Gemini 31
Roy Demon: Unternehmen Eiszeit
Es verdroß ihn, daß der Himmel bedeckt war. Das kannte er nicht. Meistens ...
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Gemini 31
Roy Demon: Unternehmen Eiszeit
Es verdroß ihn, daß der Himmel bedeckt war. Das kannte er nicht. Meistens war der Himmel tiefblau. Er nahm das Fernglas zur Hand. Wenn ihn nicht alles täuschte, versammelten sich am Ufer des Sees Scharen von Schneegänsen. Das hatte er noch nie gesehen. Die Vögel fanden sich nur zusammen, wenn sie ihre Reise nach Süden antraten. Das war im September, aber nicht drei Tage nach Sommeranfang! Das ungewöhnliche Bild veranlaßte ihn, Stativ und Telekamera aufzubauen. Ein paar Insekten ärgerten ihn dabei. Kein Wunder: Die Sonne stieg höher, und es wurde wärmer trotz der Wolkendecke. Zivomir geriet ins Schwitzen. Die physische Reaktion machte ihm bewußt, daß es kühler war als gewöhnlich. Er dachte nur noch nicht darüber nach. Einerseits war er froh, während seiner Arbeit, die Konzentration erforderte, nur wenige Moskitos verscheuchen zu müssen. Sonst waren sie eine Plage. Scharen von Schneegänsen im Hochsommer zu fotografieren war ein spannenderes Ereignis als die Schläfrigkeit von Mücken, Libellen und Hornissen. Vor Eifer vergaß er sogar, daß ihn die Bären und Hasen, die Füchse und Pelztiere seit Tagen im Stich ließen. Er wurde erst aufmerksam, als ein erster, geradezu eisiger Windhauch über ihn hinwegstreifte. Ihn fröstelte. Der Film ging zu Ende. Einen neuen einzulegen lohnte nicht. Während der letzten Aufnahmen bemerkte er, daß die Luft diesig wurde. Es sah aus, als fange der See an zu dampfen. Zivomir packte zusammen und kletterte vom
Hochsitz. Wenn das komische Wetter noch eine Weile anhielt, wollte er seinen Sommeraufenthalt abbrechen. Das beschloß er, während er durch den Wald den Pfad entlang zur Blockhütte lief. Er überlegte, ob er genügend Chemikalien bei sich hatte, um die Filme zu entwickeln. Denn um zum Angeln ans Seeufer zu gehen, war es zu kühl. Er hörte das Pferd wiehern, noch ehe er seine Hütte sah. Das bedeutete, Akria war gekommen! Was wollte sie, noch dazu am frühen Morgen? Zivomir bekam ein schlechtes Gewissen: Ihm fielen die merkwürdigen Andeutungen beim letzten Besuch wieder ein. Was sollte er tun, wenn sie hierbleiben wollte? Doch dann sah er zwei Pferde. Sie waren voll bepackt, als gingen ihre Besitzer auf Wanderschaft. Das eine gehörte Akria. Und das andere? Vater und Tochter saßen auf der Bank neben der Tür. Von der aus bot sich ein schöner Blick über See und Wälder. Beide sahen ihm erwartungsvoll entgegen. Sie blieben jedoch sitzen, als er sie begrüßte. Akria fiel ihm nicht um den Hals wie sonst. »Haai«, erwiderte der runzlige Alte den Gruß. Er reichte ihm sogar die Hand, eine bei den Cicaque-Indianern ungewöhnliche Geste. »Du hast gute Jagd gehabt mit Bildfänger, Bruder Zivo?« »Nein, Bruder Friedlicher Wolf.« Er legte die Taschen ab, um seinerseits die hübsche Rotbraune zu umarmen. Er spürte, daß sie ihre natürliche Hingabe unterdrückte. »Es ist seit Tagen wie verhext. Ich habe es Akria schon gesagt, als sie mich das letzte Mal besucht hat.« »Sie hat es uns berichtet, Bruder.« Der Alte hatte eine
heisere, tiefe Stimme. »Wir wissen es längst.« »Kommt doch rein«, bat Zivomir. Ihn wunderte, daß sie nicht schon von allein eingetreten waren. Die Tür war nie abgeschlossen. Wenn die Indianerin allein kam, erwartete sie ihn immer in der Hütte. »Ihr nehmt mit mir doch Frühstück ein, wie es bei uns Sitte ist?« Der Alte folgte seiner Einladung. »Wir nehmen es, denn du teilst auch unsere Sitten, wenn du bei uns bist. Aber verübele es uns nicht, wenn wir nur wenig essen, Bruder. Denn wir haben schon gegessen, bevor wir hierher aufbrachen.« Akria trat ein in einer Weise, als wäre sie zum erstenmal hier. Sie benahm sich zurückhaltend. Nur ihre dunklen Augen sprachen etwas anderes. Zivomir hantierte am Herdfeuer herum und servierte Requisiten der Zivilisation, die er in die Wildnis mitgenommen hatte. Er fragte sich, was der Besuch bezweckte. »Es ist seltsam kühl geworden, Bruder. Ihr seid auch nicht gerade sommerlich gekleidet?« »Dein Kaffee ist gut, Bruder«, lobte der Alte. »Die meisten der Cicaque mögen ihn nicht. Sie mögen vieles nicht, was den Weißen Freude bereitet. Aber ich mag ihn. Das Leben in Winnipeg gefällt mir sehr. Und Akria mag ihn auch.« Zivomir setzte sich dazu, nachdem er alles auf den Tisch gestellt hatte, was der Gastfreundschaft Indianern gegenüber angemessen erschien. Sonst tat es Akria, die sich schon viele zivilisierte Bräuche angeeignet hatte. Die Bemerkung des Alten machte ihn hellhörig: Es ging um das Mädchen! »In vielen Dingen haben die Cicaque recht, Bruder Friedlicher Wolf. Deshalb bin ich auch jedes Jahr hier.«
»Du warst es aber nie im Winter, Bruder Zivo«, antwortete der Alte. Er aß und trank auffallend langsam. »Du weißt nicht, wie die Kälte klirrt, wenn der Schnee mannshoch liegt und die Nacht nicht weicht.« »Du weißt, Bruder, daß ich dann im gläsernen Turm bin und die stählernen Silbervögel lenke, damit sie sicher zu Boden kommen. Du kennst sie, weil man ihre weißen Streifen am Himmel sieht.« »Wenn der Himmel voller Wolken ist, sieht man sie nicht.« Der Alte schaute zu seiner Tochter, die die Augen gesenkt hielt. »Dir ist aufgefallen, daß der Wolkenhimmel immer tiefer sinkt, Bruder Zivo!« »Ist das der Grund, daß die Cicaque ihre SommerWigwams abbrechen und weiter südlich andere Jagdgründe suchen werden?« »Die Cicaque müssen«, erwiderte der Alte ernst. »Sie haben es schon getan. Wir werden ihnen folgen - oder ich allein.« Das war nicht mißzuverstehen. Zivomir runzelte die Stirn. »Wer - wir? Ich habe noch nicht den ersten Neumond erlebt, seit ich wieder hier bin.« »In den Städten der Weißen sind Wärme und Geborgenheit, Bruder Zivo«, sagte der Alte. »Die Cicaque werden so weit südlich ziehen wie noch nie. Doch ich weiß, daß Winnipeg nicht sicher genug sein wird.« »Du sprichst, Bruder, als ob du den Wintereinbruch befürchtest?« murmelte Zivomir verblüfft. »Vor drei Tagen war Sommersonnenwende!« »Die Wildgänse sammeln sich«, erwiderte der Indianer, »und nicht nur sie! Dabei haben sie längst nicht ausgebrütet. Letzte Nacht hat der Eiswolf geheult. Die Bären haben die Wälder verlassen. Das tun sie sonst nie!«
Zivomir hielt viel von den Naturweisheiten der Indianer. Seit sie freundschaftlich miteinander verkehrten, hatten sie noch nie eine falsche Wetterprognose gestellt. Sie wußten, wann und wo welches Wild zu finden war. Aber bei dieser Andeutung sträubte sich sein Verstand. »Du hast gesagt, daß Winnipeg nicht sicher genug sein wird, Bruder? Der Stamm der Cicaque ist noch nie bis Winnipeg gezogen!« »Unsere Winterquartiere werden viel weniger genügen, weißer Bruder«, sagte der alte Mann finster. »Es geht über meine Kraft, die Cicaque in Sicherheit zu führen. Deshalb möchte ich, daß Akria, die Sonne meiner Augen, in Sicherheit ist.« Zivomir begriff endlich, worauf er hinauswollte: Sie sollte bei ihm bleiben, damit sie »gut über den Winter« kam. Nach den Gebräuchen des Stammes hätte er sie längst zur Squaw nehmen müssen. Wahrscheinlich betrachtete man sie sogar als seine Squaw. Teufel noch mal, da hatte er sich in eine prächtige Situation hineingeritten! Denn heiraten konnte er sie nie. Zwar wußte seine Frau im fernen Europa, daß ihm in den Wäldern Kanadas manchmal ein hübsches Indianermädchen die Zeit vertrieb, aber sie würde mit Sicherheit nicht in Begeisterungsstürme ausbrechen, wenn er Akria persönlich präsentierte! »Du weißt, Bruder Friedlicher Wolf«, hörte er sich sagen, was er eigentlich gar nicht sagen wollte, »daß mir die Sonne deiner Augen, Akria, sehr ans Herz gewachsen ist. Ich glaube, Akria liebt mich noch viel mehr. Aber du selbst hast gesagt, daß Akria nicht in die Zivilisation paßt. Erwarte also nicht von mir, daß ich mich den Cicaque anschließe, die nach Süden ziehen, um einer Sitte zu gehorchen!«
»Ich weiß, was ich gesagt habe, Bruder.« Der Indianer war verwirrt von Zivomirs Worten. »Es gilt auch bei euch Weißen, Bruder: Außergewöhnliche Umstände erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Ich weiß, daß ich die Sonne meiner Augen nicht wiedersehen werde - sowenig wir die Sonne wiedersehen werden.« In Zivomir brach eine Welt zusammen: Der alte Häuptling hatte seine Worte als Zustimmung verstanden! Was sollte er mit einem Indianermädchen in Frankfurt? Andererseits: Wie erginge es der Tochter eines Häuptlings, die von dem Mann verstoßen wurde, dessen Lager sie so oft geteilt hatte? »Warum glaubst du, daß ihr die Sonne nicht wiederseht?« »Wir sehen sie seit Tagen nicht«, murmelte der Alte dumpf. »Seit Generationen und Generationen wird es überliefert. Wenn die Zeit erfüllt ist, vertreiben Eis und Schnee und Kälte die Cicaque aus dem Land, aus dem die Cicaque mit Hilfe des Großen Manitou einst Schnee und Eis vertrieben haben. Du kennst die Legende. Ich bin selbst Medizinmann und kann die Zeichen erkennen!« Dieselbe Aussage jedes anderen Menschen dieser Welt hätte ihn zum Lachen gereizt. Doch die Zeichen, die der Indianer andeutete, hatte er selber bemerkt. »Wie lange hast du Zeit, mein Gast zu sein, Bruder Friedlicher Wolf?« »Die Cicaque schlagen ihre Wigwam nahe der Stadt Lynn-Lake auf. Dort erwarten sie mich - oder uns. Auf einen Tag mehr oder weniger kommt es nicht an.« »Du fürchtest, daß der Winter noch im Sommer hereinbricht und sehr lange dauert?« interpretierte Zivomir die Aussagen des Alten. »Und du erwartest, daß ich Akria davor bewahre, indem sie bei mir bleibt?« Der Alte schüttelte den Kopf. »Was man im Herzen
trägt, bewahrt der wahre Mann, gleich welcher Rasse und Hautfarbe. Du selbst wirst nicht bleiben. Doch wohin du gehst, wird es warm genug sein, um zu überleben. Die Cicaque und auch die Weißen bis über die großen Seen im Süden hinaus haben wenig Chancen.« Zivomir lächelte, um die Spannung abzubauen. »Weißt du, Bruder, ich handele gewöhnlich nicht um ein Mädchen. Ich mag es, oder ich mag es nicht. Aber abgemacht. Es sei, wie du es wünschst!« Der Alte reichte ihm feierlich die Hand: »Es sei, Bruder!« Zum erstenmal schaute Akria ihn groß an. Ihre dunklen Augen strahlten Zweifel und Hoffnung aus. Sie wartete darauf, daß der große, schlanke weiße Mann sie umarmte. Er tat es, und sie seufzte beruhigt. Den Alten beruhigte diese Geste genauso. Er lächelte weise. »Deine Bedenken sind mir bekannt, Bruder. Doch du kennst die Gebräuche der Cicaque: Ein Mädchen ist keine Handelsware, und eine Frau ist ihrem Mann nicht Untertan! Seit Menschengedenken hat die Frau der Cicaque dieselben Rechte wie ein Mann. Vergiß das nie, denn Akria ist eine Cicaque!« Zivomir nickte nur, um zu bekunden, daß er begriff und akzeptierte: Kommt Zeit, kommt Rat! »Mach dir keine Sorgen, Bruder Friedlicher Wolf. Akria und ich haben uns bisher verstanden und werden es auch weiterhin. Geh, Akria, hole dein Gepäck und sattle ab. Dein Vater und die Cicaque benötigen dein Pferd dringender. Du brauchst es nicht mehr.« »Das Pferd gehört Akria«, widersprach der Häuptling. »Niemand weiß, wozu sie es noch gebrauchen kann. Du selbst, Bruder, behältst dein Auto ja auch!«
Akria ging, um Gepäck und Sattel zu holen. Zivomir wurde es flau im Magen. Für zwei Personen reichten seine Vorräte nicht zwei Monate. »Du bleibst doch, Bruder, bis wir gemeinsam die Mittagsmahlzeit eingenommen haben? Akria kann vorzüglich kochen.« Der Alte widmete ihm einen sonderbaren Blick, dann schüttelte er den Kopf. »Das weiß ich. Sie hat viel von dir gelernt, Bruder Zivo. Ich möchte lieber aufbrechen. Mir scheint, der Winter ist näher, als ich dachte.« Unwillkürlich wandte Zivomir den Kopf zur Tür, durch die auch der Indianer schaute. Über dem See lastete eine Nebelwand, die nur der Wald von der Hütte fernhielt. So etwas hatte Zivomir hier noch nie erlebt. »Was bedeutet das, Bruder?« »Die Legende weiß zu berichten«, sagte der Häuptling dumpf, »daß Eis und Schnee den Sommer für immer hinwegjagen, wenn die Sonne zwölftausendmal den Winter vertrieben hat. Niemand weiß genau, wann das ist: zwölftausendmal. Die Legende sagt, daß die Götter, allen voran der Große Manitou, den Cicaque das Land und die Wälder am Cree-Lake gegeben haben für zwölftausend Jahre. Dann müssen sie weichen, zurück in das Land ihrer Ahnen. Niemand weiß, wo das ist. Ich habe es seit langem in den Sternen gelesen, Bruder, daß die Zeit gekommen ist. Ich habe nur nicht geglaubt, daß es so schnell geht. Vielleicht ist es besser so. Gib mir noch einmal einen Kaffee, Bruder. Er wird unser Abschiedstrunk sein!« Allmählich bekam Zivomir Magendrücken von dem geheimnisvollen Gerede. Den Kaffee servierte Akria, die ihre geringe Habe verstaut hatte. Sie hatte Tränen in den Augen, als sie sich zu dritt mit Kaffee zutranken, wie andere mit Sekt.
Zivomir hätte es lieber gesehen, der Alte wäre noch eine Weile geblieben. Er holte das Radio heraus, um den Wetterbericht anzuhören. Es kam aber nur Musik. Die behagte dem Indianer nicht. Er schätzte die Technik der Weißen sehr hoch, doch: »Die Götter waren stärker als die Weißen, Bruder! Auch sie besaßen Maschinen, und sie konnten durch die Luft sprechen wie ihr. Aber sie konnten das Eis vertreiben. Ihr könnt es nicht einmal aufhalten. Leb wohl, Bruder, leb wohl, Tochter! Sollten wir uns je wiedersehen, hat Friedlicher Wolf unrecht gehabt und ein halbes Leben lang nicht zum Häuptling der Cicaque getaugt.« Der Abschied war abrupt. Sie umarmten sich, der alte Mann schwang sich wie ein junger in den Sattel und ritt davon, ohne sich noch einmal umzublicken. Zivomir hatte den Arm um die junge Indianerin gelegt. Beide sahen dem Häuptling nach, bis die Bäume ihn verschluckten. Anschließend wanderten ihre Blicke zur dräuenden Nebelwand über dem See. Nicht einmal der Himmel war zu sehen. Und es war erbärmlich kalt. Akria hatte die ganze Zeit kaum gesprochen. Sie sagte auch jetzt nichts. Nur ihr schwerer Atem verriet, daß ihr der Abschied näher ging, als sie äußerlich zeigte. Sie entwand sich seinem Arm und ging in die Blockhütte. Zivomir schwankte zwischen den dumpfen Gefühlen, überrumpelt worden zu sein und daß wirklich etwas nicht stimmte. Wie sollte er sich Gewißheit verschaffen? Was fing er mit dem Mädchen an, wenn er heimkehren wollte? Der Gedanke widerstrebte ihm, Akria ihrem Schicksal zu überlassen. Und so dick befreundet war er mit David Widgmoor nicht, daß er sie ihm in Winnipeg anvertraute.
»Zivo«, sagte Akria langsam und leise, »es schneit! Ich will's dir nur sagen!« Vom See war nichts zu sehen. Hinter Tannenspitzen und Birken verlor sich die Sicht in weißem Grau. Der undurchsichtige Himmel schüttete myriadenhaft große Schneeflocken herab, gemischt mit feinem Regen. Natürlich blieb auf dem warmen Boden nichts liegen. »Hat es so was jemals gegeben?« röchelte er ungläubig. »Akri, sag was!« Die Schwarzhaarige, einen halben Kopf kleiner als er, musterte ihn ängstlich von der Seite. »Vater hat es gesagt, Zivo, mehr weiß ich nicht.« Das männliche Bedürfnis, Schutz zu bieten, animierte ihn, den Arm um sie zu legen. »Was soll das bedeuten, Akri? Es kann mitten im Hochsommer nicht einfach schneien! Auch hier nicht.« Sie zuckte die Schultern und schmiegte sich an ihn. »Ich hoffe, daß Vater den Stamm rechtzeitig erreicht. Er hat sich zwar noch nie verirrt, aber im Sommer sieht alles anders aus. Wann wollen wir aufbrechen?« »Aufbrechen - wir - wohin?« Zivomir lief es eiskalt den Rücken herab - oder war es die zunehmende Kälte? »Ich weiß nicht. Weg von hier«, sagte sie leise. »Dein Auto ist schneller als jedes Pferd. Vor Lynn-Lake geht die Straße nach Winnipeg.« »Du bist nicht bei Trost«, murmelte er unsicher. »Warum soll es nicht mal einen ungewöhnlichen Kälteeinbruch geben? In zwei, drei Tagen ist der Spuk vorbei. Er gehört eigentlich fotografiert.« »Vater sagt, daß es in drei Jahrhunderten nicht vorbei sein wird, Zivo!« Ihre Stimme schwankte zwischen Überzeugung und Hoffnung auf das Gegenteil.
Er kehrte ins Haus zurück. Schnee behagte ihm weniger. Auf solche Verhältnisse war er nicht eingestellt. Er konnte es nicht einmal glauben, obwohl er es sah. Um sich von der Verrücktheit, des Wetters abzulenken, hat er Akria, für sie beide einen Lunch zuzubereiten. Bis sie soweit war, verzog er sich an sein Funkgerät. Aber es war nichts zu empfangen. Aus reiner Verlegenheit schaltete er das Radio an. Auf UKW bekam er nur Sender Winnipeg herein, und der brachte Werbung und Musik. Zum erstenmal verfluchte er die Idee, für einen Kontakt mit der Zivilisation funktechnisch nur mangelhaft ausgerüstet zu sein. »Das Essen steht auf dem Tisch«, rief Akria mit einer Stimme, als wollte sie fragen: Liebst du mich eigentlich noch? Zivomir verstand diese Nuancen. Er nahm sie in den Arm, um gemeinsam mit ihr an den Tisch zu gehen. Wenn das Wetter so unwirklich blieb, war es gut zu wissen, einen Menschen um sich zu haben, den man lieben konnte. Akrias Gesten zufolge war sie keinesfalls abgeneigt. »Du bist die geborene Kaltmamsell«, lobte er beim Essen. Aber das mußte er ihr erst erklären. »Oh, ich habe schon mal in einem großen Hotel gewohnt und gegessen«, sagte sie stolz. »In Vancouver, mit Vater. Liegt Europa von dort noch weit?« »Du warst in Vancouver?« Er war erstaunt. Davon war nie die Rede gewesen, seit sie sich kannten. »Und in Montreal«, sagte sie leise. »Die Stadt liegt genau entgegengesetzt.« »Das kann man wohl sagen!« Zivomir sah sie auf einmal unter einem ganz anderen Gesichtswinkel. Akria vom Stamm der Cicaque war demnach gar nicht das naive
Mädchen, für das die Welt am Horizont endete! Sie kramte in ihrer Satteltasche und legte eine kleinere Tasche auf den Tisch. »Ich habe einen kanadischen Paß, Zivo. So viel mir Vater gesagt hat, kann ich damit durch die ganze Welt. Stimmt das?« »Ja.« Zivomir sah Sterne. Eine Indianerin aus den ewigen Wäldern Kanadas mit einem Reisepaß! Das bedeutete, sie und ihr Vater, der scheinbar harmlose Trottel von Häuptling, besaßen recht konkrete Vorstellungen von der Welt und wußten genau, daß Zivomir sie mitnehmen konnte - wenn er wollte. Der Alte hatte gesagt: In Sicherheit vor dem Eis! Nur der Teufel mochte wissen, was er damit meinte. »Ich habe auch zehntausend Dollar«, fuhr sie bescheiden fort. »Denn Vater hat gesagt, die Reise mit den silbernen Metallvögeln kostet Geld. Die Cicaque brauchen kein Geld. Genügt es?« Er starrte sie entgeistert an. Hätte der Friedliche Wolf lediglich die Ehre seiner Tochter retten wollen, weil sie mit einem weißen Mann schlief, bedurfte es eines solchen Aufwandes nicht. Denn solches Gedankengut harmonisierte nicht mit der bewiesenen Weitsicht. »Das ist mehr als genug, Akri.« Sie machte eine Geste, als solle er das Täschchen an sich nehmen. »Wir werden bald aufbrechen müssen, Zivo. Bevor der Schnee anfängt liegenzubleiben, werden die Pfade durchgeweicht sein. Erst wenn der Boden zu gefrieren beginnt, kann man mit Rädern wieder drüber. Bis dahin aber könnte der Schnee zu hoch sein.« Er nahm die Tasche nicht. Schwer atmend stand er auf, um nach draußen zu gehen. Das dauernde Gerede um
Schnee und Eis im Hochsommer ging ihm auf die Nerven. »Was dein ist, soll dein bleiben, Akri. Komm mit zum See runter. Vielleicht können wir baden.« Zivomir erschrak vor den eigenen Worten und Gedanken. Glaubte er etwa schon selber an den Winter im Sommer? Akria nahm Badetücher mit. Wenn die Sonne nicht recht heiß schien, war es besser, sich abzutrocknen. Dabei war sie abgehärteter als er. »Ich bin froh, daß du es einsiehst, Zivo!« »Ich weiß nicht, was ich einsehen soll«, murrte er und stieg den Pfad hinab zum Ufer durch das Schneegestöber. »Daß es schneit, sehe ich, und kalt ist es auch. Du und dein Vater reden, als ob morgen schon die Eiszeit hereinbricht.« »So kann man es nennen«, erwiderte sie. »Ich kenne die Legende, Zivo. Legenden vieler Indianerstämme lauten in dieser Beziehung genauso.« »In welcher Beziehung?« Er fror. Mitten im Schneegestöber in Sommerhose, Hemd, Jacke und Mokassins fragte er sich, ob er noch normal war, baden zu wollen. Noch vor wenigen Tagen war es ein besonderes Vergnügen, mit Akria im See zu baden. Heute sah es nicht danach aus. »Die Legende vom ewigen Winter, der plötzlich und gleich nach der Sommersonnenwende hereinbricht«, sagte sie in einem Ton, als fühlte sie sich dafür schuldig. »Soll ich sie dir erzählen?« »Lieber nicht.« Er lief forscher. Vielleicht würde es ihm wärmer. Sonst schreckte er noch in letzter Minute zurück, sobald er das Wasser sah. Zivomir schreckte nicht zurück, zumal Akria gleich die
Kleider abwarf und unbekümmert ins dampfende Wasser jagte. Hinter einer Frau konnte er nicht gut zurückstecken, auch nicht, wenn sie eine naturverbundene Indianerin war. Der Anblick ihres rotbraunen, grazilen, nackten Körpers erinnerte ihn zudem, daß er sie doch liebte . Doch obwohl er sich vor den Konsequenzen scheute! Er folgte ihr im Galopp. Das Wasser war beträchtlich wärmer als die Luft. Bei dichtem Schneetreiben hatte er noch nie gebadet! Es machte direkt Spaß. Akria inszenierte eine kleine Balgerei. Es bestand kein Zweifel, daß sie glücklich war, bei ihm zu sein - für immer, wie sie es sah. Über diese Vorstellung regte sich sein Gewissen. Dieses »für immer« bereitete ihm Unbehagen. Wie sollte das werden? Das übliche Spiel nach dem Bad fiel aus. Es war viel zu kalt. Was sonst süße Turtelei war, wurde zur bitteren Notwendigkeit: sich beim Abtrocknen heißzureiben. Kaum angezogen, rannten sie zur Blockhütte zurück. Auf den Spitzen vieler Tannen blieb der Schnee hängen. Am Boden taute er noch auf. Am Laub, das auf der Erde lag, wurde es jedoch allmählich weiß. Kaum in der Hütte, verstärkte Akria das Feuer, um sich zu wärmen. Er fror noch mehr als sie. Es war ratsam, die Tür zu schließen, um die Kälte fernzuhalten. Das hatte er bisher nur nachts getan. »Ich mache Kaffee«, sagte Akria. Sie schnatterte erbärmlich, weil sie so durchgefroren war. »Hoffentlich hat Vater den Stamm eingeholt .« »Mach uns lieber einen Grog«, murrte Zivomir, dem es nicht besser erging. »Ich bin in der Funkzelle.« Der überraschend gute Empfang auf verschiedenen
Frequenzen lenkte ihn von den Skrupeln ab. In Europa herrschte bereits Nacht. Sogar Sprechfunkfrequenzen kamen deutlich durch. Dummerweise schaltete Akria das Radio ein, um Musik zu hören. Die Stille ging ihr auf die Nerven. Und Zivomir hörte nichts. Er schimpfte deshalb nicht mit ihr. Bisher hatte er sich selten mit seinem Funkkasten beschäftigt, wenn sie bei ihm war. Beim Grog, der wirklich angenehm erwärmte, erklärte er ihr, was die Funkerei bezweckte, und daß sie solange ruhig sein müßte. Akria lauschte seinen Worten immer sehr aufmerksam. Ihm war noch keine Frau begegnet, die so lernbegierig war. Allerdings war sie eben doch eine Frau. Durch den starken Grog wurde auch ihr heiß. Vor Freude, mit ihm allein zu sein und vor Übermut begann sie nach der Musik zu tanzen. Nur für ihn! Noch bevor sie dazu kam, die grazile Anmut ihrer fließenden Tanzart in verführerische Erotik zu verwandeln, brach die Musik ab. Ohne enttäuscht zu sein, setzte sie sich neben ihn und hörte zu. Es war die stündliche Nachrichtensendung mit Allerweltsmeldungen. Erst zum Schluß folgten Berichte über heftige Zyklone, die in den letzten Tagen auf den Philippinen, Taiwan und den Japaninseln schwere Verwüstungen angerichtet hatten. Alaska meldete einen ungewöhnlichen Kälteeinbruch bei stürmischen Winden aus Südwest. Auch aus Nord- und Mitteleuropa wurde von einem für die Jahreszeit befremdenden Kälteeinbruch mit starken Schneefällen in den Gebirgen berichtet. In der östlichen Sahara und in Arabien regnete es seit 24 Stunden in Strömen. Das war ein seit Menschengedenken nicht registriertes Phänomen.
Akria fühlte sich von den Nachrichten nicht beunruhigt. Sie hatte ja Zivomir! Ihm dagegen war jede Liebeslust vergangen. Er löste sich aus ihrem Arm und erhob sich. »Dein Pferd steht noch immer draußen, Akri. Im Schuppen, wo der Wagen steht, ist Platz genug. Nimm den Strohballen und gib dem Pferd Decken. Ist dir klar, daß wir gar kein Futter für das Tier haben?« Die Indianerin schaute ihn ein paar Sekunden erschrocken an. Vor lauter Glück, bei dem Mann ihrer Wahl zu sein, hatte sie die grundlegendsten Regeln ihres Lebens vergessen. »Du hast recht, Zivo. Ich danke dir. Verzeih, daß ich das vergessen habe.« Sie holte sich eine lange Hose aus dem kargen Kleidungsarsenal und zog sich eine derbe Lederjacke über die Bluse, bevor sie die Hütte verließ. Ihre Umstellung auf Winter nahm nicht die Sorge um Futter für das Reittier. Gewöhnlich fand es auf Fluren und Wiesen selbst genug. Aber wenn sich der Schnee festsetzte, war es damit vorbei. Zivomir zog sich in seine Funkkammer zurück. Ihm war eingefallen, daß Walter Entlach oft gegen elf Uhr nachts in die Welt piepte und Kontakt suchte. Walter Entlach war Deutscher, Marineflieger und über den Umweg des Amateurfunks mit ihm befreundet. Vier Uhr nachmittags entsprach elf Uhr nachts in Europa. Auf der Frequenz herrschte entsetzlicher Wellensalat. Es war schwierig, sein kleines Gerät so fein zu justieren. Hinzu kam, daß besonders im Sommer die Ionosphäre über der Nordhalbkugel durch die stärkere Sonneneinstrahlung instabil war. In den drei Wochen, seit Zivomir hier war, hatte er noch keinen Kontakt zu ihm gehabt. Wenn Walter Dienst hatte, saß er nicht an seinem Gerät. Warum sollte er es heute?
Sie hatten nichts vereinbart. Doch diese Nacht saß Walter Entlach im fernen Husum an seinem Gerät. Das Signal kam plötzlich ganz klar herein. Zivomir drehte sofort voll auf und strahlte sein Gegenrufsignal aus. Noch war es ungewiß, ob der Fliegerkapitän ihn überhaupt meinte. Walter Entlach meinte ihn. Die Stimme über Sprechfunk war nicht gleich klar zu verstehen. Sie rief jedenfalls Zivomirs Kode an. Und Zivomir meldete sich, um Walters Kode anzusprechen und nach dem obligatorischen »Over« auf Antwort zu warten. Sie kam schon deutlicher: »Hallo - Zivo! Ich versuche seit gestern, dich zu erreichen. Es ist wichtig. Over!« »Hallo, Walter. Rodger. Over.« »Ich fasse mich kurz, damit du Bescheid weißt, bevor die Linie zusammenbricht. Over.« »Rodger!« »Du mußt mit der nächst erreichbaren Maschine zurückkommen. Over.« »Rodger. Was ist passiert?« Gekrächze, Wellensalat - dann war die Verbindung wieder da. »Ich rufe um neun Ortszeit noch mal, dann ist der Kontakt .« Rascheln, Piepen, Schluß. Zivomir versuchte vergeblich, die Linie wieder aufzubauen. Er setzte sein Rufzeichen auf Automatik und lauschte. Doch es war nichts zu machen. Als er Akria in der Tür bemerkte, schaltete er ab. Sie hatte Hose und Lederjacke wieder ausgezogen. In ihrem schwarzen Haar schmolzen die letzten Schneeflocken. Ihre dunklen Augen fragten etwas anderes, als sie sagte: »Fliegende Rose ist einigermaßen wettergeschützt untergebracht, Zivo. Der Schnee fängt an
liegenzubleiben. Auf Wasserlachen bilden sich die ersten Eiskrusten.« Er atmete tief durch. Heute war Johannistag, nun folgte die Johannisnacht. Für Akria hatte beides keine Bedeutung. Dort hingegen, wo er einst aufgewachsen war, wurde diese Nacht nach altem germanischem Volksbrauch gefeiert. Laue Nächte, Johannisfeuer, Tanz . Die Erinnerung war ihm noch nie eingefallen, so oft er auch in Kanada gewesen war. Es hatte am Johannistag auch noch nie geschneit! Er nahm das Indianermädchen liebevoll in den Arm. »Ich muß zurück, Akri.« Sie studierte stumm in seinen Augen: Mit mir oder nicht? Er verstand sehr wohl. Statt einer Antwort küßte er sie. Vielleicht verstand sie die Geste als Zustimmung? Denn sie ergab sich sofort. Oder sie war klug genug zu wissen, daß er immer noch zauderte. In den folgenden Stunden würde sie sich klarwerden müssen, ob er sie verlassen durfte oder nicht. Sie liebte diesen Mann so stark, daß sie unbedenklich zur Waffe greifen würde. Was dann sein würde, wäre ihr egal. Der unweigerlich vor der Tür stehende Winter versprach, alles zuzudecken auch ihn und sie selbst. Doch bis sie diese Entscheidung treffen mußte, liebte sie ihn. Und er liebte sie. Seine Sorge galt jedoch nicht ihr. Viel weniger zerbrach er sich den Kopf über ihre möglichen Reaktionen. Solange sie beieinander waren, sich spürten und liebkosten, dachte er nicht einmal an den Schnee, der mitten im Hochsommer Land und Wälder zuzudecken begann. Trotz des starken Schneefalls wurde es nicht dunkel. Die helle Dämmerung der Mittsommernacht drang durch die
Wolken. Allerdings umgab die Hütte ein grauer Vorhang. Zivomir verpaßte die Zeit nicht. Neun Uhr morgens in Europa entsprach zwei Uhr nachts in Zentralkanada. Obwohl er nach den heißen Stunden mit Akria nichts anhatte, setzte er sich ans Funkgerät. Die Stunde der Entscheidung für das Indianermädchen war gekommen. Ihr langes schwarzes Haar war zerzaust. Trotz ihrer Nacktheit schwitzte sie, als sie das Messer aus dem Sattelschaft holte. Er registrierte zwar, daß sie hinter ihn trat, hatte aber keine Zeit, auf sie zu achten. Die Verbindung war sofort da. »Hallo - Zivo: Norddeich-Radio gibt mir fünf Minuten auf unseren Frequenzen. Deine schwachen Signale werden hier verstärkt. Kannst du mich gut hören?« »Ich höre dich einwandfrei.« »Dein Typ wird dringend benötigt. Vorerst am RheinMain-Tower, weil durch die Ereignisse ein paar Fluglotsen ausgefallen sind, und wenn alles glatt geht, für einen Sondereinsatz.« »Kannst du mir das näher erklären?« »Nein, nicht über Funk. Ich habe aber noch eine böse Nachricht für dich. Bleib bitte ruhig.« »Sprich!« »Deine Frau, Katja, und dein Sohn . Du hast ja gehört - in den Alpen schneit es wie im tiefsten Winter.« »Ich habe nichts gehört«, rief er ungewollt heftig nichtsahnend, daß die scharfe Klinge in Akrias Faust nur Zentimeter über seiner Haut am Rücken schwebte. »Was ist mit Sten - und mit Katja?« »Lawine, Zivo - die ganze Bungalowsiedlung. Binnen 24 Stunden fielen fünfzig Zentimeter Neuschnee .«
»Rede doch deutlich«, schrie er außer sich. Dabei wußte er bereits, was folgen würde. Der Schock ließ ihn in sich zusammensinken. Aber die Klinge folgte. »Drei Dutzend haben sie lebend geborgen, Zivo. Es tut mir leid: Katja und Sten nicht.« Auf der Frequenz herrschte Pause. Es rauschte. Der starke Sender schlug voll durch. Was war geschehen, daß die große Seefunk-Überseestation dem Fliegerkapitän Sendezeit einräumte? »Hallo, Zivo, bist du noch da?« »Ja.« Er hatte den Kopf auf die Arme gestützt. Es ging ihm verdammt nahe. In den letzten Jahren harte er sich mit Katja nicht gerade blendend verstanden. Aber daß sie und vor allem sein Sohn die ersten Opfer einer »Eiszeit« sein sollten, weigerte er sich zu glauben. »Es schneit heute den vierten Tag ununterbrochen«, fuhr Entlach fort. »Jedenfalls in den Hochlagen. In Friesland hier oben regnet es nur. Wir haben noch vier Grad. Die Meteorologen stehen vor einem Rätsel.« »Ist gut, Walter. Hier schneit es auch. Ich telegrafiere dir von Montreal. Ende.« Er sackte einfach zusammen. Der Schicksalsschlag war zu gewaltig. Trotz aller Spannungen zwischen ihm und Katja hatte er ihr nie gewünscht, daß sie in »die ewigen Jagdgründe« ginge. Der Tod seines Sohnes traf ihn am härtesten. Es half aber alles nichts. Wäre er allein, würde er in seiner augenblicklichen Verfassung resignieren. Der zu erwartende ewige Schnee würde ihn einhüllen. Aber da war noch jemand: »Akri!« »Ja?« Sie umkrampfte den Schaft des Messers. Ihr Körper straffte sich.
»Sei so lieb und packe unsere Sachen. Wir brechen auf, so schnell es geht.« Die Indianerin sah Sterne. Sekundenlang wurde ihr schwindelig. »Wohin?« Zivomir röchelte nur heiser: »Du hast es nicht verstanden, weil Walter deutsch und nicht englisch gesprochen hat. Wir müssen sofort nach Montreal und von da nach Europa. Beeil dich - bitte!« »Wir?« flüsterte sie gedehnt. Sie konnte es kaum glauben. Die seelische Umstellung überforderte sie. Aber sie gehorchte wie ein Roboter. Zivomir bemerkte überhaupt nicht, daß das Messer hinter ihm zu Boden fiel und in den Holzdielen steckenblieb. Sein Gefühlsleben befand sich in einem Chaos. Die Fülle von Informationen überschwemmte ihn einfach. Er fürchtete sich plötzlich davor, allein zu sein . *
Captain Walter Entlach hatte noch mehr Notrufe über Norddeich-Radio abzusetzen. Man arbeitete plötzlich völlig unbürokratisch. Walter Entlach war nicht der einzige, der vom Verteidigungsministerium für diesen Zweck sofort freigestellt wurde. Er kannte sich im Funkwesen aus. Deshalb bekam er den Sonderbefehl, nach Norddeich zu fliegen. Gegen Mittag traf Admiral Lemnitzer ein, Befehlshaber der NATO-Marine im Abschnitt Europa-Nord für Küstenschutz. In seiner Begleitung befanden sich drei Marinefunker. Walter saß gerade beim Lunch, um die Pause zu überbrücken. Die Seefunkstation brauchte ihre Anlagen
zwischendurch auch mal selber. »Nein, Sir«, beantwortete er die obligatorische Frage. »Ich habe nur drei von der Liste erreicht. Wie ich sehe, haben Sie Verstärkung mitgebracht!« Der Admiral stellte die Maate vor. Zwei gehörten zur Bodenfunkstelle der Marine, der dritte zur Besatzung eines Kriegsschiffes. »Nicht Verstärkung, Captain Entlach, sondern Ablösung.« Entlach, ein untersetzter Mann mit Schnurrbart und dunkelblond, zuckte die Schultern. Er wußte, daß er wegen der erforderlichen Schnelligkeit nur eingesprungen war, bis andere Funker zur Verfügung standen. »Kann ich nach Husum zurückfliegen?« Der Admiral winkte der Bedienung, damit er und seine Begleiter einen Imbiß bekämen. »Ihre Art zu fragen verrät, daß Sie selber nicht daran glauben, Entlach. Sie fliegen doch die Kuriermaschine?« »Aha - und wohin? Ich habe keinen Co-Piloten, Sir!« »Sie erlauben, daß ich mich anbiete?« Der Admiral lächelte jovial. »Es muß dem Captain in Ihnen eine Genugtuung sein, einem Admiral zu sagen, was er tun muß!« »Kennen Sie den BFW-17-Jet?« Walter war nicht zum Spaßen aufgelegt. »Ich habe die Lizenz, wenn es Sie beruhigt. Wollen Sie sie sehen?« Er kramte schon in der Tasche. »London, Paris, Brüssel, Frankfurt sind unsere Ziele. Bei diesem Wetter ist das wohl kein Vergnügen!« Minuten später kletterten sie in die kleine, zweistrahlige Kuriermaschine. Sie bot acht Passagieren Platz. Da sie für militärische Zwecke gedacht war, fehlte ihr jeder Komfort. Der kleine Marineflughafen besaß nur eine Rollbahn.
Ein Dutzend anderer Maschinen stand im Schneeregen. Auf Rümpfen und Tragflächen setzte sich der Schnee fest. Zu Walters Verdruß klebte der Schnee vor allem an den Scheiben des Cockpit. Er mußte hinausturnen, um sie freizuwischen. »Es wird Zeit, daß wir hier wegkommen«, brummte er, als er zurückkam. »Wir haben bereits Starterlaubnis!« Lemnitzer schaltete die Motoren ein. Die Düsen mußten trotzdem erst warmlaufen. Währenddessen gingen beide die Check-Liste durch. Alles klar zum Start! »Ich ziehe steil hoch, Sir«, warnte Walter, als die Maschine zum Anlaufpunkt rollte. »Sie halten es doch aus - oder? Achten Sie auf den Druckausgleich!« »Wenn mir übel werden sollte«, meinte der Admiral, »müssen Sie allein fliegen. Ich bin nur der Schutzengel der Wetterfrösche. Es kann losgehen!« Das Signal hatte Walter über Kopfhörer ebenfalls gehört. Startklappen - Vollschub - und ab ging es, hinein in die Milchsuppe. Fahrwerk ein, Abmeldung beim Tower und eine weite Backbordschleife hinaus über See. Von der war allerdings nichts zu sehen. Die Maschine stieß überraschend in eine freie Zone zwischen zwei Wolkenschichten. Die Turbulenz war geringer als erwartet. Walter spielte schon mit dem Gedanken, die Maschine in der Zwischenzone zu belassen. »Vereisung, Entlach«, meldete Lemnitzer. »Luftfeuchtigkeit ist enorm hoch. Die Außentemperatur liegt unter minus zwanzig.« »Was - hier schon?« Walter zog die spitze Nase der Maschine sofort wieder nach oben und rückte erneut auf
Vollschub. Sekunden später steckten sie abermals in dichtem Nebel. Mehr als vorher rüttelte es die Maschine gehörig durch. Trotz der Schnelligkeit machten sich die Turbulenzen bemerkbar. »Bin gespannt, wie hoch die Suppe reicht!« Der Höhenmesser zeigte 28000 Fuß, als es heller wurde. Nach abflackerndem Steigkurs befanden sie sich endlich über den Wolken. Die Sonne strahlte vom tiefblauen Himmel in die Kabine. Es war ein Genuß, sie zu sehen. »Alles normal«, meldete der Admiral. »Hier oben sollte man in Urlaub gehen!« Die weißen Teppiche über den Wolkenballen verrieten eine enorme Kälte. Sie befanden sich bereits in der Stratosphäre. Um 13.40 Uhr MEZ setzte die Maschine sicher in Croydon auf und rollte zur Empfangs-Warteposition. Noch auf dem Wege dorthin sahen sie den Wagen, der sich von den Flughafenbauten auf dieselbe Stelle zubewegte. »Die haben es aber eilig«, murmelte Lemnitzer erstaunt. »Ich hatte gehofft, wir haben Zeit für eine Tasse Tee im Restaurant.« Der Zahn wurde ihm gezogen, ehe sie standen. BFW-17 Sonderflug bekam bereits wieder Starterlaubnis. Vorgeschriebene Flughöhe in dem überlasteten Luftraum Europas neun- bis zehntausend Fuß zwischen den Wolkenschichten nach Flugleitsignal von Brüssel. Es befand sich schon auf der Frequenz. Zuerst aber mußte Professor Gashley an Bord klettern. Der beleibte weißhaarige Engländer machte ein Gesicht wie das Wetter. Er hatte offensichtlich Angst vor dem Fliegen.
Im Gegensatz zum Kontinent regnete es nur. Die Außentemperatur betrug plus 5 Grad Celsius. Dafür war es erheblich windiger. Walter mußte beim Start gegensteuern, bis sie genügend Höhe und Geschwindigkeit hatten. »Wer gibt uns denn in Brüssel die Ehre?« wollte Walter wissen, als sie auf Kurs waren. »Übrigens müssen wir dort auftanken. In dieser geringen Höhe und bei der Winddrift verbrauchen wir mehr Treibstoff!« Der Admiral, der die Funkeraufgaben übernommen hatte, setzte sich mit dem Flughafen in Verbindung. Die Bestätigung kam unverzüglich. »In Brüssel sind es Konteradmiral van der Heuvel mit seinem Adjutanten vom NATO-Stab und Dr. Smoegen, auch ein Meteorologe. In Orly der Physiker Dr. Cheval und Dr. Bermeau .« »Die sind doch Atomphysiker?« unterbrach Walter verblüfft. »Was haben die mit Wetter zu tun?« »Da fragen Sie mich zuviel.« Der Admiral verzog den Mund. »Außerdem Monsieur Wegener und seine Frau. Schreien Sie nicht gleich. Die alten Herrschaften sind die weltbekannten Eiszeitforscher. Ich weiß so viel wie Sie.« »Und die versammeln sich alle ausgerechnet in Offenbach?« »Immerhin ist in Offenbach die Wetterzentrale von West-Europa«, erinnerte Lemnitzer. »Wenn Leute wie Dr. Freindorf schon so verrückte Ideen haben, wie dann erst die Wissenschaftler mit internationalem Rang?« »Haben wir auch das Vergnügen, sie wieder nach Hause zu fliegen?« Walter empfing bereits die Landeanweisung von »Bruxelles Internationale«. Er wechselte den Kurs und tauchte in die untere Wolkenschicht. »Sagen Sie dem Engländer, er soll sich anschnallen!«
Die Tür zum Cockpit war sowieso offen. Der Admiral wandte sich zur Passagierkabine. Es war überflüssig. Der Professor war die ganze Zeit angeschnallt und wagte kein Wort zu reden. In Brüssel regnete es stärker als in London. Die Maschine wurde von der Rollbahn gleich zur Warteposition dirigiert, wo bereits der Tankwagen wartete. Erst nach der Treibstoffübernahme kamen die neuen Gäste an Bord. Die Diskussion zwischen ihnen ging schon beim Start voll los. Sogar der Engländer vergaß seine Angst vorm Fliegen. Es störte sie wenig, daß die Maschine nur in Wolken flog und gehörig durchgerüttelt wurde. Die beiden Piloten brauchten nur zuzuhören. Konteradmiral van der Heuvel war selbst DiplomMeteorologe. Seine militärische Aufgabe berührte ihn bei dem Disput gar nicht. Heraus kam dabei nichts weiter, als daß jeder eine andere Meinung hatte. Bei der Landung in Paris gab es zum erstenmal Schwierigkeiten. Kurz zuvor hatte sich Schnee in den Regen gemischt. Die Landebahn war glitschig. Walter hatte Mühe, die Maschine zu halten. Diesmal mußte sogar der Co-Pilot eingreifen, damit sich Walter auf die Landung konzentrieren konnte. Fünfzehn Minuten später waren sie wieder in der Luft. Mit zunehmender Höhe sank die Außentemperatur. Wegen der hohen Luftfeuchtigkeit drohte wieder Vereisungsgefahr. »Die Abtrift beträgt drei Grad«, stellte Lemnitzer fest, als das Positionssignal von Rhein-Main hereinkam. »Ich habe den Eindruck, sie nimmt an Intensität zu, je weiter wir nach Osten kommen.«
»Das kann bedeuten, daß sich die Strömungsrichtung des Jet-Stream in der Stratosphäre verändert hat.« »Aber so schlagartig?« zweifelte Lemnitzer, obwohl er zum gleichen Resultat kam. Er wandte sich nach hinten. »Sie müssen sich anschnallen, meine Herrschaften. Frankfurt liegt bereits unter uns. Es wird etwas steiler als sonst!« »Was macht das Wetter da unten?« wollte der Physiker Dr. Bermeau wissen. Der Admiral grinste. »Ski und Rodeln gut. Seit 12 Uhr zehn Zentimeter Neuschnee, der liegenbleibt, Temperatur bei -2 Grad.« »Ich habe schon bessere Witze gehört unmittelbar vor Siebenschläfer«, brummte van der Heuvel. Aber dann sagte niemand mehr etwas. Walter zog steile Spiralen, um ohne große Umwege hinunterzukommen. Die Maschine war seit Mittag die einzige, die Rhein-Main anfliegen durfte. Verkehrsmaschinen wurden nach Luxemburg und dem neuen Zentralflughafen Haguenau im Elsaß umgeleitet. Die Landung wurde die reinste Rutschpartie. Die Räumfahrzeuge kamen kaum nach, wenigstens eine Landebahn freizuhalten. Die Abfertigungsboxen des immer noch größten mitteleuropäischen Zentralflughafens waren weitgehend leer. Die meisten Maschinen waren planmäßig gestartet, solange es ging. Erst seit zwölf Uhr, als der Schnee liegenzubleiben begann, ruhte der Flugverkehr. Die wartenden Passagiere konnten nicht zu Ausweichflughäfen transportiert werden. Die Autobahnen waren verstopft, vornehmlich von rückflutenden Urlaubern. Die Bahnen hatte enorme Verspätungen, weil
Schienen und Weichen vom Schnee verpappten. Der plötzliche Wintereinfall im Hochsommer hatte ein Verkehrschaos größten Ausmaßes hervorgerufen. Zwei Sicherheitsbeamte erwarteten die Fluggäste in der Abfertigung. Paß- und Zollformalitäten gab es schon lange nicht mehr. Sie wurden gebeten, in der Cafeteria zu warten. Der beabsichtigte Bustransfer nach Offenbach war momentan ausgeschlossen. In den nächsten anderthalb Stunden wurden drei weitere Sonderflüge erwartet. Entlach und Lemnitzer erfuhren von der Dispositionsänderung erst, als sie die Maschine übergeben hatten. Der Admiral sollte die Experten bis Offenbach begleiten und dort weitere Direktiven abwarten. Walters Aufgabe war vorerst beendet. Für ihn lagen keine neuen Befehle vor. Er hätte ohne weiteres Genehmigung erhalten, nach Wartung und Auftanken der Maschine nach Husum zurückzufliegen. Dazu hatte er bei der augenblicklichen Wetterlage keine Lust. Er meldete sich in der Flugleitung mit der Absicht ab, ebenfalls die Cafeteria aufzusuchen. Man bat ihn, alle zwei Stunden anzurufen für den Fall, daß neue Order für ihn einträfen. Auf dem Weg zur Cafeteria schlenderte er durch die Wartehallen. DEPARTURE C war überfüllt mit wartenden Touristen. Die Charterflüge in den - hoffentlich sonnigen Süden waren für unbestimmte Zeit verschoben worden. Die B-Halle für internationale Flüge war weniger stark frequentiert. In Halle A herrschte überhaupt kein Betrieb. »Ich wollte Sie schon ausrufen lassen«, empfing ihn Lemnitzer in der Cafeteria. »Unsere Fluggäste sind
mittendrin, sich die Köpfe heißzureden. Dabei hat die Vorstellung noch gar nicht angefangen.« »Auf wen warten sie denn?« wunderte sich Walter. »Drei Maschinen sollen noch kommen. Woher?« »Fernost, Sowjetunion und USA, soviel ich herausbekommen habe.« Der Admiral zog ihn mit an die Tafel, die sich die acht aus Tischen zusammengeschoben hatten. »Es wäre um unsere Welt besser bestellt, wenn alle anderen Institutionen wenigstens annähernd so gut zusammenarbeiten würden wie die Meteorologen.« Walter bestellte sich einen Kaffee. Mit einem Ohr hörte er der Diskussion zu, die allmählich verflachte. Sie brachte auch nichts Neues gegenüber dem Austausch während des Fluges. Es war an der Zeit, daß die übrigen Experten aus der Welt eintrafen, bevor die Europäer ungeduldig wurden. Der Lautsprecher knackte. »Captain Entlach, bitte zum Abfertigungsschalter der Lufthansa, Flugsteig B. Captain Entlach .« Der Admiral war genauso erstaunt wie Walter. Der erhob sich achselzuckend und ging. Es war nicht weit. Die Cafeteria lag hinter der Abfertigungshalle B. Der Mann hinter dem Schalter überreichte ihm ein Telegramm. »Das hat Ihre Dienststelle aus Husum nachgeschickt, Captain!« »Sonst nichts?« »Sonst nichts.« Er bedankte sich, ging und öffnete es unterwegs.
Sitzen in Sundy Lake hoffnungslos eingeschneit fest. Versuchen bei nachlassendem Schneefall nach Fort McMurray durchzukommen und dann mit der Bahn bis
Edmonton. Errarte Nachricht von dir an bekannte Anschrift in Winnipeg. Gruß Zivo und Akri.
Im ersten Moment wußte er nichts damit anzufangen. Freund Zivomir befand sich in Schwierigkeiten durch Schnee. Das war sicher. Aber wieso »wir« und »uns«, und wer war Akri? Er platzte mitten in den Rummel der Begrüßung von Fachkollegen und Militärs aus Polen und Rußland. Admiral Lemnitzer hielt sich im Hintergrund und nahm Walter zur Seite. »Ich frage mich, was in diesem internationalen Spektakulum ausgerechnet ich soll? Ich bin doch kein Sicherheitsbeauftragter! Warum schicken die Russen militärische Wetterexperten mit?« »Wenn Sie es nicht wissen, Sir?« erwiderte Walter lakonisch. Er hatte das Gefühl, Lemnitzer wußte sehr genau, worum es ging. »Ich bin jetzt beim Flugsicherungsdirektor. Bis später.« Aus der Höhe des Towers bot sich ein trostloses Bild über die Weite des großen Flughafengeländes. Von der Autobahn her setzte trotz des Schneegestöbers eine B-707 zur Landung an. Die Lichter der Rollbahnbegrenzung waren trotz einsetzender Dämmerung im weißen Schnee kaum zu erkennen. Die ausrollende Maschine zog eine mächtige Schneewolke hinter sich her. Als Walter in die Abfertigungshalle zurückkehrte, hörte er schon die Durchsage: »Die Passagiere zu den Flügen nach Sevilla, Madeira, Arrecife, Gran Canaria, Tanger, Agadir, Tunis .« In der Cafeteria herrschte Aufbruchgewimmel. Ein ganzes Heer setzte sich in Bewegung. Zivilisten und Militärs harmonierten miteinander, als würden sie sich
ewig persönlich kennen. Unter Leitung eines Vertreters des Chefmeteorologen aus Offenbach lief die Kolonne zum unterirdischen Bahnhof. Ein Sonderzug brachte sie nach Offenbach. »Mann, wo stecken Sie denn die ganze Zeit?« überfiel ihn der Admiral aufgeregt. Er schloß sich dem Zug an. »Sie müssen, so bald es geht, nach Hamburg fliegen. Aus Schweden sitzen Dr. Hoelmstid und Dr. Illing fest. Schaffen Sie das allein?« »Heute noch? Sie haben doch gewußt, wo ich war!« Insgeheim war Walter froh, Frankfurt den Rücken kehren zu können. »In Hamburg hat es zu regnen begonnen. Die Eiszeit ist vorbei. Wozu dann noch die Eile!« »Da müssen Sie sich mal die Wetter-Experten anhören! Die sind anderer Meinung.« Der Admiral wollte ihn einigen bekannten amerikanischen Offizieren vorstellen. »Captain Entlach bitte zum Flugeinsatz«, kam es in dem Moment über den Lautsprecher. Lemnitzer unterließ, was er beabsichtigt hatte. »Aha, die Einsatz-Order ist schon da. Sehen Sie zu, daß Sie es hinter sich bringen. Soviel ich aus den Diskussionen herausgehört habe, bahnt sich was an, das für uns recht interessant sein kann. Bis morgen dann .« Keine halbe Stunde später rollte die BFW-17 zwischen den Luftgiganten voller Urlauber zur Startbahn. Es war nur eine Bahn schneefrei gehalten worden. Der winterliche Anblick der in buntem Licht erstrahlenden Flughafengebäude provozierte höchst eigenartige Empfindungen. Der Funksprechverkehr mit dem Tower und der anschließende Start lenkten Walter ab. Binnen Sekunden steckte die Maschine wieder voll in der hochreichenden
Milchsuppe. Er zog steil nach oben, um über die Wolkenobergrenze zu gelangen. Bei 33000 Fuß sah er den Nachthimmel und die Sterne. Walter rief seinen Heimatflughafen Husum an und bat, seine Frau zu verständigen. Während der vierzig Minuten, bis er in Fuhlsbüttel landete, würde sie es allerdings mit dem Wagen nicht einmal bei normalen Wetterverhältnissen schaffen, ihn dort zu erwarten. Die militärische Flugleitung in Husum versprach, sich wieder zu melden, sobald man sie erreicht hatte. Sehr viel höher zu steigen lohnte nicht. Er blieb wenige hundert Fuß über der relativ ebenen Wolkenschicht. Obwohl es Nacht war, konnte er sie gut sehen. Solche elendigen Tiefdruckgebiete über Europa waren Ende Juni nicht einmal ungewöhnlich. Schneefall an der Zugspitze nach Sommeranfang hatte es auch früher gegeben. Sogar bis in Lagen um 1500 Meter herunter war manchmal der Schnee liegengeblieben. Zwei Tage später aber war der ganze Spuk wieder verschwunden gewesen. Man brachte solche Wetterverhältnisse mit Aktivitäten der Sonne in Verbindung. Ihm war nicht bewußt, daß diesmal davon die Rede gewesen war. Er gewann die Überzeugung, die Wetterforscher waren davon genauso überrascht wie die Bevölkerung. Es hatte wenig Sinn, darüber nachzugrübeln. Niemand konnte es ändern. Was würde aber sein, wenn die Wetterlage einfach blieb? Die Ernte in Europa dürfte bereits jetzt vernichtet worden sein. Um sich abzulenken, spielte er auf dem Kurzwellenbereich herum. Die Maschine flog mit Autopilot. Normalerweise hätte er dienstfrei. Dann hätte er
zu Hause nichts anderes getan. Wie viele Männer und Frauen, die sich auf dem Amateurband austauschten, kannte er durch solche Kontakte selbst! Man kannte sich und hatte sich doch nie gesehen. Es gab durchweg nur ein Thema: das Wetter! Nach den Standorten einzelner Stationen zu urteilen, war in Amerika die Schneefallgrenze bis Minnesota, Wisconsin und in den nördlichen Teil von Michigan vorgedrungen. Allerdings blieb der Schnee nicht liegen. Plötzlich überlagerte eine andere Frequenz seine PassivVerbindung. Er kannte das Signal. Es stammte vom französischen Antarktis-Forschungsschiff. L'Explorateur. Soviel Walter wußte, lag es vor Port Curieuse auf den Kerguelen-Inseln vor Anker, um zu überwintern. Im Südindischen Ozean, knapp zweitausend Kilometer nördlich des antarktischen Kontinents, herrschte um diese Zeit tiefster Winter. Walter wurde nicht schlau aus den Kodesymbolen. Sie wurden gezielt nach Paris gefunkt. Der ortsübliche mittlere Luftdruck um diese Jahreszeit führte eine ungewöhnliche Wärme mit, die wider allen Erfahrungen von Süden und Westen heranströmte. Zwischen dem Gebiet des Magnetpols, der am Rande des französischen Antarktis-Territoriums liegt, und den Kerguelen tobte seit wenigstens einer Woche ein nie beobachteter »heißer« Zyklon halb über dem Kontinent, halb über dem Eismeer. Die Funkverbindungen mit den zahlreichen Forschungsstationen innerhalb dieses Bereichs waren seither unterbrochen. Der Anruf vom Tower Fuhlsbüttel riß ihn aus den
Bemühungen, die Kodesignale der Funkstation zu entziffern. Merkwürdig war, daß sie auf der Frequenz der L'Explorateur sendete. »Hamburg-Tower an BFW-17. Warum melden Sie sich nicht? Over!« Walter meldete sich. Er mußte schon zur Landeschleife ansetzen. Blindflug durch die kilometerdicken Wolken und bei Nacht nur nach Instrumenten nahm seine ganze Konzentration in Anspruch. Ihm fiel ein, daß sich Husum noch mal hatte melden wollen. »Verzeihen Sie, Captain, das haben wir verschwitzt. Husum gab an Sie durch, daß Ihre Frau nach Hamburg unterwegs ist. Im Flughafen-Hotel ist ein Zimmer reserviert. Ihre Frau hat Erlaubnis erhalten, Sie morgen früh nach Frankfurt zu begleiten.« »Sagt mir wenigstens, wie das Wetter da unten bei euch ist!« »Schneeregen, Captain, Wind aus Nord-Nordost, zehn Knoten, Temperatur vier Grad. Keine Schwierigkeiten.« Das bemerkte er Minuten später selbst. Die tiefhängenden Wolken ließen die hellbeleuchtete Flughafenanlage erst im letzten Moment erkennen. Das übliche Lichtermeer Hamburgs blieb im Vorhang des Schneeregens unsichtbar. Walter Entlach mußte gehörige Zeit warten, bis seine Frau eintraf. Der Regen nach dem Schnee machte die Straßen nicht passierbarer. Nach dem Essen versuchte er, sich im TV-Raum des Hotels zu zerstreuen. Das war bei den bedrückenden Wetterverhältnissen nicht so einfach. Ihm fiel ein, daß Zivomir eine Nachricht erwartete, wenn er in Winnipeg eintraf. Bloß: Was sollte er ihm mitteilen?
Daß sich die Regierung für ihn interessierte? Im Begriff, sich einen Telegrammtext auszudenken und deshalb zur Rezeption zu gehen, erblickte er das Gesicht des Engländers Professor Gashley auf dem Bildschirm. Unwillkürlich blieb er stehen. Schließlich hatte er diesen Mann am Nachmittag nach Frankfurt transportiert. »Ladys and Gentlemen«, begann der Meteorologe, und ein Simultanübersetzer brachte es in Deutsch. »Das seit vier Tagen anhaltende extreme Regenwetter gibt zu großer Besorgnis Anlaß. Die mitgeführte ungewöhnliche Kaltluft hat im Verlaufe des Tages die Alpen erreicht. Die internationale Meteorologie steht vor einem Rätsel. Es ist abwegig, vom plötzlichen Beginn einer weltweiten Eiszeit zu sprechen. Wir müssen nur damit rechnen, daß die merkwürdige Wetterlage die nächste Zeit anhält. Führende Meteorologen der ganzen Welt sind deshalb im Europäischen Zentralwetteramt Offenbach zusammengekommen. Wir sind nicht imstande, die Wetterverhältnisse zu ändern. In enger Zusammenarbeit mit der ESRO, der NASA, der sowjetischen Weltraumbehörde und UNESCO sind wir bemüht, die Ursachen zu ergründen und sie sofort der Öffentlichkeit bekanntzugeben .« »Hallo, Walter!« sagte Karin auf einmal. Seine blonde Frau stand unvermittelt hinter ihm. »Schneller ging es nicht.« Sie begrüßten und umarmten sich. Arm in Arm gingen sie zuerst an die Rezeption und anschließend an die Bar. Nach der schneereichen Fahrt war ein kräftiger Drink geradezu notwendig.
»Ich freue mich riesig«, bekannte Walter, »daß dich das Kommando mitfliegen läßt. Wie bist du denn auf die Idee gekommen?« »Ich?« Sie lachte. »Ich dachte, du! Als man mich anrief, hat man es mir angeboten. Ich müßte mich allerdings sofort entscheiden.« »Ach.« Darauf mußte er noch einmal einen trinken. »Ich ahne nichts Gutes, Liebling. Ich furchte, wir haben beide allen Grund, froh zu sein, daß keiner von uns allein sein muß in nächster Zukunft .« *
Die L'Explorateur lag nicht mehr in Port Curieuse, sondern seit einigen Tagen in den geschützteren Fjorden vor Port-aux-Frangais. Trotz der ungewöhnlichen Hochdruckwetterlage im gesamten Bereich des »Amsterdam-St.Paul-Plateaus« im südlichen Indischen Ozean herrschten Tag und Nacht heftige Winde und ein gehöriger Seegang. Seit Stunden wartete die Besatzung der Wettermaschine auf den Start. Der Abflug hatte sich immer wieder verzögert. Die erwartete Kuriermaschine aus Paris mit Dr. Mercier und Dr. Rodrigues hatte wegen des irrsinnigen Wetters auf den Croquet-Inseln zwischenlanden müssen. Die strapaziöse Reise zwang die Forscher und ihre Teams, eine Erholungspause einzulegen. Es wurde früher Nachmittag, bis die beiden Gruppen an Bord der bereitstehenden Maschine gingen. Die Piloten und Jean Poissen befanden sich bei Commodore Max Orlean. Sein vom Wetter zerfurchtes Gesicht strahlte alles andere als Zuversicht aus.
»Es geht nicht anders, Jean, Sie müssen als Navigator mit«, widersprach er den Bedenken des Fliegers der L'Explorateur. Wenn einer den Luftraum bis zum AdelieLand kennt, dann Sie.« »Wenn wir mitten durch den Eiszyklon sollen, Monsieur Commandeur«, gab Capitain Paulak erneut zu bedenken, »müssen wir in Station d'Urville landen und auftanken. Oben drüberweg wäre es hin und zurück ein Kinderspiel!« »Das ist kein antarktischer Spazierflug«, sagte der Commander verdrossen, denn der Einsatz ging ihm gegen den Strich. »Mercier und Rodrigues sind nicht zum Vergnügen hierhergekommen. Es hat sich wohl herumgesprochen, daß Mitteleuropa und sogar Paris unter einer Schneedecke liegen - und das Ende Juni!« »Glaubt jemand im Ernst, daß ein antarktischer Zyklon damit was zu tun hat?« erwiderte Co-Pilot Serney unwillig. Immerhin war der Gedanke nicht so abwegig, und das wußte jeder hier. »Monsieur, was man von uns erwartet, ist schon jenseits der Grenze dessen, was man Mensch und Maschine zumuten kann.« »Wenn die Antarktis-Stationen der Briten, Russen und Australier wenigstens Lebenszeichen geben würden, käme niemand auf den Gedanken, uns das zuzumuten. Wir brauchen die Diskussion darüber nicht noch einmal zu führen. Viel Glück!« »Sie haben vergessen zu sagen, wann sich Station d'Urville zum letztenmal gemeldet hat«, erinnerte Paulak. »Ach was, Sie wissen selber, daß der benachbarte Magnetpol Störungen hervorruft«, erwiderte der Commander ungehalten. »Commodore Tanarca erwartet Sie jedenfalls, egal wann. Die Bestätigung liegt vor. Au revoir, Messieurs.«
Die Nervosität der Männer war von der Wartezeit geprägt. Seit Eintreffen des bemerkenswerten Einsatzbefehls war zuviel Zeit verstrichen. Sie sprachen kein Wort, während sie aus der Baracke der Flugleitung über das windige Rollfeld zur startbereiten Maschine liefen. Zehn Minuten später hob der große Jet ab, vollgestopft mit Sonden und Meßgeräten. Die beiden Teams, Meteorologen und Physiker, erhofften sich mit den Instrumenten Aufschluß über das Unwetter. Sie wußten nicht, daß die Besatzung außerdem den Auftrag hatte, Kontakt zu den schweigenden Forschungsstationen zu suchen. Wie sie das anstellen sollten, war sowieso rätselhaft. Das zerklüftete Insel-Archipel fiel schnell unter ihnen zurück. Der Cook-Gletscher glitzerte im Sonnenschein. Die weiße Gischt der aufgewühlten See leuchtete in langen weißen Streifen, die sich gegen die Küste wälzten. Der azurblaue Himmel bot dazu einen eigenartigen Kontrast. Nach der Startschleife nahm die Maschine Südostkurs auf Heard-Island zu, eine völlig vergletscherte Vulkaninsel auf dem unterseeischen Kerguelen-Gaußberg-Rücken, vierhundert Kilometer entfernt. Der Luftdruck sank ungleichmäßig von Minute zu Minute. Die Sonne verkroch sich mehr und mehr hinter Eisvorhängen am Himmel. Nur die Flugrichtung mit dem Wind verhinderte bisher gröbere Stöße. Deshalb blieb der Flug vorläufig »ruhig«. Der zunehmende Sturmdruck konnte der Maschine nichts anhaben. Das würde sich aber ändern. Nach Überfliegen des 60. Breitengrades war die Sicht
bereits gleich Null. Plötzlich sackte die Maschine durch. Da half auch kein Autopilot mehr. Das Gefühl, in einem rapide abwärts rasenden Fahrstuhl zu sitzen, veranlaßte einige Männer, erschrocken aufzuschreien. »Immer mit der Ruhe«, rief Paulak lachend. »Ich fürchte, es wird noch verrückter. He, Jean! Ich könnte dich auf dem Co gebrauchen. Auf dem Radar erscheinen verschwommen erste Küstenlinien!« Serney räumte seinen Platz. Er übernahm die Funkerposition, um den Bordingenieur zu entlassen. Der hatte fortan genug zu tun, die Instrumente der Maschine zu überwachen. »Das Eismassiv liegt etwa tausend Meter dick auf einem rund zweihundert Meter hohen Landsockel«, sagte Jean skeptisch. »Sind wir zu hoch, sehen sie nichts, sind wir zu niedrig, genügt eine Fehleinschätzung von hundert Metern, und wir sind am A . Wir haben keinerlei Sicht!« Das wußte Paulak auch. Andererseits kannte er den psychologischen Wert, wenn die seit einer Woche von der Außenwelt abgeschnittene Besatzung ein Flugzeug darüberweg donnern sieht, auch wenn von der Maschine keine direkte Hilfe zu erwarten war. »Wir haben noch eine halbe Stunde Zeit«, sagte er gepreßt. »Ich gehe allmählich tiefer. Zwölfhundert Meter hast du gesagt? Wir bleiben vorerst auf fünfzehnhundert. Hören müßten sie uns in jedem Fall. Achte drauf, wenn die Station am Radar erscheint.« Den Forschern sträubten sich die Haare. Der Luftdruck sank auf Werte, die jede Erfahrung selbst in der Antarktis verhöhnten. Dabei befanden sie sich nur in der Randzone des Zyklons. Aus den Fenstern zu blicken war sinnlos. Es
war dunkel. Durch das Schneetreiben waren nur die Positionslichter der Tragflächen zu erkennen. Die schwangen durch die Belastung gehörig. Man war noch weit davon entfernt, Ursachen für das extreme Wetter zu erkennen. »Könnte die Station sein«, stellte Jean zwanzig Minuten später am Radarbild fest. »Die Reflexe sind aber außerordentlich schwach.« Das war ein Zeichen dafür, daß der Blizzard, der noch zweitausend Meter tiefer tobte, die flachen Bauten unter beträchtlichen Schneemassen begrub. Die Parabolantenne stand allerdings unter einer schützenden Kuppel. Sie reflektierte das Signal am deutlichsten. Serney forderte die Forscher auf, rechts und links aus den Fenstern nach unten zu schauen und auf Lichtsignale zu achten. Die Kabinenbeleuchtung wurde abgeschaltet. Es war ein ungewöhnliches Unterfangen, mit der schweren Düsenmaschine im Tiefflug über ein unsichtbares Schneeland zu jagen. Die Piloten flogen nach wie vor nur nach Instrumenten. Der »künstliche Horizont« war ihr einziger Richtungsweiser. Aus dem Cockpit sahen sie unten erst recht nichts. »Zwanzig - achtzehn - sechzehn .«, zählte Jean mit. »Ich weiß nicht, wie hoch die Antennenmasten sind!« »Das sagst du jetzt erst?« knurrte Paulak. »So hoch wie der Pariser Eiffelturm werden sie nicht sein, oder?« Es brauste und ratterte und knallte, und die Düsentriebwerke röhrten tief. Es war nichts zu sehen. Rundherum war alles in tiefe Nacht gehüllt, die ewige Nacht der Antarktis im Juni. Die bunten Bauten der Station, normalerweise hell erleuchtet, hatte der Schnee verschluckt.
»Licht - da - Signale - zweimal«, rief einer der Assistenten vom Backbordfenster. Paulak und Jean zogen sofort etwas hoch, gaben mehr Schub und setzten zur Schleife an. »Keine direkte Infrarotmessung«, sagte der Bordingenieur. »Die scheinen völlig im Schnee versackt zu sein. Vielleicht zeigt später der Film was?« »Blinke mit unseren Scheinwerfern«, wünschte der Flugzeugführer, »damit sie sehen, daß wir sie erkannt haben. Ich gehe auf 350 Fuß.« Das eine Manöver war optisch gesehen so unauffällig wie jedes andere. Auf den Instrumenten dagegen zeichnete sich jede meßbare Nuance, jede Reaktion der Maschine ab. Der Sturm schien den Luftgiganten zu bremsen, drängte ihn vom Kurs. Paulak und Jean fingen an zu schwitzen. »Wir müßten jetzt genau drüberweg kommen«, rief Jean. Er hatte den Zielanzeiger des Radars im Auge. Sie flogen nun direkt mit dem Sturm. Die Bodensicht wurde trotz Nacht überraschend klar. Schneefahnen waren zu erkennen. »Maschine hoch!« brüllte Serney. Er erblickte die Antennenmasten zuerst. Ihre Toplichter flackerten. Sie schienen in gleicher Höhe mit der Maschine zu liegen. Ein paar schwarze Punkte im weißen Schnee - zwei Scheinwerfersignale. Die Antennenmasten rasten aufs Cockpit zu. Die Triebwerke brüllten auf. In ihren Ohren dröhnte das entsetzliche Reißen von Metall. Es war zweifellos nur Einbildung gewesen. Daß sie tatsächlich nur um wenige Meter über die Masten hinweggebraust waren, erfuhren sie erst viel später. Wer
aus den Seitenfenstern blickte, schwor, daß sich unten die paar Schatten in den Schnee geworfen hätten - in sicherer Erwartung einer Katastrophe. Bis sie es an Bord kapierten, war die Maschine längst drüberweg und stieg wieder auf zweitausend Fuß über Eisniveau. Jean und Paulak lächelten sich verlegen an. So etwas durften sie nicht wieder riskieren! »Komsomolskaja gibt schwaches Peilsignal«, teilte Serney mit. »Nicht ein Zehntel von dem bekannten Wert der üblichen Sendeenergie.« »Noch nicht auf dem Radar«, stellte Jean fest. »Wir müßten genau in Kursrichtung liegen!« Die Meteorologen warnten, daß sie tiefer durch den Randbereich des Blizzardzyklons stießen. Der Luftdruck sei so niedrig wie nie. Gemessen daran, hätten sie in der Maschine bereits Überdruck. In Richtung mit dem Sturm verlief der Flug ruhiger als vorher. Die sowjetische Station, mehr als doppelt so groß wie die australische, konnte keine Viertelstunde mehr entfernt sein. Auf dem Radar gab es aber noch keinerlei Reflexe. Serney funkte sie an in der Erwartung, wenigstens empfangen zu werden. Es blieb allerdings nur zu hoffen, daß der russische Funker die in englisch geführte Luftverkehrssprache verstand. Paulak wurde nervös. Irgend etwas stimmte nicht. Noch immer kein Radarreflex! Die Station mußte mittlerweile ganz in der Nähe sein. Das Peilsignal kam etwas stärker herein als vor zwanzig Minuten. »Ich weiß nicht, wo ich suchen soll«, sagte Jean. »In dieser Höhe müßte der Streuwinkel des Radars zwanzig Kilometer im Radius erfassen.« »Noch tiefer gehen?« preßte Paulak heraus.
Jean schüttelte den Kopf. »Die Eisscholle ist dicker, ich weiß nicht genau wieviel. Als ich das letzte Mal hier gelandet bin, habe ich die Station auf Sicht angeflogen.« »Das Peilsignal ist maximal«, sagte Serney. »Wir müßten nahezu über ihr sein .« »Hoch - hoch - um Himmels willen!« Der Schrei Jeans, der Griff auf Vollschub, Steuerknüppel angezogen, Schwenk nach Steuerbord waren eine einzige Blitzreaktion. Unter ihnen flogen Fetzen und riesige Schneefahnen durch den Sturm. Die Düsenstaustrahlen hatten das dünne Druckgewebe angeblasen und aufgerissen, das die Kuppel über dem Parabolspiegel bildete. Die Maschine war direkt darauf zugerast. Da die Kuppel völlig verschneit war, hatte Jean auf zweitausend Meter nur den Schneeberg erkannt. Zweifellos hatte nur der Luftstromauftrieb vor der Schneebarriere die Maschine hochgerissen und gerettet. Um allein auf Steuermanöver zu reagieren, wäre es bei der kurzen Distanz zu spät gewesen. Die katastrophalen Folgen erkannten sie erst beim zweiten Anflug. Aus der zusammengebrochenen Kuppel fiel Licht. Die Russen hatten auch Signalscheinwerfer aufgebaut. Von den Antennen ihrer Sendeanlage war weit und breit nichts zu sehen. Paulak verzichtete auf ein zweites Bravourstück. Er behielt die Maschine auf Höhendistanz. Jean signalisierte lediglich mit den Scheinwerfern. Vermutlich war das Flugzeug durch Schneesturm und Nacht von unten gar nicht zu sehen. »Jedenfalls wissen wir, daß sie leben«, keuchte Jean schweißgebadet. Er hatte das rettende Flugmanöver allein
ausgeführt. Es war keine Zeit gewesen, dem Flugzeugführer mehr zuzurufen, als er getan hatte. Er hatte ihm praktisch das Steuer aus der Hand gerissen. »Der Höhenmesser stimmt nicht«, stöhnte Paulak, als sie wieder Höhe gewannen und mit Ostkurs auf die zurückfallende Küste zuhielten. »Wenn die Kuppel zwanzig Meter hoch ist, waren wir höchsten fünfzehn Meter über dem Erdboden. Der Höhenmesser hat 4500 Fuß über Meeresniveau angezeigt, das entsprach zweihundert Meter über dem Eisboden.« »Ich weiß«, bestätigte Jean. »Ich hatte die ganze Zeit das Gefühl, daß etwas nicht stimmt.« »Die Druckverhältnisse sind völlig irre«, rief Dr. Mercier nach vorn. »Ein so niedriger Luftdruck, wie er draußen herrscht, ist meines Wissens noch nie irgendwo auf der Welt gemessen worden außer im Himalaya.« »Aber wir steigen«, raunte Paulak zufrieden, »egal wieviel und wohin.« Es war weder zu sehen noch zu spüren, daß die Maschine Höhe gewann. Die schwarze antarktische Nacht ließ keine optischen Schlüsse zu. Da sie an Geschwindigkeit gewannen, konnte ihnen der in einem riesigen Kreis tobende Sturm nichts anhaben. Das schwache Peilsignal war längst erstorben. Serney versuchte abwechselnd, Port-aux-Francais und Station d'Urville hereinzubekommen. Er hatte mit beiden kein Glück. Über dem Teil der Antarktis, der dem Indischen Ozean zugewandt liegt, herrschte Funkstille. Es schienen Stunden vergangen zu sein, als überraschend die Sonne ins Kabinenfenster leuchtete. Sie war im Nordosten aufgegangen und kroch rötlich am Horizont entlang. In Richtung zum Südpol blieb der
Himmel schwarz und voller Sterne. Die Wolkenobergrenze leuchtete gleichfalls rötlich. Sie sah kilometerlang aus, als wäre sie nach oben hin aufgerissen. Die Nebelschwaden verloren sich in der Stratosphäre. »Backbord dürfte sich das Auge des Zyklons befinden«, rief Mercier nach vorn. Das hieß soviel wie: Kurs Backbord. Denn nur der »ruhige Mittelpunkt« konnte Aufschluß über die merkwürdigen meteorologischen Vorgänge geben. Jean und Paulak steuerten neuen Kurs an. Es dauerte geraume Zeit, bis sich die Wolkenquallen nach unten hin verloren. Gleichzeitig registrierten sie den gigantischen Sog. Er ließ die Luftmassen ins Zentrum stürzen. Es kostete allerhand Geschick, die Maschine auf Kurs zu halten. »Haben Sie schon Kontakt mit irgendeiner Funkstation, Monsieur Serney?« rief Dr. Mercier ungeduldig. »Es wäre wichtig, erste konkrete Details direkt >vor Ort< durchzugeben.« »Irgendeine können Sie haben, Doktor«, rief der CoPilot vom Funkersitz. »Die Amerikaner in McMurdo kriege ich sofort. Nur die zwischen dem 50. und 120. Breitengrad sind weg. Scott-Station am Südpol können Sie auch haben .« »Machen Sie schon«, begehrte Mercier auf. »Die meteorologischen Stationen dürften alle wissen, daß wir unterwegs sind. Ist schließlich kein Staatsgeheimnis.« Im Grunde genommen war es aber doch eins! Serney wußte das genauso wie Paulak, Jean Poisson und der Bordingenieur. Sie waren einem klimatologischen Phänomen auf der Spur, von dem der Verdacht bestand,
daß er das Weltgefüge zu erschüttern drohte. Die Besatzung der Maschine war gebildet genug, um die in Kode- und Zahlenbegriffen sprechfunktechnisch durchgegebenen Werte begreifen zu können. Daß das wolkenfreie »Auge des Zyklons« eine ovale Form hatte, dessen schmälster Durchmesser knapp vierhundert Kilometer betrug, hatten sie bereits gemessen. Die Radars erfaßten an der Küste die Knox-Station nahe der sogenannten Bunger-Oase, einer eisfreien Region selbst im Winter. Dr. Mercier, der Meteorologe, und Dr. Rodrigues, der Physiker, mit ihren Teams registrierten aber noch ganz andere Phänomene Die Stärke des Eispanzers reduzierte sich in dieser Region von über zweitausend Metern bis zur Küste auf Null. Dieser glazial-geologische Umstand begünstigte die Fallwinde am Rande des Zyklon-Auges. Von Eis und Station war nichts zu sehen. Denn dort drunten nahe des südlichen Polarkreises herrschte Nacht. Die in den Trichter des riesigen Auges stürzenden Luftmassen aus der eisigen Stratosphäre waren hochgradig verunreinigt. Anscheinend vereinigte sich hier das gesamte Sammelsurium an Kohlendioxydgasen industrieller Abfallprodukte, die im Verlaufe von über hundert Jahren in die Atmosphäre aufgestiegen waren. Die Luftverunreinigungen enthielten in wesentlich höheren Konzentrationen viele andere Bestandteile bis hin zum schweren Quecksilber. Weshalb der Kollaps der Atmosphäre ausgerechnet in diesem Bereich eintrat, ließ sich in der kurzen Zeit nicht ermitteln. Möglicherweise spielte der Magnetpol dabei eine Rolle, der nur zweitausend Kilometer Luftlinie
entfernt lag. Dieser Kollaps löste zugleich eine Randwärme des Zyklon-Auges aus, die die eisigen Luftmassen wieder nach oben wirbelte. Dadurch entstand aber kein spiralenartiger Kreislauf, wie man es von Tornados und Taifunen kannte. Vielmehr wurde die zwar eisige, der Umgebung entsprechend aber wärmere Südpolar-Bodenluft in die Höhe gerissen. Selbst in elftausend Metern über dem Eismeer ließ sich nicht feststellen, wo sie blieb. »Captain Paulak«, rief Rodrigues nach vom, »können wir noch höher steigen und über dem Zentrum des Zyklon-Trichters kreisen?« Jean beobachtete die Instrumente. Er warf Paulak skeptische Blicke zu. Sie hatten bis zur Station d'Urville mehr als zweitausend Kilometer vor sich. Paulak verstand. Er brauchte nur die Treibstoffuhren abzulesen. »Zehn Minuten, Doktor. Mehr ist nicht drin. Sonst müssen wir einen Segelflug veranstalten und auf den Eisschollen landen. Wir sind zu nahe am Magnetpol. Es gibt da immer Schwierigkeiten mit den Instrumenten. Unsere Manöver haben viel Treibstoff gekostet.« »Na gut, wir müssen auch wieder zurück«, lenkte Mercier ein, der das gleiche Interesse an den Messungen hatte. »Welchen Flugradius hat die Maschine unter optimalen Bedingungen?« Paulak wunderte sich über diese Frage. »Fünftausend Kilometer. Optimale Bedingungen herrschen aber nur bei 30000 Fuß und höher.« Mercier sprach nicht aus, was er dachte. Die Station d'Urville lag dem stationären Zyklon näher als die Kerguelen-Inseln. Ihm schwebte vor, dem Luftstrom zu
folgen, der von diesem Zyklon in die Stratosphäre geschleudert wurde. Bis Augusta oder Alberny in Südwest-Australien konnte man es schaffen. Er hatte eine ungeheuerliche Hypothese: Die extreme Kaltluft stieg in größere Höhen der Stratosphäre. Der Strom wurde durch simple Naturgesetze zu den wärmeren Zonen transportiert. In den subäquatorialen Bereichen sank sie allmählich wieder tiefer. Dabei geriet sie in die Strömungsbereiche der JetStreams. Die zwar kalten, aber unterschiedlich temperierten Luftmassen erzeugten Stratosphärenwirbel. Die wiederum zwangen die Jet-Streams in völlig neue Bahnen. Da kalte Luftmassen bei nachlassender Eigengeschwindigkeit abzusinken pflegten, weil sie schwerer waren als warme Luftmassen, gerieten sie in die Tropopause und damit in die Monsun- und PassathRegionen. Die warmen Luftmassen der irdischen Wettersphäre mischten sich mit Teilen der absinkenden Kaltluft. Als Folge entstanden die verheerenden Taifune, die seit Tagen von den Sunda-Inseln bis hinauf nach Japan tobten. Die im nördlichen Pazifik typischen warmen Meeresströmungen preßten durch dieselben Taifune die extreme Südpolarluft wieder in die Stratosphäre. Die nördlichen Jet-Streams trugen sie um die AlaskaAusläufer der Rocky-Mountains bis zum nördlichen Eismeer und dann in Kanada hinein, östlich der RockyMountains kamen sie allmählich zur Ruhe und senkten sich teilweise über den nordamerikanischen Kontinent. In der arktischen Luft hielten sich die verbliebenen, noch erheblichen Mengen an Kaltluftmassen länger. Die
entstandene Verlagerung der nördlichen Jet-Streams schob sie über das kalte Grönland hinweg. Im Bereich des warmen Golfstroms entstanden naturbedingt neue Turbulenzen. Die für Europa typische Wetterrichtung ergoß somit die südpolaren Luftmassen über den Kontinent, begünstigt auch vom Druck der Sonneneinstrahlung und den sommerlichen Verhältnissen der Nordhalbkugel. Was an antarktischer Luft noch übrigblieb, dürfte sich recht gemächlich vom nordpolaren Eismeer über Sibirien absenken. Dafür lagen lediglich noch keine konkreten Meldungen vor, weil es nicht ungewöhnlich war, daß es auch im Sommer in der Tundra schneite. Um diese Theorie an den Mann zu bringen, müßte Mercier unbedingt mit Paris sprechen. Er hielt es für gefährlich, wenn die Öffentlichkeit davon Wind bekam. Die Funkdepeschen vom Flugzeug aus konnte jeder mithören. Falls sich herausstellte, daß sie den Tatsachen entsprach, mußten schon jetzt konkrete Maßnahmen vorbereitet werden. Liefen die erst dann an, wenn die Beweise erbracht waren, konnte es zu spät sein, um in das Wettergeschehen einzugreifen. »Die zehn Minuten sind um, Messieurs«, mahnte der Flugkapitän. »Wir nehmen Kurs auf d'Urville-Station. Vorläufig bleiben wir in Höhe 35000 Fuß, um über das Wetter hinwegzufliegen!« »Bien«, stimmte der Physiker zu. »Es ist sogar recht angenehm, eine Weile die Sonne zu sehen. In Europa steht sie auf der Vermißtenliste, abgesehen von Südfrankreich und Spanien.« Doch so reibungslos wie erwartet verlief der Flug nicht. Als sich die Maschine der Randzone des Zyklon-Auges
näherte, zogen die Fallwinde der unteren Stratosphäre sie mit nach unten. Die Piloten mußten mit Vollschub gegensteuern. Ziemlich plötzlich rissen entgegenwirbelnde Aufwärtsströmungen die Maschine wieder nach oben, als sie wenig später die aufreißende Wolkendecke überflog. Lange Fahnen emporgezerrter Wolkenfetzen ragten in die Stratosphäre hinein, wo sie sich verloren. Für die Wissenschaftler bot sich ein neues Betätigungsfeld für ihre Messungen. Man konnte trotz der Geschwindigkeit der Maschine mit ansehen, wie die Stürme Luftmassen emporschleuderten. Ihre Spuren waren die Wolkenfetzen. Für die Piloten bedeutete das Phänomen Anstrengung, um die Maschine auf Kurs zu halten. Der ringartige Zyklonbereich war erheblich größer als das »stille Auge«. »Es ist ganz so, als ob die Wolken elektromagnetisch aufgeladen sind«, fluchte Serney auf einmal los. »Die Funkverbindung mit d'Urville ist weg! Ich war eben mitten dabei, über unsere Abenteuer mit der australischen und russischen Station zu berichten. Die Verbindung ist regelrecht zusammengebrochen.« »Versuch's auf UKW«, riet Paulak. »Theoretisch müßten wir schon in Sichtverbindung mit d'Urville sein.« Das Physiker-Team unter Rodrigues' Leitung begann sofort mit Messungen, die im Programm gar nicht vorgesehen waren. Es zeichnete sich schnell ab, daß Serneys Vermutung den Tatsachen nahekam. Nach den bestehenden meteorologischen Erfahrungen mußten im und unter dem Wolkenbereich schwere Gewitter toben. Das Rätsel war: es tobten keine. Als die Maschine zwangsläufig in die Wolken
eintauchte, hörten schlagartig alle elektronischen Geräte auf zu arbeiten. Im ersten Augenblick wußten die Forscher nicht, was los war. »Wir nähern uns dem Magnetpol«, rief Paulak und grinste. »Betrachten Sie sich jetzt nur noch als Passagiere, Messieurs. Wir haben lediglich keine Stewardeß an Bord, die Ihnen einen Lunch servieren könnte. Ich wette, daß wir gleich die Sonne wiedersehen!« Das dauerte keine Viertelstunde. Die Maschine war inzwischen auf fünftausend Meter gesunken. Sie verließ die Wolkenwand plötzlich. Es gab keinen Übergang. Hinter ihr blieben kilometerhohe Quellungen zurück. Starker Gegenwind blies die Luft völlig frei. Kein Wölkchen trübte den blauen Tageshimmel. Unter ihnen lag das vereiste Schollenmeer. Das bergige Land war zum Teil ohne Schnee. Die Sicht war klar bis zum Horizont. »Was haben Sie festgestellt, Messieurs?« versuchte Paulak die Zeit bis zur Landung zu überbrücken. Station und Landebahn waren noch nicht zu erkennen. Im Winter wurde es in der Antarktis am Polarkreis kaum heller als auf der Nordhalbkugel, wenn dort Winter herrschte. »Es ist seit langem kein Geheimnis«, sagte Dr. Mercier langsam, jedes Wort genau überlegend, »daß die Antarktis die eigentliche Wetterküche unseres Planeten ist. Ich fürchte, wir haben den konkreten Beweis dafür gefunden.« »Was heißt: befürchten?« wunderte sich Jean. »Es ist zu sehen, nicht nur zu messen gewesen, daß aus dem breiten Wolkenring Kaltluftmassen aus der Tropopause spiralenförmig in die Stratosphäre geschleudert werden.« »Das irrsinnig große Wetterauge reicht ebenfalls in die
Stratosphäre«, erinnerte Paulak. »Wir haben bemerkt, daß sich die Luftmassen der Stratosphäre in den Trichter ergießen wie ein Wasserfall.« »Das ist richtig. Deshalb herrscht im Zentrum nahezu Windstille, genaugenommen eine Art Vakuum. Die in die Tiefe stürzenden Stratosphärenluftmassen sind es überhaupt, die den gigantischen Wirbel erzeugen und dadurch einen extremen Sog an den Außenbereichen des Zyklons hervorrufen.« »Betrachten Sie den augenblicklich starken Gegenwind als Sogwirkung des Blizzard-Zyklons?« staunte Jean. Dachte er genauer darüber nach, mußte er Merciers Behauptung akzeptieren. An den Kerguelen herrschten ungewöhnlich heftige, in der Richtung gleichbleibende Westwinde. Beim gegenwärtigen Landeanflug mußte die Maschine gegen starke Ostwinde ankämpfen. Mercier hielt es nicht für nötig, die Frage zu bejahen. »Uns fehlen zum Beweis genügend Wettermeldungen aus Gebieten rund um den Zyklon. Meines Erachtens müßte sich der Sog bis Australien mit Nordwinden und bis Neuseeland mit Nordostwinden bemerkbar machen.« Er behielt recht. Das erfuhren sie nach der Landung. Die Wissenschaftler hatten es eilig, die Forschungslabors der französischen Antarktisstation aufzusuchen. Die Besatzung mußte sich um die Wartung der Maschine kümmern. Die schnittartige Überquerung des Kontinents hatte ihnen einen Flug aus dem Nachmittag durch die Nacht in den Morgen beschert, und das innerhalb weniger Stunden. Ihre körpereigene »biologische Zeituhr« dagegen zeigte erst Mitternacht. Commodore Tanarca brachte sie persönlich in die
vorbereiteten Quartiere. »Ich habe ein ungutes Gefühl, Messieurs. Die beiden Wissenschaftler haben eine Satelliten-Verbindung mit Paris angefordert. Schlafen Sie im Eiltempo. Forscher wie die kennen nämlich keinen Schlaf, wenn sie von verrückten Ideen besessen sind.« »Was für verrückte Ideen, Monsieur Commodore?« wollte Paulak wissen. »Es war ausgemacht, daß wir am Abend zum Rückflug starten. Mercier und Rodrigues haben zu verstehen gegeben, daß sie während der ganzen Strecke über dem Wetter ihre Messungen vervollständigen wollen.« Der Commodore zuckte die Schultern. »Der Rapport unseres wissenschaftlichen Leiters klang anders. Ich habe keine Ahnung, was sie beabsichtigen. Ich weiß nur, daß Sie notfalls alle Vollmachten haben.« »Das ist ja heiter! Warum beteiligen sich denn die Russen und Amerikaner nicht daran?« murrte Jean. »Die Russen beteiligen sich ja! Sie benehmen sich momentan wie echte Europäer. Und die sind im Europäischen Zentralwetteramt vereint. Den Amerikanern ging die Schneekatastrophe noch nicht so nahe an die Haut, sonst hätten sie bereits reagiert. Kanada, das ähnlich wie Nord- und Mitteleuropa zum Teil im Schnee erstickt, unterhält keine Stationen in der Antarktis. Lassen Sie sich aber die Ruhe nicht verderben, Messieurs.« Sie sollten früher erfahren als ihnen angenehm war, was auf sie zukam. Nach Einbruch der Dunkelheit ließ sie der Commodore wecken und bat sie in die Flugleitung. Es herrschte klirrende Kälte. Der heftige Wind aus Ost hatte noch zugenommen. Er blies Schneefahnen vor sich her. Am Nachthimmel funkelten Sterne wie Diamanten. »Direkte Order aus Paris«, empfing sie der Stationschef.
»Sie nehmen Kurs auf das Zentrum des Zyklons und folgen dort dem Luftstrom. Der Militärstützpunkt Albany in Australien erwartet Sie. Bis dahin liegen neue Orders vor.« »Wenn alles reibungslos abläuft«, murrte Paulak, »zehn Stunden!« »Länger reicht der Treibstoff sowieso nicht«, gab Tanarca zu. »Man ist in Europa sehr eingenommen von den Theorien Dr. Merciers. Ich weiß nicht warum, aber irgendwie scheint den Wetterkundlern die Zeit auf den Nägeln zu brennen.« »Mit anderen Worten, sie haben was vor«, folgerte Jean unwillig. »Ein Spazierflug wird es nicht. Darf man erfahren, was für Theorien Merciers Paris veranlassen, uns diesen makabren Auftrag aufzubrummen? Ich selber bin in der Crew Paulaks bloß ein >ZukommandierterClearances< für die höchste Sicherheits- und Geheimhaltungsstufe. Außer Ihnen sind zwei USAmerikaner, zwei Russen, zwei Chinesen, ein Pole, ein Australier und ein Kanadier beteiligt. Das Gewicht liegt auf Europa, wie Sie sehen. Herr Panalowitsch ist eigentlich auch Amerikaner. Er hat schon beim USamerikanischen Militär-Flugsicherheitswesen führend .« »Ich habe Atombomber in Zielgebiete eingewiesen, wenn Sie das meinen«, sagte Zivomir unwirsch. »Das ist mir bekannt«, gab Ferner zu. »Damit nähern wir
uns den bevorstehenden Aufgaben. Wenn Sie wollen, können Sie in dieser Minute noch aussteigen. Ich erinnere: Es ist streng geheim!« Keiner stand auf. Es war nicht die Neugierde, die sie hielt. Es war offensichtlich, worum es ging. Er sagte ihnen, daß auf alle schriftlichen Erklärungen, Verpflichtungen und jede Art von Administration verzichtet würde. Wer ihn begleiten wollte, sei einverstanden, und dann gab es kein Zurück. »Und unsere Frauen?« fragte der eine. »Können Sie anschließend abholen. Zahnbürste genügt. Zu Erklärungen ist unterwegs Zeit.« »Unterwegs - wohin?« Ferner lächelte trübe. Zivomir nahm ihm die Antwort ab. »In die Antarktis.« Wenig später betraten sie den Vortragssaal im Seitenflügel. Die Sicherheitskontrolle war streng. Jeder mußte sich ausweisen. Die Namen standen auf einer Liste, die später verbrannt wurde. Walter Entlach saß an der Seite des Admirals. Neben ihnen die gesamte Crew der französischen Wettermaschine. Der Saal war voll von Forschern, Männern und Frauen, hohen Offizieren aus den USA und Rußland, China und Europa. Zivomir kannte kaum einen. Er hätte sich gern zu Walter gesetzt. Aber der Kurierflieger wurde von Wissenschaftlern eingekreist. Mit Rücksicht auf die vielen Ausländer wurde englisch gesprochen. Als die Saaltüren geschlossen wurden, trat Professor Gashley, der verknöcherte Engländer und weltanerkannte Kapazität der Meteorologie, nach vorn auf die Bühne.
»Ladys and Gentlemen. Die Lage ist ernst und nahezu hoffnungslos. Ost und West sind sich über den einzigen Schritt einig, der noch Erfolg verspricht. Soviel für jene unter Ihnen, die den Verhandlungen nicht beiwohnten. Genaugenommen waren es keine Verhandlungen, sondern das Sammeln und Auswerten von Daten und Informationen. Das Resultat ist so niederschmetternd, daß es keiner Verhandlung mehr bedarf. Denn es gibt keine Alternative. Wir haben das Einverständnis des Präsidenten der Europäischen Föderation, der Dreierführung der Sowjetunion, des Politbüros der KP Chinas, der Präsidenten der Vereinigten Staaten und Kanadas und der von Australien und Japan. Ich erlaube mir, diese Einsatzbesprechung mit einem Film zu beginnen, den die Wissenschaftler an Bord der französischen Wettermaschine aufgenommen haben. Der Crew gebührt jetzt schon Dank für ihre Einsatzbereitschaft. Ich befürchte, daß Sie alle nicht weniger strapaziöse Einsätze erwarten.« Der Film, streckenweise mit Infrarotaufnahmen vervollständigt, bedurfte selbst für Laien keiner Erklärungen. Der optische Eindruck war gewaltiger als die Wirklichkeit. Zu verschiedenen Details gab Dr. Mercier Meßdaten bekannt. Es lag nicht im forschenden menschlichen Wesen begründet, sich einfach mit Ereignissen abzufinden und sang- und klanglos unterzugehen. Denn durch die Eiszeit war viel mehr bedroht als die schon jetzt verschneiten Gebiete. Die gesamte irdische Zivilisation war in Gefahr. Die Randgebiete der Eiszeit würden sich in kalte Steppen und Tundren verwandeln. Zweihundert Millionen Menschen
allein aus Europa würden nach Süden aufbrechen. Die dort befindlichen Gebiete waren schon heute nicht in der Lage, sie aufzunehmen, viel weniger unter den sich auch dort verändernden Klimabedingungen. Trotz höchster technischer Entwicklung war es ausgeschlossen, wenigstens die Großstädte künstlich am Leben zu erhalten. Nördlich der Mittelgebirge drohte ein Energiekollaps. Noch vor Einbruch des astronomischen Winters würde die gesamte Versorgung hoffnungslos zusammenbrechen. Bis dahin wiederum konnte die eigentliche Eiszeitregion schon unter einer acht bis zehn Meter hohen Schneedecke liegen. Die Gefahr einer plötzlich hereinbrechenden Eiszeit war bereits binnen 48 Stunden nach Eintreten der extremen Wetterlage erkannt worden. Dr. Mercier hatte dann nur noch die Beweise geliefert und den Ursprungsherd ermittelt. Das erste eindeutige Zeichen waren weniger der Kälteeinbruch oder der sommerliche Schnee, sondern das rapide Absinken der Meeresoberfläche. Im Winterhalbjahr hätte dieser Vorgang gar nicht eintreten können, weil es an Sonnenenergie gemangelt hätte, die diese enormen Wassermassen aufsogen und als Schnee wieder abschüttelten. Im Winter war es auch deshalb unmöglich, weil der südpolare Zyklon nur unter winterlichen Bedingungen entstand. Der Winter im Norden entsprach aber dem Sommer im Süden. Faßte man die wissenschaftlich fundierten Resultate zusammen, ergab sich das Rätsel, woher die Indianer das seit undenklichen Zeiten wußten. Die letzte Eiszeit war vor zwölftausend Jahren
zurückgewichen. Die Indianer sprachen, daß die Zeit erfüllt sei bis zur nächsten. Die Indianer hatten auch prophezeit, daß die kommende Eiszeit nur im Sommer begann. Das hatte sie nun getan! Die Energie des riesigen Blizzard-Zyklons in der Antarktis erreichte nach den Berechnungen die Gewalt von weitaus mehr als zwanzig Wasserstoffbomben größter Intensität. Nach den Berechnungen der Atomphysiker sollte dieselbe Energiegröße ausreichen, den gewaltigen Wirbel zum Stillstand zu bringen und dadurch den Kaltluftstrom nach Norden abzureißen. Temperatur- und Wetterlage in der Antarktis wären dann zumindest so sehr aus dem Gleichgewicht geraten, daß die Natur in absehbarer Zeit keinen zweiten Zyklonwirbel aufbauen konnte. Damit kam man zum Thema. Der russische Marschall gab bekannt, daß seit 14 Tagen sowjetische, amerikanische und australische Flugzeugträger und Begleitschiffe auf der Fahrt in die Antarktis waren. Sie hatten atomare Sprengsätze und H-Bomben an Bord. Darüber hinaus befanden sich amerikanische und russische Atom-U-Boote auf Kurs ins südliche Eismeer. Sie konnten Raketen mit Atomsätzen abfeuern. Die Besatzungen der in Marsch befindlichen Flotteneinheiten hatten bisher keine Ahnung. Um das Auslaufen der Schiffe zu tarnen, wurden die Armeen der beteiligten Mächte in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Die einzigen Menschen dieser Welt, die wußten, welche Maßnahmen zur Rettung der Welt eingeleitet wurden, saßen zu dieser Stunde in diesem Raum. Weil sie keine Zeit mehr hatten, sofern das gigantische Unternehmen Erfolg haben sollte, starteten alle aktiv
Beteiligten noch an diesem Abend zu verschiedenen Stützpunkten in der Antarktis und ihren Randzonen. Welche speziellen Aufgaben dem einzelnen zufielen, war unterwegs festzulegen. Der russische Marschall hob noch einmal die absolute Geheimhaltungspflicht hervor. Besonders die Nationen der Dritten Welt hätten kein Verständnis für das angelaufene Unternehmen. An ihrem Veto würde in den UN das Vorhaben zuallererst scheitern. Der greise Glazialforscher Wegener beschrieb die zu erwartenden Folgen, sofern das Unternehmen gelang. In diesem Falle wurde sich binnen kurzem Radioaktivität ausbreiten, die im weltweiten Durchschnitt der »erlaubten Strahlungsbelastung« gefährlich nahekam, gemessen an den Vorschriften für den Betrieb von Kernkraftwerken und Kernforschungsstätten. Darüber hinaus käme es wahrscheinlich zu globalen atmosphärischen Störungen. Sie würden in erster Linie vom Verdampfen riesiger Eismassen des Südpols ausgelöst werden. Doch eben diese enorme Hitzeentwicklung war es, die den Kaltstrom abbrechen würde. Sturmfluten und Überschwemmungen nie dagewesener Ausmaße würden lokale Katastrophen heraufbeschwören, die viele Menschenleben und Sachwerte kosten konnten. Das alles aber sei immer noch erträglicher als eine jahrzehntausendelange Eiszeit, die am Ende die gesamte Zivilisation begraben würde. Die Wüstenregionen dieser Welt würden von der Eiszeit zweifellos profitieren. Aus der Zeit der letzten Eiszeit war bekannt, daß die Sahara ein immergrünender, regenreicher Garten war. Bereits jetzt erblühten die Ostsahara und die
arabischen Wüsten unter den Regengüssen der Ausläufer des Eiszeitwetters. Wegener wollte die politischen Konsequenzen besser gar nicht durchdenken, wenn sich Hunderte von Millionen Menschen auf den Weg nach Süden machen würden. Solche Völkerbewegungen ließen sich nicht einmal organisieren. Viel weniger wären die Länder der Dritten Welt bereit, diese Menschen aufzunehmen. Sie waren nicht einmal in der Lage dazu. Noch in diesem Jahr stünde ein dritter Weltkrieg ins Haus. Professor Gashley, anscheinend der heimliche Initiator des gesamten Unternehmens, trat nochmals vor. »Ladys and Gentlemen, die Möglichkeit eines Fehlschlages wage ich gar nicht ins Auge zu fassen. Schlimmer als es ist und die drohenden Gefahren erwarten lassen, wenn wir nichts tun, kann es aber kaum werden. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und Ihr Verständnis. Wir sehen uns um achtzehn Uhr am alten Abfertigungsgebäude des Flughafens. Wir haben bisher Presse und Fernsehen von uns fernhalten können, wir wollen es bis zum Abflug durchhalten.« Zivomir bemerkte, daß auch die Geheimdienste aus Ost und West mit von der Partie waren. Beim Verlassen des Saals, er ging schon auf Walter zu, tauchten zwei Begleiter auf. Walter bekam nur einen. Sie folgten ihnen auf Schritt und Tritt, ohne sie anzusprechen. Das tat dann Walter, als sie im Restaurant vergeblich nach ihren Frauen suchten. »Wollen Sie uns nach Hause begleiten, damit wir keine Selbstgespräche im Spiegel führen?« Plötzlich erhob sich in der Halle B ein mörderischer Krawall. Die Menge wartender Fluggäste umringte wie
eine Mauer einen Zeitungskiosk. Vor dem ertönte laut eine weibliche Stimme. Sie hielt in englisch Volksreden. Polizisten rammten sich in die Menschenmauer. Erste Blitzlichter von Fotografen flammten auf. »Um Gottes willen - Akria!« Zivomir rannte los. »Kommen Sie schon«, brüllte Walter die Geheimdienstler an und raste hinterher. Die Menschenmenge bildete einen Kreis um Kiosk und Akria, gegen den die paar Polizisten vergeblich anrannten. Was die Indianerin auf Englisch in die Menge schleuderte, war die reine Wahrheit! Ihre Stimme klang wie beim Weltuntergangsgesang eines Indianerstammes am Lagerfeuer. Ihr Gesichtsausdruck wechselte zwischen mystischer Verzückung und Zorn: über die erbärmlichen Lügen in der »Times«, die sie wie einen Zauberstab in der Hand wedelte. Denn die hatte sie lesen können! Katie schrie sie vergeblich an, sie solle aufhören. Durch den Tumult verstanden sowieso nur die Leute in den vorderen Reihen etwas. Andere rangen mit den Polizisten, denen es nach und nach gelang, die Menschenmauer zu durchbrechen. »Schießen Sie in die Luft, um Himmels willen!« herrschte Zivomir den Sicherheitsbeamten an. »Die müssen uns Platz machen! Sie ist meine Frau!« »Idiot«, fauchte der - und schoß und brüllte. Die Wirkung war ungeheuer. Kreischend stoben die Menschen auseinander. Die Polizisten zückten ihre Pistolen und ergriffen Akria und Karin. Zivomirs »Schatten« waren genauso schnell. Einer hielt den Polizisten die Marke unter die Nase. »Loslassen - die beiden sind festgenommen. Schaffen Sie hier wieder
Ordnung.« Die verblüfften Polizisten übergaben ihnen die Frauen. Sie rannten schon, um sich andere Opfer zu holen. Es gab genug, die ihnen Widerstand entgegengesetzt hatten. »Rufen Sie zwei Taxis«, schnauzte der Geheimdienstler Zivomir an. »Sie hätten sie lieber zu Hause lassen sollen.« Im Taxi wurde es ein bißchen eng. Walter und Karin folgten mit seinem Aufpasser im zweiten. Es war alles blitzschnell gegangen. »Wenn ich sie zu Hause gelassen hätte«, brummte Zivomir, selber ärgerlich über den Vorfall, »wäre sie womöglich schon im Schnee erstickt. So aber trägt sie dazu bei, vielleicht auch Ihr Leben zu retten.« »Sparen Sie sich jetzt die philosophischen Anwandlungen«, murrte der andere. »Wir wissen Bescheid. Das ist kein Grund, am Flughafen Volksreden zu halten. Wer rechnet auch damit, daß man euch vor euch selbst beschützen muß? Sorgen Sie dafür, daß sie das Haus nicht früher verläßt als mit uns zum Aufbruch.« »Was soll das eigentlich?« fragte Akria harmlos, denn die Unterhaltung war in Deutsch geführt worden. »Mylady, Sie sind hier nicht im Forum eines Indianerstammes«, erklärte der Sicherheitsbeamte respektlos auf Englisch. »Ihr Volk mag die Wahrheit vertragen, ohne in Panik zu geraten. Die Rassen der Weißen vertragen sie nicht. Haben Sie das nie gelernt? Je höher die technische Zivilisation, desto primitiver der Geist! Hier geraten die Leute schon in Panik, wenn mal die Zentralheizung ausfällt, wie erst, wenn sie erfahren, daß sie keine mehr brauchen?« *
Die Quartiere auf der Auckland-Insel waren einfach und ohne jeden Komfort. Australische Pioniere hatten ein Lager aus Baracken aus dem Boden gestampft. Bulldozer wühlten noch den Boden auf. Walzen plätteten die Erde, und Kräne legten Stahlplatten, um die vorhandene Startpiste für die schweren Bomber zu verlängern. An der Westküste lag ein Teil der amerikanischen Flottille vor Anker, darunter ein Flugzeugträger und zwei Atom-U-Boote. Der andere Teil mit dem zweiten Flugzeugträger befand sich auf Kurs Packeisgrenze. Bordhubschrauber mit langen Flugradien waren bereits aufgestiegen, um die Besatzungen der antarktischen Stationen bis hin zum Ross-Meer zu evakuieren. Soweit die nicht in der Region des unverändert tobenden Zyklon lagen, war die Aktion problemlos. Ein halbes Dutzend Stationen befand sich jedoch genau in der Sturmzone. Niemand wußte, ob ihre Besatzung noch am Leben waren. Seit Beginn des Blizzard-Zyklons war kein Lebenszeichen mehr nach außen gedrungen. Paulak und Jean erklärten sich bereit, mit der B-747 den Kranz des Zyklons zu durchfliegen, um die Besatzung der Station Knox herauszuholen. Sie lag genau im windstillen Zentrum des Zyklons. Während des dramatischen Wetterfluges hatten sie sie gesehen und sogar Funkkontakt. Zivomir hatte vorgeschlagen, die Knox-Station als Flugleitzentrum zu benutzen. Sie lag dafür ideal. Die einzuweisenden Bomber mit ihren Höllen-Lasten befänden sich alle auf einem Befehlsschirm. Das käme allerdings einem Himmelfahrtskommando gleich. Die Distanzen zu den geplanten Zero-Punkten waren zu
kurz. Die Detonationen zweier H-Sprengsätze, noch dazu in der Luft, reichten aus, die Station davonzublasen. Zivomir war die Aufgabe übertragen worden, die zwölf Atombomber in ihre Wurfpositionen einzuweisen. Die übrigen Fluglotsen überwachten Start, Landung und Flugrouten. Da es wegen des Unwetters unmöglich war, Kernsprengsätze am Boden zu justieren, wurden Raketen mit Atomsprengsätzen von den U-Booten aus ins Zielgebiet geschossen. Ein Vier-Sterne-General der Amerikaner und der sowjetische Marschall hatten gemeinsam das Kommando übernommen. Es war verblüffend, was für eine Einigkeit zwischen ihnen bestand. Die Ehefrauen machten sich im Versorgungswesen nützlich. Weil die Zeit drängte, lief der Betrieb rund um die Uhr. Drei Teams lösten sich regelmäßig ab. In den ersten zwei, drei Tagen klappte alles vorzüglich. Russen und Australier hatten sich auf der gletscherfreien Halbinsel von Heard-Island eingerichtet. Ihre Flotte wartete in der windgeschützten Corinthina-Bay auf den Befehl, die Anker zu lichten. Ihre Bomberstaffel hatte es bis zum Zyklon näher als die Amerikaner von Auckland. Australische Wetterflugzeuge waren ständig unterwegs, um jede Veränderung des gigantischen Blizzard-Wirbels zu registrieren. Seine Lage war die ganze Zeit bemerkenswert konstant geblieben. Bis zum Abschluß der Vorbereitungen nutzten die Wissenschaftler die Zeit, um den Grund zu erforschen. Es mußte irgendwie mit dem südlichen Magnetpolgebiet zusammenhängen. Denn die elektromagnetische Irrelation der Randgebiete des Zyklons war erstaunlich und für Wettergeschehen bisher
unbekannt. Die Flüge bezweckten vor allem, die Justierung der vierundzwanzig »Zero-Punkte« festzulegen. Auf dem antarktischen Kontinent war das besonders schwierig, weil Sturm und Geländeformationen Fallrichtung und Fallgeschwindigkeit der Bomben beeinflußten. Um so mehr, als der Eispanzer stellenweise über zweitausend Meter hoch war. Die Raketen der U-Boote waren einfacher zu placieren. Sie sollten auf dem Packeis niedergehen, das die Küste einschloß. Walter und Admiral Lemnitzer als sein Co-Pilot waren jeden Tag unterwegs nach Fort Lincoln in Süd-Australien, wo der Krisenstab die entgültigen Einsatzpläne ausarbeitete. Die Amerikaner hatten zu diesem Zweck speziell eine BFW-17 nach Auckland gebracht. Diesen Typ verwendeten sie selbst als Kuriermaschine. Zivomir übte zusammen mit Spezialisten täglich Sandkastenspiele an eiligst installierten Simuliergeräten. Das einzige Angenehme war noch das Wetter. Tagsüber stieg die Quecksilbersäule bis nahe zwanzig Grad, und täglich schien die Sonne. Daheim erreichten die Tagestemperaturen kaum fünf Grad, obwohl dort Hochsommer herrschte. Diese Erinnerung entschädigte sie für Unbequemlichkeiten. Es gab auch wenig Abwechslung. Wer Zeit hatte, saß nach Feierabend beisammen. Besonders gern hörten sie den indianischen Gesängen Akrias zu. Sie vermied es, Legenden zu erzählen. Der Zwischenfall am Frankfurter Flughafen, bei dem sie sich hatte hinreißen lassen, hatte sie gewarnt. Aus Europa und Nordamerika trafen nur spärlich Informationen ein. Während in Europa die vorrückende
Eiszeit mit Schnee und Dauerfrost an den Mittelgebirgen haltmachte, drang sie langsam, aber stetig auf den nordamerikanischen Kontinent vor und hatte Chicago, Detroit und Toronto die ersten Schneestürme beschert. Die Nordsüdrichtung von Rocky Mountains und AppalachenGebirge begünstigten das allmähliche Vordringen der Eiszeit nach Süden. Beim Abflug aus Europa hatte es in letzter Minute doch noch ein paar Zwischenfälle gegeben. Ein paar Reporter hatten, anscheinend durch Akrias Volksreden angeregt, herausbekommen, daß etwas im Gange war, das unter Ausschluß der Öffentlichkeit ablief. Allerdings bemerkten sie zu spät, daß die beiden Sondermaschinen vom alten, bereits außer Betrieb befindlichen Flughafengebäude abflogen. Das Rätsel, wer die sechshundert Personen waren, die mit den beiden B-747 abflogen, hatten sie natürlich schnell gelöst. Wissenschaftler verschiedener Metiers und hohe Offiziere aus aller Welt mit ihren Ehepartnern! Das Fernsehen konnte eben noch den Start im Bild festhalten. Die obligatorische Anfrage der Nachrichtenagenturen konnte der Regierungssprecher ruhigen und ehrlichen Gewissens beantworten. Es war nichts bekannt! Presse und Fernsehen waren auf Spekulationen angewiesen. Aber Fotos von Akria bei ihrer enthusiastischen Aufklärungsrede, von der kaum einer etwas verstanden hatte, gingen um die Welt: Eine Indianerin prophezeite in Europa den Weltuntergang durch Eis. Aus dem Kreis des makabren Kommandounternehmens tadelte sie deshalb niemand. Im Gegenteil. Noch unterwegs nach Süden versuchten manche, in sie zu dringen; um genauere Details indianischer Legenden zu
erfahren. Schließlich hatten auch Professor Gashley und Dr. Mercier davon gesprochen. Sie befanden sich in Fort Lincoln mit den Generälen und Marschällen, die den Einsatz leiteten. Nachdem die Meldungen eintrafen, daß die Evakuierungen der Antarktisstationen im Radius von tausend Kilometern um die Randregion abgeschlossen waren, gaben sie das Signal zum Auslaufen der Flotten. Offen blieb noch immer, ob und wie man an die sechs Stationen herankam, die mitten im Sturmgebiet lagen. Die Wartepositionen der Flugzeugträger befanden sich der Gefahrenzone näher als tausend Kilometer. Ihre Aufgabe bestand darin, notfalls die Besatzungen der Bomber so schnell wie möglich aus dem Eismeer zu fischen. Besonders kritisch war es für die Besatzungen der Maschinen, die ihre H-Bomben im antarktischen Hinterland abwerfen mußten. Sie hatten Order, sofort nach Abwurf auf Höhe zu gehen und Richtung Südpol zu fliegen. Der lag nur wenig mehr als zweitausend Kilometer entfernt. Die U-Boote hatten es am einfachsten. Nach Abschuß der Raketen aus sicherer Distanz von 1500 Kilometern tauchten sie weg und gingen auf Nordkurs. Nach Ausgabe des Befehls zum Auslaufen der Flotten flogen Professor Gashley und Dr. Mercier nach Auckland. Als dies bekannt wurde, bat Zivomir, den Flug der B747 zu begleiten, die die Knox-Station anfliegen sollte. »Du hast keine Ahnung, was dir damit bevorsteht, Zivo«, wich Jean Poisson aus. »Falls wir in Knox-Station eine Bruchlandung hinzaubern, fällt der wichtigste Fluglotse aus, und das Unternehmen Eiszeit ist im Eimer!«
Auch Paulak und Serney waren nicht begeistert. »Bildest du dir ein, ich würde eine einzige Maschine auf >Zero-Point< auch nur einweisen, solange ihr nicht von Knox-Station zurück seid?« protestierte er. »Du tust es aber, obwohl von den sechs Stationen im Sturmgebiet noch nicht ein einziger Mann geortet, geschweige denn gerettet werden konnte!« stellte der Franzose lakonisch fest. Genau das war das Problem, das alle seelisch belastete: Niemand wußte, was aus den Besatzungen der Stationen geworden war. Die Crew der französischen Wettermaschine war die letzte gewesen, die Lebenszeichen von zwei der Stationen empfangen hatte. Das war mehr als vierzehn Tage her. Bereits damals waren sie nahezu völlig im Schnee versunken. Gemessen an den schwachen Signalen der sonst starken Sendeanlagen der sowjetischen Stationen hatten sie inzwischen keine Energien mehr. Nach menschlichem Ermessen würden Suchtrupps nur noch Erfrorene vorfinden. Aber wer wußte das so genau? Das Dilemma war, daß bei den dort herrschenden Wetterverhältnissen am Boden kein Suchtrupp zu den Stationen vordringen konnte - und aus der Luft erst recht nicht. Der amerikanische Kommandeur, der sich auf dem Flug von Fort Lincoln nach Auckland befand, gab die ausdrückliche Genehmigung für Zivomirs Wunsch. Die Sandkastenspiele hatten ausgezeichnet geklappt. Deshalb müßte der Fluglotse die Wetterverhältnisse aus eigener Perspektive kennenlernen. Es war beabsichtigt, die Bomber über den Wolken fliegen und ausklinken zu lassen. Daher waren die persönlichen Erfahrungen des
Spezialisten bei Sicht des kritischen Luftraums ausschlaggebend. »Tut mir den Gefallen«, bat Zivomir nach dem Start des Luftgiganten - dieselbe Maschine der Lufthansa, die sie hierhergebracht hatte, »und fliegt denselben Kurs in der gleichen Höhe wie die Flugleitmaschine!« Paulak und Jean würden die mit Elektronik vollgestopfte Spezialmaschine vom Typ B-52, die das Flugleitsystem an Bord hatte, als Ersatzmannschaft begleiten. Sie sollten über dem ovalen Auge des Blizzard-Zyklons kreisen, bis die zwölf anfliegenden Maschinen auf Distanz und richtigem Kurs waren. Anschließend müßte die Maschine Nordkurs nehmen und auf 18000 Meter steigen, um das Wolkengebiet überquert zu haben, bevor die Bomben ausgeklinkt wurden. Siebzehn Minuten vorher sollten die U-Boote die zwölf Atomraketen abschießen, die bis zum Aufschlag etwas länger brauchten. Die beiden Piloten-Teams hatten diese Manöver jeden Tag einmal geübt. Jean und, Paulak hing es schon zum Halse heraus. »Ich weiß nicht, was du dir davon versprichst, Zivo«, murrte Jean. »Wir müssen elftausend Meter hoch, um über die Wolkendecke zu kommen. Wie sollen wir in dem Loch landen - im Sturzflug vielleicht?« »Warum nicht?« Zivo grinste. »Das Wetterauge hat an der schmalsten Stelle einen Durchmesser von rund fünfhundert Kilometern. Ist das nicht genug, um im Kreisverkehr spiralförmig hinunterzukommen?« Natürlich reichte das aus. Jean und Paulak hatten auf die zeitraubenden Manöver lediglich verzichten wollen. Die Geschwindigkeit des Jumbojets war hoch genug, um die
Orkanwirbel des Wolkenrings relativ gefahrlos zu durchqueren. »Wir hätten eine Stewardeß mitnehmen sollen«, maulte der Bordingenieur. »Wenn euch ein Steward genügt?« bot sich Zivomir amüsiert an. »Die Kaffeemaschine in der Kombüse kann ich auch bedienen.« In der riesigen leeren Maschine kam er sich verloren vor. Sie lag mittlerweile in zwölftausend Metern Höhe auf Kurs und überflog den Wolkenring des Zyklons. Ein bißchen schwappte der Kaffee über, als er die gefüllten Tassen von der Kombüse ins Cockpit brachte. Beim Servieren entschuldigte er sich für seine Ungeschicklichkeit. »Ungeschicklichkeit?« meinte der Bordingenieur. »Das passiert der besten Stewardeß, wenn die Maschine trotz Autopilot hundert Meter in die Höhe geschoben wird.« »Sagt das noch mal!« forderte Zivomir erschrocken. »Das ist ein ganz normales Ereignis«, sagte Jean seelenruhig. »Über dem Wolkenkranz schießt die Luft nach oben in die Stratosphäre. Ist doch logisch, daß der die Maschine mitreißt, erst recht bei dieser Ausdehnung!« »Um wieviel - insgesamt?« »Das ist verschieden«, antwortete Paulak. »Das war bisher jedesmal anders. Zwischen hundertfünfzig und vierhundert Metern. Und wenige Kilometer vor dem Auge reißt der gegensätzliche Stratosphärensog die Maschine wieder ein paar hundert Meter hinab. Das ist völlig ungefährlich. Man spürt kaum das typische Fahrstuhlgefühl.« »Ihr habt vielleicht Humor«, polterte Zivomir. »Von diesem Fahrstuhleffekt hat noch kein Mensch was gesagt!
Habt ihr eine Vorstellung, mit welcher Genauigkeit ich die Bomber in ihre Abwurfpositionen bringen muß? Vierhundert Meter, lieber Himmel! Laßt die Kommandomaschine im entscheidenden Augenblick gerade mal vierhundert Meter fallen, dann gibt das eine Höhendifferenz von achthundert Metern - fast ein Kilometer!« »Reg dich wieder ab, Zivo«, unterbrach Jean bissig. Er mußte ihm recht geben. An alles hatten sie gedacht, nur nicht daran. Beim Landeanflug nach Instrumenten entschieden schon wenige Meter über eine Katastrophe! Plötzlich kippte die Maschine über die Flügel ab. Die soeben noch unter ihnen dräuende Wolkenkulisse raste auf sie zu. Zivomir stürzte. Er hatte sich nicht festgehalten. Die Kaffeetassen klirrten und rutschten davon. Bevor größeres Malheur geschehen konnte, hatten die Piloten die Maschine wieder in der Gewalt. Sie war unverhofft direkt in den wasserfallartigen Luftsturz geraten, der aus der Stratosphäre über den geglätteten Wolkenrand in das Wetterauge stürzte. Das war so enorm groß, daß der gegenüberliegende Rand trotz der Polabplattung eben noch über dem Horizont erkennbar war. Um so deutlicher hoben sich elftausend Meter tiefer die bunten Bauten der KnoxStation vom Schnee ab. Dabei war auch sie noch zweihundert Kilometer entfernt. Mit steilen Spiralen in Linkskurve schraubten sie die Maschine hinab. Sie waren peinlich darauf bedacht, dem unsichtbaren Luftmassengefälle nicht mehr zu nahe zu kommen. »Braucht ihr noch einen deutlichen Beweis?« murrte Zivomir, während er wieder aufstand. »Sämtliche Bomber
müssen unbedingt vorher einen oder besser zwei Probeflüge durchführen. Ist Walter schon in Auckland gelandet, damit ich mit dem General sprechen kann?« »Keine Funkverbindung, Boy«, sagte der Bordingenieur. »Für UKW ist Auckland zu weit. Kurzwelle durchdringt das Wetter nicht, und ein Satellit, um senkrecht durch das Loch hinauszukommen, ist nicht in der Nähe.« »Wir haben in Auckland doch Kurzwellenverbindung mit Knox-Station?« Zivomir brannte die Feststellung auf den Nägeln. Die Zeit drängte. »Aber nicht so dicht am Rand des Wetters«, widersprach Jean. »Der Wetterwirbel ist hochgradig aufgeladen wie die Ionosphäre.« Zivomir mußte sich zufriedengeben. Er zog sich in die leere Passagierkabine zurück, denn bei der Landung konnte er nichts tun. Außerdem zog die Maschine steiler als gewöhnlich nach unten. Deshalb war es besser, wenn er saß und sich anschnallte. Das festgestellte Phänomen ging ihm im Kopf herum. Es war verantwortungslos, daß es bisher ignoriert wurde, obwohl man es kannte. Nicht einmal die australischen Wettermaschinen hatten ihm gebührende Bedeutung beigemessen. Achthundert Meter Differenz! Das bedeutete für die Zeitzünder der Bomben direkten Aufschlag und Detonation im Eis - oder gar keine! Die freiwerdenden Energien würden wesentlich mehr Eis schmelzen als berechnet, und die beabsichtigte Wirkung würde wirkungslos im Luftraum des Sturmgebiets verpuffen. Der Erfolg des ganzen Unternehmens Eiszeit stand und fiel mit der relativen Genauigkeit. Im Gebiet von Knox-Station war seit Beginn des
Zyklons keine Schneeflocke mehr gefallen. Die Helligkeit zur Mittagszeit genügte für eine Landung auf Sicht. Nahe am Polarkreis schaffte es die Sonne aber nicht, über die hochreichende ferne Wolkenwand zu steigen. Normalerweise konnte die Landepiste im Winterhalbjahr nur selten benutzt werden. Häufiger Schneefall und Verwehungen deckten sie zu. Gegenwärtig war sie frei, wie oft im Sommer nicht und vor Frost so hart wie Beton. Der Jumbojet hatte keine Schwierigkeiten, mit vollem Fahrwerk auszurollen. Die vierzigköpfige Besatzung wartete schon ungeduldig, abgeholt zu werden. Sie wußten seit Tagen, daß eine Katastrophe bevorstand, hatten aber keine Ahnung über den Charakter. Paulak und Jean drängten zur Eile. Die Briten wollten nicht nur ihr persönliches Gepäck mitnehmen, das verstaut werden mußte, sondern auch zahlreiche wertvolle Geräte. Das war nicht möglich. Der Chef der Station und einige Wissenschaftler waren maßlos verärgert. Die örtlich bedingte frühe Dämmerung brach schon herein, als der Jumbo endlich startete. Der Rückflug wurde wesentlich ungemütlicher. Aus dem Loch hinaus konnte die Maschine nicht genügend Höhe gewinnen, um den Wolkenkranz zu überfliegen. Sie mußte durch das nahezu tausend Kilometer breite Sturmunwetter. Paulak steuerte die Wand in Richtung des Wirbels an. Zuerst drückten die Fallwinde sie wieder in die Tiefe. Wenig später rissen die aufsteigenden Stürme sie in die Höhe. Solchen Belastungen war eine B-747 noch nie ausgesetzt gewesen. Zwei Stunden nach dem Start brach die Maschine aus
dem Sogbereich des Wetters und nahm Kurs auf Auckland. Es war längst Nacht. Und endlich konnte Zivomir Funkverbindung aufnehmen. Seine Feststellungen verschoben den ganzen Einsatzplan. Der General hielt es für wichtig genug, seinen russischen Kollegen noch einmal nach Fort Lincoln zu rufen. Zivomir flog mit, um mit den leitenden Fluglotsen der russischen Seite die Anflugwinkel vom Heard-Island neu zu berechnen. Kaum zurück auf Auckland, erhielten die Bomber Startbefehl zu einem Probeflug. Die Flugleitmaschine startete ebenfalls. Admiral Lemnitzer flog mit. Er übernahm bei dem Simulier-Einsatz die Rolle des Befehlshabers. Die Generalprobe klappte einigermaßen. Zivomir und seine Assistenten hatten Gelegenheit, die Abweichwinkel der Maschinen durch die Wetterwirkung genauer zu bestimmen. Ein paar Zwischenfälle waren unbedeuten: eine russische Maschine flog zu hoch, eine amerikanische klinkte vor Nervosität der Besatzung die Bombenattrappe zu früh aus, zwei Atombomber schlugen einen falschen Abdrehwinkel ein. Im Ernstfall wären sie direkt in den Detonationsbereich der Bomben ihrer Nachbarn geraten. Die Kommandomaschine wiederum hatte zu spät abgedreht. Passierte ihr das am Tage des Einsatzes, geriete sie mitten über das Inferno, das die Raketen der Atom-UBoote im Eismeer entfesseln würden. Noch während des Rückfluges der Maschinen zu ihren Ausgangsflughäfen befand sich der sowjetische Marschall auf dem Weg nach Auckland. Es stand schon fest, daß Tag X-Zero am 21. Juli, 22 Uhr Ortszeit sein sollte - das
entsprach ein Uhr morgens Ortszeit Auckland und 19 Uhr Ortszeit der Kerguelen. Der Countdown lief an, noch bevor die Maschinen alle zurückgekehrt waren. Genau einen Monat nach Entstehung des verhängnisvollen antarktischen Zyklons, der der nördlichen Hemisphäre eine Eiszeit bescherte, sollte er vernichtet werden. Ein denkwürdigeres Datum hätten sie kaum finden können. Es war noch kein Menschenalter her, seit an diesem Tag der erste Mensch den Mond betrat und damit zum erstenmal einen fremden Himmelskörper. Die damals hoffnungsvoll gekrönte Entwicklung drohte abrupt zu enden, wenn es nicht gelang, ausgerechnet am gleichen Datum mit den schrecklichsten meteorologischen Widerwärtigkeiten des eigenen Himmelskörpers fertigzuwerden! In der Nacht zum 21. Juli brachte kein Mensch ein Auge zu. Wer dienstfrei hatte, beobachtete aus respektvoller Distanz den Transport der sechs gewaltigen Superbomben zu den bereitstehenden Atombombem. Obwohl die ausgeflogene Besatzung der Knox-Station außerhalb des Camps untergebracht worden war, verfolgte auch sie das gespenstisch anmutende Manöver. Das war es allerdings nur psychologisch. Denn es lief alles mit nüchterner technischer Perfektion ab. Die Leute von Knox-Station waren entsetzt gewesen, als sie erfahren hatten, was das Unternehmen Eiszeit bedeutete. Nur wenige von ihnen hatten die Notwendigkeit durchschaut. Dank ihrer Arbeit, ihrer Routine am eisigen Südpol, versetzte sie das Wort Eiszeit nicht in Schrecken. Es bestand jedoch keine Gefahr, daß sie die Weltöffentlichkeit vorzeitig alarmierten.
Zivomir fand erst gegen Morgen Ruhe, als Akria vom Dienst kam. Die Indianerin nahm das alles gelassener hin. »Und trotzdem habe ich Angst«, gab sie zu. »Wir haben alles menschenmögliche getan, Akri, um jedes Risiko auszuschließen.« Zivomir drückte sie an sich in der Hoffnung, schneller einzuschlafen. »Um dich habe ich Angst«, flüsterte sie. »Du bist keiner von den weißen Göttern, die vor zwölftausend Jahren die letzte Eiszeit verjagt haben. Niemand ist es.« Zivomir schlief beruhigt ein. Wenn sie Zeit fand, sich in dem Trubel der letzten Tage der alten Mythen zu erinnern, mußte alles in Ordnung sein. Er schlief fest, bis er um zehn Uhr Ortszeit geweckt wurde. Die anderen hatten seinetwegen mit dem Frühstück gewartet. Es wurde in der Kantine eingenommen. An ihrem Tisch war außer Zivomir Jean Poisson der einzige, der mitflog. Walter Entlachs Aufgabe war am Tage X beendet. »Kommt mir wie ein Abschiedsessen vor«, murmelte er bedrückt mit vollem' Mund. »Mir wäre wohler, ich könnte dabei sein.« »Und ich?« brachte sich Karin in Erinnerung. »Mutest du mir zu, meinen Lebensabend auf dieser gottverlassenen Insel zu verbringen, falls dir etwas zustieße?« »Ich bin auch noch da«, sagte Akria prophetisch. »Wenn ich an die Cicaque und meinen Vater denke, bin ich überzeugt, daß die Götter mir wohlwollen. Bleib in meiner Nähe, und dir kann nichts geschehen.« »Macht es nicht so dramatisch«, begehrte Jean auf. »Die Götter der kanadischen Indianer haben am Südpol nichts zu sagen.« »Die Legende weiß es anders«, widersprach Akria. »Die
weißen Götter, die das Feuer setzten, um das Eis zu verjagen, waren andere Götter als jene Symbolfiguren, die unter hundert Namen von den Cicaque oder den Christen, den Muslims oder den Mayas angebetet werden. Es sind auch viele dabei umgekommen. Denn das Feuer schmolz das Eis, und mit dem Wasser kam die Sintflut.« »Diese Version erzählst du zum erstenmal«, wunderte sich Zivomir. »Abgesehen davon ist es doch das Ziel, solche Katastrophe einer ewigen Eiszeit vorzuziehen!« »Es ist der Anfang vom Ende der Legende«, sagte Akria weise. »Und es waren andere Götter. Ihr seid Menschen, und ihr macht das Feuer zu früh, viel zu früh!« Sie befanden sich nicht in der Stimmung, andächtig alten Mythen zu lauschen und sich kalte Wonneschauer über den Rücken rinnen zu lassen. Die nüchterne Technik, die harte Realität mahnte zum Aufbruch. Die Countdown-Uhren zeigten X minus 300 Minuten, als beim Anbruch der frühen Dämmerung der erste Atombomber mit acht dröhnenden Strahltriebwerken zur Startbahn rollte, gefolgt von den fünf anderen und der Kommandomaschine. Der zivile weiße Jumbojet der Lufthansa stand wie ein abschiednehmender Riese an seinem Platz neben der Piste. Die Russen starteten von Heard-Island genau eine Stunde später, obwohl es bei denen erst neun Uhr morgens Ortszeit war. Der Radius ihrer Maschinen war auch nicht ganz so groß. Das orgelnde Nachmittagskonzert der Technik verebbte allmählich über Auckland. Mit Ausnahme der Spitzenwissenschaftler und Militärs waren alle zurückgeblieben. Eine Stunde nach Mitternacht Ortszeit würden sie es sehen können.
Die sieben Achtstrahlsupermaschinen schraubten sich gemächlich auf Höhe. Bei dem klaren Wetter tauchten sogar die Küsten Neuseelands und Australiens auf, bevor sie auf Südkurs gingen. Sie mußten mit den russischen Maschinen, den UBooten und den auf Position befindlichen Flugzeugträgern fortan ständig in Kontakt bleiben. Es konnte keine Rücksicht mehr darauf genommen werden, ob Unbeteiligte die Funkgespräche abhörten. Nach der Schleife in Südrichtung übernahm die Kommandomaschine die Führung. Zivomir hatte zu tun, die ausschwärmenden Bomber in die richtigen Anflugrouten einzuweisen. Das setzte voraus, daß die Leitmaschine selber auf exaktem Kurs lag. Den beiden Kommandierenden schwitzten die Hände. Nie waren sich Russen und Amerikaner so einig gewesen wie diesmal. Die sechs U-Boote meldeten, daß sie ihre Planquadrate erreicht hatten. Verhältnismäßig ruhige Gewässer zwischen Treibeis begünstigten ihre Abschußpositionen. Der Kontakt mit den sowjetischen Bombern, die aus nordwestlicher Richtung anflogen, klappte reibungslos. Als die Kommandomaschine noch dreitausend Meter über den Wolken in das Wetterauge einflog, folgten ihr schon die beiden Maschinen mit der weitesten Anflugroute. Es war längst Nacht. Das anhaltende Unwetter blieb unsichtbar. Auf dem Radar zeichnete sich die automatische Flugkontrolle von Knox-Station ab. Sie war nicht abgeschaltet worden. Die Kommandomaschine begann 15 Kilometer über der Station zu kreisen. »X minus sechzig Minuten« zählte der Countdown. Jede Maschine hatte noch 55 Minuten bis
zum Zielgebiet. Die Physiker an Bord stellten die Zeituhren ein. Auf den Atom-U-Booten wurden die Sprengsätze der Raketen scharf gemacht. Es lief alles wie am Schnürchen. Die Kommandomaschine benötigte für eine Umkreisung der Knox-Station vierzehn Minuten. Auch das war genau berechnet. Nach zwei Umkreisungen blieben ihr 32 Minuten, um aus dem Gefahrenbereich zu entkommen. Niemand an Bord sprach ein überflüssiges Wort. Das infernalische Unternehmen grenzte angesichts der friedlichen Ruhe und der sternklaren Nacht, die in dieser Höhe herrschten, an Blasphemie. »Alle Maschinen sind auf genauem Kurs in vorgeschriebener Höhe und Geschwindigkeit«, las Zivomir mit Seitenblick auf die Uhr von seinen Instrumenten ab. »X minus 33 Minuten«, sagte der amerikanische General düster. »Von jetzt an können wir nur hoffen, daß alles weiterhin so planmäßig abläuft.« »Wir gehen auf Nordkurs und steigen bis 59000 Fuß«, meldete Paulak. Seit Einflug über das Wetterauge hatte er mit Jean das Steuer übernommen. Der Marschall setzte sich mit den U-Booten zwecks Zeitvergleich in Verbindung. Der Countdown für den gleichzeitigen Abschuß der Raketen lief siebzehn Minuten früher. Trotz mehrfacher Schallgeschwindigkeit brauchten die Geschosse diese Zeit bis zum Aufschlag. Der Zeitvergleich ergab, daß alle Uhren auf die Minute genau und unabhängig von Ortszeiten gingen. Fünfzehn Minuten später erreichte die Kommandomaschine die maximale Flughöhe von 18000 Metern. Mit 1,7 Mach raste sie - ihrem eigenen Schall
voran - Richtung Norden, um der Gluthölle zu entgehen, bevor sie sich auftat. Der Fluglotse Zivomir Panalowitsch registrierte prompt die Rotverschiebung der Ortungsfrequenzen zu den zwölf Bombern. Die Instrumente waren so hochgradig feinjustiert, daß sich die fast zweifache Schallgeschwindigkeit sofort bemerkbar machte, zumal sich die anderen Maschinen in entgegengesetzten Richtungen gleichfalls mit Schallgeschwindigkeit entfernten. Ohne Computer hätte er ihren Kurs aus den schnell größer werdenden Distanzen kaum genau verfolgen können. Es war beruhigend, daß keine Kurskorrekturen erforderlich wurden. Größere Abweichungen wären in der verbleibenden kurzen Zeit problematisch geworden. Die Zeiger der Countdown-Uhren liefen unbeirrbar weiter. »X minus 1080 Sekunden, gleich X minus sechzig«, setzte sich der sowjetische Marschall mit den U-Booten in Verbindung. »Vollzugsmeldung nach Abschuß, wie befohlen. Wir haben Sie nicht auf dem Radar!« Die U-Boote befanden sich auf Tauchstation. Deshalb konnte die Maschine sie nicht orten. Aufgetaucht war ein Abschuß von Raketen nicht möglich. Sie mußten mit Preßluft wie Torpedos ausgeschleudert werden und zündeten die Triebwerke erst bei Durchstoßen der Wasseroberfläche - hoffentlich. Würde ein U-Boot Raketen aufgetaucht abschießen, zögen die Flammengluten der Triebwerke das ganze Schiff in Mitleidenschaft - vom Schalldruck ganz zu schweigen. Der Russe zählte die letzten Sekunden laut mit. Die Funkgeräte waren auf die Signale der U-Boote justiert.
Dann flammte ein rotes Lämpchen nach dem anderen auf: Die Raketen waren abgefeuert, der Höllentanz begann. Mit geringfügigen Verzögerungen trafen die Meldungen ein: »Admission.« Die Raketen hatten die Wasseroberfläche durchstoßen und gezündet. Sie waren unterwegs. »Habe sie alle auf dem Radar«, meldete der Beobachter, dessen Aufgabe es war, die Flugbahnen zu verfolgen. »Bis jetzt alles einwandfrei. Funksignale korrekt. Aggregate ohne Störungen voll in Funktion.« »Hoffentlich hat keine Kurs auf uns«, rief Paulak über Bordsprechfunk. »Wäre höchst unangenehm, von einer Atomrakete abgeschlossen zu werden.« »Unsere Maschine befindet sich anscheinend im unteren Grenzbereich des Kaltluftstroms«, meldete der Bordingenieur. »Wir werden allmählich schneller, als ob der Antarktis-Jetstream uns schiebt.« »Kann nur von Vorteil sein«, murmelte der General. »Um so weiter sind wir von den Zero-Points weg.« Ihm stand im Gesicht geschrieben, wie wenig ihm der Einsatz behagte. Im Gegensatz dazu drückte die Miene des Russen Begeisterung darüber aus, mit welch hervorragender Perfektion das Unternehmen ablief. »Raketen einwandfrei auf Kurs«, meldete der Beobachter kurze Zeit später. »Triebwerke sind ausgebrannt. Raketen erreichen Gipfelpunkt.« »X minus 960«, gab Zivomir bekannt. »Noch elf Minuten bis zum Ausklinken. Alle Maschinen auf Kurs. General: Wollen Sie den Countdown für den Abwurf übernehmen?« »O. k.« Der Amerikaner wechselte den Platz. Auf dem großen Radarschirm hatte er die zwölf Punkte der
Maschinen. Er betätigte das Funkgerät. Wegen der Störungen durch die starke Ionisierung bestand nur UKWKontakt. »This is General McWaugham speaking .« Innere Aufregung und Spannung an Bord steigerten sich rapide. Man konnte es förmlich spüren. Zwölf AtomRaketen mit H-Sprengköpfen waren seit sieben Minuten unterwegs. In fünf Minuten mußten die Bomber ihre vernichtende Ladung auskippen. Trotz aller Begeisterung über den präzisen Ablauf der technischen Maschinerie, die jeden Organisator in Faszinationstaumel versetzen mußte, bekam mancher Skrupel. War das Unternehmen Eiszeit überhaupt zu verantworten? »Noch 120 bis Abwurf«, sprach der General monoton ins Mikrofon. »Vollzugsmeldung nach Abwurf. Nach Ausklinken sofort auf 52450 Fuß und 1,7 Mach!« Andere Mittel als die Sonnengluten gab es sicherlich nicht, um die begonnene Eiszeit wieder rückgängig zu machen. Hätte es trotz Eiszeit nicht vielleicht doch andere Möglichkeiten gegeben, um zu überleben? » . five - four - three - two - one - put - off!« Die Stimme des Generals klang heiser. Niedergeschlagen, fast schon demoralisiert winkte er Zivomir. Er sollte die Kontrolle wieder übernehmen. Der General achtete nicht einmal mehr auf die eingehenden Vollzugsmeldungen. Bis auf einige Sekunden Differenz hatte alles planmäßig geklappt. »Wir haben 1,9 Mach«, meldete der Bordingenieur. »Wir verlassen den Gefahrenbereich früher als geplant.« Niemand sagte: Um so besser. Die U-Boote waren tiefer weggetaucht und mußten ihre Antennen einziehen. Die Raketen befanden sich auf Fallkurs und durchstießen die
Wolkendecke. »An alle!« funkte Zivomir die Maschinen an. »Auf Kurs gehen, Autopilot einschalten, Schutzbrillen anlegen, Gehörschutz aufsetzen - noch 60 Sekunden!« An Bord der Kommandomaschinen trafen sie dieselben Sicherheitsvorkehrungen. Die beiden Bordfunker suchten Kontakt zu den Flugzeugträgern, um dieselbe Warnung durchzugeben. »X minus 30«, rief Zivomir über UKW. Ihm wurde unheimlich zumute bei dem Bewußtsein, daß in wenigen Sekunden ein Inferno über den friedlichsten aller Kontinente dieser Welt hereinbrach - der friedlichste, der die tödlichste Waffe gegen die Menschheit geschleudert harte: Eiszeit! Es war seine Aufgabe, über Kurzwelle und UKW den Zero-Countdown mitzuzählen. Die Maschine näherte sich den Randausläufern des Wolkenkranzes sieben Kilometer darüber. Sein Blick klebte trotz Schutzbrille auf den Uhren. Aber seine Gedanken und seine Gefühle gerieten in Turbulenz. »Twelve!« Es kam ihm vor, als sei er allein auf der Welt, er und Akria. Warum mußte sie ausgerechnet jetzt so weit weg sein von ihm? »Eleven!« Seine Frau und sein Sohn gehörten zu den ersten Opfern dieser verdammten Eiszeit. Er wollte zu Akria, um mit ihr zu überleben. »Ten!« Die größte Dummheit war, das Funkgerät nach Kanada mitzunehmen. Kein Mensch hätte ihn benachrichtigen können. Mit Akria und den Cicaque nach Süden zu ziehen und nichts zu wissen, wäre besser gewesen. »Nine!« Vielleicht war alles nur ein Traum, und er
wachte gleich auf - in der Hütte am Cree-Lake, in den Armen der Indianerin? »Eight!« 24 Wasserstoffbomben - die konnten Erdbeben und Flutwellen hervorrufen, ja die Welt zerreißen. Warum hatte er nicht darauf bestanden, Akria auf diesem Flug mitzunehmen? »Seven!« Wenn alles gutging, wollte er den Dienst quittieren und mit ihr nach Kanada zurückkehren - mit ihr, der einzigen überlebenden Cicaque? »Six!« Sollte ihm und der Kommandomaschine etwas zustoßen, hätte sie keinen Menschen mehr auf dieser verfluchten Welt. »Five!« Merkwürdig, daß die Indianer über bevorstehende globale Naturerscheinungen so genau Bescheid wußten! Die Bibel, das angeblich prophetischste Buch, sagte darüber kein Wort. »Four!« Jeden Augenblick ging die Hölle auf, und Akria war allein, ohne ihn, und er war daran beteiligt. »Three!« Im selben Moment war in der Maschine alles taghell. Der Lichtcounter flammte auf und schnarrte. Die erste H-Bombe war drei Sekunden zu früh . »Two«, zählte er weiter, wegen der Kürze der Zeit sowieso noch nicht imstande, die vorzeitige Detonation geistig zu verarbeiten. »One!« Es war und blieb hell. Der Counter registrierte fünf Detonationen - tausend und mehr Kilometer hinter ihnen. »Zero!« Die Lichtorgie blendete sogar durch die Schutzbrille, obwohl man in die entgegengesetzte Richtung blickte. Augen schließen und Hände davor! Der Counter erfaßte dreizehn Detonationen gleichzeitig. Angesichts der sich öffnenden Hölle war die Stille
beängstigend. Das leise Sirren der acht Strahltriebwerke, die durch die Metallvibrationen übertragen wurden und kaum hörbares Summen und Klicken der Meßgeräte waren die einzigen Geräusche. In den folgenden drei Sekunden blitzten die fehlenden fünf H-Bomben auf. In allen Funkbereichen herrschte Stille. »Wir haben 2,1 Mach drauf«, meldete der Bordingenieur. »Im Cockpit ist es so hell, daß man trotz Schutzbrille Zeitung lesen kann!« »Bis uns Luftschock und Fallout einholen, falls überhaupt«, sagte Dr. Illing, der schwedische Physiker, heiser, »sind wir längst über Australien.« »Schalten Sie durch auf Alpha-Frequenz an alle«, forderte der General. Er war leichenblaß. Vielleicht lag es nur am fortdauernden weißen Licht der vor Sekunden detonierten Sprengsätze? »Hier spricht General McWaugham an alle Luft- und Flotteneinheiten. Das Experiment ist durchgeführt. Ob es Erfolg hat, wird sich zeigen .« Niemand an Bord der Kommandomaschine wußte, ob sie überall empfangen wurden. Die Radarkontakte zu den zwölf Flugzeugen waren unterbrochen. Die energetische Supereruption absorbierte alle elektromagnetischen Wellen. Auf Auckland wurden sie gehört. Seit der Zählung X minus 30 standen alle Bewohner des Camps draußen in der sternklaren, kalten Nacht und schwiegen. Walter Entlach und Karin wichen nicht von Akrias Seite. Die Indianerin benahm sich etwas merkwürdig. Sie blickte ausdruckslos und mit der Miene einer in Stein gehauenen Göttin nach Südwesten.
Obwohl die zu erwartenden Lichtblitze auf die über dreitausend Kilometer Entfernung gedämpft genug sein dürften, setzten viele Sonnenbrillen auf. Die Leute der Knox-Station benutzten ihre noch stärkeren Schneeschutzbrillen. Zuerst flackerte es nur schwach am Horizont. Ohne die Zählung hätte man es für einen Irrtum halten können. Doch Sekunden vergingen schnell. Der flache bläuliche Lichtschein blieb. Plötzlich ging die Sonne auf - so sah es aus. Es wurde so hell wie bei einsetzender Dämmerung im Winter. Zuckende weiße Flecken verrieten, wo die H-Bomben explodiert waren. Der gesamte südwestliche Horizont war weiß, dann stechend blau und färbte sich nach und nach in ein gruselig anmutendes, teuflisches Hellrot. Während dieser Verwandlung traf die Botschaft des Generals ein. Sie wurde über Lautsprecher mitgehört. Die Sterne waren verblaßt. Der dämmrig blaue Himmel sah ekelerregend schmutzig aus. Das Schauspiel spiegelte sich im verhältnismäßig ruhigen Ozean wider. Kein Mensch wich von seinem Beobachtungsplatz. Viele nahmen ihre Brillen wieder ab. Die Gefahr einer Blendung war vorbei. Niemand sprach ein Wort, auch nicht, als die Stimme des Generals aus der über dreitausend Kilometer entfernten Kommandomaschine erstarb. Akria streckte sich auf einmal stumm. Sie deutete zum brennenden Horizont. Die Meereskimme sah aus, als ob sie glühte. »Was ist das?« flüsterte Karin erstaunt. Über dem Feuermeer bildete sich ein weißer Schlauch. Ein nebelhaftes Gebilde in der Form der wandernden Trombe eines Tornados schraubte sich in die Stratosphäre.
Am unteren Rand nahm es blutrote und violette Färbung an. Im gleichen Augenblick bebte der Boden unter ihren Füßen. Dumpfes Grollen drang aus der Erde. Die Luft erzitterte, daß es in den Ohren weh tat. Zwei, vielleicht drei, vielleicht fünf Minuten waren seit dem ersten Lichtblitz vergangen. Wer wußte das so genau? Das Erdbeben dauerte nur Sekunden. Es richtete keinerlei Schaden an. Die ersten Beobachter verließen ihre Posten. Das Schauspiel war vorbei. Der hellrote Horizont und die ungewohnte, schon nachlassende Helligkeit erinnerten noch daran. Der merkwürdige Tornadoschlauch schraubte sich allmählich über den Horizont entlang. Seit die Stimme des Generals verklungen war, breitete sich eine satanisch anmutende Stille aus. Bis der Detonationsschall eintraf und dann zweifellos so sehr gedämpft, daß er keine Gefahr mehr bedeutete, würden fast drei Stunden vergehen. »Das Meer«, rief Akria plötzlich erschrocken. »Seht doch, das Meer!« In dem mittlerweile gleichbleibenden dumpfroten Licht sah es gespenstisch aus. Das Wasser floß rauschend mit irrsinnigem Tempo ins Meer hinaus. Die Menschen schauten dem Schauspiel fassungslos zu. Alles leuchtete nur noch rot - erschreckend rot. Und am Horizont schraubte sich der mysteriöse Wolkenschläuch immer weiter den Horizont entlang, hinter dem sich sein Anfang in der Dunkelheit verlor. »Ich gehe in die Funkstelle«, sagte Walter. »Die müßten inzwischen Kontakt mit anderen Maschinen haben.« »Wir kommen mit«, entschied Akria. »Wir müssen jetzt zusammenbleiben.«
In der Funkstation, dem Gebäude der früheren Wetterstation, herrschte Hochbetrieb. Die Einsatzfrequenzen wurden überlagert von starken atmosphärischen Störungen. Die Verbindung mit der Kommandomaschine war keinen Augenblick abgerissen. Sie flog mit 2 Mach in noch 17 Kilometern Höhe nach Ost-Nordost, um mit großer Einflugkurve in etwa dreieinhalb Stunden zu landen. Akria atmete tief durch, als sie das hörte. Walter hätte viel darum gegeben zu wissen, was sie dachte. So versteinert hatte er ihr hübsches Gesicht nie gesehen. Mit zwei der vier nach Auckland-Island zurückkehrenden Maschinen bestand ebenfalls bereits Kontakt. Zwei andere flogen weiter zur Südpolstation. Plötzlich drang der SOS-Ruf auf Notfrequenz eines Flugzeugträgers durch. Der operierte auf Höhe des AdelieStreifens, kaum 600 Kilometer vom äußeren Rand des Zyklons im Eismeer. Eine gigantische Flutwelle näherte sich mit rasender Geschwindigkeit! Der ihr vorangehende Sog sei so stark, daß sogar das Riesenschiff Steuerschwierigkeiten hatte. Aufgelassene Meßballons wären bereits von der schallschnellen Druckwelle erfaßt und vernichtet. Meßdaten verrieten eine unglaubliche Hitzewelle und Blackout von mindestens vierfacher Intensität als berechnet. Nur Minuten später traf der Ruf des sowjetischen Kreuzers ein, der in Höhe des Amery-Shels operierte. Eine hundert Meter hohe Flutwelle hatte ihn überschüttet. Pures Glück und geschickte Steuermanöver hatten sein Kentern verhindert. Das Eismeer kochte. Die Natur brüllte. Der Sturm überstieg alle vorstellbaren Maße. Die Radioaktivität war tödlich hoch. Der ersten Druckwelle
entging er offenbar bei dem unfreiwilligen Tauchmanöver. In den folgenden Minuten überstürzten sich die Meldungen. Der Orkan trieb hochgradig radioaktiven Schnee mit sich. Die Flutwelle aus kochendem Wasser schwemmte gigantische Eisberge mit sich. Ihre Geschwindigkeit betrug rund dreihundert Meter in der Sekunde - in der Sekunde! »Die kommt hierher«, sagte Walter nüchtern. »In der einen Stunde hat sie kaum an Intensität verloren. Warnt alle Küstenstationen. Ich brauche ein paar Freiwillige, die mir helfen, den Jumbo startklar zu machen.« »Den was?« begehrte der Captain auf, der den Funkbetrieb leitete. »Was soll das heißen? Von einer Evakuierung der Insel ist nichts im Plan .« »Führen Sie das Kommando?« fauchte Walter. »Sie tun es nicht! Die Maschine ist groß genug für alle!« »Das ist purer Unsinn«, begehrte der andere auf. »In drei Stunden kehren die Bomber zurück.« »In längstens anderthalb Stunden ist die Flutwelle hier. Wenn die auch nur halb so hoch ist wie augenblicklich, überspült sie die ganze Insel wenigstens zehn Meter. Wer will dann wo landen?« Das leuchtete dem Nachrichtenoffizier ein. »Können Sie überhaupt eine B-747 fliegen?« »Lassen Sie das meine Sorge sein. Warnen Sie inzwischen die Küstenstationen auf Neuseeland, Tasmanien und Australien.« »Wir sollten vorher die Genehmigung des Commanding General einholen«, hielt der Captain ihn noch einmal auf. »Mit der Kommandomaschine haben wir Funkverbindung.« Walter stand schon in der Tür, um ins Logis der Piloten
zu eilen. »Geben Sie über Lautsprecher bekannt, daß die Leute binnen dreißig Minuten an Bord gehen sollen. Nur das Allernotwendigste mitnehmen! Ich lasse mir von keinem General vorschreiben, ob ich leben darf oder nicht. Die Druckwelle ist nämlich noch ein bißchen früher da.« »Was ist denn hier für ein Theater?« platzte Admiral Lemnitzer herein. In der sich steigernden Aufregung hatte keiner daran gedacht, daß der Marine-Offizier das Kommando führte. »Lassen Sie es sich von ihm erklären«, schnauzte der Flugkapitän und war draußen, gefolgt von den beiden Frauen. Sie hingen wie Kletten an ihm. Es war wieder völlig dunkel geworden. Ein winziger heller Streifen am Horizont konnte genauso gut Einbildung sein. Von den Geräuschen im Lager abgesehen herrschte Totenstille. Keine Brandung, kein Lüftchen regte sich. »Der Himmel«, sagte Akria und blieb abrupt stehen. »Die Sterne sind weg!« Walters Schritt stockte. Er schaute nach oben. Trotz der Lampen waren die Sterne immer zu sehen. Eine Wolkenschicht - na und? Anderes Wetter war längst überfällig. Es ärgerte ihn, sich von Akrias Gespenstermalerei beeindrucken zu lassen. »Bitte, geht und holt unsere Sachen«, bat er. »Ich hole die anderen. Wir haben nicht viel Zeit.« »Attention - eine Durchsage«, blökte in dem Moment der große Lautsprecher durchs Camp. »Der Wartungsdienst sofort zum Jumbo der Lufthansa!« Walter stürzte in die Baracke der Piloten. Flugkapitän und Co-Pilot des Jumbo befanden sich als Ersatz-Crew an Bord irgendeiner B-52, die in drei Stunden hier wieder
landen sollte. Doch der Bordingenieur saß im Gemeinschaftsraum mit Leutnant Serney und zwei Flugzeugmechanikern der US Air Force. Sie pokerten. Wie ein Wasserfall sprudelte Walter heraus, was ihn bewegte. Der Franzose begriff sofort. Der Bordingenieur zögerte skeptisch. Die Mechaniker maulten wegen der Unterbrechung des Spiels. »Wissen Sie, was es heißt, einen Jumbo in die Luft zu bringen, Captain? Das ist keine BFW-17!« »Wissen Sie, was es heißt, von einer Flutwelle überspült zu werden, die vor einer Viertelstunde noch hundert Meter hoch war?« schnauzte Walter. »Ich persönlich kann die BFW-17 allein steuern, nehme meine Frau mit und die meines Freundes und komme damit bis Australien. Und die anderen hier?« »Hm, auf Ihre Verantwortung!« Der Ingenieur erhob sich schwerfällig. »Ich nehme meinen Kleidersack am besten gleich mit.« »Zum Teufel mit Verantwortung, wenn wir hier absaufen!« Walter fand selbst keine Erklärung, weshalb er so erregt war. Lag es an dem merkwürdigen Verhalten der Indianerin? »Sollten wir nach dem Start ins Wasser fallen, haben wir Pech gehabt.« »Was soll's, es ist ja der Stille Ozean, in den wir purzeln würden«, sagte Serney sarkastisch. Er war der erste unterwegs nach draußen zur Maschine: Sie einmal geflogen zu haben bedeutete nicht, daß man mit ihr umgehen konnte! Im Lager herrschte Nervosität. Karin und Akria, jede mit zwei großen Koffern bewaffnet, eilten über die Startbahn zum entfernt stehenden, voll beleuchteten Jumbojet. Admiral Lemnitzer hatte schon Anweisungen im Sinne
Walters getroffen. Walter und die Frauen begegneten sich auf halbem Weg. An diesem notdürftigen Feldflugplatz der sonst unbewohnten Insel gab es keine Fahrzeuge wie auf dem Rhein-Main, mit denen die Passagiere vorgefahren wurden. Es gab nicht einmal eine Gangway, Man mußte die Leitern hinaufsteigen. »Übernehmt die Kombüse, dann habt ihr was zu tun«, empfahl er den beiden. »Die Maschine wird voll. Wir brauchen Stewardessen.« Die Frauen waren einverstanden. In den Vorratsschränken befand sich nur Kaltverpflegung. Aber sie fanden sinnvolle Beschäftigung, die sie eine Zeitlang von den drohenden Gefahren ablenkten. Die Teams der militärischen Flugzeugwarte untersuchten den Koloß, so gut es ging. Der Bordingenieur überprüfte die Instrumente und gab Serney und Walter Schnellunterricht für den Betrieb der Maschine. Schon nach zwanzig Minuten ließ sich der Admiral blicken. »Sie rollen die Maschine nachher dicht ans Camp, um die Startbahn voll auszunutzen. Ich habe Anweisung« gegeben, die Maschine vollzutanken.« »Wo wollen wir denn hinfliegen?« amüsierte sich Serney. »Nach Hawaii?« »Mit vollen Tanks würden wir das gerade schaffen«, sagte der Ingenieur. »Wieviel Zeit haben wir noch?« »Fünfzig Minuten«, erwiderte der Admiral. »Die Wetterstation von Macquarie-Islands meldete vor wenigen Minuten, daß die Funkbojen in der Treibeiszone, rund zweihundert Kilometer westlich, bereits ausgefallen sind. »Das sind sechshundert bis Macquarie, also kaum achthundert bis hier«, stellte der Franzose fest. »Also,
Walter! Noch einmal das Simulierspielchen!« Die Nervosität im Camp steigerte sich. Inzwischen war der Plan bekanntgegeben worden. Die beängstigende Stille der Natur beruhigte die Nerven nicht gerade. Die Kommandomaschine hielt inzwischen Nordostkurs. Als der General von der Gefahr für Auckland-Island erfuhr, bat er um Landeerlaubnis in Melbourne. Der Jumbo sollte den gleichen Kurs nehmen. Zwei der fünf amerikanischen Atombomber, die nach Auckland-Island zurückkehren sollten, erhielten Order, zur amerikanischen Antarktis-Station McMurdo auszuweichen. Die anderen mußten zusehen, daß sie es bis Neuseeland schafften. Mit den Flugzeugträgern bestand kein Funkkontakt mehr. Auch die russische Flotte schwieg. Die U-Boote waren noch nicht wieder aufgetaucht. In der Welt war bereits der Teufel los. Niemand wußte bisher, was wirklich geschehen war. Die Erdbeben hatten sich strahlenförmig über die ganze Erde ausgebreitet. Ernsthaften Schaden hatten sie nirgends angerichtet. Seismographische Stationen, die darauf spezialisiert waren, vermuteten sofort überirdische Kernwaffenversuche. Sie zu lokalisieren fiel allerdings schwer. Denn auf die Antarktis kam so schnell kein Mensch. Die Funkgespräche waren ebenfalls abgehört worden. Da aber zu keiner Zeit geographische Details genannt worden waren, wußte niemand genau, woher sie stammten. Helle Köpfe tippten auf großangelegte Flottenmanöver im Süden. Funk und Fernsehen verbreiteten kurze Meldungen. Für Berichte und Pressekommentare war es noch zu früh. In der nördlichen Hemisphäre stritt man sich mehr um das
Wetter-Phänomen. Da die bisher wortführenden Wissenschaftler nirgends aufzutreiben waren, gaben andere ihre Meinung offen kund: Die Welt war von der Eiszeit bedroht! Die gesuchten Forscher kletterten über Leitern an Bord der B-747. Es war 3.15 Uhr morgens Ortszeit. Vor dreißig Minuten hatte die Funkstation Macquarie mitgeteilt, daß ein mörderischer Sturm über die Insel aus Südwest hinwegjagte. Die Ausläufer der Schockwelle. Zehn Minuten später brach sich mit ohrenbetäubendem Lärm eine fünfzig Meter hohe Flutwelle an den felsigen Klippen. Das Eiland, auf dem die Station stand und wesentlich höher lag, war übersät mit Eisbrocken. »Fertig?« rief der Admiral. »Alle an Bord?« Die Flugzeugmechaniker schlossen die Schotten. »Achten Sie auf die Kontrollampen«, mahnte der Bordingenieur. »Alle Schotten dicht! Druckausgleich. Geben Sie gebremst Vollschub auf alle vier Düsen gleichzeitig. Jetzt nicht mehr aus der Ruhe bringen lassen. Startklappen aus! Scheinwerfer an!« Die Anweisungen liefen wie am Schnürchen. Walter war ganz ruhig. Er konzentrierte sich nur auf das Instrumentensystem. Kein Gedanke an Karin und Akria, keiner an Zivomir, das Experiment, die Eiszeit . Die Maschine zitterte, als ob sie spürte, von ungeübten Händen bedient zu werden. Die vier Düsentriebwerke brüllten. »Wir starten«, befahl der Bordingenieur seelenruhig. »Bremsblock los. Tun Sie ganz so wie in Ihrer Wettermaschine und der BFW.« Serney hatte Herzklopfen. Er grinste Walter verlegen an. Die Maschine rollte in die Nacht.
In der Kombüse saßen sich Karin und Akria angeschnallt gegenüber. Wenn es nicht so tödlich ernst wäre, würde Karin lautlos lachen. Sie als Stewardeß mit einer Indianerin als zweiter Stewardeß in einem Jumbojet, ihr Mann der Co-Pilot. Und der hatte genauso viel Ahnung wie der französische »Flugzeugführer«. Sie studierte das Gesicht der Indianerin. Es sah gelöster aus als bisher. Die dunklen Augen blickten anscheinend durch Karin und alle Wände hindurch. Sie machte eher den Eindruck einer Göttin. Karin klammerte sich fest. Sie spürte, was sie nicht sah. Der Boden lag schräg. Die Maschine schwebte. Sie stieg. Karin war zum Heulen zumute. Die Maschine raste in den Himmel. Sie schüttelte sich ein bißchen, aber sie stieg. Karin löste die Haltegurte und stand auf. Als Passagier dürfte sie das nicht. »Akri - he - wir fliegen!« Die Indianerin erwachte wie aus einem Traum. Sie verließ die Kombüse, die beim Jumbo in der Mitte lag, und trat in einer leeren Sitzreihe ans Fenster. Die Kabinenlichter waren gedämpft. Draußen war nichts zu sehen. Und doch war etwas zu sehen. Tief drunten, winzig klein, leuchteten die Lichter des verlassenen Camps. Die Maschine beschrieb zwangsläufig eine riesige Schleife nach Osten, um auf Nordwestkurs zu gehen. Ein Gong ertönte, dann noch einer - und die Stimme gehörte Karin, feierlich, fröhlich, gelöst, ja spaßig: »Willkommen an Bord, auf dem ersten Flug eines Lufthansa-Jumbojets aus der Antarktis nach Melbourne. Für die rund 2300 Kilometer benötigen wir etwa drei Stunden. Unsere Flughöhe bewegt sich zwischen neunund elftausend Metern. Wir sind bereits rund dreitausend
Meter hoch und haben Kurs auf die Südspitze von Neuseeland. Sobald wir die vorgesehene Flughöhe erreicht haben, servieren wir Ihnen .« Ein ohrenbetäubender Krach unterbrach den Galgenhumor abrupt. Die Maschine schwankte und neigte sich nach Backbord. An ihre Flanken prasselte ein Trommelfeuer aus Eiskörnern - so laut, daß alles dröhnte. Bevor durch das Überkippen die Lichter von AucklandIsland aus Akrias Sicht wichen, sah sie sie erlöschen. Trotz der Dunkelheit erkannte sie den weißen Schaum oder waren es Eisblöcke? »Auf Ostkurs zurück«, befahl der Bordingenieur. »Mit dem Sturm, bis die erste Welle vorüber ist. Sie spüren es am Ruderwiderstand. Dann auf Gegenkurs und steil hoch wie ein Segelflugzeug - gut so!« Das hörte sich alles spielend leicht an. Serney und Walter schwitzten. Sie spürten in den Händen, wie der Orkan am Rumpf zerrte, wie er die Maschine abdrücken wollte. Doch nun mußte er sie schieben. Denn der Sturm konnte seine Richtung nicht ändern wie die Maschine. »Elftausend Fuß«, las Serney beruhigt ab. »Wie schnell ist der Sturm, daß er uns überholt hat?« »Er traf uns von der Seite.« In dem Moment sackte die Maschine durch. Der Teufelstanz war noch nicht beendet. »Vollschub und Gegenkurs! Und langsam nach oben!« Der Bordingenieur besaß die eisernsten Nerven. »Ich habe Verbindung mit der Kommandomaschine«, sagte der Admiral, der den Ingenieur am FlugleitFunksystem entlastete. »Sie ist bereits im Landeanflug auf Melbourne. Der Bomberlotse wünscht Miß Akria zu sprechen - nicht etwa der General uns!«
»Das ist die Indianerin«, erklärte Walter amüsiert. Die gelinde Verärgerung des Admirals war ihm nicht entgangen. Anstatt daß der General es für angebracht hielt, ihn und die Besatzung für die riskante Rettungsaktion zu loben, kam so ein lächerlicher Auftrag. »Sie spielt mit meiner Frau Stewardeß, um die Passagiere zu beruhigen. Rufen Sie sie aus!« Karin mußte ihr erst zeigen, wo das Cockpit lag. Der Admiral rief die Kommandomaschine an und übergab der Indianerin Kopfhörer und Sprechmuschel, als sich Zivomir meldete. Akrias dunkle Augen leuchteten auf, nachdem sie seine Stimme gehört hatte. »Hallo - Zivo?« »Hallo - Akri! Ich liebe dich! Das wollte ich dir sagen.« »Ich dich auch, Zivo.« Ihre Stimme hatte dabei einen sonderbar innigen Klang. »Ich habe zwölf Stunden gebetet, daß die Gunst der Götter nicht von dir weicht.« »Ich danke dir, Akri. In drei Stunden sehen wir uns wieder, und ich will dich nie mehr verlassen! Ich muß jetzt abschalten. Wir landen gleich in Melbourne. Howgh!« »Howgh!« Ihr Gesicht glänzte. Sie reichte dem Admiral das Gerät zurück, blieb aber noch einen Moment stehen. Der Anblick des technischen Sammelsuriums im Cockpit verwirrte sie offensichtlich. Walter atmete tief durch. Das war also das Rätsel ihres merkwürdigen Gesichtsausdrucks seit Zivos Abflug, das war die Ursache ihres seltsamen Benehmens. Zwölf Stunden lang hatte sie gebetet! Aber anders als es Christen in der Kirche zu tun pflegen . »Sie waren es doch, Miß Akria«, sagte Serney nachdenklich und drehte sich zu ihr um, »die auf dem Flug von Montreal nach Frankfurt die Wissenschaftler mit den
Legenden der kanadischen Indianer so sehr beeindruckt haben! Was meinen Sie jetzt, nachdem es vollbracht ist?« »Fragen Sie mich lieber nicht danach«, erwiderte sie dumpf und machte kehrt, um zu gehen. »Warten Sie, Miß!« Der Admiral hielt sie am Arm fest. Sie sah ihn groß an. »Ich bin keine Prophetin, Mister! Ich bin nur die Tochter des Häuptlings der Cicaque - von denen niemand weiß, ob sie noch am Leben sind.« »Aber Sie wissen, was damals war, vor zwölftausend Jahren«, sagte er leise. »Ja.« Sie atmete tief durch. »vor zwölftausend Jahren war, was heute war, nur viel, viel größer. Aber es war anders, Mister, ganz anders. Und die Eiszeit war schon müde. Sie ist wie ein Tier, das lebt! Deshalb kann und wird nicht sein, was damals war. Denn das neue Tier Eiszeit ist noch jung und voller Kraft!« »Wie meinen Sie das?« brummte Serney verblüfft. Ihre Bemerkung trübte seine Freude, zusammen mit Walter den Luftgiganten in der Gewalt zu haben. »Ich weiß nicht, ob Sie es verstehen, Mr. Serney.« Akria seufzte. »Über die Zeit, die vor der letzten Eiszeit war, sind die Legenden nur voller dunkler Andeutungen und zeitlich nicht greifbar. Vor ihr soll es in manchen Weltgegenden genauso zugegangen sein wie heute. Es sind heute auch nur einige wenige Weltgegenden, auf die jene Bezeichnung >technische Zivilisation< zutrifft. Dann kam vor etwa dreißigtausend Jahren die Eiszeit, genauso plötzlich wie jetzt. Und sie war nicht die erste. Damals gab es noch ein großes Inselgebiet im Meer zwischen unserem Land und eurem Land. Dort haben einige Reste überlebt. Keiner weiß wie lange. Aber die Söhne der weißen Götter, die in unserem Land noch vor Ende der Eiszeit die Kultur
brachten, kamen von Osten übers Meer, wo die Sonne aufgeht.« »Atlantis?« »Ich weiß nicht, wie es hieß. Sie waren es nicht, die das Feuer setzten, um das Eis zu verjagen. Das taten die weißen Götter. Und als sie es taten, ging das Inselland unter. Niemand weiß, was vorher war, aber die Legende weiß, daß etwas war. Denn das Eis ist stärker.« »Ein bißchen düster, Ihre Prognose«, murmelte der Admiral betroffen. »Ihr habt mich gefragt, ich wollte es nicht sagen«, erwiderte sie sanft. »Es ist auch keine Prognose. Es ist nur der Inhalt der Legende. Wer in die Wälder ging, wie die Vorfahren der Cicaque, hatte überlebt.« »Wollen Sie mit Mr. Panalowitsch in die Wälder gehen?« sagte Serney etwas spöttisch. »In Australien, ist noch Platz genug. Ihr könntet wahrhaftig einen neuen Indianerstamm gründen - he?« Akria lächelte sanftmütig. Sie nahm den Spott nicht krumm. Schließlich hatte Zivomir zu ihr durch die Luft gesprochen - wie die Götter. »Vielleicht?« *
Vier-Sterne-General McWaugham hatte sich erschossen. Er hatte die Last der Verantwortung nicht tragen können. Das dramatische Ereignis war am Morgen des Tages bekanntgeworden, an dem nachmittags der LufthansaJumbo die meisten Wissenschaftler, das Hilfspersonal und die Besatzung der Antarktis-Station Knox nach Europa zurückbringen sollte. Sie hatten sich daraufhin verpflichtet gefühlt, länger zu bleiben.
Der General war in Oakgeigh beigesetzt worden. Akria hatte geschworen, sich um die Grabstätte zu kümmern. Dabei hatte sie mit dem General zu Lebzeiten nie gesprochen. Sie hatte ihn in den hektischen Tagen auf Auckland-Island nur von fern gesehen. Er war für sie aber zur Symbolfigur geworden, die das Sagengut der Cicaque zum Inhalt ausdrückte. Einer der weißen Götter, die alle Macht einsetzten, um gegen die Eisgötter zu kämpfen - und verloren. Am Tage der Beisetzung war es bereits ziemlich sicher, daß das Unternehmen Eiszeit trotz brillanter technischer Perfektion, trotz Einsatzes aller wissenschaftlichmathematischen Erkenntnisse ein Mißerfolg größten Ausmaßes war. Das hatte sich schon zwölf Stunden nach der Stunde 0 in Australien abgezeichnet. Seither regnete es in der Großen Victoria-Wüste und in der Gibson-Wüste ununterbrochen. In Melbourne war sogar etwas Schnee gefallen. Das Entsetzliche an allem war: Regen und Schnee waren radioaktiv. Die »rem«-Dosis war nicht hoch. Doch sie würde bei wochenlang anhaltendem Wetter physische Schäden hervorrufen können. Für Zivomir und Akria stand es von Anfang an fest: Sie blieben in Australien und siedelten sich in den Wäldern an den Nordhängen der Australischen Alpen an. Walter Entlach und Karin entschlossen sich, in Europa alles zu ordnen und sofort zurückzukehren. Die offizielle Einwanderungsgenehmigung hatten sie bereits in der Tasche. Als sie sich einen Tag nach der Beisetzung verabschiedeten, ahnten sie noch nicht, daß sie sie gebrauchen würden. Die Regierenden in Canberra waren
weitsichtiger als irgendjemand auf der Welt - und Australien war zu Beginn seiner Geschichte schon einmal Strafkolonie für Ausgestoßene. Für jene, die es wußten, stellte sich die Frage, ob Australien das Atlantis der neuen Eiszeit werden würde. Sie hätten sich die Reise sparen können. Am Tage der Beisetzung des Generals sickerte ein grausiges Ereignis durch. Besatzung und Passagiere des anderen Jumbojets, der schon drei Tage zuvor vom russischen Einsatzstützpunkt, den Keruelen, über Afrika nach Frankfurt gestartet war, wurden bei einer Zwischenlandung in Asmara von einer aufgebrachten Menschenmenge wütend niedergemetzelt. Ursache für die Volkswut war die Radioaktivität des Regens. »Begleiten Sie uns morgen, Mr. Panalowitsch?« bat Dr. Mercier, als der Luftgigant mit den Heimkehrern im regnerischen trüben Himmel verschwunden war. »Ich weiß, daß Sie den Dienst quittert haben und nichts mehr von alldem wissen wollen .« »Das wollte ich von Anfang an nicht«, sagte Zivomir grübelnd. »Ich habe schon gehört, daß Sie, Wegeners und Dr. Hoelmstrind die Australier überzeugt haben, daß ein systematischer Beobachtungsdienst notwendig ist. Was aber soll dabei ich tun?« Bei den gegenwärtig herrschenden Verhältnissen brauchten sie einen Navigator. Für spätere Flüge sollten andere Besatzungen zusammengestellt werden. - solange Flüge überhaupt noch durchgeführt werden konnten! Denn die geübten Antarktisflieger Jean Poisson, Paulak und Serney wollten auch nicht mehr mitmachen. Den ersten, einen einzigen, Flug übernahmen sie aber noch.
»Na schön, meinetwegen mache ich dann auch mit«, gab Zivomir nach. »Ob Akri und ich einen Tag früher oder später unser Blockhaus am Hume-Reservat beziehen, spielt keine Rolle. Die Eiszeit dürfte lange genug dauern. Aber nur unter der Bedingung, daß Akri mitfliegen kann! Ich lasse sie nicht mehr allein!« »Madame Wegener fliegt auch mit«, stimmte der Meteorologe zu. »Es gibt niemand mehr, der aus strategischen Gründen Einspruch erhebt. Wir sind allerdings zwölf Stunden unterwegs!« Das machte Akria nichts aus. Wenn Zivomir auf den Mond wollte, würde sie ebenfalls mitkommen. Sie war überzeugt, daß ihnen nie etwas zustoßen konnte, wenn sie sich nicht trennten. Die australische Regierung besaß ein erhebliches Interesse daran zu erfahren, was nun Tage nach dem Atomangriff auf den Zyklon der Eiszeit am antarktischen Kontinent vor sich ging. Große Gebiete der Küste am Indischen Ozean gehörten sowieso zum australischen Territorium. Bis zur Küste, an der die Knox-Station gelegen hatte, waren es viertausend Kilometer. Die Satellitenaufnahmen zeigten eine geschlossene Wolkendecke über dem gesamten südlichen Teil des Indischen Ozeans. Auch der ganze Kontinent Antarktis lag unter Wolken. Infrarotaufnahmen war zu entnehmen, daß die Stationen außerhalb des Bereichs der H-Explosionen unversehrt geblieben waren. Selbst in zwölftausend Metern Höhe waren die Sicht und Luft nicht so rein und klar wie früher. Die Sonne leuchtete fahl durch einen dünnen Schleier. Die Maschine konnte jedoch nicht sehr viel höhersteigen. Die Radioaktivität war
zum Glück nur unbedeutend stärker als die natürliche Strahlung. Die Wolkenballen nahmen an Größe zu, je mehr sie sich dem Gebiet näherten, in dem vor Tagen der Zyklon getobt hatte. Die geographischen Details waren nur auf den Radars zu erkennen. Das Packeis war auf große Strecken restlos verschwunden. Infrarot zeigten, daß das Wasser unnatürlich warm war. Der Zyklon war verschwunden. Auch das Wetterauge existierte nicht mehr. Die Wolkenformationen ließen erkennen, daß es die ungewöhnliche Turbulenz nicht mehr gab. Von diesem Gesichtspunkt aus war das Unternehmen Eiszeit ein voller Erfolg. Statt dessen aber verdichtete sich die in der Stratosphäre lagernde Dunstschicht so kräftig, daß die Sonne nicht mehr zu sehen war. Da die mitaufsteigende Radioaktivität harmlos war, flogen sie hindurch. Mercier ermittelte, daß die nur langsam hochsteigende Kaltluft, die man direkt sehen konnte, in höhere Stratosphärenschichten floß. Sie hatte dieselbe Spiralrichtung zu den Sundainseln beibehalten, die sie vor dem Unternehmen hatte. Wegen ihrer größeren Dichte gegenüber den üblichen Luftmassen in der Stratosphäre ließ sich ausrechnen, wann sie wieder herabsank. Von Satelliten war inzwischen bekannt, daß die Zone hochgelagerten Stratosphärennebels viel breiter war als früher. Die aus ihr in die überquerten Gebiete absinkende Kaltluft veränderte allmählich auch in äquatorialen und subtropischen Breiten das Klima. Die anhaltenden Regenfälle in den Wüsten West-Australien boten erste Anhaltspunkte. »Allmählich glaube ich«, sagte der greise
Glazialforscher Wegener dumpf, als die Maschine auf Rückkurs ging, »unser Unternehmen Eiszeit hat den Vorgang der klimatischen Veränderung auf unserem Globus lediglich um ein paar Jahre beschleunigt. Die Sonnengluten haben zwar den Zyklon zerrissen und das antarktische Eis teilweise aufgetaut, aber die so spontan eingetretenen Wechsel der Temperaturen haben gewirkt wie das Kühlschranksystem. Kälte wird erzeugt durch Absaugen von Wärme - bloß umgekehrt!« Die auf dreitausend Kilometer Länge und Breite aufgetauten Eismassen gaben zum erstenmal seit Menschengedenken das nackte Land der Antarktis frei. Es war allerdings nur auf dem Radar zu erkennen. Es nutzte auch niemandem etwas. Auf Jahre hinaus würde diese Region kein Mensch betreten können. Am Boden wirkte die Radioaktivität tödlich - und nach ein paar Jahren würden die veränderten Verhältnisse die Antarktis in Vergessenheit geraten lassen. Es war nämlich bereits durchgesickert, daß Russen und Amerikaner, Franzosen und Australier ihre AntarktisBasen nach und nach stillschweigend zu räumen begannen. Der nur schwach, aber gleichbleibend radioaktiv strahlende Neuschnee verteilte sich mehr und mehr über den ganzen Kontinent. Im Laufe der Zeit wurde es lebensgefährlich. Auch die sich nach Norden hinziehende Wetterzone in der Stratosphäre war immer noch radioaktiv. Die Intensität der ersten zwei Tage war allerdings verschwunden. Sie war jedoch die Ursache zu dem Schrei der Empörung in der ganzen Welt. Die in aller Eile zusammengerufene Vollversammlung der UN, die die Absicht hatte, die Vereinigten Staaten und
die Sowjetunion »zu rügen«, ja sogar Schadenersatz zu fordern, konnte gar nicht zusammentreten. Bis weit über New York hinaus tobten tagelang heftige Schneestürme. Start und Landung waren ausgeschlossen. Der gesamte Verkehr brach zusammen. Aus demselben Grund mußte der Lufthansa-Jumbo nach Madrid ausweichen. Die Schneestürme im Räume Mitteleuropas unterbanden jeden Flugbetrieb. Die Unwetter brachen sich allerdings an der Alpenfront. Südlich davon regnete es. Nur die Iberische Halbinsel und Westafrika waren vorläufig noch wolkenlos. »Tut mir leid«, erklärte der spanische Flughafenkommandant. Er kam nach der Landung persönlich an Bord, bevor die Passagiere aussteigen durften. »Sie werden in Spanien nicht bleiben können. Niemand darf das Flughafengelände verlassen. Der Botschafter der Europäischen Föderation ist bereits unterwegs hierher. Er kümmert sich darum, daß Sie alle in den nächsten 48 Stunden in Ihre Heimatorte zurückkehren können - so weit sie natürlich noch erreichbar sind. Der Flugbetrieb Richtung Norden ist vorläufig nur bis Lyon möglich.« Die Passagiere wurden in Wartesälen des Empfangsgebäudes zusammengepfercht. Damit hatte niemand gerechnet, trotz der unterwegs empfangenen Hiobsbotschaften über die katastrophale Wetterlage. Wegen der gleichen Verhältnisse in Nordamerika hatte die Maschine eine andere Flugroute wählen müssen als geplant. Der EF-Botschafter war ein Franzose. Die Franzosen hatten sich mit den Spaniern immer schon am besten verstanden.
»Wir befinden uns hier nicht auf dem Boden der politischen Europäischen Föderation«, sagte er mit spürbarer Zurückhaltung. »Es steht mir auch nicht an, irgendeinem wegen seiner Beteiligung am Unternehmen Eiszeit Vorwürfe zu machen. Es ist nur meine Aufgabe, dafür zu sorgen, daß Sie sozusagen in kleinen Schüben in Ihre Heimatländer gebracht werden können.« »Das hört sich an, als ob es Leute gibt, die uns Vorwürfe machen wollen?« konnte sich Admiral Lemnitzer nicht enthalten. »Worauf Sie sich verlassen können, Monsieur Admiral«, rief der Botschafter giftig. »Warum, glauben Sie, ist der Präsident der Europäischen Föderation zurückgetreten?« »Wir wußten gar nicht, daß er das getan hat«, wunderte sich Dr. Rodrigues. »Das Europa-Parlament ist der Ansicht, daß er trotz weitreichender autarker Vollmachten seine Befugnisse überschritten hat, indem er seine Zustimmung zu dem makabren Experiment gab.« »Und der Verteidigungsminister?« wollte Walter wissen, denn sein Einsatzbefehl kam direkt aus diesem Ministerium. »Auch, kurz gesagt.« Der Franzose zuckte die Schultern. »So ist das Leben. Wäre das Experiment gelungen, wären Sie Helden, und jedermann hätte die vorangegangene Geheimhaltung nur gelobt. Zum Glück der meisten Beteiligten am Unternehmen Eiszeit sind fast keine Namen bekannt.« »Wenn die Sache so aussieht, wäre es fairer, uns in Spanien politisches Asyl zu gewähren«, forderte jemand. »Sie dürfen froh sein, daß die Spanier Sie nicht einsperren«, sagte der Botschafter gelassen. »Spanien ist
nicht in der Lage, noch mehr Menschen aufzunehmen. Die extreme Touristenwelle in den ersten vier Wochen seit Beginn der Eiszeit schafft bereits jetzt unlösbare Probleme. Sie können sich denken, daß keiner mehr nach Mitteleuropa zurückkehrt. Und mit Gewalt will man niemanden ausweisen.« »Dann kommt es auf uns paar hundert Leute auch nicht an!« »Es kommt auf jeden an. Die obligatorische Einfuhr aus den EF-Ländern ist abgerissen. Einfuhr aus Übersee ist durch die Wetterverhältnisse enorm erschwert. Mehr als sechs Millionen Touristen-Einwanderer müssen zusätzlich ernährt werden. Von den sich anbahnenden wirtschaftlichen und sozialen Katastrophen der einzelnen - denken Sie an Arbeitslosigkeit - wollen wir gar nicht reden.« Der Franzose fuhr nach einer Pause fort: »Seit dem 22. Juni hat sich die Welt verändert, und sie tut es immer weiter. Bis sich die vollkommen verschiebenden Klimaverhältnisse hier und in Afrika agrarwirtschaftlich positiv auswirken, vergehen Jahre. Bis dahin sind Millionen verhungert! Genauso wie in Nord- und Mitteleuropa jetzt Millionen erfrieren.« »Man findet immer eine Begründung .«, setzte einer der Wissenschaftler an. »Unsinn. Sogar Nordfrankreich liegt unter einer geschlossenen Schneedecke. Nördlich des 50. Breitengrades ist jeder Verkehr unter meterdickem Sehne völlig zum Erliegen gekommen. Und es schneit dort noch immer! Millionenstädte wie Amsterdam, Köln, Hamburg, Berlin, Moskau ersticken im Schnee. Man muß im ersten Stock auf die Straße gehen - so man noch kann. In vielen
Bereichen ist die Energieversorgung ausgefallen. Überlandleitungen sind zerrissen. Fernheizungen sind durch Frost zerstört. Sogar Atomkraftwerke mußten stillgelegt werden. Rechnen Sie sich an fünf Fingern aus, wie vielen Menschen es gelingt oder gelungen ist, nach Süden über die Mainlinie zu entkommen!« Er schwieg einen Moment. Es kam kein Einspruch. Was er so gelassen aussprach, hatten sie unterwegs bereits erfahren, es sich aber nicht vorstellen können. »Ihre persönliche Chance ist«, fuhr er fort, »daß in dem vom Chaos nicht direkt betroffenen Gebieten keiner Zeit hat, sich um Sie zu kümmern. Andererseits sind die Leute jenseits der Pyrenäen auf Leute nicht gerade gut zu sprechen, die im Verdacht stehen, am Unternehmen Eiszeit beteiligt gewesen zu ein. Die Radioaktivität der ersten zwei Tage danach hat empfindliche Wunden hinterlassen.« »Jeder von uns hat nichts anderes getan als seine Pflicht«, warf Walter säuerlich ein. »Und die Besatzung der Knox-Station ist sogar absolut unbeteiligt.« »Bis Sie das den Leuten beigebracht haben, hat man Sie schon gelyncht - wie vor wenigen Tagen in Asmara geschehen«, sagte der Franzose lakonisch. »In der Revolution erwischt es immer viele, die unbeteiligt sind. Kommen wir zur Sache. Nach Lyon geht eine Maschine um Mitternacht. Maschinen nach Norden sind fast leer. Zwei Stunden später geht eine nach Toulouse. Paris, Frankfurt, London, München stehen vorläufig nicht auf dem Flugplan.« »Und nach Melbourne?« sagte Karin lauernd. »Warum? Da kommen Sie doch gerade her?« fragte der Botschafter erstaunt. »Warum sind Sie nicht dageblieben?«
»Warum wohl?« knurrte der Admiral bitter. »Der Dank des Vaterlandes ist dir gewiß! Ich habe geglaubt, diese Ironie trifft nur nach einem verlorenen. Krieg zu .« »Wir haben einen Krieg verloren«, erwiderte der Franzose phrophetisch. »Einen Krieg gegen die Natur. Nördlich des 50. Breitengrades, jedenfalls in Europa, heißt es nur noch: rette sich, wer kann!« »Ich hatte Sie nach der nächsten Maschine gefragt, die nach Australien geht«, erinnerte Karin. »Was weiß ich? Irgendwann morgen vielleicht. Ich muß Sie aber enttäuschen, Madame. Selbst die Staaten des benachbarten Afrikas lassen Leute nur noch mit Visum hinein, und ohne Visum gibt es keine Flugtickets. So einfach ist das!« »Falls unser Taschengeld nicht ausreicht, Monsieur«, bemerkte Walter schließlich, dem es noch schwerfiel zu akzeptieren, wie die Dinge standen, »leiht uns die EF das Reisegeld für zwei Tickets zurück nach Australien?« Der Botschafter lachte. Er glaubte an einen Scherz. »Reisegeld jederzeit - Geld für ein Visum aber nicht. Hier in Madrid würden Sie nicht einmal ein Visum erhalten, wenn Sie .« »Wir brauchen auch keines, denn wir haben es schon und die Einwanderungsgenehmigung dazu«, erklärte Karin lakonisch. »Wir wollten zu Hause nur unsere Angelegenheiten regeln. Wenn es aber keine Zivilisation mehr gibt, gibt es auch nichts mehr zu regeln.« »Dann beeilen Sie sich, bevor der Flugverkehr eingestellt wird, Madame!« Es zeichnete sich tatsächlich ab, daß es einer der letzten Langstreckenflüge war, mit dem Walter und Karin Entlach anderntags über Teheran, Delhi und Singapur nach
Melbourne abflogen. Und sie waren nicht die einzigen. Der Zusammenbruch der gesamten Weltwirtschaft bahnte sich an. Der größte Teil an Fabrikationsgütern bis zum kleinsten Ersatzteil stammte aus den hochindustrialisierten Staaten, die unter Eis und Schnee und kaltem Dauerregen lagen. Die Industrien der Dritten Welt waren vielfach auf Zulieferungen angewiesen. Und die blieben aus. Wie lange die Vorräte an anderen Gütern ausreichten, ließ sich leicht ausrechnen. Denn die Eiszeit, die die hochtechnisierte Zivilisation des Nordens verschlang, übte auf die übrige Welt einen fürchterlichen Schock aus, der in einer verderblichen Lethargie mündete. Akria hatte darauf bestanden, noch ein paar Tage länger in Melbourne auszuharren - sie, die vor dem Wetterflug die Zeit nicht abwarten konnte, in ihre Bergeinsamkeit zu flüchten. Sie hatte es Zivomir prophezeit. Die Freunde kehrten zurück! Fünf Tage nach ihrem Abflug trafen sie unangemeldet ein. Akria hakte Karin und Walter unter, als würden sie nur von einem Besuch nebenan zurückkommen. »Zivo und ich haben auf euch gewartet. Denn allein hättet ihr unsere Blockhütte im Hume-Reservat nie gefunden. Ihr müßt nur noch lernen, wie man Mais anbaut und von der Jagd lebt. Ich bin froh, daß die Götter euch ihre Gunst geschenkt haben.« Vom Hochstand unweit der Blockhütte aus besaßen sie den schönsten Blick über die bewaldeten Berge der Australischen Alpen bis hinab zum Fluß. Er mündete in den See, der mit dem Stauwerk das Hume-Reservat abschloß.
Für Zivomir war es fast so, wie vor vielen Wochen in Kanada am Cree-Lake. Es gab hier lediglich keine Bären, und zur Jagd benutzte er anstelle eines Fotoapparats besser ein Gewehr. . Aber das war auch in einer anderen Zeit gewesen . In einer Zeit, als er dem Häuptling der Cicaque-Indianer sein Wort gab, die Sonne seiner Augen, Akria, die letzte der Cicaque, vor dem Eis in Sicherheit zu bringen. Denn die zwölftausend Jahre waren vorbei, während der Große Manitou den Cicaque die Jagdgründe am Cree-See überlassen hatte. Zivomir hat sein Wort gehalten. - ENDE -
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