SONDERBAND 6
ARMIN RELLING
Unternehmen „Albatros“
Kampfflieger im todesmutigen Einsatz gegen Mammut-Geleitzug
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SONDERBAND 6
ARMIN RELLING
Unternehmen „Albatros“
Kampfflieger im todesmutigen Einsatz gegen Mammut-Geleitzug
MOEWIG-VERLAG-MÜNCHEN
Copyright by Arthur Moewig Verlag München, Türkenstraße 24
Gesamtherstellung: Ebner, Ulm/Donau
Printed in Germany
Dieser Band darf nicht in Leihbüchereien und Lesezirkeln geführt
und nicht zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden
Schneiten plötzlich Lebewesen von einem an dern Stern auf unsere gute, alte Mutter Erde herunter, sie könnten über manches ihnen Fremde und Ungewohnte auch keine viel dümmeren Gesichter machen, als sie das Häuflein Flieger machte, das da in den Spät sommermonaten des Jahres 1941 mit seinen paar abgeklapperten Flugzeugen Do 17 Z auf das Flugfeld im Raum von Osnabrück einfiel. Die nicht allzuviel Verständnis verratenden Blicke, mit denen die Männer in ihre neue Umwelt starrten, hatten schon ihre Gründe. Mit Ausnahme vielleicht der Stabsoffiziere wußte niemand so recht, was man plötzlich, nachdem aus heiterem Himmel der neue Feldzug gegen Sowjetrußland eben erst be gonnen hatte, auf einem heimatlichen Horst sollte. Wurde denn nicht jede Maschine im Osten gebraucht? Man war kaum richtig gelandet und hatte sich in den Barackenunterkünften noch kei neswegs heimisch gemacht, als schon von ir gendwoher Spezialkommandos auftauchten, die die eben erst gelandeten Do 17 Maschi 4
nen nach allen Regeln der Kunst auseinan dernahmen, Rümpfe und Tragflächen mit He bekränen auf Tieflader der Reichsbahn verlu den und die treuen Maschinen in eine unbe stimmte Zukunft und in ein undurchsichtiges Schicksal entführten. „Kruzitürken“, fluchte Oberfeldwebel Lau enstein, ältester Flugzeugführer der Gruppe im Unteroffiziersrang, „ist denn etwa über Nacht der Frieden ausgebrochen, und wir ha ben bloß noch nichts davon gehört?“ Keiner der Flieger, der nicht seinem treuen Vogel mit einer Mischung aus Wehmut und Rührung nachgeblickt hätte. Es hob ein gro ßes gegenseitiges Fragen an: „Weißt du noch?“ Da waren auf den alten Schinken auf Rumpf und Leitwerk getreulich mit weißer Öl farbe die wichtigsten Daten von Einsätzen, Erfolgen und Verwundungen verzeichnet. Nun wurden die stolzen Metallvögel auseinander genommen, und es war nicht einer unter ih nen, der nicht die mühsam ausgebesserten Spuren zurückgelassener Kämpfe getragen hätte. Diese Maschinen hatten Dünkirchen gesehen und London, Belgrad und Saloniki, Athen und Kreta, sie hatten feindliche Trup penansam-mlungen ebenso angegriffen wie Fracht- und Kriegsschiffe in der Nordsee und im Mittelmeer, sie hatten die Fallschirmjäger auf Kreta unterstützt, und sie waren dann in wahnsinnigen Gewaltflügen vom äußersten 5
Südostzipfel Europas an die eben erst ent brannte Ostfront gejagt worden. Und nun? War etwa wirklich der Zauber im Osten vorbei, und man stand dicht vor dem Kriegs ende und begann jetzt schon das große Abrü sten? Wollte man sie nur sehen, gab es noch mehr Anzeichen dafür. Beispielsweise dieses: Leute, wie man sie auf den primitiven Feld flugplätzen des Balkans nie erblickt hatte, riskierten hier auf einmal die große Lippe. Was lief hier nicht alles mit hohen und höchs ten Raupen herum? Stabsintendanten, Stabszahlmeister usw. Für die Flieger, die am Vortag noch den ganzen Frontschlamassel in der Gegend von Smolensk gesehen hatten, hatte es wahrhaftig den Anschein, als seien sie, die Frontflieger, kleine Nichtse, während die ganze Last des Luftkrieges ausschließlich auf Wehrmachtsbeamten und Schmalspuras piranten ruhe. Die fliegenden Offiziere hatten es noch am besten. Ihnen konnte so schnell niemand an den Wagen fahren, wenn sie im Kasino die gespreizten Wichtigtuer der „Heimatfront“ ein wenig über die Schulter ansahen. Aber die Unteroffiziere und Mannschaften, von den zurückliegenden Einsätzen her mit den meisten ihrer Vorgesetzten ein kamerad schaftliches, ja herzliches Verhältnis ge wöhnt, schauten weder sonderlich intelligent noch sonderlich begeistert aus der Wäsche, 6
als sie plötzlich vor allen möglichen Leuten stramm stehen mußten, die bestimmt noch nie einen scharfen Schuß gehört hatten. Die auf den Fliegerhorsten eingefallenen Verbände waren rein ihrer Zahl nach den an gestammten Herren von vornherein unterle gen. Die einstmals so stolzen Gruppen des Geschwaders waren durch die Ver schleißeinsätze im Südosten und Osten zu kümmerlichen Häuflein zusammengeschmol zen, und keine der drei Einsatzgruppen wies auch nur die Sollstärke einer einzigen Staffel auf. „Was wird denn nun eigentlich gespielt hier?“ fragte Feldwebel Trunk gleich nach dem Betreten der neuen Stube, die er mit seiner ganzen Besatzung teilen sollte, und warf die Uniformjacke mit dem darangehefte ten EK I über das noch unbezogene Bett, das er sich als Rangältester seines Häufleins gleich „organisiert“ hatte. „Was du spielen willst“, entgegnete Unter offizier Breuer, ein Funker. „Von mir aus siebzehn und vier oder mauscheln.“ „Laß dich bloß nicht mit sowas erwischen“, grunzte Trunk, „du kannst dich hier nicht mehr benehmen wie bei Soldatens, mußt du doch gesehen haben, daß das hier ein piek feiner Verein ist. Hier spielt man allenfalls Halma oder Dame.“ „Die können mich samt dir“, maulte der Unteroffizier dagegen, dem es durchaus nicht 7
behagte, daß sein Kutscher und Besatzungs kommandant ohne viel Federlesens das beste Bett der Bude am Fenster beschlagnahmt hatte, und er ließ, weil er das Temperament seines bayrischen Flugzeugführers kannte, wohlweislich offen, was man ihn konnte. Nein, wahrhaftig. Die Stimmung der Flieger am ersten Abend in der Heimat war nicht die beste. Seit zwei Jahren nahezu pausenlos im Einsatz, hatten es die Männer verlernt, schönsten Kasernenhofton zu ertragen. Man war es auch nicht mehr gewohnt, ohne jedes Wissen hin- und hergeschoben zu werden, und wenn man schon, mir nichts – dir nichts, in die Heimat verfrachtet worden war, dann sollte man ihnen jetzt wenigstens Urlaub ge ben und das möglichst ein bißchen plötzlich. Der G. v. D., der Gefreite und immerwäh rende Laufbursche des Unteroffiziers vom Dienst, der sich in den verstreuten Unter künften noch nicht recht auskannte, wetzte herum und übermittelte den Befehl, daß alle Mann sich um 18 Uhr im Speisesaal zu ver sammeln hätten. Befehl des Kommandeurs. Nun ging das Rätselraten erst richtig los. Sollte um 18 Uhr nun ein gemeinsames Abendbrot eingenommen werden, oder soll ten etwa gar Urlaubsscheine verteilt werden? Zunächst wurde jedenfalls aus beidem nichts. Als sich überall die Barackentüren öff neten und aus ihnen heraus die Männer dem befohlenen Versammlungsort zustrebten, 8
heulten die Luftschutzsirenen des Flieger horstes. Irgendwo im Norden fummelten ein paar blass wirkende Scheinwerfer der Flak am Himmel herum, und die Flieger lachten dazu. Es war doch noch lichtheller Tag. Was die wohl da an- oder ausleuchten wollten? Na, vielleicht wollten sie auf diese Weise be reits aufgestiegene deutsche Jagdflugzeuge „einwinken“! Kein Mensch, der sich danach erkundigt hatte, wo es denn hier Luftschutz räume, Bunker oder Deckungslöcher gab. Man war ja in der Heimat, nicht mehr an der Front, und weit und breit war nichts zu hören und zu sehen. Kampfflieger, die nächtliche Bombenüberfälle auf ihr Zeltlager in Grie chenland erlebt hatten, rannten nicht bloß Si renenheulens wegen in die Splittergräben. Um so eifriger rannten die „Schmalspuri gen“. Ihnen genügte es offenbar völlig, daß noch immer der auf- und abschwellende Heulton der Sirene die Luft zerschnitt. „Pfeffersäcke“, grunzte Feldwebel Trunk verächtlich durch die Zähne, der sich daran erinnerte, daß man ihn einstmals als tot aus dem eingestürzten Zelt zog, bis man verblüfft feststellte, daß er den ganzen englischen An griff verschlafen hatte. Jetzt endlich kam Motorengeräusch auf. Anscheinend waren ein paar englische Kampfflugzeuge über die Deutsche Bucht eingeflogen, und nach den verworrenen Kon densstreifen, die sich hoch oben im Blau des 9
Himmels abzeichneten, zu urteilen, schlugen sie sich jetzt mit deutschen Jägern herum. Die Messerschmitts würden mit den Brüdern schon fertig werden. Da war man ganz ande re Bolzen gewöhnt. Kein Grund, sich aufzure gen. „Paßt mir gar nicht“, meckerte Unteroffizier Breuer, „erster Tag in der Heimat und schon feindlicher Bombenangriff.“ Feldwebel Trunk warf seinem Funker einen halb ironischen, halb seelenvollen Seitenblick zu: „Mußt dich mal an den alten Churchill wenden, vielleicht richtet er sich künftig nach deinen Wünschen.“ „Das ist es nicht“, wehrte der Unteroffizier ab, „aber ich finde, die Tommies sind schon mächtig frech geworden. Das Ruhrgebiet ist nicht weit ab.“ Wieder ein halb belustigter, halb spötti scher Blick Trunks: „Und du denkst natürlich daran, daß dein Oberbefehlshaber Meier hei ßen will, wenn eine feindliche Maschine bis ins Ruhrgebiet kommt?“ Jetzt war Breuer wirklich verärgert. „Laß mich doch in Ruhe. Der Krieg dauert schon zwei Jahre, und du kannst nicht dauernd auf etwas herumhacken, was vor zwei Jahren un ter ganz anderen Voraussetzungen gespro chen wurde. Wir werden den Engländern schon noch zeigen, wo der Bartel den Most holt.“ „Und sich dabei den Krug zerbricht?“ spot 10
tete Trunk, dem es offensichtlich Vergnügen machte, den Kameraden hochzunehmen, der mit sturer Selbstsicherheit und gläubiger Treue davon überzeugt war, daß nur Deutschland den Krieg gewinnen konnte. Erwartungsvolles Stimmengemurmel füllte den dürftig möblierten Speisesaal. Es mußte ein großes Palaver bevorstehen, denn auch die Offiziere der Gruppe waren vollzählig er schienen. Vielleicht doch Urlaubsscheine? Irgendwer brüllte: „Achtung!“ Alles spritzte hoch. Der Gruppenkommandeur, Major Schunck, erschien. „Guten Abend, Kameraden!“ „Gunnahmd, Herr Major!“ Feldwebel Trunk, der sich mit seiner Besat zung in den hintersten Stuhlreihen herum lümmelte, weil es ein Prinzip von ihm war, beim Militär seinen Hals niemals in die Reichweite von Vorgesetzten zu recken, puff te seinen Kameraden Breuer mit dem Ellen bogen an: „Komm, wir gehen wieder. Mit uns spricht der Alte ja gar nicht.“ „Sag mal, was ist mit dir los“, zischte der Unteroffizier, „bist du bekloppt oder besoffen oder beides?“ „Na, Mensch, hast du nicht gehört. Der Ma jor hat deutlich ,Kameraden’ gesagt“, lispelte Trunk zurück, „und die letzten Kameraden sind doch 1916 vor Verdun gefallen.“ „Rutsch mir den Buckel“, flüsterte Breuer 11
unwillig. Dieser Trunk. Gar kein so übler Kerl, und Breuer hätte sich keinen andern Kut scher gewünscht. Wenn er nur ein wenig mehr Ernst besessen hätte, nicht alles ins Lä cherliche ziehen würde und mit seinem Witz wenigstens vor den höchsten Führungsstellen halt gemacht hätte. Der schwatzte sich noch um Kopf und Kragen, und gab es irgendwo einen neuen, zündenden politischen Witz, dann brauchte man gar nicht nach seinem Urheber zu fragen. Der war unter Garantie von Trunk. Breuer wußte, daß der Feldwebel halb so zynisch war, wie er sich gab. Aber vielleicht war er zu sehr Individualist, als daß er mit einer Weisheit auch einmal hinter dem Berge gehalten hätte. Es war ihm nun einmal nicht abzugewöhnen, einen Mist auch so zu nennen. Trunk selbst sah das anders. Er wollte sich gern befehlen lassen, wann und gegen wen er zu fliegen hatte; aber er wollte sich nicht auch noch vorschreiben lassen, was er den ken durfte und was nicht. Alles Große auf der Welt war nach seiner Meinung dadurch ent standen, daß nicht alle gläubig nachgebetet hatten, was ihnen vorgesetzt wurde, und sein Kamerad und Freund Breuer pflegte sich über offensichtliche Widersprüche der Führung einfach dadurch hinwegzutrösten, daß er als kleiner Unteroffizier die Zusammenhänge nicht so überblicken könne wie die höherge stellten Offiziere und Stäbe. 12
Doch auch Feldwebel Trunk wurde durch die Stimme des Majors aus seinen Träumen gerissen. Der Kommandeur kannte seinen Haufen und auch seine manchmal recht wi derborstige Mentalität, und er wußte, wie er seine Leute zu nehmen hatte. Rabauken wa ren sie alle, ob sie ihr burschikoses Tun und Handeln nun sittsam unter silbernen Schul terstücken der Offiziere verbargen oder offe ner zur Schau trugen, wie beispielsweise die ser Trunk, der mit dem dümmsten Schafsge sicht, das er fertigbrachte, aus der letzten Reihe hervorlugte. „Sie alle wissen“, begann der Major, „was hinter uns liegt. Sie wissen auch, wie wir aussehen. Also brauchen wir uns nicht dar über zu unterhalten. Sie haben sich natürlich alle langst gefragt, was wir hier wollen und sollen, auch wenn Sie, wie unser guter Trunk, Ihr Interesse hinter der gleichgültigsten Mie ne verbergen. Sie alle haben sich schon so gut wie ich gesagt, daß unsere alte treue Do 17, die wir bisher flogen, dem Fortschritt des Krieges nicht mehr angepaßt ist. Darüber kann man trauern, aber man kann es nicht ändern. Wir werden nun in wenigen Tagen ein neu es Flugzeugmuster erhalten, das die meisten von Ihnen dem Namen nach kennen. Die Do 217. Sie ist nach ähnlichen Überlegungen konstruiert wie die Ihnen bereits bekannte Ju 88; ist also ein sturzkampffähiges Flugzeug, 13
aber im Grunde genommen eine Weiterent wicklung unserer Do 17 und dieser in der Konstruktion nahe verwandt. Erwarten Sie von mir kein Urteil über die neue Maschine. Ich habe sie bisher so wenig geflogen wie Sie. Eigentlich sollten die ersten Typen be reits hier sein. Die Transporte wurden wohl etwas aufgehalten, und so habe ich erwirkt, daß die ganze Gruppe zunächst einmal einen kurzen Heimaturlaub erhält.“ Der Major wollte weitersprechen, aber er konnte es eine Weile lang zunächst nicht tun. Jedes weitere Wort ging in einem freneti schen Jubel unter. Lächelnd wartete der Kommandeur die wiederkehrende Ruhe ab. „Ich freue mich genauso auf zu Hause wie ihr alle. Leider wird die Frist nur kurz sein. In zehn Tagen sind wir alle wieder hier!“ Ach, was hießen schon Zahlen. Die Flieger hörten nur eins: Urlaub. Wären es nur zwei Tage gewesen, sie hätten auch gejubelt. Die Staffelschreibstuben mußten in dieser Nacht durchmachen, und einer gab jeweils dem andern die Tür in die Hand, bis die Staf felspieße Kurzschluß machten und das ganze Volk einfach zur Tür hinauswarfen. Von Os nabrück oder Bremen aus konnte jeder An schluß in jede gewünschte Richtung bekom men. Wozu also die Aufregung? Einzig vielleicht Leutnant Nikolaus machte an diesem Abend kein sehr vergnügtes Ge 14
sicht. Mißmutig stapfte er zum Kasino und ließ sich von der Ordonnanz sein Abendbrot geben. Lustlos und recht apathisch kaute er daran herum. „Was haben Sie denn, Nikolaus?“ fragte ihn Hauptmann Melzer, sein Staffelkapitän, „Sie machen ein Gesicht, als hätten Ihnen die Hühner Ihr Brot geklaut, oder als wäre Ihnen die Petersilie verhagelt und die Krähe vollge rotzt. Statt dessen fahren Sie morgen früh oder vielleicht noch heute abend nach Hau se.“ Nikolaus gab nicht gleich dem ranghöheren Offizier Antwort. Er tat, als müsse er sich krampfhaft plagen, mit dem nicht ganz scharfen Tafelmesser Scheiben von seiner Hartwurst herunterzusäbeln. Dabei klirrten leise die vielen Orden auf seiner Brust, und für das Jahr 1941 besaß er schon allerhand davon, vorab eine ganze Reihe ausländischer, die zu dieser Zeit nicht nur getragen werden durften, sondern die zu tragen geradezu Pflicht war. Da war der große Michelsorden aus Rumänien, das Tapferkeitskreuz I. Klasse aus Bulgarien und nicht weniger als vier ita lienische Orden. „Ach, das ist so, Herr Hauptmann“, sagte der Leutnant endlich, „daß ich nicht weiß, wo ich hinfahren soll. Verheiratet bin ich nicht, auch nicht auf dem Wege dazu, und meine Eltern leben nicht mehr. Die Tante, die mich aufzog, will ich nicht besuchen. Sie würde 15
mich doch nur im ganzen Bekanntenkreis herumreichen wie eine exotische Pflanze, und wenn sie damit fertig ist, wird sie mir damit auf den Ohren liegen, daß ich ein viel zu un ordentliches Leben führe, und daß es mit mir bestimmt noch mal ein schlimmes Ende nähme. Zum Abschied wird sie mir dann zwei handgestrickte Socken einpacken, weil es doch in der Maschine immer so zieht, nicht wahr?“ „Pfui Teufel!“ erklärte der Hauptmann, und weil er gleich merkte, daß dieser Gefühlsaus bruch verschieden ausgelegt werden könne, fügte er gleich erklärend hinzu: „Nein, wissen Sie, das hielte ich auch nicht ans“, und als der andere ein wenig trübsinnig nickte, fuhr er fort: „Ja, ja, die lieben Verwandten. Wis sen Sie was“, fügte der Hauptmann plötzlich eifrig werdend, hinzu: „Kommen Sie doch mit zu mir!“ Der Leutnant fuhr zusammen und wischte sich unwillkürlich mit der Hand über das Ge sicht: „Na, Ihre verehrte Frau Gemahlin wür de sich schön bedanken, wenn Sie da einen wildfremden Kerl mit in Urlaub bringen.“ Der Leutnant schaute nicht auf dabei, und so konnte er auch die abwehrende Handbe wegung seines Staffelkapitäns nicht sehen, die mitten in der Luft innehielt, weil sich der Hauptmann wohl überleget mochte, daß sein Kamerad möglicherweise nicht so unrecht haben mochte. Frauen waren zuweilen ko 16
misch, wenn es um die Beurteilung der Hand lungsweise ihrer Männer ging. „Ich weiß außerdem, wie ich auf Damen wirke“, sagte der Leutnant noch und versuch te, ein Lächeln dabei hervorzuzaubern, „ein Ohr fehlt ganz, und sonderlich appetitlich sieht der Gehörgang, den mir die Messerhel den der Chirurgie zurechtgeschnipselt haben, nicht aus. Und erst die Backe darunter.“ 1940, bei den großen Tagesangriffen ge gen London hatte den Leutnant die Garbe ei ner Hurricane erwischt und ihm die Gesichts verwüstung beigebracht. Die Kameraden hat ten sich an den Anblick alle längst gewöhnt, aber ob die Gattin des Hauptmanns auch so schonend darüber hinwegsehen würde? „Ich halte meinen Vorschlag trotzdem auf recht“, entgegnete der Hauptmann, „wenn Sie Hemmungen haben, meiner Frau gege nüberzutreten, mache ich Ihnen folgendes Angebot: Sie geben der Dame des Hauses, also meinem Hausdrachen, brav das Händ chen und murmeln Ihre Vorstellungszeremo nie herunter, wie Sie das ja in der Be nimmstunde des Offiziersunterrichts seligen Angedenkens auch mal gelernt haben, und dann verduften Sie von mir aus auf mein Wo chenendhäuschen am Starnberger See. Da können Sie angeln, wenn Sie dazu Lust ha ben, wandern und Bootfahren; und was Sie sonst brauchen, ist vorhanden. Die Klitsche ist ein honoriges Hochzeitsgeschenk meines 17
vermögenden Herrn Schwiegerpapas. Drum! – Nun winken Sie nicht schon wieder ab. Dort stört Sie niemand, und Sie können sich erhol ten. Dort kümmert sich noch nicht mal der Dorfpolizist um Sie, wenn Sie mal Lust haben sollten, in früher Morgenstunde als Adam in den See zu hupfen. Was mir noch wichtiger erscheint, kein Mensch wird Sie als Tageshel den herumreichen oder Ihnen selbstge strickte Strümpfe verordnen. Schlagen Sie schon ein!“ Leutnant Nikolaus stand an diesem Abend noch ziemlich lange vor dem kleinen, mit ei nem viel zu langen Nagel an die Barackenwand gehefteten Spiegel seiner Bude und be trachtete sein verwüstetes Gesicht. „Schade eigentlich um die Heldenvisage“, grinste er sich selbst zu, „wird wohl ausge träumt sein, der Traum vom späteren Ehe glück.“ Die Schöne, die sich in so etwas ver gaffte, mußte schon ziemlich blöde sein, und gegen blöde Vertreterinnen des andern Ge schlechts hatte der Leutnant schon als Pri maner etwas gehabt. Er machte sich nichts vor. Das war mit der Hauptgrund, weshalb ihm gar nichts an einem Heimaturlaub lag. Er wollte die mitleidigen Gesichter der Bekann ten von einst nicht sehen, und er wollte schon gar nicht die Züge des Mädchens se hen, das er… Ach Quatsch! Das hatte vorbei zu sein. Er konnte doch von Gertrud, der Jugendfreundin 18
aus sonnigen Tagen, nicht verlangen, daß sie sich an einen Mann band, dem eine Tommy kugel verdammte Ähnlichkeit mit seinen Alt vorderen, einem Neandertaler etwa, verlie hen hatte. Aber es war vielleicht doch gut, daß er zu letzt den Vorschlag des Hauptmanns – fabel hafter Kerl übrigens – angenommen hatte. Ruhe. Wußte man überhaupt noch, was man war? Ob es ihm viel ausmachen würde, ganz allein zu sein, hatte der Staffelkapitän ge fragt. Hatte der eine Ahnung. Seitdem das mit seinem Gesicht passiert war, wäre der Leutnant immer gern allein gewesen, wenn er nur gedurft hätte; aber immer war jemand um ihn herum, und selbst die besten Kame raden konnten nicht begreifen, daß er es zu weilen einfach nicht ertrug, ihre Gesichter, ihre glattrasierten und unblessierten Gesich ter um sich zu sehen. Erst spät in der Nacht fiel Nikolaus in einen unruhigen Halbschlummer. Er träumte dabei, daß er in einer Maschine sitze, deren Bauart er nicht kannte. Alles war anders in dem Schlitten, als er es gewöhnt war. Hinter ihm hing wieder eine Hurricane, genau wie da mals, und aus ihrem schnappenden Fischmaul sprangen häßliche kleine Biester zu ihm herüber. Genau wie damals. Nikolaus wußte, daß er träumte, wie das so häufig geht, aber er fand nicht die Kraft, aufzuwachen. Statt dessen mühte er sich ab, die Maschine aus 19
dem gefräßigen Bereich des Gegners heraus zudirigieren und fand doch die Schalter und Hebel nicht, die er brauchte. Dabei raste die se Mühle mit Höchstgeschwindigkeit der Erde zu, oder war es Wasser? Er fand im Traum keine Handhabe, die Maschine aus dem Sturz herauszuziehen. Zwitschernd, girrend und heulend umjagten derweilen die glühenden Sendboten der Feindmaschine sein Ohr, und er wußte nicht, wie er dem höllischen Tanz ein Ende machen sollte. Und das Meer – jetzt erkannte er es deutlich – nahm die Gestalt einer Wasserkugel an und kam näher und näher. Gleich – gleich mußte die Maschine an der fürchterlichen Kugel zerschellen. Mit einem Schrei, dem Urlaut eines Tieres ähnlich, fuhr der junge Leutnant, der sich vor dem Schlafengehen mit Resignation ange schickt hatte, auf alle Vorrechte seiner Ju gend zu verzichten, aus dem Schlaf hoch. *** Was waren schon zehn Tage Heimaturlaub? Als man sie noch vor sich hatte, erschienen sie wie eine sonnenüberglänzte Ewigkeit; als sie hinter einem lagen, waren sie ein Nichts geworden, ein kaum begonnener, auch schon zerronnener, schöner Traum. Als die Besatzungen zurückkehrten, lüftete sich manches Geheimnis. Eine Menge neue Gesichter gab es hier. Die Staffeln wurden 20
mit jungen Leuten, die von der Fliegerschule kamen, aufgefüllt, und Soldaten aller Dienst grade gaben sich mit noch ein wenig verle genen und mehr oder weniger hilflosen Ge sichtern hier ein Stelldichein. Die Neuen, meist blutjunge Kerlchen noch, glaubten, hier beim Frontverband endlich die Erfüllung langgehegter Wünsche zu erleben. Sie kamen ja jetzt zu einem Einsatzhaufen, und es war ein offenes Geheimnis in der gan zen Kampffliegerei, daß es beim Frontver band nun einmal ganz anders, auf jeden Fall weniger „zackig“ zuging als auf den Schulen. Die „Alten“ hingegen waren sich nach dem ersten „Beschnüffeln“ der „Neuen“, darüber einig, daß man diesen Knäblein erst einmal den Unterschied zwischen einem Flugzeug und einem Dampfer beibringen müsse. Ka men die Spunde hier etwa an und bildeten sich gar ein, fliegen zu können? Die alten Besatzungen vergaßen dabei nur eins, nämlich, daß sie im Augenblick von dem neuen Maschinentyp genau nicht mehr ver standen als die „Spunde“. Als sie so, Grüpp chen für Grüppchen, vom Urlaub zurücktru delten, standen auf dem Horst die Do 217 schon bereit, frisch vom Herstellerwerk in Friedrichshafen durch Werkpiloten überführt. Mißtrauisch wie Kriminalbeamte schlichen die Flieger um die Mühlen herum. Himmel, waren das Kästen! Schaute man sie von vorn an, sahen sie aus wie Riesenlibellen, die aus 21
überdimensionalen Insektenaugen auf die armseligen, kleinen, zweibeinigen Lebewesen starrten. Sah man die neuen Maschinen hin gegen von der Seite, so waren sie ihrer Mut ter, der guten alten Do 17 Z, nicht einmal so unähnlich. Nur hinten am Heck, hinter dem mächtig aufragenden Doppelleitwerk wurden sie wieder Insekt. Wie der Giftstachel eines Riesenkerbtieres saß dort, weit über das Heck vorgebaut, die spreizbare Sturzflugbremse. Natürlich. Das hatte man fast ver gessen. Man bekam ja das „Flugzeug am Fallschirm“, wie es die deutsche Luftwaffenillustrierte, „Adler“ getauft hatte. Donnerwetter! Die 217 war schon ein Schlitten. Dahinter konnte sich die Ju 88 ver stecken; na und die alte Do 17 erst. Die wirk te direkt unterernährt dagegen. Hoffentlich dauerte es nun nicht mehr allzu lange, bis man sich aus eigener Anschauung ein Bild machen konnte von der Leistungs fähigkeit des neuen Baumusters. Allein die Motoren. Daß man so etwas überhaupt bauen konnte. Doppelsterntriebwerke von BMW. Junge, Junge, waren das Biester! Das war doch wohl Technik in ihrer Vollendung. Nun fing sie doch wahrhaftig an, ihrem Schöpfer, dem Menschen, über den Kopf zu wachsen. Die Männer rechneten sich aus, daß vier Er wachsene, kröchen sie eng zusammen, noch einigermaßen bequem Platz unter so einer Motorenabdeckung fänden. Zog man mit dem 22
Schlitten erst in den Einsatz, würde man end lich nicht mehr das Gefühl haben, im ent scheidenden Augenblick, dem Gegner unter legen zu sein. O ja, die Do 217 würde die Tommies schon Mores lehren. Wer von den Fliegern dachte schon daran, daß seit der Zeit, da sie die Kanalküste ver lassen hatten, um auf dem Balkan zu kämp fen, die Briten in ihrer Entwicklung auch nicht stehengeblieben waren? Vor den Erfolg haben die Götter seit alters her den Schweiß gesetzt und vor den ersten Probeflug mit einem neuen Baumuster die theoretische Einweisung. Doch williger zogen die Flieger nie in die Hörsäle als hier. Jeder Kutscher brannte dar auf, möglichst viel und möglichst schnell alles Wissenswerte zu erfahren. Vor acht Tagen noch hatte man mit viel Wehmut den auf Waggons abrollenden Do 17 nachgeschaut. Jetzt waren sie schon vergessen, und hätten die Maschinen reden können, sie hätten sich, wie manches andere Lebewesen, bitter über die schnelle Vergeßlichkeit ihrer menschli chen Herren beklagt. Die Flieger besaßen auf einmal die Arroganz von Autobesitzern, die nach Abstoßen einer Chausseewanze plötzlich Besitzer von schnittigen Straßenkreuzern wurden. Alle, vom Major bis herunter zum kleinsten Flugzeugführerdienstgrad, schwelg ten in Technikerträumen. Dann kam jäh die Ernüchterung und ein 23
Stoßseufzer: „Hätten wir doch bloß die alte Do 17 behalten können. Deren Zuverlässig keit macht uns eben keiner nach.“ Ja, die alte Do 17. Zugegeben, sie war für den modernen Krieg zu langsam geworden, und sturzkampffähig war sie auch nicht. Sie war, verglichen mit der Neukonstruktion, vielleicht sogar primitiv, aber dafür hatte sie keine Launen gehabt. Die neue Maschine war eine Diva. Gut, al les war automatisch geworden, von der Luft schraubenverstellung bis zum Auffahren der Bombenklappen, aber damit war auch vieles störanfälliger. „Jetzt brauchen wir bloß noch Knöpfchen zu drücken“, sagten die Flieger, aber wer aufmerksam hinhörte, der konnte eine leichte Bitterkeit heraushören, denn es gab Pannen, mehr als man im Ernstfall ver tragen konnte, und es gab Ausfälle. Dann kam die erste Katastrophe, die auch dem Letzten klarmachte, daß jeder Fort schritt in der Technik, schon gar in der Waf fentechnik, sich seit eh und je nur mit Opfern erkaufen läßt. Oberfeldwebel Lauenstein, einer der ältes ten und erfahrensten Piloten der Gruppe, er hielt den Flugauftrag, zusammen mit seinem Beobachter als erster auf der neuen Maschine zu starten. Ein simpler Zehnminutenflug zur Einweisung sollte es werden, daher auch nur zwei Mann Besatzung. Alle Mann der Gruppe, gleichgültig, ob 24
selbst Flieger oder zum technischen Personal gehörend, beobachteten den Startvorgang. Es war das erste Mal, daß ein Flugzeugführer der Gruppe allein hinter der Steuerung saß, ohne einen der zur Einweisung mitgekomme nen Werkpiloten. Ach ja, die Maschine war doch etwas ande res als die alte Do 17. Wie allein schon das Abbremsen klang. Fünf Maschinen alter Bau art bekamen den Krach der einen nicht fertig. Und wie das Leitwerk der Maschine tänzelte, wenn der Flugzeugführer die volle Pulle hin einschob, wie ein Rennpferd, das die Freiga be des Starts kaum abwarten kann. Mit einem Schlag waren plötzlich wieder al le Bedenken, die die Flieger in den letzten Tagen in sich aufsteigen fühlten, zerstoben. Den Vogel sollten sie in den nächsten Tagen selbst fliegen. Herrlich! Vom Start weg raste die Maschine die Be tonbahn entlang wie ein Geschoß. Sie klebte noch nach einer Fahrtstrecke, nach der man die Do 17 längst vom Boden gehabt hätte, fest an der Bahn. Natürlich. Die Neue brachte ja auch fast 17 t Startgewicht mit, ohne Ab wurfwaffen gerechnet. Aber wie sie schließ lich dann abhob, elegant wie eine Tänzerin der Hohen Schule. Da geschah es. Hauptmann Melzer, der Staffelkapitän von der siebenten, sah es zu erst. Der Backbordmotor der Maschine stellte unvermittelt seine Arbeit ein, und dann erst 25
hörten die anderen das Ächzen und Knallen des kranken Triebwerks. Ein Motor während des Startvorgangs weg geblieben – noch nicht einmal die Schreib stubenhengste brauchten sich zu fragen, was das bedeutete. Kein Flugzeugführer der Welt konnte mit einem Motor die Maschine halten, so lange die tatsächliche Fluglage noch gar nicht hergestellt war. Am liebsten hätte jeder der Zuschauer die Augen zugekniffen, und doch starrte jeder hin, als befehle ihm ein Unsichtbarer, hinzuschauen. Die funkelnagelneue Do 217 drehte sich schwerfällig um die eigene Längsachse, daß es aussah, als überkugele sich ein Balken im Wasser, zeigte noch einmal die schwarzen Balkenkreuze auf ihren Flächenunterseiten und schmierte ab. Noch bevor die Rettungsmannschaften ihre Fahrzeuge flott hatten, waren die Flieger an der Unfallstelle. Zu helfen gab es nichts mehr. Die Maschine war mit rund zweitau send Litern Benzin zum Start gerollt, und diese Treibstoffmenge reichte aus, um eine Miniaturhölle zu erzeugen. Niemals konnte geklärt werden, warum im Augenblick der höchsten Belastung das neu entwickelte Triebwerkmuster versagte. Nur Hinweise ergaben sich in der Folgezeit, denn dieser erste Motorschaden blieb nicht der letzte, und das erwies sich mindestens als ein schweres psychologisches Hemmnis. Nun 26
kletterten die Männer immer mit schwerem Mißtrauen gegen die Triebwerke in die Ma schinen. Einmotorenflüge waren fast an der Tagesordnung. Konnte aber nicht einmal auch der zweite, verbliebene Motor den Dienst einstellen? Die tote Besatzung erhielt ein Begräbnis, wie es noch keiner Besatzung des Geschwa ders zuteil geworden war. Man war ja nicht im Einsatz, sondern in der Heimat, und hier konnten alle militärischen Ehren entfaltet werden, angefangen vom Musikzug bis zur Salvenkompanie. Als die Flieger jedoch zu ihren Horst unterkünften zurückmarschiert waren, sprach kein Mensch mehr von den Toten, nicht, weil man sie etwa schon vergessen hatte, son dern weil es zu den ungeschriebenen Geset zen der Luftwaffe gehörte, von toten Kame raden so wenig wie möglich zu sprechen. Das war keine Geheimniskrämerei und auch kein fliegerischer Aberglaube, das war einfach die Scheu vor dem letzten Geheimnis des menschlichen Daseins. Nur eins konnte kein Befehl und konnte keine Dienstordnung überbrücken. Nirgendwo auf der Welt sind Flieger gänzlich frei von ei nem gewissen Mystizismus und Aberglauben. Daher sah alles in dem Absturz des Oberfeld webels beim ersten Flug der Gruppe ein bö ses Omen. Die alten Besatzungen, oder wie sie im 27
Sprachgebrauch mittlerweile genannt wur den, die „Stammbesatzungen“, kamen an Tagen mit günstigem Flugwetter kaum aus der Kombination heraus. Wenn sie nach einer Landung aus der Maschine kletterten, warte ten an den Abstellplätzen schon fix und fertig abgebremste Mühlen auf den neuen Start und auf eine Lehrbesatzung. Es kam ja gar nicht so sehr darauf an, den „Spunden“ die fliegerischen Feinheiten beizubringen, da hat ten die Lehrer ihren Schülern auf den neuen Baumustern nicht allzuviel voraus; aber es kam darauf an, den „Jungen“ alle die Kniffe beizubringen, auf die es im Einsatz ankam. Das war ein Wissensstoff, den keine Flieger schule, keine Blindflugschule und auch keine Kampffliegerschule vermitteln konnte. Natürlich waren alle Nachwuchsbesatzun gen schon einmal blind geflogen, mehrmals sogar, und ebenso natürlich waren sie auch alle im Tiefflug geschult; aber Nachttiefstflü ge über See beispielsweise, sie im Kampf an der Westfront gegen Großbritannien un vermeid-lich waren, die standen schon auf einem andern Blatt. Hauptmann Melzer stand in der Besatzung des Unteroffiziers Sachs mit gegrätschten Beinen hinter dem Flugzeugführer und fun gierte eigentlich mehr als Aufpasser denn als Fluglehrer. Schon beim Start hatte der Staf felkapitän gemerkt, daß der Bengel vor ihm sein Handwerk, oder sollte man lieber sagen, 28
seine Kunst verstand. Keine Spur Lampenfie ber oder Aufgeregtheit, und das wollte schon allerhand besagen, wenn der Staffelkapitän selbst einem auf die Finger schaute. Kräftig hielten die Fäuste des Unteroffiziers das Steuerhorn, und seine Augen flogen wie Wie sel über die Instrumente. Da war keine Klei nigkeit, die er übersah. Ein kleines Zurück nehmen der Ladedruckregler nach beendig tem Startvorgang, ein sparsames Fingerspiel an den Drehzahlreglern, Blick zur Verstelluhr und befriedigtes Lächeln. Ein bißchen Nach trimmen noch, und die Maschine flog wie ein Daunenkissen, wenn so ein Ding überhaupt fliegen könnte. Der Hauptmann schmunzelte befriedigt. Die Besatzung wollte er sich merken. Die Kerls waren nach seinem Herzen. Sie waren auch alle vier gut aufeinander eingespielt, und das war schon ein unschätzbarer Vorzug. Hauptmann Melzer war kein Freund langer Worte und schon gar keiner von irgendwel cher Schönrederei. Ein zwischen den Zähnen hervorgestoßenes „Na“, war bei ihm schon Anerkennung genug, und die ihn kannten, wußten das. Die jungen Hupfer kannten ihn noch nicht so recht, doch das war ein Nach teil, der mit jedem Tag kleiner wurde. Über das Oldenburger Land strebte die Do 217 in eintausend Metern Höhe der Nordsee zu. Als alter Englandflieger wußte der Haupt mann gut genug, daß eine erste Vorausset 29
zung für die kommenden Einsätze die war, den jungen Besatzungen die Hemmungen vor Oberseeflügen zu nehmen. Je näher man dem Jadebusen kam, um so weniger sah es danach aus, als sollte heute viel aus den Plänen des Hauptmanns werden. Wie es in Küstennähe so häufig ist, stimmte die Wettervorhersage keineswegs. Obgleich von großer Wolkenbildung nichts zu sehen war, wurde doch die Fernsicht mit jedem zu rückgelegten Kilometer schlechter. „Schiet“, schimpfte der Hauptmann, der, obgleich aus Bayern, sich das norddeutsche Wort schnell angenommen hatte, „wenn es beim Küstenüberflug noch schlimmer wird, kehren wir um.“ Es wurde noch schlimmer. So schnell, daß man glauben konnte, in einem Zeitrafferfilm zu sitzen, wuchsen blumenkohlförmige Wol kengebirge empor, und schneller noch, als die Maschine flog, bezog sich der Himmel. Tiefstflug über See? Gar nicht daran zu den ken. Aus der jetzigen Flughöhe noch konnte das bloße Auge sehen, wie sich die See Schaumkronen aufsetzte und wie sie weiß schäumenden Gischt an den Strand warf. „Nützt nichts“, bellte der Hauptmann, „al les Mist. Umkehren!“ „Jawohl“, sagte der Unteroffizier gehorsam und zog die Maschine so tadellos herum, daß Hauptmann Melzer ihm anerkennend auf die Schulter klopfte, was er wahrhaftig noch 30
nicht oft getan hatte, seit er Staffelkapitän war. „Sofort umkehren“, kam in diesem Augen blick der Funkbefehl vom Fliegerhorst, „qbi qgz“. Also allerschönste Schlechtwetterlage auch beim Fliegerhorst, und unversehens konnte aus dem, was eine Übung werden sollte, größter Ernst werden. Die Meteorologen waren von dem Schlecht-wettereinbruch fast ebenso über rascht worden wie die Flieger und konnten auf deren Vorwürfe nur die Schultern zucken. Noch immer ließ sich Petrus seine letzten Wetterküchengeheimnisse nicht abgucken. Schon auf dem Rückflug über die Olden burger Marschen packten Regenschauer die Maschine, und je näher man dem Horst kam, um so schlimmer wurde es. Eine Gewitter front, der man allenfalls ausweichen konnte? Nun war es jedenfalls zu spät dazu, und man mußte höchstens zusehen, wie man mög lichst ungeschoren hindurchkommen konnte. Kurze, aber scharfe Böen packten das Flug zeug, daß die Zelle unter ihrer Belastung stöhnte und wimmerte. Sachs hielt das Steuerhorn der Schiebe steuerung mit Fäusten, die aus Eisen zu sein schienen. Trotz Aufbietung aller Kraft konnte er aber nicht verhindern, daß die Maschine wie verrückt tanzte. Sachs ahnte nicht, daß er mit dem klammernden Griff an der Steue rung ein Wort des Hauptmanns erstickte, das 31
jener schon auf der Zunge trug: „Kommen Sie, lassen Sie mich ran. Das hier ist noch nichts für Sie.“ Der Staffelkapitän behielt seinen Stehplatz bei, klammerte sich nur mit den Händen fest an die Seitenspanten und schaute im übrigen mit einiger Bewunderung auf den jungen Flugzeugführer, an dessen Fingerknöcheln weiße Flecke hervortraten. Trotzdem knallte der Schädel des Hauptmanns mehrmals hef tig gegen das Rückenschild des Flugzeugfüh rers. Von diesem Tag an hatte die Besatzung des Unteroffiziers Sachs bei ihrem Staffelka pitän einen dicken Stein im Brett. – Major Schunck, der Gruppenkommandeur, war, wenn er nicht selbst flog, bei jedem Flugbetrieb auf dem Rollfeld, um die Ausbil dung seiner Besatzungen zu überwachen. Er führte nun schon seit den Maitagen des Jah res 1940 die Gruppe, und er durfte sich wohl ohne Selbstschmeichelei sagen, daß er nicht nur Disziplinarvorgesetzter seiner drei Staf feln war, sondern auch deren geistiger Mit telpunkt. Schunck hatte die unter militärischen Vor gesetzten seltene Gabe, nicht nur der „Alte“ zu sein, sondern auch ein wahrhaft Erster un ter Gleichen. Schwätzer wurden in seiner Nä he stumm. Doch bei aller Unbedingtheit unerläßlicher Rangunterschiede, bei Major Schunck hatte jeder Gelegenheit, offen zu 32
sagen, was er dachte, und es war schon mancher brauchbare Vorschlag dabei zustan de gekommen. Vielleicht wußte in der jetzigen Zeit allein der Major mehr und Näheres über die kom menden Einsatzziele der Gruppe, und wegen seines Wissens drang er bei den Besprechun gen seiner Einheitsführer mit unerbittlicher Strenge auf gründliche Ausbildung: „Sie ken nen mich lange genug, meine Herren, um zu wissen, daß ich kein Scharfmacher, Antreiber und Einpeitscher bin. Ich bin auch kein Freund von allzuviel Drill und von Mätzchen, die fliegerisch mehr schaden als nützen. Was aber die Kampfausbildung unserer Leute be trifft, da verlange ich das Äußerste. Auch an Härte. Das kann uns nur helfen, bei den kommenden Einsätzen Blut zu sparen. Eine Besatzung, mag sie noch so tüchtig sein, die nach ihrem ersten Feindflug nicht wieder kehrt, nützt weniger als nichts. Und was im mer wir jetzt von den jungen Besatzungen verlangen, ist ein Kinderspiel gegen das, was sie erwartet, wenn sie erst am Feind sind. Ist jemand der Herren anderer Meinung, dann bitte ich um offene Worte.“ Es meldete sich keiner der anwesenden Of fiziere, obgleich jene, die nicht selbst zu flie gen brauchten, beispielsweise über das, was der Major von militärischen Mätzchen gesagt hatte, ihm nicht immer unbedingt zustimm ten. Manche Offiziere, vorzeiten vom Heer 33
zur Luftwaffe gekommen und ohne jede flie gerische Funktion, lebten nun einmal in der Vorstellung, ohne strammes Exerzieren und in möglichst kurzfristigen Abständen wieder kehrende Appelle leide die Disziplin der Trup pe. Diese wenigen wußten jedoch anderer seits, daß sie gegen die Meinung der Flieger offiziere nicht aufkommen konnten, und da diese die „allerhöchste“ Meinung des Kom mandeurs war, tat man besser daran, zu schweigen. Der Bordmechaniker von Unteroffizier Sachs war erkrankt und wurde nach seiner Wiederherstellung fliegeruntauglich geschrie ben. Nun war nur noch ein Bordmechaniker in der Staffel überzählig, ein Obergefreiter, der schon seit 1940 das EK trug und trotz dem nur Obergefreiter geblieben war. Hauptmann Melzer knöpfte ihn sich vor: „Nun sagen Sie mal, Sie alter Krieger, haben Sie denn Lust, in einer ganz neuen Besatzung zu fliegen?“ „Na klar, habe ich Lust“, sagte der Ober schnäpser, dem scheinbar eine militärische Sprechweise doch nie anzuerziehen war, „die Besatzung Sachs ist in Ordnung.“ „Mir ist’s recht“, sagte der Hauptmann, „aber wann wollen Sie sich eigentlich mal Ihr völlig unmilitärisches Verhalten abmachen?“ „Wenn ich Unteroffizier werde, Herr Haupt mann.“ Hauptmann Melzer lachte schallend. „Und 34
wann wollen Sie endlich befördert werden?“ „Wenn’s nach dem Wollen ginge, Herr Hauptmann, hatte ich schon längst die Strei fen. Aber es geht nach dem Können bei Preußens, und da hapert es. Ich kann näm lich niemals drei Monate ohne Bau über stehen.“ Wieder lachte der Hauptmann. „Sie sind doch der unmöglichste Soldat, den es in der deutschen Luftwaffe gibt. Aber ich glaube, Unteroffizier Sachs kann sich gratulieren. Er bekommt den stursten Hund und den fähigs ten Bordmechaniker in der ganzen Staffel.“ Als einen Tag später in der Maschine Sachs die Brennstoffpumpen versagten, rettete der Obergefreite Wex, neuer Bordmechaniker der Besatzung, seinen Kameraden durch blitz schnelles Bedienen der Handpumpanlage wahrscheinlich das Leben. So kam es, daß der „sturste Hund der Staffel“ vor der Verle gung der Gruppe in den Einsatz doch noch Unteroffizier wurde, und stolzer sind die Lit zen nie getragen worden. – Major Schunck hielt sein Wort von der har ten, fliegerischen Ausbildung. Die Motoren des neuen Baumusters waren noch immer das Sorgenkind Nummer eins. Also war es Hauptaufgabe, die Leute gegen alle Tücken der Triebwerke gewappnet zu machen. Viel leicht war man an den Grenzen der Leis tungsfähigkeit von Kolbenmotoren angelangt, dort wo jedes PS Leistung mehr von einem 35
Mehr an Gewicht aufgezehrt wurde. Erster Punkt des Ausbildungsprogramms hatte nach dem Willen des Majors bis auf weiteres der Einmotorenflug zu sein. Dabei hatten jeweils vielleicht die Lehrbesatzungen mehr Bammel als die neuen, denn es fiel nicht leicht, neben neuen Flugzeugführern zu sitzen und als alter Fliegerhase den Manövern der Jungen zuzu sehen. Da flog Feldwebel Trunk, der große Spötter vor dem Herrn, mit in der Besatzung von Un teroffizier Sachs: „Damit wir uns bei Meiers Himmelsklub gleich richtig verstehen“, sagte er zu dem Unteroffizier, „ich mische mich während des Fluges so wenig wie möglich ein. Das liegt mir auch nicht. Bei der Groß deutschen Airforce muß sich jeder seine Grundlagen selber schaffen. Wie man sich bettet, so schallt es heraus.“ Unteroffizier Sachs nickte bloß. Wenn der Feldwebel mit der Schandschnauze nur hielt, was er versprach. Bei wortreichen Vorgesetz ten war es meistens anders. So viel militä risch-fliegerische Erfahrung besaß ein Luft waffenunteroffizier auch schon. Sachs blickte fragend zu seinem neuen Bordmechaniker zurück, der stoisch meldete: „Startklappen sind draußen!“ Mehr zu sagen hielt er nicht für nötig. Der Startposten ließ die Flagge sinken, und die Maschine schoß mit vollem Gas vorwärts. Sachs kontrollierte aufmerksam den Lade 36
druckanzeiger und drückte die Schiebesteue rung vor, bis der Schwanz mit dem Leitwerk abhob. Ein klein wenig mußte er mit dem Querruder korrigieren, und im nächsten Au genblick hob die Mühle ab. „Fahrwerk ist eingefahren“, meldete der Beobachter, und „Landeklappen rein!“ „be fahl“ der frischbeförderte Bordmixer. „Meine Sache“, brummte der Flugzeugfüh rer in die EiV und betätigte den Schalter. „‘tschuldige“, kam es von hinten, „werde mir in Zukunft nicht mehr deinen Kopf zer brechen!“ Feldwebel Trunk grinste wie ein Honigku chenpferd. Die Burschen konnten von ihm aus so bleiben wie sie waren. Nun erst war die Maschine ihrem Element verhaftet, flog sie wirklich. Seit der Katastro phe mit dem Oberfeldwebel gleich zu Beginn der Umrüstung wurde kein Flugzeugführer mehr das Gefühl los, das Wegbleiben eines Motors gerade während des Startvorgangs könne sich jeden Tag wiederholen, und die ses Angstgefühl verlor sich bei jedem erst, wenn die Maschine ihre Reisegeschwindigkeit erreicht hatte, wenn Fahrwerk und Startklap pen keinen zusätzlichen Widerstand mehr bo ten, und wenn Ladedruck und Umdrehung mit gutem Gewissen verändert werden konnten. Zurück blieben die Türme und Berge der Stadt Osnabrück, und die Maschine gewann auf Nordkurs, zur See hin, schnell Höhe. 37
Feldwebel Trunk war mit der Besatzung Sachs so zufrieden wie vordem der Staffelka pitän. Die augenblicklich noch bestehende Ri valität zwischen dem altgedienten Bordme chaniker und dem „neuen“ Flugzeugführer würde sich mit der Zeit legen, und im jetzi gen Stadium war es vielleicht ganz gut, wenn an Bord der Maschine immer einer war, der technische Dinge sozusagen mit dem kleinen Finger erledigte. Das erwies sich schon wenige Minuten nach dem Start. „Ich kann mir nicht helfen“, sagte Unterof fizier Sachs auf einmal, „wir müssen nach trimmen. Die Maschine hängt nach Back bord.“ „Stimmt schon“, brummte Unteroffizier Wex, der Mechaniker, „ich merke es schon seit einiger Zeit, daß die Flächentanks un gleich entleeren. Soll ich die Pumpen um schalten?“ „Warte noch ein bißchen, ich möchte doch mal erleben, wie das noch wird. So etwas kenne ich noch nicht.“ „Fluglehrer“ Trunk tat, als besähe er sich durch die Kanzelscheiben angelegentlich die Landschaft drunten. Er wollte um nichts sein Gesicht sehen lassen. Die „Spunde“ brauch ten nicht zu bemerken, daß er Mühe hatte, ein befriedigtes Grinsen zu verbergen. Trunk wurde bald noch zufriedener, als das Zusammenspiel Flugzeugführer-Bordmecha 38
niker die Maschine bald wieder in Normallage brachte. „Wir sind jetzt fast fünftausend hoch“, sag te er nach einer Weile. „Sie sollten jetzt ver suchen, die Krähe einmal auszuhungern.“ Bedächtig schnallte sich der Feldwebel an, nicht ohne sich davon zu überzeugen, daß die anderen seinem Beispiel folgten. Sachs warf noch einen Blick auf die In strumente und nahm dann entschlossen das Horn der Schiebesteuerung zum Leib. Zu nächst stürmte die Do dem Himmel zu wie ein ungebärdiges Füllen, aber bald wurde sie langsamer, und der Zeiger am Variometer ging mehr und mehr zurück. Jeder an Bord wußte, was unweigerlich bald kommen muß te, und jeder versuchte schon jetzt, je nach Temperament, sich auf das Kommende ein zustellen. Das Flugzeug schüttelte sich wie ein junger Hund, der aus dem Wasser steigt, und rutschte dann dem Boden zu. Trunk beobach tete den jungen Kutscher aufmerksam. Hut ab vor dem Fluglehrer, der dem das Fliegen beigebracht hatte. Sachs schob, als handele es sich um die natürlichste Sache der Welt, die Ladedruck regler zurück, drückte mit dem Steuerhorn kräftig nach und holte es erst dann zu sich zurück, als die Maschine in einen regel rechten Sturz übergegangen war. Von schräg oben links schob sich die Erde 39
auf die Maschine zu. Wenigstens sah es so aus, bis der Boden endlich dort war, wo er fluglagemäßig und perspektivisch hingehörte. Die Knöchel des Flugzeugführers wurden weiß, und sein Gesicht war rot vor Anstren gung. Der Steuerdruck war kaum allein mit den Armen zu bewältigen, und der Unteroffi zier bändigte ihn doch mit einer Hand und griff mit der rechten zum Trimmrad. Trotz des infernalischen Lärms der Motoren hörte man das gequälte Kreischen der Zelle, und die Tragflächen fingen an zu flattern, als sei der Do 217 endlich ein alter Fliegertraum ge glückt, das Fliegen durch Schwingenbewe gungen. Bei solcher Beanspruchung hatte schon manche Maschine abmontiert, aber die Do richtete sich auf und flog dann in immerhin noch 3000 m Höhe so ruhig, als habe es nie die vorangegangene Leistung gegeben. „Sauber“, war alles, was Feldwebel Trunk nach der Landung zu der Besatzung sagte, „hätt’s selbst auch nicht besser gekonnt.“ Dann stieg er, ohne sich umzudrehen, in eine andere, schon wartende Maschine um. Hof fentlich klappte es dort genauso schon, dann konnte er für heute die Einweisungsflüge auf stecken. Wieder jagte eine Do 217 zum Himmel. Trunk sagte fast wörtlich das gleiche wie bei der letzten Besatzung, bis auf die Aufgaben stellung. Die lautete hier: Einmotorenflug. 40
Trunk lag ganz vorn im Kanzelbug, dort, wo später, wenn man erst im Einsatz war, die 2 cm-Kanone ihren Platz haben würde. Dort war nach seiner Meinung im Flugzeug der Platz, wo man das beste fliegerische Empfin den für Einzelheiten hatte, und dort war auch der Punkt, von dem aus er schnell bei der Hand sein konnte, wenn es kritisch werden sollte. Doch er machte auch hier sein Verspre chen, sich nicht einzumischen, wahr, und gab nicht zu verstehen, daß er gehört hatte, was die Besatzung miteinander gesprochen hatte. Langsam nahm der Flugzeugführer der Ma schine das Gas eines Motors zurück. Blitzartig zog der mit unverminderter Kraft weiterlau fende andere Motor das Flugzeug nach Back bord weg. Querruderausschlag des Flugzeug führers, exerziermäßig, wie gelernt. Doch die Do 217 war keine Weihe, kein „Leukoplast bomber“, der mit 150 Sächelchen am Himmel dahinzuckelte. Hier gab es andere Steuerdrü cke und andere Kreiselwirkung, und der Flug zeugführer merkte, daß seine Kraft zu erlah men drohte. Neben dem Querruder mußte er mit dem Seitenruder gegenhalten. Der ab scheuliche Druck auf die Ruder verminderte sich kaum, als die Luftschraube des stehen den Motors auf Segelstellung gefahren war. „Schläfst du denn da hinten“, schrie der Flugzeugführer seinem Bordmechaniker zu, „so trimm doch endlich, ich kann das nicht allein.“ 41
Doch der Bordmechaniker schien durchge dreht zu haben wie der jetzt stehende Motor, bevor er seine letzten Zuckungen machte. Er brauchte einige Zeit, bis er sich an den Trimmknöpfen zurechtgefunden hatte, und einen Augenblick lang schien es wirklich, als könne der Flugzeugführer allein mit seiner Körperkraft unmöglich den Vogel noch länger halten. Doch Feldwebel Trunk rappelte sich erst aus der Kanzel hoch, als die Gefahr, daß die Maschine über den laufenden Motor ab schmierte, vorbei war. „Das werdet ihr noch üben müssen, ihr Heldentumsaspiranten, bis ihr schwarz seid“, sagte er nur und erntete ein Grunzen des Flugzeugführers: „Mensch, deine Ruhe möchte ich haben.“ „Hast du, mein Junge, hast du. Hättest du sie eben nämlich nicht gehabt, wäret ihr alle samt dank der Nervosität eures Bordmixers Petroleumbohren gegangen. Das einzige, was ich euch dabei übel angekreidet hatte, wäre gewesen, daß ich Petroleum persönlich gar nicht mag.“ Trunk war nun einmal, genau wie sein Staffelkapitän und wie sein Gruppenkom mandeur, davon überzeugt, daß drastische Lehren mehr nützten als alle Schimpfereien. Daher kaufte er sich auch den schusseligen Bordmechaniker nicht besonders. Er vertrat den Standpunkt, daß eine Besatzung, die in Freud und Leid, im Schul- wie im Feind 42
einsatz miteinander auskommen mußte, auch Dinge, die sie allein anging, unter sich aus zumachen hatte. In seiner eigenen Besatzung hielt er es auch nicht anders. Wenn er den Flugzeugführer und seinen Beobachter hier richtig einschätzte, würden sie sich ihren nervösen Jüngling schon erziehen. Im Einsatz würde es nun einmal auf jeden Mann an sei nem Platz ankommen, und Vorurteile, wie dieses, daß es im Ernstfall in erster Linie auf den Flugzeugführer ankam, waren in Zeiten, in denen Maschinen wie die Do 217 modern wurden, nicht mehr am Platz. Die Besatzung war ein Räderwerk, das genauso geschmiert zu funktionieren hatte wie ein gutgepflegtes Triebwerk. Nach diesen beiden Flügen glaubte sich Feldwebel Trunk ein wenig Ruhe verdient zu haben. Überdies war es wohl an der Zeit, jetzt einmal zu kontrollieren, was die Kü chenbullen zu Mittag zusammengepanscht hatten. Heute Nachmittag würde man dann weiter sehen. Er war schon auf dem Weg zwischen den Baracken, als Motorengeräusch an sein Ohr klang, und weil es nun einmal kein Flieger lassen kann, der Landung eines andern zuzu sehen, drehte Trunk sich um und ging einige Schritte zurück. Eine Maschine schwebte zur Landung an, und ein Blick genügte für einen erfahrenen Flugzeugführer, um zu erkennen, daß die 43
Mühle von ihrem Kutscher heillos überzogen wurde. ,Gleich brennt’s’, war das einzige, was Trunk noch denken konnte. Doch vielleicht hatte ein Engel seine Fittiche über die Kiste gebreitet, daß sie nicht Feuer fing. Jedenfalls aber gab es einen Knall, der bis weit in die Umgebung gehört wurde, als die Maschine, nachdem es einen Augenblick lang so ausge sehen hatte, als stände sie in der Luft, wie ein Stein auf die Startbahn herunterkrachte. ,Die dümmsten Bauern’, dachte Feldwebel Trunk nur, als er sah, daß nacheinander alle vier Besatzungsmitglieder aus dem Wrack krochen. Die Maschine allerdings hatte nur noch Schrottwert. Es war der sechste Ausfall der Gruppe seit Beginn der Umrüstungszeit. *** Das Seegebiet der Helgoländer Bucht und schon gar die Gewässer um die Insel selbst waren fliegerisches Sperrgebiet. Der Gruppe unter Major Schunck wurde für einen Tag Ausnahmegenehmigung erteilt. Irgendwo mußten die jungen Besatzungen doch Tiefst flug über dem Wasser lernen, über der Nord see lernen, und ein Gewässer, das durchaus nicht als verkehrsfrei von Schiffen gelten konnte, eignete sich noch mehr. Natürlich hätte man die Übungsflüge auch über der 44
Ostsee ansetzen können, und man wäre da mit eher noch einer Weisung entge gengekommen. Doch seitdem der Gruppen kommandeur die Englandeinsätze kannte, nahm er die Ostsee nicht mehr für voll. Sie war die sanftere Schwester von beiden Mee ren und weit weniger tückisch und unbere chenbar als der „Blanke Hans“. Nur wer sich über der Nordsee zu behaupten wußte, auch dann, wenn ein schon nicht mehr sanfter Nordost blies und die Schaumreiter bis weit hinauf auf die Deichkronen geschleudert wurden, war für Englandflüge geeignet. Die Engländer sahen nun einmal die Nordsee seit Urgedenken als ein heimisches Gewässer an und verbündeten sich mit ihr gegen die Kon tinentalmächte. Major Schunk hatte lange geschwankt, ob er Verbandsflug oder Einzelstarts befehlen sollte, und er hatte sich schließlich zunächst für die letzteren entschieden. Wenn man im Gruppenverband flog und alle anderen sich einfach nach der taktischen Eins aus richteten, war gar nichts gewonnen. Jede einzelne Besatzung mußte sich selbst das er arbeiten, was sie wagen durfte, und ein Wagnis war nun einmal jeder Tiefstflug über See. Persönlich hämmerte der Kommandant den Flugzeugführern seine Weisungen ein: „Nicht andauernd aufs Wasser starren, sonst spielt ihr schneller U-Boot, als ihr glaubt. Wichtig 45
ist der Horizont. Ihn müßt ihr betrachten, genau wie bei der Landung. Außerdem: Die Mühlen ganz leicht schwanzlastig trimmen. Vergeßt das nie, und überzeugt euch immer wieder davon. Sonst klatscht euch der Schwanz ins Wasser, sowie ihr mal plötzlich hochziehen müßt. Tiefstflug ist Flug unter zehn Metern, und nur der kann euch schüt zen, wenn es mal gegen feindliche Schiffe geht. Tiefstflüge über See sind eine Kunst. Kurven, wenn sie geflogen werden müssen, billiger fliegen als die berühmten Blindflugbiegen. Ihr werdet euch sonst wundern, wie schnell eine geneigte Tragfläche ins Wasser schneidet. Die Folgen brauche ich euch nicht auszumalen. Bei Kurven also gleichzeitig ganz leicht anziehen.“ Zu dieser Zeit gab es noch kein FuG 101 in den Maschinen, ein Gerät, das durch Aussen den ultrakurzer Funkwellen und Auffangen der Reflexionen die absolute Höhe über Grund angab. In der jetzigen Zeit halfen bei Flügen in solch niedrigen Höhen nur gute Au gen, gutes Schätzvermögen, und gerade dar in konnten die alten Flugzeugführer und Be obachter, die mit den neuen mitflogen, schon einiges erleben. „Na, wie hoch sind wir?“ fragte Hauptmann Melzer den Flugzeugführer, mit dem er flog. „Schätze, wir sind jetzt rund vierzig Meter hoch, Herr Hauptmann.“ „Nun, wenn Sie jetzt tiefer gehen, dann 46
haben Sie nicht einmal mehr Wasser unter sich. Dann fliegen Sie schon unter dem Mee resgrund. Die See ist hier nämlich höchstem zwanzig Meter tief.“ „Es ist doch unmöglich, Herr Hauptmann, daß ich mich so irre.“ „So? Dann fragen Sie mal Ihren Funker, was der meint.“ Der Funker meinte schon bald gar nichts mehr. Ihn schüttelte die Angst wie ein nasses Handtuch. „Wir ziehen ein Kielwasser hinter her wie ein Dampfer“, schrie er, und man hörte noch aus der Stimme heraus das Zäh neklappern. „Nun will ich es Ihnen sagen“, meinte der Hauptmann. „Sie waren allenfalls noch sechs bis acht Meter hoch, bevor Sie zogen. Junge, so geht das nicht. Das Auge ist gewöhnt, mehr in der Horizontalen zu sehen als in der Vertikalen. Daher glaubt man auf einem fünfundzwanzig Meter Kirchturm schon wun der wie hoch zu sein und sieht Menschen und Dinge unten wie Spielzeug. Das werden wir noch oft wiederholen müssen.“ Der Flugzeugführer sagte gehorsam sein „Jawohl, Herr Hauptmann“. Nachträglich mochte ihm wohl auch noch der Schreck in die Knochen gekrochen sein. „Noch einmal das Ganze“, befahl der Hauptmann, und die Maschine wurde einige hundert Meter hochgezogen, um erneut aufs Wasser gedrückt zu werden. 47
Hauptmann Melzer blieb scheinbar ruhig, obgleich er beim neuerlichen Tiefstflugver such selbst keinen Deut mehr für sein Leben gab. Bei einem Blick nach hinten sah er, daß die Propellerböen das Wasser aufpeitschten wie ein Schnellboot, und dieser Kutscher hier sah ganz so aus, als sei er seiner Sache, noch wenigstens zwanzig Meter unter den Tragflächen zu haben, völlig sicher. „Ziehen“, befahl der Hauptmann und müh te sich, seine Stimme nicht zu laut klingen zu lassen, damit er den Flugzeugführer nicht er schreckte. Der würgte auch prompt die Ma schine hoch, und noch nach Jahren begriff der Hauptmann nicht, wie es eigentlich ge kommen war, daß ihr Leitwerk nicht einge taucht war. „Lieber täglich zehn Tagesangriffe auf englische Flakstellungen“, stöhn te der Hauptmann, „als noch einmal solchen Tiefstflug. Ich wundere mich nur, daß ich nicht irgendwo bei den Nixen aufwache und einen Hering im Mund habe.“ Genau umgekehrt lagen die Verhältnisse bei Unteroffizier Sachs, der wieder von Feld webel Trunk betreut wurde. „Was meinen Sie, Sachs, wie hoch wir sind?“ Fast die gleiche Frage, die ziemlich zur gleichen Zeit der Staffelkapitän einer anderen Besatzung stellte. „Höchstens fünfzehn Meter, Herr Feldwe bel.“ „Na, den Herrn Feldwebel können Sie sich 48
bei einer Antwort abmachen. Aber ich schla ge vor, Sie gehen mal nach Variometer und Uhr genau fünfzehn Meter tiefer. Ich habe mich schon lange darauf gespitzt, mal den bekrauteten Neptun persönlich zu sehen.“ Unteroffizier Sachs machte ein ungläubiges und zweifelndes Gesicht, doch eigentlich mehr, um dem Feldwebel zu beweisen, daß der die fliegerische Weisheit auch nicht mit Löffeln gefressen hatte, ging er doch nach Stoppuhr und Höhenveränderungsmesser gehorsam Meter um Meter tiefer. Er würde schon rechtzeitig wieder anziehen, bevor man in den Bach plumpste. Doch als nach der Zeit fünfzehn Meter Hö he verloren sein mußten, schätzte Sachs die jetzige Flughöhe noch immer auf fünfzehn Meter. Da mußte doch der Teufel die Hand im Spiel haben. Verbissen drückte Sachs weiter an, doch nun mußte Trunk bremsen. „Jetzt noch vier Meter“, sagte er, „und du bist gleich gepökelt, mein Junge.“ Noch in der Gefahr konnte er seine Witze nicht lassen. Der Kommandant hatte in Angst und Ban gen auf die Rückkehr seiner Besatzung ge wartet. Er wußte gut genug, daß jeder läppi sche Zufall einer von ihnen das Leben kosten konnte, und er wußte auch, daß er ihnen die se fürchterliche Mutprobe nicht ersparen konnte. Der Feind ersparte ihnen einstmals bestimmt keine. Aber alle diese Über legungen würden ihn nicht vor den Vorwürfen 49
des eigenen Gewissens bewahren, wenn viel leicht eine Besatzung oder gar mehrere weg blieben. War in ihrer Ausbildung auch nichts versäumt worden? Waren die jungen Kerlchen überhaupt schon in der Lage, in etwas so Ge fährliches wie Überwassertiefstflüge geschickt zu werden? Bange Sorgen, die niemand einem Kommandanten abnehmen konnte. Doch die Besatzungen kehrten sämtlich wohlbehalten zum Horst zurück und manche von ihnen mit dem voreiligen Gefühl, eine Generalprobe für kommende Einsätze geflo gen zu sein und vor ihr bestanden zu haben. Hatte es heute geklappt, würde es das hof fentlich künftig auch tun, und kaum einer der jungen Flieger dachte daran, daß es zukünf tig, außer der See, die nicht immer so glatt zu sein brauchte wie heute, auch noch einen Gegner geben würde, der in punkto fliegen auch einiges einzusetzen hatte. *** Es wurde immerhin tiefer Winter, bis die Staffeln so weit waren, daß sie auf dem neu en Flugzeugmuster eingesetzt werden konn ten. Der Einsatz. Für die Flieger war es ein ma gisches, ein mystisches Wort. Für die einen von ihnen war es die Rückkehr in einen Zu stand, den sie kannten und den sie, vielleicht auch in anderer Form, schon erlebt hatten; 50
für die anderen würde es die Feuertaufe bringen, die erste Berührung mit dem Feind. So unterschiedlich Menschen nun einmal sind, so unterschiedlich nahmen die Männer die Verlegung auf den Frontflugplatz hin. Bei den einen herrschte regelrechte jungenhafte Freude. Bald, bald würde man auch nicht mehr mit „nackter“ Brust herumzulaufen brauchen. Nach neuesten Informationen kon nten etwa fünf Feindeinsätze gegen England schon das EK II bringen. Und da waren andere, denen Orden und Ehrenzeichen reichlich egal waren, die sich auf den Einsatz freuten, weil er ihnen die große, männliche Bewährung bringen mußte. Wieder andere wußten nur, daß jetzt end lich der „Kommißbetrieb“, über den sie wahr haftig unter Major Schunck nicht zu klagen brauchten, aufhören würde. Es gab jedoch auch andere, zu jener Zeit allerdings recht wenige, die mit gemischten Gefühlen an die bevorstehende Verlegung dachten, und die sich selbst am allerwenigs ten ihre Angst vor dem Kommenden ein gestehen mochten. Bis jetzt war es nur das Flugzeug als solches gewesen, vor dem sie Bammel empfunden hatten. In Kürze würde zu den Dingen, die das Le ben bedrohen konnten, noch der Feind mit seinen Waffen stoßen. Wie würden die Ver luste erst aussehen, wenn auch der Gegner im großen Fliegerspiel mitmischen durfte? 51
Hatte nicht die fast halbjährige Ausbildung und Umrüstung schon Opfer genug gekostet? Der Oberfeldwebel, der beim Start abge schmiert war, hatte doch den Reigen nur an geführt. Nach ihm war eine Besatzung über See abgestürzt. Nur ein zittriges Piepsen hat te der Funker der Maschine noch in die Taste hämmern können, dann schwieg der Äther. Für immer. *** Wenn sich einige in der Hoffnung gewiegt hatten, man werde nach Verlegung in den niederländischen Raum vorwiegend auf ei nem Platz bleiben, dann sahen sie sich schnell getäuscht. Die Gruppe fiel in der Fol gezeit je nach lohnenden Zielen von der fran zösischen Atlantik- und Kanalküste bis zur norwegischen Westküste überall ein, wo aus gebaute Frontflughäfen zur Verfügung stan den. „Feuerwehrgeschwader“ nannte sich der Verband bald selbst. Das war der erste Grund, weshalb auch die älteren Besatzungen zu begreifen begannen, daß sie es lernen mußten, umzudenken. Als sie im Frühjahr 1941 die Westfront verlassen hatten, gab es dort eine starke deutsche Luftwaffe. Als sie um die Jahreswende zu rückkehrten, merkten sie bald, daß nur noch wenige Verbände, vorab wenige Kampfverbände, zurückgeblieben waren. Die meis 52
ten Geschwader wurden jetzt im Osten ge braucht, wo sich die deutsche Offensive nach großen Anfangserfolgen im Schnee und Eis Russlands festgefahren hatte. Hauptmann Melzer hatte das Gefühl, eben erst eingeschlafen zu sein, als ihn jemand unsanft an der Schulter rüttelte. Als er die Augen aufschlug, stand der U.v.D. ein Ober gefreiter mit „Anwärterbalken“ vor ihm und fummelte mit einer Taschenlampe herum. „Herr Hauptmann, wir haben Fliegeralarm. Haben Sie denn das Heulen nicht gehört?“ „Lassen Sie mich zufrieden! Wenn es nach den Alarmen ginge, käme ich überhaupt nicht mehr zum Schlafen.“ Der Hauptmann hatte kaum ausgespro chen, als sich aus dem undeutlichen Motorenbrummen am Himmel ein Pfeifton löste, der anschwoll und sich in einem höllischen Kra chen entlud. Noch bevor der Hauptmann und sein U.v.D. ins Freie gekommen waren, krachte es erneut. „Das gilt uns“, meinte der Obergefrei te mit einem scheuen Blick auf seinen Vorge setzten, „wenn die Tommies erst merken, wen sie hier besuchen können, werden sie uns wohl jeden Tag die Ehre geben.“ „Nun fang nicht an zu unken“, brummte der Hauptmann, „und mach dir nicht die Ho sen voll. Daß die Luft hier zeitweilig eisenhal tig ist, daran wirst du dich noch gewöhnen müssen. Schlafen die Leute etwa noch?“ 53
„Nein, Herr Hauptmann, mit Ausnahme von uns beiden“, der Hauptmann grinste be lustigt, „sind alle in den Splittergräben. Der Oberwerkmeister ist mit ein paar Mann raus gefahren zum Platz, um die in der Werft ste henden Maschinen herauszuholen und in die Splitterboxen zu bringen.“ „Sehr vernünftig.“ Wie sie waren, warfen sich die beiden Männer im nächsten Augenblick zu Boden, der Staffelkapitän noch im Schlafanzug. Ganz in ihrer Nähe kam eins von den britischen Ei ern herunter. Dazu ballerte die Platzflak, daß es eine Art hatte. „Die wollen uns richtig zur Sau machen“, sagte der Hauptmann und sprang auf. Ge spenstisch genug sah er in seinem jetzt dreck- und schneeverklebten Schlafanzug aus. So rannte er zum Befehlsbunker. Bevor der dort postierte Wachsoldat noch sein „Halt! Wer da?“ herausgebracht hatte, stürm te der Schlafanzugträger, gefolgt von dem nervös gewordenen Posten, in den Bunkerraum und riß dort einen Schalter herunter, den er gleich wieder zurückschnellen ließ. „Ich bin Hauptmann Melzer, Staffelkapitän der siebenten Staffel“, sagte er zu dem Pos ten, der nicht recht wußte, was er hier ma chen sollte, „Parole habe ich vergessen.“ Immer noch gefolgt von dem Wachsolda ten, der den Karabiner jetzt vorsichtshalber im Anschlag hatte, rannte der Hauptmann 54
wieder nach draußen und lauschte. Nach we nigen Minuten schmunzelte er befriedigt, mißtrauisch beäugt von dem Posten, der noch immer nicht wußte, ob er wirklich einen leibhaftigen Staffelkapitän oder einen im Tarnanzug vom Himmel gefallenen engli schen Saboteur vor der Mündung seiner Waf fe stehen hatte. „Also doch“, sagte endlich der Hauptmann, „die Tommies sind prompt auf den Trick he reingefallen. Auch die britischen Flieger flie gen nicht gern allzuweit über feindliches Ge biet.“ Der arme Postensoldat starrte den Haupt mann noch immer an wie eine Erscheinung aus einer andern Welt, und Melzer konnte es seinem Gesicht ansehen, daß er mit einem schwerwiegenden Entschluß kämpfte. Da machte er sich seufzend, denn mittler weile war ihm in seinem dünnen Schlafanzug in der nächtlichen Winterkälte recht unange nehm geworden, daran, dem biederen Wach soldaten auseinanderzusetzen, was er eben getan hatte. „Sehen Sie“, sagte er, „immer in Richtung Feind hin gibt es bei fast jedem Flugplatz den sogenannten Scheinhafen, ein Ding also, das so aussieht, als sei es ein Flugplatz. Wir Flie ger benutzen das Gelände, Bomben, die wir etwa vom Feindflug zurückgebracht haben, dort abzuwerfen. Ich habe eben nichts ande res getan, als für eine kurze Weile die „Platz 55
befeuerung“ des Scheinflughafens einge schaltet. Das sollte für die Tommies so aus sehen, als habe jemand, durch ihren Angriff nervös geworden, versehentlich wirklich die Platzbeleuchtung eingeschaltet. Dort lädt nun der ganze englische Pulk seine Eier ab, und das kann er auch von mir aus gern. Dort hat eine ganze Menge Platz.“ *** Aber so ganz unrecht mochte der U.v. D. in der vergangenen Nacht nicht gehabt haben. Mit weiteren Besuchen der fliegerischen Gegner war unbedingt zu rechnen, schon gar, als am nächsten Morgen, kaum daß die Sonne über den Horizont blinzelte, der „Spi cker vom Dienst“, eine englische Aufklä rungsmaschine in großer Höhe herumturnte. Einige Telefonate des Staffelkapitäns mit dem Gruppenkommandeur, dann wechselte die 7. Staffel, die augenblicklich allein hier lag, den Platz. Bald lag die Staffel auf einem weiten Feld flugplatz bei dem französischen Provinzstädt chen Coulommiers. Schiffsaufklärung im Ge biet des Bristol-Kanals hieß ihre Aufgaben stellung, und sie war vermutlich verursacht worden durch Agentenmeldungen. In der Ge gend sollten sich, ersten Informationen nach, alle möglichen Typen von schwimmenden Pötten herumtreiben. 56
Hauptmann Melzer war nicht in bester Stimmung. Noch hatte die Gruppe in ihrer neuen Zusammensetzung keinen Feindflug bestanden, da erhielt sie schon den noch gar nicht fälligen feindlichen Gegenbesuch. Pas siert war ja bei dem nächtlichen Bombenüberfall gottlob nichts, und einzelnen von den Jungens schadete es vielleicht gar nichts, wenn sie merkten, daß das fliegerische Da sein auch ohne Feindflug kein Zuckerlecken zu sein brauchte. Nun war man auf dem neuen Platz, und Hauptmann Melzer dachte grimmig daran, daß man auch hier, ziemlich weit ab von der Küste, durchaus nicht vor englischen Angrif fen sicher zu sein brauchte. Auch die Briten hatten Agenten, und denen würde es nicht sonderlich schwer fallen, herauszubringen, wohin plötzlich das Häufchen der Do 217 ver schwunden war. Die Beobachter hatten direkten Kurs zum neuen Fliegerhorst errechnet. Im tiefsten Frieden lag unter den glitzernden Metallvö geln das Land. Wirklich im tiefsten Frieden? Ach ja, zuweilen konnte man wirklich glau ben, es gäbe keinen Krieg mehr auf Erden. Das Land hier unterschied sich kaum von dem, das man vor kurzer Zeit noch unter den Tragflächen gehabt hatte, von der Norddeut schen Tiefebene. Am ehesten noch merkte man den Unterschied an den Bauernhäusern. Sie hatten hier etwas Aufgeschlosseneres als 57
die meist riedbedeckten des friesischen, ol denburgischen und niederländischen Lan des. Die Motoren sangen brummend ihr gewal tiges Arbeitslied, und wieder einmal fühlten sich die Flieger als Auserwählte der Mensch heit. Wem sonst in der deutschen Wehrmacht war es außer ihnen noch vergönnt, heute hier und morgen dort zu sein, überall bestens be treut zu werden und die Entfernungen spie lend zu meistern? Bot nicht schon die eine Staffel, wie sie hier flog, ein großartiges Bild geschlossener Kraft und wuchtiger Stärke? Man war vergnügt nach der Landung wie sel ten. Nur die Laune des Hauptmanns schlug schnell um. „Her mit dem Rechnungsführer“, forderte er. „Der Jüngling soll die Startverpflegung austeilen.“ „Unteroffizier Schoemann kommt mit dem Landtransport von der FBK nach“, wurde ihm geantwortet. „So? Ich habe doch ausdrücklich befohlen, daß neben den ersten Warten auch der Rechnungsführer mitzufliegen hat.“ „Der hatte wohl Angst“, kicherte einer, denn es war offenes Geheimnis, daß Schoe mann ein Hasenfuß war. Man brauchte nur des Hauptmanns Gesicht zu sehen, um zu wissen, daß wahrscheinlich dem Unteroffizier wenig Gutes blühte, wenn er erst eintraf. 58
Unteroffizier Schoemann war denn auch recht kleinlaut, als er sich am späten Nach mittag bei seinem Staffelkapitän meldete. Wie ein Laternenpfahl stand er und schnurrte seine Meldung herunter. „Darf ich den Herrn Unteroffizier jetzt ge horsamst fragen, warum er nicht mitflog, wie ich ,bat’?“ fragte der Hauptmann, und seine Stimme verhieß schon nichts Gutes. „Bitte Herrn Hauptmann darauf aufmerk sam machen zu dürfen, daß ich fliegerun tauglich bin!“ „So, der Herr sind fliegeruntauglich. Und warum, wenn ich das noch fragen darf?“ „Ich bin kurzsichtig!“ „So? Kurzsichtig? Und das ist alles? Nun, erlauchtigster Hüter der Finanzen, in einer Viertelstunde mache ich Werkstattflug, und in genau einer Viertelstunde stehen Sie mit ei nem Fallschirm, den Sie sich gütigst organi sieren werden, an der Einstiegleiter von der Berta-Anton. Verstanden?“ „Jawohl, Herr Hauptmann!“ Schoemanns Gesicht war jetzt schon gelb und wächsern, bloß bei dem Gedanken, flie gen zu müssen. „Damit ich nicht vergesse“, fuhr der Haupt mann schneidend fort, „Ihre Kurzsichtigkeit stört mich nicht. Fliegen tue ich, und den Funker habe ich dabei. Der erledigt das übri ge. Sie können sich also ausruhen und von mir aus gänzlich die Augen zumachen.“ 59
Hauptmann Melzer flog den Werkstattflug so, wie er jede solche Erprobung flog, d. h. er schenkte sich und der Maschine nichts. Bald ganz hoch oben, wo man eigentlich schon den Atemschlauch anschließen mußte, bald unmittelbar über den Betonbahnen des Plat zes, Steilkurven und -abschwünge wechsel ten in bunter Folge. Es dauerte nicht einmal allzu lange, bis dem Unteroffizier, wohl schon vor Angst, das Frühstück aus dem Gesicht fiel, was den Staffelkapitän allerdings nur zu der grimmi gen Feststellung veranlaßte: „So, jetzt wis sen Sie hoffentlich, wozu die Flieger die Startverpflegung brauchen.“ Nach der Lan dung setzte er dieser Belehrung noch hinzu: „Und wenn Sie alles Nötige veranlaßt haben, werden Sie sich einen Eimer Wasser schnap pen, Lappen und Bürste dazu und das Innere meiner Maschine appellfertig machen. Die Spuren Ihres heroischen Selbstversuchs müssen getilgt werden.“ Das „Jawohl, Herr Hauptmann!“ kam recht kläglich heraus. Ja, von der Art war Hauptmann Melzer, und deswegen liebten, ja vergötterten ihn seine Flieger, gleichgültig, ob sie Offiziere, Unteroffiziere oder Mannschaften waren. Kein Mensch konnte sich erinnern, daß der Staf felkapitän jemals eine Disziplinarstrafe aus gesprochen hatte. Melzer wurde auf andere Art mit seinen Leuten fertig, so daß jeder von 60
ihm zur Rechenschaft Gezogene eine Lehre für das Leben erhielt, und das sollte an die sem Nachmittag noch deutlicher werden. Hauptmann Melzer hatte nicht gedacht, seinen belehrten Rechnungsführer so bald wiederzusehen. „Haben Sie die Startverpfle gung schon verteilt? Das ging ja fix?“ „Herr Hauptmann. Ich brauche frische Milch und Eier. Der Herr Stabsintendant von der Horstkommandantur aber gibt mir nichts, weil er erklärt, für die Startverpflegung eines bloßen Verlegungsfluges sei der Absprung horst verantwortlich.“ „Ach so“, meinte der Hauptmann und stand auf. Das Ritterkreuz an seinem Hals, für den Staffelkapitän eines Kampfgeschwa ders Ausgang 1941 noch eine Seltenheit, klingelte leise, „der Herr Stabsintendant! Da sehen Sie mal, Schoemann, was man für ei nen Ärger mit Bürokratentypen haben kann.“ Schoemann wurde rot. Er hatte die Anspie lung wohl verstanden. Minuten später stand der Hauptmann zorngerötet vor dem Verpflegungsminister des Horstes. Er ließ den sichtlich wohlgenähr ten Herrn gar nicht erst zu Wort kommen: „In zehn Minuten meldet mir mein Rech nungsführer, daß er die Startverpflegung für vierundvierzig Mann, gleich elf Maschinen a vier Mann erhalten hat. In einer Stunde wird er mir melden, daß er darüber hinaus von Ihnen auch die Frontzulage erhalten hat. Wir 61
gehen mit beginnender Dämmerung zum Feindeinsatz.“ „Das kann ich unmöglich tun, Herr… Herr…“ „Ach so! Sie können nicht? Auch gut. Dann holen wir uns das Zustehende selbst. Was meinen Sie wohl, mit welchem Vergnügen meine Flieger Ihre Arsenale ein wenig er leichtern werden? Meine Staffel erhält jeden falls, was sie braucht. Den Weg dazu dürfen Sie sich aussuchen, Herr – Stabsintendant.“ „Ich werde Meldung machen, über Sie, un erhört!“ „Sie haben recht, es ist wirklich unerhört, von Fliegern zu verlangen, daß sie gegen den Feind fliegen. Könnte ja sein, daß ein paar Besatzungen nicht zurückkehren. Dann hat man etliche Portiönchen Chokakola und Stu dentenfutter eingespart, nicht wahr? Aber meine Staffel bekommt ihr Teil, darauf kön nen Sie sich verlassen, Herr Stabsintendant.“ *** Unteroffizier Wex, der Bordmechaniker der Besatzung Sachs, hatte sich auch nach seiner Beförderung nicht geändert. Er war stur wie eh und je, aber er tat seine Pflicht. Die Tat sache, daß man die Besatzungen über das Ziel noch immer im unklaren ließ, machte ihn wirbelig. Nach seiner Meinung machte man schon lange den Fehler, daß man die jungen 62
Besatzungen zu sehr sich und ihren spintisie renden Gedanken überließ. Das mußte sich bei jedem späteren Feindflug rächen. Gerade die Zeit vor einem Einsatz, von dem jeder wußte, daß er in der Luft lag, zehrte an den Nerven. „Wir spielen Skat“, erklärte er kurz und be stimmt und zündete sich seine ausgekohlte Pfeife an, „Skat mit Contra, Re und Spritze – um die ganzen Francs.“ „Ich verstehe nicht“, widersprach ihm der Obergefreite Ahausen, „daß man in solchen Augenblicken ans Spielen denken kann.“ „So, und woran denkst du, wenn ich fragen darf, Herr Graf?“ Das „Herr Graf“ war der Spitzname des Funkers, weil sein Name ir gendwie nach Adel klang und weil er, als Sohn einer Hansestadt, immer etwas Steifes und Zugeknöpftes zur Schau trug. „Ich versuche, mich seelisch auf den Ein satz vorzubereiten.“ „Aha! Seelisch. Dann will ich dir mal see lisch etwas Bescheid stoßen, Gräflein. Du wirst dich jetzt brav zu Pappi setzen und mit ihm Skat dreschen, und wehe dir, wenn du nicht aufpaßt! Skatspielen fördert nämlich die Verdauung, und ich lege als Bordmechaniker Wert darauf, daß sie bei euch Bürschlein noch funktioniert, bevor wir starten. Ich kann es nicht leiden, wenn die Chose in der Aufregung in die Hosen geht. Außerdem gibt Skatspielen dem Hintern eine gesunde Gesichtsfarbe.“ 63
Der „Graf“ war von diesen rohen Worten verletzt, er machte jedenfalls ein angewider tes Gesicht. „Wie Kintopp“, bemerkte trocken Wex dazu und amüsierte sich sichtlich dar über, daß sein Besatzungskamerad mit seiner Empörung wohl nur zurückhielt, weil er sie als Obergefreiter einem Unteroffizier nicht ins Gesicht schleudern konnte. „Verschaff dir ruhig einen seelischen Stuhl gang“, sagte der Unteroffizier und grinste sarkastisch, „Hauptsache ist, du spielst trotz dem Skat. Damit wir aber nicht aneinander vorbeireden, mein Lieber, Ich kann meine Unterhaltungen nicht wie du mit lateinischen und griechischen Zitaten spicken, weil meine Eltern wegen Überfluß an Geldmangel mich nicht auf eine höhere Schule schicken konn ten. Aber ich kann im Gegensatz zu dir ver dammt gut beurteilen, was eine Besatzung vor dem Einsatz braucht, nämlich möglichst viel Ablenkung und keinerlei ‚seelische Vorbe reitung’. Meditieren kannst du von mir aus, so viel du willst, wenn wir wiedergekommen sind, und am besten draußen auf dem Don nerbalken.“ Ahausen machte noch immer ein überheb liches Gesicht, doch zu seiner Ehre muß ge sagt werden, daß die Zeit sehr schnell kam, in der er von sich aus ein Skatspiel vor dem Einsatz vorschlug. Im Augenblick freilich bestätigte er sich selbst die Feststellung, die er schon öfter 64
beim Barras zu machen geglaubt hatte, daß nämlich „höhere Bildung“ zuweilen eher ein Hemmschuh war. So weit war er eben im jet zigen Augenblick noch nicht, daß er das, was er „höhere Bildung“ nannte, nur als höhere Verpflichtung erkannte. Doch wenigstens in soweit war der Krieg ein ganz guter Lehrva ter. Wie mancher „feine Pinkel“, wie derlei Leute spöttisch von ihren Kameraden ge nannt wurden, hatte er sich bald daran ge wöhnt, daß Kraftausdrücke, die zu Hause die ganze Familie zu Salzsäulen hätten erstarren lassen und Tante Malchen bestimmt flach auf den Teppich gebracht hätten, im Feld als see lisches Sicherheitsventil wahre Wunder be wirkten. Wex mogelte beim Kartenspielen, daß sich die Balken bogen, und strich augenzwinkernd das Geld mit vollen Händen ein. Er war doch gespannt darauf, wann seinem blasierten Bordfunker endlich einmal die Galle überlau fen würde, und wann das Engelchen endlich mit der Faust auf den Tisch schlagen würde. Doch dazu war der „Graf“ vielleicht zu vor nehm. Da hielt Wex, der doch der Angegrif fene sein wollte, es nicht mehr aus. „Ihr seid mir so lahme Hirsche. Keinen Mumm habt ihr in den Knochen. Euch kann man vor die Tür… und dann um ein Stück Papier klingeln, von euch bekommt man doch keinen Tritt.“ „Kannst du haben“, taute nun endlich der Funker auf, „jetzt hab’ ich’s nämlich satt.“ 65
Und der Obergefreite holte mit aller Kraft seiner nicht sonderlich sportlichen Arme zum Schlag aus, den der gewandte Wex mühelos parierte. „Hoppla!“ lachte er, „also endlich doch tät licher Angriff auf einen Vorgesetzten. Aber eins will ich dir flüstern, Graf: Die Sauwut, in die ich dich jetzt hineingeritten habe, die hebst du dir schön auf, bis du einen engli schen Gegner vor dir hast, und dann drauf.“ Beschämt, aber nicht uneinsichtig, ließ Ahausen den abermals erhobenen Arm sin ken. Doch da mischte sich Unteroffizier Sachs, der Besatzungskommandant, ein. Das fehlte noch, daß seine Besatzung noch vor dem Einsatz eine Schlägerei anfing. Er wollte seine Männer von ihrem Thema ablenken. „Du könntest uns eigentlich mal erzählen, Wex, wie es kam, daß du auf einmal als überzählig bei der Staffel herumhingst. Wo ist denn dei ne frühere Besatzung geblieben? Ich habe dich das schon lange mal fragen wollen.“ „Das ist eine Geschichte“, maulte Wex, „die ich euch nach dem Feindflug erzähle. Vorher könnte sie euch die Laune verder ben.“ „Das habe ich gern“, brummte halblaut Ahausen, „erst große Töne, und dann knei fen. Wir sind doch keine Kinder!“ So leise Ahausen auch gesprochen hatte, Wex hatte ihn doch gehört und warf ihm ei 66
nen halb belustigten, halb finsteren Blick aus halbgeschlossenen Augen zu: „Was dich be trifft, bin ich mir nicht so sehr sicher, was das Kindsein anbelangt. Aber von mir aus! Es war im Hochsommer 1940. Damals flo gen wir jeden Tag nach Südengland, meist nach London, bis uns die Tommies plötzlich mal doch eine Jagdabwehr vorstellten, die nicht aus Pappe war und die auch nicht mit Papierkugeln schoß. Damals flogen wir unse re Einsätze mit der Do 17 von Abbeville aus. Mein Kutscher war ein junger Leutnant, kein sehr angenehmer Vorgesetzter, aber ein ta delloser Flieger. Ein Kutscher, wie es sie heute gar nicht mehr gibt.“ Diese bissige Bemerkung glaubte er seinem Kommandanten, der ihn auf dieses gefährliche Thema losgelassen hatte, schul dig zu sein. „Damals kamen wir mit einem Motor gerade noch zum Platz zurück. Wie un ser Kommandant es geschafft hat, die engli sche Spitfire abzuhängen, weiß ich bis heute noch nicht. Der Funker war schon tot, als wir über das Festland kamen. Die Mühle – ich darf heute noch nicht daran denken – be stand überhaupt nur noch aus Löchern, die durch ein wenig Blech zusammengehalten wurden. Schlecht und recht konnte der Kut scher die Mühle auf den Platz hineinrutschen lassen, aber nicht mehr so, wie er selbst es wollte. Wir schlugen mit einem fürchterlichen Bums auf. Quatsch, daß ich euch Kindsköpfen 67
das erzähle. Ihr werdet schon auch noch euer Teil bei der Luftwaffe der alten Germanen er leben. Fragt mich mal, wie es zuging, daß ich als einziger der Besatzung lebend aus den Trümmern gezogen wurde. Ich weiß es nicht; und nun haltet gefälligst die Klappe! Ich spreche sonst nicht gern davon.“ Weitere Gespräche, die trotz der Ableh nung des Unteroffiziers todsicher gefolgt wä ren, unterbrach der U.v.D. mit der Trillerpfei fe: „Fliegendes Personal – fertigmachen! Flugzeugführer und Beobachter zum Zimmer des Staffelkapitäns, Funker zur Bodenfunk stelle und Bordmixer zu den Maschinen!“ Sonderbar. Wie verändert auf einmal die Welt aussah, als die Flieger, alle schon in die Kombinationen gekleidet und die FT-Hauben aufgestülpt, ins Freie traten. Es war, als hät ten sie all das, was sie auf jedem xbeliebigen Flugplatz bis zum Überdruß sehen konnten, noch nie gesehen. Wie ein ängstli ches Häschen duckte sich die Bodenfunkstelle irgendwo ins niedrige Gehölz, der Peilrahmen auf ihrem Dach wirkte wie Filigranspielzeug, und der Flugleitungsturm sah aus, als habe ihn in einer Spielstunde ein Büblein mit dem Baukasten gebaut. Von irgendwoher klang das Brummen warmgelaufener Motoren. Es hörte sich für die Männer auf einmal an, als klinge fernes Orgelspiel über das Gelände. Hauptmann Melzer machte die Einsatzbe 68
sprechung kurz: „Es liegen anscheinend zu verlässige Meldungen darüber vor, daß sich vor und im Bristol-Kanal ein Geleit mit an scheinend recht wertvoller Ladung sammelt. Wir fliegen bis ins Zielgebiet im Verbandsflug, wegen der Dunkelheit, die wir unterwegs zu erwarten haben, weit aufgelockert. Weitere Befehle gebe ich an Ort und Stelle über den BzB-Funk. Wir haben wenig Bomben an Bord wegen der hohen Treibstoffreserven, auf die wir notgedrungen bei dem weiten Anflug nicht verzichten können. Also nicht herum kleckern, sondern klotzen, wo es sich lohnt. Wenn ich ausfallen sollte, übernimmt die Verbandsführung Oberleutnant Rupprecht. Ich starte mit den Maschinen. Rupprecht und Trunk als erste. Sammeln während der Platzrunde. Also Hals- und Beinbruch!“ Hauptmann Melzer wußte schon, warum er so kurz angebunden war. Nur jetzt keine me lodramatischen Vorträge mehr. Die Hälfte der Staffel bestand aus jungen Besatzungen. Er fahrungen, die sie nicht bereits durch die vo rangegangene Schulungszeit und durch Ge spräche mit Kameraden gewonnen hatten, jetzt vermitteln zu wollen, war nicht nur zwecklos, das konnte die Dachse nur noch verwirren. Sie würden ohnehin allerhand Murks anstellen, davon war er überzeugt. Lehrgeld mußte jeder bezahlen. Der Spätnachmittag war trotz des Winters ein rechter Vorfrühlingstag. Silberklar die 69
Luft, an den Himmel gesprenkelt einige weiße Wattebäuschchen, die aussahen wie flecken lose Unschuld. Bloß dumm, daß die meilen weite Sicht einem möglichen Gegner genauso zustatten kam wie einem selbst. Die Maschinen funkelten in der Sonne, als freuten sie sich über das ideale Flugwetter. Ideales Flugwetter? – Hatte der Hauptmann das auch gedacht? Vielleicht! Ein ideales Einsatzwetter war es jedenfalls ganz und gar nicht. Für jeden Jagdschwarm würde man über der See hängen wie auf einem Präsen tierteller. Doch weg jetzt mit schwarzen Ge danken. Die Scheiben der Kanzeln schienen zu lachenden Augen zu werden, und etwas von ihrer frohen Stimmung schien sich auch auf die Männer zu übertragen. Sie kletterten nicht frischfröhlich in die Kisten, wie es in der Heimat in Liedern und Vorträgen so oft be tont wurde, aber sie stiegen in die Kanzeln auch ohne dumpfe Vorahnungen und ohne Bangigkeit. Maschine auf Maschine rollte vom Liegeplatz an den Sandsackboxen weg und ordne te sich am Start in die Reihe der Wartenden ein. Vielstimmiges Brüllkonzert schwerer Mo toren dann, die erste Kette raste los, die Leitwerke hoben sich schon gehorsam vom Boden, und die Maschinenleiber zitterten leicht, bevor sie sich und ihre tödliche Bom benlast hinaufzogen in den azurblauen Him mel. 70
Elf schlanke, „fliegende Füllfederhalter“ wurden kleiner und kleiner, verschmolzen endlich als Lichtpünktchen mit dem unendli chen Himmelsblau. Die Staffel ging fast genau auf Nordkurs. Sie flog nicht sehr hoch und doch lange nicht so niedrig, wie sie in kurzer Zeit schon fliegen würde, wenn die gegnerischen Radargeräte, die zu diesem Zeitpunkt noch nicht im Einsatz waren, sie tiefer und tiefer zwingen würde. Es dauerte nur kurze Zeit, bis die Küste überflogen wurde, und nur Minuten, bis die am Boden so imposant wirkenden Riesenvö gel nichts waren als ein Pünktchen in dem weiten Raum zwischen Himmel und Meer, stählerne Albatrosse, Meer und Himmel glei chermaßen verbunden. Auch dem Meer? Die Besatzungen hatten jetzt, mit Aus nahme der Flugzeugführer, wenig zu tun, und auch die konnten die Lage ihrer Maschinen mehr oder weniger nach der des Staffelkapi täns ausrichten. Auf der Funksprechwelle herrschte Schweigen. Hauptmann Melzer wußte gut, was die Tommies sich drüben auf ihrer Insel für einen Abhördienst aufgebaut hatten. Keine Welle, die nicht mehrfach be setzt war und die von ihnen nicht in überra schend kurzer Zeit angepeilt wurde. In bezug auf Kurz- und Ultrakurzpeilungen hatten sie der deutschen Technik sogar allerhand vor aus. Es war nicht nötig, die Briten durch un 71
nötiges Quatschen schon jetzt darauf auf merksam zu machen, daß ein deutscher Luftwaffenverband im Anmarsch war. Oberfeldwebel Thalheim, der in der Ma schine des Staffelkapitäns als Beobachter flog, war wütend: „Das ist mal wieder typisch Wetterfrösche“, schimpfte er, „Windrichtung und -stärke stimmen überhaupt nicht. Alles Käse. Wir müssen den Kurs neu absetzen.“ Sein Besatzungskommandant blieb ruhig. „Von mir aus kann sogar eine radikale Wet teränderung dabei herausschauen“, sagte er. Alle Männer an Bord blickten in ständig kleiner werdenden Abständen auf die Uhr. Jetzt konnte es nicht mehr weit sein bis zu den gemeldeten feindlichen Schiffen. Fünf zehn Minuten vielleicht, möglicherweise auch nur zehn, vielleicht sogar nur fünf. Kein Mensch wußte genau, wo der britische Flot tenverband im Augenblick wirklich lag. Allen klopfte das Herz bis zum Hals, auch denen, die längst die silberne oder gar die goldene Frontflugspange trugen. Zu lange waren sie alle nicht mehr in solchen Situatio nen gewesen, und jetzt erst ahnten alle, daß die Kriegsentwicklung auch auf der Gegensei te kaum stehengeblieben war. Und dann kam doch alles ganz anders, als man es sich vorgestellt hatte. In der Verlän gerung der Flugzeugachsen tauchte eine Ma schine auf. Eine einzige. Eine Sunderland, ein riesiges, aber schwerfälliges Flugboot und in 72
jener Zeit als Gegner in der Luft schon nicht mehr zu fürchten. Da zuckelte nun die übergroße Maschine gemütlich am Himmel dahin, als gäbe es kei nen Krieg. Dann endlich schien die Mühle die heranbrausenden deutschen Flugzeuge gese hen zu haben, und sie glaubte sich anschei nend wenigstens in einem nicht zu irren, nämlich, daß die deutschen Kampfmaschinen es schwerlich auf sie abgesehen hatten. Sie drehte schnell ab und flog in Richtung Osten, auf das britische Inselland zu. Nun schaltete Hauptmann Melzer den Sprechfunk ein. „Die Schiffe können nicht mehr weit sein. Entdeckt sind wir sowieso. Wo die Raubvögel sind, da ist meist auch das Wild.“ Schon wuchsen die Schornsteine, Lade bäume und Aufbauten aus dem Horizont her vor. Geleitzug? Nun, die Schiffsansammlung sah eigentlich nicht nach dem aus, was sich insbesondere die jungen Besatzungen unter einem Konvoi vorgestellt hatten. Das war eher eine Generalversammlung von Fracht schiffen. Und ohne jeden Schutz durch Kriegsschiffe? Die Männer in den Maschinen sahen jedenfalls nichts, was nach Kriegsschiff aussah. Das mochte, hatte erst der Angriff begonnen, wahrscheinlich wenig besagen. Heutzutage hatten längst auch die schwerfäl ligsten Frachtdampfer Flakgeschütze genug an Bord. 73
Größer und größer wurden die Pötte, und überall konnten die Flieger Kielwasser sehen. Kielwasser. Das warf alle taktischen Überle gungen über den Haufen. Der britische Ver band dampfte nordwärts. Wo wollten die denn hin? Doch jetzt brauchte man danach nicht zu fragen. Die Hauptsache war, man erwischte sie. „Feindjäger von steuerbord hinten oben.“ Aha, so gänzlich nutzlos war die alte Tante Sunderland also doch nicht hier herumge krebst. Über das BzB-Gerät kam die Stimme des Staffelkapitäns: „Wieviel können ausgemacht werden?“ Er fragte das so ruhig, als frage er im Lokal nach einem reservierten Tisch. „Wir können nur fünf sehen.“ „Aufschließen und zusammenbleiben. Laßt euch nicht auseinandersprengen, wenn sie angreifen. Das wäre das Schlimmste, was uns passieren könnte.“ Die Stimme des Hauptmanns klang be schwörend. Er wußte, wie groß beim Jägerangriff die Versuchung war, durch Abschwen ken die eigene Maschine aus dem Geschoß hagel des Feindes zu nehmen, mit dem meist einzigen Erfolg, daß die jetzt auf sich allein gestellte Maschine ein billiges Opfer wurde. An den doppelläufigen MGs 81 und an den MGs 131 mit 13 mm-Kaliber flogen die Siche rungsringe herum. „Nicht zu früh schießen, herankommen las 74
sen!“ bellte die Befehlsstimme des Staffelka pitäns. Aber neue Besatzungen sind nervös, und sie unterschätzen in der Luft nur zu leicht Entfernungen. Auf Distanzen, die unmöglich Erfolg versprachen, rasselten schon die ers ten Gurte durch die Laufe. Einer der Feindjäger schnitt im Messerflug über die Wellen. „Einen haben wir schon her untergeputzt“, schrie der Obergefreite Ahau sen von der Besatzung Sachs. „Armleuchter!“ brüllte sein Kamerad Wex, „meinst du, die fallen durch Niesen herun ter?“ Wieder die Stimme des Staffelkapitäns: „Nicht aus dem Verband brechen, sonst put zen sie euch einzeln ab.“ Von irgendwoher klang es wie eine Luft schutzsirene. Es dauerte den Bruchteil eines Augenblicks, bis die Besatzung Sachs begriff, daß das der andersartige Motorklang einer britischen Spitfire war, der wie ein Messer in die Ohren schnitt. Unteroffizier Sachs, der mit seiner Maschine im Verband am weites ten rechts flog, zog unwillkürlich den Kopf ein, als ein Schatten über die Maschine huschte, so nahe, daß es aussah, als wolle die Spitfire die Do rammen. Ganz flüchtig dachte er: ,Gott sei Dank! Nicht nur bei uns gibt es Anfänger. Da hat sich auch einer übernommen!’ War es Traum oder Wirklichkeit? Sachs 75
wußte es nicht. Er sah nur plötzlich kreisrun de Kokarden einer zum Überschwung anset zenden einmotorigen Maschine, und er sah die Erscheinung genau in dem gelben Farb dreieck vor sich, über das er zielte, wenn er im Sturzflug die Bomben auslöste, und über das er zielte, wenn er gleichzeitig mit dem starren MG 151, einer 15 mm-Waffe, das Ziel unter Feuer nahm. Er wußte hinterher gar nicht, daß er etwas getan hatte, aber sein Daumen mußte wohl den Feuerknopf betätigt haben. Wie ein unbeteiligter Zuschauer bei einem aufregenden Spiel, so sah er plötzlich gelb-bläuliches Feuer aus dem langen schlanken Rohr züngeln, das direkt unter sei nen Füßen die Kanzel nach vorn durchstieß, dann löste sich an der Maschine vor ihm ein Fetzen. Ein Aufbäumen des getroffenen Geg ners noch, und er schmierte ab. Fast spiele risch tauchte seine linke Fläche ins Wasser ein, und genauso spielerisch löste sich die Maschine in ihre Einzelteile auf. Auch das plötzliche, kräftige Hochziehen der Do geschah ohne, ja fast gegen den Wil len des jungen Flugzeugführers. Auf kürzeste Entfernung hatte er ja geschossen. Er wäre mitten in die Sprengstücke der Spitfire hin eingeflogen. In die Wirklichkeit rief Sachs erst die Stimme des Staffelkapitäns zurück: „Saubere Arbeit, Sachs! Gratuliere! Das EK ist Ihnen sicher.“ 76
Herrgott im Himmel. Was hatte er getan! Er, Sachs, der eine Mücke, die ihren Saugsta chel schon in seine Haut versenkte, behut sam zu verscheuchen pflegte, der eine Spin ne, die ihn in der Stube belästigte, mit bloßer Hand aufnahm und ins Freie trug, er hatte einen Menschen getötet, einen Flieger gleich ihm. Er bereute, daß er den tödlichen Knopf gedrückt hatte, hatte völlig vergessen, daß der andere ihm ans Leder wollte und daß er das wahrscheinlich auch geschafft hätte, wenn er den Anflug nicht völlig verkehrt an gesetzt hätte. Und weiter dröhnte ringsum die Luft in ei nem höllischen Inferno, auch jetzt noch, nachdem die See einen Menschen verschlun gen hatte. Motoren brüllten auf beiden Seiten mit Kampfleistung, und die Waffen hämmer ten ihr greuliches Stakkato dazwischen. Durch die Kanzeln der Kampfflugzeuge zog ätzend der Qualm von Pulver und reizte zum Husten. Es war Wahnsinn, gerade für die neuen Be satzungen. Jetzt erlebten sie am eigenen Leib, was sie bisher nur aus Erzählungen von Ka meraden, in Schilderungen aus Fronzeitungen und aus Aufnahmen von Kriegsberichtern in den Wochenschauen kannten. Was war das alles, was sie bisher gehört, gelesen oder ge sehen hatten, für ein harmloser Abklatsch ge gen die Wirklichkeit. Sie hatten alle gewußt, daß Krieg war und daß Krieg alles andere war 77
als eine Kleinkinderbewahranstalt, aber sie merkten doch, daß selbst die schlimmste Vorstellung und die Wirklichkeit meilenweit voneinander entfernte Dinge waren. So war das also? Hier stürzten sich Men schen, die einander nicht kannten, die einan der vielleicht geachtet, möglicherweise sogar geliebt hätten, wären sie sich anderswo be gegnet, wie freßgierige und ausgehungerte Dschungelbestien aufeinander, beschossen sich mit Myriaden tödlicher Kugeln bis zur Vernichtung. Man sah den Gegner, einen Mann, der vielleicht fast genau den gleichen menschlichen, beruflichen und fliegerischen Werdegang hatte wie man selbst, in den Flu ten der See verschwinden. War das alles viel leicht nur ein reißerisches Kinostück, oder träumte man das Ganze? Träumte man es nicht, dann war der ganze Krieg Wahnsinn! Oder war auch das nicht richtig? Kriege hatte es doch schon immer gegeben, seit es Men schen gab. Im Geschichtsunterricht der Schulen hatte man einstmals Kriegsdaten auswendig lernen müssen. Wie lange das tödliche Spiel wirklich dauer te, wußte niemand. Man flog Ausweichbewe gungen, schloß gleich wieder zum Verband auf, man schoß und schluckte den ätzenden Pulverdampf. Man war eine Maschine gewor den, man selbst, ein Mensch aus Fleisch und Blut, war zu einer fürchterlichen Todesma schine geworden. 78
War es Treibstoffmangel oder Verabredung mit dem eigenen Flottenverband, der die bri tischen Jäger abdrehen ließ, als die deut schen Kampfflugzeuge die Schiffe erreicht hatten? Wahrscheinlich das letztere. Die Schiffe wußten, daß sie im entscheidenden Augenblick doch mit ihrem deutschen Gegner allein fertigwerden mußten, und es schoß sich schlecht, wenn im feindlichen Verband die eigenen Jagdflugzeuge herumkurvten. Nun eröffneten die Pötte ihr Flakfeuer, das bis dahin geschwiegen hatte, und wer, insbe sondere von den jungen Besatzungen, mit seinen Vorstellungen vom Krieg noch nicht umzudenken gelernt hatte, der lernte es jetzt. Durch den britischen Jagdangriff war das Manöver, das Hauptmann Melzer beabsichtigt hatte, nicht gänzlich geglückt. Er wollte den Schiffsverband von hinten anfliegen, so, wie er sich selbst den deutschen Maschinen ur sprünglich angeboten hatte. Nun war man mehr oder weniger an die Seite der Schiffe gedrängt worden, und die Quittung dafür stellten die Engländer auch sofort aus. Das noch unfertige Geleit verfügte über Hunderte von Rohren, und da war nicht eins, das nicht gehässig alles an Stahl ausgespuckt hätte, was sein gieriges Verschlußmaul zu fressen bekam. Unteroffizier Sachs zählte und wiederholte den Vorgang. Er suchte vorn und hinten den 79
Himmel ab. Er kam immer nur bis zehn. Das bedeutete also, daß eine der eingesetzten elf Maschinen auch verloren war, und wieder überfiel ihn das große Grauen so stark, daß er meinte, er könne die Ruder seiner Maschi ne nicht mehr dirigieren. So einfach war das? Irgendwer im Verband zählte und stellte fest, daß eine Kameraden maschine fehlte. Niemand vorher hatte das gemerkt. Oder doch? Vier von denen, mit de nen man Stunden vorher noch gescherzt, ge spielt, gegessen hatte, lagen jetzt schon zer schmettert auf dem Grund des Meeres, ge nauso wie ihr britischer Gegner, den er – er! – heruntergeholt hatte. Sachs glaubte es seiner eigenen Haltung schuldig zu sein, den Gefallenen jetzt, gerade jetzt, ein ehrendes Gedenken zu widmen, und da erkannte er, daß er nicht einmal wuß te, wer fehlte. Er wollte versuchen, die Kenn zeichen der Maschinen zu überprüfen, und schaffte es nicht, die der nächsten Nachbar maschinen herauszubekommen. Die Luft hier schien zu kochen. Blödsinnig kam es Sachs auf einmal vor, daß er die Vorstellung hatte, die ganze Welt sei ein einziger, glitzernder Weihnachtsbaum, an dem Wunderkerzen ihre Funken nach allen Seiten verspritzten. Die Sternchen, die hier herumspritzten, waren gewichtiger, zwei Zentimeter dürfte ihr leichtestes Kaliber gewesen sein. In einem Kulturfilm längst vergangener 80
und halb vergessener Friedenstage hatte Sachs einmal gesehen, wie das Wasser im Amazonas zu kochen schien, als Piranhas, die gefräßigsten Fischräuber der Welt, eine Beute angriffen. So kochte jetzt auch der Atlantik, und es dauerte eine Weile, bis Sachs sich zu sammenreimen konnte, was er sah. Die im, am, unter und über dem Verband explodie renden Flakgranaten streuten ihre Splitter ins Meer. Da waren die Schiffe. Wie gewaltige Fisch leiber lagen sie unter den Maschinen, und die Besatzungen konnten die Männer dort unten über die Decks hasten sehen, Männer, denen das Sterben genauso schwer fiel wie ihren deutschen Gegnern, Männer, die im Augenblick ganz ähnliches dachten wie die Flieger in der Luft, nur in einer anderen Sprache, und Män ner, um deren Leben sich Menschen zu Hause genauso sorgten wie um das ihrer Feinde. Wie oft hatten die Flieger von Soldaten des Heeres gehört, daß die Flieger doch den schlauesten Teil des Soldatseins erwählt hät ten. Für sie dauere der Kampf immer nur kurze Zeit, während die Landser in einer Tour im Dreck liegen müßten, bis man sie einmal ablöste. Aber wo gab es hier oben etwas wie eine „volle Deckung“, etwas, was auch nur Splitterschutz versprach? Es gab nur eins: Glück haben, Dusel, besser gesagt. Menschli che Überlegungen und Berechnungen hätten gar nicht ausgereicht, jetzt das Richtige zu 81
tun. Mechanisch wurde getan, was getan werden mußte. Auffahren der Bombenschächte, Einschalten der Zünderschaltkäs ten, Aufziehen der Reihenabwurfautomaten, Einschalten der Zielgeräte. Mörderische Me chanik des Krieges, hier oben wie dort unten. Die einen blickten mit Augen, die keine Zeit zum Angsthaben hatten, in die schwarzen Schlünde der auf sie gerichteten Kanonen, die anderen in die gähnenden Öffnungen der Bombenschächte. Hörte man nicht im Pfeifen der Granaten, im Dröhnen der Motoren und im gurgelnden Fallgeräusch der Bomben das geckernde Lachen des Todes, der allein der Gewinner eines solchen Ringens sein konnte? Und er, der Tod, war es auch, der im Ver ein mit seinem Verbündeten, dem Kriegsgott, die beiderseitigen Soldaten als Einzelwesen auslöschte und sie zusammenschmolz zu ei ner anonymen Masse Werkzeug, einer Masse, die tötete und getötet wurde. Sie alle waren gezwungen, das Gesetz der Selbsterhaltung, höchste Triebfeder des Lebendigen, zu ver achten. Dulce et decorum est pro patria mori, hat te man den Jungens einst auf der Schule ein gebläut, und hier, im Orkan und Brüllen von Pulver, Dynamit, Trinitrotoluol, Trinitrophenol und Chloratsprengstoffen, und wie diese Werkzeuge des Todes noch alle heißen moch ten, hier merkten sie, daß sterben nie süß war, wofür immer man auch sterben konnte. 82
Da und dort sprangen die Explosionspilze der einschlagenden Bomben aus dem Was ser, jagten Gischtgeiser fast bis hinauf zu den Tragflächen der Flugzeuge, die sich jetzt, im gelösten Schwarmverband, jedes für sich ein Ziel suchten. Ein Schiffsleib hob sich, wie von einer gi gantischen Unterwasserfaust geschoben, aus dem Wasser, daß die Schraube hilflos die Luft peitschte, daß die Aufbauten schräg standen, bis das Schiff, Produkt so vieler fleißiger Ar beit, über den Bug in der schäumenden See versank. *** Als die Besatzungen ihre Gefechtsberichte abgegeben hatten, sprachen sie kaum noch von dem zurückliegenden Einsatz. Die Besat zung von Leutnant Nikolaus war nicht zu rückgekehrt. Der Aufenthalt im Wochenend häuschen von Hauptmann Melzer am Starn berger See war Leutnant Nikolaus’ letzter Ur laub gewesen. Die aber zurückgekehrt waren, waren leer, ausgebrannt, und nun erst wuß ten sie, was solche Worte bedeuten mochten. Früher hatten sie über sie hingelesen, wenn ihre Augen in Frontberichten darauf trafen. Ausgebrannt. Sie schienen nicht mehr der Gemeinschaft lebender Menschen anzugehö ren, auch wenn ihre Bewegungen, ihre Worte die von Menschen waren. Darin unterschie 83
den sich erstmals die alten Besatzungen nicht mehr von den jungen, denn etwas wie den soeben abgelaufenen Angriff hatten sie beide noch nicht erlebt. Das waren keine Vergleiche mehr mit dem Jahr 1940 und auch keine mit den Einsätzen in Südosteuropa. Wie lange konnte der Krieg noch dauern? Wie oft mußte sich das Geschehene noch wiederholen, bis einmal Frieden war? Dieses in den Maschinen Sitzen, nichts anderes tun zu können, als das, was fliegerisch schon in Fleisch und Blut übergegangen war, und zu warten? Worauf zu warten? Daß es den Ka meraden in der Nachbarmaschine vom Him mel pusten würde – oder einen selbst. Wann einmal man selbst? Verfolgungseinsatz durch die Staffel? Nicht daran zu denken. Erst einmal mußten die Maschinen wieder klar gemacht werden. Kei ne, die nicht Schäden aufzuweisen gehabt hätte, und wenn nicht durch Beschuß, dann am Triebwerk. Jeder Pilot hatte ja die Moto ren überfordern müssen, erst beim Jägeran griff, dann beim Ausweichen vor dem feindli chen Artilleriefeuer, schließlich beim Wegzie hen. Gegen nichts hatten Flieger, hatten Solda ten, die schon einmal den letzten Zipfel vom Grauen des Krieges abgehoben hatten, grö ßere Abneigung, als vor allem hohlen Pathos. Menschen, die das Flügelrauschen des To desengels gehört haben, bekommen ein sehr 84
feines Ohr für falsche Töne und für falsches Wortgeklingel. Sie haben auch einen sechs ten Sinn für Leute, die selbst behutsam ihr kostbares Leben schützen und die die eigene Vorsicht durch tapfere Worte zu übertünchen versuchen. Und wo gab es Leute, die sich selbst an jeder Gefahr vorbeizudrücken ver suchten, schon nicht? Mit einem riesigen „Horch“-Wagen kam am späten Abend ein „Beauftragter des Reichs marschalls“, angeblich, um den Besatzungen zu ihrem stolzen Erfolg zu gratulieren. Daß ihm die Pflichterfüllung selbst lästig war, ent nahm ein aufmerksamer Zuhörer schon aus den ersten Worten. Die Männer hätten viel lieber ihre Ruhe gehabt. Statt dessen mußten sie sich im Dienstanzug, der auch erst „mo bil“ gemacht werden mußte, im Speisesaal versammeln, um sich „markige“ Worte anzu hören. Es war sehr viel die Rede von Tapferkeit und Heroismus, von der Härte des Kampfes; aber noch der kleinste Gefreite fragte sich, was das jetzt und hier sollte. Feldwebel Trunk benutzte jede Sprechpau se zu einem geflüsterten, aber deutlichen „meck – meck“, und er brachte dadurch seine ganze Umgebung zum Lachen. Nicht einmal der Unteroffizier Breuer, der gläubig alles für bare Münze zu nehmen pflegte, was von „hö herer Warte“ aus gesehen wurde, puffte ihn heute in die Seite. 85
Auch der hohe Herr versuchte den einen oder andern gewaltsamen Scherz und war sichtlich erfreut, daß die Flieger vor ihm schon wieder gehorsam lachten. Ob er sich auch so gefreut hätte, wenn er gewußt hätte, daß die Männer viel mehr über Trunk und Un teroffizier Wex lachten? Wer sparte nicht für die ihm Zunächstsitzenden mit bestimmten Kommentaren über den Sprecher, und er wußte es so geschickt mit seinen Pointen ein zurichten, daß die anderen immer dann los prusten mußten, wenn das hohe Tier das oh nehin erwartete. Als der hohe Gast lässig grüßend endlich wegfuhr, konnte auch Hauptmann Melzer seine Gesichtszüge entspannen, die er wäh rend der lichtvollen Ausführungen in die vor geschriebenen Aufmerksamkeitsfalten legen mußte, obwohl er mit einem Ohr hinter sich auf das Murmeln seiner Leute lauschte. „Es gibt schon seltene Pflanzen in unseres Herrgotts Tiergarten“, sagte er zu einem der nächststehenden Horstoffiziere, „ein Glück bloß, daß der alte Sperrle zu seinen fliegen den Verbänden steht, sonst könnten sich die Herren nie gehörter Stabe noch ganz andere Fauxpas erlauben.“ Es gab nur einen von denen, die dem Hauptmann zugehört hatten, und die ihm nicht von Herzen beistimmten, und auch die ser gehörte nicht zu den Fliegern, sondern war der Nachrichtenoffizier vom Grup 86
penstab, Oberleutnant Schneider. Im Zivilbe ruf war er Bankkaufmann und Erbe eines gutgehenden väterlichen Geschäfts, und er war als einziger Sohn eines hochvermögen den Bankiers entsprechend verwöhnt worden. Die vulgäre Sprache der Flieger mit ihren Kraftausdrücken und auch die Redeweise von Hauptmann Melzer waren ihm ein ständiger Greuel. Immerhin, war der Oberleutnant nicht so dumm, um nicht zu wissen, daß die Flieger, angefangen vom Gruppenkom mandeur bis hinunter zum jüngsten Bordme chaniker, ihn heimlich verachteten. Das taten sie nicht, weil sie etwa grundsätzlich jeden verachteten, der nicht selbst flog, sondern einfach, weil sie sich einen gesunden Instinkt dafür bewahrt hatten, wer ein Kerl war und wer nicht. Wie viele dieser Typen, schrieb der Oberleutnant diese Empfindungen ihm ge genüber aber dem Umstand zu, daß sie alle in ihrer Primitivität seine „feinere“ Lebensart nicht leiden mochten. Die Abneigung der Vorgesetzten, Gleichgestellten und der Un tergebenen sah er als nichts anderes an, als einen Aufstand der Niedrigen gegen alles, was Höhe hatte. Auf die Idee, daß sein sorgsames Bemü hen, nur ja jeder noch so kleinen Gefahr aus dem Wege zu gehen, und die Tatsache, daß er bewehrt mit Stahlhelm und Gasmaske je weils der erste in den Splitterschutzgräben war, wenn Fliegeralarm gegeben wurde, daß 87
das erst den gutmütigen Spott der anderen, und später, als seine Hasenfüßigkeit immer deutlichere Formen angenommen hatte, ihre kalte Verachtung gezeitigt hatte, darauf kam er gar nicht erst. Nach der siebenten Staffel flogen auch noch die achte und neunte gegen die glei chen Schiffe. Das Geschwader zog schließlich auch die zweite Gruppe noch nach und setzte sie ein. So gehörte nicht viel strategische Be gabung dazu, um herauszubekommen, daß hinter dem Ganzen mehr stecken mochte, als offiziell bekanntgegeben wurde. Jeder fragte sich, wie es weitergehen sollte. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis das britische Geleit der Reichweite normaler deutscher Kampfflugzeuge entzogen sein würde. Was dann? Da kam der Verlegungsbefehl. Zurück zu den niederländischen Einsatzhäfen des Ge schwaders. Dort begannen die Männer jedoch rasch zu merken, daß diese Verlegung nur eine Zwi schenstation sein sollte. In fieberhafter Ta ges- und Nachtarbeit wurden die Maschinen wieder startklar gemacht, und hätte noch ei ner daran gezweifelt, daß dicke Luft war, er wäre dadurch belehrt worden, daß das flie gende Personal geschlossen mit zum War tungsdienst heran mußte. Das kam immer nur dann vor, wenn es gewaltig pressierte, und folglich pressierte es jetzt. 88
Zwei Tage nach der Rückkunft der Staffeln von den nordfranzösischen Ausweichhäfen kam ein neuer Verlegungsbefehl. Er lautete für einen südnorwegischen Einsatzhafen. Nun begannen auch die Denkträgsten zu kombinieren: Norwegen? Von dort aus konn te man auch das nördliche Großbritannien, konnte man Schottland, konnte man den englischen Flottenstützpunkt Scapa Flow und die Orkneys erreichen. Sollte etwa der Luft waffe die Aufgabe zufallen, die britische Ho me Fleet in ihren Schlupfwinkeln auf zustöbern und zum Kampf zu stellen? Gerüchte wucherten wie tropische Sumpf pflanzen, und kein aufklärendes Wort kam vom Kommandeur, nur eins Warnung. Die Flugzeugführer sollten daran denken, daß Norwegen nicht Holland war. Dort oben wür de es kein „Hineinrutschen“ in den Platz mehr geben, rundum waren die Plätze von Bergen eingeschlossen, und auch alle etwaigen Aus weichplätze waren genauso mit Hindernissen gespickt. Wer dort oben nicht trotz hoher Bombenlast gehörig hoch herauskam und nach dem Feindflug nicht steil wieder herun ter, den verschluckten die Berge. „Wir fliegen im lockeren Verband“, befahl der Major, „und wir landen an unserem Ziel im Fünfminuten abstand.“ Norwegen also. Gab es da einen Mann, der vor dem Krieg nicht davon geträumt hätte, einmal eine Nordlandreise nach Norwegen zu 89
machen, dem Land der Fjorde, dem Land der Mitternachtssonne hoch oben im Norden? Dem Land, wo das Leben in jeder Form noch ursprünglicher sein sollte als in der eigenen Heimat, dem Land, wo es allgemeinem Ver nehmen nach wunderschöne Mädchen geben sollte. Nun hatten sie also die Nordlandreise gratis, sogar eine Flugreise. Was wollten sie mehr? Menschen sind ja solch brave Ge wohnheitstiere. Gestern war Krieg, und morgen würde wieder Krieg sein. Aber heu te gab es die Nordlandreise. Man würde Neues, Schönes sehen. Stille Buchten, blaue Berge, das träumende Wasser der Meeres zungen. Das war doch endlich einmal etwas ande res als die langweilige Tiefebene hierzulande, wo man bei geringer Flughöhe und klarer Sicht aus 50 km Entfernung die Start- und Landebahnen sehen konnte. Aufpassen soll ten sie, hatte der Kommandeur gesagt. Das wollten sie gern. Hauptsache, es gab wieder einmal eine willkommene Abwechslung. Und dann war es doch fast wie immer, ganz anders jedenfalls, als ihre Phantasie es sich ausgemalt hatte. Als der Verband von Südwesten her das neue, das gepriesene Land anflog, das trot zig, wie gewaltige, mittelalterliche Burgen aus dem Meer aufwuchs, da begann doch manch einer zu begreifen, daß es bei 90
spielsweise bei einem Ausfall der Peilgeräte nicht ganz leicht fallen würde, immer den Platz wiederzufinden. Diese Fjorde! Ja, sie waren schön. Mehr noch, sie waren gewaltig, aber sie von hier oben aus der Vogelschau zu unterscheiden, heiliges Kanonenrohr, das war schon ein anderes Ding. Wie lange man wohl hierbleiben würde? Urplötzlich waren die Gedanken an Nordland reise und so ausgelöscht. In den Sternen ir gendwo mochte geschrieben stehen, wie lan ge man die Ehre hatte, Gast in Europas nörd lichstem Land zu sein. Und der Teufel mochte wissen, welchen Zielen die von hier aus zu fliegenden Einsätze gelten würden. Wer wohl den Verlegungsflug zurück nach Holland, wenn es einen solchen überhaupt einmal geben sollte, nicht mehr mitmachen würde? Hole doch der Geier die verdammten Gedanken, die sich nicht zur Ruhe zwingen ließen. Warum konnte man bloß nicht von Zeit zu Zeit den dummen Gedankenapparat einfach abschalten, so wie man beispiels weise das Bordnetz ausknipsen konnte? Viel leicht war der Mensch doch eine Fehlkon struktion von Mutter Natur, wie irgendein Spaßmacher einmal behauptet hatte? Der Platz teilte schon mit, daß er den an fliegenden Verband sehen könne, nur vom Verband sah noch kein Mensch den Platz. Die Maschinen gingen höher und kurvten. Der Teufel mochte sich in diesem Gewimmel von 91
Inseln, Schären, Schründen und Wasserläu fen auskennen. Doch da lagen endlich die sich rechtwinklig kreuzenden Startbahnen. Die Komman deursmaschine wackelte zum Zeichen, daß der Verband sich auflösen solle. Im vorgeschriebenen Abstand stellte sich Maschine auf Maschine auf die linke Tragflä che und kippte ziemlich steil nach unten weg. Hier mußten die Besatzungen, im Gegensatz zu den Niederlanden, zeigen, daß sie irgend wann auch einmal zu landen gelernt hatten. Hier galt ein anderes, riskanteres Landen als auf den weiten Ebenen der norddeutschen Tiefebene oder Hollands. Die Flugzeugführer drosselten das Gas und brachten die Landeklappen in Startstellung. Kurve, Fahrwerk raus, Landeklappen voll ausgefahren, runter! Ein wenig nachgetrimmt und aufgesetzt. Fast exerziermäßig wickelte sich das Ganze ab. Wenn der Kommandeur ursprünglich mit ein wenig Bammel den Lan dungen der anderen zuschaute, dann mach te sein Gefühl bald einer Befriedigung Platz. Erfahrungsgemäß war schon immer die ers te Landung auf einem unbekannten Platz die schlimmste. Später wurde es leichter, wenn man schon eine Nase für die Platzver hältnisse hatte, wenn man sich genügend Markierungspunkte gesammelt hatte und die Handgriffe infolgedessen wie im Schlaf klappten. 92
Endlich lichtete sich auch das Geheimnis, das bis dahin über allem geschwebt hatte. Der Gruppenkommandeur selbst lüftete den Schleier. Er holte in der Horstkantine seine ganze Gruppe zusammen, und bei ei nem Glas Bier sagte er seinen Männern, um was es ging. Der deutschen Führung lagen zuverlässige Nachrichten darüber vor, daß die Alliierten bei den Orkneys einen Mammutgeleitzug zu sammenstellten. Vielleicht war der Grund darin zu suchen, daß die bisherigen Geleite, die sie, für Sowjetrußland bestimmt, um das Nordkap schleusten, zu große Verluste hatten hinnehmen müssen, sei es durch deutsche Kampf- oder Torpedoflugzeuge, sei es durch deutsche Seestreitkräfte und U-Boote. Die Angloamerikaner wollten das Risiko anschei nend nun dadurch verkleinern, daß sie ein Riesengeleit zusammenstellten, dessen Größe man vorerst trotz aller Aufklärungstätigkeit nur vermuten konnte. Major Schunck war schon öfter von vorge setzten Dienststellen seiner Eigenart wegen – wenn nicht gerügt, so doch vorsichtig ange sprochen worden. Er pflegte die Dinge immer beim Namen zu nennen und gehörte nicht zu jenen Geheimniskrämern, die nur ihren engs ten Mitarbeiteroffizieren berichteten. Wenn seine Männer sich für etwas rückhaltlos ein setzen sollten, dann mußten sie auch wissen, wofür. Daher sagte er auch heute: 93
„Sammelpunkt aller Schiffe scheinen die Orkneys zu sein, und da die ganze Versamm lung dort noch wartet, ist wahrscheinlich mit dem Eintreffen weiterer Flotteneinheiten zu rechnen. Ich brauche wohl nicht zu betonen, daß der Gegner alles Menschenmögliche tun wird, um eine so kostbare Versammlung zu schützen. Wie lange uns Zeit bleibt, wissen wir nicht. Wir werden aber nach Möglichkeit schon in den Aufmarsch hineinstoßen und werden das Geleit, ist es erst in Fahrt, so lange verfolgen, wie wir können. Die beiden anderen Gruppen des Geschwaders liegen auch hier irgendwo, und höher im Norden sind weitere Verbände der Luftwaffe. Sie werden zu gegebener Zeit die Arbeit, die wir nicht mehr vollenden können, fortsetzen.“ „Die wir nicht mehr vollenden können’’, hatte er gesagt. Was meinte er bloß damit? Glaubte er, daß dann die Entfernungen zu groß würden, oder meinte er, daß der eigene Verband dann so zerschlagen sein würde, daß er die Arbeit abbrechen mußte? Die meisten der Männer starrten auf ihr Bierglas, als gäbe es in seinem Muster und in den Zeichnungen, die der Gerstensaftschaum darauf zurückließ, wunder was zu sehen. Feldwebel Trunk, wie üblich nicht imstan de, seine Zunge zu zügeln, ließ ein „Ach, du dicke Suppe!“ hören. Alles lachte, und dem Kommandeur schien das Lachen der Männer nicht einmal ungele 94
gen zu kommen, denn er schmunzelte und wandte sich an den Vorlauten: „Sie haben ganz recht, das wird eine ganz dicke Suppe werden, für uns alle, dieses Unternehmen ,Albatros’„. Es wurde schnell ernst, viel schneller so gar, als die meisten vermutet hatten. Die erste Einsatzbesprechung auf dem neuen Fliegerhorst stieg. Von den meisten unbemerkt, war eine Ju 88 auf dem Platz gelandet, die als Aufklärer fungiert hatte. Ihr Kommandant machte sei ne Meldung. Fernschreiben flogen verschlüs selt durch die Drähte davon, andere kamen zurück, und schließlich rannten die U. v. D. durch die Staffelunterkünfte und holten mit ihren Trillerpfeifen die Männer zusammen. In einer Stunde sollten die Staffeln starten. Das war die günstigste Zeit. Dann war man gera de mit dem letzten Schimmer Tageslicht über den feindlichen Schiffen und würde ihnen noch einheizen können, bevor die Nacht Freund und Feind verschluckte. Hundert ge gen eins zu wetten, daß die Briten auch al lerhand Jäger in die Luft bringen würden, wenn der Tanz losging. Es tat schon gut, zu wissen, daß die Hummeln einen wegen der Lichtverhältnisse nicht über die ganze See hinweg verfolgen konnten. Noch gab es ja keine wirklich funktionierende Nachtjagd. „Daß mir die befohlenen Zeiten eingehalten werden!“ ordnete der Kommandeur an, „jede 95
Minute, die wir vom Plan abweichen, stellt den Erfolg unseres ganzen Unternehmens in Frage, und, was schlimmer ist, jede Minute kann uns Verluste bringen, die sich vermei den lassen. So, und nun, Funker und Bord mechaniker, an die Liegeplätze! Flug zeugführer und Beobachter bleiben hier!“ Dann erschien der Platzmeteorologe und hielt Vortrag: „Ein Blick zunächst auf die Großwetterlage, meine Herren.“ Er hatte tat sächlich „meine Herren“ gesagt, der grasgrü ne Laubfrosch, auch zu den Unteroffizieren und Oberschnäpsern. Aber in das aufkom mende Kichern hinein sprach der „Wetterma cher“ weiter: „Während sich von der Biskaya bis zum Mittelatlantik ein ausgedehntes Hoch erstreckt, treten bei Island erste Störungen auf, die auf ihrer Rückseite…“ „Mein Gott“, fauchte Major Schunck, „ma chen Sie es kürzer, Mann. Wir wollen uns nicht den Podex an der Biskaya wärmen, in teressanter wären schon die Wassertempera turen der Nordsee hier herum. Aber die ha ben Sie wohl nicht zufällig bei sich?“ Das Auditorium wieherte. Ja, ihr Alter. Der wußte besser, wo seine Flieger der Schuh drückte, als so ein Stubengelehrter: „Geben Sie uns kurz und bündig das Streckenwetter, das wir zu erwarten haben!“ befahl der Ma jor. „Was dann an Ihren ganzen Prognosen nicht stimmt, erzählen wir Ihnen haarklein, wenn wir wiederkommen.“ 96
Gekränkt trat der vor versammelter Mann schaft Gescholtene von einem Bein aufs an dere. „Sie werden eine Sicht haben von gu ten zwanzig Kilometern bei leichtem Dunst über dem Wasser. Feuersicht etwa das Dop pelte. Bedeckung etwa fünf bis sechs Zehn tel, Wolkenuntergrenze etwa zweitausend zweihundert Meter.“ „Na also“, schnaufte der Major befriedigt, „wenn wir demnächst in Flitterwochen in die Biskaya fahren, werden wir uns vertrauens voll an Sie wenden.“ Völlig geknickt verließ der Laubfrosch den Besprechungsraum. Was verstanden denn schon die Flieger davon, wieviel Sorgen man sich täglich mit dem Wetter machen mußte? Die wollten einfach fliegen und ebenso ein fach das Wetter dafür haben. Wo ein armer Meteorologe es hernahm, war ihnen völlig schnuppe. Doch er besaß wenigstens so viel Einfühlungsvermögen, daß er noch daran denken konnte, daß er selbst jetzt ja auch nicht einem völlig ungewissen Schicksal ent gegenfliegen wollte. Immerhin konnte er es nicht unterlassen, ganz für sich ein ge hauchtes „Gott sei Dank!“ seinen Überlegun gen hinzuzufügen. An den Liegeplätzen liefen die Motoren schon warm, als beim Kommandeur der Stabsarzt anrief: „Es tut mir leid, Herr Major, aber Ihr Funker kann unmöglich fliegen. Mei ne Diagnose: Akute Blinddarmentzündung. 97
Ich fürchte, ich werde den Mann nicht einmal mehr ins Standortlazarett einweisen können, sondern werde ihn der Eile halber selbst ope rieren müssen.“ „Himmeldonnerwetter“, fluchte der Kom mandeur, „warum hat er mir denn nichts da von gesagt? Das wirft meinen ganzen Einsatzplan über den Haufen.“ „Ich muß Ihren Oberfeldwebel in Schutz nehmen, Herr Major. Er wollte sich mannhaft die Schmerzen bis nach dem Einsatz verknei fen, weil er wußte, daß Sie selbst den Ver band anführen wollten. Ich kam gerade hin zu, als er den Sani um eine schmerzstillende Tablette bat, und bei meinen Fragen ist dann alles herausgekommen. Ich weiß auch, um was es geht; aber ich kann nicht verantwor ten, den Mann auch nur eine Stunde unope riert zu lassen.“ „Schon gut, das sehe ich natürlich ein. Ich frage mich bloß, was ich machen soll. Nun ja, das können Sie auch nicht entscheiden, Dok tor.“ Der Major legte den Hörer auf. Eine andere Besatzung aus dem Einsatz ziehen und deren Funker nehmen? Fragte sich nur, welche Besatzung. Wie die Dinge hier lagen, kam es erstens auf jede Maschine an, und andererseits, der Kommandeur woll te auch keinen falschen Eindruck bei seinen Fliegern hinterlassen. Wenn er eine Besat zung jetzt ausschloß, fragte sich höchstens 98
jede andere, warum nicht sie das Schwein hatte, zu Hause bleiben zu können. Und den ganzen Stabsschwarm zu Hause lassen und die Gesamtverantwortung den Staffelkapitä nen aufbürden? Ausgeschlossen! Da kam dem Kommandeur eine Idee: „Ru fen Sie mir Oberleutnant Schneider!“ befahl er dem Gruppenschreiber. Der Gerufene erschien bald und klapperte mit den Hacken vor dem Major herum wie ein Rekrut. ,Kein sehr angenehmer Gedanke, mit so etwas zu fliegen’, dachte der Major, der die Abneigung seiner ganzen Gruppe gegen das Bankierssöhnchen teilte. Laut sagte er: „Mein Funker ist ausgefallen. In letzter Minu te. Ich dachte mir, Sie würden als Funker in meiner Besatzung fliegen.“ Der Nachrichtenoffizier hörte die Botschaft und konnte sie anscheinend, so schnell, wie sie gegeben wurde, gar nicht verdauen. End lich schien bei ihm der Groschen zu fallen, denn er verfärbte sich zusehends. „Wenn ich Herrn Major gehorsamst darauf aufmerksam machen darf, daß es mir nicht opportun erscheint, bei der Wichtigkeit des bevorstehenden Einsatzes die Bodenfunkstel le sich selbst zu überlassen. Es muß doch ein Offizier vorhanden sein, der die einkommen den Nachrichten dem Fliegerkorps weiterlei tet.“ Schneider sprach schnell und über stürzt, offensichtlich bestrebt, den Alten so 99
schnell wie möglich von seiner Idee abzu bringen. ,Nun gerade nicht’, dachte der Major und sagte: „Es wird vor unserer Landung keine solchen Nachrichten geben. Im übrigen brau chen Sie sich nicht so geschraubt auszudrü cken, Herr Schneider. Wenn Sie schlicht und einfach sagen würden ,Herr Major, ich habe schon jetzt die Hosen voll’, käme das der Wahrheit sehr viel näher.“ „Herr Major verkennen mich. Auch ich brenne wie jeder andere Offizier darauf, mich vor dem Feind auszuzeichnen.“ Mit einem halb lachenden, halb verach tungs-vollen Blick streifte der Major seinen Nachrichtenoffizier. „Na gut, dann brennen Sie heute mal lich terloh. Die Gelegenheit, sich vor dem Feind auszuzeichnen, ist da. Besorgen Sie sich also das Nötige, und machen Sie sich fertig!“ „Jawohl, Herr Major. Gehorsamsten Dank, Herr Major!“ Major Schunck zog die Mundwinkel nach unten, während er dem Davongehenden nachsah. Hoffentlich gab es heute abend kei ne Schwierigkeiten in der Funkerkanzel. Auf einen Funker wie den war kein Verlaß. Es wäre für den Major ein leichtes gewe sen, seinen Nachrichtenoffizier los zu werden, aber als aufrechtem Soldaten widerstrebte es ihm, bei einer höheren Kommandostelle ge legentlich ein Wort fallen zu lassen. Aber et 100
was mußte geschehen, das war ausgemachte Sache. Mit Offizieren wie diesem war bei ei nem fliegenden Verband kein Staat zu ma chen. „Habt ihr schon gehört“, raunte es bald durch die Staffel, „der Schneider fliegt beim Alten als Funker?“ „Das ist Quatsch“, gab Trunk seinen Senf dazu, „der Kommandeur hätte ihn mir über lassen sollen. Ich hätte schon dafür gesorgt, daß ihm sein Herz da klopft, wo es bei ihm von Rechts wegen hingehört.“ „Ich kann ihn auch nicht leiden“, mischte sich nun der unverbesserlich „Zackige“, Un teroffizier Breuer, ein, „aber du solltest im Respekt vor Vorgesetzten eigenen Unterge benen ein Beispiel sein.“ „Schnauze! Wenn’s das Lametta machte, müßte man vor jedem Weihnachtsmann stramm stehen. Bei mir fängt der Vorgesetz te dort an, wo ich ihm begegne, während er ohne Rangabzeichen herumläuft und ich trotzdem mein Männchen baue.“ Und mehr war über das Thema wohl auch wirklich nicht zu sagen. An den Liegeplätzen der Maschinen gab der Kommandeur die letzten Weisungen: „Zer störern und allen Arten von Kriegsschiffen wird aus dem Wege gegangen, klar? Wir ha ben nicht den Ehrgeiz, die britische Kriegs flotte zu vernichten, und seitdem mal ein Ge freiter überraschend Leutnant wurde und das 101
Ritterkreuz bekam für die Versenkung eines Flugzeugträgers, den später ein U-Boot und noch später ein italienisches Kriegsschiff ver senkt haben wollen, ist ohnehin nicht mehr viel Staat damit zu machen. Denkt an die Landser im Osten! Jede Granate, die nicht in Murmansk ankommt, fällt auch nicht auf deutsche Gräben.“ Die ersten Warte machten ihre Meldungen an die Flugzeugkommandanten. Es wurde ge lacht und gescherzt bei den Männern, und nur ein sehr aufmerksamer Beobachter hätte vielleicht gemerkt, daß die Lachtöne nicht immer echt waren. Aber auch darin lag ein ungeschriebenes Gesetz der Kampffliegerei. Vor dem Einsatz hatte es keine bedrückten Mienen zu geben, und alle hatten zu lachen. Es gab noch ein anderes fliegerisches Ge setz – und ebenso ungeschrieben. Jeder Kommandant umschritt, bevor er die Ein stiegluke betrat, noch einmal seine Maschine. Kein Mensch wußte, wozu das gut war oder sein sollte, denn technische Mängel entdeckte man auf diese Weise kaum. Nacheinander, in der taktischen Reihenfol ge, rollten die Maschinen zum Start. Die Luft erzitterte wie bei einem Hexensabbat. Mit auf-und abschwellendem Brummton, je nachdem, wie die Kurven zu rollen waren, schoben sich die Maschinen vorwärts, stellten sich auf und warteten. Fast verloren stand ir gendwo neben der Startbahn ein Mann von 102
der Flugleitung, und nachdem er, wie der Rennleiter beim Avus-Rennen, seine Flagge gesenkt hatte, brüllten die BMW-Triebwerke im Diskant los. Vogel um Vogel raste mete orgleich über die Betonbahn, klebte zunächst wie mit Ketten gefesselt am Boden, bis er sich endlich halb widerwillig, halb fügsam doch löste. Mit allem, was die paar tausend Pferde hergaben, wurde hochgezogen. Die ver dammten Berge hier. Gnade Gott! Heutigen tags wurde einem ehrlichen Flugzeugführer schon eine ganze Menge abverlangt. Hauptmann Melzer war vor dem Krieg be reits als Flugkapitän der Lufthansa geflogen. An die Zeit konnte er heute nicht mehr ohne ein gewisses grimmiges Vergnügen zurück denken. Einen Platz wie den hier hätte man zuzeiten der heiligen Hansa noch nicht einmal als Notausweichhafen gelten lassen. Heute flog man über so etwas spazieren mit 2000 kg hochbrisantem Sprengstoff an Bord und mit bis zum Überlaufen vollgetankten Müh len. So wandelten sich die Zeiten. Doch einmal war auch die letzte Maschine vom Boden, und draußen, gerade noch in Sichtweite der Küste begann das Aufschlie ßen zum Verband. Der erste Start zum Un ternehmen „Albatros“. Auf dem Gruppengefechtsstand herrschte inzwischen jene fieberhafte Geschäftigkeit, die all denen, die zu Hause geblieben waren, 103
schon zur Gewohnheit geworden war. Es war nun einmal so, daß jene, die flogen, beim Einsatz häufig genug die anderen beneideten, die während der Zeit schön warm im Bunker sitzen konnten. „Die wärmen sich den Aller wertesten, der uns vielleicht bald kalt wird.“ Solche und sicherlich noch deutlichere Re densarten waren bei allen Fliegern gang und gäbe. Doch sicherlich hatten die wenigsten von ihnen schon mal die Zeit, während der ein Einsatz abrollte, auf dem Grup pengefechtsstand verlebt. Vielleicht hätten sie dann den Männern, die dort stumm, ver bissen und möglicherweise auch stur ihren Dienst taten, manches abgebeten. Bei dem Ia, Oberleutnant Rupprecht, bim melte das Telefon fast ununterbrochen, und nie nahm er ohne heimliches Grauen den Hö rer ab. Konnte es nicht jetzt schon eine Ka tastrophe künden? Natürlich kamen meist harmlose Anrufe, aber wer kann einer Tele fonbimmel anhören, welcher Art die Meldung sein wird, die sie ankündigt? „Hier ist die Küche. Wann sollen wir das Essen und den Kaffee für die Besatzungen fertig haben, Herr Oberleutnant?“ Rupprecht rechnete. „Warten Sie mal. Sa gen wir, in genau drei Stunden.“ „Jawohl, Herr Oberleutnant.“ Vom Raum des Ia war die Bude der Funker nur durch eine Wand getrennt. Dort saßen zehn Mann an den Tischemp 104
fängern, hatten die Kopfhörer aufgestülpt und warteten – warteten. Alles in allem würden sie vier Stunden lang so warten müssen, ob ihnen die Metallbügel der Hörer verbunden mit dem zirpen auch die Köpfe sprengen wollten. Es war Krieg, und alle Frequenzen, gleich gültig auf welchem Band sie lagen, waren hoffnungslos überbesetzt, bei Freund und Feind. Es gab gar kein so langes Frequenz band, daß alles, was jetzt funken wollte und mußte, Platz darauf gefunden hätte. Daher hatten die Funker meist mindestens vier Sender trotz aller Feinabstimmung gleichzei tig drin, und alle jaulten, japsten, zirpten, piepsten und brummten sie ihr monotones ta-tü-ta-ta in den Äther. Wenn die Männer die Hörmuscheln auch weit am Kopf nach hinten schoben, hineinhören in den Salat mußten sie doch, denn kam auch nur das lei seste Piep von einer der Maschinen, mußten sie da sein, ganz da sein. Nach zehn Minuten dröhnte ihnen von dem Getöns der Kopf, nach einer Viertelstunde vermeinten sie, wahnsinnig werden zu müssen, nach einer halben Stunde waren sie restlos mit ihrer Kraft am Ende, und doch lauschten sie, wie eine Katze vor dem Mauseloch auf das Pfeifen ihrer Beute wartet. Wer es vier Stunden wäh rend eines Einsatzes ununterbrochen an so einem Empfänger aushielt, immer in der Angst, das Rufzeichen zu überhören, der büßte in dieser Zeit alle Sünden ab, die er 105
zeit seines Lebens begangen hatte, und etli che zukünftige noch dazu. „Irgend etwas aufgeschnappt?“ platzte der Ia in die Funkerbude. Der Feldwebel, der an Stelle des als Bord funker in der Kommandeursmaschine flie genden NO die Oberaufsicht hier führte, schob die Hörmuscheln noch ein Stückchen weiter nach hinten, schaute flüchtig von sei ner Funkerkladde auf und sah den Oberleut nant mit blicklosen Augen, in denen es fiebrig glänzte an. „Nein, Herr Oberleutnant, keine Meldung.“ Danach beugte der Feldwebel den Kopf gleich wieder tief, schob die Muscheln wieder ein paar Zentimeter vor und fingerte mit den Händen eines vorsichtigen Chirurgen an den Abstimmknöpfen seines Gerätes herum. Also wenn es nach ihm gegangen wäre, zehnmal lieber in einer Maschine als Funker zu fliegen als dieses Fegefeuer hier aus tausend piep senden Ätherstimmen. Hier gab einer in ra sender Folge Fünfergruppen, wo anders schmierte jemand Dreiergruppen in die Mor setaste, und irgendwo gab einer Peilzeichen. Kein Mensch auf Erden, dessen Gehirn fähig gewesen wäre, dieses Sammelsurium aus einanderzuhalten, und doch ging es für die Funker um Sekunden, wenn eine Maschine das Rufzeichen der Bodenfunkstelle klopfte. Konnten die paar Zeichen, die da durch den Äther heranschwirrten, nicht das Letzte sein, 106
was man von einer Maschine hörte? Konnten sie nicht unter Umständen alles für die Ret tung von Kameraden bedeuten, konnten sie nicht eine Gefahr von anderen, vielleicht so gar vom Horst abwenden? Wie ein gefangenes Tier in seinem Käfiggit ter schritt Oberleutnant Rupprecht in seinem Dienstzimmer im Bunker auf und ab. Die dik ken Betonwände ließen kein Geräusch von draußen herein, und er kam sich vor wie der erste Mensch auf einem andern Stern. In ei ner Drei-Viertelstunde konnte der Verband an den feindlichen Pötten sein. Noch 45 Minuten, endlose Minuten! Es gab so viele Fragen für einen, der nicht dabei war, der nicht dabei sein durfte, und vor der Rückkehr der Besat zungen würde es auf keine dieser Fragen ei ne Antwort geben. Drei Schritte vor, drei Schritte zurück stapfte der Ia, her und hin, wie eine Maschi ne, die fremdem Willen gehorcht. Oberleutnant Rupprecht wußte ganz gut, daß ihn so mancher Fliegeroffizier um den angeblichen „Druckposten“ beneidete. Aber, zum Geier! Er machte jedenfalls den Dienst hier nicht mehr lange mit. Er würde den Kommandeur bitten, in Kürze einen andern Ia zu benennen und ihn wieder zu einer Staf fel zurück zu versetzen. Beim augen blicklichen großen Verschleiß an Staffelkapi tänen konnte er vielleicht sogar einen eige nen Haufen bekommen. 107
Schön, man brauchte hier nicht um das ei gene Leben zu bangen, noch nicht einmal, wenn es britischen Bomberverbänden einfiel, den deutschen Platz zur Minna zu machen. So ein Bunker hielt schon einiges aus. Aber oben in der Luft, da war man doch dabei, konnte etwas tun, konnte selbst Einfluß auf das Geschehen nehmen. Hier konnte man nur warten, und statt der eige nen fliegerischen Sorgen trug man die einer ganzen Gruppe mit. Die Phantasie, durch ei gene, zurückliegende Einsätze geschult, gau kelte einem Bilder vor, die an Schrecknissen eher die Wirklichkeit noch hinter sich ließen. Das war das Allerschlimmste. Im Verband, während des Fluges, ja meist sogar während des Angriffs, wußte man immer einigerma ßen, was die Glocke geschlagen hatte. Hier konnte man nur phantasieren, besser gesagt, spinnen. Welche Gesichter würden heute feh len, wenn die Gruppe landete? Und wie konn te man die Rätsel, die sich dann auftaten, lö sen? Verdammt noch mal! Die Luft hier drinnen war ja zum Ersticken. Himmel, Arm und Gü termanns Nähseide, immer noch lieber mit dem eigenen Leben spielen, nie wissen, ob der nächste Flug nicht der letzte sein würde, als hier als scheinbar unbeteiligter Zuschauer bei jedem Einsatz neu einem Drama zusehen zu müssen, das nach Gesetzen spielte, die man von hier aus nur in den seltensten Fallen 108
beeinflussen konnte. Der Teufel hole die blö de Stubenhockerei, und er hole die Führungs stellen, die sich einbildeten, ein fliegerischer Offizier habe zu Hause zu hocken, während Kameraden um ihr Leben kämpften. Dieses alte Waschweib Schneider. So et was sollte man zum Heimatoffizier machen. Es gab ja nun einmal Typen, die die Befriedi gung ihres Lebens darin fanden, Statistiken aufzustellen, Listen anzulegen, Schriftver kehrstagebücher zu führen und ähnlichen Kram zu machen. Oberleutnant Schneider war eine solche Type. Nichts konnte sein Herz mehr erfreuen als ein Bogen Millimeter papier, auf dem möglichst viele Diagramme möglichst viele Einzelheiten graphisch fest hielten. Als ob der Krieg von den Federfuch sern gewonnen würde! Doch Oberleutnant Rupprecht mußte sich bald eingestehen, daß mit einer Versetzung seines „Freundes“ zur „Heimatfront“ auch nichts gewonnen wäre. Leute, die andauernd Angst um ihr eigenes, armseliges bißchen Leben hatten, waren auch nicht zu gebrau chen, wenn es galt, irgendwann eine eigene Verantwortung zu übernehmen. Sie schielten doch immer nur mit einem Blick auf den nächsten Vorgesetzten. Luft, Luft! Das bißchen, was die Ventilato ren durch die dünnen Sehschlitze der Beton mauern zogen, war zum Leben zu wenig und zum Ersticken zu viel. 109
„Ich gehe mal einen Augenblick raus“, schrie der Ia in die Funkerbude, „sofort ho len, wenn irgendeine Meldung kommt.“ Ach, das tat gut. Luft! ,Käuze sind doch wir Menschen’, dachte der Oberleutnant, ,alles wissen wir erst zu schätzen, wenn wir es mal entbehren müssen.’ Wer zerbrach sich schon den Kopf, was das ist, richtige frische Luft? Der Oberleutnant dehnte weit die Arme. Aus pennen müßte man auch mal wieder. Alles, was so mit Einsatzvorbereitungen und den vorangegangenen Verlegungen zusammen hing, war letzten Endes beim Ia hängen geblieben. Alle hatten sie ihm Verant wortungen aufgebürdet. Er brauchte ja nicht zu fliegen, nicht wahr? Daß er aber noch bei matten Glühbirnen und verbrauchter Luft im Bunker saß, wenn die anderen schon längst ihre „Augenpflege“ betrieben, wen kümmerte das schon? Nun ja, man durfte auch selbst nicht ungerecht werden. Das war nun einmal so im Leben. Jeder sah die Dinge von der ei genen Warte und damit aus einer verschobe nen Perspektive. Für einen Floh war ein Pferd ein anderes Ding wie für einen Menschen. Früher philosophierten die Schäfer, heutzuta ge taten es die Flieger, und der Unterschied war, bei Licht besehen, gar nicht so groß. Die eigenen Perspektiven wackelten zuweilen wohl auch ein wenig, wie wäre es sonst ge kommen, daß er sich wohlig hier, an der Luft räkelte und gar nicht daran dachte, daß dort 110
drinnen in dem tristen Betonklotz noch ande re Männer hockten, denen ein bißchen Frisch luft genauso gut tun würde wie ihm auch. Schon ging der Oberleutnant wieder hinein, betrat die Funkerbude: „Feldwebel, lassen Sie jeweils einen von Ihren Männern für eine Viertelstunde an die Luft.“ „Jawohl, Herr Oberleutnant.“ ,Armer Kerl!’ dachte der Ia,,der ist geistig schon vollkommen weggetreten.’ Plötzlich hatte der Oberleutnant eine Stink wut im Leibe auf alles, was sich in diesem Krieg durch Gunst des Schicksals, persönli ches Durchmogelungsvermögen oder durch sonstige Umstände ein Dasein weitab vom Schuß gebaut hatte. „Der Höllenfürst hole al le Pfeffersäcke!“ fluchte der Oberleutnant in grimmig, und dabei merkte er eigentlich erst, daß er während seines Aufenthalts im Freien ganz vergessen hatte, seiner Gewohnheit gemäß auch einmal nach dem Wetter Aus schau zu halten. Also wieder nach draußen, denn auf die Wetterwarten war doch kein Verlaß. Bis die mit allen ihren komplizierten Apparaten ein Ergebnis zusammenhatten, hatte ein Flieger mit emporgeho-benem nas sen Finger schon eine ganze Wetterprophetie zusammen. Kam es ihm nur so vor, weil er aus der Hit ze des Bunkers kam, oder es draußen wirk lich wärmer geworden? So langsam breitete sich nach dem Horizont hin die Dämmerung 111
aus, kroch wie eine schleimige Schnecke von Norden her über den Himmel. „Bedeckung etwa fünf bis sechs Zehntel“ hörte er den Me teorologen beim Vortrag sagen. Na, vielleicht stimmte das fürs Streckenwetter, für den Platz würde es wahrscheinlich in Kürze schon nicht mehr stimmen. Eigentlich eine Schwei nerei von der Wetterstelle, daß sie ihn nicht längst auf eine bevorstehende Änderung hin gewiesen hatte. Aber halt! Nicht schon wieder ungerecht werden. Ehrliche Meteorologen gaben immer wieder zu, daß sie unter Umständen nicht für zwei Stunden im voraus das Wetter bestim men konnten, weil es sich nach Gesetzen aufbaute, die sich weitgehend menschlichem Durchschauenkönnen entzogen. Dort im Nordosten jedenfalls preschten im letzten Tageslicht Wolkenfetzen wie Sagentiere über den Platz. Dem Ia gefiel diese Entwicklung gar nicht. Wenn ihn seine Fliegernase nicht trog, dann braute sich dort etwas zusammen, was durchaus nicht im Einsatzbefehl stand. Schon eilte er wieder nach drinnen und klopfte un geduldig auf die Fernsprechgabel. „Vermittlung? Geben Sie mir den Meteoro logen vom Dienst!“ Es meldete sich die Stimme des gleichen Herrn, der vor zwei Stunden noch die Wetter lage von der Biskaya bis zum Nordkap ausei nanderposamentieren wollte. 112
„Jawohl, Herr Oberleutnant. Noch können wir nichts Genaues sagen; aber es hat den Anschein, als ob sich im Nordosten eine Warm-luftfront aufbaut. Das ist zu dieser Jahreszeit und aus dieser Richtung gänzlich ungewöhnlich, und ich möchte daher keine Prognosen aufstellen, die sich nachher als falsch erweisen könnten.“ Der Wetterfrosch kam nicht mehr dazu, seine Darlegungen zu Ende zu führen. Der Oberleutnant hatte nur „Warmluftfront“, „Nordosten“ und „ungewöhnlich“ gehört und wußte schlagartig, was alles sich daraus ent wickeln konnte und was sich hoffentlich nicht entwickeln würde. Schöne Schweinerei. Wenn das eintrat, was Oberleutnant Rupprecht befürchtete, dann hingen die Kameraden in den Maschi nen jetzt am Feind und hatten keine Ahnung davon, daß möglicherweise ihre größte Be währung erst kam, wenn sie vom Einsatz zu rückkehrten. Für die meisten würde es mit Sicherheit mit einem einfachen Hin- und Rückflug nicht getan sein, und folglich wür den die wenigsten genug Sprit mitbringen, um gegebenenfalls Ausweichhäfen anfliegen zu können. Wieder und wieder rannte der Oberleut nant hinaus, wieder und wieder telefonierte er mit der Wetterwarte. Es mußte doch eine Möglichkeit geben, bald Gewißheit zu erhal ten. Man konnte die armen Schweine des 113
Verbandes doch nicht einfach über dem Einsatzhafen in ihr Verderben hineinfliegen lassen. Neunzig Minuten mußte man wohl noch warten, bis die erste Maschine am Platzpeiler hing. Wenn die Wetterentwicklung anhielt, mußte es in neunzig Minuten hier, höchst besch… eiden aussehen. Man war hier nicht in Süddeutschland, noch nicht einmal in der kontinentalen Tiefebene. Hier war Norwegen, und hier bestimmten See und Arktis vorwie gend das Wetter. Wieder griff er zum Tele fon. „Bitte, geben Sie mir den Horstkomman danten!“ Klingelzeichen, Pause, Klingelzeichen. Nie mand meldete sich. „Verbinden Sie mich mit dem Kasino! Aber schnell, wenn ich bitten darf.“ Nein, Major Meinrad, der Horstkomman dant, war nicht im Kasino. ,Blöder Verein’, dachte Rupprecht und merkte gar nicht, daß er schon wieder anfing, ungerecht zu denken, ,wenn man einen von den Hammeln braucht, ist keiner da.’ – „Dann geben Sie mir eben den Vertreter oder den Adjutanten des Horstkommandanten. Irgendwer muß doch im Klub sein.“ Eine Stimme, der man anhörte, daß sie nicht gerade erfreut über die Störung war, meldete sich: „Oberleutnant Thiele!“ „Hören Sie, Herr Thiele, es hat den An schein, als wenn unsere Gruppe durch die 114
veränderte Wetterlage in etwas Fürchterli ches hineingerät. Unsere eigenen Nachrich tenleute sind völlig ausgelastet. Können Sie mir einen Bautrupp, sagen wir mal sechs Mann, zur Verfügung stellen? Aber es muß schnell gehen!“ „Da muß ich doch erst die Erlaubnis des Herrn Horstkommandanten einholen.“ „Dann holen Sie, zum Teufel noch mal, aber machen Sie schnell! Und damit Sie gar keinen Zweifel mehr haben, verehrter Herr, es geht um Leben und Tod der fliegenden Besatzungen. Möglicherweise. Schreiben Sie sich das hinter die Ohren!“ Vor der harten Sicherheit, mit der Rupp recht sprach, schrumpfte die Dickfelligkeit des Gesprächspartners sichtlich zusammen wie Schnee in der Sonne. Ein kleinlautes „Ja wohl“ klang aus der Muschel, als habe ein Gefreiter gesprochen. Befriedigt legte Rupp recht den Hörer auf. Daß doch jeder sich im mer gleich getroffen fühlen mußte, wenn er mal etwas tun sollte, was aus dem täglichen Diensteinerlei herausragte. Als ob die Besat zungen irgendwer fragte, ob es ihnen gerade in den Kram paßte, beschossen zu werden. Wieder bimmelte das Telefon. Diesmal war es Major Meinrad, der Horstkommandant, den Rupprecht noch nicht persönlich kannte, weil niemand nach dem Einfall der Gruppe auf dem Horst Zeit gefunden hatte, die übli chen Vorstellungen zu machen. „Sie haben 115
Schwierigkeiten? Ich wollte Ihnen nur sagen, bitte, verfügen Sie über den gesamten Appa rat des Horstes und selbstverständlich auch über mich, wenn ich Ihnen irgendwie nützlich sein kann. Im letzteren Fall vergessen Sie bitte, daß ich Major, ja daß ich überhaupt Of fizier bin. Sie dürfen mir Befehle geben wie jedem Mann. Ich habe schon für das gesamte Horstpersonal und auch für das Offizierkorps Alarmstufe eins gegeben. Der erbetene Nach richtenbautrupp kommt selbstverständlich in fünf Minuten zu Ihnen.“ Rupprechts Stimme klang belegt, als er antwortete: „Gehorsamsten Dank, Herr Ma jor, nein, herzlichsten Dank!“ Doch von Dank wollte der Horstkommandant schon gar nichts wissen. „Das wenigste, was wir tun können, ist doch wohl, denen zu helfen, die am Feind sind“, sagte er. Dankbar dachte Oberleutnant Rupprecht, daß es solche Männer wie diesen Platzkom mandanten also doch gab und nicht nur die pomadige, langsame Lässigkeit eingefleisch ter Bürokraten, die bei Kriegsausbruch nur ihre Bürojacke mit der Uniform vertauscht hatten, ohne daß sich dadurch in ihren Le bensgewohnheiten irgend etwas geändert hätte. Wieder das Telefon: „Hier spricht Haupt mann Neumeister, Kommandeur der hier eingesetzten Flak.“ Auch diesen Offizier kannte Rupprecht 116
nicht, und so antwortete er nur: „Womit kann ich dienen, Herr Hauptmann?“ „Im Gegenteil, lieber Herr Rupprecht, ich will etwas für Sie tun. Ich verstehe nicht viel von der Fliegerei; aber wenn man so lange wie ich auf Fliegerhorsten Dienst schiebt, be kommt man langsam Augen und Nasen für Entwicklungen. Wird wohl ziemlich böse wer den bei der Rückkehr der Besatzungen, wie? Wenn Ihnen unsere Scheinwerferbatterien oder die Acht Komma acht zum Schießen von Leuchtraketen irgendwie von Nutzen sein können, Herr Rupprecht, Anruf genügt. Ich bleibe auf dem Flakturm eins. Sie brauchen nur die Dreizehn zu verlangen, und aus nahmsweise soll Ihnen die Dreizehn mal Glück bringen. Sie haben damit die gesamte Flaksprechanlage an der Strippe. Ihre Befeh le, die Sie dann geben, gelten heute so viel wie meine eigenen. Mit Ausnahme von schar fem Feuer. Das werden Sie wohl begreifen, denn davon verstehen Sie so viel wie ich von der Fliegerei.“ Wieder stammelte Rupprecht seinen Dank. Blöder, alter Schwarzseher, der er gewesen war. Drei, vier Krummböcke, die einem bei jedem Haufen über den Weg liefen, waren doch nicht die deutsche Luftwaffe. Männer wie Meinrad und Neumeister waren da. Plötz lich hatte Rupprecht die felsenfeste Überzeu gung, daß gar nichts schiefgehen konnte. Vor einer Viertelstunde noch hatte er sich wie ein 117
hilfloser Wurm gefühlt, als einer, der ganz al lein für die Gruppe in der Luft einzustehen hatte, und nun schlug ihm hier so viel Kame radschaft, Hilfs- und Opferwilligkeit entge gen, daß er direkt seiner vorherigen Gedan ken wegen beschämt war. Sobald man es mit Männern und nicht mit Staffagen zu tun hat te, fühlte man sich plötzlich auch nicht mehr verlassen. Schon meldeten sich auch die Männer des Fernsprechbautrupps. Sie schie nen vor Diensteifer zu glühen. Endlich erhiel ten sie mal eine andere Aufgabe als die, Strippen zu flicken. „Mir kommt es darauf an“, erklärte der Oberleutnant, „ein Funksprechgerät, ein FuG 16 auf den Gefechtsstand zu bekommen. Auf unserem alten Einsatzhafen war das längst montiert, aber heute blieb ja zwischen An kunft des Verbandes und Einsatz zu nichts mehr Zeit. Ich muß die Möglichkeit haben, wenn es brenzlig wird, die Besatzungen anru fen zu können. Glauben Sie, daß Sie das in der kurzen Zeit bewerkstelligen können, ein schließlich Aufbau, Montage und Antenne?“ „Selbstverständlich, Herr Oberleutnant.“ Und die Männer mit den braunen Kragenspiegeln spuckten in die Hände und legten los. Ja, Oberleutnant Rupprecht sah nicht mehr ganz so schwarz, obgleich die Wetterlage sich von Minute zu Minute verschlimmerte. Wie der stürmte der Ia in die Funkerbude und sagte zu dem Feldwebel: „Setzen Sie einen 118
Spruch ab und melden Sie die Platzwetterla ge, Hier die Daten.“ Damit schob er dem Feldwebel einen Zettel zu. Funkstille her, Funkstille hin. Jetzt herrsch te hier Ausnahmezustand. „Fügen Sie auf meine Verantwortung noch hinzu, daß, wer irgend kann, mit Sparflug nach Hause kut schen soll, damit notfalls der Sprit weiter zum Süden reicht.“ Es tat Oberleutnant Rupp recht ganz gut, daß er etwas zu tun bekam, wenn auch nicht das, was er lieber getan hätte. „Wie hoch ist die Wolkenuntergrenze?“ rief der Ia wieder die Wetterstation an. „Das können wir erst feststellen, wenn die Flak sich freundlicherweise bereit erklärt, mit ein paar Scheinwerfern den Himmel anzu leuchten.“ Rupprecht fiel fast vom Stuhl. „Ihr Arm leuchter habt wohl lange keinen fliegenden Verband mehr hier gehabt?“ bellte er. „Lah me Säcke! Na, euch werde ich noch Dampf machen, verlaßt euch drauf! Auf die Idee, mal etwas von sich aus zu entscheiden, kommt von euch wohl niemand? Rufen Sie schleunigst Herrn Hauptmann Neumeister an. Jedenfalls in fünf Minuten habe ich von Ih nen, was ich brauche, oder Ihre Socken qualmen nach fünf Wochen noch.“ Himmel, das wirkte wie ein seelisches Brausebad, diesen ruhigen Beamten mal ein heizen zu können. 119
Es dauerte tatsächlich keine fünf Minuten, bis Rupprecht wußte, daß in bezug auf das Platzwetter sich höchstwahrscheinlich seine schlimmsten Befürchtungen bewahrheiten würden. Die Wolken kamen ständig tiefer, und das Barometer fiel zusehends. „Herr Oberleutnant, den Spruch haben wir abgesetzt und zweimal wiederholt. Damit die Maschinen nicht selbst zu tasten brauchen, ha ben wir ausdrücklich auf Quittung verzichtet.“ „Einverstanden. Ist nicht nötig, daß ir gendein neugieriger Tommy die Flugzeuge peilt. Aber lassen Sie es mich sofort wissen, wenn sich eine Maschine meldet.“ Hier hatte man wieder einmal ein Muster beispiel dafür, daß die leider Gottes notwen dige, absolute Funkstille auch ihre Tücken haben konnte. Nur PAN- und SOS-Rufe durf ten das allgemeine Schweigen durchbrechen. War es nun als gutes Omen zu werten, daß ein derartiger Ruf noch nicht durchgekom men war? Lieber Himmel, als wenn nicht ge rade der Ia höchst genau gewußt hätte, daß das Ende einer Maschine und Besatzung meist so schnell kam, daß nicht einmal für Notrufe mehr Zeit blieb. Der Oberleutnant nahm den vor sich auf dem Schreibtisch liegenden Knemeyer zur Hand und rechnete. Wenn sich die Gruppe jetzt nicht bald nacheinander am Peiler mel dete, blieb wahrscheinlich den meisten kein Tropfen Sprit mehr, um an eine Ausweichlan 120
dung zu denken. Die südlichen Plätze waren zur Stunde alle noch offen, das hatte der Ia schon erfragt. Das mochte freilich wenig zu sagen haben. Vielleicht flog einer, der sich nach Süden verkrümelte, bald auch dort in die Waschküche hinein. So besehen, war es möglicherweise falsch, daß er mit dem Funk spruch zu Sparflug hatte raten lassen. Viel leicht gelang es doch, die eine oder andere Maschine hier hereinzulotsen, wenngleich der Platz für Blindlandungen schon wegen der vielen Hindernisse völlig ungeeignet war. Den Ia hielt es nicht in der Bude. Er mußte hinaus. Eine Viertelstunde vielleicht noch, dann mußte die erste Maschine den Platz er reicht haben, und immer stärker legte sich über das Rollfeld eine widerliche Decke aus Nebelschwaden. Tatsächlich hatte der Oberleutnant den Kopf kaum ins Freie gesteckt, als im Westen Motorenklang hörbar wurde. Na endlich! Der Oberleutnant hatte sich den ganzen Klappen kasten mit dem Telefonapparat unter den Arm geklemmt und stieg zur Dachluke hin auf. Ein Glück, daß die Verbindungsdrähte lang genug waren. Noch während des Hinaufsteigens nahm Rupprecht den Hörer ab und verlangte den Horstpeiler. Dort hatte sich soeben eine Ma schine angemeldet. Der Oberleutnant konnte ihr nur etwas wünschen, tun konnte er au genblicklich nichts für sie. 121
Von hier, vom Dach des Betonklotzes sah er erst die ganze Bescherung auf dem Platz richtig. Von den meisten Hindernislampen, insbesondere von denen, die höhere Hinder nisse anzeigten, war überhaupt nichts zu se hen, und den Horizont erkannte man nur als ein schwindsüchtiges Scheinchen, wenn man die Augen ganz weit aufriß. Wenigstens die Landebahnbefeuerung war noch auszuma chen, für die Maschinen aber wahrscheinlich erst dann, wenn sie ohnehin mit der Nase draufhockten. Noch konnte es gut gehen. Lauter wurde das Brummen in der Luft, ohne daß Rupp recht etwas zu sehen bekommen hätte. Die Maschine steckte im Gewölk, und erst im letzten Augenblick, schon ganz niedrig, tauchten ihre Positionslampen aus dem Ge bräu. Das Flugzeug glitt über die Platzgrenze und drehte dann die Anflugkurve. O Himmel, hoffentlich hatte sie der Flugzeugführer gut im Griff, sonst konnte er verflucht unange nehme Bekanntschaft mit einem Berg ma chen. Doch die Maschine landete glatt und sprang nicht einmal, was Rupprecht ein aner ken-nendes Brummen entlockte. „Sauber hingekriegt.“ Vielleicht hatte er sich doch zu viele Sorgen gemacht, und die folgenden Ma schinen kamen genauso glatt herunter. Aber eben das würden sie nicht können. Das verfluchte Wetter wurde ja nicht besser, 122
verschlimmerte sich höchstens in jedem Au genblick, und selbst, wenn die Maschinen im Zweiminutenabstand hereinrutschten, was ging da für eine Zeit verloren. Noch bevor die nächste Maschine durch Motorenbrummen ihr Näherkommen ankün digte, stand der Kommandant der eben ge landeten, Feldwebel Trunk, neben dem Ia. „Hatten wir Verluste?“ war die erste Frage Rupprechts. „Ich habe keine gesehen, aber…“ „Das Weitere später. Wie war die Lan dung?“ „Ich fürchte, in einer Viertelstunde ist es vorbei hier, Herr Oberleutnant. Mir scheint, ich bin mit dem letzten Drücker runterge kommen.“ „Das scheint mir auch so. Wie stand’s mit Ihrem Sprit.“ „Ich hatte noch nicht auf Reserve umge schaltet.“ Schon flog durch den Telefondraht ein Be fehl hinunter zur Funkerbude: „Geben Sie er neut einen Spruch an Alle. Wer spritmäßig ir gend noch kann, verkrümelt sich weiter nach Süden – möglichst bis Dänemark.“ Rupprecht hätte am liebsten sechs Hände, zwanzig Augen und vierzig Ohren gehabt. Wieder meldete sich der Peiler und teilte mit, daß eine weitere Maschine sich ange hängt und bereits mit dem Durchstoßen be gonnen habe. „Die Maschine hat mitgeteilt, 123
Herr Oberleutnant, sie fliegt nach Hö henmesser noch 100 m hoch und hat keine Erdsicht. Sprit reicht nicht mehr zur Aus weichlandung.’’ „Dann soll der Kommandant höher ziehen, und die Besatzung soll aussteigen“, brüllte Rupprecht. Es war zu spät. Die Maschine glitt bereits mit blinkenden Positionslampen ins Blickfeld des Ia. Sie rutschte wie auf einer Seifenbahn in den Platz hinein und rollte aus. „Mehr Schwein als Verstand“, kommentier te Rupprecht. Hatte die Maschine Reifenschaden, war sie gegen ein Bodenhindernis gestoßen, oder hatte ihr Flugzeugführer im letzten Moment, vielleicht weil ihm jetzt erst aufging, eine wie gefährliche Landung er gebaut hatte, durch gedreht, die Maschine brach aus. Mit einem wüsten Kreischen fuhrwerkte ihr Leitwerk um 360° herum und streckte wie ein verwunde tes Tier alle Gliedmaßen von sich. Nun griff der Ia zum Mikrophon für das Funksprechgerät: „An Alle!“ brüllte er. „Es geht nicht anders, ich spreche im Klartext. Hier spricht Oberleutnant Rupprecht. Wer nicht wegen Spritmangels unter allen Um ständen herunter muß, weicht nach Süden aus. Benzinmangel ist ein Grund zum Aus steigen! Macht keinen Unsinn!“ Der Äther brachte eine ruhig gesprochene Antwort: „Schon gut, Herr Rupprecht. Ich 124
glaube bestimmt, daß es etliche Maschinen bis Skagen schaffen werden, ich gebe von hier oben noch einmal Ihren Befehl, mich hört man weiter.“ „Wir haben auch noch einen Bruch auf der Landebahn liegen, Herr Major.“ „Gut. Aber ich muß trotzdem runter. Meine Reserveleitung ist flöten.“ Es war völlig ungewöhnlich, und es konnte unter Umständen gefährliche Folgen haben, daß heute hier Klartext gesprochen wurde. Aber die Verantwortung dafür wollte Ober leutnant Rupprecht schon übernehmen. Au ßergewöhnliche Situationen erforderten au ßergewöhnliche Maßnahmen. Wenn bloß der Kommandant keinen Unsinn machte und sich nicht zuviel zutraute. „Ich rate Herrn Major, aussteigen zu lassen.“ Rupprecht erfuhr nicht mehr, ob der Kom mandeur seinen letzten Spruch erhalten hat te, denn nun meldete sich die KurfürstLudwig. „Herr Oberleutnant. Wir müssen runter. Wir fliegen schon seit sieben Minuten mit Warnlampe.“ Rupprecht überlegte. Wie kam es nur, daß der Spritverbrauch der Maschinen so unter schiedlich war? Das mußte ja bei dem Feind geleit einige tolle Kurbeleien mit Kampfleis tung gegeben haben. „Ziehen Sie hoch“, bellte der Ia, „und stei gen Sie aus! Wir können es nicht mehr ver 125
antworten, noch Maschinen zur Landung an zunehmen. Von hier aus ist der Platz völlig dicht.“ „Jawohl, Herr Oberleutnant.“ Das hatte reichlich zaghaft geklungen, und Rupprecht wußte, was im Herzen des Flugzeugführers vor-ging. Hätte er selbst dort oben gehan gen, er hätte auch das Äußerste versucht, um zu landen. Kein Flieger stieg gern aus, und schon gar nicht, wenn man in ein völlig unbekanntes und jetzt auch noch unsicht bares Gelände hineinspringen sollte. Rupprecht spielte auf den kleinen Fallklap pen seines Telefonkastens wie ein Virtuose auf dem Klavier. Auf Kurbeldrehung meldete sich der Flakkommandant: „Herr Hauptmann. Wir haben eine, vielleicht zwei Notbesatzun gen über dem Platz. Sie müssen aussteigen. Bitte lassen Sie zur Orientierung Leuchtrake ten in Richtung Notwurfplatz feuern.“ Donnerwetter noch mal. Die Männer mit den roten Kragenspiegeln waren aber auf Zack. Rupprecht hatte kaum richtig ausge sprochen, als schon kerzengerade ausgerich tet wie schlanke Säulen rund um den Platz Scheinwerferbündel standen. Im Halbminute nab-stand zischten weiter Leuchtraketen, aus den schweren Flakgeschützen geschossen, in den Himmel. Das klappte wie auf dem Exer zierplatz. Hoffentlich begriffen die Besatzungen. Das Notabwurfgelände war groß genug, und wenn 126
die Männer dort ausstiegen, würden auch die führerlos abstürzenden Maschinen keinen großen Schaden anrichten. Rupprecht hatte nicht lange Zeit, darüber nachzudenken. Es kamen noch mehr Maschi nen nach. Dreißig waren vor vier Stunden gestartet. Wieviel zurückkommen würden, wußte niemand. Fest stand bisher nur, daß eine Maschine glatt gelandet war, eine zweite dabei Bruch gebaut hatte, und daß der Kom mandeur sich gemeldet hatte zur Landung. Weiter gab es die KL, deren Besatzung gera ten worden war, auszusteigen. Vier also, von denen man mit Sicherheit etwas wußte. Doch sicher hingen noch welche am Peiler. Rupp recht blieb jedoch keine Zeit, nachzufragen, denn plötzlich hörte er wieder Motorenge räusch. Der Kutscher war ja wohl plemplem geworden, bildete sich wohl ein, einen Hub schrauber unter sich zu haben. Genauso ge messen schob er sich jedenfalls zwischen die Landebahnlichter, jeden Augenblick mußte die Mühle ausgehungert sein und wie ein Stein herunterklatschen. Dem Knaben würde er was erzählen, vorausgesetzt, daß er ihn noch lebend zu sehen bekam. Doch im nächsten Augenblick schon wurde Rupprecht anderen Sinnes. Der Kerl, der die Landung baute, konnte fliegen – und wie. Da konnte er vielleicht selbst noch etwas lernen. Im letzten Augenblick, kurz bevor die Krähe her unterplumpsen mußte, jaulten die Motoren 127
wie geprügelte Hunde, die Mühle richtete sich ein wenig auf und hüpfte in Dreipunktlandung auf ihr Fahrwerk. Nicht zu begreifen, daß die Federbeine den Stoß aushielten, doch die Maschine rollte. Als der Ia sich daran erinnerte, daß er den Kutscher, der die letzte Landung geschmis sen hatte, zur Schnecke machen wollte, stell te sich heraus, daß kein geringerer als der Kommandeur die Maschine geführt hatte. Vielleicht, nein sicher, durfte auch nur er eine solche Landung riskieren. Die ganze Nacht über saß der Ia hinter sei nem Schreibtisch und starrte aus vorquellen den, rot unterlaufenen Augen auf seine Schreibunterlage oder auf die Klappen des Telefonschrankes. So langsam entwickelte er sich zum Kettenraucher, aber mit etwas mußte er sich ja aufpeitschen. Die Stunden schlichen dahin, und immer noch gab es kei ne vollständige Klarheit über das Schicksal der Gruppe. Was war mit Unteroffizier Sachs und seiner Besatzung? Sie war auf der KL geflogen, und ihr hatte der Oberleutnant befohlen, auszu steigen. Hatte sie den Befehl rechtzeitig be folgt, und war sie gut heruntergekommen? Nach den bisher vorliegenden Unterlagen waren elf Maschinen in Skagen gelandet und eine in Aalborg in Dänemark. Man konnte rechnen, wie man wollte: Das waren fünfzehn Maschinen, von denen Landemeldungen vor 128
lagen. Mußte daraus geschlossen werden, daß die Hälfte der gestarteten Gruppe vor dem Feind geblieben war? Das war doch ein fach nicht möglich. Der erste geschlossene Einsatz der Gruppe nach der Umrüstung, und dann schon halbe Vernichtung? Immer wieder bimmelte das Telefon. Das Geschwader wollte wissen, wie es stehe, das Fliegerkorps wartete auf Nachrichten, die Luftflotte hatte sich auch schon erkundigt. Hinzu kamen noch die Seenotrettungs dienststellen und die Flugsicherungszentrale. Die vorgesetzten Dienststellen hatten auch nach Erfolgen gefragt. Rupprecht hätte am liebsten mit Grobheiten geantwortet. Im Au genblick waren ihm alle Erfolge piepegal, selbst wenn die Gruppe alle Flottenreserven der Welt unter Wasser getreten hätte. Wenn nur die Besatzungen zurückkehrten, von ihm aus auch, ohne daß einer der verdammten Mistpötte das Zeitliche gesegnet hatte. Aber 50 Prozent der Besatzungen waren weg, und da wagten es Leute, noch nach Erfolgen zu fragen. Hier hatte nur einer Erfolg gehabt, der Tod, dieser verfluchte Schuft. Am glim menden Stummel der ausgerauchten Zigaret te zündete Rupprecht die neue an. Sollte ihm doch das Nikotin die Lunge zerfressen. War ja ohnehin schnurzpiepe, woran man krepier te. Er mußte erst Gewißheit haben. „Unteroffizier Sachs mit Besatzung vom Feindflug zurück“, meldete sich in diesem 129
Augenblick eine Stimme von der Tür her, und Rupprecht sprang auf, als lägen hinter ihm nicht Stunden der Anspannung. „Daß ihr doch ausgestiegen seid“, schrie er erfreut, „wie ist es gegangen?“ „Ganz gut, Herr Oberleutnant, nur mit der Orientierung hat es gehapert. Wir sind glück licherweise in einem Tal wenigstens in Ruf weite heruntergekommen, aber es hat lange gedauert, bis wir zusammen waren, und noch länger, bis wir den Anschluß an die Geogra phie wieder hatten. Die schöne Maschine.“ Das letzte sagte der Unteroffizier richtig traurig. Es wollte ihm nicht in den Kopf, daß der schöne Vogel, den er schon ein wenig liebgewonnen hatte, nur noch ein Haufen Schrott sein sollte, von dem er noch nicht einmal wußte, wo er lag. „Nun beruhige dich mal“, sagte der Ober leutnant fast zärtlich, „kriegst von Papa um gehend eine neue.“ Nun lachten die vier schon wieder, wie sie da, zu Tode erschöpft, auf dem Gefechts stand erschienen waren. „Setzt euch doch.“ Eigenhändig steckte der Ia jedem der vier Männer eine Zigarette in den Mund und reichte ihnen Feuer. „Nun er zählt mal, wenn ihr könnt, wie war es denn?“ „Ich habe ja wenig Erfahrung“, sagte Un teroffizier Sachs, „aber für meine Begriffe war es ziemlich einfach. Die Tommies schie nen keine Ahnung von unserem Kommen ge 130
habt zu haben, jedenfalls rannte auf den Pöt ten alles hin und her, als wir plötzlich da wa ren, und wir hatten schon die Bombenschächte auf, als die sich erst auf ihr Abwehr feuer besannen. Ich glaube nicht, daß sie dem Verband viel mit ihrer Knallerei gescha det haben. Der Kommandeur hat jedenfalls einen ganz dicken Eimer zu den Fischen ge hen lassen.“ „Prima, daß ihr das bestätigen könnt. Sei ne Besatzung konnte nämlich die Wirkung des Angriffs nicht erkennen.“ „Doch. Wir haben es im Abdrehen gese hen, wie der Eimer, den der Alte – oh, ich bitte um Verzeihung, Herr Oberleutnant! – den der Herr Major angegriffen hatte, mitten auseinanderbrach.“ „Na – und ihr selbst?“ „Wir haben auch einen ganz schönen Bur schen erwischt. Er brannte lichterloh, als wir abflogen, aber ob er gesunken ist, wissen wir nicht.“ Rupprecht ließ eine Kognakflasche, die er aus dem Schreibtisch hervorzauberte, krei sen. Das Getränk belebte die Männer ein we nig. „Das dickste Ding hat sich aber doch Herr Hauptmann Melzer geleistet“, berichtete Un teroffizier Sachs weiter. „Er hat einen Tanker bekommen, einen Riesenschlitten, und scheinbar randvoll. Der Herr Hauptmann muß ihm zwei Eier direkt aufs Deck geknallt ha 131
ben. Das sah aus, Herr Oberleutnant, als wollte die Welt in Fetzen fliegen.“ „Hauptmann Melzer hat sich noch nicht gemeldet“, sagte da der Oberleutnant tonlos, „er ist auch weder in Skagen noch in Aalborg gelandet.“ So plötzlich, wie das Leben in die vier Männer der Besatzung Sachs zurückgekehrt war, so plötzlich schwand die Freude aus ih ren Gesichtern. Die Zigaretten schmeckten auf einmal, als seien sie mit Heu gestopft, und der Kognak war schal und bitter. In Abständen schaute der Kommandeur zu seinem Ia herein. Am liebsten hätte er die Flieger, die noch immer im Gefechtsstand he rumsaßen, mit einem Befehl weggeschickt, aber er wußte ja aus eigener, langer und bit terer Erfahrung, wie das war, auf die ver missten Kameraden zu warten. ,Ich hatt’ ei nen Kameraden’, ging ihm plötzlich das ural te Soldatenlied durch den Kopf, und im Au genblick erlebte er noch einmal die Szene, wie die große Militärkapelle die Melodie in Osnabrück spielte, als man die abgestürzte Besatzung begrub. Dieser Hundskrieg! Da hockten sie nun auf dem Gefechtsstand in der trockenen Bunker luft herum, er und seine Männer, waren alle halb tot, und draußen stand die Nacht, schwarz und undurchdringlich. War es nicht ein Witz, daß der Platz jetzt völlig frei lag und man die Sterne sehen konnte? In dieser 132
Stunde haßte der Major den Krieg, und er haßte auch die Finsternis, die unerbittlich ihr Geheimnis vom Leben oder Sterben von Flie gern hütete. Das Warten, dieses verfluchte Warten, es war das schlimmste am ganzen Krieg. Überall wurde gewartet. Hier auf die Rückkehr der Kameraden, und zu Hause warteten die An gehörigen auf ein Lebenszeichen des Vaters, Bruders, Freundes oder Gatten. Major Schunk wußte, was für eine Redens art die Landser im Munde führten und bei je der möglichen und auch unmöglichen Gele genheit gebrauchten: „Wir haben den Krieg nicht angefangen, wir haben ihn auch nicht gewollt“, und sie meinten mit „wir“ einfach sich selbst, die einfachen Soldaten. Sie ge brauchten die Worte, wenn der Kaffee nicht schmeckte, und sie gebrauchten sie, wenn die erhoffte Beförderung ausblieb, gebrauch ten sie in Wut, Spaß, Galgenhumor oder Ent täuschung. Das Blöde an dem Satz war ei gentlich, daß sie recht damit hatten. Aber wer, zum Geier, hatte denn diesen erbarmungslosen Krieg gewollt, diesen Kampf hochgezüchteter Technik bis zur menschli chen Selbstentäußerung? Bestimmt nicht die Soldaten! Die durften nur sterben, hüben wie drüben. Mußte man sich nicht noch in der Er innerung vor den britischen Seeleuten ver neigen, die man angegriffen hatte? Sie waren dem Flugzeug gegenüber unterlegen, und 133
doch hielten sie aus. Jede neue Fahrt war für sie ein Würfelspiel mit dem Tod, genau wie für die fliegenden Besatzungen, und doch fuhren die einen immer wieder hinaus, und die anderen starteten immer wieder zum An griff. Heldentum oder Wahnsinn? Ach lieber Pummel, der Geschichte war es wohl ganz egal, wie der einzelne es nannte. Clio zeich nete mit ehernem Griffel die Geschichte auf und fragte nicht nach den Herzen der Men schen. Vielleicht auch erhellte sich eines Ta ges, möglicherweise nach Generationen noch, das Dunkel, das heute über allem Ge schehen lag, und kommende Geschlechter würden wissen, warum Männer mitten im 20. Jahrhundert zu Millionen starben. „Hat denn nicht wenigstens irgendeine Wehr-machtdienststelle oder eine norwegi sche Zivildienststelle Aufschlagbrände gemel det?“ fragte der Kommandeur sicher schon zu wiederholten Malen seinen Ia, doch der schüttelte nur verneinend mit dem Kopf. Es blieb nicht bei den befürchteten 50 Pro zent Verlusten. Die Flugsicherungszentrale teil te mit, daß Notrufe von See her aufge-fangen wurden, und daß schon Seenotrettungsboote unterwegs waren, um zwei Besatzungen zu bergen. Hauptmann Melzer war auch dabei. Ihm hatte der Sprit bis zum Einsatzhafen nicht mehr gereicht, und kurz vor der Küste hatte er noch aussteigen müssen. 134
Einige Maschinen waren auch in Stavanger gelandet, einige von ihnen mit Bruch, und die Meldung darüber war erst nach Stunden über den Funk gekommen, weil die Telefonleitun gen unterbrochen waren. Sah das schließliche Ergebnis auch weit günstiger aus, als ursprünglich zu befürchten stand, so blieben doch fünf von dreißig ge starteten Maschinen nach wie vor vermißt – zwanzig Menschenleben. Es war schon lichtheller Tag, als der Ia endlich todmüde ins Bett sank, ausge quetscht wie eine Zitronenschale. Trotzdem konnte Oberleutnant Rupprecht nicht ein schlafen. Immer wieder mußte er denken, so sehr sich sein übermüdetes Gehirn auch da gegen sträubte. Schon zweimal, seit er bei der Gruppe war, war sie faktisch neu aufge stellt worden, um immer wieder zerpflückt zu werden. Und immer wieder flogen die Männer hinaus über die mörderische See, griffen sie an, obwohl selbst der kleinste Gefreite wuß te, wie es seinen Vorgängern ergangen war und wie das Schicksal der Gruppe sich gestal tet hatte. Heldentum – pah! Ein Wort, das nur die verwendeten, die den bitteren All tagskelch des Fliegers nicht zu leeren brauch ten. Stilles Dulden? Nein, das war das rechte Wort auch nicht, dazu fluchten und schimpf ten die Männer zu gern und zu oft. Ja, zum Geier, wie sollte man es denn eigentlich nen nen, dieses Wissen, daß der Tod immer rei 135
chere Ernte hielt, und dieses harte Trotzen der Flieger? War es wirklich nur so, daß sie alle hundertmal wiedergekauten Propaganda thesen aufsaßen? Nein, und tausendmal nein. Zuviele hörten die falschen Töne in dem Propagandatrichter, und auch sie starben, klaglos, tapfer, wie die anderen. War es das, daß ein richtiger Mann sich dem Leben gegenüber zu behaupten und dem Tod keine Schwäche zeigen wollte? War es so, dann waren sicherlich nicht die die Ge prellten, die da kämpften und dabei starben, dann waren es jene, die die Sauberen, die Anständigen, in den Tod jagten. Da war dieser Oberleutnant Schneider. Der Major hatte nach seiner Rückkehr vom Feind flug nur flüchtige Andeutungen gemacht, aber das Grinsen der übrigen Besatzung und das wachsgelbe Gesicht des NO hatten genug erzählt. Doch vielleicht konnte der Mann, der vermutlich mehr durch die fabelhaften Bezie hungen des schwerreichen Herrn Vaters als durch Bewährung Offizier geworden war, gar nichts für seine Angst? Menschen sind eben verschiedener Natur. Aber halt! So durfte man nicht denken. Gab es denn überhaupt einen Flieger, der keine Angst hatte, den sie nicht zuweilen barbarisch aus dem Schlaf schüttelte? Alle, alle wurden sie bald gefressen von dieser Angst, selbst noch die allerstursten Knochen. Aber wieviel Selbstzucht einer aufbrachte, 136
wieviel Mühe er sich gab, mit dem „inneren Schweinehund“ fertigzuwerden, das machte den Mann, und so besehen war der NO eben keiner. Er hätte besser daran getan, seine Versetzung von diesem Haufen weg zu bean tragen, wo ihn vom Kommandeur bis zum Küchenbullen kein Mensch für voll nahm, und wo ihm jeder Untergebene eine Ehrenbezei gung hinbaute, die an mustergültiger Exakt heit nichts zu wünschen übrig ließ und allein dadurch zum offenen Hohn wurde. Über diesen Gedanken schlief der Ober leutnant Rupprecht endlich ein, und im Schlaf bemühte er sich, im Wasser schwimmend mit den Händen ein feindliches Kriegsschiff unter Wasser zu ziehen. *** Jeder wußte, daß der abgelaufene Einsatz noch längst nicht der letzte gegen den feind lichen Mammutgeleitzug bleiben konnte. Viel leicht brauchten die Schiffe nach den Angrif fen der deutschen Luftwaffe noch eine Weile, bis sie sich an ihren Liegeplätzen neu for miert hatten, denn es durfte doch wohl an genommen werden, daß auch andere deut sche Luftstreitkräfte wieder und wieder in das Geleit hineinstießen, und alle zusammen würden sie es verfolgen, so weit es ging, bis über das Nordkap hinaus und vielleicht bis hinüber nach Murmansk. Es blieb eigentlich 137
nur die Frage, wieviel Zeit man haben würde zum Schlafen, und wieviel Besatzungen man zum nächsten Flug auf die Beine brachte. Die Maschinen waren Mangelware gewor den, nach den vielen Notausstiegen in der Nacht, nach den vielen Ausweich- und Bruch landungen. So eine nach der andern trudel ten sie ja im Laufe des nächsten Tages auf dem Flugplatz der Gruppe ein, aber höchs tens jede zweite Mühle war noch einsatzklar, und jetzt schon fragte sich jeder, wann der Einsatzbefehl für den nächsten Angriff kam. Oh, der Startbefehl ließ nicht auf sich war ten. Der Krieg war ein ungnädiger Herr, ein unersättlicher Fresser, und er hatte es immer eilig. Als nach wenigen Stunden Ruhe auf den Fluren der Unterkunftsbaracken aufgeregtes Gerenne anhob, als überall Telefone schnurr ten, wußte jeder, was die Glocke geschlagen hatte. Es gab nicht mehr viel dazu zu sagen, höchstens: „Na, du hast Schwein gehabt, deine Mühle ist ja unklar.“ Schon rollten die Lkw’s mit den aufgeses senen Besatzungen zu den Liegeplätzen, wo es ohnehin für Unterhaltungen zu spät war, denn dort schalteten die ersten Warte schon die Zündmagneten, und weithin brüllte die Luft im peitschenden Rasen der Luftschrau ben. Der Kommandeur versammelte noch kurz die Kommandanten: „Ich brauche keine lan 138
gen Vorträge zu halten“, sagte er, „im we sentlichen bleibt alles wie beim gestrigen An griff. Aber noch mal mit aller Eindringlichkeit: Den Sicherungsfahrzeugen wird aus dem Wege gegangen, und zwar in weitem Bogen. Hatten wir gestern das Überraschungs moment auf unserer Seite, heute ist’s vorbei damit.“ Mit ganzen vierzehn Maschinen rollte die Gruppe zum Start, das waren zwei Maschinen mehr, als die Sollstärke einer einzigen Staffel ausmachte. Vor dem Zielgebiet sollte die Gruppe auf einen Nachbarverband treffen, der erst am Vormittag dieses Tages nach Dänemark ver legt hatte und wegen des weiteren Anflugwe ges nur mit halber Bombenlast, aber mit Zu satztanks im Rumpf startete. Maschine auf Maschine wartete am Start punkt, bis der Vorgänger in der Luft war, und gab dann Vollgas. Die in den Boden eingelas senen gelben Lampentöpfe der Bahnbefeue rung ruckten an, rannten auf die Maschine zu, verschmolzen schließlich zu einem einzi gen gelben Band. Das alles hatte man schon so oft gesehen, hier, in Holland, in Frankreich, in Deutsch land, viele der Flieger auch in Rußland, Grie chenland, Afrika. Wer in der Schule in Geo graphie schwach gewesen war, der erhielt heute praktischen Anschauungsunterricht über die Größe und Ausdehnung von Mutter 139
Erde. Man flog jetzt vielleicht in den Tod, vielleicht auch zu hohen Auszeichnungen, und so einfach, so abgeschmackt einfach war der Start zum Sterben? Man gab einfach Vollgas und jagte die Startbahn hinunter, ge nauso simpel, wie man zu einem Reise- oder Verlegungsflug starten würde, bis Beobachter oder Bordmechaniker bestätigten, daß Fahr werk und Landeklappen einfuhren. „Das ist ein ganz buntkarierter Krokodil schiet“, behauptete Feldwebel Trunk, und obgleich noch niemand so etwas gesehen hatte, verstand doch jeder, was er meinte. Die Maschinen wurden weich und hoben ab. Genau wie immer. Zurück blieb der Platz, blieb eine Ortschaft, zu der man keine Bezie hungen hatte, und zurück blieben die Kame radenmaschinen, die schon aufgereiht am Start standen und in wenigen Sekunden oder Minuten ebenfalls in der Luft sein würden. Zurück blieben auch die anderen, die, „die Schwein hatten“, weil ihre Maschinen nicht einsatzfähig waren. ,Mein zwanzigster Feindflug also’, dachte Feldwebel Trunk und ließ den Kompaßkurs einlaufen, trimmte die Maschine nach und stimmte die Drehzahl der Motoren ab. So ein fach war das alles? Trunk ärgerte sich über sich selbst. Was hatte er sich denn eigentlich unter einem zwanzigsten vorgestellt? Vielleicht eine Mili tärkapelle an Bord, die Schlager spielte oder 140
Schnulzen, wie die, daß es in der Heimat ein Wiedersehen gibt? Alles Quatsch! Je weniger man dachte, desto besser. Irgendwo im Westen, fast genau in Flug richtung, schickte sich die Sonne an, ihre Reise über die eine Hälfte der Erde zu been den und auf der andern Seite des Globus auf zugehen. Trunk wußte nicht, warum er den glühenden Ball immer wieder anstierte, fast haßerfüllt. Hing sie nicht am Himmel wie ein angeschnittener Edamer Käse, gelblich und ohne jede Glut? War das überhaupt die glei che Sonne, die um diese Jahreszeit in der Heimat die beschneiten Bäume des Waldes zu Märchengebilden machte? Nur um irgend etwas zu sagen und um das Schweigen in der Kanzel nicht direkt mit Hän den greifbar werden zu lassen, fragte Trunk: „Müssen wir die Geschwindigkeit verändern, um pünktlich am Sammelpunkt zu sein?“ „Dann würde ich mich schon melden“, meinte der Beobachter pomadig und blieb gleichmütig dabei, mit seinen Gerätschaften zu hantieren. Trunk ärgerte sich. Er hatte immer ge glaubt, er, die Maschine und seine Besatzung seien eine Einheit, ein einziges Lebewesen mit fünf Gesichtern. Nun merkte er, daß eben doch jeder für sich allein stand, weil jeder mit der eigenen Angst fertig werden mußte. Da bei konnten ihm die anderen nicht helfen und er nicht ihnen. „Feindjäger von hinten hoch 141
oben!“ schrie der Funker in die Bordverstän digung. Trunk schlug mit dem Handballen der lin ken Hand die Kurssteuerung heraus und flog eine leichte Kurve. „Knallt bloß nicht zu früh los“, mahnte er und fing an, mit der schwer beladenen Maschine Ausweichbewegungen zu fliegen, obwohl er gar nicht wußte, ob er das richtig machte. Irgendwer hatte ihm gesagt, daß die Do 217 sich durch ihren Oberflächenanstrich nur wenig von der Wasserfläche ab hob. So besehen, stieß er die Feindmaschi nen vielleicht erst mit der Nase darauf, daß hier etwas herumkrebste. Die Spannung trieb den vier Männern an Bord abwechselnd das Blut ins Gesicht und holte es von dort wieder weg, so daß sie ab wechselnd aussahen wie schlagflußbedrohte Lebemänner oder auferstandene Leichen. Wenn es schon krachen sollte, dann wenigs tens bald, bevor man vor Aufregung Atemnot bekam. Merkwürdig. Für Jagdflugzeuge machten die Maschinen wenig Fahrt. Jedenfalls kamen sie kaum merklich näher. „Es sind zweimotorige Maschinen“, meldete nach bangen Augenblicken der Funker, „ich kann sonst noch nichts erkennen.“ Nun, mit zweimotorigen Maschinen des Feindes wurde man vielleicht fertig, in bezug auf Schnelligkeit und Wendigkeit war die Do 217 auch nicht schlecht. 142
„Feindjäger rücken auf!“ Trunk drückte die Kampfleistung in die Mo toren, und die Maschinen dort hinten wurden kleiner. Schienen also keine sehr schnellen Vögel zu sein. Trunk wußte, daß er die Kampfleistung nicht unbeschränkt weiter benutzen konnte. Also langsamer. Er schwitzte schon von der Anstrengung, die wüstesten Abwehrkurven zu fliegen, und was ihn ärgerte, war insbe sondere, daß er Zeit dadurch verlor, und daß er bald mit erhöhter Fahrt fliegen müs se, um pünktlich an der Sammelstelle zu sein. Da erlöste ihn eine neue Meldung des Fun kers: „Es sind deutsche Maschinen. Ju 88.“ Das war mal wieder ein typischer Fall über triebener Geheimhaltung. Kein Mensch hatte einen Ton davon verlauten lassen, daß auch Ju 88-Verbände angreifen würden. Von allen Seiten wurden jetzt deutsche Kampfflugzeuge gesichtet. Eine ganz respek table Streitmacht kam zusammen, die nach dem Aufschließen breit gefächert dem schwimmenden Gegner entgegenflog. Eine solche Armada würde man heute auch brau chen. Es war todsicher, daß die Briten inzwi schen alles, was schwimmen und schießen konnte, am Konvoi zusammengezogen hat ten, und wolle Gott, daß die englischen Jäger von Schottland her nicht mehr in den Kampf eingreifen konnten. Wenn sie nicht bereits 143
auf Lauer lagen, bis ihnen der deutsche Ver band gemeldet wurde. – Wie auf Verabredung, und ohne daß es ei nes Befehls der Verbandsführer bedurft hät te, drosselten die Besatzungen die Fahrt ihrer Maschinen ein wenig herunter. Vielleicht rich teten sie sich dabei auch nur nach den takti schen Führungsmaschinen, Wie hier scheinbar üblich, stimmte natür lich auch die Windvorhersage wieder einmal nicht, und man war, behielt man die augen blickliche Fahrtstufe bei, mit Sicherheit zu früh am Ziel. Wie genauso üblich, fluchten die Flugzeugführer und Beobachter weidlich auf die „Wetterfrösche“, und sie hatten keine Zeit dazu, auch daran zu denken, daß sie in ihrer Beurteilung ungerecht waren. Viele Treffer hatte die Wettervorhersage schon in tiefsten Friedensjahren nicht erzielt, und jetzt wurde ihre Zuverlässigkeit noch ungenauer, weil alle Staaten, auch die Neutralen, ihre Wettermeldungen als höchstes militärisches Geheimnis bewahrten. Voraus kamen Pünktchen am Horizont auf. Es sah so aus, als sei die wie mit dem Lineal gezogene Kimm auf einmal gezackt. Die Schiffe! Waren es seit dem Vorabend noch mehr geworden? Es sah jedenfalls so aus. Man kam keinen Augenblick zu früh, aber auch keinen zu spät. Eben brach die Dämmerung herein. In einer Viertelstunde mußte es Nacht sein, 144
wenn die Berechnungen stimmten, und dann mußte auch das Angriffsgeschehen schon ab gerollt sein. Wie von unsichtbaren Drähten gezogen, schlossen die Flugzeuge dichter auf, obwohl es zum engen Verbandsflug schon reichlich dunkel geworden war. Das erhöhte in gewis ser Weise auch die Gefahr, denn die engli sche Flak brauchte sich, behielt man diese Flugweise bei, nicht mehr auf viele Einzelziele zu verzetteln, sie konnte mitten in den Pulk hineinhalten. „Auseinander!“ fluchten die Verbandsfüh rer. Sie brauchten jetzt nicht mehr ängstlich Funkstille zu bewahren, der Schiffsverband hatte sie ja erkannt. Doch es war, als drängten sich Küken um die Henne oder versammelten sich Schafe um den Leithammel. Es brauchte den ganzen Stimmaufwand der älteren, erfahrenen Offi ziere, um zu erreichen, daß der Haufen seine vorige Fächerform wieder aufnahm. Rächte es sich jetzt, daß die meisten Besatzungen der Verbände vielleicht frontreif, keinesfalls aber reif für Geleitzugschlachten waren, die nicht nur fliegerische Meister, die fliegerische Künstler verlangten? Die Befehle, endlich auseinanderzuziehen, wurden befolgt, aber es gab ein erhebliches Durcheinander, als scheue jeder einzelne Flugzeugführer davor zurück, weit von der Mitte abgedrängt zu werden, gleichsam, als 145
sei allein dort eine gewisse Versicherung ge geben, heil davonzukommen. Bevor ein ers ter Flakschuß vom Gegner abgegeben wor den war, quirlte alles durcheinander wie ein Krähenschwarm, in den eine volle Schrotla dung hineingepfeffert worden war. Feldwebel Trunk schrie ein Wort in das BzB-Gerät, das selbst Goethe noch nicht literaturreif gemacht hat, denn einen Augenblick lang schien es ihm, als sei eine volle Artilleriebreitseite in den Verband gekracht und schüttele ihn jetzt durcheinander. Im nächsten Augenblick schon erkannte er den Unsinn dieses Gedan kens. Noch waren ja die Schiffe in Einzelhei ten gar nicht auszumachen. Die Briten hätten schießen müssen wie der Göttervater Zeus mit seinen Blitzen, wenn sie auf die Entfer nung schon Wirkungsfeuer zustande gebracht hätten. Und doch konnte Trunk kaum die Schiebesteuerung auf einem Zahnsegment festhalten. Der künstliche Horizont der Ma schine spielte einwandfrei verrückt. In dem Durcheinander war der Feldwebel hinter eine andere Maschine geraten, und deren Luft schraubensog schüttelte sein Flugzeug wie einen Federball. „Geh doch aus dem Weg, blöder Hammel!“ schrie Trunk dem Flugzeugführer in der Ma schine vor ihm zu und bereute im nächsten Moment schon seinen Warnruf. Der brauchte bloß mit seiner Fahrt zurückfallen, dann war es schon vorbei. Mit fliegenden Händen 146
trimmte Trunk seine Maschine schwanzlastig und zog höher. Das Steuerhorn drohte ihm aus den Fäusten geschlagen zu werden, doch er ließ nicht locker, wenn auch die Tragflä chen flatterten, als wollten sie im nächsten Augenblick abmontieren. Wieder und wieder dröhnten die Befehle der Staffelkapitäne: „Auseinanderziehen, ein zeln angreifen!“ Das war kaum ausgesprochen, als die Hölle ihre Pforten zu öffnen schien und glühende Wolken auspuffte. Es war, als sei ein feuer speiender Berg aus dem im übrigen unbe wegten Meer aufgestiegen, und als schleude re er nun die glühende Lava und den heißen Aschenregen weit in den Raum. Größer wurden die Schiffe im Blickfeld, als stählerne Kästen lagen sie da, unbeweglich, wie auf Beute lauernde Raubtiere. Hinter den zum Himmel zuckenden Feuerblitzen glaubten die Flieger, das Gesicht ihres alten Feindes, des grinsenden Todes, zu se hen. Er allein freute sich über den Tötungs perfektionismus, der von den beiden kämp fenden Seiten entwickelt wurde. Da rasten sie auf seinen Willen und in seinem Auftrag aufeinander zu, Maschinen mit tödlicher Bri sanzladung und genügend Treibstoff an Bord, um zum Krematorium für ihre Besatzungen zu werden, und die anderen, die langsame ren, schwerfälligeren jagten ihnen eisenge webte Vorhänge entgegen. Versucht nur, 147
durch diese stahlgeflochtenen Vorhänge hin durchzukommen, ihr werdet euch darin ver fangen wie Fliegen und Mücken im zähen Spinnennetz. Und der Tod frohlockte und zeigte grinsend sein weißbleckendes Gebiß. Ihm war es völlig gleichgültig, wer in dem Ringen die Oberhand behielt, sterben würden so und so genug. Trunk ertappte sich dabei, wie er im Tiefst flug stur, verbissen und wie ohne Besinnung auf einen großen Frachter zuhielt, der ihm das volle Steuerbord wie einladend entge genstreckte. Er handelte ohne Überlegung, denn hätte einer überlegt, er hätte unweiger lich dem kreatürlichen Instinkt der Selbster haltung gehorchen und abdrehen müssen. So dachte der Flugzeugführer merkwürdigerwei se nur daran, wie blödsinnig, wie abge schmackt komisch das Ganze eigentlich war. Hüben und drüben waren Menschen, Männer, die vor gar nicht allzu langer Zeit noch einem friedlichen Beruf nachgegangen waren, die mit der Aktentasche und ihrem Frühstücks paketchen morgens zu ihren Arbeitsstellen gewandert waren, die sich auf den Sonntag und auf ein mögliches, längeres Ausschlafen gefreut hatten, Menschen, die ihren häus lichen Frieden geliebt hatten, und die sich jetzt doch, als sei ihr ganzes früheres Dasein ausgelöscht, wie reißende Bestien ineinander verkrallten, die sich in diesem Augenblick gar haßten. Warum das alles, warum? 148
,Du oder ich – du oder ich’, hämmerten die Luftschrauben, orgelten die Motoren, brüllten es die Flakgeschütze. Ein gleißenderes Feu erwerk ist nie in einem Staat zur Ehrung ei nes großen Gastes abgebrannt worden, als es hier dem grinsenden Tod zu Ehren ver anstaltet wurde. Wie Farbraketen zerplatzten die Granaten der schweren Flak, wie Leuchtkaskaden klet terten die Perlenschnüre der leichten in den Himmel, Kanonen und MGs 151 der Flugzeu ge spien glühende Wasserfälle zur Vervoll ständigung des Bildes. Wo flogen die Kameraden? Gab es über haupt noch welche in dieser Nacht, gewirkt aus Grauen, Vernichtung und Tod? Nein, es gab nur diesen verfluchten Pott da, dieses Wasseruntier, das schoß, als wolle es nach einander seine Einzelteile in glühendem Zu stand in die Luft schleudern. Es gab nur die eigene Maschine, und es gab den Frachter, sonst nichts auf der ganzen Welt. Du oder ich – oder alle beide. Doch daran dachte sicher niemand, weder die Männer unten an den Geschützen, die vor Pulverschleim kaum noch aus den Augen sehen konnten, noch die in der Flugzeugkanzel, in denen vor Schreck selbst die Lebensangst jedes Geschöpfes ei ner blinden Erstarrung gewichen war. Du oder ich! Der Frachter ließ sich gar nicht im Zielgerät halten, dazu wurde die Maschine viel zu sehr 149
herumgeworfen. Aber die Hände ihres Flug zeugführers waren zu gefühllosen Automaten geworden, Hände, die in Sekunden das Fürchten verlernt hatten. ,Gleich ist es aus.’ Im wahnsinnigen Kreis lauf durchwanderte die Gedanken der Flieger immer wieder dieses Sätzchen. Es mußte ja aus sein, Menschen, die solches erleben mußten, konnten hinterher doch nicht einfach wieder wie andere Menschen sein, wie jene essen, trinken, lachen, scherzen. Das war doch gar nicht möglich. Jetzt wanderte das Schiff wieder in den Mittelpunkt des Zielgerätes, und ganz schnell wie ein unsicherer Schütze am Gewehr, drückte Trunk den Auslöseknopf. Ob er ge troffen hatte – war das jetzt überhaupt noch wichtig? Gab es überhaupt auf Erden etwas, das wichtig war? Nichts war wichtig, am we nigsten das menschliche Leben. Was galten denn Menschenleben noch in einem Kampf wie diesem? In ein paar Minuten würde die See viele Männer verschlungen haben, wür den vielleicht einige Schlauchboote auf den Wellen treiben, und entweder würden briti sche Matrosen oder deutsche Flieger darin hocken. Nein, Flieger sicher nicht. Wenn die Maschine jetzt das tödliche Spiel nicht mehr mitmachte, gab es kein Schlauchboot mehr, dann rückte man eben ein zur großen Armee derer, die schon auf dem Meeresboden ruh ten. 150
Es war kein Mensch, es war eine Maschine, die nach dem Bombenwurf die Mühle nach trimmte, den Ladedruck erhöhte und über die linke Fläche hochzog. Die Besatzungsmitglie der wurden mit Zentnerlasten in ihre Sitze oder gegen das Blech gedrückt. Sie alle woll ten schreien und hatten keine Stimme mehr dazu. Das Flugzeug bebte wie von Fieber schauern geschüttelt. Schoß der Pott etwa noch? Dann hatte man ihn also auch nicht richtig erwischt. Da packte den Feldwebel et was von der Wut des Urmenschen. Und wenn er samt seinem Schlitten zum Teufel fahren mußte, er mußte wissen, wie der Pott jetzt aussah. Tritt ins Seitenruder, herum mit dem Schwanz. Klarheit mußte man haben, und sei es nur darüber, ob das Spiel jetzt du oder ich stand – oder beide? Na also. Der Kasten hing mit schrägem Deck im Wasser. Seine Besatzung mußte aus Akrobaten bestehen, daß sie sich auf dem schiefen Deck noch bewegen und gar schie ßen konnte. Die feurigen Fächer lagen freilich nicht mehr sehr gut. Da schrie der Beobachter: „Mensch, bist du blöd? Hochziehen – hochziehen!“ Trunk warf seit der Angriffsvorbereitung den ersten Blick auf die Instrumente. Später hatte er keine Zeit mehr dazu gehabt. Nun sah er die Bescherung. Der künstliche Hori zont hing über, und der Pinsel war ausge wandert. Man war keine 50 m über dem 151
Wasserspiegel, mußte im nächsten Moment wie ein Meteor in ihn einschlagen. Du oder ich? Also doch ich? Nein, wir alle beide! Mehr, weil er es so gelernt hatte, als weil er sich irgendeinen Erfolg davon versprach, trat Trunk ins entgegengesetzte Seitenruder, jagte die Kampfleistung in die Zylinder und zog unter Aufbietung aller Körperkraft an der Schiebesteuerung. Der Funker brüllte wie ein angeschossenes Tier, denn noch in der Dun kelheit war zu sehen, wie die Maschine eine Schaumwelle hinter dem Fleck aufwarf wie ein mit Höchstfahrt dahinjagendes Schnell boot. Der Beobachter schlug beide Fäuste vor die Augen. Wenigstens nicht mit offenen Au gen wollte er in die dunklen Wasser hineinra sen. Hieben da nicht schon die Wellen wie Stahlhämmer in die Kanzelscheiben? Als sekundenlang nichts geschah, wagte der Beobachter es, die Augen wieder zu öff nen, und er konnte nicht begreifen, wieso er nichts anderes sah als Dunkelheit. Keine Leuchtspurgranaten mehr, keine AuspuffFlammen von Nachbarmaschinen, nur Fins ternis. Alles Quatsch wahrscheinlich. Er hatte das Geschehene bloß noch nicht verdaut. Die Maschine schwamm wahrscheinlich schon ein paar Meter unter dem Wasserspiegel, war in ihn eingetaucht wie ein Torpedo, ohne großes Geräusch und ohne Spritzer. Es dauerte abermals ein paar Sekunden, bis der Mann begriff, daß es so nicht sein 152
konnte. Er hörte ja noch das Dröhnen der Motoren. Also war man heraus aus dem He xenkessel, wahrhaftig raus? Wie im Traum hörte er die brüchige Stimme des Flugzeug führers, die nach dem Kompaßkurs für den Heimflug fragte. Er hörte sich selbst eine Zahl nennen, ohne zu begreifen, aus wel chem Hirnfach er sie hervorgeklaubt hatte. „Ich versuche, Funkfeuer Bergen anzupei len“, sagte der Beobachter nach einer Weile, mit einer Stimme, die er nicht als seine eige ne erkannte, und während er aufstand, um den Automatikknopf des Peil G VI zu betäti gen, suchte sich die aufgestaute und halb wegs schon überstandene Angst einen ge waltsamen Ausweg. Als er den rechten Arm ausstreckte, erbrach er sich in würgenden Stößen, und keiner von der übrigen Besat zung fiel mit seinem Spott über ihn her. Zwei Stunden später landete die Maschine glatt auf dem Absprunghafen, doch es war, als hätte mit der sauberen Landung den Flugzeugführer selbst die letzte Kraftreserve verlassen. Mit dem schiebenden, unsicheren Gang eines Betrunkenen lief er zum Ge fechtsstand. Zwei Maschinen kehrten abermals nicht vom Feindflug zurück, und keiner der Kom mandanten konnte über ihren Verbleib nur den leisesten Hinweis geben. Weitere zwei Maschinen waren mit solchen Beschädigungen zum Horst zurückgekehrt, 153
daß an ihren Einsatz in den nächsten Wochen nicht zu denken war. Wie Steine fielen die Männer der Besatzun gen ins Bett, ausgebrannt wie verbrauchte Glühbirnen. Und dann konnten sie nicht schlafen. Alle hatten sie auf dem Rückflug einige der auf Heftpflasterstreifen geklebten weißen Stück chen gelutscht, Traubenzucker mit Pervitin. Was nützte es schon, daß der Stabsarzt sie immer wieder vor dem Zeug warnte und auf die Gefahr des Süchtigwerdens hinwies, wenn der Dreck doch offiziell ausgegeben wurde. Mochte doch der Stabsarzt fliegen und erst einmal beweisen, daß man ohne Pervitin nach Hause kam. Und als die Männer dann endlich doch ein schliefen, da kämpften sie gegen Meeresun geheuer und gegen unmögliche Flugzustän de. Keiner von ihnen verlor am nächsten Tag ein Wort darüber, daß der eine oder andere im Schlaf plötzlich aufgeschrien hatte oder im Bett hochgeschnellt war wie einer, den man an den Spieß stecken wollte. Wenn der Spuk noch lange dauerte, wurde wohl fast jeder rappelig, und die Frage war eher, ob man das nicht längst schon war und selbst nur nicht wußte. Für diesen Krieg erwies sich der Mensch immer mehr als Fehlkonstruktion. Aus Stahl und Eisen hätte er geschaffen wer den müssen, nicht aus Fleisch und Blut.
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Am nächsten Vormittag landeten auf dem Platz zwei Ju 88, und jeder Mann von den Besatzungen wußte Bescheid. Diese Ju’s wa ren keine Kampfflugzeuge. Rumpf und Kan zelbug waren schlanker als bei den bekann ten Maschinen. Also Aufklärer. Wo Aufklärer vom Erkundungseinsatz zurückkehrten und ihre schweren Kameras ausluden, war der Einsatz der Kampfflugzeuge meist nicht weit. Schon wieder Einsatz? Lieber Gott, wieviel Maschinen konnte man heute bestenfalls von der Gruppe noch an den Start bringen? Und jede Maschine, die fehlte, verkleinerte nicht nur die Erfolgschancen, sie verringerte auch die Chancen des Übrigbleibens. Ganz klar, daß ein Konvoi sich gegen eine Handvoll Ma schinen leichter wehren konnte als gegen ei nen starken Verband. Aber vielleicht kamen wieder andere Verbände mit, sicher hatte man doch auch noch vom Fliegerkorps neue Verbände nachgezogen. Die Besatzungen hörten nicht alles, was die Aufklärerkommandanten zu berichten wus-sten, und das andere erfuhren sie sozu sagen gefiltert aus dem Munde ihres Kom mandeurs. Nach dem gestrigen Angriff war das Geleit zum Marsch angetreten. Bezeichnend für die Größe des Zuges war, daß keiner der Aufklärer eine nur ungefähr 155
genaue Zahl der Schiffe anzugeben wußte. Sie konnten nur aussagen, daß sie bei jahre langer Tätigkeit als See-Aufklärer noch nie eine solche Schiffsansammlung gesehen hat ten. Allein die Sicherungsfahrzeuge für das Geleit machten eine kriegsstarke Flotte aus. Mit einiger Sicherheit waren die Luftangrif fe auf den vor Anker liegenden Verband leichter gewesen, denn jetzt würde man sich, ob man wollte oder nicht, auch mit den Kriegsschiffen herumschlagen müssen. Die waren zwar vorher auch schon dagewesen, aber man hatte ihnen leichter aus dem Wege gehen oder vielmehr fliegen können. Die Kriegsschiffe aber waren viel schneller als die Frachter, und die Frage war nicht mehr so sehr, wie man den Sicherungsfahr zeugen ausweichen wollte, sondern eher, ob jene den Flugzeugen ausweichen würden. Der Kommandeur hatte aus der gestrigen Panne, wo in kritischen Augenblicken die Ma schinen aneinandergeklebt hatten, gelernt. Daher ließ er seine paar Kisten heute in drei aufeinanderfolgenden Wellen starten. Es war eine gewisse Lässigkeit bei den Be satzungen, das Wurstigkeitsgefühl, das un weigerlich alle überfiel, die wieder und wieder dem Tod vom Sensenblatt gesprungen waren und wußten, daß ihnen irgendwann einmal der rettende Sprung doch nicht mehr glücken würde. Abermals flogen die Maschinen über die 156
zerzackte Küste aus. Wie oft eigentlich schon? Wozu zählen? Vielleicht war die See heute ein Verbündeter des fliegenden Ver bandes. Sie ging hoch, und tausend weiße Arme schienen sich aus ihr emporzurecken zu den übermütigen Metallvögeln. Keiner der Flieger, der nicht gewußt hätte, was für ein Katz- und Mausspiel hier getrie ben wurde. Um einen Geleitzug dieser Größe vernichtend treffen zu können, hatte es vieler Maschinen mehr bedurft, als man zur Verfü gung hatte, und man hätte dazu Tagesangriffe auf ihn fliegen müssen, eine Angriffsart, die sich eben wegen der zahlenmäßigen Unterle genheit der Luftwaffe von selbst verbot. Nach den Aufklärermeldungen verfügte das Geleit auch über zwei leichte Flugzeugträger, und diese beiden Schiffe konnten unter Umstän den mehr Jagdflugzeuge in die Luft bringen, als die deutschen Verbände Bomber besaßen. Je näher man dem feindlichen Schiffsver band kam, desto tiefer gingen die Kampfma schinen auf die Wasseroberfläche hinunter. Auch für die Briten galt das Gesetz, daß in der unendlichen Wasserwüste ein Körper um so eher gesehen wurde, je höher er über den Wasserspiegel hinausragte. Wie sie alle ihn haßten, diesen mörderischen Tiefstflug über See; und doch wußten die Flieger in diesen Tagen alle noch nicht, daß er ein halbes Jahr später eherne Notwendigkeit werden würde bei allen Flügen über See. 157
Jede Luftschraubenumdrehung brachte die Flugzeuge näher an die bewehrten Stahlkäs ten, an diese riesigen Polypen, die mit unzäh ligen stählernen Fangarmen nach den Ma schinen angelten. Mücken am Himmel waren sie für ihn, und er durfte mit einigem Grund annehmen, daß er etliche davon verschlingen konnte. Doch wieviel auch von Freund und Feind vernichtet wurden, die ewige See wür de sich über den Dramen schließen, und nach Sekundenbruchteilen konnte man der beweg ten Meeresoberfläche nicht mehr ansehen, was sie in ihrem dunklen, eisigen Schoß barg. Die Aufklärerbesatzungen hatten eine plas tische Beschreibung des Konvois gegeben; aber was sind schon Worte, wenn es eine grauenhafte Wirklichkeit gilt? Nur wenige, ganz große Dichter vermögen Worte so hin zustellen, daß aus ihnen das Grauen eines Geschehens sichtbar wird. Die Flieger voll brachten diese Kunst schon gar nicht, sie, die sich längst angewöhnt hatten, alles, was sie empfanden, dachten oder meinten, in einem einzigen greulichen Schimpfwort zusammen zufassen. Hörte dieses Geleit überhaupt irgendwo wieder auf, oder umspannte es das Weltmeer von einem Ende zum andern? Sicherungs fahrzeugen sollte man aus dem Wege fliegen, hatten immer wieder die Befehle gelautet. Verzeihung, wo waren hier denn schon keine 158
Kriegsschiffe? Man brauchte gar nicht den Versuch zu unternehmen, an die Frachter he ranzukommen, ohne sich auf einen Strauß mit den Bewachern einzulassen. Die Frachtschiffe aller Größen und Klassen stampften schwerfällig in Dreierformation in mitten des Geleitzuges. Ringsherum aber gab es eine doppelte Sicherungskette, gebildet aus Zerstörern, Torpedobooten, Flakzerstö rern, Korvetten, U-Bootjägern und Kreuzern. Gleich mußte der höllische Reigen wieder beginnen. Warum schossen diese sturen Bri ten eigentlich noch nicht? Arrogante Kerle, aber tapfer. Sie hielten ihren Kurs, ihre Marschordnung, verbissen, ohne Verwirrung. Sie wußten ganz gut, daß die gewählte For mation ihnen den größtmöglichen Schutz ver sprach, also blieben sie ruhig, das Kommen de als unvermeidlich ansehend. Gott sei Dank, daß man so tief geblieben war. Jeder Meter höher hätte schon auf grö ßere Entfernung die Schiffsartillerie zum Ein satz gebracht. So ersparte man sich vielleicht die Ouvertüre und konnte gleich den Vorhang zum ersten Akt der Höllenoper aufziehen, in der die leichte und mittlere Flak vorwiegend konzertierten. Hauptmann Melzer erkannte blitzartig, daß er dem Zerstörer, der von Backbord her mit hochgetürmter Bugwelle heranschoß, so oder so nicht ausweichen konnte. In Flugrichtung voraus fuhr ein Kreuzer, und das Ausweichen 159
vor dem einen bedeutete unvermeidlich die Inkaufnahme der Feuerkraft des schwereren Schiffes. Wenn er selbst den Zerstörer auf sich nahm, konnten die Angehörigen seiner Staffel vielleicht ein Loch zum Durchschlüp fen erwischen und doch bis zu den Frachtern durchdringen. Der oder ich – oder beide? Für Hauptmann Melzer war nur eine gerin ge Korrektur seiner Fluglage nötig, um den Zerstörer voll ins Visier zu bekommen. Melzer ertappte sich bei dem Gedanken: ,Warum tue ich das eigentlich? Das ist Selbstmord!’ Jeder bei den fliegenden Verbänden kannte die Feuerkraft eines Geleitsicherungsfahrzeugs. Nirgendwo sonst auf der Welt gab es derart massierte Flak. Der Staffelkapitän gab sich selbst die Ant wort: ,Irgendwo muß eine Lücke in dieses perfekte Verteidigungssystem gebrochen werden, sonst ist der ganze Einsatz für die Katz. Kein Schwanz kommt durch die lücken lose Sicherungskette durch, wenn ich den Burschen nicht knacke.’ Es war, als wüßte die Zerstörerbesatzung ganz genau, um was es dem deutschen Flie ger ging. Das waren keine leuchtenden Ge schoßbahnen mehr, die der Do entgegen peitschten, hier wurden glühende Stahlwände aufgerichtet und fast weihnachtlich anzuse hende Lichterbögen. Auf seiner Hochzeitsreise, die wohl auf ei ner andern Welt und in einem andern Leben 160
einmal stattgefunden hatte, hatte Haupt mann Melzer mit seiner jungen Frau in der Lagunenstadt am Lido ein imposantes Schau spiel gesehen: Venedig in Flammen. Was für ein armseliger Zauber war das gewesen ge gen dieses hier. Kleine Frau zu Hause. Was sie jetzt wohl machte? Ob sie ahnte, daß im Augenblick ihr Mann einen Todesritt antrat? Abbrechen das Ganze? Maschine in den Messerflug und weg? Nein, das ging nicht mehr, man hätte dem Gegner nur ein größeres Ziel geboten. Durch? – Ach, genauso gut konnte man ver suchen, eine Betonwand zu durchfliegen. Al les, was Mensch war in dem Hauptmann, bäumte sich gegen ein unerbittliches Schick sal auf, aber der Staffelkapitän wußte: ,Wenn nicht ich, dann eine von den jüngeren, uner fahreneren Besatzungen, und die hatten noch weniger Möglichkeiten.’ Wie ein Häuserblock aus grauen Stahlwän den wuchs der Zerstörer vor Hauptmann Mel zer auf. Mit Augen, die nicht mehr mensch lich blickten, sahen Flugzeugführer und Be obachter das Bild, und mit dem Über wachsein ihrer Sinne, wie es sich nur in sol chen Augenblicken einstellt, sahen sie noch mehr. Sie sahen menschliche Körper, die ge schüttelt wurden vom Vibrieren der Abschüs se ihrer Waffen, als sie sich mit ganzem Kör pergewicht in die Schulterhalterungen ihrer Geschütze stemmten, sie sahen Männer, de 161
ren ganze Haltung die gleiche, kalte Ent schlossenheit ausdrückte wie das eigene Vor gehen. Du oder ich. Hauptmann Melzer glaubte, direkt in die feuerspeienden Schlünde der Kanonen hin einschauen zu können, als er so heftig den Auslöseknopf der Bomben drückte, daß er meinte, er habe sich dabei den Daumen gebrochen. Jeder in der Besatzung spürte körperlich, wie die Maschine fast gleichzeitig von mehre ren, schweren Schlägen getroffen wurde, wie sie sich wie ein mißhandeltes Pferd bäumte. ,Im Messerflug wegziehen’, dachte der Hauptmann und fragte sich im gleichen Mo ment, ob er überhaupt noch lebte. Alles um ihn war auf einmal so seltsam unwirklich. Da war seine Kanzel, ja, aber warum lagen die Instrumente alle auf Null-Lage? Seine Ohren hörten das Brummen der Triebwerke, aber er glaubte seinen Ohren nicht, denn nichts gab es mehr auf der Welt. Sie war leer wie vor dem ersten Schöpfungstag. Keine Schiffe gab es mehr, und noch vor Sekunden schienen sie das Weltmeer gefüllt zu haben. Es gab auch kein Weltmeer mehr und keinen Him mel, kein Oben und Unten. Es gab nur einen Raum, der aufgehört hatte, Grenze menschli chen Seins zu sein. Wer will sich schon anmaßen, zu behaup ten, das Ganze habe so und so lange gedau 162
ert, bis der Hauptmann das Anormale seiner Fluglage erkannte, bis er merkte, daß sein Höhenruder zum Teufel war, daß die Schie besteuerung sich ohne Wirkung auf ihrem Zahnradgestänge vor und zurückbewegen ließ. Ohnehin eine blöde Erfindung. Der Hauptmann ertappte sich dabei, daß er daran dachte, daß demnächst die Serie der K 1 der Do 217 anlaufen würde, die endlich anstelle der Schiebesteuerung wieder eine Steuersäu le tragen würde. „Trimmen“, rief der Hauptmann, „schnell trimmen!“ Er hörte seine eigene Stimme nur wie aus unendlichen Fernen, sie klang nicht in den Kopfhörern wider. Also war die EiV auch flöten. Doch, zum Donnerwetter, der Beobachter, Oberfeldwebel Thalheim, mußte doch mer ken, was los war. Der lag im Kanzelbug und tat so, als ginge es ihn gar nichts an, daß die Maschine auf dem besten Weg war, ihre letz te Bahn zu fliegen. Da schob sich aus der Bodenwanne eine Gestalt hoch. Die Hände des Mannes blute ten, und vom Kopf her liefen kleine rote Rinnsale in das gelbe Halstuch. Der Bordme chaniker packte das Trimmrad und kurbelte. Kurbelte um sein und der Besatzung Leben. Es war inzwischen völlig dunkel geworden, und die See war nur noch kenntlich an den weißen Spritzern, die auf ihr herumhüpften. Widerwillig schoben sich die Schaumkronen 163
wieder dorthin, wo sie für das Auge der Flie ger hingehörten. Melzer gab höchsten Ladedruck. Dann tipp te er seinem Bordmechaniker auf die Schulter und deutete auf den Beobachter in der Kan zel. Der Bordmechaniker schüttelte nur den Kopf. Tot? Der andere las seinem Kommandan ten die Frage von den Lippen ab, hören konn te er sie nicht. Er nickte nur langsam. Mit scheuem Blick schaute der Staffelkapi tän auf den toten Kameraden. So dünn war die Scheidewand, die Leben vom Tod trenn te? Nicht dicker als die Kanzelscheiben, durch die – jetzt erst merkte es der Hauptmann – messerscharf der Fahrtwind hereinschnitt. War er, der Kommandant, denn als einziger unverwundet geblieben? Bordmechaniker und, wie ein neuer Blick zeigte, auch der Funker bluteten aus unzähligen Wunden. Sie machten mit den Händen beruhigende Zei chen, sie wollten durchhalten bis nach Hause. Nach Hause? Konnte denn die genauso schwer oder noch schwerer verwundete Ma schine den Rückflug überhaupt schaffen? Die paar Restbesatzungen der Staffel Mel zer, Feldwebel Trunk, Unteroffizier Sachs und Unteroffizier Tröger fanden gar keine Zeit zum Überlegen. Sie sahen das tolldreiste Ma növer ihres Staffelkapitäns, und ohne viel Besinnung hielten sie geraden Kurs. Sie er kannten, daß der Zerstörer tatsächlich seine 164
gesamte Feuerkraft auf die eine Maschine konzentrierte; Zeit genug also, die Gashebel bis zum Anschlag vorzuschieben und vorbei zupreschen. Natürlich funkte es von überall her, aber die anderen Schiffe mußten auch aufpassen, sich nicht gegenseitig zu bepflas tern, und was war das alles schon gegen das konzentrische Zielfeuer aus nächster Distanz, dem ihr Staffelkapitän ausgesetzt war? Es gab eine Ahnung in den jungen Fliegern, die ihnen sagte, warum der Hauptmann ein sol ches Wagnis auf sich nahm, und jeder einzel ne wäre sich wie ein feiger Lump und Verrä ter vorgekommen, wenn er jetzt nicht die Bresche, die der Ältere schlug, ausgenutzt hätte. Vielleicht blieb dem Hauptmann trotz allem auch heute noch einmal das Fliegerglück treu. Er stand ja ohnehin in dem Ruf, daß für ihn noch keine Kugel gegossen sei. Mit nur vier Maschinen war die Staffel in den Einsatz gekommen, und während die Maschine des Kapitäns an dem Zerstörer festgeklammert zu sein schien, jagten die anderen drei, eng aufgeschlossen, durch den äußeren Sicherungsgürtel des Geleitzuges hindurch, scherten dahinter leicht auseinan der und kamen damit auch hinter den Kreu zer. In Sekundenschnelle hatten sie die schwer im Wasser liegenden Schiffe vor sich. Auch die Frachter schossen natürlich. Jeder noch so alte Dreckeimer, der prustend und stöhnend die Wellen pflügte, hatte heutzuta 165
ge ja Bewaffnung. Es war fast dunkel, als die drei Maschinen, wie ein Rudel hungriger Wöl fe in eine Schafherde, in das Schiffsrudel ein brachen. Vom Westen her preschte ein Fahrzeug zum Mittelpunkt des Kessels hin, nur kennt lich daran, daß zwei lange, bleiche Schein werferarme in die Nacht stießen, und daß von ihm aus Myriaden von Leuchtkäferchen auf zusteigen schienen. So oder so. Dieses Biest mußte zu spät kommen. Man brauchte sich auch gar nicht mehr umständlich in Angriffs position zu setzen, die Eimer lagen ja da wie auf dem Präsentierteller. Mochten sie feuern, was die Rohre hergaben. Der Staffelkapitän hatte es schwerer – wenn er überhaupt noch lebte. „Zünderschaltkasten ein!“ brüllte Unteroffi zier Sachs und überzeugte sich mit einem schnellen Seitenblick, daß die Schauzeichen des Reihenabwurfautomaten aufleuchteten. Im nächsten Moment löste er schon aus. Er verspürte in den Fäusten das Freiwerden sei nes Vogels von einer hohen Last und riß sei ne Maschine haarscharf über die Ladebäume des Frachters weg. Himmel, ob den armen Hunden unter ihm jetzt genauso mulmig zu mute war wie ihm selbst? Wahrscheinlich. Auch Matrosen haben nur ein Leben zu ver lieren. Sachs sah Männer, die plötzlich Ge schütz Geschütz sein ließen und über das Deck um ihr Leben rannten, um ihr Leben, 166
das doch unverrückbar den paar Blechwänden und -spanten verhaftet war, die sie von der kochenden See trennten. Sachs drückte die Maschine gleich wieder steil aufs Wasser hinunter. Es war nicht gut, hier, mitten im Geleit, zu hoch zu bleiben und dadurch erst den anderen Pötten Schußfeld zu bieten. Schade eigentlich, daß man nicht einmal vorübergehend so langsam wie ein Fieseler Storch fliegen konnte. Es wäre viel leicht ganz interessant gewesen, einfach bei dem todwunden Frachter bleiben zu können und dadurch den ganzen Schiffsverband am Feuern zu verhindern. Was war denn eigentlich mit dem Frachter? Hatte eine der vier Bomben ihr Ziel erreicht? Waren sie nicht vielleicht viel zu weit entfernt wirkungslos ins Wasser gefallen? Bei einem Blick zurück konnte Sachs nichts ausmachen. Das Schiff zeigte weder Schlagseite, noch brannte es. Für einen Fehlwurf hatte man das alles in Kauf genommen? Sachs wollte gerade einen grimmigen Fluch ausstoßen, als der Frachter plötzlich mittschiffs eine hohe Flammensäule ausspie und gleich darauf in unglaublich kurzer Zeit in den Wogen ver sank. Sachs spürte ein Entsetzen in der Herzgru be, das ihm fast den Atem raubte. So also war das, wenn ein Schiff starb. Wie viele von der Schiffsbesatzung wohl gerettet werden konnten, oder zog der Stahlkoloß seine Män 167
ner alle mit in die dunkle Tiefe? Gerade weil die Flieger wußten, wie entsetzlich schmal der Grat zwischen Leben und Tod war, des halb empfanden sie auch Achtung vor dem Sterben anderer. Nichts wie herum mit dem Leitwerk, bevor man jetzt in das Feuer des heranjagenden Flakkreuzers kam. Rechts und links glühte der Himmel im hunderttausendfachen Ker zenschein der Flakleuchtspur. Unmöglich, zu erkennen, nach wem die glitzernden Spin nenfäden griffen. Alles, was Kanonen trug, feuerte ja im wahnsinnigen Vernich tungsrausch, weil Freund und Feind gegen das Grauen des Augenblicks nur ein einziges Mittel wußten, die Zerstörungsorgie der eige nen Waffen. Die Kanonenschlünde vereinig ten sich zu einer vielstimmigen Orgel, die das Lied vom Untergang einer Welt hinaustoste in die Unendlichkeit der Nacht. Daß wirklich ei ne Welt hier unterging, das ahnten die Män ner auf den Schiffen so gut wie die in den Flugzeugen. Nie wieder danach würde die Welt das gleiche Gesicht tragen wie vor die sem Inferno. Die Frachtschiffe wehrten sich wie tapfere Soldaten. Aber sie waren bis zur Grenze ihrer Tragfähigkeit beladen, und die meisten von ihnen waren weder so gut bestückt wie Kriegsschiffe, noch verfügten ihre Besatzun gen über die Kampferfahrung von Kriegs schiffen, und sie verfügten auch nicht über 168
die Wendigkeit und das taktische Anpas sungsvermögen von Kreuzern und Zerstö rern. Wo die Feuerkraft oder die Treffgenau igkeit nicht ausreichten, mußten die Frachter das tödliche Stahlgelege der feindlichen Vö gel hinnehmen – wenn die deutsche Maschi ne ihren Segen nicht daneben warf. Das war ein Stück aus der Mathematik des Teufels oder des Todes, ganz wie der einzelne es se hen wollte. Wenn ein großes Geleit auf Marschfahrt ging, mußte von vornherein mit so und so vielen Ausfällen gerechnet werden. Doch war es auf der Gegenseite nicht genau so? Wurde nicht bei jedem Geleitzugangriff wenigstens ein Fünftel der angreifenden Flugzeuge abgeschossen? Längst hieß doch das Exempel nicht mehr Tapferkeit gegen Tapferkeit, ritterlicher Kampf gegen einen rit terlichen Gegner, längst hieß es: Wer hat den längeren Atem und die perfekteren Tötungs maschinen? Mit jedem Tag, den der Krieg länger dauerte, erwies es sich, daß auf die Dauer die Alliierten am längeren Hebelarm saßen. Auch Feldwebel Trunk hatte sich einen Frachter aufgepickt, in Flugrichtung gesehen gleich den nächsten hinter Unteroffizier Sachs. Seinem Temperament gemäß steuerte Trunk den Kasten mit einer Gleichgültigkeit an, als handele es sich um den Scheinangriff mit Zementbomben auf die alte Schute, die man seinerzeit im Dollart als Übungsziel auf 169
gebaut hatte. Ach, wie lange war das schon her? Feldwebel Trunk hätte alles mögliche dafür gegeben, jetzt einen Blick rückwärts werfen zu können, auf die anderen Maschinen der Staffel und der Gruppe. Da war man nun im Verband angeflogen und damit in einem ge wissen Zusammengehörigkeitsgefühl, aber nun, da es darauf ankam, war jeder mit sich allein, gnadenlos allein wie immer in einer Welt voller Feinde. Wäre nicht ein gewisser Widerschein letz ter Tageshelligkeit vom Wasser ausgegan gen, Trunk hätte seinen Dampfer gar nicht mehr erkennen können. Wie ein Wald wuch sen vor ihm die Masten und Ladebäume des Schiffes auf, drohend, gespenstisch. Aus dem dunklen Leib des Schiffes zuckten Blitze her vor, gelb und bläulich. Warum konnte man nicht Bomben bauen, die einen eigenen An trieb besaßen und die dem Ziel, einmal aus gelöst, selbständig zusteuerten? So mußte man heran an den Pott, mußte seine feuer speienden Kanonenrachen anfliegen, ob man wollte oder nicht. Also doch ein Unterschied zu der Übungsschute. Die spuckte keinen Stahl, hatte es gelassen hingenommen, ob die Zementbomben nun auf oder neben sie krachten. Irgendwo auf dem Frachter ging ein Licht an. Die waren wohl total meschugge. Nun gleichgültig, er, Trunk, hatte mit sich genug 170
auszumachen. In dem bißchen Licht konnte er Männer sehen, die den heranrasenden Schatten des Flugzeugs anstarrten, als woll ten sie notfalls, kam er zu nahe, mit den Fäusten gegen ihn anrennen. Trunk löste, genau wie die Kameraden in den anderen Maschinen, die Bomben, und den Auftrieb, den sein Flugzeug dadurch er hielt, konnte er auch dringend gebrauchen. So tief anfliegend hatte er die Höhe der Dampferaufbauten gründlich unterschätzt. In einer wilden Steilkurve riß Trunk seine Mühle hoch, zog an dem Steuerhorn, daß er glaub te, der Arm müsse ihm erlahmen. In der Kehrt-wendung konnte er noch einen Blick auf das Deck des Frachters werfen, das jetzt aussah wie eine apokalyptische Erscheinung. Keines der Schiffsflakgeschütze bellte mehr seine Wut gegen die feindliche Hummel in den Nachthimmel. Auf dem gleichen Weg, auf dem die Ma schinen in das Geleit eingedrungen waren, versuchten sie jetzt wieder herauszukom men. Es gab gar keine andere Lösung. Von überall her fingerten Scheinwerferbatterien über der aufgeregten See herum. Gottlob, daß beim Gegner auch einige Verwirrung herrschte. Das bot die einzige Chance, noch einmal heil davonzukommen. Hoffentlich erfaßte einen nicht gleich so ein Lichtbalken. Im Augenblick hatte Trunk weni ger Angst vor dem unvermeidlich damit ver 171
bundenen Beschossenwerden, als vielmehr davor, daß er geblendet einen der Schiffslei ber übersehen könnte und in dessen Luvoder Leeseite hineinraste. Warum hatte man auf deutscher Seite nicht mehr Flugzeuge? Dann hätte ein Rie sen-verband aus großer Höhe im Horizontal wurf einen breiten Bombenteppich legen kön nen. Trunk lachte sich gleich anschließend selbst aus und wunderte sich, daß er noch la chen konnte. „So stellt sich wohl der kleine Moritz einen Geleitzugangriff vor?“ fragte er sich. Es war längst dunkel geworden. Vielleicht, nein sicherlich sogar, war man fünf Minuten zu spät am Feind. Aber immer noch lieber so als fünf Minuten zu früh. Dann hätten die Jä ger noch aufgelassen werden können, und die hätten den deutschen Kampfflugzeugen vermutlich noch weit stärker zugesetzt als die britische Flak. Aber die Dunkelheit brauchte nicht unbe dingt ein Verbündeter der deutschen Flieger zu sein. Gut möglich, daß sie jetzt ihr grim migster Feind war, wenigstens bis zu dem Punkt, an dem sie vor dem Feuer des Geleit zugs wieder sicher waren. – Hauptmann Melzer hatte längst jedes Ge fühl dafür verloren, ob er noch flog. Die durch die zerschossenen Kanzelscheiben ein strömende Kaltluft hieb ihm wie mit Peit schenschnüren ins Gesicht. Er hatte seinen 172
Besatzungen den Weg ins Geleitinnere frei gekämpft, ja, aber dafür hatte er seinen Be obachter getötet. War das eine gegen das andere aufzurechnen? Und wie denn? Wozu hatte er denn seinen Männern einen Weg zu den Schiffen gewiesen, doch nur, damit sie dort starben, genauso elend starben wie sein Beobachter halbrechts vor ihm im Kanzelbug. War es denn eine Gnade, oder war es einfach Ironie des Schicksals, daß das Feindfeuer ihn selbst am Leben gelassen hatte? Hatte ihm das Schicksal das Leben nur bewahrt, daß er sich bis an sein Grab vor Reue zerfleischte, oder dafür, daß er mit wachen Sinnen das Sterben in allen Einzelheiten erleben mußte? Wie sollte denn ein Flugzeugführer das Fest land mit zerschossenem Höhenruder errei chen, mit ausgefallenem Wendezeiger und mit anderen Instrumenten, in denen sich nichts mehr rührte. Noch war wenigstens der natürliche Horizont zu sehen, wie sollte er seine Fluglage kontrollieren, wenn die Nacht den auch verschluckte? Daß er seine Maschi ne von den feuerspuckenden Klötzen wegge bracht hatte, war schon unwahrscheinlich; daß er sie auch noch übers Festland brachte, war unmöglich. Gegenseitig brüllten sie sich mit höchstem Stimmaufwand an, er und sein Bordmechani ker, lasen sie sich die Weisungen von den frostblauen Lippen. „Kopflastiger trimmen“, brüllte der eine, 173
„und jetzt mehr Gas“, schrie der andere, und das immer blasser werdende Strichlein in der Unendlichkeit, der Horizont, das einzige, wo nach sie sich noch richten konnten, schwank te wie betrunken auf und nieder. Bald stand es dort, wo das MG 151 sein Rohr in die Luft bohrte, dann versank es wieder hinter den Verstrebungsspanten der Kanzel. Mit den Bewegungen von Wahnsinnigen hantierten die beiden Männer, der Flugzeug führer und sein Mechaniker. Sie unterstützten sich gegenseitig im fieberhaften Vor- und Zu rückdrehen des Trimmrades, und nur wenn der Hauptmann die rechte Hand für das Steuerhorn brauchte, weil die linke mit den Gashebeln jonglieren mußte, blieb der Bord mixer allein. Wie lange konnten eigentlich die Motoren dieses grausame Spiel durchhalten? War es nicht jetzt schon unerklärlich, dass sie überhaupt noch liefen? Wozu trieb man das grausame Spiel überhaupt immer weiter, von einer Sekunde zur andern? War es nicht völ lig egal, wo man abschrammte, hier oder an derswo? Rettung gab es ja doch nicht mehr. So oder so kam man nicht über die Schären küste Norwegens hinweg und schon gar nicht mehr auf die Höhe, die notwendig gewesen wäre, um den Platz anzusteuern. Und doch. Der Hauptmann tippte seinem Bordmechaniker auf die Schulter, bedeutete ihm, er solle den Funker verständigen. We nigstens peilen mußte man doch noch und 174
einen SOS-Ruf absetzen. Das Kleine viel leicht, das jeder Mensch denkt, der noch at met, begann auch hier zu regieren. Vielleicht kam man doch noch in die Schlauchboote und wurde herausgezogen. Doch der Funker zuckte nur hilflos mit den Schultern und barg dann wieder sein blutver krustetes Gesicht in den Händen. Es gab nichts mehr zu peilen und zu funken, die Ge räte hatten sämtlich keinen Strom mehr. Die ganze Zeit über hatte er schon die Schadensstelle gesucht, die Abdeckhauben der Funk geräte starrten vor geronnenem Blut. Der Funkumformer war ein Haufen zerschossenen Drahtes. Irgendwo in der Schulter hatte der Funker ein feindliches Geschoß oder einen Splitter stekken. Er verspürte keine Schmerzen und sah nur interesselos zu, wie das Blut ihm aus den Ärmeln der Kombination lief. Sterben. Lieber, guter Gott, wie hatte er sich zeit sei nes Lebens davor gefürchtet, und wie mußte er immer, selbst vor jedem Übungsflug, erst seine Angst hinunterwürgen, um sich vor den anderen nichts anmerken zu lassen. Merkwürdig – jetzt hatte er gar keine Angst mehr. War das schon der Tod? Er erin nerte sich, oft gelesen zu haben, wie man auf dem Sterbebett angeblich keine Angst mehr vor dem Tod empfindet. Wie ein Unbeteiligter sah der Funker zu, wie in der Panzerglaskup pel der Horizont hinter der Maschine auf- und 175
niederhüpfte. Sterben, das hieß doch wohl Eingehen in die große Unendlichkeit, und war man denn jetzt und hier nicht schon mitten in ihr drin? Vielleicht war es letzten Endes der tote Be obachter, der seine lebenden Kameraden ret tete. Hauptmann Melzer konnte nicht zu der seltsam zusammengekrümmten Gestalt im Bug schauen, ohne daß er die Zähne zusam menbiß. Wenn er selbst drauf gehen sollte – nun ja, einmal erwischte es nach einer simp len Wahrscheinlichkeitsrechnung jeden – , dann war das egal, wenn es ihm nur gelang, diese anderen beiden heil zurückzubringen, diese tapferen Kerle, von denen er noch kei nen Klagelaut gehört hatte, obwohl sie beide schwer verwundet, so gut wie er selbst wuß ten, wie es fliegerisch um sie stand. Etwas huschte nahe an der Kanzel vorüber, kam nach Sekunden zurück. Eine Möwe. Wo diese Vögel waren, da war auch Land. Also hatte man mit dem Flüssigkeitsarmbandkom paß doch noch das Festland erreicht. Ach, wenn man doch über Land nur auf irgendeine Weise die Maschine hochbekommen hätte, so hoch wenigstens, daß man an einen Fall schirmabsprung denken durfte. „Wir wollen es wenigstens probieren“, sag te der Hauptmann, und er, der seit Jahren bestimmt keinen übermäßig frommen Ge danken mehr gefaßt hatte, flüsterte ein Stoßgebet: „Herrgott, laß die Trimmung 176
funktionieren und die Triebwerke. Nur ein paar Minuten noch!“ Er handelte mit dem Weltenrichter um das Leben der beiden Män ner hinter sich. Der Bordmechaniker drehte das Trimmru der mit beiden Händen und hielt es mit ver krampften Fäusten am Anschlag, und Hauptmann Melzer schob die Gashebel vor, als könne er die vordere Endbegrenzung mit aller Kraft wegdrücken. Das war kein Orgel ton mehr, den die Motoren jetzt hergaben, das war ein in letzter Anstrengung keu chendes Pfeifen. Egal, ganz egal, wenn die Mühle nur höher kam. Ja, kam sie wirklich höher? Hundert Meter Luft mußte man wenigstens unter sich ha ben, wenn ein Sprung glücken sollte. In pu rem Aberwitz zog der Hauptmann das Steu erhorn vor die Brust, das widerstandslos nachgab, doch greifen Ertrinkende nicht wirk lich nach dem Strohhalm? Es waren Ewigkei ten, die vergingen, aber die Maschine kletter te. Langsam nur, Meter um Meter. Aber sie kletterte. Wenn es nur gelang, die überfor derten Motoren am Leben zu erhalten, bis man die Kiste auf die notwendige Höhe ge würgt hatte. War es wirklich wahr, daß man noch einmal davonkommen sollte? Der Höhenmesser zeigte genauso wenig an wie die anderen Instrumente. Hauptmann Melzer war nur auf ein paar Schatten der Erd oberfläche zur Höhenschätzung angewiesen. 177
„Jetzt aussteigen“, deutete der Hauptmann mit der Hand. Die Triebwerke liefen schon die fünffache Zeit der höchsterlaubten mit Kampfleistung. „Macht schnell, um Himmels willen schnell!“ deutete die Gebärdensprache des Flugzeugführers. Aber der Bordmechaniker schüttelte den Kopf. Er zerrte den toten Beobachter an sei nen Fallschirmgurten aus der Kanzel und schickte sich an, den Leichnam durch die ab geworfene Bodenluke ins Freie zu stoßen. Herrgott im Himmel, laß es schnell gehen! Der Hauptmann wußte, daß es jetzt rasch vorbei sein konnte. Die Motoren würden in ei nem Augenblick ohne große Vorankündigung den Betrieb einstellen. Ungeduldig tippte der Hauptmann abermals dem Mechaniker auf die Schulter, doch der brachte seinen Mund nahe ans Ohr des Kommandanten und schrie: „Er soll nicht mit der Mühle verbrenen. Anständig beerdigen wollen wir ihn wenigstens.“ Den Männern, die dem Tode schon so nahe gewesen waren, war das eigene Leben gleichgültig geworden. So, wie sie vorher ge lebt hatten, würden sie nach diesem Erlebnis nie wieder leben können. Funker und Bord mechaniker dachten nicht daran, daß sich der Schirm des Toten, dessen Griff sie während des Hinauswerfens schon ziehen mußten, sich in der Maschine verheddern konnte und sie dem kaum entronnenen Verderben erneut 178
überantworten mußte. Sie dachten nur dar an, daß Thalheim, der Beobachter mit den meisten Feindflügen des ganzen Ge schwaders, für sie alle gestorben war, und daß er es folglich noch im Tode verdiente, daß man etwas für ihn tat. Im Werkzeugkasten gab es auch eine Rolle Schnur. Die band der Bordmechaniker an den Brustfallschirm des Toten, wickelte ein paar Meter ab und lockerte vorsichtig den Alumi niumreißgriff, damit es ihm die Schnur nicht einfach aus der Hand riß. Ganz behutsam, als fürchte er, dem Toten weh zu tun, schob er dann den Körper des Beobachters aus der Flugzeugöffnung. Niemand konnte kontrollieren, ob sich der Schirm des Toten noch öffnete, und es blieb auch keine Zeit dazu. Nun tupfte der Flug zeugführer seinen Bordmechaniker nicht mehr mit der Hand an, nun schlug er mit der Faust zu. Ein Blöder mußte merken, daß der Ladedruck der Triebwerke unaufhaltsam sank. Da sprang erst der Funker, ihm folgte der Bordmechaniker, und schließlich schob sich auch Hauptmann Melzer auf die gähnen de Bodenluke zu. *** Major Schunck hatte es, wenn man so wollte, am besten getroffen. Sei es, daß beim Anflug von Hauptmann Melzer auf den Zerstörer das 179
vorausfahrende Sicherungsschiff, eine schon etwas veraltete Korvette, nervös geworden war, sei es, daß sie die ihr selbst geltende Gefahr zu spät erkannt hatte, jedenfalls machte sie ein gewagtes Manöver. Sie ging plötzlich mit voller Kraft rückwärts und ver suchte anscheinend zu wenden. In diesem Augenblick waren die drei Flugzeuge, an de ren Spitze als taktische Eins der Major flog, heran. „Auffächern, linker Kettenhund zurückfal len“, befahl der Major über den Sprechfunk, „wir nehmen das Biest mit zwei Maschinen an. Rechter Kettenhund sucht sich Frachter.“ „Funker an Kommandant“, meldete da die Eigenverständigung, „Herr Major haben selbst befohlen, nur Frachter anzugreifen und den Sicherungsfahrzeugen aus dem Wege zu gehen.“ „Sieh mal einer an“, antwortete der Major direkt gemütlich, „mein Funker, der Herr Oberleutnant Schneider, lebt also auch noch? Ich hätte darauf geschworen, Sie seien tot, so wenig hat man von Ihnen gehört. Haben wohl gründlich Angst, wie? Na, ein bißchen mehr Zunder werden wir von dem Ding schon kriegen. Ich hoffe nur, daß Sie sich das heu tige Erlebnis merken, und wenn Sie erst wie der Dienst tun als Gruppen-NO, nicht mehr gerade vom Einsatz zurückgekehrte Funker anpfeifen, bloß weil sie irgendeine Kleinigkeit nicht so machten, wie Sie es wollten.“ 180
Dem Kommandeur war es im Augenblick völlig egal, daß er einen Offizier im Beisein von Unteroffizieren derart ironisch anließ. Wenn der sich vor Untergebenen nicht schämte, seine Feigheit so offen zu zeigen, dann sollte er auch die Rüge dafür einste cken. Doch der Oberleutnant war weit davon ent fernt, jetzt die Zähne zusammenzubeißen und zu schweigen. „Suchen sich Herr Major doch einen Frach ter“, bettelte er fast kindisch, „ich will nicht ins Wasser.“ „Wo Sie doch bloß Ihr Mundwerk kühlen könnten“, entgegnete der Major hohnvoll, und, die BzB-Taste drückend, fragte er die Nachbarmaschine: „Fertig?“ „Jawohl.“ „Wir greifen an. Sie quer zum Bug, ich quer zum Heck.“ Jetzt schien die alte Kommode die drohen de Gefahr erkannt zu haben. Die Matrosen warfen sich wie besessen hinter die Kanonen und feuerten, noch bevor sie ihren fliegenden Feind richtig erfaßt hatten. Das gerade hatte der Major vorausgesehen und auch, daß die alte Tante ihr Feuer teilen mußte, wenn sie jedem Angreifer sein Teil gönnen wollte. Doch eins mußte man der Korvette lassen. Sie wehrte sich tapfer. End lose Bänder aus goldgewirktem Gewebe spul ten sich von ihrem Deck her ab. Der Major riß 181
seine Maschine herum und hinüber, hinauf und hinunter, daß die Fliehkraft ihn selbst gegen die Anschnallgurte warf und er glaub te, sie müßten quer durch seinen Leib hin durchschneiden. „Ich will nicht mehr“, winselte und jam merte von hinten eine Stimme, von der der Kommandeur nicht zu fragen brauchte, zu wem sie gehörte. Schließlich ging das Wim mern in den Lauten heftigen Erbrechens un ter. „Gebt ihnen Zunder“, schrie der Major, und die Beobachter beider Maschinen ließen ihre 2 cm-Kanonen bellen, was die Trommeln her gaben. Die Korvette blieb unter den deutschen Bomben liegen. Keiner wußte später an zugeben, wieviel Treffer sie hatte einstecken müssen. Sicher war nur, daß etliche Ein schläge auf ihrem Deck aufgeblitzt waren, aber das tapfere Schiff schwamm und schoß sogar noch hinter seinen abdrehenden Geg nern her. „Diese Engländer“, sagte Major Schunck, „ein wahrer Jammer, daß man ge gen so prachtvolle Soldaten kämpfen muß.“ „Sie haben es doch nicht anders gewollt“, meldete sich nun wieder Oberleutnant Schneider, der jetzt, nachdem die Gefahr ei nigermaßen überwunden war, zu neuem Le ben zu erwachen schien. „Das ist nur die Sicht von Maulhelden“, sagte der Major kalt und fügte hinzu: „Sie 182
melden sich nach dem Einsatz im Dienstan zug bei mir auf dem Gefechtsstand.“ *** Die Maschinen, die übrig geblieben waren, gingen auf Heimatkurs. Niemand wußte, wie viel Maschinen es noch waren. Jeder Flug zeugführer löste sich nur aus dem Geleit mit dem Bewußtsein: ,Heute noch einmal davon gekommen. Wie würde es morgen sein?’ Über eins gab es keinen Zweifel. Erlaubte es die Wetterlage nur einigermaßen, dann flog man morgen wieder, und das würde sich wiederholen, bis es keine einsatzfähige Ma schine mehr gab, oder bis es keine Besat zung mehr gab, die eine einsatzklare Maschi ne fliegen konnte. Wieviel Besatzungen hatte dieser Geleit zug, seitdem man ihn erstmals in seinen An fängen vor dem Bristol-Kanal aufgespürt hat te, eigentlich schon gefressen? Nicht rech nen! Um Himmels willen nicht rechnen! Wer rechnet, kommt als nächster dran. Das war ein nicht auszurottender Fliegeraberglaube. Auch Major Schunck rechnete nicht, er suchte vielmehr jeden derart aufkommenden Gedanken im Keim zu ersticken. Wie sah jetzt schon die stolze Gruppe aus, die er vor kurzem erst frontklar nach der Umrüstung in der Heimat übernommen hatte? Niemals würde es Gewißheit darüber geben, wieviel 183
Verluste auf das Konto des Feindes kamen, und wieviel Unglücken, technischen Versa gern, ungenügender Erfahrung oder man gelnder Ausbildung zuzuschreiben waren. Er, seine Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften flogen – und wie sie flogen. Warum? Wer konnte es wagen, das Warum zu beantworten? So eine Gruppe – sie be stand aus so vielen Männern und aus genau so vielen Charakteren. Da gab es Hartgesot tene und Empfindsame, Nervöse und Ruhige, Tapfere und weniger Tapfere, natürlich auch ein paar Memmen, wie seinen Offiziersfunker dort hinten; aber die anderen alle, mochten sie noch so unterschiedlich sein, es waren Männer, deren Leistung nicht einfach unter gehen konnte. Und wenn ihr großes Sterben nur den Sinn hatte, ein künftiges Massen sterben zu verhindern. Da waren Männer mit unterschiedlichster Erziehung, Lebens- und Weltanschauung, mit unterschiedlicher Religion und Moral. Starben sie alle als Männer, weil ihr Fahneneid sie zwang, oder weil sie alles glaubten, was ein perfekter Propaganda-Apparat ihnen Tagund Nacht in die Ohren leierte? Doch wohl, weil in dieser großen Bewährung der Einzel persönlichkeit keiner zum andern sagte: „Sieh du zu, daß du stirbst. Ich werde mich schon durchmogeln.“ War es das, was die Flieger heraushob aus dem allgemeinen Cha os dieses Krieges? Sie waren nie eine fest 184
aneinander geschmiedete Einheit, die auch nur in der Einheit kämpfte; eine kleine Ein-, Zwei- oder auch Viermannbesatzung war ganz allein auf sich angewiesen, und nur sel ten geschah es, daß der andere im Kampf für einen einstehen konnte. – Feldwebel Trunk war nach der Rückkehr auf den Platz einfach verblüfft, daß er die erste Maschine gelandet hatte. Das war doch wohl nicht möglich. Nach seiner Rechnung mußte er etwa in der Mitte liegen. Er hatte sich schon gewundert, daß er gar keinen Funk-betrieb vorfand, als er sich beim Peiler anmeldete. Sollte das etwa heißen, daß er als einziger von der ganzen Gruppe zurückge kehrt war? Wo waren der Kommandeur, Hauptmann Melzer, Feldwebel Tröger, Unter offizier Sachs und wie sie alle hießen? Guter Gott, sie konnten doch nicht alle draußen geblieben sein! Als Trunk den Gefechtsstand betrat, um seine Meldung abzugeben, kündigten sich weitere vier Maschinen an, zwei von ihnen mit PAN-Meldung. Motorschaden. Trunk fiel ein Stein vom Herzen. Es war kein schöner Gedanke, mit der eigenen Besatzung die ein zigen Überlebenden einer ganzen Gruppe zu sein. Apathisch nahm Trunk eine Zigarette, die der Ia ihm reichte. Er sog das volle Quantum Rauch in die Lunge, ohne die leiseste Wir kung zu verspüren. ,So hohl sind wir also’, 185
dachte er einen Moment lang überrascht und vergaß seinen Gedanken gleich wieder, denn der Peiler kündigte das Näherrücken der Kommandeursmaschine an. Nacheinander betraten noch Besatzungen den Gefechtsstand, gaben ihren Einsatz bericht und machten alle zusammen keine Anstalten, den Raum wieder zu verlassen, obwohl die paar Sitzgelegenheiten hier längst nicht für alle ausreichten und der Ventilator in der Ecke vergeblich gegen den Tabakdunst ankämpfte. Wieder und wieder schrillte auf dem Schreibtisch des Ia der Fernsprecher, aber es meldete sich nicht immer der Peiler, der den Anflug einer neuen Maschine meldete. „Ein Vorpostenboot hat Aufschlagbrand in den Schären gemeldet“, sagte Oberleutnant Rupprecht tonlos. Die Besatzungen würgten an den liebevoll und sorgsam belegten Broten, die man ihnen im Speisesaal anbot, herum, als seien die Toastschnitten aus Pappe. Es gab keinen Zweifel mehr, daß vier Besatzungen draußen geblieben waren, vier Besatzungen von dem kleinen Häuflein, das gestartet war. Morgen würden vielleicht Gewehrsalven über offene Gräber von Kameraden krachen. Morgen. Ach, morgen würde man vielleicht wieder Hinausfliegen zum großen Sterben von Fliegern und Seeleuten. – Es kam nicht mehr dazu. Am nächsten Tag 186
verhinderte ein Nebel, so dick wie Verband watte, jeden Start. Und lichtete sich der Ne bel einmal wieder, dann gab es wohl erst einmal genügend Werkstattflüge zu absolvie ren, und wenn das Augenblickswetter nur länger als einen Tag anhielt, war das feindli che Geleit dem Zugriff der Gruppe entzogen. Man hätte dann weiter nach Norden verlegen müssen, und das lohnte nicht mehr bei den paar Maschinen, die noch zur Verfügung standen. So gönnte man dem fliegenden Per sonal ein paar Tage wohlverdiente Ruhe, und als die Sonne erstmals wieder durchbrach und die rotgezackte Küste Norwegens be leuchtete, verlegte die Gruppe zurück in den niederländischen Raum. Vielleicht gab es von dort aus auch Geleitzugangriffe, auf Geleitzü ge vor der britischen Ostküste. – Oberleutnant Schneider hatte nach der Landung eine erregte Auseinandersetzung mit dem Kommandeur überstehen müssen. Schonungslos sagte der Major ihm, was er von einem Offizier hielt, der durch Hasenfüs sigkeit Untergebenen ein schlechtes Beispiel gab. „Ich könnte Meldung machen“, sagte der Major, „was Sie sich in der ganzen letzten Zeit, besonders während Ihrer drei Feindflüge geleistet haben. Das liegt mir aber nicht. Vielleicht können Sie nichts für Ihre Feigheit. Das habe ich nicht zu untersuchen. Aber Sie können etwas dafür, daß Sie vor Männern, die auch für Sie den Kopf hinhalten müssen, 187
den stärken Befehlshaber mimen, und meine Flieger lasse ich mir von niemand versauen, auch nicht und zuletzt von einem Offizier, der in der Maschine herumwinselt wie ein junger Hund. Jedenfalls, in meiner Gruppe will ich Sie nicht mehr haben. Tun Sie, was Sie glau ben, tun zu müssen! Versuchen Sie, versetzt zu werden, wohin, ist mir egal.“ *** Die Flieger flogen mit ihren Maschinen nach Holland zurück, von wo sie gekommen wa ren, bevor die große Geleitzugschlacht be gonnen hatte. Etwas hatte sich geändert in den Männern, obwohl keiner von ihnen zu sagen gewußt hätte, was. Sie aßen und tran ken wie früher auch, sie schliefen und stan den wieder auf, sie machten auch noch Scherze, sogar sehr derbe zuweilen. Aber sie waren nicht mehr die gleichen Männer, die vor zwei Monaten in fast übermütiger Stim mung von einem deutschen Fliegerhorst an die Front verlegt hatten. Es war, als sei ihnen eine Art neuen Schau ens, ein anderes Sehenkönnen geschenkt worden. Es kam vor, daß sie durch Menschen und Dinge hindurchschauten, als seien sie aus Glas oder gar nicht vorhanden; und es kam ebenso vor, daß sie auf einmal Dingen ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkten, die sie nie vorher betrachtet hatten. Sie 188
konnten stundenlang stehen und zuschauen, wie beispielsweise ein Landmann sein Korn schnitt, oder sie konnten sich am Aufbrechen einer Blume freuen. Wenn sie gar einem Kind begegneten, wurden sie zu rührenden Kerlen. O ja, diese Männer schlugen noch über die Stränge, wie Flieger es immer getan haben und immer tun werden; aber dahinter stand nicht mehr die unbekümmerte jugendliche Draufgängerei von einst. Irgendwo in ihrem Inneren lauerte das Wissen von der schnellen Vergänglichkeit alles Irdischen, und dort wußten sie auch von der schmalen Kante, die Leben und Tod voneinander scheidet, und ihr Blick sprach von diesem Wissen. Das Unter nehmen „Albatros“ war an keinem von ihnen spurlos vorübergegangen. ENDE
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