BIBLIOTHEK DER KLASSISCHEN ALTERTUMSWISSENSCHAFTEN HERAUSGEGEBEN VON H. PETERSMANN NEUE FOLGE· 2. REIHE· BAND 90
THOM...
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BIBLIOTHEK DER KLASSISCHEN ALTERTUMSWISSENSCHAFTEN HERAUSGEGEBEN VON H. PETERSMANN NEUE FOLGE· 2. REIHE· BAND 90
THOMAS BERRES
Vergil und die Helenaszene Mit einem Exkurs zu den Halbversen
HEIDELBERG 1992 CARL WINTER· UNIVERSITÄTSVERLAG
Die Deutsche Bibliothek- CIP-Einheitsaufnahme Berres, Thomas:
Vergil und die Helenaszene: mit einem Exkurs zu den Halbversen I Thomas Berres. - Heidelberg: Winter, 1992 (Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften: Reihe 2; Bd. 90) ISBN 3-533-04574-9 NE: Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften I 02
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ISBN 3-533-04574-9 ISSN 0067-8201 Alle Rechte vorbehalten. © 1992. Carl Winter Universitätsverlag, gegr. 1822, GmbH., Heidelberg Photomechanische Wiedergabe und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen nur mit ausdrücklicher Genehmigung durch den Verlag lmprime en Allemagne. Printed in Germany Reproduktion und Druck: Carl Winter Universitätsverlag, Abteilung Druckerei, Heidelberg
INHALTSVERZEICHNIS Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Überlieferungsgeschichte (1): Helenaverse und Servius . . . . . . . . . . 1 Der Text (I) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Exkurs: Der Verfasser der Helenaszene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Der Text (ll) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Metrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 Wortwiederholungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 Stil . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Überlieferungsgeschichte (II): Literarische Nachklänge . . . . . . . . . 63 Ovid .. 63 63 Seneca . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Lucan . . . . . . . Valerius Flaccus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 Statius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 Firmicus Matemus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Zum Inhalt der Lücke II 566/89 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Die Einbettung der Helena- und Venusszene in das 2. Buch (I) .... 89 Exkurs: Die Halbverse der Aeneis . . . . . . . . 99 I. Halbverse als Schluß einer Rede . . . . . . 114 2. Halbverse innerhalb einer Rede ..... . 122 3. Halbverse innerhalb erzählender Partien 136 4. Halbverse vor einer Rede ... 161 5. Halbverse nach einer Rede . . . . . . . . . . . . 171 Ergebnisse der Untersuchung . . . . . . . . . . . . 172 Das Bergeschen- Gleichnis (II 626-31) und der Halbvers II 623 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Halbversll614 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 Die Einbettung der Helena- und Venusszene in das 2. Buch (II) und der Halbvers II 640 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
VI
Inhaltsverzeichnis
Ergebnisse und Ausblick Allgemeine Problematik bei Echtheitsuntersuchungen Metrik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stilistische Abhängigkeiten . . . . . . . . . . . Aeneis ill 204 a-c (vergilisch) . . . . . . . . Aeneis VI 289 a-d (vergilisch) . . . . . . . . Editionsweise des Varius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Beschaffenheit des Aeneismanuskripts . . . . . . . . . . . . . (219) Prosaplan der Aeneis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Umarbeitung des 4. Georgicabuches . . . . . . . Einige poetische 'Techniken' Vergils . . . . . . . . . . . . . . Unfertigkeit der Aeneis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anhang: Tabellen zur entstehungsgeschichtlichen Gruppierung der Halbverse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wortregister zur Helenaszene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der Halbverse . . . . . . . . . . . . . Stellenregister zu Vergil . . . . . . . . . . . . . . . . Zitate (ohne Vergil) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . .
209 216 217 218 219 221 224 225 225
228 . . . . 230 . 233 235 . 241 . . . . 244 247 249 256 258
EINLEITUNG .,Beweisen und widerlegen kann man Bestimmungen nicht. Und die Irnamer werden erst als Irnamer erkannt, wenn sie absterben und abfallen. Die Wahrheit hat hier kein anderes Kriterium, als daß sie fruchtbar ist. " Max J. Friedländer (Von van Eyck bis Bruegel, Frankfurt 1986, S. 17)
Die Frage, ob die Verse 567-588 des 2. Aeneisbuches, die sogenannte Helenaepisode, von Vergil selbst stammen, beschäftigt die Philologie seit der Antike. Die Verse waren bereits für 0. F. GRUPPE (1859) "einer der besuchtesten Kampfplätze philologischer Kritik" 1• Und E. NORDEN urteilte über Versuche, ihre Echtheit zu erweisen, sie würden "dauernd einen Tummelplatz für Dilettanten bilden" 2 • Aber diese Warnung hielt K. BüCHNER nicht davon ab, "mit zu tummeln" 3 • Der 'Dilettantismus', der unverkennbar die Debatte beherrscht, kommt nicht von ungefähr: zu zahlreich und ungleichartig sind die miteinander zusammenhängenden Probleme, denen nachgegangen werden muß. Für alle Echtheitsfragen gilt grundsätzlich: "Unechtheit läßt sich mit e i n e m Argument beweisen, und jede Echtheit kann nur solange gelten, bis ein solches Argument gefunden ist. Echtheit zu beweisen ist viel schwieriger" 4 • Bisher ist es nicht gelungen, auch nur ein einziges überzeugendes Argument gegen die Verfasserschaft Vergils zu finden. Demgegenüber können sich die Befürworter der Echtheit hinter der nicht unbegründeten Behauptung verschanzen, die stilistischen, metrischen und inhaltlichen Besonderheiten seien damit erklärbar, daß der Dichter diese Verse im Rohbau stehengelassen habe 5 • Aber gerade diese Unvollkommenheit dürfen die Vertreter der Interpolationshypothese eigentlich unter keinen Umständen zugeben; so hält G. P. GOOLD die Helenaepisode für "a finished product" und nicht flir "a preliminary draft" 6 . Meistens jedoch
1 1859, S. 173 (Die im chronologisch angelegten Literaturverzeichnis aufgeführten Arbeiten werden nur mit Verfassernamen und Jahreszahl zitiert.). - Siehe auch R. WIECHMANN 1876, S. 17: "qua de re viri docti iam pridem inter se certarunt semperque, ni fallor, certabunt". 2 Kommentar zu Buch VI, 1927, S. 262. ' 1955, Sp. 333. 4 Das Zitat stammt aus BücHNERS Sallustbuch (Heidelberg 2 1982, S. 33) mit Bezug auf die Invektive gegen Cicero. 'Siehe E. KRAGGERUD 1975, S. 113. 6 1970, S. 154f.
vm
Einleitung
schätzen sie die Qualität der Verse eher ungünstig ein7 • Allein diese Diskrepanz in der Beurteilung der Vollendung läßt deutlich erkennen, unter welchen Zwängen die Debatte steht. Aus den hier nur kurz berührten Problemen ergeben sich für eine erneute Untersuchung der alten Streitfrage folgende methodische Forderungen: Berücksichtigung möglichst vieler Aspekte vorurteilsfreie (d.h. nicht einseitige) Auswertung der Sekundärliteratur Einzelprobleme haben prinzipiell Vorrang vor interdependenten (Vermeidung von Zirkelschlüssen). möglichst ungezwungene und widerspruchsfreie Darlegung bzw. Argumentation aber auch Bereitschaft, scheinbar widersprüchliche Beobachtungen und Ergebnisse zunächst hinzunehmen Reflexion darüber, welche Momente auf Echtheit bzw. Unechtheit hindeuten können Diese Regeln müssen um so strenger beachtet werden, als es bei Verfasserfragen im allgemeinen keine Grauzone gibt, sondern nur entweder 'echt' oder 'unecht' möglich ist und daher die Gefahr besteht, durch vorschnelle Verallgemeinerung eines Einzelergebnisses zu einer grundsätzlichen Fehleinschätzung zu kommen. Wenn dem vorangestellten Motto zufolge die Wahrheit erst durch ihre Fruchtbarkeit erkannt wird, so gilt dies für die Helenaverse in zweifacher Hinsicht. Denn die rechte Beurteilung der umstrittenen Partie wirft Licht auf die Aeneis insgesamt, wie umgekehrt tieferes Eindringen in Vergils Dichtung eine hinreichende Voraussetzung für die Klärung der Authentizitätsfrage schaffen muß. 8 Die bisherige Debatte zeigt mit ihren widersprüchlichen Ergebnissen, wie weit wir noch von einem wenigstens befriedigenden Vergilverständnis entfernt sind. Jedoch hat die Forschung deutlich werden lassen, daß die Helenaverse eng mit bestimmten Problemen der Aeneisentstehung zusammenhängen. Zwar erfreuen sich genetische Untersuchungen zur Zeit keiner besonderen Beliebtheit, aber sie sind im Falle der Aeneis unverzichtbar, da das Werk unvollendet in unsere Hände gelangt ist. Tatsächlich kann man bisweilen sogar erhebliche Qualitätsunterschiede beobachten. Als Zeichen der Unfertigkeit fallen am stärksten die 58 Halbverse in die Augen. Von ihnen sind 3 (II 614.623.6~0) mit der Venuserscheinung (II 589ff.) verknüpft, einer Szene, die unmittelbar auf die Helenaverse folgt und von diesen möglicherweise nicht getrennt werden darf. Deshalb war es nötig, in einem großen Exkurs und den drei folgenden Kapiteln eine Übersicht bzw. genetische Analyse sämtlicher Halbverse zu geben. 9
Siehe die bei AusTIN (1961, S. 186) gesammelten Urteile. Diese Feststellung gilt unabhängig davon, ob mir die Lösung gelungen ist oder nicht. 9 In meiner Dissertation (Die Entstehung der Aeneis, Hermes Einzelschrift, Heft 45, 1982) habe ich etwa ein Drittel von ihnen untersucht. Bei Bedarf verweise ich auf dieses Buch. 7
8
Einleitung
IX
Daß Bestimmungen nicht bewiesen werden können, darin mag M. J. Friedländer, soweit es die alte niederländische Malerei betrifft, recht haben. Ob diese Ansicht auch für literarische Kunstwerke gilt, sei dem Urteil des Lesers überlassen. Bei der Abfassung und Fertigstellung der vorliegenden Arbeit habe ich nicht unwesentliche Hilfe erfahren. Ich danke Herrn Dr. ECKEHARD MARTINI und Herrn Prof. Dr. Dr. CLAUS-ARTUR SCHEIER. Herr Dr. ANDREAS MARTENS hat sich - als Biologe - in meine Halbverstheorie vertieft und mir besonders bei der statistischen Behandlung der Halbverse geholfen und mich vor Irrtümern bewahrt. Dank gebührt auch dem Carl Winter Universitätsverlag und Herrn Dr. CARL WINTER für die gute Zusammenarbeit, sowie Herrn Prof. Dr. HUBERT PETERSMANN als dem Herausgeber der Reihe 'Bibliothek der klassischen Altertumswissenschaften' und Herrn Prof. Dr. VIKTOR PöSCHL. Von Kollegen und Bekannten erhielt ich Ratschläge und Hilfe beim Computersatz. Meine Mutter hat nicht nur das Erscheinen dieses Buches finanziell großzügig gefördert, sondern mir auch durch umfassende und sorgfältige Korrekturen des Typoskripts sehr geholfen. Braunschweig, im September 1992
Thomas Herres
ÜBERLIEFERUNGSGESCHICHTE (1): HELENA VERSE UND SERVIUS Die Helenaverse verdanken wir nicht den erhaltenen antiken Vergilcodices, sondern Servius, aus dessen Kommentar sie in einige mittelalterliche Handschriften und dann in fast alle gedruckten Ausgaben eingedrungen sind 1• Hinsichtlich dieses Kommentars muß unterschieden werden zwischen dem Kommentar des Servius (um 400) und dem des Servius auctus (bzw. Servius Danielis); letzterer ist wahrscheinlich das Werk eines irischen Kompilators aus dem 7. J ahrhunderf, der, vermutlich aus dem bedeutenden, heute verlorenen Kommentar des Aelius Donatus (4. Jh.) schöpfend, den Servius auf ziemlich unbeholfene Weise erweitert hatl. Die Helenaverse sind nun sowohl von Servius als auch von Servius auctus überliefert worden, jedoch an verschiedenen Stellen: von Servius in der dem Kommentar vorausgeschickten Vita, von Servius auctus zu A.(eneis) II 566 (s. ÜbersichtS. 2). THILO glaubte, daß Servius auctus die Verse aus Servius genommen habe4 ; den umgekehrten Vorgang behauptete ohne Begründung E. FRAENKEL5 , dem sich ROWELL anschloß 6 • Entschieden wurde die Frage durch GOOLD, der Servius die Priorität gab. Seine (stark vereinfachten) Argumente: I. Servius auctus hat an allen Stellen (von I 1 bis II 592), an denen Servius Rückverweise mit aktiver Verbform aufweist (z.B. zu I 37: ut superius diximus), unpersönliche Formen (zu I 37: ut superius dieturn estf. N a c h II 592 begegnen auch bei Servius auctus fast nur noch aktive Rückverweise. Ermüdung oder Resignation des Kompilators? fragt GOOLD 8 • Dennoch bleibt der Kompilator dann, wenn er Anmerkungen in den Serviustext einfügt, bei den passiven Rückverweisen 9 • Diese Beobachtungen sprechen entschieden dafür, daß Servius auctus die Verwandlung von Aktiv in Passiv vornahm, so auch an der uns interessierenden Stelle zu II 592: ut enim dieturn est (s. Übersicht).
1 Siehe z.B. HEYNE-WAGNER (Kommentar, London 4 1832) und GEYMONAT (Vergilausgabe, Turin 1973) ad loc. 2 Siehe K. BARWICK, Zur Serviusfrage, Philologus 70, 1911, S. 145; BücHNER 1955, Sp. 451; GooLD 1970, S. 104f. 3 Siehe GoOLD 1970, S. 105-17. 4 Serviusausgabe Bd. I, 1881, S. LXXVI Anm. 2. l 1948, s. 132. '1966. 7 GooLD S. 107f. • s. 108. 9 S. 109.
Servius
beide
Vita: et in secundo hos versus constat esse detractos:
Servius auetos Praefatio: et in secundo libro aliquos versus posuerat, quos constat esse detractos, quos inveniemus, cum pervenerimus ad locum, de quo detracti sunt.
.aut ignibus aegra dedere. iamque adeo super unus eram ........ . . . . . .. . . . . . . . . . . furiata mente ferebar, cum mihi se non ante alias. •
zu A.II 566: ignibus aegra dedere: post hunc versum hi versus fuerunt, qui a Tucca et Vario sublati 10 sunt: .iamque adeo super unus eram ..... . . . . . . . . . . . . . . . . furiata mente loquebar. •
zu A.II 592: dextraque prehensum: ea corporis parte, qua ictum Helenae minabatur, quae in templo Vestae stabat omata. ut enim in primo ( = Vita) diximus, aliquos hinc versus
dieturn est, versus illos, qui superius [zu A.ll 566] notati sunt, hinc constat esse sublatos, nec inmerito. nam et turpe est viro forti contra feminam irasci, et contrarium est Helenam in domo Priami fuisse illi rei, quae in sexto [494ff.] dicitur, quia in domo est inventa Deiphobi, postquam ex summa arce vocaverat Graecos. hinc autem versus fuisse sublatos Veneris verba declarant dicentis [II 601] non tibi Tyndaridis facies invisa Lacaenae.
10
Überliefert ist obliti. Zu BERGKS wohl richtiger Konjektur sublati s. GooLD S. 132.
Überlieferungsgeschichte (I): Helenaverse und Servius
3
2.a) Servius auctus neigt dazu, Kommentarstücke (auch des Servius) von ihrem ursprünglichen Platz abzulösen und an andere Lemmata anzufügen''· Beweisbar sind diese Manipulationen immer dann, wenn durch sie Unsinn angerichtet wird 12 • b) Da Servius auctus vermutlich beabsichtigte, die karge Serviusvita durch die Donatvita zu ersetzen 13 , scheint er aus der Serviusvita eine historische Nachricht mit Bezug auf Ecl. 9,28 (im Zitat) 14 'gerettet' und als Kommentar zu Ecl. 9,28 übernommen zu haben 15 • Hierbei ist bemerkenswert, daß weder der Belogenvers noch die Helenaszene in irgendeiner Weise in der Donatvita zitiert oder auf sie auch nur angespielt wird. 3. Wenn der Kompilator die Helenaverse in Donats Kommentar gefunden hätte, so verwundert es, daß er a) kein einziges Scholion Donats in seinen Servius übernommen hat 16 und b) zweimal (zu II 566 und 592) statt einmal, wie es natürlich gewesen wäre, auf die Streichung der Verse eingegangen ist 17 • Ein weiteres, sogar zwingendes Ar~ument ist von GOOLD übersehen worden. Servius notiert zu II 592 (s. Ubersicht) u.a.: ut enim in primo ( = Vita) diximus, aliquos hinc versus constat esse sublatos ... , Servius auctus hingegen: ut enim dieturn est, versus illos, qui superius (zu II 566) notati sunt, hinc constat esse sublatos ... Während Servius einen einfachen Rückverweis gebrauchte, glaubte Servius auctus nicht ohne einen doppelten auskommen zu können. Sowohl ut enim dieturn est als auch superius verweisen auf dieselbe Stelle, nämlich die Notiz zu II 566. Diese geradezu irreführende Ungeschicklichkeit ist nur dann begreiflich, wenn man dem Kompilator unterstellt, den Rückverweis des Servius den neuen Verhältnissen entsprechend ziemlich mechanisch 18 abgewandelt zu haben 19 •
S. JjJf. Z.B.: Servius bemerkt zu I 119 arma virum (\W virum Genitiv Plural ist): bene addidit 'virum', arma enim dicuntur cunctarum artium instrumenta, ut (177) 'Cerealiaque arma'. Servius auctus stellt diese Notiz jedoch zu I I arma virumque cano (\W virum Akk. Sing. ist): et bene addidit post arma 'virum', quia 'arma' possunt et aliarum artium instrumenta dici, ut (177) 'Cerealiaque arma'. Siehe GooLD S. !II. 13 Begründung bei GooLD S. 119. 14 Serviusvita Z. 16-22 (Ausgabe von HARDIE, Oxford 2 1957). 15 GooLD S. 12lf.; MURGIA 1971, S. 203 Anm. 2 (mit Hinweis auf seineungedruckte Diss., Harvard 1966). 16 GOOLD S. 134. 17 GOOLD S. 132. 18 Eben dies ist auch sonst typisch ftir die sorglose Arbeit des Kompilators (s. GooLD S.106.108.1llf.ll6). 19 ROWELL (1966, S. 219) vertritt die umgekehrte zeitliche Reihenfolge der beiden Scholien. Seine Begründung, daß auch die Bemerkung der Serviusvita gegenüber der entsprechenden II
12
4
Überlieferungsgeschichte (1): Helenaverse und Servius
Aus den angeführten Argumenten ergibt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit, daß Donat die Helenaverse an keiner Stelle erwähnt hat2°. Da er seinen Kommentar, wie er im Widmungsbrief an Munatius bekennt, unter sorgsam auswählender Benutzung fast aller Vorgänger verfaßt hat2 1, könnte sein Schweigen darauf hindeuten, daß die umstrittenen Ve,rse in den ihm vorliegenden Kommentaren entweder (a) fehlten oder (b). als offensichtlich unecht gebrandmarkt waren. Für (a) spricht das völlige Ausbleiben der sonst für Vergil so überreichen Nebenüberlieferung22 • Für (b) könnte sprechen, daß 1. Donat die Traditionsmasse einer strengen Auswahl unterworfen und vieles fortgelassen hat2 3 , 2. Servius die Verse nicht selbst gedichtet haben kann, sie also aus einem älteren Kommentar oder vergleichbaren Schriftwerken genommen haben muß, und 3. der Schluß seiner Bemerkung zu ll 592, die die Tatsächlichkeit des Versausfalls beweisen will, apologetischen Charakter trägt24 • Sicher ist, daß es vor Servius eine Tradition dieser Verse gegeben hat, mag sie auch ein noch so obskures oder dünnes Rinnsal gewesen sein.
Passage des Servius auctus (s. Übersicht) sekundär sei (S. 200), verdoppelt den Fehler (s. dazu GOOLD S. 129f.). 20 GOOLD S. 134.
Viel vorsichtiger MURGIA 1971, S. 206 Anm. 10. Inspectis fere omnibus ante me qui in Virgilii opere calluerunt, brevitati admodum studens quam te amare cognoveram, adeo de multis pauca decerpsi, ut magis iustam offensionem lectoris expectem, quod veterum sciens multa transierim, quam quod paginam compleverim supervacuis (Ausgabe von HARDIE, Z. 1-6), und andere Stellen. 22 Siehe GoOLDS nützliche Aufstellung für II 525-624 (S. 164). 23 Siehe Anm. 21. 24 hinc autem versus fuisse sublatos Veneris verba declarant dicentis [II 601] non tibi 'l'jndaridis facies invisa Lacaenae. Diese Worte wären bei Servius entbehrlich, dienten sie ihm nicht dazu, mit Hilfe des Aeneisverses II 601, wo nach seiner Meinung offensichtlich (declarant) auf die ausgefallenen Verse angespielt wird, ihre vorher nur behauptete ursprüngliche Existenz zu beweisen. Denn zu einem solchen Beweis ist das Lemma dextraque prehensum (II 592), dem eigentlich seine ganze Notiz gelten sollte, nicht stark genug. Ähnlich GooLD S. 139f. 21
DER TEXT (I) 567
570
575
580
585
588
iamque adeo super unus eram, cum limina Vestae servantem et tacitam secreta in sede latentem Tyndarida aspicio; dant clara incendia lucem erranti passimque oculos per cuncta ferenti. illa sibi infestos eversa ob Pergama Teucros et Danaum poenam et deseni coniugis iras praemetuens, Troiae et patriae communis Erinys, abdiderat sese atque aris invisa sedebat. exarsere ignes animo; subit ira cadentem ulcisci patriam et sceleratas sumere poenas. 'Scilicet haec Spanam incolumis patriasque Mycenas aspiciet, partoque ibit regina triumpho, coniugiumque domumque, patres natosque videbit, Iliadum turba et Phrygiis comitata ministris? occiderit ferro Priamus? Troia arserit igni? Dardanium totiens sudarit sanguine litus? non ita. namque etsi nullum memorabile nomen feminea in poena est, habet haec victoria laudem, exstinxisse nefas tarnen et sumpsisse merentes laudabor poenas animumque explesse iuvabit ultricis famae et cineres satiasse meorum. ' talia iactabam et furiata mente ferebar,
Zur (vergilischen) Umgebung dieser Verse siehe u. S. 89. Obwohl der überlieferte Wortlaut im allgemeinen ziemlich leicht herstellbar ist, müssen doch einige Stellen näher betrachtet werden. Statt Danaum poenam (572) muß das unmetrische Danaum poenas, das sowohl von Servius auctus als auch einigen Serviushandschriften bezeugt wird, als Überlieferung gelten 1• Die von den Herausgebern bevorzugte Lesart poenas Danaum ist wohl nicht mehr als ein Verbesserungsversuch2 , zumal man nur schwer einsehen kann, wie es zur metrumwidrigen
s.
1 So der Text des Harvard-Servius; FUNAIOU 1948, S. 244; siehe bes. BRuERE 1948, 127f. 2 BRuERE S. 128.
6
Der Text (I)
Umstellung der beiden Wörter kam 3 • Außerdem hat sich der unbekannte Autor, dessen extreme stilistische Nähe zu Vergil offenkundig ist, für et Danaum poenaslm et deseni coniugis iras (TI 572) von tum Danai gemitu atque ereptae virginis ira (ll413) inspirieren lassen, zumal er - gleichsam zum Beweis seiner Abhängigkeit - aus der Nachbarschaft furiata mente (407) wörtlich nach 588 übertragen hat. Der Herausgeber muß sich also entscheiden zwischen (a) Danaum poenas oder (b) Danaum poenam. (b) wird empfohlen durch die Metrik und die scheinbar einfache Fehlererklärung (poenas sei verschrieben aufgrund von iras4 ). Für (a) spricht die Überlieferung, der pluralische Gebrauch von poena bei Vergil 5 und der, wie ich noch zeigen werde, unfertige Zustand der Helenaverse. Da ein metrisch fehlerhafter Vers die Verfasserschaft Vergils nahelegen würde, habe ich entgegen der Regel, daß Konjekturen den Textzusammenhang bzw. -zustand berücksichtigen müssen, das doch wohl falsche Danaum poenam mit GOOLD (S. 143) in den Text gesetzt. GOOLD hat nämlich den bisher energischsten Versuch unternommen, die Unechtheit zu beweisen. Da ich das umgekehrte Beweisziel habe, will ich im Falle von Danaum poenam GOOLDS Text folgen, um mir nicht den Vorwurf einzuhandeln, ich hätte den Text in meinem Sinne (leichtfertig) manipuliert. Den Vers
coniugiumque domumque, patres natosque videbit
(ll 579) hat man verdächtigt, interpoliert zu sein. Soweit sich die Kritik auf inhaltliche Schwierigkeiten des Verses selbst richtete6 , muß sie inzwischen als widerlegt gelten7 • Ernster zu nehmen ist WAGNERS Beobachtung, daß GOOLD 1970, S. 143. MURGIA (zitiert bei GOOLD S. 143). ' Vergil gebraucht (von den Helenaversen abgesehen) poena 36x, davon nur 6x im Singular. Von den Pluralstellen stehen VIII 668 et seelerum poena$, et te ... (vgl. XI 258 supplieia et seelerum poena.f ... ) und VI 565 ipsa deum poenas unserer Stelle besonders nahe wegen des vorangestellten und mit poenas verbundenen Genitiv. Vgl. auch IV 656 u/ta virum poenas, wo virum freilich syntaktisch Akkusativ sein muß, formal aber auch alter Genitiv wie deum und Danaum sein könnte! Der mutmaßliche lnterpolator hat sich also in Vergil hineingehört und dabei unversehens einen metrischen Schnitzer begangen?! Auch II 576 und 586 hat er poenas. Eine Ausnahme bei ihm ist II 584feminea in poena, eine singuläre Wendung und weit kühner als I 136 non simili poena. Die übrigen Belege fiir singularischen Gebrauch von poena sind: V 786; VI 61415.821; XII 949. 6 Z.B. patres: beide Eltern Helenas seien zum damaligen Zeitpunkt tot gewesen {WAGNER); natos: Helena habe nur eine Tochter, Hermione (KVICALA 1881, S. 28). 7 Siehe FORBIGER, LADEWIG-SCHAPER-DEUTICKE und CONJNGIDN zur Stelle; außerdem FAIRCLOUGH 1906, S. 224 und AUSTIN 1964, S. 224. - Allerdings darf man die Überlieferung patres nicht aufgeben zugunsten von patris (Genitiv), wie z.B. AUSTIN a.a.O., HIRTZEL und MYNORS in ihren Ausgaben. patris findet sich nur ·in "einer untergeordneten Handschrift (Menagianus II)" und ist "natürlich nur fiir eine C o n j e c tu r zu halten" (KVICALA S. 28). Daß sich die Verbindung von patris mit domum wegen 577 patriasque Myeenas verbiete, kann 3
4
Der Text (I)
7
nach Herausnahme von 579 der Anschluß von 580 an 578 vorzüglich ist, wodurch eine "perfecta victricis quasi et triumphantis reginae imago" hervorgerufen würde. Und ergänzend bemerkt KVICALA: "wenn man sagt, dass V. 579 nicht getilgt zu werden brauche, sondern dass man über denselben hinweg doch 580 mit 578 verbinden könne, so ist dies nur eine willkürliche grammatische A n n a h m e ; denn in Wirklichkeit wird doch jeder Leser und Hörer comitata mit dem zunächst stehenden videbit verbinden " 8 • AUSTIN, der ja sonst für fast jedes Wort und jede Wendung des Interpolators wenigstens e i n e vergilische Parallele bereithält, führt hierzu keinen Beleg an. Vergils Gebrauch des passiven Partizips comitatus läßt nur einen unmittelbaren Bezug auf ein Verb der Bewegung zu 9 • Darin drückt sich nicht eine vergilische Besonderheit aus, sondern eine von der Sache geforderte Notwendigkeit. Warum hat nun der Verfasser der Helenaverse, der ja fast sklavisch Vergils Stil nachzuahmen scheint, im Falle der Verse 578-80 so leichtfertig und stümperhaft gearbeitet? Ehe wir übereilt 579 als Interpolation in der Interpolation entlarven, sollen die Gegenargumente zur Sprache kommen. 579 scheine hervorgerufen durch die (vergilischen) Verse 560 subiit cari genitoris imagound 563 et direpta domus et parvi casus /uli 10 ; der Verfasser von 579 wolle offenbar "das Glück der Helena, welche in der Heimat alles unverändert finden wird, dem traurigen Lose der Trojaner" entgegenstellen 11 • Von daher erklärt sich zwanglos der Pluralpatres und natos 12 • Interesse verdienen auch die literarischen Vorbilder von 579. Möglicherweise klingt der Vers an r 140 an, wo Iris der Helena süßes Verlangen einflößt nach
ixvopoc; re 1rporepov Kal &areoc; ~ö€ roK~wv. 13
ich WAGNER nicht zugeben, da sich der lnterpolator in den Versen 583-6 noch auffälligere Doppelungen erlaubt (s.u.). 8 1881, S. 29. Allerdings behauptet AUSTIN (1964, S. 223) ftir 578/579/580 .,clear continuity: shall Helen return harne in triumph (578) to the bosom of her family (579), with a retinue of captive slaves (580)?" Die Paraphrase .,in den Schoß ihrer Familie" schwächt die Aussage und Bedeutung von Vers 579, der sogar ein eigenes Prädikat (videbit) hat, zu stark ab. 9 I 312 (graditur); IX 47f. (praecesserat). (X 186 ist ganz anders.) Dem passivisch gebrauchten comitatus entspricht funktionell das aktive Partizip Präsens im Ablativ: II 40f. (magna comitante caterva I Laocoon ardens summa decurrit ab arce); II 370f. (se ... o.ffert); III 345f. (sese ... adfert); V 75f. (ibat); XI 498f. (occurrit). (IV 48f. liegt ganz ab.) - Dieselben Verhältnisse sind auch bei stipata (IV 544f. iriferar) und stipante (I 497 incessit; IV 136 progreditur) zu beobachten. 10 G. FRIEDRICH 1868, S. 30. Ebenso AUSTIN 1964, S. 223. Siehe auch MURGIA 1971, S. 209 (Ablehnung der Konjektur patris). 11 LADEWIG-SCHAPER-DEUTICKE zur Stelle. Siehe auch LADEWIG bei WEIDNER; FAIRCLOUGH 1906, S. 223f.; MAZZARINO 1955, S. 24f. 12 Siehe vorige Anm. 13 Vergil hat diesen Vers sicherlich gekannt, denn er hat r 146f., also 2 Verse in unmittelbarer Nachbarschaft, in X 123 (s. auch 129: Clytio) sorgfaltigst verarbeitet (s. BERRES 1982, s. 181).
8
Der Text (I)
Unstrittiges Vorbild sind die Verse XI 269f., die aus der Rede des Diomedes stammen: invidisse deos, patriis ut redditus aris coniugium optatum et pulchram Calydona viderem? Unmittelbar vorher hatte er von der coniugis infandae (267), Clytaemestra (übrigens Schwester der Helena) gesprochen, durch deren Rechte Agamemnon, der Mycenaeus ... ductor (XI 266: vgl. Mycenas, II 577) starb. Aegisths Name fallt nicht, stattdessen wird seine Funktion genannt: adulter (268). Der Verfasser von II 579 hat also die vergilischen Teilvorstellungen - die Untat einer ruchlosen Ehebrecherin (Clytaemestra) und das Unglück, die ersehnte Gattin und geliebte Heimat nicht mehr sehen zu können (Diomedes) - miteinander verbunden und auf Helena bzw. Aeneas, der sich rasend vor Zorn Helenas zukünftiges Glück ausmalt, übertragen. Ja, er hat sogar zwei Verse aus Sinons Trugrede (II 137f.) anklingen lassen, wo der listige Grieche gerade den Schmerz heuchelt, der Aeneas in der umstrittenen Partie beim Anblick Helenas überfallt: nec mihi iam patriam antiquam spes ulla videndi, nec dulcis natos exoptatumque parentern ... Die EinfUgung von II 579 legt Zeugnis ab von hervorragenden Vergilkenntnissen und dem Vermögen, tief in Vergils Herz einzudringen - und doch reicht der Blick des Verfassers nicht einmal 10 Verse zurück, wo Helena in Angst vor den Griechen und ihrem verlassenen Gemahl gezeigt wird (572f.). AUSTIN denkt bei 579 mit Recht an einen alternativen Gedankengang 14 • Der Widerspruch ist zu groß, als daß die Annahme einer sekundären Interpolation hier helfen könnte. Vor scheinbar größte textkritische Schwierigkeiten stellt uns der Anfang von 587: . . . animumque explesse iuvabit ultricis t famam et cineres satiasse meorum. (II 586f.) Die Fülle der bisherigen Forschung erlaubt eine ziemlich sichere Herstellung des ursprünglichen Wortlautes. Die handschriftliche Überlieferung spaltet sich in die beiden ungefahr gleichberechtigten Lesarten famam undfamae auf. Obwohl das im Neapolitanus 5, einer Handschrift des 10. Jahrh., befindliche jlammae fast einhellig als Konjektur gilt 15 , erfreut es sich größter Beliebtheit. HEYNE bezieht animumque ... jlammae inhaltlich auf den ardor ulciscendi, zeigt sich aber unzufrieden mit der harten Ausdrucksweise ("duriter dictum"), sei es, daß man (a) ultricis flammae unmittelbar von animum abhängen läßt im Sinne von flammam animi ( = ulciscendi cupiditatem),
14
1964, S. 223.
15 Z.B. NETILESHIP
zu II 587;
RENEHAN
1973, S. 197.
Der Text (I)
9
oder (b) ultricisjlammae mit explesse verbindet und darunter flamma bzw. ira ultrice ( = ultione) versteht 16 • Gegen (b) hat man eingewandt, daß explere mit Genitiv in der gesamten Latinität sonst nicht belegt ist; doch sind diese Bedenken gegenstandslos, da singuläre syntaktische Erscheinungen nicht per se verdächtigt werden dürfen und überdies genügend analoge Parallelen zur Verfügung stehen 17 • MURGIA faßtjlammae als 'Zorn' (anger) auf, da die Helenaepisode eine Ringkomposition darstelle und daher jlammae die Bedeutung 'Zorn' von ignes (575) wiederaufnehme 18 • Dies ist natürlich eine petitio principii 19 • Doch auch wenn man jlammae mit 'Zorn' übersetzen könnte2°, bleibt das Bedenken, das MURGIA selbst äußert: Die Wendung ultricis jlammae sei "loosely" gebraucht; denn wenn auch die Rache den Zorn einschließe, so sei es doch mehr die Rache, die Aeneas' Sinn befriedige21 • Aber man muß genauer formulieren: Rache kann sehr wohl das Herz befriedigen, nicht aber Zorn, im Gegenteil: er bringt die Leidenschaften auf den Siedepunkt22 • Die Vorstellung 'Zorn' muß also hier ganz ferngehalten werden und darf nicht durch die Konjektur jlammae in einen Kontext (583 -7), in dem es nur um Rache und Ruhm geht, sinnzerstörend Einzug nehmen23 • Will manjlammae im Text halten, bleibt nur noch der Ausweg, ultricis jlammae unmittelbar von animum abhängen zu lassen 24 . "Even more desperate", sagt AUSTIN 25
16 WAGNER kombiniert (a) und (b) und will ulrricisjlammae sowohl von animum als auch von explesse abhängig machen. 17 Genitiv nach campiere, implere, replere, opplere. Umfassend dazu RENEHAN 1973,
s.
197-9. 18 1971, S. 211f. (zustimmend RENEHAN S. 199f.; s. auch KRAGGERUD 1975, S. 116). 19 Eine Ringkomposition liegt nicht vor. Denn laut MURGIA und RENEHAN beziehen sich die Verse 585-7, die den Abschluß von Aeneas' Selbstgespräch bilden, auf die Verse 575f., die der Rede unmittelbar als Einleitung vorausgehen. Beide Stellen befinden sich also nicht in demselben (funktionellen) Zusammenhang. Die zweifellos bestechende Beziehung (die durch die unzulässige Konjektur jlammae teilweise überhaupt erst konstituiert wird!) darf jedoch nicht vorschnell zu der Annahme einer Wortgleichung verleiten, da ein solches Verfahren voraussetzen würde, daß der Verfasser an der zweiten Stelle dasselbe wie an der ersten sage. 20 AUSTIN 1961, S. 193 hatte kategorisch behauptet, daßjlamma im klassischen Latein nicht 'Zorn' bedeuten könne (s. aber KRAGGERUD 1975, S. 119 Anm. 41). Prinzipiell können fehlende Belege sprachliche Singularitäten nicht diskreditieren. 21 S. 212. RENEHAN sucht MURGlAS Bedenken zu zerstreuen, indem er ulrricis das Bedeutungsübergewicht einräumt (S. 200). 22 Siehe schon G. ScHRÖTER, Beiträge zur Kritik und Erklärung von Vergils Aeneis I. Theil, Gymn. Progr. Gr.Strelitz 1875, S. 7: "Wer aber sein Herz anfüllt mit Rachgier, der weckt die Gluth der Leidenschaft und nährt sie anstatt sie zu stillen." 23 RENEHAN versucht auf der Grundlage willkürlich zusammengetragener 'Parallelen' (Cic. in Pis. 20,46; de leg. 1,14,40; Har. resp. 2,4; Ovid met. 4,506-9; Livius 21,10,11; Vergil A.IV 469 -74) eine neue (und abwegige) Interpretation: "8oth of its components, ulrrix and jlamma, suggest the Furiae; ulrrix refers to their function, jlamma to their symbol. Of course, the furiae suggested by ulrrixjlamma are a synecdoche for ultio ... " (S. 201). 24 HEYNE (s.o. S. 8 unter (a)); SCHRÖTER (o. Anm. 22) S. 7; LADEWIG-SCHAPER-DEUTICKE, Komm. ad loc.; PASCAL 1904/5, S. 120 Anm. 2. 25 1961, S. 192, allerdings ohne nähere Begründung.
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Der Text (I)
mit Recht. Selbst wenn man die Verstiegenheit und zugleich Frostigkeit dieser Verbindung hinnehmen könnte, so würde doch kein Leser oder Hörer dieser Verse s p o n t a n auf eine solche Interpretation verfallen. Die Wendung wäre verrätselt und würde dem Verfasser von 567-88, der sich bei aller poetischen Kraft um große Deutlichkeit bemüht, einen Stilbruch unterstellen. Angesichts des Umstandes, daß jlammae als effektvolle, trivialisierende (und daher so beliebte) Konjektur die Textverderbnis nicht heilt, sondern vergrößert, muß eine Rückbesinnung erfolgen auf die überlieferten Lesarten famae undfamam. famam ist, wie MURGIA betont, nicht lectio difficilior, da es keine lectio difficilis ist26 , sondern ein bloßer Abschreibfehler, der zu einer unkonstruierbaren Wortfolge geführt hat27 • Ist nun ultricis famae überhaupt Latein, syntaktisch vertretbar und im Textzusammenhang verständlich? Der sonst nicht belegte Genitiv nach explere ist völlig unanstößig28 • ultricis famae sei "impossible Latin", da die Verbindung von ultrix mit einem Wort wiefamasonst nirgendwo belegt sei (AUSTIN 29 ). Dixeris egregie, notum si callida verbum I reddiderit iunctura novum (Horaz a.p. 47f.). Es ist nicht einzusehen, warum z.B. Vergil und Horaz in hohem Maße Gebrauch von solchen iuncturae machen dürfen, dies aber dem Autor der Helenaverse, der vielen als großer Dichter gilt (wie seine Identifizierung mit Vergil zeigt), verwehrt sein soll. Gewichtiger ist AUSTINS Einwand, daß ultrix fama nur bedeuten könne: "[ama that brings vengeance", was unverständlich sei 30 • AUSTIN läßt dabei außer acht, daß der Interpolator noch an zwei weiteren Stellen einem Substantiv ein Attribut hinzufügt, das, dem normalen Sprachgebrauch zufolge aufgefaßt, widersinnig, im Textzusammenhang jedoch keine semantische Schwierigkeit bereitet: sceleratas sumere poenas (576) sumpsisse merentis I ... poenas (585f.) Zu 576 bemerkt AUSTIN: "this very remarkable phrase has no parallel in any other author. Virgil is experimenting, and the sentiment is clearly that
26
1971,
s.
210.
famam könnte nur dann richtige Lesart sein, wenn man zwischen 586 und 587 Versausfall annimmt (NETILESIDP, Ancient Lives of Vergil, Oxford 1879, S. 24 Anm. 1 zu u/tricisfamam, 27
und Kommentar zu II 586; AusTIN 1961, S. 194; 1964, S. 228). Die Untauglichkeit des Mittels zeigt sich jedoch darin, daß ultricis famam auch jetzt unkonstruierbar bleibt, weshalb NETILESIDP an die zusätzliche Änderung von ultricis in a/tricis (altrix als Epitheton für patria) dachte. Dagegen spricht die enge Verbindung, die explere (586) und satiare (587) in der Latinität gern eingehen: Lucr. 3,1017 (wahrscheinliches Vorbild für den Verfasser der Helenaverse: s.u. S. 17 Anm. 16); Cic. Part. orat. 27,96; de rep. 6.1; Paradoxa 1,1,6; de sen. 47 (PASCAL 1904/5, S. 120 Anm. 2; AUSTIN 1964, S. 228; MURGIA 1971, S. 209f.). Entscheidend natürlich ist, daß die überlieferte Lesart keiner, erst recht nicht so gewaltsamer Heilung bedarf (s. das weitere). 28 Siehe o. S. 9 mit Anm. 17. 29 1964, s. 227. 30 s. 227f.
Der Text (I)
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of XII. 949 'poenas scelerato ex sanguine sumit': he has transferred the epithet from the culprit to the punishment . . . Emendations of a quite improbable nature have been proposed" 31 • (Die Auffassung von sceleratas als 'verbrecherisch', so als ob Aeneas seine eigene Handlungsweise verurteile, lehnt AUSTIN mit Recht ab 32 .) Wider Willen führt hier der Gelehrte seine Argumente gegen ultrixfama ad absurdum. Zu 585f. lesen wir bei ihm: "if this (sc. merentis) is genitive singular, the construction has no parallel; yet Virgil clearly liked inventivness in writing of crime and punishment ... If merentis is accusative plural, it is an experiment like sceleratas sumere poenas (576), but even bolder ... " 33 • Jedoch darf merentis (die besser bezeugte Lesart ist merentes) nicht als Genitiv aufgefaßt werden, weil der lnterpolator dort, wo es um Helenas Schuld geht, nicht mit starken Ausdrücken geizt (Erinys, 573; invisa, 574; sceleratas, 576; nefas, 585 34), hier aber, am Ende und Höhepunkt von Aeneas' Selbstgespräch (nur wenige Worte nach nefas!), Helena mit der blassen Bezeichnung merentis versehen haben soll. (Vergil gebraucht merere in vergleichbaren Situationen nur, wenn auf diesem Wort besonderes Gewicht Iiegtl 5 .) Der Verfasser von ll 585f. will gar nicht die (unbestrittene) Schuld der Helena betonen, sondern die Rache, die Aeneas an einer (wehrlosen) Frau (583f.), die sich zudem noch ins Heiligtum der Vesta geflüchtet hatte (567 -9; 574), üben wollte, rechtfertigen. Aeneas gibt zu verstehen, daß für ein Ausnahmeweib wie Helena auch eine die Konventionen durchbrechende Strafe verdient und angemessen sei. Also: merentis poenas - meritas poenas. Wegen der überaus kühnen, ja beispiellosen Verbindungen sceleratas poenas und merentis poenas 36 muß auch für ultricis famae (bzw. ultrici fama) die Möglichkeit eingeräumt werden, daß ultrix hier eine ungewöhnli-
S. 222 (s. auch 1961, S. 190). Zu sceleratas sumere poenas siehe auch (außer den Kommentaren) JACOB 1829, S. 14; HAECKERMANN 1863, S. 31f.; PöHLIG 1880, S. II; NOACK 1893, S. 425 Anm. I; PASCAL 1904/5, S. 120 Anm. 2; HEINZE 1915, S. 45 Anm. I; KNIGHT 1932, S. 46f.; PALMER 1938, S. 377; HATCH 1959, S. 256 Anm. I; MURGIA 1971, S. 212 Anm. 18 und S. 213f.; HIGHET 1972, S. 170; KRAGGERUD 1975, S. 115f. " 1964, S. 227 (s. auch 1961, S. 191). Weitere Literatur: HAECKERMANN 1863, S. 32; PÖHLIG 1880, S. llf.; TIULO 1886, S. XXXII; NOACK 1893, S. 425 Anm. I; PASCAL 1904/5, S. 120 Anm. 2; MURGIA 1971, S. 212 Anm. 18 und S. 213f.; HIGHET 1972, S. 170; KRAGGERUD 1975, S. 116. 34 Zu nefas s. AUSTIN 1964, S. 226. 35 Z. B. VII 307 quod scelus aut Lapithas tantum aut Calydona merentem? (' quod sce/us merentem' - 'cuius sce/eris poenas merentem', CoNINGTON). Juno bedient sich dieser rhetorischen Frage, um die unverdiente harte Strafe hervorzuheben. - II 229f. et scelus expendisse merentem I Laocoonta ferunt. Hier ist merentem Pointe. - Siehe auch bes. 0.4,455. 36 Vgl. auch II 584 feminea in poena !feminea steht statt des Genitivattributesfeminae), eine kühne Verbindung, mit der man immerhin Ovid am. 3,2,40 captaque femineus pectora torret amorvergleichen kann (AUSTIN 1964, S. 225). 31
32
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Der Text (I)
ehe Bedeutung hat, s o f e r n der Zusammenhang eine solche Umdeutung zuläßt oder gar erzwingt. Setzen wir den ganzen Satz her: namque etsi nullum menwrabile nomen feminea in poena est, habet haec victoria Zaudern, extiluisse nefas tarnen et sumpsisse merentis laudabor poenas animumque explesse iuvabit (TI 583-7) ultrici(s)fama(e) et cineres satiasse meorum. (Ob in 584 habet haec oder nec habet gelesen werden muß, spielt vorerst keine Rolle.) Der Verfasser hat uns die Interpretation erleichtert, indem er - nach seiner Gewohnheit - sämtliche einschlägigen Stellen der ihm vorliegenden Aeneis konsultierte, in denen es um den Komplex 'Frau, Sieg (bzw. Niederlage I Tod) und Ruhm (bzw. Ruhmlosigkeit)' geht. Als Dido in heimlicher Liebe zu Aeneas entbrannt ist, wendet sich Juno, die auf ein Komplott sinnt, an Venus: egregiam vero l a u d e m et spolia ampla refenis tuque puerque tuus, magnum et m e m o r ab i l fi! 7 n o m e n38 , una dolo divum si f e m i n a v i c t a duorum est. (IV 93-5) Die ironische Belobigung durch Juno hat der Interpolator in Ausdruck und Gedanke (s. CONINGTON zu II 583) in das Selbstgespräch des Aeneas übertragen, indem er sie aller Ironie entkleidete (daher die Umkehrung ins Negative: n u II u m memorabile nomen). Die zweite Stelle handelt von Arruns, der Apollo anfleht, ihm die Tötung der Camilla zu gewähren:
da, pater, hoc nostris aboleri dedecus armis, omnipotens. non exuvias pulsaeve tropaeum virginis aut spolia ulla peto, mihi cetera laudem facta ferent; haec dira meo dum vulnere pestis (XI 789-93) pulsa cadat, patrias remeabo inglorius urbes. Schon HENRY hat die "similar sentiments" beobachtet, ohne die Unterschiede zu übersehen 39 • In CONINGTONS Worten40 : "what in Aeneas, the hero, is a mere passing impulse, is deliberately resolved on by Arruns, the coward". Auch den Stil hat der Interpolator nicht einfach kopiert, sondern völlig frei variiert:
37 38
39 40
Zu den Adjektiven auf -bilis im 5. Versfuß bei Vergil s.u. S. 49. Andere Lesart: numen. Kommentar zu II 583. Siehe auch HENRY 1856, S. 620. Zu II 583.
13
Der Text (I)
XI
II
aboleri dedecus dira pestis
extinxisse nefas (dedecus, pestis und nefas von nefas einer Frau gesagt41)
pulsae tropaeum virginis laudem inglorius
haec victoria laudem nullum memorabile nomen
Als dritte, bisher übersehene Stelle schwebten dem Verfasser der Helenaverse Worte der Nymphe Opis vor, die diese zu der von Arruns erschossenen Camilla spricht: neque hoc sine n o m i n e letum per gentis erit aut f a m a m patieris i n u l t a e. nam quicumque tuum violavit vulnere corpus mone luet m er i t a. (XI 846-9) Opis stellt ihr also in Aussicht, daß sie nicht die fama inultae erleiden werde, da Arruns seine Tat mit verdientem Tode büßen werde (morte merita ist eine glänzende Bestätigung für die Auffassung von merentes poenas: s.o. S. ll). Übersetzt man mit Aufhebung der Negation "dir bleibt der Ruhm, daß du nicht rachelos starbest" (Thassilo von Scheffer), so schlägt man leicht die Brücke zur Helenaepisode: der Ruhm der Rache ifama ultrix) wird Aeneas' Herz mit Freude erfüllen, und gerade diese Kunde von Helenas Tod ifama ultri.x) ist es, mit der Aeneas die Asche der Seinigen sättigen kann. Gibt es doch ftir die Toten als einzige Genugtuung nur die fama (der Rache), die bis in die Unterwelt dringt. Man vergleiche Didos Worte an Aeneas:
dabis, improbe, poenas. (IV 386f.)42 audiam et haec manis veniet mihifama sub imos. Der Textzusammenhang43 und die vergilischen Vorbilder legen für die umstrittene Passage der Helenaszene nahe, daß hier Aeneas von der fama ultionis gesprochen hat, ja gesprochen haben muß. Wenn der Interpolator
Siehe u. S. 50 Anm. 20. Siehe auch XI 688f. - Eine enge Verbindung (et) zwischen animum explesse ultricisfamae und cineres satiasse meorum vermag nur die fama ulrionis herzustellen. Die Konjektur jiai11Jnae zerstört dies alles und muß sich sogar von ihrem eigenen Beflif'M>rter Kritik gefallen lassen wegen .the not very happy transition by which the poet passed from the Harne of vengeance to the ashes of his kinsfolk, as both requiring tobe satisfied" (CONINGTON zu II 586). 43 Auf diesen wird ausführlicher eingegangen bei der Diskussion der Lesart habet haec (II 584). 41
42
14
Exkurs: Der Verfasser der Helenasrene
auch mit der Wendung ultricis famae (oder ultrici fama) 44 vergilische Möglichkeiten überschritten haben sollte, so hat er doch seine recht unterschiedlichen Vorlagen (IV 93-5; XI 789-93 und 846-9) ganz im Geiste Vergils aufgefaßt und sie kongenial mutandis mutatis miteinander zu einem neuen Zusammenhang verschmolzen. Die Gunst der Umstände nutzend, schiebe ich hier ein den
EXKURS: DER VERFASSER DER HELENASZENE Der Interpolator hat nicht nur Verse aus der Aeneis, sondern auch aus Euripides herangezogen. HEINZE glaubt, daß der unbekannte Verfasser die Mahnung der Venus an Aeneas, sich zurückzuhalten (II 589ff.), habe motivieren wollen und deshalb die Helenaepisode erfunden habe; "die Anregung gab ihm die Menelaos- Helenaepisode der Iliupersis - auch Menelaos wird ja durch Aphrodite daran gehindert, die Rache zu vollziehen -; in der Ausführung lehnte er sich an die Szene des euripideischen Orestes an, in der Pylades den Orest zur Ermordung der Helena anstachelt. Das ist also ganz die virgilische Imitationstechnik"'. Die Verse lauten:
1135 1137
1142
e[ p.EV "(Ctp er;; "(VIJCXiKCX IIWc/>poiJfiJTf:pCXV ~[cf>oc; p.ef}eip.ev, OVIIKAeijc; &v ~" cf>6voc;· vvv o' inr"i:p chr&a."r;; 'E>->-&ooc; owaet OLKTfV, wv 7rCXTEpcxc; EKTHIJ', wv o' Ct7rWAEIIEIJ TEKVCX ... oAoAv"(p.or;; eamt, 1rvp r' &v&if;ovatv (}eoir;;, aol 7rOAAa Kexp.ol KEOV • &pwp.evot rvxeiv, KCXKijc; "(VIJextKoc; oüvex' cxlp.' e1rp&~cxp.ev.
Nicht Muttermörder werde er genannt, sondern 'EMv."c; }\q6p.evor;; rfjr;; 7roAvKr6vov cf>ovevc;. ov oei 1rOT.' ov oei, MevEAfWIJ p."i:v evrvxeiv, TOIJ IIOIJ OE 1rCXTEpCX KCXL IIE KCtOEAc/>i]v ecxveiv ... 2
44 Die beiden Genitive lassen sich leicht durch Dittographie (eventuell verbunden mit absichtlicher Korrektur) aus den Ablativen herleiten (s. MURGIA 1971, S. 212). - Schon BIRT hat ultrixfama alsfama ultionis verstanden (1913, S. 161 Anm. 1), ebenso der Thes. l.L.: ea laude, quae ultorem sequetur (s. v. expleo, Sp. 1717, 42). Siehe auch T!llLO 1886, S. XXXII und LUCK 1965, S. 54.
I
2
1915, S. 48f. Siehe HEINZE 1915, S. 48 Anm. I; CONINGTON zu II 583.
Exkurs: Der Verfasser der Helenaszene
15
Auch ohne einen Vergleich 3 wird deutlich, daß der Interpolator sich primär der griechischen Vorbilder bediente, um sie sekundär mit Hilfe von Stil und auch von Gedanken Vergils auszuführen. HEINZE irrt, wenn er meint, jener sei "kein Poet", "wenn er auch den virgilischen Stil zur Not zu imitieren verstand" 4 • Die Vereinigung so vieler Vorbilder allein in II 583-7 unterstellt dem Verfasser, selbst wenn man das Resultat - mit einigem Recht - nicht für völlig geglückt halten sollte, eine so gewaltige poetische Kraft und Virtuosität, daß die Annahme näher liegt, V e r g i I sei es, der die Verse geschrieben habe. Denn dann wäre es wahrscheinlich, daß die Helenaepisode selbst zum Vorbild für andere Stellen der Aeneis gedient hätte, bzw. sich die großen Ähnlichkeiten damit erklären ließen, hier sei jeweils derselbe Stilist am Werke gewesen. Die Entlehnungen gehen aber noch weiter, ihre Wege werden noch verschlungener. Als der lnterpolator XI 846-9 (o. S. 13) 'ausbeutete', lenkten ihn die Worte der Opis ... quicumque tuum violavit vulnere corpus (848) zurück zu dem Auftrag, den Diana der Nymphe mit fast gleichlautenden Worten gegeben hatte: haec cape et u l t r i c e m pharetra deprome sagittam: hac, quicumque sacrum violarit vulnere corpus... (590f.) Es scheint, daß ultricem den stilistischen Anstoß zu ultricis (II 587) gegeben hat5 . Vom Tod der Camilla führen weitere Spuren zurück. Opis hatte die tote Camilla getröstet: non tarnen indecorem tua te regina reliquit extrema iam in mone, neque hoc sine nomine letum . .. (XI 845f.) Vergil gebraucht die Verbindung sine nomine noch 3x (II 558; VI 776; IX 343). Am nächsten steht II 558. Dem nicht unrühmlichen Tod, den Opis der Camilla verheißt, steht als Kontrastbild gegenüber das schmähliche Ende des Priamus, von dem Aeneas erzählt: iacet ingens litore truncus, avulsumque umeris caput et sine nomine corpus. (II 557f.) Dieser - zugegeben - nur schwache Anklang könnte Zufall sein, wäre nicht die erste Hälfte von XI 846 gleichlautend mit II 447 (extrema iam in mone6 ). Solche Additionen von Vershälften sind Vergil nicht fremd7 • Die
Siehe RECKFORD 1981, S. 90-3 mit Anm. 7. 1915, S. 48. ' u/trix bei Vergil sonst nur noch 5x, davon 3x auf die Diren (IV 473.610; VI 570 [11siphone)), 1x auf die Curae (VI 274) bezogen. 6 extremus bei Vergil sehr häufig, in Verbindung mit mors nur an den genannten Stellen. Die Phrase ist catullisch (extremam iam ipsa in mone tulistis opem, c. 76,18). 7 Z.B. I 742 - E.6,64 + G.2,478; III 302 - I 618 + VIII 104; III 229 - I 159 + 310; III 511 - G.4,187 + 190; V 102 = I 214 + 215; V 486 - V 291 + 292; VIII 305 - V 149 3
4
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Exkurs: Der Verfasser der Helenaszene
engen Beziehungen zwischen Camillas Tod und Buch TI beschränken sich also nicht nur auf die Helenaverse. Die einfachste und darum wahrscheinlichste Erklärung wird wohl sein, daß Vergilbeider Darstellung von Camillas Untergang bestimmte Stellen von Buch TI, darunter auch die 'Interpolation', benutzt hat8 • Die Verse TI 567-88 wären demnach von Vergilgeschrieben worden. Aber den Befürworter der Unechtheit dürfte die extreme Unwahrscheinlichkeit seiner These kaum beeindrucken, gibt es doch in der Tat gewichtige Gründe, die gegen die Authentizität zu sprechen scheinen. Der Verfasser der Helenaverse hat einen weiteren, von der gesamten Vergilforschung übersehenen Aeneisvers occiderit patriasque explerit sanguine poenas (VTI 766) benutzt, indem er ihn in seine Bestandteile auflöste und die einzelnen Wörter in 5 eigene Verse einbaute: (TI 581) (1) o c c i der i t ferro Priamus? Troia arserit igni? occiderit am Versanfang nur an diesen zwei Stellen. Das dritte Vorkommen im Versinnern in Verbindung mit Troia (!): occidit, occideritque sinas cum nomine Troia (XTI 828). Sonst noch 5x occidit I occidet I occidis am Versanfang (E.4,2415; XTI 544.641.660), 2x im 5. Fuß (G.1,218; X 470), 1x im 2. Fuß (XI 414). (2) scilicet haec Spartarn incolumis p a t r i a s q u e Mycenas (TI 577) Obwohl die Verbindung patriasque bei Vergil insgesamt nur an diesen zwei Stellen und ill 332 vorkommt und damit die Beziehung zwischen TI 577 und VTI 766 gesichert ist, scheint das unmittelbare Vorbild aus Buch TI selbst zu stammen: patrias vento petiere Mycenas (TI 180, Rede des Sino). TI 180 greift seinerseits stilistisch und inhaltlich auf: vento petiisse Mycenas (TI 25) zurück. Natürlich ist TI 577 (und 578) auch beeintlußt durch: si patrios umquam remeassem victor (vgl. parto ... triumpho, TI 578) ad Argos (ll95, ebenfalls Rede des Sino). TI 95 scheint nicht nur TI 578f. angeregt zu haben, sondern auch: patrias remeabo9 inglorius urbes (XI 793). Wie wir gesehen haben (o. S. 12), gehört XI 793 zu einem Verskomplex, den die Forschung als eine der Quellen für den lnterpolator bestimmt hat. Das Beziehungsgewirr kann nicht mehr mit der Tätigkeit eines Interpolators erklärt werden, sondern nur noch mit der Annahme, daß Vergil selbst s ä m t I i c h e Verse verfaßt hat. Denn der Interpolator, der ja nach Vergilgelebt und dem deshalb das ganze vergilische <Euvre vorgelegen hätte, hätte ja a I I e Stellen, die in einem objektiv ablesbaren Verwandt-
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150; vgl. auch VII 108 = Lucr. I ,258
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2,30; XI 731 - Furius Bibaculus fr. 13,1
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(MOREL). 8 Ob es sich um bewußte oder unbewußte Entlehnungen handelt, ist hier unerheblich (zum Problems. BERRES 1982, S. 333 [Register s.v. Reminiszenzen]). • remeare nur li 95 und XI 793.
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Schaftsverhältnis stehen, auswerten, kombinieren und kontaminieren müssen. Vergil hingegen mußte 'nur' den bereits von ihm geschriebenen Teil seines Werkes berücksichtigen, wobei ihn der natürliche Umstand begünstigte, daß er der beste Imitator seiner selbst war 10 und ihm ähnliche Formulierungen und Gedanken auch ohne bewußte Entlehnungen gelingen konnten' 1 • (3) laudabor poenas animumque e x p l e s s e iuvabit (II 586) Vergil liebt synkopierte Formen 12 und gebraucht sie von explere zweimal: II 586 und VII 766. Daß sich der 'Interpolator' II 586 trotzseiner sonstigen Pedanterie in der Übernahme von VII 766 die Lizenz herausgenommen hat, die finite Form in eine infinite zu verwandeln, mag man ihm verzeihen, da er durch die zusätzliche Entlehnung von poenas den 'Fehler wiedergutgemacht' hat. Zugleich scheint explesse durch Lucr. 3,1004 (atque explere bonis rebus satiareque numquam) angeregt, weil an beiden Stellen die Verben explere und satiare (satiare bei Vergil nur II 587) gemeinsam auftreten 13 und darüber hinaus - wie auch Gegner der Echtheit (GOOLD 14 und MURGIA 15) glauben - weitere Beziehungen bestehen 16 • (4) Dardanium totiens sudmit sang u in e litus? (II 582) sanguine im 5. Versfuß ist bei Vergil extrem häufig und beweist ftir sich allein keine enge Verwandtschaft von II 582 mit VII 766, wohl aber in Verbindung mit occiderit (II 581), patriasque (II 577) und explesse (II 586). Indem der Interpolator die alliterierende Wendung sudarit sanguine schuf, verstieß er nur scheinbar gegen Vergils Sprachgebrauch. Denn Vergil benutzt sudare in der Aeneis (sonst) nicht, dagegen 6x in Bucolica und Georgica (s. auch G .1 ,88 exsudat). Anders verhält es sich mit dem Substantiv sudor: 2x in den Georgica (3,444.501) und 7x in der Aeneis. Von den 7 Aeneisstellen stehen 5 unverkennbar direkt oder indirekt unter
SieheBERRES 1982, S. 334 (Register s.v.. Selbstimitation). Siehe o. S. 16 Anm. 8. 12 Siehe auch NORDEN zu VI 57 direxti. "Siehe o. S. 10 Anrn. 27. 14 1970, s. 146f. "1971, S. 209f. 16 Besondere Aufmerksamkeit verdient praemetuens: jeweils am Versanfang bei Lucr. 3,1019 und 11573 (bei Vergil nur hier; s. AUSTIN 1961, S. 187 mit Anm. 12). Diese Lukrezpassage war Vergil völlig vertraut, vgl. Lucr. 3,984ff. - VI 595ff.; 990 - vergilisch (G.2,343; V 617 etc.); 993 (6,1158) - IX 89; 996 (5,1234) - VI 819 (824); 999 (5,1272; 1359) - VI 437; 1012 VI 273 (s. CÜNINGTON zur Stelle); 1018 (geht praemetuens unmittelbar voraus!) - I 604; 1029 - V 628 (?); 1033 - III 658 (?); 1034 - VI 842f.; 1036 - VII 772 (in ähnlichem Zusammenhang). Die letzte Entsprechung ist enthüllend: VII 772 ist nur 6 Verse entfernt von VII 766, d e m Vers, den der Interpolator ja in zerstückeltem Zustand in seine Helenaepisode übernommen haben soll. Mag die ganze Lukrezpartie sowohl Vergil als auch dem (hypothetischen) lnterpolator noch so gut bekannt und voneinander unabhängige Benutzung möglich gewesen sein, es kann doch jetzt nicht mehr bestritten werden, daß Vergil und sein Imitator geradezu in prästabilierter Harmonie gedichtet haben. 10
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ennianischem Einfluß 17 • Doch auch IX 458 befindet sich in ennianisch I 1ukrezisch gefärbtem Zusammenhang 18 • Wenn endlich Xll 337f. das Wort sudore 19 auch nicht auf Ennius zurückgeführt werden kann, so hat es an dieser entstehungsgeschichtlich gewiß nicht frühen Stelle sozusagen Bürgerrecht erworben20 • Indem nun der Interpolator die Wendung sudarit sanguine litus (TI 582) im Hinblick auf ein ennianisches Vorbild (terra sudat sanguine, sc. 181f 1 wagte, zeigt er sich mit Feinheiten von Vergils Stil vertraut, die wenig wichtig, ziemlich unauffällig und nur mit Hilfe des Instrumentariums der modernen Philologie erkennbar sind. Zugleich gelang auf diesem Wege dem vermeintlichen Interpolator, sanguine aus VII 766 in seine eigenen Verse einzuschleusen. (5) ulcisci patriam et sceleratas sumere p o e n a s (II 576) (Der Verfasser der Helenaverse gebrauchtpoena außerdem 572.584.586; allerdings steht 576 dem Vers VII 766 am nächsten.) Obwohl man die Formulierung sceleratas sumere poenas nicht von XII 949 poenam scelerato ex sanguine sumit trennen kann22 , scheint auch VI 501 quis tam crudelis optavit sumere poenas als Vorbild eine gewichtige Rolle zu spielen. Die Verbindung einer Form von poena mit sumere kommt außerhalb der Helenaepisode nur noch 4x vor (II 103; VI 501; XI 720 - XII 949), der Versschluß sumere poenas jedoch nur VI 501. Dieser Vers stammt aus der Deiphobusszene des 6. Buches (494-547), die hinsichtlich Helenas Rolle in solch unversöhnlichem Gegensatz zur Helenaszene des 2. Buches steht, daß Servius die Tilgung der vergilischen Helenaverse durch die Herausgeber auch mit diesem Widerspruch gerechtfertigt hat (Servius zu II 592 [s.o. S.2]). War aber nicht Vergil, sondern ein Fälscher Verfasser dieser Verse, so nimmt es wunder, warum letzterer sich zwar stilistisch von der Szene in
17 III 175 (turn gelidus roto manabar corpore sudor) geht auf Ennius a. 418 V. (tune rimido manat ex omni corpore sudor) zurück, ebenso VII 459. Mit Enn. a. 406 vgl. IX 812f. (gehört zu
einer umfangreichen Enniusimitation). II 173f. erinnert an Lucr. 5,487. V 199f. steht in engster Beziehung zu IX 812-4 (ennianisch). 18 Blut u n d Schweiß pflegen während eines Kampfes in Strömen zu fließen. Daher kommt IX 458 (multo sudore) nicht unerwartet nach 456 (pleno spumanris sanguine rivos). Mit 456 vgl. Enn. sc. 119 (maria salsa spumanr sanguine [s. auch VI 87]), V 200 (sudor jluit undique rivis: ennianisch [s. Anm. 17]) und XI 668 (sanguinis il/e vomens rivos: vgl. IX 411 - Lucr. 2,354). 19 equos alacer media inter proelia Thrnus I jumantis sudore quatir (quatirque bei Enn. a. 405). 20 Die dramatische Passage XII 331-40 ist in hohem Maße durch Homer bestimmt: XII 331-6- N 298ff.; XII 334f.- B 784f.; Xll335f.- t:. 440f.; XII 337-40- A 531-7 (vgl. auch Y 494-502). Warum sollte Vergil in diese Verse außer einer lukrezischen Wendung (4,173 atraefonnidinis ora = XII 335) nicht auch das ennianische sudor einfließen lassen? 21 Vgl. auch Lucr. 5,1129 sanguine sudent (eine Stelle, die Vergil vermutlich bekannt war, wie weitere Anklänge nahelegen: 5,1128 - VI 851; 5,1137 - X 852 + XI 539). Außerdem s. Enn. sc. 18 sine sudore et sanguine. 22 Siehe o. S. !Of. Vgl. auch XI 720; XI 258; VII 595.
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VI anregen ließ23 , auf eine inhaltliche Übereinstimmung jedoch offensichtlich keinen Wert legte. Die Untersuchung über das Verhältnis der Helenaepisode zu dem Vers VII 766 occiderit patriasque explerit sanguine poenas hat zu dem sicheren Schluß geführt, daß der Interpolator diesen Vers in seine Bestandteile zerlegt und sie unter genauer Beachtung subtiler Regeln von Vergils Diktion in seine eigene Dichtung (II 581.577.586.582.576) übernommen hat. So zwingend der Schluß ist, so unsinnig das Resultat. Denn welchen Zweck hätte der Interpolator mit diesem extrem aufwendigen Verfahren erreichen wollen?
23 Belege (s. auch GERLOFF 1911, S. 57 Anm. I; HIGHET 1972, S. 175f.) ohne Anspruch auf Vollständigkeit:
II 567-9 iamque adeo ... , cum ... 1.. .1 ... aspicio VI 498 vix adeo agnovir II 568f. servantem et tacitam secreta in sede latentem Tyndarida VI 498f. pavitantem et dira legentern supplicia Ähnlichkeit von Rhythmus und Sprachmelodie; beide Wortfolgen als Akkusativobjekte zu den oben angeführten Verben aspicio (II 569) bzw. agnovit (VI 498). VI 501
... sumere poenas I ... sumere poenas I Diese Versschlüsse bei Vergil nur hier.
II 577
scilicet
II 576
VI 526 scilicet An beiden Stellen leitet scilicet mit bitterer Ironie eine für Helena höchst vorteilhafte Zukunftsvision ein, in II aus der Sicht des Aeneas, in VI aus der Helenas, von Deiphobus ihr unterstellt (sperans).
II 583 VI 513
namque etsi namque ur namque ca. 64x bei Vergil, davon vor Nebensätzen 7x (I 453; 11583.736;V 202; VI 513; X 148.303). 4x werden namque und die Nebensatzeinleitung durch 2 oder 3 Wörter getrennt, 3x nicht (II 583; VI 513; X 148). X 148 befindet sich in einem Abschnitt (146-62), der durch stark gedrängte Erzählweise auffällt (s. BERRES I 982, S. 288).
II 585 exstinxisse nejas VI 527 famam exstingui veterum ... malorum exstinguere bezeichnet bei Vergil 8x das Töten von Personen, lx das Auslöschen von Feuer (VIII 267) und 3x das Beseitigen eines abstrakten Begriffes (II 585 nejas; IV 322f. pudor und fama; VI 527 fama). Obwohl IV 322f. und VI 527 einander besonders nahezustehen scheinen, hatfama IV 322f. eine positive Bedeutung (qua sola sidera adibam), VI 527 eine negative (veterum malorum). Dagegen stimmen II 585 und VI 527 darin überein, daß beide Begriffe (nejas und und fama) mit Helena zusammenhängen und negativ sind. Will II 585 Aeneas "den Gräuel" (so Voß; nefas ist Abstraktum für Konkretum [Helena)) tilgen, so VI 527 Helena selbst den Ruf ihrer Schandtaten.
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Offenbar leitet sich der Schluß von einer falschen Voraussetzung her. Ist nicht alles doch Zufall? Der Interpolator hat, gerade als ob er diesen Ausweg hätte verstellen wollen, aus der unmittelbaren Umgebung von Vll 766 die bei Vergil singuläre Verbindung secretis ... sedibus (774f.) übernommen: secreta in sede (ll 568f4 • Wie wir oben (S. 12ff.) gesehen haben, wertete der Verfasser der Helenaverse alle einschlägigen Stellen bei Vergil aus. Zu ihnen gehört auch der Virbius-Abschnitt des Italerkataloges (Vll 761-82)25 , aus dem die Verse Vll 766 und 774 stammen. Dort fand er die Sage vom Vater des Virbius, dem keuschen Hippolytus, der durch die ehebrecherische Liebe seiner Stiefmutter Phaedra zu Tode kam: namque jerunt fama Hippolytum, postquam ane novercae occiderit patriasque explerit sanguine poenas (Vll 765f.) War es doch auch die ehebrecherische Liebe der Helena, die sogar für ein ganzes Volk zum Fluch wurde: Troiae et patriae communis Erinys (ll573). Dennoch kann der Virbius/Hippolytus- Abschnitt nicht eigentlich als Vorbild für die Helenaverse gelten. Die Anklänge erklären sich nämlich zwanglos damit, daß Vergil der Verfasser b e i d er Partien ist. Führt man die Helenaszene dagegen auf einen lnterpolator zurück, so müßte man diesem eine bizarr verspielte (und bis heute unentdeckte) Imitationstechnik unterstellen, die weder in seinem Sinne war noch in seiner Möglichkeit stand. Doch wollen wir hier, am Ende des Exkurses, aus methodischen Gründen den Beweis der Urheberschaft Vergils zunächst auf sich beruhen lassen und im folgenden, bei der weiteren Herstellung des Textes, wieder vom lnterpolator sprechen.
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Vergleiche auch die allerdings syntaktisch ganz anders (parataktisch) geartete Stelle: hospitis
Aeneae sedem et secreta petebat (VIII 463). 25
Siehe KüHLMANN, Katalog und Erzählung, Diss. Freiburg 1973, S. 223-6; s. auch u.
S. 149ff.
DER TEXT (II) Vor das schwerste und für die Verfasserfrage folgenreichste Problem stellt uns die Entscheidung zwischen habet haec und nec habet (II 584). Hier der Text ohne Interpunktion: 583 584 585 586 587
namque etsi nullum menwrabile nomen feminea in poena est h a b e t h a e c victoria laudem exstinxisse nefas tarnen et sumpsisse merentes laudabor poenas animumque explesse iuvabit ultricis famae et cineres satiasse meorum.
nec habet gilt, obwohl in einigen Handschriften überliefert, den Vertretern der unterschiedlichsten Auffassungen übereinstimmend als Konjektur 1• Sie hat sich aber in den gedruckten Ausgaben im allgemeinen durchgesetzt. GOOLD verteidigt die Konjektur damit, daß aus nec habet paläographisch leicht habet haec entstehen könne (nec habet ..... hec habet ..... habet haec [metrische 'Korrektur' durch Umstellung]), der umgekehrte Vorgang aber extrem unwahrscheinlich sei2 • Der Grundsatz der leichteren Erklärbarkeit einer Textverderbnis gilt jedoch nur für die Wahl zwischen mehreren K o n j e k t u r e n3 , nicht zwischen Konjektur und Überlieferung. Ist die Überlieferung (in unserem Fall: habet haec) "die beste ausdenkbare", so ist sie "als original anzusehen" 4 • Da GOOLD für die Ablehnung des überlieferten habet haec sonst keine Gründe angibt, erscheint sein Vorgehen methodisch unhaltbar, - aber auch in der Sache? Die Konjektur nec habet leidet an einer eigentümlichen Schwäche: "denn Aeneas spricht nicht vom Sieg im allgemeinen, sondern von 'diesem' Sieg über das Weib Helena. Das vermißte haec ist aber wirklich überliefert" 5 • Dies wird sogar von der Gegenseite gewissermaßen bestätigt, wenn nämlich LADEWIG und SCHAPER, die nec habet lesen, bemerken, daß zu victoria
1 MACKAIL 1930, S. 79; FRAENKEL 1948, S. 137; AUSTIN !96!, S. 192; GoOLD 1970, S. 144; MURGIA 1971, S. 208 Anm. 12 (s. auch TffiLO 1886, S. XXXII). 2 1970, S. 144 (gegen WATI bei AUSTIN 1964, Addenda S. 292). Möglicherweise haben WATI und GooLD unrecht (s.u.). 3 P. MAAS, Textkritik, Leipzig 1960, S. II § 16. 4 MAAS S. 10 § 14. 5 BIRT 1913, S. 161 Anm. I; ebenso TmLo (Vertreter der Unechtheit!) 1886, S. XXXII; DEUTICKE 1889, S. 331; AUSTIN 1964, S. 226: "Aeneas is contrasting a particular victoria (meritorious) with the general principle that to punish a woman brings no praise: haec is necessary".
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Der Text (II)
"etwafeminea zu ergänzen" sei unter Hinweis auf IV 94f. 6 FAIRCLOUGH übersetzt nec habet victoria laudem: "and such victory wins no honour" 7 • MURGIA kommt das Verdienst zu, überhaupt ein positives8 Argument für nec habet gefunden zu haben. Er beruft sich auf die "rhetorical amplification which the poet is cultivating throughout the passage (nullum ... nomen in poena est amplified by nec habet victoria laudem, a close equivalent)" 9 • Genaugenommen wird hierdurch die Konjektur in Übereinstimmung mit dem Stil des Interpolators gebracht - jedoch nur in eine scheinbare. Denn der Verfasser von II 567-88 hat trotz seiner Neigung zu Doppelungen und Erweiterungen 10 es sonst vermieden, bloße Äquivalente zu schaffen; immer nämlich achtet er über die stilistische Variation hinaus auch auf inhaltliche (z.B. exstin.xisse nefas und sumpsisse merentes poenas, 585f.). nec habet v. I. bringt aber als "close equivalent" zu nullum ... in poena est inhaltlich nicht nur nichts Neues, sondern verschlechtert die klare Aussage des ersten Gliedes durch das unbestimmt gelassene victoria, das ja ein zu ergänzendes haec oder auch feminea erfordert und sich so an das Vorhergehende a n I e h n t, statt es kraftvoll zu fördern oder auch nur zu ergänzen. Mag man vielleicht den einen oder anderen Beleg für ein solches Nachklappern bei Vergil finden, an dieser Stelle wäre es besonders unschön: denn nec habet victoria laudem müßte als Abschluß eines konzessiven Bedingungssatzes großes eigenes Gewicht haben, weil die Apodosis darauf mit einem trotzigen tamen ... laudabor in stilistisch genauer Entsprechung bzw. Umkehrung antwortet. Der Spannungsbogen, den Protasis und Apodosis gemeinsam aufbauen sollten, wird hier an der entscheidenden Stelle gestört''· Die mangelnde Balance erzeugt den Eindruck eines überladenen und ausufernden Satzgefüges. 6 Kommentar zu II 584. Die Verse IV 93-5 haben, wie o. S. 12 dargelegt, dem Interpolator als Anregung gedient. 7 Lat. -eng!. Ausgabe, I..ondon 1965. 8 Seltsamerweise (?) wird nec habet sonst verteidigt durch den Hinweis auf die mit habet haec zusammenhängenden Probleme. 9 1971, S. 208 Anm. 12. 10 Auch Vergil liebt Doppelungen des Ausdrucks sehr (Belege u. S. 58). Wenn aber J. PERRET den zweiten Teil solcher Erscheinungen häufig als superflua anzusehen gewillt ist (Superflua demere, in: Melanges J. CoLLART, Paris 1978, S. 409), so verkennt er den Stilisten Vergil vollkommen. Sein scheinbar bestes Beispiel ist VIII 184:
postquam exempta fames et amor compressus edendi Die hier unbestrittene Tautologie (s. CONINGTON zur Stelle) erklärt sich durch das ebenfalls doppelgliedrige homerische Vorbild H 323: OlUTÖip flrEL lrOULO