John Crace
... und plötzlich bist Du
vierzig Der Roman für den Mann in den besten Jahren Nun mal ehrlich: Männer sind...
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John Crace
... und plötzlich bist Du
vierzig Der Roman für den Mann in den besten Jahren Nun mal ehrlich: Männer sind Helden! Jäger! Echte Kerle! Leider endet dieser Zustand aber ziemlich genau mit dem 40. Geburtstag – nun betrachten Frauen ihre >>bessere Hälfte>GuardianLasst uns ordentlich streitenKraftfeldanalyse und Veränderung< unter Anleitung von Seite Neunzehn. Eine der kalifornischen Seiten, nahm ich an. Was sollte das bedeuten? Da ich nun einmal ein Trottel bin, habe ich erstens keinen Abschluss in Quantenphysik und zweitens die einschlägige Folge von Star Trek verpasst. »Ich glaube, hier muss ich passen«, sagte ich. »Ich empfange eine starke Feindseligkeit mir gegenüber, John«, sagte Seite Neunzehn. Gut aufgepasst. »Bessere Bewältigung«, warf Seite Zwanzig ein. »Eigentlich nicht, aber trotzdem vielen Dank.« »Nein, >Bessere Bewältigung« ist der Titel der ersten Sitzung nach der Mittagspause.« »Oh.« Meine Beziehung zu Seite Zwanzig konnte sich nie mehr von diesem Missverständnis erholen. »Zeit für die Schulung der Durchsetzungsfähigkeit«, riefen die Seiten Einundzwanzig, Zweiundzwanzig
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und Dreiundzwanzig im Chor. »Wir wollen, dass du dich konkret, klar und offen äußerst. Sag, was du empfindest, ohne dich hinter Andeutungen zu verstecken.« »Ich hasse Weihnachten«, bot ich an. »Ist das konkret, klar und offen genug?« Seite Fünfundzwanzig war eine harte Nuss. »Mein Thema ist >Mit Waffen arbeiten««, sagte sie. »Ich dachte, ich sollte hier lernen, mich aus Schwierigkeiten herauszuschwatzen und nicht zur Gewalt zu greifen.« »Du hast es nicht kapiert«, drohte sie mir. »Du hast es überhaupt nicht kapiert.« »Vielleicht bin ich nicht pragmatisch genug.« Blieb noch die Nachbesprechung. »Wie fandest du den Kurs?«, fragten sie im Chor. »Brillant.« »Gut. Es ist üblich, dass zum Abschluss jeder für jeden eine Weihnachtskarte schreibt.« Ihr wisst genau, wo ihr euch die verdammten Weihnachtskarten reinstecken könnt. »Ich glaube, ich habe keine mehr übrig«, sagte ich lahm. »Wie ist es gelaufen?«, fragte meine Frau nervös, als ich wieder nach unten ging. »Ich bin ein total glücklicher Mensch und freue mich wahnsinnig auf Weihnachten.«« »Sei ehrlich.« »Ehrlich? Ganz ehrlich? Ich glaube, ich habe eine brauchbare Einsicht gewonnen.« »Welche denn?«
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»Jedes Weihnachtsfest, das ich überlebe, ist eins weniger, über das ich mir Gedanken machen muss.«
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5 »Entschuldigung, können Sie mir helfen?« Es gibt Schlimmeres, als von einer attraktiven Frau Anfang zwanzig angesprochen zu werden, während man die Farringdon Road hinuntergeht. Ich war mehr als bereit zu helfen. Ihre Taschen tragen, ihr einen Drink ausgeben, was sie nur wollte, das können Sie mir glauben. »Yeah, klar doch«, sagte ich. Während ich versuchte, urban, cool und zehn Jahre jünger zu klingen, fragte ich mich, ob meine Haare in Ordnung waren. »Können Sie mir bitte sagen, wo die U-Bahn ist?« Also war sie nicht auf meinen Körper aus. Nun ja, man kann nicht alles haben. »Äh ... gehen Sie noch ungefähr hundert Meter in diese Richtung, dann biegen Sie links ab. Sie können es nicht verfehlen«, sagte ich. Wenigstens wollte ich ihr zeigen, dass ich einen wachen Verstand hatte. »Das ist gut, vielen Dank.« Yeah, vielen Dank auch. Vielen Dank für nichts. Warum läufst du, wenn du dich das nächste Mal verirrst, nicht eine halbe Stunde im Kreis herum, statt mich mit deinen erbärmlichen kleinen Problemen zu belästigen? Für dich ist es vielleicht nur eine Frage nach dem richtigen Weg, für mich geht es ums nackte Leben. Ich weiß genau, warum du ausgerechnet mich angesprochen hast. Nicht, weil du mich unbewusst sexuell unwiderstehlich gefunden hast. Du hast mich angesprochen, weil du dachtest, ich wäre ungefährlich. Du hast
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nicht gedacht, Gott, sieht der gut aus oder wie süß er ist oder igitt, ist der hässlich. Über Menschen in meinem Alter denkst du nicht in solchen Begriffen. Mit mir Sex zu haben, ist einfach jenseits deiner Vorstellungskraft. Das wäre so, als würdest du deinen Dad vögeln. Der, wie mir gerade einfällt, sogar jünger sein könnte als ich. Ich will keine sichere Anlaufstelle sein. Ich hasse es, wenn man bei mir sicher ist. Ich will gefährlich, bedrohlich, undurchschaubar, rätselhaft und hinreißend sein, einfach umwerfend. Ich will, dass Frauen nervös werden, wenn sie mit mir reden, weil sie Angst haben, ihre verdrängten Begierden könnten unversehens durchbrechen. Tja, ich kann ja ruhig weiterträumen, weil es sowieso nicht passieren wird. Ich habe meine sexuelle Blütezeit hinter mir, jetzt geht es bergab. Das ist einfach ... es ist ungerecht. Denn genau genommen habe ich eine sexuelle Blütezeit nie gehabt. Eher ein paar zaghafte Knospen. Als ich Ende zwanzig war, wollten die meisten Mädchen, die ich kannte, lieber mit älteren Männern zusammen sein. »Die sind viel reifer und interessanter«, zwitscherten sie untereinander, was im Klartext bedeutete: Sie hatten mehr Geld. Jetzt, wo ich mehr Geld und den sagenhaften Status des älteren Mannes erreicht habe, sind all diese Frauen auf geheimnisvolle Weise verschwunden. Entweder die Mädchen haben damals einen Haufen Müll erzählt, oder die Mode hat sich geändert. Aber andererseits war ich, abgesehen von einer kurzen Phase zwischen zwanzig und dreißig, anscheinend
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mein Leben lang im falschen Alter. Sogar die Mädchen, die keinen älteren Mann wollten, haben sich nicht auf mich eingelassen. Man erwartet ja wirklich nicht, dass ein Mädchen mit einem Kerl geht, der so alt ist wie man selbst oder sogar noch jünger, weil die Mädchen so etwas einfach nicht machen. Das ist unter ihrer Würde. Also hätte man doch annehmen können, dass ich mit achtzehn gewisse Chancen bei den Sechzehnjährigen gehabt hätte. Aber nein, sie wollten offenbar Siebzehnoder Neunzehnjährige. Vielleicht war es auch etwas Persönliches. Das Bedauern bringt einen um. Aber es ist unausweichlich, wenn man vierzig wird. Man blickt auf die Zeiten zurück, in denen man, wenn man Lust hatte, doch noch einen Drink kippen oder einen letzten Joint bauen konnte, während man mit der Freundin großzügig das letzte Koks geteilt und dieses fantastische Stück von James Taylor aufgelegt hat ich persönlich habe ihn immer für unerträglich schmalzig gehalten, aber bei Frauen hat er unglaublich gewirkt und die Bahn frei gemacht für die nächste Nummer. Das Problem war bloß, dass ich kein Selbstvertrauen hatte. Die Mädchen schienen immer so erfahren und distanziert, dass ich dankbar war für jedes bisschen Aufmerksamkeit, das ich überhaupt bekam. Diejenigen, die nicht wissend und überlegen waren, haben mich nicht interessiert. Deshalb habe ich stundenlang herumgehangen und gehofft, irgendein Mädchen würde mich zum Vögeln einladen. Ich hätte nie danach fragen können, denn sie hätten ja nein sagen können. Man kommt ja irgendwie damit zurecht, 41
keinen Sex zu haben, aber abgelehnt zu werden, weil man körperlich abstoßend ist, das ist einfach zu viel. Sogar die erste Knutscherei, die ich überhaupt hatte, ist eher zufällig passiert. Ich stand auf einer Party herum und redete mit einem Mädchen, und auf einmal wurden ihre Augen glasig. Sie packte mich, klebte ihre Lippen auf meine, zwängte meinen Mund auf und schob mir die Zunge in den Hals. Es ist schon erstaunlich, wo man landen kann, wenn man ein langweiliger Gesprächspartner ist, aber vielen Dank jedenfalls, Serena. Und meine erste Nummer? Nun ja, sogar ich habe es begriffen, als Teresa sagte: »Ist schon in Ordnung, ich nehme die Pille.« Vielleicht ist das auch alles ganz normal. Ich hoffe es jedenfalls. Das liegt doch nicht nur an mir, oder? Oder? Aber haben Sie noch etwas Geduld mit mir, weil ich ein wichtiges Geständnis abzulegen habe, das Sie alle angeht. Meine sexuelle Unzulänglichkeit hat den Lauf der Geschichte verändert. Lassen Sie mich das erklären. Unsere Hochzeit stand kurz bevor. Meine Frau und ich haben die letzten Vorbereitungen getroffen. Eine bescheuerte Idee, ich weiß schon, aber es war nicht meine. Und damit war es ... ach, nein, das schenke ich mir jetzt. »Schuld« ist so ein hässliches Wort. »Wie denkst du über die Treue?«, fragte sie. War sie wirklich so dumm zu glauben, ich würde auf so etwas hereinfallen? Als ob ich zugeben würde, dass ich die Vorstellung, nie wieder mit einer anderen Frau ins Bett zu gehen, etwas schwierig fand.
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»Ich glaube, die Treue ist das Fundament einer guten, christlichen Ehe«, erwiderte ich. »Ach, hör doch auf mit dem Mist«, sagte sie freundlich. »Ich kann mich nicht so leicht damit abfinden, nie wieder mit einem anderen Mann schlafen zu dürfen.« Ich war der Ansicht gewesen, nur Männer kämen auf solche Gedanken. Das sah auf einmal gar nicht mehr gut aus. Vielleicht würde sie mir gleich eröffnen, dass sie eine Transsexuelle war. »Ich verstehe.« »Hör mal, das ist doch keine große Sache. Du machst dir doch sicher auch Gedanken darüber, wie es ist, nie wieder mit einer anderen Frau zu schlafen, oder?« »Ich habe eigentlich noch nicht richtig darüber nachgedacht«, log ich. »Aber jetzt, wo du es sagst, ja, das könnte schwierig sein.« Darauf folgte ein kurzes Schweigen, und wir sahen einander ziemlich unsicher an. Ich konnte erkennen, dass sie etwas in petto hatte, aber sie war offensichtlich zu verlegen, um damit herauszurücken, also ließ ich sie eine Weile schwitzen. »Wie sollen wir denn deiner Meinung nach damit jetzt umgehen?«, fragte ich nach einer Weile. »Ich dachte, wir könnten vielleicht beide jemanden aussuchen, mit dem wir ins Bett gehen dürfen, ohne untreu zu werden.« Das war besser als ich befürchtet hatte. Ich hatte angenommen, ihre Vorstellung eines fairen Abkommens sähe so aus, dass sie ins Bett gehen konnte, mit wem sie wollte, und ich mit überhaupt niemandem. Was so 43
ungefähr dem Arrangement entsprochen hätte, das mir eingefallen wäre. Es sah trotzdem nicht so gut aus. Sie hatte offensichtlich schon intensiv darüber nachgedacht und jemand Bestimmten im Visier. Karten auf den Tisch. »Wen willst du denn?« »Daley Thompson«, sagte sie prompt. »Und du?« Ich war wie vor den Kopf geschlagen. »Nun komm schon, entscheide dich, du Doofmann«, drängte sie. »Es kann dir doch nicht so schwer fallen, dir jemanden auszudenken.« Aber das tat es. Wenn man nur einen einzigen Versuch hat, muss man es richtig machen. Aber da ich nun einmal ein Trottel bin, ließ ich mich drängen, mit dem erstbesten Namen herauszuplatzen, der mir in den Sinn kam. »Prinzessin Diana.« Damit waren unsere vorehelichen Absprachen besiegelt. Sie konnte Daley haben und ich Di. Zu dieser Zeit nahm ich noch an, dass sie wahrscheinlich eher Glück haben würde als ich, denn sie verbrachte die Sommerferien oft damit, Leichtathletikmeetings in Großbritannien und auf dem Festland zu besuchen. Aber dann war ich es, der es fast geschafft hätte. Ich war zur Oper eingeladen worden -ja, so ein Typ bin ich. Kulturell ungeheuer beschlagen, aber ich gehe nicht damit hausieren, wenn Sie wissen, was ich meine. Jedenfalls sah ich zufällig zur königlichen Loge hinauf, und ganz richtig, da saß Di. Gott, sie sah hinreißend aus, ich konnte nicht aufhören, sie anzustarren.
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Sie sah herunter und erwiderte meinen Blick - nicht nur eine Sekunde, sondern eine lange Zeit. Und ihr Blick sagte mir: »Hilf mir John. Befreie mich aus meiner lieblosen Ehe. Mach mich glücklich.« Jetzt müssen wir zu dem Teil kommen, wegen dem ich mich so mies fühle. Denn ich habe nichts getan. Absolut nichts habe ich getan. Ich habe nur wie angewurzelt auf meinem Platz gesessen und gesehen, wie sie immer verzweifelter wurde, weil ich nichts unternommen habe. Als ihr schließlich klar wurde, dass mit mir nicht zu rechnen war - dass ich nicht der Mann war, für den sie mich gehalten hatte -, warf sie mir noch einen letzten, unendlich traurigen Blick zu und schaute weg. Ich kann mir das einfach nicht verzeihen. Ich fühle mich verantwortlich für ihren Tod, denn hätte ich ihr erlaubt - natürlich mit dem Segen meiner Frau -, mit uns glücklich zu werden, dann würde sie heute noch leben. Statt mit 100 Sachen in einem schwarzen Mercedes durch Paris zu rasen, hätte sie in einem hellblauen Vauxhall Astra Starmist (Automatik) auf der Streatham High Road fahren können. Meine Frau war vermutlich der einzige Mensch in Großbritannien, der Prinzessin Dianas Beerdigung nicht unglaublich bewegend fand. Für sie war es der Tod einer Rivalin, wodurch sie die Freiheit hatte, Daley bis zur Besinnungslosigkeit zu vögeln, während ich überhaupt nichts mehr hatte. Jetzt sitze ich fest. Ich habe gefragt, ob ich nicht einen Ersatz finden dürfe, denn in den Jahren, seit ich dazu verleitet wurde, eine vorschnelle Entscheidung zu treffen, sind mir noch eine Reihe geeigneter Kandidatinnen eingefallen -, 45
aber meine Frau zeigt sich unerbittlich. Denn es ginge ja um Treue. Nicht, dass ich gegen die Treue etwas einzuwenden hätte. Eigentlich spricht sogar eine Menge dafür. Beispielsweise, dass beide Partner mit der gleichen Geschwindigkeit altern. Die Monogamie ist so ähnlich, als würde man in eine Zeitschleife eintreten. Wenn man allein ist, muss man sich etwas am Riemen reißen. Man muss sich schlau machen, was gerade angesagt ist und was nicht. Aber sobald man sich zu einer funktionierenden Einheit zusammengeschlossen hat, ist das alles vorbei. Man behält den gleichen Haarschnitt bei, trägt die gleiche Kleidung und hört die gleiche elende Musik. Nicht, dass Sie das jetzt falsch verstehen, das hat nichts mit Faulheit zu tun - es ist die pure Notwendigkeit. Denn wenn man sich die Attribute aus den Anfängen erhält, kann man sich mit körperlichen Verfallserscheinungen nachsichtig zeigen. Bierbauch? Welcher Bierbauch? Hängebusen? Welcher Hängebusen? Haaransatz? Welcher Haaransatz? Ein bisschen Fantasie hilft sehr beim Vögeln. Natürlich immer vorausgesetzt, Sie haben diese Fantasie. Nun leide ich ja schon sehr an Selbstüberschätzung, aber gerade wenn es um Sex ging, konnte ich mir bizarrerweise noch nie die rosa Brille aufsetzen. So sehr ich es auch versuche, ich kann mich einfach nicht als Liebesgott sehen. Ich glaube, das liegt daran, dass ich nicht fähig bin, ein Pokergesicht aufzusetzen und zu sagen: »Ich bin ganz heiß auf dich, Baby.« Oder heißt das »Kleines«? Ich muss das mal recherchieren. Wie auch immer, das stört schon ungemein. 46
Denn es führt dazu, dass eine normale Nacht unter dem Motto »Mit Frau Crace glücklich zu werden, ist nicht ganz ein Ding der Unmöglichkeit« in etwa folgendermaßen verläuft. Meine Frau kommt spät nach Hause - lange nachdem ich die Kinder ins Bett gesteckt habe. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will jetzt nicht mit der Mitleidstour anfangen. Normalerweise komme ich ja immer als Letzter - häusliche Pflichten? Ich bin gefeit. Aber diese liebestollen Abende beginnen gewöhnlich damit, dass sie erst um neun nach Hause kommt und sich verdorben und unabhängig fühlt. Sie schwatzt eine Weile über die Kinder. »Hast du sie gut ins Bett bekommen?«, fragt sie beispielsweise. Das bringt mich immer auf die Palme. Vermutlich macht sie es auch genau deshalb. Hält sie mich denn für einen Vollidioten? Nur nicht antworten das war bloß eine rhetorische Frage. Hat sie noch nichts von so nützlichen Dingen wie Valium gehört? Oder Calpol für Kinder? »Ja.« »Keine Probleme?« Immer die gleiche Leier. Sie glaubt, ich wäre damit überfordert. Also gut, wenn du Probleme willst, dann sollst du sie haben. »Yeah, Tom hat im Bad Theater gemacht, ich musste ihm das Fell versohlen.« Die Vorstellung, irgendjemand könnte ihren Lieblingsjungen anrühren, ist ihr unerträglich. »Du hast ihn geschlagen?«
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»Yeah, aber ich habe keine Spuren hinterlassen. Die Sozialarbeiterin wird nichts merken.« »Dann hast du ihn gar nicht geschlagen?« Der entgeht auch gar nichts. Das war bis jetzt doch schon ziemlich romantisch, oder? Beurteilen Sie nur nicht das Vorspiel nach Ihren eigenen konventionellen Vorstellungen. Wie auch immer, von diesem Punkt an kann sich die Sache nur noch in zwei Richtungen entwickeln. Entweder es wird ein ausgewachsener Krach oder meine Frau lässt es auf sich beruhen und sagt nach ein paar Augenblicken: »Du siehst heute Abend toll aus.« Wenn sie mir Komplimente macht, ist äußerste Vorsicht geboten. Normalerweise heißt das nämlich, dass sie sauer ist. Sie hasst es, wenn ich ihren Atem schnüffle, aber ich muss es herausfinden. »Wie viele Finger halte ich hoch?«, sage ich und halte ihr die Hand vors Gesicht. »Was?« »W-I-E V I-E-L-E F-I-N-G-E-R H-A-L -« »Ach, hör doch auf. Ich habe nichts getrunken. Warum nimmst du immer gleich an, ich hätte was getrunken, wenn ich spät nach Hause komme?« Da hat sie natürlich Recht. Sie hat mich völlig überrumpelt. Meine Frage konnte auch unmöglich mit der Tatsache zu tun haben, dass sie sofort in der nächsten Kneipe verschwindet, sobald sich eine Gelegenheit bietet. »Ich habe überhaupt nichts angenommen. Deshalb habe ich es ja überprüft.« »Wo ist dein Problem?«
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Probleme. Immer nur Probleme. Dabei bin ich doch wirklich pflegeleicht. »Nichts. Ich war nur überrascht, dass du sagtest, ich sehe toll aus.« »Ich wollte nur nett sein.« Das verwirrt mich jetzt aber. Wenn sie nicht sauer ist, muss es ein anderes verstecktes Motiv geben. Vielleicht hat sie einen Geliebten. »Warum lügst du mich an, wenn du nett sein willst?«, frage ich. »Was meinst du damit?« »Nun, offensichtlich sehe ich nicht toll aus. Ich sehe seit mindestens zehn Jahren nicht mehr toll aus. Ich bin nämlich ein Wrack und mir fallen die Haare aus.« »Okay, du hast Recht. Du siehst nicht toll aus. Du sieht einfach nur schrecklich aus, das ist alles. Mehr kann man in deinem Alter eben nicht mehr erwarten.« »Warum hast du dann versucht mich zu demütigen, indem du sagst, ich sähe toll aus?« »Gott, bist du dämlich. Ich wollte nett sein. Vielleicht wollte ich dich sogar verführen.« »Warum gibst du mir nicht einfach einen Kuss, statt so verdammt altklug daherzureden?« Und dann reißt sie sich die Kleider vom Leib und wirft sich auf mich, und wir legen einen zweistündigen Sexmarathon hin. Aber klar doch. Und jetzt möchte ich wirklich gern wissen, wie ich dafür sorgen kann, dass dieses Programm noch öfter wiederholt wird. Wenn man gerade über zwanzig ist, denkt man über so etwas nicht weiter nach, weil man
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es in ein paar Stunden sowieso noch einmal bekommt und sich eher Gedanken machen muss, wann das endlich wieder aufhört. Aber heute ist alles etwas schwieriger. Kann ich mir sicher sein, dass ich nicht gerade eben den letzten Steifen habe, den ich jemals bekommen werde? Ich könnte ja morgen schon sterben oder mein Schwanz könnte den Geist aufgeben. So etwas passiert manchmal. In Augenblicken wie diesen wünsche ich mir, ich hätte ein besseres Verhältnis zu meinem Dad. Dann könnte ich ihn fragen: »Klappt's bei dir noch?«, und er könnte Ja oder Nein sagen und wir könnten uns ausgiebig über die Details der männlichen Sexualität unterhalten. Aber wie es aussieht, bin ich viel zu gehemmt, um ihn zu fragen, deshalb muss ich mir weiterhin den Kopf darüber zerbrechen, wann ich impotent werde. Dadurch wird jedes Schäferstündchen zu einer ungeheuer wichtigen Angelegenheit. Es wäre ja noch in Ordnung, wenn man einen krönenden Abschluss hätte - beide kommen gleichzeitig, und zwar nach ein paar Dutzend Stellungen. Aber stellen Sie sich mal vor, Sie hätten beim letzten Mal einen vorzeitigen Samenerguss. Dann wäre Ihr Leben doch nicht mehr lebenswert, denn Ihre Partnerin würde Sie für den erbärmlichsten Liebhaber der Welt halten. Und Sie würden mit der Gewissheit zum Greis werden, dass Ihre Lebensgefährtin die anderen Pflegefälle im Heim ausführlich über Ihre Unzulänglichkeiten ins Bild setzt. Noch schlimmer, wahrscheinlich gibt es im Darby-&Joan-Club sogar einen Jack-Nicholson-Typ, der immer noch einen Steifen kriegt und der mit über sechzig das
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abräumt, was Sie schon mit zwanzig hätten vernaschen sollen. Die Frauen sind da besser dran. Auch wenn sie älter werden, können sie sexuell noch einwandfrei funktionieren. Ich meine, von ihnen wird ja auch nicht so viel erwartet. Und wenn es mal schwierig wird, dann gibt es immer noch die Hormonersatztherapie, damit alles so flutscht wie früher.
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6 »Weißt du was, John? Ich hasse meinen Job.« Ja, das wusste ich schon. Nur ein Komapatient hätte es überhören können. Jeden Tag schwatze ich mit meinem Kumpel Alex mindestens zwanzig Minuten am Telefon - jawohl, auch Männer klatschen -, und die letzten vierzehn Tage waren eine einzige Jammerei, die nach und nach immer heftiger geworden ist. Es ging von »Die Arbeit macht mir keinen Spaß mehr« über »Das macht mich noch verrückt« bis zu »Ich hasse meinen Job.« »Dann kündige doch einfach«, sage ich mit meiner mitfühlendsten Therapeutenstimme, obwohl ich weiß, dass genau diese Antwort am allerwenigsten hilft. Nach objektiven Maßstäben hat Alex einen wunderbaren Job. Es ist eine interessante, kreative Arbeit, er verdient mehr als ein Minister, und Hunderte von Leuten würden sofort mit ihm tauschen. Genau genommen sind nicht viele Jobs besser als seiner. Deshalb ist es für ihn sinnlos, sich anderweitig umzusehen, und er kann sowieso nicht raus, weil er zu viele finanzielle Verpflichtungen hat. Kurz und gut, er sitzt in der Falle. So etwas Dummes aber auch. »Darüber haben wir doch gestern schon gesprochen«, antwortet er vorsichtig. Anscheinend hat er überhaupt nicht bemerkt, dass ich nur sticheln wollte. Das finde ich beunruhigend, denn wenn Alex einen Seitenhieb übersieht, dann bedeutet dies, dass er kurz vor dem Selbstmord steht.
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»Hast du schon die Telefonseelsorge angerufen?«, frage ich, um mich abzusichern. Ich könnte nicht mit dem Gedanken weiterleben, dass er sich etwas antut und ich nicht einmal versucht habe, ihm zu helfen. »Yeah, aber sie hatten zu tun«, antwortet er. Anscheinend erwachen seine Lebensgeister wieder. »Nun ja, es ist ja gut zu wissen, das man nicht allein im Boot sitzt.« Das war, wie wir beide ganz genau wussten, eine verdammte Untertreibung. Fast jeder, den wir kannten, hasste seinen Job, und sei es nur ein bisschen. Einige hatten wirklich beschissene Jobs und gute Gründe, ihre Arbeit zu verabscheuen, aber es gab auch Leute wie Alex, die mit pathologischem Hass auf jeden Job reagierten, den sie bekamen. Ja, probieren Sie es ruhig aus. Bieten Sie ihm etwas an, das Sie für perfekt halten, und er wird nach ein paar Stunden voller Widerwillen darüber reden. Denn er weiß, dass es kein guter Job sein kann, wenn man ihn bittet, die Arbeit zu übernehmen. Das ist einer der Gründe dafür, dass ich mich mit Alex so gut verstehe. Wir wissen beide, dass wir an irgendeinem Punkt versagt haben. Mitte der dreißig war das noch anders. Damals konnten wir uns noch einreden, wir wären auf dem Weg zum sprichwörtlichen Topf voll Gold am Ende des Regenbogens. Was für ein lächerlicher Gedanke. Was haben wir nur erwartet? Dass wir eines Tages aufwachen und uns gut fühlen? Aber jetzt sind wir über vierzig. Alex gibt es nicht gern zu und behauptet, er wäre neununddreißig, aber er ist dreiundvierzig. Ehrlich. Er ist viel älter als
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ich - auch das ein Grund dafür, dass ich ihn mag -, und jetzt geht es nur noch bergab. Wir machen nämlich mehr oder weniger das, was wir früher immer für erstrebenswert gehalten haben, aber heute finden wir unsere Jobs natürlich gar nicht mehr so lustig. Wobei, ich glaube nicht, dass wir damals wirklich eine klare Vorstellung davon hatten, wie ein angenehmes Leben aussehen könnte. Als Student hieß das für mich, so wenig wie möglich zu tun und dabei zu träumen, ich wäre eines Tages abartig berühmt und würde haufenweise Geld verdienen. Aber ich war nie ganz sicher, woher Geld und Ruhm kommen sollten. Der vage Gedanke, ich könnte vielleicht Popstar werden, ließ mich manchmal planlos an meiner Luftgitarre herumzupfen. Ich hatte keinerlei musikalische Begabung, was nicht unbedingt ein Hindernis ist, aber ich besitze Integrität, und das Einzige, was ich an der Musikbranche wirklich interessant fand, waren die Unmengen von Drogen, die man dort mühelos bekommen konnte. Da ich aber in dieser Hinsicht sowieso schon gut versorgt war, schien es mir sinnlos, mich noch weiter ins Zeug zu legen. Ich habe mir wohl vorgestellt, irgendwann würde jemand zu mir kommen und mir Kohle und Ruhm einfach dafür geben, dass ich da war. Das klingt albern, aber so ist das nun einmal. Manche Leute wissen anscheinend von Geburt an genau, was sie wollen, aber ich hatte keine Ahnung. »Was willst du eigentlich später mal machen?«, löcherten mich meine Eltern immer wieder.
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Absolut nichts, so hätte die ehrliche Antwort gelautet, aber diese Art von Nihilismus war bei den Craces verpönt. »Ich weiß es nicht«, jammerte ich. An diesem Punkt gab es immer mehrere Möglichkeiten. Manchmal sagten sie mir, ich sollte mich verziehen und sie in Ruhe lassen, bis ich es wusste, und manchmal sagten sie: »Wir kennen jemanden, der dir vielleicht helfen kann, etwas zu finden.« Aber da mein Dad Pfarrer und meine Mutter Eheberaterin war - Sie sehen jetzt, woher ich mein Einfühlungsvermögen habe -, kamen weder Beschimpfungen noch Vetternwirtschaft in Frage. Was herauskam, klang ungefähr so: »Vielleicht solltest du mal zur Berufsberatung gehen.« Nach ich weiß nicht wie vielen Aufforderungen ging ich schließlich hin. Die Beurteilung bestand in dem üblichen vorformulierten Text, den sie jedem schwachsinnigen Einsiedler mitgeben würden: »John ist begeisterungsfähig und aufgeschlossen, er kann gut mit Menschen umgehen. Er könnte erfolgreich als Anwalt/Buchhalter/Astronaut/Atomphysiker tätig sein.« Mit diesem Urteil in der Tasche durfte ich dann voller Begeisterung und Aufgeschlossenheit mit den Menschen umgehen, denen ich auf der Oxford Street Eiskreme verkaufte. Das gute Verhältnis zu anderen Leuten änderte sich ein wenig, als ich auf eine Annonce hinten im Standard antwortete: »Finanzberater gesucht«. Ich wurde Versicherungskaufmann, was aus der Sicht meiner Eltern ein riesiger Schritt in die richtige Richtung war. 55
Sie waren total beeindruckt, dass ich zur Arbeit einen Anzug tragen musste. Nur schade, dass die anderen Leute diese Begeisterung nicht teilen konnten. Der Job drehte sich nämlich darum, den Kunden Versicherungsverträge aufzuschwatzen, die sie weder wollten noch brauchten. Außerdem sollte man bei seinen Freunden anfangen. »Hallo, Barry, hier ist John. Wir haben uns ja lange nicht gesehen.« »John, wie schön, mal wieder etwas von dir zu hören.« Das wird sich gleich ändern. »Yeah ... äh ... wie geht's dir denn so?« Es ist mir immer schon schwer gefallen, auf den Punkt zu kommen. »Ganz gut. Und dir?« »Ausgezeichnet. Äh, ich rufe an, weil ich einen neuen Job habe.« »Ich wusste nicht einmal, dass du einen alten hattest.« Damit war so ungefähr der Punkt erreicht, an dem der Job den Mann korrumpiert. Normalerweise hätte ich ihn einen Drecksack genannt und wir hätten gelacht. Aber jetzt wollte ich etwas von ihm und musste mich zurückhalten. »Du hast Recht. Es ist ganz sicher der erste, der ein gewisses Potenzial hat«, sage ich ruhig. »Was ist es denn für ein Job?«, fragt Barry. Seine Stimme klingt, als würde er mühsam ein Gähnen unterdrücken. »Ich bin Finanzberater.«
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»Was bist du? Seit wann verstehst du etwas von Geld?« Seit zwei Tagen, um präzise zu sein. »Nun ja, learning by doing«, antworte ich etwas verlegen. »Ich würde dich gern besuchen und mit dir über deine Finanzen reden, und vielleicht habe ich ja ein paar Vorschläge, die dir helfen können.« »Oh, mein Gott«, lacht er, »du bist Versicherungsvertreter, was?« »Das ist eine der Dienstleistungen, die ich anbieten kann.« »Du bist Versicherungsvertreter, John. Wer hätte das gedacht?« Nun war Barry noch einer von der freundlichen Sorte. Die meisten Leute hätten jetzt einfach den Hörer aufgelegt. Er ließ sich immerhin darauf ein, mit mir essen zu gehen, er bezahlte sogar, und er hat tatsächlich zehn Minuten zugehört. Dann sagte er: »Ich denke darüber nach«, was so viel hieß wie: »Nein, und wage es ja nicht, noch einmal darauf zu sprechen zu kommen.« Danach konnten wir uns dann dem allgemeinen Tratsch über das widmen, was einige unserer Freunde gerade taten. »Wissen Sie, Sie packen das nicht richtig an«, sagte Mark, mein Chef, als ich ins Büro zurückkam. »Sie müssen den Leuten mehr Feuer unterm Arsch machen.« Mark stammte aus einer unglaublich betuchten Familie, aber seit er bei der Versicherung arbeitete, redete er wie ein Bauarbeiter. Es schien zu funktionieren, er konnte jederzeit jedem Gesprächspartner Feuer unterm Arsch machen. Aber wenn ich zu reden
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versuchte wie er, war ich immer noch ein mieser Vertreter. Doch ich gab nicht auf. Ich machte weiter, bis ich alle meine Freunde erst finanziell ruiniert und dann verloren hatte. Schließlich wurde ich gefeuert. Allerdings hatte ich auch einige Erfolge zu verzeichnen. Beispielsweise war ich recht geschickt darin, meinen Exfreundinnen überflüssige Policen zu verkaufen. Ich glaube, es lag daran, dass ich bei ihnen die geringsten Skrupel hatte, sie über den Tisch zu ziehen. Ich weiß schon, so etwas gehört sich nicht. Man soll ja seinen Exfreundinnen gegenüber gnadenlos verständnisvoll sein. »Ja, wir waren doch noch so jung. Es war einfach nicht der richtige Zeitpunkt. Ja, wir hätten einfach Freunde bleiben sollen. Du hast mir immer viel bedeutet.« Ach, zum Teufel damit. Ich habe meinen Exfreundinnen niemals irgendetwas verziehen. Und wenn du glaubst, ich wäre jetzt nett zu dir, nachdem du abgehauen und mit Mike ins Bett gegangen bist, dann hast du dich geschnitten. Es ist mir völlig egal, ob es fünfzehn Jahre her ist. Wer meinem Herzen so etwas antut, kommt nicht ungeschoren davon. Aber falls es meine Verflossenen tröstet, ich habe mich auch selbst über den Tisch gezogen. Schön wär's, wenn ich berichten könnte, dass es ein ungeheuer raffiniertes Betrugsmanöver war, das auch nach einer zwölf Monate dauernden Verhandlung nicht mit einer Verurteilung abgeschlossen werden könnte, aber leider war ich genauso beschränkt wie alle anderen. Ich habe mir die schlechteste aller Policen verkauft,
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um eine Hypothek abzusichern. Ich zahle heute noch dafür. Von hier aus war der Weg bis zur Schriftstellerei nicht ganz so weit, wie man es erwarten könnte. Wenn man als Versicherungsvertreter versagt hat, bleiben einem nicht mehr viele Möglichkeiten. Meine Frau hatte gemischte Gefühle, was meinen Berufswechsel anging. Es brachte einem zwar einen recht guten Ruf ein, wenn man sagte, man sei Autor, und deshalb schämte sie sich nicht mehr für mich, aber sie konnte nicht ganz einsehen, warum ich einen Beruf ergriff, mit dem ich noch weniger verdienen würde als mit dem letzten. Überraschenderweise kam aber doch etwas Geld herein. Anfänglich hatte das wahrscheinlich mit meinem Vornamen zu tun. Jim Crace, ein Autor mit erheblich weniger Talent - das darf man ruhig so sagen - hatte gerade einen Preis gewonnen, und ich hatte den Eindruck, dass einige Zeitungsredakteure mich mit ihm verwechselten. Ich rief sie an und machte einen Vorschlag für eine Geschichte. Sie fragten natürlich, wer ich sei, ich sprach meinen Vornamen möglichst undeutlich aus und rief dafür umso lauter »CRACE« in den Hörer, und sie sagten sofort: »JA.« Um ehrlich zu sein, wurde ich nur einmal bezahlt, als wäre ich Jim, und das war eine komische Sache, weil das Stück ziemlich verrissen wurde. Aber die ganze Zeit hatte ich das Gefühl, ich würde einfach nicht weiterkommen, obwohl das gar nicht stimmte. Ich erinnere mich noch, wie aufgeregt ich war, als ich Robbie Coltrane während der Dreharbeiten 59
zu einem neuen Film interviewen sollte. Ein prestigeträchtiger Auftrag, so schien es. Aber ich kann mich nur noch daran erinnern, dass mich ständig ein gewisser Robert Carlyle beschimpft hat, weil er sich innerlich darauf einstellen musste, einen Skinhead zu spielen. Ich durfte stundenlang in Old Trafford auf dem Parkplatz warten, bis jemand sich dazu herabließ, die Tür des Wohnwagens zu öffnen und meine Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen. Letzten Endes ist das bei allen Jobs ganz ähnlich. Jeder will jemanden haben, der noch unwichtiger ist als er selbst - nicht unbedingt, um ihn herumzukommandieren, auch wenn das dazugehört -, sondern hauptsächlich, damit er sich besser fühlen kann als die Leute unter ihm. Wenn man über vierzig ist, erkennt man so langsam das Ende der Karriereleiter. Nehmen Sie mal Tony Blair. Der Mann hat Tausenden von Leuten, die er vermutlich nicht ausstehen konnte, die Hand geschüttelt, um zu erreichen, was er erreichen wollte. Er wollte Premierminister werden. Die Nummer eins im Land. Richtig? Falsch. Denn wenn man Premierminister ist, stellt man fest, wie wenig Macht man im Vergleich zu jemandem wie Bill Clinton hat. Also muss man vor ihm kriechen und lächerliche Dinge sagen wie »Bill ist einer meiner besten Freunde«, obwohl man höchstens zehn Minuten mit ihm geredet hat und sich darauf vorbereiten muss, den Dritten Weltkrieg anzuzetteln, um den Schwanz des Präsidenten aus den Schlagzeilen zu bekommen. Weiter wird er es nicht bringen. In ein paar Jahren wird er ein ehemaliger
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Premierminister sein, um den sich niemand mehr kümmert. Und wenn seine Haare so schnell ausfallen wie bisher, wird man ihn nicht einmal Wiedererkennen. Noch schlimmer muss es sein, wenn man jemand wie John Prescott ist. Man weiß, dass man dick und hässlich ist und zu anständig, um den Spitzenjob zu bekommen. Stellen Sie sich mal vor, Sie arbeiten Ihr ganzes Leben als Politiker und bekommen dann doch nicht, was Sie wollen. Wie sehr muss er Tony Blair beneiden. Ich frage mich, ob er davon träumt, Tony würde ein gewaltsames Ende finden und die Queen würde ihn bitten, den Posten des Premierministers zu übernehmen. Nun, ich habe Neuigkeiten für dich, John. Du wärst nicht mehr als ein Lückenbüßer, dafür würde schon Peter Mandelson sorgen. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich fühle mich nicht ganz und gar mies bei dem, was ich tue. Ich hätte bloß gern noch ein paar Dreingaben - oder überhaupt irgendeine Dreingabe. Beispielsweise ein paar Untergebene. Doch wenn man freiberuflich arbeitet, gibt es so etwas eben nicht. Ich glaube, das ist ein Grund für viele Leute, sich Kinder anzuschaffen. Dann haben sie jemanden, den sie anbrüllen können. Aber im Großen und Ganzen habe ich nichts gegen meine Arbeit. Jedenfalls, solange ich nicht weiter drüber nachdenke. Wenn ich nachdenke, wird mir klar, dass ich lebe wie der Typ in Und täglich grüßt das Murmeltier. Immer wieder das Gleiche, Tag für Tag, und das Einzige, was sich abgesehen von Kleinigkeiten verändert, ist die Tatsache, dass ich älter werde. 61
Vielleicht habe ich auch irgendwo etwas übersehen. Ich dachte, ein Job sollte wichtig sein und dem Leben einen Sinn geben. Für mich kann sich ein Job nicht nur ums Geld drehen. Wenn das so wäre, dann könnte ich auch Crack verkaufen oder irgendwo in der City arbeiten. Ein Job ist in erster Linie ein Job. Etwas, das den Tag ausfüllt, damit man halbwegs beschäftigt ist. Damit man nicht ständig darüber nachdenkt, was man tun würde, wenn man den Job nicht mehr hätte. Was ja eines Tages sowieso passieren wird. Niemanden wird es kümmern, und selbst wenn man sich für unentbehrlich hält, man ist es nicht. Ein anderer wird kommen und die Sache genauso gut machen. Vielleicht sogar noch besser. Letzten Endes sorgt ein Job nur dafür, dass die Leute ein paar Jahre von der Straße sind, wo sie am Ende noch herumlaufen und sich gegenseitig umbringen würden. Jetzt mal abgesehen von den Jobs bei der Army, wo man genau dazu ausgebildet wird. Ein Job hat nur den Wert, den man ihm beimisst und nur in dem Maße, wie man sich mit dem Job und seinem Leben besser fühlt. Sobald man das einmal erkannt hat, ist man im Arsch. Man kann nicht aufhören, das zu machen, was man macht, weil man es besser macht als alle anderen, die einem sonst noch einfallen, und weil die Vorstellung, man würde überhaupt nichts mehr tun, noch schlimmer ist. Aber wenn man einfach weitermacht, kommt eben auch nichts dabei heraus. Wenn man hat, was man immer wollte, entpuppt es sich als Illusion. An diesem Punkt spielen manche Menschen mit 62
dem Gedanken, Therapeut zu werden. Denken Sie nur an unseren großen Anführer Tony Blair. Der Mann benimmt sich eher wie ein Lebensberater als wie ein Politiker. Er predigt und er hat sich eine Sprache angeeignet, die sagt, dass er unsere Nöte wirklich versteht. Glauben Sie mir, er hat das nicht getan, weil er denkt, er würde damit als Politiker eine bessere Figur machen. Es passiert ganz ohne sein Zutun. Er ist so sehr von seiner inneren Nichtigkeit zerrissen, dass er sich vor unseren Augen in einen Allwissenden verwandelt. Denn was ist verführerischer für einen Mann, der sich mit seinen eigenen Fehlschlägen auseinander setzen will, als seine Zeit mit den Fehlschlägen anderer Leute zu verbringen und dafür auch noch Geld zu kassieren? Auf diese Weise fühlt man sich im Vergleich zu denen nicht mehr ganz so sehr wie ein Versager. Außerdem kann man sich noch darauf berufen, dass man den Leuten doch helfen wolle. Stellen Sie sich das mal praktisch vor. »So, und was bedrückt Sie nun?« »Ich habe meinen Job verloren und meine Freundin vögelt mit David Mellor.« Wundervoll. Gott sei Dank sieht mein Leben nicht ganz so schlimm aus. »Und wie fühlen Sie sich dabei?« »Ziemlich elend.« Das kann ich ihm nicht durchgehen lassen. Ich stoße ihn am besten direkt mit der Nase darauf. »Nur ziemlich elend, sagen Sie? Es klingt aber so, als würden Sie es eigentlich für viel schlimmer halten.«
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»Sie haben Recht. Es ist eine einzige Katastrophe. Was soll ich nur tun?« »Was glauben Sie denn, was Sie machen sollten?« »Keine Ahnung. Deshalb frage ich Sie ja.« »Unsere Zeit ist für heute um. Nächste Woche werden wir uns mit der Frage beschäftigen, warum Sie von mir erwarten, ich müsste Ihnen alle Antworten liefern. Das macht dann 35 Pfund, bitte.« Aber bevor Sie jetzt losgehen und eine Privatpraxis aufmachen, sollten Sie auch an die Nachteile denken. Es kann deprimierend sein, sich die ganze Zeit mit Versagern herumzuschlagen. Stellen Sie sich vor, Sie müssten jemandem wie mir zuhören, der über sein erbärmliches kleines Leben jammert. Ich persönlich kann mir nichts Schlimmeres vorstellen. Wenn ich es mir recht überlege, ist das wohl auch der Grund dafür, dass ich bei dem bleibe, was ich habe.
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7 »Äh, hallo, John«, sagt Keith verlegen, während er verschiedene Drogen und entsprechendes Zubehör unter einer Zeitschrift verschwinden lässt. Partys machen in meinem Alter einfach keinen Spaß mehr. Früher habe ich einen Raum immer selbstbewusst betreten, auch wenn nur Fremde darin waren, weil ich von dem Gefühl getragen wurde, alles unter Kontrolle zu haben. Wenn man mich freundlich aufgenommen hat - Sie wissen schon, wenn man ausdrücklich zum Bleiben aufgefordert wird, sobald jemand Drogen herumgehen lässt -, war es gut, und wenn nicht, war es auch egal, weil ich selbst genug dabeihatte. Aber heute bleibe ich - wenn ich überhaupt einmal eingeladen werde - lieber in der Küche und hänge bei den anderen Versagern herum, die zu ängstlich sind, sich draußen blicken zu lassen. Ich weiß, wo mein Platz ist. Ich bin einer der Erwachsenen, die toleriert werden, solange sie es nicht übertreiben. Aber hin und wieder muss man mal aufs Klo - nur zum Pinkeln, wohlgemerkt, nicht wegen irgendwelcher schräger Sachen. Und dabei läuft man eben Gefahr, auf jemanden wie Keith zu stoßen, den man ein paar Mal zusammen mit Kollegen auf der Arbeit getroffen hat und der mindestens zehn Jahre jünger ist als man selbst. »Hallo, Keith«, sage ich so nonchalant wie möglich. Eine knifflige Sache, weil ich mir nicht sicher bin, dass die coolste Art und Weise, mit der Situation umzugehen,
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darin besteht, ihn spüren zu lassen, dass ich Bescheid weiß und es mir ziemlich egal ist, oder ob ich die Sache besser gleich ganz ignorieren soll. »Schön, dich hier zu treffen«, antwortet er, was natürlich glatt gelogen ist. Er schaut ängstlich auf. Ich glaube, er hat sich ernstlich Sorgen gemacht, ich könnte ihn auf der Stelle vorübergehend festnehmen. Gar keine so schlechte Idee, wenn ich es mir recht überlege. Also pass bloß auf. »Schön, dich zu sehen«, antworte ich, was ebenfalls eine glatte Lüge ist. Manchmal hasse ich mich. Genau genommen hasse ich mich sogar die meiste Zeit. Warum bin ich nur so ein Weichei? Warum musste ich den bequemen Ausweg wählen und so tun, als hätte ich sein Zubehör nicht bemerkt? Warum lasse ich mich zu diesem tumben Geplauder herab, bei dem sowieso keiner etwas gewinnt? Wo man nicht einmal Wetten auf den Sieger abschließen kann? »Wie geht's denn so?« »Gut, und selbst?« »Ganz prima.« Ach, wirklich? Na, du siehst mir aber nicht danach aus. Du schwitzt wie ein Schwein, dir platzen gleich die Augen aus den Höhlen und aus der Nase rinnt Blut. »Äh - brauchst du noch lange? Ich müsste mal dringend pinkeln.« »Äh - ich bin gerade beschäftigt. Könntest du vielleicht noch einen Moment warten?« »Aber klar doch.« So ein Waschlappen kann man werden. Ich muss
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pinkeln und er nicht. Er ist im Klo und ich bin draußen. Und ich bin derjenige, der warten darf. Ein paar Minuten später tauchte Keith wieder auf und murmelte etwas Verlegenes wie: »Danke, dass du gewartet hast, Mann.« »Mann«. Es gibt Typen, die nennen dich sofort »Mann«, obwohl sie gerade mal ein OCB-Blatt auch nur angeschaut haben. »Kein Problem.« Kein Problem? Was für ein Unsinn. In Wirklichkeit meinte ich: Von mir aus kannst du einen Herzinfarkt bekommen, die Treppe runterfallen und an deinem Erbrochenen ersticken. Man glaubt es nicht. Da kommt mir ein Kerl entgegen, der sich bis zum Anschlag vollgekokst hat, und ich bin eifersüchtig. Oder ist das Neid? Ich kann das nie richtig auseinander halten. Ausgerechnet Koks, du lieber Gott. Die am meisten überschätzte, nutzloseste Droge, die es überhaupt gibt, und ich wünsche mir, ich hätte etwas abbekommen. Was ist bloß los? Ich habe ein fortgeschrittenes Alter erreicht - also, um ehrlich zu sein, habe ich es wohl schon vor zehn Jahren erreicht -, in dem ich nicht mehr herumlaufen und mich wie ein Trottel benehmen kann, das ist los. Mein Körper hält das nicht mehr aus und mein Kopf erträgt es nicht, dauernd strubbelig zu sein. Außerdem sind Drogen etwas für junge Leute. Ich meine, was würden Sie denken, wenn Sie einen vierzigjährigen Angestellten einer Werbeagentur sehen, der völlig zugedröhnt herumspringt und zu Radiohead tanzen will? So ein Trottel, würden Sie sagen.
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Nehmen Sie mal William Burroughs. Ein paar Literaturtypen, die nicht weiter sehen können als bis zum Ende ihrer Fixernadel, halten ihn für so etwas wie ein literarisches Genie. Geht's noch absurder. Der Mann wurde doch nur berühmt, weil er ein Junkie war und jemanden erschossen hat - ich weiß nicht mehr wen - und weil er ein mäßig spannendes Buch geschrieben hat. Über wen? Raten Sie mal. Über einen Junkie. Danach hat er nur noch einen Haufen Unsinn von sich gegeben, den niemand mehr in Frage zu stellen wagte. Ich sage ja nicht, dass der Mann kein Talent hatte, aber er hat einfach niemals lange genug aufgehört, Drogen zu nehmen, um es wirklich überprüfen zu können. Das Problem ist, dass ein Teil von mir immer noch denkt, es wäre ziemlich cool, Drogen zu nehmen. Ich weiß, das ist lächerlich, aber was will man machen. Ich kann nichts dagegen tun. Wahrscheinlich hasse ich deshalb inzwischen jeden, der Drogen nimmt. All dieser Mist, den man dauernd hört, dass Haschisch legalisiert und Heroin entkriminalisiert werden sollte, geht mir echt auf die Nerven. Was mich betrifft, so sage ich nur: Wenn es für mich nicht okay ist, dann ist es auch für niemand anders okay. So einfach ist das. Keine Ausnahmen. Statt in diesem neuen Wischiwaschiliberalismus zu zerfließen, sollten wir lieber energisch durchgreifen. Wie wäre es mit der Todesstrafe für den Besitz aller Arten von Drogen? Oder mindestens lebenslänglich. Wir könnten dann beobachten, wie schnell die Junkies auf Entzug kommen. Äh ... was meine letzte Bemerkung angeht ... das
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war doch nicht übertrieben, oder? Na ja, ein bisschen vielleicht. Aber behalten Sie es bitte für sich. Unser kleines Geheimnis. Denn normalerweise sage ich so etwas natürlich nicht in der Öffentlichkeit. Wenn man so hart urteilt, wird man als Psychopath oder vielleicht sogar als ToryAbgeordneter eingestuft. So oder so verliert man eine Menge Freunde, und ich kann es mir nicht leisten, noch mehr Freunde zu verlieren. Deshalb habe ich mir zwangsläufig einen etwas freundlicheren Ton angeeignet, wenn ich meinen Standpunkt dazu erkläre. Das klingt dann ungefähr so: »Mir ist klar geworden, dass ich aufhören musste, Drogen zu nehmen. Ich habe festgestellt, dass es keinen Spaß mehr gemacht und sogar mein Leben beeinträchtigt hat. Prinzipielle Einwände dagegen habe ich aber nicht. Wenn du dir einen drehen willst, dann mach nur.« Nicht schlecht, was? Und dabei völlig offen und ehrlich. Wenn Sie den Übergang von »Nimmt Drogen« zu »Nimmt keine« schaffen wollen, müssen Sie irgendwie Ihre Glaubwürdigkeit bewahren. Sie müssen beiläufig durchblicken lassen, dass Sie früher ein richtig harter Bursche waren und den Vorrat für ein dreitägiges Festival an einem Nachmittag durchgezogen haben. Dass Sie mehr Magenspülungen als warme Mahlzeiten genossen haben. So Sachen. Aber Sie müssen beim Erzählen vorsichtig sein, weil der Grat zwischen sehr, sehr hart und sehr, sehr dumm wirklich schmal ist. Und die meisten Leute verstehen sowieso alles falsch. Als ich noch in meiner Drogenlehrzeit war - Sie wissen schon, die Phase, in 69
der Sie lernen, einen Joint zu bauen, ohne dass Ihnen in den Händen alles zu Krümeln zerfällt -, habe ich einmal alle Hoffnung verloren. Ich war denkbar ungeschickt mit Fingern und Daumen und begann sogar zu zittern. Besonders wenn Mädchen in der Nähe waren. Aber dann traf ich einen alten Hippie und war innerlich bereit, mich tief beeindrucken zu lassen. Anfangs war ich es sogar wirklich. Bis er dann den Mund aufgemacht und darüber gelabert hat, dass er zu Hawkwind auf dem Windsor Festival einen Trip einwerfen und beim Genesis-Konzert hinter der Bühne Dope rauchen wollte. Was für ein Trottel, dachte ich da nur noch. Die Leute kapieren es immer noch nicht. Sehen Sie sich doch nur mal diesen Howard Marks an, diesen so genannten Mr. Nice. Der Mann muss mindestens fünfzig sein und kann offenbar immer noch nichts anderes als darüber schwadronieren, wie viel Dope er geschmuggelt hat und dass er einfach nur versucht hätte, den Leuten einen Gefallen zu tun. Yeah, Friede und Liebe sei mit dir, Howie. Ich meine, was für eine erbärmliche Art das ist, sein Leben wegzuwerfen. Stellen Sie sich nur vor, wie es sein muss, mit ihm zu reden. »Sagen Sie mal, Howard, was haben Sie denn in der letzten Zeit so gemacht?« »Ich war im Gefängnis.« »Oh, du meine Güte.« »Yeah, das war wirklich heavy. Die Bullen haben mich erwischt, als ich Dope schmuggeln wollte.« »Na ja, was haben Sie erwartet?«
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»Was meinen Sie damit, Mann?« »Ich meine, Sie haben Dope geschmuggelt, man hat Sie erwischt, Sie sind ins Gefängnis gekommen. Das hätte sich ein Zehnjähriger ausrechnen können.« »Yeah, aber das System ist so unfair, Mann.« Spätestens wenn die Unterhaltung hier angelangt ist, fühlen Sie sich unheilbar gelangweilt. Dann liegt es an Ihnen, etwas zu unternehmen, denn Howard ist so von sich eingenommen, dass er einfach nicht merkt, wie er sabbert, sich wiederholt und alles in allem ein völlig überflüssiges Lebewesen ist. Eigentlich kann man sich dann nur noch fragen, ob man ihn umbringt oder sich selbst. Um Gottes willen, Howard, nun reiß dich doch zusammen. Lass dir die Haare schneiden und bewirb dich bei der Army oder so. Aber hör bitte auf, so eine peinliche Figur abzugeben. Manche Leute haben einfach kein Schamgefühl. Aber lassen Sie uns für einen Augenblick einfach mal annehmen, Sie wären unter den wenigen Glücklichen, die ihren mittleren Lebensabschnitt erreichen, ohne sich bei allen, die jünger sind als Sie, zum Affen zumachen. Das ist jetzt rein hypothetisch. Offensichtlich. Ich wollte das nur einwerfen, bevor Sie es tun. Egal - jedenfalls ist man selbst dann noch meilenweit davon entfernt, wirklich anerkannt zu werden. Man muss nämlich immer noch lernen, mit den Leuten zu reden. Sie müssen dazu wissen, dass Drogen das perfekte Mittel gegen jede Art von Kommunikation sind. Sie fühlen sich angespannt oder nervös? Werfen Sie was ein. Irgendetwas. Wenn Sie dann wohlbehalten in Ihrem 71
Kokon sitzen, in Ihrer eigenen Welt, ist alles andere unwichtig. Wenn Sie sich ein paar Linien Speed oder Coke reingezogen haben, haben Sie kein Problem mehr damit, über absolut nichts sagenden Unfug zu quatschen, während Sie sich für unglaublich faszinierend halten. Wenn Sie stoned sind, sitzen Sie normalerweise sowieso bloß verzückt herum und starren die Tapete an. So oder so können Sie sich glücklich schätzen, dass Sie nichts mehr fühlen müssen. Wenn Sie nichts fühlen, sind Sie für niemanden zu erreichen. Sagen Sie mir, dass ich mittlerweile ein nutzloser, angekahlter Depp bin, und es wird mir unendliche Qualen bereiten. Nein, wird es nicht, weil Sie mir damit ja nur etwas sagen, das ich sowieso schon weiß. Aber sagen Sie das Gleiche zu jemandem, der zugedröhnt ist, und er wird nur mit den Achseln zucken. Drogen geben Ihnen eine ähnliche innere Überlegenheit wie ein Frühstück mit Biomüsli. Irgendwie wissen Sie einfach, dass Sie Recht haben und alle anderen sich irren. Die Drogenkonsumenten nennen das einen erweiterten Bewusstseinszustand. So kann man sich irren. Passen Sie auf. Sie können es wahrscheinlich einfach nicht mehr hören, dass die Frauen immer sagen, wie abweisend die Männer wären und wie sehr sie sich nach jemandem sehnen, der emotional zugänglicher ist. »So jemanden findest du nirgends, Liebling. Nicht einmal im Supermarkt.« Aber wie kommt es dann, dass auf jeder Party ausgerechnet die Typen, die launisch und überheblich sind und keinen klaren Satz
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herausbekommen, von Frauen umschwärmt werden? Entweder den Frauen sind die Fantasien von zugänglichen Männern wichtiger als die Männer selbst oder sie können der Versuchung nicht widerstehen. Oder sie hoffen, zu einem Joint eingeladen zu werden. Die letzte Möglichkeit schien mir immer die wahrscheinlichste zu sein. Ich habe oft gestaunt, wie viel Langeweile sich manche Leute gefallen lassen, nur weil sie hoffen, am Ende etwas umsonst zu bekommen. Warum sonst verbringen die Leute so viel Zeit mit einem Kokser? Wie erbärmlich das ist. All die Leute, die ihre Fleetwood-Mac-Platten auflegen und hoffen, gleich käme Stevie Nicks oder Lindsay Buckingham herein und würde ihre Vorräte mit ihnen teilen. Kein Wunder, dass so viele Typen Drogen nehmen. Es ist die einzig zuverlässige Methode, garantiert eine Frau ins Bett zu bekommen. Wenn man nicht stoned ist, sondern nur herumhängt und so tut, als wäre man es, kommt man mindestens zum Knutschen, ehe das Mädchen merkt, dass man nicht das hat, was sie will. Auf das Image kommt es an. Kein Mädchen will einen sauberen, anständigen, zuverlässigen Mann. Es sei denn, sie will heiraten. Aber das ist eine ganz andere Geschichte. Die paar Erfolge, die ich in meiner Jugend bei den Frauen verbuchen konnte, hatte ich ausschließlich einem Typ namens John zu verdanken. Ehrlich, er hieß wirklich so. Er hat mir nicht nur gezeigt, wie man die verschiedenen Arten von Drogen unterscheiden kann, sondern auch, wie man zurechtkommt, ohne mit den 73
Frauen zu reden. Man sitzt einfach nur da, kramt mit seiner Ausrüstung herum und wartet, bis die Frauen antanzen. Man sagt überhaupt nichts oder gibt höchstens ein beiläufiges »Hi« von sich, und dann ein »Willst du auch was?«, wenn man sie wirklich mag. Es funktionierte perfekt, weil man nie Gefahr lief, abgewiesen zu werden. Wenn sie dich nicht leiden konnte, blieb ihr nichts anderes übrig als ein paar kluge Bemerkungen zu machen und blind herumzuraten, ob man heiß auf sie war oder nicht. Je länger sie blieb, desto deutlicher musste sie schließlich werden, bis man sie so weit hatte, dass sie jede Zurückhaltung über Bord warf und sagte: »Willst du mit mir ins Bett gehen?« Die Antwort »Gott, ich dachte schon, du würdest niemals fragen«,kam allerdings nie besonders gut an. Eins der Dinge, auf die ich wirklich stolz bin, ist die Tatsache, dass ich noch nie eine Frau gefragt habe, ob sie mit mir ins Bett geht. Manchmal musste ich gewisse Andeutungen machen und vom Wohnzimmer bis zum Schlafzimmer eine Fährte von Drogen auf den Teppich legen, aber ich musste es noch nie aussprechen. Wenn ich es mir recht überlege, ist das vielleicht der Grund dafür, dass so viele meiner Exfreundinnen Junkies waren. Nein, war nur ein Scherz, Julia. Diese Methode, Frauen aufzureißen, hat zwar den Nachteil, dass man nicht wissen kann, wie viele Gelegenheiten man ausgelassen hat, aber insgesamt ist es ein guter Ausgleich dafür, dass man nie Worte wie diese zu hören bekommt: »Du bist der widerlichste Mensch, den ich je gesehen habe. Ich würde lieber
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sterben als mit dir zu vögeln.« Doch leider ist man emotional gesehen noch im Alter eines Vorpubertierenden, wenn man aufhört, Drogen zu konsumieren. Auf einmal ist man ein Erwachsener mit schütterem Haar und weiß immer noch nicht, was man einem Wesen des anderen Geschlechts sagen soll. Vielleicht hatten Sie ja das Glück, in Ihrer Drogenzeit eine Partnerin zu finden, so dass Sie nicht mehr auf der Suche sind, aber es ist trotzdem ein Albtraum. Manche Männer weichen der Tatsache, dass sie nichts zu sagen haben, aus, indem sie zur Flasche greifen. Ich glaube, sie halten die Säufernase, den schwellenden Bauch und die peinlichen Flecken auf der Hose für einen Preis, den sie für den Seelenfrieden eben zahlen müssen, aber ich bin mir da nicht so sicher, und das macht das Leben für mich etwas komplizierter. Denn was wollen Sie sagen und wie sagen Sie es, ohne den Eindruck zu erwecken, Sie würden ein Bewerbungsgespräch führen? Fangen Sie an mit »Hallo, wie geht's, wie steht's?«, oder versuchen Sie lieber etwas Riskanteres wie: »Was halten Sie eigentlich vom neuen Haushaltsentwurf?«; was dazu führen könnte, dass Sie aus dem Stegreif einen möglichst intelligenten eigenen Standpunkt entwickeln müssen. Und wie können Sie unterscheiden, ob der glasige Blick Ihres Opfers bedeutet, dass sie ins Krankenhaus muss, oder ob sie einfach nur gelangweilt ist? Mich dürfen Sie da nicht fragen. Ich hatte angenommen, dieses Leben ohne Drogen müsste auch irgendeinen Vorteil haben. Einmal, so nahm ich an, würde sich meine Beziehung zu
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meiner Frau verbessern, und außerdem müsste ich doch jede Menge Geld übrig haben. Zweimal Fehlanzeige. Zuerst einmal die Beziehung. Technisch gesehen, also, im Hinblick auf Gefühle vielmehr therapeutisch gesehen, muss ich wahrscheinlich einräumen, dass die Beziehung sich verbessert hat und gehaltvoller zu sein schien. Ein Therapeut hätte uns sofort zehn von zehn Punkten für unsere Bereitschaft gegeben, uns mit Sachen auseinander setzen. Falls Ihnen die Vokabeln nicht geläufig sind: die »Sachen« sind ein sehr präziser therapeutischer Begriff für viele Konflikte, und was das bedeutet, können Sie ja selbst nachschlagen. Aber all das heißt noch lange nicht, dass es wirklich besser wurde, denn wir haben uns dauernd gestritten. »Ich lege dann mal Van Morrison auf«, sagte sie provozierend. »Das kannst du nicht machen«, antwortete ich. »Wieso nicht?« »Weil ich ihn hasse.« »Na ja, ich aber nicht«, sagte sie wenig einsichtig. »Aber das ist Schrott. Wenn man völlig stoned ist, kann man es gerade noch aushalten, aber nüchtern ist es einfach unerträglich.« »Es ist mir egal, was du denkst. Ich lege die CD jetzt auf.« Und das tat sie dann. Jetzt seht euch das mal an. Es ist ihr völlig egal, wie ich mich fühle. Was habe ich ihr bloß alles durchgehen lassen, als ich stoned war? Eine Schande, dass ich mich nicht erinnern kann, aber ich habe so einen Verdacht,
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dass es ungeheuer viel gewesen sein muss. Es wird Zeit, dem einen Riegel vorzuschieben. »Ich nehme das runter und lege Schubert auf.« »Das wirst du nicht, verdammt.« »Und ob. Pass mal auf. Ich mag Schubert, du magst Schubert. Ich hasse Van Morrison, du magst Van Morrison. Also wirst du Van Morrison hören, wenn ich nicht in der Nähe bin.« Manchmal staune ich über meine eigene Brillanz. Sie fand das weniger gut. »Du wirst mir, verdammt noch mal, nicht sagen, was ich tun und lassen soll.« »Warum denn nicht?« Wahrscheinlich war das angesichts der Umstände nicht gerade die klügste Antwort. Ach, zum Teufel damit. »Du fragst, warum nicht?« Über das, was dann folgte, wollen wir den Schleier des Vergessens decken. Belassen wir es bei der Bemerkung, dass es kindisch und gemein war. Der Streit war damit aber nicht erledigt. Er sollte viele verfeinerte Neuauflagen erleben, doch das Hauptthema blieb immer das gleiche. Der Verzicht auf Drogen hatte die Bedingungen daheim verändert, und ich war nicht mehr so einfach wie früher bereit, mich den Wünschen meiner Frau zu beugen. Überflüssig zu erwähnen, dass sie dies als Ausbruch von Faschismus und Macho-Gehabe interpretierte, aber ganz so simpel war es nicht. Ich dachte vielmehr: Nachdem ich schon einen großen Teil meines Lebens verschwendet habe, soll mich der Teufel holen, wenn ich auch nur noch eine weitere Sekunde
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vergeude. Ganz besonders nicht mit Typen wie Van Morrison. All das kostet Geld, und an dieser Stelle kommen jetzt die erhöhten Ausgaben ins Spiel, die man hat, wenn man keine Drogen mehr nimmt. Denn all die Platten und die anderen Kulturgüter, auf die man stolz war, solange man Drogen genommen hat, werden auf einmal entsetzlich peinlich. Also muss man sie durch bessere ersetzen. Manche Leute sind zu knauserig dazu. Das ist ein großer Fehler, denn dann steht man auf einmal in der Ecke und muss so tun, als würde man immer noch die gleichen Dinge mögen wie früher. Sogar reiche Leute machen manchmal diesen Fehler. Denken Sie doch nur an Eric Clapton. Der Mann ist Multimillionär, aber was hat er gemacht, seit er vom Schnaps und den Drogen losgekommen ist? Er bringt das gleiche langweilige Zeugs heraus wie vorher. So etwas kann man doch nicht mögen. Was für eine Schande. Wenn er das Selbstwertgefühl gehabt hätte, ein paar tausend Pfund für eine neue Plattensammlung auszugeben, hätte er vielleicht noch etwas aus sich machen können. Mit der neuen Plattensammlung meine ich natürlich eine Sammlung alter Platten. Also genauer gesagt, klassische Platten. Alle sagen mir, ich wäre ein alter Knacker geworden, aber was mich angeht, so ist die Tatsache, dass ich keine Popmusik mehr hören muss, der einzige Vorteil, den ich im Älterwerden überhaupt erkennen kann. Für einen vierzigjährigen Mann ist es ja auch weniger peinlich, ein Streichquartett von Beethoven statt eine CD von Portishead zu kaufen. Fragen
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Sie meine Frau. Tut mir Leid, das war ein wenig illoyal. Die armen Leute von Portishead. Die Band würde sofort einpacken, wenn sie wüssten, dass Vierzigjährige sich für ihre Musik interessieren. Aber vergessen wir mal all die kulturellen Gründe dafür, dass man die Finger von den Drogen lässt, wenn man älter wird. In gewisser Weise ist das sowieso nur ein Nebenaspekt. Der wichtigste Grund dafür, keine Drogen mehr zu nehmen, ist der, dass man sich damit etwas schenkt, auf das man sich freuen kann, wenn man wirklich alt wird. Also Sterbensalt. Denken Sie mal drüber nach. Mindestens jeder Dritte stirbt an Krebs. Es könnte Sie treffen oder mich. Und was werden Sie dagegen tun? Ich habe jedenfalls meine Pläne. »Mr. Crace, ich habe leider sehr schlechte Neuigkeiten für Sie. Sie haben einen inoperablen Tumor.« »Oh, mein Gott. Kann ich dann etwas Morphium bekommen?« »Haben Sie starke Schmerzen?« »Unheimlich starke Schmerzen.« »Also gut, wie viel wollen Sie?« »Wie viel haben Sie denn da?« Solange Sie noch Drogen nehmen, kann die Neuigkeit, dass Sie unheilbar krank sind, schrecklich deprimierend sein. Wenn Sie es anpacken wie ich, sehen Sie sofort den Silberstreif am Horizont. Wer sagt da, es würde sich nicht lohnen, vorausschauend zu denken?
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»Daddy?« »Ja?« »Wasndas?« »Was ist was?« »Das da«, sagte Tom und deutete auf den Rasenmäher. »Das ist ein Rasenmäher.« Pause. »Daddy?« »Ja?« »Wasndas?« »Was ist was?« »Das da«, sagte Tom und deutete auf den Rasenmäher. »Das ist immer noch ein Rasenmäher, mein Lieber«, antwortete ich etwas gereizt. Pause. »Daddy?« »Ja-ha?« »Wasndas?« »Was denn?« »Das da«, sagte Tom und deutete auf den Rasenmäher. »DAS IST EIN VERDAMMTER RASENMÄHER, VERDAMMT NOCH MAL.« Pause. »Daddy?« »Ja.« »Was heißt verdammt?«
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Hätte ich diese Art von Unterhaltung - falls man es überhaupt so nennen kann - nicht schon mit meiner Tochter Jo erlebt, als sie in Toms Alter war, ich hätte mir ernstliche Sorgen gemacht, dass unser Zweijähriger dumm wie Weißbrot war. Seine Fähigkeit, auch die einfachsten Informationsbröckchen zu speichern - abgesehen von den Vokabeln »Schwert« und »Comic« -, ist derart schwach entwickelt, dass er sich wahrscheinlich jeden Morgen fragt, wie er in das Haus gekommen ist, in dem er aufwacht. Die Sozialarbeiterin - pardon, die Gesundheitsberaterin - sieht das etwas anders. Sie beharrt darauf, Tom sei völlig normal, und die endlosen Fragen wie »Wer bin ich?«, seien nur ein Ausdruck eines wachen, forschenden Geistes. Mir kamen diese Einwände aber eher vor wie ein Antrag auf mildernde Umstände. Als ich noch ein Kind war, hatte man sich gefälligst daran zu erinnern, dass ein Rasenmäher ein Rasenmäher war, wenn ein Erwachsener es einem gesagt hatte. Sonst setzte es nämlich eine Tracht Prügel. All dieses Getue von wegen »Seid nett zu den Kindern, lasst sie die Dinge selbst herausfinden« soll nur von der Tatsache ablenken, dass das Niveau den Bach runtergeht. Außerdem hat diese Sache noch einen beunruhigenden Nebeneffekt. Sie lassen Ihrem kleinen Schatz alles Mögliche durchgehen, weil das ein Teil seines Wachstums ist, während der Satansbraten ganz andere Pläne verfolgt. Denn der Hauptzweck jedes Kindes ist es, die Eltern zu verschleißen. »Weißt du, John, die Kinder sorgen dafür, dass du 81
jung bleibst.« Das war eine der wirklich eigenartigen Bemerkungen, die meine Mutter kurz nach Jos Geburt gemacht hat. Selbst in meinem völlig entnervten, umnachteten Zustand konnte ich noch erkennen, dass das kompletter Blödsinn war. Ich meine, was hat sie sich dabei nur gedacht? Ihr Haar ist mit dreißig grau geworden, und so weit ich es überblicken kann, ist es mit ihr seitdem stetig bergab gegangen. Vielleicht ist ihre eigene Kindheit derart unglücklich verlaufen, dass es ihr im Vergleich dazu wie ein Kuraufenthalt vorkam, drei eigene Kinder auszuhalten. Wenn das so war, dann verdient die arme Frau nach allem, was wir ihr angetan haben, wahrlich unser Mitgefühl. Aber ich denke, man braucht solche Mythen, wenn man Kinder hat, weil sonst niemand mehr welche bekommen würde. Es sei denn versehentlich. Denn alle Eltern entscheiden sich unweigerlich, Kinder zu bekommen, wenn ihnen bewusst wird, dass sie a) im Beruf so weit gekommen sind, wie sie überhaupt kommen können b) von ihren eigenen Eltern wie Erwachsene behandelt werden wollen c) nicht recht wissen, was sie sonst mit ihrem Leben anfangen sollen. Natürlich reden sie sich ein, dass alles wundervoll, aufregend und vor allem jugendlich-frisch ablaufen müsse. Kinder werden zum Ausdruck ihrer vermeintlichen Unsterblichkeit. Es wird Zeit für ein Geständnis. Ich bin auf all dies hereingefallen. Ehrlich. Ich bin voll in die Falle gegangen. Ich dachte, die Kinder würden mir neue Energie
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schenken und meinem Leben wieder eine neue Richtung geben. Ganz falsch war das nicht, aber ich habe eben nicht damit gerechnet, dass der Richtungspfeil unweigerlich bergab zeigen würde. Jeder weiß, dass Teenager ihre Eltern für Armleuchter halten, aber die meisten wissen nicht, dass diese Einstellung schon direkt nach der Geburt entsteht. Kinder sollen ihre Eltern ersetzen. Wir reden hier über pathologische Fixierungen. Mit »Ersetzen« meine ich »Töten«. Denken Sie doch mal an ein Neugeborenes, das in der Nacht schreit. Eine Interpretation ist die, dass es hungrig und einsam ist und Milch haben und gedrückt werden will. Genau das sollen Sie auch denken, wenn Sie sich von Ihrem »armen kleinen Liebling« einlullen und sich einreden lassen, »was ich doch für ein großartiger Vater bin, dass ich dem Kleinen gebe, was er braucht«. Aber gleichzeitig passiert etwas ausgesprochen Hinterhältiges. Dieses Geschrei soll nämlich die Eltern auszehren. Das kleine Luder wartet, bis Sie gerade wieder eingeschlafen sind, und dann brüllt es: »Waah.« Wenn es das zwei- oder dreimal in der Nacht tut, sind Sie irgendwann fix und fertig. Dem Kind macht das überhaupt nichts aus, weil es auch tagsüber da und dort eine Mütze voll Schlaf kriegen kann. Aber Sie können das nicht, Sie müssen ja arbeiten. Also neigt sich die Kurve sofort nach unten. Bald sind Sie so geschafft, dass Sie Ihren Job nicht mehr ordentlich machen und sich jede Hoffnung auf eine Beförderung abschminken können. Und das war's dann. Ihr Leben ist vorbei. Manchmal sogar
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ganz wörtlich. Denn in Wirklichkeit hofft Ihr Kind ja, dass Sie am Steuer einschlafen und Ihr Auto und sich selbst in einen Totalschaden verwandeln. Das ist der Jackpot. Falls Sie glauben, das Kind würde sich damit selbst schaden, weil dann ja keiner mehr da ist, der es versorgt, dann sollten Sie allmählich mal zu Verstand kommen. Die Kinder haben sich weiterentwickelt. Heutzutage werden sie schon mit dem Wissen um Sozialämter und Pflegeeltern geboren. Allerdings ist mir nicht ganz klar, inwieweit das alles mit dem Ödipus-Komplex zu tun hat. Ich bin ziemlich sicher, dass Neugeborene nicht besonders darauf achten, welcher Elternteil zuerst ausgeschaltet wird, und wenn sie älter werden, ist der Tod eines beliebigen Elternteils so oder so ein großer Sieg. Aber irgendwann kommen sie in ein Alter, in dem das Töten - falls man den Kindern ihre Vorlieben lassen würde - sich an der Geschlechtszugehörigkeit orientiert. Jungen wollen ihre Väter umbringen, Mädchen die Mütter. Jo als die Älteste war die Erste, die diese Neigungen zeigte. »Ich will meine Mami.« »Was ist denn los, Kleines?«, sagte ich, als ich zu ihr stürmte. »Ich will meine Mami.« »Ist schon gut, ich bin doch hier.« »Will dich nicht. Will Mami.« »Mami ist oben.« Jede Menge Geheule, dann: »Ich will meine Mami.« »Sag mir doch, was los ist.« 84
»Nein. Ich will meine Mami.« Spätestens zu diesem Zeitpunkt kam meine Frau die Treppe heruntergeschossen und gab sich große Mühe, ihr überlegenes Grinsen zu verbergen. »Nun komm schon und erzähl deiner Mami, was nicht in Ordnung ist«, sagte sie zuckersüß. »Mir ist so komisch.« Das hat mich sehr lange total genervt. Jo fühlt sich nicht gut, Jo schreit nach der Mami und Daddy fühlt sich mies, überflüssig und wertlos. Aber dann wurde mir klar, dass Jo mir einen Gefallen tat. Sie wusste, dass sie eine Versammlung von bösartigen, vielleicht sogar tödlichen Keimen in sich hatte, und wollte dafür sorgen, dass Mami sie bekam. Indem sie mich heraushielt, sagte sie mir: »Du bist mir wichtiger als Mami.« Weniger lustig war es, als Tom mit einer Lungenentzündung schrie: »Ich liebe dich, Daddy.« Abgesehen von Krankheiten bekommen Kinder nur selten die Gelegenheit, Mordanschläge auf ihre Eltern zu verüben. Das ist einer der Nachteile, wenn man so klein ist. Gott sei Dank. Aber das hielt Jo nicht davon ab, es einfach mal zu versuchen. Der jüngste derartige Vorfall war eine Sportveranstaltung in der Schule. Als meine Frau sich für den Wettlauf der Mütter zum Start aufstellte, rief Jo: »Los doch, Mami, du musst gewinnen.« Nur ein Idiot würde glauben, dass Kinder, die so etwas sagen, auf ihre Eltern stolz sein wollen. Die wahre Botschaft ist: »Ich weiß, dass du seit Jahrhunderten nicht mehr trainiert hast, und ich werde dich jetzt verleiten, dich zu übernehmen, damit du nach der halben Strecke tot umfällst.«
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Im Großen und Ganzen führen Kinder einen Zermürbungskrieg gegen ihre Eltern. »Daddy?« »Ja?« »Ich will im Park meinen Drachen steigen lassen.« »Aber es weht kein Wind.« »Das ist mir egal.« »Aber er wird einfach nicht fliegen, es ist sinnlos.« »Ach, nun mach schon, Daddy. Bittebitte.« Also lässt man sich darauf ein, weil man glaubt, man wäre ein schlechter Daddy, wenn man es dem Kind abschlägt. Und natürlich kommt der Drachen nicht einen Zentimeter vom Boden hoch. »Mach, dass er fliegt, Daddy.« »Das kann ich nicht. Es weht kein Wind.« Als ob man mit Vernunft etwas ausrichten könnte. »Aber er soll fliegen.« »Er kann nicht fliegen.« »Katies Daddy hat ihren Drachen fliegen lassen.« »Wahrscheinlich war es da windig.« »Du bist auch zu nichts zu gebrauchen, Daddy.« Genau darauf sollte es von Anfang an hinauslaufen. Es ging gar nicht um den Drachen. Es ging darum, mir zu zeigen, wie nutzlos ich bin. Das Gleiche mit Jo und ihrem Fahrrad. Wenn sie sagt, dass sie Rad fahren will, dann meint sie das nicht ernst. Ich soll ihr fünf Minuten zu Fuß folgen, dann wird sie sagen, dass sie Langeweile hat, und ich darf ihr Fahrrad nach Hause tragen oder schieben. Das alles zielt einzig und allein darauf ab, dass Sie sich wertlos fühlen. Sie sollen den Tag Revue passieren
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lassen und sich fragen: Was, zum Teufel, habe ich eigentlich den ganzen Tag gemacht? Sie sind herumgerannt und haben Ihre Kinder beaufsichtigt, die nicht wussten, was sie wollten, und danach haben Sie hinter den Kindern wieder aufgeräumt. Die ganze Sache war völlig sinnlos. Falls Sie sich für ein kompetentes, erfolgreiches und produktives Mitglied der Gesellschaft gehalten haben anscheinend gibt es tatsächlich Menschen, die sich so fühlen oder die sich so gefühlt haben -, dann wird dieser Glaube systematisch untergraben. Sie verwandeln sich in eine Maschine. Noch schlimmer, Sie werden zu einer sehr alten Maschine. Und Ihre Kinder haben keinerlei Hemmungen, es Ihnen vor Augen zu führen. Sie kommen damit sogar durch, weil ihre rücksichtslose Offenheit immer als bezaubernde Naivität entschuldigt wird. Das ist sie natürlich nicht. Es ist nur eine andere Form ihres angeborenen Sadismus. »Daddy?« Ich hasse es sowieso schon, wenn man mich im Bad stört, aber wenn es auch noch eins der Kinder ist, dann weiß ich, dass es nervtötend wird. »Was ist?« Man muss eben versuchen, nett zu ihnen zu sein. »Was sind das für weiße Flecken in deinen Haaren?« Ach, die weißen Flecken. Als ob du das nicht wüsstest. Als ob du mich nicht schon hundert Mal gefragt hättest. »Das sind keine weißen Flecken, Schatz. Das sind graue Haare.«
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»Ach so. Aber warum sind sie grau?« »Wenn man älter wird, werden die Haare grau.« Der nächste Dolch liegt schon bereit. Sie weiß ganz genau, wie sie mir den Todesstoß versetzen und dabei völlig unschuldig tun kann, um eine möglichst große Wirkung zu erzielen. »Ach so. Du meinst wie Opa und Oma.« Augen zu und durch. »Hmm. So ähnlich.« Wahrscheinlich wird es Sie nicht einmal überraschen, wenn ich Ihnen sage, dass meine Frau diese Wortwechsel zwischen Jo und mir mit beträchtlichem Vergnügen verfolgt. Sie hat nämlich keine grauen Haare. Dafür sorgt schon dieser tuffige Carl, der ihr 80 Pfund abnimmt, nachdem er anderthalb Stunden um ihren Kopf herumscharwenzelt ist. Aus den Augen, aus dem Sinn, heißt es offenbar bei ihr. Sie verdrängt jegliche Erinnerung daran, dass ihre Haare irgendwann einmal eine andere Farbe hatten als den natürlichen, gesunden Ton, den sie jetzt trägt. Ich sage ja nicht, dass sie nicht auch ihre Achillesferse hat. Nicht, dass ich es wagen würde, jemals laut darüber zu reden. An diesem Punkt sind Kinder sogar zur Abwechslung mal ganz nützlich. Eine kurze Bemerkung wie »Jo, wenn du schon nerven willst, dann nerv doch lieber deine Mutter, während sie sich anzieht, und frag sie, was es mit ihren Schwangerschaftsfalten auf sich hat«, funktioniert blendend. Aber es sind nicht nur die Kinder, die einem das Gefühl geben, man wäre ein Greis. »Und wer sind Sie ...?«
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Es war Jos erster Schultag, und ich lernte ihre Klassenlehrerin kennen. »Ich bin Jos Vater.« »Oh. Mr. Crace. Aber natürlich«, sagte sie unsicher. Miss Richards, wie Jo und ich sie nennen sollten, war Anfang zwanzig. Damit war sie Jos Alter erheblich näher als meinem und sie ließ es mich merken. Sie dachte wohl, ich wäre ein x-beliebiger langweiliger Erwachsener. Die über Vierzigjährigen sehen für junge Leute alle gleich aus, ich hätte daher ebenso gut Jos Großvater sein können. Miss Richards war natürlich sehr diplomatisch und wollte nichts falsch machen. Man kann ja nie wissen, was? Nicht, dass Sie jetzt einen falschen Eindruck bekommen. Ich habe überhaupt nichts gegen Kinder. Ich habe auch nichts gegen die armen Kerle, die gegen ihren Willen gezwungen werden, sich fortzupflanzen, wie es vielen meiner Bekannten anscheinend geschehen ist. »Das war sozusagen ein Unfall«, oder »Mensch, war das eine Überraschung« - das sind Sätze, die ich in den letzten Jahren öfter gehört habe. Aber verzeihen Sie mir, wenn ich das nicht ganz nachvollziehen kann. Aus Versehen hat noch niemand mit mir gevögelt, so Leid es mir tut, und selbst wenn, ein Baby wäre nicht gerade eine überraschende Folge gewesen. Ein Gewinn in der Lotterie vielleicht. Die wahre Liebe ganz sicher. Aber ein Baby? Wohl kaum. Nein, vor der Möglichkeit, selbst Kinder zu bekommen, habe ich sicher nicht die Augen verschlossen, abgesehen höchstens im Augenblick der Empfängnis. Ich wusste, dass sie schwierige kleine 89
Biester sind, aber ich dachte mir, es müsste doch irgendwo einen Ausgleich geben. Der Ausgleich war der, dass ich endlich dazu kam, all die Dinge zu tun, die ich als Kind immer gern getan hätte und die man mir verboten hat. Noch wichtiger, ich konnte sie tun, ohne wie ein Idiot dazustehen, denn ich konnte ja vorgeben, ich würde es nur für die Kinder tun. Da half es wirklich, dass ich einen Sohn hatte. Sosehr ich Jo auch liebte, sie hat sich einfach nicht für Ballspiele oder die Action Men interessiert. Versucht habe ich es ja. Ehrlich. Aber sie hat eine eigenartige Abneigung entwickelt. Es war, als hätte sie einen eingebauten Spielzeugdetektor, mit dem sie die geschlechtliche Präferenz jedes beliebigen Objekts sofort beurteilen konnte. Was nicht mädchenhaft genug war, wurde sofort verworfen. Meine Frau hatte keine Probleme, aber für mich sah das anders aus, weil ich als Junge an Barbiepuppen keinerlei Interesse hatte. Okay, das ist nicht ganz wahr. Ich muss gestehen, dass ich einen leichten Schauder hatte, als ich ihr zum ersten Mal die Sachen auszog, aber das war ein vergänglicher Effekt, wie Sie sicher verstehen werden. Tom war jedenfalls ganz anders. Im Gegensatz zu Jo, die immer jammern und heulen wollte wie alle kleinen Mädchen, benahm Tom sich von Anfang an viel eher wie ein richtiger Kerl. Noch besser, er war richtig scharf auf die Action Men. Aber seltsamerweise liebte er sie umso mehr, je weniger Interesse ich daran hatte. Da hatte ich endlich genug Geld, um eine ganze Kompanie der neu herausgekommenen kräftigen Plastikhelden zu kaufen - wofür ich als Kind einen
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Mord begangen hätte -, aber irgendwie interessierten sie mich nicht mehr. Sie könnten das jetzt vielleicht als eines der wenigen äußerlichen Anzeichen dafür werten, dass ich emotional ein wenig gereift bin. Aber für mich war es eine herbe Enttäuschung. Bei anderen bin ich durchaus für etwas emotionale Reife zu haben besonders bei meiner Frau und meinen Freunden, falls man überhaupt auf so etwas hoffen darf -, aber für mich selbst ist emotionale Reife eine weit überschätzte Tugend. Es ist, als würde ein Teil in Ihnen sterben - der Teil, der jung und lebendig ist. Was dann noch bleibt, ist Enttäuschung. Fußball war so ein Punkt. Ich hatte in dieser Hinsicht Glück. Tom wurde als Fan der Tottenham Hotspurs geboren, also gab es keinen Familienkrach. Er bestand sogar darauf, ein Trikot zu bekommen. »Mein Tottnam«, nannte er es. Aber irgendwie hat es mich doch eher kalt gelassen. Das größte Problem war, dass die Spieler mir nichts sagten. Als ich ein Junge war, gab es Namen wie Greaves, Gilzean, Jennings und Mullery. Die Männer waren Götter. Aber Amstrong, Berti, Walker und Ginola? Unterdurchschnittlich. Besonders Ginola. »Du bist eifersüchtig auf ihn«, sagte meine Frau fröhlich. Nachdem sie jahrelang nicht das geringste Interesse an Fußball gezeigt hatte, war sie nun auf einmal in den Reihen der vielen Frauen zu finden, die Knall auf Fall entscheiden, dass sie hart gesottene Fans sind. Der Grund war natürlich der, dass sie wie die anderen herausgefunden hat, dass Fußball inzwischen
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sehen für Frauen besser zugänglich ist. Es hat selbstverständlich überhaupt nichts mit der Tatsache zu tun, dass Fußballspieler heutzutage als Sexbomben vermarktet werden. Sie konnte denn auch keinen einzigen bedeutsamen Fakt von ihrem David angeben, wie sie ihn nannte - abgesehen von seiner Automarke, dem Hersteller seiner Designerklamotten und dem Namen seines Friseurs. »Eifersüchtig auf Ginola?«, protestierte ich. »Wie kann man auf einen Typ eifersüchtig sein, der Frankreich 1994 im Alleingang aus der WM geschossen hat?« »Und ob, du bist eifersüchtig«, setzte sie nach. »Du hasst die Vorstellung, dass ein wundervoller Mann für deine Mannschaft spielt.« »Oh, er ist also ein wundervoller Mann, ja?« »Na ja, schon. Was ist so eigenartig daran?« Aha. Dann ist es also eine Tatsache. Keinerlei Zweifel mehr. Die Erde ist rund. Ginola ist ein wundervoller Mann. »Es ist nur so, dass du noch nie einen Mann als >wundervoll< bezeichnet hast.« Nicht einmal mich. »Ich habe aber niemals gesagt, dass du nicht wundervoll wärst«, konterte sie. Leider nicht sehr überzeugend. Und nicht besonders aufrichtig. »Wie gut mir das tut. Du hast auch nie gesagt, dass Quasimodo nicht wundervoll wäre.« »Ach, halt die Klappe.« »Warum denn?«, erwiderte ich. »Es ist ziemlich deprimierend, wenn man hört, dass die eigene Frau
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jemanden mag, der einem überhaupt nicht ähnlich sieht. Ich meine, so wie der Typ aussieht, wird er nicht viele Freunde haben.« »Du meinst, er hat Haare und du nicht.« »Ich habe Haare.« Ein paar jedenfalls. »Aber wie lange noch?«, murmelte sie halblaut. Sie machte mich einfach nieder. Was war denn da los? Vielleicht war ich doch eifersüchtiger als ich dachte. Also gut, John, wehr dich. »Glaubst du nicht auch, dass eine Frau, die auf durchgestylte Fußballer scharf ist, die halb so alt sind wie sie selbst, etwas Bedauernswertes hat?« »Um Himmels willen, nun hör doch schon auf damit. Das war doch nur ein harmloser Spaß«, fauchte sie. »Ich habe doch nicht vor, ihn zu verführen.« Nein. So wenig, wie ich vorhabe, Kylie Minogue zu verführen. Aber aus dem Bett schubsen würde ich dich auch wieder nicht, Kylie. Doch wenn ich mich darüber auslasse, wie sehr ich sie mag, bekomme ich nur zu hören, ich wäre ein Trottel in mittleren Jahren, der Frühlingsgefühle entwickelt. Wenn meine Frau dagegen wegen dieses Hohlkopfs Ginola ganz aus dem Häuschen ist, dann macht sie damit offenbar eine postmoderne ironischfeministische Aussage. Aber so geht das eben. Unsere kleinen Fantasien bieten uns wenigstens etwas Gesprächsstoff. Wir müssen ja beizeiten Experten darin werden, miteinander zu reden, denn die Kinder kommen bald in ein Alter, in dem sie sich nur noch grunzend verständigen. Die stummen, bockigen Teenager. Das ist etwas, auf 93
das man sich freuen kann. Nachdem sie brutal dafür gesorgt haben, dass man keine Freunde mehr hat, die es länger als zwanzig Minuten im Haus aushalten, verwandeln sich die Kinder in Trappistenmönche. Am Ende lebt man dann in sensorischer Deprivation und hat nur noch das Fernsehen zur Gesellschaft. Abgesehen von der Ehefrau natürlich, aber auf die kann man sich ja nicht verlassen. »Ich überlege, ob ich einen Hund anschaffen soll«, sagte sie neulich. Dabei weiß sie genau, dass ich Hunde hasse. Andererseits wäre ein Hund immer noch eine Spur besser als der verdammte David Ginola.
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9 Sehen Sie mich an. Meine Haut wird schlaff, mein Gesicht bekommt Falten - nein, über das gut aussehende, markante Stadium bin ich hinaus -, und mein Bauch wächst. Körperlich bin ich ein Wrack. Das ist einfach ungerecht. Ich bin nicht dazu geschaffen, so auszusehen. Ich sollte eigentlich ein schmaler, athletischer Mann sein, voller Testosteron und Pheromone und allen anderen hormonellen Zutaten, die ein echter Kerl so braucht. Dabei habe ich nicht einmal das Gefühl, es würde an mir liegen, dass ich anders bin, als ich sein müsste. Okay, ich war früher nicht sehr nett zu meinem Körper, aber in den letzten elf Jahren habe ich gelebt wie ein Heiliger. Glauben Sie mir, ich habe die Tage gezählt. Es ist pervers, aber damals, als ich meinen Körper stärker belastet habe, sah ich besser aus als heute. Vielleicht waren auch die Drogen, die ich genommen habe, mit Formaldehyd verschnitten. Wie auch immer, just als ich begann, meinen Körper wie einen Tempel zu behandeln, strafte er mich mit äußerster Verachtung. Mein Körper ist ein Verräter. So einfach ist das. Ich weiß, dass Verrat ein hässliches Wort ist, aber die Wahrheit ist eben nicht immer angenehm. Mein Körper ist Philby, Burgess und Maclean in einer Person. Sie müssen nämlich wissen, dass es einen Moment gibt, in dem Ihr Körper aufhört, ein Freund zu sein, und sich in einen unnachsichtigen Feind verwandelt. Der größte Fehler, den man überhaupt machen kann, 95
ist der, diesen Wandel zu ignorieren und mit einer beiläufigen Bemerkung und affektiertem Achselzucken abzutun: »Ach, das ist nur ein Teil des Alterungsprozesses.« Denn Ihr Körper will, dass Sie genau dies denken. Sie sollen glauben, Körper und Bewusstsein wären Teil eines gemeinsamen Ganzen und was sich dort ereignet, unterliege nicht Ihrer Kontrolle. Das muss aber nicht so sein, wenn Sie nicht vergessen, wie raffiniert Ihr Körper sein kann. Sobald Sie das Alter erreichen, in dem Sie jede Menge Training brauchen, um in Form zu bleiben, quittiert er prompt den Dienst. Versuchen Sie es mit Laufen und Ihr Knie geht kaputt. Glauben Sie mir, ich spreche aus Erfahrung. Außerdem kontrolliert Ihr Körper auch die Augen, so dass Sie die wichtigen Dinge erst erkennen können, wenn es schon viel zu spät ist. Die meisten Menschen leiden unter verzögerten Reaktionen. Sie sehen den Mann, der Sie vor sechs Monaten einmal waren, und tuckern munter vor sich hin und denken, es wäre alles in Ordnung, bis Sie - PENG! - eines Tages in den Spiegel blicken und von einem fetten Kerl angestarrt werden, der Ihnen irgendwie bekannt vorkommt. Es wird immer schlimmer, weil Sie wegen der Zeitverzögerung sechs Monate dicker sind als der, den Sie anschauen. Es gibt kein Entrinnen. Ihr Körper ist ein Drecksack, dessen einziges Ziel im Leben es ist, Sie zu verarschen. Ihr Bewusstsein muss mindestens genauso durchtrieben sein, wenn Sie dagegen ankommen wollen. Es gibt ja Leute, die so tun, als würden sie sich über ihre körperlichen Veränderungen freuen. »Wir sind 96
viel zu sehr auf das Äußere fixiert«, sagen sie.. »Ich fühle mich so, wie ich bin, ganz prima.« Natürlich hoffen sie, dass der Körper zuhört und sagt: »Oh, du fühlst dich prima, wie du bist? Aber nicht mehr lange«, und sie wieder dünn macht. Tja, ich habe schlechte Neuigkeiten. So funktioniert das nicht, weil der Körper sich nicht so einfach reinlegen lässt. Er weiß genau, dass niemand dick sein will. Vor die Wahl gestellt, ob er lieber dick oder dünn sein will, sagt doch niemand: »Och, ich möchte wirklich gern einmal kurzatmig herumschwabbeln, ohne meine Füße zu sehen.« »Hallo, John.« »Hallo, Mike.« Ein Anruf von Mike ist mir immer willkommen. Seit er sich zum Landei entwickelt hat, gibt er mir das Gefühl, ich führte ein aufregendes, cooles Leben in der Großstadt, statt im Vorort vor Arbeit und Langeweile einzugehen. »Ich war neulich zum Einkaufen in London auf der King's Road, aber ich konnte nichts Passendes finden.« Das wundert mich nun wirklich nicht. Neben Mike sehe ich aus, als hätte ich noch alle Haare und wäre schlank. Auch das ist ein Effekt, den ich an ihm mag. »Dann hat Evans wohl geschlossen?« Wenn es um Dicke geht, kenne ich keine Gnade. Wenn ich untergehe, reiß ich die anderen mit. »Ach, leck mich doch.« »Na ja, was erwartest du? Du bist doppelt so dick und doppelt so groß wie alle anderen auf der King's Road.«
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»Aber man muss sich doch wenigstens bemühen, oder?« Allerdings. Man muss. Aber nicht so. Nichts will dein Körper mehr, als dass du dich in Sachen zwängst, die zu eng und zu jung für dich sind, damit der Rest der Welt herzhaft kichern kann, weil du wie ein Idiot rumläufst. Ich will damit nicht sagen, dass ich kein Verständnis für Mikes Problem habe. Es ist eben nur eines der wenigen, unter denen ich nicht leide. Aber darauf kann ich mir nicht einmal etwas einbilden. Sie müssen wissen, dass Mike sich früher immer sehr modisch gekleidet hat. Sehr viel früher. Er hat also ein Bild, dem er gerecht werden will. Ich dagegen habe auf Mode nie viel Wert gelegt. Nicht, dass ich es nicht versucht hätte. Ich bin in vielerlei Hinsicht so eitel wie kaum ein anderer. Aber wenn es um Kleidung geht, läuft bei mir etwas schief. Ich kann manchmal ausmachen, was bei anderen Leuten gut aussieht, aber sobald ich versuche, selbst etwas Modisches anzuziehen, fühle ich mich komisch. Im Grunde meines Herzens bin ich ein Marks-&Spencer-Typ, auch wenn einige ihrer Entwürfe in den letzten Jahren nahezu modern waren. Aber dort kaufe ich nun einmal ein. Ich bin gewissermaßen von Kopf bis Fuß auf M & S eingestellt. Socken, Unterhosen, Jeans, Hosen, T-Shirts, Sweater - alles in verschiedenen langweiligen Farbtönen. Oh, und ehe ich es vergesse: Einen Anzug von M & S habe ich auch. Für besondere Gelegenheiten. Meine Kleidung ist langweilig, da gibt es kein Vertun.
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Sogar ich selbst finde sie langweilig. Aber das ist gut so, weil mein Körper diese Kleidung hasst. Er hasst die Tatsache, dass ich heute immer noch die gleiche Art Kleidung tragen kann wie vor zehn oder fünfzehn Jahren, weil ich noch genauso unauffällig bin wie damals. Also, wenn Sie ihn hören wollen, hier ist mein Modetipp: Beginnen Sie so, wie es später sowieso weitergeht, und geben Sie sich Mühe, möglichst langweilig auszusehen. Ich verspreche Ihnen, Sie werden es nicht bereuen. Vielleicht halten Sie es für übertrieben, einen solchen Aufwand zu betreiben, nur um möglichst wenig elegant gekleidet herumzulaufen, aber jeder Sieg über den Körper zählt, so klein er auch sein mag. Sie müssen im Kampf gegen seinen Verrat stets auf der Hut sein. Noch wichtiger ist es, die Aufmerksamkeit Ihres Körpers so lange wie möglich mit möglichst trivialen Dingen abzulenken. Denn sobald er spürt, dass Sie des Kampfes müde werden, begeht er skrupellos den größten Verrat überhaupt. Er wird zu funktionieren aufhören. »Hi John, hast du das mit Paul schon gehört?« Alex' Stimme klang etwas aufgeregt, also ging es um mehr als das übliche Geplauder. »Nein, was soll mit ihm sein?« »Er ist tot.« »Mach Witze.« »Nein, er ist mausetot.« »Wie das?« Ein mitfühlender Mensch hätte wahrscheinlich gesagt: »Das ist ja schrecklich. Seine arme Familie.«
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Aber das »Wie« war das Einzige, auf das es mir wirklich ankam. »Ich bin nicht sicher. Seine Freundin hat ihn einfach tot ihm Wohnzimmer gefunden. Sie glauben, es war ein Herzinfarkt.« Das war die Antwort, die ich befürchtet hatte. Bis dahin hatten alle meine Freunde den Löffel abgegeben, weil sie etwas Dummes getan hatten - ein Sturz mit dem Motorrad, eine Überdosis Heroin oder Selbstmord. Das war in gewisser Weise ganz in Ordnung. Ich war zwar bestürzt und vermisste sie, aber es fiel mir nicht schwer, mich von ihren Todesarten zu distanzieren. Ich hatte ja kein Motorrad und kannte meine Grenzen - meistens jedenfalls -, und ich war viel zu feige, um mich selbst umzubringen. Bei Paul war es anders. Mit achtunddreißig war er der erste meiner Freunde, der aus Altersgründen starb. »Ich glaube, er war ein starker Raucher«, sagte ich. Ein guter und auf mich nicht zutreffender Grund, den Löffel abzugeben. »Außerdem hat er reichlich Drogen genommen«, sagte Alex, ohne zu begreifen, was er damit über sich selbst sagte. »Yeah, genau wie du.« Meiner Ansicht nach konnte Pauls Tod kein Anlass sein, auf das Schüren einer kleinen Panik zu verzichten. »Ach, Unsinn. Du weißt, dass ich kaum Drogen nehme«, sagte er ärgerlich, aber lange nicht so überzeugend, wie er anscheinend glaubte. Immerhin etwas.
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»Du nimmst jedenfalls mehr als jeder andere, den ich kenne, abgesehen von ...« Ich ließ Pauls Namen absichtlich in der Luft hängen. »Manchmal bist du wirklich eine Nervensäge. Nur weil du überhaupt nichts nimmst, glaubst du gleich, jeder, der ab und zu mal einen Joint raucht, hätte ein Problem.« Jetzt waren wir wieder auf vertrautem Terrain, und das war eine große Erleichterung, denn wenigstens wir zwei wussten ganz genau, wie wir uns gegenseitig auf die Palme bringen konnten. Pauls Tod war ein viel zu großer Schock, als dass wir uns auf der Stelle hätten damit beschäftigen können. Es war mehr als der Tod eines Freundes. Sein Tod erinnerte uns an die eigene Sterblichkeit. Auch wenn wir dem Rauchen, den Drogen oder was auch immer die Schuld geben wollten, wir konnten es nur mit halbem Herzen tun. Denn wie man es auch drehte und wendete, Pauls Tod ging nicht auf einen einzigen Auslöser zurück. Es gab Tausende, wenn nicht Millionen von Menschen, die es weit schlimmer getrieben hatten als er und die immer noch lebten. Es war einfach so, dass sein Körper zu der Ansicht gekommen war, dass es reichte, und den Dienst quittiert hatte. Pauls Tod erinnerte mich schmerzhaft an meinen eigenen Körper. Ich gewöhnte mir an, meinen Herzschlag zu überprüfen. Ich maß regelmäßig meinen Puls und achtete genau auf etwaige Rhythmusstörungen. Ich spürte, wie meine Brust eng wurde und ein eigenartiger Schmerz in den linken Arm schoss. Um offen zu sein, ich hatte wider Erwarten einen Herzinfarkt.
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Außerdem wurde ich äußerst abergläubisch. Bevor ich morgens aus dem Haus ging, musste ich die Todesanzeigen in der Zeitung lesen. Ich ging sogar so weit, den Telegraph zu abonnieren, der dieser Rubrik besonders viel Platz 'einräumt. Ich begann mit »A«, arbeitete mich nach unten und überprüfte, wie alt die Verstorbenen geworden waren. Leute mit achtzig oder neunzig Jahren gingen in Ordnung, aber jeder, der jünger war als ich, stellte ein Problem dar. In manchen Fällen konnte ich mir keine Gewissheit verschaffen, weil die Verwandten das Alter nicht dazugeschrieben haben. Man stelle sich das vor, die Leute unterschlagen einfach eine derart wichtige Information. In diesen Fällen war ich auf Mutmaßungen angewiesen. Wenn von einer »lieben Großmutter« oder einem »lieben Großvater« die Rede war, konnte ich normalerweise annehmen, dass die Betreffenden älter waren als ich. Wenn aber von einer »langen, schweren Krankheit« oder einem »liebenden Vater« die Rede war, kam ich nicht weiter. Diese Fälle musste ich als ungeklärt abhaken. Außerdem schloss ich alle aus, bei denen das Wort »tragisch« in der Todesanzeige vorkam, weil ich annahm, dass sie zwar jünger waren als ich, aber einem hässlichen Unfall zum Opfer gefallen waren. Trotzdem blieben hin und wieder immer noch eine Menge Leute übrig, die im gleichen Alter wie Paul das Zeitliche gesegnet hatten. Wann immer das geschah, war es der Beginn eines miesen Tages. An solchen Tagen dachte ich stundenlang über Paul nach. War sein Tod wirklich unvermeidlich gewesen? Würde es wirklich etwas ändern, wenn ich mein Leben 102
umkrempelte? Es überrascht sicher nicht, dass ich früher oder später meine Beziehung zu Ärzten zu überdenken begann. Vielleicht ist »Beziehung« auch ein etwas zu starkes Wort, denn in den letzten zehn Jahren hat sich der Kontakt mit meiner Ärztin auf fünfminütige Stippvisiten beschränkt. Obwohl ich immer angemeldet war, musste ich unweigerlich eine Dreiviertelstunde warten und bekam dann nur die Hälfte der Zeit, die mir eigentlich zustand. Offenbar nahm keiner von uns meine Gesundheit wirklich ernst. Unsere Begegnungen verliefen im Allgemeinen etwa so: »Na, wo drückt denn nun der Schuh ...« Ein rascher Blick in meine Unterlagen. »John«, schloss sie triumphierend. »Ich habe einen hartnäckigen Husten.« »Ah, ja. Ziehen Sie doch bitte den Pullover aus, damit ich die Brust abhören kann. Hmm. Ja, Ihre Atemwege sind entzündet.« Als ob ich das nicht längst wüsste. »Yeah«, sagte ich elend. »Ein Antibiotikum sollte eigentlich helfen. Kommen Sie doch in einer Woche noch einmal vorbei, wenn Sie sich nicht besser fühlen.« Normalerweise ging ich zufrieden davon. Was für eine gute Ärztin, dachte ich mir. Aber nach Pauls Tod wurde mir klar, dass ich viel zu nachlässig war. Offenbar wusste meine Ärztin nicht, was mit mir los war. Sie hat weder meine Brust durchleuchten noch meinen Speichel analysieren lassen. Sie hat nur eine flüchtige Untersuchung vorgenommen, eine Vermutung
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formuliert und den Rest auf die nächste Woche vertagt, wie sie es vermutlich bei allen Patienten tut. Zu ihrem Glück - und zu meinem, wie ich hinzufügen möchte - ging es jedes Mal gut. Mein Husten wurde dank der Antibiotika besser. Aber was, wenn es nicht funktioniert hätte? Was, wenn ich an einer tödlichen Krankheit litt, die sie übersehen hatte? Ich hätte in der folgenden Woche sterben oder den kritischen Punkt überschreiten können, von dem an eine Behandlung nicht mehr hilft. Und was dann? Die Ärztin gibt widerwillig zu, dass sie Mist gebaut hat, und ich darf gerade noch Winkewinke machen. Wenn ich Glück habe. Nein, je länger ich darüber nachdachte, desto klarer wurde mir, dass ich meine Gesundheit keinem Fremden anvertrauen konnte. Wenn ich meine Gebrechen nicht selbst ernst nahm, würde es auch niemand anders tun. Die einzige Möglichkeit, so lange wie möglich mein Überleben zu sichern, bestand darin, jedes Symptom als möglicherweise lebensbedrohlich aufzufassen. Sie können sich vielleicht vorstellen, dass dies daheim ausgesprochen schäbige Reaktionen hervorrief. »Ich habe wirklich üble Kopfschmerzen.« »Wie kommt es eigentlich, dass du jedes Mal Kopfschmerzen hast, wenn die Kinder gebadet werden müssen?« Ich kann Ihnen nicht erklären, was es bedeutet, eine liebevolle, mitfühlende Partnerin zu haben. Ich weiß nämlich einfach nicht, wie das ist.
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»Ich habe nicht jedes Mal Kopfschmerzen, wenn die Kinder gebadet werden müssen.« Ich war nicht bereit für einen ausgewachsenen Krach, aber ich wusste ganz genau, dass dieser Mythos zur Tatsache werden würde, wenn ich nicht auf der Stelle energisch widersprach. »Ich meine, warum erwähnst du deine Kopfschmerzen immer nur dann, wenn die Kinder in die Badewanne müssen?«, bohrte meine Frau nach. »Weil die einzigen Gelegenheiten, bei denen ich dich mit meinen Kopfschmerzen belästige, die Situationen sind, in denen sie länger als ein paar Stunden anhalten. Und da sie gewöhnlich nachmittags beginnen, ist jetzt in etwa der Punkt erreicht, an dem ich mir Sorgen mache. Dass jetzt auch Badezeit ist, ist lediglich ein Zufall.« »Ach wirklich? Dann soll ich vielleicht noch dankbar sein, dass du es den Nachmittag über so geduldig ertragen hast?« Richtig, so hatte ich es mir gedacht. »Ich bin einfach etwas besorgt«, sagte ich möglichst versöhnlich und sachlich. »Tut mir Leid, dass ich so ausgerastet bin«, lenkte sie ein, anscheinend bemüht, auf meine charmante Offensive einzugehen. »Ich bin ziemlich abgenervt. Aber sag mal, weshalb machst du dir eigentlich Sorgen?« »Ich glaube, ich habe einen Gehirntumor.« »Mach dich nicht lächerlich.« Mitgefühl ist manchmal ein kurzlebiges Vergnügen. »Du hast einfach nur Kopfschmerzen. Jeder hat mal Kopfschmerzen. Außerdem
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hast du überhaupt nicht die Symptome, die zu einem Gehirntumor gehören.« »Doch, die habe ich. Ich habe hartnäckige Kopfschmerzen.« »Nein, die hast du nicht. Deine Kopfschmerzen halten erst seit ein paar Stunden an.« »Das sind hartnäckige Kopfschmerzen.« »Nein, das sind sie nicht.« »Also, es könnte doch immerhin sein. Auch hartnäckige Kopfschmerzen fangen irgendwann an.« »Um Gottes willen. Du hast keinen verdammten Hirntumor. Du bist einfach nur ein Hypochonder geworden.« Ein Hypochonder? Schlimmer kann man mich kaum missverstehen. Hypochondrie ist die unbegründete, irrationale Angst vor Krankheiten - ich habe es gerade nachgesehen, um mich zu vergewissern. Aber meine Ängste waren nicht irrational. Meiner Ansicht nach war mein Verhalten völlig logisch. Indem ich mich bei allen medizinischen Fragen in äußerster Wachsamkeit übte, konnte ich unangenehme Entwicklungen schon im Frühstadium erkennen. An meinem Frühwarnsystem würde kein unerfreulicher kleiner Krebs vorbeikommen, und wenn dies damit verbunden war, dass ich gelegentlich einen ganz normalen Kopfschmerz mit einem Hirntumor verwechselte, dann wollte ich diesen Preis gern bezahlen. Eine solche positive, selbstbewusste Haltung trägt fast überall ihre Früchte. In gewisser Weise auch beim Rauchen. Wenn Sie ganz nüchtern darüber nachdenken,
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dann muss es genau eine Zigarette geben, die entscheidend ist. Der Trick besteht darin, genau zu wissen, welche es sein wird, und unmittelbar vor dieser Zigarette mit dem Rauchen aufzuhören. Ich kann gar nicht glauben, dass die Zigarettenindustrie noch nicht darauf verfallen ist. Statt Milliarden für den vergeblichen Nachweis auszugeben, dass Nikotin nicht süchtig macht, sollten sie lieber einen Apparat entwickeln, der den Leuten anzeigt, wann sie Lungenkrebs bekommen. Aber mir wurde rasch klar, dass die Leute - allen voran meine Frau und meine Freunde - mit solchen originellen Ideen nichts anfangen konnten. Sie lebten lieber in einer Welt, in der alle so taten, als wäre alles in bester Ordnung und als wäre jede Krankheit eine echte Überraschung. Das ist ziemlich dumm, weil es derart viele Krankheitserreger, Viren und Gifte gibt, die einem die Arterien verstopfen, und derart viele Zellen, die bösartig mutieren können, dass man sich eigentlich nur noch fragen kann, warum wir alle nicht schon längst gestorben sind. Für mich gab es kein Zurück, und wenn das bedeutete, dass ich auf mich allein gestellt war, dann sollte es eben so sein. Meine ersten Investitionen waren natürlich einschlägige medizinische Nachschlagewerke, eine wirklich faszinierende und lebenswichtige Lektüre. »Cor, hör dir das mal an«, sagte ich, als ich im Bett las. »Was denn?«, antwortete meine Frau wenig interessiert, denn sie hatte die Nase in ein Buch von Joanna
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Trollope gesteckt. Jackie Collins hatte sie inzwischen ausgelesen. »Ebola-Fieber. Du fällst ins Delirium, die inneren Organe verflüssigen sich und du blutest aus jeder Körperöffnung.« »Dann hast du es wahrscheinlich«, sagte sie gähnend. »Warum sagst du das?«, fragte ich erschrocken. Weil ich sonst nicht schlafen konnte, las ich abends als Letztes immer die Einträge von Krankheiten, die ich mit ziemlicher Sicherheit niemals bekommen würde. »Ins Delirium bist du schon längst gefallen«, erklärte sie. »Meinst du wirklich?« »Zweifellos.« Das hat gesessen. »Mein Gott, vielleicht hast du Recht.« »Aber du hast ...« »Aber ich hatte ...« »... doch kein ...« »... vor ein paar Tagen Nasenbluten ...« »... Ebola-Fieber.« »Woher willst du das wissen?« »Weil du nicht in Zaire warst. In der letzten Zeit nicht und früher auch nicht. Ich will jetzt schlafen. Gute Nacht.« Damit knipste sie das Licht aus. Ich versuchte einzuschlafen. Ich habe es wirklich versucht. Aber das ist schwer, wenn so etwas an einem nagt. Deshalb flüsterte ich nach zehn Minuten: »Liebste?«
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»Was ist denn noch?«, seufzte sie leidend. »Gott, manchmal hasse ich dich. Du hast mich so wütend gemacht, dass ich nicht schlafen kann.« »Das ist schlimm.« »Was ist schlimm?« »Schlaflosigkeit und Wut sind klassische Symptome einiger stark ansteckender Krankheiten.« Keine Frage, nach diesem giftigen kleinen Wortwechsel wurden meine Nachschlagewerke aus dem Schlafzimmer verbannt. Das war leider ziemlich lästig, weil es bedeutete, dass ich oft um drei Uhr morgens nach unten gehen musste, um ein paar Details zu überprüfen. Auch das war meiner Frau noch zu viel, denn sie beklagte sich, sie würde dauernd wach, weil ich ständig aus dem Bett sprang und wieder zurückkam. Kurz darauf waren die Bücher ganz weg. »Hast du meine Bücher gesehen?«, fragte ich am Abend. »Nein«, antwortete sie zuckersüß. Großer Fehler, meine Liebe. Du hättest fragen sollen: »Welche Bücher?« »Bist du sicher?« »Ganz sicher.« Nun, ich war auch ganz sicher. Ganz sicher, dass sie sie verschenkt oder irgendwo außer Haus gebunkert hatte. Aber ich konnte es nicht beweisen. Dafür hat sie immer noch nicht begriffen, warum ihr Pass ausgerechnet am Vorabend des Tages verschwand, an dem sie eine Geschäftsreise nach Italien antreten wollte. Manchmal kann ich ausgesprochen hartnäckig sein. Sogar nervig, wie manche Leute sagen würden. Ich
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war nicht bereit, die ständige Überwachung meiner Gesundheit durch das Verschwinden der Bücher sabotieren zu lassen. Wenn die Bücher nicht zum Propheten kamen, dann musste der Prophet eben zu den Büchern gehen. Der Buchladen WH Smith entpuppte sich bald als gute Adresse. Sie haben dort eine überraschend gute medizinische Abteilung, und der Laden war nur ein paar Minuten von unserer Wohnung entfernt. Das einzige Problem war, dass ich beim Nachlesen der denkbaren Ursachen für meine verschiedenen Befunde häufig nervös wurde und den Wortlaut der Texte vergessen hatte, bis ich wieder daheim war. So war ich niemals völlig sicher, was ich nun hatte und was nicht, und es war recht peinlich, mehr als ein paar Mal pro Tag zu Smith zu gehen und nachzuschlagen. Unweigerlich wurden chronische Sorgen um meine Gesundheit - jedenfalls wenn sie länger als vierundzwanzig Stunden anhielten - von meiner Frau mit bissigen Kommentaren quittiert: »Warum gehst du nicht einfach zum Arzt, statt mich damit zu nerven?« Ich kann Ihnen sagen, warum ich nicht zum Arzt ging. Es macht einem einfach Angst, zum Arzt zu gehen. Stellen Sie es sich doch mal vor. Wenn Sie im Glauben zum Arzt marschieren, Sie hätten nur eine kleine Bronchitis, die sich mit ein paar Pillen wieder in Ordnung bringen lässt, dann ist ja nichts weiter dabei. Aber wenn Sie mit der Überzeugung hingehen, Sie könnten Lungenkrebs haben, beginnt ein ganz neues Spiel. Sie kommen dann in einen Bereich, in dem einfach alles passieren kann. Man könnte eine tödliche Krankheit
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diagnostizieren oder Sie mit Blaulicht zu einer Operation am offenen Herzen befördern. Das macht die Sache ziemlich zermürbend, ganz zu schweigen vom Zeitaufwand, weil man für den Fall, dass man nicht zurückkommt, jedes Mal dafür sorgen muss, dass jemand daheim ist und auf die Kinder aufpasst. Außerdem will man natürlich mit einer gewissen Würde aus dem Leben scheiden. Man will sich ein letztes Mal umsehen und die Atmosphäre des Hauses in sich aufnehmen - vor allem die Kleinigkeiten, die man sonst so leicht übersieht wie die Blutflecken an der Wand, wo Jo Tom die Treppe hinuntergeworfen hat. Abschiede sind immer schwer. Ich habe dabei immer das Gefühl, ich müsste etwas Bedeutendes sagen. Ich will alle wissen lassen, wie viel sie mir bedeuten und wie dankbar ich für alles bin, was sie für mich getan haben, auch wenn es, um ehrlich zu sein, bei weitem nicht so viel war, wie ich gehofft hatte. Aber in so einer Situation ist man gezwungen, zu lügen. Wie auch immer, bis ich mir endlich die richtigen Abschiedsworte zurechtgelegt habe, haben sich meine Angehörigen längst verdrückt und höchstens »Bis später« gesagt. Aber so sicher, wie sie es aussprechen, ist das natürlich nicht. Außerdem tun sich noch ganz andere Probleme auf, wenn man zum Arzt geht. Obwohl sie sich doch bewusst für einen helfenden Beruf entschieden haben, können Ärzte manchmal bemerkenswert intolerant sein. Oh, bei den ersten paar Terminen sind sie meistens noch ganz in Ordnung. Der Arzt lächelt sogar nachsichtig, wenn Sie über die langen Wartelisten für 111
Organtransplantationen klagen. Aber beim dritten oder vierten Besuch ist er kurz angebunden und abweisend und beschränkt sich auf ein knappes: »Nein, ich glaube nicht, dass weitere Tests notwendig sind.« Den Zeitpunkt, an dem Ihr Arzt sich gegen Sie wendet, können Sie am Verhalten der Empfangsdame ablesen, wenn Sie um einen Termin bitten. »Hallo, hier ist ...« »Ich weiß schon, Mr. Crace. Was kann ich für Sie tun?« »Ich hätte gern einen Termin.« »Nächste Woche Dienstag wäre noch etwas frei.« »Oh. Geht es nicht etwas früher?« »Nein.« »Ich glaube nicht, dass ich so lange warten kann.« In diesem Moment ist am anderen Ende für gewöhnlich ein gemurmeltes »verdammt dicke Akte« und ein gedehntes Seufzen zu hören. »Handelt es sich denn um einen Notfall?« »Ich denke schon.« »Sind Sie sicher?« »So sicher, wie ich nur sein kann.« »Die Frau Doktor mag aber keine Leute, die ihr die Zeit stehlen.« »Kann ich gut verstehen. Ich mag solche Leute auch nicht.« »Sie hat sehr viel zu tun.« »Ich auch.« Zu so einem Spiel gehören immer zwei. »Sie sagen also, es handelt sich um einen Notfall?« »Yeah. «
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»Was haben Sie denn?« »Keine Ahnung. Deshalb muss ich ja meine Ärztin sprechen.« »Was glauben Sie denn, was Sie haben könnten?« »Leukämie.« »Ich verstehe. Halten Sie das nicht für eher unwahrscheinlich?« »Mag sein. Aber in so einem Fall sollte man kein Risiko eingehen.« Eine lange Pause. »Vielleicht können wir Sie um 11.30 Uhr noch dazwischenschieben.« »Da -« Klick. Versuchen Sie mal, aus einem Stein eine Träne herauszuquetschen. Die Sprechstundenhilfe hätte als Antwort auf meine erste, schlichte Bitte um einen Termin ebenso schlicht antworten können: »Passt es Ihnen um 11.30 Uhr?« Aber nein, sie musste ja unbedingt abweisend und pampig sein. Manche Leute haben einfach keine Manieren. Wie auch immer, sobald Sie mit einem Wortwechsel wie diesem konfrontiert werden, ist Ihre Beziehung zu Ihrem Arzt im Eimer. In so einer Situation können Sie nicht gewinnen. Ärzte arbeiten normalerweise anhand der Krankenakten. Der Arzt kann dort nachschlagen, dass Sie ein paar Mal über tödliche Krankheiten geklagt haben, die sich als relativ geringfügige - okay, als äußerst geringfügige Störungen erwiesen haben, und wenn Sie dann mit dem nächsten vermeintlich lebensgefährlichen Leiden kommen, geht
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der Arzt von vornherein davon aus, dass wie üblich alles in Ordnung ist. Es nützt überhaupt nichts, wenn Sie ein paar Mal tatsächlich nur knapp davongekommen sind. Hypochonder bekommen genauso oft tödliche Krankheiten wie alle anderen Leute. Jeder muss aus irgendeinem Grund mal sterben. Es ist einfach nur so, dass Menschen wie ich annehmen, dass das früher passiert, während die so genannten normalen Menschen davon ausgehen, dass es erst später dazu kommen wird. Und mich nennen sie dann einen Idioten. Ich glaube, da stimmt etwas nicht. Wohin gehen Sie also, wenn Sie von Ihrem Hausarzt nicht richtig behandelt werden? Sie können natürlich den Arzt wechseln und darauf hoffen, jemanden zu finden, der Durchblick, Erfahrung und - darf man es so ausdrücken? - mehr als die absoluten Minimalqualifikationen besitzt, aber das wäre ein eher unwahrscheinlicher Glücksfall. Auf der ganzen Welt stöhnen die Ärzte, wie schwierig ihr Beruf sei, wie viele Stunden am Tag sie arbeiten müssten, wie wenig ihre Leistungen anerkannt würden und so weiter. Sie zerfließen vor Selbstmitleid. Glauben die eigentlich, alle anderen Menschen würden ständig nur zu hören bekommen, wie wundervoll sie seien? Es ist ja wirklich nicht so, dass sich die Arbeitsplatzbeschreibung seit ihrem Medizinstudium wesentlich verändert hätte, also dürfte sie das, was sie vorfinden, doch eigentlich nicht überraschen. Nein, den Arzt zu wechseln, kommt nicht in Frage. Verkleidet und mit falschem Namen kann man auch nicht hingehen, und wenn man ernstlich krank ist,
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kommt man sowieso schnell durcheinander. Nein, die einzige Lösung besteht darin, den Arzt als Privatpatient aufzusuchen. Als Privatpatient? Unmöglich. Das ist viel zu teuer. Oder? Nein, eigentlich nicht. Zunächst einmal liegen Privatpatienten voll im New-Labour-Trend. Tony Blair erwartet das von Leuten wie Ihnen und mir. Das ist eine der ausgezeichneten neuen Ideen, die er von den Konservativen übernommen hat. Also tun Sie's. Machen Sie Tony glücklich. Fragen Sie nicht, was Ihr Land für Sie tun kann, sondern fragen Sie, was Sie für Ihr Land tun können. Außerdem kann der Abschluss einer privaten Krankenversicherung sogar ziemlich preiswert sein. Besonders, wenn Sie keine schweren Vorerkrankungen haben, welche die Prämie in die Höhe treiben könnten. Der Punkt ist, dass die meisten Menschen ihre Krankenversicherung ziemlich unklug einsetzen. Sie betrachten die Versicherung als etwas, auf das sie zurückgreifen können, wenn sie krank werden. So dumm kann man sein. Der Trick ist, die Police zu betrachten wie den Mitgliedsausweis eines FitnessStudios. Wenn Sie einmal im Monat hingehen, ist es unglaublich teuer, aber wenn Sie jeden Tag hingehen, ist es spottbillig. Sobald Sie also Ihre Krankenversicherung haben, brauchen Sie nur noch dafür zu sorgen, dass Sie einen entsprechenden Gegenwert bekommen. Eine private Krankenversicherung macht das Kranksein noch mehr zum Vergnügen, als es sowieso
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schon ist. Meine erste Begegnung damit hat mich ihr unwiderruflich verfallen lassen. Ich hatte die Telefonnummer eines Arztes von einem Freund bekommen, der sich damit auskannte, und rief in der Praxis an, um einen Termin zu vereinbaren. »Äh, hallo, hier ist John Crace. Ich war noch nicht bei Ihnen, aber ich hätte gern einen Termin bei Dr. Wilson.« »Selbstverständlich, Mr. Crace. Wann würde es Ihnen passen?« »Irgendwann heute Vormittag?« »Würde Ihnen 10.30 Uhr oder 11.30 Uhr zusagen?« Wie bitte? Ich konnte mir den Termin sogar aussuchen? »Halb elf passt mir gut.« »Also um halb elf. Wir freuen uns, dass Sie zu uns kommen, und vielen Dank für Ihren Anruf.« Das muss man sich mal vorstellen. Der Arzt freute sich nicht nur darauf, mich zu sehen, er war sogar dankbar, dass ich mir die Mühe machte, meinen von Krankheiten gezeichneten Körper in seine Praxis zu schleppen. So gefiel mir das. Ich fühlte mich gleich viel `besser. Der Wohlfühl-Arzt legte noch einen Gang zu, als ich seinen Consulting Room betrat, wie die Sprechzimmer in den angesagten Vierteln in London heutzutage genannt werden. Dr. Wilson kam pünktlich auf die Minute ins Wartezimmer gestürmt, um mich persönlich abzuholen, schüttelte mir die Hand und führte mich in seine Gemächer. Nachdem er mir einen Platz angeboten
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und meine Krankenakte durchgesehen hatte, schaute er mich an. »Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragte er. »Äh ... also, ich habe seit ein paar Tagen Durchfall und fürchte, ich könnte vielleicht Darmkrebs haben.« Doc Wilson zuckte mit keiner Wimper. Der Mann war ein Heiliger. Oder ein Gott. Oder so etwas. »Nun, das klingt aber nicht sehr schön. Dann wollen wir uns die Sache mal ansehen.« Mit »ansehen« meinte er, dass er es sich wirklich angesehen hat. Er hat sich Plastikhandschuhe angezogen und mir den Finger und noch ein paar andere unappetitliche chirurgische Hilfsmittel hinten reingesteckt. »Ich kann da nichts Außergewöhnliches finden«, sagte er beruhigend. »Aber wir wollen lieber ganz sicher gehen.« Er langte nach seinem Beistellwägelchen, schnappte sich eine Kanüle, jagte sie mir in den Arm und saugte mehrere Kanister Blut ab. »Wir machen wohl am besten einen kompletten Bluttest. Und wenn wir schon einmal dabei sind, lassen wir auch gleich Urin- und Stuhlproben analysieren«, sagte er, indem er mir ein paar Gefäße gab und mich in sein geschmackvoll eingerichtetes Klo scheuchte. Als ich zurückkehrte, wickelte er mir eine Folie um den Arm und maß meinen Blutdruck, dann steckte er mir ein Thermometer in den Mund, und um auch ja nichts zu vergessen, prüfte er noch meine Reflexe. »Das dürfte dann wohl reichen«, sagte er. »Bis jetzt
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scheint alles in bester Ordnung zu sein. Ich denke, Sie haben eine leichte Magenverstimmung, aber die Tests sollten uns die letzte Gewissheit geben. Ich rufe Sie morgen an, sobald ich die Ergebnisse habe. Meiner Ansicht nach brauchen Sie an Darmkrebs keinen Gedanken mehr zu verschwenden.« Auch ein Trost. Mit einem leicht euphorischen Gefühl verließ ich die Praxis. Endlich hatte ich einen Arzt gefunden, der bereit war, meine Gesundheit so ernst zu nehmen wie ich. Bei ihm gab es kein Geschwafel in der Art: »Wir warten mal ab, wie es sich entwickelt.« Er war voll da und hat meinen Körper mit Tests überzogen. Wenn irgendwo in meinem Körper etwas nicht in Ordnung war - selbst wenn es sich nur um etwas handelte, das andere Ärzte herablassend als »kleine Unpässlichkeit« bezeichnen würden -, dann würde er es herausfinden und dem Problem einen Namen geben. Aber als ich zu meinem Auto zurückkehrte, kamen mir ein paar Zweifel. Selbst wenn alles von der Versicherung bezahlt wurde normalerweise verhielten Ärzte sich nicht wie er. Sie veranstalteten nicht einfach eine ganze Reihe von Tests, wenn sie nicht den Verdacht hatten, dass irgendetwas Ernstes vorliegen könnte.. Als ich daheim war, vertiefte sich meine Niedergeschlagenheit noch. »Wo warst du?«, fragte meine Frau aggressiv. Es ist schön, wenn man sieht, dass die Partnerin immer an einen denkt. »Beim Arzt.«
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»Ach so«, sagte sie ohne jedes Mitgefühl. Mach weiter. Brich mit den alten Gewohnheiten. Frage mich doch einfach mal, wie es mir geht. »Und du hast doch hoffentlich daran gedacht, auf dem Heimweg Milch zu kaufen?« Das ist typisch für sie. Ich, ich, ich, immer nur ich. Na schön, sie ist zur Hälfte Amerikanerin. Ich meine, was sollte das mit der Milch? Gibt es etwas Schlimmeres, als einem Mann mit einer Verdauungsstörung Milch zu geben? Es war der reine Sadismus, der sie diese Frage stellen ließ. »Nein, habe ich nicht. Ich fühlte mich zu krank.« »Das ist seltsam, weil du ja völlig gesund bist.« »Und warum war ich dann wohl beim Arzt?« »Das wirst du mir sicher gleich erklären.« »Weil ich vielleicht Darmkrebs habe.« »Aber du hast doch überhaupt keinen Darmkrebs.« »Dr. Wilson hat sich etwas anders ausgedrückt.« Was ja irgendwie sogar der Wahrheit entsprach. »Was hat er denn gesagt?« War sie ehrlich besorgt oder fürchtete sie nur, das Leben könne in Zukunft unbequemer werden? Es war schwer zu entscheiden. »Also, er macht noch einige Tests.« Unter anderem. »Bist du sicher?« »Absolut. Morgen bekomme ich die Ergebnisse.« »Oh. Nun ja, das ist bestimmt nur eine Vorsichtsmaßnahme. Ich bin sicher, dass dir nichts fehlt.« Vielen Dank auch. Ist es nicht schön, wenn andere
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Menschen so ritterlich mit Ihrem Leben umgehen? Das klingt wie: »Mach dir keine Sorgen, du wirst schon etwas anderes finden. Es gibt viele Arbeitslose, die nach einer Weile einen neuen Job finden.« Doch man muss nicht weit blicken, um zu erkennen, dass die Dinge nicht immer so glimpflich verlaufen. In Wirklichkeit wird es oft sogar immer schlimmer. Aber davon will ja niemand etwas wissen, meine Frau ausdrücklich eingeschlossen. Ich muss daher in einer Welt leben, in der mein Darmkrebs mal eben ausheilt, damit sie sich besser fühlt. Das vierundzwanzigstündige Warten auf die Testergebnisse war eine Tortur. Ich schritt unruhig im Zimmer hin und her, ich konnte mich nicht auf die Arbeit konzentrieren und wer anrief, wurde kurz und unwirsch abgefertigt, damit der Arzt mich jederzeit erreichen konnte. Es war zu der Zeit, in der Funktionen wie Anklopfen, einen Anrufer auf »Halten« legen und einen zweiten Anruf annehmen noch nicht verfügbar waren, was mich nebenbei bemerkt auch heute noch leicht überfordert. Irgendjemand fliegt immer aus der Leitung. Bitte schreiben Sie doch eine Postkarte. Naja, so geht das im Leben. Im Gegensatz zu Drogendealern und Exfreundinnen hielt Doc Wilson Wort und rief an, wie er es versprochen hatte. »Sind Sie es, John?«, dröhnte er gönnerhaft. »Ja.« Los doch, nun mach schon. Sag's mir. »Ihre Testergebnisse sehen sehr gut aus. Stuhl ist normal, Urin ist normal, Leberwerte sind normal. Sie
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haben lediglich einen leicht erhöhten Wert an Erythrozyten.« Wie schön, dass er der Ansicht war, er könnte mir schmutzige Witze erzählen. Ich hatte keine Ahnung, wovon er redete. »Was sind diese Erythro ...« »Erythrozyten. Rote Blutkörperchen. Mit dem Test kann man einen Virus nachweisen. Sie haben einen, und es handelt sich dabei höchstwahrscheinlich um Ihre Magenverstimmung. Alle anderen Testergebnisse sind normal, also ist alles in Ordnung. Aber wenn sich ihr Durchfall in einer Woche oder so nicht gebessert hat, melden Sie sich doch bitte wieder bei mir.« »Danke, das werde ich tun.« Es war das beste Resultat, das man sich nur wünschen konnte. Ich würde nicht sterben, aber in meinem Körper war tatsächlich etwas nicht in Ordnung. Da meine Frau wie üblich völlig desinteressiert war, lag es bei mir, ihr die gute Nachricht zu überbringen. »Der Arzt hat angerufen. Mein Erythrozytenspiegel ist zu hoch.« »Ach, wirklich?«, sagte sie tödlich gelangweilt. »Was hat das zu bedeuten?« »Es bedeutet, dass Darmkrebs nicht völlig auszuschließen ist.« Ich habe das nicht aus reiner Bosheit gesagt. Jedenfalls nicht ganz und gar. Einerseits war es wichtig, sie unter Druck zu halten, aber andererseits glaubte ich fast selbst, was ich sagte. Wie präzise waren die Tests eigentlich? Konnten sie Krebs schon im Frühstadium aufspüren? Es gab einen einzigen Faktor, der das 121
Thema endgültig erledigen konnte. Würde mein Durchfall besser werden? Also nahm ich die ganze Woche lang jeden Morgen meinen Stuhlgang unter die Lupe. Eine nicht sehr angenehme, aber notwendige Aufgabe, wie Sie mir glauben können. Es gab zwar einige Anzeichen einer Besserung, aber nicht genug, um kurz und bündig zu sagen, dass ich mich völlig erholt hatte. Also ging ich wieder zu, Sie wissen schon. »Ich bin immer noch etwas besorgt ...« »Wir haben eine umfassende Testreihe gemacht ...« »... ich könnte Darmkrebs haben.« »Alles spricht dagegen, John«, sagte Dr. Wilson geduldig. »Ich verwette meinen Ruf, dass Sie keinen Darmkrebs haben.« Mit seinem Ruf soll er zocken, mit meinem Leben nicht. »Können Sie also mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass ich keinen Darmkrebs habe?« »Nein. Das kann kein Arzt sagen. Das ließe sich nur mit einem Bariumeinlauf klären.« Ich zog eine Augenbraue hoch. »Sind Sie sicher, dass Sie das wirklich wollen?«, fragte er schließlich. »Es ist keine sehr angenehme Prozedur und ich würde Ihnen so etwas nur ungern empfehlen.« »Ich verstehe.« »Also gut. Wenn sich Ihre Sorgen damit ein für alle Mal aus der Welt schaffen lassen, dann tun wir es.« Natürlich habe ich meiner Frau nicht erklärt, dass ich ausdrücklich um den Bariumeinlauf bitten musste.
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Sie war einigermaßen beeindruckt, dass ich eine so radikale Behandlung brauchte, auch wenn sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. Nach zweitägigem Genuss von Abführmitteln - einem unverzichtbaren Teil des masochistischen Vorspiels vor dem Einlauf des Kontrastmittels - lag ich in ein hinreißendes hellblaues Papierkleidchen gewandet auf dem OP-Tisch, umgeben von Monitoren, direkt neben einem Beutel mit weißer Pampe, der an einem Haken hing. Der Beutel war mit einem Plastikschlauch bestückt, den eine Schwester mir in den Hintern schob. Scharfe Sache, das. Aber als der Schlauch drin war, war es nicht mehr so schlimm. Es fühlte sich ein bisschen komisch an, als er bewegt wurde und die Flüssigkeit sich in meinem Mastdarm ausbreitete, aber es tat gut zu wissen, dass ich in wenigen Minuten erfahren würde, woran ich war. Jedenfalls, was den Darmkrebs anging. Begierig starrte ich auf die Monitore, aber auch wenn ich den Umriss meines Darms erkennen konnte, vermochte ich nicht zu sagen, welche Teile voller Karzinome waren und welche sich in gutem Zustand befanden. Schließlich gab ich die Raterei auf und wandte mich an die Röntgenassistentin. Lächelte sie oder sah sie mich besorgt an? Weder noch. Vermutlich hatte sie in ihrem Job gelernt, sich so wenig wie möglich anmerken zu lassen. Entweder das, oder sie genoss einfach nur das Gefühl, Macht über mich zu haben. Die Lösung war endlich wieder draußen und ich wurde ins Umkleidezimmer gescheucht, um mich an
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zuziehen. Unterwegs begegnete mir die Röntgentechnikerin. »Ich habe den Bericht noch nicht geschrieben, aber es sieht alles sehr gut aus«, sagte sie. Ich kann kaum beschreiben, wie ich mich fühlte. Nur wer unter einem ähnlichen Todesurteil gelebt hat, kann sich vorstellen, wie groß meine Erleichterung war. Binnen eines Sekundenbruchteils verwandelte ich mich von einem Mann mit einer Vergangenheit in einen Mann mit Zukunft. Ganz neue Aussichten, was meinen Fernsehkonsum anging, taten sich auf, denn ich hatte es bisher vermieden, Serien mit mehr als zwei Folgen anzuschauen, weil es zu enttäuschend gewesen wäre, das Ende zu verpassen. Und noch besser, ich fühlte mich gut. Ich wusste, dass mein Durchfall abklingen würde, und ich sah die Menschen auf der Straße mit ganz anderen Augen. Wie viele konnten ehrlich und glaubwürdig behaupten, dass sie mit Sicherheit keinen Darmkrebs hatten? Auch wenn sie keine Symptome hatten, in genau diesem Augenblick konnte die erste krebsartige Zellteilung stattfinden. Ich dagegen wusste dank der harten, dokumentierten Fakten, dass mein Verdauungstrakt absolut in Ordnung war. Das ist doch schon eine ganze Menge, wenn man es bedenkt. Leider sind solche Gewissheiten sehr kurzlebig.
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Ich weiß schon, was Sie jetzt denken: Der Kerl hat wirklich ein Problem. Er braucht Hilfe. Sie müssen deshalb aber keine Schuldgefühle bekommen, so etwas stört mich nicht. Das höre ich schon seit Jahren. Schon fast genauso lange, wie ich in der Therapie bin. Das ist für sich genommen schon beunruhigend genug, aber vielleicht wäre es mit mir noch viel schlimmer, wenn ich die Therapie nicht gemacht hätte. Das kann man nicht wissen. So ist das eben, wenn man eine Therapie beginnt. Man kann nie wieder etwas mit Bestimmtheit sagen. Nie wieder. Sie stellen ein paar wilde Vermutungen über dieses und jenes an oder beschuldigen ein paar Leute, die Sie nicht mögen, sie hätten Sie als Kind missbraucht, und es spielt überhaupt keine Rolle, ob das stimmt oder nicht, weil man es sowieso nicht genau wissen kann. Besonders Sie selbst nicht. Entscheidend sind nur Ihre Gefühle. Über besser oder schlechter reden wir jetzt nicht, weil das wertende und daher höchst untherapeutische Begriffe sind. Und wie wollen Sie überhaupt beurteilen, ob Sie sich besser fühlen? Sie glauben das vielleicht, aber es könnte auch ein Symptom dafür sein, dass es Ihnen genau genommen schlechter geht. Sie dürfen das auch Verdrängung nennen. Fragen Sie meine Frau, sie weiß alles darüber. Nein, das Ziel der Therapie ist einfach, dass Sie überhaupt etwas fühlen - je intensiver, desto glücklicher. Denn dann sind Sie im Einklang mit
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sich selbst. Mit Ihrem innersten, empfindsamen, liebevollen Selbst. Sehen Sie nur mich an. In den Sitzungen quatschen Sie vielleicht pausenlos darüber, dass Sie wichtige Veränderungen in Ihrem Leben vornehmen sollten, und vielleicht nehmen Sie sogar einige Dinge in Angriff - aber wenn Sie es tun, dann ist es höchstwahrscheinlich doch bloß reiner Zufall. Was natürlich nicht ausschließt, dass Ihr Therapeut sich das als sein Verdienst anrechnen will. Ich sollte mir Einsichten wie diese eigentlich bezahlen lassen. Wirklich. Aber wenn ich es recht bedenke, werde ich ja sogar schon dafür bezahlt, also vergessen Sie's. Ich rede hier über die Dinge, die Ihnen vor der Therapie niemand verrät und die Sie erst herausfinden, wenn Sie hoffnungslos in eine undurchsichtige Beziehung verstrickt sind, aus der Sie nicht mehr herauskommen. Ich muss einräumen, dass es möglicherweise nicht viel geändert hätte, wenn ich das vorher gewusst hätte, weil ich sowieso nicht mit der Therapie begonnen habe, um meine Probleme zu bearbeiten. Der Grund war einfach der, dass ich nicht der Ansicht war, ich hätte irgendwelche Probleme, über die es sich zu reden lohnte. Ich begann mit der Therapie, weil alle meine Freunde eine Therapie gemacht haben und weil ich kein Außenseiter sein wollte. Das kann sehr schnell passieren, wenn die Leute in Therapie gehen und anfangen, in einer Fremdsprache miteinander zu reden. »Ich muss dich wirklich mal mit etwas konfrontieren, John«, sagte Dan.
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»Was?« »Ich sagte, ich muss dich mit mal etwas konfrontieren.« »Du meinst, du willst mit mir reden?«, fragte ich. Ob er nicht mehr wusste, was ein Gespräch ist? »Ich meine, es fällt mir schwer, mit dir umzugehen.« Was soll man dazu sagen? »Oh.« »Yeah, ich finde dich wirklich schwierig.« »Oh.« »Versteh mich nicht falsch, ich werfe dir das nicht vor. Du bringst einfach nur viele Themen aus meiner Kindheit ans Licht, und ich brauche etwas Luft.« Ich bin heute nicht sicher, was Dan damit meinte. Abgesehen von meiner Verwirrung erinnere ich mich nur daran, dass ich unglaublich neidisch wurde. Das klingt zwar dumm, aber ich wollte auch mal herumlaufen und zu den Leuten solche Sachen sagen können. Es klang so unheilvoll und bedeutsam, und vor allem schien es einen magischen Effekt auf Frauen zu haben. Das war Ende der achtziger Jahre. Niemand, den ich kannte, hatte von dem Geld, das er während des Booms unter Thatcher angeblich verdient hatte, noch etwas übrig. Die Meisten hatten Mühe, ihre Jobs zu behalten. Materieller Besitz war out, Gefühle waren in. Es war sinnlos, ein schönes Auto zu haben, wenn es einem nicht wenigstens peinlich war und man sich dafür schämte. Denn die Leute die Frauen, um es konkret zu sagen - konnten einen Mann nur lieben, wenn er eine Menge Gefühle hatte. Am liebsten 127
schlechte. In dieser Zeit hatte ich hauptsächlich nur zwei Gefühle. Eines ging in Ordnung, das andere nicht so ganz. Es war die Dämmerung der Zeit, in der Männer sich zu ihren Gefühlen bekannten, und auch wenn ich in den Verkündigungen, die Dan von sich gab, nur jedes dritte Wort verstand, war er ein Vorreiter. Er war der Pionier. Er war der erste Mann, den ich kannte, der eine Therapie machte. Die Frauen beteten ihn dafür an. »Wie fühlst du dich, Dan?«, gurrten sie. »Ich spüre einen leichten Schmerz und empfinde etwas Wut«, quetschte er voller Betroffenheit heraus. Woraufhin alle Frauen in der Nähe sich mit ihm identifizierten und in einem Kollektivorgasmus dahinschmolzen, und David konnte sich aussuchen, welche er später abschleppen wollte. Überflüssig zu erwähnen, dass sich die Spielregeln schon wieder etwas geändert hatten, als ich lernte, diesen Psychoslang fließend zu sprechen. Man musste inzwischen mindestens ein Jahr Therapie hinter sich haben, ehe eine Frau einen ernst nahm. Aber das ist eben die Geschichte meines Lebens: immer hoffnungslos im Hintertreffen. Damals wusste ich das allerdings noch nicht. Man könnte also sagen, dass die Therapie mich wenigstens eine Sache gelehrt hat. Übrigens hat nie jemand, wirklich noch nie, ein Wort darüber verloren, dass die Therapie eine Möglichkeit ist, für andere attraktiv zu werden. Die Therapie war eine ernste Sache. Es war ein
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Schritt in der persönlichen Entwicklung, eine Reise ins Ungewisse. Und meine sollte gerade erst beginnen. »Ich will eine Therapie machen«, sagte ich eines Tages beim Abendessen zu meiner Frau. Die Höflichkeit gebot mir, sie wissen zu lassen, was ich plante. Ich wünschte, solche Höflichkeit würde auf Gegenseitigkeit beruhen. Von ihren Plänen höre ich gewöhnlich erst von ihren Freundinnen. »Wirklich?«, erwiderte sie und unterdrückte ein Gähnen. »Warum denn?« Gott, was war das denn jetzt? So eine Frage darf man einfach nicht stellen. Eine Therapie macht man eben einfach, da braucht man nichts mehr zu erklären. Ich konnte ihr natürlich nicht sagen, dass ich eine Therapie machte, weil Dan, Ben und Ashley schon damit begonnen hatten. »Ich will mein inneres Kind heilen.« Manchmal staune ich über meine eigenen genialen Einfälle. Damit hatte ich den Nagel auf den Kopf getroffen, und es war mir einfach so eingefallen. Vielen Dank, Dan. Oder vielleicht auch nicht. »Manchmal redest du wirklich einen unglaublichen Schwachsinn«, sagte sie. »Dein Problem ist nicht das Kind in dir, sondern dein kindisches Verhalten.« »Oh, haha«, gab ich so sarkastisch wie möglich zurück. Besonders gut gelang es mir nicht. Das gelingt mir nie, wenn man mich gerade niedergemacht hat. »Warum gibst du nicht einfach zu, dass du es tust, weil du so sein willst wie Dan, Tom und Ashley?« »Weil es nicht wahr ist«, sagte ich. Ich suchte verzweifelt
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nach einem Ausweg aus der Sackgasse. »Sie haben mich natürlich auf diese Idee gebracht, aber ich habe meine eigenen Motive.« »Das wichtigste dürfte wohl sein, dass du glaubst, du würdest damit attraktiver für Frauen, was?« »Mach dich nicht läch -« »Keine Sorge, ich habe keine Probleme damit«, gackerte sie. »Du brauchst jede Hilfe, die du nur bekommen kannst.« »Oh, vielen Dank auch.« »Nun spiel nicht gleich die beleidigte Leberwurst.« »Ich bin nicht beleidigt.« Doch, das bin ich. »Ach, nun beruhige dich doch wieder«, sagte sie und wurde auf einmal sehr charmant. »Ich habe dich nur auf den Arm genommen. Im Grunde denke ich, dass die Therapie dir wirklich gut tun könnte. Denn schlimmer als jetzt kannst du ja kaum werden.« Ich glaube, diese Bemerkung bereut sie heute noch. »Das ist ja nicht gerade eine begeisterte Zustimmung.« »Aber es ist auch nichts Schlimmes. Außerdem sind Dan, Tom und Ashley, abgesehen davon, dass sie mehr dummes Zeug schwatzen als sonst, anscheinend immer noch halbwegs normal.« »Dann macht es dir also nichts aus? Du brauchst nicht noch etwas Zeit, um darüber nachzudenken?« Hey, wozu brauche ich eine Therapie, wenn mir solche Antworten einfallen? »Nein, ist schon in Ordnung.« »Ganz sicher?«
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»Yeah. Ich wusste es sowieso schon. Wie Debby mir gesagt hat, hast du letzte Woche mit Ben darüber gesprochen, dass du vielleicht eine Therapie machen willst.« Es ist eine Sache, sich für eine Therapie zu entscheiden und eine ganz andere, einen passenden Gehirnklempner zu finden. Angeblich soll es ja ganz einfach sein. Man redet einfach mit Leuten, die schon eine Therapie machen, und hört sich an, wen sie empfehlen. Nur dass es so noch nie funktioniert hat. Niemand, den ich kannte, wollte verraten, bei welchem Therapeuten er war. Sie wollten immer nur Leute empfehlen, bei denen sie nicht waren. Das bedeutete, dass ich mit den zweitbesten Vorschlägen abgespeist wurde, wenn ich Glück hatte. Denn es hätte ja gut sein können, dass der vorgeschlagene Therapeut einfach einen Haufen Geld ausgespuckt hatte, damit man ihm ein paar ahnungslose Trottel schickte. Ich hätte meinen Freunden so etwas jedenfalls zugetraut. Aber das war erst der Anfang. Ein Therapeut, der sein Geld wert ist, wird höchstwahrscheinlich keine Zeit haben. Es sei denn natürlich, man ist sehr, sehr berühmt. Dann haben sie seltsamerweise rund um die Uhr geöffnet. Oder glauben Sie, Di, Fergie, Elton und Liz mussten jemals auf einen Termin warten? Ach, was. Bei denen hieß es: »Kommen Sie doch einfach mal vorbei. Es macht nichts, wenn es drei Uhr morgens ist.« Aber für uns andere heißt es: »Tut mir Leid, ich habe im Augenblick keine Termine frei. Geben Sie mir doch bitte Ihre Telefonnummer, damit ich Sie in drei oder vier Monaten anrufen kann, falls sich etwas 131
ergeben hat.« Herzlichen Dank für das Entgegenkommen und die Unterstützung. Ich glaube, damit haben Sie meinen Selbstmordversuch verhindert. Wenn Sie also jemanden finden, der Zeit für Sie hat, nehmen Sie automatisch an, dass er nicht sehr gut sein kann. Manchmal haben Sie damit sogar Recht. Ich gebe es nicht gern zu, aber ich kann mich nicht einmal an den Namen meiner ersten Therapeutin erinnern. Ich weiß noch die Straße und wie das Gebäude aussah, ich erinnere mich an das Sprechzimmer, aber an sie selbst habe ich keine Erinnerung mehr. Ich weiß nicht, wie sie aussah und wie sie hieß. Ich bin sicher, dass ich bei ihr einen ähnlich starken Eindruck hinterlassen habe, denn während unserer kurzen Beziehung hat sie niemals besonderes Interesse für das gezeigt, was ich zu sagen hatte. Ich war so dumm, dies als Zeichen ihrer Professionalität zu werten. Ich leierte herunter, wie meine Mum dieses und mein Dad jenes getan hätte, und sie starrte ins Leere und gab Sachen von sich wie »Hm-hm« oder »Fahren Sie doch fort« oder »Wie hat sich das angefühlt?« Lebhafte Bewegungen sah ich bei ihr nur, wenn sie aufsprang, die Tür öffnete und feierlich verkündete: »Dann bis nächste Woche um die gleiche Zeit.« Und natürlich kam ich wieder angetrabt und glaubte, ich würde irgendwelche tief greifenden Prozesse durchleben. Es hilft natürlich, dass man immer sofort in bar zahlen muss. Okay, damals waren es nur zwanzig Pfund pro Sitzung, was nach heutigen
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Maßstäben ein Trinkgeld ist, aber zwanzig Pfund sind zwanzig Pfund. Und wenn Sie den Betrag Woche für Woche abdrücken müssen, dann reden Sie sich zwangsläufig ein, dass es Ihnen doch gut tun muss. Einer von uns beiden hatte auf jeden Fall das Gefühl, dass es eine lohnende Sache war. Den Tiefpunkt erreichten wir nach etwa zwei Monaten, als ich ein paar Mal auf ihre Schelle drückte, noch ungefähr zehn Minuten vor ihrem Haus herumlief und dann wieder nach Hause wanderte. Normalerweise hätte einer von uns anrufen müssen, um herauszufinden, was los war, aber anscheinend war es uns beiden egal. Wir standen uns wohl nicht sehr nahe. In der folgenden Woche ging ich wieder hin, als wäre alles in Ordnung. Inzwischen war ich ziemlich wütend, aber auch sehr aufgeregt. Ich hatte mein erstes therapeutisches Problem, mit dem ich mich auseinander setzen musste. »Wo waren Sie letzte Woche?«, begann ich aggressiv. »Und wo waren Sie?«, gab sie gleichmütig zurück. Das war beinahe schon ein normaler Dialog. Es fühlte sich beinahe an wie eine Intimität. »Ich war hier, aber Sie waren nicht da. Ich habe ewig lange geschellt.« »Ich war ebenfalls hier, aber ich habe Sie nicht schellen hören.« »Vielleicht ist die Klingel kaputt?« »Sie ist nicht kaputt. Ich habe es überprüft.« »Was ist dann also passiert?« »Erklären Sie's mir.«
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Sie hatte mit paranormalen Phänomenen offenbar genauso große Schwierigkeiten wie ich. »Also, ich habe ganz bestimmt auf den Klingelknopf gedrückt.« »Sind Sie sicher?« »Wollen Sie damit andeuten, ich hätte unbewusst den Wunsch gehabt, nicht zu meiner Sitzung zu kommen, und hätte deshalb auf den falschen Klingelknopf gedrückt oder so?« »Das will ich nicht sagen. Aber Sie sagen es. Möchten Sie darüber reden?« Sie war offensichtlich erheblich gerissener, als ich vermutet hatte. Mit ein paar kleinen rhetorischen Tricks hatte sie es geschafft, mir die Schuld zuzuschieben, obwohl die Wahrheit doch offensichtlich die war, dass sie in ihrem Lehnstuhl ein paar Minuten früher als üblich eingenickt war und die Türschelle überhört hatte. Trotz dieses unerwarteten Anzeichens von Intelligenz auf ihrer Seite wurden wir danach nie mehr richtig warm miteinander. Wir schleppten uns durch einige weitere Sitzungen, in denen ich ein wenig über dieses und jenes stöhnte und sie über meine emotionale Geschichte auf dem Laufenden hielt, bis sie mich auf einmal unterbrach. »Wir haben fantastisch zusammengearbeitet«, sagte sie. »Sie haben große Fortschritte gemacht.« Schön, dass sie so darüber dachte, aber mir war das neu. Ich hatte das Gefühl, ich hätte noch nicht einmal angefangen. »Wirklich?«, sagte ich, wider Willen geschmeichelt.
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»Oh, aber sicher. Ich glaube, wir sind so weit gekommen, wie man in Einzelsitzungen überhaupt kommen kann. Aber jetzt könnte es sinnvoll sein, wenn Sie und Ihre Frau zusammen kommen. Als Paar. Wie würden Sie sich dabei fühlen?« »Ähm ... ich glaube, ich habe nichts dagegen. Aber ich weiß nicht, wie meine Frau darüber denkt. Vielleicht sollten Sie lieber selbst mit ihr reden.« »Selbstverständlich. Sie haben also nichts dagegen, wenn ich sie anrufe und die Sache mit ihr bespreche?« »Keineswegs.« Ich muss hinzufügen, dass man sich normalerweise auf so etwas nicht einlassen sollte. Wenn Sie Ihre Partnerin in die Nähe Ihres Therapeuten lassen, handeln Sie sich garantiert einen großen Haufen Ärger ein. Zwischen beiden sollte so viel Abstand wie nur irgend möglich bleiben. Es könnte ja sogar passieren, dass die beiden sich mögen - und zwar mehr, als jeder der beiden Sie mag. Aber ich wusste es damals nicht besser. Glücklicherweise hatte es keine schlimmen Folgen. Denn wie ich richtig vorausgesehen hatte, ist meine Therapeutin nicht dazu gekommen, meine Frau anzurufen. Und ich bin nicht dazu gekommen, sie zu fragen, warum sie es nicht getan hat. Das war also das Ende meines ersten Versuchs, mir im Kopf herumpfuschen zu lassen. Kein tränenreicher Abschied, sondern einfach nur ein Verblassen der Erinnerung und ein beiderseitiger Mangel an Rücksichtnahme und Achtung. Im Grunde so ähnlich wie das Ende vieler meiner Beziehungen. Aber jetzt hatte es mich gepackt und ich kam nicht
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mehr davon los. Wenn überhaupt, dann war ich noch schärfer darauf als vorher, mich therapieren zu lassen, denn abgesehen von Geld hatte mich die Sache praktisch nichts gekostet. Das einzige echte Gefühl, das die Therapeutin in mir ausgelöst hatte, war die Wut, als sie mich nicht hereingelassen hatte. Den Rest der Zeit hatte ich über mein Lieblingsthema reden können - über mich selbst -, ohne dadurch emotionale Nachteile zu haben. Wenn es doch nur so geblieben wäre. Aus irgendeinem Grund war es beim zweiten Mal viel leichter, einen Seelenklempner zu finden. Ich glaube, das ist so ähnlich wie die Bewerbung um einen neuen Job. Jeder Arbeitgeber will Leute mit Erfahrung, aber keiner ist bereit, die Leute Erfahrungen machen zu lassen. Oder vielleicht war ich auch unwiderstehlich, weil ich bereit war, pünktlich zu zahlen. Jedenfalls bekam ich von jemandem, dem ich traute, die Telefonnummer einer Therapeutin im Norden Londons. Ganz recht, eine erstklassige Empfehlung. Ich hatte es ganz nach oben geschafft. Ein Anruf, und ich war wieder im Geschäft. Ich habe keinerlei Mühe, mich zu erinnern, wie diese Therapeutin hieß und wie sie aussah. Man muss schon eine hochgradige Gehirnstörung haben, um jemanden zu vergessen, den man beinahe acht Jahre lang regelmäßig gesehen hat. Sie hieß Mary, ein ordentlicher Mittelklasse-Name, der fast perfekt zu ihrem Äußeren passte. Sie war weder dick noch dünn, weder zu groß noch zu klein, weder gut aussehend noch hässlich, weder jung noch alt. Sie war ganz einfach
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- nun ja, durchschnittlich unscheinbar. Falls das jetzt übermäßig wertend klang, dann war das nicht beabsichtigt. Das Übermäßige, meine ich. Mary war in jeder Hinsicht der Inbegriff einer Therapeutin. Eine tabula rasa, auf die man beliebige Fantasien projizieren konnte. Doch ihre Stimme war ein ganz anderes Kapitel. Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass manche Leute eine Stimme haben, die klingt, als würden Sie die Worte in Ihrem Kopf hören? So eine Stimme hatte Mary nicht, obwohl es so hätte sein sollen. Sie hatte eine der auffälligsten Stimmen, die ich je gehört habe. Sie sprach gemessen, pedantisch und monoton, wie ich es noch nie erlebt habe. Was auch immer in den Sitzungen passierte, Ihre Stimme ließ niemals eine Gefühlsregung oder auch nur einen Hauch von Anteilnahme erkennen. Sie hatte etwas Lebloses, Mechanisches an sich, das man mit abgrundtiefer Langeweile hätte verwechseln können, wenn es einem Menschen nicht unmöglich wäre, so lange Zeit gelangweilt zu sein. Es war ein wenig gespenstisch, nicht zuletzt weil mein Kopf sich schlagartig leerte, sobald ich versuchte, mich an das zu erinnern, was sie gesagt hatte. Ich weiß bis heute nicht, ob das an meiner mentalen Blockade oder an ihren übernatürlichen Radierfähigkeiten lag. Sie lebte am Ende einer Sackgasse in einem Haus, das einen riesigen Riss im Putz hatte. Seltsamerweise waren dies die einzigen Faktoren, die in unserer Beziehung von einer symbolischen Interpretation verschont blieben. Ihre Praxis, wie sie den Laden großspurig
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nannte, war kaum mehr als ein Schuppen, der seitlich ans Haus angesetzt war. Der Bau war so fliederfarben gestrichen, dass einem fast schlecht werden konnte. Drinnen hingen ein paar Tücher mit asiatischen Motiven - teils C. G. Jung und teils exotisch - an den Wänden. Sie waren mir ziemlich egal, denn sie waren nicht zu aufdringlich, ich bekam davon keine Kopfschmerzen und hatte damit auch nichts in der Hand, um Mary zu nerven, wenn mir nichts anderes mehr einfiel. Nein, was mir an ihrem Haus den stärksten Eindruck machte, war der Ort, an dem es stand. Irgendwo im Norden Londons in der Pampa, zwei Haltestellen vor der Endstation der U-Bahn und Meilen von der North Circular Road entfernt. Und vor allem meilenweit entfernt von Streatham, wo ich lebte. Ich brauchte mindestens eineinviertel Stunden, um zu ihr zu fahren und meine therapeutische Stunde abzusitzen - die nur fünfzig Minuten dauerte -, und dann musste ich wieder eineinviertel Stunden nach Hause fahren. Jemand, der in Milton Keynes wohnte, hätte meine Therapeutin viel leichter erreichen können als ich und ich fragte mich oft, ob der Nutzen, den die Sitzungen haben mochten, nicht durch die lästige Fahrerei mehr als aufgehoben wurde. Ein vernünftiger Mensch hätte wahrscheinlich gleich von Anfang an gesagt, dass es auf Dauer nicht funktionieren würde. Er hätte gesagt: »Mary, Sie sind ganz sicher eine hervorragende Therapeutin, aber ich suche mir doch lieber jemanden, den ich leichter erreichen kann.« Leider war ich noch nie sehr vernünftig und ich hatte keine Ahnung, wie ich jemanden in
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der Nähe finden konnte. Gibt es überhaupt Therapeuten im Süden Londons? Und überhaupt, wenn man sich lediglich vernünftig verhalten will, braucht man sowieso keine Therapie. Da kann man auch einfach mit ein paar Fremden im Park plaudern. Psychologische Versuche scheinen dafür zu sprechen, dass Ihnen das genauso hilft wie eine Therapie. Aber wer will schon kostenlos mit einem Fremden reden, wenn man das Gleiche für 30 Pfund pro Sitzung tun kann? Wer geht einfach in den nächsten Park, wenn er zur Stoßzeit quer durch London fahren kann? Ich jedenfalls nicht. Wobei mich das nicht davon abhielt, ständig darüber zu stöhnen. Besonders wenn die Fahrt erheblich länger dauerte als üblich, so dass ich zehn Minuten - oder sechs Pfund, wie ich es ausdrückte - zu spät kam. »Mein Gott, Mary, das ist einfach ein verdammter Albtraum«, schimpfte ich. »Was ist ein verdammter Albtraum?« Es war wirklich komisch zu hören, wie Mary meinen Fluch wiederholte, aber wann immer ich fluchte, wiederholte sie den Fluch mit meinen eigenen Worten. Sie war wohl der Ansicht, sie würde irgendeine raffinierte Spiegeltechnik einsetzen, aber ich glaube, sie hat einfach nur dankbar die Gelegenheit ergriffen, schmutzig daherzureden. »Die Fahrt ist ein verdammter Albtraum. Von Kilburn bis hierher habe ich dauernd im Stau gestanden. Warum müssen Sie auch in so einem Dreckloch wohnen? Warum können Sie nicht in Hampstead arbeiten wie jeder andere Seelenklempner, der etwas auf sich hält?« 139
»Und was bedeutet es Ihnen, dass ich hier und nicht anderswo lebe?«, erwiderte sie nach kurzem Nachdenken. »Es bedeutet, dass ich Ihnen nichts bedeute, denn sonst würden Sie sich bemühen, irgendwo in meiner Nähe etwas zu finden.« »Hmm. Es ist interessant, dass Sie das Wort >Nähe< benutzen. Vielleicht sind Sie es, der Schwierigkeiten hat, mir nahe zu sein?« »Was meinen Sie damit?«, sagte ich, um Zeit zu gewinnen, obwohl ich eine ungefähre Vorstellung davon hatte, was als Nächstes kommen würde. Und natürlich kam es. »Ich meine, dass der Grund für Ihre Verspätung möglicherweise der ist, dass Sie auf irgendeine Weise nicht hier sein wollen. Sie wollen keine Beziehung zu mir haben.« »Oh, aber sicher doch. Ich habe die Straßen selbst so angeordnet, damit ich weniger Zeit mit Ihnen verbringen muss.« »Aber wenn Sie Verzögerungen eingeplant hätten und früher aufgebrochen wären, dann wären Sie rechtzeitig hier gewesen.« »Ich habe Verspätungen eingeplant. Ich bin genau um die gleiche Zeit losgefahren wie sonst und ich bin noch nie zu spät gekommen. Bedeutet dies, dass ich die ganze Zeit schon versucht habe, zu spät zu kommen, bisher aber jämmerlich versagt habe? Oder könnte es einfach so sein, dass der Verkehr schlimmer war, als man vernünftigerweise hätte annehmen können?«
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»Ich sage nur, dass Sie zu spät gekommen sind. Sie haben sich um zehn Minuten Ihrer Sitzung gebracht und deshalb sind Sie wütend. Statt uns mit solch banalen Dingen abzulenken, sollten wir lieber die Gelegenheit ergreifen und uns fragen, was dies auf einer tieferen Ebene zu bedeuten hat.« »Nun, wenn wir über Engagement reden, wie wäre es dann damit, dass ich einige Stunden meines Tages opfere, um Sie zu sehen, während Sie nur ein paar Schritte von der Küche herüberkommen müssen und 30 Pfund dafür einstecken? Wer investiert hier also mehr in die Beziehung?« »Aber John«, antwortete sie mit ihrer allerbesten mütterlichen Stimme, »ich sage ja nicht, dass Ihnen die Beziehung gleichgültig ist. Ich finde es großartig, dass Sie sich selbst genügend schätzen, um diese Mühen auf sich zu nehmen. Aber eine Verspätung ist ein Zeichen dafür, dass man etwas zurückhält, und ich würde meine Arbeit nicht ordentlich tun, wenn ich nicht mit Ihnen darüber reden würde.« »Die einzige Möglichkeit zu beweisen, dass ich nichts zurückhalte, würde also darin bestehen, dass ich nicht zu spät komme. Vielleicht sollte ich dann drei Stunden Fahrzeit einplanen, nur für den Fall, dass mein ein Auto in die Luft fliegt und gleichzeitig völlig überraschend der öffentliche Nahverkehr streikt. Oder vielleicht sollte ich schon am Abend vor meiner Sitzung bei Ihnen im Garten ein Zelt aufschlagen.« »Jetzt übertreiben Sie aber«, meinte sie ein wenig schroff. Wenigstens hatte sie damit etwas gesagt, dem wir 141
beide zustimmen konnten, und ich beschloss, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Abgesehen von allem anderen ist es ziemlich unangenehm, für solche Gespräche auch noch bezahlen zu müssen. Wenn ich nicht schon vor der Sitzung meschugge war, danach war ich es mit Sicherheit. In dieser Weise ging es weiter. Vielleicht habe ich irgendwo etwas falsch verstanden, aber es kam mir vor, als wäre für Mary alles gleichermaßen möglich und unmöglich. Alles lag griffbereit vor ihr und konnte auf unzählige unterschiedliche Arten interpretiert werden, wenn sie das wollte. Es gab keine Fixpunkte, auf die man sich beziehen konnte, abgesehen von ihren Gebühren, der Dauer einer Sitzung und der Tatsache, dass sie unweigerlich Recht hatte und ich unweigerlich im Arsch war. Fast alles, was ich ihr als Beispiel für etwas Gutes in meinem Leben nannte, wurde langsam, aber unerbittlich in ein Musterbeispiel für emotionales und spirituelles Leiden verdreht. Es kam nicht sehr häufig vor, aber wenn ich beispielsweise etwas sagte wie: »Auf den Artikel, den ich da geschrieben habe, bin ich wirklich stolz«, wetzte sie sofort die Messer. »Hören Sie nicht die Überheblichkeit und Verachtung, die aus Ihren eigenen Worten spricht?«, zischte sie. »Ich, ich, ich, ich. Alles dreht sich nur um Sie. Sie glauben, Sie hätten das alles ganz allein geschafft. Alle anderen, die Ihnen geholfen haben, wie ich und Ihr Redakteur, werden verdrängt und vergessen. Sie haben die Kontrolle und brauchen niemanden. «
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»So habe ich das aber nicht gemeint«, erwiderte ich. »Ich bin dankbar für die Hilfe, die ich bekommen habe. Ich hatte nur den Eindruck, dass eine Dankesrede wie bei einer Oscar-Verleihung an dieser Stelle nicht nötig sei.« Doch der Schaden war angerichtet. Ich war dankbar, doch konnte ich jemals sicher sein, dass ich auch dankbar genug war? Wie konnte man die richtige Dankbarkeit bemessen? Ich wusste, dass ich gelegentlich ein undankbarer, selbstsüchtiger Schweinehund war, aber war dies wirklich ein weiteres Beispiel dafür? War ich so verstört, dass ich die Dinge nicht mehr auseinander halten konnte? Schrieb ich nachträglich meine Geschichte um wie ein stalinistischer Historiker? Ich konnte einfach nicht sicher sein. Und jedes Mal, wenn das geschah, tat sich der Spalt ein wenig weiter auf. Es war ein schrittweiser Niedergang ins Chaos. Einen Ausweg gab es nicht. Es war sinnlos, fröhlich in die Sitzung zu marschieren und damit zu prahlen, wie übel man jemandem mitgespielt hatte, weil niemand da war, der das zu würdigen wusste. In gewisser Weise mag es so aussehen, als wäre alles eindeutig schwarz oder weiß. Alles Gute, was ich tat, war nachteilig für die anderen und alles Schlechte war meine eigene Schuld. Aber ganz so einfach war es nicht, denn ich konnte nie vorhersagen, wie schlimm es jeweils werden würde. Es gab unendliche Schichten der Schlechtigkeit zu enthüllen, jede abscheulicher als die letzte. Marys Lieblingsthema war Wut. Meine Wut.
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»Ich bin stinksauer«, sagte ich am Anfang einer Sitzung. »Aus welchem Grund?« Und dann ließ ich eine lange Hetzrede gegen den los, der mich gerade vorher schlecht behandelt hatte. Sie könnten daraus vielleicht schließen, dass mein Problem eine allzu heftige Wut gewesen wäre dass ich dazu neigte, beim kleinsten Anlass sofort auf meine Mitmenschen loszugehen. Aber da liegen Sie falsch. »Ich glaube nicht, dass Sie wirklich darüber wütend sind«, sagte Mary schließlich. »Tja, warum bin ich dann sonst wütend?« »Ich glaube, Sie sind auf mich wütend.« Das war eine typische provozierende Bemerkung, denn ich hegte immer den einen oder anderen kleinen Groll gegen sie und konnte dies daher nicht in Bausch und Bogen verleugnen. »Es mag sein, dass ich etwas sauer auf Sie bin«, räumte ich ein, »aber dass Terry mich hintergangen hat, regt mich wirklich auf.« »Ich bin anderer Ansicht«, beharrte Mary. Mit solchen Dialogen konnte sie sich beliebig lange beschäftigen. Sie hatte viel Geduld. Falls ich nicht sowieso schon zu Beginn der Sitzung sauer auf sie war, war ich spätestens am Ende nicht nur sauer, sondern hatte eine Stinkwut. »Jetzt bin ich wirklich wütend auf Sie«, knurrte ich. »Ich wusste schon die ganze Zeit, dass Sie das sind.« Es wurde zur Gewohnheit. Alles, was in den Sitzungen ans Licht kam, hatte in erster Linie mit ihr und mir
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zu tun. Es begann mit einem verrückten Traum, mit meiner Beziehung zu meiner Mutter oder mit irgendeinem bedeutungslosen Thema wie der Klage, dass die Werkstatt meinen Wagen trotz Zusage nicht rechtzeitig repariert hatte. Für Mary war das alles einerlei. Alle Themen führten immer wieder zu ihr und mir. Ich und sie. Manchmal fragte ich mich, ob sie nicht sogar noch mehr auf die eigene Person fixiert war als ich. Sie wollte anscheinend darauf hinaus, dass wir nur die Beziehung zwischen uns in Ordnung bringen müssten, damit wie von selbst auch alle meine Beziehungen in der Außenwelt in Ordnung kämen. Wahrscheinlich würde ich mir nie mehr Sorgen machen müssen, ob ich auch einen Parkplatz finden würde. Aber es lag bei mir, die Sache in Ordnung zu bringen. Mary spielte scheinbar mit und gab die richtigen Signale, aber es lag alles an mir, dem emotional Minderbemittelten. An mir, der nicht die richtigen Worte finden konnte, um deutlich zu machen, dass er das therapeutische Nirwana erreicht hatte. Es war schrecklich frustrierend, weil ich keine Vorstellung hatte, was ich ihr überhaupt noch sagen konnte, um die erforderliche Offenheit unter Beweis zu stellen. Ich sagte ihr, ich würde sie hassen. Ich sagte ihr, ich würde sie lieben. Aber nichts war gut genug. Ab und zu habe ich auch geweint. Nicht nur ein paar sanfte Tränen, wie man sie hat, wenn man eine alte Schnulze anschaut. Bei ET geht es mir jedes Mal so. Nein, wir reden jetzt über heftiges, verzweifeltes Schluchzen. Gebracht hat es leider überhaupt nichts. Weinen ist auch nicht mehr das, was es mal war, auch 145
wenn es angeblich einer der wichtigsten Prüfsteine für männliches emotionales Wohlbefinden ist. Deshalb hatte ich auch nie Zeit für Filme wie Lügen und Geheimnisse oder Good Will Hunting. Am Ende von Lügen und Geheimnisse sagen sie sich gegenseitig die Wahrheit, es gibt noch etwas Geschrei und Geheule, und dann leben sie glücklich und zufrieden bis ans Ende ihrer Tage. In Good Will Hunting sieht es kaum anders aus. Ein jugendliches Genie macht eine Therapie, gibt schließlich zu, dass er von seinem Dad misshandelt worden ist, bricht in Tränen aus, und alles ist in bester Ordnung und er haut ab nach L.A, um Minnie Driver zu vögeln. Da kann ich doch nur sagen: »Auf sie mit Gebrüll.« Heilungskrisen sind ein Mythos, der nur in den Köpfen einiger Seelenklempner und einiger Regisseure herumspukt. Das Weinen verschafft Ihnen vorübergehend etwas Erleichterung, aber wenn Sie aufhören, müssen Sie sich immer noch mit demselben alten Mist herumschlagen. Es war bizarr, aber zwischen meiner Innenwelt und der Außenwelt schien eine Art reziprokes Verhältnis zu bestehen. Je mieser ich mich mit mir selbst fühlte, desto besser schien mein Leben zu funktionieren. Endlich nahm meine Arbeit eine Form an, die man beinahe für den Beginn einer Karriere halten konnte, und meine Frau und ich hatten beschlossen, zwei Kinder zu bekommen. Man könnte natürlich einwenden, dass es dazu sowieso gekommen wäre, aber sicher kann man da nicht sein. So ließ sich also nicht von der Hand weisen, dass Mary mir irgendwie gut tat. Ich musste allerdings annehmen, dass ein mieses Gefühl
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der Preis war, den man für die Kreativität zu zahlen hatte. »Warum gibt es eigentlich nichts, worüber du dich wirklich freuen kannst?«, fragte meine Frau mich eines Tages. »Was gibt es denn, über das ich mich freuen könnte?« »Wie wäre es mit zwei gesunden Kindern und einem anständigen Job?« »Das ist so weit wohl ganz in Ordnung«, erwiderte ich vorsichtig. »Aber die Kinder könnten bei einem Autounfall umkommen und meine Karriere könnte im Handumdrehen vorbei sein.« »Gott, du kannst einen aber auch runterziehen. Yeah, natürlich- du könntest auch selbst auf der Stelle tot umfallen.« Das hättest du wohl gern. »Das meine ich doch.« »Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie es ist, mit jemandem zu leben, der an nichts Freude hat? Das ist unglaublich anstrengend.« »Aber ich kann doch nichts dagegen machen.« »Natürlich kannst du das. Du willst bloß nicht. Es gefällt dir, deprimiert zu sein. Offen gestanden«, fügte sie hinzu und schwenkte auf ihr Lieblingsthema, »finde ich es sogar etwas beleidigend. Ist es wirklich so schlimm, mit mir verheiratet zu sein?« Es gibt Fragen, bei denen man sehr vorsichtig sein muss, was man antwortet. »Natürlich nicht.« Auseinandersetzungen wie diese fanden recht häufig
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statt, aber ich glaube, das hatte weniger mit meiner als mit der Befindlichkeit meiner Frau zu tun. Sie fühlte sich kompetent genug, um Kommentare zu meiner Therapie abzugeben, und daraufhin hatte eine ihrer Freundinnen ebenfalls eine Therapie begonnen. Jedenfalls nannte sie es Therapie; ich würde es eher Counselling nennen. Da besteht nämlich ein großer Unterschied. Es ist ungefähr der gleiche Unterschied wie zwischen Bundesliga und Bezirksliga. Sie spielte in der Bezirksliga. Sie hatte einen Counsellor gefunden, der ihr einen Haufen Qualifikationen vorgeschwindelt hatte. Ihr war nicht aufgefallen, dass eine davon ein Einführungskurs in Sozialarbeit und die zweite die Zulassung als Fahrlehrer war. So etwas passiert öfter als man glaubt; ich weiß von einem Seelenklempner, der darauf besteht, »Doktor« genannt zu werden, obwohl er seinen Abschluss in Botanik gemacht hat. Jedenfalls hat diese Freundin eine Woche sanfte Egomassage gebucht. Und sie hat es genossen. Sie hat eine Menge sehr nützliche Dinge über sich selbst gelernt. Beispielsweise, dass sie sich viel besser fühlt, wenn sie nicht immer die Rechnungen wegwirft, bis ihr die Stadtwerke damit drohen, den Strom abzustellen. Solche Sachen eben. Aber weder sie noch meine Frau konnten sich mit dem Gedanken anfreunden, dass es für mich eben notwendig war, mich die ganze Zeit mies zu fühlen. Im Grunde konnte ich mich auch selbst nicht mit diesem Gedanken anfreunden, aber ich wusste nicht, was ich machen sollte. Mary wusste es natürlich.
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»Sie haben Schwierigkeiten, sich auf die schönen Dinge einzulassen, die ich Ihnen schenke«, sagte sie. Mir war gar nicht bewusst, dass ich überhaupt etwas Schönes bekam. Wenn ich tatsächlich etwas Schönes bekam und lediglich Schwierigkeiten hatte, mich darauf einzulassen, wäre das schon ein großer Fortschritt gewesen. »Was wollen Sie denn dagegen tun?«, fragte ich. »Was werden WIR dagegen tun, John? Therapie ist ein wechselseitiger Prozess.« Ach, wirklich? »Ich habe null Ahnung, ich bin ratlos.« »Nun, glücklicherweise gibt es jemanden hier im Raum, der nicht mit Nachdenken aufgehört hat«, sagte sie ziemlich biestig. »Ich glaube, Sie sollten nicht nur einen, sondern zwei Termine pro Woche einplanen.« »Wieso, sind Sie knapp bei Kasse?« »Warum machen Sie sich über alles, was ich sage, lustig?« »Mache ich nicht«, antwortete ich gereizt. »Ich sehe nur, dass es mich zusätzlich 30 Pfund die Woche kosten wird. Am besten, Sie tragen die Hypothek gleich auf mich ein und ich zahle sie per Bankeinzug ab.« »Es kann doch jetzt nicht ums Geld gehen. 30 Pfund sind ein kleiner Preis für Ihr emotionales Wohlbefinden.« »Aber Sie werden ihn nicht bezahlen. Wie wäre es mit einem Nachlass für die zusätzliche Sitzung?« »Es geht um Ihr Widerstreben, mir nahe zu sein«, fuhr sie fort und ignorierte einfach, was ich ihr gerade 149
geantwortet hatte. »Sie haben Angst vor dem, was passieren könnte, wenn Sie mich Ihr wahres Ich sehen lassen.« Da hatten wir es wieder. Aber ich wollte auf jeden Fall den Riss in ihrer Fassade im Auge behalten und beobachten, wann die Reparatur begann. »Sie haben mein wahres Ich gesehen.« »Ich glaube nicht. Ich sehe nur die kleinen Stückchen, die Sie mich sehen lassen. Dieses Maß an Kontrolle werden Sie nicht mehr haben, wenn Sie mich zweimal die Woche aufsuchen.« »Und wenn ich mich mit zwei Terminen pro Woche einfach nur doppelt so mies fühle?« »Ich glaube nicht, dass es so kommen wird.« »Aber dann stehe ich wie ein Volltrottel da«, protestierte ich. »Niemand geht zweimal die Woche zur Therapie, ohne eine üble Störung zu haben.« »Woher wollen Sie das wissen?« »Niemand, den ich kenne, geht zweimal die Woche hin.« »Und das soll eine repräsentative Erhebung sein?« »Es ist ein Anfang.« »Dann will ich Ihnen erklären, dass Sie sich irren. Viele, viele Menschen gehen zweimal in der Woche zum Therapeuten.« Mary ließ sich nicht beirren. Für sie waren zwei Therapiesitzungen pro Woche das Gleiche wie ein Einkaufsbummel bei Sainsbury's. Routine eben. Sie konnte einfach nicht verstehen, dass es sozialer Selbstmord ist, seinen Mitmenschen zu erzählen, dass man zweimal in der Woche zum Therapeuten geht. Sie
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hatte sich offenbar in eine Welt zurückgezogen, in der es nur noch andere Therapeuten gab und wo alle Beziehungen Meta-Beziehungen und damit nichts weiter als Themen waren, über die man reden konnte. Die Normalität war für sie bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Auch wenn sie darauf bestand, dass nicht ihre, sondern meine Vorstellung von der Normalität verzerrt sei. Vielleicht hatten wir beide keine Ahnung. Aber ihre Welt war auf eine perverse Art anziehend, und nach ein paar Wochen schwächlichem Widerstand stimmte ich schließlich zu, die Anzahl der Sitzungen zu verdoppeln. Mary war der Ansicht, ich hätte damit den guten Teil in mir anerkannt, ich dagegen fragte mich, ob ich glücklich damit werden konnte, dass ich endgültig meschugge geworden war. »Die Dinge werden sich verändern«, sagte sie zuversichtlich. Und sie haben sich verändert. Äußerlich wurde mein Leben immer besser, wie es dem gewohnten Muster entsprach, und Mary hatte Recht damit, dass ich die zusätzlichen 30 Pfund nicht vermisste. Innerlich ging meine psychische Auflösung in den freien Fall über. Die Entscheidung, therapeutisch richtig zur Sache zu gehen, nützte mir überhaupt nichts. Jetzt gab es kein bequemes Herumlümmeln auf einem Stuhl mehr, von jetzt an gab es für mich nur noch die Couch des Analytikers. Oder in Marys Fall das Bett. Dies war ein weiterer Streitpunkt zwischen uns. Mary beharrte kompromisslos darauf, dass ihr Bett eine Couch sei, während ich genauso sicher war, dass es sich um ein 151
Bett handelte. Es hatte vier kleine Beine, ein Gestell und eine Matratze, die mit einer Tagesdecke mit komplizierten asiatischen Motiven verziert war. Ich glaube, es waren die Tagesdecke und das asiatische Muster, die in Marys Augen das Bett in eine Couch verwandelten. Jedenfalls war sie offenbar entzückt, dass ich mich zum Bett vorgearbeitet hatte. »Das ist ein Zeichen dafür, dass Sie mir allmählich vertrauen. Das Fehlen des Blickkontakts wird uns einen viel besseren Zugang zu Ihrem Unbewussten erlauben«, sagte sie. Anfangs entpuppte sich mein Unbewusstes als herbe Enttäuschung. Ich habe mich oft gefragt, ob ich im Grunde meines Herzens oberflächlich war und ob meine ersten Offenbarungen auf der Couch dies bestätigten. Ich fand heraus, dass ich mir ständig Gedanken machte, was Mary tat, während ich dort lag. Gerissen wie sie war, hatte sie sich hinter meinen Kopf gesetzt, wo ich sie nicht sehen konnte. Ich machte mir keine Sorgen, sie könnte mich mit der Axt erschlagen - dazu brauchte sie das Geld zu dringend -, aber ich fürchtete, ich könnte ihr einen Freibrief ausgestellt haben, jederzeit einzunicken, Tagträumen nachzuhängen oder auf welche Weise auch immer das, was ich erzählte, nur mit einem Minimum an Aufmerksamkeit zu verfolgen. Doch ich lernte, mit diesen Befürchtungen zu leben, nicht zuletzt weil ich bald mit recht dringlichen Themen befasst war. Vielleicht lag es daran, dass ich jetzt auf dem Bett lag, oder vielleicht hatten wir jetzt auch
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den entsprechenden Punkt in unserer Beziehung erreicht. Jedenfalls stellte ich fest, dass ich Mary gern hatte. Das war schon eine große Überraschung, aber vielleicht lernt man schließlich jeden Menschen mögen, mit dem man genügend Zeit verbracht hat. Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein Opfer sich in seinen Peiniger verliebt. Meine erste Reaktion war eine schreckliche Verlegenheit. Ich war verlegen, weil ich ein wandelndes Klischee geworden war, das seine Seelenklempnerin vögeln wollte, und ich war verlegen, weil ich irgendwie die richtigen Worte finden musste, um es ihr zu sagen. »Äh ... Mary«, stammelte ich wie ein bescheuerter Halbstarker. »Ich muss Ihnen etwas Schwieriges sagen. Ich glaube, ich bin scharf auf Sie. Sexuell, meine ich.« »Ich verstehe«, erwiderte sie etwas unterkühlt. »Ich denke, das liegt daran, dass Sie gewöhnlich Ihre Liebe über sexuelle Anziehung ausdrücken.« Das muss man Mary lassen, in diesem Punkt hat sie wohl den Nagel auf den Kopf getroffen. Aber besonders geholfen hat es nicht. Ich hatte ihr früher schon gesagt, dass ich sie liebte, worauf sie nur geantwortet hatte, sie sei der Ansicht, ich wäre nicht völlig aufrichtig und hinter meiner Liebe steckte noch etwas, das ich nicht herauslassen wollte. Das war aber nun wiederum ihre ziemlich unaufrichtige Art zu sagen, dass sie sehr genau wusste, wie scharf ich auf sie war. Nur dass ich da überhaupt nicht scharf auf sie war. Oder jedenfalls habe ich nichts davon bemerkt, und normalerweise entgeht mir so etwas nicht.
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Aber als ich dann wirklich scharf auf sie war, bekam ich Prügel dafür. Ich konnte nicht gewinnen. Entweder ich sagte, dass ich sie liebte, und gestand mir meine Gelüste nicht ein, oder ich sagte, dass ich scharf auf sie war, und gestand mir meine Liebe nicht ein. Ihr zu sagen, dass ich sie liebte und scharf auf sie war, kam aus irgendeinem Grund auch nicht besonders gut an. Ich war ratlos und hatte das Gefühl, bei der Therapie völlig zu versagen. Welche Worte und welche Sprache ich auch benutzte, ich kam nicht weiter. Immer war irgendetwas falsch. Ich war prinzipiell unfähig, jemandem nahe zu kommen. »Ich glaube, so komme ich nicht weiter«, sagte ich eines Tages zu ihr. »Genau genommen habe ich sogar das Gefühl, dass es immer schlimmer wird. Vielleicht bin ich einfach nur ein Psychopath.« »Wissen Sie, was ein Psychopath ist?« Ja. Du bist eine Psychopathin. »Ja.« »Nun, dann sollten Sie wissen, dass Sie keiner sind. Allerdings sind Sie ein Mann mit vielen Problemen. Ich glaube, Sie brauchen mehr Hilfe.« Ich musste kein Medium sein, um zu erraten, was jetzt kommen würde. »Ich glaube, Sie brauchen noch eine weitere Sitzung pro Woche.« »Gott, wo soll das aufhören? Wie lange wird es noch dauern, bis ich vier oder fünf Mal pro Woche kommen muss? Vielleicht sind Sie einfach keine gute Therapeutin. Haben Sie schon einmal daran gedacht?« Natürlich nicht. »Wir reden doch gar nicht über vier oder fünf Sitzungen pro Woche. Ich schlage drei Sitzungen pro
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Woche vor, weil ich glaube, dass Sie genau das brauchen.« Und wie ein unmündiges Kind marschierte ich drei Mal in der Woche zu ihr. Hin und wieder fragte ich sie, wie lange die Therapie noch dauern müsse, und bekam stets die gleiche rätselhafte Antwort: »Therapie hat einen Beginn, eine mittlere Phase und ein Ende«, ohne aber zu erfahren, wo ich mich auf diesem Weg befand. Wann immer ich vorzuschlagen wagte, die Therapie abzubrechen oder die Zahl meiner Sitzungen zu reduzieren, bekam ich den Vorwurf zu hören, ich wollte all die Fortschritte sabotieren, die wir bisher gemacht hätten. Mary verstand ihr Handwerk. Ich brauchte nur drei Sitzungen pro Woche. Nicht vier und auch nicht fünf. Nur drei. Drei Sitzungen waren genau das, was ich brauchte, um völlig plemplem zu werden.
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11 Was ich über Hypochondrie noch gar nicht wusste, ist, dass sie auch den Hypochonder völlig überraschend treffen kann. Ich hatte angenommen, mein Zustand sei so schlecht, dass er kaum noch schlechter werden konnte. Unbedeutende Krankheiten gab es für mich nicht. Was sich mit ein paar Pillen und ein paar Wochen Bettruhe hätte kurieren lassen können, kam für mich nicht mehr in Frage. Vielmehr hatte ich mich auf die hässlichsten Leiden konzentriert, die es gibt. Ich hatte ständig Angst vor AIDS, bekam unzählige Karzinome und eine ganze Serie von Herzinfarkten, von denen jeder für sich genommen schon tödlich hätte sein können. Offensichtlich hatte es auch seine Nachteile, so schwer krank zu sein es erforderte Zeit, es belastete die persönlichen Beziehungen und so weiter -, aber wenigstens lebte ich noch. Ich war ein Kämpfer. Nein, ich war ein Idiot. Ich war selbstgefällig, das ist alles. Mein Körper hatte nur mit mir gespielt. Er hatte Symptome entwickelt, die leicht zu verifizieren waren. Ein Bluttest, eine Röntgenaufnahme, eine Gewebeprobe, eine Magnetresonanz-Tomographie, ein EKG, und ich war aus dem Schneider. Oder eben auch nicht. Aber selbst ein ungünstiges Ergebnis wäre nicht unbedingt eine Katastrophe gewesen. ProteaseInhibitoren bedeuteten, dass AIDS kein sofort vollstreckbares Todesurteil war, eine Herztransplantation oder ein vierfacher Bypass
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bot eine Lösung für Erkrankungen der Herzkranzarterien und sogar bei den bösartigsten Krebsarten bestand nach fünf Jahren noch eine fünfprozentige Überlebenschance. Es gab immer die Möglichkeit einer Begnadigung. Vielleicht keine sehr große Hoffnung, aber immerhin gab es keine ganz und gar hoffnungslose Situation. Doch dann ging mein Körper aufs Ganze. Der Tod binnen zwölf Monaten wurde zur absoluten Gewissheit und die Autopsie das einzig sichere Mittel der Diagnose. Genau, ich hatte BSE - oder vielmehr eine neue Variante der Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, um ihr den richtigen Namen zu geben. Ich muss den Ärzten die Schuld geben. Die medizinische Forschung findet doch immer wieder neue Dinge, an denen man sterben kann. Da hatten wir all die ungesunden Burger gefuttert und geglaubt, mehr als eine Prise Botulismus könnten wir uns damit nicht einfangen. Aber dann kam irgendein Neunmalkluger daher und sagte, wir könnten binnen eines Jahres alle meschugge werden. Tja, vielen Dank auch, mein Freund. Erwartungsgemäß traten die ersten Symptome am Heiligabend auf. Vielleicht hatte es mit meiner Weihnachtsallergie zu tun, aber was es auch war, ich fühlte mich auf einmal sehr seltsam. Nein, seltsam ist eigentlich nicht das richtige Wort, aber ich bin sicher, dass jeder, der etwas Erfahrung mit BSE hat, verstehen wird, was ich meine. In meinem Kopf drehte sich alles, nichts schien mehr real zu sein und ich hatte das Gefühl, ich würde gleich vom Stuhl fallen. Wie Bambi auf der Eisfläche.
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Ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen. Ich habe es wirklich versucht. Ich zwang mich, ganz vernünftig zu überlegen, was da los sein konnte, und ging die Checkliste im Kopf durch. Ein Herzanfall? Keine stechenden Schmerzen in der Brust. Ein Gehirntumor? Keine Kopfschmerzen. Es war alles sehr undurchsichtig, also kam es nicht in Frage, die Symptome zu ignorieren. Um drei Uhr morgens, als die Symptome nach wie vor erbarmungslos wüteten, kam ich auf die Antwort. BSE. Diffuse Sorgen, Desorientierung, Verwirrung ... jetzt fehlte nur noch Demenz und ich hatte alles beisammen. Wie inzwischen jeder Trottel weiß, kommt die Demenz ganz am Ende. Den Rest der Nacht verbrachte ich schlaflos. Ich wollte die kurze Zeit, die mir noch blieb, möglichst halbwegs im Wachzustand verbringen. Was für ein trauriger, einsamer Tod es werden würde. Ich würde meine eigenen Kinder nicht wieder erkennen, man würde mir Rückenmark und Thymusdrüse herausreißen, kaum dass ich den Löffel abgegeben hatte, und mein Leichnam würde irgendwo eingebunkert werden, während man versuchte, den Rückstau an Rindern im Brennofen zu vermindern. Um sechs weckte mein Herumwälzen meine Frau. Sie warf mir einen kurzen Blick zu und kam sofort zur Sache. »Du hast schon wieder eine neue Krankheit, nicht wahr?«, sagte sie vorwurfsvoll. »Nein, ich denke nur nach, mehr nicht«, erwiderte ich.
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Bis zu diesem Punkt waren es auf beiden Seiten die normalen Eröffnungszüge gewesen. Man erwartet mehr oder weniger von mir, dass ich nicht gleich am Anfang zu viel Wirbel mache. »0 doch, die hast du. Ich sehe es deinen Augen an.« »Was? Du kannst erkennen, dass ich BSE habe, einfach indem du mir in die Augen schaust?« »Weißt du was?«, sagte sie langsam. »Manchmal hasse ich dich. Es ist Weihnachten, die Kinder kommen gleich mit ihren Geschenken und du stirbst an BSE'. Gibt es eigentlich irgendetwas, das du noch nicht ruiniert hast?« Hmm. Wahrscheinlich nicht. Ich habe die meisten Dinge verpfuscht, mit denen ich mich abgegeben habe. »Hör mal, ich habe doch nicht darum gebeten, BSE zu bekommen.« »Du hast kein BSE, du Schwachkopf.« Hmm. Schwachkopf. Vielleicht glaubte sie, die Demenz hätte schon eingesetzt. Aber es war wohl besser, sie in dieser Situation nicht darauf anzusprechen. »Woher weißt du das?« »Weil du noch nie ernstlich krank warst.« Davon ließ ich mich nicht einwickeln. »Warum fühle ich mich dann so komisch?« Daraufhin fiel sie über mich her. Sie trommelte mit ihren Fäusten auf meinen ganzen Körper, während ich mich zusammenrollte, um mich zu schützen. Ich erwähne dies nur, um sicherzustellen, dass ich das Sorgerecht für die Kinder bekomme, falls wir uns mal trennen. Sie ist offensichtlich eine
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gewalttätige, instabile Frau, der man nicht vertrauen kann. Und wie reagierte ich auf diesen unprovozierten Angriff? Ich lag einfach da und ließ es über mich ergehen. Wie ein Mann. Ich schlug nicht zurück. Ich drohte ihr nicht einmal. Ich bin wirklich ein Heiliger. Genau wie Bob Geldof. Oder vielleicht auch nicht. Aber möglicherweise habe ich sie auch missverstanden. Vielleicht dachte sie, das wäre nötig, um mich aufzumuntern. Wenn ich das nächste Mal einem Krebspatienten begegne, der nur noch ein paar Monate zu leben hat, muss ich unbedingt daran denken, ihn windelweich zu prügeln. Irgendwie überstand ich die Weihnachtsfeiertage und den Jahreswechsel. Meine Symptome wurden nicht schlimmer, aber es wurde auch nicht besser. Eben genau das, was man bei BSE zu erwarten hat. Kein plötzlicher, dramatischer Zusammenbruch, sondern ein allmählicher Niedergang. So griff ich natürlich sofort zum Telefon, als am zweiten Januar die Praxen wieder öffneten. »Hallo, John«, sagte Dr. Wilson. Für meinen Geschmack klang seine Stimme ein wenig zu sehr nach festlicher Lebensfreude, als er mich ins Sprechzimmer bat. »Ich habe mich schon gefragt, ob Sie im neuen Jahr mein erster Patient sein würden.« Ich sagte Ihnen ja schon, dass er ein guter Arzt ist. Er konnte spüren, dass einer seiner Patienten Probleme hatte. Meine paar verbliebenen Gehirnzellen hatten die Signale durch den Äther gesendet, und sein Bewusstsein hatte sie aufgefangen. Was nebenbei 160
auch erklärte, warum ich verrückt wurde. Ich wurde auf metaphysischem Wege meiner geistigen Gesundheit beraubt. »Warum denn das?«, sagte ich. »Oh, äh, wir hatten Weihnachten, und da sind viele Keime unterwegs«, erwiderte er unsicher. »Wie auch immer, was ist es denn dieses Mal?« Die Art und Weise, wie er die letzten beiden Worte betonte, gefiel mir überhaupt nicht, aber ich ließ es ihm durchgehen. Man muss den Ärzten ihre kleinen Scherze zugestehen. »Ich habe ein neurologisches Problem.« »Oh, du meine Güte. Das ist aber nicht sehr schön. Um was für ein neurologisches Problem handelt es sich?« »Ich glaube, ich habe BSE.« Dr. Wilson schloss die Augen und atmete tief durch. Er wollte sich wohl die Erregung darüber nicht anmerken lassen, dass es ihm vergönnt war, einen so außergewöhnlichen Fall zu behandeln. »Dann wollen wir uns die Sache mal ansehen«, erklärte er, bevor er begann, meinen Gleichgewichtssinn und die anderen Hirnfunktionen zu überprüfen. »Wie ich schon vermutet habe, ist alles in bester Ordnung«, sagte er nach einer Weile. »Ihre Benommenheit liegt wahrscheinlich an verstopften Stirnhöhlen.« Das Wort >wahrscheinlich< gefiel mir überhaupt nicht. »Also ist es definitiv kein BSE?« »Es ist definitiv kein BSE.« Aber wie konnte ich ihm trauen? Ich musste doch
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annehmen, dass er von BSE so wenig verstand wie ich. Es hatte bisher nur siebzehn Opfer gegeben, ich hatte das recherchiert - manchmal ist es ganz nützlich, für eine Zeitung zu arbeiten -, und in allen Fällen hatten die Ärzte anfänglich versucht, die Symptome auf eine Neurose zu schieben. Als ob ich eine Neurose hätte. Also war seine Beteuerung überhaupt nichts wert. Ich war verzweifelt. Es gab keine Tests, der Arzt hatte alles getan, was er tun konnte, und meine Frau versuchte mich umzubringen. Verzweifelte Situationen erfordern verzweifelte Maßnahmen. Deshalb bat ich Mary um Hilfe. »Ich drehe bald durch«, sagte ich einfach. »Ich kann nicht schlafen, ich kann nicht arbeiten, ich bekomme eine Panikattacke nach der anderen und ich breche dauernd in Tränen aus. Ich bin im Arsch.« »Was meinen Sie damit, dass Sie im Arsch wären?«, fragte sie. Ich meine, dass ich mich nicht mehr klar und verständlich ausdrücken kann. Die Sprache hat ihre Macht verloren, ihre Bedeutung. Jedes Wort, das ich denke, scheint unpassend, viel zu schwach, um meine Verzweiflung zu beschreiben. Ich bin wie ein Fünfjähriger mit Tourette-Syndrom. »Ich meine, ich halte das nicht mehr aus. Es reicht mir. Ich kann so nicht weitermachen. Ich flippe aus.« Nur dass das Verrücktwerden gar nicht so war, wie ich es mir immer vorgestellt hatte. Ich hatte immer gedacht, dass der Verstand mit den Elfen davon schwebt oder dass man sich für Napoleon hält oder so. Eigentlich
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ganz nette Dinge. Aber was mir jetzt passierte, war etwas ganz anderes. Ich konnte regelrecht spüren, wie ich in den Irrsinn abglitt. Ich wusste noch, was die Realität war, aber ich konnte sie nicht festhalten. Ich war klar genug, um zu erkennen, dass ich möglicherweise überhaupt kein BSE hatte, aber nicht klar genug, um es wirklich zu glauben. »Reiß dich zusammen«, sagte ich mir. »Verdammt noch mal, reiß dich zusammen.« Aber ich konnte nicht. Ich konnte es einfach nicht. Mit Leuten zu reden, war meist die Hölle. Nicht weil ich es nicht schaffte, sondern gerade weil ich es konnte. Ich versuchte zu erklären, was in mir vorging, aber ich stieß nur auf Verständnislosigkeit. Ich war in einer völlig trostlosen Lage. Die Menschen, die ich liebte, kamen nicht mehr zu mir durch. Ich konnte die Furcht in ihren Gesichtern sehen und bekam eine schreckliche Angst. All dies war für Mary aber natürlich nur von beiläufigem Interesse, denn der einzige Grund für meine Besuche bei ihr war der, ihr eine Möglichkeit zu bieten, über sich selbst zu reden. »Ich glaube, wir können allmählich erkennen, was passiert, wenn Sie mir wirklich nahe kommen«, sagte sie. »Es fällt Ihnen so schwer, dass Sie lieber sterben würden oder sich lieber vorstellen, Sie würden sterben, als sich auf die Nähe einzulassen.« »Damit kann ich jetzt überhaupt nichts anfangen. Es kommt mir nur darauf an, den Tag zu überstehen. Ich will, dass man sich um mich kümmert.« »Ich kümmere mich um Sie. Aber ich mache das auf
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meine Art, nicht auf Ihre. Und das können Sie nicht ertragen, nicht wahr?« Was bildest du dir eigentlich ein? »Natürlich nicht, verdammt.« »Sehen Sie, wie schnell Sie wütend auf mich werden?«, leierte sie mit monotoner Stimme. »Auch Wut ist eine Strategie, um Nähe abzuwehren.« Einige Sitzungen lang drehten wir uns auf diese Weise im Kreis. Sie beharrte darauf, dass die Lösung für mein Problem in der Dynamik unserer Beziehung läge, ich beharrte darauf, dass ich nicht bereit sei, mich mit solchen abstrakten Feinheiten zu beschäftigen. Ich glaube, sie hielt mich einfach nur für boshaft und störrisch und für noch schwieriger als sonst, als ich sie mehrmals bat, mich an jemand anders zu verweisen, weil ich es nicht mehr aushalten konnte. »Sie brauchen keinen anderen Therapeuten«, erwiderte sie. »Ich kann Sie anscheinend nicht erreichen«, flehte ich. »Oh, das können Sie. Aber ich dringe nicht zu Ihnen durch.« Schließlich, nach viel Hin und Her und mit großem Widerstreben und nicht zuletzt, weil sie mir beweisen wollte, wie nachsichtig und aufmerksam sie war, ließ sie sich dazu herab, mit meinem behandelnden Arzt zu reden. Da sie ihm, abgesehen davon, dass ich einen kleinen therapeutischen Prozess durchmachte, nicht viel sagen konnte, und da Doc Wilson trotz seines Charmes mit der Seelenklempnerei nicht viel am Hut hatte, konnte ich mir schon vorher ausmalen, dass 164
nichts dabei herauskommen würde. Wenn ich von meiner BSE-Erkrankung genesen wollte, dann musste ich ohne die beiden zurechtkommen. In so einem Moment hilft es, eine äußerst ungeduldige Partnerin zu haben. »Ich halte das nicht mehr aus«, sagte meine Frau eines Abends. »Ich amüsiere mich hingegen prächtig«, erwiderte ich in einer seltenen Anwandlung von Schlagfertigkeit. »Wenigstens hast du deinen Humor nicht verloren«, bemerkte sie überraschend aufrichtig. Gott, die Dinge mussten wirklich schlimm stehen. Bis dahin hatte meine Frau meinen Humor immer nur nervig gefunden. Wenn sie über ein Beispiel meiner Schlagfertigkeit so erfreut war, konnte das nur eines bedeuten: Sie glaubte wirklich, dass ich dabei war, mich zu verabschieden. Ich spürte, wie die nächste Panikattacke sich aufbaute. Mein Körper begann unkontrolliert zu zittern, Tränen schossen mir in die Augen und ich hyperventilierte. Ich rannte nach oben zum Bett, dem einzigen Ort im Haus, an dem ich mich einigermaßen sicher fühlte. Nicht, dass ich eine konkrete Vorstellung davon hatte, was mir unten Schreckliches zustoßen könnte. Ich wusste nur, dass es, was immer es war, nicht im Bett passieren würde. »Du wirst heute Nacht nicht sterben«, murmelte ich immer wieder, in der Hoffnung, wenigstens einen positiven, beruhigenden Ausblick gefunden zu haben. »Aber was ist mit morgen?«, antwortete es in meinem 165
Kopf. Während mein Gehirn mit den üblichen internen Grabenkämpfen beschäftigt war, hörte ich meine Frau telefonieren. Das war nicht das übliche Geplauder mit einer Freundin, das klang irgendwie drängend. Die Stimme, mit der sie redet, wenn sie jemanden feuert, würde ich meinen. Wegen der Entfernung konnte ich nicht hören, was sie sagte, aber es kam mir vor, als würde sie mit jemand anders über mich sprechen. Ich konzentrierte mich und hörte sie sagen: »Ich werde nicht mehr mit ihm fertig« und »Wissen Sie jemanden, der ihn nehmen könnte?« Ich wartete, bis das Gespräch vorbei war. »Mit wem hast du geredet?«, fragte ich sie. Keine Reaktion. »Mit wem hast du geredet?«, rief ich. »Was?« Ein erstaunlicher Anfall von akuter Taubheit. »Mit wem hast du geredet?«, brüllte ich. »Mit niemandem, den du kennst.« Danach hatte ich nicht gefragt. »Du hast über mich geredet, nicht wahr?« »Yeah«, räumte sie widerwillig ein. »Du hast ein Hospiz angerufen, oder?«, bohrte ich weiter. »Du denkst, ich werde sterben. Ich will aber nicht im Hospiz sterben. Ich will daheim im Bett sterben.« »Das war kein Hospiz, du Idiot«, fauchte sie, »weil du nicht sterben wirst. Wie oft muss ich dir eigentlich noch sagen, dass du kein BSE hast? Wenn du es hättest, dann würde ich dich sofort zum Tierarzt schicken. Nein, ich mache mir Sorgen um deinen Verstand.«
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»Ich mache mir auch Sorgen um meinen Verstand. Es macht keinen Spaß, ihn allmählich zu verlieren.« »Von >allmählich< kann nicht die Rede sein. Deshalb habe ich mich bemüht, einen guten Psychiater für dich zu finden. Ich wollte es dir sagen, sobald du etwas ruhiger und weniger giftig bist, aber da du es schon ansprichst, kann ich es dir auch gleich erzählen. Ich habe dir einen Seelenklempner besorgt.« Zwei Tage später schüttete ich Dr. Macdonald mein Herz aus. Was für eine Erleichterung. Eine ganze Stunde hatte ich Zeit, über meine Symptome zu reden, nur hin und wieder von sinnlosen Bemerkungen des Doktors unterbrochen. »Sie haben die klassischen Symptome«, sagte er schließlich. Das wusste ich längst. »Sie haben schwere Depressionen«, fuhr er fort. Fantastisch. Das hätte ich ihm auch gleich sagen können. Genau genommen hatte ich es ihm ja sogar schon gesagt. »Natürlich habe ich Depressionen. Die hätte jeder, der an BSE erkrankt.« »Nein. Bei Ihnen sind die Depressionen selbst die Krankheit. Panikattacken, Schlaflosigkeit, Persönlichkeitsverlust ... Sie haben das ganze Paket.« »Oh.« »Sie müssen ins Krankenhaus eingewiesen werden. Haben Sie eine Krankenversicherung?« Sind Froschhintern wasserdicht? »Jepp.«
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»Gut. Ab morgen ist im Lodge Hospital ein Bett für Sie frei.« »Besteht nicht vielleicht auch die Möglichkeit, dass ich beides habe, Depressionen und BSE?«, fragte ich noch, als ich schon zur Tür unterwegs war. »Nein«, sagte er entschieden. »Aber im Krankenhaus werden Sie viel Zeit haben, darüber zu reden.« Meine Frau schien nicht sonderlich bestürzt, als ich ihr berichtete, was nun geschehen sollte. Für jemanden, der gerade von den krankhaften Depressionen seines Ehepartners erfahren hatte, wirkte sie sogar ausgesprochen erfreut. »Wenigstens haben wir jetzt eine echte Diagnose«, sagte sie gelassen, um gleich darauf den Effekt zu verderben und zum Telefon zu hechten. Sie dachte wohl, ich hätte es nicht bemerkt, aber sie flüsterte, als sie mit Debby sprach: »Yeah, er kommt in die Klapse. Das wird wie drei Wochen Urlaub.« Wenigstens glaubte ich das zu hören, aber vielleicht habe ich es mir nur eingebildet. Eigentlich war es mir ziemlich egal. Ich war angesichts des bevorstehenden Krankenhausaufenthalts etwas beunruhigt, aber andererseits war ich sicher, dass ich genau dorthin wollte. Dort würden mich die Seelenklempner ernst nehmen und man würde mich ständig beobachten. Was kann sich ein Hypochonder Schöneres wünschen? Das Lodge Hospital war keine intime kleine Privatklinik, wie man es dem Namen nach hätte erwarten können. Es war wirklich beeindruckend. Das strahlend weiße Haus war mit Türmchen und Zinnen verziert und erstreckte sich in einer mustergültig gepflegten 168
Grünanlage. In den Parkbuchten standen Autos mit Kennzeichen aus dem ganzen Land. Also keine muffigen Krankenhausstationen, sondern Einzelzimmer mit Fernseher und Bad. Das nenn ich ein Krankenhaus, indem ich mich wohl fühlen kann. Ich checkte beim Pförtner ein - oder war es der Empfangschef? -, und eine Schwester begleitete mich auf mein Zimmer. Ich sah aus dem Fenster. Hmm. Gitterstäbe. Kein so gutes Zeichen. Nicht lange, und Dr. Macdonald tauchte mit ein paar Groupies auf und hielt einen Vortrag über meinen Fall. »Also, John. Ich werde Ihnen Medikamente geben. Gegen die Depressionen bekommen Sie Prozac. Es wird etwa zehn Tage bis zwei Wochen dauern, ehe sich die Wirkung zeigt, also machen Sie sich keine Sorgen, wenn Sie nicht sofort eine Veränderung spüren. Gegen die Ängste bekommen Sie Fluanxol, dazu Meneril als Schlafmittel. Haben Sie irgendwelche Einwände?« Sollte das ein Witz sein? Auf diesen Augenblick hatte ich seit mehr als einem Jahrzehnt gewartet. Endlich eine Gelegenheit, ein paar Sachen auszuprobieren, die stärker waren als Nurofen. »Nein, das geht wohl in Ordnung«, sagte ich so beiläufig wie möglich. Noch einige Routinefragen - nach den nächsten Angehörigen und so weiter -, und ich war mir selbst überlassen. Ich fand das sehr deprimierend. Die ganze Munterkeit war dahin und ich sank auf dem Bett in mich zusammen. Keine Familie, keine Freunde, kein Job, keine Zukunft. Nur ich und der Fernseher. Ein
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Klopfen an der Tür unterbrach meine einsame Wache. Abendessen. Kein Besteck aus Plastik, also galt ich nicht als potenzieller Selbstmörder. Ein paar Stunden vergingen. Wieder ein Klopfen. Zeit für die Medikamente. Wirklich gut, das Zeug. Ich lag rücklings auf dem Bett, sah fern und wartete darauf, dass die Schlaftabletten wirkten. Auf einmal war es drei Uhr morgens. Der Fernseher lief noch, und wie üblich war ich hellwach und starr vor Angst. Wundervoll. Ich hatte den angenehmen Aspekt der Drogen verschlafen und jetzt wirkten sie nicht mehr. Von diesem Augenblick an war es eine ganz normale Nacht mit ganz normalen Bissen auf die Fingerknöchel. Als ich endlich vor Erschöpfung wieder einschlief, machte das Wägelchen mit den Drogen schon die morgendliche Runde. Es war 6.30 Uhr. Willkommen im Krankenhaus, John. Während der nächsten beiden Wochen blieben die Nächte so entsetzlich wie die erste. Aber die Tage waren ein anderes Kapitel. Am zweiten Tag fühlte ich mich mutig genug, den Kopf aus der Tür zu stecken und mich umzusehen. Zunächst beschränkte ich mich darauf, nicht mehr in meinem Zimmer, sondern im Gemeinschaftsraum vor dem Fernseher zu sitzen. Immerhin, es war ein Anfang. Nach und nach lernte ich dann einige der anderen Insassen kennen. Im Großen und Ganzen konnte man sich kaum wünschen, eine nettere Gruppe von Verrückten kennen zu lernen. Okay, die schwer Schizophrenen waren bei längeren Gesprächen etwas schwierig und die Depressiven, die dauernd den Stuhl zur Wand drehten, waren auch
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nicht gerade eine anregende Gesellschaft, aber es gab viele andere, mit denen man sich befassen konnte. Die manisch Depressiven waren normalerweise am unterhaltsamsten. Die meisten hatte man nach einem Schub, bei dem sie Tausende von Pfund ausgegeben hatten, die sie überhaupt nicht besaßen, unter Treten und Kreischen ins Krankenhaus geschleppt. Drinnen schritten sie dann auf den Fluren wie Tiere im Käfig auf und ab und stürzten sich auf jeden Gesprächspartner, der ihnen zuhören wollte. Mein gesellschaftliches Leben beschränkte sich auf meinen eigenen Flügel. Da war beispielsweise Susannah, eine attraktive Sängerin, die Pyjamas tragen musste, weil sie immer wieder auszubrechen versuchte. Sarah, die ständig darüber stöhnte, dass einer der anderen Patienten ihr zu nahe käme, obwohl sie geradezu zwanghaft mit ihm flirtete. Alan, ein schlafwandelnder Zahnarzt, die unbefleckte Jane, die glaubte, sie müsse sich fünfmal am Tag die Haare waschen, um normal auszusehen; Emily, die in die geschlossene Abteilung im Charing Cross Hospital verlegt werden wollte, weil sie sich in den dort zuständigen Arzt verknallt hatte; Ed, der sich auf jede Elektroschockbehandlung freute; und ich mit meiner BSE-Erkrankung. Wir waren alle nicht ganz dicht, aber es machte uns nichts aus. Wir gingen tolerant mit unseren Verrücktheiten um, nachdem alle anderen uns abgeschrieben hatten. Wir waren Freunde. Träge vergingen die Tage und in leichter Benommenheit wie in einem Altersheim. Hier wurde nichts überstürzt, alles war wohlgeordnet. Wenig wurde 171
von uns erwartet, man konnte mehr oder weniger tun was man wollte, und im Tagesablauf war sogar etwas Raum für ein Mittagsschläfchen. Das Schönste war, dass die Mitarbeiter so freundlich waren. Niemand hob zornig die Stimme, alle waren eifrig bei der Sache, zuvorkommend und freundlich. Ganz anders als die so genannte normale Welt da draußen. Näher als in der Irrenanstalt war ich der wahren Zivilisation noch nie gekommen. Morgens fanden Gruppensitzungen statt, die Überschriften trugen wie »Kognitive Therapie« oder »Mit Depressionen leben lernen«. Die Sitzungen waren ziemlich anstrengend für mich, weil ich andere Dinge im Kopf hatte. Ich hatte meine Zeit in der Klinik nutzbringend eingesetzt und andere Patienten mit Depressionen ausgiebig nach den Details ihrer Symptome befragt. Beunruhigend war dabei die Entdeckung, dass die Panikattacken und die Schlaflosigkeit zwar ähnlich aussahen, dass aber niemand eine Ahnung hatte, wovon ich sprach, wenn ich erwähnte, dass ich mich permanent körperlich im Ungleichgewicht fühlte. BSE konnte also immer noch nicht mit letzter Sicherheit ausgeschlossen werden. Diese Unsicherheit ist jedoch keineswegs meinen eigenen Versäumnissen geschuldet, denn ich gab mir große Mühe, die Sitzungen jedes Mal zu unterbrechen, wenn die Symptome sich bemerkbar machten - was recht häufig geschah -, um auch meine Symptome offiziell anerkannt auf der Liste wieder zu finden, die der Therapeut an die Tafel schrieb. Das war allerdings, selbst wenn Dawn die Leitung hatte, einfacher gesagt als getan.
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Ich habe nie jemanden kennen gelernt, der sich mehr Mühe gab, es allen recht zu machen, als Dawn. Sie war von einer beinahe erstickenden Liebenswürdigkeit und ein nervliches Wrack. Sie errötete vor Verlegenheit, sobald sie den Mund aufmachte, und atmete beim Sprechen, als würde sie jeden Moment hyperventilieren. Ich mochte mir kaum vorstellen, wie ihre Achselhöhlen aussahen, wenn die Sitzung vorbei war. All dies war nicht geeignet, bei einem Haufen Anstaltsinsassen, die von Ängsten geplagt wurden, besonderes Vertrauen zu erwecken. Aber egal. Wie alle Mitarbeiter war auch sie sehr, sehr nett und diese Freundlichkeit ist viel wert, wenn man sie nicht alle hat. »Hallo, Leute«, stammelte sie. »Lasst uns damit beginnen, dass wir uns ringsum der Reihe nach vorstellen und jeweils eine Sache nennen, die uns besonders große Angst macht.« Die eine Sache, die Dawn besonders große Angst machte, war offensichtlich die Befürchtung, niemand könnte bereit sein, etwas zu sagen. Also blieben alle stumm - ein Ausdruck von Sadismus, der überraschen mag, aber wer hat hier behauptet, die Insassen von Irrenanstalten müssten besonders entgegenkommend sein? Je länger das Schweigen anhielt, desto dunkler verfärbte sich Dawns Gesicht und desto nervöser wurde sie. Schließlich konnte sie es nicht mehr aushalten und begann selbst. »Ich heiße Dawn und habe große Angst, irgendwo zu spät zu kommen«, sagte sie.
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Da sie ständig ein paar Minuten zu spät kam, konnte man gut nachvollziehen, warum sie ständig so ängstlich war. Aber ich wurde nachdenklich. Wenn sie so außer Fassung geriet, nur weil sie sich ein paar Minuten verspätete, was würde dann wohl passieren, wenn sie wirklich mal eine schwere Krise erlebte? Wenn sie beispielsweise die Autoschlüssel verlegt hatte? Angesichts ihres angeschlagenen Zustandes hoffte ich, bei Dawn leichtes Spiel zu haben, wenn es darum ging, meine Symptome als echte Bestandteile einer Depression auflisten zu lassen. Aber daraus wurde nichts, wobei das Problem nicht so sehr ihre Widerspenstigkeit war, sondern vielmehr' ihr Wunsch, meine Symptome mit ihren Vorstellungen zur Deckung zu bringen. »Lasst uns eine Liste mit körperlichen Symptomen der Depression aufstellen. Hat jemand Vorschläge?«, fragte sie. Darauf kamen dann die ganz normalen Zutaten, bis ... »Eine Benommenheit, als würde ich die ganze Zeit halluzinieren«, warf ich ein. »Ja«, sagte Dawn ermunternd, »als würden Sie hyperventilieren.« »Nein, nicht als würde ich hyperventilieren«, erwiderte ich fest. »Oh, Sie meinen, als würde Ihr Herz rasen«, versuchte sie es noch einmal. »Nein, nicht als würde mein Herz rasen.« »Oh, Sie meinen, dass Sie ab und zu etwas benommen sind.«
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»Nein. Ich meine, dass ich mich die ganze Zeit benommen fühle.« »Oh, ich verstehe«, sagte sie zweifelnd. Dawn war anständig genug, es auf sich beruhen zu lassen, und schrieb auch mein Symptom an die Tafel, aber sie war offensichtlich nicht überzeugt und das trug nicht dazu bei, meine Vermutung zu entkräften, ich könnte BSE haben. Nach einer solchen Tortur konnte ich nur noch einen schnellen Spaziergang machen, um das überschüssige Adrenalin abzuarbeiten. Damit fielen die so genannten Gruppenspaziergänge aus, die im Grunde einem gähnenden Schlurfen ums Karree gleichkamen. Man sollte es kaum für möglich halten, aber nach dem Mittagessen wurde das Leben sogar noch gemächlicher. Nun ja, wir hatten wohl alle einen aufreibenden Morgen hinter uns. Man konnte dösen oder reden oder beides zugleich, wenn man Alan hieß, bis uns die Mitarbeiter am Nachmittag zu gemeinsamen Aktivitäten zusammenholten. Wenn man die Übungen in Gruppendynamik als Vorbereitung auf unsere Bewährungsverhandlungen betrachtete, waren sie ein Desaster. Einige Kandidaten ließen sich überhaupt nicht blicken, andere verkrümelten sich mitten in der Sitzung und ein paar beharrten darauf, den Fernseher einzuschalten. Für mich war dieser Termin aber der Höhepunkt des Tages, denn an den meisten Nachmittagen gab es ein Quiz, bei dem die Allgemeinbildung im Vordergrund stand. Das war für meine Besserwisserei und mein Konkurrenzdenken unwiderstehlich. Meine Besserwisserei kam allerdings kaum zum 175
Tragen, weil die Fragen sich auf einer Ebene abspielten, die nicht einmal für einen Zehnjährigen eine Herausforderung gewesen Wäre. »Sie sind dran, Ian«, sagte Schwester Siobhan zu einem alten Knaben, der gerade aus dem Fenster schaute. »Wie heißt die französische Hauptstadt?« Ian nahm weder zur Kenntnis, dass man ihm eine Frage gestellt hatte, noch ließ er sich zu einer Antwort herab. Dafür gab es eine Reihe möglicher Erklärungen. Ian war taub. Ian wusste es nicht. Ian war in katatonische Starre verfallen. Ian war das Quiz piepegal. Was bedeutete, dass die Frage an jemand anders weitergegeben wurde. »Kennt sonst jemand die französische Hauptstadt?«, fragte Siobhan. »Paris«, antwortete ich sofort. »Oh, sehr gut, John. Wirklich sehr gut.« Das war das erste und letzte Mal, dass ich gelobt wurde, weil ich wusste, dass Paris die Hauptstadt Frankreichs ist. »Jetzt sind Sie dran, John«, fuhr Siobhan fort. »Wer ist der Präsident der USA?« Ich tat so, als müsste ich etwas nachdenken. Leute, die alles sofort wissen, sind meist unbeliebt. »Bill Clinton.« »Ausgezeichnet, John. Ausgezeichnet.« Natürlich machte sich niemand die Mühe, die Punktzahl zu notieren, denn es ging ja in erster Linie um die Beteiligung. Aber falls Sie es wissen wollen, Ihr Autor ist Tag für Tag als unangefochtener Sieger heimgegangen. Wenn Sie jetzt meinen, ich hätte das ermüdend 176
gefunden, dann kennen Sie mich schlecht. Das Gewinnen war nur ein Teil des Vergnügens. Das Quiz war aber außerdem eine großartige Möglichkeit, mein Langzeitgedächtnis und damit das Fortschreiten der BSE-Erkrankung zu prüfen. Nach zwei Wochen veränderte sich alles. Ich erwachte und hatte kein BSE mehr. Allerdings brauchte ich eine Weile, um es zu erkennen. Ich bin aufgestanden, habe geduscht und mich gesetzt, um zu frühstücken. Auf einmal bemerkte ich, dass ich das Essen ansehen konnte, ohne mich zu fragen, ob ich halluzinierte. Es war höchst eigenartig und ich beschloss, es zunächst für mich zu behalten. Ich wollte nichts preisgeben, falls es vielleicht doch wieder nur einer der kleinen Streiche war, die mein Bewusstsein mir spielte, und natürlich wollte ich auch nicht nach Hause geschickt werden. Ich fühlte mich geradezu glückselig im Irrenhaus. Es war warm, es war gemütlich ... es war wie Frührente. Dr. Macdonald ließ sich nicht so leicht hereinlegen. Ein paar Tage lang hielt ich ihn mir vom Hals, indem ich mich rar machte, aber schließlich erwischte er mich auf dem Flur. »Sie sehen viel besser aus«, sagte er, indem er mich ausgiebig beäugte. »Wirklich?« »Ja.« »Tja, ich fühle mich wohl auch etwas besser.« »Gut. Und was macht Ihre Ochsentour mit der BSEInfektion?« Er kam sich vermutlich sehr witzig dabei vor.
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»Da Sie es gerade erwähnen - die Symptome sind verschwunden.« Einen Seelenklempner kann man einfach nicht anlügen. »Ich habe Ihnen ja gesagt, dass es so kommen wird, sobald das Prozac zu wirken beginnt«, sagte er. »Wenn die Depression abklingt, verschwindet auch der akute Persönlichkeitsverlust.« »Vielleicht kann Prozac nicht nur Depressionen, sondern auch BSE heilen.« »Ich glaube nicht«, erwiderte er ein wenig verstimmt. »Wir sollten ins Auge fassen, Sie so bald wie möglich wieder nach Hause zu entlassen. Ich denke, das kommende Wochenende wäre der richtige Zeitpunkt.« »Ich glaube nicht, dass meine Genesu -« »Es wird Ihnen sicher gut tun«, erwiderte er. »Und es wird Zeit, dass wir die Medikamente absetzen.« Scheiße, Scheiße, Scheiße. »Ich glaube, Sie haben Recht«, log ich. Manchmal muss man sich eben dem Unvermeidliche fügen und akzeptieren, dass früher oder später alles Schöne vorbeigeht. Meistens früher als später. Drei Wochen nachdem sie mich abgesetzt hatte, fuhr meine Frau am Lodge Hospital vor, um mich abzuholen und nach Hause zu bringen. Vorher hatten wir noch eine letzte Besprechung mit Dr. Macdonald. »Sind Sie sicher, dass er wieder nach Hause kann?«, fragte meine Frau. Sie wirkte völlig entspannt und hatte eine für die Jahreszeit höchst unpassende Sonnenbräune.
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»Ja«, sagte Dr. Macdonald. »Sind Sie wirklich ganz sicher?«, fragte sie und hoffte, er würde doch noch nein sagen. »Marokko soll um diese Jahreszeit wirklich schön sein«, unterbrach ich, um das Gespräch auf den Punkt zu bringen, der mich wirklich interessierte. »Also gut«, sagte meine Frau hastig, »dann fahren wir jetzt wohl besser. Hast du alles, John?« »Yeah«, antwortete ich. »Und vielen Dank für alles«, sagte ich zu Dr. Macdonald. »Es war mir ein Vergnügen«, sagte der mitfühlende Professor und Lügner. Ich schnappte meine Siebensachen, verstaute sie im Kofferraum und nahm den mir zustehenden Platz hinterm Lenkrad ein. Das ist kein Chauvinismus, das ist eine wichtige Sicherheitsmaßnahme. Fragen Sie die Kinder. »Ist mir dir alles in Ordnung?«, fragte meine Frau, als wir in einem Stau standen. »Äh, gewissermaßen, ja«, sagte ich unsicher. Ich hatte vergessen, wie groß und beängstigend die Welt außerhalb des Lodge Hospital war. »Was hast du denn nun in der Klinik gelernt?« Meine Frau findet es wichtig, ständig zu lernen. Ich glaube, sie will damit ihre unzulängliche Schulbildung überspielen. »Ich weiß es nicht genau.« Ich hätte auch sagen können: »Ich bin ein wandelndes Katastrophengebiet.« Oder: »Ich habe doch kein BSE.« Oder: »Paris ist die Hauptstadt von Frankreich.« Aber ich hatte das Gefühl, dass sie einen etwas
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erschöpfenderen Bericht meiner Erlebnisse erwartete. »Ach, nun hör doch auf. Du musst doch aus diesen drei Wochen in der Klinik irgendetwas mitgenommen haben.« Ich dachte angestrengt nach. »Also, ich werde die Therapie bei Mary abbrechen.« »Hältst du das für eine gute Idee?« Für eine ausnehmend gute sogar. »Tja, ich habe mit Dr. Macdonald und verschiedenen anderen Beratern im Lodge Hospital gesprochen und sie schienen es alle zu befürworten.« »Hmm«, grunzte sie versöhnt. Dann hellte sich ihr Gesichtsausdruck erheblich auf. »Das bedeutet, dass du in Zukunft eher unsere als Marys Hypothek abzahlst.« Mary war nicht sehr erbaut über die Neuigkeit. Ich konnte es nicht über mich bringen, sie ihr ins Gesicht zu sagen. Genau genommen kniff ich sogar. Ich schrieb ihr einen Brief, erklärte ihr mein Vorhaben und bat um drei oder vier abschließende Sitzungen, um gewissermaßen reinen Tisch zu machen und mich zu verabschieden. Ein sehr reifes Verhalten, dachte ich. Zwei Tage später kam ein Anruf von ihr, weil sie mir den nächsten Termin nennen wollte. »Hallo, John«, sagte sie, als ich eintrat. »Hallo, Mary.« »Also, dann ...« »Tja.« Allmählich hatte ich begriffen, wie es lief.
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»Also, dann wollen Sie mich verlassen?« »Ja.« »Sie haben sich entschieden?« »Ja.« »Und es gibt nichts mehr zu besprechen?« »Nun ja, wir könnten besprechen, was zwischen uns schief ging, was gut ging und wie es jetzt weitergeht.« »Aber es wird nicht weitergehen«, sagte sie steif. »Das haben Sie unmissverständlich klargestellt.« »Ich dachte eher, wir könnten uns als Freunde verabschieden. Deshalb habe ich um einige abschließende Sitzungen gebeten.« »Die werden Sie aber nicht bekommen. Entweder setzen Sie die Therapie bei mir fort und wir bearbeiten die Dinge in der Therapie, oder wir beenden sie auf der Stelle.« »Ich glaube, dann beenden wir sie lieber auf der Stelle«, sagte ich, einigermaßen erschüttert von ihrer Wut. »Ich möchte Sie aber warnen, dass Sie einen sehr großen Fehler machen, der Sie sehr teuer zu stehen kommen kann.« »Das werden wir ja sehen«, murmelte ich, äußerlich ruhiger, als mir innerlich zumute war. »Das werden wir.« »Das war's dann also.« »Nicht ganz«, erwiderte sie. »Ich habe hier noch etwas für Sie.« »Was ist das?« »Ihre Rechnung.«
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»Wofür?« »Für die Sitzungen, die Sie versäumt haben, während Sie im Krankenhaus waren.« »Sie machen Witze.« »Klinge ich, als wollte ich einen Witz machen?« Was für eine alberne Frage. Mary klang niemals, als wollte sie einen Witz machen. »Aber wie hätte ich kommen sollen, während ich im Krankenhaus war? Ich bin doch nicht absichtlich meschugge geworden.« Im Nachhinein betrachtet war das vielleicht sogar eine Lüge. Meschugge zu werden, war möglicherweise der einzige Weg, Marys Fängen zu entkommen. »Sie kennen die Regeln. Sie müssen für alle versäumten Sitzungen bezahlen.« »Aber ich bin doch nicht zuletzt Ihretwegen in die Klinik gegangen.« »Oh, dann war es also meine Schuld, ja? Hören Sie, niemand hat Ihnen versprochen, dass die Therapie eine einfache Sache werden würde. Manchmal stößt man auf hässliche Dinge. Manchmal muss man in die Klinik. Das ist alles ein Teil des Prozesses.« »Ich sehe den Prozess aber ganz anders.« »Das kann ich verstehen. Trotzdem erwarte ich, dass Sie die letzte Rechnung bezahlen.« »Ich werde nicht zahlen.« Und ich habe nicht bezahlt. Und wenn du mich verklagen willst, Mary, dann mach nur. Meine Adresse ... ach, verdammt. Die kannst du selbst nachsehen, ich bin nicht umgezogen.
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Jahre und Jahre der Therapie, und ich weiß immer noch nicht, wie man so etwas möglichst elegant zu Ende bringt.
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»Sie müssen beginnen, einige Ihrer negativen Grundannahmen zu hinterfragen«, sagte Clare, meine kognitive Therapeutin im Lodge Hospital, die ich einmal in der Woche als ambulanter Patient aufsuchte. Es war die dritte Sitzung. Vorher hatte sie mich jedes Mal Multiple-Choice-Fragebögen zu meinen Depressionen ausfüllen lassen, und jedes Mal verriet meine Punktzahl, dass sich an den gefährlichen psychotischen Zuständen nichts gebessert hatte. »Da haben Sie sicher Recht«, antwortete ich, »aber der Teufel soll mich holen, wenn ich weiß, wie man das macht.« Es war schrecklich verwirrend. Ich hatte keine Symptome, die ich mit Depressionen in Verbindung brachte - Panikattacken, Schlaflosigkeit, BSE; eigentlich fühlte ich mich sogar ziemlich normal. Aus meiner Sicht jedenfalls. Trotzdem hatte ich die eigenhändig zu Papier gebrachten Beweise dafür vor mir liegen, dass ich immer noch im Eimer war. Ich wusste keinen Ausweg. Jedenfalls keinen, bei dem ich nicht lügen musste. Es war nämlich unmöglich, die Fragen wahrheitsgemäß zu beantworten, ohne depressiv oder völlig verrückt zu klingen. Fragen wie: »Wie oft denken Sie über den Tod nach? 1. Fast nie. 2. Gelegenheit. 3. Oft. 4. Jeden Tag.« Nun könnte man meinen, man brauchte nur »Fast nie« anzukreuzen, um tosenden Applaus zu ernten und als gesund zu gelten. Es war auch sehr verlockend. Ich konnte 184
nicht verstehen, wie jemand, der ehrlich bleiben wollte, irgendetwas anderes als »Jeden Tag« ankreuzen konnte. Sie müssen doch nur Zeitung lesen und die Nachrichten anschauen oder ein Video ausleihen - irgendetwas Realistisches -, und schon werden Sie Tag für Tag mit dem Tod konfrontiert. Vielleicht nicht mit Ihrem eigenen, aber immerhin mit dem Tod anderer Menschen, und wenn Sie keine emotionale Verbindung zwischen dem Tod anderer Menschen und Ihrem eigenen herstellen können, dann sind Sie ein Psychopath. Außerdem stirbt man sehr schnell, wenn man nicht jeden Tag über den eigenen Tod nachdenkt. Beispielsweise wird man sofort überfahren; wenn man sich vor dem Überqueren der Straße nicht umschaut. Vielleicht war das, was die meisten Menschen als krankhafte Depressionen bezeichneten, in Wirklichkeit nichts weiter als ein brutaler Realitätssinn. Für mich klingt das einleuchtend, denn es ist schwer, nicht deprimiert zu sein, wenn man die Dinge sieht, wie sie wirklich sind. Aber Clare schätzte die Situation ganz anders ein. »Sie müssen versuchen, etwas nachsichtiger mit sich selbst umzugehen«, sagte sie besänftigend, um es gleich darauf aus einer anderen Richtung noch einmal zu versuchen. »Halten Sie sich vor Augen, dass Sie ein wertvoller Mensch sind, und konzentrieren Sie sich auf Ihre Stärken.« Immer das Unmögliche versuchen. Wieder stand ich vor der unüberwindlichen Mauer der Aufrichtigkeit. Ich habe mich nie für einen außergewöhnlich wertlosen 185
Menschen gehalten, aber besonders wertvoll war ich auch nicht. Außerdem, welcher Trottel, wenn er nicht wirklich ein hoffnungsloser Fall ist, rennt schon herum und ruft: »Ich bin wertvoll, ich bin ein wertvoller Mensch, verdammt noch mal.« Ich bin okay. Irgendwie. Das ist alles. Im Großen und Ganzen schlage ich mich so durch. Manche Sachen mache ich gar nicht so schlecht, aber in vielen Bereichen gibt es noch reichlich Raum für Verbesserungen. Ich schäme mich oft, ich bin oft sehr neidisch auf andere Leute und ich könnte viel netter sein, als ich es tatsächlich bin. Alles in allem finde ich mich selbst ein wenig enttäuschend. Ich bin nicht der Pfundskerl geworden, den ich in meiner Jugend als Ziel vor Augen hatte. »Äh ... ich weiß nicht, ob ich das kann«, sagte ich schließlich. »Kommen Sie schon, versuchen Sie es doch einfach mal«, schmeichelte Clare. »Nur eine gute Sache.« »Also, ich habe noch nie jemanden umgebracht.« »Bleiben Sie ernst«, fauchte sie. Ich meine es völlig ernst. Ich habe noch nie jemanden umgebracht. Oder dachte sie etwa, es wäre eine gute Sache, jemanden zu ermorden? In diesem Fall wäre es kein Wunder, dass ich Depressionen habe. »Also gut«, sagte ich begeistert, weil mir plötzlich etwas eingefallen war. »Da ich aus dem Lodge Hospital entlassen worden bin, muss das bedeuten, dass mich irgendjemand für gesund hält.« »Darauf würde ich mich nicht verlassen.« Ich ignorierte den bissigen Seitenhieb. Clare war
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wohl einfach nur eifersüchtig, weil ihr noch niemand ein Attest über ihre geistige Gesundheit ausgestellt hatte. Trotzdem hatte ich große Mühe, etwas Gutes zu finden, das ich über mich sagen konnte. Aber konnte ich nicht dafür sorgen, dass jemand anders etwas Gutes über mich sagte? Das war eine brillante Idee, wie sogar mir sofort klar wurde. Verblüffend einfach und unglaublich wirkungsvoll. Ich umgebe mich mit einem ganzen Schwarm von Kriechern und Schmeichlern, die mir ständig sagen, wie wundervoll ich bin. So tun es die Royals, die Politiker, die Filmstars und alle anderen Größenwahnsinnigen. Wahrscheinlich sehen sie deshalb immer so selbstbewusst und selbstzufrieden aus. Allerdings konnte ich nicht darauf bauen, dass meine Familie und meine Freunde diese Art von Spezialbehandlung übernehmen würden. Keiner von ihnen hatte in der Vergangenheit auch nur die geringste Neigung gezeigt, solch vorschnelle Urteile zu fällen, und es stand nicht zu erwarten, dass sie jetzt auf einmal damit beginnen würden. Nicht einmal, wenn ich sie ausdrücklich darum bat. Ich würde sie natürlich sowieso nicht darum bitten, weil es zu erniedrigend wäre. »Bitte, bitte, sei doch mein Freund und sage etwas Nettes über mich.« Pah. Und was hätten sie auch schon sagen können? »Du bist ein guter Gatte/ Dad/Sohn/Bruder/Freund.« Wohl kaum. Wir hatten viel zu viel gemeinsame Geschichte hinter uns, um so etwas überzeugend sagen zu können. Aber ich konnte noch einmal von vorn anfangen. Ich konnte nett auftreten. Ich konnte mit einsamen Menschen 187
im Pub Freundschaft schließen und mir ihre langen, ermüdenden Lebensgeschichten anhören, ohne zu gähnen. Ich konnte mich karitativ engagieren, soweit man es von der Steuer absetzen konnte. Ich konnte im Gemeinderat aktiv werden und unermüdlich dafür kämpfen, dass unsere Straße verkehrsberuhigt wurde. Ich konnte ein Ausstellungsstück im Millennium Dome werden. Die strahlende Verkörperung von Tonys Vision eines neuen, coolen Großbritannien. »Dieser John Crace, der ist wirklich mal ein super Typ.« All dies erforderte sorgfältige Planung. Wenn die Haare grau werden und ausfallen und der Bauch sich wölbt, dann befinden Sie sich auf der falschen Seite der Vierziger-Marke, Sie sind kein sonderlich bemerkenswerter Mensch mehr und haben folglich große Schwierigkeiten, sich als Vorbild zu vermarkten. Deshalb richtete ich ein paar Arbeitskreise ein, um meine Möglichkeiten auszuloten, und wartete auf die Ergebnisse. Manchmal fällt einem auch etwas in den Schoß. Während die Ausschüsse sich mit ihren Aufgaben beschäftigten, wurde ich über Nacht zum Star. Ich weiß, es ist kaum zu glauben, aber so war es. Als absoluter Niemand eingeschlafen, als Berühmtheit aufgewacht. Keine große Berühmtheit, sondern eher eine aus der zweiten Reihe wie Tania Bryer, Danni Minogue und Jason Donovan. Aber was Sie jetzt auch sagen wollen, das ist besser als nichts. Ich meine, wer sind Sie denn überhaupt, hmm? Der Grund meines Ruhmes war ein Buch, das ich
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über meine Vaterrolle geschrieben hatte. Meine früheren Bücher hatten die Leute nicht lesen wollen, und ich hatte keinen Grund zu der Annahme, dass es bei diesem anders kommen würde. Aber eines Tages kam ich von der Arbeit nach Hause und fand sechs Nachrichten von lokalen Radiosendern auf dem Band, die mich fragten - nein, eindringlich baten - nein, auf Knien anflehten -, ob ich für ein Interview zur Verfügung stünde. Das war der Durchbruch. Eine Goldader. Am nächsten Tag rief ich zurück. »Hallo, hier ist John Crace. Sie haben mich gestern angerufen.« »Wer?« »John Crace.« »Oh, John Crace«, sagte die Stimme zweifelnd. »Äh, ja, John. Wir würden Sie gern morgen in unsere Vormittagssendung nehmen. Sie müssten in unser Studio in London fahren, damit unsere Moderatorin über die Leitung mit Ihnen sprechen kann.« »Äh, lassen Sie mich mal nachsehen.« Ich raschelte mit ein paar leeren Blättern herum. »Ja, das müsste gehen.« »Schön, John. Passt es Ihnen um 10.30 Uhr?« »Ja, das geht. Äh ... könnten Sie mir ein Taxi schicken?«, fragte ich, um die Verhältnisse zu klären. »Das gibt unser Budget leider nicht her«, antwortete die Stimme. »Oh, schon gut«, sagte ich rasch, bevor ich aus der Leitung fliegen konnte. »Super. Ach, und übrigens, ich LIIIIIIEBE Ihr Buch.« »Könnten Sie das bitte wiederholen?«
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»Ach, nichts weiter. Ich habe nur laut gedacht.« »Okay, dann reden wir morgen weiter darüber.« Damit begann meine Medienkarriere. Am nächsten Tag marschierte ich zum Bush House, wurde an der Rezeption abgefertigt, zum hinteren Teil des Gebäudes weitergereicht und in eine winzige, stickige, fensterlose Kabine gesteckt, in der es außer einem Stuhl, ein paar Anzeigen und einem Kopfhörer nichts zu sehen gab. »Setzen Sie die Kopfhörer auf und warten Sie, bis der Sender mit Ihnen Kontakt aufnimmt«, krächzte es aus dem Kopfhörer. Ich gehorchte und schwitzte fünf Minuten lang. »Hallo, sind Sie da, John?«, knarrte die Moderatorin aus dem Kopfhörer. »Ja.« »Gut. Ich werde Sie in ein paar Minuten ansprechen, wenn die Musik zu Ende ist. Okay?« Nein. Ich hatte auf etwas mehr Aufmerksamkeit und ein wenig mehr Aufsehen gehofft. Ich wollte Glamour und Showbusiness. »Yeah, in Ordnung.« »Schön. Wir reden dann gleich weiter. Entspannen Sie sich einfach und stellen Sie sich vor, wir würden in Ihrem Wohnzimmer miteinander plaudern.« »Was denn, wollen Sie auch den Fernseher einschalten?« »Wie bitte?« »Nichts, war nur ein Scherz.« »Klar doch.« Ich hörte, wie die Moderatorin die einleitenden
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Sätze sprach. »In unserem Londoner Studio begrüße ich jetzt ...« Sie machte ein paar Bemerkungen über das Buch und stellte mir dann eine Frage. Ich hatte keine Ahnung, was ich antworten sollte. Mir war bewusst, dass sie auf irgendeinen Teil des Buchs angespielt hatte, aber ich wusste nicht, was sie meinte, weil es so lange her war, dass ich es geschrieben hatte. Ich quetschte meine Erinnerungen aus und suchte etwas Witziges und Passendes. Offensichtlich war es nicht das, was die Moderatorin erwartet hatte, denn sie schien sehr erstaunt, aber da es ja nur eine Plauderei im Wohnzimmer sein sollte, musste das reichen. Ich wollte nicht noch einmal auf dem falschen Fuß erwischt werden und lenkte das Gespräch auf die letzten Abschnitte des Buchs, die ich besser in Erinnerung hatte. Daraufhin wurde ich sofort wieder zum Anfang zurückbugsiert, da fiel mir auf, dass die Moderatorin wohl nur die ersten fünf Kapitel gelesen hatte und über nichts anderes reden wollte. Wenn jemand dumm aussehen sollte, dann ich. Irgendwie überstand ich das Gespräch, ohne mich allzu sehr zu blamieren, aber wir waren beide erleichtert, als die zehn Minuten vorbei waren. »Vielen Dank, John«, sagte die Moderatorin liebenswürdig, als das Mikrofon abgeschaltet war. »Das war hinreißend.« »Kein Problem«, antwortete ich, als hätte ich schon tausend Radio-Interviews gegeben. Nach dieser Beinahe-Katastrophe arbeitete ich hart mit mir. Ich las das Buch noch einmal - vor allem die ersten Kapitel - und wurde so gut, dass ich längere
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Abschnitte wörtlich zitieren konnte. Nicht, dass das nötig gewesen wäre. Ich fand rasch heraus, dass die Moderatoren nicht mehr als ein paar knackige Bemerkungen haben wollten, also bekamen sie, was sie wollten. Ich wurde schnell zum Profi, bemerkte aber ebenfalls sehr bald, dass das Radio nicht mein Metier war. Es war intim, es war gemütlich, aber um offen zu sein, es war einfach zu klein für mich. Ein Mann mit meiner Begabung braucht eine größere Bühne, ein größeres Publikum. Mein Publikum sollte mich sehen können. Ich musste ins Fernsehen. Also ging ich zum Fernsehen. Wissen Sie, wie manche Leute scheinbar mühelos an die Spitze kommen? Wie sie von einem absoluten Niemand zu einem Gesicht werden, das aus dem Fernsehen nicht mehr wegzudenken ist? Leute wie Anthea Turner? Nun, ich stieß jetzt zu ihnen. Aber bei mir gab es keinen Svengali, der mir reichlich Sendezeit zuschanzte, hier ging es wirklich nur um mich. Fernseh- und Radioproduzenten tauschten sich im Ivy beim Lunch über mich aus. Jedenfalls nehme ich an, dass es so gelaufen ist, weil ich eindeutig ein heißes Thema war. Dann kamen die Anrufe. Na ja, ein Anruf kam. Von einem Kabel-Fernsehsender. Eine Einladung zu einer Talk-Show. Aber das war ganz in Ordnung, ich war völlig einverstanden mit diesem Einstieg. Ich war nicht zu stolz, mein Lehrgeld zu bezahlen. Wahrscheinlich ein Vermächtnis von Mary. Also ging ich meinem ersten Auftritt im Fernsehen entgegen. Es war so, wie ich es mir erträumt hatte. Fernsehsender haben keine Pförtner, sie haben Empfangs192
chefs. Jules, oder wie immer er auch hieß, führte mich in meine Garderobe. Stellen Sie sich das mal vor, ich bekam eine eigene Garderobe. Ich wurde vor Liebe fast erdrückt. Was will man mehr? Eine eigene Makeup-Künstlerin? Tja, auch die hatte ich. Sie war brillant. Binnen zehn Minuten sah ich fünfzehn Jahre jünger aus, sogar halbwegs attraktiv. Wenn ich mein Spiegelbild in einem Schaufenster gesehen hätte, hätte ich mich womöglich sogar in mich verknallen können. Dann wurde ich in einen grünen Raum gelotst, wo ich in einem riesigen Sessel versank. Ein paar Minuten später stürmte die Moderatorin herein und säuselte: »Oh, John, Ihr Buch ist soooo witzig. Ich freue mich soooo sehr darauf, mit Ihnen zu reden.« Wundervoll. Endlich hatte ich, was ich schon immer haben wollte. Leider war da noch das Interview. Mir wurde ein Mikrofon an die Brust geheftet, ich wurde ins Studio geführt, unter Scheinwerfern geröstet und musste ein paar sanfte Fragen beantworten. Ich kam recht gut damit zurecht, denke ich. Ich war schlagfertig und charmant - jedenfalls nach meinen Maßstäben und wusste auf alles eine Antwort. Die Moderatorin schien meiner Meinung zu sein. »Das war wundervoll, John. Ich bin Ihnen ja sooo dankbar, dass Sie kommen konnten«, sagte sie, bevor ich mit einer königlichen Geste entlassen wurde. »Wie ist es gelaufen?«, fragte meine Frau, als ich wieder daheim war. Die Tatsache, dass sie sich überhaupt erinnerte, wo ich gewesen war, verriet bereits, wie beeindruckt sie
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insgeheim war. Sie war noch nie im Fernsehen, und daran wird sich wohl nichts ändern. »Jepp, ist ganz gut gegangen.« »Oh«, sagte sie und konnte offenbar kaum ihre Enttäuschung verbergen. »Das ist aber schön.« Wir haben noch keinen Kabelanschluss im Haus ein ständiger Kampf um Sky Sports, in dem ich entsetzliche Niederlagen erlitten habe -, aber ein paar Tage später wurde mir ein Video mit meinem preisverdächtigen Auftritt zugeschickt. »Lass es uns gleich ansehen«, sagte ich, während ich die Verpackung aufriss. »Muss das sein?«, stöhnte meine Frau. »Ja.« »Aber ich komme zu spät zur Arbeit.« »Ich bin nur zwölf Minuten und einunddreißig Sekunden dran.« »Ganz exakt?« »Ganz exakt.« »Also gut.« Also warf ich das Band an und lehnte mich zurück, um meine Frau zu beobachten, die gleich grün anlaufen würde. »Schau nur!«, kreischte sie. »Was denn?« »Dein Kopf.« »Was ist mit meinem Kopf?« »Er wackelt herum als würde er gleich runterfallen.« Allerdings. Mein Kopf wackelte. Ich hatte mich so sehr darauf konzentriert, die richtigen Antworten zu
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geben, dass ich meine physische Erscheinung völlig vergessen hatte. Ich sah aus, als hätte ich Parkinson im Endstadium. »So schlimm ist das doch gar nicht«, wiegelte ich ab. »Oh, doch, das ist es«, erwiderte sie fröhlich. »Du hast es vermasselt. Aber da sowieso niemand diesen Sender sieht, ist es nicht weiter schlimm.« Da hatte sie ausnahmsweise Recht. Es war nicht weiter schlimm. Denn wenn man sich einmal etabliert hat, verzeihen einem die Leute fast alles. Es dauerte nur wenige Wochen, bis das Telefon das nächste Mal klingelte. »Hi, hier ist Sandy von Kilroy. Ich habe Ihr Buch gelesen und finde es großartig.« Allmählich gewöhnte ich mich an diese Schmeicheleien, aber müde wurde ich ihrer noch lange nicht. »Danke.« »Yeah, und wir möchten Sie gern zu einer Sendung einladen, in der es um Vaterschaft geht.« »Worüber genau soll ich sprechen?« »Oh, wir machen keine spezifischen Vorgaben. Es geht einfach nur um das Problem, Vater zu sein.« »Ihnen ist doch klar, dass das Buch einen gewissen humoristischen Zug hat?« »Selbstverständlich. Dennoch spricht es einige sehr ernste Themen an.« Fuck, sie hatte es wirklich gelesen. Was für eine einfühlsame Frau. Beinahe hätte ich mich gleich am Telefon in sie verliebt. »Yeah. Sie müssen aber wissen, dass ich kein Experte für die Betreuung von Kindern bin.«
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»Das ist schon in Ordnung«, sagte sie. »Wir schicken Ihnen am Freitag um elf einen Wagen. Die Sendung wird um eins aufgezeichnet, direkt danach werden Sie zur Zeitung zurückgebracht.« Eine Limousine. Gottverdammich, eine Limousine. Nachdem ich mich entsprechend herausgeputzt und meine reichhaltige M&S- Garderobe durchgesehen hatte, entschied ich mich für ein lässiges, leicht bohemehaftes Outfit, also Jeans und Pullover. Genau genommen das, was ich sowieso jeden Tag trage. Ein einziges Zugeständnis machte ich allerdings, denn ich zog einen Rollkragenpullover an, um die orthopädische Nackenstütze zu verbergen. Ich wollte nicht schon wieder mit dem Kopf wackeln. Pünktlich um elf hielt ein schwarzer Mercedes vor dem Haus. Eine schwierige Entscheidung Vordersitz oder Rücksitz? Wenn ich hinten einstieg, wären die Nachbarn stärker beeindruckt gewesen, aber im Grunde meines Herzens bin ich Demokrat, also stieg ich vorne ein und hörte die nächste Stunde dem Fahrer zu, wie er die lange Liste der Fernsehstars herunterbetete, die er schon zu den Teddington Studios gefahren hatte. Das war es dann aber auch schon, was die Berühmtheit anging oder die Aussicht, wie ein menschliches Wesen behandelt zu werden. »Sie sind wegen Kilroy hier? Wie heißen Sie? Ja. Sie stehen auf der Liste. Nehmen Sie doch im Wartezimmer Platz, es wird gleich jemand zu Ihnen kommen.« Wartezimmer? Es war eher eine Art Zwischenlager, denn der Raum sah aus wie eine Abflughalle. Eine
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ganze Reihe identischer Büromöbel standen hier herum, aber lange nicht genug, um die wimmelnden Massen aufzunehmen. Verlassene Mütter, wütende Väter und ein paar liebe alte Leute, die von Gott weiß wem aufgetrieben worden waren, tummelten sich - alle Arten von menschlichem Leben. Und als Herzstück der ganzen Anlage war hoch droben und mitten auf einer Wand ein riesiger Bildschirm angebracht, auf dem - Sie können es sich denken Kilroy lief. Was mich an die Frage erinnerte, wo Kilroy eigentlich war. Ich gehörte doch eigentlich nicht zum Pöbel, aus dem das Publikum rekrutiert wurde; ich spielte in einer anderen Liga, ich war ein ausdrücklich eingeladener Gast. Einer der Leute, die im Fernsehen mit eingeblendeten Namen gezeigt werden. Wenigstens hatte man es mir gegenüber so dargestellt. Ich sollte längst irgendwo in einem stillen Winkel mit den Verantwortlichen über die Probleme plaudern, die man so hat, wenn man im Blickpunkt der Öffentlichkeit steht. Es stellte sich heraus, dass Kilroy Verspätung hatte, weil die Aufzeichnung einer anderen Sendung noch nicht beendet war. Aber selbst wenn nicht, er wäre sowieso nicht aufgetaucht, weil unser Bob sich nicht dazu herablässt, sich vor der Show mit dem Fußvolk abzugeben. Ich meine, warum sollte er auch? Er hat ja einen Haufen Redakteure, die ihm die Arbeit abnehmen. Um kurz nach eins wurde ich allmählich nervös, weil ich pünktlich wieder weg musste. So ein VIP hat nämlich einen ziemlich voll gestopften Terminkalender. Sorry - Filofax muss das natürlich heißen. Ich trug 197
meine Sorgen einer der Frauen vor, die mit Klemmbrettern bewaffnet im Warteraum patrouillierten. »Keine Sorge«, sagte sie. »Wir sorgen dafür, dass Sie nach der Show mit dem ersten Wagen abfahren können. Übrigens freuen wir uns wirklich auf das, was Sie zu sagen haben.« Inzwischen war ich nicht mehr so sicher, ob ich überhaupt etwas sagen wollte. Allmählich fühlte ich mich wie ein Gefangener im Stalag Kilroy und dachte mehr oder weniger nur noch darüber nach, ob ich jemals wieder herauskommen würde. Schließlich wurden wir aufgescheucht und im Gänsemarsch ins Studio getrieben. Als wir die zugewiesenen Plätze eingenommen hatten, trat der Hauptakteur auf. Mit seinem Armani-Anzug, der dicken Schminkschicht und der perfekten Frisur war Kilroy der Inbegriff des Lackaffen. Routiniert begann er mit dem oft erprobten Geplauder. »So, jetzt entspannen Sie sich doch bitte«, schleimte er. »Wenn Sie etwas sagen wollen, dann winken Sie, damit ich Sie bemerke, und dann komme ich zu Ihnen. Wir wollen es wirken lassen, als führten wir eine freundschaftliche Diskussion.« Unter einer freundschaftlichen Diskussion stellt man sich normalerweise etwas anderes vor. Vom ersten Wort an war es ein verbissener Kampf. Die Redakteure hatten ihre Hausaufgaben gemacht. Diverse Frauen hatten aus diesen und jenen Gründen etwas gegen Männer, die Männer griffen die Frauen an, weil sie ihre Kinder öfter sehen wollten, und alle schimpften über die Anwälte. Die ganze Zeit über gab Kilroy
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sich vernünftig und distanziert, während er sich in Wirklichkeit nach Kräften bemühte, alle gegeneinander aufzuhetzen. Schließlich beschloss ich, etwas für mein Geld zu tun. »Es ist eine zu starke Vereinfachung, wenn man sagt, die Männer sollten dieses und die Frauen sollten jenes tun. Die Rollen sind heutzutage viel ambivalenter.« Kilroy starrte mich an wie Darth Vader. »So, dann sagen Sie mir also, dass Sie nicht wissen, was ein Vater zu tun hat?«, knurrte er. »Tja, also ...« »Wissen Sie denn wenigstens, was eine Mutter tut?« »Nicht genau.« »Dann wissen Sie also nicht viel. Sie sind einfach nur verwirrt.« Damit walzte er zu jemand anders, bevor ich noch etwas sagen konnte. Ich hatte das ungeschriebene Gesetz der Sendung gebrochen. Vernünftige Diskussionsbeiträge ergeben eine schlechte Sendung. Ich versuchte an verschiedenen Stellen noch einmal einzuhaken, aber Kilroy übersah mich geflissentlich. Es war seine Show, und er würde sich von niemandem ausstechen lassen. Ich tat meine Abneigung kund, indem ich nach der Sendung als einziger Gast nicht applaudierte, aber dieser kleine Moment der Auflehnung wurde herausgeschnitten. »Herzlichen Dank euch allen, das war eine wundervolle Show. Sie wird nächsten Mittwoch gesendet, also 199
vergesst nicht einzuschalten«, sagte Kilroy, bevor er hinaushüpfte. »Wie war es? Wann wird es gezeigt?«, wurde ich gefragt, als ich wieder im Büro war. »Mies. Man hat mich niedergemacht. Gesendet wird es nächsten Donnerstag, aber ich werde es mir nicht ansehen.« Damit war meine Zeit im Rampenlicht auch schon wieder vorbei. Es hätte von mir aus ruhig etwas länger dauern können, ein paar prestigeträchtige Auftritte hätten meinetwegen noch kommen können, von mir aus sogar Jagdszenen mit den Paparazzi, aber irgendwie waren solche Übergriffe von Fremden sogar noch anstrengender als die Erkenntnis, dass Familie, Freunde und ich selbst nicht viel von mir hielten. Wenigstens war das ehrlich. Doch manchmal gibt einem das Leben eine zweite Chance. Ungefähr sechs Monate später bekam ich wieder einen Anruf. »Hi, hier ist Katie von Kilroy. Ich möch -« Klick. Ruf mich nicht an, Kilroy. Ich rufe dich an.
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10 »Ich glaube, ich bin irgendwie doch eine Klassefrau«, sagte meine Frau, als sie in ihrem unförmigen Frotteemorgenmantel den Tee schlürfte. Wie die meisten Absonderungen ihres Bewusstseins zur Frühstückszeit hielt ich auch diese Bemerkung einer Antwort für nicht würdig und las weiter Zeitung. »Ich sagte, ich glaube, dass ich irgendwie doch eine Klassefrau bin«, sagte sie etwas nachdrücklicher. »Ich hab's schon beim ersten Mal gehört.« »Und?« »Und was?« »Nun ja, was meinst du?« »Ich glaube, du hast sie nicht alle.« »Warum?«, fragte sie verletzt. »Weil es niemanden gibt, der weniger eine Klassefrau wäre als du.« »Andere Leute sagen, dass ich es bin.« »Wer denn?« »Debby und Elena.« Ausgerechnet. »Ich dachte, die sind deine Freundinnen.« »Das sind sie.« »Tja, dann übertreiben sie es entweder mit ihrer Loyalität oder sie kennen dich nicht sehr gut.« »Vielleicht bist du derjenige, der mich nicht gut kennt.« Schnippisch. »Pass auf, du gerätst in Panik, wenn du nach halb elf
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noch im Bett bist, du kannst ohne Ohrstöpsel nicht schlafen, du bist Mitglied im Wanderverein und du bist untröstlich, wenn du eine Folge deiner Soap verpasst hast. So benimmt sich keine Klassefrau.« »Aber ich habe die richtige Einstellung. Konkret gesagt, bin ich durch und durch Hedonistin.« Was, zum Teufel, sollte das bedeuten? »Nein, das bist du nicht. Du bist schwermütig, launisch und schwierig. Deshalb mag ich dich.« »Einen Scheißdreck bin ich«, zischte sie. »Ich liebe das Vergnügen.« »Wie kommt es dann, dass du jemanden wie mich geheiratet hast, obwohl du doch das Vergnügen so sehr liebst?« Yeah, da rede dich jetzt mal raus. »Da war ich jünger und wusste es nicht besser.« Jünger. Das war das große Problem. Man hätte doch meinen sollen, dass im Haus nur Platz für eine Midlife-Crisis war. Für meine. Aber nein, meine Frau musste in meinem Revier wildern und sich auch eine zulegen. Nur dass ihre sich in dem verzweifelten Wunsch äußerte, den Alterungsprozess nicht nur aufzuhalten, sondern sogar umzukehren. Anscheinend dachte sie, sie könnte mit der Zeit immer jünger werden. Ich habe Ihnen ja schon etwas über ihren Musikgeschmack verraten, aber das war nur die Spitze des Eisbergs. Das Bad war voll gestopft mit Hautpflegemitteln, im Kühlschrank befand sich ein Sammelsurium der neuesten gesunden Ernährungsmoden und im Schlafzimmer flogen Kataloge von Miss Selfridge herum.
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Alles Erinnerungen an die verlorene Jugend. Wenn man ihr sagte, dass sie intelligent war oder gut aussah, zuckte sie mit keiner Wimper. Aber wenn man ihr sagte, dass sie wie Anfang dreißig aussah, schmolz sie dahin und war vielleicht sogar bereit, mit einem zu schlafen. Wer weiß? Bei mir hat es funktioniert. Manchmal jedenfalls. Im Grunde war ja auch gar nichts verkehrt daran, dass meine Frau eine Midlife-Crisis hatte. Nicht einmal ich war so eigensüchtig, ihr diesen Spaß verderben zu wollen. Zwar war ich etwas pikiert, weil sie nichts Originelleres zu bieten hatte - stellen Sie sich nur vor, wie genervt manche Serienmörder über ihre Trittbrettfahrer sein müssen -, aber mein wichtigster Vorbehalt bestand darin, dass unsere Lebenskrisen miteinander einfach nicht kompatibel waren. Denn je jünger sie sich zu machen versuchte, desto älter fühlte ich mich. Aber als moderner, aufgeschlossener Mann bemühte ich mich, die Verklärung meiner Frau so gut wie möglich aufzufangen. Nein, ich will nicht zu bescheiden sein. Ich war extrem nachsichtig. Ich wurde zur Cilla Black unserer Beziehung. Als sie sagte, sie würde wirklich gern mal etwas Jugendliches und Spontanes tun, machte ich bereitwillig mit. »Was schwebt dir denn so vor?« »Etwas Verrücktes«, antwortete sie. »Zwei Tage ohne die Kinder nach Paris fahren.« »Schön, lass es uns machen.« »Ich glaube, das geht nicht.« »Warum nicht?«
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»Ich glaube nicht, dass ich die Kinder so lange allein lassen kann.« »Wahrscheinlich freuen sie sich, dass sie mal Ruhe haben.« »Du verstehst es einfach nicht, was?«, sagte sie. »Was verstehe ich nicht?« »Dass es für eine Mutter schwer ist, ihre Kinder zu verlassen.« »Oh, dann glaubst du also, du liebst sie mehr als ich, was?« »Fang nicht wieder damit an. Es ist etwas anderes, das ist alles.« Was so viel bedeutete wie: Ja, ich liebe sie tatsächlich mehr als du. »Es ist nur für zwei Tage, verdammt«, sagte ich kompromissbereit. »Wir schicken sie doch nicht ins Heim.« »Ich weiß nicht ...« »Entscheide dich. Immerhin war es deine Idee.« »Also gut.« »Schön, wann fahren wir?« »In ein paar Monaten.« »Yeah, das wäre ziemlich spontan.« Also kaufte ich zwei Eurostar-Tickets für etwa 240 Pfund, überredete das Kindermädchen, zwei Tage rund um die Uhr aufzupassen - 150 Pfund -, reservierte ein Zimmer in einem kleinen, aber schicken Hotel in der Nähe des Boulevard St. Germain - etwa 250 Pfund -, und dann sprangen wir einfach in die U-Bahn nach Waterloo und waren kurz darauf nach Paris unterwegs. Gott, wir waren auf einmal so jung.
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Und was taten wir in Paris, in der Stadt der Romantik und der tödlichen Verkehrsunfälle? Wir schliefen. Ganz recht. Als wir das Hotelzimmer bezogen hatten, setzten wir kaum noch einen Fuß vor die Tür. Der jahrelange Schlafmangel während der Aufzucht der Kinder forderte seinen Tribut. Kein Streit, kein Gezanke - abgesehen von dem, was sich zwischen uns abspielte - und keine Störungen. Es war das teuerste Nickerchen meines Lebens. Wir erlebten ganz sicher nicht das vergnügte, lockere und kostspielige Eintauchen ins Nachtleben, das meine Frau sich vorgestellt hatte, aber sie ist eine talentierte Schönrednerin. »Hat es euch gefallen?«, fragte Ruth, als wir wieder zu Hause waren. »Wundervoll«, sagte meine Frau. »Was habt ihr gemacht?« »Oh, nicht viel. Wir waren die meiste Zeit im Bett.« »Scharf.« »Hmm«, machte meine Frau ebenso verträumt wie verlogen. Meiner Frau mochte es ausreichen, wenn andere sie für jung hielten, mir war das nicht genug. Ich wollte mich auch innerlich jung fühlen und ich glaubte zu wissen, wie man das erreichen konnte. Die Lösung bestand darin, sich nicht mehr mit jungen Leuten herumzutreiben und zu hoffen, durch eine Art Osmose ihre Vitalität aufzunehmen, sondern seine Zeit mit alten Menschen zu verbringen. Denn wie sollte man sich als Vierzigjähriger nicht jung und athletisch fühlen, wenn man mit einem Trupp kahler, gichtiger Achtzigjähriger
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zusammenhockte? Das war angewandte kognitive Therapie. Natürlich waren gewisse Schwierigkeiten zu überwinden. Jeder weiß, dass die Großeltern reizende, harmlose alte Leutchen sind - die Sorte Mensch eben, die einen mit Süßigkeiten voll stopft und einem sogar einen Mord verzeiht. Nun ja, meine Großeltern waren da etwas anders. Ich glaube, sie mochten mich nicht besonders - sie schienen meine Schwestern immer vorzuziehen -, und ich mochte sie nicht besonders. Um ehrlich zu sein, ich hatte sogar Angst vor ihnen. Nicht, dass sie besonders streng gewesen wären, jedenfalls nicht für ihre Generation, aber sie waren ganz einfach alt. Ich konnte sehen, dass ihre Körper nicht mehr so waren, wie sie hätten sein müssen. Sie waren an den falschen Stellen schlaff, der Rücken war gebeugt und die Füße schlurften und sie konnten nicht mehr richtig sehen und hören und sprachen viel zu laut. Irgendwie waren sie kaum noch als Menschen zu erkennen. Oder vielleicht lag es auch daran, dass sie allzu menschlich waren. Auf irgendeiner Ebene habe ich womöglich sogar erkannt, dass sie vor meinen Augen starben. Aber es gibt viele Arten zu sterben. Natürlich sind es die Herzinfarkte und Krebserkrankungen, die Sie letzten Endes umbringen. Aber das Sterben ist eigentlich ein viel langsamerer Vorgang. Ihr Körper kommt knirschend zum Stehen und verwandelt sich in einen Leichnam, während Sie noch leben. Deshalb riechen viele alte Menschen auch etwas streng. Das sind nicht die undichten Kolostomiebeutel, auch wenn
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die ihren Teil beitragen - nein, das ist der Geruch des verwesenden Fleischs. Also war eine Akklimatisierungsphase notwendig, die aufgrund der Umstände mit einer gewissen Heimlichkeit vor sich gehen musste. Denn alte Menschen sind nicht cool. Heute nicht mehr. Verbrecher werden in der Lehrzeit dazu angehalten, alte Leute zum Üben von Überfällen zu benutzen, und Berufsganoven, die nach längerem Aufenthalt aus dem Heim oder dem Gefängnis entlassen werden, machen sich mit alten Leuten wieder fit, ehe sie sich lohnenderen Zielen zuwenden. Den jüngeren Menschen. Denn im Grunde bringt es ja nichts, alte Leute zu überfallen, weil die sowieso kein Geld haben. Robert Maxwell und die nachfolgenden Regierungen haben dafür gesorgt, indem sie die Pensionen wertlos gemacht haben. Hat sich jemand beschwert? Nein, im Grunde nicht. Na ja, die Rentner jammern manchmal, aber auf die hört sowieso niemand. Alle anderen - meine Frau eingeschlossen - glauben, sie würden ewig jung bleiben. Und da alte Leute kein Geld haben, kümmert sich niemand um sie. Fernsehen, Zeitungen und andere weit verbreitete Medien konzentrieren sich auf die unstete, zahlungsfähige Jugend. Da kann man schnell einen Haufen Geld verdienen und die Alten können uns mal, abgesehen höchstens vom Remembrance Day einmal im Jahr, wenn die dankbare Nation ihnen gratuliert, weil sie noch atmen. Für die Alten sah das alles ziemlich übel aus. Aber für jemanden wie mich war es eine wundervolle Aussicht. Ich war kein Ölscheich, doch verglichen mit alten 207
Menschen war ich unglaublich wohlhabend. Daher konnte ich sie gewaltig beeindrucken. Die meisten hatten lange keine Zwanzigpfundnote mehr gesehen, von einem Fünfziger ganz zu schweigen. So konnte ich in ein Heim schlendern und eine irre Aufregung provozieren. Allein schon die Tatsache, dass ich hinein und jederzeit wieder hinausgehen konnte, hatte einiges Gewicht. Nehmen Sie noch das Geld dazu, und die Sache ist geritzt. Sie haben mich auf der Stelle ins Herz geschlossen. Ich konnte sie in den Pub einladen - nein, in die Bar und ihnen einen Portwein mit Zitronensaft oder ein Milk Stout ausgeben und ihnen erzählen, wie ich einmal die Rolling Stones im Earls Court gesehen oder mit Peter Sarstedt einen Joint geraucht habe. Sie mussten mich einfach schätzen, sie durften mich sogar überschätzen. Zum Teufel damit. Es störte mich nicht. Glauben Sie aber bitte nicht, ich hätte die Absicht gehabt, die alten Leute herablassend zu behandeln. Das wäre überhaupt nicht nett gewesen und ich bin sicher, dass alte Menschen das schon eine Meile gegen den Wind riechen können, weil sie jeden Tag damit konfrontiert werden. Nein. Ich behaupte auch nicht, aus reinem Altruismus gehandelt zu haben. Es war einfach nur ein fairer Austausch, Zug um Zug. Ich brachte meine Zeit, mein Geld und mein Wissen über das ein, was gerade angesagt war oder über das, was vor zehn Jahren angesagt war, aber sie waren zu vertrottelt, um den Unterschied zu bemerken -, und sie gaben mir Achtung, Schwung und Hoffnung. Wie freundet man sich mit alten Leuten an, wenn
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man keine kennt? Man kann ja nicht wie ein Hausierer herumlaufen, und in freier Wildbahn trifft man keine alten Leute, weil sie nicht in der gleichen Welt leben wie Sie und ich. Sie kommen erst raus, wenn wir anderen schon in der Arbeit sind, weil sie die öffentlichen Verkehrsmittel vor 9.30 Uhr nicht kostenlos benutzen dürfen. Die Einzigen, die Sie treffen könnten, sind ein paar Nachzügler, die zu spät zum Tee nach Hause kommen, falls Sie es mal schaffen, pünktlich Feierabend zu machen. Da hilft es doch, wenn man Beziehungen hat. Meine Eltern kannten eine Menge alte Leute. Glücklicherweise war ich meinen Eltern gegenüber immer schrecklich aufmerksam, nachsichtig und liebevoll, so dass sie wahrscheinlich nichts dagegen hatten, wenn ich ihre Kontakte schamlos ausnutzte. Noch besser, sie würden es wahrscheinlich nicht einmal bemerken, wenn ich sie ausnutzte, weil sie waren, was sie waren. Sie konnten meine Labormäuse sein, mit deren Hilfe ich lernte, mit betagten Menschen umzugehen. »Äh, Mum.« »Ja, Schätzchen.« Sie nennt mich immer noch Schätzchen. Manchmal jedenfalls. So schlimm bin ich dann wohl doch nicht. »Wie wäre es, wenn ich dir und Dad im Urlaub Gesellschaft leiste?« »Bist du etwa pleite?«, fragte sie vorwurfsvoll. »Nein.« »Warum willst du dann mit uns in Urlaub fahren?« »Um etwas Zeit mit euch zu verbringen. Damit wir uns nahe sind.«
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So etwas konnte sie doch nicht abschlagen. »Oh«, sagte sie verblüfft. »Das wäre aber schön.« »Fein. Wohin sollen wir fahren?« »Wir sind ziemlich ausgebucht, musst du wissen«, teilte sie mir geschäftsmäßig mit. »Ende des Monats fahren wir zehn Tage zu Elizabeth nach Nizza, da kannst du leider nicht mitkommen. Am Wochenende, nachdem wir zurück sind, fahren wir nach Stratford und zwei Wochen später wollen wir ein paar Tage auf die Kanalinseln. Das geht also leider auch nicht. Vielleicht könnten wir dich auf die Schwarzmeerkreuzfahrt im Juni mitnehmen, aber es wäre wahrscheinlich sogar noch besser, wenn du uns im August zu den Opernfestspielen nach Verona begleitest.« Gott, sie waren pausenlos in Europa unterwegs, und ich konnte mich kaum noch erinnern, mal etwas Ferneres als die M25 gesehen zu haben. »Ihr seid aber viel unterwegs.« »Na klar doch«, erwiderte sie. »Wir sind Rentner.« »Ich verstehe«, sagte ich, auch wenn ich es nicht verstand. »Wir sitzen schließlich nicht den ganzen Tag herum und sehen Richard and Judy«, erklärte sie. Wenn die nicht, wer sieht die Serien dann? »Wir haben uns ein hübsches Sümmchen gespart«, fuhr sie fort, »und das geben wir jetzt aus. Du glaubst doch nicht, wir würden am Hungertuch nagen, um alles dir zu hinterlassen? Haha.« Haha, sehr witzig. »Haha«, machte ich nervös. »Nein, natürlich nicht.« »Wir wollen eben das Leben genießen.«
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Das war zu viel für mich. Wie konnten alte Leute auch nur daran denken, das Leben zu genießen? Die Reise nach Verona war kein großer Erfolg. Es lag nicht an der Oper, an der Unterbringung oder der Verpflegung; es war das Tempo. Ich fand es unglaublich anstrengend. Meine Eltern hüpften morgens um halb acht zum Frühstück hinunter, den Reiseführer in der Hand und begierig darauf, die Marschroute für den Tag festzulegen. Dann machten wir uns auf den Weg, nachdem wir jeden Fremden, der freundlich genug schien, eingeladen hatten, uns zu begleiten, und setzten uns erst zum Mittagessen wieder hin. Dabei redeten sie die ganze Zeit über verschiedene Sehenswürdigkeiten, an die ich mich nicht einmal mehr erinnern konnte. Der Nachmittag war eine Neuauflage des Vormittags. Vor dem frühen Abendessen bekam ich eine fünfundvierzigminütige Pause zugestanden, danach ging es in die Oper. Selten sind mir meine eigenen vier Wände so anziehend vorgekommen. Und das will etwas heißen, denn eines meiner größten Anliegen in jedem Urlaub ist es, wohlbehalten zurückzukommen. Zu wissen, dass ich mir keine ekligen Krankheiten zugezogen habe, dass das Flugzeug nicht abgestürzt ist, dass inzwischen niemand eingebrochen hat, dass kein Wasserrohr gebrochen ist und dass ich meinen Job nicht verloren habe. Meine Mum war nach dem Erlebnis recht gnädig, aber sie machte deutlich, dass sie an einer Wiederholung nicht interessiert war. Sie schien auch nicht gerade
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scharf darauf zu sein, mich ihren Freunden vorzustellen. »Ich glaube, sie sind nicht ganz dein Typ«, sagte sie. Was so viel bedeutete wie: Du bist zu dröge und langweilig für sie. Ein paar Tage lang fühlte ich mich elend und niedergeschlagen, weil die Operation Geriatrie fehlgeschlagen war, aber dann bekam ich aus heiterem Himmel einen Anruf von meinem Dad. »Hallo«, sagte er verschwörerisch, »wir müssen mal reden. Aber kein Wort zu deiner Mutter. Sie würde toben, wenn sie wüsste, was ich hier mache.« Neugierig geworden traf ich mich am nächsten Tag mit meinem Dad im Happy Eater außerhalb von Guildford, seinem Lieblingslokal. »Der Urlaub, den wir gerade zusammen verbracht haben«, begann er, während er sich ein paar Pommes frites in den Mund schob, »du wolltest doch nur mitkommen, weil du dachtest, dass du dich damit besser fühlst, oder?« Ich grunzte unverbindlich. »Ich dachte es mir«, fuhr er fort. »Ich habe das Gleiche bei meinen Eltern versucht, als ich in deinem Alter war. Aber es hat nicht funktioniert. Danach habe ich mich nur noch schlechter gefühlt.« »Hmm.« »Weißt du, ich liebe dich sehr und ich kann es nicht ertragen, dass du die gleichen Qualen durchlebst wie ich«, sagte er. »Deshalb werde ich den Ehrenkodex der alten Leute brechen und dir unser Geheimnis verraten. Wir sind nicht so, wie du glaubst.«
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»Wie meinst du das?«, fragte ich neugierig. »Ich meine, wir sind nicht alle tatterig und klapprig.« »Aber was ist mit all den alten Jammergestalten, die ich draußen herumlaufen sehe?« »Alles nur Tarnung«, antwortete er. »Jeder von uns muss das ein Jahr lang machen. Bald bin ich an der Reihe. Also rechne damit, dass ich mich an vertrauten Orten verlaufe und mich mit Politikern und Royals fotografieren lasse. Es widerstrebt mir zwar sehr, aber dieser Einsatz ist absolut notwendig. Es hilft, all die passenden Mythen über uns Alte zu zementieren, damit wir kostenlos mit dem Zug fahren können und im Kino und Theater Ermäßigung bekommen. Diese Gestalten lenken die Aufmerksamkeit von uns anderen ab, die einfach nur in Ruhe ihr Leben genießen wollen.« Das Leben genießen. Da war es schon wieder. »Aber wie könnt ihr das Leben genießen, wenn ihr dem Tod so nahe seid?«, fragte ich geradeheraus. »Habt ihr denn keine Angst?« »Natürlich haben wir Angst«, sagte mein Dad energisch. »Jeder hat Angst zu sterben. Aber wenn du erst einmal unser Alter erreicht hast, dann weißt du, dass du nicht mehr jung sterben kannst. Man kann dir nichts mehr wegnehmen. Die meisten von uns betrachten ihre Zeit als Geschenk und genießen sie. Wir packen so viel hinein, wie es nur irgend möglich ist. Einschließlich Sex. Du glaubst wahrscheinlich, alte Leute würden damit so um die fünfzig aufhören, was?«
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Ich wollte eigentlich nicht näher darüber nachdenken. »Etwas in der Art«, gab ich zu. »Tja, so ist das aber nicht. Wir sind natürlich nicht mehr so leistungsfähig wie früher, aber es ist ganz und gar nicht übel. Und wenn du erst einmal in unserem Alter bist, kannst du dir so ziemlich alles erlauben. Bei mir und meiner Mutter ist das etwas anders, wir sind uns treu, aber du solltest mal ein paar andere Leute sehen, die wir kennen - Orgien, Partnertausch, was du nur willst. Alte Leute scheren sich nicht um AIDS, weil der Zeitrahmen die Sorgen irrelevant macht. Das Gleiche gilt fürs Rauchen und Trinken. Wir tun es alle - nicht in der Nähe jüngerer Menschen wie du einer bist, das wäre verantwortungslos -, aber wen in unserem Alter kümmert es, dass er Lungenkrebs oder Leberzirrhose bekommen könnte? An irgendetwas musst du sowieso sterben, also kann es auch ruhig etwas sein, das dir Spaß macht.« »Das wusste ich nicht«, murmelte ich. »Natürlich nicht«, sagte er freundlich. »Niemand weiß es. Denk doch beispielsweise mal an Drogen. Ich nehme welche.« »Was?«, rief ich entsetzt. »Yeah, wo ist das Problem? Deine Generation hat keinen Exklusivanspruch darauf. Wenn du in meinem Alter bist, verschreiben die Ärzte dir fast alles, was du haben willst. Mein Herz. Du hast wahrscheinlich gedacht, es wäre das Alter oder ein Geburtsfehler.« »Yeah. « »Amphetaminmissbrauch. Oder Speed, wie ihr es
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wohl heute nennt. Ich habe es wohl etwas übertrieben, als wir vor fünf Jahren unsere Rundreise durch die USA gemacht haben.« »Was?« »In Verona haben wir es alle genommen. Oder glaubst du, wir könnten so einen Zeitplan ohne Aufputschmittel durchhalten?« »Wahrscheinlich nicht«, sagte ich, innerlich erleichtert. »Ich erzähle dir das nur, weil ich dir etwas geben will, auf das du dich freuen kannst. Jeder weiß, dass der schlimmste Augenblick im Leben der ist, wenn man vierzig wird. Du bist zu alt, um noch verantwortungslos zu handeln, du musst dich um deinen Beruf kümmern und Kinder in die Welt setzen. Kinder sind ein Albtraum. Du warst jedenfalls einer.« »Danke.« »Ich will nur, dass du die Wahrheit erfährst. Der Punkt ist, dass es vorläufig auch nicht besser werden wird, also musst du dich wohl oder übel damit abfinden. Aber wenn du fünfundsechzig bist, wird es wieder leichter. Halte einfach durch.« Also hatte ich nur noch die Kleinigkeit von fünfundzwanzig Jahren vor mir.
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14 »Was setzt Sie denn so unter Stress?«, fragte Clare. Wie lange habe ich noch? Zum Leben, Denken, Laufen, Reden, Arbeiten, für die Freizeit? Bevor ich sterbe? »So ziemlich alles«, antwortete ich. »Das ist mir zu allgemein. Nennen Sie doch bitte konkrete Ereignisse, damit wir uns überlegen können, wie Sie damit umgehen sollten, um sie als weniger belastend zu erleben.« »Ich verstehe. Nun ja, ich glaube, es sind die Wiederholungen, die mir zu schaffen machen. Ich bin es einfach leid, mit meiner Frau immer wieder über die gleichen Dinge zu streiten. Ich bin es leid, auf dem Weg zur Arbeit immer wieder die gleichen Verspätungen der öffentlichen Verkehrsmittel zu erleben. Ich hasse es, dass Monat für Monat immer neue Rechnungen kommen. Reicht das für den Anfang?« »Das ist gut. Was glauben Sie nun, wie Sie Ihre Haltung und Ihre Einstellung verändern könnten, um diese Dinge als weniger belastend zu empfinden?« »Ich habe keine Ahnung«, sagte ich. Doch, ich hatte eine Ahnung. Aber das sagte ich ihr nicht. Sobald ich wieder daheim war, rannte ich zum Telefon. »Hallo«, sagte ich, »ist da das Roslin Institute?« »Ja«, antwortete eine Stimme mit breitem schottischem Akzent.
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»Kann ich mit dem Herrn sprechen, der das Schaf Dolly geklont hat?« »Am Apparat.« »Schön. Vielleicht kommt es Ihnen komisch vor, aber was Sie mit Dolly gemacht haben, fand ich so beeindruckend, dass ich mich frage, ob Sie nicht das Gleiche für mich tun könnten.« »Wie meinen Sie das?«, fragte er vorsichtig. »Ich meine, Sie sollen mich klonen. Ich will keine jüngere Version von mir, sondern jemanden, der genauso aussieht wie ich.« »Hmm, seltsam, dass Sie ausgerechnet jetzt damit kommen. Wir haben gerade die Erlaubnis der Regierung bekommen, ein Experiment in dieser Form durchzuführen. Allerdings gibt es einen Haken.« »Welchen denn?« »Sie und Ihr Klon müssen sich als Ausstellungsstücke für den Millennium Dome zur Verfügung stellen.« »Das dürfte kein Problem sein.« »Schön. Dann schicken Sie uns doch bitte eine Probe. Nächste Woche ist Ihr Klon fertig.« Ich schnitt mir also eine Fingerkuppe ab und steckte sie in die Salzlösung im Probengläschen, das ich anschließend nach Edinburgh schickte. Fünf Tage später klopfte es an der Tür. »Hallo, ich bin John«, sagte mein Klon. »Ich auch«, antwortete ich. »Du siehst großartig aus.« »Du auch.« Es war Narzissmus auf den ersten Blick. Ich konnte
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gleich sehen, dass wir prima zurechtkommen würden. Als Erstes mussten Wir ein paar Regeln festlegen. Er hatte keine Probleme damit, dass er John Zwei genannt werden würde, aber er war bitter enttäuscht, dass er weder mit meiner Frau schlafen noch rauchen, trinken oder Drogen nehmen durfte. Irgendwo musste es ja eine Grenze geben. Das Wichtigste, das wir klären mussten, war die continuity. Ich konnte nicht einfach ins Wohnzimmer verschwinden, um Sekunden später aus dem Bad zu kommen. Deshalb kaufte ich ihm einen Miniaturkopfhörer, mit dem ich ihn ständig informieren konnte, was ich gerade tat und wann er zur Arbeit gehen musste. Alles klappte wie am Schnürchen. John Zwei ging für mich zur Arbeit, aber ich profitierte davon. Während er arbeitete, genoss ich meine wohlverdiente Ruhe, holte ein paar Stunden verlorenen Schlaf nach, las ein Buch oder ging mit einem Freund zum Essen. Abends schickte ich John Zwei nach oben ins Büro, damit er die offenen Rechnungen begleichen und schwierige Anrufe entgegennehmen konnte. Den Rest des Abends hatte er dann frei, falls ich nicht einen Streit mit meiner Frau am Horizont heraufziehen sah. In diesem Fall musste er ran. Falls er im Streit den Kürzeren zog, musste er bleiben und mit ihr Friends anschauen. Wenn er gewonnen hatte, konnte er aufs Klo gehen, und ich nahm seine Stelle ein und konnte in Ruhe etwas Interessantes sehen. »Du wirkst erstaunlich entspannt«, sagte meine
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Frau an einem Wochenende. »Das Prozac wirkt anscheinend.« »Ich glaube nicht, dass es mit dem Prozac zu tun hat.« »Wirklich nicht? Was ist es dann?« »Ich würde es mit vernünftigem Zeitmanagement begründen«, sagte ich. »Du solltest das auch mal versuchen.« Ich dachte, ich hätte alles geregelt. Ich habe es wirklich geglaubt. So konnte ich die fünfundzwanzig Jahre bis zur Rente locker absitzen, und dann würde der Spaß erst richtig losgehen. Aber sechs Monate nach Beginn des neuen Arrangements nahm die Sache eine unangenehme Wendung. John Zwei erklärte mir, er müsse mit mir reden. »Ich bin überhaupt nicht glücklich über die Art und Weise, wie sich die Dinge entwickelt haben«, sagte er ziemlich pampig. »Oh. Warum das? Ich dachte, wir hätten alles bestens geregelt.« »Nein, leider nicht. Ich bin völlig gestresst, weil ich mich dauernd mit deinem Mist beschäftigen muss.« »Aber das musst du eben in Kauf nehmen, wenn du ich sein willst.« »Ich will aber nicht mehr du sein«, heulte er. »Das ist hart. Ich musste schließlich vierzig Jahre lang damit zurechtkommen, ich selbst zu sein, und du erst sechs Monate. Ihr jungen Leute von heute haltet einfach nichts mehr aus.« »Vergiss es«; sagte er. »Ich will einfach auch nur mal etwas machen, das mir Spaß macht.«
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»Da gibt es nichts. Nicht wenn du ich bist. Es gibt nichts, an dem ich Spaß hätte. Nur einige Dinge, die nicht ganz so deprimierend sind wie alle anderen.« »Jetzt komm mir nicht mit solchen Spitzfindigkeiten«, knurrte er. »Hör mir genau zu. Ich will auch mal die nicht ganz so deprimierenden Sachen probieren. Hast du verstanden?« »Das geht nicht.« »Warum nicht?« »Weil du existierst, um dich mit dem Mist zu beschäftigen.« »Nein, das ist nicht wahr«, erwiderte er. »Ich bin ein vollwertiger Mensch.« »Ich sag dir was«, lenkte ich so versöhnlich wie möglich ein. »Wenn du den Rest des Jahres weiter gute Arbeit leistest, lasse ich dich für zwei Wochen allein in Urlaub fahren.« »Also gut«, sagte er sichtlich erfreut. »Abgemacht.« Ich bin sicher, dass John Zwei sich an die Abmachung halten wollte. Die nächsten paar Wochen war sein Gang sichtlich federnd, und er machte sich eifrig über die lästigen Aufgaben her. Aber das hielt nicht lange an. Das Theater begann, als ich eine Reihe unbezahlter Verwarnungen für Verkehrsvergehen zugestellt bekam, die offensichtlich begangen worden waren, als John die Wocheneinkäufe erledigt hatte. »Was ist das hier?«, fragte ich ihn. »Sieht aus wie Verwarnungen wegen Falschparken.« Wie aufsässig.
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»Das sehe ich selbst. Und wofür hast du sie bekommen?« »Ich konnte mich wirklich nicht auch noch darum kümmern, einen regulären Parkplatz zu finden.« »Das ist völlig verantwortungslos. Glaubst du wirklich, ich würde die jetzt bezahlen?« »Dir wird wohl nichts anderes übrig bleiben«, sagte John Zwei altklug. »Ein sieben Monate alter Mann darf kein Bankkonto führen.« »Ich weiß. Aber jetzt kannst du deine Ferien vergessen.« John Zwei stürmte hinaus und ich ging ins Bett. Am nächsten Morgen um elf wurde ich vom Telefon geweckt. »Hallo«, sagte ich verschlafen. »Wer ist da?« »Ich bin's, Emily aus dem Büro. Wo sind Sie?« »Ich bin im Büro, oder nicht?«, antwortete ich reflexartig. »Darüber sollten Sie lieber noch einmal nachdenken«, gab sie böse zurück. »Nein, natürlich bin ich nicht im Büro«, lachte ich. »Ich bin zu Hause.« »Brillant.« Die Leute haben ja keine Ahnung, wie schwierig es ist, wenn man einen Klon hat. Besonders wenn der faule kleine Bastard einfach nicht zur Arbeit geht. »Hören Sie, es tut mir wirklich Leid. Ich komme so schnell wie möglich.« Zwei Tage später tauchte John Zwei wieder auf. Anscheinend hatte er eine ausgiebige Sauftour hinter sich. Er sah schrecklich aus: seine Haare waren verfilzt,
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er hatte sich auf den Anzug gekotzt und stank. Damit war das Ende der Fahnenstange erreicht. Er war jetzt eher eine Belastung als eine Erleichterung, und es war Zeit, ihn loszuwerden. Ich versuchte es mit den üblichen leeren Phrasen wie jeder Chef, der einen überflüssigen Mitarbeiter feuert: »Vielen Dank für die lange Zeit, die du mir treu gedient hast. Du hast zwei Minuten, das Haus zu verlassen, etwaige Beschwerden richtest du bitte direkt an meinen Anwalt.« Aber John Zwei unterbrach mich. »Esch duhd mir Leid«, nuschelte er. »Ich weisch, dasch ich dich endäuscht hab, dasch wollte ich nischt. Esch isch blosch scho anschdrengnd, immer du schu schein. Du bischt scho ein armer Hund. Schullige meine Auschbrache, aber biddebidde lasch mich hier rausch.« »Ist dir denn klar, was das bedeuten würde?« »Isch klar. Aber dasch musch einfach schein.« Wir gingen langsam in die Dämmerung hinaus, stiegen ins Auto und fuhren auf der M6 nach Norden in Richtung Schottland. John Zwei verbrachte die Nacht bewusstlos oder leise wimmernd, ich starrte nach vorn und schwieg. Eine Weile nach dem Frühstück erreichten wir unser Ziel. »Das war's dann wohl«, sagte ich. John Zwei betrachtete seinen Geburtsort und marschierte hinein, ich folgte ihm. Er wandte sich direkt zum Behandlungszimmer. »Wird Scheit«, sagte er. »Ich werde dich vermischen, John Eins.« »Ich dich auch, John Zwei.«
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Ohne weiteres Getue rollte John Zwei sich den Ärmel hoch, und der Arzt spritzte ihm eine tödliche Dosis Barbiturate. Als er auf die Liege zurückfiel und keuchend den letzten Atemzug tat, musste ich weinen. Es war fast, als würde ich einen Teil von mir selbst sterben sehen. Aber bei solchen Dingen kann man sich keine Sentimentalitäten erlauben. Er war schließlich nur ein Klon und er hatte mir eine Menge Ärger eingebrockt. Als ich Birmingham erreichte, kam mir der Beifahrersitz kaum noch vorwurfsvoll leer vor. Nein, ich fühlte mich sogar ziemlich munter, denn mir wurde klar, dass meine ursprüngliche Prämisse richtig gewesen war. Einen Ersatzmann zu beschäftigen, war völlig in Ordnung. Mein Fehler war nur, mich für John Zwei zu entscheiden. Unsere Persönlichkeiten waren unverträglich. Vielleicht möchte manch einer sagen, wir wären uns zu ähnlich gewesen, aber das halte ich für übertrieben. Er war für meinen Geschmack schlichtweg zu launisch, zu empfindlich und zu neurotisch. In meinem Leben ist nur Platz für eine Primadonna. Ich brauchte also jemanden, der vernünftiger und leichter zu handhaben war. Und so stand ich eine Weile später in der Nähe der Mile End Row im schäbigen Büro von Monty's Double. »Was kann ich für Sie tun?«, fragte der Mann, der sich als Jim vorgestellt hatte. »Ich suche einen Doppelgänger.« »Tja«, sagte er. »Ich hätte ein paar Prinzessin Dis da, die laufen in der letzten Zeit nicht mehr besonders gut. Aber wenn Sie was Preiswertes und Lustiges suchen,
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könnte ich Ihnen einen guten Preis für eine Fergie machen. Die sind in der letzten Zeit sehr gefragt.« »Äh, nein, danke«, sagte ich. »Ich suche jemanden, der so aussieht wie ich.« »Oh«, antwortete er. »Müsste ich Sie kennen?« »Nein.« »Sie müssen nämlich wissen, dass wir nur Doppelgänger von berühmten Leuten anbieten.« »Ich dachte, Sie haben vielleicht ein großes Register mit Gesichtern. Heute werden so viele Unbekannte über Nacht berühmt, da müssen Sie doch auf alles vorbereitet sein.« »Nein, so läuft das nicht, Sir.« »Tja, könnten Sie trotzdem die Augen offen halten? Falls Ihnen jemand über den Weg läuft, der geeignet sein könnte?« »Ich werde sehen, was ich tun kann.« Jim hielt Wort, denn ein paar Wochen später bekam ich einen Brief von einem Mann, der mich um ein Treffen an der Freiluftbühne im Battersea Park bat. Ich kam ein paar Minuten zu spät und schnappte noch nach Luft, als jemand hinter mir sagte: »Psst, sind Sie John?« Ich fuhr herum, und da stand er. Etwas grauer als ich, aber nichts, was sich nicht in Ordnung bringen ließ. In jeder Hinsicht mein genaues Ebenbild. »Yeah. Wer sind Sie?«, fragte ich. »Meinen Namen nenne ich nicht.« »Hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Sie John Drei nenne?« »Warum John Drei?«
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»Das ist eine lange Geschichte.« »Okay, geht klar. Wenn Sie es so haben wollen. Und was soll ich jetzt für Sie tun?« »Das ist eine recht komplizierte Angelegenheit.« »Ich habe Zeit.« Also erzählte ich ihm in den folgenden zwanzig Minuten, wozu ich ihn brauchte. Als ich fertig war, grinste John bis über beide Ohren. »Wissen Sie was, John Eins?«, sagte er. »Es macht Ihnen doch nichts aus, wenn ich Sie John Eins nenne, oder?« »Nein, kein Problem«, erwiderte ich ruhig. »So halten es die anderen auch.« »Tja, ich denke, wir sind im Geschäft. Ich habe mich übrigens als Doppelgänger zur Verfügung gestellt, weil ich mein Leben ebenfalls satt habe. Mein Leben ist so verdammt vollkommen, dass es beinahe unwirklich scheint. Es ist, als lebte ich in einem Märchen. Meine Frau glaubt, in meinem Arschloch scheine die Sonne. Sie freut sich immer, wenn sie mit mir zusammen ist, sie will immer die gleichen Sendungen sehen wie ich. Sie ist zu schön, um wahr zu sein. Das Gleiche im Büro. Ich bin ungeheuer beliebt, und alle glauben, ich wäre absolut unersetzlich. Ich habe sogar versucht, ein Projekt absichtlich den Bach runtergehen zu lassen, aber der Kunde dachte, ich wäre unglaublich innovativ, und hat uns gleich eine Menge neuer Aufträge gegeben. Und die Krönung ist, dass ich in meinem ganzen Leben noch keinen Tag krank war. Aber Sie werden eine richtige Herausforderung für mich sein. Ein Versager sein und dafür
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von allen Druck bekommen, das wird mir helfen, mein Leben zu schätzen.« »Das freut mich aber für Sie«, sagte ich etwas steif. »Aber vergessen Sie nicht«, fuhr er fort, »dass ich nur stundenweise für Sie einspringen kann. Mehr als zwei oder drei Stunden am Tag schaffe ich nicht. Wenn es mehr würde, könnte ich noch in der Psychiatrie landen. Nehmen Sie's nicht persönlich.« Aber natürlich nicht. »Schon gut. Ich weiß, was Sie meinen. Aber ich würde die Überstunden extra bezahlen.« »Vergessen Sie's.« Mit Handschlag besiegelten wir die Abmachung. Sie hat hervorragend funktioniert. Wann immer es mir zu viel wird oder John Drei sich nach Abwechslung sehnt, rufen wir einander an und wechseln die Identitäten. Ich fahre nach Bromley hinaus - dort lebt er, aber die genaue Adresse kann ich Ihnen aus Sicherheitsgründen natürlich nicht geben - und werde verhätschelt und für interessant und unterhaltsam gehalten. Allerdings frage ich mich, ob er die Zügel nicht zu sehr schleifen lässt, denn meine Frau hat mehrmals gesagt, wie locker und umgänglich ich doch auf meine alten Tage würde. Vielleicht bin ich inzwischen auch wirklich so umgänglich. Falls ich es bin, habe ich das John Drei zu verdanken. Oder meinem Problemlöser, wie ich ihn manchmal nenne, wenn wir uns für das Briefing treffen. John Drei wird mich vielleicht umbringen, wenn er es hört, aber er ist wirklich einer der nettesten Menschen, die ich je getroffen habe. Er hat mein Leben
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völlig umgekrempelt, weil er mir eine kleine Oase der Ruhe gegeben hat. Ich habe sogar schon mit dem Gedanken gespielt, Ihnen allen den Mann eines Tages vorzustellen - wenn ich nicht wüsste, dass Sie ihm sowieso schon begegnet sind.
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... und meinen Patenkindern vermache ich ... absolut nichts. Nicht weil ich so gemein bin, sondern weil ich keine habe. Ich war darüber immer etwas verstimmt. Sehr verstimmt sogar, um ehrlich zu sein. Ich bin nicht einmal irgendwo in die engere Wahl gekommen und das finde ich wirklich beleidigend. Alle, die ich kenne, haben anscheinend Dutzende dieser kleinen Bastarde. Sogar meine Frau, dieser Inbegriff von Atheismus und fragwürdigen moralischen Vorstellungen, hat ein paar. Noch schlimmer, sie hat zwei Freundinnen sogar bei den Adoptionspapieren geholfen. Da haben die sozialen Dienste wohl doch nicht so gründlich gearbeitet wie sie sollten. Aber- moi? Nichts, nada, nebbich. Als wär ich ein Pädophiler. Dabei mag ich die Kinder anderer Leute überhaupt nicht, und scharf auf sie bin ich erst recht nicht. Aber genug davon. Wo war ich gerade? Ja, richtig. Mein Testament. Keine Sorge, das ist kein schwerer Rückfall in meine morbiden Grübeleien. Ganz im Gegenteil. Seit John Drei für mich arbeitet und seit dem vertraulichen Gespräch mit meinem Vater verläuft mein Leben recht gut. Ich glaube, jetzt kann ich mich damit abfinden, dass ich älter werde. Jedenfalls erheblich besser als früher. Nur ein Puzzleteilchen muss noch an die richtige Stelle geschoben werden, dann ist alles in Ordnung. Dieses Teilchen ist mein Testament. Über Testamente gibt es eine ganze Reihe weit verbreiteter Mythen. Einer ist, dass man stirbt, sobald
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man eines gemacht hat. Manchen Leuten passiert das, anderen nicht. Was soll man sonst dazu sagen? Ein anderer Mythos geht dahin, dass ein Testament so klar und einfach wie möglich sein sollte. Meine Eltern sind unbedingt dieser Ansicht. Sie haben für Anwaltsgebühren ein kleines Vermögen ausgegeben, um sicherzustellen, dass ihre Vermächtnisse möglichst reibungslos abgewickelt werden. Aber das ist Selbstbetrug. Ich meine jetzt nicht einmal in finanzieller Hinsicht, auch wenn sie das hätten berücksichtigen sollen. Ein Testament ist keineswegs eine nahtlose Übertragung von Hab und Gut vom Verstorbenen auf die ausgewählten Empfänger. Es geht auch nicht nur um die Steuern, obwohl das natürlich ein Aspekt ist, den man berücksichtigen sollte. Ein Testament soll dafür sorgen, dass ein Teil von Ihnen unsterblich wird, damit Sie auch lange nach Ihrem Tod noch Macht und Einfluss ausüben und allen, die noch leben, auf die Nerven gehen können. Ein Vermächtnis ist eine Übung in Boshaftigkeit mehr ein »Pestament« als ein »Testament«. Vor diesem Hintergrund wäre ein unkompliziertes Testament einfach lächerlich. Denn wenn sich die gierigen Geier am Tag nach der Beerdigung nur im Büro des Notars versammeln müssen, um ihm ein paar Minuten zuzuhören und dann ihren Scheck in Empfang zu nehmen, wird man Sie Sekunden später vergessen haben, und Ihre Erben werden eine Spritztour machen und alles auf den Kopf hauen. Wenn Sie meinen, ich wäre unangemessen zynisch, dann gehen Sie doch mal auf einen Friedhof, der Ihnen gefällt, und
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sehen Sie sich an, wie viele Gräber dort verkommen. Einen überzeugenderen Beweis für die Sinnlosigkeit, ein unanfechtbares Testament zu schreiben, gibt es nicht. Ich will meine Familie nicht um ihren Erbteil bringen, wie immer dieser auch aussehen mag - auch wenn ich glaube, dass John Drei einen kleinen Anteil bekommen wird. Nein, sie sollen ganz einfach nur länger etwas davon haben - unter gewissen Bedingungen, versteht sich. Jedes Jahr können Jo und Tom ein paar hundert Pfund abholen, vorausgesetzt, sie haben eine Nachtwache gehalten und für meine unsterbliche Seele gebetet und eine Gedenkanzeige in allen überregionalen Zeitungen geschaltet. Und sie müssen in der St. John's-Woche, wie die Trauerzeit fortan genannt werden soll, schwarze Kleidung tragen. Ich will nicht darauf bestehen, dass mein alljährlicher Gedenkgottesdienst im Fernsehen übertragen wird, aber ich kann doch wohl verlangen, dass es in einer Kathedrale wenigstens eine anständige Veranstaltung gibt, die von zahlreichen Popstars, Fernsehleuten, Modedesignern und Anthea Turner besucht wird. Sie haben ja keine Ahnung, wie schwierig es ist, ein kompliziertes Testament aufzusetzen. Es sei denn, Sie sind Anwalt; dann hatten Sie jahrelang Übung. Man kann natürlich in die Testamentsnachträge alles Mögliche hineinschreiben, aber es ist unwahrscheinlich, dass alle kleinen Details auch buchstabengetreu befolgt werden. Ich weiß ja, wie meine Kinder sind. Sie sind wie ich. Sie werden es anfangs noch gut meinen, aber nach ein paar Jahren werden sie sich drücken, 230
wo sie nur können. Die Nachtwache wird zu einem hastigen Knicks verkommen, der Gottesdienst wird mit dem Abspielen von »Candle in the Wind« auf der Stereoanlage des Autos erledigt sein. Das wird aber nicht reichen. Ich werde nicht zulassen, dass man mich so nachlässig behandelt. Ich will aus meinem Tod rücksichtslos und effizient für jeden Penny ein Gebet herauspressen. Und das bedeutet, dass ich mehr als gründlich vorausplanen muss. »Was, zum Teufel, machst du da schon wieder?«, fragte meine Frau, als sie vom Motorrad stieg. »Ich arbeite im Garten«, antwortete ich. »Verdammt, du hast meine Lieblingsmagnolie abgeholzt«, brüllte sie, als hätte sie mich nicht gehört. »Ich dachte, der Vorgarten bekommt nicht genug Licht.« »Und deshalb hast du den einsamen Entschluss gefasst, den Baum abzuholzen?« Gibt es denn einen anderen Weg, zu einer wohl überlegten Entscheidung zu kommen? »Ich wollte einige Dinge verändern.« »Warum denn?« Eine gefährliche Frage. Aber ich musste es ihr sagen. »Ich bereite meine letzte Ruhestätte vor.« »Was soll das?« »Ich erschaffe den Tempel des John. Den Baum musste ich opfern, weil ich den Vorgarten fluten und eine kleine Insel aufschütten will, die das ganze Jahr mit Blumen bestreut werden soll.« »Du hast sie nicht alle.«
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»Oh doch. Das wird unglaublich geschmackvoll. Und stell dir nur vor, was für ein schönes Fotomotiv das für dich wird: Trauernde Witwe allein mit ihren kummervollen Gedanken auf der Insel der Liebe.« »Was das Trauern angeht, wäre ich da nicht so sicher.« Aber ich konnte sehen, dass sie angebissen hatte. Sie fand die Idee, in Hello! zu kommen, sehr attraktiv und stürzte sich mit ganzer Kraft auf das Projekt. Sie half mir, am vorderen Tor ein kleines Kassenhäuschen einzurichten, arrangierte im John Heritage Museum - dem ehemaligen Wohnzimmer geschmackvoll einige meiner alten Zeugnisse und meine Briefmarkensammlung, entwarf ein paar Fahrgeschäfte für den Vergnügungspark John's World of Adventures und walzte mehrere benachbarte Häuser nieder, um genügend Parkplätze zu schaffen. Als wir fertig waren, sah die Anlage wirklich beeindruckend aus. »Was glaubst du, wie viel wir verlangen können?«, fragte sie, während sie ihrer Hände Arbeit bewunderte. »Fünfzehn Pfund würde ich sagen.« »Aber die Fahrgeschäfte und der Tee kosten extra, oder?« »Natürlich«, sagte ich. »Fünfzehn Pfund Eintritt, damit man an meinem Grab meditieren kann, das ist wirklich nicht zu teuer.« »Du glaubst doch nicht, dass wir uns damit unter Wert verkaufen, oder?«, wollte sie wissen. »Auch wenn du dann tot bist und das Geld für dich sowieso nicht mehr wichtig ist.«
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»Nein, es ist am besten, man fängt niedrig an, um die Massen anzulocken. Außerdem gibt es eine ganze Menge zusätzlicher Einnahmen.« »Was denn?« »Es werden Tonnen von Blumen und Teddybären anfallen, die man zu Interflora und Hamley's zurückschaffen kann.« »Das ist wahr. Vielleicht bekommen wir sogar einen Umweltpreis für das Recycling.« »Nur über meine Leiche.« »Das sowieso.« Natürlich erregten die Vorgänge in unserem Haus weltweit die Aufmerksamkeit der Medien. Unzählige Bettelbriefe gingen ein, weil multinationale Konzerne meinen Namen für ihr Marketing verwenden wollten. Banken wollten Vermögensaufbauprogramme nach mir benennen. Tony Blair änderte seinen Vornamen in John und wandte sich in einer persönlichen Botschaft an die Nation, weil es ihm so zusetzte, dass er sein Haar verlor. M&S wurde in J&S umbenannt, um meine Maßstäbe setzende Eleganz zu würdigen. Allerdings mussten auch einige Schwierigkeiten überwunden werden. Beispielsweise der endlose Strom von Einladungen von Jeffrey Archer. Oder die Tatsache, dass mein Leben fürs Kino oder Kabelfernsehen verfilmt wurde. Aber all das wurde durch einen einzigen Anruf mehr als aufgewogen. »Hallo, kann ich mit John Crace sprechen?« _ »Am Apparat.« Das ist eine Sache, die die Menschen an mir besonders lieben. Meine Erreichbarkeit. Die meisten Menschen
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brauchen nur einen Hauch von Berühmtheit zu verspüren, und schon lassen sie ihre Anrufe von Sekretärinnen und Managern abfangen, um sich wichtig zu machen. Aber das ist nicht mein Stil. Vielleicht bin ich auch viel zu nett, um berühmt zu sein. Aber es ist zu spät, um sich darüber jetzt noch den Kopf zu zerbrechen. »Hier ist Cliffs Agent.« »Hallo, Cliffs Agent.« »Cliff hat sich gefragt, ob Sie vielleicht nach Ihrem Tod ein Konzert veranstalten wollen, und ob es Ihnen gefallen würde, wenn er dabei auftritt.« »Eigentlich dachte ich nicht so sehr an ein einziges Konzert, sondern eher an alljährlich stattfindende Konzerte. Jeden dritten Sonntag im Juli im Tooting Bec Common.« »Was für ein großartiger Ort. Cliff liebt die Akustik dort draußen. Hören Sie, wenn Sie wollen, kann ich Ihnen eine ganze Konzertreihe zum Sonderpreis anbieten. Ich kann Ihnen garantieren, dass er auf den ersten einhundert Konzerten auftreten wird.« »Gott, wird er darüber nicht etwas alt werden?«, fragte ich. »Selbst wenn ich morgen sterbe, ist er hundertsechzig, bis der Vertrag ausgelaufen ist.« »Machen Sie sich nicht lächerlich. Cliff wird nicht alt. Er bleibt ewig jung.« »Yeah, entschuldigen Sie bitte. Ich habe viel um die Ohren. Ja, der Vorschlag klingt gut. Aber er muss sich verpflichten, immer Congratulations als Zugabe zu bringen.« »Einverstanden.«
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Was für ein Vermächtnis an die Nation. Ein Meilenstein der Popgeschichte. Cliff und John. Ja, das hat was. Eine Schande, dass ich nicht mehr dabei sein kann, um es zu sehen. Hinter jeder Gestalt des öffentlichen Lebens verbirgt sich eine zurückgezogene, empfindsame Seele. Ich bin da keine Ausnahme. Während ich einen großen Teil meiner Zeit darauf verwenden musste, dafür zu sorgen, dass das Gesindel - viele glaubten sogar, sie würden mich persönlich kennen - nach meinem Tod gut versorgt wurde, musste ich doch daheim, am Busen meiner Familie und abseits vom Scheinwerferlicht, eine ganze Reihe sehr persönlicher Entscheidungen treffen. Die erste war die, dass es in Ordnung ging, in Form von Klischees über meinen Tod zu schreiben. So etwas kann man sowieso nicht verhindern, noblesse oblige. Der zweite Punkt war meine Organtransplantation. Es hatte etwas für sich, in jemand anderem weiterzuleben. Natürlich lag mir nicht daran, in einen armen oder hässlichen Menschen verpflanzt zu werden, aber ich glaube, man darf sich in gewissen Grenzen die Empfänger aussuchen. Ich machte mir allerdings Sorgen, wie die Menschen, denen ich meine Einzelteile gab, mit der Verantwortung umgehen würden. Es ist beispielsweise gar nicht so einfach, Augen zu haben wie ich. Frauen fahren darauf total ab und wenn jemand, der es nicht gewöhnt ist, solche Augen bekommt, wie soll er das bewältigen? Wie würde es überhaupt sein, im Körper von jemand
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anders zu stecken? Würde ich schwul werden, wenn ich in einem anderen Mann steckte? Oder würde ich einfach abgestoßen? Würde es sich besonders scharf anfühlen, wenn ich den ganzen Tag in einer Frau herumlief? Mein Körper sehnte sich jedenfalls nach einem Tapetenwechsel. Kaum dass ich meinen Spenderausweis in der Tasche hatte, spielten alle meine Organe verrückt. Mein Herz flimmerte, ich bekam Nierensteine und alles verschwamm mir vor den Augen. »Was ist nur los mit mir?«, fragte ich Vicky, eine enge Freundin meiner Frau. »Hör einfach nur auf deinen Körper«, beruhigte sie mich. »Er wird dir schon sagen, was du wissen musst.« Und richtig, er hat es mir gesagt. In Gedanken versunken lag ich im Garten, als eine kleine Stimme zu sprechen begann. »Hallo, John.« »Was ist?« »Erschrick nicht, aber ich bin dein Herz. Ich möchte mit dir reden.« »Was willst du?« »Alle wichtigen Organe haben mich gebeten, mich in ihrem Namen an dich zu wenden.« »Okay, schieß los«, sagte ich. »Also, wir würden gern umziehen.« »Warum denn?« »Wir langweilen uns zu Tode. Deine Leber hat nichts Aufregendes mehr zu tun, seit du mit dem Trinken aufgehört hast. Ebenso die Nieren. Das Einzige, was
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die Lungen und mich manchmal belastet, sind die wenigen Tage mit hoher Luftverschmutzung. Deine Augen haben seit Ewigkeiten keine Halluzinationen und nicht einmal mehr etwas halbwegs Interessantes gesehen.« »Aber ich dachte, das wäre genau das Leben, das ihr gern führen wollt.« »Das sagen die Ärzte, aber die haben keine Ahnung, wie wir Organe uns wirklich fühlen«, erklärte mein Herz. »Wir brauchen Herausforderungen. Erinnerst du dich an Paul? Sein Herz war ein guter Freund von mir. Ich war immer neidisch auf ihn, weil er so viel zu tun hatte. Wenn du ihn in einen Raum voller anderer Herzen gesteckt hast, war er immer der strahlende Mittelpunkt. Gott sei ihm gnädig. Andere Herzen übersehen mich, weil ich so langweilig bin. Immer nur die regelmäßigen zweiundsiebzig Schläge Ruhepuls pro Minute, solange du nicht läufst. Ich würde manchmal wirklich gern verrückt spielen runter auf vierzig, hoch auf hundertzwanzig. Wie ich es in den guten alten Zeiten gemacht habe.« »Ich sag dir was«, antwortete ich. »Wenn du mir garantierst, dass du mich in den nächsten fünfundzwanzig Jahren nicht im Stich lässt, kann ich dir dafür versprechen, dass es im Ruhestand viel interessanter wird.« »Müssen wir wirklich so lange warten?« »Ich fürchte schon. So lange wird es nämlich mindestens dauern, die Vorbereitungen für meine Beerdigung zu treffen.« »Also gut.«
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»Bist du sicher, dass du die Erlaubnis aller anderen Organe hast, diese Zusage zu machen?« »Ja.« Damit war auch dies geklärt. Das war der Deal, auf den ich schon so lange gewartet hatte. Ein Versprechen aus ganzem Herzen, dass ich nicht vor dem fünfundsechzigsten Geburtstag sterben würde, und mein Körper würde ganz bestimmt nicht den Löffel abgeben, wenn der Spaß richtig begann. Die mittleren Lebensjahre waren also doch eine Spanne, die man überleben konnte. Nicht nur mental, sondern auch körperlich. Das war gut zu wissen. Sonst wäre ich vielleicht doch noch verrückt geworden.
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»Daddy, was ist Gott?«, fragte Jo. »Das ist schwer zu erklären.« »Georgia sagt, er sei überall. Aber wie kann Gott überall sein?« »Äh, es kommt darauf an, ob man daran glaubt oder nicht.« »Glaubst du denn daran, Daddy?« Um ehrlich zu sein, ich wusste nicht mehr, was ich glauben sollte. Deshalb habe ich bisher auch noch nicht über Gott gesprochen. Wer konnte überhaupt schon irgendetwas Genaueres sagen? Mag sein, dass er existiert, oder vielleicht auch nicht. Im Grunde wäre es mir lieber, er würde existieren. Und das war's dann auch schon. Aber diese Zurückhaltung bei theologischen Debatten hatte mir oft den Vorwurf eingebrockt, ich sei spirituell insolvent. Wenn die wüssten. Es ist wahr, dass ich nicht sehr anspruchsvoll bin, wenn es um Religion geht. Ich habe noch nie großen Wert darauf gelegt, zur Sommersonnenwende nach Stonehenge gefahren. Ich bin auch kein Buddhist geworden und habe mich nicht verpflichtet, mein Leben mit Singen und Meditieren zu verbringen. Ich bin nicht zum Katholizismus übergetreten und auf Händen und Knien nach Santiago de Compostela gekrochen. Ich habe mich noch nie auf den Philippinen ans Kreuz nageln lassen. Ich habe Salman Rushdie noch nie denunziert. Und ich bin ganz sicher auch noch nie wieder geboren worden. Außerdem bin ich kein atheistischer 239
Rationalist, aber das kann man von jemandem, der eingetragenes Kirchenmitglied ist, auch nicht erwarten. Nein, wirklich nicht. Ich habe mich darauf beschränkt, zweimal im Jahr mehr oder weniger planlos in die Kirche zu marschieren und zu beten und zu hoffen, es würde mir irgendwie nützen, wenn ich mal in der Scheiße steckte. So haben sich im Lauf der Jahre eine ganze Menge Gebete angesammelt. Aber besonders ernst habe ich sie nicht genommen. Nicht wirklich. Weil ich es nicht nötig hatte. Sie müssen wissen, dass ich als Sohn eines Vikars gewisse Privilegien genieße. Beispielsweise ist mir das Leben nach dem Tod garantiert, falls es das gibt. Vielleicht überrascht Sie das, aber in der Religion ist es nicht anders als in allen anderen Branchen: Beziehungen muss man haben. Gott weiß, dass er Vikaren keine großen Gehälter, Rabatte für Fahrkarten oder eigene Fernsehsender geben kann, und deshalb gewährt er Familienrabatte für das Leben nach dem Tod. Sie liegen also völlig daneben, wenn Sie sich fragen, ob ich das verdient habe oder nicht. Wenn es das Leben nach dem Tod gibt, dann ist es mir sicher. Mein Platz ist reserviert. Sie müssen abwarten und sehen, was Sie kriegen. Aber mein Mangel an festem Glauben beruhte nicht auf Selbstzufriedenheit und Gleichgültigkeit, auch wenn beides angesichts der Umstände leicht verständlich gewesen wäre. Nein. Ich war so, weil mein Dad mir gesagt hatte, dass Gott keine Schleimer mag. Anscheinend kann er Menschen nicht ertragen, die sich 240
mit endlosen Darstellungen ihrer guten Taten, mit Demonstrationen von Mitgefühl und Ausbrüchen von Inbrunst den Weg in den Himmel erkaufen wollen. Gott ist auf so etwas nicht angewiesen, so groß ist sein Ego nicht. Er will ein wenig Achtung ab und zu das Eingeständnis, dass er der Boss ist -, und das reicht dann auch. Er will Leute im Himmel haben, mit denen er Spaß haben kann. Seiner Ansicht nach werden wir dort eine ziemlich lange Zeit verbringen, also sollten wir sie nach Kräften genießen. Wer will denn schon die Ewigkeit mit einem Haufen bibelfester Langweiler verbringen? Gott will das ganz sicher nicht. Deshalb hielt ich es für angebracht, den Tod nicht nur als religiöses, sondern auch als soziales Ereignis zu betrachten. Aus diesem Grund wollte ich nicht den Fehler begehen, mich im Anzug begraben zu lassen. Wenn man schon für ewig und drei Tage seine Sachen tragen muss, dann sollte man etwas auswählen, das bequem sitzt. Ich kann ja verstehen, dass Sie einen möglichst guten Eindruck machen wollen, wenn Sie im Himmel ankommen, aber dort gibt es eine ganze Reihe Kreuzfahrer, die seit achthundert Jahren im Kettenhemd herumlaufen und sich wünschen, sie hätten sich für eine nicht ganz so formelle Aufmachung entschieden. Die Rede ist hier aber nicht nur von Bequemlichkeit, sondern auch von Stil. Im Himmel sind natürlich viele Berühmtheiten versammelt, aber die Regeln dort besagen, dass es keine Leibwächter oder PRLeute gibt, die uns Proleten auf Abstand halten. Sie können also reden, mit wem Sie wollen. Prinzessin Di, Marilyn 241
Monroe, James Dean, Frank Sinatra - sie sind alle da. Natürlich müssen Sie sich hinten anstellen, weil diese vier sicherlich zu den begehrtesten Menschen gehören. Bei Lady Di muss eine mindestens vierjährige Schlange anstehen, aber was sind ein paar Jahre, wenn man eine Ewigkeit hat? Ich persönlich werde mich dort aber nicht anstellen, weil sie wohl immer noch wütend auf mich ist, nachdem ich mich nicht auf eine Affäre mit ihr eingelassen habe. Aber das ist ein Problem, das nur uns beide betrifft, lassen Sie sich nicht von mir beeinflussen. Sie müssen Ihre Besuche sorgfältig planen. Es kann etwas seltsam wirken, wenn Sie sich in die nur aus Männern bestehende Schlange bei Marilyn einreihen, und Sie wollen sicherlich nicht - auch wenn Sie im Grunde keine Wahl haben - als Toter zwischen all den ausgeflippten Hippies bei Timothy Leary und Allen Ginsberg anstehen. Außerdem garantiert Ihnen niemand, dass diese Berühmtheiten überhaupt erfreut sind, Sie zu sehen. Die sind verpflichtet, höflich zu sein, aber das ist auch schon alles. Sie bekommen also Ihre fünf Minuten, aber glauben Sie nur nicht, damit könnten Sie Freundschaften schließen. Tot mögen Sie ja sein, aber das macht Sie noch lange nicht interessanter. Der Himmel muss ein schrecklich überfüllter Ort sein. Ich nahm an, ich würde mich anfangs ein wenig verloren fühlen, und war deshalb entschlossen, meinen großen Auftritt mit einer Runde bei meinen Verwandten zu beginnen. Allerdings konnte ich nicht einfach unterstellen, dass alle meine toten Verwandten 242
sich freuen würden, mich zu sehen. Ich meine, warum sollten sie ausgerechnet im Himmel mit einer lebenslangen Gewohnheit brechen? So schnell ändert sich der Charakter der Leute nicht. Man kann nicht zu Lebzeiten ein ausgemachter Schweinehund sein und sich schlagartig in einen Harfe spielenden Engel verwandeln, sobald man zu atmen aufhört. Wie auch immer, mein Dad sagt, die berühmten Leute sind im Himmel verpflichtet, höflich zu sein, was ihre Strafe dafür ist, dass sie sich auf der Erde so wichtig genommen haben, während die einfachen Leute dort viel ehrlicher als hier auf der Erde sein müssen. Sie werden also ganz sicher eine ganze Reihe von Menschen finden, die Ihnen zu Lebzeiten gesagt haben, sie würden Sie mögen, während sie Sie in Wirklichkeit gehasst haben. Im Himmel werden sie es dann auch aussprechen und kein gutes Haar an Ihnen lassen. Deshalb war es wichtig, die Situation vorab mit so vielen Verwandten wie möglich zu klären, solange sie noch atmeten. »Hallo, Mum.« »Hallo, John«, schniefte sie, während sie sich die Reste von irgendeinem weißen Pulver von der Nase wischte. »Kann ich mal mit dir reden?« »Yeah, aber ich habe nicht viel Zeit«, sagte sie mit einem Blick auf die Uhr. »Wir fahren in zwanzig Minuten in Urlaub.« »Wohin geht es dieses Mal?« »Wandern im Himalaya.«
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»Ich wünschte, ich wäre alt genug, um mitzumachen«, sagte ich sehnsüchtig. »Tja, du bist nicht alt genug, so ist das nun einmal. Du musst dich eben auf deine langweiligen Ausflüge nach Devon beschränken.« »Keine Panik, ich wollte sowieso nicht mit.« »Gut. Was willst du nun?« »Ich habe mich gefragt, ob du etwas dagegen hättest, wenn ich dich besuchen komme, wenn ich tot bin.« »Was redest du da?« Hatte sie denn noch nichts vom Leben nach dem Tod gehört? »Ich will dich auch nicht als eine Art Hotel missbrauchen.« »Geht es dir nicht gut?« Offensichtlich nicht. Vielleicht bereitete es ihr auch Unbehagen, über ihren eigenen Tod zu reden. Aber ich ließ nicht locker. »Oben im Himmel, meine ich. Darf ich ...« »Ich hab's verstanden. Aber woher weißt du, dass du nicht als Erster den Löffel abgibst?« »Ich habe einen Deal mit meinem Herz gemacht.« »Hast du deine Medikamente nicht genommen?« Damit war die Unterhaltung beendet. Ich war immer noch nicht sicher, wie ich nun zu meinen Eltern stand, aber ich war ziemlich sicher, dass sie gegen einen gelegentlichen Besuch nichts einzuwenden hatten. Andererseits war ich auch verwirrt. Hatte ich gerade irgendeine ungeschriebene Regel gebrochen, die es uns verbietet, Absprachen für das Leben nach dem Tod zu
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treffen, oder ist sie mir ausgewichen, weil sie nichts versprechen wollte, was sie vielleicht gar nicht einhalten konnte? Was durchaus bedeuten mochte, dass es überhaupt kein Leben nach dem Tod gab. Vielleicht war das nur eine seelische Krücke, mit der mein Dad mich glücklich machen wollte. Damit ich dachte, es gäbe doch noch etwas, auf das ich mich freuen konnte. Leere und das große Nichts schienen so eine Verschwendung zu sein. Ich meine, warum macht man sich die Mühe, das Leben zu überstehen und sich um andere Leute zu kümmern und Klone herzustellen, warum wird man berühmt und verrückt, wenn es am Ende nicht einmal eine Belohnung dafür gibt? Wenn die Verwandten sich danach dann doch bloß in übler Nachrede üben? Was würde aus meiner unsterblichen Seele werden? Würde sie sich als örtlicher Nieselregen entladen? Oder würde es nicht einmal dazu reichen? Wieder war es mein Dad, der mich rettete. »Du wirkst etwas niedergeschlagen«, sagte er. »Das kann man wohl sagen. Ich bin am Ende.« »Oh, du meine Güte. Kann ich dir irgendwie helfen?« »Ich glaube nicht, dass Drogen eine Lösung sind.« »Ich wollte dir auch keine anbieten. Was ist denn los?«, fragte er. Wir haben uns ausgiebig unterhalten. Über die Sicherheit. Über die Unsicherheit. Genau genommen über den Glauben. »Es gibt da jemandem, mit dem du mal reden solltest«,
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sagte er, als sich das Gespräch dem Ende zuneigte. »Wen meinst du?« »Wirst schon sehen.« Damit fesselte er mir Hände und Füße, zog mir eine Kapuze über die Augen und stopfte mich in den Kofferraum seines Autos. Anderthalb Stunden später erreichten wir das Ende eines langen Kiesweges. Ich hörte meinen Dad mit jemandem tuscheln, dann wurde der Kofferraum geöffnet und ich wurde herausgeholt. Als die Fesseln entfernt und die Kapuze abgenommen waren, lag ich in einem abgedunkelten, unmöblierten Raum auf dem Boden. Mein Dad schaute freundlich auf mich herab. »Tut mir Leid, dass wir es so konspirativ abwickeln mussten«, erklärte er, »aber die Person, mit der du sprechen sollst, besteht darauf.« »Wer ist es denn?« »Kannst du es dir nicht denken?« »Prinz Charles? Er hält ja viel von Spiritualität.« »Nein, du Trottel. Es ist Gott.« »Das glaube ich nicht.« »Tja, das solltest du aber«, sagte er. »Daher auch die Notwendigkeit, das Treffen so heimlich zu gestalten. Gott ist ja angeblich überall zugleich, aber wenn jemand auf die Idee käme, dass er hier bei dir ist, würde die Hölle losbrechen. Millionen von Menschen würden hierher stürmen, und die Diktatoren der Welt würden schnell noch ein paar Millionen unschuldige Menschen umbringen, weil sie glauben, er schaut gerade nicht hin. Wie auch immer, Gott ist sehr beschäftigt,
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also blamiere mich nicht, indem du dich wie ein Idiot benimmst.« Damit verließ er das Zimmer. »Hallo, John«, dröhnte eine körperlose Stimme. »Wer ist da?« »Gott.« »Ach, hör schon auf, Dad, und stell die Spezialeffekte ab«, sagte ich. »Das ist kein guter Anfang«, erwiderte die Stimme. »Ich bin Gott. Um meinetwillen, kannst du nicht einfach mal Vertrauen haben? Hör bitte auf, meine Zeit zu verschwenden. Ich habe an den Krisenherden der Welt mächtig zu tun und normalerweise mache ich keine Hausbesuche. Aber dein Dad ist ein anständiger Kerl, und deshalb war ich bereit, ihm den Gefallen zu tun.« »Ich dachte mir schon, dass es nicht wegen meiner eigenen Verdienste war«, erwiderte ich verletzt. »Was erwartest du? Du machst mir eine Menge Arbeit. Du warst eine echte Prüfung für deine Familie. Du warst eine Prüfung für deine Freunde. Und um ehrlich zu sein, du warst auch für mich eine Prüfung. Natürlich nicht ganz so schlimm wie Pol Pot.« »Wie geht es denn dem alten Massenmörder?« »Das geht dich nichts an. Im Augenblick geht es um dich.« »Also gut, Gott. Vielleicht kannst du mir helfen. Gibt es ein Leben nach dem Tod?« »Das verrate ich dir nicht.« »Warum nicht?« »Das ist eine Überraschung.«
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»Ich mag keine Überraschungen.« »Jetzt bekommst du eine.« »Ich glaube, Gott sollte nicht so sarkastisch sein.« »Tja, das wäre dann schon die zweite Überraschung«, sagte er kichernd. »Bitte«, flehte ich. »Erzähl mir doch etwas über das Leben nach dem Tod.« »Nein.« »Warum nicht?« »Weil es sowieso nichts ändern würde.« »Doch, es würde mich trösten.« »Mag sein. Aber es würde dein Leben verändern.« »Wie meinst du das?« »Tja«, erklärte er, »mir ist aufgefallen, dass miese Typen miese Typen bleiben, ob sie an mich glauben oder nicht. Und nette Leute bleiben nette Leute, ebenfalls unabhängig davon, ob sie an mich glauben oder nicht.« »Und was ist mit Neurotikern wie mir?«, fragte ich. »Du bist im Arsch. Du bist so damit beschäftigt, dir über die Zukunft Sorgen zu machen, dass dir die Gegenwart völlig entgleitet.« »Aber ich habe eine Zukunft?« »Das werde ich dir nicht verraten.« »Ist es denn möglich, dass ich weniger neurotisch werde?« »Wie soll ich das wissen? Ich bin nur dein Gott, nicht dein verdammter Seelenklempner. Aber ich muss jetzt weg. Kriege beenden, Hungersnöte beheben. Du weißt ja, wie das ist.« »Aber klar.«
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»Nur eins noch«, sägte er kichernd. »Du solltest nicht zu sehr auf dein Herz hören.« »Was?«, antwortete ich zu Tode erschrocken. »Kopf hoch, ich hab nur Spaß gemacht.« Ach, hast du? Hast du wirklich?
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