Wie Onkel Nicolas mit den Hacken in der Luft klackerte, mit welcher Kraft und Eleganz er über das Parkett hinflog, und wie leicht und zart Tante Madeleine neben ihm herschwebte, und dann, wenn er sich ins Knie stürzte, im Kreise um ihn herum wirbelte! Nein, außer Onkel Nicolas konnte heute niemand mehr Mazurka tanzen. „Ich glaube“, sagte Tante Madeleine zu Herrn von Dunten,
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der sich verzweifelt mit ihr im Kreise drehte, „Sie sind auch mit den Beinen kurzsichtig!“ Auch Boris und Aurel mußten tanzen. Boris konnte es schon ganz gut, aber Aurel bewegte sich, als hätte er Blei in den Füßen. Die vielen Cousinen, Mademoiselle und Miß Mabel mühten sich abwechselnd mit ihm ab. Am besten ging es noch mit der kleinen Nena. Aber gerade ihre so unwahrscheinlich schmalen Hüften wagte er gar nicht richtig anzufassen, als könnten sie leicht zerbrechen. Er hatte eine große Scheu vor der geringsten Berührung mit dem fremden Körper, und doch fühlte er ein seltsam beglückendes Geprickel, wenn Nena ihren Arm um seinen Nacken, ihre feste, kleine Hand auf seine Schulter legte, wenn er ihren leisen, fremdartigen Seifengeruch spürte. Und immer versuchte er es so einzurichten, daß er mit ihr oder mit ihr als vis-â-vis den Lancier tanzte. Und wenn dann bei der dritten Tour der tiefe Knicks kam – das Klavier für ein paar Takte aussetzte –’ stockte auch sein Herz, das sich in demütigem Glück fast bis zum Parkettboden vor Nena verneigte. Aber gerade beim Lancier fehlte immer ein Herr, so daß der lahme Theodor vom Doktorat jedesmal einspringen mußte. Wie eine aufgescheuchte Fledermaus flatterte er dann mit hilflos schlenkernden Armen über das glatte Parkett. – „Aber Theodor, nicht so schnell!“ –’ die Cousinen starben fast vor Lachen. Der kleine, rundliche Doktor Spalwing tanzte nur Polka. Aber die hüpfte er mit solcher Begeisterung, daß sein roter Kopf und sein harter Kragen nachher immer ganz aufgeweicht waren. Manchmal flog dabei auch eins seiner Röllchen zu Boden. „Polka – das ist ein richtiger Tanz“, erklärte er, indem er sich mit dem Taschentuch das nasse Gesicht abtupfte. „Beim Lancier schläft man ein!“ Und dann stopfte er sich das Röllchen wieder unter den Rockärmel.
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Wenn aber der lahme Theodor nicht gekommen war, dann mußte Mischka mittanzen. Mischka war ein Vetter, der ein „Gesinde“, einen Bauernhof, bewirtschaftete und dort ganz allein als Sonderling in einem kleinen Hause wohnte. Es hieß, daß er nicht ganz richtig im Kopf sei –’ einmal war er schon im Irrenhaus gewesen. Aber jetzt ging es ihm wieder besser. Er war klein von Wuchs und hatte einen riesigen Kopf mit großen, traurigen Augen, hinter runden Brillengläsern, so daß er wie eine Eule aussah. Auch wenn sein von vielen kleinen Falten zerknittertes Gesicht lachte, blieben die Augen unverändert: die Augen lachten nicht mit. Aber er tat alles, wenn Tante Madeleine, ja, wenn nur die Cousinen ihn um etwas baten. Er konnte mitten im Schachspiel, das er über alles liebte, aufstehen, wenn Isa ihn um einen Lancier anflehte. „Und wenn ich jemand morden soll, ich tu’s– du brauchst es mir nur zu befehlen!“ sagte er, und sein zerfurchtes Gesicht verzog sich zu einem lustigen Lachen. Und dann tanzte er mit seinem riesigen, runden Kopf und den kurzen Beinen – es sah wirklich so aus, als wenn eine Eule hüpfte! Aber seine Augen hinter den Brillengläsern blieben traurig. Einmal, als Mischka lange nicht gekommen war, ließ Tante Madeleine die Schlitten anspannen, Kuchen und Gebäck einpacken, und alles fuhr nach Brjeschepur, ihn zu überraschen. Die beiden kleinen Zimmer hatten kaum Platz für so viel Besuch: Die Cousinen lagerten sich auf dem Bärenfell vor dem Kamin, Tante Madeleine mußte sich in den Schaukelstuhl setzen, und Mischka selbst hockte sich auf einen Schemel und blies mit dem Blasebalg ins Feuer. Male, seine alte Wirtschafterin, kochte Kaffee. „Was sollen wir nun tun?“ fragte Mischka und warf noch ein paar Birkenscheite in den Kamin. „In meinem armen Bauernhaus habe ich ja nichts für so viel jungen Damenbesuch!“
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„Spielen wir Blindekuh!“ schlug Warinka vor. „Und wer ist die Kuh?“ fragte Mischka. „Das bist du natürlich!“ riefen die Cousinen begeistert, und Isa band ihm ein Taschentuch vor die Augen. Alles kroch auf dem Fußboden herum, schlich auf Zehenspitzen an den Wänden entlang, versteckte sich hinter den Fenstergardinen. Und Mischka tastete mit weit ausgebreiteten Armen hier hin und dort hin. Endlich hatte er Isa gefangen, zog sie auf das Bärenfell und befühlte ihre Haare. „Das ist Isa“, sagte er, aber ohne daß er es merkte, hatte Laura mit Isa getauscht, und als er nun die Binde von den Augen nahm, stand Laura vor ihm. Und immer wieder mußte er Blindekuh sein. „Aber dein Taschentuch behalte ich als Pf and“, sagte er zum Schluß und steckte es ein. „Komm doch mit, Mischka, komm doch mit!“ baten alle Cousinen, als die Schlitten vorfuhren. Aber diesmal erfüllte er nicht ihre Bitte. „Eine schlimme Zeit ist wieder über mich gekommen“, sagte er zu Tante Madeleine, „und da ist es besser, wenn ich allein bin!“ Und zu Boris und Aurel sagte er beim Abschied: „Ihr könnt mich mal besuchen!“ Wie traurig er dastand in der offenen Tür, die Windlaterne in der Hand, wie traurig er ihnen nachwinkte! Bald darauf waren Boris und Aurel in ihrer Ragge zu ihm gefahren. Zuerst war es etwas unheimlich gewesen: Mischka saß in seinem Schaukelstuhl, rauchte eine halblange Pfeife und sprach kein Wort. Dann war er aufgestanden, hatte die Pfeife am Kamin ausgeklopft und war unruhig im Zimmer auf und ab gegangen. Plötzlich war er vor den Jungen stehengeblieben, hatte die Hände auf ihre Köpfe gelegt und sie mit leiser, verzweifelter Stimme gefragt: „Glaubt ihr an Gott?“
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Boris nickte stumm. „Ja“, murmelte Aurel. „Dann wollen wir zusammen beten!“ sagte Mischka und kniete sich auf das Bärenfell. Die Jungen knieten neben ihm hin. Alle drei falteten die Hände. Und dann sprach Mischka mit flehender, bebender Stimme das Vaterunser. Noch nie hatte Aurel dieses Gebet so gehört. Und die Worte: „Erlöse uns von dem Übel!“ schrie er fast und schlug mit dem Kopf auf den Boden. Aurel und Boris wußten nicht, was sie tun sollten. Aber dann beruhigte sich Mischka, stand auf und strich über die Haare der Jungen: „Euer Glaube hat mir geholfen!“ Beim Abschied sagte er noch leise: „Betet für mich, ich bin sehr krank, und das wird mir helfen!“ Boris und Aurel sprachen mit niemandem davon, auch nicht untereinander. Aber jeden Abend beteten sie für den kranken Vetter. Und immer wieder mußte Aurel an ihn denken. Warum war er so unglücklich? Glaubte er nicht an Gott? Quälte ihn etwas? Oder war er wirklich nicht ganz richtig im Kopf und wurde vielleicht wieder verrückt? Es war fast unheimlich zuzusehen, wie er tanzte, wie der große, runde Kopf auf den kurzen Beinen hin und her schwankte, als könnte er jeden Augenblick herunterrollen. Nach dem Lancier kam die Française, die richtige Française mit den zwölf Touren. Und da niemand genau Bescheid wußte, mußte Tante Leocadie vom Alten Haus heraufkommen und allen vortanzen, wie sie vor dreißig Jahren im Schloß von Schönbrunn getanzt hatte: Sie hob ein wenig den Rock, avancierte, retirierte und knickste tief vor einem Stuhl. Aber heute verstand ja niemand mehr richtig zu tanzen – nicht einmal richtig knicksen konnten die Cousinen. Und auch die Jungen verstanden keine richtigen Bücklinge zu machen. „Mein Gott, nicht so steif, nicht so plump!“ rief Tante
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Leocadie verzweifelt. Und dann vollführte sie den Hofknicks, wie sie vor Kaiser Franz Joseph beim Empfang in der Hofburg geknickst hatte: der eine Fuß glitt weit nach hinten zurück, und die ganze zarte Gestalt sank hin auf dem Parkett und zerschmolz in Demut vor dem leeren Stuhl – der war der Kaiser Franz Joseph. Aber noch schöner und aufregender als alles dies war es, wenn Tante Madeleine plötzlich ausrief: „Kinder, heute müssen wir uns verkleiden!“ „Verkleiden“ war Tante Madeleines große Leidenschaft – vielleicht hatte sie das noch von ihrer Opernzeit her. Eine ganze Kammer war angefüllt mit alten Atlasgewändern, seidenen Röcken, Samtmiedern, Spitzenresten, glitzernden Herrlichkeiten, bunten Flicken, Tarlatan und silbernem Brokat. Immer mußte jemand verkleidet werden – ob er wollte oder nicht. Als einmal Lims Schwester, ein hochbetagtes Fräulein, aus der Schweiz kam – die Schwestern hatten sich Jahrzehnte nicht gesehen, und nun wollte Tante Madeleine Lim zu ihrem sechzigsten Geburtstag mit dem Besuch der Schwester überraschen –’ da mußte sich die alte Dame unbedingt als Kakadu verkleiden, in lauter grüne Rüschen, mit aufgeklebten, grüngefärbten Hühner federn und einem gewaltigen krummen Schnabel. So ausstaffiert mußte das betagte Fräulein lange Zeit mitten im Zimmer vor Lims Geburtstagstisch auf einer Holzstange hocken. „Aber warum denn als Kakadu?“ meinte Onkel Nicolas kopfschüttelnd. „Mache, und warum nicht als Kakadu?“ fragte Tante Madeleine verwundert. „Als Kolibri wäre sie doch etwas zu groß!“ Das war für Lim eine Überraschung und für alle ein unvergeßlicher Anblick, als der grüne Kakadu ihr um den Hals
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fiel! Der dicke Baron Igelströhm wurde als Globus ausstaffiert – nur am Rücken mußte Tante Madeleine ihn ein wenig auspolstern. Der lange Onkel Arnold stelzte als Amerikaner umher, mit Sternen am Zylinder und karierten Hosen. Der dürre Herr von Dunten hatte sich in eine alte Jungfer verwandelt, mit Muff und Pelerine – „aber da braucht er sich eigentlich gar nicht zu verkleiden“, meinte Onkel Nicolas, „das angewärmte Nachthemd unterm Arm genügt!“ Aus Herrn Bjelinski war ein Mephisto geworden, in schwarzem Trikot, mit Pferdefuß und unheimlich schwarzem Bart. Isa war Königin mit einer langen, glitzernden Schleppe, die von Boris und Aurel, ihren Pagen, getragen wurde, und die Cousinen waren lauter Prinzessinnen. Nur mit Mischka wußte Tante Madeleine nichts Rechtes anzufangen. Und dann verkleidete er sich selbst als Narr, mit Schellenkappe und roten Tupfen auf dem weißgepuderten Gesicht. Den ganzen Abend saß er unter dem Thronhimmel, zu Füßen der Königin, und zuletzt sagte er ein Gedicht auf, das sehr komisch anfing: „Meines Herzens Königin, deren armer Narr ich bin …“ das aber dann sehr traurig endete: „Löscht die vielen Kerzen aus; wozu Licht im Narrenhaus?“ Gleich darauf war Mischka verschwunden: ohne Abschied war er nach Hause gefahren. Einmal, nach dem Kaffee – die Cousinen waren alle im Pastorat, Boris und Aurel büffelten an der lateinischen Übersetzung – kam Tante Madeleine aufgeregt ins Schulzimmer gestürzt: „Mein Gott, die Julinkas, die Katlekalnschen Tanten haben geschrieben, sie kommen schon heute abend, um Laura und Nena kennenzulernen, und nun sind beide im Pastorat! Da habe ich mir was ausgedacht: ich verkleide euch beide als Mädchen – wir wollen mal sehen, ob die Tanten darauf hereinfallen!“
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Das war ein großartiger Spaß, jedenfalls viel interessanter als Caesars Bellum Gallicum. Die Jungen bekamen Perücken mit Zöpfen und Atlasschleifen, Blusen, Röckchen und Spangenschuhe und übten sich eifrig im Knicksen. „Natürlich müßt ihr den Tanten die Hände küssen“, erklärte Tante Madeleine, „und ganz tief knicksen. Diese Tanten sind ganz besonders streng, aber sie bleiben ja, Gott sei Dank, nicht lange!“ „Wieviel sind es denn?“ fragte Aurel. „Fünf“, sagte Tante Madeleine und zupfte die Röckchen zurecht, „aber eine sieht genau so aus wie die andere, und deshalb nennen wir alle Tanten Julinka! Ihr braucht nicht viel zu sprechen; aber um Gottes willen nur nicht lachen! Dann sind die Tanten sofort beleidigt: sie sind schrecklich empfindlich! Ich glaube, da kommen sie schon!“ Tante Madeleine öffnete das Fenster und horchte. Und wirklich, ganz deutlich hörte man von der Anfahrt her helles Glockengeläut. „Ja, das sind die Katlekalnschen Glocken“, sagte Tante Madeleine und schloß das Fenster: „Geht schnell in den Saal!“ Vom Blauen Salon hörte man schon lebhaft krächzende Stimmen, Sichschneuzen, Hüsteln und das knisternde Geräusch unzähliger Tantenröcke. Und dann traten sie in den Saal: Uralte, gebückte, vermummte Dämchen mit Spitzenhäubchen, komischen Mantillen und Pelerinchen. Tante Madeleine führte die Älteste, die immer mit dem Kopf wackelte, am Arm, und als sie die „Nichten“ vorstellte, hob die uralte Tante mit zittriger Hand ein Lorgnon vor die Augen: „Also das sind Laura und Nena“, piepste sie und bekam gleich einen Hustenanfall. Aurel hatte ein sehr schlechtes Gewissen, als er seinen tiefen Knicks machte und der Tante die Hand küßte. Komisch, die Hand war gar nicht so, wie sonst Tantenhände sind –’ ja, sie
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stieß ganz fest und hart gegen seine Lippen, beinahe wie Tante Olla. Auch die andern Tantenhände stupften sehr heftig gegen die Nasenspitze, so daß es weh tat. Bei der letzten Tante mußte er sogar den Handkuß wiederholen: „Nein, meine kleine Nena“, krächzte sie streng, „das war kein richtiger Handkuß; jedenfalls nicht, wie man ihn einer Großtante schuldig ist!“ Und dann krachten die Fingerknöchel gegen seine Zähne. Diese Katlekalnschen Tanten waren höchst sonderbar. Bei Tisch kicherten sie immerfort, bekamen Hustenanfälle, versteckten die Köpfe hinter den Servietten. Und nach dem Essen wollten sie unbedingt tanzen. Mein Gott, wie hoch sie die Röcke rafften, und wie verrückt sie hüpften! Aber das tollste war, wie die wackligste mit dem Lorgnon dem Onkel Arnold plötzlich um den Hals fiel und er sie auf die Arme nahm und mitten im Saal unter dem Kronleuchter küßte. „Aber Arnold!“ seufzte Tante Sascha. „Tante Julinka ist meine Flamme“, lachte Onkel Arnold und schwenkte die alte Dame so heftig im Kreise, daß ihre Röcke flogen. Aber dabei flogen auch ihre Haare mit dem Häubchen herunter – und jetzt erkannten die Jungen: es war Nena, es waren die fünf Cousinen, vor denen sie so tief geknickst und die Hände geküßt hatten! Und Jekab war mit der großen Glocke um den Platz gelaufen, das war der Katlekalnsche Schlitten gewesen! Dann kam Tante Madeleines Geburtstag. Das ganze Haus war voll Gäste, voll Nachbarn und Verwandten. Immerfort läuteten Glocken, klimperten Schlittenschellen vor dem Haus, schälten sich immer neue Onkel und Tanten aus dicken Pelzen und Kapuzen. Nach dem Essen trat alles auf die Gartenveranda hinaus: hier, unter dem schwarzen, sternklaren Winterhimmel, ließ Onkel Nicolas vom Förster und den vielen Buschwächtern ein bengalisches Feuerwerk abbrennen: zischende Raketen
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schossen steil in die Luft, Flammenräder drehten sich sprühend in der Runde, rote, blaue und grüne Kugeln stiegen in die Finsternis auf, platzten und sanken in langsamen Feuergarben zu Boden. Und zum Schluß – man gab Tante Madeleine keine Ruhe – mußte sie singen. Und diesmal verkleidete sie sich selbst, ganz so, wie ihre Photographie auf Onkel Nicolas’ Schreibtisch, mit weißer Perücke und komisch abstehendem, weitem Rock. Pastor Nötkens begleitete sie auf dem Flügel. Noch nie hatte Aurel sie so gehört. Auch ihre Stimme war wie ein Feuerwerk und die Melodie voll bunter Kugeln, die jubelnd aufstiegen und schmerzlich in leuchtenden Feuergarben niedersanken. Als Tante Madeleine geendet hatte, war es so still im Saal, daß man den dicken Baron Igelströhm schnaufen und den rundlichen Doktor Spalwing flüstern hörte: „Die Rosen-Arie aus dem Figaro. Ganz famos, ganz famos!“ Dann knarrte das Parkett: Onkel Nicolas war aufgestanden, ging zum Flügel hinüber und küßte Tante Madeleine die Hand. „Ein Jammer, daß Sie nicht bei der Oper geblieben sind44, erklärte nachher der Doktor, der etwas zuviel getrunken hatte. „Ein Jammer! Für eine so große Künstlerin wie Sie muß doch das Landleben hier auf die Dauer etwas eintönig sein.“ „Vielleicht doch nicht“, lächelte Tante Madeleine und sah den Doktor belustigt an. „Vielleicht gefällt es mir hier sogar recht gut! Oder finden Sie, daß ich als Mutter nichts tauge?“ „Wenn ich ganz offen sein darf –“ die rötliche Nase des Doktors beugte sich vor, „wenn ich ganz offen sein darf, haben Sie als Mutter nur einen Fehler: Sie sind zu jung“, wiederholte er. „Um so erstaunlicher ist es, wie Sie Ihre Kinder erzogen haben. Schon längst wollte ich Sie fragen, welche Prinzipien Sie bei Ihrer Erziehung befolgen?“ „Prinzipien?“ Tante Madeleine sah den Doktor verwundert an und besann sich. Dann glitt ein lustiges Lächeln über ihr
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Gesicht, und sie sagte: „Nein, Prinzipien habe ich eigentlich nicht. Ich erziehe die Kinder nur nach Augenmaß!“ Der Doktor sah sie verblüfft an: „Ja, nach Augenmaß!“ wiederholte Tante Madeleine und erhob sich. Und so geschah hier alles, ohne Programm, ohne Regel, ohne Prinzipien – alles wurde nach „Augenmaß“ improvisiert. Nur an einem Morgen im Jahre hielt Onkel Nicolas an einer alten Gewohnheit fest: am Todestage seiner Mutter. Dann stand der Schlitten schon ganz früh vor dem Portal, und Karel und Jekab warteten vor der Tür mit zwei mächtigen Kränzen: weiße Rosen auf grünen Palmenzweigen. Die Jungen durften mitfahren. Tante Madeleine blieb zu Hause: Kirchhöfe waren ihr unerträglich. Onkel Nicolas saß in seinem dunklen Marderpelz da, und die Jungen saßen neben ihm und durften die Kränze halten. Schnell flog der Schlitten durch den Park und bog dann in die lange, dunkle Tannenallee zum Kapellenberg ein. An der Pforte stiegen sie aus und stapften auf dem frisch gekehrten Fußweg die Anhöhe hinauf. Oben stand die Kapelle, ein niedriges, weißes Gebäude mit zwei kleinen Anbauten zu beiden Seiten: links hausten die Kirchhofsweiberchen, uralte, verhutzelte Wesen, die den Kapellenberg in Ordnung hielten, und rechts war die Kammer, in der der Großvater als Einsiedler gelebt hatte und gestorben war. Vor einem mit frischen Tannenzweigen bedeckten Grabhügel blieb Onkel Nicolas stehen, zog die Pelzmütze vom Kopf, legte die Kränze nebeneinander auf das Grab und kniete sich in den tiefen Schnee. Boris und Aurel knieten neben ihm hin. Der Schnee flimmerte in der Sonne, weiß lagen die Rosen auf dem grünen Hügel. Vom schwarzen Marmorkreuz tropfte es
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auf den Sockel. Aus der Tiefe, vom Park herauf, drang das gluckernde Rauschen des schnellfließenden Baches, der nie zufror. Irgendwo in den nackten Büschen wisperten Meisen.
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Das Geheimnis Es taute, die Wege wurden immer schlechter. Der See war noch zugefroren, aber durch Spalten und Löcher drang gelbes Schmelzwasser an die Oberfläche und überschwemmte das Eis. Die vielen Gäste waren fortgefahren, auch Laura und Nena, die lustigen italienischen Cousinen; es war ein wenig still geworden im großen Haus. Und wenn auch Mädchen eigentlich nichts sind, so vermißte Aurel doch seine schwarze, schmale Nena, die ihm beim Abschied einen Kuß gegeben hatte, einen richtigen Kuß auf die Wange. Nein, er hatte sie nicht geküßt, es war zu schnell, zu überraschend gekommen. Aber noch lange spürte er den festen Druck ihres Mundes, den guten Geruch ihrer kühlen Haut. Und noch lange hörte er ihr übermütiges Lachen, sah er ihre braunen, länglichen Hände, die ganz so schnell durch die Luft hüpften wie die von Tante Madeleine. Es war still, aber doch nicht ganz still geworden. Da waren Isa, Maurissa und Warinka – die allein füllten eigentlich schon das ganze Haus mit ihren hellen Stimmen, ihrem sorglosen Summen, ihrem vergnügten, nach innen gekehrten Lachen, das selten laut, aber doch immer irgendwo in der Luft war. Da war Mademoiselle, bei der Aurel aus einem französischen Buch „Petit á petit“ komische Worte lesen und immer anders aussprechen mußte, als sie geschrieben waren. Da war Miß Mabel, mit der er sich auf englisch unterhalten sollte, und das war noch schwieriger; aber er saß doch ganz gern neben ihr auf dem Sofa, sagte „please“ und knabberte englische Biskuits. Da war Fräulein Kleeberg, mit der braunen Warze auf dem Kinn, bei der er Luthers Kleinen Katechismus auswendig lernen sollte – aber immer vergaß er irgendeine Eigenschaft von Gott, und was der Heilige Geist war, konnte er gar nicht begreifen.
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„Ist das die Frau vom lieben Gott?“ fragte er ratlos. „Nein, Gott hat keine Frau“, erklärte Fräulein Kleeberg streng. „Aber wie kann er dann einen Sohn haben?“ „Christi Mutter war doch Maria“; meinte Fräulein Kleeberg vorwurfsvoll. „Aber Marias Mann war doch Joseph und nicht der liebe Gott!“ Aurel zerbrach sich den Kopf, „Ja, aber da kam der Heilige Geist zu Maria …“ Immer dieser Heilige Geist! Und was das Schlimmste war, man mußte auch an ihn glauben; da stand es fettgedruckt: „Ich glaube an den Heiligen Geist, eine heilige christliche Kirche, die Gemeinschaft der Heiligen …“ „Nein, an den Heiligen Geist glaube ich nicht!“ erklärte Aurel bestimmt. „Dann bist du ein Heide“, seufzte Fräulein Kleeberg bekümmert „Aber ich glaube doch an Gott!“ „Das ist zu wenig. Du mußt an alle drei glauben: Vater, Sohn und Heiligen Geist!“ Aurel mußte immer wieder die braune Warze auf ihrem Kinn betrachten: ein paar Härchen wuchsen darauf. Diese Warze quälte ihn ebenso wie der Heilige Geist; und ebenso wie der Heilige Geist war sie dunkel, unbegreiflich und völlig überflüssig. Wieviel schöner waren die Stunden bei Herrn Bjelinski. Auch Herr Bjelinski sprach von Gott, aber dieser Gott war viel einfacher und leichter zu begreifen, da waren keine Geheimnisse und Rätsel. Gott war Mensch geworden, und jeder Mensch trägt ein kleines Stück von Gott in sich, das wachsen oder verderben kann, genau so, wie eine Blume wächst, wenn man sie begießt, oder verwelkt, wenn man sie vertrocknen läßt. Wir sollen das Göttliche in uns pflegen und zum Blühen in uns
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bringen, das kann man aber nur, wenn man es von allem Staub und Schmutz rein hält, von allem Bösem, allen Sünden bewahrt. Wir sollen Gott, das Gute lieben und alles Schlechte in uns bekämpfen, damit wir immer mehr wie Gott werden. Und wie Christus für alle Menschen am Kreuz gestorben ist, so sollen die Menschen für Gott sterben, ihm alles opfern und ihm nachfolgen. „Und warum mußte Christus für die Menschen sterben?“ fragte Aurel. „Damit wir vom Bösen erlöst werden“, sagte Herr Bjelinski, und seine schwarzen Augen bekamen ein Leuchten. „Ist Christus auch für mich gestorben?“ forschte Aurel. „Ja, auch für dich“, sagte Herr Bjelinski eindringlich, „damit du von allem Schlechten erlöst wirst!“ Aurel überlegte: wenn er mit Boris heimlich in der alten Kleescheune die Pfeife rauchte – war das schlecht, war das Sünde? Ein wenig übel wurde ihm allerdings dabei, aber Boris meinte, daran müßte man sich gewöhnen. Auch er wurde grün im Gesicht, rauchte aber tapfer die Pfeife zu Ende. Und da konnte Aurel ihn doch nicht im Stich lassen. Außerdem war dieses Pfeifenrauchen ihr einziges Geheimnis, seitdem sie auf dem überschwemmten Eis nicht mehr zur Höhle auf die Insel konnten. Und irgendein Geheimnis mußten sie doch haben. Außer dem Heiligen Geist und Gottes Tod am Kreuz gab es noch viele Rätsel und unbegreifliche Dinge. Zum Beispiel: wie war man auf die Welt gekommen? „Der Storch ist natürlich ein albernes Märchen“, meinte Boris, und auch Aurel hatte nie richtig an ihn geglaubt. Aber irgendwie und irgendwoher muß man doch kommen – man kann doch nicht einfach plötzlich da sein! „Bei den Kühen kommt das Kalb hinten am Schwanz heraus“, erklärte Boris, „ich habe es einmal ganz deutlich gesehen, allerdings nur den Kopf – dann wurde ich
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fortgeschickt. Und vorher war die Kuh sehr dick.“ „Aber bei den Menschen –“ warf Aurel mit leisem Zweifel ein, „die haben doch keinen Schwanz, und wie soll man da hinten …“ „Vielleicht ist es bei den Menschen anders“, meinte Boris nachdenklich, „hast du etwas bei der Jewa bemerkt?“ „Bei Jewa?“ „Ja, bei Jewa, die den Karel heiraten wird!“ Aurel grübelte. Dann sagte er: „Aber die ist doch noch gar nicht verheiratet!“ Boris sog an der Pfeife und fuhr dann fort: „Sicher wird sie aber ein Kind bekommen. Sie ist schon ganz so dick wie die Kuh. Besieh dir doch ihre Brust: immer mehr schwillt sie da oben auf. Und weißt du, was ich glaube: die Kinder kommen aus der Brust!“ Aurel nahm die Pfeife aus dem Munde, ihm war sehr übel geworden, aber er wollte es nicht zeigen. „Aus der Brust?“ „Ja, aus der Brust! Ein dicker Bauch ist nichts Besonderes – den haben die Männer auch und bekommen doch keine Kinder. Der dicke Igelströhm wird nie ein Kind bekommen. Aber eine dicke Brust haben nur Frauen!“ Aurel wurde es immer schlechter. Er führte die Pfeife nur noch an den Mund, ohne zu rauchen. Angestrengt dachte er nach. Dann sagte er: „Und wenn die Kinder aus der Brust kommen – wie kommen sie dann vorher dort hinein?“ Auf diese Frage konnte auch Boris keine Antwort geben. Als aber die Jungen ein paar Tage später beim Stall vorbeikamen, sahen sie etwas sehr Merkwürdiges, was zuerst komisch und dann furchtbar und beängstigend aussah: Juckum, der schwarze Hengst, stieg auf die braune Stute Maiga und beide Pferdeleiber zitterten und bebten. Die Jungen standen ganz erschrocken da
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und sprachen kein Wort. Dann gingen sie stumm ins Haus. Mischka war wieder lange nicht gekommen; an einem Nachmittag machte sich Herr Bjelinski mit den Jungen auf den Weg nach Brjeschepur. Grauer Schneebrei lag noch in den Gräben und Furchen, aber die schwarzen Ackerkämme wölbten sich schon nackt in den wehenden Frühlingshimmel. Wie frisch gewaschen standen die Birken blank und weiß in der Sonne. Mischka und Herr Bjelinski setzten sich zum Schachspiel hin, und die Jungen trieben sich draußen herum. Aber das Fenster war offen, und als Aurel mit einem Stock von der Pfütze zum Graben einen Kanal grub – Boris suchte eine Schaufel – hörte er ihre Stimmen, „Nein, nein, das kann ich nicht!“ rief Mischka erregt, „Ich kann nicht kommen und dasitzen, als wäre nichts geschehen.“ „Sie müssen das nicht so tragisch nehmen“, versuchte Herr Bjelinski ihn zu beruhigen. „Was ist denn geschehen? Nichts! Diese Dinge sind doch nicht so wichtig!“ „Aber für mich sind sie wichtig!“ Mischka schrie beinah, man hörte ihn auf und ab gehen, und immer, wenn er am offenen Fenster vorbei kam, drangen ein paar Worte bis zu Aurel. „Sie darf nicht mit mir spielen … kein Hund, den man verprügelt, und der dann bitte, bitte macht … aber es ist wohl auch besser so … sie hat ganz recht, nur hätte sie es mir früher sagen sollen … bald wird man mich ja doch wieder einsperren …“ Dann wurde das Fenster geschlossen. Als sie wieder nach Hause gingen, begleitete Mischka sie bis zum Birkenwäldchen; am alten, schiefen Werstpfosten blieb er stehen. „Kommen Sie doch mit!“ bat Herr Bjelinski und hielt seine Hand. „Nein, es geht wirklich nicht“, sagte Mischka, strich über die Köpfe der Jungen; „Ihr denkt doch manchmal an mich?“ und kehrte schnell um.
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Wie traurig seine Augen waren, und wie traurig er aussah, als er so allein am Grabenrand heimging. Der große Kopf lag ein wenig schief auf den Schultern, als wäre er zu schwer für diesen kleinen Körper. Aurel grübelte angestrengt: wer hatte mit ihm gespielt? Wer wird ihn bald wieder einsperren? Warum kam er nicht mit? Es gab so viele Rätsel, so viele Geheimnisse: Jewa, die wirklich eine ganz dicke Brust bekam, Juckum und Maiga, der Heilige Geist und jetzt Mischka. Und dann, einmal am Kapellenberg, als die Jungen dort in den Pfützen herumstocherten und Kanäle gruben, war Mischka plötzlich aus der Kirchhofspforte herausgekommen, ohne Hut, mit einem ganz weißen Gesicht. „Kannst du mich ein Stückchen begleiten?“ fragte er Aurel. Und als sie beide um die Tannen gebogen waren, blieb Mischka stehen: „Kann ich mich auf dich verlassen, willst du mein kleiner Freund sein und niemand etwas davon sagen?“ Aurel nickte mit dem Kopf. „Dann gib Isa diesen Brief, aber so, daß niemand es sieht! Versprichst du es mir?“ Aurel versprach es und steckte den Brief vorn in die blaue Matrosenbluse. Wieder ein Geheimnis. Was mag in diesem Brief drin stehen? Aurel war stolz auf das Vertrauen, das Mischka ihm schenkte. Aber es war nicht leicht, den Brief Isa abzugeben: Immer war jemand bei ihr, überall lauerte er ihr auf, endlich erwischte er sie auf der Treppe. Sie machte ein sehr verdutztes Gesicht. Dann sprang sie lachend die Stufen hinunter. Aber bei Tisch blickte sie ihn so merkwürdig an, ganz ernst, beinahe traurig. Und zum erstenmal sah Aurel, wie schön sie war, fast so schön wie Tante Madeleine. „Komm“, sagte Isa kurz und leise, als sie aufstanden. Er folgte mit klopfendem Herzen. Im Treppenflur blieb sie stehen,
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sah sich hastig um. „Schnell“, flüsterte sie und öffnete die Tür zum Wintergarten. Wie warm und feucht war es hier. Der kleine Springbrunnen plätscherte. Isa setzte sich in einen Korbstuhl, zog den Jungen auf ihren Schoß – noch nie war sie ihm so nahe gewesen –’ sprach heftig, stoßweise auf ihn ein: „Lauf gleich zu Mischka, hörst du, gleich, sag ihm, daß er kommen soll, gleich kommen, hörst du, gleich! Daß ich ihn sprechen muß, unbedingt, verstehst du? Daß er sich irrt, daß ich niemals … Nein, sag ihm einfach: ich bitte um Verzeihung, hörst du? Nichts weiter: Um Verzeihung; er darf nicht böse sein, er muß kommen, wenn er mich noch ein ganz klein wenig lieb hat …“ Aurel hört und hört, aber nicht die abgerissenen Worte, die in so heftigen Stößen auf ihn eindringen, sondern viel tiefer etwas Dunkles, Heißes, Geheimnisvolles, das er nicht begreift. „Sieh mich nicht so dumm an – hörst du mich überhaupt?“ Isa schüttelte seine Schultern. Aurel nickte mit dem Kopf. Er konnte nicht sprechen. „Dann lauf!“ Und er lief und lief. Bäume, Pfützen, der alte Werstpfosten flogen an ihm vorüber, Wind fegte ihm ins Gesicht, warmer, zärtlicher Wind, und im Herzen trug er ein großes Geheimnis: wie einen Brief, den er noch nicht öffnen, wie Worte, die er noch nicht verstehen konnte, die aber doch, verschlossen und dunkel, tief in ihm weiterbrannten. „Um Verzeihung, und ich soll kommen?“ wiederholte Mischka und sprang vom Schaukelstuhl auf. „Marc Aurel, mein junger Freund, das hast du gut gemacht!“ Und dann kam er mit. Auf dem ganzen Weg sang er ein komisches Lied, fuchtelte mit den Armen und warf den großen Kopf in den Nacken: „Ich schoß den Hirsch im wilden Forst, im tiefen Wald das Reh, den Adler auf der Klippe Horst, die Enten auf dem See.
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Kein Wild, das mir entgehen kann, wo meine Büchse zielt! Und dennoch hab ich starker Mann die Liebe auch gefühlt!“ Mischka war wirklich ein wenig verrückt, und als sie später mit den Cousinen im Park herumtollten, schrie er plötzlich: „Habt ihr eine Wasserleiche gesehen?“ Und er packte Maurissa und Warinka am Arm, rannte mit ihnen zum See, warf sich aufs Ufer und verzog sein Gesicht zu einer grauenhaften Fratze, daß die Mädchen schreiend davonliefen. Mit Isa ging er ein Stückchen allein. Als sie zurückkamen, versuchte Mischka ein lustiges Gesicht zu machen. Aber seine Augen hinter den Brillengläsern blieben ernst und traurig. Auch die Cousinen waren etwas verrückt: lachten, tuschelten miteinander, waren voller Geheimnisse. Und auch Boris und Aurel hatten ein neues Geheimnis: in der Kleescheune gruben sie tiefe Löcher und heimliche Gänge in das feste trockene Heu, einen richtigen Fuchsbau, in dem sie sich verkriechen und verstecken konnten. Aber Maurissa und Warinka stöberten sie dort auf, und nun buddelten sie alle vier im dürren, staubigen Klee – Haare, Augen, Ohren und Nase voll winziger, kitzliger Halme, daß man kaum atmen konnte; überall juckte und prickelte die Haut. Im Fuchsbau drinnen war es ganz dunkel. Jeder bohrte und rupfte an einem anderen Loch. Plötzlich berührten sich zwei Hände: Warinka und Aurel waren von verschiedenen Seiten aufeinander gestoßen. Mit glühenden Wangen lag er da. Und Warinka lag dicht vor ihm. Heiß und keuchend wehte ihr Atem in sein Gesicht. „Wir wollen ganz still sein“, flüsterte Warinka, „ob uns die andern finden?“ „Ja, ganz still“, flüsterte Aurel und rührte sich nicht. Er lag,
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das Kinn auf die Fäuste gepreßt, und starrte in die Finsternis. Aber er konnte Warinkas Gesicht nicht sehen. Das Heu knisterte, die dürren, harten Halme stichelten und stachen, der Kleestaub kratzte im Halse. Er mußte husten. „Pst“, sagte Warinka; er fühlte ihre Finger auf den trockenen Lippen. Das Herz hämmerte. Er drückte das Gesicht in das Heu und glaubte zu ersticken. Wie süß und betäubend roch der getrocknete Klee. Dann drangen die Stimmen der andern zu ihnen, jemand zog Aurel an den Beinen, sie krochen hinaus ins Helle, hart wie eine Faust schlug das grelle Licht in die geblendeten Augen. Aber das quälende und lockende Geheimnis der Dunkelheit ließ ihn nicht mehr in Ruhe. Überall geschahen rätselhafte Dinge; ein wütender Hahn raste hinter einer Henne her, riß sie zu Boden und trampelte mit gesträubten Federn auf ihrem Rücken herum. Zwei Jagdhunde hingen wie angewachsen zusammen und konnten nicht auseinander. Krischian, der Sohn des Viehpflegers, stand daneben. „Hundehochzeit!“ sagte er und grinste. Die Luft war warm und prickelnd, an den Grabenrändern kamen schon winzige grüne Gräser heraus, der Bach im Park rauschte. Aber dann, in einer Nacht, schlug der Wind um. Eisiger, trockener Oststurm kam aus der sibirischen Tundra, fegte über die endlosen Krüppelkiefer-Moore und ließ noch einmal Erde und Wasser erstarren. Der See fror zu, und die schon aufgeweichten Wege wurden steinhart. „Steifdreck“, lachte Onkel Arnold, der auf seiner Brettdroschke angerattert kam, um Birkhähne zu schießen. „Dagegen gibt’s nur ein Mittel: drei Schnäpse vor der Fahrt, bei jedem Werstpfosten wieder einen Schnaps, und drei Schnäpse, wenn man angekommen ist! Sonst wird man zu Tode gerüttelt! Aber bei dieser Kälte werden die Biester ja gar nicht balzen!“
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„Was ist balzen?“ fragte Aurel. „Balzen?“ Onkel Arnold lachte über das ganze Gesicht. „Das habt ihr wohl noch nicht bei Herrn Bjelinski gelernt! Balzen – das ist so eine Frühlingskrankheit, ein Liebesrappel, wenn die Hähne miteinander kämpfen!“ „Und warum kämpfen sie?“ „Weil jeder eine Henne haben will! Bei den Menschen ist es nicht viel anders! Nun, Karel –“, wandte er sich an den Diener, der den Koffer hereintrug, „wann geht denn bei dir die Balz los?“ „Zu Ostern, Großherr, zu Ostern – das ist für alte Hähne immer die beste Zeit!“ schmunzelte Karel. „Na, na, Karel“ – Onkel Arnold klopfte ihm auf die Schulter. „Manche Hähne balzen auch schon im Herbst!“ dann lachte er schallend. Jewas Brust wurde immer dicker und dicker. Ob wirklich das Kind da herauskam? Aber warum hatte Mademoiselle neulich, als sie mit Tante Madeleine über Jewa sprach, immer „quelle honte! quelle honte!“ gesagt? Boris hatte es ganz deutlich gehört. Die Jungen rauchten wieder ihre Pfeifen und zerbrachen sich darüber die Köpfe. Warum ist es eine Schande, wenn man dick wird und ein Kind bekommt? „Vielleicht, weil sie noch nicht verheiratet sind“, meinte Boris. Aurel zog und zog – es wollte nicht recht brennen, dann kratzte der Rauch im Halse, er mußte husten:! „Aber zu Ostern heiraten sie doch!“ Boris spuckte aus: „Und wenn Jewa vorher das Kind bekommt? Ich glaube, die muß bald platzen!“ Aurel wurde es wieder übel: „Aber Mademoiselle wird sicher nie ein Kind kriegen!“ erklärte er düster, „die ist viel zu dünn dazu!“
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Und dann, an einem Sonntagnachmittag – Aurel grübelte gerade über einem Brief, den er der Mutter schreiben wollte, aber es fiel ihm nichts ein –’ kam Boris aufgeregt ins Zimmer gestürzt und rief atemlos: „Ich weiß es!“ „Was denn?“ fragte Aurel und sah vom Briefbogen auf. In diesem Augenblick trat Fräulein Kleeberg ins Zimmer, um nach den Jungen zu sehen. Herr Bjelinski war zu Mischka gegangen. „Komm! Wir gehen noch etwas hinaus!“ erklärte Boris. Aurel stand auf. „Zieht euch aber warm an“, rief ihnen Fräulein Kleeberg ängstlich nach, „es ist sehr windig!“ „Unsinn!“ sagte Boris. „Komm schnell, wir laufen zur Scheune!“ Aber die Scheune war am Sonntag verschlossen. Ein eisiger Wind rüttelte an der Brettertür, die in den Angeln klapperte. „Komm!“ rief Boris, und wieder rannte er voran, die braune Samtmütze schief auf dem Kopf, die Jacke flatterte im Winde. Und Aurel lief hinter ihm her. Jetzt endlich sollte er das große Geheimnis erfahren. Im Park hockte sich Boris an einen Baumstamm, und Aurel kauerte sich neben ihn hin. „Weißt du“, keuchte Boris atemlos, „Krischian hat mir alles erzählt. Karel und Jewa …“ Aber dann stockte er, sah sieh ängstlich nach allen Seiten um und sprang auf: „Komm!“ Und wieder rannten sie auf dem vereisten Weg über die schmale Bretterbrücke, die über den Bach führte, durch das kahle Ellerngestrüpp zum See. Gelblich-grün, blank und glattgefegt lag die Eisfläche da, das Schmelzwasser war gefroren. „Zur Höhle!“ rief Boris, und schon schlitterte er über das Eis,
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und Aurel folgte ihm. Ja, die Höhle, die war der richtige Ort für das große Geheimnis: dort war man in Sicherheit, dort konnte niemand hinkommen, dort war man auch geschützt vor diesem eisigen Wind. Aurel steckte die Fäuste in die Taschen, es war so kalt und glatt, er konnte nicht so schnell laufen. Boris war schon fast an der Insel. Da plötzlich knackte etwas, und gleich darauf krachte das Eis: Boris stand bis zu den Schultern im Wasser. Aurel konnte nicht näher kommen – überall fing es an zu knacken. Boris arbeitete sich durch das Schilf bis zur Insel durch und kroch aufs Ufer. Aber er war quatschnaß und konnte nicht zurück. „Hol Leute!“ schrie er von der Insel herüber. Aurel rannte, was er konnte, aber es dauerte doch einige Zeit, bis Jekab, der Kutscher, und der Gärtner herbeigeeilt kamen, und noch länger, bis sie Boris auf quergelegten Stangen und Brettern aufs feste Eis herüberschafften. Der Junge war schon ganz erfroren und klapperte mit den Zähnen. Die nasse Jacke war zu Eis erstarrt. Nur die braune Samtmütze war trocken geblieben und hing schief ins bläulich bebende Gesicht. Tante Madeleine und Onkel Nicolas waren im Pastorat und kamen erst spät nach Hause. Auch Herr Bjelinski kehrte erst nach dem Abendessen von Mischka zurück. Lim und Fräulein Kleeberg hatten Boris ins Bett gesteckt, ihn warm eingepackt und ihm heißen Himbeertee gegeben. Am nächsten Morgen kam Doktor Spalwing. Boris wurde in Tante Madeleines Schlafzimmer neben den Saal getragen. Aurel hatte allein bei Herrn Bjelinski Stunden. Nach dem Mittag lief er auf dem Hof herum. Wie öde und langweilig war alles geworden. Er sah von weitem Krischian, der beim Viehstall lungerte, kehrte aber schnell um und lief in den Park. Krischian wußte es also, Krischian hatte es Boris gesagt. Aber von Krischian wollte er es nicht erfahren.
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Der Bach gluckerte zwischen Steingeröll und Eisstücken; an einer Stelle lief er unter dem Eis, und weiße Luftblasen schwammen über dem dunklen Wasser. Ganz schnell rannten sie bis zum Strudel, wo der Bach wieder ins Freie trat, und waren verschwunden. Aber immer neue weiße Luftblasen kamen im Zickzack angerannt, manchmal hielt sich eine fest, tanzte ein wenig hin und her, aber dann wurde sie von der Strömung fortgerissen. Aurel ging ins Haus. Alles war so merkwürdig still. Lim lief aufgeregt durch den Saal. Ihr Pferdegesicht war noch länglicher, noch weißer als sonst. Irgendwo flüsterte Fräulein Kleeberg mit Mademoiselle. Als Aurel vorbeiging, verstummten sie und sahen ihn so sonderbar an. Maurissa und Warinka saßen im Petit-Salon bei Miß Mabel und lasen englisch. Tante Madeleine war unsichtbar. Sie kam auch nicht zum Abendessen. Bei Tisch sprach fast niemand ein Wort. Dann öffnete Karel plötzlich die Tür und sagte: „Der Doktor!“ Onkel Nicolas stand schnell auf. Er warf die Serviette auf den Tisch, aber sie fiel auf den Fußboden. Am nächsten Tag war es noch schlimmer. Die Stunden krochen und nahmen überhaupt kein Ende. Aurel sollte ein Extemporale schreiben, aber ihm fielen auch die einfachsten lateinischen Worte nicht ein. Herr Bjelinski ging im Zimmer auf und ab. Dann und wann blieb er am Fenster stehen und zupfte an seinem schwarzen Fransenbart. Plötzlich klopfte es, Jekab steckte den Kopf zur Tür herein, Herr Bjelinski möchte gleich herunterkommen. Aurel saß allein da und starrte auf das weiße Papier. Er steckte die Feder ins Tintenfaß, aber die Feder wollte nicht schreiben. Er grübelte und grübelte, die lateinischen Worte tanzten durcheinander – panis, piscis, crinis, finis, ignis, lapis, pulvis, cinis … – – dann sah er wieder die dicke Jewa, hörte Onkel Arnolds schallendes Lachen: „Manche Hähne balzen schon im Herbst!“ Sah, wie Juckum auf Maiga gestiegen war
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… ante, apud, ad, adversus … Und dann wanderten die Augen wieder zum Fenster, zu den Bäumen auf dem Kapellenberg, die so kahl und schwarz gegen den grauen Himmel standen. Als Herr Bjelinski wiederkam, war sein Gesicht so weiß wie die Kalkwand. „Wir haben heute keine Stunde mehr“, sagte er tonlos. „Aber wir wollen für Boris beten. Es geht ihm schlecht, sehr schlecht, Lungenentzündung mit hohem Fieber. Aber noch können wir hoffen, bei Gott ist nichts unmöglich. Er kann auch ein Wunder vollbringen. Wenn wir nur fest an ihn glauben. Es kommt auf unseren Glauben an, der Glaube kann Berge versetzen: das ist keine Redensart, das ist wirklich und wörtlich so. Wenn wir den Glauben hätten, wie Christus ihn gehabt hat, könnten wir auch Wunder tun. Beten ist nicht betteln: gib uns dies, gib uns das, mach Boris wieder gesund. Beten ist: Dein Wille geschehe, nicht meiner – dein Wille. Wenn wir beten, müssen wir in Gott hineinwachsen, so von Gottes Willen erfüllt sein, daß wir nur noch wie ein Stück von ihm sind; wir müssen nicht nur uns selbst, sondern auch jeden anderen Gedanken vergessen!“ Dann kniete Herr Bjelinski auf dem Fußboden hin, legte die Arme auf den Stuhl und vergrub sein Gesicht in den Händen. Und Aurel kniete neben ihm, vor dem andern Stuhl, faltete die Hände und sprach leise die Worte nach, die Herr Bjelinski sagte: „Vater unser, der du bist im Himmel!“ Zum Schluß betete er noch lange wortlos, Aurel horte nur ein Flüstern und Stöhnen. Eine furchtbare Angst überkam ihn: jetzt durfte er an nichts anders denken als an Gott und Boris, alles, alles kam darauf an, daß er nicht schwach wurde, nicht abließ, daß er ganz, ganz fest an Gott glaubte. Aber gerade, wie er das dachte, schoß es plötzlich durch seinen Kopf: wenn Boris stirbt, dann werde ich nie das Geheimnis erfahren … und schon sah er wieder die dicke Jewa, die Pferde, den Hahn – er bohrte die Nägel ins Fleisch, biß sich
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in den Daumen, aber wie verzweifelt er sich auch wehrte, die quälenden Bilder kamen immer wieder und gaben ihm keine Ruhe. Er konnte nicht richtig beten – sein Glaube war zu schwach. Als Herr Bjelinski endlich den Kopf hob – wie seine schwarzen Augen im weißen Gesicht leuchteten –’ mußte Aurel zu Boden blicken. Den ganzen Tag drückte er sich mit schlechtem Gewissen herum, konnte niemand ansehen, mit niemand sprechen. Draußen war es nicht besser. Er ging zur Kleescheune, die Tür war offen. Er verkroch sich ins Heu und versuchte zu beten. Aber nichts half: gerade weil er diese furchtbare Angst vor dem anderen hatte, mußte er immer wieder daran denken. Er schloß die Augen, grub den Kopf in den dürren, harten Klee, der ihn ins Gesicht stach – und plötzlich fühlte er ganz nah wie damals Warinkas Atem, ihre Finger an seinem Munde … Als Aurel nach Hause ging, war es dunkel. In allen Fenstern brannte schon Licht. Er stieg die Steinstufen hinauf. Im Treppenflur blieb er stehen. Durch die offenen Türen tönte Musik. Er schlich durch den Blauen Salon und trat in den Saal. Tante Madeleine saß am Flügel und spielte. Aurel konnte ihr Gesicht nicht sehen, nur ihren schmalen Rücken und die Hände, die ruhelos hin und her glitten. Und hinter ihr die Tür zum Schlafzimmer war geschlossen. Lim, Fräulein Kleeberg, Mademoiselle, Miß Mabel, Herr Bjelinski und die Cousinen saßen hier und dort verstreut im weiten Saal. Aurel setzte sich still in eine Ecke. Noch nie hatte er eine solche Musik gehört: es war ein dunkles Strömen und Rauschen ohne Melodie, ein wogendes Meer ohne Ufer. Irgend etwas öffnete sich ihm, und plötzlich fühlte er: jetzt konnte er beten. Aber gerade, wie er heimlich unter dem Tisch die Hände faltete, ging die Flügeltür auf. Onkel Nicolas stand in der
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dunklen Öffnung. Sein Gesicht war weiß und zerstört. Die Töne brachen jäh ab. Tante Madeleine sprang auf. Dann schloß sich die Flügeltür.
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Der Missionar Draußen ist heller Tag, aber im Hause ist alles dunkel wie hinter einem Schleier. In den Kachelofen knacken die Birkenscheite. Aber es ist doch kalt, fast so kalt wie im GrandSalon, dessen Türen geschlossen sind; nur manchmal öffnen sie sich leise und schließen sich gleich wieder. Jekab und Karel tragen Palmen und Blattpflanzen aus dem Wintergarten; die grünen Zweige und Blätter schwanken durch das Haus und verschwinden hinter der Tür. Lim schlurft mit gebücktem Rücken vorbei, ihr längliches Gesicht ist rot geweint, sie hält ein Taschentuch in der Hand. Fräulein Kleeberg schleicht von einem Zimmer ins andere, überall ist sie, und überall flüstert sie. Alle Stimmen, alle Schritte sind wie in Watte eingepackt: man sieht, wie die Menschen sprechen und sich bewegen, aber man hört sie kaum. Als Aurel durch den Korridor ging, sah er durch eine offene Tür Onkel Nicolas und Isa; sie hielten sich in den Armen und schluchzten. Einen Augenblick sahen beide ihn an; er ging schnell weiter, als hätte er dies nicht sehen dürfen. Er war ja weder Sohn noch Bruder; er fühlte sich plötzlich so fremd, so ausgeschlossen, ja, er glaubte, auf allen Gesichtern den stummen Vorwurf zu lesen: Du lebst – warum mußte Boris sterben? Aber das Schlimmste war, er fühlte selbst eine furchtbar quälende Schuld: sein Glaube war zu schwach gewesen, er hatte nicht richtig gebetet. Boris war gestorben, weil er nicht die Kraft gehabt hatte, nur an Gott zu denken, und als er endlich die schrecklichen anderen Bilder und Gedanken los wurde – da war es zu spät. So lange hatte Gott ihm Zeit gegeben, so lange hatte er auf sein Gebet gewartet: einen ganzen Tag. Aber er hatte an die dicke Jewa gedacht, an Krischian, an das Geheimnis. Und
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nun würde er es nie erfahren. Nein, er wollte es auch nicht wissen, nie, nie wissen, was Boris wußte, was ihn zur Höhle und in den Tod getrieben hatte. Da lag sein einziger Freund, so fremd und ernst war sein Gesicht, und so lang und schmal war sein Leib, als wäre er an diesem einen Tag um ein großes Stück gewachsen. Die Knie und die Fußspitzen hoben sich unter dem weißen Laken ab. Die Hände waren auf der Brust gefaltet. Auch die gelben Finger waren länger und schmaler geworden und sahen aus wie die Finger eines Erwachsenen. Aurel wagte es nicht, sie zu berühren. Und auch dies fremde, so veränderte Gesicht faßte er nicht an. Nur ganz leise und nur einen Augenblick legte er die Hand auf die glattgestrichenen Haare. Dann führte Tante Madeleine ihn hinaus. „Du warst sein einziger Freund, sein einziger Bruder“, sagte sie und umarmte ihn fest, „jetzt bist du unser einziger Sohn!“ Und wieder weinte sie lautlos, wie sie die ganze Zeit geweint hatte. Auch Onkel Nicolas umarmte ihn heftig. Aurel fühlte, wie ein stummes Schluchzen den großen Körper schüttelte. Isa legte den Arm um seine Schulter und küßte ihn auf die Wange. Und auch Maurissa und Warinka küßten ihn, und alle Augen waren rot verquollen. Nur er selbst konnte nicht weinen. Mühsam stiegen ein paar Tränen auf, vertrockneten aber gleich. Auch dies quälte ihn sehr: war er denn gar nicht richtig traurig? Fühlte er keinen Schmerz beim Tode seines einzigen Freundes? Wie ein Verbrecher schlich er sich herum: er konnte nicht beten, er konnte nicht weinen. Alle waren gut zu ihm, er allein war schlecht. Wie schlecht, wie herzlos mußte er sein, wenn er jetzt nicht einmal weinen konnte. Am Abend im Bett drückte er verzweifelt das Gesicht in das Kissen, suchte mit aller Gewalt Tränen herauszupressen, die
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Augen brannten wie Feuer – aber das Kissen blieb trocken; keine einzige Träne kam. Dann betete er eigensinnig und verbissen. Immer wieder sagte er das Vaterunser her, bis er überhaupt kein Wort mehr begriff: Dein Reich komme – welches Reich? Dein Wille geschehe – daß Boris gestorben ist? War das wirklich Dein Wille? Und warum, warum hast Du das gewollt? Und vergib uns unsere Schuld – wie kann es meine Schuld sein, wenn Du es gewollt hast? Sondern erlöse uns von allem Übel – vom der dicken Jewa und von allen diesen schrecklichen Dingen … Ich will, ich will, ich will nicht daran denken – aber ich denke doch daran: was hat Krischian gesagt? Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit … welche Herrlichkeit? Die Stunden fielen aus, aber Herr Bjelinski las aus der Bibel vor, und auch die Cousinen und Fräulein Kleeberg hörten zu. Aurel konnte nicht aufpassen. Immer mußte er Fräulein Kleebergs braune Warze anstarren; es fiel ihm ein, daß Boris einmal gesagt hatte: „Da hat sie eine Erbse versteckt!“ Und plötzlich mußte er lachen. Nur mit Mühe konnte er einen Hustenanfall vortäuschen, das Gesicht hinter dem Taschentuch verstecken. Eine Erbse! „Sieh mal genau hin“, hatte Boris kurz vor der Morgenandacht geflüstert: „Siehst du die Härchen? Da wachsen schon neue Erbsen heraus!“ Einmal beim Mittagessen hatte Boris plötzlich Fräulein Kleeberg gefragt: „Lieben Sie Erbsen?“ – „Ja, sehr, wieso?“ – „Aber doch nur die braunen?“ – ’ was für ein komisches, erschrockenes Gesicht hatte sie gemacht! Boris und Aurel fielen fast von den Stühlen. „Was hast du?“ Herr Bjelinski sah streng von der Bibel auf. „Nichts … mir ist nur so schlecht …“ Aurel stürzte mit vorgehaltenem Taschentuch auf den Korridor hinaus und schloß sich im Klosett ein. Hier saß er lange, verzweifelt, und las die von Lim sorgfältig zerschnittenen Fliegenden Blätter; man mußte die
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Kasernenhofblüten und Dackelwitze mühsam zusammenstellen. Bald füllte sich das Haus mit ungezählten Tanten, Onkeln und Nachbarn. Die Orrisferschen, die Katlekalnschen, die Laiskumschen kamen, der Tormasche, der Paykulsche und der alte Mojahnsche, Alle waren ganz schwarz und sehr feierlich, man konnte die Gesichter kaum erkennen. Die Tanten saßen im Petit-Salon, im Blauen Salon, im Musikzimmer, flüsterten und tuschelten. Tante Josephine versicherte immer wieder:“ Auch der Schmerz wird uns von Gott geschickt – wir müssen uns in seinen unerforschlichen Ratschluß fügen!“ Und die anderen Tanten seufzten und nickten mit den Köpfen. Sogar die Koiküllschen Cousinen, Adele und Ameli, waren gekommen, in schwarzen Mantillen, mit hohen Frisuren, roten Nasenspitzen und rauhen Händen. Aber die grauen Pulswärmer hatten sie ausgezogen. „Ganz, als wenn er schläft!“ sagte Adele, als sie vor dem offenen Sarg stand. „Wie wonnige Rosen“, meinte Ameli, „wir konnten leider keine Blumen bringen, weil wir ja kein Treibhaus haben!“ Dann saßen sie steif mit gefrorenen Gesichtern auf dem Sofa. „Aber nur keine Umstände“, sagten sie und tranken unzählige Tassen Kaffee. Auch Onkel Gottlieb kam, mit Marliese, Agathe und Clementine. Er trug einen schwarzen Bratenrock mit viel zu kurzen Ärmeln, und die Weste schloß nicht ganz über der Hose. Mit knarrenden Stiefeln ging er neben dem dicken Igelströhm im Saal auf und ab, der ihm etwas ins Ohr brüllte. „Wa?“ schrie Onkel Gottlieb, blieb stehen und legte die Hand ans Ohr. Der Tormasche brüllte noch lauter. „Blödsinn!“ polterte Onkel Gottlieb ärgerlich. „Man soll nur Angler züchten!“ Als Onkel Oscha aus der Kalesche stieg, liefen ihm die
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Tränen über die Wangen, und als er Tante Madeleine umarmte, schluchzte er wie ein Kind. Noch nie hatte Aurel einen Mann so weinen sehen. Nein, diesmal zog er keine Bonbons aus den Ohren. Als er aber später im Lesezimmer bei den Cousinen saß, mußte er gruselige Geschichten erzählen, von Bärenjagden, und wie der Elch auf ihn losgegangen war. „Der eine Treiber“, erzählte er und strich die weißen Bartspitzen nach beiden Seiten, „hatte seine blauen Wollhandschuhe vorn auf dem Bauch in den Gürtel gesteckt –’ aber dann, als der Elch ihm den Schlag gab, kamen die Handschuhe hinten am Rücken heraus! Eine solche Kraft haben die Elche in ihren Beinen!“ „Durch den Bauch?“ „Ja, wie denn sonst? Die blauen Handschuhe waren ganz rot geworden!“ Tante Olla kam mitten in der Nacht, niemand hatte sie erwartet. Sie kutschierte sich immer selbst, hatte den Kutscher herausgetrommelt, Pferde und Wagen beim Stall gelassen und war dann durch ein Fenster in das verschlossene, schlafende Haus eingedrungen. Am Morgen fanden die Mädchen sie im Saal auf dem großen Sofa. „Heißen Kaffee!“ kommandierte sie, „und zwei harte Eier!“ Tante Madeleine erschrak. Tante Olla hatte Onkel Nicolas vor einiger Zeit einen sehr groben Brief geschrieben, worauf er ihr das Haus verboten hatte. Onkel Nicolas floh in sein Schreibzimmer. Tante Olla stampfte hinter ihm her. „Wo ist der Brief?“ rief sie. „Was habe ich geschrieben?“ Onkel Nicolas gab ihr stumm den Brief. Einen Augenblick, und er war in tausend Fetzen zerrissen. Und strahlend triumphierte Tante Olla: „Wo ist der Brief? Was habe ich geschrieben?“ Damit war die Sache erledigt. Auch die Mutter war gekommen, aber Aurel konnte nur
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wenig mit ihr allein zusammen sein. Er war froh, daß sie da war, er ging immer neben ihr und hielt ihre Hand, als könnte er sie unter den vielen Tanten verlieren. Aber sprechen konnte er nicht – wie sollte er ihr alles erklären? Auch die Mutter war so still und sah im schwarzen Mantel so fremd aus, als sie neben ihm ging, auf dem mit grünen Tannenzweigen bestreuten Weg zum Kapellenberg. Der hellgelbe Eichensarg mit dem silbernen Kreuz schwankte auf den Schultern der Buschwächter. Isa, Maurissa und Warinka gingen nebeneinander dicht hinter dem Sarg. Dann folgte Tante Madeleine, ganz in schwarze Schleier gehüllt, am Arm von Onkel Nicolas. Nun mußte sie doch auf den Kirchhof, diesen Weg gehen, den sie immer gemieden hatte. Eine mit grünen Fichtenzweigen und schwarzen Fahnen geschmückte Ehrenpforte stand am Eingang der Tannenallee, die zum Kapellenberg hinaufführte. Gerade als der Zug in die Allee einbog, kam die Sonne heraus; das silberne Kreuz auf dem Sarg blitzte. Klagend und langgezogen tönte der Gesang: „Laßt mich gehen, laßt mich gehen, daß ich Jesum möge sehen! Meine Seeľ ist voll Verlangen, ihn auf ewig zu umfangen und vor seinem Thron zu steh'n!" Dann sprach Pastor Nötkens. Sein weißes Haar leuchtete in der Sonne; das rosige glattrasierte Gesicht bewegte sich in heftigen Stößen, die Worte kamen schwer und ruckweise, er preßte sie mit den Händen aus der Brust Wie anders war er jetzt als damals mit der Serviette unter dem Kinn, das Hühnerbein am Mund. Oder als er mit Tante Madeleine tanzte! Noch nie hatte Aurel ihn so gesehen. So müssen die Propheten, so muß Moses gesprochen haben, als er die Gesetzestafeln zerbrach. Wenn man so reden könnte! „Von Erde bist du, und zu Erde
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sollst du werden!“ Eine Schaufel mit Sand wurde herumgereicht. Auch Aurel nahm eine Handvoll und warf sie in die Gruft. Dann schaufelten die Buschwächter. Wie furchtbar es klang, dies Poltern der Erdstücke auf dem Sarg. Und während man das Grab zuschaufelte, wurde gesungen, grell und schrill: „Jerusalem, du hochgebaute Stadt, Wollť Gott, ich war’ in dir …“ Aurel fühlte etwas Brennendes, Stechendes in die Augen schießen – oh, wenn er jetzt weinen könnte! – Alles flimmerte und verschwamm, aber dann sah er plötzlich den schief und komisch aufgerissenen Mund von Karel, er mußte an die dicke Jewa denken, und sein Blick wurde wieder klar. Noch schlimmer war es, als sie ins Haus zurückkehrten. Überall hockten schwarze Tanten, seufzten und flüsterten. Als Aurel durch den Blauen Salon ging, mußte er sich in den Daumen kneifen, um nicht laut herauszuplatzen. Er stellte sich die entsetzten Tantengesichter vor, wenn er jetzt, mitten in dies Getuschel hinein, in ein schallendes Gelächter ausbrechen würde – und dies reizte ihn so, daß er es nur mit Mühe unterdrücken konnte. Nein, richtig traurig war er nicht, er war ohne Herz und Gefühl: sein einziger Freund starb, und er kniff sich in den Daumen, um nicht zu lachen! Und dabei war er selbst schuld, daß Boris gestorben war: hätte er richtig gebetet, statt an die dicke Jewa zu denken, wäre Boris am Leben geblieben. Wie ein verstockter Mörder schlich er umher, konnte mit niemand sprechen, selbst nicht mit der Mutter. Dann wurde das Haus wieder leer; auch die Mutter fuhr fort. Aurel sollte noch bis Pfingsten bleiben. Der Unterricht wurde fortgesetzt, nur der andere Platz am Schultisch und das Bett am Fenster blieben leer. „Es wird vielleicht besser sein, wenn du bei Lim schläfst“,
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meinte Tante Madeleine, und dann zog Aurel hinunter. „Alles soll hier bleiben, wie es war“, sagte Tante Madeleine, ordnete die Sachen von Boris in den Schubfächern der Kommode, strich über die braune Samtmütze, und wieder fing sie an lautlos zu weinen. Dann schloß sie die Tür ab. Endlich wurde es richtig Frühling. Zwischen den Bäumen im Park schimmerte es weiß von blassen Anemonen; hellblaue Leberblümchen und dunkle Veilchen kamen schon heraus, die Birken überzogen sich mit zartgrünen Schleiern. Der Bach polterte und schäumte zwischen den steinigen Ufern. Hier streifte Aurel in der freien Zeit immer herum, hier konnte er laut mit sich selbst sprechen – niemand, nicht einmal seine eigenen Ohren hörten im Lärm des strudelnden Wassers, was er sagte. Manchmal sang er auch die traurigen Beerdigungslieder: „Laßt mich gehen, laßt mich gehen …“ Und dann predigte er sogar wie Pastor Nötkens, stellte sich auf einen großen Stein und preßte mit den Händen die Worte aus der Brust. Ja, er wollte predigen, aber nicht hier, in irgendeiner Kirche vor lauter Menschen, die ja schon Christen waren – nein, er wollte nach Afrika gehen, zu den schwarzen Negern, er wollte die Heiden bekehren. Herr Bjelinski hatte ihm von den Missionaren erzählt, die mitten im Urwalde predigen, ohne Kirche und Kanzel, und wie dann richtige Menschenfresser fromme Christen geworden sind. Ja, er hatte ihm sogar ein Missionsblatt verschafft, das „Hosianna“ hieß – kleine grüne Hefte, die alle zwei Wochen für ihn ankamen. In diesen Blättern konnte man von vielen wunderbaren Bekehrungen lesen, von der Tapferkeit und Ausdauer der Männer, die mit dem Kreuz in der Hand furchtlos durch die von Löwen, Tigern und Schlangen wimmelnden Urwälder schritten. Gerade weil Aurel sich schlecht und verworfen fühlte, mußte er seine Schuld durch etwas Großes, Tapferes wieder
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gutmachen, und dieses Große mußte er nur für Gott tun. Auch die Ritter und Kreuzfahrer hätten für Gott gekämpft, als sie dies Land eroberten, aber nun waren ja die Letten schon lange Christen, und die Ritter waren tot – da konnte man nur noch Missionar werden. „Du willst also die Heiden bekehren?“ hatte Herr Bjelinski gelächelt. „Aber dann brauchst du gar nicht nach Afrika zu gehen!“ „Gibt es denn hier auch Schwarze?“ fragte Aurel. „Nicht schwarze, aber weiße Heiden“, sagte Herr Bjelinski. Aurel überlegte. „Nein, hier gibt es schon genug Pastoren“, meinte er dann, „und auf der Kanzel predigen, da ist ja nichts dabei, da kann einem nichts passieren. Ich will in den Urwald, wo es Löwen, Schlängen und Menschenfresser gibt, und die richtigen Heiden bekehren!“ „Du bist ja auch ein kleiner Heidenkamp, das heißt Heidenkämpfer!“ lächelte Herr Bjelinski – und zum ersten Male wurde Aurel sich der Bedeutung seines Namens bewußt: Heidenkämpfer waren seine Vorfahren gewesen, die mit Kreuz und Schwert über das weite Meer gekommen waren, um Livland für Gott zu erobern. Und so wollte auch er für Gott kämpfen, wenn auch nur mit dem Kreuz. Aber vorher mußte er sich natürlich im Predigen üben. Er hatte sich nur das eine gemerkt: wenn Pastor Nötkens in der Kirche predigte, sagte er immer: „Erstens, zweitens, drittens.“ Eine richtige Predigt mußte also drei Teile haben, und diese drei Teile waren nicht so leicht zu finden. Aurel schrieb aus dem Missionsblatt „Hosianna“ Sprüche ab, und wenn er sie in drei Sätze teilen konnte, war die Predigt eigentlich schon fertig: alles andere fiel ihm dann von selbst ein. Den Zettel mit den Sprüchen steckte er sich in den Ärmel, so daß er immer heimlich nachschauen konnte, wenn er einen Satz vergaß. Dann
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stellte er sich auf den Stein und fing an laut zu predigen. „Aber Aurel, was machst du denn hier?“ hört er plötzlich Isa hinter sich lachen. „Ich? Nichts …“ stottert er verlegen und kriecht vom Stein herunter. Er ist ganz rot geworden. Ob sie seine Predigt gehört hat? „Aber warum fuchtelst du so mit den Händen in der Luft herum? Du sahst ganz wie Pastor Nötkens aus! Hast du gesungen?“ „Ich? Nein … Ich kann gar nicht singen“, stammelt Aurel und beugt sich tief über das Wasser, als hätte er dort etwas sehr Merkwürdiges entdeckt: „Sieh..“ „Was ist denn da?“ „Ich glaube, es war ein Fisch.“ „Ein Fisch?“ „Ja, irgend etwas zappelte dort zwischen den Steinen!“ „Komm doch und hilf mir Anemonen pflücken, Maurissa und Warinka kommen auch gleich.“ Dann pflückten sie Anemonen, einen ganzen Korb voll. Und den brachten sie auf den Kapellenberg. Die Kirchhofweiberchen schleppten große Tonkrüge herbei. Der schmale Hügel versank ganz unter den weißen Blütenbergen. Sie saßen auf der Bank in der Sonne, Aurel auf dem äußersten Ende, und baumelten mit den Beinen. „Du fällst herunter!“ rief Isa und griff nach seinem Arm. „Aber was hast du denn da?“ Der Zettel mit den Sprüchen schaute unter dem Ärmel hervor, und ehe Aurel es verhindern konnte, hatte Isa ihn herausgezogen. Aurel war aufgesprungen, sein Gesicht war dunkelrot: „Du gibst es sofort!“ schrie er und packte ihren Arm. Aber Warinka hatte den Zettel schon an sich gerissen – die Cousinen lachten –’ immer hielt eine ihn fest, und wenn er zur nächsten stürzte, waren die Sprüche schon bei der dritten. Und jede las
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mit lautem Gelächter ein paar Worte vor. Endlich hatte Aurel den zerfetzten Zettel wieder; er zerriß ihn in kleine Stücke und lief wütend fort. Nein, Mädchen sind nichts, man konnte sich nicht mit ihnen abgeben. Und nun war er ganz allein, der einzige Freund war tot. Ein grenzenloses Mitleid mit sich selbst überkam ihn, wie er so allein durch den Park ging, am Bach entlang. Dort waren noch die Überreste der Brücke zu sehen, die er mit Boris im Herbst gebaut hatte. Er erinnerte sich noch genau daran, wie Boris diesen blanken braunroten Stein herschleppte: „Der wird ein gutes Fundament sein“, hatte er gesagt, und nun war auch dieses Fundament beinah fortgespült. Nein, diesen Stein mußte er aufbewahren zur ewigen Erinnerung an Boris, und niemand durfte davon etwas wissen – aber wo? Aurel packte den flachen Stein mit beiden Händen und trug ihn vor sich her. Nirgends konnte er ein richtiges Versteck entdecken. So kam er an den See, das grüne Boot lag angekettet am Steg. Jetzt wußte er, wohin er den Stein bringen konnte, wo niemand ihn finden würde: zur Höhle. Er legte ihn in das Boot, löste die Kette und stieß mit dem Ruder vom Steg ab. Blank und unbewegt spiegelte das Wasser den hellblauen Himmel, weiße, durchsichtige Wolkenfasern und die dunklen Tannen der Insel. An dieser Stelle war es gewesen, hier zwischen dem gelben Schilf. Wie deutlich sah Aurel alles wieder: die im Wind flatternde Jacke, die braune Samtmütze schief auf dem Kopf. Und nun fuhr er allein zur Höhle, von der niemand etwas wußte und von der nie jemand etwas erfahren würde: niemand wird er dies Geheimnis verraten und niemals wieder einen Freund haben wie Boris. Mühsam schleppte er den Stein durch das kahle Gestrüpp, trug ihn die Anhöhe hinauf, sah sich nach allen Seiten um und kletterte, das schwere Andenken immer vorsichtig vor sich hinschiebend, auf den schrägen Eichenstumpf. Dann warf er den Stein in die Höhle und ließ
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sich selbst hinabgleiten. Da standen noch immer die beiden Speere; er befühlte sie, rührte sie aber nicht von der Stelle: wie Boris sie zuletzt hingestellt hatte, so sollten sie stehenbleiben bis ans Ende der Welt. Den roten, flachen Stein richtete er schräg wie eine Tafel zwischen den beiden Speeren auf. Nun hatte er seinem toten Freund ein Denkmal gesetzt, ein heimliches Denkmal, von dem kein Mensch auf der ganzen Welt etwas wußte und je etwas erfahren würde. Aber ein richtiges Denkmal muß man einweihen – irgend etwas mußte er jetzt tun. Er konnte nicht einfach so dasitzen und gleich wieder fortgehen, als wäre nichts geschehen. Aurel überlegte. Er kniete sich hin, faltete die Hände und fing leise an zu brummen: „Laßt mich gehen, laßt mich gehen, daß ich Jesum möge sehen …“ Dann stand er auf und fing an zu predigen, wie Pastor Nötkens gepredigt hatte. Zuerst ging es schwer, aber dann kam er immer mehr ins Feuer; er berauschte sich an den dunklen Worten, der eigenen Stimme, an der großen Feierlichkeit dieser Rede zum Gedächtnis seines toten Freundes. Er gelobte Boris ewige Freundschaft, Treue bis in den Tod: „Nie, nie werde ich dich vergessen, nie einen anderen Freund haben als dich. Und wie unsere Speere ewig zusammenstehen werden neben diesem Stein …“ Seine Stimme bebte, er stockte, vor Rührung konnte er nicht weitersprechen. Dann faltete er die Hände und sprach das Vaterunser, Zuletzt sagte er: „Von Erde bist du, und zu Erde sollst du werden. Ich aber bin die Auferstehung und das Ewige Leben, spricht der Herr, und wer an mich glaubt, wird leben von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“ Wieder kniete er sich hin und sang schrill: „Jerusalem, du hochgebaute Stadt …“ Dann küßte er den Stein und kletterte hinaus. Jeden Tag wollte er nun herkommen und hier predigen – hier war er vor den Cousinen sicher. Ja, er wollte noch mehr. Er fühlte eine solche Kraft in sich,
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die mit jedem Tag wuchs, daß dies Predigen vor dem toten Stein im toten Baum für den toten Freund ihm nicht genügte. Er verlangte nach einem Wunder, einem lebendigen, sichtbaren Wunder: ich will, daß, wenn ich jetzt in die Allee einbiege, mir ein Fuhrwerk entgegenkommt. Oder: ich will, daß die Krähe dort auf dem Baum rechts über den Weg fliegt. Und wenn sein Wunsch erfüllt wurde, glaubte er an ein Wunder. Aber auch diese Zeichen und Wunder genügten nicht auf die Dauer. Herr Bjelinski hatte gesagt: „Der Glaube kann Berge versetzen!“ Wenn er nur wirklich ganz fest glaubte, müßte es ihm gelingen. Er brauchte sich ja zuerst nur einen kleinen Hügel oder auch nur einen Hümpel auszusuchen. Hinter der Kleescheune war solch ein Erdhaufen: nicht sehr groß, aber auch nicht zu klein, für den Anfang gerade das Richtige. Aurel verkroch sich in dem dürren Klee und betete mit ganzer Kraft. Aber der Erdhaufen rührte sich nicht. Immer wieder versuchte er es, aber sein Glaube war wohl doch noch nicht stark genug: ganz im Innersten zweifelte er ein wenig. Den richtigen Glauben hatte er noch nicht. Als er wieder einmal im Heu betete und den Erdhaufen versetzen wollte, stand Warinka plötzlich in der offenen Tür und rief nach ihm: „Komm doch heraus, ich sah doch, wie du hineingingst!“ Aber er rührte sich nicht. Er lag so versteckt, daß sie ihn von der Tür aus nicht sehen konnte. Sie kam immer näher. Jetzt stand sie dicht vor ihm, berührte fast seine Beine, und dann stolperte sie über seinen Fuß: „Warum antwortest du nicht, und was tust du hier überhaupt?“ „Nichts“, sagte Aurel, griff nach einem Kleehalm und blieb ruhig liegen. „Du bist überhaupt so komisch.“ Warinka setzte sich neben ihn.
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„Ich will nur allein sein.“ Aurel zerbiß den Kleehalm. „Und was tust du, wenn du allein bist?“ „Nichts“, sagte Aurel und spuckte den Halm aus. Warinka stand auf: „Ich wollte dich nur fragen, ob du mitkommen willst, wir gehen zu Mischka.“ „Nein“, sagte Aurel. Und wie gern wäre er mitgegangen! Einen Augenblick blieb Warinka in der Tür stehen. „Dann nicht“, sagte sie und ging. Aurel wollte ihr nachlaufen, aber er schämte sich: jetzt war es zu spät. Und beten konnte er auch nicht mehr. Nun hatten Karel und Jewa geheiratet, und die dicke Jewa hatte ein Kind. Ob es aber wirklich aus der Brust herausgekommen war, blieb zweifelhaft, denn dort oben war sie immer noch so dick, nur der Bauch war dünner geworden. Aber wie kann ein Kind aus dem Bauch herauskommen? Als Aurel endlich aus dem Klee herauskroch und aus der Scheune trat, erschrak er heftig: dort, neben dem Erdhaufen, stand ein Fuhrwerk, und ein Knecht lud die Erde auf. „Fährst du den ganzen Haufen fort?“ fragte Aurel, und seine Stimme zitterte. „Ja, warum nicht den ganzen?“ lachte der Knecht. „Die Erde kommt unter die Jauchegrube beim Viehstall, dort wird sie bis zum Herbst fett wie Mist!“ Dann rollte ein Stück vom Berge fort, und bald wird der Rest folgen. Das Wunder war geschehen, der Berg war wirklich versetzt, aber gerade, als er nicht gebetet hatte! Wenn Warinka nicht gekommen wäre, dann hätte er dieses Wunder vollbracht, immer stören die Mädchen. Aurel fühlte sich tief gekränkt. Es kam ihm so vor, als hätte sich der liebe Gott über ihn lustig gemacht: „Ich brauche gar nicht deinen Glauben, Berge kann ich auch allein versetzen, ich schicke den Knecht mit dem Fuhrwerk – und die Sache ist
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erledigt! Du hast dich ein wenig zu wichtig genommen mit deinem Glauben, bilde dir nur nichts Besonderes ein. Übrigens fliegen auch die Krähen immer so, wie ich es will – misch dich da lieber nicht ein in Dinge, die dich nichts angehen, und laß auch die Berge so stehen, wie ich sie hingesetzt habe. Deinen Glauben kannst du für bessere und nützlichere Dinge anwenden! Und bevor du die Heiden bekehren willst, bekehre dich lieber selbst: mit diesem vielen Beten vor einem toten Stein bist du ja selbst ein kleiner Heide!“ Tief beschämt schlich Aurel nach Hause. Er versuchte nicht mehr Wunder zu verrichten, nachdem der liebe Gott ihm mit dem Erdhaufen zuvorgekommen war! Am nächsten Tag ging Aurel nach Brjeschepur. Mischka saß wie immer in seinem Schaukelstuhl und rauchte die Pfeife. „Marc Aurel“, sagte er, „Marc Aurel, du willst also Missionar werden und die Heiden bekehren? Dann mußt du mit mir anfangen: hier sitzt ein großer Heide und ein sehr kleiner Christ!“ „Glaubst du wirklich nicht an Gott?“ fragte Aurel erschrocken. Mischka klopfte den Pfeifenkopf aus und ging unruhig im Zimmer auf und ab. Er sprach wie zu sich selbst: „Der Christ in mir glaubt, aber der ist klein und schwach“, und dabei schlug er mit der Hand gegen die Brust. – „Aber hier, hier, hier“ – er hämmerte mit der Faust gegen die Stirn –’ „hier sitzt der große Heide, schüttelt den großen Kopf und kann an nichts glauben! Und dieser Heide ist so schwer, daß der kleine Christ ihn kaum noch auf seinen schwachen Schultern tragen kann!“ Er blieb vor Aurel stehen: „Was mache ich, wenn dieser Kopf eines Tages herunterrollt und davonläuft? Dann bleibt nur ein kleiner Christ ohne Kopf übrig, und den sperrt man dann ein, weil man ohne Kopf nicht frei umherlaufen darf. Nur
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geschlachtete Hühner laufen noch ein Stück ohne Kopf herum. Aber dann sind sie auch tot.“ Mischka legte die Hand auf Aurels Schulter: „Wenn du groß bist, Marc Aurel, dann komm her und bekehre mich! Und so lange will ich den Kopf oben behalten! Knochen zusammenreißen, Zähne zusammenbeißen und auf alles, alles … Aber das ist nichts für Missionarsohren!“ Aurel fragte Mischka, ob Heidenkamp wirklich „Heidenkämpfer“ bedeute; aber nun verlor er auch diese schöne Illusion: „Ihr Heidenkamps seid aus Holland eingewandert“, erklärte Mischka, „so wie die Campenhausens, als Herzog Alba die Protestanten verfolgte. Und Kamp heißt dort Feld, du bist also ein Heidefeld, ein noch junger, eben erst urbar gemachter Acker. Bestell ihn gut, Marc Aurel, hol alles heraus, was darinnen liegt! Mach dich selbst urbar – und dann komm und versuch es mit mir! Aber aus einem Brjeschepur, einem Elchmoor, wird wohl nie etwas werden –’ da wachsen nur Krüppelkiefern und Moos darauf, an denen die Elche knabbern, und bald sind die Elche ausgestorben, und dann ist man ganz unnütz da … ganz unnütz da“, wiederholte Mischka leise, wie zu sich selbst, und ging wieder auf und ab. „Ganz unnütz da …“ Auch bei Großtante Ernestine machte Aurel einen Abschiedsbesuch. Die geschnitzten Soldaten von Napoleon blieben im Holzkasten, und die Spieldose wurde nicht aufgezogen. Aber in der von warmer Sonne, Lavendel- und Thymianduft erfüllten Stube war es, als klänge immerwährend eine ganz leise Musik. Großtante Ernestine saß im Rollstuhl am Fenster, das karierte Plaid auf den Knien. Aber ihre Augen im rosigen Gesicht unter der schwarzen Spitzenhaube leuchteten so verklärt, als wären sie schon im Himmel. Sie legte ihre Hand auf Aurels Kopf und sah ihn tief und lange an. „Gott segne dich“, sagte sie leise. Und
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Tante Leocadie schenkte ihm ein großes Schokoladenei „zum Knabbern für unterwegs, damit du nicht verhungerst“! Als Aurel im Korridor an seinem früheren Schlafzimmer vorbeiging, stand die Tür offen. Tante Madeleine legte Wäsche in die Kommode. „Die letzte Wäsche von Boris“, sagte sie und strich mit der Hand über die, Hemden. Da lagen auch die Matrosenbluse, die Jacke, die braune Samtmütze. Jedes Stück nahm sie, glättete es und legte es wieder hin. Dann schob sie die Fächer hinein und schloß die Kommode ab. „Und jetzt verlieren wir auch dich“, sagte Tante Madeleine und zog Aurel in ihre Arme. „Aber du bleibst doch unser kleiner Sohn und wirst uns nicht vergessen!“ „Nie, nie!“ stöhnte Aurel, preßte den Kopf in ihren Schoß und brach in heißes, gewaltsames, erlösendes Schluchzen aus. Dann stand der Wagen vor der Tür, alle winkten ihm nach. Von der Allee aus sah er noch Warinkas schwarzes Kleid auf dem Rasenplatz. Nun verschwand auch das große, weiße Haus hinter den Ahornbäumen. Weit und grün dehnten, hoben und senkten sich“ die jungen Saatfelder in der Sonne. Eine bunte Mandelkrähe saß auf einer Telephonstange, flog auf und setzte sich auf den nächsten Pfosten. Der Kuckuck rief. Die Luft war voll lärmender Lerchen, die unermüdlich auf und nieder stiegen in den hohen pfingstlichen Himmel.
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Der Himmelsbaum Janz biegt unten im Garten eine kräftige Haselnußgerte nieder, rundet das wippende, geschmeidige Holz zu einem Bogen und meint: „Die wird gut sein.“ Dann schneidet er die Gerte ab, krümmt sie, spannt eine Sehne von einem Ende zum andern – und der Flitzbogen ist fertig. Jetzt fehlt nur noch der Pfeil. Janz geht in die Holzscheune, Aurel folgt ihm und trägt stolz den Bogen. Ganz spitz und glatt wird der Pfeil geschnitzt, mit einem ausgekerbten Ende. Wie hoch er fliegt! Weit über die schiefe Stange des Ziehbrunnens, ja sogar über das Schindeldach der Holzscheune hinüber in den Garten. Aurel muß oft lange suchen, bis er den weißen Pf eil zwischen den Kohlköpfen und dem Erbsenspalier findet. Und immer steckt der Pfeil mit der Spitze in der Erde. Aber wie klein ist die Holzscheune geworden! Und auch der Garten. Und der Teich! Man kann mit dem Pfeil einfach über das Wasser hinüberschießen – und früher machten hier die Segelschiffe Weltreisen! Auch der runde Rasenplatz vor dem Haus ist zusammengeschrumpft, und das Haus selbst hat sich geduckt, ist so kurz und niedrig geworden. . Nur die alte Lindenlaube und die Allee sind ebenso hoch geblieben: die sind schon an den Himmel angewachsen und können sich nicht mehr verändern. Auch die Riesenbirken beim Eiskeller sind um keinen Zentimeter kleiner geworden. Aber die Zimmer im Haus, der Saal, der Große Korridor! Früher waren das alles unendliche Räume, und man mußte lange auf dem bunten Dielenläufer wandern, um von einer Schwelle zur andern zu gelangen. Jetzt braucht man nur ein paar Schritte zu tun–und schon ist man im Speisezimmer. Und die Treppe, auf deren glattem Geländer man früher durch
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schwindelnde Welträume hinunterrutschte, ist plötzlich so eng und so niedrig geworden, daß man immer zwei Stufen auf einmal nehmen muß, um überhaupt vorwärtszukommen. Sogar die Mutter, der Vater und die Brüder sind nicht mehr so groß wie früher. Aurel schläft jetzt mit Tof zusammen in einem Zimmer. Tof hat eine richtige Büchse bekommen, er schießt Füchse und Rehböcke ganz wie Bal und Rei und spricht nur noch von „Blattschuß“, „Schweiß“, von „Sechsendern“, „Spießern“ und „Gablern“. „Aber das ist doch Blut“, sagte Aurel verwundert, als Tof ihm im Walde eine „Schweißfährte“ zeigte. „Blut!“ Tof lachte und konnte sich gar nicht beruhigen. „Dann sagst du wohl auch Rehkuh, Rehbeine und Rehhörner?“ Aurel schämte sich tief. Die großen Brüder waren eigentlich immer auf der Jagd, und Herr Paukuli, der neue Hauslehrer, ging immer mit. Er hatte sogar eine eigene Vorstehhündin, die er überallhin mitnahm, von einem Gut aufs andere, wo er gerade unterrichten sollte. Sein Hauptfach war die Jagd, aber daneben trieb er auch Algebra, Griechisch und Geschichte. Jetzt im Sommer wurden allerdings nur Böcke und Enten geschossen, immer wieder wurden auf dem kleinen Herd am Tisch die Schädel mit den Gehörnen ausgekocht und eingehend begutachtet: „Ein kapitaler Bock!“ sagte Bal anerkennend. „Aber nicht so gut beperlt wie der letzte“, meinte Rei kritisch. „Sieh doch nur die Auslage! Und die Endenweite! Und was für Rosen!“ rief Tof begeistert. Er war immer begeistert, immer etwas aufgeregt – die beiden Ältesten nahmen ihn deshalb nicht ganz ernst. Dann wurde sehr genau noch einmal alles durchgesprochen: wo der Bock ausgetreten war, wie Tof sich an ihn
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herangepirscht, wie der Bock witternd den Kopf gehoben und endlich das Blatt gezeigt hatte … Das Blatt? Welches Blatt? grübelte Aurel, aber er wagte nicht zu fragen. „Nur dreißig Schritt war er gerannt“, berichtete Tof eifrig, „wie ein roter Strich – und dann Kopfchen schief!“ „Kopfchen schief“ – das war ihre eigene Sprache, und das hieß soviel wie mausetot. Die alte Waldi, Sagrei und Schamyl lagen im Grase und lauerten auf die Fell- und Bregenstücke, die man vom Rehschädel abkratzte und ihnen zuwarf. Dann schüttete Tof etwas Soda in das kochende Wasser, damit der Schädel ganz weiß wurde. Und wenn das Gehörn noch etwas Bast hatte, mußten die weißen Stangen so lange gewetzt und gebeizt werden, bis sie richtig braun wurden. Der tote Bock wurde mit großem Respekt und sehr viel Sorgfalt behandelt. Jetzt, wo er tot war. Für Aurel war das alles äußerst interessant. Manchmal durfte er sogar mitgehen, mußte aber dann totenstill hinter irgendeinem Busch hocken, wo er von Mücken zerfressen wurde – nicht einmal den Finger durfte er an die Nasenspitze legen. Aber aufregend war es trotzdem, wenn das helle Geläute der Hunde, das „Skrauja“, immer näher kam, die Äste knackten und etwas Rotes über den schmalen Waldheuschlag wechselte. Doch einmal geschah etwas Entsetzliches, was Aurel nie vergessen konnte. Tof hatte in seinem Übereifer eine Ricke geschossen, die schall auf ihn herausgekommen war, während der Bock gejagt wurde. Als Aurel hinzukam, lag die Ricke mit aufgerichtetem Kopf und blanken Augen da, während Mickel, der Buschwächter, aufgeregt neben ihr kniete, als wollte er dem armen Tier helfen. Der Vater und die Brüder standen herum, machten Tof Vorwürfe, der sich zu rechtfertigen suchte. „Aber das Reh lebt ja noch!“ rief Aurel froh und erschrocken
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zugleich: er hatte den klagenden Blick des Tieres aufgefangen. „Ja, aber es wird nicht lange leben“, meinte der Vater, „geh lieber fort!“ Und da geschah das Schreckliche: die Ricke stieß einen Schrei aus, einen durchdringenden Schrei, und erst jetzt bemerkte Aurel, daß der Buschwächter dem Tier ein langes, spitzes Messer in den Hals bohrte, herauszog und immer wieder hineinstach. Und das Reh schrie und schrie … Aurel rannte, was er konnte, und hielt sich die Ohren zu. Aber diesen durchdringenden Schrei hörte er noch lange, auch als er völlig außer Atem nach Hause kam. Dieser Schrei verfolgte ihn noch viele Tage, und wenn die Brüder auf die Jagd gingen, blieb er zu Hause. Nein, Kaleschen im Großen Korridor und das Lehmhaus auf dem Spielplatz baute er nicht mehr. Aber er entdeckte ein kleines Buch mit grünmarmoriertem Einband, Hauffs Märchen, kletterte bei der Lieblingsbank hoch hinauf in eine dichte Linde, wo er sich auf einem Gabelast mit vielen Zweigen, die er quer legte, einen bequemen, wippenden Sitz errichtet und, von niemand gesehen, ungestört lesen konnte. Aber die Geschichte vom „Kleinen Muck“ war so schön, daß er sie Adda vorlesen mußte. Und nun kletterte auch Adda zu ihm hinauf, schaukelte dicht neben ihm auf einem Ast und hörte aufmerksam zu. Oben, zwischen den hellgrünen Blättern und weißen Blütensternen, summten Bienen und Hummeln. Aber auch unter den herunterbaumelnden Beinen war ein immerwährend summendes, brummendes Blätter- und Blütenmeer, das von Schatten gesprenkelt in der Sonne glitzerte, im warmen Sommerwind leise rauschte. Die Erde war tief unten versunken, nur der runde Steintisch vor der Lieblingsbank schimmerte zwischen den Zweigen durch, und über den jungen Eichen lugte der silbergraue Giebel des Hauses. „Hier sind wir beinah im Himmel“, sagte Adda und wippte
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auf ihrem Ast. „Ja, dies ist der Himmelsbaum“, erklärte Aurel. „Aber das ist ein Geheimnis – du darfst es niemand sagen!“ Und mitten im grünen Blättermeer, im hellen Sonnengeflimmer war plötzlich eine dunkle Höhle da, eine schwarze Tanneninsel, ein Kopf mit schiefer, brauner Samtmütze. Nein, Aurel hatte seinen toten Freund nicht vergessen, immer wieder tauchte das Gesicht mit dem dunklen Haarschopf auf, immer wieder sahen ihn diese großen Augen an, als wollten sie ihm noch etwas sagen. Es waren nur kurze Augenblicke, aber sie kamen so heftig, daß dann die ganze Umwelt versank und Aurel das Gefühl hatte, als träume er nur, als würde er gleich wieder in Altschwanensee erwachen. „Was ist mit dir?“ fragte ihn manchmal die Mutter. „Woran denkst du? Willst du nach Altschwanensee? Bist du nicht gern bei uns?“ Und sie sah ihn so traurig, fast vorwurfsvoll an. Aurel konnte nichts sagen. Natürlich war er gern hier bei der Mutter, aber irgend etwas fehlte ihm, er wußte selbst nicht was. Und da er es nicht wußte, nur * dunkel fühlte, suchte er nach einer festen, einzelnen Gestalt für diese verschwommene und verworrene Sehnsucht. Immer deutlicher und bestimmter nahm diese Gestalt das Gesicht von Warinka an. Er schrieb ihr, und auch sie schrieb ihm. Mit steilen, spitzen Buchstaben auf liniertem, hellrosa Briefpapier. Oben in der Ecke und hinten auf dem Umschlag war ein Glückskleeblatt aufgeklebt. Wenn so ein rosa Brief kam, kletterte Aurel immer in den Himmelsbaum hinauf – nur hier konnte er ihn lesen. Und dann war er wirklich im Himmel. „Die Erbse ist noch größer geworden“, schrieb Warinka, „bald wird sie von Fräulein Kleebergs Kinn herunterfallen!“ Aber wovon sollte Aurel ihr berichten? Fömarie, Marja Petrowna und Herrn Paukull – alle die kannte ja Warinka nicht. Wenn Aurel schrieb: „Fömarie hat sich wieder das schwarze
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Gummiband um den Rock gebunden“, oder „Marja Petrowna hat einen Bienenstich auf dem Halse, er ist ganz dick und rot“ – ’ so war es für Warinka eigentlich gar nicht komisch. Und was sollte er sonst schreiben? Aber bald hatte er Stoff genug. Eine junge Elster und eine Krähe waren aus dem Nest gefallen; die großen Brüder hatten sie gefangen, und nun waren sie schon ganz zahm, spazierten und flogen auf der Veranda und in allen Zimmern herum und stellten die unglaublichsten Dinge an: schleppten gemeinsam ein silbernes Buttermesser vom Kaffeetisch fort, Jack (so hieß die Elster) und Hans, die Krähe, zogen an beiden Enden, und wäre Karlomchen nicht rechtzeitig gekommen, hätten sie das Messer über das Geländer geworfen. Der silberne Fingerhut der Mutter verschwand spurlos, und das war schlimm: sie hatte ihn als Braut vom Vater bekommen. Die schwarze Tina verlor ihre dicke Goldbrosche, die sie sich neulich von Schlunski gekauft hatte: Jack und Hans waren in ihr Zimmer geflogen und hatten sich die Brosche sogar aus dem Wattekästchen herausgeholt. Als die Mutter draußen an ihrem Herd wieder die Erdbeeren einkochte, flatterten Jack und Hans immer um sie herum und wollten ihr den großen silbernen Löffel aus der Hand reißen – so gierig und so verrückt nach allem, was blitzt, waren diese beiden Diebe. Und wie sie die Veranda zurichteten: überall spritzten sie ihre weiß-schwarzen Kleckse hin. „Tragt die Biester in den Wald“, befahl der Vater, und Adda und Aurel trugen Jack und Hans tief bekümmert weit in den Wald fort. Als sie aber nach Hause kamen, saßen die beiden schon auf dem Dach der Veranda. Die Krähe stumm in philosophischer Ruhe, aber die Elster spottete laut mit schiefgezogenem Kopf. Nun wurden sie auf eine Fahrt nach Tolkenhof mitgenommen und auf halbem Wege losgelassen. Lange flogen sie hinter der großen Kalesche her, aber der alte Marz peitschte
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die Pferde an, und da blieben sie zurück. Fömarie hatte Aurels Kopf und Hände mit grüner Seife abgewaschen, einen Scheitel gezogen und die Haare glattgestriegelt. Die großen Brüder hatten ihre langhosigen Konfirmationsanzüge an mit steifen Kragen und schwarzen Krawatten. Einmal im Sommer mußte immer dieser feierliche Besuch gemacht werden beim alten Baron Torklus, der eine junge russische Fürstin zur Frau hatte. Ihn sah man fast nie: er lag immer zu Bett, legte Patiencen und trank Portwein. Die Fürstin sprach nur gebrochenes Deutsch, was sehr komisch klang; mit der Mutter unterhielt sie sich immer auf französisch. Sie hatte nur eine kleine Tochter, Sonjetschka, die ganz in Spitzen gekleidet und zierlich wie ein Porzellanpüppchen war. Aber schimpfen konnte sie dafür in allen Sprachen: ihre russische Gouvernante beschimpfte sie auf englisch, die französische Erzieherin auf russisch und die englische Miß abwechselnd auf russisch und französisch. Ein sonderbares Geschöpf, mit dem Adda und Aurel nichts anzufangen wußten. Das einzige Schöne in Tolkenhof war ein viele Quadratkilometer großer Hirschpark, in dem Hunderte von Damhirschen, Edelhirschen, Rehen, ja sogar einige Elche wild und frei umherliefen; an den Futterstellen konnte man die Rudel beobachten. Dieser Hirschpark war eine Marotte vom alten Baron Toklus: lieber ließ er das Vieh in den Ställen hungern, als die Wildfütterung einzuschränken. Der Bevollmächtigte, Herr von Reisbitter, klagte oft dem Vater sein Leid. Aber da war nichts zu ändern. „Mischa muß seine kleine Spaß haben“, seufzte die Fürstin: „Tiere mit krumme Hörner und Flasche mit gute Wein. Und er ist so krank – Mon Dieu, comme il est malade!“ Auf der Rückfahrt kam Jack mit lautem Geschrei auf die Kalesche zugeflogen, und auch der bedächtige Hans flügelte
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mit verzweifelten Stößen hinter dem Wagen her; aber dann blieben Elster und Krähe zurück, immer kleiner wurden die schwarzen Striche – Aurel beugte sich weit hinaus – zwei Punkte – und dann waren die Vogel verschwunden. Jetzt werden sie nie den Weg finden und sich immer nach Blumbergshof zurücksehnen, grübelte Aurel. Warum mußte man immer fort, und gerade dann fort, wenn man sich richtig zu Hause fühlte? Und wenn die Elster nun in ihr altes Nest kam – ob sie es wiedererkennen würde? Alles war plötzlich traurig, und als sie bei Spikste im Schritt über die alte Holzbrücke fuhren, standen und hockten da lauter fremde, merkwürdige Menschen herum mit braunen Gesichtern und schwarzen Haaren. Eine Frau hielt ihr Kind an der Brust, und ein altes Weib humpelte bettelnd neben der Kalesche. Der Vater warf ihr etwas in die Hand. Marz spuckte vom Bock auf die andere Seite hinunter, sagte verächtlich: „Zigans“ und knallte mit der Peitsche. Die dunklen Gestalten blieben zurück, ein rotes Feuer qualmte am Ufer. „Das waren Zigeuner“, sagte die Mutter. „Und wo gehen sie hin?“ fragte Aurel. „Sie wandern und fahren, sind einmal hier und einmal dort“, sagte die Mutter. „Und stehlen wie die Elstern“, lachte der Vater. „Haben sie gar kein Zuhause?“ erkundigte sich Aurel. „Nein, ein Zuhause haben sie nicht“, sagte die Mutter. Als sie aus dem Walde herauskamen, wetterleuchtete es hinter dem Kruge. Die Weidenstümpfe mit den runden Rutenköpfen an der Landstraße tauchten auf und verschwanden im zuckenden Licht. In der Lindenallee rauschten schon heftige Windstöße, aber noch war es unter den tief hängenden Zweigen drückend schwül. Als die Kalesche vor der Veranda hielt, krachte der Donner. Gleich darauf prasselte es in Strömen. Fömarie war in furchtbarer Aufregung; sie zappelte ver-
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zweifelt um die Mutter herum: „Liebe, liebe gnädige Frau, Sie sind doch so klug, sagen Sie mir doch bitte: Ist dies ein Gewitter, oder ist dies nur Wetterleuchten?“ Der Donner knatterte, daß die Fensterscheiben klirrten. „Es ist Wetterleuchten!“ lächelte die Mutter. „Gott sei Dank!“ rief Fömarie beruhigt. „Gott sei Dank!“ und wieder rollte der Donner krachend über das Haus. Am andern Morgen gab es eine große Überraschung: der Sturm hatte das Storchnest heruntergerissen. Drei junge, noch nicht flügge Störche hopsten in der Allee herum. Natürlich mußte man sie aufziehen. Die großen Brüder fingen sie ein und brachten sie in die Umzäunung bei der schwarzen Klete, wo früher die beiden Schafe gehaust hatten. Und jetzt mußte man Frösche fangen. Das war eine aufregende Jagd, und noch aufregender war es, wenn die Störche einen zappelnden Frosch in den roten Schnabel nahmen, ihn aufmerksam betrachteten und dann mit einem Ruck in den Rachen warfen. Aber es dauerte eine gute Zeit, bis der Frosch den langen Hals hinunterglitt, und das konnte man ganz genau beobachten. Bald waren die Störche so zahm, daß sie überall frei umherstelzten: auf dem Rasenplatz, am Teich, ja sogar auf der Veranda. Janz hatte das Storchnest wieder auf dem Ahorn aufgerichtet; aber selbst als die Jungen schon fliegen konnten, dachten sie gar nicht daran, ins alte Nest zurückzukehren. Die Storchmama stand oben auf einem Bein und klapperte verzweifelt. Die Jungen flogen auf das Dach und klapperten auch. Das war eine laute und erregte Unterhaltung. Und wenn der Storchpapa von den Wiesen mit einer Schlange heimkehrte, mußte er sich aufs Dach bemühen, um die Kinder zu füttern. Dann gab es ein Geklapper wie das Geklopf der Dreschflegel auf dem Lehmboden der Riege. Der Gewitterguß spülte noch etwas anderes herunter: der
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silberne Fingerhut der Mutter lag blitzblank unter der Regentraufe! Die Elster hatte ihn also in die Dachrinne verschleppt. Es regnet, und die Koiküllschen Cousinen sind gekommen. Während sie ihre vielen Mäntel und Schals ablegen, laufen die großen Brüder auf der andern Seite des Hauses die Treppe von der Gartenveranda hinunter, und Aurel rennt hinter ihnen her. Sie schleichen sich am Zaun entlang, rupfen Sauerampfer, reißen hier und dort eine junge Gurke ab und klettern durch die Düngerluke in den Pferdestall und von dort zum Heuboden hinauf. Hier kann man ruhig abwarten, bis die Koiküllsche Equipage wieder fortfährt. „Wenn wir doch die Büchsen mitgenommen hätten“, jammert Tof. „Ja, heute im Regen werden die Böcke gut austreten!“ meint Rei. Da sagt Bal, der Älteste, das bedeutsame Wort: „Aurel, du bist doch jetzt ein großer Junge – zeig, was du kannst. Hol heimlich, so daß niemand es sieht, die Flinten aus der Backstube.“ „Alle drei?“ „Ja, alle drei. Und auch die Patronentaschen!“ Aurel kriecht wie ein Indianer hinter den Zaun, lauert aus der Holzscheune, wartet ab, bis Rosalia, das Viehmädchen, mit dem Milcheimer vorbeikommt, schleicht hinter ihr her in die Küche, drückt sich geräuschlos an Liese und Karlin vorbei und kommt ebenso unbeachtet wieder zurück: Die Patronengürtel in den Taschen, die schweren Büchsen in beiden Armen. „Das hast du gut gemacht“, erklärte Bal, „du kannst mitkommen, aber noch ist es zu früh.“ Aurel bekam auch eine Gurke und etwas Sauerampfer. Sogar ein Stück Rettich, der wie Feuer auf der Zunge brannte. Dann durfte er mit den großen Brüdern durch den Schlüsselgriff spucken, der unten in der Wagenhaustür steckte. Das war nicht leicht von dieser Höhe: man mußte sich platt auf den Bauch
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legen, den Kopf zur Luke hinausstrecken und lange zielen. Und man mußte einen kräftigen, festen Spuck im Munde haben, der ordentlich klatschte. Seit diesem Tage wurde Aurel von den Brüdern nicht mehr als Knirps behandelt. Er durfte nicht nur stumm mitgehen wie früher, man sprach auch ernsthaft mit ihm. Bal weihte ihn in die Geheimnisse der Jagd ein. Einmal durfte er sogar die Büchse anbacken und zielen – aber dann drückte er doch nicht ab: das Korn tanzte zu heftig hin und her, und die Knie zitterten. Rei war viel verschlossener, sprach wenig, war wie der Vater. Dafür redete Tof um so mehr, er war immer aufgeregt, immer begeistert. Aurel hing besonders an Bal. Wenn ihn aber jemand fragte: „Welchen Bruder liebst du am meisten?“ – dann antwortete er immer: „Alle gleich!“ Nach außen fühlte er sich nur als Teil dieser festen Brüdermasse, innerhalb der es keine Unterschiede gab. Und in dieser Brüdermasse und überhaupt in Blumbergshof wurde nie von irgendwelchen „Gefühlen“ gesprochen: man war nach außen rauh, gebrauchte gern kräftige Ausdrücke – alles andere machte jeder mit sich allein ab. Es war eine sehr männliche, nach Pfeifentabak riechende Luft, gegen die Mutters Oleander nicht recht aufkommen konnten. Kein Wunder, daß sogar die kleine Schwester unter soviel Brüdern fast wie ein Junge aufwuchs. Aurel läuft also mit den Brüdern; auf die Jagd, er hört, was sie sprechen. Er erfährt, daß der frühere Hauslehrer Tiedebök ein Schwein war und daß er deshalb so plötzlich weggehen mußte. Er erfährt, daß Marja Petrowna immer hinter Bal herläuft, daß sie ihm sogar nachts auflauert, so daß er seine Tür abschließen muß. Ja, er erfährt sogar, daß seine geliebte Mila deshalb „fortgejagt“ wurde, weil sie mit Wannag, dem Pferdeknecht, „etwas hatte“. Aber er begreift nicht, was alles dies bedeutet. Er fühlt nur wieder dunkel das Geheimnis, und er
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beschließt, der Sache endlich auf den Grund zu gehen. Von Tof wird er es am leichtesten erfahren. Beide liegen im Bett, es ist dämmerdunkel. Da sagt Aurel, als käme ihm gerade so zufällig der Gedanke: „Ich glaube, Marja Petrowna bekommt ein Kind!“ „Marja Petrowna?“ Tof ist ganz aufgeregt: er bat angebissen. „Ja, Marja Petrowna“, wiederholt Aurel nachdenklich und geheimnisvoll. Er hört ganz deutlich, wie Tof sich im Bett aufrichtet. Große Pause. „Wie kommst du darauf?“ fragt Tof atemlos. „Hast du denn nicht bemerkt, was für eine dicke Brust sie hat?“ fragt Aurel mit Sachkenntnis. „Ja, aber eine so dicke Brust hatte sie doch immer, das will noch gar nichts sagen“, meint Tof etwas enttäuscht, „ich glaube nicht, daß sie B.v.K. ist.“ „B.v.K.?“ „Das heißt, Bauch voll Kinder“, erklärt Tof wichtig. Also doch im Bauch, überlegt Aurel – sie kommen also nicht aus der Brust. Aber wie kommen sie hinein, und wie kommen sie heraus? Da sagt Tof ganz von selbst: „Wenn du schon alles weißt, kann ich ja ruhig mit dir davon sprechen …“ So erfuhr Aurel das Geheimnis in allen Einzelheiten. Das war eine aufregende Nacht, und lange konnte er nicht einschlafen. Am nächsten Morgen streifte Aurel allein unten im Garten umher, hinter den Haselnußstauden, wo die alten, mit weißer Birkenrinde umkleideten Bienenstöcke stehen. Hier war er allein. Er hatte das Gefühl, daß man ihm das Geheimnis von den Augen ablesen könnte. Also deshalb mußte Mila fort, aber die dicke Jewa konnte bleiben – das verstand er nicht ganz. Es gab noch genug zu grübeln. Der Gedanke an den Vater und an
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die Mutter quälte ihn; konnte er ihnen überhaupt noch in die Augen sehen, nachdem er dies wußte? Durfte er noch mit Adda spielen, konnte er überhaupt noch spielen? War er nicht jetzt schon erwachsen? Immer tiefer verkroch er sich in den dichten Büschen und kauerte sich auf den kühlen Erdboden. Es war drückend heiß. Die Luft siedete. Dicke blaue Fliegen und graue Bremsen surrten um ihn herum; Bienen und Hummeln brummten und krabbelten auf den roten Kleebällen; Schmetterlinge schaukelten über den Rasen. Ein zusammengewachsenes Pärchen taumelte vorbei. Also auch Schmetterlinge. Da kam Janz mit zwei großen Wasserkübeln und stellte sie in den Schatten einer Nußstaude. Nein, auch Janz wollte er nicht sprechen. Aber warum hat er die Eimer dort hingestellt? Janz ging, und gleich darauf näherten sich wieder Schritte. Aurel rührte sich nicht, dann hielt er erschrocken den Atem an: dort kam der Vater in einem braunen Schlafrock. Jetzt konnte er nicht mehr fortlaufen, der Vater hätte ihn gesehen, ihn gefragt, warum er sich hier verkrieche – und was sollte er ihm dann sagen? Nein, er mußte bleiben. Aber dann geschah etwas Unheimliches: der Vater warf den Schlafrock ab und stand weiß und nackt in der Sonne. Aurel preßte das Gesicht in die Hände, kniff die Augen zusammen – aber er konnte das Bild des bloßen Körpers nicht mehr auslöschen: er hatte den Vater nackt gesehen. Karlomchen rief von der Gartenveranda: „Aurel, Aurel.“ Aber er rührte sich nicht Wie Adam nach dem Sündenfall hockte er versteckt im dunklen Gebüsch mit klopfendem Herzen und furchtbar schlechtem Gewissen. Dann hörte er das Prasseln von niederstürzendem Wasser: der Vater duschte sich ab. Er prustete, schnaufte und keuchte dabei. Bald darauf stampfte er wieder fort. Aurel schämte sich sehr. Auf großen Umwegen schlich er
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sich nach Hause. Bei Tisch starrte er auf den Teller; er wagte nicht aufzusehen, aus Angst, dem Blick des Vaters zu begegnen. Erst als der Vater aufstand, um die Pfeife zu holen, sah er scheu hinüber. Aber alles war wie immer: als der Vater an der Mutter vorbeikam, stupfte er mit der Hand leicht auf ihre Schulter – das war die einzige Zärtlichkeit, die Aurel jemals von ihm gesehen hatte –’ dann kam er paffend mit der langen Pfeife zurück und ging auf und ab, bis alle aufstanden. Nein, niemand hatte etwas bemerkt; der Vater lachte sogar, erzählte etwas Komisches von Trulla, der dicken Verwaltersfrau: „Das Kalkhuhn hat ein Pulver eingenommen, um dünner zu werden, und nun sitzt sie den ganzen Tag auf dem Kämmerchen – der Verwalter ist ganz verzweifelt!“ Die Mutter liebte es nicht, wenn der Vater solche Geschichten erzählte; sie stand schnell auf. Aurel und Adda gingen in den Garten, um für den Vater Stachelbeeren und Himbeeren zu pflücken. Dann brachten sie die Beeren zum Brunnen, wo sie im eisigen Wasser gekühlt wurden. Der Vater aß sie nach dem Mittagsschlaf. Zum Kaffee auf der Gartenveranda gab es runde Quarkkuchen, dreieckige Johannisbeerund Buchsbeerschnitten, rosigen, lockeren Schaum von den eingekochten Preiselbeeren, spitze Kümmelkuchen, klintschigen Karasch und Grobbrot. Beim Kaffeetrinken wurden die Jagdpläne geschmiedet: „Im Silever-Dickicht steht ein kapitaler Bock“, versicherte Tof begeistert, „wenn ich mit Mickel und den Hunden vom Großen Graben aus durchklappere und ihr den Heuschlag abstellt …“ „Nein, der kommt bei dieser Hitze nicht so leicht heraus“, meinte Rei, „und wenn, dann bricht er zum Hochmoor durch. Sollen wir nicht lieber am Kalleirande die jungen Füchse ein wenig herausklopfen?“
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Aber auch dieser Plan wurde verworfen Und Bals Vorschlag angenommen: man ging hinter dem Krug in den Jaunsemschen Wald zur Drei-Herren-Mark – dort waren sicher wieder einige Böcke aus den Ritterschaftswäldern herübergewechselt. Auch Herr Paukuli war dafür, denn dort konnte er im Schilf am Fluß auch ein paar Enten aufstöbern. Aurel stapfte hinter dem Vater her; seine Sandalen quatschten auf dem schwarzen, moorigen Fußweg, der hinter dem Kruge zum Walde führte. Dann und wann blieb der Vater stehen und schöpfte tief Atem. Er trug einen Stock mit einem Klappbrett. Manchmal klappte er es auf und setzte sich darauf. In der jungen Kiefernschonung am Heuschlag weideten ein paar Kühe. Der Vater schrie den Hüter jungen an, und Tof mußte gleich nach Hause laufen, um den Verwalter und einen Knecht zu holen. „Diese Biester!“ sagte der Vater. „Sie knabbern die Spitzen der Kiefern ab und zertrampeln den ganzen Wald!“ Noch nie hatte Aurel den Vater so erregt, so außer sich gesehen. „Eben, eben“, stotterte der Verwalter, der keuchend angerannt kam. „Eben, eben!“ Dann beschimpfte er ein altes Bauernweib, das jammernd herbeigeeilt war. Aber es half ihr nichts: eine Kuh bekam einen Strick um den Hals und wurde vom Knecht auf den Hof abgeführt. „Die ist gepfändet“, erklärte Tof Aurel den rätselhaften Vorgang. „Gepfändet?“ „Ja, der Bauer muß Strafe zahlen, wenn er die Kuh wieder haben will!“ Aurel begriff es nicht ganz: der Vater hatte doch so viele Kühe und so viele Bäume – kam es da wirklich auf eine Kuh, auf ein paar kleine Kiefernspitzen an? Das Wehklagen und Gejammer der alten Bäuerin klang ihm noch lange in den
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Ohren. Wie hart der Vater war, ein fremder Mann, der da, auf seinen Stock gestützt, vor ihm her ging. Nach dem Abendessen kletterte Aurel auf den Himmelsbaum hinauf, um von oben zu sehen, wie die Sonne unterging. Unten am Weg saß die Mutter auf ihrem alten Platz, aber Karlin mußte ihr einen Schal bringen, weil es schon etwas kühl wurde. Hinter der Lieblingsbank bei der roten Klete schwirrten die Mistkäfer brummend vorbei. Auf der Landstraße kehrte die Herde heim, ein langer, langsam kriechender Zug, wie eine Raupe mit vielen Füßen. Die Staubwolke zog hinterher, ein rosiger Schleier, hinter den jetzt die blutrote Sonnenkugel tauchte. Die Holzklöppel klapperten vom Verwalterhaus, von allen Seiten tönten die klagenden Rufe: „Maja, maja, maja!“ Und da – Aurel erkannte sie – kam die alte Bäuerin mit ihrer Kuh vom Viehstall her. Sie blieb bei der Mutter stehen, küßte ihre Hand und bedankte sich immer wieder. Sie hatte nicht nur ihre Kuh ohne Strafgeld wiederbekommen, sondern auch einen alten Rock; und nun zog sie glücklich mit der Kuh nach Hause. Die Sonnenscheibe fiel mit einem Ruck in den Jaunsemschen Wald. „Nun ist sie fort“, seufzte die Mutter und stand fröstelnd auf. „Aber ich sehe noch ein kleines Stück!“ rief Aurel von seinem Hochsitz herunter. Blaßgrün schimmerte der Abendhimmel durch das luftige, grüne Blätterdach. Der ganze Himmel war ein großer, grüner Baum mit weißen Sternenblüten. Dann rutschte Aurel am Stamm in die Tiefe hinab.
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Der Mörder Steht die Zeit still wie die alte englische Standuhr im Saal, oder macht sie jedes Jahr einen kleinen Schritt wie die Striche am Türpfosten im Spielzimmer, an denen der Vater die Kinder mit dem Lineal mißt? Ein Tag ist wie der andere, und der ganze Sommer mit diesen weißen Nächten ist wie ein großer Tag, der stillsteht und nicht aufhört. Nur die dunklen Schatten vom Giebel des Hauses und der Lindenlaube wandern unaufhörlich: vom Rasenplatz, von der Anfahrt bis zur schwarzen Klete und über den alten Bretterzaun in den Garten. Dort bleiben sie liegen, unter den krummen Apfelbäumen, und schlafen sich aus. Manchmal fällt auch ein Apfel, aber der ist dann wurmstichig; die gesunden sind noch nicht reif. Aurel hat mit dem Pusterohr einen heruntergeschossen. Das war nicht so einfach. Tagelang hat er sich geübt, bis es ihm glückte. Und nun ist der Apfel sauer: er muß ihn fortwerfen. Ja, Aurel hat zum Geburtstag ein Pusterohr bekommen, und wenn man spitze Stifte mit bunten kleinen Schwanzbüscheln hineinsteckt und tüchtig bläst, kann man großartig damit schießen. Noch besser geht es mit Kittkugeln, die man selbst kneten und rundrollen kann. Janz hat einen großen Kittklunker in der schwarzen Klete zum Verglasen der Fenster. Dort knetet und rollt Aurel seine Munition – die Finger werden klebrig und riechen nach dem fetten, zähen Kitt. Aber Apfelschießen ist eigentlich keine Jagd. Äpfel können nicht fortfliegen. Viel aufregender sind dagegen die Spatzen im Erbsenspalier. Man muß sich richtig hinter den Johannisbeerbüschen anschleichen, ganz langsam das Rohr heben, gut zielen und dann mit vollen Backen lospusten.
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Gewöhnlich fliegen die Sperlinge schon vorher fort. Die frechen bleiben sitzen; aber getroffen hat Aurel noch keinen. Dann versucht er es mit den Drosseln, die doch viel größer sind und immer in den Erdbeeren sitzen. Einmal glaubt er eine getroffen zu haben, aber laut schimpfend fliegt sie fort in die Nußstauden und verspottet ihn noch lange: Kittkugeln! Ebensogut kannst du mir Wattepfropfen an die Brust pusten! Da gibt Tof Aurel seine alte Windbüchse mit richtigen Bleikugeln. Bei der schwarzen Klete schießt er sich ein, und dann geht er auf die Drosseljagd. Die fressen ja alle Erdbeeren auf, beruhigt er sein Gewissen. Trotzdem hämmert das Herz mit wilden Stößen, als er die Büchse anbackt, so daß er das Korn lange nicht finden kann. Die graue Drossel sitzt spottend auf dem Apfelbaum, wippt mit dem Schwanz aufgeregt hin und her, will doch lieber fortfliegen – aber da knallt der Schuß, und die Drossel fällt schräg in die Erdbeeren. Aurel rennt hin, wie er aber die Blätter auseinanderbiegt, starrt ihn ein schief zurückgebogener Kopf mit qualvollem Angstblick an, und dann flattert der angeschossene Vogel mit ein paar hilflosen Flügelschlägen etwas weiter und sitzt wieder da. Die alte Minna kommt, um Erdbeeren zupflücken. „Armes Tier“, sagt sie, „armes Tier!“ Zum Glück geht Janz vorbei. Er nimmt die Drossel in die linke Hand und drückt ihr mit dem rechten Daumen die Kehle ein. Die Augen verdrehen sieh, dann hängt der leblose Kopf schief herunter. „Bring ihn in die Küche“, lacht Janz. „Drosseln schmecken gut!“ Aber Aurel trägt den toten Vogel zum Spielplatz, hüllt ihn in Klettenblätter ein und beerdigt ihn neben der Schaukelbank. „Kopfchen schief!“ sagt Tof begeistert, als Aurel ihm die Windbüchse zurückgibt und stockend sein Jagderlebnis
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berichtet. Kopfchen schief – aber Aurel kann sich seines Erfolges nicht freuen; immer wieder sieht er die angstvoll aufgerissenen Augen, wie sie sich langsam verdrehen, und den breiten Daumen, der kräftig zudrückt. Es ist heiß und schwül. Der Sand liegt weiß und weich wie Pulver auf dem Weg und glüht unter den Sandalen. Die gelben Kamillen zwischen den Wagengeleisen sind grau verstaubt, und das kurze Gras am Grabenrand ist braun gebrannt von der Sonne. Aurel geht mit den großen Brüdern und Herrn Paukull baden. Das Handtuch hat er um den Nacken gelegt, die Enden über der Brust zusammengeknotet. Die bloßen Füße in den braunen Ledersandalen schlurfen im Sand, balancieren auf einer Stange über den Graben, stapfen an einer hohen, gelben Roggenmauer vorbei zum Heuschlag. Blaue Kornblumentupfen leuchten hier und dort im schattenlosen Urwald der Halme. Aurel rupft eine Ähre ab und reibt sie zwischen den Handflächen, bis die glatten, harten Körner herausfallen. Wenn man sie aber mit den Fingern zerdrückt, kommt noch ein weißer, milchiger Brei heraus, und wenn man sie zerbeißt, schmecken sie so, wie die Kornblumen riechen: nach Stroh, Mehl und Brot. Auf dem Heuschlag ist ein Gewimmel von hüpfenden, schwirrenden, surrenden und zirpenden Geschöpfen – bei jedem Schritt springt oder brummt irgend etwas durch die Luft. Der weiche, feuchte Erdboden schwankt, je näher man zum Fluß kommt; an einer Stelle muß man durch warmes, stehendes Wasser. Die Sandalen quatschen und schwappen, es spritzt bis zu den Knien herauf. Dann kommt eine kleine Anhöhe mit einem spitzen, zypressenförmigen Wacholderbusch und einer grauen, halbverfallenen Scheune. Hier zieht man sich aus und läuft dann nackt zum Fluß, der dunkel zwischen Ellerngebüsch und Schilf dahingleitet. Weiße Wasserrosenkelche liegen unbewegt auf dem klaren
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Spiegel, über dem bläulich schillernde Libellen schwirren und mit wirbelnden Flügeln in der Luft stehen. Dann und wann gluckst es auf, kleine Wellenringe laufen über das Wasser – ein Hecht hat nach Luft geschnappt und ist dann wieder in seine moorige Tiefe gesunken. Der Fluß heißt Wiege, und wie im Schlaf zieht die Wiege ihren Weg, schweigend und dunkel. In weiten Biegungen schlängelt sie sich durch die endlosen Heuschläge; sie hat Zeit, und am liebsten stünde sie vielleicht auch still wie die bebuschten und beschilften Ufer, die in der Mittagssonne schlafen. Aurel kann noch nicht schwimmen, er steht ängstlich am Ufer, bis zur Brust im Wasser, die Füße versinken immer tiefer in dem moorigen Modder, unheimliche Luftblasen steigen gurgelnd auf, der Boden schwankt und saugt ihn immer fester in den grundlosen Brei. „Los!“ sagt Herr Paukuli; zieht ihn ins tiefe Wasser, hält die Hand unter seine Brust, so daß er nicht sinken kann, und läßt ihn mit den Armen ein paar Schwimmbewegungen machen. „Immer ruhig, nicht zappeln“, befiehlt er, „und keine Angst: das Wasser trägt, aber es trägt nur, wenn wir uns nicht fürchten! Das weißt du doch aus der Biblischen Geschichte, Petrus ist natürlich nicht einfach so über das Wasser gegangen – er ist geschwommen. Aber erst, als er sich nicht fürchtete, hat er es gelernt! So, und jetzt laß ich dich los: hier ist kein Grund – jetzt mußt du schwimmen!“ Aurel machte zuerst ein paar heftige Stöße mit den Armen und schluckte Wasser, aber dann fühlte er plötzlich von unten her eine seltsame Kraft, die ihn hob – keine Hand, auch nicht die Strömung, sondern etwas Unsichtbares, das seinen ganzen Körper umschloß und schwebend über die grundlose Tiefe trug. Immer ruhiger bewegte er die Arme, die Angst wich, und immer stärker spürte er die unsichtbare tragende Kraft, die ihn hob und hielt und der er sich furchtlos anvertrauen konnte.
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Sobald er aber wieder Angst bekam und heftig mit den Händen stieß, fing er an zu sinken. Und dann wußte er es, der Glaube trägt mich, ich muß glauben, daß ich nicht sinke. Nach ein paar Tagen schwamm er schon bis zur Mitte des Flusses, dort konnte er mit den Fußspitzen etwas Boden fassen und sich verschnaufen. Grüne, breite Blätter lagen glatt auf dem Wasser, und die Rosen hatten ihre weißen Kelche geöffnet: wie geheimnisvoll sie dufteten! So hatte Nenas Haut gerochen. „Nena“, sagte er leise, riß einen langen Stengel ab, der sich wie eine Schlange anfühlte, hielt ihn zwischen den Lippen und schwamm mit der Rose zum Ufer zurück. Dann legte er sich aufs Gras in die Sonne und blinzelte in den Himmel. Auch als er die Augen wieder schloß, sah er eine gelbe Sonnenkugel; und immerwährend tanzten gelbe Kugeln vor seinen Augen, stiegen auf und senkten sich, auf und nieder. Plötzlich hatte Aurel das Gefühl, als finge auch die Erde an, leise auf und nieder zu schweben, als müßte er auch jetzt schwimmen, um nicht zu ertrinken. Er breitete die Arme auf dem Grase aus. Und wieder fühlte er eine unsichtbare Kraft, die ihn trug, die ihn an der Erde festhielt und die auch die Erde unter ihm hob und senkte und wie eine Riesenschaukel von einem Ende des Himmels zum anderen schwang. Eine große Ruhe überkam ihn, ein tiefes, grenzenloses Vertrauen. Aurel fühlte, daß die Erde sich bewegte, und daß Gott sie bewegte. Und das war mehr, als wenn er selbst einen kleinen Erdhaufen versetzen wollte! Denn Erde, Himmel und Gott sind eins, und selbst ein Sandkorn, ein Grashalm sind Stücke von Gott. Du darfst nur keine Angst haben, keinen Zweifel: dann läßt die Kraft dich los. Du mußt dich furchtlos hingeben: dem Wasser, der Erde, dem Himmel – Gott; du mußt Ihm vertrauen, an Ihn glauben, dann wird Er dich tragen wie das Wasser, wie die Erde dich trägt.
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Ein unaussprechliches Glück durchrieselte Aurel; wieder hörte er eine leise Musik in sich summen, wieder drängten sich Worte in seiner Brust – er wollte predigen, singen! Aber nur ein Wort kam auf seine Lippen, er flüsterte: „Gott!“ Dann schlug er die Augen auf. Ein Mäusebussard kreiste hoch oben in der Luft; nur dann und wann machte er ein paar Schläge und schwebte mit reglos ausgebreiteten Schwingen, die rostbraun in der Sonne aufblitzten. Auch er ließ sich tragen, stieg auf, senkte sich nieder und zog weite Kreise im unendlichen Blau. Gellend hallten seine Rufe über das Land. Laika, Herrn Paukulls Hündin, stöberte im Schilf herum. Laut plätschernd burrte eine Kette Krickenten auf und flog mit hängenden Füßen flußaufwärts. Auf der anderen Seite der Wiege stelzten Störche ernsthaft mit langen, ruckweisen Schritten. Auf dem Heimweg bellte Laika wütend am Waldrande. Aurel lief hin, kroch ins Ellerngestrüpp – Laika stand da mit gesträubten Haaren, kraus gezogener Stirn und starrte kläffend, außer sich vor Entsetzen, zu Boden. Als Aurel das Gras zur Seite bog, lag da eine stachlige, braune Kugel: ein Igel. Vorsichtig hob er ihn mit dem Handtuch auf und trug ihn auf dem Arm nach Hause. Schon unterwegs rollte sich die Kugel ein wenig auf, eine schwarze Schnauzenspitze kam zum Vorschein, und dann spürte Aurel auf der Hand das warme, samtweiche Fell des Bauches, die kalten, nackten Füße. Die großen Brüder und Herr Paukull waren vorausgegangen, so stapfte er allein am Feldrande, aufgeregt und glücklich mit diesem rätselhaften, stacheligen Geschöpf. Eine große, noch nie gespürte Zärtlichkeit überkam ihn: dieser kleine Igel sollte es gut haben, er wollte für ihn sorgen, ihn füttern, pflegen, ein richtiges Nest für ihn bauen, einen Garten mit Moos zum
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Spazierenlaufen. Jetzt war die Kugel schon ganz länglich geworden, schnüffelte an seinem Ärmel herum und kroch von einer Hand auf die andere. Wie unglaublich weich der Bauch war – sogar die Stacheln konnte man vorsichtig streicheln. „Willst du mitkommen?“ fragte Aurel, und aus irgendeinem Gefühl heraus, daß dies vielleicht die Igelsprache sei, schnalzte er mit der Zunge. Und wirklich: der dreieckige Kopf nickte zustimmend! Eifrig stieg Aurel die Stufen der Gartenveranda hinauf, um gleich seine lebende Beute vorzuführen– aber wie erschrak er: da saß Frau von Torklus, die russische Fürstin, neben der Mutter am Kaffeetisch. Umkehren konnte er nicht mehr und den Igel fortlegen auch nicht. „Oh, was für eine niedliche kleine Tierchen!“ rief die Fürstin begeistert und wollte es gleich auf den Schoß nehmen, fuhr dann aber erschrocken zurück: „Mon Dieu – oh, un hérisson! Sonjetschka, Sonjetschka, posmotri: josch!“ Sonjetschka stand auf der anderen Seite, ein Porzellanpüppchen, ganz in weißen Spitzen, und reckte die Nase. Sie wollte unbedingt den Igel anfühlen. „Du mußt unten den Bauch anfassen, der ist ganz weich“, sagte Aurel, nahm ihre Hand und führte sie zum Fell. Aber da erschrak auch der Igel: er fauchte unwillig und rollte sich wieder zusammen. Es war schwer, diese stachlige Kugel zu halten. „Jetzt wird er mit dem Kopf nicken“, erklärte Aurel, um wenigstens dieses Kunststück vorzuführen. Und er schnalzte mit der Zunge. Der Igel, der sich wieder etwas auseinandergerollt hatte und die spitze, schwarze Schnauze vorstreckte, konnte nicht anders: er mußte mit dem Kopf nicken. „Willst du Milch trinken?“ fragte Aurel und schnalzte. Der Igel nickte eifrig. Dann trank er aus einer Untertasse
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Milch. Sonjetschka war begeistert. Jetzt konnte sie sogar seinen weichen Bauch befühlen. Bald erschienen auch die großen Brüder: rasiert, mit gescheiteltem Haar, langen Hosen, Kragen und Krawatten. Die Fürstin kam immer überraschend – alles stürzte dann davon, rief nach heißem Wasser, Karlin trabte durch den Großen Korridor: die Brüder saßen mit eingeschäumten Backen vor den Spiegeln und schabten verzweifelt an den Stoppeln. Nur der Vater kümmerte sich auch nicht um die Fürstin, erschien im weißen Leinenrock, die lange Pfeife in der Hand. Und am rotgestrichenen Tisch auf der Gartenveranda wurde wie immer Kaffee getrunken. Die Fürstin kam oft, und immer brachte sie etwas mit: ein Krockettspiel mit vielen bunten Holzkugeln, eine grüne Billardbahn oder Federbälle. Diesmal hatte sie ein großes, langes Netz mitgebracht mit vielen weißen Gummibällen und komischen Schlägern. Das hieß: „Lawn-Tennis“, und auf dem runden Platz vor dem Hause wurde ein viereckiges Stück vom Rasen ausgestochen, mit Grand bestreut und festgestampft. Dann wurde das Netz in der Mitte ausgespannt, man warf die Bälle hin und her und rief dabei „play!“ und „ready“! Aber die Maulwürfe kümmerten sich nicht um dieses vornehme englische Spiel von der Fürstin: jeden Tag warfen sie immer neue Hümpel auf, und nun hockte Tof mit geladener Büchse stundenlang, ohne sich zu rühren, auf dem Platz und wollte die Maulwürfe durch die Erde totschießen. Doch dann kamen die schlauen Tiere natürlich nicht. Aurel baute aber unter der Gartenveranda für den Igel ein großes Paradies: er schleppte viel Moos aus dem Walde, polsterte den ganzen Erdboden mit dicken, weichen Humpeln und zäunte den Igelgarten mit langen Brettern ein. In eine Ecke stellte er eine Kiste, das war das Haus, damit der Igel sich auch verkriechen konnte, wenn er genug spazierengelaufen war, und
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sich ausschlafen wollte. Viel schwieriger war es, für seine Nahrung zu sorgen. Von Milch allein konnte er nicht leben. Rohes Fleisch rührte er bald nicht mehr an. Er wollte unbedingt etwas Lebendiges haben. Aurel fing Frösche und setzte sie auf das Moos. Der Igel nickte beifällig mit dem Kopf, schien aber sonst diese neuen Mitbewohner kaum zu beachten. Arglos hüpften die Frösche umher. Bis einer der Stachelkugel doch zu nahe kam; die schwarze Schnauze schoß vor, packte den nackten Schenkel und begann ihn in aller Ruhe zu verspeisen. Um den übrigen Frosch kümmerte sich der Igel nicht, und als er das Bein verzehrt hatte, ließ er den unglücklichen Rest auf drei Beinen weiterhumpeln. Dann kam der nächste daran, Vielleicht wollte der Igel zuerst nur alle ausprobieren? Vielleicht schmeckten ihm nur die Schenkel? Oder er wollte möglichst gerecht sein? Das ruhige Schmatzen, während das Opfer vergeblich auf drei Beinen fortzuhumpeln versuchte, war kein angenehmes Geräusch. Aber es war doch sehr aufregend, alles genau zu beobachten. Die Stachelkugel mit dem warmen, weichen Bauch stand Aurel doch näher als diese kalten, glitschrigen Frösche. Ja, Aurel schoß jetzt mit der Windbüchse sogar Sperlinge, nur um dem Igel einen Sonntagsbraten zu verschaffen; das war etwas anderes: mit welcher Gier die spitze, schwarze Schnauze sich in den noch warmen Vogelleib hineinbiß und ihn dann in die Kiste verschleppte! Man hörte nur noch ein Schnaufen, Schmatzen und Krachen. Einmal kam der alte Indrik vorbei, der nur noch hier und da die Blumen bespritzte und sonst in der Sonne saß und blinzelte. Aber singen konnte er noch, wenn auch nur leise und in sich hinein. Auch wenn er sprach, klang es immer wie ein halbes Singen. Aurel zeigte ihm stolz sein Igelparadies, und der alte Indrik blieb stehen, betrachtete alles genau und befühlte sogar
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das Moos. Dann schüttelte er traurig den Kopf und sagte mit seiner singenden Stimme: „Armes Tierchen! Armes Tierchen Gottes!“ „Aber warum ist der Igel arm?“ fragte Aurel gekränkt. „Er hat hier doch alles: Milch, Frösche, Sperlinge, Moos?“ Indrik schien Aurels Worte gar nicht zu hören. Er nickte mit dem Kopf und wiederholte bekümmert: „Ja, ja, ein armes Tierchen! Auch den Igel hat Gott geschaffen in seiner freien Welt; er hat ihm die Freiheit geschenkt, und was Gott ihm gegeben hat, das sollte der Jungherr ihm nicht nehmen!“ „Aber ich sorge doch für ihn, er hat es hier viel besser und schöner als im Walde!“ versuchte Aurel sich zu rechtfertigen. Indriks graue Augen sahen ihn ernst und vorwurfsvoll an, während ein müdes Lächeln sein faltiges Gesicht kräuselte: „Schöner und besser als im Walde? Nein! Er wird lieber hungern und frei sein!“ Dann ging der alte Indrik. Aber die Worte blieben. Ja, der Igel hatte schon oft versucht, an den glatten Brettern hinaufzuklettern, aber er plumpste immer wieder zurück. Vielleicht war das Paradies für ihn gar kein Paradies, weil ein Zaun herum war? Und dann trug Aurel an einem Morgen mit schwerem Herzen den Igel in den Garten hinunter zu den Nußstauden beim Magazin. Hier gab es sicher sehr viele Mäuse. Er fragte ihn: „Willst du fort?“ und schnalzte. Der Igel nickte eifrig mit dem Kopf. Zuerst saß er da, schnüffelte mißtrauisch mit der spitzen Schnauze, blinzelte. Aber dann plötzlich fing der stachlige Rücken auf den kurzen Beinen an zu rollen und verschwand hurtig zwischen den Gräsern im Klettendickicht. Es ist heiß und schwül. Die Mutter setzt sich den flachen Strohhut auf und geht mit Adda und Aurel auf den Kirchhof. Nur selten kommt man dorthin, aber jetzt soll die Goldinschrift
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auf dem weißen Kreuz von der toten kleinen Schwester erneuert werden, und da möchte die Mutter sich alles genauer ansehen. Sie gehen auf demselben Weg, den Aurel einmal mit Mila gegangen ist: über den Heuschlag, am Rande der Koppel. Hier, am Stangenzaun zwischen diesem Erlengebüsch, stand damals Wannag, der verschlafene Pferdeknecht. Aurel erinnert sich noch genau an alles. Aber er spricht nicht davon. Von Mila wird niemals gesprochen. Auf dem Kirchhof ist es noch wilder geworden: Bäume, Büsche, Gräser wuchern durcheinander, und die flachen Steinplatten sind noch tiefer gesunken. „Hier liegen Großpapa und Großmama“, sagt die Mutter und setzt sich mit den Kindern auf die Bank. Und dann erzählt sie von Vaters Vater. Es sind nur ein paar kleine Geschichten – sie hat ihn kaum gekannt –’ aber Aurel möchte sie immer wieder hören, damit er sie nicht vergißt. Vielleicht hofft er unbewußt, im Großvater etwas vom Vater selbst zu erkennen, von diesem Mann, der ihm noch immer fremd und rätselhaft ist. Ob der Vater auch einmal so werden wird – „ein wenig eigen“, wie die Mutter sagt? „Ja, Großpapa war ein wenig eigen“, erzählt sie. „Er ging immer in einem dicken Wintermantel umher, und niemals durfte sein Zimmer gestäubt werden, jedenfalls nicht so, daß er es bemerkte. Als Großpapa einmal früher vom Morgengang heimkehrte, mußte sich das Mädchen unter seinem Bett verstecken. Dann kam er einmal polternd in den Saal gerannt: ‚So fein Betrüger!’ rief er. ‚Der Roggenhändler bietet mir einen ganzen Rubel für das Pud, und es kostet doch nur achtzig Kopeken! Natürlich habe ich den Gauner hinausgeschmissen!’ Großpapa wußte nicht, daß der Roggenpreis inzwischen gestiegen war. Aber seine ganz besonderen Eigenheiten hatte er, wenn die Bauern im Herbst ihre Pachtgelder bezahlten. Großpapa war sehr pedantisch. Fehlte auch nur ein Rubel, wies
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er auch das übrige Geld zurück: denn Ordnung mußte sein. Dann gingen die Bauern heimlich hinten herum durch die Küche zur Großmama, die ihnen das Fehlende gab. Und die Großmama bekam es wieder vom Großpapa. Aber er durfte es nie erfahren, daß die Bauern ihm die Pacht mit seinem eigenen Geld bezahlten! Und Großpapa starb in seinem Mantel“, schloß die Mutter, „man mußte ihn aufschneiden …“ „Den Großpapa?“ fragte Adda. „Nein, den Mantel“, sagte die Mutter, „aber ich fürchte, da kommt ein Gewitter –· wir müssen schnell nach Hause!“ Immer, wenn Aurel an Großpapa dachte, sah er diesen aufgeschnittenen Mantel. Ob Großmama ihn selbst aufgeschnitten hatte, und wie – mit der Papierschere? Er sah ganz deutlich: Großpapa im dicken Wintermantel und Großmama, die Papierschere in der Hand. Das muß nicht leicht gewesen sein, wenn es wirklich ein Wintermantel war. Das dunkle Kreuz der Windmühle stand unbewegt vor der schiefergrauen Gewitterwand, die schnell heraufzog. Weiße Blitze zuckten, dann polterte der Donner. Die ersten Tropfen klatschten. „Wir wollen den Guß hier abwarten“, sagte die Mutter und trat in die enge, finstere Stube des Müllers. Wieder hockten halbnackte, in Lumpen gehüllte Kinder auf dem Boden, als wären sie in diesen Jahren überhaupt nicht gewachsen. Aber es kamen immer neue. Die Müllerin wischte einen Stuhl ab, die Mutter setzte sich. „Und wo ist Christin“, fragte sie, „die sich damals verbrühte?“ Christin, ein langes, blasses Mädchen, knickste, küßte der Mutter die Hand, stand verlegen da und lief dann schnell wieder fort. Aurel war froh, als der Regen aufhörte und sie endlich aus der stickigen Luft hinaus konnten. Es gruselte ihn vor diesen
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zerlumpten Kindern, dieser bedrückenden Armut. Aber er fragte nicht mehr, warum es so sein müsse: er hatte sich damit abgefunden. Das Gewitter war über den Großen Wald fortgezogen, das nasse Gras blitzte in der Sonne. Hinter der Koppel leuchtete ein bunter Regenbogen; man konnte genau die Stelle sehen, wo er aus dem dampfenden Heuschlag aufstieg. Der Vater saß auf der Veranda und las die Zeitung. „Naß geworden?“ fragte er und las gleich weiter. Aurel ging ins Lesezimmer und fing dort Fliegen. Sie summten an der Fensterscheibe, man brauchte sie nur gegen das Glas zu drücken und dann zwischen den Fingern zu zerquetschen. Aber mit einer Nadel ging es noch besser: man durchbohrte die Fliege und piekte sie einfach auf dem Fensterbrett fest. Sie konnte sich dann nur noch in der Runde drehen und mit den Beinen und Flügeln zappeln. Das sah sehr komisch aus. „Aber Aurel!“ Der Vater stand plötzlich hinter ihm. Er sagte weiter kein Wort, aber sein Blick genügte. Noch nie hatte Aurel ihn so gesehen. Tief beschämt schlich er sich fort. Aber dann, an einem Nachmittag, geschah etwas Ungewöhnliches. Aurel brachte dem Vater einen Teller Himbeeren und stellte sie im Lesezimmer auf den Tisch. „Willst du Schaf oder willst du Wolf sein?“ fragte der Vater und griff nach dem Spielbrett. „Schaf“, sagte Aurel und setzte die vier weißen Steine auf die Felder. „Dann bin ich der Wolf“, lachte der Vater und stellte einen schwarzen Stein dicht vor die Schafe. „Jetzt mußt du mich einkreisen!“ Aber wie die Schafe auch zogen – der Wolf brach immer durch. Dann tauschten sie die Steine. Jetzt aber rückten die
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weißen Schafe langsam in einer Kette vor, und bald war der schwarze Wolf gefangen. Aurel konnte ziehen, wie er wollte: nirgends fand der Wolf ein Loch. Der Vater saß lachend da und stopfte die Pfeife. Aurel sollte sie anzünden. Er hielt das brennende Streichholz über den Pfeifenkopf, die blaue Flamme setzte sich auf den Tabak, hüpfte auf und nieder, auf und nieder; langsam fing der Kopf an zu glühen. „Klapp den Deckel zu“, sagte der Vater. Aurel tat es. Einen Augenblick hielt er den länglichen, ausgebuchteten Pfeifenkopf in der Hand: wie warm und glatt er sich anfühlte. Der Vater stieß dicke Rauchwolken aus – und dann war er wieder verschwunden. Zum ersten Male hatte der Vater sich ein wenig mit ihm abgegeben, mit ihm gespielt. Nun War er ihm nähergerückt, irgendeine Wand war gefallen, die große Scheu gewichen; Aurel fühlte dunkel, daß er einmal doch den Vater kennenlernen würde, wenn er selbst größer geworden war. Bald darauf machte Aurel eine neue, sehr sonderbare Entdeckung. Er hatte im Großen Korridor gespielt und wollte gerade auf dem glatten Treppengeländer hinunterrutschen, als er nebenan im Eckzimmer ein merkwürdiges Flüstern hörte. Die Tür war angelehnt, und durch den Spalt konnte er hineinschauen. Er erschrak und blieb regungslos auf der Schwelle stehen: da hockte der Vater mit tief gebücktem Kopf auf dem Fußboden und streichelte die alte Minka, die schnurrend mit hochgerecktem Schwanz um ihn herumstrich. „Minze, Minze“, flüsterte der Vater und kraulte zärtlich ihren Kopf. Daß der Vater die Katze streichelte, die er sonst nie anrührte! Noch neulich hatte er lachend bei Tisch erklärt: „Wenn das alte Biest nicht von selbst krepieren will, dann muß man es totschießen!“
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Und jetzt kniete er da, kraulte und strich mit der Hand das rotschwarz und weißgefleckte Fell der Katze. Aurel schlich sich auf den Fußspitzen davon. Der Vater durfte nicht wissen, daß er ihn dabei ertappt hatte. Wie damals, als er zusah, wie sich der Vater unten im Garten mit Wasser begoß. Aurel kam es vor, als hätte er auch jetzt den Vater nackt gesehen, so wie er w i r k 1 i c h war. Ein warmes Gefühl stieg in ihm auf: nun war er hinter das Geheimnis gekommen. Wenn der Vater am Tage manchmal mürrisch war und etwas Derbes, Unfreundliches sagte, so daß die Mutter zusammenschrak – dann verstellte er sich nur, wie er sein Gesicht hinter dem Pfeifenrauch versteckte. Hinter allen Derbheiten und allem Rauch verbarg sich jemand, der heimlich mit der Katze spielte! Die Dämmerung kam schon früher, aber es war noch so warm, daß auf der Veranda zu Abend gegessen wurde. Auf dem Tisch stand ein großer, runder hölzerner Bottich mit kalter, saurer Milch. Die Mutter zog die dicke, gelbe Rahmschicht ab, die von Karlomchen geklopft wurde, und füllte die Teller. Jeder nahm sich dann Rahm, Zucker, Kaneel und Schwarzbrot. Dies war für Aurel das schönste, was es gab: kalte, dicke Milch mit Grobbrot! Nachher lief er mit Adda um den runden Rasenplatz: wie es im Bauch dann gluckerte! Öder er saß neben den großen Brüdern auf den Stufen der Veranda. Die Mutter betrachtete, wie immer am Abend, die dunklen Umrisse der Lindenallee und des Ahorns. „Seht ihr den Löwen?“ fragte sie. „Heute ist er besonders deutlich: er hat sogar das Maul etwas auf gerissen, dort zwischen den beiden Ästen! Und was für eine mächtige Mähne er hat! Ich glaube, er bekommt sogar zwei Hörner – könnt ihr sehen, ganz oben an der Spitze vom Ahorn … Doch jeder sah etwas anderes: Bal einen Uhu mit zwei Ohrenspitzen und Tof einen Elchkopf.
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„Aber so sieht doch kein Elch aus!“ verwarf Rei verächtlich diese Ansicht. „Paß mal auf“, Tof wurde immer begeisterter, „oben rechts, der eine Höcker, das ist ein Ohr, und dann der lange Ast, der schräg nach unten geht …“ Nein, niemand konnte da irgendein Ohr entdecken – das war ja auch zu lächerlich; aber Tof blieb bei seinem Elchkopf, er sah ihn ganz deutlich, und er war tief gekränkt, daß keiner ihn sehen wollte. Wenn aber ein Zug schöner Abendwolken am Himmel stand, hörte das Rätselraten und Phantasieren überhaupt nicht auf; jeder sah die unglaublichsten, merkwürdigsten Dinge: reitende Ritter, einen Drachen mit langem Schwanz, einen Zentaur – aber es kann auch ein Stiefel sein, ein umgekehrter Stiefel – nein, ein Krebs, ein Krebs mit einer riesigen Schere – aber ich bitte dich: das ist doch ganz deutlich ein Känguruh … Und die Wolken verschoben sich, nahmen immer neue Gebilde an; aber jeder sah etwas anderes. „Blödsinn“, sagte der Vater, „das sind Wolken! Aber jetzt wird es mir zu kalt!“ Und damit ging er hinein. Es war ganz still. Auf der Landstraße ratterte ein Wagen. Beim Kruge bellte ein Hund. In der Backstube, durch das offene Fenster, zirpte ein Heimchen: Zirp – zirp, zirp – zirp … dann verstummte es. Lautlose Stille. Und in diesem Augenblick hörte man vom Garten her, wie ein Apfel zu Boden fiel: wie er, reif und nur durch sein eigenes Gewicht gezogen, zwischen den raschelnden Blätterzweigen niederstürzte und dumpf auf die Erde aufschlug.
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Der Pfeifenkopf Die Störche sammeln sich schon auf den Heuschlägen in großen Heerscharen und rüsten sich zum Flug nach dem weiten Süden. Auch die zahmen Störche sind unruhig geworden, fliegen aufgeregt umher, und eines Tages sind sie verschwunden … Dann, an einem frühen Morgen, hält die Fürstin in einem Jagdwagen mit hellgelben Rädern vor der Veranda, und alles bricht zur Elchjagd auf. Aurel darf mitgehen mit Mickel, dem Buschwächter, und den vielen Treibern. Es ist eiskalt. Die Sandalen klatschen im tautriefenden Gras. Die Sonne geht kupferrot über dem moorigen Heuschlag auf, aber am sumpfigen Waldrande, wo Aurel mit den Treibern in einer langen Kette steht, brodelt noch grauer Nebel. Mickel rennt aufgeregt mit seinen krummen, kurzen Beinen hin und her, die gekoppelten Hunde jaulen und zerren am Riemen. Dann tönt das Horn: hell und langgezogen hallt es über den Wald, und gleich darauf beginnen die Treiber zu klappern. Aurel hat einen Knüppel in der Hand, klopft an die mageren Birken- und Kieferstämmchen, dann und wann bleibt er stehen, preßt den Knüppel unter den Arm und klatscht mit den Händen. Er versinkt in Farn- und Porschgestrüpp, stolpert über hohe Mooshümpel, verfaulte Baumstämme und Wurzeln, klettert und springt über schwarze Torfgräben. Bis zum Bauch ist er klatschnaß, klebrige Spinngewebe hängen ihm ins Gesicht, und platte Elchfliegen, die man schwer fassen kann, krabbeln in seinem Haar. Aber dann bleibt er mit einem Ruck stehen, die Knie zittern, das Herz klopft bis zum Halse hinauf: vorn im Dickicht hat er ein Brechen gehört, und gleich darauf schiebt sich etwas Großes, Schwarzes zwischen den weißen
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Birkenstämmen hervor; ein langer, schmaler Kopf taucht auf, wendet sich, und etwas Kleineres, Braunes kommt hinterhergetrollt: Elchkuh und Kalb! Und gerade, wenn sie Kälber haben sind die Elchkühe am gefährlichsten! Aurel muß an die Wollhandschuhe vom Treiber denken, von denen Onkel Oscha erzählte, daß der Elch sie mit einem Schlag durch den Bauch stieß. Was soll er tun, wenn jetzt die Kuh auf ihn losgeht? Diese Birken sind viel zu klein und schwach zum Hinaufklettern. Er steht da und rührt sich nicht. Auch die Elchkuh steht und glotzt ihn an. Dann wirft sie den langen Kopf auf die andere Seite und trabt davon. Und das Kalb trottet hinter der Mutter her. Wie die weißen Läufe in der Sonne blitzen! Jetzt wird Aurel wieder mutig; er klatscht in die Hände, klappert mit dem Knüppel an die Stämme. Mickel brüllt aufgeregt, wildes Schreien und Gejohle läuft die Treiberkette entlang, und da setzt schon das Geläute der Hunde ein: tief und dröhnend – Elch-Skrauja, Bald darauf ballern Schüsse, und wieder, Schuß auf Schuß. Die Treiber klappern und johlen – etwas Rotes flitzt über den Graben: ein Fuchs ist durchgebrochen. Das Geläut der Hunde ist verstummt. Als Aurel auf den Heuschlag hinauskommt, steht alles um eine Stelle herum: da liegt der Elchhirsch, ein kräftiger Gabler, die Fürstin hat ihn geschossen. Der Mann von der Kuh und der Vater vom Kälbchen, denkt Aurel. Aber die Jagdleidenschaft ist so stark in ihm ausgebrochen, daß er nicht weiter darüber nachgrübelt. Er freut sich, er ist stolz, denn auch er hat den Elch hinausgetrieben: wäre die Kuh bei ihm durchgekommen, wäre vielleicht auch der Hirsch im Walde geblieben. Es wird Herbst; der Apfelrusse hat wieder sein Zelt im Garten aufgeschlagen, und die Flachsweichen fangen an zu stinken. „Es riecht nach Geld“, sagt die Mutter.
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„Aber nur nach Kupfergeld“, lacht der Vater. Der Verrückte treibt seine Schweineherde auf der Landstraße; er spricht mit sich selbst, vielleicht auch mit den Schweinen, die grunzend im Graben am Wege wühlen. Bald flackern auch schon die roten Kartoffelfeuer auf den abgeernteten Feldern auf; Aurel und Adda backen in der glühenden grauen Asche Kartoffeln – und nirgends schmecken sie so gut wie auf dem Acker am selbstgeschürten Feuer, wenn man die weiße, mehlige Frucht aus der verkohlten, schwarzen Kruste herausbrechen muß. Auch Schlunski ist wieder dagewesen, der König mit seinem fahrenden Kramladen, und die schwarze Tina und Karlin haben sich neue Ringe und Broschen gekauft, weil die Elster ja den Schmuck vom vorigen Jahr verschleppt hat. Es sind immer die alten, bekannten Gesichter die kommen, und auch der Postbote ist immer derselbe, mit der dicken Ledertasche und dem struppigen Gaul, der durch die Allee zuckelt. Aber diesmal bringt er einen Brief mit merkwürdigen Postmarken, und als der Vater ihn gelesen hat, gibt er ihn der Mutter und sagt mit sonderbarer Stimme: „Henry kommt!“ „Henry!“ Die Mutter läßt die Arme sinken. „Ja, in ein paar Tagen kann er hier sein“, sagte der Vater. „Er ist gleichzeitig mit dem Brief aus London abgereist!“ Aurel und Adda hüpfen durchs ganze Haus: „Karlomchen, der Onkel aus Amerika kommt! Fömarie, der Onkel aus Amerika kommt!“ Bei Tisch wurde nur noch vom Onkel Henry gesprochen. „Natürlich wird er in Amerika Büffel gejagt haben“, meinte Tor begeistert, „oder er hat Gold gegraben und bringt einen großen Klumpen mit!“ Die Mutter schien nicht so erfreut: „Onkel Henry war immer ein wenig eigen“, sagte sie etwas
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bedrückt, „aber vielleicht ist er jetzt ganz anders geworden!“ Der Vater ließ sich, wie immer, nicht viel anmerken. Aber er war doch aufgekratzter als sonst, machte viel Spaße, erzählte komische Geschichten. Immer wieder kam er aus seinem Schreibzimmer heraus und ging, die lange Pfeife in der Hand, paffend im Saal auf und ab. Und dann, an einem Abend, hielt der alte Marz mit der kleinen Kalesche vor der Veranda, und ein dürres Männchen mit einem Lederköfferchen und einer gewaltigen Holzkiste kam zum Vorschein – das war Onkel Henry. Er sah wirklich wie ein richtiger Onkel aus Amerika aus: ein bärtiges Gesicht mit struppigen, verwilderten Haaren – vielleicht kam er direkt von den Goldgruben? Und vielleicht war die große Holzkiste bis an den Rand mit Gold gefüllt? Mit neugierigem Respekt betrachtete Aurel Onkel und Kiste. Auch die faltigen Stiefel, die bei jedem Schritt dröhnend knarrten, sahen sehr amerikanisch aus: sie waren sicher aus echtem Büffelleder. Und dann roch der Onkel auch sehr amerikanisch: man konnte nicht sagen, wonach, aber wenn er durch ein Zimmer ging, glaubte Aurel den Geruch von Urwäldern, von tropischen Pflanzen und wilden Tieren zu spüren. Und wie merkwürdig der Onkel aß: er hielt Messer und Gabel steil in den Fäusten, schlang schnell und fuhr zuletzt immer mit einem Brotstück auf dem Teller herum. Zwischendurch stürzte er hastig viele Schnäpse in die Kehle. Nach dem Mittagessen am nächsten Tag saßen alle erwartungsvoll im Saal bei schwarzem Kaffee und Likör, und Onkel Henry sollte nun endlich von seinen abenteuerreichen zwanzig Jahren in Amerika erzählen; aber er trank nur Likör und knarrte mit den Stiefeln. „Also zuerst gingst du nach Wien“, begann die Mutter, „und nahmst dort Geigenunterricht …“ „Ja, zuerst ging ich nach Wien“, bestätigte Onkel Henry und
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goß sich einen Likör ein, „und spielte dort auf der Geige …“ „Und dann nach Paris?“ „Ja, dann nach Paris.“ Onkel Henry leerte das Glas und versank in Schweigen. „Was tatest du eigentlich dort?“ forschte die Mutter. „Allerlei“, sagte Onkel Henry, „allerlei; ich lernte Französisch und Englisch, besah mir dies und das. Da gibt es ja viel zu sehen.“ „Und dann gingst du nach Amerika?“ „Ja, dann ging ich nach Amerika. Es war eine sehr stürmische Überfahrt. Mir wurde ganz schlecht. Aber es ist ja schon lange her. Heute fährt man viel bequemer. Übrigens – habt ihr keinen Whisky im Hause?“ „Nein, Whisky haben wir leider nicht“, sagte die Mutter. „Und was tatest du in Amerika?“ „Allerlei“, sagte Onkel Henry,“ allerlei; ich trieb mich überall herum, man sieht ja nie genug.“ Und dann füllte er wieder sein Likörglas. Was aber Onkel Henry eigentlich in Amerika getrieben und dort gesehen hatte – davon konnte man nichts Näheres erfahren. Er war auf einer Farm gewesen, ja, er hatte sogar richtig nach Gold gegraben – jetzt wird er die Kiste öffnen, denkt Aurel –’ aber nein, mit dem Golde war es nichts. Was mag nur in der Kiste sein? Onkel Henry schwieg. „Und dann, was tatest du dann?“ forschte die Mutter. „Ja, dann“, der Onkel überlegte, seine Hand zitterte ein wenig, als er wieder nach dem Likörglas griff, „dann sammelte ich Schmetterlinge.“ „Schmetterlinge?“ „Ja, Schmetterlinge. Es gibt drüben unglaublich viele Schmetterlinge. Ich habe eine ganze Kiste voll mitgebracht.“ Dann packte Onkel Henry die Kiste aus und zeigte seine
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Sammlung. Es gab wirklich herrliche Schmetterlinge mit unwahrscheinlich bunten und großen Flügeln. Aber alle waren tot und aufgespießt, man konnte sie nur ansehen. Dazu war also der Onkel nach Amerika gefahren, um alle diese Schmetterlinge zu fangen? Und jetzt war er mit seinem Schatz heimgekehrt, trank Likör und knarrte mit den Stiefeln. Nachher ging er mit dem Vater ins Schreibzimmer. Obgleich auch die Tür zum Lesezimmer geschlossen war, hörte man ihre Stimmen. Die Mutter saß im Saal auf dem Sofa, häkelte und seufzte. Dann wurde die Tür plötzlich aufgerissen, der Vater stand auf der Schwelle, mit einem ganz roten Gesicht: „Laß gleich anspannen!“ rief er. „Ich muß nach Tolkenhof!“ Aurel lief zum Stall, und als er zurückkam, ging der Vater erregt im Saal auf und ab, ohne Pfeife. Dann fuhr er fort und kam erst nach ein paar Tagen wieder. Aber nur selten verließ er sein Zimmer, und Onkel Henry ging nie zu ihm. Bei Tisch wurde kaum ein Wort gesprochen. Onkel Henry war wirklich etwas „eigen“: er wusch seine Wäsche immer selbst und hing sie im Garten an einer Schnur auf. Viel Wäsche hatte er wohl nicht, im Köfferchen war nicht viel Platz, und die ganze Kiste war ja mit Schmetterlingen angefüllt. Immer zog er mit dem Köfferchen umher: zum Waschhaus und dann in den Garten. Einmal ging er mit dem Köfferchen sogar bis zur Wiege, und obgleich es schon recht kalt war, badete er im Fluß. Als Aurel ihm an einem Morgen das Frühstück ins Zimmer hinaufbrachte, erschrak er: Onkel Henry stand splitternackt vor dem offenen Fenster, hüpfte auf den Beinen und schlug sich mit einer Bürste auf den Bauch. Ob das ein indianischer Tanz ist? überlegte Aurel und stellte tief beeindruckt das Tablett auf den Tisch. „Ich habe einen Bandwurm“, erklärte der hüpfende Onkel, „und wenn man ihn mit der Bürste beklopft, dann kommt er
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heraus!“ Manchmal ging der Onkel mit Aurel spazieren. Als sie einmal am großen Hochmoor vorbeikamen, erklärte er: „Den muß man umpflügen mit einem Dampfpflug!“ Seitdem fing er immer wieder bei Tisch davon an, wie großartig das wäre, wenn man das ganze Hochmoor umpflügen würde. „In Amerika“, sagte er, „werden noch ganz andere Moore umgepflügt!“ „Blödsinn!“ sagte der Vater und stand auf. Dann verschwand Onkel Henry manchmal am Abend und kehrte erst spät in der Nacht zurück. Und immer kam er durch die Allee vom Kruge, und der amerikanische Geruch an ihm wurde immer stärker. An einem Morgen blieb der Vater im Bett liegen. Doktor Martinell kam, aber diesmal machte er ein ernstes Gesicht und sprach lange mit der Mutter. „Ruhe, Ruhe“, sagte er „nur keine Aufregungen! Das Herz ist nicht in Ordnung. Halten Sie alles von Ihrem Mann fern, was ihn erregen könnte!“ Der Vater stand wieder auf, sah aber krank und elend aus und blieb in seinem Zimmer. Und dann fuhr Onkel Henry wieder fort, zurück nach Amerika. Das Familienlegat zahlte ihm feinen Betrag aus; er mußte sich verpflichten, nie wiederzukommen. Und auch die große Kiste mit den vielen Schmetterlingen nahm er mit. Die Mutter atmete auf, aber der Vater konnte sich nicht erholen. Er ging nicht mehr hinaus, das strengte ihn zu sehr an. Marz mußte jeden Tag den Korbwagen anspannen, und dann fuhr er spazieren. Manchmal durfte Aurel mitfahren. Es war fast immer derselbe Weg: auf der alten Landstraße in den Großen Wald bis zur Brücke von Spikste, wo damals die Zigeuner gewesen waren. Links von der Straße, wo der Wald
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aufhörte, hatte der Vater eine Schonung sibirischer Lärchen angepflanzt und die Mutter einmal zu ihrem Geburtstag damit überrascht. Denn sie hatte sich darüber beklagt, daß es hier immer nur dieselben Bäume gebe: Birken, Kiefern und Fichten. „Warum wachsen hier keine Lärchen? Die sind so hellgrün und haben so weiche Nadeln!“ „Lärchen? Hast du denn noch gar keine Lärchen gesehen?“ fragte damals der Vater verwundert, als er sie zur Schonung hinausführte. Und nun wuchsen sie da, es waren schon ganz richtige kleine Bäume geworden mit langen Spitzen. Der Vater stieg mit Aurel aus und ging ein paar Schritte durch die Schonung. Wie wild es dort wucherte: Himbeeren, Brombeerranken und Farne. „Man muß hier ein wenig Luft schaffen“, sagte der Vater, stocherte mit dem Stock herum und schöpfte tief Atem. „Luft!“ wiederholte er keuchend und setzte sich auf einen Baumstumpf. Als sie zurückfuhren, bog der Vater auf einen Seitenweg ein, der durch hohen Kiefernwald führte. Er ließ das Pferd Schritt gehen; die Räder knirschten im weißen Sand und stolperten über Wurzeln. Hinter dem Fuchsbau, einer kleinen Anhöhe mit schwarzem Fichtengestrüpp, stieg der Vater mit Aurel aus. Mit der einen Hand stützte er sich auf den Stock, die andere legte er auf Aurels Schulter. Wie hoch und gerade die rotbraunen Kiefernstämme in den klaren Herbsthimmel ragten! Es rauschte und knarrte; ein Specht klopfte irgendwo; dann wieder nur das Rauschen und Knarren. Weißes, trockenes Moos bedeckte den Waldboden, Und dort weiter, jenseits des Grabens, dämmerte das endlose Hochmoor mit seinen greisenhaften Krüppelkiefern; ein schwerer, betäubender Geruch von Porsch und feuchtem Moos wehte herüber. Der alte Jaunsem stand im Graben mit gebücktem Rücken, den nackten Fuß auf der Schaufelkante. Er hob den Schlamm
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aus der versumpften Grabensohle und warf ihn über den Rand. „Ist dir nicht kalt?“ fragte der Vater. Der alte Jaunsem stützte sich auf die Schaufel und lachte über das rosige, runzlige Gesicht: „Wenn man arbeitet, friert man nicht! Und wenn man so alt ist, muß man sich schon an die kalte Erde gewöhnen!“ Dies war der Grabenstecher, von dem Mila Aurel erzählt hatte, daß er oft Knochen fand, die der Wolfsmensch im Moor verscharrte. „Na“, lachte der Vater, „so alt bist du doch nicht?“ „Man kann nie wissen, wann einen die Erde ruft“, meinte der alte Jaunsem und schaufelte weiter. Auf dem Rückweg zum Wagen ging der Vater langsam voran. Dann blieb er stehen, schöpfte tief Atem und sah zu den hohen Kiefern hinauf, die oben rötlich in der Sonne glühten. Wie alt und müde der Vater aussah, als er so auf den Stock gestützt zwischen den Stämmen dastand. Es war, als wollte er sich noch einmal jeden Baum ansehen, und als sie fuhren, wandte er den Kopf nach rechts und nach links, um keinen auszulassen. Auf der Brücke, wo die Landstraße ins Freie tritt, sah er sich noch einmal nach dem Walde um, der hoch und dunkel wie eine Mauer in den Himmel ragte. Bald darauf mußte der Vater in die Stadt fahren. Aurel und Adda begleiteten ihn bis zur Grenzbrücke. Sie standen noch lange da und winkten ihm nach, aber der Vater hatte sich wohl schon in die aufgeschlagene Kalesche zurückgelehnt und beugte sich nicht mehr heraus. Dann verschwand das schwarze Verdeck hinter den nackten Weidenstümpfen. Immer früher wird es dunkel, und immer kahler werden die Linden in der Allee. Wenn Andris, der Stalljunge, die Pferde aus der Koppel heimtreibt, ist es schon ganz finster. Man sieht nur die Köpfe und Rücken wie schwarze Schatten gegen den blassen Horizont; klappernd ziehen sie vorüber. Manchmal
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gehen auch die großen Brüder in die Koppel und reiten dann mit Andris nach Hause. An einem Abend ist Aurel mitgegangen. Andris hält Ehra, die alte Fuchsstute, Aurel klettert auf den Rücken und hält sich an der Mähne fest. Er rutscht hin und her auf den glatten, schaukelnden Flanken, aber er fällt doch nicht herunter. Die Pferde trotten im leichten Trab, und die Leiber wiegen sich unter dem herbstlichen Abendhimmel. Aurel lernt das Reiten. Marz schnallt der alten Ehra eine schwarzrot karierte Schabracke auf den Rücken, setzt Aurel darauf und gibt ihm die Zügel. Dann trabt er auf den großen Heuschlag hinaus. Zuerst fällt er manchmal herunter, aber bald sitzt er fest und kann schon galoppieren: das ist noch schöner als der stuckernde Trab. Er läßt die Zügel ganz locker, greift in die Mähne, drückt den Kopf an Ehras Hals – und Erde und Gras fliegen unter ihm vorbei. Und wieder ist es so: wenn Aurel Angst hat, sich an Ehras Hals klammert, fängt er gleich an zu rutschen. Überläßt er sich aber ruhig dem schaukelnden Rücken, fängt er selbst an, im Auf und Ab der Flanken sich hin und her zu wiegen, überkommt ihn eine große Sicherheit, als wäre er mit dem Pferdekörper zusammengewachsen, als ritte er auf hohen, sich wiegenden Wogen. Der warme Pferdeleib trägt ihn, die Erde trägt ihn – wie ihn einst Milas Arme getragen haben, als er noch klein war. Im Vorbeireiten streifen Ellernzweige Aurels Schulter; er rupft ein paar Blätter ab und drückt sie in einem überströmenden Gefühl von Glück und Zärtlichkeit an das Gesicht: wie das welke Laub noch nach Sommer riecht! Wie der Wind um ihn weht! Wie Erde, Bäume und Wolken an ihm vorbeifliegen! Und wieder hört er eine Musik, aber diesmal, im Takt der galoppierenden Hufe, ist es ein Brausen und Dröhnen. Und plötzlich hört Aurel seine eigene Stimme: Worte, stammelnde
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Worte ohne Sinn und Zusammenhang, nur ein Rauschen und Strömen wie der wehende Wind über den kahlen Stoppelfeldern, wie das Stampfen der Hufe auf der dröhnenden Erde. Wenn der Gesang auch ganz andere sinnlose Worte hat – er fühlt nur dies eine: Oh, wie glücklich ich bin! Wie glücklich! Wie unbeschreiblich glücklich! Vor der Stalltür läßt Aurel sich von Ehras Rücken herunterrutschen; seine Beine sind steif und rund gebogen wie bei den Zinnsoldatenreitern, wenn man sie von ihren Rössern herunternimmt. Und wie die Hände nach Leder, Pferdefell und Pferdeschweiß riechen! Aurel will dem Vater entgegenreiten, wenn er kommt, er will ihn mit seiner Reitkunst überraschen. Aber der Vater kommt nicht, er hat in der Stadt zu tun. Dann muß die Mutter plötzlich fortfahren, der Vater ist wieder krank. Die Erde ist gefroren, aber die Stoppelfelder und Sturzäcker sind noch kahl und ohne Schnee. Die grauen Nebelkrähen sammeln sich in großen Scharen und streichen lärmend über den bleiernen Himmel. Und dann, an einem frostigen Nebelmorgen, kommt der Verwalter quer über den Rasenplatz, ohne Mütze, in seinen hohen Wasserstiefeln. Sein mageres, zerknittertes Gesicht ist noch weißer als sonst, und er stottert so, daß Karlomchen ihn gar nicht verstehen kann. Aber dann liest sie, schräg über die Brillengläser, das Telegramm, das er ihr gibt – ihre Hand fängt an zu zittern, mit der andern Hand greift sie sich an die Stirn, als wollte sie ihren Kopf festhalten. Aurel und die Geschwister erfahren es: der Vater ist gestorben, am Herzschlag. Keiner spricht ein Wort, sie stehen da und schweigen. Unheimlich still wird es im Hause. Aurel und Adda schleichen sich in den Großen Korridor, setzen sich auf das alte Polstersofa, auf dem sie früher so oft „Kaleschen“ gebaut haben. Sie drücken sich fest aneinander und schluchzen
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wortlos, haltlos, die Schultern beben. An einem späten Abend, es ist eiskalt und stockfinster, stehen alle auf der Veranda. Von der Allee her nähert sich ein Zug roter, flackernder Feuer, biegt um den Platz; Bauern und Knechte gehen mit brennenden, qualmenden Fackeln hinter dem schwarz ausgeschlagenen Wagen her, auf dem der Sarg ruht. Die Bauern sind ihrem Herrn bis zur Grenzbrücke entgegengegangen und geleiten ihn heim. Das Haus füllt sich mit Trauergästen; die Nachbarn, die Verwandten kommen. Es ist ein klarer, sonniger Frosttag ohne Schnee, aber alle Bäume sind dick bereift, und der weiße Rauhreif glänzt und blitzt in der Sonne. Ein funkelndes Kristallgewölbe, ragt die Lindenallee in den blauen Himmel, und die hohen Birken und Kiefern auf dem Kirchhof sind von einem schimmernden, weißen Pelz überzogen. Aurel sieht und hört alles: wie der Pastor spricht, wie die gefrorenen Erdklumpen in der Gruft auf den Sarg kollern. Aber gleichzeitig erlebt er noch einmal die Beerdigung auf dem Kapellenberg, als würde Boris noch einmal begraben. Wieder tönt der Gesang: „Laßt mich gehen, laßt mich gehen …“ „Jerusalem, du hochgebaute Stadt …“ Es ist ihm, als fange erst jetzt der Schmerz um den toten Freund an richtig zu brennen, als wäre er jetzt erst bis auf den Grund des Herzens gedrungen. Oh, wie dieser doppelte Schmerz sich Immer tiefer hineinbohrt, immer größere Wunden aufreißt, ihn ganz mit einer stechenden, glühenden, unerträglichen Qual erfüllt. Nie wieder wird er den Vater, nie wieder Boris sehen. Zum erstenmal begreift er die Unwiderruflichkeit, das Endgültige: nie wieder! Kein Weihnachtsbaum brannte in diesem Jahr im Saal. Aber es war, als stünde ein dunkler Schattenbaum in jedem Zimmer und fülle das ganze Haus mit seinen lichtlosen Schattenzweigen.
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Nur oben, im Großen Korridor, brannte der Leutebaum, und die Knechte, Mägde und Kinder sangen. Und Indrik, der alte Gärtner, sang noch immer mit. Aurel hielt es nicht aus, er schlich allein in das dunkle Eckzimmer, wo er damals den Vater mit der Katze gesehen hatte, warf sich hier auf ein Bett und brach in heftiges, heißes Schluchzen aus. Warum wurde ihm alles fortgenommen: Mila, Herr Ackermann, Boris und jetzt der Vater? Und immer, wenn sein Herz sich jemandem öffnete, sich an etwas anklammerte – dann, gerade dann wurde es ihm fortgerissen. Alles mußte er hergeben. Immer war der Vater ihm fremd gewesen, und als endlich die Fremdheit wich, als er ihn erkannt hatte – da wurde er ihm genommen. Der Gesang der Leute verstummte, die Lichter am Baum erloschen. Aurel schlich sich die dunkle Treppe hinunter, ging durch den Saal, das Lesezimmer, trat in das Schreibzimmer des Vaters. Die Mutter und die großen Brüder saßen am brennenden Kamin, dann und wann fiel ein Wort. Die Mutter saß vornübergebeugt und starrte in das flackernde Feuer. Erloschen war ihr schmales Gesicht, leblos lagen ihre kalten Hände auf dem Schoß. Jetzt trug sie auch den Trauring des Vaters an ihrem Finger. „Die beiden Ringe sollen einmal zusammen begraben werden“, sagte sie leise. „Bis dahin ist es noch Zeit, Mutterchen“, meinte Bal und strich mit der Hand über ihre Schulter. „Wie soll ich ohne Papachen leben?“ stöhnte die Mutter und preßte das Gesicht in die Hände. Es war ganz still. Nur das Feuer im Kamin knisterte und warf unruhige Schatten an die Wände. Aurel war in der Ecke zum Fenster geschlichen, wo die vielen Pfeifen des Vaters auf dem runden Gestell stehen. Hier ist es dunkel, aber er kann doch die langen Rohre betasten, an
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ihnen riechen: wie gut das Weichselholz duftet! Ganz zart drückt er die Lippen an das Mundstück, wie glatt und kühl sich der Bernstein anfühlt! Dann bückt er sich, tastet mit den Händen weiter nach unten und umschließt den länglichen, ausgebuchteten Pfeifenkopf. Aurel spürt den bitteren Tabakgeruch. Aber der Pfeifenkopf ist kalt, und nie wieder wird das Feuer in ihm brennen. Am Abend, als Aurel im Bett lag, kam die Mutter zu ihm, um mit ihm zu beten. Er faltete die Hände und sprach: „Vater unser, der du bist im Himmel …“ Er stockte, ein Schluchzen stieg in ihm auf, er konnte nicht weiter. Die Mutter schloß ihn in ihre Arme, drückte ihn an sich: „Ja, wir haben keinen Vater mehr“, seufzte sie. „Aber auch er ist im Himmel, wohin wir alle einmal kommen werden. Und wir alle haben noch einen anderen Vater, der uns nie verläßt.“ Und mit fester, zuversichtlicher Stimme sprach sie das Gebet, und Aurel sprach es ihr leise nach: „Vater unser, der du bist im Himmel …“ Dann ging die Mutter. Und wieder fühlte Aurel, wie sich eine große weiche Dunkelheit um ihn legte, eine wohlige Wärme und ein tiefes Geborgensein. Mit einem glücklichen Seufzer sank er in festen Schlaf.
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