DIE BIBLIOTHEK DER ALTEN WELT
BEGRÜNDET VON I (7. 263. 287, 4>' ZALEUKOS, lokrischer Gesetzgeber,7H
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ZENON, Gründ...
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DIE BIBLIOTHEK DER ALTEN WELT
BEGRÜNDET VON I Ihm gab's drauf Hippokoon zurück, und antwortend sprach er: «Alter, bleib sitzen und halte den Mund und füg meinem Wort dich! Schwach ist dein Lenker des Wagens und piel zu langsam die Pferde.» (85) Ihm erwiderte da das stürmische Pferd unterm 10ch por: «Siehst du denn nicht, ein wie schönes Pferd ich bin und wie stattlich? Trotzdem droht auch mir der Tod und das mächtige Schicksal. Hätte doch nur euch allen, wie ihr hier sitzt, die Göttin Hera mit ihren weißen Armen Hufe gegeben! Dann nämlich säßet ihr hier nicht herum und redetet Unsinn.» Sprach's, und sie flehten zu Zeus, dem Kroniden und mächtigen Herrscher.
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(86) Das ist eine kleine Auswahl alls einer großen Zahl erbärmlicher Verse, damit ihr nicht allein so lächerlich dasteht. Aber es ist doch eine Schande, Männer von Alexandreia, daß Leute, die sich nach der Stadt erkundigen, in allem anderen wunderbare Dinge zu hören bekommen, daß man über euch selbst aber nichts Rühmliches, das nachgemacht zu werden verdiente, berichten kann, im Gegenteil, daß ihr als nichtsnutzige Leute geltet, als Schauspieler und Possenreißer eher denn als handfeste Männer, genau wie ein Komödienschreiber über solcherlei Volk gesagt hat: Gesindel ohne Zucht, wüstes Matrosenvolk. 46 (87) Es ist, als wenn man ein wunderschönes Haus sähe, dessen Besitzer ein Sklave ist, zu gering, um Portier zu sein. In jedem Fall wäre es besser, einen einsamen Ort mit fünfzehn Begüterten als eine zahllose Men ge von unglückseligen und dem Wahnsinn verfallenen Menschen vor sich zu haben - ein hoher Misthaufen, aus allem möglichen Unrat zusammen gespült. So etwas kann man mit gutem Gewissen gar nicht als Stadt bezeichnen, genausowenig wie ein zusammengewürfelter Haufe noch keinen Chor, jedes Menschengewühl noch kein Heer gibt. (88) Auch das Heer des Xerxes war nichts Besonderes, wenn es nicht eben galt, einen Wall zu durchstoßen, einen Graben zu ziehen oder etwas dergleichen zu tun. Selbst die Stadt der Troer war nicht vom Glück gesegnet, da ihre Bürgerschaft heruntergekommen war und nicht Maß halten konnte; und doch war Troia groß und berühmt. Trotzdem zerstörte sie, die weit ausgedehnte Stadt, ein Mann von einer kleinen und höchst unbedeutenden Insel, Odysseus von Ithaka. Ich fürchte in der Tat, daß auch ihr wie jene Troianer den Untergang findet, denn, selbst wenn es einigermaßen grausig klingt, auch Troia soll von einem Pferd vernichtet worden sein. Der einzige Unterschied wäre vielleich t,daß Troias U n tergan g durch ein einzi ges Pferd, der eurige durch mehrere Pferde eingeleitet worden ist.
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(89) Denn glaubt nicht, eine Stadt sei immer dann gefallen, wenn die Mauern eingerissen, die Männer erschlagen, die Frauen verschleppt und die Häuser niedergebrannt sind. Das ist vielleicht die letzte Stufe, die sich in kurzer Zeit vollzieht und bei der die davon Betroffenen eher Mitleid als Spott verdienen. Wo man sich um das Gute überhaupt nicht kümmert, wo es Leidenschaft nur fur ein einziges primitives Vergnügen gibt und man ausschließlich darauferpicht ist, damit seine Zeit verbringt, wo man herumspringt, sich wie verrückt gebärdet und sich gegenseitig schlägt, schlimme Flüche ausstößt und oft sogar die Götter schmäht, wo man alles, was man am Leibe trägt, von sich wirft und mitunter nackt den Schauplatz verläßt - das ist der schimpfliche und schmachvolle Fall einer Stadt. (90) Denn auch die Menschen werden, wie wir sagen, nicht nur von Räubern gefangen genommen, sondern auch von einer Dirne, von der Genußsucht oder von sonst einer verderblichen Leidenschaft. Treffend könnte man also von Menschen oder Städten sagen, sie seien Gefangene, wenn sie von ihren guten Bestrebungen ablassen und nichts mehr sehen und hören, was ihnen zum Heil gereichen könnte, sondern, von Wein, Weibergesang und Wagenrennen überwältigt, hingerissen werden und dahinstürzen und darüber vollkommen Sinn und Verstand verlieren. Beim Himmel, von einem solchen Gefangenen kann man wirklich sagen, er sei gewaltsam gefangengenommen und gefesselt worden. Denn man darf nicht, wenn dem Leib Gewalt geschieht, er mit Fesseln bedeckt oder eingekerkert wird, darin harte Gefangenschaft, Knechtschaft und Verschleppung sehen, wenn aber die Seele geknechtet und zugrunde gerichtet ist, das unterschätzen und seine Witze darüber machen. (91) Es ist schon schlimm genug, wenn ein einzelner davon betroffen ist; geschieht es aber einem ganzen Volk, ist es in jeder Weise noch schimpflicher. Auch eine Krankheit, soweit sie nur den einzelnen befällt, bekommt noch
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keinen großen, furchterregenden Namen; ergreift sie aber das ganze Volk, dann nennt man sie Pest. Allgemein gesprochen: Überall wird man alle Laster finden, Trunksucht, Unzucht und Weibertollheit gibt es in allen Städten; aber das ist noch nichts über die Maßen Gefährliches. Nimmt das Leiden jedoch überhand, wird es zum öffentlichen Schauspiel, dann erheben sich ernste Bedenken, und es gewinnt allgemeine Bedeutung. (9 2) Welche Stadt gäbe es, die ganz dünn besiedelten und kleinen ausgenommen, in der nicht täglich jemand an Fieber schwer erkrankte? Aber die Kaunier 47 allein hat es beständig gepackt, und ihnen sagt man nach, daß sie alle daran leiden. Andere Völker sind durch bessere Eigenschaften zu Ruhm und Ansehen gekommen. Wieviel Athener, Megarer oder KOl·inther, glaubt ihr wohl, haben ihren Körper abgehärtet und ein entbehrungsreiches Leben gefuhrt? Selbstverständlich waren es viele, zumal in Zeiten, da sie für das Vaterland ihren Mann stehen mußten. (93) Warum aber haben die Lakedaimonier allein diesen Ruhm für sich bekommen und stehen auch heute noch in diesem Ruf? Weil bei ihnen ehrgeiziger Einsatz das ganze Volk auszeichnete. Die Athener beschäftigten sich lieber mit der Rede- und Dichtkunst und mit Chorgesängen, und diese Dinge waren es, die ihnen aus demselben Grund allgemeine Bewunderung einbrachten. Seht zu, daß der Name, den ihr euch macht, dem der Athener und Spartaner, nicht dem von anderen Leuten, die ich nicht nennen will, gleiche! Denn wie ich schon oft betont habe: Das Schimpfliche ist noch schimpflicher und lächerlicher, wenn es eine ganze Stadt betrifft. (94) Wie nämlich in Komödien und Schaustellungen ein Karion oder ein Davos 48 kein allzu großes Gelächter hervorruft, wenn er betrunken die Bühne betritt, Herakles aber, wenn er in dieser Verfassung und dazu noch wie üblich in einem gelben Gewand herumtorkelt, dem Publikum lächerlich vorkommt, so wirkt auch ein Volk, das so groß ist wie ihr und
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trotzdem durchs Leben trällert und dann wieder den Wagenlenker ohne Pferde spielt, abstoßend und lächerlich. Genau so läßt es Euripides dem rasenden Herakles ergehen: Dann ging er zu dem Wagen, tat, als stünd' er da, bestieg des Wagens Sitz sodann, und peitschend hieb er ein, als hätt' die Peitsche er in seiner Hand.4 9 (95) Ihr wollt doch wohl nicht dem Alexander nacheifern, der behauptete, wie Herakles ein Sohn des Zeus zu sein. Allerdings gleicht euer Volk nicht so sehr dem Herakles als vielleicht einem Kentauren oder dem Liebe und Wein verfallenen Kyklopen: von Statur stark und gewaltig, aber schwach an Verstand. Bei Gott, seht ihr denn nicht, welche Fürsorge der Kaiser eurer Stadt hat angedeihen lassen 50? Deshalb müßt auch ihr jetzt von eurer Seite Anstrengungen machen und die Vaterstadt in einen besseren Zustand bringen, aber, beim Himmel, nicht mit Springbrunnen und Festtoren - dazu reichen eure Mittel nicht aus, und seine Großzügigkeit werdet ihr vermutlich kaum je übertreffen können -, sondern durch Zucht und Ordnung, dadurch, daß ihr euch vernünftig und beständig zeigt. Denn so wird ihn niemals reuen, was er getan hat, und er wird euch noch größere Gefälligkeiten erweisen. Vielleicht weckt ihr in ihm sogar das Verlangen, einmal hierherzukommen. (96) Denn nicht die Schönheit der Bauwerke ist es, die ihn dazu verlocken könnte - das alles hat er ja besser und kostbarer als sonst jemand auf der welt. Wohl aber mag das geschehen, wenn er hört, daß das Volk, das ihn empfangen wird, seine Gunst und sein Vertrauen verdient, und wenn jeder seiner Gesandten und Beamten euch hochschätzt. Denn glaubt nicht, nur ihr zöget über alle, die bei euch landen, Erkundigungen ein, wer sie sind, und bildetet euch je nach der Auskunft sofort euer Urteil, die Beamten des Kaisers aber interessiere nicht, was für ein Volk die Alexandriner seien. Hören sie nun,
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daß ihr verständig seid und nicht, wie es jetzt heißt, flatterhaft, leichtsinnig, von Belanglosigkeiten gefesselt, jedem Zufall ausgeliefert, leidenschaftlich verliebt in Wagenlenker und Zitherspieler, so kann es über ihre Einstellung keinen Zweifel geben. (97) Wie man erzählt, gab es einst bei euch einen weisen Mann, Theophilos s" der sich euch gegenüber schweigend verhielt und nicht mit euch sprechen wollte. In welcher Meinung tat er das wohl? Hielt er euch ftir weise und eine Belehrung fur überflüssig? Oder war er an eurer Heilung bereits verzweifelt? Ein ähnlicher Fall: Ein Kaufmann landet mit vielen wertvollen Waren in einer Stadt, wird dort von widrigen Winden oder sonst einem Zufall festgehalten und bleibt lange Zeit, ohne etwas von seinen Waren auszustellen und sie jemals zu zeigen. Offensichtlich will er die Leute nicht vergebens belästigen, da er ihre verzweifelte Armut oder ihre Unwissenheit erkannt hat und genau weiß, daß keiner dieser Menschen etwas kaufen, ja vielleicht nicht einmal zu ihm kommen würde. (98) Auch Theophilos nun hatte eine große Menge Waren in seinem Innern, aber er hiel t sie zuri.ick, denn er kann te eure ganze Armut, nicht an Geld, wohl aber an Verstand und Einsicht. So starb er denn, nachdem er durch sein Schweigen das Urteil über eure Stadt gefällt hatte. Den Soundso habt ihr oft gehört und seine Witze behalten, auch die Lieder des XY - ob ihr jemals den Theophilos gehört habt, bin ich mir nicht sicher. Es geht euch so, wie jemand einmal von den Käfern in Attika gesagt hat: Obwohl es dort den reinsten Honig gibt, rühren sie ihn niemals an, selbst wenn man ihnen den Honig vorschüttet, sondern halten sich lieber an ihre gewöhnliche NahrungS'. (99) Aber lustig, das seid ihr, und die besten Spaßmacher der Welt. Nur ist das nicht die geeignete Beschäftigung ftir ein Volk - woher auch! - oder ftir eine Stadt, sondern ftir einen Thersites. Ihn läßt Homer als einzigen Spaßmacher unter den
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Griechen nach Troia kommen. Er sagte nicht, was angebracht gewesen wäre, sondern womit er glaubte, die Griechen zum Lachen zu bringen. 53 Aber nicht, was zum Lachen reizt, ist gut und wertvoll, sondern die Freude. Da die Menschen jedoch überhaupt keine Ahnung von der Freude haben, suchen sie das Gelächter. Sicher habt ihr schon von der Pflanze gehärt, die Sardonion genannt wird: Sie reizt zum Lachen, aber dieses Lachen ist gefährlich und tödlich. (roo) Haltet euch deswegen nicht so fest an das Gelächter und macht die Chariten nicht unmusisch, schwer_ fällig und plump, sondern nehmt euch lieber Euripides Zum Vorbild, wenn er sagt: Nie lass' ab ich, Chariten, euch beizugesellen den Musen. TFelch ein liebliches Gespann!54 Daß nur nicht euer Museion 55 als ein solch gewöhnlicher Ortin der Stadt gilt, wie vermutlich noch andere Plätzeeinfach so ihren Namen haben, ohne daß er durch die Sache gerechtfertigt wäre! (1Or) Indes fUrchte ich, auch mir könnte es gehen wie jenem ägyptischen Musiker in alten Zeiten. Ihm soll nämlich im Traum eine göttliche Stimme prophezeit haben, daß er einmal einem Esel ins Ohr singen werde. Nun achtete er nicht weiter darauf und kümmerte sich nicht um den Traum, da er ihn für sinnlos hielt. Als aber der Syrerkönig nach Memphis kam, ließ er den Musiker holen, weil die Ägypter ganz begei~tert von ihm waren. Da bewies er mit großem Eifer sein ganzes Können und gab auch eine feinere Probe seiner Kunst. Der König aber, der nichts von Musik verstand, hieß ihn verächtlich schwei· gen. Da erinnerte sich jener an den Traum und sagte: «Das be· deutete also: einem Esel ins Ohr singen.» Als die Dolmetscher dem König die Worte des Ägypters erklärt hatten, ließ er ihn binden lind auspeitschen. Das soll sogar der Anlaß zu einem Krieg gewesen sein 56.
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(I) Verwundert frage ich mich, was eigentlich eure Absicht, was eure Erwartung und euer Wunsch ist, daß ihr Wert darauf legt, Leute wie mich zu euch sprechen zu lassen. Glaubt ihr, wir hätten eine schöne Stimme und eine angenehmere Aussprache als die andern? Dann hättet ihr das Bedürfnis, unseren melodischen Weisen wie Vögeln zu lauschen. Oder denkt ihr, wir hätten in Worten und Gedanken eine besonders durchschlagende, wahrhaft gewaltige Überzeugungskraft?Ihr nennt sie Rhetorik, und auf Marktplätzen und Tribünen feiert sie Triumphe. Oder rechnet ihr gar damit, ein Lob auf euch selbst, ein allgemeines Preislied auf die Stadt zu hören zu bekommen, auf Perseus, Herakles und den Dreizack I ApoHons, auf die Orakelsprüehe, die euch zuteil geworden sind, aufdieTatsache, daß ihr Griechen und Argiver oder gar noch etwas Besseres seid, daß ihr Heroen und Halbgötter, noch genauer, Titanen zu Ahnherren habt? (2) Vielleicht auch auf das Land mit seinen Bergen und den Kydnos hier? Daß er der segensreichste und schönste unter allen Flüssen ist, daß, die aus ihm trinken, reich und glücklich sind, wie Homer sagt'? Das alles ist wahr, und ihr hört es fortwährend in den Versen der Dichter und von anderen Leuten, die eben diese Vorzüge zu preisen sich zur Aufgabe gesetzt haben. Aber dazu bedarf es gründlicher Vorbereitung und einer großen Rednergabe. (3) Doch was erwartet ihr dann von uns? Was wollt ihr so unbedingt hören von Männern, die alles andere als redegewandt sind, die weder schönzutun noch zu schmeicheln verstehen, die nicht aus Lust und Laune die Rednerbühne besteigen? Denn daß ihr von uns kein Geld noch sonst ein Geschenk zu erwarten habt, dessen bin ich mir sicher. Nun, ich will euch meine Vermutung sagen. (4) Ich habe den Eindruck, daß ihr schon oft göttliche Männer gehört habt, die
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behaupten, alles zu wissen und bei jedem Ding über Ordnung und Wesen Auskunft geben zu können: über Menschen, überirdische Mächte und Götter, ferner über Erde, Himmel und Meer, über Sonne, Mond und Sterne, über das gesamte Weltall, über Werden und Vergehen und unzählige andere Dinge. Dann, so stelle ich mir vor, kommen sie zu euch und fragen euch, was und über welches Thema ihr sie gerne reden hört, wie schon Pindar gesagt hat, über Ismet/os, mit goldener Spindel Melia, Kadmos auch. 3 Und wo immer ihr wollt, da hebt der Redner an und läßt die Rede wortreich und lang dahinströmen, und wie ein Schwall sprudelt hervor, was gleichsam in ihm eingeschlossen war. (5) Wenn ihr ihm nun lauscht, haltet ihr es für ungehörig und verfehl t, jedes Wort auf die Goldwaage zu legen und einem weisen Mann keinen Glauben zu schenken, im Gegenteil, von der Kraft und der Schnelligkeit seiner Worte seid ihr hingerissen und begeistert, wenn er, ohne Atem zu holen, unaufhörlich Satz an Satz reiht. Dabei geht es euch dann wie Leuten, die Pferden beim Lauf mit verhängten Zügeln zusehen: Obwohl ihr keinen Nutzen davon habt, seid ihr voller Bewunderung und seht darin einen unschätzbaren Besitz. Und doch sind es bei den Pferden häufig gerade nicht die Herren, sondern die niedrigen Sklaven, die den Zügel halten. (6) Ein solcher Vortrag ist eine Art Schauspiel oder Revue und hat eine gewisse Ähnlichkeit mit den Kunststückehen der Leute, die sich als Ärzte ausgeben und sich in aller Öffentlichkeit niederlassen, über das Ineinandergreifen der Gelenke, die Ineinander- und Nebeneinanderlage der Knochen und dergleichen mehr daherreden, über Poren, Atmung und Absonderungen; und das Volk sperrt noch schlimmer als Kinder Mund und Ohren auf. Der richtige Arzt dagegen verhält sich ganz anders und verkehrt nicht auf diese Weise mit den Patienten.
ERSTE TARSISCHE REDE 33,6-IO] 459 die seiner wirklich bedürfen. Wie wäre das auch denkbar! Er gibt Anweisungen, was zu tun ist, und wenn jemand essen oder trinken will, hält er ihn davon ab, oder er nimmt ihn und schneidet heraus, was am Körper nicht mehr mitmachen wil l. (7) Wenn sich nun die Kranken versammelten, schwärmend zum Arzt zögen und ein Trinkgelage forderten, könn tees leicht sein, daß das ganze Unternehmen nicht nach Wunsch ausginge, sondern das Fest ihnen vielleicht Beschwerden machte. So scheint es mir auch der großen Menge zu gehen, die zu einem solchen Redner strömt und ihn zu sprechen auffordert. Selbstverständlich hat sie noch nie ein Wort der Wahrhei t zu kosten bekommen und erwartet deshalb nur unterhaltsame Gefälligkeiten. Aber beim Himmel, wäret ihr nicht empört, wenn jemand nicht mit aller Offenheit zu euch spräche und nicht auf alle eure Belange einginge, sondern nur das eine oder andere zur Sprache brächte? (8) Seht nur zu, daß es euch nicht wie jenen Troianern geht, die einem Schauspieler, der bei ihnen weilte, zusetzten, er möchte ihnen doch etwas vorspielen. Er aber bat sie, ihn in Ruhe zu lassen und nicht mehr zu belästigen, denn je besserer spiele, so meinte er, desto größer werde ihr Unglück sein 4. So ist es auch beim Philosophen: Die große Menge tut besser daran, ihn schweigen zu lassen. (9) Überlegt euch doch, wie die Dinge stehen! Die Athener, daran gewöhnt, Schlechtes über sich zu hören, gingen, bei Gott, eben in dieser Absicht, sich beschimpfen zu lassen, ins Theater, veranstalteten einen Wettkampf und setzten einen Preis aus fur den, der dieses Geschäft am besten besorge. Freilich waren sie nicht selbst auf diese Idee gekommen, sondern der Gott hatte sie ihnen eingegeben. Und so hörten sie sich Aristophanes, Kratinos und PlatonS an, ohne ihnen etwas zuleide zu tun. Als dann aber Sokrates ohne Bühne und Zuschauer bänke den Auftrag des Gottes ausführte, wobei er allerdings auf ordinäre Tänze und dummes Gepfeife verzichtete, da wollten sie nicht hören. (10) Jene Ko-
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mödiendichter, mißtrauisch und ängstlich, schmeichelten dem Volk wie einem Herren und milderten deshalb ihre Sticheleien durch Gelächter, wie die Ammen kleinen Kindern, wenn sie etwas Unangenehmes zu trinken bekommen, den Rand des Bechers rriit Honig bestreichen und ihn dann erst darreichen. So kam es, daß sich Nutzen und Schaden bei den Athenern die Waage hielten, als die Komödienschreiber die Stadt mit ihren Frechheiten, Witzen und Possen erfüllten. Der Philosoph dagegen mahnte und wies zurecht. (r r) Wieviel besser das Anprangern ist, das die Torheit und Schlechtigkeit jedes einzelnen ans Licht bringt, als Schönred_ nerei, die das Publikum mit Lobeshymnen verzärtelt, könnt ihr besonders schön an folgendem Beispiel erkennen. In der ganzen Geschichte hat es zwei Dichter gegeben, mit denen man keinen anderen Dichter vergleichen kann: Homer und Archilochos. Von diesen beiden hat Homer beinah alles gepriesen, Tiere, Pflanzen, Wasser, Erde, Waffen, Pferde- man könnte sagen, daß er schlechterdings an nichts vorübergegangen ist, ohne es lobend und anerkennend zu erwähnen. Nur einem einzigen Mann unter all seinen Helden sagt er Schlechtes nach, Thersites, aber selbst ihn nennt er noch einen «helltönenden Redner»6. (12) Archilochos dagegen griff zum anderen Extrem, zum Tadel, vermutlich deswegen, weil er sah, daß die Menschen den Tadel nötiger haben, und an erster Stelle übte er Kritik an sich selbst. Daher wurde auch ihm allein nach seinem Tod - wie übrigens auch schon vor seiner Geburt - das wichtigste Zeugnis von seiten der Gottheit zuteil: Den Mann, der ihn erschlagen hatte, vertrieb ApolIon aus seinem Tempel mi t der Erklärun g, daß er einen Diener der Musen getötet habe. Als der andere zu seiner Rechtfertigung anführte, er habe Archilochos im Kampf erschlagen, wiederholte ApolIon nur wieder, Archilochos sei ein Diener der Musen gewesen. Und als der Vater des Archilochos sich vor der Geburt seines Sohnes
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an das Orakel wandte, sagte ihm der Gott voraus, daß er einen unsterblichen Sohn bekommen werde. (13) Daraus folgt, daß der Mann, der es fertigbringt, die Menschen zu schelten, sie hart anzufassen und durch seine Worte ihre Fehler ans Licht zu bringen, eindeutig besser ist und ihm der Preis gebührt vor dem Lobredner. Wenn ihr also lieber gelobt sein wollt, müßt ihr zu einem anderen Redner gehen. Seht ihr nun bei jemand, daß er in allem, was er tut, zunächst sich selbst den Hof macht, daß er selbstgefällig ist in Essen und Kleidung und aufgeblasen einherstolziert, so seid davon überzeugt, daß er auch euch den Hof machen wird. Von ihm dürft ihr eine gefällige Rede erwarten. Ihr nennt es Preis, in Wirklichkeit sind es Schwelgereien aus dem Munde eines Schwel gers. (14) Wenn ihr aber einen verwahrlosten Mann, der seine Kleider eng um den Leib geschlungen hat, für sich allein daherkommen seht, einen Mann, der an erster Stelle sich selbst prüft und schilt - bei ihm sucht keine Schmeicheleien und Verftihrungskünste, nicht jene gewandte, einschmeichelnde Sprache, wie sie vorzüglich in Versammlungen und in der Umgebung von Statthaltern und Tyrannen zu hören ist. Nicht von solcher Art rind die Männer, die ihnen dienen; jung rind rie, gekleidet in schöne Mäntel und Röcke, rtett ist glänzend ihr Haar und immer rtrahlend ihr Antlitz. 7 Diese Leute nämlich sind auf die Welt gekommen, als zögen sie unter Flötenspiel und Gesang berauscht zu einem Gelage in der Annahme, sie seien in eine festliche Versammlung von Trunkenbolden geraten. (15) Wer aber gesehen hat, wieviel Furchtbares und Schrecldiches es in der Welt gibt, daß es überall, wo Vergnügungssucht und Falschheit herrschen, im privaten wie im politischen Bereich von Feinden wimmelt, der geißelt relbrt den eigenen Leib mit entehrenden Schlägen, wirft um die Schultern zerrirrene Lumpen ganz wie ein Sklave, rehleicht in der rchwelgenden Männer Stadt mit den breiten Straßen. 8
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Nicht zum Verderben der Nächsten kommt ein Mann in dieser Gestalt, wie Odysseus zum Verderben der Freier kam, sondern im Gegenteil, um im verborgenen womöglich noch etwas Gutes zu wirken. Warum nun drängt ihr einen solchen Mann, warum fordert ihr einen Redner auf, der euch mürrisch und ungehobelt vorkommen wird? Denn eure Ohren sind nicht darauf vorbereitet, harte und strenge Worte zu vernehmen. Wie die zarten Hufe von Vieh, das auf weichem, glattem Boden aufwächst, so sind auch eure Ohren, die mit Schmeicheleien und trügerischen Worten gefüttert worden sind, empfindlich. (r6) Warum gelüstet es euch zu hören, was ihr doch nicht werdet ertragen können? Es muß euch etwas Ähnliches widerfahren sein wie den Augen bei Aisopos. Sie hielten sich fur das Wertvol1ste, sahen dann aber, wie der Mund neben al1 dem andern auch das Süßeste, das es gibt, Honig, genoß. Da waren sie empört und machten dem Menschen Vorwürfe. Als er ihnen aber ein bißchen Honig einträufelte, da biß er sie, so daß sie weinen mußten und ihnen der Honig scharf und widerlich vorkam. Deswegen versucht auch ihr nicht, wie die Augen vom Honig von den Worten der Philosophie zu naschen! Denn ich könnte mir denken, daß ihr ungehalten seid, wenn sie euch beißen, und ihr vielleicht sagen werdet, das sei ja gar keine Philosophie, sondern beleidigendes Geschimpfe. (r7) Ihr haltet euch ja fiir wohlhabend und glücklich, Leute, da ihr in einer großen Stadt wohn t, gutes Land euer eigen nennt und alles zum Leben Notwendige in Hül1e und Fülle bei euch vorhanden seht; da dieser Fluß hier mitten durch eure Stadt fließt und Tarsos obendrein die Hauptstadt von ganz Kilikien ist 9 • Archilochos aber - ich erwähnte, welchen Gefal1en ApolIon an ihm fand - äußert seine Meinung über einen Feldherrn wie folgt:
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Nicht gefällt der lange Feldherr mir, der dasteht weit gespreizt, nicht, der stoh auf seine Locken ist, das Beinhaar abrasiert. l • Von ihm aus, fährt er fort, möge der Feldherr säbelbeinig sein, prall auf seinen Füßen stehen und an den Waden Haare haben. (r8) Wenn nun Archilochos den von ihm geschilderten Feldherrn nicht liebt und nicht nach Körpergröße und Haarschnitt seinen Wert bemißt, glaubt ja nicht, er werde jemals eine Stadt loben im Blick auf solche Dinge wie Flüsse, Bäder, Qgellen, Wandelhallen, Fülle und Größe der Häuser; denn das gleicht nur allzusehr Haar und Locken. Ich glaube, solchen Städten würde er eine kleine und unbedeutende Stadt, selbst wenn sie auf einem Felsen läge, vorziehen - nur müßten ihre Einwohner vernünftig sein ". (r9) Archilochos haben wir nun gehört, aber was meint Homer dazu? Stammte Odysseus nicht von einer Insel, die man nicht einmal zu den mittelgroßen rechnen kann - wie sollte man auch! - noch zu den fruchtbaren? Will Homer die Insel auszeichnen, so nennt er sie lediglich «ziegenweidend» 12. Und trotzdem läßt er durch den Rat und den Plan dieses Mannes Troia einnehmen, eine solch große Stadt, die herrschte über alles, was Lesbos, der Sitz der Glückseligen, einschließt zum Meer hin, Phrygien landwärts mitsamt dem unendlichen Hellespontos.'3 Und Troia ist bei Homer eine in aller Augen «goldreiche, erzreiche Stadt»14. (20) Hat ihm die Fülle des Reichtums, die Menge an Untertanen und Bundesgenossen etwas genützt, die Schönheit der Ebenen, des Ida, des Simoeis oder des wirbelnden Xanthos, von Zeus, dem Unsterblichen, selber geboren?IS Dabei erwähnt Homer einige wunderschöne Qgellen in der Vorstadt, die eine mit warmem und außerordentlich angenehmem Wasser, so daß Dampf aus ihr aufstieg, die andere auch im Sommer so kalt wie Eis, so daß die schönen Töchter der
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Troer sommers wie winters leicht ihre Wäsche waschen konnten l6 . (2I) Auch nahmen die Troianer nicht nur wegen ihres Reichtums, der Vortrefflichkeit ihres Landes und ihrer großen Zahl eine Sonderstellung ein, vielmehr gab es bei ihnen auch die schönsten Menschen, Männer wie Frauen, auch die schnellsten Pferde, und sie galten als Lieblinge der Götter. Ihre Stadt war von einer außerordentlich festen Mauer umgeben, ein Werk Poseidons und ApolIons. Und Zeus hatte gesagt, er liebe diese Stadt von allen Städten unter der Sonne am meisten 17 • Die Rosse waren so schnell, daß sie im Lauf die Spitzen der Ähren streiften 18, und wegen seiner Schönheit machte Zeus den Ganymedes zu seinem Mundschenken. Dem Paris folgte aus Griechenland die vornehmste der Frauen weit und breit, und Kassandra läßt Homer an Schönheit der Gestalt Aphrodite nicht nachstehen 1 9 • (22) Aber trotz allem, als sich Verschwendungssucht und Übermut bei ihnen eingenistet hatten, als sie auf Erziehung und Selbstdisziplin glaubten verzichten zu können,da wurden sie mit Abstand die unglücklichsten Menschen. Ist nicht die ganze Erde voll von der Geschichte ihres Elends? Da half ihnen die Schnelligkeit ihrer Pferde nichts, nichts Zeus oder Ganymedes. Sie kamen um von der Hand eines Mannes aus einer so armseligen und unbedeutenden Stadt, und der Mann aus Ithaka war stark genug, ganz Troia zu überwältigen und die gesamte Stadt mit ihren breiten Straßen dem Erdboden gleichzumachen. (23) Lie ben doch auch die Götter nich t län ger mehr zügellose Schwel ger und Toren, die zu Übermut, Leichtsinn und Üppigkeit neigen. Deshalb traut diesen Leuten nicht, hütet euch vor ihren Worten der Mitfreude und Bewunderung und vor allen, die so gewaltige Preislieder singen können. Denn sie meinen es niG:ht ehrlich mit euch und machen euch wie dumme Jungen ohne Grund stolz. Hört lieber aufden, der euch auf diesen oder jenen Fehler aufmerksam macht und euch vor allem anderen, wenn
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möglich, zu der Einsicht bringt, daß ihr, wie ich schon sagte, nicht aus den erwähnten Gründen glücklich seid, selbst wenn der Nil noch klarer als der Kastalische Qgell durch eure Stadt flösse, selbst wenn der Paktolos sein Bett hierher verlegte und euch nicht nur körnchen weise, wie er es in früheren Zeiten bei den Lydern getan haben soll, sondern gleich in ganzen Haufen wie Schlamm das Gold brächte, selbst wenn ihr Ägypten oder Babyion an Prunk eurer Bauten überträfet. (24) Denn wäre es ein Fluß, der die Menschen glücklich machen könnte, das Klima, die Lage des Landes, Seehäfen, Tempel oder Befestigungen, so wäre es unmöglich, die Städte aufzuzählen, hinter denen ihr zurückbliebet. Ihr habt wohl schon gehört, daß bei den Byzantinern, die unmittelbar am Schwarzen Meer ein wenig unterhalb seines Ausflusses wohnen, gelegentlich ganz von selbst Fische ans Land geworfen werden. Trotzdem wird es niemand einfallen, die Byzantiner wegen ihrer Fische glücklich zu preisen - es sei denn, er sagte von den Möwen das gleiche - noch auch die Ägypter wegen des Nils oder die BabyIonier wegen ihrer Mauer. (25) Fließt nicht der Peneios durch ein ödes Thessalien? Der Ladon nicht durch Arkadien, das von seinen Einwohnern verlassen ist? Ist nicht der Kydnos selbst in seinem oberlauf noch klarer? Wollt ihr behaupten, deswegen seien die Menschen dort besser als ihr selbst? Vielleicht hättet ihr sogar recht, aber ihr werdet es gar nicht behaupten. Denn wer nichts von Luxus und Verderbtheit weiß, ist meiner Meinung nach besser dran. Was aber sollen wir erst von Italien sagen? Ist nicht Sybaris um so schneller untergegangen, je mehr es sich der Schwelgerei ergab? Und Kroton, Thurioi, Metapont und Tarent, Städte, die einst zu solch einer blühenden Machtentf.'lltung gekommen waren 20 - welche Stadt könnte man sich verödeter denken? (26) Ein gewaltiges Unternehmen wäre es, wollte man alle Völker aufzählen, die durch ihre üppige Lebensweise untergegangen sind: die Lyder in alten Zeiten, die
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Meder, vor ihnen die Assyrer und schließlich die Makedonen. Vor gar nicht allzu langer Zeit waren diese noch mit Lumpen angetan, galten als ein Volk von Hirten und kämpften mit den Thrakern um ihre Hirsefelder. Dann aber gewannen sie die Oberhand über die Griechen, kamen nach Asien herüber und dehnten ihre Herrschaft bis zu den Indern aus. Kaum jedoch hatten sie die Bequemlichkeiten der Perser übernommen, da folgte ihnen schon das Unglück. (27) So war es denn zugleich mit dem Zepter, dem Purpur und der medischen Küche auch um das Volk geschehen. Kommt m:m heute durch Pella, sieht man außer einem großen Trümmerh~ufen von Ziegeln an Ort und Stelle kein Zeichen mehr der alten Stadt. Und doch ist die Gegend, in der die genannten Städte lagen und die Völker wohnten, geblieben, wie sie vorher war, niemand hat die Flüsse in eine andere Richtung gelenkt, noch ist sonst etwas anders geworden. Nur die Menschen, bei denen sich Verschwendungs_ sucht und Luxus breitgemacht hatten, konnten sich nicht länger halten. (28) Glaubt nur nicht, Sturmböcke, Mauerbrecher und die übrigen Kriegsmaschinen leisteten geringere Zerstörungsarbeit als die Verschwendungssucht, mag man nun an den Fall eines Menschen oder an den einer Stadt denken. Nicht ein Fluß, eine Ebene oder ein Hafen ist es, der eine Stadt reich macht, nicht die Fülle an Besitz und Häusern, nicht die Tempelschätze - daran ist der Gottheit nichts gelegen. Selbst wenn man unter unsäglichen Mühen und Entbehrungen und mit einem Kosten-. aufwand ohnegleichen ganze Berge und Felsen in die Städte schaffte - Maß und Vernunft allein bringen Rettung. Sie machen jeden, der sich an sie hält, glücklich und Gott wohlgefallig, nicht Weihrauch und Myrrhe - bewahre! -, nicht Wurzeln, Harz von Bäumen oder Reiser aus Indien und Arabien. (29) Wenn der Fluß durch einen Zufall seinen Laufänderte und trüber daherflösse, wärt ihr verärgert darüber und erklärtet es
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jedem, der zum ersten mal nach Tarsos kommt. Seht ihr aber die Sitten der Stadt sich zum Schlechten hin ändern und immer mehr durcheinandergeraten, schert ihr euch nicht darum. Das Wasser wollt ihr sauber halten, nicht nur zum Trinken, sondern auch zum Anschauen; eine saubere und gesittete Lebenshaltung jedoch ist euch nicht erstrebenswert. (30) Da bekommt man oft zu hören, ihr wäret nicht die einzigen, fast alle hätten sich verändert. Aber das wäre ja genauso, wie wenn jeman bei einer Pest um seine eigene Gesundheit überhaupt nicht besorgt sein wollte, nur weil alle anderen oder die meisten von der Krankheit befallen sind, oder, beim Himmel, wenn jemand in einen Sees turm geraten wäre und sich nicht um seine Rettung kümmern wollte, weil er alle Mann an Bord in Gefahr sieht. Wie, wenn eine ganze Flotte untergeht, ist das Unglück deswegen etwa weniger ungeheuer? (31) Was macht ihr nun falsch? Alles übrige will ich übergehen, denn es wäre lächerlich, wollte man einem Mann, der vom Zitherspiel überhaupt keine Ahnung hat und einfach drauflosschlägt, klarmachen, was er falsch macht oder bei welchem Ton er sich vergriffen hat. Nur soviel soll gesagt sein, und keiner wird es abstreiten können. Ich behaupte also, daß vielen Leuten in der Stadt etwas Merkwürdiges widerfahren ist; es soll, wie ich gehört habe, bislang bei anderen häufiger vorgekommen sein als gerade bei euch. (32) Wenn ich nicht genau angeben kann, was es eigentlich ist, versucht ihr wenigstens, es zu erraten. Glaubt nicht, ich wollte euch ein Geheim~is verraten oder etwas sagen, das die Betreffenden verbergen möchten, auch wenn es höchst verwunderlich erscheinen wird: Mitten im Aufrechtgehen oder beim Sprechen schlafen die meisten von euch. Und selbst wenn sie vielen wach zu sein scheinen, hat das nichts zu bedeuten, denn auch bei einem Hasen wird jemand, der nichts von der Sache versteht und ihn schlafen sieht, behaupten, er sei wach. Woher weiß man das? Nun,
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[33.32-3;
aus anderen Dingen, die für den Schlaf kennzeichnend sind, denn die Augen des Hasen stehen ja offen. (33) Was machen nun diese Leute, das andere nur im Schlaf machen? Gar mancherlei, denn fast alles, was sie tun, tun sie wie im Traum: Sie freuen sich und sind traurig ohne wirklichen Grund; sie haben Mut und Angst, ohne daß ein Anlaß vorhan_ den wäre; sie sind eifi'ig bei der Sache und begehren Unmög_ liches; was nicht ist, halten sie für seiend, was ist, nehmen sie nicht wahr. Indes, soweit ist das vielleicht uns allen gemein. Was meiner Mein ung nach aber der eindeutige Beweis für ihren Schlafzustand ist: sie schnarchen. Bei Gott, ich habe keinen milderen Ausdruck dafür. Und bei den Schlafenden sind es sogar nur wenige, die damit zu tun haben, denn im Normalfall kommt das nur vor, wenn man zuviel getrunken oder gegessen hat oder nicht gut liegt. (34) Ein solches Benehmen aber, behaupte ich, bringt die Stadt in Schande und öffentlichen Verruf, und diese Tagschläfer, die man gerechterweise aus seiner Mitte und überhaupt von allem ausschließen sollte, vergehen sich an ihrer Vaterstadt auf die schlimmste Weise. Denn es kommt nicht in maßvollen Grenzen hier und da einmal vor, sondern ununterbrochen an jeder Stelle der Stadt trotz aller Drohungen, Scherze und Spöttereien. Übrigens ist es auch schon bei ganz kleinen Kindern zur Gewohnheit geworden, und auch die Erwachsenen, die noch etwas Schamgefühl zu besitzen scheinen, lassen sich oft dazu verleiten, wie wenn es sich um einen guten Brauch in der Stadt handelte. Ja selbst wenn sie achtgeben und sich schämen, klingt zumindest ihr Luftholen wie Schnarchen. (35) Gäbe es eine Stadt, in der man fortwährend nur Jammern hörte und niemand auch nur einen Schritt tun könnte, ohne auf diese mißtönenden Laute zu stoßen, beim Himmel, wird man in ihr gern verweilen? Dabei ist das Jammern, wie man sagen könnte, ein Zeichen von Unglück, während die
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Töne, die man hier vernimmt, Unverschämtheit und ein äußerstes Maß, sich gehen zu lassen, verraten. Sicher aber wird man lieber unter unglücklichen Menschen leben als unter Menschen, die sich nicht zusammennehmen können. Ich fur meinen Teil möchte nicht einmal fortgesetzt Flötenmusik hören, und wenn es irgendwo einen solchen Ort gibt, der ununterbrochen widerhallt vom Klang der Flöte, des Gesangs oder der Zitherder Fels der Sirenen soll ja in einem fort so getönt haben -, könnte ich mich nicht überwinden, dorthin zu gehen und da zu bleiben. (3 6) Und nun erst dieses barbarische, widerwärtige Geräusch - welcher orden diche Mensch soll das aushalten können! Geht jemand an einem Haus vorbei und hört solche Töne, muß er zu der Ansicht kommen, es sei ein Bordell. Was soll man da erst von einer Stadt sagen, in der beinah überall nur dieser eine Laut sich breitrnacht, in der keine Gelegenheit, kein Tag, kein Ort davon ausgenommen ist, sondern das Unwesen auf der Straße, im Haus, auf dem Marktplatz, im Theater und im Gymnasion herrscht? Bis jetzt habe ich in der Stadt noch niemand morgens früh Flöte spielen hören, diese merkwürdige Melodie aber hebt gleich bei Tagesanbruch an. (37) Es ist mir indessen nicht entgangen, daß dieser oder jener es vielleicht für Unsinn hält, solchen Dingen nachzugehen, und in ihnen nur eine Belanglosigkeit sieht - Hauptsache, die Wagen bringen Gemüse in die Stadt, in den Geschäften ist Brot reichlich zu haben und ebenso Eingepökeltes, Fisch und Fleisch. Jedoch sollten diese Leute die Sache auch von der folgenden Seite betrachten. Wie wäre es, wenn sie in eine Stadt kämen, in der alle Menschen mit dem Mittelfinger zeigten, was sie zeigen wollen? Gibt jemand die Rechte, tut er es auf diese Weise, ebenso, wenn er die Hand ganz ausstreckt, zum Beispiel wenn das Volk durch Handaufheben abstimmt oder die Richter ihre Stimme abgeben. Was soll man von einer solchen Stadt halten? Oder wenn alles geschürzt ginge, wie man '7
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etwa im Wasser watet? (38) Merkt ihr nicht, daß das eine Handhabe ist, euch schlechtzumachen, so daß alle, die nicht gu t auf euch zu sprechen sind, Material bekommen gegen eure ganze Stadt? Warum schimpft man euch «Weberschiffchen»"? Doch meinen manche, es komme weder für euch noch für sonst jemand darauf an, was die andern sagen, sondern darauf, Was ihr tut. Stellt euch einmal vor, ein ganzes Volk würde von dem Mißgeschick befallen, daß alle Männer die Stimmen Von Frauen bekämen und weder jung noch alt in seiner männlichen Tonlage sprechen könnte. Würde man das nicht für ein furcht_ bares Unglück halten, vielleicht noch schlimmer als jede Pest, so daß man zum Gott schickte und die Gottheit mit vielen Gaben zu versöhnen suchte? Und doch ist die Frauenstimme immer noch die Stimme eines Menschen, und niemand wird sich daran stören, die Stimme einer Frau zu hören. (39) Aber dieser Laut? Stammt er nicht von den Zwittern? Nicht Von solchen, denen das Geschlech t abgeschnitten worden ist? Aber nicht einmal die sprechen immer und zu jedem mit dieser Stimme, sondern es ist gleichsam eine Art Erkennungszeichen für sie. Sagt, wenn ihr alle gegürtet oder mit Pauken einherginget, käme euch das nicht unerträglich vor? Wenn eure Stadt wie andere Städte von einer hohen Burg oder gar von einem GebÜ'ge überragt wäre - man könnte dort oben zwar nicht jeden Laut deutlich unterscheiden, aber doch das allgemeine Geräusch vernehmen -, welcher Ton würde wohl nach eurer Meinung dorthin emporgetragen werden? Doch wohl der Ton, den die meisten von sich geben, wie der Grundton in einem Akkord. (40) Wenn man nun von dem, was man hört, auf die Menschen schließen sollte? Bei Homer braucht Odysseus, als er sich seinem Palast nähert, nicht zu warten, bis er die Freier beim Gelage gesehen hat, sondern sagt sofort, als der Klangder Leier an sein Ohr drin gt, zu Eumaios:
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47 1 Wohl erkenn ich, daß viele beim Mahl i/l der Halle versammelt; >2 oder ein anderes Beispiel: Als er von der Insel der Kyklopen das Geblöke der Schafe und die Stimmen der Kyklopen hört - sie waren wohl, denke ich, auf der Weide -, da begreift er, daß das Land irgend welchen Hirten gehört. (41) Wenn also auch in eurem Fall jemand aus den Lauten, die von fern an sein Ohr dringen, seine Schlüsse ziehen sollte, was für Menschen würdc er wohl in euch vermuten, an welche Beschäftigung würde er denken? Denn Rinder und Schafe zu weiden, daftir fehlen hier die Voraussetzungen. Würde er euch für Kolonisten aus Argos, die ihr zu sein behauptet, oder eher für solche aus dem zur Genüge bekannten Arados halten? Für Griechen oder ftir die ausschweifendsten Phöniker? Ich jedenfalls bin der Meinung, daß es für einen anständigen Menschen in einer solchen Stadt dringlich ist, sich Wachs in die Ohren zu stopfen, noch dringlicher, als wenn er bei den Sirenen hätte vorbeisegeln müssen. Denn dort bestand Lebensgefahr, bei euch aber drohen Ausschweifung, Unverschämtheit und restlose Verderbnis, und von Vergnügen und Abenteuerlust ist doch wohl nichts dabei zu bemerken. (42) In früheren Zeiten galt der Rat der Besseren, jetzt gilt, wie es scheint, der Rat der Schlechteren. Verwundert wird man sich fragen, aus welchem Grund die Mehrzahl hier in Tarsos so begeistert von dem Unfug ist, warum er sich im Lauf der Zeit immer mehr einbürgert. Wie sich die ionische und dorische, dann die phrygische und lydische Tonart durchgesetzt hat, so ist jetzt die Weise der Aradier tonangebend: Zur Zeit findet die phönikische Musik euer Gefallen, und in diesen Rhythmus seid ihr über alle Maßen verliebt wie andere in den spondeischen. (43) Oder ist gar ein neues Menschengeschlecht auf die Erde gekommen, das mit der Nase Musik macht, wie ja die Schwäne mit ihren Flügeln Musik machen sollen? Da erfreuen sie sich gegenseitig nach Art der hellstimmigen Vögel auf der Straße und beim Gelage und brauchen
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[33.43-4S
keine Leier und keine Flöte mehr. Diese Instrumente sind veraltet, sie taugen nur zu einer herben, bäurischen Musik. Jetzt floriert eine andere Mode, besser und angenehmer als die herkömmliche Leier. So wollen wir denn mit der Zeit auch Chöre von Jungen und Mädchen nach dieser Musik aufstellen und sorgfältig einstudieren! (44) Daß ihr über meine Worte verärgert seid, verstehe ich nur zu gut, und ich sagte euch schon im voraus, daß ihr sie mir nicht gern abnehmen werdet. Vielleicht wart ihr der Meinung, ich spräche über Astronomie und Geologie zu euch. Einige werden mir zornentbrann t vorwerfen, ich beleidigte die Stadtdie das in Wirklichkeit tun, belangen sie nicht. Andere wieder werden vielleicht lachen, daß ich mir nichts Besseres hätte einfallen lassen. Aber auch die Ärzte sehe ich gelegentlich Stellen am Körper berühren, die sie lieber nicht berühren würden - es sind nicht gerade die schönsten -, und ich weiß, daß viele Patienten sich wehren, wenn der Arzt die kranke Stelle befühlt. Er aber ritzt und schneidet sie häufig trotz ihres Geschreis. Ich werde also von meinem Thema nicht ablassen, bevor es euch nicht gebissen hat. Dabei ist es noch eine außerordentlich milde Medizin, die ich euch mit meiner Rede verabreiche, viel schwächer, als sie eigentlich sein müßte. (45) Wohlan, bei Herakles, Perseus, ApolIon, Athene und den anderen Göttern, die ihr verehrt, gebt mir bereitwillig Antwort! Möchte jemand unter euch eine solche Frau haben -ich meine, wie man von einer Zitherspielet'in oder von mir aus auch, je nach ihrer Beschäftigung, von einer Flötenbläserin oder Dichterin und so weiter spricht -, also eine Frau, die auf herkömmlicheWeise nach dieser Tä tigkei t, von der ich spreche, genannt wird 23 ? Seid mir deswegen bitte nicht böse und verärgert! Denn diese Worte bieten sich jedem, der zu diesem Thema Stellung nimmt, von selbst an und sind nicht irgendeine Erfindung von mir. Mit einer solchen Frau zusammenzu-
33,45-48)
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wohnen, wäre keiner von euch bereit, selbst nicht für fünfhundert Talente, glaube ich, und niemand möchte so eine Tochter haben. Oder, bei Gott, wie furchtbar müßte es erst sein, eine solche Frau zur Mutter zu haben und rur sie in ihrem Alter aufzukommen! Und doch ist das eine ehrenvolle Aufgabe und Pflicht, vor allem für die Älteren. (46) Genug, wenn es sich um Frau und Tochter handelt, wird euch das Zuhören zuviel, wenn ihr aber in einer solchen Stadt und in einem solchen Vaterland wohnt, scheint es euch nicht besonders schlimm zu sein. Dabei war Tarsos, was in jeder Hinsicht schwerer wiegt, nicht von Anfang an so verdorben, sondern ihr habt die Stadt erst soweit gebracht. Und doch ist sie Hauptstadt, so daß sie auch Würde und Ansehen einer Hauptstadt hat. Trotzdem aber nehmt ihr weder aufihren Namen noch auf ihr Alter noch auf ihre besondere Stellung Rücksicht. (47) Man sagt ja, die Gründer von Städten, Heroen oder Götter, besuchten oft bei Opfern und gewissen öffentlichen Festen, für alle anderen unsichtbar, ihre Städte. Wenn nun, was durchaus denkbar wäre, euer Ahnherr Herakles hier erschiene, nehmen wir an, wegen des Scheiterhaufens, den ihr ihm zu Ehren so wunderbar errichtet habt'4, glaubt ihr wohl, er werde begeistert sein, wenn er solche Laute vernimmt? Wird er nicht lieber nach Thrakien oder Libyen gehen und am Opfer der Nachfahren des Busiris oder des Diomedes teilnehmen 2S ? Und Perseus 26 , Würde er nicht ganz bestimmt über eure Stadt hinwegfliegen ? (48) Aber wir brauchen gar nicht an die Götter zu denken. Glaubt ihr etwa, Athenodoros 27 , der vor gar nicht allzu langer Zeit gelebt hat und bei Augustus in großem Ansehen stand, hätte den Aufenthalt in eurer Stadt dem Zusammensein mit Augustus vorgezogen, wenn er gewußt hätte, wie es heute in der Stadt zugeht? Früher war eure Stadt berühmt wegen ihrer guten Ordnung und ihrer maßvollen Haltung, und auch die Männer, die sie hervorbrachte, waren von dieser Art. Jetzt aber fürchte ich,
ERSTE TARSISCHE REDE 474 daß aus ihr das Gegenteil wird, so daß man sie mit gewissen anderen Städten zusammen nennt. Und doch verraten auch heute noch viele der bestehenden Sitten irgendwie die nüchterne und strenge Lebensweise alter Zeiten. Dazu gehört zum Beispiel die weibliche Kleidung: Tracht und Gang sind derart, daß niemand auch nur ein kleines Stückehen von Gesicht und Körper sieht und auch die Frauen selbst außer dem Weg nichts sehen· 8 • (49) Und doch, was könn ten sie schon Schlimmeres sehen, als sie hören müssen! Mit den Ohren also hat das Übel begonnen, und heute sind die Frauen zum größten Teil verdorben. Denn die Vergnügungssucht schleicht sich von allen Seiten durch Ohren und Augen ein. So gehen die Frauen zwar mit verhüllten Gesichtern, aber mit unverhüllter, weitgeölfneter Seele. Die Folge ist, daß sie wie die Landvermesser mit einem Auge schärfer sehen als mit zweien. (50) Die Sache mit den Nasen ist also klar, und zwangsläufig richtet sich auch alles andere nach dieser Regel. Denn glaubt nicht, wie bei anderen Leiden gewöhnlich nur einzelne Körperteile, etwa Hände, Füße oder Gesicht, befallen werden, so sei bei euch eine Epidemie an den Nasen ausgebrochen! Oder wie die erzürnte Aphrodite den Frauen von Lemnos die Achselhöhlen verunstaltet haben sol1'9,so seien auch hier durch den Zorn der Gottheit den meisten die Nasen verunstaltet und deswegen stießen sie einen so häßlichen Laut aus. Unsinn! Es ist ein Symptom der äußersten Ausschweifung und Verrücktheit, der Verachtung alles Guten, die nichts mehr für verwerflich hält. (SI) Genauso ist die Redeweise der Frauen, ihr Gang und ihr Blick, behaupte ich. Und wenn sie auch mit ihren Augen nichts derartig Auffallendes tun können, daß sich jedermann nach ihnen umdreht, oder wenn sie es in dieser Kunst noch nicht soweit gebracht haben, so sind sie im übrigen trotzdem um nichts ordentlicher. Über die Leute von Aigai und Adana 30 regt ihr euch auf, wenn sie über euch herziehen, eure eigenen
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475 Bürger aber, die beweisen, daß die anderen recht haben, wollt ihr nicht aus der Stadt werfen. (52) Wißt ihr nicht, daß es bei verbotenen und widernatürlichen Taten in den meisten Fällen beim Verdacht bleibt und keiner aus der Menge etwas wirklich gesehen hat, sondern die Unseligen unbeobachtet im Dunkeln und Verborgenen ihre Untaten begehen? Ihr wahrer Charakter, ihre eigentliche Gesinnung verrät sich in Zeichen mangelnder Selbstbeherrschung wie etwa in Stimme, Blick und Haltung, auch in solch scheinbar bedeutungslosen Kleinigkeiten wie Haarschnitt und Gang, Drehen der Augen, Biegen des Nackens, Gestikulieren beim Sprechen. Glaubt nicht, daß nur beim Flöten- und Saitenspiel oder beim Gesang sich zeige, was männliches, was weibisches Wesen ist, daß aber Bewegungen und Handlungen nichts damit zu tun hätten und keine Schlüsse zuließen. (53) Ich will euch eine Geschichte erzählen, die ihr vielleicht auch sonst schon einmal gehört habt. Einer eurer bedeutenden Männer 31 kam einmal, wie es heißt, in eine bestimmte Stadt. Er hatte sich zur Aufgabe gemacht, das Wesen eines jeden Menschen sofort zu erkennen und seine Charaktereigenschaften zu erklären, und bei jedem traf er genau ins Schwarze. Wie wir bei Tieren auf den ersten Blick erkennen, daß dies, sagen wir ein Schaf, jenes ein Hund, ein Pferd oder eine Kuh ist, so erkannte er die Menschen auf den ersten Blick und konnte angeben, daß dieser tapfer, jener feige, dieser ein Angeber und jener ein Lüstling, unzüchtig oder ein Ehebrecher ist. (54) Da er nun wegen seiner Fähigkeiten berühmt war und sich in seinem Urteil niemals täuschte, brachten sie auch einmal einen Menschen von ungepflegtem Äußeren zu ihm, mit zusammengewachsenen Augenbrauen, starrend vor Schmutz und in einem erbärmlichen Zustand, mit Schwielen an den Händen, in einen grauen, groben Mantel gehüllt, bis an die Knöchel behaart und auf dem Kopfverwahrlost. Von diesem Mann nun sollte er sagen, wer
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er sei. Als er ihn sich lange Zeit betrachtet hatte und, wie ich glaube, nicht sagen wollte, was er dachte, meinte er schließlich, er sei sich noch nicht ganz sicher, der andere solle doch einmal ein paar Schritte machen. Als jener gerade weggehen wollte, mußte er niesen, und sofort rief der andere, der Mann treibe Unzucht 3z • (55) Ihr seht, bei einem Menschen verrät das Niesen sein Wesen und kann auch alles andere aufdecken. Eine Stadt aber sollte eine solche Einzelheit nicht in Verruf bringen und ihr einen schlechten Namen anheften, zumal es nicht viel Scharfsinn erfordert zu begreifen, was dieser häßliche Zug verrät? Ich würde übrigens gern von einem Fachmann hören, womit dieser Laut zu vergleichen ist - es ist kein Schnalzen, kein Schmatzen, kein Pfeifen -, was er zu bedeuten hat, zu welcher Tätigkeit er gehört und wann er vorwiegend hervorgebracht wird - weder beim Weiden noch beim Pflügen noch beim Jagen gibt es diesen Laut, und selbst von Seeleuten hat man ihn noch nicht vernommen. (56) Entsteht er vielleicht, wenn man sich begrüßt, sich etwas zuruft oder sich liebkost? Nein, sondern wie der Hymenaios ein altertümlicher Hochzeitsgesang von eigener Prägung ist, so muß dieser Rhythmus in neuerer Zeit für irgendein anderes Fest erfunden sein. Ihr werdet jetzt unwillig weggehen und sagen, ich hätte lauter Unsinn geredet, weil ich so viele Worte über höchst nutzlose Dinge verloren hätte; denn es sei euch noch kein Schaden daraus erwachsen und die Stadt werde deswegen nicht schlechter verwaltet. (57) Nun, bei den alten Griechen galt es als eirte Art Verbrechen, Änderungen in der Musik vorzunehmen, und jeder, der einen neuen Rhythmus einfuhren oder die Stimmen abwechslungsreicher gestalten wollte, wurde einhellig abgelehnt, da man der Meinung war, der Untergang Griechenlands vollziehe sich im Theater. So sorgfaltig achteten sie auf ihre Ohren; und allem, was zu hören war, schrieben sie
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eine solche Macht zu, daß die Gesinnung aufgeweicht und die Selbstzucht erschüttert werde, sobald man auch nur ein wenig von den alten Grundsätzen der Harmonie abgehe. Deswegen nahmen auch die Spartaner dem Timotheos, einer bereits allgemein anerkannten Größe auf dem Gebiet der Musik, bei seinem Besuch in ihrer Stadt die Leier aus der Hand und schnitten die überflüssigen Saiten heraus 33. Macht es den Spartanern nach, Leute von Tarsos, schneidet den überflüssigen Laut ab! (58) Die alte Sage erzählt, Kirke habe mit ihren Zaubermitteln Menschen in Schweine und Wölfe verwandelt. Aber wir schenken Homer keinen Glauben, wenn er sagt: Sie aber hatten von Schweinen den Kopf, die Stimme und Haare, auch die Gestalt. 34 Jedoch blieb der Verstand bei ihnen klar, wie Homersagt, währenddie Leute hier ihn als erstes restlos verloren haben. (59) Es ist nicht so furchtbar, wenn Menschen zwischendurch einmal die Stimme von Schafen oder Rindern annehmen, wenn sie wiehern oder bellen. Das tun bei den Dichtern die Erinyen der Hekabe zu ihrem ganzen übrigen Leid schließlich auch noch an: und mit wildem Blick stieß aus grauem Rachert die Hündin da aus ehernert Schrei. Es horchte der [da, Tenedos, ringsumjlossen, Thrakiem Felsen, vom Winde gepeitscht. 3s (60) Wie gesagt, diese Ungeheuerlichkeit halte ich nicht für so furchtbar und abscheulich, als wenn ein Mann, der die charakteristischen Kennzeichen des Mannes und seine Stimme behält - die natürlichen Merkmale kann er nämlich nicht auslöschen, mag er auch alles tun, sie zu verbergen, wie ein Dieb gestohlenes Gut versteckt -, von irgendwelchen Erinyen gepeitscht, in sein Gegenteil verkehrt und aufjede Art und Weise zum Weib wird und bereit ist, alles mögliche zu tun, nur nicht, was seiner Natur entspricht. Dann, ein zweiter Proteus 36 , ändert und wandelt er sich und verfällt darauf, mit einer Stimme
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ZU sprechen, mit der weder Mann noch Frau noch sonst ein Lebewesen spricht. Nicht einmal der Hure, wenn sie einen anspricht, macht eres nach, sondern gibt einen Ton von sich, wie wenn er sich gerade mit der gemeinsten Beschäftigung und dem ausschweifendsten Treiben abgäbe, und zwar mitten am Tag im hellsten Sonnenlicht vor den Augen einer großen Menge. Da war es nicht so ungeheuerlich, als die Rindshäutezu kriechen und das Fleisch zu brüllen anfing 37 • (6r) Welcher Homer, welcher Archilochos vermöchte solches Unheil durch seinen Gesang zu verjagen? Beim Herakles, ich glaube, das Treiben dieser Menschen bedarf eines wahrhaft großen Tragikers, der in der Lage sein müßte, einer solchen Leidenschaft Einhalt zu gebieten und sie einzudämmen. Was hier nämlich geschieht, gleicht bereits einem gräßlichen, schamlosen Wahnsinn. (62) Denn diese Seuche der äußersten Unziemlichkeit, die bei euch die Runde macht, verleitet euch schließlich zu a\1en nur denkbaren Taten, Schreien und Haltungen und zieht jeden Teil in furchtbare Mitleidenschaft, Füße, Hände, Augen, Zunge. Daher kann ich euch auch nichts nützen, noch vermag es meine drucklose, schwache Mahnrede. Die eherne oder eiserne Stimme des Stentor 38 wäre da vonnöten, der lauter und deutlicher rufen könnte als ich. Betrachtet doch nur, wohin das alles fuhrt! (63) Zuerst kam man auf den Gedanken, den Bart zu scheren, und es galt als angemessen, ihn nicht zu lang und voll herabwallen zu lassen, sondern die Natur gelinde zu verbessern. Nun, das fanden viele noch recht geschmackvoll. Dann scherte man den Bart bis zu den Backen, und auch das war noch nicht schlimm. Später jedoch forderte der Komödienschreiber, auch diesen Rest noch wegzusengen auf sechzehn Phalluspjläcken frisch aus Feigenhoh. Aber man hatte ja noch ein schönes, jugendliches Gesicht über die Jahre hinaus, wenn diese Wolle abgeschnitten war. Dann aber - das fehlte noch - ging es auch an Brust und Beine, damit
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man auch im übrigen den Knaben gleichsehe. Schließlich machte man sich an die Arme, dann an die Genitalien, wo die Schamhaare überflüssig schienen. Verspottet und verlacht wird die weise Einrichtung der Natur von den schlauen jungen Leuten, als sei sie veraltet und absolut töricht! Solch nutzlose und überflüssige Dinge dem Körper anzuhängen! (64) Wozu braucht ihr Nägel, wozu Haare? Vielleicht nicht einmal Hände und Füße! N ur die Schamteile und den Magen mußte euch die Natur machen und dann Nahrung samt allem übrigen, was man genießen kann, bereitstellen. Das istes also, warum wir uns ringsum verstümmeln und Bart- und Schamhaare abrasieren, die doch das Kennzeichen der Männer sind. Wäre es möglich, von den Frauen alles Fehlende dazuzubekommen, dann wären wirolfensichtlich ganz glücklich, nichtwie jetzt bedürftige Wesen,sondernvollkommeneGeschöpfe, von Natur- Mannweiber. 34. ZWEITE TARSISCHE REDE
(I) Wie mir wohl bekannt ist, Männer von Tarsos, ist es bei euch wie anderswo üblich, daß die Bürger ans Rednerpult treten und Ratschläge erteilen j natürlich nicht jeder beliebige, sondern die angesehenen und wohlhabenden, dann auch die Bürger, die ihren Verpflichtungen dem Staat gegenüber besonders gut nachgekommen sind. Denn es wäre doch wohl recht unvernünftig, wenn ihr vom Besitz der Reichen euern Anteil bekämt, von ihrer Einsicht aber, wie immer sie geartet sein mag, keinen Vorteil haben solltet. Wenn ihr freilich Sänger und Flötenspieler hören oder Wettkämpfer sehen wollt, dann ruft ihr selbstverständlich nicht die Reichen und nicht eure Mitbürger, sondern die Fachleute und Könner. So machen es alle Leute in eurer Lage, nicht ihr allein. (2) Natürlich ist mir auch nicht entgangen, daß Leute in meiner Aufmachung vom Volk gewöhnlich Kyniker genannt werden. Sie hätten einem selbst nichts voraus, glaubt man, und
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könnten in praktischen Fragen nicht mitreden, ja man spricht ihnen sogar jeden gesunden Menschenverstand ab und hält sie für eine Art armer Verrückter. Zum Teil ist man nur zu bereit, diese Männer zu verspotten und zu verlachen; häufig läßt man sie nicht einmal schweigen und erträgt doch erst recht nicht, wenn sie reden. (3) Dann hört man auch, ihr wäret gegen die Philosophen zur Zeit ganz besonders gereizt und verwünschtet sie, freilich nicht alle, aber einen Teil von ihnen. Und diese vorsichtige, gemäßigte Haltung ist durchaus angebracht. Ich meine, daß ihr nicht in Bausch und Bogen alle Philosophen verwünscht, wenn die hier in Tarsos etwas nicht richtig machen. Das allerdings wißt ihr vielleicht nicht, daß ihr mit euren Verwünschungen einen Philosophen überhaupt nicht trefft, denn niemand aus der Zahl der ungerechten und schlechten Menschen ist ein Philosoph, selbst wenn er nackter' als ein Standbild einherginge. Vielmehr scheinen mir alle, die dem Vaterland schaden und sich gegen ihre Mitbürger zusammenrotten, von dieser Bezeichnung weit entfernt zu sein. (4)Was also war meine Erwartung, was mein Wunsch, daß ich in dieser Aufmachung und zu diesem Zeitpunkt vor euch auftrete? Ist das nicht der reine Wahnsinn? Nun, ich selbst möchte nichts von euch haben, vielmehr ist mir darum zu tun, euch einen Dienst zu erweisen. Solltet ihr mich also nicht anhören wollen, so seid eindeutig ihr es, die den Schaden haben, nicht ich. Meint ihr aber wirklich, ich sei verrückt, so solltet ihr mich gerade deswegen anhören'. Ihr dürft nämlich nicht glauben, Adler und Falken gäben den Menschen ein Zeichen, was sie tun sollen, und auf den Wink dieser Tiere sei Verlaß, weil er ohne menschliches Zutun von einem Gott komme, ein Mensch aber, der auf diese Weise zu euch gelangt und eigentlich gar nichts mit euch zu tun hat, komme ohne göttlichen Wink, um sich an euch zu wenden und euch zu raten. (s) Dabei seid ihr bei den Vögeln auf Vermutungen angewiesen, meine
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Worte aber könnt ihr gleich beim Hören verstehen und dann prüfen, ob wirklich etwas Brauchbares an ihnen ist. Da ich diese Dinge schon einmal erwähne, will ich euch eine Geschichte erzählen, die sich in Phrygien zugetragen hat, damit ihr schon jetzt mich auslachen könnt. Ein Phryger machte auf seinem Tier eine Reise. Da erblickte er eine Krähe und hief t sie Hir ein schlechtes Vorzeichen - die Phryger verstehen sich nämlich auf derlei Dinge -, warf einen Stein nach ihr und traf sie wohl auch. Nun freute er sich mächtig, denn er glaubte, auf sie das Unheil abgelenkt zu haben, hob sie auf, bestieg sein Tier und ritt weiter. Nach einer kurzen Weile aber hatte sich die Krähe wieder erholt. Das Tier scheute und warf den Reiter ab. Der brach sich beim Sturz das Bein, und so nahm es mit ihm ein böses Ende, weil er für das Zeichen nicht dankbar gewesen war. (6) Ich jedoch bilde mir ein, entschieden besseren Rat als die Krähe zu wissen und zu einsichtigeren Männern, als der Phryger es war, gekommen zu sein. Wenn ich euch Unsinn zu reden scheine, werdet ihr nämlich nicht gleich mit Steinen nach mir werfen, sondern nur ein Geschrei erheben. Gut, da ihr schweigt und bleibt, will ich euch zunächst zeigen, falls ihr euch nicht ganz sicher sein solltet, daß ihr im gegenwärtigen Augenblick einen klaren Kopf braucht, daß eure Lage guten Rat und viel Weitsicht erfordert; ferner, daß keiner hier so leicht das Notwendige euch wird raten können, der eine aus Unkenntnis eures wahren Vorteils, der andere aus Feigheit vor euch oder vor anderen, der dritte, weil er vielleicht mehr aufseinen eigenen Vorteil bedacht ist. (7) Schließlich will ich euch meine persönliche Ansicht in dieser Frage darlegen und zeigen, was ihr meiner Meinung nach im Augenblick zu tun und wie ihr überhaupt die Stadt zu verwalten habt, um in alle Zukunft Nutzen davon zu haben. Euch, Männer von Tarsos, ist das Glück beschieden gewesen, die Ersten des Volkes zu sein, nicht nur, weil eure Stadt die
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größte in Kilikien ist und von An[1ng an eine führende Rolle gespielt hat, sondern auch, weil ihr mehr als alle anderen die Zuneigung des zweiten Caesars 3 gewonnen habt. Denn das Unglück\ das um seinetwillen über die Stadt hereingebrochen war, hatte natürlich zur Folge, daß er rur euch eingenommen und darauf bedacht war, euch die Bezeugungen seiner Gunst größer erscheinen zu lassen als die um seinetwillen erlittene Unbill. (8) Deshalb gewährte er euch auch, was man wahren Freunden, Verbündeten und zu jedem Dienst bereiten Männern gewährt: Land, Verfassung, Ansehen, Hoheitsrechte über den Fluß und das Meer in eurem Bereich. Daher wuchs die Stadt schnell, war doch auch seit ihrer Einnahme nicht viel Zeit vergangen. Es ging ihr wie einem Menschen, der nach schwerer Krankheit schnell wieder genesen ist: Bekommt er in der Folgezeit hinreichend Pflege, geht es ihm häufig besser als zuvor. (9) Was allerdin gs die nachfolgenden Ereignisse betrifft, so war es rur eure Stadt nicht, wie man bisweilen annimmt, von Nutzen, daß einige der leitenden Beamten gewalttätig waren und ihr gegen sie vorgingt. Daß ihr wieder einiges darstelltet, daß ihr nicht nur euch selbst, sondern auch anderen zu helfen wußtet, daß die Nachfolger ganz gewiß mit ihren Übergriffen vorsichtiger waren, dazu kam es allerdings nur dadurch, daß jene zur Rechenschaft gezogen wurden. Im übrigen aber machte dieses Vorgehen eure Stadt verhaßt und brachte euch den Rufein, ihr wäret unzufrieden und mit Beschuldigungen schnell zur Hand. Denn schon früher galten häufige Anklagen als Beweis rur Denunzierungssucht, zumal wenn es sich um Beamte vor Beamten handelte. Denn als Grund für das feindselige Verhältnis vermutet man nicht, daß ihr zu streng behandelt werdet, sondern daß ihr euch der Herrschaft nicht fügen wollt. (10) Dann ist da noch etwas anderes, das euch betrifft und mit dem eben Erwähnten eine gewisse Ähnlichkeit hat. Die Leute von Aigai haben sich aus unüberlegtem Rivalitätsstre-
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ben euch gegenüber bei der Eintragung in die öftentlichen Listen einiges zuschulden kommen lassen s. Zwar zogen sie dabei den kürzeren, aber doch haben sie die feindselige Stimmung vergrößert und eure Stadt allmählich in den Rufeiner schweren Bedrückerin der anderen Städte gebracht. (11) Das war früher. Heutzutage sind es die Leute von Mallos, die sich mit euch streiten. Vor keinem frechen Übergriff scheuen sie zurück; weil sie aber schwach und euch weit unterlegen sind, spielen sie immer die Rolle des Unrecht Leidenden. Denn nicht, was man tut, ist bei einigen ausschlaggebend, sondern was man ist, und häufig sind sie gar nicht bereit zu untersuchen, wer der Übeltäter und Gewalttätige ist, sondern fragen nur, bei wem seiner größeren Macht wegen die Anwendung von Gewalt wahrscheinlich ist. Auf jeden Fall, hättet ihr etwas getan von dem, was sich jetzt die Malloten herausnehmen, würde man euch als Städtezerstörer, als Unruhestifter und Kriegshetzer betrachten und es für notwendig halten, ein Heer gegen euch zu schicken. (12) «Aber man spielt uns doch übel mit», wird mancher sagen, «wenn diese Leute tun dürfen, was sie wollen, und aus ihrer Hilflosigkeit noch Kapital schlagen, wir aber eine Gefahr heraufbeschwören, sobald wir uns nur regen.» Zugegeben, das ist ein gewaltiges Unrecht. Aber wenn dabei wiederum nur Unrecht herauskommen kann, darf man sich nicht in übertriebenem Eifer selbst in eine ausweglose Lage bringen. Eher braucht es da Weitblick und Vorsicht. Eine ähnliche Situation entsteht etwa, wenn ein schwacher Kämpfer gegen einen weit überlegenen Gegner antritt. (13) Dem einen gestattet man keine Regelwidrigkeit, und selbst wenn er nur aus Versehen gegen eine Bestimmung verstößt, wird er ausgepeitscht; bei dem andern aber sieht es niemand, wenn ihm jedes Mittel recht ist. Hier wird der in Wahrheit Überlegene, der etwas aufsieh hält, durch seine Stärke gewinnen und diese kleinen Vorteile zurückweisen. So werdet auch ihr nun, wenn ihr
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vernünftig seid, mit gerechten Mitteln und durch die Größe eurer Stadt die Neider aus dem Felde schlagen, aber nichts in Zorn und Empörung tun. Doch davon später noch mehr, wie ich, soviel ich weiß, schon in Aussicht gestellt habe. (14) Jetzt will ich die übrigen Punkte durchgehen mit der Gründlichkeit, die ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt für erforderlich halte. Die feindliche, aufsässige Haltung der Malloten braucht euch wohl noch nicht allzusehr zu beunruhigen. Daß aber auch eure Nachbarn, das Volk von Soloi und Adana, und vielleicht noch einige andere dieselben und keineswegs freundlichere Gefuhle hegen, daß auch sie unzufi'ieden sind und schimpfen und lieber von jedem sonst abhängig sein wollen, läßt die Vermutung aufkommen, daß auch der Unwille der Aigaier und Malloten vielleicht nicht so ganz unberechtigt ist und sie sich nicht aus Neid und Rivalität von euch zurückgezogen haben, sondern weil eure Stadt womöglich doch etwas an sich hat, das die Schwächeren kränkt und sie vor den Kopf stößt. (15) Das entspricht nicht den Tatsachen, aber es bringt euch denselben Schaden, als wenn es ihnen entspräche. Überlegt doch einmal, in welchem Verhältnis ihr zu eurem Statthalter steht! Früher konnte man nur vermuten, daß ihr nicht gerade gut aufihn zu sprechen wart; trotzdem verhandelte er mit euch in städtischen Angelegenheiten und ihr mit ihm, ohne daß man etwas Besonderes gemerkt hätte. In jüngster Zeit aber ließet ihr, über die vermeintliche Zurücksetzung aufgebracht, einiges laut werden, worauf er sich zu einem zornigen Schreiben und zu einer früher undenkbaren Handlungsweise veranlaßt sah. (16) «Aber die Stadt selbst wie auch unser gegenseitiges Verhältnis machen doch die wünschenswerten Fortschritte!» Standen nicht wie erst kürzlich das Volk für sich und der Ra t fur sich, stehen nicht noch heu tzu ta ge die Äl testen für sich, wobei klar ist, daß jeder nur auf seinen eigenen Vorteil bedacht
34. ,6-'9]
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ist? Wie wenn auf See die Matrosen, der Steuermann und der Schiffsherr jeweils für sich ihr Bestes suchten! Wenn auch häufig die Rede davon ist, darf man es deswegen nicht auf die leichte Schulter nehmen, denn nicht, was zum ersten Mal gesagt wird, auch nicht, was man noch nie zuvor gehört hat, muß man bereitwillig aufgreifen, sondern was der Sache angemessen ist und einigen Nutzen verspricht. (17) «Ganz gewiß», werdet ihr sagen, «aber jetzt haben wir uns geeinigt und beraten gemeinsam.» Wer aber wird eine solche Übereinkunft, die unter heftiger Erregung erst vor drei oder vier Tagen zustande gekommen ist, rur zuverlässig und fest erachten? Auch die Gesundheit eines Menschen, der eben noch im Fieber lag, wird man nicht als fest bezeichnen wollen. Sagt also auch ihr nicht, ihr wäret eines Sinnes, bevor nicht ein Vielfaches an Zeit verstrichen ist, mindestens aber soviel, wie eure Zwietracht gedauert hat. Wenn ihr einmal dasselbe zum Ausdruck bringt oder denselben Antrieb spürt, dann glaubt nicht, die Krankheit sei aus der Stadt bereits vertrieben. (r8) Denn auch bei verstimmten Instrumenten kommt es wohl einmal vor, daß die Töne für einen Augenblick zusammenklingen, dann aber"gibt es sofort wieder eine Dissonanz. Wie das Verwunden und Zerstückeln schnell und ganz ohne Schwierigkeit vor sich geht, das Zusammenwachsenlassen und Vereinigen aber viel Zeit und Sorgfalt erfordert, so ist es auch bei einer Stadt: Zwietracht und Parteiung sind leicht zu bewerkstelligen und entstehen häufig um Kleinigkeiten; Ruhe, Ordnung und Vertrauen aber sind, beim Himmel, nicht schon damitzu haben, daß man sagt, man sei anderen Sinnes geworden, oder dadurch, daß man es geworden zu sein scheint. (19) Nicht nur bei euch, auch bei allen anderen ist nämlich vielleicht gerade in diesem Punkt eine besonders aufmerksame Behandlung, mehr noch, das Gebet angebracht. Nur wenn man von den Übeln, die Unruhe und Verwirrung stiften,
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loskommt, von Neid, Habgier, Streitsucht und Egoismus, und sich um das Vaterland und das Gemeinwohl kümmert, kann es einmal feste Eintracht und eine gemeinsame Entscheidung geben. Wo aber diese und ähnliche Fehler herrschen, da sind ständige Unsicherheit, Auseinandersetzungen und Unruhen aus geringfügigen Anlässen die notwendige Folge, wie wenn auf dem Meer Stürme aus entgegengesetzten Richtungen toben. (20) Deswegen glaubt nur nicht, im Rat oder in der Volksversammlung herrsche Einmütigkeit! Wollte jemand alle Männer der Reihe nach durchgehen, fande er in der Stadt vermutlich nicht einmal zwei, die dasselbe dächten. Wie es einige unheilbare, schreckliche Krankheiten gibt, die gewöhnlich den ganzen Körper ergreifen und keinen Teil verschonen, so hat auch diese Unverträglichkeit und beinah überall zn beobachtende gegenseitige Abneigung die Stadt durchdrungen. (21) Aber umden Rat und das Volk, diejungen und die Alten zu lassen - neben ihnen, gleichsam außerhalb der Bürgerschaft, gibt es eine nicht geringe Zahl von Leuten, die man gewöhnlich « Leineweber» 6 nenn t. Zuzeiten empfindet man sie als Last, schimpft sie überflüssiges Volk und schiebt ihnen die Ursache für jede Unruhe lind Unordnung zu; dann aber hält man sie wieder für einen Teil der Bürgerschaft und läßt ihnen ihr Recht. Haltet ihr sie für schädlich und für die Ursache von Rebellion und Ruhestörung, müßtet ihr sie unbedingt vertreiben, statt sie in euren Versammlungen zuzulassen. Betrachtet ihr sie aber in gewisser Weise als Bürger, nicht nur weil sie hier ansässig sind, sondern auch weil die Mehrzahl von ihnen hier geboren ist und noch keine andere Stadt gesehen hat, so solltet ihr sie auf keinen Fall vor den Kopf stoßen und von euch trennen. (22) Jetzt, da sie geschmäht und als Eindringlinge angesehen werden, sind sie zwangsläufig in ihrer Gesinnung dem Gemeinwohl entfremdet. Aber gerade das bedeutet für eine Stadt höchste Gefahr, und nichts beschwört eher Rebellion und Uneinig-
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keit herauf. Auch beim Körper läßt sich ähnliches beobachten: Die Wohl beleibtheit, die sich im Lauf der Jahre einstellt, ist die Ursache von Wohlergehen und verhilft zu einer stattlichen Erscheinung, wenn sie auf natürliche Weise mit der restlichen Entwicklung übereinstimmt; wo nicht, ruft sie Krankheit und Verfall hervor. (23) «Nun gut, was schlägst du uns vor?» Sie alle als gleichberechtigte Bürger in eure Bürgerlisten einzutragen, jawohl, sie nicht mehr zu beschimpfen und von euch zu stoßen, sondern, was sie tatsächlich ja auch sind, als einen Teil von euch zu betrachten. Denn es ist unhaltbar, daß ein Mann, der fünfhundert Drachmen stiftet, euch deswegen schon liebt und sofort für wert befunden wird, das Bürgerrecht zu bekommen, ein Armer aber oder jemand, dem der Aufseher über die Listen die Eintragung verweigert hat, die Stadt nicht sollte lieben und für sein Vaterland halten können, obwohl nichtnurer selbst hier bei euch geboren ist, sondern auch sein Vater und seine Vorfahren. Und wenn er Leinen herstellt, ist er deswegen schlechter als jemand anders, darf man ihm daraus einen kränkenden Vorwurf machen? Wäre er Färber, Schuster oder Zimmermann,dürfte man ihm auch nicht seinen Berufvorhalten. (24) Grundsätzlich war es allerdings nicht meine vornehmliehe Absicht, über diesen kritischen Punkt in der Verwaltung der Stadt zu sprechen und zu zeigen, wie es damit bestellt ist. Vielleicht bin ich nur soweit gegangen, um euch klarzumaehen, in welchem Verhältnis ihr zueinander steht, und zu fragen, ob ihr dem gegenwärtigen Zustand trauen und glauben dürft, daß ihr zur Zeit wirklich ein Herz und eine Seele seid. Ein Haus,ein Schiffund dergleichen soll te man nach meinemDaftirhalten nicht nur auf seinen gegenwärtigen Zustand prüfen, obes im Augenblick Schutz bietet und kein Wasser durch läßt, sondern ganz allgemein dabei berücksichtigen, wie es gebaut und gefügt ist und ob es keine Risse und morsche Stellen gibt.
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(25) Was indes, wie schon erwähnt, früher die Stadt wachsen ließ, diese außerordentliche Dienstbereitschaft und Dankbarkeit dem Kaiser gegenüber, kann ich zur Zeit bei euch nicht mehr feststellen. Natürlich fehlen sie deshalb, weil er auf nichts dergleichen mehr angewiesen ist. Trotzdem bleibt es dabei, daß ihr im Vergleich mit den anderen bei ihm nichts voraushabt. Deswegen solltet ihr daraufbedacht sein, was ihr damals durch das freundliche Entgegenkommen des Kaisers erhalten habt, durch ein entsprechendes Verhalten, das keinen Anlaß zum Tadel gibt, für die Zukunft zu bewahren. (26) Glaube ja keiner, ich wollte euch damit auffordern, euch schlechterdings mit allem abzufinden und alles über euch ergehen zu lassen. Nein, ihr sollt eure eigene Lage verstehen lernen, damit ihr jetzt einen besseren Entschluß faßt und in Zukunft von jedem, der vor euch sprechen will, verlangt, daß er nicht leichtfertig und, was ihm gerade einfallt, daherredet, sondern alles zuvor überlegt hat und als Wissender spricht. Denn auch der Arzt, der den Patienten so genau untersucht hat, daß ihm nichts entgangen ist, wird ihn wohl am besten wieder gesund machen. (27) Daß die gegenwärtige Lage Aufmerksamkeit und bessere Ratgeber erfordert, als die es sind, die der Zufall, das Geld oder ihre Herkunft auf die Rednerbühne treibt, könnt ihr etwa an folgendem sehen. Wenn ihr selbst nicht ganz fest und einig seid; wenn die meisten Städte in eurer Umgebung nicht gut auf euch zu sprechen sind, sondern die einen aus langjähriger Rivali tä t euch beneiden, die andern wegen Gebietsstrei tigkei ten sich mit euch verfeindet haben, die dritten ich weiß nicht was für Behauptungen aufstellen, sie fühlten sich von euch bedrängt; wenn der Statthalter glaubt, die Beziehungen zwischen ihm und euch hätten sich gebessert, ihr aber trotzdem erst kürzlich einen Zusammenstoß mit ihm nicht vermeiden konntet; wenn ihr schließlich wegen der Größe eurer Stadt und der Möglich-
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keit, viel Besitz an euch zu bringen, mit neidischen Blicken betrachtet werdet - wie solltet ihr euch da nicht ein sorgfältig überlegtes Urteil bilden müssen? (28) «Nun gut, aber können das die Bürger nicht selbst erkennen und Rat schaffen?» Woher denn? Wären die Führer und Staatsmänner in den Städten fähig, das Richtige zu finden, so ginge es allen Menschen fortwährend gut, und sie blieben vor Rückschlägen verschont, wenn nicht gerade völlig unvorhergesehen ein Unglück diese oder jene Stadt heimsucht. Aber in fi'üheren und in heutigen Zeiten, glaube ich, kann man mehr Unheil finden, das durch die Unkenntnis des wahren Besten und durch die Fehler der führenden Männer als durch göttliche Fügung und durch Zufall über die Städte gekommen ist. (29) Denn es gibt Leute, die ohne den rechten Blick fur das Erforderliche und ohne die nötige Ausbildung, nur gestützt auf Geld und Herkunft, sich der Politik zuwenden und dabei nicht einmal in der Lage sind, ein Dorf richtig zu verwalten. Andere glauben, sie nähmen ihre Pflichten wahr, wenn sie Sätze zusammenstoppeln und sie womöglich schneller als die meisten anderen herunterrasseln - das ist aber auch das einzige, was sie können. Und die Hauptsache: Nicht um des allgemeinen Wohls und des Vaterlandes willen, sondern nur, um Ansehen und Ehre zu erlangen, um mehr zu gelten als der andere, weil sie Kränzen und Ehrenplätzen und Purpur nachjagen, deswegen handeln und reden sie; was ihnen den Anschein gibt, als wären sie etwas, darauf sehen sie, daran hängen sie. (30) Die Folge davon ist, daß man in jeder Stadt eine Menge bekränzter Leute sehen kann, die in der Öffentlichkeit opfern und in Purpur einhergehen. Ein edler und vern iinftiger Mann aber, der um seine Vaterstadt ehrlich besorgt ist, der nachdenkt und die Wahrheit sagt, durch den die Stadt, die auf ihn hört, besser verwaltet und auf diese oder jene Weise gefordert wird, ein solcher Mann ist nur selten zu finden. (3 I)
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Und das kann eigentlich gar nicht anders sein. Denn wenn man der Meinung ist, daß jeder, der öffentliche Abgaben geleistet hat oder leisten will, einem Ratschläge geben darf, daß nur dem Leiter eines Gymnasions oder einem Vorsteher Redeerlaubnis erteilt wird oder gar diesen sogenannten Berufsrednern, dann kann man doch gleich Ausrufer, Sänger oder Geldwechsler ums Wort bitten. Deswegen treten bei euch auch nur ehrsüchtige Dummköpfe ans Rednerpult, Leute, die nach dem Beifall der Menge gieren, aber nichts auf Grund sicherer Kenntnis und Einsicht zu sagen haben. Wie wenn sie im Finstern tappten, werden sie in einem fort von Beifall und Zurufen dahingetrieben. (32) Wollte man jedoch einem Steuermann raten, er solle um jeden Preis auf den Beifall der Passagiere bedacht sein und, wenn sie nur klatschen, das Schiff nach ihrem Willen steuern, so brauchte es wohl keinen mächtigen Sturm, um das Schiff zum Kentern zu bringen. Es kommt ja oft vor, daß eine seekranke Landratte oder ein altes Weiblein, sobald es ein Riff erblickt hat, Land und Hafen gesehen zu haben glaubt und daraufloszusteuern bittet. (33) Ich dagegen behaupte, daß der gute Ratgeber, der es verdient, das Oberhaupt einer Stadt zu sein, grundsätzlich gegen alles, was als beschwerlich gilt, gewappnet zu sein hat, ganz besonders aber gegen die Schmähungen und Zornausbrüche der Menge. Er muß dem Vorgebirge gleichen, das einen Hafen bildet: Die ganze Wucht des Meeres fängt es auf, drinnen aber hält es das Wasser in bewegungsloser Stille. So muß auch er sich gegen die Menge anstemmen; ob es ihr einfallt, zornig zu werden, ihn zu schmähen oder sonst etwas zu tun, all ihr Toben darf ihn nicht berühren. Wird er gelobt, darf er deswegen nicht stolz werden, fühlt er sich beleidigt, darf er deswegen nicht niedergeschlagen sein. (34) Bei euch ist es allerdings anders, und wie ich höre, sieht keiner eurer Politiker seine Aufgabe in einer derartigen Führung, noch gehört sie zu den allgemeinen Pflichten.Im Gegenteil,
34.34-37]
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die einen stehen ganz abseits, die anderen machen sich nur so nebenbei an die Politik und rühren sie nur leicht an, wie man etwa ein Trankopfer mit den Lippen berührt; sie entschuldigen sich damit, daß es höchst unsicher sei, sich der Politik zu verschreiben. Kein SchifIseigentümer, kein Geldleiher, kein Landmann kann seine Arbeit zufriedenstellend verrichten, wenn er sie als Nebensache betrachtet; nur in der Politik versucht man sich zum Zeitvertreib und hält alles andere für wichtiger. (35) Und wenn man schon einmal ein Amt übernimmt, sucht man sich dabei eine Beschäftigung aus, mit der man sich am ehesten einen Namen machen kann. Deswegen beweist man seine Kräfte auch nur Hir sechs Monate, oft nicht einmal zum Besten der Stadt. Die Folge davon: Heute ist dieser euer Sprecher, morgen folgt ihm schnell ein zweiter, dann ein dritter. Wer noch vor dreißig Tagen der große Mann war und behauptete, er allein sei um die Stadt besorgt, ist heute nicht einmal mehr in der Volksversammlung zu sehen. (36) Das erinnert mich an einen Festzug. Jeder will gern gesehen sein und gibt sich dementsprechend alle Mühe, bis er vorbeigezogen ist. Etwas abseits aber legt er seine feierliche Haltung ab, ist wieder einer von den übrigen und geht seines Weges, wie er will. Der Prytan 7 freilich sollte die gesetzlich vorgeschriebenen sechs Monate als Grenze seiner Amtszeit anerkennen. Wer sich aber sonst mit Politik befaßt, darf doch, bei Gott, für seine Zuneigung zu euch und seine pfiichtbewußte Einsatzbereitschaft ruf das Gemeinwohl keine besonderen Termine haben, erst recht nicht solch einen kurzen, vielmehr muß er sich, seiner Verantwortung bewußt, immer bereithalten. (37)Jetzt aber segelt ihr dahin, Männer von Tarsos, wie Seeleute bei Winden, die vom Land her oder aus dunklen Wolken wehen: Weder ihre Fahrt noch eure Politik ist in irgendeiner Hinsicht sicher und zuverlässig. Denn solche Winde können euch unmöglich bis ans Ziel bringen oder ohne Unterbrechung wehen, ja häufig brachten
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sie schon das Schiff zum Sinken, wenn sie mit unverminderter Wucht darüber herfielen. Eine solch große, herrliche Stadt müßte Männer haben, die aufrichtig um das gemeinsame Wohl besorgt sind. Wie die Dinge jetzt allerdings liegen, ist von diesen kurzlebigen Eintagsdemagogen kaum etwas Gutes zu erwarten. (38) Darüber und über unzählige andere Dinge wäre noch eine Menge zu sagen. Aber da auch ich selbst seit dem ersten Tage meines Aufenthaltes hier bei euch den Demagogen gespielt habe, obwohl ich mit dieser Art Leute streng ins Gericht gehe, muß ich mein Versprechen einlösen und euch meine Meinung zur gegenwärtigen Lage sagen. Zunächst euer Verhältnis zu eurem Statthai ter - jedoch gilt, was ich zu sagen habe, fUr alle. In den politischen Verhältnissen, wie sie heutzutage überall bestehen 8, sollte man es so halten, daß man weder sich alles gefallen läßt und den Machthabern gestattet, mit einem zu machen, was ihnen gerade in den Sinn kommt, wie weit sie auch in ihrem Übermut und ihrer Überheblichkeit gehen mögen, noch daß man überhaupt nichts ertragen zu dürfen meint und erwartet, Minos oder Perseus 9 müsse jetzt erscheinen, um sich eurer Sache anzunehmen. (39) Denn aufjede Selbsthilfe verzichtet nur der Sklave, und es sähe übel aus, wenn nicht ein Rest an Vorbehalten und Bedenken denen gegenüber, die ihre Macht mißbrauchen, geblieben wäre. Auf der andern Seite aber ist es auch nicht vorteilhaft für euch, wenn sich das Volk über alles empört und alles kritisiert. Denn sollte sich herausstellen, daß eure Beschwerde einmal nicht berechtigt ist und ihr damit nicht durchkommt - das aber kann aus vielen Gründen geschehen -, fUrchte ich, daß es um die Freiheit, seine Meinung zu äußern, bald geschehen ist. Denkt bitte daran, was die Ionier getan haben: Sie beschlossen, gegen niemand mehr Klage zu erheben. Alle diese Möglichkeiten sollte ein vernünftiger Mensch im voraus bedenken und
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nicht wie ein Kampfesunerfahrener leichten Herzens wegwerfen, was er zu seinem Schutz hat, um dann ohne Waffen dazustehen und sich nicht mehr wehren zu können, wenn ihn der Gegner erschlägt. (40) Soviel jedoch möchte ich grundsätzlich sagen: Eine solch starre Haltung, mit der ihr, fest entschlossen, überhaupt nichts mehr zu tun, eure Vorgesetzten nur gegen euch mißtrauisch macht, nützt euch aufkeinen Fall. Wenn ihr zu dem Ergebnis kommt, ihr könntet einen Mann, der sich offensichtlich derartige Übergriffe leistet, daß man sie nur zu seinem eigenen Nachteil übersehen kann, entfernen, dann trefft alle Vorbereitungen, um ihn zu überführen, und betrachtet ihn sofort als euren Feind, der gegen euch etwas im Schilde führt. Wenn ihr aber mit einem anderen Ausgang rechnet, wenn ihr etwa der Meinung seid, der Betreffende habe sich nichts oder nicht viel zuschulden kommen lassen, oder aus sonst einem Grund es nicht für zweckmäßig haltet, gegen ihn vorzugehen, dann reizt diesen Mann nicht und hütet euch davor, ihn zornig auf die Stadt zu machen. (41) Ich denke, es verhält sich da wie mit einer Last. Drückt sie allzusehr und können wir sie nicht mehr tragen, suchen wir sie so schnell wir möglich abzuwerfen; ist sie aber nur mäßig schwer und sehen wir, daß wir sie oder eine noch schwerere Last tragen müssen, sehen wir zu, wie wir sie uns so bequem wie möglich machen. So hält es einevernünftige Bürgerschaft. Auf diese Art werden euch die meisten gerne haben, und niemand wird es wagen, sich an euch zu vergreifen. Man wird euch auch nicht für eine gesetzlose Masse oder für uneinsichtigen Pöbel halten, der sich von wilder Leidenschaft fortreißen läßt. (42) Denn was der Prytan zur Zeit macht, wäre selbst dann vollkommen verkehrt, wenn ihr entschlossen wäret zu klagen. Allerdings ist die Zeit noch nicht da, es zum offenen Bruch kommen zu lassen und die Beschwerde öffentlich vorzubringen. Da aber einmal ein Mitbürger von euch unter dem Druck der Verhältnisse für die Stadt eingetreten ist und sich
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[34.42-44
dadurch, daß er zwei hohe Beamte nacheinander anklagte, einen Namen gemacht hat, glauben jetzt die meisten, auch sie müßten eine solche Tat vollbringen. Das wäre genauso, wie wenn jemand einen Arzt unter eine heilsame Medizin auch ein kleines Tröpfchen tödliches Gift mischen sähe, sonst aber nichts von der Sache verstünde, weder wie die Medizin zusam_ mengesetzt ist noch wieviel man von ihr einnehmen soll, und es ihm trotzdem nachmachen wollte. Von diesem Mann ist nicht weit entfernt, wer in den wichtigsten Angelegenheiten improvisiert und glaubt, jeder, der sich eine Chance ausrech_ net, könne die Geschicke einer Stadt leiten. (43) Wenn ich nun noch einige Worte über euer Verhältnis zu den Leuten von Mallos und den übrigen Städten gesagt habe, will ich schließen, denn ich glaube, eure Geduld schon lange genug in Anspruch genommen zu haben. Wenn sich diese Leute, ich meine die Malloten, etwas haben zuschulden kommen lassen - und es entspricht ja den Tatsachen -, so schluckt euern Zorn herunter und erlaßt ihnen die Strafe, die sie nach eurer Meinung verdient haben. Versucht statt dessen lieber, in der strittigen Frage'· zu einer Einigung zu kommen. Sich damit abzufinden und seine Eifersucht zu begraben, darin seht, was es ja auch in Wirklichkeit ist, etwas Großes und die dem Überlegenen einzig anstehende Haltung, zumal es sich um einen soviel schwächeren Gegner handelt. (44) Denn es besteht keine Gefuhr, daß man es euch als Schlappe auslegt, wenn sich Mallos behauptet. Fallt auch nicht auf die Leute herein, die euch scharfmachen wollen, sondern macht euch selbst zu Richtern, prüft den Fall sorgfältig ohne jede Gehässigkeit und Parteilichkeit und legt den Streit bei, indem ihr nicht nur ihm und eurem unbedingten Machtstreben absagt, sondern dem Partner entgegenkommt und ihm einen annehmbaren Komprorniß vorschlagt. Denn auch im privaten Leben lobt ihr Leute, clie vernünftig sind und lieber einen Schaden
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hinnehmen als sich herumzanken. Genauso findet auch im politischen Bereich ein solches Verhalten einer Stadt allgemein Beifall. (45) Dünen und sumpfige Gebiete sind nichts wert. Worin sollte auch ihr Ertrag und Nutzen liegen! Aber im Ruf einer ehrenwerten und großzügigen Stadt zu stehen gilt mit Recht als kaum zu überschätzender Vorzug. Denn mit der ganzen Welt an Gerechtigkeit und Tüchtigkeit zu wetteifern, mit dem Beispiel einträchtiger Freundschaft voranzugehen und darin den anderen überlegen zu sein und damit sie zu schlagen, das ist der allerschönste und sicherste Sieg. Will man aber in einer Auseinandersetzung um jeden Preis der Überlegene sein, so paßt das eher zu stolzen Streithähnen als zu Männern. (46) Müßte man nun damit rechnen, daß Mallos durch die Dünen und das sandige Weidegebiet größer als Tarsos wird, wäre euer gewaltiger Eifer vielleicht gerechtfertigt. So aber ist es eine schändliche Lächerlichkeit, um die ihr streitet. «Warum haben dann nicht die andern auf diese Gebiete verzichtet?» werdet ihr fragen. Weil sie nicht besser sind als ihr. Ihr aber, beim Himmel, ihr wollt besser sein als sie! Deswegen war ich der Meinung, ihr solltet eine Gesandtschaft dorthin schicken und protestieren. Das wäre ein Beweis eurer Überlegenheit und Klugheit gewesen. Mehr als nötig sich aufzuregen, sofort auf seine Stärke zu pochen und sich angegriffen zu fühlen verrät eher ein kleinstädtisches Benehmen. (47) Ebenso solltet ihr euch auch gegen die anderen Städte großzügig, eifrig bemüht und frei von Haß zeigen. Dann nämlich werden sie euch alle von selbst folgen aus Bewunderung und Achtung, und das ist mehr, als wenn Mallos in Tarsos opfert und hier seine Prozesse führt 11. Denn es ist ohne jeden Nutzen, ob die Leute von Adana oder Aigai hierherkommen zum Opfern - nur Einbildung, Selbsttäuschung und sinnlose Eifersucht. (48) Sympathie dagegen und der Ruf, von ganz
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besonderer Fähigkeit und Menschenfi'eundlichkeit zu sein, das ist ein wahres Gut, das verdient Nachahmung und Einsatz. Darauf solltet ihr achten, denn euer jetziges Benehmen ist lächerlich. Ob nun die Aigaier mit euch, die Apameer mit den Antiochiern oder, weiter entfernt, die Leute von Smyrna mit den Ephesern streiten - immer streiten sie um des Esels Schatten, wie man sagt. Denn Herrschen und Gebieten, das besorgen andere. (49) Schon aus alter Zeit gibt es ein Beispiel fur solch ein eifersüchtiges Ringen, Athen und Sparta. Zunächst lagen die Spartaner vorne, dann aber, nach den Perserkriegen, neigten die Griechen mehr und mehr den Athenern zu. Was machte Sparta da? Es verzichtete auf die Inseln, aufIonien und den Hellespont und hielt in weiser Selbstbeschränkung nur noch die eigenen Belange im Auge, da es wohl wußte, daß nichts über Gesetz und Ordnung gehen dar( So kam es, daß Sparta gerade zu jener Zeit seine glücklichste Epoche erlebte. (so) Den Athenern aber stand das Glück nur zur Seite, solange die Städte zu ihnen hielten und sie ein mildes Regiment fuhrten. Später jedoch, als Beschwerden laut wurden und sich der Neid gegen sie regte, als sie die Herrschaft noch in Anspruch nahmen, während die anderen nicht mehr wollten, da erlebten sie viele Enttäuschungen. Zuallererst verloren sie ihren guten Namen und Ruf, dann Macht und Besitz, und schließlich mußten sie sich dem Feind beugen. Den Spartanern ging es später genauso, als sie ihrer alten Überzeugung untreu geworden waren und wieder die Vormachtstellung behaupteten.(s I ) Freilich kann man bei diesen beiden Städten noch von wirklicher Macht und großen Vorteilen sprechen - wenn man ihren Egoismus so nennen dar( Wer aber heutzutage die Zänkereien und Anlässe zur Feindschaft sieht, wird sich meiner Meinung nach schämen, denn es sind die Streitereien von Sklaven, die sich mit ihresgleichen um Ansehen und erste Plätze zanken.
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Wie, sollte es denn in unseren Tagen überhaupt nichts Gutes mehr geben, das den Einsatz lohnt? Doch, das Größte, das allein den Einsatz verdient und das früher genauso galt, wie es heute gilt und in Zukunft gelten wird. Und merkwürdig, niemand hat die Möglichkeit, es einem anderen zu geben oder, wenn es jemand hat, ihm wegzunehmen; immer hat man es selbst in der Hand, ob es sich nun um einen einzelnen oder um eine Stadt handelt. Aber auch noch darüber mit euch zu sprechen, würde vielleicht zu weit führen. (52) Freilich bin ich mir bewußt, daß viele glauben, gerade die Philosophen seien es, die alles auflösen und tatkräftige Einsatzbereitschaft im Keime ersticken, so daß sie mehr Schaden als Nutzen stiften. Das wäre aber doch genauso, wie wenn man einen Musiker, der beim Stimmen einen Teil der Saiten herauf-, einen anderen herunterspannt, auslachen wollte, weil er beides tut. (53) Ähnlich steht es nämlich auch mit euren politischen Angelegenheiten. Die schlechten, zu keinem Nutzen führenden Neigungen und ehrgeizigen Bestrebungen sind höher gespannt als gestattet, und so zerreißen, wie man sagen könnte, die Menschen ganz von selbst, während die Bestrebungen zu den wertvollsten Dingen vollständig schlaff sind. Denkt doch nur etwa daran, wie die Habgier oder, wenn ihr wollt, die ausschweifende Gen ußsuch t euch anspann t ! Doch ich glaube, ich habe mich zu weit abbringen lassen, so daß ich wie ein Schwimmer, der sich bei ruhiger See zu weit hinausgewagt hat, nicht mehr sehe, was vor mir liegt. 35. IN KELAINAI IN PHRYGIEN
(r) Nicht, um eine Probe meines Könnens zu geben, stehe ich vor euch, Bürger, noch möchte ich euch um Geld bitten, noch erwarte ich Lob. Denn ich bin mir bewußt, daß ich nicht hinlänglich vorbereitet bin, um mit meinen Worten euern Beifall
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zu finden, und daß ihr unter den gegenwärtigen Umständen auf meine Worte nicht angewiesen seid. Außerdem besteht ein großer Unterschied zwischen dem, was ihr hören wollt, und dem, was ich zu bieten habe. Denn meine Art ist es, schlicht und einfach zu reden, nicht besser als jeder andere, ihr aber wollt nur Außerordentliches, das gewöhnliche Maß Sprengendes hören und gebt euch nur mit ganz ausgezeich_ neten Rednern zufrieden. (2) Also nicht deswegen bin ich hier, um mich von euch bewundern zulassen. Wie wäre es auch denkbar, daß ihr mich bewundert, selbst wenn ich euch noch größere Wahrheiten als die der Sibylle oder des Bakis' sagte! Ich möchte nur, daß man mir nicht mit Argwohn begegnet und nicht einer den andern fragt, wer ich sei und woher ich komme. Sonst könnte man vielleicht vermuten, ich sei einer der klugen Alleswisser', und mein langes Haar 3 als Beweis dafür nehmen. Wie lächerlich und abwegig! Hingen Tüchtigkeit und Verstand von langem Haar ab, dann hätten die Menschen wahrhaftig keine große Kraftanstrengung dazu nötig. (3) Indessen fürchte ich, daß den Dummen auch langes Haar nichts nützt, selbst wenn sogar ihr Herz behaart wäre, wie man es sich von dem Messcnier Aristomenes erzählt, der den Spartanern soviel zu schaffen machte. Sooft sie ihn gefangen hatten, immer wieder entkam er ihnen. Als er dann endlich tot war, stellte man fest, daß sein Herz Haare hatte4. Ich sage also, daß diesen halbnackten Philosophen, und würden sie Peltasten S, ihre lange Mähne nichts nützt hinsichtlich einer gerechten, wahrhaft überlegten und vernünftigen Lebenseinstellung. Und zögen sie noch mehr aus und liefen im Winter nackt herum oder legten sie sich die Tracht der Meder und Araber an, so erreichten sie genausowenig, wie sie flöten könnten, wenn sie sich wie Flötenspieler kleideten. Auch aus Eseln können keine Pferde werden. Da mag man ihnen ruhig die Nüstern weiter aufschlitzen, zum Einlegen des Zaumes die Backen durchbohren
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und den Packsattel abnehmen - sie werden weiter draußen vor den Mauern laut schreien und alles tun, was ein Esel tut. (4-) Deshalb glaube niemand, auf Grund meines Äußeren unterschiede ich mich von jedem anderen und das gäbe mir den Mut zu sprechen. Betrachtet es lieber von der anderen Seite! Wenn ich mich grundsätzlich zurückziehe und mit keinem spreche, wird man mich viel eher im Verdacht haben, daß ich etwa eingebildet sei oder ernstlich etwas zu verbergen hätte, wie in der Tat schon viele Leute deswegen bewundert worden sind, weil sie schwiegen. Wenn ich mich aber in eurer Mitte sehen lasse und ihr merkt, daß meine Sprache nicht besser ist als die eines Händlers oder Maultiertreibers, werdet ihr euch beruhigen, da ihr genau gesehen habt, wes Geistes Kind ich bin. (s) Auch in anderen Fällen läßt sich, was ich sagen will, leicht beobachten. Wenn ihr zum Beispiel jemand verdächtigt, er habe das, was ihr gerade sucht, so geht ihr zu ihm und fragt nach. Macht er nun Ausflüchte und sperrt sich, wird der Verdacht nur stärker; kehrt er aber bedenkenlos seine Taschen um und stellt sich heraus, daß er wirklich nichts hat, so geht ihr wieder und denkt, daß ihr euch wohl getäuscht haben müßt. Noch viel besser ist es für jemand, der keinen Ruhm begehrt, vor dem Volk seine Taschen umzukehren und sich denen, die ein Gespür für das Wesen eines Menschen haben, zu entdecken. Ich glaube nämlich nach dem, wie ich jetzt behandel t worden bin, daß man nur Verachtung für mich haben wird und daß wir uns einander nicht verstehen werden, weder ich das Publikum noch das Publikum den Redner, wobei ich allerdings die Schuld eher bei mir als bei euch suchen möchte. (6) Das wäre also ein Grund, weshalb ich mich hier in der Öffentlichkeit zeige. Der andere Grund ist meine Beftirchtung, ich könnte durch eure Vermutung verdorben werden und tatsächlich zu der Ansicht kommen, daß ich etwas Besonderes sei. Wird man näm lich als einzelner von vielen bewundert und
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für besser als die anderen gehalten, so scheint es großer Klug_ heit und Charakterstärke zu bedürfen, wenn man klaren Kopf behalten will, um sich nicht zu etwas Unüberlegtem hinreißen und durch das Gerede der Menge wie auf Flügeln emportragen zu lassen. So wird bei Homer Achilleus, der mit seinen Waffen gewaltig prahlt, in die Höhe gerissen:
Flügel wuchsen ihm gleichsam und hohen den Hirten der Völker. 6 (7) Wie groß aber die Macht der Masse ist, einem einzureden, was immer sie will, kann man besonders gut an den Kindern sehen, wenn die Flegel einem Mann mit gesundem Menschenverstand nachlaufen und ihn verrückt nennen. Zunächst behält er seinen Unwillen rur sich und geht weiter, dann aber bewahrheitet sich infolge der ständigen Zusammenstöße, Schimpfereien und Verfolgungsjagden genau das, was die Kinder gerufen hatten: Der Mann wird schließlich tatsächlich verrückt und versteht das Gerede nicht nur der Erwachsenen, sondern auch der Kinder so, daß er ein Gott seF. (8) Hier scheint mir auch der Grund zu liegen, weshalb die Sippschaft der Sophisten so zunimmt. Wenn viele junge Leute, die nichts anderes zu tun haben, um einen einzigen Mann herumtanzen wie die Bacchantinnen um Dionysos und ihn bestaunen, dann muß er ja nach nicht allzu langer Zeit zu der Ansicht kommen, er habe auch vielen anderen etwas Bedeutendes zu sagen. Es ist fast wie bei Eltern, die ihren Kindern das Sprechen beibringen. Sie sind entzückt über alles, was die Kleinen sagen. Dadurch wird das Kind ermutigt, macht immer größere Fortschritte und spricht immer verständlicher, bis es schließlich, ob Grieche oder Ausländer, die Sprache seiner Umgebung gelernt hat. Auch bei den Sophisten kann es gar nicht anders sein, als daß sie sich die Gedankenwelt ihrer Zuhörer zu eigen machen, indem sie so reden und denken wie ihre Zuhörer, von denen die meisten freilich armselige Toren sind.
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(9) Nun wäre es vielleicht noch nicht besonders gefährlich, wenn jemand sich selbst und den andern als etwas ganz Außergewöhnliches vorkäme und einen Haufen von Dummköpfen an der Nase herumftihrte, wie Orpheus nach der Sage Eichen, Felsen und Steine mitgezogen hat. Wenn der Mann nun aber, dumm, feige, unbeherrscht und in nichts vom Vieh unterschieden, glaubt, er habe auch Anspruch auf besondere Tüchtigkeit und Rechtschaffenheit, dann geht das entschieden zu weit und beweist nur ein äußerstes Maß an Dummheit und Wahnwitz. Entsteht ein solches Gerücht um jemand und beginnt ein solches Gerede heimlich aufzuflackern, muß er sich die Kleider vom Leibe reißen und nackt auf die Straße rennen, um allen zu beweisen, daß er nicht besser ist als jeder andere. (10) Und wenn sich ihm jemand an seine Fersen heftet und behauptet, sein Schüler zu sein, muß er ihn mit Schlägen fortjagen und mit Erdklumpen und Steinen nach ihm werfen, da er entweder ein Dummkopf oder ein Schuft ist. Damit meine ich nicht alle, denn es gibt unter ihnen durchaus auch solche, die ihre Aufgabe befriedigend und zu aller Nutzen meistern; ihnen sollte man ein Trankopfer darbringen und Räucherwerk anzünden. Nein, ich meine die drei oder vier, die man euch als weise Leute vorstellt, die wie eure Priester langes Haar tragen. Die Glücklichen! Sie herrschen über alle Priester und heißen nach einem ganzen Kontinent, nach einem von zweien 8! Denn auch diese Leute verdanken ihr Glück Kränzen, Purpur und langhaarigen Knaben, die Räucherwerk tragen. Wie dem auch sein mag, das Gesagte soll genügen. (I I) Auf keinen Fall aber darf man in langem Haar den Beweis für besondere Tüchtigkeit sehen. Denn viele Menschen tragen einem Gott zu Ehren langes Haar; Bauern tragen es lang, ohne jemals etwas von Philosophie gehört zu haben, und nicht zuletzt die meisten Barbaren, die einen zum Schutz, die andern, weil sie meinen, es stehe ihnen gut. Und keiner von ihnen wird 18
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deshalb beneidet oder ausgelacht, (12) denn vielleicht ist ihr Verhalten sogar richtig. Ihr seht ja, daß die Hasen, diese schwachen Tiere, durch ihr dickes Fell geschützt werden und daß bei den Vögeln sogar die schwächsten Wind und Wetter mit ihrem Gefieder hinreichend abhalten können, weshalb ihnen auch die Natur hat Federn wachsen lassen. Wir Menschen aber schneiden uns das Haar kurz, wie Hirten den Stuten, die sie mit Eseln zusammenbringen wollen, die Mähne scheren 9, rasieren uns den Bart ab - und bedecken dann den Kopf. Dabei sehen wir doch, daß die Hähne nichts dergleichen benötigen, wir Menschen aber nähen uns Röcke, Filzkappen und ähnliches zusammen. Und doch, welcher Hut aus Arkadien oder Lakonien könnte einem besser stehen als das eigene Haar? «Wozu braucht man überhaupt sein Haar, wo es doch so viele schützende Hüllen gibt?» höre ich fi·agen. Man braucht es nicht, zumindest nicht, wenn man reich ist, denn dann braucht man ja nicht einmal Hände und Füße 10! (13) Nun sehe ich, daß auch diese Stadt keiner der erstrangigen Städte nachsteht. Dazu beglückwünsche ich euch und habe meine Freude daran. Ihr besitzt das beste und fruchtbarste Gebiet des Festlandes, wohnt mitten zwischen den schönsten Ebenen und Bergen, habt die wasserreichsten Qyellen und den ergiebigsten Ackerboden, der unzähligen Reichtum hervorbringt, Tf/eizerJ und Dinkel und weiße Gerste mit breiten Ähren, 11 und viele Rinderherden, viele Schafherden weiden auf euren Fluren. Die größten und nutzbringendsten Flüsse entspringen hier bei euch, der Marsyas da, der mitten durch eure Stadt fließt, der Orgas und der weitaus göttlichste und weiseste von allen Flüssen, der Mäander, der in zahllosen Windungen, man darf sagen den besten Teil Asiens durchströmt. (14) Ihr seid das Tor nach Phrygien, Lydien und auch Karien, andere sehr volkreiche Stämme wohnen in eurer Nachbarschaft, die Kapa·
IN KELAINAI IN PHRYGIEN 35.14- 1 7] 5°3 doker, Pamphyler und Pisider, und für sie alle ist eure Stadt Markt und Versammlungsplatz. Zudem habt ihr viele unbekannte Städte, viele wohlhabende Dörfer unter eurer Gewalt. Der sicherste Beweis aber für eure Macht ist die Höhe der geleisteten Abgaben. Denn wie man bei Zugtieren annimmt, daß die stärksten wohl auch die schwerste Last ziehen können, so ist es auch bei den Städten wahrscheinlich, daß die angesehensten die größten Abgaben entrichten. (15) Ferner finden bei euch jedes zweite Jahr die Gerichtsverhandlungen statt und locken eine unübersehbare Menschenmenge herbei, Prozessierende, Richter, Redner, leitende Beamte, Diener, Sklaven, Kuppler, Maultiertreiber, Händler, Dirnen, Handwerker. So können die Besitzer ihre Waren um einen recht hohen Preis an den Mann bringen, und nichts in der Stadt ist unbeschäftigt, weder die Zugtiere noch die Häuser noch die Frauen - und das ist kein geringer Beitrag zum allgemeinen Wohlstand. (16) Wo nämlich die größte Menschenmenge zusammenkommt, da muß auch das meiste Geld zusammenfließen, und man kann erwarten, daß der Ort gedeiht. Man sagt ja auch, glaube ich, daß das Feld, auf dem die meisten Schafe eingepfercht sind, durch den Mist ftir den Landmann am fruchtbarsten werde, weshalb auch viele Bauern die Hirten bitten, doch aufihrem Land die Schafe einzupferchen. (17) Daher kommt es, daß man hinsichtlich der Geltung einer Stadt der Einrichtung eines Gerichtshofes so große Bedeutung beilegt, daß man sich allgemein darum mehr bemüht als um alles andere. In den Genuß dieses Vorrechts kommen die angesehensten Städte jedes zweite Jahr. Allerdings heißt es, der Zeitraum solle jetzt vergrößert werden, weil sich die Leute nicht länger fortgesetzt herumjagen lassen wollen, bald hierhin, bald dorthin. Und schließlich seid ihr an den Heiligtümern in Asien und an den Aufwendungen für sie beteiligt, nicht weniger als die Städte . selbst, in denen die Heiligtümer liegen.
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Ich muß gestehen, keine vom Glück mehr begünstigte Stadt zu kennen als die eure, keine Menschen, die ein besseres Leben hätten, die Inder ausgenommen 12. 18) Dort nämlich führen, wie man sagt, die Flüsse nicht wie bei uns Wasser, sondern Milch, klaren Wein, Honig und Öl; sie entspringen auf nahen Hügeln gleichsam aus den Brüsten der Erde. Alles, was dort wächst, ist an Wohlgeschmack und Kraft unendlich viel besser als die Erzeugnisse bei uns. Wir gewinnen das zum Leben Notwendige kärglich und mühselig von Tieren und Pflanzen, indem wir die Früchte von Bäumen pressen und, was uns die Tiere zum Leben geben, Milch und Honig, melken und zeideln. Dort aber ist alles viel reiner und wird, wie ich glaube, ohne Kraftanstrengung und schlaue List gewonnen. Die Ströme fließen einen Monat für den König, und das sind seine Einnahmen, den Rest des Jahres für das Volk. 19) Jeden Tag treffen sie sich mit Weib und Kind an den Qgellen und Flußufern zu Spiel und Scherz, als gingen sie auf ein Fest. An den Ufern wächst die kräftige Lotospflanze, von allen Nahrungsmitteln vielleicht das wohlschmeckendste und nicht wie bei uns Futter für die Vierfüßler, dann auch Sesam und Eppich in großer Fülle - so könnte man diese Pflanzen vielleicht wegen ihrer Ähnlichkeit im Aussehen nennen, obwohl ihre Güte einen Vergleich nicht zuläßt. Es gedeiht dort auch noch eine andere Pflanze, eine nahrhaftere und bekömmlichere Kost als Weizen und Gerste; sie wächst in großen Kelchen, etwa wie die der Rosen, aber noch duftender und gräßer. Davon essen sie Wurzel und Frucht und brauchen nichts daftir zu tun. 20) Viele Kanäle gibt es dort, die von den Flüssen abgeleitet sind, teils größer, teils kleiner und miteinander verbunden, nach Gutdünken von den Indern angelegt. So kann das Wasser wie bei uns in den Gärten leicht umgeleitet werden. Dann sind da Bäder, die einen mit warmem Wasser, weißer als Silber, die andern mit dunkelblauem, wegen der Tiefe und
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Kälte. Da schwimmen Frauen und Kinder, alle zusammen und alle schön. Nach dem Bad lassen sie sich, wie ich mir denke, auf dem Rasen nieder und singen und trällern vor sich hin. (21) Herrliche Auen breiten sich dort aus mit einer bunten Fülle von Blumen und Bäumen, die von oben her Schatten gewähren, aber auch, indem sie ihre Äste herabneigen, jedem, der Lust dazu verspürt, eine Frucht an bieten, er braucht nur danach zu greifen. Dazu singen die Vögel. Sie haben sich oben auf den Bergen niedergelassen, eine gewaltige Schar, und auf den spitzen der Zweige, und ihre Stimmen haben einen schöneren Klang als unsere Instrumente. Immer weht ein sanfter Wind, und das Klima, am ehesten unserm Sommeranfang vergleichbar, bleibt sich das ganze Jahr über gleich. Dazu ist der Himmel dort klarer, die Sterne sind zahlreicher und leuchtender. Die Menschen leben länger als vierhundert Jahre und sind doch während dieser ganzen Zeit von blühenderjugendfrische; Alter, Krankheit und Armut gibt es nicht bei ihnen. (22) Aber bei all diesen reichen und vielfältigen Segnungen gibt es doch Männer, man nennt sie Brahmanen 13, die jenen Flüssen und den Menschen, die sich an ihren Ufern niedergelassen haben, den Rücken kehren und zurückgezogen für sich selbst beschauliche Betrachtungen anstellen, wobei sie ihre Körper, ohne daß sie jemand dazu zwänge, einer unerhörten Askese unterziehen und die schlimmsten Entbehrungen auf sich nehmen. Es heißt, sie hätten eine ganz besondere Qgelle, die Qgelle der Wahrheit, von allen die beste und göttlichste. Wer aus ihr einmal getrunken habe, dessen Durst könne nie mehr gestillt werden. Die Berichte aus diesem Land nun entsprechen der Wahrheit, denn einige Leute, die schon dort gewesen sind, haben sie bestätigt. Allerdings sind es nicht viele, die ihr Beruf als Kaufmann dorthin fuhrt, und diese wenigen verkehren nur mit den Küstenbewohnern, also mit dem Teil der indischen"
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Bevölkerung, der verachtet ist und allgemein schlecht gemacht wird 14. (23) Ihr müßt also zugeben, daß die Inder noch glücklicher sind als ihr. Ihr aber seid glücklicher als alle übrigen - abgesehen noch von einem Menschenstamm : dem goldreichsten. Das Gold bekommt er von Ameisen, die größer als Füchse, im übrigen aber unseren Ameisen gleich sind. Wie die gewöhnlichen Ameisen bohren auch sie Gänge in die Erde. Was sie dabei auswerfen, ist purstes Gold, glänzender als alles andere Gold. Es liegt dann nah beieinander, gleichsam kleine Hügel von Goldkörnchen, und die ganze Ebene erstrahlt in goldenem Glanz. Dorthin zu sehen ist bei Sonnenlicht gefahrlieh, und schon viele, die es versuchten, haben ihr Augenlicht verloren. (24) Die Menschen aus der Umgebung aber kommen, wenn sie das dazwischenliegende öde und nicht eben große Gebiet auf Wagen mit den schnellsten Rossen durchquert haben, gegen Mittag dorthin, wenn die Ameisen sich in die Erde verkrochen haben. Dann raffen sie den Goldstaub an sich und machen sich wieder davon. Die Ameisen aber, sobald sie es merken, nehmen die Verfolgung auf, holen die Feinde ein und kämpfen mit ihnen, bis sieentweder selbst getötet werden oder ihren Gegner getötet haben; sie sind nämlich die streitbarsten Tiere überhaupt. So genau kennen sie den großen Wert des Goldes und wollen eher sterben als ihren Schatz preisgeben 15. (25) Aber wer sonst von unsern Zeitgenossen könnte noch zu den Glücklichen gerechnet werden'1 Die Byzan tiner, denn sie sind im Besitz eines sehr fruchtbaren Landes und eines außerordentlich ertragreichen Meeres. Aber infolge der hervorragenden Eigenschaften des Meeres haben sie das Land vernachlässigt. Denn das Land bringt ihnen erst nach geraumer Zeit Frucht und muß vor der Ernte bestellt werden, während das Meer seine Schätze austeilt, ohne daß sie dafLir schwitzen müssen 16.
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vorgelesen in der Heimat
(I) Den Sommer über weilte ich in Borysthenes. Es war die Zeit nach meiner Verbannung, und ich war dorthin gefahren, um, wenn möglich, durch das Land der Skythen zu den Geten ZU gelangen, wo ich die Verhältnisse etwas genauer kennenlernen wollte. Eines Tages schlenderte ich gegen Mittag am Ufer des Hypanis entlang. Zwar hat die Stadt ihren Namen, wegen der Schönheit und Größe des Flusses, vom Borysthenes [, sie liegt aber am Hypanis, und nicht nur sie, auch ihre Vorgän gerin lag an ihm, ein wenig oberhai b der Hippolaoshöhe auf der anderen Seite des Flusses. (2) Dieser Teil des Landes läuft, wo die beiden Flüsse sich treffen, einem Schiffsschnabel vergleichbar, in eine spitze Zunge aus. Von hier aus bilden dann die Flüsse über eine Strecke von annähernd zweihundert Stadien bis zum Meer hin einen Sumpf und weisen an dieser Stelle auch etwa die gleiche Breite auf. Der größte Teil dieses Gebietes ist seicht, und bei schönem Wetter liegt der Spiegel glatt da wie bei einem See. Auf der rechten Seite aber ist das Flußbett noch bemerkbar, und die einfahrenden Schiffer schließen von der Strömung auf die Tiefe. Die Stärke der Strömung ist auch der Grund dafür, daß der Fluß überhaupt noch ins Meer hinaustritt; wäre die Strömung nicht so stark, würde sich das Wasser stauen, sobald ein heftiger Südwind über dem Mündungsgebiet weht. (3) Im übrigen ist der Küstenstreifen morastig und dicht mit Schilfund Bäumen bestanden. Viele Bäume sind auch mitten im sumpfigen Wasser sichtbar, so daß man sie leicht mit Schiffsmasten verwechseln kann. So haben sich schon mit den Verhältnissen nicht vertraute Seeleute täuschen lassen und sind in der Annahme, es seien Schiffe, auf sie zugesegelt. In diesem Gebiet gibt es auch Salz die Men ge. Hier kau-
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fen es die meisten Barbaren ein, auch Griechen und Skythen, soweit sie auf der taurischen Chersones wohnen. In der Nähe des Kastells Alektor, das der Gemahlin des Sauromatenkönigs gehören soll, münden beide Flüsse ins Meer. (4) Infolge der wiederholten Eroberungen und Kriege ist die Stadt Borysthenes, gemessen an ihrem früheren Ansehen, unbedeutend. Da die Stadt schon so lange Zeit mitten im Gebiet der Barbaren liegt - und man darf wohl sagen, daß es gerade die kriegerischsten sind -, ist sie immer in Kriege verwickelt und schon häufig eingenommen worden. Die letzte und schwer_ wiegendste Eroberung der Stadt liegt kaum hundertfunfzig Jahre zurück. Wie die übrigen Städte am rechten Pontosufer bis hin nach Apollonia wurde auch Borysthenes ein Opfer der Geten. (s) So stand es denn um die Griechen in diesem Gebiet außerordentlich schlecht, die Städte wurden überhaupt nicht mehr oder nur noch spärlich besiedelt, während Barbaren in Hülle und Fülle in ihnen zusammenströmten. Denn in der Tat, da das griechische Gebiet in viele Teile zerrissen war, wurden viele seiner Städte in vielen Gegenden erobert. Die Einwohner von Borysthenes jedoch zogen nach dem Fall ihrer Stadt wieder zusammen, wie ich vermute, auf Wunsch der Skythen, die auf den Handel mit den Griechen angewiesen waren und fur sie einen Hafen benötigten. Seit die Stadt nämlich verlassen war, hatten die Griechen dort nicht mehr angelegt, da sie niemand mehr hatten, der ihre Sprache hätte verstehen und sie in Empfang nehmen können, auch die Skythen selbst keinen Wert darauflegten und es nicht verstanden, einen eigenen Handelsplatz nach griechischem Muster anzulegen. (6) Zeichen der Zerstörung sind noch der schlechte Zustand der Bauwerke und die Zusammenziehung der Stadt auf klei· nem Raum. Sie ist nämlich an einen Teil der alten Ringmauer angebaut, wo einige wenige Türme die Zeiten überdauert haben - verschwindend wenig im Vergleich zur alten Größe und
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Stärke der Stadt. In diesem Zwischenraum drängen sich die fIäuser dicht bei dicht ohne den geringsten freien Platz. Eine kleine Mauer, außerordentlich niedrig und baufällig, hat man an ihnen entlanggezogen. Einige Türme stehen noch in beträchtlicher Entfernung von der jetzt bebauten Fläche, so daß niemand auf die Vermutung käme, daß sie einst zu einer einzigen Stadt gehörten. Daneben gibt es noch andere eindeutige Spuren der Eroberun g: In den Tempeln ist kein einziges Standbild unversehrt geblieben, alle sind sie, wie auch die Grabdenkmäler, beschädigt. (7) Ich war also, wie ich schon sagte, auf einem Spaziergang draußen vor der Stadt, als sich wie auch sonst einige Leute aus der Stad t zu mir gesell ten. Da kam Kallistratos auf seinem Pferd von außerhalb zurück. Zunächst ritt er an uns vorbei. Kaum aber hatte er uns überholt, stieg er ab, gab das Pferd seinem Begleiter und kam mit Anstand auf uns zu, die Hand unterm Mantel verborgen. Vom Gürtel hing ihm ein langer Reitersäbel herab, er trug Beinkleider und auch im übrigen skythische Tracht, über die Schultern hatte er einen kleinen schwarzen Mantel aus feinem Stoff geworfen, wie ihn die Leute von Borysthenes zu tragen pflegen. Auch sonst bevorzugen sie schwarze Kleidung, nach dem Beispiel eines Skythenstammes, der «Schwarzmäntel », die ihren Namen von den Griechen vermutlich wegen dieser Eigenart bekommen haben. (8) Kallistratos war etwa achtzehn Jahre alt, außerordentlich schön und schlank, und seine Erscheinung hatte viel Ionisches an sich. Es hieß, auch sein Kriegshandwerk verstehe er sehr gut und habe schon viele Sauromaten getötet oder gefangen genommen. Auch mit Rhetorik und Philosophie hatte er sich eingehend befaßt, so daß er am liebsten gleich mit mir abgereist wäre. Aus all diesen Gründen, nicht zuletzt aber wegen seiner Schönheit genoß er bei seinen Mitbürgern großes Ansehen und hatte viele Liebhaber; die Liebe unter Männern nämlich war ihnen
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als Erbe ihrer Mutterstadt' geblieben. So scheinen sie auch einige Barbaren dazu überredet zu haben - wohl kaum zu einem guten Ende, denn jene nehmen es nach ihrer Weise auf, eben nach Barbarenweise und nicht ohne Ausschweifungen. (9) Da ich nun seine Homerbegeisterung kannte, fi'agte ich sofort nach diesem Dichter. Fast alle Borystheniten haben eine Vorliebe für Homer, vielleicht, weil sie auch heute noch ein kriegerisches Volk sind, vielleicht aber auch wegen ihrer Sympathie für Achilleus. Ihn nämlich ehren sie über alle Maßen und haben ihm einen Tempel aufder nach ihm benannten Insel, einen andern in der Stadt gebaut. Daher wollen sie auch über niemand anders hören als nur über Homer. Und während sie sonst, da sie mitten unter Barbaren wohnen, kein reines Griechisch mehr sprechen - die Ilias können sie fast alle auswendig. (10) Scherzend fragte ich ihn also: «Lieber Kallistratos, welcher Dichter scheint dir besser zu sein, Homer oder Phokylides?» Da lachte er und sprach: «Von dem einen Dich ter kenne ich nicht einmal den Namen, und ich glaube, auch keiner von den Leuten hier. Denn ausschließlich Homer lassen wir als Dichter gelten. Er ist wohl auch sonst überall bestens bekannt, denn nur er wird von den Dichtern in ihren Werken zitiert und bei jeder Gelegenheit vorgelesen, mit seinen Versen feuert man die in den Kampf ziehenden Truppen an, wozu in Sparta die Lieder des Tyrtaios gedient haben sollen. Aber alle diese Dichter sind blind und halten es für ausgeschlossen, daß man auch auf andere Weise 3 Dichter werden könne.» (Il) «Das haben ihre Dichter also von Hornen>, erwiderte ich, «als wären sie von einer Augenkrankheit angesteckt! Aber den Phokylides kennt ihr wirklich nicht, sagst du? Dabei gehört er doch zu den wahrhaft berühmten Dichtern. Wenn ein Händler zu euch kommt, der noch nie hier gewesen ist, werdet
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ihr auch nicht gleich ausfallig gegen ihn, sondern kostet zuerst von seinem Wein oder nehmt, wenn er eine andere Ware mit sich fUhrt, eine Probe davon; gefallt sie euch, kauft ihr, wenn nicht, laßt ihr es bleiben. So kannst du jetzt auch von der Dichtung des Phokylides geschwind eine Probe bekommen. (12) Er gehört ja nicht zu den Dichtern, die ein langes Werk unaufhörlich weiterspinnen, so wie euer Homer etwa fUnftausend und mehr Verse benötigt, um die einzelnen Etappen eines einzigen Kampfes darzustellen, nein, bei ihm liegen Anfang und Ende in zwei oder drei Versen beschlossen. Und so fügt er auch jedem Sinnspruch seinen Namen bei - soviel Gewicht und Wert mißt er ihm zu - und macht es nicht wie Homer, der an keiner Stelle seiner Dichtung sich selbst nennt. (13) Oder glaubst du nicht, daß Phokylides etwa bei folgendem bedeutsamen Spruch mit Recht seinen Namen dazugesetzt hat: Das auch sagt phok)'/ides: Besser die winzige Stadt auf ragendem Fels, doc/; geordnet, als das verdorbene Ninos. 4 Wiegen diese Verse nicht die ganze Ilias und Odyssee auf, wenn man nur richtig hinhört? Oder hattet ihr mehr davon, wenn ihr von den Sprüngen und Sätzen Achills hörtet und von seiner Stimme, mit der allein er die Troer in die Flucht geschlagen hat S? Solche Geschichten auswendig zu lernen, ist das fUr euch nützlicher, als wenn ihr lern t, daß ein kleines, auf rauhem Fels gelegenes Städtchen besser und glücklicher ist, wenn es nur richtig verwaltet wird, als eine große Stadt in einer breiten, weiten Ebene, wenn Menschen ohne Ordnung, ohne Gesetz und Vernunft in ihr wohnen?» (14) Kallistratos war von meinen Worten nicht gerade begeistert. «Mein lieber Freund», sagte er, «wir achten und schätzen dich sehr, sonst hätte es wohl kein Borysthenite geduldet, daß du in dieser Weise von Homer und Achilleus sprichst. Denn Achilleus ist fUr uns ein Gott, wie du siehst, und Homer kommt in unserer Verehrung gleich nach den Göttern.»
BORYSTHENITISCHE REDE 512 Um ihn zu beschwichtigen und gleichzeitig auch auf etwas Nützliches hinzulenken, antwortete ich: «Bitte verzeih mir, wenn etwas Böses wurde gesagt jetzt, 6 um eine Wendung Homers zu gebrauchen. Bei einer späteren Gelegenheit laßt uns dann Achilleus und Homer preisen, wo immer er uns recht zu haben scheint. (15) Für jetzt wollen wir den Spruch des Phokylides prüfen, denn ich glaube, er hat außerordentlich Treffendes über die Stadt gesagt.» «Bitte tu das», bat er, «du siehst ja, daß auch diese Leute alle dich hören wollen und deswegen so zahlreich hier am Fluß zusammengekommen sind, obwohl sie nicht gerade in der ru. higsten Verfassung sind. Du hast doch wohl vernommen, daß die Skythen gestern gegen Mittag bei einem Überfall die Po. sten, soweit sie nicht aufpaßten, getötet, den Rest vielleicht gefangengenommen haben. Genaueres wissen wir noch nicht, denn ihr Fluchtweg ist ziemlich lang, weil sie nicht auf die Stadt zu fliehen.» (16) So war es in der Tat, die Tore waren fest verschlossen, und auf der Stadtmauer hatte man die Kriegsflagge gehißt. Aber trotzdem waren sie als echte Griechen so hörbegierig, daß fast die ganze Stadt in Waffen zugegen war und hören wollte. Voller Bewunderun g fur ihren Eifer fragte ich sie: «Sollen wir nicht lieber an einen Ort in der Stadt gehen, wo wir uns setzen können? Denn hier draußen beim Gehen hören möglicherweise nicht alle gleich gut, die weiter hinten stehen, werden Schwierigkeiten haben und ihre Vorderleute stören, wenn sie näher herankommen wollen.» (17) Da stürzte alles sofort zum Zeustempel, in dem sie gewöhnlich ihre Versammlungen abhalten. Die ältesten und angesehensten Männer, dazu die Beamten saßen ringsum auf den Stufen, das übrige Volk stand; es lag nämlich ein großer fi·eier Platz vor dem Tempel. Jedem Philosophen hätte bei die-
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sem Anblick das Herz höher geschlagen: Alle trugen sie nach lIral ter Sitte langes Haar und einen wallenden Bart, wie Homer die Griechen beschreibt. Nur einer unter ihnen war rasiert, von allen beschimpft und verachtet. Es hieß, er mache das nicht zu seinem persönlichen Vergnügen, sondern um den Römern zu schmeicheln und seine Sympathie fur sie zu bekunden. So konnte jedermann an ihm sehen, wie schimpflich und alles andere als einem Manne angemessen eine solche Haltung ist. (18) Als es still geworden war, begann ich damit, daß sie meines Erachtens recht daran täten, als Bewohner einer alten griechischen Stadt über das Wesen der Stadt hören zu wollen. «Zunächst», legte ich dar, «gilt es, den Gegenstand unserer Untersuchung genau zu erfassen, denn damit dürftet ihr zugleich auch den Kern begriffen haben. Die meisten Menschen », führte ich aus, «kennen und gebrauchen nämlich nur den Namen von jedem Ding, von der Sache selbst haben sie keine Ahnung. (19) Die Gebildeten jedoch sind darum bemüht, auch die Bedeutung von allem, worüber sie sprechen, zu erkennen. Das Wort ,anthropos' zum Beispiel gebrauchen alle Menschen, die Griechisch sprechen. Fragt man aber einen von ihnen, was das eigentlich ist - ich meine seinem Wesen und dem besonderen Unterscheidungsmerkmal nach -, so kann er es nicht sagen und zeigt nur auf sich selbst oder auf einen anderen, wie es auch die Barbaren machen. Der Wissende aber antwortet auf die Frage, was der Mensch ist: ein mit Vernunft begabtes sterbliches Wesen. Denn dieses Prädikat kommt einzig und allein dem Menschen zu. (20) So wird auch die Stad t als eine gesetzlich verwaltete Anzahl von Menschen, die an derselben Stelle wohnen, definiert. Damit ist bereits klar, daß eine Stadt ohne Vernunft und Recht diese Bezeichnung nicht verdient _. man nennt sie nur so. Auch Ninive also hätte der Dichter nicht ,Stadt' nennen können, da es sich der Tollheit ergeben hatte. Denn wie es keinen Menschen ohne Vernunft gibt, so keine
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Stadt ohne Gesetz; eine Stadt ohne Vernunft und Ordnung aber kann niemals gesetzlich sein. (21) Mancher wird sich nun fragen, ob ein Gemeinwesen vernünftig und gesetzlich und eine wahre Stadt genannt werden kann nach denen, die es verwalten: wenn nämlich die leitenden Beamten vernünftige und kluge Männer sind und das Volk nach ihrem Willen gesetzlich und vernünftig gelenkt wird. Wie man etwa einen Chor wird musikalisch nennen können, wenn der Chorleiter musikalisch ist, die übrigen seinen Absichten folgen und keine falschen Töne singen - oder nur leise und unhörbar. (22) Von einer guten Stadt, die nur aus Guten besteht, hat im menschlichen Bereich noch niemand etwas vernommen, und auch für die Zukunft darf man sie niemals erwarten, es sei denn, man dächte an die Stadt der glückseligen Götter im Himmel, die niemals ruhig und träge, sondern stets in emsiger Bewegung begriffen ist1. Ihre Führer und Leiter sind Götter, ohne Streit und Niederlage, denn die Götter dürfen nicht miteinander streiten und besiegt werden, weder von ihresgleichen, da sie befreundet sind, noch von anderen, mächtigeren Wesen. Frei und in gegenseitiger Zuneigung, die alle unaufhörlich verbindet, verrichten sie ihre Werke. Die Erhabensten von ihnen wandeln ihre Bahn für sich allein, sie irren nicht ohne Ziel und Plan umher, sondern tanzen den Reigen der Glücklichen mit Weisheit und höchster Einsicht. Die übrige Schar wird von der allgemeinen Bewegung mit fortgerissen, der ganze Himmel ist von einem Denken, von einem Fühlen beseelt. (23) Das ist die einzige Gemeinschaft oder auch Stadt, die man guten Gewissens glücklich nennen kann, die Gemeinschaft zwischen Göttern - auch wenn man alles Vernunftbegabte noch miteinbeziehen und die Menschen mit zu den Göttern rechnen wollte, wie man etwa von Knaben sagt, sie hätten zusammen mit den Männern teil an der Stadt insofern, als sie von Geburt Bürger seien, nicht aber deswegen, weil
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sie schon die nötige Einsicht hätten, politische Verantwortung übernehmen und am Gesetz, von dem sie noch nichts verstehen, beteiligt sein könnten. Aus all den verschiedenartigsten und, so könnte man sagen, verfehlten Gemeinschaften, die, an der letzten Gültigkeit des göttlichen, überirdischen Rechtes und der richtigen Ordnung gemessen, mangelhaft sind, wollen wir uns für heute mit Beispielen begnügen, die im Vergleich zu den völlig heruntergekommenen Staatswesen einen noch einigermaßen erträglichen Zustand erkennen lassen. So vergleicht man ja auch unter lauter Kranken den leichten Fall mit dem schwersten.» (24) Solche Gedanken etwa wollte ich in meinen AusfUhrungen weiterentwickeln, als mich jemand aus dem Publikum unterbrach. Es war der Älteste, der außerordentlich großes Ansehen genoß. Mit auffallender Bescheidenheit sagte er: «Halte es bitte nicht für die Rohheit eines Barbaren, Fremder, daß ich dich mitten im Wort unterbreche. Bei euch freilich ist ein solches Verhalten nicht üblich, weil es auf dem Gebiet der philosophie ein Überangebot an Vorträgen gibt und man über jedes Thema, das einen reizt, bei vielen Leuten hören kann. Bei uns dagegen ist es fast wie ein Wunder, daß du zu uns gekommen bist. (25) Sonst besuchen uns fast nur Leute, die lediglich dem Namen nach Griechen, in Wahrheit aber noch primitiver als wir sind, Kaufleute und Händler, die schlechte Lumpen und verdorbenen Wein bei uns einfUhren und von uns nichts Besseres wieder mitnehmen. Dich aber scheint Achilleus selbst von seiner Insel hierher zu uns gesandt zu haben, und wir sind sehr erfreut, dich zu sehen, sehr erfreut, dich zu hören, was du uns auch sagen wirst. Freilich glauben wir nicht, daß dein Aufenthalt von langer Dauer sein wird, und wir sähen es nicht einmal gerne, sondern wünschen dir so bald wie möglich eine glückliche Heimreise. (26) Jetzt aber, wo du schon einmal auf die göttliche Form der Ordnung zu sprechen gekommen bist,
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bin ich auf unbegreifliche Weise erregt, und auch die Leute hier sehe ich alle deinen Gedanken zu diesem Thema en tgegenfiebern. Denn wir sind der Meinung, daß alles, was du gesagt hast, großartig und dem Gegenstand angemessen war und auch unseren Erwartungen genau entsprach. Von der feineren Philosophie nämlich verstehen wir nichts, aber wie du weißt, lieben wir Homer, einige wenige auch Platon. Zu diesen kannst du auch mich rechnen, denn ich beschäftige mich immer wieder mit seinen Schriften, so gut ich es vermag. Freilich, es mag seltsam erscheinen, daß ausgerechnet der Mann, der von der Bürgerschaft das schlechteste Griechisch spricht, an dem griechischsten und weisesten Autor seine Freude hat und sich so eingehend mit ihm befaßt - beinah, wie wenn sich jemand, der nahezu blind ist, von jedem anderen Licht abwendete, in die Sonne selbst aber sehen wollte. (27) So steht es also bei uns. Du aber, wenn du uns allen einen Gefallen tun willst, schiebe deine Ausführungen über die Stadt der Sterblichen auf. Vielleicht lassen uns unsere Nachbarn bis morgen in Ruhe, so daß wir nicht, wie es seit langem üblich ist, unsere Kräfte im Kampf mit ihnen messen müssen. Sprich lieber über die göttliche Stadt oder, wenn du es so nennen willst, über die göttliche Ordnung, wo und von welcher Art sie ist, und halte dich im Ausdruck möglichst eng an die edle Ausdrucksweise Platons, wie du es nach unserer Meinung eben bereits getan hast. Denn wenn schon nichts anderes, so verstehen wir doch wenigstens seine Sprache, weil wir mit ihr vertraut sind, denn sie ist erhaben und von der Sprache Homers nicht weit entfernt.» (28) Ich war von der ehrlichen Einfalt des Al ten freudig überrascht und sagte lachend: « Mein lieber Hieroson, hättest du mich gestern beim Einfall der Feinde aufgefordert, zu den Waffen zu greifen und wie Achilleus zu kämpfen, so wäre ich dir in dem einen gefolgt und hätte versucht, euch, die ihr meine Freunde seid, zu helfen; das andere aber, glaube ich, hätte ich
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nicht vermocht, so sehr ich es mir auch gewünscht hätte, nämlich wie Achilleus zu kämpfen. So will ich auch jetzt deinen ersten Wunsch erfüllen und meine Aufgabe bereitwillig lösen, so gut ich es auf meine Weise kann; doch mit den Helden der Vorzeit zu streiten will nimmer ich wagen, 8 weder mit Platon noch mit Homer. Denn, so erzählt Homer, auch dem Eurytos bekam es schlecht, daß er sich mit Stärkeren einließ 9. Jedoch», fUgte ich hinzu, «am guten Willen soll es nicht fehlen.» (29) So lautete meine Antwort an Hieroson. Trotzdem aber ftihlte ich mich bei der Erwähnung Platolls und Homers merkwürdig bewegt und erhoben. «In dem angegebenen Sinn also», fuhr ich fort, «muß man den Begriff Stadt verstehen, da unsere Schule'o das Weltall nicht direkt als Stadt bezeichnet. Denn dieseAuffassung stünde im Widerspruch zu obiger Definition der Stadt als einer Vereinigung von Menschen. Zudem wäre es auch nicht gerade passend und überzeugend, den Kosmos als Stadt zu bezeichnen, nachdem man zuvor mit Entschiedenheit behauptet hat, er sei ein Lebewesen. (30) Denn dasselbe sich als Stadt und als Lebewesen vorzustellen, wird vermutlich niemand so schnell tun wollen. So aber, wie die Ordnung des Weltalls jetzt verstanden wird, wo das All zwar in eine große Zahl verschiedener Formen zerteilt und gegliedert ist, in Pflanzen und sterbliche und unsterbliche Lebewesen, ferner in Luft, Land, Wasser und Feuer, trotzdem aber nur eine Kraft in dem allen ist und eine Seele und ein Wille alles durchwaltet - diese Ordnung vergleichen die Stoiker in gewissem Sinne doch wieder mit einer Stad t wegen der Menge in ihr entstehender und vergehender Wesen, ferner wegen der wohlüberlegten und geordneten Einrichtung. (31) So zielt diese Lehre, um es kurz zu sagen, darauf ab, das Menschengeschlecht mit der Gottheit harmonisch in Verbin-
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dung zu bringen und in einem Begriff alles Vernunftbegabte zusammenzufassen; denn in der Vernunft sieht sie die einzige sichere und unauflösliche Grundlage von Gemeinschaft und Gerechtigkeit. Demnach käme die Bezeichnung Stadt keinesfalls einem Gemeinwesen zu, an dessen Spitze schlechte und unbedeutende Führer stehen, das von Tyrannen, Pöbelherrschaften, Dekarchien, Oligarchien und ähnlichen Krankheitserscheinungen zerfleischt und in ewigen Streit geworfen wird, sondern nur einem Gemeinwesen, das mit der maßvollsten und besten Form der Königsherrschaft geschmückt ist und wirklich nach dem Recht in aller Freundschaft und Eintracht geleitet wird. (32) Das ist es, was der weiseste und älteste Herrscher und Gesetzgeber allen, Sterblichen wie Unsterblichen, aufgetragen hat, der Lenker des gesamten Himmels und Herr über alles, was ist, er, der auf diese Weise selbst den Weg zeigt und uns sein eigenes Walten als Beispiel einer glücklichen und gesegneten Ordnung vor Augen stellt. Ihn preisen unsere göttlichen Sänger, von den Musen belehrt, und nennen ihn,Vater der Götter und Menschen'. (33) Dem Volk der Dichter nämlich scheint die Einsicht in die heiligen Wahrheiten nicht ganz verschlossen zu sein, und oft treffen sie mit solchen Äußerungen das Richtige. Freilich sind auch sie nicht nach Brauch und Ritus der echten Mysten richtig in die Mysterien eingeweiht, und vom wahren ·Wesen des Weltalls wissen sie, wenn man so sagen darf, nichts Bestimmtes. Vielmehr scheinen sie mir ziemlich genau den Mysteriendienern draußen vor der Tür zu gleiehen: Sie schmücken den Vorraum, die allen sichtbaren Altäre und verrichten ähnliche Dienste, das Innere aber betreten sie niemals. Daher nennen sich die Dichter selbst ja auch nur ,Dienerder Musen''', nicht ,Eingeweihte' oder sonstwie mit einem erhabenen Namen. (34) Es ist also, wie ich schon sagte, durchaus denkbar, daß auch diejenigen, die sich bei einem feierlichen Ritus in der Nähe des Eingangs aufhalten, etwas von den Vor-
36,34-37]
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gängen drinnen mitbekommen, etwa den lauten Ausruf eines einzelnen Mysten oder den Schein des Feuers. So drang auch manchmal zu den Dichtern - ich spreche von den ganz alten ftir einen kurzen Augenblick die Stimme der Musen, ein Hauch göttlichen Wesens und göttlicher Wahrheit, wie aus dem Dunkel ein Strahl des Feuers bricht. Das geschah mit Homer und Hesiod, wenn sie von den Musen ergriffen waren 12. (35) Ihre Nachfolger aber brachten später ihre eigene Weisheit vor das publikum auf die Bretter und boten häufig, Uneingeweihte vor Uneingeweihten, unvollkommene Bilder der heiligen Weihen. Von der Menge bestaunt, machten sie sich selbst daran, das Volk zu weihen, und'hämmerten an gewissen tragischen Kreuzwegen tatsächlich in' aller Öffen t1ichkei tB ühnen für bacchische Riten zusammen I3 • Alle diese Dichter also nennen übereinstimmend den ersten und größten Gott Vater und König aller vernunftbegabten Wesen. (36) Im Vertrauen auf diese Dichter errichten die Menschen Altäre für den Zeus-König und scheuen sich nicht, ihn bisweilen in ihren Gebeten Vater zu nennen, da sie glauben, daß es eine solche Herrschaft und Ordnung des weltalls gibt. Insofern, will mir scheinen, hätten sie auch keine Bedenken, den ganzen Kosmos als Wohnung des Zeus zu bezeichnen, wenn er wirklich der Vater von allem darin ist, oder auch, kein Zweifel, als Stadt. Mit ihr vergleichen wir das All wegen des größeren Herrschaftsbereichs, (37) denn der Titel ,König' paßt wohl besser zu einer Stadt als zu einem Haus. Wenn man aber den Herrscher des Alls König nennt, muß man auch zugeben, daß das All königlich regiert wird, und nur unter dieser Voraussetzung kann von einer königlichen Verfassung und einer königlichen Verwal tung die Rede sein. Andrerseits, wenn man diese Zugeständnisse macht, kann man nicht umhin, ebenfalls einzuräumen, daß das verwaltete Gemeinwesen eine Stadt oder etwas Ähnliches ist.
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[36,38-41
(38) Das ist also die Lehre der Philosophen. Sie zeigt die gute und den Menschen zugetane Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch, indem sie nicht allen beliebigen Lebewesen, sondern nur den mit Vernunft und Einsicht begabten an Gesetz und Bürgerschaft teil gibt und eine weit bessere und gerechtere Gesetzgebung als die spartanische einführt; denn nach ihr hatten die Heloten keine Möglichkeit, Spartaner zu werden, weshalb sie ständig eine Gefahr für Sparta bedeuteten. (39) Daneben gibt es eine wunderbare Geschichte, die von den Magiern bei ihren geheimen Kulten vorgetragen wird. Sie preisen diesen Gott als den ersten und vollkommenen Lenker des vollkommensten Wagens. Der Sonnenwagen nämlich, so sagen sie, sei verhältnismäßig jung im Vergleich zum Wagen des Zeus, aber, da sein Laufvon allen verfolgt werden könne, der großen Menge bekannt. So sei es zu erklären, daß alle vom Sonnenwagen sprächen in der Weise, mit der, wie es scheint, schon die ältesten Dichter den Anfang gemacht haben, indem sie völlig übereinstimmend jeden Sonnenaufgang und -untergang so darstellten, als ob die Rosse angespannt würden und Helios selbst den Wagen besteige. (40) Den mächtigen, vollkommenen Wagen des Zeus jedoch hat noch keiner von unseren Dichtern in angemessener Weise gepriesen, weder Homer noch Hesiod. Wohl aber singen Zoroaster von ihm und die Kinder der Magier, die es von ihm gelern t haben. Wie die Perser erzählen, habe er sich aus Liebe zur Weisheit und Gerechtigkeit von den Menschen zurückgezogen und auf einem Berge rur sich allein gelebt. Da sei viel Feuer vom Himmel gefallen und habe den Berg in Flammen gesetzt, und unaufhörlich habe er gebrannt. Der König mit den vornehmsten Persern habe sich nun genähert, um zu dem Gott zu beten. Da sei Zoroaster unversehrt aus dem Feuer zu ihnen getreten, habe sich ihnen gnädig gezeigt und ihnen geboten, getrost zu sein und Opfer darzubringen, da der Gott an dieser Stätte erschienen sei. (41)
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521 In der Folgezeit habe Zoroaster mit ihnen verkehrt, nicht mit allen, sondern nur mit denen, die für die Wahrheit am empfänglichsten waren und den Gott verstehen konnten. Bei den Persern heißen sie Magier, weil sie wissen, wie man die Gottheit zu behandeln hat, während die Griechen aus Unkenntnis der wahren Bedeutung dieses Wortes Zauberer darunter verstehen. Nach heiliger Überlieferung pflegen die Magier unter anderem auch für Zeus das Gespann der Nisäischen Pferde l4 • Es sind die schönsten und stattlichsten in ganz Asien. Für Helios aber pflegen sie nur ein einziges Pferd. (42) Die Magier erzählen ihren Mythos aber nicht in der Art, wie es bei uns die Propheten der Musen tun, indem sie außerordentlich einleuchtend jede Einzelheit darstellen, sondern auf recht eigenwillige Weise. Sie behaupten nämlich, es gebe nur eine einzige Führung und Lenkung des Weltalls durch die höchste und geschickteste Macht, ewig, endlos, in Umläufen ohne Ende. Die Bahnen von Sonne und Mond seien, wie ich schon sagte, Bewegungen von Teilen des Alls, weshalb sie von den Menschen auch deutlicher wahrgenommen werden könnten. Bewegung und Umschwung des gesamten Weltalls dagegen begreife die Menge nicht und sei sich der Größe dieses Wettkampfes nicht bewußt. (43) Was nun von den Pferden und ihrer Lenkung folgt, wage ich kaum auszusprechen in der Weise, wie die Magier es erzählen und deuten, einigermaßen unbekümmert darum, ob das Bild in allen seinen Teilen stimmt. Leicht nämlich könnte es befremdlich erscheinen, wenn ich jetzt im Gegensatz zur Anmut der griechischen Gesänge einen barbarischen Gesang anstimme. Trotzdem sei es gewagt. Das erste Pferd, so erzählen sie, das am höchsten steht, ist durch unermeßliche Schönheit, Größe und Schnelligkeit ausgezeichnet. Es hat, da es außen läuft, den längsten Weg zurückzulegen und ist Zeus selbst heilig 15. Es ist geflügelt und hat
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ewe 1m reinsten Glanz erstrahlende Oberfläche. Sonne und Mond sind auf ihr zu sehen als weithin erkennbare Zeichen) wie auch unsere Pferde mondförmige oder sonstige Blessen haben. (44) Unser Auge sieht sie dicht zusammengedrängt, wie wenn mächtige Funken im hellen Schein des Feuers sprühen, aber doch haben sie ihre eigene Bewegung. Alle anderen Sterne, die erst durch dieses Pferd sichtbar werden und ebenfalls ohne Ausnahme natürliche Teile von ihm sind, ziehen ihre Bahn zum Teil mit ihm zusammen in derselben Bewegung, zum Teil folgen sie aber auch anderen Bahnen. Diese Sterne haben bei den Menschen alle ihre eigenen Namen, die restlichen aber, zusammengefaßt in verschiedene Gruppen und Figuren, nur einen gemeinsam ftir eine größere Menge '6 . (45) Das glänzendste und am reichsten geschmückte Pferd, Zeus' eigener Liebling - so ungefähr wird es von den Magiern gepriesen -, bekommt selbstverständlich die ersten Opfer und Ehren, da es an erster Stelle steht. Nach ihm, aufs engste mit ihm verbunden, kommt als zweites Pferd das nach Hera genannte.Es ist wohl gut zu lenken und sanft, an Kraft und Schnelligkeit aber weit unterlegen. An und ftir sich ist es schwarz, aber der jeweils von der Sonne beschienene Teil leuchtet hell auf, während alles, was beim Umlauf in den Schatten kommt, wieder seine ursprüngliche Farbe annimmt. (46) Das dritte Pferd, dem Poseidon heilig, ist noch langsamer als das zweite. Von ihm soll es, wie die Dichter erzählen, ein Abbild bei den Menschen gegeben haben - sie nennen es, glaube ich, Pegasos -, und eine Qgelle soll in Korinth hervorgesprudelt sein an der Stelle, wo es mit dem Huf gescharrt habe. Das vierte Pferd kann man sich am wenigsten von allen vorstellen. Es ist steif und unbeweglich, geschweige denn, daß es geflügelt wäre, und hat seinen Namen von Hestia. Trotzdem halten die Magier an ihrem Bild fest und behaupten, auch dieses Pferd sei vor den Wagen gespannt, bleibe allerdings auf der Stelle stehen und beiße in den
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Zaum aus Stahl. (47) Es stemme sich mit seinen Gliedern nach allen Seiten, und die beiden Pferde in seiner Nähe neigten sich ihrerseits ihm zu, wobei sie geradezu über es herfielen und es stießen. Das erste Pferd aber, das ganz außen, laufe immer um das stehende herum wie um die Wendemarke in der Rennbahn. In der Regel nun geht es friedlich und freundlich bei ihnen zu, ohne daß eins dem anderen etwas tut. Dann aber, bei der Länge der Zeit und der Vielzahl von Umläufen, trifft einmal ein gewaltiger Atemstoß des ersten Pferdes von oben herab auf die anderen und erhitzt, wie man bei einem so feurigen Pferde nicht anders erwarten wird, die übrigen Pferde, in ganz besonderem Maße aber das letzte. Das Feuer erfaßt nicht nur die Mähne - sein ganzer Stolz -, sondern auch den gesamten Schmuck '7. (48) Die Magier behaupten, die Griechen erwähnten wohl dieses Ereignis, das sie ein einziges Mal erlebt hätten, brächten es aber mit phaeton in Verbindung, da sie an der Lenkung des Zeus nichts hätten aussetzen können, am Lauf des Helios nichts aussetzen wollen. So habe ein jüngerer Wagenlenker, ein sterblicher Sohn des Helios, weil ihn das gefährliche und fiir das ganze Menschengeschlecht verhängnisvolle Spiel reizte, den Vater um Erlaubnis gebeten, den Wagen besteigen zu dürfen, sei dann ohne jede Ordnung dahingestürmt und habe alles in Brand gesetzt, Tiere und Pflanzen, bis er schließlich, von einer noch mächtigeren Flamme getroffen, umgekommen sei. (49) Andrerseits, wenn im Abstand von mehreren Jahren das Poseidon und den Nymphen heilige junge Pferd sich in einer ungewohnten Unruhe und Erregung aufbäumt, übersprüht es das unterste Pferd, das ja sein Jochgenosse ist, mit einer Menge Schweiß. Dann wird dieses Pferd von einem dem früheren entgegengesetzten Schicksal heimgesucht: Es wird von einer großen Wasserflut überschwemmt. Infolge ihres geringen Alters und ihres schlechten Gedächtnisses, so meinen die Magier,
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würden die Griechen nur von dieser einen Sintflut erzählen, bei der sie der König Deukalion vor der endgültigen Vernichtung bewahrt habe. (50) Die Menschen seien nun der Ansicht, diese seltenen Ereignisse zielten auf ihre eigene Vernichtung ab, wider Sinn und Vernunft und nicht in Übereinstimmung mit der Ordnung des Alls. Es bleibe ihnen verborgen, daß es damit durchaus seine Richtigkeit habe und diese Katastrophen nach dem willen des welterhalters und Welten lenkers einträten. Es sei genauso, wie wenn ein Wagenlenker eines seiner Pferde zur Ordnung rufe, indem er den Zügel straff anziehe oder es mit der Peitsche schlage: Das Pferd bäume sich auf und werde wild, falle dann aber sofort in seinen normalen Gang zurück. Das nun ist die eine Art, den Wagen mit fester Hand zu lenken, ohne daß das ganze Weltall dabei vernichtet wird. (SI) Daneben kennen die Magier aber auch noch eine andere Form der Bewegun g und Veränderun g der vier Pferde: Sie wechseln und tauschen ihre Gestalt untereinander, bis sie, dem stärkeren unterlegen, alle zu einem Wesen geworden sind. Aber selbst diese Form der Bewegung vergleichen die Magier noch, kühn genug, mit dem Lenken und Fahren eines Wagens, wobei sie zur Erklärung ein noch merkwürdigeres Bild heranziehen. Es sei, wie wenn ein Zauberkünstler Pferde aus Wachs forme, bald hier etwas wegnehme und abschabe, bald dort etwas zufüge, bis er schließlich aus dem ganzen Material eine einzige Figur geformt und aus vier Pferden eins gemacht habe. (52) Nur vollziehe sich dieser Vorgang bei den Pferden nicht wie bei leblosen Gegenständen, indem der Künstler von außen Hand anlege und das Material forme, sondern unter ihnen selbst, wie wenn sie in einem großen und wirklichen Rennen um den Sieg kämpften. Der Siegeskranz falle zwangsläufig dem ersten, an Schnelligkeit, Kraft und Leistungsvermögen überlegenen Pferd zu, als das wir zu Beginn das auserwählte Pferd des Zeus be-
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nannt haben. (53) Denn dieses Pferd, da es von allen das streitbarste und von durch und durch feuriger Natur sei, werde mit den anderen leicht fertig, als wären sie, so könnte man meinen, wirklich aus Wachs, und zwar in kurzer Zeit, die uns nur nach unserer eigenen Zeitrechnung unendlich lang vorkomme. Habe es dann das ganze Wesen der anderen in sich aufgenommen, sehe es noch viel stärker und glänzender aus als zuvor, nicht mit Hilfe eines Sterblichen oder Unsterblichen, sondern ganz aus eigener Kraft als Sieger aus dem größten Wettkampf hervorgegangen. Stolz und mit erhobenem Kopf stehe es da, voller Siegesfreude. Es nehme dann einen denkbar großen Raum ein und wolle im Gefühl seiner Kraft u,nd Stärke einen noch größeren haben. (54) An diesem Punkt ihrer Erzählung angekommen, haben die Magier Bedenken, die Natur dieses Wesens noch mit demselben Namen zu nennen. Denn nunmehr, auf dieser Stufe, seies gleichzusetzen mit der Seele des Wagenlenkers und Herrschers, oder genauer: mit der Vernunft und dem leitenden Prinzip der Seele 18. Dieselben Ausdrücke verwenden ja auch wir selbst, sooft wir den höchsten Gott mit guten Werken und frommen Worten andächtig verehren. (55) Wenn nämlich der Geist allein zurückgeblieben ist und den unendlichen Raum mit sich angefüllt hat - denn jetzt, ohne das geringste Feste an sich zu haben und ganz durchsichtig geworden, ergießt er sich gleichmäßig überallhin, jetzt ist er am schönsten, hat er doch die reinste Natur lauteren Glanzes angenommen -, dann sehnt er sich sogleich nach dem Sein, das ihm ursprünglich eignete. Es ergreift ihn das Verlangen, jenen Wagen zu lenken und wieder der Erste zu sein, das Verlangen nach Übereinstimmung mit den drei Naturen 19, mit Sonne, Mond und Sternen, mit allen Tieren und Pflanzen ohne Ausnahme. Es drängt ihn zu zeugen, alles zu ordnen und die jetzige Welt zu erneuern und sie so von Grund auf noch viel besser und herrlicher zu machen. (56) Er
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[36.56-59
sendet dann einen vollen Blitz, aber nicht einen solch regello_ sen und unsauberen, wie er bei stürmischem Wetter aus den mit ungewöhnlicher Wucht dahin treibenden Wolken bricht, sondern einen reinen Blitz ohne die geringste dunkle Stelle, und in Gedankenschnelle wechselt er leicht seine Gestalt. Im Gedanken an Aphrodite und an die Zeugung aber bezähmt er sich und legt sich Zurückhaltung auf Nachdem er einen großen Teil des Lichtes gelöscht hat, wandelt er sich in feurige Luft von milder Glut. Dann verbindet er sich mit Hera, und im vollkommensten Liebesgenuß entläßt er ruhend den ganzen Samen für das neue Weltall. Das ist die glückselige Hochzeit von Hera und Zeus, von der die Söhne der Weisen bei ihren geheimen Weihen singen. (57) Wenn er sein ganzes Wesen flüssig, zu einem Samen fiir das weltall gemacht hat, durchwaltet er das All in dieser Gestalt wie ein Lufthauch, der bei der Zeugung formt und schafft. Jetzt gleicht er in seiner Zusammensetzung am ehesten den anderen Lebewesen, wofern man überhaupt sagen darf, er bestehe aus Leib und Seele. Leicht bildet und formt er dann alles übrige, indem er seinen glatten, weichen und sich allem leicht anschmiegenden Stoff um sich her gießt. (58) Als er sein Werk vollendet hatte, stellte sich die geschaffene Welt ursprünglich, in unendlicher Schönheit und Herrlichkeit dar, noch weit prächtiger, als sie heutzutage aussieht. Auch die Kunstwerke erscheinen ja noch besser und glänzender, wenn sie frisch aus der Hand des Künstlers kommen, ebenso sind die jungen Pflanzen und alles Knospende von frischerem Grün als die alten. Neugeborene Tiere sind ein anmutiger, freundlicher Anblick, nicht nur die schönsten unter ihnen, die Fohlen, Kälber und jungen Hunde, sondern sogar die Jungen der größten Raubtiere. (59) Und der Mensch ist wohl ein hilfloses und schwaches Wesen gleich der jungen Saat der Demeter; erreicht er aber das Maß jugendlicher Reife, wird er
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einem stärkeren und ansehnlicheren Geschöpf als jede pflanze. Der gesamte Himmel dagegen und das Weltall, von der weisesten und höchsten Kunst eingerichtet, vom ersten Augenblick seiner Vollendung an, als es eben aus der Hand des Schöpfers kam, glänzend, strahlend und hell leuchtend in allen seinen Teilen, war keinen Augenblick hilflos und schwach nach Art der sterblichen Menschennatur, sondern vom allerersten Anfang an frisch und blühend. (60) Als dann der Schöpfer und Vater sein Werk sah, war er keineswegs nur erfreut, denn das ist eine unbedeutende Regung in unbedeutenden Wesen, nein, beglückt und hochentzückt war er, thronend im hohen Olymp, und es lachte das Herz. ihm vor Freude, als er die Götter erblickte,20 die nunmehr alle geboren waren und ihn umgaben. Die damalige Gestalt des Weltalls - ich meine die Blüte und Schönheit dessen, was immer unendlich schön ist - könnte wohl kein Mensch sich vorstellen und angemessen ausdrücken, keiner der Gegenwart und keiner der Vergangenheit; nur die Musen und ApolIon vermögen es in ihrem göttlichen Gesang von reiner, vollkommener Harmonie». (61) Deshalb wollen auch wir es fLir heute gut sein lassen, nachdem wir keine Bedenken hatten, soweit es in unseren Kräften stand, die Rede höherzustimmen. Sollte sich aber die Gestalt der Rede so hoch emporgeschwungen haben, daß sie unserem Gesichtskreis geradezu entschwunden ist - wie ja auch die Auguren sagen, ein Vogel, der in die höchsten Höhen entfliege und sich in den Wolken verberge, mache eine gültige Vorhersage unmöglich -, kann man nicht mich daftirverantwortlich machen, sondern nur die Leute von Borysthenes, die mich damals baten, zu ihnen zu sprechen.
ZU
AN DIE KORINTHER
37.
AN DIE KORINTHER I
(I) Als ich zum ersten Mal in eurer Stadt weilte, es ist jetzt fast zehn Jahre her, und vor dem Volk und euren Beamten eine Probe meines Könnens gab, da hatte ich das Gefühl, mit euch so eng befi-eundet zu sein, wie es nicht einmal Arion' aus Methymne gewesen ist; zumindest habt ihr von Arion kein Standbild anfertigen lassen. Wenn ich «ihr» sage, meine ich natürlich eure Vorfahren und Periander, den Weisen und Sohn des Kypselos, zu dessen Zeiten Arion lebte, der als erster nicht nur einen Dithyrambos dichtete und ihm diesen Namen gab, sondern ihn auch in Korinth aufftihrte. (2) Als dieser Liebling der Götter mit all seinem Reichtum, den er in Tarent und bei den Griechen der Umgebung erworben hatte, auf der Heimfahrt hierher war, wollten ihn die Matrosen, ohne Zweifel wegen seiner großen Schätze, ins Meer werfen. Da bat er sie, vorher noch einmal singen zu dürfen, wie man von den sterbenden Schwänen erzählt, daß sie im Angesicht des Todes ihre Seele gleichsam in ihren Gesang legen, als wäre er ein Nachen. (3) So sang er also, denn das Meer war ruhig und unbewegt. Und Delphine hörten sein Lied und versammelten sich schnell um das Schiff. Als Arion geendet hatte, ohne die Matrosen von ihl'em Vorhaben abbringen zu können, warf er sich ins Meer. Ein Delphin aber nahm ihn auf seinen Rücken und brachte den Sänger samt allem, was er am Leibe trug, so wie er war, nach Tainaron. Auf diese Weise nun kam Arion wohlbehalten noch vor den Matrosen in Korinth an und erzählte dem Periander alles, was er erlebt hatte. (4) Als dann auch die Seeleute gelandet waren und man der Sache auf den Grund ging, mußten sie sterben, Arion aber - nicht Periander, sondern Arion 3 - ließ von sich ein kleines Bild aus Bronze anfertigen, wie er auf dem Rücken seines Retters sitzt, und in Tainm'on aufstellen.
AN DIE KORINTHER
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Zu eben dieser Zeit kam auch Solon nach Korinth. Er war auf der Flucht vor der Tyrannis des Peisistratos - vor der des Periander floh er nicht, (s) denn beides bedeutete nicht dasselbe. Der eine herrschte über die Athener, nachdem er die Demokratie aufgelöst hatte, während der andere die Herrschaft von seinem Vater, den die Griechen Tyrann 4, die Götter aber König nannten, i.ibernahm. Oder lautet der Orakelspruch nicht folgendermaßen: Glücklich der Mann, der kommt in meinen heiligen Tempel, Kypselos, Sohn des Eetion, König des prächt'gen Korinthos, er samt den Kindern?5 (6) Eines von ihnen war Periander, der seinen Vater in der Herrschaft ablöste. So hieß Periander also bei den Göttern König, von den Griechen aber wurde er der Weise genannt. Niemals hat ein König oder Tyrann einen größeren Namen bekommen, nicht einmal Antiochos 6, der den Beinamen der Göttliche, nicht einmal Mithridates 7 , der den Beinamen Dionysos trug. Auch Pittakos von Mytilene mag sich gerühmt haben, beide Namen zugleich zu besitzen, den des Alleinherrschers und den des Weisen. Aber so, wie die Dinge standen, sagte er der Herrschaft ab, als er sich den zweiten Namen zulegte 8 • Periander jedoch, der sich den Titel des Weisen mit wenigen, den des Alleinherrschers mit vielen teilte, war als einziger Alleinherrscher und Weiser zugleich. (7) Zu ihm also war Solon gekommen und in die Hausgemeinschaft aufgenommen worden, denn gemeinsam ist das Eigentum von Freunden. Indes, ein Standbild wurde ihm nicht gesetzt, und zwar wohl kaum deswegen, weil er keinen Wert darauf gelegt hätte. Wie stolz war er doch auf seine Statue in Salamis! Warum sollte nicht auch in Korin th, der Promenade von Hellas, eine stehen? Auch der Historiker Herodot kam hierher, um euch über Griechenland und besonders über Korinth noch nicht gefälschte Berichte vorzulegen, wofür er eine Belohnung von der
AN DIE KORINTHER 53 0 Stadt erwartete. Als er aber in diesem Punkt nicht zum Ziel kam, denn eure Vorfahren hielten es rur unter ihrer Würde, Ruhm käuflich zu erwerben, änderte er die allgemein bekannten Berichte über Salamis und Adeimantos ab 9 • (8) Mich aber saht ihr bei beiden Besuchen so gerne, daß ihr mich am liebsten gleich hierbehalten hättet. Doch da ihr die Unmöglichkeit einsaht, ließet ihr wenigstens ein Abbild von mir anfertigen, es in die Bibliothek bringen und an vorderster Stelle aufrichten im Glauben, das werde für die Jugend der beste Anreiz sein, sich denselben Studien zu widmen, wie ich es getan habe. Damit habt ihr mir eine Ehre erwiesen, die ihr nicht jedem der unzähligen, die Jahr für Jahr in Kenchreai anlegen, nicht jedem Kaufmann, Festgast, Gesandten oder Reisenden erweist, sondern nur einem lieben Freund, der sich nach langer Zeit endlich wieder einmal sehen läßt. (9) Doch Ehre, dem Traume vergleichhar, sie schwehet davon wie auf F/üge/no I. Daher bin ich ratlos, nicht nur mir selbst, auch, bei Gott; jedem anderen gegenüber, und frage mich, ob ich nicht richtig gesehen und das alles nur im Traum, nicht im Wachen erlebt habe oder ob das ganze - die Begeisterung des Volkes und der Beschluß des Rates - mit allen Einzelheiten so geschehen ist und das Standbild nur ein Werk des Daidalos war, das uns unbemerkt entlaufen ist I l • (10) Aber seit dem Tod des Daidalos hat es bis zum heutigen Tag kein Künstler fertiggebracht, dem Erz die Fähigkeit des Fortlaufens mitzuteilen. Wohl schreiten die Statuen kräftig aus, oder die Betreffenden reiten sogar auf Pferden, aber sie alle bleiben in dieser Haltung an Ort und Stelle. Wenn man sie nicht verrückt - die Bronze von sich aus kann nicht weglaufen, selbst wenn sie wie der Perseus des Pythagoras U geflügelt wäre. (Il) Aber nehmen wir einmal an, es sei ein altes Werk des Daidalos. Was muß in es gefahren sein, daß es eure Stadt ver-
AN DIE KORINTHER 37. 11- 1 4] 53 1 lassen hat, um die sich doch, wie man hört, sogar zwei Götter gestritten haben, Poseidon und Helios, der eine Herr über das Feuer, der andere Herr über das Wasser? Beide riefen zum Schiedsrichter in ihrem Streit einen dritten, älteren Gott an, welchem eigneten zahllose Köpft und zahllose Hiinde. '3 Diesem Gott also überließen sie die Entscheidung und bekamen beide diese Stadt und dieses Land zugesprochen - sicher kein geringer und zweifelhafter Beweis für die Sonderstellung unter den anderen Städten. (12) Denn jene übrigen Städte gehören als Anteil und Besitz jeweils nur einem Gott, Argos etwa der Bera, Athen der Athene. Und die Götter, von denen ich gerade sprach: Helios besitzt Rhodos, Poseidon Onchestos, Korinth aber gehört beiden. Nach den Andeutungen, die der Mythos macht, kann man wohl vermuten, daß aufPoseidons Wunsch der zwischen zwei Meeren gelegene Landstrich von Helios besonders ausgezeichnet wurde. (13) Mythos und Geschichte nun, die in diesem Punkte etwa übereinstimmen, berufen als dritten die prophetische Sibylle in ihr huldreiches Trio. Da sie als besondere Auszeichnung die Stimme eines Gottes bekommen hat, singt sie laut und vernehmlich: Glücklicher Isthmos, wie ruhmvoll gesegnet hist du, Ephyra, Ozeans Tochter, Land, allwo meiner Mutter Lamia Vater, Poseidon, als erster die Spiele vereint mit He/ios richtete aus, doch allein die Ehren davontrug. (14) Wie man erzählt, sind hier auch von den beiden Göttern die ersten Wettspiele veranstaltet worden, wobei Kastor über 200 Meter, Kal:üs über 400 Meter gesiegt habe; auch Kalals soll nämlich am Lauf teilgenommen haben, ohne Zuhilfenahme seiner Flügel 14 • Und da ich schon einmal davon angefangen habe, muß ich auch die anderen Kämpfer und Sieger nennen: Orpheus im Zitherspiel, Herakles im Allkampf, im Faustkampf Polydeukes, im RingkampfPeieus, im Diskuswerfen Telamon,
AN DIE KORINTHER [37. '4.-17 53 2 im Waffen tanz Theseus. Auch ein Pferderennen war ausgeschrieben: Mit dem Rennpferd siegte Phaeton, mit dem Viergespann Neleus. (15) Ferner fand eine Regatta statt, aus der die «Argo» als Siegerin hervorging; nach ihrem Sieg fuhr sie nicht mehr zur See, sondern Iason weihte sie an Ort und Stelle dem Poseidon und trug eine Inschrift ein, die auf Orpheus zurückgehen soll: Argo bin ich, das Schiff, das Iason dem Gotte geweiht hat, Sieger im Isthmischen Kampf,jichtenbekrän'Zt das Haupt. Wo aber Götter Wettspiele veranstalten, Halbgötter siegen und besiegt werden, Argo ihren Ruheplatz gefunden hat - welchen schöneren Ort hätte Daidalos in eigener Person auf seinen Schwingen ausfindig machen können, und gar erst sein Werk! (16) Nein, mein Standbild ist nicht weggelaufen, noch hat es den Versuch gemacht oder überhaupt daran gedacht. Es bleibt also nur übrig, daß die Korinther selbst es vertrieben haben, ohne gerichtliche Untersuchung und ohne ihm überhaupt etwas vorwerfen zu können. Aber hätte das jemals einer von den Korinthern geglaubt, deren Vorfahren mehr als alle übrigen Griechen die Gerechtigkeit pflegten? Oder waren nicht sie es, die in den Städten die Tyrannis stürzten und die Demokratie einsetzten, die auch Athen von seinen Tyrannen befreiten, ( 17) zunächst von Hippias, später von Kleomenes I S ? Und dann, als die Athener selbst die Rolle des Hippias und Isagoras übernahmen und die Tyrannis über Griechenland errichten woll ten, waren die Korinther da nicht die ersten, die begriffen, was vor sich gin g, und besonders schmerzlich davon betroffen waren; die die übrigen den Weg in die Freiheit führten und nicht nur gegen die Athener, sondern auch gegen die Spartaner diese Gesinnung bewahrten? So traten sie im Interesse der gemeinsamen Rechte Griechenlands zusammen mit der Bürgerschaft von Theben und Elis den Spartanern entgegen' 6 und bewiesen damit, daß sie nicht nur das Gute, sondern die Griechen insge-
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samt, Recht und Freiheit liebten, daß sie das Schlechte und die Tyrannis haßten. (18) Und die Perser haßten sie sogar so sehr, daß sie vierhundert von ihren eigenen Soldaten zu den Thermopylen schickten, als die Spartaner dreihundert Mann dorthin entsandten. Dann zeichneten sie sich bei Salamis aus und waren am Sieg entscheidend beteiligt. Ich halte mich dabei nicht an Herodot, sondern an das Grabmal und an Simonides, der folgende Inschrift Hjr die auf Salamis bestatteten korinthischen Gefallenen verfaßt hat: Fremdling, wir wohnten einst in Korinth, dem wasserreichen; Salamis hält uns jetzt, das einst den Aias gebar. Leicht bezwangen wir die phönikischen Schiffe und schlugen Perser und Meder zurück, heiligem Hellas zum Schutz. '7 (19) Noch ein anderes Epigramm, das sich besonders auf den Befehlshaber bezieht, stammt von Simonides: Dies ist das Grab des berühmter! Adeimarltos, dank dessen ,reisung Hellas der Freiheit Kranz setzte sich auf sein Haupt. '8 Schließlich waren es ebenfalls die Korinther, die Sizilien von der Fremdherrschaft, Syrakus von seinen Tyrannen befreiten 19 • Da konn te man - welch herrlicher An blick! - Dionysios in Korinth sehen, Herr über nichts mehr. Trotzdem aber vergriff sich niemand an ihm, niemand dachte daran, ihn zu verbannen oder ihm seinen aus Sizilien mitgebrachten Besitz zu rauben. (20) Wer aber hat das von der Stadt gestiftete Denkmal umgestürzt? Gewiß war es nicht ein Wirbelwind, ein Unwetter oder ein Blitzstrahl, der darüber herfiel und es mit einem Donnerkeil erschütterte. Wenn es wegen des Standbildes einen Entscheid gegeben hat, wie es in Syrakus der Fall gewesen·sein soll -aufweiche Weise, will ich ohne Bedenken schnelldazwischen c schieben: Den Syrakusanern, euern Siedlern, waren während der vielen Kriege gegen die Karthager und die anderen Fretnclvölker, die in Sizilien und Italien wohnten, Erz und. Gdd.aus'9
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gegangen. (2I) Da beschlossen sie, die Statuen ihrer Tyrannen - sie waren bei ihnen zum größten Teil aus Erz - zu zerschlagen, wenn sich das Volk darüber einig geworden sei, welche der Statuen es verdiene, eingeschmolzen zu werden, und welche nicht. Bei diesem Entscheid blieb, damit ihr auch das wißt, Gelon, der Sohn des Deinomenes, verschont. Alle anderen Standbilder wurden zerschlagen, die des älteren Dionysios ausgenommen, die ihn als Dionysos darstellen. (22) Wenn also auch bei euch ein derartiger Entscheid zustande kommen und jede Statue einer Prüfung unterzogen werden soll, oder besser, wenn ihr annehmen wollt, die Sache sei gewissermaßen schon beschlossen und es laufe jetzt die Verhandlung, so gestattet mir, bitte, gestattet mir, in dieser Angelegenheit vor euch die Verteidigung zu übernehmen, als wären wir vor Gericht. Hohes Gericht! Man sagt, im Laufe der Zeit müsse man mit allem rechnen. Der Mann aber, der vor euch steht, scheint in einer kurzen Spanne als bester der Griechen in Bronze aufgestellt und als deren schlechtester wieder gestürzt worden zu sein. (23) Daß ich hier mit gutem Recht eurer Stadt und allen Griechen zum Besten aufgestellt wurde, daftir könnte ich viele Gründe anführen. Statt dessen will ich euch nur erzählen, was sich in eben jenem Syrakus zugetragen hat. Denn das Beispiel stammt aus einem verwandten Bereich, und vielleicht solltet ihr, wie jene ihre Mutterstadt in Ehren halten, euch eurerseits die guten Leistungen eurer Kolonie zum Vorbild nehmen. (24) Es war also in jenen alten Zeiten, als ein geborener Lukanier seinen Auftrag vor der Volksversammlung auf dorisch ausrichtete. Dariiber erfreut, ließ man ihn nicht unverrichteter Dinge wieder abziehen, sondern gab ihm ein Talent und stellte eine Statue von ihm auf. So erwarben sich die Syrakusaner bei ihren Nachbarn und bei den Dorern dieser Gegend, besonders aber bei den in Italien ansässigen großes Lob, daß sie den Mann so gut und großzügig belohnt hätten im Namen des dorischen
AN DIE KORINTHER 535 Stammes, dessen Sprache er sich so weit angeeignet hatte, daß er sie sprechen konnte. (25) Ist man nun kein Lukanier, sondern ein Römer, nicht ein Mann aus dem Volk, sondern aus dem Ritterstand, hat man sich nicht nur die Sprache, sondern auch die Denkart, Lebensweise und Aufmachung der Griechen angeeignet, und zwar so gekonnt und ausgezeichnet wie kein Römer vor einem und, um der Wahrheit die Ehre zu geben, auch kein Grieche der Gegenwart - denn die besten der Griechen passen sich, wie man sehen kann, den dortigen römischen Verhältnissen an, während man selbst für die Griechen eingenommen ist und dafür Hab und Gut, seine politische Stellung, kurz, alles aufs Spiel setzt, um für all das nur eines zu haben: als Grieche zu gelten und Grieche zu sein - ausgerechnet von diesem Mann sollte kein Standbild bei euch stehen? (26) Eigentlich müßte es in jeder Stadt eins von ihm geben: bei euch, weil er als Römer ganz griechisch geworden ist, so griechisch wie eure Stadt; bei den Athenern, weil er Attisch spricht; bei den Spartanern, weil er mit Hingabe Sport treibt; in allen Städten schließlich, weil er sich der Philosophie verschrieben und schon viele Griechen zum gemeinsamen Studium mit ihm angeregt, ja sogar eine nicht kleine Zahl von Ausländern an sich gezogen hat. (27) Eigens zu diesem Zweck scheint er nämlich von den Göttern ausgeschickt worden zu sein, für die Griechen, daß die Einwohner Griechenlands dafür ein Beispiel hätten, wie gering hinsichtlich eines guten Namens der Unterschied zwischen Erziehung und Geburt ist; für die Römer, damit sie nicht vor lauter Selbstbewußtsein über die Bildung hinwegsehen; für die Kelten, damit im Hinblick auf diesen Mann kein Barbare daran verzweifelt, daß auch für ihn die griechische Bildung erreichbar sei. Aus solchen Gründen etwa - mehr will ich nicht aufzählen, um mich nicht selbst unbeliebt zu machen - hat man meine Statue aufgestellt. (28) Aber es ist nicht dasselbe, ob man über
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die Setzung eines Standbildes oder über seinen Sturz berät. Warum nicht? Weil jeder, der von euch ein Standbild bekommen hat, er mag besser oder schlechter sein, damit bereits das Gewand der Unantastbarkeit angelegt hat und die Stadt ihn schützen muß wie ein Weihgeschenk. So ließen sich zum Beispiel viele Gründe finden, daß der Sophist Gorgias, dazu noch aufeinem hohen Sockel und in Gold gearbeitet, in Delphi nichts zu suchen hat. Aber was spreche ich von Gorgias, wo doch sogar die Thespierin Phryne "dort zu sehen ist, auch sie auf einer Säule wie Gorgias! (29) Meldet man nun seinen Protest sofort an, mag das rechtens und im Sinne des Allgemeininteresses sein. Geht man aber später her und versucht, den Beschluß, jemand ein Standbild zu setzen, wieder rückgängig zu machen, bedeutet das, bei Apollon, ein schweres Unrecht, und keiner der Amphiktyonen hätte dazu geschwiegen. Ist eine Statue un berechtigterweise aufgestellt worden, muß sie, da sie dieses Vorrecht einmal bekommen hat, stehen bleiben, und zwar von dem Augenblick an, da sie ihr Vorrecht bekommen hat. Auch der für ein Jahr gewählte Beamte bleibt, selbst wenn er sein Amt nicht verdient haben sollte, wenigstens das gewählte Jahr im Amt; ebenso muß furein Standbild der Zeitraum gelten, fur den es aufgestellt wurde, das ist die ganze folgende Zeit. (30) Worin unterschiedet ihr euch sonst von Leuten, die ihre Bilder aus Ton machen? Wie könntet ihr euch stichhaltig verteidigen, wenn man von euch Rechenschaft verlangte, warum die Ehrungen bei euch sterblich, die Entehrungen unsterblich seien? Aber nehmen wir einmal an, es sei nichts Schimpfliches dabei, obwohl es unerhört ist. Wie durch und durch närrisch muß eine Stadt sein, deren Statuen wie Früchte jedes Jahr neu kommen! Nicht, damit sie euch sofort wieder verlassen, sondern möglichst lange bei euch bleiben, macht ihr die Standbilder aus Erz, und doch laßt ihr sie noch vergänglicher als Wachsbilder erscheinen. (3 I) Oder, bei Gott, ist es etwa deswegen, weil sich
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die Geehrten später als Schurken entpuppten? Sind siees später erst geworden, spricht das die Stadt nicht frei, denn ihr verleiht eure Auszeichnungen nicht ftir künftige, sondern ftir geleistete Verdienste. Wenn sie es aber vorher bereits waren und nur später entdeckt worden sind - auf welche Weise glaubt ihr euch bei den Griechen eher einen Namen zu machen und den Eifer derer, die euch ihre Dienste leihen wollen, anzustacheln: indem ihr einen Beschluß rückgängig macht oder bei der einmal gefällten Entscheidung bleibt? Ich meine, durch das zweite, denn es verrät den charakterfesten Menschen, während das erste auf Mißerfolge schließen läßt. (32) Noch aber habe ich das Wichtigste gar nicht erwähnt. Wenn es schon sein muß, darf man nicht wegen übler Nachrede, sondern nur mit einem Gerichtsentscheid, und nicht aus dem ersten besten, sondern nur aus dem schwerwiegendsten Grund eine solch große Auszeichnung ftir ungültig erklären. Denn Verleumdung hat selbst aus einem Mann wie Sokrates einen Verderber der Jugend und einen Zerstörer von allem, was, bei den Göttern angefangen, unter Menschen gilt, gemacht. Denn wen hätten die Lästermäuler mit ihren Schmähungen verschont? Sokrates etwa, Pythagoras oder Platon? Haben sie nicht Zeus selbst, Poseidon, ApolIon und die anderen Götter angegriffen? (33) Sogar die Göttinnen, die man noch ehrfürchtiger als die Götter scheuen sollte, nehmen sie aufs Korn. Ihr hört ja, was sie jetzt von Demeter, von Aphrodite und Eos behaupten, und nicht einmal Athene und Artemis lassen sie unangetastet: Die eine zeigen sie nackt vor Aktaion, die andere lassen sie mit Hephaistos schlafen und aus einem Mädchen fast zur Mutter werden. Das wißt ihr alles, und trotzdem wundert ihr euch, daß sich auch gegen diesen Mann hier gehässige Kritik breitrnachte. Ihr vermochte noch keiner, der es im Leben zu etwas gebracht hat, zu entfliehen. Bei ihm nahm sie ihren Ausgangspunkt in dem seinen Reden eigenen Charme
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- oder wie man es sonst nennen soll, was ihr selbst samt Weib und Kind beifällig aufgenommen habt. (34) Wollt ihr euch das nicht überlegen? Wollt ihr euer Gedächtnis nicht fragen, ob er sich bei euch so etwas hat zuschulden kommen lassen? Ihr wohnt doch in einer Stadt, die mehr als alle Städte in Gegenwart und Vergangenheit von Aphrodite 2l begünstigt ist, und trotzdem habt ihr nichts dergleichen gehört, und ich darf wohl getrost sagen, auch kein anderer Grieche. Der Mann, der in Griechenland in einer Atmosphäre beträchtlicher Freiheit und Nachsicht ein anständiges Leben geführt hat, ausgerechnet der sollte sich unter den Augen des Kaisers und der Gesetze" so völlig gewandelt haben? Das wäre ja genauso, wie wenn man behaupten wollte, ein Wettkämpfer nehme sich zusammen, wenn er für sich allein sei, im Stadion aber und dem Kampfrichter gegenüber gestatte er sich alles. (35) Meiner Meinung nach gibt es zwei Arten von Freimut, einmal die des sich seiner Schuld Bewußten, zum anderen die des Richters. War er von der Schuld überzeugt, konnte er volle Genugtuung vom Delinquen ten bekommen; hatte er nur davon gehört, Anzeige erstatten, was er auch tat. Ihr aber habt auf Leute gehört - doch ich will nichts über sie zu meiner Verteidigung sagen, nur: Es wäre richtiger gewesen, sie wären euch gefolgt als umgekehrt. (36) Denn ihr seid zur Zeit, wie das Sprichwort geht, Bug und Heck von Griechenland genannt. Und schon früher, als auch noch einige andere Städte reich und mächtig waren, hießet ihr bei Dichtern und Göttern gesegnet, begütert und was der Namen mehr sind. Jetzt aber, wo der Wohlstand Orchomenos und Delphi verlassen hat, können diese Städte wohl mehr Mitleid, keinesfalls aber mehr Eifersucht als ihr erregen. (37) Soviel über die Stadt. Sie sollte sich bei den Griechen nicht den Vorwurf der Schande zuziehen, wenn man nämlich den von euch Verbannten überall gerne aufnimmt, ja ihn einlädt, Gesandtschaften nach ihm schickt und ihn neben vielem
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anderen auch noch durch die Setzung von Standbildern ehrt. Für mich selbst aber und für meine eigene Statue will ich jetzt den Satz anfuhren, den Anaxagoras beim Verlust eines Sohnes gesagt hat: «Ich wußte, daß ich einen Sterblichen gezeugt habe.» Ich wußte ja, daß jede Statue zwar für die Ewigkeit errichtet wird, aber, so oder so, irgendeinem Schicksal zum Opfer fällt, vor allem dem allgemeinsten und gerechtesten, das alle Dinge erwartet: der Zeit. (38) Der Dichter aber, der das folgende Epigramm schrieb, war ein eitler Prahler - es soll auf dem Grabmal des Midas stehen: Eherne 1ungfrau bin ich und steh auf dem Grabe des Midas. Hier will ich bleiben, solange das Wasser fließt und die Bäume wachsen empor, an diesem Ort auf dem tränenbenetxterl Grab und künden dem TYandrer: Midas liegt hier begraben.'3 (39) Aber, Mädchen, das du von dir selbst bindest, den Dichter vernehmen wir, dich aber und das Grab des Midas suchten wir und fanden euch nicht. Jene Wasser fließen noch, noch blühen die Bäume, aber mit der Zeit werden auch sie wohl wie alles andere vergehen, wie Midas, wie das Mädchen. Hippaimon war der Name des Mannes, das Pferd war Podargos, Lethargos war der Hund, Babes der Diener genannt. 24 Welcher Grieche weiß noch etwas von Hippaimon, von dem Pferd ganz zu schweigen? Ich glaube, nicht einmal in Magnesia, woher Hippaimon stammte, kennt man ihn noch. Verschwunden ist er aus dem Gedächtnis der Menschen mitsamt Babes und Podargos. (40) Andere Standbilder sind stehen geblieben, und man kennt sie noch, ihre Inschrift aber bezieht sich auf eine andere Person. Es ist fast so wie beim Antispast'5 in der Dichtung, und die Künstler, könnte man sagen, stellen Widersprüchliches dar: das Wesen eines Griechen, das Schicksal eines Römers. So sah ich einmal den schönen Alkibiades, den Sohn des Kleinias ich weiß nicht mehr wo, aber es war an einem schönen Ort in
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Griechenland: Er trug die Inschrift « Chalkopogon»'6. Einer anderen Statue von ihm, sie galt als Werk des Polykies, waren beide Hände abgehauen - bei Erde und Sonne, ein en tsetzlicher Anblick, dieser verstümmelte Alkibiades! (4I) Ferner ist mir bekannt, daß Harmodios und Aristogeiton'7 nach Persien verschleppt wurden, daß I500 Statuen des Demetrios von Phaleron·8 an einem einzigen Tage von den Athenern alle ohne Ausnahme umgestürzt worden sind. Ja die Athener waren sogar frech genug, ihre Nachttöpfe über König Philipp auszuleeren! Sie überschütteten sein Standbild mit Urin, wie er ihre Stadt mit Blut, Asche und Staub überschi.ittet hatte'9 • In der Tat war es empörend, ein und denselben Mann bald unter die Götter, bald nicht einmal mehr unter die Menschen gerechnet zu sehen. (42) Wo ich also wußte, daß die Menschen nicht einmal Götter verschonen, hätte ich da erwarten sollen, daß ihr euch aus der Statue eines Menschen etwas macht? Von den anderen will ich lieber nicht sprechen, aber den Isthmier 3°,den Herrn über eure eigenen Wettspiele, hat Mummius von seinem Sockel gezerrt und dem Zeus geweiht. Welche Geschmacklosigkeit, den eigenen Bruder als Weihgeschenk fur Zeus! Wahrhaftig, ein Mensch ohne jede Bildung und Kultur! Philipp, den Sohn des Amyntas, den er sich aus Thespiai besorgte, schrieb er aufZeus um, die Jünglingsgestalten aus Pheneos auf Nestor und Priamos. Das römische Volk aber-und das ist es ja gerade-glaubte, diese Heroen in eigener Person vor sich zu haben, und sah doch nur Arkader aus Pheneos. (43) Über so etwas kann man nur lachen. Allen Ernstes aber, das fällt mir gerade ein, muß ich Agesilaos, den König der Spartaner, wegen der von ihm vertretenen Meinung glücklich preisen. Er weigerte sich standhaft, eine Plastik oder eine sonstige Darstellung von sich machen zu lassen, nicht etwa weil er lahm war, wie es heißt, und von kleiner Figur - das Standbild
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541 31 hätte trotzdem groß sein und wie der Hephaistos des Euphranor gesunde Füße haben können. Nein, Agesilaos wußte nur zu gut, daß man das Schicksal eines Menschen nicht verlängern und den Körper nicht in Stein oder Erz den Gefahren der Zukunft aussetzen soll. Wäre es doch möglich, auch vom Körper noch befreit zu sein! (44) Fort mit Daidalos und seinen kunstreichen Nachbildungen! Wir haben genug an Prometheus, genug am Ton 32 ! Heißt es doch, auch der Körper sei den edlen Seelen etwas Fremdes, da viel noch dazwischenliege 33 zwischen Seele und Leib. Denn wer nicht ist, den kümmert auch nicht der leidende Körper. Kambyses war von Sinnen, als er den Leichnam des Ägypterkönigs Amasis durchstechen und geißeln ließ34. Denn nach der Behauptung der Ägypter hatte Amasis die Grausamkeit des Kambyses schon seit längerem mit Argwohn betrachtet und deshalb seinen eigenen Leichnam verbergen und dafür einen anderen unterschieben lassen, und dieser soll es gewesen sein, an dem Kambyses seine Wut ausließ. (45) Aber, ihr Ägypter und Kambyses, ob es nun ein anderer war, der dieses Schicksal erlitt, oder Amasis selbst - es war ein Gebilde ohne Blut, ohne Fleisch, ohne Seele. Das magst du, wenn du Lust hast, zerren, reißen und stechen, Amasis hast du nicht bekommen. Ein anderer, der noch lebte, atmete und bei Bewußtsein war, rief: «Zerstampf, zerstampf nur den Balg des Anaxarchos, denn den Anaxarchos zerstampfst du nicht!» Dieser Mann war in einen Mörser geworfen worden, und als man mit den Keulen auf ihn einhieb, sagte er, nicht er werde zermalmt, sondern nur das an ihm, was er um sich herum habe 3s . So heißt es ja auch von den vornehmsten Persern, nicht ihr Körper, sondern ihr Gewand werde geschlagen 36 • (46) So wenig also macht es den Persern aus, und ein Grieche ließ seinen Körper schlagen, als wäre er ein Gewand. Ich aber sollte
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mein Standbild nicht zum Einschmelzen hergeben, selbst wenn es etwas davon spüren könnte? Nun ist es zwar über jede Empfindung erhaben, jedoch - mit der Laodameia des Euripides: Ich gebe den Geliebten, auch den toten, niemals preis. 31 Also will ich ihn trösten, wie wenn er das spüren könnte. « DustummesAbbild meiner Reden, bist du nicht mehr sichtbar? Auch Aristeas ist es nicht mehr, der vor dir lebte. Denn ihn, der mir gleich war, ereilte dasselbe Schicksal. Das Volk von Prokonnesos stellte ihn auf, seine Gegner ließen ihn verschwinden. Auch von Aristeas verbreiteten eben diese Gegner das Gerücht, es sci nirgends zu finden, weder lebend noch tot 38 • Aber damals, heute undin alle Ewigkeit lebt Aristeas. (47) Später, denk' ich, wird mancher unser gedenken,39 hat Sappho wunderschön gesagt. Und noch viel schöner sagt Hesiod: Keinerlei Kunde geht völlig verloren, die zahllose Völker streuten in alle Lande. Ist sie doch selbst eine Göttin. 40 Ich will dich wieder aufstellen in der Nähe dieser Göttin, von wo dich niemand mehr herunterstürzen wird, kein Erdbeben, kein Sturm, kein Schnee, kein Unwetter, kein Neid, kein Feind - schon sehe ich dich vor mir stehen. Vergessenheit hat schon manchen getäuscht und betrogen, die Gesinnung der Guten aber noch niemand, und deshalb stehst du aufrecht wie ein Mensch vor mir.» 38.
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ÜBER DIE EINTRACHT MIT NIKAIA
(I) Männer von Nikomedia! Wenn ich die Gründe durchgehe, die euch veranlaßt haben könnten, mir das Bürgerrecht zu verleihen - ich sehe nicht, daß ich besonders reich wäre, und so kann ich nicht glauben, daß ihr euch aus finanziellen Gründen
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um mich bemüht habt. Auch wüßte ich nicht, die Gabe, das Volk zu umschmeicheln, zu besitzen, so daß ihr auch nicht zu diesem Zweck auf mich als auf einen bereitwilligen Diener aller eurer Launen Wert zu legen scheint. Und schon gar nicht bin ich ein Zechgenosse und Kumpan bei derartigen Zusammenkünften, um damit die Massen unterhalten zu können. Wenn ich mich in der Meinung, weshalb eure Wahl auf mich gefallen ist, nicht irre und ich eine richtige Vorstellung habe von dem, was ich fur euch leisten kann, so bleibt für die Verleihung des Bürgerrechtes nur der eine Grund, daß ich vielleicht mehr als andere zur Beratung in Fragen des öffentlichen Interesses bereit und befähigt bin. (2) Sollte das nicht der Fall sein, seid ihr in euren Bemühungen um mich fehlgegangen, mich aber hätte die Hoffnung, eurer Stadt einen Dienst zu erweisen, offensichtlich umsonst verleitet, euren Ruf anzunehmen, da ihr mich nicht zu dem verwendet hättet, wozu ich einzig tauge. Wenn alle Städte, ganz besonders aber die großen reiche Leute brauchen, die die öffentlichen Feierlichkeiten finanzieren und in diese herkömmlichen Spenden ihren Ehrgeiz setzen; wenn sie Schmeichler brauchen, um sich an deren Redekünsten zu ergötzen; wenn sie schließlich auch Ratgeber brauchen, um durch eine richtige Politik in Sicherheit zu leben, so will auch ich mich nicht bedenken, durch meinen Rat der Stadt in den wichtigsten Angelegenheiten nach Kräften zu nützen. (3) Nun gibt es bei euch unter anderem eine ganze Anzahl Erscheinungen, die abgestellt werden müßten. Ich will sie der Reihe nach behandeln, vorausgesetzt, daß ich, wenn ich die Wahrheit sage, wenigstens in den wichtigeren Fragen euer Vertrauen finde. Wie kommt es aber, was ist meine Absicht, daß ich nicht mit dem weniger Wichtigen beginne und darin die Bereitschaft des Volkes, auf mich zu hören, auf die Probe stelle, sondern es vorziehe, sofort aufs Ganze zu gehen, indem
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ich euch in der wichtigsten Frage einen Rat gebe? Weil es mir viel leichter zu sein scheint, jemand in den dringendsten Angelegenheiten als in unbedeutenderen Nebensächlichkeiten zu überzeugen. Im einen Fall kann man sich über den daraus entstehenden Schaden hinwegsetzen. Wer aber nicht bereit ist, sich in Dingen, ohne die er gar nicht leben kann, überzeugen zu lassen, der wird doch erst recht nicht zuhören wollen, wenn es um weniger Wichtiges geht. (4) Daß ihr mir nun, wenn ihr meinen Rat ruhig anhört, recht gebt in dem Punkt, zu dessen Beratung ich hier stehe, da bin ich ganz zuversichtlich. Die Schwierigkeit besteht nur darin, ihr könntet meine Ausführungen zu diesem Thema für lästig, überflüssig oder unangebracht halten. Damit ihr mir nun nicht mit solchen Einwänden kommt: «Was gibst du uns Ratschläge in einer Sache, die wir überhaupt nicht beraten ?», «Was fällt dir ein, das Wort, das wir dir nicht erteilt haben, eigenmächtig zu ergreifen?», «Wo wir so viele Männer haben, die sich mit Politik befassen, Einheimische und Eingebürgerte, Redner und Philosophen, Alte und Junge, warum hat es noch niemand gewagt, uns diesen Rat zu geben?» - (5) um also diesen Einwänden zuvorzukommen, möchte ich euch bitten, Männer von Nikomedia, mir den Gefallen zu tun und eine überflüssige, unangebrachte und euch keineswegs überzeugende Rede in Ruhe anzuhören. Ich glaube, diese Gunst ist nicht einmal besonders groß. Wenn ihr euch überzeugen laßt, verdient es der Mann, der nur zu eurem Besten spricht, gehört zu werden; woll t ihr aber auf keinen Fall hören, was ist dann schon dabei, einem Freund das Wort erteilt zu haben, der willens ist, auch zu tauben Ohren zu sprechen? Was ist es denn nun aber, worin ich euch raten möchte und das zu nennen ich Bedenken habe? Das Wort bedeutet nichts Unangenehmes, ihr Nikomeder, weder im Hausstand noch in der Verwandtschaft, in der Freundschaft, unter Städten und
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Völkern. (6) Über die Eintracht will ich sprechen - ein schönes Wort und eine schöne Sache. Sobald ich aber hinzufuge, auf wen sich die Eintracht bezieht, muß ich fürchten, daß ihr zwar fest daran glaubt, an sich sei sie etwas Schönes, daß ihr sie aber mit jenen Menschen, mit denen ihr meines Erachtens in Eintracht leben solltet, für unmöglich haltet. Denn gerade das ist es ja, was die gegenseitige Feindschaft heraufbeschworen hat und bis zum heutigen Tag keine Freundschaft hat aufkommen lassen, diese unbegründete Überzeugung, zwischen euren Städten könne keine Eintracht bestehen. Bitte, geratet nicht außer euch, wenn ich von neuem beginne, und hört mich ruhig an! (7) Männer von Nikomedia, ich bin der Meinung, ihr solltet mit den Leuten von Nikaia in Eintracht leben. Hört mich an und seid nicht schon empört, bevor ich gesagt habe, weshalb! Auch der Kranke wird nicht zornig auf den Arzt, wenn er ihm eine Behandlung verordnet; wohl macht es ihm kein Vergnügen, vom Arzt zu hören, daß er geschnitten und gebrannt werden muß, trotzdem fugt er sich, da es um Leben und Tod geht. Aber wozu erwähne ich dieses Beispiel! Mein Heilmittel, das ich den Städten anbiete, ist das angenehmste Mittel, ohne das ein Mann mit gesundem Menschenverstand überhaupt nicht leben möchte. (8) Ich will meine Rede unterteilen und zunächst ganz allgemein darüber sprechen, worauf Eintracht beruht und welche Folgen sie hat, dann, wenn ich der Freundschaft Zwietracht und Feindschaft vergleichend gegenübergestellt habe, darlegen, daß in eurem Fall die Eintracht zwischen diesen beiden Städten für euch ebenso notwendig wie nützlich ist; sobald nämlich nachgewiesen ist, daß Eintracht für alle Menschen förderlich ist, ergibt sich das zweite aus dem ersten ganz von selbst. Ich werde auch. nicht unterlassen darzulegen, wie sie Bestand haben kann, wenn sie einmal vorhanden ist; denn ich
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sehe, daß sich viele auch über dieses Problem Gedanken machen. (9) Ich bitte alle Götter, eure und ihre, wenn ich jetzt allein aus Sympathie für euch rede, ohne persönlichen Ruhm oder Vorteil aus eurer gegenseitigen Versöhnung zu erhaschen, und vor allem, wenn es der Stadt zum Besten gereichen sollte, mich die richtigen Worte finden zu lassen und eure Ohren zu öffnen für meine heilsamen Ratschläge. (ro) Die Eintracht haben aUe Menschen zu jeder Zeit in Wort und Schrift gepriesen, die Werke der Dichter und Philosophen sind voll von Preisliedern auf sie, alle, die ihre Geschichtsstudien veröffentlicht haben, um ein Beispiel fUr die Praxis zu geben, haben sie als das größte Gut der Menschen hingestellt, und selbst die Sophisten, von denen viele schon merkwürdige Behauptungen aufzustellen wagten, haben das eine sich noch nicht beifallen lassen, zu verkünden, daß Eintracht nichts Schönes und Heilbringendes sei. Ob man sich nun heute oder wann immer sonst anschickt, sie zu preisen, stets hat man eine Fülle Material zur Verfugung und kann jedesmal noch mehr und besser darüber sprechen. (Il) Will jemand sich mit ihrer Herkunft befassen, muß er ihren Ursprung auf die größten göttlichen Dinge zurückfUhren. Denn sie ist Freundschaft, Versöhnung, Verwandtschaft in einem und schließt das alles in sich. Was verbindet die Elemente untereinander anders als Eintracht? Sie ist es, wodurch alles Große besteht, ihr Gegenteil, wodurch alles vergeht. Wären wir Menschen nun nicht ein sterbliches Geschlecht und mUßten nicht viele Mächte sein, die uns den Untergang bringen, dann gäbe es bei den Menschen keine Zwietracht, genausowenig wie sie es bei den Göttern gibt. Worin allein wir hin ter der göttlichen Glückseligkeit und dem unzerstörbaren Sein der Götter zurückbleiben, das ist eben die Tatsache, daß wir nicht alle ein Organ fUr die Eintracht haben, sondern zum Teil ihre Umkehrung, die Zwietracht, lieben, deren Bestandteile
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und Werkzeuge Kriege und Kämpfe sind; und diese wühlen unter Gemeinden und Völkern wie Krankheiten im Körper. (IZ) Obwohl wir genau wissen, daß die Gesundheit zu den kostbarsten menschlichen Gütern gehört, untergraben wir sie selbst nur allzuoft zu unserem eigenen Nachteil, indem wir der Genußsucht erliegen oder uns vor einer gesunden Anstrengung und einer vernünftigen Lebensweise scheuen. Wenn nicht den größten Übeln dieses Lockmittel, die Lust des Augenblicks, zu Gebote stünde, hätten sie überhaupt keine Macht, uns zu schaden; nun aber hat die Natur ihnen dieses Mittel gegeben, so daß sie ihre Opfer durch das Vergnügen verfuhren können. (13) Und was man besonders ungern dabei sieht: Alle Übel machen den Menschen zu schaffen, obwohl die Menschen über das Übel Bescheid wissen. Fragte man einen einzelnen oder eine ganze Menge, unter welchen Begriff solche Dinge wie Krieg, Zwietracht, Krankheit und dergleichen zu rechnen seien, käme ohne Zögern die An twort: zu den Übeln. Und sie sind es nicht nur, sie werden auch dafür gehalten und so genannt. (14) Und bei ihrem Gegenteil, bei Frieden, Eintracht und Gesundheit, würde niemand bestreiten wollen, daß sie Güter sind und auch so heißen. Aber trotz dieses so offenkundigen Kampfes zwischen Gut und Schlecht gibt es einige oder, besser, viele unter uns, die sich an den Übeln freuen, obwohl sie sie als Übel erkannt haben. Wie ist es etwa bei einem Schiff? Alle Mitf.lhrenden wissen genau, daß es nur eine Rettung für sie gibt, die Eintracht der Matrosen und der Gehorsam dem Steuermann gegenüber, daß aber, sobald Streit und Meuterei sich an Bord erheben, häufig auch die günstigen Winde für das Schiff ins Gegen teil umschlagen und der schon ganz in der Nähe befindliche Hafen verfehlt wird. Trotzdem aber kommt es vor, daß der Unverstand die Matrosen zur Meuterei treibt. Das bedeutet dann den Untergang. Dabei hätten die Matrosen seine Ursache genau angeben können!
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(15) Im Hausstand hängt das Wohl und Wehe von der Einträchtigkeit der Herren und dem Gehorsam der Diener ab; trotzdem aber haben die Uneinigkeit der Herren und die Schlechtigkeit der Dienerschaft schon manches Haus zugrunde gerichtet. Welche Rettung gibt es fUr einen Wagen, wenn die Pferde nicht mehr nebeneinander laufen wollen? Haben sie erst einmal begonnen, uneins nach verschiedenen Seiten zu zerren, muß der Wagenlenker zwangsläufig in Gefahr kommen. Die gute Ehe - was ist sie anders als Einmütigkeit zwischen Mann und Frau? Die schlechte Ehe - was anders als Uneinigkeit zwischen beiden ? Welchen Nutzen haben Eltern von ihren Kindern, wenn sich die Kinder in ihrem Unverstand gegen sie aufzulehnen beginnen? Was ist Brüderlichkeit anders als die Einmütigkeit von Brüdern? Die Freundschaft anders als die Einmütigkeit von Freunden? (16) Das alles aber ist nicht nur gut und schön, es bereitet auch das größte Vergnügen. Das Gegenteil davon ist nicht nur ein Übel, es bringt auch Unannehmlichkeiten, und trotzdem ziehen wir es häufig dem besten Vergnügen vor. So hat man zum Beispiel schon trotz der gewaltigen Unterschiede Krieg statt Frieden gewählt, nicht etwa weil das Kriegführen besser, angenehmer oder gerechter wäre, als Frieden zu halten, sondern um der Macht oder der Freiheit willen, um Land zu erwerben, wenn man keins hatte, oder um sich die Herrschaft zur See zu verschaffen. Obwohl nun so große Kampfpreise winkten, haben doch viele schon auf einen Krieg verzichtet, da sie ihn fur ein Übel hielten und er nicht verdiene, den größten Gütern vorgezogen zu werden. (17) Aber ohne Grund Krieg zu führen und zu kämpfen, ist das nicht der helle Wahnsinn, der einen ins Verderben rennen läßt? Wir Menschen hassen die Raubtiere vorwiegend deshalb, weil wir in einem ewigen, unversöhnlichen Krieg mit ihnen liegen. Viele aberund auch unter uns sind einige - behandeln die Menschen wie
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wilde Tiere und finden Vergnügen an dem Kampf gegen ihr eigenes Geschlecht. Ja nicht einmal die Zeichen der Götter nehmen wir wahr, mit denen sie uns belehren und kundtun, daß wir in Eintracht miteinander leben sollen. (18) Manche Herolde, sagt man, kämen von den Göttern, weshalb bei uns der Friede auch durch Herolde verkündet wird, während Kriege in der Regel nicht von Herolden ausgerufen werden. Unbewaffnet verhandeln sie mit Bewaffneten über den Frieden, und niemand darf sich an ihnen vergreifen, weil alle, die in einem freundschaftlichen Auftrag kommen, Boten der Götter sind. Rücken zwei Heere zum Kampf gegeneinander an und erscheint plötzlich ein Zeichen am Himmel oder bebt die Erde, so machen die Soldaten auf der Stelle kehrt und ziehen sich zurück, da die Götter ihren Kampf nicht billigen. (19) Ein göttliches Zeichen zum Kampf dagegen nimmt man allgemein nicht an. Ferner tun wir, sobald Frieden geworden ist, alles, was dem Menschen Freude macht und ein Zeichen seines Glückes ist: Wir schmücken uns mit Kränzen, bringen Opfer dar und feiern Feste. Genau umgekehrt ist es im Kriege - wie in Zeiten der Trauer: Wir schließen uns hinter den Türen ein, haben vor allem Angst und überlassen uns der Verzweiflung. Dann weinen die Frauen über ihre Männer, die Kinder über ihre Väter, als weinten sie über das größte Unglück. (20) Werden wir von einer Pest oder von einem Erdbeben heimgesucht, überhäufen wir die Götter mit Vorwürfen, weil sie die Urheber des Elends seien, das über die Menschen kommt, und behaupten, sie seien weder gerecht noch liebten sie die Menschen, selbst wenn sie uns vollkommen zu Recht für die schwersten Vergehen bestrafen. So groß ist unser Haß auf jedes Unglück, das uns ohne unser Zutun trifft. Den Krieg aber, dessen vernichtende Wirkung nicht geringer ist als die eines Erdbebens, wählen wir selbst und machen den Menschen, die ihn vom Zaun gebrochen, keine Vorwürfe, wie wir sie im
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anderen Fall den Göttern machen j vielmehr halten wir sie für Freunde des Volkes, hören sehr gern aufihre Worte und befolgen ihre Ratschläge. Statt ihnen zu vergelten, was sie uns angetan haben - Vergeltung wäre aber Auge um Auge, Zahn um Zahn -, überschütten wir sie mit Dank, Ehre und Lob. Deshalb müßten sie schon gewaltige Dummköpfe sein, wenn sie diejenigen schonten, die ihnen für ihr Unglück noch dankbar sind. (2I) Zunächst, Männer von Nikomedia, wollen wir nun die Ursachen eurer Uneinigkeit ins Auge fassen. Sind sie so gewichtig, daß es sich lohnt, Krieg zu führen - aber nicht solch einen kurzen, der mit Waffen geführt wird und als Trost die Aussicht auf eine schnelle Entscheidung hat, sondern einen langen Krieg ohne Ende, so daß er noch auf Kinder und Kindeskinder übergeht, ohne jemals auf Aussöhnung hoffen zu lassen -, dann laßt uns kämpfen und streiten und uns g.egenseitig drangsalieren, so gut wir können, und uns darüber ärgern, daß unsere Mittel nicht größer sind. Wenn aber der Preis für solche Mühsal ein reines Nichts und das, was dafür gilt, so gering und unbedeutend ist, daß es sich nicht einmal für einen einzelnen, geschweige denn für solch mächtige Städte lohnt, darum zu streiten, wollen wir lieber auf der Hut sein, daß es uns nicht geht wie törichten Kindern, die sich nur sclnver mit Vater oder Mutter aussöhnen, weil sie nicht den Eindruck erwecken wollen, ihre Wut sei unbegründet gewesen. (22) Nun, um Land oder Meer kämpfen wir gewiß nicht, zumal euch die Leute von Nikaia das Meer nicht streitig machen und der Fall zu aller Zufriedenheit geregelt ist, so daß kein Grund für eine kriegerische Auseinandersetzung vorliegt. Auch über die Einnahmen brauchen wir nicht zu streiten, denn jedem genügt, was er sein eigen nennt. Auch diese Frage ist also, genau wie jede andere, entschieden - in Frieden und Freundschaft, möchte ich sagen. Ferner gibt es einen Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen, Ehen werden ge-
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schlossen zwischen beiden Städten und haben so schon zahlreiche Familienbande zwischen ihnen geknüpft, wir genießen das staatliche Gastrecht' und haben persönliche Freunde. Ihr glaubt an dieselben Götter und feiert den größten Teil der Feste wie sie, in Sitten und Gebräuchen gibt es ebenfalls keinen Streit. Das alles ist also nicht Grund zur Feindschaft, sondern im Gegenteil zur Freundschaft und Eintracht - trotzdem aber kämpfen wir. (23) Träte nun jemand vor euch hin und fragte: «Was haben euch denn die Leute von Nikaia getan?», so wüßtet ihr nichts zu sagen. Fragte er umgekehrt die Nikaier: «Was haben euch die Nikomeder getan ?», so hätten auch sie nicht das geringste zu antworten. Aber da ist ein Preis ausgesetzt, um den ihr streitet. Was fur ein Preis ist das? Er gehört nicht zu den Dingen, die zu nennen und anzuerkennen sich lohnte, für deren Verfechter man Verständnis hätte. Nein, was es wirklich ist, darf man weder sagen noch anerkennen. So sieht es damit aus, so unerheblich, so alltäglich ist es, daß sich vielleicht Dummköpfe darüber ereifern könnten, aber niemals Männer mit gesundem Verstand. (24) Die Leute nämlich, die euch zum Streit aufrufen - aus welchen Gründen, das auseinanderzusetzen ist wohl kaum meine Aufgabe -, die also daran ihre Freude haben, kommen immer nur mit dem einen Gerede: «Wir kämpfen um den Vorrang.» Genau diesen Leuten will ich nun die Gegenfrage stellen: «Um welchen Vorrang? Bringt er euch wirklich einen praktischen Vorteil, oder geht der Kampflediglich um einen Namen?» Auch schon in früheren Zeiten, höre ich sagen, sei eben dies Anlaß für die Uneinigkeit der Griechen gewesen. So hätten Athener und Spartaner um die Vorherrschaft gekämpft. (25) Daß aber auch ihnen Streit und Krieg nichts nützte, sondern heide im Kampf um die Vorherrschaft diese einbüßten, das wißt ihr alle selbst, und vielleicht werde ich auch noch gleich darauf zu sprechen kommen. Aber was soll das? Sind denn
AN DIE NIKOMEDER 55 2 beide Fälle vergleichbar, daß man sich daraufberufen könnte? Die Athener führten Krieg, um den Tribut von den Inselbewohnern zu bekommen, sie kämpften, damit in ihrer Stadt die Prozesse von allen Griechen geschlichtet würden, oder allgemein ausgedrückt: Zwischen jenen Städten ging der Kampf um die Herrschaft. (26) Wenn wir aber die Vormachtstellung kampflos bekommen, weil Nikaia sie uns überläßt, wollen wir die Steuern, die zur Zeit jene einziehen, etwa selbst verlangen? Werden wir die Städte, die ihrer Gerichtsbarkeit unterstehen, hierher vor Gericht zitieren? Ihnen Kontrolleure schicken? Wollen wir ihnen die von den Bithyniern entrichteten Abgaben beschneiden? Oder was soll geschehen? Was soll unser Vorteil dabei sein? Ich jedenfalls bin der Meinung, daß sich die Menschen bei all ihren Unternehmungen nicht umsonst und aufs geratewohl abmühen, sondern ihr Kampf stets einen Zweck hat. (27) Wer Krieg führt, kämpft um seine Freiheit, wenn andere ihn unterwerfen wollen, oder für seine Herrschaft, wenn er selbst andere unterwerfen will. Wer zur See fährt, unternimmt nicht eine planlose Irrfahrt, sondern begibt sich in Gefahr um einer Besorgung oder eines Geschäftes willen. Um nicht alle Beispiele zu nennen - kurz, wir Menschen tun alles um eines guten Endes willen und vermeiden die entgegengesetzten Handlungen wegen ihres schlechten Ausgangs. Sich ohne Grund einzusetzen und abzumühen, das ist allein Sache der Toren. (28) Wollte ein kleiner Bürger, der über sich selbst genau Bescheid weiß, seinen Ehrgeiz dareinsetzen, König genannt zu werden, würde er, ganz entgegen seinen Vorstellungen, ausgelacht, weil er sich einen falschen Titel ohne die nötigen Voraussetzungen zugelegt hat. Und bei allen anderen Dingen ist es genauso: wenn jemand als Flötenspieler gelten will, ohne die Flöte spielen zu können, als Musiker, ohne etwas von Musik zu verstehen, als Zitherspieler, wenn er nicht einmal das Instrument richtig anfassen kann. Nichts hindert uns
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daran, diese Leute für verrückt zu erklären. Wir selbst aber glauben, wenn wir irgendwo als die Ersten angeschrieben sind, auch die Ersten zu sein? (29) Was ist das denn für ein erster Platz, Nikomeder? Ich frage euch zum zweiten und zum dritten Male: Was fur einen Nutzen bringt er, was für einen praktischen Vorteil? Werden wir durch ihn reicher, größer oder mächtiger? Im Wahn zu leben gilt als Dummheit schon bei gewöhnlichen Leuten, und darüber lachen wir am meisten. Wir verachten diese Menschen und haben schließlich nur noch Mitleid für sie übrig, weil sie den Unterschied zwischen Wahn und Wahrheit nicht kennen. Kein Mensch, der etwas auf sich hält, läßt sich so weit auf den Wahn ein, daß er etwas Dummes begehrte. Von einer ganzen Stadt jedoch soll man sagen, sie dürfe tun, was nicht einmal ein einzelner, wenn er Stolz und Achtung vor sich selbst hat, tut? (30) Mit einem Wort: Wenn euch jemand fragte: «Männer von Nikomedia, was wollt ihr? Wirklich die Ersten sein oder nur so genannt werden, ohne es zu sein ?», so würdet ihr doch einstimmig antworten: «Lieber es sein als ohne Grund so heißen.» Denn Namen haben nicht die Macht von Fakten; wie aber etwas in Wirklichkeit ist, so wird es zwangsläufig auch genannt. (3 r) Versucht also, unter den Städten an erster Stelle zu stehen, zunächst dank der Fürsorge, die ihr ihnen angedeihen laßt, denn das ist eure ganz besondere Aufgabe als Mutterstadt; dann auch dadurch, daß ihr selbst euch gegen alle gerecht und maßvoll zeigt, in nichts mehr haben wollt als sie und keine Gewalt anwendet. Sonst nämlich beschwört ihr notwendig Haß und Feindschaft herauf, zumal die von Natur Schwächeren die Stärkeren in Verdacht haben, sie wollten sie um jeden Preis übervorteilen. Ist das dann wirklich der Fall, wird ihre Feindseligkeit nur um so berechtigter angestachelt. (32) Ihr könnt den Städten in weit größerem Umfang helfen als sie euch, vor allem und am tatkräftigsten wegen des Meeres.
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An allen seinen Erträgen haben sie teil, das eine gewährt ihnen euer Entgegenkommen - aber nicht nur einige wenige, die ganze Stadt sollte öffentlich dieses Entgegenkommen zeigen-, das andere schmuggeln sie selbst ein, und wieder anderes erbitten sie sich jedes mal von neuern. Zwar schlagt ihr niemals ihre Bitten ab, aber allein schon die Tatsache, auf Bitten angewiesen zu sein, ist bedrückend. Wenn ihr den Gemeinden, die Tag für Tag um das Allernotwendigste bitten, auch an diesen ganzen Rechten teil gebt, ist dann nicht mit Sicherheit zu erwarten, daß ihr als ihre Gönner noch höher in ihrer Achtung steht? Zugleich werdet ihr damit auch die Eintracht, die überall hindringen wird, festigen. (33) Versucht ferner, den Verwaltern der Provinz Respekt einzuflößen, indem ihr stets deutlich zu erkennen gebt, daß es euch nicht genügt, wenn ihr allein gut verwaltet werdet, sondern daß euch das ganze Volk der Bithynier etwas angeht und ihr über Übergriffe an anderen nicht weniger empört seid als über solche an euch selbst. Sucht man bei euch hilfeflehend Zuflucht, helft bereitwillig und ohne Unterschied! Das wird euch den wahren Vorrang verschaffen, nicht der Streit mit den Nikaiern um leere Worte. (34) Natürlich möchte ich, daß sich auch die Leute von Nikaia danach richten - sie werden es tun, wenn ihr euch erst einmal geeinigt habt - und eure Macht durch diese Verbindung noch größer wird. Ist die Eintracht hergestellt, werdet ihr an der Spitze aller Städte stehen, und die Statthalter werden es sich etwas genauer überlegen, ob sie sich an euch vergreifen wollen. So aber, wie die Dinge jetzt liegen, triumphieren die anderen Städte wegen eurer Uneinigkeit. Sie glauben nämlich, ihr wäret auf ihre Hilfe angewiesen - und ihr seid es ja auch wegen der gegenseitigen Auseinandersetzungen. Es geht euch wie zwei gleich angesehenen Männern, die auf der politischen Bühne ihre Kräfte messen. Sie müssen allen schmei-
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cheln, auch wenn diese noch so weit unter ihnen stehen. (35) Die Folge davon: Während ihr um die Vorherrschaft kämpft, ist die Vorherrschaft womöglich in der Hand derer, die von euch hofiert werden. Denn es ist doch undenkbar, daß die Betreffenden nicht haben sollten, was ihr von ihnen zu bekommen gedenkt. Daher ist es unbedingt notwendig, daß die Städte ihre Stellung wieder einnehmen, wie es andererseits recht und billig ist, daß sie euch brauchen, nicht ihr sie. Dementsprechend möchte ich euch auffordern, euch ihnen gegenüber nicht tyrannisch, sondern, wie ich eben schon andeutete, milde und maßvoll zu betragen, damit eure Vormachtstellung nicht als Last empfunden wird, trotzdem aber Vormachtstellung ist und gern gesehen wird. (36) Wie es mit den Statthaltern heutzutage bestellt ist- was soll ich darüber vor Wissenden sprechen! Oder merkt ihr tatsächlich nicht die drUckende Übermacht, die eure Uneinigkeit den Machthabern in die Hände spielt? Um gleich ein Beispiel anzuführen: Jeder, der sich an eurem Volk vergreifen will, erscheint hier, weil er genau weiß, wie er es anfangen muß, um der Strafe zu entgehen. Entweder verbUndet er sich mit der Partei der Nikaier, dann hat er ihre Gruppe als Helfershelfer oder er wählt die Partei der Nikomeder, dann wird er von euch gedeckt. Keine der beiden Seiten liebt er, die eine scheint er zu lieben, an allen aber begeht er ein Unrecht. Damit kommt er durch, weil die Betreffenden glauben, sie allein würden von ihm geliebt. (37) Sie' haben euch aber vor aller welt zu Dummköpfen gestempelt und behandeln euch wie kleine Kinder, denen man nicht selten Minderwertiges als das Kostbarste anbietet: Weil sie den wahren Wert nich t kennen und auch am Kleinsten ihre Freude haben, sind sie entzückt von einem Nichts. So machen sie es auch mit euch. Statt Gerechtigkeit zu üben, statt eure Städte zu schonen und den Bürgern Hab und Gut zu lassen, statt euch vor Übergriffen und Mißhandlungen zu
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schützen, bieten sie euch Titel an und nennen euch mündlich oder schriftlich « Erste» - um euch fortan ohne Risiko als die Letzten zu behandeln. (38) Denn derlei Dinge, auf die ihr euch etwas einbildet, werden bei allen vernünftigen Menschen verachtet. Zumal bei den Römern rufen sie Gelächter hervor, man tu t sie - ein noch größerer Hohn - als « griechische Dummheiten» ab. In der Tat, ihr Männer von Nikomedia, es sind Dummheiten, aber keine griechischen, es sei denn, man wollte sie gerade in dem Sinn griechisch nennen, wie jene Athener und Spartaner sich damals den Ruhm streitig machten. Aber ich sagte wohl schon an früherer Stelle, daß ihre Auseinandersetzungen nicht leerer Wahn waren, sondern daß es bei ihnen wirklich um Macht ging. Ihr werdet doch heutzutage nicht annehmen wollen, sie hätten um die Frage, wer den Festzug anführen dürfe, so wacker gestritten, wie man bei einer bestimmten Art von Mysterien zum Schein mit etwas, das einen nichts angeht, kämpft. (39) Wenn der Titel « Mutterstadt» euer besonderes Vorrecht ist, ihr aber die erste Rolle mit andern teilt, was verliert ihr dabei? Ich möchte sogar die Behauptung wagen, daß ihr, selbst wenn ihr alle Titel verlört, in Wirklichkeit nichts verloren hättet. Was würdet ihr denn erwarten? Daß sich dann das Meer von eurer Stad t zurückzieh t, daß euer Land kleiner wird, daß eure Einnahmen zurückgehen? Wart ihr schon einmal im Theater? Aber was frage ich! Fast jeden Tag seht ihr Schauspieler in tragischen Rollen und all die andern, die nur zum Vergnügen und Ergötzen aufdie Bühne zu kommen scheinen, den Zuschauern aber, die der Handlung folgen, Gewinn bringen. Glaubt ihr nun, dort gebe es einen wirküchen König, Tyrannen oder Gott? (40) Und doch haben sie alle diese Titel und heißen Menelaos und Agamemnon, und nicht nur die. Namen haben sie von Göttern und Helden, auch deren Masken und Kostüme, und sie geben wie ihre Vorbilder eine Menge Befehle. Ist das Spiel aber vorbei, gehen sie weg als ein Nichts.
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Will jemand der Erste heißen - nun, er heiße! Ist jemand der Erste, so ist er der Erste, mag auch jemand anders so heißen. Denn Titel bürgen nicht nir Tatsachen, wohl aber Tatsachen fur Titel. (41) Ferner denkt bitte auch an folgenden Ertrag eurer Eintracht. Jetzt hat jede Stadt nur ihre eigenen Einwohner; seid ihr aber ausgesöhnt, werden auch die Einwohner der anderen Stadt die euren sein und umgekehrt. Ferner könnt ihr Einsatzwillen und Dienstbereitschaft - denn auch darauf ist eine Stadt angewiesen - doppelt rechnen. Habt ihr einen gewaltigen Redner - er wird auch jenen von Nutzen sein. Gibt es dort einen reichen Mann - er wird auch hier eine Menge finanzieren. Ganz allgemein wird niemand, der eine führende Stellung in der Stadt nicht verdient, deswegen bei euch zu Ansehen kommen, weil er gegen Nikaia spricht, noch umgekehrt in Nikaia, weil er gegen euch spricht. Auch wird niemand mehr, der sich als Schurke entpuppt und Strafe verdient, sich ihr entziehen können, indem er sich von hierher dorthin flüchtet oder von dort hierher. (42) Wie es aber zur Zeit aussieht, liegen eure beiden Städte gleichsam auf der Lauer, und die eine gewährt jedem, der gegen die andere etwas unternommen hat, Asyl. Käme dagegen die Eintracht zustande, müßten die Bürger entweder tüchtige und rechtliche Leute sein oder Bithynien verlassen. Ihr seid stolz auf eure unverhältnismäßig große Bevölkerung - ihr werdet noch zahlreicher sein. Ihr glaubt, genügend Land zu haben - ihr werdet mehr als genug haben. Mit einem Wort: Wenn alles zusammengelegt wird, die Bodenerträge und eure Gelder, Verdienst und Einfluß der Männer, verdoppelt sich alles aufbeiden Seiten. (43) Das Ziel, aufdas alle menschlichen Handlungen ausgerichtet sind, die Freude, wird unbeschreiblich groß sein. Beseitigt ihr alles, was euch schwer zu schaffen macht, Neid und Eifersucht und als ihre Folgen Uneinigkeit, eure gegenseitigen böswilligen Pläne, eure Freude
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am Unglück des Nachbarn, euren Verdruß über seine Erfolge; laßt ihr dafUr das Gegenteil in die Städte einziehen, gemeinsame Nutznießung der Güter, Eintracht und die Freude beider Städte über dieselben Dinge,wäre das alles nicht wie ein großes Volksfest? (44) Bedenkt es auch von dieser Seite! Wenn euch Nikomeder ein Gott vor die Wahl gestellt hätte, ob ihr nur eure eigene Stadt oder auch die der Nikaier besitzen wolltet, wäre euch das nicht als ein geradezu unwahrscheinlich großes Glück vorgekommen? Hättet ihr nicht alle möglichen Gelübde abgelegt, um seiner habhaft zu werden? Aber gerade das, was so unwahrscheinlich aussieht, kann jetzt Wirklichkeit, Nikaia euer und das Eurige das Ihrige werden. (4S) Wir bewundern Brüder, die vollkommen gemeinsam ihren Haushalt fUhren und das väterliche Erbe nicht kleinlich geteilt haben. Noch mehr freilich wird ihr Reichtum bewundert, der gerade deswegen größer ist, weil er nicht geteilt wurde und weil nicht jeder die Hälfte vom ganzen Vermögen bekommen hat, sondern das Ganze offensichtlich beiden gehört. Überdies sieht jedermann in ihnen treffliche und rechtliche Menschen, eben wahre Brüder. Wenn nun dieser Geist der Brüderlichkeit auch in den Städten herrscht, sollte das nicht ein noch größerer, schönerer und reicherer Segen sein? (46) Diese Brüderlichkeit sollte schon deswegen erreicht werden, weil beide Städte gemeinsame Ahnen und gemeinsame Götter haben, die dort wie hier auf die gleiche Weise verehrt werden. Das ist es nämlich, worüber man eigentlich am meisten betrübt sein müßte: daß wir alles gemeinsam haben, Ahnen und Götter, Bräuche und Feste, daß zwischen den meisten sogar noch persönliche Verwandtschaften und Freundschaften bestehen und daß wir trotzdem wie Griechen gegen Perser streiten oder, was zu eurem Verhalten noch besser paßt, wie Menschen gegen wilde Tiere. (47) Wollt ihr euch keines Blickes würdigen? Wollt ihr euch nicht anhören? Sollen sich
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eure Städte nicht die Hand reichen, wobei ihr den Anfang macht? Wollt ihr nicht Frieden schließen und dann das Gut von beiden gemeinsam besitzen? Möchtet ihr nicht gern davon Gebrauch machen? Wenn man doch auch das Volk der Epheser zu euren Brüdern machen könnte! Wenn doch auch Smyrna sich euch anschlösse! (48) Aber alle diese segensreichen Güter gebt ihr preis um eines einzigen Wortes willen. Welch großen Vorteil! Was für einen erfreulichen Gewinn! Doch daß die Aussöhnung der Städte von Nutzen wäre und daß die Zwietracht euch bis jetzt keinen Vorteil gebracht hat; welchen Segen man sich von der Eintracht versprechen darf und welche Übel euch die Feindschaft einbringt, das ist deutlich genug von mir gesagt worden. (49) Indes bleibt die Feststellung noch übrig, daß nach eurer Aussöhnung das alles auch Bestand haben wird. Denn schon jetzt gibt es Leu te, die an diesem Punkt Bedenken haben, und ich nehme ihnen den Grund ihrer Befürchtung sogar ab, wenn sie so sprechen, weil sie sich wirklich nach der Eintracht sehnen und nur fürchten, sie könnte wieder zerstört werden, nicht aber, wenn sie diese Ausrede benutzen, um im Gegenteil eine Aussöhnung von vornherein zu vereiteln. Das größte und sicherste Pfand für den Fortbestand eurer Eintracht sei ihr Nutzen. Schon allein der theoretische Nachweis ihres Nutzens scheint euch zu überzeugen. Wie sollte da die Praxis nicht eine noch festere Überzeugungskraft haben? (50) Außerdem verlasse ich mich auf euer zähes Festhalten an der Tradition. Wenn nämlich schon die Uneinigkeit, ein solch gewaltiges Übel, allein durch die Macht der Gewohnheit sich so lange hat bei euch halten können, warum sollte man nicht auch damit rechnen können, daß eure Aussöhnung, die doch soviel angenehmer und gerechtfertigter ist, durch die Gewohnheit noch stärker wird? Natürlich wird man auch auf die kleinen Dinge ein Auge haben müssen, vor allem auf jene verrufe-
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nen Leute, falls sie euch wieder gegeneinander ausspielen sollten. Hört nicht auf sie, denn sie verfolgen nur ihre eigenen Ziele und wollen sich selbst wieder einmal ein Vergnügen machen. Und laßt euch durch Kleinigkeiten nicht aufbringen! (SI) Schließlich dürfen wir erwarten, daß auch die Götter mehr als auf alles andere auf die Erhaltung der Eintracht bedacht sind. Ich habe nämlich den Eindruck, als ob auch dieser Anfang bereits ihr Werk sei und daß ich ohne sie nicht dcn Mut aufgebracht hätte, über ein solch heikles Thema vor euch zu sprechen, über das zuvor noch keiner, weder jung noch alt, gesprochen hat. So ist es angebracht, jetzt noch einmal zu ihnen zu beten. Anfangs bat ich sie, sie möchten eure Ohren ftir mein Anliegen öffnen; jetzt, da mein Wunsch in Erfüllung gegangen zu sein scheint, bleibt mir die Bitte übrig, sie möchten stets über eure guten Beschlüsse wachen. 39. DIE EINTRACHT IN NIKAIA. NACH DER BEILEGUNG DES BÜRGERZWISTS
(I) Gern sehe ich mich von euch geehrt, denn es ist ganz natürlich, daß sich ein gesund empfindender Mensch freut, wenn er von einer guten und bedeutenden Stadt wie der eurigen geehrt wird. An Macht und Größe steht sie keiner Stadt nach, die durch den Adel ihrer Herkunft und durch die Größe ihrer Bevölkerung in aller welt einen Namen hat; denn die angesehensten Familien kamen nicht in kleinen, unbekannten Gruppen von da und dort hierher, sondern waren die Ersten unter Griechen und Makedonen. Was aber die Hauptsache ist: Heroen und Götter sind die Gründer eurer Stadt. (2) Hat man nun Götter zu Gründern, ist Friede, Eintracht und Freundschaft untereinander erstes Gebot. Denn einer Stadt, die beweisen will, daß die Geschichte ihrer Abstammung wahr und nicht eitle Erfindung ist, bringt es keine Ehre, wenn
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sie nicht mit großen Gütern gesegnet und den Göttern lieb ist, wenn sie den anderen an Erfolg nicht ein gutes Stück voraushat. Die göttlichen Gründer, Stammesverwandten und Ahnherren wünschen sich bei den Ihrigen nämlich weder Schönheit des Landes noch Reichtum der Ernte noch Überschuß der Bevölkerung so sehr wie Maß, Tüchtigkeit, gesetzliche Verwaltung, Ehrung der guten und Verachtung der schlechten Bürger. (3) Auch ich freue mich in diesem Augenblick, da ich sehe, daß ihr eine Kleidung tragt, eine Sprache sprecht, die gleichen Ziele habt. Welcher Anblick wäre denn schöner als der einer einträchtigen Stadt? Wovon könnte man Erhabeneres hören? Welche Stadt könnte bessere Beschlüsse fassen als die, die sie gemeinsam faßt? Welche käme leichter zum Ziel als die, die gemeinsam handelt? Welche hätte weniger Mißerfolg als die, die gleiche Ziele verfolgt? Wem wären Hab und Gut köstlicher als den Einträchtigen? Für wen wäre das Leid leichter zu tragen als für die, die es wie eine Last gemeinsam tragen? Wer gerät seltener in Schwierigkeiten als Menschen, die aufeinander achthaben ? (4) Welche Stadt könnte ihren Bürgern lieber sein? Welche unter den Fremden geachteter? Welche den Freunden nützlicher? Welche von den Feinden mehr gefUrchtet? Wessen Lob gilt als glaubwürdiger, wessen Tadel als verdienter? Wer steht den Machthabern an Ehre näher? Vor wem haben sie mehr Achtung? Wen schätzen die guten Herrscher so sehr? Wen verachten die schlechten weniger? Liegt es nicht auf der Hand, daß nicht nur die Machthaber, sondern auch die Götter den einträchtig Gesinnten Gehör schenken, während die Uneinigen nicht einmal sich selbst hören? Auch bei Chören, die nicht zusammenstimmen, versteht man kaum ein Wort, genausowenig wie bei Städten, die sich nicht einig sind. (s) Welche Schönheit der Gebäude, welche Ausdehnung des Landes, welche Höhe der Einwohnerzahl könnten die Macht eines Volkes mehr ausweisen als die Eintracht untereinander?
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Denn wie viele Bürger in einer einträchtigen Stadt leben, so viele Augen sehen auf ihr Bestes, so viele Ohren hören auf sie, so viele Zungen raten ihr, so viele Gedanken kümmern sich um sie. Es ist genauso, wie wenn ein Gott einer so großen und menschen reichen Stadt eine einzige Seele gegeben hätte. Umgekehrt nützen weder Überfluß an Reichtum oder an Menschen noch eine andere Macht etwas, wenn man in Uneinigkeit lebt, im Gegenteil, das alles gereicht eher zum Schaden: je größer der Überfluß, desto größer und verhängnisvoller der Verlust. Es ist, denke ich, wie beim Körper. Der gesunde zieht Vorteil aus seiner Größe und Leibesfülle, während rur den kranken und leidenden eine solche Konstitution äußerst bedenklich ist und die akuteste Gefahr hervorruft. (6) Ähnlich ist es bei einem Schiff auf See. Herrscht zwischen Steuermann und Mannschaft Eintracht, ist es sicher und bringt auch die Passagiere sicher ans Ziel; wenn nicht, wird sich der Sturm zwangsläufig um so verhängnisvoller auswirken und eine um so größere Panik hervorrufen, je mehr Segel gesetzt sind. Dieselbe Beobachtung läßt sich auch bei einem Wagen machen. Kann der Wagenlenker die Zügel richtig halten und sind die Pferde verträglich und gehorsam, besteht die Hoffnung, daß ein solches Gespann bei einem Wettkampf siegt, im Krieg heil durchkommt; sind die Pferde aber störrisch und wild, ist die Gefahr um so größer, je stärker und schneller die Pferde sind '. (7) So dienen auch einer einträchtigen Stadt alle diese Dinge zum Besten, Überfluß an Hab und Gut, die große Zahl der Bevölkerung, Ehre, Ansehen und Macht; ist sie aber uneins, ist das alles unnütz und vom Übel - wie wenn man auf einem Fleck, in ein einziges Gehege eingezwängt, eine große Zahl von wilden Tieren oder Vieh hielte und sie sich gegenseitig stießen, träten und eins auf das andere spränge. Wäre ich nun gesund, würde ich nicht schließen, bevor ich nicht mein Thema, so gut ich es vermöchte, zufriedenstellend
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zu Ende geführt hätte. Jetzt aber interessieren euch vielleicht andere Dinge mehr, und ich selbst bin der Größe meiner Aufgabe längst nicht gewachsen. (8) Das Kürzeste und Nützlichste bleibt mir da nur noch zu sagen, ein Wort an die Götter, die wohl wissen, was der mit leiser Stimme Redende sagen will. Denn auch das beweist vielleicht eine äußerst wohlwollende Gesinnung, wenn ein guter Vater seine Kinder mahnt, soweit er es vermag, wo aber seine Überredungskunst nicht ausreicht, die Götter fLir sie bittet. So fiehe ich denn zu Dionysos, dem Ahnherren dieser Stadt, zu Herakles, der diese Stadt gegründet hat, zu Zeus, dem Schirmer der Städte, zu Athene, zu Aphrodite, der Stifterin der Freundschaft, zu Eintracht, Nemesis und all den anderen Göttern, sie möchten vom heutigen Tag an dieser Stadt liebende Zuneigung zu sich selbst, eine Überzeugung, ein Wollen und Denken einhauchen, Zwietracht, Streit und Eifersucht aber verbannen, damit sie fortan zu den gesegnetsten und besten gerechnet werden möge.
40. REDE ÜBER DIE EINTRACHT MIT DEN APAMEERN, gehalten in der HeimatJtadt
(I) Bürger! Ich hatte gedacht, wenn schon nicht früher, so doch jetzt wenigstens, nach meiner Heimkehr, mich ganz der Muße hingeben zu können und weder mit noch gegen meinen Willen eine öffentliche Aufgabe zu übernehmen. Zum einen sehe ich nämlich unterjüngeren und Älteren nicht wenige, die bereit und fähig sind, mit Hilfe der Götter stets für die Stadt zu sorgen und eure Interessen gebührend wahrzunehmen; denn weder an Worten noch an Taten lassen sie es fehlen und haben außerdem Erfahrung in eurem Verwaltungsbetrieb, während sie mich, um der Wahrheit willen muß es gesagt werden, mit Argwohn betrachten: ich könnte als Fremder, der hier nichts zu suchen hat, einigen Unwillen erregen. (2) Zum
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andern, denke ich, sollte ich auch auf meinen durch die zahllosen Entbehrungen stark angegriffenen Körper und auf die völlig zerrütteten häuslichen Verhältnisse, die, seit langem heruntergekommen, immer noch keine Besserung erfahren haben, Rücksicht nehmen. Denn wenn schon die sich hinziehende Abwesenheit des Hausherrn ausreicht, um auch das größte Hauswesen zu ruinieren, was muß man da erst bei so vielen Jahren der Verbannung erwarten! Deshalb hätte auch keiner damit gerechnet, daß ich heil wieder zurückkäme euch ausgenommen, weil ihr eine übergroße Sympathie für mich hegt. Freilich, solange mir nur Armut drohte, war noch nichts zu befürchten. Denn mit ihr hatte ich schon ganz gute Bekanntschaft geschlossen auf meinen langjährigen Irrfahrten ohne Dach und Herd, ohne jeden Begleiter. Auch von meinem Sohn habe ich nicht erwartet, daß ihm Armut etwas ausmachen werde, denn er ist nicht von schlechterem Schrot und Korn als ich. (3) Aber es geht zwischen uns jetzt darum, die Vaterstadt nich t zu betrügen und das Versprechen I, das ich ganz aus freien Stücken gegeben habe, nicht zu brechen - es ist allerdings nicht leicht einzulösen und mit recht großen finanziellen Opfern verbunden -, LInd das ist in meinen Augen eine schwierige Sache, die sorgfältige Überlegung erfordert. Denn nichts bedrückt einen mehr als solch eine Verpflichtung, fur keine Schuld zahlt man höhere Zinsen als für ein solches Anerbieten. Gerade das ist jene häßliche und bittere Art des Darlehens, glaube ich, wenn das Anerbieten durch verzögerte Zahlung zur Schuld wird, die in jedem Fall diejenigen, die schweigen, noch dringlicher einfordern als die lauten Schreier. (4) Denn nichts kann euern Schuldnern derartige Schulden nachdrücklicher ins Gedächtnis zurückrufen, als daß ihr sie vollkommen vergessen habt. Aus diesem Grund hiel t ich es für meine dringlichste Aufgabe, mich meinen häuslichen Angelegenheiten zu widmen und jede politische Tätigkeit sein zu lassen, ja nicht
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einmal eine Rede zu halten, bis ich, wie der Dichter sagt, festgestell t hätte, was mir in meinem Hause schlecht und was besser bestellt ist. (s) Bis jetzt nämlich hatte ich infolge meiner außerordentlich starken Beanspruchung ftir diese Dinge kaum einen Augenblick Zeit. Ich hätte deshalb nur mit euch zusammenkommen, euch begrüßen, den Göttern opfern und natürlich auch, was unbedingt notwendig war, den Brief des Kaisers' vorlesen, dann aber mich sofort zurückziehen und mich meinen eigenen Angelegenheiten zuwenden sollen. Statt dessen sprach ich über ein bestimmtes Vorhaben - nicht nur ich selbst, auch die Prokonsuln zeigten großes Interesse, vielleicht weil sie euch, vielleicht auch weil sie mir einen Gefallen erweisen und die Stadt in einen besseren Zustand bringen, überhaupt ihr mehr Ansehen geben wollten. Ihr wißt ja wohl, wie wir bis dahin gerade in diesen Dingen noch hinter unseren Nachbarn zurückgeblieben waren. (6) Meine Rede fand damals die begeisterte Zustimmung des Volkes, denn ihr seid nicht spießbürgerlich und für so etwas durchaus empfänglich, und viele Bürger machten meinen Plan zu ihrer Ehrensache. Später dann, als ich euch den Plan wiederholt im Rathaus und im Theater 3 vorlegte, um ja keinen Anstoß zu erregen, falls ihr das Vorhaben nicht gutheißen oder dagegen sein solltet - mir ahnte bereits, wieviel Zeit es mich kosten würde -, wurde er immer wieder ohne den geringsten Einspruch von euch so gut wie von den Prokonsuln gebilligt. (7) Und dann, als das Werk begonnen war: Alle Arbeit, die ich selbst hatte mit Messen und Einteilen und Berechnen, damit das Vorhaben nicht häßlich und unpraktisch werde - in andern Städten verfallen zahlreiche Gebäude wieder, weil sie nicht richtig geplant sind; wie ich schließlich zu meinem Unglück auch noch in die Berge ging4, obwohl ich in diesen Dingen keine Erfahrung besaß und an sonstiger Arbeit 20
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keinen Mangel hatte, im Gegenteil, anderes, vielleicht noch Wichtigeres hätte tun können, womit ich mir nicht nur bei euch einen Namen gemacht hätte - all das will ich jetzt nicht einzeln erzählen, denn nichts ist mir schwer geworden, was ich flir euch auf mich genommen habe. (8) Aber da wurden häufig Bemerkungen laut, zwar nicht bei vielen, aber doch recht unangenehme, daß ich die Stadt untergrübe, daß ich sie geradezu veröden ließe, indem ich die Bürger vertriebe, daß alles zerstört, auf den Kopf gestellt und nichts mehr übrig sei. Einige jammerten laut über die Schmiede des Soundsos und zeigten sich untröstlich, wenn diese Erinnerung an die gute alte Zeit eingerissen werde, wie wenn die Propyläen oder der Parthenon in Athen hätten eingerissen, das Heraion von Samos, das Didymeion von Milet oder der Artemistempel von Ephesos hätte umgelegt werden sollen, (9) nicht eine häßliche, lächerliche Ruine, noch viel niedriger als die Hütten, in denen wohl Schafe Unterschlupffinden, die aber kein Hirte und kein besserer Hund betreten möchte. Ihr selbst wurdet schamrot darüber und wandtet euch ab, als die Prokonsuln hineinzugehen versuchten 6, während jeder, der schlecht auf euch zu sprechen war, darüber triumphierte und lachte - wo kaum die Schmiede aufrecht stehen konnten, sondern in gebückter Haltung arbeiten mußten. Die Hütte konnte nur durch Stützen am Einfallen gehindert werden, unter jedem Hammerschlag erzitterte sie und zeigte Risse. Trotzdem aber gab es Leute, die nur ungern die Zeichen der alten Armut und Bedeutungslosigkeit schwinden sahen. Nicht etwa, daß sie an die zu errichtenden Säulen 7 oder an das Dachgesims oder an die Verlegung der Werkstätten in eine andere Straße gedacht hätten, sie wollten nur nicht, daß ihr euch jemals über sie erhaben dünkt. (ro) Ihr wißt ja wohl, daß Gebäude, Feste, eigene Gerichtsbarkeit, der fehlende Zwang, sich in anderen Städten verhören zu lassen oder mit anderen zusammen seine Abgaben
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zu entrichten, als handle es sich etwa um ein Dorf, daß dieses alles dazu angetan ist, das Selbstbewußtsein einer Stadt zu heben, Geltung und Ansehen der Bürgerschaft bei den sich dort aufhaltenden Fremden und bei den Prokonsuln zu steigern. Alle, die ihre Vaterstadt lieben und nicht befürchten, persönlich durch den Ruf der Stadt jemals in den Schatten gestellt zu werden, haben ihre reine Freude daran. Wer aber die entgegengesetzte Einstellung hat, unter Schwachen etwas gelten will undin der Bedeutung der Stadt nur seine eigene Unbedeutendheit sieht, bei dem ruft es notwendig Verärgerung und Neid hervor. (I I) Einen Schuh muß man wohl sich selbst und seinem Fuß anpassen und, wenn er zu groß zu sein scheint, ringsum kleiner machen. Eine Stadt aber darf man niemals kleiner machen, seinem eigenen Maß anpassen oder nach seinem eigenen Geist messen, wenn er klein und niedrig ist, zumal es gute Vorbilder gibt: Smyrna, Ephesos, Tarsos und Antiocheia. Ich weiß nur zu gut, daß auch früher schon Leute, die das hörten, vor Wut barsten, wenn ihr euch daran gewöhntet, auf derlei Worte zu hören, und es jemand wagte, eure Stadt in einem Atemzug mit solch berühmten Städten zu nennen. (12) Durch solche Reden der Entrüstung, durch Versuche, die Leute von Spenden abzuhalten und die Arbeit zu hemmen, brachte man mich soweit, daß ich mich bald selbst zu freiwilliger Verbannung verurteilt hätte. Denn es war geradezu lächerlich: Nach einer so langen Verbannung, nach so großen Schwierigkeiten, nach der Feindschaft eines Tyrannen 8 war ich hierhergekommen, um auszuruhen und fortan nicht mehr an die überstandenen Strapazen zu denken, gleichsam wider Erwarten durch die freundliche Hilfe eines Gottes dem gefährlich tobenden Meer und Sturm mit knapper Not entgangen. Und hier, bereits im Hafen sozusagen, sollte ich Schiffbruch erleiden! (13) Vor allem aber muß ich mich wundern über die- Schlechtigkeit oder, besser, Dummheit einiger Leute, wenn ich mir
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[40,13-16
vergegenwärtige, was sie, zunächst von eurer Gratulationsgesandtschaft, gefabelt haben. Er 9 habe die Gesandten nicht freundlich empfangen, sondern sei eher verärgert gewesen als ob er ihnen zur Tür hätte entgegenkommen müssen, die Ankömmlinge hätte umarmen, die Namen derer, die noch nicht eingetroffen waren, nennen oder nach diesem und jenem fragen müssen, was sie machten und warum sie nicht alle gekommen seien! (I4) Andere erzählen, er habe die Leute aus Smyrna überreich beschenkt und ihnen unsagbare Reichtümer mit den Bildern der Nemesis 10 geschickt, und beim Himmel, sie meinen, wenn ein anderer mit ihm gesprochen hätte, hätte er ihm zehntausend Ratsherren 11 bewiIIigt, einen Strom von Gold in die Stadt leiten lassen und ihr unzählige Myriaden Geld geschenkt. Aber nichts davon ist wahr, auch wenn ich nichts dagegen hätte. (IS) Zu sehen, wie Menschen in großer Zahl Glück und Erfolg haben, wird einem vernünftigen Mann niemals etwas ausmachen, erst recht nicht, wenn er der erste war, der zum Ziel gekommen ist, und vielleicht sogar den Anstoß dazu gegeben hat 12 • Das wäre ja genauso, wie wenn ich fordern wollte, die Sonne scheine nur für mich allein, nur für mich lasse Zeus es regnen, wehten die Winde und kein anderer dürfe aus den Qgellen trinken. Der Kaiser in seiner Menschenfreundlichkeit und Weisheit ohnegleichen hat mir gewährt, worum ich gebeten hatte, und anderen, worum sie gebeten hatten. (I6) Wozu habe ich das alles angefLihrt, wo ihr euch doch über andere Dinge beratet?'Weil ich der erste gewesen bin, der die Sprache auch aufdieses Thema gebracht und an dieser Stelle schon viele Worte über die Eintracht gesagt hat, überzeugt, daß es fLir die Stadt von unschätzbarem Vorteil ist, mit keinem Menschen in Streit zu leben, am wenigsten aber mit denen, die einem so nahestehen und unsere Nachbarn sind 13. Freilich, ich bin nicht zu ihnen hingegangen und habe kein einziges freund-
4o,16-18J
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liches Wort zu ihnen gesagt, und ich will es nicht tun, bis sich die Stadt nicht offiziell mit ihnen ausgesöhnt hat und ihr wieder Freunde geworden seid. Und doch ließen sie mir gleich zu Beginn einen Entschluß zukommen, in dem sie mich herzlich begrüßten und zu sich einluden. Außerdem gibt es für mich wie für jeden anderen hiesigen Bürger zahlreiche Verbindlichkeiten ihnen gegenüber. Trotzdem aber wollte ich ihnen meinen guten Willen nicht auf eigene Faust bekunden, sondern mit euch gemeinsam ihnen Freund werden. (17) Daher ihr Mißtrauen und ihre Verstimmung. Nun habe ich von euren gegenwärtigen Bemühungen um einen Ausgleich und der sich anbahnenden Freundschaft gehört, und möglicherweise habt ihr euch auch zu diesem Zweck dazu entschlossen, mich einzuladen, in der Erwartung, daß durch meine Mitarbeit alles viel leichter und sicherer zu erreichen sein werde. Auch die Leute von Apameia, die neuerdings nicht nur die sich bei ihnen aufhaltenden Bürger eurer Stadt, sondern unter a11 den anderen auch mich ehren, weil sie auch in mir einen eurer Bürger erblicken, sind vielleicht schon besser auf euch zu sprechen. Trotzdem aber hatte ich keine besondere Eile, denn ich wollte nicht, daß meine Einschaltung zum Stein des Anstoßes werde - nicht für die Apameer, wohl aber ftir gewisse Leute hier. Denn in der Regel richtet sich der Haß nicht gegen die Tat, sondern gegen den Täter. (18) Schon vor Jahren hatte mir die Regierung von Apameia diesen Vorschlag gemacht, und schon damals hätten die Schwierigkeiten behoben werden können. Aber ich befürchtete, einige Leute hier könnten daran Anstoß nehmen und über meine Einmischung ungehalten sein. Auch jetzt habe ich mir, sozusagen absichtlich, Zeit gelassen. Was für die Stadt von mir so gut wie von jedem anderen getan werden kann, das möchte ich lieber ihnen überlassen, damit mir niemand en tgegen treten kann und, auf mich eifersüchtig, sich beleidigt fühlt. Was aber nicht
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[40,,8-2'
leicht von einem der Hiesigen bewerkstelligt werden kann und vielleicht auch zu schwer ist, darauf werde ich immer, solange ich atme, mein Augenmerk richten. Davon dürft ihr überzeugt sein. (I9) Wahrhaftig, jeder, der sich für die Stadt einsetzt und in der Lage ist, euch einen Dienst zu erweisen, wird mich als ersten Zeugen und Mitkämpfer haben, und dieselbe Tat, wenn sie nur recht ist, werde ich noch viellieber und bereitwilliger preisen, wenn jemand anders sie getan hat, als wenn ich den Anstoß dazu gegeben habe. Denn nicht aus Geltungsbedürfnis, aus Mangel an Bewunderern oder aus Ruhmsucht, sondern aus Liebe zu euch möchte ich, daß etwas Rechtes geschehe, und ich fiehe zu allen Göttern, daß ich auf meine alten Tage möglichst viele sehen möge, die der Stadt einen besseren Dienst erweisen können als ich. (20) Was nun euer derzeitiges Vorhaben betrifft, so lobe ich den Vorstand der Stadt und den Initiator des Planes. Denn man kann sagen, jede Art von Feindschaft und Streit, gegen wen sie sich auch immer richten mögen, ist sowohl für die Stadt wie für den einzelnen unter allen Umständen eine mühselige und beschwerliche Sache. Sie sind nämlich dazu angetan, die Schwachen zu der schon vorhandenen Not auch noch bloßzustellen und zu demütigen, die Wohlsituierten aber zu beunruhigen und ihren Geist zu verwirren. Deswegen nehmen vernünftige Menschen lieber eine Niederlage in unbedeutenden Dingen hin und beharren nicht kleinlich auf ihrem Recht, als daß sie sich um jede Kleinigkeit streiten, keinem in irgendeinem Punk t nachgeben und immer n ur Leu te ha ben, die gegen sie sind und sie anfeinden, die ihnen ihre Erfolge übelnehmen und sich ihnen nach Kräften in den Weg stellen, wenn aber ein Rückschlag kommt - und das kann bei uns Menschen schnell der Fall sein -, sich freuen und zum Angriff übergehen. (2I) Denn niemand ist von Natur so schwach und unvermögend, als Mensch gegenüber einem Menschen, daß nicht auch einmal
4o,2I-2-1]
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für ihn die Zeit käme, allein oder mit anderen zusammen seine feindliche, gehässige Gesinnung zu zeigen, etwas zu sagen, womit er den anderen ganz gewiß verletzt, oder etwas auszuhecken, das dem anderen schadet. Denn es gibt auch keine Krankheit, die der von ihr Heimgesuchte nicht spürte, die ihn niemals beeinträchtigte oder bei einem Vorhaben hinderlich wäre; wenn sie schon nicht im Wachen beim Hin- und Hergehen den Kräften des Körpers gewaltig zusetzt, so stellt sie sich doch spätestens beim Zubettgehen ein, macht 1hm zu schaffen und vertreibt den Schlaf. (22) So, behaupte ich, ist es selbst rur die größte Stadt niemals von Vorteil, auch nur mit dem kleinsten Dorf in Feindschaft und Hader zu leben, geschweige denn mit Leuten, die eine nicht unbedeutende Stadt bewohnen, eine ausgezeichnete Verfassung haben und, wenn sie vernünftig sind, bei den Prokonsuln beträchtliches Ansehen genießen und etwas gelten. Ihr müßt die Wahrheit hören und dürft nicht ungehalten sein, wenn jemand, um euch zu nützen, andere lobt. Zu allem übrigen sind sie auch noch eure Grenzund Stad tnachbarn, die nich t nur Tag für Tag bei euch ein- und ausgehen, sondern zum größten Teil durch Familienbande mit euch verbunden sind und bei denen einige eurer Mitbürger, und zwar gerade die einflußreichsten, das Bürgerrecht bekommen haben. Wie könnten wir da annehmen, daß diese Feindschaft kein Leid und keinen Schaden anrichtet! (23) Doch glaube keiner, ich wollte damit sagen, daß man sich ihnen geradezu vor die Füße werfen und sie bitten und betteln solle, wenn sie keine gerechte und annehmbare Entscheidung treffen. Tun sie es aber und zeigen sie sich der Freundschaft aufgeschlossen, so ist es weit schöner, wenn wir uns noch bereitwilliger zeigen und den Ehrgeiz aus den Zeiten der Rivalität auf dieses Ziel übertragen, damit wir als die Leute mit der noch größeren Einsicht dastehen, die Reichtum und eigenen Vorteil noch mehr verachten. (24) Denn es ist nicht
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SO schlimm, in
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den Werken des Hasses, die, bei Gott, nur Feindschaft hervorrufen, dem anderen nachzustehen als in den Werken einer maßvollen und menschenfreundlichen Gesinnung. Im ersten Fall nämlich zieht man sich wahrscheinlich den Ruf eines Schwächlings, im zweiten den eines groben, streitsüchtigen Menschen zu. Wie aber der Ruf der Schwäche besser ist als der der Schlechtigkeit, so ist es auch besser, zum Kampf als zur Versöhnung zu spät zu kommen. (25) Wenn ihr auf mich wahrscheinlich eher hört als auf jemand anders, mag das verschiedene Gründe haben. Aber ihr seht auch, daß ich nicht meine eigenen Interessen verfolge und keine Mühe, kein persönliches Opfer scheuen würde, um für das euch Ersprießliche einzutreten. Denn daß ihr mir gegen meinen Willen keine Last aufbürdet und mir nicht eine Reise auftragt, als wäre ich schon lange Zeit wieder bei euch 14, weiß ich sicher. Überdies glaube ich nicht, euch durch meine Tätigkeit oder durch eine Reise dieser Art lS einen Dienst erweisen zu können. Nein, wie ich schon sagte, ftir alle Menschen, nicht für euch allein ist es meiner Meinung nach besser, nicht leichten Herzens eine Feindschaft, die nicht unbedingt nötig ist, zu beginnen, von früher her noch bestehende Zerwürfnisse aber auf jede Weise, wenn irgend möglich, beizulegen, weil der Schaden, der aus der Zwietracht erwächst, höher einzuschätzen ist als die mi t der Aussöhnung verbundene Ein buße. (26) Denn jeder Friede ist besser als Krieg, wie es heißt, jede Freundschaft fur den Vernünftigen weit zuträglicher und nützlicher als Feindschaft, privat fur eine Familie genauso wie allgemein fur eine Stadt. Frieden und Eintracht nämlich haben ihren Anhängern noch niemals geschadet, dagegen wäre es ein Wunder, wenn Feindschaft und Streitsucht nichtschan unübersehbaren, nicht wiedergutzumachenden Schaden angerichtet hätten. Schon das Wort Eintracht hat eine gute Bedeutung, und mit ihr auch nur einen Versuch Zu machen ist schon für alle der
4°,26-30]
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beste Nutzen. Zwietracht und Streit dagegen sind finstere, häßliche Wörter, noch viel schlechter und finsterer sind ihre Werke. Denn da gibt es viele Dinge zu sagen und zu hören, von denen man lieber nichts wissen möchte, und doch tut und erleidet man sie. (27) Streit und Haß unter so engen Nachbarn aber bedeutet nichts anderes als Spaltung ein und derselben Stadt, wo es zahlreiche Familienbande und Geschäftsverbindungen gibt, wo der eine den anderen fast täglich besucht, wo man verwandt, bekannt und in gewisser Weise einer des anderen Gastfreund ist. Eine benachbarte Stadt, die gehässig und feindselig ist, macht auf alle Fälle Sorgen, und man kann mit ihr nur schlecht auskommen, wie umgekehrt eine wohlgesonnene, befreundete Stadt etwas Vorteilhaftes und Liebenswertes ist. (28) Bedenkt doch, wieviel angenehmer es ist, zu Nachbarn zu kommen, die mit einem auf gutem und nicht auf schlechtem Fuße stehen, wieviel besser, den Gast ohne Mißtrauen empfangen zu können, wieviel vorteilhafter und vernünftiger, bei Volksfesten, kultischen Feierlichkeiten und Schauspielen sich untereinanderzumischen und miteinander zu opfern und zu beten, statt umgekehrt sich zu beschimpfen und zu verfluchen. (29) Dann dieZurufeder beiden Stadtparteien im Stadion und im Theaterwas für ein Unterschied, ob sie Beifall und herzlichen Glückwunsch oder Haß und Schmäh un g bedeu ten ! Das ist doch nich ts rur ordentliche Menschen und vernünftige Städte, eher für freche Dirnen, die aus ihren Zimmern, ohne sich im geringsten zu schämen, unzüchtige Worte rufen, wie es bei Homer heißt: Wütend rannten sie da auf dem Markte mitten 'Zusammen, scheltend eine die andre, der Grimm hieß also 'Zu tun sie. I6 (30) Wieviel ist es wert, davor verschont zu bleiben, wieviel mehrwert, so etwas nicht zu tun! Welche Summe Geldes, welche Fläche Landes könnte es geben, daß vernünftige Menschen ihre alltäglichen freundlichen Worte, ihr gesittetes Benehmen
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im Theater, ihre Reiselust dafür eintauschen sollten? Die geographischen Verhältnisse, Land, Meer und Berge, fUhren euch in jeder Weise zusammen und zwingen euch, ob ihr wollt oder nicht, miteinander zu verkehren. So brauchen sie neben manchem anderen unser Holz, während wir keinen anderen Hafen haben, weder fUr die Einfuhr der fremden noch fUr die Ausfuhr unserer eigenen Erzeugnisse. (3 I) Wäre es nicht äußerst trübselig, bei Menschen einzukaufen, die einen nicht gern sehen, zu verkaufen an Leute, die einen hassen, in einen Hafen einzulaufen, wo man davon nicht erbaut ist, Leute aufzunehmen, die auf einen schimpfen, unter Umständen sogar mit Menschen zusammen zu speisen, die nich ts als Abneigung empfinden, ein Schiff zu besteigen und genau zu wissen, daß der Steuermann und die ganze Besatzung einen verwünschen? Ob man nun Zur See fährt oder zu Fuß geht, immer hat man das Widerwärtigste vor Augen: Feinde. Ihnen begegnet man un terwegs auf Schritt und Tritt - ein übles, unheilvolles Zeichen, denn ganz gewiß sagt oder hört man im Vorübergehen ein feindseliges Wort. (32) Daher mußte ich schon oft denken, daß die Menschen in ihrer Dummheit und Verderbnis im Herzen noch schlechter sind als die verachtetsten und niedrigsten Tiere. DieMenschen nämlich geraten häufig aneinander, um zu kämpfen, und ziehen dann mit Schimpf und Schande wieder ab. Die Ameisen dagegen, obwohl sie doch in solchen Scharen daherkommen, belästigen einander niemals, sondern begegnen sich in aller Freundlichkeit, weichen einander aus und helfen sich gegenseitig. (33) Was jetzt eurer Stadt zuteil geworden ist, das geht in der Tat viele an und wurmt alle anderen. Ihr habt eure eigene Gerichtsbarkeit'7 bekommen, und sie müssen sich bei euch Recht sprechen lassen. Aber gerade deswegen solltet ihr um so freundlicher gegen sie sein und nicht noch künstlich ihren Neid erregen. Gleich als erstes: Von wo sollen die für dieses Unternehmen ,8 bestimmten Männer abfahren? Nicht von Apameia?
40,33-36]
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Werden sie nicht vom Land ihrer erbittertsten Feinde aus in See stechen, nicht den Hafen der feindlichen Stadt benutzen? Oder sollen sie einen großen Umweg machen, wie wenn das Meer hier in der Gegend gefährlich und unzugänglich wäre? Das wäre in meinen Augen fur diejenigen, die schon vorher mit ihren Nachbarn in Streit lagen, noch bedrückender und schwerer zu ertragen, als wenn man bewaffnet in ihr Land einfiele, ihre Mauern bestürm te, die Bäume abhiebe oder die Ernte in Flammen aufgehen ließe. (34.) So ernst das alles sein mag, noch viel ernster, glaube ich, sind die Wurzeln von all dem, Feindschaft und Haß, denn daraus kann niemals Nützliches und Brauchbares werden. Die Frucht der Feindschaft ist von allen die bitterste und schärfste, wie umgekehrt die Frucht des guten Willens, glau be ich, die lieblichste und heilsamste. Wenn man niemals nachgibt oder dem Nachbarn Zugeständnisse macht - natürlich ohne sich selbst etwas zu vergeben - oder, wo man selbst etwas bekommt, nicht auch dem anderen etwas zukommen läßt, so ist das nicht, wie einige glauben, männlich und stolz gehandelt, sondern dumm und uneinsichtig. (35) Seht ihr nicht am Himmelszelt '9 und in den göttlichen, segensreichen Zeichen an ihm eine ewige Ordnung, Eintracht und Selbstbescheidung, wie man sie sich schöner und erhabener gar nicht vorstellen kann? Seht ihr ferner nicht bei den Elementen, wie man sie nennt, bei Luft, Erde, Wasser und Feuer, die beständige, rechte, immerwährende Harmonie, die Verständigkeit und Mäßigung, mit der sie von Natur aus beharren und so selbst erhalten bleiben, aber auch den gesamten Kosmos erhalten? (36) Bedenkt auch, selbst wenn einigen die Rede zu hochgegriffen und ohne jeden Bezug auf euch selbst vorkommen sollte, daß diese Wesenheiten, von Natur unvergänglich, göttlich und durch den mächtigen Willen des ersten und größten Gottes geleitet, durch ihre gegenseitige Freundschaft und Eintracht in alle Ewigkeit erhalten bleiben, die stärkeren und
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[40,36-39
größeren genausogut wie die scheinbar schwächeren. Wird diese Gemeinschaft aber zerstört und erhebt sich Streit, ist die Natur dieser Wesen nicht so unvergänglich und unzerstörbar, daß sie nicht in Unordnung geraten und, wie man sagt, den undenkbaren, unglaublichen Sturz vom Sein zum Nichtsein erleiden könnten. (37) Denn die bei den Weisen erwähnte Vorherrschaft der Luft, in der die herrschende und entscheidende Kraft der Weltseele wohnt - häufig von ihnen ohne Bedenken auch Feuer genannt -, scheint in aller Freundschaft und Eintracht vor sich zu gehen, da sie sich ohne gewaltsame Übergänge in bestimmten Grenzen und festgesetzten Zeiträumen vollzieht. Egoismus und Streit zwischen den anderen Elementen aber beschwören die äußerste Gefahr des Untergangs herauf, da sie gegen das Gesetz erfolgen. Das ganzeAll freilich kann vom Untergang nie erfaßt werden, weil im Kosmos vollkommener Friede und Gerechtigkeit herrschen und alles allenthalben dem Gesetz der Vernunft in gehorsamer Unterordnung sich unterwirft und Folge leistet. (38) Seht ihr nicht, daß die Sonne bei Nacht das Feld räumt und so den weniger hellen Sternen den Aufgang ermöglicht, aber auch dem Mond gestattet, solange das hellere Licht nicht da ist, die ganze Erde zu bescheinen? Daß die Sterne dann der Sonne wieder weichen, ohne das Gefühl zu haben, sie würden durch die Macht jenes Gottes mißhandelt und erdrückt? Ja, daß die Sonne selbst sich sogar mitten am Tag ab und zu verfinstert, wenn der Mond, dem sie doch erst das Licht gibt, über sie hinwegzieht? Daß sie häufig durch die leichtesten Wolken oder durch einen zarten Dunstschleier, wie er aus Sümpfen und Flüssen aufsteigt, verdeckt wird, so daß sie zeitweise ganz verschwindet oder nur einen schwachen, matten Strahl hindurchsendet? (39) Seht ihr nicht den unendlichen Reigen der Planeten, deren Bahnen sich niemals überschneiden? Auch die Erde, die den un tersten Platz zugewiesen bekommen hat, bleibt an Ort und Stelle wie die
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Stütze eines Schiffs, ebenso das Wasser, das über die Erde geschüttet wird, über beiden die weiche, sanft wehende Luft und ganz oben der Äther, der alles umschließt, während das göttliche Feuer rings darum herumläuft. Diese Wesen, so mächtig und groß, ertragen die Gemeinschaft miteinander und verharren ohne Feindschaft. Solch winzige Städtchen aber mit ganz gewöhnlichen Menschen, solch schwache Völkchen,die irgendwo in einem Winkel der Erde hausen,sollten keine Ruhe halten und nicht als Nachbarn friedlich nebeneinander wohnen können? (40) Die Vögel, die so nah beieinander ihre Nester bauen, machen sich nicht gegenseitig das Leben schwer und zanken sich nicht um Nahrung und Reisig; die Ameisen in ihren dicht bei dicht liegenden Gängen holen oft von derselben Tenne ihr Korn, aber sie machen einander Platz und weichen aus und arbeiten häufig sogar zusammen; mehrere Bienenschwärme, die ein und dieselbe Wiese absuchen, lassen nicht ihre Arbeit im Stich, um sich um den Nektar der Blüten zu streiten. (41) Auch weiden oft Herden von Rindern und Pferden friedlich und still zusammen,sodaß man eine Herde statt zweien zu sehen glaubt; auch Ziegen- und Schafherden, die den Tag über zusammen geweidet haben, lassen sich leicht und ohne Schwierigkeiten von den Hirten wieder trennen. Die Menschen aber sind, wie es scheint, was Freundschaft und Gemeinschaft untereinander betrifft, schlechter als Weide- und Raubtiere. Denn was die Natur um der gegenseitigen Zuneigung willen geschaffen hat, das kann man zum Anlaß von Feindschaft und Haß werden sehen. So besteht zum Beispiel gleich die erste und größte Liebe zwischen Eltern und Kindern 20. 41. AN DIE APAMEER: ÜBER DIE EINTRACHT
(I) Hoher Rat, wohlmeinende Anwesende! Daß ihr mir freundlich und gewogen seid, dessen glaube ich mir sicher zu sein.
AN DIE APAMEER
Denn von mir selbst weiß ich, daß mir an euer m Wohlwollen viel gelegen ist und ich mich niemals in Wort oder Tat gegen euch gewandt habe. Und ihr habt mich sofort nach meiner Ankunft' öffentlich geehrt mit einem Beschluß, der eurer Mitfreude über meine Heimkehr Ausdruck gab und eine Einladung zu euch enthielt. (2) Vielleicht war an eurem Verhalten nicht einmal etwas Besonderes, denn nicht nur die zurückgebliebenen, sondern man kann sagen, gerade diejenigen Städte, die das gleiche Ansehen wie ihr genießen, verliehen mir in großer Zahl, wo immer ich mich sehen ließ, Bürgerrecht, Mitgliedschaft im Rat und die höchsten Ehren,ohne daß ich darum gebeten hatte. Mich geehrt zu sehen, hielten sie für ihren eigenen Vorteil und ihre Pflicht. Euer Tun dagegen ist nicht das von Fremden, sondern gleichsam so, wie wenn die Vaterstadt ihren eigenen Sohn in Liebe und Dankbarkeit ehrt. Wenn es hier nun Leute gibtund in einer Demokratie kann es gar nicht anders sein -, die von mir nicht gerade begeistert sind, so nimmt mich das wegen der Rivalität zwischen beiden Städten· keineswegs wunder. Weiß ich doch nur zu gut, daß ich nicht einmal bei allen Bürgern von Prusa Beifall finden kann, sondern einige sich gerade darüber aufregen, daß ich mich allzu patriotisch und begeistert gebe 3 • (3) Aber auch diese Freiheit muß ein ordentlicher und rechtlich gesonnener Mann seinen Mitbürgern einräumen. Denn daß sich in einer Stadt überhaupt kein Widerspruch erhebt und kein Vorwurflaut wird, selbst wenn man sich in allen seinen Taten als ein brauchbarer Mann erweist, entspricht nicht dem Wesen der Demokratie und wäre auch nicht richtig. So etwas könnte man sich eher bei einem Tyrannen als bei einem verdienten Mann vorstellen. Wenn also einige gegen mich aufgebracht sind, setze ich gerade in sie mein größtes Vertrauen. Denn es ist klar, daß sie nur deswegen diese Einstellung haben, weil sie glauben, ich liebte nur meine Vaterstadt und wollte sie auf jede Weise fördern. Wenn sie mir nun abneh-
ÜBER DIE EINTRACHT
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men, daß ich auch diese Stadt hier für meine Vaterstadt halte und gewillt bin, mich nach Kräften für sie einzusetzen, so werden sie sich leicht eines Besseren besinnen und mich genauso wie die anderen liebgewinnen. (4) Nun bin ich der letzte, der das Recht der Vaterlandsliebe bestreiten wollte. Aber ich frage diese Leute, ob sie mein VerhaI ten für das eines un gerech ten und sch lech ten Menschen halten und einen Bürger wie mich nicht gerne unter sich sehen. Ihr könntet dann ohne jeden Argwohn mich und die besten Männer von Prusa zu Bürgern haben, und gerade aus diesem Grund solltet ihr mir also noch mehr vertrauen. Wer nämlich seinen natürlichen Eltern gegenüber undankbar ist, der wird auch gegen die Pflegeeltern pflichtvergessen sein j (5) wer aber die Menschen, denen er sein Leben verdankt, liebt, wird auch niemals diejenigen vergessen, die ihn aus Freundlichkeit an Eltern Statt angenommen haben. Die natürlichen Regungen nämlich kommen von selbst, die der Freundlichkeit dagegen unterliegen unserem eigenen Willen. Ich bin nun Bürger von beiden Städten, aber während ich dem Volk von Prusa gegenüber in diesem Punkt nicht dankbar zu sein brauche, habt ihr als meine Wohltäter ein Recht auf meine Dankbarkeit, denn es ist das Geschenk eures Entgegenkommens, daß ich Bürger eurer Stadt bin. Alle nun, die das Bürgerrecht verliehen bekommen haben, kennen lediglich die freundlichen Gefühle, die man bei einem Geschenk empfindet, es fehlt aber die zwingende Macht der Natur. (6) Ich hingegen habe an beidem teil: Mein Großvater erwarb zusammen mit meiner Mutter von dem damaligen Kaiser\ mit dem er befreundet war, das römische und zugleich euer Bürgerrecht, mein Vater das Bürgerrech t hier in Apameia. Folglich bin ich euer Bürger durch freundliches Entgegenkommen genauso wie von Geburt, denn es ist aufkeinen Fall angebracht, die Herkunft über mehr als zwei Generationen zuriick-
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zuverfolgen, da sich bei diesem Verfahren herausstellen würde, daß schließlich überhaupt niemand mehr aus irgendeiner Stadt stammt. Und für meine Kinder ist Apameia noch mehr Vaterstadt als Prusa 5 • Wenn es notwendig ist, daß die Kinder dem Vater folgen, so ist es weit erfi-eulicher, wenn der Vater den Kindern folgt. (7) Aus diesen Gründen also bin ich euer wohlmeinender Freund mit der Gesinnung eines Bürgers. Ich habe das auch schon in aller Öffentlichkeit bewiesen. Als nämlich der Streit zwischen den beiden Städten ausgebrochen war und meine Vaterstadt mir aus lauter Rücksicht keine Last ohne mein Einverständnis aufbürden 6 , andrerseits aber das Problem unbedingt angefaßt sehen wollte, ging ich, wie sehr man mich auch durch Auszeichnungen dazu herausfordern wollte, aufdiesen Wunsch allein nicht ein. Ich hätte keine Bedenken gehabt, im Auftrag der Stadt etwas zu unternehmen, ich hätte vielleicht sogar besser als jeder andere handeln können, da es mir an einflußreichen Freunden' nicht fehlte - aber ich will nichts sagen, was Haß erregen und einige Leute beleidigen könnte -, und schließlich schreckte ich auch nicht vor der Reise zuri.ick, da ich mich sowieso auf Reisen begeben mußte. (8) Trotz dieser Überlegun gen also versagte ich mich dem Plan 8, nich t weil ich Prusa verraten wollte, sondern aus Rücksicht auf euch, denn ich glaubte, ihnen und euch einen besseren Dienst erweisen zu können, wenn es mir gelänge, die beiden Städte zu befreunden, indem ich sie von den alten Streitfragen abbrächte und sie in Zukunft zu einträchtiger Freundschaft hinführte. Denn das ist das Allerbeste und Zweckmäßigste, nicht nur zwischen gleich und gleich, sondern auch zwischen stark und schwach. (9) Natürlich weiß ich, wie schwer es ist, Streit zwischen Menschen zu schlichten, zumal wenn er seit längerer Zeit groß geworden ist, wie es auch nicht leicht fallt, eine Krankheit, die schon lange im Körper sitzt, aus ihm herauszutreiben, erst
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recht nicht, wenn man sie gerne schmerzlos heilen möchte. Trotzdem vertraue ich auf den Charakter der Stadt. Ich halte sie nich t fur starr und uneinsich tig, sondern glaube, daß sie den wahren und echten Charakter jener Männer und jener glückhaften Stadt besitzt, die euch hierhergeschickt hat, auf daß ihr als Freunde neben Freunden wohnt 9 • Diese Stadt, die an Erfolg und Macht aller welt so sehr überlegen ist, hat sich als weit überlegener gezeigt durch ihre Milde und Freundlichkeit: Davon ausgehend, daß jeder Mann von Wert sie etwas angehe, gewährte sie in reichem Maße Bürgerrecht, Rechte und Ämter und ließ für alle in gleicher Weise Recht walten. (10) Diese Stadt solltet ihr euch zum Vorbild nehmen, euch mild und großzügig zeigen gegen Leute, die so in der Nähe wohnen, ja fast eure Mitbewohner sind, keinesfalls aber gefährliche und überhebliche Nachbarn. Euch verbinden doch eheliche Bande, Kinder, staatliche Einrichtungen, Opfer fur die Götter, Volksfeste und Schauspiele; ihr werdet einzeln mit ihnen zusammen erzogen, ihr eßt miteinander und gewährt euch gegenseitig Herberge, ihr verbringt den größten Teil der Zeit miteinander und seid geradezu ein Volk und eine Stadt in einer geringen Entfernung. So habt ihr auch mehrere Leute von Prusa zu euern Bürgern gemacht und ihnen einen Sitz im Rat gewährt; ihr hattet nichts dagegen, daß sie Beamte bei euch würden, und gabt ihnen teil an den großartigen Vorrechten einer römischen Stadt. (Il) Wie ist es nun denkbar, daß man jeden einzelnen fur seinen Freund hält und ihn ehrt, in der ganzen Stadt aber seinen Feind erblickt, ihr in Prusa und Prusa in euch? Denn wenn man die Menschen einer Stadt gern hat, mit ihnen verkehrt und sie zur Bürgerschaft einlädt, was bleibt da noch zu hassen übrig als das Klima und die Gegend oder - aber es ist ein Frevel, so etwas auch nur zu sagen - die Götter? Jede Feindschaft aber, gegen wen sie sich auch richten mag, ist eine lästige und beschwerliche Sache, denn kein Feind ist so schwach,
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daß er bei Gelegenheit nicht auch den in seiner allzu großen Stärke dastehenden Mann verletzen und mit einem verletzenden Wort oder einer abträglichen Tat seinen Haß zeigen könnte. (12) Denn niemals, kann man sagen, ist die Frucht des Hasses angenehm oder nützlich, sondern im Gegenteil unangenehmer und bitterer als alles andere, und keine Last ist jemals so schwer und mühselig zu tragen wie Feindschaft. In Zeiten des Glückes ist sie stets heimlich am Werk, Unglück vermehrt sie, dem Leidtragenden verdoppelt sie das Leid, die Glücklichen läßt sie das Glück nicht nach Gebühr genießen 10. Ich halte es nämlich für unausbleiblich, daß die Massen sich gegenseitig schädigen, bei den anderen verachtet sind und nichts gelten, einmal, weil sie Gegner haben, zum andern, weil sie selbst dumm und streitsüchtig sind. (13) Dagegen kann es etwas Schöneres und Göttlicheres als Freundschaft und Eintracht zwischen Mann und Mann und Stadt und Stadt überhaupt nicht geben. Wer könnte sich zum Beispiel Hab und Gut auf anständigere Weise erwerben als der, dem die Freunde dabei behilflich sind'? Wer könnte den Widerwärtigkeiten leichter entgehen als der, auf dessen Seite Freunde mitkämpfen'? Wann befällt einen der Kummer weniger, als wenn man jemand hat, der mit einem den Schmerz teilt und ihn tragen hilft? Wem macht sein Glück mehr Freude als dem, der damit nicht nur sich selbst, sondern auch andere erfreut'? Ich zumindest könnte jenen Mann nicht glücklich nennen, der niemand hat, der sich mitfreut. (14) Welchen Helfer, welchen Ratgeber sähe man lieber als einen Freund, den man trifft? Denn man kann sagen, daß er nicht nur der am meisten Glück verheißende, sondern auch der nützlichste Prophet JJ ist, ein aufrichtiger Freund von jedem, dem er begegnet. Die Werke von Haß und Feindschaft dagegen machen allenthalben Unannehmlichkeiten und Schwierigkeiten. Die Gegenwart eines Feindes ist lästig bei einer ernsten, lästig bei einer heiteren Beschäftigung; es ist un-
41,14-42,3]
ANSPRACHE IN DER VATERSTADT
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angenehm, ihn zu sehen, unangenehm, an ihn zu denken, und bekommt man mit ihm zu tun, ist er über alle Maßen schädlich. 42. EINE ANSPRACHE IN DER VATERSTADT
(I) Was ihr mit mir und meiner Weisheit - oder auch Unwissenheit - vorhabt, kann ich mir nicht denken. Wollt ihr wirklich eine Rede von mir, um etwas Außergewöhnliches zu hören, was kein anderer Zeitgenosse sonst bieten könnte, oder wollt ihr umgekehrt mich nur bloßstellen und mir beweisen, daß ich nichts Bedeutendes von Gewicht zu sagen habe? (2) Ist das erste der Fall, biete ich mich euch getrost an, damit ihr euer Gelüst befriedigen könnt; wo nicht, fUrchte ich die entgegengesetzte Meinung, daß ihr nämlich, wenn ihr mich gehört habt, ein nich t verdien tes Urteil über mich fallt, weil ihr eine falsche Vorstellung von mir habt. Denn niemals habe ich vorgegeben, ein großer Redner oder Denker zu sein oder mehr zu verstehen als die große Menge, vielmehr habe ich gerade auf diesem Punkt bei jeder Gelegenheit bestanden und erst, wenn ich die falschen Erwartungen widerlegt hatte, mit meiner Rede begonnen. Aber viele haben diese Widerlegung für ein ZurSchau-Stellen gehalten. (3) Dennoch schlage ich selbst bald diesen, bald jenen Weg ein. Blicke ich nämlich auf mich selbst und auf meine Unerfahrenheit - praktisch in allen Dingen, ganz besonders aber in der Redekunst -, komme ich mir wie ein Laie vor und will in Zukunft das Leben eines Privatmannes führen. Sehe ich aber auf die anderen, die sich um mich bemühen und mich als Redner einladen, muß ich wohl oder übel vermuten, daß irgend etwas an mir Beachtung verdient und es mir, ohne daß ich es merke, ähnlich geht wie einigen Tieren, die fUr die Menschheit nützlich sind, weil sie, ohne es zu wissen, ein Mittel zur Heilung von Krankheiten in sich tragen, sei es in der Galle, im Blut, im
POLITISCHE ANSPRACHE
Fett oder in den Haaren. Die Menschen, die das wissen, machen Jagd auf diese Tiere und versuchen, sie auf jede Weise zu fangen, nicht wegen des Fleisches, sondern eben wegen dieses Mittels. (4) So ist es vielleicht auch bei mir. Man nötigt mich, bei jeder Gelegenheit eine Rede zu halten, aber nicht, weil man meine Worte brauchte - man sucht etwas anderes. Denn ich kann doch unmöglich annehmen, daß man derartig um mich bemüht ist, ohne mich zu kennen und gehört zu haben, wie es ohne Zweifel viele Menschen gibt, die mancherlei begehren aus lauter Unwissenheit. Man darfja wohl sagen, daß alle meine Reden kennen und sie in alle Welt getragen haben wie leichte Lieder, die Kinder in den Städten singen, wenn es Abend wird. Ja meine Reden werden sozusagen von einem zum andern weitergereicht, nicht in ihrer ursprünglichen Form, sondern, je nach Begabung, sogar noch verbessert. Die einen verbessern sie absichtlich und bringen - (5) offensichtlich beschämt über die Zumutung, sich solchen Unsinn zu merken - zahlreiche Änderungen und Umstellungen an, während andere es vielleicht ohne Absicht tun, weil ihr Gedächtnis mangelhaft ist. Und so braucht man meine Weisheit nicht mehr auf dem Markt für einen Obolos zu kaufen,wie jemand I einmal gesagt hat, sondern sich nur zu bücken, um sie vom Boden aufzuheben. Man könnte geradezu sagen, meinen Reden sei es ähnlich ergangen wie den Tonwaren von Tenedos. Jeder, der dort vorbeikommt, belädt sein Schiff damit, niemand aber bringt sie so leicht wohlbehalten ans Ziel. Vielmehr lassen die meisten sie zerbrechen und zersplittern und haben, ohne daß sie es merken, nur noch Scherben. 43.
EINE POLITISCHE ANSPRACHE IN DER VATERSTADT
(I) Ein Lyder, so erzählt man sich, hatte keine Not. Da zog er aus und kaufte sich welche. Gut, der Lyder hatte zu Recht seine
43,'-4]
IN DER VATERSTADT
Not, denn er wollte sie selbst, ich aber will sie nicht und habe sie trotzdem - wegen unfähiger, habsüchtiger Menschen und aus keinem anderen Grund, als weil ich, wie es den Anschein hat, euch liebe und meiner Vaterstadt, indem ich sie an Ansehen den fLihrenden Städten gleichmachte', schon einiges zugute getan habe und noch, so Gott will, zugute tun werde. (2) Das erwähne ich nicht aus eitler Angeberei, denn ihr wißt selbst, daß ich diese Dinge in den unzähligen Reden, die ich vor euch gehalten habe, nie berührte. Ich tue es, um mich gegen die Leute, die mich und euch schlecht machen, zu verteidigen, damit sie womöglich vor Wut bersten - das wäre das Beste fLir die ganze Stadt - oder zumindest spürbar getroffen sind. Daß eben diese Leute weder mich noch die Stadt leiden mögen, das könnt ihr selbst bezeugen, wenn ihr euch nur ins Gedächtnis zurückrufen wollt, wer euch liebt und wer euch haßt. Dabei gehen sie mit mir noch glimpflicher um als mit euch, denn mich klagen sie hier' an, euch aber vor dem Richterstuhl. (3) Wenn sich nun zeigt, daß ich nach meiner Gewohnheit Beispiele alls der griechischen Geschichte anführe, lacht mich deswegen nicht aus. Es geschieht nämlich nicht, weil ich von meiner Vaterstadt gering dächte, euch fLir unfähig hielte, solche Dinge von selbst zu verstehen, oder Volksversammlung und Rat als ungebildet betrachtete. Ich möchte eben am liebsten, daß ihr eurem Wesen nach Griechen seid, nicht undankbar und nicht unverständi g. Sollte das aber zuviel verlangt sein, ist es auch kein Schaden, auf solche Worte zu hören, die, wie ich glaube, euren Charakter bessern können. (4) Was ist das nun für ein Beispiel? Es lebte ein Mensch in Theben mit Namen Epameinondas. Der liebte seine Vaterstadt mehr als alles andere. Möglichkeiten, wie sie sich zu seiner Zei t boten, nahm er wahr und leistete so seiner Stadt manchen bedeutenden Dienst. Aus einem Volk von feigen, hilflosen Sklaven machte er sie zum ersten Volk unter den Griechen, zu den
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POLITISCHE ANSPRACHE
ersten Anwärtern auf die Vormachtstellung. Damals war so etwas noch möglich, heute haben sich die Chancen geändertnur guter Wille und Einsatzbereitschaft, die sind immer gleichgeblieben. Denn Verräter, Denunzianten und Leute, die ihren Mitbürgern gegenüber zu allem fähig sind, gab es in den Städten damals genausogut wie heute, während die Patrioten, die ihre Mitbürger vor allem Unheil verschonen wollen und ihren Ehrgeiz in die Förderung der Vaterstadt setzen, damals zahlreich und zu großen Taten imstande waren, heutzutage aber abgenommen haben und seltener gute Taten vollbringen können. (5) Jener Epameinondas nun wurde von Leuten, die nicht wie er gesonnen waren, gehaßt, und es fehlte auch nicht an Verleumdern seiner Person. Das Volk, wie nun einmal gewöhnliches Volk ist, wußte nicht Bescheid und ließ sich auf den falschen Weg bringen. So beschimpfte einmal jemand Epameinondas in der Volksversammlung - es war einer von den Verzweifelten und Entrechteten, der, als die Stadt noch unfrei und von einem Tyrannen beherrscht war, alles mögliche gegen sie unternommen hatte - und ließ viele harte Worte fallen. Denn kein Lügner fragt danach, was er an Wahrem vorbringen könne, er hat ja nichts Wahres zu sagen, sondern nur, ob etwas Beleidigendes. Da erhob sich Epameinondas. Zu all den anderen Punkten nahm er nicht Stellung und verteidigte sich gegen keinen der Vorwürfe, er sagte zu dem Ankläger in seinem boiotischen Dialekt nur: «Möge Demeter auf dich erzürnt sein.» Als die Thebaner das hörten, waren sie begeistert und brachen in Lachen aus - mit gutem Grund, denn ihnen fiel ein, wie ich glaube, was Epameinondas für das Volk getan und wie gemein sich jenes Lästermaul gegen ihn betragen hatte. (6) Sollte nun jemand gegen mich etwas sagen, das ich nicht verdient habesei es mir frech ins Angesicht oder in wohlgesetzter Form, um sich den Anschein eines Redners zu geben, obwohl er selbst
43,6-8]
IN DER VATERSTADT
alles andere als wohlgeformt ist -, werde ich ihm die Antwort des Epameinondas geben. Ihr dürft mir glauben, daß diese Leute so handeln und reden, weil sie über meine Gegenwart hier in Prusa verstimmt sind, aus keinem anderen Grund. Denn ich verfolge mit keinem der Bürger schlechte Absichten, ich nehme von niemand Geld, ich lehne es ab, Steuern in eurem Land einzuziehen, aufdem Markt mache ich mich keinem lästig, denn ich bin kein Redner. Auch habe ich niemand vor Gericht verteidigt, nur einmal einen armen Wicht, den ich davor bewahrte, von seinen Verwandten und Aufsehern in Stücke gerissen zu werden: Zuerst hatten sie seine Papiere entwendet und einen Großteil seines Vermögens an sich gebracht, dann wollten sie ihn durch falsche Aussagen ruinieren. (7) Sonst aber habe ich nie vor Gericht gesprochen, so daß niemand an mir irgendwie Anstoß nehmen kann. Nein, sie reden so, damit ich nicht, falls sich wieder einmal eine günstige Gelegenheit ähnlich der ersten bieten sollte - gewisse Leute sehnen sie herbei, aber sie wird nicht kommen; nur, sollte es doch der Fall sein -, damit ich dann nicht dem Volk durch meine Gegenwart helfen kann und die Opfer einer falschen Anklage nicht jemand hätten, der fur sie ein tritt oder mit ihnen leidet. Deswegen ist ein gewisser 3 über meinen Aufenthalt hier verärgert. Auch wenn mehrere meinesgleichen hier wären - und sie sind es -, keiner würde den Mund mehr aufmachen als ich, und ich kann freier zu euch sprechen als jeder andere. Denn mein persönliches Glück habe ich euch geopfert, an eurem Mißgeschick habe ich mitgetragen. (8) Auch jetzt wieder muß ich auf Reisen gehen, nicht wie das erste Mal\ als alles mich liebte und bewunderte, frei von Sorgen, sondern unter dem Haß gewisser Leute. Mir selbst freilich ist nichts Böses widerfahren 5, denn niemals trieben sie mir die Rinder fort oder die Pferde. 6 Allerdings bin ich über die Schwierigkeiten, die man mll'
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POLITISCHE i\NSPRACHE
[43,8-II
macht, nicht verwundert. Auch der berühmte Sokrates, den ich so oft erwähnt habe, tat unter der Gewaltherrschaft der Dreißig alles für sein Volk und hielt sich fern von jedem Verbrechen. Von der Regierung einmal zu dem Salaminier Leon geschickt, verweigerte er den Gehorsam 7 und sagte den Tyrannen harte Worte ins Gesicht: sie trieben es wie schlechte Rinderhirten, die große, stattliche Herden übernommen hätten und sie dann zusammenschrumpfen und verwahrlosen ließen 8. (9) Trotzdem wurde Sokrates von diesem Volk, fur das er sein Leben gewagt hatte, später, als es dem Volk wieder gut ging, zum Tode verurteilt, fälschlich angeklagt von einigen Denunzianten. Der Ankläger war Meletos, ein widerwärtiger, schikanöser Mensch. «Sokra tes tu tU nrech t», sagte er, «indem er die Jugend verdirbt und nicht die Götter ehrt, die die Stadt ehrt, sondern andere, neue Gottheiten einführt» 9 - man kann wohl sagen, genau das Gegenteil von dem, was Sokrates tat. (10) Er ehrte nämlich die Götter mehr als jeder andere und hat sogar eine Hymne auf ApolIon und Artemis gedichtet, die ich noch heute singe. Und nicht nur die Jugend, auch die Älteren suchte er zu retten. Immer von neuem machte er ihnen Vorhaltungen, wenn einer ein Vielfraß oder Lüstling war, wenn er Politik um des Gewinns willen trieb, indem er einen Freispruch gegen Bestechung erwirkte, andere ohne Grund anklagte, die armseligen Inselbewohnerio unter dem Vorwand, es handle sich um Tributzahlungen, ausnahm oder wenn es um die Aushebung von Soldaten ging - ähnliche Praktiken gibt es ja auch bei uns. Deswegen haßten sie den Sokrates und behaupteten, er verderbe die Jugend. (n) Die Anklageschrift gegen mich dagegen ist länger und, man könn te sagen, vornehmer - wie es schein t, eine Art heimliche Anklage: Dion tut Unrecht. Er ehrt die Götter weder mit Opfern noch mit Preisliedern und schafft die althergebrachten Feste ab. Er verleitet einen schlechten Prokonsuln IJ dazu, das
FREUNDLICHE ENTGEGNUNG
Volk zu martern, möglichst viele zu verbannen und einige sogar zum Tode zu verurteilen, indem er sie zum Freitod zwingt, denn infolge ihres Alters können sie nicht mehr in die Verbannung gehen und würden das Verlassen der Heimat auch nicht überstehen. Er paktiert in allem auch jetzt noch mit dem Mann, der unser Volk tyrannisiert, und richtet es, soweit es an ihm liegt, so ein, daß dieser Mann bei seinem Kampf Erfolg hat und die Städte und Demokratien mit Gewalt in seine Hand bekommt. (12) Er verdirbt auch das Volk, indem er selbst als dessen Ankläger auftritt und mit seinen eigenen Worten, mit seiner eigenen Zunge gegen die Bürger, seine Volksgenossen, vorgeht und viele andere Dinge tu t, die einzeln aufzuzählen die Scham verbietet. Er gibt jung und alt ein schlechtes Beispiel durch seine Arbeitsscheu, Verschwendungssucht und Treulosigkeit. Er besticht die Massen, damit ihm niemand die Geschehnisse vergangener Tage vorhält, sondern seine Gehässigkeit und Verräterei in Vergessenheit geraten mögen. Also gut, Männer von Prusa, gegen diese Beschuldigungen werde ich mich verteidigen, und wenn ihr mich gehört habt und es euch gut dünkt, verurteilt mich. Denn auch die Atllener verurteilten Sokrates erst, nachdem sie ihn gehört hatten IZ. 44. EINE FREUNDLICHE ENTGEGNUNG AN DIE VATERSTADT AUF IHREN VORSCHLAG, DrON ZU EHREN
(r) Meine Mitbürger! Für mich gibt es keinen erfreulicheren Anblick als euch, keine liebere Stimme als die eurige, keine größeren Ehren als die hier in eurer Stadt, kein herrlicheres Lob als das aus eurem Munde. Wenn auch die gesamte griechische Welt und dazu noch das römische Volk mich bewundern und preisen, kann das mein Herz doch nicht so erfreuen. Denn in der Tat, Homer, von dem viele weise und göttliche Worte
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FREUNDLICHE ENTGEGNUNG
stammen, hat kein weiseres und wahreres Wort gesprochen als dies: Nichts ist so süß wie das Vaterland.' (2) Ihr dürft mir glauben, daß alle Ehrungen für mich, die ihr jetzt vorschlagt und die es sonst noch geben mag, in eurem Wohlwollen und in eurer Freundschaft beschlossen sind und daß ich nichts weiter brauche. Denn das ist fur einen rechtschaffenen Mann vollkommen ausreichend: von seinen Mitbürgern geliebt zu werden. Und wenn er diese Liebe hat, was braucht er dann noch Standbilder, öffentliche Belohnungen und Ehrenplätze? Nicht einmal, wenn sein Bild, aus purem Gold getrieben, in den berühmtesten Heiligtümern stünde! Denn ein Wort, aus Wohlwollen und Freundschaft gesprochen, wiegt alles Gold der Welt, alle Kronen und was sonst noch herrlich scheint, auf. Deshalb nehmt meinen Rat an und befolgt ihn! (3) Aber wenn ich wirklich solche anderen Ehren bekommen soll- ich genieße ihrer doch schon eine ganze Anzahl bei euch. Da sind zunächst die Ehren, die ihr meinem Vater als einem trefflichen Mann verliehen habt, weil er zeit seines Lebens die Stadt gerecht verwaltete; dann die Ehren meiner Mutter, der ihr ein Standbild und einen Altar gesetzt habt; ferner die Ehren meiner Großväter und sonstigen Vorfahren und schließlich die meiner Brüder und der übrigen Verwandten. (4) Auch viele Statuen, Staatsbegräbnisse, Leichenspiele und zahlreiche andere Auszeichnungen sind ihnen von seiten der Stadt zuteil geworden - nichts davon habe ich vergessen, und ich weiß sie alle, so gut es möglich ist. Deswegen fühle ich mich auch tiefin eurer Schuld und bitte die Götter, sie möchten mich in den Stand setzen, diese Schuld abzutragen. Auch wenn ich weiß, daß sie es durchaus wert waren und alle ihre Auszeichnungen verdient bekommen haben, so hat die Stadt an allen doch noch großzügiger gehandelt, denn das Vaterland dankte ihnen für
AN DIE VATERSTADT
59 1 all das, was sie zuwege bringen wollten, aber infolge irgendwelcher Umstände nicht ausführen konnten. (5) Hätte mein Großvater' zum Beispiel die Freundschaft des damaligen Kaisers für längere Zeit genossen und wäre die Spanne nicht allzu kurz gewesen, hätte er ganz gewiß, wie man erzählt, der Stadt die Unabhängigkeit verschafft, denn er hatte die feste Absicht und den Vorschlag dafur bereits fertig. Aber man braucht daran nicht zu verzweifeln, solan ge es noch so wie jetzt redliche Männer mit gesundem Ehrgeiz in der Stadt gibt. Ich zumindest, der ich doch viele Städte kenne, wUßte keine besseren Männer als die eurer Stad t. Ich würde mich über jeden einzelnen noch weiter auslassen, wenn ich nicht Bedenken hätte, alle zu preisen, da sozusagen alle mit mir verwandt sind und ich eigen dich ihnen allen gleichsam eine Gegengabe für die mir erwiesenen Ehren machen müßte. (6) Denn ich habe in der Tat auch diesen Männern 3 zugehört, von Ehrfurcht ergriffen, wenn sie sprachen, voll Bewunderung für ihre Großzügigkeit, ihren Eifer und mehr noch für ihre Kunst der Rede. So ist es kein Wunder, wenn ich eine solche Va terstad t so sehr liebgewonnen habe, daß ich ihr weder Athen noch Argos oder Sparta als Heimat jemals vorziehen könnte, obwohl dies doch die ersten und berühmtesten Städte Griechenlands sind. Das habe ich auch durch die Tat bewiesen. Nicht nur jetzt, auch früher schon, zur Zeit meiner Verbannung, luden mich viele Städte in manchen Ländern ein, bei ihnen zu bleiben und ihre Verwaltung in die Hand zu nehmen j ja einige schickten sogar Resolutionen an den Kaiser 4 und dankten ihm für die mir erwiesene Ehre. Trotzdem bin ich niemals auch nur mit einem Wort auf einen solchen Vorschlag eingegangen und habe nicht einmal ein Haus oder ein Grundstück im Ausland erworben, damit ich nirgends als bei euch ein Zeichen meiner Heimat hätte. (7) Ja wirklich, es wäre übel bestellt, wenn die Menschen ungerechter sein wollten als die
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FREUNDLICHE ENTGEGNUNG
[44.7-9
Bienen. Denn niemals verläßt auch nur eine Biene ihren Stock, um zu einem anderen, größeren und besser gedeihenden überzusiedeln. Nur den eigenen Stock rüllt sie auf und fördert ihn, mag auch die Gegend kälter sein, die Wiesen weniger ergiebig, der Nektar knapper, die Arbeit mit den Waben schwieriger, der Imker nachlässiger. Es heißt sogar, sie liebten sich gegenseitig und ihren eigenen Schwarm so sehr, daß sie zur Winterszeit, wenn sie draußen von einem Sturm überrascht werden, ein Steinchen als Ballast zwischen die Füße klemmen und auf diese Weise fliegen, damit sie vom Sturm nicht davongetragen werden und zu ihrem Stock zurückfinden. (8) Hat nun jemand eine derartig bereitwillige und treffliche Vaterstadt, wie sollte er da nicht alles andere ihr hintanstellen? In Anbetracht von dem allen bin ich froh, wenn ich an meinem Sohn, an meinem Neffen und den anderen jungen Leuten - und ich sehe deren eine große Zahl, Gott sei Dank, die ohne Ausnahme von tüchtigen Eltern abstammeri und nach brauchbaren Menschen aussehen - diese Gesinnung beobachte: daß sie frei von Neid und Scheelsucht miteinander und mit allen anderen Menschen an Tüchtigkeit und Ansehen, ihrem eigenen so gut wie dem der Vaterstadt, wetteifern, daß jeder bemüht ist, an Gerechtigkeit und Patriotismus der erste in der Stadt zu sein, wohl imstande, ihr einen Dienst zu erweisen und sie zu fördern. (9) Denn seid überzeugt, auch wenn Prusa nicht die größte Stadt und nicht als eine der ältesten gegründet worden ist, so steht es selbst im Ausland in größerem Ansehen als manche andere Stadt, und im Wettstreit mit allen Griechen nehmen seine Bürger seit langem keineswegs den letzten, auch nicht nur den dritten oder zweiten Rang ein. Dabei denke ich weniger an mich als an all die anderen, die durch ihre Reisen vielerorts bekannt geworden sind und sich einen bedeutenden Namen gemacht haben, aber auch an diejenigen, die hiergeblieben und ihren bürgerlichen Pflichten nach-
AN DIE VATERSTADT 593 gekommen sind; denn sie sind nicht schlechter als die anderen, weder in Worten noch in Taten. (10) Ich sehe aber, daß nicht nur durch die Redekunst, sondern auch durch die Philosophie tüchtige und bedeutende Männer der Stadt erwachsen. Ich werde immer bereit sein, die jungen Leute für sie zu interessieren, privat genauso wie in der Öffentlichkeit, sooft sich die Gelegenheit dazu bietet. Und euch, das Volk, fordere ich auf, fest mit dem zu rechnen, was man von den Machthabern bekommen kann, und daflir zu beten, daß sich Ehre, Ansehen und Wohlstand in irgendeiner Form einstellen; was aber von euch selbst kommt, dadurch zu besitzen, daß ihr euch vor allen übrigen Gemeinden auszeichnet durch Ordnung, Rücksichtnahme, Gehorsam tüchtigen Männern gegenüber, durch Arbeitsamkeit, Maßhalten im täglichen Leben, Pflege von Leib und Seele, soweit die Umstände es einem jeden gestatten, durch selbstlose Erziehung und Ausbildung der Kinder, durch einen wahrhaft griechischen Zustand eurer Stadt, frei von Unruhen und Durcheinander, durch die Hinwendung eures angeborenen Scharfsinns, eurer Mannhaftigkeit und Begabung zu Höherem und Schönerem, durch die Absage an Zwietracht, Unruhe und persönliche Zusammenstöße, soweit das irgend möglich ist. (II) Denn, ihr Männer, es gibt auch bei einem Volk eine Erziehung, auch bei einer Stadt einen Charakter, die beide auf Wissen und Ordnung beruhen. Und nicht nur in alten Zeiten gelang es Spartanern, Athenern und noch einigen anderen, durch eine geordnete Politik aus absolut unbedeutenden und kleinen Anfängen zu großen, berühmten Städten zu werden, auch heute noch ist so etwas möglich, wenn man nur will. Denn wenn ihr euch an diese Richtlinien haltet, wird euch das mehr nützen als eine große Menge von Ratsherren, eine eigene Gerichtsbarkeit, irgendwelche Einnahmen auswärtiger Gelder oder sogar die Unabhängigkeit, falls ihr sie einmal bekommen
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DIONS RECHTFER TIGUNG
solltet s. (12) Denn glaubt mir, was man Unabhängigkeit nennt und was Machthaber und Gewaltige unter diesem Namen verleihen, ist unter Umständen überhaupt nicht zu erwerben. Die wahre Unabhängigkeit dagegen, die den Menschen wirklich zuteil wird, die bekommt man, gleich, ob es sich um einen einzelnen oder um eine Stadt handelt, nur von sich selbst: wenn man seine Sache großherzig und nicht sklavisch und lässig angeht. Damit ihr aber meine Einstellung auch noch von einer andern Seite kennenlernt, will ich euch einen Brief vorlesen, den ich dem Kaiser auf seine Einladung hin geschrieben habeweil ich in ihm darum bitte, er möchte mich doch in eurem Interesse entschuldigen -, und auch sein Antwortschreiben 6. 45. DIONS RECHTFERTIGUNG SEINES VERHÄLTNISSES ZUR VATERSTADT
(r) Meine Bürger! Ich will euch einen Rechenschaftsbericht geben über meinen Aufenthalt bei euch, da ich glaube, daß die Zeit, die mir noch verbleibt, kurz sein wird. Wie ich meine Verbannung durchgestanden habe, ohne dem Mangel an Freunden, der materiellen Not und körperlichen Hinfälligkeit zu erliegen; wie ich zu dem allen ausgeharrt habe unter einem Feind', der nicht der erste beste von Leuten meines Standes oder, wie sie manchmal genannt werden, von Gleichberechtigten war, sondern der mächtigste und grimmigste, von allen Griechen und Nichtgriechen Herr und Gott genannt, in Wirklichkeit aber ein böser Dämon; wie ich ihm obendrein nicht schmeichelte oder seinen Haß durch Bitten aussöhnen wollte, sondern ihn ins Angesicht herausgefordert habe; von all den Leiden, die damit verbunden waren - davon, bei Gott, will ich jetzt nicht sprechen oder schreiben, denn das habe ich in Reden und Schriften vor aller Welt bereits getan, nicht von Wahnsinn und Tollheit dazu verfuhrt, sondern im Vertrauen auf eine
VERHÄLTNIS ZUR VATERSTADT
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stärkere Macht und Hilfe, die von den Göttern kommt, von der großen Menge aber verachtet und ftir nutzlos gehalten wird. (2) über diese Dinge im einzelnen zu sprechen erübrigt sich meines Erachtens, denn sie sind anderswo bekannter und finden auch die verdiente Anerkennung und Würdigung. Wenn ich dagegen bei euch von der Zeit meiner Verbannung erzählen wollte, würde man kaum sagen, daß ich jammerte, viel eher, daß ich angäbe. Nach dem Tod dieses Mannes und dem folgenden Umschwung wollte ich zu dem trefflichen Nerva zurückkehren. Aber von einer schweren Krankheit festgehalten, verpaßte ich diese Chance restlos und verlor einen milden Herrscher, der mich liebte und seit langem mit mir befreundet war'. Und ich schwöre euch bei allen Göttern, daß es nicht die Vorteile waren, die ich für mich oder einen meiner Leute hätte bekommen können, die mir den Verlust so schmerzlich machten, vielmehr sehe ich den unersetzlichen Schaden in dem, was ich für euch und die Stadt insgesamt hätte erreichen können. (3) Denn was wir jetzt bekommen haben, hätten wir damals bereits haben und die jetzige Chance für andere Vergünstigungen nutzen können 3. Nun sind mir aber auch von seiten des gegenwärtigen Kaisers Entgegenkommen und Interesse in reichem Maße sicher, wie diejenigen, die mit dabeigewesen sind, wissen 4. Wenn ich es an dieser Stelle wiederhole, werde ich gewisse Leute S gewaltig ärgern. Vielleicht sieht die Sache auch nicht besonders glaubwürdig aus, daß jemand,dem eine solche Ehre, Vertrautheit und Freundschaft geschenkt worden ist, das alles großzügig fahren läßt und statt dessen, um es nicht schärfer zu formulieren, nach dem unruhigen Treiben hier verlangt. Wie dem auch sei, auf jeden Fall habe ich jene Chance und das freundliche Entgegenkommen des Kaisers auch nicht teilweise für meine eigenen Absichten ausgenutzt, um etwa meine stark zerrütteten finanziellen Verhältnisse aufzubessern oder um ein
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DIONS RECHTFERTIGUNG
[45.3-5
Amt oder einen einflußreichen Posten zu erlangen, nein, alles, was nur möglich war, habe ich an euch gewandt und ausschließlich das Interesse der Stadt im Auge gehabt. (4) Ob diese Dinge nun nützlich und von Bedeutung, ob sie nicht vielen anderen, sondern nur einer einzigen Stadt zuteil geworden sind, und zwar einer Stadt, die wohl mit zu den bekanntesten in Asien gehört und ein so großes Anrecht auf den Kaiser besitzt insofern, als der Gott dieser Stadt dem Kaiser seine Herrschaft prophezeit und vorausgesagt und ihn als allererster öffentlich zum Herrn der Welt ausgerufen hat 6 - über solche Fragen möchte ich nicht sprechen. Daß ihr aber nach diesen Vergünstigungen das größte Verlangen hattet und euch lange Zeit Hoffnungen machtet, um euch dann doch betrogen zu sehen, daß ihr auf pure Versprechungen hin privaten Personen - denn von den Prokonsuln hatte gewiß keiner solche Vergünstigungen jemals erwartet oder versprochel) - überschwengliche Ehren gabt, ihnen mit dem ganzen Volk weit vor die Stadt entgegengingt und in anderen Städten auf sie wartetet - das verdien t vielleich t Beach tun g. (5) Damals, als nich ts Bedeutendes und der Rede Wertes dabei herauskam, hätte ein aufrichtiger Mann, der frei von Neid und bösen Absichten war, sagen müssen: «Ihr rast und seid nicht mehr bei Sinnen, daß ihr euch so hartnäckig an solche Leute hängt und so niedrigen Menschen den Hofmacht, und das wegen Dingen, die weder nötig noch wichtig, ja nicht einmal sicher sind, so daß ihr obendrein nichts Festes in Händen habt.» Aber ich glaube, wie immer man es auch angefaßt hätte, man hätte schwerlich etwas dagegen unternehmen können. Und gewiß war es schmerzlicher zu sehen, daß dieser oder jener Prokonsul und nicht einer unserer Bürger es war, der diese Vergünstigungen durchsetzte und euch präsentierte. Zudem machte man sich heimlich Hoffnungen auf etwas, das niemals eintreten sollte, und ließ sich dadurch verzaubern.
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VERHÄLTNIS ZUR VATERSTADT
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(6) Und auch das Folgende habe ich schon von vielen Leuten gehört: Hätte einer der Prokonsuln in Sachen unseres Staatshaushaltes früher geantwortet und wäre das Vorhaben gescheitert, hätten sich viele über die Stadt lustig gemacht - ich meine nicht von den Nachbarn, das wäre noch eher zu ertragen gewesen, sondern von unseren eigenen Bürgern -, daß die Stadt nämlich fur sie Unerreichbares begehrt habe und sich in ihrer Torheit keineswegs von Königskindern unterscheide. Dabei schämten sich diese Leute nicht einmal, ihre eigene Vaterstadt zu verhöhnen und sich selbst init ihren Worten auf so erbärmliche Weise zu erniedrigen. Denn gehören sie zu den angesehenen und führenden Männern der Stadt, machen sie sich selbst gering als die Vorsteher einer schwachen und unbedeutenden Stadt; gehören sie aber zum niedrigsten Auswurf, machen sie ihr Verachtetsein noch größer und unerträglicher, wenn sie die Geringsten der geringsten Stadt sind. (7) Um mich aber durch diese Gedanken, die mir gerade einfallen, nicht von meinem Thema abbringen zu lassen - diese Vergünstigungen mögen, auf welchem Wege sie wollen, erlangt worden und hierhergekommen sein. Aber überlegt doch einmal: Bin ich einem der Bürger zu nahe getreten, indem ich persönlich fur meine eigenen Interessen geredet, öffentlich Vergünstigungen getadelt und euch zum Vorwurf gemacht und nach eigenem Gutdünken Leute protegiert habe? Oder waren es nicht vielmehr die anderen, die - es wurden ja nicht weniger als hundert Mitglieder in den Rat gewählt - ihre eigenen Freunde hineinbrachten und es einzurichten wußten, daß sie bei allen ihren Vorhaben Parteigänger und Helfershelfer hatten? Ich dagegen habe dergleichen weder getan noch besprochen in der Annahme, daß man sich mir, wenn ich nur wollte, eher als einem anderen anschlösse. (8) Denn ich war unbedingt dafur, daß auch niemand anders eine solche Praxis einftihre, daß die Politik nicht von politischen Klubs gemacht
DIONS RECHTFER TIGUNG
und die Stadt in Parteien zerrissen werde. Wenn es aber schon nicht anders sein konnte, wollte ich zumindest von solchen Vorwürfen frei sein selbst auf die Gefahr hin, weniger als jeder andere zu gelten und keines Wortes gewürdigt zu werden. Was für Fehler habe ich nun dabei gemacht? Was habe ich versäumt? Ich fuhle mich euch gegenüber zu dem Eingeständnis verpflichtet, daß ich selbst nichts Unrechtes und Gesetzwidriges getan, aber auch die anderen nicht daran gehindert habe. Und doch hätte ich das miteinemeinzigen Wort tun, vor euch hin treten und euch und die Prokonsuln auf das, was sich anbahnte, aufmerksam machen können, obwohl ihr Bescheid wußtet. Wenn ihr euch dann der Sache nicht angenommen hättet und sich auch die Prokonsuln davon ungerührt gezeigt hätten, wäre es ein leichtes gewesen, an den Kaiser zu schreiben. (9) Dieser Umstand also war es, der mich zur Zurückhaltung veranlaßte. Ich wollte nicht den Anschein erwecken, als ob ich gewisse Leute anklage und die Stadt schlechtmache, überhaupt, keinem der hiesigen Biirger allzusehr auf die Nerven fallen. Die Sache mit dem Rat wurde also auf diese Weise gehandhabt, im großen und ganzen richtig, denn ihr habt weder schlechte noch unverdiente Männer gewählt. Nur bekamen sie alle den gleichen Rang - auch das zu Recht und durch eigenes Verdienst, und doch hätten sie wie Leute, die in die Mysterien eingeftihrt werden, Mystagogen 7 gebraucht. Ich hielt es nicht einmal fur richtig, ich allein, irgendeinem Kandidaten meine Stimme zu geben, um damit nicht vielleicht ein Zeugnis von ausschlaggebender Bedeutung zu liefern und die anderen daran zu hindern, ohne Bedenken einen Gegenantrag zu stellen und sich gegen mich zu äußern. (IO) Was geschah nun? Als die Abstimmung zwei oder drei Tage gedauert hatte, verließ ich Prusa, um nicht durch meine Gegenwart bei den Vorgängen jemand als meinen Schuldner, Parteigänger oder mir wegen dieser Sache zu Dank Verpflichteten zu haben.
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1.]
VERHALTNIS ZUR VATERSTADT
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Denn für euch, nicht für mich hatte ich um die Ratsmitglieder gebeten. Und als man dann zum ersten Mal auf den Staatshaushalt zu sprechen kam, erwähnte ich nirgends auch nur mit einem Wort, was für ein großes Unrecht mir von vielen Seiten geschehen war- kehrt man nach so vielen Jahren aus der Verbannung heim, kann es kaum anders sein. Dabei hätte ich gegen einige nicht einmal zu prozessieren, sondern sie nur anzusprechen und an das, was in ihrem Besitz war, zu erinnern brauchen. So viele Sklaven waren mir davongelaufen, so viele Menschen hatten mir Hab und Gut genommen, so viele besaßen Land von mir, da sie niemand daran gehindert hatte. (II) Auch odysseus, der seinen Vater, seine vortreffliche Frau und seine Freunde zu Hause zurückgelassen hatte, mußte sich wegen seiner Abwesenheit große Verachtung gefallen lassen: Einige Leute nahmen sein Haus in Besitz und schmausten und tranken Tag für Tag; dabei schöpften sie von seinem Wein und schlachteten seine Herden. Schließlich vergriffen sie sich sogar an seinerGattin und wollten sie gegen ihren Willen zwingen,zu heiraten und Mann und Haus zu verlassen. Mußte man da nicht erwarten, daß auch ich von vielen viel derartiges Unrecht zu erleiden haben würde, zumal ich bereits von allen aufgegeben war und niemand mehr damit rechnete, daß ich noch am Leben sei? (12) Aber in diesen Dingen bin ich vielleicht nicht so wie die anderen, ich meine, daß ich nicht nur mehr Zurückhaltung übe als der normale Bürger, sondern auch als viele der sogenannten Philosophen. Aber in punkto Verschönerung der Stadt 8 habe ich euch Ärger gemacht. Wie es dazu kam, habt ihr oft gehört, aber vielleicht ist es gut, es euch noch einmal ins Gedächtnis zurückzurufen. Daß ich die Stadt verschönern und, wenn möglich, nicht nur mit Säulenhallen und Wasserspiclen, sondern auch mit Mauern, Häfen und Schiffswerften ausstatten wollte,
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gebe ich zu, ihr Leute. (13) Auch jene andere Leidenschaft von mir, man mag sie kindisch oder unüberlegt nennen, streite ich nicht ab: meinen Wunsch, die Stadt zu zentralisieren, möglichst viele Einwohner in ihr zusammenzuziehen und die Leute nicht nur aus dieser Gegend, sondern womöglich auch aus den anderen Städten zu veranlassen, hierher zu kommen, so etwa wie Epameinondas einst Boiotien mit Theben oder Theseus Attika mit Athen verband, wie die Mytilenaier einst, wie es heißt, nachdem sie Aiolien und die Gegend am Hellespont und um die Troas in ihre Gewalt gebracht hatten, ganz Lesbos in ihrer einen Stadt zusammenzogen. (14) Indes ist mir die Gesinnung einiger Leute hier aus dem Volk wohl bekannt, und ich kenne die Grenzen meiner Kraft, meine Verpflichtungen und die Kürze meines Aufenthaltes bei euch. Trotzdem habe ich kein zu hohes Ziel angestrebt und meine Erwartungen nicht zu hoch geschraubt. Ich konnte nur meine eigenen Gedanken nicht zügeln, sondern wie Verliebte immer wieder auf den Gegenstand ihrer Liebe zu sprechen kommen, so erwähnte auch ich immer wieder, was ich hinsichtlich der Verschönerung und Zentralisierung, der Einkünfte und ungezählter anderer Dinge fUr die Stadt als vorteilhaft ansah. (IS) Sollte jemals die Zeit kommen und einer der Götter diese Wünsche in ErfUllung gehen lassen, dann werdet ihr das Unmaß an Feindseligkeit und Haß gewisser Leute gegen mich, um nicht zu sagen, gegen euch sehen. Denn dann werden sie nicht mehr in versteckten Anspielungen, sondern offen und ohne Umschweife sprechen und kritisieren, und wenn sie die Arbeiten nicht verhindern können, sich lieber erhängen als eine solche Stadt sehen zu müssen, wie es Prusa, falls die Götter wollen, durchaus werden kann. Damals auf jeden Fall, als der Prokonsul, sei es auf eure, vielleicht aber auch auf meine Veranlassung hin, den Vorschlag aufnahm 9 und eine Volksversammlung einberief, ohne daß ich es vorher wußte, und eine
45,16-46,2]
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Stellungnahme zu diesen Fragen vorlas, da konnte ich nicht mehr an mich halten, sondern stand auf, gab meine Ratschläge und erklärte die Sache denen, die keine Ahnung davon hatten. (16) Danach dann war es nicht etwa so, daß ihr, das Volk, diese Unternehmungen gewollt hättet, einer der Beamten aber widersprochen hätte, oder daß zwar niemand widersprochen, sich jedoch kein begeisterter Mitarbeiter gefunden hätte. Nein, alle waren bereit, nicht nur mit Worten den Plan zu unterstützen und selbst tatkräftig dazu beizusteuern, denn sie hielten ihn rur gut und nützlich. So wurde denn der Vorschlag als schön, herrlich und fur die Stadt vorteilhaft angenommen. 46.
EINE REDE, DIE DION IN DER VATERSTADT
GEHALTEN HA T, BEVOR ER PHILOSOPH WURDE
(I) Ich bin nicht so sehr üher euer Benehmen erstaunt, ihr Leute, obwohl auch das einigermaßen empörend ist, vielmehr ist es die Tatsache, daß ich keinen Grund fur euren Zorn gegen mich sehen kann, was mich so verlegen macht. Denn berechtigter Zorn läßt sich durch Verhandlungen besänftigen, wer aber könnte ungerechtfertigten Haß heilen? Trotzdem möchte ich euch bitten, mir Gehör zu schenken, denn ich spreche weniger um meiner selbst als um euretwillen. Habe ich nämlich nichts falsch gemacht, werdet ihr doch nicht grundlos einen eurer Bürger hassen wollen j bin ich aber schuldig, sprechen meine Worte gegen mich, nicht für mich, und so wird das Gericht, das ich über mich halte, strenger sein, als ihr selbst es wünscht. Denn der Schlechtigkeit überfuhrt zu werden ist in jedem Fall schlimmer als Steinigung oder Verbrennung. (2) Zuerst müßt ihr begreifen, daß Dinge, die euch furchtbar scheinen, Steine und Feuer, nicht für jeden furchtbar sind, ferner, daß ihr mit diesen Dingen nicht mächtig, sondern schwächer als jeder andere seid, es sei denn, man dächte an die Stärke von Räubern
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und Rasenden '. Die Stärke einer Stadt und Demokratie aber beruht auf anderen Grundlagen, in erster Linie auf vernünftigem Denken und rechtem Handeln. Über die Vortrefrlichkeit meines Vaters brauche ich kein Wort zu verlieren, denn sooft ihr ihn erwähnt, preist ihr ihn, in der Öffentlichkeit so gut wie privat, als einen überdurchschnittlichen Bürger. (3) Allerdings müßt ihr wissen, daß er mit diesen Lobsprüchen nichts mehr anfangen kann; wenn ihr jedoch seine Nachkommen anerkennt, werdet ihr auch sein Gedächtnis bewahren. Auch von meinem Großvater hat noch niemand gesagt, daß er der Stadt Schande gemacht oder nichts von seinem Vermögen für sie gestiftet habe. Denn sein ganzes Vermögen, das er vom Vater und Großvater hatte, gab er großzügig dahin, so daß ihm nichts mehr übrigblieb; ein neues aber erwarb er sich durch seine Ausbildung und durch kaiserliche Gunst. (4) Dabei forderte er trotz einer solchen Freundschaft und Wertschätzung offensichtlich keinen Dank für sich selbst, sondern pflegte und hütete die Sympathien des Kaisers nur fur euch'. Sollte es aber jemand albern vorkommen, euch an den guten Willen und die Leistungen eurer eigenen Bürger zu erinnern, so verstehe ich nicht ganz, wie ein solcher Mann überhaupt wünschen kann, selbst von irgend jemand gut behandelt zu werden. Von vortrefrtichen Männern stamme ich ab, und selbst wenn ich vollkommen schlecht sein sollte, habe ich um meiner Vorfahren willen eine gewisse Beach tun g verdien t, aber nicht, von euch gesteinigt oder verbrannt zu werden. (s) Seid aber auch so freundlich und werft einen Blick auf meine Verhältnisse, ihr Leute! Mein Vater hinterließ uns ein Vermögen, das zwar groß aussah, aber nur wenig wert und viel kleiner war als das Vermögen anderer, denn nicht weniger als 400000 Drachmen waren Schuld briefe und die Geschäfte draußen derart, daß sie noch viel mehr Kummer machten als die Schuldbriefe. Es gab sozusagen überhaupt keine Garantie rur
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unsere Gelder, denn mein Vater hatte sein ganzes Vermögen im Vertrauen aufseine eigene Gel tung erworben und geglaubt, niemand werde es ihm streitig machen. (6) In solch einer Lage zurückgelassen, habe ich bis heute noch nicht den mir zugefallenen Teil der Darlehen zurückgezahlt bekommen, euch aber die größten zuschüsse gezahlt, mehr als jeder andere Bürger der Stadt. Und doch wißt ihr selbst, daß es viele reichere Leute gibt als mich. Was ist es also, weswegen ihr mir zürnt, mich und den Soundso von allen Bürgern ehrlos ausschließt und uns mit Steinen und Feuer droht? Sage ja keiner, ich spräche fur jenen Mann! Gegen niemand, nicht einmal gegen einen Verbrecher sollte man sich vielleicht derart aufbringen lassen. Abgesehen davon habe ich mit mir selbst genug zu tun. (7) Überlegt euch doch einmal, was für ein Bürger ich in anderen Dingen bin, und vergleicht mich mit wem ihr wollt von denen, die ihr nicht den Flammen übergebt. Ich habe Ländereien, und zwar alle auf eurem Grund und Boden. Von meinen Nachbarn - und deren gibt es eine ganze Menge, arme und reiche - hat noch niemals einer mich beschuldigt, weder zu Recht noch zu Unrecht, daß ich ihm etwas fortgenommen oder ihn aus seinem Eigentum vertrieben hätte. Ferner bin ich kein Starredner, aber auch nicht gerade der armseligste Vertreter dieser Klasse. (8) Gibt es nun jemand, den ich mit meinen Worten beleidigt habe, indem ich einem, der die Ruhe liebt, eine Aufgabe zudiktierte oder ihm aus Mißgunst Schaden zufügte? Oder brachte ich jemand hinsichtlich seines Vermögens in Gefahr, indem ich behauptete, es gehöre dem Kaiser, oder habe ich als Verteidiger vor Gerich t jemand im Stich gelassen? Dann ist an der gegenwärtigen Knappheit niemand schuldloser als ich. Habe ich etwa das allermeiste Getreide angebaut, halte es unter Verschluß und treibe damit die Preise hinauf? Ihr selbst kennt ja den Ertrag meiner Ländereien und wißt, daß ich, wenn überhaupt, nur spärlich Getreide verkauft habe und
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nur, wenn die Ernte über Erwarten reich ausgefallen war; daß ich aber in solchen Jahren wie dem jetzigen nicht einmal für mich selbst gcnug habe, sondern meine gesamten Einnahmen von Wein und Vieh beziehe. Aber vielleicht meint ihr, ich wolle mein Geld, obwohl ich es sonst verborge, nicht zum Ankauf von Getreide hergeben. Auch darüber brauche ich kein Wort zu verlieren, denn ihr wißt selbst, wer in der Stadt Geld ausleiht und wer es borgt. (9) Was ist es dann, was ich tun könnte, um eure Not zu lindern, und nicht tun will, oder weshalb ihr gegen mich so aufgebracht seid? Beim Himmel, daß ich die Säulenhallen und Werkstätten in der Nähe der heißen Qgellen gebaut habe, das sei mein Unrecht, so sagen einige, das ich der Stadt angetan hätte. Aber wem hättet ihr oder jemand anders schon deswegen Vorwürfe gemacht, weil er auf seinem eigenen Grundstück ein Haus baut? Oder ist deswegen etwa das Getreide teurer geworden? Dabei habe ich das Grundstück für fünfzigtausend Drachmen gekauft, das ist ein Preis, der aufjeden Fall über dem Wert liegt. Nein, bei Zeus und allen Göttern, ich schäme mich, wenn einer der Bürger - denn natürlich ist es nicht die ganze Stadt - so schlecht ist, daß er Anstoß daran nimmt und eifersüchtig wird, wenn er sieht, daß jemand eine Säulenhalle oder eine Werkstatt gebaut hat. (10) Natürlich muß die Sache, über die ihr so empört seid, wirklich überlegt werden, aber sie ist noch nicht unheilbar, daß sie ein derartiges Benehmen rechtfertigte. Zwar ist der Getreidepreis höher als bei uns üblich, aber nicht so hoch, daß man daran verzweifeln müßte. Es gibt noch Städte, in denen das Getreide immer, selbst unter den besten Bedingungen, soviel kostet. Nun macht nur wieder Lärm, als wenn ich sagen wollte, daß auch in Prusa dieser Preis gelten solle und kein niedrigerer. Ich aber sage: Allerdings muß man darauf bedacht sein, ihn niedriger zu halten, aber man sollte nicht der-
60S art erbittert sein über das, was geschehen ist, und darüber den Verstand verlieren. Euer jetziges Verhalten nämlich ist durch eine solche Lage keineswegs gerechtfertigt. Wenn ich eure Kinder und Frauen umgebracht hätte, könntet ihr euch nicht wilder gebärden. (Il) Denn den eigenen Bürgern zu zürnenob zu Recht oder zu Unrecht, lasse ich dahingestellt, aber Bürger sind es in jedem Fall, mit bürgerlichen Rechten und so gut wie jeder andere - und sie, ohne eine Erklärung abzugeben oder anzunehmen, sofort steinigen und ihre Häuser anzünden zu wollen, um womöglich sie selbst mitsamt ihren Kindern und Frauen zu verbrennen -zu was für Menschen paßt ein solches Wesen? Mir scheint, bei Zeus und allen Göttern, auch wenn ihr es nicht gerne hören werdet, nicht zu Leuten, die in Not sind und Mangel am Notwendigsten haben, denn Not lehrt Besonnenheit. Wenn ihr nun glaubt, ich hätte das nicht in eurem eigenen Interesse gesagt, begeht ihr einen sehr großen Fehler. (12) Denn wenn ihr ein solches Wesen an den Tag legt und, falls ihr zornig auf jemand seid - natürlich geschieht vielerlei in einer Stadt, Recht und Unrecht -, wenn ihr also eine derart harte Strafe für angebracht haltet, daß ihr den Betreffenden auf der Stelle mitsamt seinen Kindern verbrennt und einige Frauen, freie Menschen, zwingt, in zerrissenen Kleidern vor euch zu erscheinen und euch kniefällig anzuflehen, als wäre Krieg welcher Mensch wäre so dumm und von allen guten Geistern verlassen, daß er auch nur einen Tag in einer solchen Stadt leben wollte? Da wäre es noch weit besser, verbannt zu sein, ohne Bürgerrecht in der Fremde zu leben oder ein ähnliches Schicksal zu haben. Und seht doch, wie fadenscheinig auch in meinem Fall die vorgebrachte Ausrede ist, weshalb ihr vor meinem Haus kehrtgemacht haben wollt: die tiefgelegene Gasse habe euch Zweifel kommen lassen 3 ! (I3) Denn war es dieser Umstand, der mich gerettet hat, so wäre es höchste Zeit, sich fortBEVOR ER PHILOSOPH WURDE
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an auf die schwer zugänglichen, hochgelegenen oder steilen Stellen in der Stadt, als wäre sie ein Heerlager, zurückzuziehen. Aber beim Himmel, selbst in einem Lager sucht nicht jeder sein Zelt an einer geschützteren Stelle aufzuschlagen als der andere, vielmehr gilt die ganze Aufmerksamkeit dem Feind. Aber was auch immer euch bedenklich gemacht hat - dem Glück, das euch kehrtmachen ließ, sage ich Dank, obwohl eure Bedenken nicht zu Recht bestanden. Denn ich hätte euch keinen Widerstand entgegengesetzt, nein, in diesem Punkt dürft ihr ganz sicher sein: Ihr könnt mein Haus anzünden, wann ihr wollt. Ich bin's zufrieden, wenn ich Weib und Kind nehmen und fortziehen kann. 14) Glaube nur niemand, ich hätte das aus Unwillen über meine eigene Lage gesagt und nicht, weil ich fürchte, ihr könntet in den Ruf von gewalttätigen und gesetzlosen Leuten kommen. Denn nichts, was in den Städten vorgeht, bleibt den Prokonsuln - ich meine die mächtigeren in anderen Gegenden verborgen. Wie die Angehörigen Kinder, die zu Hause allzu ungezogen sind, den Lehrern melden, so werden auch die Fehler der Gemeinden diesen Prokonsuln hinterbracht. Euer Benehmen ist jedenfalls weder gut noch bringt es euch Vorteile. Die Forderung aber, sich der Marktlage anzunehmen und Leute zu wählen, die dazu finanziell imstande sind und noch keine Abgaben geleistet haben, oder, sollte das nicht möglich sein, dafür zu bestimmen, wen ihr wollt: das heißt vernünftig handeln, und in diesem Punkt wird euch keiner widersprechen.
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(1) Wenn ich mich erhebe, ihr Leute, erwartet zunächst einmal bitte nicht, außergewöhnliche und bedeutende Worte von mir zu hören, ich meine Worte, die auf ein bestimmtes Vergnügen,
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auf Schönheit oder Weisheit abzielen. Denn es könnte sein, daß ich auch sonst zu einer solchen Rede überhaupt nicht imstande gewesen bin, sondern nur durch einen besonderen Glücksfall das Volk und alle Städte getäuscht habe. Wie dem auch sei, jetzt jedenfalls ist es für mich angebracht, Worte dieser Art nicht zur Verfügung zu haben und sie zu vergessen, denn die Worte miissen den Taten und der Lage jeweils angepaßt sein. Ich aber habe es schon lange mit kleinen und nicht gerade rühmlichen Dingen zu tun. (2) Nun, das muß vielleicht so sein. Früher wunderte ich mich nämlich über die Philosophen, die ohne jede äußere Notwendigkeit ihr Vaterland verließen und lieber bei anderen Menschen leben wollten, obwohl sie selbst immer wieder darauf hinwiesen, daß man sein Vaterland ehren und über alles schätzen müsse, daß es der menschlichen Natur entspreche, sich mit dem öffentlichen Leben zu befassen und sich politisch zu betätigen. Ich denke da an Zenon, Chrysippos, Kleanthes. Keiner von ihnen blieb in der Heimat trotz solcher Worte. Dachten sie etwa anders, als sie redeten? Das am allerwenigsten, meine ich. (3) Die Sorge um die eigene Stadt betrachteten sie als eine schöne, wirklich segensreiche und weisen Männern angemessene Aufgabe, aber die Schwierigkeiten und Hindernisse dabei machten sie mißtrauisch: die Dummheit der einen, die Scheelsucht der anderen, die Rücksichtslosigkeit der dritten - es sei denn, ein weiser Mann hätte zugleich auch die Stärke und Macht eines Herakles; das aber hielten sie für ausgeschlossen. (4) Und doch hören wir selbst von Herakles, er habe sich zwar zum Herren von Ägypten und Libyen, ferner von den Völkern am Schwarzen Meer, von Thrakern und Skythen, gemacht; wohl habe er Ilion, nachdem er nur mit einem kleinen Heer übergesetzt sei, genommen I, die Herrschaft über alle diese Völker angetreten und sich selbst als König eingesetzt. Dann aber, als er nach Argos gekommen sei, habe er den
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Auftrag bekommen, den Mist aus dem Stall des Augias zu räumen, Jagd auf Schlangen und Vögel zu machen, damit sie die Bauern in Stymphalos nicht belästigten, und andere gemeine und erniedrigende Arbeiten dieser Art zu verrichten. Zu guter Letzt soll er sogar in den Hades geschickt worden sein - mit so ausgesuchtem Anstand habe ihn sein Landsmann 2 behandelt. Die Argiver und Thebaner 3 aber würden Herakles preisen und lieben, die erniedrigende Art seiner Behandlung jedoch übersähen sie. (5) Solche Gedanken mögen auch Homer, der nicht nur ein guter Dichter, sondern auf seine Art auch ein Philosoph war, veranlaßt haben, Zeit seines Lebens im Ausland zu weilen, so daß man nicht einmal seinen Geburtsort kennt, und, wie es scheint, lieber fünfundzwanzig Drachmen zu erbetteln und obendrein als Verrückter zu gelten, statt in der Heimat zu leben. So kam es, daß sich in späterer Zeit alle um ihn als ihren Landsmann stritten. Und während sein Name in aller Welt, bei Griechen und Nichtgriechen, bekannt ist, haben die meisten von los - wenn er wirklich dort geboren ist - kaum je etwas gehört, und auch von Chios und Kolophon spricht man nicht viel, obwohl Kolophon einen Dichter, der nicht schlechter ist als Homer, aufzuweisen hat, Apollon 4 • Und Pythagoras floh freiwillig aus Samos, als es von einem Tyrannen 5 regiert wurde, in aller Welt aber und ganz besonders in Italien, glaube ich, wurde er wie ein Gott geehrt. (6) Aber da sitzt schon lange einer und fragt: «Was soll das? Warum vergleichst du dich mit Homer, Pythagoras und Zenon?» Das tue ich nicht, bei Gott, nur waren eben alle Philosophen der Meinung, es sei schwer, in seiner Heimat zu leben. Was denkt ihr euch eigentlich? Daß sie ihre Heimat nicht geliebt hätten? Daß Homer in Odysseus jammert und ihn sagen läßt, er wolle nur noch einmal den Rauch von Ithaka aufsteigen sehen und dann sterben 6, daß der Dichter selbst aber seine eigene Stadt nicht geliebt und in der Gestalt des Odysseus
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nicht seine eigene überstarke Sehnsucht nach dem Vaterland ausgedrückt habe? (7) Dagegen kann ich nicht sagen, ob der Mann 7, der Zeit seines Lebens in der Vaterstadt geblieben ist und getan hat, was Bürger und Gesetze von ihm verlangten, den Athenern einen bedeutenden Nutzen gebracht hat; den Schaden jedoch, der ihnen daraus erwuchs, den kenne ich. Denn noch heute müssen sie sich bezüglich des Sokrates nachsagen lassen, sie hätten den Mann nicht gerecht und ehrfürchtig behandelt, und es heißt, gerade hierin sei die Ursache ihres ganzen späteren Unglücks zu suchen. (8) Das sind schlicht die Worte eines «Vagabunden» und «Schwätzers»8. Aber was ich schon sagte, ich bitte euch, im Augen blick keine großartige und weise Rede von mir zu erwarten, sondern nur eine gewöhnliche und schlichte, dem Thema angemessene. Ihr wißt genau, daß ich mir gleich bei meiner Ankunft vorgenommen hatte zu schweigen, und ich hätte das Wort nicht ergriffen, wenn sich nicht ein dringender Notfall ergeben hätte. Denn ich habe ein Problem in Angriff genommen, das mir wirklich viele Probleme aufgibt und eine ganz merkwürdige Unlust in mir aufkommen läßt. Früher wußte ich nicht, was es eigentlich bedeuten solle,daß die thessalischen Hexen den Mond zu sich herabziehen - jetzt weiß ich es zur Genüge 9 • (9) Und den Aristoteles hatte ich ab und zu glücklich gepriesen, daß er als Stageirite - Stageira ist ein DOlfin der Gegend von Olynthos 'O - nach der Einnahme von Olynthos mit Alexander und Philipp bekannt wurde und den Wiederaufbau des Örtchens durchsetzte; ihm allein, so hieß es, sei das Glück zuteil geworden, der Gründer seiner Vaterstadt zu werden. Indessen kam mir aber erst neulich ein Briefin die Hände, in dem er mit Bedauern und Jammern bekenn t, daß einige Siedler den König und die Satrapen, die dorthin kämen, zu bestechen suchten, so daß nichts Gutes dabei herauskommen könne und die Neugründung als Stadt ausgeschlossen sei.
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(10) Wo es nun schon Leute verdrießt, wenn sie, vertrieben und heimatlos, die Aussicht haben, eine neue Heimat zu bekommen und unter rechtlichen Verhältnissen als freie Bürger zu leben, und sie es vorziehen, statt Form und Namen einer Stadt zu haben, nach Art der Barbaren in Dörfern verstreut zu wohnen, soll man da überrascht sein, daß auch manches andere gewisse Leute verärgert? Aristoteles hat in seinem Brief geschrieben, daß er den Kampf aufgebe; er sagt nämlich, er zeige mit den Fingern nach oben ". Aber glaubt mir, auch ich zeige mit meinen eigenen und sonst noch verfügbaren Fingern nach oben. (II) Der böse Geist jener Menschen war stärker als die Bemühungen des Aristoteles, und so ließen sie das Dörfchen nicht zum Rang einer Stadt emporklettern - auch heute noch ist es unbewohnt. Aber werft mir jetzt bitte nicht auch noch vor, ich nennte eure Stadt hier «Stageira» und «Dorf»! Denn ich kann euch beschwören, daß mir keine Stadt besser vorgekommen ist als Prusa, auch wenn es nur die Schmiede des Soundso" besäße, die ich, der «Städte- und Burgenzerstörer», habe einreißen lassen_ (12) Damit ich nun aber nicht vergesse, weswegen ich mich erhoben habe: Vielleicht habe ich einen menschlichen Irrtum begangen. Gut, welche Strafe also soll ich erleiden für diesen Irrtum, oder was wollt ihr mit mir machen? Ich möchte gerne euren Rat wissen_ Soll ich auf eigene Kosten das so weit g~die hene Werk wieder einreißen und den früheren Zustand wiederherstellen? Aber vielleicht hin ich dazu nicht in der Lage. (13) Oder was, um Gottes willen, soll ich tun? Sagt es mir! Ich sah den Ehrgeiz anderer Städte in diesen Dingen, wobei ich nicht nur an die Städte in Asien, Syrien und Kilikien denke, sondern auch an die in eurer unmittelbaren Nachbarschaft, an Nikomedia, Nikaia und Kaisareia - auch das Menschen von edler Abstammung und gute Griechen, die in einer viel kleineren Stadt als wir wohnen_ Dann sah ich, daß die maß-
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UI!
geblichen Leute in allen diesen Städten, auch wenn sie in anderen Dingen verschiedene Meinungen hatten, in diesem punkte einig waren, daß ferner der Kaiser durch eine günstige Fügung in einem Briefl3 diesbezügliche Anweisungen gab, weil er eure Stadt auf jede Weise sich entwickeln lassen wollte. Gestattet mir, euch den Brief vorzulesen, da der Brief des Aristoteles zu lang und auch nicht unbedingt nötig ist. (14) So war ich der Meinung, daß es auch bei euch so sein werde und niemand am Ausbau der Stadt Anstoß nehmen könne. Und soweit ging es auch ganz gut, denn ihr wart damit einverstanden und habt persönlich bei vielen Gelegenheiten voll Begeisterung große Beiträge geleistet. Was wollt ihr also? Ich schwöre euch bei allen Göttern, wenn ich euch oder einige von euch verletze oder euch lästig vorkomme, möchte ich um diesen Preis ganz gewiß niemals den Palast des Dareios oder den des Kroisos mein eigen nennen oder wünschen, mein väterliches Haus wäre wirklich aus Gold und würde nicht nur wie das des Nero so genannt. (IS) Denn ein goldenes Haus ist zu nichts nutze, so wenig wie ein goldener Topf oder die goldene Platane bei den Persern 14. Dagegen ist es von Vorteil, wenn eineStadt prächtig ausgebaut wird, mehr Luft und mehr Raum bekommt, im Sommer Schatten, im Winter Sonne unter dem Schutz eines Daches 15 und statt erbärmlicher und primitiver Trümmer hohe Gebäude, wie sie in eine große Stadt gehören. Wie es bei rassigen Fohlen und Hunden ist, so sollte es auch bei unserer Stadt sein: Wenn die Beine hoch und kräftig sind, schließen die Beobachter daraus auf die künftige Größe des Tieres; sind sie aber kurz und unentwickelt, sagt man, sie blieben immer so. (16) Aber was rede ich jetzt von diesen Dingen! Jener Sophist hatte recht, als er mich eine Nachtigall nannte, allerdings nur, um mich zu beleidigen; er tat es deshalb, wie mir scheint, weil auch die Dichter die Nachtigall eine Schwätzerin nennen.
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Aber vielleicht bin ich wie die Zikaden: Von der Sonne ausgedurstet, singen sie vor lauter Dummheit, ohne damit etwas zu erreichen. Nur soviel sollte hinsichtlich der Grabmäler und Heiligtümer vielleicht nicht unerwähnt bleiben: Die Leute von An tiocheia haben aller Wahrscheinlichkeit nach Dinge dieser Art '6 nicht unberührt gelassen, denn sie nahmen eine weit größere Strecke als wir - ihre Stadt mißt 36 Stadien in der Länge -, und sie haben aufbeiden Seiten Säulenhallen errichtet. Auch die Tarser und neuerdings die Nikomeder, die beschlossen haben, die Grabmäler zu verlegen, werden ähnliches unternehmen. (17) Und Makrinos, den ihr als Wohltäter der Stadt eingetragen habt, ließ Grabmal und Statue des Königs Prusias vom Marktplatz verlegen. Denn in jenen Städten gibt es ja keinen, der seine Stadt liebte und sich um die Götter kümmerte, bei uns aber gibt es deren eine ganze Zahl! Aber macht nur, was ihr wollt, denn wozu brauche ich hier in Prusa eine Säulenhalle? Wie wenn ich nicht sonstwo spazierengehen könnte, wo ich wollte, in der Bunten Halle '7 von Athen, in der Persischen 18 von Sparta, in den goldenen Hallen von Rom, in den Hallen von Antiocheia und Tarsos, wo man mir mit mehr Achtung begegnet! Wie wenn ich allein mich aufmachen und spazieren gehen wollte und kein Bürger sonst! Nein, niemand hat in einer Stadt ein Gymnasion für sich allein zum Üben, eine Säulenhalle, ein Bad oder eine andere öffentliche Einrichtung. Ich müßte ja verrückt und schwachsinnig sein! (r8) Aber worum ich euch bereits bat: Gebt mir einen Rat! Denn obwohl ich euch auf jede erdenkliche Weise zu Gefallen sein möchte, bin ich ratlos. Mache ich mich nämlich ans Werk und treibe die Arbeit voran, sagen einige, so wie die Dinge jetzt liegen, ich sei ein Tyrann und risse die Stadt samt allen Heiligtümern ein. Natürlich war ich es, der den Zeustempel in Brand gesteckt hat! Dabei habe ich die Statuen vorm Unter-
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gang gerettet, und heutzutage stehen sie am sichtbarsten Punkte der Stadt. Verhalte ich mich aber ruhig, weil ich niemand stöhnen lassen und bei keinem Anstoß erregen will, schreit ihr: «Das Werk soll vollendet oder, was schon steht, eingerissen werden.» Wie wenn ihr mir das zum Vorwurf machen und mich darin tadeln könntet! (19) Was also soll ich tun? Was immer ihr sagt, ich werde mich danach richten, auch in allem anderen. Mag einer ruhig eine Arbeit ausgeführt haben, ohne die Abrechnung vorzulegen, oder noch mit ihr beschäftigt sein und regelmäßig von den Jahr für Jahr gewählten Beamten Geld bekommen, wie wenn er damit einen Topf ohne Boden füllen wollte, oder mag sonst etwas geschehen - was geht das mich an! Denn ich werde nicht durch die Säulenhalle gehen, das dürft ihr mir glauben. Oder soll ich weitermachen, zum Prokonsuln gehen und ihn bitten, daß er mit sanftem Druck je nach Zahlungsfähigkeit die Gelder eintreibt von denen, die sie versprochen haben? Nicht nur dazu bin ich bereit, ich will auch selbst einen Teil der versprochen Summe zahlen, um die anderen zu entlasten. (20) Nur, gebt mir irgendeinen Auftrag! Andernfalls werde ich mich zurückziehen, auch wenn ihr noch so laut schreit, oder besser, ich werde weggehen. Denn mir wird es nich t wie dem Fuchs, der das Fleisch fraß und dann wegen seines vollen Bauches nicht mehr aus der Eiche herauskonnte, schwerfallen, hier wegzukommen; ich bin nämlich viel dünner als zu der Zeit, da ich hereinkam. Beim Himmel, glaubt nur nicht, ihr tätet mir mit eurem Geschrei über die Säulenhalle einen Gefallen! Denn es gibt, wie ich höre, sozusagen nur einen Mann in der Stadt, der mir einen Gefallen tut und peinlich auf mein Wohlergehen achtet; kein Freund und kein Verwandter könnte so um mich besorgt sein. Seht selbst, ob er euch nicht gut auf mich bedacht zu sein und mich zu lieben scheint! (21) Zunächst einmal ist er der Meinung, ich solle nach so vielen Gefahren und Entbehrungen hier
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in Prusa der Ruhe pflegen und mich meinen privaten Angelegenheiten widmen, nicht aber mich um die Prokonsuln bemühen oder eine andere Aufgabe übernehmen. Sodann, da ich nur einen winzigen Teil meines Vermögens wiedergefunden und zusätzlich zu den früheren Verlusten beim Tod meiner Schwester nichts gewonnen, sondern alles, was sie von dem Meinigen besaß, auch noch verloren hätte und zum Erwerb meines Grundstückes hätte Geld aufnehmen müssen, gibt er mir den Rat, diese und die früheren Schulden zurückzuzahlen, statt eine Säulenhalle zu bauen und über meine Kräfte Geld auszugeben. (22) Da ich ferner in einem guten, wenn nicht sogar freundschaftlichen Verhältnis zum Kaiser und zu vielen andern, man darf wohl sagen zu den einflußreichsten Römern stünde, solle ich doch als angesehener und geschätzter Freund mit ihnen zusammen leben, statt mich bei euch von jedem beliebigen zur Rechenschaft ziehen zu lassen. Wenn ich aber reiselustig sei, so rät er mir, die größten Städte zu besuchen, von viel Begeisterung und ehrgeizigem Aufwand begleitet; wohin auch immer ich käme, man werde es mir zu danken wissen, mich bitten, zu sprechen und zu raten, und vom frühen Morgen an an meine Tür kommen, ohne daß ich daftir etwas auszugeben oder zu stiften hätte. So würde mich alle Welt bewundern und hier und da jemand sagen: Meine Güte, was ist der geliebt und geehrt pan alletl Menschm, in welche Stadt, ur/ter welches Volk er mag kommen. '9 (23) Ich solle aber auf keinen Fall von kleinen Rücklagen große Ausgaben machen, nutzlosen Beschäftigungen nachgehen, den Körper, der der Pflege und größter Aufmerksamkeit bedürfe, durch meine Gleichgültigkeit zerrütten, die Seele so lange Zeit von der Kost der Philosophie und ähnlichen geistigen Beschäftigungen fernhalten und mich nicht von diesem und jenem zur Rechenschaft ziehen, manchmal sogar beschimpfen und beleidigen lassen.
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Bei den Göttern, ist der Mann, der so für mich sorgt und spricht, mir nicht am besten von allen Menschen gesonnen, hat er es nicht verdient, am meisten von mir geliebt zu werden? Wenn ich dagegen jemand von mir als einem Tyrannen sprechen höre, kommt mir das sonderbar und lächcrlich vor. (24) Denn ich verstehe unter den Taten eines Tyrannen, verheiratete Frauen zu verführen, Knaben zu verderben, freie Menschen vor aller Augen zu schlagen und zu mißhandeln oder sie auch zu martern, indem man sie zum Beispiel in einen Kessel mit siedendem Wasser taucht oder mit Pech bestreicht. Nichts dergleichen tue ich. Ferner weiß ich von einem weiblichen Tyrannen, von Semiramis, daß sie, in fortgeschrittenen Jahren immer noch verbuhlt, Männer zwang, mit ihr zu schlafen. Auch unter den männlichen Tyrannen soll es einen gegeben haben, der dasselbe getan hat, ein alter Lustgreis'o. (25) Aber was habe ich damit zu schaffen? Ist es etwa der Umstand, daß ich mein Haus in großem Stil wiederaufbaue, statt es verfallen zu lassen? Daß ich ein Purpurkleid und nicht einen zerrissenen Kittel trage"? Daß ich langes Haar und einen Bart habe? Das jedoch paßt vielleicht weniger zu einem Tyrannen als zu einem König. Auf jeden Fall hat jemand gesagt, daß es mit zum König gehöre, sich trotz seiner guten Taten beschimpfen zu lassen. 48.
EINE POLITISCHE ANSPRACHE
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(I) An erster Stelle, ihr Leute, ist es unsere Pflicht, dem edlen Varenus I dankbar zu sein, einmal wegen der Gunst, die er der Stadt im allgemeinen erwiesen hat, aber auch deswegen, weil er unserem Wunsch, wieder eine Volksversammlung abzuhalten, bereitwillig, ja sogar mit Freuden stattgegeben hat. So handelt nur jemand, der euch Vertrauen schenkt und weiß,
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POLITISCHE ANSPRACHE
daß ihr dieses Recht zu keinem verkehrten Zweck mißbrauchen werdet. Denn wohl niemand schichtet grünes Holz aufeinander, um ein Feuer zu machen - er weiß im voraus, daß das bestimmt viel lästigen Rauch gibt. So läßt auch kein vernünftiger Prokonsul ein Volk, das im Aufruhr begriffen ist, sich versammeln, es sei denn, ein ganz besonderer Notstand zwänge ihn dazu. (2) In dieser Stunde ist es also eure Aufgabe, seine Meinung nicht Lügen zu strafen, sondern euch in der Versammlung diszipliniert und ordentlich aufzuführen: zunächst einmal, denke ich, gegenseitig Freundschaft und Eintracht zu üben und, wenn er auf eure Einladung hin hier erscheint, die anderen Fragen, über die ihr euch so lautstark ereifert, zu vertagen. Denn er wird sich schon von sich aus eure öffentlichen Probleme vornehmen, selbst wenn ihr ihn daran hindern wolltet. Für jetzt aber heißt ihn dankbar willkommen und empfangt ihn mit Glückwünschen und Ehren, damit er euch nicht besucht wie ein Arzt, der bedenklich und ohne rechte Lust Kranke um ihrer Heilung willen visitiert, sondern wie jemand, der gern und mit Freuden zu Gesunden kommt. (3) Denn diesmal wird er vielleicht schon morgen wieder aufbrechen, aber bald kommt er zurück. Dann werdet ihr die Möglichkeit haben - vorausgesetzt, daß wir selbst' euch in der Zwischenzeit nicht eines Besseren belehrt haben -, euch gegenseitig zu Richtern und Schiedsleuten anzurufen und das Wort zu ergreifen, wenn jemand wirklich eine Frage von allgemeinem Interesse auf dem Herzen hat, und euch niederzuschreien. Aber vor der Zeit sich zu empören ist wohl in jedem Falle außerordentlich unklug. Denn wo hättet ihr schon einen Versuch gemacht, wann etwas von ihnen 3 verlangt? Oder wer hätte nicht auf euch gehört? Und was die Glückwünsche fur mich betrifft, so bitte ich euch, sie auf alle zu übertragen. Denn wie es sich bei einem Festmahl nicht schickt, wenn nur einer in der Runde trinkt,
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und wir deswegen nich t nur dem Mundschenken, sondern auch dem Zecher böse sind, so auch bei öffentlichen Auszeichnungen. (4) Wenn ihr meinem Rat folgt, werdet ihr euch selbst auszeichnen, denn es gibt keinen größeren Schmuck für eine Stadt als das Lob, das die Bürger bekommen. Denn worauf sonst könntet ihr stolz sein? Sind euch andere Städte nicht überlegen an Größe und erst recht an Reichtum, Überfluß und öffentlichen Gebäuden 7 In dem einen Punkt aber nehmen wir es beinah mit aller Welt auf, daß wir Männer haben, die handeln und reden können und, was das Wichtigste ist, die ihr Vaterland lieben. Nimmt euch jemand diesen Vorzug, welcher noch so unbedeutenden Stadt könntet ihr euch dann noch überlegen fühlen? Denn wenn ihr jetzt mit einer Stadt Streit bekommt, was die Götter verhüten mögen, und ihre Bürger die unsrigen dann wortbrüchige Räuber schimpfen, wie werdet ihr das aufnehmen? Werdet ihr nicht empört sein? Nicht sofort ein Geschrei erheben, schimpfen, vielleicht sogar, wie es in früheren Zeiten oft der Fall war, handgemein werden? (s) Wollt ihr denn, was ihr aus dem Munde anderer nicht ertragen könnt, selbst von euch sagen müssen? Müßt ihr euch nicht schämen, wenn es einmal zum Bürgerzwist kommt und jene euch vorwerfen, ihr wäret eine schlechte und uneinige Bürgerschaft? Ich jedenfalls schwöre euch bei allen Göttern, daß ich mich gewaltig geärgert habe, als jemand zu mir sagte: «Stelle die Einigkeit der Stadt wieder her! », und böse auf ihn war. Denn niemals möchte ich den Tag erleben, an dem ihr eine Aussöhnung braucht. Möge solches auf die Häupter unserer Feinde kommen, wie man sagt, das heißt, auf die verwünschten Geten, nicht aber auf einen von unserem Volk. (6) Denn wozu wäre mein Aufenthalt nütze, wenn ich euch nicht zu einer solchen Politik bekehren könnte, der ich euch stets, soweit es in meinen Kräften lag, mit Eintracht und
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POLITISCHE ANSPRACHE
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Freundschaft stiftenden Worten zur Seite stand, Haß, Zwietracht und Streitsucht aber auf jede Weise als etwas vollkom_ men Unvernünftiges zu tilgen versuchte? Denn wirklich schön und allen gleichermaßen zuträglich ist es, wenn sich eine Stadt einmütig, mit sich selbst befreundet und mitfühlend zeigt, wenn sie gemeinsam Lob und Tadel austeilt, wenn sie für beide, für die Guten wie für die Schlechten, zuverlässi_ ges Zeugnis ablegt. (7) Es ist eine schöne Sache, wenn die Bürgerschaft wie ein disziplinierter Chor ein und dieselbe Melodie singt und nicht nach Art eines schlechten Instrumentes mißtönt, indem sie infolge der zwei{;1chen und verschiedenen Wesensart zwei verschiedene Laute und Töne erschallen läßt. Darin zeigen sich, so darf man wohl sagen, verhängnisvolle Mißachtung und vollkommenes Unvermögen im Umgang mit den eigenen Leuten und mit den Prokonsuln. Denn von einem nicht zusammenstimmenden Chor versteht man genausowenig wie von uneinigen Städten. Wie nämlich, so möchte ich meinen, von den Passagieren eines Schiffes unmöglich jeder für sich, sondern nur alle zusammen sich retten können, so auch bei den Bürgern einer Stadt. (8) Da ihr euch nun durch Bildung und natürliche Veranlagung auszeichnet und in Wahrheit echte Griechen seid, steht es euch wohl an, gerade in diesem Punkt euren Adel zu beweisen. Noch vielerlei, denke ich, und der Bedeutung des Themas Angemessenes könnte ich dazu sagen, wenn es mir körperlich nicht derart schlecht ginge 4 und ich euch nicht, wie schon gesagt, so wenig beharrlich sähe. Denn nichts ist passiert, und dieses übel gedeiht auch nicht bei euch, sondern vielleicht ist es nur ein leiser Verdacht, den wir uns wie eine Augenkrankheit von unsern Nachbarn zugezogen haben 5. Aber das pflegt auch beim Meer häufig so zu sein: Wenn die Tiefe mächtig aufgewühlt ist und ein Sturm auf dem Meer tobt, merkt man schwache Anzeichen davon oft auch in den Häfen.
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(9) Glaubt ihr, daß Leuten, die uneins sind, Marktplatz, Theater, Gymnasien, Hallen und Gelder etwas nützen? Nicht das ist es, was eine Stadt schön macht, sondern Selbstzucht, Freundschaft und gegenseitiges Vertrauen. Tadelt ihr aber den Rat, die führenden Männer, die gewählten Beamten, tadeltihrdamit nicht euch selbst? Denn wenn schon die Besseren unter euch schlecht sind, was soll man da erst von den anderen denken? «Sollen wir also verloren geben, was unser ist?» Das verlan gt keiner. Aber ihr wißt genau, daß es in allen Städten öffentliche Gelder gibt und daß einige wenige sie in Besitz haben, die einen, ohne es zu wissen, die anderen auf sonst eine Weise. Natürlich muß man auf diese Gelder sorgfältig aufpassen, aber nicht mit Haß und Streit 6 • (ro) Diese Männer sind großzügig, oft haben sie euch aus ihrem eigenen Vermögen gestiftet. Versucht, sie zu überzeugen, redet ihnen zu, und sollten sie sich sperren, weist sie auf eure Rechte hin, wenn ihr allein seid und kein Fremder zugegen ist. Seid nicht ihr es, die uns oft ganze Tage lang preisen, bald Fürsten, bald Olympier, bald Retter, bald Pflegeeltern nennen? Bei Zeus und den Göttern, wollt ihr euch denn vor euch selbst bei einem falschen Zeugnis ertappen lassen? Sagt ihr das jetzt im Zorn, oder tatet ihr eure damaligen Äußerungen, um zu schmeicheln? Seid ihr eher jetzt Betrogene als damals Betrüger? Wollt ihr dieser Unordnung kein Ende machen und begreifen, daß ihr durchaus liebenswerte Bürger habt und eine Stadt, die glücklich sein kann? Ich vermag mit Hilfe der Götter noch viel Gutes zu tun, wenn ich diese Männer hier zu Helfern habe, wobei ich es mit dem Sprichwort halte: Ein Mann ist kein Mann. (n) Aber vielleicht wart ihr darüber ungehalten, daß das Werk nicht voranging. Es geht voran und wird sehr bald vollendet sein, erst recht, wenn diese Leute mit Begeisterung dabeisind und freiwillig spenden, denn freiwillig haben sie euch
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POLITISCHE ANSPRACHE
auch ihr Versprechen gegeben. Aber warum fordert ihr von ihnen das Geld und nicht von mir? Weil man annimmt, ich hätte es euch bereits gegeben? Dann seid ihr also der Meinung, es sei mein Verdienst, wenn ich das Ansehen der Stadt vergrößert habe durch ein bestimmtes Kapital, das ich ihr etwa durch die Ratsgelder oder, beim Himmel, durch die infolge der Finanzreform gestiegenen Einnahmen verschaffte? Das wäre ja das gleiche, wie wenn ich für euch gebetet, die Götter aber für euch die Arbeit getan hätten. (I2) Und doch, wenn ich wieder Gelegenheit dazu habe, werde ich es wieder tun. Und ich rechne fest damit, daß sich mir wieder eine Gelegenheit bietet, wofern ich nur das Volk vonPrusazum Freund habe, undflir solche Bemühungen 7werde ich euch gewiß nichts berechnen. Denn auch Eltern rechnen ihren Kindern nicht die Gebete für sie als Ausgaben an. Glaubt ihr denn, ich spräche über eine Säulenhalle oder etwas anderes, wenn ich euch uneins sähe? Das wäre ja genauso, wie wenn man einen an Gehirnfieber Erkrankten, den man, denke ich, ins Bett stecken und mit Umschlägen behandeln sollte, mit Myrrhe salbte und ihm einen Kranz brächte. Das kann zum Überfluß mit einem Gesunden geschehen, der kein Leiden hat. Glaubt ihr nicht, daß die Athener, als sie durch ihre Uneinigkeit die Feinde herbeilockten und sich gegenseitig verrieten die Unglückseligen! -, die Propyläen, den Parthenon, die Säulenhallen und den Piräus ihr eigen nannten? Aber Propyläen, Werften und Piräus ließen die Wehklagen der Athener nur noch lauter widerhallen. (I3) Nun kann eine große, bevölkerte Stadt, wenn sie im Bürgerkrieg liegt und schlecht beraten ist, dem Unheil zwar eine Weile trotzen. Aber ihr seht, wie schlecht es auch dann um sie bestellt ist. Klagt nicht einer den andern an, schicken sie sich nicht in die Verbannung, bringen sie nicht die eine Partei in den Rat und vertreiben die andere? Ist nicht wie bei einem Erdbeben alles in Aufruhr,
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alles unbeständig, nichts mehr fest? Sie bringen es so weit, daß sie mit ihren eigenen Führern nicht mehr zufrieden sind, sondern wie bei unheilbaren Krankheiten Ärzte aus dem Ausland nötig haben. Dann geschieht aber, was bei störrischen Pferden geschieht: Wenn der Zügel sie nicht mehr bändigt, wird ihnen von außen ein Zaum angelegt. (14) Mein Interesse gilt zum Teil euch, zum Teil aber auch mir selbst. Denn wenn ein Philosoph sich an die Politik macht und nicht in der Lage ist, die Eintracht in der Stadt herzustellen, ist das bereits eine schlimme und ausweglose Sache, etwa so, wie wenn ein Schiffsbauer zur See fahren will und sein Schiff nicht seetüchtig gemacht hat; jemand, der vorgibt, ein Steuermann zu sein, gerade auf die Woge zuhält; ein Baumeister, der ein Haus bekommen hat und sieht, daß es einzufallen droht, nicht darauf achtet und meint, mit Mörtel und Tünche etwas ausrichten zu können. Hätte ich mir vorgenommen, bei dieser Gelegenheit über die Eintracht zu sprechen, könnte ich noch eine Menge sagen über die Ereignisse in der Mcnschenwelt und am Himmel. Auch diese göttlichen und großen Erscheinungen bedürfen der Eintracht und Freundschaft; sonst besteht die Gefahr, daß diese herrliche Schöpfung, das Weltall, restlos zugrunde geht 8 • (15) Aber vielleicht rede ich schon zu lange, wo ich mich auf den Weg machen und den Prokonsuln rufen sollte. Nur soviel will ich noch sagen. Ist es nicht eine Schande, daß Bienen einträchtig sind und man noch niemals einen Bienenschwarm gesehen hat, der uneinig mit sich selbst im Krieg gelegen hätte, daß sie vielmehr miteinander arbeiten und leben, sich Nahrung besorgen und sie verbrauchen? «Wie, wird man einwenden, gibt es nicht auch dort die sogenannten Drohnen, faule Tiere, die den Honig auffressen?» Gewiß, die gibt es. Trotzdem aberlassen die Bauern sie in der Regel dabei, um den Stock nichtin Unruhe zu bringen, und hal-
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ten es rur besser, daß ein Teil des Honigs verlorengeht als daß alle Bienen aufgestört werden. (16) Freilich, bei uns gibt es vielleicht keine faule Drohne, die träge summt und vom Honig schleckt. Es macht auch großes Vergnügen, Ameisen zu beobachten: wie friedlich sie zusammenwohnen, wie sie ausziehen, wie sie gemeinsamihrelasten schleppen, wiesiesich gegenseitig aus dem Wege gehen. Istes da nicht eine Schande, daß menschliche Wesen dümmer sind als so kleine und dumme Tiere? Das alles nun ist in gewisser Weise vielleicht umsonst gesagt. Das Wort Zwietracht sollte man bei euch nicht einmal nennen, und niemand spreche davon! (17) Jedoch schlage ich vor, wenn wir die Stadt gereinigt haben - nicht mit Meerzwiebel und Wasser, sondern mit etwas viel Reinerem, mit Vernunft -, den Rest gemeinsam zu erledigen, uns um die Marktaufseher und die übrigen Fragen zu kümmern und auch den Rat darauf aufmerksam zu machen, damit er, wie es seine Gewohnheit ist, die Interessen der Stadt wahrnimmt; das wird für euch ein Kinderspiel sein. Dieser Punkt aber verdient eure besondere Aufmerksamkeit, schon allein wegen des Archonten 9, den ihr gewählt habt, damit ihr nicht, solltet ihr einen unerfahrenen Mann bekommen haben, ihn länger in den Wogen herumschlingern laßt. 49.
ABLEHNUNG DES ARCHONTENAMTES VOR DEM RAT
(I) Für vernünftige, mit den Dingen vertraute Menschen bedeutet es nichts Unangenehmes und Beschwerliches, ein Amt zu übernehmen; denn an nichts haben sie mehr Freude als daran, das Gute zu tun. Der Herrscher über eine Stadt, über ein Volk oder über eine größere Anzahl von Menschen hat nicht nur die reichsten Möglichkeiten, Gutes zu tun - er ist gleichsam dazu gezwungen; andernfalls wird er, da er nur
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ARCHONTEN AMTES VOR DEM RAT
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Schaden anrichtet, unerträglich, nicht nur den Menscht>:n, die als die schlauesten Wesen gelten, sondern selbst den dümmsten Tieren. (2) Weder Rinder lassen sich die Vernachlässigung durch ihre Hirten ohne weiteres gefallen noch Ziegen und Schafe, die ihre Hirten verkommen lassen. Die einen laulen weg und gehorchen nich t mehr, die anderen werden bockig gegen ihre schlechten Hüter. Und Pferde werfen unfähige Kutscher ab - eine viel härtere Strafe, als wenn jene sie mit der Peitsche schlagen. Aber von all diesen Wesen ist der Mensch das mächtigste und intelligenteste. Deshalb haßt er den schlechten Führer am meisten, wie er den guten am mcisten liebt. Und so ist ein Amt etwas Schönes, wenn man nur versteht, es zu verwalten. Für den, der sich von Anfang an darin geübt und darauf vorbereitet hat, gibt es wohl keine unlösbare Aufgabe. (3) Der wahre Philosoph nun wird sich, wenn ihm dieses Amt angetragen wird, um nichts anderes bemüht zeigen als um die Frage, wie er ein guter Herrscher werden kann, über sich selbst, über sein Haus, über die größte Stadt oder die Menschheit insgesamt, und wie er, der selbst keinen anderen Herrscher als Gott und die Vernunft braucht, fähig wird, für die anderen Menschen zu sorgen und verantwortlich zu sein. Das ist auch den Königen selbst und allen Männern in hohen Stellungen nicht verborgen, soweit es sich nicht um ausgemachte Dummköpfe handelt. Denn für die wichtigsten Aufgaben brauchen sie durchgebildete Ratgeber, und während sie anderen Weisungen geben, lassen sie sich selbst von ihren Ratgebern weisen, was zu tun und was zu unterlassen sei. (4) So ist zum Beispiel bei Homer Agamemnon stets auf die Meinung Nestors angewiesen - sooft er seinem Rat nicht folgt, bereut er es auf der Stelle unter Tränen. Und Philipp, der als der mächtigste König gilt, gab seinem Sohn Alexander Aristoteles zum Lehrer und Meister, da er sich selbst in Fragen kö-
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ABLEHNUNG DES
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niglicher Erziehung nicht ftirzuständig hielt. Über alle forderte er die Herrschaft, über Makedonen und Thraker, Illyrer und Griechen, den Sohn aber übergab er einem anderen, damit er über ihn herrsche; während er den Befehl über so unzählige Menschen hatte, wollte er diesem einen nicht befehlen. Denn er war der Meinung, es sei fur ihn nicht dasselbe Risiko, ob er bei den andern einen Fehler mache oder bei seinem eigenen Sohn. (5) Dabei hatte er selbst früher, als er in Theben als Geisei lebte, mit Pelopidas, einem gebildeten Mann, verkehrt _ man sagt sogar, Pelopidas sei sein Liebhaber gewesen -, hatte die Taten des Epameinondas gesehen und seinen Worten gelauscht, jenes Epameinondas, der nicht zufallig zu solcher Macht unter den Griechen emporgestiegen war und einen so gewaltigen Umschwung herbeigefuhrt hatte, daß er die Spartaner, ungeachtet ihrer langen Vorherrschaft, stürzte - er konnte das nur tun, weil er mit Lysis, einem Schüler des Py_ thagoras, Umgang gehabt hatte. Aus diesen Gründen, glaube ich, war philipp seinen makedonischen Vorgängern wohl haushoch überlegen. Trotz einer solchen Erziehung aber wagte er nicht, Alexander selbst zu unterrichten. (6) Nur selten aber wird man finden, daß Philosophen ein hohes Amt unter den Menschen bekleidet haben - ich meine das, was man Amt nennt, daß sie also die Stelle eines Feldherrn, eines Statthalters oder Königs innehatten -, daß aber andererseits die Leute, die einmal von ihnen regiert worden sind, die meisten und größten Vorteile von ihnen gehabt haben: die Athener von Solon, Aristeides und Perikles, einem Schüler des Anaxagoras; die Thebaner von Epameinondas; die Römer von Numa, der nach einigen der Lehre des Pythagoras angehangen haben soll '; die Griechen in Italien insgesamt von den Pythagoräern,denn diese Griechen hatten so lange Erfolg und lebten in tiefstem Frieden und tiefster Eintracht, wie die Pythagoräer ihre Städte verwalteten. (7) Da die mächtigsten
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ARCHONTEN AMTES VOR DEM RAT
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Völker nun aber nicht fortwährend von Philosophen regiert werden können, gaben sie im allgemeinen Interesse den Königen Philosophen als Aufseher und Leiter zur Seite: die Perser, glaube ich, die Männer, die bei ihnen Magier' hießen, weil sie der Natur kundig waren und wußten, wie man die Götter verehren müsse; die Ägypter die Priester, die das gleiche Wissen wie die Magier besaßen, fur die Götter sorgten und von allem das Wie und Wozu wußten; die Inder die Brahmanen 3, durch ihre Askese, Rechtlichkeit und Liebe zur Gottheit besonders ausgezeichnete Männer, die aus diesem Grund die Zukunft besser wissen als die anderen Menschen ihre Gegenwart; (8) die Kelten die bei ihnen Druiden 4 genannten Männer, auch sie der Seherkunst und der übrigen Weisheit mächtig. Ohne diese Leute durfte kein König etwas unternehmen oder beschließen, so daß in Wahrheit sie regierten und die Könige nur ihre Diener und ausführenden Organe waren, die auf goldenen Thronen saßen, in großen Palästen wohnten und kostspielige Gelage hielten. Denn man darf doch wohl annehmen, daß jegliches Amt derjenige am besten verwaltet, dem es gelingt, sich bei der ununterbrochenen Verwaltung des schwierigsten Amtes als untadelig zu erweisen: (9) Der Philosoph ist stets Herr über sich selbst, und das ist eine unvergleichlich schwierigere Aufgabe, als König über alle Griechen oder alle Barbaren zu sein. Denn welches Volk wäre so wild wie Zorn, Neid und Streitsucht, Regungen, über die der Philosoph erhaben sein muß? welches so böse, hinterhältig und verräterisch wie Vergnügen und Begierden, denen der Philosoph niemals erliegen darf? Welches so gewalttätig, furchterregend und die Seele erniedrigend wie Angst und Kummer? Niemals darfman ihn dabei ertappen, daß er ihnen nachgibt. (ro) Welche Waffen, welche Bollwerke, wie sie Könige und Feldherrn einer Stadt gegen die Feinde verwenden, könnte er diesen Gefahren entgegenhalten? Welche Mit-
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kämpfer oder Leibwächter könnte er gegen diese Mächte aufbieten, wenn nicht kluge und verständige Worte? Wen sonst könnte er als Wache ausstellen, wem einen Posten anvertrauen, wen als Helfer einsetzen? Muß nicht er selbst bei Tag und Nacht mit Sorgfalt und Wachsamkeit auf dem Posten sein, damit er nicht unversehens von Lüsten erschüttert, von Ängsten außer sich gebracht, von der Begierde überlistet oder vom Kummer gedemütigt und so, vom guten und rechten Weg abgekommen, zum Verräter an sich selbst wird? (u) Wer diese Meisterschaft aber konsequent und selbst beherrscht ausübt, fur den ist es fortan ein leichtes, auch der ganzen welt überlegen zu sein. Niemand aber soll glauben, ich dächte bei diesen Überlegungen über das Wesen des Philosophen an das Äußere oder an den Namen. Der Kenner urteilt über den Wein auch nicht nach dem Weinkrug, denn nur zu oft wird man in einem kostbaren Krug verdorbenen Wein aus den Spelunken finden. Genausowenig erkennt man den gebildeten Mann an seinem Äußeren. (12) Freilich wundere ich mich nicht, daß die große Menge sich von derlei täuschen läßt. So vergleichen zum Beispiel die Freier Odysseus mit 1ros, da die beiden sich äußerlich in nichts unterscheiden. Und ein Philosoph, der vor nicht allzulanger Zeit gelebt hat, sagte nicht übel, 1smenias habe sich vor allem darüber aufgeregt, daß die Bläser, die bei Begräbnissen spielen, Flötisten genannt würden - nicht genau das gleiche, wie mir scheint. Aber die Bläser bei Begräbnissen fügen den Toten keinen Schaden zu und fallen ihnen auch nicht lästig, während von denen, die sich als Philosophen ausgeben, manche viele unsinnige Dinge tun. (13) Die Aufgabe des wahren Philosophen jedoch ist nichts anderes, als über Menschen zu herrschen. Wer zögert, wenn seine Stadt ihn ruft und für einen leitenden Posten bestimmt, und sagt, er sei dazu nich t imstande, der handel t genauso, wie wenn jemand seinen eigenen Körper nicht kurieren woll-
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ARCHONTEN AMTES VOR DEM RAT
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te, obwohl er beansprucht, ein Arzt zu sein, andere Menschen aber für Geld und gute Worte bereitwillig behandelte. Als ob seineGesundhei tein gerin gerer Lohn wäre als irgendein anderes Entgelt! Oder wie wenn jemand sich als fähiger Erzieher oder Lehrer ausgäbe und fremde Kinder unterrichten wollte, seine eigenen aber zu einem schlechten Lehrmeister schickte. Oder wie wenn man seine eigenen Eltern vernachlässigen und andere vorziehen wollte, weil man sie reicher oder berühmter als die eigenen findet; (14) denn es ist weder gerechter noch, beim Himmel, an genehmer, über die Verwand ten hin wegzusehen und denen zu Diensten zu stehen, die nich ts miteinem zu tun haben. Also gut, aus diesen Bemerkungen muß sich die Schlußfolgerungergeben, daß der Philosoph ein Amt übernimmt, wenn ihr es wollt. Aber ihr dürft mir glauben, wenn es nicht ein unüberwindliches Hinderniss gäbe, würde ich gar nicht warten, bis ihr mich bittet, sondern ich selbst würde euch bitten und dazu ermuntern. Denn auch das gehört zu einem tüchtigen und vernünftig denkenden Menschen, daß er sich selbst als Kandidat anbietet und dankbar ist für die Wahl, die ihn zum Regenten über seine Mitbürger macht, nich t aber, daß er die Wahl herabzieht und entwertet. (15) Was ist es nun, das mich im Augenblick daran hindert? Ich glaube, auch in allen anderen Fragen, über die ich spreche, euer Vertrauen zu verdienen, denn meines Wissens habe ich euch niemals betrogen und auch früher niemals etwas anderes gesagt als gedacht. Aber ich hatte stets zu viele Verpflichtungen, die ich bis zum heutigen Tag - gegen meinen Willen - nicht habe aufgeben können. Und jetzt ist es praktisch überhaupt nicht mehr möglich, denn weder für mich noch vielleicht auch für euch wäre es besser, wenn ich noch länger hierbliebe. Deswegen bitte ich, von meiner Wahl abzusehen. Denn ich weiß, daß ich eine Prüfung nicht nötig gehabt hätte, sondern ihr jetzt genauso verfahren wäret, wie ihr vorher, als ihr mit meinem Einverständnis glaubtet rechnen zu
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RECHTFERTIGUNG VOR DEM RAT
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können, alle in der Öffentlichkeit eure Stimme für mich abgegeben habt 6 • Freilich, so denke ich gar nicht, aber wie ich weiß, daß ich bei euch nicht erst hätte vorstellig werden müssen, um das Amt zu bekommen, so schäme ich mich auch nicht, euch zu bitten, mich davon zu dispensieren. 50. EINE RECHTFERTIGUNG VOR DEM RAT
(I) Auch früher schon habe ich euch geschätzt, ihr Männer, wie man ja auch von einem rechtlich gesonnenen und vernünftigen Menschen nichts anderes erwarten wird, als daß er die weiseste und zuverlässigste Einrichtung seiner Vaterstadt in Ehren hält. Wollte ich dagegen andere euch vorziehen, so wäre das genauso, wie wenn man behauptete, seine Stadt zu lieben, und an den Häusern und Werkstätten in der Stadt seine Freude hätte, den Markt aber, das Prytaneion, das Rathaus und die Heiligtümer mit weniger Interesse betrachtete; oder, beim Himmel, wenn man das Volk von Sparta liebte, die Könige, Ephoren und Geronten aber, die an Klugheit den anderen überlegen sind und denen die ganze Stadt ihre Existenz verdankt, gering achten wollte. (2) Wo doch selbst bei den Athenern, die die demokratischste Verfassung der Welt hatten und dem einzelnen wie dem Volk die meisten Rechte einräumten, kein Demagoge, weder der berüchtigte Hyperbolos noch Kleon, jemals dreist genug war, dem Areopag oder dem Rat der Sechshundert' mit weniger Achtung zu begegnen als dem Volk! Wenn ich aber fortwährend die Spartaner und Athener zitiere, mögen die allzu empfindlichen Leute mir verzeihen, daß ich euch solcher Vergleiche für wert halte und der Meinung bindenn ich spreche doch vor Griechen, denke ich -, daß nur die besten Griechen zu zitieren angebracht ist. (3) Für den guten Willen und das Vertrauen nun, das ich euch entgegenbringe, mögt ihr die Tatsache als Beweis neh-
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men, daß ich getrost vor euch erscheine, ohne mich auf eine Partei stützen zu können oder persönliche Freunde unter euch zu haben. Allerdings glaube ich, nicht schlechter dran zu sein als jeder andere, selbstverständlich deswegen, weil ich mich auf mein freundschaftliches Verhältnis und mein gutes Einvernehmen mit allen stütze und nicht als mächtiger oder furchterregender Mann gelten möchte, der sich deswegen den Hof machen lassen will. Wenn ich aber mit dem Volk Mitleid hatte, als es wirklich zu bemitleiden war, und seine Bürde nach Kräften zu erleichtern suchte', so beweist das noch lange nicht, daß ich ihm mehr zugetan bin als euch. Denn auch beim Körper pflegen wir jeweils das kranke Glied und achten auf die Füße mehr als auf die Augen, wenn die Füße schmerzen und weh tun, die Augen aber gesund sind. (4) Wenn ich sagte,das Volk sei zu bemitleiden gewesen, komme ja niemand auf die Vermutung, ich wolle damit andeuten, ihm sei schreiendes Unrecht widerfahren! Wir haben ja auch Mitleid mit Leuten, die vom Arzt geschnitten oder gebrannt werden, obwohl das zu ihrem Heil geschieht, und Vater und Mutter weinen darüber, obgleich sie wissen, daß die Behandlung zum Besten ihrer Kinder ist. Wenn ich aber vorhin sagte, daß ich euch auch früher schon, als ich eure Einstellung noch nicht ausreichend kannte, geschätzt habe, so schwöre ich euch jetzt bei allen Göttern, daß ich fürwahr den Rat nicht nur aller Ehren undFreundschaft für wert erach te, sondern ebenso eure Mach t, eure Wahr haftigkei t und Unabhängigkeit bewundere. (s) Und ich halte daftir, daß ich dem Volk zwar meine Schuldigkei t als Bürger nach Kräften getan habe, bei euch aber noch in Schulden stehe und wohl niemals in die Lage kommen werde, euer Wohlwollen zu übertreffen. Das wohl ein wenig zu schmeichelhafte Wort eines alten Redners: « Natürlich möch tc ich das Volk in den Augen mi t mir herumtragen» könnte ich mit einer gewissen Berechtigung auf euch übertragen. Und mein Sohn 3 hier, denke ich, wird euch, 2.
RECHTFERTIGUNG VOR DEM RAT
[50.5-8
wenn er vernünftig und klug ist, sein ganzes Leben widmen und auf euer Heil nicht weniger bedacht sein als ich. (6) «Was ist geschehen », wird man fragen, « was fur eine Erfahrung hast du mit den Männern hier gemacht, daß du derartig über das Ziel hinausschießt?» Vielleicht war es ein Anflug von Begeisterung, der mich von ungefähr traf, ein überschwengliches Hingezogensein zueuch. Aber das eine solltet ihr doch wissen, daß ich es nicht fertigbringe, das Volk, den Rat oder einen Menschen, sei es ein Statthalter, ein Fürst oder ein Tyrann, zu lieben oder mit meinen Worten zu beehren, wenn ich ihn nicht zuvor bei mir selbst gutgeheißen habe und sein Charakter meinen Beifall gefunden hat. Sooft ich aber eine Probe eurer Gesinnung bekam - [1st niemals habe ich gesehen, daß ihr eine ungerechte, zweideutige, niedrige, inkonsequen te oder geschmacklose Tat getan, daß ihr euch Tumulten oder Schwierigkeiten gebeugt hättet. (7) Deshalb darf ich getrost sagen: Ihr habt tüchtige Männer an der Spitze, aber keiner ist so, wie ihr es verdient hättet. Das gilt auch von den Früheren, etwa von meinem Vater oder Großvater und all den anderen, obwohl sie ohne Ausnahme tüch tigund aller Eh ren wert waren. Glaube ja niemand, ich wolle mir mit meinen Worten den Ratsvorsitz erschleichen! Denn ich muß Prusa verlassen aus mancherlei Gründen 4 - und ihr müßt mir abnehmen, daß ich diesmal zumindest die Wahrheit sage -, und vielleicht nicht einmal um persönlicher Vorteile willen oder zum Vergnügen. Auch habe ich ja meinen Entschluß nicht verheimlichen können. (8) Ferner besteht kein Anlaß anzunehmen, ich könnte euch jemals schmeicheln wollen. Nicht einmal den verhaßten Tyrannen 5 habe ich umschmeichelt oder auch nur ein einziges unmännliches und erniedrigendes Wort gesagt, als viele ihr Leben so sehr liebten, daß sie dafür alles taten und sagten. Aber was bei euch geschieht, scheint mir groß und göttlich.
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RECHTFERTIGUNG VOR DEM RAT
Zwar weiß .ich nicht ganz genau, wie ihr im Privatleben seidich verm u te, besser als die meisten. Daß ihr aber im öffen tlichen Leben, sooft ihr hier oder bei sonstiger Gelegenheit in der Volksversammlung zusammengekommen seid, niemals etwas Gemeines und Niedriges gesagt oder gedacht habt, das weiß ich; daß eine Bitte, ein Versprechen, eine Drohung, falls einer damit glaubt zum Ziel kommen zu können, bei euch nichts gilt. Warum eigentlich soll ich meine Meinung nicht sagen? Wie wenn der Philosoph nur das Schlechte aufzuzeigen hätte, das Bessere aber verbergen müßte, oder die Wahrheit nur bei schlechten Taten, nicht aber auch bei guten von Nutzen wäre, weil sie Lob bedeutet! (9) «Hast du dich eigentlich erhoben », wird man fragen, «um ein Preislied auf den Rat anzustimmen?» Nun, was wäre schon dabei, wenn es der Wahrheit entspricht! Sollte sich jedoch herausstellen, daß meine Worte nicht auf euch passen, so ist das Preislied nicht ein Lob auf euch, sondern eine Anklage gegen den Redner. Trotzdem hätte ich eine solche Rede niemals gehalten, wenn es mich nicht wie schon bei einer früheren Gelegenheit schmerzlich berührt hätte, hören zu müssen, daß ich eure Sache verriete. Deswegen habe ich mich verteidigt und mich darüber nicht erhaben gedünkt. Warum auch?Ich kann darin nichts Demütigendes für mich sehen. Vor einem schläfrigen Richter, wie man sagt, oder, beim Himmel, vor einem bösartigen und schurkigen Tyrannen sich zu verteidigen, das ist demütigend; vor Mitbürgern aber, Verwandten und Freunden, die man für rechtlich gesonnene Menschen hält, ist es nich t dem ü tigend, sondern vern ünfti g und an gebrach t. So tat ich bereits damals 6 rechtdaran und tue es jetzt, daich euch genauer kenne, noch viel mehr. (10) Denn ich habe erfahren, daß einige der Meinung waren - und ein solches Gerede kursierte tatsächlich -, ich hätte ein Zusammentreten des Rates zu verhindern gesucht. Ja, auch das ist mir zu Ohren gekom-
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ERWIDERUNG AN DIODOROS
[5 0 ,10-51, :r
men, daß man glaubt, schlechterdings alles in der Politik richte sich nach meinen Wünschen. Was nun meincn Sohn 7 betrifft, so streite ich nicht ab, daß er in seinen persönlichen Dingen wohl nichts gegen meinen Willen oder ohne Rücksichtnahme auch auf meine Wünsche tut. Ich schwöre aber, daß ich ihm niemals etwas befohlen habe - und jetzt spreche ich von politischen Dingen. Nur hat eben der bessere Rat des Vaters den Charakter eines Befehls. Und weil ich das beHirchtete, habe ich seit einiger Zeit an den Sitzungen des Rates nicht mehr teilge_ nommen. Denn auf der einen Seite den Sohn einer politischen Betätigung flir wert zu erachten, da er bereits reif genug ist, Ratsherr zu sein und das Gemeinwesen zu verwalten, faktisch ihn dann aber zu einem normalen Bürger zu machen und ihm seine gesetzlich zustehende Autorität zu nehmen 8, das wäre aus andern Gründen und auch wohl wegen meines Al ters un vernünftig. 51. EINE ERWIDERUNG AN DIODOROS'
(I) Gewaltig überrascht bin ich, ihr Männer, wenn jemand einen anderen Menschen weder billigt noch gern hat und sich dann erhebt, umihn in einer Rede zu loben und unter Umständen sogar ein langes, außerordentlich sorgfältig ausgearbeitetes Preislied auf ihn anzustimmen. Denn ein solcher Mensch hat alles, was es an Häßlichem gibt, in seinem Herzen: Neid, Kleinlichkeit und, das Alb'niedrigste, Unterwürfigkeit. Nicht untreffend heißt es schon bei den Alten: Du sagtest eines Sklaven Trort.· Wie denn, muß der nicht ein Sklave sein,der vor so vielen ver· sammelten Menschen anders handelt, als er denkt, und zwar nicht, wie es ihm gerade einfällt, sondern überlegt und vor· sätzlich, der einen Menschen, den er gar nich t liebt, immer wieder umschmeichelt und bestaunt? Und das ist noch milde ausgedrückt.
ERWIDERUNG AN DIODOROS
(2) In der Tat, daß bei euch jeder jeden preist, das wißt ihr doch wohl. Deshalb freue ich mich auch mit euch und schätze euch glücklich, daß wir alle allen so zugetan sind; denn das ist die natürliche Folge. Nur würde ich wünschen, daß, wie in den Sitzungen von Rat und Volk, so auch aufdem Marktplatz und bei sonstigen Zusammenkünften viele Preis lieder zu hören wären. Jetzt dagegen wird je nach dem Ort so oder anders gesprochen, und wie die Leute beim Training in den Schulen gehen auch wir die Sache von zwei verschiedenen Seiten an. Käme ein Fremder in die Volksversammlung, würde er deshalb vermuten, es handle sich um eine Stadt von Heroen und Weisen. Geriete er aber zufällig auf den Marktplatz - ich brauche das nicht weiter auszuführen, ihr wißt es selbst. (3) «Was denn», wird man fragen, «hast du dich erhoben, um denen, die jemand loben, Vorwürfe zu machen?» Bei Gott, deswegen nicht, sondern damit wir, wenn irgend möglich, nicht nur hier, sondern ohne Unterschied an jedem Ort und bei jeder Gelegenheit unsere Freundlichkeit und edle Gesinnung unter Beweis stellen. Nun sehe ich, daß ihr beim Lob dieses Mannes das Maß vollgemacht habt, so daß eine Steigerung nicht mehr möglich ist. Aber auch ihr selbst habt Lob verdient, denn ihr scheint mir allen anderen Gemeinden weit überlegen zu sein. Ich würde das nicht sagen, wenn ich nicht auch so dächte. Die anderen nämlich sind nur auf ihren Vorteil bedacht und loben diejenigen, die ihnen etwas geben oder geben können. Ihr dagegen wißt auch den guten Willen zu schätzen. (4) Damit will ich nicht sagen, daß dieser Mann nicht große Verdienste hätte - er hat sie -, sondern nur, daß auch sein guter Wille euch genug gewesen wäre. Ferner nehmen die anderen mit Beifall auf, was am wenigsten wichtig ist - ich meine alles, was mit finanziellen Aufwendungen verbunden ist. Ihr dagegen achtet auf die wichtigsten Dinge, wie sie es verdienen. Und auf jeden Fall ist
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es wertvoller, wenn jemand für die Stadt Sorge trägt und euch seinen guten Willen zeigt, als wenn er nur Geld ausgibt. Überdies hassen die meisten Menschen jeden, der sie ermahnt, sei es auch nur mit Worten, und nur, wer im Schmeicheln ein Vergnügen sieht, ist ihnen herzlich willkommen. Bei euch ist es umgekehrt: Wer mit dem größten Freimu t den Menschen VOrhält, was sie falsch machen, und sie zur Vernunft bringt, der ist am meisten geachtet. (5) Wer nun müßte eine solche Stadt und Regierung nicht liebgewinnen, bei der die Ehren größer sind als der Ehrgeiz, Wo der mit wohlwollen Mahnende mehr geliebt wird als der Schmeichler, das Volk es lieber sieht, wenn es zur Vernunft gerufen und auf den rechten Weg gebracht wird, als wenn man ihm den Hof macht und es die Zügel schießen lassen kann. Wer könnte da anders, als euch bestaunen und diesen Mann hier glücklich preisen, der von Leuten wie euch eines solchen Amtes für wert befunden worden ist. (6) Freilich sehe ich auch, daß seine Aufgabe an euch nicht leicht sein wird. Wem sich nämlich eine ganze Stadt und ein Volk aus freiem Entschluß zur Erziehung anvertraut, wen es zum Aufseher über die allgemeine Moral gewählt und wem es die höchste Befugnis in Fragen einer maßvollen, geordneten und richtigen Lebensführung des einzelnen eingeräumt hatwie sollte dieser Mann nicht eine gewaltige Aufgabe vor sich haben, nämlich eure hohe Meinung von ihm nicht zu enttäusehen? Bedenke doch, damit du recht begreifst, daß auch in alten Zeiten keiner, selbst wenn er noch so sehr bewundert wurde, eine solche Ehre für alle Zeit von seinen Mitbürgern erwiesen bekommen hat. (7) Der berühmte Perikles zum Beispiel, der, wie wir hören, in Athen lebte, als die Stadt florierte, bekam das Amt des Strategen, aber man hielt es nicht für angebracht, daß er es die ganze Zeit innehabe 3• Sokrates dagegen 4 verwaltete keine Gelder und kümmerte sich nich t um Bauten 5,
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sondern war darum bemüht, daß seine Mitbürger gute Menschen seien, und wollte jeden, der einen Fehler machte, ermahnen und, soweit es an ihm lag, bessern. Freilich konnten ihn seine Zeitgenossen wegen ihrer eigenen mangelhaften Lebensfuhrung nicht ertragen. (8) Ihr dagegen laßt euch erziehen, ja fordert sogar selbst dazu auf. Wie weit seid ihr denen überlegen, die ungehalten waren, als sich jemand aus eigenem Antrieb bereit erklärte, diese Aufgabe zu übernehmen, und den Mann, der sich ihrer annehmen wollte, töteten, statt ihn zu ehren. So machten es nämlich die Athener mit Sokrates. Gibt es nun ein noch schöneres Preislied, das man auf diesen Mann oder auf euch anstimmen könnte? Als ihr merktet, daß er die heranwachsende Jugend tüchtiger gemacht hatte, da wart ihr sofort der Meinung, daß er auch euch besser machen könne. Und bei Gott, es ist nicht wahr, daß nur die Heranwachsenden Erziehung und Moral nötig hätten, die Erwachsenen aber und die ganze Stadt darauf verzichten könnten. Das wäre ja genauso, wie wenn ein Arzt glaubte, Kinder und Heranwachsende brauchten seine Pflege, die Älteren dagegen nicht mehr. (9) Und dann die Großzügigkeit der Stadt hinsichtlich der Ehrungen, ist sie nicht wahrhaft erstaunlich? Denn welche Art von höchsten Ehren hättet ihr nicht mit Freuden verliehen? Bilder, Statuen, Gesandtschaften an Städte und an den Kaiser, öffentliche Ehrungen, private Empfänge - wer hätte an solchen Auszeichnungen nicht seine Freude? Wer würde nicht sein Letztes hergeben, um euch einen Dienst zu erweisen? So glaube ich denn, auch das Lob dieses Mannes, so gut ich es vermochte, gesungen zu haben. Denn das Lob aufdiejenigen, die einem anderen Beifall und Ehre geben, ist doch sicher auch das schönste Lob für den Mann selbst.
DER BOGEN DES PHILOKTET
52. AISCHYLOS, SOPHOKLES UND EURIPIDES ODER DER BOGEN DES PHILOKTET
(I) Nachdem ich mich wegen meines schlechten Gesundheits_ zustandes und der Luft, die infolge der Morgenfrühe noch recht kühl war - eher wie im Herbst, obwohl wir mitten im Sommer waren -, gegen die erste Stunde des Tages erhoben hatte, machte ich mich fertig und verrichtete mein Gebet. Dann stieg ich auf den Wagen und fuhr in der Rennbahn einige Runden, wobei mich das Gespann so sanft und leicht wie möglich zog. Darauf ging ich ein Stück zu Fuß und ruhte eine Weile aus. Als ich mich dann gesalbt und gebadet hatte, machte ich mich nach einem kleinen Imbiß an die Lektüre von drei Tragödien. (2) Es waren Werke von, man darf wohl sagen hervorragenden Dichtern, von Aischylos, Sophokles und Euripides, und sie behandelten alle dasselbe Thema. Es ging nämlich um den Diebstahl- oder sollte man es besser Raub nennen? - von Philoktets Bogen. Auf jeden Fall werden Philoktet die Waffen von Odysseus fortgenommen und er selbst nach Troia gebracht. Er folgt vorwiegend aus freiem Entschluß, zum Teil aber auch der Not gehorchend, hatte er doch seine Waffen nicht mehr, die ihm das Leben auf der Insel ermöglichten, zugleich aber auch Trost in einer so schweren Krankheit und Ruhm bedeuteten '. (3) So labte ich mich an dem Schauspiel und dachte bei mir, daß ich, selbst wenn ich damals in Athen gewesen wäre, einen Wettstreit dieser drei Männer nicht hätte erleben können. Nur wie Sophokles gegen Aischylos, der Junge gegen den Alten, oder gegen Euripides, der Ältere gegen den Jüngeren, stritt, hatten einige gesehen, Euripides aber war viel jünger als Aischylos. Außerdem wurden wohl nur ganz selten, wenn überhaupt, bei einem Wettbewerb Stücke mi t dem gleichen Thema aufgeführt. Ich dagegen glaubte einen ganz außerordentlichen
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Genuß und einen neuen Trost in meiner Krankheit gefunden haben. (4) Für mich selbst besorgte ich also eine ungewöhnlich prächtige Auffuhrung und versuchte, genau aufzupassen, wie wenn ich ein Urteil über die besten tragischen Chöre abzugeben hätte. Doch ich schwöre, ich hätte überhaupt nicht erklären können, weshalb einer dieser drei Dichter der unterlegene sein sollte. Denn die hohe Gesinnung und die altertümliche Art des Aischylos, dazu seine Eigenwilligkeit in Gedanken und Darstellung schienen der Tragödie und dem urtümlichen Wesen seiner Helden angemessen zu sein; da gab es nichts Falsches, Geschwätziges und Niedriges. (s) So bringt er zum Beispiel, dem Zuge seiner Zeit folgend, auch Odysseus als schlauen Fuchs, aber ohne jede Spur seiner heutzutage üblichen Schuftigkeit auf die Bühne, so daß er im Vergleich mit den modernen Autoren, die auf Einfachheit und große GesinnungWert legen, wahrhaft urtümlich erscheinen mag. Auch braucht er keine Athene, die Odysseus verwandelt, damit Philoktet ihn nicht erkennt; so stellen es Homer und, in seiner Nachfolge, Euripides dar. Deshalb mag jemand, der Aischylos nicht gern hat, ihm vorwerfen, er habe sich nicht darum bemüht, die Szene, in der Odysseus von Philoktet unerkannt bleibt, glaubwürdig zu gestalten. (6) Gegen einen solchen Vorwurf könnte sich der Dichter jedoch, wie ich glaube, verteidigen. Der dazwischenliegende Zeitraum freilich wäre kaum groß gen ug, um zu erklären, daß sich Philoktet an das Äußere des Odysseus nicht mehr erinnert - seither waren nur zehn Jahre vergangen. Aber die Krankheit des Philoktet, sein Elend und das Leben in der Einsamkeit während dieser Jahre lassen es nicht unmöglich erscheinen. Denn schon viele Leute haben infolge einer Krankheit oder eines Unglücksfalles diese Erfahrung gemacht. Ferner hat es der Chor bei Aischylos im Gegensatz zum Chor des Euripides nicht nötig, um Verzeihung zu bitten. (7) Bei
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beiden besteht der Chor aus Lemniern. Während Euripides ihn aber gleich zu Beginn sich fur seine bisherige Gleichgültigkeit entschuldigen läßt - daß er so viele Jahre Philoktet nicht besucht und ihm nicht geholfen habe -, läßt Aischylos den Chor ohne weitere Erklärungen auftreten - auf jeden Fall die der Tragödie angemessenere und einfachere Weise, wogegen die Art des Euripides eher bürgerlichem Verhalten entspricht und genauer ist. Könnte man alle Unwahrscheinlichkeiten in einer Tragödie vermeiden, wäre es vielleicht berechtigt, diese Unwahrscheinlichkeit bei Aischylos nicht durchgehen zu lassen. Nun aber legen die Herolde der Tragödie häufig an einem einzigen Tag Märsche von mehreren Tagen zurück. (8) Ferner ist es überhaupt undenkbar, daß kein Lemnier ihn besucht oder sich um ihn gekümmert haben sollte, ja ich glaube, er hätte die zehn Jahre ohne jede Hilfe gar nicht überlebt. Es ist doch anzunehmen, daß er Hilfe bekommen hat, wenn auch nur selten und in bescheidenem Maße; nur war eben wegen der Widerwärtig_ keit seiner Krankheit niemand bereit, ihn bei sich aufzunehmen und zu pflegen. Euripides jedenfalls führt Aktor ein, einen Lemnier, der zu Philoktet kommt, als wäre er ihm bekannt und schon oft mit ihm zusammen gewesen. (9) Auch jener Vorwurf scheint mir nicht berechtigt zu sein, daß der Philoktet des Aischylos dem Chor, als wüßte der nichts davon, die Geschichte seiner Aussetzung durch die Achaier und überhaupt seine Erlebnisse erzählt. Unglückliche Menschen rufen sich doch oft ihr Mißgeschick ins Gedächtnis zurück und fallen mit ihren nicht enden wollenden Erzählungen den Leuten, die längst Bescheid wissen und nichts mehr zu hören brauchen, lästig. Auch Philoktets Täuschung durch Odysseus und die Argumente, mit denen er ihn zu gewinnen sucht, sind nicht nur passender und einem Helden angemessener, sondern auch, wir mir schein t, überzeugender - wenn audl nicht in dem Maße wie die Worte eines Eurybates oder Patai-
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kion. (ro) Denn was braucht es listige Künste und Tricks bei einem Kranken, dazu bei einem Bogenschützen, dem sein ganzeS Können nichts nützt, sobald man nah an ihn herangetreten ist? Und wenn Odysseus vom Unglück der Achaier und vom Tod Agamemnons erzählt, davon, daß Odysseus einer außerordentlich niederträchtigen Tat beschuldigt werde und überhaupt das ganze Unternehmen gescheitert sei" so dient das nicht nur dazu, Philoktet aufzuheitern und ihm die Gegenwart des Odysseus angenehmer zu machen, sondern ist in gewisser Hinsicht nicht einmal unglaubwürdig - wegen der Dauer des Feldzuges und der noch nicht lange zurückliegenden Ereignisse im Zusammenhang mit dem Zorn Achills, als Hektor das Schiffslager beinah hätte in Flammen aufgehen lassen. (u) Der Scharfsinn des Euripides, seine Sorgfalt in jedem Detail - nichts darf unwahrscheinlich sein, nichts übersehen werden; nicht in aller Einfachheit, sondern mit der ganzen Kunst seiner Worte stellt er den Stoff dar und ist so der Antipode des Aischylos - erweisen den Dichter in erster Linie als Bürger 3 und Redner, und jeder, der sich mit ihm beschäftigt, kann den größten Gewinn daraus ziehen. Sofort zu Beginn wird Odysseus als Sprecher des Prologs eingeführt. Er macht sich Gedanken über die Aufgaben eines Bürgers und ist sich vor allem über sich selbst nicht im klaren: Er soll dem Publikum nicht besonders schlau und scharfsinnig vorkommen, sondern als das Gegenteil davon. (r2) Obwohl er ein Dasein frei von Sorgen und Mühen hätte haben können, lebe er doch ständig - nach seinem eigenen Wunsch - in Mühen und Gefahren. Als Grund dafür nennt er den Ehrgeiz der tüchtigen und wackeren Männer. Denn weil sie nach edlem Ruhm strebten undin aller Welt berühmt sein wollten, nähmen sie die größten und schwierigsten Abenteuer freiwillig auf sich: Natur hat Stolzeres nicht geschaffen als den Mann. 4 Dann erklärt cr leicllt verständlich und genau die Handlung
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des Dramas und den Grund, weshalb er nach Lemnos gekom_ men ist. (13) Er sagt, er sei von Athene verwandelt worden, damit Philoktet ihn nicht erkenne, wenn er ihn trifft. In diesem Punkt hält sich Euripides an Homer, denn auch Homer läßt Odysseus in den Begegnungen mit Eumaios, Penelope.und den übrigen durch Athene eine andere Gestalt annehmen. Odys_ seus führt aus, daß bald eine Gesandtschaft der Troer zu Philoktet kommen werde, um ihn zu bitten, sich selbst und seine Waffen ihnen zur Verfügung zu stellen; dafür wollten sie ihm die Herrschaft über Troia anbieten. So macht Euripides die Handlung noch reicher und scharrt die Voraussetzung für seine Reden, in denen er sich nie verlegen und außerordentlich geschickt zeigt, wenn es darum geh t, die Argumen te des Gegners zu entkräften. Hier braucht er keinen Vergleich zu scheuen. (14) Dann läßt Euripides, auch hierin Homer folgend, Odysseus nicht allein auftreten, sondern in Begleitung des Diomedes s. So beweist er überall, wie ich schon sagte, im Verlauf des ganzen Dramas äußersten Scharfblick und größte Glaubwürdigkeit im Stofflichen und eine unerschöpfliche, geradezu bewundernswerte Kunst im Sprachlichen. Die Dialogpartien sind klar, natürlich und dem einfachen Bürger angemessen, die lyrischen Partien dienen nicht nur der Ergötzung, sondern enthalten eine unüberhörbare Aufforderung zu einem moralisch einwandfreien Verhalten. (15) Sophokles scheint die Mitte zwischen beiden zu halten. Er hat weder die eigenwillige und dabei einfache Art des Aischylos noch die Genauigkeir,dic Schärfe und das urbane Wesen des Euripides. Seine Dichtung ist erhaben und prächtig, von außerordentlich tragischer Wirkung und von höchstem Wohlklang, so daß sie den größten Reiz mit Erhabenheit und Würde paart. In der Anordnung des Stofles ist er unübertrefflich und vollkommen überzeugend. So läßt er Odysseus zusammen mit Neoptolemos auftreten, denn es war ja vom Schicksal
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bestimmt, daß Troia von Neoptolemos und Philoktet zusammen mit Hilfe von Herakles' Bogen 6 erobert werden sollte. odysseus selbst versteckt sich dann und schickt Neoptolemos zU philoktet, nachdem er ihm noch unterbreitet hat, was er zu tun habe. Ferner besteht der Chor bei Sophokles nicht aus Einheimischen wie bei Aischylos und Euripides, sondern aus den Leuten, die zusammen mit Odysseus und Neoptolemos zu Schiff mit hergekommen waren. (r6) Die Charaktere sind auffallend groß und adlig gezeichnet, sein Odysseus ist viel umgänglicher und mit der Sprache freier heraus als der des Euripides, sein Neoptolemos von geradezu verblüffender Ehrlichkeit und Geradheit. Erstens will er nicht mit List und Trug, sondern durch seine Stärke und ohne Verstellung die Oberhand über Philoktet gewinnen. Nachdem er dann, von Odysseus überredet, Philoktet getäuscht und den Bogen in seine Gewalt bekommen hat, will er ihn nicht behalten, als Philoktet den Betrug merkt und jammernd die Waffen zurückfordert. Er ist gewillt, sie ihm zurückzugeben, obwohl odysseus erscheint und es zu verhindern sucht, und tut es schließlich auch. Dan n versuch t er, ih n mit vern ünftigen Gründen zu überreden, von sich aus mit nach Troia zu kommen. (17) Als Philoktet aber um keinen Preis nachgeben und sich fUgen will, sondern Neoptolemos bittet, sein Versprechen einzulösen und ihn nach Griechenland heimzubringen, gibt Neoptolemos sein Wort und ist bereit, es auszuftihren. Da erscheint Herakles und überredet Philoktet, freiwillig nach Troia zu t:1hren. Die lyrischen Partien enthalten nicht so viele Sentenzen und Ermahnungen zu einem moralischen Verhalten wie bei Euripides, aber sie üben einen wunderbaren, großartigen Reiz aus, so daß Aristophanes nicht ohne Grund von Sophokles gesagt hat: Er leckte Sophokles, als wiire der ein Top}; die Lippen, dick beschmiert mit Honig, ringsum ab.?
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(I) Demokrit sagt von Homer, er habe mit seiner göttlichen Begabung eine ganze Welt aus den verschiedensten Versen gebaut'. Denn ohne göttliche und übernatürliche Begabung, So glaubt er, sei es unmöglich, Verse von solcher Schönheit und Weisheit zu schreiben. Auch viele andere haben über dieses Problem geschrieben: die einen haben den Dichter unverhoh_ len gepriesen und gleichzei tig einige Zi ta te von ihm als Beweis angeführt, die anderen den Gedanken selbst erklärt. Zu dieser Gruppe gehören nicht nur Aristarch, Krates und mehrere andere, die später Grammatiker, früher jedoch Kritiker genannt wurden, auch Aristoteles, aufden die literarische Kritik und die Kunst der Erklärung zurückgeführt werden, behandelt den Dichter in vielen Dialogen, wobei er ihn im allgemeinen bewundert und schätzt. Schließlich wäre auch noch Herakleides von Pontos zu nennen. (2) Vor ihnen jedoch erwähnt bereits Platon den Dichter bei jeder Gelegenheit, voller Begeisterung über den Reiz und die Anmut seiner Verse2 , oft aber auch mit einem Tadel seiner Göttermythen und -geschichten: Was Homer erzählt habe, sei keineswegs zum Besten der Menschheit gewesen, diese Geschichten von Habgier, gegenseitigen Ränken, Ehebrüchen, Streitereien und Gezänk der Götter 3 • Dann schließt Platon den· Dichter auch von seiner idealen Stadt und Verfassung ausnach seiner Meinung sollte sie klug ausgedacht sein. Er wollte nicht, daß die Leute, die er zu Wächtern und Führern der Stadt bestimmte, in ihrer Jugend solche Dinge von den Göttern zu hören bekämen und daß über die Verhältnisse im Hades etwas Trauriges erzählt werde, damit sie nicht weich würden, wenn es zu kämpfen und zu sterben gelte4, und nicht wie schlecht zugerittene junge Pferde von Anfang an auch gegen das, was man nicht zu fürchten habe, mißtrauisch seien s.
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(3) Darüber gibt es freilich noch eine andere, umfassendere und ausführlichere, komplizierte Theorie, nämlich über die Frage, ob Homer sich mit seinen Geschichten geirrt oder ob er nach dem Brauch seiner Zei t den Menschen naturwissenschaftliehe Erkenntnisse in der Gestalt von Mythen weitergegeben hat. Eine solche Frage ist freilich nicht leicht zu entscheiden, wie es, denke ich, auch nicht leicht ist, bei zwei Freunden beides ehrbare Männer- gegen den einen zu entscheiden, wenn einer gegen den anderen Klage erhebt. (4) Ferner hat der Philosoph Zenon etwas zur Ilias und Odyssee geschrieben, übrigens auch über den Margites 6 ; er ist nämlich der Meinung, daß auch dieses Werk von Homer stammt, aus einer ziemlich frühen Periode, in der er sein dichterisches Genie noch erproben wollte. (s) Zenon hat an Homer nichts auszusetzen und versucht, die Widersprüche an einigen Stellen in Homers Werk durch den Nachweis zu erklären, daß er teils nach der Phantasie, teils nach der Wirklichkeit geschrieben habe. Die Theorie, daß der Dichter in seinem Werk zum Teil seiner Phantasie, zum Teil aber auch der Wirklichkeit folge, findet sich vor Zenon bereits bei Antisthenes. Während sie bei ihm aber noch ganz allgemein ist, hat Zenon sie in allen Teilen ausgearbeitet. Außerdem hat auch Persaios, Zenons Schüler, neben mehreren anderen diese Theorie verfochten. Aber zurück zu Platon. Wie ich schon sagte, hat er manches an Homer auszusetzen, gleichzeitig aber weist er auf die wunderbare Macht seiner Dichtung hin: Homer habe alles gekonnt und geradezu alle Laute nachgeahmt, sogar die von Flüssen, Winden und Wellen 7. Und sehr scherzhaft fordert er dazu auf, den Dichter mit einer Kopfbinde aus Wolle zu schm iicken, duftendes Öl auf sein Haupt zu gießen und ihn - in die Fremde zu sehicken 8 • (6) Trotz der kritischen Musterung von Homers Werk hat Platon aber für den Dichter selbst wegen seiner göttlichen Be-
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gnadung eine ganze Menge übrig. Eine solch erhabene, präch. tige und doch reizvolle Dichtung sei ohne göttliche Fügung, ohne Inspiration durch die Musen und Apol1on schlechterdings undenkbar. Sonst hätte sie nicht schon so lange neben den völ· kern gleicher Zunge und Sprache sogar die Barbaren zu einem großen Teil in ihren Bann schlagen können. Auch Leute, die zwei Sprachen sprechen, und Mischlinge kennen die Werke Homers genau, obwohl sie im übrigen nicht viel Ahnung von den Griechen haben. Zum Teil sind es auch Menschen, die sehr weit entfernt wohnen. Zum Beispiel sollen die homerischen Werke bei den Indern, in ihre Ausdrucksweise und Sprache übersetzt, vorgetragen werden. (7) So kommt es, daß den In. dem, während sie viele Sterne von unserem Himmel noch nie gesehen haben - die Bären, sagt man, scheinen bei ihnen nicht -, die Leiden des Priamos, die Klagen und Seufzer der An· dromache und der Hekabe, die Tapferkeit Achills und Hektors wohl bekannt sind. So viel vermochte das Genie eines einzigen Mannes !Ja mir scheint sogar, mit dieser Macht hätte er selbst die Sirenen und Orpheus übertroffen. (8) Denn Steine, Pflanzen und Tiere zu bezaubern und an sich zu locken, ist das ein grö. ßeres Kunststück, als fremde Menschen, die die griechische Sprache nicht verstehen, so vollständig unter seine Gewalt zu bringen? Menschen, die weder von der Sprache noch von den Ereignissen, von denen die Rede ist, etwas wissen, sondern sich einfach, wie ich glaube, von der Zither verzaubern lassen? Ja ich bilde mir ein, daß selbst von den noch ungebildeteren Barbaren viele den Namen Homers gehört haben, ohne freilich genau zu wissen, ob damit ein Tier, eine Pflanze oder sonst etwas gemeint ist. (9) Indessen könnte man noch viel mehr als die Dichtung das Leben dieses Mannes preisen. Denn in Armutzu leben, immer auf Wanderschaft zu sein und mit seiner Dichtung gerade so viel zu verdienen, daß es zum Leben reicht, das beweist doch
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wohl beachtlichen Mut und hohe Gesinnung. Obendrein hat er nirgends seinen Namen angebracht, ja er erwähnt sich nicht einmal in seiner Dichtung, während sonst jeder, der als Dichter oder Prosaiker einen Namen zu haben glaubt, an Anfang und Ende seinen Namen setzt. Viele tun es sogar auch noch in ihren Abhandlungen und Dichtungen, zum Beispiel Hekataios, Herodot und Thukydides, (10) wobei der zuletzt Genannte nicht nur einmal, zu Beginn seines Geschichtswerkes, sondern immer wieder, bei jedem Winter und Sommer 9, bezeugt: «Das hat Thukydides geschrieben.» Homer dagegen war so frei und großmütig, daß er an keiner Stelle seiner Dichtung persönlich in Erscheinung tritt, sondern in der Tat wie die göttlichen Propheten von irgendwoher aus dem Unsichtbaren und Verborgenen spricht. (Il) Da alles, was Homer geschrieben hat, nützlich und brauchbar ist, wäre es ein gewaltiges Unternehmen, wollte man jeden Ausspruch von ihm iiber Tugend und Laster durchgehen. Über seine Vorstellung von einem guten König jedoch ist noch in Kürze zu handeln. Wo immer er einen König lobt, nennt er ihn «dem Zeus an Weisheit vergleichbar», und «von Zeus genährt» sind bei ihm alle guten Könige. So auch Minos, der bei den Griechen wegen seiner Gerech tigkeit den höchsten Ruhm genoß und den HomerGefährte und Schüler desZeus'o nennt, wohl deswegen, weil er der erste und größte aller Könige gewesen ist und als einziger die Kunst, König zu sein, verstanden und weitergegeben hat, alle guten Könige aber im Blick auf ihn ihr Regiment fUhren müssen, indem sie, soweit es Menschen möglich ist, in ihrer Gesinnung dem Gott gleich zu werden trachten. (r2) Das Wesen des Zeus und die Art seiner Herrschaft läßt Homer an vielen Stellen deutlich werden, wenn er aber in aller Kürze Macht und Gesinnung des Zeus umreißen will, tut er das häufig mit der immer wiederkehrenden Wendung «Vater von Menschen und Göttern». Damit will er sa-
SOKRATES
gen, daß die Sorge der Könige wie die eines besorgten Vaters sein müsse, also getragen von Liebe und Freundlichkeit, und daß man Menschen niemals anders leiten und regieren dürfe als mit liebevoller Sorge, da auch Zeus sich nicht zu gut sei, Vater der Menschen genannt zu werden. 54. SOKRATES
(r) Die Sophisten, Hippias von Elis, Gorgias von Leontinoi, Polos und Prodikos, florierten einige Zeit in Griechenland und gelangten zu erstaunlichem Ansehen, nicht nur in den übrigen Städten, sondern sogar in Sparta und Athen. Dabei machten sie eine ganze Menge Geld, öffentlich bei den Städten und auch, je nach Vermögen, bei Fürsten, Königen und Privatleuten. Sie hielten viele Reden, aber ohne Sinn und Verstand - solche, denke ich, mit denen man Geld verdienen und bei Dummköpfen Beifall finden kann. (2) Dann war da ein Mann aus Abdera, der, weit davon entfernt, von anderen Geld zu nehmen, sein eigenes beträchtliches Vermögen verwahrlosen ließ und es durch seine philosophischen Studien verlor I - selbstverständlich ein törichtes Unterfan gen, den n er such te, was für ihn nicht von Vorteil war. (3) Aber auch Sokrates lebte in Athen, ein armer Mann aus dem Volk, der sich auch nicht durch seine Armut zwingen ließ, etwas zu nehmen. Und doch hatte er eine Frau, die das Geld nicht verachtete, hatte Söhne, die ernährt sein wollten. Man sagt, er habe mit den jungen Leuten aus den reichsten Familien verkehrt, von denen einige, wie es heißt, es ihm buchstäblich an nichts hatten fehlen lassen. Im übrigen war er aber von umgänglichem und freundlichem Wesen und ftir jeden, der zu ihm kommen wollte, zu sprechen. Meistens hielt er sich auf dem Marktplatz auf, besuchte die Palästren oder ließ sich an den Tischen der Geldwechsler nieder - genau wie die Leute,
54.3-55.1J
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die ihre billige Ware auf dem Markt feilbieten oder sie von Tür zu Tür tragen - für den Fall, daß jemand, jung oder alt, ihn etwas fragen und seine Antwort hören wollte. Die meisten hochgestellten Persönlichkeiten und Redner nun taten so, als sähen sie ihn nicht. Er aber trat auf sie zu, wie wenn er gestolpert wäre, machte eine bissige Bemerkung und ging schnell weiter. (4) Während nun die Reden jener bewunderten Sophisten verloren sind und außer ihren Namen nichts übrig ist, sind die Worte des Sokrates - wie, kann ich selbst nicht erklären - geblieben und werden in alle Ewigkeit bleiben, obwohl er selbst weder eine Abhandlung noch ein Testament geschrieben oder hinterlassen hat. Sokrates starb nämlich ohne eine Verfügung hinsichtlich seiner Weisheit und seines Vermögens. Ein Vermögen, das man, wie es bei Verurteilten üblich ist, von Staats wegen hätte einziehen können, besaß er nicht, seine Worte jedoch sind wahrhaftig Eigentum des Volkes geworden, aber bei Gott, nicht durch seine Feinde, sondern durch seine Freunde. Trotzdem werden sie auch heute, wo sie allgemein bekannt und geschätzt sind, nur von wenigen verstanden, und nur wenige haben etwas von ihrer Weisheit mitbekommen. 55. HOMER UND SOKRATES
(I) PARTNER: Da du dich als ein enthusiastischer Verehrer des Sokrates und seiner Worte zeigst, kannst du mir sicher auch sagen, bei welchem Weisen er in die Schule gegangen ist. Der Bildhauer Pheidias zum Beispiel war ein Schüler des Hegias, der Maler Polygnotos und sein Bruder waren beide Schüler ihres Vaters Aglaophon, lind Pherekydes soll der Lehrer des Pythagoras, Pythagoras wieder der Lehrer des Empedokles und anderer gewesen sein. Bei den meisten berühmten Männern können wir die Lehrer, durch die sie bedeutend geworden sind, nennen, nur nicht bei Heraklit aus Ephesos und Hesiod aus
HOMER UND SOKRATES Askra. Der eine behauptet nämlich, er habe als Hirte auf dem Helikon in einem Lorbeerzweig die Dichtkunst von den Musen verliehen bekommen I; damit will er uns die Mühe ersparen, einen Lehrer für ihn zu suchen. (2) Heraklit dagegen sagt mit noch größerem Stolz, er selbst habe die Natur des Alls entdeckt, ohne daß es ihm jemand beigebracht habe, und durch sich selbst sei er weise geworden. Bei Homer freilich ist diese Frage, wie auch alles andere bei ihm, für die Griechen ungeklärt. Und von Sokrates hören wir, daß er in seiner Jugend den Beruf des Vaters erlernt habe. Du aber sei so gut und sage uns unmißverständlich, wer sein Lehrer in der so nützlichen und vortrefflichen Weisheit gewesen ist. (3) DION: Für viele ist diese Frage geklärt, denke ich, wenn man beide Männer kennt: Sokrates war in Wahrheit ein Schüler Homers, nicht, wie einige behaupten, ein Schüler des Archelaos. PARTNER: Wie kann man einen Mann, der Homer nie begegnet ist und ihn niemals gesehen hat, sondern so viele Jahre nach ihm lebte, einen Schi.iler Homers nennen? DION: Was denn, können wir von einem Menschen, der zwar zu Homers Zeiten gelebt hat, aber die Werke Homers nie gehört und, wenn schon, dabei auf nichts achtgegeben hat, sagen, er sei ein Schüler Homers? PARTNER: Aufkeinen Fall. (4) DION: Dann ist es aber auch nicht abwegig, jemand, der Homer nie begegnet ist und ihn nie gesehen hat, wohl aber die Dichtung Homers kennt und mit seiner ganzen Gedankenwelt vertraut ist, einen Schüler Homers zu nennen. Oder willst du gar behaupten, man könne einem Menschen, mit dem man niemals zusammenwar, nicht mit Eifer nachfolgen? PARTNER: Nein, das will ich nicht. DION: Wenn er nun sein Nachfolger ist, muß er wohl auch sein Schüler sein. Denn wer jemand mit Eifer nachfolgt, weiß
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HOMER UND SOKRATES
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doch wohl genau, was für ein Mensch der andere war, und indem er sich dessen Taten und Worte zum Vorbild nimmt, versucht er, ihm möglichst gleichzukommen. (5) Genau das aber scheint auch der Schüler zu machen: Indem er es dem Lehrer nachmacht und aufihn achtet,erlernt er die Kunst. Auf der andern Seite hat Sehen und Zusammensein noch nichts mit Lernen zu tun. So sehen zum Beispiel viele Menschen Flötenbläser, sind mit ihnen zusammen und hören sie tagaus, tagein, und doch könnten sie nicht einmal in die Flöte hineinblasen, wenn sie nicht zu den Flötenspielern gehen, um das Flöten zu lernen und es ihnen abzugucken. Wenn du aber Bedenken hast und Sokrates nicht einen Schüler, sondern nur einen Nachfolger Homers nennen willst, habe ich nichts dagegen. (6) PARTNER: Das eine schein t mir genauso abwegig wie das andere. Homer war ein Dichter, wie es seinesgleichen nicht wieder gegeben hat, Sokrates ein Philosoph. DION: Gut, aber auf diese Weise kannst du auch Archilochos nicht gut einen Nachfolger Homers nennen, denn er hat nicht wie Homer sein ganzes Werk im gleichen Versmaß geschrieben, sondern meistens andere Metren verwandt; auch nicht Stesichoros, denn jener schrieb Epen, Stesichoros aber war Lyriker. (7) PARTNER: Doch, das würde ich tun. Zumindest sagen alle Griechen, Stesichoros sei ein Anhänger Homers gewesen und komme ihm in seiner Dichtung sehr nahe. Worin aber scheint dir Sokrates mit Homer vergleichbar zu sein? DION: An erster und wichtigster Stelle in seinem Charakter. Keiner von beiden war ein aufgeblasener Prahlhans, wie es die Dümmsten unter den Sophisten sind. Homer hielt es nicht einmal für erwähnenswert, woher er stammte, wer seine Eltern waren und wie er selbst hieß. Wären wir auf ihn allein angewiesen, wüßten wir selbst den Namen des Mannes nicht, der Ilias und Odyssee geschrieben hat. (8) Sokrates dagegen konnte
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s eine Va terstad t nich t verheimlichen, weil Athen zu bedeu tend und berühmt war und zu jener Zeit an der Spitze Griechenlands stand. Trotzdem hat Sokrates niemals große Worte über sich gemacht oder irgendein Wissen für sich in Anspruch genommen, obwohl ApolIon in einem Orakelspruch verkündet hatte, daß er der weiseste von Griechen und Nichtgriechen sei'. Schließlich hat er seine Worte nicht selbst aufgeschrieben und sie der Nachwelt hinterlassen - darin tat er es sogar Homer noch zuvor. Wie wir nämlich Homers Namen nur durch andere kennen, so auch die Worte des Sokrates, weil andere sie überliefert haben. So äußerst zurückhaltend und bescheiden waren beide Männer. (9) Dann verachteten beide, Sokrates wie Homer, den Erwerb von Hab und Gut. Außerdem behandelten und besprachen sie dieselben Probleme, der eine in seiner Dichtung, der andere in Prosa: Tugend und Laster der Menschen, ihre Fehler und ihre guten Seiten, Wahrheit und Trug, die Meinungen der großen Menge und das Wissen der Vernünftigen. Schließlich verstanden es beide ausgezeichnet, in Gleichnissen und Bildern zu sprechen. PARTNER: Es wäre doch recht merkwürdig, wenn du mit den Gleichnissen Homers, mit Feuer, Wind, Meer, Adler, Stier, Löwe und so fort, womit er seine Werke geschmückt hat, die Töpfer und Schuhmacher des Sokrates vergleichen wolltest! (10) DION: In der Tat, mein Bester, denn auch den Fuchs des Archilochos 3 vergleichen wir mit den Löwen und Pan thern des Homer und behaupten, er stünde ihnen nichts oder nicht viel nach. Aber vielleicht hältst du auch nichts von Gleichnissen, in denen Homer von Staren, Dohlen, Heuschrecken, von Fackeln und Asche, von Bohnen und Kichererbsen oder von Männern, die das Getreide von der Spreu säubern, spricht; das scheint dir wohl das Schlechteste im Homer zu sein. (Il) Du bewunderst nur die Löwen und Adler, die Skylla und die Kyklopen, womit Homer die Leute mit primitivem Geschmack
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fangen wollte, so wie etwa die Ammen den Kindern Geschichten von der Lamia erzählen. Nein, wie Homer die Menschen außerordentlich mühselig zu erziehende Wesen - mit Mythen und Geschichten erziehen wollte, so griff auch Sokrates häufig ZU dieser Methode, bald im Ernst, wie er zugab, bald im gespielten Scherz, nur um den Menschen einen Dienst zu erweisen. Dabei mag es dann auch einmal einen Zusammenstoß mit den Mythendichtern und Schriftstellern gegeben haben. (12) Dann geschieht es auch nicht ohne Absicht, daß er Gorgias, Polos, Thrasymachos, Prodikos, Menon, Euthyphron, Anytos, Alkibiades oder Laches als Gesprächspartner einführt, obwohl er ihre Namen hätte weglassen können. Vielmehr wußte er, daß er damit seinen Hörern den größten Dienst erwies, wenn sie ihn dadurch besser verstehen könnten. Denn an den Worten die Menschen und an den Menschen die Worte zu erkennen ist nicht einfach, wenn man nicht Philosoph ist und eine gute Ausbildung hinter sich hat. Die meisten Menschen dagegen glauben, solche Dinge hätten nichts zu bedeuten, und tun sie einfach als lästiges Geschwätz ab. (I3) Sokrates aber hielt es fur angebracht, wenn er einen Prahler als Gesprächspartner einführte, über Prahlerei, wenn einen unverschämten und schamlosen Menschen, über Unverschämtheit und Schamlosigkeit zu sprechen, wenn einen unvernünftigen und jähzornigen, vor Unvernunft und Jähzorn zu warnen. So konnte er auch in den anderen Fällen die Leidenschaften und Krankheiten an den Menschen selbst, die davon befallen waren, klarer zeigen, als wenn er nackte Worte gesprochen hätte. (I4) Aber auch diese Eigentümlichkeit scheint er mir von Homer zu haben. Wenn Homer zum Beispiel von Dolon 4 erzählt, wie er die Pferde des Achilleus haben wollte; wie er, obwohl er vor den Feinden hätte fliehen können, stehenbleibt, den Speer nahe in den Bod~n gesteckt, und ihm seine Schnelligkeit nichts nützt; wie er vor Furcht schlottert und mit den
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Zähnen klappert; wie er den Feinden nicht nur sagt, wonach er gefragt ist, sondern auch das, was niemand von ihm wissen wollte - so verrät er die thrakischen Pferde und Rhesos, von dessen Ankunft niemand etwas wußte - wenn Homer das alles so plastisch erzählt, hast du da nicht den Eindruck, er spreche über Feigheit und Ruhmsucht? (15) Wenn er von Pandaross berichtet, wie er den Waffenstillstand bricht in der Hoffnung, von Paris, dem Sohn des Priamos, dafür belohn t zu werden; wie er Menelaos mit seinem Schuß nicht tötet, obwohl er als brauchbarer Bogenschütze gilt; wie er durch seinen Vertragsbruch den Troern den rechten Mut zum Kampf nimmt, weil sie immer an die nicht gehaltenen Eide denken müssen jetzt müssen wir kiimpfen ah Miint/er, die das gegebene 1170rt nicht gehalten, doch ist das nicht besser 6; (16) wie ihm dann kurz danach die Zunge abgeschnitten wird und er auf diese Weise sterben muß7, bevor Paris ihm überhaupt mit einem Wort sagen kann, daß er ihm dankbar istwenn Homer das alles mit einer solchen Gründlichkeit erzählt, scheint er da von etwas anderem zu sprechen als von Bestechlichkeit, Frevelmut und, ganz allgemein, von Torheit? Verflucht doch Pandaros seinen Bogen und droht, er wolle ihn zerbrechen und ins Feuer werfen 8. Als wenn der Bogen Angst vor ihm hätte! (r7) Dann erzählt Homer von Asios, dem Sohn des Hyrtakos, daß er trotz des Befehls seines Führers, die Pferde außer halb des Grabens zu lassen, als einziger nicht gehorcht, sondern mitsamt dem Gespann - der Tor! - sich nähert den schnellen Schiffen. Er sollte der bösen Gewalt des Tods nicht entrinrlen, sollte nicht prunkend mit Pferden und Wagen zurück von den Schiffen heimwärtskehren nach Troia, das ausgesetzt ist den Winden. 9 (r8) Dann fährt er zwischen Graben, Wall und Schiffslager in ein solch unwegsames Gelände, daß es nicht einmal Fußsolda-
55. 18- 20]
HOMER UND SOKRATES
ten gut bekam, als sie dort von den Feinden angetroffen wurden, sondern die Mehrzahl umkam, weil nur eine schwache Rückzugsmöglichkeit bestand. Er dagegen, von den Pferden und der Schönheit des Wagens ermutigt, glaubt über den Wall hinwegsetzen zu können und ist entschlossen, selbst wenn er ins Meer fallen sollte, noch vom Wagen aus zu kämpfen. Spricht Homer hier nicht ganz oflensichtlich über Ungehorsam und Prahlerei? (19) Diesen Leuten stellt er nun Polydamas gegenüber, der den Befehl gibt, vorsichtig zu sein und den Graben nicht zu überschreiten. Das eine Mal lo weist er die Griechen auf die Gefahrlichkeit des Unternehmens hin, das andere Mal l l auf das Vogelzeichen, das ihnen zuteil geworden ist. Denn er dachte, daß sonst niemand auf seine Worte hören werde, daß er aber mit dem Hinweis auf das Vogelzeichen Hektor leicht überzeugen könne. Oder auch Nestor, der, als Agamemnon und Achilleus sich gegenseitig beschimpfen, ihren Zorn besänftigt und ihnen eindeutig vorhersagt, was für Folgen ihr Streit haben werde"; der dann später dem Agamemnon Vorwürfe macht, daß er sich nicht richtig verhalten habe, und ihn zwingt, einen Bittgang zu Achilleus zu machen 13. Schließlich auch Odysseus, der versucht, den Fehler Agamemnons wiedergutzumachen, wobei er allerdings die Griechen fast zur Flucht veranlaßt hätte, obwohl er das Heer nur auf die Probe stellen und wissen wollte, wie es sich mit dem sich in die Länge ziehenden Krieg abfinde 14 • Scheint Homer hier nicht für kluges Verhalten, StrategieundSeherkunst, darüber hinaus auch für die Wahl des günstigen und ungünstigen Augenblicks Ratschläge zu erteilen? (20) Was die Odyssee betrifft, will ich alles andere beiseite lassen und nur einen Mann erwähnen, Antinoos, weil Homer ihn zum größten Prahlhans und Lüstling unter den Freiern gemacht hat. Zunächst einmal verachtet er Odysseus, weil jener in Lumpen geht, er selbst aber, mit einem kostbaren Gewand
AGAMEMNON
angetan, aus goldenen Gefäßen trinkt - dabei gehören sie ihm nicht einmal - und verschwenderisch tafelt - nicht von den Vorräten seines Vaters, sondern als Schmarotzer in einem herrenlosen Haus 'S • Und während er behauptet, Penelope zu lieben, schläft er mit den Mägden des Odysseus und hat auch sonst vor nichts Hemmungen. (2r) Schließlich versucht er, den Bogen zu spannen, obwohl er davon keine Ahnung hat und seine Hände durch das bequeme Leben so verweichlicht sind, daß er die Sehne nicht anfassen kann, wenn man sie nicht mit Talg bestreicht - und das vor den Augen des Odysseus und in Gegenwart seiner Geliebten, vor einer solchen Menschenmenge! 16 Aber er kann den Bogen nicht spannen und versteht nicht, wie Telemachos die Äxte aufstellen will. Dementsprechend läßt Homer ihn nicht ohne Absicht durch einen Schlag in die Gurgel und nicht durch einen beliebigen Schlag sterben, und bei Pandaros war es, sicher auch nicht ohne Absicht, die Zunge, die getroffen wurde. Bisweilen mag so etwas Zufall sein, trotzdem aber kann man in vielen Fällen sagen, daß dieser Mensch durch einen Schlag in den Bauch, dieser durch einen Schlag in die Scham und dieser durch einen Schlag in den Mund sterben müßte. (22) Glaubst du nun noch, daß Homer etwas ohne Absicht gesagt ha t? Ebensowenig ge bra uch te Sokra tes seine Worte und Beispiele aufs Geratewohl. Wenn er mit Anytos spricht, erwähnt er Gerber und Schuster, wenn mit Lysikles, Schafe und Felle, wenn mit Lykon, Prozesse und falsche Anklagen, wenn mit dem Thessalier Menon, Liebhaber und Geliebte. 56. AGAMEM NON ODER VON DER KÖNIGSHERRSCHAFT
(r) DION: Willst du über Agamemnon einige gute Gedanken hören, die dich zum Nachdenken anregen können, oder stört
56,1-3]
VON DER KÖNIGSHERRSCHAFT
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eS dich, wenn Agamemnon, der Sohn des Atreus, in unserer Unterredung genannt wird? PARTNER: selbst wenn du über Adrastos, den Sohn des Talaos, über Tantalos oder Pelops sprechen wolltest, wäre ich nicht empört, wenn ich nur Gewinn davon habe. DION: Also gut. Mir sind kürzlich einige Gedanken gekommen, die ich dir mitteilen möchte, wenn du bereit bist, auf meine Fragen zu antworten. PARTNER: So sprich, denn ich bin bereit. (2) DION: Gibt es Leute, die über Menschen herrschen wie andere über Ziegen, Schweine, Pferde und Kühe, eben wie alle jene, die gemeinhin als Hirten bezeichnet werden? Oder hast du den Vers des Kratinos: Hirte ist mein Beruf, ich hüte Ziegen und Rinder 1 noch nicht gelesen? PARTNER: Ich könnte dir nicht sagen, ob es richtig ist, alle Menschen, die Tiere hüten, Hirten zu nennen. DION: Nicht nur diejenigen, mein Lieber, die unvernünftige Tiere hüten, sondern auch Menschen, wenn man Homer in diesem Punkte Glauben schenken darf". Aber warum hast du meine erste Frage nicht beantwortet? PARTNER: Welche Frage? DION: Ob es Leute gibt, die über Menschen herrschen. PARTNER: Natürlich gibt es die. (3) DION: Wer sind sie? Wie nennst du sie? Ich meine nicht die Männer, die im Krieg Soldaten befehligen, denn die Führer des gesamten Heeres nennen wir ja gewöhnlich Generäle, wie auch bei den kleineren Einheiten der Befehlshaber einer Kompanie Kompanieftihrer, einer Gruppe Gruppenftihrer, einer Flotte Flottenbefehlshaber, einer einzelnen Triere Trierenkapitän heißt. Auf diese Weise hat noch mancher andere, der im Krieg eine kleine Einheit befehligt, seine Bezeichnung, weil die Menschen im Krieg einer ganz besonders sorglichen Führung
AGAMEMNON
[56,3-7
bedürfen. (4) Ich frage auch nicht, wie die Leiter von Chören heißen, die den Takt schlagen und den Sängern den Ton angeben, nicht nach den Vorsitzenden bei Gelagen, nicht nach sonstigen Leuten, die für eine bestimmte Aufgabe und ftir eine festgesetzte Zeit über eine Gruppe von Menschen Verfügun gsgewalt oder eine gewisse Verantwortung bekommen haben. Ich frage vielmehr nach denen, die zu jeder Zeit über die Menschen herrschen, ob diese Menschen nun politisch tätig sind, ihr Land bestellen, wenn es sich gerade so trifft, oder einfach ihr Leben leben - so, wie Kyros zum Beispiel über die Perser geherrscht hat, Delokes über die Meder, Hellen über die nach ihm Genannten, Aiolos über die Aioler, Doros über die Dorer, Numa über die Römer und Dardanos über die Phryger. (S)PARTNER: Deine Frage ist nicht schwer, denn alle, die du eben genannt hast, hießen Könige und waren es auch. Und die Herrschaft, von der du sprichst, bei der man in allen Belangen über Menschen herrsch t und Menschen Befehle gibt, ohne dafür Rechenschaft ablegen zu müssen, wird Königtum genannt. DION: Demnach hältst du die Herrschaft der Herakliden, die so lange in Sparta regierten, nicht für eine Königsherrschaft? Denn sie machten nicht alles nach eigenem Gutdünken, sondern hörten in vielen Dingen auf die Ephoren, (6) die, nachdem diese Instanz unter der Regierung des Theopompos erst einmal in Sparta eingerichtet war, n.ir ihr Amtsjahr nicht weniger Macht besaßen als die Könige. So wollten sie Pausanias, den Sohn des Kleombrotos und Sieger von Plataiai, ins Gefangnis werfen, und als er im Heiligtum der Athene Zuflucht gesucht hatte, ließen sie ihn dort umkommen. Da nützte es ihm nichts, daß er ein geborener Heraklide und Vormund eines Knaben 3 war, daß er Führer nicht nur von Sparta, sondern von ganz Griechenland gewesen war. (7) Und in späteren Zeiten, als Agesilaos mit dem Groß könig Krieg führte und nach seinem Sieg in der Nähe von Sardes Herr über das ganze untere Asien
56,7-10]
VON
DER
KÖNIGSHERRSCHAFT
657
geworden war, ließen sie ihn durch einen Dienstmann nach Sparta rufen. Er aber schob die Reise nicht einen einzigen Tag auf, obwohl er Herr i.iber so viele Griechen lind so viele Barbaren geworden war 4 • War Agesilaos deswegen etwa nicht mehr König von Sparta, weil er sich der Macht anderer gefUgt hatte? PARTNER: Wie könnten solche Leute im strengen Sinn des Wortes König sein? (8) DION: Willst du denn auch behaupten, Agamemnon sei vor Troia nicht König über Argeier und Achaier gewesen, weil er einen älteren Mann, den Pylier Nestor, als Aufseher über seine Herrschaft hatte? Auf dessen RatS baute man die Mauer um die Schiffe, zog zum Schutz des 'Schiftslagers rings den Graben, teilte Agamemnon das Heer, das bis dahin, wie es scheint, ohne geplanten Einsatz von Fußvolk und Reiterei - Pylier, Argiver, Arkader, Boiotier: alles durcheinander- gekämpft hatte, in verschiedene Gruppen.' Später gibt Nestor ihm die Anweisung, das Heer nach Stämmen zu ordnen, damit Sippe der Sippe und Stamm dem Stamme zur Seite stehe. 6 (9) Auf diese Weise, meint er, könne Agamemnon die Tapferen und die Feigen unter seinen Führern erkennen - wenn unter den Führern, natürlich auch unter den Soldaten. Und gleichzeitig erklärt er ihm, was für einen gewaltigen Vorteil das mit sich bringe. PARTNER: Und was will Nestor dami t erreichen? DION: Daß Agamemnon auch nach Nestors Tod die Feldherrnkunst beherrscht. Und der hört so gen au auf Nestor, daß er nicht nur bereitwillig tut, was ihm jener persönlich aufträgt, sondern sich auch an das hält, was er glaubt, von ihm im Traum vernommen zu haben. So läßt er sich zum Beispiel durch den Traum eines Kampfes täuschen, nur weil die Erscheinung wie Nestor aussiehe. (10) Aber nicht nur dem Nestor, der als der weiseste unter den Achaiern gilt, gehorcht er, er unternimmt überhaupt nichts ohne die Äl testen. Als er, dem Traum-
AGAMEMNON
[56, '0-'3
bild folgend, das Heer in den Kampfführen will, tut er es nicht, bevor nicht der Rat der Alten bei Nestors Schiff zusammen getreten ist 8 • Und auch die Probe, auf die er das Heer zu stellen wünscht - ob es noch entschlossen sei, zu bleiben und trotz Achills Groll den Kampf bis zum Ende durchzustehen -, macht er nicht anders, als daß er sich zuvor mit dem Rat bespricht. Die meisten Demagogen dagegen haben keine Beden_ ken, auch nicht vom Rat gebilligte Beschlüsse vor die Volksversammlung zu bringen. Agamemnon aber berichtet vor dem Heer über die Kriegslage erst, nachdem er sich mit den Äl testen besprochen hat. (I I) PARTNER: Das ist nichts Besonderes, wenn er als König auch die anderen zu Worte kommen läßt und einen wegen seines Alters zuverlässigen Mann zum Ratgeber hat, obwohl die Verftigungsgewalt über alle Angelegenheiten in seinen Händen liegt. Indes, warum benimmt er sich in der Geschichte mit Brisels auf eine solche Weise, ohne auf Nestor, einen so ausgezeichneten Mann, zu hören 97 DION: Es ist wie bei vielen gewöhnlichen Menschen, die, ihren Führern und den Gesetzen ungehorsam, viel Gesetzwidriges tun, woftir sie sich verantworten müssen. Sie werden dann vorGerich t gezogen und bekommen ihre verdien te Strafe. PARTNER: Ganz gewiß. (12) DION: Nun gut. Glaubst du nicht, daß Agamemnon für seinen damaligen Ungehorsam später von Nestor zur Rechenschaft gezogen wird, in jener Szene nämlich, in der er ihm in Gegenwart der klügsten Verbündeten sein Verhalten vorwirft und vorschlägt, was zur Strafe mit ihm geschehen solle oder was er zu zahlen habe - eine sehr schwere Anklage, denn Nestor ist ein gewaltiger Redner. Da sagt er, daß ihm diese Dinge schon lange Kummer gemacht hätten, ( 13) seitjenem Tag, als du, Göttlicher, hingingst, dasMidchen Briseis trotz des Zorns des Achill aus dem Zelte zu rauben. Doch wal' es
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gar nicht in unserem Sinn, denn heftig und immer wieder riet ich dir ab. Doch du, deinem stolzen Herzen dich fügend, nahmest dem besten Mann, den selbst die Unsterblichen ehrten, Ehre und Ruf Die geraubte Ehrengabe - du hast sie. Aber auch jetzt noch laßt um beraten. 10 (14) Und bei Gott, er zieht ihn nicht nur mit Worten zur Rechenschaft, sondern legt ihm die allerschwerste Strafe fur sein falsches Verhalten auf: Er heißt ihn, Achilleus persönlich zu bitten und alles zu tun, um den Mann zu überreden. Zunächst schlägt Agamemnon wie die vor Gericht Verurteilten eine Summe vor, die er als Strafe fur sein beleidigendes Benehmen meint aufbringen zu können. Dann nimmt er es unter anderem auf sich, eidlich zu versichern - dabei wird sogar geopfert -, daß er Briseis seit dem Raub nicht angetastet habe. (15) Und statt sie einfach von dem einen Zelt ins andere zu fUhren, verspricht er eine Menge Gold, Pferde, Dreifuße, Schalen, Frauen und Städte. Zu guter Letzt, als wenn es noch nicht genug wäre, soll Achilleus sogar eine von seinen drei Töchtern, welche er möchte, zur Frau bekommen 11. Zu einer solchen Strafe ist noch niemals jemand verurteilt worden: fUr eine Dienerin, dazu noch eine Kriegsgefangene, der nichts geschehen war, seine eigene Tochter mit einer riesigen Mitgift ohne Brautgeschenke hergeben zu müssen. In der Tat kennen wir im bürgerlichen Bereich kein bittereres Urteil als dies. (16) Glaubst du nun noch, beim Himmel, daß Agamemnon über die Griechen geherrscht habe, ohne rechenschaftspflichtig zu sein, und sich nicht fur alle seine Taten ganz genau zu verantworten hatte? Aber dieses Thema wollen wir hier abbrechen, denn gestern ist genug darüber gesagt worden, und uns einer andern Frage zuwenden. PARTNER: Nein, beim Himmel, versuche lieber, alles, was du zu diesem Gegenstand zu sagen hast, klarzumachen, da ich gerade erst den Sinn deiner Ausführungen so etwa begreife.
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NESTOR
[56, ,6-57,2
Ich glaube, du willst über Herrschaft, Königtum oder etwas Ähnliches sprechen. 57. NESTOR
(I) Aus welchem Grund eigentlich, glaubst du, läßt Horner Nestor folgende Worte sprechen - ich meine jene Szene, in der Nestor Agamemnon und Achilleus gut zuredet und sie warnt, miteinander zu streiten: Früher schon habe ich nämlich mit Helden verkehrt, die waren besser als ihr, und niemals verachteten sie meinen Ratschlag. Solche Männer hatte noch llie ich gesehen, noch werd' ich jemals sie sehm: Peirithoos, Dryas, den Hirten der Völker, Kaineus, Exadios samt Polyphem, der den GötterrJ gleichkam, Theseus, der Sohn des Aigeus, auch er den Unsterblichen ähnlich. TJ?ahrlich,jene warm die stärkstell der Menschm auf Erden, waren die Stiirksten, und mit den Stärksten kämpften sie auch, mit wilden Tieren der Berge, durch furchtbare Schläge sie tötend. Doch sie ver.standen, was ich ihnen riet, und gehorchten den Trortel/. Also gehorchet auch ihr, dmn besser ist's zu gehorchen.' (2) Hat Homer aus Nestor etwa einen Prahlhans gemacht, wenn er ihn von Peirithoos, Dryas und all den anderen sagen läßt, daß sie auf seine Meinung Wert legten, so außergewöhnlich und jenen beiden Griechen überlegen sie auch waren, ja daß sie ihn sogar aus Pylos nach Thessalien riefen., weil sie mit ihm zusammensein und sich mit ihm besprechen wollten? Und weiter: Scheint Nestor diesen Helden nach dem Hinweis aufihre außergewöhnliche Stärke ein besonderes Zeugnis auszustellen, wenn er sagt, sie hätten seine Meinung verstanden und seinen Worten gehorcht? Oder nehmen wir an, er habe damit sagen wollen, daß jeder Mensch von gesundem Begriffsvermögen auf berechtigte Worte höre und Ungehorsam dasselbe wie Nichtverstehen seil?
57,3-5]
NESTO R
66r
(3) Aber wir wollen auch in anderer Hinsicht prüfen, ob Nestor recht hat oder prahlt. Alle dummen Menschen verachten doch Leute, die keinen Namen haben, und geben nichts auf sie, selbst wenn sie das Beste raten. Sehen sie aber, daß jemand von der großen Menge oder von mächtigen Persönlichkeiten geehrt wird, halten sie es nicht für unter ihrer Würde, ihnen zu folgen. Das ist also der eine Grund für Nestors Selbstempfehlung: daß er früher schon viele mächtige Männer hat überreden können und daß Achilleus und Agamemnon für den Fall, daß sie nicht gehorchen, es nur ihrem eigenen Unverstand und ihrem mangelnden Begriffsvermögen zuzuschreiben haben, nicht aber der Unfähigkeit Nestors, in den wichtigsten Dingen einen Rat zu geben. (4) Nestor hätte auch nicht gezögert, sich selbst verächtlich zu machen, wenn er auf diesem Weg - durch die Behauptung, daß es noch niemals jemand für wert befunden habe, ihn in einer Sache um Rat zu fragen Agamemnon und Achilleus voraussichtlich hätte dazu bringen können, seinen Worten zu folgen. Deswegen ist aber auch sein Selbstlob gerechtfertigt, wenn er damit zum Ziel zu kommen glaubt. Oder ist es nicht töricht, vor dem Selbstlob zurückzuschrecken, wenn man mit ihm wahrscheinlich den größten Nutzen stiften kann? Gilt das gleiche nicht vermutlich auch vom Gegenteil, zu prahlen und immer wieder von sich reden zu machen, wenn damit Gefahr und Schaden verbunden sind? (s) Wenn zum Beispiel ein Patient sich bereit erklären soll, sich schneiden oder brennen zu lassen oder eine widerliche Medizin einzunehmen, und der Arzt weiß, daß der Patient feige und uneinsichtig ist, und ihm deswegen Leute nennt, die er retten konnte, weil sie sich von der Notwendigkeit einer Behandlung überzeugen ließen, wird niemand behaupten wollen, dieser Arzt sei ein Prahler. Genausowenig, scheint mir, darf man Nestor den Vorwurf der Prahlerei machen. 23
662
NESTOR
(6) Das ist also der eine Nutzen, den Nestors Worte leisten. Der andere: Nestor weiß genau, daß sowohl Agamemnon als auch Achilleus einzig und allein aus Überheblichkeit sich ver_ gessen haben, und er denkt, daß die Menschen im allgemeinen dann ganz besonders überheblich sind, wenn sie, durch Ruhm oder Macht aufgeblasen, auf die anderen herabsehen und sie als tief unter sich stehend betrachten. Er hat erkannt, daß Achilleus und Agamemnon aus diesem Grund aufgeblasen sind und nur aus Prahlsucht der eine mit dem andern streitet. Der eine glaubt, als Sohn von Peleus und Thetis und als bester Krieger seiner Zeit dürfe er schlechterdings auf niemand hören und niemand, der über ihm steht, anerkennen; fur Agamemnons Überheblichkeit dagegen ist seine Stellung als König und alleiniger Herrscher über alle Griechen ausschlag_ gebend. (7) Da Nestor also sieht, daß die beiden aus diesen Gründen verdorben sind und nicht mehr friedlich miteinander auskommen können, sondern ihre Herzen anschwellen, wie Achilleus später sagt: Aber es schwillt mir mein Herz 'Por Groll,4 will er sie von ihrer Höhe herunterholen und womöglich ihren Stolz brechen, wie man eine Geschwulst durch Stechen und Qgetschen beseitigt. Deswegen erwähnt er berühmte und mächtige Helden und deswegen auch vermutlich Helden, die in früheren Zeiten gelebt haben, denn er weiß, daß ihnen der Ruhm eher nachfolgt. (8) Freilich überläßt er es nicht seinen Hörern, welche Meinung sie von diesen Männern haben wollen, sondern erklärt selbst unverblümt, wieviel besser als Agamemnon und Achilleus jene Helden waren, in der Hoffnung, die beiden könnten ein wenig von ihrem dünkelhaften Wahn ablassen. Glaubst du also, Homer habe diese Worte Nestor umsonst in den Mund gelegt, jenem Mann, von dem er sagt, er sei der gewaltigste Redner unter den Menschen, und dessen Rede-
NESTOR
gabe er der Süße des Honigs vergleicht S ? Den Gesunden ist aonig das Liebste und Süßeste von allem, den Kranken und Fiebrigen aber, wie es heißt, das Unangenehmste, und doch reinigt und ätzt er mit seiner natürlichen Kraft eiternde und kranke Stellen. (9) So kommt auch Nestors Rede den anderen süß, Achilleus und Agamemnon aber bitter vor, da sie krank und durch ihren Zornesmut verdorben sind, so daß sie in ihrem Unverstand nicht aufihn hören. Auch das also sagt Homer nicht wahllos oder, wie einige annehmen, von ungefähr. (ro) Wir wollen hier abbrechen. Aber etwas anderes verdient nach dem Gesagten noch Beachtung. Wenn jemand, der mit Menschen umgeht, erzählt, er habe früher mit anderen, weit besseren Menschen Umgang gehabt, sei es nun mit Völkern, Königen oder Tyrannen, und habe seine Absicht dabei nicht verfehlt, vielmehr sei das publikum ihm willig und aufmerksam gefolgt - ha t ein solcher Mann den Ruf eines Prahlers verdient, weil er das alles nur erwähnt, um bewundert zu werden und als glücklich zu gelten, oder tut er es vielleicht eher deswegen, weil er nach dem Vorbild von Nestors Belehrung ein publikum haben möchte, das auf ihn hört? (II) Sokrates ging nur wenige Schritte, um die Worte, die er eben im Lykeion gesagt hatte, in der Akademie zu wiederholen, und, ins Lykeion zurückgekehrt, brachte er dort wieder bedenkenlos die in der Akademie gesprochenen Worte vor 6, und seit langer Zeit werden immer wieder die gleichen Tragödien und Komödien aufgeführt. Da wäre es doch sonderbar, wenn man mein Unternehmen als etwas ganz Außergewöhnliches hinstellen wollte: wenn ich euch jetzt, da ihr etwas zu hören wünscht, mein Gespräch mit dem Kaiser mitteile 7 • Wie wenn es ohne Bedeutung wäre zu wissen, ob diese Worte euch und aller Welt zu Nutz und Frommen sind oder wert- und nutzlos. (r2) Ihr dürft mir nämlich glauben, daß Worte, wenn sie an gewöhnliche Bürger gerichtet sind, nur diese Bürger selbst
ACHILLEUS
[57.12-58.2
und noch wenige andere betreffen, wenn aber an Könige, mit öffentlichen Gebeten und Anrufungen zu vergleichen sind. Deshalb halte ich den Perserkönig, abgesehen von allen ande_ ren Gründen, auch deswegen für unklug, weil er ganz gewöhn_ liche Menschen, die sogenannten «Ohren des Königs»8, in alle Himmelsrichtungen schickte mit dem Auftrag, alles zu hören. Dabei hätte man lieber die Ohren des Königs noch sorg_ faltiger als die goldene Platane 9 behüten sollen, daß sie ja nichts Unangenehmes und Schädliches zu hören bekommen! 58.
ACHILLEUS
(r) Achilleus fragte Cheiron: «Warum bringst du mir das Bogenschießen bei?» «Weil auch das zur Ausbildung eines Kriegers gehört.» «Es ist Sache von Feiglingen gegen Feiglinge.» «Wieso?» «Es läßt den Feind nicht nahe herankommen.» «Es läßt den Feind nicht weit genug entkommen.» «Fliehende brauchen diese Waffe.» «Nein, sondern sie richtet sich gegen Fliehende.» «Man selbst muß die Fliehenden einholen.» «Lan gsam oder schnell?» «So schnell wie möglich.» «Holt man sie nun schneller ein, wenn man läuft oder wenn man fliegt?» «Du meinst also, man holt sie nicht selbst ein?» «Wer denn sonst?» «Das Geschoß.» (2) «Wenn du aber einen Speer wirfst, wer holt sie dann ein?» «Das weiß ich nicht.» «Wann holst du selbst sie denn ein und tötest sie? Etwa wenn du sie packst und in Stücke reißt, wie es die Raubtiere
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ACHILLEUS
665
tun? Dann hältst du wohl auch die Frauen ftir tapferer, weil sie übereinander herfallen und ganz aus der Nähe kämpfen?» Als Achilleus das hörte, kamen ihm vor lauter Wut die Tränen. Er beschimpfte Cheiron und sagte, er wolle nicht länger mehr bei ihm bleiben, sondern nach Phthia zu seinem Vater gehen und sich dort erziehen lassen. Denn Peleus sei viel besser als Cheiron und kein Sophist wie er. Nun, Achilleus war noch ein Knabe, der die Schwelle zum Jünglingsalter noch nicht überschritten hatte. (3) «Wenn dein Vater wirklich besser ist», fragte Cheiron, «warum erzieht er dich dann nicht selbst?» «Weil er keine Zeit hat.» «Weshalb nicht?» «Weil er regieren muß.» «Gibt es denn einen Unterschied zwischen Regieren und Erziehen?» «Einen großen. Du aber gibst mir ein Stück Horn, eine Sehne und kleine Eisenstückehen auf dünnen Röhrchen, als wenn ich Vögel jagen und nicht mit Männern und wilden Tieren kämpfen wollte! Die Erbärmlichkeit dieser Waffen wird man erkennen, sobald man gezwungen ist, sie im Nahkampf Mann gegen Mann zu gebrauchen. Mit ihnen muß man kämpfen, wenn man davonläuft voller Angst und Furcht, daß einen ja niemand sieht - wie ein feiger Sklave. Und selbst wenn man einen Gegner getötet hat, kann man ihm nicht die Rüstung abnehmen, und niemals kann man gesehen werden, wie man mit dem Blut des Feindes bespritzt ist. So etwas bringst du mir bei, Bogenschießen und Zitherspielen, ja bis vor kurzem sogar noch Wurzeln auszugraben I wie die Hexen.» (4)« Gefall t dir denn auch das Rei ten nich t ?» fra gte Cheiron. «Nein, und auch du gefal1st mir nicht, wenn du so bist. Denn ich glaube, du bist eher bereit, zu fliehen als die Stellung zu halten.»
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ACHILLEUS
[58,4-6
Da packte Cheiron die Wut, vor Zorn sträubten sich die Haare, und er warfihm einen Blick zu, furchtbar wie der BUtz. Beinahe hätte er ihn sogar geschlagen, wenn er ihm nicht So liebevoll zugetan gewesen wäre. (s) «Du elende, freche Ausgeburt eines Meerweibs 2 », rief er, «deine Mutter hat dich vollkommen verdorben, denn sie hat dich auf deine Geburt eingebildet gemacht. Und noch viel mehr als sie tat es dein Vater, der dir erzählte, wie die Götter bei seiner Hochzeit gesungen hätten. Du aber hast weder mit dem Meer noch mit dem Himmel etwas zu tun. Ich sage dir, daß du niemals ein guter Krieger werden wirst - nur den Dum_ men wird es so vorkommen - und daß du, wo du auch kämpfen magst, niemals der Anführer sein wirst, wenn du auch der Sohn der Thetis und des Peleus bist. Freilich werden dich die Schmeichler wegen deiner Kühnheit, deiner Schnelligkeit und Stärke den besten der Männer 3 nennen. Trotzdem aber werden sie sich lieber von anderen beherrschen lassen und dich mit Geschenken und nichtigen Lobsprüchen dazu bringen, fur sie zu kämpfen und Gefahren zu bestehen, bis du dann fällst. (6) Ich glaube sogar, daß du dich auch an den Toten vergreifen, ja sie durchbohren und schleifen wirst\ wie wenn du damit eine große Tat vollbrächtest, genau wie dumme Jungen, die alles, was sie töten, im Kreis herumzerren. So einer wirst du sein, und deswegen wirst du auch nicht von einem edlen Mann getötet werden, wie du wohl annimmst. Leute wie deinesgleichen wirst du mit Leichtigkeit täten, nämlich die Tapferen und dabei Dummen, aber du selbst wirst von einem klugen Mann, der sein Kriegshandwerk verstehtS, getätet werden, ohne ihn überhaupt gesehen zu haben.»
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(r) OnYSSEUS: Ich fürchte, die Meinung, die die Verbündeten von mir haben, daß ich nämlich der beste und klügste unter den Griechen sei, könnte sich einmal als unbegründet herausstellen. Und doch, was für eine Klugheit und Gesinnung muß das sein, die einen dazu bringt, sich mehr als die anderen für aeH und Sieg der Allgemeinheit einzusetzen. Dabei könnte man als einer aus der großen Menge gelten und an diesen Gütern den gleichen Anteil wie die Besten haben'! Doch läßt sich wohl schwerlich etwas so Stolzes und Ehrgeiziges finden wie die Natur des Mannes. Denn im allgemeinen bewundern wir alle die hervorragenden Männer, die größere Aufgaben als die übrigen anzufassen wagen, und sie halten wir für echte Männer 3• (2) Dieser Ehrgeiz hat auch mich getrieben, die schwierigsten Abenteuer zu unternehmen und, im Vergleich zu jedem anderen, ein Leben voller Mühsal zu wählen, stets in Erwartung einer neuen Gefahr, stets in Furcht, den durch frühere Taten erworbenen Ruhm zu verlieren 4. So bin ich jetzt zu einem vollkommen ungewissen und schwierigen Abenteuer hierher nach Lemnos gekommen, um Philoktet und den Bogen des Herakles zu den Verbündeten zu bringen. Denn der weiseste Seher un ter den Phrygern, der Priamossohn Helenos, verriet nach seiner Gefangennahme, daß ohne diese Waffe Troia niemals erobert werden könne. (3) Den Königen gegenüber hatte ich mich zu diesem Unternehmen nicht bereit erklärt, denn ich kannte den Haß des Mannes 5 , dessen Aussetzung ich selbst veranlaßt hatte, damals, als eine giftige Natter ihn unheilbar gebissen hatte. Ich konnte mir nicht denken, mit welcher Überredungskunst es mir gelingen sollte, ihn jemals versöhnlich gegen mich zu stimmen; eher konnte ich mir vor-
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PHILOKTET
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stellen, daß er mich auf der Stelle umbringen werde. Später aber gebot mir Athene im Traum, wie es ihre Gewohnheit ist, nur getrost zu dem Mann hinzugehen; sie selbst nämlich werde meine Gestalt und Stimme verwandeln, so daß ich, ohne erkannt zu werden, mit ihm zusammenkommen könne. So faßte ich Mut und bin nun hier. (4) Aber ich habe gehört, daß auch die Phryger heimlich Gesandte geschickt haben, ob es ihnen vielleicht gelinge, Philoktet mit Geschenken und zugleich auch wegen seines Hasses auf mich zu gewinnen und ihn samt dem Bogen in die Stadt zu holen. Einen solchen Preis vor Augen, wie sollte da nicht jeder Mann tatendurstig werden? Denn schlägt dieses Unternehmen fehl, waren alle früheren Taten, wie es scheint, umsonst. (s) Ha! Da kommt der Mann. Er ist es selbst, der Sohn des Poias, leicht erkennbar an seinem Leiden, nur mühsam und beschwerlich kommt er vorwärts. Ach, was für ein unerträg_ licher, furchtbarer Anblick! Sein Äußeres ist von der Krankheit entstellt, auch seine Kleidung ungewohnt: Felle von wilden Tieren umhüllen ihn. Jetzt hilfdu, Herrin Athene, und beweise, daß du mir nicht vergebens Rettung versprochen hast! (6) PHILOKTETES: Was willst du, wer bist du, welche Kühnheit hat dich getrieben, hierher zu kommen unter dieses armselige Dach? Ist es, um zu rauben, oder willst du mein Unglück ausspionieren? ODYSSEUS: Du siehst keinen gewalttätigen Menschen vor dir. PHILOKTETES: Früher zumindest war es nicht deine Gewohnheit, hierher zu kommen. ODYSSEUS: Das nicht, aber auch jetzt noch mag es sein, daß ich zur rechten Zeit gekommen bin. PHILOKTETES: Ich glaube, dein Weg hierher verrät große Unvernunft.
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PHILOKTET
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ODYSSEUS: So sei versichert, daß ich nicht ohne Grund gekommen bin. Es wird sich,zeigen, daß ich nicht ein Fremder bin. (7)PHILOKTETES: Woher bist du? Das muß ich vor allem wissen. ODYSSEUS: Ich bin ein Argeier, einer von denen, die nach 'Troia fuhren. PHILOKTETES: Woher? Sag es noch einmal, damit ich es ganz genau weiß! ODYSSEUS: So hörst du es zum zweiten Mal: Ich sage, daß ich einer jener Achaier 6 bin, die gegen Troia zu Felde zogen. paILOKTETES: Dann tatst du allerdings recht daran, dich meinen Freund zu nennen, hast du dich doch als einer der Argeier, meiner größten Feinde, zu erkennen gegeben. Für ihr Verbrechen empfange auf der Stelle diesen Lohn! ODYSSEUS: Nein, bei den Göttern, halte den Pfeil zurück! PaILoKTETES: Das kann nicht sein. Bist du ein Grieche, mußt du diesen Tag noch sterben. (8) ODYSSEUS: Aber sie haben so an mir gehandelt, daß ich zu Recht dein Freund und ihr Feind sein könnte. PaILOKTETES: Und was ist dieses Schreckliche, das dir widerfahren is t? ODYSSEUS: Odysseus stieß mich aus dem Heer in die Verbannung. PHILOKTETES: Was hast du getan, um diese Strafe zu verdienen? ODYSSEUS: Ich denke, du kennst den Sohn des Nauplios, Palamedes. PHILOKTETES: Er war nicht einer der ersten besten, die mitfuhren, und galt bei Heer und Führern nicht wenig. ODYSSEUS: Solch einen Mann stürzte der Verderber aller Griechen in den Abgrund. PHILOKTETEs:BesiegteeribnimoffenenKampfodermitList?
PHILOKTET
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OOYSSEUS: Er warfihm vor, er habe das Heer an die Söhne des Priamos verraten wollen. PHILOKTETES: War es wirklich so, oder wurde er das Opfer einer Intrige? OOYSSEUS: Wie könnte etwas recht sein, das Odysseus tut! (9) PHILOKTETES: Der du vor der größten Untat nicht zurückschreckst, in Wort und Tat der größte Verbrecher der Menschheit, Odysseus, wie hast du auch diesen Mann wieder zu Fall gebracht! Er war den Verbündeten nicht weniger wert_ voll als du, glaube ich, wenn er die besten und klügsten Pläne ausfindig machte und schmiedete. Ebenso warst du es sicher auch, der mich hier ausgesetzt hat, mich, den für aller Heil und Sieg dieses Unglück 7 traf, als ich den Altar aufChryse zeigte: Nur wenn die Griechen auf ihm geopfert hätten, sollten sie die Feinde besiegen; andernfalls sei das ganze Unternehmen umsonst. - Aber was hast du eigentlich mit dem Schicksal des Palamedes zu tun? (ro) OOYSSEUS: So wisse denn, daß das Unheil auch alle seine Freunde ereilte und sie alle tot sind, soweit sie sich nicht in Sicherheit bringen konnten. Auch ich segelte in der vergangenen Nacht ganz allein hier herüber und rettete mich auf diese Insel. So bin ich also etwa in der gleichen Not wie du. Weißt du nun einen Rat und sinnst mit mir zusammen auf meine Heimkehr, dann tust du mir damit einen großen Gefallen und schickst gleichzeitig deinen Leuten zu Hause einen Boten deiner Leiden hier. (Il) PHILOKTETES: Das kann nicht sein, Unglücklicher, denn du bist zu einem Mann gekommen, der dir genausowenig helfen kann wie du selbst, der, mittellos und ohne Freunde an diese Küste geworfen, sich nur spärlich und mühsam mit diesem Bogen hier Nahrung und Kleidung verschafft, wie du siehst. Denn was ich zuvor an Kleidern besaß, ist im Laufe der Zeit verschlissen. Wenn du aber das Leben hier mit mir teilen
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NESSOS
willst, bis sich dir eine andere Rettungsmöglichkeit bietet, will ich dir nichts vorenthalten. Allerdings ist traurig, was es da drinnen zu sehen gibt, mein Freund 8 - mit Eiter angefüllte :Binden und sonstige Zeichen meiner Krankheit. Auch das Zusammenleben mit mir ist nicht angenehm, wenn mich der Schmerz überfällt. Doch hat das Schlimmste der Krankheit mit der Zeit nachgelassen, denn am Anfang war es einfach unerträglich. 60. NESSOS ODER DEIANEIRA
(I) PARTNER: Kannst du mir folgendes Problem lösen: Sind die Vorwürfe, die man teils dem Archilochos, teils dem Sophokies hinsichtlich ihrer Darstellung der Geschichte von Nessos und Deianeira macht, berechtigt oder nich t? Die einen nämlich behaupten, Archilochos rede Unsinn, wenn er Deianeira einen langen Gesang auf Herakles anstimmen lasse, während der Kentaur sie belästigt; sie denkt dabei an die Werbung des Acheloos und an die damaligen Ereignisse zurück, so daß Nessos reichlich Zeit gehabt hätte, bei ihr zu erreichen, was er wollte. Die anderen sagen das gleiche von Sophokles: Er setze den Pfeilschuß zu früh an, nämlich als beide den Fluß noch durchschreiten - auf diese Weise hätte ja auch Deianeira umkommen müssen, als der Kentaur sie fallen ließ'. Aber sage nun nicht wie üblich genau das Gegenteil von dem, was man erwartet, und nicht eher alles andere, als was man glauben kann. (2) DION: Soll ich dir denn Dinge sagen, die jemand glaubt, der richtig glaubt, oder auch Dinge, die jemand glaubt, der nicht richtig glaubt? PARTNER: Jemand, der richtig glaubt. DION: Was glaubt denn nun die große Menge? Muß nicht derjenige, der auf eine richtige Erklärung Wert legt, gegen die Meinung der Menge sprechen? PARTNER: Er muß es.
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NESSOS
[60,2-4
DION: So verfolge also, ohne mißmutig zu werden, den Ge. danken weiter, ob die von dir genannten Vorwürfe nicht auch dieser Art sind. Überlege dir doch einmal, ob sie wahrschein. lich sind. PARTNER: So sprich und erkläre, wie sich dir die Sache dar. stell t. DION: Gut, ich sage dir also: Die ganze Geschich te, daß der Kentaur Deianeira vergewaltigen will, ist ein Irrtum. PA RTNER : So ha t er nich t den Versuch dazu gemach t? (3) DION: Nein. Oder scheint es dir glaubhaft, daß Nessos vor den Augen des Herakles, der doch seinen Bogen bei sich trug, versuch t hätte, sich an dessen Frau zu vergreifen? Zudem hatte er die Tüchtigkeit des Herakles schon bei einer früheren Gelegenheit zu spüren bekommen, als er nämlich als einziger von den Kentauren aus der Höhle des pholos entkam; dabei war sein damaliges Unrecht an Herakles nicht entfernt SQ schwer'. PARTNER: Das ist eine gewisse Schwierigkeit. Aber wenn wir sie beseitigen, zerstören wir womöglich die ganze Ge. schichte. DION: Keineswegs, wenn wir uns überlegen, wie das Ganze verlaufen und welches der wahrscheinliche Ablauf ist. PARTNER: So sprich also! (4) DION: Gleich zu Beginn und während der Durchquerung des Flusses hat Nessos versucht, Deianeira zu verfUhren, und zwar auffolgende Weise: nicht mit Gewalt, wie es allgemein heißt, sondern mit Worten, die bei ihr Anklang finden mußten. So erklärte er ihr, wie sie die Oberhand über Herakles gewinnen könne. Jetzt sei er unbändig und schwierig und werde nur kurze Zeit bei ihr bleiben, und auch das nur widerwillig wegen der Aben teuer in der Fremde und der Le bensform, für die er sich entschieden habe. Wenn sie ihn aber teils durch Fürsorge, teils mit vernünftigen Gründen dazu bringe, den Strapazen und
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DEIANEIRA
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Mühsalen Lebewohl zu sagen und ein bequemes, angenehmes Leben zu fuhren, werde er viel freundlicher zu ihr sein, ein besseres Leben beginnen und in Zukunft beiihrzu Hause bleiben. (5) Das war die Erklärung des Kentauren, mit der er HerakIes treffen wollte: vielleicht gelänge es ihm, Herakles zu Luxus und Bequemlichkeit zu verfuhren. Denn er wußte, daß flerakles in dem Augenblick, in dem er seine Lebensweise und Tätigkeit aufgab, schwach und leicht zu überwältigen sein werde. Deianeira aber hörte nicht nur mit einem Ohr zu, sonsern dachte, wie nicht anders zu erwarten, daß der Kentaur eigentlich recht habe, denn sie wollte ihren Mann unter ihren Augen haben. Herakles jedoch vermutete nichts Gutes, weil der Kentaur so angelegentlich mit Deianeira sprach und sie ihm aufmerksam zuhörte, und so schoß er mit seinem Bogen. (6) Der Kentaur aber bat noch im Sterben Deianeira, an seine Worte zu denken und zu tun, was er ihr geraten hatte. Später aber, als Deianeira immer noch an die Worte des Kentauren dachte und Herakles zudem in nichts nachgegeben hatte, sondern noch länger von zu Hause fort war - das letzte Mal, als er Oichalia eroberte - und das Gerücht umging, er habe sich in lole verliebt, hielt sie es rur besser, den Rat des Kentauren in die Tat umzusetzen. (7) So machte sie sich ans Werk, listig und zu allem [;;hig, wie Frauen nun einmal sind, und ließ nicht eher locker, als bis sie ihn herumgebracht hatte. Sie redete ihm zu und sagte, sie mache sich Sorgen um ihn, daß ihm etwas zustoßen könne, wenn er win ters wie sommers ohne Kleider nur mit dem Löwenfell gehe. Schließlich brachte sie ihn so weit, daß er das Fell ablegte und ein gewöhnliches Gewand anzog. Und das ist das sogenannte Kleid der Deianeira, das Herakles anlegte 3 • (8) Zugleich mit dem Gewand ließ sie Herakles aber auch seine Lebensgewohnheiten ändern. Jetzt schlief er aufDecken und meist nicht mehr im Freien, wie es bis dahin seine Gewohn-
NESSOS
[60,8-10
heit war, jetzt arbeitete er nicht mehr mit seinen eigenen Händen und aß nicht mehr dasselbe wie früher, sondern fein zube_ reitete Mehlspeisen, Fisch, lieblichen Wein und was sonst noch dazu gehört. Infolge dieser Umstellung aber befiel ihn, Was wohl kaum ausbleiben konnte, körperliche Schwäche und Schlaffheit, und weil er glaubte, diese bequeme Lebensweise nicht mehr ohne weiteres aufgeben zu können, nachdem er sie erst einmal angenommen habe, verbrannte er sich selbst. Zum einen hielt er es rür besser, von einem solchen Leben befreit zu sein, zum andern war er ärgerlich, daß er es fertiggebracht hatte, sich dem Luxus hinzugeben. Da hast du meine Gedanken zu dieser Geschichte, so gut ich sie auszudrücken vermochte. (9) PARTNER: Bei Gott, ich finde sie sehr gut und überzeu_ gend. Und ich weiß nicht, irgendwie habe ich den Eindruck, als ob die Art und Weise, in der einige Philosophen ihre Worte gebrauchen, der Arbeitsweise von Leuten, die Tonfi"guren machen, gliche. Sie nehmen nämlich eine Form, und was auch immer sie an Ton hineinfüllen, immer bekommt er dasselbe Aussehen wie die Form. Auch unter den Philosophen hat es schon Leute dieser Art gegeben: Welche Geschichte, welchen Gedanken sie sich auch vornehmen, sie drehen und wenden ihn solange nach ihren eigenen Vorstellungen, bis sie ihn zweckentsprechend und philosophisch angemessen gemacht haben. Vor allem Sokrates soll zu dieser Gruppe von Philosophen gehört haben. (10) Denn er ließ sich auf jede Art von Gesprächen und Untersuchungen ein, mit Rednern, Sophisten, Geometern, Musikern, Lehrern und den Handwerkern überhaupt, und um keinen Preis war er davon abzubringen, in den Ringschulen, beim Gelage oder auf dem Marktplatz zu philosophieren und die Gesprächspartner zu einem sittlichen Leben aufzufordern. Dabei brachte er nie ein eigenes Thema oder ein bereits durchdach tes Problem mit, sondern ließ sich das Thema stets von der
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CHRYSEIS
augenblicklichen Situation eingeben und wertete es dann philosophisch aus. 61. CHRYSEIS
(I) DION: Da du Homer nicht übel preist und nicht wie die meisten, dich nur auf seine allgemeine Geltung verlassend, so tust, als ob du ihn bewundertest, sondern die stärkste Seite des Dichters, nämlich sein Wissen um die menschlichen Leidenschaften, erkannt hast, wollen wir für jetzt, wenn du damit einverstanden bist, alle übrigen Fragen - die Schicksale der Könige und Feldherren - beiseite lassen und nur eine Gestalt unter den kriegsgefangenen Frauen näher betrachten: Wie hat der Dichter die Tochter des Priesters, die er gleich zu Beginn seiner Dichtung erwähnt, charakterisiert? Denn Agamemnon scheint nicht nur die Schönheit, sondern auch den Charakter des Mädchens zu loben, wenn er sagt, es sei seiner eigenen Gattin geistig nicht unterlegen '; offenbar nimmt er doch an, daß seine Gattin Verstand hat. (2) PARTNER: Was, sagt Agamemnon diese Worte nicht ohne klare Überlegung, weil die Liebe ihn blind macht? DION: Die Frage verdient, geprüft zu werden. Auf jeden Fall ist es außerordentlich schwer, Verliebte zu überzeugen, denn sie sind meist argwöhnisch und geraten leicht in Zorn. Dann behaupten sie, von ihrem Geliebten niemals in dem Maß geliebt zu werden, wie sie es verdienen, erst recht nicht, wenn sie eine soviel höhere Stellung haben und auf Grund ihrer unumschränkten Macht mit ihnen verkehren. PARTNER: So geht es schlechten Liebhabern, behaupte ich. DION: Nun, gehört Agamemnon zu den guten, ist sein Urteil über Chrysels richtig. Ist er aber mit der großen Menge auf eine Stufe zu stellen, war es für ein Mädchen von gerin ger Stellung gewiß keine Kleinigkeit, das Wohlgefallen eines so mäch-
CHRYSEIS
tigen Mannes, der ihr sogar noch ein gutes Urteil ausstellt, zu finden. Wir wollen aber auch die andern Punkte prüfen. (3) PARTNER: Welchen anderen Hinweis auf den Charakter des Mädchens findest du denn bei Homer? Er läßt es doch weder etwas tun noch sagen, es wird nur schweigend dem Vater übergeben. DION: Was, kann man denn nicht aus den Vorgängen um sie herum aufihre Gesinnung schließen, wenn man die Sache nicht ganz primitiv und einfältig anfaßt? PARTNER: Vielleicht. DION: Nun gut. Was müssen wir annehmen? Daß Chryses ohne den Willen der Tochter ins Lager gekommen ist, zugleich mit dem Lösegeld auch die Binden des Gottes mitbrachte und die Menge samt den Königen anflehte, ihm seine Tochter freizugeben" oder umgekehrt, daß die Tochter den Vater gebeten hatte, ihr, wenn irgend möglich, zu helfen? (4) Wenn Chryseis mit ihrem Los zufrieden gewesen wäre und mit Agamemnon zusammen hätte leben wollen, hätte Chryses sich nie dazu entschieden, seiner Tochter Kummer zu machen und sich gleichzeitig die Feindschaft des Königs zuzuziehen, da er wohl wußte, wie Agamemnon zu seiner Tochter stand. Und wenn Chryseis es zufrieden war, mit dem König gemeinsam zu leben, hatte das genauso auch für Chryses Vorteile, denn sein Land, sein Heiligtum und auch er selbst waren unter die Botmäßigkeit der Achaier gekommen, und Agamemnon war ihr Herr. (s) Warum kam er ferner nicht sofort nach ihrer Gefangennahme und erwähnte das Lösegeld nicht zu einer Zeit, da sie wahrscheinlich noch schwerer an ihrem Los trug, sondern erst später, als der Schmerz nachgelassen hatte und ihr Umgang mit Agamemnon vertrauter geworden war? Nach der Darstellung des Dichters nämlich fallen diese Ereignisse _. die Ankunft des Priesters und die Beischaffung des Lösegeldes - ins zehnte Jahr der Belagerung. Dagegen muß man annehmen, daß die umliegenden
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CHRYSEIS
kleineren Städte, zu denen auch Chryse mit seinem Heiligtum gehörte, zu Beginn des Krieges eingenommen worden sind. PARTNER: Diese Erklärung beweist aber ein recht merkwürdiges Verhalten der Chryseis: Zunächst, als sie Vater und Vaterland eben erst verloren hat, findet sie sich mit ihrem Schicksal als Gefangene ab, dann aber, nach zehn Jahren, hält sie es für unerträglich. (6) DION: So höre auch den Rest! Es ist nicht angenehmftir freie Frauen, auch nur einen gewöhnlichen Mann zu verlassen, wenn er sie erst einmalliebgewonnen hat, geschweige denn den berühmtesten und reichsten Mann, König von aUen Griechen insgesamt, der unter seinen Zeitgenossen die größte Macht besaß, der nicht nur Herr der Chryseis, sondern auch ihres Vaters und ihrer Heimat war, der sich Hoffnungen machte, in kurzem auch die Herrschaft über Asien zu gewinnen; denn mit Ilion stand es seit langem schlecht, kaum vermochten sie die Stadt selbst noch zu halten, zum Kampf rückte niemand mehr aus. Außerdem beschäftigte sich der König nicht nur so nebenbei mit Chryseis, sondern hatte öffentlich zu verstehen gegeben, daß er, sie seiner eigenen Gattin vorziehe. Daß sie so viele gewaltige Vorteile verschmähte, ferner - und das zählt am meisten - einen Liebhaber, der nicht nur ein großer König war und an Tapferkeit wenig seinesgleichen hatte, sondern dazu jung und schön, wie Homer zu erkennen gibt, wenn er ihn mit Zeus vergleicht 3 ; daß sie in ihr Vaterland, das in der Hand der Feinde war, zurückkehtte und mit einem von Agamemnons Sklaven zusammenlebte, zumindest für den FaU, daß sie sich mit einem Einheimischen verheiraten wollte - wie sollte das nicht merkwürdig sein? (7) Denn der Hinweis, daß sie Kriegsgefangene war und aus diesem Grund den Mann, der sie genommen hatte, nicht geliebt hätte, ist keine stichhaltige Erklärung. Brisels wenigstens scheint Achilleus geliebt zu haben, obwohl er, wie er selbst sagt, ihren Mann und ihre Brüder
eHR YSEIS
[6r,7-ro
erschlagen hatte Agamemnon aber hatte Chryseis nichts dergleichen getan. PARTNER: Schön. Demnach wollte sich Chryseis nicht Von Agamemnon trennen, und Chryses hätte aus eigener Initiative gehandelt. Oder wenn sie es wollte, war sie einigermaßen töricht, was aber deiner eigenen Erklärung widerspricht. (8) DION: Fälle kein Urteil, bevor du nicht beide Parteien gehört hast, sagt man. Du meinst doch wohl auch, daß Homer ein weiser Mann gewesen ist? PARTNER: Vielleicht. DION: Dann mußt du auch annehmen, daß er das eine selbst ausspricht, das andere aber dem Scharfsinn seiner Leser überläßt. Unsere Frage jedoch gehört nicht zu den gänzlich unklaren. Anfangs, wie es scheint, war Chryseis aus den genannten Gründen damit einverstanden, bei Agamemnon zu bleiben, und den Göttern dankbar, daß sie nicht einem der weniger bedeutenden Männer, sondern dem König über alle gegeben worden und ihm nicht gleichgültig war. Deswegen unternahm sie auch nichts für ihren Loskauf. (9) Als ihr aber zu Ohren kam, wie unerfreulich die Verhältnisse bei Agamemnon zu Hause waren, wie grausam und kühn Klytaimnestra, da hatte sie Angst, nach Argos zu gehen. Bis dahin war sie bei Agamemnon geblieben, vielleichr liebte sie ihn sogar. Als sich aber der Krieg dem Ende zuneigte und sich die Kunde verbreitete, daß die Troer sich nicht länger mehr halten könnten, wartete sie die Eroberung Troias nicht ab. Denn sie wußte, daß im allgemeinen die Sieger überheblich werden, während, solange noch Krieg herrscht, die Furcht vor den Göttern stärker ist. (ro) Deswegen rief sie zu diesem Zeitpunkt den Vater und bat ihn, sich fur sie bei den Achaiern zu verwenden. Den n wie es scheint, hatte sie in Erfahrung gebracht, daß die Atriden von ihren Frauen beherrscht werden und die Frauen noch stolzer dachten als die Männer, nicht nur wegen ihrer Schönheit, sondern auch 4•
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CHRYSEIS
deswegen, weil sie glaubten, daß ihnen die Herrschaft eher zustehe. Die Männer nämlich seien Pelopiden und erst nach Griechenland eingewandert, sie selbst aber als Töchter von Tyndareos und Leda Achaierinnen. Nun war Tyndareos ein berühmter Mann und König von Sparta, so daß die besten unter den Griechen deswegen um Helenas Hand anhielten und fIilfe schworen. (II) Obendrein waren die beiden Frauen Schwestern von Kastor und Polydeukes, die als Söhne des Zeus galten und bis heute wegen der Macht, die sie sich damals erwarben, von allen als Götter angesehen werden. Auf der Peloponnes nämlich waren sie die Mächtigsten j außerhalb der Peloponnes hatte zwar Athen die größte Macht, aber auf einem Feldzug eroberten sie die von Theseus beherrschte Stadt s. Schließlich war noch Meleagros, der vornehmste unter den Griechen, ihr Vetter. Das wußte Chryseis natürlich nicht, aber der Stolz der Frauen war ihr zu Ohren gekommen, und sie hatte erfahren, wie hoch Helena über ihrem Mann stand: Nachdem Helena gehört hatte, wie bedeutend Asien war infolge der Fruchtbarkeit des Bodens, der großen Bevölkerungszahl und seines Reichtums, verzichtete sie nicht nur auf Menelaos, sondern auch auf Agamemnon und ganz Griechenland und wählte an ihrer statt Asien. (12) Menelaos nun hatte frUher schon in allem Helena nachgegeben, aber auch später, als er sie als Gefangene wiederbekommen hatte, war er ihr trotz allem zu Diensten. Agamemnon dagegen, durch seine Macht aufgeblasen, hatte Klytaimnestra beleidigt, so daß vorauszusehen war, daß sie nicht miteinander würden leben können, sondern ungefähr das geschehen müsse, was dann auch geschah 6• Auch war es Chryseis gar nicht recht, daß Agamemnon, und zwar öffentlich in der Versammlung der Achaier, erklärt hatte, er ziehe sie seinereigenen Frau vor und halte sie in keinem Punkt für schlechterjdenn sie wußte, daß solche Worte Neid und Eifersucht her-
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CHRYSEIS
[61,12-15
vorrufen. (13) Und bei Gott, sie sah auch den Charakter Agamemnons, wie wenig beständig, wie überheblich und eingebil_ det der Mann war, und sie malte sich aus, was er mit ihr, einer Gefangenen, wohl tun werde, wenn die Leidenschaft einmal verraucht sei - wo er doch von seiner eigenen Gattin, einer Königin, von der er Kinder hatte, so abfällig sprach. Denn nUr die unverständigen Frauen fi·euen sich über Liebhaber, die in der Öffentlichkeit alle anderen Frauen schlechtmachen; verständige Frauen dagegen erkennen daran das wahre Wesen des Mannes, der so etwas tut oder sagt. (14) Zugleich merkte Chryseis auch, wie beleidigend sich Agamemnon ihr gegen_ über verhielt, und zwar gerade zu der Zeit, da er sie am meisten liebte. Den Vater der Geliebten auf so rohe Weise wegzujagen und ihn nicht um ihretwillen zu schonen, ganz zu schweigen davon, daß Agamemnon dem Alten nicht gut zuredete und ihm sagte, seine Tochter habe nichts von ihm zu fürchten, sondern im Gegenteil ihm auch noch drohte und obendrein Chryseis beleidigte, indem er sagte: Sie aber gebe ich nicht heraus, bis daß sie das Alter fern der Heimat in meinem Palaste in Argos ereilet. Dort mag am T.f'ebstuhl sie gehen und mit mir teilen das Lager'welch maßlose Überheblichkeit! Was hätte er später erst getan, wenn er auf diese Weise von ihr spricht, wo er sie noch liebt! Vor solch einem Schicksal sich zu hüten und es vorauszusehen, das verrät doch wohl keine schlechte Frau. (15) Die Geschehnisse in Argos um Kassandra und Agamemnon selbst beweisen in meinen Augen, daß Chryseis klug daran tat, sich vor diesem Unheil zu bewahren. Daß sie sich trotz ihrer Jugend weder durch die Liebe noch durch eine königliche Stellung und durch den Schein von Ruhm und Reichtum betören ließ und sich von ungewissen Abenteuern, zerrütteten häuslichen Verhältnissen, von Neid und Eifersucht fernhielt, das sind die Kennzeichen einer klugen Frau, die, im Haus des Gottes groß-
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geworden, tatsächlich verdient, Tochter emes Priesters zu sein. PARTNER: Was denn, willst du damit sagen, aus diesen Gründen habe Agamemnon sie für verständig gehalten? (16) DION: Keineswegs, denn es ist nicht anzunehmen, daß sie Agamemnon so etwas gesagt hat, wohl aber, daß er auf Grund anderer Beobachtungen zu dieser Einsicht gekommenist. PARTNER: Warum läßt der Dichter sie dann nicht fröhlich scheiden, wie er Briseis traurig scheiden läßt 8 ? DION: Weil sie auch darin klug handelte: Sie wollte Agamemnon nicht reizen und ihn nicht zum Streit herausfordern. Trotzdem aber läßt uns Homer nicht im unklaren. Ich denke an die Szene, in der Odysseus die Toch ter dem Vater neben dem Altar zurückgibt: Sprach' s und legte sie ihm in die Arme, und freudig empfing er wieder sein liebes Kind. 9 Wäre sie traurig gewesen, hätte ihr Vater sie vermutlich nicht «fi'eudig» empfangen; auch hätte Homer kaum «lieb» gesagt, wenn sie den Vater nicht wegen der letzten Ereignisse sehr liebgehabt hätte. (17) PARTNER: Meinetwegen. Aber warum macht sich Chryseis diese Gedanken, von denen du sprichst, und nicht Chryses? DION: Weil alles, was mit Klytaimnestra zusammenhängt, sie natürlich mehr beschäftigt. Aber auch wenn der Vater sich diese Gedanken gemacht und sie sich ihm gehorsam gefügt hätte, wäre auch das nicht übel gehandelt. Wenigstens lieben die meisten Frauen in ihrem Unverstand die Liebhaber mehr als die Eltern. PARTNER: Gut, aber wenn sie nun wirklich so vernünftig wal', warum hielt sie Chryses dann nicht davon ab, Agamemnon vor aller Augen zu bitten? So hätte sie verhindern können, daß er derart zornig wurde.
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KÖNIGTUM UND TYRANNIS
[61,18-62,1
(r8) DION: Weil sie wußte, daß Verliebte, wenn sie fur sich sind, ihrer Leidenschaft jeden Gefallen zu tun wünschen, daß sie aber vor der Menge manchmal noch gewisse Bedenken haben. Ferner glaubte sie, daß jemand, der die Binden des Gottes in den Händen halte, auf das Volk Eindruck mache, was sich dann ja auch als richtig herausstellrIo. PARTNER: Aber ich überlege noch etwas anderes. Wie konnte es geschehen, daß Agamemnon damals die Tochter des Priesters und später dann Kassandra, ein gottbegeistertes, geweihtes Mädchen, liebte? DION: Auch das ist ein Beweis für seine Überheblichkeit und Zügellosigkeit, daß er lieber das Ungesetzliche und Ausgefal_ lene begehrte als das Alltägliche. PARTNER: Ich widerspreche nicht mehr, daß Chryseis ein verständiges Mädchen war, wenn die Dinge so liegen. DION: Willst du denn lieber hören, wie es mit Sicherheit ge_ schehen ist oder wie es gut ausgegangen wäre? 62. KÖNIGTUM UND TYRANNIS
(r) Wahrhaftig, wenn jemand nicht imstande ist, über einen einzigen Menschen, der zudem in seiner nächsten Nähe ist und mit dem er en g zusammenlebt 1, zu herrschen und eine einzige Seele, nämlich seine eigene, zu lenken, wie sollte der König sein können, wie du 2 es bist, über ungezählte Tausende, die in alle Himmelsrichtungen zerstreut sind, die zum großen Teil am Ende der Welt wohnen, von denen er die meisten nicht einmal gesehen hat und niemals wird sehen können, deren Sprache er nicht versteht? Das wäre ja genauso, wie wenn man von einem Menschen, dessen Sehvermögen so schwach ist, daß er nicht einmal sieht, was vor seinen Füßen liegt, und der einen Führer braucht, sagen wollte, er könne mit seinen Augen auch sehr weit entfernte Gegenstände ausmachen gleich denen, die
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KÖNIGTUM UND TYRANNIS
auf dem Meer aus großer Entfernung Gebirge und Inseln erkennen; oder wie wenn man von einem Menschen, der sich nicht einmal den neben ihm Stehenden verständlich machen kann, sagen wollte, er sei in der Lage, von ganzen Völkern und Beeren gehört zu werden. (2) In der Tatist das Denkvermögen in gewisser Weise dem Sehvermögen vergleichbar: Sind die Augen verdorben, sehen sie auch das Nächstliegende nicht, sind sie in Ordnung, reichen sie bis zum Himmel und zu den Sternen. Genauso ist auch der Geist eines vernünftigen Menschen imstande, alle Menschen ZLI regieren, während der des Unvernünftigen nicht einmal einen einzigen Körper - seinen eigenen - oder ein einziges Haus schützen kann. Nimm zum Beispiel den größten Teil der Machthaber! Weil sie alles bekommen können, wollen sie alles haben; weil das Recht in ihrer Hand liegt, sind sie ungerecht; weil sie die Gesetze nicht fürchten, glauben sie, es gebe sie nicht; weil sie zur Arbeit nicht gezwungen sind, lassen sie niemals von ihrer üppigen Lebensweise; weil sich niemand wehrt, wenn es ihm schlecht ergeht, hören sie niemals auf, Schlechtes zu tun; weil sie an keinem Vergnügen Mangel haben, bekommen sie niemals genug davon; weil sie niemand offen tadelt, versäumen sie keine Gelegenheit zu ungerechten Worten; weil niemand ihnen zu nahe kommen will, deswegen gehen sie mit allen hart um; weil sie im Zorn alles tun können, deswegen sind sie in einem fort zornig. (3) Der gute Herrscher dagegen, so einer wie du, tut das Gegenteil: Er will nichts haben, weil er alles zu haben glaubt; er vergnügt sich selten, weil er es jederzeit könnte, wenn er Lust dazu verspürt; er ist gerechter als alle anderen, weil er allen Gerechtigkeit verschafft; er hat seine Freude an der Arbeit, weil er von sich aus arbeitet; er liebt die Gesetze, weil er sie nicht fürchtet. Und es ist recht, daß er so denkt. Denn wer hätte Klugheit dringender nötig als der, der sich über so viel Gedanken macht?
KÖNIGTUM UND TYRANNIS
[62.3-6
Wer brauchte strengere Gerechtigkeit als der, der mächtiger ist als die Gesetze? Wer mehr Selbstbeherrschung als der, dem alles gestattet ist? Wer mehr Mut als der, der alles behütet? (4) Wer über viele andere herrschen will, hat gewaltigen Aufwand nötig, Heere von Fußsoldaten und Reitern, dazu Befesti_ gungen, Schiffe und Kriegsmaschinen, wenn er die Untertanen in Zaum halten, sich gegen Feinde schützen und, falls jemand sich seiner Gewalt zu entziehen versucht, ihn sich botmäßig machen will. Sich selbst zu beherrschen dagegen ist die am wenigsten aufwendige, geschäftige und gefährliche Sache von der Welt, denn das Leben des Selbstbeherrschten ist weder aufwendig noch mühselig noch unsicher; trotzdem aber ist es schwerer als alles andere. (s) Jener Sardanapal zum Beispiel, der in aller Munde ist, hatte Ninive, hatte Babyion, die größten Städte, die es jemals gab; es waren ihm untertänig alle Völker, die den anderen Kontinent 3 bewohnen, bis hin zu den Gegenden der Erde, von denen man sagt, sie seien unbewohnt. Mit einem König aber hatte er nichts zu tun, genausowenig wie ein verfaulender Leichnam. Denn Rat abhalten, Recht sprechen und einen Feldzug leiten, das wollte er nicht noch konnte er es. (6) Lieber schlüpfte er in das Frauengemach in seinem Palast und saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf einem goldgetriebenen Sofa hinter purpurnen Vorhängen wie der von den Frauen beweinte Adonis, mit einer Stimme höher als die der Eunuchen, den Nacken zurückgelehnt, bleich und zuckend infolge des untätigen Lebens im Haus, am Körper bläulich-fahl, die Augen nach oben gedreht, als würde er erdrosselt - nicht zu unterscheiden von seinen Kebsweibern. Trotzdem schein t er für eine gewisse Zeit seine ziellos dahin stürzende Herrschaft behauptet zu haben, wie ein Schiff ohne Steuermann, auch wenn es niemand mehr in seiner Gewalt hat, oft auf dem Meer nach der Laune des Zufalls umhertreibt, solan ge das schöne Wetter an häl t; es braucht
VOM GLÜCK (r)
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aber nur leichter Seegang zu kommen, und eine Woge genügt, es zum Kentern zu bringen. (7) Sokann man auch einen Wagen beim Wettrennen im Kreis herumwirbeln sehen, ohne daß jemand die Zügel hält; den Sieg wird dieser Wagen niemals erringen, wohl aber stiftet er Verwirrung und reißt die nahe stehende Zuschauermenge ins Verderben. Nein, niemals kann es einen unvernünftigen König geben, genausowenig wie einen blinden Wegfuhrer; einen ungerechten König so wenig wie eine krumme, unebene Meßlatte, die eine zweite zur Korrektur braucht; einen feigen König so wenig wie einen Löwen mit dem Herzen einer Hirschkuh oder wie Eisen, das weicher ist als Wachs und Blei. Im Gegenteil, wem käme strengere Selbstdisziplin zu als dem Mann, der inmitten zahlloser Verlockungen lebt, die meisten Geschäfte zu erledigen hat, am wenigsten Zeit für sich selbst erübrigt und sich um die meisten und größten Aufgaben kümmert? 63. VOM GL ÜCK (r)
(r) Den Menschen scheint es mit dem Glück so zu gehen wie den Leuten auf dem Meer mit den günstigen Winden: Erfreut halten die Seefahrer an ihrem Kurs fest, und wem der Wind treu bleibt, der kommt ans Ziel, wen er aber auf ho her See im Stich läßt, jammert vergebens. So auch die Menschen: Ist das Glück zugegen, freuen sie sich und sind vergnügt; ist es nicht zugegen, sind sie in Jammer und Not. Denn alles ist das Werk dieser Gottheit, das Unmögliche erscheint möglich, das Schwache stark, das Häßliche schön, aus arm wird reich. (2) Zeigt sich das Glück zum Beispiel auf dem Meer, hat das Schiff gute Fahrt, erscheint es in der Luft, hat der Bauer eine gute Ernte. Die Seele ist freudig und froh, wenn das Glück sie emporhebt; verläßt es sie, liegt sie in ihrem Körper wie in einem Grab. Niemand erntet Beifall mit seinen Worten, nie-
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VOM GLÜCK (:1)
[63,2-5
mand hat Erfolg bei seinen Taten, keine Begabung ist zu etwas nütze, wenn das Glück fehlt. Ist es nämlich nicht zugegen, stellt sich weder Bildung noch sonst ein Gut ein. Selbst die Tugend wird um ihrer Erfolge willen nur dann bewundert, wenn ihr das Glück zur Seite steht; bleibt sie allein, ist sie ein Wort, zu keiner schönen Tat fähig. Im Krieg bedeutet Glück Sieg, im Frieden Eintracht; bei der Hochzeit Zuneigung, in der Liebe Lust - kurz, Erfolg bei jeglichem Tun. (3) Wenn das Glück ein Land verläßt, dann wird es erschüt_ tert und bebt, und alles Schöne in ihm zerfällt; das ist die Krankheit eines Landes, wenn das Glück nicht anwesend ist. Wie ein Schiff ohne Steuermann ziellos dahin treibt und bald in die Tiefe sinkt; wie Mauern zusammenstürzen, wenn die Grundfesten angeschlagen sind, so stürzt auch eine Stadt ganz und gar ins Verderben, wenn das Glück fehlt. Athen vergriff sich einst an seinen Rednern, und Demosthenes wurde festge_ nommen I, als das Glück nicht mehr über der Stadt wachte. Mir scheint auch der Himmel Glück zu haben, wenn er heiter und nicht verhangen ist. (4) Man muß aber auch den Erfindungsreichturn des Glücks sehen. So ist es zum Beispiel schon vorgekommen, daß jemand auf See von Bord fiel und trotzdem mit dem Leben davonkam, weil das Glück ihm zu Hilfe eilte. Auch verdient Erwähnung, wie es dem Maler Apelles durch eine glückliche Fügung erging. Wie man sich erzählt, malte er gerade ein Pferd, keinen Ackergaul, sondern ein Kriegsroß : den Hals stolz in die Höhe gereckt, die Ohren aufgerichtet, mit feurigen Augen, wie wenn es eben aus dem Kampfzuriickkehre, vom Lauf her noch Mut im Blick, die Hufe in der Luft schwebend, nur ganz leicht hier und da den Boden berührend; der Wagenlenker häl t den Zügel fest in der Hand, mi t dem Riemen den kampfeslustigen Galopp des Rosses drosselnd. (s) Obwohl nun alles auf dem Bild wie in Wirklichkeit aussah, fehlte die Farbe für den Schaum, wie
VOM GLÜCK (r)
er entsteht, wenn Blut und Speichel sich fest miteinander misehen: Der Atem treibt die Feuchtigkeit von den Lippen vor sich her und wird infolge der keuchenden Atemstöße schaumig, während der grausame Zaum Blut darüber rinnen läßt. J\pelles also war ratlos, wie er den Schaum eines kampfesmüden Rosses malen sollte. Immer mehr geriet er in Verlegenhei t, und schließlich schleuderte er in einem Anfall von Verzweiflung den Schwamm gegen das Gemälde und traf es dort, wo der Zaum war. Der Schwamm aber, der mit vielen Farben, die wie mit Blut durchsetzter Schaum aussahen, vollgesaugt war, teilte dem Bild seine Farbe mit. Als Apelles das sah, wurde er erfreut über das, was das Glück getan hatte, während er bereits alle Hoffnung hatte fahren lassen, und vollendete das Gemälde, nicht durch seine eigene Kunst, sondern durch die Hilfe des Glücks. (6) Oder was sonst hätte Herakles so groß gemacht? Er würgte und erdrosselte einen Löwen, er verfolgte geflügelte Tiere der Luft, trieb die Schlange aus dem Sumpf und zerschmetterte ihr die Köpfe, und auch der Erymanthische Eber jagte ihm keine Furcht ein; er zog sogar in den Westen und brachte die Frucht, die dort an einem Baume hing. Dann trieb er die schönen Rinder des Geryoneus weg, wies den Thraker Diomedes an, den Pferden Korn statt Menschen als Futter vorzuwerfen, und bewies, daß die Amazonen Frauen sind. Das alles konnte er erreichen, weil ihm das Glück folgte. (7) Auch die rätselhaften Symbole, die die Alten dem Glück gegeben haben, sind nicht schlecht. Die einen setzten es auf die Schneide eines Messers', andere auf eine Kugel, wieder andere gaben ihm ein Steuerruder zum Lenken in die Hand, während diejenigen, die seine besseren Seiten darstellen wollten, ihm das schwer mit Früchten des Jahres gefüllte Horn der Amaltheia zulegten, das Herakles im Kampf dem Acheloos ausgebrochen hatte 3 • Des Messers Schneide bedeutet natürlich das Abschüs-
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VOM GLÜCK (2)
sige des Glücks; die Kugel, daß leicht eine Veränderung mit ihm eintritt, denn das Göttliche ist stets in Bewegung; das Steuerruder soll sagen, daß das Glück das menschliche Leben leitet; das Horn der Amaltheia bedeutet das Austeilen von Besitz und Wohlstand. Aufkeinen Fall also wollen wir irgendein Glück schlecht nennen, denn auch von der Tugend sagt niemand, sie sei schlecht, noch nennt jemand das Gute schlecht.
(I) Die Vorwürfe, die die Menschen gegen das Glück erheben, möchte ich für meine Person als die größten Lobsprüche auf das Glück deuten. Die unerklärlichen Wechsel in den mensch_ lichen Verhältnissen zum Beispiel führen sie auf das Glück zurück, und wenn sie in ihren Unternehmungen infolge mangeln_ der Einsicht gescheitert sind, sehen sie darin einen Raub des Glückes, da es ihrer Meinung nach alles ermöglichen kann, wenn es nur will. Man kann Bauern, Kaufleute und Reiche wegen ihres Vermögens dem Glück Vorhaltungen machen hören, Schöne wegen ihres Körpers, Pantheia wegen ihres Mannes', Kroisos wegen seines Sohnes 3 , Astyages wegen seiner Niederlage\ Polykrates wegen seiner Gefangennahmes. Die Perser schal ten das Glück nach der Erschlagun g des Kyros 6, die Makedonen nach dem Tod Alexanders. (2) Aber auch für einen Teil ihrer persönlichen Regungen machen die Menschen das Glück verantwortlich: Medea für ihre Leidenschaft, Midas für seinen Wunsch 7, Phaidra für ihre falsche Bezichtigung 8, Alkmaion für seine Irrfahrt 9 , Orestes für seinen Wahnsinn. Wenn ihr wollt, will ich euch auch eine Geschichte aus Zypern erzählen. In alten Zeiten brachte das Leben auch bedeutende Frauen hervor, die kriegerischeRhodogyne, die Königin Semiramis, die Dichterin Sappho, die Schönheit Timandra. So lebte auf Zypern Demonassa, eine
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Frau, die zugleich in der Regierung und in der Gesetzgebung tätig war. (3) Drei Gesetze gab sie den Zyprioten: Die Ehebrecherin sollte geschoren und zur Dirne gemacht werden ihre Tochter brach die Ehe, wurde nach dem Gesetz geschoren und zur Dirne gemacht. Dann sollte der Selbstmörder vor die Stadt geworfen werden und unbegraben bleiben, so lautete das zweite Gesetz der Demonassa. Und das dritte: Ein Pflugochse durfte nicht getötet werden. Sie hatte zwei Söhne: Der eine mußte sterben, weil er einen Ochsen getötet hatte, der andere beging Selbstmord und wurde VOn ihr nicht bestattet. (4) Eine Weile nun ertrug sie den Verlust ihrer Kinder und gab auch weiterhin Gesetze. Als sie aber einmal eine Kuh über ihrem sterbenden Kälbchen brüllen sah und im Schicksal eines fremden Wesens ihr eigenes erkann te, da schmolz sie Eisen und sprang hinein. An der Stelle stand später dann ein al terTurm mit einem in Erz ein gelassenen ehernen Bild, das dem Ba u werk Hai t geben und zugleich diese Geschichte erzählen sollte. Und nahebei war auf einer Säule folgende Inschrift zu lesen: Ich war wohl weise, doch in allem ohne GlÜck.'o (5) Nun wollen wir das Glück nicht ungehört verurteilen und auch das Geschrei der Ankläger nicht fürchten. Vielleicht hilft es uns selbst sogar, Gutes von ihm zu reden. Zunächst einmal scheinen die Künstler durch die Art ihrer Darstellung die Macht des Glücks verdeutlicht zu haben. Denn erstens steht es da bereit zu Taten, dann hält es in der Rechten ein Steuerruder" und segelt dahin, wie man sagen könnte. Warum aber diese Darstellung? Etwa weil die Seefahrer ganz besonders auf das Glück angewiesen sind oder weil es unser Leben wie ein großes Schiff steuert und alle Passagiere wohlbehalten durchbringt - die Assyrer bis zu den Ausschweifungen Sardanapals", die Meder bis zum Großwerden des Kyros 13, die Perser bis zur Überquerung des Meeres 14, die Athener bis zu ihrem Fall, Kroisos bis zum Besuch des Solon IS?
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[64.6-9
(6) Zunächst war Oidipus ein Mann, vom Glück gefolgt. '6 Denn um ihn vor allem Leid zu bewahren, hatte das Glück ihm Unwissenheit geschenkt, was gleichbedeutend war mit Bewah_ rung vor Leid. Im gleichen Augenblick aber, als die Erkenntnis einsetzte, war sein Glück vorbei. Ich für meine Person nenne auch seine Selbstblendung Glück. Mögen Tellos' 7, Kydippe '8, Aiolos' 9 und alle übrigen glücklichen Eltern ihre Kinder sehen - Oidipus wird sich durch die Blendung ersparen einen Anblick fürchterlich.'· (7) In der andern Hand h~lt die Göttin gesammelte reife Früchte und deutet damit auf die FUlle der Güter hin, die sie selbst austeilt. Das war also das goldene Zeitalter,dieInseln der Glückseligen mit den von selbst wachsenden Früchten, das Horn des Herakles Zi und das Leben der Kyklopen", weil sich für die, die sich ihr Leben lang geplagt haben, später ganz von selbst die Fülle der Güter einstellt. Tantalos dagegen war bis in sein Alter untätig. Deswegen war er auch nur bis zu den Lippen glücklich, und nur mit den Augen ginges ihm gut, denn alles, wonach er langen wollte, der See, die Früchte, Speise und Trank, wichen zurück, vom Glück wie vom Wind fortgerissen. (8) Das Glück hat bei den Menschen viele Namen: Seine Unparteilichkeit heißt Nemesis, seine Ungewißheit Hoffnung, seine Unabdingbarkeit Moira, seine Rechtlichkeit Themis wahrhaftig, eine Göttin mit vielen Namen und Erscheinungsformen. Bauern haben ihr den Namen Demeter zugelegt, Hirten nennen sie Pan, Seeleute Leukothea, Steuermänner Dioskuren '3. Leichthändig stürzt er das Große und hebt empor das Geringe, leichthändig macht er das Krumme gerad und das Stolze verschrum-
pelt.'4 (9) Diese Verse beziehen sich aufZeus, der in der Rechten seine Waffe' 5 , in der Linken sein Zepter hält, weil er den Streitbaren unter den Menschen auch die Herrschaft verleiht.
64,9-13]
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Und weiter: Euripides tadelt den Seemann, daß er zur Unzeit quert die breiten Meereswogen. 26 j\uch der folgende Vers en thäl t einen Tadel: Der kleinsten Hoffnung werfen sie sich in den Arm. (10) Sohn des Mnesarchides, ein Dichter warst du wohl, keinesfalls aber ein Weiser! Denn die Seeleute vertrauen ihr Leben weder Pech noch Stricken an, noch rettet sie eine drei Finger dicke Planke aus Tannenholz, sondern sie bauen auf eine zuverlässige und mächtige Sache, auf das Glück. Ein schwaches Ding ist der Reich turn, wenn das Glück fehl t, etwas U nzu verlässi ges die Freundschaft, wenn das Glück nicht mit Hand anlegt. Das Glück rettet den Kranken in der äußersten Not, den Schwimmer mitten im Meer, Agamemnon auf seinen tausend Schiffen, den auf dem Floß umhertreibenden Odysseus. (I I) Wovor hast du Angst, du Feigling? Fürchtest du die Weite des Meeres? poseidon mag dich erblicken, die Winde herbeirufen, den Dreizack ergreifen und alle Stürme loslassen - umkommen lassen wird er dich nicht, denn das Glück will es nicht. So nun irre umher auf dem Meer und erleide piel Unglück, solange bis du zu Met/sehen kommst, die pon Göttern entstammen 27 das Wort eines Gottes, der vom Glück besiegt war 28 • (12) Das Gli.ick war es auch, das das alte Geschlecht eurer Vorfahren, jener Ureinwohner des Landes und ersten Athener, die sich der Erde als ihrer Mutter, Demeter als ihrer Amme, Athene als ihrer Namenspatronin und Helferin rühmten, zunächst von Athen nach Euboia ftihrte. Aber da das Meer sie, wenn sie dort geblieben wären, nicht hätte erfreuen und der Boden sie nicht hätte ernähren können und sie auch nicht das Mißliche ihres Loses, das Dasein auf dem Festland mit dem von Inselbewohnern vertauscht zu haben, ertragen hätten, faßte das Glück einen zweiten, besseren Plan. (13) Gewiß ist Euboia eine ehrwürdige Insel, aber wer von euch hätte es in einem rauhen Land an einem engen Meeresarm 29 ausgehalten, wer die
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zahlreichen Umschwünge ertragen können, die häufiger eintraten, als die Strömung ihre Richtung ändert? Bald hättet ihr die Boiotier und die Stumpfsinnigkeit der Thebaner erdulden müssen, dann die Athener, die euch nicht mehr als ihre Kinder, sondern als ihre Sklaven behandelt hätten. Deswegen führte euch das Glück hierher und siedelte euch hier an; mit der einen Hand lenkte und leitete es die Fahrt, mit der anderen teilte es reichlich Früchte aus als sein Geschenk. Nun ist der Sinn von dem, was noch bleibt, nicht leicht darzustellen. (14) Jedoch, was mich betrifft, 0 Glück - an dich nämlich wenden sich meine Worte vielleicht mit gutem Recht-, wenn mich jemand hochhöbe und mich auf dem Rücken eines Pegasos oder dem Flügelwagen des Pelops durch die Lüfte trüge und die ganze Erde und alle Städte unter mir ausbreitete, ich würde nicht den Luxus der Lyder wählen, nicht· die Einfachheit Attikas, nicht die Armut Spartas, nicht Kroton und Sybaris, weil man dort nicht arbeitet 30, nicht die Skythen, weil sie ihr Land nicht bestellen 3[, nicht die Ägypter, weil sie fur andere das Land bestellen 3\ (I s)Libyen nicht, wo die Schafe geboren werden mit Hörnern 33 das Paradies der Hirten! Nicht das ägyptische Theben, das hunderttorige, 'Zweihundert Männer können durch jedes Tor mitsamt ihren Pferden und '-Vagen die Stadt verlassen 34 ein Leben für Stallknechte und Torwächter! Solch einen Baum sah ich einst am Altar des Apollon auf Delos 35 ein Altar genügt mir nicht, denn ich habe nichts zu opfern, Bäume sind mir zu wenig, wenn sie mich nicht ernähren können. Rauh ist es, aber der Boden ist gut für die 1ugend36doch dieses Land ist nicht rauh, sein Boden nicht gut fur die Jugend. (16) Erhahne Herrin ihrer aller, Stadt Athen 37 sage das nicht, mein Lieber! Sie sind keine Herren mehr.
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,rie schön ist deine Sch!ffswerft anzuschauen doch nach dem Hellespont und Lysandros aber war sie häßlich 3B• ... doch schön ist der Piräus nur weil du ihn dir noch mit seinen Maucrn vorstellst 39 • 'Feich andre Stadt hält' solche schöne Haine sonst?sie hatte sie, aber die Stadt wurde verwüstet und hat wie eine Frau über ihrem Unglück das Haar geschoren. Das Klima sei zumindest, heißt es, gerade rechtwie denn, leiden sie nicht an der Pest 40 und sind krank, kom· men nich t wegen des Klimas mehr von ihnen um als im Kriege? (r7) Nun ärgere sich ja keiner, daß ich auf diese Weise von euren Vätern gesprochen habe! Den ersten Preis erringen wir nur im Wettkampf mit den Ersten. Wie sich in alten Zeiten ein Soldat 41 damit brüstete, daß er es seinem Vater zuvorgetan habe, so ist es auch fiir die Athener, eure Stammväter, keine Schande, von den Söhnen übertroffen zu werden. Denn sie werden an euren Leistungen teilhaben, auch wenn sie in ihren eigenen die Unterlegenen sind. Wie solltet ihr fiir all diese Vorzüge dem Glück nicht dankbar sein: für eure Abstammung, daß ihr Griechen seid, für den Umschwung, daß ihr aus Armut zu Wohlstand gekommen seid? Sokrates wenigstens schätzte sich aus vielen Gründen glücklich, daß er ein vernunftbegabtes Wesen und Athener war. (r8) Der Kyniker Diogenes dagegen machte sich auf grobe und außerordentlich ungezogene Weise über das Glück lustig: es sende wohl viele Pfeile gegen ihn als Zielscheibe, aber es könne ihn nicht treffen. Ich mag einen solch frechen Philosophen nicht. Sage über das Glück nichts Unwahres! Wenn es dich nicht trifft, dann deswegen, weil es nicht will; wenn es aber will, trifft es dich mit leichter Hand, wo du auch bist. Ich will nicht kurze Lakonismen 4' anfuhren die Knechtschaft unter den Persern, Dionysios in Korinth 43, die Verurteilung des Sokrates, Xenophons Verbannung, den Tod des Pherekydes 44, das Glück des Anaxarchos 4s - , aber mit
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wie vielen Pfeilen hat es selbst dieses schwierige Ziel 46 getroffen? Es machte dich zum Verbannten und brachte dich nach Athen, es führte dich bei Antisthenes 47 ein und verkaufte dich nach Kreta. Wenn dir aber Wanderstab und Ranzen und das ärmliche,' einfache Leben diesen Dünkel eingeben, so wisse auch dafür dem Glück Dank, denn ihm verdankst du dein philosophieren. (19) Dann gab es einen Feldherrn in Athen, Timotheos, der mit allem Erfolg hatte, nur keinen Spott ertragen konnte. Eines Tages aber beleidigte er irgendwie das Glück, und damit begann sein Unglück 48 • Wer hätte jemals gedacht, daß ein Barbier über die Inder herrschen 49 , ein Hirte König der Lyder sein 5., eine Frau Asien regieren werde 51 ; daß den Herakles ein Rock und eine Frau töte S" den Alexander ein Sklave und ein Becher 53 ? Aber das Glück hat eben stets sehr viel'von einem König an sich, und wer sich über seine Natur erhebt, den stürzt es hinab. So beging Alexander zum Beispiel allerhand dreiste Taten: (20) Er konnte es nicht haben, wenn man ihn den Sohn des Philipp nannte; von Zeus behauptete er falsche Dinge; die Dioskuren verachtete er; Dionysos beschimpfte er, obwohl er von dessen Gaben so reichlich Gebrauch machte. Er ermordete den weisen Kleitos, den schönen Phiiotas, den betagten Parmenion, seinen Lehrer Kallisthenes; Aristoteles zu töten war er drauf und dran, und die Ermordung des Antipatros war bereits geplan t. Deshalb zwang ihn das Glück noch zu seinen Lebzeiten zu dem Eingeständnis, daß er auch nur ein Mensch sei. (21) Nach seiner Verwundung sagte er zu den Freunden: «Das ist ja gar nicht das Blut von Göttern, was da fließt, sondern wirkliches Blut 54.» Und bei seinem Tod kam dann das volle Eingeständnis, daß das Glück mächtig und in Wahrheit unbesiegbar ist. Den thebanischen Schwerbewaffneten war er entkommen, ebenso der thessalischen Reiterei, den aitolischen Speel'werfern, den Thrakern mit ihren Messern, den streitbaren Persern
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und dem Volk der unwiderstehlichen Meder, hohen Gebirgen, unüberquerbaren Flüssen, unerklimmbaren Steilhängen, Dareios und Poros und wie die Völker und Könige alle heißen - in Babyion, ohne Kampf und Verwundung, starb der Streiter! (22) Was soll man erst über seine Nachfolger in der Herrschaft und über deren Nachfolger mit ihren großsprecherischen Namen sagen - Donnerschläge, Städtebclagerer, Adler und Götter! 55 Den einen von ihnen widerlegte der Tod 56, der zweite fand, daß das Glück doch noch höher stehe als er selbst 57, obwohl er es nur fur einen Fußgänger gehalten hatte; der Städtebelagerer Demetrios kam als Gefangener im Weinrausch erbärmlich um, vom Glück belagert. Was sind also die Tyrannen stolz auf ihre Befestigungen? Wozu singt Amphion 58 , wozu müht sich Dei"okes ab, wozu baut Semiramis, warum verdingt sich Apollon 59, warum umschreitet Meles mit dem Löwen die Mauer 60 ? Denn Kyros wird über die Meder die Oberhand gewinnen, über die Babyionier Zopyros, über Sardes ein Marder, über Troia - das Pferd. (23) Das Glück sei von ausschlaggebender Bedeutung, ja mehr noch, es sei das Ganze, hat jemand gesagt 61. Es fand Pindar in Boiotien ausgesetzt, Telephos 6z in Arkadien, die Könige von Rom 63 in Italien; dem ersten schickte es Bienen 64, den Königen Hirten, Telephos eine Hirschkuh, Kyros eine~ Hund oder eine Frau 65. Eumenes war der Sohn eines Fuhrmanns, aber trotzdem wurde er König. Herakles war der Sohn Alexanders, aber er wurde nicht König: Ohne die Totenehren bekommen zu haben, wurde sein Leichnam zu Olympias gebracht, und nachdem sie ihn bejammert hatte, starb sie selbst, die Mutter eines Gottes! (24) Die Mutter des Dareios machte vor Alexander einen Kniefall, ebenso vor Hephaistion - eine noch größere Entehrung. Und was ist mit dem Libyerkönig? Zerstörte er nicht fünfhundert römische Städte? Hob er nicht seinen Leibrock in die Höhe und zeigte ihn den Bürgern ange-
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füllt mit römischen Siegelringen, die er alle als Beute seinen erschlagenen Feinden abgezogen hatte? Trotz all dieser Taten starb er eines elenden Todes, denn er hatte oft mit dem Glück gewetteifert - aber umsonst 66 • (25) Aus diesem Grund scheinen mir auch die Menschen alle bedeutenden Entscheidungen dem Glück zu überlassen, indem sie Ämter und militärische Posten verlosen; auch BrÜ. der teilen das Erbe auf diese Weise. Deshalb hätte auch Poly. neikes, wäre er gut beraten gewesen, mit seinem Bruder Um die Herrschaft losen sollen; so aber kam er selbst um und er. schlug zudem seinen Bruder, weil er die Entscheidung Vom Alter, nicht vom Glück abhängig machte. (26) Schüttelt jetzt gründlich die Lose, damit wir sehen, wen es treffe! Dieser Mann wird den schö'ngeschienten Achaiern nützen. 67 Und es nützte ihnen, der das Los gezogen hatte. Hektoraber unterlag, weil er seinem eigenen Urteil, nicht dem Glück ge. glaubt hatte. Zweierlei Urnen stehn im Palaste des Zeus auf der Scbwelle. 68 Das sind die Vorratsbehälter für die Menschen in der Hand der Götter. Das Glück aber ist es, das diese Behälter hinsicht. lich der zufallenden Lose verwaltet, für den Redner und Feld. herrn, für arm und reich, für jung und alt. (27) Kroisos gibt es Gold, Kandaules ein Weib 69, Peleus ein Schwert16, Nestor einen Schild 7 ', Pterelas goldenes Haar 7', Nisos eine rote Locken, Alkibiades Schönheit, Sokrates Weisheit, Aristeides Gerechtigkeit, den Spartanern Land, den Athenern Meer. Dann nimmt es ihnen das alles der Reihe nach wieder und gibt es anderen. In nichts scheint sich mir das menschliche Leben mit seinen täglichen Wechselfällen von einem Festzug zu uno terscheiden.
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(3)
(I) Die Menschen, die sich fest auf das Glück verlassen und sich durch seine Gegenwart emporgehoben fühlen, scheinen mir seine besten Anwälte zu sein, denn sie verhindern, daß jemand auf das Glück schimpft, wenn es umschlägt. Andererseits heißen es alle, die unter der Unausstehlichkeit der Glücklichen zu leiden haben und voll Haß auf ihren Übermut sind, gut, wenn das Glück einen von diesen verläßt, und sagen, sie hätten den Wechsel verdient. Vernünftige Menschen aber sollten mit den ihnen in den Schoß gefallenen Glücksgütern so umgehen, daß niemand Anstoß daran nimmt, wenn sie vorhanden sind, und niemand sich darüber freut, wenn es einmal mit ihnen ein Ende hat. (2) Denn auf alle Fälle ist es besser, in ärmlichen Verhältnissen zu leben, dafür aber geliebt zu werden und im Ruf zu stehen, schlechter als verdient weggekommen zu sein, als umgekehrt in guten Verhältnissen zu leben, dafür aber gehaßtzuwerden und obendrein noch zur Lästerung des Glücks, daß es lieber die Schlechten als die Guten fördere, den Anstoß zu geben. Die meisten Menschen nun behaupten, daß alle, die mit den Gaben des Glücks Ärgernis erregen, schlecht seien und sie nicht verdient hätten - daß jene unglücklich sind, sagen sie im allgemeinen nicht. Mir jedoch kommen diese Menschen als die unglücklichsten der Welt vor. (3) Denn wenn man aus den Dingen, die gemeinhin für Güter gehalten werden, nichts Erfreuliches, sondern nur Schmähworte und Haß erntet, ganz abgesehen davon, daß man seine Schlechtigkeit allen nur noch offenkundiger macht, sollte das nicht ein großes, eindeutiges Unglück sein? Deshalb, glaube ich, ist es ftirdie Dummen auf jeden Fall vorteilhafter, in ärmlichen Verhältnissen zu leben und weder zu Macht und Reichtum noch zu sonst etwas dergleichen zu kommen. I31eiben sie im Dunkel,
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werden die meisten ihr wahres Wesen nicht erkennen; werden sie aber vom Glück in die Höhe getragen, ist ihre Schlechtig_ keit offenbar. (4) Wie es nämlich für gebrechliche Menschen besser ist, wenn sie zurückgezogen leben und sich nie in der Öffentlichkeit sehen lassen, um keinen Zeugen ihrer Scham zu haben, so ist es, denke ich, für Menschen mit einer niedrigen und verdorbenen Seele geraten, im Dunkel auf der Schatten_ seite des Glücks zu leben. Denn zu Unrecht scheinen mir die meisten Menschen dem Glück Vorwürfe zu machen, daß es nichts von Stetigkeit und Zuverlässigkeit habe, sondern jeden, bei dem es sich einsteHe, blitzschnell wieder verlasse und zu andern überwechsle. (s) Könnten wir nämlich beobachten, daß die Beschenkten im allgemeinen von den Gaben des Glücks einen guten Gebrauch machen, statt sofort vor Übermut, Verachtung und Überheb_ lichkeit zu platzen, täte das Glück schlecht daran, nicht bei denselben Menschen zu bleiben. Aber wie die Dinge liegen, zieht das Glück es, glaube ich, vor, jedem Gutes zu tun, da es jeden für brauchbar und seiner Gaben für wert erachtet. Muß es aber sehen, daß er nichtswürdig und gemein ist und der Begünstigung nur Schande macht, verläßt es ihn natürlich und sucht sich einen anderen in der Hoffnung, einen ordentlichen Menschen zu finden. (6) Da die meisten nun aber schlecht sind und die Natur nur selten einen Menschen hervorbringt, der für das Glück tauglich ist, wechselt es zwangsläufig von einem zum an dem - aber in erster Linie wegen unserer, nicht wegen seiner Natur. Es ist doch merkwürdig, daß unsereins manche glückliche Menschen nicht ertragen kann, sondern nach kurzer Zeit den Verkehr mit ihnen abbricht und lieber seine Armut, so gut er kann, erträgt, um nur nicht dieses lästige und törichte Wesen aushalten zu müssen. Vom Glück aber, einer Göttin, verlangen wir, mit genau demselben Menschen auf immer zusammenzuleben und, oft den schwersten Beleidigungen ausge-
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setzt, bei einem nichtswürdigen Sklaven auszuharren. (7) Die unverschämtheit der Reichen gegenüber den Menschen, die nUt ihnen leben, besteht im Schimpfen, Treten und Verlachen, oft auch in Schlägen; dem Glück gegenüber in Überheblichkeit, Unaustehlichkeit und Rechthaberei. Die Vorwürfe der großen Menge gegen das Glück kommen mir äußerst ungerecht vor. Denn sie beschuldigt es, unzuverlässig zu sein und keinen Bestand zu haben. Bliebe es aber stets bei denselben, müßte es sich unweigerlich eine noch schwerere und gerechtfertigtere Anklage gefallen lassen. Denn wo ihr jetzt schon seht, daß die Leute, denen es gut geht, so schlecht und unangenehm sind, obwohl die Zukunft ungewiß ist, mit wieviel Überheblichkeit und Grobheit, glaubt ihr wohl, müßten sie erst erfullt sein, wenn sie überhaupt nicht mehr mit einem Umschwung zu rechnen hätten? (8) Viele sagen, das Glück sei willkürlich und bleibe bei den Schlechten, um die Guten aber kümmere es sich nicht; sie sehen dann, daß die mit Glücksgütern Gesegneten unausstehlich, schwierig im Umgang und gemein sind. Diesen Leuten scheint mir das Glück zu Recht zu erwidern, daß es von Natur aus die Menschen liebe und immer bei einem von uns zu finden sei, ohne auf gut oder schlecht zu achten, daß sich dabei aber stets der wahre Charakter der Menschen, zu denen es komme, herausstelle. Deswegen müßten sie ihre eigene Natur, nicht das Glück beschuldigen, daß sie so seien: (9) Wem es mäßig gehe, der scheine sofort ein besseres Los verdient zu haben, wem dagegen die Glücksgüter zur Verfugung stünden, habe sich als verdorben herausgestellt. Folgendes wäre damit vergleichbar: Es sind viele Gefäße vorhanden, aber keins ist heil. Nun will jemand sie vollmachen, und ich schelte ihn, weil ich sehe, daß jedes Gefäß, das er füllen will, undicht ist. Der Mann könnte nämlich sagen: «Dann sind sie alle undicht; aber solange sie leer sind, merkt man es nicht.»
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(IO) Verwundert frage ich mich, wie die meisten Menschen überhaupt sagen können, das Glück sei gefährlich und seine Gaben ohne jeden Bestand. Denn wenn es jemand seine Gaben schenkt, das heißt also: Geld, Macht, Ruhm und Ehre, verbie. tet es keinem, den rech ten Gebrauch von ihnen zu machen und, beim Himmel, sie für sich in Sicherheit zu bringen - ich meine nicht ins Haus hinein, in die Vorratskammer oder hinter Schloß und Riegel, denn nichts dergleichen kann die Gaben des Glücks schützen. Ich meine, man sollte sie in menschlichem Entgegen. kommen, im Dienst am Vaterland, in der Freundeshilfe spei. ehern. (Il) Von den auf diese Weise aufbewahrten Gütern nimmt das Gli.ick denen, die sie erst einmal bekommen haben, gewiß niemals etwas weg. Denn das sind sichere und ftir alle sichtbare Speicher, um das, was einem ohne eigenen Verdienst zufällt, aufzubewahren. Verschleudert man aber die anvertrau. ten Glücksgüter oder verwahrt sie schlecht, indem man sich auf Türen, Siegel und Schlösser verläßt, bei Gott, so darf man ihren Verlust, so glaube ich, nicht mehr dem Glück zuschrei. ben. (12) Reichlich merkwürdig ist auch folgendes. Nich t genug, daß man viel mit Worten auf das Glück schimpft - auch Bild. hauer und Maler schelten es, indem siees bald rasend und seine Gaben verschleudernd, bald auf einer Kugel stehend darstel. len, als wenn sie damit sagen wollten, es habe keinen festen, sicheren Stand. Dabei sollten wir, anstatt dem Glück unbegründete Vorhaltungen zu machen, uns selbst in dieser Haltung meißeln und malen, die wir so unsinnig und verkehrt mit allem umgehen, aber, beim Himmel, nicht auf einer Kugel-auf der Torheit stehend! (13) Von allen Dingen, kann man wohl sagen, haben diemeisten Menschen f..''1lsche Vorstellungen, am verkehrtesten und irrigsten aber ist ihre Meinung vom Glück. Denn sie behaupten, das Glück gebe den Menschen die Güter und nehme sie
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ihnen leichten Herzens wieder weg, und deswegen schelten sie das Glück unzuverlässig und mißgünstig. Ich dagegen behaupte: Das Glück gibt nichts von dem, was die große Menge glaubt. (14) Wodurch nämlich jeder einzelne Herr über seine Güter ist und womit allein er seinen Besitz sicher hat, das verleiht ihm das Glück nicht zusammen mit Geld, Ruhm und Macht. Dies eine aber ist es, ohne das man auch nichts anderes besitzen kann, höchstens meinen, man besäße es, und sich dabei täuschen. Wenn wir jemand in unser Haus bringen, ihm ein Stück Land oder irgendwelche Gegenstände anbieten, haben wir ihn damit noch nicht zum Herren von alledem gemacht, es sei denn, es läge eine schriftliche Garantie vor. So macht auch das Glück niemand zum Herren über seine Gaben, wenn nicht die Gewähr dafür gegeben ist, daß der Betreffende sie mit Verstand und Einsicht empfängt. (15) In der Regel schätzen die meisten Menschen jemand glücklich, sobald sie die Gaben des Glücks bei ihm erkennen, wie man sich mit den Passagieren unterwegs freut, wenn man sieht, daß ein Wind bläst, aber nicht weiß, ob er günstig für sie ist und ob sie einen erfahrenen Steuermann haben. Ich dagegen bin der Meinung, man sollte die Menschen, die im Glück schwimmen, dann erst als glücklich erachten, wenn sie zugleich auch vernünftig sind. Denn die Gaben an sich, falls sie unvernünftigen Menschen zuteil werden, bringen natürlich Gefahr und Unglück. 66. VON DER RUHMSUCHT
(I) Es gibt Leute, die alles, was für Geld, Leckereien oder Wein eine Schwäche hat oder in Frauen und Knaben vernarrt ist, als unrettbar verloren abschreiben und jeden dieser Fehler für die größte Schmach halten, andrerseits aber Männer, die auf Ehre und Ansehen erpicht sind, als etwas Herrliches preisen. Des-
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halb schämt sich auch jeder von sich aus, ein Feinschmecker Trinker oder Liebhaber zu sein, und versucht, seine Leiden: schaft zu verbergen; Ruhmsuch t und Ehrgeiz jedoch will kein Mensch verstecken, sondern man zeigt sie in aller Öffentlich. keit. (2) Denn von der großen Menge heißt jeder diese Art Krankheit gut, weil er sich einen Vorteil davon verspricht. Und ganz offiziell haben sich beinah alle Städte die verschie. densten Köder für diese Toren ausgedacht: Kränze, Ehren. plätze und öffentliche Ausrufungen. So ist schon mancher, den diese Verlockungen reizten, unglücklich und arm geworden, obwohl man ihm keineswegs wunder was für Herrlichkeiten vorhielt, sondern ihn manchmal wie ein Schaf mit einem Zweig an der Nase herumführte oder ihm einen Kranz oder ein Band umlegte. Ein solcher Dummkopf nun verkauft häufig, obwohl er, wenn er wollte, jede Menge Kränze umsonst haben könnte, nicht nur von Ölbaum und Eiche, sondern auch von Efeu und Myrte, sein Haus und seine Ländereien und zieht dann hungrig in einem schäbigen Kitteillmher. Aber, sagt er, er sei von den Bürgern öffentlich ausgerufen worden - wie ein verlorenge. gangener Sklave. (3) Deswegen verwendet man also bei den Abstimmungen ganz mit Recht den Ölzweig: wegen seiner natürlichen Bitterkeit. Denn die Ruhmsüchtigen vertreibt das Volk schreiend und lärmend von ihren Besitzungen, wie es, denke ich, Bauern mit den Staren machen. Die Stare aber ver. schwinden nur für kurze Zeit, während es für diese Menschen keine Rückkehr gibt zu dem, was ihnen einmal gehörte. Viel· mehr gehen sie bald als Bettler umher, und keiner von denen, die sich früher für sie die Zunge aus dem Halse schrien, begrüßt sie mehr, wenn er sie sieht. (4) Ja,so groß ist die Macht der Verblendung, daß man fur einen schönen Purpurmantel, den man beim Färber für zwei oder drei Minen haben könnte, sehr viel Talente bezahlt, wenn man ihn von der Stadt kauft. Und die Bänder, die auf eiern Markt für wenig Drachmen zu
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haben sind, kosten in der Volksversammlung oft das gesamte Vermögen. Wird man auf dem Marktplatz' ausgerufen, hält einen jedermann fiir eine armselige Kreatur, geschieht es aber im Theater', gilt man als glücklicher Mensch. Von dem letzten heißt es, er werde ausgerufen, von dem ersten, er werde ausgeboten - zwei ganze Silben machen offenbar den Unterschied. (5) So sehr verachtete man in früheren Zeiten die Menschen und durchschaute ihre Albernheit, daß man als Preis ftir die härtesten Anstrengungen und Schläge Blätter aussetzte. Trotzdem fehlt es nicht an Leuten, die um diesen Preis den Tod wählen. Keine Ziege würde sich wegen eines wilden Ölbaums 3 den Abhang hinunterstürzen, erst recht nicht, wenn sie auch woanders Futter findet; und dabei schmeckt der Ölbaum den Ziegen nicht übel, während der Mensch ihn nicht gut essen könnte. Oder die Fichte vom Isthmos 4 : Sie ist nicht grüner als eine Fichte anderswo, aber mit viel Schweiß und Mühsal kämpft man um sie und gibt dafür oft noch eine Menge Geld aus. Dabei hat die Pflanze keinerlei Nutzen: Sie kann keinen Schatten spenden und keine Frucht tragen, ihr Blatt ist scharf und rauchfarben. Eine Fichte von Megara aber sieht keiner an. Trägt jemand eine Binde, ohne daß er sich eine Kopfverletzung zugezogen hat, wird er ausgelacht; den Königen jedoch scheint dieser Kopfschmuck anzustehen, und schon viele Tausende sind ftir solch einen Fetzen in den Tod gegangen. 6) Die Tragiker wissen davon zu erzählen, daß wegen eines goldenen Schafes s ein so mächtiges Haus wie das des Pelops untergegangen ist. Die Kinder des Thyestes wurden erschlagen, und mit Pelopia begattete sich ihr Vater und zeugte den Aigisthos. Dieser tötete mit Klytaimnestras Hilfe Agamemnon, den Hirten der Achaier, und jene wieder tötete Orestes, ihr Sohn, der unmittelbar nach der Tat wahnsinnig wurde. Diese Geschichten verdienen Glauben, denn sie sind nicht von den ersten besten, sondern von Euripides und Sophokles geschrie-
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ben worden und werden auch jetzt noch in den Theatern rezi_ tiert. Abgesehen davon kann man auch ein anderes Haus sehen, das noch reicher war als das des Pelops und wegen einer Zunge untergegangen ist, und, bei Gott, noch ein drittes, das in Gefahr ist unterzugehen 6. (7) Bei solchen und einer Unmenge anderer, noch verrück_ terer Begleiterscheinungen des Ruhms fragt man sich, wieso der Mensch, der darauf versessen ist, keineswegs leichter zu befriedigen ist als jemand, der sonst eine Leidenschaft hat. Das Leckermaul stellt ein einziger Fisch zufrieden, und kein Feind wird ihn in seinem Genuß stören. Ähnlich verehrt der von einer unglückseligen Knabenleidenschaft Befallene den einen schönen Knaben, den er getroffen hat, und macht ihn sich oft für wenig Geld gefugig. Eine Flasche thasischen Weins reicht dem Liebhaber eines guten Tropfens vollauf, und wenn er sie geleert hat, schlummert er süßer als Endymion. Der Ehrgeizling dagegen ist wohl kaum mitdem Lob eines einzelnen,ja oft nicht einmal mit dem von tausend Menschen zufriedenzustellen. (8) Wer gäbe nun nicht zu, daß der schwierigste Knabe leichter zu behandeln ist als selbst die maßvollste Gemeinde1 Und je weiter die Ruhmsucht fortschreitet, desto unmöglicher ist es, den nötigen Schlaf zu finden; wie ein Fieberkranker wird man stets bei Tag und Nacht aufgescheucht. «Gewiß», wirst du einwenden, «aber jene kann man beim Wein, bei ihren Freundinnen und in der Küche sehen.» Muß aber nicht auch der Ruhmsüchtige eine Menge Zukost und Wein kaufen? Dann muß er Flötenspieler, Schauspieler, Zitherspieler und Zauberkünstler herbeischleppen, dazu Boxer, Allkämpfer 7 , Ringkämpfer, Läufer und dergleichen Volk, wenn erdie Menge nicht ärmlich und kärglich unterhalten will. (9) Unter den Feinschmeckern nämlich hates noch nie einen Menschen gegeben, den es nach einem wilden Löwen oder nach hundert Stieren gelüstet hätte. Die aber der großen
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Nfenge gefallen wollen, die gelüstet nicht nur danach, sondern nach so vielen anderen Dingen, daß man sie gar nicht alle nennen kann. Denn nicht mit wenigen Netzen, wie man sagt, nicht mit zwei oder drei Freudenmädchen und auch nicht mit zehn Lesbierinnen läßt sich Popularität eljagen, geschweige denn eine ganze Gemeinde zu überzeugten Freunden machen, da unzählige auf dieses Ziel aus sind. Nein, der Mann, der popularität sucht, muß die Leidenschaften einer ganzen Stadt in sich vereinigen: Er muß dem Gesang, dem Tanz, dem feinen Essen und Trinken und allem derartigen ergeben sein, aber nicht nur in dem Maße wie ein einzelner, sondern wie zehntausend, zwanzigtausend oder hunderttausend, je nachdem, wie groß die Stadt ist, deren Gunst er begehrt. (10) Bei einem solchen Menschen wird man immer schallen von Flöten und Pfeifen, dazu ein Getümmel von Menrchen 8 antreffen; da sind die Tische beladen mit Brot und Fleisch, und Wein bringen die Mundschenken aus Mischkrügen 9 • Rauchig war der Palast, aus dem Hofe tönte es wider tagsüber, während bei Nacht sie neben den ehrbaren Frauen '0niemals schlafen, ohne eine Unmenge von Decken unter sich gebreitet zu haben. (Il) Daher werden sich die Knabenliebhaber, denke ich, im Vergleich mit den Liebhabern des Ruhms über alle Maßen glücklich schätzen. Während sie selbst nur Wachteln, einen Hahn oder eine kleine Nachtigall" suchen, beobachten sie jene, wie sie nach einem Amoibeus oder Polos jagen müssen oder einen Preisträger von Olympia fur funfTalente mieten. Ferner brauchen sie selbst nur den Magen des Erziehers oder des begleitenden Dieners zu füllen; wenn die andern dagegen nich t mindestens für hundert Personen täglich ein kostspieliges Gelage geben, springt nichts für sieheraus. Bei Kranken sorgen die Diener für Ruhe, damit sie schlafen können; die Geltungsbedürftigen dagegen sucht der Schlaf gerade dann am wenigsten auf, wenn sie Ruhe haben. (12) Kön-
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[66,X2-X4
nen sie nun Besitz, Abstammung oder dergleichen, körperliche oder geistige Vorzüge aufweisen oder haben sie sich wenigstens eine gewisse Zungenfertigkeit angeeignet, werden sie, als hätten sie Flügel, fast bis zu den Sternen emporgetragen, werden Volks- und Söldnerführer und Sophisten genannt und gehen aufdie Jagd nach Gemeinden, Satrapen und Schülern. Die übri_ gen aber, denen diese Mittel nicht zur Verfügung stehen, die jedoch von derselben Krankheit befallen sind, gehen umher und richten ihr Leben ganz nach den andern ein, nur daraufbe_ dacht, was jene von ihnen sagen. Spricht jemand Gutes über sie - zumindest glauben sie es -, strahlen sie vor Glück, wenn nicht, sind sie bedrückt und niedergeschlagen und halten sich für den, als den man sie ausgibt. Hat solch ein Mensch mit jemand einen Rech tsstrei t oder Prozeß, ist er nich teinverstanden, daß der Schlichter oder Richter auf die ersten besten Zeugen hört; handelt es sich aber um sein eigenes Interesse, dann hält cl' jedermann für glaubwürdig. (13) Was könnte es aber Unglückseligeres geben als Menschen, die von andern abhängig sind und jeden, der ihnen begegnet, zu ihrem Herrn haben, stets gezwungen, nach ihm zu sehen und sein Gesicht, wie ein Sklave die Miene seines Herren, zu beobachten? Gewiß, jede Knechtschaft ist hart. Wessen Schicksal es aber ist, in einem Haus Sklave zu sein, in dem es zwei oder drei, und zwar nach Alter und Veranlagung verschiedene Herren gibt - ich meine den knauserigen Alten und dessen junge Söhne, die trinken und schlemmen wollen - wer gäbe nicht zu, daß dieser Mann noch unglücklicher ist als die anderen Sklaven, da er so vielen Herren dienen muß und jeder von ihnen wieder etwas anderes will und befiehlt? (14) Ist man nun gar der Sklave einer ganzen Stadt, von jung und alt, arm und reich, von Taugenichtsen und Geizhälsen, wie muß es dann erst um einen bestellt sein! Zwänge man einen wohlhabenden Mann, in einer solchen Stadt zu leben, in der jeder seinen Nächsten ausrauben dürfte und kein
66, 14-I6]
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Gesetz ihn daran hinderte, würde er, glaube ich, auf der Stelle aufseinen Reichtum verzichten, auch wenn er zuvor alle Welt an Habgier übertroffen hätte. So geht es heutzutage mit der öffentlichen Geltung. Gleich, ob Bürger, Fremder oder Zugezogener - um etwas zu gelten, darf jeder, der will, den andern schädigen. (15) Den Entrechteten kommt das Leben aus gutem Grund nicht mehr lebenswert vor, und viele ziehen nach dem Verlust der bürgerlichen Rechte den Tod dem Leben vor, weil jeder sie schlagen darf und es keine besondere Strafe fUr den Beleidiger gibt. Auch den Geltungssüchtigen dürfen alle schlagen, aber unvergleichlich viel härter, als wenn nur der Körper geschlagen würde. Freilich wird man bei den Entrechteten nicht so schnell jemand finden, dem dieser Schimpf angetan wird, denn die Menge vermeidet berechtigte Empörung und Mißgunst, und schließlich hat sie von den Schwächeren nichts zu fürchten. Mit Schimpfworten dagegen hält keiner zurück, erst recht nicht, wenn es um Leute von anerkannter Geltung geht, und niemand ist so schwach, daß er nicht in der Lage wäre, ein Wort zu sagen. (16) So mein te denn auch ein ganz vern ünftiger Mann aus alten Zeiten zu einem, der ihm fortwährend mit solchen Angriffen kam: «Wenn du nicht aufhörst, Schlechtes über mich zu hören, werde ich auch über dich Schlechtes hören.» Allerdings wäre es vielleicht noch besser, wenn jemand einen angreift, so zu tun, als merkte man es gar nicht. Oft läßt es der Herr seinen Sklaven, den er bei ausgelassenem Spiel antrifft, mit Tränen büßen; der dem Geltungsdrang Erlegene aber kann 'Ion jedermann mit einem einzigen Wort gedemütigt werden. Wenn jemand von Medea oder den Thessaliern Zaubersprüche gelernt hätte, mit denen er jeden beliebigen Menschen zum Weinen und Klagen bringen könnte, auch wenn ihm nichts Schlimmes widerfahren ist, würde seine Macht nicht als Tyrannei angesehen werden? Nun, über einen vom
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[66,16-19
Ruhm aufgeblasenen Menschen hat jeder diese Macht. (17) Denn er braucht nur zwei oder drei Worte zu sagen, um den andern in Elend und Kummer zu stürzen. Wäre jemand durch höhere Gewalt physisch so veranlagt, daß er, sobald ihn jemand verflucht, Fieber oder Kopfschmerzen bekommt, wäre er mehr als todunglücklich. Wenn jemand aber so schwachsinnig ist, daß er sofort außer sich gerät, wenn er nur beschimpft wird, wie sollte ein solcher Mensch das Leben nicht fliehen mÜssen? Stell dir vor, tagaus, tagein stünde einer, gleich in welcher Sache, vor Gericht, ob es nun um sein Leben oder um Hab und Gut geht. Scheint es da nicht in jedem Fall geratener, darauf zu verzichten und in Zukunft nicht mehr in Gefahr zu sein - wenn es um das Eigentum geht, wegen des Eigentums, wenn um das Leben, wegen des Lebens? (IS) Was folgt daraus für den Prozeß wegen Ruhmsucht? Stehen diese Toren nicht immer vor Gericht, nicht nur einmal am Tag, sondern mehrmals, und nicht vor einer ganz bestimmten Zahl von Richtern, sondern schlechterdings vor allen Menschen, die obendrein nicht vereidigt sind und sich weder an Zeugen noch an Indizien halten? Denn ohne den Fall zu kennen, ohne Zeugen zu vernehmen und ohne durchs Los dazu bestimmt zu sein, sitzen sie zu Gericht, und es ist ihnen völlig gleichgültig, ob sie beim Umtrunk oder beim Bad ihre Stimme abgeben. Und was das Schlimmste von dem allen ist: Wen sie heute freigesprochen haben, vertuteilen sie morgen. (19) Wer von dieser Krankheit befallen ist, muß sich also verantworten, wo er sich blicken läßt, auf jedermann achtgeben und damit rechnen, daß er - willentlich oder unwillentlich - bei jemand Anstoß erregt, vor allem bei denen, die mit ihrer Zunge und ihrem Witz schnell bei der Hand sind. Denn sollte er auch nur ein wenig den andern beleidigt habenund das ist schnell der Fall-, läßt der Beleidigte sofort ein hartes Wort fallen. Verfehlt das Wort irgendwie sein Ziel, ruft es zumindest Bestürzung hervor; trifft es ins Schwarze, tötet es
66,19-22]
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70':)
aufder Stelle. Denn viele Menschen lassen sich durch jede Kleinigkeit von ihrem Vorsatz abbringen und unsicher machen. (zo) Indessen übt bald dieses, bald jenes bei dem einzelnen eine größere Wirkung aus, wie auch von Kindern, denke ich, jedes sein ganz besonderes Schreckgespenst fürchtet und sich gewöhnlichdurch dieses Gespensterschrecken läßt. Denn von NaturfurchtsameKinder schreien bei allem, was man ihnen zeigt, als sei es ein Grund, sich zu furchten; nur bei den schon etwas Größeren fUrchtet nicht mehr jeder jedes. Den großmäuligen Bettler, der wie ein Kroisos auftreten will, brin gt Iros außer sich, und sicher liest dieser Mann die Odyssee nich t wegen der Verse: Eintrat der Bettler, der stadthekannte, der in den Straßen pflegte 'Zu hetteln von Ithaka. I2 (ZI) Den Mann von niederer Abkunft setzt Kekrops 13 in Staunen, 'Thersites 14 den Mann von bescheidenem Äußeren, der aber schön sein will. Wenn du nämlich einen Menschen, der mit seiner Sel bst beherrschun g prah It und sich der Tu gend verschrieben hat, als Wollüstling oder Geizkragen, als unzüchtigen oder überhaupt als verkommenen Menschen verspottest, hast du ihn vollständig vernichtet. Perseus machte seine Feinde zu Stein, indem er das Haupt der Gorgo herumtrug und es den Feinden vorhielt; die meisten Menschen aber müssen nur ein einziges Wort hören, um zu Stein zu werden, und dieses Wort braucht man nicht herumzutragen und in einem Ranzen aufzubewahren. (zz) Und sage nur, wenn wir die Stimmen der Vögel verstünden, der Raben und Dohlen, und auch die der anderen Tiere, zum Beispiel der Frösche lind Zikaden, würden wir natürlich auch darauf achten, was etwa die Dohle, die vorbeifliegt, von uns sagt oder was der Häher zu uns meint und welcher Ansicht er ist. Ein Glück, daß wir es nicht verstehen! Aber wie viele Menschen sind dümmer als Frösche und Dohlen! Trotzdem beunruhigen uns ihre Worte und machen uns
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[66,22-26
todunglücklich. (23) Wer sich jedoch unabhängig gemacht hat, kehrt sich nicht an das Geschwätz der Menge, sondern lacht über ihre Klatschsucht, denn schon längst hat er ihnen allen gean twortet : Gleichgültig ist's mir, als träf' eine [. Dieser Mann, den Dion zunächst in einer nicht erhaltenen Schrift (ff. ,. Hektor tötet lediglich Patroklos, den aber Homer an die Stelle des Achilleus gesetzt haben soll (s. § 102). 73 Il. 17,7.\"ff. 7411.18,13f. 75 Fehldeutung Dions (vgl.ll. 18,]14ff.; 19,]0,ff.). 76 Il. 16,233ff. 77 11.7, 113f. 7811.16,pff. 79 11. 16,]6f. wird dieser Gedanke als Vermutung von Patroklos ausgesprochen, ,0 f. aber von Achilleus energisch zurückgewiesen. 80 Davon ist in der !lias nirgends die Rede. 81 II. 18,81f. 8z Wieder eine falsche Behauptung. 83 11.23, 243f. 84 Dem widerspricht Od. 24,76 ff., wonach Antilochos neben AchiIleus und Patroklos bestattet zu sein scheint. 85 Vgl. § 116 u. Pind. Pyth. 6,28 ff. 86 Il. 22,39.\"ff. 87 II. 23, 18,ff. 88 11. 22,3.\"9f. in der Vorhersage des sterbenden Hektor. 89 11. 3,]69ff. 90 Nach Dions Meinung hat Hektor Achilleus, nicht Patroklos getötet (vgl. §96 u. 102). 91 Il. 18,478 ff.
800
9' 93 94 9S 96 97 98 99 100 laI 10' 10] 104 lOS 106 107 [08 109 IIO III "' II]
II4 IIS II6 II7 II8 II9 120 121
12'
ANHANG
H. 19,1ff. 11. 20,49off.; 2[, I ff. H. 2[,J8,ff. H. 2 [,2 [ [ ff. JI. 2I,'99ff. JI. 22,1 ff. H. 22,J75. H. 22,226ff. H. 23,257 ff. H. 24, 141 ff. Meist Astyanax genannt (vgl. Il. 6,402 f.). Hier schließt der Bericht des ägyptischen Priesters. Dion wendet sich an die Bevölkerung Troias (5. auch §4). Achilleus (Il. I8,2I7ff.). Vgl. § [03 u. Od. 24,76f. Der Telamonier Aias, auf den Dions Charakteristik allerdings über_ haupt nicht paßt. Gerade das hatte Homer nicht vor (5. H. [,1 ff. u. § Hf.). Od. 4,,6 I ff. Eur.Or. 162,ff. Rom. D. h., wenn die Troianer die Sieger waren. An wen Dion denkt, ist nicht bekannt. Auf jeden Fall liegt Salamis (480) vor Plataiai (479). Dion verwechselt die Skiriten, eine besondere Abteilung im spartanischen Heer, mit der «pitanatischen Abteilung» (Pitana hieß ein Stadtteil von Sparta), die es nach Thukydides (I 20) nicht gegeben hat. H. und A. erschlugen nicht Hippias, den Tyrannen von Athen, sondern seinen Bruder Hipparchos (vgl. Thuk.1 20). Hes. Theog. 176 ff. Davon ist sonst nichts bekannt. Und nicht nach Griechenland, dem das Unternehmen vom Jahre 490 tatsächlich galt. Die Stelle ist wahrscheinlich verderbt. Griechenland und Kleinasien waren zur Zeit Dions römische Provinzen. H. 21,279. Achilleus durch Paris. Aias, der sich an den Atriden rächen wollte, weil er von Odysseus um die Waffen Achills gebracht worden war.
ANMERKUNGEN
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1Z3 Der Schatten Achills hatte Polyxena als Sühne für seinen Tod gefordert (s. Eur.Hek. 40ff.). 1Z4 Von Aias dem Lokrer. IZS 11. 24,468 ff. 1Z6 Vgl. Ov.Met. 13d-69ff. 127 Agamemnon nahm Kassandra mit nach Argos. 12 1
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Die Einleitung ist zunächst Ausdruck von Dions Staunen über die große Menge, die sich vor dem berühmten Zeustempel in Olympia eingefunden hat, um ihn, die äußerlich keineswegs anziehende Eule, zu hören (s. auch § I S) • Zum «Schwanengesang» vgl. auch Plat. Phaid. 84eff. Wie Dion sich selbst unter dem Bild der Eule und die Sophisten unter dem des Pfaus sieht, so ist bei Nachtigall und Schwan wohl an die Dichter zu denken (s. § S). Gemeint ist das berühmte Standbild der Athene, das Pheidias für den Parthenon schuf. Nach Plutarch (Vit. Per. 169 c) hat Pheidias auf dem Schild der Athene sich selbst als «kahlen, alten Mann» dargestellt, «der mit beiden Händen einen Stein hebt», und Perikles als einen mit einer Amazone kämpfenden Krieger. Von der Mistel, die als Schmarot7er auf Eichen wuchs, wurde der Vogelleim gewonnen. Gedacht ist an die Vogelnetze. Ein ähnlicher Gedanke auch Aischylos fr. 231 (Mette). Ärmliche Kleidung, langer Bart und langes Haar: der Vergleich mit der Eule zielt sicher auch auf das Aussehen. Verwechslung mit Ninive. Hes.Erg. 313. Dion bezieht sich auf das Götterstandbild des Pheidias im Zeustempel. Anspielung auf die Entbehrungen während der Verbannung. Dasselbe sagt Sokrates von sich (s. Plat. Apol. 20 c). Od. 10376; 2,141. Vgl. auch 7, I. Die My.er, römisch Moesi, werden 11. 13,S als thrakischer Volksstamm erwähnt. - Dion selbst hat eine nicht erhaltene Geschichte der Geten geschrieben.
11.
2I,SO.
ANHANG 18 Xen. Anab. VI 1,8. 19 Gemeint sind Traians Vorbereitungen zum Dakerkrieg. 20 Vgl. Il. 1,12 ff., wo der Priester Chryses ins Lager der Griechen kommt, um seine Tochter loszubitten. 21 11. 2,484ff. ruft Homer vor dem großen Schiffskatalog die Musen an, ihm bei seinem übermenschlichen Vorhaben zu helfen. 22 Hes. Erg. I ff. 23
11.
I,S28ff.
24 «Hell und dunkel» (ähnlich in § 34 «Tag und Nacht», «Licht der Sonne und der Sterne») bezieht sich auf die polaren Verhaltenswei_ sen der Persephone : I m Herbst, wenn die Großen Eleusinien gefeiert wurden, ging sie in die Unterwelt hinab, um sich mit Hades zu vermählen; im Frühjahr (Kleine Eleusinien) kehrte sie zur Oberwelt zurück und feierte ihre Vermählung mit Dionysos. Zugleich spiegeln sich darin der Kreislauf der Natur und die Hoffnungen, die sich die Anhänger des Kultes vom Jenseits machten. 2S Eine Art Inthronisation (vgl. auch Plat. Euthyd. 277 d). 26 Gemeint ist das sogenannte Telesterion in Eleusis, das Gebäude, in dem die Weihen stattfanden. 27 Die Leute des Odysseus auf der Heimfahrt nach Ithaka (Od. 12,
16,ff.). 28 Zeus mit Hera (II. 14,341 ff. ; s. auch Rede 1 1,2 I) .. 29 Ein Grundprinzip der Epikureer, gegen deren Lehre (Genuß des Lebens durch Freiheit von Furcht und Leidenschaft) der ganze Abschnitt gerichtet ist. 30 Typische Instrumente asiatischer und orientalischer Kulte, die in Griechenland immer mehr Verbreitung fanden. 31 Gottesvorstellung des Deismus: Wohl hat ein (unpersönlicher) Gott die Welt geschaffen, sie dann aber ihrem Schicksal überlassen. 32 Die Wasseruhr diente zur Begrenzung der Redezeit vor Gericht (Plat. Theait. 172 d: «Mich drängt das rinnende Wasser»). 33 Eine Art Illusionsmalerei, die vor allem bei der Bühnendekoration Verwendung fand. 34 Dion darf bei dem Überangebot an Veranstaltungen die Aufmerksamkeit seiner Zuhörer nicht allzulange in Anspruch nehmen. 35 Allerdings wird nur von Pheidias, dem Vp.rtreter der bildenden Kunst, gesprochen. 36 Weil Olympia in Elis liegt. 37 Sie wurden vor dem Tempel geopfert, konnten also das Standbild im Innern nicht sehen.
ANMERKUNGEN 38 Od. 4,22 I.
Er solI zusammen mit dem Gesetzgeber Spartas die Olympischen Spiele nach längerer Unterbrechung wiedereingesetzt haben. 40 Il. I, S29 in der § 26 zitierten Stelle. 41 11. I, SO 0 ff.
39
4' Il. 2,478. 4311.20,248 f.
4B
XIX.VlX.x1) Il. 16, lOS u. 794 vom Helm, Od. 19, 36S vom Knirschen der Zähne. Nur als Verb ßOfloße:iv gebraucht, meist in der Verbindung ß6floß'!)0'e: 1t'EO'OUO'IX. (11. 13, BO; 16,118; Od. 18,397). XTll1t'O';; vom Hufschlag der Pferde 11. 10, B 2 u. 535; 17, 17!i; vom Kampfgetöse 11. 12,338; 20,66. 8oUTto,;; für jedes laute Geräusch: der Geschosse 11. 9, 573; der Holzhauer 11. 16,635; von Fußtritten Od. 16, 10; vom Meer Od. 5,4°1 usw. ilifllX.ßo.;; nur Il. 10,37> ( ff. 60 Il. IIdf. 61 11. 22,209ff. mit den Losen von Hektar und Achilleus, Il. 8,69ff.
S'
mit denen der Griechen und Troianer. 60 63 64 65
Z.B. Il. 14,285.
Il. I,S28ff. Il. IS, IB. Gemeint ist das Meer, das Wasser als drittes Element (Herkunft des Zitates unbekannt). 66 Die Oberlieferung des Satzes macht Schwierigkeiten, aber alle vorgeschlagenen Konjekturen können nicht befriedigen_ 67 Pind.fr. >7. 68 Il. 18, 474f.
804
ANHANG
69 Od. 24,249 f. - Dion kann es sich nicht verkneifen, dieser für seine Verhältnisse geradezu feierlichen Rede wenigstens einen ironischen Schluß zu geben. In den Versen redet er sich selbst an. 13 Wahrscheinlich T. Flavius Sabinus, der im Jahre 82 hingerichtet wurde (s. Einleitung S. XIII). • Bei Kalypso (Od. 5,82ff.). JOd.I,5 8L 4 Orestes, der heimgekehrt ist, sich aber noch nicht zu erkennen ge. geben hat. S Eur. E!. 233 ff. 6 Her. I 55. Kroisos legte die Trauer um den Tod seines Sohnes ab, als er gehört hatte, daß Kyros, der mit dem Maulesel gemeint ist und später das Reich des Kroisos eroberte, die Herrschaft über die Per. ser übernommen habe. 7 Vgl. Plat. Apo!. 20e. Schon hier wird deutlich, daß sich Dion in Parallele zu Sokrates sieht. 8 Beim Besuch des Odysseus in der Unterwelt (Od. I 1,121 ff.). 9 Vgl. Plat. Apo!. 20 d: Wie Sokrates, ohne daß er es will, den Titel eines Weisen bekommen hat, so Dion den eines Philosophen. 10 Die folgende Rede (bis § 27) ist der Sokratesrede im pseudoplatoni. sehen Kleitophon (407 ff.) nachgebildet. 11 Vgl. Plat. Apol. 29 deo " Derselbe Vergleich Kleit. 407 a. IJ Naukratis, eine wichtige Handelsstadt im Nildelta. 14 Zitiert in Aristoph. Wolken 967. IS Atreus gelobte Artemis das schönste Lamm seiner Herde; als aber ein goldenes Lamm geboren wurde, enthielt er es der Göttin vor. 16 Vg!. H. 2, 594f. 17 Palamedes, wegen seiner geistigen Überlegenheit von Odysseus und den Atridengehaßt, wurde vor Troia des Verrats bezichtigt und gestei. nigt. Zum Erfinder wurde er erst später, vor allem in der Sophistik. I
18
VgI.Xen,Kyr.I2,16.
19 Vg!. 14,23. '" Am Ende des Peloponnesischen Krieges. Zl Konon befreite im Jahre 394 die kleinasiatischen Städte und Inseln von den spartanischen Statthaltern. zz Vgl. Plat. Apo!. 2 lau. 23 ab. 23
Il.
23,161
ff.
ANMERKUNGEN
80 5
Vielleicht ist die Rede nicht vollständig erhalten. Jedoch kann der :lInerwartete Abbruch mit der ironischen Schlußwendung auch beabsichtigt sein: Der Römer gibt zwar einen guten Soldaten, aber nur einen mäßigen Philosophen ab. 14
In Athen lInd Rom konnten sich Sklaven selbst loskaufen. 1 Vgl. Hel'. V 6. I GemeintsinddieMossynoiken(
J.Oesch, Die Vergleiche bei Dio Chrysostomos, Diss. Zürich 1916. W.Schmid, Der Attizismus, Stuttgart 1887/96, Bd. 1,71-191. E. Wenkebach, De Dione elocutione, Philologus 66,19°7,231-259. E. Wenkebach, Zu Text und Stil des Dion, Hermes 43, 19°8, 77-1°3. Zu den Qyellen
H. Binder, Dio Chrysostomos lind Posidonius, Diss. Tiibingen, BornaLeipzig 1905. G.Modemann, Quos auctores Dio Chrysostomus secutus sit in oratione 36, Diss. Bonn 1957. H. Rahn, Platon und Dio von Prusa. Zur Geschichte des platonischen Stils, Diss. Frankfurt a.M. 1944. E. Weber, De Dione Cynicorum sectatore, Leipziger Stud. z. klass. Philologie X, 1887,77-268. J. Wegehaupt, De Dione Xenophontis sectatore, Diss. Göttingen 1896. E. Wenkebach, De Dionis Chrysostomi studiis rhetoricis, Diss. Berlin 19°3·
Zu einzelnen Reden Köniesreden:
E. Thomas, Quaestiones Dioneae, Diss. Leipzig 1909. Euboikos:
D. Day, The value of Dio Chrysostom's Euboean discourse for the economic historian, in: Studies in Roman economic alld social history in honol" of A.C.Johnson, Princeton 1951, 2°9-235.
ANHANG
H. Hommel, Das hellenische Ideal vom einfachen Leben, Studium Generale XI, 19,8,742-751. D. Reuter, Untersuchungen zum Euboikos des Dion von Prusa, Diss. Leipzig 1932.
Dioaenes-Reden: C. Hahn, De Dionis orationibus, Diss. Göttingen 1896.
Olympische Rede: J. Fink, die Eule der Athena Parthenos, Mitteilungen des Deutschen Archäologischen Instituts, Athenische Abteilung 7 I, 19,6,90-97. L. Fran37· ,88. 608. 64-4-. 6,0. 69 2. 695· 74-> ApOLLODOROS, Tyrann von Kassandreia (Poteidaia) allf der Chalkidike, 39 ApOLLON[A, thrakische Stadt am Schwarzen Meer, ,08 ARABER, 74-. 4-98. 773 ARABIEN, 4-34-. 4-66 ARADOS, phönikische Stadt, 4-71 ARCHELAOS, König von Makedonien, 79. 2>9 ARCHELAOS, SchUler des Anaxagoras, 64-8 ARCH[LOCHOS, griech. Lyriker, (21). 4-60. 4-62f. 4-78. 64-9f. 67 1. 74-4-f. AREOPAG, athenischer Gerichtshof, 628 ARES, Kriegsgott, 34-. '98 ff. 777 ARGIVER, Einwohner von Argos, 1H. ,86.4-,6.4->7.608.6>7. ARGO, Schiff [asons, 88. >32 ARGOS, Stadt allf der Peloponnes, 14-0. 174-. 209. 214-. 218.
I,.
842
VERZEICHNIS DER EIGENNAMEN
47 I. BI. 59 I. 6°7. 678. 680. 735 ARION, griech. Dichter und Sänger, 298.442. 528 ARISTARCH, alexandrinischer Phi· lologe, 642 ARISTEAS, unternahm Reisen im Gehiet des Schwarzen Meeres, )4-2
ARISTEIDES, athenischer Politiker, Rivale des Themistokles, 3 I 5, 62 4. 69 6 . 7 11 ARISTIPPOS, SchiileI' des Sohates, 148 ARISTOGEITON, einer der heiden athenischen Tyrannenmörder, 218, 406f. 540 ARISTOMENES, Nationalheld der Messenier, 498 ARISTOPHANES, größter athenischer Komödiendichter, 459. 64 1 ARISTOTELES, griech. Philosoph, Gründer der peripatetischen Schule, 24. 40. 609 ff. 623. 642. 694ARKADIEN, Landschaft inmitten der Peloponnes, 13. 279. 288. 465. 502 . 6)7. 69) ARTAPHERNES, persischer Feldherr, 219 ARTEMIS, Göttin der Jagd, Beschützerin der Jungfräulichkeit, 14-4-. 176. B7. 588. 7 28 ASKLEPIOS, Gott der Heilkunst, 4. 1°3 ASIEN, 47. 7)f. 98 f. 17 2. 187f. 190. 209ff. 216. 218ff. 276. 287.316. 325.
134· IH. 192. 194. 238. 2)7. 466. 502 f.
52 I. 596. 6. 0. 656. 677. 679. 694· 770 ASIOS, troianischer Wagen lenker , 65 2 ASKRA, Ort in Boiotien, 648 ASSYRER, semitisches Volk im nördlichen Mesopotamien, 466. 68 9 ASTEROPAlOS, ein Troianer, 202 ASTYAGES, letzter König der Meder, 276. 688. 779 ASTYANAX, Sohn Hektors, 220 ATHEN, 40. 84. 90. 98f. 148. 162.219. 2)7f. 2]4-. 276. 288. 3°2.315.325. 389. 39 2.401 . 408.413.4-4-8.496. BIf. 591. 600.6.2. 635f. 646. 650. 679. 686.69 1f. 694-. 7 24.735. 742 ATHENE, Göttin des Handwerks und der Künste, auch des Krieges, 3. 176. 206. Hof. 213. 221. 223. 307. 361. 4-4-9· 472. BI. 537· 563. 637· 640. 656. 668.691. 729. 74-5. 778. 781 ATHENER, 25. 29. 84. 136. 140. 160.163.218.223.244.246. 2)7f. 270. 273f. 276. 288. 309. 314. 3 16 . 324f. 351. (3 64). 384. 397· 40!, 40 3f. 4°6.4°9.416.419.421. 453· 459.496.529.532. 540. 551f. H6. 589. 593. 609· 620. 624. 628. 689. 691ff. 696. 711. 73 6f· ]4-1. 775· 777 ATHENODOROS, Allkämpfer, 335 ATHENODOROS, stoischer Philosoph,473 ATHOS, thl'akisches Vorgebirge, 46 ATLAS, Bruder des Prometheus,
ARION - CHIOS
843
Träger des Himmelsgewölbes, 23 ATREUS, Sohn des Pelops, I H. 188. 2S6. 270. 6H. 678. 735. 743 ATRIDEN, Söhne des Atreus (Agamemnon und Menelaos), 183. 195. 2Iof. 214. 2S6 ATTIKA, Halbinsel, auf der Athen liegt, 98. III. 136. 219. 288. 300. 324. 4H. 600. 69 2. 737 AUGE, Mutter des Telephos, 272 AUGIAS, König von Elis, I S6. 608 AUGUSTUS, römischer Kaiser, 473. (482 ) AULlS, Stadt in Boiotien, 134 AUTOLYKOS, Großvater des Odysseus, 178
BOIOTIEN, Landschaft in Mittelgriechenland, I I I. 163. 2 I I. 600 BOIOTIER, 173. 195". 238. 314. 651. 69 2. 695" BOREAS, Nordwind, 88. 308 BORYSTHENES, Stadt in Thrakien, IS8. S07 ff. 5"27 BORYSTHENES, heute Dnjepr, S07 BRAHMANEN, indische Priesterkaste, 62S BRlsEIs, Geliebte des Achilleus, 28. 6S8f. 677. 681 BUSIRIS, mythischer Ägypterkönig, IH· 473 BYZANTINER, Einwohner von Byzantion, dem späteren Konstantinopel, 397. 46S. s06
BADES, Diener des Hippaimon,
CHAIRONEIA, Stadt in Boiotien, 2 I. 276 CHALKIS, Stadt auf Euboia, 23 CHALKOPOGON, «Erzbart» (Aenobarbus), HO CHARIDEMOS, Dions Ideal eines jungen Philosophiebeflissenen,
5"39
BABYLON; am Euphrat gelegene Hauptstadt des babylonischen Reiches, Hf. 84. 98f. 106. 224· 302. 32S. 46S. 684. 695· 77 2 f. BACCHANTINNEN , Begleiterinnen des Dionysos, 44 I. 5°° BAI7. 460. 4 63 f. 470. 477f. ,00. 51OjJ. ,16f. ,I9f. >73. ,89.608.623.637. 640. 64BjJ. 660. 67)ff. 681. 748.77 2. 777. 7 80ff. Ilias: 73. ,10f. 643. 649 A 26. 183.229. )41.,87.660. 68of. 781f. B ,. 33. 36f. 49. 243. 4 27. 43 2 .4,6.6>7 34. 18 9 ß 33. 176. 246 E 190 H 29.6)2.696 07 6, I 2,.28. 6,8f. 662. 692. 749 K 31. 33. 70, A 23. 710 M 6,2.769
r
N 742 Oln 11 H. 147· 748
P 30. 317. 427. 781 ~ 249 T ,00 1 34. 243· >73 (]) 220. 226. ,27. 74> X H. 314. 781 'I" 448 f. 463.696.744 Odyssee: 73. 183. 21 4. 427. ,11.643. 649. 6n· 709 IX 226
n
Y 74 2
a 3°.239.461. ,02.69 2. 74> e 427.691 ~692·781
.& ,17· 777 L )90. 692 )( 477. 6 14. 70, A H. 4 2 ,. n o • 74, o 461 7t 78 I P 13.31.68.13'.47'.761 Cf 447. 709 T 12.42.73 u 779 CP74> W
2,0
HOREN, Göttinnen der Jahreszeiten, 3n. H6 HOlms, ägyptischer Gott, 2 I 3 HYPANIS, skythischer Fluß, ,07 HYPERBOLOS, athenischer Volksredner, 628 HYPEREIDES, athenischer Redner,
J1,.
294 HYRTAKOS, Vater des Asios, 6,2
HIEROSON - KANDAULES IARDANOS, unbekannt, 270 lASION, Liebling der Demeter, 342 lAsoN, Führer der Argonauten, [H· 282. 3 [8. B2 IATROKLES, Athlet, 333 IBERER, Volk im heutigen Georgien, 773 IDA, Gebirge in der Troas, [76. [79. [9 6. 242• 27 2. 30,.463. 477 IDANTHYRSOS, skyth. König, 40 IDOMENEUS, König der Kreter, [99· 449 IKARIOS, Vater der Penelope, 270 IKAR[SCHE SEE, südöstl. Teil des Ägäischen Meeres, 427 IKAROS, Sohn des Daidalos, 88 f. 7 28 ILloN, s. Troia ILLYRER, Volk in Dalmatien, 22. 62 4 INDER,47· 66. 7,. 260.434.466. 50 4J[. 62,. 644. 694· 7 [,. 773 INDIEN, 64. 466 INDISCHER OZEAN, 432 10, argivische Königstochter, [87 10KASTE, Gattin des Oidipus, 28,. 28 7 IOLE, Geliebte des Herakles, 673 ION[EN, Landschaft an der kleinasiatischen Westküste, ·3 [ f. [,8. 2H. 496 10N[ER, griech. Stamm, 238. 244. 49 2.7[4. 77, los, Insel der Ägäis, 608 IpH[Tos, Erneuerer der Olympischen Spiele, 240 IROS, Bettler aufIthaka, 626. 709 ISAGORAS, athenischer Aristokrat, Rivale des Kleisthenes, B 2
ISMEN[AS, berühmter Flötenbläser, 442. 626 ISMENOS, Fluß in Boiotien, 4,8 ISTHMos, Landenge bei Korinth, [49· [n· BI. 7 0 3 ITALER,434 ITAL[EN, ]2,47. [,8. [86. 2[6 302.326.46,. ,33 f. 608. 624. 69> ITHAKA, HeimatdesOdysseus, 32. [83. 21 1. 232. 273·HI.(463)· 464. 608 ITYs, Sohn des Thrakerkönigs Tereus, 318 lXIoN, König der Lapithen, 89. 9 I. 447 KADMEIA, Burg von Theben, 140 KADMOS, Ahnherr der Thebaner, H8 KAINEUS, Lapithe, 660 KAISARElA, nicht lokalisierte Stadt, 6[ KALAIS, Sohn des Boreas, [H.
°
B[ KALLlAS, Name von Angehörigen einer der reichsten athenischen Familien, 274 KALLlOPE, Muse der Dichtung, 26. 443. 762 KALLlSTHENES, Jugendfreund Alexanders d. Gr., 694KALLlSTRATOS, junger Borysthenite, ,09 ff. KALYMNE, Insel bei Rhodos, 376 KALYPso, Nymphe, 30, [79. (2,1). 427 KAMBYSES, Perserkönig, 32,. ,41. 735
KANDAULES, Lyderkönig, 696
850
VERZEICHNIS DER EIGENNAMEN
KAPHAREUS, Kap von Euboia, 118.120. 124 KAPPADOKIEN, kleinasiatisches Land, S02 KARIEN, Land im südwest!. Klein· asien, 31. 279· 396. s02 KARION , Trunkenbold der Komödie, H3 KARPATHos, Insel bei Rhodos, 37 S KARTHAGO, Stadt in Nordafrika, 3 2 Sf. 3 26 . B3 KARYSTOS, Stadt auf Euboia, 772 KASSANDRA, troische Seherin, 189. 213. 221. 464. 680. 682 KASTALISCHE QUELLE, in Delphi, 46S
KASTOR, einer der beiden Dioskuren, (186). I 94f. 306. B J. 679 KAUNOS, Stadt in Karien, 376. 4 0 S· H3 KEADAS, Schlucht bei Sparta, 77 8 KEKROPS, erster König Athens,
7°9 KELAINAI, Stadt in Phrygien, (497 ff.) KELTEN, indogermanischer Volksstamm, BS. 62S· 773 KENCHREAI, Hafen von Korinth,
BO KENTAUREN, Fabel wesen mit Roßleib, 91. 33°.429.439. 4H KEPHALLONIA, Insel vor der Westküste Griechenlands, 2 I S KERKYRA, Insel vor der Westküste Griechenlands (heute Korfu), 316 KIL!l37. ,40. ,63. ,68. 64,f. 677.679. 690' 694. 696. 710.73°.746. H2. 176f. 782 ZEUXIS, berühmter Maler, 236 ZOPYROS, vornehmer Perser, 69, ZOROASTER, Stifter der persischen Religion, pof. ZYPERN, 396. 688. 737
INHALTSVERZEICHNIS
Einleitung ..
v
I. Von der Herrschaft (I) 2. Von der Herrschaft (2)
3 " " .. " " " "..
3. Von der Herrschaft (3) " " .. .. .. 4. Von der Herrschaft (4) .. .. .. .. .. .. .. .... 5. Ein libysches Märchen ........................ 6. Diogenes oder Über die Gewaltherrschaft.. 7. Die Euboiische Rede oder Der Jäger .. .. .. .. .. 8. Diogenes oder Von der Tugend.. .. .. .. .. 9. Diogenes oder Die Isthmischen Spiele .. 10. Diogenes oder Über die Sklaven ...... II. Troia ist nicht erobert worden .. .. .. 12. Die Olympische Rede oder Vom Ursprung der Gottes.. ...... vorstellung .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 13. In Athen. Von der Verbannung.. .. 14. Knechtschaft und Freiheit (I) ........ 15. Knechtschaft und Freiheit (2) ........ .. .... .. ........ 16. Über die Trauer.. .. .. .. .. .. .. .. .. 17. Von der Habsucht .. .. .. .. .. .. .. 18. Die Übung im öffentlichen Reden.. .. .. ...... 19. Dions Freude am Zuhören.. .. .. .. 20. Von der Zurückgezogenheit .............. 21. Von der Schönheit .. .. .. .. .......... 22. Krieg und Frieden .. .. .. .. .. .. .. 23. Der Weise ist glücklich .... 24. Vom Glück .......... .. .. 25. Vom Genius des Menschen .... 26. Vom Beraten .......... .. .. ..
20 40 65 92 98 I II
148 157 162 173
221 250 262 268 280 283 290 298 300
308
31 5 317 322
323 32 7
INHALTSVERZEICHNIS
863
27· Beim Symposion ........................ 329 28. Melankomas (I) .. .. .. 33 2 29· Melankomas (2) .. .. .. .. .. .. 336 30. Charidemos .................................. 343 31. An die Rhodier .. .. 357 32. An die Alexandriner 419 33. Erste Tarsische Rede .. .. ............ 457 .. 479 34. Zweite Tarsische Rede .... 497 35. In Kelainai in Phrygien 36. Borysthenitische Rede, vorgelesen in der Heimat .... 507 37. An die Korinther .............................. 528 38. An die Nikomeder: Über die Eintracht mit Nikaia .. 542 39. Die Eintracht in Nikaia. Nach der Beilegung des Bürgerzwists .................................... 560 40. Rede über die Eintracht mit den Apameern, gehalten .. 563 in der Heimatstadt.. .. .. .. .. .. .. .. .. 41. An die Apameer: Über die Eintracht ............ ,. 577 583 42. Eine Ansprache in der Vaterstadt .. .. .. .. .. .. 43. Eine politische Ansprache in der Vaterstadt .. .. 584 44. Eine freundliche Entgegnung an die Vaterstadt auf ihren Vorschlag, Dion zu ehren .................. 589 45. Dions Rechtfertigung seines Verhältnisses zur Vaterstadt ...................................... 594 46. Eine Rede, die Dion in der Vaterstadt gehalten hat, bevor er Philosoph wurde .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. 601 47. Rede vor der Volksversammlung in der Vaterstadt .. 606 48. Eine politische Ansprache in der Volksversammlung 6I5 49. Ablehnung des Archontenamtes vor dem Rat .. 622 50. Eine Rechtfertigung vor dem Rat ................ 628 SI. Eine Erwiderung an Diodoros .................. 632
52. Aischylos, Sophokles und Euripides oder Der Bogen des Philoktet .. .. .. .. .. .. 636 53· Homer ...................................... 642
INJ-IALTSVERZEICHNIS
Sokrates .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. Homer und Sokrates .......................... Agamemnon oder Von der Königsherrschaft ........ Nestor.. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. Achilleus .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. Philoktet.. .. .. .. .. .. .. Nessos oder Deianeira .. .. .. .. .. Chryseis . .. .. .. .. .. .. .. ...... Königtum und Tyrannis.. .. .. .. .. .. .. .. .. .. Vom Glück (I) .............. Vom Glück (2) .... .. .. Vom Glück (3) ...... .. .. .. .. .. .. Von der Ruhmsucht .......... Die öffentliche Meinung ...... .. .. Vom Meinen ........ Von der Tugend.. .. .. .. .. .. .. .. .. Von der Philosophie .. .. .. .. .. .. .. .. .... Vom Philosophen .......... .. .. Von der äußeren Erscheinung .... .. .. .. .. .. .. .. Vom Vertrauen ........ .. .. .. Vom Mißtrauen .. .. ..... . .. .. Vom Gesetz.. .. .. .. .. .. ...... .. .. Von der Sitte .. .. .. .. 77.78. Vom Neid ............ .. ........ 79. Vom Reichtum .. .. .. .. .. 80. Von der Freiheit .... .. .. .. .. .. .. Lob des Haares .. .. .. . . .. .. .. .. .. .. Anhang .................... .. .. Nachwort ..... . .. ............ Anmerkungen ............ .. .. ............ Literatur .................. .. .. .. .. .. .. .. Verzeichnis der Eigennamen .. .. .. .. .. .. .. .. .. ..
54. 55. 56. 57. 58. 59. 60. 61. 62. 63. 64. 65. 66. 67. 68. 69. 70. 71. 72. 73. 74. 75. 76.
646 647 654 660 664 667 67I 675 682 685 688 697 701 712 71 5 718 722 72 5 72 9 735 739 75°
753 755 772 774
780 783 785 787
836 839